James Fenimore Cooper
Lederstrumpf Der Wildtöter – Der letzte der Mohikaner – Der Pfadfinder Die Ansiedler – Die Prärie...
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James Fenimore Cooper
Lederstrumpf Der Wildtöter – Der letzte der Mohikaner – Der Pfadfinder Die Ansiedler – Die Prärie
Scanned by Luculus
Hurtig stieg der Doktor mit dem Alten in die schwimmende Büffelhaut. Alsbald schaukelten sie über das reißende Wasser, von dem jungen Pawnee auf der kräftigen Stute sicher geführt.
Für die Jugend neu bearbeitet von Karl S. von Galera
Sechste Auflage 1962
© Copyright 1956 by Boje-Verlag, Stuttgart Gesamtherstellung: Ebner, Ulm/Donau Umschlag: Walter Rieck • Innenbilder: F. Hanel Printed in Geimany
INHALTSVERZEICHNIS DERWILDTÖTER Vorbemerkung 7 Mahlzeit am See 7 Flucht ins Kastell 13 Ein tödlicher Schuß 18 Die opferbereite Tochter 26 Das Lösegeld 32 Wah=ta=Wahs Befreiung und Wildtöters Gefangenschaft 37 Kampf im Blockhaus 43 Tom Hutters Tod 45 Wildtöters Fluchtversuch 48 Befreiung 51 Hettys Tod 56 DER LETZTE DER MOHIKANER Vorbemerkung 59 Aufbruch 60 Zuflucht in der Felsenhöhle 64 Überrumpelung 67 Im Lager der Huronen 72 Ankunft im Fort „William Henry" 76 Nach der Kapitulation 79 Uncas im Lager der Huronen 84 Wiedersehen in der Höhle der Besessenen 88 Uncas Befreiung 93 Maguas Besuch bei den Delawaren 95 Urteil des Hundertjährigen 98 Uncas Tod 106 DER PFADFINDER Begegnung im Walde in Fahrt auf dem Oswego 117 Kampf im Oswego 119 Ringkampf im Fluß 125 Vorbereitungen im Fort 127 Das Preisschießen 131 Verdacht gegen Jasper 133 Cap und das Süßwasser 142 Belagerung im Blockhaus 154 Rückkehr auf die Insel 163 Entlarvung des Verräters 167
DIE ANSIEDLER
Heimfahrt im Schlitten 172
Begrüßung auf der Straße 176 Empfang in Templeton 178 Doktor Todd und John Mohegan 180 Tischgesellschaft am Heiligen Abend 185 Streiflichter auf Templeton 185 Im Pfarrhaus 188 Im Wirtshaus „Zum kühnen Dragoner" 192 Weihnachtspreisschießen 198 Angebot des Richters 205 Olivier Eduard im Herrenhaus 208 Ritt in den Wald 209 Nächtlicher Fischzug 213
Hirschjagd im See 216 Abenteuer mit dem Panther 221 Ränke gegen Lederstrumpf 224 Lederstrumpfs Verhaftung 229 Lederstrumpfs Verurteilung 230 Flucht 233
Waldbrand und Mohegans Tod 237 Enthüllung 242 Ein Denkmal 246 DIE PRÄRIE Auswanderer 240 Zusammentreffen mit den Sioux 255 Überfall auf das Lager 259 Aufbruch 263 Überraschende Erscheinung 264 Fremder Abenteurer 267 Zwischenspiel in der Nacht 270 Asas Tod und Begräbnis 272 Die Flucht 275 Begegnung mit dem Pawnce 278 Angriff auf den Felsen 281 Präriebrand 286 Überrumpelung 289 Gefangenschaft bei den Sioux 292 Versammlung der Sioux 297 Indianerschlacht am Plattestrom 304 Gericht in der Prärie 310 Rückkehr in die Ansiedlung 315 Das Ende des alten Trappers 317 Nachwort 320
I DER WILDTÖTER Vorbemerkung Im Juni 1740, zu jener Zeit, da diese Geschichte spielt, war New York auf der Landseite noch von der Wildnis eingeschlossen. Weite Wälder, in denen die silbernen Flächen der Seen und der gewundenen Flußläufe schimmerten, dehnten sich fast bis zur Küste. Sie waren von schmalen Kriegspfaden durchzogen, die das ungeübte Auge des Europäers kaum entdeckte, und bargen viele furchtbare Gefahren. Den Indianern boten diese Wälder in ihrem Kampf gegen die verhaßten Europäer willkommene Schlupfwinkel, und mancher weiße Mann, der den unheimlichen Urwald betrat, verließ ihn lebend nicht wieder. Nur an der Küste zog sich ein schmaler Streifen offenen Landes entlang. Dort hatten die Europäer ihre Häuser gebaut. Aber Tag und Nacht mußten sie vor ihren Todfeinden, den Rothäuten, auf der Hut sein, und so sahen diese Häuser nicht anmutig und freundlich aus, hatten keine offenen Türen und helle Fenster, sondern waren düster wie Festungen. Nur durch wenige Schießscharten drang spärliches Licht ins Innere. Die folgende Geschichte ereignete sich ein paar hundert Kilometer nördlich von New York in unmittelbarer Nähe der kanadischen Grenze, südlich von Montreal.
Mahlzeit am See Das scharfe Knacken von Zweigen verriet die beiden Männer, noch ehe sie aus der dunklen Wand des sumpfigen Waldes heraustraten. Auf der kleinen Lichtung am Abhang des Hügels blieben sie stehen. Der Vordere schien der Führer zu sein. Er war groß, breit und offensichtlich stark. Sein gutmütiges Gesicht hatten Wind und Sonne gebräunt. Siebenundzwanzig Jahre mochte er zählen. Sein Begleiter war zweifellos einige Jahre jünger, aber ebenfalls fast zwei Meter groß. Mit der Kraft seiner Muskeln schien er eine außerordentliche körperliche Gewandtheit zu verbinden. Man konnte ihn nicht gerade schön nennen, und doch flößte sein Gesicht Vertrauen ein. Seine buschigen Augenbrauen verrieten einen starken Willen. Beide Männer trugen hirschlederne Anzüge und Jagdausrüstung: Flinte, Pulverhorn, Waidmesser und Tasche. Auf den dunklen Haarlocken saßen weiche Wildlederkappen. „Endlich", sagte der Ältere, dessen Jagdmesser einen auffallend schön geschnitzten Griff besaß, und holte tief Atem, „kann man mal wieder frei um sich sehen." Er wandte sich zu seinem Begleiter um, schlug ihm mit der Hand auf die Schulter und rief: „Wildtöter, wir haben's geschafft! Da ist der See!" „Kennt Ihr denn die Gegend, Hurry?" fragte der Angeredete und trat neben ihn. „Oder freut Ihr Euch nur, weil wir endlich wieder Sonne und blauen Himmel sehen?" „Stimmt beides, mein Lieber! Ich freue mich aber vor allem, daß ich gerade hierhergekommen bin; denn an diesem Flecken hier hatten im vergangenen Sommer die Auswanderer eine ganze Woche lang gezeltet. Seht da drüben" — er deutete mit dem Arm den schmalen Wiesenstreifen am Seeufer entlang —, „dort steht noch das dürre Holzgerüst ihres Zeltes! Und hier" — er wandte sich halb zur Seite, zum Walde zurück —, „hier ist die Quelle. Doch jetzt, mein Junge, habe ich erst einmal einen Bärenhunger.
Hier läßt sich gut rasten. Außerdem ist es Mittagszeit. Packt mal schnell Eure Jagdtasche aus. Wir müssen uns ausgiebig stärken, denn ein weiter Weg liegt noch vor uns!" Der Ältere breitete rasch seine Schätze auf dem Rasen aus: Bärenschinken, Hirschkeule, geräucherte Forellen, derbes Schwarzbrot und einen Krug voll gebrannten Wassers. Sie machten es sich auf der Wiese bequem. „Greift tapfer zu, mein Lieber", ermunterte Hurry March, der eigentlich Heinrich March hieß und nur wegen seines unruhigen Wesens von den Indianern Hurry genannt wurde, seinen Gefährten. „Ihr seid so stolz auf Eure Delawarenerziehung. Zeigt nun mal, daß Ihr mit Zahn und Magen ebenso mutig seid wie mit der Flinte!" Wildtöter ließ sich nicht lange nötigen. Kräftig biß er in ein großes Stück Fleisch von der geräucherten Hirschkeule. Kauend schnitt er von dem Schwarzbrot mit seinem Jagdmesser eine dicke Scheibe herunter. Mit Heißhunger verschlang er die ersten Bissen. „Was gehört schon für Mut dazu, so einen armen Hirsch mit einer Kugel umzulegen!" meinte Wildtöter. „Natürlich, bei Bären, Panthern, Wildkatzen und ähnlichem Raubgetier ist es schon etwas anderes! Nein, nicht wegen meiner Kühnheit und Tapferkeit nannten mich die Delawaren Wildtöter, sondern weil meine Augen scharf und meine Füße flink sind. Geschick braucht ein guter Jäger, wenn er den Hirsch jagen will. Aber Tapferkeit, Mut — ach, die sind dazu wirklich nicht nötig!" Ein kleines verächtliches Lächeln spielte um Hurrys Lippen. „Na gewiß", räumte er ein, „besondere Helden sind ja die Dela waren nun wahrhaftig nicht. Sonst hätten diese elenden Mingos, diese Landstreicher, sie nicht so leicht zu Weibern machen können!" Eine steile Falte grub sich in Wildtöters Stirn. Barsch entgegnete er: „Ihr seid ungerecht, Hurry. Die Mingos lügen! Ich kenne die Delawaren! Zehn Jahre wohne ich nun unter ihnen. Ich weiß, daß sie genau so tapfer wie alle anderen Indianer sind, wenn es zu kämpfen gilt." Hurry machte eine geringschätzige Handbewegung. „Wir wollen nicht streiten! Jedenfalls seid Ihr ein guter Jäger. Nun aber eine Frage: Habt Ihr bisher nur auf Tiere oder auch auf Menschen geschossen?" Wildtöter zögerte, gestand dann aber freimütig: „Offen gesagt: ich hatte niemals hierzu Gelegenheit. Eigentlich bin ich nur froh darüber. Es wäre mir schrecklich, einen Menschen töten zu müssen." Hurry lachte hell heraus. „Sind Indianer vielleicht auch Menschen? Pah! Ich wäre doch wahnsinnig, wenn ich solch ein ekliges Vieh schonen wollte! Ich halte es für durchaus anständig, wenn ich einen Indianer von hinten niederschieße. Ihr seht: ich habe schon meine Grundsätze. Jeder einzelne dieser blutgierigen roten Teufel, der als Toter vor mir liegt, erhöht meine Ruhe und Sicherheit. Viel zuviel von diesem Gesindel schleicht hier in den Wäldern herum. Ich verstehe Euch nicht" — mißbilligend schüttelte er den Kopf —, „aber mit solchen Ansichten könnt Ihr Euch bei mir nicht beliebt machen!" Wütend warf er den Knochen der verzehrten Hirschkeule hinter sich. Wildtöter nahm aus dem bauchigen Tonkrug einen kräftigen Schluck gebrannten Wassers. Nach kurzem Schweigen zuckte er die Schultern und entgegnete ruhig: „Wenn Euch meine Ansichten nicht gefallen, können wir uns heute noch trennen. Im übrigen erwarte ich meinen Freund Chingachgook." Mit erhobener Stimme fuhr er fort: „Der hält es nicht für eine Schande, mit einem Manne zu verkehren, der noch keinen seiner Mitmenschen gemordet hat!"
Die Aussicht, allein weiterziehen zu müssen, gefiel Hurry nicht. Er suchte den anderen zu beschwichtigen. „Nur ruhig Blut", knurrte er. „Ihr braucht doch nicht gleich beleidigt zu sein! Was will überhaupt dieser junge Delawarenhäuptling hier? Wo wollt Ihr Euch denn mit ihm treffen?" „Unten am See." Wildtöter zeigte mit der Hand über die silberne Wasserfläche in die vom heißen Dunst des Sommers verschleierte Ferne. „Es gibt dort einen kleinen runden Felsen, wo die Indianer Verträge ab» schließen und ihre Streitäxte begraben, wie mir mein Freund sagte. Ich selbst war allerdings noch nicht da. Aber ich weiß, daß die Mingos und die Mohikaner diesen Felsen und seine nächste Umgebung als gemeinsames Eigentum betrachten, wo sie zusammen fischen und jagen." Hurry lachte laut auf. „Gemeinsames Eigentum ist gut! Was wird wohl Tom Hutter dazu sagen, der den See seit fünfzehn Jahren als sein Eigentum betrachtet? Tom Hutter wird ihn wohl kaum den Mingos und den Delawaren friedlich überlassen wollen." „Tom Hutter?" Wildtöter grübelte. „Von dem habe ich schon gehört. Wohl so eine Art Sonderling, was? Wer ist das eigentlich?" „Allerdings", gab Hurry zu, „ein bißchen komisch ist er ja. Er lebt wie eine Bisamratte. Darum wird er auch von den Ansiedlern so genannt. In seiner Jugend soll er ein weitgereister Seemann gewesen sein. Andere behaupten sogar, er sei Seeräuber gewesen. Jetzt wohnt er als reicher, alter Mann mit seinen beiden Töchtern Judith und Hetty in einem Blockhaus mitten im See. Das Haus steht auf einer Sandbank, die drei Meter unter der Wasseroberfläche liegt und mit dem Ufer verbunden ist. Hutters Haus kann nur mit Kanus angegriffen werden, da man es vom Lande aus nicht wirksam beschießen kann. Darum ist Hutter ziemlich sicher vor einem Überfall der Rothäute. Er hat auch noch eine Art schwimmendes Wohnhaus, das er Arche nennt. Bei wirklich drohender Gefahr zieht er sich dorthin zurück." Aufmerksam hatte Wildtöter zugehört. Jetzt fragte er: „Wenn er zwei Töchter hat, Hurry, dann müssen die doch auch eine Mutter haben?" „Die Mutter? Die ist seit zwei Jahren tot. Sie ist im See beigesetzt, wie es bei Seeleuten Sitte ist." Dies überraschte Wildtöter. „Was? Er hat seine tote Frau in den See versenkt, wo er soviel Land um sich herum hat? Ein Begräbnis im Wasser ist doch nur da üblich, wo man die Leiche nicht auf dem Lande bestatten kann! Diesen seltsamen Zeitgenossen möchte ich wahrhaftig mal kennenlernen!" „Das kann heute schon geschehen. Wenn wir mit dem Essen fertig sind, wollen wir ihn und seine Töchter besuchen. Die schöne Judith wird gewöhnlich die wilde Rose genannt. Die arme Heddy scheint leider etwas schwachsinnig zu sein. Kein Indianer tut einem einfältigen Menschen etwas zu leide. Angeblich steht ein solches Wesen unter dem Schütze des großen Geistes." Wildtöter dachte ein paar Augenblicke nach, dann meinte er: „Die Delawaren habe ich auch schon von Judith sprechen hören. Ich glaube aber kaum, daß mir das Mädchen gefallen würde." Diese freimütige Bemerkung kränkte Hurry March. Empörung wallte in ihm auf. „Seit ihrem fünfzehnten Jahre wird das Mädchen von Männern verehrt. Es ist daher wohl nicht anzunehmen, daß sie einen Knaben auch nur eines Blickes würdigen wird." Kaum hatte er dies gesagt, als er seine Worte auch schon bereute. Nach kurzer Pause fuhr er gutmütig lachend fort: „Wir sind doch Freunde, Wildtöter, und wollen uns nicht wegen eines leichtfertigen Mädchens überwerfen, nur weil es hübsch ist. Ich will ganz offen sprechen. Vor zwei Jahren hätte ich sie heiraten können, aber — ich brachte es nicht über mich. Sie war zu leichtlebig. Außerdem wußte ich nicht, ob sie mich haben wollte. Wenn die Offiziere aus den Forts am Mohawk an den See kommen, um zu fischen und zu jagen, dann ist die schöne Judith außer sich. Aber sie sollte doch wissen, daß die Offiziere, diese vornehmen Herren, nie ehrliche Absichten gegen ein Mädchen aus ein» fächern Stande haben. Ihre Schwester Heddy ist zwar nicht so schön, hat aber einen besseren Charakter." „Von ihr haben die Delawaren nie gesprochen."
„Sie ist des Vaters Liebling. Auch Judith ist gut zu ihr. Beide beschützen sie wie die Vogeleltern ihr Junges. Sonst wäre ihr vielleicht manch Schlimmes widerfahren — von den Fremden, die herkommen." Die letzte Bemerkung beunruhigte Wildtöter. Nichts haßte er mehr als den Lärm und den Trubel der großen Welt. Er fragte: „Kommen denn so viele Fremde hierher?" „Na, mehr als zwanzig Weiße werden wohl noch nicht hier gewesen sein — Jäger, Biberfänger, Kundschafter. Aber auch zwanzig können schon viel Schaden anrichten." Sinnend blickte Hurry vor sich hin. Mit einem tiefen Seufzer fügte er hinzu: „Ich könnte mir nichts Schrecklicheres denken, als wenn ich jetzt, nach sechs Monaten, Judith verheiratet vorfinden würde." „Würdet Ihr ihren Mann umbringen?" „Wer mir als Feind entgegentritt, den schlage ich nieder!" Wildtöter erschrak über die Härte dieser Worte. „Und ich würde das sofort der Kolonie berichten, damit die schlechte Tat ihre gerechte Sühne findet!" „Du grüner Junge würdest es wagen, gegen mich auszusagen?" brüllte Hurry March. Seine Augen funkelten vor Zorn. Er wollte aufspringen, den anderen an der Kehle packen. Dann aber zischte er nur: „Ich glaubte, wir seien Freunde. Aber ich werde Euch nichts mehr erzählen." „Ist auch nicht nötig", erwiderte Wildtöter ruhig. „Aber eines möchte ich Euch doch sagen: es ist ein großer Irrtum, zu meinen, daß in den Wäldern nicht das Gesetz der Menschen gilt. Wo Menschen sind, ist auch das Gesetz. Und es gibt einen Gesetzgeber, der die ganze Welt regiert. Wer sich gegen ihn erhebt, der ist nicht mein Freund. Eure schöne Judith will ich gar nicht sehen. Aber ihre arme, junge Schwester rührt mich. Ihr möchte ich Schutz und Hilfe bieten. Nichts für ungut, Hurry. Wir wollen Freunde bleiben." Hurry ergriff die dargebotene Hand und lachte. Dann sprang er vom Boden auf. „Nun aber los! Es wird Zeit, daß wir weiterkommen. Die Sonne wandert schon gen Westen." Wildtöter packte die Reste der Mahlzeit in seine kunstvoll bestickte Jagdtasche und erhob sich. Sie schritten am Seeufer entlang, teils durch Wald, der dunkel, aber fest und trocken war. Nach einer halben Stunde blieb Hurry an einer umgestürzten Linde stehen. Ihr vermoderter und ausgehöhlter Stamm lag halb im Wasser.
Flucht ins Kastell Hurry March beugte sich und entfernte von dem alten Baum einige Rindenstücke. Eine Öffnung wurde frei. Zu Wildtöters Überraschung zog er jetzt ein Kanu hervor. Darin befanden sich Fischruten, Angeln, und zwei Ruder. Das Boot war nicht klein, aber leicht. Die Männer
brachten es aufs Wasser und konnten schon wenige Augenblicke später auf den See hinausrudern, der still und hell wie Glas zwischen Hügeln und Wäldern lag.
In ziemlicher Entfernung vor ihnen erhob sich mitten im Wasser Toms Kastell: die „Biberburg". Vom Ufer aus hätte man es eher für einen Felsblock als für eine menschliche Behausung halten können. Nach ungefähr einer Viertelstunde waren sie am Ziel. Während des Sommers pflegte Tom mit seinen Töchtern oft in seinem schwimmenden Haus, in der Arche, zu wohnen. Doch von der Arche war jetzt weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht sind sie irgendwo in einer der vielen Buchten am Ufer, dachte Hurry. Aber ehe sie weiterruderten, wollte er seinem Freunde Wildtöter die Biberburg zeigen. Der merkwürdige Bau lag etwa zweihundert Meter vom nächsten Ufer entfernt im See. An der Spitze der Sandbank hatte Hutter Pfähle eingerammt. Auf ihnen war die Plattform geschaffen worden, die das Haus trug. Hurry March erzählte, daß Tom Hutter in ständigem Kampf mit den Rothäuten gelebt habe. Dabei habe er seinen einzigen Sohn verloren und sei dreimal abgebrannt. Deshalb habe er sich um der Sicherheit willen in dem sonst sehr tiefen See angesiedelt. Hurry berichtete zum Schluß, wie er selbst beim Bau des Blockhauses geholfen habe. Er machte jetzt das Boot an einem Pfahl fest. Beide stiegen zur Platt» form hinauf, zum sogenannten „Vorhof". Hurry betrachtete die hier aufgehängten Netze und Angeln. Wildtöter betrat das von seinen Bewohnern verlassene Haus. Der etwa sieben Meter breite und dreizehn Meter lange Innenraum war in ein Zimmer und mehrere Schlafkammern abgeteilt. Der große Raum schien Wohnstube und Küche zu sein. In der einen Ecke war eine Standuhr, mit einem Gehäuse aus schwarzem Holz, aufgestellt. Außer» dem stand eine Kommode an der Wand. Drei Stühle umgaben einen Tisch, und das einfache Küchengerät lag ordentlich an seinem Platz. Durch eine Tür gelangte Wildtöter in einen Gang, und von hier aus in das Schlafzimmer der Töchter. An Holzpflöcken hingen Kleider mit bunten Bändern. Unter ihnen standen kleine Schuhe mit silbernen Schnallen, wie sie wohlhabende Mädchen trugen. Auf einem Tischchen lag ein Paar lange Handschuhe. Die Einrichtung der Biberburg weckte eigenartige Empfindungen in dem jungen Jäger. Mehr als zehn Jahre waren verflossen, seit er als Zwölfjähriger in dem Hause eines Weißen gewesen war. Ein Gefühl der Rührung wollte ihn überwältigen. Da raffte er sich zusammen, drehte sich um und ging auf die Plattform hinaus. Lange blickte er schweigend über den See. Dann fragte er seinen Begleiter nach dem Namen des Sees. Hurry March hatte die ganze Zeit angestrengt die Ufer beobachtet. Nach einer längeren Pause antwortete er: „Wir nennen es den Flimmer-Spiegel, weil sich in seinem klaren Wasser Himmel, Berge und Wälder so scharf spiegeln." Nachdem er erneut in die Ferne geschaut hatte, sagte er: „Ich kann den alten Burschen nirgends entdecken. Er treibt sich bei diesem schönen Wetter bestimmt im südlichen Teil des Sees herum. Wir wollen ihn suchen." Sie stiegen in ihr Kanu und ruderten weiter. Zwei Stunden durchstöberten sie vergeblich die vielen Buchten des Ufers. Da kam ihnen der Zufall zu Hilfe. Als sie nämlich an Land gegangen waren und einen Rehbock verfolgten, durchstreiften sie das südliche Ende des Sees, in den ein Fluß aus dem Urwald mündete. An dieser Stelle entdeckten sie plötzlich die Arche, die hinter dichtem Gebüsch verborgen lag. Die Arche bestand aus einem Floß, auf das ein niedriges Holzhaus gebaut war. Es enthielt zwei Räume, die zum Wohnen, Schlafen und Kochen dienten. Behände wie Katzen kletterten die Jäger auf das Floß. Da traten ihnen aus dem Innern die beiden Mädchen entgegen. Hurry March ging sogleich auf die schöne Judith zu; Wildtöter begrüßte als erste die jüngere, bescheidene Hetty. Hurry hatte mit seinem Bericht recht gehabt. Sie war keineswegs so hübsch wie ihre Schwester, aber dennoch sehr anmutig. Wildtöter merkte bereits nach den ersten Worten, daß Hetty keinesfalls einfältig war, wie Hurry behauptet hatte. Höchstens, daß sie kindlich geblieben war. Die Unschuld dieses Mädchens machte einen tiefen Eindruck auf ihn. „Die meiste Zeit Eures Lebens habt Ihr wohl auf dem See verbracht?" fragte er verlegen. „Ja", antwortete Hetty, „Vater ist häufig auf Biberjagd. Gewöhnlich bleiben Judith und ich dann zu Hause. — Und wer seid Ihr?" „Ich bin ein Christ und heiße wie mein Vater Nathaniel Bumppo, oder kurz Natty."
Hetty lachte. „Und ich heiße eigentlich Esther, aber mich nennen die Leute immer nur Hetty." „Ein schöner Name für ein schönes Mädchen", schmeichelte Wildtöter. Und dann erzählte er, daß er nach dem Tode seiner Eltern bei den Delawaren aufgewachsen sei und man ihn wegen seiner Aufrichtigkeit Geradezunge genannt habe. „Männer, die nicht lügen, mag ich gern", lobte Hetty. „Und weil ich äußerst flink war, riefen sie mich auch oft Taube." „Taube! Das gefällt mir. Tauben sind hübsch und gut." „Als ich älter war, fand ich rasch und sicher das Wild auf. Die Delawaren sagten, ich sei ein rechter Spürhund, und hießen mich Schlappohr." Hetty rümpfte ihr Stupsnäschen. „Das klingt allerdings weniger schön." „Finde ich auch! Zum Glück blieb es nicht bei diesem Namen. Als ich mir eine Flinte kaufen konnte, versorgte ich den Delawarenhäuptling so reichlich mit Wildbret, daß sie mich Wildtöter nannten. Und so heiße ich heute noch!" Hetty blinzelte den jungen Mann schalkhaft von der Seite an. „Wildtöter! Herrlich! Tausendmal besser als Schlappohr oder Natty Bumppo!" Ihr Blick glitt zu Hurry hinüber. „Aber Hurry mag ich nicht", flüsterte sie. Ängstlich betrachtete sie den Jäger. Da verriet das Plätschern von Rudern die Rückkehr Tom Hutters. Er stieg aus seinem Boot und begrüßte Hurry. „Freue mich, daß du da bist." Kräftig drückte er ihm die Hand. „Mir ist nicht wohl in meiner Haut. Es liegt etwas in der Luft. Die Rothäute treiben sich in der Nähe herum." Judith hatte im Kanu ihres Vaters einen alten Mokassin entdeckt und ihn an sich genommen. „Den fand ich eine Meile stromaufwärts", erklärte Tom und zeigte auf den Mokassin. „Will einen Besen fressen, wenn der nicht einem Indianer gehört." Wildtöter, den Tom bisher noch nicht beachtet hatte, trat näher und betrachtete zweifelnd den abgetragenen Schuh. Mißtrauisch sah Hutter jetzt auf den fremden jungen Mann. „Wer ist denn das?" fragte er Hurry. „Das ist Wildtöter", sagte Hurry March und stellte seinen Begleiter vor. „Er will sich mit einem jungen Delawarenhäuptling treffen." Hutters Miene wurde streng. Er blickte Hurry fest an. „Hoffentlich kennst du ihn gut genug. Der Verrat ist eine indianische Tugend, und die Weißen, die lange unter den Indianern leben, wenden deren Kunst» griffe auch bald an." „Du hast schon recht, Tom", beeilte sich Hurry March zu versichern. „Aber für Wildtöters Ehrlichkeit möchte ich mich verbürgen. Ob er mutig im Kampf ist, müssen wir freilich erst noch feststellen." Nun wandte sich der Alte an Wildtöter. Forschend sah er ihn an. „Na, was ist mit dem Mokassin? Ist er von Eurem Freund oder ist er es nicht?" Wildtöter schüttelte den Kopf. „Nein, er stammt nicht von einem Delawaren." „So — dann gehört er also einem Feind. Ich sagte es ja schon: es bereitet sich etwas vor, etwas Gefährliches. Übrigens: warum wollt Ihr Euch mit diesem Delawaren treffen? Was schmiedet Ihr beide für dunkle Pläne?" „Wenn ich Euch das sage, so verrate ich zwar das Geheimnis meines Freundes, aber vielleicht kann ihm Euer Rat nützen. Seit Jahren lebe ich bei den Delawaren. Aber ich war noch nie auf dem Kriegspfad. Die Verlobte meines Freundes, des Häuptlings Chingachgook, wurde hinter» listig von den Irokesen geraubt. Dadurch ist der Krieg zwischen beiden Stämmen ausgebrochen. Chingachgook wird nicht eher ruhen, bis er seine Braut Wah=ta=Wah befreit und sich an seinen Feinden gerächt hat. Ich versprach ihm dabei meine Hilfe und will mich deshalb hier mit ihm treffen." Mit großen Schritten ging der Alte, das mächtige Haupt nachdenklich in die Hand gestützt, am Rande der Arche auf und ab. Schließlich blieb er vor Hurry stehen. „Das beste wird sein, sofort ins Blockhaus zurück» zufahren. Wildtöter behauptet, daß der Mokassin von einem fremden Indianer stammt, der uns weniger freundlich gesinnt sein kann als sein Freund." Hurry fand das richtig, und die Männer ruderten die Arche aus der Bucht. Das Floßhaus glitt am Ufer des Sees entlang. Da entdeckte Wildtöter hinter der letzten Krümmung etwas so Unerwartetes, daß er einen leisen Laut der Überraschung ausstieß.
Ein dichtbelaubter Baum beugte sich tief über das Wasser. Und auf diesem Baum hockten sechs Indianer, die gerade zum Sprung auf das Dach der Arche ansetzten und sich mit ihren Tomahawks auf deren Insassen stürzen wollten. Geistesgegenwärtig riß Tom, der die Feinde mit Wildtöter zugleich bemerkt hatte, das Fahrzeug mit gewaltigem Ruck herum. Die Arche drehte sich in einem großen Bogen von dem gefährlichen Baum ab. Doch die Indianer wagten auch jetzt noch den Sprung und stießen sich mit furchtbarem Kriegsgeschrei ab. Da sie jedoch die Entfernung unterschätzt hatten, landeten sie alle im Wasser — nur der Anführer erreichte das Floß und klammerte sich am Rand fest. Da lief Judith hinzu und trat ihm so heftig auf die Finger, daß er loslassen mußte. Indessen hatte die Arche einen großen Vorsprung erhalten, so daß sie auch die Flintenschüsse nicht mehr erreichten, die von den noch im Walde versteckten Indianern abgefeuert wurden. „Hatte ich nicht recht?" sagte Hutter, als sie kurz verschnauften. „Die roten Schurken treiben sich, hier herum. Aber der Mokassin ist tatsächlich nicht von Eurem Freund", meinte er zu Wildtöter. „Wir müssen unbedingt zum Kastell. Dort können uns die Rothäute nichts anhaben. Ich habe am Ufer zwei Kanus versteckt. Die müssen wir auf alle Fälle in die Hand bekommen. Dann haben die Indianer keine Möglichkeit, uns anzugreifen." Hurry March und Wildtöter waren der gleichen Ansicht. Sie ruderten kräftig mit und kamen bald beim Kastell an. Zu ihrer großen Freude fanden sie alles unversehrt.
Ein tödlicher Schuß In der Dämmerung bestiegen die drei Männer das Kanu, das Hurry und Wildtöter zur Bucht gebracht hatte. Trotz des übereilten Rückzuges hatten sie es noch an der Arche befestigen können. Jetzt wollten sie die beiden am Ufer verborgenen Boote in Sicherheit bringen, damit sie nicht den Indianern in die Hände fielen. Als sie an Land ruderten, wurde Wildtöter von Hutter gefragt, ob er ihnen im Kampfe beistehen wolle, falls die Rothäute angreifen sollten. Dieser erklärte sofort und bestimmt, daß er bereit sei, und wenn er sich bisher auch aus jedem Gefecht herausgehalten habe, so hoffe er doch, seinen Mann zu stehen. Hutter war zufrieden. Weniger allerdings gefiel ihm, daß der junge Jäger hinzufügte, er wolle den Kampf menschlich führen; jede Grausamkeit gegen die Indianer sei ihm zuwider. Das Boot näherte sich dem Ufer. Die Männer sprachen kein Wort miteinander und vermieden jedes Geräusch, um die Indianer, die vielleicht irgendwo in einem Hinterhalt lauerten, nicht auf sich aufmerksam zu machen. Endlich hatten sie das Land erreicht. Wildtöter blieb im Kanu. Hutter und Hurry brachten eines der versteckten Boote zu Wasser. Der junge Jäger nahm es ins Schlepptau und ruderte damit zum Blockhaus zurück. Indessen eilten die beiden anderen Männer am Rande des Sees entlang, um auch das zweite Boot in Sicherheit zu bringen. Als Tom Hutter und Hurry March nach einer Stunde noch nicht zurückgekehrt waren, ruderte Wildtöter in großer Sorge um das Schicksal der beiden noch einmal zum Ufer hinüber. Auf halbem Wege hörte er einen markerschütternden Schrei. Es klang, als wäre eine Frau oder ein Kind in Todesgefahr. Schüsse blitzten im Dunkel auf, ihr Krachen hallte in den schwarzen Wäldern wider. Und dann gellte Hurrys gewaltige Stimme, gellten seine Flüche über das Wasser. Mit äußerster Kraft ruderte Wildtöter in die Richtung, aus der nach seiner Ansicht der Lärm schallte. Er wollte seinen Freunden zu Hilfe eilen, aber plötzlich verstummte der Lärm. Mit lauter Stimme rief der junge Jäger nach Hutter und Hurry. Im nächsten Augenblick hatte er das Ufer erreicht, und gleich darauf erkannte er im Scheine eines Feuers Tom Hutter und Hurry March. Etwa vierzig Indianer umringten die beiden Gefesselten. Hutter bemerkte als erster sein Kommen und rief: „Bleibt vom Lande weg, sonst nehmen sich die Rothäute unser Boot! Ihr könnt es nicht mit dieser Übermacht aufnehmen. Rettet Euch und beschützt meine Töchter! Und bringt unter allen Umständen mein Boot in Sicherheit!"
Wildtöter folgte dieser Aufforderung und stieß augenblicklich vom Ufer ab. Es war höchste Zeit. Schon sprangen einige Indianer in das seichte Wasser, um das Boot in ihre Gewalt zu bekommen. Als der junge Jäger in Sicherheit war, rief er in Englisch, damit ihn wohl seine Gefährten, nicht aber die Indianer verstanden, Tom und Hurry sollten sich nicht sorgen, er werde alles in seiner Macht stehende tun und versuchen, sie zu befreien. Er kehrte jedoch nicht gleich zum Blockhaus zurück, sondern ließ das Kanu treiben, um, auf dem Boden des Fahrzeuges liegend, Kräfte für die bevorstehende schwere Aufgabe zu sammeln. Wildtöter war eingeschlafen. Als er erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Er erinnerte sich an das dritte Kanu, das die Gefährten vor ihrer Gefangennahme hatten losbinden wollen. Nach langem Suchen entdeckte er es in einer Bucht, wo es auf eine Landzunge zutrieb. Offenbar hatten Tom und Hurry es noch zu Wasser bringen können, bevor sie überfallen wurden. Vorsichtig ruderte Wildtöter auf das Boot zu, um es ins Schlepptau zu nehmen. Hoch aufgerichtet stand er im Boot. Nur noch wenige Meter trennten ihn von dem Kanu — da! Ein peitschender Knall. Im gleichen Augenblick pfiff dicht an seinem Kopf eine Kugel vorbei! Wildtöter warf sich auf den Boden des Bootes. Aus dem Gebüsch auf der Landspitze tauchte mit wildem Geschrei ein Indianer auf. Wildtöter schnellte hoch und legte das Gewehr auf den ungeschützten Feind an. Doch gleich ließ er es wieder sinken. Er brachte es nicht fertig, auf einen Menschen zu schießen. Diese Sekunde nutzte der Indianer und verbarg sich hinter einem dicken Baumstamm. Mit einem gewaltigen Satz sprang der junge Jäger an Land und nahm sofort ebenfalls hinter einem Baum Deckung. Der Indianer hatte dies nicht bemerkt, da er mit dem Laden seiner Flinte beschäftigt war. Wie leicht hätte Wildtöter jetzt den Indianer niederschießen können! Aber er dachte nicht daran, die Schwäche des Feindes auszunutzen. Als die Rothaut mit dem geladenen Gewehr unvorsichtig hinter dem Baum hervortrat, verließ auch Wildtöter mutig seine Deckung und rief dem Indianer zu: „Hierher, Krieger, wenn du mich suchst! Ich habe noch keine Kampferfahrung. Aber mit meiner Büchse kann ich ebensogut wie jeder andere umgehen. Du sollst entscheiden, ob Krieg oder Frieden zwischen uns herrschen soll!" Der überraschte Indianer starrte den Weißen entgeistert an. Er hätte selbst keinen Augenblick gezögert, seinen Feind zu töten, wenn er in der gleichen Lage gewesen wäre. Der Indianer versuchte, sich zu beherrschen. Er stellte seine Flinte vor sich auf den Boden, hob Daumen und Zeigefinger in die Höhe und antwortete: „Nicht Kampf soll sein! Ihr zwei Kanus haben. Eines mir, eines Euch!" Wildtöter dachte nicht daran, sich mit dieser Teilung einverstanden zu erklären. Es kam für ihn nicht in Frage, den Indianern, die offenbar zum Stamme der Irokesen gehörten, ein Kanu auszuliefern. Entschieden lehnte er ab. „Niemals! Die beiden Kanus gehören mir, und sie bleiben bei mir! Zwischen unseren beiden Völkern ist Krieg. Aber wir zwei wollen friedlich unserer Wege gehen. Die Welt ist groß genug. Wenn wir einmal in ehrlichem Kampfe aufeinander treffen, dann wird der oberste Herr über unser Schicksal entscheiden." „Eines mir, anderes Euch" beharrte der Indianer mit unerschütterlicher Ruhe. Gleichzeitig bot er Wildtöter die Hand: „Friede sein soll zwischen uns, weißer Bruder nichts zu fürchten hat! Weißer Bruder noch sehr jung, aber schon sehr weise. Kleiner Krieger — großer Redner." Der junge Jäger ergriff die dargebotene Hand des lächelnden Indianers und folgte diesem zum Ufer. Der Mingo blieb vor dem Boot stehen, in dem Wildtöter an Land gerudert war, betrachtete es und sagte ruhig: „Das nicht mein, das Kanu von Bleichgesicht. Mingo will nicht Kanu von anderen, will nur sein Kanu! Jeder das seinige haben. Mein Kanu mein — dein Kanu dein." „Du irrst dich!" entgegnete Wildtöter, „das andere Kanu gehört ebenfalls einem weißen Mann! Sieh es dir an!" Es dauerte lange, bis sich der Indianer überzeugen ließ. „Nun gut", beendete er schließlich das Gespräch, „in Lager gehen, Häuptling sagen, kein Kanu gefunden. Mein Bruder wenig alt — viel Weisheit", lächelte er listig.
Doch Wildtöter mißtraute dem Mingo und stieß das Boot mit dem Fuß so kräftig in den See, daß es vom Land aus nicht mehr zu erreichen war. Der Indianer war überrascht und warf einen kurzen Blick auf das noch am Ufer liegende Boot. Er beherrschte sich aber und reichte dem Weißen die Hand zum Abschied. Dann verschwand er wieder im Wald. Der junge Jäger atmete auf. Er stieg ins Kanu und bückte sich nach den Rudern. Ein unangenehmes Gefühl zwang ihn aber, hinter sich nach dem Waldrand zu blicken. Sofort entdeckte sein sicheres Auge die schwere Gefahr, die ihm drohte. In einer kleinen Lücke des Busches funkelten die schwarzen Augen des Indianers, der den Lauf seines Gewehres auf Wildtöters Brust gerichtet hielt. Da riß auch Wildtöter seine Flinte hoch. Im gleichen Augenblick krachten die beiden Schüsse. Dicht neben dem Jäger zischte die Kugel ins Wasser. Wildtöter setzte die Waffe ab und lauschte mit erhobenem Haupt. Ein grauenhafter Schrei zitterte durch die Stille und löste über dem See ein vielfaches Echo aus. Der Indianer taumelte aus dem Dickicht auf seinen Feind zu und schwang einen Tomahawk. Etwa zwanzig Schritte von Wildtöter entfernt, schleuderte er das scharfgeschliffene Beil. Seine Hand war aber schon so schwach, daß der Weiße die gefährliche Waffe geschickt auffangen konnte. Der Mingo schwankte und fiel mit einem erstickten Laut zu Boden. Zum erstenmal hatte Wildtöter auf einen Menschen geschossen. Jetzt ergriffen ihn Mitleid und Reue. Er legte den Tomahawk ins Boot, lud sein Gewehr, stieg an Land und ging auf den Indianer zu, der noch lebte, obwohl ihn die Kugel mitten in den Leib getroffen hatte.
Starr blickte der auf dem Rücken liegende Wilde dem näher kommenden Jäger entgegen. Er fürchtete, dieser wolle ihn nach Kriegsbrauch skalpieren. Aber der Weiße, der diesen Gedanken erriet, beruhigte ihn: Er brauche nichts zu fürchten, den Skalp wolle er nicht. Dankbar sah der Indianer mit brechenden Augen zu Wildtöter auf, der neben dem Sterbenden niederkniete. Mit verlöschender Stimme bat der Mingo um Wasser. Ein tiefer Schmerz zerschnitt Wildtöters Seele. Mit Mühe unterdrückte er ein Aufschluchzen. Er nahm den Indianer in die Arme und trug ihn zum Ufer, damit er seinen Durst löschen könne. Er stützte ihn und sprach ihm Trost zu. „Gut", flüsterte der Wilde, „gut! Junger Kopf, junges Herz. Was Namen?" „Wildtöter", antwortete der Jäger. „Aber wenn ich von diesem Kriegspfad zurückkehre und ich es verdiene, wollen mir die Delawaren einen besseren Namen geben." „Guter Name für Knaben — nicht gut für Krieger. Bald besseren haben. Mühevoll hob der Mingo die Hand und klopfte Wildtöter schwach auf die Brust: „Auge sicher — Hand
schnell — Ziel, Tod — großer Krieger bald — nicht Wildtöter — Falkenauge! — Falkenauge! —" Der Jäger nahm die zuckende Hand des Indianers, in dem das Leben erlosch. Dann bettete er den toten Feind auf die Wiese und errichtete ihm ein Grab aus Steinen. So wollte er den Leichnam vor den wilden Tieren schützen. Ein lautes Geschrei riß ihn empor. Das Blut wich aus seinen Wangen. Eine Horde von zwanzig Indianern stürzte auf ihn zu. Ohne sich erst lange zu besinnen, sprang er ins Boot. Als die Rothäute das Ufer erreichten, trieb er jedoch schon weit draußen auf dem See. Die dem Fliehenden nachgeschickten Kugeln trafen alle zu kurz. Die Entfernung war zu groß. Wildtöter befestigte jetzt das immer noch führerlos treibende zweite Boot Tom Hutters an seinem eigenen und gelangte unversehrt mit beiden Fahrzeugen zum Blockhaus, das von der Strahlenflut des morgendlichen Sonnenlichtes übergössen war. Die Töchter Hutters standen auf der Plattform und hielten ängstlich Ausschau. Judith erschien dem Jäger schöner denn je. Es wurde ihm nicht leicht, den beiden Mädchen das Schicksal der Männer mitzuteilen. Als er schließlich seinen Bericht vorgebracht hatte, sah er, daß Judith schneeweiß im Gesicht geworden war. Sie wußte nur zu gut, was den Gefangenen bevorstand. Aber Schreck und Trauer konnten sie nicht überwältigen. Tapfer kämpfte sie die Tränen nieder, die unter dem ersten Eindruck der Unglücksnachricht in ihre großen blauen Augen treten wollten. Während die drei sich wortlos zum Frühstück setzten, grübelte Judith über das Schicksal ihres Vaters nach. „Was können wir bloß tun?" fragte sie leise. „Wir müssen Vater und seinen Freund so schnell wie möglich befreien!" Wildtöter schüttelte den Kopf. „Die Wilden geben ihre Gefangenen nur gegen ein hohes Lösegeld frei. Besitzt Ihr vielleicht etwas besonders Wertvolles?" Judith schöpfte neue Hoffnung. Es gab also doch noch eine Möglichkeit der Hilfe. Zaghaft meinte sie: „Ich kenne die Rothäute zu wenig, um zu wissen, was sie für wertvoll halten. Ich wäre Euch darum dankbar, wenn Ihr Euch in unserem Hause nach etwas Geeignetem umsehen wolltet." „Gern. Vorher muß ich mich jedoch mit meinem delawarischen Freunde treffen. Ihr wißt, daß ich mich mit ihm verabredet habe, vielleicht kann er uns helfen." Wildtöter erzählte Judith von Chingachgook. Er berichtete von der geraubten Braut Wah=ta=Wah, die gezwungen werden sollte, einen jungen Mingo zu heiraten. Doch jetzt hoffe man, sie befreien zu können. Nur durch Zufall habe der Delaware erfahren, wo das vor zwei Monaten entführte Mädchen sich aufhalte. Ein Bote, der vor zehn Tagen durch das Land der Delawaren gezogen sei, habe es berichtet. Aber außerdem habe man von ihm erfahren, daß die Mingos vor ihrer Rückkehr nach Kanada noch einen oder zwei Monate in diesem Gebiet hier jagen wollten. Darauf hätten er und Chingachgook beschlossen, sich am See zu treffen, um das Mädchen zu befreien. Wildtöter untersuchte den Verteidigungszustand des Blockhauses. Es lag zwar noch in Schußweite des Ufers, ohne jedoch ernstlich gefährdet zu sein. Brennen würde nur das Baumrindendach. Vorsorglich standen verschiedene Eimer mit Stricken bereit, so daß es den Mädchen leicht sein würde, ein etwa ausbrechendes Feuer zu löschen. Wenn auch die Indianer keine Kanus hatten, so würden sie doch schnell ein Kanu bauen können. Solange es Tag war, brauchte man nichts zu befürchten. Doch die Nacht barg manche Gefahr. Wäre doch Chingachgook erst da! Die Sonne stand über den westlichen Hügeln. Ein leichter Wind kräuselte schwach die Fläche des Sees. Die Wälder schliefen unter dem leuchtendblauen Junihimmel. Nur im Norden zogen einige kleine weiße Wolken vorüber. Mit schweren Flügelschlägen brachen zuweilen ein paar Wasservögel aus dem Schilf am Ufer. Ein einzelner Rabe flog krächzend über den Wald und ließ sich dann auf einem hohen Baum nieder. Der Jäger schlug den Mädchen vor, das Blockhaus abzuschließen und mit ihm auf der Arche nach jenem Felsen zu segeln, wo er Chingachgook treffen wollte. Und so geschah es. Das Hausboot glitt mit den drei Menschen auf den See hinaus. Um im Walde lauernde Feinde zu täuschen, wechselte Wildtöter öfter den Kurs. Zuerst steuerte er auf die Stelle zu, an der Hutter und Hurry gefangengenommen worden waren. Die Wilden sollten
denken, er wolle mit ihnen unterhandeln. Dann aber drehte er plötzlich in die entgegengesetzte Richtung ab — auf den als Treffpunkt vereinbarten Felsen zu. Etwa hundert Meter vor dem Ufer hielt Wildtöter die Arche an. Er wagte sich nicht näher an Land, da er einen Überfall der Indianer aus dem nahen Walde befürchtete. Er bat Judith, von einem Kajütenfenster aus die Bucht und die Felsen genau zu beobachten. Hetty mußte ständig die Wipfel der Bäume im Auge behalten. Die Sonne ging bereits unter, als Judith einen leisen Warnungsruf ausstieß. „Seht Ihr etwas?" fragte Wildtöter. „Auf dem Felsen steht ein bewaffneter Indianer", antwortete das Mädchen. „Er trägt eine Falkenfeder auf dem Kopf." „Wo trägt er die Falkenfeder?" „Hinter dem linken Ohr." Wildtöter atmete erleichtert auf. „Dann kann es nur die Große Schlange sein." Er ließ die Arche an den Felsen gleiten, und schon sprang der Indianer auf das Hausboot und stürzte in die Kajüte. Gleichzeitig stürmten zwanzig Wilde mit lautem Kriegsgeschrei aus dem Ufergebüsch hervor. Einige von ihnen fielen kopfüber ins Wasser. Mit übermenschlicher Kraft stießen Wildtöter und Chingachgook das große und schwerfällige Boot vom Ufer ab. Es wimmelte ringsumher von Indianern. Ins tiefere Wasser jedoch konnten die Feinde nicht folgen. Hier war man außer Gefahr. Jetzt stellte Wildtöter den beiden Mädchen seinen besten Freund, den Mohikanerhäuptling Chingachgook, vor, der wegen seiner Klugheit, List und Vorsicht die „Große Schlange" genannt wurde. Der Indianer begrüßte die beiden Huttertöchter höflich und ernst, schwieg aber. Der Häuptlingssohn schien nicht nur über geistige Gaben zu verfügen, sondern auch über körperliche Vorzüge. Seine Gestalt war hoch, kräftig und schlank. Sein ovales Gesicht wirkte schön und edel und wurde von einem feurig blitzenden Augenpaar beherrscht. Als die Mädchen sich entfernt hatten, um das Abendessen zu bereiten, schilderte Wildtöter seinem Freund die Ereignisse der vergangenen Nacht. Er fragte ihn, ob er vielleicht die beiden Gefangenen der Mingos gesehen habe. „Ja, Chingachgook hat sie gesehen", erwiderte dieser und nickte bestätigend mit dem Kopf, „Es war ein älterer Mann und ein junger Krieger." „Richtig!" rief der Jäger. „Waren sie gefesselt?" „Nein, Wildtöter. Da sind so viele Mingos, daß sie die Gefangenen nicht zu binden brauchen. Wenn die einen schlafen, wachen die anderen. Die weißen Männer können nicht entkommen." Wildtöter übersetzte den mit dem Essen zurückkehrenden Mädchen den Bericht des Delawaren. Er fügte hinzu, daß seiner Meinung nach die Mingos ohne Zweifel bereit sein würden, über die Auslösung der Gefangenen zu verhandeln. Judith war hocherfreut. „Wenn die Mingos nur Weiber im Lager hätten", meinte Hetty, „— all meine Kleider und all meinen Schmuck würde ich ihnen als Lösegeld für meinen Vater und für Hurry bieten." Wildtöter fragte den jungen Häuptling, ob Frauen im Lager der Mingos seien. Und dann erzählte der Indianer ihm, daß sich sechs Frauen dort befänden. Wildtöter berichtete es sofort Hetty. „Dann fragt einmal die Große Schlange, ob er uns helfen wolle, etwas Geeignetes zu finden, das die Mingos als Lösegeld nehmen würden", forderte Judith Wildtöter auf. Chingachgook war gern dazu bereit.
Die opferbereite Tochter Der Abend senkte sich über den See. Bald war es dunkel. Ruhig glitt die Arche über die glatte Wasserfläche. Kein Plätschern war zu hören. Wildtöter, Judith und Chingachgook sprachen über das Leben in der Wildnis und teilten einander ihre Beobachtungen und Erfahrungen mit. Wie gewöhnlich beteiligte sich Hetty auch diesmal nicht an den Gesprächen der anderen. Sie dachte über das Schicksal ihres Vaters nach. Einige Zeit später stand sie auf und ging unbemerkt still hinaus.
Plötzlich vernahm Judith draußen an der Arche ein leises Plätschern. „Hört Ihr nichts, Wildtöter?" Alle lauschten. Sie traten hinaus und spähten ins Dunkle. Der Delaware hob den Arm und zeigte voraus. „Da!" Jetzt erkannten sie ein Kanu, in dem eine Gestalt aufrechtstehend ruderte. Wildtöter rief über das Wasser: „Halt, oder ich schieße!" „Schieß nur und töte ein unschuldiges Mädchen!" antwortete eine weibliche Stimme. Es war Hetty. „Hetty!" rief Judith erschrocken. „Hetty!" rief auch Wildtöter. „Die Ärmste!" jammerte die Schwester. „Sie leidet so unter ihrem schwachen Geist! Sie liebt Hurry, manchmal spricht sie sogar im Schlaf von ihm. Wenn sie sich nur nicht zu unüberlegten Taten hinreißen läßt!" Alle Versuche Wildtöters, mit der schwerfälligen Arche Hetty einzuholen, schlugen fehl. Leicht wie ein Vogel entschwand das Kanu mit dem Mädchen über den dunklen See. Furchtlos ruderte Hetty über das nachtschwarze Gewässer. Sie kannte nur eine Aufgabe und ein Ziel: den Vater zu retten. Nach einer Stunde erreichte sie eine kleine Landzunge. In ihrer Nähe mußte sich nach Wildtöters Bericht das Lager der Indianer befinden. Sie stieg an Land und trieb mit kräftigem Stoß das Boot in den See. Es sollte nicht in die Hände der Mingos fallen. Sie hoffte, der Südwind werde es in die Nähe des Kastells treiben und Wildtöter werde es am nächsten Morgen wieder in Sicherheit bringen. Sie schritt auf das Dickicht zu und suchte das Lager der Indianer. Doch bei der Dunkelheit war es unmöglich, den Platz zu finden. Sie mußte bis zum nächsten Morgen warten. So legte sie sich auf den weichen Moosboden des Waldes und schlief unter der Last ihres Kummers bald ein. Sie erwachte erst, als ein junger Bär sie mit der Schnauze in die Seite stieß. Entsetzt sprang sie auf und hastete davon. Eine Zeitlang wurde sie von dem jungen Bär und seiner Mutter durch den Wald verfolgt. Plötzlich fühlte sie sich von einer Hand leicht am Arm gefaßt und zurück« gehalten. Gleichzeitig hörte sie eine sanfte weibliche Stimme hastig und besorgt flüstern: „Wohin gehen? Dort Indianer — blutgierige, grausame Krieger!" Hetty erschrak. Doch bald faßte sie sich, als sie das vor ihr stehende freundliche Wesen sah. Es war eine hübsche Indianerin, kaum älter als sie selbst. Eine Jacke aus Kattun bedeckte den Oberkörper. Der Leib war mit einem bis ans Knie reichenden und unten mit einer Goldborte besetzten Rock aus blauem Tuch bekleidet, Hosen vom gleichen Stoff sahen darunter hervor. Die Füße steckten in hirschledernen Mokassins. In langen dunklen Flechten fiel das Haar über Schultern und Rücken. Wie ein kostbarer Rahmen umgab es das ovale, dunkle Gesicht. Die schwarzen Augen waren schwermütig. Doch empfand Hetty Vertrauen, als sie von ihnen angeblickt wurde.
Ein wehmütiges Lächeln umspielte den fein geschwungenen Mund. „Nicht fürchten", sagte die Indianerin leise und einschmeichelnd. „Ich, Wah=ta=Wah, keine Mingo bin, ich Delawarin, Freundin von Engländer! Mingos sehr grausam." Die freundlichen Worte und das liebliche Aussehen des anmutigen Mädchens befreiten Hetty von ihrer Angst. War nicht Wildtöter, den Hurry mit in des Vaters Haus gebracht hatte, auch ein Delaware? Oder wohnte er wenigstens nicht bei diesen Indianern? Es waren also gewiß gute Menschen. Dieser Gedanke gab ihr Vertrauen. Sie erzählte dem Mädchen, was sich zugetragen hatte und warum sie hier war. Wah=ta=Wah war von Hettys Bericht ergriffen. Mit leichtem Vorwurf in der Stimme sagte sie: „Warum dein Vater in der Nacht ins Lager der Mingos kommen? Er wissen, daß Krieg ist, und er kein Knabe. Weiße Männer schlecht. Nehmen Skalpe von roten Männern und Frauen. Gouverneur gut bezahlen." Hetty erzählte von Wildtöter und Chingachgook. Da umarmte Wah=ta=Wah das weiße Mädchen. „Du sein gute Tochter. Wah=ta=Wah dir helfen. Komm, Wah=ta=Wah dich führen." Furchtlos folgte Hetty der vorangehenden jungen Indianerin. Auf einem kaum sichtbaren Pfad durch das Dickicht kamen sie nach kurzer Zeit zu einer Lichtung, auf der die Mingos ihr Lager aufgeschlagen hatten. Es war nur ein kleiner Stamm, der sich gemeinsam mit den befreundeten Irokesen auf einem Kriegszug befand. Ihre Frauen hatten die Indianer mitgenommen. Die Irokesen waren von einem Beutezug in englisches Gebiet zurückgekehrt und befanden sich auf dem Heimweg. Sie gedachten, nur kurze Rast zu halten, und hatten deshalb nicht einmal ihre Zelte errichtet. Als die beiden Mädchen zu der Lichtung kamen, herrschte noch tiefe Ruhe. Nur in der Mitte des Lagers brannte ein Feuer, in dessen Nähe Hetty zu ihrer Freude den Vater sah. Er saß auf der Erde und lehnte sich mit dem Rücken an einem Baumstamm. Neben ihm stand Hurry March. Im Nu war das Mädchen über die schlafenden Indianer hinweg zu Tom Hutter gelaufen. Wortlos fiel sie ihm um den Hals und küßte ihn. Tom war weder besorgt noch überrascht. Wah=ta=Wah zog sich bescheiden zurück. Ein alter Indianer, wohl ein Stammeshäuptling, der ebenfalls keineswegs überrascht schien, trat jetzt zu Vater und Tochter. Stumm deutete er auf einen umgestürzten Baumstamm in der Nähe. Dorthin sollte Hetty sich setzen. Sie gehorchte und wollte sogleich erklären, weshalb sie gekommen sei. Der Häuptling aber winkte freundlich ab — das habe noch Zeit. Dann befahl er einem jungen Krieger, Wah=ta=Wah als Dolmetscherin herbeizurufen. Das Indianermädchen erschien und setzte sich neben Hetty. Gleich darauf wurde eine Versammlung einberufen. Als alle beisammen waren, durfte Hetty sprechen. „Sage ihnen", bat sie die Dolmetscherin, „ich sei Thomas Hutters jüngste Tochter. Er ist der ältere der beiden Gefangenen. Ihm gehören Kastell und Arche auf dem See. Schon seit vielen Jahren wohnt er dort als Jäger und Fallensteller. Sage ihnen auch, daß ich gekommen sei, um sie zu bitten, meinem Vater und Hurry March, dem jüngeren Gefangenen, kein Leid anzutun. Sie möchten sie in Frieden heimgehen lassen, denn sie sind keine Feinde der Mingos." Wah=ta=Wah übersetzte Hettys Worte so genau wie möglich ins Irokesische. Die Häuptlinge hörten ernst und würdevoll zu. Hetty fuhr fort: „Und nun, Wah=ta=Wah, frage diese indianischen Männer, ob sie wissen, daß über uns im Himmel" — sie deutete mit dem Arm noch oben — „ein Gott wohnt, der über die ganze Erde herrscht." Sie machte mit beiden Armen eine weitausholende Gebärde. „Er ist der Herr und Häuptling aller Menschen, ohne Unterschied, ob sie weiß, rot oder schwarz sind." Die Dolmetscherin übersetzte die Worte Hettys. Die Indianer bejahten die Frage mit ernsten Mienen. „Dann sage ihnen weiter, Wah=ta=Wah, was sie vielleicht noch nicht wissen. Dieser Gott — oder der, Große Geist', wie die Indianer ihn nennen — ließ ein Buch schreiben, welches die Bibel heißt. In dieser Schrift steht alles, was wir Menschen tun oder lassen sollen." Sie zog eine kleine englische Bibel aus der Tasche ihres Kleides hervor und hielt sie hoch, damit alle sie sehen konnten.
„Schaut, dies ist eines der heiligen Bücher, in dem Gottes Befehl an alle Menschen nachzulesen ist. Und es heißt dort, daß wir uns nicht befeinden sollen, sondern einander wie Brüder lieben. Glaubst du, Wah=ta=Wah, daß du es ihnen so sagen kannst, daß sie es auch verstehen?" Das delawarische Mädchen nickte und übersetzte Wort für Wort. Dabei deutete sie auch an, daß Hetty schwachsinnig sei, was vieles erkläre. Die Indianer unterbrachen sie nicht. Ruhig und aufmerksam hörten sie zu. Ihre Spannung stieg, als Hetty jetzt das Buch aufschlug und zu Wah=ta=Wah sagte: „Ich will den Männern etwas daraus vorlesen, denn es ist gut, wenn sie die Heilige Schrift kennen und danach handeln. Zuerst gebietet der, Große Geist': Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! — Bitte, Wah=ta=Wah, übersetze ihnen das." Doch hier schüttelte die Dolmetscherin den Kopf und weigerte sich. Da sagte ein alter Häuptling, der auch Englisch verstand und von den Missionaren der Mährischen Brüder bereits Ähnliches gehört hatte: „Dies ist das gute Buch der weißen Menschen" — er nahm Hetty die Bibel aus der Hand, hielt sie empor und zeigte sie im Kreise herum —, „nach diesem Gesetz behaupten meine weißen Brüder zu leben. Sage meiner jungen Schwester" — wandte er sich an Wah=ta=Wah, „daß ich meinen Mund öffnen und ein paar Worte sagen will." Wah«ta»Wah kam der Aufforderung nach. „Dies ist das Gesetz der weißen Männer. Es sagt ihnen, daß sie denen, die sie beleidigen, Gutes tun, und dem Bruder, der die Flinte verlangt, auch noch das Pulverhorn geben sollen. Das ist das Gesetz der weißen Männer." Wah=ta=Wah übersetzte diese Worte. Doch Hetty sprang auf und widersprach. „Nein, nein! Von Flinten, Pulver und Kugeln ist in dem Buch überhaupt nicht die Rede! Sie sind dem, Großen Geist' zuwider!" Auf den Häuptling machten diese Worte jedoch keinen Eindruck. Mit einer unwilligen Handbewegung wischte er sie weg. „Weshalb benutzt dann der weiße Mann Flinten, Pulver und Kugeln, wenn ihm in diesem Buch befohlen wird, denen, die etwas erbitten, das Doppelte zu geben von dem, was sie verlangen? Warum nimmt er dann den armen Indianern alles, die doch gar nichts von ihm verlangen? Er kommt von jenseits der aufgehenden Sonne über den salzigen See mit seinem Buche in der Hand. Er fordert die roten Männer auf, es zu lesen und danach zu leben, aber selbst vergißt er alles, was darin steht! Warum das? Nie ist er zufrieden mit dem, was der Indianer ihm gibt. Uns nennt er wilde Tiere, wenn wir den Skalp eines im offenen Kampf gefallenen Kriegers nehmen, aber der weiße Gouverneur bietet den weißen Männern Gold für die Skalpe unserer Weiber und Kinder! Wer kann von uns verlangen, daß wir das Gesetz der Weißen befolgen, wenn sie selber nicht bereit sind, sich ihm zu unterwerfen? Ich frage euch, Brüder, wer kann das wohl? Rivenoak hat gesprochen." Würdevoll schritt der Häuptling von dannen. Hetty war trostlos und verwirrt. Sie weinte. Wah=ta=Wah legte den Arm um ihre Schulter und versuchte, sie zu trösten. Als der Häuptling kurz darauf mit Hutter zurückkehrte, sagte er zu der Delawarin: „Tochter, frage diesen Graubart, warum er sich in unser Lager geschlichen hat." Mit nüchternen Worten erklärte Hutter, daß er sich Skalpe holen wollte, da der Gouverneur hohe Kopfpreise für jede getötete Rothaut, ganz gleich ob Mann, Weib oder Kind, ausgesetzt habe. Die Häuptlinge nickten ernst und schweigend. Die Angelegenheit war für sie erledigt. Bedächtigen Schritts gingen sie zu ihrem Lagerplatz zurück. Hetty und Wah»ta»Wah blieben bei den Gefangenen, die scheinbar nicht mehr bewacht wurden. Mit sanfter Hand strich der Vater der schluchzenden Tochter über den Scheitel. „Hetty, ich will dich nicht tadeln. Es war gut von dir gemeint, aber nicht klug gehandelt. Predigten und Bibel sind nicht die Mittel, mit denen man einen Indianer bekehren kann. Hat dir etwa Wildtöter den Auftrag erteilt?" fragte er argwöhnisch. „Oder hat er vielleicht einen Fluchtplan entworfen?" Traurig sah Hetty ihren Vater an und berichtete, wie sie hergekommen war. Hutter versuchte dann, Wah=ta=Wah zu überreden, ihnen zur Flucht zu verhelfen. Doch die junge Indianerin schüttelte zu seinen Worten nur stumm den Kopf. Dem Alten erschien seine Lage wenig hoffnungsvoll. „Die Gleichgültigkeit der Indianerin", sagte er
zu Hurry, „gefällt mir nicht. Sie haben Übles mit uns vor. Wenn wir etwas unternehmen wollen, muß es schnell geschehen." Die Delawarin erwiderte eifrig: „Wah=ta=Wah keine Irokesin, nur Delawarin. Sie auch Gefangene. Gefangene einander helfen müssen. Nicht gut, jetzt widersprechen. Tochter bei Vater bleiben. Wah=ta=Wah kommen und Freundin besuchen. Dann sagen, was tun sollen." Langsam ging das Indianermädchen davon. Um nicht den Argwohn der Wächter zu wecken, begab es sich zu seinem Lagerplatz. Mit Tränen in den Augen und doch ein wenig hoffnungsvoll lächelte Hetty ihren Vater an und blickte dann lange zu Hurry hinüber.
Das Lösegeld Judith, Wildtöter und Chingachgook überlegten, was sie tun könnten, um Hutter und Hurry aus der Gewalt der Indianer zu befreien. „Ich weiß kein anderes Mittel", meinte Judith, „als den Rothäuten ein Lösegeld anzubieten. Gewiß nehmen sie anstatt der Gefangenen lieber etwas für sie Wertvolles mit." Auch Wildtöter meinte dies. Was aber sollte man anbieten? Etwa eine Flinte? Oder vielleicht ein Faß Pulver? So wertvoll würde dieses den Indianern nun auch nicht sein. Denn Gewehre und Pulver hatten sie, soviel sie brauchten. Zögernd sagte Judith: „Wie war's mit dem Kasten?" „Was für ein Kasten?" fragte Wildtöter. Das Mädchen führte ihn in den Schlafraum des Vaters und zeigte ihm eine große schwarze Kiste. Ihre Ecken waren mit Eisen beschlagen. Den Deckel sicherten drei mächtige Schlösser. Sie war ungeheuer schwer. Wildtöter packte den Handgriff des Deckels. Aber er konnte die Kiste nicht anheben. „Eine schöne Truhe, Chingachgook. Das ist kein Holz aus unseren Wäldern!" „Das Schönste daran sind die Schlösser." Judith lachte. „Ich habe sie noch nie offen gesehen. Wo die Schlüssel sind, weiß ich auch nicht." Wildtöter und Chingachgook suchten nach den Schlüsseln, doch sie fanden sie nirgends. „Die Wilde Rose" — hiermit meinte Chingachgook Judith — „weiß nicht, wo die Schlüssel sind. Also laß uns in ihren Sachen nachsehen." Nachdem sie sich eine Weile in der Schlafkammer des Mädchens umgeschaut hatten, fanden sie die Schlüssel tatsächlich in einer Tasche aus grobem Tuch, die unter Kleidern am Türpfosten hing. Nun konnte die Truhe geöffnet werden. Unter einem Ballen Leinwand kamen zunächst Kleidungsstücke zum Vorschein. Da war ein scharlachroter Rock von vornehmem Schnitt. Seine Knopflöcher waren mit Goldtresse gesäumt. Darunter lag, sauber gefaltet, eine Hose aus hellblauem Tuch, die ebenfalls einmal einem vornehmen Herrn gehört haben mußte. Dann stießen sie auf ein kostbares Brokatkleid, das Judiths Bewunderung erregte. Sie probierte es gleich einmal an. „Das wäre was für den Häuptling und seine Frau", meinte Wildtöter. Judith zog das Kleid wieder aus und legte es zurück zu den anderen Sachen. „Laßt uns weitersuchen", schlug sie vor. „Vielleicht finden wir noch etwas Besseres." Unter einem Ballen Leinwand entdeckten sie kunstreich mit Silber eingelegte Pistolen. Kinderflinten nannte Chingachgook sie verächtlich. Schließlich kam ihnen ein Instrument in die Hände, das in ein Tuch eingeschlagen war und vermutlich zur Seefahrt gebraucht wurde. Voll Staunen betrachteten sie das glänzende Ding von allen Seiten. „Wie nur der Vater zu all dem Zeug gekommen ist?" fragte sich Judith. „Der scharlachrote Rock ist ihm doch viel zu groß. Und was sollte er je mit diesem Instrument haben anfangen können?" „Vielleicht hat er eine Erbschaft gemacht. Er soll ja wohl auch mal Seemann gewesen sein", versuchte Wildtöter zu erklären. Da weckte eine Schachtel seine Aufmerksamkeit. Er öffnete sie und fand lauter aus Elfenbein geschnitzte, schöne, große Schachfiguren, die Tiere und Reiter darstellten. Einige waren schon zerbrochen. Wildtöter wußte nicht, was diese Figuren bedeuten
sollten. Auch Chingachgook wußte es nicht. Und doch gefielen sie ihm so sehr, daß er wie ein Kind umherhüpfte. Besonders die Tiere hatten es ihm angetan. „Das sind Elefanten", erklärte ihm Judith. „Ich habe sie schon in Büchern abgebildet gesehen." „Elefant ist gut für Irokesen!" meinte der Mohikaner. „Mit diesem Tier könnten wir den ganzen Stamm kaufen. Vielleicht den der Delawaren dazu!" Sie beschlossen, den Feinden die vier Elefanten als Lösegeld anzubieten. Die anderen Figuren legten sie in die Schachtel zurück und diese in die Truhe. Dann packten sie alles wieder ein, klappten den Deckel zu und schlössen ab. Als die drei das kleine Gemach verlassen wollten und sich zur Tür umwandten, überfiel sie ein fast tödlicher Schreck: dort standen Hetty und neben ihr ein junger Indianer von etwa fünfzehn Jahren. Während Judith und die beiden Männer in der Truhe gewühlt hatten, waren sie unbemerkt auf einem kleinen Floß zum Blockhaus gekommen. Hetty berichtete, was sie erlebt hatte, und dann erzählte sie, daß die Häuptlinge glücklich sein würden, wenn sie im Kastell zur Kirche kommen und noch mehr aus dem heiligen Buch hören dürften. Sie bäten Judith, ihnen einige Kanus zu leihen, damit sie den Vater und Hurry und ihre Frauen zum Kastell bringen könnten. Dann wollten sich alle auf die Plattform setzen und dem Gesang des Manitou der weißen Männer lauschen. Wildtöter erklärte offen, daß Hetty wohl selber nicht diese indianischen Gaukeleien glaube. Und dann zeigte er dem jungen Indianer, den er so schnell wie möglich loswerden wollte, die Elefanten. Der Irokese war von den Figuren entzückt und spielte sogleich mit ihnen. Doch der Jäger nahm dem Indianer die Elfenbeintiere wieder weg und fragte ihn, was die Häuptlinge mit den beiden weißen Gefangenen im Sinn hätten. Der Jüngling blickte Wildtöter einen Augenblick verständnislos an, setzte dann die Spitze seines rechten Zeigefingers über das Unke Ohr und beschrieb um seine Haare einen Kreis. Es war also beschlossen, daß Hurry und Hutter skalpiert werden sollten. „Hör mal zu, Bruder", sagte darauf der weiße Jäger, „der alte Gefangene ist der Vater dieser beiden Mädchen. Der junge ist mit einer von ihnen verlobt. Natürlich möchten sie, daß die Männer gerettet werden. Für jeden wollen sie zwei solcher Elfenbeintiere als Lösegeld zahlen. Kehre zu deinen Häuptlingen zurück und berichte ihnen, was ich dir gesagt habe. Bring mir die Antwort vor Sonnenuntergang." Der junge Indianer ging auf den Vorschlag ein. Er äußerte aber zwei Bitten: er wolle einen Elefanten „zur Ansicht" mitnehmen und außerdem ein Kanu haben. „Fahr du nur mit deinem Floß zurück, auf dem du gekommen bist! Die Tiere können sich deine Häuptlinge hier ansehen!" Zögernd stieg der Irokese auf sein Floß und ruderte zum Dickicht am Ufer, und Hetty forderte Chingachgook auf, sich neben sie zu setzen. So hockte sich der Mohikaner neben die „Welkende Lilie", wie er Hetty nannte, und ließ sich von ihr über Wah=ta=Wah erzählen. „Wah sagte, du dürfest den Irokesen auf keinen Fall trauen. Sobald eine Stunde nach Sonnenuntergang der große, glänzende Stern über den Hügel komme, wolle sie an der Landspitze sein. Dorthin möchtest du in einem Kanu rudern und sie abholen." Chingachgook ließ sich von Hetty versichern, daß niemand im Lager
der Indianer etwas von seiner Anwesenheit im Blockhaus wisse, und ging dann zu Wildtöter hinaus. Kaum eine Stunde, nachdem der junge Indianer das Blockhaus verlassen hatte, steuerten abermals zwei Rothäute auf einem roh gezimmerten Floß das Kastell an. Der Jäger trat auf die Plattform hinaus. Aus der eigentümlichen bunten Bemalung schloß er, daß es Häuptlinge der Irokesen sein mußten. Der eine von beiden war Rivenoak. „Halt!" rief Wildtöter die Rothäute an und nahm das Gewehr auf. „Weshalb kommt Ihr?" Rivenoak hob den Arm und kehrte die Handfläche nach außen. „Mein weißer Bruder hat den Huronen Botschaft geschickt, die ihre Herzen sehr erfreut. Sie hören, daß er Gestalten von Tieren mit zwei Schwänzen besitzt. Will er sie seinen Freunden zeigen?" „Freunde ist wohl etwas übertrieben — aber immerhin!" Wildtöter lachte und warf ihnen einen der Elfenbeinelefanten aufs Floß. „Gebt ihr ihn nicht zurück, wird die Flinte zwischen uns entscheiden!" Mehrere Minuten lang untersuchten und bestaunten die Indianer das feine Material und das seltsame Tier. Schließlich sah Rivenoak auf und fragte: „Hat mein Bruder noch mehr solche Tiere?" „Mehr? Aber gewiß! Doch mußt du wissen, daß ein einziges solches Tier genügt, um fünfzig Skalpe abzukaufen!" Rivenoak durchfuhr es wie ein Schock. Er fing an zu feilschen. „Einer der Gefangenen großer Krieger, schlank wie Tanne, stark wie Elentier, schnell wie Hirsch, wild wie Panther! Wird großer Häuptling werden und Krieger König Georgs anführen." „Red keinen Blödsinn, Mann!" rief Wildtöter lachend. „Hurry ist Hurry und bleibt sein Leben lang nur ein kleiner Korporal! Sein Skalp ist doch nur ein Schädel mit viel Haar und wenig Grütze!" „Mein anderer Gefangener sehr alt, sehr weise, König des Sees, großer Krieger, weiser Ratgeber!" „Daß ich nicht lache!" antwortete der weiße Jäger. „Wäre er so weise, hätte er sich nicht fangen lassen. Also hört: ein Tier mit zwei Schwänzen ist zwei solcher Skalpe wert!" „Aber mein Bruder wird zwei solcher Tiere für den alten Vater geben." Rivenoak hielt zwei Finger hoch. „Zwei Tiere für jeden Skalp und noch dazu jedes mit zwei Schwänzen — das ist zuviel!" Rivenoak feilschte unentwegt weiter. Jetzt versuchte er es auf andere Weise. Er minderte den Wert des Lösegelds herab. Man wisse ja nicht einmal, ob es solche Tiere überhaupt gebe! Selbst der älteste Indianer hätte niemals etwas von ihnen gehört, geschweige denn so ein Tier mit zwei Schwänzen je gesehen. Doch Wildtöter widerlegte jeden Einwand sicher und gelassen. Schließlich erklärte Rivenoak, weitere Verhandlungen seien nutzlos. Zornig setzte er das Floß in Bewegung. Aber auch Wildtöter war über den Mißerfolg enttäuscht. Die beiden Indianer waren bereits etwa zwanzig Meter über den See gerudert, als Rivenoak einen letzten Versuch machte. „Weshalb sollen Rivenoak und sein Bruder eine Wolke zwischen sich lassen? Sie sind beide weise, beide tapfer und beide großmütig. Sie sollen sich als Freunde trennen. Für jeden Gefangenen ein Tier? Einverstanden?" Wildtöter war erfreut. „Ein weiser Mann pflegt den vollen Preis zu zahlen, wenn er ein offenes Herz und eine offene Hand hat. Behalte das Tier, das du mir zurückzugeben vergaßest, und zeige es deinen Freunden. Ich gebe dir noch zwei solcher Tiere, wenn du unsere Freunde freigibst. Und wenn du sie vor Sonnenuntergang herbringst, bekommst du noch ein viertes dazu!" Die Indianer lächelten und betrachteten abermals ihren Elefanten mit Ausrufen des Entzückens. Dann ruderten sie langsam zum Ufer hinüber. Die Zeit verging. Die Sonne neigte sich schon den westlichen Hügeln zu. Stunde um Stunde hatten Wildtöter, Judith, Hetty und Chingachgook gewartet. Sie fingen an, ungeduldig zu werden. Eben wollte die Sonne sinken, da näherte sich vom Uferdickicht her aufs neue das Floß. Als es am Blockhaus anlegte, lösten die Indianer die Fesseln Hutters und Hurrys. Wildtöter übergab Rivenoak die versprochenen drei Elefanten. Unbeholfen stiegen die
beiden Weißen auf die Plattform. Die Fesseln hatten das Blut stocken lassen und Glieder» schmerzen hervorgerufen.
Wah=ta=Wahs Befreiung und Wildtöters Gefangenschaft Es war dunkel geworden. Der Himmel war düster und schwer. Tom Hutter hatte schlechte Laune. Ihn wurmte die Schmach, die ihm die Indianer angetan hatten. Und daß sich ein Indianer in seinem Blockhaus befand, war ihm auch nicht recht. Hurry March nahm das hinter ihm liegende Abenteuer leichter. Er lachte, wenn er daran zurückdachte. Er würde Gold dafür geben, genausoviel wie der Gouverneur, wenn er den Skalp des Schuftes Rivenoak bekommen könnte, sagte er zu Wildtöter. „Ich wundere mich nur, wie es Euch möglich war, uns loszukaufen." „Wir haben einen hohen Preis für Euch zahlen müssen. Ein zweites Mal wäre uns dies nicht möglich", antwortete der Jäger und erzählte die Geschichte mit den vier Elfenbeinelefanten. Von der Plattform her klang ein leises Geräusch. Wildtöter ging hinaus, um nachzusehen. Er kam sogleich zurück und warf ein Bündel von zwölf Holzstöcken auf den Tisch. Mehrere von ihnen waren in Blut getaucht. Ein hirschlederner Riemen hielt alle zusammen. „Das habe ich eben gefunden. Draußen rudert noch der junge Indianer, der uns dies vor die Tür geworfen hat." Judith erschrak. „Was bedeutet das?" „Krieg auf Leben und Tod", antwortete Wildtöter ernst. Kein Zweifel: die Indianer würden nun nicht mehr ruhen und rasten, bis sie das Kastell und seine Einwohner in ihre Gewalt gebracht hätten. Nur mit Mühe konnte Wildtöter Hurry March davon zurückhalten, den davon rudernden indianischen Boten zu erschießen. „Den Landstreichern will ich eine Antwort schicken!" schrie Hurry wütend. „Wir müssen ihn verfolgen und umbringen. Je mehr wir von dieser Brut vertilgen, desto weniger werden uns in den Wäldern auflauern." Die Männer berieten, was sie zu ihrem Schütze tun sollten. Schließlich wurde Wildtöters Plan angenommen: das Kastell bei Nacht zu verlassen und in die Arche zu flüchten. Nachdem die Wilden begonnen hatten, Flöße zu bauen, durfte niemand mehr daran zweifehl, daß sie ernstlich an die Eroberung des Blockhauses dachten. Kurz nach Anbruch der Nacht verließen sie das Kastell. Die nötigsten Lebensmittel wurden in die Arche gebracht. Das Blockhaus wurde so fest wie möglich verrammelt. Wildtöter und Chingachgook bestiegen ein Kanu. Sie wollten zum Ufer rudern. Dem alten Tom erklärten sie auf seine Frage nach ihrem Vorhaben nur, der Indianer wolle seine Braut aus den Händen der Feinde befreien. Judith warnte: „Ihr seid leichtsinnig! Setzt doch nicht Euer Leben und Eure Freiheit aufs Spiel!" „Ihr vergeßt, daß wir nur wegen Wah=ta=Wahs Befreiung hierher« gekommen sind", entgegnete Wildtöter. Die beiden Freunde waren bald am Ufer. Der weithin leuchtende Feuerschein des Indianerlagers wies ihnen schnell den Weg. Sie hielten sich im Schatten der Bäume, so daß sie von den Wachen nicht gesehen werden konnten. Aus einer Deckung spähte Chingachgook in das Lager. Unter den Frauen und Mädchen, die sich am Feuer niedergelassen hatten, erkannte er seine Braut. Er ahmte den Pfiff des amerikanischen Eichhörnchens nach. Deutlich sah er, wie über Wah=ta=Wahs Gesicht ein freudiges Lächeln huschte. Doch sie beherrschte sich und blieb still sitzen, damit ihre Gefährtinnen nichts argwöhnten. Nach einiger Zeit erhoben sich die Häuptlinge und Krieger vom Feuer. Lange und mit Wohlgefallen hatten sie die Elfenbeinelefanten betrachtet, die von Hand zu Hand gereicht worden waren. Wah=ta=Wahs Aufseherin, ein altes Weib, wollte gerade die Gefangene in ihre Hütte führen. Da rief sie ein Krieger und befahl ihr, ihm von der Quelle Wasser zu holen. Die Alte ergriff eine Kürbisflasche, rief Wah=ta=Wah zu sich und ging mit ihr nach
der nahen Quelle. Sie kamen an dem Baum vorüber, hinter dem sich die beiden Freunde verbargen. Erneut pfiff das Eichhorn, pfiff so nahe, daß Wah=ta=Wah wußte, wo sich ihr Verlobter befand. Nach wenigen Minuten kehrten die Alte und die junge Delawarin von der Quelle zurück. Wieder kamen sie am Versteck der Männer vorbei. Da stürzte sich Wildtöter auf die alte Indianerin und packte sie so fest an der Kehle, daß sie keinen Laut von sich geben konnte. Gleichzeitig ergriff Chingachgook mit kräftigen Armen seine Braut und eilte mit ihr zum Boot. Als er genügend Vorsprung hatte, ließ Wildtöter die Indianerin frei und lief dem Freunde nach. Aber schon klagte und zeterte die Alte los, und im nächsten Augenblick war sie von Kriegern umringt. Sie berichtete in aller Eile, was sich zugetragen hatte. Die Rothäute nahmen sofort die Verfolgung auf. Doch Wildtöter war schneller. Als er jedoch gerade ins Boot springen wollte, schnellte ein riesiger Indianer wie ein Panther auf seinen Rücken. Der Jäger stürzte zu Boden. Nur mit äußerster Kraft gelang es ihm, das Kanu abzustoßen. Sein Freund sollte nicht auch noch in die Hände der Rothäute fallen. Bis an die Brust stand er im Wasser und rang mit seinem Gegner. In dichten Scharen strömten die schreienden Wilden heran. Viele trugen Fackeln. Sie erkannten in ihm sofort den Mann, der vor kurzem einen von ihnen erschossen hatte. Ihre wilden Blicke und Rufe ließen keinen Zweifel daran, daß sie den Mörder ihres Bruders keineswegs schonen würden. Aber im Augenblick war das Gefühl der Bewunderung für die Tapferkeit und Geistesgegenwart des Feindes stärker als ihre Rachsucht. Wildtöter sah ein, daß jeder Widerstand zwecklos war. Er ergab sich der großen Übermacht seiner Verfolger. Der Indianer, den Wildtöter eben noch im See fast ertränkt hätte, stand am Feuer und trocknete seine Lumpen. Ab und zu faßte er mit einem scheuen Blick auf den Weißen an seine Kehle, um sich zu über» zeugen, daß sie noch heil sei. Das alte Weib, dem der junge Jäger an die Gurgel gesprungen war, fuchtelte mit der Faust vor seiner Nase herum und keifte in schrillen Tönen: „Auswurf der weißen Männer! Du bist nicht einmal ein Weib! Deine Freunde, die Delawaren, das sind wenigstens noch
Weiber — und du bist nur ihr Schaf! Deine eigenen weißen Brüder verachten dich und noch mehr jeder Stamm der roten Männer. Du willst unsern tapferen Freund erschlagen haben? In Wahrheit hat es sein großer Geist verschmäht, mit dir zu kämpfen! Er ließ lieber freiwillig seinen Körper zu« rück, als daß er sich die Schande antun wollte, dich zu töten! Noch in deinem Todesröcheln wirst du dich daran erinnern! Was höre ich da? Das sind nicht die Wehklagen eines roten Mannes! Kein roter Krieger grunzt wie ein Schwein! Diese Laute kommen aus der Kehle eines weißen Mannes, aus der Brust eines Engländers! Sie klingen, als wenn die Mädchen sängen: Hund, Stinktier, Marder, Igel, Schwein, Ferkel, Kröte, Spinne —" Die Alte schnappte gerade nach Luft, als der Häuptling Rivenoak hin» zutrat. Sein Erscheinen hinderte sie, ihre Liste an Kraftausdrücken und Schimpfworten zu vervollständigen.
