Anja Thiem Leben in Dörfern
Anja Thiem
Leben in Dörfern Die Bedeutungen öffentlicher Räume für Frauen im ländlichen ...
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Anja Thiem Leben in Dörfern
Anja Thiem
Leben in Dörfern Die Bedeutungen öffentlicher Räume für Frauen im ländlichen Raum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die Veröffentlichung wurde als Dissertation mit dem Titel „„(…) dass eben wirklich Leben in den Dörfern ist.“ Die Bedeutungen öffentlicher Räume. Analyse der geschlechterspezifischen Raumaneignungen von Frauen.“ im Alt-Fachbereich Kulturwissenschaften der Leuphana Universität Lüneburg angenommen. Gutachterinnen: Prof. Dr. Sabine Hofmeister, Lüneburg Prof. Dr. Julia Lossau, Berlin PD Dr. Ulrike Nagel, Magdeburg Tag der öffentlichen Verteidigung: 20. Juni 2008
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Katrin Emmerich / Jens Ossadnik VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16862-3
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis ....................................................................................... 9 Abkürzungsverzeichnis .................................................................................... 11 1
Einleitung................................................................................................... 13 1.1 Ländliche Räume – Verfügungsmasse oder zukunftsfähig?........ 13 1.2 Raum und Gesellschaft in den Raum- und Planungswissenschaften.................................................................................. 15 1.3 Vorgehensweise................................................................................ 22
2
Verständnisse von Raum und Gesellschaft ............................................. 31 2.1 Raumbegriffe und -theorien ........................................................... 32 2.1.1 Zwei Denktraditionen: absolutistisch versus relativistisch ......................................... 32 2.1.2 Mensch und Raum ................................................................. 35 2.1.3 Räume und ihre Vielfältigkeit bei Martina Löw .................... 47 2.1.4 Die Vielfalt erfassen: Methodologische Annäherung an Raum – das Quadrantenmodell von Gabriele Sturm ............. 53 2.1.5 Erstes Zwischenfazit .............................................................. 57
3
Anwendung der theoretischen und methodologischen Ausführungen zur Konstitution von Raum: der „Sonderfall“ öffentliche Räume ....... 63 3.1 Historisches Konstituieren – zur Entstehung von Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen ....................................... 64
6
Inhaltsverzeichnis 3.1.1 Die Entstehung von Öffentlichkeit als Sphäre am Beispiel der Ausführungen von Hans-Paul Bahrdt .............................. 65 3.1.2 Die Entstehung von Öffentlichkeit als Sphäre bei Hannah Arendt und Jürgen Habermas ................................... 66 3.1.3 Die Entstehung öffentlicher und privater Sphären bei Ulla Terlinden........................................................................ 69 3.2 Strukturierende Regulation und Wahrnehmung von Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen ....................................... 71 3.2.1 Strukturierende Regulation: Regeln, Gesetze, Konventionen und Erwartungen ............................................ 71 3.2.2 Wahrnehmung öffentlicher Räume........................................ 75 3.3 Die materiale Gestalt öffentlicher Räume – Öffentlichkeit und ihre Institutionalisierung in räumliche Strukturen als öffentliche Räume ............................................................................ 77 3.3.1 (An)Ordnungen öffentlicher Räume ...................................... 79 3.3.2 Nutzungsstrukturen öffentlicher Räume ................................ 81 3.4 Öffentlichkeit und öffentliche Räume als kultureller Ausdruck .......................................................................................... 83 3.5 Zweites Zwischenfazit ..................................................................... 92
4
Untersuchungsraum und Vorgehensweise in der empirischen Fallanalyse..................................................................... 99 4.1 Der Untersuchungsraum .............................................................. 100 4.2 Das Sample ..................................................................................... 103 4.3 Das Interview ................................................................................. 106 4.4 Analyse des Interviewmaterials.................................................... 110 4.5 Deutungsmusteranalyse ................................................................ 114
5
Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin ......... 117
Inhaltsverzeichnis
7
5.1 Glaisin – Materiale Gestalt ........................................................... 118 5.1.1 Auf dem Weg nach Glaisin ................................................. 118 5.1.2 Das EXPO-Dorf Glaisin ...................................................... 120 5.1.3 Der Forsthof und seine Nebengebäude ................................ 121 5.1.4 Dorferneuerung in Glaisin ................................................... 124 5.1.5 Der Johannes-Gillhoff-Platz ................................................ 125 5.1.6 Dorf- und Mühlenstraße ...................................................... 127 5.1.7 Kanal- und Lindenstraße ..................................................... 130 5.1.8 Eichenallee .......................................................................... 132 5.2 „Ich werbe um jedes Mitglied, aber ich sage auch immer dazu, egal was sie machen, wichtig ist für mich, sie sprechen miteinander.“: Historisches Konstituieren und Spacing.................................................................................... 133 5.2.1 Ohne (Erwerbs)Arbeit keine Begegnungen: Das gesellschaftliche Leben im Dorf braucht Räume.......... 135 5.2.2 Regionale und überregionale Raumbezüge ......................... 142 5.2.3 Erschaffen, gestalten und erhalten – Handlungsmuster zur Konstitution lokaler Räume .............. 145 5.2.4 Verständnisse von öffentlichen und privaten Räumen ........ 152 5.2.5 Drittes Zwischenfazit........................................................... 157 5.3 „ (…) und man hat immer das dörfliche Leben irgendwie gestaltet, nicht.“ – Gesellschaftliche Regulation und Synthese .................................................................................. 158 5.3.1 Zum Zusammenhang von Landwirtschaft und Räumen der Begegnung ...................................................... 160 5.3.2 Heraustreten aus alten Sicherheiten und gewohnten Lebenszusammenhängen ..................................................... 165 5.3.3 Leben in verschiedenen Welten ........................................... 170 5.4 „ (…) dass man sich versteht und eigentlich doch gut so zusammen leben will.“ – Lokale Räume als kultureller Ausdruck..................................................................... 173 5.4.1 Kultureller Ausdruck lokaler Räume und Orte: „Glaisin ist Glaisin geblieben, obgleich dass (…).“ ............ 173 5.5 Das Deutungsmuster: dazu gehören und die Gemeinschaft erhalten .................................................................. 184
8
Inhaltsverzeichnis
6
Räume für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen ........................................................................................ 189 6.1 Zu den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft ...................... 189 6.2 Gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen in Glaisin ........................................................................................ 197 6.3 Verständnisse von und Beziehungen zu den lokalen Räumen Glaisins .............................................................. 198 6.3.1 Lokale öffentliche und hybride Räume ............................... 199 6.3.2 Öffentliche und private Räume............................................ 200 6.3.3 Unsichtbare Zugangssperren zu Räumen ............................ 202 6.4 Viertes Zwischenfazit .................................................................... 203
7
Fazit: Ressourcen Glaisins für eine Nachhaltige Raumentwicklung .............................................................. 207
Anhang: Interviewleitfaden ........................................................................... 225 Literatur .......................................................................................................... 235
Abbildungsverzeichnis Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16:
Methodologisches QuadranWenmodell für Raum.................... 55 Das Backhaus mit Raseneisenstein ...................................... 121 Der Bauerngarten ................................................................. 122 Der Biergarten des Forsthofs................................................ 122 Der Forsthof ......................................................................... 123 Die Bank beim Kriegerdenkmal ........................................... 125 Dreiseitenhof ........................................................................ 125 Das Haus der Vierjahreszeiten ............................................. 126 Der Blick zurück vom Johannes-Gillhoff-Platz in Richtung Westen zum Schulhaus ..................................... 127 Häuslereien........................................................................... 128 Eine alte Häuslerei in Lehm- und Klumpbauweise mit Raseneisenstein ................................... 129 Zum Schnellenberg .............................................................. 130 Der Jugendclub „Treibhaus“ ................................................ 131 Die Gillhoff-Stuv ................................................................. 131 Blick auf die Eichenallee...................................................... 132 Blick Richtung Norden von der Eichenallee auf Wiesen und Höfe südlich des Johannes-Gillhoff-Platzes ..... 133
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
ABM
Arbeitsbeschaffungsmaßnahme
Alüg
Altersübergangsgeld
BMELF
Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forstwirtschaft
n. Chr.
nach Christus
DDR
Deutsche Demokratische Republik
DFD
Demokratischer Frauenbund Deutschlands
d. h.
das heißt
ebd.
Ebenda
etc.
et cetera
EU
Europäische Union
EXPO 2000
Weltausstellung 2000 in Hannover
f.
Folgende
ff.
Fortfolgende
FuU
Fortbildungs- und Umschulungsmaßnahmen
H.
Heft
Jg.
Jahrgang
Jh.
Jahrhundert
Kap.
Kapitel
12
Abkürzungsverzeichnis
LEADER
Liaison entre actions de développement de l´économie rurale (Verbindung zwischen Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft)
LPG
Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft
m. E.
meines Erachtens
orig.
Original
S.
Seite
sog.
so genannten
u. a.
unter anderem
vgl.
Vergleiche
z. B.
zum Beispiel
zzt.
Zurzeit
1 Einleitung
Glaisin „In wendischer Hufeisenform liegt es frei und schön auf einer niedrigen Anhöhe: vierundzwanzig Bauerngehöfte und mitten drin auf dem freien Platz das Schulhaus, mein Elternhaus. Siebzehn Büdnereien und gegen fünfzig Häuslereien, dazu ein großer Forsthof und eine zweite Schule gruppieren sich auf der Höhe oder an ihren Abhängen um das Hufeisen, so daß die strenge Form des wendischen Rahmens anmutig gemildert wird. Mit Vergnügen schweift der Blick über das freundliche Wiesental zu den unermesslichen Tannenwäldern, die den Horizont im Norden begrenzen. (…) Es ist ein Dorf, schlecht und recht wie tausend andere. Die Gänse gehen dort barfuß, und in trockenen Jahren geht mehr Wind unter den Rüben durch, als den Bauern lieb ist. Nur selten dringt ein verlorener Ton aus dem Glockengeläut der Zeit ins weltferne Dörflein. Das eng umfriedete Dorfleben ist doch nicht das alte. Die Wellenschläge einer neuen Zeit haben auch mein stilles Dorf berührt, und der konservative Niedersachse steuert wohlgemut in den neuen Strom hinein. Es will ein Neues werden. Die Alten sind ins Grab gestiegen, ein neu Geschlecht trägt den Kranz im Haar. Die Strohdächer fallen, die Storchnester schwinden; aber neue, feste Mauern werden aufgeführt. Verspinnwebt hängt der Dreschflegel an der Wand, laut und geschäftig arbeitet die Maschine. Aber ich höre, daß sie im Ringen des Alten mit dem Neuen sich selbst nicht verlieren, sondern wiß und bedächtig das Ihre schaffen, freudigen Mutes bleiben und heimfest. Ich liebe mein Dorf“ (Gillhoff 2000, orig. 1905, S. 10 f.).
1.1 Ländliche Räume – Verfügungsmasse oder zukunftsfähig? Ein Jahrhundert ist es her, dass Johannes Gillhoff mit diesen Worten sein Dorf Glaisin in dem Erzählband „Bilder aus dem Dorfleben“ beschreibt, der erstmals im Jahre 1905 erschien. Auch heute noch hat der Kern Glaisins eine wendische Hufeisenform, auch wenn die Gehöfte z. T. nicht mehr jene sind, die zu Zeiten Gillhoffs den freien Platz in der Mitte säumten. Ein großer Teil des alten Dorfbildes, zu dem die Häuslereien und Gehöfte, der Forsthof und die Molkerei gehören, ist noch vorhanden, dennoch hat sich vieles verändert. Die Wellenschläge neuer Zeiten haben Glaisin und seine Bewohner/innen immer wieder berührt, manchmal vielleicht auch überrollt. Diese Wellenschläge, insbesondere die des
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1 Einleitung
sozial-räumlichen Wandels, ihre sichtbaren und unsichtbaren Spuren im Leben der Dorfbewohnerinnen Glaisins, haben mein Forschungsinteresse geweckt. Begriffe zur Beschreibung des sozial-räumlichen Wandels, die Potenziale und Entwicklungschancen ausdrücken, sind z. B. zukunftsfähige Räume, Nachhaltige Regionen, partizipative Dorfentwicklungsverfahren oder neue Dorfkulturen. Es gibt eine Vielzahl von Beiträgen, in denen nachhaltige Entwicklungsperspektiven für Regionen und Dörfer vorgestellt werden (Agrarsoziale Gesellschaft 2000, Altrock et al. 2005, Baier, Bennholdt-Thomsen & Holzer 2005, Commission à l´Egalité des Chances Commune de Beckerich 1999, Heidecke 1997, Inhetveen 2000, Kiefer 2004, Lütkemeier & Reichert 2001, Mathes 2000, SRU 1996, Thieme 2001, Thomas 2002). Diese Prozesse werden maßgeblich von den Bewohnern/innen mitgetragen, die ihr Dorf, ihre Wirtschaft und ihr kulturelles Miteinander zukunftsfähig weiterentwickeln, die zu neuen, festen und tragfähigen Mauern und somit auch vielerorts zu Ressourcen für nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweisen werden. Der sozial-räumliche Wandel ost- und westdeutscher ländlicher Räume und Gesellschaften wird in wissenschaftlichen, politischen und journalistischen Beiträgen heute auch mit den Begriffen Landflucht, Entleerung, Schlafdörfer und Funktionsverluste ländlicher Räume beschrieben. Oft werden Strukturwandel und Strukturschwächen als Ursachen für zunehmende Abwanderungen vor allem junger Menschen und Familien aus ländlichen Dörfern hervorgehoben. Beobachtet und kritisiert wird, dass ländliche Räume mehr und mehr Verfügungsmasse und Ausgleichsraum der Industriegesellschaft werden (Bätzing 1997, Evangelische Akademie Loccum 2002, Henkel 1996, Land 2005, Mark 1992, Schmals & Voigt 1986, Schürmann 1996, Thiem 2003). Während sich manche Dörfer wachsender Beliebtheit erfreuen, verschlechtert sich die Situation anderer zunehmend. So beispielsweise in ostdeutschen Dörfern abseits von Entwicklungsachsen, in denen die regionale Industrie nach der Wende zusammenbrach, in denen der Arbeitskräftebesatz der Nachfolgeorganisationen der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) auf mehr als ein Drittel schrumpfte, in denen nur zögerlich und in geringer Zahl neue zukunftssichere Erwerbsarbeitsplätze entstehen und wo in Folge die jüngeren Bewohner/innen in andere (westdeutschH Regionen zu Ausbildungs- und Erwerbszwecken abwandern (vgl. auch Soboth & Seibert 2005). Diese Dörfer schrumpfen und überaltern, sie verarmen an sozialen Kontakten und Häuser stehen leer. Einige wirken wie ausgestorben. Obwohl Orte und Plätze zum Verweilen einladen, werden sie nicht genutzt. In anderen Dörfern, in denen ebenfalls die Folgen des sozial-räumlichen Wandels wirken, gibt es kaum leer stehende Häuser und aufgegebene Bauerhöfe. Dort wohnen junge und alte Menschen. Diese Dörfer strahlen aus, dass Leben in ihnen ist.
1.2 Raum und Gesellschaft in den Raum- und Planungswissenschaften
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Die Idee zu der vorliegenden Arbeit entstand aus den zuvor angedeuteten Diskussionen um die Funktionsverluste von Dörfern als Lebens- und Aufenthaltsraum für die Dorfbewohner/innen und der verstärkten Forderung in den raumbezogenen Wissenschaften nach einer Nachhaltigen Raumentwicklung. Ich habe mich gefragt, warum Dörfer sich so unterschiedlich entwickeln, obwohl z. B. gleichermaßen im Rahmen von Dorferneuerungsverfahren räumliche Strukturen geschaffen werden, die Dörfer attraktiver machen: Es werden Dorfgemeinschaftshäuser und Einrichtungen für Jugendliche gebaut, Bänke aufgestellt, Dorfplätze gestaltet und alte Begegnungsstätten wie die Bänke vor den Höfen und Häusern rekonstruiert. Was führt dazu, dass neue Raumstrukturen entstehen, die auch tatsächlich mit Leben gefüllt werden? Vom wem, für wen und warum werden diese Räume geschaffen? Warum gelingen in manchen Dörfern diese Prozesse und in anderen nicht? Mit dieser Arbeit verdeutliche ich, dass in raum- und planungswissenschaftlichen Kontexten Raum nicht ohne soziales Handeln begriffen werden kann und damit auch nicht ohne den Zusammenhang mit handelnden Menschen – und umgekehrt: Handelnde Menschen können nicht ohne Raum begriffen werden. Indem Menschen tätig werden, schaffen, verändern und prägen sie Räume. Räume gehören zur Gesellschaft genauso selbstverständlich wie Menschen im Raum leben. Und indem Menschen Räume wahrnehmen, erzeugen und gestalten, werden sie zum alltäglichen Gegenüber, das wiederum auf menschliches Handeln wirkt. Die Behandlung von Raum und handelnden Menschen als zwei getrennt voneinander bestehende Einheiten ist m. E. immer mit einer verkürzten Sicht auf sozial-räumliche Phänomene gepaart. Vielmehr stehen Raum und Menschen (bzw. Gesellschaft) in einem dialektischen, wechselseitigen Verhältnis zueinander.
1.2 Raum und Gesellschaft in den Raum- und Planungswissenschaften Wären also die Probleme in ländlichen Räumen, die Entwicklung vieler Dörfer zu reinen Schlafstätten vermeidbar, wenn die Raum- und Planungswissenschaften als raumbezogene Wissenschaften mehr Aufmerksamkeit den wechselseitigen Beziehungen zwischen Raum und handelnden Menschen widmen? Werden diese sozial-räumlichen Bezüge tatsächlich nicht genügend beachtet und mangelt es in den Raum- und Planungswissenschaften an einer angemessen theoretischen Verortung und Reflexion ihres Verhältnisses zum Raum? Um diese Fragen beantworten zu können ist es hilfreich, neu zu reflektieren, was unter Raum, was unter Gesellschaft verstanden wird und über welche methodischen und begrifflichen Potenziale die Raum- und Planungswissenschaften
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1 Einleitung
und andere wissenschaftliche Disziplinen verfügen, um das Verhältnis beider zu untersuchen (vgl. Kap. 2). In der Auseinandersetzung mit diesen Fragen fließen in die Raum- und Planungswissenschaften als heterogene Fächer die Erkenntnisse und Zugänge anderer Disziplinen ein wie u. a. der Soziologie, der Physik, der Mathematik, der Umweltpsychologie, den Sozialwissenschaften oder der Philosophie. Verständnisse von Raum und von Gesellschaft differieren innerhalb der verschiedenen Disziplinen und Ansätze. Somit rücken im Rahmen dieser Arbeit Raumbegriffe und -konzepte verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, aber auch Raum- und Gesellschaftstheorien in den Fokus: Welche Wechselbeziehungen bestehen zwischen materiell-physischen Räumen und sozialen Räumen? Welche Prozesse sind entscheidend bei der Konstitution von sozialen und/oder physischmateriellen Räumen? Wie stark sind soziale Prozesse von räumlichen Strukturen abhängig und umgekehrt? Von Interesse ist aber auch, welche Bedeutung dem Raum in gesellschaftlichen Theorien zukommt. Die Antworten auf diese Fragen stehen in direktem Zusammenhang mit räumlichen und sozialen Theorien, und diese variieren je nach Wissenschaftsdisziplin. Rückblickend lassen sich Tendenzen ausmachen, in denen das Verhältnis der Gesellschaft zum Raum immer stärker an den Rand der Theoriebildung geraten ist. Obwohl Georg Simmel bereits im Jahre 1903 eine Soziologie des Raumes veröffentlichte, hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Soziologie des Raumes als eine eigene Forschungsrichtung etabliert. Elisabeth Konau (1977, S. 4) hat Ende der 1970er Jahre darauf hingewiesen, dass Raum in soziologischen Diskursen nicht genügend Beachtung findet. Mit zunehmender Technisierung unserer Kommunikation und immer schnelleren Möglichkeiten Distanzen zwischen Räumen zu überwinden – Beispiele hierfür sind die Kommunikation via Internet oder die enorm gestiegene Mobilität – ist Raum zunehmend marginalisiert worden. Dies führt zu einem Gefühl der Überlegenheit gegenüber dem Raum, der in vielen Bereichen problemlos überwunden werden kann. Allein die zum Teil nur unter großem Aufwand mögliche (Um)Gestaltung der materiell-physischen Strukturen erinnert durch ihre Starre, ihre Haltbarkeit und geringe Flexibilität daran, dass dem Raum eine eigene, nicht immer leicht zu beherrschende Materialität zukommt. Moderne Gesellschaften und menschliches Handeln werden aber trotzdem mehr und mehr „raumfrei“ gedacht. Während also in Soziologie, Philosophie, Mathematik und Physik seit langem eine Auseinandersetzung mit Raumbegriffen erfolgt, wurde der Terminus Raum in den raum- und planungsbezogenen Wissenschaften weniger präzise diskutiert (vgl. u. a. Blotevogel 2005, S. 831 ff., Werlen & Weingarten 2005, S. 314 ff.). In den Raum- und Planungswissenschaften wird unter Raum einerseits Raum als physischer Teil der Erdoberfläche verstanden, andererseits aber auch als ausgestalteter, genutzter und erlebter Raum mit seinen vielfältigen Nutzungs-
1.2 Raum und Gesellschaft in den Raum- und Planungswissenschaften
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ansprüchen und -konflikten. Somit besteht ein untrennbarer Zusammenhang zwischen physisch-materiellen Strukturen und sozialer Sphäre (vgl. Müller 2005, S. 906 ff.). Die Vielfalt der erörterten Raumkonzepte und -begriffe spiegelt sich auch in der Raumplanung wider. Hier wird der Raumbegriff häufig im umgangssprachlichen Sinn verwendet, aber auch mit Rekurs auf wissenschaftliche Konzepte. Häufig bleibt jedoch unklar, welches Verständnis von Raum in den jeweiligen Beiträgen vorherrscht (Blotevogel 2005, S. 839). Im Raumordnungsgesetz von 1998 lassen sich unterschiedliche Raumbedeutungen wiederfinden: der physische Erdraum, wenn von der Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, dem Freiraum, der Freifläche oder Grünbereichen sowie der gesellschaftliche Raum, wenn von Lebens- und Wirtschaftsräumen oder auch strukturschwachen Räumen gesprochen wird. Dem Konzept des formalen Ordnungsraumes liegt wiederum das Behälter-Raumkonzept 1 zugrunde. In partizipativen Planungsverfahren rücken subjektive Raumkonzepte in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Mehrdimensionalität und Vielfalt der Raumbegriffe dominieren sowohl die Planungswissenschaften als auch die Raumordnung und Landesplanung, und es bleibt eine Herausforderung, dieser Mehrdimensionalität des Raumes in Theorie und Praxis gerecht zu werden. Auch in der Sozial- und Kulturgeographie2 mangelte es über lange Zeit an einem Theoriegerüst als Grundlage der Bearbeitung sozial-räumlicher und sozial-ökologischer Problemstellung. Die Auseinandersetzung mit Raumbegriffen ging immer einher mit Diskussionen über Methodik und Selbstverständnis des Faches. Dies liegt auch an der Aufteilung der Geographie in verschiedene Teildisziplinen, die jeweils unterschiedliche Raumbegriffe ihren Forschungen zugrunde legten. Mit dem landschaftsgeographischen Ansatz war beispielsweise der Anspruch der Erfassung der totalen physischen Gegebenheiten der Erdoberfläche verbunden sowie die Herausarbeitung eines physisch-geographischen Gesamtzusammenhanges, möglichst in einem konkreten Raumausschnitt (vgl. Hard 1973, Junker 2001, S. 154). Die Humangeographie fokussierte analog hierzu auf eine genaue Beschreibung und ursächliche Deutung des vorgefundenen Kulturlandschaftsbildes. In diesen Ansätzen wird zwischen physisch-geographischen Gegebenheiten und Kulturraum getrennt. Zunächst wurde mit einem materiellen Raumbegriff gearbeitet. Später gewannen der relationale Raum und der gesellschaftliche Raum konzeptionell an Bedeutung, „ohne dass die unter-
1
Hier wird Raum als materielle Basis der Gesellschaft vorausgesetzt, die völlig unabhängig von gesellschaftlichen Aktivitäten und Handlungen gegeben ist (siehe Kap. 2.1.1). 2 Zu den inhaltlichen Schwerpunkten der Sozial- und Kulturgeographie vergleiche auch Kemper 2005 sowie Werlen & Reutlinger 2005.
18
1 Einleitung
schiedlichen Raumbegriffe immer hinreichend differenziert wurden“ (Blotevogel 2005, S. 833). In den 1970er Jahren hat sich der standorttheoretische oder regionalwissenschaftliche Ansatz in der Geographie entwickelt. Es entstand eine zunehmende Aufspaltung in eine sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Richtung einerseits und eine eher naturwissenschaftliche Richtung andererseits. In der sozialwissenschaftlichen Geographie wurde eine relationale Raumauffassung verfolgt, deren Erkenntnisinteresse auf die Erforschung von Distanzbeziehungen, räumlichen Verteilungen und Standorten auf der Erdoberfläche in Abhängigkeit des Verhaltens sozialer Gruppen oder der Wirtschaftssubjekte gerichtet war. Innerhalb der Geographie erschwerte „eine unangemessene Reduktion des Gesellschaftlichen auf das Physische und die Tendenz zur unhaltbaren Reifikation (Verdinglichung) von Begriffen“ eine theoretische Auseinandersetzung mit Raumbegriffen (Werlen & Weingarten 2005, S. 315). Nicht selten wurde die Auffassung vertreten, dass mit dem Vorhandensein von physisch-materiellen Raumstrukturen, wie beispielsweise Landschaften oder Dörfern, ein bereits vermeintlich vorgegebenes Forschungsobjekt vorhanden sei (vgl. Hard 1973, S. 11 ff.). Doch ausgehend vom mechanisch-euklidischen Raumbegriff konnte die Anthroposphäre bisher nicht in differenzierter und angemessener Weise in sozialgeographischen Forschungsarbeiten untersucht werden (Werlen & Weingarten 2005, S. 321). Daher wird innerhalb der Sozialgeographie die Erforschung der Zusammenhänge und Schnittstellen des Sozialen und Naturalen als zukünftige Aufgabe thematisiert, um das Hybride des zu hinterfragenden Problems durch inter- und transdisziplinäre Betrachtungs- und Forschungsweisen sichtbar zu machen. Mit Beginn der 1990er Jahre wird die Diskussion zum Zusammenhang zwischen Raum und Gesellschaft und damit gegen die Ausblendung des wechselseitigen, prozessualen Ineinanderwirkens von raumstrukturierenden mit gesellschaftlichen Prozessen wieder neu geführt. Den Anstoß im deutschsprachigen Raum gaben die Arbeiten3 des Ökonomen Dieter Läpple (1991a, b und 1993), gefolgt von theoretischen und methodologischen Überlegungen der Soziologie sowie der Raum- und Planungswissenschaften (Löw 2001, Sturm 2000). Vor allem die raumsoziologische Arbeit von Martina Löw (2001) und das „methodologische Quadrantenmodell für Raum“ von Gabriele Sturm (2000, S. 199) nehmen Bezug auf die Heterogenität menschlicher Raumwahrnehmungen und -konstitutionen. Sie betonen „die Dynamik der Räume, ihre Prozesshaftigkeit, ihr
3 Darüber hinaus sind u. a. auch die Arbeiten von Pierre Bourdieu (1985) „Sozialer Raum und Klassen“ und Detlef Ipsen (1999, 1997) „Raumbilder“ sowie von Giddens (1995, orig. 1988) „Die Konstitution der Gesellschaft“ zu nennen.
1.2 Raum und Gesellschaft in den Raum- und Planungswissenschaften
19
Gewordensein, ihre Vielfältigkeit, aber auch ihre Strukturierungskraft“ (Löw & Sturm 2005, S. 42). Sie fokussieren den Herstellungsprozess durch die menschliche Handlungspraxis: Räume entstehen, indem Lebewesen und soziale Güter an Orten angeordnet und miteinander verknüpft werden. Somit werden gesellschaftliche Ordnungen hergestellt, die wiederum auf die Handlungspraxis von Menschen wirken. „Das bedeutet für das soziologische Verständnis von Raum, dass sowohl über die einzelnen Elemente als auch über die Herstellung von Beziehungen zwischen diesen Elementen Aussagen getroffen werden müssen“ (ebd. S. 43). Anknüpfend an die Konzeption von Dieter Läpple (1991a, b) hat Gabriele Sturm ein Folgemodell entwickelt, das zwischen sozial hergestelltem Raum und Raum als „natürlich“ gegebener Materialität vermittelt, in dem Vorstellungen und Wirklichkeiten gesellschaftlicher Räume in vier Raumfacetten (in vier Quadranten4) analysiert werden. Mit dem „methodologischen Quadrantenmodell für Raum“ von Sturm ist es möglich, die Materialität der Raumstrukturen, Symboliken, unterschiedliche Regulationsmuster und -mechanismen, die soziale, historische Konstituiertheit sämtlicher Verhältnisse sowie die darin eingeschriebenen Machtverhältnisse zu betrachten und kritisch zu reflektieren. Somit werden in der Anwendung des methodologischen Quadrantenmodells für Raum gesellschaftliche Geschlechterverhältnisse sichtbar, die in Raumstrukturen eingeschrieben sind. Mit Rekurs auf dieses Raumverständnis wird in der vorliegenden Arbeit Bezug genommen zu feministischen Denkrichtungen, Debatten, kritischen Erkenntnissen, sozialen Kämpfen und emanzipatorischen Bewegungen, die eine grundlegende Veränderung patriarchaler Geschlechterverhältnisse, Normen und Herrschaftsverhältnisse anstreben (vgl. Thiessen 2004b). Hierzu gehört auch die feministische Kritik am androzentrischen wissenschaftlichen mainstream, dem eine Vernachlässigung der Lebenslagen und Perspektiven von Frauen vorgehalten wird (Hausen & Nowotny 1986, S. 9 ff.). Wissenschaft in diesem Sinne ist immer normativ und politisch. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht die geschlechterspezifische Raumaneignung von Frauen. Ziel ist es, Raumwahrnehmungen, -gestaltungen und -nutzungen von Frauen, die in ländlichen Räumen leben, sichtbar zu machen. Im empirischen Teil werden daher ausschließlich Frauen als (Alltags)Expertinnen für diese Form der Raumaneignung befragt (vgl. Meuser & Nagel 1997). Insofern berührt die vorliegende Arbeit auch Interessen und Ansät-
4 Als Grundform für ihr Modell hat Gabriele Sturm eine Kreis gewählt und in vier Quadranten unterteilt, die jeweils „eine sehr eigenständige Facette einer komplexen – natur- wie gesellschaftswissenschaftlichen relevanten – Raumvorstellung [spiegeln]“ (Sturm 2000, S. 199).
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1 Einleitung
ze der Frauenforschung 5 . Mit Geschlechter- oder Genderforschung – die als Begriffe im Rahmen erster postfeministischer Diskussionen eingebracht wurden – wird der Fokus auf Geschlechterverhältnisse sowie Analysekategorien gelegt, die jenseits bipolarer Geschlechterkonzeptionen liegen und auf die Überwindung einer dichotomen und hierarchischen Konzeption von Geschlechtlichkeit zielen (vgl. Fleischmann & Meyer-Hanschen 2005, S. 22 ff.). In den theoretischen Ausführungen der folgenden Kapitel wird daher explizit auf den Forschungsstand feministischer Raumforschung und Planung zu Raumverständnissen und -begriffen Bezug genommen. Ziel ist es hier, die empirisch erhobenen Daten zu den Erkenntnissen geschlechter- und gesellschaftskritischer Forschung in Bezug zu setzen und somit gesellschaftskritisch zu diskutieren. Feministische Raumforschung und Raumplanung (vgl. u. a. Bauhardt 1995 und 1997, Becker 2000, Dörhöfer & Terlinden 1998, Rodenstein 1998, Sturm 1999, Terlinden 1990a, b) stehen in enger Verbindung zur feministischen Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung, die sozial-ökologische Fragestellungen aufwirft und perspektivisch in der Schnittfläche von Geschlechter- und Naturverhältnissen arbeitet. Beide sind prinzipiell verwiesen auf die Vermittlung zwischen sozial- und naturwissenschaftlichen Wissensbeständen und daher interund transdisziplinär ausgerichtet, indem Disziplinengrenzen überschritten, Problemformulierungen mit Blick auf lebensweltliche Probleme definiert und Lösungen gemeinsam mit außerwissenschaftlichen Akteuren/innen gesucht werden (vgl. Hofmeister 2004, S. 103 ff.). In den Raum- und Planungswissenschaften wurde von Planerinnen, Architektinnen, Sozialwissenschaftlerinnen u. a. seit Ende der 1960er Jahre aufgearbeitet, dass gerade den in Raumstrukturen eingeschriebenen Machtverhältnissen nicht genügend Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Raumkonstitutionen und -nutzungen von (sozialen) Frauen6 wurden in nicht ausreichendem Maße wahrgenommen und thematisiert. Es wurde ausgeblendet, dass Räume sowohl von einzelnen Menschen als auch von gesellschaftlichen Gruppen unterschiedlich
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Frauenforschung ist Forschung über Frauen, um Wissenslücken und blinde Flecken zu schließen (vgl. Fleischmann & Meyer-Hanschen 2005, S. 22 ff.). 6 Im deutschen Sprachgebrauch wird nicht wie im Englischen zwischen dem biologischen Geschlecht (sex) und dem sozialen Geschlecht (gender) unterschieden. Um diese Unterscheidung vornehmen zu können, hat sich auch im Deutschen der Gebrauch des Begriffs gender bewährt. Mit gender sind die gesellschaftlichen Geschlechterzuschreibungen gemeint, die Vorstellungen und Erwartungen ansprechen, wie Frauen und Männer sein sollen bzw. sind. Dadurch wird insbesondere verdeutlicht, dass Geschlechterzuschreibungen sozial und kulturell geprägt und damit gestaltbar und veränderbar sind. Statt des biologischen Geschlechts rückt die soziale Rolle von Frauen und Männern in den Vordergrund. Durch die Ergänzung ‚sozial in der Klammer wird hierauf Bezug genommen: Soziale Frauen und soziale Männer verrichten überwiegend versorgende, reproduktive Tätigkeiten.
1.2 Raum und Gesellschaft in den Raum- und Planungswissenschaften
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erfahren und genutzt werden können (vgl. u. a. FOPA 1993, 1995, 1998, Grüger 2000). Wie Räume wahrgenommen werden, ist beispielsweise von Zugangschancen und -ausschlüssen abhängig. Dies bedeutet, dass mit Raumkonstitutionen immer auch Macht- und Herrschaftsverhältnisse ausgehandelt und Verteilungen hervorgebracht werden. Solche Wechselwirkungen können nicht losgelöst von gesellschaftlichen Strukturprinzipien wie Klassen, Geschlechter, Ethnien, Generationen etc. betrachtet werden. Sehr deutlich wurden die Beziehungen zwischen Raumkonstitutionen und Geschlechterverhältnissen am Beispiel öffentlicher und privater Räume aufgezeigt (vgl. Kap. 3) (vgl. Holland-Cunz 1992/93, Klaus 2004, Sturm 1997). Beispielsweise geht mit der Herauslösung der markt- und warenförmigen Arbeit aus dem (Re)Produktionsprozess eine räumliche Trennung der Geschlechter einher: Die Erwerbsarbeit findet in öffentlichen und gesellschaftlichen Bereichen statt, die überwiegend (sozialen) Männern vorbehalten sind, während die vorsorgenden und reproduktiven Arbeiten, die von (sozialen) Frauen verrichtet werden, in privaten Bereichen verbleiben. Die Auseinandersetzung mit öffentlichen und privaten Räumen erfolgt in den Raum- und Planungswissenschaften vor allem am Beispiel städtischer Räume (vgl. u. a. difu 2000 und 2004, Eckel 1998, FOPA 1992/93, Imboden, Meister & Kurz 2000, Nagler, Raumbow & Sturm 2004, SRL 2002), während der Untersuchung von Funktionen und Perspektiven ländlicher Räume so gut wie keine Aufmerksamkeit gewidmet wird (Buchenauer 1990, Marx 1999, Welz 1986). Fokussiert werden Bedeutungen und Veränderungen von städtischen öffentlichen Räumen, um daraus abzuleiten, wie gesellschaftliche Rahmenbedingungen den Wandel der öffentlichen Räume beeinflussen, wie sich Nutzungsanforderungen verändern und welche städtebaulichen Problem- und Handlungsfelder sich abzeichnen (vgl. auch Breuer 2003, S. 5). Neue räumliche Ausprägungen wie die wachsenden suburbanen Speckgürtel, die Ausweitung des Standortwettbewerbs auf Regionen sowie die Entstehung neuer Siedlungsformen, der „Zwischenstädte“ (Sieverts 2001), haben den Blick zwar auch auf das Umland der Städte gelenkt, allerdings ohne die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf öffentliche ländliche Räume zu thematisieren (vgl. auch Fritsche & Schreckenberg 2002, S. 11 ff.). Auffällig ist, dass der Diskurs zu öffentlichen und privaten Räumen von vielen Autoren/innen ohne Bezug zu Raumtheorien und -begriffen geführt wird. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Reihe von Merkmalen für die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat herangezogen wird und es kaum empirisch gesichertes Wissen über Nutzungen, Bedeutungen und Wandel öffentlicher, halböffentlicher, privater und halbprivater Räume gibt. Es ist eine noch offene Aufgabe in den Raum- und Planungswissenschaften, in inter- und transdisziplinären Forschungsweisen die Zusammenhänge zwischen geschlechterspezifischen, sozialen Interaktionen und (hybriden) Raumkonstitutionen sichtbar zu
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1 Einleitung
machen. Dieser Forschungsbedarf bezieht sich auf städtische und insbesondere auch auf ländliche Räume. Für die Bearbeitung sozial-räumlicher Fragestellungen ist der Rekurs auf die in der Raum- und Umweltplanung – sowohl in der Planungspraxis als auch in der Raum- und Umweltforschung – stattfindende intensive Auseinandersetzung mit dem Leitbild einer Nachhaltigen (Raum)Entwicklung bedeutend (vgl. Wolfram 2002). Der heutige Diskurs zu Nachhaltiger Entwicklung wurde von dem Brundtland-Bericht 1987 und der Konferenz in Rio de Janeiro 1992 wesentlich gefördert. Schließlich wurde mit dem neuen Bau- und Raumordnungsrecht (BauGB 2002, ROG 1998) das Leitbild einer Nachhaltigen Raumentwicklung in der Raumordnung und Bauleitplanung verankert. Diese Leitvorstellung fand eine rasche Akzeptanz, da sich Bezüge zu Prinzipien herstellen lassen, die in der tradierten Raumordnung eine wichtige Stellung einnehmen und seit längerer Zeit diskutiert werden, wie beispielsweise Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen, Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, Eröffnung von Lebenschancen etc. (vgl. Blotevogel 2002). Der Begriff der Nachhaltigkeit fungiert dabei „als eine Art Katalysator, um die Frage ‚In welcher Welt wollen und sollen wir heute und künftig leben? diskursfähig zu machen und sich über Antworten zu verständigen“ (ebd., S. 135).
1.3 Vorgehensweise Mit der vorliegenden Arbeit werden die zuvor genannten Forschungslücken aufgegriffen, und in einer inter- und transdisziplinären Herangehensweise7 wird die alltägliche Herstellung und Nutzung lokaler öffentlicher Räume von Frauen, in Verbindung mit Diskussionen um Transformationen in ländlichen Räumen, fokussiert. Anknüpfend an die Intentionen feministischer Raumforschung und -planung sowie der Frauenforschung werden bisher vernachlässigte Perspektiven auf weibliche Lebenszusammenhänge und Raumkonstitutionen eingenommen: Daher wurden für den empirischen Teil dieser Arbeit ausschließlich Frauen als Interviewpartnerinnen ausgewählt. Ziel ist es einerseits, die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen aufzudecken und zu hinterfragen sowie
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In einer interdisziplinären Herangehensweise werden Probleme und Fragestellungen aus Perspektive mehrerer Wissenschaftsdisziplinen fokussiert, die in der Regel gleichberechtigt nebeneinander stehen. Mit einer integrationsorientierten Herangehensweise werden Probleme disziplinenunabhängig definiert und gelöst. Transdisziplinäre Forschungen arbeiten mit einem Anwendungs- und Akteursbezug, um einen Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher Probleme leisten zu können (vgl. Defila, Di Giulio & Scheuermann 2006).
1.3 Vorgehensweise
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andererseits die darin enthaltenen Potenziale und Ressourcen für eine Nachhaltige Raumentwicklung zu diskutieren. Grundlegend ist die Annahme, dass den öffentlichen Räumen in Dörfern zentrale Bedeutungen als Orte der Kommunikation und Begegnung zukommen. Durch die Wirkmächtigkeit der sozial-räumlichen Transformationsprozesse in ländlichen Räumen – so lautet eine weitere Annahme – haben sich soziale Konstitutionen und Nutzungen von lokalen Räumen verändert. Die Ergebnisse aus der empirischen Erhebung sind situations- und kontextbezogen entstanden. Die untersuchte Gruppe hat entsprechend ihrer Regeln und Normen entschieden, an welchen Aktivitäten ich als Untersuchende teilnehmen, welche ich beobachten kann und wovon ich ausgeschlossen bin. Sie hat damit einen Teil meines Handlungsrahmens als Forscherin definiert. Doch nicht nur die hier untersuchte Gruppe, sondern auch ich selbst – z. B. mein soziales Auftreten, mein Geschlecht und Alter, meine ethnische Herkunft – wirken auf das Forschungsfeld. Die genannten Faktoren beeinflussen den Forschungsprozess, sie können den Zugang zu und die Teilnahme an sozialen Prozessen begünstigen oder auch beschränken (vgl. hierzu auch Münst 2004, S. 330 ff.). Von feministischen Theoretikerinnen wird darauf hingewiesen, „dass die Frage, über wessen Erkenntnis wir sprechen, wenn wir über Wissen und Wissenschaft sprechen, in eine zentrale analytische Position zu rücken sei. Damit stellen sie [die feministischen Theoretikerinnen] sich gegen all jene erkenntnistheoretischen Positionen, die von der sozialen und kulturellen Situiertheit der Wissensobjekte abstrahieren und Erkenntnis und Wissen jenseits von Körperlichkeit und Geschichtlichkeit, von Macht- und Herrschaftsverhältnissen thematisieren“ (Singer 2004, S. 257). Sandra Harding und Donna Haraway haben dafür den Begriff des „situated knowledge“ (situiertes Wissen8) in die feministischen Diskussionen eingeführt (vgl. Harding 1991, S. 138 ff., Haraway 1995, 73 ff.). Daher können die vorgestellten Ergebnisse zu Raumkonstitutionen und -verständnissen nicht losgelöst von der Frage danach, wie ich mich als forschendes Subjekt in den Forschungsprozess eingebracht habe, verstanden werden. Dazu ist anzumerken, dass mein Zugang zum Forschungsfeld von deutlichem Interesse für die Lebensund Handlungssituationen der Bewohnerinnen geprägt ist. Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht das Ziel, den „besonderen Fall Glaisin“ zu erforschen. 8 Wissenschaften werden von konkreten, empirischen Subjekten produziert, deren Wahrnehmung keine unvermittelte sein kann. Forschende als Wissenssubjekte sind – historisch, sozial, kulturell, ökonomisch – als situiert bzw. standortverbunden zu verstehen. Wahrnehmung und die Produktion von Wissen erfolgen u. a. aus einer bestimmten Denksozialisation heraus, mit bestimmten Interessen und Weltbildern im Hintergrund, mit einer bestimmten körperlichen Verfasstheit, beschränkt und geprägt durch materielle Bedingungen, soziale und natürliche Umwelten. Dementsprechend ist auch das produzierte Wissen als situiert und kontextabhängig zu bezeichnen (vgl. Singer 2004).
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1 Einleitung
Den Interessen der Frauen- und Geschlechterforschung folgend werden bisher vernachlässigte Forschungsperspektiven auf die Raumwahrnehmungen, -gestaltungen und -nutzungen von Frauen eingenommen. Dies erfolgt jedoch nicht im Sinne des erstmalig von Maria Mies formulierten Postulates, nach dem Wertfreiheit, Neutralität und Indifferenz gegenüber Forschungsobjekten durch bewusste Parteilichkeit zu ersetzen und vertikale Beziehungen zwischen Forschenden und Erforschten durch eine gemeinsame Sicht von unten auszutauschen sind (vgl. Mies 1978 sowie Müller 2004, S. 294 ff.).9 Mit der vorliegenden Arbeit wird Parteilichkeit nicht als methodisches Prinzip eingesetzt. Mein erkenntnisleitendes Interesse verstehe ich als eine Rahmenbedingung, die mich zur vorliegenden Forschung veranlasste und die mir den Zugang zum Forschungsfeld, insbesondere zu den Interviewpartnerinnen, ermöglicht hat. Im Sinne eines kritischen Hinterfragens und Fremdverstehens habe ich die Lebenspraxis der Interviewten in den Vordergrund gestellt, um Bedingungen von Raumkonstitutionen und ihre zugrunde liegenden latenten Sinngehalte rekonstruktiv sichtbar zu machen. Im Forschungsprozess sind daher die Reflexion und der Vergleich meiner subjektiven Wahrnehmung – beispielsweise auf Dorfrundgängen zur Erfassung und Beschreibung der Raumstrukturen sowie während der teilnehmenden Beobachtung an gesellschaftlichen Ereignissen in Glaisin – mit den empirisch erhobenen Daten und den Erkenntnissen mittels Dokumentenanalyse von Bedeutung. Die Beschreibung der Raumstrukturen Glaisins (siehe Kap. 5.1) entspricht meiner Wahrnehmung der dörflichen Raumstrukturen und Atmosphären. Sie deckt sich mit den Angaben und Beschreibungen der Interviewpartnerinnen. Um weitere Aussagen zu Unterschieden und Übereinstimmungen zwischen meinen Wahrnehmungen und Erkenntnissen als Forscherin und denen der Interviewpartnerinnen treffen zu können, ist der Transfer der Erkenntnisse zu den Praxisakteurinnen vor Ort unerlässlich. Die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegende Raumvorstellung ist eine relationale: Raumstrukturen entstehen, indem Beziehungen zwischen Gegenständen und Menschen entwickelt werden (vgl. Löw & Sturm 2005, S. 45). Ausgehend von den heute vorgefundenen Raumstrukturen bewegen mich daher Fragen nach den Bedeutungen lokaler Räume für die Bewohnerinnen und speziell danach, wie Räume im Alltag hergestellt werden bzw. hergestellt worden sind: Wie konstituieren die Bewohnerinnen Glaisins lokale Räume? Mit welchen Intentionen wurden und werden lokale Räume geschaffen und genutzt? Wie wirken Zeiten gesellschaftlicher Veränderungen auf die Konstitution von Räumen sowie die Entstehung von Raumstrukturen? 9 Die Forderungen von Maria Mies sind nicht unumstritten (vgl. zusammenfassend Behnke & Meuser 1999, S. 30 ff.).
1.3 Vorgehensweise
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Um die alltagsweltliche Konstitution von Raum erfassen und nachvollziehen zu können, ist eine Fallstudienanalyse notwendig mit einer Kombination (Triangulation 10 ) aus Dokumentenanalyse, teilnehmender Beobachtung (vgl. Münst 2004), Analyse der dörflichen Raumstrukturen, Einzelinterview und Deutungsmusteranalyse. Mit der Dokumentenanalyse erfolgt eine theoretische Auseinandersetzung mit der Kategorie Raum und den verschiedenen fach- und interdisziplinären Zugangsweisen. Sie dient der Klärung wissenschaftlicher Verständnisse von Raum allgemein sowie privaten, öffentlichen, halböffentlichen und halbprivaten Räumen (Kap. 2 und 3). Ein Schwerpunkt liegt hier auf Beiträgen raum- und planungswissenschaftlicher Diskurse. Die Dokumentenanalyse theoretischer Zugänge zu Raum und Gesellschaft ergibt, dass die alltagsweltliche Herstellung von Raum ein komplexer und vielschichtiger Prozess ist. Hier geht es um die Betonung des Besonderen, um das Erklären von Phänomenen am Beispiel von Einzelfällen. Auch die Beschreibung gesellschaftlicher Veränderungen und Prozesse ist in diesen Zusammenhängen von Interesse. Mit der gesetzlichen Verankerung des Leitbildes Nachhaltige Raumentwicklung haben sich die Raum- und Planungswissenschaften der Bearbeitung komplexer Zusammenhänge verpflichtet. Hierfür ist ein Konzept erforderlich, das Räume in verschiedenen Kontexten thematisiert: als Naturraum, als sozialer Lebens- und Handlungsraum, als Wirtschaftsraum, als Kulturraum etc. Gesellschaftliche Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse, die Raumkonstitutionen und -nutzungen einschränken, gilt es sichtbar zu machen. Es werden zunehmend Fragen nach dem Vorhandensein von Ressourcen und Potenzialen für eine Nachhaltige Entwicklung sowie nach Generationengerechtigkeit gestellt. Lokale Entwicklungsziele für Räume sind auf Grundlage aller Beteiligten zu ermitteln und in politische Prozesse einzubringen. Komplexe Zusammenhänge erfordern eine komplexe Bearbeitung. Komplexität birgt jedoch häufig die Gefahr, dass darunter alle diejenigen Probleme gefasst werden, die nicht bis in alle Bedeutungsschichten hinein dargestellt werden können. Komplexität wird dann schnell zum Sammelbegriff für Verstehensprobleme, die nicht lösbar sind (vgl. Kelle 1997, S. 207). Oft ist es nicht einfach, der theoretischen Vielfältigkeit gegenüber offen zu sein und das Wechselspiel von Komplexitätsreduktion und -produktion entsprechend dem Arbeitsstand im Forschungsprozess zu methodisieren. Trotz dieses Wechselspiels steht immer
10 Unter Triangulation wird die Kombination verschiedener Methoden, Forscher/innen, Untersuchungsgruppen, lokaler und zeitlicher Settings etc. verstanden. Über ihre Anwendung sollen die Erkenntnismöglichkeiten systematisch erweitert und vervollständigt werden (vgl. Flick 2000, S. 249 ff., Schründer-Lenzen 1997, S. 107 ff.).
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1 Einleitung
nur ein Ausschnitt aus der Vielfalt – in der vorliegenden Arbeit die fortwährende Aneignung, Nutzung und (Re)Produktion von Räumen – im Mittelpunkt. Zur Bearbeitung dieser komplexen Zusammenhänge erscheinen neuere Raumkonzepte als geeignet, die vermittlungstheoretisch (vgl. Kropp 2002) angelegt sind11. Zur Fokussierung von Ausschnitten und ausgewählten Aspekten der Konstitution von Raum sowie zur Eingrenzung des eigenen Erkenntnisinteresses wird in der Ergebnisdarstellung des Diskurses zum „Sonderfall“ öffentliche und private Räume auf das Quadrantenmodell von Gabriele Sturm (2000) zurückgegriffen. Somit ist es möglich, die physisch-materiellen Räume und die sozialen Räume zu analysieren und miteinander zu verbinden 12 . Ebenso können die sozialen Handlungspraktiken, über die physisch-materielle und soziale Räume hergestellt werden, zu den gesellschaftlichen Regulationen, die auf Raumkonstitutionen wirken, in Beziehung gesetzt werden. Um solche Formen der Raumherstellung der Akteurinnen in ihrer Komplexität zu erkennen und zu analysieren, müssen alle Facetten des Modells betrachtet werden. Des Weiteren wird das Quadrantenmodell von Sturm zur Systematisierung des raum- und planungswissenschaftlichen Diskurses zu öffentlichen und privaten Räumen eingesetzt. Im Zentrum der Analyse stehen u. a. folgende Fragen: Welche Räume werden betrachtet? Wie wurden und werden diese Räume individuell und gesellschaftlich konstituiert? Welche Bedeutungen hatten und haben diese Räume für einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen? Sind mit den Raumkonstitutionen gesellschaftliche Machtverhältnisse verbunden, die zu Aus- und Eingrenzungen von Nutzungen führen? Im Ergebnis der Dokumentenanalyse wird sichtbar, wie Räume wahrgenommen und konstituiert werden und welche Möglichkeiten und Grenzen sich für die Analyse von Raumkonstitutionen und die Einordnung zu den Kategorien öffentlich, privat, halböffentlich und halbprivat aus wissenschaftlichen Perspektiven auftun. Nach einer Anwendung der theoretischen und methodologischen Erkenntnisse zur Konstitution von Räumen auf den „Sonderfall“ öffentliche und private Räume entwickeln sich im Folgenden der Forschungsgegenstand und die Fragestellung im Prozess der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material. Da die Konstitution von Raum in engem Zusammenhang mit individuellen Lebens-
11 Gabriele Sturm bewegt sich beispielsweise mit ihrem Raummodell zwischen den beiden Polen Naturalismus und Soziozentrismus. Vermittlungstheoretisch bedeutet dies, dass sie sowohl das Physisch-Materielle als auch das Soziale zum Ausgangspunkt ihrer theoretischen Überlegungen zu Raum macht (siehe Kap. 2.1.5). 12 Diese Verbindung wurde auch in der Physischen Geografie fokussiert, indem die Beziehungen zwischen Gesellschaft und Natur systemtheoretisch analysiert und einer „ökologischen Gestaltung“ zugänglich gemacht werden sollten. Ziel war die Entwicklung neuer raumwissenschaftlicher Theorien (vgl. Hardt 1973).
1.3 Vorgehensweise
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situationen steht, folgt daraus, dass es eine Vielfalt von Räumen gibt. Jeder Mensch kann entsprechend seiner Bedürfnisse unterschiedliche Elemente zu einem Raum verknüpfen. Und jeder Mensch kann entsprechend seiner Möglichkeiten der Wahrnehmung Räume als öffentlich oder privat interpretieren. Demnach sind sowohl die einzelnen Elemente zu erheben als auch deren Beziehungen zueinander, indem beide Perspektiven wechselseitig eingenommen werden (Löw 2001, Sturm 2000). Da im Handeln Strukturen geschaffen werden, diese aber auch das Handeln beeinflussen, regt Löw (2001, S. 219 ff.) an, die Herstellung von Räumen in „offenen unstandardisiert erhebenden Interviews und qualitativ auswertenden Verfahren“ zu erforschen13. Daher wird in Einzelinterviews den Fragen nachgegangen, wie Frauen entsprechend ihrer Bedürfnisse Räume herstellen und nutzen und welche Bedeutungen diese Räume für sie haben (Kap. 4). Die Auswertung des Interviewmaterials erfolgt in Anlehnung an das Verfahren der „gegenstandsbezogenen Theoriebildung“ (Grounded Theory) nach Glaser & Strauss (1993). Es handelt sich um ein theoriengenerierendes Verfahren, das als solches auch in der vorliegenden Untersuchung zur Anwendung kommt. Die Grounded Theory kann dann angewendet werden, wenn es nicht um Komplexitätsreduzierung geht, sondern um die Eröffnung von Denkmöglichkeiten und Perspektiven (vgl. Kap. 4). Sie eignet sich z. B. für die Untersuchung komplexer alltagskultureller Praktiken von Teilnehmern/innen eines sozialen Handlungsfeldes und somit auch für die Erforschung Raum konstituierender Handlungen. Das Verfahren bietet Raum, um Widersprüche, Ambivalenzen, Mehrdeutiges, Disparates und Heterogenes aufzudecken. Sichtbar wird die Vielfältigkeit von interaktiv erzeugten sozialen Wirklichkeiten. Ursachen und Folgen, Bedingungen und Bedingtes werden zueinander in Beziehung gesetzt und analysiert. Mit einem rekonstruktiven Vorgehen werden aus dem Datenmaterial Sinnzusammenhänge zu Typologien bzw. Handlungsmustern verknüpft. Einzelfallanalysen dienen im weiteren Verlauf der Auswertung als Grundlage für die Bildung von „Typen“ (Kelle & Kluge 1999). Mit einer Deutungsmusteranalyse (vgl. Oevermann 2001) werden kollektive, handlungsleitende Wissensbestände herausgearbeitet, die über individuelle Sinngehalte von Raumkonstitutionen und -nutzungen hinausgehen. Eine teilnehmende Beobachtung und eine Strukturanalyse des Dorfes (vgl. auch Breckner & Sturm 1997) ergänzen die Einzelfallanalyse der empirisch erhobenen Aussagen. Die teilnehmende Beobachtung ermöglicht es die Grenzen, die einem exklusiv sprachlichen Zugang zum Forschungsfeld inhärent sind, zu 13 Qualitativer Forschung kommt insbesondere in der Frauen- und Geschlechterforschung ein hoher Stellenwert zu (Behnke & Meuser 1999, S. 11 ff., Becker & Kortendiek 2004).
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1 Einleitung
überschreiten und Wissen sowie kulturelle Praktiken zu erfassen, die diskursiv nicht verfügbar sind (vgl. Münst 2004). Mittels Beobachtung können Handlungsstrukturen sowie situative Abweichungen identifiziert werden. Insbesondere mit diskursiven Methoden wie Interviews in Kombination mit teilnehmender Beobachtung werden Differenzen zwischen den diskursiv vermittelten Konzepten und den beobachtbaren Handlungsstrukturen erfassbar. Die Beziehung zwischen kultureller Selbstkonstruktion und der beobachtbaren Praxis kann dann einer Analyse unterzogen werden14. Das anschließende Kap. 5 beinhaltet die Ergebnisse der Einzelfallanalysen mittels empirischer Erhebungen. Der Schwerpunkt in der Darstellung liegt einerseits auf den individuellen Herstellungen von Räumen der Interviewpartnerinnen sowie auf den Intentionen, die den sozialen Handlungen zugrunde liegen: Wie werden Räume und materielle Raumstrukturen hergestellt? Was veranlasst die interviewten Frauen zur Herstellung lokaler Räume? Welche gesellschaftlichen und politischen Prozesse wirken auf Raumkonstitutionen? Vor welche Probleme sehen und sahen sich die Bewohnerinnen gestellt und welche Bewältigungsstrategien sind erkennbar? Mit welchen Intentionen werden lokale Räume geschaffen? Welche Qualitäten lokaler Räume benennen meine Gesprächspartnerinnen und was möchten sie erhalten? Ein weiterer Schwerpunkt in der Auswertung liegt auf den Raumverständnissen der interviewten Frauen: Welche Räume sind ihrer Einschätzung nach öffentliche und welche private Räume? Welche Qualitäten öffentlicher und privater Räume benennen die Interviewpartnerinnen? Das methodologische Quadrantenmodell für Raum von Gabriele Sturm kommt auch bei den Ausführungen der empirischen Ergebnisse zur Anwendung. Es dient in diesem Kapitel vor allem wieder der Strukturierung der Ergebnisse, indem bestimmte Raumausschnitte sowie Aspekte von Raumkonstitutionen hervorgehoben und analysiert sowie zueinander in Beziehung gesetzt werden. Der Schwerpunkt in der Ergebnisdarstellung liegt insbesondere auf den Quadranten II bis IV: Im zweiten Quadranten steht die Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen, die auf die Raumherstellung und -nutzung Einfluss nehmen, im Vordergrund. Im dritten Quadranten wird die alltagsweltliche Herstellung lokaler Räume der Interviewpartnerinnen fokussiert. Hier werden Gegebenheiten vorgestellt, die zu Handlungsproblemen führen können und u. a. Auslöser für die Entstehung
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Die Kritik an der Methode teilnehmende Beobachtung bezieht sich auf die Reliabilität und Repräsentativität der Forschungsergebnisse (ebd.). Beispielsweise sei diese Beobachtungsmethode, wie viele Beschreibungen, selektiv, subjektiv und berücksichtige nur die Perspektive einer Person. Als Entgegnung auf diese Kritik wird angeführt, dass die Selbstreflexivität der forschenden Person, die Ergänzungen durch andere Datentypen wie beispielsweise Interviews, Dokumente, die Selektivität und Subjektivität der Beobachtung relativieren.
1.3 Vorgehensweise
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des Deutungsmusters sind. Der vierte Quadrant behandelt das Deutungsmuster in seinen verschiedenen Variationen. Ergänzend werden in die Analyse auch Materialien integriert, die Informationen zum Untersuchungsraum liefern. Sie bieten Einblicke in die Lebensbedingungen und -weisen der Interviewpartnerinnen. Im folgenden Kap. 6 steht der Austausch zwischen den Erkenntnissen bereits vorhandener Theorien sowie jenen aus dem eigenen Datenmaterial im Zentrum des Interesses: Die theoretischen Überlegungen aus den Kap. 2 und 3 sowie die empirischen Ergebnisse dieser Untersuchung aus Kap. 5 werden hier in einer Synthese aufeinander bezogen. Die Raumverständnisse der Interviewten sowie die von ihnen herangezogenen Merkmale zur Beschreibung lokaler Räume werden in Bezug gesetzt zu wissenschaftlichen Raumtheorien, -begriffen und -verständnissen. Die Ergebnisse der Deutungsmusteranalyse, die Aufschluss geben über kollektive Intentionen, mit denen die Interviewten Räume nutzen und konstituieren, werden mit Bezug auf bereits bestehende gesellschaftliche Theorien zu Gemeinschafts- und Gesellschaftsbeziehungen und insbesondere mit Verweis auf die Handlungsorientierungen von Talcott Parsons (1968) diskutiert, zur Generierung einer Theorie über den besonderen Fall Glaisin. Im Rahmen dieser Arbeit wird in einer inter- und transdisziplinären Herangehensweise das vielfältige und komplexe Beziehungsgefüge zwischen Raum, Individuum und Gesellschaft erforscht. Abschließend wird in Kap. 7 die Frage nach dem Erkenntnisgewinn der vorliegenden Arbeit für die Raum- und Planungswissenschaften gestellt. Beiträge aus der Umwelt- und Nachhaltigkeitsdiskussion haben auch die Raumwissenschaften in den letzten Jahrzehnten geprägt. In raumwissenschaftlichen Forschungen werden daher zunehmend Fragen nach dem Vorhandensein von Ressourcen, Potenzialen und Generationengerechtigkeit gestellt und es wird eine integrierte Betrachtungsweise von ökologischen, wirtschaftlichen und sozial-kulturellen Aspekten einer räumlichen Entwicklung gefordert. Somit sind raumwissenschaftliche Forschungen verstärkt vor die Herausforderung einer inter- und transdisziplinären Betrachtungs- und Forschungsweise gestellt. Diese erklärt sich zum einen aus der eingangs erwähnten gesetzlichen Verankerung des Leitbildes im Raumordnungsgesetz 1998 (ROG 1998). Aber auch die Entwicklungsprozesse ländlicher Räume – beispielsweise die mancherorts abnehmende Bedeutung der Landwirtschaft und die Zunahme außerlandwirtschaftlicher Erwerbstätigkeiten, der Rückzug von Infrastruktur aus den Dörfern etc. – führen zu Fragen nach Gestaltungs- und Entwicklungsperspektiven ländlicher Räume und ihren Qualitäten als Lebensräume für diese und zukünftige Generationen.
2 Verständnisse von Raum und Gesellschaft
„Der Raum ist dem Ort, was die Ewigkeit der Zeit ist.“ Joseph Joubert, franz. Moralist und Essayist (1754 – 1824)
In dem vorangehenden Kapitel habe ich mein Erkenntnisinteresse dargelegt. In Bezug auf die Kategorie Raum bewegt mich die Frage danach, wie Räume im alltäglichen Handeln entstehen: Wer, also welche Individuen oder gesellschaftliche Gruppen, konstituieren Räume in dem Dorf Glaisin und wie verändern sich diese Herstellungen und Nutzungen im Laufe der Zeit? Mit dieser Frage liegt ein Schwerpunkt auf der Fokussierung des Zusammenhangs zwischen handelnden Menschen und der Entstehung von Raumstrukturen. Dahinter verbirgt sich eine Denktradition, in der Raum und Mensch als Einheit gesehen werden (vergleichbar dem Soziozentrismus) (vgl. Kropp 2002): Indem Menschen Räume wahrnehmen, erzeugen sie Räume als ihr alltägliches Gegenüber. Eine andere Denktradition geht davon aus, dass es einen Raum unabhängig von menschlicher Wahrnehmung gibt. Raum besteht aus Materie, die nachweisbar und bestimmbar ist (vergleichbar dem Naturalismus) (ebd.). Neben diesen beiden gibt es vermittlungstheoretische Positionen (ebd.), die sowohl das Physisch-Materielle als auch das Soziale zum Ausgangspunkt machen. In Bezug auf die empirische Erhebung im Rahmen dieser Arbeit bewegt mich die Frage nach den Möglichkeiten von Frauen im ländlichen Raum zur Konstitution von öffentlichen Räumen. Wie, unter welchen Bedingungen und mit welchen Intentionen konstituieren die Bewohnerinnen Räume? Und welche Bedeutungen und Qualitäten haben diese Räume? Daher werden im Folgenden verschiedene Zugänge und Verständnisse von Raum und Gesellschaft aufgegriffen und diskutiert, um Möglichkeiten und Grenzen für die Analyse von individuellen Raumkonstitutionen und ihren Qualitäten für Bewohnerinnen sichtbar zu machen.
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2 Verständnisse von Raum und Gesellschaft
2.1 Raumbegriffe15 und -theorien Rückblickend auf die Wissenschaftshistorie gibt es verschiedene Verständnisse von Raum. Einerseits wird Raum als materielle Basis der Gesellschaft vorausgesetzt, die völlig unabhängig von gesellschaftlichen Aktivitäten und Handlungen gegeben ist („Behälterraum“). Andererseits ändert sich das Verständnis von Raum, indem Raum als Produkt menschlicher Handlungen erkannt wird, als sozial konstruiert. Dementsprechend ist alles Materiell-physische sozial hergestellt. Oder aber Raum entsteht in unserer Wahrnehmung als menschliche Syntheseleistung, indem wir Objekte zueinander in Beziehung setzen („Beziehungsraum“) (vgl. Blotevogel 1995, 2005). Raum ist dann ein Konstrukt menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung. In der Physik hat man sich schon sehr früh mit dem Raum auseinandergesetzt, und es sind vor allem die Konzepte von Newton und Leibniz, die von anderen Wissenschaftsdisziplinen zur Erklärung sozialräumlicher Entwicklungen und Prozesse aufgegriffen werden. Auch in den Raum- und Planungswissenschaften und in der Soziologie wurde mit diesen Begriffen gearbeitet. Ich werde diese beiden grundlegenden Denkrichtungen vorstellen.
2.1.1 Zwei Denktraditionen: absolutistisch versus relativistisch Der Durchbruch eines neuzeitlichen Raumverständnisses begann mit der Entstehung der Galilei-Newtonschen Physik zu Beginn des 13. Jahrhunderts. Bis dahin basierte die Vorstellung von Raum auf der alltäglichen Erfahrung und Aneignung des Lebens- und Arbeitsraumes. Es war ein anthropozentrischer Raumbegriff, und dieser „wurde von der traditionellen Gesellschaft durch einen naturzentrierten, physikalischen Raumbegriff abgelöst“ (Läpple 1991b, S. 37 f.). In der Physik16 dominierten in dieser Zeit zwei Denktraditionen, die in enger Konkurrenz zueinander standen. Die Absolutisten vertraten die Ansicht, dass es ei-
15 Benno Werlen (2000, S. 214 f.) weist auf die Differenz zwischen Begriff und bezeichnetem Gegenstand hin. Die Bedeutungen der Begriffe müssen nicht mit den Eigenschaften der damit bezeichneten Objekte übereinstimmen. Ein Begriff ist eine Einigung über den Bedeutungsgehalt mittels Definitionen. Die Bedeutungen selbst sind zugewiesene Begriffsbedeutungen, die für bestimmte Zwecke angemessen oder unangemessen sein können. Werlen (ebd., S. 15) stellt somit heraus, dass es „keine Räume, Landschaften oder Regionen gibt, die von ihrem Wesen her vorgegeben sind. (...) Sowohl das Raum- wie das Begriffsverständnis sind demzufolge formaler Art. Beide bilden die Basis für das gesamte raumwissenschaftliche Forschungsprogramm.“ 16 Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Verständnissen von (physikalischen) Raumbegriffen und -konzepten finden sich in den Arbeiten von Löw (2001) und Sturm (2000).
2.1 Raumbegriffe und -theorien
33
nen Raum an sich gibt, der unabhängig von Objekten besteht. In dieser Vorstellung wird Raum zum Behälter, der leer oder gefüllt sein kann. Der Physiker Isaac Newton hat im 17. Jahrhundert diese auf Aristoteles17 zurückgehende Vorstellung von Raum aufgegriffen und das Konzept vom Behälter-Raum gegen die Anschauung der Relativisten vertreten. Newton entwickelte die Vorstellung einer homogenen und unendlichen Welt, die von Kraft- und Bewegungsgesetzen bestimmt wird. Obwohl Newton Raum unendlich denkt, bleibt Raum ein Behälter, der mit verschiedenen Elementen angefüllt werden kann, der jedoch auch unabhängig von ihnen als leerer Raum existiert. Die in ihm befindliche Materie – das materielle Naturgeschehen, das sich nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten verhält –, steht dabei in keinem inneren Zusammenhang zu seinem Behälter, dem Raum. Der Behälter-Raum ist mit Hilfe der euklidischen Geometrie beschreibbar. Die Absolutisten Galilei und Newton gehen somit von einem Dualismus zwischen Raum und Körper aus, während die Relativisten Leibniz und Huygens annehmen, dass Raum sich aus der Struktur erschließt, in der Körper zueinander in Beziehung stehen. Ein relativistischer Raum ist als Lagerungsqualität der Körper zu verstehen – Raum entsteht über die Anordnung von Körpern und somit bilden Raum und Körper einen unauflösbaren Zusammenhang, eine Einheit. Die Objekte, die zueinander in Beziehung gesetzt werden, sind veränderlich und ständig in Bewegung, ebenso wie der Raum selbst. Newtons Konzept des Behälter-Raumes setzte sich jedoch gegen den relationalen Raum der Relativisten Leibniz und Huygens durch. Der Behälter-Raum wurde zur theoretischen Grundannahme von Raumwirtschaftstheorien wie beispielsweise auch in der von Johannes Heinrich von Thünen formulierten Standortstrukturtheorie für den primären Sektor. Thünen entwickelte sein Modell für die Landwirtschaft – ihn interessierte, „wie sich an einem bestimmten Standort der gegebene Boden durch das geeignetste Produkt und das angemessenste Betriebssystem ökonomisch optimal nutzen läßt“ (Läpple 1991a, S. 175 ff.). Es basiert auf der Grundannahme, dass mit zunehmender Entfernung die Transportkosten für produzierte Güter steigen und damit der Erlös geringer wird. In größerer Entfernung vom Markt sollten daher Produktionsverfahren gewählt werden, die weniger kapital- und arbeitsintensiv sind, damit standortgebundene Produktionskosten eingespart werden können. Thünen veranschaulicht dies anhand konzentrischer Kreise, die er um einen in der Mitte liegenden Markt herum zeichnet.
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Die Vorstellung des Raumes als Behälter stammt ursprünglich aus der Antike. Aristoteles nahm an, dass der Raum endlich sein muss und durch die Fixsterne begrenzt wird. Im Zentrum dieses Raumes befindet sich die unbewegliche Erde, um sie herum sind Wasser, Luft und Feuer bis zum Mond in konzentrischen Kreisen angeordnet. Jenseits des Mondes bewegen sich die anderen Planeten im endlichen Raum.
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2 Verständnisse von Raum und Gesellschaft
Diese Ringe stehen für von der Entfernung abhängige Grenzen der jeweiligen landwirtschaftlichen Nutzung. Um diesen Sachverhalt darstellen zu können, geht Thünen von einem Behälter-Raum als passives Wirkungsfeld aus, der eine homogene Fläche hat und in dem Betriebe und Produktionsstätten angeordnet und verteilt werden. Raum ist bei Thünen eine Art passiver Rahmen, der keinerlei Einfluss auf die Objekte hat und der nur insofern von Interesse ist, als er die Distanzen zwischen den Objekten darstellt. Mit dieser verkürzten Sichtweise auf distanzielle Reichweiten wird Raum zum restriktiven Faktor, der gewünschten gesellschaftlichen Entwicklungen entgegenstehen kann. Weitere Standorttheoretiker sind Alfred Weber (Standortstrukturtheorie, sekundärer Sektor) und Walter Christaller (Zentrale-Orte-Konzept, tertiärer Sektor). In beiden Theorien wird davon ausgegangen, dass der Behälter-Raum eine selbstverständliche Naturgegebenheit ist (vgl. hierzu auch Blotevogel 1995, IRS 1993, Kreibich 1993, Läpple 1991a, Winkler 1993). Das Konzept der Zentralen Orte von Walter Christaller wurde auch in den Planungswissenschaften und hier speziell der Raumordnung zur Ermittlung von Angebots- und Nachfragestrukturen verwendet (vgl. IRS 1993). Der zu untersuchende Raum ist eine homogene Fläche, in dem sich die Akteure/innen – Anbietende und Nachfragende von Gütern – verteilen. Angesichts unterschiedlicher Reichweiten verschiedener Güter bildet sich eine Hierarchie der Standorte heraus, aus der eine Versorgungsstruktur hergeleitet werden kann. Produkte niedriger Reichweite werden an vielen Orten, Produkte größerer Reichweite an wenigen Standorten produziert und angeboten. Aus der Vielzahl und Art der angebotenen Güter an einem Ort ergeben sich Hierarchiestufen, die ihren Ausdruck in der Zentralität eines Ortes finden. Ziel in der planerischen Anwendung des Konzeptes ist es, eine räumliche Ausstattungsgerechtigkeit zu erreichen. Das Kriterium der Erreichbarkeit wird bei der Infrastrukturplanung handlungsleitend (vgl. Läpple 1991a). Die Raumordnung argumentiert mit zumutbaren Entfernungen, wenn es beispielsweise um die Versorgung der Bewohner/innen in strukturschwachen Gebieten mit Gütern des täglichen Bedarfes geht. Der Raum an sich wird zu einer restriktiven Größe, die es zu überwinden gilt. Ebenso wird er zum äußeren Rahmen, der materielle und/oder soziale Elemente enthält (Sturm 2000, S. 153). Die Rauminhalte werden isoliert oder aufeinander bezogen betrachtet – der Raum an sich ist dabei
2.1 Raumbegriffe und -theorien
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ohne Einfluss. Die Wirkmächtigkeit gesellschaftlich-räumlicher Zusammenhänge wird nicht thematisiert.18 Mit dem Relativitätsprinzip von Albert Einstein etabliert sich in der Physik ein dritter ebenfalls naturzentrierter Raumbegriff. Einstein führt in seinem Konzept Raum und Zeit zusammen zu einem vierdimensionalen Raum-ZeitKontinuum. Über dieses Konzept relativierte sich die Loslösung des Raumes von der Materie und damit verlor der Behälter-Raum in der Physik sehr schnell, in anderen Wissenschaftsdisziplinen, wie z. B. in der Geographie, deutlich langsamer, seine bedeutende Stellung (vgl. Löw 2001, S. 31 ff., Sturm 2000, S. 129 ff.).
2.1.2 Mensch und Raum Zu dieser naturalistischen Sicht auf Raum, die Raumbezüge als Eigenschaften der stofflichen Welt erklärt, gibt es auch eine Gegenseite, die Raum als Konstrukt (als menschliche Syntheseleistung) oder als Resultat sozialer Handlungen (als sozial konstruiert) begreift. Dabei gilt es zu unterscheiden zwischen Raumbegriffen und -konzepten, die den einzelnen Menschen und seine Raumwahrnehmung und -bezüge fokussieren sowie denjenigen, die Zusammenhänge und Bezüge zwischen Gesellschaft und Raum thematisieren. Zu den erstgenannten gehören die Erkenntnisse des Philosophen Immanuel Kant.
Erkenntnistheoretischer Zugang zu Raum Kants Interesse am Raum war rein erkenntnistheoretischer Art. Nach Kant ist Raum (ebenso wie Zeit) a priori gegeben. Raum ist um uns herum, er ist aber auch in uns, denn „wir sind es, die die Raumvorstellung an die ‚Dinge‘ heranbringen“ (Störig 1989, S. 396). Kant, so erläutert Störig, erklärt die Wahrnehmung von Raum mit den Sinnen der Menschen, so dass „alles, was wir überhaupt wahrnehmen, uns in der Form des Nebeneinander im Raume erscheinen muß“ (ebd.). Hiermit ist gemeint, dass unsere Sinne äußeren Reizen ausgesetzt
18
Dies wird auch in der Literatur zur Geschichte sozialgeographischer Forschung bemängelt (vgl. Werlen 2000, Werlen & Reutlinger 2005). In traditionellen allgemeinen geographischen Arbeiten wurden soziale Aspekte weder analytisch noch argumentativ berücksichtigt. Erst in den funktionalstrukturellen Ansätzen tritt das naturdeterministische Denken in den Hintergrund, indem sozialökonomische Aspekte zur Erklärung erdräumlicher Anordnungsmuster hingezogen werden (vgl. Werlen 2000, S. 107 ff.).
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2 Verständnisse von Raum und Gesellschaft
sind, die wir wahrnehmen und ordnen, um dem Wahrgenommenen eine Form zu geben. Der Raum, den wir so wahrnehmen, ist real, ist der Raum, den wir tagtäglich erleben, weil er durch unsere Erfahrung existiert. Ob dieses etwas, was unsere Sinne erreicht, auch wirklich in der Form gegeben ist, wie wir es zu erkennen meinen, vermag auch Kant nicht zu sagen. „Die Schranke, die mir dadurch gezogen ist, daß dieses Äußere mir immer nur in der ‚Form‘ erscheint, wie sie mir meine Sinne zuleiten, kann ich niemals überspringen“ (ebd.). Das Besondere an dem Raumbegriff Kants ist, dass dem Raum eine eigene Existenz zukommt unabhängig von dem Vermögen des einzelnen Menschen, Raum wahrzunehmen – Raum hat eine eigene empirische Realität. Den Beweis hierfür sieht Kant darin, dass allen Menschen das, was sie sinnlich wahrnehmen, in der Form des Raumes erscheint. Kant leitet daraus ab, dass Raum a priori gegeben ist, obwohl das eigentliche Wesen unserer sinnlichen Erfahrung letztendlich verborgen bleibt – „vom Ding an sich (Noumenon nennt es Kant auch) kann ich nichts wissen“ (ebd.). Kant stellt und beantwortet als einer der wenigen die Frage, ob es einen Raum an sich (unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung) gibt. Kants Interesse verbleibt jedoch beim wahrnehmenden Subjekt – der Philosoph betrachtet Raum nicht mit dem Ziel, seine Bedeutung oder Wahrnehmung für einzelne oder Gruppen von Menschen zu erklären. Sein Interesse am Raum ist rein erkenntnistheoretischer Art 19 . Der Erforschung der räumlichen Wahrnehmung und Deutung des Raumes durch einzelne Individuen oder Gruppen von Menschen sowie der sich daraus ergebenden Zusammenhänge zwischen menschlichen Aktivitäten und räumlichen Strukturen, widmen sich u. a. die Umweltpsychologie, die Kulturanthropologie oder die Sozialgeographie (vgl. hierzu auch Blotevogel 1995, S. 736 f., Kemper 2005, Werlen & Weingarten 2005).
Subjektiver Zugang zu Raum Subjektive Raumbegriffe thematisieren Raum als er- und gelebten Raum, als Anschauungs- oder Handlungsraum, mit dem Ziel, Aussagen über zukünftige Entwicklungen oder auftretende Raumnutzungsprobleme treffen zu können. Raum ist in diesen Konzepten die natürliche Umwelt des Menschen, die das 19
Der Raumbegriff Kants wurde grundlegend für viele (soziologische) Raumtheorien, so z. B. auch bei Georg Simmel (1992, orig. 1903). In soziologischen Analysen ist die Betrachtung physischmaterieller Lebensgrundlagen lange Zeit in den Hintergrund getreten (vgl. auch Werlen 2000, S. 12 f.), während in der Geschichte der Geographie und auch der Planungswissenschaften eher eine gegenteilige Entwicklung zu beobachten war. Sie fokussierten hauptsächlich die natur-räumlichen Bedingungen menschlicher Existenz. Diese Lücke mit einer sozial-räumlichen Betrachtungsweise zu füllen, ist beispielsweise ein Anliegen der Sozialgeographie (vgl. u. a. Werlen 2000).
2.1 Raumbegriffe und -theorien
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Individuum auf seine spezifische Art und Weise erlebt, und diese gilt es zu erfassen: Zum einen als objektive, geographische Umwelt (z. B. als Landschaft, die das zu untersuchende Dorf umgibt) und als subjektiven Lebensraum (z. B. das Dorf als Heimat). Ein Beispiel für die Anwendung dieses Raumbegriffes in planerischen Kontexten ist die Aktionsraumforschung (vgl. Blotevogel 1995, 2005, ILS 1987). Sie analysiert gesellschaftliche Interaktionsmuster. Der Aktionsraum ist der Raum, den ein Mensch bei maximaler Geschwindigkeit von seinem Standort aus erreichen kann. In der Aktionsraumforschung wird zwischen drei verschiedenen Räumen unterschieden: Der objektive Raum ist der Raum, der einem einzelnen Menschen tatsächlich zur Verfügung steht, während der Wahrnehmungsraum der Raum ist, den das Individuum registriert. Schließlich gibt es noch den Raum, der dann auch tatsächlich genutzt wird. In der Regel stehen einem Menschen sehr viel mehr Räume zur Nutzung zur Verfügung (= objektive Räume), als wahrgenommen werden. Indem ein Individuum den objektiven Raum subjektiv filtert, entsteht der Wahrnehmungsraum. Ein Teil des Wahrnehmungsraumes wird über die menschliche Aneignung und Nutzung zum tatsächlichen Aktionsraum. Dieser lässt sich anhand von Entfernungen eingrenzen. Ziel der Aktionsraumforschung ist es, Tätigkeitsmuster einzelner Menschen zu erforschen, die Aufschluss über jenen Raum geben, in dem Aktivitäten stattfinden (vgl. auch Hamm 1982, S. 149 f.). Anhand ihrer Tätigkeitsmuster und Raumaneignung werden sie zu Gruppen zusammengefasst. So ist es möglich, Aussagen über den Einfluss der räumlichen Umwelt auf einzelne Menschen oder Gruppen von Menschen zu machen, Begrenzungen der Umwelt für das Verhalten zu erkennen sowie Einschränkungen in der Handlungsfreiheit aufzuzeigen, die durch Eingrenzung der distanziellen und zeitlichen Erreichbarkeit der Räume, aber auch durch soziale Restriktionen entstehen können (vgl. IRS 1993, Winkler 1993, S. 107, Dürr 1979). Die Aktionsraumforschung wird für die Erfassung von Orts- und Wegenutzungen eingesetzt und um Beziehungen von Individuen zu Orten und Räumen in Erfahrung zu bringen (relative Räume). Die Aktionsraumforschung verbleibt allerdings auf einer rein deskriptiven Ebene, da es ihr „im strengen Sinne nur um die Beschreibung und Erklärung des Aktionsraums geht“ (Dürr 1979, S. 9) und nicht um sozial-räumliche Konstitutionsprozesse. Wenig Aufmerksamkeit widmet die Aktionsraumforschung den komplexen Wirkungsgefügen, die zwischen Raum und Gesellschaft bestehen. Nicht thematisiert wird beispielsweise die Wirkung, die ein Raum auf einen einzelnen Menschen und seine Nutzung von Raum und damit auch die Bewegung im Raum maßgeblich beeinflussen kann.
