Lebende Runen Version: v1.0
Ich bin Chiyoda. Ich sehe … Ich sehe eine Zukunft. Ich sehe Unheil kommen. Großes Unheil. ...
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Lebende Runen Version: v1.0
Ich bin Chiyoda. Ich sehe … Ich sehe eine Zukunft. Ich sehe Unheil kommen. Großes Unheil. Und Veränderungen. Schon bald wird nichts mehr sein, wie es seit Urzeiten war. Die Veränderungen betreffen nicht … mein Volk. Aber jene anderen, die mir und meiner Art in Haßfreundschaft nahestehen. Jene Wesen, die wie die Meinen in der Nacht jagen. Nicht nur zum vollen Mond, sondern in jeder Nacht. Vielleicht in Zukunft auch in keiner Nacht mehr. Was wird geschehen? Ich sehe eine Zukunft. Aber ich sehe in ihr – die Brüder der Nacht nicht mehr …
Was bisher geschah Ein Korridor unter der Wüstenstadt Uruk führt in vergangene Epochen, die be deutsam waren für das Vampirgeschlecht. Hier erleben Duncan Luther und George Romano die Vorbereitungen, den Nexius, ein amorphes Monstrum, das einst dem Kelch entsprang, in eine unterirdische Pyramide einzukerkern. Und sie erfahren von einer »Dunklen Arche«, auf der die Vampire die Sintflut über lebten. Als die beiden beim Bau der Arche umkommen, werden sie ans Ende der Zeit versetzt. Felidae langt in Uruk an, wo das LICHT sie zum Wächter über den Korridor macht und ihr eine Vision schickt: Landru wird noch vor Lilith hier eintreffen und deren Mission gefährden! Als Ablenkungsmanöver soll Lilith den Nexius befreien! Fast gelingt es; nur knapp kann Landru den Ausbruch verhindern. Lilith begibt sich unterdessen in die Türkei, wo sie ein eiförmiges Gebilde bergen soll: die Agrippa. Sie findet sie im »Dunklen Dom« – und stößt auf die bislang unerweckten Kelchhüter, denen auch Landru angehörte: die Vampire, die damals die Sintflut überlebten! Mit der Agrippa hofft Lilith das LICHT zu klaren Aussagen zu zwingen, doch als sie versucht, es zu erpressen, kommt Schmerz über sie. Der Grund ist Beth, die in einer Missionsstation in Kairo vom LICHT ver sklavt wird. Sie formt ein Abbild von Lilith und quält es, wenn die Freundin sich gegen ihre Bestimmung auflehnt. Als Lilith die Mission erreicht, schaltet Beth ihren Willen aus. Nun ist auch Lilith eine Marionette des LICHTS und wird nach Uruk dirigiert, wo schon ihre Diener – die Opfer, die ihren Keim in sich tragen – auf sie warten. Sie öffnet das Tor zum Korridor und findet Feli daes Überreste. Im Herz der Vampirin ist noch Blut; Lilith füllt es in den Lilien kelch. Und während ihre Diener im Gang verschwinden, trinkt sie daraus. Als Folge büßt Lilith ihre menschliche Seite ein, und als Beth aus der Beein flussung des LICHTS erwacht … bringt die ehemalige Freundin sie kaltblütig um! Nun will sie selbst den Korridor betreten – aber das Militär ist auf die Ak tivitäten bei der Ausgrabungsstätte aufmerksam geworden. Soldaten stürmen die Anlage! Das Wächterwesen tötet viele, aber die Männer können die Agrip pa rauben und zerren auch die schwerverletzte Lilith mit sich …
Die Hauptpersonen des Romans Lilith Eden – Tochter eines Menschen und einer Vampirin. 98 Jahre lag sie schlafend in einem lebenden Haus in Sydney, doch sie ist vor der Zeit er wacht. Nun kämpft sie gegen die Vampire, die in ihr einen Bastard sehen, bis sie sich ihrer Bestimmung bewußt wird. Der Symbiont – Ein geheimnisvolles Wesen, das Lilith als Kleid dient, obwohl es fast jede Form annehmen kann. Der Symbiont ernährt sich von Vampirblut und verläßt seine Wirtin bis zu deren Tod nie mehr. Landru – Mächtigster der alten Vampire. Seit 268 Jahren jagt er dem Lili enkelch nach, dem Unheiligtum der Vampire, der ihm damals von Felidae gestohlen wurde. Felidae – Vampirin im Auftrag einer geheimnisvollen Macht, die Liliths Geburt in die Wege leitete und damit einen Plan verfolgt, der die Welt der Menschen und Vampire verändern wird. Beth MacKinsey – Gleichgeschlechtlich veranlagt, hat sich die Journalis tin in Lilith verliebt und ist zur Zeit deren einzige Gefährtin im Kampf ge gen die Vampire. Duncan Luther & George Romano – Zwei Tote, die Liliths Keim in sich tragen. Sie haben einen Tunnel in Uruk/Irak freigelegt und folgen ihm nun. An seinem Ende soll sich bald Liliths Bestimmung erfüllen. Die Vampire – Noch kennt niemand ihre wahre Herkunft, doch sie leben seit Urzeiten neben den Menschen in Sippen zusammen. Um einen neuen Vampir zu schaffen, muß ein Menschenkind schwarzes Blut aus dem Lili enkelch trinken. Der Kodex verbietet Vampiren, sich gegenseitig umzubrin gen. Die Dienerkreaturen – Tötet ein Vampir einen Menschen mit seinem Biß, wird dieser ihm nicht ebenbürtig, sondern eine Kreatur, die dem Vampir bedingungslos gehorcht. Ihrerseits kann eine Dienerkreatur den Vampir keim nicht weitergeben und wird – anders als die Ur-Vampire – mit zuneh mendem Alter immer lichtempfindlicher.
Im Zweistromland, nahe dem Euphrat, bellte ein Leutnant Befehle wie ein wütender Hund. Lilith verstand nicht einmal die Hälfte, trotz ihrer Fähigkeit, jede menschliche Sprache zu erfassen. Aber es bedurfte auch keiner Übersetzung. Die Soldaten waren gut dressiert. Sie legten Lilith Hand- und Fußschellen an und zerrten sie zu einem der offenen Jeeps. Hart wurde sie zwischen die Sitze gestoßen, aber sie unterdrückte einen schmerzvollen Aufschrei. Obwohl aus ihrer Bewußtlosigkeit längst wieder erwacht, spielte sie den Soldaten weiterhin die Ohn mächtige vor. Aber von einem Schrei hätten die Männer sich ohnehin nicht be eindrucken lassen. Lilith Eden war für sie nur in zweiter Linie eine Frau. Vor allem war sie Feind. Blutfeind. Über ein halbes Dutzend Männer war tot, und niemand hier wußte, welche Rolle sie gespielt hatte, dort unten, in diesem unendlichen Korridor, wo das Verder ben über den Armeetrupp hereingebrochen war. Manch einer der Soldaten mochte an Rache für die getöteten Ka meraden denken, die dem Wächterwesen zum Opfer gefallen wa ren. Aber sie waren diszipliniert; sie gehörten einer Elite-Einheit an. Der jahrelang eingedrillte Gehorsam war stärker als die aufkochen den Gefühle. Der Leutnant hielt die Agrippa in Händen und betrachtete sie, die ses wie versteinert wirkende, merkwürdige Ei. Dann stieg er damit in einen anderen Wagen. In Lilith brannte ein verzehrendes Feuer. Alles in ihr drängte da nach, das kostbare ›Ei‹ den Soldaten wieder zu entreißen und damit zurück in den Korridor zu fliehen, um ihre Bestimmung endlich zu erfüllen. Aber sie war zu schwach. Sie war verletzt worden – angeschossen!
Mehrere Kugeln hatten ihren Rücken getroffen; hinzu kam die Brandwunde vorn an der rechten Schulter, wo die chemische Fackel sie berührt hatte, als der Symbiont sie im Stich ließ und geflohen war. Der kurze, wilde Kampf, als die Soldaten sie nackt von den Stufen auflasen und hinauf in den Sonnenglast zerrten, hatte ihre Kräfte schließlich zur Gänze erschöpft. Für einige Minuten war sie tatsäch lich bewußtlos gewesen. So viel Schmerz, so viel Tod … Und jetzt? Vorbei? Sie konnte nichts tun. Sie benötigte all ihre verbliebene Kraft, die Schußwunden auszuheilen. So war sie nicht einmal fähig, sich in ihre Fledermausgestalt zu verwandeln. Ein Instinkt warnte sie zu sätzlich; es wäre sicher nicht gut, jetzt auf diese Weise zu entfliehen, selbst wenn sie dazu in der Lage gewesen wäre. Es war schon erstaunlich, wie wenig Gedanken die Männer sich zu machen schienen, weshalb sie mit diesen Verletzungen überhaupt noch lebte. Vielleicht wünschten sie, sie wäre tot. Auf den Befehl ih res Leutnants hin hatten sie einen Preßverband über die Wunden gewickelt – und Lilith dann wie einen Getreidesack in den Wagen geworfen. Wieder erschollen harte Kommandos. Der Leutnant erhob sich in dem anderen Jeep und gab das Zeichen zum Abrücken. Auf das Kommando hin fuhren die beiden Wagen an. Vier Mann in dem Fahrzeug mit der Agrippa, sechs in dem, wo Liliths zerschundener, nur mit einem Notverband umhüllter Körper lag. Für den Bruchteil einer Sekunde öffnete sie die Lider, um sie gleich wieder zu schließen und weiter die Bewußtlose zu spielen; so lange, das wußte sie, würde man sie in Ruhe lassen. Sie sah in Waf fenmündungen. Gleich vier Männer hatten ihre MPis auf sie gerich
tet. Es bedurfte eines leichten Fingerzuckens, und die Geschoßgar ben würden Lilith regelrecht zerfetzen. Sie war nicht sicher, ob hin terher noch genug von ihr übrig war, um ihr ein Überleben zu er möglichen … Immerhin war sie zur Hälfte Mensch. Nein, falsch. Die unvollkommene, schwache, wehleidige Hälfte war menschlich gewesen. Der Lilienkelch hatte sie aus Lilith getilgt. Nun war sie vollends Vampir. Endlich! Die Erinnerung an die letzten Minuten, Stunden, Tage ver schwand hinter roten Schleiern. Ihre Gedanken verwirrten sich, tauchten ab in blutrote Wirbel. Sekundenlang blitzte ein Name in ih rem Gedächtnis auf. Beth. Eigenartige, menschliche Gefühle waren mit diesem Namen ver bunden. (Aber wie konnte das sein?) Ein Gesicht, ein schöner Kör per, weiche Lippen, sanfte, zärtliche Hände … BLUT! Beth’ Blut! Nein, das Blut Felidaes. Sie hatte das Herzblut der Vampirin aus dem Kelch getrunken, und dies hatte endlich alle Irrungen und Zweifel von ihr genommen. Warum hatte sie je gezweifelt am LICHT … das sie gezwungen hat te, ihrer Bestimmung zu folgen, das stärker war als sie … das ver fluchte LICHT. Das … Und dann wieder: Beth. Ihre entsetzten Augen, die unendliches Grauen spiegelten, als sich Liliths Hände um ihren Kopf schlossen und ihn mit einem Ruck … Lilith erschauerte. Hatte sie Beth wirklich getötet? Dann war es schon wieder vorbei. Das Dunkle in Lilith gewann wieder die Oberhand, verdrängte die menschliche Seite und verhin
derte, daß sie vor sich selbst Rechenschaft ablegte über das, was sie getan hatte. Warum sollte sie auch? Sie diente dem LICHT. Sie hatte ihre Be stimmung gefunden, und alles war richtig so. Sie war die Erlöserin. Auch Beth hatte sie nur erlöst. Das war logisch. Warum hätte aus Beth eine Dienerkreatur werden sollen? Die beiden Wagen, deren Tarnanstrich von dicken Staubschichten weitgehend verdeckt wurde, rollten eine Straße entlang, die diese Bezeichnung nicht verdiente. Es waren russische Fabrikate vom Typ UAZ-469. Viel zu zuverlässig, um den Abtransport der Agrippa scheitern zu lassen. Nahezu unzerstörbar, viertürig, siebensitzig, of fen – die Verdeckplanen waren entfernt worden. Das verhinderte Hitzestau im Wageninnern unter dem tarnfarbenen, schweren Stoff, der in der Nacht vor Kälte schützte. Die robusten 2,5-Liter-Benzinmotoren donnerten ihre Auspuffgase in die hitzeflirrende Luft. Die Wagen rumpelten über festgefahrene Schottersteine, harten Lehm, von dem Staub abgerieben und aufge wirbelt wurde, Schlagloch an Schlagloch. Lilith, die zwischen den Sitzen auf dem harten Metallboden des Wagens gelandet war, mußte die heftigen Rucke und Schläge hin nehmen. Die blattgefederten Starrachsen gaben jede Unebenheit des Bodens nahezu ungedämpft weiter. Primitivste Technik aus der Steinzeit des Automobilbaus, dafür jedoch auch mit einem Schmie dehammer zu reparieren. Die Irakis wußten schon, was sie auf den Pisten ihres Landes brauchten … »Fahr langsamer!« brüllte einer der Soldaten den Fahrer an. »Halte gefälligst Abstand, oder sollen wir alle im Staub ersticken?« Der voranfahrende Jeep, in dem sich auch die Agrippa befand, gab das Tempo an. Den Ärger mit der Staubwolke, die die Sicht nach
vorn verhüllte und in Augen, Mund und Nase eindrang, hatten die Insassen des zweiten Wagens. Sie zogen Halstücher vor die Gesich ter und atmeten durch den Stoff, der den Staub von ihren Nasenlö chern fernhielt. Lilith hatte diese Möglichkeit nicht. Niemand gab ihr ein Tuch. Überhaupt dachte auch niemand daran, ihren Körper zu bedecken. Wenigstens schützte sie der Verband, den man ihr so notdürftig wie widerwillig angelegt hatte, davor, daß Dreck in ihre Wunden drin gen und den Heilungsprozeß verlangsamen konnte. Die Windschutzscheibe und die bis zum offenen Dach reichenden vier Türen hielten den Staub nicht fern; der Luftsog hinter dem schnell fahrenden Wagen zog einen Teil direkt hinter den Fondtüren ins Innere. Der Rest kam von vorn über die Oberkante der Wind schutzscheibe. Der mörderische Zwang, mit der Agrippa zu ihrem Ziel zu gelan gen, ihre Bestimmung zu erfüllen, hielt Lilith immer noch in seinem erbarmungslosen Griff. Doch sie empfand ihn nicht mehr als schlimm, jetzt, da ihre menschliche Hälfte wieder vom LICHT unter drückt wurde. Er bestärkte sie nur in ihrem Bemühen, möglichst schnell neue Kräfte zu sammeln – und zurückzuschlagen. Die Ausgrabungsstätte war hinter dem aufgewirbelten Staub nicht mehr zu erkennen. Auf kurvenreicher Bahn ging es steil hinauf und hinab, an schrägen oder steilen Hängen vorbei. Der Pflanzenbe wuchs war karg, das Gelände trocken und zernarbt. Wasser war hier keines zu finden. Weiter und weiter entfernten sich die beiden Jeeps von der Stätte des Todes. Und damit auch vom Korridor, von Raum und Zeit, von An fang und Ende, von Wirklichkeit und Alptraum. Aber die Wirklichkeit war ein Traum, und der Alptraum war Wirklichkeit. Lilith fror trotz der Hitze. Die Kälte kam von innen. Ihre Seele war
gefroren, und doch kochte das Blut in ihr heißer als Lava. Es schrie nach anderem Blut. Es zürnte, wollte frei sein, um tun zu können, was getan werden mußte. Der Durst kehrte zurück und wühlte in ihren Eingeweiden. Weiter rumpelten die schnellen Geländewagen. Rasende Fahrt. Rasendes Blut. Allmählich kehrte die Kraft in Liliths Körper zurück. Gefrorenes Feuer begann zu tauen. Sie gab das ›Versteckspiel‹ auf und öffnete die Augen. Sie bewegte sich mühsam, versuchte sich aufzurichten, um auf den einzigen freien Sitz zu kommen. Die Wunden schmerzten, verheilten viel zu langsam unter dem Verband. Zu wenig Kraft. Zu groß der Durst. Die Soldaten waren keine Kavaliere. Keiner rührte einen Finger, um der Gefangenen aufzuhelfen. Irgendwie schaffte sie es, sich auf den Sitz zu ziehen. Immer noch waren die Mündungen der entsicherten Kalaschni kow-MPis auf Lilith gerichtet. Ein Wunder, daß noch keine Waffe bei der Rüttelei losgegangen war. Lilith sah sich um. Niemand hinderte sie daran. Viel zu sehen gab es in der Staubhülle des voranfahrenden Wagens ohnehin nicht. Nicht für einen Menschen jedenfalls. Lilith dagegen sah die Brücke, die wenige hundert Meter voraus auftauchte. Ein Gewässer? Oder nur eine Felskluft, über die die Straße führte? Wohl eher letzteres. Uninteressant … Die Brücke war hoch, und das war schon interessanter … Die Straße kurvenreich, unübersichtlich, die Sicht vom Staub ge schluckt. Ideal.