Rivenoak hatte seine besonderen Absichten mit Wildtöter. Sie entsprachen allerdings nicht denen der meisten Krieger. Freundlich und mit vertraulichem Kopfnicken sprach er den Weißen an: „Mein Freund ist willkommen. Die Huronen haben helles Feuer, damit weißer Mann Kleider daran trocknen kann. Ein großer Krieger lebt nicht ohne Namen. Welches ist der Name meines Bruders?" „Wildtöter. Ich heiße aber auch Falkenauge. Gebt mir eine Büchse! Ich will Euch beweisen, daß ich diesen Namen mit Recht trage." „Ich glaube meinem Bruder. Falkenauge guter Name. Der Falke ist seines Hiebes sicher. Falkenauge ist kein Weib. Warum aber lebt so ein tapferer Krieger bei den Delawaren?" „Von Kindheit an waren die Delawaren gut zu mir. Warum sollte ich ihnen dafür nicht dankbar sein?" Der Irokese dachte nach. Dann meinte er spöttisch: „Wildtöter viele Freunde. Auch Bisamratte sein Freund. Er nicht weiß, nicht rot, nicht Fisch, nicht Vogel." „Hutter war in Not. Ich mußte ihm helfen. Das war alles. Ich war und bin ihm zu nichts verpflichtet." Rivenoak lächelte zufrieden. Er trat näher an Wildtöter heran und flüsterte eindringlich: „Mein Freund soll frei sein! Er soll zur Bisamratte zurückkehren und uns Tür aufschließen! Meiste Beute ist dir." Wildtöter war starr vor Staunen. Diese eisige Berechnung, diese gemeine Aufforderung zur Treulosigkeit hatte er nicht erwartet. Doch Wildtöter war klug und schwieg. Verächtlich wandte er sich ab. Rivenoak verfolgte ihn mit seinen Blicken und zog sich dann ärgerlich in seine Hütte zurück. Gleich darauf traten zwei Wächter auf Wildtöter zu und nahmen ihn mit. — Chingachgook und seine Braut hatten die Arche wohlbehalten, aber völlig atemlos durch das schnelle Rudern erreicht. Hutter, seine Töchter und Hurry March empfingen sie voller Freude, in die sich jedoch bald die Trauer um die Gefangennahme Wildtöters mischte. Doch dann tadelte Hutter den jungen Jäger, daß er so ungeschickt gewesen und seinen Feinden in die Arme gelaufen sei wie ein Bär in die Wolfsgrube. „Wenn er seine Dummheit mit dem Leben bezahlen muß, dann hat er sich das selbst zuzuschreiben." „Jeder muß seine eigenen Schulden bezahlen und für seine eigenen Sünden büßen", bekräftigte Hurry March und zuckte gleichgültig die Achseln. Immerhin wollten sie doch mit der Arche in die Nähe der Landspitze segeln. Vielleicht könnten sie feststellen, wie es um Wildtöter stand. Außerdem hofften sie dabei auch einige Skalpe zu erbeuten. Die vom Gouverneur versprochene hohe Belohnung hatte ihre Habgier geweckt. Sie bemühten sich, keinerlei Geräusch zu machen. Aber der indianische Posten am Ufer hatte sie doch sofort bemerkt und stieß einen tiefen, heiseren Schrei aus. Kurz entschlossen griff Hurry March zum Gewehr. Ein Blitz, ein Krach — und gleich darauf der gellende Todesschrei eines Mädchens. Hurry, der den Indianer treffen wollte, hatte dessen neben ihm stehende Freundin erschossen. Hurry erschrak über seine unbeabsichtigte und doch so grausame Tat. Hutter machte ihm deshalb Vorwürfe. In Chingachgook wallte einen Augenblick lang der Haß des Indianers gegen die Weißen auf. Aber er beherrschte sich und schwieg. Wah=ta=Wah überschüttete den unbesonnenen Schützen mit den heftigen Worten: „Warum du schießen? Was Huronenmädchen dir tun? Was du denken Manitou sagen? Was Irokesen tun? Nicht Ehre haben, nicht Lager erobern, nicht Gefangene machen, nicht Skalpe nehmen, nichts, gar nichts! Blut macht Blut! Wie du fühlen, wenn dein Weib töten? Wer dich trösten, wenn weinen über Mutter und Schwester? Du groß wie Tanne — Huronenmädchen nur klein, zarte Birke. Warum du sie zur Erde stürzen? Huronen nie vergessen — nein — nie vergessen! Nie Freund vergessen, nie Feind vergessen! Weshalb du so schlecht sein?" Gedemütigt durch diese Worte eines roten Mädchens, schlich sich Hurry wie ein geprügelter Hund beiseite.
Kampf im Blockhaus Die Nacht war still. In der Morgendämmerung nahm die Arche den Kurs zum Kastell auf. Am hellen Tage brauchte man keinen Angriff zu befürchten. Man konnte ja den See nach allen Seiten weithin übersehen und rechtzeitig jeden Gegner abwehren. Die Arche hatte das Kastell noch nicht erreicht, als sich Chingachgook von Hutter dessen altes Fernrohr geben ließ. Mit ernstem Gesicht zeigte er dann hinüber. „Nicht gut, nach Kastell fahren, dort jetzt Huronen." Hutter erschrak. Er spähte angestrengt in Richtung des Blockhauses, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. „Wo, zum Donnerwetter, stecken denn die Rothäute?" „Du hast wahrscheinlich das falsche Ende des Fernrohrs an die Augen gehalten", rief Hurry, um den Delawaren zu verspotten. „Weder der alte Hutter noch ich können auch nur die geringste Spur von den Irokesen feststellen." Chingachgook würdigte Hurry March keines Wortes, sondern wandte sich an Hutter und zeigte auf den See: „Sieht mein Bruder nicht den Mokassin? Er schwimmt auf dem Wasser — genau vor dem Blockhaus." Lange blickte Hutter in die angegebene Richtung. Immer wieder schüttelte er den Kopf. Endlich entdeckte er tatsächlich einen wildledernen Schuh. Er war an einem der Pfähle, die das Blockhaus trugen, hängen« geblieben. Hutter wußte sich keinen Rat und fragte darum Hurry March, ob sie sich durch dieses Zeichen einschüchtern lassen oder ruhig der Gefahr ins Auge blicken sollten. „Natürlich fahren wir ins Blockhaus", meinte Hurry. „Auf den Mokassin kann man nichts geben. Wer weiß, wie der dahin gekommen ist. Man sieht doch, daß alle Türen und Fenster noch fest verschlossen sind. Durch Schlüssellöcher können auch die schlauen Rothäute nicht schlüpfen." Ohne lange zu überlegen, löste Chingachgook ein Kanu von der Arche, ruderte zum Blockhaus, fischte den Schuh auf und nahm ihn ins Boot, und dann umkreiste er das Kastell. Es war alles still, unheimlich still. Chingachgook wagte aber nicht, auf die Plattform zu steigen und durch eine der Schießscharten ins Innere zu blicken. Er kannte die Kriegslisten der Huronen und hatte keine Lust, einen Flintenlauf auf die Brust gesetzt zu bekommen. So kehrte er zur Arche zurück. „Nun, wie ist's? Haben dich die Bisamratten gebissen?" fragte Hurry spöttisch. „Mir nicht gefallen. Zu still. So still, daß Stillschweigen sehen können", erwiderte der Delaware ernst. „Und der Mokassin?" „Hier!" Chingachgook hielt den Schuh in die Höhe. Der Fund wurde besichtigt. Wah=ta=Wah erklärte, er stamme aus Kanada, gehöre also einem Huronen. Hutter und Chingachgook waren der gleichen Ansicht. „Aber damit ist noch lange nicht gesagt, daß der Indianer, der ihn verloren hat, im Kastell steckt", wandte Hurry ein. Das sagte sich auch Hutter, und so wurde die Arche zum Kastell gelenkt, wo sofort die Ketten und Schlösser des Tores überprüft wurden. Sie waren unversehrt. Hurry öffnete die Tür und trat als erster ins Blockhaus. Die anderen luden die Arche aus, schafften Vorräte und Gepäck auf die Plattform, und als sie dort noch ein paar Augenblicke verschnauften, brach im Kastell ein wildes Geheul los. Indianische Kriegsrufe, das Schreien und Fluchen Hurry Marchs und das Toben der kämpfenden Männer machte einen höllischen Lärm. Gleich darauf stürzte Hurry aus der offenen Tür. Dicht hinter ihm fünf Indianer. Blitzschnell drehte er sich um und stieß den ersten Verfolger so heftig gegen seinen Hintermann, daß dieser ins Wasser fiel. Im Nu war jedoch der alte, überraschte Hutter von drei Indianern umringt und gefesselt. „Zurück, Chingachgook", schrie er, „schnell zurück, sonst vergreifen sich die Schurken noch an meinen Kindern! Zu helfen ist hier nichts. Rudert zurück!" Zögernd folgte Chingachgook der Aufforderung. Er ließ die Arche je= doch nur so weit zurückgleiten, daß die Mädchen in Sicherheit waren, er selbst aber den Kampf noch verfolgen konnte. Er schoß auf einen der Indianer, der vor Hutter stand und ihn höhnisch auslachte. Der Wilde stieß einen durchdringenden Schrei aus und stürzte tödlich getroffen zu Boden.
Voller Wut sprangen jetzt die anderen Rothäute auf Hurry los. Der eine umschlang ihn mit den Armen wie mit Eisenklammern, der andere fesselte ihm die Füße. Und dennoch gelang es dem Weißen, sich mit seinem Angreifer ins Wasser zu stürzen, wo ihn der Indianer loslassen mußte. In seiner Not rief Hurry: „Chingachgook, ich versinke! Meine Arme sind unter dem Druck des roten Schurken kraftlos geworden. Und meine Beine sind gefesselt!" Der Delaware sprang in das hinten an der Arche vertäute Kanu, ruderte auf den Erschöpften zu, nahm ihn ins Boot und kehrte sofort zur Arche zurück. Judith bangte um den Vater. Sie, die sonst so Mutige, war auf einmal verzagt. Die Indianer waren auf dem gleichen Weg, den sie gekommen waren, wieder verschwunden, als hätte sie der Erdboden verschluckt. Sie hatten nämlich in der vergangenen Nacht aus der Hinterwand des Blockhauses einige Balken und Bretter gelöst. So konnten sie ungesehen ein= und ausgehen, ohne die Türschlösser aufbrechen zu müssen. „Huronen Bisamratte gefangen. Er mein Bruder, wir ihn befreien", flüsterte Chingachgook Hurry zu. „Natürlich müssen wir das. Hauptsache ist nur, daß es die Rothäute vorher nicht merken. Wie war's, wenn wir so täten, als ob wir mit der Arche fliehen wollten?" Chingachgook war einverstanden. Bald schwamm die Arche mitten auf dem See. Sie war so weit vom Kastell entfernt, daß sie von dort nicht mehr gesehen werden konnte. Zur gleichen Zeit näherte sich dem Blockhaus vom Ufer her ein Floß, das die Rothäute aufnahm — nicht aber den alten Hutter. Die Indianer ruderten zum Land zurück. Das Kastell lag wieder so ruhig und still wie zuvor.
Tom Hutters Tod Fern vom Blockhaus kreuzte die Arche auf dem See. Judith und Hetty hatten sich eines der Kanus genommen und näherten sich vorsichtig dem Kastell. Als sie sich auf die Plattform geschwungen hatten, schlug Judith ihrer Schwester vor, ins Haus zu gehen. „Dir tut ja niemand etwas, weil jeder weiß, daß du krank im Kopf bist. Wenn noch einer der Indianer da ist, mußt du schnell rufen." Sprungbereit stand Judith neben dem Kanu, um sofort ins Boot springen zu können, wenn Gefahr drohte. Hetty kam sogleich zurück und erklärte, das Haus sei leer. „Nur der Vater schläft in seinem Zimmer, aber sehr unruhig." „Sollte ihm etwas zugestoßen sein?" fragte Judith besorgt. „Vielleicht hat er wieder zu viel getrunken. Er nimmt doch gern einmal einen über den Durst", meinte Hetty treuherzig. Die Mädchen gingen zusammen ins Haus. Sie hörten Stöhnen. Rasch entschlossen wagten sie sich in das Zimmer des Vaters, der gefesselt in der Ecke auf einem Stuhl saß. Seine Mütze hing ihm tief ins Gesicht hinein. Der Kopf war auf die Brust gesunken. Leise trat Judith auf ihn zu und nahm ihm die Mütze ab: Er war bei lebendigem Leibe skalpiert. In der Brust hatte er außerdem einen gefährlichen Messerstich. Die entsetzten Mädchen weinten. Da schlug Hutter mühsam die Augen auf. „Wasser!" stöhnte er. „Wasser, ihr albernen Dinger! Soll ich verdursten?" Hetty lief und holte einen Becher Wasser, den er gierig ausschlürfte. „Vater, was können wir für dich tun?" Judith schluchzte. „Vater!" wiederholte langsam der alte Mann, „ich bin nicht euer Vater. Sie war eure Mutter, ich nicht euer Vater. Seht in der Truhe nach — ihr werdet alles finden. — Gebt mir doch Wasser!" Judith war eher erfreut als betrübt über die Worte Tom Hutters. Hetty jedoch weinte. Judith reichte dem Sterbenden erneut frisches Wasser, stellte aber keine weiteren Fragen. „Wasser!" stöhnte Hutter wieder. „Wasser, Judith! Meine Zunge ist so heiß." Der Mann wurde unruhiger. Das Fieber schüttelte ihn. Hetty kniete neben ihm und betete das Vaterunser. Sein Geist verwirrte sich. Er stammelte unzusammenhängende Worte. Mehrmals hörte Judith das Wort Seeräuber. Es waren quälende Minuten. Draußen ließ
sich das Plätschern von Rudern vernehmen. Judith hatte keine Angst. Es wird die Arche sein, dachte sie. Und sie hatte recht. Die Mädchen lösten die Stricke, mit denen Hutter an den Stuhl gebunden war, und legten ihn auf den Boden. Im selben Augenblick trat Hurry ein. Da ihm die Schwestern nichts sagten, ahnte er nicht einmal, was vorgefallen war. Auch konnte er nichts erraten, da Judith dem Alten die Mütze wieder auf den Kopf gesetzt hatte. „Haben die Landstreicher dich so zu Boden geworfen, daß du nicht aufstehen kannst, Hutter?" fragte Hurry March im Scherz. Der Fiebernde öffnete die Augen und starrte den ändern wild an. „Bist du — der Bootsmann — von unserer — Schaluppe?" fragte er mit schwerer Zunge. „Ich bin Hurry March, alter Tom, kennst du mich nicht mehr?" „Ach so — ja. Hast du noch — deinen Skalp?" Jetzt erst begriff Hurry. Fragend sah er Judith an. „Sie haben ihm das getan, was Ihr mit ihnen tun wolltet", sagte sie bitter. „Sie werden seinen Skalp an den französischen Gouverneur von Kanada verkaufen, wie Ihr die Skalpe der Huronen an den englischen Gouverneur von New York verkaufen wolltet." „Ich hätte nicht gedacht, daß Hutters Tochter im Angesicht ihres sterbenden Vaters so von ihm sprechen würde!" erwiderte Hurry frostig. „Zum Glück war er nicht mein Vater!" rief Judith mit flammenden Augen. „Verleugne deinen Vater nicht in seiner letzten Stunde, Judith", bat Hurry. „Wer soll denn dein Vater gewesen sein, hm?" Das Mädchen senkte den Kopf und flüsterte: „Ich weiß es nicht. Hoffentlich ein ehrenwerter Mann." Noch einmal öffnete Hutter die Augen. Seine Hände griffen ziellos ins Leere. Dann stöhnte er noch einmal auf, warf den Kopf zur Seite und war tot. Bei Sonnenuntergang wurde die Leiche auf der Arche nach der Mitte des Sees gebracht. Da, wo vor Jahren die tote Mutter der beiden Mädchen und Hutters toter Sohn versenkt worden waren, sollte nun auch Thomas Hutter sein Grab finden. Hetty gab Hurry ihre Bibel, aus der Hurry einen Psalm vorlas, und dann sprach er einige Worte über seinen so grausam umgebrachten Freund, den er selbst wie seinen Vater verehrte. Langsam versank der Leichnam in den Fluten. Die weinenden Mädchen sangen ein Kirchenlied. Stumm und reglos wie ein Monument stand Chingachgook hinter ihnen. Judith und Hetty fanden jedoch wenig Zeit, lange zu trauern. Jetzt hieß es rasch handeln. Denn Wildtöter war immer noch in der Gewalt der Rothäute. Als die drei Weißen und die beiden Delawaren ins Blockhaus zurückgekehrt waren, schlug Judith vor, Hurry March solle so schnell wie möglich in die nächste Garnison eilen und Hilfe herbeiholen. Anders sei kaum an eine Rettung Wildtöters zu denken. Sie selbst seien zu gering an Zahl, um gegen die Übermacht der Feinde etwas ausrichten zu können. Hurry gab dem Mädchen recht. Er wollte sich gleich auf den Weg machen. „Wartet auf meine Rückkehr. Wir werden Wildtöter retten." Dann bestieg er ein Kanu und ruderte davon. Bald war er den Blicken der Zurückbleibenden entschwunden. Judith mußte immer wieder an die Worte des sterbenden Hutter denken. Hatte er nicht gesagt, die Truhe berge das Geheimnis ihrer Herkunft? Sie zündete eine Lampe an, begab sich in die kleine Kammer, schloß den Kasten auf und packte alles, was sie bereits kannte, nochmals aus. Schließlich fand sie auf dem Boden der Truhe einige Schachteln, in denen mehrere säuberlich gebündelte Briefe lagen. Mehr als zwei Stunden las sie darin. Es waren die Briefe ihrer Mutter, die, den Zeilen nach zu urteilen, eine vornehme Dame gewesen sein mußte. Offenbar hatte sie einen Offizier geliebt, der, noch bevor sie Hochzeit halten konnten, in einer Schlacht gefallen war. Judith und Hetty waren ihrer beider Töchter. Die Mutter hatte dann später Thomas Hutter geheiratet. Er war also der Stiefvater der Mädchen. Zwischen den Briefen lag auch ein Zeitungsausschnitt aus dem Jahre 1725. Er enthielt eine Bekanntmachung der französischen Regierung. Darin wurde demjenigen eine hohe Belohnung versprochen, der dem König von Frankreich die hier namentlich genannten Seeräuber ausliefern würde. Unter ihnen befand sich auch ein gewisser Thomas Hovey.
Der Name war, vermutlich von Hutter selbst, rot unterstrichen worden. Denn der Seeräuber Thomas Hovey war kein anderer als er selbst gewesen.
Wildtöters Fluchtversuch Zunächst hatte Wildtöter Ruhe vor den Rothäuten. Hin und wieder kam Rivenoak und versuchte, ihn für seine Absichten zu gewinnen. Wildtöter jedoch blieb hart. Barsch wies er die hinterhältigen Pläne des Häuptlings, der von ihm den Verrat seiner Freunde forderte, zurück. Am Lagerfeuer berichtete Rivenoak den versammelten Kriegern von seinen vergeblichen Bemühungen. So wurde beschlossen, am nächsten Morgen das Bleichgesicht zu martern. Dann erzählten die vom Blockhaus zurückgekehrten Indianer, daß sie den Skalp des alten Hutters, der Bisamratte, mitgebracht hätten. Die Krieger jubelten, und einige von ihnen eilten sofort zu Wildtöter, um ihm das Schicksal Toms in den grausamsten Farben auszumalen. Und obendrein logen sie ihm vor, daß auch Hurry und der Delaware tot seien. Wildtöter war jeder Schlaf vergangen. Vor allem beunruhigte ihn, daß die Mädchen nun ohne Schutz waren. Er überlegte hin und her, wie er fliehen und den beiden beistehen könne. Aber er sah keine Möglichkeit. Er wurde zu gut bewacht. Am Morgen beriet sich Rivenoak mit den Ältesten seines Stammes. Dann schritten sie auf Wildtöter zu und stellten sich in weitem Kreise um ihn auf. Der Häuptling trat auf den Weißen zu und sprach: „Tapferer Krieger! Deine Väter kamen vom Auf gang der Sonne. Wir aber sind die Kinder des untergehenden Lichts. Seit das weiße Land seine Söhne zu uns sendet, wird die Zahl der roten Männer immer kleiner. Die Irokesen brauchen Hilfe. Seit zwei Tagen ist eine unserer besten Hütten leer geworden. Wildtöter weiß, wer ihren Bewohner mordete, denn er war es selbst! Dir ist alles verziehen, wenn du dich von den Delawaren trennst und unser Bruder wirst! Nimm die Witwe des Kriegers, den du getötet hast, zum Weibe! Jage Wild für sie und ernähre ihre Kinder! Dann wird dein Herz nicht mehr das eines Delawaren, sondern das eines Huronen sein." Der Weiße hatte Rivenoaks Rede gehört. Er brauchte nur ja zu sagen — und er war gerettet! Doch sein Stolz und seine Ehre verboten es ihm. Ein aufrechter Mann bricht nicht sein Wort. Er hatte den Delawaren Treue geschworen. Dafür zu sterben war er jetzt bereit. Entschlossen erwiderte er dem Häuptling: „Ich bin ein weißer Mann und ein Christ. Ich kann keine Indianerin heiraten. Und ich kann auch die Delawaren nicht verraten. Ihr könnt mit mir machen, was ihr wollt, denn ich bin in eurer Hand. Ihr könnt mich mit den furchtbarsten Martern quälen, aber niemals werde ich meine Freunde verlassen und verraten! Ich habe gesprochen." Ein Sturm der Entrüstung brauste auf. Die Weiber waren am zornigsten. Die Witwe des Erschossenen, die fast doppelt so alt wie Wildtöter war, verfluchte und verwünschte ihn. Da stürzte ein junger Indianer, der Panther, der Bruder der Witwe, aus der Versammlung hervor. Mit wütendem Geschrei schleuderte er den Tomahawk gegen den Gefangenen, der von seinen Fesseln befreit war. Doch Wildtöter zuckte nicht. Schnell streckte er den rechten Arm wie zum Schütze vor und fing die Waffe am Griff auf, ohne von der scharfen Schneide verletzt zu werden. Erbittert über die Heimtücke des Wilden, schleuderte er das Wurfbeil mit aller Wucht auf den Angreifer zurück. Blutüberströmt und mit gespaltenem Schädel taumelte der Indianer rücklings zu Boden. In einem rauhen Gurgeln erstickte sein letzter Schrei. Die Indianer waren vor Überraschung wie gelähmt. Es dauerte einen Augenblick, bis sie überhaupt begriffen hatten, was geschehen war. Erst dann eilten sie zu dem tödlich Getroffenen. Diese Gelegenheit benutzte Wildtöter. Hurtig wie ein Reh lief er davon. Doch argwöhnische Augen hatten ihn beobachtet. Sogleich ließen die Indianer ihren toten Kamera» den liegen und eilten mit lautem Wutgeheul dem Fliehenden nach.
Der junge Jäger hastete zum See. Dort jedoch hatten die Irokesen Wachen aufgestellt, und so mußte Wildtöter zu einer dicht mit Bäumen bewachsenen Anhöhe abbiegen. Hinter dem Hang erhob sich ein zweiter Hügel. Beide waren durch eine tiefe und steile Schlucht getrennt, in die man nicht so schnell hinabklettern konnte. Verzweifelt schaute der Weiße nach einem Versteck aus. Die einzige Möglichkeit, sich zu verbergen, sah er in einem gestürzten Baum, dessen Äste zum Teil in die Schlucht hineinragten. Wildtöter durfte nicht lange überlegen. Auf dem Gipfel des Hügels stellte er sich so vor die Bäume, daß er von den ihn einkreisenden Verfolgern gesehen werden mußte. Er stieß einen lauten Jubelruf aus, als freute er sich über die vor ihm liegende Schlucht. Gleich darauf lag er unter dem Baume, verdeckt von dem dichten Blätterwerk. An dem sich nähernden Fußgetrampel erkannte er, daß die Feinde den Gipfel erreicht hatten. Mit Siegesgeschrei stürmten die ersten den Abhang hinunter. Achtlos liefen sie an dem Baum vorüber, unter dessen Laub sich Wildtöter versteckt hatte. Niemand dachte daran, daß der Jäger in solch ein gefährliches und leicht zu entdeckendes Versteck geschlüpft sein könnte. Schon waren alle Indianer in der Schlucht. Ihre besten Läufer hatten bereits den zweiten Hügel erklommen. Mit kräftigem Ruck schwang sich Wildtöter jetzt auf den Stamm des Baumes. Auf allen Vieren kroch er vorsichtig vorwärts. Er glaubte schon, unbemerkt zu entkommen, als sich ein gewaltiges Geschrei erhob. Ein paar Rothäute unten in der Schlucht hatten ihn entdeckt. Wie ein gehetztes Tier sprang der Weiße auf. In großen Sprüngen hastete er den Bergrücken entlang. Die Feinde aber kannten das Gelände besser. Sie wußten, daß sich der Höhenzug all» mählich zur Schlucht hinabsenkte. Darum liefen sie am Fuße des Hügels hin. Andere bogen seitwärts ab, um dem Flüchtenden den Weg zum See abzuschneiden. Bald erkannte Wildtöter, daß er den Wilden in die Arme lief und schwenkte ab, um an den See zu kommen. Er kannte genau die Stelle, an der das Kanu gelegen hatte, als er mit Chingachgook die Delawarin hatte befreien wollen. Er hoffte, daß sein Freund das Boot an die gleiche Stelle gebracht haben würde, um ihm so die Flucht zu ermöglichen. Wildtöter atmete auf. Unter den Ästen des überhängenden Baumes lag tatsächlich das Boot. Er stürzte darauf zu, zog es unter den Zweigen hervor und sprang hinein. Kräftig stieß er sich vom Ufer ab. Doch in der Eile hatte er vergessen, die Ruder mitzunehmen. So mußte er das Kanu den leichten Wellen überlassen. Als die Indianer schließlich das Ufer erreicht hatten, stimmten sie ein wütendes Geheul an und schössen auf den Flüchtling. Wildtöter warf sich schnell auf den Boden des Bootes. So war er geschützt. Doch der Rand des Kanus zersplitterte von den zahl» reichen Einschlägen und war bald von den Kugeln durchsiebt.
Befreiung Länger als eine Viertelstunde lag der junge Jäger regungslos im dahin treibenden Kanu und starrte gen Himmel. Plötzlich wölbte sich über ihm das grüne Laubdach des Waldes! Ebenso überrascht wie entsetzt, sprang er auf. Vor ihm stand Rivenoak mit zwei anderen Häuptlingen! Das Boot stieß an die Landzunge. Die Indianer zogen es aus dem Wasser. Mit höhnischem Lächeln betrachtete Rivenoak das blutlose Gesicht Wildtöters. „Mein junger Freund ist müde von der Kahnfahrt und muß sich noch von dem Wettlauf ausruhen." Mit herrischer Gebärde befahl er dem Bleichgesicht, aus dem Boot zu steigen. „Spottet nur! Ihr habt ja die Macht dazu!" rief Wildtöter in heißem Zorn. Der Hurone lächelte. Würdevoll erwiderte er: „Mein junger Freund ist ein Elch. Seine Beine sind sehr lang. Sie haben meinen jungen Männern Mühe gemacht. Aber er ist kein Fisch, er kann seinen Weg nicht im Wasser finden. Wir haben nicht auf ihn geschossen, denn Fische werden in Netzen gefangen und nicht mit Kugeln getötet." „Ihr hattet Glück, und ich hatte Pech. Das ist alles", entgegnete Wildtöter. „Mein Bruder hat den Hang erstürmt und den See befahren. Er hat die Wälder gesehen, und er hat das Wasser gesehen. Vielleicht wird er nun einen vernünftigen Vorschlag anhören." „Sprich, Hurone!"
„Die Witwe des Erschossenen ist jetzt ärmer denn je. Ihr Mann ist tot und ihr Bruder, der Panther, nun auch. Wer soll sie und ihre Kinder jetzt ernähren? Doch nur der Mann, von dem wir wissen, daß er ein kühner und berühmter Jäger ist und daß er die Frau ernähren könnte." „Andere mögen sich auf solche Weise retten, ich nicht!" entgegnete Wildtöter bestimmt. „Ich suche zwar nicht den Tod, aber auch nicht die Heirat." „Mein Bruder kann darüber nachdenken, wenn sich das Volk zur Beratung versammelt. Er wird dann erfahren, was beschlossen worden ist." Wildtöter folgte den drei Indianern zum Lagerplatz. Kein Hohngeschrei empfing ihn. Die seltene Kühnheit des weißen Mannes erfüllte die Rothäute mit Bewunderung. Und darum wollten sie jetzt seinen Mut auf eine harte Probe stellen. Rivenoak ließ den Jäger an Händen und Füßen fesseln. Aufrecht stehend wurde er so fest an einen Baum gebunden, daß er kein Glied rühren konnte. Die jungen Krieger tanzten um ihn herum und schwangen über den Köpfen ihre Tomahawks. Plötzlich schleuderten sie die Wurfbeile gegen den Baum, die dicht über dem Haupt des Gefangenen in den Stamm drangen. Standhaft ertrug der wehrlose Gefangene diese Qual. Er wußte, daß jede Minute ihm sein Ende bringen konnte. Aber nichts von seiner Unruhe ließ er die Feinde merken. Im Gegenteil, er lächelte verächtlich über sie. Gerade das aber versetzte sie in immer größere Raserei — und Bewunderung. Endlich ließen sie ab von dem furchtbaren Spiel, bei dem jeder Krieger seine Geschicklichkeit beweisen wollte. Schon stand die Sonne im Nachmittag, als Rivenoak der Versammlung den Beschluß der Häuptlinge mitteilte: Morgen bei Tagesanbruch solle der Gefangene den Feuertod erleiden. Die Indianer antworteten mit einem hellen, hohen Freudengeheul. Der Weiße wurde losgebunden und zwei besonders zuverlässigen Wächtern übergeben. Sie mußten mit ihrem Leben für den Gefangenen haften. Wildtöter hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden. Er wünschte sich nur noch einen schnellen Tod. Noch bevor die Sonne aufging, herrschte reges Leben im Lager der Irokesen. Wildtöter wurde wieder wie am Tage zuvor an den Pfahl gebunden. Die Rothäute sammelten trockenes Holz und schichteten es um ihn herum auf. Ernst und feierlich schritt Rivenoak, von den anderen Häuptlingen begleitet, auf das Bleichgesicht zu. „Hat sich Wildtöter für uns entschieden, oder bleibt er bei seiner Weigerung?" Der Jäger fuhr ihn barsch an: „Wie ich mich entschlossen habe, ist euch seit gestern bekannt." Rivenoak trat zurück. In diesem Augenblick kreischten die Indianerinnen auf. Sie streckten die Arme weit nach vorn und riefen: „Dort! Seht! Eine weiße Königin!" Die Irokesen blickten auf. Langsam schritt eine sehr schöne, in ein prächtiges, schimmerndes Kleid gehüllte Frau auf das Lager zu. Es war Judith! Ein freudiger Schreck durchfuhr Wildtöter. Judith hatte das glänzende Brokatkleid der Mutter angelegt. Noch nie hatten die Irokesen ein golddurchwirktes Gewand gesehen. Das Mädchen hoffte, durch sein Erscheinen die Bewunderung und zugleich die Nachgiebigkeit der Rothäute zu erwecken. Scheu wichen die Indianer vor der seltsamen Gestalt zurück. Furchtlos schritt Judith dem Häuptling entgegen. Unerschrocken begann sie zu sprechen: „Ich bin die Herrin eines großen Kriegerstammes. Der von euch gefangene Wildtöter gehört zu meinen Freunden. Wenn ich will, werden viele hundert Krieger von mir das Lager deiner roten Brüder umzingeln. Sie alle haben Gewehre und werden schießen. Ich will aber kein Blut vergießen und bin gekommen, mit dir in Frieden zu unterhandeln. Ich will dir noch mehr von den zweischwänzigen Tieren geben, wenn du Wildtöter freigibst." Einige Irokesen flüsterten erregt mit Rivenoak. Judith teilte dem Gefangenen leise mit, die Freunde täten alles, um ihn zu retten. Mit einem von Zorn und Verachtung verzerrten Gesicht wandte sich Rivenoak jetzt an das Mädchen. „Die Wilde Rose der Wälder will den Häuptling der Irokesen täuschen. Aber die scharfen Augen meiner Brüder haben die Tochter der Bisamratte erkannt. Sie will uns Furcht ein» flößen. Aber wir wissen, daß ihre Krieger eitel Lüge sind. Wir wollen ihre zweischwänzigen Tiere nicht. Tausend von ihnen sind nicht soviel wert wie dieser Gefangene!"
Judith wurde blaß. Ihre Augen suchten Wildtöter. Dieser zuckte nur gleichgültig die Schultern. Da gab Rivenoak ein Zeichen, und mehrere Indianer eilten herbei, um die Reisighaufen anzuzünden. Die Holzbündel waren in einiger Entfernung von dem Weißen aufgeschichtet. Er sollte nicht sofort in den Flammen umkommen, sondern allmählich verschmoren. Durch die Verlängerung der Qualen wollten die Indianer die Standhaftigkeit des Opfers brechen, um ihre eigene grausame Lust zu erhöhen. Die Flammen loderten empor. Vorüberziehende Rauchschwaden verdeckten für Augenblicke Wildtöters eingesunkene Wangen. Seine Augen röteten sich und tränten. Höher und näher fraß sich das lohende Feuer an ihn heran. Judith weinte vor Angst. In atemberaubender Spannung verfolgten die Wilden das gräßliche Schauspiel. Die Haare des Gefangenen begannen bereits zu glimmen. Plötzlich näherte sich in großen Sprüngen eine Gestalt dem Baum, an den Wildtöter gefesselt war. Mit kräftigem Schwung schleuderten ihre Füße die brennenden Äste beiseite, die weit bis in die Reihen der gebannt auf das Feuer starrenden Indianer flogen. Ehe die Irokesen begriffen, was geschah, waren die Fesseln des Gefangenen zerschnitten. In seiner Hand blitzte ein Tomahawk. Ein Freudenschrei Judiths über» tönte das nun einsetzende Wutgeheul. Außer sich vor Zorn versuchten die Krieger Rivenoaks, auf Wildtöter und seinen Befreier Chingachgook einzudringen. Doch plötzlich stutzten sie; denn ein seltsames metallisches Klingen drang an ihr Ohr. Es kam schnell näher. Wie unter einem mächtigen Stampfen begann der Erdboden zu zittern.
Und schon leuchteten zwischen den Bäumen Scharlachrote Umformen auf und schimmerten Bajonette und blitzten Degen. Gleichzeitig ertönte Hurry Marchs lauter Ruf: „Nieder mit den roten Schuften!" „Auf zum Angriff!" hallte ein scharfer Befehl durch den
Wald. Wie eine gewaltige, leuchtende Woge stürzten sich die im letzten Augenblick herbeigeeilten Truppen mit lautem Geschrei auf die entsetzten Irokesen, die in wilder Flucht vor den unerbittlichen Bajonetten der furchtbaren Feinde davonstoben. Sie stolperten übereinander und fielen zu Boden. Todesschreie, Kommandorufe und Gewehrsalven vermischten sich zu einem entsetzlichen Getöse. Die meisten Huronen wurden getötet. Nur wenige entkamen. In aufschäumender Freude fiel der gerettete Wildtöter der mutigen Judith, seinem tapferen Freund Chingachgook und Hurry March um den Hals. Sie hatten ihn vor einem schrecklichen Ende bewahrt.
Hettys Tod Ruhig und einsam lag der See. Die Sonne goß ihre Strahlen über Wasser und Wald und Hügel, und die Vögel sangen nah und fern ihr Lied. Doch über Hutters Blockhaus schwebte noch die dunkle Wolke der Trauer, welche die blutigen Ereignisse der letzten Tage zurückgelassen hatten. Soldaten des Königs von England hatten es besetzt und hielten hier Wache. Auf dem ärmlichen Bett ihrer Kammer lag die sterbende Hetty. Sie hatte ihre Schwester in das Lager der Irokesen begleitet, war aber während des Gefechts im Hintergrund geblieben. Und dennoch war sie von einer verirrten Kugel getroffen worden. Mit ernstem Gesicht saß der englische Arzt neben ihr. Hier waren sein Wille und seine Kunst machtlos. Ein Stärkerer als er forderte jetzt sein Recht. Schluchzend standen Judith und Wah=ta=Wah zu Füßen des bleichen und doch so still und ruhig aussehenden Mädchens. Stumm blickten Hurry, Wildtöter und Chingachgook auf die „Welkende Lilie". „Gibt es keine Rettung, Doktor?" fragte Wildtöter leise. Fast unmerklich schüttelte der Arzt den Kopf. „Keine", murmelte er. Hetty hauchte ihrer Schwester zu: „Siehst du, Judith, und wenn du mich auch immer verspottet hast, aber mein Beten hat doch etwas genützt. Ich habe gar keine Angst vor dem Sterben. Vater und Mutter sind tot, wer fragt danach, wenn ich tot bin? Wenn ich erst da unten im See liege, werden nicht mehr viele an mich denken." Judith schluchzte erneut auf. Hetty faltete die Hände auf der Brust und lächelte. Die anderen merkten kaum, daß in diesem Augenblick ihre Seele den Leib verließ. Ein schlichtes, aufrechtes Menschenkind hatte die ewige Ruhe gefunden, nach der es sich mit seinen achtzehn Jahren gesehnt hatte. Am Abend des folgenden Tages wurde Hetty feierlich neben die Mutter und den Stiefvater in den See gesenkt. Als die Sonne wieder aufging, wurde das Kastell verschlossen und von allen verlassen. Hurry folgte den englischen Truppen, um Soldat zu werden. Auch Judith zog mit den Soldaten, um die Enttäuschung zu überwinden, die ihr Wildtöter bereitet hatte — die Enttäuschung, von ihm nicht geheiratet worden zu sein. Der Jäger dagegen kehrte mit Chingachgook und Wah=ta=Wah zum Stamme der Delawaren zurück, wo sie ihn wegen seiner Tapferkeit von nun an Falkenauge nannten. Fünfzehn Jahre später kam Wildtöter wieder an den See. Ein neuer Krieg war bereits heraufgezogen.
Wah=ta=Wah ruhte schon lange unter den Tannen der Delawaren. Als die Sonne unterging, erreichten die beiden das Ufer. Alles war wie einst. Sie fanden ein Kanu und ruderten zur Halbinsel hinüber. Dort lagen noch die Gebeine der im Kampf gefallenen Huronen. Die wilden Tiere hatten sie abgenagt und die Sonne sie gebleicht. Dann steuerten sie auf das Blockhaus zu. Das Dach hatten die Winterstürme zerstört, aber die Schlösser hingen noch an der Tür. Nur die Pfähle waren schon morsch und verwittert und manche bereits im See versunken — dorthin, wo Hutter, Hetty und ihre Mutter die letzte Ruhestätte gefunden hatten. Im Innern des Hauses war alles geblieben, wie sie es verlassen hatten. An einem Balken hing noch eine Haarschleife Judiths. Wehmütig nahm Wildtöter sie ab und schlang sie um seine Flinte, die ihm Judith einst geschenkt hatte. Nie wieder hatte er etwas von der „Wilden Rose" gehört. Sie war verschollen. So ist das Leben. Nur die Spur des Starken bleibt.
II
DER LETZTE DER MOHIKANER Vorbemerkung Die Soldaten und Kolonisten, die für die selbstsüchtigen Absichten des englischen und französischen Königs in Nordamerika kämpfen mußten, hatten es nicht leicht. Ehe die feindlichen Heere sich auf dem Schlachtfeld begegnen konnten, mußten sie sich vorher monatelang durch den Urwald kämpfen, der das englische vom französischen Gebiet trennte, mußten reißende Ströme überqueren und sich einen Weg durch zerklüftete Gebirge bahnen. Aber sie hatten von den Indianern Ausdauer und Selbstverleugnung gelernt. Darum gelang es ihnen auch, die Schwierigkeiten der Natur zu überwinden. Im Urwald zwischen Kanada und New York lag der „Heilige See", oder „Horican", wie ihn die Indianer nannten. Dieser See hatte viele Inseln. Von seinem Südende zog sich ein langer Bergrücken bis an die Ufer des Hudson. Hier war der Schauplatz der Schlachten. Die Franzosen errichteten in dieser Gegend Forts und Festungsanlagen, aber bald kamen die Engländer und taten das gleiche. Doch die Glücklicheren und Erfolgreicheren schienen die Franzosen zu sein. In diesem wilden Land war das Leben höchst unsicher. Soldaten und Kolonisten erschraken nicht ohne Grund, wenn sie wieder einmal eine neue, unangenehme Nachricht erhielten. So auch an jenem Sommerabend des Jahres 1757, als in dem englischen Fort an dem Bergrücken zwischen dem Heiligen See und dem Hudson die Kunde eintraf, ein französisches Heer, „zahllos wie die Blätter an den Bäumen", ziehe heran. Munro, der Kommandant des zwei Meilen entfernt liegenden englischen Festungswerkes am Ufer des Heiligen Sees, forderte durch einen indianischen Läufer schnell große Verstärkung an. Das Fort des schottischen Obersten Munro hieß „William Henry". Das zwei Meilen südlicher gelegene Fort trug den Namen „Edward" und wurde von General Webb befehligt. Aber seine fünftausend Soldaten taugten nicht viel. Sie waren feige und hatten Angst vor den Franzosen.
Aufbruch General Webb stellte eine auserwählte Mannschaft zusammen. Es waren fünfzehnhundert Mann, reguläre Soldaten und Kolonisten. Sie sollten nach Fort „William Henry" marschieren. Dort wurde Oberst Munro, der nur eine kleine bewaffnete Schar befehligte, von den Franzosen bedroht. Bei Morgengrauen verließ die Kolonne das Fort „Edward". Voran starke Aufklärungsabteilungen, dann die Truppe mit ihren Querpfeifern, hinter ihnen die Fahrzeuge des Trosses, durch bewaffnete Gruppen gegen Überfälle gut gesichert. Als die Soldaten abmarschiert waren, gab es noch einen zweiten Aufbruch. Vor einem großen Blockhaus, vor dem Schildwachen auf und ab gingen, standen sechs Reitpferde: eines für einen Stabsoffizier, zwei für Damen und drei mit Packsätteln. Bald trat ein junger englischer Major heraus, der zwei Damen zu den Tieren führte, ihnen in den Sattel half und dann selbst aufsaß. Die drei verabschiedeten sich mit einer Verbeugung
von General Webb, der sie bis an die Tür begleitet hatte, dann ritten sie durch das nördliche Tor des Forts hinaus. Der leichte, grüne Schleier der jüngeren Dame wehte im Morgenwinde. Aus ihrem schönen, strahlend weißen Gesicht blickten zwei lachende blaue Augen in die Welt. Goldgelbe Locken ringelten sich unter ihrem Hut hervor. Die andere, etwas ältere Dame, war dicht verschleiert. Der Jüngeren waren die Gebräuche der Wildnis noch fremd. Sie stieß einen leisen Schrei der Überraschung aus, als sie den indianischen Läufer den Reitern voraneilen sah. Die andere lüftete kurz den Schleier, und ein Blick voll tiefem Mitleid, aber auch voller Schrecken, folgte dem Wilden. Man sah jetzt auch, daß diese Dame tiefschwarzes, glänzendes Haar und eine blasse Haut besaß. Ihr regelmäßiges, edles Gesicht war beinahe schön zu nennen. Der junge Offizier erklärte den beiden Damen, der Indianer sei ein Läufer des englischen Heeres; bei seinem Volke gelte er als Kriegsheld. Er habe sich freiwillig erboten, sie auf dem kürzesten und bequemsten Wege nach Fort „William Henry" zu führen, und sie würden sicher eher dort sein als die Soldaten. Der blonden Dame, die Alice hieß, gefiel der Läufer nicht. Aber Sir Duncan Heyward, der englische Major, beruhigte sie. Er kenne den Indianer; er sei treu und zuverlässig, obwohl er aus dem französischen Kanada stamme. Die dunkle Dame mit Namen Cora schwieg. Sie hatte Mitleid mit dem Wilden und konnte sich der Auffassung ihrer Schwester nicht anschließen. Der Pfad wand sich in vielen Krümmungen durch den dichten Wald und war düster und unheimlich. Die Reiter vertrauten dem Indianer, der ihnen gleichmütig vorantrabte. Das wilde, dunkle Gesicht, das ihnen aus dem Dickicht nachblickte, bemerkten sie nicht. Am Ufer eines kleinen Waldbaches lagerten drei Männer und brieten sich einen Hirsch zur Abendmahlzeit. Plötzlich sprang Uncas auf. Falkenauge — so nannte sich Wildtöter jetzt — sah fragend zu ihm hoch. Aber der Jüngling winkte ungeduldig ab und flüsterte seinem Vater Chingachgook zu: „Ich höre Tritte. Wahrscheinlich Weiße. Der Boden zittert, als ob Rosse stampften. Indianer reiten nicht im dichten Wald." „Vielleicht verfolgen Wölfe das Wild, das sie in den Wald getrieben haben", meinte Falkenauge zweifelnd. „Nein! Die Pferde der Weißen kommen", widersprach Chingachgook. Er erhob sich würdevoll und setzte sich auf einen Baumstamm. „Falkenauge, es sind deine Brüder. Sprich du mit ihnen!" Schweigend warteten die Männer. Die Hufschläge näherten sich. Zweige knackten. Schließlich teilte sich die grüne Wand des Gebüsches. Ein Reiter in glänzender Uniform prallte erschrocken zurück, als er die drei Männer erblickte. „Wer da?" rief Falkenauge. „Wer wagt es, in diese Wildnis voller Tiere und Gefahren einzudringen?" „Wir sind Freunde des Gesetzes und des Königs. Seit Sonnenaufgang streifen wir durch den Wald. Wir haben großen Hunger", erwiderte der Offizier.
„Ihr habt Euch verirrt? Wohin wollt Ihr denn?" „Nach William Henry. Wie weit ist es noch bis dahin?" Falkenauge lachte laut auf. „Einen schlechteren Weg konntet Ihr wohl nicht wählen, wie? Kehrt einfach um, dann kommt Ihr hin! Wie konntet Ihr Euch denn so verirren?" Ohne zu antworten, wandte sich der Reiter ins Gebüsch zurück und kam gleich darauf mit zwei zu Tode erschöpften Damen wieder. Sie konnten sich kaum noch auf den Pferden halten. Falkenauge empfing die unbekannten Gäste freundlich und machte für sie am Feuer Platz. „Mein Name ist Heyward, Major in der Armee Seiner Majestät König Georgs II. von Großbritannien." Der Fremde erhob sich und machte eine leichte Verbeugung vor Falkenauge. Mit einer Handbewegung zu den beiden neben ihm sitzenden Damen fuhr er fort: „Die Töchter des Obersten Munro auf Fort, William Henry'. Mit einer der Damen bin ich verlobt. Der Oberst möchte in diesen unsicheren Zeiten seine Töchter bei sich haben. Heute früh sind wir von Fort, Edward' aufgebrochen. Magua, ein Indianer, der schlaue Fuchs' genannt, sollte uns den nächsten und sichersten Weg führen. Wir hatten ihn schon öfter als Kundschafter verwendet. Er behauptet, die Gegend hier zu kennen. Ich bin aber überzeugt, daß wir uns verirrt haben." „Ein Indianer sollte sich in den Wäldern verirren?" sagte Falkenauge und lachte. „So etwas gibt es doch gar nicht! Hahaha! Ist er ein Mohikaner?" „Nicht von Geburt, aber er ist in diesen Stamm aufgenommen. Er gehört zu den Huronen." Bei diesen Worten sprangen die beiden Indianer, die bisher unbeweglich und gleichgültig dagesessen hatten, lebhaft auf. Falkenauge rief: „Ein Hurone! Was kann man von einem solchen Landstreicher und Vagabunden wohl anderes erwarten, als daß er auf Betrug und Mord ausgeht!" Heyward winkte ungeduldig ab. „Ich will nicht mit Euch über einen Menschen streiten, den Ihr nicht kennt. Ich möchte jetzt nur wissen, wie weit es bis, William Henry' ist." Falkenauge blickte suchend um sich. „Wo habt Ihr denn Euren Indianer? Ich möchte mir die Kreatur mal ansehen. Diese Irokesenkerle haben ein abgefeimtes Auge." Magua, der Läufer, war etwas im Walde zurückgeblieben und hatte sich hinter einem Baum versteckt. Falkenauge war fest davon überzeugt, daß dieser Magua ein französischer Spion war. Bestimmt hatte er die Absicht, den Engländer und die beiden Mädchen in die Hände der Gegner zu spielen. Darum mußte er unschädlich gemacht werden. Chingachgook und Uncas schlichen sich in den Wald, um Magua zu fangen. Doch der kam ihnen zuvor und entwich ins Dickicht. Uncas schoß hinter ihm her, konnte ihm aber nur eine leichte Wunde zufügen, deren Blut die Blätter eines Sumachbaumes rot färbte. Der Major war um den Verletzten besorgt und wollte ihm helfen. Aber Falkenauge fuhr ihn an: „Seid Ihr verrückt? Dieser rote Teufel würde Euch nur unter die Tomahawks seiner Stammesgenossen locken." Heyward war ratlos. Je dunkler es wurde, desto mehr bedrückte ihn die Verantwortung für die beiden Damen. Hinter jedem Baum, hinter jedem Gebüsch glaubte er Feinde lauern zu sehen. In seiner Hilflosigkeit bat er Falkenauge: „Um Gottes willen, verlaßt uns nicht! Helft uns! Jeden Lohn, den Ihr fordert, sollt Ihr haben." Der Jäger und die beiden Mohikaner berieten sich in der Sprache der Delawaren. Man könne die Weißen nicht ihrem Schicksal überlassen, meinte Falkenauge. Chingachgook war derselben Ansicht. „Sie haben sich unter unseren Schutz gestellt, wir müssen ihnen helfen." Der Jäger wandte sich an den Major: „Wir haben keine Zeit zu verlieren. Dieser Mohikaner und ich wollen alles tun, was in unseren Kräften steht, um die beiden Damen zu schützen. Aber wir wollen keinen Lohn dafür. Was wir tun, ist Christenpflicht." Dann schritten sie am Bach entlang, voraus Chingachgook und Uncas mit den Pferden. Der Bach war breit und mündete in einen Fluß mit starker Strömung. Falkenauge zog aus einem Versteck ein Kanu aus Baumrinde hervor. Die beiden vor Angst weinenden Frauen stiegen zuerst ein. Heyward und Uncas folgten, schließlich Falkenauge und Chingachgook. Die Pferde schwammen neben dem Boot. Nach wenigen Metern mußten die Männer auf Falkenauges Befehl die Ruder einziehen. Ein erst fernes, dann immer stärker werdendes Brausen erfüllte die Luft. Alice, Heywards Braut, schmiegte sich ängstlich an ihre Schwester Cora.
Aber Falkenauge beruhigte sie: „Keine Angst, das ist der Wasserfall. Er soll uns vor den hinterlistigen Feinden retten." Durch einen jähen Aufschrei Alices wurde Heyward aus seinen Gedanken aufgeschreckt. Voller Entsetzen sah er, daß das Kanu auf einen weit in den Fluß hineinragenden Felsblock zusteuerte. Noch ein paar Meter, und das Boot mit seinen Insassen mußte zerschellen. Falkenauge, der vorn stand, packte mit beiden Händen das Ruder. Er ließ das Boot nahe an den Felsen herankommen, dann stieß er mit dem Ruderplatt kräftig dagegen. Der leichte Kahn glitt in weitem Bogen um den Felsen herum, direkt auf das Ufer zu. Der Jäger fuhr in die Äste eines weit überhängenden Baumes. Mit kräftigem Ruck zog er das Kanu dicht an das Ufer heran und band es am Gestrüpp fest. Als erster sprang er an Land und half den anderen beim Aussteigen. „Wir sind ja wohl gerettet, aber unsere armen Pferde!" seufzte Heyward. Falkenauge spähte über den Fluß. „Sie sind drüben ans Ufer gegangen." „Da werden sie den Huronen in die Hände fallen und unsere Spur verraten." „Das ist leider nicht zu ändern", erwiderte Falkenauge kurz.
Zuflucht in der Felsenhöhle Völlig erschöpft sanken der Major und die beiden Damen auf den Rasen. Falkenauge und die beiden Mohikaner gingen zu einer Felswand nahe am Ufer. Zu Heywards großer Verwunderung verschwanden sie plötzlich. Der Major lauschte. Nach einer Weile vernahm er dunkle Männerstimmen, die aus dem Innern der Erde zu kommen schienen. Bald darauf drang ein dünner Lichtstrahl aus einer Spalte der Felswand. Dann hörten sie Falkenauges Stimme. Sie kam aus dem Innern des Berges und forderte sie auf, durch die Öffnung in die Höhle zu schlüpfen. Heyward und die beiden Damen taten dies unverzüglich. Hinter ihnen rollten Chingachgook und Uncas den Block wieder vor die Felsspalte. Sie befanden sich in einer großen Höhle, die von einem lodernden Fichtenspan erhellt wurde. Zur Beruhigung der Reisenden besaß sie einen zweiten Ausgang zum Walde hin. Er war durch einen Vorhang verdeckt. Der Jäger lud die Fremden und seine indianischen Freunde zur Abendmahlzeit ein. Er nahm aus seiner Jagdtasche das rohe Fleisch eines Rehbocks. Kurz bevor der Offizier und seine Begleiterinnen zu ihnen gestoßen waren, hatte er ihn geschossen. Daneben legte er einen Beutel Salz. Lachend meinte er: „Es ist zwar keine fürstliche Mahlzeit, Herr Major, aber Sie wissen wohl selbst am besten, daß mancher Soldat in dieser Wildnis froh ist, wenn er sein Fleisch roh essen kann." Uncas hatte unterdessen in der Mitte der Höhle ein lustiges Feuer entfacht. Behende schnitt er das rohe Wildfleisch in Stücke, rieb es mit Salz ein und röstete es über den Flammen. Dann bot er es höflich, aber zugleich ängstlich den Gästen an. Es war bei den Indianern nicht üblich, daß die Männer die Frauen bedienten. Hier aber forderte es die Gastfreundschaft. Seine besondere Aufmerksamkeit galt Cora. Wenn er ihr die Kürbisflasche mit dem Fichtennadelschnaps oder den aus der Wurzel des Pfefferbaumes geschnitzten Teller mit dem gerösteten Wildbraten anbot, lächelte er freundlich, und sein sonst so stolz funkelnder Blick wurde sanft. Chingachgook aß schweigend. Oft streiften ihn verstohlen die unruhigen und mißtrauischen Blicke der Reisenden. Doch bald hatten sie erkannt, daß sich unter der gräßlichen Kriegsbemalung ein edles Gemüt verbarg. Von ihm hatten sie keine Gefahr zu befürchten. Die Mahlzeit war beendet. Falkenauge riet den Gästen, sich zur Ruhe zu legen. Sie sollten Kräfte für die Anstrengungen des nächsten Tages sammeln. Die ermüdeten jungen Damen ließen sich das nicht zweimal sagen. Sie standen vom Feuer auf und machten sich im dämmerigen Hintergrund der Höhle ein Lager zurecht. Gedämpft wie fernes Donnergrollen hörte man das ununterbrochene Brausen des Wasserfalles. Da gellte irgendwo ein markerschütternder Schrei. „Was war das?" flüsterte Alice atemlos und voller Schrecken. Falkenauge und die beiden Mohikaner antworteten nicht. Sie
lauschten angespannt, dann folgte Uncas einem Wink seines Vaters und verließ die Höhle vorsichtig durch den Ausgang zum Wald. Falkenauge sagte in die bange Stille hinein: „Ich traute mir zu, jeden Laut der Wildnis zu kennen, ob er nun von Tieren oder Indianern stammt. Aber solch einen gräßlichen Schrei habe ich noch nie gehört." Endlich kehrte Uncas zurück. In delawarischer Sprache teilte er dem Vater seine Beobachtungen mit. Falkenauge übersetzte seine Worte den Engländern: „Er hat nichts Verdächtiges feststellen können. Schlaft ruhig. Wir wollen uns nicht weiter den Kopf zerbrechen. Wir werden wachen." Beruhigt begaben sich die Mädchen zu ihrem Lager zurück. Heyward begleitete sie. Zitternd klammerte sich Alice an seinen Arm und schaute flehend zu ihm auf. „Bleib bei mir", flüsterte sie. „Schlafen können wir sowieso nicht, denn..." Sie konnte nicht zu Ende sprechen. Der gleiche furchtbare, markerschütternde Schrei erklang. Entschlossen erhob sich Falkenauge und ging hinaus. Der Major folgte ihm. Da — wieder ein Schrei! Heyward erklärte: „Derartige Schreie habe ich oft in der Schlacht gehört. Es sind die Angstschreie von Pferden im Todeskampf. Wahrscheinlich machen die Bestien des Waldes meinen Tieren den Garaus." Diese Erklärung leuchtete den anderen ein. Chingachgook befahl seinem Sohn: „Fahre mit dem Kanu hinüber und wirf brennendes Holz unter die hungrigen Wölfe, damit sie die Pferde in Ruhe lassen. Sonst haben wir morgen früh keine Pferde mehr." Uncas führte den Befehl aus. Kurz danach drang vom anderen Ufer lautes Geheul herüber. Es war das Geheul der erschreckten Wölfe, die das Feuer in die Flucht gejagt hatte. Nach seiner Rückkehr blieb Uncas als Wache vor der Höhle. Drinnen setzten sich Falkenauge und Chingachgook ans Feuer. Sie verzichteten ebenfalls auf den Schlaf. Die drei Fremden legten sich endlich nieder und fielen bald in tiefen Schlummer.
Überrumpelung Nichts störte mehr die Stille der mondhellen Nacht. Schon schimmerte der erste graue Streifen des neuen Tages über den Baumwipfeln, da weckte Falkenauge Heyward. „Weckt die Damen und bereitet alles vor, daß wir mit dem Boot weiterfahren können." „Habt Ihr eine ruhige Nacht gehabt?" erkundigte sich der Major. „Wir haben nichts mehr gehört. Aber nun macht schnell." Der Offizier hatte die beiden Schwestern geweckt. Plötzlich erhob sich ein entsetzliches Gebrüll. Man hätte meinen können, alle Teufel seien los. Erschrocken fuhren die beiden Mädchen auf. Falkenauge und Chingachgook griffen zu den Gewehren. Das Geheul kannten sie nur zu gut: es war das wilde Kriegsgeschrei der Huronen. Vom anderen Ufer blitzten und krachten Gewehrschüsse durch die Morgendämmerung. Uncas schlich sich an die Außenseite des in die Höhle führenden und jetzt geschlossenen Spaltes. Er berichtete leise, die Huronen hätten das im Gestrüpp vertäute Kanu gefunden. Offenbar bereiteten sie einen Angriff vor. Heyward sprach den beiden Damen Mut zu und riet ihnen, sich still zu verhalten. Dann verließen die Männer das Versteck und schlichen vorsichtig zum Ufer, wobei sie darauf achteten, daß sie nicht den schützenden Schatten der Bäume verließen. Sie sahen, wie vier Huronen mit dem leichten Boot über den Wasserfall zu gelangen versuchten. Ruhig hob Falkenauge sein Gewehr und zielte auf den vordersten Feind. Die beiden anderen nahmen ebenfalls zwei Indianer aufs Korn. Gleichzeitig krachten drei Schüsse. Die Rothäute stürzten schreiend auf den Boden des Fahrzeuges. Einer jedoch schien nicht verwundet worden zu sein. Wutgeheul gellte vom anderen Ufer herüber. Gewehrsalven folgten. Sie zerrissen aber nur das Laub. Die Männer waren hinter den Bäumen gut gedeckt. Der unversehrte Hurone in dem Kahn wollte das Schicksal seiner Gefährten nicht teilen. Eilig ruderte er zum Ufer zurück.
In sicherer Entfernung versuchten nun fünf Wilde, mit dem Boot den Fluß zu überqueren. Falkenauge und seine Kampfgenossen zogen sich etwas in den Wald zurück, um besser gedeckt zu sein. Dann erreichten die fünf Indianer das Ufer und stürzten sich auf die Männer, die zu ihrem Schrecken festgestellt hatten, daß ihnen das Pulver ausgegangen war. Das gefüllte Pulverhorn aber lag in dem geraubten Boot!
Ein erbitterter Kampf von Mann zu Mann begann. Ein riesiger Hurone fiel Falkenauge an. Jeder der beiden mühte sich, das Messer in der emporgehobenen Hand des anderen abzuwehren. Die Kraft des Jägers erwies sich in dem zähen Ringen jedoch bald stärker als die der Rothaut. Falkenauge entriß seine bewaffnete Hand plötzlich der eisernen Umklammerung des Feindes und stieß ihm den scharfen Stahl durch die nackte Brust ins Herz. Gefährlicher war die Lage für Heyward. Gleich beim ersten Stoß war sein schwacher Degen zerbrochen. Doch war er geschickt genug, dem Huronen das Messer aus der Hand zu winden. Beide befanden sich am äußersten Rande des Felsens, der steil in den
rauschenden Fluß abfiel. In dem furchtbaren Ringen wollte jeder den anderen in die schwindelnde Tiefe stürzen. Schon taumelten beide dicht am Abgrund. Der Wilde griff nach der Kehle des Majors. In diesem Augenblick größter Gefahr sah der Offizier dicht vor sich eine dunkle Hand mit einem blitzenden Messer. Der Indianer ließ kraftlos die Faust sinken. Aus dem durchschnittenen Handgelenk tropfte Blut. Schnell zog Uncas den Engländer fort. Der Feind stürzte lautlos in den Abgrund. Der junge Mohikaner stieß ein lautes Triumphgeschrei aus. Auch Chingachgook hatte seinen Gegner überwunden. Drei Huronen waren tot. Die beiden letzten flohen zu dem Boot. Ein lebhaftes Gewehrfeuer von der anderen Seite des Flusses deckte ihren Rückzug. „Uncas hat mir das Leben gerettet, er ist mein Freund!" erklärte Heyward. Der junge Mohikaner reichte dem englischen Offizier die Hand, der sie kräftig drückte. Die vier Männer eilten zurück in die Höhle, und die beiden verängstigten jungen Damen atmeten auf. Cora fragte Heyward, wie es stehe. Falkenauge meinte: „Die Huronen werden wohl keine Ruhe geben, ehe sie nicht den Tod ihrer Gefährten gerächt haben. Wir müssen mit dem Schlimmsten rechnen." Heyward erschrak. „Sind wir denn hier nicht sicher? Mir macht es nichts aus, wenn ich sterbe. Ich möchte aber nicht, daß die mir anvertrauten Damen in die Hände der blutgierigen Schurken fallen." Mit einem Blick des Mitleids streifte Falkenauge die Mädchen. „Die Feinde werden bald listig wie die Schlangen heranschleichen. Wir haben kein Pulver mehr und keine Kugeln. Womit sollen wir uns denn wehren? Worauf sollen wir noch hoffen? Wir müssen sterben." Cora hatte die leisen Worte des kühnen Jägers wohl gehört. Voller Entsetzen rief sie: „Sterben? Könntet Ihr Euch denn nicht zu meinem Vater durchschlagen und Hilfe holen?" „Ihr kennt die List der roten Teufel nicht, glaubt ja nicht, daß sie uns den Weg in die Wälder freigelassen haben. Wenn wir das Boot noch hätten, könnten wir alle fliehen, denn die Strömung des Flusses ist stark genug, um uns schnell voranzubringen." Cora fiel ihm ins Wort: „Aber dann schwimmt doch mit Euren beiden Freunden! Warum zögert Ihr noch? Ihr vergrößert ja nur die Möglichkeit, erneut von unseren Feinden angegriffen zu werden." „Unser Gewissen und unsere Ehre verbieten uns, Euch zu verlassen! Was sollten wir Eurem Vater antworten, wenn er uns fragte, was mit Euch geschehen sei?" „Sagt ihm, Ihr habet den Auftrag, schnellstens Hilfe herbeizuholen. Sagt ihm, daß unsere Rettung vielleicht noch möglich sei. Wenn nicht, dann" — Cora sprach nur noch stockend weiter —, „dann bringt unserm alten Vater die letzten Grüße seiner Töchter. Sagt ihm, er möge nicht um unsern frühen Tod trauern." Falkenauge dachte über Coras vernünftigen Vorschlag nach und beriet sich mit Chingachgook und Uncas. Der ältere Mohikaner zögerte, erklärte sich aber schließlich bereit, den Weg zu wagen. Ohne viele Worte schlüpfte er durch die Felsspalte. Mit der Gewandtheit einer Schlange glitt er zum Flußufer hinab, das im Schatten lag. Hier schöpfte er tief Luft. Dann stieg er vorsichtig in die rauschende Flut. Eine längere Strecke schwamm er unter Wasser. Falkenauge empfahl dem Major und den beiden Damen, sich so ruhig wie möglich zu verhalten. Die Rothäute würden dann das Versteck nicht finden. Sollten sie aber doch durch irgendeinen Zufall auf die Höhle stoßen und sie fangen und durch die Wälder fortführen, dann sollten sie auf ihrem Wege von Zeit zu Zeit an Büschen oder Bäumen unauffällig einen Zweig umknicken. So könnten die Freunde ihre Spur finden und sie befreien. Der kühne Jäger ging nun ebenfalls zum Fluß und schwamm wie Chingachgook davon. Uncas aber lehnte an einem Felsen und rührte sich nicht. Fragend blickte die schwarzäugige Cora ihn an. „Eure Freunde sind vielleicht schon in Sicherheit. Warum folgt Ihr ihnen nicht?" „Uncas bleibt!" „Warum? Ihr erschwert doch nur unsere Rettung. Nein, junger Mann, geht! Sagt meinem Vater, er möge Euch Geld geben, um uns freizukaufen. Geht, Uncas, bitte!"
Der Häuptlingssohn legte die Stirn in Falten. Nach kurzem Zögern raffte er sich auf, legte die Hand aufs Herz, verbeugte sich und schlüpfte lautlos durch den Spalt. Mit leisen Schritten eilte er über den Felsen zum Ufer und sprang in das brausende Wasser. Cora musterte den jungen Offizier. „Ihr seid als guter Schwimmer bekannt, Duncan. Folgt dem Beispiel dieser einfachen und treuen Menschen!" Der Major lächelte schmerzlich. „Ist das die Treue, die Ihr erwartet?" Ungeduldig entgegnete die schöne junge Dame: „Ihr könnt uns hier sowieso nicht helfen. Aber Euer wertvolles Leben kann noch für andere Freunde, die es mehr verdienen als wir, gerettet werden." Duncan schwieg und blickte auf Alice, die sich mit kindlichem Vertrauen in seinen Arm schmiegte. Nach kurzer Pause fuhr Cora fort: „Vor allem bedenkt, das Schlimmste, was uns treffen kann, ist der Tod, dem sowieso niemand entgeht." „Es gibt Schlimmeres als den Tod", erwiderte Duncan. „Vielleicht kann ein Mann, der bereit ist, sein Leben für Euch zu opfern, dies verhüten." Cora zog den Schleier über ihr Gesicht und ging mit der weinenden Alice in den tiefsten Winkel der Höhle. Niemand sprach mehr ein Wort. Etwa nach einer Stunde unterbrachen gellende indianische Kriegsrufe die Stille. Die Huronen waren unbemerkt vom jenseitigen Ufer herübergekommen. Sie schweiften durch den Wald, fanden aber keine Spur ihrer Gegner. Es waren furchtbare Augenblicke für die Menschen in der Höhle, als die Wilden sich unmittelbar vor dem Eingang versammelten. Doch sie zogen ab, ohne das Versteck zu entdecken. Ihre Rufe entfernten sich weiter und weiter. Der Major und die beiden Damen atmeten tief auf. „Alice, wir sind gerettet!" sagte er und drückte seiner weinenden Verlobten die Hand. Da ertönte erneut ein Schrei. Den Unglücklichen erstarrte das Blut in den Adern. Heyward fuhr herum. In der Öffnung der Höhle sah er das Gesicht Maguas! Das triumphierende Grinsen des Verräters ließ Heywards Blut aufwallen. Er riß sein Messer aus dem Gürtel und stürzte zum Ausgang. Der Indianer aber war schon verschwunden. Mit einem lauten, langanhaltenden Schrei rief Magua seine im Walde verstreuten Gefährten zusammen. Von allen Seiten stürzten sie daher und drangen unter seiner Führung in die Höhle. Widerstand war nutzlos. Die drei Gefangenen ergaben sich. Der „schlaue Fuchs" jubelte. Sein listiger Plan war geglückt. Er hatte die Engländer in die Irre geführt. Sie waren in die Hände der Rothäute gefallen.
Im Lager der Huronen Die Huronen hatten nicht viel Zeit zu verlieren. Sie nahmen die Weißen in ihre Mitte und zogen fluchtartig von dannen. Das Fehlen des Jägers und der beiden Mohikaner ließ sie ahnen, daß bereits Boten unterwegs waren, um Hilfe herbeizuholen. Darum achteten sie darauf, daß die vornehmen Mädchen nicht nach Falkenauges Rat Zweige knick» ten. Die Schwestern wurden auf Pferde gesetzt. Ihre Schuhe sollten im Grase keine verräterischen Abdrücke hinterlassen. In großer Hast eilten die Indianer durch den Wald. Erst nach Sonnenaufgang gönnten sie sich auf einer kleinen Anhöhe kurze Rast. Sie legten sich auf die Erde nieder. In der Mitte saß Magua und bewachte die Gefangenen. Es waren nur acht Rothäute, aber sehnige und behende Gestalten. Heyward sah die Nutzlosigkeit jeden Fluchtversuchs ein. Lange Zeit sprach Magua kein Wort. Endlich erhob er sich und wandte sich an Heyward: „Sagt dem schwarzlockigen Mädchen, daß Magua sie sprechen will. Der Vater wird nicht vergessen, was die Tochter verspricht." Der Major führte Cora zu Magua. Eine Minute blieb dieser still und bewegungslos stehen. Dann winkte er dem jungen Engländer, sich zu entfernen. „Wenn der Hurone zu Weibern spricht, verschließen alle Männer seines Stammes ihr Ohr." Cora lächelte. „Da hört Ihr es, Duncan! Ihr solltet von selbst so taktvoll sein und gehen. Tröstet Alice!"
Als Heyward gegangen war, blickte sie den Indianer an. „Was hat Magua der Tochter Munros zu sagen?" Der Irokese begann zu sprechen: „Magua war Häuptling und Krieger der Huronen an den großen Seen. Die Sonnen von zwanzig Sommern und den Schnee von zwanzig Wintern sah er, ehe er ein Bleichgesicht erblickte. Da kamen seine Väter aus Kanada in die Wälder. Sie lehrten ihn Feuerwasser trinken, und er wurde ein Schuft! Die Huronen vertrieben ihn wie einen wilden Stier von den Gräbern der Väter. Er lief den See und den Strom hinab bis zur Stadt der Kanonen. Er jagte und fischte dort, bis er wieder in die Wälder gejagt wurde, mitten unter die Waffen seiner Feinde. Der geborene Häuptling der Huronen wurde schließlich ein Krieger bei den Mohawks." Er machte eine Pause. Heiße Leidenschaft wallte in ihm auf. „Bin ich schuld, daß mein Kopf nicht von Stein ist? Wer gab Magua das Feuerwasser und machte ihn zum Schurken? Die Bleichgesichter! Die Menschen eurer Farbe!" „Was kann ich dafür, daß es schlechte Menschen gibt?" fragte Cora ruhig. Magua fuhr fort: „Hört weiter! Als es Krieg gab zwischen den Engländern und den Franzosen, schlug Magua die Vorposten der Mohawks und kämpfte gegen seinen eigenen Stamm. Die Bleichgesichter vertrieben die Rothäute aus ihren Jagdgebieten. Und jetzt führt uns im Kampf ein Weißer an! Es ist Euer Vater! Er machte ein Gesetz, daß ein Indianer gestraft werden solle, wenn er Feuerwasser trinke. Magua tat es. Und was machte der Graukopf? Er ließ den Huronenhäuptling an einen Pfosten binden und mit Ruten peitschen wie einen Hund!" Der Hurone legte den Finger auf eine tiefe Narbe an seiner Brust. „Diese Wunden empfing Magua damals. Sein Leib war unter der Rute der Weißen, aber der Geist eines Huronen ist nie berauscht! Sein Gedächtnis bleibt wach!" „Hat mein Vater Euch Unrecht getan, dann zeigt ihm, daß ein Indianer Unrecht vergeben kann, und bringt ihm seine Töchter zurück." Magua schüttelte den Kopf. „Ein Hurone vergilt Gutes mit Gutem, und Böses mit Bösem. Als Magua sein Volk verließ, nahm ein anderer Häuptling sein Weib. Jetzt hat er sich Freunde unter den Huronen erworben und will zu den Gräbern seines Stammes an den Ufern des großen Sees zurückkehren. Das Mädchen mit dem hellen Haar mag zu dem alten Graukopf zurückgehen und ihm berichten, was geschehen ist. Das Mädchen mit dem schwarzen Haar soll mit Magua gehen und für immer in seiner Hütte bleiben!" Schaudernd fuhr Cora zusammen. „Es wäre besser, Magua nähme Munros Gold und kaufte sich durch Geschenke und Edelmut das Herz eines Huronenmädchens." Böse funkelten die Augen des Indianers. Seine Stimme klang rauh vor Erregung. „Als die Rutenhiebe auf dem Rücken des Huronenhäuptlings brannten, wußte er, wie er sich rächen würde. Die Tochter Munros sollte ihm das Wasser schöpfen, das Feld umgraben, das Wild braten. Der Körper des Graukopfes mag schlummern unter seiner Kanone, aber sein Herz kann das Messer Maguas treffen! Ich habe gedient bei den Engländern, um mein Ziel zu erreichen, und ich habe es erreicht." „Ungeheuer!" rief Cora empört. Der Indianer lächelte grausam. Schweigend wandte sich Cora ab. Heyward kam hinzu und führte sie hinweg. Auf seine drängenden Fragen blieb sie stumm. Magua winkte den Kriegern. Mit lauter Stimme rief er: „Sind die Huronen Hunde? Es ist ein schwarzer Fleck auf dem Namen der Huronen. Blut muß ihn abwaschen!" Die Indianer banden den sich verzweifelt wehrenden Heyward und die hilflosen Schwestern an junge Bäume. Mit grellem Geheul bereiteten sie die Marter vor. Sie suchten Äste zusammen und errichteten Holzstoße, um sie später anzuzünden. Mit teuflischem Grinsen trat Magua zu der gefesselten Cora. „Was sagt die Tochter Munros? Ihr Haupt sei zu gut, um sich auf die Kissen zu legen in Maguas Hütte? Wird es ihr mehr behagen, wenn ihr Kopf den Hang hinabrollt, ein Spielzeug für die Wölfe?" Voller Verachtung sah das Mädchen über die Rothaut hinweg. Drohend fuhr der Indianer fort: „Das Gedächtnis eines Indianers ist länger als der Arm des Bleichgesichts! Sprecht, soll ich den gelben Locken» köpf zu seinem Vater heimschicken und wollt Ihr Magua zu den großen Seen folgen, um sein Wasser zu holen?" „Laßt mich in Ruhe!" Voller Hohn zeigte der Häuptling auf Alice, die an eine junge Fichte gefesselt war. „Seht! Das Kind weint. Sie ist noch so jung und soll schon sterben. Laßt sie zu Munro zurückkehren, damit sie seine grauen Haare kämmt und dem Greis das Leben erhellt."
Alice fragte, was der Indianer wolle, und Cora erklärte es ihr. Heyward hörte es und rief: „Niemals!" „Nein, nein", schrie Alice weinend. „Lieber wollen wir zusammen sterben." „So stirb!" schnaubte Magua und schwang seine Streitaxt. Das Wurfbeil schwirrte. Es zerschnitt eine Locke Coras. Unmittelbar über dem Kopf des trotzig blickenden Mädchens war es in den Stamm gefahren. Heyward zerriß mit übermenschlicher Kraft seine Fesseln. Er stürzte sich auf den nächsten Huronen, der gerade zum Wurf ausholte. Die Rothaut warf sich zu Boden, sprang aber schnell wieder auf und schwang das blitzende Beil. Da krachte ein Schuß. Kraftlos sank der erhobene Arm des Wilden herab. Die Huronen waren überrascht. Mit lautem Ruf brach Falkenauge aus dem Dickicht und schwang sein Gewehr. Chingachgook und Uncas folgten und schössen. Zwei Huronen stürzten. Die anderen stürmten wütend auf die Angreifer los. Falkenauge hämmerte mit dem Gewehrkolben auf den Schädel des nächsten Wilden. Auch der taumelte zu Boden. Nur noch vier Indianer standen jetzt den vier Männern gegenüber. Falkenauge und die Mohikaner warfen ihre Gegner bald nieder. Heyward rang noch mit Magua. Er hatte keine Waffe und konnte sich nur auf die Kraft seiner Arme verlassen. Dem Huronen gelang es, seine rechte Hand zu befreien. Er zog ein Messer, um es dem Engländer in die Brust zu stoßen. Falkenauge erhob sein Gewehr und wollte Magua den Schädel zertrümmern. Da ließ dieser den Offizier los und sprang ins Gebüsch. Der Jäger verfolgte den Fliehenden, doch der war bereits im Gestrüpp verschwunden. Die beiden Schwestern wurden losgebunden. Weinend fielen sie auf die Knie und dankten ihren Rettern. Falkenauge war verlegen. Rauh sagte er: „Steht auf! Wir taten nur unsere Pflicht. Ihr kamt zu uns in Not, und wir mußten Euch helfen." Heyward wollte wissen, warum Falkenauge und die beiden Mohikaner so bald zurückgekommen seien, ohne Hilfe aus dem Fort „William Henry" mitzubringen. „Wenn wir nach, William Henry' gegangen wären, würden wir gerade noch zurecht gekommen sein, um Eure Leichen zu begraben. Etwa zweihundert Schritt unterhalb des Felsens, von dem wir weggeschwommen waren, trafen wir wieder zusammen und überlegten, wie wir Euch am schnellsten helfen könnten. Wir entschlossen uns, von hinten heimlich an die Huronen heranzuschleichen, und folgten ihnen dann, als sie Euch wegführten." „Ihr habt also alles mit angesehen?" fragte der Major erstaunt. „Gewiß." Falkenauge lachte vergnügt. „Als die Huronen anfangen wollten, Euch zu martern, schlichen wir noch näher und kamen gerade an die Stelle, wo die Gewehre und die Munition der Indianer lagen. Die sonst so schlauen Wilden waren diesmal so sorglos, daß sie nicht einmal eine Wache dabei aufgestellt hatten! So konnten wir mühe» los nehmen, was wir brauchten, und Euch vor dem sicheren Tode retten. Aber jetzt schnell nach, William Henry'! Der, Schlaue Fuchs' ist unser gefährlichster Feind. Gerade er ist uns leider entwischt! Er wird seine Stammesgenossen auf uns hetzen, um sich zu rächen. Noch schweben wir in ernster Gefahr. Darum weg von hier!" Unverzüglich brachen die sechs auf. Sie wanderten den ganzen Tag. Erst am Abend rasteten sie. Selbst die Mohikaner konnten kaum noch die Augen offenhalten. Chingachgook übernahm die erste Wache. Er setzte sich ans Feuer. Die anderen legten sich nieder und schliefen sofort ein.
Ankunft im Fort „William Henry" Noch vor Tagesgrauen wanderten sie weiter. Falkenauge führte die kleine Gruppe im Mondlicht durch den stillen Wald. Eine längere Strecke wateten sie einen seichten Fluß entlang. Sie mußten sich leise und vor» sichtig bewegen, da sie nicht wußten, wo die Franzosen waren. Sie kamen an einen kleinen See, wo vor Jahren erbitterte Schlachten zwischen den Engländern und den mit den Holländern verbündeten Franzosen stattgefunden hatten. Ein Posten rief sie an: „Qui vive? — Wer da?"
Geistesgegenwärtig rief Heyward zurück: „France!" Er trat aus dem Schatten der Bäume. „Woher und wohin so früh?" „Ich war auf einem Beobachtungsgang und will mich jetzt schlafen legen." „Offizier des Königs von Frankreich?" „Ja, Kamerad. Hauptmann der Jäger. Ich habe die Töchter des englischen Festungskommandanten gefangengenommen und will sie zum General bringen." „Sehr bedauerlich für die Damen", rief der Franzose und lachte. „Aber Krieg ist Krieg." Er grüßte höflich. Die Reisenden hielten es für angebracht, sich möglichst schnell aus der Nähe der französischen Vorposten zu entfernen, und wandten sich den Bergen zu. Durch tiefe Schluchten und an riesigen Felsblöcken vorbei führte der beschwerliche Weg. Sie erstiegen einen steilen Abhang, und als sie auf dem Gipfel waren, sahen sie die Morgenröte durch die Fichten schimmern. Im Norden lag tief unter ihnen der klare Spiegel des Heiligen Sees. An seinem Ufer erhoben sich die Wälle und niedrigen Häuser von Fort „William Henry". Rings um die Anlage waren die Bäume abgeholzt. Auf einer Landzunge im See standen die weißen Zelte eines Lagers für ungefähr zehntausend Mann. Davor waren Batterien aufgestellt. Der ferne Donner einer Artilleriesalve rollte durch das Tal und brach sich in vielfachem Echo an den Felsen. Lange betrachtete Heyward das Bild. „Das Fort ist ringsum eingeschlossen. Wie sollen wir da hineinkommen?" fragte er besorgt. „Es wird ziemlich schwer sein", gab Falkenauge zu. „Aber wir müssen versuchen, uns durchzuschlagen." Sie stiegen ins Tal hinab. Langsam zog vom See her eine dichte Nebel= wölke heran. Sie warteten, bis die Ebene in Dunst gehüllt war, dann schlichen sie vorsichtig weiter. Auf einmal wurden sie von einem Posten angerufen: „Wer da?" „Nun aber nichts wie vorwärts!" flüsterte Falkenauge und eilte in entgegengesetzter Richtung davon. Fünfzig Musketen knallten in den Nebel. Zum Glück wurde niemand getroffen. Aber die Lage war ohnehin gefährlich genug. Schreie, Flüche, Flintenschüsse — plötzlich ein heftiger Blitz im Nebel, dann krachendes Donnern der Geschütze. „Das waren die aus dem Fort", erklärte Falkenauge, „und wir Idioten laufen zum Walde hin!" Sie kehrten um. Rings im Nebel lauerte Tod oder Gefangenschaft. Auf einer Bastion des Forts kommandierte eine herrische Stimme: „Tief schießen — fegt das Glacis rein!" „Vater! Vater!" schrie Alice laut. „Wir sind es — deine Töchter!" Sofort befahl die Stimme, das Feuer einzustellen, die Ausfalltore zu öffnen und die „Hunde von Franzosen" mit dem Bajonett zurückzutreiben. Alsbald krächzten die rostigen Angeln. Heyward und seine Begleiter rannten durch das Tor. Sie waren gerettet. Eine Abteilung Soldaten in roter Uniform marschierte mit blitzenden Bajonetten an ihnen vorbei zum Glacis. Die Freude des Obersten Munro, eines großen, silberhaarigen Offiziers, wurde durch die hoffnungslose Lage getrübt, in der sich das Fort befand. Am fünften Tage der Belagerung sah sich Munro gezwungen, den Franzosen einen Waffenstillstand anzubieten. Auf der am weitesten zum Gegner vorspringenden Spitze des Forts wurde die weiße Fahne gehißt. Dann erschien auch auf der vordersten Batterie der Franzosen eine weiße Flagge zum Zeichen des Waffenstillstandes. Sogleich verwandelte sich das Schlachtfeld in einen Jahrmarkt. Junge Franzosen lustwandelten fröhlich unter den Kanonen des Forts. Mitten durch das Treiben kam Falkenauge, von einem französischen Offizier begleitet. Dem Jäger waren die Hände mit einem Lederriemen auf den Rücken gefesselt. Er war beim Kundschaften unvorsichtig gewesen und in die Hände der Franzosen gefallen. Aber der ritterliche General Montcalm lieferte ihn seinem englischen Gegner wieder aus. Er wußte, wie sehr Oberst Munro den Jäger schätzte, der ihm manchen guten Dienst getan hatte. Munros Stimmung war nicht die beste. Er wußte wohl, daß weitere Verstärkungstruppen unterwegs waren, hatte aber keine Ahnung, wann sie eintreffen würden. Er teilte Heyward seine Sorge mit. „Kann ich etwas für Sie tun?" fragte der Major. „Allerdings, Sir.
Der Marquis von Montcalm hat mich zu einer persönlichen Unterredung auf der Ebene zwischen dem Fort und seinem Lager eingeladen. Ich wünsche, daß Sie als mein Stellvertreter gehen." — Dreimal rauschten die Trommelwirbel über die Ebene, und sogleich trat Ruhe ein. Begleitet von einem Soldaten mit einer weißen Flagge trat Heyward aus dem Tor. Ein französischer Offizier empfing ihn mit militärischem Gruß und führte ihn in das Zelt des berühmten Feldherrn. Umgeben von seinen hohen Offizieren und den Häuptlingen der verschiedenen mit den Franzosen verbündeten Indianerstämme erwartete ihn der General. Unwillkürlich stutzte Heyward. Unter den Indianern hatte er Magua erkannt! Mit kaltblütiger, hochmütiger Ruhe betrachtete dieser den Engländer. Der General führte Sir Duncan in eine Ecke des Zeltes. Hier konnte er ungestört mit ihm sprechen. Die Kapitulation, die Montcalm dem Oberst Munro vorschlug, lehnte der englische Major ab. Darauf bat der Franzose nochmals um eine persönliche Zusammenkunft mit dem britischen Festungskommandanten. Nach einer halben Stunde kehrte Heyward zum Fort zurück. Wieder begleitete ihn der französische Offizier. Schweren Herzens entschloß sich der Oberst zu einer Unterredung mit dem französischen Kommandeur. Dieser gab dem Engländer einen Brief von General Webb. Er war zwar an Munro gerichtet, aber in die Hände Montcalms gefallen. General Webb riet dem Obersten zu kapitulieren. Er, der General, könne keine Verstärkungen mehr schicken. Offenbar war der Brief echt. Alle Hoffnungen Munros brachen zusammen. Ernst blickte er seinen Gegner an. „Ich möchte Ihre Bedingungen hören, Marquis." Das Angebot des Franzosen war ehrenvoll: freier Abzug der englischen Truppen. Noch in der Nacht wurde öffentlich bekanntgemacht, daß alle Feindseligkeiten aufzuhören hätten. Am nächsten Morgen solle die Festung den Franzosen übergeben werden.