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2 Verständnisse von Raum und Gesellschaft
Raum und Gesellschaft Anders als subjektive Raumbegriffe, die Raumbezüge einzelner Menschen fokussieren, verweisen soziozentrische Ansätze auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Interaktionen und der Entstehung von Raum. Jede soziale Aktivität, menschliches Leben generell beruht „auf der Gemeinsamkeit des Raumes“ (Hamm 1982, S. 23). Soziale Realität hat ein räumliches Substrat, und durch soziales Handeln werden Räume immer wieder neu geschaffen und überschrieben. Diese soziozentrischen Raumbegriffe und -konzepte betonen das enge Beziehungsgeflecht zwischen Raum und Gesellschaft, die Konstruktion von Raum durch menschliches Handeln. In der Soziologie ist wiederum die Arbeit von Georg Simmel (1992, orig. 1903), in der er das Verhältnis von Raum und Gesellschaft thematisiert, wegweisend. Seine Ausführungen zu gesellschaftlichen Raumbezügen lassen Schlussfolgerungen zu für eine Ausblendung der komplexen Zusammenhänge zwischen Raum und Gesellschaft in den mit Raum befassten wissenschaftlichen Disziplinen. Bernd Hamm (1973, 1982) hat den Begriff des sozialen Raumes in der Siedlungsgeografie mit geprägt. Das gesellschaftliche Raumkonzept von Dieter Läpple (1991a und b, 1993) hat die Diskussion über die Konstitution von Raum auf breiter Ebene wieder entfacht. Ich möchte diese drei Ansätze vorstellen. Sie enthalten Perspektiven auf die Konstitution von Raum, die wegweisend waren für ein neues Verständnis des Zusammenhanges zwischen gesellschaftlichem Handeln, den materiellen Substraten und der Entstehung von Räumen.
Raum und Gesellschaft bei Georg Simmel Georg Simmel gilt als einer derjenigen, der wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Soziologie zu einer Wissenschaft wurde (Dahme & Rammstedt 1983, S. 7). Sein Verständnis von Raum gründet sehr stark auf dem erkenntnistheoretischen Zugang Immanuel Kants. Es sind die Vorstellungen und Empfindungen der Menschen, durch die Räume hervorgebracht werden. Außerhalb der menschlichen Vorstellung hat der Raum keine Realität – Raum ist für Simmel nur dann real, wenn Menschen ihn „in ihrer Vorstellung generieren“ (Löw 2001, S. 59). „In dem Erfordernis spezifisch seelischer Funktionen für die einzelnen geschichtlichen Raumgestaltungen spiegelt es sich, daß der Raum überhaupt nur eine Tätigkeit der Seele ist, nur die menschliche Art, an sich unverbundene Sinnesaffektionen zu einheitlichen Anschauungen zu verbinden“ (Simmel 1992, orig. 1903, S. 688 f.).
2.1 Raumbegriffe und -theorien
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Es ist also der Mensch, der die Form an die Dinge heranbringt. Raum ist bei Simmel sozial konstruiert und bleibt vorerst wirkungslos. Wichtig sind seine Inhalte und diese geben die Menschen dem Raum: „Ein geographischer Umfang von so und so vielen Quadratmeilen bildet nicht ein großes Reich, sondern das tun die psychologischen Kräfte, die die Bewohner eines solchen Gebietes von einem herrschenden Mittelpunkt her politisch zusammenhalten“ (ebd.). Mit dieser Aussage unterscheidet sich Simmel wesentlich von den in der Physischen Geografie vorherrschenden Theorien und Konzepten. Dort ist es der Raum, der die Menschen über seine naturräumliche Ausstattung und Beschaffenheit zur Anpassung an diese Gegebenheiten zwingt. Bei Simmel sind es nicht die Raumstrukturen selbst, die auf den Menschen wirken. Es sind die „Projektionen in den Raum – und als solche wirken sie zurück auf die Form und das Leben der gesellschaftlichen Gruppen“ (Sturm 2000, S. 159). Raum an sich ist für Simmel wirkungs- und auch bedeutungslos – ein Nichts! „Wenn eine Anzahl von Personen innerhalb bestimmter Raumgrenzen isoliert nebeneinander hausen, so erfüllt eben jede mit ihrer Substanz und ihrer Tätigkeit den ihr unmittelbar eignen Platz, und zwischen diesem und dem Platz der nächsten ist unerfüllter Raum, praktisch gesprochen: Nichts. In dem Augenblick, in dem diese beiden in Wechselwirkung 20 treten, erscheint der Raum zwischen ihnen erfüllt und belebt“ (Simmel 1992, orig. 1903, S. 689). Damit betont Simmel die Notwendigkeit „einer individuellen und kollektiven Verknüpfungsleistung, die die gesellschaftlich vorstrukturierten Formen produziert“ (Löw 2001, S. 62). Seine soziologische Bedeutung erlangt Raum für Simmel nur deshalb, weil er soziale Nähe ermöglicht. Im Raum treten Menschen zueinander in Beziehung, sie beleben und füllen den Raum, und dieser Prozess führt dazu, dass aus dem Nebeneinander ein Miteinander wird. Menschen stellen also über ihre Wahrnehmung Räume her und sind gleichzeitig auch Sinn gebend, indem sie Räume mit Leben füllen. Simmel unterscheidet zwischen zwei Arten von Raum. Die erste Art ist der (wissenschaftliche) unendliche, leere (Behälter)Raum, der unbedeutend ist, eine an sich wirkungslose Hülle für gesellschaftliche und seelische Inhalte. In Anlehnung an Newton versteht Simmel Raum als Behälter, der durch die Euklidische Geometrie beschreibbar ist. Wichtiger ist die zweite Art von Raum, die Form,
20
Der Begriff der Wechselwirkung nimmt in Simmels Soziologie eine zentrale Funktion ein. Gegenstand seiner Soziologie sind „Wechselwirkungs- und Gegenseitigkeitscharakter sozialer Beziehungen sowie die Formen, in denen soziale Wechselwirkungen stattfinden“ (Dahme & Rammstedt 1983, S. 25). Der Begriff der Wechselwirkung steht für Vergesellschaftungsprozesse, die entstehen, wenn Individuen oder Gruppen von Menschen aus einem Nebeneinander heraus und zueinander in Beziehung treten. Simmel gibt damit der Soziologie einen neuen inhaltlichen Fokus, denn nach seinem Verständnis besteht eine der wichtigsten Aufgaben in der „Analyse der Dynamik sozialer MikroProzesse, durch die soziale Gebilde zustande kommen und getragen werden“ (ebd.).
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2 Verständnisse von Raum und Gesellschaft
die Menschen in ihrer Empfindung den Dingen geben (Simmel 1992, orig. 1903, S. 690 ff., vgl. auch Löw 2001, S. 59 f.). Als Grundqualitäten der Raumform nennt Simmel a.
b.
c. d.
e.
die Ausschließlichkeit des Raumes, die darin besteht, dass „jeder Raumteil eine Art von Einzigkeit, für die es kaum eine Analogie gibt“, hat (Simmel 1992, orig. 1903, S. 690). Eine Gemeinde beispielsweise füllt den Raum mit einem besonderen Inhalt und somit entsteht Einzigartigkeit. die Grenzen, die einen Raum einrahmen und mit denen eine Gesellschaft zum Ausdruck bringt, dass sie sich „als eine auch innerlich zusammengehörige charakterisiert“ (ebd., S. 694). die Fixierung, die Gesellschaften über lokale Bindungen herstellen und die zu gesellschaftlichen Ordnungen führt (ebd., S. 705 ff.). die sinnliche Nähe oder Distanz, denn beides wirkt sich auf die Qualität menschlicher Beziehungen aus. Eine Frage, der Simmel hier nachgeht ist beispielsweise die danach, „welches Maß räumlicher Nähe oder räumlicher Entfernung eine Vergesellschaftung von gegebenen Formen und Inhalten entweder fordert oder verträgt“ (ebd., S. 717). das Nebeneinander im Raume: Alle Qualitäten, die Simmel für Raum nennt, Begrenzung und Distanz, Fixiertheit und Nachbarschaft bestehen nebeneinander im Raum. Dieses Nebeneinander fordert von Gesellschaften Bewegung (Mobilität) und hieraus ergibt sich für Menschen die Möglichkeit, in Wechselwirkung mit anderen zu treten (ebd., S. 748 ff.); je nach Grad der Mobilisierung können verschiedene Gesellschaftsordnungen voneinander unterschieden werden wie beispielsweise die Nomaden von sesshaften Völkern.
Die Raumqualitäten entstehen über soziales Handeln der Menschen im vorerst leeren Raum. Nicht der Raum bestimmt das Handeln und die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern dies tun ausschließlich die Menschen selbst über ihr eigenes Handeln (vgl. auch Sturm 2000, S. 158 f.). Vermutlich ist genau dieser Ansatz Simmels der Grund dafür, dass innerhalb der Soziologie der Erforschung sozial-räumlicher Zusammenhänge nur einseitig Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Wenn es allein die Menschen sind, die den Raum herstellen, liegt der Rückschluss nahe, eben diese Prozesse in das Zentrum des Erkenntnisinteresses zu stellen. Kay Junge (1993, S. 196 ff.) erkennt in Simmels Ausführungen zwei theoretische Gründe, die eine ungenügende Bearbeitung sozial-räumlicher Fragestellungen in Gesellschaftstheorien begünstigt haben können. Ein Grund besteht nach Junge (ebd., S. 196) darin, dass Raum bei Simmel „im Verlauf der Moder-
2.1 Raumbegriffe und -theorien
41
nisierung zunehmend seine Funktion als Grundlage und Orientierungsrahmen sozialer Ordnung verliert“. Die moderne Geldwirtschaft führt dazu, dass Distanzen und Entfernungen ihre gesellschaftliche Bedeutung verlieren angesichts sich immer weiter entwickelnder Mobilität und Kommunikationstechnologien (Jung 1990, S. 79 ff., vgl. auch Konau 1977, S. 52 ff.). Hinzu kommt, dass moderne Gesellschaften über ein wachsendes Abstraktionsvermögen verfügen – sie werden unabhängig von räumlicher Nähe und Anwesenheit (vgl. auch Sturm 2000, S. 159). Martina Löw (2001, S. 62) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es bei Simmel nicht der Raum ist, der seine Bedeutung verliert, sondern „bestimmte Formen der Verknüpfungen, zum Beispiel Nähe-Distanz-Relationen“. Den zweiten Grund sieht Junge (1993, S. 197) in Simmels Reduzierung von Raum auf eine wirkungslose Hülle (Behälterraum) und „auf eine Kategorie der Wahrnehmung“. Simmel nimmt damit eine soziologische (soziozentrische) Position in seinem Verständnis von Raum ein, der jedoch „stets noch etwas von der Unbestimmtheit des Kantschen ‚Ding an sich“ anhaftet (Konau 1977, S. 57). Bei Simmel mündet dieses Verständnis von Raum in eine Betrachtungsweise, die die soziale Konstitution von Raum (relativer Raum) fokussiert. Träger und Medien der Raumkonstitution sind soziale Gruppen und „Raumbezogenheit ist ein zentraler Aspekt durch Gruppen vermittelter sozialer Ordnungen“ (ebd.). Sturm benennt noch einen weiteren Grund21 für die mangelnde gesellschaftliche Rezeption sozial-räumlicher Zusammenhänge in Simmels Werk, den ich in meinem Schlusskapitel als Frage nochmals aufgreifen werde: Simmels Ausführungen zum Zusammenhang zwischen Raum und Gesellschaft sind sehr komplex
21 Auch Klaus Selle (2003) stellt kritisch fest, dass ganzheitliche Raumbegriffe, die sowohl das Physisch-Materielle als auch die soziale Konstruiertheit von Raum theoretisch behandeln, nur wenig geeignet erscheinen für die Beantwortung planungswissenschaftlicher Fragen. Selle (ebd., S. 30) argumentiert mit „der Unhandlichkeit, Komplexität und wohl auch partiellen Diffusität“, die diese Raumbegriffe mit sich bringen, denn seiner Erfahrung nach sind mit ihrer Anwendung die „konkreten Fragen, die sich der Stadtplanung stellen (...) nur selten zu beantworten“. Angesichts dieser Schwierigkeiten sieht er für die Planungspraxis die Lösung dieses Problems in interdisziplinärer Zusammenarbeit mit den Sozialwissenschaften: beide Disziplinen betrachten den Gegenstand und diskutieren ihre jeweiligen Zugänge und Ergebnisse. Dies würde so aussehen, dass die Planungswissenschaften, wissend um die Komplexität von Raum, trotzdem von einem dreidimensionalen physikalischen Raum ausgehen und bei dieser Betrachtung verbleiben. Aufgabe der Sozialwissenschaften wäre die Erfassung des sozialen Raumes. Für beide Disziplinen ergibt sich dann die Notwendigkeit, „den Gegenstand (in Kenntnis seiner Komplexität) zu diskutieren – im ursprünglichen Sinne des Wortes also: aufschneiden – oder zu erörtern – auch hier im Wortsinne: von verschiedenen Orten aus zu betrachten“ (ebd.).
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2 Verständnisse von Raum und Gesellschaft
und beinhalten ein sehr differenziertes Beziehungsgefüge22. Im Gegensatz dazu sind die räumlich reduzierten und auf Flächeninhalt konzentrierten Territorialund Standortmodelle, wie ich sie eingangs mit den Standortstrukturtheorien von Johannes Heinrich Thünen und Alfred Weber sowie dem Zentrale-Orte-Konzept von Walter Christaller beispielhaft beschrieben habe, einfacher anzuwenden. „Denn diese garantieren die leichtere Verwertbarkeit für die anstehende fordistische Modernisierung auf tayloristischer Grundlage. (...) Statt die menschliche Vorstellungsleistung zu würdigen bzw. Gruppeninteressen zuzugeben, erhielt z. B. in der Geopolitik Raum ein mythisches Eigenleben, hinter dem sich Herrschaftsinteressen verbergen konnten.“ (Sturm 2000, S. 160). Der Vollständigkeit halber ist noch anmerken, dass neben Georg Simmel eine Reihe von Soziologen, wie beispielsweise auch Anthony Giddens (1995, orig. 1988) und Talcott Parsons (1968) die soziologische Bedeutung des Raumes23 in ihren Werken diskutiert haben. Giddens hat mit seinen Ausführungen zur gesellschaftlichen Bedeutung von Raum und Zeit geographische und soziologische Fragen/Inhalte in neuer Form zusammengeführt, anknüpfend an die Arbeiten von Heidegger, Hägerstrand und Braudel (vgl. Löw 2001, S. 36 ff., Junge 1993, S. 196 ff.). Die Frage, um die es Giddens geht, ist die nach der Lokalisierung/Regionalisierung des Handelns. Unter Raum versteht Giddens (1995, orig. 1988, S. 183 ff.) die Umwelt des Menschen sowie Raumausschnitte, d. h. konkrete Orte, an denen soziale Interaktionen als gesellschaftliche Regionalisierung stattfinden. Die umgebenden Räume (Behälterräume) sind selbstverständlich gegeben. Sie „bilden den strukturierenden Hintergrund des Handelns und strukturieren das Handeln durch die Gliederung in Zonen“ (Löw 2001, S. 43). Diese Dualität von Raum und Handeln führt zu einer Einengung seiner Perspektive auf die Entstehung von Raum. Räume sind demzufolge nicht das Resultat von sozialen Interaktionen und auch eine Trennung von Ort und Raum, d. h. die Existenz von mehreren Orten in einem Raum ist nicht möglich (ebd.). Elisabeth Konau (1977, 174 ff.) weist darauf hin, dass Parsons in seinen Werken dem Begriff Raum unterschiedliche Bedeutungsgehalte zuordnet (vgl. hierzu auch Werlen 1987, S. 203 ff., Sturm 2000, S. 161ff.). Zunächst findet sich ein Verständnis von Raum, dass der absolutistischen Denktradition entspricht.
22
Dort greife ich die Frage auf, worin der Erkenntnisgewinn in der differenzierten Betrachtungsweise des vielfältigen und komplexen Beziehungsgefüges zwischen Raum, Individuum und Gesellschaft liegt und wie dieses komplexe Wissen für planerische Überlegungen und Fragestellungen fruchtbar werden kann. 23 Eine umfassende Aufarbeitung findet sich bei Martina Löw (2001) und auch Elisabeth Konau (1977).
2.1 Raumbegriffe und -theorien
43
Demnach ist Raum als Handlungsraum ein „bewußt abstrakt konstruierter unräumlicher sozialer Raum, nur nach dem Bild des physikalisch-mechanischen“ (Sturm 2000, S. 162). Auch Parsons geht ähnlich wie Giddens davon aus, dass Raum und Raumstrukturen immer gegeben, d. h. von sich aus existent sind und nicht über soziale Interaktionen geschaffen werden. In seinen späteren Werken erweitert Parsons sein Verständnis von Raum (vgl. Werlen 1987, S. 205). Die physische Welt bleibt unhinterfragte Gegebenheit. Dieser physische Raum erschließt sich dem Menschen immer von einem bestimmten Standpunkt aus, dem territorialen Standort (ebd., S. 205). Raum als Umwelt des Menschen offenbart sich über den einzelnen Menschen (den Organismus). Dieser ist eingebunden in ein Handlungssystem, in dem Kontrollprozesse und Hierarchien auf ihn wirken. Raum bleibt bei Parsons jedoch „nur als Umwelt über den Organismus vermittelbar“ (Sturm 2000, S. 163) – eine räumliche Gestaltungskraft wird dem Menschen nicht zugesprochen. Auch hier bleiben die wechselseitigen Beziehungen unsichtbar, zwischen der Entstehung von Raum über soziale Handlungen und der Wirkung von Raumstrukturen auf das Handeln.
Sozialer Raum bei Bernd Hamm Das Erkenntnisinteresse von Hamm richtet sich auf die menschliche Siedlungsweise, auf „die Frage nach der Bedeutung des Raumes für das soziale Handeln“ und hier speziell auf die Wirkmächtigkeit von Menschen geschaffener Raumstrukturen und ihren Einfluss auf soziale Organisationsformen: „Ist es möglich, durch die Manipulation der gebauten Umwelt auf soziale Prozesse und Beziehungen gestaltend einzuwirken? Kann man hier gar von einem Mittel zu gesellschaftlicher Reform sprechen?“ (Hamm 1973, S. 9 f.). Hamms Verständnis von Raum basiert auf der Annahme, dass es einen „von Menschen unbeeinflussten Raum an sich nicht“ gibt: „Jeder Raum trägt mehr oder weniger deutlich sichtbare Spuren kultureller Überformung; den Raum als bloße ‚Natur gibt es schon lange nicht mehr, zumindest nicht in den hochindustrialisierten Gesellschaften“ (vgl. Hamm 1982, S. 25). Raum und Gesellschaft sind bei Hamm vorerst zwei unabhängig voneinander existierende Einheiten und erst zunehmende gesellschaftliche Aktivitäten führen zur starken Einflussnahme auf Raum und Natur. Hamm löst dieses dialektische Verhältnis zugunsten der Gesellschaft auf, indem er die Ansicht vertritt, dass Raum heute nicht mehr unabhängig von menschlichen Einwirkungen existiert und in hochindustrialisierten Gesellschaften immer sozial produziert ist. „Eben darin liegt die soziologische Bedeutung des Raumes begründet, daß er nicht existiert außer in unserer Wahrnehmung, und daß diese
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2 Verständnisse von Raum und Gesellschaft
Wahrnehmung immer und unausweichlich durch soziale Bezüge vorgeformt und vermittelt stattfindet“ (ebd., S. 26). Sozialer Raum besteht aus zwei Komponenten (Hamm 1982): einem sozial hergestellten materiellen Substrat wie beispielsweise Straßen und Häusern, einer vom Menschen geschaffenen, überformten Natur und zweitens aus den sozialen Bedeutungen, die diesen Elementen zugeschrieben werden. Über die soziale Herstellung haftet den Räumen eine Symbolik an, „und jedes Kind, das lernt mit Raum umzugehen, erlernt gleichzeitig die Regeln, mit deren Hilfe es die den Räumen anhaftende Symbolik entschlüsseln kann“ (ebd., S. 25). Nicht nur die Herstellung von Raum, der ganze Umgang mit Raum ist sozial vermittelt. Damit führt Hamm einen relationalen Raumbegriff in die Siedlungssoziologie ein. Das materielle Substrat der Räume ist gebildet aus Mensch und Elementen, die der Mensch anordnet und interpretiert. Menschen nehmen diese Materie wahr und interpretieren ihre Zeichen, fügen sie zusammen zu Inhalten, die für sie sinnhaft und bedeutend sind. Für die Siedlungssoziologie leitet Hamm daraus ab, dass für die Analyse sozial-räumlicher Organisationen von Gesellschaften drei Komponenten bedeutend sind: die Morphologie und Beschaffenheit des materiellen Substrates, die darin zu beobachtenden Verhaltensabläufe einschließlich ihrer Regulierungen (z. B. über Finanzierungssysteme im Städtebau) und Beeinflussungen (durch beispielsweise soziale Differenzierungen wie Geschlecht, Alter, Ethnie oder soziale Schichten) sowie die Semiotik und Zeichen, die den Räumen immanent sind (vgl. Hamm 1982, S. 27).
Gesellschaftlicher Raum bei Dieter Läpple Diese drei Komponenten Hamms finden sich auch in dem gesellschaftszentrierten Raumkonzept24 von Dieter Läpple wieder (vgl. Läpple 1991a und b, 1993). Läpples gesellschaftliches Raumkonzept öffnet den Blick für eine Vielzahl und Vielfalt von Räumen und Raumstrukturen in Abhängigkeit vom Standpunkt der Betrachtung. Anknüpfend an das Konzept von Hamm (1982) sind es folgende Komponenten, die Läpple (1991a und b, 1993) zur Charakterisierung eines gesellschaftlichen Matrix-Raumes verwendet:
das materielle Substrat gesellschaftlicher Verhältnisse, die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen,
24 Läpples Raumkonzept dient dem empirischen Nachweis von Raum- und Gesellschaftsstrukturen. Das Konzept baut auf einem relationalen Raumbegriff auf.
2.1 Raumbegriffe und -theorien
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das vorhandene institutionalisierte und normative Regulationssystem, das zwischen dem materiellen Substrat des Raumes und der gesellschaftlichen Praxis vermittelt, das mit dem räumlichen Substrat verbundene Zeichen-, Symbol- und Repräsentationssystem sowie die Geschichte, die sich im Raum manifestiert und die uns von vergangenen Zeiten berichtet.
Für die Analyse von Raum unterscheidet Läpple (1991b) drei verschiedene Raumebenen:
den Mikro-Raum, der in unmittelbarer Nähe der menschlichen Erfahrung und Wahrnehmung besteht, den Meso-Raum als regionalen Arbeits- und Lebensraum sowie den Makro-Raum, der sowohl national staatlich verfasste Gesellschaft als auch kapitalistisches Wertesystem sein kann.
Der lokale Lebens- und Arbeitszusammenhang des Menschen ist in diesem Konzept immer in ein Spannungsfeld eingebunden, das zwischen den Funktionsräumen besteht. Auch der historische Entstehungskontext von Raum stellt eine wichtige Erkenntnisquelle dar in der Betrachtung gesellschaftlicher Räume – Raum und Zeit werden zusammen gedacht. Die Geschichte der naturzentrierten Raumbegriffe25 aufgreifend fragt Läpple danach, ob diese „eine adäquate theoretische Basis bieten für die Analyse sozialräumlicher Phänomene, zum Beispiel in der Stadt- und Regionalforschung“ (Läpple 1991b, S. 40). Läpple beantwortet die Frage, indem er kritisch anmerkt, dass im Vordergrund dieser Theorien Raumbezüge als Eigenschaften der stofflichen Welt stehen – Raumprobleme werden damit zu externen Restriktionen gesellschaftlicher Prozesse. Die gesellschaftliche Realität, die das materielle Substrat hervorbringt, wird nur ungenügend erfasst und analysiert. Diese Vorgehensweise führt nach Ansicht Läpples „zu einer Entkopplung des ‚Raumes von dem Funktions- und Entwicklungszusammenhang seines gesellschaftlichen ‚Inhaltes und damit zu einer Externalisierung des ‚Raumproblems aus dem gesellschaftlichen Erklärungszusammenhang“ (Läpple 1991a, S. 195). Mit seiner Kritik greift Läpple den in Frankreich von Ökonomen geführten Diskurs zu Raumbegriffen auf und knüpft hier speziell an die Arbeiten des französischen Ökono-
25
Hierzu gehören beispielsweise Raumbegriffe, die auf die absolutistische Denktradition zurückzuführen sind. Ihnen liegt die Annahme zugrunde, dass es einen Raum an sich unabhängig von menschlicher Wahrnehmung gibt.
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2 Verständnisse von Raum und Gesellschaft
men Perroux an (vgl. ebd., S. 188 ff.). Läpple resümiert, dass die Überwindung einer reduktionistischen Sicht auf Raum nur dann möglich wird, „wenn es gelingt, die materielle Struktur des Raumes als materielles Substrat ökonomischsozialer Funktionszusammenhänge zu erklären und somit als materielle Komponente eines gesellschaftlichen Verhältnisses, das sich als ‚Mensch-DingVerhältnis artikuliert“ (ebd., S. 193). Es geht Läpple also um eine neue Schwerpunktsetzung in der Betrachtung der Entstehung und Nutzung räumlicher Strukturen auf die gesellschaftlichen Kräfte, die das räumliche Substrat hervorbringen, formen und gestalten. „Der ‚Raum ist dabei weder neutrales ‚Gefäß noch passive ‚Resultante körperlicher Objekte, sondern ein derartiges Konzept muß auch die gesellschaftlichen ‚Kräfte einbeziehen, die das materiell-physische Substrat dieses Raumes und damit auch die Raumstrukturen ‚formen und ‚gestalten“ (ebd., S. 195). Läpples Konzept gesellschaftlicher Räume beruht auf dem relationalen Ordnungsraum, mit dem er die Beziehungen zwischen Raum und Gesellschaft fokussiert. Raum entsteht, indem Menschen und Objekte zueinander in Beziehung treten. Sein Ansatz stellt sich zunächst soziozentrisch dar: Raum entsteht über die „materielle Aneignung der Natur“ – ein gesellschaftlicher Raum ist also immer ein „gesellschaftlich produzierter Raum“ (ebd., S. 197). Ob Läpple davon ausgeht, dass es einen Raum oder eine Natur an sich jenseits des menschlichen Einflusses gibt, bleibt eine offene Frage. Eine erste Inbesitznahme materiellen Substrates führt jedoch noch nicht zu einer gesellschaftlichen Wirkmächtigkeit. Diese erlangt ein Raum erst, wenn in ihm gesellschaftliche Praxis stattfindet, wenn Menschen „in ihm leben, ihn nutzen und ihn reproduzieren“ (ebd., S. 197) und die vorgefundenen Strukturen mit neuen kulturellen Formen überschreiben. Der Ansatz Läpples verdeutlicht, dass Raumstrukturen hervorgebracht sind, stetig reproduziert oder transformiert werden. Gesellschaftliche Räume sind also das Resultat gesellschaftlicher Beziehungen und Interaktionen. Erkennend, dass Raumkonstitution und -nutzung mit Macht besetzt sind, bezieht Läpple Regulationssysteme in sein Raumkonzept ein. Offen bleibt bei Läpple (ebenso wie bei Hamm 1982) der Zusammenhang zwischen Geschlechterverhältnissen und Raumstrukturen (siehe hierzu insbesondere Bauhardt 1995, 1997 und 2004 sowie Terlinden 1990, Bock, Heeg & Rodenstein 1997). Diese Lücke ist im Folgenden noch zu schließen, da Klassen- und Geschlechterverhältnisse allen gesellschaftlichen Strukturen eingeschrieben sind und über sie gesellschaftliche Ein- und Ausschlüsse, Begünstigungen und Benachteiligungen verankert werden. Gerade die Trennung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit erfordert eine Auseinandersetzung mit der Verteilung von Raum zwischen den Geschlechtern (Terlinden 1990; vgl. Kap. 3). Daher soll im Folgenden auf die Raumkonzepte von Martina Löw und Gabriele
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Sturm eingegangen werden, die den Zusammenhang zwischen geschlechterspezifischen, sozialen Interaktionen und Raumkonstitutionen aufgreifen. Mit seinem gesellschaftlichen Raumkonzept hat Dieter Läpple den Diskurs zur Konstitution von Raum und den Bedeutungszusammenhängen zwischen Raum und Gesellschaft in den 1990er Jahren wiederbelebt und sehr befruchtet. Gesellschaftliche Räume sind das Ergebnis gesellschaftlicher Beziehungen, die sehr vielfältig und differenziert sind. Räume werden aber auch vom Individuum über die gesellschaftliche Praxis hinaus unterschiedlich hergestellt und wahrgenommen. Jedes Individuum erfährt Raum entsprechend seiner Biografie sowie seinen Möglichkeiten und Ressourcen im Raum zu handeln. Obwohl Läpple mit seinem gesellschaftlichen Raumkonzept die Vielfältigkeit von Räumen wieder in das Blickfeld gerückt hat, setzte eine Loslösung von den bisherigen Raumkonzepten und -betrachtungsweisen und dem paradigmatischen Festhalten am Behälter-Raum in den Planungswissenschaften m. E. nur zögernd ein. Es bleibt weiterhin ungeklärt, „was unter Raum verstanden wird, bzw. inwieweit mit den tradierten Vorstellungen von Raum sich verändernde Raumbezüge erfasst werden können“ (Löw 1999, S. 160).
2.1.3 Räume und ihre Vielfältigkeit bei Martina Löw Aus dem an das Konzept von Läpple anschließenden Diskurs zur Konstitution von Raum und des wechselseitigen Bezugs von Raum und Gesellschaft greife ich im Folgenden die Arbeiten von Martina Löw und Gabriele Sturm heraus. Sie betonen die Prozesshaftigkeit in der menschlichen Herstellung von Räumen, ihr Gewordensein und ihre gesellschaftliche Strukturierungskraft, aus der ungleiche Verteilungen von Raum zwischen den Geschlechtern hervorgehen können. Für die Planungswissenschaften sehe ich mit Bezug auf diese beiden Arbeiten die Möglichkeit, die Vielfalt physisch-materieller Räume und sozialer Räume zu analysieren und miteinander zu verbinden. Hier besteht somit auch das Potenzial für vermittlungs-theoretische Perspektiven auf Raumkonstitutionen. Des Weiteren ist es möglich, die sozialen Handlungspraktiken, über die physisch-materielle Räume und soziale Räume hergestellt werden, zu den gesellschaftlichen Regulationen und Strukturen in Beziehung zu setzen, die auf Raumkonstitutionen wirken. Die theoretischen Ausführungen von Martina Löw zur Konstitution von Raum verwende ich als Grundlage für die Bearbeitung meiner Frage nach den Bedeutungen öffentlicher Räume im ländlichen Raum. In ihrer Raumsoziologie analysiert sie den Prozess der Entstehung von Raum sowie die wechselseitigen Bezüge und Verwobenheit von Gesellschaft und Raum. Sie öffnet mit ihrer Ar-
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beit den Blick für eine Vielfalt an Räumen: Sie entsteht, wenn Materie (beispielsweise Bäume, eine Wiese und ein Haus) und/oder Menschen miteinander verknüpft werden. Räume werden geschaffen, indem ein Individuum Materie und/oder Menschen (im Handeln) zueinander in Beziehung setzt, und es bedarf einer intellektuellen Leistung für die Konstruktion von Raum. Dabei betont sie die Dualität von raumkonstituierendem Handeln und Raumstrukturen selbst: Räume werden im Handeln geschaffen und steuern das Handeln als räumliche Strukturen, eingelagert in Institutionen (Löw 2001, S. 172). Gabriele Sturm (2000) hat eine „Orientierungshilfe in Form eines Ordnungsrasters“ zur Analyse von Raum erarbeitet, in der nicht die Frage nach dem Prozess der Entstehung von Raum im Vordergrund steht, sondern ihr geht es vielmehr darum, ein Modell für raumplanerische und -wissenschaftliche Forschungsfragen zu entwickeln, das den Forschenden eine Art Strukturierungshilfe bei der Entscheidung bietet, „welche Facette(n) von Raum erforscht oder beplant werden, und darüber hinaus angemessene Forschungsmethoden und -verfahren ableitbar bzw. zuordenbar machen“ (ebd., S. 16). Um die Herstellung physischmaterieller und sozialer Räume in ihrer Komplexität erkennen und analysieren zu können, sind alle Facetten des Modells zu betrachten. Hierauf werde ich später ausführlicher eingehen und zuvor die Raumsoziologie von Martina Löw (2001) vorstellen, in der sie die Konstitution von Raum aufbauend auf den bislang verfassten Raumkonzepten, -begriffen und -theorien sehr umfassend analysiert und erklärt.
Die Vielfalt in der Konstitution von Raum Die Soziologin Martina Löw (2001, S. 12) setzt an der Frage an, „wie Raum als Grundbegriff der Soziologie präzisiert werden kann“ und hat auf dieser Begriffsbildung aufbauend eine Raumsoziologie erarbeitet. Damit nimmt sie die in der Soziologie zeitweise vernachlässigte Diskussion um Raum wieder auf (ebd., S. 9 f. sowie Konau 1977). Mit ihrem Raumbegriff eröffnet Martina Löw einen neuen Zugang zum Raum jenseits der Trennung von Raum und Raumstrukturen als materiellphysisches Substrat auf der einen Seite sowie menschlichem Handeln und gesellschaftlichen Prozessen andererseits. Den meisten Raumbegriffen und -konzepten ist dieser Dualismus implizit und damit auch den soziologischen Theorien, die auf diesen aufbauend das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Raum behandeln. Martina Löw löst sich von diesem Dualismus und den damit einhergehenden Grundannahmen, „es könne ein Raum jenseits der materiellen Welt entstehen (sozialer Raum), oder aber es könne ein Raum von Menschen betrachtet
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werden, ohne daß diese Betrachtung gesellschaftlich vorstrukturiert wäre (materieller Raum)“ (Löw 2001, S. 15). Im Mittelpunkt steht die Frage danach, wie Körper angeordnet werden und wie sie sich anordnen. Körper bilden die Materie, aus denen Räume bestehen. Dies können Menschen und soziales Handeln und andere Lebewesen bzw. Körper von Organismen sein, aber auch materielle Güter und Artefakte wie z. B. Steine, Häuser etc. Alles zusammen bezeichnet Löw als soziale Güter. Sie begründet diese Begriffsbildung in Anlehnung an Josef Tal und Reinhard Kreckel (vgl. Löw 2001, S. 153) damit, dass Materie immer sozial hergestellt ist, indem sie von Menschen wahrgenommen (verstanden) wird, und auch die Konstitution von Raum ist letztendlich immer sozial hergestellt (als eine vom Menschen erbrachte Leistung). Jede Konstitution von Raum ist bestimmt durch die sozialen Güter und Menschen und ihre Verknüpfungen miteinander. Anders als andere Raumkonzepte verbinden sich bei Löw materielle und soziale Bestandteile in der Konstitution von Raum. Löws Raumbegriff ist relational – Räume entstehen, indem Körper und Menschen zueinander in Beziehung gesetzt werden 26 . Von diesem Punkt ausgehend fragt Löw sowohl nach der Materie selbst als auch danach, wie die Beziehungen zwischen sozialen Gütern und Lebewesen hergestellt und miteinander verknüpft werden. „Da erst die miteinander verknüpften sozialen Güter und Menschen zum Raum werden, muss der Relationenbildung große theoretische Aufmerksamkeit gewidmet werden“ (ebd., S. 156). Das Konstituieren selbst ist durch zwei wesentliche Prozesse gekennzeichnet. Zum einen konstitutiert sich Raum durch das Platzieren von sozialen Gütern und Menschen (vgl. ebd., S. 158). Diese werden zu Gruppen zusammengefügt oder in einer bestimmten Art positioniert, errichtet oder erbaut. So wird beispielsweise bei der Gestaltung eines Dorfplatzes Materie in einer bestimmten Weise geordnet und positioniert. Diese Tätigkeit des Platzierens im Prozess bezeichnet Löw als Spacing: Hierzu gehören das Positionieren selbst und die Bewegung zur nächsten Platzierung. Die Konstitution von Raum erfolgt an Orten, denn sie sind Ziel und Resultat des Spacing. An einem Ort kann ein Nebeneinander von Räumen entstehen, die möglicherweise in Konkurrenz zueinander stehen. So ist beispielsweise eine Bushaltestelle im Dorf Verkehrsweg und Kommunikationsraum. Orte ermöglichen die Herstellung von Raum und umgekehrt werden über die Konstitution von Räumen Orte geschaffen: Ort und Raum stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander (vgl. ebd., S. 198 ff.). Die Konstitution von Raum bedarf aber auch einer Syntheseleistung, in der Lebewesen und soziale Güter als Erinnerung, Vorstellung und Wahrnehmung zu 26
Relativistische Raumbegriffe verbleiben bei der Erkenntnis, dass Raum über die Beziehung von Körpern zueinander entsteht.
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Räumen zusammengefasst werden (vgl. ebd., S. 159 sowie auch Hamm 1982, Läpple 1991a, b und 1993). In der Synthese wird die Bedeutung eines sozialen Gutes erkannt. Beides – sowohl das Spacing als auch die Syntheseleistung – finden im alltäglichen Handeln gleichzeitig statt, da Handeln immer prozesshaft ist. Viele der alltäglichen Handlungen werden vollzogen, ohne dass die Handelnden darüber nachdenken, wie beispielsweise die Bewegung vom Wohnort zum Arbeitsplatz oder zur Ausbildungsstätte. Im Alltag überwiegen gewohnheitsmäßige Handlungen, so genannte Routinen, auf die zurückgegriffen werden kann. Das Wissen um Handlungen und Routinen ist teils bewusst, teils aber auch unbewusst. Martina Löw (2001, S. 170 ff.) bezieht sich hier auf Giddens. „In Routinen werden, Giddens zufolge, sowohl gesellschaftliche Institutionen reproduziert als auch das eigene Handeln habitualisiert“ (ebd., S. 162). Giddens (1995, orig. 1988, S. 55 ff.) unterscheidet zwischen Unterbewusstsein, praktischem und diskursivem Bewusstsein mit jeweils fließenden Grenzen. Das Unterbewusstsein ist von den anderen beiden Formen des Bewusstseins durch Verdrängungsmechanismen getrennt. Ein großer Teil unseres alltäglichen Handelns wird von einem Wissen gelenkt, das nicht kommuniziert werden muss. Dieses Handeln findet in der Regel in Routinen statt und beruht auf dem praktischen Bewusstsein. Es kann jedoch auf Nachfrage und in reflexiven Kontexten in das diskursive Bewusstsein zurückgeholt und somit auch kommuniziert werden. Folgendes Beispiel kann diesen Zusammenhang verdeutlichen: Der Weg zur Arbeit ist – wie oben angesprochen – ein Weg, der in Routinen gegangen wird. Auf Nachfrage anderer kann der gewählte Weg reflektiert und begründet werden, d. h., dass die Gründe in das diskursive Bewusstsein überführt werden können (im Gegensatz zum unbewussten Wissen). Unter Reflexivität versteht Löw (2001, S. 162) in Anlehnung an Giddens den steuernden Einfluss, den Handelnde auf ihr Leben nehmen, sowie die Fähigkeit, das Handeln zu erläutern. Reflexion würde in diesem Beispiel bedeuten, sowohl die Wahl des gewohnten Weges begründen zu können sowie steuernd (durch Ergreifen einer Alternative) tätig zu werden. Das bedeutet, dass die Konstitution von Raum zwar zum Teil unbewusst stattfindet, dass aber trotzdem die Möglichkeit besteht, den unbewussten Teil zu reflektieren und damit in das Bewusstsein zurückzuholen, so dass dieses Wissen diskursiv27 zur Verfügung steht und kommuniziert werden kann. „Auch für die Konstitution von Räumen gilt demnach, was zum Beispiel für die empirische Forschung ganz wesentlich ist, daß Menschen in der Lage sind, zu verstehen und zu erklären, wie sie Räume schaffen“ (ebd., S. 162).
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Das diskursive Wissen hat in meiner Arbeit einen besonderen Stellenwert (vgl. auch Kap. 4).
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Routinen können jedoch auch durchbrochen werden. Die Einsicht in die Notwendigkeit von Veränderungen, körperliches Begehren, Handlungsweisen anderer und Fremdheit können Abweichungen von den Routinen herbeiführen, für deren Bewältigung keine alltäglichen Handlungsformen zur Verfügung stehen. Die Forderung von Feministinnen nach Frauenräumen wäre ebenfalls ein Beispiel für das Durchbrechen bestehender, auch tradierter Routinen. Solche Handlungen können eigene Institutionen schaffen, wie z. B. Frauenhäuser. Den in diesem Prozess produzierten Raum nennt Löw in Anlehnung an Ilse Modelmog einen gegenkulturellen Raum (ebd., S. 185). Routinen zeigen sich nicht nur im Handeln, sondern auch in den Räumen selbst. Im Ergebnis führt dies zu institutionalisierten Räumen, „bei denen die (An)Ordnung 28 über das eigene Handeln hinaus wirksam bleibt und genormte Syntheseleitungen und Spacing nach sich zieht“ (Löw 2001, S. 164). Routinen bringen gesellschaftliche Strukturen hervor und habitualisieren das eigene Handeln – sie vermitteln Sicherheiten. Merkmal institutionalisierter Räume ist das gleiche Äußere, welches regelmäßig und routiniert wieder produziert wird, wie z. B. bei Tankstellen, Supermärkten von Handelsketten oder Banken mit der immer gleichen Innenausstattung. Räumliche Strukturen können aber nur dann hergestellt und in Regeln eingeschrieben werden, wenn sie durch Ressourcen abgesichert sind (ebd., S. 173).
Vielfältige Einflüsse auf die Konstitution von Raum Die Konstitution von Raum unterliegt einer Fülle von Einflüssen, die nicht immer bewusst wahrgenommen werden. So ist z. B. nicht allen Menschen immer bewusst, dass räumliche Strukturen im Handeln verwirklicht werden und gleichzeitig auch das Handeln strukturieren. Nach Löw (ebd., S. 166 ff.) ist die Dualität (Zweiheit) von Handeln und Struktur auch eine Dualität von Raum: Räumliche Strukturen bringen eine Form von Handeln hervor und eben dieses Handeln reproduziert in der Konstitution von Raum die räumlichen Strukturen. Wie oben bereits angesprochen, besteht die Zweiheit also darin, dass Räume im Handeln geschaffen werden und gleichzeitig Handeln steuern.
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Martina Löw (2001, S. 131) betont mit dieser Schreibweise, dass „Räumen sowohl eine Ordnungsdimension, die auf gesellschaftliche Strukturen verweist, als auch eine Handlungsdimension, das heißt der Prozeß des Anordnens, innewohnt“. Die von ihr gewählte Schreibweise symbolisiert also beides: das Herstellen einer gesellschaftlichen Ordnung bzw. einer Struktur, die durch aktives Handeln entsteht, in dem Elemente und Menschen in der Konstitution von Raum bewegt und angeordnet werden.
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Die Möglichkeiten, Räume zu konstituieren sind immer auch von den in einer Handlungssituation vorgefundenen symbolischen und materiellen Faktoren abhängig. Die symbolische Komponente ist die Bedeutung, die der Raum oder das soziale Gut hat. Über den symbolischen Gehalt werden Räume und Körper wahrgenommen. Die Wahrnehmung von Räumen ist abhängig von Sinnesempfindungen, d. h. Gerüchen, Geräuschen und Gefühlen, die einen Menschen erreichen – entsprechend dieser Wahrnehmungen werden Räume synthetisiert und verknüpft (vgl. auch Breckner & Sturm 1997). Auch Atmosphären fließen über die Wahrnehmung in Synthese und Spacing von Raum ein (Löw 2001, S. 204 ff.). Eine Atmosphäre kann hinderlich oder fördernd auf die Raumkonstitution wirken. Atmosphären entstehen durch die Außenwirkung sozialer Güter und Lebewesen. Ein Hund hinter einer Tür kann beispielsweise am Betreten eines Hauses hindern. Eine imposante Allee, die zu einem herrschaftlichen Haus führt, flößt Respekt ein. Die Wahrnehmung selbst ist bei den Menschen unterschiedlich ausgeprägt und wird von erworbenen Strukturprinzipien wie beispielsweise durch das Geschlecht, die Klasse oder auch die Ethnizität beeinflusst. Außer räumlichen und gesellschaftlichen Strukturen wird die Konstitution von Raum auch durch politische, rechtliche, soziale, ökonomische, zeitliche, natürliche etc. Strukturen beeinflusst. Alle zusammen bilden gesellschaftliche Strukturen. Die Zugangschancen zu Raum und damit auch die Möglichkeiten, Räume zu nutzen und zu gestalten, sind in Gesellschaften ungleich verteilt. Selektionen erfolgen gemäß Reichtum, hierarchischen Organisationen und selektiven Assoziationen (Löw 2001, S. 179 ff. und 210 ff.). Das bedeutet, dass die Konstitution von Raum Verteilungen hervorbringt – zwischen Gesellschaften und innerhalb einer Gesellschaft. In hierarchischen Kontexten sind dies zumeist ungleiche Verteilungen, die bestimmte Personengruppen bevorteilen oder benachteiligen. In den Planungswissenschaften wird vielfach darauf hingewiesen, dass die Konstitution von Raum auch zu Ein- und Ausschlüssen zwischen den Geschlechtern führen kann (vgl. Terlinden 1990, Holland-Cunz 1992/93, List 1992/93). Es wird deutlich gemacht, dass (soziale) Frauen in ihren Möglichkeiten der Raumnutzung eingeschränkt sind. (An)Ordnungen von Räumen und Strukturen bedingen Ein- und Ausschlüsse. Räume können somit zum Gegenstand oder Indiz sozialer Auseinandersetzung werden. Die Verfügungsmöglichkeiten über Geld, Zeugnis, Rang u. a. sind daher ausschlaggebend in der Durchsetzung von (An)Ordnungen. Platzierungen haben etwas mit Macht zu tun, denn über (An)Ordnungen werden auch Machtverhältnisse indiziert bzw. ausgehandelt. Der hier pointiert (vgl. ausführlich Löw 2001) wiedergegebene Vorgang der Konstitution von Raum verdeutlicht, dass seine Analyse vielschichtig sein wird,
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weil er in seiner Gesamtheit nicht einfach zu erfassen ist. Somit stellt sich die Frage nach einer methodologischen Herangehensweise, die vielfältige Aspekte und Zusammenhänge sichtbar macht, die in die Konstitution von Raum mit einfließen. Martina Löw verweist an dieser Stelle auf das Quadrantenmodell von Gabriele Sturm und führt ihre Theorie mit dem Modell zusammen. Diese Anregung aufgreifend werde ich im Folgenden die methodologischen Überlegungen von Gabriele Sturm darlegen und die Schnittstellen zur Theorie Löws benennen und ausführen.
2.1.4 Die Vielfalt erfassen: Methodologische Annäherung an Raum – das Quadrantenmodell von Gabriele Sturm Die zuvor vorgestellten Raumbegriffe und -konzepte unterscheiden sich bezüglich ihrer Orientierung stärker am Raum und den räumlichen Bedingungen menschlicher Existenz (vergleichbar dem Naturalismus) sowie der Annahme, dass dies unmöglich ist, weil Raum immer sozial hergestellt ist (vergleichbar dem Soziozentrismus). In den bislang vorgestellten Raumkonzepten ging es mehr oder weniger um eine Trennung des Sozialen vom Räumlichen wie dies im Gegensatz zwischen Naturalismus und Soziozentrismus im engeren Sinne angelegt ist. Gabriele Sturm löst diese Trennung in ihrer Arbeit auf. Raum ist nach ihrem Verständnis immer beides: Materie und sozial Hergestelltes. Raum kann in seiner Materialität mit naturwissenschaftlichen Erkenntnis- und Forschungsmethoden beschrieben werden, aber auch mit einer gegenläufigen Herangehensweise, die Raum immer als sozial hergestellt versteht. Sturms Ansatz lässt sich weder der einen noch der anderen Position zuordnen, so dass ich ihn als vermittlungstheoretisch – zwischen den Polen Naturalismus und Soziozentrismus – bezeichnen möchte. Sie geht beide Wege in der Entwicklung ihres Raummodells und verdeutlicht damit, „daß Raum nicht eindeutig in seiner Existenz erkannt und festgelegt werden kann“ (Sturm 2000, S. 188). Mit ihrer methodologischen Annäherung an ein Basiskonzept raumbezogener Wissenschaften baut Gabriele Sturm auf das Empirische Relativ auf und einer Gleichzeitigkeit von Hervorbringen und Hervorgebrachtem. Damit wird deutlich, dass die Art der Betrachtung sich nach der Erkenntnis richten muss, dass es nicht um ein „Entweder – oder“ von Raum geht: „nicht Zwischenraum oder Bühne, nicht Teilchen oder Welle, nicht Sein oder Nichts, nicht Ding oder Beziehung. Materie wie Raum weisen jeweils beide Eigenschaftszuschreibungen auf – auch wenn ein Experiment nur eine Modellebene operationalisieren kann“ (ebd., S. 141).
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Letztendlich ist es der Mensch und seine Wahrnehmung, die ihn an die Dinge herantreten lässt und die ihn zu der einen oder anderen Vorgehensweise veranlasst (ebd.). Der zugrunde liegende Raumbegriff ist relational. Raum steht also immer im Kontext mit gesellschaftlicher Praxis. Dies bedeutet, dass die fortwährend stattfindende Aneignung, Nutzung und (Re)Produktion von Raum Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und Erkenntnisgewinnung ist. Ähnlich wie auch Löw (2001) verweist Sturm (1999 und 2000) damit auf den stetigen Prozess der Konstitution von Raum. Im Umgang mit Raum darf das Bewusstsein nicht für die Vielfalt verschlossen sein, die sich in einer großen Verschiedenräumigkeit zeigt, bestehend aus Nebeneinander, Gleichzeitigkeit, Anordnung und Ausdehnung. Vor allem das Nebeneinander von Räumen erfordert eine Perspektivenvielfalt. Ausgehend von einer großen Differenziertheit und Vielfalt gibt es für Sturm kein Raumkonzept, das dem allein gerecht werden kann (Sturm 2000 und 1999, Löw 2001). Entsprechend des Forschungsinteresses bzw. der Fragestellung sollten Raumkonzept und methodologische Herangehensweise ausgewählt und miteinander in Einklang gebracht werden. Im Zentrum jeder Untersuchung steht also immer nur ein mehr oder weniger großer Ausschnitt der Vielfalt. Das Quadrantenmodell von Gabriele Sturm beinhaltet deshalb verschiedene Facetten, auf die Forschungsfragen in unterschiedlicher Gewichtung zugreifen können und die entsprechend der zu behandelnden Frage anzuordnen sind. Es dient vor allem der Eingrenzung des eigenen Erkenntnisinteresses, der Bestimmung der Reichweite der in der empirischen Analyse erfassten Aspekte sowie des Zusammenspiels dieser theoretisch festgelegten Aspekte. Aufbauend auf diese Optionen hat Gabriele Sturm ein methodologisches Quadrantenmodell entwickelt, das sie wie folgt gestaltet hat.
2.1 Raumbegriffe und -theorien Abbildung 1:
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Methodologisches QuadranWenmodell für Raum
Quelle: Sturm 2000, S. 199 In ihrem Modell unterscheidet Sturm zwischen materialer Gestalt (I), strukturierender Regulation im Raum und des Raumes (II), dem kulturellen Ausdruck im Raum und des Raumes (III), das historische Konstituieren des Raumes (IV). Die Nummerierung der Quadranten steht nicht für eine vorgegebene Reihenfolge. Die Bezeichnungen der einzelnen Felder gleichen jenen Komponenten, die Läpple (1991a und b) für sein gesellschaftliches Raumkonzept gewählt hat. Sie sind in die Entwicklung des Spiralquadranten29 eingegangen (vgl. Sturm 2000, S. 197 f.). In einer senkrechten Teilung der vier Quadrantenfelder stehen einander objektive Raumgebilde gegenüber, die sozial hergestellt sind und die räumlichen
29 Ursprünglich bezieht sich Sturm (2000, S. 189 ff.) mit den Bezeichnungen der Quadranten auf die vier Ursachen des Aristoteles.
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und sozialen Bedingungen die zur Herstellung der Materie führten. Zwischen beiden sind Wechselbeziehungen möglich. „Damit ließen sich in etwa folgende Verhältnisse kennzeichnen: Materialisierung zu Vergesellschaftung, rezeptiv zu aktiv, Eigensinn zu Eigenwille, Reproduktion zu Produktion“ (ebd., S. 194). Über eine waagerechte Teilung hebt Sturm die Dynamik des historischen Konstituierens und des kulturellen Ausdrucks hervor, im Gegensatz zur materialen Gestalt und strukturierenden Regulation, die bekannt sind und die Basis darstellen. In der Diagonalen stehen von links unten nach rechts oben Materie und Handeln einander gegenüber sowie von rechts unten nach links oben das, was über Handeln möglich wäre und das Hergestellte. Als Grundform für das Modell hat sie den Kreis gewählt, um „im Kreislauf raumzeitliche Unbegrenztheit repräsentieren“ zu können (Sturm 2000, S. 189). Die Zeitspirale, die außen herum verläuft, verdeutlicht das historische Gewordensein. Jede Frage an Raum beginnt und endet an einem anderen historischen Punkt. Die beiden Pfeile in der Zeitspirale symbolisieren eine doppelte Symbolik, die Sturm dem AGIL-Schema Parsons entnimmt: „Mit der Zeit ‚gegen den Uhrzeiger läuft ein veränderndes Moment, während ‚im Uhrzeigersinn ein widerständiges, sich vergegenständlichendes Moment wirkt“ (ebd., S. 196). Die kleineren Abbildungen unter dem Quadranten symbolisieren noch einmal mögliche Beziehungen zwischen den Feldern.
Zusammenführen von Theorie und Methodologie Mit den Ausführungen von Martina Löw zur Konstitution von Raum wurde deutlich, dass es sich dabei um einen vielschichtigen Prozess handelt, der wesentlich durch die Dualität von Handeln und Struktur geprägt ist. Damit ergibt sich die Notwendigkeit, „das eigene Erkenntnisinteresse bei der Untersuchung von Raum, die Reichweite der in der empirischen Analyse erfassten Aspekte der Konstitution von Raum und das Zusammenspiel der verschiedenen nun theoretisch entwickelten Aspekte der Konstitution von Raum zu bestimmen“ (Löw 2001, S. 220). Das von Gabriele Sturm entwickelte Quadrantenmodell eröffnet hierfür folgende Möglichkeiten (vgl. ebd., S. 218 ff.): Die materiale Gestalt im ersten Feld des Quadranten sind die sozialen Güter und Menschen in ihren (An)Ordnungen, ihre materielle und symbolische Außenwirkung und ihre Atmosphäre. Sie sind die Grundlage für die Synthese von Räumen. Dem zweiten Quadranten ordnet Löw die Synthese zu, die Wahrnehmungen und Vorstellungen, die Erinnerungsprozesse von Räumen. Die Synthese ist abhängig vom Habitus und den Raumvorstellungen. Die gebildete Synthese
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führt dann zum Handeln, das in Platzierungen mündet. Der dritte Quadrant beinhaltet das Spacing und somit auch das institutionalisierte und auch das abweichende gegenkulturelle Handeln. Auch dies wird vom Habitus geprägt. Aus dem Spacing heraus entstehen Strukturen – im letzten Quadrantenfeld stehen dann die Strukturen und Strukturprinzipien, die zu institutionalisierten (An)Ordnungen werden können. Damit ist in der Betrachtung wieder der erste Quadrant erreicht. Die senkrechte und waagerechte Unterteilung des Modells in aktiv und rezeptiv, dynamisch und gekannt bei Sturm verliert jedoch ihre Gültigkeit, denn durch die Ausweitung der materialen Welt auf Menschen bei Löw müsste jedem Quadranten ein aktives und rezeptives, bekanntes und dynamisches Moment zugewiesen werden. Wie auch bei Sturm befinden sich die handelnden Menschen im zweiten und dritten Quadranten auf der rechten und Strukturen und Materie auf der linken Seite.
2.1.5 Erstes Zwischenfazit Die eingangs vorgestellten Raumbegriffe, die geprägt sind durch die Dualismen „Behälterraum“ und „relativer Raum (Beziehungsraum)“, sind sowohl von Martina Löw als auch von Gabriele Sturm diskutiert und erweitert worden. Sie haben die Grenzen dieser Raumbegriffe für die Analyse von Raumkonstitutionen deutlich gemacht: Die physischen Raumstrukturen werden in ihren Raumkonzepten weder als gegeben betrachtet, noch steht die soziale Dimension des Raumes im Zentrum des Erkenntnisinteresses. Damit lösen sie sich von einer Betrachtungsweise, die Raum als (natürlich oder sozial) gegebenes Produkt ansieht und betonen den Prozess des „Werdens“, d. h. der Gleichzeitigkeit von Hervorgebrachtem und Hervorbringendem. Die Vorstellung von vorgegebenen Raumstrukturen führt zur Ausblendung individueller Raumkonstitutionen und ihren spezifischen Qualitäten, die wiederum auf sozial-ökonomische und politische Prozesse der lokalen und regionalen Entwicklung zurückwirken. Somit verbleiben auch die Potenziale individueller bzw. gesellschaftlicher Raumkonstitutionen für eine nachhaltige Raumentwicklung unsichtbar. Sturm und Löw öffnen mit ihren Raumkonzepten den Blick für die Relationenbildung: Räume entstehen, indem Materie, Lebewesen etc. zueinander in Beziehung gesetzt werden. An einem Ort kann es ein Nebeneinander verschiedener – sozialer und physisch-materieller – Räume geben. Von diesen Raumkonzepten ausgehend kann in der vorliegenden Untersuchung nach individuellen Raumkonstitutionen und ihren Qualitäten für die Bewohnerinnen sowie den impliziten Potenzialen für eine Nachhaltige Raumentwicklung gefragt werden.
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Mit Blick auf die der vorliegenden Arbeit zugrunde liegende Fragestellung werde ich meine Forschungsfragen auf das Quadrantenmodell von Sturm übertragen und im Anschluss daran die wesentlichen Aussagen aus den vorangegangenen Ausführungen zu den Raumbegriffen und -konzepten nochmals zusammenfassen. Im Mittelpunkt dieser Arbeit steht die Frage nach den Möglichkeiten von Frauen im ländlichen Raum zur Nutzung und Konstitution von öffentlichen Räumen. Wer, also welche Individuen oder gesellschaftliche Gruppen, nutzen lokale Räume im Dorf und wie veränderten sich diese Nutzungen im Laufe der Zeit? Haben die öffentlichen Räume im Dorf tatsächlich einen Bedeutungsverlust erfahren, der sich in einer Vereinsamung und Entleerung von Räumen widerspiegelt? Wo fand das gesellschaftliche Leben im Dorf vor und nach der Wende statt? Diese Fragen werde ich mit Hilfe des raumsoziologischen Konzeptes von Martina Löw weiter verfolgen. Auf Basis dieser Theorie ist es möglich, den Prozess der Konstitution von Raum zu erfassen, die sich sowohl aus der (An)Ordnung von Elementen als auch von Menschen ergeben. Das Quadrantenmodell von Sturm (2000) wird bei der Erhebung von Strukturen angewendet. Mit Hilfe dieses Modells kann ich meine Forschungsfrage einengen und Raumaspekte aus der Vielfalt an Räumen bestimmen, die ich betrachten möchte. Meine Forschungsfragen lassen sich wie folgt auf die Methodologie von Sturm (2000, S. 200 ff.) und die Theorie Löws (2001, S. 222 f.) anwenden30: Im ersten Quadranten ist die Wirklichkeit, die wir vorfinden, abgebildet. Löw ordnet diesem Feld die Materie (soziale Güter und Menschen) zu. In diesem Feld findet sich die Gestalt des Dorfes wieder, die Straßen, Häuser und Höfe, private und öffentliche Räume, Gärten und Wege sowie die Dorfplätze. Hierzu gehören die Bänke, das kleine Museum, der Bauerngarten mit seinen Pflanzen und Tieren oder die LPG. Auch die anderen Dorfbewohner/innen sowie Fremde und Touristen, die das Dorf besuchen, sind diesem Quadranten zu zuordnen. Die Fragen, die mich als Forscherin31 in diesem Quadranten bewegen, sind folgende (vgl. Breckner & Sturm 1997): Welche Materie finde ich vor? Wie wirken Straßen, Häuser und Höfe auf mich? Was nehme ich an Sinneseindrü-
30 Die einzelnen Quadranten werden diagonal zueinander in Beziehung gesetzt, so dass die Reihenfolge I und II sowie II und IV lautet. 31 Die folgenden Fragen sind für eine erste Erkundung Glaisins erkenntnisleitend, um objektive und subjektive, strukturelle und prozessuale sowie materielle und ideelle Komponenten der Konstitution von Raum zu erfassen. Die Reflexion und der Vergleich subjektiver Wahrnehmungen (der Untersucherin sowie der interviewten Frauen) öffnen den Blick für differente Perspektiven und Wahrnehmungen auf ein und dasselbe Objekt und verweisen damit „auf einen nur sozial denkbaren Wahrheitsbegriff“ (Breckner & Sturm 1997, S. 233).
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cken war? Fühle ich mich wohl, laden die Bänke zum Verweilen ein? Begegne ich anderen Menschen im Dorf? Ergeben sich Gespräche? Was kann ich beobachten? Welche gesellschaftlichen Gruppen nutzen welche Räume? Vom wem wurde die Materie mit welcher Intention geschaffen? Welche Möglichkeiten eröffnen sich zur Nutzung und wie beeinflussen die Nutzungen die Wahrnehmungen der Räume? Diagonal zum ersten Quadranten liegt der dritte Quadrant, dem Sturm das historische Konstituieren und Löw das Spacing zugeordnet hat. Hier richtet sich der Blick auf die handelnden Menschen und die Frage, wie sie im Handeln ihren Lebensraum, das Dorf, formen und gestalten. Auch die Wirtschaftsweise birgt starke Einflussfaktoren. Dörfer, in denen die Landwirtschaft dominiert, haben mitunter ein anderes Äußeres und auch eine andere Atmosphäre als Dörfer, in denen der Tourismus oder das Berufspendeln überwiegen. Fragen, die mich beschäftigen, sind die nach dem Einfluss des Handelns einzelner oder Gruppen von Menschen auf die Nutzung und Konstitution von Raum. Wie wurden Räume früher genutzt, und was hat sich verändert? Welche Handlungsmuster führten zu Verfestigung, welche zur Veränderung von Raumstrukturen. Warum haben sich die Raumstrukturen im Dorf so entwickelt und welche Handlungen waren dabei maßgeblich? Behindert das Handeln von gesellschaftlichen Gruppen andere an der Nutzung oder der Konstitution von Raum? Im zweiten Quadranten findet sich bei Sturm die strukturierende Regulation im Raum und des Raumes wieder. Löw ordnet hier die Synthese von Raum ein. Unser Leben wird von verschiedenen Institutionen, Systemen und Normen mehr oder weniger stark gelenkt. Hierzu gehören beispielsweise gesellschaftliche Erwartungen, die an uns herangetragen werden, aber auch Gebote und Verbote, die in Gesetzen und anderen Regelwerken festgehalten sind. So bestimmt der Bebauungsplan über die Bebauungsdichte der Häuser oder Höfe und im Flächennutzungsplan sind die Art und Weise der in Frage kommenden Nutzungen von Flächen festgelegt. Räume entstehen aber auch über die Wahrnehmung, Erinnerung und Vorstellung als kognitive Prozesse. In der Erinnerung erscheinen Räume anders als in der Wirklichkeit. Diesen Prozess der Wahrnehmung, Erinnerung und Vorstellung von Raum bezeichnet Martina Löw als Synthese. Fragen, die sich in diesem Quadranten stellen, sind die nach Regulationen. Gibt es z. B. Verbote, die am Betreten von Wegen und Plätzen hindern? Wie wirken sich Geund Verbote auf die Wahrnehmung von Raum aus? Welche Räume bleiben in der Erinnerung? Wer bestimmt über Räume und ihre Nutzungen? Welche gesellschaftlichen Normen und Regulationssysteme haben zur Entstehung der Raumstrukturen beigetragen? Wie veränderten sich die Nutzungsmuster mit der Entstehung der DDR und später durch ihre Auflösung? Wie wirkt sich die Ablösung
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bzw. Auflösung landwirtschaftlicher Strukturen auf die Raumstrukturen aus, und wie werden die Räume seitdem wahrgenommen? Der vierte Quadrant liegt dem zweiten diagonal gegenüber. Hier sind der kulturelle Ausdruck nach Sturm und die Strukturen und Strukturprinzipien bei Löw formuliert. Im Handeln werden Strukturen reproduziert und verfestigt zu institutionellen (An)Ordnungen. Das Äußere des Dorfes, seine Anlage als Rundling32 trägt die Spuren menschlichen Handelns, der vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaftsformen. Das Dorf trägt die Zeichen der in ihm lebenden Menschen, und aus ihnen spricht ein Teil der Geschichte des Dorfes und seiner Menschen. Welche Geschichte erzählt das Dorf? Was geben die Raumstrukturen preis? Welche Zeichen und Spuren haben Menschen im Dorf hinterlassen? Wie wirken diese Symbole auf die Wahrnehmenden – inwieweit lösen sie ein Gefühl des Wohlbefindens und des Vertrauten aus, oder erscheint alles fremd? Welche Zeichen und Strukturen kommen immer wieder vor? In meiner Analyse werde ich auf alle vier Quadranten eingehen, mein Schwerpunkt wird jedoch in dem ersten und dritten Quadranten liegen, weil hier die materiale Gestalt und die Konstitution stattfinden, wobei das Spacing eng verbunden ist mit der Synthese, der Wahrnehmung von Raum. In der Konstitution von Raum weisen wir den Räumen eine bestimmte Symbolik zu, die wiederum über die Wahrnehmung auf uns wirkt. Auch der vierte Quadrant ist daher für mein Forschungsinteresse bedeutend. Aus der Analyse der Raumkonzepte folgt für meine Fragestellung: Mit Bezug auf die Theorie von Martina Löw und mit der Anwendung des Quadrantenmodells von Gabriele Sturm habe ich meiner Arbeit einen relationalen Raumbegriff zugrunde gelegt. Raum ist nicht als Behälter, als wirkungslose Hülle zu verstehen, die Materie und Menschen umschließt. Raum ist beides: soziale und physische Konstruktion. Beides erschließt sich über Wahrnehmung und Interpretation. Raum entsteht, indem Elemente und/oder Menschen zueinander in Beziehung gesetzt werden, d. h. dass jedes Konstituieren von Raum eine soziale Leistung darstellt. Maßgeblich hierfür ist das Vermögen der Menschen, das Wahrgenommene zu interpretieren, die Symbolik von Räumen zu lesen und zu verstehen. In Abhängigkeit von Sozialisation, gemeinschaftlichen und individuellen Erfahrungen, ist jeder Mensch anders zur Interpretation des Wahrgenommen befähigt. Es ist also von einer Vielzahl von Interpretationen und daraus resultierendem Handeln auszugehen, wobei ähnliche Lebensbedingungen und Erfahrungen zu ähnlichen Erfahrungen und Handlungen führen können.
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In Rundlingsdörfer sind die Hofstellen um einen runden bis hufeisenförmigen Platz angelegt. Ursprünglich besitzt dieser Innenraum nur eine Straßenzufahrt von außen. Rundlinge sind fast ausschließlich im ehemaligen deutsch-slawischen Grenzraum anzutreffen (vgl. Henkel 1993, S. 180).
2.1 Raumbegriffe und -theorien
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Die Konstitution von Raum steht in engem Zusammenhang mit der individuellen Lebenssituation und entsprechend groß ist die Vielfalt an Räumen. Die Konstitution von Raum findet teils bewusst, teils unbewusst statt. Der einzelne Mensch ist jedoch dazu befähigt, mittels Reflexion sich seiner Raumkonstitutionen bewusst zu werden und sein Wissen zu verbalisieren. Die Konstitution von Raum ist ein mit Macht durchdrungener Prozess, denn der Zugang zur Ressource Raum ist nicht allen Menschen gleichermaßen und in gleicher Weise möglich. Das bedeutet, dass allen Forschungsarbeiten zum Zusammenhang zwischen Raum und Gesellschaft auch Fragen nach den Geschlechterverhältnissen immanent sind. Sowohl Martina Löw als auch Gabriele Sturm weisen auf die Dualität von Handeln und Raumstrukturen hin, die es unmöglich macht, beides getrennt voneinander zu betrachten. Meine Analyse der lokalen Räume muss daher „eine entsprechende Gleichwertigkeit und Aufeinanderbezogenheit von herausfordernder Materialität und hervorbringender Sozialität enthalten“ (Sturm 2000, S. 145). Für die Operationalisierung dieser Forderung bietet sich ein Perspektivenwechsel an zwischen Elementen, die in die Konstitution von Raum einfließen und den Beziehungen zwischen ihnen. Löw schlägt vor, diesen Wechsel um eine strukturanalytische und interaktiv/biographische Perspektive zu erweitern. „Diese Verknüpfungsleistung ist zunächst idiographisch zu erheben. Die Folgen der Verknüpfungen, zum Beispiel erhöhtes Verkehrsaufkommen, können nur über eine Strukturanalyse herausgefunden werden“ (Löw 2001, S. 219). Methodisch eignen sich hierfür offene und nicht standardisierte Verfahren sowie qualitative Auswertungen (siehe Kap. 4). Für eine abschließende Diskussion meiner Arbeit halte ich die Frage fest, worin der Erkenntnisgewinn in der differenzierten Betrachtungsweise des vielfältigen und komplexen Beziehungsgefüges zwischen Raum, Individuum und Gesellschaft liegt und wie dieses komplexe Wissen in planerische Überlegungen und Fragestellungen einzubringen ist bzw. eingebracht werden kann. Diese Frage werde ich in Kap. 7 abschließend noch einmal aufgreifen. Bevor ich näher auf mein Untersuchungsdesign und die Methoden eingehe, bedarf es weiterer theoretischer Überlegungen. Bislang habe ich die Analyse von Raum allgemein diskutiert. Im folgenden Kapitel werde ich einen bestimmten Typus von Raum eingehender betrachten und zwar die öffentlichen Räume, da sie Schwerpunkt meines Forschungsinteresses sind.
3 Anwendung der theoretischen und methodologischen Ausführungen zur Konstitution von Raum: der „Sonderfall“ öffentliche Räume 3
Anwendung auf den „Sonderfall“ öffentliche Räume
„Offene Räume sind gekennzeichnet durch ihre Unbestimmtheit: Man weiß noch nicht oder nicht mehr, was aus ihnen wird. Man ahnt lediglich, was dort einmal sein könnte, doch es fehlt die Sicherheit“ (Schneider 2003, S. 363).
Öffentliche und private Räume sind von Menschen geschaffen. Als Siedlungsräume sind sie mitunter vor langer Zeit entstanden und immer wieder überformt und neu gestaltet worden. Ihre Entstehung und ihre weiteren Ausprägungen sollten daher nicht losgelöst von den Aktivitäten der in ihnen lebenden Menschen betrachtet werden. So gesehen können räumliche Siedlungsstrukturen als „kollektive Werke“ verstanden werden, die in „einem ständigen Prozess der Bereitstellung, Nutzung und Erprobung, der Veränderung und Adaptierung“ entstehen (Dumreicher & Kolb 2003, S. 208; vgl. auch Riege & Schubert 2003). Sie bilden gesellschaftliche Handlungspraxis ab, die in ihre Strukturen eingeschrieben ist. Zwischen räumlichen und gesellschaftlichen Strukturen besteht somit ein unauflösbarer Zusammenhang. Auch hier ist in vielen Beiträgen des raum- und planungswissenschaftlichen Diskurses33, in denen Möglichkeiten der Unterscheidung zwischen öffentlich und privat diskutiert werden, ein Dualismus von Raum und Gesellschaft erkennbar: Die einen argumentieren ausgehend von den physisch-materiellen Grundlagen, der baulichen Substanz. Ihr Bestreben ist es, über die Gestaltung von baulicher Substanz öffentliche Räume zu definieren bzw. zu planen und zu schaffen (siehe u. a. Bahrdt 1998, Feldtkeller 1994). Für die anderen ist Öffentlichkeit nicht an konkrete Orte gebunden. Das baulich-räumliche wird hier zur Szenerie, vor deren Hintergrund menschliches
33 Ich beziehe mich hauptsächlich auf den Diskurs innerhalb der Raum- und Planungswissenschaften. Auch andere Disziplinen wie beispielsweise die Soziologie, die Medien- und Politikwissenschaften und die Wissenschaften der Künste thematisieren öffentliche Räume und Öffentlichkeit (Biester, Holland-Cunz, Sauer 1994, Faulstich & Hickethier 2000, Faulstich 1993, Holland-Cunz 1994, Kaltenbrunner 2003).
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3 Anwendung auf den „Sonderfall“ öffentliche Räume
Tätigsein zunächst zum Entstehen von Öffentlichkeit führt (siehe u. a. Habermas 1999, orig. 1961, Arendt 1998, Sturm 2000, Löw 2001, Weiske 2003). Sie ist „ein Ort, eine gesellschaftliche Sphäre, ein Diskussionszusammenhang, ein Erfahrungszusammenhang mit spezifischen Handlungsmustern und nicht immer trennscharf zu bestimmenden AkteurInnen“ (Holland-Cunz 1992/93, S. 36). Als Außenwirkungen von materiellen Gütern und Lebewesen entsteht Öffentlichkeit überall dort, wo Menschen sie wahrnehmen. „In der Wechselwirkung zwischen konstruierend-wahrnehmendem Menschen und der symbolisch-materiellen Wirkung des Wahrgenommenen entsteht eine eigene Potentialität, die Atmosphäre genannt werden soll“ (Löw 2001, S. 229). Ein Schwerpunkt dieses Kapitels wird daher auf der Betrachtung der Unterscheidung liegen zwischen Öffentlichkeit als Sphäre und Atmosphäre 34 auf der einen und physisch-materiellen öffentlichen Räumen auf der anderen Seite. Diese Trennung ist in Anlehnung an die raumsoziologischen Ausführungen von Martina Löw (2001) wesentlich. Sie wird in dem Diskurs zu öffentlichen und privaten Räumen jedoch nur wenig und damit nicht ausreichend beachtet, was letztendlich zu begrifflichen Unschärfen führt. Als Struktur dient mir das „methodologische Quadrantenmodell für Raum“ von Gabriele Sturm (2000, S. 199, vgl. auch Löw 2001, S. 220 ff., sowie Kap. 2). Dabei werde ich so vorgehen, dass ich die Beiträge des raum- und planungswissenschaftlichen Diskurses35 den einzelnen Quadranten zuordne, um Möglichkeiten und Grenzen für die Einordnung zu den Kategorien öffentlich, privat, halböffentlich und halbprivat zu eruieren und um Ansätze herauszufiltern, die für die Vorgehensweise in meiner empirischen Untersuchung wichtig sind. Ich habe mich für den historischen Zugang entschieden und werde daher mit dem dritten Quadranten beginnen. Hier bilden die Entstehung von Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen den Fokus des Erkenntnisinteresses.
3.1 Historisches Konstituieren – zur Entstehung von Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen 3.1 Historisches Konstituieren Räume entstehen in zwei Prozessen: in der Wahrnehmung, Vorstellung und Erinnerung von Gütern und Menschen (Syntheseleistung) und dem Platzieren (Spacing). Diese sind nach Löw (2001) zunächst auf einer theoretischen Ebene
34 Ich werde im Folgenden beide Begriffe – Sphäre und Atmosphäre – zur Beschreibung von Öffentlichkeit verwenden in Anlehnung an die oben zitierten Definitionen von Barbara Holland-Cunz (1992/93) und Martina Löw (2001). 35 Es ist mir nicht möglich, den Diskurs in seiner Gesamtheit zu systematisieren und den Quadranten zuzuordnen – dies ist eine noch offene Forschungsaufgabe (u. a. Selle 2003).
3.1 Historisches Konstituieren
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voneinander zu trennen. Im praktischen Handeln sind sie jedoch eng miteinander verbunden. Mit dem dritten Quadranten (vgl. Abbildung 1: Methodologisches QuadranWenmodell für Raum, S. 55) werden ausschließlich Platzierungsprozesse betrachtet und unter Berücksichtigung der Örtlichkeiten (erster und vierter Quadrant) analysiert. Historisch rückblickend wird sichtbar, wie und warum es zur Bildung von Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen kommt.
3.1.1 Die Entstehung von Öffentlichkeit als Sphäre am Beispiel der Ausführungen von Hans-Paul Bahrdt Um Öffentlichkeit als soziale Sphäre zu thematisieren, habe ich die Arbeit von Hans-Paul Bahrdt herangezogen. Die Entstehung von Öffentlichkeit wird eng mit der Städtebildung in Zusammenhang gebracht. Hans-Paul Bahrdt (1998) fokussiert die räumliche Trennung von privater und öffentlicher Sphäre und ihre baulich-räumlichen Gestaltungsweisen sowie die Veränderungen, denen die Sphären unterliegen. Ausgehend von der Beschreibung individueller Verhaltensweisen schildert Bahrdt die Entstehung dieser beiden Sphären und diskutiert ihre Bedeutung für die Städtebildung. Bahrdt geht davon aus, dass Öffentlichkeiten mit der Entstehung der Märkte im frühen Mittelalter möglich wurde. Anlass hierzu gaben die Tauschbeziehungen. Menschen versammeln sich an bestimmten Plätzen, um zu kaufen oder zu verkaufen. Ein Markt ist ein „soziales Phänomen eigentümlicher Art“ (ebd., S. 82), denn es entsteht dort kein Gefühl von Zusammengehörigkeit, wie es für kleinere Gemeinschaften charakteristisch ist. Die sozialen Gefüge, denen die Marktbesucher/innen angehören, sind in dem Augenblick des Marktbesuches unbedeutend – in diesem Moment ist nur der Tausch von Waren wichtig. Jeder, der den Markt betritt, ist auf sich gestellt. Er „tritt als einzelner auf dem Markt auf, um zu kaufen oder zu verkaufen“ und es entsteht eine „partielle Freiheit der Tauschenden auf dem Markt“ (ebd., S. 82 f.). Es steht den Marktbesuchern und Marktbesucherinnen frei, Kontakt zueinander aufzunehmen. Diese unvollständige Integration und Beliebigkeit der Kontaktaufnahme ist für die Entstehung von Öffentlichkeit und die spätere Städtebildung 36 wesentlich. „Bereits an diesem Beispiel, in dem noch kein Ausbau der privaten Sphäre und keine Institutionalisierung der Öffentlichkeit stattgefunden haben, beobachten wir jenes Wechselverhältnis, das für städtisches Leben konstitutiv ist“ (ebd., S. 111).
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In seiner Definition von Stadt bezieht er sich auf Max Weber (vgl. Bahrdt 1998, S. 81 ff.).
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Bahrdt geht davon aus, dass überall dort, wo der wirtschaftliche Alltag der Menschen in hohem Maße auf die Märkte konzentriert ist, das Leben regelmäßig in der Öffentlichkeit stattfindet. „Dies macht es möglich und bis zu einem gewissen Grad wahrscheinlich, dass sich auch andere Formen der Öffentlichkeit herausbilden, z. B. eine politische Öffentlichkeit“ (ebd., S. 83). Interessant ist, dass Bahrdt zunächst nicht von öffentlichen Räumen spricht, die aufgrund ihrer materiellen Gestaltung von anderen Räumen unterschieden werden können, sondern von der Entstehung einer öffentlichen Sphäre als nichtmaterieller Raum. Eine öffentliche Sphäre ist bei Bahrdt nichts anderes als ein begrenzter Bereich (Behälter-Raum), in dem sich eine größere Anzahl Menschen aufhalten und ein bestimmtes Verhalten zeigen. Dieses Verhalten wird in Regeln überführt und verfestigt. Damit ist die Grundlage für das Entstehen eines öffentlichen Raumes gegeben. „Allmählich paßt sich nun auch die äußere Gestalt der Städte den Bedürfnissen an, die sich aus der Formel ‚Öffentlichkeit – Privatheit‘ ergeben“ (Bahrdt 1998, S. 111). Je größer eine Ansiedlung wird, desto stärker bildet sich diese Polarität heraus, in der in den Städten das alltägliche Leben stattfindet. Andere Bereiche, die „weder als öffentlich noch als privat charakterisiert werden können, verlieren hingegen an Bedeutung“ (ebd., S. 83). Die beiden Sphären stehen für Bahrdt in einem engen Wechselverhältnis zueinander, ohne dass die Polarität an sich aufgehoben wird. Mit zunehmender Institutionalisierung sind die beiden Sphären öffentlich und privat an bestimmte materielle Substrate gebunden, wie z. B. den Markt oder den Wohnbereich. Bei Hans-Paul Bahrdt ist die Trennung zwischen den beiden Sphären „öffentlich“ und „privat“ durch Institutionalisierung in physisch-materiellen Raumstrukturen gegeben. Bahrdts Argumentation folgend gibt es kein Nebeneinander der beiden Sphären bzw. von sozialer Sphäre und physisch-materiellem Raum an einem Ort. Für die meiner Arbeit zugrunde liegende Fragestellung bedeutet dies, dass vielfältige und vermittlungstheoretische Perspektiven auf beide Sphären nicht möglich sind. Daher werden im Folgenden die Ansätze von Hannah Arendt und Jürgen Habermas hinzugezogen, da sie in ihren Arbeiten zeigen, dass die Sphären in Bewegung sind.
