Eckhard Freuwört Lebensfarben
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Eckhard Freuwört Lebensfarben
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Sweet child in time you'll see the line. The line that's drawn between the good and the bad. See the blind man shooting at the world. Bullets flying taking toll. If you've been bad, Lord I bet you have And you've been hit by flying lead. You'd better close your eyes and bow your head And wait for the ricochet. (Deep Purple in „Child In time”)
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Eckhard Freuwört
Lebensfarben Kurzgeschichten über synästhetisches Erleben
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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://ddb.de abrufbar.
© 2008 Eckhard Freuwört Books on Demand, Norderstedt. ISBN Bitte besuchen Sie auch meine HP unter http://asmodis.heim.at
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Inhalt Vorwort Nahtod 1910: Wilhelm Waldspaziergang 1935: Marie Rodeln 1949: Gerda Unheimlich 1960: Inge Nordseeinsel 1967: Peter Aufmerksamkeitsstörung 1977: Angelika Datenanalyse 1988: Kathrin Katzenleben 2004: Synnie-Meeting Migränöse Synästhesie Nachts im Watt Musik ... Anhang
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Unda attingit (Die Welle erreicht dich.) Te et abducit (Und führt dich.) Te in profunda(Hinab in die Tiefen.) Sicut es unda. (Gleichsam bist du die Welle) (Faun in „Unda“)
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Vorwort Die
vorliegende Anthologie, ergänzt meine von 2004 bis 2006 bei BoD erschienene SynästhesieBuchtrilogie (bestehend aus „Vernetzte Sinne Über Synästhesie und Verhalten“, „Böse Hexen gibt es nicht - Versuch einer interdisziplinären Betrachtung des Hexenwesens“ und „Norgast - Ein synästhetischer Fantasy-Roman). Viele der Leser baten mich um Berichte über das Erleben von Synästhesie – und genau darum geht es in diesem Buch. Die Kurzgeschichten entstanden im Verlauf mehrerer Jahre und wurden z. T. bereits anderweitig veröffentlicht. Hinzu kommen einige bis dato unveröffentlichte Storys. Sie befassen sich durchweg mit Synästhesie - und zwar mit Synästhesie als Lebensform. Hier sind sie erstmals zusammen gefasst verfügbar. Diese Storys entführen den Leser in eine Welt der anderen Wahrnehmung - einer Wahrnehmung, die zu einer anderen Sicht der Welt führt. Dennoch ist diese subjektiv andere Art der Wahrnehmung genau so real oder irreal wie die eines jeden Menschen. Das führt letztlich zu der philosophischen Frage, wie real oder absolut unsere so genannte Wirklichkeit denn nun tatsächlich ist und was man daraus folgern kann. Auch diese Frage - für viele Synästhetiker die zentrale Frage ihres Lebens überhaupt - schimmert in den einzelnen Geschichten immer wieder durch. In diesem Zusammenhang sei der große Dichter 7
Antoine de Saint-Exupéry zitiert: „Die wirkliche Weite ist nicht für das Auge, sie wird nur dem Geist offenbart“. Die hier vorgelegten Kurzgeschichten sind gleichzeitig aber auch ein Rätsel. Es handelt sich nämlich um eine Mischung aus wahren und aus fiktiven Geschichten. Ich überlasse es dem Leser, selbst herauszufinden, welche Erzählungen er getrost in das Reich der Fabel verbannen darf. Dennoch hoffe ich, dass die Storys dazu angetan sind, die Synästhetiker in der Gesellschaft etwas besser zu verstehen und ihnen mit mehr Toleranz zu begegnen. In diesem Sinne wünsche ich viel Vergnügen mit der Lektüre!
Eckhard Freuwört, Lauenau, 2008.
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Nahtod Niemand kennt den Tod, es weiß auch keiner, ob er nicht das größte Geschenk für den Menschen ist. Dennoch wird er gefürchtet, als wäre es gewiss, dass er das Schlimmste aller Übel sei. (Sokrates)
Wochenlang war ich schon krank. Ernsthaft krank.
Deswegen gab’s auch schon Trouble mit dem Arbeitgeber. Dann schleppte ich mich zwischendurch mal wieder für einen Tag oder so hin. Jeder sah, wie beschissen es mir ging, aber die weltfremden Personaler interessierte das sowieso nicht. Behandelt wurde ich ja „nur“ auf eine Halsentzündung hin. Das es Infektiöse Mononucleose war, die unbehandelt häufiger tödlich endet, erfuhr ich erst sehr viel später - nämlich im Krankenhaus. Genial, welche diagnostischen Fähigkeiten unsere „ausgebildeten Mediziner“ an den Tag legten! Und wenn Leber und Milz aufgrund des Tätigkeit des Epstein-BarrVirus ihre Größe gut verdoppeln und trotzdem nicht mehr richtig funktionieren, dann sieht man das ja von außen nicht. Ergo ist man auch nicht krank und das hohe Fieber war sicherlich nur eingebildet. Soviel zur Vorgeschichte. Ich habe nie heraus bekommen, wo und wie ich mir das eingefangen habe. Es war am 18.6.1988, als die Sache ihrem Höhepunkt zustrebte. Seit ein oder zwei Wochen hatte ich 9
nichts mehr essen können. Ging einfach nicht durch den Hals; die Schmerzen dabei waren zu groß. Alles zugeschwollen und das rohe Fleisch trat zutage. Und wenn tatsächlich was reinkam, dann war es aufgrund der geschädigten inneren Organe sofort wieder draußen. Und seit fast zwei Tagen passte da auch keine Flüssigkeit mehr durch. Der Durst war schier unerträglich. Wir - meine Frau und ich (Kinder hatten wir damals noch nicht) waren an dem besagten Tag zu einer Hochzeit bei einem nahen Verwandten von mir eingeladen. Nachdem das Fieberthermometer 40,8°C anzeigte legte ich mich ins Bett und bat meine Frau, allein dorthin zu fahren. Sie fuhr. Was dann geschah, dass habe ich bewusst nicht mehr alles mitbekommen. Einiges schon, wenngleich auch auf einer anderen Ebene. Anderes wurde mir später erzählt. Aus einem heute nicht mehr nachvollziehbaren Grund verließ meine Frau die Feier schon kurz, nachdem sie begonnen hatte. Ein schlechtes Gefühl trieb sie dazu - Vorahnung, Telepathie? Fuhr nach Hause. Sie fand mich bewusstlos vor und alarmierte den Rettungswagen. Zwei Sanitäter schleppten mich in so einer Art von Sitz durch das Treppenhaus die zwei Etagen nach unten zum RTW, aber das nahm ich schon aus einer gänzlich anderen Perspektive wahr. Ich schwebte über der Szene, war auf unbestimmbare Weise noch immer irgendwie locker mit dem kranken Körper verbunden. Im Wagen dann hektische, unergründliche medizinische Anstrengungen an einem leblosen Stück Fleisch. Der Körper - mein
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Körper! - war mir in diesem Moment so etwas von absolut scheißegal wie nur irgendwas ... Er ging mich einfach nichts mehr an! Keine Schmerzen mehr, alle Unannehmlichkeiten schlagartig verschwunden. Wie weggewischt. Ich schwebte immer weiter von der Szene weg. Der RTW kurvte in halsbrecherischem Tempo in Richtung Krankenhaus; das zumindest konnte ich irgendwie (?) sehen. Es amüsierte mich. Warum machten die bloß so einen Aufstand? Bekamen die denn gar nicht mit, wie herrlich ich mich fühlte? Kein Grund zur Hektik! Arme Irre! Ein schönes, erhebendes, ja geradezu ekstatisches Glücksgefühl. Unvergesslich! Fliegen, Schweben! Dunkler Raum um mich herum, aber nicht schwarz. Zeitlos. Darin so beige-graufarbene, halbkugelige Punkte (andere Menschen?). Von links unten bis etwa zur Mitte hin bewegte sich eine helle, cremefarbene Scheibe (oder vielleicht auch eine Art von Tunnelöffnung) in mein Gesichtfeld. Ich wusste instinktiv, dass es so etwas wie ein Tor oder Durchgang ist. Ganz weit weg und kaum noch merklich waren immer noch die hektischen Sani’s mit meinem Körper zugange. Wiederbelebungsversuche nach HerzKreislauf- und Atemstillstand, wie mir später berichtet wurde. Flatliner: Ich war in dem Moment schon klinisch tot. Doch zurück zu der Scheibe. Ihr Inneres war ätherisch-zart, nebelartig-durchlässig, gelblichweiß (aber nicht grell) und von einer unvergleichlichen, harmonischen, überirdischen Schönheit. Es leuchtete. Der Rand war gleichzeitig scharf umgrenzt und irgendwie auch wieder nicht. Fraktal 11
würde es wohl noch am Besten treffen. Dieser Durchgang übte eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf mich aus. Ich fühlte mich eins mit allen Wesen, mit der gesamten Schöpfung, war unendlich glücklich, gelöst und bewegte mich auf dieses Licht zu. Ohne Hast, den Augenblick genießend. Auch die halbkugeligen Punkte bewegten sich jeder für sich in diese Richtung. Ich wusste: Das da vorn ist der Übergang auf eine neue Ebene der Existenz. Sie endet nicht mit dem Tod und es gibt zahllose Ebenen. Grenzenlose Neugier erfüllte mich. Doch dann: Die Scheibe klappte oder faltete sich irgendwie seitlich weg, gerade so, als sollte mir die Passage verwehrt werden. Nahezu übergangslos fand ich mich in meinem alten Körper wieder, spürte erneut unerträglichen Durst und grässliche Schmerzen. Wie eine Welle schlug das über mir zusammen. Ätzend! Doch zwei Sachen waren von dem Ausflug hängen geblieben. Nämlich einerseits das sichere Wissen, dass unsere irdische Existenz nur einen Zwischenschritt darstellt und mit dem Tod absolut nicht alles zu Ende ist (sondern dass stattdessen etwas Neues beginnt) und andererseits das Wissen, noch etwas erledigen zu müssen. Nur was, dass war mir schleierhaft. Später - ich blieb satte zwei Wochen im Krankenhaus - erzählte man mir auf meine Nachfragen hin, dass ich klinisch tot gewesen, stark dehydriert und mit 41°C Fieber eingeliefert worden sei. Das ein Epstein-Barr-Virus Krebs verursacht (der kam dann auch prompt später und den habe ich besiegt). Seltsame Dualität der Ereignisse: Etwa 12
ein Jahr später passierte einem ehemaligen Arbeitskollegen von mir etwas Ähnliches. Er war Bienengift-Allergiker und wurde gestochen. Schockreaktion, auch Flatliner. Wir sprachen später mal über unsere Nahtod-Erlebnisse. Seines war mit meinem nicht gleich zu setzen, doch beide Erlebnisse ähnelten einander auf frappierende Weise. Die Ereignisse veränderten unser beider Leben unabhängig voneinander dahingehend, als dass wir praktisch schlagartig aufhörten, irdischen „Reichtümern“ nachzujagen und uns stattdessen mit der eigenen Spiritualität beschäftigten - ja, versuchten, die möglichst auch auszuleben. Was einem „Otto Normalverbraucher“ nicht gerade leicht macht - da erfährt man bestenfalls ein mitleidiges Lächeln oder Unverständnis. Ein Wissenschaftler würde jetzt natürlich einwenden können, dass ein Gehirn im Moment des nahen Todes Endorphine und Endocannabinoide in sehr großen Mengen ausschüttet und dass die so etwas wie das o. a. Erlebnis verursachen können - quasi eine Art von Trip. Dem jedoch setze ich ganz unwissenschaftlich und subjektiv entgegen, dass solche Erlebnisse nach meinem ganz individuellen Empfinden absolut echt sind und damit die Existenz von Astralebenen (oder von unterschiedlichen Realitäten bzw. Existenzebenen?) belegen. Der Tod ist für mich seit damals keine unmittelbare Bedrohung mehr - nichts, was man fürchten müsste. Alle negativen Erfahrungen enden an der Grenze. Die Existenz geht weiter. Ein Nahtoderlebnis verändert das Denken und 13
Erfahren des Betroffenen dauerhaft und nachhaltig. Mitunter mag das etwas länger dauern, doch es geschieht unausweichlich. Man richtet im Laufe der Zeit den Blick nach Innen und wird gefestigter. Bei mir selbst erwirkte das Erlebnis den Entschluss, endlich so zu leben, wie ich wirklich bin. Meine schon seit jeher vorhandene Synästhesie nicht mehr länger zu verheimlichen. Ich selbst lebe sehr gut mit diesem offenen Umgang mit meiner subjektiven Wahrnehmung. Das bringt einem - natürlich, denn wie sollte es auch anders sein? schon häufiger seltsame Blicke oder ablehnende Reaktionen seiner Mitmenschen ein. Na und?!?
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1910: Wilhelm Frühmorgens.
Tau lastet schwer auf den Wiesenblumen und biegt sie, die Blüten noch geschlossen. Vom fernen Teich her hört man das Quaken der Frösche. Noch ist die Sonne nicht aufgegangen; der Wald wirkt gespenstisch. Wilhelm lächelt. Dies ist seine Welt und es würde wieder so ein Tag der tausend Wunder werden. Er schultert die Elf-Millimeter-Büchse. Heute wird er auf den alten Hahn treffen und das gibt ein hervorragendes Festmahl ab! Er spürt es instinktiv. Der blanke Mond leuchtet nur noch matt-blass, will sich zur Ruhe begeben und ein erster, verirrter Sonnenstrahl zittert über eine Pfütze, verwandelt sie in reines Silber. Gestern Abend hatte es gewittert. Jetzt ist die Luft klar und rein, erfüllt vom unnachahmlichen Duft des Waldes. Es ist wirklich sehr schön hier und dieser rechteckige Glücksmoment könnte ewig anhalten. Lautlos geht Wilhelm weiter über den moosigen Boden, setzt Fuß vor Fuß und immer darauf bedacht, diese vollkommene Welt nicht durch ein unbedachtes Geräusch zu entweihen. Er sieht das leise Warnen eines Rotkehlchens - verschlungene, grün-goldene Bogenformen vor dem inneren Auge mit einem Geruch nach frischgemähtem Gras. Eine Art von ganzheitlichem Erfassen hatte sich seiner bemächtigt und sie bewirkte, dass er Verbindungen sah, welche rein logisch nicht da waren. Er wusste
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genau, wo sich sein Festmahl in spe aufhielt. Er fühlte es, ohne das Tier sehen zu müssen. Diese Fähigkeit, dieses Erfassen, diese Formen - all das war sein ganz persönliches Geheimnis. Geräusche hatten für ihn schon immer Farben und Formen gehabt, die Oberflächen fein strukturiert, nuanciert und meist nass-metallisch schimmernd, in beständiger Bewegung befindliche Gebilde mit transparent verwehenden „Schwuppsen“. Die Gegenwart anderer Lebewesen fühlte er immer lange bevor er die sehen konnte. Doch das behielt der Jäger vorsichtshalber für sich. Früher einmal, vor vielen Jahren, dachte er, dieses Empfinden hätte jeder Mensch. Und sprach unvorsichtigerweise andere darauf an. Die Reaktionen waren unerwartet gewesen, ja teils heftig. Sie reichten von völligem Unverständnis bis hin zu unverhohlener Abneigung. Verstanden hatte ihn keiner. Wilhelm lernte seine Lektion, hielt den Mund und hielt sich im Hintergrund. Wozu auch unnötig auffallen? „Die armen Mitmenschen! Sie wissen nicht einmal, was ihnen entgeht!“ murmelt Wilhelm sehr leise vor sich hin. Lautlos schleicht er weiter, passiert die mit greisen Flechten überwachsenen Kiefernstangen. Sieht den grauen Schatten kurz auftauchen, wieder verschwinden und lächelt erneut. Vorsichtig nimmt er die Büchse von der Schulter und entsichert sie. Zwei Erpel steigen schnatternd auf, ihre Stimmen räumliche Wabereien, der Hahn hat sie gestört. Wilhelm bleibt ganz ruhig sitzen, wartet. Der Hahn wiegt sich in Sicherheit, zeigt sich. Ein Schuss wie ein scharf gezackter schwarz-weiß-krisseliger 16
Balken zerreißt die andächtige Stille: Getroffen, das Essen ist gesichert. Ein Moment der Stille, danach singen die Vögel wieder schillernde Seifenblasen. Das braune Brummen einer Hummel begrüßt den Tag.
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Waldspaziergang Es gibt keine Stille in den Städten der Weißen. Keinen Ort, um das Entfalten der Blätter im Frühling zu hören oder das Summen der Insekten. Aber vielleicht nur deshalb, weil ich ein Wilder bin und nicht verstehe. Das Geklappere scheint unsere Ohren nur zu beleidigen. Was gibt es schon im Leben, wenn man nicht den einsamen Schrei des Ziegenmelkervogels hören kann, oder das Gestreite der Frösche am Teich bei Nacht? Ich bin ein roter Mann und verstehe das nicht. Der Indianer mag das sanfte Geräusch des Windes, der über eine Teichfläche streicht - und den Geruch des Windes, gereinigt vom Mittagsregen oder schwer vom Duft der Kiefern. Die Luft ist kostbar für den roten Mann - denn alle Dinge teilen denselben Atem - das Tier, der Baum, der Mensch - sie alle teilen denselben Atem. Der weiße Mann scheint die Luft, die er atmet, nicht zu bemerken; wie ein Mann, der seit vielen Tagen stirbt, ist er abgestumpft gegen den Gestank. (Chief Seattle)
November.