Nach der Kapitulation Der neunte August 1757 war ein strahlender Sommertag. Durch den kühlen, taufrischen Morgen klangen die Trommelwirbel im Lager der Franzosen, worauf die Trommeln im Fort der Engländer antworteten. Die Fanfaren, Hörner und Oboen der Sieger bliesen fröhliche Weisen. In funkelnder Farbenpracht stand die französische Armee in Reih und Glied. Die Gewehre und Bajonette blitzten in der Sonne. General Montcalm erschien vor der Front. Ein Oberst trat zwei Schritt hinter ihn und las die Kapitulationsurkunde vor. Ein Hornsignal ertönte. Mit düsteren Mienen traten die englischen Soldaten an, die nicht geladenen Gewehre auf den Schultern. Weinende Frauen und schreiende Kinder liefen aufgeregt hin und her. Dann erschien Oberst Munro vor seiner Truppe. Diese Kapitulation war der härteste Schlag, der ihn je in seinem Leben getroffen hatte. Die Kolonne der Engländer setzte sich in Bewegung. Französische Grenadiere in weißen Uniformen flankierten bereits das Tor der Festung. Vor den Verschanzungen stand die französische Armee. Schweigend und unter militärischen Ehrenbezeigungen ließ sie die Besiegten vorbeimarschieren. Draußen teilte sich die englische Armee in zwei Kolonnen von je fünfzehnhundert Mann. Im Walde wollten sie wieder zusammentreffen. Einer besonderen Abteilung war der Schutz der beiden Töchter übertragen. Hier führte Heyward das Kommando. Unter all den Aufregungen der letzten Tage hatte ihm der Oberst die Herkunft der beiden Mädchen mitgeteilt. Cora war das Kind seiner ersten Frau, einer Indianerin von hoher Geburt. Alices Mutter dagegen war die zweite Frau des Obersten, eine Schottin. In einiger Entfernung hatten sich am Waldrand Gruppen von Indianern niedergelassen. Nur aus Angst vor dem Heer rissen sie die Beute noch nicht an sich, die ihnen ihrer Meinung nach zustand. Einige Indianer hatten sich unter die Besiegten gemischt und musterten die Feinde. Ein Hurone entdeckte an einer Frau einen glänzenden Schal und wollte ihn an sich reißen. Ehe er aber dazu kam, hatte ein anderer Indianer den Schal geraubt. Ein Getümmel entstand. Im Nu stürzten zweitausend Rothäute aus dem Wald und richteten unter den
wehrlosen Frauen und Soldaten ein furchtbares Gemetzel an, das als das „Blutbad von William Henry" in die Geschichte einging. Wie aus dem Boden gewachsen stand plötzlich Magua mit blutbefleckten Händen vor Cora. Er lachte wild, griff nach ihrem Kleid und schrie: „Komm, die Hütte des Huronen wartet auf dich!" Cora stieß ihn voller Ekel von sich. „Magua ist ein großer Häuptling! Will das Mädchen mit dem schwärzen Haar mir folgen?" Als Cora sich wehrte, nahm Magua die ohnmächtige Alice in seine Arme und lief mit ihr in den Wald. Die verzweifelte Cora folgte. Ein Indianer erwartete sie mit zwei unruhigen Pferden. Alice wurde quer über das eine Pferd geworfen, das andere mußte Cora besteigen. Von Magua und dem Indianer bewacht, ritten sie tief in den Wald. Unten in der Ebene aber standen die Soldaten des Königs von Frankreich
Gewehr bei Fuß und sahen tatenlos dem Gemetzel zu, das die tobenden Indianer unter den Engländern anrichteten. Am Abend des dritten Tages nach der Kapitulation kamen Falkenauge, Munro, Heyward, Chingachgook und Uncas zu den noch rauchenden Trümmern des Forts „William Henry". Sie suchten nach den Töchtern des Obersten. Die Stätte war wüst und verlassen. Viele Gefallene bedeckten das Feld. Ein kalter Nordwind blies über den See. Die Männer fanden keine Spur der Schwestern. Unterhalb der Trümmer des Forts lag ein Boot am Ufer des Sees. Falkenauge riet, damit die Nachforschungen fortzusetzen. Es kostete ihn viel Mühe, die beiden Mohikaner von der Richtigkeit seines Planes zu überzeugen. Diese wollten die Spur im Walde suchen. Nur wenige Stunden schliefen die Männer. Die Sterne schimmerten noch am Himmel, als sie am nächsten Morgen das Kanu bestiegen. Schnell ruderten sie zwischen den vielen Inseln des Horican hindurch. Auf diesem Wege hatte sich Montcalm mit seiner Armee nach der Festung Ticonderoga zurückgezogen. Wie leicht konnten sich hier noch Indianer herumtreiben! Scharf beobachtete Chingachgook jede einzelne Insel, jeden Busch, jeden Felsen am Wasser. Auf einmal zog er die Ruder ein und deutete auf eine kleine Insel mitten im See. Friedlich lag sie da, als ob nie eines Menschen Fuß sie betreten hätte. Heyward rief ungeduldig: „Was fürchten wir uns, wo es nichts zu fürchten gibt? Neben uns liegt die kleine Insel und vor uns der große See!" Chingachgook nahm das Gewehr auf und erwiderte ruhig: „Mein Bruder hat schlechte Augen." Gleich darauf krachte ein Flintenschuß. Von der Insel her hörten die fünf Männer das Geheul der Rothäute. Sie sahen, wie mehrere von ihnen in ein Boot sprangen und auf 3as Kanu zuruderten. Sie griffen zu den Büchsen und schössen. Tödlich getroffen, fielen drei Indianer ins Wasser. Dem vierten, der das Ruder hielt, zerschmetterte Heywards Kugel die Hand. Einer blieb unverletzt. Er ruderte eilends zurück, um Verstärkung zu holen.
Mit schnellen Ruderschlägen glitt Falkenauges Boot über das Wasser. Das indianische Kanu hatte inzwischen die Insel wieder erreicht. Mit lautem Rachegeschrei sprangen zehn Huronen hinein und wollten die Fliehenden verfolgen. Diese aber hatten schon einen zu großen Vorsprung gewonnen und verschwanden den Indianern bald aus den Augen. Nach mehreren Stunden gingen die Männer an Land und zogen das Boot ans Ufer. Trotz emsigen Suchens aber fanden Chingachgook und Uncas keine Spur der weiterziehenden Huronen, die wohl eine andere Richtung eingeschlagen hatten. Sie überlegten, was zu tun sei. Plötzlich rannte Uncas auf eine kleine Anhöhe, die sie bisher nicht beachtet hatten. Und tatsächlich sollte er hier eine Spur entdecken. Ganz offensichtlich stammte sie von einem beladenen Pferd. Hoch erfreut rief er die ändern herbei. Voll Hoffnung setzten sie ihren Weg fort. Die Spur führte sie weiter. Zwischen den Bäumen wurde es hell. Falkenauge wandte sich an die Mohikaner: „Wir sind in der Nähe des Huronenlagers. Es ist am besten, wenn wir uns jetzt trennen." Prüfend sah er sich um. Dann bat er Chingachgook, den rechten Hügel hinaufzugehen. Uncas solle links dem Bach folgen. Er selbst wolle mit Munro und Heyward auf der Spur bleiben. Wenn etwas Wichtiges entdeckt werde, sollten sie dreimal krächzen wie eine Krähe. Daß gerade ein solches Tier über ihren Köpfen kreiste, bewies, daß man sich in der Nähe einer menschlichen Niederlassung befand. Die drei Weißen schritten geradeaus weiter. Die beiden Mohikaner bogen rechts und links ab. Nach kurzer Zeit hatten Falkenauge und seine Gefährten den Wald hinter sich und konnten frei in das vor ihnen liegende Tal blicken. Dort mündete der Bach in einen kleinen See. Hunderte von Biberbauten gab es hier, die von fern täuschend den Hütten der Indianer ähnelten. Falkenauge bat den jungen Engländer, am Waldrand auf ihn zu warten. Plötzlich erschrak Heyward, denn er vernahm ein Geräusch in einem Busch. Hinter diesem entdeckte er einen Indianer, der unbeweglich dastand und scharf nach ihm Ausschau hielt. Das Gesicht des Wilden war seltsam bemalt. Sein Kopf war geschoren bis auf den Scheitel, wo vier Falkenfedern an einem Haarbüschel befestigt waren. Ein alter Mantel bedeckte den Körper bis zu den nackten Schenkeln. An den Füßen trug die Rothaut ein Paar Halbstiefel aus gutem Bärenfell. Der Indianer machte einen elenden, armseligen Eindruck. Als Falkenauge mit dem Oberst zurückkehrte, erzählte Heyward von seiner Beobachtung. Der Jäger schlich sich von hinten an den Wilden heran und überwältigte ihn. Dann stieß er dreimal den Ruf der Krähe aus. In kurzer Zeit stellten sich die beiden Mohikaner ein. Der Indianer berichtete, daß Magua die Mädchen getrennt habe. Alice sei in das Dorf der Huronen gebracht worden. Cora dagegen befinde sich bei einem Stamm im Nachbartal, der zu der Großen Schildkröte gehöre. Diese Mitteilung überraschte die beiden Mohikaner sehr. Chingachgook schob die Falten des Mantels auseinander und zeigte auf seine Brust, auf der in blauer Farbe eine Schildkröte tätowiert war. Er war das Oberhaupt der Schildkröten. Die Männer beschlossen, den Indianer ziehen zu lassen. Dann entwickelte Heyward einen ungeheuerlichen Plan. Als Zauberer verkleidet, wollte er ins Huronenlager gehen, um die Mädchen zu retten. Weder die Warnungen Falkenauges noch die Beschwörungen Munros konnten ihn in seinem Vorsatz wankend machen.
Schließlich bemalte ihn Chingachgook mit großer Gewandtheit. Er gab Heywards Gesicht friedliche und fröhliche Züge. Sorgfältig vermied er jede Andeutung kriegerischer Absichten. Zauberer waren unter den Indianern keine Seltenheit. Da Heyward gut Französisch sprach, konnten ihn die Rothäute leicht für einen Gaukler von Ticonderoga halten.
Uncas im Lager der Huronen Das Dorf der Huronen lag auf einer kleinen Anhöhe. Um das Beratungshaus standen in weitem Kreis zahlreiche Hütten. Mit gellenden Schreien liefen die Kinder davon, als Heyward in seiner seltsamen Verkleidung im Dorf auftauchte. Einige Krieger standen vor den Hütten. Neugierig und mißtrauisch sahen sie dem Fremden nach. Es war nicht leicht für Sir Duncan, ein gleichgültiges Gesicht zu wahren. Aber von seiner Geistesgegenwart hingen sein Leben und sein Erfolg ab. Vor der Tür des Beratungshauses drängten sich die kräftigen und großen Indianer. Der Zauberer schritt durch ihre Reihen und betrat entschlössen die Hütte. Mißtrauisch folgten ihm die Rothäute. Manche setzten sich schwatzend nieder, andere lehnten scheinbar gleichgültig, aber mit lauernden Blicken an den Pfosten, die das leichte Haus stützten. Etwas abseits hatten sich vier Häuptlinge niedergesetzt. Die Flamme einer Fackel warf ihr flackerndes Licht auf die starren, undurchdringlichen Mienen der Huronen. Ungeheure Spannung erfüllte den halbdunklen Raum. Da trat ein Mann mit fast grauem Haar auf Heyward zu. Er redete ihn in der Sprache der Wyandotts oder Huronen an. Heyward verstand ihn nicht. Er blickte im Kreise umher und fragte: „Spricht keiner meiner Brüder Englisch oder Französisch?" Niemand antwortete. Der Major fuhr langsam in französischer Sprache fort. „Ich kann nicht glauben, daß in dieser weisen und tapferen Nation niemand die Sprache versteht, in welcher der große König mit seinen Kindern spricht. Er würde traurig sein bei dem Gedanken, daß ihm seine roten Krieger so wenig Achtung erweisen." Lange Pause. Unverändert blickten ihn die Rothäute an. Schließlich antwortete ein alter Häuptling in kanadischem Französisch: „Hurone spricht Sprache seiner Väter. Was will mein Bruder?" „Ich komme aus Kanada. Ich kann Kranke heilen. Kann ich meine Kunst bei Euch ausüben? Der große König selbst schickt mich zu seinen Kindern, den roten Huronen an den Seen." Wieder verging eine lange Zeit, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Dann fragte der Häuptling: „Wieso bemalt in Kanada ein schlauer weißer Mann sein Gesicht? Rühmen sie sich sonst nicht ihrer weißen Gesichter?" Geistesgegenwärtig antwortete der Major: „Der Indianer, der zu seinen weißen Vätern kommt, legt sein Büffelkleid ab. Meine roten Brüder haben mir die Farben gegeben. Sie waren mir dankbar, daß ich ihnen den bösen Geist ausgetrieben habe. Ihnen zu Ehren habe ich mich bemalt." Das gefiel den Indianern. Der Häuptling und seine Krieger waren sieht» lieh zufrieden. Ein Hurone trat vor und wollte Heyward um seine Hilfe bitten. Da drangen aus dem nahen Wald dumpfe, unheimliche Laute. Die Indianer liefen hinaus, um zu sehen, was es gebe. Vom Walde her näherte sich langsam eine Abteilung Krieger. Einer in der vordersten Reihe trug an seinem kurzen Rock mehrere Skalpe. Hundert Meter von den Hütten entfernt hielt der Zug an. Jemand rief den Entgegenkommenden etwas in huronischer Sprache zu. Verzückt schwangen die Indianer ihre Messer über den Köpfen. Sie stellten sich in zwei Reihen auf und bildeten eine Gasse. Mit Keulen und Äxten bewaffnet, reihten sich die Squaws ein. Schließlich stellten sich mit großen Stöcken auch die Kinder auf. Ein altes Weib zündete vor dem Beratungshaus ein Bündel Reisig an.
Die Krieger führten zwei Indianer mit sich, die durch die Gasse Spießruten laufen sollten. Jeder Indianer sollte sie mit seinem Messer, Beil oder Stock treffen oder verwunden. Stolz und ungebeugt sah der eine, zitternd und zu Boden blickend der andere der bevorstehenden Marter entgegen. Heyward betrachtete den ersten. Das Feuer brannte noch nicht hell genug, so daß er sein Gesicht nicht erkennen konnte. Doch aus der mutigen Haltung der edlen Gestalt schloß er, daß es ein Häuptling sei. Ein Schrei gab das Signal zum Beginn. Vor Angst bebend, blieb der eine Gefangene auf seinem Platz stehen und rührte sich nicht. Der andere machte einen gewaltigen Sprung, doch nicht in die todbringende Gasse, sondern über die Köpfe der Kinder hinweg. Mit Blitzeseile lief er dem nahen Walde zu. Die überraschten Indianer erhoben ein ohrenbetäubendes Gebrüll. Mit heftigen Verwünschungen liefen sie hinter dem Flüchtling her. Bald war dieser von allen Seiten so eingekreist, daß er nicht mehr entrinnen konnte. Da bog er scharf um und eilte zum Beratungshaus zurück. Er erreichte es vor seinen Feinden. Nun war er vor» erst sicher, denn hier durfte ihm nichts geschehen, ehe der ganze Stamm über sein Schicksal beschlossen hatte. Die Huronen waren enttäuscht. Sie hatten sich schon auf das grausige Schauspiel gefreut. Der Gefangene blieb außer Atem am Beratungshaus stehen, umschlang mit dem Arm einen Pfosten und würdigte seine Feinde keines Blickes. Jetzt fiel auch der helle Schein des Feuers auf sein Gesicht, und Heyward erschrak: Er erkannte den jungen Mohikaner Uncas! Kreischende Weiber sammelten sich um ihn und überschütteten ihn mit Schimpfworten. Docht der Gefangene blieb unbewegt ob all der Schmähungen und streifte sie nur mit einem Blick tiefster Verachtung. Nun betraten die Häuptlinge das Beratungshaus. Die Krieger drängten nach. Auch Heyward gelang es, hineinzuschlüpfen. Die Indianer setzten sich im Kreise nieder. Einer von ihnen führte Uncas herein. Jetzt stand er in der Mitte, und die Huronen starrten den edlen Jüngling an, von dem eine unerschütterliche Ruhe ausging. Dann wurde auch der andere Gefangene, ein Hurone, hereingeführt. Der Häuptling wandte sich an Uncas: „Junger Krieger, du hast dich als Held gezeigt, obwohl du aus einer Nation von Weibern stammst. Mutig und aufrecht standest du, als die Tomahawks dich umschwirrten. Du wirst bei Sonnenaufgang den Richtspruch entgegennehmen, der dein Schicksal entscheiden wird." „Sieben Nächte und ebenso viele Tage habe ich gefastet, als ich den Spuren der Huronen nachging. Die Kinder der Lenapes wissen auf dem Pfade der Gerechtigkeit zu wandeln, ohne stillzustehen, um zu essen", war die kaltblütige Antwort des Mohikaners. „Zwei meiner Krieger verfolgen noch deinen Gefährten. Wenn sie zurückgekehrt sind, wirst du aus dem Munde dieser weisen Männer hören, ob du leben oder sterben sollst." Uncas lächelte verächtlich. „Hat der Hurone keine Ohren? Zweimal schon hat der Delaware, seit er hier ist, den Knall einer wohlbekannten Flinte gehört. Eure Krieger werden nicht mehr zurückkehren!" „Warum sollten meine Krieger sterben? Nicht jede Kugel trifft!" „Die Kugel der, Langen Büchse' hat noch nie ihr Ziel verfehlt!" „Lange Büchse" war Falkenauges Name bei den Indianern. Als die Rothäute gehört hatten, wer vor ihnen stand, wurden sie unruhig. Der Häuptling aber ließ sich seine Erregung nicht anmerken. Ruhig fragte er den Mohikaner: „Wie kann ein so tapferer Krieger wie du in die Hände der Huronen fallen, wenn deine Brüder angeblich so geschickt sind?" „Er verfolgte einen Feigling! Auch der schlaue Biber kann gefangen werden. Der Hurone floh vor ihm. Ein tapferer Krieger flieht niemals!" Uncas zeigte auf den gefangenen Huronen. Ein drohendes Gemurmel erhob sich, und alle blickten geringschätzig auf den zitternden Stammesgenossen. Der hatte in tiefer Scham die Augen niedergeschlagen. Jetzt trat eine Alte in den Kreis. Sie trug eine brennende Fackel und tanzte. Murmelnd näherte sie sich dem jämmerlich da hockenden Feigling. Er war zart und zitterte vor Furcht am ganzen Leibe. Da streckte der Häuptling seine Hand aus und schob die Alte zurück. Dann sprach er das Urteil: „Schwankendes Rohr! Im Dorf bist du der Lauteste, im Kampfe der Stummste. Die
Feinde kennen deinen Rücken, doch nicht die Farbe deiner Augen. Dreimal hat der feindliche Krieger dich zum Kampfe gerufen, aber du warst nicht kühn genug, ihn zu besiegen. Du liefst nach Hause, um dich hinter Weiberröcken zu verstecken! Dein Name sei fortan ausgelöscht in unserem Stamm! Er ist bereits vergessen!" Der Häuptling hob das breite Messer, schwang es über dem Kopf des Verurteilten und stieß es ihm mitten ins Herz. Scham, Furcht und Entsetzen waren aus dem Blick des Verurteilten geschwunden.
Lächelnd sank er zusammen. Erst im Sterben hatte er seinen Mut wiedergefunden. Bewegungslos stand Uncas daneben. Die Alte stieß ein lautes Klagegeheul aus und warf die Fackel zu Boden. Tiefe Finsternis umgab alle, und schweigend eilten die Indianer hinaus. Heyward wollte ihnen folgen, da legte sich ihm eine Hand auf die Schulter, und Uncas flüsterte ihm ins Ohr: „Sei unbesorgt. Chingachgook und der Graukopf sind in Sicherheit. Falkenauges Büchse wacht über dem Feind." Der Mohikaner drängte ihn hinaus, und der Major verschwand in der Dunkelheit. Er sah, wie die Huronen ihren Gefangenen aus dem Beratungshaus holten. Er sah auch, wie vier Rothäute den toten Indianer in den Wald trugen, um den Leichnam den wilden Tieren vorzuwerfen.
Wiedersehen in der Höhle der Besessenen Die Huronen waren so mit ihrem Gefangenen beschäftigt, daß Heyward ungestört nach den Schwestern forschen konnte. Er durchstreifte das ganze Dorf, fand aber keine Spur von ihnen. Entmutigt kehrte er zum Lagerplatz vor dem Beratungshaus zurück, wo die Krieger um ein Feuer hockten. Der Major setzte sich zu ihnen. Da sprach ihn ein Indianer an: „Die Frau meines Sohnes ist von einem bösen Geist besessen. Sie tobt und beißt. Kann mein kundiger Bruder ihn austreiben?" Mit Freuden erklärte sich Heyward hierzu bereit. Falkenauge hatte ihm einiges von den Bräuchen erzählt, mit dem die Indianer böse Geister behandeln. Er konnte dieses Abenteuer also getrost wagen. Der Indianer war zufrieden. Er griff zur Pfeife und rauchte. Geduldig wartete er, bis der Häuptling das Zeichen zum Aufbruch geben würde und die Krieger in ihre Hütten gehen durften.
Nun trat ein großer und starker Hurone ans Feuer. Die anderen machten ihm ehrfurchtsvoll Platz. Heyward wurde unter seiner Bemalung leichenblaß: Es war Magua! Schweigend setzte er sich ans Feuer, zündete eine Pfeife an und fragte, was sich während seiner Abwesenheit im Lager ereignet habe. Sein Nachbar berichtete ihm, was er wußte. Unbeweglich saß Magua da und würdigte den Gefangenen, der in der Nähe des Feuers an einem Pfahl angebunden war, vorerst keines Blicks. Nach geraumer Zeit klopfte er die Asche aus der Pfeife und stand auf. Langsam begab er sich zu dem Gefangenen. Die beiden sahen sich an, ohne mit der Wimper zu zucken. Doch dann erbebte Magua vor Freude, tat einen tiefen Atemzug und rief: „Der schnelle Hirsch!" Die anderen Indianer hatten den Namen ihres Todfeindes gehört. Sie sprangen auf und wiederholten immer wieder den Namen des Delawaren, den sie zugleich haßten und bewunderten. Selbst die vor den Hütten kauernden Frauen und Kinder waren tief beeindruckt. Doch schnell trat wieder Ruhe ein. Die Krieger setzten sich ans Feuer und schwiegen verärgert, weil sie meinten, ihrem Feind zuviel Ehre angetan zu haben. Uncas lächelte verächtlich über die erregten Huronen. Magua bemerkte es und sprang zornentbrannt auf den Mohikaner zu. Er packte ihn am Arm und schüttelte ihn brutal. „Verfluchter Mohikaner, dein Tod ist dir gewiß!" Trotzig lachte der Jüngling auf. „Und wenn Uncas stirbt, so erwecken doch die Wasser aller Seen die Huronen nicht wieder zum Leben die Uncas getötet hat! Geh, rufe die Huronenhunde her, daß sie einen Krieger sehen! Ein widriger Geruch beleidigt mich, ich wittere das Blut eines Feiglings." „Für alles sollst du büßen!" schrie Magua voller Rachedurst. Er rief die Krieger zusammen und berichtete von seinen Erlebnissen, die er in den letzten Tagen gehabt hatte. Die „Lange Büchse" und seine Gefährten hätten ihn plötzlich angegriffen und seine Kameraden ermordet. Von seiner eigenen List schwieg er wohlweislich. Die Wut der Indianer auf Uncas wurde durch Maguas Worte nur noch gesteigert. Drohend fuhr Magua fort: „Unsere Toten rufen: Vergeßt uns nicht! Wir müssen ihnen ihren Willen tun. Wir werden diesen Mohikaner unseren jungen Kriegern in die Jagdgründe nachsenden! Dann werden sie wissen, daß sie von ihren Brüdern nicht verraten worden sind. Darum: Tod dem Mohikaner!" Ein ohrenbetäubendes Rachegeschrei hob an. Einer der Huronen schleuderte mit gellendem Geheul seinen Tomahawk nach dem Gefangenen. Aber die blitzende Waffe durchschnitt nur die Kriegsfeder auf dem Haupte des Jünglings. Sie fuhr so tief ins Holz, daß der Pfahl erbebte. Der Mohikaner neigte nicht einmal den Kopf, als das Wurfbeil auf ihn zusauste. Plötzlich wandte sich der Hurone von Uncas ab und beschwichtigte seine Gefährten: „Hört auf. Die Sonne soll seine Schande beleuchten. Wir werden so Rache an ihm nehmen, daß er um Gnade winselt! Schafft ihn fort. Er soll eine gute Nacht haben, wenn er weiß, daß er morgen früh sterben muß!" Drei Krieger lösten Uncas vom Pfahl, banden ihn mit Bastriemen und führten ihn in eine Hütte. Magua verließ mit den anderen Häuptlingen das Lagerfeuer. Auch der Indianer, dessen Schwiegertochter vom bösen Geist besessen war, stand auf. Er winkte den Medizinmann herbei und ging mit ihm ein gutes Stück aus dem Dorfe hinaus. Plötzlich stand, wie aus dem Boden gewachsen, in der Finsternis ein gewaltiger, zottiger Bär vor ihm. Der Hurone ging ruhig weiter. Heyward, der wußte, daß die Indianer Bären als Haustiere halten, folgte ohne Furcht seinem Führer. Doch als sich der Bär den beiden Männern anschloß, wurde dem Major doch etwas unbehaglich zumute. Er atmete erst auf, als die Rothaut endlich vor einer im Gestrüpp verborgenen Hütte hielt. Sie traten ein, und Heyward sah jetzt, daß sie sich nicht in einer Hütte, sondern in einer weit in den Berg hineinführenden Höhle befanden. Er wollte gerade die Tür schließen und den Riegel vorschieben, doch schon hatte sich der Bär hereingedrängt. Der Major mußte sich damit abfinden, daß ihm das plumpe, riesige Tier nach wie vor folgte. Die Felsenhöhle endete in einem großen runden Raum, an dessen Wänden brennende Fackeln befestigt waren. Hier verbargen die Huronen ihre Kostbarkeiten. Auch die kranke Frau war hierher gebracht worden, damit der böse Geist nicht noch in andere Huronen fahre und sie quäle. Mehrere Frauen umstanden das Lager der Kranken, um sie zu pflegen.
Heyward trat näher und erkannte sofort, daß hier kein Arzt mehr helfen konnte. Die Frau lag im Sterben. Doch das sagte er dem Indianer nicht, der mit den Frauen weiter zurückging und den Engländer mit der Todkranken allein ließ. Besonders wohl fühlte der Major sich nicht in seiner Haut. Auch für einen mutigen Mann war die Umgebung unheimlich: flackernde Fackeln, eine sterbende Frau und ein auf dem Boden kauernder Bär. Jetzt richtete sich das Untier auch noch auf! Wie ein Mensch ging er auf seinen Hinterbeinen auf Heyward zu. Der griff nach dem in seiner Kleidung versteckten Dolch und folgte gespannt jeder Bewegung des Tieres. Der Bär legte den Kopf zur Seite, schüttelte sich, und im nächsten Augenblick war ihm das braune, zottige Haupt heruntergefallen! Ehe sich der Engländer von seinem Schreck erholt hatte, sah er das lachende Gesicht Falkenauges vor sich. „Da — da hört sich ja alles auf!" ächzte der Major. „Pst!" mahnte der Jäger und legte den Zeigefinger an die Lippen. „Die Rothäute sind nicht weit — sie werden sich wundern, wenn Ihr Dinge redet, die nicht zu Eurem Hokuspokus gehören." Leise unterhielten sie sich weiter. Heyward berichtete, daß Uncas gefangen sei und bei Sonnenaufgang sterben müsse. Magua sei auch da und habe die Huronen zur Rache aufgestachelt. „Natürlich wieder dieser Schurke!" knurrte Falkenauge. „Der steckt doch überall! Aber warte nur, Bürschchen, diesmal hast du dich verrechnet!" Nach einer Weile fuhr er fort: „Wir stießen auf einen Trupp Huronen. Uncas wurde gefangen, als er einen davon stürmenden Feigling verfolgte. Chingachgook war außer sich vor Wut und wäre ihm am liebsten nachgestürzt. Aber ich hielt ihn zurück, damit das Unglück nicht noch größer werde. Wir gingen dann beide getrennte Wege, um eine Gelegenheit zu Uncas' Befreiung zu erkunden. Etwa eine halbe Stunde vor dem Huronendorf traf ich den berühmtesten Zauberer dieses Stammes. Ich schlug ihn nieder, steckte ihm eine Walnuß als Knebel zwischen die Zähne und band ihn an Händen und Füßen. Sein Bärenfell hängte ich mir selber um." „Alle Wetter! Und ich hatte Euch für einen echten Bären gehalten! Doch etwas anderes: Habt Ihr die jungen Damen gefunden?" „Nein", antwortete der Jäger, „Aber nur Mut, vielleicht sind wir unserem Ziele näher als wir ahnen. Das hier ist die Schatzkammer der Huronen. Die Schwestern sind Gold wert. Sie werden ihren Vater ein erhebliches Lösegeld kosten. Ich werde hier einmal kundschaften. Ihr wartet solange hier, falls der Indianer früher zurückkommt, als ich denke." Heyward, der bei der sterbenden Indianerin zurückblieb, schöpfte neue Hoffnung. Am liebsten wäre er mit dem Jäger gegangen. Angespannt lauschte er in das Innere der Höhle. Nach einiger Zeit hörte er leichte Schritte. Falkenauge kam zurück, und neben ihm Alice! Mit einem Freudenschrei fiel sie ihrem Verlobten um den Hals. Der Engländer war überglücklich, doch dann fragte er besorgt, wo Cora sei. Traurig blickte Alice zu Boden und fing an zu weinen. „Man hat sie zu den Delawaren gebracht, die mit den Huronen Frieden geschlossen haben. Meine arme Schwester mußte den Delawaren als Unterpfand der Ehrlichkeit ausgeliefert werden." Erleichtert rief Falkenauge: „Wenn das so ist, dann ist mir nicht bange. Wir werden auch sie bald befreit haben. Jetzt aber weg von hier, sonst überrascht man uns noch." Heyward fragte, wie Alice unbemerkt aus der Höhle gebracht werden solle, doch der Jäger wußte wie immer einen Ausweg. „Wickelt sie in eine der Decken von der Kranken und tragt sie hinaus. Ihr sagt den Schurken, daß ihr aus dem Weib den bösen Geist ausgetrieben hättet und in der Höhle eingeschlossen wäret. Ihr müßtet jedoch die Frau mit in den Wald nehmen, um sie durch kräftige Wurzeln wieder ganz gesund zu machen. — Ich aber werde mich als Bär davon trollen." Da legte sich eine Hand auf Heywards Schulter. Er drehte sich um und blickte in das grinsende Gesicht Maguas, der ein höllisches Gelächter ausstieß. Dann sagte der Hurone: „Die Bleichgesichter wollen den schlauen Biber überlisten. Aber die Rothäute verstehen die Engländer zu fangen!" Magua schickte sich an, den Zugang der Höhle durch einen Baumstamm zu verschließen. Da stürzte sich Falkenauge auf ihn und umschlang ihn mit eiserner Kraft. Heyward sprang hinzu. Der Jäger hielt den Häuptling fest, und Heyward fesselte ihn mit einem
Lederriemen. Ehe der Wilde einen Laut ausstoßen konnte, hatte er einen Knebel im Mund und lag wehrlos auf dem Rücken. Der Jäger stülpte den Bärenkopf über und drängte zum Aufbruch. Heyward hob die in eine Decke gewickelte Alice auf und eilte mit seiner Last zum Ausgang. Die Indianerfrauen, die vor der Höhle standen, wichen ehrfurchtsvoll zurück, und der Schwiegervater der Kranken fragte scheu: „Hat mein Bruder den bösen Geist ausgetrieben? Ist sie gesund?" Der Zauberer antwortete, wie der Bär ihm geraten. Bei Sonnenaufgang werde die Frau gesund aus dem Wald zurückgekehrt sein. Bis dahin solle der besorgte Bruder Geduld haben. Heyward verschwand mit der tief verhüllten Alice zwischen den dichten Stämmen, und hinter ihm her tappte der zufriedene Bär.
Uncas' Befreiung Munro und Chingachgook erwarteten sie im Wald. Der Oberst war glücklich, seine Tochter wiederzusehen. Chingachgook aber seufzte schwer vor Enttäuschung. Er begrüßte Alice zwar herzlich, fügte dann aber hinzu: „Ich wünschte, Uncas hätte auch Glück gehabt und wäre mitgekommen." Der Engländer versuchte, ihn zu trösten. „Nur Geduld! Auch Euer Sohn ist bald wieder hier. Er hat uns in Kampf und Gefahr beigestanden, jetzt werden wir dasselbe für ihn tun." Mit herzlichem Händedruck dankte ihm der Mohikaner, und Freude und Hoffnung leuchteten in seinen dunklen Augen auf. „Wir wollten nur Alice Eurem Schutz anvertrauen", erklärte der Major. „Euer tapferer Sohn muß schnellstens gerettet werden." Und im nächsten Augenblick war er mit Falkenauge im Dunkel verschwunden. Nach ihrer neuerlichen Ankunft im Lager der Huronen gingen der Major und der Bär furchtlos zu jener Hütte, in der Uncas lag. Die Wache machte den beiden Medizinmännern sofort bereitwillig Platz. Der als Bär verkleidete Zauberer war allgemein als der treueste Anhänger des Stammes bekannt, und deshalb begleitete sie nur ein einziger Hurone in die Hütte. Die übrigen blieben ahnungslos draußen. Ehe er sich's versah, wurde der Indianer von Heyward und Falkenauge niedergeschlagen, geknebelt und gefesselt. Darauf lösten sie dem jungen Mohikaner die hirschledernen Riemen. Wortlos stand er auf, zog das Jagdhemd des Huronen an und folgte den Freunden. Alles geschah lautlos und blitzschnell. Die vor der Hütte lagernden Indianer wunderten sich zwar über die baldige Rückkehr der beiden Medizinmänner, schöpften aber keinen Verdacht, da der sie begleitende Wächter sich eifrig mit ihnen unterhielt. Bald hatten die drei das Dorf hinter sich. So schnell sie konnten, eilten sie dem schützenden Wald zu. Da hörten sie aus der Hütte, in der Uncas gelegen hatte, ein nicht enden wollendes Geschrei. Dem gefesselten Indianer war es gelungen, den Knebel aus dem Mund zu stoßen, sich an die Tür zu wälzen und mit den Füßen dagegen zutreten. „Jetzt wird's Zeit", keuchte Falkenauge, warf sein Bärenfell ab und sprang in großen Sätzen davon. „Zum zweitenmal sollen sie uns nicht kriegen!" Die Huronen hatten die Verfolgung sofort aufgenommen. Doch in dem fast undurchdringlichen Dickicht konnten sie die Flüchtlinge nicht entdecken. Erschöpft und wütend kehrten sie nach langem, vergeblichem Suchen in ihr Dorf zurück. Das Huronenlager hatte sich in einen aufgeregten Bienenschwarm verwandelt. Die Krieger riefen nach Magua. Nirgends war er zu finden. Die Häuptlinge versammelten sich im Beratungshaus, um Beschlüsse zu fassen. Der Vater und der Mann der kranken Frau wurden von ihnen vernommen. Sie berichteten, was sie von dem Zauberer und seinem Bären wußten. Die Indianer entschlossen sich, die Höhle zu untersuchen. Durch den dunklen Felsgang drängten die Huronen ins Innere. Die Frau lag noch auf ihrem Lager. Der Alte beugte sich über die Kranke. Entsetzt fuhr er zurück: sie war tot.
Der gefesselte und geknebelte Magua rollte sich vor die Füße seiner erschrockenen Stammesgefährten. Sie erkannten ihn und stießen Rufe des Entsetzens aus. Schnell nahmen sie ihm Knebel und Fessel ab. Er stand auf, blickte um sich und griff nach seinem Messer. „Der Delaware muß sterben!" knirschte er. Einer der Häuptlinge entgegnete: „Er ist schon weit, aber meine jungen Männer sind ihm auf der Spur." „Er ist fort?" brüllte Magua. „Ein böser Geist war unter uns. Der Delaware hat unsere Augen geblendet." Magua lachte höhnisch. „Ein böser Geist? Ha! Der Hund war es, der unter der weißen Haut den Mut und die Schlauheit eines Huronen hat — die, Lange Büchse'!" Sie gingen ins Beratungshaus zurück, und Magua erzählte von seinem Mißgeschick. Mehrere Krieger brachen auf, um die Geflohenen zu verfolgen. Bald kamen sie wieder und berichteten, daß die Spuren ins benachbarte Lager der Delawaren führten. Jetzt entwickelte Magua seinen Kriegsplan. Der ganze Stamm stimmte ohne Widerspruch zu. Häuptling Magua wurde zum Anführer gewählt. Als der Morgen graute, brachen der Häuptling und zwanzig Krieger auf und verließen das Lager in aller Stille. Als es hell geworden war, kamen sie auf eine Lichtung. Dort war ein Biberteich. Der Sitte gemäß hielt hier ein Indianer, dessen Totem — sein Sinnbild — der Biber war, eine Rede an die Biber. Plötzlich streckte ein großer Biber den Kopf aus einem halbverfallenen Bau. Die Huronen hielten das für ein gutes Zeichen und zogen weiter. Als sie im Wald verschwunden waren, kroch das Tier aus dem Bau und schüttelte das Fell ab. Es war Chingachgook.
Maguas Besuch bei den Delawaren Im Lager der Delawaren herrschte große Unruhe. Kampfbereit und im vollen Waffenschmuck standen die Krieger vor den Hütten, denn Chingachgook hatte ihnen gemeldet, daß sich die Huronen trotz des geschworenen Friedens auf dem Kriegspfad befänden. Da erschien auf der Anhöhe hinter dem Dorf ein unbewaffneter Mann. Er machte das Zeichen der Freundschaft: Er hob den Arm und ließ ihn langsam auf die Brust sinken. Die Delawaren erwiderten den Gruß und winkten ihn heran. Die Häuptlinge empfingen ihn ehrerbietig. Der Fremde war Magua, der „Schlaue Fuchs". Er nahm die Einladung des vornehmsten Häuptlings an, in dessen Hütte das Morgenmahl mit ihm zu teilen. Schweigend aßen sie, und schließlich fragte der Delaware: „Die Tomahawks eurer jungen Krieger sind erst kürzlich vom Blut der Delawaren sehr rot gewesen. Werden sie wieder blank werden?" „Sie sind jetzt blank und stumpf. Die Engländer sind tot und die Delawaren unsere Nachbarn." Eine Pause trat ein, dann fragte Magua überraschend: „Macht meine weiße Gefangene meinen Brüdern Ungelegenheiten?" „Ganz und gar nicht. Sie ist uns willkommen." Wieder eine Pause. Magua dachte nach, wie er am schnellsten zum Ziel kommen könne. Schließlich sagte er: „Wir leben mit Euch in Frieden. Wenn sie Euch lästig fällt, schickt sie zu uns zurück. Der Weg zwischen den Huronen und Delawaren ist frei." „Ganz und gar nicht. Sie ist uns willkommen", wiederholte der Häuptling mit spürbarer Ungeduld. Magua überlegte. Wie bekam er Cora wieder in die Hand? Er gab dem Gespräch eine andere Wendung, um den vorsichtigen Gegner zu überlisten: „Ich habe meinem Bruder Geschenke mitgebracht. Sein Stamm wollte nicht mit uns den Kriegspfad beschreiten, weil er es nicht für gut hielt. Doch seine Freunde haben nicht vergessen, wo er wohnt." Magua stand auf und breitete vor den erstaunten Augen der Dela» waren feierlich die mitgebrachten Geschenke aus. Es war billiger Schmuck, der bei dem „Blutbad von William Henry" den erschlagenen Frauen geraubt worden war. Die besten Stücke überreichte er den beiden ältesten Häuptlingen. Auch die anderen bekamen Geschenke und fühlten sich in ihrer Eitelkeit geschmeichelt.
Der Gastgeber betrachtete seinen reichen Anteil mit sichtlichem Vergnügen. Dann sagte er herzlich: „Mein Bruder ist ein weiser Häuptling. Er sei willkommen." „Die Huronen lieben ihre Freunde, die Delawaren. Die gleiche Sonne hat beide gefärbt. Die Rothäute müssen Freundschaft halten und offenen Auges die Weißen beobachten. Hat mein Bruder in den Wäldern Kundschafter aufgespürt?" „Es sind fremde Spuren beim Dorf der Delawaren gefunden worden. Sie reichen bis zu unseren Hütten." Lauernd fragte Magua: „Habt Ihr ihnen Freundschaft gewährt?" „Natürlich. Jeder friedliche Fremde ist den Delawaren willkommen!" Der Hurone brauste auf. „Der Fremde, der in Frieden kommt! Aber nicht der Spion!" Auf den erstaunten Blick des Delawaren fuhr er ruhiger fort: „Mein Bruder wird unter den Fremden einen finden, dessen Gesicht nicht rot und nicht weiß ist. Dieser Jäger hat viele rote Krieger erschlagen. Wir nennen ihn die, Lange Büchse'." Erschrocken sprang der Häuptling auf. Schon längst hatten sie von der Tollkühnheit Falkenauges, ihres früheren Gefährten, gehört, jedoch nicht gewußt, daß er die gefürchtete, Lange Büchse' war. In der Zeit, die er zusammen mit Chingachgook von den Delawaren weg gewesen war, hatte er sich äußerlich so verändert, daß niemand ihn wiedererkannte. Die Häuptlinge eilten zum Versammlungsplatz, um ihren Stammesgenossen diese Neuigkeit mitzuteilen. Die Krieger der Delawaren versammelten sich zur Beratung. Aus einer kunstvoll gebauten Hütte trat ein Greis, wohl älter als hundert Jahre, der von zwei alten Häuptlingen gestützt wurde. Über dem dunklen, von tausend Falten zerfurchten Gesicht fiel silbernes Haar in langen Locken auf die Schultern herab. Ein goldenes Diadem mit funkelnden Steinen und drei schwarzglänzenden Federn schmückte das Haupt. Lautlose Stille herrschte, als der Alte zu seinem Sitz ging. Ein Krieger flüsterte Magua, der ihn fragend anblickte, den Namen „Tamenund" zu. „Ah, der ist es!" sagte der Hurone leise und betrachtete den Greis, von dessen Weisheit und Gerechtigkeit er schon viel gehört hatte. Er« zählte das Volk doch von ihm, er stehe in geheimer Verbindung mit Manitou, dem großen Geist der Indianer. Als Tamenund sich gesetzt hatte, knieten die ältesten Häuptlinge vor ihm nieder und legten seine Hände auf ihre Köpfe. Die jüngeren Männer küßten den Saum seines Gewandes oder berührten sein Kleid mit den Fingerspitzen. Dann wurden die schutzsuchenden Fremdlinge Munro, Falkenauge, Heyward und Alice geholt, die in der Hütte Coras unter» gebracht waren. Nur Uncas blieb, von zwei Kriegern bewacht, dort zurück. Chingachgook hatte das Delawarendorf wieder verlassen, um die Huronen weiter zu beobachten.
Urteil des Hundertjährigen Unter dem tiefen Schweigen der Versammlung trat ein Häuptling auf die Fremden zu und fragte: „Wer von Euch ist die ,Lange Büchse?'" Heyward hatte Maguas tückisches Gesicht bereits entdeckt und fürchtete Gefahr für Falkenauge. Er mußte dem treuen Gefährten in der Not beistehen! Noch ehe Falkenauge antworten konnte, trat der Major vor und rief: „Her mit einer Flinte! Ich werde Euch zeigen, wer die ,Lange Büchse' ist!" „Dein Name also hat unser Herz mit Furcht und Schrecken erfüllt", sagte der Häuptling und betrachtete Heyward mißtrauisch, aber auch bewundernd. „Warum bist du ins Lager der Delawaren gekommen?" „Aus Not, Sorge um liebe Menschen, Hunger, kein Obdach." „Warum hast du Hunger? Die Wälder sind voller Wild. Warum verlangst du Obdach? Ein Krieger braucht nur das Zelt des Himmels. Du aber kamst als Feind. Denn die Delawaren sind die Feinde, nicht die Freunde der Engländer." „Das ist eine Lüge!" schrie Falkenauge. „Die ,Lange Büchse' bin ich, nicht mein Gefährte da, der sich für mich opfern will!"
Die Delawaren hatten schon öfters erlebt, daß sich bei ihnen Feinde unter falschen Namen eingeschlichen hatten. Der Häuptling winkte Magua heran und fragte: „Wen meintest du?" Magua zeigte auf Falkenauge. Heyward sah es und rief höhnisch: „Glaubt etwa ein weiser Delaware einem hinterlistigen Fuchs oder einem bellenden Wolf? Wann hat je ein Wolf oder ein Hurone die Wahrheit gesagt?" Maguas Augen funkelten vor Wut. Nach kurzer Beratung mit den anderen Häuptlingen versprach der Delaware ihm Genugtuung für die ihm zugefügte Beleidigung. Er befahl, den Fremden Gewehre zu geben. Als Ziel wurde auf einem fünfzig Schritt entfernten Baumstumpf ein kleiner Tontopf aufgestellt. Der Major hob das Gewehr, zielte lange und feuerte. Etwa fünf Zentimeter neben dem Gefäß fuhr die Kugel in die Rinde eines Baumes. Die Indianer erhoben ein lautes Beifallsgeschrei. Das war ein guter Schuß! „Na, Bleichgesicht, kannst du es besser?" fragte der Häuptling Falkenauge. Lächelnd nahm der Jäger die Büchse auf und zielte auf den erschreckenen Magua. „Ha, du Schurke!" rief er mit Donnerstimme. „Jetzt könnte ich dich niederschießen! Aber ich bin ein Weißer und nicht so hinterlistig wie du. Ich schieße nur auf den bewaffneten Feind, nicht auf den wehrlosen." Er wandte sich ab, zielte auf den kleinen Tontopf, und im nächsten Augenblick flog dieser in tausend Splittern auseinander.
„AR!" Ehrliche Bewunderung ergriff die Indianer. Heyward aber war um seinen Freund besorgt. „Zufall! Nichts als Zufall!" rief er den aufgeregten Delawaren zu. „Zufall?" meinte Falkenauge entrüstet. „Da drüben hängt eine Kürbisflasche am Baum, seht Ihr sie? Schießt sie entzwei, und fortan seid Ihr die ,Lange Büchse'!" Der Major hob das Gewehr. Er zielte lange, dann schoß er. Sofort sprangen vier junge Indianer zum Ziel und riefen aufgeregt, die Kugel stecke dicht unter der Flasche im Baum. Voll Spannung sahen jetzt alle auf Falkenauge. Der lud bedächtig seine Waffe, hob sie, visierte die Öffnung des Flaschenhalses an und drückte ab. Wieder eilten die Indianer zum Ziel. Aber sie fanden die Kugel nicht. „Jede rechte Kugel muß im Ziele stecken!" rief Falkenauge lachend. „Warum sucht ihr sie denn nur immer außen herum?" Die Indianer rissen die Flasche herunter und hoben sie dann unter Jubelgeschrei hoch. Die Kugel war durch den engen Hals eingedrungen und durch den Boden wieder hinausgefahren! Nun war alles klar: nur dieser Schütze konnte die „Lange Büchse" sein! Als der Tumult sich endlich gelegt hatte, machte der Hundertjährige dem Major bittere Vorwürfe: „Hältst du die Delawaren für Dumm» köpfe? Wir können immer noch einen Panther von einer Katze unter» scheiden! Den möchte ich sehen, der sich rühmen wollte, Tamenunds Kinder betrogen zu haben!"
„Und doch haben die klugen Delawaren noch nicht gemerkt, daß sie von dem Huronen da" — Heyward zeigte auf Magua — „zum besten gehalten und hintergangen worden sind." „Das werden wir ja sehen", sagte der alte Häuptling und forderte Magua auf zu sprechen. Der Huronenhäuptling trat in die Mitte des Kreises und begann zu reden: „Der Große Geist schuf die Menschen und gab ihnen verschiedene Farben. Die einen wurden schwarz wie Bären. Sie müssen arbeiten wie die Biber. Die anderen wurden weißer als das Fell des Hermelins. Sie sind Handelsleute geworden. Diesen gab der Große Geist die Natur einer Taube, Flügel, die nie ermüden, Junge, zahlreicher als die Blätter der Bäume, und eine Gefräßigkeit, die ganze Erde zu verschlingen. Er gab ihnen eine Sprache gleich dem falschen Geheul der Katze, das Herz eines Kaninchens, die Klugheit des Schweines und Arme, länger als die Beine des Elches. Mit seiner Zunge verstopft er die Ohren der Indianer. Sein Herz rät ihm, Krieger zu kaufen, die für ihn kämpfen. Durch seine List reißt er alle Güter der Erde an sich. Sein Arm umschlingt das ganze Land, vom Gestade des Salzwassers bis zu den Inseln der großen Seen. Seine Gefräßigkeit macht ihn krank. Der Große Geist gab ihm genug, und dennoch fehlt ihm alles. So sind die Bleichgesichter. Die dritten aber wurden rot und glänzend wie die Sonne am Himmel. Sie schuf der Große Geist zu seinem Wohlgefallen. Er gab ihnen das Land und die Wälder und die Tiere. Sie waren tapfer, gerecht und glücklich. — Der Große Geist verstreute seine Geschöpfe weithin über alle Himmelsrichtungen. Die einen hausten in Schneegefilden bei grimmigen Bären, die anderen im Land der untergehenden Sonne, wo der Pfad zu den glücklichen Jagdgründen führt. Wieder andere wurden Herren der Länder, die vom großen Wasser umgeben sind. Seine geliebtesten Kinder aber sandte der Große Geist an die sandigen Ufer des Salzsees. Wissen meine Brüder, wie sie heißen? Es sind die Delawaren! Ihnen geht die Sonne auf aus dem salzigen Wasser und versinkt in den tiefen Seen. Nie verbirgt sie sich ihren Augen. — Aber warum soll ich, der Hurone aus den Wäldern, euch euren eigenen Ruhm und euer vergangenes Glück verkünden? Warum soll ich euch an euer späteres Elend erinnern? Weilt keiner unter euch, der das alles mit angesehen hat und die Wahrheit meiner Worte bestätigen kann? — Mein Mund ist stumm, aber meine Ohren sind offen." Die Delawaren blickten alle auf Tamenund. Dieser erhob sich mühsam und rief mit brüchiger Stimme: „Wer ruft die Urahnen der Dela» waren? Wer spricht von vergangenen Dingen? Lieber sollten wir Manitou danken für das, was uns geblieben ist!" „Ein Hurone hat es gesagt, ein Freund Tamenunds und der Delawaren", erwiderte Magua und trat dem Greise erhobenen Hauptes näher. „Ein Freund?" fragte dieser erstaunt. „Was führt einen Huronen zum Stamme der Delawaren?" „Die Bitte um Gerechtigkeit. Seine Gefangenen sind bei euren Brüdern!" antwortete der „Schlaue Fuchs". Tamenund beriet sich mit den Häuptlingen, die ihm die Ereignisse der letzten Zeit berichteten. Dann erklärte der Alte feierlich: „Gerechtigkeit ist das Gesetz des großen Manitou. Nehmt, was euch gehört, und bleibt ein Freund der Delawaren." Damit war das Urteil über die Gefangenen gesprochen. Die Hände der drei Männer wurden mit starken Riemen gefesselt. Magua wollte gerade Alice ergreifen, da stürzte Cora voller Verzweiflung auf Tamenund zu und warf sich vor ihm auf die Knie: „Ich flehe Euch um Gerechtigkeit an, ehrwürdiger Häuptling!" rief sie. „Hört nicht auf diesen Betrüger. Um seinen Rachedurst zu stillen, belügt er Euch!" Verwundert hob der Hundertjährige den Blick. „Wer bist du?" fragte er das kniende Mädchen. „Eine Engländerin, die Eurem Volk nie etwas zuleide getan hat und Eurer Weisheit und Gnade vertraut", schluchzte Cora. „Ich flehe nicht um mein Leben, sondern um das meiner Schwester! Schont sie und rettet sie vor dem Betrüger. Könnt Ihr den Schmerz meines alten Vaters verstehen, wenn er den Tod seiner beiden Töchter erfährt? Ist Tamenund nicht Vater und Richter dieses Volkes?" Mit freudigem Stolz blickte der Greis auf die Versammlung. „Vater der Krieger meines Stammes." „Dann laßt Gnade walten. Zeigt Euer Vaterherz", bat Cora.
Doch da wurde Tamenund zornig. „Die Bleichgesichter sind stolz und wollen uns beherrschen. Sie müssen endlich erkennen, daß wir die gleichen Rechte besitzen wie sie. Sie kamen bei Sonnenaufgang in unser Land, vielleicht müssen sie es bei Sonnenuntergang verlassen!" Erschöpft vor Erregung sank der Greis auf seinen Platz. Schluchzend wankte Cora zu ihrer Schwester zurück. Der rechts von dem Hundertjährigen sitzende Häuptling flüsterte diesem ins Ohr: „Wir haben noch einen gefangenen Krieger. Er ist ein Spion der uns feindlich gesinnten Bleichgesichter und soll gemartert werden. Willst du ihn anhören?" „Bringt ihn her", befahl Tamenund. Zwei Indianer eilten davon, ihn zu holen. Uncas wurde in den Kreis geführt und blickte erstaunt auf den greisen Delawaren. Ohne die Augen zu öffnen, fragte Tamenund den Jüngling: „In welcher Sprache redet der Gefangene mit Manitou?" „In der Sprache der Väter. In der Sprache der Delawaren." Unwillig murrten die Krieger. Tamenund richtete die Augen starr auf den jungen Mohikaner. Dann hob er die Hand vors Gesicht, als ob er Uncas, die Schande seines Stammes, nicht sehen wollte. „Ein Delaware! Ich habe es erlebt, daß die Stämme der Lenapes wie ein Rudel verscheuchter Hirsche von ihren Beratungsfeuern vertrieben und zwischen den Bergen der Irokesen verstreut wurden. Ich habe gesehen, wie in den Tälern die Äxte eines fremden Volkes die von den Stürmen des Himmels verschonten Wälder abschlugen. Aber ich habe noch nie einen Delawaren gesehen, der sich so weit erniedrigt hat, daß er wie eine giftige Schlange in das Lager seines eigenen Stammes gekrochen ist"! „Die trügerischen Singvögel haben ihre Schnäbel geöffnet. Tamenund hat ihren Gesang gehört", entgegnete Uncas sanft. Der Alte fuhr zusammen. Er neigte das Haupt, als lauschte er verklungenen Tönen nach. Dann rief er: „Träumt Tamenund? Welche Stimme muß er vernehmen? Sind die Winter rückwärts gelaufen? Ist ein neuer Frühling für ihn angebrochen?" Der Hundertjährige versank in tiefes Sinnen. Feierliche Stille herrschte. Keiner der Krieger wagte sie zu unterbrechen. Minuten vergingen. Da trat ein Häuptling zu Tamenund und fragte: „Was soll mit dem falschen Delawaren geschehen? Er zittert, deine Worte zu hören." Der Alte stand langsam auf — ganz und gar verwandelt. Wie ein Richter, der eine Strafe verkündet, sprach er mit harter, unbarmherziger Stimme: „Du verdienst nicht, ein Delaware zu sein. Wer seinen Stamm im Unglück verläßt, ist ein Feigling und ein zweifacher Verräter! Dela» waren, nehmt ihn und tut mit ihm, was die Gerechtigkeit fordert. Tamenund hat gesprochen!" Mit weithallendem Rachegeschrei packten die Indianer den Mohikaner und führten ihn zum Marterpfahl. Einer riß den Jüngling so stark an seinem Jagdhemd, daß es zerriß und die bemalte Brust des Gefangenen sichtbar wurde. Wie angewurzelt blieb der Krieger stehen. Langsam hob er den Arm und deutete auf den jungen Mohikaner. Neugierig drängten sich die anderen herbei. Zu ihrem Erstaunen erblickten sie eine mit glänzendblauer Farbe tätowierte Schildkröte. Mit der Würde eines Königs trat Uncas unter die scheu zurückweichenden Indianer. „Männer der Delawaren!" rief er. „Welches Feuer kann das Kind meiner Väter verbrennen? Das Blut, das ihr vergießen würdet, würde all eure Flammen löschen. Mein Geschlecht ist der Stamm von Völkern!" Als Tamenund erneut die Stimme des Mohikaners hörte, erhob er sich unruhig von seinem Sitz und fragte: „Wer bist du?" Bescheiden antwortete der Jüngling: „Ich bin Uncas, der Sohn Chingachgooks. In meinen Adern fließt Tamenunds Blut, von dem gemeinsamen Stammvater Unamis (Schildkröte) her." Wie gelähmt blickten die Krieger auf den edlen Häuptlingssohn, den sie eben noch hatten martern wollen. Dann aber brachen sie in Rufe der Freude und Bewunderung aus, und Tamenund sagte mit vor Rührung zitternder Stimme: „Dank sei Manitou! Nun wird es Tag, und des Unglücks tiefe Nacht weicht von den Delawaren. Uncas, das Kind Unamis', ist gefunden. Nun mag Tamenund in Frieden in die Jagd» gründe des Großen Geistes
eingehen. Es ist einer da, der seinen Platz am Feuer in der Versammlung einnehmen wird. Die Augen des sterben» den Adlers mögen einmal noch zur aufgehenden Sonne blicken!" Uncas trat auf den Greis zu, der ihn umarmte und sprach: „Ich höre wieder die lang verhallte Stimme unserer weisen Seher aus früheren Zeiten. Sie sagten, zwei Krieger aus dem alten Geschlecht der Schildkröte lebten noch in den Bergen. Warum waren sie so fern und fehlten auf ihren Plätzen am Feuer der Delawaren? Muß nicht ein Stamm zugrunde gehen, wenn die Edelsten ihn verlassen?" „Mein Vater hat mir erzählt, daß die Nachkommen von Unamis einst die Länder beherrscht haben. Aber als an jedem Bach die Bleichgesichter erschienen, folgten sie den Spuren der Tiere in die Wälder. Nun sind die edlen Häuptlinge aus dem Stamm der Schildkröte in die Erde zurückgekehrt, aus der sie kamen. Nur Chingachgook und Uncas leben noch. Wie ihre Väter streifen sie frei durch die Wälder." Uncas nahm den Tomahawk eines Kriegers und zerschnitt die Fesseln Falkenauges, Munros und Heywards. Er führte sie und die beiden Schwestern vor Tamenund und bat: „Sieh diese Bleichgesichter! Sie sind Freunde deines Sohnes. Gib sie frei!" „Der Hurone sagt, sie gehören ihm", wandte der Greis ein. „Der Hurone lügt!" rief Uncas. Herausfordernd trat Magua vor und erklärte frech: „Der gerechte und weise Tamenund wird nicht das Eigentum eines Huronen behalten wollen!" „Hat der Hurone über die Bleichgesichter gesiegt?" forschte der Alte. „Aber nein!" mischte sich Falkenauge ein. „Wohl kann der Panther in eine von Weibern gelegte Schlinge geraten, doch kann er sich daraus auch wieder befreien!" „Gehören ihm die anderen Fremden und das weiße Mädchen, die in mein Lager gekommen sind?" fragte Tamenund weiter. „Das Mädchen wurde durch seinen tapferen Verlobten befreit", antwortete Uncas. „Und das andere Mädchen, das der Hurone in meinem Lager zurückließ?" Der Mohikaner schwieg. Magua triumphierte. „Sie ist mein! Uncas, du weißt selbst, daß sie mein ist!" Der Häuptlingssohn biß sich auf die Lippen und flüsterte: „Leider ist es so." Ein böses Schweigen trat ein. Kein Delaware gönnte Magua den Sieg. Von allen Seiten trafen ihn feindselige Blicke. Endlich entschied der Hundertjährige: „Hurone, entferne dich." „Mit leeren Händen?" fragte Magua lauernd. „Maguas Hütte steht leer. Mache ihn stark, daß er sein Eigentum wiedererlange." „Ist dieser Mingo ein Häuptling?" fragte der Hundertjährige einen seiner Begleiter. Als dieser die Frage bejahte, wandte sich Tamenund an Cora: „Mädchen, was willst du? Ein großer Krieger nimmt dich zum Weib. Dein Geschlecht wird nie erlöschen." „Tausendmal besser, es erlischt, als daß ich eine solche Erniedrigung erdulde!" schrie die verzweifelte Cora. Tamenund sagte zu Magua: „Hurone, ihr Geist ist in den Zelten der Väter. Ein Mädchen, das mit Widerwillen in eine Hütte einzieht, bringt Unglück mit." „Sie spricht mit der Zunge ihres Volkes", meinte Magua verächtlich. „Sie stammt aus einem Geschlecht von Kaufleuten und will mit freundlichem Blick Handel treiben. Vermag Tamenund nicht zu entscheiden?" „Was willst du?" „Magua will nur von hier mitnehmen, was er hierher gebracht hat." Zögernd entschloß sich Tamenund zu einer Antwort. „Manitou verbietet dem Krieger, ungerecht zu sein. Nimm, was dir gehört, und geh." Grinsend ergriff Magua Cora und zog sie mit sich. Munro stürzte verzweifelt auf ihn zu und flehte: „Verlange, was du willst. Du sollst alles haben, aber laß mir meine Tochter!" „Magua ist eine Rothaut. Er braucht den wertlosen Kram der Bleichgesichter nicht." Alle Bitten, Versprechen und Drohungen Munros waren umsonst. Vergeblich bot Falkenauge dem Huronen sein gutes Gewehr, ja, bot sich selbst zum Gefangenen. Magua ließ sich nicht erweichen. Er hielt Coras Hand mit eisernem Griff fest. Sie hatte sich inzwischen gefaßt. Ihre Augen blitzten, und ihre Wangen glühten, als sie sprach: „Ich bin deine Gefangene. Wenn es Zeit ist, folge ich dir, und wenn ich in den Tod gehen müßte."
Sie dankte Falkenauge und küßte zärtlich ihre Schwester. Dann wandte sie sich ruhig an Magua: „Ich bin bereit, dir zu folgen." Noch einmal richtete Uncas seine Worte an Magua: „Hurone, die Gerechtigkeit der Delawaren kommt von Manitou. Die Sonne steht jetzt in den oberen Zweigen der Schierlingstanne. Ihr Weg ist kurz. Wenn sie zwischen die Bäume hinabgesunken ist, werden unsere Krieger deine Spur verfolgen." „Ich höre eine Krähe krächzen", höhnte Magua. „Platz da!" herrschte er die Umstehenden an und schob sie mit der Hand zur Seite. „Wo sind die Weiberröcke der Delawaren? Laßt sie ihre Pfeile und Gewehre zu den Wyandotts schicken! Sie sollen dafür Wildbret zu essen bekommen und das Korn mahlen. Hunde! Kaninchen! Diebe! Ich speie euch an!" Die Indianer schwiegen wuterfüllt. Magua aber eilte mit seiner Gefangenen dem Wald zu.
Uncas' Tod Nach dem Gesetz indianischer Gastfreundschaft mußten die Delawaren drei Stunden warten, ehe sie gegen den tückischen Huronen etwas unternehmen durften. Dann aber sollte der ganze Stamm zur Befreiung der unglücklichen Cora aufgeboten werden. Das hatte Uncas ihrem Vater versprochen, und die Delawaren waren sofort damit einverstanden gewesen. Tamenund wurde in seine Hütte gebracht, und die Indianer bereiteten den Kriegszug vor. Aus Uncas' Hütte trat ein junger Krieger. Schweigend löste er die Rinde von einer Zwergtanne und entfernte sich wieder. Dann erschien ein anderer und hieb Zweige und Äste ab. Nach seinem Weggang eilte ein dritter herbei und bemalte den kahlen Stamm mit roten Streifen. Jetzt kam Uncas. Die eine Hälfte seines Gesichts war rabenschwarz bemalt. Mit abgemessenen Schritten ging er um den Baumpfahl. Dabei sang er den Kriegstanz: Manitou! Manitou! Manitou! Du bist groß — du bist gut — du bist weise — Manitou! Manitou! Du bist gerecht! An dem Himmel, im Gewölk, ach, da seh' ich viele Flecken — viele dunkle — viele rote — An dem Himmel, ach, da seh' ich viele Wolken. In den Wäldern, in der Luft, ach, da hör' ich Das Geschrei, das lange Geheul und das Toben — In den Wäldern, ach, da hör' ich Das laute Kriegsgeschrei. Manitou! Manitou! Manitou! Ich bin schwach — du bist stark — ich bin langsam — Manitou — Manitou! Verleihe mir Hufe! Leise und feierlich begann die Melodie und endete in furchtbarem Schlachtgeschrei. Dreimal wiederholte der Mohikaner den Gesang, immer um den Baumstamm tanzend. Nach kurzer Pause folgte ein Häuptling dem Beispiel von Uncas, dann ein Krieger nach dem anderen. Immer kriegerischer, immer wilder wurde der Tanz. Zuletzt hieb Uncas seine Streitaxt in den Baumstamm und stieß den Schlachtruf aus. Damit übernahm er den Oberbefehl in dem bevorstehenden Kriegszug. Hunderte von Jünglingen stürmten auf den Pfahl zu und schlugen ihre Streitäxte hinein, bis nur noch ein armseliger Stumpf übrig blieb. Dann zogen sie aus, denn die Sonne war zwischen die Bäume herabgesunken. Sie hatten kaum das Lager verlassen, als ihnen von der nächsten Anhöhe ein Mann entgegenkam. Uncas stieß einen Freudenschrei aus: es war sein Vater. Jubelnd empfingen die Stammesgenossen den Nachkommen von Unamis. Dieser umarmte seinen Sohn und begrüßte Falkenauge, Munro und Heyward mit herzlichem Händedruck.
„Schon längst stehen die Huronen in den Bergen zum Kampf bereit", berichtete er. „Darum konnte ich mich nicht in das Lager meiner delawarischen Freunde schleichen. Alle Pässe und Pfade wurden bewacht. Erst als Magua zurückkam, zog er auch die Wachen ein, und ich konnte zu euch eilen. Aber seid vorsichtig! Die Huronen lauern im Hinterhalt." Chingachgook schloß sich dem Kriegszug an, und bald kamen sie in die Nähe des feindlichen Lagers. Plötzlich schallte Gewehrfeuer aus dem Dickicht, und die tapferen Delawaren stürzten sich auf die heimtückischen Feinde. Die zwischen beiden Stämmen seit alters herrschende Erbitterung brach sich aufs neue Bahn, und bald lagen viele Verwundete und Tote auf dem Kampffeld. Magua kämpfte mitten im Getümmel. Uncas und Heyward versuchten immer wieder, an ihn heranzukommen, doch er wich stets geschickt aus. Nach langem, heißem Kampf begannen die Huronen sich zurückzuziehen. Der Sieg war den Delawaren sicher. Magua sprang gewandt ins Dickicht, um seinen Gegnern zu entkommen. Er versicherte sich, daß kein Verfolger mehr hinter ihm war, dann schlüpfte er in die Höhle, in der Heyward die Indianerin hatte heilen sollen. Kurz darauf kehrte er zurück, mit Cora auf den Armen. Dabei erblickte ihn Uncas und folgte ihm. Falkenauge schloß sich an. Der Hurone kletterte mit seiner Last auf einen Felsen. Doch Cora hatte die beiden Verfolger bemerkt, schlug um sich und klammerte sich schließlich fest an einen Baum. Magua schäumte vor Wut. Er hatte keine Zeit zu verlieren, denn Uncas und Falkenauge kamen näher und näher. „Laß los! Lebend kriegen sie dich nicht!" zischte er und zückte sein Messer. „Wähle! Maguas Hütte oder den Tod!" „Töte mich! Ich folge dir nicht weiter!" Magua versuchte, Coras Hände vom Baumstamm loszureißen. Da hörte er Uncas' Siegesgeschrei aus nächster Nähe. Mit aller Kraft stieß er das Messer in das Herz des Mädchens, das blutüberströmt zusammen» brach. Uncas erstieg den Felsen, aber er konnte in seinen Armen nur noch eine Tote auffangen. Er legte sie auf den Boden nieder. In diesem Augenblick stieß ihm Magua mit einem Racheschrei das blutige Messer in den Rücken.
Wie ein verwundeter Löwe bäumte sich der Jüngling auf und sprang auf seinen Feind zu. Doch der eilte schon mit großen Sätzen den Abhang hinab und verschwand im Dickicht.
Inzwischen war auch Falkenauge auf dem Felsen angelangt. Er fand einen Sterbenden, dem er nicht mehr helfen konnte. Falkenauge trat an den Rand des Abhangs. Magua, der wieder aus dem Gebüsch hervorgekommen war, kletterte jetzt den letzten Felsenvorsprung hinab. Drohend erhob er den Arm gegen den Jäger. „Die Bleichgesichter sind Hunde! Magua ist gerächt!" Da durchbohrte Falkenauges Kugel seine Brust. Kopfüber stürzte er den Hang hinab. Die Delawaren verfolgten die Huronen nicht mehr. Sie trauerten über Uncas' Tod, und kein Siegeslied erklang aus ihrer Mitte. Schweigend, mit gesenkten Köpfen, saßen die Krieger auf der Stätte des Kampfes. Die Mädchen der Delawaren hüllten die tote Cora in indianische Tücher, legten sie auf eine Bahre und schmückten sie mit Blumen und duftenden Kräutern. Dann bildeten sie einen Kreis um die Tote und sangen feierliche Lieder. Munro, Heyward und Alice standen weinend zu Füßen der Bahre. Unbeweglich stand Falkenauge auf sein Gewehr gestützt und starrte auf die Leiche des jungen Mohikaners, die im vollen Kriegsschmuck gegen einen Baum gelehnt war. Waffenlos kniete Chingachgook davor. Einzeln traten die Krieger herzu und priesen den Kriegsruhm des Toten. Die Mädchen stimmten den Grabgesang an. Starr wie eine Bildsäule kniete der Vater. Kein Muskel zuckte in seinem Gesicht. Die delawarischen Mädchen trugen die Bahre mit Coras Leiche fort. Dann hoben Krieger den toten Uncas auf, um ihn in das inzwischen aus= geschaufelte Grab zu legen. Chingachgook öffnete den Mund zum Trauergesang um den verlorenen einzigen Sohn. Nachdem die Klageweise verklungen war, folgte er festen Schritts dem Toten zur letzten Ruhestätte. Als das Grab über dem Sohn geschlossen war, sprach Chingachgook zu den Umstehenden: „Warum klagen meine Brüder? Warum weinen meine Töchter? Ein junger Krieger ist in die glücklichen Jagdgefilde eingegangen. Ein Häuptling hat seine Zeit mit Ehren erfüllt. Er war edel und gut. Darum rief ihn Manitou in die Schar seiner Auserlesenen. Er hat die Seinen verlassen. Sein Vater bleibt zurück, einsam und allein — allein — allein." Sanft legte Falkenauge seine Hand auf Chingachgooks Schulter und tröstete den Letzten vom Stamm der Mohikaner. „Nein, Chingachgook, du bist nicht allein. Mag unsere Farbe auch verschieden sein, so stellte uns Gott doch auf einen Pfad. Ich habe keine Verwandten, und ich kann wohl auch wie du sagen: kein Volk! Uncas war dein Sohn und eine Rot« haut. Doch wenn ich den Jungen je vergesse, der im Krieg an meiner Seite kämpfte, an meiner Seite schlief zur Zeit des Friedens — wenn ich ihn je vergesse, dann möge mich auch der vergessen, der uns alle schuf! Der Junge hat uns eine Zeitlang verlassen, aber du bist nicht allein, Chingachgook!" Der Mohikaner ergriff die Hand, die Falkenauge ihm entgegenstreckte, und drückte sie fest. Rings im Kreise war es feierlich still. Die beiden Freunde neigten ihre Häupter.
III DER PFADFINDER Begegnung im Walde Mitten im Urwald hatte ein Wirbelwind mehrere gewaltige Bäume entwurzelt, wie Strohhalme geknickt und übereinandergeworfen. Dadurch war am oberen Rand eines Abhangs eine kleine Lichtung entstanden. Diesen Platz erreichten an einem Sommertag des Jahres 1759 ein weißer Mann von etwa fünfzig Jahren und ein schönes junges Mädchen. Ein Indianer und seine Frau, beide aus dem Stamme der Tuscarora, begleiteten sie. Mit anmutigen Bewegungen stieg die neunzehnjährige Mabel auf einen der am Boden liegenden, riesigen Baumstämme. Ihre leuchtend blauen Augen blickten entzückt über das weite Meer der sommerlich grünen Baumwipfel. „Wie herrlich!" jauchzte sie. „Auf dem Meer hättet Ihr gewiß keine schönere Aussicht, Onkel."
„Kindisches Geschwätz", brummte dieser, „wie kann man nur eine Handvoll Blätter mit dem Atlantik vergleichen!" „Aber Onkel! Seht Euch doch nur um! Meilenweit nichts als grüne Blätter. Könnt Ihr mehr sehen, wenn Ihr über das große Meer blickt?" Der Seemann lachte verächtlich und steckte die Hände in die großen Taschen seiner roten Jacke. „Die rollenden Wogen und die Walfische sind mir tausendmal lieber als dieses grüne Gemüse mit seinen Krähen. Hier ist doch nichts los!" Mabel schwieg beschämt, doch dann deutete sie auf einmal in die Ferne und rief: „Da steigt Rauch aus den Bäumen auf. Dort muß eine Hütte sein!" Charles Cap, der Seemann, brummte: „Dieser Rauch ist mir weitaus lieber als der ganze Wald voller Bäume." Er zog die Hand aus der Tasche und tippte dem Indianer auf die Schulter. „Seht mal dahin, Pfeilspitze! Was ist das?" Der Tuscarora besaß die edle Gestalt und Würde eines Häuptlings. Charles Cap gegenüber legte er eine gebieterische Überlegenheit und fast verächtliche Zurückhaltung an den Tag. Infolge seines jahrelangen Umgangs mit den Weißen hatte er schnell erkannt, daß dieser Mann da nur eine untergeordnete Persönlichkeit war. Ein stolzer Häuptling verkehrte mit Generälen und Obersten, aber nicht mit Matrosen und Sergeanten. „Da wohnen doch sicher Indianer", meinte Cap. „Vielleicht alte Bekannte von Euch? Wir finden dort bestimmt ein behagliches Quartier zur Nacht, glaubt Ihr nicht?" „Kein Wigwam — Feuer von Bleichgesicht", erwiderte der Indianer und trat einen Schritt zurück, weil Cap Miene machte, ihm vertraulich auf die Schulter zu klopfen. Der Seemann fragte erstaunt: „Woher wollt Ihr das denn wissen?" „Holz viel naß — viel Rauch. Schwarzer Rauch von feuchtem Holz. Tuscarora viel zu klug, um mit Wasser Feuer zu machen. Bleichgesicht viel lesen — wenig wissen."
„Ganz vernünftig", pflichtete Cap ihm bei, denn er hielt nicht viel' von der Gelehrsamkeit. „Aber was anderes, Pfeilspitze. Wie weit ist es noch bis zu der Pfütze da, die Ihr den Großen See nennt? Acht Tage sind wir nun schon unterwegs. Mal müssen wir doch hinkommen!" Der Tuscarora blickte den weißgesichtigen Prahlhans mit eisiger Verachtung an. „Ontario wie der Himmel, nur eine Sonne noch, und der große Reisende wird es selber sehen." „Na schön; ich war ein großer Reisender, gewiß. Aber so lange wie diesmal bin ich noch nie über Land gekrochen. Wenn dieser Teich so nah ist, sollte man ihn doch eigentlich schon sehen." Pfeilspitze zeigte in die Ferne: „Dort!" „Ich sehe nichts", knurrte der Seemann. „Natürlich ein Froschtümpel, na ja . . ." Er brach ab und betrachtete den Indianer geringschätzig. „Na, dann gehen wir erst mal zu den Bleichgesichtern." Herablassend schlug Pfeilspitze vor, vorauszugehen und zu sehen, um was für Menschen es sich an dem Feuer handle. Doch davon wollte der Seemann nichts wissen. „Wir gehen alle zusammen", bestimmte er. Der Indianer fühlte sich durch das Mißtrauen in Caps Worten keineswegs gekränkt und fragte: „Was will mein Bruder?" „Eure Gesellschaft, Meister Pfeilspitze, sonst nichts!" Plötzlich aber überlegte Cap sich die Sache anders. Eigentlich hatte der Indianer recht: wer konnte wissen, was für Menschen da am Feuer saßen? Womöglich waren es gar Franzosen; wie würden die sich freuen, wenn sie ein paar Engländer so billig fangen könnten! Also würde er erst einmal mit Pfeilspitze allein hingehen und sich vergewissern. Seine Nichte Mabel Dunham sollte sich bis zu seiner Rückkehr mit der Indianerin, Pfeilspitzes Weib, in das Kanu setzen, mit dem sie gekommen waren und das unten am Oswego-Fluß lag. Doch davon wollte Mabel nichts wissen. Der Gedanke, ganz allein mit der Indianerin und ohne jeden männlichen Schutz im Urwald zu warten, behagte ihr keineswegs. „Ich habe so lange im Kanu gesessen, daß mir alle Glieder steif sind. Bitte, laß mich mitkommen, Onkel, viel» leicht ist unter den Leuten am Feuer auch eine Frau." „Du bist ein schlaues Mädchen", sagte Cap lachend. „Daran habe ich gar nicht gedacht. Na, dann komm mit." Die wie alle Indianerfrauen an Gehorsam gewöhnte Junitau ging zum Kanu hinunter, und die ändern drei begaben sich auf die Suche nach dem Feuer. Nach einer Weile blieb Cap stehen und zog seinen Kompaß hervor. „So frei nach Nase eine Stunde lang mag ja für einen Indianer ganz gut sein", sagte er zu Mabel, „aber wir Kulturmenschen sind etwas anderes gewöhnt. Du kannst mir's glauben: Amerika wäre nie entdeckt worden, hätte sich Columbus nur auf seine Nasenlöcher verlassen." Er hielt dem Indianer den Kompaß vors Gesicht. „Na, habt Ihr schon mal so ein Ding gesehen?" Ungerührt betrachtete Pfeilspitze die zitternde Nadel und sagte geringschätzig: „Blaßgesichtauge. Tuscarora sieht in seinem Kopf. Aber Salzwasser" — so nannte er den Seemann — „jetzt ganz Auge — keine Zunge!" „Er meint, wir sollen jetzt ganz still sein", erläuterte Cap seiner Nichte. „Na schön, dann wollen wir mal das Maul halten." Scharf umherspähend, glitt der Tuscarora über den weichen Waldboden. Plötzlich blieb er stehen, zeigte auf eine freie Stelle zwischen den Bäumen und flüsterte seinem Begleiter zu: „Dort Feuer von Bleichgesicht!" „Hm", brummte Cap, „da liegen drei Männer am Feuer und schmausen behaglich. Einer scheint ein feiner Mann zu sein. Neben ihm eine Rothaut. Macht keinen üblen Eindruck. Der dritte — nicht genau fest* zustellen, halb aufgetakelt, weder Brigg noch Schoner." „Er sieht gutmütig aus, Onkel. Bitte, laßt uns hingehen." „Nicht so eilig, Kind! Wir wissen ja gar nicht, ob es Franzosen sind." Der Tuscarora schüttelte energisch den Kopf. „Roter Mann Monikaner. Blaßgesicht Engländer. Squaw kann allein gehen!" „Um Gottes willen!" rief Cap erschrocken.
„Er hat recht. Mir tun sie sicherlich nichts. Wenn ich komme, sehen sie, daß wir friedliche Leute sind." So unterstützte Mabel die Worte des Indianers. Widerstrebend fügte sich Cap. Mit leichten Schritten begab sich Mabel zu den Fremden. Unter ihren Füßen knackte ein dürrer Ast, und die drei Männer schraken auf. Der Indianer riß die Flinte an sich. Als er Mabel sah, flüsterte er seinen Gefährten etwas zu und setzte sich beruhigt wieder ans Feuer. Der „Halbaufgetakelte" erhob sich und ging Mabel entgegen. Er war ein großer, kräftiger Mann mittleren Alters. Sein offenes Gesicht und seine angenehme Stimme weckten Vertrauen. Mabel sah sofort, daß sie von ihm nichts zu fürchten hatte. „Keine Angst!" sagte der Mann. „Wir sind aufrechte Christen. Ich hieß Wildtöter bei den Delawaren. Vielleicht habt Ihr mal was davon gehört. Dann hieß ich Falkenauge bei den Mohikanern. Die Franzosen auf der anderen Seite nannten mich Lange Büchse. Und jetzt ist Pfadfinder mein Name." Er lachte. „Es gibt keine Fährte, die ich nicht fände!" „Pfadfinder?" wiederholte Mabel hocherfreut. „Dann hat mich mein guter Stern hierhergeführt! Gerade Euch wollte ich finden, Euch, meines Vaters Freund, den er mir entgegenzuschicken versprochen hatte." „Euer Vater? Der alte Seebär da hinten bei dem Indianer?" Er deutete auf die beiden, die Mabel gefolgt waren und noch im Schatten der Bäume standen. „Nein, nein!" sagte Mabel und lachte. „Das ist Onkel Cap. Der Indianer neben ihm ist ein Tuscarora namens Pfeilspitze. Mein Vater ist Sergeant Dunham!" „Dunham? Aber natürlich! Ihr seid also seine Tochter? Ich habe schon auf Euch gewartet. Aber Pfeilspitze ist mir weniger angenehm. Ich bin kein Freund der Tuscarora. Ist Junitau bei ihm?" „Ja, sie begleitet uns", erwiderte Mabel. „Sie ist ein so liebes Geschöpf!" „Und eine treue Seele, was man von ihrem Mann nicht gerade sagen kann. Nun, jetzt werde ja ich Euer Führer sein. Ich habe doch Eurem Vater versprochen, Euch wohlbehalten in seine Garnison zu bringen. Mein Kanu liegt unterhalb der Wasserfälle. Ich bin Euch mit meinen Gefährten durch den Wald entgegengegangen." Inzwischen waren auch der Seemann und der Indianer herangekommen. Pfadfinder begrüßte sie und führte sie zu seinen Freunden, die am Feuer liegengeblieben waren. Der Mohikaner blieb auch jetzt noch sitzen und ließ sich nicht im Essen stören. Der Weiße jedoch erhob sich und nahm zur Begrüßung höflich seinen runden Hut ab. Er war ein schöner und kräftiger junger Mann. Pfadfinder stellte dem Mädchen die beiden Männer vor. „Die Freunde, die Euch Euer besorgter Vater zusammen mit mir entgegenschickte! Dies ist Chingachgook — in unserer Sprache die ,Große Schlange' —, ein Häuptling der Delawaren. Er ist aber nicht hinterlistig wie die Schlange, sondern klug wie sie. Pfeilspitze weiß schon, was ich meine." Bei diesen Worten sahen sich die beiden Indianer forschend an. Der Tuscarora trat näher und sagte dem Delawaren anscheinend ein paar freundliche Worte. Dieser jedoch nickte nur. Dann stellte Pfadfinder den jungen Seemann vor. „Mein Freund Jasper Western, Seemann wie Euer Onkel, allerdings nicht auf dem Ozean, sondern auf dem Ontario!" Caps Neugier war geweckt. Er schüttelte dem jungen Mann die Hand. „Ich freue mich, Euch kennenzulernen. Schade, daß Ihr Euer Leben auf dem Ontario verbringt." Und dann pries er wortreich die Schönheiten des Ozeans. Schließlich unterbrach ihn Pfadfinder: „Wollt Ihr Euren Mund nicht erst mal zum Essen benutzen? Ihr habt doch gewiß Hunger!" Cap griff nach einer Hirschkeule, die Pfadfinder ihm angeboten hatte, und die ändern folgten seinem Beispiel. Einträchtig saßen sie am Feuer und aßen. Als Onkel Cap satt war, stand er auf und sagte zu dem neben ihm sitzenden Pfadfinder: „Ich würde gern unter vier Augen mit Euch sprechen." Sie gingen ein wenig zur Seite, und der Seemann erklärte: „Ich traue nämlich keinem Indianer! Als ich eben neben ihnen saß, hatte ich ein verdammt unangenehmes Jucken auf dem Kopf." Er strich sich über den Schädel, an dem ein fester, mit Aalhaut umwickelter Zopf baumelte. „Ich möchte wissen, wie wir Weiterreisen. Der Tuscarora sprach vom Ontario-See. Dort soll das Fort ,Oswego' liegen, in dem mein Schwager Sergeant ist. Wie aber kommen wir zu dieser Pfütze?"
„Wir brauchen unsere Kanus nur vom Oswego-Strom treiben zu las» sen. Der mündet in den Ontario-See. Es sind etwas mehr als fünfzehn Meilen." Cap entgegnete aufgebracht: „Redet doch nicht immer vom ,See'! Ist er denn wirklich so groß?" „Ja", meinte Pfadfinder heiter, „aber leider nur in unseren Augen. Andere werden ihn vielleicht schmal nennen, weil er zwei Enden hat und vom Feind umgangen werden kann." „Das wollte ich nur hören!" polterte Cap los. „Ihr mit Euren Süßwasserteichen! Ihr solltet mal den Atlantischen Ozean sehen! Die Leute, die an seinen Ufern wohnen, brauchen keine Angst um ihr Schädelfell zu haben. Da kann sich jeder zu Bett legen, ohne befürchten zu müssen, daß er am nächsten Morgen kein Haar mehr auf dem Kopf hat — vor= ausgesetzt, daß er keine Perücke trägt. Die kann ihm auch ein Dieb stehlen." Pfadfinder lächelte belustigt über die Sorgen des Seemanns. „Das ist hier allerdings etwas anders. In diesem Land muß man sich eifrig seiner Haut wehren, besonders jetzt im Kriege, wo es auf beiden Seiten des Ontario nur so von feindlichen Irokesen wimmelt." „Wimmelt?" Cap verschlug es vor Schreck fast die Sprache. Er rang nach Luft, aber dann entlud sich sein Groll gegen seinen Schwager: „Donnerwetter, warum hat mir Dunham davon nichts mitgeteilt? Unverantwortlich so etwas! Auf hoher See fürchte ich keinen Feind. Aber den Skalp zu verlieren wie ein Fuchs, dem das Fell über die Ohren gezogen wird, das ist nicht nach meinem Geschmack. Wenn meine Nichte nicht wäre, auf der Stelle würde ich umkehren und nach New York zurückfahren." „Alles halb so schlimm. Das Fort ,Oswego' ist nicht weit. Auf dem Strom kommen wir schnell voran. Wir werden Euch sicher hinbringen." „Na, es wird sich ja zeigen", brummte Cap. Er ging zum Lagerplatz zurück und rief: „Mabel, mach dich fertig, wir wollen unter Segel gehen." Mabel unterhielt sich gerade mit Jasper. Er erzählte ihr von ihrem Vater, den sie seit ihrer Kindheit und dem Tode ihrer Mutter nicht mehr gesehen hatte. Pfadfinder sammelte Äste und Zweige, darunter auch nasses Holz, und schichtete alles auf die glühende Asche. Dadurch entstand ein dicker Rauch, der etwaige sie verfolgende Indianer irreführen sollte. Sie brachen auf und waren bald am Oswego-Fluß, wo die Frau des Tuscarora das Rindenkanu bewachte. In diesem war Cap mit seiner Nichte und dem indianischen Paar von der letzten Militärstation, Fort ,Stanwix', auf dem Mohawk hierhergekommen. Diesmal nun saßen sie sehr eng, da Pfadfinder und Jasper auch noch mitgenommen werden mußten.