Etwas in Lilith begriff, daß sie handeln mußte. Schnell …
* Für einen Angriff reichte ihre Kraft noch nicht; also blieb ihr nur eine Wahl: Sie setzte Hypnose ein! Alle sechs Männer zugleich konnte sie nicht unter ihre Kontrolle bringen; das wäre ihr schon unter normalen Umständen nicht leicht gefallen. Aber einer genügte bereits – wenn es der richtige war. Sie konzentrierte sich auf den Soldaten, der die Schlüssel zu ihren Hand- und Fußschellen bei sich trug und der ihr glücklicherweise direkt gegenübersaß. Die Blicke des jungen Mannes trübten sich. Er vergaß, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzukneifen, doch selbst als der Staub seine Augäpfel netzte, blinzelte er nicht. Plötzlich sah er in der Frau vor sich nicht mehr die Feindin, die es zu bewachen galt. Erst jetzt schien er zu bemerken, daß sie verletzt war, hilflos und gefesselt. In ihm erwachte das Verlangen, ihr zu helfen und sie aus dieser mißlichen Lage zu befreien. Ehe die anderen begriffen, was er tat, hatte er sich vorgebeugt und die Stahlringe aufgeschlossen. Einer seiner Kameraden griff nach seiner Schulter und zerrte ihn zurück. »Verdammt, Amid, was tust du? Leutnant Dhamar wird …« Seine Stimme stockte, als Lilith auch nach seinem Willen griff. Seine Augen wurden groß wie Flakscheinwerfer, weil sein Ver stand nicht glauben wollte, was er mit einemmal sah. Die Frau vor
ihm … sie war so … schön! Eine Wüstenblume konnte liebreizender nicht sein. Verführerisch rekelte sie sich auf dem Sitz, strich verlan gend über ihren makellosen Leib und spreizte ihre Schenkel. Er glaubte direkt ins Paradies zu blicken. Doch dann … zerbrach der Zauber. Das Trugbild zerstob. Liliths hypnotische Kraft war erschöpft, und der Soldat, der noch immer direkt in ihre Augen sah, erblickte nun statt himmlischer Wonnen die Wahrheit darin. Er schrie auf. »Der Scheitan! Sie ist vom Scheitan besessen!« Er riß die Kalaschnikow hoch und wollte den Abzug durchziehen, doch sein Kamerad, noch immer unter Liliths Bann, fiel ihm in den Arm. Die MPi-Salve konnte er dadurch nicht verhindern, nur die Schußrichtung ändern. Statt der Frau, die er für den Scheitan hielt, weil Mohammed von Vampiren nichts überliefert hatte, flog einer der beiden Männer, die rechts und links von Lilith saßen, über die hohen Seitentüren nach links davon. Die Feuerkraft der Geschosse hebelte ihn regelrecht darüber hinweg. Der Unglücksschütze versetzte seinem Kameraden einen kräftigen Ellbogenstoß und schwenkte die Waffe herum. Noch immer hatte er den Finger am Abzug. Lilith duckte sich keine Sekunde zu früh. Die Salve todbringender Geschosse raste über sie hinweg. Als der Soldat endlich den Finger vom Abzug nahm, hatten die Geschosse den Oberarm des Beifah rers glatt durchtrennt und ihm den Rücken aufgerissen. Er schrie in Agonie, als er seitlich aus dem Wagen stürzte. Der Schütze stellte keine Gefahr mehr dar, weil er in fassungslo sem Entsetzen begriff, zwei Kameraden niedergemäht zu haben statt der dämonischen Frau. Er versuchte offenbar, eine Zeile aus dem Koran zu rezitieren, aber nur sinnentleertes Stammeln drang über
seine Lippen. Lilith nutzte das heillose Chaos auf ihre Weise. Im nächsten Moment stürzte sie sich auf den Soldaten, der rechts neben ihr gesessen hatte und vom Schock wie gelähmt war, und riß ihm mit ihren Klauen die Halsschlagader auf. DURST! Sie war nicht mehr Mensch; sie war Vampir. Ausschließlich! Ihre Fangzähne schlugen in den Hals des Mannes. Der heiße, kostbare Saft schoß direkt in ihren Mund, und sie saug te und trank und fühlte unbändige Kraft in sich aufsteigen. Der Soldat auf dem Fahrersitz hatte bei dem rasenden Tempo ge nug damit zu tun, den Wagen auf der holperigen Schotterstraße zu halten. Als hinter ihm das Chaos ausbrach, hatte er im Reflex das Gaspedal tief durchgetreten und auch weiter gedrückt gehalten. Ein Fehler, aber das merkte er erst jetzt. Erschrocken wollte er wieder abbremsen. Natürlich tat er es viel zu hastig und unüberlegt. Kurz vor der Brücke kam der Wagen auf Schotter und Staub ins Rutschen und brach seitlich aus. Die vier Trommelbremsen ver brannten unter der Belastung in weißer Glut. Der Soldat, der seine Kameraden ungewollt zur Dschehenna be fördert hatte, fand seine Fassung endlich wieder und riß die Ka laschnikow hoch. Er keuchte. Schweiß perlte auf seiner Stirn und mischte sich mit dem Staub zu einer Schmiere, die ihm salzig und brennend in die Augen sickerte. Dies und der Umstand, daß der UAZ-469 haltlos durch Schlaglöcher holperte, rettete Lilith davor, sich doch noch eine Salve heißer Kugeln einzufangen. Der Soldat verlor seinen ohnehin unsicheren Stand vollends, als
der Wagen mit dem Brückengeländer kollidierte, stürzte mit einem Schrei hintenüber und durchbrach eine der Heckscheiben. Im nächs ten Moment war er verschwunden. Der Zusammenprall mit dem Geländer hatte dem Wagen einen Drall in die ursprüngliche Richtung versetzt. Er schoß wieder vor wärts und schrammte an der gegenüberliegenden Brüstung entlang, ohne sie zu durchbrechen. Das Verhängnis kam von anderer Seite. Von unten. Aus Holz konstruiert, waren etliche der Bohlen längst brüchig ge worden. Das Klima, zwischen Tageshitze und Nachtkälte wech selnd, hatte dem Material ebenso zugesetzt wie schwere Militärfahr zeuge und Lastwagen, die von Warka zur Ausgrabungsstätte und wieder zurück fuhren. Für das morsche Material waren die Erschütterungen viel zu stark und der Wagen viel zu schnell. Im nächsten Moment brachen gleich drei Bohlen der Brücke. Mit dem rechten Vorderrad krachte der UAZ-469 nach unten weg, knallte mit der Stoßstange und viel zu hoher Geschwindigkeit vor eine massive Holzkante. Der Ruck ließ den Fahrer nach vorn fliegen und trieb seinen Kopf durch die Windschutzscheibe, während das Lenkrad seine Rippen zerschmetterte. Lilith löste sich von ihrem Opfer und rutschte nach vorn, während der Wagen, den Gesetzen der Physik folgend, hochgehebelt wurde. Er stellte sich senkrecht, verlor den Kontakt mit der Brücke und flog durch die Luft, schon mit dem Dach nach unten. Im ersten Reflex hatte Lilith sich irgendwo festhalten wollen, aber im gleichen Moment begriff sie, daß dies ein tödlicher Fehler wäre. Sie mußte hier raus! Mit einem Aufbäumen ihrer neugewonnenen Kraft stieß sie sich ab und leitete gleichzeitig die Metamorphose ein.
Im nächsten Augenblick donnerte der Wagen auf das Brückenholz zurück. Türen und Frontscheibe zerplatzten, flogen in kalter Verfor mung seitwärts weg. Der kalten folgte die heiße Verformung. Funken sprangen vom zerfetzten Metall. Die Vorderachse hatte sich gelöst und den Tank aufgerissen. Benzindämpfe zündeten. Noch während der Wagen durch die Luft flog, während die Hinter räder noch volle Motorkraft bekamen, aber keinen Bodenwiderstand mehr fanden und rasend schnell durchdrehten, erfolgte die Explosi on. Als Lilith sich abstieß, fühlte sie die gnadenlose Hitze. Feuer, das auch sie vernichten konnte! Der Wagen verwandelte sich in eine winzige künstliche Sonne, die ihre ganze Substanz in einem einzigen Aufblitzen verstrahlte und dabei glühende und brennende Trümmerstücke wie Meteore nach allen Seiten davonschleuderte. Die Kraft der Explosion sprengte das Brückengeländer und einen Teil des Bodens glatt weg. Ein flammenspeiender Feuerball stürzte in die Tiefe, umgeben von auflodernden Trümmern und einer Springflut flammenden Benzins aus dem zerfetzten Tank. Die Brückenkonstruktion knirschte, aber sie hielt. Noch. Ruhe kehrte ein, als gelber Staub und fettschwarzer Qualm lang sam im heißen Wind verwehten.
* Leutnant Jassir Dhamar hatte Halt befohlen.
Trotz dem Motorendröhnen und dem Rumpeln des Jeeps auf den Holzbohlen der Brücke hatte er das MPi-Feuer vernommen. Es muß te von dem nachfolgenden Wagen kommen. Was war da los? Daß der Fahrer des anderen UAZ-469 Abstand hielt, war verständ lich. Wer wollte schon mehr Staub fressen als nötig? Aber der Abstand mußte sich zwangsläufig verringern, weil sich ein Überfahren der Brücke nur mit geringer Geschwindigkeit emp fahl – zum Verdruß des Leutnants, dem das merkwürdige ›Ei‹ – oder was immer es auch sein mochte – ebenso unheimlich war wie die mörderischen Vorgänge an der Ausgrabungsstätte und das un erklärliche Verschwinden der französischen Archäologen. Wegen der Franzosen war Oberstleutnant Radjavi vor gut zwei Monaten mit seiner Spezialeinheit von der Regierung in Bagdad her geschickt worden – ohne Erfolg. Das Team blieb verschwunden. Nun aber hatte einer der heimischen Hirten eine mysteriöse Beob achtung bei einer abseits gelegenen Grabungsstätte gemacht. Was genau er gesehen hatte, wußte Dhamar als einfacher Befehlsempfän ger nicht, aber es war wohl ausreichend gewesen, um Hauptmann Addad und seine Einheit erneut zu der antiken Stätte zu schicken. Mit dem Erfolg, daß Addad und viele Kameraden jetzt nicht mehr lebten … Erst hinter der Brücke ließ der Leutnant den Wagen stoppen. Er traute der Holzkonstruktion nicht und hatte kein Interesse daran, sich bei einem Zwischenfall auf unsicherem Boden zu bewegen. Er hatte lieber feste Erde unter den Füßen. Und jetzt – – schoß der zweite Jeep mit wahnwitzigem Tempo auf die Brücke hinaus. Dhamar sah, daß darauf gekämpft wurde! Und dann explodierte der Jeep und stürzte in die Tiefe! »Bei Allah!« keuchte einer der Männer, die auf das seltsame große
›Ei‹ aufpassen sollten, jetzt allerdings nur noch Augen und Ohren für das Geschehen auf der Brücke hatten. Der Leutnant stieß die Tür des Wagens auf und sprang nach drau ßen. Er lief die paar Meter bis zur Brückenkante zurück, sah in die Tiefe hinab. Als seine Soldaten ihm neugierig folgen wollten, scheuchte er sie zurück in den Wagen. Dann versuchte er, in dem feurigen Inferno dort unten Einzelhei ten zu erkennen. Er sah keine Toten. Die lagen vermutlich zur Unkenntlichkeit ver brannt unter den Trümmern. Nein, da unten war nichts mehr, das zu bergen sich lohnte. Auch nicht diese unheimliche Frau. Dhamar fühlte sich erleichtert. So stellte sie jedenfalls keine Bedro hung mehr dar. Nur schade, daß jetzt niemand mehr herausfinden würde, wer sie gewesen und woher sie gekommen war. Was blieb, war das eigenartige ›Ei‹. Es mußte ein sehr wichtiges Artefakt sein, sonst wäre es nicht von so viel Tod begleitet worden. So viel Blut und Tod … Der Leutnant schüttelte sich. Was waren das für unsoldatische Ge danken! Er hatte ein Relikt sichergestellt, und seine einzige Aufgabe war es, dieses ›Ei‹ seinem Kommandanten zu übergeben. Trotzdem – als er sich wieder dem Wagen zuwandte, lief es ihm eiskalt über den Rücken. Er ignorierte den leisen Anflug irrationaler Furcht und stieg ein. »Weiter!« befahl er. Sergeant Jamal, der Fahrer, zögerte. »Aber die Kameraden …« »Weiter!« befahl der Leutnant. »Bist du ein lausiger UNO-Affe oder ein tapferer Soldat Allahs und unseres Präsidenten?« Der Motor donnerte wieder los. 71 PS brachten ihn seinem Ziel
rasch entgegen. Tod und Inferno blieben hinter dem Jeep zurück. Wirklich …?
* Das Fliegen fiel ihr schwer. Sehr schwer. Sie brauchte eine Ruhepause. Der Durst war geringer geworden, doch in ihr brannte das verzehrende Feuer ihres Blutes und schrie ihr den Vorwurf zu, wohl sich selbst gerettet zu haben, nicht aber die Agrippa. Sie kauerte in ihrer Tiergestalt im Schatten eines Felsvorsprunges, erschöpft, die Flughäute zusammengefaltet. Sie machte nicht einmal den Versuch, sich in ihre Menschengestalt zurückzuverwandeln. Denn sie war kein Mensch mehr! Das LICHT hatte diese Seite ihrer selbst aus ihr getilgt. Und doch … »Ich bin kein Tier«, keuchte sie verzweifelt und in schmerzhaftem Zwiespalt gefangen. »Ich bin …« Sie hatte gemordet! Als die Erinnerungen zurückkamen, geschah dies zusammen mit ihrer wahren Gestalt, für deren Größe der Schatten jetzt kaum noch reichte. Atemlos und leicht zusammengekrümmt lag Lilith da. Sie hatte überlebt. Andere waren gestorben, waren Felidae – dem Wächterwesen – zum Opfer gefallen, ihrer blindwütigen, blutdurstigen Raserei. Und Beth …? wisperte eine leise Stimme in ihrem Gehirn. An ihrem Tod trägst du allein die Schuld! »Nein«, wimmerte Lilith. »Nein …« Verzweifelt versuchte sie den
unerträglichen Gedanken zu verdrängen. Es gelang ihr nur allzu leicht. Dann war es wieder vorbei. Und diesmal – endgültig. Sie war wieder die gehorsame Dienerin des LICHTS, die ihrer Be stimmung folgen mußte. Bis zum bitteren – – Ende? Nein, kein Ende! Es würde ein neuer Anfang sein. Alles, was Lilith dafür tat, war richtig. Was dem Ziel im Wege stand, mußte beiseite geräumt oder vernichtet werden. Es war erforderlich. Rücksicht hieß Rückschlag. Lilith durfte sich nicht länger mit dem befassen, was geschehen war. Eine Aufgabe lag vor ihr, wichtiger als alles andere. Sie mußte die Agrippa wieder aus den Klauen der Menschen befreien, ehe et was geschah, das niemand mehr verantworten konnte. Kein Mensch – und kein Vampir. Zuviel war schon verloren …
* Mandschurei, jenseits der kalten Zeit Es war noch nicht lange her, daß die Werwölfin aus dem Heilschlaf erwacht war. Noch heute glaubte sie manchmal, kein rechtes Gefühl für ihren Körper zu besitzen, und in ihrem Kopf schien sich der rasende Krei sel, der sie in den ersten Stunden ihres Erwachens gemartert hatte, dann wieder sacht zu drehen. Aber diese Rückfälle wurden von Tag
zu Tag seltener und würden bald ganz ausbleiben. So sagte Chiyoda, und sein Wort war Wahrheit und Weisheit. Wie so oft, weilte Nona auch in diesen Stunden wieder bei ihrem alten Meister. Deshalb fühlte sie gleich, daß heute etwas anders war als sonst. Chiyoda registrierte sehr wohl ihre Aufmerksamkeit, blieb aber stumm. »Du willst es nicht mit mir teilen?« fragte sie leise. Der weißbärtige, in eine helle Kutte gekleidete Alte mit dem schüt teren Haar, klein und zerbrechlich wirkend, sah an ihr vorbei. Er fühlte sich nicht ertappt; natürlich nicht. »Ich werde dich nicht wieder unterschätzen«, sagte er leise. »Ich hätte wissen müssen, daß es Dinge gibt, die ich nicht vor dir verber gen kann.« Langsam streckte er die Hand aus; sie ergriff sie. Für Augenblicke hatte sie den Eindruck, als fließe etwas von ihm auf sie über. Aber sie vermochte es nicht zu deuten. »Wo warst du? Was hast du gesehen?« fragte sie. »War es so schrecklich, daß du es in dir verschließen willst?« »Ich war jenseits der Träume.« Bedächtig schritt Chiyoda an ihr vorbei; ihre Hände lösten sich voneinander. Nona hob ihre Rechte vors Gesicht, betrachtete sie. Sie glaubte sich an die kurze Berüh rung jetzt nicht nur zu erinnern, sondern sie auch zu sehen, so, als wäre etwas von der Befähigung des Meisters auf sie übergegangen. Sie sah … und verstand nicht. »Deute mir, was du mir gezeigt hast«, bat sie. Schweigend setzte er seinen Weg fort. Sie folgte ihm durch das Sanktuarium. Schließlich betrat er einen kleinen Raum, neigte das Haupt und bewegte sich von links nach rechts und wieder zurück. Kerzen aus Honigwachs leuchteten auf. Meister Chiyoda ließ sich zwischen ihnen nieder, verschränkte die Beine zum Lotossitz. Nona
folgte seiner einladenden Geste und fand ihren Platz ihm gegen über, in der gleichen Entspannungshaltung. Heimlich sah sie wieder zu ihrer Hand. Aber das Gefühl, er habe eine Botschaft hineingestempelt, war verloschen. Vielleicht war es auch nur ein Irrtum gewesen. Da hob er selbst seine Hand, mit der er die Werwölfin berührt hat te. »Glaube nicht deinem Verstand«, sagte er. »Er trügt. Deine Ge danken irren. Du willst etwas fühlen, das du niemals fühlen konn test.« »Und doch mußt du etwas Erschreckendes gesehen haben«, be harrte sie. Er sah sie an. Sie wich der Kraft seines Blickes aus, senkte den Kopf. Seine Meisterschülerin hatte er sie oft genannt. Sie war zu ihm ge kommen, in das abgelegene Kloster im Nordosten Chinas, an einem geheimen Ort in der Mandschurei. Hierher war die Zivilisation der Sterblichen noch nicht vorgedrungen, jenes Volkes, das über unvor stellbare technische Hilfsmittel verfügte und dessen Blut doch heiß dampfte in der kalten, klaren Nacht unter dem fahlen Licht des Voll mondes, wenn Wolfszungen es tranken. Hierher hatte sich Chiyoda mit denen seiner Art zurückgezogen, die erlernen wollten, was ihm bereits gelungen war: das Böse zu un terdrücken, das in der Seele keimte und dem blassen Wolfsmond diente. Chiyoda war imstande, die Verwandlung in die Jagdgestalt zu un terdrücken. Er unterlag nicht dem Ruf des Mondes. Wenn der Him melsfreund sich rundete, vermochte der Guru seine Menschenge stalt beizubehalten, den Jagdinstinkt zu unterdrücken. Er wider stand der Lust zu töten, Beute zu hetzen; zweibeinige Beute, deren Leben, warm getrunken, Lust und Qual zugleich bedeutete.