3.1.2 Die Entstehung von Öffentlichkeit als Sphäre bei Hannah Arendt und Jürgen Habermas Anders als Hans-Paul Bahrdt gehen Hannah Arendt und Jürgen Habermas davon aus, dass Öffentlichkeit als Sphäre keine Bindung an Orte aufweist. Nach Arendt (1998, S. 38 ff.) galt die Polis in der Antike als öffentlich, der Haushalt und die Familie dagegen als privat. In der Polis drehte sich alles um
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den Erhalt und die Gestaltung der gemeinsamen Welt. Sie war ein Raum der Freiheit, in dem sich Gleichgestellte trafen. Handeln war in der Polis immer mit dem Politischen verbunden. Im Privaten dagegen ging es um den Erhalt des Lebens – dies war das Reich der Familie. Das Private konnte nur erhalten werden, wenn ein Mitglied der Gemeinschaft sich der öffentlichen Angelegenheiten annahm. Dies waren in den Haushalten die Herrscher, die sich frei in der Polis – im öffentlichen Raum – bewegen konnten. Den übrigen Haushaltsmitgliedern, z. B. Frauen, Sklavinnen und Sklaven war dies nicht möglich, sie waren dieser Freiheit beraubt. „Keiner nur dem Zweck des Lebensunterhaltes und der Erhaltung des Lebensprozesses dienenden Tätigkeit war es gestattet, im politischen Raum zu erscheinen (...)“ (ebd., S. 46). Während sich in der Polis Gleichgestellte trafen, gab es Ungleichheit im Privaten. Das Wort öffentlich bedeutet nach Arendt (ebd., S. 62 ff.) demnach zweierlei: Erstens, dass etwas vor der Allgemeinheit geschieht und somit „für jedermann sichtbar und hörbar ist, wodurch ihm die größtmögliche Öffentlichkeit zukommt“ (ebd., S. 62). Zweitens bezieht sich öffentlich auf „die Welt selbst, insofern sie das uns Gemeinsame ist und als solches sich von dem unterscheidet, was uns privat zu eigen ist, also dem Ort, den wir unser Privateigentum nennen“ (ebd., S. 65). Eine besondere Bedeutung hat der Raum des Gesellschaftlichen bei Arendt. Er entstand, „als das Innere des Haushalts mit den ihm zugehörigen Tätigkeiten, Sorgen und Organisationsformen aus dem Dunkel des Hauses in das volle Licht des öffentlich politischen Bereichs trat. Damit war nicht nur die alte Scheidelinie zwischen privaten und öffentlichen Angelegenheiten verwischt, sondern der Sinn dieser Begriffe wie die Bedeutung, die eine jede der beiden Sphären für das Leben des Einzelnen als Privatmensch und als Bürger eines Gemeinwesens hatte, veränderten sich bis zur Unkenntlichkeit“ (Arendt 1998, S. 47 f.). Das Private wird – bis auf den Bereich der Intimität – gesellschaftlich und damit auch zu einer eigenen Form von Öffentlichkeit. Ein Teil der Arbeit, die vorher ausschließlich im Privaten stattfand, wird zur Erwerbsarbeit und somit öffentlich. Hannah Arendt zeigt mit ihren Ausführungen zum Gesellschaftlichen, dass den beiden Sphären nichts Starres anhaftet, sondern dass sie (historisch) in Bewegung sind. Privates kann öffentlich werden und umgekehrt, ebenso wenig wie sie an konkrete Orte gebunden sind. Auch Habermas (1999, orig. 1961, S. 56 ff.) nennt als Ursprung der Kategorien öffentlich und privat den griechischen Stadtstaat und seine Sphäre der Polis, „die den freien Bürgern gemeinsam ist (koine), streng von der Sphäre des Oikos getrennt, die jedem einzeln zu eigen ist (idia). (...) Öffentlichkeit konstituiert sich im Gespräch (Lexis), das auch die Form der Beratung und des Gerichts annehmen kann, ebenso wie im gemeinsamen Tun (praxis), sei es der Kriegsführung, sei es der kämpferischen Spiele“ (ebd., S. 56). In dieser Zeit war die Agora auf
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dem Marktplatz der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens37. Habermas Interesse an Öffentlichkeit ist ein theoretisches: „Seinem konsens- und diskursorientierten Verständnis schwebt die Idealkonstruktion einer spannungsfreien Gesellschaft vor. (…) Öffentliche Meinung ist für ihn ein komparativer Begriff, an dem sich Anspruch und Wirklichkeit, also Defizite der ‚sozialen Massendemokratie, messen lassen können und müssen“ (Stöber 1999, S. 87). Habermas denkt Raum nur implizit mit, wenn er Orte anführt. Im Vordergrund steht bei Habermas die Entstehung von (politischer) Öffentlichkeit in Diskursen, die auch Gegenpositionen einbeziehen (vgl. Habermas 1999, orig. 1961, S. 20). „Mit alledem ist die häufigste Verwendung der Kategorie im Sinne der öffentlichen Meinung, einer empörten oder unterrichteten Öffentlichkeit, sind Bedeutungen, die mit Publikum, Publizität, publizieren zusammenhängen, noch gar nicht berührt. Das Subjekt dieser Öffentlichkeit ist das Publikum als Träger der öffentlichen Meinung; auf deren kritische Funktion ist Publizität etwa die Öffentlichkeit bei Gerichtsverhandlungen bezogen. (...) Die Öffentlichkeit selbst stellt sich als eine Sphäre dar – dem privaten steht der öffentliche Bereich gegenüber. Manchmal erscheint er einfach als die Sphäre der öffentlichen Meinung, die der öffentlichen Gewalt gerade entgegengesetzt ist. Je nachdem rechnet man zu den Organen der Öffentlichkeit die Staatsorgane oder aber die Medien, die wie die Presse, der Kommunikation im Publikum dienen“ (Habermas 1999, orig. 1961, S. 55). Öffentlichkeit ist bei Habermas veränderbar und unterliegt einem historischen Wandel38: „Das Modell der bürgerlichen Öffentlichkeit rechnete mit der strikten Trennung des öffentlichen vom privaten Bereich (…). Im Maße der Verschränkung des öffentlichen mit dem privaten Bereich wird dieses Modell unanwendbar. Es entsteht nämlich eine repolitisierte Sozialsphäre, die sich weder soziologisch noch juristisch unter Kategorien des Öffentlichen oder Privaten subsumieren lässt“ (ebd., S. 268). Öffentlichkeit als kritische Publizität, als Sphäre öffentlicher und demokratischer Kommunikation und Diskussion ist zunehmend vom Verfall gekennzeichnet. Als einen wesentlichen Beitrag zu diesem Prozess bezeichnet Habermas eine allmähliche Veröffentlichung des Privaten. Festzuhalten ist, dass Öffentlichkeit an konkrete Orte gebunden sein kann, wie beispielsweise den Markt (vgl. die Ausführungen von Bahrdt), aber nicht notwendig sein muss. Dies zeigen die Arbeiten von Arendt und Habermas, wo37
Mit dem Untergang des Römischen Reiches veränderten sich die Räume und die katholische Kirche bot Ersatz für die öffentlichen Körper (vgl. hierzu auch Faulstich 1999, S. 68 und speziell zum Einfluss der Kirche auf öffentliche Räume auch den Beitrag von Irmgard Schultz 1996). 38 Die Arbeit von Habermas (1999, orig. 1961) zum Strukturwandel von Öffentlichkeit zog eine Flut von Publikationen mit Überlegungen und Studien zum Wandel von Öffentlichkeit nach sich. Allerdings fehlt diesen Arbeiten meist ein direkter räumlicher Bezug (vgl. Strohmayer 2000), weshalb sie im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter aufgegriffen und angeführt werden.
3.1 Historisches Konstituieren
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nach diese Sphäre örtlich gebunden sein kann, aber nicht notwendig materiell sein muss. Sie entsteht im Gespräch, d. h. durch das Handeln und die Aktivitäten der Menschen (vgl. hierzu auch Sturm 2000, S. 164 ff.), d. h. das Öffentliche kann in öffentlichen Räumen auftreten, es kann aber auch zum Privaten werden und umgekehrt. Entgegen der Erkenntnisse von Arendt und Habermas sind die zahlreichen Übergänge zwischen den beiden Polen öffentlich und privat zunehmend aus dem Blick geraten (vgl. Schäfers 2003, Selle 2003). Ulla Terlinden verweist aus Geschlechterperspektive auf die Folgen, die mit der Zuweisung von Räumen zu einem der beiden Pole verbunden sind.
3.1.3 Die Entstehung öffentlicher und privater Sphären bei Ulla Terlinden Ulla Terlinden macht deutlich, dass die Herauslösung der markt- und warenförmigen Arbeit aus dem (Re)Produktionsprozess, die Ende des 18. Jahrhunderts begann und Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg einen massiven Durchbruch erlebte, soziale und räumliche Konsequenzen hatte. Sie führte zur Auflösung eng verzahnter Mischnutzungen, räumlicher Multifunktionalität und zur Entwicklung unterschiedlicher Lebenswelten, die geschlechtlich konnotiert sind. Die vorindustrielle Ökonomie des ganzen Hauses löste sich auf, indem die Arbeit für den Tausch außerhalb des Hauses, in öffentlichen und gesellschaftlichen Räumen verrichtet wurde. Die Arbeit für den direkten Gebrauch dagegen fand nach wie vor im Häuslichen, d. h. im Privaten statt (vgl. Terlinden 1990 a und b). Mit der gesellschaftlichen Teilung und Neuorganisation der Ökonomie des ganzen Hauses wurde nicht nur eine Steigerung der Arbeitsproduktivität erreicht, sondern es setzte sich eine neue Bewertung von Arbeit durch. Arbeit wurde zu einer öffentlichen Leistung, die vortrefflich werden konnte, da „man andere übertreffen und sich vor ihnen auszeichnen konnte“ (Arendt 1998, S. 61). Arbeiten im Privaten blieb diese Leistung vorenthalten. Die räumliche Trennung der Arbeit hatte weitere soziale Konsequenzen, die Trennung der Geschlechter. Die Erwerbsarbeit fand in gesellschaftlichen Bereichen statt, „die Arbeit für den direkten Gebrauch wurde nicht nur zur Familiensache erklärt, sondern zum ‚Familienleben‘ stilisiert“ (Terlinden 1990a, S. 112). Die Erwerbsarbeit und das gesellschaftliche, öffentliche Leben waren Bereiche von Männern, die Familie und das Private die von Frauen (vgl. Holland-Cunz 1994 sowie Fritzsche 2000, S. 22 ff., Köhler 1990, S. 70 ff.). Aus Geschlechterperspektive zeigen sich die Folgen, die mit dem Festhalten an der Trennung der Sphären und dem Ausblenden der Übergänge zwischen den beiden Polen verbunden sind: Die gesellschaftlichen Geschlechter- und Rollenverhältnisse wurden in Raumstrukturen festgeschrieben. Die räumliche Arbeitsteilung, die sich
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mit der Industrialisierung durchsetzte, wurde gesellschaftlich bewertet in nicht entlohnte (versorgende) Tätigkeiten, die nicht in dem gleichen Maße wertgeschätzt werden wie die entlohnte (produktive) Erwerbsarbeit (vgl. auch Beer 2004). Das, was eigentlich zusammengehört – produktive und reproduktive Arbeiten –, wurde gesellschaftlich und räumlich getrennt. Räume wurden institutionalisiert, die entweder als öffentlich oder als privat galten. Mit Terlinden (1990a) wird deutlich, dass die mit der Auflösung der Ökonomie des ganzen Hauses verknüpfte Verwiesenheit beider Kategorien auf das je andere verloren ging. Durch die Zuweisung von Räumen zu den beiden Polen dominierte ein ‚Entweder-oder-Denken‘ (vgl. auch Selle 2003, S. 26) und damit gerieten die zahlreichen Übergänge zwischen den beiden Polen des aufeinander bezogenen Begriffpaares aus dem Blickfeld. Es ist das Verdienst feministischer Raumforschung, auf diese gesellschaftlichen Verhältnisse, ihre geschichtliche Entwicklung und ihre Verbindungen zu räumlichen Strukturen aufmerksam zu machen und sie in Frage zu stellen sowie auf die Potenziale und Möglichkeiten zu verweisen, die halböffentliche/halbprivate (hybride) Räume für Frauen beinhalten können (u. a. Ruth Becker 2000, Dörhöfer 2000, 1999, Dörhöfer & Terlinden 1998, Hausen 1976, Holland-Cunz 1994, 1992/93, Rodenstein 1998, 1992/93, Schürmann 2004, Sturm 1997, Terlinden 1990a, b, Zibell 2000). Insbesondere an geschlechtsspezifischen (Raum)Zuweisungen wurde Kritik geübt wie beispielsweise an Mann – Frau öffentlich – privat politisch – unpolitisch produktive Tätigkeiten – versorgende Tätigkeiten bezahlte Arbeit – unbezahlte Arbeit öffentliche Kultur – private Kultur. Soziale Beziehungen, Machtkonstellationen und gesellschaftliche Hierarchien verräumlichen sich und sind auch in der Symbolik von Räumen wieder zu finden (vgl. Dörhöfer & Terlinden 1998, S. 22, von Saldern 2000, S. 6 ff.). Raumstrukturen wohnt somit eine Zeichensprache inne, in der sich gesellschaftliche Machtverhältnisse und auch Geschlechterverhältnisse ausdrücken. Dies führt dazu, dass die gesellschaftlichen und individuellen Möglichkeiten zur Herstellung und Aneignung von Raum sehr verschieden sind und nicht unabhängig von Strukturmerkmalen wie Alter, Geschlecht, Ethnie, Kultur, Klassen, Schichten etc. betrachtet werden können. Soziale Gruppen haben demnach nicht die gleichen Möglichkeiten der Raumaneignung und Herstellung.
3.2 Strukturierende Regulation und Wahrnehmung
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3.2 Strukturierende Regulation und Wahrnehmung von Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen 3.2 Strukturierende Regulation und Wahrnehmung In diesem zweiten Quadranten (vgl. Abbildung 1: Methodologisches QuadranWenmodell für Raum, S. 55) wird der Blick auf strukturelle Regulationen, d. h. auf gesetzliche Vorschriften und nicht gesetzlich festgeschriebene Regeln zur Nutzung von Räumen gelenkt, auf gesellschaftliche Erwartungen, Bilder und Vorstellungen, beispielsweise zum Verhalten in öffentlichen Räumen und darauf, wie Räume wahrgenommen werden. Sowohl die Ordnungsvorstellungen und das Normensystem als auch die Wahrnehmung von Räumen sind unter Berücksichtigung der physisch-materiellen Raumsubstrate sowie ihrer Atmosphären (erster Quadrant) zu reflektieren.
3.2.1 Strukturierende Regulation: Regeln, Gesetze, Konventionen und Erwartungen Öffentliche Räume gehören zum zentralen Aufgabengebiet der Raumplanung. Zur Beplanung des Raumes gehören die Sicherung und Gestaltung von Räumen für gesellschaftliche Aktivitäten aller Art, die auf der Fläche von Dörfern, Städten und Regionen stattfinden können und für die Nutzungskonzepte und -beschränkungen erforderlich sind. Es handelt sich dabei um Raumnutzungen aller Art: Wohnen, Gewerbe, Industrie, Abbau von Rohstoffen, Trinkwasserschutz, Landschaftsschutz, Erholung und Freizeit, Kultur, Spiel etc. Nutzer/innengruppen haben unterschiedliche Ansprüche und Gestaltungswünsche an Räume. Da Raum als Fläche ein knappes Gut ist, ist ein Haushalten mit den gegebenen Räumen erforderlich. Die räumliche Planung hat formelle Instrumente entwickelt, um diese Aufgabe in folgenden Bereichen zu erfüllen: Raumordnung, Bodennutzung, Flächennutzung, Umweltschutz und Bodenrecht. Mittels Gesetzen wie beispielsweise dem Raumordnungsgesetz (ROG 1998) oder dem Baugesetzbuch (BauGB 2002) und Plänen wie Landesraumordnungsprogrammen oder Regionalen Raumordnungsprogrammen etc. werden die Raumentwicklung und das Baugeschehen in Städten, Dörfern und Regionen bestimmt. Einigkeit besteht im raum- und planungswissenschaftlichen Diskurs zu öffentlichen und privaten Räumen darüber, dass es Aufgabe der öffentlichen Hand ist, öffentliche Räume so zu erhalten, dass sie für möglichst viele Menschen offen sind, damit sie Öffentlichkeit erzeugen und ihre Funktion als Begegnungsraum bewahrt bleibt (vgl. u. a. Dörhöfer 1999, Paravicini 2002, Schäfers 2003, Selle 2003, Settekorn 2000, Wentz 2003). Diese Forderungen sind z. B. dann erfüllt, wenn auf einem öffentlichen Empfang etwas präsentiert und zur Schau
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gestellt wird, um es der Allgemeinheit kund zu tun und um Anerkennung zu gewinnen (vgl. Habermas 1999, orig. 1961, S. 55). Von dieser Erwartung ausgeschlossen sind z. B. Gerichtssäle. Derartige öffentliche Räume können durch die Ausübung von Hausrecht in ihrer Nutzung oder ihrem Zugang ganz oder zeitweise eingeschränkt werden. Sie werden zunächst deshalb als ‚öffentlich bezeichnet, weil sie eine Einrichtung des Staates beherbergen. In diesem Fall ist der Staat als öffentliches Organ dafür zuständig, in eigens dafür bereitgestellten Räumen für das öffentliche Wohl, d. h. das Wohl aller zu sorgen. Auch jene Räume sollten der Allgemeinheit zugänglich sein, die in privater Hand sind, wie z. B. Bahnhöfe, Passagen etc., denn die Betreiber und Manager sehen diese als Teil öffentlicher Räume (vgl. hierzu auch Kulinski 2003). Ansonsten unterliegen private Räume bestimmten Nutzungsregelungen, die der jeweilige Eigentümer festlegt. Bei einem Teil dieser eigentlich privaten Räume ist der eigentumsrechtliche Status für die Nutzer/innen nicht immer erkennbar. Obwohl Bahnhöfe in privatem Besitz sind, werden sie als öffentliche Räume wahrgenommen (vgl. ebd.) – dies stellt eine Schwierigkeit dar, die in dem Diskurs vielfach thematisiert wird. Als private Räume werden die Wohnung (Habermas 1999, Terlinden 1990, Welz 1986, u. a.) und der Arbeitsplatz (Wentz 2003) genannt. Neben eindeutig privaten oder öffentlichen Räumen gibt es halböffentliche und -private Räume, die eine Zwischenform der beiden Pole sind. Hierzu gehören auch die lokalen öffentlichen Räume, die frei zugänglich sind, deren Nutzer/innen sich jedoch aus lokalen Zusammenhängen bekannt sind (Welz 1986, Dunckelmann 1976). Beispielsweise ist es in Dörfern oder kleinen Stadtquartieren nicht immer gegeben, dass die als ‚öffentlich geltenden Räume von Menschen genutzt werden, die einander fremd sind. Vielmehr treffen sich in diesen Räumen die Dorf- oder Stadtbewohner/innen, die sich vielfach zumindest „vom Sehen her“ bekannt sind. Gisela Welz (1986) hat sich mit dieser Problematik intensiv auseinander gesetzt und verwendet hierfür die Bezeichnung ‚lokale öffentliche Räume, da die Nutzer/innen sich aus lokalen Zusammenhängen kennen. Die Überschaubarkeit, die sich aus einem räumlich eng begrenzten Einzugsbereich ergibt, lässt das zufällige Aufeinandertreffen von Menschen, die sich völlig unbekannt sind, nicht mehr zu. Dies ist für Welz (1986, S. 25), die sich in ihrem Verständnis von Öffentlichkeit an den Ausführungen Bahrdts (1998) orientiert, eine wesentliche Eigenschaft von Öffentlichkeit. Sie argumentiert, dass es in einem kleinen Dorf, das nur selten von Nicht-Einwohnern/innen aufgesucht wird, Öffentlichkeit wie Bahrdt sie schildert – unmittelbare Kontaktaufnahme zwischen einander fremden Menschen, Anonymität, zufälliges Aufeinandertreffen – kaum geben kann. Als lokale Öffentlichkeit versteht Welz (1986, S. 26) in Anlehnung an Dunckelmann (1975, S. 28) ein informelles Handlungs- und
3.2 Strukturierende Regulation und Wahrnehmung
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Interaktionsfeld, dessen Teilnehmer/innen aus einem lokalen Zusammenhang kommen 39 . In der lokalen Öffentlichkeit treffen sich sowohl einander fremde Menschen als auch die Dorfbewohner/innen, die einander kennen. Anders als in vielen anderen Dörfern, in denen hauptsächlich verwandtschaftliche und nachbarschaftliche Treffen möglich sind, die auf der Beziehung von familiärer Zugehörigkeit und der räumlichen Nähe des Wohnens beruhen, geschieht die Kontaktaufnahme in der lokalen Öffentlichkeit freiwillig und zwanglos. Eine weitere Kategorie bilden gemeinschaftliche Räume, die einer geschlossenen, abgegrenzten Gruppe von Menschen zur Verfügung stehen (Wentz 2003, S. 245). Dies können beispielsweise eine Hausgemeinschaft oder ein Verein sein, denen nicht allgemein zugängliche Räume zur Verfügung stehen. Ihre Nutzer/innen unterstehen anderen Verhaltensregeln und Zugangsberechtigungen als denen, die in öffentlichen oder privaten Räumen gelten. Viele Beiträge thematisieren Zugangs- und Gebrauchsregelungen, weil sie entscheidend sind für die Nutzbarkeit von Räumen (vgl. auch Breuer 2003, S. 5 f.). Aus Geschlechterperspektive sind sichtbare und unsichtbare Zugänge und Zugangssperren zu öffentlichen Räumen aufgezeigt sowie Möglichkeiten der Mitsprache an politischen Entscheidungen über die Gestaltung von Raumstrukturen analysiert worden. Barbara Zibell (2000, S. 33 ff.) spricht von den Entscheidern, die Beschlüsse fällen über Raumstrukturen und damit auch über Möglichkeiten, sich Räume anzueignen und sie zu nutzen. Ihnen gegenüber stehen die Betroffenen, die in den von den Entscheidern vorgefertigten Räumen leben. Allein die Entscheider haben Zugang zu politischen Ressourcen und diese Entscheidungspositionen werden in patriarchalen Gesellschaften überwiegend von Männern besetzt. Somit fließen in die Entwürfe von Raumstrukturen überwiegend männliche Alltags- und Lebenserfahrungen ein. „Auf der Skala der Verfügungsgewalt über städtischen und gesellschaftlichen Raum scharen sich Männer und Eigentümer als Entscheider um den einen Pol, Frauen und Mieterinnen als Betroffene um den anderen. Dazwischen liegen (immer noch) Welten“ (Zibell 2000, S. 34). Aufgabe der öffentlichen Hand ist es, diese einseitigen Strukturen durch neue zu ersetzen, d. h. in der Planung und Gestaltung öffentlicher Räume die Pluralität an Lebensweisen zu integrieren, um den Stadtbewohnern/innen eine
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Als lokale Öffentlichkeit bezeichnet Dunckelmann (1976, S. 28) jenen Bereich, in dem „identitätsvermittelnde Kommunikationsprozesse, die eine intensivere persönliche Beteiligung ermöglichen und dabei aber weder von der familiären noch von der beruflichen Lebenssphäre her bestimmt sind, jedoch gleichwohl lokalen Charakter haben, insofern sie nicht lediglich auf elitäre Zirkel etwa im Bereich von Kunst, Wissenschaft und Politik beschränkt bleiben, sondern jedermann grundsätzlich zugänglich sind“ stattfinden.
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3 Anwendung auf den „Sonderfall“ öffentliche Räume
gleichberechtigte Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichHQ (Paravicini 2002, S. 113). Im Rahmen eines Forschungsprojektes zur Neukonzeption städtischer öffentlicher Räume im europäischen Vergleich wurden diese Forderungen in Planungsempfehlungen übersetzt und in fünf Leitbildern zusammengefasst (ebd., S. 139 ff.), die auf folgenden Grundsätzen städtebaulicher Entwicklung basieren:
Öffentliche Räume sollten Orte der Demokratie sein, die keine Ausgrenzungen, sondern allen Bürgern/innen gleichberechtigte Nutzungen ermöglichen. In öffentlichen Räumen findet soziales Leben statt, sie sind Orte der Erholung und Räume der Begegnung. Um diese Funktionen auszufüllen, müssen sie für alle Nutzer/innen Sicherheit zu allen Tageszeiten gewährleisten. Als Räume der Identifikation sind in ihre Strukturen stadtgeschichtliche Zeichen und Symbole eingeschrieben, die charakteristisch für Quartiere sind und ihre Einzigartigkeit ausmachen. Planungsprozesse sollten deshalb eine dialogische Kultur entwickeln, die auf eine öffentliche Beteiligung und das gemeinsame, gleichberechtigte Handeln der Bürger/innen setzt.
Eine weitere gesellschaftliche Erwartung an öffentliche Räume bezieht sich auf die Möglichkeit der Kontaktaufnahme zu anderen Menschen. Öffentliche Räume sind aufgrund ihrer allgemeinen Zugänglichkeit Begegnungs- und Kommunikationsräume. In ihnen ist es möglich, sich unter Menschen zu bewegen. „Öffentliche Räume tragen gesellschaftliche Austausch- und Integrationsfunktionen, dienen der Repräsentation und Demonstration, der Orientierung und Identifikation. Sie prägen das Stadtbild und tragen zur Gliederung des städtischen Raumgefüges bei. In diesem Sinne haben die öffentlichen Räume Bedeutung von gesamtstädtischer und gesellschaftlicher Tragweite“ (Breuer 2003, S. 7). Damit sie gesellschaftliche Funktionen übernehmen können, sollten öffentliche Räume offen für verschiedene Nutzungen sein, d. h. die Aktivitäten sollten nicht durch Ge- oder Verbote vorbestimmt sein. Einschränkungen ergeben sich dadurch, dass gesellschaftliche Vorstellungen darüber bestehen, wie ein Verhalten in öffentlichen Räumen auszusehen hat. Diese gesellschaftlichen Regeln, die von der Allgemeinheit getragen werden, sind historisch und kulturell variabel und unterliegen dem sozialen Wandel (siehe hierzu auch Habermas 1999, orig. 1961, S. 54 ff., Spiegel 2003, S. 176). Beispielsweise sollten sich bürgerliche Frauen im 19. Jahrhundert nur ohne Begleitung im öffentlichen Raum aufhalten, um Einkäufe oder andere Erledigungen zu tätigen. Ansonsten bedurften sie der Begleitung von Männern (von Saldern 2000, S. 8). Sowohl für Männer als auch
3.2 Strukturierende Regulation und Wahrnehmung
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für Frauen gibt es auch heute verschiedenste Vorschriften für eine angemessene Bekleidung und Erscheinungsform in der Öffentlichkeit, wobei Mädchen und Frauen in manchen Kulturen von den Vorschriften in anderer und restriktiverer Form betroffen sind als Jungen und Männer. Verschiedene feministische Arbeiten haben eine Datengrundlage geschaffen und auf Raumstrukturen aufmerksam gemacht, die überwiegend von Frauen genutzt werden konnten und können (Flade & Limbourg 1993, Hubrath 2001, von Saldern 2004). Untersuchungen jüngeren Datums zu Raumnutzungen von Männern und Frauen zeigen, dass Frauen immer mehr aus den bisherigen gesellschaftlichen Rollen- und Raumzuweisungen im häuslichen Bereich heraustreten und zunehmend am öffentlichen Leben teilnehmen – gleichwohl ist die Präsenz von Männern in städtischer Öffentlichkeit höher als die von Frauen, die eher Rückzugsräume nutzen (Paravicini 2002, S. 123 ff., Dörhöfer 1999).
3.2.2 Wahrnehmung öffentlicher Räume Aus den Beiträgen des planungswissenschaftlichen Diskurses geht hervor, dass sich eine Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Räumen als schwierig erweist. Oft ist der eigentumsrechtliche Unterschied zwischen öffentlichen und privaten Räumen kaum wahrnehmbar (vgl. Kulinski 2003, S. 41) – private Räume strahlen dann aufgrund ihrer uneingeschränkten Nutzbarkeit eine öffentliche Atmosphäre aus. Hanno Rauterberg (2002, S. 33) spricht in diesem Zusammenhang von „gefühlter Öffentlichkeit“. Nach Löw (2001) entsteht Raum durch die relationale (An)Ordnung von Menschen und sozialen Gütern an einem Ort – die spürbare unsichtbare Seite eines Raumes ist seine Atmosphäre, d. h. Räume und Raumstrukturen haben eine Ausstrahlung40, die gefühlt werden kann. Eine Atmosphäre macht nicht nur die sozialen Güter, d. h. die materiellen Objekte sichtbar, sondern auch den nicht-materiellen Raum. Voraussetzung hierfür ist
40 Löw (2001, S. 205) bezeichnet diese Außenwirkungen als Atmosphären, die von Menschen wahrgenommen werden. So kann beispielsweise eine enge unübersichtliche Gasse im Dorf, in der eine Gruppe fremder Menschen steht, in der Dunkelheit ein Gefühl von Unbehagen auslösen. Bänke am Rande eines Dorfplatzes in der Sonne, auf denen Menschen sitzen, sich unterhalten und lachen, können dagegen zum Verweilen einladen. Atmosphären werden von Menschen individuell wahrgenommen und interpretiert. Über die Syntheseleistung werden dann Räume aktiv hergestellt, indem soziale Güter und Lebewesen in der Wahrnehmung, Vorstellung oder Erinnerung von Menschen zu Räumen verknüpft werden (ebd., S. 204 ff.). Während dieses Prozesses spielen der Ort, an dem die Synthese stattfindet sowie die Außenwirkungen physisch-materieller Objekte und Lebewesen eine wichtige Rolle.
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3 Anwendung auf den „Sonderfall“ öffentliche Räume
z. B. der wahrnehmende Mensch, der andere Menschen in der Sonne auf den Bänken sitzen sieht. Atmosphären werden individuell wahrgenommen. Das bedeutet, dass für manche Menschen ein Raum öffentlich ist, während andere ihn als privat wahrnehmen. Diese Situation tritt dann ein, wenn Atmosphäre und physischmaterieller Raum gegensätzliche Merkmale haben, wie folgendes Beispiel von Gabriele Sturm (1997) veranschaulicht: In der DDR musste die regimekritische, politische Öffentlichkeit im Privaten, Verborgenen bleiben. „Die schon nicht mehr vermuteten Reste politischer Öffentlichkeit hatten in privatisierter Individualität überlebt – Menschen mit Mut und gehüteter Eigenheit hatten die Erinnerung einverständigen Handelns bewahrt, woraus bei zunehmendem Verlust der Glaubhaftigkeit des Gesellschaftlichen die sogenannte Wende folgte. (...) Mit der so neu gewonnenen Macht konnte veröffentlichte Privatheit verlassen werden in Richtung neuer provozierender Öffentlichkeit (...)“ (Sturm 1997, S. 64). Der physisch-materielle Raum, in dem die politischen Diskussionen stattfanden, war die private Wohnung, in die öffentliches Handeln im ursprünglichen Sinne, d. h. politische Interessen eindrangen und diskutiert wurden. Ist diese politische Versammlung deswegen ‚Privatheit? Oder ist für manchen nicht letztendlich das Handeln ausschlaggebend? Dann gälte die Zusammenkunft als ‚öffentlich. Dieses Beispiel verweist auf einen „Funktionswechsel von definierten öffentlichen und privaten Räumen, die durch gesellschaftliche Praxis mal der einen, mal der anderen Sphäre zugerechnet werden müssen. Entscheidend ist demnach nicht primär die ursprüngliche Ortszuweisung, sondern die soziale Ortszuweisung in der Praxis der Nutzung“ (vgl. Holland-Cunz 1992/93, S. 38 ff.). Die Zuweisung des physisch-materiellen Raumes und der sozialen Sphäre zu dem dichotomen Begriffspaar kann dementsprechend kontrovers wahrgenommen und interpretiert werden. Gestalt und Zustand eines physisch-materiellen Raumes können zur Entstehung von Öffentlichkeit beitragen – sie sind jedoch nicht ihr Garant41. Diese Tatsache wurde teilweise ausgeblendet (vgl. Feldtkeller 2003, S. 253 sowie Hubeli 2000). „Und so setzt sich die Idee in den Köpfen fest, dass ‚Öffent-
41 An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, dass es sich um ein dualistisches, aufeinander verweisendes Begriffspaar handelt, das in der Wirklichkeit keine bzw. nur eine unvollständige Entsprechung hat: Die beiden Pole öffentlich/privat bestehen zwar als eigenständige Bereiche, sie vermischen sich aber auch und bilden neue Sphären und Bereiche, für die sich in der planungswissenschaftlichen Literatur die Bezeichnungen halböffentlich/halbprivat etablierten (Dörhöfer 2000, 1990, S. 20, Holland-Cunz 1992/93, Spitthöver 1990, S. 69). Hier zeigt sich, dass das Konstrukt öffentlich – privat nicht immer eindeutig auf Realitäten anzuwenden ist. Bei der Suche nach Kriterien und der Beschreibung von Räumen sollte daher zwischen materiellem Raum und Atmosphäre bzw. Sphäre unterschieden werden.
3.3 Die materiale Gestalt öffentlicher Räume
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lichkeit‘ ganz oder doch ganz wesentlich in dem stattfindet, was in der Stadtplanungsliteratur ‚öffentlicher‘ Raum genannt wird. Dass die Orte des Öffentlichen auch im Abgegrenzten, Privaten, in den traditionellen Medien oder in neuen virtuellen Welten liegen können, gerät dabei aus dem Blick“ (Selle 2003, S. 27). Eine Besonderheit von Atmosphären ist ihre Inszenierbarkeit. Beispielsweise werden Bahnhofsplätze seit einiger Zeit so gestaltet, dass sie belebter und damit sicherer wirken. Lebendig ist ein Raum dann, wenn „die Leute dort etwas zu tun haben, wenn es Erwerbsarbeitsplätze, Läden, eine Vielfalt an Nutzungen gibt, Anlässe, den Raum überhaupt auf vielfältigen Wegen und zu Fuß zu unterschiedlichen Zeiten zu durchqueren, sich aufzuhalten (Steffen & Weeber 2002, S. 5). Das Zusammenspiel verschiedener Akteure/innen und Gegebenheiten prägt öffentliche Räume und zeigt sich in Siedlungs- und Raumstrukturen, ihrer Vielfalt oder Einfalt, in der Heterogenität ihrer Nutzungen oder in Einfachheit und Leere und somit auch in ihrer Atmosphäre.
3.3 Die materiale Gestalt öffentlicher Räume – Öffentlichkeit und ihre Institutionalisierung in räumliche Strukturen als öffentliche Räume 3.3 Die materiale Gestalt öffentlicher Räume In diesem ersten Quadranten (vgl. Abbildung 1: Methodologisches QuadranWenmodell für Raum, S. 55) geht es um die Materie unter Berücksichtigung der Nutzungsstrukturen, die in dem dritten Quadranten analysiert wurden und die als Zeichen und Symbole in Raumstrukturen eingeschrieben sind (vierter Quadrant). Bevor ich mich eingehender mit der Materie (dem physisch-materiellen und dem sozialen Substrat) öffentlicher Räume befasse, setze ich meine bisherigen Ausführungen wieder kurz in Bezug zu meinen theoretischen Grundlagen in Anlehnung an Löw (2001). Bisher habe ich mich mit der Herstellung und der Wahrnehmung öffentlicher Räume befasst. Beide Prozesse finden an einem Ort statt, an dem soziale Güter42, Menschen oder andere Lebewesen zu Räumen verknüpft werden. Der Raum selbst hat keine Materialität, sondern nur die einzelnen sozialen Güter, die zu einem Raum verknüpft werden. Raum ist ein soziales Produkt, und es besteht ein enger Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und der Herstellung von Raum. Öffentlichkeit entsteht (vgl. Bahrdt 1998), weil die Menschen sich regelmäßig an bestimmten Orten oder in bestimmten Räumen versammeln. Damit wird die Voraussetzung für die Herausbildung einer öffentlichen Sphäre geschaffen,
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Martina Löw (2001, S. 224) meint hier primär materielle Güter, da nur diese platzierbar sind.
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deren Erscheinung beispielsweise zunächst auf den Markt oder die griechische Agora beschränkt ist. Diese Räume werden von Menschen geschaffen und über regelmäßig wiederkehrende Treffen verstetigt. Das alltägliche Leben der Menschen konzentriert sich zunehmend auf diese Räume aufgrund der Handlungen, die in ihnen stattfinden: Der Markt etablierte sich als wirtschaftliches Zentrum der Tauschbeziehungen, die Agora als Ort der öffentlichen Angelegenheiten. Durch regelmäßige und wiederkehrende Nutzungen werden diese Räume institutionalisiert 43 : Ihre räumlichen Anordnungen und das Verhalten der Menschen erfahren eine Verstetigung, sie werden in Regeln überführt und in Ressourcen abgesichert, die unabhängig von Ort und Zeit bestehen. Diese räumlichen Strukturen bleiben über individuelles Handeln hinaus wirksam. Sie ermöglichen Handeln, z. B. das Tauschen von Waren, schränken es aber gleichzeitig auch ein, indem anderen Nutzungen kein Raum gegeben wird (vgl. Löw 2001, S. 168 ff.). Weitere Beispiele für institutionalisierte Räume sind der immer gleiche Grundriss von Einfamilienwohnungen 44 (Wohn-, Schlaf- und Kinderzimmer, Bad, Küche) oder wiederkehrende Raumstrukturen von Fußgängerzonen, Gerichtssälen, Tankstellen oder auch Lebensmitteldiscounter, die dies als Prinzip ihrer Kundenorientierung verfolgen. Interessanterweise haben sich auch Hotelketten eigene Raumstrukturen geschaffen, um ihre Kundenbindung zu optimieren. Die Trennung von öffentlichen und privaten Sphären findet in den Städten immer stärker ihren Ausdruck in den räumlichen Strukturen – in der Gestaltung von Städten, Stadtvierteln, Plätzen, Häusern oder Zimmern. In den mit der Planung, dem Erhalt und der Gestaltung dieser räumlichen Strukturen befassten wissenschaftlichen Disziplinen entsteht eine breite Diskussion über Merkmale, Beschaffenheit und (An)Ordnungen der physisch-materiellen Strukturen öffentlicher und privater Räume (vgl. u. a. Selle 2003, difu 2000, 2004, SRL 2004). Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Planung und konkrete Gestaltung öffentlicher Räume sowie das Verhalten in ihnen. In vielen Beiträgen wird davon ausgegangen, dass öffentliche Räume einer Stadt prinzipiell Möglichkeiten zum ungezwungenen Verhalten bieten und einen Ort darstellen, an dem ein ungezwungener Umgang mit Fremden möglich ist. Es ist offensichtlich und nachvollziehbar, dass Unsicherheit, monokulturelle Nutzungsmöglichkeiten, Hässlichkeit, Unwirtlichkeit, Lärm, Schmutz etc. Zustände bilden, die ein ungezwungenes Verhalten unterdrücken. Vor allem in den Planungswissenschaften
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Institutionen sind nach Löw (2001, S. 169) solche, die regelmäßig und auf Dauer praktiziert werden und somit über individuelles Handeln hinaus Bestand haben. An diesen traditionellen Grundrissen von Wohnungen hat die Frauenforschung grundsätzliche Kritik geübt und beispielsweise eigene Zimmer für Frauen gefordert (vgl. Dörhöfer & Terlinden 1990, Jakob 2000, Klinkhart 1998, Terlinden 2004). 44
3.3 Die materiale Gestalt öffentlicher Räume
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ist das Bestreben erkennbar, Orte zu identifizieren, die sowohl unter baulichen als auch unter sozialen Gesichtspunkten offen sind. Wie sollten Häuser, Straßen, Bürgersteige, Plätze, Parks, Stadtviertel angeordnet sein, damit sie als öffentliche Räume zu erkennen sind und ihre Benutzung nicht nur einem Teil oder bestimmten Teilen der Bevölkerung vorbehalten bleibt, sondern jedem zugänglich ist?
3.3.1 (An)Ordnungen öffentlicher Räume Einige Autoren/innen vertreten die Ansicht, öffentlicher Raum sollte durch bauliche Strukturen (Mauern, Häuser, Wände) eingegrenzt und so klar von den privaten Räumen zu trennen sein: Dazu bedarf es klarer Grenzen und Übergänge zwischen den verschiedenen Raumtypen, z. B. durch „Gebäudewände oder Übergangszonen wie Vorgärten oder auch halböffentliche, halbprivate Bereiche“ (Wentz 2003, S. 245, vgl. hierzu auch Feldtkeller 1994). Ähnlich formuliert auch Hans Paul Bahrdt (1998, S. 116 f.): „Die klare Trennung von öffentlichem und privatem Raum, die in der europäischen Stadt durch die Herausbildung geschlossener, ringförmiger Baublöcke erzielt wurde, die jedem Anwohner einen privaten Raum und direkten Zugang zur öffentlichen Straßen sichern, ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. In ländlichen Ansiedlungen z. B. gibt es eine solche Trennung in der Klarheit nicht. (...) Der Baublock schuf zwei Räume, fast könnte man sagen, zwei Welten, die zwar innig aufeinander bezogen, aber deutlich voneinander getrennt existieren: erstens die Welt der öffentlichen Plätze und Straßen, in der die Kirchen und andere öffentliche Gebäude an hervorragenden ‚repräsentativen‘ Stellen lagen; zweitens die Welt der privaten Wohnbauten und ihrer Höfe und Gärten, deren privater Charakter dadurch gesichert war, daß der Zugang zu jeder Zelle auf einem Umweg über die öffentliche Straße erfolgte. (...) So wurde das Privatleben, insofern es sich unter freiem Himmel abspielte, durch die Häuser selbst von der Öffentlichkeit der Straße geschieden.“ Nicht nur Bahrdt, auch andere denken Raum als Behälter und somit als klar abgrenzbaren Bereich, dessen Inhalte, bauliche Elemente, Menschen und ihr Handeln sind. Damit öffentlicher Raum für die Stadtbewohner/innen erfahrbar ist, bedarf es klarer Grenzen zu privaten Räumen. Nur dann, so die häufig vertretene Auffassung, können öffentliche Räume wahrgenommen und genutzt werden (vgl. auch Eckel 1998, Fritzsche 2000, S. 22). „Öffentlicher Straßenraum muß als solcher erlebbar sein, das heißt er muß sich deutlich von den privaten und allen sonstigen, eben nicht öffentlichen Bereichen abgrenzen. (...) Es geht also um die Umschließung von Stadträumen durch geeignete Gebäude. (...) Augen auf die Straße, die Einbindung der Alltagswelt der Bewohner in den öffentlichen Raum und die präzise Bestimmung der Grenzlinie zwischen Privatem und Öf-
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fentlichem – all dieses wird erreicht durch das dichte Heranrücken der Häuser an die Straße und die Instrumentierung der Straßenwände als Orte der sinnlich erfahrbaren Kommunikation: Sie gewähren Einblicke und Ausblicke in Öffentliches und Privates, Zutritt und Ausschluß, Partizipation und Separierung in einem“ (Feldtkeller 1994, S. 66 f.). Mit dem Leitziel der Trennung der Funktionen, das seit der Veröffentlichung der Charta von Athen im Jahr 1943 Eingang in die Stadtplanung fand, weisen viele Stadtviertel statt der ehemaligen Nutzungsmischung einseitig monofunktionale Ausstattungen auf. Trotz langjähriger und weit reichender Kritik seitens feministischer Forschung und Planungswissenschaften sind ihre Auswirkungen immer noch zu spüren: fehlende Multifunktionalität, erhöhter Individualverkehr, geändertes Freizeitverhalten und schließlich Suburbanisierungsprozesse zeigen sich in Raumstrukturen. Die Funktionstrennung hat zur Folge, dass in den Städten eine kleinteilige und fußläufige Versorgung mit Einrichtungen des täglichen Bedarfs nicht mehr vorhanden ist. Dadurch nimmt der Individualverkehr erheblich zu (Bauhardt 1995, 1997). Für viele Bevölkerungsgruppen, die nicht mobil sind, aber aufgrund ihrer Lebenssituation eigentlich auf Wohnraum nahe Versorgungseinrichtungen angewiesen sind, bedeutet diese Entwicklung ein erhöhtes Wegeaufkommen, verbunden mit mehr Zeitaufkommen für das Zurücklegen von Wegen (Spitzner 1999). Durch Suburbanisierung entstehen Lebensfelder, die „je nach Interessen und Blickrichtung eher als Stadt oder Land“ empfunden werden – so genannte Zwischenstädte45 (Sieverts 2001, S. 15) – die mit den alten, historisch gewachsenen Stadtzentren in Konkurrenz treten. Die Filialisierung der Innenstädte hat vielfach einen Verlust an Attraktivität bedeutet, da der Anteil an Gaststätten und Wohnungen zurückging, so dass sie sich nach Ladenschluss in ungenutzten und damit ‚unsicheren Raum verwandelten. Forderungen aus feministischer Sicht nach Stadtquartieren mit funktionaler Mischung, der Stadt der kurzen Wege und mehr Gemeinschaftseinrichtungen konzentrierten sich auf Veränderungen der Nutzungsstrukturen. Sie haben vielfach Eingang gefunden in Programme der Stadtentwicklungsplanung, in Kriterienkataloge und Arbeitshilfen zur Bauleitplanung, Grünordnung oder zur Regional- und Landesplanung (vgl. auch Grüger 1999). Diese räumlichen Entwicklungen wirken sich auf Öffentlichkeit und öffentliche Räume und das Verhalten ihrer Nutzer/innen aus.
45 Sieverts (2001, S. 15) benennt als Merkmale von Zwischenstädten „eine auf den ersten Blick diffuse, ungeordnete Struktur ganz unterschiedlicher Stadtfelder mit einzelnen Inseln geometrischgestalthafter Muster, eine Struktur ohne eindeutige Mitte, dafür aber mit vielen mehr oder weniger stark funktional spezialisierten Bereichen, Netzen und Knoten.“
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3.3.2 Nutzungsstrukturen öffentlicher Räume Denselben Stellenwert wie die Suche nach Kriterien und Merkmalen, um Räume einem der beiden Pole zuzuordnen, hat die Analyse des Verhaltens von Menschen in öffentlichen Räumen (vgl. Eckel 1998). In älteren Beiträgen des Diskurses werden Verhaltensweisen beschrieben, die zu dem Entstehen einer gelungenen Öffentlichkeit beitragen: Bahrdt (1998) hat die Anerkennung und das friedliche miteinander Umgehen als wesentlich Voraussetzung für Öffentlichkeiten in Städten herausgearbeitet. Bei Sennett (1990) ist es vor allem die Fähigkeit, öffentliche Rollen zu spielen, um freundlich und distanziert mit Fremden in Kontakt treten zu können. In jüngeren Beiträgen werden die Herausforderungen beschrieben, die es in der Öffentlichkeit zu bewältigen gilt. Städtische Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert ist zunehmend multikulturell ausgeprägt – diese Vielfalt und Differenz gilt es wahrzunehmen und zu erleben. „Gefordert ist ein Verhalten – und natürlich die entsprechende Einstellung und Motivation –, das Distanzierung und Annäherung zugleich erlaubt“ (Schäfers 2003, S. 18). Daraus ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen physischer Nähe und sozialer Distanz. Es kommt zu Überlagerungen von Phänomenen – Spezialisierung und Übernutzung, Vernachlässigung, Leere und Ruhe oder Hektik und Aktion. Diese vielen Eindrücke und Möglichkeiten müssen wahrgenommen und verarbeitet werden. Die Wahrnehmung von und auch das Verhalten in öffentlichen Räumen wiederum sind eng verknüpft mit sozialen Differenzierungsprozessen, die in eine gesteigerte Individualisierung mündeten. Gesellschaftliche Gruppen haben dabei immer mehr an Einfluss eingebüßt, und es gibt weniger gesellschaftliche Verhaltensregeln. Jede und jeder Einzelne ist zunehmend zur Selbstreflexion der vorgefundenen Lebensbedingungen und zur Selbstverantwortung im Umgang mit ihnen aufgefordert. Dadurch erfährt das gesamtgesellschaftliche System erhebliche Modifikationen (Eckel 1998, S. 43 ff.), einschließlich der gesellschaftlichen Umgangsformen im öffentlichen Raum. In der Moderne sind es Kapitalismus, Massenkultur und -konsum, die nachhaltig auf die Umgangsweisen der Menschen miteinander wirken und die Tendenz zur Individualisierung verstärken. Individuen sehen sich Einzelpersonen gegenüber und sind ständig gefordert, Situationen zu deuten, sich zu verhalten und selbst entsprechende Signale zu versenden. „Eine pluralistische und individualisierte Gesellschaft wird daher pluralistische und eben nicht eindeutig zu interpretierende Spiegelbilder im Stadt-Raum erzeugen“ (ebd., S. 155). Nutzungen werden vielfältiger, aber auch die Problemlagen in öffentlichen Räumen werden vielschichtiger, diffuser und flüchtiger. „Öffentlichkeit heißt damit zunächst Vielfältigkeit der tatsächlichen und möglichen Begegnungen.
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Vielfalt bringt eine Situation hervor, bei der offen bleibt, welchen Absichten ein Passant nachgeht oder ob er gar absichtslos anwesend ist. Geht einer zur Arbeit, zum Einkaufen, ist er auf dem Weg zu einem Besuch, sucht er die Gelegenheit zu einem zufälligen Gespräch, betrachtet er die Auslage in den Schaufenstern aus echtem Interesse oder nur, um andere Motive der Anwesenheit zu verdecken? All dies bleibt offen.“ (Feldtkeller 1994, S. 57 f.) Diese Vielfalt in öffentlichen Räumen kann allerdings nur dort entstehen, wo Räume sie zulassen. In monofunktionalen Räumen wie beispielsweise reinen Wohngebieten kann es Vielfalt kaum geben. Abträglich sind auch eine monofunktionale Gestaltung, wie z. B. die einseitige Nutzung von Straßen durch den motorisierten Verkehr. Feldtkeller schließt daraus, dass es gemischt genutzter Stadtgebiete bedarf, die – so Feldtkeller (ebd., S. 59) – „in der herkömmlichen Stadt Europas der Normalfall“ waren. „Die traditionelle europäische Stadt war so organisiert, daß Wohnungen, Produktionsstätten, Kontore, Gasthöfe, Kirchen, Klöster, Märkte auf alle Stadtviertel verteilt waren. (...) Dies betrifft auch die Sozialstruktur. (...) Im öffentlichen Raum vor dem Haus lebte man zusammen“ (ebd.). Öffentliche Räume erzeugen Öffentlichkeit und die der Europäischen Stadt bezeichnet Feldtkeller (1994) deshalb als gelungen, weil sie Vielfältigkeit zulässt: Öffentlichkeit beinhaltet eine Mischung verschiedener Kulturen und Ethnien sowie verschiedener Nutzungen. Besonders im städtischen Raum ist erkennbar, dass das Verhalten der sich in öffentlichen Räumen bewegenden Menschen vielfältiger und bunter geworden ist. Das Dasein von Menschen aus anderen Kulturen ist ebenso selbstverständlich geworden wie der Anblick anderer Kleidungsstile als des eigenen. In öffentlichen Räumen großer Städte ist mitunter alles zu sehen, was eine pluralisierte Gesellschaft zu bieten hat. Während beispielsweise Migranten zum Diskutieren und Sitzen bevorzugt öffentliche Freiflächen wie Parks, Boule- und andere Sportplätze nutzen, sind Migrantinnen im öffentlichen Raum nur in den „klassischen Räumen der Hausfrauentätigkeiten zu finden, im Kindergarten, an den Stoff- und Kleiderständen der Stadtteilmärkte oder auf den Spielplätzen mit ihren Kindern“ (Waltz 2005, S. 138 f.). Ansonsten halten sie sich viel in halböffentlichen Räumen – in Hinterhöfen, auf durch Bäume und Büsche verdeckten Grünflächen, in hausnahen Gärten – auf. Die Planung und Gestaltung öffentlicher Räume sollte dieser Vielfalt Rechnung tragen, indem Räume so angelegt werden, dass sie offen sind und den Bedürfnissen aller Gesellschaftsmitglieder entsprechen. Das bedeutet nicht nur Multifunktionalität in öffentlichen Räumen, sondern eine „Mischung (sub-) kultureller, ökonomisch differenter, alltäglicher und nicht absolut definierter Handlungsmöglichkeiten im überschaubaren öffentlichen Raum“ (Eckel 1998, S. 178). In der Folge richtet sich in den Planungswissenschaften das Forschungsinteresse auf Nutzungen von Räumen, also darauf, wie öffentliche Räume von
3.4 Öffentlichkeit und öffentliche Räume als kultureller Ausdruck
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verschiedenen sozialen Gruppen und/oder Individuen besetzt werden und wie sich dies wiederum in den Raumstrukturen selbst niederschlägt (vgl. Fritzsche 2000, von Seggern 2003). In der modernen europäischen Stadt, die sich entsprechend dem Grad der Arbeitsteilung auch räumlich-funktional immer mehr ausdifferenziert hat, sind Nutzungen und Verhalten in öffentlichen Räumen geschlechterspezifisch ausgeprägt. Aus Geschlechterperspektive zeigt sich, dass Männer und Frauen sich unterschiedlich in öffentlichen Räumen bewegen (vgl. Bauhardt 2004, Flade & Limbourg 1999, Krause 1998, Paravicini & May 2004, Spitthöver 1990). Verheiratete, berufstätige Männer pendeln zwischen Wohnung, Ort der Erwerbsarbeit und Freizeit hin und her – ihre Wegeketten erscheinen relativ einfach. Eine deutliche Ausnahme sind alleinerziehende Männer. Sie weisen ähnliche Wegemuster auf wie Frauen, wenn sie Versorgungs- und Erziehungsarbeit leisten. Diese Gruppe ist sehr präsent in öffentlichen Räumen, allerdings überwiegend im Umfeld ihrer Wohnungen, und sie legen längere Wegeketten zurück zu unterschiedlichen Einrichtungen des alltäglichen Bedarfs (Paravicini & May 2004, S. 192 f.). Somit öffnet die Geschlechterperspektive den Blick für eine geschlechterspezifische, gesellschaftliche Arbeitsteilung und somit auch für Unterschiede im Raum-Zeit-Verhalten sowie die Raum-Zeit-Ökonomie im Alltagsverhalten. Letztere steht mit der Bewegungsfreiheit in öffentlichen Räumen und mit der ungleichen Teilhabe an gesellschaftlichen Ressourcen in direktem Zusammenhang (Geld, Eigentum, Macht) (Zibell 2000, Hofmeister & Spitzner 1999).
3.4 Öffentlichkeit und öffentliche Räume als kultureller Ausdruck In diesem vierten Quadranten (vgl. Abbildung 1: Methodologisches QuadranWenmodell für Raum, S. 55) richtet sich das Forschungsinteresse auf den vergangenen und gegenwärtigen gesellschaftlichen Umgang mit öffentlichen Räumen. Eine solche Analyse sollte auch die gesellschaftlichen Erwartungen und Vorstellungen an diese Räume mit reflektieren (zweiter Quadrant). Sie drücken sich in Qualitäten aus, die öffentlichen Räumen zu- oder abgesprochen werden. Den öffentlichen Räumen in Städten wird seit Ende der 1990er Jahre wieder vermehrt Aufmerksamkeit gewidmet (vgl. Ahuis 2003, Breuer 2003, Nagler, Rambow & Sturm 2004, Trommer 2003, Vesper 2003). Einigkeit besteht darüber, dass sich Raum und Gesellschaft in kontinuierlichen Entwicklungsprozessen befinden – Uneinigkeit besteht darüber, wie diese zu interpretieren sind (vgl. u. a. Habermas 1999, orig. 1961, Sennett 1990, Dörhöfer 2000, Hickethier 2000, Rauterberg 2003, Sieverts 2001, 2003, 2004). Deutlich zeigt sich in diesem Teil des Diskurses das Spannungsfeld, das aus einer doppelten Dynamik besteht und
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in dem Quadrantenmodell Sturms als gegenläufige Pfeile dargestellt ist: Mit der Zeit verändern sich Sphären und Räume, während im Uhrzeigersinn eine widerständige Kraft wirkt, die bewahrend und vergegenständlichend ist. Dieses Spannungsfeld zeigt sich in dem raum- und planungswissenschaftlichen Diskurs zu öffentlichen und privaten Räumen in Beiträgen, in denen die zu beobachtenden Veränderungen als Verfall interpretiert werden und dafür plädiert wird, alte Verhaltensweisen und Raumstrukturen zu erhalten oder wiederherzustellen. Gegenläufig wird der Wandel als natürlicher Prozess interpretiert und als Gewinn gedeutet, der mehr Vielfalt und Nutzungsmöglichkeiten mit sich bringt. Ein Grund für die wieder aufgenommenen fachlichen und politischen Diskussionen über öffentliche Räume ist ihre Bedeutung für die Attraktivität von Städten und Gemeinden. Die Entwicklungen öffentlicher Räume werden vermehrt thematisiert, weil sie Lagewert bildender Faktor in Städten und Gemeinden sind. Sie prägen das Bild von Städten und Gemeinden, sind Spiegel und Bühne für soziale, politische und ökonomische Aktivitäten und werden so zum Aushängeschild und zur Visitenkarte einer Stadt oder einer Gemeinde. Ihre Gestalt und das in ihnen stattfindende Leben tragen zur Steigerung der Lebensqualität bei, die eine Stadt oder Gemeinde ihren Bewohnern/innen bietet. Leben in öffentlichen Räumen wird in der Stadt und auch in ländlichen Siedlungen nachgefragt und erwartet. Unter Menschen zu sein vermittelt das Gefühl, Teil einer Gesellschaft und auf einer einfachen Ebene integriert zu sein (vgl. hierzu auch Steffen & Weeber 2002, S. 6). Allerdings führen aufwändige Gestaltungen von öffentlichen Plätzen nicht immer dazu, dass Menschen sich in ihnen in der gewünschten Art und Weise aufhalten46. Wie letztendlich ein Raum oder ein Bauwerk genutzt wird, welche Qualitäten ein Ort hat, bestimmen diejenigen, die sich dort aufhalten. Die tat-
46 Schubert (2003, S. 145) kritisiert jene Sicht auf Raum, die auf der Annahme beruht, „der öffentliche Raum müsse als quasi leerer Raum handwerklich nur richtig parzelliert und geplant sein, damit die Menschen ihn adäquat nutzen.“ Eine derartige Betrachtung baulich-gestalterischer Raumbildungen schließe die sozialen Prozesse aus, die in der Vergangenheit und gegenwärtig öffentliche Räume und Öffentlichkeiten erzeugt haben. Für eine Überwindung dieser einseitigen Sicht auf Raum sind die paradigmatischen Zugänge der Planungs- und Sozialwissenschaften miteinander zu verbinden. Erst dann ist es möglich, Nutzungen öffentlicher Räume umfassend zu betrachten. Ein weiteres Argument, das Schubert in diesem Zusammenhang anführt, ist das der eingeschränkten Planbarkeit von Verhalten und Aktivitäten in öffentlichen Räumen. Ihre Nutzung mittels planerischer Entscheidungen ist nicht vollständig vorhersehbar und zu beeinflussen. Das bedeutet, dass eine Betrachtung allein der physisch-materiellen Raumstrukturen nicht ausreichend ist, und genau hier sieht Schubert (ebd., S. 145) das Problem in den Planungswissenschaften, die mehrheitlich „den Begriff des physikalischen Raumes als instrumentelle Grundlage“ gewählt haben, statt eines integrierten Raumbegriffes, „der die relationale Ordnung zwischen physikalischen Bedingungen und sozialen Objekten als komplementäres Wesensmerkmal urbaner öffentlicher Räume anerkennt“.
3.4 Öffentlichkeit und öffentliche Räume als kultureller Ausdruck
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sächlichen Nutzungen können unter Umständen andere sein als die ursprünglich vorgesehenen. Dies ist häufig ein Anlass zur Klage, beispielsweise in der Nutzung von Anlagen, die als Kunsträume primär zur visuell-haptischen Rezeption einladen sollten. Doch handelt es sich tatsächlich um verändertes Verhalten in und Nutzungen von öffentlichen Räumen? Wulf Tessin (2003, S. 169) stellt dies in Frage: „Die Leute verweilen dort kaum, kommen selten miteinander ins Gespräch, es bilden sich Grüppchen, die miteinander diskutieren, eher schon Grüppchen, die gemeinsam rumhängen. Die Atmosphäre ist selten entspannt, oft eher hektisch oder gar öde. Die Leute gehen ihren jeweiligen Zwecken nach. Interessant ist das Treiben auf den Stadtplätzen kaum, dass es sich lohnen würde, sich hinzusetzen und ihm zuzuschauen. Also alles das, was man in mediterranen Dörfern, Klein- und Großstädten (...) erleben kann, (...) das ist in Deutschland bekanntlich – zum Leidwesen aller Urbanisten – eher die Ausnahme“. Das Verhalten der Nutzer/innen bleibt somit weit hinter den Vorstellungen der Planer/innen zurück. „Die Verhaltensnorm in der Öffentlichkeit ist nicht das An-Reden, nicht das An-Sehen, sondern das Weg-Hören und Vorbei-Gucken. Die verbale oder nonverbale Kontaktaufnahme unter sich Fremden in der Öffentlichkeit ist also insgesamt nicht die Regel, sondern absolute Ausnahme“ (ebd., S. 173). Stattdessen erfolgt Kontakt unter Fremden nur, wenn ein Anlass dazu gegeben ist, wie z. B. wenn jemand Hilfe sucht/eine Frage an jemanden richten möchte oder wenn beispielsweise Hunde und/oder Kinder kommunikativ Anlässe bieten. Und trotzdem werden diese Vorstellungen und Bilder aufrechterhalten, dass Kontaktaufnahme und Kommunikation in öffentlichen Räumen selbstverständlich sind. Beklagt werden rückläufige Möglichkeiten der Kontaktaufnahme und Kommunikation mit anderen Menschen.
Der Wandel: Verfall oder neue Potenziale? Bekannt sind die Ausführungen von Richard Sennett (1990, S. 27 ff.), der die öffentliche Sphäre durch einen „Intimitätskult“ bedroht und dem Verfall preisgegeben sieht: Das private Leben geriet bereits im 18. Jahrhundert aus dem Gleichgewicht, und damit wurde das öffentliche Leben leer und inhaltslos – der Verfall öffentlicher Räume veranlasste die Menschen, sich in private Bereiche zurückzuziehen. Ihrer wesentlichen Funktionen beraubt, laden sie nicht mehr zum Flanieren und zum ‚sich Zeigen ein, sondern werden stattdessen zu leeren Kulissen. Das Wachsen der Städte führte zu mehr Anonymität, und der Wandel innerhalb der gesellschaftlichen Städteordnung durch das aufstrebende Bürgertum führte dazu, dass der Fremde, dem man auf der Straße begegnete, viel weniger einzuordnen war und daraus erwuchs Unsicherheit. Diese Entwicklung setzte
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sich im 18. Jahrhundert fort, als viele Städte wie beispielsweise London und Paris, eine signifikante Wachstumsphase erlebten. Diese anfängliche Unsicherheit in der Öffentlichkeit wurde überbrückt, indem man sich kostümierte: eine regelrecht ausgefeilte Mode, starkes Ausdrucksgebaren und ein unpersönlicher Umgang machte die Begegnung mit Fremden möglich. Auf diese Weise konnten sich unterschiedliche Gruppen und Personen in öffentlichen Bereichen eher begegnen. Im Privaten dagegen war der Mensch frei von jedem Darstellungszwang. Im 19. und 20. Jahrhundert verändert sich endgültig das öffentliche Leben in den europäischen Städten, da die Fähigkeit zum Spiel und zur Selbstdistanz weitgehend verloren war. Sennett (ebd.) hat damit schon lange vor der Einführung des Mobiltelefons auf eine zunehmende Intimisierung/Privatisierung öffentlicher Räume hingewiesen, deren Triebfeder er in der Automobilisierung, der Hochhausarchitektur und der Ausweitung elektronischer Medien sieht. Aktivitäten, die sonst in öffentlichen Räumen stattfinden, verlagern sich in private Räume – und umgekehrt, wenn sich beispielsweise die private Kommunikation per Mobiltelefon im öffentlichen Raum vollzieht. Eine zunehmende Mobilisierung der Bevölkerung und die sich immer weiter entwickelnde Medientechnik führen zu Delokalisierungen. Orte verlieren ihre Bedeutung und lokale Bindungen nehmen ab, gesellschaftliche Gruppen treiben auseinander, Nutzungsmischung und soziale Segregation verändern Städte und zerstören die Voraussetzung für öffentliches Leben in seiner tradierten Form (vgl. auch Selle 2003, S. 72). Ein neues Planungsverständnis, neue Vorstellungen von Räumen und neue Nutzungen haben dazu beigetragen, dass Städte Strukturen und Räume bekommen haben, die nach Feldtkeller (1994, S. 101) zu einem allmählichen Verschwinden vielfältiger öffentlicher Räume führen, trotz alternativer Konzepte wie z. B. Forderungen nach einer Stadt der kurzen Wege und Nutzungsmischungen in Stadtvierteln47.
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Einseitige Nutzungen haben letztendlich auch dazu beigetragen, dass bestimmte Räume Gegenstand einer eigenen Fachdisziplin wurden. Um öffentliche Freiflächen und städtisches Grün kümmern sich Freiraumplanung und Gartenarchitektur, um Verkehrswege und Straßen Verkehrsplaner und Tiefbauer. „So zerfällt der öffentliche Raum in einzelne Fachsichten, was neben den hier zu behandelnden begrifflichen Problemen auch im praktischen Handeln erhebliche Schwierigkeiten bereitet“ (Selle 2003, S. 31).
3.4 Öffentlichkeit und öffentliche Räume als kultureller Ausdruck
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Der Wandel städtischer Räume Nach Sieverts (2001, S. 35 ff.) hat ein Verlust an Urbanität eingesetzt. Damit haben auch öffentliche Räume heute kaum noch die Bedeutung, die sie einmal hatten, mit Ausnahme der Funktion als politischer Versammlungsort bei Demonstrationen. Ansonsten beobachtet er eine Entwicklung, in der Aktivitäten, die früher in öffentlichen Räumen stattfanden, zunehmend in andere Räume „Wohnungen und Arbeitsstätten, in die gesamtgesellschaftlichen Institutionen, in die spezialisierten Einrichtungen der Klubs und Freizeiteinrichtungen, in die Läden und Kaufhäuser“ abwandern (ebd., S. 35 ff.). Damit sieht Sieverts die gesellschaftliche Bedeutung öffentlicher Raume deutlich geschwächt, auch im Bereich der mittelbaren sozialen Kontakte: Ehemalige nachbarschaftliche und gemeinschaftliche Dienste und Unterstützungen sind entbehrlich geworden. Dieser Verlust geht einher mit einer Befreiung von sozialer Kontrolle und dem Gewinn individueller Freiheiten (vgl. auch Herlyn 2003). Trotz dieser Entwicklungen stellt Sieverts (ebd., S. 36) fest, dass „das Bild der alten Urbanität und ihres öffentlichen Raumes“ nicht an Attraktivität eingebüßt hat. Und er räumt ein, dass es sie immer noch gibt – inszeniert und in anderen Räumen, die „öffentlich zugänglich sind und Raum und Atmosphäre für Begegnung besitzen“ (ebd.). Für Selle (2003, S. 73) verbirgt sich hinter diesem Teil des Diskurses eine alte Regel: „Früher war es besser. Heute ist es schlechter. Und es wird noch schlimmer werden. (...) Alles, was gut war geriet ins Wanken, Kultur verfiel. Aus den Verfallsprozessen, denen sich der Kulturpessimismus widmet, gibt es scheinbar kein Entrinnen: Von einem nicht näher beschriebenen Ausgangspunkt geht es immer nur noch abwärts. Jedes neue Phänomen dient als weiterer Beleg für das Unentrinnbare der Entwicklung.“ Selle erkennt darin eine allgemein verbreitete, kulturpessimistisch geprägte Sichtweise, die er nicht teilt. Für Rauterberg (2003, S. 164) sind die Debatten (ebd., S. 169) ein Zeichen für gesellschaftliche Veränderungen, die sich in neuen Beziehungen zum Raum ausdrücken: „Mehr als der Raum die Gesellschaft prägt die Gesellschaft ihren Raum“. Dies muss nicht unbedingt negativ ausgelegt werden, haben sich die (Siedlungs)Räume und mit ihnen auch Gesellschaften doch rückblickend stetig verändert und weiter entwickelt. Als Beleg für die ungeminderte Bedeutung öffentlicher Räume nennt er ihre immer wieder aufflammenden Nutzungen für Kundgebungen und Proteste wie etwa in der Ukraine das Volksbegehren im öffentlichen Straßenraum gegen die Ergebnisse der Wahl im Jahr 2004, kulturelle Events wie beispielsweise die Loveparade, andere große Musikereignisse. „Der öffentliche Raum hat Konkurrenz bekommen – gestorben ist er durchaus nicht“ (ebd., S. 159). Ergänzend verweise ich auf die großen öffentlichen Silvesterpartys oder große sportliche Events, wie etwa im Kontext der Fußballwelt-
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meisterschaft 2006. Als Konkurrenz führt Rauterberg jene Räume an, die an Eindeutigkeit verloren haben, indem sie nicht mehr klar den beiden Polen öffentlich oder privat zuzuordnen sind. Beispielhaft beschreibt Rauterberg (ebd., S. 160 f.) den Potsdamer Platz in Berlin und Shoppingmalls wie das CentrO in Oberhausen. Neben Privatinvestoren sind es aber auch die mit Architektur und Planung befassten Disziplinen selbst, die andere Raumstrukturen schaffen, indem sie „den traditionellen Block mit seinen klar definierten Höfen in Zeilenund Punktbauten, von deren Grünflächen man nie genau weiß, ob sie nun privat oder öffentlich sind“, verwandelten (Rauterberg 2003, S. 161). Auch die Bürger/innen selbst tragen zu dieser Entwicklung mit ihrem Verhalten bei: Sie begegnen einander, flanieren, kommunizieren, telefonieren oder politisieren miteinander – ob ein Raum öffentlich ist oder privat, bleibt nebensächlich. Die von Rauterberg angesprochene Auflösung der Grenzen zwischen öffentlich und privat und ihre Potenziale werden vor allem in feministischen Diskursen thematisiert. Mit den Debatten um Hausarbeit, um geschlechtsspezifische Arbeitsteilungen, um Unterdrückung und Gewalt im Privaten, um die Rolle von Frauen in der Öffentlichkeit, um institutionelle Regelungen und ihre Konsequenzen (vgl. Thiessen 2004a, Weber & Schaeffer-Hegel 2000) wurden die Grenzziehungen zwischen öffentlich und privat in Frage gestellt. „Ganz gleich, ob es sich um die Kennzeichnung des Privaten als Politischem, die Schaffung von Gegenöffentlichkeiten oder um die Auflösung des Privaten unter dem Vorzeichen der Massenmedien und die daraus resultierende Schutzbedürftigkeit des Privaten handelte, immer war die Frage nach Verflüssigung der Grenzen zentral“ (Wischermann 2003, S. 23, vgl. auch Riescher 2002). Diese Diskurse zeigen, wie sehr das Begriffspaar öffentlich/privat in Bewegung ist, wie sehr das Private im Öffentlichen und umgekehrt das Öffentliche im Privaten liegen kann. Die Aufmerksamkeit von Forschung muss somit auch auf den dazwischen liegenden Übergängen, Wechselbeziehungen und Verflechtungen liegen, die Barbara Holland-Cunz (1992/93) als semi-öffentlich48 bezeichnet hat (vgl. auch Becker-Schmidt 1998, Thiem 2002). Auch der publizistische Diskurs beobachtet eine Pluralisierung und Differenzierung in unterschiedliche Öffentlichkeiten (vgl. Faulstich & Hickethier 2000, Faulstich 1993, Herczog & Hubeli 1995, S. 28). Das Internet hat neue Formen von Öffentlichkeit geschaffen: Newsgroups und Blogs zu bestimmten Themen und Sachgebieten, Chatrooms mit eigenen Sprach- und Spielregeln, die Kommunikation per E-Mail, Homepages und vielfältige Formen von Werbung im virtuellen Raum und nicht zuletzt die massenhafte Verbreitung des Mobiltele-
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In dieser Arbeit wird hierfür synonym der Begriff halb-öffentlich verwendet.
3.4 Öffentlichkeit und öffentliche Räume als kultureller Ausdruck
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fons hat die gesellschaftliche Kommunikation in der Öffentlichkeit (vgl. hierzu auch Herlyn 2003, Rauterberg 2002) entscheidend mit verändert. Damit zeigen die publizistischen Debatten zum Öffentlichkeitsbegriff, dass er nicht nur den traditionellen politischen Bereich umfasst, sondern auch vielfältige Aspekte der Kultur und des gesellschaftlichen Zusammenlebens (Hickethier 2000, S. 8). Gefordert wird eine Reflexion dieser verschiedenen Öffentlichkeiten in ihrer Gesamtheit und im Zusammenhang zueinander. Hickethier bezeichnet es als nicht ausreichend, Öffentlichkeit als ein Konstrukt theoretisch zu fassen, sondern fordert dazu auf, Öffentlichkeiten in ihren unterschiedlichen Bedingungen und Erscheinungsweisen empirisch zu erforschen, mit verschiedenen Methoden und aus Perspektive verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, um die Erkenntnisse dann zueinander in Beziehung zu setzen (ebd., S. 9). In den verschiedenen (politischen, publizistischen, planungswissenschaftlichen) Diskursen ist eine Gemeinsamkeit erkennbar, die in der Erkenntnis besteht, dass die Grenzen zwischen öffentlich und privat zunehmend unscharf werden und ihren gegensätzlichen Charakter verlieren. Sie haben scheinbar keine festgelegten Funktionen mehr, vielmehr ändern sie ständig ihre Bedeutungen. Um dieser „Multidimensionalität“, wie Breuer (2003, S. 7) sie nennt, in der Anwendung des Begriffes „öffentlich“ mit Bezug auf Raum gerecht zu werden, sollten „voreilige Einschränkungen auf einzelne Raumtypen oder die Ausblendung bestimmter Phänomene“ umgangen werden. Wer über öffentliche Räume schreibt, sollte genau angeben, um welchen konkreten Raum oder Aspekt zu welcher Zeit es sich handelt. Ebenfalls sollte angegeben werden, ob es sich beispielsweise um empirische Ergebnisse handelt, die bestimmte Entwicklungen bestätigen oder um theoretische Überlegungen, deren empirische Überprüfung eine noch offene Aufgabe darstellt. Nur so ist es zu vermeiden, dass zur Beschreibung öffentlicher Räume Raumqualitäten herangezogen werden, die sich nur auf bestimmte, mitunter temporäre Raumtypen und -strukturen beziehen, andere Räume jedoch als Betrachtungsgegenstand ausschließen. Weiterhin sieht Breuer (ebd., S. 13) die Dringlichkeit einer „Verbreiterung der Kenntnisse über die Ausgangslagen sowie eine Vertiefung des Verständnisses von den Veränderungsprozessen in den öffentlich nutzbaren Räumen“. Bislang ist nur ein Ausschnitt dessen sichtbar, was öffentliche Räume sind, welche Potenziale sie beinhalten und wie diese zur Geltung gebracht werden können49. Ältere Untersuchungen stehen aus den 1970er und 1980er Jahren zur Verfügung, neuere sozialwissenschaftliche Studien über Nutzungsbedarfe oder
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An dieser Stelle sei kurz darauf hingewiesen, dass im planungswissenschaftlichen Diskurs mehrfach auf dieses Forschungsdefizit verwiesen wird (vgl. Kulinski 2003, S. 46, Selle 2003, Breuer 2003, S. 13, Tessin 2003, S. 169 ff.).
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Forschungen zu tatsächlichen Nutzungen in Verbindung mit Lebensstilen und ihrem Wandel stehen noch aus. Ebenso besteht ein großer Forschungsbedarf zur Vertiefung der Kenntnisse und des Verständnisses von den Veränderungsprozessen in öffentlich nutzbaren Räumen und den gesellschaftlichen Prozessen, die zu eben jenen Veränderungen führen (Breuer 2003).
Der Wandel ländlicher Räume Im ländlichen Raum beinhalten Individualisierungsprozesse und die Pluralisierung der Lebensstile für die Menschen sowohl ein Risiko, da sich die Isolation der Individuen verstärken kann und die Gefahr einer gesellschaftlichen Desorientierung besteht, als auch Chancen, weil die Auflösung traditionaler Milieus im Individualisierungsprozess gleichzeitig auch ein Potenzial in Form von Möglichkeitsräumen bereithält. Letzteres trägt zum Entstehen neuer Kommunikationsund Kulturformen bei, die neue Impulse für die dörfliche Lebensweise geben, über die dörfliche Enge hinausweisen und Ansätze neuer Milieubildung aufzeigen. Marx (1999, S. 77) sieht in dieser Ambivalenz von Chancen und Risiken einen direkten Zusammenhang zum Zusammenfall von Öffentlichkeit und PrivaWheit: Die entstehenden Suchprozesse und die Ausbildung von Protestformen äußern sich auch in einer Suche nach neuen Räumen. Diese entsprechen nicht den traditionalen Räumen, die Marx (1999, S. 201) als Quasi-Öffentlichkeit bezeichnet und „die durch bestimmte bäuerliche Werte und Normen geprägt ist und durch die soziale Kontrolle einen Anpassungsdruck auf das dörfliche Kollektiv ausübt“. Die moderne Dorforientierung ist individuell geprägt und bezieht sich auf Räume, die eine Flucht aus der dörflichen Enge und Öffentlichkeit in neue Räume ermöglichen, für die die enge Sphärenzuweisung in öffentlich und privat nicht mehr zutrifft. Somit suchen sich Jugendliche Räume, die in ambivalenter Weise zwischen Tradition und Moderne stehen. Zu diesen Räumen gehören die Jugendverbände, die eine Zwischenposition einnehmen zwischen traditionellen Vereinsstrukturen und selbstorganisierter Jugendarbeit, zwischen dörflicher Öffentlichkeit und privatem subkulturellem Raum (vgl. ebd., S. 101). Diese halböffentlichen Räume – Marx (ebd.) bezeichnet sie als Teilöffentlichkeit – bieten gerade Mädchen und jungen Frauen die Möglichkeit, sich aus patriarchal geprägten privaten Räumen zu lösen und sich in einer informellen Öffentlichkeit zu emanzipieren. Das setzt voraus, dass Frauen sich eine eigene Bedeutung von den Räumen erarbeiten müssen, die inhaltlich bereits männlich konnotiert sind. Der Prozess der Modernisierung bewirkt weiterhin, dass Frauen und Männer sich aus den ihnen zugewiesenen traditionalen Rollen lösen. Frauen stehen
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der dörflichen Männeröffentlichkeit und der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung nun anders gegenüber. Frauen hatten in ländlichen Regionen in Handwerkerfamilien und auch im bäuerlichen Bereich eine starke Stellung. Diese war in der Familienökonomie begründet, wo Männer und Frauen ihren Anteil zur Subsistenz und für das wirtschaftliche Überleben der Familie beitrugen. Doch mit der „Auflösung der Ökonomie des ganzen Hauses“ (Terlinden 1990a) beginnt die Verpflichtung von Frauen auf haus- und subsistenznahe Arbeiten. Frauen werden damit in den nicht-öffentlichen, privaten Bereich gedrängt, während Männer die Arbeiten und Tätigkeiten im öffentlichen Raum besetzen. „Mit der Außenorientierung von Männern und Jungen korrespondiert die Innenorientierung als Bewältigungs- und Sozialisationsprinzip für Frauen und Mädchen“ (Marx 1999, S. 98). In der dörflichen Tradition gehören die Geschlechterhierarchie und die ländliche Freiheitsideologie, die sich in dem grundsätzlichen Bestreben äußert, von anderen unabhängig zu sein, eng zusammen mit der männlichen Verfügungsgewalt über Haus, Hof und Frau. Mit der Modernisierung ländlicher Räume wurde dieser Ideologie zwar die sozioökonomische Grundlage entzogen, sie lebt aber vielerorts unterschwellig weiter (ebd., S. 90) und regelt noch oft die soziale Stellung der Familie in der Dorföffentlichkeit. Frauen befinden sich heute überwiegend in einem Freisetzungsprozess, der sich u. a. in einer stärkeren Berufsorientierung zeigt, aber sie erleben vielfach immer noch eine doppelte Ausgrenzung aus der regionalen Partizipation und aus der Öffentlichkeit. In den politischen Gremien sind immer noch kaum Frauen vertreten. Frauen sind in Initiativen oder Unternehmen aktiv, deren Vorstandsposten jedoch meistens von Männern besetzt sind. Das Geschlechterverhältnis wird so auch in kultureller bzw. wirtschaftlicher Hinsicht ausgeübt und zwar in Form von männlicher Herrschaft auf ökonomischer und vor allem auch auf politischer Ebene. Diese Besonderheit der kulturellen Machtstellung ist in der feministischen Forschung immer wieder Anlass von Kritik (u. a. Werlhof, Mies & Bennholdt-Thomsen 1988). In diesem Modernisierungsprozess kommt es zur Bildung neuer regionaler Sozialwelten mit einem anderen Verhältnis von Nähe und Distanz, von Überschaubarkeit und Anonymität, das anders als städtische Öffentlichkeiten und anders als die dörfliche Öffentlichkeit beschaffen ist. Ein Merkmal der von Marx (1999, S. 193 ff.) beschriebenen Zwischenwelten ist, dass sie sich kommunikativ konstituieren und von verschiedenen sozialen Gruppen gestaltet werden. Die Zwischenwelten entstehen dann, wenn soziale Gruppen den regionalen Diskurs mit gestalten und mit ihren Bedürfnissen die regionale Kommunikation befruchten. Die traditionalen Öffentlichkeiten werden dann aufgebrochen und es bilden sich regionale Öffentlichkeiten – Differenz und Vielfalt sind dann zu erkennen. Dies führt zu einem Prozess, in dem die Bedeutung der traditionalen dörflichen
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Öffentlichkeit immer mehr abnimmt. Parallel dazu wird die regionale Öffentlichkeit für die Bewohner/innen des ländlichen Raumes immer wichtiger. Die verbleibende oder auch neu entstandene Orientierung am Dorf ist nach Marx (ebd., S. 201) als eine freiwillige Orientierung auf dörfliche Qualitäten zu verstehen. Dieser Prozess der Herausbildung neuer Lebensformen verläuft nicht ohne Konflikte. Zum einen ist es mitunter nicht leicht, Verständigungsebenen zwischen den zum Teil sehr unterschiedlichen Lebenswelten zu finden. Zum anderen bedeuten die neuen Lebensformen einen Bruch mit der Tradition. Probleme, die sich aus dem Traditionsverlust ergeben, werden von dörflich traditional orientierten Gruppen geäußert, die diese bewahren möchten. Für sie spielen Dorf und traditionales Leben mit Vereinen und Dorffesten eine wichtige Rolle. Für Menschen, die sich eher regional orientieren, sind Treffpunkte, regionale Netze und Konsummöglichkeiten wesentlich wichtiger als der Erhalt der Traditionen. So ergibt sich ein spezielles Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne im ländlichen Raum, das sich auch zwischen den Geschlechtern zeigt: Frauen suchen nach einem neuen Verhältnis von öffentlichem und privatem Leben, nach neuen Räumen, die sie sich aneignen können, während Männer meist die Traditionen und ihre Stellungen in der ländlichen Hierarchie bewahren wollen. In diesem Prozess der Veränderung sind gerade Frauen Trägerinnen von Regionalentwicklung, denn ihr vielfältiges Engagement in Vereinen und Initiativen hat dazu geführt, dass Bedürfnisse sichtbar werden – Bedürfnisse von Frauen nach eigenen Räumen und kulturellen Strukturen.