Fahrt auf dem Oswego Wie zwischen zwei undurchdringlichen, grünen Mauern strömt der Oswego dahin. Oft ragt ein durch Sturm oder Blitz gefällter Waldriese mit seinem Blättergewirr aus den schäumenden Wellen hervor. Hie und dort vereinigen sich die mächtigen Äste der Bäume beider Ufer; dann fährt der Reisende wie unter einem grünen Baldachin dahin. Sehnsüchtig blickte Pfadfinder in die grüne Wildnis. „Ich wollte, es wäre wieder wie früher, wo man nach Herzenslust den Wald durch» streifen konnte. Ich habe den Krieg satt." Plötzlich erfüllte ein seltsames Brausen die Luft. Cap glaubte, die Brandung des Meeres zu hören, und fragte Pfadfinder, was das sei. „Eine Viertelstunde von hier stürzt der Fluß in eine felsige Tiefe ab", erklärte Pfadfinder. „Wir werden den Wasserfall mit eigenen Augen sehen, denn wir müssen ja hinüber, um zum Fort zu kommen." „Ihr werdet doch nicht im Ernst mit diesem leichten Fahrzeug über einen Wasserfall setzen wollen!" rief Cap. „Aber natürlich!" entgegnete Pfadfinder. „Ihr Seemänner sollt doch sehen, daß wir Süßwasserschiff er auch was können!" „Wie wollt Ihr denn mit dieser Nußschale über einen Wasserfall setzen? Denkt Ihr gar nicht an unsere weiblichen Passagiere?"
„Die Dame setzen wir mit dem Indianerpaar an Land. Sie können die kurze Strecke zu Fuß gehen. Und wir bringen das Kanu über den Wasserfall. Ihr werdet Euch doch nicht ausschließen wollen, wo Ihr immer so furchtlos und mutig über die stürmische See segelt!" Cap wußte nicht, ob der Stolz oder das Unbehagen in ihm stärker war. Jedenfalls stand ihm auf der Stirn geschrieben, daß es mit seinem Mut nicht so weit her war.
Vor dem Wasserfall wurden die Frauen und der Indianer ausgebootet. Dann steuerten die beiden Männer mit Cap wieder zur Flußmitte. Pfadfinder ruderte kräftig, Jasper stand aufrecht und spähte nach der günstigsten Richtung. Als sie sich der zischenden, brodelnden und brüllenden Stromschnelle näherten, die nur aus weißem Gischt zu bestehen schien, schloß Cap die Augen und klammerte sich an den Bootsrand. Das Kanu sauste in die Tiefe. Wie eine Nußschale wurde das leichte Fahrzeug hin und hergeworfen. Cap hatte manchen Sturm auf See mutig überstanden, aber hier wurde ihm schwach zumute. „So, das hätten wir geschafft", hörte er da Pfadfinders rauhe Stimme sagen. Cap öffnete die Augen. Als er wieder die breite Stromfläche vor sich sah, atmete er auf, räusperte sich und betrachtete mit dem Blick des Fachmanns den hinter ihm liegenden, vier Meter hohen Wasserfall. Dann meinte er mit seiner alten Überheblichkeit: „Na ja, ein besonderes Kunststück ist es ja nicht, wenn man die Durchfahrt kennt. Das kann jeder Bootsmann." „So einfach ist es nun wieder nicht!" sagte Pfadfinder ärgerlich. „Es gehören Kraft und Geschick dazu, das Boot so zu lenken, daß es nicht an einem Felsen zerschellt. Jasper ist der einzige hier, der so meister* haft über die Stromschnellen rudert." Sie kamen an die Stelle, wo Mabel, noch bleich vor Schreck, aber voller Bewunderung für Jasper, mit ihren Begleitern am Ufer wartete. Nicht weit davon lag das Kanu, mit dem Pfadfinder, Jasper und Chingachgook gekommen waren und das sie im Gebüsch versteckt hatten. Cap, Mabel und Jasper bestiegen das eine Boot. Pfadfinder, Pfeil» spitze und Junitau nahmen im anderen Platz.
Kampf im Oswego Sie ruderten ein Stück stromabwärts. Nach einer Weile rief Pfadfinder zum ändern Boot hinüber: „Hallo, Jasper! Ist das nicht Chingachgook, der von dem Felsen dort herüberwinkt?" Jasper hielt die Hand über die Augen. „Tatsächlich! Es ist der Mohikaner", rief er. „Was wird er von uns wollen?" Der Jäger ruderte in Richtung auf das Ufer zu und rief zu dem Indianer hinüber, was er wolle. „Mingos in den Wäldern", war die kurze, aber viel sagende Antwort Pfadfinder steuerte das Boot ans Ufer, sprang heraus und stieg den Felsen hinauf. Dann verschwand er mit seinem Freund im Wald. Nach einer Viertelstunde kam er ohne den Mohikaner zurück, und sein Gesicht war sehr ernst. „Man könnte denken, der Wind habe Euch alle Masten geknickt. Was gibt's denn?" fragte ihn Cap. „Wir haben eine Fährte entdeckt, die Gefahr bedeutet. Sie läuft auf das Fort zu, und ich befürchte, daß wir an dem Dickicht nicht vorbeikommen werden, ohne von diesen Mingos eine geballte Ladung zu erhalten." Die ändern blickten einander erschrocken an. Nur Jasper blieb gelassen. „So leicht sollen sie uns nicht bekommen! Nicht wahr, Pfadfinder?" „Mit Gottes Hilfe werden wir durchkommen. Wegen des Gebüschs und des hohen Ufers können sie die Boote noch nicht sehen. Hier haben wir also nichts zu befürchten. Aber ewig können wir da nicht liegen" bleiben. Wir müssen versuchen, die Mingos stromaufwärts zu locken, damit wir ungehindert weiterrudern können. Jasper, zündet dort unter dem Kastanienbaum auf dem Felsen ein großes Feuer an. Verwendet recht viel nasses Holz! Vielleicht hoffen sie, uns dort im Schlafe überfallen zu können. Unterdessen haben wir die Möglichkeit, unsere Reise fortzusetzen." Jasper sprang ans Ufer. Bald stiegen an der bezeichneten Stelle dichte Rauchwolken auf. Die Boote wurden ein Stück weiter in die Bucht hineingerudert, wo dichtes Gebüsch ein sicheres Blätterdach bildete. Hier konnten die Reisenden unmöglich vom Felsen aus gesehen werden. Pfadfinder war zufrieden. „Ein guter Schlupfwinkel! Aber wir wollen ihn noch verbessern. Pfeilspitze, komm!" Der Jäger und der Tuscarora stiegen an Land, drangen tiefer in das Gebüsch und schnitten Äste und Zweige ab. Pfadfinder steckte sie an Stellen, an denen die Boote eingesehen werden konnten, in den Schlamm des seichten Wassers. So entstand eine grüne Wand, die vom wirklichen Dickicht kaum zu unterscheiden war. Aus diesem Versteck spähte Pfadfinder nach Jasper aus. Bald erschien er und blickte nach allen Seiten, um nicht von einem feindlichen Überfall überrascht zu werden. Suchend ging er dicht an der künstlichen Hecke vorüber, aber die Kanus der Freunde fand er nicht. Da bog Pfadfinder die Zweige auseinander. Überrascht erblickte ihn Jasper und blieb stehen. Dann folgte er der Aufforderung des Jägers, schnell in das Boot zu steigen. Cap hatte Sorge, daß Chingachgook den Schlupfwinkel nicht finden könnte, aber Pfadfinder beruhigte ihn. Chingachgooks Auge sei an List gewöhnt, es werde auch das Versteck der Freunde finden. Inzwischen war der Mohikaner auf das Gebüsch zugekommen. Er betrachtete die künstlich befestigten Bäume und Sträucher, bog die Zweige auseinander und sprang behende in das Boot. Dann berichtete er, es seien keine Mingos, sondern ein anderer Stamm der Irokesen. Sie hätten die List mit dem Feuer bereits entdeckt. Da rief Jasper plötzlich mit gedämpfter Stimme, daß Indianer in Sicht seien. Drei Irokesen standen in voller Kriegsbemalung mitten im Wasser. Anscheinend waren sie noch im Zweifel, wohin sie sich wenden sollten. Pfadfinder flüsterte dem Mohikaner und dem Tuscarora zu: „Haltet Euch bereit. Gleich wird es sich entscheiden, ob sie uns entdeckt haben oder nicht. Wir dürfen nur in der äußersten Not schießen. Sonst kann uns der Knall das ganze Rudel Indianer auf den Hals hetzen."
Die drei Irokesen wateten auf das Gebüsch zu und blieben in unmittelbarer Nähe stehen. Sie unterhielten sich mit einem Spähtrupp, der vom Wald her bis fast zu den Kanus vorgedrungen war. „Das Wasser hat die Spur weggewaschen", sagte einer unten. „Die Bleichgesichter haben das Ufer in ihren Kanus verlassen", behauptete einer oben. „Mit Adleraugen müssen meine jungen Männer um sich schauen", sagte nach kurzer Pause der im Wasser verdrießlich. „Einen ganzen Monat sind wir nun schon auf dem Kriegspfad und haben erst einen Skalp erbeutet. Und vergeßt nicht: es ist ein Mädchen bei den Bleichgesichtern. Einige unserer Krieger wollen heiraten." Die Gruppe am Ufer schlich durch das Gebüsch weiter. Die drei im Wasser wateten langsam flußabwärts. Zwei Rothäute waren achtlos an dem Versteck vorbeigegangen und stiegen wieder ans Ufer. Dem letzten aber, einem jungen Krieger, fiel das in der Sonne welk gewordene Laub der Tarnsträucher auf. Vor» sichtig teilte er das Gebüsch mit den Händen, aber da sauste schon Chingachgooks Tomahawk mit wuchtigem Schlag auf ihn nieder. Zu Tode getroffen und ohne einen Laut, versank er im Wasser. Die beiden anderen Irokesen hatten nichts bemerkt. Chingachgook schlich sich durchs Gebüsch ans Ufer, um die Feinde zu beobachten. Die starke Strömung schwemmte die Leiche weiter unten am Flußufer bei den Stammesgenossen an. Sie erhoben ein wildes Klagegeheul. „Vorwärts, wenn Euch Euer Leben lieb ist!" rief Pfadfinder und trieb das Kanu mit kräftigen Ruderschlägen aus dem Versteck. Jasper folgte im zweiten Boot mit Cap und Mabel. Pfeilspitze und seine Frau wateten im Wasser und schoben das Boot, so daß sie rasch vorankamen. Aber auf einmal stockte die Fahrt. Unwillig wandte sich Jasper um. Pfeilspitze und Junitau waren verschwunden. „Laßt die Feiglinge laufen!" rief Pfadfinder. „Sie nützen uns sowieso nichts!" Jasper ruderte mit Cap und Mabel ans andere Ufer. Pfadfinder aber behielt die bisherige Richtung bei, um die Indianer von den Freunden abzulenken. Aufrecht im Kanu stehend, ruderte er mit starken Schlägen, und die Irokesen feuerten ununterbrochen auf seine hohe Gestalt. Doch die Entfernung war zu groß. Keine Kugel traf ihn. Jasper, Cap und Mabel hatten inzwischen das andere Ufer erreicht. Sie verließen das Fahrzeug und liefen zum Wald, wo sie vor den Schüssen der Wilden sicher waren. Für Pfadfinder aber wurde es jetzt gefährlich. Nicht weit von ihm stand ein Trupp Irokesen. Sie warteten, daß er in ihr Schußfeld käme. Er sprang aus dem Kanu und watete zu einem Felsblock, der etwa fünfzig Schritt vom Ufer aus dem Fluß ragte. Stellenweise reichte ihm das seichte Wasser bis unter die Arme. Er hielt Pulverhorn und Gewehr hoch über den Kopf, damit sie nicht naß wurden. Das verlassene Boot trieb kieloben auf die Irokesen zu, die es mit lauten Freudenrufen heranzogen. Der Jäger befand sich in der Nähe der Stelle, wo sich die drei anderen verborgen hatten. Hier war das Wasser so tief, daß Pfadfinder es nur schwimmend hätte überqueren können. Dazu aber hätte er auf sein Gewehr verzichten müssen, und das würde er noch nötig brauchen. Denn unter den Irokesen am Flußrand hatte er den verräterischen Tuscarora Pfeilspitze erkannt! Da rief ihm Jasper aus dem Uferdiddcht zu: „Pfadfinder, aufgepaßt!
Cap wirft weiter oben einen Baumast ins Wasser. Dort ist die Strömung nicht so stark. Kommt der Ast bei Euch an, gebt Cap ein Zeichen, daß er Euch auf dem gleichen Weg das Boot schickt." Der Ast kam an und auch das Kanu folgte. Der Jäger sprang hinein und ruderte zu Jasper hinüber. Die vier versteckten sich im Gebüsch, aber da kamen bereits drei Irokesen mit dem erbeuteten Fahrzeug stromaufwärts. Jasper wollte schießen, doch Pfadfinder hinderte ihn daran. Er wollte die Indianer erst an Land kommen lassen, damit er den Kahn wiederbekäme. Mabel wurde in einem hohlen Baum versteckt und die Öffnung durch eine große Brombeerstaude verdeckt. Dort würde sie keine Rothaut suchen. Ein Schuß krachte. Ein Indianer im Boot machte einen Luftsprung und stürzte kopfüber ins Wasser. Am ändern Ufer verging ein Rauchwölkchen in der Luft. Pfadfinder lachte. „Das war Chingachgook! Der treueste aller Delawaren! Nur schade, daß er sich eingemischt hat. Aber er konnte ja nicht wissen, daß wir die Indianer herankommen lassen wollten, um das Boot wiederzubekommen. Nun wird es damit nichts werden." Pfadfinder hatte recht. In einer Stromschnelle kenterte das führerlose Boot. Die beiden Indianer schwammen zu ihren Freunden am Jenseitigen Ufer. Das Kanu trieb auf einen Felsen in der Mitte des Stromes zu und blieb an ihm hängen. Die beiden Irokesen fanden eine seichte Stelle und wateten durchs Wasser. Sie boten ein gutes Ziel. „Ich nehme den rechten und Ihr den linken!" sagte Jasper zu Pfadfinder. Doch im gleichen Augenblick ließ er die Flinte sinken und machte den Jäger auf etwas im Wasser Schwimmendes aufmerksam. Schon im nächsten Augenblick lachte Pfadfinder hell auf. „Das ist Chingachgook! Erkennt Ihr ihn nicht? Er treibt einen kleinen Baumstamm vor sich her, auf den er seine Büchse gelegt hat. Seinen Kopf hat er mit Zweigen getarnt. Oben hängt das Pulverhorn. Ein groß» artiger Einfall!" So landete der Mohikaner wohlbehalten bei seinen Freunden. Pfadfinder schüttelte ihm die Hand. „Lieber alter Freund und Bruder! Wie ich mich freue, daß du wieder da bist! Wir haben auf dem Horican, dem Mohawk, dem Ontario nebeneinander gefochten. Es wäre furchtbar gewesen, wenn das lauernde Ungeziefer dich erwischt hätte. Aber es war nicht klug von dir, ganz allein gegen ein Dutzend Mingos auf den Kriegspfad zu gehen." „Die ,Große Schlange' ist ein Mohikaner. Wenn er auf dem Kriegspfad ist, sieht er nur seine Feinde, und seine Väter haben, seit die Wasser talwärts laufen, immer nur die Rücken der Mingos zu sehen bekommen." Mit diesen Worten stürzte sich der Delaware wieder ins Wasser. Er wollte zu dem toten Indianer hinüberschwimmen und ihm den Skalp nehmen. Verständnislos blickte Jasper ihm nach. Pfadfinder erriet die Gedanken des Jünglings. „Er ist so klug wie tapfer, aber er ist kein Christ wie wir", erklärte er. „Er ist ein mohikanischer Häuptling, der nach der Sitte seiner Väter lebt. Für den Indianer ist es eine Ehre, den Skalp zu nehmen. Glaubt mir, Jasper, ich habe weiße Männer von großem Namen kennengelernt, die auch recht merkwürdige Anschauungen über ihre Ehre hatten." Aber Jasper wandte sich angewidert ab, als Chingachgook wieder an Land stieg und den Skalp hoch über seinem Kopf schwang.
Ringkampf im Fluß Die letzten Sonnenstrahlen schimmerten über dem Wasser, und die Wildnis versank in der Dämmerung. Pfadfinder sagte zu seinen Gefährten: „Wir können zwar im Schutz der Nacht unseren Feinden entgehen, aber alle fünf haben wir nicht Platz in dem kleinen Boot. Wir müßten uns also zu Fuß durch den Wald schlagen, doch das würde Mabel nicht schaffen. Es bleibt uns daher nichts weiter übrig, als das verlorene Kanu zu holen."
„Chingachgook und ich kennen den Fluß am besten", sagte Jasper. „Wir holen das Boot. Ihr und Cap bleibt zum Schütze Mabels hier." Als es dunkel geworden war, holte Pfadfinder Mabel aus ihrem Versteck, bestieg mit ihr und Cap das Kanu, und dann warteten sie auf die Rückkehr der beiden Männer. Diese schwammen durch das tiefe, reißende Wasser bis zur seichten Stromenge. Vorsichtig wateten sie jetzt zu dem Felsblock, an dem das Boot hing. Chingachgook ging voran. Jasper folgte. Plötzlich blieb der Mohikaner stehen. Dicht vor ihm tauchte eine Gestalt aus der Finsternis auf. „Ein Mingo — Vorsicht!" flüsterte er Jasper zu. Der feindliche Indianer hatte sie erblickt, hielt sie in der Dunkelheit jedoch für Stammesgenossen. Er flüsterte ihnen zu: „Wir haben das Kanu gefunden. Helft mir, es vom Felsen loszumachen!" Chingachgook flüsterte auf Irokesisch zurück: „Führe uns hin." Gemeinsam hoben sie das Boot empor und setzten es aufs Wasser. Der Irokese faßte es an der Spitze und wollte es ans Ufer ziehen, wo seine Freunde warteten. Chingachgook überlegte, ob er ihn mit dem Tomahawk niederschlagen sollte. Aber der geringste Aufschrei des Getroffenen konnte für ihn und Jasper gefährlich werden. Sicherlich waren noch weitere Feinde in nächster Nähe. Er hatte recht. Jetzt kamen vier Indianer, die ebenfalls das Boot suchten. Sie halfen den dreien, es ans Ufer zu bringen. Als sie dort ankamen, befahl der Älteste den anderen, an Land zu gehen und die Waffen zu holen. Nur die beiden Krieger an der Spitze des Fahrzeuges sollten es vor der starken Strömung schützen. So blieben Jasper und der zuerst gekommene Irokese als einzige beim Boot zurück. Da näherte sich Chingachgook dem Feinde unter Wasser, und als er aus der Flut auftauchte, erschrak dieser so, daß er zurückwich und über Bord fiel. Schnell stieß der Mohikaner vom Ufer ab. Aber der Irokese, der sich von seinem Schreck wieder erholt hatte, schwamm hinterher und holte das Boot in der Mitte des Flusses ein. Ein erbittertes Ringen zwischen den beiden Rothäuten begann. Der Irokese klammerte sich an den Mohikaner. Dieser verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Wasser. Rasch glitt das Boot in der Strömung davon. Es war ein Glück, daß der Kahn dem Ufer zutrieb, wo Pfadfinder und Cap warteten, die das Fahrzeug an Land zogen. Ein Schrei vom anderen Ufer zeigte ihnen an, daß der Mohikaner in die Hand der Irokesen gefallen war. Schweigend stiegen sie in die beiden Boote und ruderten möglichst leise, um nicht von den Irokesen bemerkt zu werden. Pfadfinder steuerte das Kanu stromabwärts. Voller Vorwurf fragte Jasper: „Ihr werdet den Freund doch nicht in der Not verlassen?" „Es bleibt mir nichts anderes übrig", erklärte Pfadfinder. „Die ,Große Schlange' steht unter dem Schutz ihres Gottes. Wir können ihm nicht nützen und würden uns nur großer Gefahr aussetzen. Wir müssen jetzt unsere Pflicht tun und Mabel heil zum Fort bringen." Nach etwa einer Stunde hielt Pfadfinder sein Boot mit Cap und Mabel plötzlich an und lauschte zum Ufer hinüber. „Da schleicht jemand am Fluß entlang. So vorsichtig kann nur ein Indianer sein. Gebe Gott, daß es Chingachgook ist!" Jasper ruderte ans Ufer und spähte aus. Der Jäger hörte das Flüstern zweier Menschen, dann Jaspers leisen Ruderschlag. Das Kanu kam zurück. In dem Boot erhob sich eine dunkle Gestalt und sagte: „Die Irokesen sind Weiber!" „Chingachgook!" flüsterte Pfadfinder voller Freude. „Ich wußte doch, daß dir die Schurken nichts anhaben könnten! Trotzdem habe ich Angst genug um dich ausgestanden!" Während die Boote stromabwärts trieben, erzählte Chingachgook seine Erlebnisse. Als Jasper verschwunden war, hatte er einen harten Ringkampf mit dem Irokesen. Endlich konnte er einen Arm befreien. Blitzschnell ergriff er den Tomahawk und spaltete seinem Gegner den Schädel. Lautlos versank der Irokese im Wasser, und Chingachgook schwamm ans feindliche Ufer. Die am Boden liegenden Irokesen riefen ihn an, er antwortete in ihrer Sprache, er sei Pfeilspitze. Da ließen sie ihn seines Weges ziehen. Aus den Gesprächen der Feinde hatte er gehört, daß sie Mabel und ihren Onkel in ihre Gewalt bringen wollten. Offenbar machten sie sich eine falsche Vorstellung von der Bedeutung der Reisenden. Sie hofften nämlich, ein hohes Lösegeld zu erpressen.
Pfeilspitze sei der Verräter, sagte Chingachgook. Allerdings könne er sich nicht erklären, warum. Aus den Gesprächen der Feinde hatte er auch erfahren, daß sie die Reisenden nicht auf dem Fluß, sondern zu Lande verfolgen wollten. Sie glaubten, die Boote könnten nicht über die Stromschnellen in der Nähe des Forts gebracht werden. „Die werden sich wundern, was ein tüchtiger Schiffer leistet!" rief Jasper. „Noch vor Sonnenaufgang werden wir den Wasserfall hinter uns haben, und Mabel wird ohne Gefahr im Fort angekommen sein." Pfadfinder wollte den nur noch kurzen Weg zum Fort zu Land zurücklegen. Er fürchtete, an den Stromschnellen mit den Feinden zusammenzustoßen. Doch Jasper fand, Mabel sei zu schwach, um in dunkler Nacht den beschwerlichen Weg durch die Wälder zu machen. Er schlug vor, sie solle in sein Kanu steigen; er werde sie sicher durch alle Brandungen bringen. Pfadfinders Bedenken, das Boot könne in der Dunkelheit kentern, zerstreute Mabel selbst. Sie ziehe es vor, auf dem Fluß weiterzureisen, statt in den dunklen Wäldern, wo überall Feinde lauerten. Die beiden Kanus wurden dicht nebeneinander gelegt, und Mabel stieg in das von Jasper gesteuerte Boot um. Hier fühlte sie sich sicher, denn sie hatte das größte Vertrauen zu dem jungen Mann. Bald war man bei der Stromschnelle. Jasper trieb das Fahrzeug mitten in den Strudel hinein. In den quirlenden Wassern drehte es sich wie ein Kreisel. Mehrmals schien es, als wollte es in dem schäumenden Gischt kentern. Doch Jasper brachte das Kanu geschickt durch die Wellen. Nun war nichts mehr zu befürchten. Nach Sonnenaufgang waren die ermatteten Reisenden am Ziel, herzlich begrüßt von Sergeant Dunham, Mabels Vater.
Vorbereitungen im Fort Cap, Pfadfinder und Jasper genossen einige Tage Dunhams Gastfreundschaft. Chingachgook aber rückte mit einer Abteilung Soldaten gleich wieder aus. Sie wollten die franzosenfreundlichen Irokesen überfallen. Der Kommandant, der mit den Tücken dieser Feinde schon seine Erfahrungen gemacht hatte, nützte die Anwesenheit des Mohikaners aus und übertrug ihm die Führung. Etwas unbequem war das Leben im Fort zwar, doch Dunham tat alles nur Mögliche, um seinen Gästen den Aufenthalt angenehm zu machen. Das Fort lag an der Mündung des Oswego in den Ontariosee. Es war eine der am weitesten gegen die Franzosen vorgeschobenen britischen Befestigungen. Mabels Vater Dunham hatte die untergeordnete, aber verantwortungsvolle Stelle des Ersten Sergeanten inne. Das Fort war zwar imstande, einen Angriff der Indianer abzuwehren, aber wohl kaum, einer regelrechten Belagerung zu widerstehen. Die Bastionen bestanden aus Holz und Erde und waren von Palisaden und einem Graben umgeben. Im Innern der Anlage befanden sich ein großer Exerzierplatz und eine kugelsichere, aus Holz errichtete Kaserne. Auf dem Exerzierplatz standen ein paar leichte Feldgeschütze, die sich bequem von einer Stelle an die andere bringen ließen. Von der Höhe der vorgeschobenen Bastionen drohten ebenfalls zwei Kanonen. Außerdem lagen innerhalb der Befestigung einige Blockhäuser. In ihnen wohnten die Familien der Unteroffiziere, und in eines davon zog nun auch Mabel ein. Unterhalb des Forts waren einige Blockhütten errichtet. Hier wurden die Vorräte gestapelt, welche die Schiffe brachten. Nicht weit davon rauschte zwischen erhöhten Dämmen und Wäldern der Oswego in den Ontariosee. Am Seeufer ankerten immer einige größere oder kleinere Schiffe. Unter ihnen befand sich auch der Kutter ,Wolke'. Er konnte vierzig Tonnen Last tragen und gehörte dem englischen König. Sein Kapitän war Jasper. Die Franzosen hatten drei Fahrzeuge auf dem See: ein Schiff, eine Brigg und einen Kutter, der Eichhörnchen hieß. Hier, in der Sicherheit des Forts, begann Cap sofort wieder zu prahlen. Er setzte sich auf eine alte Kanone, kreuzte die Arme und wiegte seinen Körper, als wäre er auf einem
schwankenden Schiff. „Nun, Meister Cap, ist das nicht ein schöner See?" fragte Pfadfinder. „Das da ein See?" Cap lachte höhnisch und beschrieb mit der Pfeife in der Hand einen großen Bogen. „Genauso hatte ich mir ihn vorgestellt. Ein lächerlicher Teich — nichts weiter!" „Was habt Ihr nur gegen den großen Ontario?" „Das nennt Ihr groß? Jasper sagte mir, die Entfernung von einem Ufer zum anderen betrage nicht mehr als zwanzig Stunden." „Aber Onkel", meinte Mabel, „man sieht doch nirgends Land. Es ist ganz wie auf dem Meer." „Meer?" Cap lachte aus vollem Hals. „Ich möchte mal wissen, ob es hier einen einzigen Walfisch, einen Hummer oder einen Haifisch gibt!" Pfadfinder zuckte lächelnd die Achseln. „Habt Ihr vielleicht Heringe, Sturmvögel, fliegende Fische?" ereiferte sich der Seemann weiter. Da trat Dunham hinzu. Er war groß und kräftig, und sein ernstes Gesicht und die straffe Haltung verrieten den Soldaten. Er nahm Pfadfinder beiseite und fragte ihn, wie ihm Mabel gefalle? „Großartig!" versicherte dieser, und Dunham hörte es gern, denn er würde sich gefreut haben, wenn Pfadfinder sein Schwiegersohn geworden wäre. Schon nach wenigen Tagen hatte Mabel sich die Herzen aller Männer im Fort erobert, angefangen vom Offizier bis zum einfachen Soldaten. Besonders der Quartiermeister Muir, ein Witwer in mittleren Jahren, war auffallend aufmerksam ihr gegenüber. An einem Spätnachmittag spazierte Dunham mit seinen Gästen auf der Außenseite des Forts, als ihn plötzlich der Kommandant, Major Lundie, rufen ließ. Der Sergeant eilte zu seinem Vorgesetzten, der in einem Wohnwagen lebte, machte seine Ehrenbezeigung und hörte, was der Major zu sagen hatte. Ohne Umschweife kam dieser zur Sache. „David Muir, der Quartiermeister, will Eure Tochter heiraten. Er bat mich, mit Euch darüber zu sprechen." „Eine große Ehre", erwiderte Dunham zurückhaltend. „Aber Mabel ist die Verlobte eines ändern." Der Major war erstaunt. „Wirklich? Wer ist denn der Glückliche?" „Pfadfinder, Euer Gnaden." „Ach, Pfadfinder! Euer bester Freund also. Aber ist er nicht — hm — ein bißchen zu alt für das Mädchen?" „Ich war auch schon vierzig, als ich heiratete. Ich bitte Euer Gnaden, Herrn Muir sagen zu dürfen, daß Mabel so gut wie verlobt ist." „Schön, Dunham, das ist Eure Sache. Nun aber zu etwas anderem. Ihr wißt, daß sich die Franzosen in der Nähe der Tausendinseln festgesetzt haben. Ich brauche einen zuverlässigen Mann, der mit einer kleinen Abteilung dorthin segelt und die Besatzung ablöst. Die Inseln sind für uns sehr wichtig. Es wäre schlecht, wenn unsere dortige Station in die Hände der Feinde fiele. Es ist keine leichte Aufgabe, aber ich habe an Euch gedacht, weil ich Euer Pflichtbewußtsein kenne."
Dunham dankte seinem Vorgesetzten für die Auszeichnung, und der Major fuhr fort: „Jasper bringt Euch mit der ,Wolke' hin. Euer Schwager Cap ist ja ein erfahrener Seemann und kann mitfahren. Unter der Besatzung des Forts könnt Ihr Euch Freiwillige aussuchen." „Wenn Euer Gnaden gestatten, würde ich gern auch Pfadfinder mitnehmen. Seine Erfahrung kann uns viel nützen. Sollte Chingachgook zur rechten Zeit zurück sein, möchte ich ihn ebenfalls bei mir haben." „Macht das, wie Ihr denkt. Und trefft Eure Vorbereitungen mit Umsicht, denn Ihr habt kein leichtes Stück Arbeit vor Euch." Lundie entließ den Sergeanten. Dunham ging in sein Quartier und teilte den Freunden seinen Auftrag mit. „Na, dann gute Fahrt", meinte Cap und stieß gewaltige Wolken aus seiner kurzen Seemannspfeife. „Ich bin mit dabei. Hoffentlich bleiben uns diesmal die kleinen Flüsse erspart. Die kann ich nicht leiden." Dunham beruhigte ihn. „Beruhigt Euch, lieber Schwager. Es geht zu den Tausendinseln, dorthin, wo der Abfluß des Ontariosees in den Ozean, der Sankt Lorenzstrom, ist. Ihr werdet genug Wasser zu sehen bekommen." Pfadfinder erklärte sich bereit, an dem Unternehmen teilzunehmen, und da bat auch Mabel, mitkommen zu dürfen. Wenn alle ihre Freunde dabei seien, könne sie doch nicht allein in der Fremde zurückbleiben. „Du bist ein tapferes Mädchen", sagte der Sergeant und küßte sie auf die Stirn. „Die echte Tochter eines Soldaten. Morgen abend geht es los. Es wird nicht ganz einfach werden. Die Franzosen, deren Fort ,Frontenac' unmittelbar über den Inseln liegt, haben den Vorteil, daß sie aus ihrer weiter unten gelegenen Garnison Verstärkungen heran» ziehen können. Auch kreuzen dort stets Boote der Irokesen. Für jede englische Kopfhaut bekommen sie von den ,Parlezvous' eine hohe Belohnung."
Das Preisschießen Inzwischen ging Quartiermeister Muir zu Major Lundie und fragte mit schottischem Akzent: „Ich möchte von Ihnen hören, Sir, ob ich hoffen darf, glücklich zu werden." Major Lundie lächelte. „Wenn ich nicht irre, sind Sie bereits viermal verheiratet gewesen. Stimmt's?" „Dreimal, Sir, dreimal! Aber ein viertes Mal riskiere ich's noch." „Leider kann ich Ihnen keine Hoffnung machen, Muir." „Keine Hoffnung?" rief Muir. „Ein Offizier und Quartiermeister dazu darf sich bei einer Sergeantentochter keine Hoffnung machen?" „Das Mädchen ist verlobt. Sie können mich totschlagen, ehe ich das glaube, aber — es heißt nun einmal, sie sei verlobt!" „Mit wem?" fragte der Quartiermeister. „Pfadfinder ist der Glückliche", erwiderte der Major und lachte auf. Der Quartiermeister nahm diese Nachricht erstaunlich gelassen auf. Er bat den Major, ihn ebenfalls nach den Tausendinseln zu schicken, und war glücklich, als dieser zusagte. Voll neuer Hoffnung verabschiedete sich Muir. Der nächste Tag brachte herrliches Sommerwetter, und so konnte ein schon lange mit Ungeduld erwartetes Preisschießen stattfinden. Es wurde ein wahres Volksfest daraus, denn nicht nur die Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten nahmen daran teil, sondern auch ihre Frauen und Töchter — und natürlich auch Mabel. Am Rande der einen Seite des großen Platzes war eine Tribüne mit drei Sitzreihen errichtet worden, auf der die Zuschauer Platz nahmen. An einem Pfahl hing eine Schießscheibe, in deren Mitte ein Ochsen= äuge gemalt war. Aus fünfzig Meter Entfernung mußten die Schützen dieses Auge treffen. „Ihr seid jetzt dran, Western!" rief Muir. Jasper blickte kurz zu Mabel hinüber, dann schoß er und traf genau in die Mitte des Ochsenauges. Es war bisher der beste Schuß. „Bravo, . Jasper!" sagte Muir. „Nur Eure Haltung ist nicht gut." Er nahm das Gewehr und stellte sich breitbeinig auf. Dann warf er
einen lächelnden Blick zu Mabel hinüber, hob die Waffe ganz langsam, senkte sie, hob sie wieder und schoß dann endlich. „Niete!" rief der Mann, der die Scheibe bediente, und in seinem Ton lag unverhohlene Schadenfreude. „Unmöglich!" schrie Muir und wurde rot vor Ärger. „Tragt Euer Pech mit Würde. Es war nun einmal eine Niete", sagte der Major lachend. „Nein, Major", mischte sich jetzt Pfadfinder ein, „die Kugel des Quartiermeisters sitzt genau vor der Kugel Jaspers!" Die Scheibe und der Pfahl wurden untersucht, und in der Tat war es so, wie Pfadfinder gesagt hatte. Jetzt trat dieser hinzu, um ebenfalls zu schießen. „Ich protestiere, Major Lundie", rief Muir. „Der hat ein Gewehr, gegen das im ganzen Regiment keines aufkommt!" „Ich nehme Jaspers Gewehr, das ist nicht besser als Eures", entgegnete Pfadfinder und schoß. Als man die Scheibe untersuchte, wurde festgestellt, daß Pfadfinders Kugel vor der von Jasper und Muir stak. Jetzt wurde ein Nagel in die Scheibe getrieben, der getroffen werden sollte. Muir streifte ihn nur an der Seite. Jasper traf ihn auf den Kopf und trieb ihn einen Zentimeter tiefer ins Holz. Pfadfinders Schuß aber jagte den Nagel vollends in die Platte und bedeckte ihn mit einem Stück flachgedrückten Bleis. Die dritte Kunstprobe gewann Jasper. Er traf eine in die Luft geworfene Kartoffel genau in der Mitte. Voller Freuden nahm der junge Seemann seinen Preis, einen Schal, in Empfang. Er trat auf Mabel zu und sagte bescheiden: „Dieser Preis gehört Euch." Das Mädchen errötete und erwiderte: „Er sei mir eine Erinnerung an die Gefahren, die ich mit Eurer Hilfe überstanden habe." Nach dem Schießen ging Mabel am Seeufer spazieren und begegnete dort Pfadfinder. Sie nahm eine silbergraue Nadel von ihrem Kleid und reichte sie ihm. „Steckt sie an euer Jagdhemd. Sie soll ein Freundschaftspfand sein. Weil ihr mir Leben und Freiheit gerettet habt. Ihr und Jasper — ich werde es Euch nie vergessen!" Dann wandte sie sich rasch um und lief weg.
Verdacht gegen Jasper Die Sonne war gesunken, und der See lag grau in der Dämmerung. Im Fort erklang ein Trommelwirbel. Die Soldaten ergriffen ihre Bündel und begaben sich zur Anlegestelle des Kutters. Es waren zehn Soldaten und zwei Unteroffiziere. Leutnant Muir wollte freiwillig an der Expedition teilnehmen. Zur Besatzung gehörten außer Jasper und seinen Schiffern auch Pfadfinder und Cap. Mabel und die Frau eines Soldaten waren die einzigen weiblichen Wesen auf dieser Fahrt. Sergeant Dunham ließ sein Kommando an Bord bringen, dann meldete er sich bei Major Lundie, um die letzten Befehle zu erbitten. Der junge Mann zeigte inzwischen Mabel und ihrer Begleiterin ihre Kajüte. Das kleine Schiff, das für den Transport von Offizieren, Soldaten und ihren Familien eingerichtet war, hatte vier Räume. Die sogenannte Heckkajüte war die bequemste: ein kleines Gemach mit vier Schlafstellen, welches den Vorteil hatte, durch Luken Luft und Licht zu erhalten. Dieser Raum war für die Frauen bestimmt. Da Mabel und ihre Begleiterin allein waren, hatten sie Platz genug. Die große Kajüte, die von oben her beleuchtet wurde, bot dem Quartiermeister, dem Sergeanten, Cap und Jasper Unterkunft. Pfadfinder wanderte von einem Teil des Schiffes in den ändern und verzichtete auf eine feste Schlafstelle. Die Unteroffiziere und Soldaten waren in dem Raum zwischen den großen Luken untergebracht, die Schiffer in der Back. Als Mabel sich in ihrer Kajüte eingerichtet hatte ging sie wieder an Deck und blickte auf die spiegelglatte, nachtschwarze Wasserfläche hinaus. Die Soldaten liefen noch hin und her, um Ordnung zu schaffen. Aber bald herrschte völlige Ruhe an Bord. Die Dunkelheit hüllte Land und Wasser ein. Pfadfinder gesellte sich zu dem Mädchen. „Auf der ,Wolke' brauchen wir wohl nichts von den Mingos zu befürchten", meinte Mabel. „Dieser See ist nicht ohne Gefahren", antwortete der Jäger.
„Bleibt die ,Wolke' bei uns, wenn wir die Inseln erreicht haben?" „Das ist noch nicht bestimmt. Jasper läßt den Kutter nicht gern untätig liegen. Aber unter seiner Führung wird alles gut gehen, denn er findet auf dem Ontario eine Spur so sicher wie ein Delaware auf dem Lande." „Und warum ist unser Delaware, die ,Große Schlange', heute Nacht nicht bei uns?" „Er durchstreift mit einigen Leuten die Seeufer und wird auf den Inseln zu uns stoßen. Der Sergeant ist ein guter Soldat. Er deckt seinen Rücken, während er den Feind angeht." „Werden wir es denn mit Feinden zu tun haben?" fragte Mabel besorgt. „Vielleicht. Aber wenn es zum Kampfe kommt, werden wir euch schützen." Es war inzwischen so dunkel geworden, daß Mabel die Gesichtszüge des Jägers nicht mehr erkennen konnte. Pfadfinder wandte sich ab und blickte schweigend zu den Sternen empor. — Sergeant Dunham hatte sich bei Major Lundie gemeldet, um die letzten Anweisungen entgegenzunehmen. Der Kommandeur hörte sich den Bericht Dunhams an und fragte dann: „Haben Sie die Tornister der Leute untersucht?" „Alles in Ordnung, Euer Gnaden." „Ich gebe Euch unsere besten Männer mit, Sergeant Dunham. Wir versuchen es jetzt mit einer dritten Expedition. Bei den früheren kamen wir nie zum Ziel. Mag sein, daß die Leute auf der Station nicht geeignet waren, sich im Umkreis der Inseln genügend Respekt zu verschaffen. Wir haben dieses Unternehmen aber so gründlich vorbereitet, daß ich wohl hoffen darf, die lästigen Franzosen aus der Umgebung unseres Stützpunkts endgültig zu verdrängen. Allein von Euch und Pfadfinder hängt der Erfolg ab." „Seien Sie versichert, Sir, daß wir unser Bestes tun werden." „Was halten Sie von diesem Jasper? Ist er zuverlässig?" „Der Junge ist geprüft worden und leistet alles, was man von ihm verlangen kann." „Er trägt einen französischen Spitznamen, ,Eau douce', was ja wohl soviel wie Süßwasser bedeutet. Ist er denn französischer Abstammung?" „Keine Spur, Euer Gnaden. Sein Vater war ein alter Kamerad von mir, und seine Mutter stammt aus dieser Provinz." „Wie ich höre, spricht er aber Französisch." „Das ist schnell erklärt, Sir. Er wurde Seemann, und da wir keine Häfen am Ontario haben, verbrachte er die meiste Zeit auf der ändern Seite des Sees." Der Major schwieg eine Weile, dann fuhr er zögernd fort: „Ich will Euch etwas sagen, Sergeant. Ich habe kürzlich ein anonymes Schreiben erhalten, worin ich vor Jasper Western gewarnt wurde. Es heißt darin, daß er vom Feinde bestochen sei." „Briefe ohne Unterschrift sollte man ungelesen in den Papierkorb werfen", meinte Dunham. „Im Frieden, Dunham! Im Krieg aber ist es etwas anderes. Zum Beispiel hat man mir geschrieben, die Irokesen hätten eure Tochter und ihre Begleiter auf der Reise nur darum entwischen lassen, damit ich zu Jasper größeres Vertrauen gewänne, und die Herren in Frontenac legten größeren Wert darauf, die ,Wolke' nebst dem Sergeanten Dunham und seiner Mannschaft zu kapern, als ein Mädchen zu rauben und den Skalp ihres Onkels zu nehmen." „Ich glaube kein Wort, Major." „Dennoch möchte ich Euch raten, vorsichtig zu sein und diesem Jasper nicht zu viel Vertrauen zu schenken. Zieht lieber Pfadfinder zu Rate, auf ihn ist Verlaß." Der Sergeant ergriff die Hand, die ihm sein Vorgesetzter bot, und dann verließ Dunham das Fort und begab sich auf den Kutter. Mabel und ihre Begleiterin standen oben an Deck. Der Sergeant nahm Pfadfinder in die Heckkajüte und schloß die Tür. „Major Duncan hat einen anonymen Brief bekommen", berichtete er, „worin ihm mitgeteilt wurde, Jasper sei ein Verräter und werde von den Feinden bezahlt." Pfadfinder lachte schallend auf. „Das ist der größte Blödsinn, den ich je gehört habe.
Ich kenne Jasper von Jugend auf und weiß, daß er ebenso ehrlich ist wie ich. Ich werde nichts Böses von Jasper glauben, ehe ich mich nicht selbst davon überzeugt habe. Holt von mir aus euren Schwager und befragt ihn darüber. Mit Mißtrauen im Herzen schlafen ist gerade, als schliefe man mit Blei darin." Der Sergeant konnte zwar nicht begreifen, was sein Schwager mit dieser Sache zu tun haben sollte, aber er willigte ein und rief Cap herzu. Cap fühlte sich durch das entgegengebrachte Vertrauen außerordentlich geehrt und setzte seinen Ehrgeiz darein, mit kleinen, besonders scharfsinnigen Beobachtungen den Verdacht zu bestätigen. Zu einem Ergebnis kamen die drei nicht. Sie gingen mißmutig auseinander, und jeder nahm sich vor, Jasper zu beobachten. Der Kutter trieb langsam dahin. Jasper wartete auf den Landwind. Die Soldaten schliefen; außer den beiden Frauen und Leutnant Muir war niemand mehr an Deck. Der Quartiermeister versuchte, mit Mabel ein Gespräch zu führen, doch sie antwortete nur einsilbig. Die Segel waren gesetzt worden, und auf einmal erklang es wie ein Seufzen in der stillen Nacht. Der Mast ächzte, dann schwollen die Segel, und Jasper rief seinem ältesten Matrosen zu: „Der Wind, Anderson, nimm das Ruder!" Nach wenigen Minuten glitt die „Wolke" hinaus auf den See. Der Sergeant, Cap und Pfadfinder kamen aus der Heckkajüte und stiegen an Deck. Muir rief zu Jasper hinüber: „He, Bursche, Ihr habt doch nicht etwa Lust, zu unsern Nachbarn, den Franzosen, hinüberzufahren?" „Unter Land ist der Wind schwächer, Sir. Wir müssen die Mexikobay kreuzen; wenn wir den augenblicklichen Kurs weitersteuern, werden wir in ein Unwetter geraten." „Nur gut, daß es nicht die Bay von Mexiko ist", bemerkte Cap. „Die möchte ich nicht in Eurem Binnenschiffchen besuchen." „Ich hoffe", meinte Jasper, „daß wir diesen Landwind bis zu den Inseln behalten. Dann wird die Gefahr, von einem der französischen Boote gesehen und verfolgt zu werden, nicht mehr allzu groß sein." „Glaubt Ihr, die Franzosen hätten hier Spione?" fragte Pfadfinder. „Leider ja. Einer war Montagnacht vor Oswego. Ein Kanu hatte sich der östlichen Spitze genähert und einen Indianer und einen Offizier an Land gesetzt. Wenn ihr in jener Nacht wie sonst draußen gewesen wäret, hätten wir Gefangene machen können." Muir räusperte sich und ging ein paar Schritte auf und ab. „Na ja, das ist alles schön und gut", mischte sich Cap in das Gespräch ein. „Mich interessiert jetzt nur das eine: Woher wußtet Ihr, Jasper, daß in jener fraglichen Nacht Spione in unserer Nähe waren?" Dabei trat er seinem Schwager leicht auf den Fuß und
stieß den Jäger mit dem Ellenbogen an. Jasper plauderte nichtsahnend weiter: „Am ändern Tag fand die ,Große Schlange' die Spur — und zwar von einem Soldatenstiefel und einem Mokassin. Überdies sah einer unserer Soldaten am ändern Morgen das Kanu auf Frontenac zurudern." „Führte die Spur in die Nähe des Forts, Jasper?" fragte Pfadfinder. „Unserer Ansicht nach nicht, obgleich sie auch nicht über den Fluß ging. Man folgte ihr bis zur östlichen Spitze an der Mündung des Flusses, wo man sehen kann, was im Hafen geschieht. Über den Fluß aber führte sie nicht." „Und warum seid Ihr nicht sofort losgerudert und habt Jagd auf den Schurken gemacht?" fragte Cap. „Am Dienstagmorgen hatten wir einen steifen Wind, ihr hättet den Banditen leicht einholen können." „Auf dem Meer ist das wohl möglich", erwiderte Pfadfinder, „aber nicht auf so einem See, der tausend Schlupfwinkel hat." „Wenn man das verfolgte Boot von Deck aus sehen kann, dann weiß man auch, wo es sich versteckt", beharrte Cap ärgerlich. „Die Jagd auf ein Kanu ist meist erfolglos", wandte Jasper ein. Cap nahm seinen Schwager und Pfadfinder beiseite. Er versicherte ihnen, Jaspers Bemerkungen über die Spione seien „ein bedeutendes Indiz". Der Sergeant müsse jetzt besonders scharf aufpassen. Jasper sei über die beiden Spione so gut unterrichtet, daß man annehmen dürfe, er wisse noch mehr von ihnen. Der Sergeant war von den Worten seines Schwagers zwar keineswegs überzeugt, doch wurde er von jetzt an ein gewisses Mißtrauen nicht mehr los. Es wollte ihm lediglich nicht in den Sinn, daß sich Spione in so unmittelbarer Nähe des Forts herumgetrieben haben sollten, ohne daß er etwas davon erfahren hatte. Pfadfinder war nur ärgerlich, daß er erst jetzt von der Sache hörte. Aber er glaubte immer noch nicht an einen Verrat Jaspers, während die beiden ändern im Lauf des Gesprächs doch mißtrauisch geworden waren. Mabel saß auf der Kajütentreppe. Leutnant Muir war nach unten gegangen. Jasper stand mit gekreuzten Armen bei ihr und blickte hin» über zu den schattenhaften Umrissen des Ufers. „Wenn wir weiter so schnell vorankommen, werden wir ja unser Ziel bald erreicht haben", sagte Mabel zu Jasper. „Bei diesem Kurs kann es nicht mehr weit sein. Noch sechzig Meilen, dann kommen wir in den St. Lorenz-Strom. Auf diesem See ist keine Reise lang." „Ich sehe keinen so großen Unterschied zwischen dem Meer und dem Ontariosee." „Ihr seid schon auf dem Ozean gefahren? Dann könnt ihr ja vor einem Seemann wie mir keine große Achtung haben." Mabel lachte. „Da seid unbesorgt. Übrigens bin ich nie auf dem Meer gewesen, ich habe es nur gesehen." „Boot Ahoi!" hörten sie plötzlich Cap rufen. Jasper sprang nach vorn und sah ungefähr hundert Meter voraus. „Wir müssen es einholen", sagte er. „Der Bursche rudert wie ein Verrückter", stellte Pfadfinder fest. „Er glaubt, unsern Kurs kreuzen und uns entkommen zu können." „Luv halten!" rief Jasper dem Mann am Steuer zu. „Luv! So weit es geht — so — fest und dranbleiben!" Der Steuermann gehorchte. In zwei Minuten war das Kanu nahe in Lee. An ein Entkommen war nicht mehr zu denken. Jasper ging nun selbst ans Steuer und kam durch geschicktes und rasches Manövrieren dem gejagten Boot so nahe, daß man es mit einem Enterhaken heranholen konnte. Die zwei im Kanu sitzenden Personen erhielten Befehl, an Deck des Kutters zu kommen. Es waren Pfeilspitze und Junitau. Dieses unvermutete Wiedersehen erweckte bei allen großen Argwohn. Pfadfinder verhörte den Indianer, und der Tuscarora rechtfertigte seine Flucht beim Angriff der Mingo damit, er habe an seine eigene Sicherheit gedacht und sei mit seiner Frau in die Wälder geflüchtet. „Eure Worte sind ehrlich. Was Ihr sagt, ist recht und hört sich gut an. Warum aber ist mein Bruder dem Fort so lange ferngeblieben?" fragte Pfadfinder. Der Tuscarora legte seinen Finger auf Pfadfinders Schulter und antwortete: „Wenn das Reh dem Bock folgt, muß der Bock nicht dem Reh folgen? Junitau verirrte sich und mußte sich in einem fremden Wigwam ihr Mahl bereiten."
„Ich verstehe, Tuscarora. Eure Frau fiel also in die Hände der Mingos, und Pfeilspitze folgte ihrer Spur." „So ist es." „Und seit wann habt Ihr Eure Frau wieder? Wie wurde sie gerettet?" „Zwei Sonnen. Junitau zögerte nicht zu kommen, als ihr Mann ihr den Pfad zuflüsterte." „Gut — gut! Aber wie seid Ihr nun zu diesem Kanu gekommen, Tuscarora?" „Dieses Kanu gehört mir. Ich habe es am Ufer in der Nähe des Forts gefunden." „Aber seid Ihr denn nicht in das Fort gekommen?" „Pfadfinder weiß, daß sich ein Krieger schämen kann. Der Vater hätte mich nach seiner Tochter gefragt. Ich hätte sie ihm nicht geben können. Ich schickte Junitau nach dem Kanu. Niemand redete sie an." „Meines Bruders Rede fließt wie Wasser, welches bergab strömt. Aber eins wird er mir noch sagen: Warum steuerte meines Bruders Kanu den St. Lorenz-Strom an, wo er doch weiß, daß dort nur Feinde zu finden sind?"
Der Tuscarora lächelte und fragte zurück: „Warum fahren Pfadfinder und seine Freunde in dieser Richtung? Ein Tuscarora kann denselben Weg einschlagen wie ein Engländer. Pfeilspitze sah das große Kanu, und er blickt gern in das Gesicht Jaspers." „Genug, Pfeilspitze. Ihr seid bei uns willkommen." Pfadfinder berichtete den ändern von dem Gespräch mit dem Indianer und meinte, es dürfte angebracht sein, Vorsicht gegen Pfeilspitze zu üben. „Dieser Bursche muß sofort in Eisen gelegt werden", rief Cap. Bedächtig antwortete der Sergeant: „Das Klügste ist wohl, den merkwürdigen Gesellen festzuhalten. Hier auf dem Schiff brauchen wir ihn ja nicht zu fesseln. Morgen werden wir die Sache dann untersuchen." Die Wachen wurden ausgestellt. Die anderen gingen hinunter und begaben sich zur Ruhe. Nur Cap, der Sergeant, Jasper und zwei Matrosen blieben auf Deck. Stolz und schweigend stand der Indianer neben seiner Frau im Hintergrund. Auch der Sergeant wollte das Deck verlassen und sagte zu dem Tuscarora: „Ihr werdet unten einen Platz für Eure Frau finden. Ihr selbst könnt Euch auf einem Segel schlafen legen." „Die Tuscaroras sind nicht arm. Meine Frau wird meine Decken aus dem Kanu holen." „Wie Ihr wollt. Ihr könnt mit ihr gehen und uns die Ruder herauf= reichen", sagte der Sergeant und flüsterte dann Jasper zu: „Da es in der ,Wolke' schläfrige Augen geben könnte, dürfte es nichts schaden, wenn wir die Ruder in Verwahrung nehmen." Jasper nickte. Pfeilspitze und Junitau schienen nicht an Widerstand zu denken. Sie stiegen in das Kanu hinunter, und der Sergeant stand an der Bordwand und beobachtete, was die beiden da unten trieben. Ungeduldig drängte er: „Kommt nun endlich, Pfeilspitze, steigt herauf, hier ist meine Hand."
„Pfeilspitze kommt!" sagte der Tuscarora und trat zum Bug des Kanus. Blitzschnell zerschnitt sein scharfes Messer das Tau, mit dem sein Boot am Kutter vertäut gewesen war. Der Kutter schoß weiter, während die leichte Nußschale auf der Stelle liegenblieb. Das geschah alles so rasch, daß das Kanu bereits auf der Leeseite des Kutters lag, als der Sergeant merkte, was eigentlich geschehen war. „Hart Lee!" schrie Jasper. Der Kutter schoß in den Wind. Seine Leinwand flatterte, bis das leichte Fahrzeug etwa fünfzig Meter luvwärts von seiner früheren Stellung war. Aber der Tuscarora war schneller. Er hatte sein Ruder gefaßt, und sein Boot flog wie der Wind über die Wellen. „Er wird entkommen! Der Schurke rudert gerade windwärts. Wir können ihn unmöglich einholen", sagte Jasper. „Aber Ihr habt doch ein Kanu!" rief der Sergeant. „Auf das Wasser damit und Jagd gemacht!" „Das ist zwecklos", erklärte Jasper. „Wäre Pfadfinder auf Deck gewesen, so hätten wir vielleicht noch hoffen können. Aber so nicht. Die Zeit, die wir verlieren, bis das Kanu im Wasser ist, reicht dem Indianer, zu entkommen." Cap und der Sergeant sahen ein, daß Jasper recht hatte. Das Ufer war etwa fünfhundert Meter entfernt. Das Kanu würde das Land erreichen, ehe seine Verfolger den halben Weg zurückgelegt hätten. Die „Wolke" wendete und ging wieder auf den alten Kurs. Cap nahm den Sergeanten beiseite und flüsterte: „Hört mal her, Dunham. Für mich ist die Festnahme des Indianers ein Indiz. Und seine Flucht scheint mir auch eines zu sein. Die Entfernungen auf diesem Teich sind so gering, daß wir vor Tagesanbruch in einem französischen Hafen sein können. Ehe es Nacht wird, sind wir dann in einem französischen Gefängnis gelandet!" „Aber was soll ich tun?" fragte der Sergeant ratlos. „Meiner Meinung nach solltet ihr Jasper sofort verhaften lassen. Schickt ihn nach unten, stellt ihm eine Wache vor die Tür und über= tragt mir den Befehl über den Kutter! Ihr habt doch die Verantwortung." Sergeant Dunham dachte lange über diesen Vorschlag nach. Seine Menschenkenntnis hatte ihn nie betrogen, und er wollte von Jasper nicht schlecht denken. Andererseits mußte man sich vor der List der Franzosen sehr in acht nehmen. Es schien ihm auf jeden Fall besser, den Quartiermeister zu Rate zu ziehen. Er stand im Augenblick zwar nicht unter dessen Befehl, konnte ja aber immerhin seine Ansicht hören. Leutnant Muir war viel zu klug, um sich gegen den Onkel und den Vater des Mädchens, das er zu gewinnen hoffte, zu stellen. Er stimmte zu, den Befehl über den Kutter vorsichtshalber Cap zu übergeben. Der Sergeant wies Jasper ohne jede weitere Erklärung an, die Führung des Kutters an Cap abzutreten. Jasper fragte den Sergeanten erstaunt, ob er etwas falsch gemacht habe, oder aus welchem Grunde er ihm das Vertrauen entziehe. Dunham erwiderte, er könne aus militärischen Gründen nichts sagen. Den Verdacht, den er und Cap gegen den jungen Seemann hatten, deutete er mit keiner Silbe an. Jasper war lange genug an militärischen Gehorsam gewöhnt, um sich ohne Widerrede in sein Schicksal zu fügen. Er wies die Matrosen an, bis auf weiteres die Befehle Caps zu befolgen. Dann ging er mit seinem Lotsen, der ebenfalls abgelöst wurde, in den unteren Raum. Die Wache an der Luke erhielt Befehl, die beiden scharf zu bewachen. Aber diese Vorsicht war unnötig. Jasper und sein Lotse warfen sich auf ihr Lager und sanken sofort in tiefen Schlaf.
Cap und das Süßwasser Cap hatte also erreicht, was er wollte. „Und nun, lieber Schwager", sagte er, „werdet Ihr wohl so gut sein und mir alle Unterlagen geben, damit das Schiffchen den richtigen Weg findet." „Ich habe keine Unterlagen", knurrte Dunham. „Seht selber zu, wie ihr weiterkommt. Ich habe lediglich den Befehl, so schnell wie möglich auf den Tausendinseln zu sein." „Aber es muß doch irgendwo eine Karte sein!" „Jasper brauchte so was nicht. Er wußte, wie er zu fahren hatte."
„Alle Wetter noch mal! Glaubt Ihr denn, ich kann aus den tausend Inseln auch nur eine einzige herausfinden, wenn ich nicht einmal ihren Namen oder ihre Lage kenne?" „Vielleicht ist einer unter den Matrosen an Deck, der uns den Weg angeben kann." „Einen Augenblick mal! Jetzt habe ich das Kommando über dieses Fahrzeug, und zwar ohne daß ich mit dem Schiffskoch und dem Kajütenjungen Kriegsrat halte! Nein, Mann, wenn ich in diesem Tümpel versinke, dann versinke ich, aber der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht in Ehren untergehe!" „Ich habe nicht in Ehren unterzugehen, sondern da zu landen, wohin ich beordert bin!" brauste Dunham auf. „Na schön", meinte Cap, „dann wird mir wohl nichts weiter übrig» bleiben, als daß ich rund um die tausend Inseln herumsegle und Euch jede einzelne zeige. Dann könnt Ihr Euch die richtige aussuchen." Cap und sein Schwager gingen zum Steuermann, und Cap fing ein zwangloses Gespräch an. „Sagt mal, Ihr kennt doch die Gegend um die Tausendinseln herum?" „Nein, Mister Cap! Wir Matrosen wissen nicht mal ihre Namen." „Aber Ihr wißt doch wohl, ob wir da, wo wir hinsegeln, eine gute Reede haben?" „Aber Sir, woher soll ich das denn wissen?" „Habt Ihr denn dort noch nie Anker geworfen?" forschte Cap weiter. „Niemals. Mister Jasper hat immer am Ufer angelegt." Cap wurde nervös. „Gibt es denn auf den Inseln keinen Kirchturm, keinen Leuchtturm, die man anpeilen, nach denen man sich orientieren könnte? Es soll dort ein Fort sein!" „Da müßt Ihr Euch bei Sergeant Dunham erkundigen." Noch einmal versuchte Cap sein Heil. „Wo glaubt Ihr, daß wir bei der Insel am besten anlaufen?" „Ich weiß es nicht, Sir." „Ihr habt wohl immer am Ruder geschlafen!" „Nein, aber in der Vorderkajüte, wo ich meine Hängematte habe. Wenn wir landeten, schickte Jasper uns immer alle hinunter, mit Ausnahme des Lotsen. Keiner von uns weiß, wo die Reede ist." Cap trat mit seinem Schwager zur Seite und flüsterte ihm zu: „Wenn das kein Indiz ist! Auf dem ganzen Schiff ist niemand, von dem man etwas erfahren könnte. Wie, in Teufels Namen, soll ich jetzt den Weg zu dem Posten finden, zu dem wir beordert sind?" „Fragt den Mann am Ruder weiter aus. Vielleicht ist er gar nicht so dumm, wie er tut." Cap und Dunham kehrten zu dem Rudergänger zurück. „Wißt Ihr vielleicht die Länge und Breite der bewußten Insel?" fragte Cap freundlich. „Was, Sir?" entgegnete der Mann verständnislos. „Ich habe gesagt, ob Ihr die Länge und Breite der bewußten Insel kennt?" „Ich weiß wirklich nicht, was Ihr meint." „Ihr wißt nicht, was ich meine? Ihr wollt nicht wissen, was Breite ist?" brüllte Cap ihn an. „Nein, Sir", sagte der Mann ruhig. „Wißt Ihr denn wenigstens, was Länge heißt?" fuhr ihn Cap an. „Ja, Sir", antwortete der Mann freudestrahlend. „Ein Meter siebzig, die vorgeschriebene Länge für Soldaten im Dienste des Königs." „Da habt Ihr's, Sergeant", wandte sich Cap mit lautem Gelächter an seinen Schwager. „Bei dem Burschen ist Hopfen und Malz verloren. Ich will noch zwei Stunden auf diesem Kurs bleiben, dann werden wir ja sehen, was zu machen ist." „Ihr müßt's ja wissen!" meinte der Sergeant und ging auf die Seite, um sich aus einem Schiffssegel ein Lager zu bereiten; bald war er eingeschlafen. Cap aber wanderte ununterbrochen auf dem Deck auf und ab. In dieser Nacht schloß er seine Augen nicht eine Sekunde. Als Dunham erwachte, war es bereits heller Tag. Erschrocken fuhr er auf, als er sah, daß sich das Wetter völlig geändert hatte. Jagende Nebel verdeckten die Sicht. Der See tobte und schäumte. Cap berichtete, daß gegen Mitternacht, als sich vor ihnen eben die Inseln zeigten, der Wind völlig abgeflaut sei. Um ein Uhr sei er aus Nordosten gekommen und dann nordwärts und schließlich westwärts abgedreht. Seit drei Uhr habe man den schönsten Sturm.
„Ich muß schon sagen, Euer Boot hält sich gut, Sergeant", lobte der alte Seemann. „Wenn dieses Tümpelwasser wenigstens nach Salz schmecken würde, könnte man sich wie zu Hause fühlen." Der Sergeant fragte, wie lange Cap in dieser Richtung gesteuert sei und welche Geschwindigkeit das Schiff habe. „Zwei oder drei Stunden, denk' ich. In der ersten Zeit hatten wir gute Fahrt gemacht. Da drüben, hinter dem Nebel, liegen eure Tausendinseln. Aber die mögen ruhig da liegenbleiben. Mich interessieren sie nicht." „Hört mal zu, Schwager, ehe ich mein Kommando an den kanadischen Küsten scheitern lasse, rufe ich doch lieber den Jasper wieder hoch!" „Damit der Euch nach Frontenac zu den Franzosen bringt!" rief Cap lachend. „Nein, nein, Sergeant! Die ,Wolke' ist in guten Händen und wird jetzt mal richtige Seefahrerkunst lernen. Wir haben offenes Wasser vor uns, und wer jetzt eine Küste anlaufen wollte, müßte wahnsinnig sein. Überlaßt nur alles mir. Ich bin als guter Seemann bekannt." Der Kutter schaukelte und tanzte auf den tobenden Wogen. Außer Dunham und dem alten Seemann war kein Mensch mehr auf Deck zu sehen. Der aber war ganz zufrieden und schmauchte seine Pfeife. „Ich hätte nicht gedacht, daß Euer See so lebendig sein kann", sagte er zu seinem Schwager. „Ich fange fast an, das Süßwasser zu achten. Hoffentlich hält dieses Wetter noch vierundzwanzig Stunden an." „Ich bedanke mich dafür!" erwiderte der Sergeant, und in diesem Augenblick rief der Mann am Ausguck: „Land ahoi!" Wahrhaftig — durch den sturmgepeitschten Regen war Land zu sehen! Doch welche Enttäuschung: Es war das Fort, von dem sie aufgebrochen waren! Auf dem Wall stand der lange Major Duncan Lundie, umgeben von seinen Offizieren. Kurz darauf wimmelte der Wall von Soldaten. Wie dünner Nebel sprühte der Regen und stand gleich einem feinen, durchsichtigen Vorhang zwischen dem Fort und dem Kutter. „Die glauben bestimmt, wir kehrten wegen des Sturms zurück", sagte der Sergeant. „Jetzt aber schnell weg hier!" japste Cap. „Ich fühle mich bei solchem Wetter am glücklichsten, wenn ich weit und breit kein Land sehe." Der Kutter drehte landab. Das Schiff bekam eine derartige Geschwindigkeit, daß das Fort und seine neugierigen Zuschauer bald am Horizont entschwanden. Die „Wolke" hatte die offene See erreicht und hielt Kurs nach Norden. Stunden vergingen. Nichts änderte sich. Tief in der Nacht meinte Cap, er sei ungefähr in der Mitte zwischen beiden Ufern. Der Sturm hatte jetzt eine derartige Stärke erreicht, daß Cap zweifelte, ihm weiter widerstehen zu können. Mit erschütternder Wucht stürzten die Wogen über das kleine Fahrzeug, das bis in die Planken erzitterte. Die Matrosen fingen an, Vorwürfe gegen Cap zu erheben. Jasper kenne alle Flüsse, Vorberge und Buchten; er hätte längst den Kutter ans Ufer gebracht und einen sicheren Ankerplatz gefunden. „Haltet euer vorlautes Maul!" erboste sich Cap. Immer noch wies er es stolz von sich, den jungen Mann um Rat zu fragen. Eine Stunde nach Mitternacht waren alle Segel nur noch Fetzen. Als der Morgen graute, sah man immer noch nichts anderes als den wütenden, bis in seinen Grund aufgewühlten See. Am Frühstückstisch herrschte bedrücktes Schweigen. Heimlich und verstohlen streiften Cap vorwurfsvolle Blicke. Der aber thronte wie ein siegreicher Feldherr auf seinem Sessel. Sein Gesicht glänzte vor Zufriedenheit. Er ließ sich das Frühstück schmecken und stopfte sich dann lächelnd die kurze Pfeife. Dann stieg er wieder an Deck. Die Arme gekreuzt, stand er auf der Back. Plötzlich rief ein Matrose: „Ein Schiff!" und zeigte voraus in den Dunst. Wenige Kabellängen vor ihnen lag ein seetüchtiger Segler. Die „Wolke" flog geschwind auf das Schiff zu. Cap meinte anerkennend: „Der Bursche muß seine Position gut kennen." „Es ist ein Schiff des Königs von Frankreich, ,Le Montcalm'; es steuert den Niagara an. Dort liegt ein Fort mit einer Garnison", erklärte der Matrose. „Ein Feindschiff! Ein Franzose — wenn der einen Engländer sieht, flüchtet er natürlich in den Hafen." Die „Wolke" befand sich nun im Kielwasser des Franzosen. Die Entfernung zwischen beiden Schiffen betrug nur noch knapp hundert Meter. „Hart Backbord-Ruder!" rief Cap.
Die Besatzung des französischen Schiffes sammelte sich am Heck. Sie hoben die Gewehre. Doch glücklicherweise war der See so wild, daß auf beiden Seiten nicht an Schießen zu denken war. „Hart Backbord-Ruder!" rief Cap nochmals. Der Mann am Ruder gehorchte. Die nächste Woge jagte die „Wolke" dicht an den Franzosen heran. Sogar Cap trat einen Schritt zurück. Er war darauf gefaßt, daß sie den Segler rammen würde. Doch die „Wolke" schoß auf Handbreite am Feind vorüber. Der junge französische Kapitän der „Montcalm" zog seine Mütze und lächelte, als die „Wolke" vorübersauste. Cap aber hatte jetzt keinen Sinn für solche Höflichkeiten. „Schade, daß wir keine Kanonen an Bord haben! Sonst würde ich Euch ein paar fette Kugeln in den Wanst jagen!" schimpfte er. „Na, soll er sehen, wie weit er kommt. Wir wol= len dem Sturm trotzen wie echte englische Seeleute." Das klang ja ganz zuversichtlich, im Innern aber war Cap doch schon recht schwankend geworden. Die ganze Nacht lag der Kutter beigedreht. Trotz des Unwetters schlief Cap in dieser Nacht ausgezeichnet. Als der Morgen dämmerte, fühlte er, daß ihn jemand am Arm schüttelte. Er fuhr auf und sah Pfadfinder neben sich stehen. Der Jäger deutete wortlos leewärts und blickte den alten Seebären fragend an. Cap rieb sich die Augen und stierte in die angegebene Richtung. „Land, so wahr ich Cap heiße!" rief er dann. „Sogar Hochland! Und so eine schöne Brandungskette, wie man sie nur am Strand von Long Island findet." „Mir scheint, daß wir übel in der Tinte sitzen", sagte der Sergeant, der jetzt zu den beiden trat. „Die zwei Matrosen auf der Back meinen, daß es völlig sinnlos sei, noch Segel zu setzen. Die Abtrift sei so groß, daß wir in ein oder zwei Stunden ans Ufer getrieben würden. Es wäre doch wohl das beste, mal Jasper zu fragen, was jetzt zu tun sei. Hier brauchen wir keine Franzosen zu fürchten. Auf alle Fälle wird uns der Bursche, wenn irgend möglich, vor dem Ertrinken retten." Cap seufzte. „An allem sind nur die Indizien schuld. Na denn! Laßt den Burschen kommen." Jasper wurde geholt. Mit einem einzigen Blick erkannte er die Gefahr, in der sie sich befanden. „Ich habe Euch rufen lassen", sagte Cap würdevoll. „Ich denke, daß Ihr keine Lust habt, hier zu ertrinken, und Ihr werdet wohl Manns genug sein, uns zu helfen." „Lieber sterbe ich, ehe ich zulasse, daß Mabel Dunham ein Leid zustößt." „Das wußte ich doch", rief Pfadfinder und schlug Jasper auf die Schulter. „Unser Seemann ist so treu wie der beste Kompaß." Cap räusperte sich und fragte: „Ist Euch in Lee irgendein Hafen bekannt?" „Nein. An diesem Ende des Sees soll es eine große Bucht geben. Ich kenne sie aber nicht. Auch soll die Einfahrt sehr schwierig sein. Und im Norden und Westen gibt es nur Wald und Prärie." „Das ist schon viel wert. Dann können also auch keine Franzosen dort sein. Treiben sich in diesen Küstengegenden viele Wilde herum?" „Indianer findet man überall, mal wenig, mal mehr. Wenn man Pech hat, begegnet man ihnen eben." „Na schön — dann wollen wir das dem Zufall überlassen. Aber um offen mit Euch zu sprechen: Was würdet Ihr, Mister Western, jetzt mit dem Kutter anfangen?" Jasper antwortete bescheiden: „Ich bin ein viel jüngerer Seemann als Ihr, Mister Cap." Cap wurde ungeduldig. „Ja ja, das wissen wir! Das hier aber ist ein ungewöhnlicher Fall. Sprecht! Ich behalte mir mein Urteil vor." „Ich glaube, der Kutter muß innerhalb der nächsten zwei Stunden vor Anker gehen." „Vor Anker? Doch nicht etwa hier auf offener See?" „Nein, aber dort drüben, unter Land." „Wollt Ihr etwa behaupten, Mister Jasper, daß Ihr bei solchem Wetter ankern könnt?" „Ich würde es tun, wenn dadurch das Schiff zu retten wäre." „Ihr könnt gehen. Ist ja alles Unsinn!" Jasper verbeugte sich kurz und ging. In der Kajüte unten traf er Mabel. Er setzte sich neben sie und starrte finster vor sich hin. „Nehmt es Euch nicht allzu sehr zu Herzen", tröstete ihn das Mädchen. „Niemand, der Euch kennt, hält euch für schuldig." „Ihr glaubt also nicht, daß ich ein Verräter bin?" „Ich denke über Euch, wie ich über den Mann denken muß, der mir das Leben gerettet hat", sagte Mabel schlicht. „Glaubt Ihr, daß die ,Wolke' in Gefahr ist?" „Ich fürchte, ja."
„Aber man kann doch nicht zulassen, daß mein Onkel uns in seinem Eigensinn ins Unglück führt. Geht auf Deck, Jasper, und bittet meinen Vater, zu mir in die Kajüte zu kommen." Als Jasper hinausgegangen war, lauschte Mabel auf das Heulen des Sturmes. Zum erstenmal bekam sie Angst. Die kurze Zeit, die bis zur Ankunft des Sergeanten verging, erschien ihr wie eine Ewigkeit. Sie konnte kaum atmen vor Erregung, als sie ihrem Vater erklärte, Jasper sei kein Verräter. Sie bat ihn, ihren Onkel zu bewegen, daß er das Kommando über den Kutter wieder an den jungen Mann abtrete. „Du kennst doch deinen Onkel und seinen Dickschädel", sagte der Sergeant. „Wenn der an Bord ist, dann ist jedes Wort verloren, das man zu ihm spricht." „Auch wenn wir alle in Todesgefahr schweben, Vater?" „Dann erst recht. Außerdem läßt er sich von dem Verdacht gegen Jasper nicht abbringen." „Er soll wenigstens nach dem Lotsen schicken und dessen Meinung hören", schlug der junge Mann vor. „Er weiß ja, daß ich den Mann seit gestern Abend nicht mehr gesehen habe." „Das ist ein vernünftiger Gedanke. Kommt mit auf Deck." Mabel ging bis an die Treppe mit, um den Ausgang der Sache zu beobachten. Der Lotse erschien. Jeder bemerkte seinen bestürzten Blick, als er das verwüstete Deck betrat. Man ließ ihm Zeit, sich umzusehen. Dann wurde er gefragt, welchen Ausweg er unter den gegenwärtigen Umständen für den besten halte. Ohne Zögern antwortete er: „Wenn der Kutter gerettet werden soll, sehe ich kein anderes Mittel, als sofort vor Anker zu gehen." „Wie? Hier auf dem See?" fragte Cap. „Nein! Unter Land, genau an der äußeren Brandungslinie." Für Cap stand es fest, daß Jasper und der Pilot sich insgeheim verabredet hatten. Zu Dunham gewandt, meinte er: „Ich sage Euch, kein ehrlicher Seemann würde es wagen, so etwas auszusprechen. Es wäre reiner Wahnsinn, so nahe der Brandung zu ankern." „Das Schiff gehört Seiner Majestät, und ich bin für das Leben meiner Leute verantwortlich!" antwortete Dunham. „Diese Männer kennen den Ontariosee besser als wir. Ich glaube, wenn beide dasselbe sagen, dann sollten wir es beachten!" „Wir treiben so schnell auf die Brandung zu, daß wir nicht mehr viele Worte machen sollten", sagte Jasper. „In der nächsten halben Stunde entscheidet sich unser Schicksal — so oder so. Aber ich warne Euch, Cap! Keiner von uns wird auch nur einen Augenblick an Deck bleiben können, wenn wir in die Brandung kommen. Das Schiff wird voll Wasser laufen und sinken, ehe wir die zweite Brandungskette erreicht haben." „Und was soll da das Ankerwerfen nützen?" rief Cap wütend. „Wenn wir den Bug des Kutters seewärts drehen, vermindern wir die Abtrift. Selbst, wenn wir an die Brandung getrieben würden, so geschähe dies doch mit möglichst geringer Gefahr. Ich hoffe, Mister Cap, daß Ihr mir und dem Lotsen erlaubt, die Vorbereitungen zum Werfen der Anker zu treffen. Vorsicht kann allenfalls nützen, niemals schaden." „Na, meinetwegen, macht die Anker klar. Wir sind jetzt in einer Lage, wo es nicht mehr darauf ankommt." Der Regen hatte aufgehört, und plötzlich erstrahlte die Sonne. Der weiße Schaum der Brandung lag wie ein Vorhang vor dem Land, das man nur undeutlich erkennen konnte. Mit Hilfe einiger Soldaten ging Jasper sofort an die Arbeit. Die Anker waren bald klar zum Auswerfen. Jasper eilte nach achtern und nahm das Ruder in die Hand. Der Lotse stand bereit. Der letzte Fetzen Segel wurde geborgen. Jasper machte einige Manöver. Dann ließ er die Anker werfen und jedem soviel Kette wie möglich geben. Es war nicht schwer, mit einer guten Trosse ein so leichtes Fahrzeug zu halten. Es dauerte kaum zehn Minuten, da lag die „Wolke" mit dem Bug seewärts vor Anker. Mißtrauisch hatte Cap die Anordnungen Jaspers verfolgt. Jetzt rief er ärgerlich: „Das ist nicht richtig, Mister Jasper! Ich befehle Euch, zu kappen und den Kutter am Ufer auflaufen zu lassen!" Niemand kümmerte sich um diesen Befehl. Jasper hatte jetzt das Kommando, und seine Leute gehorchten nur ihm. „Werft ein Lot über Bord und meßt die Trift!" brüllte Cap.
Jasper gab diesen Befehl durch ein Zeichen weiter. Man gehorchte ihm augenblicklich. In atemloser Spannung warteten alle auf das Ergebnis. Nach zwei Minuten stellte man fest, daß der Kutter um seine eigene Länge gegen die Uferhöhen getrieben worden war. Jasper blickte besorgt. Nichts konnte das Schiff aufhalten, wenn es erst einmal im Strudel der Brandung war. „Verräter!" rief Cap und drohte dem jungen Mann mit der Faust. „Die Anker fassen noch nicht", erwiderte Jasper. „So? Und worauf verlaßt Ihr Euch sonst noch?" „Ich vertraue auf die Unterströmung. Sie drängt das Schiff wieder in den See. Ich hielt auf die Uferhöhen zu, weil ich weiß, daß sie hier stärker als anderswo ist. Nur so konnten wir uns dem Land nähern, ohne in die Brandung zu kommen." Cap brummte und fluchte. Endlich stellte der Mann am Lotblei fest, daß die Anker nicht mehr nachgaben. Das Schiff lag still. Das Lot wurde noch eine Weile beobachtet. Dann konnte einwandfrei festgestellt werden, daß der Kutter gerettet war. Nach einigen Stunden beruhigte sich das Wetter. Das heftige Rollen der Wellen hörte auf. Jasper ließ die Segel setzen, denn sobald der erwartete Landwind aufkommen würde, wollte er die Fahrt fortsetzen. Als die Sonne unterging, blies ein leichter Südwind. Langsam bewegte sich das Schiff parallel zum Ufer. Die Nacht war ruhig. Alle schliefen tief und ungestört. Jasper hatte wieder das Kommando über das Schiff, aber Cap führte die Oberaufsicht. Jasper war so klug und fügte sich. Er war überzeugt, das französische Schiff würde seinen Ankergrund bei Niagara verlassen und, sobald sich der Wind legte, in den See halten und nach dem Verbleib der „Wolke" sehen. Darum zog er das südliche Ufer vor. Hier würde ihn der Feind am wenigsten vermuten. Als es Tag wurde, erschien jedermann an Deck. Nach drei Richtungen sahen sie nichts als Wasser, das in der aufgehenden Sonne glitzerte. Nach Süden dehnte sich der endlose, dunkle Wald, der die Ufer des Ontario mit seinem Grün säumte. Plötzlich zeigte sich vor ihnen eine Bucht. Dann tauchten auf einem Bergvorsprung die festen Mauern eines schloßartigen Gebäudes auf. Bastionen, Blockhäuser und Palisaden lagen an der Mündung eines breiten Stromes. Gerade als die Besatzung das Fort erblickte, wurde die Fahne gehißt. Alle erkannten das weiße Banner Frankreichs. „Wahrhaftig, da flattert doch so ein schmutziges Bettuch in der Luft, und wir kleben uns an dieses verdammte Ufer!" rief Cap. „Weg da, Jasper! Was denkt Ihr Euch eigentlich, so dicht an Neu-Frankreich vorbeizufahren?" „Ich will möglichst unbemerkt an dem feindlichen Schiff vorbeikommen." Von einem frischen Wind getrieben, jagte die „Wolke" hurtig über das Wasser. Von der Mündung des Stromes her dröhnte ein dumpfes Brüllen. In regelmäßigen Zwischenräumen schwoll es wie die tiefen Töne einer ungeheuren Orgel an. „Der Niagara", erklärte Pfadfinder. Alle hielten den Atem an und lauschten dem gewaltigen Tosen. In diesem Augenblick wurde im Fort eine Kanone abgefeuert. Die Kugel pfiff über den Mast des Kutters hinweg. Jasper lächelte, als wäre ihm diese Begrüßung höchst gleichgültig. In der Strömung des Flusses, in die der Kutter jetzt geriet, konnte er schnell zum See hin abdrehen und so einer Beschießung entgehen. Sobald man den Fluß einsehen konnte, überzeugte sich Jasper, daß die „Montcalm" dort nicht Anker geworfen hatte. Weit und breit war kein Segel zu sehen. Sicher war Jaspers List gelungen. Den ganzen Tag über wehte der Wind in südlicher Richtung. In einer Entfernung von etwa einer Stunde vom Ufer verfolgte der Kutter seinen Kurs in völlig glattem Wasser. Bei Sonnenuntergang näherte er sich bereits dem Fort am Oswego. Der Sergeant wollte es anlaufen, um vom Major Duncan neue Befehle zu erbitten. Die ganze Nacht über hielt sich Jasper in der Nähe des Landes. Bei Tagesanbruch befand sich die „Wolke" bereits nicht mehr weit von der Mündung des Oswego. Plötzlich rief ein Matrose, daß er auf der Ostseite der Oswegomüdung ein Schiff sehe. Es war die „Montcalm", die offenbar auf die Ankunft des englischen Schiffes wartete. Die „Wolke" konnte nicht mehr an ihr vorbeikommen. Wenn das französische Schiff Segel setzte, überholte es den Kutter in wenigen Minuten. Es mußte rasch gehandelt werden.
Der Sergeant beriet sich mit Cap und Pfadfinder. Sie beschlossen, möglichst schnell die Station anzusegeln. Auf dem Fort war das Schiff jetzt bemerkt worden. Man feuerte Kanonen ab und hißte die Flaggen. Auf den Wällen drängten sich viele Menschen, die mit Händen und Tüchern winkten. Schmunzelnd meinte Cap: „Die denken wahrscheinlich, das ist die abgelöste Mannschaft, die jetzt von der Station zurückkommt." Bissig erwiderte Dunham: „Sie hätte es auch sein können, verehrter Schwager, wenn Ihr nicht Eure stürmische Lustfahrt auf dem See gemacht hättet." Die „Montcalm" feuerte aus fünf Kanonen, setzte alle verfügbaren Segel und nahm die Jagd auf. Stundenlang hetzte sie die „Wolke" über den See. Gegen Mittag kamen die ersten Inseln in Sicht. Jasper, den Cap immer noch scharf beobachtete, zeigte jetzt seine ganze Kunst. Er hielt auf die Inseln zu und nutzte geschickt den Wind aus. Bald verschwand die „Wolke" hinter der Inselbrücke und geriet dem Gegner aus den Augen.
Bei Sonnenuntergang erreichte der Kutter die erste Insel am Ausfluß des Sees. Bei Einbruch der Dämmerung lief er durch die engen Wasserstraßen auf die Station zu. Um neun Uhr verlangte Cap, man solle vor Anker gehen. Kein Mensch könne in dieser Wildnis noch etwas sehen, meinte er. Jasper willigte ein. Er hatte den Befehl, die Station so anzulaufen, daß niemand von der Mannschaft ihre genaue Lage erfahren sollte; denn nur so war sie gegen Verrat geschützt. Die „Wolke" segelte in eine kleine, abgelegene Bucht. Selbst am hellen Tage würde sie hier schwerlich entdeckt werden. Eine Wache wurde auf Deck ausgestellt. Alle ändern begaben sich zur Ruhe. Cap, den die vergangenen zwei Tage ziemlich mitgenommen hatten, schlief wie ein Stein. Er erwachte erst, als die Sonne schon wieder am Himmel stand. Rasch sprang er auf und eilte an Deck. Er stellte fest, daß die „Wolke" schon unter Segel war. Außer der Wache waren nur Jasper und der Lotse oben. Cap herrschte den jungen Steuermann an: „Was soll das, Jasper? Ihr wollt wohl in Frontenac einlaufen, während wir unten schlafen? Wieviel zahlen sie Euch denn dafür?" „Ich handle nach meinem Befehl, Mister Cap", entgegnete Jasper ruhig. „Major Duncan hat mir befohlen, mich der Station nur zu nähern, wenn alle Leute unter Deck sind. Er wünscht nicht, daß es auf diesem See mehr Lotsen gibt, als der Dienst des Königs es erfordert." Dagegen konnte Cap nichts einwenden. Inzwischen suchte Jasper bei gutem Wind und günstiger Strömung die Einfahrten. Sie waren stellenweise so eng, daß die „Wolke" Mühe hatte, hindurch zu kommen. Bei dem klaren Wasser brauchte man kein Lot. Cap jedoch war in ständiger Sorge, das Schiff könne irgendwo auflaufen. Verzweifelt rief der alte Seebär, als der Kutter die vierundzwanzigste Insel hinter sich ließ: „Ich will mit der ganzen Geschichte nichts mehr zu tun haben, Pfadfinder." Dieser lächelte nur und erwiderte ruhig: „Das braucht Ihr auch nicht. Wir kommen ohne Euch genauso ans Ziel."