Auch Nona arbeitete an sich. Sie war noch nicht sicher, ob es richtig war. Ob es wirklich das war, was sie wollte. Dem Bösen entsagen. In hellen Nächten kein Wolf mehr sein, kein Jäger. Sich die Erfüllung der Lust auf die Art jener zu verschaffen, deren Gestalt sie jenseits des Mondes zeigte und die bei Vollmond ihre Beute waren. Vielleicht wollte das Böse ihr nicht entsagen … »Welche Fortschritte machen deine Übungen?« fragte Chiyoda. Sekundenlang brachte er sie damit aus dem Konzept. Sie hatte ihm Fragen stellen wollen, jetzt fragte er sie – nach etwas ganz anderem! Sie schüttelte den Kopf. »Lenke nicht ab«, bat sie. »Du bist unkonzentriert. Das entspricht nicht deinem hohen Ni veau«, tadelte er. »Verdammt, ich mache mir Gedanken um dich! – Sorgen!« stieß sie hervor. »Und vernachlässigst darüber dich selbst«, setzte er seinen Tadel fort. »Früher warst du mehr an dir selbst interessiert als an anderen.« Außer an Landru, durchfuhr es sie. Sie fragte sich, warum sie ausgerechnet in diesem Moment an Landru denken mußte, diesen großen, alten, mächtigen Vampir, den Kelchhüter. An ihn und seine erotische, zwingende Kraft, die sie so gern herausforderte, an der sie sich so gern maß. Damals … und sicher auch bald wieder, wenn sie ihm erneut ge genübertreten konnte. Es waren immer nur kurze Episoden, viel zu kurze, wenn sie sich begegneten. Dabei verband sie so viel. Der wilde, explosiv heiße Sex, den sie bei keinem ihrer Art jemals so genossen hatte wie beim Zu sammensein mit dem Vampir. Ihre Art zu jagen … Gemeinsam wa
ren sie in Wolfsgestalt durch das weite Land gestreift, hatten Beute geschlagen und genossen, jeder auf seine Art. Und immer wieder war die Trennung gekommen. Landru … Es schien eine Ewigkeit her zu sein, daß sie sich zuletzt gesehen hatten. Es schien auch eine Ewigkeit her zu sein, daß El Nabhal sie zu tö ten versucht hatte. Beinahe wäre es ihm gelungen, mit dem magi schen Glückstuch, in das seine dunkle Seele übergegangen war. Je nes Tuch, das sie selbst ihm in den Schlund gestopft hatte, als er starb … und doch auf rätselhafte Weise überlebte. Im Körper einer Frau war er zurückgekehrt, um sich an Nona zu rächen. Zum zwei tenmal hatte sie El Nabhal getötet, doch dabei berührte sie das Tuch … und der darin wohnende Ungeist des Magiers zwang sie, sich selbst mit diesem Tuch zu erwürgen. Es sich um den Hals zu schlin gen, den Knoten zuzuziehen … Chiyoda war es gewesen, der sie im letzten Moment rettete und mit sich nahm. Der das Tuch und El Nabhal zerstörte, um Nonas Existenz zu bewahren. Er holte sie aus Tokio, wohin sie gegangen war, um Frieden zwi schen Werwölfen und Vampiren zu stiften, zurück ins Sanktuarium und heilte ihren Körper.* Sie verdankte dem alten Guru so viel … Der lächelte ihr zu. »Ich spüre deine Ungeduld stärker denn je. Sie ist nicht gut. Sie wird einst dein Verderben sein«, warnte er. »Zügle dich. Dein Leben währt lange, sehr lange im Gegensatz zu dem der Menschen. Warum hast du nie zu warten gelernt?« »Wenn ich warte, dann auf Beute«, erwiderte sie dunkel. »Ungern *siehe VAMPIRA 32 und 33
auf anderes. Der Augenblick ist flüchtig, und mit ihm alles, was er birgt. Wer nicht rasch zugreift, verliert, was er erlangen will.« »Diese Gedanken lehrte ich dich nicht.« »Diese Gedanken lehrte mich die Zeit. Was hast du gesehen?« Er seufzte. »Bilder einer Zukunft«, begann er leise …
* Das militärische Hauptquartier war ein Haus am Ortsrand von War ka, das Oberstleutnant Radjavi kurzerhand beschlagnahmt hatte, als er mit seinen Leuten anrückte, um nach dem Verbleib der Archäolo gen zu forschen. Ringsum hatten die Männer ein paar Zelte aufge schlagen; Fahrzeuge standen bereit, darunter ein Sturmgeschütz mit 7,5 cm-Kanone. Ein steinaltes Gerät, das noch dem 2. Weltkrieg zu entstammen schien. Aber die Granaten waren sehr modern … Der Oberstleutnant hatte fürchterlich lamentiert, als Hauptmann Addad darauf bestand, das Kettenfahrzeug mitzunehmen, das wie ein zu klein geratener Kampfpanzer aussah. »Das gibt Ärger mit der UNO«, hatte er gezetert. »Ist Ihnen überhaupt klar, daß wir uns in entmilitarisiertem Gebiet bewegen sollen? Wenn ein Inspektions hubschrauber uns bemerkt, oder das ›Eye in the Sky‹ …« Dabei deu tete er zum Himmel hinauf, wo irgendwo in großer Höhe Spionage satelliten der Amerikaner im Orbit kreisten. Doch diesbezüglich hatte der Hauptmann keine Bedenken. »Das Sturmgeschütz verschwindet unter guten Tarnnetzen, und wir bewegen es nur dann, wenn das Auge der Ungläubigen sich nicht über uns befindet. Wir kennen doch die Zeiten, zu denen der Satellit über uns ist. Sobald er uns nicht mehr sieht, rollen wir. Und
ansonsten: Es geht um die Sicherheit eines internationalen Archäolo genteams, um das wir uns aufopfernd kümmern. Könnte ja sein, daß wir sie vor Rebel… äh, Räubern schützen müssen.« Und dabei grins te er geradezu unverschämt. Schließlich hatte Oberstleutnant Radjavi zugestimmt. Jetzt, als der Jeep mit Dhamar, seinen drei überlebenden Männern und dem geheimnisvollen ›Ei‹ auf dem Vorplatz stoppte, wünschte sich der Leutnant, daß sie das Sturmgeschütz mit zur Ausgrabungs stätte genommen hätten. Vielleicht würde Hauptmann Addad dann noch leben, und die anderen Kameraden auch … Einer der hier verbliebenen Soldaten stürmte sofort auf den Leut nant zu, salutierte und meldete: »Sidi, Oberstleutnant Radjavi will sofort den Hauptmann sprechen. Ist er nicht mit zurückgekommen?« »Sagen Sie dem Oberstleutnant, daß der Hauptmann gefallen ist«, erwiderte Dhamar erschöpft. »Sagen Sie ihm, daß ich gleich komme – und ihm etwas mitbringe.« Er wandte sich um. »Drei Mann hier her. Sie sollen dieses Ding«, er wies auf das ›Ei‹, »ins Haus schaffen. In Oberstleutnant Radjavis Büro.« Bei dem ›Büro‹ handelte es sich um die einstige gute Stube des kurzerhand hinausgeworfenen Hausbesitzers, nur traf die Bezeich nung gut kaum noch zu, nachdem Militärstiefel den Raum entweiht und den Teppich zertreten und verschmutzt hatten. Auch der Oberstleutnant hatte nicht im Traum daran gedacht, sich nach guter islamischer Sitte die Schuhe auszuziehen, ehe er die ehemalige Woh nung betrat. Das Militär formte seine eigenen Gesetze. Der Unteroffizier wiederholte den Befehl, winkte ein paar Männer herbei und ließ sie tun, was des Leutnants Wille war. Die Männer, die mit Dhamar im UAZ-469 gesessen hatten, wurden mit einem kurzen Offizierswink erst einmal freigestellt; sie, die das Uruk-Infer
no überlebt hatten, mochten sich für eine kurze Weile erholen. Der Oberstleutnant wartete ungeduldig. Noch ehe Dhamar grüßen konnte, bellte er: »Wo ist der Hauptmann? Gefallen? Was ist passiert? Als hätten wir nicht schon genug Ärger! Es gibt Probleme mit der UNO! Ich hab’s ja gleich gewußt. Man will wissen, was der Panzer hier zu tun hat.« »Das Sturmgeschütz, sidi«, verbesserte Dhamar gezwungen ruhig. »Ist doch egal!« bellte Riad Radjavi. »Irgendein Witzbold hat’s vom Flugzeug aus gesehen. Halb getarnt, Dhamar. Verdammte Schlamperei!« »Ich denke, es spielt ohnehin bald keine Rolle mehr«, sagte der Leutnant. »Sie denken? Wer hat Ihnen erlaubt zu denken, Mann?« »Meine Verantwortung als Offizier. Es gab Probleme in Uruk. Wir fanden die Vermißten nicht, aber wir wurden angegriffen. Fast alle Männer sind tot. In einem ausgegrabenen Stollen lauert ein Mons ter.« »Ein Monster? Was Sie nicht sagen! Warum nicht gleich ein böser Dschinn oder der Scheitan selbst?« »Im Gegensatz zu Ihnen, sidi, finden meine drei überlebenden Sol daten und ich diese Angelegenheit gar nicht so witzig. Darf ich, mit Ihrer gütigen Erlaubnis, berichten, was geschah?« »Sie dürfen«, seufzte Radjavi. Während der Leutnant erzählte, brachten Soldaten das ›Ei‹ herein. Oberstleutnant Radjavi betrachtete es nachdenklich. Dann lehnte er sich bequem in dem Sessel zurück. »Ziemlich schwer zu glauben«, sagte er schließlich. »Aber diese ganze verfluchte Sache ist verrückt. Da schicken uns die Schreib tischtäter in Bagdad in diese Einöde, da erzählt uns so ein schlichtes
Gemüt eine seltsame Geschichte – und die Männer, die der Sache nachgehen sollen, werden niedergemetzelt. Nur Allah weiß, was das alles zu bedeuten hat.« »Vielleicht sollten wir nicht Allah, sondern den Hirten fragen, der uns dieses Fiasko eingebrockt hat«, schlug Dhamar vor. Oberstleutnant Radjavis Augen wurden schmal. »Diesen … wie hieß er noch?« »Tahir«, half der Leutnant aus. »Er ist hier?« »In der Nähe und somit greifbar, sidi. Man hat ihn in einem der für die Mannschaften requirierten Häuser einquartiert. Ich lasse ihn festnehmen und herbringen.« »Tun Sie das. Schleunigst. Ich bin gespannt, was er uns zu sagen hat.«
* Im Sanktuarium am anderen Ende der Welt Immer betroffener werdend, lauschte Nona den Worten Chiyodas. Worte über große Veränderungen in der Zukunft, die der Guru ge sehen hatte. Unheilvolle, furchtbare Veränderungen. Und sie betra fen die Vampire … »Nein!« keuchte Nona erschrocken auf. War dies der Grund, weshalb sie vorhin so intensiv an Landru hat te denken müssen? Hatte sie irgendwie geahnt, was Chiyoda ihr be richten würde, ohne ihre Ahnung selbst zu kennen? »Ich muß Landru warnen!« stieß sie hervor und sprang auf. Aber
eine unsichtbare Kraft zwang sie, wieder Platz zu nehmen. Chiyo das Kraft. Nona fühlte wieder Schwäche in sich aufwallen, und für Sekunden drehte sich der Raum um sie. Ein ferner Nachhall der Mattigkeit, als Chiyoda sie vor El Nabhal rettete und ins Sanktuarium brachte. Diesmal war es nicht die Schwäche des Todes. Es war die Schwä che der Sorge, die sie zittern ließ. Ihr war kalt, und der Wolfspelz, der ihre Gestalt einhüllen und wärmen konnte, wuchs nicht. Nicht jetzt … »Ich muß Landru warnen«, wiederholte sie. »Es ist so … unglaub lich …« »Warum willst du ihn warnen?« »Damit er rechtzeitig Gegenmaßnahmen ergreifen kann!« fieberte sie. »Du mußt ihn sehr lieben«, sagte Chiyoda fein. »Ich liebe ihn nicht!« fuhr Nona auf. »Ich … ich will nur nicht, daß er … er ist so potent! Ich will ihn als Liebhaber behalten! Verstehst du das?« »Lust des Fleisches, Lust des Blutes«, erwiderte Chiyoda gelassen. »Entdecke die Lust des Geistes in dir. Der Geist beherrscht die Mate rie. Fleisch und Blut sind Materie.« »Blut ist mehr. Blut ist Elixier. Blut ist alles.« »Ich sehe deinen Fortschritt in Gefahr«, warnte der Guru. »Du be lügst dich selbst. Damit riskierst du, alles zu verlieren, was du von mir lerntest, und du hast sehr viel gelernt. Jetzt aber wendest du dich ab, gibst dich den niederen Instinkten hin.« Sie schluckte. Ihre Stimme war rauh wie die Kehle des Wolfes, der sie in Vollmond-Ekstase war. »Was du gesehen hast, ist so …«
»So umfassend«, half er aus. So erschreckend, dachte sie. Unvorstellbar, daß es eintreffen könn te. Nichts würde mehr so sein wie zuvor. Und sicher nicht nur für die Vampire, wie Chiyoda es gesehen hatte. Zwischen ihnen allen gab es Verbindungen, Konflikte, Beziehungen irgendwelcher Art. Alles würde sich verändern … Man mußte etwas dagegen tun! »Und was willst du tun?« Chiyoda lächelte wieder. »Du, allein auf dich gestellt, gegen eine ganze Zukunft?« »Ich kann sie abwenden. Ich kann sie ändern und dafür sorgen, daß sie nicht eintritt. Dazu muß ich Landru warnen.« »Nein«, sagte Chiyoda. »Du hast nicht verstanden. Die Zukunft, die ich sah, ist …« Sie sprang wieder auf. Diesmal konnte er sie nicht festhalten. Sie stürmte hinaus auf den Gang und weiter. Ihre Gedanken tanzten im Taifun. Gedanken, Alpträumen gleich …
* In Warka, dem kleinen Ort nahe Uruk, brachte man den Hirten ins Hauptquartier der Soldaten. »Der Oberstleutnant will dich sehen«, sagte man und schob ihn in einen Raum. Es war ziemlich dunkel. Man hatte die Fenster teilwei se verhängt; vielleicht, damit die Mittagshitze nicht hereinkam. Tahir wagte es, sich umzusehen. Es mußte das Wohnzimmer des relativ großen, beschlagnahmten Hauses sein. Den Bildern an der Wand konnte Tahir nicht genug Aufmerksamkeit schenken. Es war zu dunkel, und er verstand auch zu wenig von Kunst. Er wußte nur,
daß der bisherige Hauseigentümer viel reicher als er sein mußte; Ta hir würde nie die Chance bekommen, in einem Haus wie diesem zu wohnen. Aber was hatte sein Geld dem reichen Mann genutzt? Die Soldaten waren gekommen und hatten ihm das Haus einfach weg genommen. Wenn niemand sonst ihn und seine Familie für diese Zeit aufge nommen hatte, wohnte er jetzt unter freiem Himmel, so wie Tahir es von früher her gewohnt war, wenn er bei seiner Herde weilte. Das ehemals sicher schöne Wohnzimmer war jetzt etwas weniger wohnlich eingerichtet. Ein großer Tisch, dahinter ein Sessel, davor ein Stuhl. Auf dem Tisch eine Lampe. Ein paar Bögen Papier, ein Stift. Ein kleiner länglicher Kasten, den die Leute ›Funktelefon‹ nannten und den Tahir nie zuvor gesehen hatte … Hinter dem Tisch, im Sessel versunken, wartete ein wachshäuti ger, hochrangiger Militär. Er musterte Tahir, ohne eine Miene zu verziehen. Sein schwarzes Haar umwölkte das zerfurchte Gesicht wie rostige Stahlwolle. Tahir hatte gedacht, dem anderen, jüngeren Offizier wieder zu be gegnen. War er nicht Leutnant? Tahir war ein einfacher Mann und verstand nicht viel von der Armee und ihren Diensträngen. Aber ob gleich der – Leutnant? – ihn wie einen Verbrecher hatte hierher brin gen lassen, konnte man wenigstens mit ihm reden. Äußerlich ähnelten die beiden Offiziere sich stark, bis auf das Al ter. Fast wie Vater und Sohn. Aber der jüngere war freundlich, auf seine soldatische Weise. Der ältere – Oberstleutnant! – sah dagegen so aus, als habe der Hirte nichts Gutes von ihm zu erwarten. Vielleicht hätte Tahir seine Beobachtungen doch nicht melden sol len …? Aber unter freiem Himmel sah man manchmal Dinge, die andere nicht sahen. Jenen seltsamen Mann, der damals nackt die schroffen
Felsen hinaufgeklettert war, mit Narben von Wunden am Körper, die kein Mensch überleben konnte.* Der später mit einem anderen in der Tiefe verschwand, nachdem gegraben wurde, wo einst Uruk stand. Vielleicht auch die beiden ungläubigen Frauen, die ihnen später nachfolgten. Oder andere Dinge … Tahir wurde grob auf den Stuhl niedergedrückt. Die Soldaten, die ihn in das große Zimmer gebracht hatten, verlie ßen stiefelknallend den Raum, und erst als die Tür hinter ihnen ins Schloß gefallen war, sagte die Stimme des Mannes jenseits des Schreibtisches: »Du weißt, wer ich bin?« Jedes Wort knirschte wie schwere Schritte auf nassem Kies. Tahir überlegte nicht lange, sondern nickte heftig, obwohl ihm nur der Rang, nicht aber der Name seines Gegenübers genannt worden war. »Du hast uns zu dieser abseits gelegenen Ausgrabungsstätte geru fen«, sagte der Oberstleutnant. »Es kam zu einem Kampf.« Tahir nickte. Er hatte davon gehört, als die Soldaten ihn hierher holten. Sie hatten untereinander darüber geflüstert. Die Ohren des Hirten waren gut. »Ich weiß.« »Dann weißt du vielleicht auch, was das hier –«, die schwielige Hand des Uniformierten wies auf das eiförmige Gebilde, das zwi schen ihnen auf dem Tisch lag und von der Schreibtischlampe ange strahlt wurde, »– ist …?« Tahir duckte sich unter der autoritären Aura des Uniformierten. Für einen Wimpernschlag erlangte die Pause zwischen den Sätzen eine fast schmerzhafte Dimension. »Nein. Was ist es?« *siehe VAMPIRA 23: ›Felidae‹
Der Oberstleutnant beugte sich vor und drehte den Lampenschirm so, daß das grelle Licht genau in Tahirs Gesicht zielte. Der Hirte kniff die Augen zusammen und hob die Hand, als müßte er sich ge gen die tiefstehende Sonne schützen. »Warum tun Sie das?« fragte er. »Ich weiß nicht, was das ist. Ich kenne weder die Frauen, die sich da draußen herumtrieben, noch …« Ein Lachen brachte ihn zum Schweigen. »Warum hast du dich dort herumgetrieben?« »Ich wußte nicht, daß es verboten ist …« »Es ist nicht verboten – nur verdächtig.« Die Konturen des Mannes hinter der Lampe schienen sich aufzulösen. Tahir rieb sich stöhnend über die Augen. »Hören Sie auf damit! Ist das ein Verhör?« »Was glaubst du, was das ist?« Der Hirte preßte die Lippen zusammen und senkte den Blick auf das Ding, um das es dem Mann hinter dem Tisch in der Hauptsache zu gehen schien. Natürlich war es nicht wirklich ein Ei – auch wenn es in vielem an das sauroide Überbleibsel einer Jahrmillionen zurückliegenden Epo che erinnerte. Seine Oberfläche war nicht glatt, sondern meteoriten artig zerklüftet. Mit großen Händen vermochte man es zu umfassen. Tahir spürte das plötzliche und unbedingte Verlangen, genau dies zu tun. Erst die Stimme des Oberstleutnants ernüchterte ihn. »Dieses … Ding trug eine der Frauen bei sich, die nach deiner Aussage in dem Schacht verschwunden sind. Die andere lag in einem Korridor am Ende des Schachtes, offensichtlich tot. Aber da war noch ein drittes … Wesen, von dem du nichts berichtet hast! Mehrere meiner besten Männer sind ihm und dieser Frau zum Opfer gefallen, bevor ein Tor
den Eingang wieder verschlossen hat.« Ein wenig veränderte sich die Tonlage, als er weitersprach: »Und auch von den knapp zwei Dutzend Männern, die du beobachtet haben willst, als sie die Trep pe hinunterstiegen, war in keinem Bericht der Überlebenden die Re de. – Kannst du mir das erklären?« Je länger Tahir zuhörte, desto mehr verdichtete sich sein Eindruck, daß der Mann hinter der Lampe einen Sündenbock suchte. Und in Tahir gefunden hatte. »Ich kam nur zufällig –« »Halt’s Maul!« Eine Faust schlug auf den Tisch. Das Licht flackerte kurz. Obwohl das ›Ei‹, das jemand auf ein flaches Polster gebettet hatte, nicht einmal erzitterte, beschlich Tahir das sichere Gefühl, daß sich etwas daran verändert hatte. Die Farbe? Er beugte sich weit vor, um die Augen näher an das Gebilde her anzubringen. Offenbar zu nahe. Ein Schlagstock tauchte hinter dem Licht auf, fauchte über seinen Kopf hinweg und streifte seine linke Schläfe. Tahir wurde zurückgeworfen. Ein leiser Schrei entwich seinen Lip pen. Trotzdem ließ er den Blick nicht mehr von der Stelle des ›Eis‹, an der er etwas wahrgenommen hatte, das aussah wie ein haarfeiner … Sprung. »Versuch das nicht noch einmal!« Tahir wußte nicht, was der Uniformierte meinte. »Ich wollte nur –« »Schnauze!« Tahir schwieg. Aber dann zog es ihn doch noch einmal nach vorn.