Den ganzen Tag über dicke graue Wolken und Dauerregen. Zuhause, drinnen, wird alles das erledigt, was immer schon zu erledigen war: Reparaturen, Aufräumen, Sortieren, Papierkram. Hinterher sieht man nichts von der vielen Arbeit und fragt sich, was man eigentlich den ganzen Tag über gemacht hat. Deprimierend. Ich muss hier raus. Der Regen lässt nach. Regenjacke und Gummistiefel an; ab in den Wald. Das Auto bleibt auf dem Parkplatz am Waldrand stehen. 18
Es nieselt nur noch schwach. Die ersten Schritte. Eine andere Welt. Das hellbraun-weiße Quatschen von Morast unter den Stiefeln. Ich liebe dieses Geräusch, das in mir immer wieder ein Gefühl behaglicher Geborgenheit hervorruft, genieße die Ruhe, die es zulässt, dass ich mich auf diese ganz eigene Form der Wahrnehmung konzentrieren kann. Schräg rechts über mir sind auf einmal diese Formen zu sehen, die wie versetzt übereinandergestapelte Schubladen aussehen. Sie verblassen und werden durch einen rotgolden schimmernden, schräg waagerecht verlaufenden, rotweißgoldenen Zapfen ersetzt: Eine Blaumeise. Erst hat sie auf den Regen geschimpft und dann mit einem Träller ihr Lied angestimmt. Die noch verbliebenen Blätter an den Bäumen sind schwer vom Regen. Überall tropft es. Plitschplitsch-platsch. Jedes Tropfengeräusch für sich sieht aus wie ein gefaltetes, hellgraues Stück Papier. Ganze Papierberge, die von den Bäumen rieseln. Schön. Und die Gerüche. Eben noch durchdringend rot-süß, so dass alles wie durch einen roten Schleier hindurch aussieht. Die Ursache diese Geruchs vermag ich nicht zu ermitteln. Hinter der nächsten Kurve verändert sich der Geruch, sieht aus wie die Borsten eines Tierfells, braun mit grauen Spitzen, ist zimtig. Der Geruch lässt eine Art von elektrisierendem Gefühl meinen Rücken hinunter laufen. Der Regen hat aufgehört. Jetzt legt sich ein leichter Nebel über Weg und Wald, lässt alles unwirklich erscheinen. Ich bin mutterseelenallein hier, kein anderer hat sich bei dem Wetter 19
rausgetraut. Umso besser. Habe ich meine Ruhe. Meine Gedanken kann ich sowieso mit niemandem teilen, der nicht so empfindet wie ich; der Betreffende würde mich glatt für verrückt halten. Links von mir schwarze Flecken; es sind Schritte im nassen Laub des Unterholzes. Irgendwas Schweres, Vierbeiniges. Könnte ein großes Reh sein. Vielleicht aber auch ein Hirsch, wenngleich unwahrscheinlich. Eher ein Wildschwein. Mit denen ist nicht zu spaßen, wie ich aus Erfahrung weiß. Ich mache, dass ich weiterkomme. Gehe in Gedanken versunken vor mich hin. Plötzlich ein lauter Perlenvorhang. Der Schrei eines Hähers. Ohne es zu bemerken - da ich mich nahezu lautlos bewegt habe - bin ich bis auf ein paar Meter an das Tier herangekommen, habe es aufgescheucht. Der Ruf des Vogels löst ein wahres Echo weiterer Häherschreie aus. Dadurch regnet es Perlen. Überall. Silbrig. Aber nicht alle sind rund und nicht alle sind exakt silberfarben. Je nach Tier mal etwas in Länge gezogen, mal mehr ins Gelbliche hinein gehend. Individuell verschieden. Stimmenfingerabdrücke. Die Wolken reißen auf. Weiß-blaue Federfetzen spiegeln sich in großen, ockerfarbenen Pfützen, was in mir eine Art von innerer Stille hervorruft. Darauffallende Papierfaltungen von den Bäumen verursachen Ringmuster, die wie ein helles „Pling-Plong“ klingen. Wieder ein anderer Geruch, türkis mit tiefblauen Punkten. Von Pilzen, also erdig-muddig. Inzwischen bin ich schon weit gewandert. Der Regen hat aufgehört, einzelne, verirrte Strahlen der 20
Sonne kämpfen sich durch die Wolkenlücken. Es ist Spätnachmittag und die Sonne steht schon sehr tief, wirft endlos lange Schatten. Nicht mehr lange und es wird stockdunkel sein. Eine wohlige Müdigkeit macht sich in mir bemerkbar, kann vom Wandern, vielleicht aber auch von der Orgie verschiedenster Empfindungen kommen. Zeit, allmählich den Rückweg anzutreten, so drei bis vier Kilometer. Dazu wähle ich eine andere Route. Gehe weiter. Kenne den Wald. Schließe die Augen immer wieder für ein paar Meter beim Laufen, orientiere mich nur nach den Ohren, Gerüchen und den geisterhaften Lichterscheinungen vor meinem inneren Auge. Und haptisch, denn die Stiefelsohlen sind ziemlich dünn, so dass ich die Steine spüren kann. Herrlich, denn das hat was vom Barfußlaufen. Heute bin ich allein hier; heute kann ich das mit dem „Augen-zu“ machen, ohne anderen aufzufallen. Heute kann ich zur Abwechslung mal ich selbst sein, kann Mensch sein. Irgendwann fühle ich mich heiter-erschöpft. Muss Kraft tanken. Ich lege die Hand an einen Baum, eine Buche, und verharre. Schließe die Augen und lausche dem, was der Baum mir zu sagen hat. Sehe vor meinem inneren Auge den Baum. Wie im Zeitraffer läuft jetzt die Zeit rückwärts. Reine Assoziation, dass ist mir völlig klar, aber trotzdem... Sehe in Gedanken, wie der Baum heranwächst. Wie er Blätter verliert und bildet. Wie er Wind und Wetter, Schnee und Sturm, Regen und Hitze trotzt. Wie er kleiner wird. Wie sich sein Keim aus der Laubschicht bohrt. Wie sein Keim in der Erde liegt. Wie die Buchecker auf 21
die Erde fällt. Wie sie sich an einem anderen Baum aus Mineralstoffen und Flüssigkeiten geformt hat. Ich öffne die Augen, nehme die Hand vom Stamm. Sie hat einen dunklen Abdruck auf der Rinde hinterlassen und ist schmutzig, aber ich fühle mich mehr als erfrischt, fröhlich, vollkommen locker. Ein Blick auf die Uhr, denn ich habe jedes Zeitgefühl verloren. Knapp zehn Minuten hat diese beinahe-meditative Phase gedauert. Jetzt kann ich weiter gehen. Mit neuer Kraft. Der Rückweg zieht sich zwar elendig bergauf, fällt mir aber dennoch leicht. Gegenlicht. Die Sonne verwandelt die Wasserflächen der gigantischen Pfützen in ein gleißendes Gold; fast wie ein Schrei hört es sich an. Silbrige, metallisch-nasse Vogelstimmen-Ringe ringsum in allen Farbvariationen, aufgelockert durch Ellipsen und vereinzelte, abgeschrägte Polygone. Eine Biegung des Weges, ein neuer Geruch, satt-gün. Ich vermute, dass er von dem hier allgegenwärtigen Wurmfarn hervorgerufen wird, obgleich der Farn selbst längst hellbraungelblich geworden ist. Über mir ein Gewirr von dunkelrotgrauen Hohlkugelabschnitten: Das Flattern eines Schwarms von Wildtauben, welchen ich unabsichtlich aufgescheucht habe. In der Ferne der dunkle, rötliche, Hohlnadel-ähnliche Ruf eines Bussards. Wiederholt sich mehrmals. Der Nebel wird dicht, immer dichter, dämpft die Vogelrufe fast bis zur Unhörbarkeit. Eine reale Traumwelt, ganz für mich allein - wobei diese Begriffswahl mir weder als Koan noch als Paradoxon erscheint. Eine 22
reale Traumwelt, wo die Natur noch einen Wert in sich selbst hat. Mit dem Erscheinen der Sonne und dem Aufreißen der Wolken hat es sich schlagartig abgekühlt. Mein Atem kondensiert vor dem Gesicht. Eben fortgeschrittene Jahreszeit. Wenn der Nebel, dick wie Watte, mir jetzt ohnehin fast jede Sicht nimmt, dann kann ich auch wieder die Augen schließen und mich „anderweitig“ orientieren. Wenigstens stört mich bei diesem Wetter keiner dabei. Ich glaube, diese Art der Wahrnehmung kann ich mit anderen Menschen wohl nicht teilen: Die Empfindungen, die Farben, die Formen. Vielleicht ist sie denen von Natur aus auch versagt. Eigentlich schade. Aber vielleicht sind auch viele einfach nur zu abgestumpft, um diese Empfindungen zu erkennen oder zu verängstigt, um darüber zu sprechen. Ich nähere mich wieder der Zivilisation, ein Schild besagt „Frei für Forst- und Holzwirtschaft“. Auf seiner Rückseite ein Aufkleber „Artenschutz ist Naturschutz“. Stimmt auffallend. Nur ist der Aufkleber sehr klein. Ob ihn wohl außer mir noch andere Leute bemerkt haben? Ein gutes Stück Weg liegt noch vor mir. Am Himmel erscheint ein dunkelbrauner Balken, dick, mit weißlich ausfasernden Rändern. Hinten wird er transparent, vorn baut er sich dafür umso massiver auf. Das Staustrahltriebwerk eines tieffliegenden Flugzeuges. Das Flugzeug selbst ist zwar nicht zu sehen, aber dem Geräuschaussehen nach tippe ich auf eine dreistrahlige Maschine. Dieses Geräusch stört, sein Aussehen stört, gehört nicht hier her. 23
Ich versinke wieder in Gedanken, kann abschalten, bin zufrieden. Die Welt, die ich ganz persönlich wahrnehme, ist ganz gewiss nicht die Welt, wie sie von der Mehrheit meiner Mitmenschen wahrgenommen wird. Soviel habe ich schon mitbekommen. Folglich stellt sich logischerweise die Frage, was wir eigentlich wahrnehmen, was jeder einzelne von uns eigentlich wahrnimmt. Offensichtlich ist das subjektiv doch recht unterschiedlich. Ist die Welt dann auch unterschiedlich? Unwahrscheinlich. Oder ist das, was wir gemeinhin subjektiv als „die Welt“ bezeichnen, nur eine stillschweigende Übereinkunft für etwas Undefiniertes, Substantielles, was jeder einzelne von uns individuell ganz unterschiedlich erfasst? Quasi so eine Art von kleinstem gemeinsamen Nenner, gerade noch ausreichend für das Überleben der Spezies als solcher? Und wer wollte sich dann hinstellen und sagen, diese Art der Wahrnehmung sei richtig und jene sei falsch? Wer wollte sich dann mit welchem Recht hinstellen und sagen, diese Art der Wahrnehmung wäre akzeptabel und jene nicht? Für mich persönlich jedenfalls ist meine Art der subjektiven Wahrnehmung durchaus akzeptabel. Wenn sie meine Welt irgendwie „reicher“ macht als die der anderen Leute, dann ist das OK. Ob die anderen überhaupt annähernd ermessen können, was ihnen da entgeht, was sie da eigentlich mehrheitlich ablehnen? Jeder hat seine ureigensten Fähigkeiten, welche individuell verschieden besonders ausgeprägt sind. Bei mir nennt man das wohl Synästhesie. Nicht besser oder schlechter als 24
bei den Nichtsynästhetikern, sondern einfach nur qualitativ anders. Genug der Grübeleien. Ich bin wieder beim Auto. Noch immer quatscht der Schlamm so herrlich hellbraun-weiß unter meinen Stiefeln. Muss ich nachher wohl abwaschen. Der Waldspaziergang war phantastisch. Genau das Richtige, um abzuschalten, um mal wieder den Kopf frei zu bekommen. Ich fahre nach Hause. Der Alltag hat mich wieder.
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1935: Marie Die Akzeptanz der Unterschiede ist Voraussetzung für die Überraschung von Gemeinsamkeiten. (Sir Peter Ustinov) „Hinnerk, schaffen wir das noch?“ „Weiß ich nicht, wir müssen’s versuchen“ kam die gehetzte Antwort. Wie Blei lag die Hitze über dem golden wogenden Feld. Die Luft flirrte und machte das Atmen schwer. Der Schweiß rann Marie in Bächen am Körper hinab. Aus den ehemals weißen Wetterköpfen war eine bedrohliche Gewitterfront entstanden, ein schmutzig-stahlblaugraues, wetterleuchtendes, drohendes Monstrum am Himmel. Und die Ernte musste unbedingt noch eingebracht werden! Sie arbeiteten alle mit voller Kraft. Die Knechte schnitten das Korn, die Frauen banden es zu Garben. Immer sechzehn Garbenbunde wurden zu einem runden Hocken ausgerichtet. Nur so konnte das reife Korn auch dem stärksten Gewittersturm widerstehen - und nur so wäre die Ernte nicht verloren. Verbissen machte Marie weiter. Sie hasste diese Arbeit. Das Berühren der Halme löste in ihrem Mund immer einen scharfen Geschmack aus, wie nach Pfeffer. Doch sie konnte froh sein, dass sie diese Arbeit verrichten durfte, dass der Großbauer sie damals als Magd aufgenommen hatte - der widerliche alte, selbstgefällige Kerl mit der erstickend riechenden Stimme.
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Sie war allein und auf sich gestellt gewesen. Ihr Vater fiel bei Verdun, ihre Mutter hatte die Grippeepidemie nicht überlebt. Das zwang sie, sich selbst durchzuschlagen. Eigentlich war sie zu Höherem geboren. Doch alles war mit dem Tode ihrer Eltern auch schlagartig vorbei. Zwar hatte sie sich das Lesen selbst beigebracht, doch woher sollte sie jetzt noch Bücher bekommen? Und vor allem - wozu? Goethe hätte sie gerne mal gelesen (wobei sie nicht wusste, dass der ein ähnliches Empfinden, wie es ihr zu eigen war, auch beschrieb). Nein, besser geworden war im Grunde kaum was. „Autsch!“ Nur ein kurzer Moment der Gedankenlosigkeit. Die Halme konnten messerscharf sein. Den Schmerz nahm sie als eine violett-zersplitternde Farbfläche mit golden leuchtenden Kanten wahr. Blut tropfte. Doch zum Glück war es nur ein kleiner Schnitt im Finger. Verbissen machte sie weiter, so schnell wie möglich. Ihr war klar, dass sie irgendwie ‚anders’ war. Wie anders, dass hätte sie allerdings nicht konkret sagen können. Sie behielt ihre Wahrnehmungen für sich. Die Zeiten waren schlecht und wer weiß, was die Ärzte mit ihr anstellen würden, wenn sie offen darüber spräche, dass manche Stimmen ihr wie lichte blaue, dreidimensionale Punkte mit so einem blau transparenten Hauch erschienen oder dass Musik für sie eine feuerwerksähnliche Farblawine war. Bestimmt erklärte man sie dann für verrückt! Nein, lieber den Mund halten, tun, als ob nichts wäre und sich nichts anmerken lassen. Schon früh war ihr auf unangenehme Weise deutlich gemacht 27
worden, dass andere Menschen nicht wie sie empfanden. Die letzten Halme, die letzten Garben, die letzten Hocken. Ein blendend-weiß-violetter Blitz zerriss die Hitze.
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Rodeln Lange hat der Winter auf sich warten lassen - sehr
lange. Jetzt, wo es schon auf’s Frühjahr zugehen sollte, da kommt er mit allem, was er zu bieten hat. Zuerst stürmte es und die Temperatur sackte in den Keller. Dann schneite es drei Tage lang was runter wollte. Nun hat sich die Wolkendecke verzogen und ein tiefes, gleißendes Weiß deckt alles zu. „Papa, kann ich Schlitten Fahren?“ Es ist trockenkalt, ideales Rodelwetter. Ich nicke, klettere auf den Stallboden und hole den alten Holzschlitten runter. Besser und stabiler als die quietschbunten Plastikdinger, bei denen das Zersplittern schon ab Werk eingebaut ist. Schnell ist der Schlitten entstaubt und von Spinnweben befreit. Ein prüfender Blick auf die Kufen - na ja ... Könnten besser aussehen. Haben Rost angesetzt. Meine Tochter hat sich schon eine Schneehose, dicke Sachen, Handschuhe und Mütze angezogen. „Papa, beeil Dich!“ Ich beeile mich. Kurz darauf bin auch ich ‚schneefertig’. Doch halt - da war doch noch was... Schnell laufe ich wieder ins Haus, mache den Kühlschrank auf. Da ist es - das Stück Speck, von dem ich genau wusste, dass es noch da sein muss. Schnell ist die Schwarte abgeschnitten und in einen Plastikbeutel gepackt. Ab in die Jackentasche damit. Mein Geheimmittel. Nun kann es losgehen. Wir werden etwa einen Kilometer laufen müssen.