3.5 Zweites Zwischenfazit Zusammenfassend halte ich mit Blick auf meine empirische Erhebung Folgendes fest: In dem planungswissenschaftlichen Diskurs zeigt sich eine große Schwierigkeit, die dieser Thematik innewohnt: Das Denken in Dichotomien und die damit verbundene Zuweisung von Räumen zu einem der beiden Pole. Die dazwischen liegenden Sphären und Räume – halböffentliche oder halbprivate –, bleiben häufig verdeckt und unerkannt. Öffentlichkeiten entstehen im Gespräch sowie durch das Handeln und die Aktivitäten von Menschen. Als Sphäre und Atmosphäre sind Öffentlichkeiten nicht an bestimmte Orte gebunden. Ihr Erscheinen ist sowohl in privaten als auch in öffentlichen Räumen möglich. Regelmäßige und wiederkehrende Nutzungen und Verhaltensweisen in Räumen führen zur Institutionalisierung von öffentlichen Räumen mit immer wiederkehrenden (An)Ordnungen von Raumstrukturen.
3.5 Zweites Zwischenfazit
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Die gesellschaftliche Arbeitsteilung in öffentliche Erwerbsarbeit und private Versorgungsarbeit findet sich auch in den Raumstrukturen wieder. Die gesellschaftlichen und individuellen Möglichkeiten zur Herstellung und Aneignung von öffentlichen Räumen sind zwischen den Geschlechtern ungleich verteilt und erfordern eine Betrachtung, die Strukturmerkmale wie Alter, Herkunft, Geschlecht, Ethnie etc. mit einbeziehen. Eine trennscharfe Differenzierung zwischen öffentlichen und privaten Räumen erweist sich als schwierig. In dem Bestreben nach Differenzierung wird eine Vielfalt von Merkmalen genannt, die der Abgrenzung dienen und die kaum übereinstimmend verwendet werden. Ausgehend von seinen Forschungsergebnissen im Forschungsprojekt „Städte als Standortfaktor: Öffentlicher Raum“ kommt auch Kulinski (2003, S. 40) zu der Feststellung, dass es ein einheitliches Verständnis von öffentlichen Räumen nicht gibt: Selbst in Gesprächen mit Experten/innen war meist zu Beginn eine Begriffsklärung oder eine Einigung auf ein gemeinsames Verständnis notwendig. „Die Begriffsverwendung in Literatur und Praxis ist stark geprägt vom jeweiligen Handlungshintergrund bzw. Analyseinteresse der Akteure“ (ebd.). Übereinstimmung besteht demnach in zwei Punkten: Öffentliche Räume sind ein wichtiges Aufgabenfeld der (Stadt)Planung, und die freie Zugänglichkeit gilt als zentrales Kriterium öffentlich nutzbarer Räume. Neben diesen beiden Aussagen werden in planungswissenschaftlichen Diskursen zwei weitere Merkmale von mehreren Autoren/innen als wichtig erachtet: Öffentliche Räume ermöglichen die Begegnung mit fremden Menschen, und öffentliche Räume sind die Räume, die in öffentlicher Hand sind (eigentumsrechtlicher Status). Öffentliche Räume wurden bislang kaum in ihrer Gesamtheit betrachtet, sondern vielmehr ausschnittweise, z. B. die Plätze in einer Stadt oder einzelne Wohnräume, einzelne Stadtviertel etc. Ein Versuch wird derzeit in Berlin unternommen. Dort wird ein „Stadtentwicklungsplan Öffentlicher Raum“ erarbeitet. In einem Dorf oder einer kleinen Gemeinde fällt diese Gesamtsicht viel leichter, da der Raum überschaubarer und weniger komplex ist. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass in einem bestimmten geographischen Gebiet oder in einem Verwaltungsraum, wie beispielsweise einem Stadtviertel, eine Pluralität von Räumen besteht. Ihre Grenzen müssen nicht mit denen administrativ bestimmten Grenzen eines Verwaltungsraumes übereinstimmen. Nach Riege & Schubert (2003, S. 165) scheint sich mittlerweile eine Haltung in den Planungswissenschaften durchzusetzen, die statt administrativer Verwaltungseinheiten den Lebensraum und seine komplexen Funktionen und Strukturen sowie Verflechtungen fokussiert. Trotzdem erfolgt der Bezug auf Analysen von Räumen bislang nur unzureichend (Riege & Schubert 2003, S. 166 ff.).
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Eine weitere Schwierigkeit wird darin gesehen, dass viele Autoren/innen ihr Begriffsverständnis nicht hinlänglich konkretisieren und spezifizieren. Empirisch abgesichertes Wissen über Nutzungen, Bedeutungen und Wandel öffentlicher Räume steht bisher noch nicht ausreichend zur Verfügung. Aus Sicht der Praktiker ist von einem Rückgang öffentlicher Räume bislang wenig zu spüren. Öffentliche Räume werden ungemindert in Anspruch genommen, allerdings verändern sich die in ihnen stattfindenden Aktivitäten. Sie unterliegen einem Wandel, der zu erfassen und dem konstruktiv zu begegnen ist als eine Herausforderung für die Planungspraxis (vgl. hierzu auch Kulinski 2003, S. 46). Viele Forscher/innen weisen daher auf die Notwendigkeit hin, den jeweiligen Raumtyp, auf den sich die Ausführungen beziehen, genau zu beschreiben. Auch die von Klaus Selle vorgeschlagenen Kriterien, mittels derer sich Polaritätsprofile erstellen lassen, sind ein Schritt in diese Richtung. Selle (2003, S. 39) hat sich mit der Schwierigkeit der Zuordnung zu öffentlich und privat und auch zu den Zwischenformen halböffentlich oder halbprivat auseinandergesetzt. Er unterbreitet einen Vorschlag zur Beschreibung öffentlicher Räume sowie den damit einhergehenden Übergängen und Unschärfen zwischen den beiden Polen öffentlich und privat. Zur Unterscheidung und Differenzierung schlägt Selle folgende vier Dimensionen vor: Die Produktion von Raum, die eigentumsrechtliche Zuordnung, die Regulierung und die Nutzbarkeit. Mittels dieser lassen sich Polaritätsprofile für einzelne Räume erstellen, in denen die Eigenschaften des jeweiligen Raumes sichtbar werden (ebd. S. 41). Eine Herausforderung ist auch der Umgang mit dem physisch-materiellen Substrat: Ist doch eigentlich bei baulicher Substanz davon auszugehen, dass es – wenn nicht für die Ewigkeit – doch für einen längeren Zeitraum gedacht ist, erfordert die Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft eine ständige Anpassung an neue Bedürfnisse. Hier ist noch vieles ungeklärt. Diese Entwicklungen unterliegen ebenfalls immer noch einem Forschungsdefizit, denn auch hier mangelt es an empirischen Daten. Inzwischen sind diverse Berufsgruppen und Wissenschaftszweige mit der Bearbeitung räumlicher Fragestellungen befasst. Dies hat im Laufe der Zeit zu einer Pluralisierung des räumlichen Verständnisses geführt. Diese Vielfalt zeichnet sich durch unterschiedliche Zugänge der beteiligten Wissenschaftsdisziplinen sowie unterschiedliche Zielsetzungen, Erkenntnisinteressen und methodische Vorgehensweisen aus. Die Diskussionen um den Wandel von Öffentlichkeit und öffentlichen Räumen zeigen, dass sowohl der Atmosphäre als auch den physisch-materiellen Räumen Temporäres innewohnt, da sie eng mit gesellschaftlichen Prozessen verbunden sind. Während die Experten/innen aus der (Planungs)Praxis eher von einer Übernutzung öffentlicher Räume berichten, ist in der Literatur häufig von einem Funktionsverlust und damit einhergehender Entleerung die Rede. Ein
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großer Teil der Beiträge thematisiert die Zwischenformen zwischen öffentlichen und privaten Räumen, die mehr an Bedeutung gewinnen angesichts der immer stärkeren Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Lebensformen. Dies ist insbesondere in den Beiträgen des feministischen Diskurses innerhalb der Planungswissenschaften herausgearbeitet worden. Hier wird auf das Entstehen neuer Räume verwiesen, die als halböffentlich oder halbprivat oder auch lokal öffentliche Räume erscheinen. Ein klares Forschungsdefizit besteht im Hinblick auf öffentliche Räume im ländlichen Raum. Gerade angesichts der anhaltenden Strukturprobleme in manchen Regionen, ausgelöst durch den Rückgang der Landwirtschaft und Infrastruktur, fehlende Erwerbsarbeitsplätze, Abwanderungen der Bevölkerung und zunehmender Armut, sind neue Forschungen für eine Stärkung ländlicher Regionen sehr wichtig. Bislang konzentrierten sich die Arbeiten zur Bedeutung öffentlicher Räume überwiegend auf Städte und Ballungszentren. Auch in ländlichen Räumen lösen sich die traditionalen Räume zunehmend auf zugunsten neuer Räume, für deren Beschreibung es neuer Kategorien bedarf. Marx (1999, S. 101) verwendet hierfür den Begriff der Teilöffentlichkeit. Ausgehend von den bisherigen Erkenntnissen zur Herstellung von Räumen allgemein habe ich dieser Arbeit einen relationalen Raumbegriff zugrunde gelegt. Raum als sozialer und physischer Raum entsteht, in dem Elemente, menschliche und nicht menschliche Lebewesen zueinander in Beziehung gesetzt und (an)geordnet werden. Raum erschließt sich somit über Wahrnehmung und Interpretation, d. h. jedes Konstituieren von Raum ist eine soziale und auch individuelle Leistung. Maßgeblich hierfür ist das Vermögen der Menschen, das Wahrgenommene zu interpretieren, die Symbolik von Räumen zu lesen und zu verstehen. Für die Differenzierung zwischen öffentlich und privat habe ich als wichtig herausgearbeitet, zwischen Öffentlichkeit als Atmosphäre und dem physischmateriellen öffentlichen Raum zu unterscheiden. Öffentlichkeit als Atmosphäre ist nicht an konkrete Orte gebunden. Sie entsteht durch menschliches Tätigsein und kann überall dort auftreten, wo Menschen sich aufhalten. Öffentlichkeit als Atmosphäre ist den Raumstrukturen in Form von Zeichen und Symbolen eingeschrieben, die, so wie Räume auch, von Menschen wahrgenommen und interpretiert werden. Mit dieser Trennung lässt sich der scheinbare Widerspruch erkennen, wenn privaten Räume eine öffentliche Atmosphäre innewohnt und umgekehrt. Empirisch abgesichertes Wissen über Merkmale zur Differenzierung dieser Zwischenformen halböffentlich, halbprivat und lokal öffentlich ist noch nicht in ausreichendem Maße verfügbar. In der Analyse der physisch-materiellen Raumstrukturen eines öffentlichen Raumes ist es wichtig, die sozialen Güter und sozial-ökologischen Elemente zu
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beschreiben, die Bestandteile des Raumes sind und in die Konstitution von Raum einfließen. Daraus folgt, dass die von Kulinski (2003) herausgearbeiteten Kriterien – freie Zugänglichkeit, Begegnung mit fremden Menschen, eigentumsrechtlicher Status, öffentlich, d. h. in staatlicher Hand – nicht allein zur Differenzierung zwischen öffentlichen und privaten Räumen herangezogen werden können. Ausgehend von einem relationalen Raumbegriff halte ich für mein Verständnis von öffentlichen und privaten Räumen fest: Der Rekurs auf allgemein gültige Kriterien zur Differenzierung zwischen öffentlichen, privaten, halböffentlichen und halbprivaten Räumen ist mir nicht möglich. Zur Unterscheidung werden folgende Kriterien bzw. Dimensionen verwendet, die sich sowohl auf die Wahrnehmung der Atmosphäre eines Raumes als auch auf den physisch-materiellen Raum beziehen können: „Produktion“ (Wer stellt den Raum her, bezahlt die Herstellung etc.), „eigentumsrechtliche Zuordnung“ (Wer verfügt qua Gesetz über den Raum?), „Regulierung“ (Wer bestimmt und nimmt Einfluss auf die Nutzbarkeit etc.?) und der „Sozialcharakter“ (Welche Nutzbarkeit vermittelt der konkrete Raum, welche Nutzungshinweise sind abzulesen etc.?) (Selle 2003, vgl. auch Kulinski 2003). Hier ist eine Differenzierung zwischen Atmosphäre und/oder dem physisch-materiellem Raum erforderlich, denn in der Unterscheidung zwischen Atmosphäre und physisch-materiellem Raum werden hybride Räume – halb-öffentliche und halb-private Räume – sichtbar, die Potenziale beinhalten (vgl. Sturm 1994, Holland-Cunz 1992/93). Mit Rekurs auf die Ausführungen von Ulla Terlinden (1990a, b) ist es zum einen notwendig, Kriterien und Einordnungen von Räumen aus Geschlechterperspektive kritisch zu hinterfragen. Eine Nichtbeachtung hat zur Folge, dass Ein- und Ausgrenzungen unerkannt bleiben. Zum anderen wird mit Terlindens Arbeit deutlich, dass öffentliche und private Räume nur vor dem Hintergrund ihrer sozialen Konstruiertheit zu verstehen sind. Die Wahrnehmung von Atmosphären und damit auch die Differenzierung zwischen öffentlichen und privaten Sphären sind individuelle Prozesse. Auch die Herstellung physisch-materieller Raumstrukturen ist ein bedeutender Prozess. Dies sichtbar machen, ist ein wesentliches Ziel der folgenden empirischen Erhebung. Meine Herangehensweise ist daher von dem Bestreben getragen, Kriterien, die der Differenzierung sozialer und physisch-materieller öffentlicher bzw. privater Räume dienen, in einer empirischen Erhebung im Einzelfall sichtbar zu machen und ihre Bedeutungen zu eruieren. Ich werde im weiteren Verlauf der Untersuchung davon absehen, Kriterien zur Differenzierung zu benennen und/oder meinen Interviewpartnerinnen vorzugeben. Ziel dieser Arbeit ist es, akteursbezogene Verständnisse von öffentlichen und privaten Räumen sowie den
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Zwischenformen zu erarbeiten, die dann mit den in Kapitel 3 gewonnenHQ ErkennWnissen zu diskutieren sind (vgl. Kap. 5 und 6). Trotz der Kritik an den dichotomen Konzepten werde ich weiter mit den Kategorien öffentlich – privat arbeiten, jedoch nicht um sie zu „rehabilitieren“. Vielmehr ist es mein Anliegen, sie in einer prozessbezogenen Sichtweise einzubringen, d. h. ich werde ihr relationales Verhältnis beschreiben und analysieren. Wenn das Verhältnis von öffentlich und privat ein relationales ist, sind ständig neue Verständigungs- und Aushandlungsprozesse über das Begriffspaar zu führen, da neue (hybride) Räume entstehen, die nicht mehr eindeutig einem der beiden Polen zugeordnet werden können. Auch dies gilt es in der empirischen Erhebung zu berücksichtigen.
4 Untersuchungsraum und Vorgehensweise in der empirischen Fallanalyse
Unter Methode wird im allgemeinen Konsens ein planvolles Verfahren verstanden, das dem Hinführen zu einem angestrebten Zustand dient (vgl. Sturm 2000, S. 20 ff.). Methodisch arbeiten heißt demnach unterwegs zu sein, um über Zwischenziele schließlich das Endziel (den angestrebten Zustand, Antworten auf Forschungsfragen etc.) zu erreichen. „In der Methode wie im Prozess ist somit dauerhafte Bewegung impliziert, die Beweglichkeit erfordert und Veränderung mit sich bringt“ (Sturm 2000, S. 23). Methodisch arbeiten heißt auch, Begründungen zu formulieren für den Weg zwischen Ausgangspunkt und Endziel und für jede Veränderung. So sind Forschende auf der Suche nach Antworten auf ihre Fragen stets gefordert, Erfahrungen und Wissen kritisch zu reflektieren oder in Frage zu stellen, um in Bewegung zu bleiben. Wissenschaftliches Arbeiten ist nicht lediglich durch die Wahl einer bestimmten Methode gekennzeichnet, sondern sollte getragen sein von der Auseinandersetzung mit dem, was eine angewandte Methode leisten kann und wo ihre Grenzen sichtbar werden (vgl. hierzu auch Flick 2000, Lamnek 1995). Qualitative Verfahren zeichnen sich dadurch aus, dass „die Annäherung an die soziale Realität mit Hilfe offener Verfahren erfolgt“ (Hopf 1993, S. 14). Auch Behnke & Meuser (1999, S. 9) benennen als Vorzug qualitativer Verfahren „Neues und Unbekanntes auch in als vertraut erscheinenden Lebenszusammenhängen entdecken zu können“. Sturm (2000, S. 60) verweist darauf, dass „je weniger einE ForscherIn über den interessierenden Gegenstandsbereich weiß bzw. je mehr die vorhandenen Erklärungsmuster als einzig mögliche angezweifelt werden, um so eher muß sie/er sich qualitativer, also unstandardisierter Methoden bedienen. (…) Wenn ein Forschungsgegenstand komplex, differenziert und nicht auf wenige Wirkungen reduzierbar ist, erscheint die mit Standardisierung immer verbundene Vereinfachung kontraproduktiv. (…) Erst wenn bestimmte Verallgemeinerungen schon gezogen wurden und ein in genügendem Umfang geteilter Erkenntnisstand erreicht ist, der insbesondere die Ordnung des untersuchten Systems beachtet, kann eine sich auf bestimmte Fragestellungen beschränkende Quantifizierung in Betracht gezogen werden“.
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4 Untersuchungsraum und Vorgehensweise in der empirischen Fallanalyse
Grundsätzlich kann qualitative und interpretative Sozialforschung als methodische Annäherung an die Perspektive des Handelnden verstanden werden, „welche die Welt der Handelnden nicht dinghaft begreift, sondern sich auf die Sichtweise der Individuen einlässt, um den individuellen Konstitutionsprozess der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen“ (Witzel 1982, S. 13, vgl. auch Behnke & Meuser 1999, Hopf & Weingarten 1993, Kelle & Kluge 1999). In der vorliegenden Arbeit werden daher zur Erfassung der Komplexität von Prozessen der Raumherstellung und von individuellen Raumverständnissen ein lokaler Kontext und eine handlungstheoretische Perspektive für ihre qualitative, empirische Analyse gewählt. Das folgende Kapitel führt in den Untersuchungsraum und das Sample ein. Des Weiteren werden die unterschiedlichen Erhebungs- und Auswertungsverfahren der empirischen Sozialforschung skizziert, die Zugänge auf den Forschungsgegenstand eröffnen und die in der vorliegenden Arbeit zur Anwendung kommen.
4.1 Der Untersuchungsraum Als Untersuchungsraum für die Fallstudie wurde das Dorf Glaisin ausgewählt. Glaisin liegt im westlichen Teil Mecklenburg-Vorpommerns im Landkreis Ludwigslust, zu dessen Bevölkerung 130.455 Einwohner/innen im Jahr 2003, davon 65.208 Frauen und 65.247 Männer, gehören (Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern 2004). Die Gemeinde Glaisin hat in etwa stabile Einwohner/innenzahlen: Im Jahr 1990 sind es 405 (Statistisches Amt MecklenburgVorpommern 2008a), im Jahr 1999 sind es 358 Einwohner/innen (Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern 2008b) und im Jahr 2003 rund 347 Einwohner/innen, darunter 163 Männer und 184 Frauen (Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern 2008c). Sie grenzt unmittelbar an das durch Eingemeindungen erweiterte Gebiet der Stadt Ludwigslust an. Die Entfernung zu Ludwigslust beträgt 8 km, zum Stadtrand von Hamburg 110 km, zur Bundesstraße B 5 (Lauenburg-Ludwigslust) 5 km, zur Autobahn A 24 (Hamburg-Berliner Ring) 23 km und zur Eisenbahn/Bahnhof Ludwigslust 10 km. Das Umland zählt nach eigener Einschätzung zu den wirtschaftsstärksten Regionen des Landes Mecklenburg-Vorpommern (vgl. Ministerium für Bau, Landesentwicklung und Umwelt Mecklenburg-Vorpommern 1995). Dies gründet auf einer starken Gewerbeentwicklung in den nahen Städten Ludwigslust, Hagenow und Neustadt-Glewe sowie eines größeren Industrieparks an der A 24 kurz vor der Landesgrenze nach Schleswig-Holstein zwischen den Orten Valluhn und Gallin. Insgesamt wurden in den letzten Jahren im Landkreis Ludwigslust 33
4.1 Der Untersuchungsraum
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Gewerbegebiete mit 930 ha ausgewiesen. Der Tourismus hat in Glaisin einen hohen Stellenwert (vgl. auch Behrends 1998). Das Dorf nahm von 1993 bis 1995 an einem interministeriellen Modellvorhaben „Einkommenssicherung durch Dorftourismus“ unter Leitung des Bundesministeriums für Ernährung, Landwirtschaft und Forstwirtschaft (BMELF) teil. In Glaisin gibt es eine überörtliche Agrargenossenschaft mit 2.000 ha mit Betriebsstätten in Glaisin. Der Unternehmenssitz liegt im Nachbardorf. Es gibt einen landwirtschaftlichen Haupterwerbsbetrieb mit 430 ha und drei Nebenerwerbsbetriebe. Die Erwerbstätigkeit erfolgt hauptsächlich andernorts, Erwerbsarbeitsplätze in Glaisin selbst gibt es kaum. Die Erwerbstätigen pendeln zu den Baubetrieben in der ländlichen Umgebung, zu den gewerblichen Entwicklungszentren in der näheren Umgebung sowie in die alten Bundesländer und nach Hamburg (vgl. auch Heinrich Becker 2000). Im Jahr 1995 lebten in Mecklenburg-Vorpommern 1.832.298 Menschen darunter 932.862 Frauen (Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern 2000, S. 9). Im Jahr 2006 leben 1.700.989 Menschen in MecklenburgVorpommern, darunter 857.719 Frauen. Somit waren und sind ca. 51 % der hiesigen Gesamtbevölkerung Frauen und Mädchen. Zwischen den Jahren 1988 und 1995 nahm die Bevölkerung des Landes Mecklenburg-Vorpommerns vor allem infolge des Geburtenrückgangs und der Ost-West-Migration (vor allem junge Menschen wandern ab und damit ist auch das Durchschnittsalter gestiegen) drastisch ab (vgl. ebd., S. 11 und S. 30 f.). Mit Geburten- und Wanderungsverlusten ist auch die Veränderung der Altersstruktur zu erklären. Das Durchschnittsalter der unter 75-jährigen Frauen betrug im Jahr 1991 noch 35,6 Jahren, im Jahr 1994 stieg es an auf 37,3 Jahre (vgl. Die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern 1997, S. 10) und Ende des Jahres 2003 betrug es 43,3 Jahre (Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern 2005a, S. 5). Anknüpfend an Erkenntnisse feministischer Raumforschung und -planung werden im Rahmen dieser Untersuchung bisher vernachlässigte Perspektiven auf weibliche Lebenszusammenhänge und Raumkonstitutionen eingenommen, indem die alltägliche Herstellung und Nutzung lokaler öffentlicher Räume von Frauen in Verbindung mit Diskussionen um Transformationen in ländlichen Räumen, fokussiert werden. Wie in Kap. 1 bereits angesprochen ist es hier einerseits das Ziel, die weiblichen Raumkonstitutionen zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen aufzudecken und zu hinterfragen sowie explizite Raumgestaltungen und -aneignungen von Frauen sichtbar zu machen. Daher wurden im empirischen Teil dieser Arbeit ausschließlich Frauen interviewt.
102
4 Untersuchungsraum und Vorgehensweise in der empirischen Fallanalyse
Für die Auswahl Glaisins als Untersuchungsraum50 haben daher verschiedene Begebenheiten beigetragen: Ein Grund war die Teilnahme Glaisins an der Weltausstellung EXPO 2000 mit dem Leitthema „Frauen gestalten ein Dorf“ (vgl. Die Gemeinde Glaisin o. J. a, Die Gemeinde Glaisin o. J. b, Ländlicher Raum 2000, Lenk 2000, Stadt Ludwigslust 2005, vgl. hierzu auch Heinrich Becker 2000). Die Glaisinerinnen und Glaisiner haben nach der Wende unter den neuen politischen und raumstrukturellen Bedingungen damit begonnen, ihr Dorf weiter zu entwickeln, mit dem Ziel, die Lebensbedingungen aller dort lebender Menschen zu verbessern. Hierzu hat wesentlich das Engagement der Glaisiner Frauen, insbesondere jener, die im Landfrauenverein tätig sind, geführt51 . Sie trugen über ihre Projekte und Aktivitäten zur Stärkung der ländlichen Wirtschaftskraft, zur Einrichtung von Erwerbs- und Ausbildungsplätzen sowie zur Verbesserung der lokalen touristischen Infrastruktur bei. Ebenso erfuhr das lokale Gemeinwesen eine Stärkung: Die Nachbarschaftshilfe und auch das dörfliche Engagement wurden belebt und verstetigt (ebd.). Die Glaisiner Frauen haben somit Räume – soziale und physische – geschaffen. Diese Raumkonstitutionen sowie die daraus entstehenden Räume sind Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Ein weiterer Anlass für die Auswahl Glaisins war die geographische Lage des Dorfes in den neuen deutschen Bundesländern. Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die Entstehung der DDR, ihr Zusammenbruch im November 1989 und der Fall der Mauer sind Zeiten großer Umbrüche und Veränderungen und damit auch ein potentieller Nährboden für den Rückgriff auf gemeinschaftliches Wissen, das ausschlaggebend ist für Raumkonstitutionen. Dieses implizite und überindividuelle Wissen ist Gegenstand der Deutungsmusteranalyse (vgl. Kap. 4.5). In diesen Zeiten einschneidender Veränderungen sind nicht nur politische Leitbilder ins Wanken geraten. Das Bild ostdeutscher Dörfer ist inzwischen stark vom Aufbruch geprägt: Bautätigkeit, Leerstand alter Bausubstanz, Sanierung, Ausbau von Straßen, Umstrukturierungen der Infrastruktur, Installation modernster Kommunikationsmittel, Bedeutungsabnahme der Landwirtschaft etc. Alte 50 Für die vorliegende Untersuchung wäre komplementär eine Kontrastierung mit einem anderen Dorf wünschenswert gewesen, sie konnte aber aus forschungspraktischen Gründen nicht geleistet werden. 51 Heinrich Becker (2000, S. 128) merkt hierzu kritisch an, dass die Einschränkung auf die Gruppe der Frauen als handelnde Akteurinnen „kaum dem komplexen Entwicklungsprozess des Dorfes seit 1989/90 gerecht wird (…) und möglicherweise besonderen Präsentationsanliegen geschuldet gewesen sein mag“. Inwiefern seine Anmerkung berechtigt ist, kann an dieser Stelle nicht eingeschätzt werden. Dieser Frage soll auch im Folgenden nicht weiter nachgegangen werden. Ausschlaggebend für die Auswahl Glaisins war, dass Frauen aktiv lokale Räume herstellen (vgl. Festner 1998), kongruent zu dem Ziel der vorliegenden Arbeit, die alltagsweltliche Herstellung lokaler Räume zu erforschen. Dabei ist das Erkenntnisinteresse nicht auf die Frage gerichtet, inwiefern die Interviewpartnerinnen damit einen Beitrag zum EXPO-Projektvorhaben geleistet haben.
4.2 Das Sample
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Räume haben bereits einen Bedeutungswandel erfahren, neue Räume und Bedeutungen entstehen. Es sind insbesondere Umbruchzeiten, in denen sich die am Ort lebenden Menschen vor viele Herausforderungen und Probleme gestellt sehen, die sie zu Raumkonstitutionen auffordern und veranlassen. Diese aktiven gemeinschaftlichen und individuellen Herstellungen lokaler Räume waren zu Beginn der Untersuchung im August 2001 noch sehr stark ausgeprägt. Das Dorf Glaisin und seine Bewohner/innen standen zu diesem Zeitpunkt noch deutlich unter dem Einfluss der Weltausstellung EXPO 2000, die zum einen eine große öffentliche Aufmerksamkeit für Glaisin und die dort lebenden Menschen mit sich brachte. Zum anderen lag der vorliegenden Arbeit die Annahme zugrunde, dass sich die Raumbezüge der Einwohnerinnen und Einwohner Glaisins aufgrund der stark wachsenden öffentlichen Aufmerksamkeit wandeln würden. Räume, die vorher nur von den Einwohnern/innen genutzt wurden, wurden plötzlich zu Begegnungsräumen, in denen Fremde zusammenkommen konnten. Diese Begebenheit erschien für eine empirische Erforschung von Verständnissen öffentlicher und privater Räume geeignet.
4.2 Das Sample Um der Frage nachgehen zu können, wie Räume im alltäglichen Handeln hergestellt und genutzt werden, wurden Einzelinterviews mit Frauen aus einem ausgewählten Dorf geführt. Die Auswertung von Dokumenten zum Untersuchungsraum ergab, dass an der Gestaltung der lokalen Räume in Glaisin viele Frauen aus dem Ort beteiligt waren. Hierzu gehörten vor allem jene, die bei den Vereinen der sog. Landfrauen oder der Sangesfreudigen Landfrauen52 aktiv sind. Der Zugang zu dem Forschungsfeld gelang über den Kreislandfrauenverein in Glaisin53. Durch die Vorsitzende der Landfrauen entstand der Kontakt zu Frauen im Ort und zu potentiellen Interviewpartnerinnen. Der erste persönliche Kontakt fand auf dem Herbstfest im Jahr 2002 statt, zu dem die Landfrauen einluden und das die Gelegenheit bot, mit Frauen aus Glaisin und der Region zu sprechen. Im Anschluss an das Herbstfest vereinbarte ich das erste Interview. Weitere Kontak-
52
Die Sangesfreudigen Landfrauen gibt es seit 1994 im Dorf. Sie sind kein offizieller Chor des Kreislandfrauenvereines (vgl. Festner 1998). 53 Die Glaisiner Landfrauen sowie der Ort Glaisin selbst sind im Internet mit eigenen Homepages vertreten (www.glaisin.de, Stand 10.03.2001). Auf beiden Seiten wurde betont, dass die Frauen im Ort unter Leitung der Landfrauen maßgeblich an der Gestaltung ihres Dorfes beteiligt waren. Als Kontaktadresse wurde die Adresse der ersten Vorsitzenden der Glaisiner Landfrauen genannt.
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4 Untersuchungsraum und Vorgehensweise in der empirischen Fallanalyse
te zum Forschungsfeld ergaben sich, indem meine Interviewpartnerinnen von sich aus oder auf Nachfrage weitere Frauen nannten, die für ein Interview interessant sein könnten. Die Auswahl von Interviewpartnerinnen erfolgte kriteriengeleitet nach dem Verfahren der Fallkontrastierung, anhand von für die Fragestellung bedeutsamen Merkmalen (vgl. Kelle & Kluge 1999, S. 38 ff.). Auf einer analytischen Basis nach konkret-inhaltlichen Kriterien und nach ihrer Relevanz entscheiden sich Forschende, bevor sie Kontakt zum Forschungsfeld aufnehmen, dafür, welche Daten zu erheben und wo diese zu finden sind (vgl. Flick 2000, S. 81 ff.). Der Stand der Analyse entscheidet, welche Fälle neu hinzugezogen werden, um Sachverhalte entsprechend des Prinzips der Kontrastierung aus verschiedenen Perspektiven zu belegen und zu hinterfragen54. Bei dieser Vorgehensweise werden „bestimmte Eigenschaften eines sozialen Problems konstant gehalten, während andere nach bestimmten Kriterien systematisch variiert werden“ (Kelle & Kluge 1999, S. 45). Über Minimierung von Unterschieden erhöht sich die Wahrscheinlichkeit ähnliche Daten zu einer Kategorie zu finden. Eine Maximierung von Unterschieden ermöglicht die Abbildung von Heterogenitäten und Varianzen in den untersuchten Fällen. Die Anzahl der Fälle wird somit nicht vor Beginn der Untersuchung festgelegt. Es wird so lange parallel interpretationsfähiges Datenmaterial erhoben, bis nach objektivierten Kriterien (hier: nach den formulierten Kategorien) keine neuen Informationen mehr gefunden werden können. Eine theoretische Sättigung ist dann erreicht, wenn „sich die Beispiele für eine Kategorie im Material wiederholen“ (Strübing 2004, S. 33, vgl. auch Strauss 1998). Ziel ist es die Bedingungen herauszustellen, unter denen ein bestimmtes Phänomen erscheint, „für das die fragliche Kategorie relevant ist, es erfordert jedoch keineswegs eine Quantifizierung des faktischen Vorhandenseins oder der Auftretenswahrscheinlichkeiten“ (ebd.). Die Auswahl der Interviewpartnerinnen erfolgte im Forschungsprozess nach folgenden Kriterien: Zur Zielgruppe gehörten Frauen unterschiedlichen Alters. Als besonders wichtig erwies sich im Forschungsprozess das Vorhandensein von Bezügen zu den lokalen Räumen im Dorf. Die Frauen sollten selbst aktiv Räume herstellen, gestalten und nutzen. Es wurden typische Personen ausgesucht, die aktiv an der Herstellung lokaler Räume beteiligt sind. Das Forschungsfeld wurde somit von innen heraus erschlossen (vgl. Flick 2000, S. 87). Zu dieser Gruppe gehören Frauen, die in Glaisin wohnen und die lokalen Räume des Ortes täglich nutzen. Dies können Frauen sein, die in Glaisin geboren sind und dort dauerhaft ihren Wohnsitz haben, mit Ausnahme von kurzen Un54
Vergleiche hierzu auch die Methode des „Theoretical Sampling“ im Rahmen der Grounded Theory (Strauss 1998).
4.2 Das Sample
105
terbrechungen, bedingt durch die berufliche/schulische Ausbildung oder den Beruf selbst. Diese Frauen kommen aus alten Glaisiner Familien, sind im Ort aufgewachsen und kennen die anderen Dorfbewohner/innen, die Gepflogenheiten, Sitten und Traditionen. Eine weitere Zielgruppe waren Frauen, die zugezogen sind und noch nicht lange in dem Ort leben. Als Fremde in den Ort gekommen sind sie nicht von Anfang an in die Geschehnisse im Ort integriert. Sie konstituieren Räume mitunter aus einer anderen Perspektive und Motivation heraus als Alteingesessene. Zur Gruppe von Interviewpartnerinnen gehörten aber auch Frauen, die nicht in Glaisin wohnen, sondern im Ort einer Erwerbsarbeit nachgehen und über diese Tätigkeit Kontakt zu den Bewohnern/innen und den lokalen Räumen im Ort haben. Diese Frauen haben beruflich mit der Organisation des gesellschaftlichen Lebens zu tun und konstituieren lokale Räume über ihre Erwerbsarbeit im Gegensatz zu jenen, die als „Privatpersonen“ Räume herstellen, nutzen und gestalten. Des Weiteren sind Frauen unter den Befragten, die aus landwirtschaftlichen Zusammenhängen kommen, um anhand ihrer Aussagen der Frage nachzugehen, ob der Bedeutungsverlust der Landwirtschaft Auswirkungen hat auf die lokalen Raumstrukturen in Glaisin. Ebenfalls zur Zielgruppe gehören Frauen, die in den Nachbarorten wohnen und aktiv in Glaisin Räume konstituieren, durch ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben des Dorfes. Insgesamt wurden 13 Interviews mit zur Zielgruppe gehörenden Frauen geführt. Davon wurden 6 Interviews zur vertiefenden und zitierenden Auswertung herangezogen, da sie Variationen und typische Eigenschaften Raum konstituierender Handlungen aufweisen (vgl. Strübing 2004, S. 31 f.). Zu diesen 6 Befragten gehören zwei gebürtige Glaisinerinnen. Zwei weitere Frauen sind durch ihre Heirat mit einem Glaisiner in das Dorf gezogen, in dem sie seit über 20 Jahren leben. 2 Interviewpartnerinnen haben lange Zeit in einer (Groß)Stadt gelebt. Eine dieser beiden Frauen lebt in der Region und geht in Glaisin einer Erwerbsarbeit nach. Die Frauen sind zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 38 und 80 Jahre alt. Die Interviews dauerten zwischen 90 und 150 Minuten. Alle Interviews wurden auf einem Tonträger aufgenommen und vollständig transkribiert. Weitere 7 Interviews wurden mit Frauen geführt, die der beschriebenen Zielgruppe entsprachen und aktiv Räume in Glaisin konstituieren, selbst jedoch in den Nachbardörfern leben. Eine dieser Frauen ging ebenfalls in Glaisin einer Erwerbsarbeit nach. Die anderen Interviewpartnerinnen waren allein über Vereinszugehörigkeit in das gesellschaftliche Leben in Glaisin eingebunden. Diesen Interviews lag derselbe Leitfaden zugrunde, sie waren aber thematisch offener gehalten. Sie wurden ebenfalls auf einem Tonträger aufgenommen, jedoch nicht transkribiert. Diese Gespräche eröffnen weitere Zugänge zum und Perspektiven auf das Forschungsfeld. Die Informationen aus den Gesprächen sind als Kontextwissen in die vorliegende Arbeit eingegangen.
106
4 Untersuchungsraum und Vorgehensweise in der empirischen Fallanalyse
Für die Auswertung des erhobenen Datenmaterials wurden die Namen aller Interview- und Gesprächspartnerinnen verändert, um Anonymität zu gewährleisten.
4.3 Das Interview Methodisch bieten sich verschiedene Interviewtechniken an. Im Forschungsvorhaben werden Frauen in ihrer Rolle als Alltagsexpertinnen befragt, da sie besondere Bezüge zu den lokalen Räumen im Dorf haben. Zur Befragung von Expertinnen des eigenen Lebens und Alltags eignen sich das problemzentrierte oder auch das narrative Interview55 (Friebertshäuser 1997, S. 372). In der vorliegenden Forschungsarbeit kommt das problemzentrierte Interview in abgewandelter Form56 zur Anwendung. Anknüpfend an die Kritik standardisierter Verfahren der empirischen Sozialforschung, mit deren (normierten) Methoden es nicht möglich ist, komplexe und prozessuale Forschungsgegenstände zu erfassen, entwickelte Witzel (1989, S. 227) eine Methode, mit der es Forschenden möglich ist, situationsbezogen, flexibel und an den Prozess angepasst zu agieren. Theoretischer Hintergrund der Methode ist die Auseinandersetzung mit subjektiven Sichtweisen: Der Forschende soll sich auf die Welt der Individuen einlassen, um ihre Konstruktion von Wirklichkeit zu erfassen. Übersetzt auf das vorliegende Forschungsvorhaben bedeutet dies, die Wahrnehmung und Herstellung von Räumen meiner Interviewpartnerinnen in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen, um
55 Das Experten/innen-Interview nach Meuser & Nagel (1997, S. 481 ff., 2004, S. 326 ff.) scheidet aus. Die Auswahl der Personen, die als Experten/innen befragt werden, erfolgt nach klaren Regeln: Experte/in ist nur, wer vom Forschenden aufgrund eines bestimmten Erkenntnisinteresses zu den Wissensbeständen befragt wird. Entscheidend für das Hineinschlüpfen in die Experten/innen-Rolle ist, dass die Wissensbestände zur Konstruktion von Wirklichkeit beitragen, und dass die Personen selbst sozial institutionalisiert sind. Dies sind beispielsweise „AktivistInnen in Bürgerinitiativen, Hilfeorganisationen und Selbsthilfegruppen, ehrenamtlich Tätige in Fürsorge und Sozialarbeit“ (Meuser & Nagel 2004, S. 324). Sie verfügen über ein spezialisiertes Sonderwissen und über einen privilegierten Zugang zu Informationen. Im Interview selbst treten diese Personen „in ihrer biografischen Motiviertheit in den Hintergrund, stattdessen interessiert der in einen Funktionskontext eingebundene Akteur“ (ebd.). Damit unterscheiden sich die Experten/innen von den Laien, die Experten/innen des eigenen Lebens, des eigenen Alltags sein können, deren – und dies ist entscheidend – soziale Institutionalisierung im Interview aber nicht im Vordergrund des Erkenntnisinteresses steht. 56 Das Interview selbst ist integraler Bestandteil einer Methodenkombination und besteht aus vier Teilelementen: dem „qualitativen Interview“, der „biographischen Methode“, der „Fallanalyse“ und der „Gruppendiskussion“. Im Rahmen dieser Untersuchung kommen jedoch nicht alle Elemente zur Anwendung, da das problemzentrierte Interview in Kombination mit dem Auswertungsverfahren nach der Grounded Theory eingesetzt wird. Aufgegriffen werden das qualitative Interview und die Fallanalyse.
4.3 Das Interview
107
subjektive Bedeutungen und Konstitutionsprozesse in Erfahrung zu bringen. „Das Korrektiv, eine objektive Realität einzuführen, deren Bedeutung die Individuen zu bestimmten Realitätsentwürfen verdichten und damit bestimmten Typen von Bewusstseinsformen Ausdruck verleihen, erscheint uns deshalb so wesentlich, weil nur damit subjektive Betrachtungsweisen der Wirklichkeit auf den Begriff gebracht werden können, indem deren Interessengebundenheit, ideologischen Gehalte und Realitätsangemessenheiten abgeschätzt werden“ (Witzel 1989, S. 28). Grundlegend an der Vorgehensweise sind, ähnlich wie bei dem Konzept der Grounded Theory, ein Prozessverständnis, der Verzicht auf vorab festgelegte Hypothesen und eine an der Entwicklung von Theorien orientierte Forschung (vgl. auch Flick 2000, S. 108). Es gilt das Postulat, die Daten sprechen zu lassen. Die Aussagen werden gewonnen, indem sich Forschende an der komplexen Alltagswelt der Individuen orientieren und den Sinn erfassen, den die Individuen ihren Sichtweisen auf und Bedeutungen von lokalen Räumen zugrunde legen – gesucht wird nach Begründungen und Absichten. Das, was für die Gestaltung des Forschungsprozesses gilt, wird auch auf die Datenerhebung und die Kommunikationsstrategie in Interviews angewendet: Forschende arbeiten losgelöst von starren Ablaufregeln und einem festgelegten Frageschema (vgl. auch Flick 2000, S. 107 ff.). Das problemzentrierte Interview selbst fasst verschiedene Elemente einer leitfadenorientierten und teilweise offenen Befragung zusammen. Die Interviewtechnik beruht auf folgenden Grundgedanken (vgl. Witzel 1982): Das Interview ist problemzentriert, weil das Erkenntnisinteresse von einer bestimmten wahrgenommenen Situation ausgeht, die Herausforderungen für Handelnde bedeuten. So fordert in ländlichen Räumen der Bedeutungsverlust der lokalen Räume in ihrem Dorf von vielen Bewohner/innen eine Neuorientierung zu anderen Räumen, die soziale Kontakte zulassen. Die Problemzentrierung dient dem Ziel, individuelle und kollektive Bedeutungen zu erforschen, die sich in den Sichtweisen der Befragten zeigen57. Warum setzen sie sich beispielsweise für den Erhalt lokaler Räume ein? Mit welcher Intention gestalten sie diese Räume? Weitere wichtige Vorgehensweisen sind die
57 Die Grounded Theory wird in dieser Untersuchung als Theorien generierendes Verfahren über den besonderen Fall Glaisin eingesetzt. Ziel der Auswertung des empirisch erhobenen Materials ist es, mittels Deutungsmusteranalyse (vgl. Oevermann 2001) kollektives, überindividuelles Wissen sichtbar zu machen, das den Individuen behilflich ist und sie dazu befähigt, neue Situationen zu bewältigen. Dieses Wissen ist nur begrenzt reflexiv verfügbar, denn es handelt sich dabei um tiefere Sinngehalte, die in Verbindung mit sozialem Handeln stehen und die es den Interviewpartnerinnen ermöglichen, ihren Alltag zu deuten und zu ordnen, um Handlungsprobleme zu lösen und zu regeln. Die Sinngehalte verbergen sich „zwischen den Zeilen“ und werden interpretativ aus den Äußerungen und Schilderungen der Individuen hergeleitet.
108
4 Untersuchungsraum und Vorgehensweise in der empirischen Fallanalyse
*HJHQstands- und Prozessorientierung. Die Gegenstandsorientierung erfordert das Anpassen der Methoden an das Forschungsfeld. Sie sind am Gegenstand zu entwickeln und zu modifizieren. Die Prozesshaftigkeit bezieht sich auf den Forschungsprozess selbst, indem die Daten schrittweise gewonnen und geprüft werden58. Zu den Instrumenten des problemzentrierten Interviews gehören der Kurzfragebogen 59 , der Leitfaden, die Tonbandaufzeichnung und das Postskriptum (Memo). Der Leitfaden dient als Orientierungsrahmen und Gedächtnisstütze. Er enthält keine vorab formulierten Fragen, sondern Themenfelder, die den Problembereich in Frageform beinhalten60. Nach Witzel (1982) ist es Aufgabe des Forschenden, die befragte Person zum Erzählen anzuregen, den Erzählstrang zu verfolgen und mit Nachfragen zur Ausdifferenzierung des gewählten Themenbereiches beizutragen. Frage-Antwort-Schemata sind zu vermeiden. Erlaubt sind das Einführen von neuen Themenfeldern, Verständnisfragen, Interpretation oder Konfrontation mit Widersprüchen und Ungereimtheiten, wenn die Situation es erfordert bzw. wenn dies voraussichtlich zu einem weiteren Erkenntnisgewinn führen wird. Wichtig sind eine gute Gesprächsatmosphäre, die prinzipielle Anerkennung des Befragten und das deutlich inhaltliche Interesse des Forschenden (vgl. auch Friebertshäuser 1997, S. 280). Es gibt viele Interviewtechniken, die mit der Leitfadentechnik arbeiten. Sie unterscheiden sich darin, wie stark das Interview durch den Leitfaden strukturiert wird. Neben Leitfäden mit vorformulierten und in fester Reihenfolge angelegten Fragen stehen Leitfäden, die eine Vielfalt von Fragen beinhalten, die in jedem Einzelinterview angesprochen werden sollten, deren Reihenfolge variabel ist und die durchaus während des Interviews ergänzt werden können. Andere Leitfäden
58 Diese drei Leitziele, die das problemzentrierte Interview beinhaltet, sind dem Auswertungsverfahren des Theoretical Sampling bei der Anwendung der Grounded Theory (vgl. Strauss 1998) sehr ähnlich. 59 Der Kurzfragebogen, der vor oder auch nach dem Interview an Befragte gegeben wird, kann den Einstieg in das Interview erleichtern, indem die Auswertung der beantworteten Fragen Anknüpfungspunkte liefern. Die zweite Anwendungsmöglichkeit des Kurzfragebogens besteht darin, Daten die bedeutsam erscheinen, z. B. zur Person selbst, nicht im Interview selbst stellen zu müssen, sondern sie gesondert vor oder nach dem Gespräch erfragen zu können. Der Kurzfragebogen wird in dieser Arbeit nach den Interviews an die Frauen geschickt. Er enthält Fragen zur Person: zum beruflichen Werdegang, zum Alter und zur Herkunft der befragten Frauen. Diese Daten wurden in den Interviews nicht immer vollständig abgefragt bzw. konnten nicht immer ermittelt werden. 60 Zu den Themenbereichen gehören u. a. Fragen zur Biografie der Interviewpartnerin, zu ihrer Integration in das gesellschaftliche Leben im Dorf, zur geschlechtsspezifischen Nutzung von Räumen im Dorf, zu Aufenthaltsräumen, zum kulturellen Wandel sowie zu Verständnissen von öffentlichen und privaten Räumen (vgl. Anhang).
4.3 Das Interview
109
beinhalten lediglich weit gefasste Themenkomplexe als Gesprächsanregung, die einen Rahmen für das Gespräch bilden können. Die zu wählende Form des Leitfadens ist abhängig von den Zielen, die mit dem Interview verfolgt werden. Leitfadeninterviews können nach Friebertshäuser (ebd., S. 376) dazu verwendet werden, Daten und Informationen zu einem Themenkomplex zu sammeln, sie können aber auch zur Hypothesen- und Theoriegenerierung herangezogen werden. Theoretische oder empirische Kenntnisse bilden die Voraussetzung zur Formulierung von Leitfaden-Fragen, denn das Erkenntnisinteresse richtet sich meist auf vorab als relevant ermittelte Themenkomplexe. Die erste Version eines Leitfadens wurde in einem Versuchsinterview (Pre-Test) erprobt und überarbeitet. Auch im Verlauf der weiteren Interviews wurde der Leitfaden modifiziert und angepasst. Der Interviewleitfaden, der in dieser Untersuchung zur Anwendung kommt, beginnt mit einleitenden Worten, die den eigentlichen Fragen vorausgehen. Diese erläutern dem/der Gesprächspartner/in den Bezugsrahmen des Gespräches und führen auf die erste Frage/den ersten Themenkomplex hin. Der Leitfaden selbst besteht aus einzelnen Themenkomplexen, die durch offen gehaltene Fragen Erzählaufforderungen enthalten, mit denen die Befragten dazu angeregt werden, ihre subjektive Wahrnehmung, Erfahrung oder auch Einschätzung anhand von Beispielen und Erzählungen darzustellen. Ziel ist die Gewinnung von Informationen über einen konkreten Einzelfall. Voraussetzung dafür sind die Bereitschaft und die Fähigkeit der Befragten, sich zu einem Thema zu äußern. Der Vorteil offener Fragen besteht in der Annäherung an eine alltägliche Gesprächssituation. Dem/der Gesprächspartner/in wird mehr Entfaltungsmöglichkeit gelassen, um die subjektive Bedeutung zu schildern, die ein Ereignis oder eine Begebenheit hat (vgl. Wittkowski 1994, S. 30 f.). Konkretisierende Nachfragen setzen an den Schilderungen der Befragten an und dienen der genaueren Informationsgewinnung. Die Befragten werden immer wieder zum Erzählen angeregt bzw. explizit aufgefordert. Nach den einleitenden Worten wird eine Eingangsfrage gestellt, die dem/der Gesprächspartner/in keine Schwierigkeiten bereitet und einen leichten Gesprächseinstieg ermöglicht. Dies ist im verwendeten Leitfaden die Frage nach der Herkunft der Befragten und ihrem Bezug zu Glaisin: „Vielleicht beginnen wir damit, dass Sie mir schildern, wie Sie nach Glaisin gekommen sind. Wie kommt es, dass Sie hier im Ort leben?“ Es schließen sich Fragen an, die thematisch wenig eingegrenzt sind, die jedoch im Verlauf des Gesprächs thematisch immer enger gefasst und eingegrenzt werden (vgl. ebd., S. 34 ff.). Gegen Ende des Gespräches wird die kognitive Ebene angesprochen, indem die Interviewpartnerinnen zu ihrem Verständnis von öffentlichen und privaten Räumen befragt werden. Den Abschluss bildet eine kurze Zusammenfassung der Gesprächs-
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4 Untersuchungsraum und Vorgehensweise in der empirischen Fallanalyse
inhalte. Der Gesprächspartnerin wird die Möglichkeit gegeben, nun ihrerseits Fragen zu stellen und den eigenen Eindruck des Gespräches zu schildern (vgl. Leitfaden im Anhang). Im Anschluss an jedes Interview und Gespräch wird ein Memo erstellt. In ihm werden die Eindrücke der Interviewenden zum Gespräch selbst, zu bestimmten Ereignissen vor, während oder nach dem Interview oder auch formulierte Erwartungen der Untersuchten an das Gespräch festgehalten. Das Memo soll den Auswertungsprozess erleichtern und kann für die Interpretation wichtige Daten liefern (vgl. Strauss 1998, S. 151 ff.).
4.4 Analyse des Interviewmaterials Der Umgang mit dem Datenmaterial erfolgt – wie oben bereits dargelegt – in Anlehnung an die Grounded Theory, die keine spezifische Methode oder Technik ist, sondern ein Stil, nach dem Daten qualitativ analysiert werden. Glaser & Strauss (1993) haben eine Forschungspraxis entwickelt, die das theoretische Potenzial qualitativer Forschung steigern soll, indem die Theorien parallel zum Forschungsprozess und zur qualitativen Erhebung immer wieder neu entwickelt, geprüft und hinterfragt werden. Die Groundend Theory wird im Rahmen dieser Arbeit als Auswertungsstrategie eingesetzt sowie mit dem Ziel der Theoriengenerierung über den besonderen Fall Glaisin (vgl. auch Kap. 1 und 5). Charakteristisch für die Grounded Theory ist ihre Prozessorientierung: Die Forschungsergebnisse werden aus den empirischen Daten gewonnen, d. h. sie haben ihre Grundlagen in den empirischen Daten. Wie gezeigt entwickeln Forschende Kategorien61, indem sie am Material arbeiten (vgl. Glaser & Strauss 1993, S. 92 ff.). Aufgabe von Forschenden ist es, den Fall in seiner ihm eigenen Logik zu verstehen und die theoretischen Erklärungen aus den Aussagen der Interviewpartnerinnen herzuleiten. Der Auswertungsprozess ist somit offen und prozessorientiert angelegt, sodass Phasen der Datenerhebung und -auswertung einander abwechseln und miteinander in Beziehung stehen.
61 Glaser & Strauss meinen damit, dass Forschende sich möglichst offen dem Datenmaterial nähern sollten. Sie arbeiten mit Induktion, Deduktion und Verifikation über die gesamte Dauer des Projekts (vgl. hierzu auch das „Trivium wissenschaftlicher Schlußweisen“ bei Sturm 2000, S. 44 ff.). Dabei bringen sie in die Analyse von Datenmaterial kontinuierlich die unterschiedlichsten Arten von Erfahrungen und Wissen ein. Dieses Kontextwissen kann auf der Kenntnis von Fachliteratur, Forschungserfahrungen und anderen Quellen beruhen. „Gleichermaßen wichtig ist es, daß der Wissenschaftler sein Kontextwissen einbringt; dazu gehören nicht nur sein Fachwissen und seine Forschungserfahrungen, sondern auch seine persönlichen Erfahrungen“ (Strauss 1998, S. 36).
4.4 Analyse des Interviewmaterials
111
Die Vorgehensweise zur Auswertung der empirischen Daten in Anlehnung an die Grounded Theory im hier gegebenen Kontext lässt sich folgendermaßen bündeln: Die Interviews werden einzeln paraphrasiert, indem die Aussagen der Interviewpartnerinnen in eigenen Worten wiedergegeben werden (vgl. auch Meuser & Nagel 1997, Schmidt 1997, S. 552 ff.). In einem nächsten Bearbeitungsschritt werden die Absätze mit Überschriften versehen, den so genannten Kodes62. Die Sequenzialität des Interviews darf aufgelöst werden. Dabei wird möglichst nahe am Text gearbeitet, indem Formulierungen und Redewendungen der Interviewpartnerinnen aufgegriffen werden. Die fachlichen Überschriften, beispielsweise „gesellschaftliche/gemeinschaftliche Beziehungen der Dorfbewohner/innen“ werden mit Redewendungen der Interviewten (natürlichen Kodes) angereichert, z. B. „dass man füreinander da ist“, „es ist ein gegenseitiges Nehmen und Geben“, „man grüßt sich, wenn man sich sieht“, „dass man gut so miteinander leben will“, „ab und zu gibt es auch Neid“, „eigentlich sollte man die jungen Frauen motivieren“, „wo man sich heute noch mal so wirklich fast trifft, ist auf dem Friedhof“ etc. Einer Passage können mehrere Kodes zugeordnet werden. Damit werden die Daten nach der Relevanz für Phänomene, auf die eine Kategorie verweist, ‚kodiert. Beim axialen Kodieren wird eine bestimmte Kategorie intensiv analysiert. Das selektive Kodieren dient der systematischen Analyse von Schlüsselkategorien, die ein Verhaltensmuster erklären, das für alle Beteiligten relevant und problematisch ist. Hier werden einzelne Textpassagen aus verschiedenen Interviews gebündelt. Beispielsweise wurden Aussagen der Interviewten zur Bedeutung der verschiedenen physischen und sozialen, lokalen Räume selektiv kodiert und gebündelt. Schlüsselkategorien sind in dem Hauptanliegen bzw. dem Hauptproblem, das sich in den Daten zeigt, enthalten. Etwa geben alle hier befragten Frauen an, dass sie „eigentlich immer etwas zu tun“ haben und somit kaum Zeit für Erholung und Privates sei. Weiterhin teilen die Befragten das Anliegen, auch in ihrer Freizeit „produktiv“ zu sein, indem sie Handarbeiten fertigen, Kuchen backen, ihr Wissen in Kursen weitergeben etc. Dieses Verhaltensmuster wurde
62
Neben dem axialen und dem selektiven Kodieren gibt es eine weitere Kodierform: Das offene Kodieren erfolgt Zeile für Zeile und Wort für Wort. Unter Kodieren wird das Konzeptualisieren von Daten verstanden, d. h. Forschende stellen über Kategorien und deren Zusammenhänge Fragen und geben vorläufige Antworten darauf (Hypothesen). Ein Kode – in Form einer Kategorie oder als Beziehung zwischen zwei oder mehrerer Kategorien – ist ein Ergebnis dieser Analyse. Es wird zwischen natürlichen Kodes und fachlich konstruierten Kodes unterschieden. Natürliche Kodes sind Begriffe und Ausdrücke, die direkt den Äußerungen von Akteuren/innen entnommen werden. Sie sind analytisch besonders wertvoll, denn sie vermitteln eine konkrete Vorstellung und sind bildhaft. Fachlich konstruierte Kodes basieren auf einer Kombination von Fach- und Kontextwissen der Forschenden, sind metaperspektivisch und gehen somit über lokale Sinndeutungen hinaus.
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4 Untersuchungsraum und Vorgehensweise in der empirischen Fallanalyse
mit der Schlüsselkategorie „Schaffenskraft“ versehen. Dieses Verhaltensmuster hindert die Befragten beispielsweise am Müßiggang in der Öffentlichkeit. Die ersten Kodierversuche werden im Verlauf des Forschungsprozesses immer wieder überarbeitet. Wenn der Kode einen gewissen Sättigungsgrad erreicht hat, wird er einschließlich seiner Beziehung zur Schlüsselkategorie zu anderen Kodes in Bezug gesetzt. Zum Prozess der Auswertung gehört auch das Vergleichen der Ereignisse mit schon entwickelten Konzepten anderer Untersuchungen. Im Verlauf der Untersuchung wurden in einem nächsten Arbeitsschritt alle Interviews einzeln analysiert, um im Ergebnis die individuellen Strategien der Interviewten zur Konstitution von Räumen sichtbar zu machen. Dabei wurde unterschieden nach
äußeren Bedingungen, der Interaktion zwischen Akteuren/innen, Strategien und Techniken, nach denen die Akteure/innen handeln und den Konsequenzen, die sich ergeben.
So ist beispielsweise mit der Kategorie „Begegnungsräume“ die äußere Bedingung verbunden, dass nach der Wende immer mehr Infrastruktur in den Dörfern abgebaut wurde. Begegnungsräume der Frauen wie den Konsum, den Bäcker, den Kindergarten und die Kinderkrippe gibt es nicht mehr. In der Konsequenz entfallen die vielen alltäglichen, „ungezwungenen“ Begegnungen der Bewohnerinnen. Sie müssen selbst aktiv werden und brauchen Anlässe für spontane Begegnungen und gemeinsame Treffen. Die Strategie einer Befragten bestand in dieser Zeit darin, einen Verein aufzubauen und möglichst viele Frauen zur Teilnahme zu motivieren. Diese Einzelfallanalysen dienen im weiteren Verlauf der Auswertung als Grundlage für die Bildung von „Typen“, unter denen Ähnlichkeiten und Unterschiede der Einzelfälle in der Herstellung von Räumen subsumiert werden (Kelle & Kluge 1999, S. 75 ff., vgl. auch Flick 2000, Lamnek 1995) (siehe auch Kap. 5.2.3). Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses stehen Handlungsmuster und Strategien, mit denen die lokalen Räume im Dorf als Begegnungsräume für Menschen aus dem Ort, der Region und darüber hinaus konstituiert werden. Ermittelt wurden Strategien, beispielsweise „um über die Geschehnisse im Dorf informiert zu sein“: So berichtet Frau Sand im Interview, dass die Beziehungen der Menschen im Dorf vor dem Sozialistischen Frühling andere als heute gewesen seien. Man hätte sich überall getroffen und miteinander geredet (IninG6). In der Konsequenz hatte das gesellschaftliche Leben im Dorf, so wie es heute in den Vereinen stattfindet, einen untergeordneten Stellenwert für den Austausch
4.4 Analyse des Interviewmaterials
113
von Informationen. Die Strategien, die Frau Sand einsetzt, bestehen zum einen darin, dass sie jede Möglichkeit nutzt, die sich ihr auf den Straßen Glaisins bietet. Sie beschreibt sich selbst als sehr kontaktfreudig und offen sowie ohne Scheu vor der Begegnung mit Fremden. Und zum anderen ist sie in vielen Vereinen aktiv und nutzt die vorhandenen Angebote zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben im Dorf. Weitere Strategien wurden u. a. „zum Erhalt des gesellschaftlichen Lebens im Dorf“, „zum Erhalt der Dorfgemeinschaft“, „um miteinander in Kontakt zu bleiben und miteinander zu reden“, „um Menschen in das gesellschaftliche Leben zu integrieren“, „um junge Frauen in den Landfrauenverein zu integrieren“, „zum Nutzen lokaler Räume“, „zum Erhalt lokaler Räume“, „zur Initiierung neuer lokaler Begegnungsräume“ etc. erhoben. Im Anschluss an die Einzelfallanalysen erfolgen fallvergleichende Kontrastierungen der Strategien und Konsequenzen. Mit diesem Schritt werden Kategorien erarbeitet, die für Gemeinsamkeiten und Differenzen sowie ihre übergreifende Struktur stehen. Eine besondere Relevanz für die Typenbildung hatten die Kategorien „Initiieren neuer Räume“, „Nutzen bestehender Angebote“ sowie „Räume/Angebote mitgestalten“. Im Prozess der Typenbildung werden die gebildeten Typen möglichst genau aufgrund der Merkmalskombinationen sowie der vergleichenden Kategorien charakterisiert und beschrieben, „da sich die Fälle nicht in allen Merkmalen gleichen, sondern nur ähneln“ können (Kelle & Kluge 1999, S. 94). Abschließend haben sich im Verlauf der eigenen Auswertung drei Typen herauskristallisiert:
„Erschafferinnen“, die Räume für sich und andere initiieren, d. h. neu herstellen, „Gestalterinnen“, die bestehende Räume nutzen und gestalten, indem sie ihre Vorschläge für neue Inhalte einbringen sowie „Erhalterinnen“, da sie über ihre Nachfrage einen Beitrag leisten zum Fortbestehen lokaler Räume in Glaisin.
In einem weiteren Arbeitsschritt wird das Datenmaterial im Hinblick auf die Fragen, die sich durch die Anwendung des Quadrantenmodells von Gabriele Sturm (2000) stellen, ausgewertet (vgl. Kap. 5). Es wird u. a. nach relevanten strukturellen Bedingungen gesucht, um diese so spezifisch wie möglich mit individuellen Bedingungen zu verknüpfen, die sich aus den Handlungen der Akteure/innen (historisches konstituieren) ergeben. Die Strukturbedingungen können auf vielen Ebenen angesiedelt sein. Dazu gehören gesellschaftlich festgelegte Verhaltenskodices (z. B. „man hat ja immer was zu tun“, „Frauen gehen nicht allein in die Gastwirtschaft“) oder auch die Zugänglichkeit von Räumen (z. B. „es hätte jeder an den Strick- und Häkeltreffen teilnehmen können“, „in der
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4 Untersuchungsraum und Vorgehensweise in der empirischen Fallanalyse
Sportgruppe bei der Physiotherapeutin sind die jüngeren Frauen unter sich“ etc.). Dabei wird unterschieden zwischen Anteilen des erhobenen Datenmaterials, die eher den individuellen und jenen, die eher dem strukturellen (von außen vorgegebenen) Bereich zuzuordnen sind. Die Kategorien auf allen Ebenen, dem von außen gegebenen Rahmen (strukturelle, gesellschaftliche Bedingungen), den individuellen Möglichkeiten zur Konstitution von Räumen, dem kulturellen Ausdruck sowie der Materie sind immer wieder zueinander in Beziehung zu setzen und in Einklang zu bringen. Die kodierten Kategorien, die erklärende Kraft haben, werden dann zunehmend mit Informationen aus dem Forschungsfeld gefüllt und in Bezug zu anderen Kategorien gesetzt. In Folge enthält die Schlüsselkategorie den größten Teil der Variation eines Verhaltensmusters. Andere Kategorien mit denselben Eigenschaften weisen dann einen Bezug zur Schlüsselkategorie auf. Diese Bezüge zu anderen Kategorien werden in Memos 63 festgehalten und später in integrative Memos eingebaut. Sobald diese Bezüge in Form von Konzepten ausgearbeitet sind, wird das Deutungsmuster integriert, verdichtet und gesättigt, d. h. es wird um die Schlüsselkategorien herum entwickelt.
4.5 Deutungsmusteranalyse Der Begriff Deutungsmuster geht auf ein Manuskript von Ulrich Oevermann aus dem Jahr 1973 zurück, das im Jahr 2001 veröffentlicht wurde (Oevermann 2001, vgl. Meuser & Sackmann 1992, S. 14 ff.). Es folgte eine Vielzahl von Deutungsmusteranalysen, die sich mit den Verhältnissen von Handlung und Struktur, Mikro- und Makrostruktur, subjektiver Intentionalität und objektivem Sinngehalt auseinander setzen. Deutungsmuster sind eine eigene Realität, die Individuen gemeinschaftlich wahrnehmen. Sie weisen einen funktionalen Bezug zu objektiven Handlungsproblemen auf und sind somit gemeinschaftliche, überindividuelle Reaktionen auf objektive gesellschaftliche Bedingungen, die für die Handelnden Probleme beinhalten (vgl. Lüders & Meuser 1997, S. 59 ff.). Oevermann (2001) geht davon aus, dass ein implizites, nicht diskursiv verfügbares Regelwissen die Handelnden leitet. Dies befähigt sie zu Handlungen, die der Regel entsprechen, ohne selbige benennen zu können. Die Handelnden verfügen über dieses implizite Regelwissen, und Aufgabe der Deutungsmusteranalyse ist es, dieses Wissen
63 Memos bilden während der gesamten empirischen Erhebung und Auswertung den kontinuierlichen inneren Dialog der Forschenden ab. Sie enthalten laufende Aufzeichnungen von Einsichten, Ideen, Hypothesen, Diskussionen über die Implikation von Kodes, weiterführenden Gedanken, Eindrücke von und während Interviews etc.
4.5 Deutungsmusteranalyse
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aus dem Datenmaterial in singulären Deutungen zu rekonstruieren, indem das Handeln erklärt und die handlungsleitenden Regeln, die dem zugrunde liegen, rekonstruiert werden.64 Oevermann (2001, S. 5) nennt zwei wesentlich systematische Fragen, die grundlegend für Deutungsmusteranalysen sind: „Welches sind die Regelhaftigkeiten der ‚inneren Logik von Erwartungssystemen eines bestimmten Typus? (…) Auf welche strukturbedingten Handlungsprobleme antworten diese Erwartungen und Wertorientierungen?“ Bei der Deutungsmusteranalyse ist zu bedenken, dass soziale Regeln Reflexion ermöglichen und auch durch Reflexion verändert werden können: Deutungsmuster sind entwicklungsoffen. Lebensweltliche Reflexivität führt zu neuen Handlungs- und auch Deutungsmustern. Die Struktur von Deutungsmustern kann deshalb nicht losgelöst von immer neuen gesellschaftlichen Bedingungen, den „sozialen Strukturproblemen“ (Meuser & Sackmann 1992, S. 15 f.) gesehen und erfasst werden. Trotzdem ist es möglich, sie inhaltlich zu bestimmen und in ihrer Geltung einzugrenzen. Nach Meuser & Sackmann (ebd., S. 17) ist es möglich, dass „einem Deutungsmuster jeweils zugrunde liegende, generative Prinzip“ – die Konsistenzregel – zu erkennen. Eine Schwierigkeit von Deutungsmusteranalysen besteht, so Meuser & Sackmann (ebd.) jedoch darin, dass bisher nicht befriedigend aufgezeigt werden konnte, „was den generativen Status von Deutungsmustern ausmacht, wie die generative Strukturlogik empirisch fassbar ist (…). Dieser ‚Mangel verweist auf das grundlegende Problem des Deutungsmusteransatzes: die Verortung an der Schnittstelle von konstitutiven und regulativen Regeln. In gewisser Weise sollen Deutungsmuster beiden Sphären zugehören. Häufiges Ziel von Deutungsmusteranalysen ist das Erfassen ihrer Reichweite und ihrer Resistenz gegenüber Veränderungen des ursprünglichen Problemhintergrundes. Der Forschungsfokus kann auch auf den Bedingungen des Wandels von Deutungsmustern liegen sowie auf einem jeweils spezifischen Deutungsmuster und der Frage nach einer vergleichenden Analyse, die eine Deutungsmustertheorie vor-
64 Der Erforschung reflexiven Wissens ist auch für Raumkonstitutionen bedeutend: Räume werden durch kontinuierliche, aufeinander folgende Handlungen geschaffen, aus denen beabsichtigte und unbeabsichtigte Folgen hervorgehen. Nicht beabsichtigte Folgen des Handelns sind in der Regel im Vorfeld nur schwer vorauszusehen, weil auf das Bewusstsein auch unbewusste Motive einwirken. Handlungen und Motive können daher nicht gleichgesetzt werden (vgl. Löw 2001, S. 191). Unbewusste Motive zur Raumherstellung sind entweder gänzlich aus dem Bewusstsein der Handelnden verschwunden, oder sie sind nur bedingt abrufbar. Dagegen ist die reflexive Steuerung des Handelns Teil des alltäglichen Handelns, weil Menschen darüber sowohl „Aktivitäten steuern als auch routinemäßig die Kontexte, in denen sie sich bewegen, kontrollieren“ (Löw 2001, S. 190 unter Bezugnahme auf Giddens 1995, orig. 1988). Unbewusste Motive der Raumherstellung, die nicht diskursiv zur Verfügung stehen, so Löw (ebd. S. 191), sind deshalb nicht leicht zu untersuchen.
116
4 Untersuchungsraum und Vorgehensweise in der empirischen Fallanalyse
antreibt (ebd., S. 18 f.). Für Pensé (1994, S. 31) bleibt bei der Deutungsmusteranalyse bislang ungeklärt, „wie lange ein Deutungsmuster als relativ autonome Interpretation der Wirklichkeit fungiert und ab wann es dies nicht mehr leistet. Es gerät aus dem Blick, aufgrund welcher Rationalität die Subjekte jeweils mit diesen Deutungsmustern umgehen, sie für sich auswählen und benutzen“. In der vorliegenden Arbeit werden jene Deutungsmuster herausgearbeitet, die als Reaktion auf einen Umbruch entstehen, in dem die bisherige Handlungspraxis immer weniger Handlungssicherheit und -erfolg zeigt. Die Bedeutungen und Funktionen lokaler Räume fokussierend, stellten beispielsweise die Wende und der Rückgang der Landwirtschaft die Dorfbewohner/innen vor ungewohnte Herausforderungen. Die Konsequenzen, die sich aus den Strukturproblemen ergeben, lassen sich interpretativ aus den Äußerungen der Handelnden im Interview erfassen. Ziel der Auswertung des empirisch erhobenen Materials ist es daher, mittels Deutungsmusteranalyse (vgl. Oevermann 2001) kollektives, überindividuelles Wissen sichtbar zu machen, das die Befragten in neuen Situationen zur Herstellung und Nutzung lokaler Räume befähigt. Es wird nach tieferen Sinngehalten gesucht, die in Verbindung mit sozialem Handeln und der Herstellung lokaler Räume stehen. Mit Bezug auf diese Sinngehalte ist es den Interviewpartnerinnen möglich, Handlungsprobleme zu lösen und zu regeln bzw. in diesem Fall lokale Räume zu konstituieren.
5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
„Was also braucht der öffentliche Raum, damit er wieder an Bedeutung gewinnt? Braucht er mehr Straßencafés, schönere Bänke und Poller, mehr Skulpturenprogramme, gar eine politisiertere Gesellschaft? Das alles. Doch nur wenn wir in unseren Städten [und Dörfern] 65 auch wieder das Unerwartete wieder zulassen, wenn wir auch dem Unorthodoxen seinen Platz gönnen, nur dann wird der öffentliche Raum wieder aus sich heraus pulsieren. Nur dann kann der common ground wieder wachsen“ (Rauterberg 2003, S. 164).
In den vorangehenden Kapiteln 2 und 3 wurden ausgewählte Raumbegriffe und -verständnisse vorgestellt und unter einem planungswissenschaftlichen Fokus interdisziplinär diskutiert. Räume sind immer physische und soziale Konstruktionen, die sich Menschen über ihre Wahrnehmungen und Interpretationen erschließen. Raum entsteht, indem Elemente und/oder Menschen zueinander in Beziehung gesetzt werden, d. h. jedes Konstituieren von Raum ist eine soziale Leistung. Die Konstitution von Raum bzw. Öffentlichkeit und die Entstehung von Raumstrukturen sind Prozesse, die gleichzeitig stattfinden. Um beide Prozesse – die soziale Praxis der Herstellung von Räumen und die Entstehung von lokalen Raumstrukturen – erfassen zu können, habe ich Frauen in qualitativen Interviews nach den Bedeutungen der lokalen Räume in ihrem Dorf gefragt. Die Analyse des planungswissenschaftlichen Diskurses zur Entstehung von Öffentlichkeit sowie öffentlichen und privaten Räumen hat deutlich werden lassen, dass Öffentlichkeit als Atmosphäre nicht an konkrete Orte gebunden ist, sondern durch menschliches Tätigsein entsteht. Sie ist Raumstrukturen in Form von Zeichen und Symbolen eingeschrieben, die von Menschen gestaltet, wahrgenommen und interpretiert werden. Die Herleitung einheitlicher Kriterien zur Abgrenzung öffentlicher von privaten Räumen ist mit Rekurs auf den planungswissenschaftlichen Diskurs nicht möglich. Daher wurde eine offene Annäherung an das Forschungsfeld gewählt, d. h. es wird kein Verständnis von Öffentlichkeit, öffentlichem oder privatem Raum vorgegeben. Ziel ist es, die Aussagen der
65
Ergänzung der Verfasserin in Klammern.
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
interviewten Frauen mit Blick auf Merkmale und Kriterien auszuwerten, die sie zur Beschreibung und Eingrenzung von Öffentlichkeit sowie von Räumen verwenden, die ihrem Verständnis nach öffentlich, halb-privat, lokal öffentlich etc. sind. Die Raumstrukturen im Dorf wurden mittels Strukturanalyse erhoben. Kapitel 5 umfasst die gewonnen Erkenntnisse aus der Analyse des qualitativen Interviewmaterials. Das Quadrantenmodell von Gabriele Sturm (siehe Abbildung 1: Methodologisches QuadranWenmodell für Raum, S. 55) dient der Fokussierung von Analysebereichen und der Strukturierung in der Ergebnisdarstellung.
5.1 Glaisin – Materiale Gestalt In diesem ersten Quadranten (vgl. Abbildung 1: Methodologisches QuadranWenmodell für Raum, S. 55) stehen die Raumstrukturen im Vordergrund des Erkenntnisinteresses: Welche Elemente der materialen Raum-Gestalt sind im Dorf erkennbar, z. B. Häuser, Straßen, Gärten, Menschen und andere Lebewesen, Geräusche, Dinge? Wie sind sie angeordnet? Was können Beobachtende wahrnehmen? Mit welchen Wissensbeständen können die eigenen Wahrnehmungen verknüpft werden? Wer hat die Materie geschaffen? Welche Nutzungsmöglichkeiten bestehen? Unter Bezugnahme auf obige Fragen werden im Folgenden die räumlichen Strukturen des Dorfes Glaisin vorgestellt.
5.1.1 Auf dem Weg nach Glaisin Nach Glaisin führen mich zwei Wege: über Lauenburg, die B 5, Kummer und Göhlen der eine und über die Dömitzer Brücke, Neu Kaliß, Bresegard der andere. Letzteren bin ich immer bevorzugt gefahren, so auch an einem schönen Tag im Herbst 2005, um bei einem Rundgang durch das Dorf einige Fotos zu machen. Glaisin liegt in Südwestmecklenburg, 11 km von der Kreisstadt Ludwigslust entfernt, historisch betrachtet mitten in der in der „Griesen Gegend“, einem Landstrich, in dem sich im 6. Jahrhundert wendische Stämme niedergelassen haben, die von Viehzucht, Fischfang, Rauben und Plündern lebten. „Gries“ heißt sinngemäß „öde“ oder auch „grau“ (Stadt Ludwigslust 2005). Die sandigen Böden in der Griesen Gegend prägen die Landschaft mit breiten Flusstälern, feuchten Wiesen, dem Elbe-Urstromtal, großen Dünenfeldern und den älteren eiszeitlichen Hochflächen zwischen den Tälern. Vor vielen Millionen Jahren war die Griese Gegend Teil eines Tieflandes, in das Flüsse aus skandinavischen Gebirgen Sand eintrugen und das flache Meer, das es zu jener Zeit in der Griesen Gegend gab, zuschütteten. So entstand ein
5.1 Glaisin – Materiale Gestalt
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riesiges Delta aus Sand. Die Nordsee, die zeitweilig bis nach MecklenburgVorpommern reichte, bildete sich bis auf ihre heutige Größe zurück. Aus dieser Zeit stammen Ablagerungen aus Ton, Torf und Braunkohle sowie sehr alte, helle, saubere Sande mit einzelnen Kieskörnern, die vorwiegend aus Quarzen bestehen. Diese Ablagerungen finden sich auch heute noch bei Malliß, Karenz, Rüterberg, Kavelmoor, Laupin und Loosen. Die weitaus größeren Sandmengen in der Griesen Gegend sind viel jünger, nicht so sauber und weniger quarzreich. Sie sind mit den Gletschern der ersten beiden Eiszeiten (den Kaltzeiten der Elster- und Saaleeiszeiten), die ganz Mecklenburg-Vorpommern bedeckten, nach dem Abtauen des Eises zusammen mit gewaltigen Mengen von Geschiebemergel, Ton, Kies und eben Sand, zurückgeblieben. In der letzten Eiszeit, während der Weichsel-Kaltzeit, reichte das Eis bis einer Linie von Zarrentin über Schwerin nach Lübz. Im gesamten Landkreis Ludwigslust gab es keine Gletscher mehr. In dieser Zeit, vor rund 20.000 Jahren, entwickelte sich die Griese Gegend langsam zu der geologischen Landschaft, die sie heute bildet. An den Rändern des abtauenden Eises flossen Schmelzwässer konzentriert und in großen Mengen vom Gletscher ab. Sie durchbrachen die Endmoränengürtel, setzten in der Nähe der Durchbruchstelle Kiese ab und im Folgenden dann Sande. Die Schmelzwässer flossen von Norden nach Süden und Südwesten, bis sie das Urstromtal der Elbe erreichten und dann in Richtung Nordsee strömten. Auf ihrem Weg haben sie kilometerbreite Täler ausgespült, die heute von Schaale, Sude, Rögnitz, Elde und Lewitz durchflossen werden. Kies und Geröllschutz blieben schon bei Plate, Consrade, Dümmer und Lützow liegen, so dass in der Griesen Gegend ausschließlich Sand abgelagert wurde. Zwischen den breiten Schmelzwässertälern sind inselförmige Hochflächen stehen geblieben, die durch Überreste der beiden früheren Vereisungen geprägt sind. Vor ungefähr 15.000 Jahren schmolz das Eis zunehmend und die breiten Talsandebenen blieben trocken. In diesen Phasen der Kaltzeiten konnte sich aufgrund der geringen Temperaturen noch keine geschlossene Pflanzendecke bilden, so dass die Windwirkung sehr stark war. Der Sand wurde zu ganzen Dünenfeldern, die mitunter mehrere Meter hoch sein können, zusammengeweht. Erst ausreichender Bewuchs verhinderte das Wandern der Dünen. Diese Dünen sind vielfach durch Eingriffe des Menschen in die natürliche Pflanzendecke, vor allem durch das Roden der Wälder im Mittelalter und in den darauf folgenden Jahrhunderten, reaktiviert worden. Die Griese Gegend ist heute eine Kulturlandschaft, die Menschen seit vielen Jahren gestalten und nutzen. Funde aus der Stein-, Eisen- und Bronzezeit bele-
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
gen, dass die Griese Gegend rund um Glaisin ein altes Siedlungsgebiet mit Jahrhunderte alten, ländlich-bäuerlichen Traditionen66 ist. Lange Zeit waren es nur karge Erträge, die dem Boden abgerungen wurden. Es erfolgten immer wieder deutlich sichtbare Eingriffe in die Landschaft, so auch mit dem so genannten „Sozialistischen Frühling“. In dieser Zeit hat sich das Landschaftsbild rund um das Dorf verändert: Kleine Felder wurden zusammengelegt, Knicks, Hecken und Gehölzstände beseitigt. So kommt es, dass man den Blick auf dem letzten Stück Weg weit über die Felder schweifen lassen kann, bis in der Ferne ein Waldrand auftaucht. Über Bresegard kommend, führt eine Straße nach Glaisin, die von Apfelbäumen und Eichen gesäumt ist. Die Straße ist geteert, schmal und hat auf der linken Seite einen breiten Sandstreifen, der immer dann befahren werden muss, wenn zwei Autos sich entgegenkommen. Sowohl der Sandstreifen als auch das asphaltierte Stück sind sehr uneben und löchrig. Bei angemessener Geschwindigkeit schaukelt das Auto die hügelige Landschaft hinauf und hinab, rechter und linker Hand liegen die großen Felder, die bewirtschaftet werden, solange, bis das Ortseingangschild Glaisin und damit auch die Kuppe eines größeren Hügels erreicht ist. Kurz hinter dem Ortseingangsschild steht ein zweites Schild, dass Besucher/innen im EXPO-Dorf willkommen heißt.