In diesem Augenblick rief Jasper: „Laßt fallen Segel! Hart Backbord!" Nach wenigen Sekunden legte das Schiff an einem natürlichen Felskai an und wurde sofort vertäut. Die Station war erreicht. Die Leute des fünfundfünfzigsten Regiments wurden von der Ablösung freudig begrüßt. Als erste sprang Mabel ans Ufer. Dann folgten die ändern. Jasper ging an Mabels Seite zur Station. Er drückte ihre Hand und sagte: „Ihr wart mein guter Stern auf dieser Fahrt."
Belagerung im Blockhaus Das Eiland lag inmitten eines Labyrinths von etwa dreißig Inseln. Früher hatten die Indianer hier Lachse gefangen. Auf jener Hälfte der Insel, wo sich das Blockhaus, die „Station" genannt, befand, war der Wald abgeholzt worden. Bei einem etwaigen Angriff sollten die Feinde keine Deckung finden. Die Ufer aber waren mit dichtem Gebüsch bepflanzt, und so waren das Blockhaus und die unter Bäumen liegenden acht niedrigen Hütten, in denen die Offiziere und verheirateten Unteroffiziere wohnten, gegen Sicht vom See her geschützt. Das Blockhaus war aus starken, vierkantigen, fest ineinandergefügten Stämmen erbaut. Statt der Fenster besaß das Gebäude auf jeder Seite zehn schmale Schießscharten. Sie waren gerade groß genug, um Licht und Luft einzulassen. Die kleine, schwere Eingangstür war dicht mit Eisen beschlagen. Das Dach war ebenfalls mit behauenen Stämmen gedeckt, auf die man Rindenstücke genagelt hatte, um das Einsickern des Regens durch die Fugen zu verhindern. Im unteren Raum wurden Vorräte und Lebensmittel aufbewahrt. Das obere Stockwerk, ein einziger großer Saal, bot den Soldaten Unterkunft. Von hier aus wurde im Kampf das Haus auch verteidigt. Der Posten auf der Insel wurde abgelöst. Der Leutnant übergab Dunham das Kommando und segelte mit dem Kutter zum Fort zurück. Zur Vorsicht hatten ihm Cap, Dunham und Muir ihren Verdacht gegen Jasper, der das Schiff wieder führte, mitgeteilt. Dann führten Muir und der Sergeant eine längere Besprechung. Dunham hatte nämlich von dem abgelösten Leutnant erfahren, daß die Franzosen den mit ihnen verbündeten Indianern einige Boote mit Lebensmitteln und Pulver überlassen wollten. Diese Fahrzeuge wollte der Sergeant entern. Er ging mit Pfadfinder und Cap zu der Hütte, wo Mabel sich eingerichtet hatte, und sagte ihr, daß er noch in dieser Nacht mit der Mannschaft aufbrechen müsse, um eine wichtige Aufgabe durchzuführen. Pfadfinder werde sie dabei begleiten. Erschrocken rief das Mädchen: „Ihr wollt mich allein zurücklassen?" Der Sergeant beruhigte seine Tochter. „Aber nein, Onkel Cap, Quartiermeister Muir, Corporal McNab und drei Soldaten bleiben ja hier. Einer dieser Soldaten ist Sandy, dessen Frau Jenny mit dir in dieser Hütte wohnt." Der Abschied vom Vater und dem treuen Pfadfinder wurde dem Mädchen schwer. Sie weinte, als die Abteilung die Station verließ. Am nächsten Morgen ging sie am Strand spazieren. Plötzlich erstarrte sie: Genau auf sie zu kam eine vorsichtig nach allen Seiten spähende Indianerin! Doch ihr Schreck schwand schnell. Sie erkannte Junitau, die Frau des Tuscarora, die noch jünger war als die neunzehnjährige Mabel. Von Anfang an hatte Mabel Vertrauen zu ihr gehabt. Darum wartete sie ruhig das Näherkommen der Indianerin ab. „Junitau, wie ich mich freue, dich wiederzusehen!" sagte sie dann. „Was hast du auf dem Herzen?" Die Indianerin griff nach Mabels Hand und küßte sie. „Langsam sprechen, langsam — nicht verstehen!" Mabel wiederholte ihre Frage langsam. Ängstlich sah sich die Indianerin um und flüsterte: „Nicht hier! Bäume haben Ohren!" Mabel ging mit Junitau in ihre Hütte, die vom Platz aus nicht gesehen werden konnte. „Nun sprich, Junitau! Weshalb hast du dich hierhergewagt?" Die Indianerin überlegte eine Weile, dann sagte sie: „Blockhaus sicherer Ort für Weiber. Balken dicht. Indianer dort nicht bekommen Skalp."
„Ich verstehe, Junitau. Du willst uns vor einer drohenden Gefahr warnen. Willst du meinen Vater sprechen?" „Nicht hier — fortgegangen!" Mabel wurde es unbehaglich zumute. Wie gut die Frau Bescheid wußte! „Wie kommst du darauf? Die Soldaten sind doch noch hier!" Die Indianerin hob vier Finger. „Nicht alle! Nur so viel Rotröcke hier! Die ändern fort!" Mabel lief es kalt über den Rücken, als sie Junitaus genaue Kenntnisse von der Station feststellte. Mit zitternder Stimme fragte sie: „Und Pfadfinder? Möchtest du nicht in deiner eigenen Sprache mit ihm reden?" Lächelnd schüttelte die Indianerin den Kopf. „Pfadfinder auch fort. Nur Muir und alter Seemann noch hier. Darum Mabel Blockhaus schlafen. Blockhaus sehr gut." Mabel konnte kaum sprechen. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. „Junitau, ich werde tun, was du sagst. — Junitau, finden außer dir auch andere die Insel? Kennen die Irokesen sie?" „Tuscarora Pfeilspitze überall. Wenn er Junitau hier sehen, er sie töten!" „Wir glaubten immer, niemand wüßte von dieser Insel und dem Blockhaus." „Irokesen viel Augen — alles sehen!" Mabel schüttelte den Kopf. „Hier nützen keine Augen. Von außen sieht man nicht, daß hier Häuser stehen." Die Indianerin flüsterte: „Ein Mann kann reden! Englisch Mann französisch sprechen!" Mabel zuckte bei diesen Worten wie unter einem Schlag zusammen. Sollte Jasper doch? Aber sie konnte es nicht glauben. „Ich verstehe, einer unserer Leute hat verraten, was auf dieser Insel ist", sagte sie. Die Indianerin lachte. Für sie war Verrat eine Kriegslist und kein Verbrechen. Sie selbst wußte ja noch viel mehr von den Plänen der Krieger, davon aber verriet sie als treue Tochter ihres Stammes nichts. Sie wollte nur Mabel retten. Deshalb war sie gekommen. „Blaßgesicht nun wissen, daß Blockhaus gut für Mädchen. Männer und Krieger Junitau nicht kümmern!" Mabel war dem Weinen nahe. „Aber ich mache mir Sorgen um sie, Junitau!" rief sie. „Der eine ist mein Onkel, den ich liebe, und die ändern sind meine Landsleute und Freunde. Ich muß sie warnen!" „Dann Junitau sterben müssen", entgegnete die Indianerin ruhig. „Ich sage ihnen nicht, daß du hier warst. Aber ich werde sie dringend bitten, auch ins Blockhaus zu gehen." „Pfeilspitze dann Wahrheit wissen und Junitau töten", wiederholte die Indianerin und wandte sich zum Gehen. Mabel hob beschwörend die Hände und bat sie, noch einen Augenblick zu bleiben. „Wir sind doch Freundinnen. Ich werde nichts von deinem Besuch erzählen. Aber kannst du mir nicht ein Zeichen geben, damit ich weiß, wann Gefahr naht und ich ins Blockhaus gehen muß?" Die Indianerin dachte nach, dann schlug sie vor, sie wolle jetzt zum Kanu gehen, und Mabel solle ihr eine Taube bringen. Sobald die Taube fliege, sei es Zeit, denn dann komme Pfeilspitze. In einer der Hütten gab es in einem großen Käfig mehrere Tauben. Mabel fing eine von ihnen und ging damit zum Ufer. Junitau stand bereits im Boot und wartete. Hastig ergriff sie den Vogel, setzte ihn in ein Körbchen und warnte nochmals leise: „Blockhaus gut!" Dann ruderte sie geräuschlos davon. Mabel blickte ihr so lange nach, bis die treue Indianerin im Gebüsch der nächsten Insel verschwand. Langsam kehrte Mabel vom Ufer zurück. Am unteren Ast eines Baumes sah sie auf einmal ein kleines Stück roten Tuches flattern. Es schien von einer Schiffsflagge zu stammen. Das Mädchen begriff sofort, daß das Zeichen von der nächsten Insel gesehen werden konnte, und hielt es für ein Signal der Indianer. Entschlossen riß sie den Lappen ab und nahm ihn mit. Sie wollte zu Jenny, der Frau des Soldaten Sandy, um den geplanten Umzug ins Blockhaus durchzuführen. Da hielt sie ein Zuruf Muirs auf, der ihr den Weg vertrat und sie fragte, wo sie das Stück Tuch gefunden habe. Mabel erklärte es ihm.
Muir nahm den Tuchstreifen und betrachtete ihn lange. Schließlich sagte er: „Ihr habt recht. Mir kommt die Sache auch verdächtig vor. Vielleicht war es ein Signal für unsere Feinde." „Gewiß! Darum nahm ich es ja weg! Wir müssen es auf jeden Fall meinem Onkel erzählen." „Aber wozu?" erwiderte Muir. „Übrigens" — er betrachtete den Fetzen nochmals genau — „stammt das Tuch von einem Schiffswimpel. Dabei fällt mir ein, daß ich gestern Abend vor der Abfahrt der ,Wolke' am Hauptmast einen zerfetzten Wimpel flattern sah. Das wäre ein so wichtiger Verdacht gegen den Führer der , Wolke', daß man fast von einem Beweis sprechen könnte." Mabel erschrak und verabschiedete sich schnell. Muir folgte ihr mit den Blicken. Als sie verschwunden war, lief er zu dem Baum zurück und machte die Flagge wieder fest. Mabel beauftragte Jenny, sich auf einen längeren Aufenthalt im Blockhaus einzurichten. Dann ging sie zu Corporal McNab und schlug ihm ebenfalls vor, sich mit seinen paar Soldaten ins Blockhaus zurückzuziehen. Sie habe eine Ahnung, es drohe große Gefahr. Der alte Schotte lachte nur. „Was denkt Ihr, Miss Dunham? Wo soll die Gefahr denn plötzlich herkommen? Und wenn sie käme, würde ein alter Soldat ihr mutig ins Auge schauen, statt sich in ein . . ." Er konnte den Satz nicht mehr beenden. Von einer Kugel getroffen, stürzte er zu Boden. Wieder krachten Schüsse, und Mabel lief ins Block» haus. Atemlos rannte auch die zu Tode erschrockene Jenny herbei. Schnell verriegelten sie die Tür von innen und legten noch zwei Querbalken vor. Mabel eilte ins obere Stockwerk und blickte durch die
Schießscharte hinaus. Das Blut gerann ihr in den Adern: neben dem Korporal lagen die drei Soldaten tot am Boden. Als auch Jenny dies sah, schrie sie verzweifelt auf, rannte zur Tür, öffnete sie und stürzte zur Leiche Sandys, wo sie bewußtlos niedersank. Jetzt sprang Pfeilspitze aus dem Versteck hervor. Eine Schar Indianer folgte. Mit einem wuchtigen Hieb seines Tomahawks spaltete der Häuptling der ohnmächtigen Frau den Schädel. Zwei Minuten später hing ihr blutiger Skalp am Gürtel des Tuscarora. Auch die toten Soldaten wurden skalpiert. Dann wandten sich die Indianer dem Blockhaus zu. Jenny hatte die Tür offen gelassen. Voller Angst lief Mabel zur Treppe, um die Balken vorzuschieben. Da hörte sie die Angeln der Tür knarren und daß jemand die Querbalken vor die Tür legte. Erleichtert atmete sie auf: das konnten nur Onkel Cap und Muir sein! Aber dann erblickte sie am Fuß der Treppe das schwarze Haar und die dunkle Haut eines Indianers. Doch der tödliche Schreck wich erleichternder Freude. Es war Junitau! Mabel schloß die indianische Freundin in die Arme, glücklich, nicht mehr allein in diesem unheimlichen Haus sein zu müssen. Junitau lachte: „Blockhaus gut! Tuscarora nicht kriegen Skalp."
„Ich bin so froh, daß du da bist! Aber weißt du, was aus meinem Onkel geworden ist?" Junitau war verwundert. „Nicht hier im Blockhaus?" „Nein! Vielleicht ist auch er schon tot!" Das Mädchen schlug die Hände vors Gesicht und fing an zu weinen. Die Indianerin schüttelte den Kopf. „Nicht tot! Junitau würde sehen. Vielleicht versteckt." „Hoffentlich hast du recht", schluchzte Mabel. „Aber was soll nun aus mir werden? Deine Freunde glauben, mein Onkel und der Quartiermeister seien im Blockhaus. Sie werden es angreifen und niederbrennen!" Junitau lächelte. Das Holz des Blockhauses sei vom Regen naß und werde kaum brennen. Der rote Mann wolle das auch gar nicht. Wenn das Blockhaus fehle, würden die Heimkehrenden sofort merken, daß die Irokesen hier gewesen seien. Sie würden die Rückkehr des Vaters und der Soldaten abwarten, damit sie noch mehr Skalpe nehmen könnten. Ein heftiger Stoß polterte gegen die Tür des Blockhauses. Das Mädchen schrie auf: „Sie kommen! Sie kommen!" Sie hob leise das Brett von einer Schießscharte und lugte nach unten. Kreidebleich fuhr sie zurück. Vier Indianer standen unten. Ihr Anführer war Pfeilspitze. Junitau holte aus der Ecke eines der dort stehenden Gewehre und wollte die Mündung der Waffe durch die Schießscharte stecken. Die Tochter des Sergeanten hinderte sie daran. „Das darfst du nicht. Dein Mann steht unten. Du kannst doch nicht auf ihn schießen, Junitau." Die Indianerin lachte. Sie wolle nicht töten, sondern nur erschrecken. Der Schuß krachte. In heillosem Entsetzen stoben die Indianer davon. Mabel atmete auf. Doch schon im nächsten Augenblick kamen ihr neue Sorgen. „Was mag aus meinem Onkel geworden sein? Ob er noch lebt und in Sicherheit ist?" Junitau wollte hinausgehen und nachsehen. Sie erklärte, Pfeilspitze nehme seine Frau immer mit auf den Kriegspfad. Darum könne sie sich draußen zeigen, ohne Gefahr befürchten zu müssen. Bei diesen Worten kam Mabel der Gedanke, daß der Indianer sie durch seine Frau gewarnt haben könne, um sie lebend in seine Gewalt zu bekommen. Nochmals lugte sie durch eine Schießscharte, um zu sehen, ob jemand in der Nähe der Tür sei. Dann ließ sie Junitau hin» ausschlüpfen. Hinter ihr verschloß sie den Eingang wieder und stieg ins obere Stockwerk. Von hier aus konnte sie alle Vorgänge am besten beobachten. Stundenlang wartete Mabel auf die Rückkehr der Indianerin. Aber diese kehrte nicht zurück. Die Wilden veranstalteten ein Freudenmahl mit den in den Hütten gefundenen Vorräten und einem Fäßchen Branntwein. Je trunkener sie wurden, desto wüster ward ihr Geschrei. Mabel bemerkte zu ihrem grenzenlosen Erstaunen mitten unter den Rothäuten einen Weißen, der die Berauschten von ihren Angriffsabsichten zurückhielt. Mabel dachte, sich in der äußersten Not seinem Schutz anvertrauen zu können. Sie wußte, daß die Indianer Gefangene, die sie nicht töteten, in ihre Dörfer führten und in ihre Familien aufnahmen. Doch vor dem Gedanken, Pfeilspitzes Frau zu werden, schauderte sie entsetzt zurück. Der Abend dämmerte. Die Trunkenheit der Indianer steigerte sich zur Raserei. Sie schrien und tobten, als wären sie von tausend bösen Geistern besessen. Der Weiße, offenbar ein französischer Offizier, war machtlos. Um seiner eigenen Sicherheit willen verließ er die trunkenen roten Teufel. Da schlug einer der Berauschten vor, das Blockhaus niederzubrennen. Mit Geschrei stimmten die anderen zu. Sie schleppten ein paar noch unter der Asche glimmende Stämme vor die Tür, schichteten dürre Blätter, Reisig und Holz darauf und entfachten ein loderndes Feuer. Gierig leckten die Flammen am Haus empor. Die Indianer jubelten. Mabel hoffte immer noch, Pfeilspitze würde das letzte verhindern. Vergebens suchte sie ihn zu entdecken. Das Mädchen holte Wasser aus der Zisterne im Untergeschoß und goß es durch eine Schießscharte auf die bereits glimmenden Balken. Doch die Indianer kehrten sich nicht daran. Mit trunkenem Lallen torkelten sie zum Branntweinfaß zurück. Junitau beobachtete alles von einem Versteck aus. Als die Indianer sich vom Haus entfernt hatten, schlich sie herbei, riß die brennenden Holzscheite auseinander und begoß sie mit Wasser. Dann klopfte sie an die Tür.
Erfreut öffnete Mabel ihrer hilfreichen indianischen Freundin. ,Junitau, mein Schutzengel", rief sie, „weißt du etwas von meinem Onkel?" Die Indianerin schüttelte den Kopf. Niemand habe etwas von ihm gesehen und gehört, niemand wisse etwas von ihm. Mabel atmete auf. „Dann wird er wohl mit dem Quartiermeister entkommen sein. Aber ist nicht ein Franzose auf der Insel?" Die Indianerin bejahte. Ein französischer Kapitän sei da und viele, viele Indianer! Mabel fragte, ob Junitau nicht wisse, wie man den heimkehrenden Sergeanten warnen oder retten könne. Die Indianerin aber schüttelte den Kopf. Die Irokesen lauerten im Hinterhalt, aller Voraussicht nach würden die englischen Krieger ihren Skalp verlieren. Mabel schlugen vor Grauen die Zähne aufeinander. „Könnte ich denn nicht entkommen?" fragte sie. „Vielleicht sollte ich meinem Vater in einem Kahn entgegenrudern und ihm sagen, was hier geschehen ist?" Aber die Indianerin widersprach. „Nein, nein! Du nicht dürfen! Junitau Pfeilspitze rufen, wenn du gehen. Du Blockhaus bleiben. Sonst Skalp verlieren!" Mabel, die nicht wußte, was sie von Junitau halten sollte, versprach, nicht unbesonnen zu handeln. Dann verließ die Indianerin das Blockhaus. Hinter ihr schob Mabel die Riegel vor die Tür. Nun war sie wieder allein. Es wurde dunkel. Erschöpft schlief das Mädchen ein. Auch die völlig betrunkenen Indianer hatten sich dem Schlaf ergeben. Tiefes Schweigen herrschte auf der ganzen Insel. Mabel erwachte, als die Sonne schon hoch am Himmel stand, und spähte durch eine Schießscharte. Sie traute ihren Augen nicht, als sie den Korporal McNab und zwei Soldaten an dem erloschenen Feuer sitzen sah. Lange blickte sie hin, bis sie erkannte, daß die Indianer die Toten an das Feuer gesetzt hatten, damit Sergeant Dunham sie bei seiner Rückkehr sofort sehe und keinen Verdacht schöpfe. Die skalpierten Köpfe waren geschickt mit Mützen verdeckt. Einige Indianer kamen auf das Blockhaus zu. In ihrer Mitte führten sie Cap und Muir als Gefangene. Voraus schritt der französische Kapitän Sanglier, der Leiter des Unternehmens. Dicht vor dem Haus blieben sie stehen und schoben die beiden Gefangenen vor, um Mabel am Schießen zu hindern. „Mabel, hört mich an!" rief Quartiermeister Muir. „Wir müssen sterben, wenn Ihr nicht sofort das Blockhaus öffnet. Darum rettet unsere Kopfhaut und macht auf!" Mabel war ratlos. Was sollte sie tun? Nach allem, was sie am Tag zuvor erlebt hatte, mußte sie mit dem Schlimmsten rechnen. Konnte dies nicht eine List sein, um sie ebenfalls zu morden? „Onkel, was soll ich machen? Soll ich öffnen?" „Nur gut, daß du noch lebst!" antwortete Cap erleichtert. „Ich fürchtete schon, es sei dir wie der armen Jenny ergangen. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß meiner Kopfhaut recht unbehaglich zu= mute ist. Aber kümmere dich nicht darum. Ich hoffe doch, daß uns der französische Offizier wie Kriegsgefangene behandelt. Tut er es nicht, dann würde dich nur das gleiche Schicksal treffen, wenn du deinen sicheren Schlupfwinkel verließest." Der Quartiermeister unterbrach ihn: „Hört nicht auf diesen Narren! Das Unglück hat ihm den Verstand geraubt. Mabel, ich beschwöre euch! Macht schnell auf, sonst müßt Ihr die Verantwortung für alles übernehmen, was uns geschieht!" Der Ton, in dem Muir sprach, gefiel der Tochter des Sergeanten nicht. Es schien ihr, als glaubte der Quartiermeister selbst nicht an die Gefahr, von der er sprach. Sie rief darum: „Ich werde tun, was mir mein Onkel sagt." Muirs weitere Versuche, Mabel zum öffnen der Tür zu überreden, blieben erfolglos. Cap sagte nichts mehr. Das Mädchen schloß die Schießscharte wieder. Die Indianer sahen ein, daß sie nicht zum Ziel kamen, und zogen sich mit den Gefangenen zur Beratung zurück. Mabel war sich über ihre gefährliche Lage durchaus klar. Wenn die Indianer das Äußerste versuchten, konnten sie noch vor Dunhams Rückkehr das Blockhaus zerstören. Was ihr dann bevorstand, wußte sie. Mutlos stieg sie in das Dachgeschoß und von da aufs Dach, um Ausschau zu halten. Sie suchte mit ihren Augen die Insel ab, doch nirgends entdeckte sie ein Zeichen der Freunde. Aber da blieb ihr Blick an einem Boot auf einem der acht zwischen den Inseln befindlichen Flußarme hängen. Er war fast völlig vom Gebüsch verdeckt.
Sie nahm die am Dachfirst befestigte Flagge und schwenkte sie. Nach langer Zeit bemerkte sie, daß man auf sie aufmerksam geworden war. Ihr Zeichen wurde mit einem Ruder erwidert. Alsbald steuerten die Männer in dem Boot die Insel an. Zu seiner Freude erkannte das Mädchen in einem von ihnen Chingachgook. Beruhigt stieg Mabel nun in den unteren Raum des Blockhauses und nahm eine von den Pistolen an sich, die an der Wand hingen, um bei Überraschungen bewaffnet zu sein.
Rückkehr auf die Insel Die Dämmerung zog herauf. Durch eine der Schießscharten spähte Mabel zu den Indianern hinüber. Sie lagerten mit ihren beiden Gefangenen am Feuer und tranken. Jetzt wurde Mabel kühn. Trotz Junitaus Warnung beschloß sie, das Blockhaus zu verlassen. Sie wollte dem Mohikaner entgegengehen, um ihn zu warnen. Mit zitternden Händen schob sie den Riegel von der Tür zurück. Ihr Atem stockte, als sich die Angeln mit leisem Knarren bewegten. Als sie hinaustreten wollte, stand plötzlich eine dunkle Gestalt vor ihr! Kalter Angstschweiß bedeckte Mabels Stirn. Sie konnte keinen Laut hervorbringen. Die Gestalt überschritt die Schwelle und schob schweigend die Riegel am Tor vor. — Es war Pfadfinder, der vor ihr stand! Mabel war außer sich vor Freude. Nun hatte sie einen Gefährten, mit dem zusammen sie selbst der Hölle trotzen würde. Mabel mußte sich erst beruhigen, ehe sie ein Wort hervorbringen und nach dem Schicksal ihres Vaters fragen konnte. Daß Pfadfinder allein gekommen war, erweckte aufs neue ihre Sorge, daß dem Vater etwas zugestoßen sein könne. „Dem Sergeanten geht es gut", beruhigte sie der Jäger. „Unser Streifzug ist erfolgreich durchgeführt. Wir haben die Boote erobert. Dunham konnte nicht schnell genug mit ihnen zurückkommen. Darum schickte er mich und Chingachgook voraus. Wir sollten Euch unseren Sieg melden. Chingachgook und ich sind jeder einen anderen Fluß entlanggerudert. Wir wollten feststellen, ob irgendwo Gefahr drohe. Da sah ich einen von unseren Soldaten, der am Ufer saß und eifrig zu angeln schien. Aber der Mann hielt die Angel so hoch, daß kein Fisch anbeißen konnte. Außerdem bleibt kein Angler still, wenn er nichts fängt. Da sah ich dann, daß er tot, aber täuschend lebendig hingesetzt worden war." Mabel berichtete dem Jäger, daß sie soeben Chingachgook gesehen habe und ihn im Blockhaus erwarte. Pfadfinder schüttelte den Kopf. „Nein, Mabel, damit könnt Ihr nicht rechnen. Wer im Freien bleiben darf, versteckt sich nicht in den vier Wänden des Blockhauses. Ich selbst kam nur, weil ich Eure hilflose Lage kannte. Chingachgook wird sich auf den Weg machen, um Euren Vater rechtzeitig zu warnen." Das hörte Mabel mit großer Freude. Auf Chingachgook konnte sie sich ebenso fest verlassen wie auf Pfadfinder. Der Abend verlief ruhig. Die Indianer unternahmen nichts gegen das Blockhaus. Bei einbrechender Nacht glaubte Pfadfinder in der Ferne Ruderschläge zu hören. Er ging zur Tür und lauschte. Der erfahrene Jäger konnte bald unterscheiden, daß es sich um zwei Boote handelte, die dicht aufeinanderfolgten. Das mußten die Fahrzeuge Dunhams und seiner zurückkehrenden Mannschaft sein. Pfadfinder erklärte dem Mädchen, er wolle ihrem Vater entgegengehen. Doch Mabel weigerte sich hartnäckig, allein im Blockhaus zu bleiben, und so nahm sie der Jäger mit. Als die beiden das Blockhaus verlassen hatten, krachten plötzlich Gewehrschüsse. Mabel und ihr Begleiter blieben stehen und lauschten. Im nächsten Augenblick brach auf der ganzen Insel das Kriegsgeschrei der Indianer los. In der Dunkelheit war nicht zu erkennen, wo die Feinde waren. Pfadfinder faßte den Arm des Mädchens und zog es zum Blockhaus zurück, das er sofort fest verschloß. Auf einmal war das Geschrei verstummt. Angestrengt lauschte Mabel an einer der Schießscharten. Dann flüsterte sie: „Pfadfinder, ich höre ein Stöhnen. Vielleicht ist das mein Vater — verwundet — sterbend!"
Sie wollte die Tür aufmachen, aber Pfadfinder hinderte sie daran. Mit gedämpfter Stimme rief er durch eine der Schießscharten: „Wer ist draußen, Freund oder Feind?" „Ich bin's, Sergeant Dunham", kam die schwache Antwort. „Sagt nur schnell, was aus meiner Tochter geworden ist." „Vater, ich bin hier!" rief das Mädchen. Hastig wurde die Tür aufgeriegelt. Der schwerverwundete Sergeant, der an der Tür gelehnt hatte, stolperte ins Blockhaus. Weinend warf sich seine Tochter über ihn. Dunham drückte ihr die Hand. Zum Sprechen war er zu schwach. Pfadfinder trug ihn in den unteren Raum. Schnell machte er ein Strohlager zurecht und legte ihn nieder. Dann ging er hinaus. Das Mädchen sollte die Tränen in seinen Augen nicht sehen. Er hatte auf den ersten Blick erkannt, daß die Verwundung des Freundes tödlich war. Mabel zündete ein Licht an. Unverwandt blickte der Sergeant auf seine Tochter. „Welch ein Glück, daß sie wenigstens dir nichts getan haben", flüsterte er. Pfadfinder trat wieder zu dem Verwundeten, und berichtete ihm nun. „Wir sind verraten worden. Man hat dem Feind die Insel gezeigt." „Dann hatte Major Duncan also doch recht", stöhnte Dunham. „Nicht, wie Ihr denkt. Es gibt keine treuere Seele weit und breit als Jasper Western." Mabel, die neben dem Vater saß, blickte, unter Tränen lächelnd, zu dem Jäger auf. „Ich danke Euch, Pfadfinder!" Lange ruhten die Augen des Sergeanten auf seiner Tochter. Dann streckte er die Hand aus. Mabel nahm sie und küßte sie schluchzend. „Nicht weinen", flüsterte er. „Ich darf wie ein Soldat sterben. Major Lundie wird mich gerecht beurteilen. Pfadfinder, Ihr wißt, wie alles gekommen ist. Tretet beide näher." Er machte eine Pause. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn. Dann berichtete er, was geschehen war. Ohne auch nur das geringste von der Gefahr zu ahnen, seien sie auf der Insel gelandet. In der Nähe des Blockhauses habe sie plötzlich Gewehrfeuer überrascht. Die meisten Soldaten seien tot.
Mit Mühe sei er selbst bis zur Tür des Blockhauses gekrochen. — Der Sergeant schloß erschöpft die Augen. Da klopfte es an der Tür. Pfadfinder fragte, wer draußen sei. Cap antwortete, und der Riegel wurde zurückgeschoben. „Gott sei's gedankt!" rief der Seemann und trat ein. „Zum ersten Mal seit vierundzwanzig Stunden fühle ich mich wieder als unbestrittener Eigentümer meiner Kopfhaut!" Er erzählte, daß er den Wilden während des Gefechts entflohen sei und unbemerkt das Blockhaus erreicht habe. Von Zeit zu Zeit griff er nach seinem in Aalhaut gewickelten
Zopf, zog daran und überzeugte sich, daß er tatsächlich noch festsaß. Dann drückte er tiefbewegt die Hand des Schwerverwundeten. Er setzte sich an den Rand des Lagers und blickte niedergeschlagen auf den sterbenden Sergeanten. Pfadfinder hielt durch die Schießscharten nach allen Seiten Umschau. Dann kam er zurück und winkte Cap. Der Seemann erhob sich und trat mit dem Jäger zu einer Schießscharte. Vor dem Blockhaus standen die Indianer, in ihrer Mitte Muir. Dieser rief: „Kommt 'raus, Pfadfinder! Ich hörte, Ihr seid ins Blockhaus geflohen. Ich habe mit Euch zu reden!" Laut entgegnete Pfadfinder: „Was wollt Ihr von mir?" „Ich rate Euch, das Blockhaus zu übergeben. Die Indianer wollen Euch als Kriegsgefangene behandeln. Die Dinge stehen für Euch hoffnungslos. Die Mannschaften in den Booten sind gefangen. Und der Sergeant und Cap sind tot!" Da rief der Seemann durch die Schießscharte: „Da kann ich Euch bessere Auskunft geben. Ich bin frisch und munter wie ein Fisch im Wasser. Der Sergeant ist zwar verwundet, liegt aber hier im Blockhaus. An Übergabe ist nicht zu denken!" „Ich freue mich, daß Ihr noch lebt. Wenn Euch aber Euer Leben lieb ist, so übergebt das Blockhaus schleunigst, sonst schießen es die Indianer in Brand. Was Ihr zu erwarten habt, wißt Ihr wohl selbst am besten!" „Darauf wollen wir es gerne ankommen lassen", entgegnete Pfadfinder ruhig. „Sagt Euren roten Freunden, sie mögen schleunigst verschwinden, sonst mache ich ihnen mit meiner Flinte Beine!" Das ließen sich die Indianer nicht zweimal sagen. Vor Pfadfinder und seinem Gewehr hatten sie eine höllische Angst. Im Nu war der Platz vor dem Haus leer. Der Jäger und der Seemann eilten aufs Dach und kamen gerade zurecht, um einige brennende Pfeile aus der Rinde der Balken zu ziehen. Die Rothäute schössen noch weitere solcher Pfeile ab. Aber da im Blockhaus fünf gefüllte Wassertonnen standen, blieb das Unternehmen der Irokesen erfolglos. Aus Angst vor Pfadfinders scharfern Auge und treffsicherem Gewehr wagten sie sich nicht in Schußnähe. So verfloß der Rest der Nacht in voller Ruhe.
Entlarvung des Verräters Bei Sonnenaufgang stiegen der Jäger und der Seemann wieder aufs Dach, um zu sehen, was es Neues gebe. Aus alter Gewohnheit schaute Cap zuerst zum Wasser. Auf einmal rief er hocherfreut: „Segel ahoi!" Ein Schiff steuerte auf die Insel zu. „Die ,Wolke'! Nun nehmt euch in acht, Rothäute! Jetzt denkt lieber an eure Sicherheit als an unsere Skalpe!" „Nun fürchte ich nichts mehr!" sagte Pfadfinder. „Chingachgooks Boot liegt an Deck. Der Mohikaner ist wohl zur Garnison gerudert, um Meldung zu machen, traf dann unterwegs die ,Wolke' und brachte sie hierher. So wird es gewesen sein. Na, Mister Salzwasser, habt Ihr immer noch einen Verdacht gegen Jasper?" Cap schwieg und lächelte verlegen. Der Kutter kam rasch näher. Cap begrüßte die Ankommenden mit einem donnernden Hurra und schwenkte lebhaft seinen Hut. Jasper Western antwortete mit einem dreifachen Ruf, in den die Matrosen einstimmten. Weit und breit war keine Rothaut zu sehen. Schon längst hätte der Kutter von ihnen bemerkt werden müssen. Vielleicht wollten sie erst die Landung der Soldaten abwarten und sich dann auf die Ahnungslosen stürzen. Diesen Plan aber vereitelte ihnen Jasper. Er legte nicht an, sondern näherte sich dem Ufer nur so weit, daß er die hier liegenden Kanus der Indianer losreißen konnte. Dadurch zwang er die Irokesen, die Insel schwimmend zu verlassen. Die Indianer hatten dies aus ihren Verstecken beobachtet. Sie brüllten vor Wut laut auf und stürzten zum Ufer, um die Boote zu retten. Aber da empfing sie schon eine Gewehrsalve. Verwundete und Tote stürzten, und mit lautem Geheul zogen sich die Unverletzten in ihr Versteck zurück. Jetzt kannte Jasper auch ihren Schlupfwinkel im Gebüsch und steuerte den Kutter dicht heran. Die Haubitze an Bord der ,Wolke' wurde gerichtet. Mit ohrenbetäubendem Krach fuhr eine zischende Granate unter die Indianer, von denen mehrere verwundet wurden. Die noch laufen konnten, stoben davon und suchten neue Verstecke. Zum zweiten Mal
wurde die Haubitze geladen. Doch jetzt erschien, begleitet von dem französischen Offizier und Muir, Junitau mit einer weißen Fahne. Der Quartiermeister rief so laut, daß es im Blockhaus und auf dem Kutter zu hören war: „Die Indianer bitten um Frieden! Sie wollen die Gefangenen ausliefern, die Skalpe zurückgeben und die Insel räumen. Mehr kann man nicht verlangen. Euch gebührt der Siegesruhm. Macht ein Ende mit dem Blutvergießen!" Vom Dach des Blockhauses rief Pfadfinder zum Kutter hinüber: „Wollen wir das Angebot annehmen, Jasper? Sollen wir die Kerle ziehen lassen?" „Ich habe nichts einzuwenden. Aber Ihr, Mabel und Cap müßt darüber bestimmen. Euch haben die Rothäute am schlimmsten zu schaffen gemacht. Ich dagegen hatte nichts von ihnen zu leiden." In diesem Augenblick erschien Mabel auf dem Dach und rief: „Kein Blutvergießen mehr! Es ist genug!" „Gut!" antwortete Pfadfinder. „Mabels Wort soll gelten. Was haben Eure Freunde, die Franzosen und Indianer, vorzubringen, Leutnant Muir?" „Meine Freunde?" rief der Quartiermeister empört. „Wieso nennt Ihr des Königs Feinde meine Freunde? Etwa weil ich das Unglück hatte, in Gefangenschaft zu geraten?" „Redet nicht soviel", schnitt Pfadfinder ihm das Wort ab und gab die Bedingungen für die Friedensverhandlungen bekannt: Die Indianer mußten sich sechzig Meter vom Blockhaus in der Schußlinie des Kutters aufstellen, die gefangenen Soldaten des Sergeanten mußten aus der Höhle, in die sie gebracht worden waren, herausgeführt werden, die Rothäute sollten alle Waffen vor sich auf den Boden legen — dann erst durften sie auf den von Jasper erbeuteten Booten die Insel verlassen. Pfeilspitze, Junitau und der französische Kapitän, der mit dem Quartier* meister noch verschiedene Übergabebestimmungen zu ordnen hatte, blieben zurück. Ohne den Sergeanten zu fragen, übernahm Muir als Offizier das Kommando und erklärte Jasper zum Verräter. Schon hatten zwei Soldaten auf seinen Befehl den jungen Mann ergriffen und wollten ihm die Hände auf den Rücken fesseln. „Was soll das heißen?" rief da Pfadfinder und schob die Soldaten beiseite. „Ich habe es befohlen, Pfadfinder!" rief Muir. „Ich trage die Verantwortung. Ich hoffe, Ihr werdet es nicht wagen, Euch Befehlen zu widersetzen, die ein königlicher Offizier königlichen Soldaten gibt." „Spart Euch die Mühe. Ihr würdet keinen Beweis für die Schuld des jungen Mannes finden. Wer so tapfer wie Jasper gekämpft und unser Leben gerettet hat, kann kein Verräter sein — oder ich will nicht Pfadfinder heißen!" „Jasper ist ein französischer Spion, das hat mir Kapitän Sanglier mitgeteilt. Nur um Verrat üben zu können, hat er englische Dienste angenommen!" Jasper stand blaß hinter Muir. Er konnte kein Wort herausbringen. Am liebsten wäre er auf den Quartiermeister losgestürzt und hätte ihn zu Boden geschlagen. Aber der feige Muir verkroch sich nun hinter Pfadfinder und tobte: „Faßt den Verräter! Legt ihm Fesseln an! Er soll seine verdiente Strafe erhalten. Kapitän Sanglier und Pfeilspitze haben mir erzählt, Jasper sei ein Verräter!" Der Tuscarora hatte den Vorgang stumm verfolgt. Jetzt stürzte er mit drohend erhobenen Fäusten auf den Quartiermeister los und schrie: „Viele Lügen! Verräter lügt immer! Wo sind meine Krieger?" Muir wurde rot vor Wut und wich zurück. Pfeilspitze sprang auf ihn zu. Der bedrängte Quartiermeister zog den Degen. Aber der Tuscarora war schneller. Ein Messer, das er versteckt gehabt hatte, blitzte auf, dann stieß er es Muir bis an das Heft in die Brust. Muir brach stumm zusammen. Pfeilspitze sprang mit einem Siegesschrei in die Büsche. Doch Chingachgook setzte ihm nach und verfolgte ihn. — Entsetzt blickten die anderen auf das blutige Schauspiel. Nur der französische Kapitän blieb ruhig. Gleichgültig nahm er eine Prise Tabak, dann sagte er achselzuckend zu den Umstehenden: „Es ist aus mit ihm. Er hat sein Los verdient. Es gibt einen Schurken weniger auf der Welt." Auch diese Station sei durch Muir an die Feinde verraten worden, erzählte er. Um nicht gegen die Franzosen kämpfen zu müssen, habe er sich absichtlich gefangennehmen lassen. Der Kapitän schloß: „Ich mußte sein Geheimnis wahren, weil er mir noch gute
Dienste hätte leisten können. Nun aber, da er tot ist, darf ich nicht zulassen, daß ein Unschuldiger für ihn leidet. Man braucht den Spion, aber man verachtet ihn." Er beugte sich über die Leiche, griff in die Tasche des Toten und zog eine Börse heraus. Er schüttete ihren Inhalt auf die Erde. Mehrere französische Goldstücke rollten über den Boden. Die herumstehenden Soldaten bückten sich schnell und hoben sie auf. Verächtlich warf der Franzose die leere Börse weg und drehte sich um. Die Leiche des Verräters wurde weggetragen. Kapitän Sanglier berichtete, daß Muir schon bald nach seiner Ankunft im Fort Oswego den Franzosen seine Dienst angeboten habe. Er, der Kapitän, habe sich mehrmals heimlich mit dem Quartiermeister getroffen. Er sei sogar ein= mal eine Nacht bei Muir im Fort geblieben. Pfeilspitze habe die ständige Verbindung zwischen dem Engländer und ihm gehalten. Der Quartiermeister habe den anonymen Brief an Major Lundie verfaßt. Er habe ihn erst nach Frontenac geschickt, damit er dort abgeschrieben werde. Pfeilspitze habe den Brief dann nach Oswego befördert. Jasper Western sollte geopfert werden, um Muirs Verrat zu verbergen. Mit dem Skalp von Pfeilspitze am Gürtel kehrte Chingachgook zurück. Da begaben sich Pfadfinder, Cap und Jasper wieder ins Blockhaus. Aber Mabel kam den Männern schluchzend entgegen. Sie konnten ihrem Freunde Dunham nicht mehr den glücklichen Ausgang des Treffens und die erwiesene Unschuld Jaspers mitteilen. Sie konnten auch nicht mehr Abschied von ihm nehmen — Dunham war tot. Am nächsten Morgen standen drei Männer und ein Mädchen in tiefer Trauer vor einem frisch geschaufelten Grab unter einer großen Ulme. Mit ungeübten Händen ließen sie einen roh gezimmerten Sarg in die Erde hinab. Ein kleines Holzkreuz wurde auf dem Hügel errichtet. Darauf stand der Name des Toten. Schweigsam gingen Cap, Jasper und Mabel mit den vier überlebenden Soldaten zum Kutter. Jasper hatte den Arm um das trauernde Mädchen gelegt. Leicht und schnell glitt die „Wolke" über die Wogen des Sees. Pfadfinder und Chingachgook, die auf der Insel zurückblieben, standen am Ufer und sahen dem davoneilenden Schiff nach, bis es um die Landspitze bog und ihren Augen entschwand. Die beiden Freunde weilten noch mehrere Wochen auf dem völlig verlassenen Eiland und jagten in den Wäldern. Sie versorgten auch die Frau des Tuscarora mit Wildbret, denn die trauernde Junitau mochte das Grab des Häuptlings nicht verlassen. Als es Winter wurde, steckten sie eines Morgens das Blockhaus und die Hütten in Brand. Die Befestigung war jetzt wertlos, nachdem sie den Feinden bekannt geworden war. Gegen Mittag bestiegen sie ihre Kanus und ruderten zum Fort Oswego. Sie nahmen auch Junitau mit, die ihnen aber nur widerstrebend folgte. Nach einem Jahr heirateten Jasper und Mabel. Der Major, der stets seines ehrenvoll gefallenen Sergeanten gedachte, sorgte für beide wie ein Vater. Noch oft erinnerte er sich beschämt an das Unrecht, das er durch sein Mißtrauen an dem jungen Mann begangen hatte.
IV DIE ANSIEDLER Heimfahrt im Schlitten
Ein fast wolkenloser Himmel spannte sich über das winterliche Land. Hoher Schnee deckte Wiesen und Felder. Bäume, Sträucher und Felsen waren wie von einem silbernen Schleier umhüllt. Millionen winziger Eissplitter funkelten und flimmerten wie ein zartes Gewebe in der kalten Luft. In dem Gebirge, das sich im Nordwesten des Staates New York entlang zieht, wand sich der stark verschneite, schmale Weg um eine scharfe Felsenspitze. Auf seiner anderen Seite sicherten aufeinandergeschichtete Baumstämme die Straße vor einem steilen Abgrund. Es war kurz vor Weihnachten, im Jahre 1793, als ein Schlitten über diesen einsamen Weg glitt. Schnaubend zogen ihn zwei edle Pferde, deren Atem sie in eine dichte Dampfwolke hüllte. Auf ihren schwingenden Mähnen und wedelnden Schweifen lag ein hauchfeiner Reif. Ein junger Neger, dessen große, leuchtende Augen vor Kälte tränten, lenkte das Gespann. Aber er war doch frohen Muts, denn bald würde das Ziel erreicht sein. Hinten im Schlitten saß ein fünfundvierzigjähriger Mann, der sich tief in seinen weiten Pelzmantel verkrochen hatte. An seiner Fellmütze trug er einen Marderschwanz, der auf die Schulter herabfiel. Ihm zur Seite saß ein kaum zwanzigjähriges junges Mädchen. Die beiden Reisenden schwiegen. Lautlos glitt der Schlitten durch den Wald, in dem es zu dämmern begann. Zwischen den hohen Fichten bot sich ein Blick in das tiefe Tal. Kahle, schneebedeckte Baumkronen ragten aus ihm empor. Plötzlich hörten sie Hunde anschlagen. Der Mann fuhr empor und rief dem Neger zu: „Halt, Aggy! Da bellt doch Hektor. Wahrscheinlich hat Lederstrumpf einen Hirsch gejagt. Das gibt einen schönen Weihnachtsbraten, Elisabeth." Der Schlitten stand. Grinsend rieb sich der Schwarze die erstarrten Hände. Herr Marmaduke Temple warf den Mantel ab und sprang in den hohen Schnee. Kaum hatte er seine doppelläufige Flinte zwischen Kisten und Schachteln hervorgeholt, als auch schon ein starker Hirsch über den Weg sprang. Herrn Marmaduke Temple blieb nicht viel Zeit zum Zielen, und so verfehlten seine beiden Schüsse das Wild. Doch da krachte ein dritter Schuß aus dem Walde. Der Hirsch machte einen hohen Sprung und fiel dann tot in den Schnee. Gleich darauf traten zwei Männer zwischen den Fichtenstämmen hervor. Temple entschuldigte sich. „Wenn ich gewußt hätte, daß Ihr auf dem Anstand seid, Natty, hätte ich nicht geschossen. Aber ich fürchte, ich habe gar nicht getroffen?" Natty lachte. „Habt Ihr auch nicht, Richter! Wie kommt Ihr nur darauf, daß Ihr mit Eurer Vogelflinte einen Hirsch oder einen Bären zur Strecke bringen könntet!" „Laßt gut sein, Freund. Früher habe ich damit auch schon einen Hirsch geschossen." Herr Temple trat mit dem Jäger zu dem erlegten Wild. Er bückte sich und betrachtete es eingehend. Er zeigte auf Hals und Brust und wandte sich dann an Natty.
„Da! Zwei Schüsse! Einer dicht unter dem Kopf, der andere mitten ins Herz! Ich will bescheiden sein: aber einer davon stammt bestimmt von mir!" „Ist ja egal", meinte der Jäger mürrisch, „Hauptsache, daß wir Fleisch in der Pfanne haben." Er zog sein Messer aus der Lederscheide am Gürtel und schnitt dem Tier die Gurgel durch. Temple lachte. „So einfach ist die Sache nicht! Für ein paar Dollar kann ich mir einen erlegten Hirsch auch kaufen. Aber wer ihn schießt, hat die Ehre, auf der Mütze einen Hirschschwanz zu tragen." Natty seufzte: „Nun ja — das Wild wird jetzt selten. Früher konnte ich dreizehn Hirsche schießen, wenn ich nur vor die Tür meiner Hütte trat. Eine Nacht genügte, mir einen Bärenschinken zu verschaffen. Das Geheul der Wölfe sorgte schon dafür, daß ich wach blieb." Aufmerksam betrachtete Elisabeth den großen, hageren Jäger. Unter roten, buschigen Brauen leuchteten seine scharfen, grauen Augen. Da er ständig Rock und Hose aus Hirschleder trug, nannten ihn die Ansiedler Lederstrumpf. Der Richter wollte unbedingt die Frage klären, wer den Hirsch erlegt habe. Er rief Nattys jungen Begleiter als Schiedsrichter herbei, der wider aller Erwarten erklärte: „Den Hirsch habe ich geschossen!" Die drei untersuchten den Fichtenstamm, in dessen Richtung Temple gezielt hatte. Der junge Jäger fragte: „Mit wieviel Posten habt Ihr geschossen?" „Mit fünf!" Aufmerksam betrachtete Temple den Stamm, „Hier sind aber nur vier! Wo ist der fünfte, junger Freund? Ich denke, das sollte genügen, daß Ihr mir mein Recht an der Beute nicht abstreitet!" „Der fünfte? Ha!" Der junge Jäger lachte und schlug seinen Mantel zurück. Im Rock über seiner Schulter war ein blutiges Loch „Alle Wetter! Schnell in den Schlitten und zum nächsten Arzt", rief der Richter erschrocken. „Ich übernehme alle Kosten!" „Halb so schlimm! Laßt nur. Ich muß außerdem jetzt zu meinem Freund. Mir genügt es, wenn Ihr mein Recht auf das Wild anerkennt." „Gut. Im übrigen dürft Ihr von heute an in meinen Wäldern Wild schießen, soviel Ihr wollt. Bisher war Lederstrumpf der einzige, der dies Recht hatte. Ich kaufe den Hirsch. Hier", Temple reichte dem Jäger eine Banknote, „das ist für Euren und für meinen Schuß!" Der Jüngling lehnte das Geld ab. „Es tut mir leid, aber ich brauche den Hirsch selbst." Elisabeth stand im Schlitten auf. Trotz der Kälte warf sie den Mantel ab und rief dann herüber: „Ihr wollt meinen Vater gewiß nicht kränken. Er will Euch helfen. Steigt also ein und kommt mit, damit Ihr verbunden werden könnt." Auch Temple redete dem jungen Manne zu, mit ihm zu fahren. Die Wunde müsse von einem Arzt untersucht werden. Lederstrumpf lehnte sich auf seine Büchse, beobachtete die Verhandlung und wandte sich dann an seinen jungen Begleiter. „Es ist am besten, wenn Ihr mit nach Templeton geht. Meine Hand ist nicht mehr so sicher wie früher. Deshalb möchte ich Euch nicht die Kugel herausschneiden, wenn sie noch in der Wunde stecken sollte." Elisabeth hatte bereits Schachteln und Pakete beiseite geräumt und Platz für den jungen Jäger gemacht, der nun mit Herrn Temple einstieg. Der Neger warf den Hirsch auf das Gepäck hinten im Schlitten. Lederstrumpf lehnte das Angebot ab, mitzufahren. Er habe, wie er sagte, zu Hause zu tun. Der Arzt brauche nur die Kugel herauszuschneiden, weiter nichts. Er wolle dann die Wunde mit seinen Kräutern heilen. „Und noch eins. Wenn Ihr unterwegs den Indianer John trefft, nehmt ihn bitte mit. Er ist zwar alt, kann aber dem Arzt zur Hand gehen. Er kennt viele gute Mittel, die schon manche Quetschungen und manche Wunde schnell geheilt haben." Er wandte sich um und verschwand mit Hektor im Walde. Der Schlitten fuhr weiter. Temple musterte den Jüngling, der finster schweigend der schönen Elisabeth gegenübersaß. Nach einer Weile sagte der Richter: „Irgendwoher muß ich Euch kennen, aber Euren Namen weiß ich nicht." „Ich bin erst seit drei Wochen hier. Sie waren in dieser Zeit verreist."
„Stimmt. Aber das ändert nichts daran, daß ich Euch früher schon mal gesehen habe. Ich kann mich doch nicht so täuschen; sonst könnte ich mich ja unter vernünftigen Menschen gar nicht mehr sehen lassen?" Elisabeth lachte. „Aber natürlich, Väterchen. Das könnt Ihr immer noch eher als mit einer Vogelflinte einen Hirsch schießen." Ernst fuhr sie fort: „Wir haben mehr als einen Grund, Gott in unserem Abendgebet zu danken." Die Pferde witterten den Stall und liefen schneller. Vor den drei Men» sehen im Schlitten öffnete sich jetzt das Tal mit dem Dorf und Marmadukes Haus. Aus seinen vier Schornsteinen stiegen Rauchsäulen auf. Der Richter streckte die Hand aus und zeigte ins Tal hinunter. „Dies wird nun dein Haus fürs ganze Leben sein, Bess. Auch Euch, junger Mann, soll es gehören, wenn Ihr bei uns bleiben wollt." Elisabeth und der Jäger sahen sich an. Das Mädchen zeigte eine ab» weisende Miene. Der Jüngling lächelte spöttisch. Der Berg war steil und der Weg schmal. Der Neger zog die Zügel scharf an. Elisabeth schaute über das Tal, das sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen hatte. Im Norden dehnte sich eine glänzende Schneefläche zwischen Bergen mit schwarzen Fichtenwäldern. Im Westen erhob sich ein terrassenförmiges Gebirge. Unten im Tal lag an einem See das Dorf Templeton mit seinen etwa fünfzig Holzhäusern, unter denen vier stattliche Gebäude mit grünen Jalousien besonders ins Auge fielen. Mitten im Ort stand stolz das Haus des Richters in einem Obstgarten. Der Weg vom Haupttor zum Haus war auf beiden Seiten von Pappeln gesäumt. Sie waren erst kürzlich nach Amerika eingeführt worden. Das Gebäude, ein großer, viereckiger Steinbau, war von Richard Jones, einem Vetter des Richters, entworfen worden. Von ihm stammten auch die eigenartigen Verzierungen an Dach und Türen.
Begrüßung auf der Straße Der Schlitten glitt ins Tal hinab. An einer Biegung begegnete ihm ein anderer Schlitten, den vier Pferde den Berg heraufzogen. Überall am Geschirr hingen Glöckchen, die fröhlich bimmelten. In dem auffallenden Fahrzeug saßen vier Männer. Ein kleiner im Pelzmantel lenkte mit fester Hand die feurigen Rosse. Hinter ihm ein langer Hagerer, der zwei Mäntel und eine wollene Mütze trug und dessen Gesicht, aus dem zwei hell= blaue, glasklare Augen leuchteten, nur noch aus Haut und Knochen bestand; ihm gegenüber ein großer, plumper Mensch, von dem nur ein paar lebhafte, schwarze Augen zu sehen waren; und schließlich ein Mann mit schmalem Kopf und sanftem Blick, den lediglich ein einfacher, abgetragener schwarzer Überrock vor der Kälte schützte. Die Schlitten hatten sich einander so weit genähert, daß man sich durch Zurufe verständigen konnte. Der Kleine im Pelzmantel erhob seine Stimme und donnerte: „Weiche aus in den Steinbruch, Agamemnon, König der Griechen! Ich kann sonst nicht vorbei! Willkommen in der Heimat, Vetter Temple! Willkommen, schwarzäugige Elisabeth! Sieh her, Marmaduke! Ich empfange dich mit einer ausgesuchten Gesellschaft! Herr Le Quoi hatte nicht mal Zeit, seine einzige Mütze aufzusetzen. Der alte Fritz mußte seine geliebte Flasche stehenlassen, und Herr Grant ist noch nicht mit seiner Predigt fertig. Und die Pferde — ach ja, weil wir gerade von Pferden sprechen —, du mußt sie auf der Stelle verkaufen, Richter! Die Rappen tun nicht gut zusammen. Ich könnt' sie jetzt gerade loswerden." Lachend rief der Richter: „Verkaufe, was du willst, Dick. Nur meine Tochter und Haus und Hof mußt du mir lassen. Ach Fritz, lieber alter Freund! Der Siebzigjährige kommt dem Fünfundvierzigjährigen entgegen! Herr Le Quoi und Herr Grant, ich danke Euch für Eure Aufmerksamkeit. Meine Herren, dies ist meine Tochter! Eure Namen kennt sie schon." „Willkommen!" rief der älteste der Männer mit deutschem Akzent. „Ich hoffe, Fräulein Elisabeth wird dem alten Major Hartmann einen Kuß nicht verweigern." Er bekam ihn. Als die fröhliche Begrüßung vorüber war, begann Richard Jones, den Schlitten zu wenden. Dies war auf dem schmalen Weg nicht ganz ungefährlich. Die Hilfe, die ihm der Neger anbot, wies er stolz zurück. Alsbald jedoch versanken die Vorderpferde in einer
Schneewehe am Rand des Steinbruchs, drängten sich ängstlich gegen die Rappen des Richters und diese gegen den Schlitten, so daß das Gefährt plötzlich halb über dem vierzig Meter tiefen Abgrund schwebte. Entsetzt und voller Angst riefen und fluchten alle durcheinander und beschworen den Lenker, achtzugeben. Elisabeth stieß einen Schrei aus. Der Schwarze verzerrte das Gesicht vor Angst. Die völlig verschüchterten Tiere bäumten sich immer höher. Jeden Augenblick konnten sie in den Abgrund stürzen. Da sprang der junge Jäger, der während der Begrüßung schweigend dagesessen hatte, aus dem Schlitten und griff in die Zügel. Er beruhigte die widerspenstigen Grauschimmel und führte sie auf den Weg zurück. Kaum schien jedoch der Schlitten außer Gefahr, da sackte er auch schon auf der andern Seite in eine Mulde und kippte in den tiefen Schnee. Der Deutsche und der geistliche Herr lagen plötzlich auf der Straße, Richard Jones flog in einen Schneehaufen, wobei er die Zügel krampfhaft festhielt, und der Franzose landete kopfüber in einer Schneewehe. Major Hartmann stand als erster wieder auf den Beinen. „Zum Teufel noch mal, Richard, Ihr habt wirklich eine komische Art, Euren Schlitten auszuladen!" „Ihr habt noch Glück gehabt! Wäre ich nicht so geistesgegenwärtig gewesen ...", polterte Richard Jones. „Deine Geistesgegenwart!" spottete Marmaduke. „Wenn dieser junge Mann nicht im letzten Augenblick zugegriffen hätte — ich möchte nicht wissen, was dann aus dir und uns allen geworden wäre!" In aller Eile wurden aus Temples Schlitten die Pakete und der Hirsch ausgeladen, um Platz für die vier Männer zu schaffen. Der Neger mußte die Sachen in Richard Jones' Gefährt verstauen. Und dann kutschierte Jones den Schlitten des Richters zum Dorf hinab, und der Neger folgte mit dem ändern Gefährt.
Empfang in Templeton Der Weg führte über die Brücke eines schmalen Flusses mitten nach Templeton hinein. Die frühe Dämmerung des Dezembertages lag wie ein Schleier über dem gefrorenen See. Die dunklen Gestalten der heimkehrenden Holzfäller mit der Axt auf der Schulter, die vor Marmaduke ehrfürchtig die Mütze zogen, waren kaum noch zu erkennen. Endlich trabten die Pferde durch das offene Tor und die kahle Pappelallee und blieben vor dem steinernen Haus stehen. In der Tür standen drei Mädchen, die Dienstboten des Hauses. Sie sprangen sofort herbei und halfen den Reisenden aus dem Schlitten. Da trat aus dem Eingang ein großer, vierschrötiger Mann. Er trug einen groben, hellen Rock, auf dessen talergroßen Knöpfen mächtige Anker zu sehen waren. Die langen Schöße reichten ihm fast bis an die Waden. Weste und Hose aus rotem Plüsch waren schon recht abgetragen. Dieser merkwürdige Mann behauptete, Engländer zu sein und aus Cornwall zu stammen. Er schien eine recht
abenteuerliche Vergangenheit gehabt zu haben, ehe ihn Richard Jones im Hause des Richters als Verwalter anstellte. Eigentlich hieß er Benjamin Penguillan, wurde aber wegen seiner sonderbaren Geschichte, die er nur zu gern erzählte, Ben Pump genannt. Er rühmte sich nämlich nach dem Siege des Admirals Rodney, sein Schiff durch fortgesetztes Pumpen gerettet zu haben. Neben Benjamin stand Remarkable Pettybone, eine Frau in mittleren Jahren, deren Haut gelb war vom allzu eifrigen Gebrauch des Schnupftabaks. Als Haushälterin hatte sie die Dienstmädchen zu beaufsichtigen, und außerdem war sie Spinnerin. Sie kannte Elisabeth noch nicht, denn sie war erst ins Haus gekommen, als der Richter nach dem Tode seiner Frau die Tochter nach New York geschickt hatte. Zu guter Letzt beschloß ein stattlicher Boxer den Empfang. Sein Halsband trug die Buchstaben M. T. Langsam und würdevoll stieg er die Stufen hinunter und ging auf seinen Herrn zu. Die Gesellschaft begab sich in den großen Saal des Hauses, wo zwei Kerzen in hohen Leuchtern spärliches Licht spendeten. Ein gewaltiger eiserner Ofen mitten im Raum verbreitete eine bedrückende Hitze. Dicke Teppiche bedeckten den Boden. In die beiden Längswände waren je zwei Nischen eingelassen, in denen auf hohen Sockeln schwarz gestrichene Gipsbüsten von Homer, Shakespeare, Franklin und Washington standen. Mit lautem Peitschenknall trat Richard Jones ein und rief: „Ben Pump, was ist das für eine Wirtschaft! Empfängt man so eine Erbin — unsere Elisabeth? Stecke augenblicklich alle Lichter an, damit man sich überhaupt sehen kann! Hier, Vetter Temple, dein Hirsch! Was soll damit werden?" Ben Pump zündete die Wand= und Kronleuchter an, und alsbald erstrahlte der Saal in hellem Lichterglanz. Die Angekommenen schälten sich aus ihren vielen Mänteln heraus. Elisabeth in blauem Reitkleid und der ganzen Anmut und Schönheit der Jugend war sofort der viel= bewunderte Mittelpunkt der Gesellschaft. Voller Neid und Angst erkannte die Haushälterin, daß nun die Zeit ihrer Herrschaft zu Ende sei. Neugierig sah sich das junge Mädchen in dem großen Raum um. Schließlich fiel ihr Blick auch auf den jungen Jäger, der in einer Ecke bei der Tür stand und die Mütze bescheiden in der Hand hielt. Und dennoch verriet seine Haltung einen gewissen Stolz. „Aber Vater! Wir vergessen ja ganz den fremden Herrn! Seine Wunde muß doch behandelt werden!" Das Gespräch verstummte. Alle sahen jetzt zu dem Jüngling hin. „Meine Wunde ist nicht so wichtig. Übrigens hat ja wohl Richter Temple bereits jemanden zum Arzt geschickt."
Doktor Todd und John Mohegan Doktor Todd war ein großer, schmalschultriger Mann mit langem, dünnem Hals, so daß er wie ein Storch aussah. Er war der jüngere Sohn eines Pächters im westlichen Massachusetts, hatte sich aber nie mit Arbeiten in Feld und Wald herumgequält. Kaum hatte er lesen und schreiben gelernt, wurde er schon einem Dorf Chirurgen in die Lehre gegeben. Etwa nach einem Jahr durfte er mit einem stumpfen Messer rasieren gehen. Bei dieser Beschäftigung gewohnte er sich an den Anblick fließenden Blutes. Nach einem weiteren Jahr wurde er mündig. Der junge Arzt verfügte über Ausdauer und Wagemut. An herumziehenden Landstreichern probierte er seine Kunst aus und wußte bald über alle Krankheiten Bescheid. Sein Hauptgebiet waren die Hautkrankheiten. Gerade diese kamen in den neuen Ansiedlungen am häufigsten vor. In der Chirurgie freilich war er weniger bewandert. Der Richter begrüßte ihn freundlich. Der junge Jäger hatte schon den Mantel ausgezogen, zögerte aber, in Elisabeths Gegenwart auch den Rock abzulegen. „Ach was", sagte Doktor Todd, „hier ist es hell, und ich brauche Licht. Da wird auf nichts anderes Rücksicht genommen!" Elisabeth verließ den Saal. Die anderen bildeten einen Kreis um den Arzt und sein Opfer. Major Hartmann paffte erwartungsvoll dicke Rauchwolken aus seiner Pfeife. Todd hatte noch nie eine Schußwunde gesehen. Durch zahlreiche überflüssige Verrichtungen suchte er Zeit zu gewinnen und sich an den neuen Umstand zu gewöhnen.
Der junge Jäger hatte Arm und Schulter frei gemacht. Todd betrachtete die Wunde und atmete erleichtert auf. Sie war nicht so gefährlich, wie er sie sich vorgestellt hatte. Er wurde mutig und näherte sich mit einer Sonde. „Weg damit!" rief der Verwundete ärgerlich und stieß die Hand des Arztes zurück. „Die Kugel sitzt hinten unter dem Schulterblatt. Ich fühle sie, und Ihr braucht sie nur herauszuschneiden." „Natürlich, natürlich", beeilte sich Todd zuzustimmen und legte die Sonde weg. Richard Jones mußte den Arm des jungen Mannes halten. Todd machte den Einschnitt, und die Kugel lag offen vor ihm. Er hätte sie nur wegzunehmen brauchen. Aber er suchte nach einer Zange, um ganz vorschriftsmäßig zu verfahren. Da schüttelte sich der Jäger, und die Kugel fiel zu Boden. Ohne daß die anderen es bemerkten, hob Todd sie auf und verbarg sie in seiner Hand. „Großartig haben Sie das gemacht, lieber Doktor!" trompetete Jones. „Meinen Dank", knurrte der junge Jäger. „Aber jetzt kommt einer, dem ich das übrige überlassen möchte", sagte er dann laut. Alles blickte zur Tür. Der Indianer John trat ein. Er war erst vor einigen Monaten in der Gegend von Templeton auf» getaucht, und seitdem hielt er sich stets an der Seite von Lederstrumpf. Natty rief ihn bei seinem Indianernamen: Chingachgook. Die Ansiedler nannten ihn jedoch einfach John Mohegan. Seine Kleidung war halb europäisch, halb indianisch. Eine Fülle langer schwarzer Haare hing ihm über Stirn und Wangen. Seine kleinen, dunklen, stechenden Augen glänzten im Scheine der Lichter. Er warf seine wollene Decke ab und ging auf den jungen Jäger zu. Auf der bloßen Brust schimmerte eine silberne Münze mit dem Bilde Washingtons, die er an einem Lederriemen um den Hals gehängt hatte. In der Hand trug er ein buntbemaltes Körbchen. Als der Richter ihn begrüßt hatte, untersuchte der Indianer eingehend die Wunde des Jägers.
„Der junge Mann hält mehr von dir als von der Kunst unseres Doktor Todd", sagte Herr Marmaduke. „Miquons Kinder sehen nicht gern Blut", erwiderte Mohegan mit tiefer, leiser Stimme. Er sprach ein leidliches Englisch. „Und doch ist der Junge Adler von einer Hand getroffen worden, die sich hüten sollte Unheil anzurichten!" ' Erschrocken sah der Richter den Indianer an. „Aber John! Glaubst du denn, ich habe den jungen Mann absichtlich angeschossen?"
„Oft lebt der böse Geist im besten Herzen. Aber ich sehe, mein Bruder spricht die Wahrheit, er ist unschuldig." Fest blickte John den Richter an. Dieser ergriff die dargebotene Hand des Indianers mit wohlwollendem Lächeln. Dann verband Mohegan rasch die Wunde, nachdem er einen Brei aus zerstampften und mit Saft von Waldpflanzen getränkten Baumrinden daraufgestrichen hatte. „Ich möchte die Zeit der Herren nicht länger in Anspruch nehmen", sagte der junge Jäger, als er verbunden war. „Ich hätte nur noch gern mit Ihnen, Herr Temple, Ihre Ansprüche an das Wild geregelt." „Da gibt's nichts mehr zu regeln. Ihr seid der rechtmäßige Besitzer. Außerdem stehe ich noch in Eurer Schuld. Kommt morgen früh wieder vorbei, da können wir alles miteinander besprechen. — Elisabeth", sagte er zu seiner Tochter, die inzwischen wieder in den Saal gekommen war, „laß dem jungen Mann ein Abendessen bringen, ehe wir in die Kirche gehen, Aggy soll für ihn den Schlitten bereithalten." Der Jüngling widersprach, obwohl es ihn Überwindung kostete: „Ich kann aber nicht ohne den Hirsch weggehen. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich das Wild haben muß." Ein wenig verärgert rief der Richter: „Na gut. Benjamin, sorge dafür, daß der Hirsch auf den Schlitten geworfen wird. Nun sagt mir wenigstens vorher noch Euren Namen, damit ich Euch morgen anreden kann, wenn Ihr wiederkommt." „Ich heiße Oliver Eduard." „Wir haben Euch Schmerzen zugefügt. Ihr würdet meinen Vater kränken, wenn Ihr seinen Versuch, alles wiedergutzumachen, so schroff zurückwies. Er würde sich freuen, Euch morgen hier zu sehen." Der Jäger blickte das schöne Mädchen an. Dann verbeugte er sich und sagte: „Ich werde morgen den Richter Temple besuchen. Zum Zeichen unserer Freundschaft nehme ich das Angebot mit dem Schlitten an." Der Jäger zögerte kurz, verbeugte sich nochmals und verließ zusammen mit dem Indianer rasch das Zimmer. „Merkwürdig, daß dieser junge Mensch seinen Groll nicht überwinden kann. Hoffentlich ist er morgen zugänglicher. — Nun aber, meine Herrschaften, wollen wir ins Nebenzimmer gehen und zu Abend essen!"
Tischgesellschaft am Heiligen Abend Im Eßzimmer standen um einen schweren Eichentisch zwölf grüne Armstühle. Ihre Polster waren mit einem halbseidenen Stoff überzogen. Im Kamin prasselte ein helles Feuer von Zuckerahorn. Darüber hing an der Wand ein großer Spiegel mit vergoldetem Rahmen. Ärgerlich wandte sich der Richter an Vetter Richard. „Wie oft habe ich verboten, mit Zuckerahorn zu heizen! Es ist eine wahre Schande, so leichtsinnig das schönste und edelste Holz zu vergeuden, wo es doch genug andere Bäume gibt!" „Lieber Vetter", entgegnete Richard Jones, „es ist heute ausnahmsweise geschehen — zum würdigen Empfang meiner schönen Nichte." Richter Temple ließ die Entschuldigung gelten und wies die Plätze an. Elisabeth saß oben an der Tafel, ihr gegenüber Richard Jones, dem die Aufgabe des Vorschneidens übertragen wurde. Ein Tischtuch von feinstem Damast deckte die Tafel. Das Geschirr war aus echtem Porzellan, in Amerika damals noch eine Seltenheit. Messer und Gabeln waren aus schönem Stahl und hatten elfenbeinerne Griffe. Vor Elisabeth stand ein großer gebratener Truthahn, vor Richard Jones ein gekochter. Ein silberner Aufsatz in der Mitte der Tafel war von vier Schüsseln umgeben, die ein Frikassee von grauen Eichhörnchen, gebackenem Fisch, gesottenem Fisch und gedämpftem Wildbret enthielten. Zwischen Schüsseln und Truthähnen lockten auf der einen Seite ein gewaltiger Bärenrücken, auf der anderen eine große, geschmorte Hammelkeule. Überall waren Gemüseschalen, Zinnteller mit Kuchenpyramiden und Kannen mit Branntwein, Rum, Wacholderschnaps, Wein und Bier verteilt.
Es schmeckte allen vorzüglich. Ein jeder langte nach Herzenslust zu, und bald war das Gespräch auf den jungen Jäger gekommen. Richard Jones erzählte: „Ich habe ihn schon ein paar Mal mit Natty getroffen. Er spricht auffallend gewählt. Nur von Pferden versteht er nichts!" „Aber Richard!" beschwichtigte der Richter, „du tust dem jungen Mann Unrecht. Ich finde, er hat sich sehr geschickt und geistesgegenwärtig verhalten. Stimmt's Bess?" Elisabeth errötete. „O ja! Er war sehr besonnen und mutig." „Der Junge ist in Ordnung", versicherte Major Hartmann. „Er hat uns das Leben gerettet! Darum soll er auch stets ein Bett haben, solange der alte Fritz eins hat. Vielleicht aber kann uns Benjamin noch etwas über ihn erzählen." Der Hausmeister berichtete, daß der junge Jäger immer mit Natty Bumppo zusammen durch die Wälder streife und ein hervorragender Schütze sei. Er wohne nahe bei Nattys Hütte. Es seien jedoch nicht mehr als drei Wochen her, daß man ihn zum erstenmal hier gesehen habe. Sie hätten einen Wolf erlegt, den Bumppo sehr geschickt skalpiert habe. Böse Zungen behaupteten, er habe das an Menschenköpfen erlernt. Der Richter widersprach ernst. „Du darfst nicht alles glauben, was über Natty geschwatzt wird. Er hat das Recht, sich seinen Lebensunterhalt in meinen Wäldern zu suchen. Wer ihn daran hindern will, bekommt es mit mir zu tun!" Im gleichen Augenblick erklang eine Schiffsglocke. Es war Zeit zum Gottesdienst. Der Geistliche erhob sich und sprach das Tischgebet. Dann brachen sie zur Kirche auf.
Streiflichter auf Templeton Nach der Hinrichtung des französischen Königs Ludwig XVI. im Januar 1793 begann in Frankreich die blutige Verfolgung all derer, die bisher dem Königtum treu ergeben waren. Viele Tausende von Franzosen flohen damals aus ihrer Heimat und aus den Kolonien in fremde Länder. So kam auch Herr Le Quoi in die Vereinigten Staaten. Ein angesehenes Handelshaus in New York hatte ihn dem Richter Temple empfohlen. Dieser nahm den Heimatlosen gern bei sich auf. Mit seiner Unter* Stützung konnte Le Quoi einen kleinen Handel anfangen. In seinem Lädchen verkaufte er Schnittwaren, Gewürze, Tee, Tabak, Nägel, Schlösser, Kupfergeschirr, Tonkrüge und sogar Luxusartikel wie Spiegel und Mundharmonikas. Durch seinen klugen Kaufmannsverstand und seine galanten Umgangsformen war Herr Le Quoi bald ein wohlhabender Mann geworden und galt nächst dem Richter Temple im ganzen Umkreis als bedeutende Persönlichkeit. Aus ganz anderem Holz war der Major Friedrich oder Fritz Hartmann geschnitzt. Sein Großvater war wie viele andere Deutsche dazumal unter der Regierung der Königin Anna vom Ufer des Rheins zum Ufer des Mohawk gezogen. Fritz Hartmann war wortkarg, dickköpfig und gegen Fremde mißtrauisch. Viermal im Jahr verließ er sein niedriges Steinhaus am Mohawk und reiste sechzig Kilometer am Fluß entlang durch die Berge nach Templeton, um seinen Freund Marmaduke zu besuchen. Gewöhnlich blieb er eine Woche und zechte wacker mit Richard Jones. Durch sein offenes, gerades Wesen hatte er bald alle Herzen gewonnen. Als die Gäste jetzt zur Kirche aufbrachen, glitt ihr Schlitten durch die kleine Stadt und auf ein merkwürdiges Gebäude zu. Einst hatte es eine „Akademie" werden sollen, doch heute war es nicht mehr als eine Volksschule, in der auch Gericht und an Sonn- und Feiertagen Gottesdienst gehalten wurde. Auf dem Glockenturm, der an der oberen Hälfte einer in der Mitte geteilten Kugel glich, grüßte als Wetterfahne ein Fisch. Aber er hatte noch nie die Richtung des Windes angezeigt. Herr Grant sollte heute seinen ersten Gottesdienst in Templeton halten. Er war erst vor kurzem hierhergekommen, und Marmaduke hatte ihn herzlich gebeten, als Geistlicher dazubleiben. Die Einwohner waren recht neugierig auf ihren Pfarrer und sahen seiner Weihnachtspredigt erwartungsvoll entgegen. In dem schmucklosen Saal standen Reihen grob gearbeiteter Bänke für die Besucher. In der Mitte war aus rohem Holz ein Verschlag gezimmert. Er stellte die Kanzel dar. Als Altar diente ein kleiner Mahagonitisch mit einer Damastdecke aus dem Herrenhaus. In die Ritzen und Spalten der Wände waren Fichten» und Tannenzweige gesteckt. Fünfzehn
Kerzen beleuchteten schwach den langen, düsteren Raum. Ein kräftiges Feuer in den zwei großen Öfen sorgte für eine angenehme Wärme. Der Richter und seine Tochter nahmen jetzt vorn bei der Kanzel Platz. Außer Doktor Todd maßte sich niemand an, sich in dieser vornehmen Umgebung niederzulassen. Richard amtierte als Küster, und Benjamin stellte sich als Feuerwache neben den einen der Öfen. Eine bunt zusammengewürfelte Gemeinde saß hier beieinander. Männer und Frauen hatten ihre besten Gewänder angezogen, die meist aus derben, selbstgewebten Stoffen gearbeitet waren. Andächtig und aufmerksam warteten die Menschen, unter denen so manches Gesicht unvergeßlich blieb: Dort, der Pockennarbige mit den roten Wangen, den langen Beinen und dem engen Rock war bestimmt ein englischer Emigrant. Und der Blasse da hinten, der mit den scharf geschnittenen Zügen und starken Backenknochen war sicherlich ein Schotte. Jener kleine Schwarzäugige mit der dunklen Haut sah zwar aus wie ein Spanier, er stammte jedoch aus Irland und hatte sich erst vor kurzem als Kaufmann in Templeton niedergelassen. Es gab kaum ein Volk Nord- und Mitteleuropas, das hier nicht vertreten gewesen wäre. Elisabeth spürte, daß man nach ihr schaute. Sie wagte kaum aufzublicken. Allmählich verstummte die Gemeinde. Nur das Feuer prasselte. Alles blickte erwartungsvoll den neuen Geistlichen an. Da plötzlich ein Stampfen und Scharren, als schüttele jemand Schnee von den Schuhen. Gleich darauf erschienen John Mohegan, Lederstrumpf und der junge Jäger. Ihr Kommen erregte Aufsehen. Würdevoll schritt der Indianer durch die Menge und setzte sich bedenkenlos neben den Richter. Natty ließ sich auf einen Stapel Holz neben dem Ofen nieder, die Büchse zwischen den Knien. Der junge Jäger fand noch einen Platz in einer der Bankreihen. Herr Grant erhob sich und eröffnete den Gottesdienst mit den Worten: „Der Herr ist in seinem heiligen Tempel, laßt die ganze Erde vor Ihm schweigen." Jones stand auf und gab damit der Gemeinde das Zeichen, sich zu erheben. Dann las Herr Grant die Bitten der Liturgie. Die volle, mit« reißende Stimme des Pfarrers füllte den Raum. Plötzlich verließ Richard, dem etwas Wichtiges eingefallen war, auf Zehenspitzen den Saal. Herr Grant las weiter, doch er erhielt keine Antwort, weil Richard, der Küster, hinausgegangen war. Grant dehnte die kurzen, feierlichen Pausen nach jeder Bitte mehr und mehr aus, aber er bekam immer noch keine Antwort. Elisabeth bewegte unhörbar die Lippen. Auf einmal vernahm sie in der bedrückenden Stille eine sanfte, weibliche Stimme, die dem Prediger leise nachsprach: „Wir haben ungelassen getan solche Dinge, die wir hätten tun sollen!" Erstaunt wandte sich Miss Temple um und blickte in das Gesicht eines jungen Mädchens, das in der Bankreihe hinter ihr kniete und andächtig seinen Kopf über das Gebetbuch senkte. Die Fremde war schlank und zart, ihr Gesicht blaß und ein wenig schwermütig, sonst aber lieblich und anziehend. Nun erklang auch eine schöne männliche Stimme vom ändern Ende des Saales. Es war die des jungen Jägers. Elisabeth kämpfte ihre Schüchternheit nieder. Leise und bebend sprach sie mit. Bevor der Geistliche zum Schluß kam, kehrte Richard zurück und übernahm wieder mit starker Stimme die Antworten. Herr Grant schloß seine Predigt mit den Worten: „Meine liebe Gemeinde! Wenn wir bedenken, wie verschieden die Menschen sind, so brauchen wir uns nicht zu wundern, daß auch so ganz verschiedene Glaubensformen aus einer Religion entstehen konnten, deren Offenbarung durch viele Jahrhunderte hindurch verdunkelt wurde. Für uns, liebe Brüder und Schwestern, entspringt der Brunnen der göttlichen Liebe aus einer so reinen Quelle, daß sie nie getrübt werden kann. Ich spreche nicht allein von der christlichen Liebe, die uns lehrt, den Bedrängten zu helfen und die Leidenden zu trösten, sondern von der Forderung, alle Menschen zu lieben, gerecht zu richten und niemanden zu verdammen. Möge Gottes unermeßliche Weisheit uns beistehen, daß sie uns allen, die ihre Gebote befolgen, auch in Zukunft zum Segen sei." Still und aufmerksam hatte die Gemeinde zugehört. Nachdem Herr Grant den Segen erteilt hatte, ging jeder in sich gekehrt aus dem Saal.
Im Pfarrhaus Herr Grant stellte dem Richter und Elisabeth die junge Fremde als seine Tochter Luise vor. Sie begrüßten sich herzlich. Die beiden Mädchen fanden sofort Gefallen aneinander. Nach zehn Minuten hatten sie bereits gemeinsame Pläne für den Winter gemacht. Die Unterhaltung wurde durch Richard unterbrochen. Er hatte das Feuer in den Öfen gelöscht und trat zu der kleinen Gruppe. „Wir können wohl zufrieden sein, Herr Grant. Der Gottesdienst ist gut verlaufen, auch ohne Orgel. — Aber, meine Herren, wir wollen gehen. Der Schlitten wartet. Gute Nacht allerseits. Und vergeßt nicht, Euch morgen zum Mittagessen unter dem korinthischen Säulendach einzufinden." Man ging auseinander. Nur der alte John Mohegan saß noch auf seinem Platz, den Kopf in die wollene Decke gehüllt. Er schien angestrengt nachzudenken. Auch Natty hockte noch auf seinem Holzscheit. Mit Rücksicht auf den Häuptling, dem er stets die größte Achtung bewies, war er sitzengeblieben. Er wirkte unzufrieden. Der junge Jäger stand vor dem gelöschten Ofen und wartete. Der Saal hatte sich geleert, nur der Geistliche und seine Tochter waren noch da. Jetzt erhob sich John. Er warf die Decke zurück, strich das dichte, schwarze Haar aus dem Gesicht und ging mit ausgestreckter Hand auf den Prediger zu. „Ich danke dir, Vater!" sagte er feierlich. „Die Worte, die du nach Mondaufgang gesprochen hast, sind aufwärts gestiegen, und der Große Geist ist zufrieden. Was du gesagt hast, werden deine Kinder behalten." Er straffte sich und fügte hinzu: „Sollte es Chingachgook beschieden sein, der aufgehenden Sonne entgegen zu seinem Stamme zurückzukehren, und sollte der Große Geist ihn mit Atem in der Brust über Seen und Berge geleiten, so will er seinem Volke von deinen guten Worten erzählen, und es wird ihm glauben."
„Mohegan, überlasse es der Güte und Barmherzigkeit Gottes", sagte Herr Grant. Dann wandte er sich an Eduard: „Euch, junger Mann, dem ich die Rettung meines Lebens verdanke, sage ich herzlichen Dank, daß Ihr mir heute in einem Augenblick peinlicher Verlegenheit hilfreich bei= gestanden habt. Es ist eine Seltenheit, wenn man hier in den Wäldern einen Mann Eures Alters findet, der die Liturgie genau kennt." Bescheiden erwiderte Eduard: „Meine Vorfahren und ich sind in den Bräuchen der Kirche erzogen worden. Ich habe bisher noch an keinem Gottesdienst anderer Konfession teilgenommen." Der Geistliche drückte dem Jüngling die Hand. „Desto besser! Kommt mit mir nach Hause. Keine Widerrede! Der Indianer und Euer Freund Natty begleiten uns selbstverständlich."