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Straße und Gehwege sind geräumt. Meine Tochter läuft neben mir; ich ziehe ihren Schlitten hinter mir her. Er scharrt über den Asphalt - ein dunkel-krisseliges, bandförmiges Geräusch. Silberglänzende kugelige Punkte darin. Wir gehen zu einer ganz bestimmten Anhöhe. Wenn man jetzt irgendwo lange und intensiv rodeln kann, dann da. Auf dem Weg dorthin verändert sich nahezu unmerklich das Geräusch des über den Asphalt scheuernden Schlittens. Die kugeligen Punkte nehmen zu und es wird insgesamt heller. Synästhetisch kann ich geradezu ‚sehen’, wie der Rost sich von den Kufen abschleift. Prima, dann läuft das Ding nachher umso besser! Wir erreichen das Ortsende und biegen auf einen Feldweg ab. Abrupt endet das Krisselgeräusch des Schlittens, denn er gleitet jetzt lautlos. Alles ist hier tiefverschneit und wie erwartet nicht geräumt. Das fehlende Silberkrisseln der Schlittenkufen wird das „Knurps-Knurps“ des Schnees unter meinen Schuhen ersetzt. Auch so ein Geräusch von ganz eigentümlich-typischem Aussehen. Wie offene Schuhkartons, bei denen eine Längs- sowie eine Schmalseite abgeschnitten worden ist und von denen man viele unsortiert aufeinander geworfen hat. Die Farbe dieses Geräusches ist undefinierbar, kommt so in der Natur nicht vor. Irgendetwas zwischen grau-rehbraun und tiefdunkel-rötlich, aber einheitlich und kaum strukturiert. Während wir weitergehen, schützen wir unsere Augen mit den Händen. Gleißende Helligkeit; die Sonne blendet. Sonnenbrillen wären vielleicht keine 30
schlechte Idee gewesen, doch jetzt ist es zu spät dazu. Vielleicht hätte ich früher automatisch daran gedacht, vielleicht werde ich auch nur langsam alt. Egal. Der Weg zieht sich, es geht bergauf. Spuren im Schnee zeigen, dass vor uns auch schon andere die gleiche Idee gehabt haben. Von weit aus der Ferne sind kleine, helle Spitzen zu sehen - das Schreien der Kinder, die schon ihren Spaß haben. Nun ist’s nicht mehr weit. Als wir den Fuß des Rodelabhanges erreichen, bleibe ich einen kurzen Moment lang halb geschockt stehen, muss die zahllosen Sinneseindrücke erst einmal sortieren und verarbeiten. Aus den Spitzen der Kinderstimmen sind hier in der Nähe des Entstehungsortes Kugeln geworden. Farblich irisierend wie Seifenblasen. Zahllose dieser Kugeln wirbeln und tanzen wild und ungeordnet, chaotisch durcheinander. Ich überschlage kurz, was hier los ist. Es sind etwa zehn Kinder hier und am Rumtoben. Himmel, was die für eine Lärmorgie veranstalten können! „Papa, kommst Du endlich?!?“ Meine Tochter wird ungeduldig, fiebert der Abfahrt entgegen. Aber vorher geht’s erst mal steil bergauf. Beschwerlich, da glattgetreten und schlüpfrig. Oben angekommen will sie plötzlich einen Rückzieher machen. Kein Wunder, denn von hier aus sieht es viel steiler aus. Sie will, dass ich mitfahre und den Schlitten lenke. Kein Problem. So etwas verlernt man genauso wenig wie Schwimmen oder Radfahren. Bevor wir aber starten, drehe ich den Schlitten erst mal um und inspiziere die Kufen. 31
Prima, der Rost ist weg! Jetzt kommt mein Geheimmittel zum Einsatz, die Speckschwarte. Ich gehe damit ein paar mal über jede Kufe - das verhindert bremsenden Eisansatz. Es gibt nichts Besseres! Dann sehe ich mir die Rodelbahn näher an: Echt kriminell! Zwei Bahnen - eine Kurze und eine Lange - kreuzen sich im Neunziggrad-Winkel. Die lange Bahn führt längs an der Anhöhe hinunter, dann kommt eine Steilkurve und dann folgt der Weg, auf dem wir gerade gekommen sind. Ein prüfendes Hin und Her des Schlittens - er gleitet gut, lautlos. „Wir nehmen die lange Bahn“ sage ich und setze mich hinten auf den Schlitten. Meine Tochter kommt nach vorne. „Füße auf den Rahmen, Beine niemals ausstrecken!“ kommandiere ich. Sie schluckt, hatte sich das wahrscheinlich etwas anders vorgestellt. Ich warte den Seitenverkehr noch ab und gebe dem Schlitten einen kleinen Schubs. Los geht’s! Schnell - sehr schnell und schneller als mir eigentlich lieb ist - gewinnt das Gefährt an Geschwindigkeit, rast den Berg hinunter. Fliegt förmlich über den brettharten Schnee, dabei vereinzelte Geräusche mit Aussehen von ComicSprechblasen. Eben neigt der Schlitten sich nach rechts, droht umzukippen. Verdammt! Ich konzentriere mich nur noch auf das Gefährt; das Aussehen seiner Geräusche lässt mich frühzeitig erahnen, wie und wohin ich lenken muss, bringe es im letzten Moment wieder unter Kontrolle, lenke gerade so eben durch die Steilkurve und lasse es auf dem Weg runtergleiten. Als der Schlitten stoppt, steigen wir ab. 32
Meine Tochter - sonst einiges gewöhnt - ist etwas blass um die Nase. Insgeheim lache ich - wir sind mit Abstand am weitesten gefahren! Es ist schwer, die Geschwindigkeit eines Schlittens zu schätzen - aber so im Vergleich zum Radfahren würde ich sagen, dass es wohl schon an die fünfzig Stundenkilometer gewesen sein müssen. Wieder rauf. Wieder Knurps-KnurpsSchuhschachteln und wildes Seifenblasenchaos im blendenden Gegenlicht. Nur dann, wenn ich mich auf einzelne Personen konzentriere, sehe ich deren Stimm-Muster. Oben angekommen zücke ich wieder die Speckschwarte. Gleiches Spielchen wie vorhin und wieder die Comic-Sprechblasen, wenn die Kufen über Unebenheiten rumpeln. In der Steilkurve wird’s diesmal kritisch, denn zwei kleine Kinder laufen in die Bahn. Irgendwie rasen wir durch die Lücke zwischen ihnen hindurch, wobei der Schlitten aber etwas aus der Bahn gerät - Vollbremsung mit beiden Füßen und Stop! Entfernung zum Bach zirka fünfzig Zentimeter. „Papa, das war aber knapp!“ „Wieso, wir haben doch keine nassen Füße gekriegt, oder?“ Wieder rauf. Wieder Speckschwarte. Das Gefährt ist jetzt ein Formel-Eins-Schlitten; Schumi hätte seine Freude daran. Und der Schlitten ist zu schnell geworden. Nicht mehr beherrschbar - wir fliegen aus der Steilkurve raus, landen auf dem Acker. Ich bremse mit dem Hintern, meine Tochter mit dem Gesicht. Ein paar blaue Flecken bei beiden. „Papa, jetzt aber nicht mehr schneller machen!“ bittet sie mich. Ich nicke - sie hat ja sooo recht.
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Rauf-Runter, Rauf-Runter und irgendwann will sie allein fahren. Ich zeige ihr das Bremsen und das Lenken noch mal. Und ab geht’s mit einem goldgrellen Jubelschrei, der wie ein rot-geränderter Balken in der Luft liegt und umso dünner wird, je weiter sie den Berg runterrodelt. Kritischer Punkt Steilkurve: Sie legt eine Vollbremsung hin und landet vor dem Bach. Der Schlitten darin. Macht nichts, trocknet wieder. Abfahrt folgt auf Abfahrt, Wintervergnügen pur. Nach zwei Stunden fühlen sich meine Füße dunkelrot-schmutzig-weiß an, oder wie der Nichtsynnie schlicht sagen würde: eiskalt. Auch meine Tochter ist etwas durchgefroren, trotz der Bewegung und des Sonnenscheins. Aber der Wind hat auch aufgefrischt, ist bläulich-schneidend geworden, kündigt den nächsten Wetterwechsel an. Wir beschließen, nach Hause zu gehen. Vier Tage später ist der Schnee weg und die Schneeglöckchen heben vorsichtig ihre Köpfchen. Das war’s dann wohl, Winter adé, willkommen Frühjahr - und beeil’ Dich gefälligst! J
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1949: Gerda Ich bin ein Teil von allem, das mir begegnet ist; doch alle Erfahrung ist ein Tor, durch das die unbereiste Welt hervorleuchtet, deren Grenze mir wieder und wieder entschwindet, wenn ich vorangehe. (Alfred Lord Tennyson) Vier Jahre war der Krieg jetzt vorbei und der Wiederaufbau legte langsam aber sicher an Schwung zu. Aus unerfindlichem Grunde war Gerdas Elternhaus vom Bombenhagel verschont und daher unbeschädigt geblieben. Ihr Vater kam nicht mehr von der Krim zurück. Ihre Mutter hatte Flüchtlinge aufgenommen - Platz war ja genug da. Eine der Frauen wurde von Gerda Tante Elfie genannt. Früher einmal arbeitete Tante Elfie als Lehrerin. Jetzt gab sie Gerda Klavierunterricht. „Gerda, Du musst Dich besser konzentrieren!“ tadelte Tante Elfie. Gerda war genervt. Irgendwas stimmte auch nicht. Das Klavier spielte immer eine Spur ins Lila. Dabei hätte die Musik doch krapprot sein und nach Moschus riechen müssen! „Das ist nicht meine Schuld, Tante Elfie, das Klavier ist verstimmt!“ „Unsinn!“ lautete die Antwort. Gerda schlug ein hohes C an. Der Ton roch nach fauligem Senf. Das war nicht richtig, das war eklig! Entschlossen klappte sie den Deckel über die Klaviatur. Seine Oberfläche fühlte sich an wie der Geruch nach Heu - schön! „Ich will jetzt nicht mehr, das ist heute alles nicht richtig!“ „Kind ...“ resignierte Tante Elfie, und: „Na gut, dann suche 35
Dir was zum Lesen. Du kannst gehen. Schluss für heute.“ Gerda rannte hinaus. Aus den Trümmern hatte sie eine uralte, bebilderte Ausgabe von „Grimms Märchen“ ergattert. Der Rand des Buches sah zwar etwas angesengt aus, aber im Großen und Ganzen war es noch in Ordnung. Schon seit jeher hatte sie eine ganz besondere Beziehung zu Büchern. Das lag an den Buchstaben. Zahlen, Buchstaben, Schulfächer, Töne und Wochentage hatten für sie Farben und das Jahr eine Form - so rund-ellipsoid. Ihre Eins war Schwarz und das A honigfarben auch dann, wenn alles nur schwarz auf weiß auf dem Papier stand. Nachdem sie einige Zeit ‚Frau Holle’ gelesen hatte, blickte sie aus dem Fenster und auf das Gewusel in der Stadt. Die vielen Menschen! Alles dampfte und schwitzte Farben-EmotionenGedanken aus. Zuviele Eindrücke, zuviele Menschen. Sie hatte mal versucht, das Tante Elfie zu erklären, war aber nur auf Unverständnis gestoßen. „Ach Kind, was hast Du nur für eine lebhafte Phantasie. Das bildest Du Dir alles doch nur ein.“ So hatte es damals geheißen. Aber es war keine Einbildung. Gerda behielt ihr Wissen für sich und entschloss sich schon früh, so schnell wie möglich von hier wegzugehen - irgendwohin, wo es ruhiger zuging, wo sie nicht ständig mit Eindrücken überschüttet würde und wo sie endlich einmal sie selbst sein könnte.
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Unheimlich „Du bist unheimlich. Dein Geist ist wie ein Abgrund, in dem man sich verlieren kann.“ Da war er wieder, dieser Satz, den ich aus vollem Herzen hasste. Ich hatte den schon mal gehört. Vor etwa einem Jahr und auch hier an dieser Stelle. Aber von einer gänzlich anderen Person und die von damals sowie mein heutiges Gegenüber kannten einander nicht mal! Dieser Satz bewegte mich damals lange und unendlich tief. Ich brauchte auch sehr lange, um mir einzureden, dass es doch wohl völlig egal wäre, wenn jemand so über mich denkt. Und jetzt wurde die alte Wunde wieder aufgerissen! Doch ich greife vor. Lieber der Reihe nach. Da war diese Einladung einer hochoffiziellen staatlichen Forschungsinstitution zu einem Treffen. Eine Einladung, die mir ein- bis zweimal jährlich ins Haus flattert. Seit ich eine bestimmte Art von Versteckspiel aufgegeben habe. Eine Einladung, die sich an Personen richtet, bei denen der Genlocus D7S820 belegt und aktiv ist. Eine Gensequenz mehr als bei Otto Normalverbraucher und dieses Gen auch noch eingeschaltet. Von Geburt an. Wahrscheinlich auch schon vom Zeitpunkt der Zeugung an. Die Folge ist eine geringfügige, ja geradezu winzige Veränderung im organisch-biologischen Aufbau des Gehirns. Nur ein paar wenige zusätzliche Verschaltungen im limbischen System, im Jahre 2005 erstmals von Prof. Lutz Jäncke an 37
der Uni Zürich mittels des DTI-Verfahrens sichtbar gemacht. Ein Mutation? Vielleicht. Jedenfalls glaubt das ein anderer hochrangiger Prof, der unter der Hand sagt, dass die Zeit des Homo sapiens sapiens abgelaufen sei und dass Mutter Natur deswegen mit was Neuem rumexperimentiert. Experimente, die in die Richtung homo sapiens separaeticus (mit getrennter Sinneswahrnehmung) und homo sapiens synaestheticus (mit gekoppelter Sinneswahrnehmung) führen. Ich für meinen Teil bin über diese Experimente allerdings nicht sonderlich glücklich. Genlocus D7S820 belegt und aktiv - das bedeutet eine zusätzliche Fähigkeit, um die es hier aber nicht gehen soll. Doch zusammen mit der zusätzlichen Fähigkeit treten eine ganze Reihe an anderen Eigenschaften auf. Divinatorische Träume und Vorahnungen. Empathie sowieso und auch Telepathie wird ohne ‚Wenn's’ und ‚Aber's’ ganz selbstverständlich als existent betrachtet - zumal jeder von uns spürt, dass es das gibt. Alle Synästhetiker, die ich bisher kennen gelernt habe - etwa hundert - sind Empathen. Genau wie ich. Und rund siebzig Prozent von denen hat obendrein auch noch mehr oder weniger stark ausgeprägte telepathische Fähigkeiten, manchmal in Form einer übersteigerten Empathie, manchmal unmittelbar und manchmal als Traumtelepathie. Ich auch. Genlocus D7S820 liegt auf einem XChromosom. Eine Frau kann es an die Kinder beiderlei Geschlechts weitervererben, ein Mann nur 38
an die Töchter. Daher sind die Frauen bei dem Treffen grundsätzlich immer stark überrepräsentiert. Als Mann kann man sich da schnell wie ‚ein Hahn im Korb’ fühlen - und warum auch nicht... All das ist mir bekannt, als ich der Einladung zustimme. Bekannt ist mir aber noch mehr, denn es ist ja nicht mein erstes Treffen dieser Art. Ich sage zu, fahre hin. Schon auf der Hinfahrt: Diese typische, eigentümliche Mischung aus großem Bammel und freudiger Erwartung. Bammel weil: Man trifft da i. d. R. auf fünfzig bis sechzig Leute, überwiegend völlig Unbekannte. Gesprochen wird meist über die neuesten medizinischen Forschungsresultate, immer aber auch über die eigenen Gefühle und Vorahnungen. Man kann nichts verheimlichen oder geschönt darstellen, wenn man den Gesprächspartner ‚in seinem eigenen Kopf’ hat. Natürlich kommen bedingt dadurch auch intimste persönliche Gedanken zur Sprache. Freudige Erwartung: Eben weil man die anderen ‚im Kopf’ hat und selbst ‚im Kopf’ der anderen ist. Eine allumfassende Art von psychischem Energiefeld, welches Hinterlist, Lüge, Heimlichkeiten usw. völlig ausschließt. Absolutes Verstehen, bildhaft und ohne Worte. Die perfekte Kommunikation. Jeder weiß irgendwie alles von jedem und jeder respektiert und achtet den anderen. Man lädt sich mit dieser psychischen Energie, mit diesem seelischen Gleichklang, auf - das geht jedem so.