5.1.2 Das EXPO-Dorf Glaisin Das Ortseingangsschild hinter sich lassend, stehen östlich auf der rechten Straßenseite die ersten Häuser. Direkt vor dem ersten Haus führt ein kleiner Weg rechts zum Friedhof. Einige von diesen ersten Häusern sind so genannte Häuslereien, in Stein- und Klumpbauweise gebaut und mit Ziegeldach. Klump besteht ursprünglich aus braunem Raseneisenerz, den das durchfließende Wasser als braune Eisenverbindung aus dem Sand herausgelöst und als Raseneisenerz tiefer 66
Hier siedelten germanische Stämme, die noch um 500 nach Chr. in der Gegend von Glaisin ansässig waren. Ausgrabungen in der Nähe von Göhlen belegen, dass dort im größeren Umfang „Klump“, der so genannte Raseneisenstein, verhüttet wurde. Raseneisenstein wird bis heute beim Bau der Häuser verwendet und prägt mancherorts das Dorfbild – so auch in Glaisin. Im 7. Jahrhundert nach Chr. ist die Besiedlung durch die Nordwestslaven abgeschlossen und im Jahre 808 wird erstmals erwähnt, dass der wendische Stamm der Limonen, der zum Stammensverband der Obotriten gehört, ein zusammenhängendes Gebiet im heutigen Südwestmecklenburg bewohnt. Die Slawen legten ihre Siedlungen bevorzugt in Wassernähe und auf leichten Böden an, die sie mit einem hölzernen Pflug bearbeiten konnten. In Glaisin entwickelte sich, vermutlich bevorzugt durch die Rögnitzniederung und den sandigen Boden der Griesen Gegend, ein slawischer Siedlungskern. Die Struktur des alten Dorfes in Form eines Hufeisens lässt deutlich den Aufbau eines wendischen Rundlings erkennen (Stadt Ludwigslust 2005).
5.1 Glaisin – Materiale Gestalt
121
Boden wieder abgelagert hat. Raseneisenerz wurde von den Germanen verhüttet und so entstand ein schwarzer Stein, der beim Bau der Häuslereien eingesetzt wurde. Diese Klumpbauweise ist auch an einigen Häuslereien am Ortseingang an der Seiten- oder Vorderfront zu sehen. Es finden sich aber auch Häuser dort, die mit neuen Putz- und Klinkerfassaden die alten Fassaden verstecken. Nach ein paar Metern stehen nun auch linker Hand Häuser. Die Eingangsstraße, die durch den Ort führt, ist breit und neu gebaut. Sie geht nach kurzer Strecke in altes Kopfsteinpflaster über, so dass es wieder holprig wird. Nach wenigen Metern im Ort liegt links in westlicher Richtung der Forsthof. Dort beginnt mein Rundgang durch Glaisin.
5.1.3 Der Forsthof und seine Nebengebäude Es ist einer der letzten schönen und warmen Herbsttage im Jahr 2005 mit viel Licht – ein Tag mitten in der Woche in der Mittagszeit. Der Forsthof, bestehend aus Haupthaus mit integrierter Gastwirtschaft und Fremdenzimmern, Biergarten, Kulturscheune, altem Viehhaus, Backhaus und Bauergarten, liegt vor mir. Vom Parkplatz aus gehe ich als erstes an den Gebäuden vorbei über die Streuobstwiese mit den Apfelbäumen zum alten Backhaus. Abbildung 2:
Das Backhaus mit Raseneisenstein
Quelle: Thiem 2005 Es wurde vermutlich um 1820 errichtet und damit einige Jahrzehnte früher als der Forsthof selbst, der aus der Mitte des 19. Jahrhunderts stammt. Das Backhaus mit seinen Wänden aus Feldsteinen und Raseneisenerz in Lehm gemauert liegt an der Grundstücksgrenze des Forsthofs. Es ist verschlossen. Beim Blick durch die Fenster sind im Backofenraum zwei Lehmöfen zu sehen, in denen an manchen Tagen im Jahr Steinofenbrot und Platenkuchen nach alten Rezepten gebacken wird. Diese auch touristisch motivierten Veranstaltungen sind meistens sehr
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
gut besucht. Heute ist alles still und ruhig. Am Backhaus vorbei führt mein Weg zum Bauerngarten mit seinen vielen Stauden und Kräutern. Hier blühen noch Dahlien. Abbildung 3:
Der Bauerngarten
Quelle: Thiem 2006 Der herbstliche Garten liegt in unmittelbarer Nähe zum Viehhaus, das altes Fachwerk und ein wieder mit Reet eingedecktes Dach hat. Es enthält Stalleinbauten und eine Tenne. Heute sind sie der Sitz eines Informationsbüros der Gemeinde sowie Ort wechselnder, kleinerer Ausstellungen und anderer Veranstaltungen. Gegenüber liegt die Kulturscheune, die Anfang der 1950er Jahre nach einem Blitzschlag abgerissen und kurze Zeit später als reines Zweckgebäude wieder errichtet wurde. Dieser funktionale Charakter in der Außenansicht ist erhalten geblieben. Heute wird das Gebäude für größere, kulturelle Veranstaltungen genutzt. Zwischen Viehhaus und Kulturscheune liegt der Biergarten. Er wird an Sommertagen von Kastanienbäumen beschattet. Abbildung 4:
Der Biergarten des Forsthofs
Quelle: Thiem 2005
5.1 Glaisin – Materiale Gestalt
123
An diesem schönen Herbsttag ist er allerdings nicht geöffnet, obwohl Stühle und Tische im hinteren Teil noch draußen stehen. Der Leiterwagen ist geschmückt mit Kürbissen und Sonnenblumen. Insgesamt bietet sich den Besuchern/innen ein einladendes Ambiente. Zur Straße hin liegt das Haupthaus des Forsthofes. Abbildung 5:
Der Forsthof
Quelle: Thiem 2005 Wie die anderen Gebäude war auch das Haupthaus vermutlich als Fachwerkhaus mit Reet gedeckt (vgl. Stadt Ludwigslust 2005, S. 102). In den Jahren 1850 bis 1860 erfolgten größere Veränderungen, u. a. eine Unterkellerung, der Ausbau einer so genannten Leutestube und der Ersatz des Reetdaches durch ein Hartdach. Zu Zeiten der DDR war im Forsthof ein Waldarbeiterlehrlingsheim untergebracht, und es diente als Wohnhaus. Nach der Wende wurden über einen Antrag der politischen Gemeinde Mittel zur Sanierung des Forsthofes über LEADER67 bereitgestellt, so dass 1994 mit den umfangreichen Arbeiten begonnen werden konnte. Dank dieser Maßnahmen ist der Forsthof heute ein Ort für Begegnungen und Kommunikation mit vielen kulturellen Angeboten für die Dorfbewohner/innen, Menschen aus der Region und darüber hinaus.
67
Die EU-Gemeinschaftsinitiative LEADER fördert seit 1991 modellhaft innovative Aktionen im ländlichen Raum. Lokale Aktionsgruppen erarbeiten mit den Akteuren vor Ort passende Entwicklungskonzepte für ihre Region. Ziel ist es, die ländlichen Regionen Europas auf dem Weg zu einer eigenständigen Entwicklung zu unterstützen und die erfolgreichen Ansätze in die MainstreamProgramme zu übernehmen. LEADER steht für „Liaison entre actions de développement de l´économie rurale“ (Verbindung zwischen Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft).
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
5.1.4 Dorferneuerung in Glaisin Auch EU-Mittel aus dem LEADER-Programm haben die Sanierungsarbeiten möglich gemacht. Glaisin wurde 1991 in das Dorferneuerungsprogramm des Landes Mecklenburg-Vorpommern aufgenommen. Zentrale Aufgabe des Programms ist die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen entsprechend der heutigen Anforderungen an Wohnen und Wirtschaften im ländlichen Raum sowie die Erhaltung der typischen ländlichen Dorf- und Landschaftsstruktur. Im darauf folgenden Jahr wurde ein Dorferneuerungsplan aufgestellt, um das alte Dorfbild, das bis dahin noch weitestgehend vorhanden war, zu erhalten68. Mit diesen Mitteln konnte die Infrastruktur des Dorfes wesentlich verbessert und in Stand gesetzt werden (vgl. Behrends 1998). So wurde ein Abwassersystem mit einer örtlichen Teichanlage angelegt. Auch die kulturelle Infrastruktur wurde verbessert: Seit es das Gillhoff- und Heimatmuseum „Gillhoff-Stuv“ im Dorf gibt, findet seit dem Jahr 1993 die alljährliche Verleihung des Gillhoff-Preises nicht mehr in Hamburg, sondern in Glaisin statt. Eine Gemeindesatzung aus dem Jahr 1996 sichert die Einheitlichkeit der Dachgestaltungen sowie der von Verkehrsstraßen einsehbaren Fassaden. Auch für die Gestaltung von Fenstern, Türen und Vorgärten wurden Regelungen getroffen. 1998 wurde Glaisin für seine Leistungen im Bundeswettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden – unser Dorf hat Zukunft“ mit der Goldplakette ausgezeichnet. Ein Jahr zuvor war Glaisin bereits Landessieger geworden. Die Teilnahme an der Weltausstellung EXPO 2000 hat ebenfalls zur weiteren gemeinsamen Gestaltung des Dorfes durch die Bewohner/innen beigetragen. Am 30. Juli 1998 wird das Dorf zur Teilnahme am EXPO-Projekt Dorf 2000 mit dem Unterprojekt „Die Rolle der (Land)Frauen bei der Wiederbelebung des Ortes“ registriert. Ziel der (Land)Frauen waren die Erschließung neuer Erwerbsmöglichkeiten für Frauen, die Aktivierung des dörflichen Soziallebens, die Förderung der Jugendarbeit, die Einbindung von Frauen in politische Entscheidungsprozesse auf kommunaler und regionaler Ebene sowie eine professionelle Öffentlichkeitsarbeit. Diese Ziele wurden in das wirtschaftliche Gesamtkonzept zur Entwicklung des Dorfes eingebunden (vgl. ASG 2001, S. 45, Festner 1998).
68 Zu den öffentlichen Maßnahmen gehören die Pflasterung der Dorfstraße mit Naturstein, ortstypische Baum- und Heckenpflanzungen, die Anlage von Gehwegen in der Mühlenstraße und der Schnellbergstraße, die Sanierung des Jugendclubs mit Spielplatz und der Friedhofskapelle, die Zuwegung zum Friedhof, der Verbindungsweg von der Eichenallee zur Dorfstraße, die Sanierung des Gillhoff-Hauses, die Gestaltung des Püttberges. Ergänzend haben viele Hauseigentümer private Maßnahmen an ihren Häusern durchgeführt. Dazu gehören das Einsetzen neuer Fenster und Türen, die Erneuerung von Dächern und die Gestaltung von Zufahrten.
5.1 Glaisin – Materiale Gestalt
125
Mein Weg führt um das Haupthaus herum an der Bank unter der Eiche vorbei zur Lindenstraße. Ich gehe ein Stück in nördlicher Richtung, quere die Lindenstraße und gehe zum östlich gelegenen Johannes-Gillhoff-Platz.
5.1.5 Der Johannes-Gillhoff-Platz Gleich vorne befindet sich das Kriegerdenkmal mit einer Bank unter einer Linde. In Gesprächen mit Bewohnern/innen Glaisins wurde ich mehrfach darauf hingewiesen, dass hier im Sommer oft einige der älteren Frauen sitzen, das Geschehen im Ort verfolgend und redend. Heute ist der Platz menschenleer. Abbildung 6:
Die Bank beim Kriegerdenkmal
Quelle: Thiem 2005 Auf der nördlichen Seite liegen zwei Hofstellen mit großen Nebengebäuden. Als Dreiseitenhof erbaut, ist diese Form typisch für Glaisin und die Griese Gegend. Abbildung 7:
Dreiseitenhof
Quelle: Thiem 2005
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
Auch die Häuser auf der südlichen Seite des Gillhoff-Platzes sind in diesem Stil gebaut worden, allerdings fehlen die großen landwirtschaftlichen Nebengebäude, welche die Wohnhäuser einrahmen. Im Jahr 1858 hat ein Großfeuer im Dorf gewütet und 10 Bauernhöfe auf der linken Seite vernichtet. Insgesamt 3 wurden wieder aufgebaut, darunter die 2 Hofstellen mit den großen Scheunen rechts und links. Dies erklärt die Größe der Hofstellen, die dort gebaut wurden, wo sich ehemals 10 befanden. Die restlichen 7 wurden auf den so genannten Bauernlaasen verlegt, der heutigen „Eichenallee“. Im Jahr 1892 hat auch auf der südlichen Seite des heutigen Gillhoffplatzes ein Feuer gewütet. Es brach in der Scheune bei Diehn aus und zerstörte das ganze Gehöft sowie die Bauerstellen der Erbpächter Timm, Brüning, Jahnke, Busacker, Saß und Gehrke. Bis auf ein Wohnhaus und 4 Scheunen wurde alles ein Opfer der Flammen (Stadt Ludwigslust 2005). Ein Stück weiter vorne, ebenfalls auf der südlich gelegenen Seite, befindet sich das Haus der Vierjahreszeiten, ein Bauernhaus, in dem der Kreislandfrauenverein seinen Sitz hat. Abbildung 8:
Das Haus der Vierjahreszeiten
Quelle: Thiem 2006 Vor der Eingangstür liegen dicke Kürbisse, beidseits der Zuwegung im Vorgarten sehe ich einen Halbbogen, der ebenfalls herbstlich geschmückt anmutet. Im Hinterhof des Hauses wurde der Schweinestall ausgebaut und bietet nun Platz für kleinere Veranstaltungen und Feierlichkeiten. Weiter vorne auf der südlichen Seite liegt das Gasthaus Thees, dessen Gastwirtschaft im Jahr 1998 geschlossen wurde. Die Räumlichkeiten stehen aber weiterhin für private Feierlichkeiten zur Verfügung. In unmittelbarer Nähe des Schildes „Gasthaus Thees“ entdecke ich ein zweites, das zu einer Nähstube gehört. In der Mitte des Platzes verläuft die Straße mit Kopfsteinpflaster, die Rasenflächen links und rechts davon sind mit gelbem Lindenlaub dicht bedeckt. Etwas weiter hinten steht eine Bank unter Linden. Ich blicke zurück in Richtung Westen zum Kriegerdenkmal und sehe am
5.1 Glaisin – Materiale Gestalt
127
Ende des Platzes das Gillhoffhaus (das alte Schulhaus), an dem ich später bei meinem Rundweg noch vorbeikommen werde. Abbildung 9:
Der Blick zurück vom Johannes-Gillhoff-Platz in Richtung Westen zum Schulhaus
Quelle: Thiem 2005 Ich drehe mich wieder um und folge dem Weg in Richtung Osten. Hinter der zweiten Hofstelle auf der nördlichen Seite, auf der ganz offensichtlich noch gewirtschaftet wird, führt ein schmaler Kopfsteinpflasterweg zur Kapelle. Neben der Kapelle steht ein Glockenstuhl mit einer Schlagglocke. Die hölzerne Kapelle ist klein. Ihr Bau erfolgte im Jahr 1962 mit Unterstützung durch eine schwedische Stiftung. Sie steht auf dem Grundstück eines Gehöfts, ist nicht ohne weiteres zu finden und liegt somit für viele „Nicht-Glaisiner/innen“ im Verborgenen. Den Johannes-Gillhoff-Platz zurücklassend, folge ich der Dorfstraße, die mit leichtem Gefälle in die Niederung führt. Rechter Hand im Süden liegen einige alte, gut erhaltene Höfe, einer von ihnen prächtig verziert. Dazwischen sind immer wieder Freiflächen. Das neu gebaute Haus dazwischen will so gar nicht zu den Dreiseitenhöfen passen. Nördlich liegt wieder eine Hofstelle, die offensichtlich noch bewirtschaftet wird. Ein Mann und eine Frau nehmen die noch blühenden Dahlien aus der Erde und legen sie zum Trocknen nebeneinander. Sie sehen zu mir herüber und grüßen kurz.
5.1.6 Dorf- und Mühlenstraße Die Dorfstraße führt in einem Bogen nach Norden weiter in die Niederung. Im Osten liegen Häuslereien mit Ziegelsteinen gebaut, aber in einem z. T. nicht so guten baulichen Zustand.
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
Abbildung 10: Häuslereien
Quelle: Thiem 2006 Dazwischen liegt wieder ein Haus im Stil des Dreiseitenhofes. Die Straße verläuft weiter in Richtung Norden. Glaisin befindet sich auf einem Hügel, und an dieser Seite sackt das Land tief zum Röcknitztal hinab. Ist es Zufall, dass viele Häuslereien in der Niederung liegen, während die alten Hofstellen sich oben auf dem Hügel befinden? Ende des 19. Jahrhunderts lebten 23 Häusler im Dorf. Häusler waren wesentlich schlechter gestellt als Büdner, bei denen sie arbeiteten und zur Miete lebten, da sie kein eigenes Land besaßen. Mit viel Glück überließ ihnen der Bauer ein wenig Gartenland und erlaubte die Haltung von Kleintieren. Erst mit der Einführung von Pachten wurde die gesellschaftliche Stellung der Häusler und auch vieler Büdner69 besser. Ich folge der Dorfstraße in Richtung Norden, bis ich an der Mühlenstraße stehe. Auf der anderen Straßenseite im Nordwesten befindet sich eine der ehemaligen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, die LPG „Freie Erde“. Sie gehört seit 1991 zu „Agrarprodukte Göhlen“. Zuvor waren LPG-Flächen an ihre privaten Besitzer zurückgegeben worden. Ich wende mich wieder nach Westen und gehe die Lindenstraße entlang. Hier fährt im Vergleich zum übrigen Dorfbereich ab und an ein Auto in Richtung Ludwigslust oder von dort kommend. Nördlich und südlich der von Linden ge-
69
Die Büdner waren zwar bis dahin persönlich frei, aber wirtschaftlich durch Abgaben und Dienste gebunden. Bis 1874 waren alle Gehöfte der Bauern in Erbpacht, der Boden jedoch war fürstliches Eigentum, und nach Übergang des Besitzes an die Kinder der Pächter musste erneut eine Kaufsumme oder Steuer an den Fürsten gezahlt werden. Es gab zu dieser Zeit im Ort zwei Schulen, einen Forsthof und eine Schmiede. Typisch für damalige Zeiten war, dass viele Hauswirte früh verstarben und unmündige Kinder hinterließen, die die Erbschaft nicht antreten konnten. Den Witwen war es nicht gestattet den Hof zu übernehmen. Sie konnten sich – wenn das Amt zustimmte – neu verheiraten. In Folge dieser Zustände mussten sich viele Bauernsöhne als Knechte verdingen. Bis zur Mündigkeit der Erben führten familienfremde Landwirte den Hof, denen weder ein Altenteil zustand, noch hatten ihre Kinder Anspruch auf Erbfolge (Stadt Ludwigslust 2005).
5.1 Glaisin – Materiale Gestalt
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säumten Straße, in deren Mitte sich ein mit Gras bewachsener Platz befindet, liegen wieder Häuslereien. Sie sind größtenteils mit Ziegelsteinen gebaut. Zwischen ihnen liegt wieder eine sehr alte, offensichtlich noch nicht sanierte Häuslerei in Klumpbauweise. Ich bleibe stehen und betrachte die alte Lehmbauweise. Abbildung 11: Eine alte Häuslerei in Lehm- und Klumpbauweise mit Raseneisenstein
Quelle: Thiem 2006 An der Hausseite ist Holz für den Winter gestapelt, also ist sie noch bewohnt. Typisch sind die großen Tore, das auch dieses alte Haus noch in seiner ursprünglichen Form besitzt. In modernisierten Gebäuden sind sie nicht selten durch große Glasfronten ersetzt worden, wie auf der rechten Seite der Mühlenstraße öfter zu sehen ist. Gleich neben diesem alten Haus liegt wieder eine Häuslerei, die mit einer neuen Fassade versehen wurde. Eingerahmt von zwei sehr alten Häuslereien will sie so gar nicht dazu passen. Etwa ein Jahr nach diesen Beobachtungen, im Jahr 2006, treffe ich dort einen jungen Mann aus Glaisin, der die ältere der beiden Häuslereien gekauft hat und gerade dabei ist, sie zu entkernen. Das Gebäude ist in einem sehr schlechten, baulichen Zustand. Er erzählt mir, dass er das Haus günstig erworben habe. Die Grundstückspreise seien sehr niedrig. Es sei sehr schade, dass so viele alte Häuser nicht erhalten blieben. Auch oben im Dorf habe man schon so viel abgerissen oder neu verputzt und Fassaden davor gesetzt, die nicht zum Dorfbild passen würden. Er habe ein Handwerk gelernt und könne daher viel selbst machen. Er wolle das Haus wieder so herrichten wie es einmal gewesen sei, damit das Dorfbild erhalten werde. Er wolle in Glaisin bleiben. Gegenüber auf der anderen Straßenseite sehe ich eine große Büdnerei mit Reetdach. Diese landwirtschaftlichen Höfe Glaisins wuchsen über die Jahrhunderte immer mehr an und gewannen an Größe. Als Hallen- und Bauerhäuser in Fachwerkbauweise mit Stroh- oder Reetdächern gebaut, befand sich am Ende der Diele eine offene Herdstelle – die so genannte Räucherkate. Mitte des 16. Jahr-
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hunderts bestand das Dorf aus 15 Hufen. Mitte des 19. Jahrhunderts hatte das Dorf 454 Einwohner/innen, darunter 23 Bauern, ein Erbpächter und 17 Büdner (Stadt Ludwigslust 2005). Einige der alten Büdnereien wurden abgebrochen, wie beispielsweise die beide an der Lindenstraße im Jahr 1956. Hier war früher der Einkaufsladen, der 2002 schließen musste.
5.1.7 Kanal- und Lindenstraße An der Kreuzung Lindenstraße/Schnellberg beginnt die Kanalstraße, die aus dem Ort in nördlicher Richtung nach Kummer führt. Am dortigen Dorfrand stehen nur noch auf der östlichen Straßenseite Häuser, die alle neu gebaut wurden und z. T. stattlich anmuten. Ich kehre nach dem letzten Haus um und gehe ein Stück Richtung Süden bis zur Straße Zum Schnellberg, die nach Westen führt. Am Ende der Straße Zum Schnellberg liegen der Schützenplatz und die Schießbahn. Vorher wird die Straße gesäumt von Hofstellen und neu errichteten Einfamilienhäusern. Abbildung 12: Zum Schnellenberg
Quelle: Thiem 2005 Ich kehre auch hier wieder um und gehe in Richtung Osten bis zur Straßenkreuzung zurück, um dann in südlicher Richtung der Lindenstraße in Richtung Forsthof zu folgen. Auch sie wird ab und an von Autos befahren. Auf der östlichen Seite liegt auf dem Püttberg ein kleiner Park mit Bäumen, an den der Jugendclub „Treibhaus“ anschließt, ein flacher, niedriger Bau mit grauem Putz, buntem Schriftzug und Gardinen vor den Fenstern. Hinter dem Haus liegt ein großzügiges Gelände mit Spiel- und Sportplatz. Noch im Februar des Jahres 1989 wurde mit dem Bau begonnen. Die Gemeinde hat das Haus dann im Jahr 1995 für den Aufbau des Jugendclubs zur Verfügung gestellt. Hier finden zahlreiche Aktivitäten für jüngere und ältere Jugendliche statt. Aus Gesprächen mit Bewoh-
5.1 Glaisin – Materiale Gestalt
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nern/innen weiß ich, dass der Jugendclub sehr gut angenommen wird, auch von Jugendlichen aus anderen Dörfern. Dies würde zum einen an den interessanten Angeboten liegen, beispielsweise an dem Internetportal. Übereinstimmend wurde aber auch erzählt, dass der Jugendclub sehr gut betreut würde. So wäre immer eine Person in den Öffnungszeiten für die Jugendlichen da. Abbildung 13: Der Jugendclub „Treibhaus“
Thiem 2005 Ich folge der Straße in Richtung Süden bis zum Forsthof. Mir fällt immer wieder auf, wie gepflegt und akkurat die Vorgärten, Wege und Straße gestaltet sind: bepflanzt, mit Töpfen dekoriert und kaum Gras zwischen den Pflasterfugen. Die Straße führt an dem neu gebauten Haus mit weißem Fachwerk, an kleinen Einfamilienhäusern und alten Gehöften vorbei zum Gillhoffhaus. Hier war bis 1973 die Schule in Glaisin untergebracht. Am 24. Oktober 1992 eröffnete die GillhoffStuv. Im Jahr 1993 wird die Gillhoff-Gesellschaft gegründet, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Lebenswerk des 1861 in Glaisin geborenen niederdeutschen Lehrers, Volkskünstlers und Schriftstellers Johannes Gillhoff zu pflegen und zu verbreiten. Abbildung 14: Die Gillhoff-Stuv
Quelle: Thiem 2006
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
Das Leben und Schaffen des Autors wird in der ehemaligen Dorfschule in einer ständigen Ausstellung dokumentiert. Ein Gedenkstein vor dem Gebäude erinnert an Johannes Gillhoff. Die Gillhoff-Gesellschaft pflegt den Kontakt zu den Nachkommen der in die USA ausgewanderten Glaisiner/innen und trägt maßgeblich zum kulturellen Leben im Dorf bei. Zum Programm gehören beispielsweise regelmäßige Ausstellungen, literarische und musische Veranstaltungen, Lesungen, Vorträge und Schauspielereien. Ein besonderes Anliegen ist der Erhalt und die Pflege der plattdeutschen Sprache. Weiter geht es nun, am Forsthof vorbei, bis zur Molkerei, einer weißen, gut erhaltenen Hofstelle mit Aufschrift „Molkerei Glaisin“. Sie wurde im Jahr 1908 erbaut und noch heute ist zu erkennen, wo früher die Milchkannen abgestellt wurden. Im Jahr 1954 stellte die Molkerei ihren Betrieb ein. Sie ist heute ein reines Wohnhaus.
5.1.8 Eichenallee Direkt gegenüber auf der südlichen Straßenseite beginnt die Eichenallee, die nach Osten führt. Abbildung 15: Blick auf die Eichenallee
Quelle: Thiem 2005 Dies ist der Bauernlaasen, auf dem 1858 nach dem ersten großen Feuer 7 Hofstellen wieder aufgebaut wurden. Und auch hier wurden die Gebäude mit Raseneisenerz verziert, der zwischen den Ziegelstein gesetzt wurde. Die Hofstellen sind großzügig angelegt mit viel Raum und großen Nebengebäuden. Der Blick kann über Gärten, Weiden und Wiesen zu jenen Hofstellen wandern, die am Johannes-Gillhoff-Platz südlich liegen. Von hier aus ist zu erkennen, dass hinter den Wohnhäusern die Nebengebäude, Ställe und Scheunen liegen – ein Blick auf Wiesen und Höfe.
5.2 Historisches Konstituieren und Spacing
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Abbildung 16: Blick Richtung Norden von der Eichenallee auf Wiesen und Höfe südlich des Johannes-Gillhoff-Platzes
Quelle: Thiem 2005 Hunde bellen auf den Grundstücken und rechts jagt plötzlich einer an der niedrigen Mauer entlang. Ein zweiter ist an einer Laufkette angebunden. Sofort kommt eine Frau aus den Ställen gelaufen, winkt, lacht und ruft ihren Hund. Ich gehe die Allee weiter. Nördlich und südlich sehe ich weißes Fachwerk. Zum vorletzten Gehöft auf der südlich gelegenen Straßenseite gehörte kurze Zeit ein Heuhotel, das 1995 eröffnet und im Januar 2000 wieder geschlossen wurde. Die Eichenallee führt nach den beiden letzten Gehöften zur Dorfstraße. Ich folge ihr nicht, sondern gehe erst in Richtung Westen, dann ein kurzes Stück nach Norden zurück zum Forsthof, dem Ausgangspunkt meines Rundweges. Neben meinem Auto stehen jetzt zwei weitere. Ich überlege einen kurzen Moment, ob ich noch in den Forsthof einkehre, doch dann lockt mich die späte Nachmittagssonne an die Elbe. Ich steige also in mein Auto und fahre langsam die holprige Straße im schönen Licht zurück in Richtung Bresegard.
5.2 „Ich werbe um jedes Mitglied, aber ich sage auch immer dazu, egal was sie machen, wichtig ist für mich, sie sprechen miteinander.“: Historisches Konstituieren und Spacing 5.2 Historisches Konstituieren und Spacing Ich bin von der Annahme ausgegangen, dass die politischen und landwirtschaftlichen Transformationsprozesse sich auf das gesellschaftliche Leben im Dorf auswirken und damit auch auf Nutzung und Herstellung von lokalen70 Räumen.
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Im Folgenden wird auf eine Zuweisung der lokalen Räumen zu den Kategorien ‚öffentlich, ‚privat, ‚lokal öffentlich, ‚halb-öffentlich und ‚halb-privat bewusst verzichtet, da meine Interviewpartnerinnen diese Einordnung nicht vorgenommen haben. Erst am Ende des Interviews habe ich sie
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Durch den zunehmenden Rückgang der Infrastruktur und den kaum noch vorhandenen Erwerbsmöglichkeiten im Ort selbst, aber auch in der Region, müssen die Bewohner/innen viele und vor allem auch weite Wege zurücklegen. Es erschien mir daher nahe liegend, dass die lokalen Räume einen Bedeutungsverlust erfahren in Konkurrenz mit Räumen in der näheren und weiteren Umgebung. Der Stellenwert lokaler Räume im Leben der Bewohner/innen würde wahrscheinlich ein anderer sein, so meine Ausgangsüberlegungen. In vielen Gesprächen, mit meinen Interviewpartnerinnen und anderen Bewohnern/innen, habe ich erfahren, dass die lokalen Räume soziale Klammern sind, die Kontakte der Bewohner/innen untereinander ermöglichen. Ohne diese Räume gäbe es keine Kontakte und damit kein Miteinander im Dorf, sondern ein Nebeneinander und das möchten meine Gesprächspartnerinnen verhindern. Diese Funktion der sozialen Klammer hatten die lokalen Räume schon immer. Erst mit der Wende gab es plötzlich diese Selbstverständlichkeiten nicht mehr. Manche Räume stehen aufgrund politischer Entscheidungen nicht mehr zur Verfügung, andere werden von den Bewohner/innen nicht mehr nachgefragt. In der Folge verringerte sich der Kontakt der Bewohner/innen zueinander. Es begann eine Zeit der Umbrüche und Neuerungen, auch in Bezug auf die Herstellung lokaler Räume. Seitdem sind die Räume, in denen Begegnungen stattfinden, teilweise andere geworden und einige alte haben einen Bedeutungswandel erfahren. Es wurden Räume geschaffen, die diese zunächst verloren geglaubte Funktion wieder innehaben, in denen die Bewohner/innen Kontakte zueinander pflegen und aufrechterhalten, in denen sie miteinander sprechen. Jedoch ist ihre Aufgabe nicht mehr darauf beschränkt, soziale Klammer der Dorfbewohner/innen untereinander zu sein. Aufgrund ihrer Attraktivität ziehen sie viele Besucher/innen an, aus der Region und darüber hinaus. Gerade diese (über)regionale Attraktivität der lokalen Räume ist für meine Interviewpartnerinnen bedeutend, weil sie in ihrem Dorf Möglichkeiten haben, Fremden zu begegnen. Mich interessiert in diesem dritten Quadranten (vgl. Abbildung 1: Methodologisches QuadranWenmodell für Raum, S. 55), wie meine Interviewpartnerinnen im Handeln lokale Räume im Dorf erschaffen, gestalten oder auch erhalten. Räume, die sie alltäglich und gelegentlich nutzen, sowie Räume, die von Ortsfremden aufgesucht werden. Fokussiert werden ihre Handlungsstrategien, die zur Entstehung lokaler Räume führen. Welche Intentionen liegen ihren Handlungen zugrunde? Welche lokalen Räume sind nach Ansicht meiner Gesprächspartnerinnen öffentliche Räume und wie begründen sie ihre Zuordnungen? Welche
nach ihrem Verständnis von ‚öffentlichen Räumen gefragt. Die Auswertung dieser Passagen erfolgt im Verlauf dieses Kapitels (siehe Kap. 5.2.4).
5.2 Historisches Konstituieren und Spacing
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Bedeutungen haben diese Räume für sie selbst und für die anderen Bewohner/innen im Dorf?
5.2.1 Ohne (Erwerbs)Arbeit keine Begegnungen: Das gesellschaftliche Leben im Dorf braucht Räume Im Dorf sind gewöhnliche Begegnungen ohne besonderen Anlass nicht mehr die Regel. Denn Möglichkeiten, einander im Alltag zu begegnen, sind seit der Wende rar geworden. In den Gesprächen mit meinen Interviewpartnerinnen habe ich erfahren, dass dieser Umstand stark dem Fehlen gemeinsamer Orte, Räume und Wege geschuldet ist. Über die gemeinsame Arbeit in der Landwirtschaft sei es selbstverständlich gewesen, dass bestimmte Arbeiten gemeinsam verrichtet wurden, wie beispielsweise das Ernten und Weiterverarbeiten der Kirschen. Früher hätten sich die jüngeren Bewohner/innen morgens vor dem Hof getroffen, wenn die Milch zum Abholen bereitgestellt wurde. Weitere Orte der Begegnung seien der Konsum, der Bäcker sowie die Straßen und Wege in Glaisin gewesen. Zu „DDR-Zeiten“ hätten viele Frauen aus dem Dorf gemeinsam im Kollektiv gearbeitet. Auch die Bushaltestelle sei einer jener Orte gewesen, an denen die Bewohner/innen sich auf dem Weg zur Arbeit trafen. Mit der Wende sei dann alles anders geworden. Viele seien arbeitslos geworden oder hätten in Vorruhestand gehen müssen. Vor allem Frauen hätten sich regelrecht verkrochen. Und heute? Heute gestalten die Bewohnerinnen das gesellschaftliche Leben im Dorf, und aus ihren Aktivitäten heraus entstehen Räume. Einen besonderen Stellenwert hat für viele Frauen im Dorf der Kreislandfrauenverein. Für seine Gründung hat sich eine meiner Interviewpartnerinnen in besonderer Weise eingesetzt. „Ich habe immer so viele Sachen gemacht. Und dann war ich eben auch zu diesen Veranstaltungen. Und daher kannte ich ganz viele, nicht. Das war für mich dann recht einfach, diese Frauen erst mal aufzusuchen, die man kannte. Und dann habe ich immer gesagt, das war wichtig, eine Frau im Dorf zu kennen. So. Und durch diese Frauen hat man erst das Anliegen vorgetragen, dann wurden wieder Namen empfohlen, und dann hat man die wieder weiter aufgesucht, nicht. Und was eigentlich ein bisschen lächerlich ist ... Also es war wirklich recht interessant. Kannte ich auch eine Frau in einem Dorf, das war dann schon mal gut. Aber manchmal kannte man wirklich auch keine, nicht. Und dann hieß es dann, auch wenn man sich so vorgestellt hat und so, vor der Tür stand: ‚Ach, kommen Sie doch erst mal rein. Und das geht ja hier nicht zwischen Tür und Angel. Dass ich dann manchmal so dachte – wissen Sie, das war jetzt 1992 – man sollte heute vorsichtig sein, wen man da so hereinbittet, wenn man die Leute nicht kennt, nicht. Und dann ... Ich meine, ich wurde natürlich auch von oben bis unten erst mal dann gemustert. Aber dann haben Sie immer gesagt – ich hatte einen Wartburg als Dienstauto –, dann haben Sie gesagt:
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin ‚Ach (klatscht in die Hände), wir haben gesehen, Sie sind mit einem Wartburg hier! Und der Wartburg kam mir so zur Hilfe, das konnte man sich fast nicht vorstellen. Aber der Wartburg war eben das Auto, das haben sie voll akzeptiert. Und wenn ich dann Plattdeutsch gesprochen habe, brauchte ich gar keinen Dienstausweis. (...) Also die Frauen ... Manche musste man auch total aus der Reserve locken. Andere, die brauchten dann auch jemand ... Manchmal habe ich dann gar nichts sagen brauchen, da musste ich nur zuhören, nicht.“ (IninG3 115-146)
Ihre Strategie bestand darin, möglichst viele Frauen im Dorf selbst, aber auch in der Region, aufzusuchen, ihnen von der Gründungsidee des Landfrauenvereines zu erzählen und sie zur Teilnahme und zur Rückkehr in gesellschaftliche Räume zu motivieren, indem sie „auch sagen konnte: ‚Landfrauenverein parteipolitisch unabhängig! Da legen wir auch eben großen Wert darauf. (…) Und dann ist mir das eigentlich in 14 Tagen gelungen, da so einen Landfrauenverein aufzubauen.“ (IninG3 81-83).71 Zur Gründung des Kreislandfrauenvereins erschienen ca. 60 Frauen, von denen 31 sofort Mitglied wurden, darunter ca. 10 Frauen aus Glaisin. Heute seien über dreißig Frauen aus dem Dorf bei den Landfrauen aktiv (IninG3 203-230). Insgesamt sind über 300 Frauen Mitglied im Kreislandfrauenverein. Warum waren es anfänglich nur so wenige Frauen aus dem eigenen Dorf? Die Gründungsveranstaltung des Kreislandfrauenvereines fand nicht in Glaisin statt, sondern in einem der Nachbardörfer. Meine Gesprächspartnerin erklärt, dass es für viele Frauen aus Glaisin zu dieser Zeit noch nicht selbstverständlich war, an Veranstaltungen in anderen Dörfern teilzunehmen. Dies bestätigt auch Frau Perla72: „Nein, das war eigentlich nicht so! Da war es mehr so ... An diesen Veranstaltungen, wo ich schon sagte, jetzt vom DSD oder so, dass waren früher eben die, die im Ort dazu gehört haben. Nicht? Aber jetzt kommt man auch mehr in Kontakt zu vielen von außerhalb so. Nicht?“ (IninG2 771-773) Dem habe auch die geringe Mobilität entgegengestanden. Bis dahin war Glaisin mit einer sehr guten Infrastruktur ausgestattet. Viele hatten einen Erwerbsarbeitsplatz im Dorf oder der näheren Umgebung und „ … da war das ganz anders. Da hat man gedacht, wenn man nach Ludwigslust zur Arbeit fährt, fährt man weit! So war das!
71 Hainz (1999, S. 221 ff.) hat in einer empirischen Untersuchung zum dörflichen Sozialleben ebenfalls einen Bedeutungsverlust der Vereine in Ostdeutschland nach der Wende festgestellt. Als mögliche Ursachen nennt auch er, dass die Bewohner/innen mit ‚Verein die ehemaligen staatlichen und damit auch politischen Massenorganisationen assoziiert haben. Zum anderen betonten auch seine Interviewpartner/innen die Belastungen, die sie an der Teilhabe am Vereinsleben hindern. Dies sind die gesellschaftlichen und persönlichen Neuorientierungen, insbesondere die Suche nach neuen Erwerbsarbeitsplätzen, die auswärtige Arbeit und die langen Fahrtwege. 72 Die Namen aller Interview- und Gesprächspartnerinnen wurden, um ihre Anonymität zu gewährleisten, von der Verfasserin geändert und sind frei erfunden.
5.2 Historisches Konstituieren und Spacing
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Da konnte man sich das gar nicht vorstellen, sonst wohin zu fahren.“ (IninG2 696-698) Die Nutzung und Wahrnehmung von Räumen konzentrierte sich daher hauptsächlich auf Glaisin und ergänzend auf die Nachbardörfer, d. h. auf lokale und weniger auf regionale Zusammenhänge. Eine erste Ausweitung der lokalen Raumbezüge auf die regionale Ebene erfolgte zu Kooperationszeiten. Erst mit der Wende ergab sich für viele Bewohner/innen die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit, das Dorf zu verlassen und größere Entfernungen zurückzulegen. Eine Raumwahrnehmung und -nutzung auf regionaler Ebene wird zur Selbstverständlichkeit und für viele Erwerbstätige auch auf überregionaler Ebene. Sie pendeln nach Hamburg, Lüneburg und Schwerin.
Das Produktive des gesellschaftlichen Lebens Der Landfrauenverein wurde schnell zu einem wichtigen Begegnungsraum für Frauen. Das erste Jahresprogramm des Vereins ist sehr gut angenommen worden. Es gelang meiner Gesprächspartnerin Henriette Lindner viele Frauen aus ihren privaten Zusammenhängen zu locken, in die sie sich nach Verlust ihrer Erwerbsarbeit zurückgezogen hatten, und sie wieder für das gesellschaftliche Leben zu interessieren 73 . Auf den Veranstaltungen hätten diese Frauen dann erlebt, dass auch die anderen unter der Situation direkt nach der Wende litten, und sie begannen, sich gegenseitig zu unterstützen. Der Landfrauenverein sei sehr schnell gewachsen und hätte Zeit und Kapazitäten der engagierten Frauen gebunden (IninG3). Dies führte dazu, dass beispielsweise der Strickverein aufgegeben wurde, den es schon lange in Glaisin gab. Von November bis März haben sich die Frauen jede Woche reihum zu Hause zum Häkeln und Stricken getroffen. Es wurden Handarbeiten angefertigt, neue Muster weitergegeben, es gab Kaffee und Kuchen, es wurden neue Rezepte ausprobiert und Probleme diskutiert. „Man hat sich so untereinander damit auch so geholfen, nicht. Also das war kein Klatschverein (klatscht). (Lacht). Überhaupt nicht! (…) Da hat man immer versucht, aus Nichts was zu machen. (…) Und das konnte man da. Also da konnte man viel machen, und da hat man sich gefreut. Und wenn man hörte: ‚Mensch, heute gibt es
73 Das damalige Motto lautete „Gemeinsam statt einsam“. Der Kreislandfrauenverein hatte es sich zur Aufgabe gemacht, durch Aktivitäten einen Beitrag zu leisten für soziale Belange, Persönlichkeitsentwicklung und Geselligkeit. Dahinter stehen die übergeordneten Ziele des Vereins, Interessenvertretung der Landfrauen zu sein und sich für bessere Lebensbedingungen nicht nur der Bäuerinnen, sondern aller Frauen und Mädchen im ländlichen Raum einzusetzen.
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin mal da irgendwie was Besonderes´, dass man es auch weitergesagt hat. Nicht so jetzt: ‚Ich habe das, ihr braucht das nicht!´ Das gab es eben nicht, nicht. Man hat sich immer richtig gegenseitig geholfen. Und das war dann auch immer in den Wohnungen. Ich meine, manchmal hat es auch dazu ein bisschen geneigt, dass eine dann die andere übertrumpfen wollte und es noch besser und schöner haben wollte und so. Aber es war auch dieser Ansporn. Das war eigentlich auch so ganz gut. Also, das war nicht umsonst. Das haben wir dreißig Jahre gemacht. Ich habe es dreißig Jahre mitgemacht. Ja, bis die Wende kam. Und dann war auf einmal mit allem Schluss. Warum war auf einmal Schluss? Ja, ganz einfach, weil der Landfrauenverein da war.“ (IninG3 394-498)
Henriette Lindner gibt im Gesprächsverlauf ihren Stolz auf den Strickverein zu erkennen. Sie hat die Treffen als sehr produktiv erfahren: „Das war nicht jetzt einfach hier, wir sitzen hier so wie die Männer, die vielleicht zum Beispiel ihr Bier getrunken und Schnaps getrunken haben, dummes Zeug erzählt haben.“ (IninG3 475-477) Meine Interviewpartnerin hat an dieser Stelle keine Geschlechterkritik im Sinne gesellschaftskritischer Frauenbewegungen geäußert. Dies würde auch den Anliegen des Strickvereins nicht entsprechen. Sie hat mit ihrem Vergleich lediglich den Wert ihrer Treffen herausstreichen wollen. Die Frauen teilten ihr Wissen über Rezepte, tauschten sich über die Erziehung ihrer Kinder aus, versuchten aus dem Wenigen, das ihnen zur Verfügung stand, schöne und nützliche Dinge für den alltäglichen Gebrauch herzustellen. Die Treffen hatten ihren Wert, den sie durch den Austausch über reproduktive, versorgende Tätigkeiten 74 erlangten und durch ihre Produkte: Handarbeiten und anderes selbst Hergestelltes. Damit ist es den Frauen gelungen, ein soziales Netzwerk zu bilden, ihrer eigenen Produktivität einen sichtbaren, lokalen Raum zu geben und sie im Austausch miteinander zu erhöhen. Dass Produktivität für sie eine große Rolle spielt, zeigt sich auch in ihrer Schaffenskraft. Ich habe in jedem Gespräch meine Interviewpartnerinnen gefragt, ob sie die lokalen Straßenräume auch in ihrer freien Zeit nutzen würden. Alle Frauen haben geantwortet, dass sie dies nicht tun, weil sie eigentlich immer zu tun hätten. Zwei entgegneten, dass die alten Frauen aus dem Dorf sich bei schönem Wetter auf den Bänken beim Kriegerdenkmal treffen würden. Sie selbst hätten dafür keine Zeit, es sei zu viel zu tun. Lediglich Frau Blumm geht zu den Frauen, wenn sie ihre Mutter abends dort sitzen sieht. Karla Landau, die erst seit ein paar Jahren im Dorf wohnt, beschreibt das Verhalten der Frauen folgendermaßen:
74 Unter reproduktiven, versorgenden Tätigkeiten verstehe ich alle Arbeiten, die dem Fortbestand von Familie und Individuen dienen und im alltäglichen Sprachgebrauch allgemein als „Hausarbeit“ bezeichnet werden.
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„Nein! Also, weil die Leute, die sind alle hier beschäftigt, … mit dem Garten, oder dann viele haben die Enkelkinder zu betreuen, gerade wenn ich mal von den älteren Frauen ausgehe. Na ja Gott und dann... Ich weiß nicht... Auf dem Dorf haben die Leute wahrscheinlich nie so viel Zeit gehabt wie vielleicht in der Stadt oder was. Aber, wenn ich so die Frauen begucke, die sind eben immer den ganzen Tag im Garten oder haben zu tun. (…) Und wenn ich mal von mir ausgehe, es ist lächerlich, ich habe mir vor Jahren zum Beispiel einen schönen, bequemen Gartenstuhl gekauft. Den habe ich dieses Jahr ein ganzes Mal benutzt, habe mich mal hingelegt. So. Ansonsten, da war eben... Da nimmst du es dir mal vor... Aber dann sieht man dies und sieht jenes und schon... Und so geht es den anderen wahrscheinlich auch.“ (IninG1 301-310).
Somit teilt auch Frau Landau diese Grundhaltung der Frauen – sie hat ebenfalls immer etwas zu erledigen und verbringt nur wenig Zeit mit Müßiggang in ihrem Garten. Den gleichen Stellenwert wie im Strickverein hat das Produktive auch im Kreislandfrauenverein. Ich habe keine Veranstaltung erlebt ohne selbst gebackenen Kuchen und den Verkauf selbst gemachter Marmeladen, Brote oder anderer Produkte – irgendetwas gab es immer. Die Rezepte wurden in Form kopierter Handzettel an Interessierte weitergegeben. Auch alle anderen Veranstaltungen der Kreislandfrauen haben produktive Inhalte, beispielsweise indem sie Wissen weitergeben über alte Traditionen und Bräuche im Dorf. Zur Traditionspflege75 gehören Zusammenkünfte zum Binden der Erntekrone für das Erntedankfest, das Erlernen alter Handarbeitstechniken, die Pflege und Weitervermittlung des Plattdeutschen (z. B. an Kinder aus dem Dorf). Unter den regelmäßigen Angeboten gehören die Weihnachtsfeier sowie der Jahrestag des Vereines zu den Jahreshöhepunkten. Im Rahmen der Weihnachtsfeier werden gemeinsam mit den „Sangesfreudigen Landfrauen“ alte Weihnachtslieder gesungen. Wissensvermittlung erfolgt zu aktuellen Themen, beispielsweise zur damals aktuellen Einführung des Euros oder Verdienstmöglichkeiten für Frauen in ländlichen Räumen. Zusätzlich werden Vorträge und Seminare sowie Gesprächskreise angeboten, die dem Erfahrungsaustausch untereinander dienen, ergänzt durch gemeinsame Fahrten und Exkursionen beispielsweise zu Betrieben in der Region. Seminare im „Haus der Vierjahreszeiten“ (Beispiele):
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1992: Urlaub auf dem Lande 1993: Verdienstmöglichkeiten aus der Vermietung von Ferienwohnungen
Zur Bedeutung der Traditionspflege in ostdeutschen Dörfern siehe auch Humm (1999).
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin 1998: Fit in den Sommer, Gymnastik für verschiedene Altersgruppen, Informations-Veranstaltung zur Einführung des Euro 2001: Fit und aktiv bis ins Alter
Zum 10-jährigen Bestehen der Landfrauen wurden alle Ortsgruppen des Vereins eingeladen. Sie haben sich und ihre Arbeit vorgestellt und diskutiert. „Und danach kriegt man so ein bisschen Einblick auch mal in andere Orte, was die da so machen. ... Man findet das auch mal gut, mal andere Frauen aus anderen Orten zu sehen und zu erleben, was die da so machen. Und das fand ich eigentlich sehr schön, nicht? Das ist eigentlich sehr gut. Man erfährt mal, dass auch, so neue Ideen, die man vielleicht selbst auch im Ort dann nachher mit einbringen könnte oder so. Oder Vorschläge auch machen kann, die man auch weitergeben kann an die Gemeinde oder weiß ich was, an den Bürgermeister oder Gemeindevertreter auch oder weiß ich was. Ich meine, dass man da auch mal sagen könnte: ‚Mensch, die haben so und so gemacht und auch berichtet, was die so im Ort machen und so, nicht? Das ist ja auch oft genehm.“ (IninG2 778-786)
Soziale Netzwerke wie der Kreislandfrauenverband ermöglichen den Austausch mit Frauen aus der Region und gewähren Einblicke in die Arbeit der Ortsgruppen. Die Kompetenzen anderer Frauen werden wertgeschätzt. Für Frau Perla hat das neu erworbene Wissen einen besonderen Wert. Sie hofft damit ihre eigenen Anliegen in Glaisin vor dem Bürgermeister und anderen Entscheidungsträgern wirkungsvoller einbringen zu können. Der Kreislandfrauenverband als soziales Netzwerk der Frauen erhöht beides, die individuelle und auch die kollektive Produktivität. Eine wichtige Rolle nehmen die Wissensvermittlung und die Kontaktpflege ein. Als sozialer Raum wurde er mit der Intention geschaffen, Frauen in der Region wieder zusammenzuführen. Die Jahreszeiten als Symbol für das Leben mit der Landwirtschaft und die eigene Lebenszeit sowie die Traditionspflege verbinden die Frauen miteinander und befördern die Zusammengehörigkeit. Nicht nur der soziale Raum ist mit diesen Inhalten gefüllt, auch der physisch-materielle Raum trägt die Symbole in seinen Raumstrukturen: Im Erdgeschoss stehen den Landfrauen vier Zimmer zur Verfügung. Jeder Raum ist anders geschmückt und symbolisiert eine der vier Zeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Produktivität steht jedoch nicht nur für reproduktive Tätigkeiten und den Austausch von Wissen. Über den Kreislandfrauenverein wurden finanzielle Mittel beantragt für die Bereitstellung von befristeten Erwerbsarbeitsplätzen. „Und dann hatte Frau Lindner mich angesprochen hier vom ...Ich bin ja auch Mitglied und auch hier im Vorstand bei den Landfrauen, nicht? Und dann sagte sie: ...
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sie wollte vom Verein aus versuchen, eine Stelle einzureichen beim Arbeitsamt und so für ... Sie wollte den Antrag dann hier bei der Gemeinde stellen; ob die Gemeinde damit einverstanden ist, dass ich hier mit im Haus arbeite und auch so die Betreuung älterer Bürger hier in der Gemeinde mit übernehme. (…) Da gab es das Haus hier schon. Ja, ja! Das Haus war schon da. Das Haus ist ja schon länger hier, nicht. Das besteht jetzt, glaube ich, schon über vier Jahre, das Haus. Das wird jetzt nächstes Jahr fünf Jahre. Weil der Besitzer das Haus fünf Jahre mietfrei zur Verfügung gestellt hat hier, nicht? Na ja, und dann hatte ich mich beworben für diese Stelle, die dann Frau Lindner ... Ich hatte mit Frau Lindner gesprochen darüber. Und dann ... Vom Arbeitsamt wurde diese Stelle dann auch genehmigt. Und die Gemeindevertretung war auch damit einverstanden, also zahlt alles das Arbeitsamt, und die Gemeinde zahlt einen Teil dazu. Und so werden ja auch viele Aktivitäten hier von diesem Haus aus ..., finden ja auch statt. Sie haben das ja auch damals bei dem Herbstfest hier gesehen und so. Und diese vielen Veranstaltungen, dafür bin ich jetzt auch da, ich bin mitverantwortlich, die vorzubereiten und zu organisieren und ein bisschen dafür was zu machen so, nicht. Ja, die Einladungen zu machen und all so was.“ (IninG2 132-149)
Insgesamt wurden 11 befristete Erwerbsarbeitsplätze an Glaisiner Frauen76 vergeben. Sie wurden bereitgestellt, als der Kreislandfrauenverein das „Haus der Vierjahreszeiten“ übernahm, ein ehemaliges Bauerhaus, dessen Eigentümer in den 1950er Jahren in den Westen gingen und die das Haus nach der Rückübertragung in den 1990er Jahren einem gemeinnützigen Verein zur Verfügung stellen wollten. Im Jahr 1998 übernahm der Kreislandfrauenverein das Haus und begann mit den Renovierungsarbeiten. Die Stellen wurden über ABM-Projekte77 finanziert. Arbeitslose Frauen aus dem Kreislandfrauenverein, darunter auch einige Frauen aus Glaisin, konnten für ein Jahr wieder einer geregelten Tätigkeit nachgehen. In den Gesprächen wurde deutlich, dass die Erwerbsarbeit für meine Gesprächspartnerinnen einen außerordentlich hohen Stellenwert hat78. Henriette
76 Ein Blick auf die Altersstruktur zeigt, dass Frauen jeden Alters überdurchschnittlich von Erwerbsarbeitslosigkeit betroffen sind. Insbesondere die Gruppen der 30 bis 35-Jährigen sowie die der 50 bis 55-Jährigen sind mit diesem Problem konfrontiert. Seit 1995 sind zunehmend auch die jüngeren Frauen unter 30 Jahren von Erwerbsarbeitslosigkeit betroffen (Statistisches Landesamt MecklenburgVorpommern 2005a, S. 6). Bei Männern ist die Häufung in einer Altersgruppe nicht so auffällig. 77 Geschlechtsspezifische Erhebungen zur Höhe von Teilnehmenden an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen des zweiten Arbeitsmarktes, wie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), Fortbildungsund Umschulungsmaßnahmen (FuU), Altersübergangsgeld (Alüg) auf Landesebene stehen nur bedingt zur Verfügung, so dass nur Trendaussagen gemacht werden können. Diese lassen erkennen, dass der Frauenanteil in solchen Maßnahmen durchweg höher ist als jener der Männer (vgl. Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern 2005a, S. 6). 78 Von dem Beschäftigungsverlust, der den Umbau von der Plan- zur Marktwirtschaft begleitete, waren insbesondere Frauen betroffen. Die Erwerbstätigenquote von Frauen in Ostdeutschland nahm schon bis zum April 1991 stärker ab als die der Männer, und diese Entwicklung setzte sich weiter
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Lindner, Esther Perla, Doris Blumm und Elsa Mai haben sich sehr um neue Erwerbsarbeitsplätze bemüht und schätzen Erwerbsarbeitsplätze im Ort außerordentlich wert. Sie arbeiten gerne und der Verlust ihrer Arbeitsstellen ist für sie ein schwerer Schicksalsschlag, besonders jener im Dorf. Dies zeigt auch das Verhalten jener Frauen, die sich aufgrund von Erwerbsarbeitslosigkeit „verkrochen“ haben und sich auch von dem gesellschaftlichen Leben vollständig zurückzogen 79 . Die Frauen, die vorübergehend im „Haus der Vierjahreszeiten“ einen Arbeitsplatz hatten, waren für die Gestaltung des Gartens zuständig, für Organisatorisches, Freizeitaktivitäten und sie erarbeiteten eine Broschüre zum Thema „Frauen im ländlichen Raum von 1999-2000“.
5.2.2 Regionale und überregionale Raumbezüge Mit dem „Haus der Vierjahreszeiten“ als Sitz des Kreislandfrauenvereines wurden in Glaisin Räume geschaffen, deren Bedeutung über die lokalen Zusammenhänge des Dorfes weit hinausreichen. Die Jahresfeiern wie Erntedankfest, Sommer- und Herbstfest oder die Apfelscheune, locken zahlreiche Besucher/innen aus der Region nach Glaisin. Verkaufsstände im Hof des „Haus der Vierjahreszeiten“ – beim Erntedankfest war es vor allem ein Stand mit ausgefallenen Filzhüten, die in der Region angefertigt werden – ziehen auch zufällig vorbeikommende Radfahrer/innen und Touristen an. Anders als zu Zeiten des Strickvereins wird Wissen beispielsweise um Strategien der Direktvermarktung, um neue Rezepte, Muster für Handarbeiten etc. und die damit gewonnenen Erfahrungen heute an einen sehr viel größeren Kreis von Frauen weitergegeben. Auch finden ihre Aktivitäten nicht mehr in privaten Wohnungen statt, sondern in Räumen, die Menschen aus der Region und/oder Fremden zugänglich sind. Die ersten Versammlungen des Kreislandfrauenvereins fanden noch in der alten Gaststätte am Dorfanger in Glaisin oder im Veranstaltungshaus des Nachbarortes statt. Erst später, Ende der 1990er Jahre, bezog der Verein mit dem „Haus der Vierjahreszeiten“ eigene Räume. Für die Bewohner/innen Glaisins ist eine Öffnung in die Region und auch darüber hinaus erlebbar. Getragen wird dieser Prozess nicht allein von den Akti-
fort. Die hohe Erwerbsorientierung von Frauen in den neuen Bundesländern bleibt trotzdem bestehen (vgl. auch Sackmann 1997, S. 104 ff.). 79 Viele Frauen reagierten auf die Transformationen und die schlechte Situation auf dem Erwerbsarbeitsmarkt mit weit reichenden Verunsicherungen. Diese drücken sich beispielsweise in dem Rückgang von Eheschließungen, Scheidungen und Geburten aus (Sackmann 1997, Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern 2007).
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vitäten des Kreislandfrauenvereins, sondern auch von der Gemeinde, dem Bürgermeister, anderen Vereinen und aktiven Einzelpersonen im Dorf. Verstärkt und vorangetrieben wurde die Öffnung durch die Teilnahme an Internationalen Ausstellungen, z. B. der „Grünen Woche“ und der „Internationalen Tourismusbörse“, die beide in Berlin stattfinden. Eine besondere Rolle kommt der Teilnahme an der EXPO 2000 zu, der ersten Weltausstellung in Deutschland, die im Jahr 2000 in Hannover erfolgte. Im Rahmen des Bund-Länder-Gemeinschaftsprojektes „Dorf 2000 – Beispiele nachhaltiger Landentwicklung“ hat Glaisin mit dem Projekt „Frauen gestalten ein Dorf“ das Bundesland MecklenburgVorpommern auf der EXPO 2000 vertreten. In diesem Projekt lag der Schwerpunkt auf der Rolle der (Land)Frauen 80 bei der sozialen Wiederbelebung des Ortes nach der Wende. Mehr als 6200 Gäste aus allen deutschen Bundesländern sowie aus Frankreich, Australien, Schweden, Polen, Ungarn, Italien, USA, Indien und Litauen besuchten im Jahr 2000 das EXPO-Dorf. Auch nach Ende der Weltausstellung blieb das Interesse an Glaisin bestehen. Welche Bedeutung hat diese Öffnung für meine Interviewpartnerinnen? „Ja, ich selber gehe auch gern mit Leuten um, davon abgesehen. Wir haben ja jetzt auch im Sommer sehr viele Busgruppen hier gehabt. Ich freue mich auch immer darauf, muss ich dazu sagen. Ja, viele erkenne ich auch wieder, die kommen dann auch immer wieder hierher. Und auch selber für das Dorf ... Ich denke mal, dass wir nicht nur das Dorf attraktiv machen, sondern auch die gesamte Umgebung. (…) Weil wir auch eine attraktive Gegend sind, und wir müssen auch ein bisschen was dafür tun.“ (IninG4 646-652)
Frau Blumm ist gerne mit anderen Menschen zusammen. Sie freut sich auf die Zeit, in der Besucher/innen nach Glaisin kommen. Ihr berufliches und auch privates Anliegen ist es, Glaisin bekannt zu machen und die Vereine in ihren Aktivitäten zu unterstützen. Ihr Engagement ist sehr hoch. Für eine Mitgliedschaft in einem der Glaisiner Vereine reicht ihre Zeit nicht mehr, da sie viel am Wochenende arbeitet und auch in der Woche immer abrufbereit ist. Nebenher ist sie für Gillhoff-Stuv und den Jugendclub unterstützend tätig. Über ihre derzeitige Arbeitsstelle hat sie viel Kontakt zu den aktiven Vereinen im Dorf und vor allem zu den Tagestouristen. Sie zeigt ihnen gerne ihr Dorf, das ihrer Meinung nach einiges zu bieten hat: Der alte Forsthof – heute Hotel und Gaststätte – mit seinem schönen Außengelände, zu dem der Kräutergarten gehört sowie das Backhaus,
80 Mit dieser Schreibweise sind nicht nur Bäuerinnen und Frauen aus landwirtschaftlichen Zusammenhängen gemeint, sondern auch jene, die im ländlichen Raum wohnen ohne Bezugspunkte zur Landwirtschaft (Karsten & Waninger 1985).
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nicht zu vergessen die Terrasse mit Biergarten. Ebenfalls Teil des ForsthofEnsembles sind das Viehhaus und die Kulturscheune, mit festen und wechselnden Ausstellungen und Programmangeboten. Die gut erhaltene alte Bausubstanz im Dorf lädt zum Verweilen und Spazierengehen ein. Die Gillhoff-Stuv informieren über das Leben des Heimatdichters und auch dort gibt es eine breite Palette an Angeboten, z. B. Lesungen, Abende auf Plattdeutsch etc. Der Bürgermeister habe im Jahr 1992 darauf hingewirkt, dass Glaisin am Dorferneuerungsprogramm teilnimmt: „Ja, und da hat der Bürgermeister gesagt: ‚Ja, überlegt euch das gut! Diese Chance kommt nie wieder.“ (IninG4 606-607) Mit finanzieller Unterstützung von Seiten des Landes Mecklenburg-Vorpommern, des Landkreises Ludwigslust, mit EU-Fördermitteln und Geldern der Initiative LEADER II wurde viel am Äußeren des Dorfes gearbeitet. Im Jahr 1997 wurde Glaisin Landessieger im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden – unser Dorf hat Zukunft“, 1998 erhielt der Ort im bundesweiten Wettbewerb eine Goldmedaille und wurde als EXPO-Projekt nominiert. Frau Blumm sieht dennoch Potenziale, die genutzt werden können. Sie würde die Attraktivität des Dorfes gerne steigern. Zum Beispiel mit einem Kleintiergarten oder einer Ausstellung alter landwirtschaftlicher Gerätschaften auf dem Schulhof. Auch die Vereine könnten mehr Veranstaltungen anbieten. So würden noch mehr Zielgruppen angesprochen wie beispielsweise Kinder der Besucher/innen und auch Kinder aus Glaisin. Sie weist darauf hin, dass ebenso die Region von der Attraktivität Glaisins profitieren würde. Die meisten Besucher/innen führen noch weiter zu anderen Ausflugszielen in der Umgebung. Für die Glaisiner/innen sei diese Entwicklung desgleichen positiv zu sehen, da sie ihre selbst hergestellten Produkte leichter vermarkten könnten. Was ist der Eindruck von Frau Blumm, wie ist das für die anderen Dorfbewohner und -bewohnerinnen? „Ja, die stehen manchmal auch draußen. Und wenn ich dann mit denen durch das Dorf gehe, ja, dann unterhalten sie sich spontan. (…) Und ich denke mal für die anderen Dörfer ist es eben auch Ansporn, eben auch irgendwas zu machen oder so, nicht. Na ja, gut, hier in der Umgebung ist es einfach so, dass Glaisin – ich will es nun ja nicht hervorheben (lacht), aber am meisten gemacht hat, eben auch, nicht.“ (IninG4 659-665)
Die Dorfbewohner/innen hätten sich geöffnet für Besucher/innen in ihrem Dorf und gehen freundlich auf sie zu. Sie seien stolz auf ihr Dorf, dass so viele Menschen anzieht und daher nutzen sie die Gelegenheit zum Gespräch mit den Menschen von außerhalb. Diese Einschätzung bestätigt Frau Mai:
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„Doch! Das ist hier durchaus... Das spielt natürlich eine Rolle. Da sind wirklich auch die Glaisiner auch ganz, ganz stolz darauf, habe ich so das Gefühl. Erst mal alleine Glaisin hängt mit dieser EXPO-Geschichte auch zusammen. Dass Glaisin so viel in den Medien war. In anderen Dörfern war dann immer schon so ein ‚Neidschnack: ‚Ach, Glaisin schon wieder in der Zeitung. Und das gibt da so ein Gemeindeblatt, wo Glaisin dann oft auch in Beiträgen..., weil hier auch immer viel los ist und auf dem Forsthof auch immer viel los ist. Dass dann doch schon viele neidisch gucken und so, nicht. Nach Glaisin, nicht. Und mit diesem EXPO-Projekt, ich denke mal, das ging bestimmt auch vielen auf die Nerven, dass das so oft in der Zeitung gestanden hat. Denke ich mal. Aber die Glaisiner sind da doch schon stolz darauf. Auch alleine diese Sache: die Dorfgesellschaft, die Amerikaner, die da nach Glaisin kommen. Also da sind sie doch schon stolz darauf, denke ich mir. Dass Glaisin auch so einen Gefallen findet. Überhaupt hier zu wohnen auch. (…) Und wenn dann Glaisiner hier sind, die kommen gerne mit denen ins Gespräch. Da kommt ja aus, was weiß ich, der Schweiz, aus Österreich, aus Skandinavien... Es kommen ja von überall Leute hierher. Und da wird schon versucht, mit denen ins Gespräch zu kommen.“ (IninG5 445-471)
5.2.3 Erschaffen, gestalten und erhalten – Handlungsmuster zur Konstitution lokaler Räume Die Weltausstellung EXPO 2000 lag zum Zeitpunkt der Interviews zwei Jahre zurück. In den Interviews wurde deutlich, dass meine Gesprächspartnerinnen mit den anderen Dorfbewohner/innen das Anliegen teilen, die lokalen Räume und ihre Attraktivität zu erhalten. Welche Handlungsmuster in der Herstellung von Raum tragen dazu bei, die lokalen Räume im Dorf als Begegnungsräume für Menschen aus dem Ort, der Region und darüber hinaus zu bewahren? Zu meinen Gesprächspartnerinnen gehören Frauen, die Räume für sich und andere initiieren, d. h. neu herstellen wie beispielsweise Frau Lindner, Frau Mai und Frau Blumm. Diese Frauen habe ich „Erschafferinnen“ genannt. Frau Landau dagegen nutzt bestehende Räume und gestaltet sie mit, indem sie ihre Vorschläge für neue Inhalte macht. Sie ist „Gestalterin“. Andere Frauen wie beispielsweise Esther Perla und Annemarie Sand nutzen die vorhandenen Räume, aber sie kreieren und initiieren nicht. Diese Frauen sind „Erhalterinnen“, da sie über ihre Nachfrage einen Beitrag leisten zu ihrem Fortbestehen.
Erschafferinnen Als das gesellschaftliche Leben im Ort nach der Wende brachlag, ist Frau Lindner aktiv geworden, um die Frauen mit großem Engagement und Einsatz wieder
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zueinander zu führen. „So, ich will jetzt nicht hier hinter dem Schreibtisch mir irgendwelche Arbeit machen, ich versuche ... Da bin ich eigentlich durch die Dörfer oder in die Dörfer gefahren und habe dann die Frauen aufgesucht, die ich kannte.“ (IninG3 206-208) Sie ist gebürtige Glaisinerin und mit der Landwirtschaft aufgewachsen. Ihre vielen Kontakte in Glaisin und den umliegenden Dörfern haben ihr geholfen, mit den Frauen Gespräche zu führen und sie für die Gründung des Kreislandfrauenvereins zu interessieren. Ausschlaggebend für ihren Einsatz war ihr Wissen um den Wert der Kontakte der Frauen untereinander. „Und das sage ich auch heute immer noch, wenn ich in den Dörfern mal so bin und den Landfrauenverein vorstelle (…) Ja, ich werbe um jedes Mitglied, aber ich sage auch immer dazu, egal was sie machen, wichtig ist für mich, sie sprechen miteinander. Dass man die Zusammengehörigkeit hat. Das ist einfach wichtig, nicht. Und da ist es auch noch fast egal, welcher Verein das ist. Aber dass was getan wird, dass eben wirklich Leben in den Dörfern ist.“ (IninG3 397-402)
In Verbindung mit anderen Menschen ist es ihr gelungen, den Kreislandfrauenverein aufzubauen und im Dorf einen Raum – das „Haus der Vierjahreszeiten“ – für den Verein zu schaffen. Unterstützung hat sie von anderen Frauen erfahren, die sich daraufhin ebenfalls für den Verein eingesetzt haben. Die Raumwahrnehmung von Frau Lindner war nicht nur auf Frauen aus Glaisin beschränkt, sondern sie reichte bis in die Region. Um den Kreislandfrauenverein und seine Räume zu erhalten, beteiligt sie sich rege an seinen Aktivitäten. Sie nehmen viel Zeit in ihrem Leben in Anspruch, „und man könnte sicher noch viel, viel mehr machen, aber ich sage mir immer, man kennt den Landfrauenverein, man weiß, wer dazu gehört. Und wer da Kontakt mit aufnehmen will, kann jetzt von alleine kommen. Also, so wie es mal angefangen hat, mache ich es heute nicht mehr. Ich werbe natürlich überall für Landfrauen noch; wo ich da irgendwie wo eine Gelegenheit sehe, versuche ich das mal.“ (IninG3 194-198) Eine so intensive Pflege wie in der Aufbauphase braucht der Verein ihrer Meinung nach heute nicht mehr. Vielmehr benötigt er Frauen, die den Verein mit ihren Ideen und Aktivitäten erhalten und gestalten – weitere Gestalterinnen also. Eine besondere Rolle kommt ihrer Meinung nach den jüngeren Frauen aus dem Ort zu. Diese wären nicht so recht in den Verein integriert, obwohl dies ihrer Meinung nach für die Gemeinsamkeit sehr wichtig wäre. Ein Anfang wäre mit einer jungen Frau gemacht, die zzt. im „Haus der Vierjahreszeiten“ eine Arbeitsstelle hat. „Dass man das Miteinander noch wieder mehr pflegen sollte und eben alt und jung gemeinsam, nicht? Das würde ich so sehen. Na ja, das würde man sich so wünschen.
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Dass nicht die ... Ich meine, jetzt auch bei uns im Landfrauenverein sieht man es ja auch deutlich, dass wir eben ... Ja, die Altersstruktur ist, ja, 55 aufwärts. Wir haben da jüngere, aber das ist viel zu wenig und wissen Sie, manchmal ... Ja, das Thema hatten wir jetzt gerade am Sonnabend. Die alte Vorsitzende, die ist ja nun ausgeschieden, aber man sagt auch: ‚In jedem Abschied ist ein neuer Anfang! Und vielleicht muss es auch mal bei den Landfrauen so sein – die sind ja auch im fortgeschrittenen Alter –, dass man auch sagt: ‚So, junge Frauen! Und die Sache ist jetzt ein bisschen eingefahren. Man versucht eben immer, was zu tun, aber das ist ... Was wir tun, ist eben für diese ältere Generation. Wir haben auch Vorträge, aber die jungen Frauen – wie gesagt – haben ganz andere Interessen. Und ich würde mir das wünschen, wenn wir jetzt junge Frauen hier mit einbeziehen würden – wir haben ja nun Frau W. hier –, dass man – wie, wüsste ich im Moment nicht –, ... und auch so mit Internet, was man so hat, da denke ich mal, aber dass die jungen Frauen hier im Dorf das für sich auch alleine machen. Und auch praktisch diese Geschichte, dass man damit wieder mal so mehr, nicht, die Gemeinsamkeit fördert ...“ (IninG3 824838)
Frau Lindner hat viele Räume erschaffen im Dorf. Ein wichtiges Anliegen sieht sie darin, das Bestehende für die nachkommenden Generationen zu erhalten. Und sie hofft, dass sich junge Frauen finden, die ihr Anliegen aufnehmen und ebenfalls Räume initiieren. In Glaisin ist Elsa Mai nur, wenn sie arbeitet. Ansonsten lebt sie im Nachbardorf, das noch kleiner ist als Glaisin. Ursprünglich kommt sie aus der Stadt. Aus beruflichen Gründen seien sie und ihr Mann dann in den Nachbarort gezogen. Als Kind habe sie viel Zeit im ländlichen Raum verbracht. Zwei Eigenschaften sind ihrer Meinung nach entscheidende Qualitäten des ländlichen Lebens: zum einen die Naturnähe und zum anderen die menschliche Nähe. Frau Mai arbeitet im Forsthof. Ihre Kontakte zu den Bewohnerinnen und Bewohnern Glaisins geschehen in ihren beruflichen Kontexten. Zu manchen Vereinen wie beispielsweise der Volkssolidarität, hat sie gar keinen Kontakt. Privat beteiligt sie sich ebenfalls nicht am gesellschaftlichen Leben im Dorf. Dazu hat sie zu wenig freie Zeit. Ausgehend von ihren beruflichen Interessen bietet sie den Bewohner/innen Räume und Anlässe an, in denen sie sich begegnen können. Es ist ihr wichtig, nicht nur eine Zielgruppe mit ihren Aktivitäten zu erreichen, sondern auch jene, die einen Anlass brauchen, um den Forsthof aufzusuchen. „Ich bin damals angefangen hier und hatte so einen Frauenwürfelabend gemacht. So, um auch so ein bisschen die Frauen zusammenzukriegen, nicht? …. Und das hatten wir auch im März, am achten März gemacht, am Frauentag. Da hatten wir dann immer Sachpreise. Und dann auch noch mal im Herbst mit Fleischpreisen. Da waren wir auch immer so 30, 40 Frauen, waren wir schon. (…) Weil, die haben dann wirk-
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin lich hinterher so ein bisschen zusammen gesessen noch, nicht. Also war das Würfeln eigentlich bloß Anlass zum Zweck, um mal so gemeinsam so ein bisschen lustig zu sein, auch ein Schnäpschen mal zu trinken und hinter noch ein bisschen zu tratschen und... Das war eigentlich immer recht schön, nicht.“ (IninG5 353-363)
Sie habe dann aber den Frauen-Würfelabend zugunsten des GemeindeWürfelabends aufgegeben. Da Frauen selten allein den Forsthof aufsuchen, denkt sie im Moment darüber nach, ein Frauenfrühstück anzubieten. Elsa Mai schafft neue Räume wie beispielsweise den Würfelabend oder das Frauenfrühstück – sie trägt aber auch zum Erhalt der bisherigen Räume bei, indem sie mitfährt zu größeren Veranstaltungen, wie beispielsweise den vielen Messen, und dort das Dorf repräsentiert, um seine Attraktivität nach außen zu kommunizieren. Doris Blumm lebt seit 24 Jahren im Ort. Gebürtig ist sie aus einem der Nachbarorte. Nach Glaisin kam sie über ihren Mann. Sie hat beruflich viel Kontakt zu den Vereinen im Dorf und ist dadurch sehr gut über das Geschehen in Glaisin informiert. Privat ist sie in keinem der Vereine aktiv. Der Forsthof, die Attraktivität ihrer Gemeinde und die Betreuung der Besucher/innen liegen ihr besonders am Herzen. „Kam einfach dadurch, dass wir damals, als wir EXPO-Dorf waren, die Leute auch alle angesprochen haben und ... Gut, da haben alle zusammengehalten. Und dadurch hat sich das wieder ein bisschen ... Doch. Wir sind wieder zusammengekommen. (…) Ja. Es kamen wieder Gespräche zu Stande. Man hat sich einfach hingesetzt und dadurch, dass wir sehr viel vorbereiten mussten, muss ich dazu sagen, haben wir uns einfach wieder zusammengefunden.“ (IninG4 392-402)
Auch für Doris Blumm ist es wichtig, dass die Menschen aus dem Dorf miteinander sprechen. Nur dann kann ihrer Erfahrung nach etwas Gemeinsames entstehen. Und um zusammen zu kommen brauchen die Bewohner/innen Räume. „Ja, dass sich hier die Vereine treffen können, dass der Zusammenhalt damit gefördert wird, dass die Leute auch wissen, wohin sie zu gehen haben.“ (IninG4 686-687) Frau Blumm versucht deshalb, aktiv das gesellschaftliche Leben und die Räume, in denen das gesellschaftliche Leben stattfindet, mit zu gestalten. Zum Beispiel indem sie neu Zugezogene und ältere Menschen im Dorf persönlich zu Gemeindeveranstaltungen einlädt. Beide brauchen ihrer Ansicht nach eine besondere Ansprache. Sie macht sich Gedanken über vorhandene Potenziale Glaisins, die den Ort für weitere Zielgruppen attraktiv machen würden. Ihre Ideen kann sie im Rahmen ihrer beruflichen Kontexte einbringen und umsetzen. Hier hat sie die Möglichkeit, neue Räume mit Entwicklungspotenzialen für den Ort zu initiieren. In ihrer Wahrnehmung des Dorfes sieht sie stark die Verbindung mit
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der Region und regionalen Entwicklungsprozessen. Sie sieht, dass auch das Umland von der Attraktivität Glaisins profitiert. Daher ist es Frau Blumm sehr wichtig, im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit das Dorf und seine Räume in der Region und darüber hinaus bekannt zu machen, z. B. über die Teilnahme an Messen und anderen größeren Veranstaltungen.
Gestalterinnen Dass sie nach Glaisin gezogen sind, sei Zufall gewesen, so Frau Landau. Sie und ihr Mann leben seit drei Jahren im Dorf und kommen ursprünglich aus einer großen Stadt. „Also, das hatte ich mir vorgenommen, bevor ich hierher kam, mich da überall irgendwie mit zu beteiligen, eben dass man nicht so hier sich abkapselt, einschließt. Und ... muss auch sagen, das wurde auch von den Frauen honoriert, dass man dann auf die zugegangen ist. Denn gerade auch mit der Sprache hat man ja zuerst zumindest so seine Schwierigkeiten gehabt mit dem Verstehen. Und da waren sie sehr entgegenkommend, wenn sie sich Plattdeutsch unterhalten, nicht dann: ‚Haben Sie es verstanden? Haben Sie es verstanden? Also, das habe ich woanders nicht gefunden. Also, da waren sie... Und das hat mir auch, sagen wir mal, das Einleben sehr erleichtert, so das Entgegenkommen von den Frauen, nicht. Ich meine, wenn man so alleine da in so einen Kreis reinkommt von zwanzig Frauen, das ist... Aber inzwischen fühle ich mich da sehr wohl. Und, wie gesagt, das ist schön.“ (IninG1 127-135)
Ihre Strategie Kontakte zu den anderen Frauen aufzunehmen bestand darin, sich möglichst viel am gesellschaftlichen Leben im Ort und an den Veranstaltungen zu beteiligen. Karla Landau berichtet, dass sie von den Aktivitäten im Dorf über den Veranstaltungskalender der Gemeinde und die Tageszeitung erfahren habe – „wer nicht Bescheid weiß über unseren Jahrgang, will ich mal sagen, der kann sich dann noch informieren“ (IninG1 228-229). Auch würde die Gemeinde alle neu Zugezogenen ansprechen und einladen. Es nicht schwierig gewesen, die Termine zu erfahren und die anderen Frauen aus dem Dorf hätten es ihr auch leicht gemacht und sie gerne in ihre Kreise aufgenommen. Wenn ihr etwas nicht so gut gefällt an den Veranstaltungen, versucht sie ihre Ideen und Verbesserungsvorschläge einzubringen. „Und dann haben wir eine neue Vorsitzende, und da muss ich ehrlich sagen, habe ich auch ein bisschen gestichelt, dass wir mal ein bisschen was anderes da mit reinbringen. Da hatten wir auch eine Ärztin da, die uns einen Vortrag über Heilkräuter gehalten hat. Jetzt kommt wieder jemand hier vom Storchennest. Die stellen so Säfte
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin her. Das soll eine Verkostung sein. Dass wir eben mal langsam aus dem Trott rauskommen, ein bisschen was anderes machen, nicht.“ (IninG1 85-89)
So geht es ihr darum, die Attraktivität des Vereins für sich und andere zu erhalten, indem sie Räume über das Einbringen ihrer Ideen mit gestaltet.