Er konnte es gar nicht verhindern. Ein seltsamer, magischer Lockruf köderte ihn. Er beugte sich – Diesmal traf der Schlag ihn auf der Mitte seines Schädels, so heftig, daß der Hirte meinte, ihn auseinanderbrechen zu hören. Genau wie das ›Ei‹ … Tahir rutschte vom Stuhl und fiel auf den schmutzigen Boden hin ab. Dort wartete er schmerzerfüllt auf die Schritte, die ihm den Rest geben würden. Aber es blieb still. Nichts rührte sich. Dafür schien die Temperatur im Raum schlagartig zu sinken. Als Tahir sich nach zwei, drei Minuten wieder aufrappelte, sah er, daß der Stuhl hinter der Lampe leer war. Leer, obwohl niemand gegangen war. Zitternd durchsuchte Tahir den ganzen Raum. Zunächst glaubte er, der Soldat wolle sich einen üblen Scherz mit ihm erlauben. Doch die einzige Tür, durch die er hätte verschwinden können, lag hinter der Stelle, wo Tahir am Boden gelegen hatte – und der Hirte hatte keine Sekunde das Bewußtsein verloren gehabt. Die abgedunkelten Fenster waren von innen verschlossen. Und Möbel, die groß genug waren, daß sie als Versteck hätten herhalten können, gab es nicht. Wie von selbst fiel Tahirs Blick irgendwann auf das Ding, das im mer noch auf dem Tisch lag. Der Sprung schien größer geworden zu sein, und etwas – starrte dem Hirten daraus entgegen …
* Zeit verstrich. Lilith tastete mit gelenkigen Armen nach ihren Verlet zungen im Rücken. Sie heilten rasch ab, jetzt, da sie vorübergehend Ruhe hatte. Keine neuen körperlichen Anstrengungen zehrten an ihrer Kraft, keine Bewegungen ließen die Wundränder erneut aufreißen. Kein Blutverlust mehr. Blut … der Durst war immer noch ungestillt. Die Schußwunden hatten sich bereits fast völlig geschlossen, und sie schmerzten auch nicht mehr, wenn Liliths Finger sie berührten. Die Brandwunde an ihrer rechten Schulter schien etwas mehr Zeit zu brauchen. Aber auch hier würde nicht einmal eine Narbe zurück bleiben. Vampire hatten ein gutes ›Heilfleisch‹; jeder Arzt, der die sen Heilungsprozeß beobachtet hätte, hätte an seinem Verstand ge zweifelt. Der Verband, den ihr die Soldaten mehr schlecht als recht angelegt hatten, war im Moment ihrer Verwandlung in die Fluggestalt von ihr abgefallen. Nackt wie das LICHT sie schuf, kauerte Lilith zwi schen den Felsen. Es interessierte sie nicht. Wichtig war allein, daß sie die Agrippa aus der Hand der Soldaten befreite. Denn sie war der Schlüssel zum RITUAL. Die Sonne wanderte; der Schatten unter dem Felsvorsprung wur de immer geringer. Im Schatten heilten die Wunden besser als im Sonnenlicht. Lilith wartete weiter ab. Ungeduld und der Durst nach Blut zehrten an ihrem Gemüt.
* Eine kleine, schlicht eingerichtete Kammer, die sich in nichts von de nen der anderen unterschied, die hier im Kloster ihren Exerzitien nachgingen, war Nonas Unterkunft. Wenn sie tatsächlich eine Son derstellung einnahm, dann nicht nach außen, nicht gegenüber den anderen. Sie sah sie fast nie. Es waren auch nur noch wenige, seit damals El Nabhal die meisten von Chiyodas Anhängern getötet hatte. Als er ihre, Nonas, Spur suchte.* Sie warf sich auf ihr Lager. Chiyodas Visionen! Die Veränderun gen! Unheimlich, düster, furchtbar! Landru! Sie mußte ihn warnen! Da war auch noch etwas anderes, das sie ihm mitteilen mußte. Bevor El Nabhal sie beinahe tötete, hatte sie noch herausgefunden, daß hinter den Geschehnissen in Tokio Lilith Eden steckte! Die ver haßte Halbvampirin, die Feindin, hatte anscheinend erst dafür ge sorgt, daß es fast zu einem verheerenden Krieg zwischen Werwölfen und Vampiren gekommen wäre. Die Sippen hätten sich gegenseitig ausgelöscht, wenn es Nona nicht gelungen wäre, zwischen ihnen zu vermitteln. Auch das mußte Landru unbedingt erfahren. Er suchte doch nach Lilith! Hier bot sich eine Spur, der er folgen konnte. Daß dies längst keine Rolle mehr spielte, unwichtig geworden war, von den Geschehnissen überholt, ahnte Nona nicht. Denn sie konnte nicht einmal annähernd abschätzen, wieviel Zeit inzwischen vergangen war. Das Sanktuarium war ein Ort, an dem Zeit keine Rol le spielte. Manchmal schien es ihr, als gäbe es Zeit hier überhaupt nicht. *siehe VAMPIRA 33: ›Der Traum der Geisha‹
Und die Vergleichswerte mit »draußen« fehlten ihr, weil sie seit her nicht mehr »draußen« gewesen war. Es gab mehr als nur einen Grund, Landru wiederzusehen. Ihr Körper fieberte danach, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden, sich schweißüberströmt in Landrus Umschlingung zu winden, mit ihm in Ekstase zu geraten. Aber sie mußte ihn auch warnen. Es ging um unglaublich viel. Vielleicht um alles. Sie mußte das Sanktuarium verlassen und Landru suchen. Zur Not auch gegen Meister Chiyodas Willen.
* Warka Leutnant Dhamar wartete nicht darauf, wie das Verhör ausging. Während Oberstleutnant Radjavi sich mit dem Hirten befaßte, erteil te Dhamar neue Weisungen. Zum Henker mit den UNO-Inspekteuren. Wenn die sich über ein einzelnes Sturmgeschütz künstlich aufregten, sollten sie gefälligst herkommen und sich die Ausgrabungsstätte mal aus der Nähe anse hen. Die Bestie im Korridor der unterirdischen Anlage würde ihnen schon die richtigen Argumente liefern! Gut, die Mutter aller Schlachten war vor sechs Jahren wenig ruhm reich beendet worden; die feindliche Allianz der Ungläubigen hatte durch ihre Überzahl und ihre mörderische Technik über Allahs tap ferste Krieger gesiegt.
Die Sieger hatten ihre Bedingungen diktiert. Man hielt sich daran, wenn es nicht irgendwie zu vermeiden war. Aber hier ging es nicht darum, gegen den Widerstand der ölsüchtigen Amerikaner und ih rer hörigen UNO-Vasallen das Dawlat al-Kuwayt heim ins Reich zu holen, das sich 1961 für selbständig erklärt hatte, nachdem bereits 1899 die Engländer wie die Heuschrecken einfielen, es den Osmanen stahlen und zu ihrem Protektorat machten. Saddam Hussein hatte nur getan, was 1861 Abraham Lincoln tat, als die Südstaaten sich selbständig machen wollten: er hatte Soldaten ausgesandt, um das zu verhindern. Nur hatte es anno 1861 noch keine UNO und keine NATO gege ben, die ihn dafür bestraft hätten, so wie es jetzt mit dem Irak gesch ah. Deshalb war in den Augen der Ungläubigen Lincoln ein Volks held, Saddam Hussein aber ein Kriegsverbrecher. Die Geschichte wird immer von den Siegern geschrieben … So zumindest sahen es Jassir Dhamar und viele seiner Kameraden. Daß alles nicht so blauäugig betrachtet werden durfte, daß es viel kompliziertere politische und wirtschaftliche Verflechtungen gab, die zu diesem Krieg und zu seiner halbherzigen Lösung geführt hat ten, interessierte ihn nicht. Er war Soldat und hatte sich seinem Prä sidenten verschworen. Alles andere ging ihn nichts an. Dafür ging es ihn eine ganze Menge an, daß weit über ein Dutzend seiner Kameraden in dieser unterirdischen Anlage und später auf der Brücke gefallen waren, niedergemetzelt von einer Bestie und der im Feuerball vergangenen schwarzhaarigen Frau. Und daß die mor dende Bestie sich jetzt hinter einem Tor verschanzte, das sich ge schlossen hatte, nachdem die verletzte Mörderin nach draußen ge krochen war. Dhamar befahl, das Sturmgeschütz zur Ausgrabungsstätte zu bringen. Er stellte dreißig weitere Männer der Eliteeinheit dafür ab. Sorgfältig instruierte er sie; sie sollten wissen, was in der Tiefe auf
sie wartete. »Erst schießen, dann fragen«, schärfte er den Männern ein. »Wir müssen wissen, was geschehen ist, wer diese mörderische Kreatur ist. Öffnet das Tor wieder, notfalls unter Einsatz radikalster Mittel. Eigensicherung geht vor Risiko. Ich will nicht noch mehr tote Kame raden.« Damit hieb er mit der Faust gegen die Stahlwandung des Sturmgeschützes. Das sagte seinen Männern alles. Jeder mit archäologischem Verstand hätte in diesem Moment pro testierend aufgeschrien, beinhaltete Dhamars Befehl doch, im Ex tremfall alles zusammenzuschießen, was vor der Geschützmündung auftauchte. Das konnte unschätzbare Werte aus tiefster Vergangen heit zerstören, historische Dokumente, die Jahrtausende überdauert hatten, um jetzt in Pulverrauch und Explosionsdonner zu vergehen. Aber für die meisten Männer war Uruk nur eine Ansammlung von Ruinen. Auf ein paar Trümmer mehr oder weniger kam’s da sicher nicht mehr an. Es galt, Leben zu schützen und zu verhindern, daß das Gemetzel sich wiederholte. Sergeant Andra Jamal, der schon mit Hauptmann Addad und Dhamar vor Ort gewesen war, meldete sich freiwillig als Truppfüh rer. Der Leutnant hatte es ihm nicht befohlen. Aber er sah den Haß, der in Jamals Augen flammte, den Wunsch nach Vergeltung für den Tod der Kameraden. »Paß auf dich auf, Sohn des Propheten«, murmelte Dhamar und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich will dich lebend wiederse hen. Deine Frau will dich auch lebend wiedersehen. Hast du Kinder? Denk daran, daß sie ihren Vater brauchen, wenn ihr das Tor aufbrecht. Denk auch daran, daß deine Kameraden von anderen Menschen gebraucht werden. Und zum Schluß: Saddam Hussein, gepriesen sei seine Kraft und Weisheit, braucht uns alle! Denn sonst
hätte er uns nicht zu seinen besten Soldaten gemacht!« Der Sergeant salutierte. Er hatte jetzt den Befehl über das zweite Rollkommando. Mit den dreißig Mann, dem Sturmgeschütz und zwei MANTrucks, die auf unerfindlichen, sicher nicht ganz legalen Wegen aus den Beständen der Bundeswehr in den Irak gelangt waren, rückte Jamal ab. Dhamar sah ihnen nach. Dann kehrte er zum Haus zurück, zur Kommandantur – - und starrte fassungslos den Hirten an, der aus Radjavis »Büro« getaumelt kam, mit weit aufgerissenen Augen und am ganzen Kör per zitternd. Dhamar packte mit beiden Händen zu, hielt den Mann fest. »Was ist passiert, beim Barte des Propheten?« »Die Augen«, keuchte Tahir. »Bei Allah und allen guten Dschinns! Diese Augen!« »Rede nicht wirr!« fuhr der Leutnant ihn. »Was ist los?« »Weg«, ächzte Tahir. »Weg ist er. Einfach fort. Er … die Augen! Es sind seine Augen! Hören Sie, effendi …« »Ich bin kein effendi«, schnarrte Dhamar. »Wer ist weg?« »Der Offizier.« »Drei Mann zu mir!« brüllte Dhamar, senkte im nächsten Augen blick die Stimme wieder und schnarrte den Hirten im gleichen Be fehlston an: »Und du gehst voraus! Los, zurück ins Haus!« Tahirs Eifer hielt sich in Grenzen. Erst als die drei Begleitsoldaten mit entsicherten Waffen hinter ihm standen, wagte er, das Zimmer wieder zu betreten. »Fenster auf!« befahl Dhamar, der keine Bedrohung sah, welche einen Menschen dermaßen in Angst versetzen konnte. »Wo ist der
Oberstleutnant?« Tahir wand sich wie ein Wurm unter dem herabsinkenden Stiefel absatz. Zwei Mann sorgten dafür, daß die Vorhänge das Ex-Wohnzimmer nicht mehr abdunkeln konnten, indem sie sie einfach herunterrissen. Der dritte hielt die MPi immer noch schußbereit. »Nun rede schon, oder muß ich deiner Zunge nachhelfen?« fauch te Dhamar den Hirten an. »Wo – ist – der – Oberstleutnant?« Tahir erschauerte. Erneut wünschte er sich, damals den Mund ge halten zu haben. Zaghaft streckte er die Hand aus und deutete auf das ›Ei‹. »Da … da drin ist er … Seine Augen … Sehen Sie seine Augen nicht, effendi! Sie starren doch heraus, bei Allah, ich schwöre es …«
* Mißtrauisch trat der Leutnant an den Tisch heran. Die Lampe strahl te immer noch auf das ›Ei‹, als solle die mit dem Licht freigesetzte Wärme es ausbrüten. »Zeige und erzähle mir, was du gesehen hast«, verlangte Dhamar. Tahir schluckte. Er wagte sich nicht mehr so nahe an das ›Ei‹ heran wie der Leutnant. Er hatte doch gesehen … Stockend begann er zu erzählen, zurückhaltend, als wisse er ganz genau, daß der Offizier ihm nicht eine einzige Silbe glaubte. »Du hast also überhaupt nichts gesehen«, faßte Dhamar schließlich zusammen. »Du hast dir nur eine Fantasiegeschichte zusammenge reimt. Aber die Zeiten des Harun al-Rajid sind vorbei, mein Lieber, und Sindbad der Seefahrer mit seinen Lügengeschichten lebt auch schon lange nicht mehr. Der Oberstleutnant soll in diesem Roq-Ei
verschwunden sein?« In seinem abergläubischen Entsetzen wurden Tahirs Augen fla denbrotgroß. Da erst begriff Dhamar, was er gerade von sich gege ben hatte: Den Kalifen von Bagdad, der jede gewünschte Tiergestalt annehmen konnte, hatte er soeben wie Sindbad den Seefahrer ge leugnet, aber den Vogel Roq, dem Sindbad begegnet sein sollte, mit seinem Vergleich heraufbeschworen! Drei Soldaten grinsten von einem Ohr zum anderen. »Sehen Sie nicht?« keuchte Tahir. Mit ausgestrecktem Arm zeigte er auf das ›Ei‹. »Da, der Sprung in der Schale … und die Augen! Wie sie mich anstarren!« Jassir Dhamar sah weder das eine noch das andere. Dabei stand er nahe genug bei dem seltsamen Ding. Aber Oberstleutnant Riad Radjavi war verschwunden. Wohin? Die Fenster waren geschlossen. Verstecken konnte er sich nicht. Durch die Tür war er sicher nicht gegangen, sonst hätte der Hirte keinen solchen Zwergenaufstand geprobt. Außerdem: Warum sollte er ge gangen sein? Warum sollte er Tahir einfach so zurückgelassen ha ben? Auf eine Folter wies nichts hin, außer ein paar Spuren des Schlag stocks, mit dem Radjavi Tahir möglicherweise geschlagen haben konnte. Aber davon verlor man nicht den Verstand. Entweder stellte Tahir gerade sein schauspielerisches Talent unter Beweis, oder … Nein. Daran konnte und wollte Dhamar nicht glauben. Der Oberstleutnant in diesem ›Ei‹ verschwunden? Das wäre böse Zauberei! Aber Zauberer gab es nur in alten Mär chen und den Geschichten aus tausendundeiner Nacht. Dhamar mußte plötzlich wieder an den Vorfall im Korridor den ken. An die Kameraden, die von einem Moment zum anderen zu al tern schienen, zu Mumien vertrockneten, starben … An die mörderi
sche, annähernd weiblich aussehende Kreatur, und an die Schwarz haarige, die einer anderen Frau kaltblütig das Genick gebrochen hat te. Unheimlich, das alles … erschreckend und unbegreiflich. Unbe greiflich, daß die schwarzhaarige Mörderin trotz mehrerer Kugeln im Rücken noch so lange gelebt hatte. Unbegreiflich auch, wie sie von einem Moment zum anderen nackt dastand, während etwas Schwarzes sich auf dem Boden fließend hastig von ihr entfernte … Der Leutnant atmete tief durch. Er hatte versucht, dieses grausige Bild zu verdrängen, aber jetzt kehrte es zurück. Es war alles verrückt. Erschreckend. Unheimlich, weil unerklär lich. Und jetzt – der verschwundene Oberstleutnant. Dhamar straffte sich. »Geh«, sagte er. »Aber geh nicht zu weit. Du bleibst im Lager und hältst dich zu meiner Verfügung.« Tahir schluckte. »Ich höre und gehorche, effendi … sidi … Sie sind so freundlich zu mir …« »Werde bloß nicht ironisch, sonst setze ich dich auf dieses ver dammte Ei und lasse dich es ausbrüten!« Da nahm Tahir die Beine in die Hand. Auch wenn er sich nicht zu weit entfernen durfte, war der Abstand zwischen ihm und dem RoqEi jetzt doch wesentlich größer als zuvor. Aber wirklich sicher fühlte Tahir sich auch jetzt nicht. Vielleicht – niemals mehr …
*
Es reißt die Fessel, es rennt der Wolf Der Vers aus der »Edda« schoß Nona durch den Kopf: Was hätte ihre Situation besser beschrieben? Die Fessel riß. Die Wölfin rannte. Aus dem Sanktuarium hinaus in die Kälte einer Landschaft, die ihr fremd war. Sie machte sich keine Gedanken darüber, wie es weiter ging. Sie mußte zu Landru. Es war beinahe, als sei sie ihm hörig. Sie erschrak, als sie begriff, was dieser Gedanke bedeutete. Nein, soweit war sie nicht. Sie war immer Herrin ihres eigenen Willens. Landru war nicht ihr Beherrscher. Er war … ein Exot. At traktiv. Souverän. Und der Inbegriff der Sexualität. Alt und erfah ren. Vielleicht älter, als mancher seiner Rasse ahnte. So alt wie die Welt. Es war ein anderes Band. Unzerreißbar. Chiyoda sah hinter ihr her. »Arme Wölfin«, wehten seine Worte, von Rauhreif begleitet, in die Wildnis, in die Kälte eines Nichts, das nur Wirklichkeit wurde, wenn man darin zu leben bereit war. »Du findest ihn nicht, denn ich lasse dich nicht …« Sie befand sich nicht in der richtigen Wirklichkeit, um Landru zu finden – und wenn sie ihn fand, dann war er nicht am rechten Ort und in der rechten Zeit. Es gab so viele Wahrscheinlichkeiten, so vie le Ebenen … Und nur wenige waren stabil genug, um Leben zu gewähren. An dere zerfielen bereits, während man sie dachte. Vielleicht war auch die Zukunft nicht wirklich. Chiyoda kannte viele Zukünfte.
Jene, die er zuletzt gesehen hatte, war stark. Aber Nona hatte ihn nicht ausreden lassen. Sie hatte nicht begrif fen. Obgleich sie längst wissen mußte, was der Guru sah und in wel chem Umfeld er existierte. Nein, sie begriff es nicht. Sie dachte zu klein. Zu dreidimensional. Die vierte Dimension, die Zeit, verstand sie nicht, obgleich sie in ihr lebte. Wo es einen Punkt gibt, existiert nur der Punkt, nichts sonst. Wo es eine Linie gibt, gebildet aus zwei Punkten, existiert rechts und links und Entfernung. Wo es zwei Linien gibt, gebildet aus drei Punkten, existiert eine Fläche, mit unzähligen anderen Punkten und Entfernungen. Die Richtung gewinnt an Bedeutung. Wo eine dritte Linie, definiert durch den vierten Punkt, entsteht und senkrecht auf den beiden anderen steht, entsteht Räumlichkeit. Die Zahl der Richtungen, Orte und Entfernungen potenziert sich in unendlicher Vielfalt. Das war Nonas Welt. Den fünften Punkt, der aus unendlich vielen Räumen ebenso viele Zeiten schuf, konnte sie nicht sehen. Chiyoda sah Zukunft. Gestern jene, heute diese, morgen eine andere. Manche waren stark, manche schwach, so schwach, daß sie wieder verschwanden, ehe sie deutlich werden konnten. Andere prägten sich aus, durchdrangen einander, formten aus der Durchdringung wiederum neue Entwicklungen. Die Zukunft, vor der Nona erschrak, war eine von vielen. Allerdings war sie stark. Doch Nona begriff die Unterschiede nicht. Deshalb würde sie auch
nichts bewirken, nichts ändern können. So wenig wie Landru. Wenn wirklich wurde, was Chiyoda jüngst sah, so war es vorbestimmt. Es spielte also keine Rolle, ob Nona Landru warnen konnte oder nicht. Nein, sie würde das Sanktuarium nicht wirklich verlassen können. Sie würde durch andere Ebenen irren und schließlich zurückkehren. Vielleicht erst, wenn alles vorüber war? Für sie war das vielleicht das beste. Der Wolf rannte. Die Fessel blieb dennoch unzerreißbar. Sie dehnte sich nur. Aber die Bedrohung existierte weiter. Der Schrecken blieb.