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Das Problem ist nur die Dosierung dabei. Wenn sie stimmt, dann fühlt man sich ein, zwei Tage lang wie nach 'nem Riesenjoint, mit hunderttausend Ideen, aber gleichzeitig stoned und möchte die Welt umarmen. So nach und nach kanalisiert sich das dann in kreativen Tätigkeiten. Ein Zuviel bewirkt einen ziemlich schlimmen und äußerst ekligen Migräneanfall. Davor habe ich auch Bammel. Mit der Dosierung dieser Art von Energie komme ich nicht klar. Ist jedes mal ein Fifty-FiftyVabanquespiel. Diesmal hat mich zwei Tage später die Migräne eiskalt erwischt. Scheiße! Trotzdem - das Meeting selbst war allererste Sahne. Ich hatte einen Riesenzeitpuffer eingebaut und war schon lange vor dem offiziellen Start vor Ort. Ein paar andere auch. Schönes Wetter und wir setzten und nach draußen, in einen Stuhlkreis. Da wurde über dieses und jenes geredet. Man fühlte sich wie ein ‚ganz normaler Mensch’ und nicht wie üblich irgendwie ‚anders’. Irgendwann geriet das Gespräch ins Stocken. Dann war absolute Stille - minutenlang. Jeder sah dem anderen in die Augen. Das Gespräch selbst allerdings war absolut nicht zum Erliegen gekommen. Es lief weiter, sogar noch um ein Vielfaches intensiviert und exponentiell beschleunigt. Nur auf einer anderen, bildhaften Ebene. Rein geistig. Das geschah völlig automatisch und instinktiv. Bei allen. Gleichzeitig! Nach einiger Zeit meinte dann eine der Anwesenden: „Beredtes Schweigen sagt auch was aus. Wir sollten vielleicht wieder verbal miteinander 40
kommunizieren, damit die Normalos nicht auf falsche Gedanken kommen und die Leute mit den weißen Kitteln rufen.“ Allgemeines Gelächter, denn jeder wusste, wie sie das meinte. Aber auch Gelächter mit einem schalen Beigeschmack. Vor allem auch deshalb, weil ‚die mit den weißen Kitteln’ gleich um die Ecke ‚wohnten’. So nach und nach traf dann der Rest der Gäste ein - eine geschlossene Gesellschaft, die das ganze soziale Spektrum umfasste. Kein Geheimbund oder so etwas, sondern eben nur Leute mit einer bestimmten genetischen Gemeinsamkeit. Daraus resultierend zwei Fähigkeiten: Eine abweichende Wahrnehmung und eine etwas andere Intelligenz oder Kreativität. Unabhängig von der Schulbildung schneiden wir in den üblichen Intelligenztests etwas besser ab (na gut: viel besser) als der Rest der Bevölkerung, wenngleich auch die Mensaner oder die HighIQLeute in der Minderheit sind. Das übliche Niveau pendelt bloß so um IQ 140-150 herum. Cracks mit 168 und mehr sind natürlich auch dabei und da fällt es mir mit meinen popeligen 143 schon echt schwer, mitzuhalten. Bezeichnend für das deutsche Schulsystem fand ich die Tatsache, dass eine der Frauen von HighIQ lediglich einen Sonderschulabschluss vorzuweisen hatte. Sagt doch schon alles über die Qualität der Schule aus ... Eigentlich alles ganz normale Menschen: von 16 bis 86, von Freiburg bis Flensburg, von Bristol bis Bukarest. Vom Hartz-IV-Empfänger über den Prof. Dr. Dr. und bekannte Künstler bis hin zum TV-Serienstar. Die Dame mit Bart ist ebenso 41
vertreten wie das Frauengehirn im Männerkörper und auch das wird vorbehaltlos als ‚einer-von-uns’ akzeptiert. Äußerlichkeiten zählen nicht. Alles in allem um die 60 Personen, davon gut 80% Frauen, wie es genetisch bedingt nicht anders zu erwarten war. Dann, unmittelbar bevor es losging, dieser Satz von einer sehr erfolgreichen Diplom-Designerin: „Du bist unheimlich. Dein Geist ist wie ein Abgrund, in dem man sich verlieren kann.“ Ausgerechnet von ihr! Dabei ist sie ein Spökenkieker wie ich auch und sollte so etwas doch gewohnt sein! Ich kenne sie schon länger und sie war es auch, die draußen im Stuhlkreis von den ‚Normalos’, den ‚Seppies’ wie wir sie insgeheim auch nennen, gesprochen hat, obgleich sie sonst derartige Klassifizierungen verabscheut. Sie gab mir zu verstehen, was sie meinte. Rein instinktiv und ohne dass mir bewusst war, wie ich das mache, muss ich wohl ihre Versuche, mental in meinen Kopf einzudringen, ‚gespiegelt’ haben. Mein Kontakt mit Leuten aus dem Eso-Bereich machte ihr Angst. „Viele Wege führen nach Rom“ antwortete ich rätselhaft und machte ihr klar, wie ich die Sache sehe. Das ist nämlich so: Keiner aus der ganzen Gruppe, der sich nicht schon mehr oder weniger intensiv mit der Quantenphysik beschäftigt hätte. In der Quantenphysik gibt es einen seltsamen Effekt, der auch als ‚Verschränkung’ oder als ‚Quantenteleportation’ bekannt ist. Nimmt man ein Teilchenpaar, das räumlich zig Kilometer voneinander getrennt sein kann uns dessen Eigenschaften unbekannt sind und misst die 42
Eigenschaften des einen Teilchens, dann nimmt das andere - das verschränkte - Teilchen in Nullzeit (also schneller als das Licht!) genau die entgegengesetzten Eigenschaften an. Verblüffend und völlig unerklärlich. Einstein bezeichnete das als ‚spukhafte Fernwirkung’ und war gar nicht davon begeistert, dass er zeitlebens keine Erklärung dafür hatte. Die spukhafte Fernwirkung wurde zuerst an Photonen untersucht. Es geht ja auch das Gerücht um, dass das Philadelphia-Experiment damit zu tun gehabt haben soll: Die USS Eldridge, die anlässlich eines Experiments im Jahre 1943 bis auf den Abdruck ihres Rumpfes im Wasser aus dem Hafen von Philadelphia verschwand, um sich kurzzeitig im Hafen von Norfolk zu materialisieren. Das Gerücht, welches besagt, dass Einsteins ‚Einheitliche Feldtheorie’ eben doch vollendet worden ist und die spukhafte Fernwirkung erklärt - und dass Einstein selbst eben deshalb die Ergebnisse zurückgezogen hätte. Inzwischen wurde die Quantenteleportation ja auch schon für Elektronen und für Atome nachgewiesen. Was aber sind Gedanken? Biologisch und physikalisch betrachtet nichts anderes als ein Fluss von Ionen und Elektronen - nur sind Eigenschaften dieser Elektronen wie z. B. die Fließrichtung durch die Arbeit des Geistes beeinflussbar. Nimmt man nun noch chaosmathematische Gesetzmäßigkeiten hinzu, dann kann sich die Beeinflussung eines einzelnen Elektrons durchaus so aufschaukeln, dass makroskopische Effekte dabei herauskommen. 43
Beeinflusst man nun gedanklich ein Elektron im eigenen Kopf (eben durch das Denken des Gedankens selbst), dann kann das über die spukhafte Fernwirkung quasi als Hebel prinzipiell auch woanders Auswirkungen zeigen. Funktioniert Magie bzw. Zauberei nicht vielleicht so, falls es sich denn gibt? Oder ist das nur eine andere Bezeichnung für PSI? Ist nicht Sigillen-, Knoten-, Runenmagie und was auch immer unter diesem Gesichtspunkt nur eine Art von Focus, um die Verschränkung und damit die spukhafte Fernwirkung hervor zu rufen? Langer Rede kurzer Sinn: Ich konnte meine Gesprächspartnerin zwar nicht überzeugen, aber sie wurde zumindest sehr nachdenklich und akzeptierte meine Antwort als eine Möglichkeit, Magie nicht weiterhin strikt abzulehnen - denn zumindest PSI war ihr genau so bekannt wie mir. Dann das eigentliche Meeting. Dabei besonders interessant: Die Zweigleisigkeit der Kommunikation - wie das gesprochene Wort durch Bilder im Kopf ergänzt wurde. Reden und Denken und alles in dreidimensionalen Strukturen im Kopf und vor dem inneren Auge. Komplexe Kommunikation, von der die ‚Normalos’ nicht mal die Hälfte mitkriegen. Die anwesenden Nichtsynnie-Wissenschaftler spüren dabei lt. deren eigener Aussage eine ‚eigentümliche Schwingung’. Auf die muss man vorbereitet sein und exakt die ist es auch, die mich immer wieder zu den SynnieTreffen treibt. Nicht jeder mag diese Schwingung. So verließ einmal ein nicht vorgewarnter Seppie (abgeleitet von homo sapiens separaeticus) schon 44
nach Minuten und sichtlich angewidert die Versammlung. Doch diesmal läuft einiges etwas anders. Bei diesem ganz bestimmten Treffen im Herbst des Jahres steht nicht die Synästhesie im Vordergrund. Vielleicht liegt es ja an dem vorausgegangenen Stuhlkreis, dass das Gespräch sich immer mehr in Richtung auf die PSI-Erfahrungen verlagert. Die Seppie-Wissenschaftler wollen eingreifen, doch eine Teilnehmerin protestiert lautstark: „Wieso, das gehört doch dazu!“ Das Gespräch geht weiter, dreht sich weiter um PSI. Die Teilnehmerin, die zuvor protestiert hatte, ist eine Arbeitslose. Eine Frau Mitte Fünfzig aus NRW. Sie war mal Pflegerin in einem Altenheim. Und sie kann schon sehr zeitig sehen, wer von ihren Schützlingen sterben wird. Auch sie ist ein Spökenkieker; auch sie hat das ‚Zweite Gesicht’. Sie sprach auf der Arbeitsstelle darüber und das kostete sie den Job. Jetzt fühlt sie sich ungerecht behandelt, ist sauer auf die Seppies. Zu Recht! Ihr Vorschlag lautet, ein PSI-Netzwerk einzurichten. Einige Synnies sind davon recht angetan, mich selbst eingeschlossen. Aber das beruht wohl auf Naivität. Entsetztes Schweigen auf Seiten der Seppie-Wissenschaftler. Sie wiegeln ab, wollen das nicht. Wieder die ehemalige Altenpflegerin: „Gibt es irgendeinen Quantenphysiker, der sich mit PSI befasst?“ Der Seppie-Prof verneint mit der Begründung, diese beiden Bereiche lägen doch wohl wirklich zu weit auseinander. Er spürt nicht, dass wir uns die richtige Antwort direkt aus seinem Kopf geholt 45
haben, dass nämlich die Angst vor einem Verlust des wissenschaftlichen Renommés dagegen steht. Das hätte er uns auch klipp und klar sagen können! Statt dessen verlegt er sich auf´s Rumeiern und belügt uns. Wir bemerken das sofort. Ein Entrüstungssturm ist die Folge, ein kollektiver mentaler Angriff, dem er schutzlos ausgesetzt ist. Der Angriff zeigt Erfolg. Wir holen uns das Hintergrundwissen aus seinen Gedanken. Es gab in der Richtung nämlich schon mal einen Vorstoß. Er hatte inoffiziellen Besuch von zwei Herren, die angeblich im Regierungsauftrag handelten. Ob Militär oder Geheimdienst ist ihm unbekannt. Als wir den Seppie-Prof mit unserem - eigentlich ja mit seinem! - Wissen konfrontieren, da schweigt er. Dementiert aber auch nicht. Das PSI-Netzwerk ist in diesem Augenblick gestorben. Keiner von uns will sich vor irgendeinen Karren spannen lassen, schon gar nicht vor einen Seppie-Karren, wo doch die Seppies uns ablehnen! Doch noch etwas ist geschehen. Da war nämlich noch mehr, aber das bekommen wir nicht so genau heraus. Ein Köder für seine Forschungen: Geld! Er hat offensichtlich nicht direkt abgelehnt und einige aus unserer Gruppe besitzen eine Teilkenntnis darüber, machen bei ihm mit - allerdings ohne genaues Wissen. Unvorstellbar! Wir fühlen uns hintergangen. Meine Blicke treffen die der DiplomDesignerin, die mich unheimlich fand. Vorsichtig versuche ich, ihre Gedanken zu sondieren. Sie weiß etwas, gehört mit zu der Gruppe des Profs! Ich bin geschockt, ziehe mich zurück, verkrieche mich wie in ein ‚Schneckenhaus’, 46
mache meinen Kopf ‚dicht’. Der Mehrheit von uns Synnies geht es ähnlich wie mir. Die ‚eigentümliche spürbare Schwingung’ ist urplötzlich zerbrochen. Kein schönes Ende dieses Treffens. Aber wie wäre es denn, wenn seitens einer staatlichen Institution eine ‚Gedankenkontrolle’ stattfinden würde? Richtig unheimlich!
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1960: Inge Wirtschaftswunderzeit
- nur schien sich das hier auf dem Dorf noch nicht so richtig herumgesprochen zu haben. Jedenfalls sprachen die alten Kopfsteinpflasterwege und die überwiegend unbefestigten, nur grob geschotterten Strassen mit ihren allgegenwärtigen Schlaglöchern eine andere Sprache. Na ja, immerhin bemühte sich das Wirtschaftswunder jedenfalls. Davon zeugten die langsam weniger werdenden Pferdefuhrwerke, die selteneren Besuche der Scherenschleifer und das Mehr an Automobilen. Davon zeugte auch die neue EinfamilienReihenhaussiedlung, welche am anderen Ortsende entstand. Die Siedlung war Inge allerdings egal. Sie interessierte vielmehr die Feldscheune an diesem Ende des Dorfes, denn hier war sie mit Heinz verabredet. Heinz hatte was - und wenn es nur sein Moped war! Aber da gab’s noch mehr - er fuhr Rennen und konnte phantastisch tanzen. Sie war jetzt Mitte zwanzig und in einem halben Jahr würde sie volljährig sein. Dann könnte sie sowieso allein entscheiden, wie sie es für richtig hielt. Nur manchmal, da hatte sie Angst davor. Quälende Vorahnungen, dass alles doch ganz anders kommen würde und nicht so, wie sie es sich erträumte. Überhaupt, Träume - ihre Träume waren bunt und voller Farben. Ein Traum erscheint ihr irgendwie genauso wichtig wie die Realität, 48
vielleicht sogar noch wichtiger. Manchmal passierten die Dinge aus ihren Träumen wirklich. Dann ‚erinnert’ sie sich an Vorgänge, welche noch gar nicht geschehen sind. So wie jetzt. Als ob sie das alles schon einmal erlebt hätte, déjà-vu. Sie war mit Heinz verabredet, heimlich natürlich. Ihr gemeinsamer Treffpunkt: Wie immer die alte Feldscheune. Dort war es warm, weich, geschützt, trocken, duftete nach Heu und man war wirklich ungestört. Ob Heinz wohl pünktlich wäre? Verborgen im Heu wartet sie. In der Ferne ist das Knattern eines Mopeds zu hören; dann wird der Motor abgestellt. „Aha, er ist vorsichtig und schiebt das letzte Stück“ denkt Inge. Nach ein paar Minuten das Knarren des schweren Tores. Dann eine gedämpfte Stimme „Inge?“ „Hier!“ gibt sie sich zu erkennen und lugt vom Heuboden aus nach unten. Heinz winkt und klettert die Leiter zu ihr rauf. Sie kuscheln sich aneinander, flüstern Zärtlichkeiten, küssen sich. Inge glaubt an die ernsten Absichten von Heinz. Der aber ist nicht bereit, sich zu binden. Nach einiger Zeit sind beider Hände überall; die Hormone haben die Steuerung übernommen. Gefühle sind räumliche Farben, sehr komplex und ineinander verschachtelt. Inges Orgasmus ist farbig wie ein Feuerwerk. Sie kuschelt sich an Heinz, ist müde. Vorm Einschlafen sind die Farben und Formen sehr fantastisch und sehr ausgeprägt, sehr detailliert. Ob sie mit ihm darüber reden soll? Nein, lieber nicht. Irgend etwas hält sie davon ab, ihr ganz privates Versteckspiel aufzugeben. Es 49
ist auch besser so. Von ihrer Schwangerschaft erfährt sie erst später, als Heinz schon längst mit einer anderen Frau unterwegs ist.
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Nordseeinsel Das heißt, es mag durchaus sein, dass in einem bestimmten evolutionsbiologischen Bereich Synästhesie schon einmal eine Rolle gespielt hat. Sie wurde dann verlassen, weil es wichtiger war, erst mal die Sinneskanäle zu trennen und nun in einer höheren Stufe, wo diese Trennungen erfolgt sind, können wiederum Zusammenfügungen - man nennt das in der Neurobiologie intermodale Integration - zusätzliche neue mentale Räume erschließen. (Prof. Dr. Dr. Hinderk M. Emrich)
Frühmorgendliches
Erwachen in einem fremden Bett. Ein Moment der Desorientierung, dann der Gedankenblitz: Du hast Urlaub! Stimmt, Kurzurlaub. Norderney, Ende März, Vorsaison, ein Schnäppchen. Mit zwei Kindern eigentlich nicht im Rahmen unserer Verhältnisse, aber dafür ganz spontan und umso erholsamer, ohne große Ansprüche, kurzentschlossen und ganz einfach. Der Blick auf die Uhr - 06:00, da habe ich doch glatt eine volle Stunde länger im Bett bleiben können als sonst. Meine Familie schläft noch. Sollen sie, sie haben sich’s verdient. Ich stehe auf, mache mich fertig, decke den Frühstückstisch. Von Anfang an bedurfte es keiner großartigen Absprachen - wenn ich zuerst wach werde, dann hole ich auch die Brötchen. Ist selbstverständlich. Schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr - der Mensch ist eben ein Gewohnheitstier. Der Inselbäcker öffnet um Sieben, passt ganz gut. Die 51
Bäckerei ist höchstens einen knappen Kilometer vom Apartment entfernt. Wenn es nach mir ginge, dann könnte der Weg ruhig doppelt so weit sein. Mit Einkaufstüte bewaffnet und Winterjacke nebst Handschuhen mache ich mich auf den Weg. Theoretisch könnte ich ja den geschützten Weg durch den Ort nehmen - aber der reizt mich nicht im Mindesten. Viel lieber nehme ich die längere Route am Strand entlang. Es ist kalt, sechseckige Schneeflocken tanzen wild in der Luft. Ich weiß zwar, dass deren Form einzig auf die Bindungswinkel im Wassermolekül zurück zu führen ist, aber wen interessiert’s? Raus aus dem Haus und links die Dünen hoch. Erschreckte Wildkaninchen flüchten. Ein Fasan beschwert sich langgezogen goldgrün-meckernd. Das Sand-Eis-Gemisch unter meinen Füßen gibt dieses typische, unvergessliche, dunkelbraun-spitze Knirschen von sich. Der unverwüstliche Strandhafer duckt sich unter dem schneidenden Wind, ruckelt, zuckelt und wackelt, als ob die Blätter sich von selbst bewegen würden. Der Weg ist eher zu erahnen als zu sehen, denn der Sand hat die Holzbohlen nahezu völlig bedeckt und beisst in meinen Augen. Über den Dünenkamm erreiche ich den Strandweg, bleibe stehen. Die Eindrücke erschlagen mich fast. Es ist Flut. Horizontal peitscht der Nordwest mir die Eiskristalle ins Gesicht, jede Berührung ein winzig kleiner Schmerz in Ultrablau, wie die Flamme eines Schneidbrenners, aber kalt. Eiskalt und dennoch schön. Tausende und Abertausende von diesen Funken. Wolkig-rauchig-grau mit weißen Punkten 52
durchsetzt wie eine zerfasernde, alte Teppichrolle - aber trotzdem unvergleichlich ästhetisch - liegt über allem das rauschende Donnern der ewigen Brandung. Spitz zulaufende, weißlich-blassgelbe Bögen am Himmel; die Schreie der allgegenwärtigen Möwen. Die Möwen fliegen in die Bögen hinein; es sieht aus wie Kondensstreifen. Unwillkürlich lache ich auf: Möwen mit Kondensstreifen - was für eine aberwitzige Vorstellung! Ein Nichtsynnie hätte jetzt wahrscheinlich von einem unmotivierten Lachen gesprochen... Ich atme tief ein: Soltwind! Geschmack und Geruch gleichermaßen. Der Soltwind schmeckt - ganz klar! - nach Salz, nach Meer, spitz und tiefoliv. Sein Geruch: unbeschreiblich! Irgendwie hell-grünlich, weißgepunktet krisselig. Viel zu oft muss ich das vermissen. Ich kenne Leute, die das jetzt als ‚Zivilisationsflucht’ bezeichnen würden. Ich nenne es anders, nämlich LEBEN. Echt und unverfälscht! Auf meinem Weg den Strand entlang treffe ich kaum eine Menschenseele. Das Wetter und die Vorsaison ergänzen sich perfekt: Ich habe meine Ruhe. Keine Imbisse, keine Pissbuden. Kein Geräuschterror. Kein überall herumfliegendes Plastik. Was am Strand liegt, das kommt aus dem Meer. Sicher, da ist natürlich alles Mögliche dabei, was irgendwann irgendwo mal über Bord gegangen ist. Aber Blasentang und Holz ist in der Überzahl. Und der Strand wird um diese Jahreszeit noch nicht geräumt. Das gibt einem wenigstens die Illusion von Natur. Schritt für Schritt kämpfe ich mich gegen den Wind vorwärts; es macht Spaß. 53
Neben meinen Ohren baut er fauchend wahre gräuliche, kugelige Gebirge auf. Ich liebe das! Trotz dicker Jacke und Pullover dringt die quietschbonbonrote, schmutzig-weißfarben-getüpfelte Kälte langsam durch, von den mitgerissenen Wassertröpfchen wird die Kleidung immer feuchter, nasser, kälter. Draußen in der Fahrrinne erahne ich die Containerfrachter eher, als dass ich sie sehe. Der Nordwest hat mir die Tränen in die Augen getrieben, die Gischt fliegt über mich hinweg, ich verliere jedes Zeitgefühl. Exakt das ist es, was ich unter ‚Abschalten’ verstehe. Zeit haben zum Nachdenken. Gedanken, Gedanken ... - beinahe verpasse ich die Abzweigung, die zum Bäcker führt. Wieder über die Dünen und unmittelbar dahinter ist das Geschäft. Kurz nach Sieben, aber dennoch schon eine Schlange. Anscheinend sind die Leute, die um diese Jahreszeit hierher kommen, alle Frühaufsteher. Ich stelle mich hinten an. Der orangene, leckere Geruch von den frisch gebackenen Brötchen durchzieht den Raum. Es ist mollig warm. Nach dem Einkauf geht’s zurück - wieder am Meer entlang. Jetzt geht es schneller, viel schneller. Durch den Rückenwind. Zurück im Apartment habe ich gerade alles fertig gemacht, als meine Frau und die Kinder mit verschlafenen Augen reinkommen: Frühstück!