„Der Junge mag meinetwegen mit Euch gehen. Er kennt den Umgang mit Priestern und kann über fromme Dinge schwatzen. Auch der alte John ist schon vor vielen Jahren getauft. Mich aber müßt Ihr entschuldigen. Ich bin ein ungebildeter Mensch, der nur seinem König und Vaterland gegen die Franzosen und die Wilden treu gedient hat. Übrigens habe ich zu Hause noch Wichtiges zu tun", erwiderte Natty. „Na, lieber Freund, Tapferkeit allein genügt nicht. Der Mensch muß sich auch würdig auf sein Ende vorbereiten." „Ich weiß, daß ich nicht ewig lebe, auch wenn ich kerngesund bin. Ich muß und will ebensogut wie andere Menschenkinder sterben. Dagegen habe ich mich nie gesträubt. — Aber ich muß fort, ich habe zu tun. Lebt wohl!" Eduard und der alte John folgten dem Geistlichen über einen schmalen Feldweg. Der Schnee knirschte unter ihren Schritten. Sie gingen hinter» einander, voran der Geistliche, dann Mohegan, hinter ihm das schlanke Mädchen und zuletzt der junge Jäger. Der Pfarrer fragte den Jüngling, woher er stamme. Er wunderte sich, als er erklärte, er sei aus dieser Gegend. Herr Grant meinte, sein Dialekt lasse das nicht vermuten. Mit einem sanften Vorwurf in der Stimme sagte der Geistliche dann, es sei nicht recht, wenn Eduard dem Richter Temple grolle; er habe ihn doch nicht mit Absicht verwunden wollen. Hier mischte sich Mohegan ein. Er blieb stehen und sagte zu Grant: „Mein Vater spricht gut. Er spricht wie Miquon. Der weiße Mann mag tun, wie ihn seine Väter gelehrt haben. Aber in dem Jungen Adler fließt das Blut eines Delawarenhäuptlings. Es ist rot, und den Flecken, den es macht, kann nur das Blut eines Mingo reinwaschen." Der Prediger war erstaunt. Er blickte John ernst an und hob warnend die Hand. „John! Ist das die Religion, die du von den Mährischen Brüdern gelernt hast? Es heißt in der Schrift: Liebet Eure Feinde!" John hatte mit höflicher Aufmerksamkeit zugehört. Leise schüttelte er den Kopf. Schweigend folgte er dem in seiner Erregung rascher voran» schreitenden Pfarrer. Das junge Mädchen blieb etwas zurück. Eduard verhielt seinen Schritt und bot ihr den Arm, um sie zu stützen. Sie sagte leise, und ihre Stimme bebte: „Ich bin nicht müde, ich bin nur so über den Indianer erschrocken. Ist er nicht Euer Freund, vielleicht sogar Euer Verwandter?" „Ihr kennt die Indianer zu wenig, sonst wüßtet Ihr, daß Rache bei ihnen eine Tugend ist. Schon den kleinen Kindern wird eingeprägt, daß sie jede Beleidigung rächen müssen. Nur das strenge Gesetz der Gastfreundschaft schützt vor ihrer Rache." „Habt Ihr etwa die gleiche Anschauung?" „Ich bin von Jugend auf in der Lehre der christlichen Vergebung erzogen worden", antwortete Eduard sehr bestimmt. Sie erreichten das Haus des Pfarrers, das ein wenig abseits vom Dorfe mitten auf dem Feld stand. Es sah unfertig aus, wie die meisten der schnell entstandenen Gebäude hier. Doch im Innern war es sauber und behaglich warm. Der Teetisch, der Arbeitstisch und der altmodische Mahagonibücherschrank träumten noch von einer besseren Vergangenheit in einem vornehmen Hause. Man setzte sich um das wärmende Feuer. Luise suchte ihren Platz zwischen dem Vater und dem jungen Jäger. „Hoffentlich habt Ihr, junger Freund, durch eine gute Erziehung den Grundsätzen der Rache abgeschworen", nahm Herr Grant das Gespräch wieder auf. „Nach Johns Worten habt Ihr Delawarenblut in den Adern?" Mohegan wandte sich an den Geistlichen und sagte ernst: „Vater, du stehst noch im Sommer des Lebens, und deine Glieder sind jung. Steig auf die höchsten Berge und schaue dich um. Alles was du siehst, vom Anfang bis zum Untergang der Sonne, vom Ufer des großen Flusses bis zu den kleinsten Quellen in den Bergen — alles gehört ihm! In seinen Adern fließt das Blut der Delawaren, und sein Recht ist groß! Aber der Bruder Miquons ist gerecht. Er wird, wie es der Fluß tat, das Land in zwei Teile trennen und zu dem Jungen Adler sagen: Kind der Delawaren, nimm deine Hälfte und sei ein Häuptling im Lande deiner Väter!" „Niemals wird er das sagen!" rief der junge Jäger heftig. „Der Wolf im Walde ist nicht gieriger auf seine Beute als dieser Mann auf Gold! Wie eine Schlange schleicht er nach Reichtum!"
„Ruhig Blut, mein Sohn!" unterbrach ihn Herr Grant. „Solche Zornausbrüche sind Euer unwürdig. Das Unrecht, das den Eingeborenen zugefügt worden ist, könnt Ihr doch nicht Richter Temple aufbürden. Euer Arm wird schon bald wieder in bester Ordnung sein." „Ha! Der Arm!" höhnte der Jäger. Er sprang auf und lief im Zimmer auf und ab. „Denkt Ihr vielleicht, daß ich den Mann für einen Mörder halte? O nein, dazu ist er viel zu feige! Aber laßt ihn nur mit seiner Tochter im Reichtum schwelgen — es kommt die Zeit der Vergeltung!" Er machte eine Pause. Als er etwas ruhiger geworden war, fuhr er fort: „Mohegan hätte allenfalls Grund, anzunehmen, daß er mich ab» sichtlich verwundet hat. Aber es lohnt nicht, davon zu sprechen!" Er setzte sich wieder und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Angstvoll sah Luise ihren Vater an. Grant beruhigte leise die Tochter; „Es ist die ererbte Leidenschaft eines Eingeborenen." Eduard hob den Kopf und lächelte. „Bitte, erschreckt nicht, Miss Grant. Ich hätte mich mehr beherrschen sollen. Euer Vater hat recht, das indianische Blut ist schuld. Aber deshalb beklage ich mich keineswegs über meine Abstammung. Ich bin vielmehr stolz darauf, einen Delawarenhäuptling, einen edlen Krieger, als Ahn zu haben. Der alte Mohegan war sein Freund und kann seine Tapferkeit bezeugen!" Eduard und John standen auf. Sie nahmen freundschaftlich Abschied. Mohegan nahm den nächsten Weg zum Dorf, der Jüngling zum See, an dem Nattys Hütte lag.
Im Wirtshaus „Zum kühnen Dragoner" Der Gasthof „Zum kühnen Dragoner" lag am Ende des Dorfes, dort, wo sich die beiden Hauptstraßen kreuzten. Gegenüber stand ein aus Holz erbautes Haus, das in seinem Äußeren dem Herrenhaus ähnelte. Im oberen Stockwerk waren die Fenster noch mit Brettern vernagelt. Unten hatten sie bereits Glasscheiben. Vor der Haustür war an zwei Pfählen ein großes Schild angebracht: „Kaffeehaus von Templeton" und „Wirtshaus für Reisende". Darunter standen die Namen der Besitzer: Habakuk Foote und Joshua Knapp. Diese beiden Männer stellten in Templeton etwas dar. Ihnen gehörte auch das neue Magazin im Ort, außerdem ein Hutmacherladen und ein Lohgerberhof. Der hinkende Veteran, allgemein als Hauptmann Hollistar bekannt, war soeben mit seiner Frau vom Gottesdienst zurückgekehrt. Draußen vor der Tür stampften bereits die ersten Gäste den Schnee von den Schuhen. An den drei Wänden des großen Gastzimmers liefen Bänke entlang. An der vierten Wand befanden sich zwei gewaltige Kamine. In der Ecke, am Schanktisch, thronte Frau Hollistar. Ihr Mann war Feuerwärter. Mit einem gewaltigen Feuerhaken mußte er die brennenden Holzkloben in die Flammen schieben. Die ersten Gäste traten ein. Sie setzten sich vor die Kamine. Jetzt kam auch Doktor Todd. In seiner Begleitung befand sich ein schmutzig aussehender, jedoch geckenhaft gekleideter junger Mann. Er schien sehr nervös zu sein. Er setzte sich auf eine Eckbank, nahm mehrmals eine große Prise Schnupftabak und zog alle Augenblicke eine dicke, silberne Taschenuhr hervor. Irdene Becher mit Wein und Bier wurden herumgereicht. Keiner hatte ein Glas für sich. Es gab für jedes Getränk immer nur ein Gefäß, aus dem nach alter Sitte der königlichen Mundschenken der Wirt stets zuerst kosten mußte. Er tat es mit dem Gruße: „Auf Euer Wohl". Als der erste Durst gestillt worden war, begannen der Arzt und sein Begleiter — einer der beiden Rechtsanwälte des Ortes — eine Unterhaltung. Der Advokat sagte: „Wie ich Höre, habt Ihr eine Operation hinter Euch. Man erzählte mir, daß Ihr dem Sohn des alten Natty eine Kugel aus der Schulter geschnitten habt!" „Ach, das war nur eine Kleinigkeit. Der Junge wird bald wieder gesund sein. Aber daß er Natty Bumppos Sohn sein soll, höre ich heute das erste Mal. Hat Lederstrumpf denn eine Frau?" „Die braucht er doch nicht unbedingt. Wir Juristen nennen ein solches Kind filius nullius." „Sprecht englisch", rief die Wirtin unwirsch. „Was soll das heißen, unter lauter Christen indianisch zu sprechen? Mir tut der arme Jäger leid, wenn er auch kaum mehr ist als ein wildes Tier. Höchste Zeit, daß die Missionare diese armen Menschen bekehren, und dann
ist es ja egal, ob der Mann weiß, rot oder schwarz ist und ob er Haare oder Wolle auf dem Kopfe hat." „Liebe Frau Hollistar! Das war nicht indianisch, sondern lateinisch." Der Advokat lächelte. „Herr Doktor Todd versteht mich schon." Plötzlich sprang er von der Bank auf, stellte sich mit dem Rücken zum Feuer, musterte die Männer und sprach weiter: „Hoffentlich läßt der junge Mann die Sache nicht auf sich beruhen. Wir leben in einem Lande, wo es Gesetze gibt. Und wenn einer hunderttausend Acker Land besitzt, hat er genauso wenig wie ein Habenichts das Recht, seinen Mitmenschen in die Schulter zu schießen. Stimmt's, Doktor?" Todd wich einer klaren Antwort aus. Er sagte lediglich: „Ich denke doch, daß er bald wiederhergestellt ist." Der Advokat ereiferte sich. „Was sagt Ihr dazu, Hiram Doolittle? Ihr als Amtsperson müßt es doch wissen: Darf man bei uns so ohne weiteres auf seinen Nächsten schießen? Setzt den Fall, der junge Mann hätte Frau und Kinder und müßte als Handwerker seine Familie ernähren — ich frage Euch, Ihr Herren: Kann er in einem solchen Fall keinen Schadenersatz beanspruchen?" Alle blickten erwartungsvoll auf Doolittle. Bedächtig antwortete der schließlich: „Wenn ein Mann den ändern anschießt und er tut dies vorsätzlich, so kann er mit Gefängnis bestraft werden." „Vortrefflich!" schmetterte der Advokat durch den Saal. „Wenn also 'der junge Jäger klagen würde, so dürfte er mit Sicherheit den Prozeß gewinnen! Doktor, was sagt Ihr dazu?" Der Arzt wand sich vor Verlegenheit. Was sollte nur die Aufregung? „Richter Temple hat mir versprochen, die Kosten zu zahlen. Mehr will ich nicht. Weshalb reden wir also noch davon?" „Versprach er es vor der Operation oder nachher?" forschte der Advokat. „Darauf Kommt es hier nicht an", entgegnete Todd ärgerlich. Jetzt fragte Hiram: „So, er will Euch also die Kosten zahlen? Und wenn er nur sechs Pence in der Tasche hat und sie Euch als Bezahlung anbietet, was will dann das Gesetz machen?" Alle lachten und sahen zum Advokaten. Doch der ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
„Ich bin bereit, auf dieses Versprechen hin kostenlos einen Prozeß zu führen." Bei diesen Worten war Natty eingetreten. Mit der Büchse unterm Arm ging er durch den dichtbesetzten Raum und setzte sich auf einen großen Holzscheit beim Kamin.
Unaufgefordert brachte ihm Hollistar einen Krug Branntwein. Natty trank, gab ihn zurück und hörte dann dem Advokaten zu. „Die Schwarzen scheiden natürlich als Zeugen aus. Sie sind Leibeigene des Herrn Richard Jones. Aber man kann ja Herrn Temple noch auf andere Weise zum Schadenersatz zwingen." „Ich würde Euch auch nicht raten, Herrn Temple zu verklagen", rief die Wirtin vom Schanktisch herüber. „Der hat mehr Geld als Ihr. Außerdem läßt es sich ganz gut mit ihm auskommen." Zu Natty gewendet, fuhr sie fort: „Lederstrumpf, tut mir den Gefallen und bringt den Jungen davon ab, vor Gericht zu klagen. Das gibt nur Ärger. Der Junge soll bei uns sein Glas umsonst haben, bis seine Schulter die Büchse wieder tragen kann." Die Männer nickten der Wirtin beifällig zu. „Herr Temple dachte sich nichts Böses, als er auf den Hirsch schoß", meinte Natty. „Seine Vogelflinte taugt nichts. Ich kenne nur eine Büchse dieser Art, die etwas wert ist. Es ist eine französische. Ihr Lauf ist halb so lang, wie der meiner Büchse war. Auf hundert Schritte konnte man damit eine Gans treffen. Hauptmann Hollistar kann es bezeugen. Er war ja Soldat. Und wenn er auch nur Bajonetträger war, so wird er doch noch wissen, wie wir damals in den Gefechten die Franzosen und die Irokesen schlugen. Chingachgook, der alte Mohegan, der in meiner Hütte mit wohnt, war zu jener Zeit einer unserer berühmtesten Krieger. Der kann davon erzählen. Er wollte nie mehr als zweimal schießen und nahm erst den Skalp, bevor er wieder lud. Ja, die Zeiten haben sich seitdem doch sehr geändert. Die Mährischen Brüder, die mit den Delawaren auf gutem Fuße standen, haben auch ihn getauft — die tapferste Rothaut, die ich kenne. Hätte man die Indianer sich selbst überlassen —" Lederstrumpf wurde durch das Eintreten des Richters und seiner Gäste unterbrochen. Unmittelbar darauf folgte Mohegan. Der Advokat verschwand. Geräuschvoll erhoben sich die Männer. Sie schüttelten dem Richter die Hand. Major Hartmann legte Hut und Perücke ab und setzte eine Wollkappe auf. Behaglich rieb er sich die Hände und ließ sich auf die Eckbank fallen, die der Advokat soeben geräumt hatte. Er stopfte sich die neue Pfeife, die ihm der Wirt gereicht hatte, setzte sie in Brand, paffte genießerisch dichte Rauchwolken und rief zur Theke hinüber: „Betty, bring mir den Branntwein!" Der Richter hatte sich neben ihn gesetzt. Richard suchte sich mit viel Lärm den bequemsten Platz. Monsieur Le Quoi rückte seinen Stuhl ein wenig zur Seite, damit er den anderen Gästen nicht die Wärme des Feuers nehme. Mohegan hockte sich in die Nähe der Theke. „Na, Betty", fragte der Richter die Wirtin, „wie hat Euch denn die Predigt gefallen?" „Die Predigt? Ach, ganz gut. Nur ist es für eine Frau von neunundfünfzig Jahren nicht mehr so einfach, bei all den vielen Gebeten in der Kirche aufzustehen. — Hier, alter John, einen Becher Wein mit Schnaps wirst du wohl nicht verachten, was?" „Die Predigt war wirklich gut", meinte Doolittle. „Das eine oder andere hätte ja ruhig ungesagt bleiben können. Aber wenn man den Text abliest, kann man natürlich nur schwerlich etwas ändern." „Ja, das ist's", bekräftigte die Wirtin. „Wenn einer predigen will, muß er frei sprechen." „Nun", meinte der Richter, „darüber kann man verschiedener Ansicht sein. Jedenfalls habe ich den Eindruck, daß er ganz vernünftig gesprochen hat." Nach kurzem Schweigen fragte Doolittle den Richter: „Was machen die Franzosen? Haben sie wieder gesiegt?" „Seitdem sie ihren König hingerichtet haben, führen sie nur noch Kriege. Der Himmel mag wissen, was in dieses Volk gefahren ist. Diese Jakobiner sind blutdürstig wie Tiger." Angewidert wendete sich Richter Temple ab. „Mon pauvre Roi", seufzte Monsieur Le Quoi. „Übrigens hat der Kongreß ein paar recht nützliche Gesetze erlassen", erklärte Temple. „Für die Fischerei und die Jagd sind Schonzeiten festgesetzt worden. Ich hoffe, daß nun auch ein Gesetz gegen den Raubbau von Nutzholz geschaffen wird." Natty lachte höhnisch. „Macht nur Eure Gesetze, Richter. Das Wichtigste ist aber doch wohl, daß Ihr Leute findet, die auch aufpassen, ob die Gesetze eingehalten werden! Wild ist Wild, und wer es findet, kann
es schießen. Das ist das Gesetz, das schon mehr als fünfzig Jahre gilt. Ich meine, ein altes Gesetz ist mehr wert als zwei neue. Nur ein Dummkopf schießt ein Weibchen während der Säugezeit, denn sein Fleisch ist dann zäh und hart." Der Richter entgegnete ernst: „Mit den Gesetzen, denke ich, kann man doch manchem Unfug steuern." „Nein, Richter, glaubt es nur: Es sind die Ansiedler und nicht die Jäger, die das Wild ausrotten!" „Natürlich gibt es nicht mehr so viel Hirsche wie im letzten Kriege, Bumppo", warf Major Hartmann ein. „Aber die Welt ist ja auch nicht für die Hirsche, sondern für die Christen geschaffen worden." „Major, Ihr könnt es mir glauben, es ist sehr schwer für einen alten Mann, wenn seine gerechten Ansprüche auf Lebensunterhalt durch solche Gesetze beschränkt werden." Der Major sah Lederstrumpf aufmerksam an. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Gewiß, Lederstrumpf, aber Ihr habt Euch doch sonst auch nicht so streng an die Gesetze gehalten!" „Vielleicht war es früher nicht so nötig", gab Lederstrumpf zurück und blickte schweigend vor sich hin. „Hier, John, trink mal! Ich und du und Doktor Todd, wir drei haben heute unser Meisterstück an der Schulter des jungen Mannes vollbracht. Marmaduke, als du weg warst, habe ich ein Lied gemacht. Ich singe dir mal einen Vers davon vor." Die Welt, sie ist ein Jammertal, doch wollen wir nicht klagen. Vergessen seien Sorg' und Qual, man muß das Leben wagen. Drum, Freunde, laßt uns fröhlich sein, denn nur die Sorg' allein. Sie macht uns graue Haare. Na, wie ist das, Duke? Das Lied hat noch eine Strophe, aber da fehlt mir noch der Schluß. Wie gefällt dir die Melodie, alter John?" „Gut", versicherte Mohegan. Er hatte jedem Becher tüchtig zugesprochen. „Bravo, Richard!" rief der Major. „Ein schönes Lied ist das. Aber Natty kann doch noch ein schöneres. Lederstrumpf, kommt, singt uns das Waldlied!" Der Jäger schüttelte den Kopf und sagte: „Nein, Major. Ich habe etwas erlebt, was ich in diesen Bergen nie für möglich gehalten hätte. Das nimmt mir den Mut zum Singen. Wenn der, der von Rechts wegen hier der Herr sein sollte, Schneewasser trinken muß, um seinen Durst zu stillen, dann macht mich das traurig." Er wandte sich ab. Richard ergriff zwei Becher, reichte einen davon Lederstrumpf und rief: „Frohes Fest, alter Knabe! Hör mal, wie der alte John trillert!" John hatte zu singen begonnen und schlug mit der Hand den Takt dazu. Aber seine Worte verstand niemand außer Natty. Es war ein wildes, melancholisches Lied. John hatte die wollene Decke abgeworfen. Wirr hing ihm das schwarze Haar ins Gesicht. Immer lauter wurde sein Gesang, so daß schließlich jedes Gespräch verstummte. Lederstrumpf sprach beruhigend auf ihn ein. Allmählich schien der Indianer wieder nüchtern zu werden. Er hob den Blick, sah erst die ändern, dann den Richter an und schüttelte das Haupt. Mit zitternden Händen führte er den Becher an die Lippen, den ihm Richard zugeschoben hatte. Er trank ihn auf einen Zug aus und fiel rücklings auf die Bank nieder. „Das ist das Los der Wilden", seufzte Lederstrumpf. „Man gibt ihnen Schnaps, und sie werden wie das Vieh. Aber es kommt ein Tag, wo sie ihr Recht bekommen werden!" „Was soll das heißen!" rief Richard. „Schluß mit dem Gerede! Hollistar, laßt ihn heute Nacht in Eurer Scheune kampieren, ich bezahle es". Und wieder sang er sein Lied: Drum, Freunde, laßt uns fröhlich sein, Denn nur die Sorg' allein. Sie macht uns graue Haare.
Weihnachtspreisschießen Am nächsten Morgen hatte die Kälte nachgelassen. Als Elisabeth auf den Hof trat, um sich ein wenig umzusehen, rief ihr Richard Jones aus dem Fenster zu: „Frohes Fest und alles Gute, Bess. Ihr seid früh auf. Aber ich bin Euch zuvorgekommen. Wartet einen Augenblick. Ich will Euch alles zeigen." Elisabeth blickte zu dem Fenster empor. Richard schaute mit einer Nachtmütze auf dem Kopfe heraus. Sie lachte und sagte, sie wolle auf ihn warten. Sie ging wieder ins Haus, kam jedoch, mit einem versiege!» ten Brief in der Hand, bald zurück. Richard war schon auf dem Hof. „Kommt, Bess!" Er nahm ihren Arm. „Der Schnee taut ein wenig. Merkt Ihr es? He! Aggy! Frohes Fest! Hier hast du einen Dollar. Wenn die Herren aufgestanden sind, rufst du mich gleich. Verstanden?" „Nicht so laut! Mein Vater schläft noch", sagte Elisabeth. „Ihr seid ein kluges Kind, Bess. Es war ein guter Rat, den ich Eurem Vater gab, Euch in eine Pension zu schicken. Euer Vater war zwar anfangs halsstarrig wie immer, aber schließlich hat er doch nachgegeben." Elisabeth lachte und schwenkte den versiegelten Brief. „Sagt nichts gegen meinen Vater! Er hat mir nämlich gestern Abend dies hier für Euch zugesteckt — als Weihnachtsgeschenk!" Ungeduldig riß der kleine Mann dem Mädchen das Papier aus der Hand. Er konnte kaum die Zeit erwarten, das Siegel zu brechen. Zitternd vor Freude las er, daß er zum Sheriff der Grafschaft ernannt worden sei. „Vetter Duke hat doch wirklich ein gutes Herz! Ich bin ihm sehr dankbar! — Natürlich, man muß auch imstande sein, ein solches Amt zu führen." „Ihr werdet viel zu tun bekommen." „Ich werde mich gleich heute Nachmittag hinsetzen und die Grafschaft in Distrikte einteilen. Für jeden Distrikt brauche ich einen Gehilfen. Hier in Templeton kann es ja Benjamin sein. Wenn er nur reiten könnte!" „Wo sind denn nun eigentlich die neuen Anlagen? Ihr wolltet mir doch so viel zeigen." „Wo die sind? Bess, hier zum Beispiel habe ich neue Straßen geplant. Sie müssen aber erst noch ausgebaut werden. Meint Ihr nicht auch, daß ich wenigstens vier Gehilfen brauche, außer dem Kerkermeister?" „Ich sehe keine Straßen." Sie waren an einen freien Platz gekommen, als sie auf einmal hinter einem Gebüsch Menschen sprechen hörten. Es waren Natty, Mohegan und der junge Jäger. „Laßt uns umkehren", flüsterte Elisabeth, als sie die drei erkannt hatte. „Wartet einen Augenblick", bat Richard. Widerstrebend blieb Elisabeth stehen. Sie mochte nicht lauschen. „Den Vogel müssen wir haben", hörten sie jetzt Natty sagen. „Früher flogen hier die wilden Truthühner wie die Sperlinge herum. Leider habe ich mein letztes Geld bei Herrn Le Quoi für Pulver ausgegeben." „Hier, ich habe gerade noch einen Schilling!" rief Eduard. „Gut", sagte Natty; „aber schießen soll John. Er hat einen sicheren Blick." „Meine Hand zittert jetzt manchmal. Daran ist der Schnaps schuld!" Ungeduldig rief Eduard: „Warum trinkst du das Zeug denn, John? Du weißt doch, daß es dich zum Tier macht." „Zum Tier! Ist John ein Tier?" murmelte der Indianer. „Ja, Junge, du hast recht, John ist ein Tier! Ehe die Weißen kamen, da war John ein Mann und kein Tier. Aber dann erschienen die Händler mit den hellen Augen. In ihren Rumflaschen saß der böse Geist, und den ließen sie heraus... Ja, Junger Adler, du hast recht, John ist ein Tier."
Den Jungen reute bereits, was er gesagt hatte. Er griff nach der Hand des Indianers und bat ihn um Verzeihung: „Ich darf dir am allerwenigsten Vorwürfe machen, denn ich stamme von deiner Familie ab, und darauf bin ich sehr stolz." „Das habe ich mir doch gleich gedacht, daß der Junge von Indianern abstammt", flüsterte Richard. „Aber er soll zwei Schüsse auf den Truthahn haben. Ich will ihm noch einen Schilling geben." Elisabeth hielt ihn zurück. „Er wird Euer Geld nicht nehmen." „Dieser Halbwilde? Zurückweisen?" „Gut, dann laßt wenigstens mich mit ihm sprechen!" Elisabeth zwängte sich durch die Büsche und trat zu den drei Männern. Der Jungling war erstaunt, das Mädchen so plötzlich vor sich zu sehen, machte dann aber eine höfliche Verbeugung. „Ich höre, daß es den alten Weihnachtsbrauch, einen Truthahn zu schießen, noch gibt. Würde wohl einer der Herren sein Glück für mich wagen? Hier ist ein Schilling." „Solche Schießerei ist nichts für Damen", wehrte der junge Jäger ab. „Nun, wenn Ihr es nicht für mich tut, so wird es gewiß der alte Lederstrumpf tun." Natty Bumppo steckte den Schilling schmunzelnd ein. Er lud seine Flinte und sagte: „Wenn Billy Kirby den Vogel nicht vor mir herunterschießt und das Pulver des Franzosen nicht feucht ist, sollt Ihr sogleich den fetten Truthahn haben. Wir müssen uns aber beeilen, sonst ist der schöne Braten weg, ehe wir hinkommen." „Aber ich habe den Schuß vor Euch, Natty", rief Eduard. „Entschuldigt, Miss Temple, daß ich so ungalant bin, aber ich muß auf meinem Recht bestehen." „Meinetwegen", entgegnete Elisabeth kühl. „Ich lege mein Schicksal in die Hand meines Ritters Natty. Also gehen wir." Richard warf Elisabeth leise vor: „Um den Truthahn zu bekommen, dazu hättet Ihr wahrhaftig nicht diesen Menschen da, den Lederstrumpf, gebraucht." „Das laßt nur meine Sache sein! Waltet Ihr Eures neuen Amtes als Sheriff und beschützt mich", antwortete sie und lachte. — Das Truthahnschießen am Weihnachtstage gehörte zu den wenigen alten Bräuchen, welche die Ansiedler beibehalten hatten. Den Truthahn hatte dieses Jahr ein freigelassener Neger gespendet. Das Tier wurde auf einen Baumpfahl festgebunden. Man schoß aus einer Entfernung von fünfzig Metern danach. Etwa dreißig mit Flinten bewaffnete junge Leute und die Jugend des Dorfes hatten sich auf dem Platz versammelt. Lachend, schreiend und gaffend liefen sie im Schnee herum. Sie hatten die froststarren Hände in die Taschen der groben, aber warmen Festkleider versenkt und lauschten den angeberischen Reden der Schützen. Billy Kirby war der lauteste unter ihnen. Er war ein riesengroßer, junger Holzhauer mit verwegenem Gesicht. Der leichtsinnige, wenn auch gutmütige Bursche schoß fast so gut wie Natty Bumppo. Daher bestand zwischen beiden seit langem eine geheime Eifersucht. Freilich hatte sich zu einem Wettkampf bisher noch keine Gelegenheit geboten. Jetzt aber war der Augenblick dazu gekommen.
Elisabeth erschien mit den vier Männern auf dem Platz. Für einige Sekunden verstummte der Lärm. Das freundliche Lächeln von Fräulein Temple ließ jedoch das fröhliche Treiben bald wieder aufleben. Billy stellte sich auf. „Aus der Schußbahn! Vorsicht! Bromm, sieh dir deinen Truthahn noch mal an!" rief er dann dem Neger zu, der in der Nähe seines Truthahns stand. „Gleich gehört er mir!" Eduard drängte sich vor. „Halt! Ich will auch einen Schuß! Hier ist der Schilling." Mit einer übermütigen Verbeugung erwiderte Kirby: „Oh, bitte sehr! Du scheinst viel Geld zu haben, mein Junge, daß du im voraus bezahlst." Eduard war gereizt. „Was geht dich das an, Kerl! Hier, Bromm, mein Schilling. Ich schieße also als zweiter." Der Holzfäller war verdutzt. „Nur nicht so stürmisch, mein Kleiner. Hast du nicht eine Wunde in der Schulter? Bromm sollte dir nur die Hälfte abnehmen. So einfach ist das nämlich nicht, den Truthahn zu treffen. Na schön, kannst es ja probieren." Natty wurde ungehalten. „Halt den Mund, Billy Kirby. Du schießt zuerst. Dann dieser junge Mann. Trifft er nicht, dann kommt eine gute Flinte und ein altes geübtes Auge!" Frech pflanzte sich Billy vor dem alten Jäger auf. „Was, du bist auch da, alter Lederstrumpf? Da muß ich mich aber in acht nehmen! Es tut mir nur leid für dich, daß ich den ersten Schuß habe, alter Knabe. So werde ich mir also erlauben, dir den fetten Bissen vor der Nase wegzufischen." Der Neger schrie dazwischen: „Los, Billy Kirby! Alles aus der Schußbahn! — Paß jetzt gut auf, mein Vögelchen." Billy zielte. Jeder auf dem Platz hielt den Atem an. Dann krachte endlich der Schuß. Der Vogel flatterte mit erschrockenem Kollern empor. Dann setzte er sich wieder auf sein Schneebrett, als wäre nichts gewesen. Der Neger lachte und schrie vor Vergnügen. Er wälzte sich wie ein Verrückter im Schnee und strampelte mit den Beinen in der Luft. Mit ausgebreiteten Armen sprang er wieder auf, als wollte er das Tier umarmen. „Bravo, mein Vögelchen!" rief er. „Wenn du noch einen Schilling gibst, kannst du noch einmal schießen!" Der junge Jäger erhob Einspruch. „Nein! Jetzt bin ich dran! Mein Geld hast du schon! Platz da!" Lederstrumpf wollte ihn zurückhalten. „Ist doch Unsinn, Junge. Du wirfst nur dein Geld hinaus — du mit deinem lahmen Arm!" Bissig fuhr der Neger Natty an. „Schwatz dem jungen Mann nichts vor! Hier wird ehrlich gespielt!" Der Schuß hallte durch den Ort. Doch der Truthahn blieb ruhig sitzen. Eduard hatte vorbeigeschossen. Elisabeth erschrak über das finstere Gesicht des Jünglings. Natty trat vor. Bromm war ganz still. Seine dunkle Haut bekam vor Aufregung Flecken. Mit höchster Spannung warteten alle auf Nattys Schuß. Aber es knallte nicht. Nur das Schloß knackte dumpf. Es dauerte einen Augenblick, bis der Neger den Vorfall begriffen hatte. Dann aber tanzte er wild um seinen Vogel und brüllte: „Ha! Ein Versager! Natty Bumppo hat nicht getroffen!" Lederstrumpf wurde zornig. „Natty Bumppo wird dich aber sicher treffen, wenn du nicht gleich aus dem Wege gehst! Der Versager gilt nicht als Schuß! Los, aus dem Weg, Jungen! Ich schieße noch mal." Der Neger protestierte. „Ein Versager gilt als Schuß! Nicht wahr, Herr Jones? Nicht wahr, meine Dame?" Der Holzfäller unterstützte ihn. „Klar, Lederstrumpf, bei uns gilt es so. Wenn du noch mal schießen willst, mußt du einen weiteren Schilling zahlen. Vorher aber bin ich dran! Hier, Bromm, ist mein Geld." Richard Jones mischte sich ein. Als Sheriff, der für Ruhe und Ordnung zu sorgen hatte, fühlte er sich verpflichtet, den Streit zu schlichten. „Ich bin der Meinung, daß Nathanael Bumppo seinen Schuß verloren hat und noch einen Schilling bezahlen muß, wenn er wieder schießen will." Lederstrumpf war mit der Entscheidung nicht einverstanden. „Das Vernünftigste wäre, wir hörten das Urteil der Dame."
„Dann erkläre ich, daß Ihr verloren habt", rief Elisabeth laut, „aber ich will Euch noch einen Schuß bezahlen, oder Bromm überläßt mir den Vogel für einen Dollar." Ihr Vorschlag schien wenig Beifall zu finden. Inzwischen hatte sich Billy Kirby aufgestellt. Er zielte lange und scharf. Dann fiel sein Schuß. Wieder war es eine Niete! Der Neger lachte, jubelte und tanzte wie toll im Schnee herum. Billy schäumte vor Wut. „Mach deine Bude zu, du schwarze Krähe! Das ist doch Wahnsinn, auf solche Entfernung einen Truthahn zu treffen! Den möchte ich sehen, der das kann!" „Das sollst du gleich haben. Geh weg da", rief Lederstrumpf. Er trat in den Stand. Vorsichtig zielte er. Dann feuerte er. Zuerst konnte man vor Pulverdampf nicht erkennen, ob er getroffen hatte. Alles rannte zum Ziel. Der Truthahn war tot. Der halbe Kopf war ihm abgerissen. Mit überlegener Ruhe befahl Lederstrumpf: „Legt das Tier der Dame zu Füßen. Er gehört ihr. Ich habe für sie geschossen." Elisabeth lächelte freundlich. „Ihr seid ein guter Schütze gewesen. Ich danke Euch für diesen Meisterschuß." Dann wandte sie sich an den jungen Jäger, errötete leicht und bat ihn:
„Nehmt den Truthahn als Schmerzensgeld für die Wunde. Nur wegen ihr habt Ihr nicht getroffen." Eduard verbeugte sich vor ihr. Er war im Zweifel, was er tun sollte. Aber dann hob er das tote Tier wortlos auf. „Augenblick, Bess", sagte Richard zu Elisabeth, die sich zum Gehen wandte, „man scheint sich hier nicht klar —" „Frohes Fest, Vetter Richard", sagte Richter Temple, der unbemerkt hinzugetreten war. „Ich bewundere deinen Geschmack, eine junge Dame zu einem solchen Vergnügen zu führen." „Aber sie wollte ja durchaus, Duke. Außerdem ging es hier recht anständig zu, wenn ich auch der Meinung bin, daß so etwas verboten werden sollte. Nach einheimischem Recht ist das Truthahnschießen, glaube ich, gar nicht erlaubt." „Richtig, Jones. Da hast du als Sheriff gleich etwas zu tun. Das mußt du genau untersuchen. Ich sehe, Bess hat ihren Auftrag ausgerichtet." Richard erinnerte sich jetzt des Schreibens, das er am Morgen von Elisabeth erhalten hatte. Er fragte: „Kann ich mal mit dir unter vier Augen sprechen, Vetter Duke?" Die beiden Männer gingen ein paar Schritte abseits. Dann sprudelte der kleine Dicke hervor: „Erstens danke ich dir für deine freundlichen Bemühungen. Ich werde dir nie
vergessen, was du für mich getan hast. Vor allem aber wollte ich dir sagen", flüsterte er, „daß wir auf den jungen Freund Nattys etwas aufpassen müssen." „Den überlaß nur mir, Richard", entgegnete Herr Temple kühl und kehrte zu den anderen zurück.
Angebot des Richters „Ich hatte das Unglück, Euch zu verwunden, Herr Eduard", sagte der Richter zu dem jungen Jäger. „Ich hoffe aber, Euch entschädigen zu können. Mein Vetter Richard Jones hat eine neue Anstellung bekommen und kann mir nun nicht mehr helfen. Wollt Ihr gegen gute Bezahlung seine Stelle bei mir einnehmen?" Der Jüngling empfand den Vorschlag nicht als Kränkung. Er überlegte und erwiderte schließlich: „Ich würde Ihren Vorschlag gerne annehmen, Herr Temple. Aber dann könnte ich meine anderen Pflichten nicht mehr erfüllen. Ich möchte auch weiterhin von der Jagd leben." Richard flüsterte Bess ins Ohr: „Da haben wir's! Diese Halbwilden sind und bleiben Vagabunden. Für ein geordnetes Leben sind sie verloren." Marmaduke erwiderte dem jungen Manne: „Das ist aber doch ein recht unsicheres Leben. Glaubt mir, junger Freund, ich besitze mehr Lebenserfahrung als Ihr." Nun mischte sich Lederstrumpf ein. „Nein, Richter! Nehmt ihn nur in Euer großes Haus, aber sagt ihm wenigstens die Wahrheit. Mehr als vierzig Jahre lebe ich nun in den Wäldern und finde auch mit meinen siebzig Jahren trotz all Eurer Wildgesetze immer noch leicht meinen Lebensunterhalt." Der Richter nickte Natty freundlich zu: „Ihr seid eine Ausnahme, Lederstrumpf. Ihr seid abgehärtet. Der junge Mann ist nicht so kräftig wie Ihr und würde dieses unstete Leben auf die Dauer gar nicht aushalten. — Deshalb kommt zu mir, Herr Eduard, wenigstens so lange, bis Euer Arm geheilt ist. Ihr seid auch meiner Tochter willkommen." „Aber gewiß", bestätigte Elisabeth. „Jeder Unglückliche ist uns willkommen, ganz besonders, wenn wir das Unglück selbst verschuldet haben." Marmaduke setzte Eduard alle Vorteile auseinander, die er in seinem Hause haben würde. Der junge Mann kämpfte schwer mit sich. Mohegans scharfer Blick musterte ihn, und plötzlich trat der alte indianische Krieger herzu und sagte zu Eduard: „Höre deinen Vater, denn seine Worte sind alt. Der Junge Adler und der große Landbesitzer mögen immerhin zusammen essen und ohne Furcht unter einem Dach schlafen. Was macht den Bruder Miquons und den jungen Adler zu Feinden? Sind sie nicht aus einem Geschlecht entsprossen? Lerne war= ten, mein Sohn. In deinen Adern fließt das Blut der Delawaren, und Geduld ist die erste Tugend eines indianischen Kriegers." Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Der junge Mann nahm den Vorschlag des Richters an. Beide einigten sich zunächst auf eine versuchsweise Zusammenarbeit. Dann trennten sie sich. Im Weitergehen sagte Herr Temple zu seiner Tochter: „Ein halsstarriger Mensch. Ich verstehe nicht, was er gegen mein Haus hat, es sei denn, du wärst der Grund, Bess." „Ach woher", wies Richard diese Vermutung zurück. „Der Fall liegt ganz einfach: kein Halbblut kann ein zivilisiertes Leben ertragen." „In der Tat, Vater", meinte Elisabeth, „er tat gerade so, als müßte es für uns eine Ehre sein, wenn er einwilligte. Welches Zimmer soll er denn bewohnen, und an welchem Tisch soll er essen?" „Mit Benjamin und Remarkable zusammen", antwortete Richard schnell. „Er wird mit uns am Tisch essen", entschied Herr Temple. „Wie du willst", rief der Sheriff. „Du wirst schon noch einsehen, daß es nicht leicht ist, einen Gentleman aus ihm zu machen." „Hierzulande soll es keine Unterschiede geben, wenn sich einer anständig beträgt. Olivier Eduard soll in meinem Hause auf gleicher Stufe mit dem Obersheriff und dem Richter stehen." „Duke, das ist Demokratie und kein Republikanismus. Aber ich sage nichts weiter." „Und was meint meine Bess dazu?"
„Ich bin ganz Eurer Ansicht, lieber Vater." — Die drei Waldbewohner gingen indessen zum See hinunter. Sie überschritten die Eisfläche und kamen zum Fuß des Berges, wo Nattys Hütte stand. Der Jüngling sagte: „Wer hätte das vor einem Monat gedacht! Ich bin in Temples Dienst getreten. Ich komme in das Haus des größten Feindes meiner Familie. Haha! Aber was sollte ich tun?" „Ist er denn ein Mingo, weil du ihn deinen Feind nennst?" fragte Mohegan. „Der Krieger aus dem Geschlecht der Delawaren erwartet die Zeit des Großen Geistes mit Geduld." Eduard entgegnete: „Ich will vergessen, wer ich bin. Vergiß auch du, alter Mohegan, daß ich von einem Delawarenhäuptling abstamme, der einst Herr dieser majestätischen Berge, dieser schönen Täler und dieses Stromes war. Ich trete doch in ehrenvolle Dienste, alter Mann." „Alter Mann!" wiederholte der Indianer feierlich und blieb stehen. „Ja, John ist alt, Sohn meines Bruders. Und er rät dir: Junger Mann, nimm die Hand des weißen Mannes, er wird dir helfen." „Gut, Freunde, ich bringe das Opfer. Aber jetzt genug davon." Natty öffnete das kunstvolle Schloß, und sie traten in die Hütte. Gewaltige Schneemassen verdeckten die eine Wand des einsamen Holzhauses. Bald stieg eine schmale Rauchsäule durch den einfachen Schornstein an den Felsen empor.
Olivier Eduard im Herrenhaus Im warmen Zimmer des Herrenhauses saßen Elisabeth Temple und Luise Grant und blickten zum Fenster hinaus. Es hatte zu tauen angefangen. Die dunklen Dächer mit den verräucherten Schornsteinen kamen wieder zum Vorschein. Es sah düster und traurig aus. Am Tisch hinter ihnen saßen die Männer. Man rauchte, trank und lachte. Benjamin kam mit einem großen Arm voll Holz ins Zimmer. Richard rief ihm zu: „Nanu, Herr Pump, hält uns denn Vetter Dukes bester Madeira bei diesem Wetter nicht warm genug? Vergeßt nicht, alter Knabe, daß der Richter mit seinen Buchen und Ahornbäumen ziemlich geizig ist." Benjamin erwiderte laut: „Ich verstehe was vom Wetter, meine Herren! Jetzt heißt's die Luken schließen!" Und wirklich: Noch ehe man sich im Herrenhaus zur Ruhe legte, herrschte draußen strenger Frost. Monsieur Le Quoi kam noch einmal zurück und nahm eine wollene Decke mit, in die er sich auf dem Heimweg einwickelte. Der Geistliche und seine Tochter blieben über Nacht im Haus des Richters. Draußen heulte der Nordweststurm. Als Elisabeth und Luise am Einschlafen waren, hörten sie ein langgezogenes, klägliches Geheul. Ängstlich flüsterte Luise: „Das sind Wölfe. Neulich abend waren sie sogar vor unserer Tür. Du kannst dir nicht denken, was für Angst ich hatte." Dann aber entfernte sich das unheimliche Geheul, und die Mädchen schliefen ein. Sie erwachten erst wieder am anderen Morgen, als die Magd geräuschvoll einheizte. Es war kalt im Zimmer. Die Freundinnen froren, als sie sich anzogen. Auf den Fensterscheiben lag dickes Eis. Sie konnten nichts sehen und öffneten das Fenster. Der Schnee hatte sich in eine spiegelglatte Eisfläche verwandelt. Von allen Dächern hingen dicke Eiszapfen, die schimmerten wie blanker Stahl. Die Zweige der Tannen und Fichten bogen sich tief unter der Last des Eises. Voller Bewunderung betrachteten die beiden Mädchen das schöne Bild. Unten im Hof sahen sie den jungen Jäger. Er trug neue Kleider und sah völlig verändert aus. Schnell schlössen sie das Fenster und gingen hinunter. Der Richter nahm seine Tochter beiseite und teilte ihr mit, daß der junge Mann sich ausgebeten habe, nicht über seine Vergangenheit und Herkunft befragt zu werden; aber vielleicht werde er freundlicher und mitteilsamer sein, wenn seine Wunde erst verheilt sei. „Ich bin wirklich neugierig", meinte Elisabeth. „Für mich ist er der Sohn eines berühmten und berüchtigten Häuptlings. Ich werde ihn schon so behandeln, daß er sich seinen hübschen Lockenkopf scheren läßt, ein halbes Dutzend meiner besten Ohrringe borgt,
seine Flinte wieder über die Schulter wirft und ebenso schnell verschwindet, wie er gekommen ist." Der Winter war nun nicht mehr so langweilig wie früher. Zusammen mit Eduard machten die beiden Mädchen Schlittenfahrten oder liefen auf dem zugefrorenen See Schlittschuh. Während des Tages versah Eduard gewissenhaft seinen Dienst im Hause des Richters. Die Abende aber und oft auch die Nächte verbrachte er in Nattys Hütte. Die Freundschaft zwischen den drei Jägern blieb bestehen. Mohegan kam selten ins Herrenhaus, Lederstrumpf nie. Eduards häufige Besuche in der Waldhütte machten den Richter mißtrauisch. Er sprach aber nie darüber.
Ritt in den Wald Ende März machten der Richter, der Sheriff, Herr Le Quoi und die beiden jungen Mädchen einen Ritt in die Berge. Eduard begleitete sie. Es war warm und taute. Die Reiter mußten vorsichtig sein. Richard ritt voran und schwatzte immerfort. „Herrliches Wetter heute, Duke. Da steigt der Saft in deine Ahornbäume. Schade nur, daß du aus deinen Zuckerfabriken nicht mehr herausholst." „Mir liegt am meisten am Herzen, daß die Wälder nicht dem Raubbau der Ansiedler zum Opfer fallen." Sie kamen auf den Berggipfel. Hier waren alle Tannen und Fichten abgeholzt. Nur ein kleines Gehölz von Ahornbäumen stand noch. Die mehrere Morgen große freie Fläche mit den Säulen der hohen, schlanken Ahornstämme glich einem riesigen Tempel. Jeder Baum hatte tiefe Einschnitte. In ihnen staken kleine Röhren aus Erlenholz oder Sumachrinde. Darunter standen rohe, aus Lindenholz plump ausgehauene Tröge. Sie fingen den Saft auf, der auf diese mörderische Weise den Bäumen entzogen wurde.
Die Reiter ließen die Pferde einen Augenblick verschnaufen. Nicht weit davon war Billy Kirby, der Zuckersieder, auf dem Felde beschäftigt. Gleichgültig drehte er sich um und nickte dem Richter und seinen Begleitern zu, ohne den Hut abzunehmen. Der Richter sah sich um und schüttelte den Kopf. „Wie die Zigeuner verwüsten diese Ansiedler die Natur! Ohne Sinn und Verstand schlagen sie alle Bäume. Aber du bist auch nicht viel besser, Billy Kirby! Deine Einschnitte müssen ja tödlich sein für die Bäume. Du kannst sie viel kleiner machen. Es dauert doch Jahrhunderte, bis solche schönen, großen Bäume nachgewachsen sind." „Ach was, Bäume gibt's hier doch genug", rief der Holzfäller. Jetzt wurde der Richter ärgerlich und rief: „Es wird höchste Zeit, daß Wild und Wald gesetzlich geschützt werden!" Er gab seinem Pferde die Sporen. Die ganze Gesellschaft stob über das Zuckerschlachtfeld davon. Der Wald wurde immer unwegsamer. Schließlich ging er in völlige Wildnis über.
Der Richter begann zu erzählen, wie er vor vielen Jahren in diese wilden Berge gekommen sei. Damals habe es hier ja noch keine Mühlen und kein Korn, keine Straßen und keine Wege gegeben. Das einzige, was zugenommen habe, seien die hungrigen Mäuler gewesen, die verzweifelt nach Brot schrien. Da habe er, der Richter, in Pennsylvanien Korn gekauft und es mit Schiffen und dann mit Packpferden durch die Wildnis herbringen und verteilen lassen. Dann sei wie durch ein Wunder in den See ein großer Schwärm Heringe eingedrungen. Man habe sie gefangen, gesalzen und verteilt. Und damit habe der Wohlstand der Siedlung begonnen. Hier warf Richard ein, daß er die Fische ausgeteilt habe. Benjamin habe eine Leine um ihn ziehen müssen, damit ihn die armen, halbverhungerten Menschen nicht erdrückten. Er erinnere sich noch, wie fürchterlich sie nach Zwiebeln gestunken hätten, denn sie hätten ja die ganze Zeit über im Walde nichts als wilde Zwiebeln gegessen. „Ja, Bess", fuhr der Richter fort, „heute kann man sich davon kaum noch eine Vorstellung machen. Als ich damals hier ankam, ritt ich einen engen Wildpfad den Berg hinauf. Dort bestieg ich einen Baum. Es war ein märchenhafter Blick: Wald, Wald — nichts als Wald. Vor mir in der Tiefe glänzte der See. Schwärme wilder Vögel bedeckten ihn. Ich sah, wie eine Bärin mit ihren Jungen zum Ufer trottete, um den Durst zu stillen. Das war alles. Kein Bach, kein Fluß, kein Weg waren zu sehen. Da bemerkte ich auf einmal am östlichen Seeufer unter den Bergen eine aufsteigende Rauchsäule. Dort mußten also Menschen leben. Mit großer Mühe bahnte ich mir einen Weg dorthin. Ich fand eine Hütte von rohen Baumstämmen. Sie war leer, aber anscheinend bewohnt." Gespannt hatte Eduard zugehört. Jetzt rief er: „Das war Nattys Hütte!" „Richtig. Erst dachte ich, ein Indianer wohne dort. Dann aber kam Natty, keuchend unter der Last eines erlegten Hirsches. So lernten wir uns kennen. Ich blieb die Nacht in seiner Hütte." „Und wie erfüllte Lederstrumpf die Pflichten der Gastfreundschaft?" fragte Eduard lächelnd. „Er war herzlich und freundlich, solange er nicht wußte, wer ich war und was ich wollte. Als ich ihm das aber gesagt hatte, nun — das übrige könnt Ihr Euch denken. Er empfand den Gedanken einer Siedlung als einen Eingriff in seine Rechte und befürchtete vor allem, daß es dann mit seiner Freiheit der Jagd vorbei sein würde." Eduard forschte weiter: „Gehörte Euch das Land damals schon? Oder wolltet Ihr es erst kaufen?" „Ich hatte das Gebiet schon Jahre zuvor gekauft. Ich wollte nur feststellen, ob hier eine Siedlung möglich sei." „Sprach Natty damals von den Rechten der Indianer? Er behauptet doch, die Europäer hätten kein Recht auf dieses Land." „Er sprach wohl davon. Damals aber verstand ich ihn noch nicht. Die Rechte der Indianer waren ja nach dem letzten Kriege aufgehoben worden. Mir gehörte dieses Land kraft eines von der Regierung ausgefertigten und vom Kongreß bestätigten Grundbriefes." „Das mag schon stimmen", entgegnete Eduard. Heftig riß er an den Zügeln seines Pferdes und blieb hinter dem erstaunten Richter zurück. Auf dem Heimweg wurde das Wetter schlecht. Ein Sturm kündigte sich an. Dichtes Schneegestöber verhüllte den Berg am Nordufer des Sees. Ein scharfer, kalter Nordwind fuhr pfeifend ins Tal. Die Reiter beeilten sich, so schnell wie möglich ins Tal zu kommen. Richard ritt voran. Ihm folgte Le Quoi. Dann kam Elisabeth, dicht hinter ihr Temple. Ganz am Schluß ritten Luise Grant und Eduard. Sie durchquerten gerade einen düsteren Wald, als Eduard auf einmal laut rief: „Vorsicht, ein Baum! Schnell vorwärts! Ein Baum!" „Ein Baum! Ein Baum!" rief Richard und gab seinem Pferd die Sporen. Wütend sprang es in den Schlamm. Das Wasser spritzte hoch auf. „Un arbre! Un arbre!" schrie der Franzose entsetzt. Er legte sich mit geschlossenen Augen flach auf den Rücken seines Pferdes und sprengte hinter dem Sheriff her. Elisabeth schaute sich ängstlich um, sah aber nichts. Irgendwo im Walde krachte es. Marmaduke packte die Zügel ihres Pferdes und riß es mit sich vorwärts. Im gleichen Augenblick erdröhnte hinter ihnen ein donnerndes Krachen und Prasseln. Eine gewaltige Fichte fiel mit rauschender Wucht zu Boden. Voll tödlicher Angst sah sich der Richter nach Eduard und Luise um. Aber ihnen war nichts geschehen. Vor ihren zitternden und
schnaubenden Tieren lag der Baumriese quer über den Weg. Luise hatte vor Schreck die Zügel fallen lassen. Vornübergebeugt saß sie im Sattel und bedeckte das Gesicht mit den Händen. „Ein Glück, daß der Baum keine großen Äste hat. Sonst wären wir verloren gewesen", sagte Eduard. Die Reiter verließen den Wald und ritten zum Dorfe. In wenigen Augenblicken waren ihre Hüte und Röcke weiß vom Schnee. Als sie vor dem Herrenhause von ihren völlig verschneiten Pferden stiegen, drückte Luise die Hand Eduards und flüsterte: „Euch, Herr Eduard, verdanken Vater und Tochter das Leben."
Nächtlicher Fischzug Endlich hatte der Frühling gesiegt. Überall leuchteten die grünen Kornfelder. Scharen wilder Gänse zogen über das Land. Hin und wieder rasteten sie an den Ufern des Sees. Und eines Morgens erklang im Tale das erste fröhliche Zwitschern der Schwalben. Die milde Luft eines hellen Frühlingsmorgens drang durch die weitgeöffneten Terrassentüren in die Zimmer des Herrenhauses. Der Richter und seine Tochter gingen mit ihren Gästen ins Dorf zur Taubenjagd. Dort herrschte reges Treiben. Ungezählte Schwärme von Tauben kreisten mit lauten Flügelschlägen in der Luft. Männer, Frauen und Kinder, alles war auf den Beinen. Wer nur irgendeine Feuerwaffe besaß, trug sie bei sich. Von der französischen Entenflinte mit ihrem fast zwei Meter langen Lauf bis zur gewöhnlichen Sattelpistole verfügten die Männer wohl über alle Arten von Schießgewehren. Die Jugend behalf sich mit Pfeil und Bogen und Armbrüsten. Die aufgeregten Vögel wußten vor Angst nicht, wohin sie fliegen sollten. Unaufhörlich krachten die Schüsse. Natty Bumppo stand als Zuschauer in der schießenden Menge. Er hatte die Büchse über die Schulter geworfen. Seine Hunde beschnüffelten die blutigen Vögel, die massenweise zu Boden fielen. Aber sie berührten sie nicht, sondern drängten sich an ihren Herrn. Je länger Lederstrumpf dieses Massenmorden beobachtete, desto düsterer wurde seine Miene. Schließlich machte er seinem Unmut Luft: „Ihr wollt Jäger sein? Vierzig Jahre habe ich hier die Tauben durchziehen sehen, ohne daß ihnen jemand etwas zuleide tat. Seit ihr hier seid, hört das Morden unter den Tieren überhaupt nicht mehr auf." Mit Ekel wandte er sich von der wilden Schießerei ab und ging in den Wald zurück. Niemand hatte auf den alten Jäger gehört. Tausende von den Vögeln wurden sinnlos getötet. Die Tage waren jetzt warm und mild. Die Pappeln entfalteten ihre Blätter, und der braune Bergwald wurde grün. Blaumeise, Rotkehlchen und Zaunkönig bauten ihre Nester, und über dem Wasser des Otsego schwebten die Fischreiher. In der ersten dunklen Nacht wollte Richard einen tüchtigen Fischzug veranstalten. Elisabeth, Luise und Eduard soll» ten auch dabeisein. Das Fischefangen mit der Angel, wie Vetter Duke es vorzog, war ihm zu langweilig. Er wollte mit Netzen fischen. Nach Sonnenuntergang fuhren sie, etwa einen Kilometer vom Dorf entfernt, in einem Boot zum westlichen Seeufer. Der Richter, seine Tochter, Fräulein Grant und Eduard gingen auf einem trockenen und ebenen Wege am See entlang. Dieser Weg zum verabredeten Punkt war doppelt so weit wie der auf dem Wasser. Als sie am Ziele ankamen, war es ganz dunkel geworden. Richard wartete schon auf sie. Ein Feuer brannte. Sein Schein erleuchtete die nächste Umgebung im Umkreis von etwa fünfzig Schritten. Herr Jones gab das Kommando zur Abfahrt. Das Boot fuhr auf den See hinaus und verschwand in der Finsternis. Ein klatschendes Plätschern zeigte an, daß das Netz ausgeworfen wurde. Bald darauf hörte man den Befehl, ans Ufer zurückzukehren. Der Kahn tauchte wieder im Schein des Feuers auf und landete gleich darauf. Jetzt strengten sich alle Fischer an, auch der Sheriff faßte zu, das schwere Netz ans Land zu ziehen. Es enthielt viele Zentner Fische. Die Männer machten sich gleich daran, die Beute zu verteilen. Elisabeth und Luise spazierten indessen am Ufer entlang.
Elisabeth bemerkte, daß auf der anderen Seite des Sees in der Nähe von Nattys Hütte ein Feuer angezündet wurde. Erst war es nur wie ein kleines Fünkchen. Dann loderte es bald heller, bald schwächer, als ob es sich dem Ufer näherte. Schließlich strahlte es wie eine farbige Kugel von der Größe eines Menschenkopfes. Der Schein war aber viel heller, glänzender und gleichmäßiger als der von Richards Feuer. Luise drängte sich an ihre Freundin und fragte: „Stimmt es, daß Natty in seiner Jugend ein indianischer Krieger gewesen ist und mit den Wilden zusammen gelebt hat?" „Das kann schon sein. Auch andere haben das getan." „Er tut so geheimnisvoll mit seiner Hütte. Er schließt sie immer so sorgfältig zu, wenn er fortgeht. Bei einem plötzlich ausbrechenden Unwetter baten ihn einmal ein paar Leute um Obdach. Er hat es verweigert." „Sieh nur, welch herrliches Schauspiel!" unterbrach Elisabeth sie. Sie blickten zu der hellen Flamme hinüber, die auf dem See schwamm und immer näher kam. Der Sheriff rief: „He, Natty, seid Ihr es? Kommt näher, alter Knabe. Ihr sollt eine Ladung Fische haben, daß Ihr Euch nicht zu beklagen braucht." Das Boot änderte jetzt die Richtung auf Richards helloderndes Feuer zu. Ein langes, leicht gebautes Fahrzeug glitt aus der Finsternis in den hellen Schein. Aufrecht stand der hagere Natty im Kanu, am anderen Ende saß der alte John. Marmaduke lud sie ein, sich so viel Fische zu nehmen, wie sie wollten. Sie hätten derart viel davon, daß kein Mensch sie alle aufessen könne. „Nein, Richter!" lehnte Natty schroff ab, als er das Ufer heraufkam. „Ich angle mir schon einen Aal oder eine Forelle, wenn ich eine haben will. Aber mit Eurer sündhaften Fischerei will ich nichts zu tun haben." Herr Temple gab ihm recht. „Sagt's mal dem Sheriff! Ein halb so großes Netz würde auch genügen, das ganze Dorf eine Woche lang mit Fischen zu versorgen." Richard wurde ärgerlich: „Ihr seid mir ja ein sauberes Gespann! Richter Temple, Besitzer und Gründer einer Stadt, und Nathanael Bumppo, ein gesetzloser und privilegierter Wilderer! Das kann ich dir sagen, Vetter Duke: Wenn ich fische, dann fische ich gründlich! Los, Leute, noch einen Zug! Morgen früh lassen wir unseren Fang mit Wagen und Karren abholen!" Marmaduke schwieg und trat zu Nattys Boot. Elisabeth staunte, daß sich ein Mensch einem so zerbrechlichen Kahne anvertrauen könne. Eduard erklärte, das Kanu sei vollkommen sicher, wenn es von erfahrenen Ruderern gesteuert werde. Da bekam Fräulein Temple Lust, in diesem Boot eine Fahrt auf dem See zu machen. Der Vater willigte ein. Er erzählte, er sei auf einem noch kleineren Kahn über den Onaido gefahren, da, wo er am breitesten sei. „Und ich über den Ontario", unterbrach ihn Lederstrumpf, „und noch dazu mit Frauen. Aber die Frauen der Delawaren verstehen das Rudern. Wenn das Fräulein mal mitfahren will, werde ich ihm gern zeigen, wie ein alter Mann sich eine Lachsforelle zum Frühstück fängt. Ich lade die Dame dazu ein. John garantiert, daß nichts passiert. Er hat das Kanu gebaut und gestern erst probiert." Mohegan kam näher und sagte höflich: „Komm, Enkelin des Monquons, und erfreue den alten John. Vertraue einem Indianer. Sein Kopf ist zwar alt, aber seine Hand ist noch sicher. Der junge Adler soll uns begleiten und aufpassen, daß seiner Schwester kein Unglück widerfährt.* „Habt Ihr gehört, Herr Eduard?" fragte Elisabeth. „Und wenn es mein Leben kosten sollte, Miss Temple", rief der junge Mann und sprang ins Boot. — Unter Mohegans Hand glitt das Kanu leicht und sicher über das Wasser. Um das Fischen nicht zu stören, gab Natty schweigend mit der Stange die Richtung an. Bald kamen sie an eine seichte Stelle. Hier tummelten sich die Barsche. Tausende von ihnen sah Elisabeth im hellen Lichte der Fackeln in dem warmen Wasser hin und her schwimmen. Natty durchforschte mit seinen Blicken die Tiefe. Endlich zeigte er mit seinem Spieß auf eine bestimmte Stelle. Leise sagte er zu John: „Hier sehe ich einen Fisch, den man selten in seichtem Wasser und auf Harpunenweite findet." Der Indianer winkte mit der Hand. Das Kanu kehrte wieder in das tiefe Wasser zurück. Auch hier konnte man im Scheine der flackernden Fichtenwurzeln noch bis auf den Grund sehen. Elisabeth sah etwa sieben Meter tief einen selten großen Fisch auf dem Sand
stehen. Nur Schwanz und Flossen bewegten sich leicht. Vorsichtig hob Lederstrumpf den Spieß und schleuderte ihn kräftig fort. Mit vorgebeugtem Körper spähte er in die Tiefe. Der Griff des Speeres erschien wieder an der Oberfläche. Lederstrumpf faßte ihn und zog die aufgespießte Lachsforelle in die Höhe. Er hob den Fisch auf und beleuchtete ihn von allen Seiten. „Der genügt mir. Mehr will ich nicht." Der Indianer machte abermals eine Handbewegung. Langsam und feierlich erwiderte er: „Gut!" Dann ruderten sie zum Ufer zurück.
Hirschjagd im See An einem Juliabend bat Richard seinen Vetter, am folgenden Tag mit ihm auszureiten. Herr Temple sagte zu. Der Morgen war schön und warm, als die beiden die Pferde bestiegen. Elisabeth und Luise kamen gerade dazu. Sie wollten einen Spaziergang machen. Herr Temple riet seiner Tochter, bei der Hitze und vor allem in den Wäldern vorsichtig zu sein. Sie sollten nicht zu weit gehen, damit sie mittags wieder zu Hause wären. Eduard, der mit einer Angelrute in der Nähe stand, trat zu den beiden Damen und bot sich höflich als Begleiter an. Dankend lehnte Elisabeth ab. Es sei doch nirgendwo in den Bergen gefährlich, und außerdem wolle sie ihren Hund Bravo mitnehmen; sie brauche keinen Beschützer. Der große alte Kettenhund kam auf Elisabeths Ruf aus der Hütte und streckte sich zu ihren Füßen.
Er wedelte mit dem Schwänze und blickte sie klug und freundlich an. Elisabeth bereute, so schroff gegen Eduard gewesen zu sein, und wollte ihm noch ein paar freundliche Worte sagen: „Wenn Ihr wollt, könnt Ihr uns zum Mittagessen einen Barsch fangen, Euren Lieblingsfisch." Der junge Mann sah den beiden Damen ein paar Sekunden nach, murmelte etwas Unverständliches und ging dann schnell durch das Dorf zum See. Er sprang in einen von des Richters Kähnen und ruderte zu Lederstrumpfs Hütte. Er zog das Boot an Land und blickte sich vorsichtig nach allen Seiten um. Dann setzte er ein kleines Pfeifchen an den Mund und ließ einen durchdringenden Pfiff hören, der in den Bergen widerhallte. Wütend und bellend fuhren Nattys Hunde aus der Hütte. Eduard beruhigte die Hunde. Sie hatten ihn erkannt und schmiegten sich wedelnd an ihn. Der junge Jäger pfiff nochmals. Keine Antwort. Er löste das Schloß und trat in die Hütte. Es war totenstill.
Nach einer Viertelstunde kam Eduard wieder heraus. Sorgfältig verschloß er die Tür und sprach freundlich mit den Hunden. Sie sprangen an ihm hinauf und leckten seine Hände. Plötzlich spitzte Rektor die Ohren7 hob den Kopf und begann zu heulen, daß man es kilometerweit hören konnte. Eduard kletterte auf einen kleinen Felsen. Er sah nur noch, wie Hiram Doolittle eilig hinter Bäumen und Büschen verschwand. Was wohl der Kerl hier sucht? ging es dem jungen Jäger durch den Kopf. Er stieg hinab und sicherte die Tür noch mit einer Kette und einem Vorlegeschloß. Dann ruderte er auf den See hinaus. Hier fand er das Kanu der Freunde, die zum Fischen gerudert waren. Schnell folgte er ihnen. Bald konnte er sein Boot an dem leichten Fahrzeug befestigen. Die beiden Alten nickten ihm einen freundlichen Gruß zu. Schweigend setzte er sich zu ihnen und warf seine Angelrute ins Wasser. Nach einer Weile berichtete Eduard von seiner Begegnung mit dem Zimmermann und Friedensrichter Hiram Doolittle. „Von dem erwarte ich nicht viel Gutes", sagte Natty ruhig und zog einen Fisch aus dem Wasser. „Wenn mir der Schuft lästig wird, schieße ich ihn einfach über den Haufen." „Das tut Ihr nicht! Denkt an das Gesetz!" besänftigte Eduard. Lederstrumpf nickte, und sie angelten schweigend weiter. Nach einer Weile neigte Natty das Ohr zum Wasser, hielt den Atem an und lauschte. Endlich sagte er kopfschüttelnd: „Ich habe doch die Hunde angebunden, aber jetzt ist mir, als hörte ich Hektor in den Bergen kläffen." „Unmöglich. Ich sah sie eben noch in der Hütte." Doch Lederstrumpf beharrte: „Die Hunde sind los und jagen. Ich irre mich nicht. Hört Ihr es denn nicht auch?" Richtig, jetzt vernahm auch Eduard das Bellen. Plötzlich sprang ein Hirsch aus den Büschen am Ufer in den See. Laut bellend folgten ihm die Hunde. Sie stürzten sich ebenfalls ins Wasser. „Hierher, Hektor, hierher!" rief Natty. Nur widerstrebend gehorchten die Hunde ihrem Herrn. Sie kehrten ans Land zurück, aber bellten und heulten weiter. Der Hirsch schwamm, den Kopf hoch über dem Wasser, in seiner Todesangst schnell an den Fischern vorbei. Lederstrumpf packte das Jagdfieber. „Ein prächtiges Tier! Das Fleisch muß jetzt gut sein." Mohegan löste das Seil, womit Eduards Boot befestigt war. Pfeil« schnell schoß das leichte Kanu über das Wasser. „Halt!" rief Eduard. „Nicht schießen, es ist doch Schonzeit!" Zu spät — die Jäger hörten nicht mehr, sie waren schon zu weit. Verzweifelt schwamm der Hirsch. Nahe hinter ihm tanzte der Kahn auf den Wellen. Lederstrumpf hob schon die Büchse, aber da rief der alte John plötzlich: „Er dreht den Kopf, Falkenauge, nimm den Speer!" Natty hob das Eisen. „Mehr links, John!" rief er. „Noch ein Ruderschlag! Den kriegen wir!"
Bei den letzten Worten schleuderte er den Speer ins Wasser. Er streifte aber nur das Geweih. Die Lanze erschien wieder auf der Oberfläche. Lederstrumpf griff rasch danach. Der Hirsch hatte einen bedeutenden Vorsprung gewonnen. Auch Eduard war nun herangekommen. „Laßt es sein! Ihr macht Euch strafbar!" Er kam mit dem Boot ganz nahe an den Hirsch. Der kämpfte tapfer mit den Wellen. Da auf einmal packte auch den jungen Mann das Jagdfieber. „Hurra!" schrie er, „Treibt ihn etwas weiter rechts! Ich kann ihm das Seil über das Geweih werfen!" John trieb das Kanu hinter dem Hirsch her. Der suchte verzweifelt, sich durch überraschende Wendungen zu retten. Schließlich wandte er sich zum Ufer, wo die Hunde immer noch heulten und bellten. Eduard machte eine Schlinge in das Seil und warf es dem Hirsch geschickt über. Der Knoten legte sich um die Enden des Geweihes. Das gefangene Tier zog zunächst das Boot hinter sich her. Da schoß aber schon das Kanu heran. Natty beugte sich weit vor und schnitt dem Opfer den Hals durch. Das Wasser färbte sich sogleich blutrot. Lederstrumpf zog das tote Wild in den Kahn. Laut lachte er: „Marmadukes Gesetze gehen mich einen Dreck an! Solche Jagd macht das Blut wieder warm! Was, alter John? Eine Hirschjagd im Wasser habe ich seit vielen Jahren nicht gehabt."
Selbst das dunkle Gesicht des alten Indianers leuchtete vor Freude. „Aber wir haben das Gesetz verletzt", sagte Eduard. „Wir dürfen uns nicht verraten. Ich möchte nur wissen, wie die Hunde losgekommen sind." „Das Tier ist ihnen zu nahe gekommen. Da haben sie die Riemen durchgebissen. Ein Stückchen haben sie noch um den Hals." Sie landeten. Natty untersuchte die Reste der Lederriemen am Halse seiner Hunde. Er schüttelte den Kopf. Die Riemen waren durchschnitten worden. „Das war Doolittle!" „Aber warum?" fragte Eduard zweifelnd. „Er wollte sicher in die Hütte. Darauf ist er doch schon lange scharf." „Gebt mir das Kanu", rief Eduard atemlos. „Ich komme vielleicht schneller hin als Ihr und kann den Burschen noch fassen." Eduard glitt mit dem Kanu über das Wasser. Mohegan folgte langsam mit dem Kahn. Natty kehrte, die Flinte im Arm und von den Hunden begleitet, über den Berg zu seiner Hütte zurück.
Abenteuer mit dem Panther Elisabeth und Luise waren den Berg hinaufgestiegen und von dem heißen Fahrweg in den kühlen Wald hineingegangen. Hier und da er» öffnete eine Lichtung den Ausblick auf die glänzende Fläche des Otsego. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Plötzlich schrak Elisabeth zusammen. Sie glaubte, das Geschrei eines Kindes gehört zu haben. Schnell gingen sie in die Richtung, aus welcher die Laute kamen. Bravo, der Hund, schnupperte mit tief gesenktem Kopf am Boden. Sein Fell sträubte sich. Er heulte und fletschte die Zähne. Elisabeth rief ihn an. „Ruhig, Bravo, was hast du denn?" Der Hund sprang auf und setzte sich ihr zu Füßen. Warnend knurrte er. Luise schrie leise auf. Sie deutete ins Gebüsch. Elisabeth sah in die funkelnden Augen eines Panthers. „Schnell hier weg!" keuchte sie und griff nach Luises Arm. Doch diese sank ohnmächtig zu Boden. Fräulein Temple kniete nieder und suchte sie zu sich zu bringen. Da sah sie ein Pantherjunges aus den Zweigen eines Baumes herabspringen. Das Muttertier saß noch auf seinem Ast. Aufmerksam folgte sein Blick den Bewegungen des Jungtieres. Dieses näherte sich wie eine spielende, neckende Katze dem Hunde. Es setzte sich auf die Hinterbeine und zerkratzte mit den Vordertatzen die Baumrinde. Mit aufgerichtetem Schwänze beobachtete der Hund den jungen Panther. Schließlich überschlug sich das Junge und rollte vor Bravos Füße. Dieser packte es mit den Zähnen, zerriß es und schleuderte es gegen einen Stamm. Es fiel tot zu Boden. Da sprang das Muttertier mit gewaltigem Satz auf den Rücken des Hundes. Ein wütender Kampf begann. Lautes Fauchen und Heulen begleitete ihn. Der alte Bravo blutete aus vielen Wunden. Doch immer wieder warf er seine wütende Gegnerin ab, wenn sie auf seinen Rücken sprang. Er wehrte sich mit Zähnen und Pfoten. Mit großen Sprüngen entzog sich die rasende Bestie den Angriffen und Bissen des Hundes. Der kämpfte verzweifelt, aber fruchtlos. Wieder sprang das Untier auf seinen Rücken. Mit der letzten Anstrengung seiner Kräfte schleuderte Bravo die Katze ab. Wütend packte er sie mit den Zähnen. Unter seinem Halsband rieselte das Blut in kleinen Bächen hervor. Das treue Tier konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Im Sturz riß es die Bestie mit sich. Sie biß zu. Dann rührte sich Bravo nicht mehr. Schutzlos stand Elisabeth dem Raubtier gegenüber. Seine Augen funkelten, wütend peitschte sein Schweif den Boden. Da rauschten die Blätter. „Bückt Euch!" flüsterte eine Stimme. Gleich darauf krachte ein Schuß. Die Bestie stürzte zu Boden. Dann stand Natty neben dem Mädchen. Noch einmal bäumte sich die verwundete Katze auf. Mit einem zweiten Schuß tötete der Jäger das Tier. Der Knall brachte Luise zu sich. Mit tränenüberströmten Gesichtern dankten die Mädchen ihrem Retter. Natty drückte freundlich die Hände, die sich ihm entgegenstreckten. „Schon gut! Schon gut. Aber nun geht ihr am besten nach Hause." Langsam begleitete er die Freundinnen zum Fahrweg zurück. Hier trennten sie sich. Elisabeth und Luise gingen schweigend ins Dorf. Natty blickte ihnen nach, bis sie um die
Wegbiegung verschwunden waren. Dann pfiff er seinen Hunden. Er warf die Flinte über die Schulter und wandte sich wieder dem Wald zu. Plötzlich erblickte er hinter einem Baum Hiram Doolittle. Als dieser sich entdeckt sah, rief er: „Ihr habt ja gejagt! Nehmt Euch in acht, alter Mann, daß Ihr nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommt!" Natty blieb stehen. „Gesetz! Mann! Ich habe dreißig Jahre lang nichts mit dem Gesetz zu tun gehabt. Was heißt in der Wildnis Gesetz?" „Es kann Euch eine Strafe von zwölf Dollar kosten!" „Und wieviel bekommt der Angeber?" Hiram wich dem scharfen Blick des alten Jägers aus. „Wieviel? Natürlich die Hälfte! — Ihr habt Blut am Ärmel. Habt Ihr heute Morgen schon was geschossen?" „Allerdings — und es war ein guter Schuß!" Sie waren in die Nähe des Kampfplatzes gekommen. Hiram sah den toten Bravo und rief: „Das ist doch des Richters Hund, Lederstrumpf. Was habt Ihr da angerichtet!" Kaltblütig wetzte Natty sein Messer an der Lederhose. Dabei brummte er: „Und dort liegen zwei Panther." „Zwei Panther! Und wo ist das Wild?" „Wild? Was für Wild?" Hiram wurde unsicher. „Ihr habt doch einen Hirsch geschossen?" „Ich dachte, das verbietet das Gesetz! Hoffentlich darf man wenigstens Panther schießen." „Natürlich. Für das Fell bekommt Ihr sogar eine Belohnung. — Aber jagen Eure Hunde denn Panther?" „Alles, sogar einen Mann können sie aufspüren!" Natty hatte sich auf den Boden gesetzt. Er zog dem Panther das Fell ab. Als er fertig war, sagte er leichthin: „Der Teufel hole den Riemer um Hektors Hals! Der Hund wird sich noch dran aufhängen. Könnt Ihr mir schnell mal ein Messer borgen?" Hiram reichte ihm sein Messer. Der Jäger schnitt den Riemen am Halse des Hundes durch. „Ein gutes Stück Stahl", bemerkte er. „Hai wohl schon öfter solch ein Leder durchschnitten, he?" Wütend rief Hiram: „Wollt Ihr vielleicht sagen, ich hätte Eure Hunde losgelassen?" Lederstrumpf lachte schallend. „Ihr? Ich ließ sie selbst los, wie immer wenn ich die Hütte verlasse!" Natty nahm sein Fell und ließ den verdatterten Doolittle stehen. Er kam zu seiner Hütte. Alles war ruhig und still. Er legte die Hund« an und klopfte leise an die Tür. Eduard öffnete. „Alles in Ordnung, Eduard?" „Ja. Es hat jemand versucht, das Schloß zu öffnen. Doch ohne Erfolg/ „Ich kenne den Jemand. Er wird es nicht wieder wagen! Der hat jetzt Angst vor meiner Flinte." Und er schloß die Tür hinter sich.
Ränke gegen Lederstrumpf Eine halbe Stunde schon ritten der Richter und der Sheriff schweigend nebeneinander her. Endlich fragte Herr Temple: „Was soll eigentlich dieser feierliche Ausritt, Richard?" Nun erklärte Herr Jones: „Hier haust ein gewisser Natty Bumppo. Er brüstet sich damit, länger als vierzig Jahre in den Wäldern gelebt zu haben. Seit einigen Monaten wohnt ein alter Indianerhäuptling bei ihm, der letzte oder wenigstens einer der letzten seines Stammes, dazu ein junger Mann, vermutlich der Sohn eines Engländers und einer Indianerin." „Wer sagt das?" „Wer? Die Leute — und der gesunde Menschenverstand. Aber höre weiter. Dieser junge Mann ist gut erzogen, intelligent und weiß sich zu benehmen. Kannst du mir erklären, was diese drei Menschen zusammengeführt hat?" Marmaduke war überrascht. „Darüber habe ich auch schon nach» gedacht. Weißt du es denn?"
„Diese Berge enthalten Erze ..." „Lieber Vetter, das wird vermutet." Unwillig rief Richard: „Hier gibt es Silber, Duke! Ich habe Lederstrumpf und Mohegan im Verdacht, daß sie schon seit Jahren eine Erzgrube in den Bergen entdeckt und ausgebeutet haben." Dies allerdings ließ den Richter aufhorchen. Richard fuhr fort: „Ich habe mit meinen eigenen Augen gesehen, wie die beiden mit Hacke und Spaten den Berg hinaufgingen. Andere haben beobachtet, wie sie bei Nacht geheimnisvoll in ihrer Hütte hantiert haben. Weißt du denn, was die da treiben?" Marmaduke schwieg. Er zog die Augenbrauen zusammen, als dächte er nach. Richard triumphierte: „Es ist ganz klar, sie bearbeiten Metall! Wer ist eigentlich dieser Herr Oliver Eduard, den du seit Weihnachten im Hause hast? Ein Halbwilder, das wissen wir ja nun, sogar von Mohegan; gut erzogen ist er, das wissen wir auch. Aber was will er in dieser sonderbaren Gesellschaft? Und Lederstrumpf wurde gesehen, wie er mit schwer beladenem Schlitten über die Berge gekommen ist," „Vielleicht hatte er etwas geschossen." „Ich will es dir sagen: Er hat sich Werkzeug geholt, womit er das Silber bearbeitet. Darum darf auch niemand in die Nähe seiner Hütte!" „Das hat er schon früher nicht gemocht." „Ach was, die schmelzen Metall, mein Lieber, jawohl. Sie werden reich, und du wirst arm!" „Wenn das stimmt, hätten wir doch den jungen Mann nicht völlig mittellos gefunden", meinte Herr Temple. Richard entkräftete diesen Einwand: „Man kann sich leicht arm stellen." „Richard", sagte der Richter, „man könnte manches gegen deine Ansicht vorbringen. Aber nun sag: Warum sind wir hier?" „Jotham hat entdeckt, wo das Metall liegt. Heute hat er zu graben angefangen. Ohne deine Zustimmung wollte er nichts unternehmen, denn das Land gehört dir. Nun weißt du, warum wir hierhergeritten sind." „Und wo ist die Stelle?" „Ganz in der Nähe."
Bald fanden sie Jotham Riddle, der im Schweiße seines Angesichts schon ein tiefes Loch gegraben hatte. Der Richter fragte ihn erstaunt, weshalb er gerade an dieser abgelegenen Stelle Silber vermute. Aber aus dem Mann war nichts herauszubringen; er fragte Herrn Temple lediglich, wieviel er von dem Fund als Gewinn bekäme.
Marmaduke blieb eine Stunde da und untersuchte die Steine. Schließ» lieh wünschte er den Fleck zu sehen, wo die geheimnisvollen Schatzgräber gearbeitet haben sollten. Richard meinte: „Wir müssen vorsichtig sein. Es wäre unangenehm, wenn sie uns überraschten." „Auf meinem Grund und Boden brauche ich niemanden zu fürchten", erwiderte der Richter schroff. „Ich will wissen, was die hier zu graben hatten." Sie banden die Pferde an einen Baum. Auf einem schmalen Pfad stiegen sie zu einer geräumigen Felsenhöhle hinab, vor der frisch aufgeworfene Erde lag. Der Sheriff fand im Gebüsch mehrere Spaten. „Na, Herr Richter, bist du nun zufrieden?" „Das ist ja alles recht seltsam. Aber von Silber finde ich keine Spur." Herr Temple machte sich einige Notizen, dann gingen sie zu den Pferden und ritten zurück. Marmaduke sah seine Tochter und ihre Freundin langsam den Berg herabkommen und ritt ihnen entgegen. Elisabeth erzählte das Abenteuer mit dem Panther. Darüber vergaß der Vater alle Erzgruben und Höhlen. Kaum jedoch waren der Richter und seine Tochter zu Hause, wünschte Hiram Doolittle Herrn Temple zu sprechen. Er habe eine Klage vorzubringen. Marmaduke befahl, ihn hereinzuführen. Ehrerbietig begrüßte Hiram den Richter und seine Tochter. Wortreich erging er sich über den Unglücksfall der beiden jungen Damen und erwähnte schließlich ganz nebenbei, daß jetzt, in der Schonzeit, ein Hirsch geschossen worden sei. Herr Temple wurde zornig. „Sofort Anklage erheben! Wir wollen doch sehen, ob wir dem Gesetz nicht Achtung verschaffen können." Hiram war befriedigt. „Ich war überzeugt, daß Ihr so entscheiden würdet. Deswegen kam ich hierher." „Um wen handelt es sich denn?" „Um Natty Bumppo. Ich bitte um einen Haussuchungsbefehl." „Das Gesetz verlangt einen Eid, bevor ein solcher Befehl erteilt wird. Auf bloße Vermutung hin darf die Wohnung eines Bürgers nicht untersucht werden!" „Den Eid kann ich leisten. Und draußen steht Jotham und wartet nur darauf, ebenfalls zu schwören." „Gut. Geht in mein Büro. Ich komme gleich nach und werde den Haussuchungsbefehl unterschreiben." Doolittle hatte das Zimmer verlassen, und Marmaduke wandte sich an seine Tochter: „Es ist alles nicht so schlimm, wie es aussieht. Lederstrumpf hat wohl gedacht, die Schonzeit sei ja sowieso bald zu Ende. Den Hirsch wird man bei der Haussuchung finden. Das kostet Natty die Kleinigkeit von zwölfeinhalb Dollar, und die wirst du bezahlen, Bess. Damit ist die Sache erledigt." Als er wieder aus dem Büro herauskam, gratulierte ihm Eduard zur wunderbaren Rettung seiner Tochter. Marmaduke dankte ihm und ging mit dem jungen Mann zu Elisabeth. Jetzt war sie nicht mehr so kühl und zurückhaltend gegen ihn wie bisher. Inzwischen wanderte Hiram mit Billy Kirby zu Lederstrumpfs Hütte. Kirby trat vor die Tür und klatschte in die Hände. Die Hunde erhoben ein wütendes Gebell. Hiram Doolittle hatte sich vorsichtshalber hinter dem Stamm einer umgestürzten Tanne verschanzt. Natty kam heraus. „Ruhig, alter Hektor!" Billy Kirby erklärte: „Lederstrumpf, die guten Leute, die den Staat verwalten, haben Euch einen kleinen Brief geschrieben. Wenn Ihr ihn nicht lesen könnt, wird Herr Doolittle ihn vorlesen. Mir scheint, Ihr habt den 20. Juli für den August gehalten, alter Freund!" Lederstrumpf hatte Hiram schon längst gesehen. Er drehte sich kurz nach der Hütte um, sprach ein paar Worte hinein und wandte sich dann wieder an Billy Kirby: „Wir zwei haben nichts miteinander abzumachen. Laßt mich in Ruhe." Kirby kam ein paar Schritte näher und setzte sich auf einen Holzblock. „Man erzählt sich, Ihr habt da drin einen schönen Hirsch." „Irrtum! Ich habe heute nur zweimal geschossen, und zwar auf einen Panther! Da ist das Fell! Ich wollte es eben dem Richter bringen und meine Belohnung abholen." Mit wichtiger Amtsmiene trat nun Hiram herzu. Laut las er den Haussuchungsbefehl vor und vergaß auch nicht die Unterschrift, den Namen des Richters. „Marmaduke Temple hat seinen Namen auf diesen Fetzen Papier geschrieben?" fragte Natty. Er schüttelte den Kopf. Das alles verstand er nicht.
Hiram beruhigte ihn heuchlerisch: „Nur eine Formsache, Natty. Kommt, wir können ja drinnen weitersprechen." Aber der Alte stand wie ein Fels vor seiner Tür. „Ich tue keinem Menschen etwas. Warum laßt Ihr mich nicht mit Euren Gesetzen in Ruhe, von denen ich doch nichts verstehe?" „Im Namen des Volkes fordere ich Euch auf, kraft dieses Haussuchungsbefehles und meines Amtes als Friedensrichter, mir die Tür Eures Hauses zu öffnen, Nathanael Bumppo!" Hiram hatte schon seinen Fuß auf die Schwelle gesetzt. Da packte ihn Natty an den Schultern und schleuderte ihn sechs Meter weit. Billy Kirby lachte schallend. „Bravo, alter Knacker!" rief der Holzhacker. Hiram zitterte vor Angst. Er kauerte hinter einer kleinen Bodenschwelle und rief mit schriller Stimme .-„William Kirby, ich befehle Euch, im Namen des Volkes, diesen Kerl zu verhaften!" Das war zuviel für Lederstrumpf. Er nahm seine Flinte und richtete sie auf den Holzhacker. Dieser stand auf und erklärte: „Ich kam nicht als Euer Feind hierher, Lederstrumpf, und vor Eurer Flinte habe ich keine Angst. Los, Herr Doolittle, sprecht, wie es Eure Pflicht ist!" Doch Hiram hatte sich bereits aus dem Staube gemacht. „Mich vertreibt Ihr nicht so leicht, Natty", sagte Billy wütend. „Legt Euer Gewehr weg, oder es passiert was!" Natty setzte die Flinte auf den Boden. „Soll ich alter Mann meine Hütte vielleicht von solch einem Kerl betreten lassen? Ja, Billy, ich habe einen Hirsch, Ihr könnt das Fell zum Beweis mitnehmen. Die Strafe kann ja auf die Belohnung für das Pantherfell verrechnet werden." „Das ist vernünftig, alter Knabe", lobte Billy. Natty holte die Felle aus der Hütte und gab sie ihm. Mit freundlichem Händedruck gingen sie auseinander. Im Dorfe hatte sich bereits das Gerücht von Billys Lebensgefahr, von Hirams Flucht und Nattys offener Auflehnung gegen das Gesetz verbreitet. In Eile fand eine Bürgerversammlung statt. Man erwog, den Landsturm einzuberufen.