* Die Sonne Mesopotamiens schien auf die Soldaten hinab, die mit den LKWs und dem Sturmgeschütz zur Ausgrabungsstätte fuhren. Sergeant Andra Jamal saß im vorderen MAN-Truck. Vor der Brücke ließ er einmal kurz halten. Er sprang ab und ging bis zur Steilkante, sah nach unten. Dort brannte nichts mehr. Sehr viel war von dem Jeep nicht übrig geblieben. Er war nur noch andeutungsweise als Fahrzeug zu erken nen. Jamal suchte nach den Toten. Aber er konnte aus dieser Höhe nur ein paar dunkle Dinge erkennen, die sowohl Reste verbrannter Men schen als auch verbrannter Technik sein konnten. Um Genaueres herauszufinden, hätte er sich schon unten vor Ort umsehen müssen. Davor scheute er zurück. Irgendwie war er froh, daß der Leutnant niemanden zum Bergen
der toten Kameraden abkommandiert hatte. Es war nicht die An strengung des Hinunterkletterns, die Jamal scheute. Mit einem Ge ländewagen hätte man auch über einen anderen Weg dorthin fahren können. Es war eher das Unheimliche, das diesem Akt der Vernich tung anhaftete. Der Kommandant des Sturmgeschützes gesellte sich zu Jamal. »Denkst du, daß die Brücke das Gewicht aushält?« Er wies mit aus gestrecktem Arm auf die stark beschädigten Stellen. »Wir schauen uns mal an, wo die Bohlen noch am festesten sind. Wenn dein Fahrer aufpaßt, kann eigentlich nicht viel passieren. An sonsten werden wir nämlich einen sehr weiten Umweg fahren müs sen.« Sie checkten die Brücke gemeinsam ab. Schließlich zuckte Unterof fizier Sayid, der Geschützkommandant, mit den Schultern. »Probie ren wir’s aus«, seufzte er. »Aber es ist besser, wenn nur Ahmad im Fahrzeug sitzt.« »Glaubst du, die Gewichtsersparnis wäre so groß, daß es einen Unterschied macht?« »Ich glaube, daß es reicht, wenn ein Soldat mit dem Geschütz in die Tiefe stürzt, statt zwei oder drei«, erwiderte Sayid pragmatisch. »Läßt du die beiden Transporter vorausfahren?« »Sicher«, erwiderte Jamal. Minuten später befanden sich die Lastwagen auf der anderen Sei te. Ahmad, der Fahrer des Sturmgeschützes, fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Er hatte sehr deutlich begriffen, daß die ande ren die Tragfähigkeit der Brücke anzweifelten und er zur Not allein sterben sollte. Aber was blieb ihm anderes übrig, als zu gehorchen? Er war nur ein einfacher Soldat, Sayid war Unteroffizier. Und solan ge auch Jamal nicht widersprach, mußte Ahmad tun, was Sayid be fahl.
»Mögen die Ratten dir Finger und Zehen abfressen, während du schläfst«, murmelte er verbissen und lenkte das Kettenfahrzeug über die hölzerne Brücke. Trotz der Masse des Sturmgeschützes spürte er die Schwingungen. Das alte Gebilde war nahe daran, zu zerbrechen. Ahmad hoffte geradezu, daß sie hinter ihm auseinanderbrach. Dann entfiel auf jeden Fall die Rückfahrt über diese brüchige Konstrukti on. Aber schließlich faßten die Laufketten wieder festen Boden. Er leichtert atmete Ahmad auf. »Warte nur, du feiger Sohn einer verlausten Hyäne«, murmelte der Soldat. »Das zahle ich dir heim, Sayid!« Die Fahrt wurde fortgesetzt. Als das Loch im Boden in Sichtweite kam, fühlte Jamal eine seltsa me Beklemmung. Ihm war, als greife die Kralle des Todes nach ihm.
* Je länger Leutnant Dhamar das eiförmige Gebilde betrachtete, desto unheimlicher wurde es ihm. Den Sprung, den der Hirte zu sehen be hauptete, konnte er immer noch nicht erkennen, und erst recht nicht die Augen, von denen Tahir sich angestarrt fühlte. Aber Tahir war auch zu simplen Gemütes, um sich eine solche Fantasiegeschichte auszudenken. War also doch etwas an der Sache dran? Aber wie sollte Oberstleutnant Radjavi in diesem ›Ei‹ verschwun den sein? Allein von der Masse her war es unmöglich! Nicht einmal ein Bruchteil seines Körpers hätte hineingepaßt! Wieder mußte Dhamar an das denken, was in dem dunklen Korri dor geschehen war, der ins Nichts zu führen schien.
Nichts ist unmöglich … Schließlich straffte er sich. Er rief zwei Soldaten herbei. »Schaffen Sie dieses Ding wieder nach draußen. Plazieren Sie es fünfzig oder hundert Meter entfernt vom Lager, aber so, daß man es jederzeit se hen kann.« Einer der Männer faßte nach dem ›Ei‹ und hob es behutsam hoch. Im Lager hatte sich blitzschnell herumgesprochen, wie Dhamar es bezeichnet hatte: als Ei des märchenhaften Vogels Roq. Während die beiden Soldaten das seltsame Ding zur Tür brachten, stellte einer von ihnen unter Beweis, daß er sich mit westlicher Kinokultur aus kannte, als er seinem Kameraden zuraunte: »Kennst du den ScienceFiction-Film ›Alien‹? Dieses Ei hier sieht fast genauso aus wie das aus dem Film, nur kleiner!« Es war, als hätte er damit ein Stichwort gegeben. Denn im gleichen Moment veränderte sich das ›Ei‹! Es mußte doch einen Sprung gehabt haben! Und der platzte jetzt auf!
* Lilith stöhnte auf. Schmerz raste durch ihren Körper. Gleichzeitig wußte sie, daß etwas mit der Agrippa geschah. Das, was sie hatte verhindern wollen! Es war falsch. Es war nicht der richtige Ort, nicht die richtige Zeit. Sie wand sich unter Qualen. Und hatte zugleich das Empfinden, als schreite ihr Heilungsprozeß jetzt plötzlich schneller voran. Sie fühlte sich stark; viel stärker als noch vor wenigen Minuten. Sie richtete sich auf, trat aus dem kargen Schatten des Felsvor
sprungs heraus ins Sonnenlicht. Es konnte ihre Heilung nicht mehr verlangsamen. Es verblaßte gegen das andere LICHT; das der Be stimmung. Der Schmerz ließ nach, als Lilith beschloß, sofort aufzubrechen. Dorthin, wo sich die Agrippa befand. Um sie aus den Händen des Militärs zu befreien.
* Bagdad, die Perle des Orients Landru kam aus Sydney. Bei Salem Enterprises, Heraks Gentech-Fir ma, in der an künstlich erzeugtem Nachwuchs gearbeitet wurde, hatte ihn ein Anruf Tanors erreicht. Das Oberhaupt der Delhi-Sippe hatte den Schlangenstab, ein lange verschollenes Relikt aus der Zeit vor der Sintflut, in seinen Besitz gebracht! Landru hatte den Boten mit dem Artefakt nach Bagdad beordert. Von dort war es ein leichtes, nach Uruk zu gelangen. Mit dem Stab. Die Hauptstadt des heutigen Irak hatte sich verändert. Bomben einschläge hatten vor einem halben Jahrzehnt gewaltige Zerstörun gen angerichtet. Das Gesicht der Stadt hatte sich verändert. Wann war Landru zuletzt hier gewesen? Es kostete ihn Mühe, sich zu erinnern. Bagdad war nicht mehr die Stadt, als die er sie kannte. Und alles nur wegen eines einzigen Menschen, eines größenwahn sinnigen Diktators, der sich in seiner Hybris mit der ganzen Welt angelegt hatte! Dieser schnauzbärtige Narr! Immerhin, einen so verheerenden Weltkrieg wie der Irre aus Brau nau hatte er wenigstens nicht auslösen können. Damals hatten die
Weltmächte jahrelang untätig zugeschaut; Saddam Hussein hatten sie sofort gestoppt. Nur: Er herrschte immer noch, während Hitler den Weg aller Feiglinge gegangen war, die unfähig sind, sich mit den Konsequenzen ihres Tuns auseinanderzusetzen … Landru wartete nicht am Flughafen auf Tanors Boten. Er hatte eine Nachricht hinterlassen, der Bote solle ihn im Hotel aufsuchen. Land ru fand es originell, daß es sich um jenes Hotel handelte, von dem aus während des Kuwait-Krieges CNN-Reporter live berichtet hat ten, während die Stadt von Flugzeugen ihrer eigenen Nation ange griffen wurde. Tanors Bote traf schon eine halbe Stunde später ein. »Besuch für Sie, Mister Landers«, meldete die Rezeption per Tele fon. Als »Hector Landers« hatte er sich eingetragen; ein Name, den er in letzter Zeit immer häufiger verwendete. Fast war er ihm bereits zur zweiten Natur geworden. Der Bote erwies sich als Botin. Tanor hatte keine Vampirin ge schickt, wie Landru erstaunt feststellte, auch keine Dienerkreatur, sondern ein Menschenwesen. Der einstige Kelchhüter spürte den hypnotischen Befehl, den Tanor seiner Botin aufgezwungen hatte, und sah die beiden winzigen Wundmale an ihrem Hals. Tanor hatte klug gehandelt; so war die Menschenfrau ihm hörig geworden, ohne daß er sie hatte töten müssen. Die Frau trug ein bodenlanges, schlichtes Gewand, ein Kopftuch und nach islamischer Vorschrift einen Gesichtsschleier. Landru run zelte die Stirn; nun gut, auch in Indien gab es strenggläubige Musli me. Und nicht zu wenige … Wie weit diese hier noch dem strengen Glauben huldigte, war eine andere Frage. Die Antwort erhielt Landru relativ bald. »Nennt mich Rani, Herr«, begrüßte sie den uralten Vampir. »Und
nehmt aus der Hand Eurer unwürdigsten Dienerin, was mein Herr Tanor Euch sendet.« »Gewäsch«, murmelte Landru. »Leg es dorthin.« Er wies auf den Tisch in Fensternähe. Rani legte ein hölzernes Behältnis dort ab und trat wieder zurück. Aufmerksame, wimpernlose Augen verfolgten über den Schleier hinweg Landrus Reaktion. Die hölzerne Schatulle war schwarzbraun vom Blut, mit dem sie getränkt war. Landru öffnete sie bedachtsam. »Die Opferschlange«, murmelte er. Er hütete sich, den Stab zu berühren; er wußte von der Gefahr, die von dem handspannenlangen Stab aus matt schimmerndem Metall ausging, an dessen einem Ende ein kunstvoll geformter Schlangen kopf sein Maul weit aufriß und daumenbreit auseinanderstehende Zähne präsentierte. Ja. Es war die Schlange. So lange lag das alles zurück, so unendlich lange … doch vielleicht würde auch die Schlange bald dorthin zurückkehren können, wo al les seinen Anfang genommen hatte … Langsam schloß Landru das Holzkästchen wieder. Er wandte sich zu Tanors Botin um. Sie war nackt. Völlig nackt. An ihrem ganzen wohlgeformten Körper befand sich nicht ein ein ziges Haar. Da war nur glatte, schöne, weiche Haut vom kahlen Schädel bis zu den Zehen. Während Landru sich dem Schlangenstab widmete, hatte die Botin sich geräuschlos und rasch ihrer gesamten Kleidung entledigt. Sie trug nicht einmal Schmuck. Der Vampir lächelte. »Originell«, stellte er fest. »Wirklich, originell. Mir scheint, dein
Herr kennt mich besser, als für ihn gut sein kann.« »Ihr seid mein Herr«, flüsterte die Nackte und sank vor ihm auf die Knie. Fast zaghaft berührten ihre Hände den Stoff seiner Hosen beine, tasteten sich behutsam aufwärts, suchten einen ganz be stimmten Ort. Landru entzog sich den suchenden Fingern nicht. Er ließ geschehen, was geschah. Die kundigen Finger fanden, was sie suchten, schälten es aus störendem Stoff, und rote Lippen ließen es bis zu schier unerträglicher Größe wachsen. Nach der ersten Ekstase widmete er sich ihrem jungmädchenhaft haarlosen Schoß. Rani wand sich unter den Berührungen seiner Fin ger und seiner Zunge, als er prüfte, ob sie noch so jungfräulich war, wie sie wirkte; sie war es nicht, und sie genoß das Spiel. Ihre Haut glühte, ihr Blut kochte verlockend. Er trank von ihr, während er sich heiß in ihr verströmte. Ihr Körper zuckte, ihr Mund schrie vor Lust, und der Vampir löste sich aus ihr und brach ihr mit einer routiniert-spielerischen Bewegung das Genick. »Schade«, sagte er leise. »Du warst sehr gut, aber ich kann dich nicht länger brauchen. Ich sollte dich vor deinem früheren Herrn vielleicht lobend erwähnen.« Er kleidete sich wieder an, nahm die hölzerne Schatulle und ver ließ Zimmer und Hotel, ohne sich abzumelden. Jemand würde die Tote finden und die Polizei benachrichtigen. Er sorgte sich nicht; ihn fand niemand. Spätestens jetzt, seit er im Besitz der Opferschlange war, wußte er, daß er nach Uruk mußte. Zurück … Schon vorher hatte er den Weg geahnt, den er gehen mußte. Nun war es soweit. Aber was er wirklich dort finden würde, ahnte er nicht …
* In der Kommandantur in Warka polterte das ›Ei‹ zu Boden. Die bei den völlig überraschten Soldaten sprangen zur Seite, brachten Ab stand zwischen sich und das aufbrechende Gebilde. Dem Mann, der gerade das ›Alien-Ei‹ erwähnt hatte, blieb der Spott im Halse stecken. Dhamar griff unwillkürlich zum Gürtel, an dem das Lederfutteral mit der Dienstpistole hing. Aber noch zog er die Waffe nicht. Wie die beiden Soldaten starrte auch er das ›Ei‹ an. Der Sprung hatte sich zu einer großen Öffnung erweitert. Es war, als klappe das Gebilde nach zwei Seiten auseinander. Und in ihm … Nein! Aus ihm! Etwas kam daraus hervor! Es war nicht der verschwundene Oberstleutnant, wie Dhamar einen Augenblick lang hoffte. Ihm stockte der Atem, und für Sekunden war er unfähig, auch nur die Augenlider zu rühren. Ein gewaltiges Wesen schälte sich, allen Gesetzen der Logik und der Physik zum Trotz, aus dem ›Ei‹. Verglichen mit ihm hätten drei Oberstleutnants in der zerfurchten Schale Platz gefunden. Dhamar starrte es nur an. Das Monstrum richtete sich auf zwei Beine auf, aber damit hörte bereits jegliche Ähnlichkeit mit einem Menschen auf. Die nackte Haut des offenbar geschlechtslosen Ungeheuers war stahlblau, wie auch die großen runden Augen in dem kuppelartigen Kopf, der ohne erkennbaren Halsansatz direkt auf den Schultern
ruhte. An den Schultern saßen gleich zwei Armpaare, und die Hän de endeten in je fünf Fingern mit langen, mörderisch spitzen und leicht gekrümmten Krallen. Aber das war noch nicht alles. Das unglaublich fette, massige Wesen, das auf elefantenartigen Säulenbeinen stand, war über und über mit seltsamen Schriftzeichen bedeckt! Grünlichschwarz zeichneten sie sich auf der blauen Leder haut des Monsters ab, Rune an Rune, in einer Schrift, wie keines Menschen Auge sie je zuvor betrachtet hatte. Über zweieinhalb Meter ragte der Koloß in die Höhe, stieß mit dem Kuppelkopf gegen die Zimmerdecke und duckte sich unwill kürlich etwas zusammen. Seine Bewegungen schienen im Zeitlupentempo abzulaufen. So kam es Dhamar wenigstens vor. Vielleicht lag es auch nur daran, daß sein Verstand sich jedes noch so winzige Detail einprägen woll te. Der Koloß reckte sich wieder hoch, diesmal kraftvoller als beim erstenmal, als er ›nur‹ seinem Ei entstiegen war. Der Kuppelschädel traf erneut die Zimmerdecke, wo sich Risse bildeten! Das obere Armpaar bewegte sich aufwärts. Fäuste krachten gegen die Decke, schufen weitere Sprünge. Kleine Brocken lösten sich, reg neten herab. Dann polterte ein großes, gezacktes Stück Beton heraus und zerschellte auf dem Teppich. In der Öffnung konnte der Koloß nun aufrecht stehen. Er ließ seine Arme wieder sinken und sah sich um. Groß und immer noch rund waren seine Augen, fast wie die eines staunenden Kindes, das versucht, sich in einer unbekannten Umge bung zurechtzufinden. Aber dieses frisch aus dem Ei geschlüpfte Ungeheuer war alles an dere als ein Kind. Die Art, wie es sich bewegte, zeigte den Grad sei
ner körperlichen Reife. Sprechen konnte es auch. Dumpf, rauh, gurgelnd. Unverständliche Laute brachen aus dem breiten, fettlippigen Mund hervor, aber nur für einen kurzen Augen blick. Dann – war es Zufall oder Absicht? – wandte der runenüber säte Koloß sich an den Soldaten, der das ›Alien-Ei‹ getragen hatte. Im gleichen Moment war sein dumpfes Röcheln zu verstehen. »KANNST DU VON MIR LESEN?« Die Soldaten starrten das Ungeheuer fassungslos an. Der Mann, an den sich das Monster gewandt hatte, geriet in Panik. Er riß abweh rend beide Hände hoch, wich zurück. Er wollte an dem Ungeheuer vorbei zur Tür. Aber er schaffte es nicht. Das Wesen bekam ihn mit seinen mächtigen Pranken zu fassen, hielt ihn fest und riß ihn hoch. Dhamar und der andere Soldat waren wie gelähmt. Sie konnten nur zusehen. Ihr Kamerad schlug in panischer Angst um sich, versuchte sich aus dem Griff des Monsters zu befreien. Er starrte den Kuppelkopf mit den spitzen Ohren und dem riesigen breiten Maul an, in dem spitze Reißzähne funkelten. »KANNST DU VON MIR LESEN?« Offensichtlich konnte der Soldat es nicht. Da biß das Monster ihm den Kopf ab.
* Lilith erreichte Warka. Der Weg war nicht weit, dennoch nahm sie die Anstrengung auf sich, ihn fliegend zurückzulegen.