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1967: Peter Ein Wald irgendwo in Norddeutschland, darin eine
mächtige, uralte Eiche mit Baumhöhle. Peter, neun Jahre alt, schiebt weinend sein Fahrrad hinter den großen Baum, versteckt es. Hier ist sein Rückzugsgebiet; hier findet er Ruhe. Er ist hochsensibel. Peter besucht die vierte Klasse einer Grundschule und zwei Halbjahre hat er aufgrund von überdurchschnittlichen Leistungen übersprungen. Das er anders als seine Mitschüler ist, wusste er - aber was heute passiert war ... Da sollten sie alle die ganze Klasse malen. Plötzlich Getuschel und Gekicher. Das Wort ‚Spökenkieker’ fiel - sein überaus ungeliebter Spitzname, weil er manchmal Sachen vorausahnte und früher mal so unvorsichtig gewesen war, das den anderen zu sagen. In der Klasse wurden die Bilder an der Wand aufgehängt. Grosses Gelächter! Jemand - Peter wusste genau, wer - hatte anstelle von ihm einen Roboter gemalt. Die anderen waren aber auch so fies und so abgrundtief dumm! Er hatte im Unterricht nicht gezeigt, wie sehr ihn das traf. Betrachteten sie ihn überhaupt als Mitschüler, als Menschen? Und natürlich wieder einmal das alte Spiel: Nur nichts anmerken lassen, keine Gefühle zeigen, versteinertes Gesicht (als ob ihn das alles gar nichts anginge), Zähne zusammenbeißen und durch. Irgendwann würde der Unterricht ja Gott-sei-Dank vorbei sein. Das Wetter war schön und Peters Lieblingsplatz kannte 55
niemand. Seine Eltern arbeiteten beide. Lustlos erledigte er die Hausaufgaben - ein Lacher! - und schwang sich auf sein Vierundzwanzig-ZollFahrrad. Jetzt ist er hier und zwängt sich in die Baumhöhle, kauert sich zusammen, das Rad gut versteckt. Hier findet ihn keiner und er hat Ruhe zum Nachdenken. Der Baum ist hohl. Peters Blick wandert an der Innenseite der Borke entlang. Ameisen wuseln durcheinander und verrichten ihr Tagesgeschäft, schleppen Puppen mit sich, um sie im Sonnenstrahl abzulegen. Ein Spinnen-Netz glänzt im Licht. Kleine Käfer und Asseln. Er ekelt sich nicht davor. Sie sind Lebewesen wie er selbst, gehören zur Gemeinschaft des Waldes. Ohne sie würde hier nichts funktionieren. Er denkt an Axel, welcher den Roboter gezeichnet hat. Ausgerechnet Axel - der Kerl war blöd wie Brot! Sein einzigster Existenzzweck bestand anscheinend darin, andere zu ärgern und Tiere zu töten - nachdem er letztere hinreichend lange gequält hatte. Axel durfte alles und jeder übte dem gegenüber Nachsicht, denn der stammte aus ‚besseren Verhältnissen’. Seinem Vater gehörte eine Möbelfabrik. Daher dachten die Lehrer, dass Axel von vornherein schlau und begabt sein müsse. Tatsächlich jedoch war er ein arrogantes, verzogenes, nichtsnutziges und schlicht dummes Scheusal, welches sich immer nur auf Kosten anderer durchsetzte. Eigene Leistung hatte der noch nie gezeigt! Notfalls würde Papi es ja schon richten!
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Peter seufzte. Das war schon alles so verdammt ungerecht! Er schwor sich insgeheim, niemals so zu werden und später alles besser, gerechter zu machen. Er schlief ein. Träumte von einem Jäger, der einen Auerhahn erlegte. Der Jäger sah aus wie sein Großvater Wilhelm. Es war ein sehr realistischer, überaus farbiger Traum. Langsam wurde es jetzt wärmer; Peter erwachte zögernd und sah die braun-rot-orangenen Farbtöne der Hitze. Auch die Luft veränderte sich, wurde bläulich mit weißen Spitzen, drückend. Es würde wohl bald ein Gewitter geben. Seine Gedanken beim Erwachen, irgendwo in dem endlosen Raum zwischen Schlaf und Wachzustand , schweiften ab, in die Vergangenheit. Damals im Kindergarten. Sie spielten alle im Sandkasten. Ein Spatz tschilpte: Er sah das Geräusch als verschlungen-silbrige Form vorbeifliegen. Fragte die anderen, ob sie das auch gesehen hatten. Die aber glotzten ihn nur verständnislos an und ein Mädchen - Elvira – sprach das aus, was alle damals dachten: „Der spinnt doch!“. Fortan hielt er den Mund. Peter war eben irgendwie ‚anders’, nicht zuletzt auf Grund der häufigen Migräneanfälle. Er sah und hörte Dinge, die den anderen entgingen - und die von den anderen deswegen abgelehnt wurden. Seiner Mutter Marie sagte man das auch nach. „Aua!!!“ Eine Mücke hatte ihn gestochen, labte sich an seinem Blut. Zeit, von hier zu verschwinden. Schade. Aber er würde wiederkommen. In den Wolken polterte es bereits drohend, als er zurückfuhr. Kurz vor der Haustür 57
traf ihn der erste, große, kalte und schwere Tropfen. Ein Gefühl wie von glänzend-weißblechernem Kalk. Er schaffte es gerade noch ins Haus, bevor der Platzregen losbrach.
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Aufmerksamkeitsstörung Also was wir bei den Synästhetikern möglicherweise als störend oder überflüssig empfinden, hat für sie häufig eine Wahrnehmungsfunktion, die uns versagt bleibt. Deshalb kann ich es verstehen, dass viele Synästhetiker ihre Welt als reicher empfinden und da müssen wir als Nichtsynästhetiker konstatieren: Das ist uns versagt. (Prof. Klaus-Ernst Behne)
Das
ganze Jahr über habe ich es bis auf ganz wenige Ausnahmen mehr oder weniger erfolgreich geschafft, mich davor zu drücken: Kaufrausch und Konsumterror. Jetzt ist Vorweihnachtszeit und meine Frau besteht darauf, dass ich zum Einkaufen mit in die Stadt komme, da ich neue Kleidung benötige. Furchtbar! Ich kann die Nähe so vieler Menschen kaum ertragen; den Lärm und die Lichterfluten schon gar nicht. Wenn ich normalerweise zum Einkaufen gehe, dann mit Einkaufszettel. Ich renne in den Supermarkt, arbeite in Höchstgeschwindigkeit stur den Zettel ab - eine lästige Pflichtübung! - und bin wieder draußen. Je schneller, desto besser. Und jetzt das ... OK, wir fahren. Angekommen und das Auto im Parkhaus gehen wir in die Innenstadt. F-ü-r-c-h-t-e-r-l-i-c-h! Viel zu viele blitzende Neonreklamen überlagern sich mit kitschiger Weihnachtsbeleuchtung und einem allgegenwärtigen Lärmpegel, welcher seine eigenen Formen und Farben selbst erzeugt. Und 59
nichts passt zusammen, aber auch absolut gar nichts! Da ist die gelbe Lichtlinie vom Instrument eines Straßenmusikers, aber die künstliche Beleuchtung dazu ist grell-bunt. Kakophonische Unterbrechungen durch das blechern klingende Weihnachtslied aus einem Lautsprecher, mit dem Aussehen von schräg aufeinandergestellten, rostfleckigen Metallplatten. Eine Beleidigung für jedes Sinnesorgan! Merkt denn das keiner? Wo bin ich hier gelandet? Die Kleidung ist schnell gekauft. Ich habe feste Vorstellungen, einen Zettel mit meinen Größen und weiß auch, in welchem Geschäft ich was finde. Meine Frau will „sich erst mal umsehen“. Kenne ich - kann Stunden dauern. Wird hart werden. Ich schnappe mir den erstbesten Verkäufer, probiere an, erledigt. Gehe zu meiner Frau. Sie ist noch am Aussuchen, inmitten der Menschenmasse. Stimmengebrabbel, welches aussieht wie Tausende von aufeinandergeschichteten, schmutzigkränklich-gelblich-fleckigen Halbkugeln. Nicht zum Aushalten! Nur raus hier! Aber draußen vor der Tür ist’s auch nicht viel besser. Da sind genau so viele Leute und die unterhalten sich. Ein beständiges Kommen und Gehen. Der Sinn ihrer Worte ist eindeutig; beschäftigt sich mit dem bevorstehenden Weihnachtsfest, mit der Vorfreude. Allgegenwärtiges Friede-Freude-Eierkuchen. Doch so manche Gestik, vielleicht auch Gedankenfetzen, die ganze Körpersprache, drückt genau das Gegenteil aus: unterdrückte Wut, Ärger, Stress, Falschheit. Tun die alle nur so, als ob sie das nicht 60
bemerken oder bemerken die das wirklich nicht? Verlogenheit und Täuschung als Tugend? Die Formen und Farben des Lärmpegels machen mir zu schaffen. Das verwabert alles irgendwie - vielleicht noch am Ehesten mit einer turbulenten Gewitterwolke vergleichbar, in welcher immer wieder Blitze aufzucken. Nur dass die Blitze farbig, unterschiedlich groß und von unterschiedlicher Form sind - auch rund, eckig oder geometrisch. Und über allem liegt der stahlfarbene Geruch von Benzinmotoren und schwarz-braunbeißender Dieselmief. Zusammen ergibt das eine tolle Komposition: Als ob ein Kind alle Farben seines Tuschkastens zusammengemischt hat und ein schlieriges, schmutziges Gematsche herausgekommen ist. Ohrhörer rein und abschalten durch Musikeinschalten. Hilft etwas. Aber nicht lange und gegen die Farben vom Geruch der Autoabgase ist der Player ohnehin machtlos. Ich muss hier weg! Nochmal rein in den Laden und meine Frau informiert. Sie wird mich in der Buchhandlung finden. Buchhandlungen sind ruhiger, sind Rückzugsgebiete. Aber heute ist auch da irrsinnig viel los. Dennoch ist es deutlich erträglicher als in den anderen Läden. Ich gehe ins Obergeschoss, dort, wo die Fachliteratur ist. Hierher verirren sich nur sehr wenige Menschen. Eine ‚temporäre ökologische Nische’. Dort bleibe ich auch solange es geht. Irgendwann findet meine Frau mich dort in ein Buch vertieft. Sie versteht das zwar nicht, kennt
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das aber schon. „Ich bin fast fertig, nur noch schnell dieses und jenes...“ bekomme ich zu hören. Seufzend lasse ich mich breitschlagen, gehe mit. Wieder draußen. Wieder dieses schmutzige Gematsche. Stimmen. Ein Wort ist ein polygones Gebilde schräg vorne rechts. Ein anderes Wort ein gurkenförmiges, eiterfarbenes Etwas links. Helles silberfarbenes Lachen wie glänzende Schalen von hinten. Farben und Formen von allen Seiten. Meine Frau fragt mich etwas. Es fällt mir schwer, meine Gedanken in dem ganzen Tohuwabohu auf ihre Stimme zu fokussieren. Ich reagiere langsamer. Dennoch bekomme ich das irgendwie geregelt, wie in Trance. Am Ende dieses Horrortrips hat die Reizüberflutung bei mir einen Migräneanfall getriggert. Die Auraphase habe ich schon hinter mir. Jetzt denke ich, mein Kopf würde zerspringen. Meine Frau fragt, ob sie zurück fahren soll. Ich winke ab. Irgendwie schaffe ich das wohl auch noch. Die Rückfahrt geht dann wie von selbst. Synästhesie ist eben auch ein Ordnungskriterium. Aber eines schwöre ich mir: Der nächste Konsumbeutezug wird soweit rausgeschoben wie nur irgend möglich!
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1977: Angelika Die
Welt hatte sich weitergedreht. Wirtschaftswunder und Studentenunruhen waren vorbei; die Ölkrise schien überwunden zu sein. Als Ausgleich dafür gab es jetzt einen gnadenlosen Terrorismus und die wirtschaftliche Lage war schlichtweg mies. Der italienische Ort Seveso war aufgrund einer Chemie-Katastrophe unbewohnbar geworden. Überhaupt, Chemie... Angelika zweifelte so langsam daran, ob ihr Entschluss, einen chemischen Beruf zu erlernen, richtig gewesen war. DDT in der Muttermilch, Anzeichen für eine schwindende Ozonschicht, Umweltprobleme überall - das Erbe des Wirtschaftswunders. Und über allem der Wahn, ein neues Kernkraftwerk nach dem anderen zu errichten. Sie lebte in einem ‚No-Future’-Atomstaat mit intensiver Überwachung, Bespitzelung und Berufsverboten. Und sie versteckte sich. Nicht körperlich, nein - eher psychisch. Chemie allerdings lag ihr. Sie wusste instinktiv, was wie und wo zusammenpasste, gerade so, als ob sie das Interagieren der Moleküle, Liganden und Ionen miteinander irgendwie ‚sehen’ oder ‚erfühlen’ konnte. Angelika erfasste diese Zusammenhänge instinktiv. Wenn sie eine Formel sah, dann sah sie kein Zahlen-, Buchstaben- oder Symbolgebilde, sondern viel mehr, vergleichbar mit einer farbigen Grafik, mit einem Gemälde. Erklären konnte sie das nicht. 63
Sie hatte es mal versucht, dieses Empfinden ihrem Ausbilder gegenüber verbal zum Ausdruck zu bringen, aber nur völlig verständnislose Blicke geerntet. Ihre Gedanken schweiften ab. Gestern, im naturkundlichen Museum, da gab es diese Ausstellung über Leonardo da Vínci. Sie war mit Susanne dort gewesen. Angelika hatte die Beschriftungen auf da Vinci´s Zeichnungen sofort lesen können, auch wenn ihr die Sprache unbekannt war. Susanne hingegen hatte irgendwas von einer ‚Geheimschrift’ gemurmelt. Eigentlich war Angelika erst durch diese Äußerung zu Bewusstsein gekommen, dass da Vinci in Spiegelschrift geschrieben hatte. Ihr Blick glitt hinüber zu ihrer Kollegin Susanne. Aber was machte die denn da??? „Susanne, nicht!!!“ schrie Angelika auf, als sie sah, dass Susanne gerade versehentlich Ammoniak in die Iodlösung geben wollte. Susanne war müde, hatte die Chemikalien schlichtweg verwechselt. Angelika hingegen wusste sofort und aus dem Bauch raus, worum es sich bei der farblosen Flüssigkeit in der Pipette und bei der farblosen Flüssigkeit im Erlenmeyerkolben handelte. Susanne stellte das Pipettieren sofort ein und blickte auf. Sie war leichenblass. Angelikas Aufschrei brachte ihr blitzartig zu Bewusstsein, was für einen tödlichen Fehler zu machen sie im Begriff gewesen war. Iodlösung und Ammoniak ergibt Iodstickstoff - einen der stärksten und obendrein auch noch instabilsten Sprengstoffe überhaupt. Angelikas instinktives Wissen hatte ihnen beiden 64
das Leben gerettet. Und dieses instinktive Wissen hatte Angelika – woher?