Erhalterinnen Frau Sand hat ebenfalls einen Glaisiner geheiratet und ist daraufhin in den Ort gezogen. Sie lebt schon sehr lange im Dorf. Sie bezeichnet sich selbst als kontaktfreudig. „Ich bin ja nun sehr kontaktfreudig und muss ja... ...und bin ja überall drin jetzt.“ (IninG6 81-82) „Ich kann Kontakt aufnehmen mit anderen. (…) Ich kann mit jedem Menschen. Wir waren neulich – wo hatte ich noch gesagt – mit den Landfrauen nach... Da bei... Wo ist der Vogelpark? Walsrode. Und da war ich alleine von Glaisin. (…) Ich sage: ‚Soll ich alleine fahren? – Ja. (…) Ich war schon so oft alleine. (…) Ich habe Kontakt mit jedem Menschen. Also, ich kann das. Ich weiß nicht, ob das alle anderen können, aber ich kann. Ich ‚sabbel dann…“ (IninG6 575-585)
Sie ist Mitglied im Kreislandfrauenverein, den Sangesfreudigen Landfrauen, der Volkssolidarität und dem Frauenkreis der Kirche. „Erstens singen wir jede Woche, singen Dienstag. Dann ist... Den ersten Donnerstag ist Kirche, Sonntagskirche. Dann ist hier im Forsthof... Da kann man auch immer hingehen. Plattdeutsch wird immer vorgelesen und so. Dann ist Volkssolidarität alle vier Wochen einmal. Und dann ist. Dann fahren wir noch zum Singen manchmal wegen der zwei Sterne (lacht). (…) Und die Landfrauen; da sind wir viel aktiv, nicht. (…) Ich finde das gut. Also, ich kann da nicht... Mein Mann sagt dann immer, sonnabends: ‚Du bist zu Hause? Bist du heute zu Hause? Bist du gar nicht weg? (lacht). ‚Nein, sage ich, ‚heute ist mal nichts, nicht.“ (IninG6 302-310)
Ihre Raumwahrnehmung und ihre Aktivitäten sind hauptsächlich auf Glaisin beschränkt, weil sie wenig mobil ist. Beispielsweise ist sie nicht Mitglied in Vereinen anderer Orte. Mehr Zeit kann sie für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben nicht aufbringen, sonst käme die Familie zu kurz. Frau Sand genießt die Fahrten in andere Regionen und Städte. „Und ich meine, ich muss sowieso gerne alles sehen, wenn ich irgendwo bin. Ich muss reisen, sonst... Ich muss immer alles sehen, genau. Also, das mache ich gerne. Manche, die gucken bloß flüchtig hin, aber ich gehe... Vor kurzem waren wir mal in
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‚Du und deine Welt in Hamburg. - Wir reisen ja viel von den Landfrauen mit Gruppen. – ‚Du und deine Welt in Hamburg. Und dann wollten wir... Man darf sich ja nicht verlieren dann. Mit 5 Mann waren wir dann. Och, und dann ... Einige ... Und die rennen dann. Und dann gehen sie sämtliche Räume durch. Mein Gott, die, wollen die nicht mal ein bisschen gucken. Die rennen bloß die Räume durch. Da kann man ja an einem Tag... Da kriegt man ja nicht alles zu sehen, nicht. Und aber... Ich muss dann immer alles sehen. Da muss ich ja aufpassen, sonst bin ich verloren. Ich bin doch ein bisschen neugierig. Ich mag gerne lieber alles sehen, nicht. Und dann rannten die so durch und, oh, schon wieder, du musst aufpassen, dass du hinterherkommst. Können die nicht mal ein bisschen gucken? Manche können das, die können da gucken, ohne dass sie ... Ich mag immer gern alles sehen. (…) Ja. Wenn ich einen Fahrer hätte (lacht), der auf mich wartet, würde ich alleine dort hinfahren. Das kann ich ... Die kennen mich schon. Wenn wir irgendwo sind und so, dann wissen die schon genau. Ich heiße Annemarie, nicht. ‚Wo ist Annemarie? - ‚Ach, die rennt da hinten wieder irgendwo. Das wissen die schon.“ (IninG6 658-681)
Frau Sand ist zufrieden mit dem gesellschaftlichen Leben im Ort. Es gibt ihr die Möglichkeit vieles zu erleben und zu sehen. Sie versucht möglichst regelmäßig an Veranstaltungen und Treffen teilzunehmen. Manchmal müsse sie sich auch überwinden loszugehen, aber hinterher denke sie dann, es sei doch schön gewesen. Es sei ein Problem, so die Interviewte weiter, wenn sie nicht regelmäßig da wäre, würde sie auch nicht immer alles mitkriegen. Dann müsste sie alles nachfragen. Und dann würde sie zu hören kriegen, „Du warst ja wieder nicht da. Warum warst du nicht da? Dann weißt du nicht, was los ist. Dann hast du wieder nichts mitgekriegt. Dann fragst du ... ‚Ja, du warst ja wieder nicht da, hättest ja da sein können. So geht das dann schon wieder los, nicht. Ja, so ist das. Das ist die Hauptsache. Dass du danach mal alles weißt, nicht. Das muss man ja, nicht. Man muss ja alles wissen.“ (IninG6 635-643).
Sie hat sich in die Gemeinschaft integriert und trägt ihrem zu Fortbestehen bei, indem sie Anteil am Geschehen im Dorf nimmt. Esther Perla ist gebürtige Glaisinerin und ist im Dorf aufgewachsen. Sie hat eine starke Bindung an den Ort und seine Menschen. Sie ist voll integriert in den Ort und weiß sehr viel über das gesellschaftliche Leben zu berichten. Kontakte zu den anderen Frauen hat sie über ihre Arbeitsstelle: „Weil ich eben auch an diesen Veranstaltungen zum Beispiel von der Volkssolidarität teilnehme, weil ich da zum Frauenkreis hingehe. Und weil ich auch hier alle Veranstaltungen mitbekomme, die jetzt hier bei uns vom Haus aus durchgeführt werden, nicht. (…) Ja. Also, wie gesagt, eben durch oft auch diese Veranstaltungen, die von der Volkssolidarität, vom Frauenkreis und hier von den Landfrauen aus eigentlich sind. Und auch von der Gemeinde aus.“ (IninG2 604-609)
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Sie erfährt auch viel von ihrem Mann, der sehr aktiv in der politischen Gemeinde ist. Trotzdem versucht sie, sich möglichst viel am gesellschaftlichen Leben im Ort zu beteiligen und so zum Erhalt der Gemeinschaft und auch der Räume im Dorf beizutragen. Dementsprechend schätzt sie auch das Engagement anderer Frauen, die sich aktiv dafür einsetzen, dass der Kontakt der Bewohner/innen untereinander bestehen bleibt. Gemeinsamkeiten sind ihr wichtig: „Nicht nur, dass sich jeder Verein so zurückzieht, sondern dass man auch so ein bisschen was versucht, zusammen zu machen, eigentlich, zu organisieren, nicht. Dass nicht jeder für sich allein so, jeder Verein ..., sondern dass man eben auch versucht, alle zusammen, irgendwas zu machen, nicht.“ (IninG2 742-744) Auch die neu Zugezogenen im Dorf sollten ihrer Ansicht nach in das gesellschaftliche Leben im Dorf integriert werden. Dafür setzte sich auch ihr Mann auf Feierlichkeiten und Veranstaltungen ein, dass auch sie mit einbezogen werden. In ihrer Raumwahrnehmung konzentriert sich Esther Perla sehr auf die lokalen Räume im Dorf und insbesondere auf jene, in denen gemeinschaftliches Leben stattfindet. Sie unterstützt alle Aktivitäten, die dazu führen, dass die Menschen im Dorf einander begegnen.
5.2.4 Verständnisse von öffentlichen und privaten Räumen In den lokalen Räumen im Dorf haben die Glaisinerinnen die Möglichkeit, mit den Dorfbewohnern/innen zusammenzukommen, regionale Kontakte zu pflegen und fremden Personen zu begegnen. Sie sind soziale Klammern der Bewohner/innen untereinander, in denen Zusammenkünfte stattfinden mit dem Ziel, das gesellschaftliche Leben im Ort zu erhalten. Gleichzeitig sind die Bezüge auf die Region ausgeweitet worden. Die lokalen Räume im Ort sind somit soziale Klammern für eine erweiterte Gemeinschaft, zu der Frauen aus anderen Dörfern in der Region zählen. Eine weitere Bedeutung kommt den Fremden zu, die Glaisin besuchen. Sie zeigen den Bewohnern/innen, dass ihre lokalen Räume attraktiv und interessant sind. Sie schätzen ihre Produkte wert, indem sie Marmeladen, Liköre, Brote, Schnaps, Gestricktes, Gesticktes und Gehäkeltes kaufen. Wie spiegeln sich diese Bezüge in den Raumverständnissen meiner Gesprächspartnerinnen wider? Was sind für meine Interviewpartnerinnen öffentliche Räume? Welche Bedeutung hat die Tatsache, dass es verschiedene Formen von Gemeinschaften gibt: lokale, regionale und überregionale? Differenzieren sie überhaupt zwischen öffentlichen, lokalen öffentlichen und privaten Räumen und wie begründen sie ihre Zuordnungen?
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Private Räume als Rückzugsräume In den Gesprächen mit den Bewohnerinnen wurde deutlich, dass sie bewusst zwischen privaten Räumen und anderen lokalen Räumen unterscheiden. Wenn das Bedürfnis nach Ruhe aufkeimt, sind die privaten Räume wichtige Rückzugsräume. Dorthin ziehen sich die Frauen zurück, wenn sie alleine sein wollen oder sich erholen möchten (IninG1 264-317, IninG4 524-549, IninG5 564-593). Im Haus von Karla Landau gibt es beispielsweise ein Zimmer, in dem sie sich gerne aufhält, wenn sie für sich sein möchte (IninG1 265-267). Frau Sand sitzt in solchen Momenten bevorzugt in ihrem Garten und blickt über die Felder (IninG6 378-407) und auch Frau Blumm zieht sich in solchen Fällen auf ihr großes Grundstück zurück (IninG2 594-606). In den privaten Räumen werden private Kontakte gepflegt, die aus (langjährigen) Freundschaften bestehen (IninG2 417-464). In privaten Räumen finden Gespräche unter Nachbarinnen statt, z. B. beim Kaffeeklatsch, um Neuigkeiten aus dem Dorf auszutauschen (IninG1 158-168). In diesen Räumen findet der Austausch unter Freunden/innen statt, der nicht in aller Öffentlichkeit, sondern im Schutze der eigenen vier Wände erfolgt. Dort verbringen meine Gesprächspartnerinnen auch Zeit mit ihrer Familie (IninG3 522-526). Privat seien die Dinge, die man familiär macht, so Frau Lindner (IninG3 787-803). Allerdings würde das Private angesichts der vielen Angebote in den Vereinen immer mehr in den Hintergrund treten.
Privat oder öffentlich? Privates muss sich aber nicht unbedingt nur in privaten Räumen ereignen. Henriette Lindner ist eine Person, die viel bewegt hat und bewegt im Dorf. Durch ihre Tätigkeit beim Kreislandfrauenverein und ihren Einsatz im Rahmen der Weltausstellung ist sie zu einer sehr bekannten Person geworden. Für ihr Verständnis von öffentlichen und privaten Räumen sind nicht die physischmateriellen Raumstrukturen ausschlaggebendes Kriterium. Entscheidend ist für sie die Absicht, mit der sie sich in einen Raum begibt und die dort stattfindenden Handlungen. Die Gastwirtschaft im Forsthof gehört nach Auffassung von Henriette Lindner zu den Räumen, die sowohl öffentlich als auch privat sein können: „Ja. Was jetzt hier nun ist, ist ja tatsächlich nur noch der Forsthof, nicht. Na ja, als öffentlicher und auch als privater Raum, wenn man Kontakte knüpfen will. Als öffentlicher Raum, weil man da ja Veranstaltungen vorführt, nicht. Und privat, dass ich jetzt mal essen gehe, nicht. Oder einen Kaffee trinken, nicht. Oder wenn man
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin will auch mal ein Bier. (lacht). Ja, ich meine, das würde ich so als privat ansehen jetzt.“ (IninG3 713-722)
Ähnlich versteht Frau Lindner den Strickverein, der ihrer Einschätzung nach durchaus ein öffentlicher Verein war, da er offen für Interessierte war. Seinen Status als öffentlichen Verein verliert er selbst dann nicht, wenn die Treffen in privaten Räumen stattfinden und dadurch eher ein privates Ambiente haben, so ihre Argumentation (IninG3 751-767). Demnach kann Öffentlichkeit als Sphäre auch privaten Räumen innewohnen – entscheidend ist zweierlei: zum einen die Intention, mit der sie einen Raum aufsucht (Bsp. Forsthof: Frau Lindner als Privatperson) oder mit welcher ein Raum belegt ist (Bsp. Strickverein: der Raum ist offen für alle Interessierten) ausschlaggebend. Hiervon ausgehend empfindet Frau Linder die Gastwirtschaft als öffentlich oder privat. Zum anderen kann Öffentlichkeit als Atmosphäre nur dann Wirkmächtigkeit entfalten, wenn eine Raum konstituierende Person sie auch als solche wahrnimmt. Die Wahrnehmung selbst jedoch ist bei den Menschen unterschiedlich ausgeprägt. Als ausschließlich öffentliche Räume bezeichnet sie die Verkaufsstelle, die Schule und den Kindergarten sowie die Christuskapelle, da dort alle Menschen hinkommen können (IninG3 700-711). Diese Räume verbindet sie vermutlich auch nicht mit privaten Anliegen. Ebenfalls eindeutig ordnet sie den Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD) den öffentlichen Räumen zu, da Frauen jederzeit beitreten konnten und die Vereinsveranstaltungen in der Gaststätte des Ortes abgehalten wurden, d. h. der DFD war für alle zugänglich.
Öffentliche Räume sind frei zugänglich – für wen? Das Kriterium der Zugänglichkeit ist auch für Frau Landau wichtig. Räume seien dann öffentlich, wenn „jede und jeder dort herzlich willkommen“ sei (IninG1 366). Entscheidend ist für sie, dass Räume offen zugänglich sind. Für Frau Landau gehören die Gaststätte und die Kapelle im Ort zu den öffentlichen Räumen. Damit schließt sie jene Räume aus, die nicht immer durchgängig für Fremde geöffnet sind, sondern nur partiell zu besonderen Anlässen. Für diese Räume nennt sie keine Beispiele. Auch für Frau Perla ist die Zugänglichkeit ein wichtiges Merkmal öffentlicher Räume, allerdings ihrer Meinung nach nicht nur für die Bewohner/innen Glaisins, sondern auch für Ortsfremde.
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„Ja, wollen mal sagen, hier jetzt zu den öffentlichen Räumen gehört ja zum Beispiel jetzt dieses Haus hier, das ‚Haus der Vierjahreszeiten oder auch der Jugendklub. Auch der Forsthof, nicht. (…) Weil ja da auch viele Veranstaltungen durchgeführt werden, wo zum Beispiel die Gillhoff-Gesellschaft jeden Monat ihre Veranstaltung gibt. Wo viele ... Bei dieser Veranstaltung lernt man auch viele Leute kennen, die nicht aus Glaisin selbst kommen, sondern die auch von Ludwigslust, Schwerin und aus der ganzen Umgebung kommen, und die werden diese Veranstaltung dann besuchen. Das hat sich jetzt eigentlich schon so rumgesprochen, dass da ..., weil da diese ... Es geht ja da auch hauptsächlich um die plattdeutsche Sprache auch noch, wo viele kommen, die da so Gedichte vorlesen oder Lieder singen oder auch eigene Erzählungen da ... Oder wo auch Autoren kommen, ihre Bücher vorstellen und so weiter. Und das wird auch nicht nur von Glaisin angenommen. Da muss ich sagen, dass da eigentlich im Verhältnis wenig Glaisiner da sind. Dass viele auch von außerhalb herkommen. (…) Ja. Muss ich eigentlich sagen, dass nicht nur Glaisiner da kommen, sondern dass auch von andern Orten ... Und auch grade, dass auch zum Beispiel die Kirchengemeinde auch hier ihre Veranstaltungen so durchführt, so zum Beispiel den Weltgebetstag oder vom Frauenkreis – das organisiert ja auch die Frau vom Pastor –, dass sich auch hier Frauen treffen nicht nur aus Glaisin, sondern auch aus andern Gemeinden. Dass die auch alle mit ... Das ist ... Mal macht sie das hier in Glaisin, mal macht sie es in anderen Orten, so dass auch alle Orte mal miteinbezogen werden, nicht. Dass es nicht ... Dass es sich nicht zu ‚doll konzentriert auf einen Ort bloß. So zum Beispiel treffen sie sich mal in Eldena in der Kirche und machen dann ... nicht. Aber so ist es dann auch schön, dass man auch mal in andere Orte komm, nicht. Und das fand ich auch damals immer gut, dass auch bei der Einweihung der einzelnen Gebäude, dass auch der Probst dabei gewesen ist und auch da immer gesprochen hat und so. Das fand ich auch ganz gut. Dass man nicht nur ... Dass man auch andere Menschen so mit einbezieht in diese Dinge, nicht.“ (IninG2 820-845).
Anders verhält es sich ihrer Ansicht nach mit der Kapelle im Ort. Frau Perla gibt zu bedenken, dass sie zwar grundsätzlich frei zugänglich sei, allerdings seien dort fast nie Fremde anwesend. Ab und zu würden Bewohner/innen ortsfremden Besuch mitbringen. Sie sei sich daher unschlüssig, ob die Kapelle zu den öffentlichen Räumen zu zählen sei (vgl. IninG2 868-880). Frau Perla unterscheidet zwischen Räumen, die für die Bewohner/innen Glaisins und die lokale Gemeinschaft im Ort sind und jenen, die tatsächlich auch von Fremden genutzt werden. Dies sind ihrem Verständnis nach eindeutig öffentliche Räume. Mit ihrer Zuordnung wird ersichtlich, dass es viele verschiedene Räume im Dorf gibt, die unterschiedlich genutzt werden – in lokalen und regionalen Kontexten oder sogar überregional. Diese Unterschiede zeigen sich in ihrem Raumverständnis, indem sie zwischen „dörflichen öffentlichen“ und öffentlichen Räumen differenziert.
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
Öffentliche Räume sind Begegnungsräume Ein sehr viel weiteres Verständnis von öffentlichen Räumen hat Frau Sand. Sie findet es wichtig, dass in öffentlichen Räumen Kontakte stattfinden, denn Kontakte zu anderen Menschen sind Annemarie Sand sehr wichtig (IninG6 605-688). Räume, die Kontakte zulassen, sind die Vereine, der Forsthof, der Jugendclub und das Haus der Vierjahreszeiten. Diese Räume bezeichnet sie als öffentliche Räume. Die Räume der Gemeinde schließt sie bewusst aus, da dort ihrem Empfinden nach keine Kontakte stattfinden. In gewisser Weise teilt Doris Blumm dieses Verständnis, allerdings ergänzt sie weitere Merkmale. Auch für sie steht die Funktion des Begegnungsraumes im Vordergrund. In öffentlichen Räumen begegnen sich die Menschen. Dadurch wird der Zusammenhalt im Dorf gefördert und die Leute wissen, wo sie im Dorf hingehen können. Öffentlicher Raum sei, so Doris Blumm, der ganze Forsthof, d. h. die Kulturscheune, das Viehhaus und der Forsthof selbst, aber auch der Jugendclub, das Feuerwehrhaus und das Haus der Vierjahreszeiten. In diesen Räumen sei es gegeben, dass sich die Menschen spontan treffen, sich freier und ungezwungener bewegen als zu Hause (IninG4 698-703). Damit fügt sie noch weitere wichtige Kriterien hinzu: Öffentliche Räume lassen Unerwartetes, Spontanes zu. Begegnungen und Nutzungen ergeben sich aus der Situation heraus, sind nicht immer vorhersehbar. Und in öffentlichen Räumen bewegen sich die Menschen anders als zu Hause. In den privaten Räumen sind die Aufgaben und Rollen bekannt und erwartet. In öffentlichen Räumen ist es dagegen möglich, andere Rollen einzunehmen.
Öffentliche Räume sind in öffentlicher Hand Frau Mai dagegen findet, dass auch die Räume der Gemeinde öffentliche Räume sind: dies sind die Kulturscheune, das Viehhaus und der Jugendclub (IninG5 586-610). Die Tatsache, dass diese Räume in öffentlicher Hand sind, ist für Frau Mai entscheidend. Dem folgt das Kriterium der Zugänglichkeit. „Eigentlich werden diese öffentlichen Räume, wie es ja im Prinzip diese Gemeinderäume sind, Scheune und Viehhaus, nur besucht, wenn eine Veranstaltung ist, wenn eingeladen wird“ (IninG5 591-592). Eine Ausnahme sind der Jugendclub und das Forsthaus, die auch ohne besondere Anlässe von den Jugendlichen genutzt werden. Anders verhält es sich ihrer Meinung nach mit den Räumen der Vereine. Das Haus der Vierjahreszeiten als Vereinshaus ist frei zugänglich, gehört jedoch ihrer Meinung nach nicht zu den öffentlichen Räumen, da es sich in Privatbesitz befindet.
5.2 Historisches Konstituieren und Spacing
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5.2.5 Drittes Zwischenfazit Auf den ersten Blick haben meine Gesprächspartnerinnen sehr unterschiedliche Kriterien für ihre Zuordnungen und Eingrenzungen verwendet. Sie weisen jedoch auch Gemeinsamkeiten auf. Einigkeit besteht in zwei Punkten: Öffentliche Räume sollten frei zugänglich sein und sie sollten Begegnungen ermöglichen. In den Gesprächen mit allen Frauen wird ersichtlich, dass zwei Eigenschaften öffentlicher Räume bedeutend sind. Die Räume sollten für die Bewohner und Bewohnerinnen offen sein, damit sie ihre lokalen Kontakte und das dörfliche Miteinander pflegen können. Die Vereine und auch die Bewohner/innen müssen wissen, dass es Räume im Dorf gibt, die sie nutzen können. Öffentliche Räume sollten aber auch für Fremde zugänglich sein, um die regionalen Kontakte und Treffen zu fördern und um den Wert und die Qualitäten öffentlicher Räume zu erhalten, die in einer lokalen und (über)regionalen Attraktivität bestehen. Räume sind auch dann für meine Gesprächspartnerinnen öffentliche Räume, wenn sie eigentumsrechtlich privat und im Verhältnis zur sonstigen Nutzung nur kurze Zeiten für Fremde zugänglich sind, wie dies beispielsweise auf das Haus der Vierjahreszeiten zutrifft. Dieses Beispiel zeigt, dass der Status des physischen Raumes nicht unbedingt ausschlaggebend ist für meine Interviewpartnerinnen – vielmehr ist der soziale Faktor entscheidend für die Einordnung als öffentlichen Raum. Folglich werden der gesamte Forsthof einschließlich der Gastwirtschaft und seiner Außenräume, das Gillhoff-Haus, das Haus der Vierjahreszeiten und der Jugendclub als öffentliche Räume bezeichnet. Das Kriterium der Zugänglichkeit auch für Nicht-Glaisiner/innen ist für die Mehrheit meiner Interviewpartnerinnen ein sehr relevantes Merkmal zur Differenzierung zwischen öffentlich und nicht-öffentlich, das aber auch zu Unsicherheiten führt. Beispielsweise zögert Frau Perla, als sie auf die Kapelle zu sprechen kommt. Ihrer Einschätzung nach ist die Kapelle im Dorf ein öffentlicher Raum, da sie als physischer Gemeinderaum eigentumsrechtlich in öffentlicher Hand ist. Allerdings wird sie überwiegend von Glaisinern/innen genutzt, so dass Esther Perla zu bedenken gibt, dass die Kapelle somit kein „richtiger“ öffentlicher Raum ist – hier fehlt ihr eine alternative Kategorie für die Einordnung. Auch für Annemarie Sand sind die Gemeinderäume trotz ihres eigentumsrechtlichen Status nicht öffentlich, da sie dort keine neuen Kontakte knüpfen kann. Auch ihr reichen die Kategorien öffentlich und privat nicht aus, um die Räume treffend einzuordnen. Womöglich wäre hier die Verwendung weiterer Kategorien wie halb-öffentlich, halb-privat oder auch lokal öffentlich angebracht. Beide Gesprächspartnerinnen verwenden allerdings diese Begrifflichkeiten nicht. Ausschlaggebend für Frau Lindner in der Differenzierung zwischen öffentlich und privat sind die Aktivitäten, die in dem Raum stattfinden: Der Strickver-
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ein zu DDR-Zeiten hat sich in privaten Wohnräumen getroffen. Alle Frauen aus dem Dorf hätten teilnehmen können, wenn sie dies gewollt hätten. Die Treffen des Strickvereines war für sie öffentlich. Entsprechend ihrer Intention und ihrer Wahrnehmung, mit der sie Räume aufsucht und nutzt, kann die Gastwirtschaft im Forsthof somit beides sein: privater Raum, wenn Treffen privat abgehalten werden und öffentlich, wenn öffentliche Veranstaltungen besucht werden.
5.3 „ (…) und man hat immer das dörfliche Leben irgendwie gestaltet, nicht.“ – Gesellschaftliche Regulation und Synthese 5.3 Gesellschaftliche Regulation und Synthese In diesem zweiten Quadranten (vgl. Abbildung 1: Methodologisches QuadranWenmodell für Raum, S. 55) wird in der Analyse der Interviews deutlich, dass die Bewohner/innen ihr Dorf und das Zusammenleben gestaltet haben – allerdings gab es Zeiten, in denen von staatlicher Seite aus viel vorgegeben wurde, u. a. auch Räume, in denen das gesellschaftliche Leben stattfand. Dann wieder mussten die Bewohner/innen viel Einsatz und Eigeninitiative für den Erhalt des dörflichen Miteinanders einbringen. Es sind Zeiten großer politischer Unruhen und Veränderungen, die alte Sicherheiten und Lebensweisen auflösen und die Bewohner/innen Glaisins zwingen, ihr Leben neu zu gestalten. Somit nehmen immer wieder andere Normen und Institutionen, politische Systeme und gesellschaftliche Erwartungen Einfluss auf das Leben der Bewohner/innen Glaisins. Den Zweiten Weltkrieg und die Zeit nach Kriegsende schildert eine meiner Interviewpartnerinnen als eine Zeit des Verzichts und der Entbehrung, in der sie für jeden Ertrag hart arbeiten musste. Wenngleich der Ort selbst unversehrt blieb, kamen viele Männer aus dem Krieg nicht mehr zurück. Die Arbeit in der Landwirtschaft bestimmte den Tagesablauf der Bewohner/innen. Begegnungen fanden in Arbeitskontexten statt. Die Frauen sorgten während dieser schweren Zeit allein für die Familien. Sie bestellten die Felder, rieben Kartoffeln zu Kartoffelmehl, verarbeiteten Zuckerrüben zu Sirup und leisteten von den mühsam erwirtschafteten Erträgen die Sollablieferung. Der dann folgende „Sozialistische Frühling“ brachte in das Leben der Dorfbewohner/innen viele Veränderungen, die zunächst nicht ohne Widerstand hingenommen wurden. Doch schließlich spielte sich alles ein. Die gemeinsame Arbeit in landwirtschaftlichen Kontexten blieb vielen aus dem Dorf erhalten, wurde aber fortan staatlich geregelt. Statt selbst bestimmter, eigenverantwortlicher Arbeit auf dem eigenen Hof gingen die Bewohner/innen fortan als Arbeiter/innen in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPG) oder andere Betriebe. Ein Schwerpunkt staatlicher Politik lag in der Förderung der Teilha-
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be von Frauen am Erwerbsarbeitsleben, insbesondere durch die Schaffung familienfreundlicher Infrastrukturen. Staatliche Interventionen erfolgten auch in der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens in den Vereinen. Einschneidende Veränderungen erlebten die Glaisiner/innen dann wieder mit der Wende und der Wiedervereinigung beider deutscher Staaten. Die Landwirtschaft nahm einen immer geringeren Stellenwert im Erwerbsleben der Bewohner/innen ein. Sehr viele Bewohner/innen verloren ihren Arbeitsplatz.81 Alltägliche Begegnungen wurden immer weniger. Die Bewohner/innen mussten aktiv werden und Eigeninitiative zeigen, um neue Räume zu schaffen für den Erhalt der Kontakte der Bewohner/innen untereinander und zu Fremden. Die Gestaltung des dörflichen Lebens und der lokalen Räume in Glaisin kann daher nicht losgelöst von gesellschaftlichen und politischen Prozessen betrachtet werden. Aus kultursoziologischer Perspektive rücken in diesem Quadranten historische und heutige Formen gesellschaftlicher Regulierungen und Machtverhältnisse in den Blick oder auch Partizipationsansätze, in denen die Bewohner/innen an der Gestaltung von Räumen beteiligt wurden und werden. Raumstrukturen als Produkt gesellschaftlicher und individueller Tätigkeiten geben Auskunft über gesellschaftliche Regeln und Politiken, die zur Entstehung der vorgefundenen Strukturen beigetragen haben. Beispielsweise verrät die Bauweise der Häuser und Höfe im Dorf vieles über ländliche Lebensweisen in der Region. Fragen, die sich in diesem Quadranten stellen, sind die nach Regulationen: Welche gesellschaftlichen Normen und Regulationssysteme haben zur Entstehung der vorgefundenen Raumstrukturen beigetragen? Welche Bedeutung hat die Landwirtschaft für die Dorfbewohner/innen? An welche gesellschaftlichen Konventionen, die Einfluss nehmen auf Herstellung und Wahrnehmung lokaler Räume, erinnern sich die Bewohnerinnen in den Interviews?
81 Der Blick in die Statistiken zeigt, dass Erwerbsarbeitslosigkeit in ländlichen Bereichen stärker auftritt als in städtischen und es ist „mehr ein weibliches als ein männliches Problem“ (vgl. Die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern 1997, S. 35). Zu DDR-Zeiten waren auf dem Lande lebende Frauen oft nicht nur berufstätig, sondern besaßen auch genossenschaftliches Eigentum. Von den insgesamt 209.157 Mitgliedern der LPG aller drei Bezirke lag der Anteil von Frauen bei 41 % (vgl. Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern 1997, S. 22 ff.). Im Jahr 1991 waren in der Land- und Forstwirtschaft sowie in der Fischerei noch 40.200 Frauen und 73.600 Männer tätig. Im Jahr 1995 verringerten sich die Zahlen auf 20.500 Frauen (davon 76 % vollzeitbeschäftigt) und 33.300 Männer (davon 78 % vollzeitbeschäftigt) (ebd.). In den folgenden Jahren gingen die Erwerbtätigenzahlen stark zurück: Im Jahr 2004 waren dort noch 11.300 Frauen und 27.500 Männer tätig (Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern 2005 b).
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5.3.1 Zum Zusammenhang von Landwirtschaft und Räumen der Begegnung Die Zeit vor dem „Sozialistischen Frühling“ war stark geprägt durch die Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges, der auch im ländlichen Raum Spuren hinterlassen hat. Weite Teile der ostdeutschen landwirtschaftlichen Nutzflächen waren verwüstet und die Viehbestände stark reduziert. Viele Männer kehrten aus dem Krieg nicht wieder zurück oder blieben noch in Kriegsgefangenschaft. Bis 1961 litt das Land unter einer starken Landflucht in den Westen. Es waren vor allem Frauen, die in der Sozialistischen Besatzungszone und der DDR auf dem Land als Neu-Bäuerinnen begannen, die Höfe wieder herzurichten, mit wenigen Hilfsmitteln den Acker zu bestellen und Vieh aufzuziehen. Es sei eine sehr harte Zeit gewesen, sagt Annemarie Sand. Jede Arbeitskraft sei notwendig gewesen, um das, was erhalten blieb, fruchtbar zu machen und das, was zerstört war, wieder aufzubauen. „Und wie glauben Sie... '49 und in den 50er Jahren, was wir hier im Osten gekämpft haben, um etwas hochzukommen“. (IninG6, 35-36) Es war eine Zeit, in der die Dorfbewohner/innen damit beschäftigt waren, das für das Überleben Notwendige zu erwirtschaften82. Frau Lindner erinnert, dass die Landwirtschaft in dieser Zeit der Lebensinhalt aller Dorfbewohner/innen gewesen sei. Man habe von der Landwirtschaft gelebt, indem fast alles selbst produziert und hergestellt wurde: „Jeder Hof hatte seine Arbeit, kann man sagen. Und wir haben ja hier 24 Bauernstellen gehabt, die bewirtschaftet haben. Das war eben ... Ja, das war eben der Inhalt. Das Leben ist hier, kann man sagen. Und die kleineren ... die Häuslereien, die hatten dann vielleicht so zwei Hektar, zwei Kühe, drei Kühe, die haben dann auch beim Bauern mitgeholfen. Die waren da dann wieder so mit einbezogen, dass man wirklich ... Ja, gut, im Dorf sich selbst, kann man sagen, ernährt hat, nicht.“ (IninG3 627632)
Der politische Richtungswechsel kündigte sich früh an im Dorf: In der Nachkriegszeit gründete sich 1946 eine SED-Parteigruppe im Ort, aus deren Reihen Bürgermeister und Gemeindevertreter hervorgingen. Unter Einflussnahme der Partei wurde viel modernisiert und aufgeräumt: Der Straßenbau wurde vorangetrieben, Gräben wurden geräumt und „unschöne“ Ecken im Dorfbild bereinigt. Mit der Bodenreform erhielten 54 kleinere und mittlere Betriebe Acker-, Waldund Wiesenflächen zur Bewirtschaftung.
82 Einblicke in die besondere Situation von Frauen in der Landwirtschaft in der DDR von 1945 bis 1989 gibt Katrin Zansinger (2004).
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Räume der lokalen dörflichen Kommunikation waren das Gasthaus Thees sowie die Verkaufsläden von Oeding und Burmester. Oeding wurde geschlossen und Burmester wurde 1953 in eine Konsum-Verkaufsstelle umgewandelt. Dort trafen sich die Bewohner/innen und dort fanden Gespräche statt. Die staatliche Politik forderte den Dorfbewohnern/innen einiges ab, was nicht ohne Protest83 hingenommen wurde, wie beispielsweise die Soll-Auflagen und die spätere Entwicklung hin zu genossenschaftlicher Arbeit84. In der Landwirtschaft musste neben der traditionellen Viehwirtschaft und trotz der kargen Böden Getreide angebaut werden, um die Versorgung der Bevölkerung z. B. mit Brot zu sichern. Zu diesem Zwecke wurden auch bisher ungenutzte Flächen mit in die landwirtschaftliche Produktion aufgenommen. Die staatlichen und parteilichen Beschlüsse zur Gründung von Genossenschaften erzeugten viel Widerstand bei den Bewohnern/innen, der letztendlich aufgegeben werden musste – 1953 entstand die LPG „Freie Erde“. Ein großer Teil der Bauern verließ den Ort und ging in den Westen, um sich der staatlichen Einflussnahme zu entziehen. Die landwirtschaftlichen Genossenschaften bemühten sich sehr um Lehrlinge in landwirtschaftlichen Berufen, z. B. durch die Gründung eines Lehrlingswohnheims im Ort. Körperlich schwere Arbeit sollte durch technische Neuerungen erleichtert werden, insbesondere jene Arbeiten, die überwiegend von Frauen verrichtet wurden. Den Erfahrungen der Nachkriegszeit folgend, begann die sozialistische Regierung damit, die Frauen in den Arbeitsprozess zu integrieren. Annemarie Sand erzählt, dass es beispielsweise Aufgabe der Frauen gewesen sei, im Winter Hecken und kleinere Büsche zu schneiden bzw. zu entfernen: „Dann war das eben ein bisschen hoch gewachsen, und dann standen die wieder da im Winter und mussten sie das wieder abhacken. Das hat mich geärgert. Wirklich wahr! Also, radikal.“ (IninG6 417-419) Ziel der neuen Regierung war es, Frauen von ihren familiären Verpflichtungen zu befreien, um ihre Arbeitskraft für den Aufbau des sozialistischen Staates und hier besonders der Produktion und Wirtschaft, fruchtbar zu machen. Erleichtert wurde Frauen die Berufsarbeit, indem der Staat in-
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Falco Werkentin beschreibt den bäuerlichen Widerstand in dieser Zeit (ASG 2001). Die Veränderungen in der Landwirtschaft, in die der Staat zunächst mit Ablieferungs- und Anbauvorschriften, dann mit der Kollektivierung erheblich eingriff, forderten von den Beteiligten ein hohes Maß an Anpassung (Humm 1999, S. 310). Vielfach standen die staatlichen Ziele nicht im Einklang mit den Interessen der in der Landwirtschaft Tätigen. Einige versuchten ihre Selbstständigkeit so lange wie möglich zu bewahren, andere wanderten in den Westen ab. Die Teilnahme am Übergang zur genossenschaftlichen Landwirtschaft kann daher nicht allein mit einer ideologischen Motivation erklärt werden. Oft führten wirtschaftliche, Existenz bedrohende Umstände zur Aufgabe der eigenen Landwirtschaft und letztendlich dann auch zum Anschluss an Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften.
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frastrukturelle Einrichtungen zur Verfügung stellte, die sie von familiären Aufgaben entlasteten. „In der LPG-Küche haben sie sich mittags getroffen, meistens. Viele, die da gearbeitet haben; die im Schweinestall, die im Kuhstall gearbeitet haben, die haben sich da alle getroffen. Da konnten die mit vielen ... Sind die Kinder da hingegangen, die konnten da auch mit essen, Mittagessen, weil es für die auch abgesichert war und so.“ (IninG2 706-710) Die Schaffung frauenfreundlicher Strukturen wurde gesetzlich geregelt und als staatliche Aufgabe definiert, aber auch die Arbeitgeber in leitenden Positionen wurden für die Verwirklichung der Gleichstellung von Mann und Frau in die Verantwortung genommen (vgl. Aus dem Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau vom 27. September 1950 (GB1. Nr. 111 S. 1037) zitiert nach Scholz 1997, S. 67 ff.). Zusätzlich erging ein Appell an die Männer, „die traditionelle Arbeitsteilung aufzugeben und Verantwortung im Haushalt und für die Kindererziehung zu übernehmen“ (Scholz 1997, S. 23). Trotz des Appells blieb die Mehrarbeit bei den Frauen. Die tatsächliche Gleichstellung wurde dadurch behindert, dass Frauen nach wie vor sehr viel mehr Zeit mit versorgenden Tätigkeiten verbrachten als Männer. Dadurch änderte sich an der grundsätzlichen Mehrfachbelastung von Frauen nicht viel85. Die Inkonsequenz in der Gleichstellungspolitik zeigt sich u. a. in einer ungleichen Einkommensverteilung der Gehälter: Frauen verdienten ca. 25 bis 30 % weniger als Männer (ebd., S. 27). Von staatlicher Seite aus wurde sehr rasch mit der Umsetzung der gesetzlichen Regelungen begonnen: Staat und Produktionsbetriebe sorgten für Kinderbetreuungseinrichtungen. Auch in Glaisin sorgte der Staat neben einer Schule für zwei staatliche Betreuungseinrichtungen in Form von Kindergarten und -krippe. Den ökonomischen Interessen folgend, dominierte in den 1950er Jahren eine Ideologie der „Arbeiter- und Bauernmacht“ und des Aufbaus von Grundlagen zur Errichtung des Sozialismus. Die damalige Frauenpolitik forcierte in Reaktion
85 In den 1970er Jahren ging die Tendenz dahin, dass wieder mehr Frauen und Mütter von der Vollbeschäftigung zur Teilzeitarbeit wechselten (vgl. Scholz 1997, S. 35). Die Ursache wurde in der Mehrfachbelastung von Frauen gesehen, denen der Spagat zwischen Familie, häuslichen Pflichten und Beruf nur schwer möglich war. Obwohl das DDR-Regime keine volle Gleichstellung erwirken konnte, formierte sich keine vehemente Kritik an den herrschenden Missständen. Scholz erklärt das Ausbleiben einer feministischen Bewegung mit einer ständigen Thematisierung von Frauenproblemen durch die Regierung. Die fehlenden Möglichkeiten der Selbstverwirklichung seien zwar von Frauen offen gelegt und bemängelt worden, allerdings werde der Konflikt unabhängig vom Geschlecht diskutiert und als Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft dargestellt. Scholz (ebd., S. 27) sieht die Ursachen für die heutige mühsame Individualisierung ostdeutscher Frauen darin, dass ihnen ein „sensibles feministisches Verständnis für die tatsächliche Lage der Frau fehlt“. Sie hätten es zu DDR- Zeiten nicht gelernt, für ihre Rechte zu kämpfen und Lösungen zu erwirken. Die Gleichstellung sei in den Händen der Regierung und leitender Angestellter geblieben und in diesen Positionen waren die Frauen nur zu einem ganz geringen Anteil vertreten.
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auf den akuten Arbeitskräftemangel, der durch die Fluchtwelle bis 1961 noch verstärkt wurde, mit massiven Kampagnen die Einbeziehung von Frauen in allen Bereichen. Während zu Beginn des sozialistischen Regimes die Mehrheit der Frauen als ungelernte Kräfte und in Helferinnenpositionen arbeiteten, hatten rund 70 % der arbeitenden Frauen Ende der 1970er Jahre einen Facharbeiterinnenabschluss, 1986 waren es 81,5 % (Scholz 1997, S. 26). Damit waren die Frauen quantitativ fast genauso stark auf dem Erwerbsarbeitsmarkt vertreten wie Männer. Dieser Erfolg konnte über Maßnahmen und Gesetze erreicht werden, die auf eine konsequente Aus- und Weiterbildung von Frauen zielten und vor allem auf die Qualifizierung von Arbeiterinnen. Hinzu kam, dass in dieser Zeit ein Frauenleitbild in den Medien verbreitet wurde, in dem die Frau, die einer Erwerbsarbeit nachgeht, selbstbewusst und gut gebildet ist – Familie, Haushalt und Kinder sind für sie zweitrangig. Trotzdem verblieben die Frauen aber überwiegend in frauentypischen Berufen – der Anteil von Frauen in leitenden Positionen war gering (ebd., S. 32). Im Jahr 1960 wurde Glaisin vollgenossenschaftlich:
Am 9. Mai 1953 wurde in Glaisin die LPG „Freie Erde“ gegründet. Es folgten am 15. März 1960 die Gründungen der LPGs „Frischer Wind“ und „Frohe Zukunft“. Am 9. September 1961 erfolgte der Zusammenschluss der dieser beiden Produktionsgenossenschaften zur LPG „Johannes Gillhof“, der sich dann am 28. Februar 1968 auch die LPG „Freie Erde“ anschloss. Somit wurde die Kooperationsgenossenschaft „Freie Erde“ Glaisin/Göhlen gegründet, der im Jahr 1974 auch die LPG „Blühendes Leben“ aus Göhlen zugeordnet wurde.
Von da an gab es praktisch keine privaten Bauernwirtschaften mehr. Sämtliche landwirtschaftlichen Betriebe waren sozialisiert und in Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zusammengeführt. Trotzdem blieb die Landwirtschaft Bindeglied der Menschen untereinander. Esther Perla zählt einige der Erwerbsarbeitsplätze auf, die es im Dorf zu DDR-Zeiten gegeben hat, insbesondere auch für Frauen: „Die LPG hatte zum Beispiel eine Küche, da waren drei Frauen beschäftigt, die dann in der ... Dann war das LPG-Büro da. Da waren auch zwei oder drei Frauen beschäftigt. Dann war der Kindergarten da, da waren wir zwei Erzieherinnen, eine Aushilfskraft noch und eine, die wieder sauber gemacht hat. Das waren auch vier. Dann war die Kinderkrippe da, da waren auch zwei oder drei Erzieherinnen dann tätig und auch eine Köchin, die da gekocht hat und so. Da können Sie sich vorstellen, ... Das
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Viele haben zu DDR-Zeiten im Kollektiv gearbeitet. Frau Lindner ist auf dem elterlichen Hof in Glaisin groß geworden. Erst habe sie in einer LPG in der Buchhaltung gearbeitet. Später habe sie dann in einem Fernstudiengang ihren Abschluss als Staatlich geprüfte Finanzwirtschafterin gemacht und bis 1991 in einer LPG gearbeitet (IninG3 20-39). Frau Sand berichtet, dass alle Frauen gearbeitet hätten und dadurch habe sie viel Kontakt gehabt zu den anderen Dorfbewohnerinnen. „Aber die Frauen gingen ja alle arbeiten, nicht. Und dadurch hatte man Kontakt zu anderen Frauen, aber nur mit deinen Arbeitskolleginnen dann und so. Das waren auch schöne Zeiten. Man ging ja zur Arbeit. Es war ja so... Mann und Frau mussten ja arbeiten. ... Ich war im Wald. ... pflanzen. Also Bäume gepflanzt. Also, jeder Mensch muss einen Baum pflanzen im Leben. Ich habe, ja, ich weiß nicht, wie viele Male einen Baum gepflanzt, nicht, zig Bäume gepflanzt, die kleinen Kiefern und so. Und den ganzen Sommer gehegt und gepflegt, also Kultur. Forstkulturarbeiterin nennt man... Ja, da ist die Kultur aufgeräumt. ... Forstfacharbeiter. Ja. Aber ganz am Anfang war es schwer. Also, zuerst war ich ja zu Hause, dann. Und dann nachher kriegte ich dann da Arbeit. Da hatten wir erst eine kleine Landwirtschaft und die ging dann. ... durch die LPG ging die ja... [Anmerkung der Verfasserin: Nach dem Sozialistischen Frühling wurden ihre Landwirtschaft sozialisiert.] ... Im Wald. Das war... die erste Zeit... es war ein Umschwung und ein anderes Arbeiten, erst. Das war nicht leicht. Aber da habe ich 26 Jahre gearbeitet. Und das war so schön. Mir hat es nachher so schön gefallen, ... Wir hatten ja keine Maschinen, wir hatten kein Fließband, was kam und uns überhäufte mit Arbeiten. Und wir hatten immer frische Luft. Und wir konnten erzählen. Und dies und jenes und ... Hat Spaß gemacht!“ (IninG6 153-183)
Die Bewohner/innen waren durch ihre Arbeit beruflich und auch gesellschaftlich in das Dorf integriert. Frau Sand empfindet dies als Sicherheit. Sie habe nicht um ihren Arbeitsplatz bangen müssen: „Ich konnte noch so viel schimpfen... Aber ich durfte über Honecker nicht schimpfen. Aber sonst... Unsern Chef konnte ich ‚abmistern, wer weiß wie, da wurde ich nicht entlassen. Da konnte ich auf ihn schimpfen; wir konnten uns heiß machen über unseren Chef, aber wir wurden nicht entlassen.“ (IninG6 196-199) Auch die Bewohner, die alkoholkrank waren, seien sozial abgesichert gewesen, da sie von den Betrieben mit „durchgezogen“ wurden: „Und es war auch so: jeder musste ja arbeiten und jeder war eingebürgert in der Arbeit. Wenn da einer ... so wie bei den Männern, wenn die nun viel gesoffen haben und so, die mussten auch zur Arbeit. Und wenn sie in der Ecke gelegen haben, dann haben sie in der Ecke gelegen; aber sie waren untergebracht, nicht. Es gibt viele
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Männer, die haben nicht viel gearbeitet, weil die eben am Tropf hingen. Aber sie durften die auch nicht entlassen. Und jeder Betrieb war verpflichtet, einen solchen mit durchzuziehen.“ (IninG6 204-211)
Arbeiten in landwirtschaftlichen Zusammenhängen war demnach mehr als reine Erwerbsarbeit. Sie bedeutete neben sozialer und wirtschaftlicher Absicherung auch Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im Dorf. Die Zusammenhänge zwischen Wohnen, Arbeiten in landwirtschaftlichen Kontexten und Leben im Dorf blieben in dieser Zeit weitgehend erhalten. Sicherheiten hatten Bestand wie beispielsweise ein regelmäßiges Einkommen, wohnortnahe Erwerbsarbeitsplätze, Kontakte zu den Dorfbewohnern/innen, gegenseitige Unterstützung und Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben. Ihre Auflösung erfolgte abrupt mit der Wende. Statt staatlicher Einflussnahme und Regelungen wurde in vielen Bereichen Eigeninitiative und -verantwortung notwendig (vgl. auch Dahms 1998).
5.3.2 Heraustreten aus alten Sicherheiten und gewohnten Lebenszusammenhängen Die Wende und die darauf folgende Wiedervereinigung 1990 brachten tief greifende Veränderungen mit sich. Das bisherige politische System löste sich auf und damit brachen jene Strukturen weg, in denen die Menschen bislang gelebt und die ihnen Halt gegeben hatten. Es begann eine Zeit des Verzichts auf grundsätzlich gesicherte Werte wie das Recht auf Arbeit, Subventionen für Kinderbetreuung, Sport, Kultur und vieles mehr. Als schwerwiegend wurden die Veränderungen der Erwerbsstrukturen empfunden und hier besonders der Rückgang der Landwirtschaft (vgl. auch Heinrich Becker 1997, 2000, Neu 2001, S. 242 f.). Der Verlust von Erwerbsarbeitsplätzen, besonders im land- und forstwirtschaftlichen Bereich, bedeutete für viele Bewohner/innen Glaisins zunächst den Eintritt in die Erwerbsarbeitslosigkeit. An Stelle der früheren Sicherheiten traten große Verunsicherungen. Insbesondere Frauen fanden nur schwer eine neue Arbeitsstelle. Viele waren gezwungen, neue Berufe zu erlernen, umzuschulen oder sich von einem befristeten Arbeitsverhältnis zum nächsten zu bewegen. Einige Frauen wurden nach Eintritt in die Erwerbsarbeitslosigkeit über befristete ABM- und ASM-Stellen aufgefangen. Heute müssen die Bewohner/innen, die eine neue (unbefristete) Stelle gefunden haben, mitunter weite Wege zur Arbeit in Kauf nehmen. Wie hoch der Stellenwert der Erwerbsarbeit und wie groß die Angst vor allem junger Frauen vor der Erwerbsarbeitslosigkeit ist, zeigen die rückläufigen Geburtenzahlen im Dorf seit der Wende. In ihnen drückt sich die Angst aus vor
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dem Verlust der Arbeitsstelle nach dem Babyjahr. Frau Perla berichtet, dass nach der Wende plötzlich weniger Kinder geboren wurden. Sie erlebt, dass vor allem junge Frauen bewusst auf Kinder verzichten86, um ihren Arbeitsplatz nicht zu verlieren: „Ja, nach der Wende wurden auf einmal weniger Kinder geboren. Dann kam ... Das ging durch. Die, die ihre Arbeit hatten, wollten ihre Arbeit behalten, die jungen Frauen. Die haben gedacht, jetzt schaffen wir uns nicht erst Kinder an, wir warten jetzt erst mal ab, was wird. Und dann kam das ja auch mit dem Einbruch, dass überall viele entlassen wurden. Und dann haben sie gesagt: ‚Wenn wir dann noch irgendwo anders hingehen müssen oder weiter fahren müssen und so weiter, dann schaffen wir uns nicht mehr so viel Kinder an. Das konnte man ruckartig ..., war das ..., das ging von Jahr zu Jahr, wurde es immer weniger. Das war eben die Angst auch dieser jungen Frauen, ihre Arbeit zu verlieren. Wenn sie nachher aus dem Babyjahr wieder zurückkommen und so, dass man dann ..., war das in vielen Betrieben so, dass sie dann auch doch gekündigt wurden, nicht. Sie mussten zwar erst wieder angestellt werden, aber wurden dann nachher doch gekündigt, nicht. ... Ja! Das war natürlich auch hart. Weil man ja nun ... Ich habe über 30 Jahre (...) gearbeitet, war natürlich für uns auch nicht so einfach jetzt, denn auf einmal stand man da und war arbeitslos.“ (IninG2 94-108)
Die neue Situation auf dem Arbeitsmarkt führte zu vielen Veränderungen. Seit der Wiedervereinigung konnten die Strukturen nicht mehr erhalten werden, die Frauen entweder die Teilnahme am Erwerbsarbeitsleben ermöglichten oder die Erwerbsarbeitsplätze für Frauen bereithielten: Im Dorf gibt es heute weder Kindergarten, noch Kinderkrippe und auch keine Schule mehr87. Diese Strukturen
86 Ende 1980 lag die Berufstätigenquote der DDR-Frauen bei über 90 %. Die so genannte Mütterrate betrug sogar 92 %. Somit hatte die Mehrheit der gebärfähigen Frauen ein Kind. Die gewollte Kinderlosigkeit als gesellschaftliches Phänomen gab es während der letzten Jahre in den drei Nordbezirken der DDR Rostock, Neubrandenburg und Schwerin nicht (vgl. Die Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte der Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern 1997, S. 13). Die Zahl der lebend geborenen Kinder je 1.000 Einwohner/innen lag 1987 bei 15,5. In der Zeit nach Wende lag sie im Jahr 1990 bei 12,2 und sank bis 1994 auf 4,9. Im Jahr 2003 kamen auf 1.000 Einwohner/innen 7,4 lebend geborene Kinder – immer noch weniger als im Bundesdurchschnitt, der bei 8,6 liegt (Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern 2005a, S. 5). Allgemein wird er auf ein verändertes generatives Verhalten von Frauen zurückgeführt (vgl. auch Statistisches Bundesamt 2006, S. 10). Angesichts veränderter gesellschaftlicher und familienpolitischer Rahmenbedingungen verzichteten viele Frauen zunächst auf (weitere) Kinder (Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern 2006 a). 87 In Mecklenburg-Vorpommern ist die Zahl der Grundschulstandorte um 31 % innerhalb von 8 Jahren zurückgegangen. Somit hat sich die Zahl der Grundschulen von insgesamt 557 im Jahr 1995 auf 428 im Jahr 2000 und schließlich auf den heutigen Stand von 382 verringert. Zu den weiteren Unterschieden der Grundschulstandorte zwischen Ost- und Westdeutschland siehe auch Offke Schmidt (2003, S. 39). Vgl. zur kommunalen Infrastruktur auch Winkel (2003).
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erleichterten Frauen mit Familie ihre Doppelrolle: erwerbstätig und gleichzeitig für die Familie da zu sein. Die ehemaligen Rechtsnormen der sozialistischen Regierungen, die in Frauenkommissionen, Frauenförderplänen, der Kinderbetreuung außerhalb der Familie, dem Babyjahr und Pflegeurlaub oder dem Hausarbeitstag mündeten, wurden auf ein niedriges Niveau zurückgestuft, das dem der damaligen Bundesrepublik entsprach. Gewöhnt an eine staatlich geregelte Kinderbetreuung, die ihnen die Aufnahme einer Erwerbsarbeit erst möglich machte, definierten Frauen ihren Wert als Frau auch stark über ihre Arbeit. Mit der Abnahme staatlicher Subventionen wurden ihre Bedingungen zur Teilnahme am Erwerbsarbeitsleben und Möglichkeiten, dem großen Konkurrenzdruck auf dem Arbeitsmarkt sowie der hohen Arbeitslosenrate standzuhalten, deutlich erschwert. Der Anteil der arbeitslosen Frauen stieg seit 1990 kontinuierlich an und lag erheblich über dem der Männer. 88 Die Einbuße von Erwerbsarbeitsplätzen bedeutet neben dem Verlust der existenziellen Sicherheit auch die Einbuße von sozialen Kontakten am Arbeitsplatz. Herausgerissen aus den ehemaligen Zusammenhängen der gemeinsamen Arbeit sind es besonders Frauen, die sich nicht so leicht an die neuen Bedingungen gewöhnen können. Bei Eintritt in die Erwerbsarbeitslosigkeit macht sich häufig ein Gefühl von Vereinsamung und Nutzlosigkeit breit. Frau Lindner beobachtete, dass arbeitslose Frauen „sich dann so verkrochen haben, nicht“ (IninG3 98). In Glaisin äußert sich diese neue Situation auf dem Arbeitsmarkt dahingehend, dass es kaum noch Erwerbsarbeitsplätze im Dorf und der näheren Umgebung gibt. Es sind nur noch wenige Dorfbewohner/innen, die im Ort einen Arbeitsplatz haben. Dies hat zur Folge, dass ein großer Teil der Dorfbewohner/innen zur Arbeit pendelt. Mitunter müssen lange Fahrtzeiten mit dem Auto, dem Bus oder der Bahn in Kauf genommen werden. Tagsüber wirkt das Dorf dadurch im Gegensatz zu früher sehr still89. Seitdem viele pendeln, sieht man sich im Straßenraum kaum noch90.
88
Die Erwerbsquote in Mecklenburg-Vorpommern ist allgemein sowohl bei Frauen als auch bei Männern seit 1991 rapide gesunken. Waren 1991 noch 416,4 Frauen und 489,5 Männer erwerbstätig, verringerte sich ihre Zahl bis zum Jahr 1995 auf 360.800 Frauen und 458.700 Männer. Im Jahr 2004 sind 322.800 Frauen und 378.500 Männer in Mecklenburg-Vorpommern erwerbstätig (vgl. Statistisches Landesamt Mecklenburg-Vorpommern 2005b). 89 Mecklenburg-Vorpommern verzeichnet einen Auspendlerüberschuss von 48.824 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Dies wird auf die angespannte Arbeitsmarktsituation zurückgeführt. Die Einwohner/innen sind bereit, weite Wege sowohl innerhalb des Landes als auch in andere Bundesländer in Kauf zu nehmen. Etwa jeder siebente Beschäftigte aus Mecklenburg-Vorpommern hat im Jahr 2005 eine Arbeitsstelle in einem anderen Bundesland, beispielsweise in Schleswig-Holstein (22.002 Personen), in der Freien und Hansestadt Hamburg (13.119 Personen) sowie in Niedersachsen
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin „Und diese Arbeitsplätze sind ja dann alle weggefallen: Kindergarten, Kinderkrippe, LPG-Küche, LPG-Büro. Das ist alles weggefallen, nicht. Und die, die jetzt noch arbeiten, die fahren ... Manche fahren morgens schon früh los. Man trifft sich nicht mehr am Bus. Jeder hat ein Auto, jeder fährt in eine andere Richtung. Und dadurch ... Und wenn man abends nach Hause kommt, dann ... Wissen Sie ja selbst, wie das ist! Hier geht man auch in der Stadt noch einkaufen, und wenn sie dann abends nach Hause kommen, dann geht doch jeder seiner eigenen Wege so.“ (IninG2 712-718)
Die Situation deutet darauf hin, dass in Ostdeutschland nach der Wende ein Prozess einsetzte, der dem ähnelt, der im Westen Deutschlands mit der Auflösung und Ablösung industriegesellschaftlicher Lebensformen begann und den u. a. Beck & Beck-Gernsheim (1993) als Individualisierung bezeichnen. Dieser Prozess ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass Rahmen gebende Strukturen – Beck (1986) nennt sie meso-soziale Sozialformen – wie Familie, soziale Klassen und Gemeinden an Bedeutung verlieren. An Stelle industriegesellschaftlicher Lebensformen treten andere, sekundäre Instanzen und Institutionen. In diesem Prozess lösen sich die Individuen aus den alten Strukturen, indem sie beginnen, ihre Biografien selbst zu bestimmen und zu gestalten. Beck (ebd., S. 115) bezeichnet dies als „Freisetzung“. Das Einsetzen der Individualisierung, also das Heraustreten der Individuen aus ihren alten Bindungen und Strukturen, das mit einer neuen Selbstbestimmung der eigenen Lebensformen einhergeht, geschieht über bestimmte Zwänge, die ein solches Verhalten erforderlich werden lassen. Dies sind beispielsweise der Arbeitsmarkt und andere sozialstaatliche Regelungs- und Sicherungssysteme (vgl. Hainz 1999, S. 17 ff.). Sie erhöhen individuelle Handlungsbedarfe und führen dazu, dass frühere traditionelle Lebensformen abgelöst werden. An ihre Stelle treten Institutionen, die den Prozess der Individualisierung weiter befördern. In diesem Prozess entstehen neue Abhängigkeiten, deren Qualität Beck & Sopp (1997) darin sehen, dass sie nicht mehr direkt am Individuum ansetzen, sondern dass sie eher wie ein übergeordneter Rahmen wirken, der Freiräume beinhaltet. Diese Freiräume gilt es durch eigene Aktivitäten zu füllen, indem beispielsweise bestimmte Leistungen beantragt werden. Vor allem die neue Situation auf dem Arbeitsmarkt, die für viele Frauen und auch Männer zunächst den Eintritt in die Erwerbsarbeitslosigkeit bedeutete, erforderte Eigeninitiative, um die eigene Zukunft nach dem Verfall der alten Strukturen aktiv zu gestalten. Diese Situation ist für viele auch deshalb so
(7.861 Personen). Über die Hälfte der (51,5 %) war 25 bis 45 Jahre alt, 17,1 % war jünger als 25 Jahre (vgl. Statistisches Amt Mecklenburg-Vorpommern 2006b). 90 Vgl. auch Stephan Beetz (2004), der in einer Studie die Auswirkungen des sozialen Wandels und einer räumliche Mobilität in einer ostdeutschen ländlichen Region untersucht hat.
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schwierig, weil kaum individuelle und kollektive Bewältigungsstrategien zum Umgang mit Erwerbsarbeitslosigkeit zur Verfügung stehen (vgl. Hainz 1999, S. 84). Im Gespräch mit Henriette Lindner wird deutlich, dass auch die Bewohner/innen Glaisins vor diese Herausforderung gestellt wurden. Henriette Lindner berichtet, dass sie im Rahmen ihrer ABM-Stelle dafür zuständig war, andere in der Antragsstellung zu unterstützen: „Wie wars früher so? Und dann sage ich immer, das war dann erst mal für uns eine gewaltige Umstellung. Weil da war das Projekt91, das besagte dann auch, Hilfestellung zu geben bei Antragstellung. Und Anträge brauchten wir ja zu DDR-Zeiten überhaupt nicht stellen, nicht. Wir waren ja sozial abgesichert. Wir kannten keinen Antrag, und jetzt nachher nun: vor allem Wohngeld, Altersanpassungsgeld und dann für die Landwirtschaft jetzt: Gas, Öl und so weiter; was alles dazu kam. Und da ... Das war meine Tätigkeit, und das war natürlich recht interessant, wenn ich dann über die Dörfer ... oder als ich in die Dörfer gefahren bin hier im Landkreis Ludwigslust: Dann hat man mal geguckt: ‚Wo steht da noch ein Trecker? Wo steht ein Hänger? Ach, die haben was mit Landwirtschaft zu tun. Dann hat man gesagt: ‚Wissen Sie, man kann jetzt Anträge stellen und und und ... Da hat man vielen Menschen zu Geld verholfen: Wohngeldanträge gemacht und dieses Altersanpassungsgeld ... und was es alles so gab, nicht.“ (IninG3 60-70)
Individualisierung bedeutet einerseits eine Freisetzung aus kollektiven Bindungen, beispielsweise aus alten Sicherheiten, die das dörfliche Leben beinhaltet, aber auch eine stärkere Abhängigkeit von institutionellen Vorgaben. Um Leistungen zu erhalten, sind Eigeninitiative und Aktivität gefragt. Die DDR stand als staatssozialistische Organisationsgesellschaft für das Gegenteil von Individualisierung, nämlich für Standardisierung, Kollektivierung der Lebensentwürfe und der gesamten Lebensführung (vgl. auch Hainz 1999). Mit der Wende setzte ein sehr abrupter Wandel ein, in dem sich die in der BRD schon lange wirkenden Individualisierungsfaktoren etablierten.92
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Die Interviewpartnerin bezieht sich auf ein Projekt, in dem sie über eine ABM-Stelle befristet tätig war. Ihre Aufgaben in dem Projekt bestanden darin, die in der Landwirtschaft Tätigen darüber zu informieren, welche Subventionen und Förderungen beantragt werden konnten, und ihnen bei der Antragstellung selbst behilflich zu sein. 92 Engler (1997) verweist darauf, dass die Auflösung alter Strukturen in der DDR schon zur DDRZeit stattfand. Er bezieht sich in seiner Argumentation u. a. auf die Bestrebungen der sozialistischen Regierung, Frauen aus den patriarchalen Rollen zu befreien, um ihnen den Zugang zum Erwerbsarbeitsmarkt zu öffnen. Außerdem gab es in der DDR keine Eindeutigkeit und Verlässlichkeit im Verwaltungs- und Wirtschaftsbereich – Engler spricht von einer „Aushandlungs- und Improvisationsgesellschaft“.
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin Treibende Kräfte (ebd., S. 17 ff.) dieser Prozesse sind
ein durch Konkurrenz bestimmtes Erwerbsleben, in dem die Einzelnen eigene Berufsbiografien gestalten. Der Erwerb findet losgelöst von der Familie oder der Gemeinde statt. Die Teilnahme am Erwerbsarbeitsleben erfordert soziale und räumliche (geographische) Mobilität, die Teilhabe an sozialstaatlichen Regelungs- und Sicherungssystemen, die von familiären Abhängigkeiten befreien und die mit individuellen Leistungen verknüpft sind, wie z. B. dem Gang zum Arbeitsamt, Mobilitätsprozesse, die die Einzelnen aus ihren alten Bindungen lösen. Sie sind dann dazu gezwungen, eigene Wege zu gehen und ihre persönliche Biografie zu gestalten, die für moderne Erwerbsarbeit erforderlichen Bildungsbeteiligungen. Längere Ausbildungszeiten eröffnen die Möglichkeit, sich aus erlernten, ortsüblichen Denkweisen, Orientierungen und Lebensstilen zu lösen; es besteht die Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen Ausbildungswegen und Karrierewegen; damit sind individuelle Aufstiegsmöglichkeiten verbunden; der Bildungsgrad gilt neben dem Alter als zentrales Kriterium für die Neuentstehung sozialer Milieus, größere Konsummöglichkeiten, die zur Ausbildung individueller Lebensstile beitragen; diese sind entstanden durch die Verlängerung der durchschnittlichen Lebensdauer der Menschen, einer durchschnittlich kürzeren Erwerbsarbeitszeit und einer Steigerung der Arbeitseinkommen, die neuen Informations- und Kommunikationsmittel, die Impulse und Informationen für eine eigene Weltkonstruktion liefern.
5.3.3 Leben in verschiedenen Welten In Folge der Individualisierung bilden Menschen individuelle Persönlichkeitsprofile aus, die aus der Selbstverantwortung und -steuerung des eigenen Lebenslaufes erwachsen. Sie münden in individuelle Lebensstile und pluralisierte Lebensformen und zeigen sich auf verschiedenen Ebenen: in ökonomischen Bereichen, den sozialen Beziehungen, den Werte- und Normensystemen und in den Mentalitäten zu Modifizierungen (vgl. Marinescu 1988). Die Menschen geraten in ein Spannungsfeld, das zwischen dem System der alten Denk- und Handlungsmuster und der spezifischen neuen Organisationsform der Gesellschaft
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entsteht. Marinescu93 beschreibt für bäuerliche Familien ein Verhalten, das davon geprägt ist, im alten Milieu zu verbleiben, um die vertraute Lebensweise beibehalten zu können. Es werden Maßnahmen ergriffen, die das Weiterleben als soziale Einheit ermöglichen. Da es für Überlebensstrategien in der Regel keine Muster gibt, werden individuelle Wege gewählt, ohne sich völlig von der alten Lebensweise und den dazu gehörigen Räumen zu trennen. Es wird der Versuch unternommen, in zwei Welten gleichzeitig zu leben (vgl. hierzu auch Marx 1999). In Glaisin ist ein ähnlicher Prozess erkennbar. Die Bewohnerinnen möchten altes Wissen und Traditionen sowie den Bezug zu landwirtschaftlichen Lebensweisen bewahren. Dieses Bestreben führt zur Konstitution neuer Räume, in denen alte Bräuche bewahrt und Kontakte zueinander gepflegt werden. So ist es ihnen möglich, tradierte Handlungsmuster weiterzuleben, wie beispielsweise ihre kollektive Schaffenskraft oder die aktive Pflege der dörflichen Gemeinschaft und Nachbarschaftshilfe, um die Nähe zu herkömmlichen landwirtschaftlichen Lebenszusammenhängen zu wahren. Gleichzeitig findet eine Öffnung nach außen statt, indem (über)regionale Netzwerke und Kontakte zunehmend bedeutend werden (vgl. Hainz 1999, S. 134 ff.). Nicht selten wird das Dorf dann zum Teillebensraum, da die Lebensweisen und damit auch die Lebensräume der Bewohner/innen sich pluralisiert und ausdifferenziert haben. Der Prozess der Individualisierung zeigt sich in Glaisin u. a. darin, dass die Bewohnerinnen selbst aktiv wurden, indem sie als „Erschafferinnen“ und „Gestalterinnen“ Räume konstituieren, in denen sie produktiv sein können und in denen ihre (Re)Produktivität sichtbar und wertgeschätzt wird – auch über das kleine Dorf hinaus. Die Gemeinde hat diesen Prozess unterstützt. Sie hat die Bewohner/innen zur Beteiligung an der EXPO und an Programmen der Dorferneuerung aufgefordert, ihnen aber den Raum gegeben für Eigeninitiative und Eigenheit in der Gestaltung und Darstellung. Auch der Erhalt des Forsthofes als einer der attraktiven Räume im Ort war ein besonderes Anliegen der Gemeinde. Frau Mai und Frau Perla berichten, dass die Gemeindepolitik einen wichtigen Beitrag geleistet hat zum Erhalt der lokalen Räume und damit auch zum Erhalt von Begegnungs- und Kommunikationenräumen im Ort. Es habe die Überlegung gegeben, einzelne Gebäude des Forsthofes unabhängig von der Gaststätte zu vermieten. Interessenten hätten dann die Räume für private Feierlichkeiten mieten können, ohne Eigenverkostung, sondern mit Bewirtschaftung der Gaststätte. Die Gemeinde sei sich aber dessen
93 Marinescus Erfahrungen basieren auf Feldforschungen in drei Ländern mit unterschiedlichen sozio-politischen Strukturen (Bundesrepublik Deutschland, Griechenland und Rumänien), in denen sie in ländlichen Räumen die Folgen von Individualisierungsprozessen beobachtete.
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bewusst gewesen, dass diese Variante das Bestehen der Gaststätte im Ort gefährdet hätte – ebenso wie der Bau eines Dorfgemeinschaftshauses. Die Lösung sei ein Kompromiss gewesen: Die Bewohner/innen können die Räumlichkeiten im Forsthof nutzen, wenn die Bewirtschaftung der Forsthof übernimmt. Ohne diesen Kompromiss, so befürchten die beiden Frauen, wäre es Glaisin so ergangen wie dem Nachbarort, dessen Gastwirtschaft schließen musste und dem damit ein wichtiger Begegnungsraum verloren gegangen sei (IninG2 910-935, IninG5 59130). Die dörfliche Welt ist somit zur Ressource geworden, um die Anpassung an das neue Leben, die neuen gesellschaftlichen Strukturen und die neuen Räume bewältigen zu können. Die dörfliche Welt verbindet aber auch die beiden Welten miteinander, indem lokale Räume für gesellschaftliche Beziehungen geschaffen wurden. Dieser Prozess des Lebens in „mehreren Welten“ erstreckt sich nach Marinescu (1988) über einen längeren Zeitraum, mindestens jedoch über zwei Generationen. Auch die Jugend in Glaisin bemüht sich, den Kontakt zum Dorf und seinen Menschen zu erhalten. Einerseits sind die jungen Leute vor die Herausforderung gestellt, sich beruflich außerhalb des Dorfes zu orientieren und zu bewähren. Sie verlassen Glaisin nach ihrem Schulabschluss, da kaum Ausbildungsplätze und Erwerbsmöglichkeiten in der Nähe des Dorfes und auch in der Region vorhanden sind. Viele kommen dann später zurück und verlegen ihren Lebensmittelpunkt zurück nach Glaisin. Sie würden sich hier ihre Häuser bauen, so Frau Blumm, auch wenn sie in weit entlegene Städte zur Arbeit pendeln müssten (IninG4 570-596). Auch Frau Sand erzählt, dass die Kinder nach ihrer Ausbildung und den ersten Jahren im Beruf in ihr Heimatdorf zurückkommen. Sie führt dies auf den Menschenschlag zurück, der seine Wurzeln im Ort habe, die sie wieder in ihr Dorf zögen (IninG6 515-557). Sie interpretiert dies als Bedürfnis junger Erwachsener, die ihre sozialen Kontakte im Dorf erhalten und die Heimat nicht aufgeben möchten. In Glaisin ist die Zeit der Umbrüche und Veränderungen nicht vorbei. Die nächste Generation teilt noch den Bezug zum Dorf und zur Dorfgemeinschaft, wenngleich nicht in der Intensität wie die ältere Generation, zu der die von mir interviewten Frauen gehören. Die Auflösung des Zusammenhangs von Wohnen, Arbeiten und Leben im Dorf erfolgt schrittweise. Verlangsamt wird der Prozess durch das Leben in zwei Welten: In der einen Welt wird die herkömmliche dörfliche Kultur erhalten und weiterentwickelt. Die andere Welt ist die Welt außerhalb Glaisins, in der jede und jeder Einzelne sich beispielsweise auf dem Erwerbsarbeitsmarkt allein bewähren muss. Wie sich dieses „zwischen den Welten leben“ als kultureller Ausdruck in den Räumen niederschlägt, zeigt sich im Folgenden vierten Quadranten.
5.4 Lokale Räume als kultureller Ausdruck
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5.4 „ (…) dass man sich versteht und eigentlich doch gut so zusammen leben will.“ – Lokale Räume als kultureller Ausdruck 5.4 Lokale Räume als kultureller Ausdruck Der vierte Quadrant steht für den kulturellen Ausdruck nach Sturm (2000) und die Strukturen und Strukturprinzipien bei Löw (2001). Fragen, die sich in diesem Quadranten stellen sind beispielsweise folgende: Was wollen meine Gesprächspartnerinnen erhalten? Mit welchen Intentionen konstituieren sie Räume im Dorf? Welche Qualitäten lokaler Räume benennen meine Gesprächspartnerinnen? Wofür stehen welche Räume als Orte? Wie schätzen sie die Potenziale und die weitere Entwicklung dieser Räume ein? Somit steht in diesem Quadranten (vgl. Abbildung 1: Methodologisches QuadranWenmodell für Raum, S. 55) die Analyse von Qualitäten lokaler Räume Glaisins im Vordergrund. Die Zeit der Wiedervereinigung stellte die Dorfbewohner/innen vor ungewohnte Herausforderungen. Mit dem Wegfall täglicher Kontakte wurde der dörflichen Gemeinschaft ihre Grundlage entzogen. Sie drohte auseinander zu brechen, denn sie entstand aus den täglichen Begegnungen und Gesprächen, den gemeinsamen (re)produktiven Arbeitskontexten sowie den Sicherheiten, die alle miteinander teilten. Die Auswertung des Interviewmaterials ergibt, dass diese neue Situation der Nährboden des Deutungsmusters wurde. Das Deutungsmuster wurzelt in dem Bedürfnis der Frauen, den Zusammenhalt der Bewohner/innen untereinander und damit auch die Gemeinschaft im Ort zu bewahren. Für die Gemeinschaft erschaffen, gestalten und erhalten sie (neue) Räume. Ausgehend von der heutigen Zeit beziehen sich die folgenden Ausführungen auf die lokalen Räume und Orte in Glaisin sowie das Deutungsmuster selbst in seinen verschiedenen Ausprägungen.
5.4.1 Kultureller Ausdruck lokaler Räume und Orte: „Glaisin ist Glaisin geblieben, obgleich dass (…).“ Ich habe erwartet, dass sich die Raumbezüge meiner Gesprächspartnerinnen seit der Wende grundlegend verändert haben, und dass die Räume heute andere Funktionen haben als vor der Wende. Dies trifft jedoch nur bedingt zu. Die Intention – der Erhalt der dörflichen Gemeinschaft – mit der beispielsweise Begegnungsräume oder auch Vereinsräume geschaffen und genutzt werden, ist nahezu unverändert geblieben. Gewandelt haben sich die dörflichen Gemeinschaften selbst und mit ihnen auch die Räume, die von ihnen genutzt werden. Diesen Wandel, der sich u. a. auch in den lokalen Räumen und Orten im Dorf ausdrückt, stelle ich im Folgenden dar.
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Das Dorf Glaisin als gemeinschaftlicher Raum: „Aber wenn es darauf ankommt, sind sie da (…).“ Wenn ich in den Interviews auf die Gemeinschaften und ihre Räume zu sprechen kam, haben meine Interviewpartnerinnen ausschließlich Bezüge zu den lokalen Räumen in Glaisin hergestellt94. So auch Frau Lindner: Wenn sie auf Räume zu sprechen kommt, in denen das gemeinschaftliche Leben stattfindet, grenzt sie den physischen und/oder sozialen Raum, auf den sie sich bezieht, auf Glaisin ein. Das gemeinschaftliche Leben findet im Dorf statt. Hier würden sie zusammenhalten und füreinander da sein. Und ihrer Einschätzung nach ist die Glaisiner Gemeinschaft etwas Besonderes und keineswegs selbstverständlich. Frau Lindner veranschaulicht dies im Interview folgendermaßen: „Aber wenn es darauf ankommt, sind sie da. Und ich sage immer: Hier auf diese Frauen, hier im Ort, ist total Verlass. Als Beispiel sage ich jetzt mal: Wenn ich morgen ... Ja, wenn jetzt sich das heute ergeben würde, morgen kommt eine Busgruppe mit 50 Frauen, ich meine, ich kann dann nicht sagen: ‚Hier!, aber: ‚Morgen kommt eine Busgruppe mit 50 Frauen. So. Ich brauche jetzt mal die Frauen, die ein Programm machen. Die würden sofort auf der Matte stehen. ‚Ich brauche jetzt fünf, sechs Frauen, die Kuchen backen, dann würde ich bis morgen Mittag den Kuchen auf dem Tisch haben. Und das findet man sicher in keinem anderen Dorf. Das ist tatsächlich so. Also hier ... Dieser Zusammenhalt ist hier sehr ausgeprägt.“ (IninG3 235-243)
Frau Lindner erzählt weiter im Interview, dass der Zusammenhalt im Dorf schon allzeit gut gewesen sei. Man habe sich immer gegenseitig geholfen, schon zu Zeiten ihrer Eltern und Großeltern sei das so gewesen. Auch der Kontakt unter Nachbarn sei immer gut gewesen (IninG3 230-237). Dies bestätigt auch Frau Landau, die noch nicht sehr lange in Glaisin lebt. Das habe sie in der Stadt nie so erfahren. Man würde sich gegenseitig helfen: Sie könnten zu den Nachbarn gehen, wenn etwas wäre und die Nachbarn würden zu ihnen kommen – es sei „ein Geben und ein Nehmen“ (IninG1 158-165). Diese Art des lokalen Zusammenhaltes und der nachbarschaftlichen Hilfestellung gibt es sehr häufig in landwirtschaftlichen und dörflichen Kontexten. In den Interviews wird sie nur für den lokalen Raum Dorf erwähnt, in dem diese Beziehungen der Menschen zueinander erhalten geblieben sind.
94 Die interviewten Frauen wurden in den Gesprächen nach der Bedeutung der lokalen Räume im Dorf befragt. Trotzdem hätten sie im Interview die Möglichkeit gehabt, sich auf andere Räume zu beziehen, was jedoch in keinem Interview der Fall war.
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Und trotzdem: „Damals haben die Leute mehr zusammen gehalten (…).“ Neben den vielen positiven Äußerungen wird in den Gesprächen auch deutlich, dass es Zeiten gab und gibt, in denen die Gemeinschaft nicht so gut ist. Kurz nach der Wende lösten sich die lokalen Bezüge immer mehr auf. Die Raumwahrnehmungen und auch die Raumbezüge der Bewohnerinnen sind schon zu DDR-Zeiten seit Mitte der 1950er Jahren nicht mehr hauptsächlich auf Glaisin beschränkt, sondern beziehen sich auch auf die umliegenden Dörfer. Mit der Wende verstärkt sich diese Tendenz und weitet sich dann auf überregionale Kontexte aus. In Folge dieser Prozesse differieren ihre Lebensweisen und Möglichkeiten zunehmend und dies wirkt sich auf den Zusammenhalt im Dorf aus. Frau Lindner erwähnt, dass es heute leider auch Neid unter den Bewohnern/innen gebe (IninG3 231-237). Frau Blumm erzählt, dass dies besonders auf die Zeit nach der Wende zutrifft. Zu DDR-Zeiten hätten die Bewohner/innen nicht so sehr darauf geachtet, was die anderen haben. Damals seien alle gleichgestellt gewesen. Beides, der Zusammenhalt und der eher auf Distanz bedachte Umgang miteinander, finden an bestimmten Orten im Dorf statt.