Lederstrumpfs Verhaftung Der Advokat Lippet begegnete Oliver Eduard auf der Straße. Brüh= warm erzählte er ihm die aufregende Geschichte, die sich zugetragen hatte. Eduard erschrak und eilte beunruhigt zum Hause des Richters. Im Vorsaal traf er Benjamin. Er fragte, wo er Herrn Temple sprechen könne. „Der ist mit Herrn Doolittle im Büro. Aber Fräulein Bess ist dort im Zimmer." Eduard ging hinein. Elisabeth, die auf dem Sofa lag, suchte ihn zu beruhigen. Dann kam der Richter. Er ging mehrmals im Zimmer auf und ab und sagte schließlich: „Es steht schlecht, Bess. Die Halsstarrigkeit des Alten macht es mir unmöglich, ihn milde zu behandeln. Ich kann es nicht mehr ändern." Eduard fragte bedrückt: „Was wird er für eine Strafe bekommen?" „Das weiß ich noch nicht. Ich muß erst die Zeugen vernehmen. Leider kann ich nun keine Rücksicht mehr darauf nehmen, daß der Mann meine Tochter gerettet hat." „Kann man es einem Menschen übel nehmen, wenn er einen Schurken von seiner Tür vertreibt? Natty trifft hier bestimmt keine Schuld!" „Wen denn sonst?" fragte der Richter und blieb stehen. „Das fragt Euch selbst, Richter Temple! Geht vor die Tür und schaut auf dieses Tal, diesen ruhigen See, die dunklen Berge, und dann fragt Euch ehrlich, wem all das gehört und wie Ihr in den Besitz dieses Reichtums gekommen seid! Ich sollte meinen, es müßte Euch das Herz zerreißen, wenn Ihr seht, wie Mohegan und Natty verarmt und verein« samt durch dieses Land schleichen!" „Oliver Eduard, Ihr vergeßt, mit wem Ihr sprecht! Mir gehört dieses Land von Rechts wegen! Mir ist es von Euren Vorfahren vor Gericht abgetreten worden! Nach dem aber, was Ihr eben gesagt habt, können wir nicht mehr länger zusammenbleiben."
Elisabeth ging aus dem Zimmer. Eduard wollte noch etwas sagen, aber dann schwieg er bestürzt. Schließlich verließ er das Haus und schlug den Weg zu Nattys Hütte ein. Am späten Abend des nächsten Tages erst kehrte Richard zurück. Er hatte mit seinen Polizisten in den Wäldern eine Falschmünzerbande ausgehoben. Vier Missetäter wurden ins Gefängnis eingeliefert. Im Haus traf der Sheriff nur Benjamin. Der erzählte ihm was inzwischen vorgefallen war. Spornstreichs ging Richard zum Gefängnis, ließ seine Polizisten antreten und machte sich mit ihnen auf den Weg. Im Walde gab er Anweisungen, Lederstrumpfs Hütte einzukreisen und auf das Kommando „Vorwärts!" mit Gewalt in sie einzudringen. Alles war gut vorbereitet. Aber als sie an die Stelle kamen, wo Natty bisher gehaust hatte, fanden sie nur noch einen rauchenden Trümmerhaufen. Richard und seine Gesellen blickten verblüfft in die glühende Asche und wußten nicht, was sie davon halten sollten. Da trat aus der Finsternis eine hohe Gestalt in den Kreis. Es war Natty. Mit dem Fuß stieß er in die glimmende Asche und die schwelenden Holzstückchen und sagte: „Was sucht ihr hier bei einem hilflosen, alten Mann? Ihr habt Gottes Geschöpfe aus der Wildnis getrieben und Verwirrung und Unruhe ins Land gebracht. Vierzig Jahre habe ich in diesem Winkel gehaust. Nun habt ihr mich aus Wohnung und Heimat vertrieben. Ehe ihr in meine Hütte kamt, um eure verdammten Gesetze auszuüben, habe ich lieber selbst Feuer an das Dach gelegt, unter dem ich so lange lebte. Was wollt ihr denn von mir? Habt ihr nicht schon alles? Hier stehe ich, einer gegen viele. Ist es Gottes Wille, daß ich in eure Hände fallen soll, so tut mit mir, was ihr wollt.'" Natty blickte sich um. Seine Augen waren ernst und traurig. Als erster fand Richard die Sprache wieder. Er trat vor und erklärte, daß es ihm leid tue, seine Pflicht tun zu müssen, aber er sei gekommen, um ihn zu verhaften. Mit Natty in ihrer Mitte kehrte die Mannschaft ins Dorf zurück.
Lederstrumpfs Verurteilung Auf allen Straßen und Pfaden, zu Roß und zu Fuß, waren die Ge« schworenen nach Templeton gekommen, um an der Gerichtssitzung teilzunehmen. Um zehn Uhr, beim ersten Glockenschlag, trat Richard Jones aus der Tür des „Kühnen Dragoners". Er trug ein bloßes Schwert in der Hand, das angeblich bereits seine Vorfahren in Cromwells Schlachten geführt hatten. Dem Sheriff folgten die Gerichtsdiener mit den Stäben. Dann erschien Richter Temple, begleitet von ernst blickenden Geschworenen. Vier glattrasierte Advokaten schlössen sich an. Das Ende des Zuges bildete das Volk. Richter und Advokaten nahmen Platz im Gerichtszimmer, und die Verhandlung wurde eröffnet. Die Verordnungen wurden verlesen, die Geschworenen vereidigt. Als der Name Bumppo aufgerufen wurde, lief eine Bewegung durch die Menge, die vor den Schranken und auf der Straße stand. Zwei Gerichtsdiener führten Lederstrumpf herein. Er setzte sich auf die Anklagebank. Es wurde totenstill. Natty trug seinen hirschledernen Anzug. Sein grobleinenes Hemd wurde am Halse durch eine Hirschsehne zusammengehalten. Er stand zum ersten Male vor Gericht. Furchtlos betrachtete er Richter, Geschworene und Zuschauer. Er war der Mittelpunkt aller Blicke. „Angeklagter, nehmt die Mütze ab!" sagte der Richter. Natty rührte sich nicht. Der Richter wiederholte: „Nathanael Bumppo, nehmt Eure Mütze ab!" Der Verteidiger, der Advokat Lippet, flüsterte Lederstrumpf etwas ins Ohr. Dieser ruckte und nahm die hirschlederne Mütze ab. Der Richter sagte: „Herr Staatsanwalt, der Angeklagte ist bereit. Bitte, verlesen Sie die Anklageschrift!" Herr Dirk van de School stand auf und verlas die Anklage. Natty Bumppo, genannt Lederstrumpf, habe sich mit bewaffneter Hand einer gesetzlichen Haussuchung widersetzt.
Der alte Jäger sollte antworten. Sein Verteidiger flüsterte ihm etwas ins Ohr. Aber darauf achtete Lederstrumpf nicht. „Verdammte Lüge!" rief er. „Ich trachte keinem Menschen nach dem Leben! Selbst die Irokesen können mir so etwas nicht nachsagen! Ich habe stets als anständiger Soldat gekämpft! Hier scheint es Menschen zu geben, die nicht glauben, daß Gott auch in der Wildnis lebt!" Der Richter ermahnte ihn: „Bleibt bei der Sache, Bumppo, Euch wird vorgeworfen, mit Eurer Flinte einen Gerichtsdiener bedroht zu haben. Bekennt Ihr Euch schuldig oder nicht?" Natty schüttelte den Kopf. Der Richter wandte sich an den Schreiber: „Schreibt seine Antwort: Nicht schuldig'!" Hiram Doolittle und Billy Kirby wurden als Zeugen vernommen. Nattys Anwalt stellte einige Fragen, um aus den Antworten der Zeugen die Unschuld des Angeklagten zu beweisen. Dann erhob sich Dirk van de School abermals. „Meine Herren Geschworenen! Ich habe den Anwalt des Angeklagten nicht unterbrochen, weil ich von vornherein überzeugt war, daß er mit all seinen Fragen in keiner Weise das Landesgesetz erschüttern kann. Der Anwalt wollte Euch, meine Herren, weismachen, daß der Staat keineswegs gefährdet werde, wenn einer einem Gerichtsdiener die Flinte auf die Brust setzt. Ich verweise auf die eindeutigen Zeugenaussagen." Darauf sprach der Richter: „Meine Herren, wir leben hier völlig abgeschnitten von der übrigen Welt. Um so nötiger ist es, die Männer, die ihre Pflicht tun, zu schützen, wenn sie ein Gesetz vollstrecken. Täten wir es nicht, würden wir uns unzähligen Gefahren aussetzen. Wenn Ihr aber glaubt, daß der alte Mann, der heute als Angeklagter vor Euch steht, nicht aus böser Absicht, sondern nur aus Unkenntnis so gehandelt hat, dann empfehle ich Euch, ihm mildernde Umstände zuzubilligen." Die Geschworenen blieben sitzen und berieten sich ein paar Minuten lang. Dann stand der Vorsitzende auf und erklärte den Angeklagten für schuldig. Eine Pause trat ein. Dann verkündete der Richter das Urteil: „Nathanael Bumppo, mit Rücksicht auf Eure Unkenntnis des Gesetzes sieht sich das hohe Gericht Veranlaßt, Euch eine mildere Strafe aufzuerlegen, als Ihr eigentlich verdient hättet. Das Gericht hat beschlossen, daß Ihr aus diesem Zimmer für eine Stunde in den Stock gebracht werden sollt. Außerdem seid Ihr zu hundert Dollar Buße und zu einem Monat Gefängnis verurteilt." Aufgeregt fiel ihm Lederstrumpf ins Wort: „Woher soll ich denn das Geld nehmen? Ich gebe die Belohnung für die Pantherfelle als Strafe für den erlegten Hirsch. Wie soll ich alter Mann in diesen Wäldern zu soviel Gold oder Silber kommen? Nein, Richter, Ihr könnt mich nicht für den Rest meines Lebens in ein erbärmliches Gefängnis sperren!" „Wenn Ihr Berufung gegen das Urteil einlegen wollt, wird das Gericht Eure guten Gründe zu würdigen wissen", antwortete der Richter. „Woher soll ich das Geld nehmen? Laßt mich in die Wälder und Berge hinaus, an die ich gewöhnt bin. Wenn Ihr noch genug Wild im Lande gelassen habt, will ich trotz meiner mehr als siebzig Jahre Tag und Nacht jagen, bis ich die verlangte Summe zusammengebracht habe.
Habt Ihr die Zeit vergessen, als Ihr zuerst an den See kamt? Gab ich Euch nicht meine eigene Hirschhaut zum Schlafen und ein gutes Stück von einem Rehrücken gegen Euren Hunger? Es gibt Leute, die schlimme Dinge über Euch erzählen, Marmaduke Temple! Aber Ihr könnt nicht so hart sein, einen alten Mann im Gefängnis sterben zu lassen, weil er sich verteidigte. Kommt, Freunde, laßt mich hinaus! Ich bin lange nicht unter so vielen Menschen gewesen, und mich verlangt wieder nach meinen Wäldern ..." „Schluß jetzt!" herrschte ihn der Richter an und biß sich auf die Lippen. „Legt den Verurteilten in den Stock!" Natty ließ den Kopf auf die Brust sinken. Langsam folgte er dem Gerichtsdiener aus dem Saal. Die schweigende Menge machte ihm Platz. Der große Haufen drängte ihm nach, um Zeuge seiner Schande zu werden.
Flucht Der Gerichtsdiener hob den oberen Teil des Stockes empor und zeigte auf die Löcher, in die der alte Mann die Füße legen sollte. Lederstrumpf gehorchte und warf einen kurzen Blick auf die Umstehenden. Auf ihren Mienen bemerkte er weder Mitleid noch Schadenfreude. Der Gerichtsdiener wollte gerade das oberste Brett niederfallen lassen, da rief Benjamin mit heiserer Stimme: „Zum Donnerwetter, warum belegt man die Füße eines Mannes wie eine Tonne mit Reifen? Was soll denn das heißen?" Würdevoll antwortete der Gerichtsdiener: „Herr Penguillan, das Gesetz befiehlt es!" „Das weiß ich. Aber ich sehe nicht ein, wozu es nützt, es ist nur ärgerlieh, weiter nichts." „Euch mag es nichts ausmachen, Ben Pump", sagte Natty, „aber für einen alten Jäger und Soldaten ist es eine Schande." Wütend blickte Benjamin in die stumme Menge. Dann setzte er sich bedächtig neben den Jäger, legte seine Beine in die zwei noch leeren Löcher des Stockes und sagte: „Laßt nur herunter, Herr, laßt herunter! Wenn einer einen Bären sehen will, soll er kommen! Er wird zwei finden, von denen einer nicht nur brummen, sondern auch beißen kann!" Der Gerichtsdiener widersprach: „Ich habe keinen Befehl, Euch in den Stock zu schließen, Herr Pump. Steht auf, damit ich meines Amtes walten kann." „Ich habe es befohlen! Ich kann doch wohl noch über meine Füße bestimmen, oder nicht?" Der Büttel lachte und schloß die Kette. „Na gut, wenn es Euch Spaß macht, mit eingeschlossen zu werden, von mir aus." Die Umstehenden lachten. Der Haushofmeister des Herrn Temple strampelte heftig mit Händen und Füßen, wie um sich zu befreien. „Gerichtsdiener!" brüllte er. „Nehmt mir die Fußfesseln noch einmal ab! Diesen Halunken will ich zeigen, daß man ein paar ehrliche Kerle nicht ungestraft auslachen darf!" Doch der Gerichtsdiener kümmerte sich nicht mehr um ihn. Lederstrumpf seufzte nur und blickte auf die Menge, die sich nach und nach zerstreute. Da ging Hiram Doolittle über den Platz, begleitet von Jotham. Benjamin wartete, bis der Friedensrichter nahe genug herangekommen war. Unverhofft packte er ihn am Bein und riß ihn zu Boden. „Ha, Ihr verdammter Bandit!" rief der Haushofmeister voller Schadenfreude. „Mit Euch fahre ich noch Schlitten, daß Euch Hören und Sehen vergeht! Ich weiß genau, wer Ihr seid und daß Ihr Euch kein Gewissen macht, wie Ihr Euer Ziel erreicht." „Jotham!" winselte Doolittle. „Gerichtsdiener!" Doch Benjamin ließ sich nicht stören. Wacker bearbeitete er den Friedensrichter mit den Fäusten. Unterdessen hatte sich Richard durch die Menschen bis an den Stock herangedrängt und rief: „Benjamin, wie kommt Ihr in den Stock? Was muß ich sehen, Herr Doolittle!" Hiram überschüttete die beiden im Stock mit wilden Flüchen. Schließlich wurden Natty und Benjamin ins Gefängnis geführt.
Ben Pump unterhielt sich durch das Gitterfenster munter mit den Vorübergehenden, die ihm manchen guten Tropfen hineinreichten, so daß die Wirkung nicht ausblieb. Natty ging mit gesenktem Kopf ruhelos in der Zelle auf und ab. Gegen Abend erschien Eduard am Fenster und unterhielt sich lange und leise im Gespräch mit Lederstrumpf. Der Richter hatte Elisabeth erlaubt, am Abend mit Luise ins Gefängnis zu gehen und dem alten Jäger die Summe für die Geldstrafe zu bringen. Die beiden Mädchen schritten im dunklen Schatten der Häuser dahin. Vor ihnen rasselte ein Ochsenkarren die Straße entlang und hielt vor dem Gefängnis. Der Wärter führte die Freundinnen in Nattys Zelle. „Mein lieber, guter Freund Natty!" sagte Elisabeth. „Ich bin Euch doch so dankbar. Ihr mußtet leider bestraft werden. Aber wir wollen Euch die Strafe so leicht wie möglich machen." „Horcht", sagte Natty. „Ich höre die Ochsen mit den Hörnern an die Mauer stoßen. Ihr werdet doch wohl einen alten Mann nicht verraten, der alles versucht, um Gottes freie Luft wieder zu atmen. Ich tue gewiß kein Unrecht. Wenn das Gesetz verlangt, daß ich hundert Dollar zahlen muß, so muß ich die Jahreszeit benutzen, um auf Biberjagd zu gehen. Benjamin will mich begleiten." „Ihr müßt doch dreißig Tage hierbleiben!" rief Elisabeth. „Das Geld für Eure Strafe bringe ich Euch. Nehmt es. Bezahlt morgen früh die hundert Dollar und wartet hier drin geduldig den Monat ab. Ich werde Euch mit Luise oft besuchen." Natty hob ein paar Bretter auf. Die erstaunten Mädchen erblickten ein frisch in den Balken gehauenes Loch. „Von innen ist die Öffnung zwar nicht groß, aber um so größer von außen", erklärte der alte Jäger. Ungläubig sah Elisabeth ihn an. „Es kann doch nicht Euer Ernst sein, zu fliehen. Bitte überlegt Euch genau, was Ihr tut." „Kann ich hier drinnen vielleicht Biber fangen?" fragte Natty entrüstet. „Nein, das nicht, aber das Geld für Eure Strafe ist ja hier, und in einem Monat seid Ihr frei." „Kind, behaltet Euer Geld. Meine Stunde ist da. Ich höre ihn draußen mit den Ochsen sprechen. Ich muß fort. Ihr werdet doch nichts erzählen, nicht wahr, Mädchen, Ihr verratet uns nicht?" „Nein, nein, wir verraten nichts", entgegnete Elisabeth beklommen, „aber nehmt das Geld, auch wenn Ihr in die Berge geht." „Euer Geld nehme ich nicht. Aber wenn Ihr etwas für mich tun wollt, kauft für zwei Silberdollar Pulver bei dem Franzosen. Wollt Ihr es tun?" „Natürlich. Wohin soll ich es Euch denn bringen?" Natty überlegte einen Augenblick. Er zeigte zum Fenster hinaus: „Da oben auf den Berg, morgen Mittag. Feinkörniges Pulver muß es sein." „Ich werde es besorgen." Lederstrumpf traf alle Anstalten, um durch das Loch auf die Straße zu gelangen. Eduard, der mit dem Ochsenwagen gekommen war, hatte auf die Erde unter das Loch Heu geworfen. Da hörten sie den Gefangenenwärter kommen. Hurtig zog Natty die Füße zurück und bedeckte das Loch wieder mit dem Strohsack. „Fräulein Temple", sagte der Wärter, „die Besuchszeit ist um. Die Gefangenen werden jetzt eingeschlossen." „Ich komme. Gute Nacht, Lederstrumpf." Fräulein Temple und ihre Freundin bogen um die Ecke des Gefängnisses. Sie beobachteten, wie Natty und Eduard sich abmühten, den betrunkenen Benjamin durch das Loch zu ziehen. Dann drang plötzlich Licht aus der Zelle. Drinnen rief der Wärter ihre Namen. Ratlos flüsterte Eduard: „Was nun? Dieser Trunkenbold wird uns aufhalten. Wir haben keinen Augenblick zu verlieren." „Wer ist hier betrunken, Ihr — Ihr — Dummköpfe", lallte der Haushofmeister. Aus dem „Kühnen Dragoner" kamen mehrere Männer, unter ihnen auch Billy Kirby. „Was ist denn das für ein Lärm im Gefängnis", sagte er. „Ich muß mal nachsehen, was da eigentlich los ist."
„Wir müssen Benjamin hierlassen, sonst ist es aus mit uns", erklärte Eduard achselzuckend. Elisabeth flüsterte ihm hastig zu: „Legt ihn in den Wagen, treibt die Ochsen an und lauft selbst fort!" Sie taten es und verschwanden schnell im Schatten der Häuser. Schon aber hörte man den Lärm der Verfolger. Elisabeth und Luise liefen davon. Als Elisabeth am Torweg des Herrenhauses angekommen war, sah sie, wie Billy Kirby den Ochsenwagen anhielt. Jetzt ist Benjamin verloren, dachte sie. Zwei dunkle Gestalten bewegten sich eilig und lautlos unter den Bäumen auf sie zu. Dann trat Eduard hervor. „Miss Temple, vielleicht sehe ich Euch niemals wieder", sagte er, „ich danke Euch für alles Gute, das Ihr an mir getan habt." „Flieht, schnell weg!" raunte Elisabeth atemlos. „Das ganze Dorf ist auf den Beinen! Geht hier herum zum See, dort findet Ihr das Boot meines Vaters." „Vergeßt das Pulver nicht!" rief Natty. „Wir brauchen das beste Pulver und Blei." „Kommt, Natty!" „Ich komme. Habt Dank!" Er winkte den Mädchen zu. Diese sahen den beiden Männern nach, bis sie den Blicken entschwunden waren. Dann gingen sie ins Haus.
Waldbrand und Mohegans Tod In aller Herrgottsfrühe hatte Elisabeth bei Herrn Le Quoi das Pulver gekauft. Luise wollte nicht mit auf den Berg kommen, sondern am Waldrand die Rückkehr der Freundin abwarten. Ohne sich Rast zu gönnen, eilte Fräulein Temple weiter. Es war ein heißer Tag. Dunstschleier umhüllten die Sonne. Am Horizont stieg dichtes, drohendes Gewölk empor. Je höher Elisabeth stieg, desto heißer und trockener wurde die Luft. Auf dem Berggipfel war ein kleiner Platz abgeholzt. Hier bot sich ein schöner Blick auf Tal und Dorf. Es war die Stelle, wo Natty sich mit Elisabeth treffen wollte. Sie setzte sich einen Augenblick auf einen Baumstamm, um zu Atem zu kommen. Aber Lederstrumpf war nicht zu sehen. Schließlich rief Elisabeth laut: „Natty! Lederstrumpf!" Sie hörte einen schwachen Ton und glaubte, dies sei Nattys Antwort. Eilends stieg sie dreißig Meter bis auf eine kleine Felsenterrasse hinab und trat an den Rand des Vorsprunges. Plötzlich raschelte es neben ihr in den dürren Blättern. Sie drehte sich um. John Mohegan saß auf dem Stamm einer umgefallenen Eiche und starrte sie an. Die wollene Decke war von seinen Schultern gefallen. Auf seiner Brust prangte eine Münze mit Washingtons Bildnis. Elisabeth wußte, daß er diesen Schmuck nur zu besonderen, feierlichen Gelegenheiten anlegte. Sein langes, geflochtenes Haar hing in zwei Zöpfen an beiden Seiten des Kopfes herab. In den Ohren trug er Perlen, Silber und Borsten von Stachelschweinen. Auch seine Nasenlöcher waren geschmückt. Über sein runzliges Gesicht und seinen Oberkörper zogen sich kreuzweise rote Striche. „John, wie geht es Euch?" fragte Elisabeth und trat näher. „Sieh hier, Tochter", sprach Mohegan, „das große Wasser und die Häuser deines Vaters. John war noch jung, als sein Stamm das Land, wo die blauen Berge über den Wassern stehen und der Susquehannah vom Dache der Bäume verschattet wird, in einer Versammlung weg= gab. Alles gaben sie dem Feuerfresser, denn sie liebten ihn. Er war stark, und sie waren Weiber, und er half ihnen. Kein Delaware konnte einen Hirsch töten, der in seinen Wäldern lief, oder einen Vogel fangen, der in den Lüften flog, denn alles gehörte ihm. Tochter, seit John jung war, hat er den weißen Mann von Frontenac herabkommen sehen nach Albany, um mit seinen weißen Brüdern zu fechten. Fürchteten sie Gott und lebten sie in Frieden? Er hat dies Land vom Feuerfresser und seinen Kindern auf ihre Kindeskinder übergehen sehen. Lebten die im Frieden, die so handelten? Fürchteten sie Gott?" Mohegan sah Elisabeth mit seinen schwarzen Augen durchdringend an.
„Wo sind die Decken und Waren, mit denen der Feuerfresser die Rechte bezahlen wollte? Sagten die weißen Männer: Bruder, verkauf uns dem Land und nimm dafür dies Gold und dieses Silber, diese Decken, diese Flinten oder diesen Rum? Nein! Sie rissen es ihm weg, wie man einem Feind den Skalp abzieht. Heißt das in Frieden leben und den Großen Geist fürchten?" „Glaubt bitte nichts Schlechtes von meinem Vater", antwortete Elisabeth verlegen. „Er ist gerecht und gut." „Der Bruder Miquons ist gut und will Recht tun. John aber hat gelebt, bis sein ganzer Stamm vor ihm in das Land der Geister eingegangen ist. Seine Zeit ist nun gekommen. Er ist bereit." Mohegan hüllte sein Haupt in die Decke und schwieg. Elisabeth wußte nicht, was sie erwidern sollte. Nach einer langen Pause fragte sie: „John, wo ist Lederstrumpf? Ich will ihm dies Pulverhorn bringen. Nirgends habe ich ihn gesehen. Seid so gut, nehmt es und gebt es ihm in meinem Namen." Langsam hob der Indianer den Kopf und sah das Mädchen ernst an. Dann ergriff er das Pulverhorn und legte es neben sich. Auf einmal verdunkelten dichte Rauchwolken die Aussicht. Erschrocken blickte sich Elisabeth um: Der ganze Berg war in dichten Rauch gehüllt! Es rauschte in den Blättern, als wütete ein Sturm. „John, alter Mohegan, wo bist du?" rief eine Stimme. „Schnell! Schnell! Der ganze Wald steht in Flammen!" Dann trat Eduard aus dem Gebüsch auf die Terrasse. „Schnell fort!" rief er. „Ehe sich der Feuerring um den Berg schließt!" Mohegan deutete auf Elisabeth, die hinter ihm am Felsen lehnte: „Rette sie — laß John sterben." „Fräulein Temple, Ihr seid hier?" rief Eduard. „Nehmt sofort meinen Arm, irgendwo müssen wir noch einen Durchschlupf finden." Ungeheure Wolken weißen, beißenden Rauches verbreiteten sich über den Gipfel. Rasend griff das Feuer um sich. Im Nu loderte rings um die Felsenterrasse das in der Hitze des Sommers ausgetrocknete Holz. In das ohrenbetäubende Brausen der Lohe mischte sich das Krachen der stürzenden Bäume. Vergebens suchte Eduard einen Ausweg. Er wurde immer unruhiger. Elisabeth war völlig gefaßt. Sie hatte jede Hoffnung auf Rettung auf» gegeben. Unerschütterlich saß Mohegan auf seinem Baumstamm. Er streifte die jungen Menschen mit einem flüchtigen Blick des Mitleids. Dann sah er zu den fernen Bergen empor, als schaute er in die Tiefen der Zukunft. Leise sang er die dunkle Melodie eines delawarischen Totenliedes. Der Feuervorhang hatte sich bis auf den Boden gesenkt. Das Moos schimmerte in roter Glut. „Mädchen, wo seid Ihr? Mädchen!" rief da eine Stimme. „Das ist Natty, er sucht mich!" sagte Elisabeth. In diesem Augenblick brannte das Pulver in einer gewaltigen Stichflamme auf, dann folgte ein dröhnender Knall. „Das Pulver! Das Pulver!" rief Natty, der jetzt auf der Terrasse erschien. Sein Haar war versengt und sein Hemd kohlschwarz. „Gott sei Dank, daß ich Euch gefunden habe", stieß er hustend hervor. „Schnell, kommt mit, wir haben keine Sekunde zu verlieren." „Meine Kleider!" rief Elisabeth. „Sie fangen doch sofort Feuer!" Natty warf ihr seine hirschlederne Decke um, die er auf den Schultern getragen hatte. „Aber nun los, es geht um Leben und Tod!" „Und John! Was wird aus John?" rief Eduard. Wortlos nahm Lederstrumpf ihn auf den Rücken. „Immer auf weiche Stellen treten - im weißen Rauch bleiben - die Hirschhaut fest umwickeln", mahnte er unaufhörlich. Sie gelangten unversehrt zwischen brennenden Bäumen und zu Boden fallenden glühenden Ästen zu einer anderen Terrasse durch, wo die Luft reiner war. „Wohin nun?" fragte Elisabeth. „Auf das flache Felsendach über der Grotte. Da kann uns nichts mehr passieren, es sei denn, daß auch die Felsen zu brennen anfangen", gab Lederstrumpf zurück. Auf dem Felsendach ließ Natty den Indianer sanft auf den Boden gleiten. Elisabeth sank ins Gras und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Lederstrumpf bemühte sich um den Indianer. Ein tiefer Schmerz erfüllte ihn. Sein alter Kampfgenosse lag im Sterben!
„Falkenauge!" sagte John. „Meine Väter rufen mich — ich soll zu ihnen kommen in die ewigen Jagdgründe. Chingachgooks Augen werden wieder jung. Ich schaue um mich — ich sehe keine Bleichgesichter, nur gerechte und tapfere Indianer. Leb wohl, Falkenauge! Du wirst mit dem Feuerfresser und dem Jungen Adler in den Himmel der weißen Männer eingehen. Ich aber folge meinen Vätern. Gib mir Pfeil und Bogen, den Tomahawk und die Pfeile mit ins Grab, denn Chingachgook wird zur Nachtzeit von der Erde scheiden — wie ein Krieger, der in den Kampf geht — und — dann kann er — sich nicht aufhalten mit diesen Dingen ..." Der sterbende Indianer hielt inne. Die Flammen des brennenden Waldes stiegen jetzt kerzengerade empor. Der Himmel war dunkel von Wolken. Ein greller Blitz zuckte auf. Dann krachte laut der Donner und erschütterte die Erde im tiefsten Innern. Mohegan stand schwankend auf und breitete die Arme gen Westen. Sein dunkles Gesicht war von Freude verklärt. Dann fielen die Arme langsam nieder, und der tote Krieger sank gegen den Felsen, die starren Augen weit geöffnet auf die fernen Berge gerichtet. Große Regentropfen klatschten auf den Felsen. Der Donner kam näher und hallte ununterbrochen in den Schluchten wider. Schnell brachte Natty den Toten in die Höhle. Die Hunde Lederstrumpfs heulten. Elisabeth trat unter den überhängenden Felsen, um sich vor dem Regen zu schützen. Dann hörte sie, wie im Walde ihr Name gerufen wurde. Der Regen ließ jetzt nach, und Eduard führte das Mädchen auf den Fahrweg. Beim Abschied sagte er: „Die Frist meines Geheimnisses ist vorüber. Morgen werde ich den Schleier lüften. Gott sei Dank, daß ich Euch retten konnte und in Sicherheit weiß." Schnell verschwand er im Walde. Elisabeth ging zu ihrem Vater, der im Wagen gekommen war, um sie zu suchen. Jubelnd wurde die Verlorengeglaubte von den Dorfbewohnern empfangen.
Enthüllung Die heftigen Regengüsse hatten das Feuer gelöscht. Traurige, verkohlte Stämme blieben zurück. Ein beißender, brandiger Geruch strömte aus den schwarzen Wäldern und legte sich auf Dorf und See. Wilde Gerüchte liefen um. Mohegan sollte in den Flammen umgekommen sein. Natty und Eduard hätten den Wald angesteckt. Jotham Riddle, den Schatzsucher, hatte die Rettungsmannschaft halb erstickt und mit empfindlichen Brandwunden in seinem Loche gefunden. Sein Zustand war ernst. Die Falschmünzer erkannten ihre einmalige Gelegenheit. In der Nacht nach dem Brande brachen sie aus dem Gefängnis aus und entflohen. Die Öffentlichkeit war empört. Man vermutete die Geflüchteten in einer bestimmten Höhle, dem Schlupfwinkel für alles lichtscheue Gesindel. Das war Wasser auf Richards Mühle. Er stellte eine Schar handfester Burschen zusammen, um mit ihnen die Schuldigen zu fangen. In Marschkolonne zogen sie zu der Verbrecherhöhle, wo man die Brandstifter und die Falschmünzer belagern und zur Übergabe zwingen wollte. Vor der Höhle wurde eine Schützenlinie gebildet, und ein paar Schüsse dröhnten als Aufforderung zur Übergabe. Natty feuerte zu» rück und verletzte Hiram, der hinter einer Fichte Deckung gesucht hatte. Da erschien Richter Temple auf der anderen Seite des Berges. „Seid ihr verrückt geworden?" wetterte er. „Was soll das?" „Das ist der Landsturm", erklärte der Sheriff hinter seinem schützenden Felsblock. „Augenblicklich Ruhe und Frieden!" befahl der Richter wütend. „Halt!" rief auch eine Stimme vom Berg herunter. „Wir ergeben uns." Woher kam dieser Ruf? Natty hatte seine Flinte wieder geladen, setzte sich auf einen Baumstamm und stützte den Kopf in die Hand. In diesem Augenblick kamen Eduard und Major Hartmann den Berg herab und verschwanden in der Höhle. Marmaduke und der Sheriff erstiegen die Plattform. Da kamen die beiden Friedensvermittler wieder aus der Höhle heraus. Sie trugen einen hölzernen, mit rohem Hirschleder bezogenen Armstuhl. Auf ihm saß ein uralter Greis. Behutsam und ehrerbietig stellten sie ihn nieder. Der Alte hatte schneeweißes Haar. Seine einst vornehme Kleidung war zerschlissen. An den Füßen trug er Mokassins. Sein Gesicht war ernst und würdevoll, doch sein Auge blickte starr und teilnahmslos. Etwas entfernt stand Natty, auf seine Flinte gelehnt. Major Hartmann hatte neben dem fremden Greis Platz genommen. Eduard stand tief bewegt hinter dem Stuhl und stützte den Alten. Niemand sprach. Der Greis versuchte aufzustehen. Mit hohler, zitternder Stimme sagte er: „Nehmt bitte Platz, meine Herren. Der Kriegsrat wird gleich beginnen. Wer seinen König liebt, wird mit mir wünschen, den Frieden in diesen Kolonien hergestellt zu sehen. Die Kampfhandlungen sollen noch diese Nacht eingestellt werden." „Ein Wahnsinniger", murmelte Marmaduke. „Wollen die Herren mit uns zu Mittag speisen, mein Sohn?" sagte der Greis zu Eduard. „Bestelle ein Mittagessen, wie es sich für Offiziere Seiner Majestät des englischen Königs gehört." „Wer ist der Mann?" rief Marmaduke ungeduldig. Ruhig entgegnete Eduard: „Dieser Mann aus der Höhle war einst Gefährte und Berater der Männer Englands, die Euer Land regierten. Dieser hilflose und schwache Greis war ein tapferer und furchtloser Soldat, den die Eingeborenen den ,Feuerfresser' nannten. Dieser Mann war einst reich. Er war der rechtmäßige Eigentümer des Bodens, auf dem wir stehen. Er war der Vater von..." „Er ist der totgeglaubte Major Effingham?" rief Marmaduke. „Er ist es!" bestätigte der junge Mann. „Und Ihr?" „Ich bin sein Enkel!" Tiefes Schweigen. Alle Blicke waren auf Eduard und Richter Temple gerichtet. Marmaduke liefen die Tränen übers Gesicht. Endlich ergriff er die Hand des Jünglings und sagte:
„Eduard, jetzt begreife ich alles. Ich verzeihe Euch Eure Härte und Euren Argwohn. Alles will ich Euch vergeben, nur nicht, daß Ihr diesen alten Mann hier wohnen ließet, wo doch nicht nur mein Haus, sondern auch mein Vermögen ihm und Euch gehören!" „Ich leugne nicht, Richter Temple, daß ich durch das, was ich inzwischen erfahren habe, in meiner Meinung über Euer Betragen wankend geworden bin. Ich konnte meinen Großvater unmöglich an den Ort zurückbringen, woher Natty ihn geholt hatte, man hätte ihn dort erkannt. Ich reiste also an den Mohawk und suchte Major Hartmann, einen seiner früheren Kameraden, auf, dessen Zeugnis ich Glauben schenken konnte. Er ist Euer Freund, Richter Temple. Wenn alles, was er mir sagte, stimmt, dann haben mein Vater und ich Euch Unrecht getan." „Euer Vater!" sagte Marmaduke bewegt. „Hat er tatsächlich den Tod in den Wellen gefunden?" „Ja. Nach jahrelangem furchtlosem Kampf ließ er mich hier in bitterer Armut zurück und ging nach England. Er wollte eine Entschädigung für die Verluste fordern, die er im Dienste des Königs erlitten hatte. Nach einem Jahr wurde er als Gouverneur nach Westindien geschickt. Er kehrte nach Halifax zurück und wollte meinen Großvater mitnehmen, der während des Krieges dort in der Nähe gelebt hatte." „Und Ihr?" fragte Marmaduke gespannt. Doch dann wandte er sich an Hollistar: „Zieht mit dem Landsturm ab. Diesmal war unser Sheriff zu voreilig. Doktor Todd, untersucht bitte Herrn Doolittles Wunden. Richard, du schickst mir den Wagen herauf, und Ihr, Benjamin, sorgt dafür, daß zu Hause alles in Ordnung ist, bis ich komme." Als alle Neugierigen den Platz verlassen hatten, meinte der Richter, es wäre für den Greis vielleicht besser, wenn er bis zur Ankunft des Wagens wieder in die Höhle gebracht würde. Die frische Luft könnte ihm sonst schaden. Eduard aber erklärte, daß dem Greis die Luft wohltue, er habe sie genossen, sooft keine Entdeckung zu befürchten gewesen sei. „Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll, Richter Temple; darf ich zulassen, daß Major Effingham ein Mitglied Ihrer Familie wird?" „Das sollt Ihr selbst entscheiden. Euer Vater war mein Jugendfreund. Ich war sein Vermögensverwalter. Er hatte so unbegrenztes Vertrauen zu mir, daß er bei unserer Trennung keinerlei schriftliche Sicherung von mir annehmen wollte. Das wißt Ihr doch sicher?" „Allerdings!" „Wir hatten verschiedene politische Ansichten. Aber es war für Euren Vater persönlich gleichgültig, ob in dem großen Kriege England oder Amerika siegte. In jedem Falle war sein Vermögen gerettet. Entweder durch mich, der ich sein Verwalter war, oder durch ihn selbst, der Eigentümer war. Nun, der Ausgang des Krieges ist allen bekannt. Doch obwohl sich der Besitz durch meine Arbeit noch bedeutend vermehrt hat, betrachte ich ihn auch heute noch nur als Darlehen. Es wird Euch bekannt sein, daß ich Eurem Vater gleich nach dem Kriege bedeutende Summen schickte, und zwar bis meine Briefe ungeöffnet zurückkamen. Euer Vater, Eduard, handelte genauso unüberlegt wie Ihr. Vielleicht hatte auch ich Schuld, meinen Freund sieben Jahre über meine wahre Gesinnung im Zweifel zu lassen. Hätte er meine letzten Briefe gelesen, so hätte er die Wahrheit erfahren. Aber wie mir mein Anwalt mitteilte, starb er als mein Freund!" Eduard erzählte, daß er nach dem Tode seines Vaters ohne alle Mittel gewesen sei. Er sei dann hierher gekommen, um den Großvater aufzusuchen. Dieser habe aber inzwischen seine Wohnung mit seinem Diener Natty heimlich verlassen. Weil der Großvater einst das Leben des alten Mohegan gerettet habe, sei er als Ehrenmitglied in den Stamm der Delawaren aufgenommen worden. Mohegan, damals der größte Held seiner Nation, habe Major Effingham als Sohn angenommen und ihm den Namen des Adlers gegeben. Dieser sei nun auf ihn, Eduard, übergegangen. Deshalb habe der alte John ihn einen Dela* waren und den Jungen Adler genannt. Er sei dann an den See gekommen, wo Natty wohnte und seinen alten Herrn pflegte, heimlich, um den einst so stolzen Soldaten nicht in seiner Armut zu zeigen. Er, Eduard, habe sich von seinem letzten Gelde eine Flinte gekauft und von Lederstrumpf gelernt, ein Jäger zu werden. In diesem Augenblick kam der Wagen, und sie fuhren mit dem alten Major zum Herrenhaus. Dort zeigte Marmaduke Temple Eduard sein schon lange aufgesetztes Testament. Darin vermachte er die Hälfte seines Vermögens dem Major Oliver Effingham oder dessen
Sohn, dem Obersten Effingham. Falls beide tot seien, sollten der Sohn des Obersten, Oliver Eduard Effingham oder dessen unmittelbare Nachkommen die Erben sein. Die andere Hälfte sollte Elisabeth erben. An sie sollte auch das der Familie Effingham vermachte Erbe fallen, wenn bis zum Jahre achtzehnhundertzehn niemand rechtsgültige Ansprüche darauf erheben sollte. Eduard las tief gerührt dieses Dokument eines ehrlichen Mannes. Elisabeth, die leise das Zimmer betreten hatte, fragte ihn: „Zweifelt Ihr nun immer noch an uns, Eduard?" „An Euch habe ich nie gezweifelt!" „Und wie denkt Ihr über meinen Vater?" „Gott segne ihn!" „Von diesem Augenblick an gehört die Hälfte meines Vermögens dir, mein Sohn", sagte der Richter. „Und wenn ich mich nicht irre, wird dir auch die andere Hälfte noch zufallen." Und er legte Elisabeths Hand in die seines jungen Freundes.
Ein Denkmal An einem schönen Oktobermorgen machten Eduard und seine junge Frau Elisabeth einen Spaziergang an den See. Sie gingen von der Landstraße über die Brücke auf den Uferweg und kamen an den Fleck, wo einst Nattys Hütte gestanden hatte. Die Trümmer und umgebrochenen Baumstämme waren fortgeräumt. Eine schöne Rasenfläche wurde von einer Mauer mit Tür umgeben. Zu ihrem Erstaunen sahen die beiden Spaziergänger Nattys Flinte an der Mauer stehen. Daneben saßen die beiden Hunde. Lederstrumpf selbst kniete neben einem Grabstein aus weißem Marmor am Boden. Er säuberte ihn mit den Händen von dem Gras, das die Inschrift halb verdeckte. Auf dem Grabstein stand eine Urne, die von den Siegeszeichen eines indianischen Häuptlings umgeben waren. Lederstrumpf hörte die beiden kommen und wandte sich um. „Gefällt Euch der Stein?" fragte Eduard Effingham. „Ich kann mir darüber kein Urteil erlauben", antwortete der alte Mann. „Ihr legtet doch hoffentlich den Major mit dem Kopf nach Westen und Mohegan in entgegengesetzter Richtung?" „Wie Ihr es angeordnet habt." „Gut. Sie glaubten nämlich, verschiedene Wege zu gehen. Doch ehe ich mich auf den Weg mache, möchte ich gern wissen, was Ihr von dem alten Häuptling und dem besten weißen Mann, der je in diese Berge kam, geschrieben habt." Effingham und seine Frau wunderten sich über den ungewöhnlich feierlichen Ton ihres alten Freundes. Aber Eduard fragte nicht weiter und las die Inschrift vor: „Dem Andenken Olivier Effinghams, Major in Seiner Majestät des Königs von Großbritannien sechzigstem Infanterieregiment, geweiht. Er zeichnete sich als Soldat durch seine Tapferkeit, als Untertan durch seine Treue, als Mensch durch seinen Glauben aus. Den Morgen seines Lebens verbrachte er in Reichtum, Macht und Ehre. Den Abend seines Lebens trübten Armut, Kummer und Schmerz. Von allen verlassen und vergessen, blieb ihm nur sein treuer Freund und Diener Nathanael Bumppo. Zum Andenken an die Tugenden des Herrn und die Treue des Dieners errichtete dieses Denk« mal der Enkel Effingham." Als Natty seinen Namen hörte, richtete er sich auf, und seine Augen glänzten: „Das habt Ihr wirklich von mir gesagt, junger Mann? Habt den Namen eines alten Mannes neben dem seines Herrn auf den Stein gesetzt? Gottes Segen mit Euch, Kinder! Ein freundliches Gedenken beglückt das Herz eines alten Mannes in seinen letzten Tagen. Und was schriebt Ihr von dem Indianer?" „Dieser Stein hier ist dem Gedächtnis des indianischen Häuptlings aus dem Stamme der Delawaren gewidmet. Er war unter den Namen John Mohegan und Chingagook bekannt." Lederstrumpf unterbrach ihn: „Chingachgook muß es heißen, denn Chingachgook heißt ,Große Schlange'. Der Name muß richtig auf den Stein gesetzt werden, sonst könnte sich ein Indianer über den Mann, der darunterliegt, irren."
„Ich will es ändern lassen", versprach Eduard und las weiter: „Er war der letzte seines Stammes, der in diesem Lande wohnte. Von ihm kann mit Recht gesagt werden, daß seine Fehler die eines Indianers und seine Tugenden die eines Menschen waren." „Das ist ein wahres Wort, Herr Eduard", bekräftigte Natty. „Wenn ich jetzt diese Berge um mich herum betrachte, wo sonst mehr als zwanzig Feuer in den Lagern der Delawaren brannten, und bedenke, daß jetzt nicht eine Rothaut mehr hier lebt, dann erfüllt mich tiefe Trauer. — Doch die Zeit ist gekommen, ich muß fort!" „Wohin müßt Ihr denn so eilig?" „Ich wußte, daß mir der Abschied schwer werden würde. Ich wollte nur noch einmal die Gräber sehen und dann meine Wanderung antreten. Haltet mich nicht für undankbar und gefühllos, Kinder. Wenn auch mein Leib ferne von euch ist, mein Herz bleibt bei euch." „Wohin wollt Ihr denn, Natty?" fragte Elisabeth unruhig. „Ich will nicht mehr in den Siedlungen leben, wo von früh bis spät der Hammer dröhnt. Wenn ich euch auch herzlich lieb habe, Kinder, so sehne ich mich doch nach den Wäldern und den großen Seen, nach unberührtem Jagdrevier, wo außer mir kein Weißer ist." „Nach den Wäldern!" wiederholte Elisabeth leise. „Sind denn das hier keine Wälder?" Ihre ausgestreckte Hand beschrieb einen Kreis. „Ach, die sind nichts für einen Mann, der das Leben in der Wildnis gewohnt ist. Mir ist nicht mehr wohl geworden, seit Euer Vater mit seinen Ansiedlern hier haust. Solange mein alter Herr da unten noch lebte, mußte ich bleiben. Nun ist er mir vorangegangen — und auch Chingachgook ist tot. Nun ist die Zeit gekommen, mir den Abend meines Lebens angenehm zu machen." Tränen traten Elisabeth in die Augen. „Wir sind überrascht, daß Ihr uns verlassen wollt. Wir können es kaum fassen. Ich habe immer gehofft, Ihr würdet mit uns leben und bei uns sterben, Natty." „Kinder, sorgt euch nicht um den alten Lederstrumpf. Gott wird für ihn sorgen. Wenn ihr mich wirklich liebt, dann laßt mich ziehen, wohin mein Herz mich ruft." Effingham und seine Frau wagten nichts mehr zu sagen. Bess bot dem Jäger ihre Wange zum Kuß. Er nahm die Mütze ab und berührte sie ehrfurchtsvoll. Schweigend drückte Eduard seine Hand. Dann zog Natty die Riemen seines Bündels fest und rief seine Hunde am Waldesrand winkte er den beiden mit der Hand das letzte Lebewohl.
v DIE PRÄRIE Auswanderer
Im Jahre 1803 wurde das Land westlich vom Mississippi und nördlich vom Golf von Mexiko, Louisiana, den Vereinigten Staaten angegliedert. Von da an strömten große Scharen von Ansiedlern in das fast menschenleere Gebiet. An den Ufern der großen Ströme gründeten sie neue Niederlassungen, Dörfer und Städte. Die erste Ernte im neuen Lande war bereits eingebracht, und der Herbst färbte die Wälder. Ein Treck von Planwagen, die mit Hausrat und Werkzeugen beladen waren, und eine kleine Herde ausgemergelter Schafe und Kühe zogen durch die Prärie. In dem Zug befanden sich zwanzig Menschen, Männer, Weiber und Kinder. Voran schritt ein schlanker, sonnverbrannter Mann, der das mittlere Alter bereits überschritten hatte. Seine lässigen Bewegungen konnten nicht über seine brutale Kraft hinwegtäuschen. Eine verblichene Seidenschärpe umschloß seinen Leib statt des gewöhnlichen hirschledernen Gürtels. Der Griff seines Messers war mit Silber ausgelegt, die Mütze war mit feinem Pelz besetzt. Sein grober, schmutziger Wollrock wurde von silbernen Knöpfen zusammengehalten. Die jungen Männer hinter ihm waren offensichtlich seine Söhne. Im vordersten Wagen tauchten von Zeit zu Zeit blondgelockte, braune Kindergesichter auf, die neugierig um sich blickten. Nur zwei Frauen befanden sich im Zug. Die ältere Frau war die Mutter der Kinder. Die jüngere war ein lebhaftes Mädchen von achtzehn Jahren. Den zweiten Wagen hüllte eine dichte Plane völlig ein. Entschlossen folgte der Anführer der Sonne. Gegen Abend hielt er auf einer kleinen Anhöhe Ausschau nach Wasser, Holz und Futter. Es war Zeit, an das Nachtlager zu denken. Aber umsonst durchforschte sein Blick die eintönige Weite. Langsam trottete der Zug der Wagen und der Tiere weiter. Die Sonne sank hinter einen Hügel, und vor dem glühenden Abendrot erschien die scharfgezeichnete Silhouette eines Menschen — so deutlich, daß man sie greifen zu können glaubte. Der Anführer machte halt und starrte erstaunt auf die einsame Gestalt. Seine Söhne traten zu ihm. Der ganze Zug hielt. Ein paar junge Männer machten ihre Gewehre schußbereit. „Schickt die Jungen nach rechts", rief die Mutter mit schriller Stimme. „Asa oder Abner können feststellen, was da los ist."
„Man sollte einfach schießen", murmelte ein finsterer Mann, welcher der Frau sehr ähnlich sah. „Die Pawne-Wölfe sollen zu Hunderten in der Ebene jagen. Bei denen kommt es auf einen mehr oder weniger nicht an." „Halt!" widersprach das Mädchen. „Wir sind nicht alle beisammen. Vielleicht ist es einer von uns." „Was fällt euch ein?" fuhr der Vater die Söhne an. „Weg mit den Flinten! Mein Werk ist noch nicht zu Ende, und ich will es friedlich beschließen!" Der finstere Mann zog sich zurück. Die Söhne blickten fragend das Mädchen an, das zurückgelehnt und schweigend im Wagen saß. Der Anführer gab das Zeichen zum Weitermarsch. Allmählich kamen die Auswanderer dem Mann näher und stellten fest, daß er ihnen nicht gefährlich werden konnte, denn er war schon sehr alt. Auf dem Rücken trug er einen Ranzen und ein Pulverhorn. Er stützte sich auf ein ungewöhnlich langes Gewehr. Im welken Gras zu seinen Füßen lag ein knurrender Hund. Beim Näherkommen des Trecks erhob sich das große, magere, zahnlose Tier schwerfällig, schüttelte sich und machte Miene, auf die unbekannten Fremden loszufahren. „Platz, Hektor, Platz!" rief der Alte mit zittriger Stimme. „Kennt Ihr die Gegend?" rief ihm der Anführer zu. „Ist das Land auf der anderen Seite des Flusses schon voll?" fragte der Alte statt einer Antwort. „Wer Geld hat und nicht wählerisch ist, findet immer noch Platz. Wie weit ist es denn noch bis zum Mississippi?" „Ein Reh müßte fünfhundert Meilen laufen, wenn es aus dem Strom trinken wollte." „Wie heißt diese Gegend hier?" „Wie nennt Ihr die Stelle, wo die Wolke dort steht?" erwiderte der alte Mann und zeigte zum Himmel. „Ihr seid sicher auch neu hier, sonst könntet Ihr uns Auskunft geben", sagte der Anführer. „Was wollt Ihr denn wissen?" „Wo ich die Nacht lagern kann. Wasser und Futter für das Vieh müssen da sein." „Ihr sollt beides finden. Kommt mit." Mit erstaunlicher Leichtigkeit nahm der Alte das schwere Gewehr auf die Schulter. Schweigend ging er dem Treck über die Höhe in die angrenzende Niederung voran. An einem Bach machte der Alte halt und sah den Anführer fragend an. Dieser sah sich sachverständig um und sagte dann befriedigt: „Hier mag's gehen. Los, Jungen, ans Werk!" Er stellte sein Gewehr beiseite und spannte die Tiere aus. Die Söhne machten mit ihren Äxten einen genügend großen Platz von Bäumen frei. Der Alte sah mit bitterem Lächeln, wie Baum um Baum rauschend niedersank. Schließlich drängte er sich durch die geschäftigen Kinder, die schon ein Feuer angezündet hatten. Ihn interessierten der Anführer und dessen Schwager, die den geheimnisvollen Planwagen gerade auf eine trockene Erhöhung am Rande des kleinen Gehölzes schoben. Sie trieben Pfähle in den Boden und errichteten über dem Fahrzeug ein Zelt. Als es fertig war, zogen sie den Wagen an der Deichsel wieder ins Freie.. Der Alte kam näher und wollte ins Zelt blicken. Da packte ihn der Schwager grob am Arm und zerrte ihn weg. „Es gibt ein gutes Sprichwort, lieber Freund: Stecke deine Nase nicht in fremder Leute Angelegenheiten!" Der alte Jäger antwortete: „Die Leute bringen selten etwas in diese Wildnis, das sie verstecken müßten." „Die Leute bringen sich selten selbst hierher." Der Jäger wandte sich ab. Er hörte, wie der Anführer „Ellen Wade" rief. Das junge Mädchen sprang bereitwillig auf. Es eilte an dem Fremden vorüber und verschwand im Zelt. Die jungen Männer warfen den Tieren Futter vor. Andere zerstießen Mais in einem Mörser. Die übrigen stellten die Fahrzeuge wie eine Wagenburg um das Lager auf. Inzwischen war die Nacht eingebrochen. Mit schriller Stimme rief die Frau, das Abendessen sei fertig. Nach der Sitte der Wildnis lud der Anführer den alten Jäger ein, bei der einfachen Mahlzeit den Ehrenvorsitz zu übernehmen. „Ich danke Euch, Freund. Ich habe zwar schon gegessen, aber ich will mich gerne zu Euch setzen." Der Anführer unterhielt sich mit dem Fremden, der ihm erklärte, er sein kein Jäger mehr, sondern nur noch Trapper. Sechzig Jahre lang habe er mit der Flinte
gejagt, ohne auch nur einem Vogel eine Schlinge zu stellen. Jetzt aber sei er alt, leider müsse er sich jetzt auf Fallen verlassen. „Ihr scheint nur wenig Gepäck zu haben", sagte der Auswanderer. „Ich brauche nicht viel. Nahrung und Kleidung sind alles, worum ich alter Mann mich kümmern muß." „Ich finde, wir stecken in einer recht langweiligen Ebene", meinte der Auswanderer. „Ihr könnt hier Wochen, ja Monate durch die Prärie ziehen, ohne eine Herberge für Mensch und Vieh zu finden." „Erst blieben wir auf der linken Seite des Flusses. Er führte aber zu weit nach Norden. Seit der Zeit sind wir immer weiter westwärts gezogen. Fast jeden Tag kamen wir über einen Bach." „Und Ihr wollt immer weiter nach Westen?" „Ja, bis ich eine Stelle finde, die mir gefällt — oder bis ich umkehre." Die Vorbereitungen für die Nacht wurden getroffen. Die Männer schlugen aus Baumästen, Planen und Büffelhäuten Hütten, legten Holz aufs Feuer und schafften Futter für das Vieh herbei. Zwei junge Männer schütteten Pulver auf die Gewehre und stellten sich zu beiden Sei» ten des Lagers als Wachen auf. Das kalte, blasse Mondlicht lag über der weiten Prärie. Allein ging der einsame alte Mann hinaus in die unendliche Ebene. Auf einer Anhöhe blieb er stehen. Die Begegnung mit den Auswanderern hatte ihn tief bewegt und längst vergessene Erinnerungen in ihm wachgerufen. Er stellte die Flinte auf die Erde und stützte sich darauf, in tiefes Nachdenken versunken. Der Hund lag zu seinen Füßen. Plötzlich knurrte er drohend. Der Trapper horchte auf. Da bemerkte er eine helle Gestalt, die im unsicheren Lichte des Mondes auf der Anhöhe zu schweben schien. Es war ein Mädchen. Es zögerte, näher zu kommen. „Komm her", flüsterte der Trapper, „ich tue dir nichts." Das Mädchen kam heran, und der Alte erkannte Ellen Wade aus dem Lager. Sie sah sich furchtsam um und flüsterte ängstlich: „Ich dachte, Ihr wärt schon fort." „Warum seid Ihr nicht im Lager Eures Vaters?" „Vater?" rief das Mädchen. „Ich habe keinen Vater und keinen Freund! Da sei Gott vor, daß einer von denen, die Ihr gesehen habt, mein Bruder sein sollte! Aber sagt, seid Ihr außer uns keinem Weißen begegnet?" „Seit vielen Tagen nicht. — Still, Hektor!" Der Hund knurrte böse. „Das Tier wittert Unheil. Manchmal kommen die schwarzen Bären von den Bergen herunter." Unruhig blickte sich das Mädchen um. Der Alte entdeckte eine zweite menschliche Gestalt, die sich langsam näherte. Er hob das Gewehr und meinte: „Nach dem schweren Schritt zu urteilen, ist es ein Weißer." „Um Gottes willen, schießt nicht so voreilig! Es könnte ein Freund sein." „Freund! Hier gibt's wenig Freunde!" Er sah Ellens angstvollen Blick und ließ das Gewehr sinken. Inzwischen war der Mann bis auf fünfzig Schritt herangekommen. Auf krummen Beinen schlich ihm Hektor entgegen, geduckt wie ein Panther, der seine Beute beschleicht. „Ruf deinen Hund zurück!" rief der Fremde. „Ich liebe Hunde. Es täte mir leid, wenn ihm etwas passierte." „Ihr könnt ruhig näher kommen", antwortete der Trapper, „er hat keine Zähne mehr." Der Mann trat herzu und begrüßte Ellen Wade, die er offenbar kannte. Dann blickte er den Alten an und fragte: „Von welcher Wolke seid Ihr denn gefallen? Oder lebt Ihr wirklich in der Prärie?" „Allerdings, wenn ich auch dem Himmel schon recht nahe bin. Aber woher kommt Ihr?" „Sachte, sachte! Ich bin mit meinem Examen noch nicht fertig. Wohin wollt Ihr mit dem Mädchen?" „Ich traf sie ganz zufällig — genau wie Euch. Zehn Jahre habe ich nun hier gelebt und bis heute keinen Weißen getroffen. Aber wenn Euch meine Anwesenheit stört, kann ich ja gehen. Eure junge Freundin wird Euch meine Worte bestätigen." „Freundin?" sagte der junge Mann, nahm seine Fellmütze ab und fuhr sich durch seine dichten, schwarzen Locken. „Wenn ich dieses Mädchen je gesehen habe, will ich..." „Genug, Paul", unterbrach ihn Ellen Wade. „Unser Geheimnis wird bei diesem alten Mann sicher sein."
„Unser Geheimnis! Hast du vergessen, Ellen ..." „Ich habe nichts vergessen. Aber zu diesem ehrlichen Trapper kannst du Vertrauen haben." „Trapper? Er ist ein Trapper? Gebt mir die Hand, Vater, dann sind wir ja Kollegen." „Um Tiere in Netzen und Fallen zu fangen, braucht man nicht Kraft, sondern List. Das ist etwas für einen alten Mann. Ihr aber seid jung, Euch stünde ein anderes Handwerk besser an." „Ich? Ich habe noch nicht einmal eine Bisamratte mit der Falle gefangen. Nein, Alter, ich mache auf etwas anderes Jagd." Er hielt dem Alten ein kleines Zinngefäß unter die Nase, aus dem der Duft von frischem Honig aufstieg. „Ein Bienenjäger! Was wollt Ihr denn hier in der Prärie?" „Ihr meint, weil keine Bäume da sind, in denen sich ein Schwärm niederlassen könnte? Ich bin darüber andrer Meinung. Aber nun verlaßt uns, bitte." „Ist nicht nötig", widersprach Ellen schnell. „Was du mir zu sagen hast, kann alle Welt hören." „Nein! Alle Drohnen der Welt sollen mich tot stechen, wenn ich je die Launen eines Weibes begreife. Aber gut, Ellen, ich gehe zu deinem angeblichen Onkel, ob es ihm nun gefällt oder nicht." „Du bist immer so voreilig, Paul Hover", sagte das Mädchen vorwurfsvoll. „Du weißt doch, daß wir hier nicht zusammen gesehen werden dürfen. Wie kannst du also davon sprechen, zu meinem Onkel zu gehen!"
Zusammentreffen mit den Sioux Der Trapper zog sich ein wenig zurück, bis er die Unterhaltung der beiden jungen Menschen nicht mehr hören konnte. Da fing sein Hund, der ihm zu Füßen lag, plötzlich an zu knurren. Schnell kehrte der Alte zu den beiden zurück und warnte sie. Angespannt lauschten sie in die Nacht. Erst vermuteten sie, daß sie von dem Auswanderer und seinen Söhnen gesucht würden. Dann glaubte der junge Mann, eine Büffelherde rase durch die dürre Grassteppe. Bald aber erkannte der Alte die Ursache des dumpfen, stampfenden Geräusches, das den Erdboden erzittern ließ, und mahnte zu schleuniger Flucht. Aber es war schon zu spät, um ins Lager zu kommen. Eine Bande blutgieriger Sioux-Indianer hatte ihnen den Rückweg bereits abgeschnitten.
„Ins Gras, ins Gras!" zischte der Trapper und zeigte auf ein hohes, dichtes Gebüsch. Das Mondlicht wurde zwar durch eine dünne Wolkenschicht gedämpft, doch konnte man auf eine gewisse Entfernung noch alles erkennen. Die drei warfen sich in das hohe Gras. Der Alte drückte seinen Hund neben sich zu Boden, und da raste der wilde Indianertrupp auch schon auf sie zu. Dann rauschten die dreißig wilden Reiter wie ein Gespensterheer an ihnen vorüber. Der Trapper hob den Kopf und lauschte. „Sie sind den Hügel hinunter zum Lager. — Nun halten sie und sprechen mit= einander! — Jetzt kehren sie um und kommen zurück!" Er drückte sich wieder flach gegen den Boden. Der Trupp kam auf den Gipfel des kleinen Hügels. Einige stiegen von den Pferden. Andere ritten umher und untersuchten das Gelände. Endlich rief der Anführer seine Häuptlinge zu einer Beratung zusammen. Nach einer Weile verteilten sie sich nach allen Seiten, als ob sie etwas suchten. Paul Hover überlegte gerade, ob er aufspringen und kämpfen sollte, da legte sich eine feste Hand auf seine Schulter, und er blickte in das dunkle, wilde Gesicht eines Indianers. Er sprang auf und packte diesen an der Kehle. Aber im Nu standen ein Dutzend Indianer um sie herum, und die drei mußten sich gefangen geben. Der Alte kannte den blutrünstigen Charakter dieser Rothäute. Widerstandslos ließ er sich ausplündern. Paul Hover wollte sich zur Wehr setzen — nur die Bitten des weinenden Mädchens hielten ihn davon zurück. Als die Indianer ihnen Waffen, Munition und einige Kleidungsstücke abgenommen hatten, hielten sie wieder eine Beratung ab. Offenbar redeten sie vom Lager der Auswanderer. Der junge Bienenjäger lachte bitter auf: „Wenn sie diesen verfluchten Ismael und seine Bande ins Gebirge führten, könnte ich diesen roten Schurken vielleicht verzeihen." „Paul! Paul!" rief das Mädchen vorwurfsvoll. „Ich fürchte, Eure Freunde werden nicht ungeschoren davonkommen", meinte der Trapper ruhig. „Die Teufel riechen Beute und werden sich von der Spur nicht abbringen lassen." „Können wir denn gar nichts tun?" fragte Ellen zitternd. „Ich könnte ja schreien", schlug Paul vor. „Und Euch schlügen sie den Schädel ein", sagte der Alte. „Nein, List muß List besiegen, oder die Hunde morden die ganze Familie. Eure Freunde sind ja ein ganz hübscher Trupp und wohl auch gut bewaffnet. Werden sie kämpfen?" „Ich liebe Ismael Busch und seine sieben tölpelhaften Söhne nicht, aber sie gehören zu den Mutigsten in Kentucky. Doch ich bin nicht ihr Freund!" „Wir müssen uns gegenseitig helfen, wenn wir in Gefahr sind", meinte das Mädchen. „Guter, alter Mann, wißt Ihr keinen Weg, wie man die Ahnungslosen von der Gefahr unterrichten kann?" Die Indianer stiegen von den Pferden. Vier mußten die Tiere halten und die drei Gefangenen bewachen. Die übrigen schlichen langsam und vorsichtig weiter. Nach einer halben Stunde kamen alle einzeln wieder. Nichts hatte sich ereignet. „Jetzt werden wir ausgefragt", meinte der Trapper. Ein schlanker, halbnackter Wilder kam auf sie zu. Er musterte sie, dann grüßte er in den rauhen Kehllauten seiner Sprache. Der Trapper antwortete, so gut er konnte. Der Indianer verstand ihn und fragte: „Haben die Bleichgesichter schon alle Büffel gegessen und allen Bibern die Häute abgezogen, daß sie hierher kommen und ausspähen, was sie bei den Pawnees holen könnten?" „Sie wollen kaufen und verkaufen. Aber keiner wird mehr kommen, wenn es sich herumspricht, daß man bei den Sioux nicht sicher ist", antwortete der Trapper, denn er sah, daß er keinen Pawnee vor sich hatte. „Die Sioux sind Diebe und wohnen im Schnee. Weshalb sprechen wir von einem Volke, das so weit ist, wenn wir im Lande der Pawnees sind?" „Wenn dies Land den Pawnees gehört, haben Weiße und Rote hier das gleiche Recht." „Haben die Bleichgesichter uns nicht genug gestohlen? Dies ist der Jagdgrund meines Stammes." „Ich bin mit demselben Recht hier wie ihr", erklärte der Trapper. „Die Pawnees und die Weißen sind Brüder. Aber ein Sioux darf sich nicht in einem Dorfe der Wölfe zeigen." „Die Sioux sind Männer!" rief der Wilde stolz. „Sie kennen keine Furcht. Ich will nun wissen, was Euch herführt."
„Schickt eure Häuptlinge, und ich will mit ihnen reden." Der Wilde erwiderte gekränkt: „Weucha ist ein großer Häuptling." „Bin ich so dumm, daß ich einen Sioux nicht erkennen sollte?" fragte der Trapper. „Geht, es ist dunkel, und Ihr seht nicht, daß mein Haupt grau ist." Der Wilde sah ihn feindselig an und schlich zurück zu seinen Stammesgefährten. Er fürchtete, es könne entdeckt werden, daß er sich als Häuptling ausgegeben hatte, um sich einen Teil der Beute anzueignen. Jetzt trat der Häuptling Mahtoree zu den Gefangenen, ein starker, stolzer Krieger. Die ändern folgten ihm und stellten sich, ehrfürchtig schweigend, um ihn. „Die Erde ist groß genug", begann der Häuptling voller Würde. „Warum können die Kinder meines weißen Vaters nie Raum genug darauf finden?" „Einige von ihnen hörten, daß ihre Freunde in der Steppe manches brauchen", entgegnete der Trapper. „Sie kamen, um zu sehen, ob dies wahr ist. Manche von ihnen brauchen, was die roten Männer gern verkaufen, und so kommen sie, ihren Freunden Pulver und Decken zu bringen." „Kommen Kaufleute mit leeren Händen über den Fluß?" „Unsere Hände sind leer, weil Eure jungen Leute glaubten, wir seien ermüdet, und uns unsere Last abnahmen." „Das kann nicht sein. Euer Gepäck liegt in der Prärie. Zeigt meinen Leuten die Stelle, damit sie es wegnehmen, ehe die Pawnees es finden." „Der Weg ist schwer zu finden, und es ist dunkel", sagte der Alte ruhig. „Laßt Eure Krieger über jenen Hügel gehen. Dort ist Wasser und Holz. Laßt sie ein Feuer anzünden und mit warmen Füßen schlafen. Wenn die Sonne aufgeht, sprechen wir uns wieder." Ein unwilliges Murmeln erhob sich unter den Zuhörern. Der Häuptling fragte ungerührt weiter: „Ich weiß, mein Freund ist reich. Er hat nicht weit von hier viele Krieger und viele Pferde." „Ihr seht meine Krieger und meine Pferde." „Was! Hat das Mädchen die Füße eines Dakota, daß sie dreißig Nächte ziehen kann in der Prärie und nicht niedersinkt? Ich weiß, die roten Männer der Wälder machen lange Züge zu Fuß, aber wir — wir lieben unsere Pferde!" „Möglich, daß weiße Leute in der Steppe schlafen", meinte der Trapper nach einer Weile, „aber was das für Leute sind, die sich so auf den Edelmut der Sioux verlassen, kann ich nicht sagen. Schickt doch Eure jungen Leute hin, sie aufzuwecken, und laßt sie selbst sagen, wer sie sind. Jedes Bleichgesicht hat eine Zunge." Der Häuptling schüttelte mit wildem, stolzem Lächeln den Kopf und wandte sich ab. „Die Dakotas sind ein weises Volk", sagte er, „und Mahtoree ist ihr Häuptling. Er wird die Fremden nicht rufen, daß sie aufstehen und ihm mit ihren Büchsen antworten. Er wird ihnen ganz leise in die Ohren lispeln. Dann mögen die Leute von ihrer Farbe kommen und sie wecken." Er gab Befehle. In tiefer Stille setzte sich alles in Bewegung. Ein paar Indianer, unter ihnen Weucha, mußten die Gefangenen und die Pferde bewachen. Mahtoree verteilte seine Leute. Schnell und geräuschlos schlichen sie davon. Zwei behielt der Häuptling bei sich. Die drei legten die Flinten beiseite und entledigten sich aller Kleidungsstücke. Messer und Streitäxte nahmen sie mit und verschwanden im Dunkel.
Überfall auf das Lager Wie Schlangen krochen die Siouxkrieger durch das dichte Gras. Im Lager herrschte tiefer Frieden. Meter um Meter schob sich jetzt Mahtoree vorwärts und hieß dann die ändern warten. Endlich kam er aus dem fahlen Mondlicht in den Schatten des Gehölzes. Dann legte er das Ohr an die Erde und lauschte. Er hörte die Atemzüge einer nahen Wache; der Mann schlief. Im Schatten des Gehölzes schlich er geduckt weiter bis zu dem großen Zelt. Er betastete es und lüftete vorsichtig das Tuch am Boden. Dann setzte er sich nieder und dachte nach. Nochmals steckte er den Kopf unter die Leinwand und wand sich dann wie eine Schlange durch die Stämme des schützenden Verhaus. Er stand im Innern des Lagers. Das Messer in der Hand, schritt er durchs Lager wie der Fürst der Bösen. In das Zelt, in dem sich das Weib mit ihren kleinen Kindern befand, warf er nur
einen kurzen Blick. Er ging an mehreren schlafenden gigantischen Gestalten vorbei und erreichte den Fleck, wo Ismael lag. Sofort war ihm klar, daß er hier vor dem Anführer der Auswanderer stand.
Lange beugte er sich über den ausgestreckten Riesen. Dann steckte er das Messer wieder ein und wollte weitergehen. Da drehte sich Ismael auf seinem Lager herum. Schlaftrunken fragte er, wer da sei. Blitzschnell handelte der listige Mahtoree. Brummend warf er sich zu Boden, wie einer, der sich schlafen legt. Ismael sah es, schloß die Augen und schlief sofort wieder ein. Als der Häuptling sicher war, keine Überraschung mehr befürchten zu müssen, kroch er in die kleine Hürde der Haustiere und stellte beute» gierig ihre Zahl fest. Rings um das Lager wartete die Indianerbande auf das Zeichen zum Angriff. Dunkel lag die Prärie unter dem umwölkten Mond. Die Gefangenen konnten von ihrer Anhöhe aus den Platz der Auswanderer nicht sehen. Von Minute zu Minute wuchsen Unruhe und Besorgnis der drei Schicksalsgefährten. Kein Laut war zu hören. Plötzlich näherte sich Weucha dem alten Trapper und flüsterte ihm zu: „Wenn die Tetons ihren Häuptling durch die Hand der weißen Langmesser verlieren, dann stirbt alt und jung!" „Das Leben gibt Gott", antwortete der Trapper. „Der Mensch stirbt nur, wenn er es befiehlt, und kein Dakota kann die Stunde ändern." Plötzlich ertönte ein markerschütternder Schrei. Sofort stieß auch Weucha einen wilden Schrei aus. Paul Hover konnte sich nicht länger beherrschen und rief: „Jetzt zeige, alter Ismael, daß das Blut von Kentucky in deinen Adern fließt. Niedrig feuern, Jungen, ins Gebüsch zielen, die Rothäute kriechen am Boden!" Ein wildes Schießen und Lärmen begann. Die Wächter der Gefangenen fuchtelten mit den Armen und sprangen laut schreiend umher wie Kinder. Der Erdboden erzitterte von einem dumpfen Trampeln: Ismaels Vieh stürmte in wirrer Flucht den Hügel herauf. „Sie haben die Tiere losgemacht, diese Diebe", sagte der alte Trapper. Von dunklen Gestalten gejagt, kam das erschrockene Vieh näher. Ein allgemeiner Tumult entstand. Der Trapper entwand dem Wächter das Messer. Blitzschnell zerschnitt er den Lederriemen, der die aufgeregten Pferde zusammenhielt. Sie wieherten, stampften mit den Hufen und stürmten nach allen Richtungen in die Prärie hinaus. Weucha, der sich auf den Trapper stürzen wollte, besann sich anders und raste davon. Um jeden Preis mußten die Pferde, das kostbarste Gut der Sioux, wieder eingefangen werden. Der Bienenzüchter schlug vor, Ismael in seinem Kampfe zu unterstützen, aber der Trapper mahnte zur Besonnenheit. „Ist Euer Freund klug?" „Nennt Ismael nicht meinen Freund!" sagte der junge Mann unwillig. „Na gut. Aber ist er ein Mann, der sein Eigentum mit Pulver und Blei verteidigt?"
„Nicht nur sein Eigentum, auch anderes, was ihm nicht gehört. Was glaubt Ihr denn, alter Mann, wer damals den Boten des Sheriffs niederschoß?" Der Trapper schwieg. Auf einmal flüsterte Ellen: „Da kommen die Leute aus dem Lager! Geh, Paul! Man darf dich nicht sehen." „Still, werft Euch ins Gras", flüsterte der Trapper „die Kerle schießen!" Mehrere Schüsse krachten schnell hintereinander. Die drei duckten sich zu Boden. Plötzlich stand der Alte auf. „Das muß ein Ende haben!" murmelte er und schritt kurz entschlossen den Hügel hinab zum Lager. Hell schien jetzt der Mond auf seine hohe Gestalt. Vor dem Lager wurde er angerufen, und er gab sich zu erkennen. „Ihr habt uns die Teufel auf den Hals geschickt!" schimpfte Ismael. „Und morgen teilt Ihr mit ihnen die Beute!" „Was habt Ihr verloren?" fragte der Trapper ruhig. „Mein ganzes Vieh, verstehst du, was das heißt?" schrie der Auswanderer außer sich vor Wut. „Ich ging in die Prärie, weil das Gesetz allzu schwer auf mir lag, aber nicht, um mich berauben zu lassen!" Die Söhne Ismaels krochen aus ihren Schlupfwinkeln hervor, und der Älteste meinte: „Wenn dieser Alte alles ist, was von dem Trupp da oben übrigblieb, dann haben wir unser Pulver nicht verschwendet." „Du hast recht, Asa", antwortete der Vater und fragte den Trapper: „Wie ist das, Ihr wart eben noch zu dritt da oben?" „Hättet Ihr die Sioux hinter eurem Vieh herjagen sehen, würdet Ihr sie für tausend gehalten haben", sagte der Alte. „Ich sehe keine Gespenster wie ein altes Weib", polterte Ismael und fügte dann freundlich hinzu: „Aber kommt, reden wir morgen weiter. Das beste, was wir jetzt noch tun können, ist schlafen." Schweigend folgte der Trapper dem Auswanderer ins Lager und streckte sich im Gras aus. Einschlafen konnte er aber erst, als er merkte, daß Ellen Wade zurückgekehrt und der junge Mann verschwunden war. Als das graue Licht des Morgens über der Prärie schimmerte, stand Ellen Wade leise auf und schlich sich vorsichtig an den Rand des Lagers. Sie lauschte einen Augenblick, dann eilte sie auf die Anhöhe. Da vernahm sie das Geräusch schneller Schritte. Sie rief Pauls Namen. Aber sie hatte sich getäuscht. „Ich hätte nicht gedacht, Euch um diese Zeit hier zu begegnen, Doktor." „Für den Naturfreund gibt es keinen Unterschied in den Tagesstunden", erwiderte der kleine, hagere und bewegliche Naturforscher. Der schrullenhafte Gelehrte war mit Ismael gezogen, um Pflanzen und Tiere der Prärie zu studieren. Er kam gerade von einer seiner Exkursionen zurück. „Habt Ihr eine Mine entdeckt, Doktor Bat?" „Viel mehr als eine Mine! Unschätzbare Beobachtungen für mein Taschenbuch! Aber ich hörte heute Nacht schießen. Was gab es denn?" Ellen berichtete. Doktor Bat, der befürchtete, dass ihm die Sioux seine vielen Folianten und Kisten mit Pflanzen und Tieren geraubt haben könnten, lief schnell davon. Ellen ging langsam hinterher und schlich leise in ihr Zelt.
Aufbruch Das laute Jammern des Doktors über seinen eingebildeten Verlust weckte die Schläfer. Jetzt bei Tageslicht wurden sie sich erst der Größe ihres Verlustes bewußt. Zähneknirschend blickte Ismael auf die schwer» beladenen Wagen und auf die Kinder, die sich um ihre Mutter drängten. Er ging aus dem Lager hinaus, als würde ihm hier die Luft zu eng. Ein paar Männer folgten ihm. Schweigend stiegen sie auf die nächste Anhöhe. Endlos breitete sich unter ihnen die nackte Ebene. Ein Büffel suchte seine magere Nahrung in dem verdorrten Grase. Traurig stand der Esel des Naturforschers, den die Sioux verschmäht hatten, in der trostlosen Einöde.
„Da haben uns die Hunde wirklich das beste Stück dagelassen", höhnte Ismael. Dann seufzte er: „Es hilft nichts, Jungen, wir müssen Nahrung schaffen für so viel hungrige Mäuler." „Hier ist die Flinte besser am Platze als die Hacke", erwiderte einer der Söhne. „Was sagt Ihr, Trapper?" fragte Ismael. „Ihr seid durch Millionen Morgen fruchtbaren Landes gezogen, um an diesen traurigen Fleck zu kommen. Wenn Ihr Land sucht, dann habt ihr entweder hundert Meilen zu viel oder hundert Meilen zu wenig zurückgelegt." „Am anderen Ozean ist es also besser?" forschte der Auswanderer und zeigte gen Westen. „Gewiß", erwiderte der Trapper. Ismael fragte ihn, zu welchem Volke er gehöre. Er habe wohl Farbe und Sprache eines Christen, doch scheine sein Herz bei den Rothäuten zu sein. „Es ist wenig Unterschied zwischen den Völkern. Das Volk, das ich am meisten liebte, ist wie Staub vom Sturme verweht. In meinen Adern fließt kein Indianerblut. Was ein Krieger seiner Nation schuldig ist, bin ich den Staaten schuldig." Unvermittelt fragte der Auswanderer: „Wo sind die Sioux, die mein Vieh gestohlen haben?" „Wo sind die Panther, die gestern die Büffelherde über die Prärie gejagt haben? — Rothäute pflegen nicht zu warten, bis sie für ihre Niedertracht mit einer Schrotladung in den Hintern bezahlt werden." „Ihr habt doch lange genug in der Prärie gelebt, was würdet Ihr an meiner Stelle tun?" „Das Lager ist kein geeigneter Platz für einen Kampf gegen Übermacht. Drei Meilen von hier ist ein Fleck, dort kann man sich, wenn man geschickt und tapfer ist, tagelang, ja wochenlang halten." Ismael ging sofort ans Werk. Die Männer packten die Deichseln der Wagen und zogen sie fort. Selbst für ihre Bärenkräfte war es ein sehr hartes Stück Arbeit. Die Mutter und Ellen folgten mit den Kindern. Jeder trug von der Ladung, soviel er konnte. Ismael führte den Zug bis auf die Anhöhe, wies die Richtung und kehrte dann mit seinem Schwager in das leere Lager zurück. Der Trapper lehnte sich auf seine Flinte und sah aufmerksam zu. Als die Wagen fortgefahren waren, blickte er zu dem abgelegenen Zelt hinüber. Es schien mit seinem Fahrzeug vergessen worden zu sein. Zwei Männer kehrten jedoch nach geraumer Zeit zurück, schoben den Wagen wieder unter die Zeltplane und verschwanden hinter der Lein= wand. Vorsichtig näherte sich der Trapper. Aber da kamen Ismael und der andere wieder zum Vorschein und brachen das Zelt ab. Als sie fertig waren, bemerkte der Schwager den Trapper. „Ismael", rief er und zeigte auf den Alten, „die Sonne müßte sich von Westen nach Osten drehen, wenn das nicht ein Spion ist!" „He, Fremder, nur Weiber schleichen sich in die Geheimnisse anderer ein", rief der Auswanderer drohend. „In wessen Auftrag spioniert Ihr hier herum?" „Ich bin kein Spitzel." Die beiden kümmerten sich nicht mehr um den Alten. Sie zogen mit dem geheimnisvollen Wagen ab, und der Trapper sah ihnen, auf seine Flinte gestützt, lange nach.
Überraschende Erscheinung Inmitten der einförmigen Hügel der Prärie erhob sich am Ufer eines kleinen Flusses ein einsamer, nackter Felsen. Auf ihm hatten die Auswanderer ein befestigtes Lager aufgeschlagen. Das Zelt aus schneeweißer Leinwand stand auf dem Gipfel, darunter drängten sich einige Hütten in einem schützenden Verhau zusammen.
Immer fester wurde Ismaels Entschluß, hierzubleiben und Bauer zu werden. Sein Schwager Abiram war damit jedoch nicht einverstanden. Da sie sich nicht einigen konnten, blieben sie unentschlossen hier und rührten sich nicht vom Fleck. Ellen Wade saß auf dem sechzig Meter hohen Gipfel des Felsens neben dem kleinen Zelt und spähte in die hügelige Ebene. Ihr schönes Haar flatterte im Winde. „Was gibt's, Nell?" rief Ismael von unten. „Seht Ihr was?" Ellen stand auf, doch was sie sagte, konnte wegen des Windes unten nicht verstanden werden. Plötzlich verschwand sie. „Himmel!" rief Asa. „Der Wind hat sie heruntergeweht!" Aber da erschien das Mädchen wieder. Sie kam aus dem Zelt und setzte sich an ihren alten Platz. Sie deutete mit ausgestrecktem Arm in die Prärie hinaus und schien eifrig mit einem unsichtbaren Zuhörer zu sprechen. „Neu ist toll", sagte Asa. Aus seiner Stimme klangen Unwille und Besorgnis. „Das Mädchen träumt mit offenen Augen." „Vielleicht hat sie die Sioux gesehen", überlegte Ismael. „Nell", rief Ismael wütend, „was soll das heißen? Nell! — Sie hat ihre Muttersprache vergessen! Wollen doch mal sehen, ob sie eine andere Sprache versteht!" Er hob das Gewehr und schoß. Ellen schrie auf und eilte ins Zelt. Gleich darauf erschien ein fremdes Mädchen auf dem Felsen. Sie war klein und sehr schön. Die Fremde trug ein schwarzes, glänzendes Kleid, und schwarze Locken fielen offen auf ihre Schultern. Alle starrten erstaunt nach oben. Jetzt kam auch Ellen wieder aus dem Zelt. Sie sagte etwas, doch niemand konnte sie verstehen. Die Fremde kehrte um und verschwand ebenso schnell, wie sie gekommen war. Die Kerle hatten sich von ihrer Überraschung wieder erholt. Asa, der älteste Sohn, blickte Abiram verächtlich an und meinte: „Das also ist das Tier, das Ihr als Köder in die Steppe brachtet. Ich hätte es nie für möglich gehalten! Die Zeitungen in Kentucky nannten Euch hundert» mal einen Händler mit schwarzem Fleisch, aber ich hätte nie gedacht, daß Ihr Euren Handel bis in die weißen Familien ausdehnen würdet." „Wer ist ein Menschenhändler?" fragte Abiram beleidigt. „Soll ich mich gegen jede Lüge verteidigen, die sie in den Staaten über mich verbreiten? Seht doch Eure eigene Familie an! An allen Anschlagpfählen in Kentucky sind hohe Prämien auf Eure löbliche Familie ausgesetzt und ..." Da erhielt er einen heftigen Schlag gegen das Kinn. Er wankte. Blut quoll ihm aus Mund und Nase.
„Asa!" rief der Vater wütend. „Du hast den Bruder deiner Mutter geschlagen!" „Ich habe nur den Beleidiger unserer Familie bestraft", antwortete der Sohn zornig. Ismael gebot mit einer Handbewegung Ruhe und versprach seinem Schwager Genugtuung. Dann befahl er seinen Söhnen, mit auf die Büffeljagd zu kommen.