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Datenanalyse Der Irrglaube, dass nur das rational Verständliche oder das wissenschaftlich Beweisbare zu der bestimmten Erkenntnis der Menschheit gehören, führt zu katastrophalen Folgen. (Konrad Lorenz)
Vor
etlichen Jahren war ich mal in leitender Position in der chemischen Forschung tätig. Dort hatte ich es mit recht komplexen Zubereitungen zu tun - dreißig und mehr Komponenten in einem Handelsprodukt. Organische Chemikalien, welche in ganz bestimmter Form miteinander reagierten. Nun kann man so etwas ja für zwei oder drei Stoffe durchaus noch stöchiometrisch berechnen, aber darüber hinaus hört’s irgendwo auf. Wenn mehr als fünf bis zehn Substanzen an einer Reaktion beteiligt sind, dann helfen nur noch Erfahrung, Intuition und Riecher. Dann ist der Kriminalist der bessere Chemiker. Was also tun, wenn ein neues Produkt mit exakt den und den Eigenschaften benötigt wurde? Ich sichtete die einschlägige Fachliteratur und arbeitete heraus, was wie miteinander funktionierte. Soweit, so gut - aber das waren jeweils nur die Maximal-FünfKomponenten-Standards, wenngleich auch mehrere. Meine Vorgabe jedoch war eine andere. Also plante ich Messreihen. Die Standards jeder für sich allein. Dann Mischungen unterschiedlicher Konzentrationen davon. Dann dieser oder jener Stoff in den Mischungen durch was anderes ersetzt 66
usw. Viel Arbeit, kein unmittelbar sichtbares Ergebnis. Heraus kamen nahezu endlose Datenreihen. Zahl auf Zahl. Mein damaliger Chef konnte mit den Messwerten nichts, aber auch absolut gar nichts anfangen und betrachtete sie als Datengrab, als vertane Zeit und als vertanes Geld. Für mich jedoch erschien das ganz anders. Natürlich waren da Zusammenhänge - das sah doch ein Blinder! Oder etwa nicht? Nur langsam dämmerte mir damals, dass ich die Synästhesie wohl unterbewusst als Ordnungskriterium eingesetzt hatte. Zahlenreihen, welche zusammenhingen, ‚schimmerten’ für mich in bestimmten Farben. Und die Tönung der Farben wies darauf hin, ob die Zahlenreihe einer linearen Betrachtung (rötlicher Schimmer) oder einer logarithmischen Betrachtung (grünlicher Schimmer), einer reziproken Betrachtung (graue Schattierung) ö. ä. bedurfte, um die Zusammenhänge mathematisch-formell darstellen zu können. Ich tipperte flugs ein paar kleine Auswerteprogramme zusammen und bearbeitete die Daten damit. Mir war von vornherein sonnenklar, was stöchiometrisch, was anhand einer linearisierbaren Funktion und was anhand einer Matrix betrachtet werden musste. Heraus kamen mathematische Formeln, welche ich zu einem Simulationssystem zusammen fasste. Ein Blick auf das Gleichungssystem offenbarte mir alle Zusammenhänge, Reaktionen und Nebenreaktionen zwischen den vielen Chemikalien. 67
Ich ging sogar soweit, nur anhand des Gleichungssystems und ohne damit zu rechnen Aussagen über das Verhalten der jeweiligen Zubereitung machen zu können. Meinen Kollegen erschien das unheimlich, denn es war einfach zu unglaublich. Mein damaliger Chef - ein althergebrachter Hardcorechemiker, welcher mit Mathematik aber auch absolut gar nichts zu tun haben wollte - versuchte, mich auszubremsen. Hielt das Ganze für Spinnerei, denn er konnte weder die Formeln nachvollziehen noch sah er irgendeinen Grund dafür, warum ich Zusammenhänge erkannte, wo seine Erfahrung versagte. Synästhesie war ihm fremd. Ich machte trotzdem weiter, insgeheim. Als mein Simulationssystem spruchreif war, benutzte ich es heimlich. Ich bekam einen Entwicklungsauftrag, rechnete die Anforderungen durch und hatte binnen zehn Minuten oder binnen einiger Tage ein brauchbares Resultat. Kontrollversuch hinterhergeschoben, passt, fertig. Dann Technikumsversuch, geht, erledigt, Produktion. Als ausgesprochen ätzend empfand ich es damals nur, dass ich die Berechnungen heimlich machen musste, weil mein Chef die Vorgehensweise vehement ablehnte. Immerhin gelang es mir auf diese Weise, binnen nur knapp zweieinhalb Jahren nacheinander einundzwanzig neue Produkte auf den Markt zu bringen - im Mittel also ein Produkt etwa alle sieben Wochen. Und die Produkte waren wirtschaftliche Erfolge für das Unternehmen. Ohne Synästhesie hätte ich die
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zugrunde liegenden Zusammenhänge allerdings nie erkannt. Synästhesie ist schon nützlich ...
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1988: Kathrin Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. (Immanuel Kant)
Das
letzte Jahrzehnt war von Katastrophen und Risiken geprägt worden: Der gestrandete Supertanker Amoco Cadiz, das Waldsterben, der Ausbruch des Mount St. Helens, die Atomunfälle von Harrisburg und Tschernobyl mit der sich anschließenden großflächigen Verstrahlung und dem Dahinsiechen der Hibakuschas, zahllose Giftskandale, Ozonlöcher über Nord- und Südpol, der Siegeszug der tödlichen Seuche AIDS, die Schlacht um Brokdorf und der Ebola-Erreger verließ immer häufiger seinen angestammten Platz im Regenwald. Die Umwelt zeigte dem Menschen, dass er nicht alles und ungestraft mit dem Planeten veranstalten konnte. Die wohl größte technologische Neuerung war darin zu sehen, dass mittlerweile überall Personalcomputer - so genannte PCs - auf breiter Front Einzug gehalten hatten. Das Informationszeitalter hatte begonnen. Kathrin, siebenundzwanzig Jahre alt, arbeitete an so einem Computer. Sie war Programmiererin. Ob Basic, Cobol, Algol, Fortran, Pascal - sie beherrschte diese Programmiersprachen alle. Zur 70
Zeit arbeitete sie sich in eine ganz Neue ein nämlich C, von welcher alle schwärmten. Programmierer als Beruf gab es zu dieser Zeit eigentlich noch gar nicht. Die Rechner - die Hardware - waren das von der Industrie zur Verfügung gestellte Werkzeug. Aber am Know How - der Software - fehlte es noch allerorten. Kathrin kam beruflich aus einem ganz anderen Gebiet und war eher zufällig zu dieser Materie gekommen. Die programmtechnischen Symbolkolonnen, welche Nichtprogrammierern wie Hieroglyphen erschienen, faszinierten sie. Katrin war in einem kleinen Ingenieurbüro tätig, welches Auftragsarbeiten durchführte. Ihre aktuelle Aufgabe bestand darin, einen Wust aus über eintausendfünfhundert Messdaten auf Zusammenhänge hin zu analysieren, um daraus letztlich eine Prozesssteuerung zu entwickeln, welche auf kontinuierlich online messbaren Parametern basierte. Keine leichte Aufgabe - aber interessant! Sie mochte solche Tätigkeiten; es war wie das Lösen eines hochkomplizierten Rätsels. Dabei war ihr der Weg zum Ziel eigentlich sogar noch wichtiger als das Ziel selbst. Um die Zusammenhänge zwischen den Messdaten aufzufinden, hatte Kathrin ein paar Mathematikprogramme geschrieben - wobei sie gezwungen war, die ganze ungeliebte Rechnerei nachzuholen, um die sie sich schon in der Schule so erfolgreich herumgemogelt hatte. Mit den MatheProgrammen ließen sich die Abhängigkeiten der verschiedenen Beträge voneinander formell 71
darstellen. Ein ganzes Paket dieser Formeln bildete dann die Simulation. Bisher hatte alles reibungslos funktioniert; der Programmkern stand somit. Was ihr aktuell Probleme bereitete, war die Konzeption einer Fool-Proof-Benutzeroberfläche. Irgendwo hakte es. Sie starrte auf den Ausdruck mit dem vor ihr liegenden Programmlisting, schwarze Symbole auf grün-weiß-liniertem Endlospapier. Die Kolonnen des Programmcodes verschwammen etwas vor ihren Augen, erschienen ihr rosagemasert. Mitten drin ein leuchtend gelber Fleck. Sie zwinkerte und alles war wieder normal. Der gelbe Fleck - hatte sie da etwa versehentlich zwei Hochkommata anstelle eines Häkchens oben eingetippt? Sie änderte den Code entsprechend und das Programm funktionierte jetzt. Gut, sehr gut! Dann machte sie die Korrektur rückgängig. Sie brauchte Zeit für sich selbst. Wenn irgend jemand sie fragen sollte, dann war sie eben am Debuggen, suchte irgendeinen höllisch vertrackten Tippfehler. Heute ging es ihr auch nicht besonders gut - Migräne. Kathrins Kopf schien immer wieder stoßweise zerplatzen zu wollen und ihr Sehvermögen war getrübt - mal schien alles vergrößert, mal verkleinert zu sein. Makropsie und Mikropsie. Und irgendwie mosaikartig. Sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen und die Zeit verlief ruckartig. Die Migräne war vermutlich ein Erbteil von ihrer Mutter Inge. Auch diese seltsame Fähigkeit, Dinge instinktiv zu wissen oder Programmfehler anhand einer virtuellen Farbe zu erkennen, stammte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit von ihrer Mutter. Sie wusste, 72
worum es sich dabei handelte. Man nannte es ‚crossmodality’. Ihr Job war ihr bei den privaten Recherchen sehr entgegengekommen. Auf dem rasant wuchernden EDV-Sektor musste man immer über die neuesten Entwicklungen unterrichtet sein, immer am Ball bleiben. Mit permanent vor sich hin zirpendem Akustikkoppler und Telefon hatte sie ständigen Zugriff auf die Super-Mailboxen Compuserve und The Source. Dort führte sie hinsichtlich ihrer besonderen Fähigkeit vor einiger Zeit mal Recherchen durch und stolperte über den Begriff ‚crossmodality’. Eine Übersetzung dafür gab es zwar nicht (denn kein Wörterbuch verzeichnete diesen Begriff), aber die darauf folgende Beschreibung sagte eigentlich alles: Es handelte sich um so etwas wie eine erweiterte oder zusätzliche Wahrnehmungsform. Kathrin erfuhr, dass diese besondere Art der Wahrnehmung manchmal mit psychischen Erkrankungen bzw. mit Halluzinationen in Verbindung gebracht wurde und absolut nicht anerkannt war. Sie selbst wusste es besser: Das mit den Erkrankungen war völliger Quatsch! Es war aber wohl besser, diesbezüglich den Mund zu halten, um nicht schief angesehen zu werden. Im aufstrebenden Computernetzwerk hingegen lief das völlig anders. Zunächst waren es ihrerseits nur vorsichtige, halbcodierte Anfragen in einigen Bulletin Boards gewesen - Datex machte es möglich. Daraufhin meldeten sich meist die verrücktesten Typen: Sektenanhänger, UFO-Jünger und was des Schauderns mehr war. Aber manchmal 73
- ganz selten! - waren auch Gleichgesinnte dabei. Leute wie beispielsweise Angelika aus HombergEfze. Oder wie Peter aus Walsrode. Leute, die ähnliche Wahrnehmungsfähigkeiten wie sie selbst hatten. Zusammen gründeten sie eine private Mailbox. Letztere diente als Anlaufstelle für weitere Personen - und sollte schließlich zum Ausgangspunkt für eine weltweite Bewegung werden.
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Katzenleben Wir verständigen uns über Objekte in einer Weise, in der wir so tun, als seien sie so wie sie uns erscheinen wirklich vorhanden und seien für jeden anderen genauso vorhanden. Durch die Synästhesiediskussion wird uns sofort klar, dass das überhaupt nicht stimmen kann, weil der Synästhetiker in gewissem Sinne völlig hermetisch ist. Er hat Erfahrungen, die er mit uns nicht teilen kann und seine Subjektivität ist genauso wahr wie unsere. Und insofern lernen wir voneinander und wir Nichtsynästhetiker von den Synästhetikern sehr viel über die Struktur von Subjektivität und damit eigentlich darüber, was es heißt, ein Mensch zu sein. (Prof. Dr. Dr. Hinderk M. Emrich) Untersuchungen J. P. Rauscheckers haben gezeigt, dass im Gehirn einer Katze das Sehzentrum aktiv wird, wenn sie ein Geräusch wahrnimmt. Daher sind Katzen Synästhetiker. Vielleicht erklärt sich daraus ja auch die Tatsache, dass sie den Menschen im allgemeinen überlegen sind. Das Leben der Hauskatze "Susi" jedenfalls beginnt früh am Morgen ... 06.15 Uhr: Im Haus geht das Licht an. Susi bemerkt das vom Stallboden aus. In bestimmten Fällen kann sie nämlich durch Wände gucken. Oder es ist Telepathie. Jedenfalls ist sie jetzt hochkonzentriert. 06.31 Uhr: Das Futter ist um eine Minute zu spät im Napf, weshalb sich Susi lautstark beschwert. 75
Nun sind Katzen zwar keine Soldaten, aber ein Minimum an Pünktlichkeit setzen sie auch voraus. 06.55 Uhr: Das erste Kind verlässt das Haus. Susi huscht zwischen seinen Beinen hindurch in die Wohnung und macht es sich auf der Wohnzimmerfensterbank - ihrem Lieblingsplatz bequem. 07.30 Uhr: Susi beklagt sich lautstark, weil sie noch keine Milch bekommen hat. Sie bekommt welche und beschwert sich, weil die nicht korrekt temperiert ist. 09.30 Uhr: War ´ne harte Nacht und deswegen musste erst einmal ausgiebig geschlafen werden. Jetzt schreitet Susi zur Wohnungsinspektion. Beim Verlassen der Fensterbank verpasst sie einer Topfblume eine neue Form und sorgt dafür, dass die Pflanze umgetopft wird. Na ja, das war sowieso irgendwann fällig und eigentlich könnten wir Susi für diesen Wink mit dem Zaunpfahl auch dankbar sein - läge da nicht die ganze Erde auf dem Fußboden. Anschließend findet Susi ein Plüschspielzeug von unserer Kleinen und übt daran das Jagen. 10.00 Uhr: Meine Frau versucht, von dem zerfledderten Lieblingsplüschspielzeug unserer Tochter zu retten, was noch zu retten ist; flickt das Ding so gut es geht mit Nadel und Faden, setzt Susi vor die Tür und wäscht das gerettete Spielzeug durch. 10.05 Uhr: Susi liefert den lebenden Beweis dafür, dass Quantenteleportation auch im makrokosmischen Bereich möglich ist. So ziemlich gleichzeitig fängt sie im Garten eine Maus, liegt 76
drinnen auf der Wohnzimmerfensterbank, sitzt beim einen Nachbarn auf dem Dachfirst, macht es sich in ihrer Kiste auf dem Stallboden bequem, liegt in einem der Kinderbetten und hat sich auf dem Kopf des Hundes vom anderen Nachbarn festgekrallt. Früher hat dieser Jagdhundmischling Susi auf den Baum gescheucht, heute ist es umgekehrt. 10.10 Uhr: Wir entschuldigen uns beim Nachbarn und sagen die Übernahme der Tierarztrechnung zu. Der Hund tut uns leid; er sieht schlimm zugerichtet aus. Derweil streicht Susi schmusend um unserer Beine, als ob gar nichts gewesen wäre. 11.00 Uhr: Einzelne Regentropfen fallen und Susi ist extrem wasserscheu. Plötzlich liegt sie auf dem Sofa im Wohnzimmer. Keine Ahnung, wie sie dorthin gekommen ist. Das Haus war jedenfalls verschlossen. Also wohl doch Teleportation, denn anders könnte das Viech niemals überall zugleich bzw. reingekommen sein. 13.30 Uhr: Als ich aus der Kellertür komme, trete ich auf etwas Weiches. Eine zerfleischte Maus. Susi lugt unter dem Auto hervor und sieht mich erwartungsvoll an. Ich weiß zwar, dass es ihrem Sozialverhalten sehr entgegen käme, wenn ich jetzt herzhaft in ihre Jagdbeute hineinbeißen würde, kann mich aber dennoch nicht dazu überwinden. Außerdem haben Mäuse Würmer. Ich lenke Susi mit etwas Futter ab und lasse die Maus heimlich in der Mülltonne verschwinden. Susi bleibt draußen und ich habe im Keller zu tun. 14.10 Uhr: Als ich wieder in die Wohnung komme, bemerke ich, dass Susi auf dem Aquarium sitzt. 77
Mich wundert gar nichts mehr, aber die Fische gibt’s nun mal nicht zum Nachtisch. Susi ist daraufhin tief beleidigt und geht freiwillig raus. 14.11 Uhr: Susi liegt in ihrer Kiste auf dem Stallboden und tut so, als ob sie schliefe. Tatsächlich aber heckt sie wohl wieder irgendwas aus. 14.30 Uhr: Ich habe auch was ausgeheckt. Susi ist nämlich mit dem von ihr total verhassten Impfen dran. Also tue ich in ihrer Gegenwart so, als ob ich etwas umräumen müsste und fördere dabei den Transportkorb zutage. Normalerweise verschwindet sie wie ein geölter Blitz, wenn sie das Ding sieht. Diesmal nicht. Ha! Ausgetrickst! 15.00 Uhr: Der Transportkorb steht immer noch draußen und wir belauern uns gegenseitig. Susi weiß, dass ich irgendwas vorhabe und ich weiß, dass ich verdammt schnell sein muss, weil sie ständig auf dem Sprunge ist. 15.20 Uhr: Ich bringe den Müll raus und Susi sitzt auf der Mülltonne. Will ihren Platz nicht verlassen. Ich setze mich durch! Danach kontrolliere ich die Aktualität meiner Tetanusimpfung - ist noch OK. Nur das Heftpflaster geht so langsam aus. 16.30 Uhr: Langsam wird es ernst. Ich mache mein Testament und bitte den Rest meiner Familie, schon mal vorsorglich für mich den Rettungswagen zu alarmieren. Susi muss nämlich eingefangen werden. 17.00 Uhr: Eine halbe Stunde lang habe ich im Garten rumgemurkst und dabei klammheimlich Susi beobachtet. Sie mich auch, aber ihre Aufmerksamkeit hat nachgelassen. Als sie über den 78
Gartenzaun springt, schnappe ich sie mir im Flug und stopfe sie blitzschnell in die Transportkiste. Susi ist völlig überrumpelt. Ab geht’s zur Leukoseund Tollwut-Schutzimpfung. 17.30 Uhr: Im Wartezimmer beim Tierarzt. Da sind viele Hunde. Susi kann Hunde nicht ausstehen, verhält sich aber auffallend ruhig. Zu ruhig. Ich ahne Böses. 17.40 Uhr: Eine Frau stellt einen Vogelkäfig mit zwei Wellensittichen unmittelbar neben Susis Korb. Susi bleibt weiterhin auffallend ruhig. Nur ihre Ohren liegen jetzt flach am Kopf an, die Schwanzspitze bewegt sich wie bei einer Klapperschlange und hin und wieder lugt mal ein Eckzahn vor. Ich beginne, mir ernsthafte Sorgen zu machen. 18:00 Uhr: In der Praxis. Susi faucht, beisst und kratzt. Kennt man ja, ist völlig normal. Untersuchung (sie hat eine Zecke im Ohr) und Impfung. Jedenfalls der Versuch dazu. Jetzt kommt nämlich der Moment, auf den Susi sich intensiv vorbereitet hat. Sie gibt alles. Resultat: Eine zerbrochene Zeckenzange, ein demoliertes Stethoskop, ein abgestürzter Computer (nach einem gezielten Sprung auf die Tastatur - man arbeitet dort unter Windows), eine abgebrochene metallene Spritzennadel, gleichmäßig überall verkleckerter Tollwutimpfstoff, eine demolierte Jalousie, überall verstreutes Wurmkurmittel. Nach einer halben Stunde und Schweißausbrüchen bei allen Beteiligten sieht die Praxis aus wie nach einem Tornado. Der Tierarzt macht einen Termin beim Psychologen und denkt über berufliche 79
Veränderungen nach. Susi ist wieder im Korb (jetzt geimpft!) und wir verarzten uns gegenseitig. Der Tierarzt ist sehr zuvorkommend und berechnet uns die Praxisrenovierung nicht. Schließlich haben wir ja auch seine Kundschaft gesichert, denn kurz vorher musste er die Wunden des Nachbarhundes nähen. Da hat der Doc dran verdient. Eine Hand wäscht die andere. Dennoch gibt er uns zu verstehen, dass wir beim nächsten Impftermin vielleicht doch besser vorher anrufen sollten, damit er das Betäubungsgewehr klarmachen kann. 18.40 Uhr: Rückfahrt. Susi schmollt und beschwert sich lautstark. Zuhause angekommen verschwindet sie sofort irgendwo im Stall, will mit uns nichts mehr zu tun haben, ist tief beleidigt. 19.15 Uhr: Es regnet wieder. Das ist schlimmer als das Beleidigtsein. Susi liegt daher wieder auf der Wohnzimmerfensterbank und guckt ‚Hör mal wer da hämmert’. 20.30 Uhr: Zeit, das Vieh endgültig rauszuwerfen. Geht auch ohne größere Verletzungen ab; nur, dass das Heftpflaster jetzt endgültig alle ist. 21.30 Uhr: Riesengeschrei von draußen. Vom Balkon aus sehe ich einen fremden Kater, welcher in einer Art von Flug mit annähernd Lichtgeschwindigkeit vom Grundstück flüchtet. Susi sieht auf einmal doppelt so groß aus wie sonst und erinnert gar nicht mehr an eine Hauskatze - mehr so an die ungebändigte Kraft eines urzeitlichen Raubtieres. Nachdem der Kater weg ist, legt sich das gesträubte Fell und das zahn- und klauenbewehrte Monster wird wieder zur
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vermeintlich ganz normalen Hauskatze. Aber was ist schon normal?