Aber sie begab sich nicht sofort in das Militärlager am Rande des kleinen Ortes. Sie wußte zu wenig. Sie mußte erst Informationen sammeln. Sich Kleidung besorgen. Und – ihren Durst stillen. Noch war sie nicht stark genug, zu tun, was getan werden mußte. Das Sonnenlicht zehrte zusätzlich an ihren Kräften. Sie spürte seine Macht jetzt schmerzvoller als zuvor, als sie noch zur Hälfte Mensch gewesen war. Im Schatten eines abseits stehenden Hauses verwandelte sie sich zurück. Niemand hatte ihr Kommen bemerkt. Lilith war einen klei nen Umweg geflogen, um den gleißenden Feuerball am Himmel im Rücken zu haben. Das war besser als jede andere Tarnung. Jetzt lehnte sie sich gegen die kühle Wand. Jemanden zu finden, der ihr sein Blut spenden konnte, würde nicht sonderlich schwer sein. Sie huschte um das Haus herum, fand den Hintereingang. Sofort schlüpfte sie hinein, lauschte. Weniger mit dem Gehör, sondern mit ihren vampirischen Sinnen, welche sie über die Menschen erhoben. Sie fühlte drei Menschen in diesem Haus. Einen Mann, zwei Frauen. Lautlos bewegte sie sich vorwärts, zu dem Mann hin. Sie fand ihn in einem kleinen Raum, der wie ein Arbeitszimmer aussah. Es gab eine uralte Schreibmaschine hier, ein paar Bücher, eine Wasserkaraf fe und ein Glas, ein großes Tintenfaß und etliche Federkiele in mehr oder minder abgenutztem Zustand. Und ein Telefon. Das war überraschend modern. Hinter dem Schreibtisch an der Wand hing ein goldgerahmtes Por trät Saddam Husseins. Was den Präsidenten anging, machte der Is lam selbstverständlich eine Ausnahme vom Gebot des Koran, keine Abbilder von Menschen anzufertigen; dieses Gebot hatte dafür ge sorgt, daß sich die dekorativ-abstrahierende Kunst in islamischen Ländern bis zur Überperfektion entwickeln konnte und islamische
Dekore sogar die keltischen an Fantasie und Detailfreudigkeit weit übertrafen. Wer keine Menschen malen durfte, spielte eben auf an dere Weise mit Farben … Zwischen dem goldgerahmten Diktator und dem von weniger de tailfrohen Schnitzereien verzierten Schreibtisch saß ein Mann. Er hatte, in Gedanken versunken, gar nicht registriert, daß sie eingetre ten war. Oder, wenn er ihre Schritte wahrnahm, hielt er sie vielleicht für eine der beiden Frauen, deren Anwesenheit im Haus Lilith spür te. Sie sprach ihn an und riß ihn aus seinen Gedanken. Er hob den Kopf, sah sie überrascht an. Sehr überrascht. Sicher war es ihm noch nie untergekommen, daß eine wunder schöne Frau ohne anzuklopfen und splitterfasernackt vor seinen Schreibtisch trat. Was nicht hieß, daß sie nicht vielleicht etwas später splitterfaser nackt auf seinem Schreibtisch lag … Lilith schätzte den schon etwas faltig gewordenen Mann mit dem verkniffenen Gesicht gleich richtig ein. »Wer – wer bist du?« stieß er verblüfft hervor. Lilith konnte förm lich sehen, wie die kleinen Zahnrädchen hinter seiner Stirn rotierten und die noch kleineren, sicher nur sparsam verteilten grauen Zellen durcheinanderquirlten. Er sah, daß sie nicht einmal einen Tschador trug – und in seinem Gesicht sah Lilith so etwas wie Erkennen auf blitzen. Nein, eher Erkenntnis. »Du bist eine der Ungläubigen«, stieß er hervor. Sie trat näher, leicht tänzelnd, mit wiegenden Hüften. Die Wunden hatten sich geschlossen und schmerzten nicht mehr, wenn sie sich bewegte. »Du wirst dran glauben«, sagte sie.
Er lachte heiser, hielt es für ein Wortspiel. Das war es auch – aber mit viel ernsterem Hintergrund, als er ahnte. Lilith gewährte ihm keine Chance, weiter darüber nachzudenken und zu noch mehr Erkenntnis zu gelangen. Sie hypnotisierte ihn. »Wer und was«, ihre deutende Handbewegung schloß das gesam te Arbeitszimmer ein, »bist du?« »Ich bin Fars Seistan«, sagte er dumpf. »Der Präfekt von Warka.« Lilith atmete auf. Viel besser konnte es kaum noch kommen. Wenn jemand ihr Informationen geben konnte, der kein Soldat war, dann war es der Präfekt des Ortes. Höchstens der Barbier wäre noch ge eigneter gewesen. Lilith befragte ihn. Sie erfuhr, warum er so in Gedanken versunken hinter dem Schreibtisch gehockt hatte. Der Kommandeur der Elitetruppe hatte ihn sich zur Brust genommen, weil Seistan für sich die Korruption zur Kunst erhoben hatte. Unter anderem hatten zwei Männer, un gläubige Abendländer, ihm eine Menge Geld dafür gegeben, daß er ihnen eine Ausgrabungsgenehmigung für Uruk ausstellte …* Die Beschreibung der beiden Männer paßte auf Duncan Luther und Dr. George Romano. Ein weiterer Kreis begann sich zu schließen. Auch wenn es nur ein kleiner, unbedeutender war. So klein und unbedeutend wie dieser Präfekt, der seine Macht weit überschätzte. Lilith befragte ihn nach den Soldaten. Sie erfuhr über das Lager alles, was Fars Seistan wußte. Während Seistan sprach, war er aufgestanden und begann sich zu entkleiden. In dieser Hinsicht brauchte Lilith mit ihrer Hypnose *siehe VAMPIRA 23
nicht sehr nachzuhelfen. Das aufgerichtete Glied des Präfekten be wies, daß allein schon ihr Anblick auf ihn wirkte. In jenem Augen blick, als er sie nackt vor sich stehen sah, hatte er sich gewünscht, sie zu nehmen. Diesen Wunsch konnte sie ihm leicht erfüllen. Auch wenn ihr eige ner Genuß sich dabei in Grenzen hielt. Das einzig Attraktive an ihm war das rotköpfige Kerlchen, das sich ihrem Schoß begierig entge genreckte. Aber sie wollte sein Blut, und Sex macht Blut schmack hafter. Es ist süßer, wenn es in Ekstase kocht. Jetzt war er es, der auf seinem Schreibtisch lag. Mit ein paar wilden Bewegungen hatte Lilith alles abgeräumt und zu Boden gewischt. Sie schwang sich über seine Leibesmitte und beugte sich vor, daß ihre Brüste seinen Oberkörper und ihre Zähne seinen Hals berühren konnten. Er wollte sie küssen, faßte nach ihrem Kopf, um ihn ent sprechend zu drehen, aber Lilith ging nicht darauf ein. Was sie von ihm wollte, pochte heiß in seiner Schlagader. Sie pendelte leicht mit den Hüften kreisend über ihm, stimulierte sich selbst dadurch, daß sie die Spitze seines beschnittenen Gliedes leicht durch ihren Haarflaum und die sich ihm öffnenden Lippen streichen ließ. Er wollte mehr, bäumte sich ihr ruckartig entgegen. Als er in ihren Schoß vorstieß, rammte sie ihre Zähne in seine Halsschlagader. So, wie seine hastigen Stöße kamen, strömte auch das Blut aus seiner Ader. Er keuchte und schrie, aber noch ehe er zum Höhepunkt kommen konnte, erhob sich Lilith von ihm. Es reichte, wenn sein Blut in sie strömte. Sie trank, während er wild zuckte und dann ruhiger wurde. Sein Blut war dennoch alt und sauer. Wenn Lilith es nicht ge braucht hätte, hätte sie es wahrhaftig wieder ausgespien. Doch das konnte sie sich momentan nicht erlauben.
Der Präfekt keuchte, tastete erneut nach Lilith. Er zog sie wieder über sich. Trotz seines tranceartigen Zustandes hatte er sehr wohl bemerkt, daß sie sich von ihm zurückgezogen hatte. Jetzt wollte er noch einmal – und diesmal richtig! Lilith ließ ihn noch einmal eintauchen. Sofort stieg seine Erregung wieder, und sein saures Blut floß leichter. Plötzlich hatte Lilith das Gefühl, mit dem Präfekten nicht mehr al lein im Zimmer zu sein. Sie löste sich von seinem Hals und richtete sich auf, während er unablässig, wie eine Maschine, unter ihr arbeitete. Der Aderlaß schi en ihn überhaupt nicht zu schwächen. Fars Seistan war stärker und zäher, als Lilith es ihm zugetraut hatte. Vergnügen, wie sie es bei anderen Männern gehabt hatte, verspür te sie trotzdem nicht. Als Lilith sich umsah, kreuzte sich ihr hungriger Blick mit dem er schrockenen Blick einer jungen Frau. Nein, es waren zwei Frauen. Wohl durch Seistans Schreie ange lockt, hatten sie beide ausgerechnet jetzt hierhergefunden. Ihre Au gen über den Gesichtsschleiern zeigten einen Anflug von Panik. Kein Wunder … Diese Sterblichen, dachte die Vampirin, sind einfach zu sensibel … »Herr«, raunte die eine atemlos. »Fars!« keuchte die andere entsetzt. Sie stand zwei Schritte zurück und wollte sich jetzt umwenden, um davonzulaufen. Lilith ließ das nicht zu. Sie lächelte; ein kaltes, freudloses Lächeln ohne eine Spur von Menschlichkeit. Vielleicht kam sie jetzt ja doch noch zu ihrem Spaß. Auf jeden Fall aber zu jüngerem, süßerem Blut. Sie nahm die beiden Frauen unter ihre hypnotische Kontrolle. Jetzt
fühlte sie sich wieder stark genug dafür. Daß Seistan sich immer noch unter ihr bewegte, störte die Vampi rin. Sie befahl ihm, stillzuhalten. Dann wandte sie sich erneut den beiden Frauen zu. Die jüngere besaß in etwa Liliths Statur. Das war günstig. Lilith würde Kleidung brauchen, wenn sie sich im Solda tenlager bewegte. Seltsam. Der Gedanke an Kleidung barg etwas Unwirkliches in sich. Bislang hatte sie in den seltensten Fällen echte Kleider benutzt, weil der Symbiont jeden Stoff täuschend echt und in Sekunden schnelle hatte nachbilden können. Nun, da er verschwunden war (sie im Stich gelassen hatte!), mußte sie umdenken. Aber nicht nur aus diesem praktischen Grund vermißte sie das nachtschwarze Geflecht. In ihr, leise noch und kaum zu spüren, aber beständig anwachsend, war ein Sehnen, das sie schon einmal wahr genommen hatte. Damals, als der Symbiont sich kurzzeitig von ihr hatte trennen müssen. Es fühlte sich fast an wie die Erscheinungen eines Entzugs … Aber jetzt war nicht die Zeit, darüber nachzudenken! »Wer bist du?« fragte Lilith die jüngere der beiden. »Fadme«, flüsterte die Frau, die Seistan ›Herr‹ genannt hatte. »Zieh dich aus«, befahl Lilith und wandte sich der anderen zu, die den Präfekten beim Vornamen genannt hatte und die nackte Vampi rin jetzt aus großen Augen anstarrte. »Und dein Name?« »Ich … bin Maryam«, kam die zögerliche Antwort. »Fars Seistans Gemahlin?« fragte die Vampirin spöttisch, Seistans Schaft in ihrem Schoß. Endlich fühlte sie selbst leichte wirkliche Erre gung in sich aufsteigen bei der Vorstellung, diesen alten Esel vor den Augen seiner Gattin zuzureiten. Ja, das würde ihr etwas Ver gnügen bereiten. »Seine Schwester«, flüsterte Maryam. »Fars ist unverheiratet.«
Kaum verhaltener Ärger blitzte in den Augen der Vampirin auf. Diese Sterblichen gönnten ihr überhaupt nichts! Sie gab Seistan frei, schwang sich von ihm und dem Schreibtisch hinab und achtete darauf, nicht in Scherben zu treten. Nicht, daß kleine Verletzungen dieser Art ihr nachhaltig geschadet hätten, aber sie waren doch lästig. Außerdem war es nicht nötig, eigenes Blut zu verschwenden. Das von Seistan sickerte immer noch aus der Halswunde und bil dete eine allmählich größer werdende Lache auf dem Schreibtisch. Wenn Lilith ihm die Wunde nicht schloß, würde er regelrecht leer laufen. Ein Auslaufmodell, dachte die Vampirin spöttisch. So zumindest hät te es Landru sicher formuliert. Landru, den sie einmal für ihren Feind gehalten hatte. Damals, vor ihrer Erleuchtung durch das LICHT. Vielleicht war er auch jetzt noch ihr Feind. Aber nun gab es Wich tigeres für sie als Feindschaften. Sie wandte sich der jüngeren Frau zu, deren Kleidung inzwischen nahezu restlos auf den Fußboden hinabgeraschelt war – mit Aus nahme des Tschador. Lilith nahm ihr auch den Gesichtsschleier ab. Unwillkürlich schlug die Nackte die Hände vor ihr Gesicht, um es vor der Fremden zu verbergen. Lilith war zwar kein Mann, aber im merhin eine Ungläubige. Lilith bog ihr die Hände nach unten. Ihr Gesicht näherte sich dem Fadmes, ihre Lippen berührten einander. Seistans Blut blieb an Fad mes Lippen haften. »Schmeckst du es?« raunte die Vampirin. Ihre Hände glitten über den weichen, fast etwas zu üppig gerundeten Körper. Fadme er schauerte. Die Spitzen ihrer Brüste wurden langsam größer und här ter. Liliths Zungenspitze strich über Fadmes Hals, tastete nach der Ader. Sie konnte das darunter pulsierende, verlockende Blut spüren.
Auf Fadmes Körper bildete sich eine Gänsehaut. »Nicht«, flüsterte sie. »Bitte … nicht … ich …« Liliths Fingerkuppen glitten sanft über die Gänsehaut und glätte ten sie. Gerade auf diese Sanftheit reagierte Fadme intensiv. Es über raschte sie selbst. Sie war solch zarte Berührungen nicht gewohnt. Seistan hatte sie stets mit Härte genommen, wenn es ihn nach ihr ge lüstete. Sie war nur seine Putzhilfe, und Fadmes Vater hätte den Präfekten sicher an den Füßen aufgehängt und ausgeweidet, wenn er gewußt hätte, was er mit Fadme tat. Aber er wußte es nicht, und so gab es keinen Anlaß für Bestrafung und folgende Blutrache. Liliths sanft und provozierend streichelnde Hände waren … schön. Und dann ließ der Anblick des Blutes und nun auch dessen Ge schmack auf ihren eigenen Lippen sie wieder erschauern. Sie wand sich unter den Berührungen der Vampirin. Dabei starrte sie an ihr vorbei auf den Schreibtisch, wo Seistan lag. Er gehorchte immer noch Liliths letztem Befehl, still zu sein. Er hatte den Kopf gedreht und bestaunte die beiden nackten Frauen. Lilith rieb ihren Körper an dem der jungen Fadme und erfreute sich daran, wie deren mit Angst und auch ein wenig Abscheu ge paarte Erregung stieg. Fadmes Blut wurde heißer, rann schneller durch ihre Adern. Liliths Hände glitten über Bauch und Rücken ih res Opfers, hier durch dichtes, gekräuseltes Haar, dort durch die Fal te ihres hübsch gerundeten Pos, und berührten Punkte, die Fadme heftig zusammenzucken ließen. Ihr Atem wurde schneller, unregel mäßiger. Während Lilith ihren Bauch an der Hüfte der Iraki rieb, drängte al les in ihr danach, ihre Zähne in Fadmes Hals zu senken und das fri sche Blut zu trinken. Aber noch war Fadme nicht weit genug. Je grö ßer die Mühe, das Mahl zu bereiten, um so köstlicher mundet es schließ lich.
Lilith beherrschte sich noch. Gleichzeitig fiel ihr auf, daß Seistans Schwester noch immer wie teilnahmslos dastand. Ihr kam eine ver wegene Idee, wie die Frau beschäftigt werden konnte. »Zieh dich aus«, befahl sie Maryam, »und bereite ihm Vergnügen!« Sie wies auf Seistan. »Aber … ich bin seine Schwester«, kam es erschrocken über Ma ryams Lippen. »Es wäre … wider Allahs Willen.« »Nur mein Wille zählt«, fauchte die Vampirin. »Denke einfach an deinen letzten Liebhaber.« »Das Scheusal«, murmelte Maryam. »Der Kommandant …« Lilith wurde hellhörig. Während sie Fadmes schönen Körper wei ter in Hitze streichelte, konzentrierte sie sich mehr auf Maryam. Kommandant? Das klang nach Militär. »Der Kommandant war dein Liebhaber? Wie das?« fragte sie. Unter der Hypnose konnte Maryam die Antwort nicht verweigern. »Er … es war wegen Fars. Er hat fremdes Geld genommen. Der Kommandant will ihn dafür bestrafen. Da bot ich mich ihm an, um ihn milde zu stimmen …«* Vermutlich erfolglos, ahnte Lilith. Männer mit Macht pflegten zu nehmen, was Frauen ihnen boten, aber kaum jemals eine Gegenleis tung zu erbringen. Immerhin – Maryam Seistan war also mit dem militärischen Kommandanten intim gewesen. Niemand würde sich etwas dabei denken, wenn sie ihn erneut aufsuchte. Und vielleicht eine gute Freundin mitbrachte … »Warte«, befahl Lilith. Sie winkte Maryam mit einer schnellen Geste zurück. Die Schwes ter des Präfekten schien erleichtert. Bevor sie aber ihren rasch gefaßten Plan in die Tat umsetzte, woll *siehe VAMPIRA 46: ›Der bittere Kelch‹
te Lilith bei Fadme die Früchte ihrer Bemühungen ernten. Die junge Iraki drängte sich ihr nun ungestüm entgegen – als könne sie es nicht länger erwarten, nach dem anhaltenden Vorspiel endlich Er füllung zu finden. Als sie erlöst aufschrie, war dieser Schrei pure Lust und kein Schmerz. Liliths Zähne öffneten die verlockende Ader, und die Vampirin trank das köstliche Blut in großen Zügen. Es war viel süßer als das des Präfekten, viel besser, jünger, kräfti gender. Lilith stillte ihren Durst, bis Fadme bleich zu Boden sank. Die Vampirin richtete sich auf. Sie sah auf die jetzt nahezu blutlee re Fadme nieder und griff schon nach deren Kopf, um sie mit einem routinierten, schnellen Ruck zu erlösen, als sie sich der Unsinnigkeit ihres Tuns bewußt wurde. Warum verhindern, daß Fadme zu einer Dienerkreatur wurde? Die Zeiten des Erbarmens waren vorbei. Sollte sie leben – um zu sterben … Immer noch atmete der Präfekt keuchend. Seine Augen waren of fen, aber die Pupillen leicht verdreht. Auch ihn, dem Tode nahe, verschonte Lilith und wandte sich statt dessen an Maryam. Ihr schenkte sie den Vampirkuß. Obgleich sie satt war, war es not wendig, aus Maryam zu trinken. Das erleichterte ihr den Gehorsam, den die Vampirin nun mehr denn je verlangen mußte. Dann säuberte sie sich und warf Fadmes Obergewand locker über ihren Körper. Maryam half ihr, auch den Tschador anzulegen. Manchmal konnten islamische Bekleidungsvorschriften recht nützlich sein. Lilith war sicher, daß auch die überlebenden Soldaten sie nicht einmal dann wiedererkennen würden, wenn sie unmittel bar vor ihr standen. Maryam konnte sie nun zum Kommandanten führen.
Dorthin war garantiert auch die Agrippa gebracht worden. Allmählich drängte die Zeit; zuviel davon hatte Lilith bereits ver loren. Aber sie war wieder stark – und bereit, alles für die Wiederbeschaf fung der Agrippa zu tun.