Der dörfliche Einkaufsladen und die Verkaufswagen als Orte, in denen sich gesellschaftliche Beziehungen der Bewohnerinnen ausdrücken Vor allem im Einkaufsladen in Glaisin – zu DDR-Zeiten war es der Konsum – werden soziale Beziehungen und die gegenseitige Fürsorge der Bewohnerinnen füreinander sichtbar. In Glaisin gab es bis nach der Wende einen Einkaufsladen, direkt an der Hauptstraße in unmittelbarer Nähe zum Dorfplatz gelegen. Frau Sand erzählt, man habe sich dort die Klinke gegenseitig in die Hand gegeben. Der Laden sei der Treffpunkt im Dorf für Frauen gewesen, wo man sich sah und Neuigkeiten ausgetauscht habe. Dies sei auch beim Bäcker so gewesen (IninG6 60-75). Frau Blumm erzählt, dass es ab und an Waren gab, die nur selten angeboten wurden. Zu diesen Raritäten im Sortiment gehörten beispielsweise Bananen oder Schokoladenkringel zu Weihnachten. Die Bewohnerinnen hätten sich dann entweder schnell gegenseitig angerufen und/oder die Ware sei abgepackt entsprechend der Familiengrößen verteilt worden, damit alle etwas bekommen. Im Jahr 2002 musste der Einkaufsladen schließen aufgrund der starken Konkurrenz durch die vielen Supermärkte in Ludwigslust, der nächst gelegenen, größeren Stadt. Heute gibt es nur noch die Verkaufswagen, die in das Dorf kommen. Sie bieten allerdings nur bedingt Raum für Gespräche und den Austausch von Neuigkeiten. Annemarie Sand erzählt, dass sie schon auf einen gewissen Abstand zu der Einkäuferin vor ihr achte:
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin „Da ‚klönt man ja nicht. Wenn die Versorgungsfahrzeuge kommen; Bäcker und so. Da wird ja gekauft, dann rennt ja jeder wieder rein. Da wird ja nicht erzählt, nicht. Das ist ja nun … (...) Wenn ich nun eingekauft habe, dann kann ich nicht... ...dann warte ich nicht bis... ...was die Frau einkauft. Das möchte ich nicht sehen. (…) Ich möchte mir auch nicht auf die Finger gucken lassen, nicht. So ist das. Manchmal, ja; es wird kurz mal gesprochen, aber nicht viel, so.“ (IninG6 85-104)
Etwas später im Gespräch kommt Annemarie Sand noch einmal auf die Verkaufswagen zu sprechen. Es sei schon so, dass die Verkäuferinnen in den Wagen gut über das dörfliche Leben informiert seien und mitreden könnten. Es würden auch Neuigkeiten dort ausgetauscht95 (IninG6 647-666). Trotzdem drückt sich an diesem Ort und in diesem Raum, der bei den Verkaufswagen entsteht, Distanz zwischen den Dorfbewohnern/innen aus. Sie gehen heute jeweils eigene Wege, haben individuelle finanzielle Möglichkeiten und Grenzen und möchten bestimmte Bereiche ihres Lebens nicht mit den anderen teilen. Vor der Wende habe es nicht so große Unterschiede zwischen den Bewohnern/innen gegeben und man habe auch nicht so darauf geachtet, was die anderen haben, erzählt auch Frau Blumm „Damals hatten wir noch DDR-Zeiten, und da haben die Leute etwas mehr zusammen gehalten. (…) Es gibt viele Gründe: Einer ist auf den neidisch, der andere auf den und ... Na ja, gut, ich muss ganz ehrlich sagen: Jetzt zwölf Jahre nach der Wende haben wir uns eigentlich wieder ein bisschen zusammengefunden. Aber zuerst war es einfach so: ‚Ja, oh Gott, der kann sich das leisten. Der modernisiert sein Haus so und so, nicht. Und ich nicht. Und ... Ich meine, das war damals schon ein Handikap, nicht.“ (IninG4 378-386)
Der lokale Straßenraum: „Und dann grüßt man mal, und das war es (…).“ Mit den neuen gesellschaftlichen Bedingungen hat sich die dörfliche Gemeinschaft verändert. Die Bewohner/innen gehen mehr und mehr ihre eigenen Wege. Dadurch haben sich auch die räumlichen Nutzungsmuster verändert. Vor allem der Straßenraum Glaisins hat seine ehemalige Funktion als täglicher Begegnungsraum fast vollständig eingebüßt. So beklagt beispielsweise Frau Perla, ein großer Verlust seien die täglichen Gelegenheiten, sich auf der Straße zu treffen. Das sei anders gewesen, als es die vielen Erwerbsarbeitsplätze, den Einkaufsla-
95 Auch in Gesprächen mit anderen Bewohnern/innen aus Glaisin wurde deutlich, dass an den Versorgungswagen von den Einkaufenden zwar die Gelegenheit für kurze Gespräche genutzt werden, dass dies aber anders sei als früher im Einkaufsladen.
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den sowie Kindergarten und -krippe in der Gemeinde noch gab (IninG2 706731). Diese Einschätzung teilen Doris Blumm, Annemarie Sand und Karla Landau. Auch Frau Lindner kommt im Interview auf diese Entwicklungen zu sprechen: „Das ist auch wieder ein absoluter Nachteil, nicht. Absoluter Nachteil! Wo man sich jetzt heute noch mal so wirklich fast trifft, ist auf dem Friedhof, dass man da Leute sieht, nicht. Die dann eben auch die Gräber pflegen zum Wochenende. Aber sonst so? (...) Wenn man sich sieht, spricht man, dann spricht man einfach, nicht. Es ist so, nicht. Aber wenn man jetzt ... Ich sage ja, wenn wir jetzt zu Fuß hier durch das Dorf gehen würden, wir würden ganz wenige Leute treffen, die auf der Straße gehen. (…) Man sitzt dann im Auto, nicht, und dann grüßt man mal, und das war es, nicht. Und das ist eben auch das Bedauerliche. Ich denke mal gerade, das wäre sehr wichtig, dass man miteinander spricht, nicht. Das ist sehr wichtig!“ (IninG3 345-357)
Es gibt jedoch auch Zeiten, in denen der lokale Straßenraum belebt ist. Beispielsweise im Sommer bei schönem Wetter. Dann haben die Bewohner/innen häufiger Gelegenheiten, mit Touristen oder miteinander das Gespräch zu suchen. Gespräche finden an verschiedenen Orten statt, beispielsweise von Zaun zu Zaun bei der Gartenarbeit oder auf der Bank beim Kriegerdenkmal, auf der gerne ältere Frauen aus dem Ort sitzen. Gerade der Bereich rund um den Forsthof ist durch den Bauerngarten, das Backhaus, das Viehhaus und die Kulturscheune mit den wechselnden Ausstellungen und die Gillhoff-Stuben in direkter Nähe zum Forsthof nicht nur für Touristen sehr attraktiv. Die alten Höfe mit ihren schönen Gärten laden zu Spaziergängen durch das Dorf ein. Für Belebung des lokalen Straßenraumes sorgen auch (Straßen)Feste und Veranstaltungen in Glaisin. Doch diese Gelegenheiten der spontanen Begegnungen im lokalen Straßenraum reichen nicht aus. An vielen Tagen im Jahr wirken das Dorf und sein Straßenraum einsam und leer. Durch den Wegfall der Erwerbsarbeitsplätze im Dorf und der direkten Umgebung fallen weitere Wege zur Arbeit an. Viele sind gezwungen, mit dem Auto zur Arbeit zu pendeln. Der lokale Straßenraum verliert somit seine Funktion als täglicher Begegnungs- und Kommunikationsraum und andere Orte wie der Friedhof übernehmen diese Aufgabe. Mit dieser Entwicklung einher geht ein Bedeutungszuwachs der lokalen Innenräume wie beispielsweise der Vereinsräume und der geplanten und vereinbarten Treffen und Begegnungen. Sie sind Ersatz geworden für die spontanen Treffen im lokalen Straßenraum, für gemeinsame Aktivitäten und Arbeiten, wie sie früher auf den Feldern, den Höfen und auch beim Bäcker selbstverständlich waren: „Das ist einfach dann auch immer zur Weihnachtszeit beim Bäcker gewesen zum Plätzchen backen. (…) Da war ja der größte Backofen. Man hat die Plätzchen da so
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin ausgerollt, fertig gemacht, der Bäcker hat sie rein geschoben. Und so war das, nicht. Ja. Ja, und dann hatte man noch ... Da hatten wir doch hier auch noch die Molkerei, wo man dann auch Molke geholt hat (…).“ (IninG3 437-448)
Die Empfindung, das Zusammenleben im Dorf habe sich geändert und sei nicht mehr so wie früher, wird in den Interviews mehrfach mit dem Wegfallen bestimmter Kommunikationsräume und -orte verbunden, wie beispielsweise dem Einkaufsladen in Glaisin, dem Ort, an dem früher die Milchkannen zum Abholen bereitgestellt wurden etc. Die an ihre Stelle getretenen neuen Kommunikationsund Begegnungsräume, z. B. die Vereinsräume und Dorffeste, sind für die ungezwungenen Kontakte nur unzureichender Ersatz.
Haus der Vierjahreszeiten, Forsthof, Gillhoff-Stuben und andere Innenräume: „Das wirklich Leben in den Dörfern ist (…).“ Ergänzend zu den lokalen Außenräumen haben daher die lokalen Innenräume einen wichtigen Bedeutungszuwachs erfahren, denn hier finden nicht nur Gespräche statt. Sie werden für Freizeitaktivitäten und Geselligkeit genutzt, die Pflege alter Bräuche und des Plattdeutschen, etc. Kurz: In diesen Räumen findet ein großer Teil des gesellschaftlichen Lebens im Dorf statt. An die Innenräume stellen meine Gesprächspartnerinnen die Erwartung, dass sie die Menschen im Ort zusammenführen, dass sich dort die Vereinsmitglieder treffen können und die Möglichkeit besteht, gemeinsamen Interessen nachzugehen. Die Glaisiner/innen müssen wissen, wo sie hingehören, so Doris Blumm im Interview, und dass es Räume gebe, die sie aufsuchen können: „Ja, dass sich hier die Vereine treffen können, dass der Zusammenhalt damit gefördert wird, dass die Leute auch wissen, wohin sie zu gehen haben.“ (IninG4 686-687) Frau Lindner spricht davon, wie wichtig ihrer Meinung nach der Zusammenhalt der Menschen im Dorf sei, und dieser entstehe auch durch gemeinsames Tätig- sein in Vereinen: „Dass man die Zusammengehörigkeit hat. Das ist einfach wichtig, nicht. Und da ist es auch noch fast egal, welcher Verein das ist. Aber, dass was getan wird, dass eben wirklich Leben in den Dörfern ist.“ (IninG3 400-401) In Glaisin gibt es eine Reihe von Vereinen und Gruppen. In den Interviews wurde vor allem vom Landfrauenverein, der Volkssolidarität und dem Frauenkreis der Kirche gesprochen. Erwähnt wurden auch die Sangesfreudigen Landfrauen, der Jugendclub, die Gillhoff-Gesellschaft, die Sportgruppe, die Feuerwehr, die Schützenvereine, der Opelclub, der Fahrradverein, die Gymnastikgruppe sowie die Tanzgruppe. Sie alle stehen für gesellschaftliche Kontakte und Aktivitäten, die somit dazu beitragen, dass die Bindungen der Bewohner/innen
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zueinander nicht abreißen. Dort treffen sich Menschen mit ähnlichen Interessen und Anliegen. Frau Sand erzählt, dass es früher nicht so viele Ausflüge und Angebote gegeben hätte. Dies sei erst so, seit es die vielen Vereine gibt. Zu DDRZeiten hätten die Betriebe ab und zu eine Fahrt organisiert und dann wären meistens die Ehepaare mitgefahren. Die Angebote des Landfrauenvereins hätten für sie einen ganz anderen Wert. Sie würde sich dort viel freier und unbefangener fühlen. „Beim Landfrauenabend, da haben wir dann auch so viel Witze gemacht und so, im Bus dann. Da sagt eine: ‚Was meinst du, wenn unsere Männer jetzt hier sitzen würden. Die würden uns aber angucken. - ‚Ja, da hast du Recht. Also so lustig wäre es dann nicht.“. (IninG6 711-714) Diese Freiheit habe es erst nach der Wende gegeben, erzählt Frau Sand weiter. Früher gab es keine Freiräume in der Art und Weise. Diese seien aber wichtig. Die Menschen sollten nicht wie Kletten zusammen leben. Der Landfrauenverein steht für Frau Sand somit auch für eine neu gewonnene Freiheit: Die Bewohner/innen können nun auch ohne den Partner oder die Partnerin selbst bestimmt ihre Freizeit verbringen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Somit werden sie zu Räumen der Emanzipation. Es gab auch vor der Wende schon Vereine, nur für Frauen beispielsweise den Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD). Allerdings war dieser politisch geprägt und damit gab es die Freiheiten nicht in dem Maße, wie Frau Sand sie im Interview anspricht (vgl. IninG6). Esther Perla kommt im Interview ebenfalls auf die Vereine zu sprechen, die es schon vor der Wende gegeben hat. Auch sie erzählt, dass der Kontakt der Frauen zueinander beim Demokratischen Frauenbund Deutschlands und auf den vielen Veranstaltungen stattgefunden hätte. Sie seien angeboten und organisiert worden, um die Dorfgemeinschaft zu fördern. Im Vergleich zu früher habe sich ihrer Meinung nach nicht viel verändert. Man habe sich so wie heute auch in Räumen getroffen (IninG2 683-698). Für Esther Perla sind diese Räume wichtig, weil in ihnen der Kontakt der Dorfbewohner/innen zueinander und die Pflege der Gemeinschaft im Dorf möglich sind. Frau Lindner hat diese Zeiten wiederum anders erlebt. Für sie ist der Landfrauenverein Ausdruck einer neuen Zeit: Mit der Wende sei mit einem Mal mit allem Schluss gewesen. Der Landfrauenverein sei dann das Forum gewesen, in dem sich die Frauen getroffen hätten. Dieser habe so viel Zeit in Anspruch genommen, dass andere Räume wie beispielsweise der Strickverein als Raum von Frauen, der keinen politischen Hintergrund hatte, aufgegeben wurden. Mit dem neuen Verein sei dann auch ein räumlicher Wechsel vollzogen worden. Die reinen Frauen-Treffen hätten nicht mehr zu Hause stattgefunden, sondern in der Gaststätte im Dorf. Damit erfolgte eine Öffnung des lokalen Raumes für eine regionale Gemeinschaft, die in der Gaststätte ihre Vereinstreffen abhielt.
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
Die Vereine geben jedoch auch Raum für das Austragen von Konflikten. Frau Mai und Frau Perla berichten von Unstimmigkeiten zwischen Zugezogenen und Alteingesessenen (IninG5 691-714, IninG2 1001-1018). Davon betroffen sei der Schützenverein. Da zwischen den Parteien nicht vermittelt werden konnten, wurde ein zweiter Schützenverein gegründet, in dem die Zugezogenen ihre Schützengemeinschaft pflegen. Elsa Mai lässt durchblicken, dass die Zugezogenen es in diesem Fall nicht einfach gehabt hätten. Die Physiotherapie mit Sportangeboten ist Treffpunkt der jüngeren Frauen, die nicht im Landfrauenverband und anderen Vereinen aktiv sind. Die Jugendlichen aus dem Dorf treffen sich im Jugendclub. Die Gastwirtschaft, früher ein wichtiger Treffpunkt für die Dorfbewohner/innen, hat nach der Wende an Bedeutung verloren. Es habe zunächst einen totalen Einbruch gegeben, so Frau Mai, weil niemand mehr Geld für die Kneipe übrig hatte. Getränkeshops hätten billige Angebote gemacht und Dorfgemeinschaftshäuser und -räume wären eine günstige Alternative gewesen zu den Gaststätten. Erst im Nachhinein, als es keine Gastwirtschaft mehr in den Dörfern gab, sei vielen Bewohnern/innen bewusst geworden, was verloren gegangen sei (IninG5 66-130). Heute ziehe der Forsthof ein bunt gemischtes Publikum an – sowohl von außerhalb als auch aus dem Dorf: vom „einfachen Schluckspecht“ bis hin zum Bürgermeister oder Ministerpräsidenten seien bei besonderen Anlässen alle vertreten. Es kämen sowohl einzelne Personen als auch ganze Gruppen und Vereine. Die Feuerwehr veranstalte Partys im Forsthof, man komme aber auch zum Bowlen und anschließenden Abendessen. Der Schützenverein halte im Forsthof seine Versammlungen ab, der Taubenzüchterverein feiere dort, die Frauenfahrradgruppe kehre dort nach ihren Touren ein und der Ärztestammtisch richte dort seine Tagungen aus. Die Gemeindevertretung treffe sich dort zu Sitzungen, Privatpersonen feiern z. B. Goldene und Silberne Hochzeiten etc. (IninG5 253-291). Der Forsthof lebt von Mund-zu-Mund-Propaganda und Empfehlungen. Heute ist die Gaststätte nicht nur ein Ort für Männer. Auch Frauen zählen zu den Besuchern, allerdings nie allein sondern immer in Gruppen und nur zu Anlässen wie Festlichkeiten der Gemeinde. Männer würden auch spontan im Alltag in die Gastwirtschaft gehen, beispielsweise nach Feierabend auf ein Bier (ebd.). Die Vereine sind auch Räume, in denen ein Betrag geleistet wurde zur Gestaltung und Anlage neuer Räume und Orte im Dorf. Sie haben sich für die Gestaltung ihres Dorfes engagiert im Rahmen der Teilnahme an der Weltausstellung EXPO 2000. Die Vereine sind Räume, die Menschen in ihrer Freizeit zusammenführen: beispielsweise Menschen aus dem Dorf mit Menschen aus der Region, ältere Frauen mit jüngeren Frauen, Menschen mit gleichen Interessen etc. Sie geben Raum für Gespräche, Klatsch und Tratsch, gesellschaftliches und kulturelles
5.4 Lokale Räume als kultureller Ausdruck
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Leben und das Austragen von Konflikten, für produktives Arbeiten und die Pflege alter Traditionen. Sie sind Orte der Emanzipation, in denen neue Lebensweisen im Schutz von Gleichgesinnten gelebt werden können. Kurz: In ihnen findet das gesellschaftliche und gemeinschaftliche Leben im Dorf statt und hierfür nutzen und schaffen sie unterschiedliche Orte.
„Nettes Beisammensein“ auf Veranstaltungen, Festen und Feiern Im Dorf gibt es viele Orte, an denen Veranstaltungen, Feste u. a. stattfinden. Sie werden von einzelnen oder mehreren Vereinen zusammen vorbereitet und ausgerichtet. In das Haus der Vierjahreszeiten laden beispielsweise die Landfrauen ein. Veranstaltungen im Forsthof werden von der Pächterin der Gastwirtschaft, der Gemeinde oder auch Privatpersonen ausgerichtet. Die Vorbereitung von Straßenfesten obliegt der jeweiligen Anliegergemeinschaft. Die Gillhoff-Gesellschaft lädt zu Lesungen ein. Veranstaltungen und Feierlichkeiten sind vor allem Begegnungsräume für die Bewohner und Bewohnerinnen Glaisins. Als Ersatz für zwanglose Treffen im Straßenraum und die gemeinsamen Tätigkeiten in landwirtschaftlichen Kontexten sind sie geplante und organisierte Kontakträume der Bewohner/innen. Zu LPG-Zeiten habe man in Glaisin noch viele Dorffeste gemeinsam gefeiert wie beispielsweise das Brigadefest, so Henriette Lindner (IninG3 636-671) und damit habe man das dörfliche Leben mehr gestaltet als heute. „Man hat sich mehr so als Gemeinschaft empfunden. Heute findet jetzt irgendwann mal ein Dorffest statt, ein Schützenfest.“ (IninG3 645-646) Feste und Veranstaltungen im Dorf führen Menschen zusammen: Sowohl die Glaisiner/innen untereinander als auch mit Menschen aus der Region und darüber hinaus. Es gebe aber auch Bewohner/innen, die keine Kontakte haben möchten. Dies seien sowohl Alteingesessene als auch Zugezogene, die sich nur am Wochenende im Dorf aufhalten. Henriette Lindner erzählt, dass es eben nicht möglich sei, alle im Dorf zu erreichen. Zwar nehme durchaus der Großteil der Bewohner/innen an Festen und größeren Veranstaltungen teil. Diese Minderheit im Dorf, die sich gar nicht beteiligen wolle, müsse man ihrer Meinung nach dann auch akzeptieren. Andere wiederum, wie jüngere Bewohnerinnen, hätten einfach keine Zeit: „Die jungen Frauen heute, sage ich mal, die berufstätig sind, ja, sagen eben auch, was so Landfrauen anbelangt: Das sind eben dann auch ältere Generationen, wenn man so will. Also die haben die Zeit auch nicht. Aber trotzdem besteht ein gutes Verhältnis. Also nicht, dass sie nicht mitmachen wollen, aber ich denke mal, das ist in der Zeit begründet, nicht. Sie nehmen ..., freuen sich und wenn eben mal auch so große Veranstaltungen sind, nehmen sie auch daran teil. Aber es ist dann so ein bis-
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin schen anders, nicht. ... Es ist nur ein geringer Teil, der sich nirgendwo daran beteiligt, nicht. So. Und diese Frauen, ja, muss man einfach auch in Ruhe lassen dann.“ (IninG3 268-291)
Annemarie Sand beobachtet ebenfalls, dass es vor allem die jüngeren Generationen sind, die sich zurückziehen. Sie führt dies auf die enormen Belastungen zurück, denen die jungen Leute ausgesetzt sind, wenn sie sich auf dem Erwerbsarbeitsmarkt behaupten müssen. Gerade jüngere Frauen mit Mann und Kindern hätten kaum Zeit für gemeinschaftliche Aktivitäten im Ort. Ihrem Eindruck nach sei diese Generation mehr für sich und ein bisschen verschwiegener als die Generation, der sie selbst und ihr Mann angehören (IninG6 328-368). Auch hier zeigt sich, dass die Beziehungen der Glaisiner/innen im Wandel begriffen sind. Feste und Veranstaltungen sind somit letztendlich auch Räume, die das Einbeziehen all jener ermöglichen, die sich nicht aktiv und regelmäßig in den Vereinen am gesellschaftlichen Leben beteiligen können und möchten. Sie kommen aber trotzdem gelegentlich zu einem der Feste und bewahren so den Kontakt zu den anderen aus dem Dorf. Feste und Veranstaltung sind auch Räume, in denen die Glaisiner/innen sich und das, was sie geschaffen haben, anderen präsentieren und anbieten: ihre kulturellen Darbietungen, ihre Kuchen und Marmeladen, ihre Art des miteinander Feierns, den dekorierten und festlich hergerichteten Raum, der Ort des Feierns ist.
Attraktive Räume als Ausdruck eines zukunftsfähigen Dorfes In einer Zeit, als die dörfliche Gemeinschaft auseinander zu brechen drohte, habe die Teilnahme an der EXPO 2000 dazu beigetragen, dass jetzt, zwölf Jahre nach der Wende, sich das wieder gegeben hätte, so empfindet es Frau Blumm. Die Menschen seien wieder näher zusammengerückt. Die Gemeinde habe alle angesprochen, und dadurch hätten alle die Gelegenheit gehabt, sich zu einzubringen. Vor allem die Vereine hätten zu dieser Entwicklung sehr stark beigetragen. Plötzlich habe es wieder Gespräche gegeben und etwas Gemeinsames, an dem die Bewohner/innen sich auch beteiligen, und so seien sie wieder zusammengekommen im Dorf (IninG4 392-403). Die Gemeinde hat den Bürgern und Bürgerinnen Glaisins in dieser Zeit Räume angeboten, in denen sie gemeinsam ihr Dorf gestalten und nach außen präsentieren konnten. Somit wurde ein Rahmen gegeben, nicht nur für das Einwerben finanzieller Förderungen zum Ausbau des Forsthofes, das Instandsetzen und den Erhalt des alten Dorfbildes etc. Es wurden „Möglichkeitsräume“ zur Weiterentwicklung der äußeren Dorfgestalt und des gesellschaftlichen Lebens
5.4 Lokale Räume als kultureller Ausdruck
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angeboten, die von den Bewohnern/innen angenommen wurden: Viele haben mit Arbeitseinsatz und guten Ideen dazu beigetragen, Glaisin als ein attraktives Dorf zu gestalten und zu erhalten. Insbesondere während der Weltausstellung im Jahr 2000, aber auch danach wurden viele Besucher und Besucherinnen angelockt. Der Forsthof, das Gillhoff-Museum, das Haus der Vierjahreszeiten, die Straßen und Plätze Glaisins sind zu Orten geworden, die Menschen anziehen. In diesen neu gestalteten Räumen finden Feste und Veranstaltungen statt, mit denen explizit auch auswärtige Besucher und Besucherinnen angesprochen werden. Hierzu gehören beispielsweise die Backtage, an denen frisches Brot im alten Backhaus auf dem Gelände des Forsthofes gebacken wird, sowie die Führungen durch die dargebotenen Museums-Ausstellungen und das Dorf selbst. Insbesondere diese Veranstaltungen geben Raum für Kontakte zu Menschen aus der Region und darüber hinaus. Hier drückt sich auch die Attraktivität Glaisins aus. Im Interview kommt Frau Lindner auf den landes- und kreisweiten Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden. Unser Dorf hat Zukunft“ zu sprechen. Wenn sie in ein Dorf gehe, sehe sie sofort, ob in diesem Raum gesellschaftliches Leben stattfindet: „Ja, seit 93 bin ich schon dabei, beim Landeswettbewerb auch und dann aber auch beim Kreiswettbewerb. Und dann hatten wir im letzten Jahr 61 Gemeinden, die wir besucht haben, die am Kreiswettbewerb teilgenommen haben. Und da hat man es ganz deutlich gemerkt: Wo passiert was, wo ist gesellschaftliches Leben da. Und dann habe ich natürlich immer für den Landfrauenverein geworben. Also ich war sofort ... Wenn ich in das Dorf reinkomme: Hier gibt es einen Landfrauenverein. Hier passiert was! Ja. Das ist tatsächlich so.“ (IninG3 406-411)
Die Räume Glaisins spiegeln die Aktivitäten der Bewohner/innen wider. Im Oktober ist alles zum Erntedankfest geschmückt. Vor den Türen einiger Häuser, beispielsweise beim Haus der Vierjahreszeiten, stehen Kürbisse und andere Gaben, auf dem Gelände des Forsthofes ist ein geschmückter Leiterwagen zu sehen. Im Sommer blühen in den Vorgärten Büsche und Blumen, der Biergarten lädt zum Verweilen ein, die Bauerngärten zum Betrachten. Verschiedene thematische Ausstellungen entlang der Jahreszeiten geben Eindrücke von dem Leben in landwirtschaftlichen Kontexten. Die Bewohner/innen sind stolz auf ihr Dorf und seine Attraktivität, zu der viele einen Beitrag leisten. Ihr Dorf hat einen Wert, der sich u. a. darin ausdrückt, dass Touristen kommen. Es bleibt die Aufgabe aller im Dorf, die geschaffenen Räume und ihre Bedeutung für die Bewohner/innen und Besucher/innen Glaisins zu pflegen und zu erhalten. Durch die Gestaltung attraktiver lokaler Außenräume sind Kontakte zu Menschen in der Region und darüber
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
hinaus möglich 96 . Beide, die lokalen Außen- und Innenräume, sind soziale Klammern der Menschen untereinander und sie sind Begegnungsräume unterschiedlicher Gemeinschaften im Ort.
5.5 Das Deutungsmuster: dazu gehören und die Gemeinschaft erhalten Mit der Deutungsmusteranalyse ist das Ziel verbunden, in den Aussagen meiner Interviewpartnerinnen kollektives, überindividuelles Wissen sichtbar zu machen, das sie in Zeiten von Veränderungen und Umbrüchen zu Raumkonstitutionen veranlasst. Es befähigt sie, diese neuen Situationen zu bewältigen, und es ist sinngebend für ihre Herstellungen von Räumen. Da dieses Wissen nur begrenzt reflexiv verfügbar ist und sich in den Aussagen der Interviewpartnerinnen „zwischen den Zeilen“ verbirgt, wird es interpretativ aus den Äußerungen und Schilderungen der Interviewten hergeleitet. Im Ergebnis wird als Deutungsmuster mit gesamtgesellschaftlicher Geltungskraft sichtbar, dass meine Interviewpartnerinnen mit ihren Raumkonstitutionen das gesellschaftliche und gemeinschaftliche Leben im Dorf erhalten möchten. Dafür sprechen Aussagen in den Interviews, in denen Bedürfnisse sichtbar werden wie ‚dazu gehören und die Gemeinschaft erhalten, ‚man muss informiert sein, ‚füreinander da sein oder auch die von allen geteilte Grundhaltung der kollektiven Schaffenskraft, die sich in dem Satz ‚es gibt ja immer etwas zu tun ausdrückt. Hier liegt m. E. das Besondere in dem Einzelfall Glaisin: Die Schaffenskraft dieser Frauen zielt auf kollektive Aktivitäten, beispielsweise auf die gemeinsame Weiterentwicklung der dörflichen Kultur in eigens dafür geschaffenen Räumen. Und indem sie Fremde (Nicht-Glaisiner/innen) in diese Prozesse aktiv einbinden, stärken sie mit ihren Außenorientierungen ihre gemeinschaftlichen Beziehungen. Der Erhalt gemeinschaftlicher Beziehungen und der Zusammengehörigkeit tritt als Gemeinsames in den Vordergrund, als Handlungsmuster, womit sich jede einzelne – wenngleich in unterschiedlicher Art und Weise – auseinandersetzt, für die sie individuelle Lösungsstrategien entwickelt und die allgemein im Dorf akzeptiert werden. Das Wissen um die Bedeutung, die menschliche Nähe und gemeinschaftliches Leben im Dorf für sie haben, veranlasst sie, Räume für Begegnungen und Kommunikation zu schaffen. Darin wurzelt ihre Motivation einen Beitrag zu leisten zur Gestaltung, zum Erhalt oder auch zur Schaffung attraktiver Räume in Glaisin. Aus diesem Grund nehmen sie an den Gesprächen und Gepflogenheiten in Glaisin teil. „Initiierung und Erhalt gemeinschaftlicher
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Diese Funktion habe ich im dritten Quadranten eingehend erläutert.
5.5 Das Deutungsmuster: dazu gehören und die Gemeinschaft erhalten
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Beziehungen und Zusammengehörigkeit“ stehen im Mittelpunkt aller Interviews sowie das Bedürfnis nach sozialer Nähe, Integration und Sicherheit. Im Folgenden wird das Ergebnis der Deutungsmusteranalyse vorgestellt und mit wörtlichen Aussagen der Interviewten belegt. Im anschließenden Kapitel 6 werden die Ergebnisse der Deutungsmusteranalyse in Bezug gesetzt zu soziologischen Theorien, da ich das Deutungsmuster „Initiierung und Erhalt gemeinschaftlicher Beziehungen“ als allgemeines, gesellschaftlich übergreifendes Anliegen verstehe, das Fragen nach personaler Identität, sozialer Nähe und Integration aufwirft. Elsa Mai und Karla Landau sind nicht in ländlichen Verhältnissen aufgewachsen. Frau Mai arbeitet in Glaisin und wohnt im Nachbarort. Ihre Kindheit und Jugend hat sie überwiegend in der Stadt verbracht. Nur in den Schulferien war sie viel im ländlichen Raum. Für ihre Kinder hat sie sich immer gewünscht, dass sie auf dem Land groß werden, vor allem auch wegen der Naturnähe (IninG5 23-34). Eine besondere Qualität ländlichen Lebens bietet ihrer Ansicht nach die Gemeinschaft in Dörfern. „Also für mich ist wichtig, dass man sich versteht und eigentlich doch gut so zusammen leben will, weil ein Dorf zeichnet das eigentlich immer irgendwo ein bisschen aus, dass so ein..., diese Dorfgemeinschaft.“ (ebd. 709-713) Als sie nach Glaisin kam, sei sie sehr schnell sehr gut aufgenommen worden. Sie verstehe sich wunderbar mit den Menschen im Ort (IninG5 118-122). Ihre Kontakte zu den anderen Frauen im Ort ergeben sich aus ihrer Arbeitsstelle im Dorf. Aufgrund ihrer Tätigkeit sieht sie es als ihre Aufgabe an, zu allen im Dorf freundlich zu sein – unabhängig davon, ob sie schon lange in Glaisin wohnen oder erst vor kurzem in den Ort gezogen sind (ebd. 700-737). Frau Mai macht sich viele Gedanken, welche Anlässe und Räume die Bewohnern/innen brauchen, um gemeinsam zu feiern oder um freie Zeit miteinander zu verbringen. Sie schafft Räume an ihrem Arbeitsort, in denen die Bewohner/innen sowohl gemeinschaftliche Beziehungen pflegen als auch Kontakte untereinander sowie zu Menschen von außerhalb schließen können. Sich überall zu beteiligen, „dass man sich hier nicht so abkapselt, einschließt“, so lautete der Vorsatz von Frau Landau, als sie aus der Stadt nach Glaisin zog (IninG1 128). Ihre Strategie zur Integration in die Gemeinschaft des Dorfes besteht darin, möglichst viele Angebote wahrzunehmen. Sie ist in mehreren Vereinen aktives Mitglied. Im Gespräch mit Frau Landau wird deutlich, dass die anderen Bewohnerinnen sich ihr gegenüber offen verhalten haben. Sie haben Frau Landau einbezogen in ihren Kreis und ihre Gespräche (ebd. 126-137). Ihre Kontakte zur Nachbarschaft bezeichnet sie als „ein Geben und ein Nehmen“ – es sei ein selbstverständliches für einander da sein (ebd. 162). Zu den Menschen im Dorf dazu zu gehören heißt für Frau Landau aber auch, dass „man informiert sein muss“ (ebd. 212-224). Von ihrer Nachbarin erfahre sie immer möglichst schnell
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
von allen Neuigkeiten im Dorf. Es bestehe ein enger Kontakt mit ihr. Sie würden sich mindestens ein Mal in der Woche treffen, um sich auszutauschen. Ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit zeigt sich beispielsweise darin, dass sie den Brauch der Volkssolidarität und der Kirche sehr schätzt, Dorfbewohnern/innen zum Geburtstag zu gratulieren und ihnen ein Geschenk nach Hause zu bringen (ebd. 170-176). Ebenfalls gut gefällt ihr, dass sich die Bewohner/innen grüßen, wenn sie sich begegnen (ebd. 204-213). Als (Raum)Gestalterin setzt sie sich dafür ein, dass die Veranstaltungen und Angebote in den Vereinen abwechslungsreich sind und Neues beinhalten. Gleichzeitig bringt sie sich auch aktiv in das gemeinschaftliche Leben im Dorf ein, indem sie beispielsweise Interesse an den Geschehnissen zeigt und den kommunikativen Austausch mit anderen Bewohnern/innen pflegt. Frau Perla und Frau Lindner sind beide gebürtige Glaisinerinnen. Sie haben eine enge Bindung an das Dorf und seine Menschen (IninG2, IninG3). Frau Perla nimmt mit Befremden wahr, dass es Bewohner/innen in Glaisin gibt, die keine Kontakte zu anderen Menschen aus dem Dorf haben möchten (IninG2 751-754). Sie selbst ist voll integriert und bringt sich so viel sie kann in das gesellschaftliche Leben ein. Kontakte zu den anderen Bewohnerinnen ergeben sich im Rahmen ihrer Arbeitstelle, durch ihre Vereinsmitgliedschaften und dadurch, dass sie als gebürtige Glaisinerin die Menschen im Ort kennt. Im Gespräch betont Frau Perla, „dass man versuchen muss, die jüngeren Frauen hier mit einzubeziehen“ (ebd. 970). Sie bemängelt, dass überwiegend die älteren Frauen im Dorf aktiv sind und wünscht sich mehr Generationen übergreifende Aktivitäten. Auch für die Jüngeren sollte es attraktive Veranstaltungen geben. Esther Perla befürchtet, dass sonst irgendwann der Nachwuchs fehlt und das, was ihre Generation geschaffen hat, nicht weitergeführt wird (ebd. 970-983). Auch müsse darauf geachtet werden, dass es vereinsübergreifende Aktivitäten gebe. „Nicht nur, dass sich jeder Verein so zurückzieht, sondern dass man auch so ein bisschen was versucht, zusammen zu machen, eigentlich, zu organisieren, nicht. Dass nicht jeder für sich allein so, jeder Verein ..., sondern dass man eben auch versucht, alle zusammen, irgendwas zu machen, nicht.“ (ebd. 742-743) Dieses Bedürfnis ist auch ihre treibende Kraft für ihre Raumkonstitutionen. Als Erhalterin ist es ihr besonderes Anliegen, nicht nur die Alteingesessenen, sondern auch die Zugezogenen und jene, die wenig Zeit für gemeinschaftliche Aktivitäten haben, in das gesellschaftliche Leben mit einzubeziehen. Esther Perla schätzt es wert, dass die Teilnahme am Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden. Unser Dorf hat Zukunft.“ die Menschen im Ort wieder mehr zusammengeführt hat. Alle hätten damals einen Beitrag geleistet, z. B. indem sie ihre Vorgärten und Beete sowie die Straße sauber und ordentlich gehalten hätten (ebd. 804-830).
5.5 Das Deutungsmuster: dazu gehören und die Gemeinschaft erhalten
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Frau Lindner setzt sich sehr intensiv für das Dorf und seine Bewohner/innen ein. Sie betont wiederholt im Interview, wie wichtig es ist, dass die Glaisiner/innen miteinander reden und gemeinsam etwas tun. „Dass man die Zusammengehörigkeit hat. Das ist einfach wichtig, nicht. Und da ist es auch noch fast egal, welcher Verein das ist. Aber dass was getan wird, dass eben wirklich Leben in den Dörfern ist (IninG3 400-404). Und ob sie dann häkeln und stricken oder sonst was machen, das ist egal. Aber Hauptsache, es wird geredet, nicht.“ (ebd. 416-417) Henriette Lindner setzt sich sehr für das Fortbestehen des Zusammenhaltes ein, indem sie Räume schafft. Über die Gründung des Kreislandfrauenvereines hat sie Frauen aus Glaisin und der Region nach der Wende wieder zusammengeführt und zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben motiviert. Sie teilt mit Frau Perla das Anliegen, auch die jüngeren Frauen in den Verein und andere Aktivitäten stärker integrieren zu können. Schließlich liegt dem Haus der Vierjahreszeiten der Landfrauen ein generationenübergreifendes Konzept zugrunde. Doch das anfängliche Interesse junger Frauen habe mit der Zeit abgenommen, obwohl das Verhältnis zwischen jüngeren und älteren Frauen im Ort gut sei (ebd. 269-322). Um auch die jüngeren gezielt mit einzubeziehen, habe man eine Stelle im Haus der Vierjahreszeiten mit einer jungen Frau besetzt (ebd. 833-838). Ebenso wie Frau Perla kennt Henriette Lindner als gebürtige Glaisinerin nicht nur die Bewohner/innen Glaisins, sondern auch viele aus den umliegenden Dörfern. Frau Blumm und Frau Sand sind nicht gebürtige Glaisinerinnen, sondern haben in das Dorf eingeheiratet und leben seit mehr als 20 Jahren dort. Beide äußern, dass sich der Kontakt der Bewohner/innen untereinander mit der Wende verändert hat. Zu DDR-Zeiten hätten die Menschen mehr zusammengehalten, findet Frau Blumm. Nach der Wende gab es plötzlich Neidereien, weil manche sich mehr leisten konnten als andere. Zwölf Jahre nach der Wende habe sich diese Stimmung wieder gelegt und die Menschen seien wieder näher zueinander gerückt. Dazu habe auch sehr das EXPO-Projekt beigetragen (IninG4 380-453). Damals seien alle Dorfbewohner/innen von der Gemeinde angesprochen worden. Es habe viele vorbereitende Treffen gegeben und dadurch hätten die Menschen wieder zusammengefunden. „Ja, ich denke mal einfach, weil dieser Zusammenhalt jetzt in der letzten Zeit wieder größer geworden ist. Und ... Ja, die meisten haben ihre Kinder groß. Und es befriedigt keinen, irgendwie nur alleine zu Hause herumzusitzen, nicht. Und man muss auch Kontakt zu den anderen haben, und es macht doch einfach Spaß, nicht. Wenn man sich mal einfach nur unterhalten kann und macht irgendwas zusammen oder so. Das macht doch Spaß!“ (ebd. 415-419)
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5 Raumkonstitutionen und lebensweltliche Realitäten in Glaisin
Doris Blumm erwähnt im Gespräch die Gründung vieler Vereine, die es vor der Wende nicht gegeben habe. Die lokalen Räume im Dorf seien für die Vereine wichtige Anlaufpunkte: „Ja, dass sich hier die Vereine treffen können, dass der Zusammenhalt damit gefördert wird, dass die Leute auch wissen, wohin sie zu gehen haben.“ (IninG4 686-687) Um den Zusammenhalt im Dorf zu stärken, geht Doris Blumm vor Veranstaltungen der Gemeinde von Haus zu Haus und lädt persönlich ein, damit Jung und Alt sich auf diesen Treffen mischen. Sie habe mit dieser Vorgehensweise gute Erfahrungen gemacht. Es sei wichtig, dass auch den neuen jungen Bürgern/innen und den Älteren im Dorf ein Gefühl von Zugehörigkeit vermittelt werde (ebd. 612-647). Sie selbst ist in keinem der Vereine aktiv, dazu fehle ihr nun die Zeit. Sie habe schon beruflich sehr viel Kontakt zu den Vereinen und auch den Menschen aus dem Dorf. Als ihre (beruflichen) Aufgaben sieht Frau Blumm es an, die Attraktivität der physischen Räume Glaisins zu erhöhen, um sie auch für Menschen von außerhalb interessant zu gestalten. Als es die Vereine im Dorf noch nicht gab, habe man überall dort geredet, wo man sich gesehen hat, erzählt mir Frau Sand. Die Gemeinschaft im Ort sei immer so gewesen, dass man überall miteinander geredet habe. Heut sei das anders geworden. Vor allem die Jüngeren seien verschwiegener geworden (IninG6 326-370). Frau Sand ist sehr kontaktfreudig und nutzt die vielen Angebote in den Vereinen. Damit trägt sie aktiv zum Erhalt der sozialen und physischen Räume Glaisins bei. Für private Treffen und die Familie bleibt ihr manchmal wenig Zeit. Sie teilt das Bedürfnis der anderen Bewohnerinnen, über die Geschehnisse im Dorf informiert zu sein (ebd. 605-668). Teil der Gemeinschaft zu sein heißt für Annemarie Sand, dass sie informiert sein muss: „Da muss man aufpassen. Und dann bist du auch gleich weg, wenn du ein paar Mal... Dann bist du nicht mehr auf dem Laufenden, dann floriert das nicht so, nicht. Dann musst du das alles wieder nachfragen: ‚Was war? Was war? Was war? Was war da?. Und: ‚Du warst nicht da. Du warst ja wieder nicht da! Und du darfst ja nicht fehlen, sonst kriegst du nicht alles mit.“ (IninG6 633-636)
Sie zeigt damit ihr Interesse an den Bewohnern/innen und den Geschehnissen im Dorf. Sie selbst vermisst nur die Gespräche von Zaun zu Zaun unter Nachbarinnen und die Begegnungen auf der Straße. „Also Glaisin ist Glaisin geblieben, obgleich dass die alle... Das ist Glaisin geblieben. Bloß eben jetzt, man sieht nicht mehr viele auf dem Dorf. Wenn du guckst... (…) Die Straßen sind leer.“ (IninG6 505-507) Ansonsten würde auch die Rückkehr vieler junger Erwachsener nach ihrer Ausbildung zeigen, dass Glaisin seinen Reiz habe (ebd. 519-533).
6 Räume für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen
Raumkonstitutionen sind komplexe soziale Phänomene, zu denen es bereits eine Reihe theoretischer Arbeiten gibt (vgl. Kap. 2). Der Forschungsfokus der vorliegenden Arbeit liegt auf der qualitativen Analyse der Herstellung lokaler Räume sowie der den Handlungen zugrunde liegenden Deutungsmuster und Intentionen. Methodologisch gesehen ist die Analyse qualitativer Daten nach der Grounded Theory auf die Entwicklung einer Theorie gerichtet (Strauss 1998, S. 30; vgl. Kap. 4). Die Auswertungsergebnisse des erhobenen Interviewmaterials verweisen auf bereits bestehende gesellschaftliche Theorien97 zu Gemeinschafts- und Gesellschaftsbeziehungen und insbesondere auf die Handlungsorientierungen von Talcott Parsons (1968). Daher liegt ein Schwerpunkt dieses Kapitels auf dem Austausch zwischen den Erkenntnissen der bereits vorhandenen Theorien sowie jenen aus dem eigenen Datenmaterial für den besonderen Fall Glaisin. Die theoretischen Überlegungen aus den Kapiteln 2 und 3 sowie die Ergebnisse dieser Untersuchung aus dem Kapitel 5 werden dann in einer Synthese aufeinander bezogen. Im abschließenden Resümee in Kapitel 7 wird die Frage aus Kapitel 2 wieder aufgegriffen, um den Erkenntnisgewinn dieser Arbeit und vorhandene Ressourcen Glaisins für eine Nachhaltige Raumentwicklung zu reflektieren.
6.1 Zu den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft Im Ergebnis wird als Deutungsmuster mit gesamtgesellschaftlicher Geltungskraft sichtbar, dass meine Interviewpartnerinnen mit ihren Raumkonstitutionen das gesellschaftliche und gemeinschaftliche Leben im Dorf erhalten möchten. Die Initiierung und der Erhalt gemeinschaftlicher und auch gesellschaftlicher Beziehungen ist ein gemeinsames Handlungsmuster, womit sich jede einzelne meiner
97 Im Hinblick auf die Theorieentwicklung ist es den Forschenden freigestellt, neue Theorien zu entwickeln oder eine schon bestehende Theorie auszubauen, um soziale Phänomene verständlicher werden lassen (Strauss 1998, S. 32, S. 40 sowie S. 359 ff.).
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6 Räume für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen
Interviewpartnerinnen – wenngleich in unterschiedlicher Art und Weise – auseinandersetzt. Das Deutungsmuster ist ihr handlungsleitendes Ziel in der Herstellung von Räumen, für das sie individuelle Lösungsstrategien entwickeln. Ich verstehe das Deutungsmuster ‚Initiierung und Erhalt gemeinschaftlicher Beziehungen als allgemeines, gesellschaftlich übergreifendes Anliegen, das Fragen nach personaler Identität, sozialer Nähe und Integration und letztlich auch nach Räumen aufwirft, in denen diese Beziehungen gelebt werden können. Die lokalen Räume Glaisins sind die Grundlage für soziales Handeln und Interaktionen der Bewohner/innen. Sie gestalten, nutzen und entwickeln diese Räume und somit entstehen soziale Bezüge – zu den Bewohnern/innen und zu den Räumen – als Resultate ihres Handelns. In meinen Gesprächen mit den Glaisiner Frauen (vgl. Kap. 5) habe ich erfahren, dass sie verschiedenen Gemeinschaften im Dorf angehören. Es gibt Gemeinschaften, die auf Frauen oder Männer beschränkt sind und es gibt Gemeinschaften, die von beiden Geschlechtern gebildet werden. Neben Zweckgemeinschaften wie Fahrgemeinschaften (z. B. zum Einkaufen in die Stadt oder zur Erwerbsarbeit), Arbeitsgemeinschaften (in reproduktiven und produktiven Kontexten) und Gemeinschaften unter Nachbarn (Nachbarschaftshilfe) berichten die Frauen auch von Gemeinschaften, deren Mitglieder sich ausschließlich in ihrer Freizeit treffen, z. B. in den Vereinen, beim Sport oder in der Gaststätte. Neben diesen „kleineren“ Gemeinschaften gibt es eine „große“, die kleineren umfassende Gemeinschaft, die Dorfgemeinschaft, der sich laut Aussage der Frauen die Mehrzahl der Dorfbewohner/innen zugehörig fühlen. Zusätzlich zu dieser lokalen, auf das Dorf beschränkten Gemeinschaft, gibt es eine „erweiterte Gemeinschaft“, wie beispielsweise den Kreislandfrauenverein, zu der auch Menschen aus der Region gehören. Es geht den Glaisinerinnen in der Gestaltung und Nutzung lokaler Räume also nicht nur um den Erhalt der lokalen, auf den Ort beschränkten Gemeinschaften. Ihr Anliegen ist ebenso der Erhalt des regionalen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Der Begriff der Gemeinschaft „ist ein in seiner Bedeutung schwankender Grundbegriff für einen besonderen Typ sozialer Verbundenheit. Er spielt besonders in der Soziologie eine verhängnisvolle Rolle, da er mehrdeutig ist, was bei einem ‚Grundbegriff eigentlich nicht der Fall sein sollte“ (König 1967, S. 92). In der Zusammenführung meiner Ergebnisse aus den vorherigen Kapiteln erscheint es mir daher angemessen, den Begriff der Gemeinschaft wissenschaftlich zu reflektieren, um in einem ersten Schritt die Begriffe „Gemeinschaft und Gesellschaft“ sowie „Gemeinschaft und Nachbarschaft“ voneinander abzugrenzen. In einem zweiten Schritt werde ich dann der Frage nachgehen, ob nachbarschaftliche, gemeinschaftliche und gesellschaftliche Beziehungen jeweils eigene Räume haben und welche Bedeutung meine Interviewpartnerinnen den lokalen öf-
6.1 Zu den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft
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fentlichen Räumen zuweisen. An dieser Stelle werde ich die Raumbegriffe und -verständnisse meiner Interpartnerinnen mit Aussagen aus dem planungswissenschaftlichen Diskurs zu öffentlichen und privaten Räumen zusammenführen. Innerhalb der Agrarsoziologie und der ländlichen Soziologie sowie der Rural Sociology, der Gemeindesoziologie und der Community Studies gibt es breit angelegte Diskurse zu „Gemeinschaft“, „Gesellschaft“, „Zusammengehörigkeit“ und „Nachbarschaft“ (vgl. zusammenfassend Brauer 2005 sowie Hahn, Schubert & Siewert 1979, Kiss 1977, König 1958, 1967, 1972, Runkel 2002, Warren 1970)98. Der Begriff der Gemeinschaft wird zur Beschreibung gesellschaftlicher Beziehungen in ländlichen Gemeinden verwendet (vgl. u. a. Bertels 1987, S. 15 ff., Dunckelmann 1975, S. 126 ff., Hamm 1973, S. 44 ff., Inhetveen 1988, Planck & Ziche 1979, S. 133 ff.). Er geht auf Tönnies (1887, zitiert nach Planck & Ziche 1979, S. 133; vgl. auch Kiss 1977, König 1958, 1967, 1972, S. 57 ff., Runkel 2002) zurück, der zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft unterscheidet. Eine Gemeinschaft ist organisch gewachsen und gleicht vom Wesen her einer größeren Familie. Sie wird von einer inneren Bindung der Menschen zusammengehalten. Es besteht eine gewisse Übereinstimmung in Gefühlen, Werten, Interessen und Verhaltensweisen, von denen die Gemeinschaft letztlich getragen wird. Die teilhabenden Menschen sind bestrebt soziale Distanzen zu überwinden, um Nähe und persönliche Bindungen zu schaffen.
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Ich beziehe mich im Folgenden nicht allein auf die Agrarsoziologie, sondern auch auf Diskurse der Soziologie im Allgemeinen. Differenzierte Aussagen zum Verständnis von Agrarsoziologie, ländlicher Soziologie sowie Gemeindesoziologie und Community Studies machen Brauer (2005), König (1972), Kötter (1972), Planck & Ziche (1979), Warren (1970), Ziche (2005). Neben dem Begriff der Agrarsoziologie ist auch der Begriff der ländlichen Soziologie sehr geläufig. Der Wechsel der Bezeichnung rekurriert auf die Veränderungen im ländlichen Raum, die maßgeblich durch den Rückgang der Landwirtschaft ausgelöst werden. Kötter (1972, S. 13 ff.) sieht in diesem Wandel eine Erweiterung des Aufgabengebietes der Soziologie. Das Leben im ländlichen Raum steht nicht mehr in engem Zusammenhang mit der Landwirtschaft – vielmehr eröffnen sich vielfältige, neue sozialökonomische Perspektiven und diesen gilt das Forschungsinteresse der ländlichen Soziologie. Der Begriff der ländlichen Soziologie konnte sich jedoch nicht vollständig durchsetzen, so dass im Folgenden von Agrarsoziologie gesprochen wird und die ländliche Soziologie wird als ein Forschungszweig verstanden. Zur Erforschung des Stadt-Land-Kontinuums in Verbindung mit der Gemeinschaft-Gesellschaft-Typologie haben insbesondere die Rural Sociology (Laschewski 2005) sowie Communitiy Studies beigetragen. Studien mit weiter gefassten soziologischen Fragestellungen und einem spezifischen methodischen Zugang empiriegeleiteter Theoriebildung (vgl. Strauss 1998) – dieser ist nach Brauer (2005, S. 33) bei den (deutschen) Gemeindenstudien eher diffus – werden Community Studies genannt. Letztere haben ihren Ursprung in den USA. Neben Dörfern wurden in Amerika auch Klein- und Mittelstädte untersucht. In Deutschland wird die Gemeindesoziologie meist als Teil der Stadt- und Regionalsoziologie betrachtet.
192
6 Räume für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen
Auch der Zusammenhalt basiert auf sozialer Nähe und emotionaler Bindung. Zusammenhalt stellt sich nach Durkheim (1977, zitiert nach Planck & Ziche 1979, S. 133) dann ein, wenn die Menschen sich zusammengehörig fühlen. Durkheim unterscheidet zwischen Zusammengehörigkeit, die auf Gleichheit (der Herkunft, des Berufes, des Lebensstils) beruht und jener, die auf Verschiedenheit (differenzierende Arbeitsteilung) und damit gegenseitiger Abhängigkeit basiert. Eine Haltung, die von Gleichgültigkeit und Desinteresse bestimmt ist, wäre einem Gefühl von Zusammengehörigkeit sowie der Gemeinschaftsbildung abträglich. Eine Gesellschaft ist laut Tönnies (1887, zitiert nach Planck & Ziche 1979) ein zweckrationaler Zusammenschluss. Kiss (1977, S. 57) beschreibt sie als „ein mechanisch konstruiertes und beliebig konstruierbares Gebilde“ und sie bedarf gewisser Regeln wie Gesetze, Verfassungen, Satzungen etc. In Gesellschaften werden Distanzen und sachlich bezogene Beziehungen aufrechterhalten. Statt Einheitlichkeit und persönlicher Bindungen werden individuelle Freiheiten und unterschiedliche Interessen betont. Der Argumentation Tönnies (1887, zitiert nach Planck & Ziche 1979) folgend, handelt es sich bei Gemeinschaft und Gesellschaft um ein gegensätzliches Begriffspaar. Kiss (1977, S. 125 ff.) weist darauf hin, dass Alfred Weber dieses „entweder/oder“ auflöst, indem er die von Tönnies vorgenommene Unterscheidung aufgreift, die Grenzen zwischen beiden jedoch als fließend bestimmt. Weber unterscheidet zwischen Vergemeinschaftung, zu der er jene sozialen Beziehungen zählt, die auf subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten beruhen und Vergesellschaftungen, deren soziale Beziehungen auf Handlungen basieren, die aufgrund von rationalen, d. h. wertoder zweckrationalen Interessen erfolgen. Kiss führt weiter aus, dass Weber im Gegensatz zu Tönnies keineswegs ein gegensätzliches, sondern ein komplementäres Begriffspaar bildet, dass kaum voneinander zu trennen ist. Die Mehrzahl der Beziehungen sind für Weber beides, teils Vergemeinschaftung und teils Vergesellschaftung, denn jede Vergesellschaftung kann Gefühle und Bindungen hervorrufen (ebd., S. 128). Somit löst Weber die strikte Trennung von Gemeinschaft und Gesellschaft auf.
Gemeinschaft und Gemeinde Einen ähnlichen Ansatz wählt König (1958), der sich speziell mit der Soziologie der Gemeinde auseinander gesetzt hat. Er führt den Begriff der globalen Gesellschaft ein, der die Gemeinschaft als besondere Form gesellschaftlicher Beziehungen mit einschließt. König begründet sein Vorgehen/seine Überlegungen mit
6.1 Zu den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft
193
der Existenz einer Vielzahl von Funktionsbeziehungen, die in einer Gemeinde vorhanden sind. Diese bestehen aus einer Fülle von Einzelgruppen und anderen sozialen Beziehungen, die nicht nur untereinander, sondern auch mit den Gesellschaften außerhalb des Dorfes in Wechselwirkung stehen99. Eine Gemeinde ist als Teil eines modernen Gesellschaftssystems zu begreifen, und in diesem System besteht die Möglichkeit der Bildung von Gemeinschaften (vgl. hierzu auch Hahn, Schubert & Siewert 1979, S. 45). Eine Gemeinde ist bei König (1958, S. 19) vor allem eine räumliche Einheit und keine soziale im Sinne einer Gemeinschaft. König spricht sich damit auch gegen eine synonyme Verwendung der Begriffe Gemeinschaft und Gemeinde aus. Räumliche Nähe und Geschlossenheit müssen nicht immer mit innerer Verbundenheit einhergehen. So führte z. B. die Nutzung der Allmende nicht unbedingt zur Bildung gemeinschaftlicher Beziehungen – sie war lediglich gemeinsamer Besitz. Die frühere Verwendung des Begriffs der Gemeinschaft bezog sich demnach nur auf Gemeinschaftsgebiete100 im Gegensatz zu dem neueren Verständnis von Gemeinschaft, das die „persönlich-geistig-seelische Verbundenheit“ fokussiert (König 1958, S. 19). Die Gemeinde und auch das Dorf sind demnach kein integriertes Ganzes, weil die soziale Wirklichkeit des Interagierens unter Voraussetzung gemeinsamer Bindungen immer auch starke innere Spannungen und Konflikte einschließt. Räumliche Nähe bedingt demnach nicht immer innere Einheit und die Entstehung einer Gemeinschaft (vgl. König 1958, S. 113). Die Eigenart einer Gemeinde entsteht aus der Vielfalt der sozialen Beziehungen, den vielfältigen Formen sozialer Interaktionen, gemeinsamer Bindungen oder auch Wertvorstellungen sowie den zahlreichen Varianten innerer Verbundenheit. Gemeinden enthalten soziale Systeme, die maßgeblich aus Kommunikationssystemen und Gruppenbildungen, sozialer Kontrolle, internen Spannungen, Macht- und Klassenschichtungen und den kulturellen Traditionen bestehen. Das Zusammenwirken all dieser spezifischen sozialen Momente macht das soziale System aus (ebd., 29 ff.). Die Gemeinde als globale Gesellschaft wird bei König (ebd., S. 28) so zum Oberbegriff, der Gemeinschaft, Familie und Nachbarschaft mit einschließt. Während Gemeinschaften generell von Interaktionen bestimmt sind, die auf Gefühlen und emotionalen Bindungen beruhen, muss dies bei nachbarschaftlichen Beziehungen nicht gegeben sein (vgl. Honvehlmann 1990). Auch der Be-
99
In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Hamm (1973, S. 47): Er kommt zu dem Ergebnis, dass „vom Dorf als einer Gemeinschaft“ nicht mehr gesprochen werden kann. Hamm führt dies zurück auf veränderte räumliche Verhaltensmuster der Bewohner/innen sowie den daraus resultierenden, über das Dorf hinausreichenden, sozialen Beziehungen (vgl. hierzu auch Hahn, Schubert & Siewert 1979, S. 12, Kötter 1972, S. 22 f. sowie Warren 1970, S. 18 ff.). 100 Dies sind Gebiete, die in gemeinschaftlichem Besitz waren, wie z. B. die Allmende.
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6 Räume für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen
griff der Nachbarschaft wird kontrovers verwendet und diskutiert (Bertels 1987, Hamm 1973, Honvehlmann 1990, König 1958, Warren 170, S. 33 ff.) und sollte nicht pauschal für die sozialen Beziehungsgefüge im Dorf stehen. Nachbarschaft ist zwar ein Grundprinzip menschlicher Vergesellschaftung – sie muss jedoch nicht unbedingt zur Vergemeinschaftung führen (König 158, S. 33 ff.). Nach Hamm (1973, S. 14) lässt sich dieser Terminus bis in das Althochdeutsche zurückverfolgen. Er ist zusammengesetzt aus den Wörtern „nah“ und „Bauer“ und ist sinngemäß zu verstehen als „nah zusammen wohnend“. Mit dem Begriff Nachbar ist also derjenige gemeint, dessen Haus in der Nähe des eigenen Hauses liegt, also in räumlicher Nähe (vgl. auch Honvehlmann 1990, S. 18 ff.). Nachbarschaft hat neben räumlichen auch soziale Dimensionen. Das Wort Nachbarschaftshilfe weist auf soziale Interaktionen hin: Es wird demjenigen geholfen, der nahe dem eigenen Haus wohnt. In früheren Zeiten war die wirtschaftliche Abhängigkeit der Dorfbewohner/innen voneinander sehr viel größer als heute. Als die Mehrheit der Dorfbewohner/innen von der Landwirtschaft lebte, waren Hilfestellungen unter Nachbarn selbstverständlich. Man half sich untereinander, wenn saisonal bedingt Feldfrüchte zu ernten waren oder andere spezielle Arbeiten getan werden mussten (vgl. Kap. 5, S. 102 f. und 134 f.). Diese Hilfestellungen sind heute angesichts der fortgeschrittenen Technisierung weitgehend überflüssig geworden. Honvehlmann (ebd., S. 16 und 23 ff.) spricht von einem Bedeutungsverlust der Nachbarschaft in modernen Gesellschaften. Einige Grundtypen von Nachbarschaftshilfe wie z. B. bei Arbeiten am Haus sind jedoch auch heute noch selbstverständlich (vgl. hierzu ausführlich Honvehlmann ebd., Ostendorf 1997, S. 137 f.). Notsituationen wie etwa die Flutkatastrophen an der Elbe zeigen allerdings, dass die Nachbarschaftshilfe lebendiges Gut darstellt, das bei Bedarf aktiviert werden kann. Unter dem Begriff „Nachbarschaft“ werden also jene Beziehungen und Interaktionen gefasst, die unter Menschen stattfinden, die nahe zusammen leben. Räumliche Nähe kann soziale Interaktionen auslösen und aus ihnen können gemeinsame Bindungen, Werte oder Traditionen erwachsen – dies ist jedoch nicht immer gegeben. Dagegen spricht auch die von Honvehlmann (1990, S. 279) festgestellte Entwicklung, dass immer häufiger kleine Interessengruppen zusammenkommen, „die quer durch die Nachbarschaft und oft auch darüber hinausgehen“. Die Bedeutungen der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft sowie Nachbarschaft werden seit langem kontrovers diskutiert. Es zeichnet sich jedoch Übereinstimmung dahingehend ab, dass Gesellschaften immer dann entstehen, wenn Individuen untereinander in Wechselwirkung treten. Entscheidend für die Bildung einer Gesellschaft ist, dass die Individuen aus einem isolierten Nebeneinander heraustreten und ein zweckgerichtetes Miteinander und Füreinander ein-
6.1 Zu den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft
195
gehen. In Auseinandersetzung mit oben zitierten Beiträgen scheint mir an dieser Stelle eine neutrale und offene Annäherung an die gesellschaftlichen Beziehungsgefüge im Dorf angemessen (vgl. auch Inhetveen 1988), um die Vielfalt der Beziehungen in den Vordergrund zu rücken. Nach Simmel (1984, S. 49) ist „die Vergesellschaftung (…) also die in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichende Form, in der die Individuen auf Grund jener – sinnlichen oder idealen, momentanen oder dauernden, bewußten oder unbewußten, kausal treibenden oder teleologisch ziehenden – Interessen zu einer Einheit zusammenwachsen und innerhalb deren diese Interessen sich verwirklichen“. Dieser Definition folgend, sind alle sozialen Interaktionen im Dorf zunächst gesellschaftliche Beziehungen einschließlich jener, die außerhalb des Dorfes stattfinden. Gemeinschaftliche Beziehungen haben somit eine besondere Qualität, die eine andere ist als jene, die gesellschaftlichen Handlungen und Beziehungen zugrunde liegt. Mit Blick auf soziologische Diskurse wird ebenfalls deutlich, dass nicht alle sozialen Interaktionen in der Gemeinschaft erfolgen. Die Bewohnerinnen Glaisins zeigen gesellschaftliche (rationale und an bestimmten Zwecken orientierte) und gemeinschaftliche (auf Gefühlen und Zusammengehörigkeit basierende) Interaktionsmuster. Der Vielfalt an gesellschaftlichen Beziehungen steht eine Vielfalt von Gemeinschaften im Dorf gegenüber. Daraus schließe ich, dass meine Gesprächspartnerinnen sich zwischen verschiedenen Arten von Beziehungen bewegen. Auf der einen Seite gestalten sie ihre sozialen Kontakte, die von rationalen und zweckgerichteten Vorstellungen und Zielen herrühren – dies wären gesellschaftliche Beziehungen. Ihr Bedürfnis nach zwischenmenschlichen Kontakten geht einher mit dem Wunsch nach Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit. Auf der anderen Seite pflegen sie Beziehungen, die auf Gefühlen wie innerer Verbundenheit und Zugehörigkeit gründen und diese sozialen Interaktionen führen zur Bildung ihrer Gemeinschaften im Dorf: Gemeinschaft
Gesellschaft
emotional, gefühlsbetont
rational, zweckgebunden
nah
distanziert
Soziologisch lässt sich dieses Verhalten auch mit Talcott Parsons (1968) „Orientierungsalternativen des Handelns“ erklären, die von der Dichotomie Gesellschaft und Gemeinschaft geprägt sind. Seine „pattern variables“ beziehen sich auf das von Tönnies eingeführte und von Weber erweiterte Begriffspaar und dienen der Analyse menschlichen Handelns (vgl. Runkel 2002, S. 74 ff., Kiss 1977, S. 157 ff.). Dies sind:
196
6 Räume für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen
1. Affektivität – Affektive Neutralität: Emotionales Handeln versus neutral strukturierte Handlung. 2. Partikularismus – Universalismus: Handeln entsprechend eines bestimmten Standards oder einer individuellen Bedürfnisposition versus konformes Verhalten mit allgemeinen Wertforderungen. 3. Zuweisung (Ascription) – Leistungsorientierung (Achievement): Orientierung nach vorgegebenen Qualitäten oder Handeln nach zugeschriebenen Eigenschaften versus Vorziehen von Tätigkeitsformen unter Leistungsaspekten. 4. Diffuses Verhalten – Spezifisches Verhalten: Handeln ohne normative Vorgaben, sondern auf die eigene Art und Weise versus spezifiziertes Interaktionsschema ohne Variabilität. Demnach kann soziales Handeln entsprechend analysiert werden, denn je nach Situation bedarf es einer Orientierung des Handelnden. Die Orientierungstypen Emotionalität, diffuses Verhalten, Partikularität, Kollektivorientierung und Handlung nach zugeschriebenen Eigenschaften entsprechen jenen Handlungsstrukturen, die Tönnies mit dem Begriff der Gemeinschaft bezeichnet hat. Entsprechend stehen die Orientierungstypen der emotionalen Neutralität, des spezifischen Verhaltens, des Universalismus, der Selbstorientierung und der Orientierung nach Leistung für gesellschaftliche Beziehungen. Obwohl diese Orientierungsmuster zunächst das dichotome Verhältnis von Gemeinschaft und Gesellschaft zu stützen scheinen, gibt es nach Kiss (1977, S. 161) bei Parsons „keine Entwicklung von Gemeinschaft zu Gesellschaft, sondern nur konstituierende Aspekte dieser Typen unter den Bedingungen wachsender Differenzierung, d. h. andere, vielschichtige Verteilungen und Kombinationen der GemeinschaftGesellschaft-Dichotomie“. Mit den pattern variables ermöglicht Parsons dem Forschenden, denkbare Bezugspunkte der im Sozialen eingebetteten Handlungsorientierungen zu erfassen. Eine weitere theoretische Erarbeitung dieser Problematik ist Aufgabe zukünftiger Forschungsarbeiten, beispielsweise systemtheoretischer Arbeiten. Im Folgenden wird ein erster Versuch unternommen, um die Orientierungstendenzen nach Parsons und die Analyseergebnisse der Interviews zueinander in Bezug zu setzen.
6.2 Gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen in Glaisin
197
6.2 Gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen in Glaisin In Glaisin hat nach der Wende ein Prozess eingesetzt, in dem sich die Bewohner/innen voneinander entfernt haben. Sie waren zunächst mit sich und der neuen Situation beschäftigt, die für viele den Verlust der lokalen Erwerbsarbeit und zunehmende soziale und wirtschaftliche Unsicherheiten bedeutete. Diejenigen, die eine neue Erwerbsarbeit finden, müssen mitunter täglich weite Wege zurücklegen und pendeln. Viele Strukturen, die insbesondere Frauen mit Kindern die Aufnahme einer Erwerbsarbeit möglich machten, gibt es plötzlich nicht mehr, arbeitslose Frauen beginnen sich regelrecht zu verkriechen. Diese mit der Wende einsetzenden Zwänge nötigten viele Bewohner/innen aus ihren bisherigen Lebensweisen herauszutreten. Das gemeinschaftliche Leben in Glaisin hatte plötzlich eine untergeordnete Rolle, bis es brachlag, verursacht durch ausbleibende Begegnungen der Bewohner/innen. Sie gehen seither eigene Wege und orientieren sich überwiegend an den neuen gesellschaftlichen Ansprüchen, und bleiben nur teilweise den tradierten Lebensweisen verhaftet (vgl. Marinescu 1988). In dieser Umbruchsituation, in der Individualisierungsprozesse wirken, wird das Deutungsmuster in seinen verschiedenen Ausprägungen – beispielsweise „den Zusammenhalt fördern“, „die Gemeinschaft erhalten“, „gut zusammen leben wollen“, „miteinander reden“ – handlungsleitend: Es werden Räume geschaffen, um soziale Nähe und Integration sowie gemeinschaftliche und gesellschaftliche Beziehungen zu pflegen bzw. zu erhalten. Beispielsweise bezieht der Landfrauenverein in Glaisin Vereinsräume, in denen traditionale Lebensweisen gepflegt werden. Wissen wird nicht mehr lokal (an Glaisinerinnen), sondern regional (an Glaisinerinnen und Frauen aus der Region) vermittelt und weitergegeben. Es werden neue, regionale Sozialwelten gebildet (vgl. Marx 1999), denn die Gemeinschaft der Glaisiner Frauen wird durch Frauen aus der Region erweitert. Neben der Pflege der lokalen Gemeinschaft im Dorf, die auch sehr auf nachbarschaftlicher Hilfestellung gründet, nimmt die Öffnung des Dorfes in die Region und über die Region hinaus einen zunehmend größer werdenden Stellenwert ein. Das Dorf Glaisin wird mit Landes-, Bundes- und EU-Mitteln saniert und gestaltet. Die Bewohner/innen sind stolz auf die attraktiven Räume Glaisins, die viele Fremde zur Fahrt nach Glaisin veranlassen. Die damit verbundene Öffnung nach außen – die Bewohner/innen präsentierten sich und ihr Dorf u. a. auf der Weltausstellung EXPO 2000 in Hannover sowie auf einer landwirtschaftlichen Messe, der Günen Woche in Berlin – nimmt immer mehr Raum im Leben aktiver Dorfbewohner/innen ein. Im Dorf entsteht somit eine neue Lebensqualität: Besucher/innen kommen nach Glaisin und mit ihnen ergeben sich Möglichkeiten, gesellschaftliche Kontakte in den lokalen Räumen Glaisins zu pflegen.
198
6 Räume für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen
Dieser Prozess der Herausbildung neuer Lebensformen und -räume, verläuft in Glaisin nicht ohne Brüche. Dies zeigt sich beispielsweise in der Schwierigkeit, auch die jüngeren Frauen in die gemeinschaftlichen Aktivitäten der älteren Generationen einzubeziehen. Jüngere Frauen mit Familie und Kindern sind mehr als ältere mit den Herausforderungen befasst, vor die sie sich auf dem Erwerbsarbeitsmarkt gestellt sehen. Hier offenbart sich ein spezielles Spannungsfeld zwischen traditionellem Leben in Glaisin und modernen gesellschaftlichen Anforderungen. Weiteres Indiz dieses Spannungsfeldes sind Konflikte zwischen Alteingesessenen Glaisinern und Neuzugezogenen wie etwa im Schützenverein, was zur Gründung eines zweiten Schützenvereins führte. Brüche zeigen sich auch darin, dass manche Bewohner/innen besonderer Ansprache zur Teilnahme an gemeinschaftlichen Aktivitäten bedürfen, andere wiederum gar nicht zur Teilnahme zu motivieren sind. Ebenso bewegen sich Glaisiner Jugendliche in dem Spannungsfeld zwischen gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Lebensweisen. Dies zeigt sich beispielsweise in dem Wunsch vieler, nach der Ausbildung in den Ort zurückzukehren. Es sind einige, die ihrem Bedürfnis nachgeben und wieder nach Glaisin ziehen, obwohl sie weite Wege zur Erwerbsarbeitsstätte zurücklegen müssen. Diese Aushandlungsprozesse zwischen gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Orientierungen sind in Glaisin noch lange nicht abgeschlossen. Es bleibt weiteren Beobachtungen und evtl. auch weiteren Forschungsarbeiten vorbehalten zu verfolgen, wie sich das Deutungsmuster und damit auch das Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne entwickeln werden101.
6.3 Verständnisse von und Beziehungen zu den lokalen Räumen Glaisins Eng mit den zuvor beschriebenen gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen ist die Konstitution und Nutzung lokaler Räume in Glaisin verbunden. Im Rahmen der hier vorgelegten Forschung ist die Frage nach den Raumbeziehungen und -verständnissen meiner Interviewpartnerinnen zentral. An dieser Stelle werde ich die Raumbegriffe und -verständnisse meiner Interpartnerinnen mit Aussagen aus dem planungswissenschaftlichen Diskurs zu öffentlichen und privaten Räumen zusammenführen. Des Weiteren gehe ich der Frage nach, inwieweit nachbar-
101 Deutungsmuster sind entwicklungsoffen (vgl. Pensé 1994, S. 29, Meuser & Sackmann 1992, S. 17). Um der Frage der weiteren Entwicklung nachzugehen, sollten weitere empirische Erhebungen durchgeführt werden, in die neben der in dieser Arbeit befragten Zielgruppe auch weitere einbezogen werden, beispielsweise Frauen jüngerer Jahrgänge, junge Männer mit und ohne Erwerbsarbeit, allein erziehende Frauen etc.
6.3 Verständnisse von und Beziehungen zu den lokalen Räumen Glaisins
199
schaftliche, gemeinschaftliche und gesellschaftliche Beziehungen jeweils eigene Räume haben und welche Bedeutungen meine Interviewpartnerinnen diesen Räumen zuweisen.
6.3.1 Lokale öffentliche und hybride Räume Meine Interviewpartnerinnen haben während der Gespräche nicht ein einziges Mal von sich aus den Begriff „öffentlich“ zur Beschreibung von Räumen oder Atmosphären verwendet, während die Zuweisung als privat durchaus geläufig war. Vielmehr haben sie von den Räumen in ihrem Dorf gesprochen, indem sie Orte benannt und von ihren Nutzungen berichtet haben. Die Bezeichnung „öffentlich“ habe ich als Interviewerin in die Gespräche eingebracht, jeweils einführend zu Beginn, wenn ich den Anlass des Interviews und mein Forschungsvorhaben vorgestellt habe und gegen Ende, indem ich die Frauen nach ihren Verständnissen von öffentlichen und privaten Räumen 102 fragte. In der Folge hat meistens ein Wechsel in den Gesprächen stattgefunden. Vorher haben meine Gesprächspartnerinnen von ihrem Erfahrungs- und Alltagswissen erzählt. Mit den Fragen nach der Zuordnung von Räumen zu den Kategorien öffentlich und privat, trat eine kognitive Ebene in den Vordergrund. In den Antworten wurde Bezug genommen zu erlerntem Wissen, das sich nicht unbedingt mit den eigenen Lebenserfahrungen und der eigenen Handlungspraxis deckt. Oft sahen sich meine Interviewpartnerinnen dann vor die Schwierigkeit gestellt, allgemein übliche Zuordnungen, wie „Räume sind dann öffentlich, wenn sie Eigentum der Gemeinde sind“, in Einklang zu bringen mit ihren eigenen Wahrnehmungen von Räumen, ihren Lebens- und Verhaltensweisen. Diese Problematik trat auch dann auf, wenn physischer Raum und soziale Handlungen in diesem Raum nicht übereinstimmten: Nach Einschätzung von Frau Perla (vgl. Kap. 5.2.4, S. 118) ist die Kapelle Glaisins frei zugänglich und als physischer Raum eigentumsrechtlich öffentlich. Als sozialer Raum, als Sphäre handelnder Menschen, wird sie allein von Glaisinern/innen gestaltet und ist somit für Frau Perla nicht unbedingt eine öffentliche Sphäre. Welz (1986) hat in Anlehnung an Dunckelmann (1976) für diese Räume den Begriff der lokalen Öffentlichkeit eingeführt. In ländlichen
102
Es handelt sich um folgende Fragen, die ich an dieser Stelle in die Gespräche eingebracht habe: Wenn Sie jetzt zurückdenken an die Räume, über die wir uns unterhalten haben, welche Räume gehören Ihrer Ansicht nach zu den öffentlichen Räumen? Welche Bedeutung haben eigentlich die öffentlichen Räume für Sie? Was macht das Kriterium öffentlich für Sie aus? Was sind dann für Sie private Räume? Man hört immer öfter, dass der öffentliche Raum an Bedeutung verliert und man sich immer mehr im Privaten trifft – wie erleben Sie das?
200
6 Räume für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen
Räumen ist es anders als in größeren Städten häufiger gegeben, dass die Nutzer/innen von Räumen aus lokalen Zusammenhängen kommen und sich bekannt sind. Das zufällige Aufeinandertreffen Fremder ist dort nur begrenzt gegeben, eher trifft sich dort die lokale Gemeinschaft. Verschiedenheiten von physischen und sozialen Räumen werden von meinen Interviewpartnerinnen häufiger benannt. Sowohl Intention und Orientierung, mit denen ein Raum genutzt wird, als auch die damit einhergehende Raumzuweisung zu einem der beide Pole „öffentlich“ oder „privat“ sind situationsbedingt. Somit wäre es möglich, dass zeitgleich zwei Besucher/innen die Gastwirtschaft aufsuchen und diesen Raum anders nutzen und zuordnen. Die Gastwirtschaft im Forsthof und der Jugendclub sind Beispiele für Räume, die mit beiden Intentionen und Orientierungen verbunden sind. Hier sind die Sphären in Bewegung und die Grenzen zwischen ihnen fließend und mitunter nicht einfach auszumachen. Maßgeblich hierfür sind das Handeln und die Aktivitäten von Menschen. Als Sphäre und Atmosphäre sind (lokale) Öffentlichkeiten oder Privatheiten sowie die ihnen zugrunde liegenden gesellschaftlichen und/oder gemeinschaftlichen Orientierungen nicht an bestimmte Räume und Orte gebunden. Dies sind hybride Räume, deren relationales Verhältnis analysiert und beschrieben werden sollte, um ihre konkreten Potenziale für und Nutzungen durch verschiedene Akteure/innen zu erfassen. In dem planungswissenschaftlichen Diskurs werden für diese Orte und Räume die Begriffe halböffentlich und halb-privat verwendet (vgl. Becker 1997, Holland-Cunz 1992/93). Mitunter werden solche Räume auch nur entsprechend der wahrgenommenen sozialen Sphäre als öffentlich oder privat bezeichnet ohne das Hybride, das ihnen innewohnt, zu bemerken und zu reflektieren (vgl. Löw 2001, Rauterberg 2002, Sturm 1997). Auffallend ist, dass der lokale Straßenraums Glaisins bei der Frage danach, welche Räume als öffentlich empfunden werden, in den Gesprächen unerwähnt bleibt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass der der lokale Straßenraum seine Funktionen als Aufenthalts-, Begegnungs- und Kommunikationsraum für meine Gesprächspartnerinnen weitgehend verloren hat. Dies wird in den Interviews mehrfach angesprochen.
6.3.2 Öffentliche und private Räume Aus den Antworten meiner Gesprächspartnerinnen geht hervor, dass sie kein übereinstimmendes Verständnis von öffentlichen Räumen haben. Für ihre Zuweisungen sind überwiegend ihre eigenen Handlungsabsichten und -möglichkeiten entscheidend. Herausforderung für und Aufgabe von Forschen-
6.3 Verständnisse von und Beziehungen zu den lokalen Räumen Glaisins
201
den und Planenden ist es demnach, Wahrnehmungen, Handlungsabsichten und -möglichkeiten von Akteuren/innen unter Bezugnahme auf Raumtypen und -eigenschaften zu analysieren und zu beschreiben, um die Begriffsverwendung nachvollziehbar zu halten (vgl. auch Löw 2001, Kulinski 2003, Selle 2003). Alle Gesprächspartnerinnen konnten überwiegend sicher benennen, was für sie wesentliche Qualitäten von öffentlichen und privaten Räumen sind: Öffentliche Räume sind Begegnungsräume, in denen Kontakte zu den anderen Dorfbewohnern/innen und Menschen von außerhalb möglich sind (vgl. auch IninG4, IninG6 sowie u. a. Bahrdt 1979, Paravicini 2002, Welz 1986). Und: öffentliche Räume tragen soziale Austausch- und Integrationsfunktionen (vgl. auch IninG4 und IninG6 sowie Breuer 2003). Begegnungen in öffentlichen Räumen erfolgen unerwartet, spontan und ungezwungen. Raumwahrnehmungen und -nutzungen ergeben sich aus der Situation heraus und sind somit nicht immer vorhersehbar. Des Weiteren bewegen sich Menschen in öffentlichen Räumen freier, weil sie sich anders als in der häuslichen, familiären Umgebung bewegen können (vgl. auch IninG4 sowie Sennett 1990). Ein weiteres wichtiges Kriterium ist für einige meiner Gesprächspartnerinnen die freie Zugänglichkeit öffentlicher Räume. Öffentlich sind auch jene Räume, die der Gemeinde gehören und eigentumsrechtlich in öffentlicher Hand sind. Öffentliche Räume sind für meine Interviewpartnerinnen nicht unbedingt Orte der Erholung. In ihnen findet das gesellschaftliche Leben im Dorf statt. Ebenso sind sie Stätten der Produktivität und des Austausches von Wissen. In diesen Räumen erhalten (re)produktive Tätigkeiten einen neuen Stellenwert, in dem sie in das gesellschaftliche Leben rückgeführt werden (vgl. auch IninG5 sowie Arendt 1998, Terlinden 1990 a). Selbst hergestellte Marmeladen, Kuchen, Handarbeiten sowie Rezepte und Anleitungen etc. werden lokal und (über)regional vermarktet und präsentiert. Frauen, die sich nach dem Verlust ihrer Erwerbsarbeit zurückgezogen haben, erfahren somit in diesen Räumen wieder eine Wertschätzung ihres Wissens und Könnens (vgl. auch IninG3). Orte der Erholung, so wurde übereinstimmend festgestellt, sind private Räume. Hierzu gehören in Glaisin die Wohnhäuser und -räume, das eigene Zimmer, das eigene Grundstück oder der Garten (vgl. auch IninG1, IninG2, IninG3, IninG4, IninG5 sowie u. a. Habermas 1999, Terlinden 1990a). Sie werden genutzt, um Abstand vom gesellschaftlichen Leben zu gewinnen, um zur Ruhe zu kommen und Zeit mit der Familie zu verbringen. In den eigenen Räumlichkeiten werden jenseits des gesellschaftlichen Lebens im Dorf Gespräche geführt und Freundschaften gepflegt. Sie sind Räume für emotionales Handeln und des Nachgehens der eigenen Bedürfnisse, hier werden familiäre und freundschaftliche Beziehungen gelebt.