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2004: Synnie-Meeting Per
Internet war die Einladung zu einem zwanglosen Treffen an einem Wochenende ausgesprochen worden. Ohne besonderen Anlass, einfach nur mal „so zum Quatschen“. Per E-Mail wurden in Folge die Details geklärt, Termine und Uhrzeiten, Anreisewege nochmal abgesprochen. Die Leute nahmen teilweise Anfahrtswege von über hundert Kilometern auf sich. Nur um „mal so zu Quatschen“. Warum? Was war das Besondere? Die Besonderheit bestand darin, dass sich Synnies verabredet hatten. Leute, welche persönlich einander wildfremd waren, sich teils noch nie gesehen hatten, welche sich nur per Internet kannten. Also ein reines Kennenlern-Treff? Weit gefehlt! Ich war schon früher bei Synnietreffen. Ich weiß in etwa, was mich erwartet - und kann’s selbst kaum erwarten! Eine lange Fahrt. Zettel am Armaturenbrett und Landkarte auf dem Beifahrersitz, denn als Synnie kann ich mit einem Navigationsgerät nichts anfangen; da fehlt mir bei den verbalen Anweisungen einfach der Gesamtüberblick. Immer mal wieder kurze Blicke auf die Karte. Das benutze ich selbst dann, wenn ein Navigationssystem eingebaut ist. Ich hasse diese Dinger! Glücklicherweise lassen sie sich ja abschalten. Was ich brauche, ist die Übersicht. Die liefert mir die Landkarte. Immer schon so gewesen. 82
Und ich kann es nicht ausstehen, wenn mir ein Auto - ein Werkzeug! - dazwischenquasselt. Irgendwann komme ich an. Irgendwo im Nirgendwo. Ringsum Felder und Wälder, Natur - typisch Synnie! Ich weiß instinktiv, dass ich hier richtig bin. Hohe Erwartungshaltung der ganz besonderen Art. Drei sind schon da. Ich habe sie nie zuvor gesehen. Dennoch: Es ist wie ein Heimkommen. In meinem Kopf formen sich ihre Namen. Aber die werden auch verbal genannt - ein reines Gebot der Höflichkeit, im Grunde aber überflüssig, denn wir sind unter uns. Nur noch Empathie zählt, bis hin zur (schwachen) Telepathie. Es liegt was in der Luft. Diese besondere Stimmung, die es nur bei diesen Treffen gibt. Mit jedem neuen Gast baut sich so etwas wie eine ‚Art von Energie’ auf - ohne dass ich das näher spezifizieren könnte. Irgendwie kennt auch jeder jeden, gerade so, als ob sich Leute, welche sich jahrzehntelang nicht gesehen haben, wiedertreffen. Gleiche Wellenlänge eben. So nach und nach, wie ein Luftballon, den man langsam aufbläst, entsteht so etwas wie ein ‚Energiefeld’. Wenn dieses ‚Energiefeld’ (???) erst einmal da ist, dann scheine ich selbst (wie auch alle anderen) dazu mit beigetragen zu haben und davon auch wieder was aufzunehmen (und zwar immer zuviel), ohne es bewusst zu bemerken oder steuern zu können. Geben und Nehmen. Die Stärke der Energie scheint mit der Personenanzahl zu korrelieren. Entfernung scheint bei diesem ‚Energiefeld’ eine Rolle zu spielen, denn eine gewisse Mindestnähe muss gegeben sein. 83
Andererseits ist es personenunabhängig, solange es sich nur um Synästhetiker handelt (mit Nichtsynnies geht es nicht). In dieser Gruppe einander eigentlich fremder Menschen ist völlig selbstverständlich, was Nichtsynnies als skurril, verrückt oder lächerlich abtun. Weil sie ahnungslos sind. Weil wir eine Gemeinsamkeit haben: Die Wahrnehmung einer Art von ‚anderen Welt’. Synnies sind experimentierfreudig und kreativ. Das spiegelt sich in den kleinen Geschenken für die Gastgeberin wieder: ein Bild, ein Gedichtband, ein selbstgebrautes Getränk, eine Plastik u. ä. - alles Dinge, welche man nirgendwo kaufen kann. Unikate, welche darum nur umso geschätzter sind. Durchweg und ohne Absprache - wieder typisch Synnies! Für das leibliche Wohl werden kleine Snacks und Getränke sorgen. Wir - acht Frauen, zwei Männer, also ziemlich genau entsprechend der Rollenverteilung beim Auftreten von Synästhesie - sitzen zusammen und unterhalten uns. Über alles, über Gott und die Welt. Wenn sich Juristen mit Technikern, Techniker mit Diakonen, Diakone mit Schriftstellern, Schriftsteller mit Psychologen, Psychologen mit Studenten, Studenten mit Physikern, Physiker mit Programmierern, Programmierer mit Malern usw. treffen, dann gibt’s genug Gesprächsstoff. Fast alle haben mehrere Berufe, sind etwas (?) schlauer als der Durchschnitt und haben sehr weitreichende Interessen. Weitreichend genug, damit jeder auf dem Fachgebiet des anderen mithalten kann.
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Man braucht sich nicht zu verstellen und kann den Intellekt trainieren. Wer sich nicht verstellen muss, der hat auch nichts zu verbergen. Offenheit, Entgegenkommen und Toleranz sind selbstverständlich. Vielleicht gerade weil alle sehr selbstbewusst, sehr in-sich-gefestigt sind. Das Gespräch verläuft ganz von selbst wie eine Diskussionsrunde; die übliche Grüppchenbildung fehlt. Und es verläuft sehr sprunghaft, da zum großen Teil nonverbal. Gestik wird instinktiv beachtet und mit einbezogen. Im allgemeinen weiß man, was der/ die andere sagen will und hat schon eine Erwiderung darauf im Kopf. Manchmal auch auf der Zunge, noch bevor der/ die andere gesprochen hat. Man spürt eben, wie alles miteinander verbunden ist - eine Form von Telepathie? Daran stört sich niemand; das ist selbstverständlich und gibt der Diskussion immer wieder interessante, für Außenstehende sprunghafte, mitunter auch humorvolle Wendungen. Ein Außenstehender würde jetzt wahrscheinlich von ‚unmotivertem Lachen’ sprechen. Für uns aber sind synästhetisch begründete Assoziationsketten und Logiken keineswegs unmotiviert. Jeder versteht und achtet jeden, egal, ob achtzehn oder achtundfünfzig, egal, ob arbeitslos oder hohes Tier. Unterschiede gibt es nicht. Die Stimmung ist extrem gut, heiter-gelasseneuphorisch, auch völlig ohne Drogen. Wir sind unter uns. Synnies sind eigenständig und von keinem Oberhaupt abhängig. Wir sind eigenverantwortlich im Sinne einer uns 85
innewohnenden Ethik. Wir begreifen instinktiv die energetischen Grundlagen und gehen mit diesen möglichst wissenschaftlich um. Wir versuchen, die Dinge, welche unsere spezielle Wahrnehmung ausmachen, in unser Leben einzubauen. Wahrscheinlich hätte keiner was dagegen, wenn irgendwer einen Joint rauchen würde, aber es passiert nicht - weil es überflüssig ist. Auch der angebotene Alkohol bleibt unberührt. Dennoch ist die überschäumende Stimmung besser als auf so mancher Alk-Drugs-Party - quasi ‚naturbreit’. Liegt’s am ‚Energiefeld’? Wir tauschen uns simultan verbal und nonverbal-empathisch aus. Das ist viel intensiver, komplexer und vernetzter als jedes normale Gespräch - es geht darüber hinaus, sehr weit darüber hinaus. Und über allem hängt eine unausgesprochene und - da keiner sich die Konsequenzen auch nur annähernd vorzustellen vermag - auch undiskutierte Frage: „Was würde wohl geschehen, wenn dieser illustre Haufen von hochbegabten Allrounder-Individualisten die Möglichkeit hätte, zusammen zu arbeiten?“ Der Abend vergeht wie im Fluge. Ich habe - wir alle haben - im Grunde jedes Zeitgefühl verloren. Zeit ist auch unwichtig. Als wir beim Thema „Gemeinsamkeiten zwischen Buddhismus und Quantenmechanik“ sind (welches ich hochinteressant finde und bei dem sich die Frage aufdrängt, ob Kausalität nicht eine fundamentale Täuschung ist), stelle ich mit Erschrecken fest, dass wir es schon zwei Uhr nachts haben. Verdammt! Und morgen muss ich früh raus. Es ist aber auch noch eine lange Fahrt nach Hause. 86
Die anderen bemerken meine Terminnot, ohne dass ich etwas dazu sagen muss. Multidimensionale Wahrnehmung eben. Eine Entschuldigung für das Verlassen des Meetings ist nicht nötig, man hat Verständnis. Vielleicht habe ich auch nur ‚zu laut gedacht’? Egal - ich verabschiede mich und fahre zurück. Aufgedreht-euphorisch wie selten. Am Tag darauf komme ich mir wie nach einem Bob-MarleyMemorial vor. Das ist dann gleichzeitig Selbst-Verlust und Selbst-Findung, berstend vor ungerichteter Energie, macht euphorisch. Erst dann, wenn sich das langsam wieder abbaut, kann ich zielgerichtet sinnvolle Tätigkeiten (meist sehr kreativer Natur) ausführen (das ist geradezu wie ein Drang). Das hört sich jetzt vielleicht mystisch-bescheuert an, aber – schlag’ mich tot! - so isses nunmal! Und reproduzierbar. Hat mit Esoterik nicht das Geringste zu tun. Deswegen kann ich das nächste Synnietreffen auch kaum erwarten ... Synästhesie gibt uns echte Glücksgefühle. Ohne chemische Unterstützung. Geht wahrscheinlich den Meisten von uns so ...
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Migränöse Synästhesie Die
Hochdruckwetterlage ist zusammen gebrochen. Jetzt weht ein kräftiger Wind, eine Art von graubraun-voluminösem Rauschen vor dem inneren Auge produzierend - ohne dass es dieses ‚Graubraun’ als Farbe des Spektrums wirklich gäbe. Es ist die pseudovisuelle Wahrnehmung des Windrauschens, ein quasi-optischer Eindruck, auch virtuelle Farbe genannt. Diese Form der Wahrnehmung wird als Coloured Hearing Synästhesie bezeichnet. Jedes Geräusch erzeugt automatisch eine farbige Form, vermutlich basierend auf zusätzlichen neuronalen Verknüpfungen im Gehirn. Zwischen dem Graubraun tauchen zahllose marineblauweißliche Facetten auf, ähnlich Schaum, aber eckiger: Der Wind, der durch die Blätter der Bäume streicht. Das Rascheln der Blätter. Derartige Bilder laufen immer irgendwo im Hinterkopf mit. Sie überlagern sich mit der rein optischen Abbildung des visuellen Systems, sind integriert und bilden erst zusammen ein Ganzes. Ich kenne es nicht anders. Instinktiv blende ich immer zwischen beiden Wahrnehmungsarten hin und her, je nach Bedarf. Das war schon immer so und ist für mich absolut unverzichtbar. Nur heute, da gibt es Probleme damit. Probleme, die einen Migräneanfall ankündigen. Da mischen sich kaum wahrnehmbare, winzige goldfarbene Blitze mit ein. Kugeln, Dreiecke, 88
Prismen, Polyeder. Hinsichtlich der Farbe haben die ‚Blitze’ Ähnlichkeit mit der synästhetischen Wahrnehmung von Vogelrufen, doch die Formen sind falsch. Es ist etwas anderes. Und das Bild der blauweißen Facetten bleibt stärker im Vordergrund als mir lieb sein kann. Die Zeit vergeht. Während dessen verändern sich die Farben der Facetten. Nahezu unmerklich zuerst, aber dennoch immer deutlicher. Sie werden verfälscht, tendieren ins Rötlich-Kupferne, drängen sich in den Vordergrund, sind nicht mehr auszublenden. Auch bekommen die zuvor glatten Oberflächen der Facetten Auswüchse, Pickeln oder Stacheln ähnlich - was abstoßend aussieht und ebenso falsch ist. Eine Art von Rauchschleier vor dem linken Auge kommt hinzu, der seltsamerweise auch dann bestehen bleibt, wenn ich das Auge schließe. Aus dem Schleier wird ein nebliger Fleck, einem undeutlichen Vollmond hinter Wolken nicht unähnlich - jedoch oval und vertikal ausgerichtet. Dieser Fleck ist in die inzwischen geradezu störend vorhandene synästhetische Wahrnehmung integriert. Beides zusammen behindert nun das Sehen, macht es aber noch nicht unmöglich. Noch mehr Zeit vergeht. Die Lichtblitze sind mehr geworden und in die Länge gezogen. Sie ähneln jetzt den Vogelrufen, aber sie sind sehr viel greller. Störend! Auch die Facetten haben zugelegt. All das strebt diskontinuierlich langsam aber sicher dem Rand des Fleckens zu, wie Insekten, die von etwas Süßem angezogen werden. Am Rand des Fleckens verschmilzt das alles miteinander, erst ein 89
schwaches Leuchten, dann zunehmend. Grellübersteuerte, gezackte, sich unablässig bewegende Linien und Muster entstehen. Immer dort, wo es eben noch besonders blendend aufgeblitzt hat, ist im nächsten Moment ein schwärzliches Geringel zu erfassen, so dass es aussieht, als seien die grellzackigen Farbempfindungen von kleinen, schwärzlichen Spiralmustern durchsetzt. Vielleicht eine Art von optischem Negativ-Effekt. Der unerträglich blendende Rand des Flecks dehnt sich aus, der Fleck selbst auch. Er nimmt dabei eine Pastellfarbe an, mal gelblich-orange, mal grau, mal bläulich. Jedes Geräusch, jede synästhetische Wahrnehmung, jeder rein optische Reiz fließt jetzt unerträglich verstärkt in den Fortifikationsmuster genannten, grellbunten Zackenrand mit ein, bildet ein Ganzes und verstärkt ihn: Die Migräneaura ist voll da! Was ist welche Wahrnehmung? Welchen Einfluss haben Akustik, Optik, Synästhesie? Es ist nicht mehr zu differenzieren. Das instinktive hin und her Blenden zwischen synästhetischer und optischer Bildebene versagt. Fleck und Rand dehnen sich aus, erfassen mindestens die Hälfte des Gesichtsfeldes. Eine ganz massive Sehstörung, die praktisch jede zielgerichtete Tätigkeit unmöglich macht. An Arbeiten oder Autofahren ist nicht mehr zu denken. Parallel dazu baut sich der Schmerz auf und steigert sich mehr und mehr. Nach rund einer halben Stunde zerfasert der Rand des Flecks und der Fleck selbst verblasst, wird durchsichtig. Sehen ist wieder möglich (wenngleich auch mosaikartig 90
und mit verschobenen Proportionen), Hören auch, aber der Schmerz überrollt meinen Kopf wie eine Dampfwalze. Das Wissen um die biochemischen Abläufe bei der Migräne nützt mir dabei gar nichts. Jetzt heißt es rund acht Stunden aushalten. In dieser Zeit kann ich zwar die unterschiedlichen Wahrnehmungsformen wieder einigermaßen differenzieren, aber alles ist unerträglich verstärkt, wie übersteuert. Reizüberflutung pur! Da hilft nur eins: Hinlegen in einem dunklen, ruhigen Zimmer - mit einem Eimer neben dem Bett. Und warten bis sich alles wieder eingeregelt hat.