* Von Bagdad nach Uruk war es für jemanden wie Landru nicht weit. Er reiste auf seinen eigenen, unerfindlichen Wegen am Fluß entlang, der früher einmal den Namen Euphrat getragen hatte. Es war so lange her … Zwischenzeitlich hatte der Fluß Bett und Namen gewechselt, und Uruk war im Sand der Zeit versunken. Aber der alte Zugang war wieder geöffnet worden. Was vorherbestimmt war, geschah. Die Kelchdiebin konnte es ebensowenig verhindern wie Creannas Bastard. Die Menschen, die in Warka lebten, dem Dorf in der Nähe des an tiken Uruk, ahnten davon sicher nichts. Landru stellte fest, daß sich erstaunlich viele Soldaten in Warka befanden. Auch wenn momentan nur wenige zu sehen waren – der Fahrzeugbestand deutete auf eine wesentlich größere Schar hin. Frechheit siegt. Der Kelchhüter versuchte sich gar nicht erst einzu schleichen, sondern tauchte einfach im Lager auf. Einer der Soldaten sah ihn und stutzte. Landru konnte ihm die Fragen am Gesicht able sen: Ein Zivilist? Und dazu noch ein Ungläubiger? Was bedeutet das? Bevor er sich weitere Gedanken machen konnte, nahm Landru ihn rasch unter seinen Bann und dirigierte ihn zur Rückseite einer der Baracken.
Er stellte fest, daß er Glück hatte. Der Soldat war ein wahrer Quell an Informationen. Er war einer von einer Handvoll Überlebenden, die in der unterirdischen Anlage von Uruk gewesen waren. Der Soldat wußte von einer nackten Frau zu berichten, die sie ge fangengenommen hatten, und von einem furchtbaren, unbegreifli chen Etwas, das in der Tiefe lauerte und seine Kameraden abge schlachtet hatte. Ein Leutnant, ein Sergeant und ein weiterer Soldat hatten als einzige überlebt … nachdem der Jeep mit der Gefangenen explodierte und von einer Brücke stürzte. Sie hatten noch etwas aus dem Schacht bei der Ausgrabungsstätte geborgen: ein eigenartiges, eiförmiges Artefakt, das die fremde Frau bei sich trug. Es war in die Kommandantur verbracht worden. Landru drang in den Mann. Aber die Personenbeschreibung war mehr als dürftig; mit dem Erinnerungsvermögen des Soldaten, was Gesichter betraf, war es nicht sehr weit her. Dennoch war Landru fast sicher, daß es sich bei der Frau, die im abstürzenden Feuerball umgekommen sein sollte, um Creannas Bastard handelte. Sollte es so einfach sein? Sollte Lilith Eden wirklich tot sein? Landru konnte es sich nicht vorstellen. Er trank das Blut des Soldaten, beseitigte ihn und schlüpfte dann in seine Uniform. Sie gefiel ihm zwar nicht, des untersten Dienstran ges wegen, aber Landru wußte seine Autorität auch auf anderem Wege durchzusetzen. Außerdem war es eine gute Tarnung. Als irakischer Soldat konnte er sich frei im Lager bewegen und nach dem suchen, das es zu fin den galt. Aber plötzlich schien es ihm, als brauchte er nicht mehr danach zu suchen …
* Blitzschnell stieg sie in Jassir Dhamar auf: Übelkeit, derer er nicht Herr wurde. Der Kopf des Soldaten polterte zu Boden, rollte einfach auf den Leutnant zu und blieb unmittelbar vor ihm liegen. Entsetzt aufgerissene Augen starrten ihn an – und Dhamar glaubte, sogar noch Lidreflexe zu sehen! Er wandte sich ab und erbrach sich. Der zweite Soldat begann zu schreien. »KANNST DU VON MIR LESEN?« wandte sich das blaue Unge heuer jetzt ihm zu. Es ließ den Rumpf des Getöteten achtlos fallen. Der Soldat versuchte zu fliehen. Das Monster machte ein paar Schritte, erreichte ihn, noch ehe er an der Tür war, und riß ihn zu rück. Es bekam ihn an beiden Oberarmen zu fassen, hob ihn empor – und breitete dabei die eigenen Arme eine Spur zu weit aus. Der unmenschliche, furchtbare Schrei des Soldaten riß selbst Dha mar noch einmal hoch. Er sah den Kameraden vor den Füßen des Monsters zu Boden fallen. Der riesige Kuppelkopf bewegte sich wieder. Die großen Augen sahen Dhamar an. Der Leutnant ließ sich in Todesangst einfach fallen. Es ist so schön, für’s Vaterland zu sterben. Aber nicht so. Nicht auf eine solch bestialische, grauenhafte Weise. Er stellte sich tot, hielt den Atem an, lauschte. Unter dem Stampfen der Säulenbeine erzitterte der Boden. Das Monster war tonnenschwer. Unfaßbar, daß es in diesem teuflischen Ei gesteckt hatte. Das Monster kam heran. Dhamar spürte es, ohne es zu sehen, und instinktiv wartete er darauf, daß abermals die tödliche Frage auf dröhnte.
Doch diesmal blieb sie aus. Die stampfenden Schritte entfernten sich wieder. Dann krachte es. Fausthiebe hämmerten gegen Stein. Das Monster nahm nicht die Tür, durch die es ohnehin nicht hindurchgepaßt hät te, sondern schuf sich einen eigenen Ausgang, um nach draußen zu schreiten. Während Steine und Mörtel flogen, kam Dhamar wieder auf die Knie. Das Ungeheuer wandte ihm den Rücken zu. Der Leutnant zog jetzt endlich die Pistole. Er lud durch und feuer te dem Monster sieben, acht, neun Kugeln in den Rücken. Du bist verrückt! Du machst es nur wieder auf dich aufmerksam, und diesmal wird es dich nicht verschonen. Aber nichts geschah. Das Monster schien die Schüsse nicht zu hören, die Kugeln nicht zu spüren. Sie verschwanden einfach in seinem Körper. Zwischen den Runen konnte Dhamar nicht einmal vorübergehend Einschußlö cher erkennen. Das Ungeheuer brach nach draußen durch. Taumelnd näherte Dhamar sich seinem Kameraden, der sich in schmerzvoller Agonie auf dem Boden wand. Aus großen, von Schmerz und Angst geweiteten Augen sah er den Leutnant an. Dhamar würde diesen Blick niemals vergessen. Mit der vorletzten Kugel, die noch in seinem Magazin steckte, gab er dem Kameraden den Gnadenschuß.
*
Sergeant André Jamal war wieder ausgestiegen und betrachtete die knapp zwei Dutzend Steinstufen, die in die Tiefe führten und dort vor einem großen Tor endeten. Es war aus dem Boden hochgefahren und hatte den Zugang verschlossen. Hinter dem Tor lagen die gefallenen Kameraden, von einem Monster getötet. Blitzschnell gealtert, zu raschelnden Mumien ge worden, als habe ihnen jemand Lebenskraft, Blut und Jugend zu gleich aus den Körpern gesogen. Jamal schätzte den Schußwinkel des Sturmgeschützes ab. Dessen 7,5-cm-Granaten waren ein anderes Kaliber als die Maschinenpisto len der Soldaten. »Sprenggeschosse laden und auf Befehl verfeuern«, ordnete Jamal an. »Sieh zu, daß du den gesamten Raum vor dem Tor erfaßt.« »Unmöglich«, erwiderte Unteroffizier Sayid schulterzuckend. »Die Treppe geht zu steil hinab. So tief können wir die Kanone nicht rich ten.« »Muß ich dir erst sagen, wie man sich freies Schußfeld verschafft?« knurrte Jamal. »Du planierst mit den ersten Schüssen den oberen Teil der Treppe soweit weg, daß der Winkel ausreicht, da unten alles zusammenzuschießen!« Sayid nickte. »Du bist der Kommandant. Der Kommandant hat immer recht.« »Kluges Kerlchen«, lobte der Sergeant spöttisch. Dann winkte er eine Handvoll Männer zu sich. »Versucht das Tor zu öffnen«, befahl er. »Es muß einen Mechanismus geben. Seht zu, daß ihr ihn findet und betätigt.« »Und wenn dieses … Ungeheuer dahinter auf uns lauert?« »Dann feuert ihr, bis eure Läufe glühen«, gab Jamal lapidar zu rück. »Den anderen hat es nichts genützt.«
»Um euch zu beruhigen – wenn es euch auch nichts nutzt, be kommt ihr von hier von oben Feuerschutz!« Dabei wies er auf das Sturmgeschütz. Die Soldaten sahen sich betreten an. Sie wußten, was das bedeute te. Sie würden nicht mehr aus dem Schacht herauskommen, wenn das Sturmgeschütz erst einmal zu feuern begann. »Möchte jemand etwas sagen?« fragte Jamal schroff. Seine Hand lag auf der Pistole am Koppel. Seufzend wandten die Männer sich um und trotteten der Treppe entgegen, den Stufen, die in den Tod führten.
* Das Poltern und Donnern zerbrechenden Mauerwerks und die Schüsse hatten die im Lager verbliebenen Soldaten alarmiert. Sie sprangen auf, sahen zur Kommandantur hinüber. Einige rannten los, ihre Waffen zu holen. Da brach das runenübersäte, vierarmige Monster ins Freie. Einer der beiden Männer, die mit Jamal und dem Leutnant den ersten Vorstoß überlebt hatten, traf seine Entscheidung. Ihm war sofort klar, daß das Monster etwas mit dem Roq-Ei zu tun haben mußte. Woher sollte es sonst kommen? Der Soldat war nicht daran interessiert, nachträglich zu sterben, nachdem er einmal durch einen glücklichen Zufall dem Tod entron nen war. Er rannte los, aber nicht, um sich zu bewaffnen, sondern um zu verschwinden. Er enterte den Jeep. Der Zündschlüssel steckte. Der UAZ-469 sprang sofort an. Vollgas. Mit durchdrehenden Rädern ruckte der Wagen vorwärts.
Nur fort von hier! Vermutlich würde er nie wieder Soldat in Saddam Husseins Ar mee sein können; höchstens ein fahnenflüchtiger Feigling, den man füsilieren würde. An seine Kameraden, die dem Tod geweiht waren, verschwendete er keinen Gedanken mehr. Besser feige als tot!
* Ratlos versuchten die Männer das Tor zu öffnen. Ihre Halbherzig keit fiel dem Sergeanten auf. Er kam ebenfalls nach unten. Sonder lich wohl fühlte er sich dabei allerdings nicht. Er wollte auch keines falls hier verweilen, sondern nur dafür sorgen, daß seine Leute sich wirklich bemühten. Die Nähe des Todes ließ ihn erschaudern. Hier unten, vor dem mit seltsamen Runen bedeckten Tor, ließ er sich relativ schnell davon überzeugen, daß es keinen Sinn hatte, nach einem Öffnungsmechanismus zu suchen. »Nun gut«, sagte er. »Wenn es auf die sanfte Tour nicht geht, dann eben auf die harte. Verschwindet wieder nach oben, Männer, wir fahren stärkere Geschütze auf.« Nichts hörten die Soldaten lieber als diesen Rückzugsbefehl. Sergeant Jamal stieg als letzter die 22 Stufen wieder hinauf. Auf halber Höhe sah er sich noch einmal um. Vielleicht, wenn er in diesem Moment in Warka gewesen wäre, hätte er geahnt, daß es eine ganz einfache Möglichkeit gab, das Tor mit den zahllosen Runen zu öffnen. Wie sollte er auch wissen, daß sie das Schloß waren?
Und daß sie den Schlüssel selbst von hier fortgebracht hatten? Den Schlüssel zu nicht nur diesem Geheimnis, sondern auch zu etwas anderem. Zu etwas, das sich vorzustellen kein Mensch in der Lage war … Denn diese unteriridische Anlage, der Tunnel, der in ein uner forschtes Nichts führte, war erst der Anfang … Oben kletterte Jamal auf das Sturmgeschütz und tippte Unteroffi zier Sayid auf die Schulter. »Feuer frei«, befahl er.
* Leutnant Dhamar folgte dem Ungeheuer stolpernd. In dem Wand durchbruch blieb er stehen und schaute das Grauen. Das blaue Monster wütete unter den Soldaten. Sie schossen mit Maschinenwaffen, versuchten es aufzuhalten, aber die Kugeln verschwanden einfach, sobald sie die blaue Haut berührten. Jemand begann Handgranaten zu werfen, doch die Bestie schritt einfach durch die Explosionen hindurch. Weder der Druck der Sprengkraft noch die glühenden Splitter machten ihm etwas aus. Es war einfach unverwundbar. Die Soldaten waren es nicht. Das Monstrum tötete nicht sofort. Als wäre die Situation nicht un wirklich genug, hielt es bei jedem Soldaten, den seine Klauen pack ten, inne und stellte immer wieder die gleiche Frage. »KANNST DU VON MIR LESEN?« Keiner der Männer konnte es. Von einer unerklärlichen Faszination gepackt, starrte Dhamar die
Runen an. Ihm war, als würden sie sich auf dem Körper des Vierar migen bewegen. Fassungslos, im Grauen erstarrt und doch von dem unglaublichen Anblick gefesselt, konnte Dhamar den Blick nicht von dem Gesche hen wenden. Ein paar Männer versuchten noch zu fliehen, aber der Vierarmige holte sie alle ein. Einen nach dem anderen. Dhamar sah nur zu. Die Hand mit der Pistole hing wie ein toter Gegenstand neben seinem Körper, als gehöre sie ihm überhaupt nicht. Er fand den Mut zu kämpfen nicht mehr. Was hätte er auch tun können? Erst hatte der Leutnant sich noch Vorwürfe gemacht, daß er das Sturmgeschütz nach Uruk geschickt hatte. Die Feuerkraft der 7,5Kanone, so hatte er sich vorgestellt, könnte das Ungeheuer vielleicht zerfetzen. Nachdem er gesehen hatte, daß nicht einmal Handgranaten das Monster aufhalten konnten, zweifelte er daran. Vielleicht waren die Männer, die mit Sergeant Jamal gefahren wa ren, noch am besten dran. Vielleicht würden wenigstens sie überle ben. Hier, in Warka, regierte der Tod. Und wenn es keine Soldaten mehr gab, würde das Ungeheuer sich dann der Zivilbevölkerung widmen? Jassir Dhamar dachte nicht weiter. Das Ungeheuer kam jetzt auf ihn zu. Da begriff er, daß er der letzte war. Diesmal konnte Dhamar sich nicht totstellen. Das Monster hatte ihn aufrecht stehend gesehen. Es stampfte heran.
Die Runen auf seinem nackten, scheußlichen Riesenkörper beweg ten sich tatsächlich. Dhamar konnte es jetzt ganz genau sehen. Sie schienen sich nach einem bestimmten Muster zu ordnen, zu grup pieren. Dhamar bewegte sich nicht mehr von der Stelle. Alles in ihm schrie danach, fortzulaufen, so schnell er konnte. Aber er wußte auch, daß die Beine unter dem Gewicht seines Körpers nachgeben würden, sobald er sich bewegte. Ihm gab nur noch die Hauswand, an die er sich lehnte, Halt. Seine Knie zitterten. Er war schweißnaß vor Angst und Grauen, und er wurde noch nasser, als seine Blase sich zu leeren begann. Unmittelbar vor ihm stoppte das Ungeheuer. Die Runen bewegten sich auf seiner Haut nicht mehr. Sie hatten ihre endgültige Form gefunden. »KANNST DU VON MIR LESEN?« donnerte es erneut. Wie er diese verhängnisvolle Frage haßte und fürchtete! Sie bedeu tete den Tod. Denn er kannte die Antwort nicht. Er konnte die Runen jetzt ebensowenig lesen wie vorhin, und ebensowenig wie jeder seiner Kameraden es gekonnt hatte. »Nein«, sagte er. Fast verwundert starrten die großen Augen auf ihn herunter. Dann packte das Monster zu. Jassir Dhamar war schneller. Vielleicht nur um eine halbe Sekun de, aber das reichte. Seine Hand mit der Pistole war nichts Fremdes mehr. Sie gehörte wieder ihm und flog hoch. Der Leutnant hatte noch eine Kugel zur Verfügung. Ihn mordete das Monster nicht.
Das tat er selbst.
* Maryam Seistan schritt voran. Dadurch, daß Lilith auch von ihr ge trunken hatte, unterlag sie vollständig ihrem Willen. Anfangs hatte sie sich noch gegen die Befehle der Vampirin sträuben können; jetzt war sie nur noch eine Marionette. So wie ich, ehe das LICHT mir meine Bestimmung gab, dachte Lilith. Ehe ich Felidaes Herzblut aus dem Lilienkelch trank, um das zu werden, was ich jetzt bin. So wie ich, als Beth den Nagel in die Stirn der LilithPuppe trieb und das LICHT mich steuerte. Es gab noch eine vage Erinnerung, wie aus einer anderen Welt, ei ner anderen Zeit: Die letzten Wochen hatte sie sich bemüht, das Blut ihrer ›Spender‹ nicht aus der Ader zu trinken und so keinen Keim zu pflanzen. Weshalb nur hatte sie sich soviel Mühe gemacht, Men schenleben zu schützen, zu bewahren? Aber das war vorbei. Es ging um Wichtigeres. Um ein höheres Ziel. Die Straßen des kleinen Ortes waren menschenleer. Um diese Ta geszeit ging kaum jemand nach draußen, erst recht nicht, seit die Soldaten vor Warka Quartier genommen hatten. Am Ortsrand, dort, wo das Soldatenlager sich befand, wurde es laut. Schüsse fielen. Schreie drangen an Liliths feines Gehör. Dann krachten Explosionen. Es wurde gekämpft! Wer gegen wen? Hatte es mit der Agrippa zu tun? Plötzlich raste ein großer Militärjeep die Straße entlang und hielt direkt auf die beiden verschleierten Frauen zu.