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6 Räume für gemeinschaftliche und gesellschaftliche Orientierungen
Ausgehend von diesen Kriterien – Begegnungen und Kontakte zu Dorfbewohnern/innen und Fremden ermöglichen, freie Zugänglichkeit, Zulassen ungezwungener Nutzungen, eigentumsrechtlich öffentlicher Status – gehören laut Aussagen meiner Interviewpartnerinnen in Glaisin der Forsthof bestehend aus Gastwirtschaft, Viehhaus und Kulturscheune, die Gillhoff-Stuben, die Gemeinderäume, der Jugendclub, das Haus der Vierjahreszeiten und die Kapelle zu den öffentlichen Räumen. Mit ihrer Ausgestaltung waren verschiedene Intentionen verbunden: Ein wichtiges Anliegen war es, die Bewohner/innen Glaisins wieder zu gemeinsamen Aktivitäten zu veranlassen. Es ging aber auch um ökonomische Erwägungen, beispielsweise die Erschließung alternativer Einkommensquellen durch den (über)regionalen Tourismus, den Erhalt von Infrastrukturen und die Konstitution von Begegnungsräumen für die Bewohner/innen untereinander und für Besucher/innen. Letztendlich wurden jedoch mit diesen eher auf kollektiven Orientierungen beruhenden Aktivitäten Räume hergestellt, die für viele andere Menschen aus der Region und darüber hinaus attraktiv, sehens- und nutzenswert sind. In ihnen sind neben gemeinschaftlichen auch gesellschaftliche Beziehungen und Orientierungen möglich. Ebenso gehört das öffentlichkeitswirksame Präsentieren Glaisins auf Messen und (Welt)Ausstellungen zu jenen Aktivitäten, die ihren Ursprung in kollektiven Orientierungen haben, die gleichzeitig auch stark von gesellschaftlichen Kontakten geprägt sind. Der Wechsel ist fließend, und mal überwiegt die eine, mal die andere Ausrichtung.
6.3.3 Unsichtbare Zugangssperren zu Räumen Aus Geschlechterperspektive sind „unsichtbare“ Zugangssperren zu Räumen in Glaisin deutlich geworden. Eine besteht darin, dass Frauen nicht allein und ohne spezifischen Anlass in die Gastwirtschaft gehen. In den Interviews wurde dieses Verhalten damit begründet, dass Frauen anders als Männer immer etwas zu tun hätten. Dieses Handlungsmuster der auf den Erhalt der Gemeinschaft ausgerichteten „Schaffenskraft“103 haben alle Frauen in den Gesprächen gezeigt. Während beispielsweise Männer nach der Erwerbsarbeit kurz in die Gastwirtschaft im Forsthof einkehren oder zum Frühschoppen am Sonntag Vormittag gehen, nutzen Frauen diese Zeiten für Gartenarbeit, die Zubereitung von Mahlzeiten und andere versorgende Familienarbeiten.
103 Das von Pensé (1994) erarbeitete Deutungsmuster des „Arbeitsamen“ steht für eine Haltung, die mehr auf die reine Leistungsfähigkeit des Individuums ausgerichtet ist und weniger auf die Produktivität – bis hin zur Herstellung gemeinschaftsrelevanter Produkte.
6.4 Viertes Zwischenfazit
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Nach Beate Beneder (1997) ist es historisch zu begründen, dass Frauen gar nicht oder nur in Begleitung eine Gastwirtschaft aufsuchen. In der bürgerlichen Gesellschaft galt die Öffentlichkeit der Gaststätte als unehrenhaft, „die für Frauen mit Gefährlichkeit gleichgesetzt wurde“ (Beneder 1997, S. 8). Es kam zu einem „Vermännlichungsprozess der Gaststätte, der von der Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit, als gesellschaftsstrukturierenden Kräften, getragen wurde“ (ebd., S. 151). Geselligkeit gab es demnach in zwei Bereichen: in einem privaten, in dem auch das Familienleben stattfand und in einem öffentlichen, dem des gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Lebens. Beide Bereiche, die familiäre und die individuelle Freizeitgestaltung, waren, so Beneder, mitunter nicht einfach aufeinander abzustimmen. Diese gesellschaftlichen Regeln sind historisch und kulturell variabel und unterliegen dem sozialen Wandel (vgl. Habermas 1999, Spiegel 2003, Starzinger 2000, S. 39 ff.). „Seit den 1980er Jahren ist ein kontinuierliches, wenngleich nicht bahnbrechendes Vordringen weiblicher Gasthausbesucherinnen feststellbar“ (Beneder 1997, S. 151). Die heutige Erlebnisgastronomie in größeren Städten wird von beiden Geschlechtern nachgefragt. Eine weitere unsichtbare Zugangssperre ist die zunehmende Unsicherheit von Straßenräumen. Eine Interviewpartnerin berichtet, dass sie vor der Wende oft allein mit dem Fahrrad im Wald unterwegs gewesen sei. Dies würde sie heute nicht mehr wagen angesichts der vielen gewaltsamen Übergriffe, von denen sie hört. Das Thema Sicherheit in Räumen wird in dem planungswissenschaftlichen Diskurs vor allem in feministischen Beiträgen thematisiert: Beiträge behandeln die Themen „Angst“ vor gewaltsamen Übergriffen, Gewalt in öffentlichen und privaten Räumen sowie Maßnahmen der Gewaltpräventionen und der übersichtlicheren Gestaltung in und von Räumen (vgl. u. a. Siemonsen & Zauke 1991).
6.4 Viertes Zwischenfazit In der vorliegenden Arbeit nehmen die Fragen in den Interviews zu den Alltagsverständnissen und zu kognitiven Einschätzungen von öffentlichen und privaten Räumen einen besonderen Stellenwert ein. Ohne diese Fragen wäre es mir nicht möglich gewesen, aus dem Interviewmaterial Brüche in den Zuweisungen von Räumen herauszuarbeiten, auch unter Bezugnahme auf den planungswissenschaftlichen Diskurs. So ist es möglich, die Raumverständnisse meiner Interviewpartnerinnen mit den Beiträgen aus dem planungswissenschaftlichen Diskurs zu diskutieren. Trotzdem hätte rückblickend in den Interviews noch ein reflexiver Moment eingesetzt werden können, denn einige meiner Gesprächspartnerinnen ließen Unsicherheiten erkennen. Diese setzten ein, wenn ihnen
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bewusst wurde, dass ihr Alltagsverständnis nicht mit der erlernten Zuordnung zu öffentlich/privat in Einklang stand. Sie traten aber auch dann hervor, wenn die Atmosphäre in Räumen nicht mit dem Status der physischen Raumstrukturen übereinstimmte. Da in den Interviews eine Reflexion solcher Differenzen oftmals (zeitlich) nicht mehr möglich war – die Fragen zu den Raumverständnissen wurden am Ende des Interviews gestellt – stehen Alltagsverständnis und erlernte Zuordnung zu dem dichotomen Begriffspaar z. T. unvermittelt nebeneinander. Diese Unterschiedlichkeiten sollte in weiteren empirischen Erhebungen berücksichtigt werden. Des Weiteren ist es durchaus denkbar, dass dieselben Fragen bei anderen Personen zu differierenden Antworten geführt hätten. Für die Analyse von Raumkonstitutionen und -verständnissen wurden Frauen als Zielgruppe ausgewählt, die in der Vorbereitung der Teilnahme Glaisins an der EXPO 2000 aktiv an Raumgestaltungen vorgenommen haben. Um weitere Aussagen zu Raumkonstitutionen und -verständnissen jener Bewohner und Bewohnerinnen Glaisins außerhalb der untersuchten Zielgruppen treffen zu können, wären ergänzende Interviews und eine Ausweitung des Sample erforderlich. Offen geblieben ist beispielsweise, wie Männer oder Bewohnerinnen jüngeren Alters die lokalen Räume Glaisins wahrnehmen, nutzen und gestalten. Daneben erfolgte die Analyse der physisch-materiellen Raumstrukturen von öffentlichen Räumen in Anlehnung an den Ansatz von Martina Löw (2001). In ihrer Beschreibung wurde der Fokus stärker auf soziale Güter als auf sozialökologische Elemente als Bestandteile von Räumen gelegt. Eine noch offene Forschungsaufgabe ist die Bezugnahme auf sozial-ökologische Raumkonzepte (Hofmeister & Scurrell 2006, vgl. auch Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007). Im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit steht das Ziel, den „Einzelfall Glaisin“ zu erforschen. Interessant ist die Frage, inwieweit sich die Ergebnisse der Studie auch auf andere Personen und Dörfer übertragen lassen. Ihre Beantwortung bleibt vergleichenden Untersuchungen vorbehalten, gegebenenfalls mit qualitativen und quantitativen Verfahren der empirischen Sozialforschung. Mit der Analyse der Aussagen der interviewten Glaisinerinnen wird deutlich, dass sich die Bewohner/innen dieses Ortes zwischen verschiedenen Orientierungsformen bewegen, die auch in ihren sozialen und räumlichen Beziehungen zum Ausdruck kommen. Insbesondere in der Zeit nach der Wende haben sich ihre sozialen Beziehungen innerhalb und auch außerhalb ihres Dorfes verändert. Dies zeigt sich u. a. in einer Öffnung des Dorfes in die Region und darüber hinaus. Damit haben gesellschaftliche Orientierungen einen anderen Stellenwert im Leben der Dorfbewohner/innen erhalten. Dieser Wandel ist auch in den Raumkonstitutionen evident. Es wurden Räume geschaffen, in denen gemein-
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schaftliche und gesellschaftliche Orientierungen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Ausprägungen möglich sind. Ihre sozialen Beziehungen verweisen somit auf die Orientierungsalternativen des Handelns nach Talcott Parsons (1968). Demnach ist jedes Sozialsystem mit pattern variables versehen, und je nach Situation bedarf es einer Neuorientierung der Handelnden bezüglich gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Beziehungen mit unterschiedlichen konstituierenden Aspekten auf den Ebenen der verschiedenen Handlungsformen. Im Ergebnis der vorliegenden Untersuchung wird offensichtlich, dass sich die Orientierungstendenzen entsprechend der pattern variables von Parsons auch in den Raumkonstitutionen wieder finden. Es werden u. a. hybride Räume konstituiert, in denen situationsbedingt gesellschaftliche und/oder gemeinschaftliche Beziehungen zwischen Bewohnern/innen und Besuchern/innen realisiert werden. Damit sind neben den Handlungsorientierungen auch die Grenzen zwischen öffentlichen und privaten Räumen in Bewegung, indem die eine oder andere Ausrichtung überwiegt und keine die andere ausschließt. Diese hybriden Räume sind bedeutend für Glaisin, da sie attraktiv sind und viele Nutzungsmöglichkeiten zulassen. Für meine Interviewpartnerinnen sind diese Räume und Orte bedeutend, da sie dort (re)produktiven Tätigkeiten nachgehen können, die gesellschaftlich sichtbar, anerkannt und wertgeschätzt werden. Somit werden auch ihre lokal hergestellten Produkte und Räume sichtbar. Sie erfahren eine besondere gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Ebenfalls werden von den Glaisinerinnen die sozialen Kontakte, die in den Räumen stattfinden, als wichtig erachtet. Über sie sind die Frauen in eine lokale und regionale Gemeinschaft eingebunden, die ihnen sozialen Halt und Zugehörigkeit vermittelt. Grundlegend für weitere Untersuchungen zur Einordnung von Räumen zu dem dichotomen Begriffspaar öffentlich und privat ist eine akteursbezogene Vorgehensweise, in der beide, die Wahrnehmungen und Verständnisse von Atmosphären sowie physisch-materiellen Raumstrukturen, aus Geschlechterperspektive zu ermitteln und zu analysieren sind. In der Auswertung der Interviews wird auch ersichtlich, dass meine Gesprächspartnerinnen von sich aus eine kognitive Zuordnung zu der Kategorie öffentlich nicht vornehmen. Sie konstituieren Räume in Glaisin entsprechend ihrer Bedürfnisse und benötigen dafür weder eindeutige Kriterien noch wissenschaftliche Kategorien für (lokale) öffentliche, private, halböffentliche und halbprivate Räume. Ausgehend von den Raumverständnissen meiner Interviewpartnerinnen und unter Bezugnahme auf Aussagen des planungswissenschaftlichen Diskurses zur Zuordnung von Räumen zu den Kategorien öffentlich und privat erweist es sich als zutreffend, in Glaisin zwischen lokalen öffentlichen Räumen, öffentlichen bzw. privaten Räumen und hybriden Räumen zu unterscheiden. Somit können
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lokale und (über)regionale Bedeutungen von Räumen erfasst und in planerische Kontexte eingebracht werden. Das folgende Kapitel 7 diskutiert die vorgestellten Ergebnisse im Hinblick auf ihre Potenziale, die sie für eine Nachhaltige Raumentwicklung haben.
7 Fazit: Ressourcen Glaisins für eine Nachhaltige Raumentwicklung Fazit: Ressourcen Glaisins für eine Nachhaltige Raumentwicklung
Abschließend werden in diesem Kapitel die gewonnenen Erkenntnisse in die Raum- und Planungswissenschaften rückgeführt. Ich habe im ersten Zwischenfazit eine Frage 104 aufgeworfen, die ich an dieser Stelle, um den Aspekt einer Nachhaltigen Raumentwicklung erweitert, wieder aufgreifen möchte. Sie lautet: Worin liegt der Erkenntnisgewinn in der differenzierten Betrachtungsweise des vielfältigen und komplexen Beziehungsgefüges zwischen Raum, Individuum und Gesellschaft, und wie kann dieses Wissen in planerische Überlegungen und Fragestellungen zur Nachhaltigen Raumentwicklung eingebracht werden? In einer differenzierten Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und individuellen Raumbeziehungen liegt der Erkenntnisgewinn darin, dass vielfältige Ressourcen sichtbar werden, die als entscheidend für eine nachhaltige Gestaltung und Entwicklung ländlicher Räume gelten. Entsprechend der Fragestellung dieser Arbeit sind in der Analyse des Interviewmaterials die sozialen Ressourcen fokussiert worden. Dies sind beispielsweise die Beziehungen und Bindungen der Glaisinerinnen zu ihren (Lebens)Räumen, da sie grundlegend sind für die Art und Weise, wie Räume hergestellt und genutzt werden. Zu den sozialen Ressourcen, die das Potenzial haben, eine Nachhaltige Raumentwicklung zu fördern, gehören auch Motivationen, Intentionen und Beweggründe, die Personen zur Konstitution lokaler Räume veranlassen sowie die Art und Weise, wie Räume hergestellt werden. Weitere Ressourcen sind die Inhalte und Funktionen, die Räumen zugewiesen werden. Im Folgenden werden jene sozialen Ressourcen und ihre Potenziale für eine nachhaltige Raumentwicklung thematisiert, die in den Interviews sichtbar wurden.
104 Diese Frage stellte sich in der Auseinandersetzung mit Raumverständnissen und -begriffen und den damit einhergehenden methodologischen Konsequenzen für weitergehende Analysen und empirische Erhebungen (siehe Kap. 2).
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7 Fazit: Ressourcen Glaisins für eine Nachhaltige Raumentwicklung
Das Leitbild Nachhaltige Raumentwicklung Für eine Nachhaltige Raumentwicklung ist eine ressortübergreifende Politikkonzeption, die eine Integration von ökologischen, sozialen und ökonomischen Komponenten anstrebt und u. a. interregionale Disparitäten in Bezug auf Einkommen, Infrastrukturausstattung und Lebensmöglichkeiten abbaut, erforderlich (vgl. Hübler 2005). Das Prinzip der Nachhaltigkeit wurde ursprünglich in der Forstökonomie formuliert und „bezeichnet ein Verständnis von Wirtschaftlichkeit, aus dem sowohl in quantitativer wie auch in qualitativer Hinsicht normative Aussagen zur Wirtschaftsweise abgeleitet worden sind“ (Hofmeister 2003, S. 184). Forstökonomie müsse nicht allein auf kurzfristige Rentabilität ausgerichtet sein, sondern wichtig seien vorausschauende und vorsorgende Wirtschaftlichkeit (ebd., S. 183). Im Vordergrund des heutigen Diskurses zu Nachhaltiger Entwicklung stehen normative Aspekte sowie zwei Gerechtigkeitsgebote: Es sind gerechte Verhältnisse zwischen den heute lebenden Menschen herzustellen, z. B. zwischen den Menschen in den reichen Industrieländern und den armen Ländern des Südens (intragenerationale Gerechtigkeit), zwischen Männern und Frauen etc. Des Weiteren sollen künftige Generationen die gleichen Chancen für ihre Entwicklung haben wie sie heute bestehen (intergenerationale Generationengerechtigkeit). In dem Diskurs zu Nachhaltiger Raum- und Regionalentwicklung ist die Kategorie Geschlecht somit eine wichtige Analyse- und Planungskategorie. „Indem sozial weibliche Lebensformen als Lebensmodelle für Frauen und Männer vorausgesetzt und regionale Entwicklungsziele mit Blick auf die ganze Lebenswelt formuliert und realisiert werden, entwickelt sich eine neue Perspektive auf die Region: eine Perspektive, in der sich die Alltagswirklichkeiten in ihrer Vielfalt und die ganze Palette der Lebensstile und Bedürfnisse widerspiegeln und materialisieren“ (Hofmeister & Scurrell 2006, S. 279). Die einzelnen Dimensionen von Entwicklung – wirtschaftliche, soziale und ökologische – sollen integrativ aufeinander bezogen werden. Übertragen auf eine Region oder ein Dorf bedeutet dies, dass sie als eine Einheit von Wirtschaftsund sozial-kulturellem Lebens- und Naturraum zu begreifen sind, deren Ziele zur räumlichen Entwicklung nicht „additiv zueinander in Beziehung zu setzen [sind], sondern um eine integrative Perspektive – eine Perspektive, die es erforderlich macht, jede Dimension neu zu denken“ (Hofmeister 2003, S. 185). Wäre beispielsweise ein Leitziel für Glaisin und die Region, Erwerbsarbeitsplätze zu schaffen und nachhaltig zu sichern, dann wäre dieses ökonomische Ziel sozial, kulturell und ökologisch zu kontextualisieren. An dieser Stelle erschließt sich der räumliche Bezug. Das Dorf und die Region sind die Grundlage für soziales Handeln und Interaktionen der Bewohner/innen. Sie gestalten, nutzen und entwickeln diese Räume und somit entstehen soziale Bezüge (Identitäten) als Resultate ihres
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Handelns. Voraussetzungen hierfür sind das Interesse und die Motivation der Bewohner/innen selbst ihr Dorf oder ihre Region aktiv mit zu gestalten sowie das Vorhandensein von Räumen, die als Ressourcen menschliches Handeln zulassen. Das Dorf und die Region sind somit Produkte, die immer wieder neu erschaffen werden, in immer wieder anderen Qualitäten – in Abhängigkeit der Aktivitäten von Menschen. „Die Region als Produkt ist mit dem Ziel zu gestalten, dass die ihr eigene, besondere Produktivität für künftige Generationen erhalten und (wenn möglich) verbessert werden kann. Nicht mehr und nicht weniger verlangt das Prinzip Nachhaltigkeit für die Raumentwicklung“ (Hofmeister 2003, S. 186). Barbara Zibell (1999) spricht in diesem Zusammenhang von einer Nachhaltigen Raumentwicklung, die das Prinzip der Vorsorge verfolgt, indem geprüft wird, inwiefern durch die Realisierung einer Maßnahme künftige Entwicklungen nicht verstellt werden. Ein weiteres Prinzip ist das der Orientierung am für das gute Leben Notwendigen, indem konsequent die Alltagsbedürfnisse der Menschen in der Region als Richtschnur für Planungen verfolgt werden (vgl. auch Biesecker et al. 2000). „Richtschnur zukünftiger Entwicklungen sollten die in Bedarfsanalysen ermittelten angestrebten Lebensqualitäten der Bewohner/innen sein – also die Qualitäten, die ihrer Ansicht nach für ein gutes Leben in der Region notwendig sind. Gemeinsam mit den Beteiligten sind mögliche Potenziale, Substitutionsmöglichkeiten, Kooperationen und Vernetzungen oder durch neue Techniken mögliche Systemänderungen zu überlegen, die Kosten ihres Einsatzes abzuschätzen und es müssen Pfade bestimmt werden, auf denen die Verwirklichung möglich wäre. Und in den Problemregionen müssen die Perspektiven offengelegt werden, weil viele persönliche Entscheidungen (ob fernpendeln oder in Wachstumsregionen umziehen, ob als Rentner/in bleiben oder ins Altersheim in die Stadt umsiedeln, ob Land kaufen oder das Haus verfallen lassen) anstehen“ (Hübler 2005, S. 61). An dieser Stelle wird deutlich, dass es kein für alle Regionen gültiges Konzept nachhaltiger Regionalentwicklung geben kann, denn die Leitidee der Nachhaltigen Entwicklung „muss entsprechend den regionalen Spezifika von den relevanten und interessierten Akteuren der jeweiligen Region in partizipativer Weise umgesetzt werden“ (Spehl 2005, S. 680).
Lebensqualität als Aufgabe Es ist eine zentrale Aufgabe der räumlichen Planung auf den verschiedenen Ebenen die Frage nach Lebensqualitäten zu stellen: Im § 1 des Raumordnungsgesetzes von 1998 ist das Ziel der gleichwertigen – nicht gleichartigen (vgl. hierzu u. a. Hofmeister 2000, Wolf 1996, 1997) – Lebensbedingungen normiert. Die Ana-
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lyse der Interviews, die mit den Bewohnerinnen Glaisins geführt wurden, hat deutlich werden lassen, dass gleichwertige Lebensbedingungen nicht nur eine Frage von Erwerbsarbeitsplätzen oder Infrastrukturen sind. Die Lebensbedingungen umfassen viel mehr Qualitäten. Das hat insbesondere die Analyse der vergangenen und der heutigen Raumnutzungen mit Bezugnahme auf das „methodologische Quadrantenmodell für Raum“ von Gabriele Sturm (2000) gezeigt: Erwerbsarbeitsplätze in Glaisin und in der Region, vor allem in der Landwirtschaft, hatten in der früheren DDR einen anderen Stellenwert als in der früheren BRD, da diese Erwerbsarbeitsplätze mit weiteren Angeboten korrespondierten wie z. B. Kinderkrippe und -garten, Mittagstische in Betrieben für die gesamte Familie, kulturelle Veranstaltungen etc. Somit wurden den Betriebszugehörigen die Teilhabe am gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Leben sowie eine weiterführende berufliche Qualifizierung im Einklang mit familiären Bedürfnissen und Erfordernissen ermöglicht. Dementsprechend anders wirken mitunter fehlende Erwerbsarbeitsplätze auf das Selbstwertgefühl der betroffenen Frauen, da das Berufsleben selbst einen anderen Stellenwert hatte. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass in Glaisin und der Region zu Zeiten der früheren DDR die räumliche Ausgangslage eine andere war: Es gab kaum kleinräumige Disparitäten beim Arbeitsplatzangebot. Dies ergab sich in Glaisin aus der Umstellung in der Landwirtschaft auf Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, dem Ausbau des Schul- und Sozialwesens und der Verbesserung der dörflichen Infrastruktur mit Konsumläden, Bankfilialen etc. Aufgrund vergleichsweise hoher Geburtenzahlen bis 1990 konnte der Erhalt dieser Infrastrukturen sowie die Einhaltung von Mindeststandards auch in dünner besiedelten Gebieten gewährleistet werden. In der früheren DDR hatten sich somit vergleichsweise ausgeglichene Lebensverhältnisse herausgebildet, die nach der Wende zunehmend abgebaut wurden. Zu den hoch subventionierten Infrastrukturen gehörten beispielsweise der ÖPNV, das Schul- und Sozialwesen, der Wohnraum und die Einkaufsstellen. Auch die Mehrzahl der Erwerbsarbeitsplätze in der landwirtschaftlichen Produktion fiel weg, so dass regional ein Prozess hoher Abwanderungen einsetzte. Begründet wurde diese Maßnahme mit mangelnder Wettbewerbsfähigkeit sowie der Vermeidung von Dauersubventionen. In Folge der hohen Erwerbsarbeitslosigkeit setzte ein Prozess ein, in dem viele Lebensqualitäten abhanden kamen: ökologische, ökonomische, kulturelle und soziale. Bestandteil der sozialen Qualitäten sind die Kontakte der Bewohner/innen Glaisins zueinander, die zunehmend verloren zu gehen drohten, da viele Begegnungen auf gemeinsamen Wegen zur und während der Arbeit stattfanden. In den Interviews wurde deutlich, dass diese Zusammentreffen der Bewohner/innen früher selbstverständlich und ein wesentlicher Teil der Lebensqua-
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lität waren. Sie wiederzubeleben war eine große Motivation für die Konstitution von Räumen.
Motivation als Ressource In den Interviews haben die Bewohnerinnen Glaisins zwei verschiedene Formen von Motivation gezeigt, die ausschlaggebend sind für eine aktive Beteiligung an lokalen Entwicklungsprozessen. Eine intrinsische Motivation, wie sie beispielsweise bei Frau Lindner und Frau Landau stark ausgeprägt ist, wenn sie aus eigenem Antrieb oder innerer Anteilnahme handeln. Sie zeigt sich auch bei Karla Landau, die Vorschläge für das Programmangebot der Volksfürsorge macht, um es für sich selbst und andere attraktiver zu gestalten oder bei Henriette Lindner, die mitfühlt und verhindern möchte, dass die Frauen sich „verkriechen“ und aus dem gesellschaftlichen Leben zurückziehen. Die Motivation für ihr Engagement wird hier auch aus ihrem Bedürfnis nach Kompetenz und Selbstbestimmtheit gespeist105 (vgl. Ganzert 2006). Eine zweite Motivation basiert auf dem Bedürfnis, das eigene Handeln in einen übergeordneten Sinnzusammenhang zu stellen. Für alle Gesprächspartnerinnen hat die Zusammengehörigkeit im Dorf einen sehr hohen Stellenwert. Ein übergeordneter Sinnzusammenhang, den sie ihren Handlungen zugrunde legen, ist die Herstellung lokaler Räume, in denen sich die Bewohner/innen wieder begegnen und miteinander sprechen (vgl. Kap. 5, Ergebnisse der Deutungsmusteranalyse). Dies resultiert aus dem grundlegenden menschlichen Bedürfnis nach Zugehörigkeit sowie der Herstellung sozialer Bindungen in das Umfeld. Mit dem Phänomen der Zugehörigkeit sind viele positive und negative Gefühle verknüpft. Das Gefühl angenommen, akzeptiert und willkommen (eingebunden) zu sein, führt zu einer Vielzahl an positiven Gefühlen (wie Glück, Euphorie, Zufriedenheit und Gelassenheit). Das Gefühl abgewiesen, ausgeschlossen und übergangen (isoliert) zu werden, bedingt starke negative Gefühle (wie Angst, Depression, Kummer, Eifersucht und Einsamkeit) (Ganzert 2006, S. 160).
Identitätsstiftende Prozesse Identität ist zunächst immer an Personen gebunden und bezieht sich auf den Prozess, durch den ein Individuum sein eigenes Wesen aufbaut, die Individuali105 Im Gegensatz dazu wird das Handeln von extrinsisch motivierten Menschen beispielsweise durch Autoritäten, Verpflichtungen oder Belohnungen geleitet.
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tät, die seine Person ausmacht (Ipsen 1999). Identität106 steht damit für ein Leben, das den eigenen, individuellen Vorstellungen entspricht. „Identität ist Struktur gewordene Subjektivität – freilich eine Struktur, die dem einzelnen von seiner sozialen Umgebung angeboten, oft wohl auch aufgezwungen wird“ (List 1999, S. 212). „Subjektsein“ bedeutet nach List auch immer „im Raum sein“. Hier ergibt sich ihrer Argumentation folgend selbstverständlich ein räumlicher Bezug. „Als gelebter Raum ist unsere Welt das Ergebnis unserer Weise, sie in alltäglichen Lebensvollzügen als ein Gegenüber zu erzeugen. Eben das macht uns zu Subjekten, daß wir eine Welt haben“ (ebd., S. 211). Als Subjekte konstituieren Menschen Räume, indem sie ihre Welt wahrnehmen, reflektieren und gestalterisch wirken: den Forsthof in Glaisin planen, den Dorfplatz gestalten, den Landfrauenverein als Begegnungsraum für Frauen aus der Region anbieten, einen Abenteuerspielplatz für Kinder bauen. Sie schaffen physische Strukturen, die wiederum auf sie selbst und andere Menschen wirken. Jede Selbstwahrnehmung verweist daher „auf einen Kontext von Räumen, von historisch und kulturell geformten realen Räumen, die umgeben sind von einem Hof von imaginären Räumen und Gefühlsräumen, von virtuellen gedanklichen, phantasierten Räumen – Spielräumen“ (List 1999, S. 213). Folglich sind mit der eigenen Identität Dinge, Institutionen und Räume verbunden, denen Bedeutungen zuoder abgesprochen werden (vgl. auch Thabe 1999). Für Ipsen ist dies ein Zeichen dafür, „dass es Beziehungen zwischen dem Raum und den Menschen gibt, 106
Mühler & Opp (2004, S. 21) sprechen in diesem Zusammenhang dann von sozialer Identität, wenn sich Personen zu einer sozialen Kategorie, z. B. zu einer Gruppe, zugehörig fühlen (vgl. Mühler & Opp 2004, S. 18 f.) und sich somit bestimmte Merkmale selbst zuschreiben. Dieser Identitätsbegriff hat nach Mühler und Opp (ebd.) keine emotionale Komponente. Selbstzuschreibungen mit emotionalen Komponenten bezeichnen Mühler und Opp als Identifikation. Dabei handelt es sich um das Ausmaß, in dem eine Person ein Objekt mehr oder weniger positiv bewertet und sich mit ihm verbunden fühlt. Im Folgenden wird davon ausgegangen, dass der räumlichen Identität der Glaisinerinnen eine emotionale Komponente innewohnt, da sie Zugehörigkeit zum Dorf als positiv empfinden und bewerten. Gabriele Sturm (1999, S. 27 ff.) erläutert weitere Bedeutungsdimensionen von Identität: Im Alltäglichen ist mit Identität gemeint, dass eine Person mit sich und dem eigenen Wesen in Einklang steht und eine Wesensart hat, die über die Zeit hinweg konstant und wieder erkennbar bleibt. In der Psychologie wird als wichtiger Moment von Identität eine als Selbst erlebte innere Einheit der Person angeführt. Zur Kontinuität des Selbsterlebens gehört die dauerhafte Übernahme bestimmter sozialer Rollen und Gruppenmitgliedschaften sowie daraus hervorgehende gesellschaftliche Anerkennung. Sturm verweist hier auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Konstitutionsprozessen und Identitätsfindung und -bildung. Zur Identitätsbildung gehört auch die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstbild und äußeren Erwartungen, die an Individuen herangetragen werden und die das Potential für Konfliktprozesse beinhalten. Das Erlangen von Identität kann somit „als ein lebenslanger perspektivisch-dynamischer Prozess verstanden werden“ (ebd., S. 28). Genau genommen muss von Identitäten im Plural gesprochen werden, denn sie spaltet sich in eine Vielzahl ihrer Facetten: persönliche Identität, sexuelle Identität, regionale Identität, räumliche Identität etc. (vgl. hierzu auch Mühler & Opp 2004, S. 18 f.).
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und dass unter bestimmten Umständen diese Beziehungen für die Identität einer Person von Bedeutung sein kann“ (Ipsen 1999, S. 151). Die lokalen Räume Glaisins gehören zu den alltäglichen Lebensräumen der Bewohner/innen, in denen sie ihre gesellschaftlichen, gemeinschaftlichen und nachbarschaftlichen Beziehungen leben und ausdrücken. Seit der Wende wird die Aufmerksamkeit verstärkt auf den Erhalt der sozialen Beziehungen gerichtet und dazu brauchen die Bewohner/innen Räume – lokale Räume, in denen sie miteinander kommunizieren können. In dieser Zeit struktureller Umbrüche wurde die Handlungsbereitschaft und -fähigkeit von einzelnen Personen und auch kleineren Gruppen von Bewohnern/innen größer und auch relevanter 107 (vgl. hierzu auch Danielzyk 1998). Damit verbunden war die Chance, dem Lokalen oder dem Dorf Glaisin als räumliche Bezugsgröße über die Konstitution von attraktiven Räumen wieder einen starken Bedeutungszuwachs zu geben. Dieser Entwicklungsprozess erfolgte, indem den lokalen Räumen im Dorf Funktionen und Inhalte zugewiesen wurden, die Bezug nehmen auf Glaisiner Traditionen, Werte und Besonderheiten, beispielsweise indem eigene Produkte vermarktet und regionale Wirtschaftsweisen gefördert wurden (vgl. Forschungsverbund „Blockierter Wandel?“ 2007, Biesecker et al. 2000, Baier, Bennholdt-Thomsen & Holzer 2005, Müller 1997). Die zunehmende Handlungsbereitschaft zeigte sich auch in der Teilnahme an Dorferneuerungsverfahren und Ausstellungen. Während und kurz nach der EXPO haben die Bewohner/innen sehr viel Zeit mit der Planung und Gestaltung der lokalen Räume und somit auch wieder miteinander verbracht. Mit viel Kreativität, Rückbesinnung auf lokale Traditionen, Eigenheiten und Stärken, aber auch mit viel Mut zu Neuem wurden Räume konstituiert. In der Folge sind neue Bindungen und Beziehungen entstanden zwischen den aktiven Bewohnern/innen und zu den Räumen. Seitdem findet ein Teil ihres Lebens wieder in den lokalen Räumen Glaisins statt und den Bewohnern/innen ist es weiterhin möglich, sich mit ihren lokalen Räumen zu identifizieren. Die entstandenen räumlichen Identitäten können auch als Antworten gedeutet werden auf immer schneller voranschreitende Prozesse der Modernisierung und Globalisierung (vgl. Ipsen 1993, S. 10 f.). Die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft lässt das Bedürfnis nach Gemeinschaft größer werden – Regionalbe107
Neben denen, deren Handlungsbereitschaft wächst, gibt es auch solche, die sich an der Entwicklung des Gemeinwesens kaum beteiligen und auf Verbesserungen der wirtschaftlichen Situationen warten. Schmidt-Wenzel & Sperber (2001, S. 36) bezeichnen diese Gruppe Menschen als „Zurückgezogene“, während die „Modernisierer“ beispielsweise gegen Tatenlosigkeit ankämpfen, sich für offene Diskussionsräume und neue Konzepte einsetzen. Beiden Typen – den Zurückgezogenen und den Modernisierern – liegt eine Verbundenheit mit ihrem Heimatraum zugrunde, die nach Mitzscherlich (1997) u. a. auch auf Erfahrung von Gemeinschaft und Zugehörigkeit gründet.
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wusstsein wird dann als spezifische Form des Gemeinschaftsgedankens aufgefasst werden108 (vgl. Pohl 1993). In eine ähnliche Richtung argumentiert auch Werlen (1992, S. 23): „Je stärker Differenz erfahren wird, desto stärker wird Identität als Problem und Bedürfnis manifest und: je umfassender die Globalisierung voranschreitet, um so bedeutender werden die regionalen und lokalen Handlungskontexte zur Erhaltung oder Schaffung von Seinsgewissheit“. Dem regionalen und somit auch dem lokalen Entwicklungsbewusstsein109 kann dann eine entscheidende Rolle bei der jeweiligen Ausgestaltung regionaler Handlungsbereitschaft zugesprochen werden, die wiederum als Fähigkeit von Bevölkerung, Betrieben und politischen Instanzen definiert wird, eigenständig Initiativen durchzuführen, die fruchtbar sein können für Prozesse Nachhaltiger Raumentwicklung (Derenbach 1988, Mühler & Opp 2006, S. 15).
Materielle Lebensgrundlagen und menschliche Nähe Im Zusammenhang mit Diskussionen um das Vorhandensein materieller Lebensgrundlagen und menschlicher Nähe in Regionen wird auch die Frage nach der existierenden oder fehlenden räumlichen Identität 110 gestellt. Diese Frage basiert auf der Annahme, dass mangelnde Identität sich negativ auf die ökonomische, ökologische und soziale Entwicklung eines Raumes auswirken und damit 108 Pohl (1993, S. 39 ff.) nennt in diesem Zusammenhang zwei weitere Annahmen: Zum einen sei Regionalismus einerseits Realisierung der Moderne, da er Pluralität betone, er enthalte aber auch immer eine abgrenzende auf Teilräume bezogenen Dimension. Zum anderen eigenen sich räumliche Bezüge hervorragend zur Komplexitätsreduktion in ausdifferenzierten Gesellschaften. 109 Einen anderen Zugang zur Thematik regionalspezifischer soziokultureller Muster hat eine sozialbzw. wahrnehmungsgeographische Arbeitsrichtung gewählt, die eine gruppenspezifische Konstruktion regionaler Wirklichkeit in das Zentrum ihres Erkenntnisinteresses gesetzt hat. Es wird angenommen, dass die alltagsweltlichen Deutungsmuster des Denkens, Fühlens und Handelns in ihrer sozialgruppen- und raumspezifischen Differenzierung die Formen der Wahrnehmung und des individuellen wie kollektiven Umgangs mit dem sozioökonomischen Wandel wesentlich bestimmen, wie sie auch durch diesen wiederum in gewisser Weise beeinflusst werden. Untersucht werden die sozioökonomische Situation und Entwicklung in Regionen sowie planungspolitische Strategien zur Bewältigung. Im Mittelpunkt stehen dabei die in der Region vorfindbaren Deutungsmuster und Bewusstseinsformen (Danielzyk 1998, S. 197). Ein weiterer Ansatz, der einige Aspekte des Zusammenhangs von ökonomischer Entwicklung, soziokulturellen Mustern und raumbezogenen Identitäten thematisiert, ist das Modell der Raumbilder (vgl. Ipsen 1997, 1999). Regionale Identität wird nicht als Voraussetzung erfolgreicher Regionalentwicklung gesehen, sondern die Beeinflussung von Raumbildern und Identitäten durch sozioökonomische und technologische Paradigmen werden betont. 110 In der Mitte der 1980er Jahre hat sich in der Sozialgeographie ein Forschungsschwerpunkt zum Regionalbewusstsein herausgebildet, aus dem eine Vielzahl empirischer Studien zum regionalen Zugehörigkeitsbewusstsein von Menschen hervorging, ein Begriff, der aber umstritten geblieben ist (vgl. Pohl 1993).
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die Bindung an und die Verantwortung für Räume blockieren kann (vgl. Zeitler 2001). Grundlegend hierfür ist die Annahme, dass eine hohe Identität mit einer Region die Kosten-Nutzen-Relationen bestimmter Handlungen verändert: hohe Identität wird zu einem hohen Engagement führen, zu relativ häufigem regionalpolitischen und -orientiertem Verhalten etc. (Mühler & Opp 2004, S. 31 ff.). In den Interviews mit den Bewohnerinnen Glaisins wurden zwei wesentliche Aspekte betont, die eine Bindung an Glaisin bewirken und befördern: Zum einen das Vorhandensein einer materiellen Lebensgrundlage im Dorf oder der näheren Umgebung. Somit ist ein großes Anliegen der Bewohner/innen das Schaffen von Erwerbsarbeitsplätzen im Dorf. Dies ist ihnen im kleinen Rahmen auch schon gelungen: Beispielsweise im Haus der Vierjahreszeiten sind mehrere Frauen auf zeitlich befristeten Arbeitsstellen beschäftigt und im Informationsbüro der Gemeinde Glaisins. Es gab einige Existenzgründungen, z. B. die Eröffnung einer Physiotherapie, die erfolgreich geführt wird und eines Heuhotels, das zwischenzeitlich wieder schließen musste. Fehlt eine materielle Lebensgrundlage, sind die Bewohner/innen gezwungen weite Wege zur Erwerbsarbeit zurückzulegen oder abzuwandern. In Folge dessen wird der Kontakt der Bewohner/innen zueinander geringer oder bricht ab und auch das Interesse am Dorf und seiner weiteren Entwicklung nimmt ab. Der zweite Aspekt ist menschliche Nähe, die sich in einem Gefühl von Zugehörigkeit, guten nachbarschaftlichen Beziehungen und Bekanntschaften im Dorf ausdrückt. Diese beiden Aspekte111 nennt auch Ipsen (1999) als wesentlich für den Prozess der Identitätsbildung mit einem Raum. Dieser könne nur dann beginnen, wenn ein Raum eine materielle Lebensgrundlage bietet und wenn neben dieser Bezugspersonen und -gruppen das Entstehen einer sozialen Identität unterstützen. Wenn die Nachbarregion oder das Nachbardorf eine bessere materielle oder soziale Grundlage aufweisen, werden die Gefühle zu dem Raum, in dem man lebt, eher negativ. Neben monetären Nutzenkategorien und der Sicherung des eigenen Lebensunterhalts spielen aber auch die eigene Freude und Zufriedenheit als Ressourcen eine wichtige Rolle. „Gelangen derartige Nutzen in den Vordergrund, bekommen soziale Beziehungen, Eigenständigkeit, Lern- und Gestaltungsmöglichkeiten und sinnfördernde Tätigkeiten wie auch strategische Nutzenkategorien einen höheren Stellenwert – Nutzen, die nicht reich, aber glücklich und zukunftsfähig machen (Ganzert 2006, S. 163).
111 Auch Mühler & Opp nennen diese beiden Aspekte mit Bezug auf die Theorie von Albert Hirschmann (1970, zitiert nach Mühler & Opp 2004, S. 31 ff.). Sie kommen zu der Erkenntnis, dass die Zufriedenheit mit der Gesamtsituation am Ort einen erwarteten Effekt auf die regionale Identifikation hat (Mühler & Opp 2004, S. 109 sowie 134 ff.). Je zufriedener Personen mit der Gesamtsituation am Ort sind, desto intensiver identifizieren sie sich mit der Region.
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Zeitler (2001, S. 130 f.) nennt zwei weitere wesentliche Aspekte von Identität. Ein Aspekt besteht demnach darin, dass sich raumbezogene Identität zunächst auf Eigenheiten oder bestimmte Ausschnitte von Räumen beziehen, die zu einem festen Bestandteil der alltäglichen Kommunikation der Akteure/innen werden. Dies war in Glaisin z. B. die Gestaltung der lokalen Räume anlässlich der Teilnahme an der Weltausstellung EXPO 2000. Ein weiterer Aspekt bezieht sich auf die Inhalte, die aktiviert werden sollen, um eine Veränderung im Raum zu bewirken oder strategische Ziele besser umsetzen zu können, beispielsweise die Gestaltung des Forsthofes in Glaisin, der zu einem Begegnungsraum für Menschen aus der Region werden soll. Raumbezogene Identitäten sind nach Zeitler (2001, S. 131) „Diskursformationen, die mit dem Symbolsystem, über das sich die Träger dieser Identitäten als zugehörig definieren und identifizieren, stehen und fallen“. Zeitler (ebd., Hervorhebungen im Original) schlussfolgert, „wenn sich die Identifikation mit kleinräumigen Gebietseinheiten auf Planungsvorgänge auswirkt, dann müssen sie als Planungsinstrument und zwar nicht als Planungsopposition, sondern als förderungswürdige Planungsgrundlage verstanden werden“. Das planerische Erkenntnisinteresse würde sich dann sowohl auf das Vorhandensein eines Regionalbewusstseins und/oder Zugehörigkeitsgefühls zu lokalen Räumen als auch auf lokalspezifische Ausprägungen eines Alltags- und Entwicklungsbewusstseins richten, um beide Ressourcen als Potenziale für eine Nachhaltige Raumentwicklung zu nutzen (Danielzyk 1998, S. 180).
Schlüsselpersonen, die Räume für selbst bestimmtes Handeln eröffnen Die Herstellung neuer Begegnungsräume in Glaisin ist auf das Engagement von Einzelpersonen zurückzuführen. Sie haben die Bedürfnisse und den Unterstützungsbedarf der Menschen im Dorf und in der Region gesehen und haben sich aktiv für sie eingesetzt. Frau Lindner beispielsweise hatte die Vision von Menschen, die wieder miteinander reden. Sie hat sich für ihre Vorstellung vom besseren Leben, von menschlicher Nähe und Kontakten der Bewohner/innen zueinander eingesetzt. Sie hat ihre privaten und dienstlichen Kontakte zu anderen Menschen genutzt, um weitere Frauen für ihre Anliegen zu gewinnen und zu mobilisieren. Über die Gründung des Landfrauenvereins konnte sie ihre Vision vom besseren Leben in der Region zunehmend verwirklichen. In Zeiten einschneidender und schwerwiegender Veränderungen, die zunächst einmal für viele Menschen Verzicht und Einbußen bedeuten, ist das Engagement von Personen überaus wichtig, die Handlungsoptionen und alternative Wege aufzeigen, die erste Schritte aus der Krise sind. Solche Entwicklungsprozesse wurden in Glaisin z. B. von Henriette Lindner sowie dem zu dieser Zeit
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amtierenden Bürgermeister initiiert und befördert. Sie haben den Menschen im Dorf und in der Region Räume eröffnet für eigenes Gestalten, Erproben und Verändern. Aktive Personen wurden in diese Entwicklungsprozesse eingebunden und zu selbst bestimmtem Handeln angeregt. Das Wahrnehmen der Ergebnisse des eigenen Handelns, die im Kleinräumigen unmittelbar erfahrbar sind, kann dazu beitragen, dass die Menschen Verantwortung für andere und ihre Umwelt tragen (vgl. Spehl 2005, S. 680). Durch Konfrontation der Akteure/innen mit den Folgen ihrer Tätigkeiten entstehen positive Anreize, und lokale Räume können wieder eine Bedeutung als Handlungs- und Wirkungsebene erlangen.
Öffentliche und gegenseitige Wertschätzung Das Engagement von Schlüsselpersonen und anderen aktiven Menschen wird in diesem Prozess sowohl von der Wertschätzung innerhalb des Dorfes und der sozialen Bezugsgruppen gespeist als auch von der Reaktion und Wertschätzung von Personen aus dem weiteren Umfeld. Für die aktiven Personen im Dorf ist es wichtig, dass ihre Leistungen auch überregional anerkannt und geschätzt werden, beispielsweise von Touristen/innen, die Glaisin besuchen. Neben dem Bedürfnis der Zugehörigkeit ist die öffentliche Aufmerksamkeit eine zweite große Antriebsfeder für das Engagement der interviewten Frauen. Sie sind stolz auf das überregionale Interesse, das Glaisin entgegengebracht wird.
Generationenübergreifendes Denken und Handeln der Gestalterinnen Eine zukunftsfähige, dauerhafte Entwicklung ist gebunden an die Notwendigkeit, Interessen und Zeiten verschiedener Generationen zu koordinieren, in Einklang miteinander zu bringen und zu gestalten. In diesem Prozess ist das Lokale bedeutend, weil dort die Bewohner/innen in alltägliche Lebensformen und Rückhalt gebende Beziehungen eingebunden sind. Hier finden direkte Kontakte und Begegnungen von Angesicht zu Angesicht statt, die von langfristigen Beziehungen geprägt sind. Im Lokalen vollziehen sich alltagskulturelle Prozesse zwischen Familienmitgliedern, Nachbarn, Arbeitskollegen/innen u. a. wie selbstverständlich – „ein beinahe automatisches Weitergeben von Generation zu Generation“ (Hannerz 1995, S. 70). Solche Beziehungen können einen großen emotionalen Gehalt haben, was sich auf die in ihnen aufgebauten Bedeutungen und die Verbindlichkeit auswirkt. Diese Alltagskultur ist in Glaisin in stetiger Veränderung begriffen, da aufgrund zunehmender Mobilität und Attraktivität des Dorfes vermehrt Kontakte mit anderen Menschen entstehen, z. B. Touristen/innen, Zugezo-
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genen etc., die wiederum ihre Alltagskulturen mitbringen und vermitteln. Eine starke Veränderung des Alltagskontextes resultiert aus dem zunehmenden Erfordernis des Pendelns, z. B. zur Schule, Ausbildung oder Erwerbsarbeit. Die Kontexte des Alltags sind nun nicht mehr so stark von direkten persönlichen Kontakten geprägt, wie dies zu Zeiten der ehemaligen DDR der Fall war (Hannerz 1995, S. 70). Die Raumentwicklungsprozesse in Glaisin, die in den Interviews sichtbar wurden, sind überwiegend auf das Engagement von Menschen älterer Generationen112 zurückzuführen. Bei diesen ist das Bewusstsein vorhanden, dass die lokalen Räume nur dann auch zukünftig das Potenzial der Förderung gemeinschaftlicher und identitätsstiftender Prozesse haben, wenn sie für möglichst viele Bewohner/innen Glaisins, d. h. auch für jüngere Generationen, für Zugezogene oder Wochenendbewohner/innen, attraktiv sind. Hier besteht Handlungsbedarf, denn gerade die Einbindung von Menschen jüngerer Generationen und Zugezogener wird von meinen Gesprächspartnerinnen als Herausforderung formuliert, der noch nicht umfassend begegnet werden konnte. Erschwerend kommt hinzu, dass die unterschiedlichen Generationen aufgrund von differierenden Lebensphasen und Interessen kaum gemeinsame Räume nutzen. Nichtsdestotrotz herrscht ein Bewusstsein für die Notwendigkeit eines generationenübergreifenden Denken und Handelns, um Glaisin auch für die nachfolgenden Generationen und andere Zielgruppen attraktiv zu gestalten und erhalten.
Hybride Räume Raumstrukturen sind äußerst persistent und reagieren nicht unmittelbar auf sozioökonomische und -ökologische Veränderungen und Umbrüche. Dies ist insofern ein wichtiger Aspekt, da Raumstrukturen Hindernisse und Chancen für einen Wandel darstellen können: Er kann durch widerständige Raumstrukturen erschwert und blockiert werden, zugleich kann er aber auch Potenziale für Entwicklungsphasen beinhalten. Nutzungs- und Funktionsmischung sind Voraussetzungen für die Entwicklung einer dynamischen und belebten Region mit belebten Dörfern und Räumen (vgl. Meurer 1994, S. 27). Dabei bleibt das Charakteristische, das, was die einzelnen Lebensorte als funktionsspezifisch gegliederte Interaktionsräume ausmacht – als Wohnung, als lokaler Treffpunkt, als Vereinsraum, als Dorfplatz, als Arbeitsraum, als Gastwirtschaft, als Kulturraum, als
112 Dies liegt u. a. daran, dass die Gesprächspartnerinnen alle einer älteren Generation angehörten. Somit ist nicht auszuschließen, dass sich die Situation differenzierter darstellt, wenn jüngere Menschen mit einbezogen werden.
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ökologische Freifläche und Naherholungsraum – für eine orientierungs- und identifizierungswirksame Differenzierung unersetzlich. Hinzu kommt, dass gerade für Gebiete mit mangelnder Infrastruktur und wenigen kulturellen Angeboten die Chance, lebendige multifunktionale Räume zu schaffen, in der räumlichen Überlagerung unterschiedlicher Aktions- und Funktionsbereiche liegt. Dafür bedarf es der Entwicklung hybrider – im Sinne multifunktionaler – Gemeinde- und Gebäudestrukturen. Mit hybriden Aktions- und Lebensräumen kann einer mobilen und pluralisierten Gesellschaft Rechnung getragen werden. In Glaisin wird dem Verlust des lokalen öffentlichen Straßenraumes in seiner Funktion als kommunaler Begegnungsraum durch vielfältige Angebote in Vereinsund Gemeinderäumen begegnet. Es erfolgte die Konstitution neuer Räume, in denen gemeinschaftliche und gesellschaftliche sowie private und (lokale) öffentliche sowie halböffentliche Beziehungen zeitgleich und nebeneinander gelebt werden können.
Lokale Eigenheiten und aktive Planungsbetroffene Mit dem in Rio de Janeiro 1992 beschlossenen Agenda-21-Programm hat die Partizipation von Bürgern/innen und zivilgesellschaftlichen Gruppen an Planungsprozessen einen erhöhten Stellenwert bekommen. „Insofern meint ‚nachhaltige Raumplanung eben nicht nur die Aufnahme von Nachhaltigkeitszielen in die Raumordnungsprogramme und -pläne und ansonsten business as usual, sondern vor allem Dialog, Kommunikation, Diskurs und Moderation“ (Blotevogel 2002, S. 134). In Diskussionen um eine Nachhaltige Entwicklung ländlicher Räume wird daher der hohe Stellenwert weicher Entwicklungsverfahren betont: Kooperations-, Moderations- oder Mediationsverfahren dienen der Fokussierung auf die Planungsbetroffenen und rücken sie in den Mittelpunkt (vgl. u. a. Magel 1997, Grotefels & Schoen 2005, Fürst, Scholles & Sinnig 2001, Thieme 2001). Regionalmanagement und Initiativbüros unterstützen regionale Akteure/innen und den Ausbau von Kooperationsformen, aus denen innovative Impulse hervorgehen (vgl. Mehwald 2002, Siebert 2005, Seibert 2001, Weiß, Kroës & Lückenkötter 2004). Mit Hilfe dieser Planungsverfahren werden Planungsbetroffene in lokale und regionale Raumentwicklungsprozesse einbezogen113. „Die visionäre Idee dieser Planungsphilosophie geht davon aus, daß die durch die Beteiligung der Zielgruppen erzeugte Zustimmung ein Engagement der Zielgruppen nach
113 Magel (1997) verweist in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit, planungsbetroffene Bürger/innen auf ihre aktive Teilnahme an partizipativen Entwicklungsprozesse, wie beispielsweise im Rahmen von Dorferneuerungsverfahren, vorzubereiten.
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sich zieht und damit ein ausreichendes Potential für die Gestaltung der Zukunft zur Verfügung gestellt wird“ (Zeitler 2001, S. 209 f.). Betroffene werden in die Lage versetzt, mit zu entscheiden und sich aktiv am Planungsprozess und der Umsetzung der Planungsmaßnahmen zu beteiligen. Mühler & Opp (2004, S. 243) haben festgestellt, dass sich intensive regionale Identifikation u. a. auf die Gestaltung persönlicher Netzwerke (beispielsweise Familie, Freunde, Nachbarn) auswirkt und somit auch auf die Verbindlichkeit normativer Erwartungen hinsichtlich des regionalen Engagements. Spehl (2005, S. 680) weist darauf hin, dass ein Prozess Nachhaltiger Raumentwicklung dann erfolgversprechend begonnen werden kann, wenn die Planungsbeteiligten seine Notwendigkeit und die gewinnbringenden Potenziale erkannt haben und wenn „seine Auswirkungen für den Einzelnen nachvollziehbar, spürbar und beeinflussbar sind“. Voraussetzungen hierfür sind u. a. eine bewusste Auseinandersetzung breiter Bevölkerungsschichten mit ihrer Lebenswelt und eine Wahrnehmung der Probleme ländlicher Gebiete von den Betroffenen als kollektive Probleme (Zeitler 2001, S. 270). In Glaisin wurden die lokalen Probleme als Krisensituation nach der Wende von vielen aus der Bevölkerung wahrgenommen. Die Betroffenen haben zunächst Ausschnitte ihrer eigenen Lebenswelten in Frage gestellt und dann Bewältigungsmechanismen entwickelt, mit denen sie die neue Situation gemeinsam unter Rückbesinnung auf lokale Stärken und kulturelle Eigenheiten zu meistern versuchten 114 . Entscheidend für diese Prozesse war, dass die Bewohner/innen wieder Kontakt zueinander herstellen konnten und gemeinsam im Rahmen von Dorferneuerungsverfahren, der Teilnahme an Wettbewerben, großen Messen sowie der Weltausstellung EXPO 2000 ihre lokalen Räume weiter entwickelt und gestaltet haben. Somit sind lokale Räume entstanden, die ein attraktives Äußeres haben und in denen sowohl gesellschaftliches als auch gemeinschaftliches Leben im Dorf realisiert werden kann. Die Ergebnisse des vorliegenden Forschungsvorhabens verdeutlichen, dass die Erforschung der Raumkonstitutionen und der ihnen zugrunde liegenden Intentionen Aufschluss geben über Bedürfnisse und Motivationen der Planungsbetroffenen, die sie in kooperative und partizipative Planungsprozesse einbringen. Sichtbar werden kulturelle Eigenheiten und Traditionen, die einen hohen Stellenwert im Leben der Planungsbetroffenen haben und die somit förderungswürdig sind. Das Erforschen von Kommunikationsprozessen lokaler und regionaler Gruppen sowie ihrer Vernetzung untereinander öffnet den Blick für Entwicklungen in der Region, denn diese Akteu-
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Nach Kühne (2005, S. 48 f.) ist die Rückbesinnung auf das Lokale, Bekannte, Vertraute ein Prozess, der einhergeht mit „dem Herausheben aus den tradierten und ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen, die im Zuge der ökonomischen, sozialgemeinschaftlichen und kulturellen Globalisierung zu einer Ortslosigkeit geführt hat“.
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re/innen stellen lokale ländliche Lebensräume entsprechend ihrer Bedürfnisse her. Ziel partizipativer Prozesse sollte es deshalb sein, sowohl Aneignungsmöglichkeiten von Räumen als auch Handlungskompetenzen für Menschen in ländlichen Räumen zu erschließen. Räumliche Planung beeinflusst ländliche Räume entscheidend dadurch, dass sie bestimmten Regionen Funktionen innerhalb der Region zuordnet (beispielsweise durch die Ausweisung Zentraler Orte), durch den Abzug infrastruktureller Einrichtungen in Orten niedriger Zentralität oder durch die Entwicklung von Räumen entlang von Entwicklungsachsen. Diese Planungspolitiken führten zur Regionalisierung ländlicher Räume und ländlichen Lebens. Doch auch hieraus ergeben sich Spannungsverhältnisse im ländlichen Raum. Darauf verweisen u. a. Diskurse zur Eigenständigkeit ländlicher Räume, zur Herstellung gleichwertiger Lebensbedingung oder generell zu nachhaltigen Entwicklungsperspektiven (u. a. Bätzing 1997, Haber 1999, Hofmeister 2003, Hübler & Weiland 1997, Karmann & Attenberger 2004, Spehl 2005, Wolf 1996). Für die Landes- und Regionalplanung bedeutet dies nach Bätzing (1997, S. 46), „daß komplementär zur Politik der Zentralen Orte und der Entwicklungsachsen eine eigenständige oder endogene Regionalentwicklung systematisch aufgebaut werden müßte“. In diesem Zusammenhang weist Bätzing darauf hin, dass für eine solche Entwicklung neben eher administrativen Strukturen auch eine breite Bürgerbeteiligung in Form von Initiativen, die sich für eine Nachhaltige Entwicklung ihrer Lebensräume engagieren, erforderlich ist. Zu dieser Einschätzung kommen auch andere Autoren/innen: Es kann kein für alle Regionen gültiges Konzept nachhaltiger Regionalentwicklung geben, denn die Leitidee der Nachhaltigen Entwicklung „muss entsprechend den regionalen Spezifika von den relevanten und interessierten Akteuren der jeweiligen Region in partizipativer Weise umgesetzt werden“ – vor allem auch dann, wenn sie für innovative Impulse von Akteuren/innen und Bevölkerung offen sein will (Spehl 2005, S. 680, Danielzyk 1998, S. 439). Auf die Entwicklung von Dörfern und Regionen wirken unterschiedliche ökonomische und soziale Interessen, die oft in Auseinandersetzungen münden, die nach Danielzyk (ebd. S. 437) zu regionalspezifischen Regulationsformen führen. Eine besondere Aufmerksamkeit sollte auf den endogenen Potenzialen liegen, nicht nur materieller Art, sondern vor allem auch auf den gewachsenen sozialen Strukturen, den Denk- und Handlungsmustern wichtiger Akteure/innen und der Bevölkerung neben den politisch-administrativen und betrieblichen Strukturen. Nach Spehl (2005, S. 681) lässt sich eine Nachhaltige Entwicklung einer Region dann am einfachsten realisieren, wenn für alle Bereiche – ökologische, ökonomische und soziale – Verbesserungen einsetzen, von denen alle Akteu-
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re/innen gleichermaßen profitieren, so genannte win-win-Beziehungen. Schwieriger wird die Verwirklichung nachhaltiger Regionalentwicklung, wenn Konflikte auftreten. Hier sind kooperative Lösungsansätze einzubeziehen sowie neue Planungsansätze wie beispielsweise der des Regional Governance (vgl. Fürst 2002) oder auch intermediäre Organisationen115 (vgl. Danielzyk 1998). Regionale und lokale Kräfte sowie das Zusammenwirken von raumordnerischen, determinierenden Entscheidungen und einer neu gewonnenen kleinräumigen Eigenständigkeit unter Rückbesinnung auf das Lokale haben Glaisin eine Reihe von neuen Handlungsräumen eröffnet, die es auch in der Zukunft aktiv zu nutzen gilt. Die Bewohner/innen haben sich in der Entwicklung der lokalen Räume im Dorf auf die Eigenarten konzentriert, die aus ihrer Sicht erhaltenswert sind. Dazu gehören die physisch materiellen Strukturen in Form der schönen alten Bausubstanz, die das Dorfbild prägt. Weiterhin sind dies auch soziale, kulturelle, ökologische und wirtschaftliche Werte. Die Glaisiner/innen haben das kulturelle Leben im Dorf angeregt, indem sie Johannes Gillhoff einen besonderen Raum gegeben haben. Als Heimatdichter hat er eine Reihe von Gedichten und Erzählungen geschrieben, auch über das Leben in Glaisin. Seine Werke und sein Leben werden in den Gillhoff-Stuv ausgestellt bzw. dokumentiert. Zugleich werden dort Lesungen und andere Veranstaltungen angeboten. Unter Rückbesinnung auf ihre Vorfahren haben die Glaisiner/innen den Kontakt zu jenen Bürger/innen wieder aufgenommen, die nach Amerika ausgewandert sind. Zum kulturellen Leben gehören des Weiteren die vielen Veranstaltungen, die von den Vereinen und der Gemeinde angeboten werden. Einen besonderen Stellenwert nimmt die Präsentation lokaler Wirtschaftsweisen und selbst hergestellter Produkte ein: Marmeladen, Kuchen, Handarbeiten. Die Gedichte von Johannes Gillhoff spiegeln diese Themen und werden selbst zu einem handelsfähigen Produkt. Hier schließt sich der Kreis, denn all diese Aktivitäten berühren und fördern soziale, kulturelle, ökologische und wirtschaftliche Bereiche, die Eingang finden in eine Nachhaltige Raumentwicklung Glaisins.
115 Intermediäre Organisationen nehmen eine vermittelnde Position ein beispielsweise zwischen Kommunen, privat-wirtschaftlichen Unternehmen und privaten Personen oder auch zwischen traditionellen Regelungs- und Organisationsformen und innovativen Praktiken und Organisationen. „Insoweit sind sie selbst ein Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels“ (Danielzyk 1998, S. 434). Kommunale Planung ist zunehmend gefordert, sich in vielen Bereichen mit intermediären Organisationen auseinanderzusetzen. Beispielsweise in der ökologischen Stadterneuerung, in Wohnkooperativen, Beschäftigungs- und Qualifizierungsinitiativen. Im Bereich der Regionalentwicklung sind Vereine und Foren für eigenständige Regionalentwicklung als intermediäre Organisationen tätig, um zwischen verschiedenen Akteuren und Wertsystemen zu vermitteln.
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Die Stärke der Frauen In Glaisin konstituieren Frauen Räume und bringen dabei selbstverständlich ihre Bedürfnisse und Fähigkeiten in diese Prozesse ein. Als Erschafferinnen initiieren sie neue Räume für sich und andere Dorfbewohner/innen. Andere, die Gestalterinnen, formen bestehende Räume, füllen sie entsprechend ihrer Bedürfnisse mit neuen Inhalten und Bedeutungen. Durch eine kontinuierliche Nachfrage und Nutzung tragen die Erhalterinnen dazu bei, dass die lokalen Räume Glaisins mit Leben gefüllt werden. Im Verlauf der Entwicklung der lokalen Räume Glaisins findet eine Öffnung des Dorfes in die Region und darüber hinaus statt. Gesellschaftliche Orientierungen erhalten einen anderen Stellenwert im Leben der Interviewpartnerinnen, während ihre Beziehungen zu den lokalen Räumen Glaisins, insbesondere zu hybriden Räumen, die situationsbedingt viele Nutzungsmöglichkeiten zulassen, weiterhin bestehen. Das Bedürfnis tätig zu sein und eine ausgeprägte Schaffenskraft meiner Interviewpartnerinnen besitzen dabei einen hohen Stellenwert, ebenso wie die selbst hergestellten kulturellen Güter, die nicht auf der Waren-, sondern auf der Subsistenzproduktion beruhen. Die Stärke der Frauen zeigt sich in den aus diesen Aktivitäten hervorgehenden Räumen und Produkten. Gerade letztere gehören zu den Ergebnissen der oft unsichtbaren bzw. nicht bewusst wahrgenommenen Arbeiten von Frauen, sind Produkte ihrer Arbeit, die ohne besondere Wertschätzung konsumiert werden. Sowohl die lokalen Räume Glaisins als auch diese Produkte werden nun sichtbar und erfahren dabei eine lokale und überregionale Wertschätzung. Mit diesen Wertschätzungen ermöglichen die Frauen den Bewohnern und Bewohnerinnen Glaisins neue (Entwicklungs)Perspektiven für und auf ihr Dorf. Im Rahmen der Debatten um das Leitbild Nachhaltigkeit werden die „Eigenbeteiligung der Akteure“, ihre „Fähigkeit zur Selbstorganisation“, die Verständigung über „gute Lebensqualitäten“ und die Initiierung von „bottom-upProzessen“ als zentral für eine Nachhaltige Entwicklung von Regionen eingeschätzt (vgl. auch Busch-Lüty 1998). Die Raumkonstitutionen und -gestaltungen in Glaisin, die im Rahmen dieser Untersuchung sichtbar geworden sind und analysiert wurden, bilden Prozesse ab, in deren Verlauf die Bewohnerinnen die lokalen Räume in Glaisin für sich und andere Menschen auf neue Art und Weise erschließen. Dabei ist es für die interviewten Frauen zunächst nicht relevant, ob es sich bei den Raumstrukturen um öffentliche oder private Räume handelt. Sie konstituieren Räume entsprechend ihrer Bedürfnisse. Entscheidend ist, dass diese sowohl für die Bewohner/innen selbst als auch für Besucher/innen attraktiv und vielfältig nutzbar (hybrid) werden. Aufgabe räumlicher Planung ist es, diese vorhandenen Ressourcen in Glaisin aufzugreifen und „zur ‚Mitspielerin – zur Koordinatorin und Moderatorin sozialer Selbstorganisationsprozesse“ zu werden
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(Hofmeister 2000, S. 85): beispielsweise, indem Erschafferinnen, Gestalterinnen und Erhalterinnen in regionale Entwicklungsprozesse aktiv – als Akteurinnen und Zielgruppen im Sinne des Gender Mainstreaming – eingebunden werden (vgl. bm:bwk 2001). Die qualitativ erhobenen Daten und die Auswertungsergebnisse im Rahmen dieser Arbeit verdeutlichen, dass ihr (Expertinnen)Wissen um Bedeutungen lokaler Räume sowie ihre Handlungsbereitschaft in Verbindung mit planerischer und regionalpolitischer Expertise Entwicklungspotenziale und damit auch Lebensperspektiven für die Menschen in der Region eröffnen. Die Untersuchung zeigt, dass die Frage nach Lebensperspektiven in Glaisin und der Region für (junge) Bewohner/innen Glaisins sehr wichtig und auch sehr komplex ist. Maßgeblich für eine Entscheidung sind nicht nur Erwerbsarbeitsplätze in der Region und eine berufliche Zukunft, sondern auch familiäre und soziale Beziehungen, eine Bindung an die regionale, lokale Kultur sowie an lokale Räume, gesellschaftliche Wertschätzung, die Möglichkeit, sichtbaren, (re)produktiven Tätigkeiten nachzugehen u. a. Diese Aspekte erfordern ebenso politische und planerische Aufmerksamkeit, um gute Lebensqualitäten in den (peripheren) ländlichen Räumen Mecklenburg-Vorpommerns zu erhalten, Abwanderungen (vieler junger Menschen) und Überalterungen von Regionen und Dörfern entgegenwirken zu können (vgl. auch Schroedter 2007). Verlangt ist auch Schnelligkeit in der Reaktion von Planung und Politik auf die Entwicklungsprozesse in Mecklenburg-Vorpommern: In den Interviews wurde deutlich, dass bei vielen Bewohnern/innen, auch den jüngeren unter ihnen, signifikante lokale und regionale Bindungen an Räume und Menschen bestehen. Sie leben aufgrund mangelnder Arbeits- und Ausbildungsplätze in der Region mit weiten Wegen zur Erwerbsarbeit oder wechselnden, befristeten beruflichen Tätigkeiten, um ihre identitätsstiftenden Glaisiner Lebenszusammenhänge zu erhalten.
Anhang: Interviewleitfaden Anhang: Interviewleitfaden
Vorstellung telefonisch oder im Anschreiben
Angaben zur Interviewerin kurze Beschreibung des Dissertationsvorhabens Thema: Bedeutung des öffentlichen Raumes als Kommunikations- und Aufenthaltsort für Frauen im Dorf Interesse liegt darauf, welchen Einfluss die Veränderungsprozesse, die durch den Rückgang der Landwirtschaft ausgelöst wurden, auf die Nutzung des öffentlichen Raumes speziell durch Frauen haben und damit auch auf das kulturelle Leben im Dorf Anbindung an die Universität Lüneburg Frauen unterschiedlichen Alters, die im Dorf leben, als (Alltags)Expertinnen befragen Interviews werden anonymisiert, aufgezeichnet und transkribiert alle in diesem Rahmen weitergegeben Informationen werden auch bei der Auswertung streng vertraulich behandelt Interviewverlauf: Erzählcharakter aber Orientierung an den Leitthemen anberaumte Zeit: 45 bis 75 min
Einleitende Worte Ich schreibe meine Doktorarbeit über die Bedeutung, die der öffentliche Raum als Aufenthalts-, Begegnungs- und Kommunikationsraum im Dorf speziell für Frauen hat. Mich interessiert, ob diese Räume im Dorf noch Aufenthaltsort und sozialer Haltepunkt für die Menschen sind. Dabei interessiert mich besonders, ob sich etwas geändert hat, speziell daran, welche Räume früher überwiegend von Frauen genutzt wurden und welche Räume heute von Frauen genutzt werden. Von Ihnen als Expertin für Ihr Dorf, in dem Sie leben, möchte ich gerne wissen, wie Sie Ihr Dorf erleben, was das Dorfleben ausmacht, wie Sie die Räume im Dorf wahrnehmen und wie Sie die Räume nutzen.
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Anhang: Interviewleitfaden
Fragen zur Biografie der Person Ich möchte gerne mit Fragen zu Ihrer Person anfangen: Mich interessiert Ihre Herkunft, ob Sie schon lange hier wohnen und welcher Tätigkeit Sie nachgehen. Vielleicht beginnen wir als Einstieg damit, dass Sie mir erzählen, wie Sie eigentlich hierhergekommen sind. Wie kommt es, dass Sie jetzt in diesem Dorf leben?
Nachfragen Haben Sie noch einen weiteren Wohnsitz? Sind Sie immer dieser Tätigkeit nachgegangen oder haben Sie zwischendurch etwas anderes gemacht? Würden Sie mir noch Ihr Alter verraten?
Analyseebene Sozialisation der Person, Einfluss der Sozialisation auf die Beziehung zum Dorf/die Dorfgemeinschaft, welchen Bezug hat sie zum Dorf, welchen Bezug hat sie zu anderen Räumen (speziell Stadt oder nächster größerer Ort in der Umgebung), wie lange lebt die Person schon im Dorf, Bezug zur Landwirtschaft, Beruf/Tätigkeiten der Person
Bezug zur Dorfgemeinschaft/Integration in das gesellschaftliche Leben im Dorf Gibt es in diesem Dorf eine Dorfgemeinschaft? Mich würde interessieren, wie Sie ihre Kontakte gestalten? Wie viel Zeit verbringen Sie damit? Wie nehmen Sie am gesellschaftlichen Leben im Dorf teil? Ist das eine feste Gruppe, die sich dann trifft? Kann da jeder kommen? Erzählen Sie mal: Wo findet gesellschaftliches Leben am Ort statt und wie nehmen Sie teil? Wie viel Zeit verbringen Sie in welchen Räumen?
Anhang: Interviewleitfaden
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Nachfragen Es gibt das gesellschaftliche Leben im Dorf, es gibt aber auch Kontakte, die davon unabhängig und eher privat sind. Wie gestalten Sie diese Kontakte? Wie viel Zeit verbringen Sie damit? Mich würde interessieren, warum Sie nicht am gesellschaftlichen Leben im Dorf teilnehmen. Was hindert Sie, was fehlt Ihnen? Was brauchen Sie, damit der Raum/das gesellschaftliche Leben anziehend auf Sie wirken? Wie tragen Sie zur Dorfgemeinschaft bei? An welchen Räumen, Orten, Plätzen unterhalten Sie sich mit anderen Dorfbewohnerinnen, wo verbringen Sie Zeit miteinander? Wo entstehen Kontakte? Mit wem gemeinsam nehmen Sie am gesellschaftlichen Leben teil? Was findet in diesen Räumen statt? Gibt es bestimmte Anlässe, zu denen man sich in diesen Räumen trifft? Treffen sich dort ausschließlich, überwiegend oder vereinzelt Frauen?
Analyseebene Das tägliche Miteinander, alltägliche Gespräche, aber auch das gesellschaftliche Leben finden in unterschiedlichen Räumen statt – sowohl unter freiem Himmel als auch in bestimmten Lokalitäten oder Innenräumen. Außerdem gibt es verschiedene Möglichkeiten, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Wie ist die Person in das gemeinschaftliche Leben im Dorf integriert, wie ist sie eingebunden, welche Beziehungen bestehen zu Vereinen, Freizeitangeboten, etc. Wo und wie sucht die Person Kontakt zu den anderen Dorfbewohnern/innen, warum wird kein Kontakt zur Dorfgemeinschaft/zu anderen Dorfbewohnern/innen aufgenommen, liegt das an den Angeboten (Vereine, Sport, Kinder), inwieweit entspricht das Angebot im Dorf (nicht) den jeweiligen Interessen?
Geschlechtsspezifische Nutzung von Räumen: Begegnungsräume – „Arbeits“räume Erzählen Sie mal: Wie kriegen Sie etwas über die anderen Frauen im Dorf mit? Wo finden Kontakte zu anderen Frauen statt? Wie entsteht dieser Kontakt? Hat das einen bestimmten Grund, dass Sie dahin gehen? Sind diese Räume für alle offen? Ist das eine feste Gruppe, die sich dort trifft? Wie viel Zeit verbringen Sie dort?
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Anhang: Interviewleitfaden
Nachfragen Treffen sich dort ausschließlich, überwiegend oder vereinzelt Frauen? Welche Bedeutung haben diese Kontakte für Sie? Welche Bedeutung hat dieser Austausch für Sie? Woran liegt es, dass Sie nichts über die anderen Frauen im Dorf erfahren? Versuchen Sie, dagegen etwas zu tun? Wie tragen Sie zur Gestaltung der Kontakte bei? Was hat sich im Dorf verändert im Vergleich zu früher? Tun Sie etwas dagegen? Wie erleben Sie diese Veränderungen? Welche Bedeutung hat das für Sie? Wie wirkt sich das auf Ihr Leben im Dorf aus? Sie haben mir vorhin erzählt, dass Sie tagsüber (bestimmte Dinge) erledigen. Suchen Sie Räume auf, die etwas mit Ihrer Tätigkeit, Ihrem Beruf zu tun haben? Geschieht dies aufgrund von bestimmten Tätigkeiten, die entweder direkt in dem Raum ausgeführt wurden oder die in direktem Zusammenhang mit den Räumen stehen? Treffen Sie in diesen Räumen Frauen? Wird dieser Raum/Werden diese Räume ausschließlich überwiegend oder vereinzelt von Frauen genutzt? Es gibt Räume, die aus bestimmten Gründen wie z. B. aufgrund von Tätigkeits- und Aufgabenverteilung überwiegend von Frauen aufgesucht und genutzt werden. Ich meine damit Räume, die man aus einem ganz bestimmten Grund aufsucht, oder weil in den Räumen ein Teil der (täglichen) Arbeit/Tätigkeiten in diesen Räumen verrichtet wird. Das Besondere an diesen Räumen ist, dass sie zu bestimmten Zeiten oder generell nur von Frauen aufgesucht werden. Mich würde interessieren, ob es solche Räume auch bei Ihnen im Dorf gab bzw. gibt und ob bzw. wie Sie diese Räume nutzen. Was ist Ihr Eindruck, woran könnte es Ihrer Meinung nach liegen, dass es diese Räume nicht mehr gibt, die einen ganz konkreten Bezug zu der Tätigkeit haben, die in ihnen ausgeführt wurde/wird? Ein Beispiel für einen solchen Raum wäre z. B. früher der Waschplatz/das Waschhaus/der Gemüsegarten. Heute ist es der Einkaufsladen, der Kindergarten, die Schule oder der Spielplatz.
Analyseebene Gibt es noch eine geschlechtsspezifische Nutzung von Räumen, welche Räume werden nur von Frauen genutzt? Sind dies Räume, Orte, Plätze die sich im Freien befinden, welchem Zweck dienen diese Räume, von wem werden die Räume genutzt? Zusammenhang Arbeit/Tätigkeit – Räume, die Frauen nutzen.
Anhang: Interviewleitfaden
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Interpretationsebene Möglicherweise erste Hinweise seitens der interviewten Person im Hinblick auf ihr Verständnis von öffentlich/privat, Äußerungen zur Zugänglichkeit – Abgrenzung zu den privaten/halbprivaten Räumen (Vereine, Gaststätten, etc.). Vergleich Literatur geschlechtsspezifische Nutzung von Räumen im Dorf mit erhobenen Daten.
Aufenthaltsräume Wohin gehen Sie, wenn Sie allein sein möchten oder einfach ungestört?
Nachfragen Mich interessiert Ihre Wahrnehmung des Raumes: Was für eine Atmosphäre hat der Ort? Was ist das Besondere an diesen Räumen, was macht diese Räume für Sie speziell so attraktiv? Ist dieser Ort allen zugänglich? Wer trifft sich dort? Warum gibt es Ihrer Meinung nach diese Räume hier nicht? Was tun Sie dagegen? Wie müssten die Räume Ihrer Meinung nach gestaltet sein? Gab es sie früher? Was hat sich an den Räumen im Dorf verändert im Vergleich zu früher?
Analyseebene Bestimmte Räume laden dazu ein, sich in ihnen aufzuhalten, dort zu verweilen. Vielleicht bieten sie Gelegenheiten, andere Menschen zu treffen. Vielleicht sind sie aber auch Orte, an denen man ungestört ist und an denen man allein sein kann. Entscheidend dafür ist die Atmosphäre der Räume. Welche Räume im Dorf sind Aufenthaltsräume, was macht die Qualität dieser Räume aus, wie sind sie gestaltet und warum laden sie dazu ein, sie aufzusuchen, in ihnen ungestört zu sein – welche Räume sind Aufenthalts- und Kommunikationsräume, wo begegnen sich Menschen, wo unterhalten sie sich (ungestört) miteinander?
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Anhang: Interviewleitfaden
Kultureller Wandel Wir haben uns viel über Räume im Dorf und ihre Nutzung unterhalten. Erzählen Sie mal, was sich aus Ihrer Perspektive geändert hat. Welche Auswirkungen hat das auf Ihre Nutzung der Räume im Dorf? Wie erleben Sie diese Veränderungen? Was tun Sie dafür/dagegen? Worin sehen Sie die Gründe/Ursachen für den Wandel?
Nachfragen Mit dem Rückgang der Landwirtschaft im ländlichen Raum hat sich einiges verändert. Viele gehen einer anderen Arbeit nach, die Zahl der landwirtschaftlichen Vollerwerbsbetriebe geht zurück. Aber auch die Interessen der Menschen haben sich geändert und damit auch die Gewohnheiten. Die alten Traditionen werden durch neue ergänzt. Welche Auswirkungen hat das auf Ihr Leben im Dorf? Einige Bewohner/innen des Dorfes sind zugezogen und wohnen noch nicht lange hier. Andere arbeiten außerhalb des Dorfes. Die Menschen sind mobiler geworden, d. h. dadurch, dass in den meisten Familien mindestens ein Auto vorhanden ist, können Räume aufgesucht werden, die früher ohne Auto nicht zu erreichen gewesen wären. Wie macht sich das in Ihrem Leben bemerkbar und welche Auswirkungen hat das?
Analyseebene Was hat sich geändert im Hinblick auf die Transformationsprozesse im ländlichen Raum, den Rückgang der Landwirtschaft, die als bindendes Glied so nicht mehr existiert (auch in kultureller Hinsicht)? Welchen Einfluss hat die zunehmende Mobilität, die es ermöglicht Rauminseln aufzusuchen? Wie wirkt sich der Rückzug der Infrastruktur aus? Welche Auswirkungen hat das auf das kulturelle Miteinander im Dorf?
Abgrenzung des öffentlichen Raumes vom privaten Raum Schon seit längerem sind die Begriffe öffentlich/privat Gegenstand von Diskussionen, die allerdings überwiegend auf den städtischen Raum Bezug nehmen. Im Gespräch ist die Auflösung des öffentlichen Raumes, die sich u. a. darin zeigt,
Anhang: Interviewleitfaden
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dass immer weniger Menschen sich im öffentlichen Raum aufhalten und ein Rückzug in den privaten Raum stattfindet. Hinzu kommt, dass viele „öffentliche“ Räume den Ansprüchen – frei zugänglich zu sein, zwangloses Begegnen einander Fremder zu ermöglichen, Ort der politischen Meinungsbildung zu sein –, nicht mehr entsprechen. Wie erleben Sie das im Dorf?
Nachfragen Das, worüber wir gerade gesprochen haben, sind Begegnungs-, Kommunikations- und Aufenthaltsräume im Dorf, Räume, in denen sich gesellschaftliches Leben abspielt. Sie haben mir geschildert, dass .... . Wenn Sie nach unserem Gespräch noch mal darüber nachdenken: Welche Räume gehören Ihrer Meinung nach zu den öffentlichen Räumen im Dorf? Und welche zu den privaten Räumen? Warum gehören aus Ihrer Sicht diese Räume zu den öffentliche/privaten Räumen? Was unterscheidet die öffentlichen von den privaten Räumen? Welches sind halb-öffentliche/halb-private Räume. Was hat sich aus Ihrer Sicht an den öffentlichen und privaten Räumen geändert?
Analyseebene Was gehört zum öffentlichen Raum im Dorf? Vergleich theoretischer Diskussion öffentlich versus privat mit erhobenen Daten.
Ausblick in die Zukunft Wenn Sie die Möglichkeit hätten, den öffentlichen Raum im Dorf umzugestalten, was würden Sie verändern? Was würden Sie sich bezogen auf den öffentlichen Raum wünschen?
Literaturverzeichnis Literaturverzeichnis
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