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Nachts im Watt Es
sind die letzten Oktobertage und ein zwar später, dafür aber umso herrlicherer Altweibersommer ist zu Ende gegangen. Gestern war das Meer aufgewühlt, stahlgraue Wellen unter bleigrauem Himmel, irgendwo in der Unendlichkeit des Horizonts ineinander über gehend. Eine Farbkomposition von ganz besonderem Reiz, denn einerseits ist sie optisch-ästhetisch hübsch anzuschauen, andererseits aber erinnert sie mich immer an das synästhetische Aussehen des ekligen Geruchs von Autoabgasen. Ich bin dann jedes Mal ganz hin und her gerissen - ist das nun schön oder doch nicht schön? Gegen Mittag haben sich die Wolken verzogen. Es klarte auf - wie üblich, wenn die Flut kommt. Flut war gegen fünfzehn Uhr und mit dem Wasser ging die Wärme, geleitet von einem Emil-Nolde-Himmel. Jetzt ist Ebbe. Ein prüfender Blick nach draußen: Klar und kalt. Aber der Tag neigt sich schon rapide seinem Ende zu. Die ersten Sterne sind bereits zu sehen. Wenn ich noch raus will, dann muss ich jetzt gleich losgehen. Orientieren kann ich mich später am Leuchtturm - oder am Nebelhorn, je nachdem, je nach Temperatur und möglichem Nebel. Auf jeden Fall wird es stockdunkel werden und ich brauche eine Taschenlampe. Nicht ganz ungefährlich, aber verlockend. Verlockend vor allem für meine Sicherheit der Wahrnehmung. Ich zögere - was tun? 92
Von unten aus der Gaststätte dringen Geräusche zu mir nach oben. Irgend so eine Feier, bei der man sich sehen lassen muss. Das Übliche: Sechzig Leute in einem Saal. So richtig kennt man sich nicht; einige sind fremd. Aber laut. Reden um des Redens Willen. Nur hört keiner dem anderen zu - jedenfalls nicht richtig. Das wird durch sinnfreies Gelabere wieder wett gemacht: Eine Bombenstimmung! Laut. Groß! Entnervend! Einzelne, dunkelgrüne Wortfetzen mit einem Aussehen ähnlich abstrakter Hieroglyphen aufdringlich im Vordergrund, dahinter ein Einheitsbrei aus überdimensioniert aussehender, gelblich-olivfarbener Lautstärke, durchsetzt von schmutzig-weißen Bändern ohne klare Konturen. Reden ohne zu kommunizieren. Das gibt den Ausschlag. Nur weg davon! Ich greife nach meinen Gummistiefeln. Später. Der Deich liegt schon hinter mir. Es ist kälter als ich dachte; es friert. So um die minus fünf Grad schätze ich. Es wird Nebel fallen. Am Gürtel baumelt die große Taschenlampe. Das Licht des Leuchtturms ist weithin zu sehen. Eintönige, goldbraune Stille liegt über dem Watt - ‚meinem' Watt, denn hier an der Nordsee bin ich aufgewachsen und hier kenne ich mich aus. Von Ferne ist das gluckernde Rauschen der Brandung zu vernehmen. Ein Bild wie verharschte, angetaute und marmorierte Altschneedecken. Aber bis zur Wasserlinie will ich gar nicht. Das wäre Selbstmord. Das sind hin und zurück gut zehn Kilometer, dazwischen die Priele. Bei Dunkelheit viel zu gefährlich. Das Schmatzen des Wattbodens an den 93
Stiefeln bildet braun-weißlich-fädige Strukturen, dem Aussehen von Bartalgen nicht ganz unähnlich. Ich laufe weiter, lasse die Taschenlampe aber aus. Orientiere mich nur mit den Ohren, haptisch und - natürlich! - synästhetisch. Außerdem gibt der Mond mit seinem schwachen, silbrig-bleichen Licht einem ja auch noch die Illusion von Beleuchtung. Ich kenne genügend Leute, die solche Touren hier draußen für verrückt halten, vor allem bei Dunkelheit oder Nebel. Vielleicht ist das ja auch verrückt - aber ganz gewiss nicht verrückter als Bungee-Jumping, Rennen fahren und solche Sachen. Außerdem habe ich hier draußen noch einen Riesenvorteil. Ich brauche mich nämlich nicht zu erklären und kann meine ‚andere' Wahrnehmung voll nutzen. Ein Synästhetiker wird dieses Gefühl wahrscheinlich sofort nachvollziehen können. Bei einem Nichtsynnie würde ich auch nach einem langatmigen Vortrag über das ‚Wieso' und ‚Warum' solcher Ausflüge nur absolutes Unverständnis bis hin zu unverhohlener Abneigung ernten. Egal! Hier bin ich allein; hier kann ich Mensch sein. Ich gehe weiter. Die braunweißen Fäden unter meinen Füßen verändern sich, werden silbriger, machen glasähnlichen Flecken Platz. Ich habe einen der Priele erreicht und bleibe stehen. Versuche, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Vergeblich. Das Licht des Leuchtturms ist verblasst. Aha - der erwartete Nebel fällt. Vorsichtig schiebe ich die Füße in diesen Fluss auf dem Meeresgrund. Wie tief mag der jetzt wohl noch sein? Ich schätze es auf gut zwanzig Zentimeter und ziehe einen Handschuh aus. 94
Tauche die Hand in das eiskalte Wasser, spüre die Strömung, spüre die Kälte in Form von rotblauem, eiskaltem Schmiedefeuer in die Haut beißen. Das Wasser läuft ab. Stauwasser ist noch fern. Ich entschließe mich zur Überquerung und bin kurz danach auf der dem Strand vorgelagerten Sandbank. Gehe weiter. Lange. Ein neues Geräusch unter den Füßen - weißliches, von schwarzen Spitzen durchsetztes Knacksen. Die Pfützen auf der Sandbank sind bereits gefroren; das Geräuschbild kommt vom zersplitternden Eis. Ich bleibe stehen. Lausche. Drückend lastet jetzt ein ungeheures Schweigen auf dieser Landschaft und selbst das Altschnee-Rauschen des ewigen Meeres scheint verstummt zu sein. Ich schaue in die Richtung, in der ich das Ufer und den Leuchtturm vermute. Aber da ist nichts mehr. Der Nebel ist dick wie Watte gefallen und verschluckt jedes Geräusch. Nur ein Ton ist noch dumpf und leise zu vernehmen - und für mich auch zu sehen: Das graue, wie ein auf die Seite gelegter Turm von aufgestapelten Untertassen aussehende Rufen des Nebelhorns. Zeit zur Rückkehr. Zeit für den Einsatz der Taschenlampe. Ich bewege mich in Richtung des Nebelhorns und leuchte dabei auf den Wattboden. Suche etwas und finde es auch - nämlich Seetang. Der Ebbstrom hat die Büschel zur Seeseite hin gezogen und dadurch bilden die Pflanzen unverwechselbare Wegmarken. In entgegengesetzter Richtung liegen Strand und Deich. Die Pflanzen geben die Richtung vor und der liegende Untertassenstapel 95
wird größer. Genau genommen halte ich die Augen jetzt nur noch aus Gewohnheit geöffnet. Ich könnte sie ebenso gut schließen; es würde keinen Unterschied machen - denn zu sehen ist in dieser grauweiß-dunklen Suppe ohnehin nichts mehr. Primär liegt die Aufmerksamkeit auf den Geräuschbildern. Die verändern sich wieder; erneut tauchen silbrige Flecken auf. Gut - der Priel ist schon mal erreicht. Das Wasser ist noch weiter gefallen und die Durchquerung erfolgt problemlos. Dann dauert es nicht mehr lange. Aus silbrigen Flecken werden wieder braunweiße Fäden und auch der Untertassenstapel wird immer größer, sprich die Lautstärke des Nebelhorns nimmt kontinuierlich zu. Der Strand ist erreicht; der Deich wird überschritten. Das Festland hat mich wieder. Hinter dem Deich noch eine kurze Orientierungspause, um festzustellen, wo ich denn nun eigentlich heraus gekommen bin. Rechts von mir befindet sich der Tonnenhof - gut, dann sind noch rund zwei Kilometer Fußmarsch angesagt. Schon von Weitem kann ich das Lärmen aus der Gaststätte vernehmen. U- und Ellipsen-förmige Hieroglyphen, jetzt noch aufdringlicher als beim Aufbruch. Furchtbar! Vielleicht hätte ich doch im Watt bleiben sollen?
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Musik ... ... was ist das eigentlich? Für den Physiker modulierte Schallwellen. Für den Musiker mehr oder weniger harmonische Noten- bzw. Tonfolgen. Und für mich? Bilder. Nicht statisch, sondern eher wie ein Film, obwohl es das nicht richtig trifft, denn diese Bilder sind plastisch, sind räumlich. Musik: Das sind Strukturen, deren Bewegung entfernt den Strudeln und Wirbeln auf der Oberfläche eines träge dahinfließenden Baches ähnelt. Musik: Das sind Farben, wie man sie vom Wechselspiel auf der Oberfläche einer Seifenblase her kennt. Und doch ist das alles wieder ganz anders ... Da sind Basstöne - dunkelrotbraunkupferfarbene, voluminös-wolkige Gebilde. Beim Cello mit ockerähnlichen Streifen durchsetzt, bei der Bassgitarre eher an eine gelblich-schattierte, spiralige Form erinnernd. Die gleichmäßig gespielte Bambusföte ist ein sich schlängelndes, elfenbeinfarbenes Gebilde - ihr kurzer, schriller Ton hingegen ähnelt eher einem langen, blassgelben Eiszapfen. Jedes Instrument und die Art, wie es gespielt wird, besitzen ihr ganz individuelles, charakteristisches ‚GeräuschAussehen’. Werden mehrere Instrumente zusammen gespielt, dann sind das bogen-, röhren-, halbkugel-, tropfen-, zapfenförmige farbige Formen, die ineinander greifen, umeinander tanzen und sich 97
gegenseitig zu einem größeren Ganzen ergänzen - einem Nordlicht nicht ganz unähnlich. Das von Solist zu Solist typische und individuell sehr unterschiedliche Aussehen einer darin enthaltenen Gesangsstimme wirkt wie das Gewürz in einer guten Mahlzeit. Manchmal ist so ein Gefüge nur schwer zu erfassen, weil ich instinktiv versuche, mich beim Hören immer auf ein einzelnes Instrument zu konzentrieren. A-Cappella-Gesang oder sparsam instrumentierte Stücke wie bspw. der zur Gitarre singende Liedermacher vereinfachen die Verarbeitung des Wahrgenommenen. Andererseits aber haben auch orchestrierte Stücke durchaus ihren ganz eigenen Reiz, denn bei einem Gemälde betrachtet man ja auch nicht nur den einzelnen Pinselstrich, sondern die emotionale Wirkung des Ganzen. Elektronische Musik nimmt in gewisser Weise eine Sonderstellung ein, denn bei ihr verschmelzen die verschiedenen Formen und Farben nicht zu einem filigranen, federartigen Ganzen, sondern bleiben einzeln deutlich erkennbar. Da ist der elektronisch erzeugte, helle Glockenton, der sich wie ein Silberring aus dem Dunkel schält. Da sind die Techno-Beats, die etwas von zerfließenden, antiken Bienenkörben in Dunkelrot haben. Zusammen ergibt das mitunter einen sehr ästhetisch anzuschauenden Kontrast. Entsprechend beurteile ich die Musik auch primär nach ihrem Aussehen. Sieht sie unästhetisch aus, dann gefällt sie mir nicht. Ich erinnere mich noch sehr gut an den Tag in der achten Klasse, als wir eine
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Musikarbeit über eine Freejazz-Version der Marseillaise schreiben mussten. Diese verhunzte Version klang nicht nur furchtbar, sie sah zudem auch noch disharmonischunästhetisch aus. Besagtes Musikstück hätte man bestenfalls noch recyceln können: Gleichrichten und Akku laden! Ich wusste, dass die Musiklehrerin etwas von „freier Improvisation“ und von „künstlerischer Gestaltung“ hören wollte. Ich blieb mir selbst treu und war ehrlich. Ich bezeichnete diese akustische Umweltverschmutzung als „kakophonisches Klanggeklotze“. Und genau das war es auch, dazu stehe ich noch heute. Leider sah seinerzeit die Musiklehrerin das etwas anders. Musik war mein meistgehasstes Schulfach und doch kann ich ohne Musik nicht leben. Als Coloured-Hearing-Synästhet ist MP3 für mich ganz persönlich eine der bedeutendsten Erfindungen des zwanzigsten Jahrhunderts. Das Notenlesen habe ich trotz allem nie erlernt, denn diese schwarzen Kleckse auf liniertem Papier haben mit dem wirklichen Aussehen der Töne nicht auch nur im Entferntesten das Geringste gemeinsam. C-Dur auf einer Geige ist ein greller, grüngelbsilberner Halbkreis. C-Dur auf einer Orgel ist wie ein orangener Fluss in der Landschaft. Es ist vom Aussehen her absolut nicht miteinander zu vergleichen, ob Vanessa Mae oder Werner Jacob Bach's Toccata spielen. Wie können Notenblätter so etwas nur widerspiegeln? Wie lässt sich das synästhetische Erfassen von Musik so visualisieren, dass auch Nichtsynästheten einen Eindruck davon erhalten? 99
Anhang Nahtod Die Rohfassung dieser Geschichte erschien 2006 in der nicht-öffentlichen Community ‚Geistsieg’ und später auf meiner Mystery-Stories-WebSite. Sie ist zudem in meinem Buch ‚Nicht von dieser Welt’ enthalten. Jedes Wort dieser Story ist wahr. 1910: Wilhelm Diese Geschichte ist in abgewandelter Form im Jahre 2006 in meinem Roman ‚Norgast’ bereits erschienen. Die hier vorgelegte Urfassung wurde bereits im Jahre 2005 auf meiner HP unter asmodis.heim.at publiziert und ist rein fiktiv. Waldspaziergang Diese Geschichte ist in abgewandelter Form im Jahre 2006 in meinem Roman ‚Norgast’ bereits erschienen. Die hier vorgelegte Urfassung wurde bereits im Jahre 2005 auf meiner HP unter asmodis.heim.at publiziert und ist exakt so auch passiert. Die Story wurde im Jahr 2004 eigens für ein Synästhesie-Buch einer anderen Autorin angefertigt. Leider wurde das damalige Projekt sang- und klanglos beerdigt; die Gründe dafür sind mir nicht bekannt. 1935: Marie Diese Geschichte ist in stark abgewandelter Form im Jahre 2006 in meinen Roman ‚Norgast’ eingeflossen. Die hier vorgelegte Urfassung wurde 100
bisher noch nicht publiziert und ist rein fiktiv. Sie entstammt einem unveröffentlichten und unvollendetem Romanmanuskript. Rodeln Diese wirklich so erlebte Geschichte ist im Jahre 2005 erstmals auf meiner HP unter asmodis.heim.at veröffentlicht worden. 1949: Gerda Bei dieser fiktiven Geschichte handelt es sich um eine Erstveröffentlichung. Unheimlich Eine Erstveröffentlichung, bei der sich Fiktion und tatsächliche Begebenheiten miteinander vermischen. 1960: Inge Wieder eine Erstveröffentlichung und wieder eine rein fiktive Geschichte. Auch diese Geschichte entstammt dem bereits erwähnten, unvollständigen Romanmanuskript. Nordseeinsel Diese Story ist wirklich genau so passiert und wurde 2005 bereits unter asmodis.heim.at publiziert. 1967: Peter Bei dieser bis dato unveröffentlichten Erzählung habe ich nur die Namen verändert. Der Rest ist wahr. Aufmerksamkeitsstörung Diese wahre Geschichte wurde erstmals 2005 unter asmodis.heim.at veröffentlicht.
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1977: Angelika Auch bei dieser bisher unveröffentlichten, wahren Geschichte habe ich nur die Namen verändert. Datenanalyse Die Geschichte ist bereits vorab im Jahr 2005 unter asmodis.heim.at veröffentlicht worden - und jedes Wort entspricht den Tatsachen. 1988: Kathrin Wieder eine bislang unveröffentlichte Mischung aus Fakt und Fiktion. Bei den Fakten habe ich die Namen und Orte geändert. Katzenleben Eine Geschichte, die ich bereits im Jahre 2004 im nichtöffentlichen Bereich von www.synaethesieforum.de veröffentlichte und ab 2005 auch unter asmodis.heim.at präsentierte. Gut, ich gebe zu, dass die Story vielleicht etwas überspitzt ist. Aber im Großen und Ganzen ist sie wahr ... 2004: Synnie-Meeting Diese bereits 2004 bei asmodis.heim.at publizierte Story beruht Wort für Wort auf Tatsachen. Migränöse Synästhesie Diese Geschichte schildert die Realität. Die Story entstand Anfang Oktober 2006 als Auftragsarbeit für die Migräne-Webseite migraeneaura.org des Universitätsklinikums Aachen. Obgleich die Veröffentlichung fest zugesagt worden war, kam es aus klinikinternen organisatorischen Gründen niemals dazu. 102
Nachts im Watt Bei dieser Story handelt es sich um eine Auftragsarbeit für die „Akademischen Mitteilungen Amzwoelf“, eingereicht Anfang Januar 2007. Hier mischen sich Fiktion und Realität. Die nächtliche Wattwanderung und die Feier inklusive der synästhetischen Wahrnehmungen dabei entsprechen der Realität. Fiktiv ist allerdings das Zusammentreffen der Ereignisse, denn die Wattwanderung mit der Feier als Auslöser ist frei erfunden. Ob die Geschichte überhaupt erschienen ist, ist mir nicht bekannt. Die AMzwoelf-Redaktion hielt es nicht für notwendig, meine diesbezüglichen mehrmaligen Anfragen zu beantworten. Musik ... Das ist eine Auftragsarbeit für den zweiten Newsletter der Deutschen Gesellschaft für Synästhesie (DSG) aus dem Jahr 2008. Aus Platzgründen konnte dort allerdings nur ein Auszug abgedruckt werden. Hier liegt die gesamte Story erst mal vollständig vor – und jedes Wort entspricht den Tatsachen.
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