Beinahe hätte er sie niedergefahren. Sekundenlang sah Lilith die panikerfüllten Augen des Mannes hinter der staubigen Frontschei be. Unwillkürlich wich er aus. Der Wagen touchierte eines der Häu ser, wurde zurückgeschleudert und drehte sich. Er kippte nicht um, krachte aber mit schon merklich verlangsamtem Tempo gegen das gegenüberliegende Haus. Mörtel platzte in dichten Wolken ab. Irgendwo zerbrach etwas. Die Frontpartie des Jeeps verformte sich, schob sich wie eine Zieh harmonika zusammen. Der Fahrer knallte mit dem Kopf gegen die zersplitternde Scheibe. »Warte«, befahl Lilith der Schwester des Präfekten. Sie ging zu dem Soldaten. Sein Gesicht war blutverschmiert, aber er war bei Bewußtsein. »Was geschieht im Lager?« fragte die Vampirin. Er konnte sich ge gen den Zwang nicht wehren, den sie auf ihn ausübte. Mit leiser, stockender Stimme sprach er von dem tobenden Unge heuer. »Woher kommt es?« wollte Lilith wissen. »Ich weiß nicht … Vielleicht stammt es aus dem Ei …« Lilith zweifelte keine Sekunde daran, daß die Vermutung des Sol daten zutraf. Es gab keine andere Antwort. Die Agrippa hatte sich geöffnet. Am falschen Ort, zur falschen Zeit. Lilith war zu spät gekommen. Sie taumelte unter der Erkenntnis. Zu spät! Sie ließ den Soldaten allein. Ob er überleben würde, kümmerte sie nicht. Maryam Seistan wartete stumm an derselben Stelle, an der die Vampirin sie zurückgelassen hatte. Auch ihr erwies Lilith die Gnade,
am Leben zu bleiben, obwohl sie die Frau jetzt nicht mehr benötigte. Mochte sie nach ihrem Tode eine Dienerkreatur werden; es war ihr gleichgültig. Die Lage hatte sich zu sehr verändert. Ihre Bestimmung war in Frage gestellt! Allein setzte Lilith ihren Weg fort. Sie schritt rasch aus. Sie kam zu spät, aber vielleicht doch noch nicht zu spät …
* Das Sturmgeschütz entfesselte ein Inferno. Schuß auf Schuß donnerte aus dem Rohr. So schnell der Schütze nachladen konnte, verließen die Sprenggranaten die Mündung. Fetzten die obersten Stufen der Treppe weg. Zerstörten, was vor vie len Jahrtausenden erbaut worden war. Stein und Erde flogen in grel len Feuerblumen nach allen Seiten davon; Geröll rutschte die Treppe hinunter, bis zum Steintor. Nach dem zwölften Schuß stellte Sayid das Feuer erst einmal ein. Die Soldaten erhoben sich wieder aus ihren behelfsmäßigen De ckungen. Auch der Sergeant, der schon beim ersten Schuß hinter dem Sturmgeschütz Schutz gesucht hatte. Jetzt, da der Staub sich legte, näherte sich Jamal den Resten der Treppe und sah nach unten. Das Sturmgeschütz hatte die Treppe zur Rampe gemacht, dabei stark abgeflacht und verlängert. Vor dem steinernen Runentor lag eine etwa meterhohe Geröllschicht. Das Tor aber war nach wie vor geschlossen. Jamal winkte. Das Sturmgeschütz ruckte an. Mit mahlenden Ketten rollte es langsam auf die selbstgeschaffene Rampe. Jamal sah, daß der Trep
penschacht jetzt auf jeden Fall breit genug war, mit der gepanzerten Selbstfahrkanone bis nach unten zu gelangen. Er grinste freudlos und kletterte auf das Sturmgeschütz. Sayid hob die Brauen. »Schließ das verdammte Steintor auf«, befahl Jamal und hieb auf das Geschützrohr, das heiß geworden war. »Und wenn da unten alles in sich zusammenbricht?« glaubte Sayid warnen zu müssen. Da lachte Jamal nur. »Na, um so besser, Sayid!« stieß er hervor. »Was kann uns besseres passieren, als diese Mörderkreatur für alle Zeiten unter den Trüm mern zu begraben?« Den gleichen Effekt, dachte Sayid, erzielen wir, wenn wir diesen Treppenschacht wieder schließen und notfalls zubetonieren. Warum das sagenhafte Ungeheuer erst herausfordern? »Nun schieß endlich«, schrie Jamal ihn an. Wie Sayid es vorhin schon einmal resignierend geäußert hatte: Ja mal war der Kommandant. Und der Kommandant hat immer recht. Andrea Jamal stand aufrecht auf dem Sturmgeschütz und dachte gerade noch rechtzeitig daran, seine Ohren zu schützen. Unter sei nen Füßen begann das Sturmgeschütz zu feuern, und unten vor dem Steintor krachten die Explosionen der Sprenggranaten auf.
* Lilith näherte sich dem Chaos. Im Lager der Soldaten war Ruhe ein gekehrt. Niemand schoß mehr, niemand schrie mehr, niemand starb mehr. Inmitten von Toten stand das blauhäutige Monster nahe dem beschädigten Haus, das als Kommandantur beschlagnahmt worden
war. Unwillkürlich stockte der Schritt der Vampirin. Sie sah über das Schlachtfeld. So viel Blut, so viel Verschwendung … An einigen Stellen waren kleine Brände ausgebrochen. Aber die waren ungefährlich und würden schon bald von allein verlöschen. Das, was aus der Agrippa geschlüpft war, konnte dagegen auch den ganzen Ort bedrohen. Lilith fühlte die Verwirrung des Mons ters, die Unentschlossenheit. Es suchte und wurde nicht fündig. Das versetzte es in Rage, ließ es zum gnadenlosen Vernichter werden. Jetzt entdeckte es Lilith. Der Kuppelkopf ruckte herum. Die großen Augen fixierten die Vampirin. Im nächsten Moment stapfte das Ungeheuer auf sie zu. Lilith wartete. Sie fürchtete das Monster nicht, das alles Leben im Soldatenlager zum Erlöschen gebracht hatte. Es gab nur einen Weg, das Monster zu stoppen. Nicht, um die Be völkerung zu schützen, sondern in ihrem ureigensten Interesse. Sie mußte ihm ein Ziel geben, wie sie selbst ihr Ziel erkannt hatte. Sie sah die unzähligen Runen auf dem Körper des vierarmigen Kampfkolosses. Mit ausgebreiteten Armen trat sie ihm entgegen. »Halte ein!« befahl sie laut. Tatsächlich blieb das Monster unmittelbar vor ihr stehen. Doch dann schnellten zwei seiner Arme vor, und die Hände pack ten Lilith und rissen sie hoch empor. Sie hatte, als der Blauhäutige stoppte, nicht mehr mit einem Angriff gerechnet und reagierte da her zu langsam. Sie schlug und trat um sich. Ihre Fingernägel fuhren in blaue Haut – und ritzten auf, was Kugeln nicht hatten verletzen können! Das Monster brüllte. Aus den Kratzern sickerte’ eine bräunlichro te, zähe Flüssigkeit hervor. Es war kein richtiges Blut, das fühlte sie
sofort. Die Kreatur wirbelte sie in der Luft herum. Fadmes Gewand riß entzwei; der Stoff war teilweise schon recht fadenscheinig und brü chig. Nur Fetzen blieben an Liliths Körper zurück. Die Pranken des Monsters schlossen sich wie Schraubstöcke um Liliths Hüften. Schmerz durchtobte sie. Ihre Lungen brannten, als sie ihre Pein herausschrie, unfähig, wieder Luft zu holen. Es war vorbei. Gegen diese Urgewalt kam sie nicht an! Aber der Koloß tötete sie nicht. Er reckte lediglich die Arme und hielt Lilith auf Distanz, so daß sie ihn mit Krallen und Füßen nicht mehr erreichen konnte. Und dann suchte er ihren Blick und öffnete das breite Maul. »KANNST DU VON MIR LESEN?« Lilith vergaß für Sekunden ihren Schmerz, so überraschend kam diese Frage, nachdem sie schon mit ihrem Leben abgeschlossen hat te. Sie sah einige der Runen auf der blauen Haut unmittelbar vor sich. Und plötzlich formten sich die geheimnisvollen Zeichen neu, als würde die Haut leben, und wurden zu verständlichen Sätzen einer uralten, längst vergessenen Sprache. Eine Sprache, die sie verstand! »Ja, ich kann von dir lesen!« keuchte Lilith – und spürte, wie der Griff sich lockerte. Fast behutsam setzte das Monstrum sie auf dem Boden ab. Und Lilith las …
*
Den Gewalten moderner Waffentechnik hatte das runenverzierte Steintor nichts entgegenzusetzen! Sprenggranaten, die am Fuß der Treppe eine Miniatur-Hölle ent fesselten und mit dem Druck ihrer Explosionen auch die seitlichen Wände zerstörten, schlugen Risse in den massiven Stein, die sich beim nächsten Treffer zu Löchern weiteten. Innerhalb weniger Mi nuten war gewaltsam geöffnet, was jahrtausendelang eine unüber windliche Sperre gebildet hatte. Weiteres Geröll kam jetzt von den Seiten und verschwand in der Tiefe. Durch die freigeschossene Öffnung in der Türplatte rutschten Steinbrocken, Lehm und Sand in den dahinterliegenden Gang. Für Sekunden wurde es ganz still. Eine seltsame Ruhe nach dem ohrenbetäubenden Lärm. Fast hatte sie etwas … Heiliges. Dann brüllte Sergeant Jamal aus vollen Lungen: »Weitermachen! Die Öffnung ist noch zu klein!« Wieder feuerte das Sturmgeschütz. Laden – Schuß! Laden – Schuß! Weitere Brocken lösten sich aus dem ramponierten Tor und ver schwanden in der Finsternis dahinter. Geröll rutschte nach. Endlich, als fast nichts mehr von der Torplatte existierte, ließ der Sergeant das Feuer einstellen. Sehr lange hätte man ohnehin nicht mehr weiterschießen können. Der Vorrat an Sprenggranaten war erschöpft. Es reichte für viel leicht noch drei oder vier Schüsse. Genug, dieses unheimliche Mörderwesen in winzige Stücke zu schießen, sobald es sich zeigt, dachte Jamal grimmig. Er sah nach unten. Bewegte sich da nicht etwas? Dumpf erinnerte er sich daran, daß bei der letzten Begegnung, die viele seiner Kameraden das Leben gekostet hatte, diese Kreatur
scheinbar die Grenze nicht hatte überschreiten können, die das Tor darstellte. Und jetzt, da das Tor nicht länger existierte? Bewegte sich da etwas. Und – überschritt die Schwelle?
* Seltsame Laute kamen über Liliths Lippen, als sie die Runen las. Worte in einer uralten Sprache; Laute, die vor Jahrtausenden be nutzt worden waren. Damals, als alles begann … Aber darüber konnte Lilith jetzt nicht nachdenken. Die Zeit dräng te. Das Monster sah sie merkwürdig an. Immer noch bedrohlich – gleichzeitig aber auch unterwürfig. »DU KANNST VON MIR LESEN«, grollte die urgewaltige Stim me. »DIE ANDEREN KONNTEN ES NICHT.« »Du wurdest von den falschen Leuten erweckt«, erklärte die Vam pirin. »Sie hatten die Agrippa geraubt.« »DANN HABEN SIE DEN TOD VERDIENT«, sagte das Mons trum. »WAREN ES MENSCHEN? SIE WAREN SO … ANDERS ALS DIE, DIE ICH KENNE. SO UNWISSEND UND SO ZERBRECH LICH. WIE KÖNNEN LEBENSFORMEN EXISTIEREN, DIE SO LEICHT ZU ZERSTÖREN SIND?« »Du hast lange geschlafen. Die Welt hat sich verändert«, entgegne te Lilith. »Aber nun ist die Zeit gekommen, unsere gemeinsame Be stimmung zu erfüllen. Kannst du in die Agrippa zurückkehren?« »DAS KANN ICH.«
»Dann befehle ich dir: Kehre in sie zurück. Ich werde dich wieder befreien, wenn wir das Ziel erreicht haben.« Das Monstrum verneigte sich leicht. »ICH HÖRE UND GEHOR CHE, DENN DU KONNTEST VON MIR LESEN. DU BIST DIE ER LÖSERIN.« Die blaue Kreatur wandte sich ab und stapfte zurück in das be schädigte Haus, wo die aufgebrochenen Schalen der Agrippa lagen. Lilith verspürte Erleichterung. Sie hatte es sich schwieriger vorge stellt, dieses vierarmige Ungeheuer zu bändigen. Aber im gleichen Moment, in dem sie seine Runen laut ablas – zumindest eine kurze Passage des umfangreichen Textes –, war es friedlich geworden. Die Reste des mürben Gewandes waren von Lilith abgefallen. Nackt folgte sie dem Vierarmigen. Sie sah, wie er den Mauerdurch bruch passierte und auf die Schalen der Agrippa zuschritt. Dann ging alles sehr schnell. Viel schneller, als daß Lilith wirklich zuschauen konnte, schrumpfte der Vierarmige und verschwand in dem ›Ei‹. Die Schalen fügten sich wieder nahtlos aneinander. Nicht einmal mehr die geringste Spur wies darauf hin, daß die Agrippa sich ge öffnet hatte, um Tod und Schrecken in die Welt der Sterblichen zu entlassen. Die ERLÖSERIN trat auf die Agrippa zu und nahm sie auf. Das ›Ei‹ sorgsam in beiden Händen tragend, verließ sie das Haus wie der. Sie schritt durch das Feld der Toten. All diese Menschen hätten nicht sterben müssen, aber in ihrer Dummheit und Unwissenheit hatten sie nichts Besseres verdient. Die Vampirin machte sich auf den Weg von Warka zurück nach Uruk, um zu vollenden, wobei sie gestört worden war.
* Landru beschränkte sich auf die Zuschauerrolle. Er hielt sich zu rück, als das metallblaue Monster aus dem Haus hervorbrach und unter den Soldaten zu wüten begann. Das Schicksal der Männer in teressierte ihn wenig – er wollte wissen, was die vierarmige Kreatur beabsichtigte. Aber offensichtlich verfolgte sie keinen konkreten Plan. Das Gemetzel währte nicht lange. Der Vierarmige war unbesieg bar. Erst als alles vorbei war und die Männer in ihrem Blut lagen, tauchte die Person auf, auf die Landru gewartet hatte: Creannas Brut. Lilith Eden. Rasch schirmte der Vampir seine Präsenz ab, damit sie ihn nicht ›wittern‹ konnte, und beobachtete weiter. Der Vierarmige griff auch sie an, doch irgendwie schaffte sie es, ihn zu beruhigen und unter ihre Kontrolle zu bringen. Sie folgte ihm in das Haus, und kurz darauf trat sie wieder ins Freie. Mit einem Gegenstand, der wie ein großes Ei aussah. Sie schlug den Weg nach Uruk ein. Um Landrus Lippen spielte ein kaltes Lächeln. So würde also Li lith Eden selbst ihn ans Ziel führen – an den Ort, der für die Macht, die hinter seiner Feindin stand, so große Bedeutung hatte. Der Ort, wo er alles zum Ende bringen konnte. Er packte das hölzerne Kästchen mit dem Schlangenstab fester und folgte Lilith Eden in sicherem Abstand …
* Tahir, der Hirte, stand auf einem der Hausdächer von Warka. Er hatte das Unglaubliche gesehen. Das namenlose Grauen. Er war erschüttert und fassungslos. Und er ahnte, daß er der einzi ge war, der von dem Unglaublichen wußte – und mit diesem Grau en in seiner Erinnerung weiterleben mußte. Warum er …?
* Lilith erreichte ihr Ziel. Auch hier stieß sie auf Tod und Verderben. Von den Soldaten, die um das Panzerfahrzeug verstreut lagen, lebte kein einziger mehr. Die Vampirin brauchte sich nur zwei, drei der Toten anzusehen, um zu wissen, wodurch sie ums Leben gekommen waren. Sie waren Opfer des Wächterwesens geworden. Hier draußen, außerhalb der Anlage? Wie war das möglich? Als Lilith die Treppe erreichte, die eigentlich keine Treppe mehr war, sondern nur noch eine Geröllrampe, sah sie, was dafür verant wortlich sein mochte. Das Tor war restlos zerstört. Die Barriere, die dem Wächterwesen das Verlassen der Anlage mit magischen Formeln verwehrt hatte, war von außen durchbrochen worden. Das in den Tunnel eindrin gende Geröll mochte zusätzlich eine Art Brücke geschaffen haben, die von beiden Seiten zu benutzen war.
Die Agrippa in den Händen, schritt Lilith über das Geröll hinab zum zerstörten Tor. Das Wächterwesen, das einst Felidae gewesen war, wartete in der Dunkelheit auf sie. Blut klebte an seinem ganzen Körper. Lilith schritt unbehelligt an ihm vorbei, auf den Korridor zu, in dessen unendlicher Tiefe die Erfüllung auf sie wartete. Für einen kurzen Moment zögerte Lilith, den Gang zu betreten. Da war ein … Echo in ihren Gedanken. Eine Stimme, die lauthals und doch so unbedeutend und leise um Hilfe schrie. Lilith dachte an das LICHT, das ihr ein neues, besseres Leben ge schenkt hatte, und die Stimme ihrer Menschlichkeit verstummte. Ein letztes Mal sah Lilith zu Felidae zurück. Sie wußte plötzlich, daß es ein Abschied für immer sein würde. Doch auch das war ein menschliches Empfinden, ihrer nicht wür dig. Mit einem Ruck wandte die Vampirin sich um und betrat den Korridor der Zeit …
* Landru sah Lilith mit der Agrippa in der Tiefe verschwinden, doch er verlor den Kontakt keine Sekunde lang. Mit seinen vampirischen Sinnen konnte er den Bastard deutlich ausmachen, während seine magische Abschirmung verhinderte, daß Lilith im Gegenzug seine Gegenwart erspüren konnte. Er wartete eine Weile, dann machte er sich auf den Weg, seiner Feindin zu folgen. Und in diesem Moment … erlosch der Kontakt! Überrascht blieb Landru stehen und versuchte, die Witterung wie der aufzunehmen. Erfolglos. Lilith Eden blieb verschwunden, als
hätte der Erdboden sich aufgetan und sie verschlungen. Verdammt! Eilig folgte Landru der Geröllpiste nach unten. Auf halber Höhe stockte erneut sein Schritt, als seine suchenden Sinne eine neue Spur aufnahmen. Zuerst war er über alle Maßen überrascht, ja erschrocken. Doch dann fügte sich der Mosaikstein der Erkenntnis in das Bild ein, das er sich von den geheimnisvollen Vorgängen um den Bastard ge macht hatte. Langsam ging er weiter. Je näher er dem Tor kam, desto deutlicher spürte er die Präsenz dessen, was dort unten wartete. Und als er das gezackte Loch im Fels durchschritt, sah er seine Ahnung bestätigt. Hinter der Schwelle sah ihm das Wächterwesen entgegen. Die Kelchdiebin. Felidae. Jene, die er so lange gejagt und bekämpft hatte und die schließlich doch den Kelch an sich bringen konnte. Seine Feindin. Seine ehemali ge Feindin. Er hatte ihre Verwandlung gespürt, noch bevor er sie mit eigenen Augen sah. Felidae, so wie er sie gekannt und bekämpft hatte, exis tierte nicht mehr. Sie war zu einem Wächter geworden, einem We sen, das nur zwischen Vampir und Nicht-Vampir unterscheiden konnte und daher nicht gefährlich für ihn war. Landru ahnte, daß die Macht hinter Lilith Eden diese Kreatur hier aufgestellt hatte. Und dann sah er auch, was sie bewachte. Ein Tunnel öffnete sich vor ihm; ein Korridor unglaublicher Aus maße, im Umfang einem Eisenbahntunnel gleich und in die Unend lichkeit führend. Was zum Teufel hatte das zu bedeuten?
Gleichzeitig wurde Landru klar, auf welche Weise Lilith aus seiner ›Ortung‹ verschwunden war: Sie mußte den Korridor betreten ha ben. Das aber bedeutete, daß er weit mehr war als ein einfacher Gang. Hier war Magie im Spiel! Landru schüttelte seine Überraschung ab und schritt zügig voran. Das Wächterwesen hielt ihn nicht auf, obwohl – und auch das spürte er deutlich – das, was von Felidae übriggeblieben war, ihn sehr wohl erkannte. Die Augen der Kreatur sprühten vor Haß, aber seine ›Programmierung‹ verhinderte, daß es Landru angriff. Landru, den Vampir. Landru, den letzten Kelchhüter. Und schließlich Landru, das Hohe Wesen; einer der Uralten, die einst die Welt beherrschten, bevor die Sintflut kam. Wohin der Weg führte, den er nun beschritt, wußte Landru nicht. Doch er ahnte, was an seinem Ende wartete. Die Entscheidung. Die letzte Schlacht. ENDE
Zum Anfang der Zeit von Adrian Doyle Unterwegs im Korridor der Zeiten … im Korridor der Leiden, er richtet aus Magie und den Seelen der Kinder, die durch den Kelch sterben mußten, um eine zweite, böse Existenz als Vampire zu erlan gen. Lilith hört ihr Klagen, ihr Flehen. Und je länger sie in dem schier endlosen Gang unterwegs ist, um so unerträglicher werden die Stimmen. Schließlich sieht sie nur noch eine Chance, ihnen zu ent kommen: Sie flieht durch einen der Ausgänge, die vom Korridor ab zweigen. Und findet sich in einer bizarren Welt wieder, die in keiner Schöp fungsgeschichte verzeichnet ist. Eine Welt mit Kreaturen, die einst erschaffen … und von Gott vergessen wurden!