Fremder Abenteurer Nicht weit vom Lager saßen der alte Trapper und der Bienenjäger in einer Bodensenke. Behaglich verzehrten sie einen saftigen Büffel* braten. Zufällig war auch der Naturforscher auf seinem Ausflug zu ihnen gestoßen. Plötzlich knurrte Hektor. Paul Hover sprang auf und ergriff die Flinte. „Kommt, ungebetener Gast, und macht Euer Testament!" rief er übermütig. „Ein Freund, ein Weißer", antwortete es aus dem Dickicht. Dann näherte sich ihnen ein Mann und betrachtete sie vorsichtig. Auf seinem lockigen, pechschwarzen Haar trug der Fremde eine Mütze aus feinem, blauem Tuch mit einer schmutzigen, goldenen Quaste. Einen schwarzen Seidenschal hatte er nachlässig um den Hals gewunden. Sein Jägergewand war mit gelben Fransen und anderem Zierrat besetzt, und der lange, gefährliche Dolch in dem rotseidenen Gürtel war reich geschmückt. An einem Lederriemen hingen zwei Pistolen. Ein kurzes, schweres Soldatengewehr trug er über der Schulter. Auch Pulverhorn und Jagdtasche fehlten nicht. „Ich komme als Freund", rief der Fremde. „Könnt Ihr einen Bienenschwarm von hier bis in den Wald verfolgen?" fragte Paul Hover. „Die Biene ist ein Vogel, der mich nichts angeht", lachte der andere. Paul streckte dem Fremden offen die Hand hin. „Wenn Ihr Euch nichts aus Honig macht, brauchen wir uns nicht zu zanken. Setzt Euch und eßt mit. Fleisch ist genug da. Wie lange seid Ihr schon unterwegs?" „Oh, schon viele Wochen. Und vielleicht dauert es noch einmal so lang, bis ich wieder in die Ansiedlungen zurückkomme. Aber ich habe einen Bärenhunger. Aha, ein Bisonrücken!" „Ihr scheint Bescheid zu wissen! Mein Ideal wäre eine kleine Hütte an einem Wald mit hohlen Bäumen und viel Bienen, jeden Tag ein Bisonrücken und . . ." „Und was noch?" fragte der Fremde heiter. „Na, das könnt Ihr Euch doch denken. Etwas, das nur mir gehört", antwortete Paul und pfiff vor sich hin. Der Fremde machte sich über den Rest der Mahlzeit. Doktor Battius versuchte ihn einzuschätzen: „Ihr habt doch ohne Zweifel das medizinische Diplom?" „Auf diese Ehre habe ich keinen Anspruch." „Aber Ihr besitzt doch gewiß irgendein Zeugnis, das Euch ausweist." „Danke für die gütige Nachfrage. Ihr interessiert Euch allzu sehr für mich, verehrter Herr!" sagte der junge Mann gereizt und stand auf. Der Naturforscher ließ sich nicht erschüttern. „Gewöhnlich hat man doch ein Dokument bei sich, mit dem man sich ausweisen kann." „Sonderbare Forderung", murmelte der Fremde und blickte die anderen an. Dann zog er ein Kästchen aus seiner Jacke und überreichte es dem Doktor. „Seht selbst nach, ob ich berechtigt bin, in diesem Lande zu reisen." Der Naturforscher nahm ein großes Blatt heraus und entfaltete es. „Donnerwetter!" rief er. „Da steht ja die Unterschrift des Philosophen Jefferson! Und das Staatssiegel! Und der Kriegsminister hat auch unterschrieben! In diesem Dokument ist Duncan Uncas Middleton zum Kapitän der Artillerie ernannt!" Wie elektrisiert fuhr der Trapper auf. „Was?" rief er. „Nennt den Namen noch mal! Uncas?" „Ja, so heiße ich", bestätigte der Jüngling stolz. „Es ist der Name eines Stammeshäuptlings. Mein Onkel und ich sind stolz, ihn zu tragen, da er ein Andenken an einen wichtigen Dienst ist, der meiner Familie von einem Krieger in den frühen Kämpfen der Provinzen geleistet wurde."
„Uncas? Uncas?" wiederholte der Trapper. Er näherte sich dem jungen Mann und betrachtete aufmerksam sein Gesicht. „Ach, meine Augen sind alt und nicht mehr scharf. Und doch erkenne ich noch den Vater im Sohne! Wie heißt doch Euer Vater?" „Er war Offizier der Staaten im Revolutionskrieg. Natürlich hieß er so wie ich. Und meiner Mutter Bruder hieß Duncan Uncas Heyward." „Uncas, Uncas", entgegnete der Alte zitternd vor Erregung. „Und sein Vater?" „Hieß ebenso, nur ohne den Namen des Häuptlings. Ihm und meiner Großmutter wurde der Dienst erwiesen, von dem ich eben sprach." „Ich wußte es, ich wußte es!" sagte der alte Mann tief bewegt. „Es ist sein Blut, es ist sein Blick! Sagt mir, lebt der, den Ihr Duncan nennt, ohne den Namen Uncas, lebt der noch?" Traurig schüttelte der junge Mann den Kopf. „Er ist, sehr alt, gestorben." „Sehr alt!" wiederholte der Trapper und betrachtete die eigenen, mageren, aber noch kräftigen Hände. „Ihr habt ihn wohl oft gesehen und von Uncas und der Wildnis erzählen hören?" „Oft! Damals diente er dem König. Doch im großen Krieg zwischen der Krone und den Kolonien blieb er seinem Vaterlande treu und focht auf Seiten der Freiheit." „Kommt, Junge, setzt Euch zu mir und erzählt mir von Eurem Großvater!" Der Jüngling setzte sich nieder und begann zu erzählen. Alles wiederholte er, was der Großvater über Chingachgook und Uncas berichtet hatte. Sein Bruder und zwei Vettern hätten den Namen eines Weißen geführt, der ein edler, guter Mensch und einer der entschlossensten und tapfersten Krieger gewesen sei: Nathanael Bumppo. Zum Schlusse teilte er mit, daß sein Hund von dem Hunde jenes Kundschafters abstamme. Tief erschüttert erklärte der alte Trapper: „Junge, der Kundschafter war ich." Die Tränen flössen über seine zerfurchten Wangen. Er schluchzte laut. Paul Hover sprang auf und packte den Gast heftig an der Kehle: „Mit welchem Recht habt Ihr den Alten dahin gebracht, daß er Tränen vergießt?" fragte er rauh. Dann erst begriff er und ließ Duncan los. In seiner Verwirrung packte er das Haar des Naturforschers, das ihm als Perücke in der Hand blieb. Der aber nahm das nicht weiter übel. Er hatte selbst feuchte Augen und nahm seine Kopfzier gutmütig aus der Hand des Bienenjägers entgegen. „Wir hatten Euch längst für tot gehalten", sagte Middleton zu dem alten Trapper. „Aber weshalb lebt Ihr in der Prärie, so weit weg von aller Bequemlichkeit und Sicherheit?" „Ich will vom Getriebe der Menschen nichts hören und sehen. Hierher kommt wenigstens kein Holzhacker. Aber weshalb seid Ihr hier? Hat Euch die Regierung geschickt, um das Land zu erforschen?" „Mich nicht. Mein Freund Lewis zieht einige hundert Meilen von hier flußaufwärts. Ich komme als Abenteurer hierher. Wollt Ihr meine Geschichte hören?" „Wir warten darauf", sagte der Greis, und alle setzten sich voller Spannung.
Zwischenspiel in der Nacht Gegen Abend brach die Sonne aus den Wolken hervor. Leuchtend sank sie hinter den weiten Horizont der Ebene. Dann stieg Nebel auf, und es begann zu dunkeln. Esther sammelte die jüngeren Kinder um sich. Sie warteten auf die Rückkehr der Jäger. „Dein Onkel ist und bleibt ein dummer Schwätzer, Nell", sagte die Frau zu Ellen. „Von morgens bis abends sitzt er auf dem Felsen und schmiedet Pläne mit seinen sieben sauberen Söhnen, und wenn es Nacht wird, ist er damit immer noch nicht fertig." „Hallo, Esther!" rief Ismael auf einmal fröhlich von unten. „Komm herunter mit deinen Jungen, altes Mädchen, und hilf uns das Fleisch hinauftragen. Wir haben alle Hände nötig!" Sofort stürmten alle, einschließlich Esther und Ellen, auf dem engen, halsbrecherischen Pfad hinunter. Ismael hatte einen schönen fetten Bock erlegt. „Keine Rothäute zu befürchten, wenigstens nicht heute Nacht", berichtete er. „Wir haben die Prärie meilenweit durchstreift. So, und nun macht uns einen saftigen Braten, und dann wollen wir mal in Frieden schlafen."
„Ich möchte nicht beschwören, daß keine Wilden in der Nähe sind", bemerkte Abiram zweifelnd. „Wir werden es ja hören, wenn Asa kommt, er ist den Spuren nachgegangen." „Diesen Felsen werden zehn kühne Männer ja wohl noch verteidigen können", brummte Ismael. „Zwölf, Ismael, zwölf!" rief die Alte. „Wenn du den Mottensammler als Mann zählst, gelte ich für zwei! Mit diesem Kerl hast du dir wirklich was Feines angeschafft. Als mir die Füße wehtaten, wollte er mir ein Pflaster auf den Mund kleben!" „Schade", meinte Ismael trocken, „daß er es nicht getan hat! Doch wir wollen lieber die Beute in Sicherheit bringen, als uns über die Tugend des Doktors zu streiten." In wenigen Minuten war alles auf den Felsen geschafft. Esther ging ans Werk. Sie zankte und brabbelte, bis das Essen fertig war. Dann setzten sie sich alle gierig um den dampfenden Braten. Ismael nahm zuerst das beste Stück. Dann griffen die anderen zu. Die lodernde Flamme beleuchtete die Gesichter. Manchmal blies der Wind ins Feuer. Unter ihnen lag die Prärie in undurchdringlicher Finsternis. „Ich verstehe nicht, daß Asa noch so spät draußen ist", sagte Esther nach einer Weile. „Hoffentlich haben die Sioux ihn nicht erwischt", murmelte Abiram. „Mit deinem dummen Geschwätz erschreckst du nur die Frauen", sagte Ismael. Dann stand er auf, reckte sich laut gähnend und ging schlafen. Einer nach dem anderen verschwand zu seinem harten Lager. Esther blieb mit der Wache allein. Voll Sorgen wartete sie auf den noch abwesenden Sohn. Endlich ließen sich Schritte vernehmen. Am Fuß des Felsens stand die dunkle Gestalt eines Mannes. „Eigentlich verdientest du, diese Nacht auf der bloßen Erde zu schlafen, Asa!" rief Esther zornig hinunter und erhob sich. „Weib!" antwortete eine Stimme von unten. „Nehmt Euch in acht! Macht Euch nicht der Körperverletzung oder des Totschlags schuldig! Ich bin es, Euer amicus, Doktor Obed Battius!" Esther war bitter enttäuscht. Sie legte sich nieder und versuchte zu schlafen. Auf Zehenspitzen schlich der Doktor zu seinem Lager und dachte über alles nach, was er an diesem Tag gesehen und gehört hatte. Da bemerkte er, daß in Esthers Hütte noch jemand murmelte und sich bewegte. „Ihr scheint nicht schlafen zu können, verehrte Frau Busch, kann ich etwas für Euch tun?" fragte Doktor Battius. „Was würdet Ihr mir schon geben", brummte Esther, „ein beschmiertes Läppchen, weiter nichts." „Ihr meint wohl Kataplasma. Aber wenn Ihr Schmerzen habt — dagegen gibt es herrliche Tropfen, die man in Kognak nimmt. Ihr werdet wunderbar danach schlafen." Die Alte hatte nichts dagegen. Sie nahm die Medizin und stürzte sie mit einem Schluck hinunter. Der Arzt setzte sich und wartete. Schon nach wenigen Minuten wirkte die große Dosis Opium, und Esther schnarchte dröhnend. Im Lager war es jetzt ganz still. Doktor Battius schlich sich wie ein Dieb auf die Spitze des Felsens. „Ist jemand krank im Zelt, daß Doktor Battius zu so später Stunde Besuch macht?" flüsterte eine Stimme neben ihm. „Ach, Ihr seid es, Ellen", antwortete der Doktor, der zuerst sehr erschrocken war. „Seid leise! Wenn Ismael uns hört, wirft er uns beide vom Felsen hinunter!" „Keine Angst, der schläft! Gefahr droht nur von meiner Tante." „Oh, die schläft gut!" „Was wollt Ihr denn hier?" fragte Ellen. „Ich muß den Bewohner dieses Zeltes sprechen." „Ihr wißt, wer es ist?" „Ich habe einen Brief persönlich abzugeben." Ellen hieß den Doktor warten. Dann schlüpfte sie ins Zelt. Schließlich kam sie wieder, nahm ihn bei der Hand und verschwand mit ihm unter der geheimnisvollen Plane.
Asas Tod und Begräbnis Am nächsten Morgen waren die Auswanderer still und bedrückt. Selbst Esther sprach kaum ein Wort. Ismael ging mit zusammengezogenen Brauen umher. „Asa soll mir für sein ungebührliches Verhalten büßen!" knurrte er. „Da treibt er sich die liebe lange Nacht in der Prärie herum, während wir ihn vielleicht hätten nötig brauchen können." „Sei still, Mann", sagte seine Frau. „Du kannst lange rufen, bis dir dein Sohn antwortet." „Pah", machte Abiram, „der Junge hat einen Bock oder einen Büffel geschossen und bei der Beute geschlafen, um die Wölfe zu verjagen." „Gerade du, Abiram, sagtest gestern Abend selber, die Rothäute seien in der Nähe herumgestreift", rief die Mutter. „Das sage ich auch jetzt noch." „Wir müssen ihn suchen", bestimmte die Mutter kurz entschlossen. „Ich nehme selber eine Flinte über die Schulter, und dann wehe der Rothaut, die mir in die Quere kommt!" Ihr Mut rüttelte die trägen Söhne auf. Sie erhoben sich und wollten mitgehen. Ismael machte keine Einwände. Kurz darauf erschien Esther mit der Flinte. „Abiram, wir können die Hütten nicht unbewacht lassen", sagte Ismael leise und blickte zum Zelt hinauf. „Ich bleibe und bewache das Lager", schlug der Schwager vor. Doch dagegen erhoben die anderen Einspruch. Er habe die feindlichen Spuren gesehen und müsse mitkommen, um die Stelle zu zeigen. Ismael wollte den Doktor zum Lagerkommandanten ernennen, doch der schlug die zweifelhafte Ehre aus. Nun kam nur noch Ellen in Frage. Ismael übertrug ihr die Wache. Signale für den Fall der Gefahr wurden verabredet und Felsbrocken am Abhang aufgeschichtet, damit sie etwaigen Angreifern auf den Kopf geworfen werden könnten. Die Eingänge wurden verstärkt und unzugänglich gemacht. Dann brachen sie auf. „Los, Abiram!" rief Esther. „Lauf, die Nase am Boden, zeige, daß du ein Hund von guter Rasse bist!" Der Bruder, der gehörigen Respekt vor seiner Schwester hatte, gehorchte. Sie marschierten, bis Fels und Lager nur noch als schwarzer Punkt am Horizont sichtbar waren. Nach zwei Stunden blieb Ismael stehen. „Wo sind die Indianerspuren, die du gesehen haben willst, Abiram?" „Weiter westlich." Mit großen Schritten eilte Esther weiter und rief: „Folgt mir!" Plötzlich brach ein Bock aus dem Gebüsch und verschwand mit großen Sprüngen hinter einer Anhöhe. Hinter ihm tauchten bellend zwei fremde Hunde auf. Aber anstatt der Fährte zu folgen, umkreisten sie unruhig eine bestimmte Stelle und setzten sich laut aufheulend nieder. „Schießt sie nieder", schlug Abiram vor. „Ganz bestimmt gehört der eine alte Köter dem Trapper." „Ich sage euch, das ist eine Warnung!" rief Esther und ging auf die heulenden Hunde zu. „Abner, Abiram, Ismael, ihr versteht was von der Jagd!" herrschte Esther die Männer an, „was für ein Tier ist hier verendet?" Die Männer starrten stumm auf eine dunkle Blutspur. Dann deutete ein Sohn auf ein dichtes Unterholz, über dem Scharen von Raubvögeln kreisten. „Treibt die Hunde ins Gebüsch", sagte Esther. „Wir müssen wissen, was da los ist." Die Hunde gehorchten widerwillig und brachen gleich darauf heulend wieder aus der Hecke hervor. Jetzt drangen die Söhne selbst ein. Erst herrschte Totenstille, dann ertönte ein Schrei. „Kommt zurück, Kinder, was ist?" rief Esther. Da erschienen die beiden Söhne und legten ihr den toten Asa vor die Füße. Die Hunde winselten kläglich und rasten dann auf der Fährte des Wildes davon. „Zurück!" befahl die Mutter den sich Herandrängenden und warf sich verzweifelt über die Leiche. „Die verfluchten Sioux!" stöhnte Abiram. Abner und Enoch hatten den Bruder aufrecht sitzend gefunden. Wahrscheinlich war er schwer verwundet in das Gebüsch geflohen.
„Er ist in der Prärie von einem Haufen Wilder überfallen und nach tapferem Kampfe überwältigt worden. Dann haben sie ihn ins Gebüsch gezerrt", stellte Abiram fest. Ismael entdeckte schließlich den Einschuß unter einer Schulter. Die Kugel war durch die Brust wieder herausgekommen. In der Tat fand Enoch das Geschoß noch in Asas Kleidern. Ismael betrachtete die Bleikugel lange. „Kein Zweifel", sagte er, „die Kugel stammt aus der Flinte des verfluchten Trappers. Hier ist sein Zeichen, man sieht es deutlich: sechs kleine Löcher kreuzweise." „Was habe ich gesagt?" triumphierte Abiram. „Der alte Schurke ist ein Spion der Rothäute! Glaubt Ihr es jetzt?" Der Tote hatte noch mehrere Verletzungen, und Ismael und seine Söhne zweifelten keinen Augenblick daran, daß auch sie von der Flinte des Alten herrührten. „Er starb, wie es meinem Sohn geziemt", sagte Ismael. „Kommt, laßt uns ihn begraben. Dann werden wir seinen Mörder verfolgen."
Mit Mühe schaufelten sie ein Grab in die harte Erde. Ismael hob seine über dem Toten liegende Frau auf. Dann wurde der Leichnam in die Grube gesenkt. Mit gefalteten Händen stand Ismael dabei. Als alles vorüber war, nahm er die Mütze ab und dankte seinen Söhnen. Tiefe Trauer stand in seinem Gesicht geschrieben, aber er zeigte keine Schwäche. „Komm, Esther", sagte er, „wir haben alles getan, was in unserer Macht stand. Wir zogen den Jungen auf, und jetzt haben wir ihn ins Grab gelegt. Laß uns gehen." Still kehrten sie ins Lager zurück. Die Sonne ging bereits unter, als der Felsen vor ihnen auftauchte. Aber seltsam, da oben rührte sich nichts. „Schieß deine Flinte ab, Abner", gebot Ismael, „damit sie hören, daß wir kommen." Abner schoß. Aber keine Antwort folgte. „Da sind sie!" rief Abiram auf einmal. „Nein, es ist der Rock, den ich aufhängte", antwortete Esther. „Er flattert auf der Leine." „Das Zelt selbst flattert", sagte Ismael. „Sie haben es vom Boden losgemacht." Im nächsten Augenblick hob ein Windstoß das geheimnisvolle Zelt hoch und wehte es weit über den Felsen in die Prärie hinaus. „Die Mörder sind hier gewesen!" schrie Esther auf. „Meine Kleinen! Meine Kleinen!" Ismael stand einen Augenblick wie erstarrt. Dann setzte er in großen Sprüngen den Felsen hinauf.
Die Flucht Ellen Wade hatte sich in den ersten Stunden mit den ungeduldigen Kindern beschäftigt. Alle Augenblicke fragten sie, wo die Mutter sei und wann sie wiederkomme. Als Ellen ihrer Quälereien müde war, schlüpfte sie in das Zelt. Auf einmal hörte sie die Kinder schreien. „Nelly, Nelly! Da sind Männer! Sioux-Indianer!" Ellen eilte hinaus. Zu ihrer Bestürzung sah sie vier Männer, die auf den Felsen zuliefen. Sofort stellte sie die größeren Mädchen an die Hebebäume, damit sie die Felsbrocken auf die Angreifer stürzen könnten. Etwa hundertfünfzig Meter entfernt blieben die vermeintlichen Indianer hinter einer Bodenerhöhung stehen, dann trat ein einzelner hervor. Ellen erkannte Doktor Battius. Langsam näherte sich der Naturforscher dem Felsen und hielt seine Flinte hoch, an der ein weißes Tuch wehte. „Ich fordere euch alle im Namen der Vereinigten Staaten von Nordamerika auf, euch den Gesetzen zu unterwerfen!" „Ich dachte, Ihr wäret unser Freund", rief Ellen zurück, „und reistet mit meinem Onkel auf Grund eines Vertrages." „Der gilt nicht mehr! Ein gewisser Kontrakt, eingegangen und geschlossen zwischen Ismael Busch, Grenzer, und Obed Battius, Doktor med., soll von diesem Augenblick an null und nichtig sein! Gegen Euch aber Nelly, bin ich gutgesinnt. Hört, was ich zu sagen habe. Ihr kennt den Charakter des Mannes, mit dem Ihr zieht, und wißt, daß Ihr Euch in übler Gesellschaft befindet. Darum übergebt den Felsen meinen Begleitern." „Ich verstehe Euch nicht, Doktor Battius. Wenn Ihr mich zur Treulosigkeit verleiten wollt, könnt Ihr Euch Eure Worte sparen." Jetzt erschien Paul Hover an der Seite des Naturforschers. „Ellen Wade, ich habe nicht erwartet, in dir eine Gegnerin zu finden!" „Paul, du weißt, daß mein Onkel mir seine Familie anvertraut hat. Ich kann sein Vertrauen nicht mißbrauchen. Was verlangt Ihr von mir?" „Wir wollen die Gefangene befreien! Wenn du das treue Mädchen bist, für das ich dich immer gehalten habe, machst du uns jetzt keine Schwierigkeiten." „Ich habe einen Eid geleistet —" „Ein Kontrakt, den man in Unwissenheit oder Not eingeht, ist null und nichtig nach Meinung aller guten Juristen", belehrte sie der Doktor. „Weiter nichts? Hast du nur diesem Grenzer geschworen?" rief Paul. „Wer hat hier das Recht, mich über meine Verpflichtungen zu befragen?" gab Ellen zurück. Paul wandte sich an den Greis: „Hört Ihr das, alter Trapper? Werde einer aus den krausen Gedanken eines Weibes klug!" Der Alte nickte und legte seine Hand besänftigend auf Pauls Schulter. Nun sprang Middleton, der junge Offizier, vor. „Ellen Wade, gestattet Ihr, daß ich allein hinaufkomme? Ich verspreche, daß Euer Verwandter für jeden Schaden, den er erleidet, Ersatz erhält." „Ich lasse niemanden ins Lager, bis mein Onkel zurückkommt", entschied Ellen. „Also los", rief der Bienenjäger ungeduldig und sprang bis dicht an den Felsen heran. „Paul!" schrie Ellen. „Noch ein Schritt, und die Felsen treffen dich!" In diesem Augenblick ließ sich eine sanfte Stimme vernehmen. Sie rief in einem fremden Akzent: „Um Gottes willen, haltet Frieden!" Kaum hatte der Offizier die unerwartete Erscheinung gesehen, rief er: „Ines, Ines! Ich werde dich befreien, und wenn die ganze Hölle gegen mich stünde!" Ismaels Töchter wußten nicht, was das alles bedeuten sollte, und eine von ihnen schoß auf das fremde Mädchen. Ellen schrie auf und eilte ihrer Freundin zu Hilfe. Paul, Middleton und der Doktor benutzten die allgemeine Verwirrung, um den Aufstieg zum Felsen zu gewinnen. Im Nu entwaffneten sie die Mädchen. Der Offizier führte Ines ins Zelt zurück. Endlich hatte er seine Frau wiedergefunden! Am Hochzeitstage war sie auf rätselhafte Weise entführt worden, und da sie die Tochter eines reichen Kreolen war, erregte der Vorfall größtes Aufsehen. Durch einen Zufall fand der
junge Soldat eine Spur von Ines. Wochenlang war er dem Zuge Ismaels durch die einsame Prärie gefolgt, und heute hatte er sein Ziel erreicht. „Wie ist es dir ergangen, Ines?" fragte er, nachdem er den Bericht über seine lange Irrfahrt beendet hatte. „Den Umständen nach ganz gut. Ismael stritt sich furchtbar mit dem Schuft, der mich raubte, aber dann machten sie einen nichtswürdigen Handel, dem ich beistimmen mußte. Sie wollten mir nichts antun, wenn ich nicht zu fliehen versuchte und immer in meinem Zelte bliebe. Sie wollten von meinem Vater ein fettes Lösegeld erpressen." „Wir haben noch manche Schwierigkeiten zu überwinden" sagte Middleton. „Du mußt sehr mutig sein." „Wir können sofort aufbrechen. Als mir der Doktor deinen Brief gebracht hatte, habe ich alles zur Flucht vorbereitet. Aber meine Freundin will ich nicht vergessen. Sie muß mit uns kommen." Der Trapper hatte bereits den friedlich grasenden Esel gesattelt. Der Naturforscher stopfte geschäftig seine Mappen, Herbarien und Insektensammlungen in die verschiedenen Packtaschen. Paul schaffte die Habseligkeiten von Ines und Ellen hinunter. Middleton half den Mädchen beim Abstieg. Der Offizier setzte Ines in den Sattel. Der alte Trapper drängte Ellen, ebenfalls aufzusitzen. Doch sie trat mit Tränen in den Augen herzu und reichte Ines die Hand zum Abschied: „Gott mit dir! Vergiß und vergib alles, was mein Onkel dir angetan hat." „Was soll das?" rief Middleton. „Sagtest du nicht, Ines, daß Ellen Wade mit uns gehen werde?" „Ich kann nicht — ich darf nicht", schluchzte Ellen. „Wer sorgt schon für ein Waisenmädchen, dessen Verwandte zum Auswurf der Menschheit gehören!" „Nun, alter Trapper", meinte Paul, „da machen wir doch kurzen Prozeß, was?" „Still!" unterbrach ihn der Greis. „Der Hund ist unruhig. Ismael kann höchstens noch eine Meile entfernt sein!" Middleton und der Trapper führten den Esel mit Ines um den Felsen herum in die Prärie. Paul Hover blieb zurück und stützte sich mit düsterer Miene auf seine Flinte. „Warum fliehst du nicht?" schluchzte Ellen. „Mein Onkel wird gleich hier sein." „Soll er mich doch niederschießen!" „Bitte, flieh!" flehte das verzweifelte Mädchen. „Ohne dich will ich nicht leben!" Mit einem freudigen Aufschrei fiel sie ihm um den Hals. Der Bienen» Jäger legte den Arm um sie, und sie eilten über die Prärie den Freunden nach.
Begegnung mit dem Pawnee Die Fliehenden gingen zwei Stunden lang in einem großen Halbkreis um den Felsen und dann in entgegengesetzter Richtung weiter. Rüstig schritt ihnen der Alte voran. Plötzlich setzte sich Hektor nieder, schnupperte und begann zu heulen. „Ein Basilisk!" stammelte der Doktor und zeigte auf eine Stelle im Gebüsch, etwa zwanzig Meter entfernt. Der Alte sah hin, riß die Flinte hoch und ließ sie dann wieder sinken. Am Rande des Dickichts lag eine lebendige, schwarzrote Kugel. Ihre glänzenden schwarzen Augen beobachteten aufmerksam die sechs Flüchtlinge. „Verdammt noch mal", murmelte der Alte, „ein indianischer Spion!" „Das soll ein Mensch sein?" fragte der Doktor. „Kommt heraus aus Eurem Versteck", rief der Trapper in der Sprache der Sioux. Die Kugel regte sich nicht. Der Trapper machte sich an seiner Flinte zu schaffen und legte an. „He, Freund, könnt Ihr nicht hören?" rief er laut. „Nein, das ist kein Mensch, sondern ein Blätterhaufen. Ich werde einmal hineinschießen." Da sprang blitzschnell ein schlanker Indianer auf. Der Trapper lachte und sagte zum Naturforscher: „Indianer machen das oft so. Stundenlang liegen sie wie schlafende Krokodile und brüten über ihren Teufeleien. Das ist ein Spion in voller Kriegsbemalung, da dürften sich noch andere in der Nähe herumtreiben." Der Alte streckte die flache Hand aus und ging mutig auf den Indianer zu. Dieser warf seine Blättermaske ab und zeigte ein ernstes und edles Gesicht. Sein Kopf war bis zum
Wirbel glattrasiert. Dort saß eine mächtige Skalplocke. Er trug nur ein leichtes Wams aus Wildleder, dazu eine scharlachfarbene Hose und Halbstiefel. Bogen und Pfeilköcher hatte er auf dem Rücken. Um seinen Nacken hing ein schön bemalter Schild aus Stierhaut.
Ruhig erwartete er den Trapper. Aber seine Augen liefen unaufhörlich von einem zum ändern. „Ist mein Bruder weit von seinem Dorf?" fragte der Alte in der Pawnee-Sprache. „Nach den Städten der Langmesser ist es weiter", war die Antwort. „Warum ist der Pawnee so weit von der Gabel seines Flusses weg — und ohne Pferd?" „Können vielleicht die Weiber und Kinder eines Bleichgesichtes ohne Bisonfleisch leben? Hunger war in meiner Hütte." „Mein Bruder ist zu jung, um schon eine eigene Hütte zu haben", stellte der Trapper fest. „Warum aber hat er zur Jagd einen Pfeil mit loser Spitze und Widerhaken? Ist er auf dem Kriegspfad?" „Man muß sich vor den Sioux schützen." „Meine Kinder sind müde. Wir möchten lagern und essen. Gehört meinem Bruder dieser Platz?" Als der Wilde sein Mißtrauen überwunden hatte, lud er die Weißen zur Rast ein. Immer wieder aber wanderten seine unsteten Blicke zu den beiden Mädchen hinüber. Besonders die schöne Ines staunte er unverhohlen an. Die Ankunft des Bienenjägers mit einem gesattelten indianischen Pferd unterbrach das Gespräch zwischen dem Trapper und dem Indianer. „In ganz Kentucky gibt es keinen Brigadier, der solch ein Pferd hat!" rief Hover. „Die Pawnee sind berühmt wegen ihrer Pferde", erklärte der Trapper. „Oft ist ein Krieger in der Prärie besser beritten als ein Weißer in den Ansiedlungen. Aber das ist in der Tat ein Tier, das nur einem mächtigen Häuptling gehören kann. Ich möchte wetten, dieser Bursche ist der Sohn eines Häuptlings." Der junge Pawnee nahm Paul die Zügel ab, warf sie über den Hals des Tieres und saß auf. Das Pferd bäumte sich, aber der Indianer zügelte es leicht. Er ritt ein paarmal auf dem kleinen, freien Platz im Gebüsch herum, einmal schnell, einmal langsam. Die Unterhaltung ergab, daß der Pawnee auf dem Kriegspfad gegen die Sioux war. „Die Sioux sind Feiglinge!" rief der Indianer. „Sie wagen die Augen nicht zu schließen in der Nacht. Ihr Haarwuchs ist so stark, daß die Pawnee darauftreten." Triumphierend deutete der junge Häuptling auf die Verzierungen seiner Mokassins. „Mein Bruder hat recht. Die Sioux sind Diebe. Aber meine Leute sind keine Sioux! Sie möchten die Hütten der Pawnee-Wölfe besuchen." Der Pawnee deutete nach dem östlichen Horizont und fragte: „Kann mein Bruder mir sagen, was ich dort sehe? Ist es ein Büffel?" „Es scheint eine Wolke über dem Horizont der Prärie zu sein."
„Es ist ein Felsen! Auf seinem Gipfel sind die Wohnungen der Bleichgesichter! Laßt die Weiber meines Bruders sich bei dem Volk von ihrer Farbe waschen." Dann schwieg der Krieger plötzlich und drehte sich lauschend zur Seite. Er ritt zur nächsten Ecke des Dickichts und blickte über die Prärie. Sodann ritt er wieder ein paarmal auf und ab, wobei er immer wieder Ines anstarrte. Er schien etwas sagen zu wollen, doch er senkte nur lauschend das Haupt. Plötzlich schoß er pfeilschnell davon und verschwand hinter einer kleinen Anhöhe.
Angriff auf den Weisen Der Alte schüttelte den Kopf und ging bis zum Rand des Dickichts. „Es sind Witterungen in der Luft, die meine armen Sinne nicht mehr wahrnehmen", murmelte er traurig. „Es ist nichts zu sehen noch zu hören", sagte Middleton, der dicht bei ihm stand; „meine Augen und Ohren sind gut." „Lebt erst einmal ein Jahr in der Prärie, dann werdet Ihr wissen, wie leicht man sich täuschen kann! Dort ist ein Zeichen, das jeder Jäger kennt." Er deutete auf einen Zug Geier, der fern über die Prärie hinflog. „Hört Ihr die Büffel?" rief der Trapper plötzlich. „Es muß eine größere Herde sein. Das ist das Geheimnis der Geier. Ich wette, der Pawnee hat einen Trupp seines Volkes hier in der Nähe. Wir werden bald eine herrliche Jagd erleben." Alle sechs standen am Rande des Gehölzes und betrachteten das Schauspiel. Einige ungeheure Bisonochsen erschienen vor einer Anhöhe. Ungezählte Tiere folgten in langen Reihen. Dichte Staubwolken stiegen von der Erde auf. Von Zeit zu Zeit trug der Wind ein tiefes, hohles Brüllen herüber. „Zehntausend Ochsen in einem Trieb!" sagte der Alte. „Kein Herr und Hirt außer dem, der sie erschuf und in die Prärie setzte. Die Herde kommt hier vorbei. Wir wollen die Mädchen in Sicherheit bringen und uns vorn aufstellen." Ines und Ellen gingen tiefer ins Gehölz. Den Esel nahmen sie aus Rucksicht auf seine schwachen Nerven in die Mitte. Die vier Männer verteilten sich vorn am Rande des Dickichts. Der Staubwolke, welche die Herde einhüllte, ging ein schreckliches Gebrüll voraus. Schnell kamen die Tiere heran und schössen auf das schützende kleine Gehölz zu Die Lage wurde ernst. Der Alte hob das Gewehr. Schnell feuerte er auf den vordersten Büffel. Das Tier ging in die Knie, schüttelte den zottigen Kopf und stand wieder auf. Da warf der Trapper die Flinte weg und lief mit ausgebreiteten Armen den heranstürzenden Tieren entgegen. Die Leitochsen stutzten, die Herde teilte sich und flutete in zwei Strömen an dem Trapper vorüber. Middleton und Hover deckten nach dem Beispiel des Trappers die Hanken des Gehölzes. Einige Sekunden hatten sie Erfolg. Aber die brüllende Herde drängte nach, die Staubwolke wurde dichter, und die drei Männer mußten Schritt für Schritt zurückweichen. Dicht neben Middleton brach ein wütender Bulle in das Gehölz ein.
„Stehenbleiben!" brüllte der Trapper in dem Getöse. „Sonst folgen die ändern!" In diesem Augenblick erhob der Esel seine klagende Stimme. Die Büffel erschraken und drängten von dem Gehölz weg. In zwei dunklen Kolonnen tobten sie seitwärts an dem Dickicht vorbei. „Der Esel hat gesprochen, aber Battius schweigt", rief der Bienenjäger und zeigte auf den Naturforscher. „Na, Freundchen", sagte der Trapper zu dem vor Angst erstarrten Doktor. „Ihr erschreckt über ein paar so harmlose springende Büffel?" Obed Battius wandte sich stumm ab. Allmählich wurde das Ende der Herde sichtbar. Plötzlich zeigten sich reitende Indianer, die dem Büffelzug folgten. „Verflucht! Sioux!" knirschte der Trapper. „Ins Versteck, das bedeutet Lebensgefahr!" Schleunigst verschwanden alle im Dickicht. Die Staubwolken senkten sich, und man konnte die Prärie frei übersehen. Ein Dutzend Indianer waren mit einem erlegten Büffel beschäftigt. Zwei Rothäute ritten umher, als suchten sie etwas, und kamen dem Dickicht näher. Middleton zeigte auf einen, den er für Weucha hielt. „Sie suchen die Spur des Auswanderers", sagte der Trapper. Er schlug vor, die Gegner mit der Waffe abzuwehren. Paul stimmte begeistert zu, aber Middleton und der Doktor waren dagegen. Ruhig nahm da der Alte das Gewehr auf die Schulter und trat in die Prärie hinaus. Die Sioux erblickten den Jäger mit der gefürchteten langen Flinte und stutzten, denn sie hatten nicht gesehen, wo der so plötzlich hergekommen war. Ohne Furcht ging der Trapper bis auf Rufweite auf die Indianer zu. Er stellte die Büchse auf die Erde. Dann erhob er die Hand zum Friedensgruß. „Meine Brüder sind willkommen. Sie sind weit weg von ihren Dörfern und haben Hunger. Sie sollen mir zu meinem Lager folgen und essen und schlafen." Ein Freudengeschrei antwortete ihm. Der Trapper ging weiter vor und blieb vor Mahtoree stehen. Keine Miene zuckte im Gesicht des Greises. „Wo sind Eure jungen Leute?" fragte der Häuptling. „Die Langmesser kommen nicht in Banden, um den Bibern Fallen zu stellen. Ich bin allein." „Euer Haupt ist weiß, aber Eure Zunge spitz. Mahtoree war in Eurem Lager. Er weiß, daß Ihr nicht allein seid. Wo ist Euer junges Weib und der Krieger, den ich auf der Steppe sah?“ „Ich habe kein Weib. Ich sagte meinem Bruder, daß das Weib und ihr Freund Fremde sind. Die Worte eines grauen Hauptes sollten gehört und nicht vergessen werden. Die Sioux fanden die Wanderer schlafend und nahmen ihre Pferde mit. Die Weiber und Kinder eines Bleichgesichtes sind nicht gewohnt, weit zu Fuß zu gehen. Also laßt sie suchen." Der Häuptling befahl seinen Leuten, die Stelle sorgfältig zu unter= suchen. Vier halbnackte Indianer stoben auf ihren Pferden davon. In immer enger werdenden Kreisen umritten sie den Platz. Schließlich kamen sie zurück und meldeten, das Gehölz sei leer. Mahtoree saß ab, führte den Alten ein paar Schritte seitwärts und sagte zu ihm, wenn er seine jungen Leute im Gebüsch versteckt habe, so solle er sie hervorkommen lassen; ein Krieger, dessen Haupt weiß sei und der bald ins Land der Geister gehe, könne nicht doppelzüngig sein wie eine Schlange. Der Greis blieb standhaft. Er sei Jäger und gehe seinen Pfad allein. Der Indianer forderte ihn auf, in das Gebüsch zu schießen. Der Trapper schoß auf einen kleinen Baumstamm am Rande des Gehölzes. Der Häuptling schien zufrieden. Er fragte den Weißen, ob er die Langmesser kenne, die überall in der Steppe nach ihrem Vieh suchten und es nicht finden könnten. In diesem Augenblick teilten sich die Büsche. Middleton und Ines er= schienen als erste, dann folgten Paul und Ellen, zuletzt Obed und der Esel. Ein Lächeln glitt über das stolze Gesicht Mahtorees. Aber die nächste Überraschung war noch größer! Um die Spitze des Gehölzes bog ein Haufen bewaffneter Männer. Es waren die Söhne des Auswanderers! Der Häuptling und sein Haufen zogen sich schleunigst auf eine Anhöhe zurück. Auch der Trapper und die ändern Weißen folgten auf den Hügel.
Scharf beobachteten Mahtorees schwarze, drohende Augen die beiden Gruppen der Bleichgesichter. Er war sehr zornig. Aber der Überredungskunst des Trappers gelang es, ihn zu besänftigen, und der Häuptling war bereit, die Gefährten des Alten als Freunde aufzunehmen. So gab er ihnen Pferde, damit sie den Indianern folgen könnten. Paul hob Ellen auf ein Pferd und saß dann selber auf. Der Häuptling stellte Ines sein eigenes Pferd zur Verfügung. Middleton hatte sie gerade hinaufgehoben und wollte selbst aufsteigen, da trat Mahtoree dazwischen, um seinen gewohnten Platz einzunehmen. Die List des Trappers überwand den gefährlichen Augenblick. „Ihr werdet zu spät kommen", flüsterte er Mahtoree zu, „die Langmesser sind erschrocken und werden gleich davonlaufen." Ohne langes Besinnen warf sich der Häuptling auf ein anderes Pferd und ließ auch dem Trapper eines geben, Doktor Battius bestieg seinen Esel, und dann brachen sie auf. Sie ritten auf die Auswanderer zu, vermieden es jedoch, in das Schußfeld der Weißen zu kommen. In weitem Halbkreis jagten sie um diese herum, dann schössen sie mit lautem Geschrei über die Prärie auf den fernen Felsen zu. Der Trapper ritt an Middletons Seite. „Ich möchte nicht gerne an diesem Raubzug teilnehmen", sagte er auf englisch. „Wenn wir es klug anfangen, können wir die Indianer in der Nacht verlassen." Sie verabredeten das Aufheulen Hektors als Signal zur Flucht. Auch Paul wurde in den Plan des Alten eingeweiht. Er war sofort einverstanden. Der Naturforscher ritt auf seinem langsamen Esel am Ende des Zuges. Der Trapper teilte ihm den Plan mit und gab ihm einen Stern an, in dessen Richtung er so schnell wie möglich davonreiten solle. Obed tat, wie ihm geheißen, und trabte mutterseelenallein in die dunkle Prärie hinaus. Nach einiger Zeit bemerkten die Sioux das Fehlen des weißen Medizinmannes und meldeten es ihrem Häuptling. „Wo ist Euer Beschwörer?" fragte dieser den neben ihm reitenden Trapper. „Die Wege eines großen Arztes gleichen nicht den Wegen anderer Menschen", antwortete der Alte. „Höre, Graukopf", sagte der Indianer, „Mahtoree ist kein Weib. Wenn Euer Beschwörer bis morgen früh nicht zurückgekommen ist, werden meine Leute ihn suchen. Verstanden?" Nichts kam dem Trapper gelegener als diese Frist. Dann tauchte der Felsen aus der Dunkelheit auf. Die Rothäute murmelten miteinander, dann wurde es ganz still. Nur das trockene Gras der Prärie raschelte. Die Wilden stiegen von den Pferden. Doch Esther waren die verdächtigen Töne da unten nicht entgangen. „Wer ist da?" rief sie. „Antwort — oder ich schieße! Ich habe vor den Sioux genau sowenig Angst wie vor dem Teufel." Dieser Augenblick, da die Rothäute höchst gespannt nach vorn lauschten, schien dem Trapper günstig für die Flucht. Er flüsterte Hektor etwas ins Ohr, und der Hund fing an zu heulen. „Verstellt Euch nur, als wärt Ihr Hunde!" kreischte Esther. „Wartet, ich will Euch noch Licht machen." Plötzlich züngelte auf dem Felsen eine ungeheure Flamme aus einem Strohhaufen empor. Sie beleuchtete die ganze Umgebung. Wie ein riesiger Schatten sprang Mahtoree den Felsen hinauf. Er fesselte die schreiende Esther. Drei andere Krieger zerstörten den lodernden Strohhaufen. Wie Feuerwerk sprühten die Flammen durch die Luft. Dann war es dunkel. Die Wilden stießen ein Triumphgeschrei aus. Hektor winselte laut. Ohne bemerkt zu werden, ritten die Weißen unter Führung des Trappers beiseite. Erst nach einiger Entfernung fingen sie an zu galoppieren. Sie rasten über eine Anhöhe hinweg und folgten dem vor ihnen leuchtenden Stern.
Präriebrand Schweigend ritten sie durch die wellige Prärie. „Wir sind stundenlang scharf geritten. Es ist Zeit, einen Lagerplatz zu suchen", sagte Middleton und wies auf die völlig übermüdeten Mädchen, die sich kaum noch auf den Pferden halten konnten. „Den müßt Ihr im Himmel suchen, wenn Ihr nicht mehr reiten könnt", brummte der Alte. „Jetzt schlafen hieße sterben." Sie suchten im Schatten der Täler Schutz. Auf einmal deutete der Bienenjäger auf einen dunklen Punkt. Es ließ sich nicht unterscheiden, ob es ein Tier oder ein Mensch war. „Wahrscheinlich ist es der Insektenfresser", meinte der Trapper. Es war wirklich Dr. Battius. Alle bewunderten die Schnelligkeit, mit welcher der Esel gelaufen war. „Jetzt ist Asinus aber erschöpft", sagte der Doktor, „er war nicht faul, aber jetzt geht er keinen Schritt weiter. Hier brauchen wir uns vor den Wilden wohl nicht mehr zu fürchten." „So gut stehen wir uns nicht mit den Sioux, daß ich jetzt für die Sicherheit unserer Köpfe garantieren könnte. Aber der Esel ist völlig erschöpft." „Wir können ihm die Füße binden und ihn im hohen Grase lassen", schlug der Doktor vor. „Wir werden ihn später wiederfinden." So versteckten sie den gefesselten Esel im hohen Gras. Dann suchten sie einen Rastplatz für die Nacht. Sie kamen aus den Hügeln auf eine weite Gras= ebene. „Hier werden wir lagern", bestimmte derTrapper und kehrte noch einmal ein Stück zurück, um die Spuren zu verwischen. Die Männer rissen Gestrüpp und Grasbüschel aus und bereiteten ein Lager für die völlig erschöpften Mädchen. Diese aßen nur noch ein paar Bissen aus den Vorräten des Alten und des Bienenjägers, dann warfen sie sich auf ihr Graslager und schliefen sofort ein. Duncan und Paul folgten bald ihrem Beispiel. Der Trapper und der Doktor verzehrten noch in aller Ruhe ein Stück kalten, saftigen Bisonbraten, unterhielten sich noch eine Weile und wickelten sich dann ebenfalls in ihre Decken. Als im Osten der Morgen graute, erwachte der Alte und weckte die ändern. Sie setzten sich im Kreis zusammen und frühstückten. Der Trapper legte Ines auf seinem schönen kleinen Holzteller ein Stück zartes Fleisch vor und sagte: „Wenn wir tiefer in die Jagdgründe der Pawnee eindringen, werden die Büffel fetter und die Rehe zahlreicher. Vielleicht können wir auch einmal einen Biber erwischen und ein Stück seines Schwanzes als Leckerbissen genießen." Dann besprachen sie den weiteren Weg. Paul riet, stromabwärts zu fahren. Wasser hinterlasse keine Spuren. Er sei auch bereit, aus einem Baumstamm ein Kanu zu machen. Der alte Jäger aber zweifelte an der Sicherheit dieses Weges. Indianer fänden auch in der Luft eine Spur, meinte er. „Was für ein herrlicher Sonnenaufgang!" rief Ines plötzlich. Der Alte erhob sich und betrachtete die wechselnden Farben des Himmels. „Sonnenaufgang?" sagte er. „Die verdammten Schurken haben uns mit ihrer Rache umzingelt! Sie haben die Steppe in Brand gesteckt." „Gott im Himmel schütze uns!" rief Middleton. „Schnell, aufgesessen!" „Ein einziger falscher Schritt kann uns ins Verderben führen", sagte der Alte. „Kommt mit auf die kleine Höhe dort, wir wollen uns umsehen." Als sie das mannshohe Gras niedergebrochen hatten, um einen Ausblick zu gewinnen, bot sich ihnen ein furchtbares Bild. Riesige Rauchwolken verdunkelten den Himmel. Hier und dort schössen düstere Flammensäulen am Rande der Graswüste auf. In einem breiten Gürtel legte sich die Feuersbrunst um die Zufluchtstätte. „Unsere Annahme, wir hätten den Sioux keine Spur hinterlassen, war also falsch", sagte der Alte. „Jetzt heizen uns die Teufel von allen Seiten die Hölle ein." Paul und Middleton rieten zu einer tollkühnen Flucht, aber der Alte schüttelte den Kopf. „Das Feuer ist nicht das Schlimmste. Viel mehr Sorgen machen mir die Sioux. Kommt, wir müssen handeln. Reißt das dürre Gras bis auf die bloße Erde aus." Alle machten sich an die Arbeit. In wenigen Minuten war eine Stelle von etwa zehn Meter Durchmesser kahl. Wegen ihrer leichten und brennbaren Kleider mußten sich die Frauen in Decken wickeln. Der Alte riß eine Handvoll trockener Halme aus, zündete sie an und
legte die kleinen Flammen in das dürre Gebüsch am Rande des freien Fleckes. Im Nu züngelten überall spitze Flämmchen auf. „So bekämpft man Feuer mit Feuer", sagte der Trapper. Bald rauschte und prasselte die Lohe in den knisternden Halmen und flog mit Windeseile über die Prärie. Schwarzer, rauchender Boden blieb zurück, von einer dünnen Schicht weißer Asche bedeckt. Die herankommende Flammenwand fand keine Nahrung und wich zurück. Wie ein schützender Mantel legte sich eine schwarze Rauchwolke um die Menschen und Tiere. Endlich sagte der Alte: „Wir sind gerettet! In einer halben Stunde hat sich die Steppe abgekühlt, dann wollen wir aufbrechen. Die unbeschlagenen Pferde der Sioux haben empfindliche Hufe." Jetzt überließ der Trapper dem Doktor seine Stute. Er selbst ging zu Fuß. Er zeigte über die schwarze, noch rauchende Ebene nach Osten und erklärte: „Wenn Ihr dort durch den Rauch etwas Helles schimmern seht, ist es ein gutes Zeichen. Das ist ein Strom. Wenn wir den überschritten haben, sind wir vor den Sioux sicher." Doch sie ritten und sahen nichts. In der Ferne wütete noch das Feuer. Der Wind trieb den rauchigen Nebel in zerfetzten Schwaden vorüber und verhüllte die Aussicht. Plötzlich machte der Alte halt und stieß seine Flinte auf den Boden. Ein totes Pferd lag halbverbrannt in einer kleinen Bodensenke. „Hier könnt Ihr die Gewalt eines Steppenbrandes sehen. Das arme Tier ist im Schlaf überrascht worden." „Dort liegt noch eins", sagte Paul. „Wahrscheinlich sind die Sioux in ihre eigene Falle gegangen. Einige von den Schurken wollten uns im Grase auflauern. Die anderen legten schon das Feuer an. Das sind dann die Folgen." „Hallo, Alter", rief Paul plötzlich, „das hier ist kein Pferd, ich sehe weder Huf noch Kopf." Der Alte kam zurück. „Was, dies kein Pferd? Eure Augen sind gut für Bienen und hohle Bäume, mein Junge!" „Hebt mal den Zipfel der Haut auf", beharrte Paul. Der Trapper lachte und stieß mit dem Fuße gegen die Haut. Sie rutschte zur Seite, und zu aller Überraschung sprang ein indianischer Krieger darunter hervor.
Überrumpelung Es war der junge Pawnee, den sie bereits kannten. „Mein Bruder sei willkommen", sagte der alte Trapper. „Nicht dumm, sich unter eine frische Büffelhaut zu retten, wenn man nicht die Möglichkeit besitzt, einen Kreis abzubrennen." Der Blick des Pawnee schweifte über die Brandwüste. Stolz sagte er: „Die Sioux sind Hunde! Wenn das Kriegsgeschrei der Pawnee in ihren Ohren tönt, heulen sie!" „Die Sioux sind uns auf den Fersen. Ich freue mich, einen Krieger zu treffen, der die Streitaxt in der Hand hat und diese Schurken nicht liebt. Will mein Bruder meine Kinder in sein Dorf führen?" Forschend blickte der junge Pawnee von einem zum ändern und sagte schließlich: „Mein Vater sei willkommen. Die jungen Leute meines Volkes sollen mit seinen Söhnen jagen, und die Pawneemädchen werden singen vor den Ohren seiner Töchter." Der Alte und der Indianer gingen beiseite und berieten miteinander. Als sie zurückkamen, sagte der Alte: „Der junge Krieger hat die Spur der Sioux verfolgt und ist dabei vom Feuer überrascht worden. Er behauptet, der schlaue Mahtoree habe sich mit den Auswanderern verbündet, und alle seien hinter uns her." „Woher will er das wissen?" fragte Middleton. „Das ist sein Geheimnis. Aber Ihr dürft ihm ruhig glauben. Er sagte auch, der Fluß sei noch etwa eine halbe Meile entfernt." „Dann vorwärts", drängte Middleton ungeduldig. Sie zogen also weiter. Der Pawnee ging voran, die Büffelhaut über der Schulter. In einer Stunde erreichten sie den Strom. Er war nicht tief, aber trübe und reißend. Bis ans Ufer war das Gras abgebrannt. Über dem Wasser lagen dicke Rauchschwaden. Sie saßen ab. Der Pawnee zog in die Büffelhaut ein paar kleine Stöcke ein: ein einfaches, leichtes Boot war fertig, und der Indianer setzte es aufs Wasser. Die Mädchen hatten Angst, in das schwanke Fahrzeug zu steigen. Auch Middleton und Paul zweifelten an der
Tragfähigkeit des Bootes. Sie überzeugten sich aber bald, daß es weit schwerere Lasten zu tragen imstande war. Der Pawnee setzte sich auf Mahtorees Pferd und ritt dicht ans Wasser. Er steckte den Lanzenschaft in das leichte Fahrzeug und zog es ein Stück stromauf. Dann ließ er seinem Tier die Zügel schießen und trieb es ins Wasser. Middleton und Hover folgten dicht hinter dem Boot. Als die Mädchen am anderen Ufer waren, kehrte der Häuptling zurück, um den Trapper und den Arzt zu holen. Doch der Doktor weigerte sich, in die Nußschale zu steigen. Der Indianer wartete gelassen. Dem Trapper riß fast die Geduld. Plötzlich hob der Pawnee den Kopf. Sie hörten einen Schrei, „Mein Esel!" rief der Doktor, und da galoppierte Asinus auch schon auf ihn zu. Auf seinem Rücken saß Weucha und stieß einen langen, durchdringenden Schrei aus. Jetzt war auch dem Naturforscher klar, daß keine Zeit mehr zu verlieren sei. Hurtig stieg er mit dem Alten in die schwimmende Büffelhaut. Alsbald schaukelte diese über das reißende Wasser, von dem jungen Pawnee auf der kräftigen Stute sicher geführt. Fünfzig heulende Indianer tobten am Ufer. Zum Glück hatte keiner eine Flinte. Als die beiden Weißen die Mitte des Stromes erreicht hatten, erschien Mahtoree selbst. Die Augen des Pawnee glänzten wie die eines Jaguars beim Anblick so vieler Feinde. Er ließ das Kriegsgeschrei seines Stammes ertönen. Die Sioux stürzten sich mit ihren Tieren in den Fluß. Schon waren die Feinde mitten im Strom, als Hover und Middleton am Ufer erschienen und die Gewehre hoben. „Kopf weg, Alter", rief Paul laut. Der Trapper duckte sich. Eine Kugel pfiff an ihm vorbei. Mahtoree hatte sich im letzten Augenblick ins Wasser fallen lassen. Nur sein Pferd wurde verwundet. Es trieb mit der Strömung ab und hinterließ eine rote Blutspur. Der Häuptling tauchte wieder auf, schwamm auf den nächsten Indianer zu und nahm sich dessen Stute. Inzwischen war das kleine Boot am Ufer angelangt. Die Wilden schwammen jetzt ziellos im Wasser umher. Sie wagten nicht, das von fünf Männern geschützte Ufer zu stürmen. Schließlich führte sie Mahtoree an Land. Der Trapper befahl den beiden jungen Männern, mit den Mädchen über einen Hügel in die Ebene zu reiten. Dort seien sie sicher. Er, der Doktor und der Pawnee wollten das Ufer verteidigen. Die Sioux aber rührten sich lange nicht. Plötzlich erhoben sie ein lautes Geschrei: Ismael und seine Schar waren zu ihnen gestoßen! „Schnell fort!" rief der Doktor, zitternd vor Angst. Der Alte gab ihm ein Pferd. Wie ein Blitz verschwand der Doktor hinter dem Hügel. Der Trapper und der Pawnee warfen sich ins Gras und krochen, unsichtbar für die Feinde, den anderen nach. Als sie alle beisammen waren, suchte der Alte einen passenden Rastplatz. „Nein, nein!" zeterte der Doktor. „Laßt uns weiterfliehen!" Middleton und Hover waren derselben Meinung. Doch der Trapper schüttelte den Kopf. „Erst muß es Nacht werden, bevor wir ohne Sorge weiterreiten können. — Was rät mein Bruder?" wandte er sich an den Häuptling. „Die Sioux schlafen nicht. Wir müssen uns im Gras verstecken." Schnell wurde nun das Lager bereitet, die warme Büffelhaut über Ellen und Ines gedeckt und darauf hohes Gras gestreut. Paul und der Pawnee banden die Pferde und zwangen sie zu Boden. Dann suchte sich jeder einen Platz. Stunden verrannen. Plötzlich wurden sie durch einen hellen Schrei von Ines geweckt. Sie sprangen auf und sahen die weite wellenförmige Prärie in ein blendendweißes Schneegewand gehüllt. Eine halbe Meile entfernt ritten die Sioux im Kreise herum. Sie hatten an dem unberührten Schnee gesehen, daß die Flüchtlinge nicht weitergezogen waren, und konnten daher ihre Opfer in ihrem Versteck einkreisen. Hover und Middleton machten ihre Gewehre schußfertig. Als Mahtoree ihnen auf fünfzig Schritt nahe gekommen war, drückten beide gleichzeitig ab — doch die Büchsen versagten! „Ich habe die Kugeln entfernt", sagte der Alte, „denn ein einziger Schuß würde für uns alle den Tod bedeuten. Wir wollen unserem Schicksal wie Männer begegnen."
Das Geschrei der Wilden hallte über die weite Prärie. Hunderte von Indianern jagten auf die Gegner zu und nahmen sie gefangen. Mahtoree empfing sie mit Würde. Die Freude über diesen Fang war so groß, daß er zuerst den dunklen, reglos dastehenden Indianer nicht sah. Aber dann erkannte der Trapper an dem Triumphgeschrei aus hundert Kehlen, daß der Pawnee niemand anders war als der gefürchtete Häuptling „Hartherz"!
Gefangenschaft bei den Sioux Am Ufer eines Flusses, unterhalb einer kleinen Hochebene, lag das Dorf der Sioux. Ein dichter Waldstreifen begrenzte den nördlichen Horizont. Einige hundert Hütten standen regellos beieinander. Mehrere Tage waren vergangen. Das Lager bot ein Bild reger Geschäftigkeit. Mahtoree stand im Kreis seiner Krieger. Abseits lungerten die Auswanderer vor den Hütten herum. Ihre Pferde weideten friedlich in der Nähe. Die Wagen hatten sie als Verschanzung vor den Hütten aufgestellt, als trauten sie ihren Verbündeten nicht ganz. Auf einer Bank lagen Middleton und Hover, mit Lederriemen gefesselt. Etwas abseits war Hartherz an einen Pfahl gebunden. Zwischen ihnen stand der Trapper, waffenlos, aber frei. Ein paar junge Krieger hielten in der Nähe Wache. An Flucht war nicht zu denken. „Das dürfte eine höllische Sache werden", flüsterte der Alte. „Nach den Gesichtern der Sioux zu urteilen, können wir uns noch auf allerlei gefaßt machen." „Hört, Alter", raunte Paul, „geht zum Häuptling und sagt ihm, daß er meinen Kopf haben könne, vorausgesetzt, daß Ellen Wade ungehindert in die Ansiedlung zurückkehren darf." „Mahtoree wird sich daraus nicht viel machen, denn Ihr seid ihm sicher wie der Bär in der Falle. Aber Kopf hoch! Sie haben Angst vor der Regierung der Staaten. Darum kann man noch gar nicht sagen, was sie vorhaben." Langsam näherte sich der Trapper dem gefesselten Pawnee-Häuptling. Hartherz blickte in die Ferne und schien der Gegenwart gänzlich entrückt.
„Die Sioux beraten über meinen Bruder", sagte der Alte. Der junge Indianer wandte ihm ruhig lächelnd das Gesicht zu und antwortete: „Sie zählen die Skalpe über dem Wigwam von Hartherz." „Ihr hättet besser getan, wenn Ihr mehr Tage der Jagd als dem Kriege gewidmet hättet." „Glaubt mein Vater, ein Krieger könne je sterben? Wenn der Herr des Lebens seine Leute braucht, ruft er sie, und sie gehen." „Ein tröstlicher Glaube", sagte der Alte. „Ihr erinnert mich an einen Jüngling, den ich schätze. Gern würde ich Euch etwas Gutes tun."
Hartherz neigte dankend das Haupt. Nach langem Schweigen sagte er: „Vater, ich habe Eure Worte gehört. Wahcondah wird uns beide bald rufen. Euch, weil Ihr alles in diesem Lande gesehen habt, und Hartherz-, weil er einen jungen Krieger braucht. Der Pawnee hat keine Zeit, dem Bleichgesicht das zu erweisen, was ein Sohn seinem Vater schuldet." „Mein Sohn ist kein Weib und sieht tapfer den Pfad, den er gehen muß. Hat er seinem Volke nichts zu sagen, ehe er aufbricht? Meine Beine sind alt, aber zum Wolfsfluß können sie mich noch tragen." Der junge Häuptling dachte nach. Dann gab er seine Anweisungen: „Ihr sollt warten, bis die Teton Hartherz getötet haben. Merkt Euch die Stelle, wo sie ihn begraben. Dann geht zu den Pawnee, tretet in den Wigwam des jungen Kriegers und ruft laut den Namen Hartherz. Kein Pawnee wird taub sein! Fordert das Füllen, das nie geritten wurde, das zierlicher ist als ein Bock und schneller als ein Büffel. Dies führt zum Grabe von Hartherz und schlachtet es, denn Hartherz wird sein Roß nach den ewigen Jagdgründen lenken und vor dem Herrn des Lebens wie ein Häuptling erscheinen." Die Beratung der Sioux war beendet. Mahtoree und zwei Häuptlinge gingen auf den jungen Gefangenen zu. Der Häuptling winkte den Alten heran und fragte: „Hat ein Bleichgesicht zwei Zungen?" „Ehrlichkeit liegt tiefer als die Haut." „Der Graubart hat unrecht gehandelt. Er hat das Pferd eines Sioux geritten und ist ein Freund der Pawnee." „Ich bin Euer Gefangener. Macht mit mir, was Ihr wollt." „Nein, Mahtoree wird ein weißes Haar nicht rot färben. Mein Vater ist frei. Doch ehe das Grauhaupt die Sioux verläßt, möge es mich anhören. Mahtoree wird in der Sprache seines Vaters reden. Ein junges Bleichgesicht wird hören, wenn ein Greis seines Volkes seinen Mund öffnet. Mein Vater wird verständlich machen, was der Indianer für ein weißes Ohr sagt." Zögernd folgte der Alte dem Häuptling zu seinem Zelt, in dem Ellen und Ines als Gefangene wohnten. Ines saß auf einem Lager von wohlriechenden Kräutern, das mit Fellen bedeckt war. Ihre Wangen waren bleich, und ihre lebhaften, dunklen Augen in stummer Trauer geschlossen. Ellen, die neben ihr saß, hatte geweint. Ihr Gesicht war gerötet, und sie schien zornig und aufgebracht. Noch eine dritte Frau war im Zelt: die jüngste Frau des Teton, seine bisherige Lieblingsfrau. Doch seit Mahtoree Ines begegnet war, hatte die junge Indianerin für ihn allen Reiz verloren. Sie saß auf einem einfachen Hocker, zu ihren Füßen ihr schlafendes Kind. Mahtoree trat ein. Tachechana schrie vor Freude leise auf. Doch der Häuptling beachtete sie nicht. Er trat auf die Gefangenen zu. Der Blick des Indianers erschreckte die beiden Mädchen; sie starrten verwirrt zu Boden. Ines fand als erste die Sprache wieder und fragte den Trapper hochmütig, wieso ihnen die unerwartete Ehre seines Besuches zuteil werde. Der Alte erklärte dem Sioux, die Töchter der Bleichgesichter möchten wissen, weshalb er zu ihnen komme. Mahtoree antwortete: „Sag ihr, die Wohnung Mahtorees ist sehr groß und noch nicht voll. Sie soll Raum darin finden. Keine soll größer sein als sie. Auch das Blondhaar kann in der Wohnung eines Tapferen bleiben und von seinem Wildbret essen. Mahtoree ist ein großer Häuptling, seine Hand ist stets offen." Der Trapper schüttelte den Kopf und antwortete: „Die Zunge einer Rothaut muß weiß werden, ehe sie singen kann in die Ohren eines Bleichgesichtes. Wenn meine Töchter Eure Worte hörten, würden sie ihre Ohren verschließen — Mahtoree wäre ein Händler in ihren Augen. Hört, was von einem grauen Haupte gesprochen wird. Mein Volk ist ein mächtiges Volk, und sein ganzes Land ist voll von helläugigen, lachenden Mädchen wie die, die ihr hier seht." „Hat mein Vater hundert Weiber?" fiel der Wilde ein. „Nein, ich lebe allein. Aber geht in das Land meines Volkes, da werdet Ihr seine Töchter sehen, flatternd durch die Städte wie bunte, fröhliche Schmetterlinge zur Zeit der Blüte." „Hugh!" machte der gespannte Mahtoree. „Ihr dürft mir glauben. Aber wenn ein junger Mann ein Mädchen gefunden hat, spricht er zu ihm mit so leiser Stimme, daß niemand es hört. Deshalb muß mein Bruder mit weißer Zunge sprechen, wenn seine Worte gehört werden sollen." Mahtoree dachte nach. Dann verbeugte er sich vor Ines und trat einen Schritt zurück. Voller Würde sagte er: „Ich habe rote Haut, aber meine Augen sind dunkel. Mahtoree
wuchs auf und wurde ein Häuptling. Ein Pferd war ihm lieblicher als ein Mädchen. Aber da fand er eine Blume in der Steppe, pflückte sie und brachte sie in sein Zelt. Er vergißt nicht, daß er nur Herr ist von einem Pferd, er gibt sie alle den Fremden zurück, denn Mahtoree ist kein Dieb, er will nur die Blume behalten, die er auf der Steppe gefunden hat." Als der Trapper seine Worte übersetzen wollte, unterbrach ihn Ellen mit einem scharfen Blick aus ihren klugen Augen. „Spart Eure Worte. Nicht alles, was ein Wilder sagte/darf vor einem Christenmädchen wiederholt werden." Ines sprang auf, verbeugte sich vor dem Alten und erklärte, sie wünsche jetzt, allein zu sein. „Meine Töchter brauchen nicht die Ohren, um zu verstehen, was ein großer Sioux sagt." Der Trapper wandte sich an Mahtoree. „Sie haben verstanden und wünschen, seine Worte zu überlegen, denn die Kinder der Tapferen tun nichts ohne viel Besinnen." Der Häuptling gab sich zufrieden. Zurückhaltend grüßte er die Frauen, zog sein Gewand fester um sich und wollte gehen. Plötzlich stand sein junges Weib vor ihm, demütig und furchtsam, und hielt ihr Kind in den Armen. Ergeben fragte sie: „Ist nicht Tachechana die Tochter eines Häuptlings, waren ihre Brüder nicht Helden?" Schroff antwortete der Häuptling: „Geh, die Männer rufen ihren Führer. Er hat kein Ohr für ein Weib." „Es ist nicht die Stimme Tachechanas, die Ihr hört, sondern dieser Knabe spricht durch die Zunge seiner Mutter. Er ist der Sohn eines Häuptlings, und seine Worte werden zu den Ohren seines Vaters dringen. Hört, was er sagt: Wann war Mahtoree hungrig und Tachechana hatte nicht Speise für ihn? Wann kam er mit Wunden zurück und sie sang nicht? Welches Sioux-Mädchen ist Mutter eines so tüchtigen Sohnes wie ich? Sieh mich an: Meine Augen sind die des Adlers! Ich sehe in die Sonne und lache. In kurzer Zeit werde ich meinem Vater auf die Jagd folgen und in den Krieg. Warum wendet mein Vater sein Auge von meiner Mutter, warum hat er die Tochter eines mächtigen Sioux so bald vergessen?" Es schien einen Augenblick, als wäre der Häuptling gerührt. Doch er hatte sich schnell wieder in der Gewalt. Er faßte Tachechana am Arm und führte sie vor Ines, damit sie diese betrachte. Dann nahm er einen kleinen Spiegel, der an ihrer Brust hing, und ließ sie hineinblicken. Wortlos wandte er sich ab, winkte dem Trapper und ging ihm voran aus dem Zelt. Tachechena war wie erstarrt. Sie nahm ihren Schmuck ab. Sanft und ohne Vorwurf reichte sie ihn Stück für Stück Ines. Dann nahm sie entschlossen den Knaben und legte ihn ihrer vermeintlichen Nebenbuhlerin vor die Füße. „Eine fremde Zunge wird meinen Sohn zum Manne erziehen", sagte sie leise. „Er wird neue Laute hören, er wird sie lernen und die Stimme seiner Mutter vergessen. Das ist der Wille Wahcondahs, und eine Siouxtochter sollte sich nicht beklagen. Laßt ihn nicht zum Mädchen werden, denn das Leben eines Weibes ist traurig. Lehrt ihn, auf die Männer zu sehen, zeigt ihm seine Feinde. Nie soll er vergessen, Schlag mit Schlag zu vergelten." Die junge Mutter küßte die Lippen ihres Sohnes. Sie kroch in die hinterste Ecke des Zeltes, setzte sich auf den bloßen Erdboden und starrte stundenlang vor sich hin. Die Versuche der beiden Mädchen, sie zu trösten, blieben ungehört.
Versammlung der Sioux Ismael, Abiram und Esther standen an der Tür vor Mahtorees Zelt. Unsanft packte der Auswanderer den Trapper bei den Schultern. „Hört, alter Graubart", fuhr er ihn an, „ich habe es satt, mich immer nur mit Daumen und Zeigefinger statt mit Worten verständlich zu machen. Übersetzt meine Worte ins Indianische und fragt Euch nicht lange, ob sie der Rothaut gefallen oder nicht." „Sprecht", erwiderte der Trapper ruhig. „Sagt Eurem Sioux, daß ich jetzt die Erfüllung der Bedingungen fordere, die wir am Felsen bei Abschluß unseres Vertrages stellten." Der Trapper übersetzte. Mahtoree war erstaunt. „Friert mein Bruder? Nehme er sich Büffelhäute, soviel er will. Hat er Hunger? Lasse er sich von meinen Leuten Wild geben, soviel er mag."
Der Auswanderer schlug mit der geballten Faust auf die flache Hand und brüllte: „Sagt dem Betrüger, ich sei nicht hergekommen als ein Bettler, sondern als ein freier Mann, der sein Eigentum fordert! Sagt ihm, ich verlangte auch, daß Ihr elender Kerl der Gerechtigkeit übergeben werdet! Also, meine Gefangene, meine Nichte und Euch verlange ich. Los, redet!" Der Alte lächelte. „Möge der Sioux seine Ohren weit öffnen, um meine Worte zu hören: Sein Freund, das Langmesser, kommt mit leerer Hand und sagt, der Sioux müsse sie füllen." „Hugh! Mahtoree ist ein reicher Häuptling." „Er muß das Schwarzhaar hergeben." Der Häuptling zog die Stirn in Falten. Dann meinte er listig: „Ein Mädchen ist zu leicht für die Hand dieses Tapferen, ich will sie mit Büffeln füllen." „Auch das Blondhaar braucht er, denn dies hat sein Blut in den Adern." „Sie soll Mahtorees Weib werden, dann wird das Langmesser Vater eines Häuptlings sein." „Und mich will er auch", fuhr der Trapper fort. Der Häuptling legte seinen Arm um die Schulter des Alten und sagte: „Mein Freund ist alt und kann nicht mehr weit wandern. Er wird bei den Sioux bleiben, auf daß sie aus seinen Reden Weisheit lernen. Mahtoree will Häute und Büffel geben, er will den Bleichgesichtern auch Weiber geben, aber er kann nicht einen von denen ausliefern, die in seinem eigenen Zelte wohnen." Der Häuptling wollte gehen, doch plötzlich wandte er sich noch einmal um und erklärte: „Sagt ihm, sein Weib sei zu alt für solch einen großen Häuptling. Er soll das jüngste Weib des Sioux haben." Damit trat er wieder unter seine Krieger. „Der Häuptling gibt niemand heraus", erklärte der Alte. „Er macht jedoch einen Vorschlag, der Hand und Fuß hat: Ihr sollt Eure häßliche Alte aus dem Hause jagen und dafür will er Euch seine jüngste Frau schenken." Als Ismael dies hörte, brach er in ein höllisches Gelächter aus. Esther aber keifte in höchster Diskant auf ihren Mann ein. Schließlich befahl sie kurz und bündig den Aufbrach.
Der Auswanderer trieb sein Vieh zusammen und belud die Wagen. Die Söhne, denen derartige Ausbrüche ihrer Mutter längst bekannt waren, bequemten sich träge, die abgebrochenen Zelte auf die Wagen zu werfen. Dann brachen sie auf, und die Sioux ließen sie unbehelligt ziehen. Der Zug folgte dem Bach. Auf einer Anhöhe machte er halt. Die Zelte wurden wieder aufgestellt und ein neues Lager bezogen. Indessen versammelten sich die Sioux um den Pfahl, an den der Pawnee gebunden war. Middleton und Hover wurden gefesselt herbeigeschleppt und vor den Pfahl gelegt. Die Männer nahmen nach strenger Rangordnung ihre Sitze ein. Ein bejahrter Krieger zündete die Pfeife an und blies den Rauch in alle vier Himmelsrichtungen. Nach diesem Opfer nahm Mahtoree die Pfeife, tat einen Zug aus ihr und reichte sie dann einem Greis an seiner Seite. Als alle geraucht hatten, erhob sich ein alter Indianer und hielt eine lange Rede. Er erinnerte an die Todfeindschaft, die seit
undenklichen Zeiten zwischen den Sioux und den Pawnees herrsche. Werde sich viel» leicht ein Panther zum Schlafe niederlegen, wenn er ein Rehkalb an der Quelle findet? Nein! Der Sioux sei ein springender Panther, der Pawnee ein zitterndes Reh. „Mögen meine Kinder mich hören. Sie werden meine Worte gut finden. Ich habe gesprochen", schloß er. Von allen Seiten erschollen laute Schreie des Beifalls. Die Rachsucht forderte ihr Opfer. Ein grauhaariger Häuptling erhob sich und begann dann zu sprechen: „Die Augen eines jungen Kriegers sind gut. Seht auf mich. Ich will mich drehen, damit ihr mich von allen Seiten sehen könnt. Nun wißt Ihr, daß ich Euer Freund bin. Denn Ihr seht auf eine Seite, die nie ein Pawnee sah. Nun seht mein Antlitz. Hier ist eine Öffnung, die Wahcondah gemacht hat; durch sie könnt ihr in meine Seele blicken. Was bin ich? Ein Sioux von innen und außen, ihr wißt es. Jedes Geschöpf auf der Steppe hat rotes Blut. Wer kann das Blut eines Pawnee vom Blut eines Büffels unterscheiden? Der Herr des Lebens machte sie gleich. Aber wird das Gras grün werden, wo ein Bleichgesicht getötet wird? Meine jungen Leute müssen nicht denken, diese Nation sei so zahlreich, daß sie einen Krieger nicht vermissen werde. Sie überzählen sie oft und fragen: Wo sind unsere Söhne? Wenn sie einen vermissen, werden sie in die Prärie schicken, nach ihm zu suchen. Wenn sie ihn nicht finden können, werden sie ihren Boten auf tragen, ihn bei den Sioux zu suchen. Meine Brüder, die Langmesser sind nicht dumm. Es ist jetzt ein mächtiger Arzt von ihrer Nation unter uns. Wer kann sagen, wie laut seine Stimme, wie lang sein Arm ist?" Ungeduldig unterbrach ihn Mahtoree. „Meine jungen Leute sollen den bösen Geist der Bleichgesichter herführen." Dem Befehl wurde gehorcht. Man führte den Doktor in einem lächerlichen Aufzug auf seinem Esel herbei. Auf seinem kahlgeschorenen Schädel prangte nur noch eine mächtige Locke. Das Gesicht war bemalt und ließ ihn einem Totenbeschwörer ähnlich sehen. Er trug einen Lendenschürz, an dem alle seine präparierten Frösche, Kröten, Eidechsen und Schmetterlinge aufgehängt waren. Weucha führte den Esel in die Mitte des Kreises. Die Beine des Naturforschers waren an das Tier gebunden. Die meisten Indianer betrachteten den Arzt voll geheimer Ehrfurcht. Würdevoll trat Mahtoree vor und hob an zu sprechen: „Was ist ein Sioux? Er beherrscht die Prärie und ist Herr des Wildes. Die Fische in dem Strom der trüben Wasser kennen ihn und kommen, wenn er sie ruft. Er hat die List des Fuchses, den scharfen Blick des Adlers und die Kraft des grauen Bären im Kampf. Ein Sioux ist ein Mann!" Dumpfes Beifallsgemurmel. „Was ist ein Pawnee? Ein Dieb, der Weiber bestiehlt, ein Jäger, der um Wildbret bettelt. Sein Verstand ist wie ein Eichhörnchen, das von Ast zu Ast hüpft. Im Kampf ist er ein Elch, der lange Beine hat. Ein Pawnee ist ein Weib!" Lautes Freudengeschrei. Man befahl dem Trapper, er solle diese Worte dem Pawnee übersetzen. Hartherz hörte den Dolmetscher an, dann blickte er wieder in die Ferne. Mahtoree betrachtete ihn voller Haß und fuhr fort, die Krieger zu reizen: „Wäre die Erde mit Ratten bedeckt, hätten die Büffel keinen Platz. Wären die Steppen mit Pawnees bedeckt, wo sollte der Sioux seinen Fuß hinsetzen? Ein Wolf-Indianer ist eine Ratte, ein Sioux ein schwerer Büffel. Laßt die Büffel die Ratten zertreten und sich Raum schaffen. Meine Brüder, ein kleines Kind hat vorhin zu euch gesprochen. Es sagte, kein Gras werde mehr wachsen, wo ein Bleichgesieht gestorben sei. Kennt es die Farbe des Blutes der Langmesser? Welcher Dakota außer Mahtoree hat je ein Bleichgesicht erschlagen? Nicht einer! Aber Mahtoree muß schweigen! Sein Mund ist geschlossen. Er wartet, um mit den Mädchen auf dem Fest zu singen." Mathoree schwieg und setzte sich. Murren erhob sich in der Menge. Da sprach Mahtoree weiter. „Meine jungen Leute mögen nach Tetao suchen", schrie er in die erregte Versammlung, „sie werden seinen Skalp im Pawnee-Rauch trocknen sehen! Wo ist der Sohn von Boreescheena? Seine Gebeine sind weißer als die Gesichter seiner Mörder! Schläft Mahha in seinem Zelt? Ihr wißt, daß er vor vielen Monden in die ewigen Jagdgründe aufbrach. Ich wollte, er wäre hier, um uns zu sagen, von welcher Farbe die Hand war, die seinen Skalp nahm."
Name auf Name von Kriegern nannte der listige Häuptling, die von den Pawnee im Kampfe erschlagen worden waren. Da trat ein alter, zerfurchter Indianer, der kaum noch gehen konnte, in die Mitte des Kreises und stellte sich vor Mahtoree. Es war Le Balafre. Mahtoree beendete seine Rede mit dem Hinweis auf den Stolz und die Tapferkeit seines Stammes. Dann ließ sich eine tiefe, hohle Stimme hören. Alle blickten auf die Lippen des Greises und lauschten seinen Worten: „Der Tag Balafres neigt sich dem Ende. Er ist ein Büffel, dessen Haar nicht länger wachsen will. Er wird bald seine Wohnung hier verlassen, um eine andere aufzusuchen. Viel Schnee ist gefallen, seit Le Balafre auf dem Kriegspfad war. Sein Blut war sehr heiß, aber es ist kalt geworden. Wahcondah gibt ihm nicht mehr die Träume des Kriegers. Er sieht, daß es besser ist, in Frieden zu leben. Ein alter Häuptling wird auf demselben Pfade, den schon so viele gute Indianer gegangen sind, vor den Herrn des Lebens kommen. Aber wer wird folgen? Le Balafre hat keinen Sohn mehr. Darum ist er gekommen, sich nach einem jungen Arm umzusehen, auf den er sich lehnen kann, und einen Sohn zu suchen, damit sein Zelt nicht leer bleibt, wenn er heimgegangen ist." Langsam ging Le Balafre zu dem Gefangenen und betrachtete dessen untadelige Gestalt und sein kühnes Auge. Dann winkte er gebieterisch. Er wartete, bis der Pawnee von allen Fesseln befreit war. „Gut", sagte er endlich, „das ist ein springender Panther! Spricht mein Sohn mit der Zunge eines Sioux?" Hartherz schwieg. Le Balafre fuhr in der Pawnee-Sprache fort: „Mein Sohn öffnete die Augen an den Wassern der Wölfe. Er wird sie schließen am Strom der dunklen Wasser. Als Pawnee wurde er geboren, aber er wird sterben als Sioux. Ich habe mich lange umgesehen, wo einer würdig wäre, an meiner Seite zu leben. Nun habe ich ihn gefunden. Le Balafre ist nicht länger ohne einen Sohn. Sein Name wird nicht vergessen werden, wenn er fort ist. Männer der Sioux, ich nehme diesen in mein Zelt!" Le Balafre faßte Hartherz am Arm und führte ihn in den Kreis. Niemand wagte ihm zu widersprechen; sein Wunsch war heilig. Der junge Pawnee schwieg eine Weile, dann sprach er mit weithin vernehmbarer Stimme: „Mein Vater ist sehr alt, aber er hat doch nicht alles gesehen. Er hat nie gesehen, daß sich ein Büffel in eine Fledermaus verwandelte. Er wird nie sehen, daß ein Pawnee ein Sioux wird!" „Recht so", erklärte Le Balafre, „der Tapfere muß so sprechen, damit die Krieger seinen Mut erkennen. Einst war Balafres Stimme die lauteste in den Zelten der Konza. Aber weißes Haar bedeutet Weisheit. Mein Sohn wird den Sioux zeigen, daß er gehorsam ist und ihre Feinde schlägt! Männer, dies ist mein Sohn!" Der Pawnee trat vor den Häuptling, nahm seine harte, runzelige Hand und legte sie sich voll Ehrfurcht auf den Kopf. Dann trat er einen Schritt zurück, reckte sich und blickte mit eisiger Verachtung auf die ganze feindliche Bande. Laut sagte er in der Sprache der Sioux: „Hartherz hat sich von außen und innen betrachtet. Er ist ein Pawnee. Er hat so viele Sioux erschlagen, daß er nie in ihren Zelten essen könnte. Kennen die Sioux einen Wolf? Mögen sie ihn ansehen. Sein Haupt ist bemalt, sein Arm ist Fleisch, aber sein Herz ist ein Fels. Er wird leben und sterben als ein Pawnee." Ein ohrenbetäubendes Geschrei erklang. Hartherz wartete einen Augenblick, bis es wieder ruhiger wurde. Dann wandte er sich freundlich an Le Balafre. „Möge sich mein Vater auf das Reh der Sioux stützen. Jetzt ist sie schwach, aber wenn sich ihr Zelt mit Kindern füllt, wird sie stärker werden. Seht, Hartherz ist nicht ohne ein Grauhaupt, das ihm den Weg zu den ewigen Jagdgründen weist. Wenn er je einen anderen Vater haben soll, dann wird es dieser Krieger sein." Dabei deutete er auf den Trapper, der ernst abseits stand. Le Balafre wandte sich enttäuscht ab und fragte den Trapper, wieso er unter die Rothäute gekommen sei, einen Sohn zu suchen. Der Trapper blickte in das narbenreiche Gesicht und erklärte: „Ich habe ihn zu meinem Sohne gemacht, damit er jemand hat, der ..." Seine weiteren Worte gingen in einem wüsten Geschimpfe der Weiber unter. Hartherz stand hocherhobenen Hauptes inmitten des Kreises, das Auge in die Ferne gerichtet. Er lächelte. Die Weiber sahen darin Verachtung und drängten wütend auf ihn zu. Le Balafre ging traurig hinweg. Mahtoree gab mit der Hand ein Zeichen. Da sprang Weucha unter die Weiber und drängte sie zurück. Er schwang seinen Tomahawk gefährlich dicht über
dem Kopfe des Gefangenen. Der zuckte mit keiner Miene. Jetzt legte der Sioux die kalte Schneide auf das nackte Haupt seines Opfers und begann, die verschiedenen Arten des Skalpierens zu zeigen. Die Weiber hetzten und schrien. Auf einmal holte der Sioux zum tödlichen Schlage aus. Doch da wurde sein Arm von eiserner Hand umklammert. Blitzschnell ergriff der Pawnee mit der anderen Hand den Tomahawk. Das blitzende Eisen schwirrte durch die Luft. Weucha sank zu Boden. Sein Haupt war bis zu den Augen gespalten. Noch ehe die Männer begriffen hatten, was geschehen war, bahnte sich Hartherz mit der blutigen Waffe einen Weg. Die erschreckten Weiber wichen zurück. Mit einem gewaltigen Sprung eilte der Pawnee den Abhang zum Flusse hinab. Dann brachen die Weiber in schrilles Geheul aus. Die Wilden wollten Hartherz nacheilen. Mahtorees gebieterischer Ruf hielt die Verfolger zurück. Wortlos streckte er den Arm zum Flusse hin aus. Da galoppierte eine Gruppe bewaffneter Pawnee auf das andere Ufer zu. Ihr Häuptling stürzte sich ins Wasser. Das Siegesgeschrei der Pawnee verkündete den Sioux die Rettung von Hartherz.
Indianersdilacht am Plattestrom Die Krieger der Sioux bewaffneten sich. Die Jungen holten die Pferde von der Weide, und die Weiber brachen eilig die Zelte ab. Alles ging unglaublich schnell, aber auch mit fürchterlichem Geschrei vor sich. Mahtoree beobachtete indessen die Bewegungen des Feindes. Er stellte fest, daß die Sioux zahlenmäßig den Pawnee weit überlegen waren. Allerdings waren alle Feinde beritten und auserlesene Krieger. Die Teton dagegen hatten nur wenige Pf erde und waren auch durch die vielen Frauen und Kinder behindert. Es gelüstete den Häuptling nicht sehr nach einem Kampfe. Doch Hartherz wollte die ihm angetane Schmach rächen. Er ließ sich Pferd und Waffen bringen, prüfte die Spannkraft des Bogens und wog den Speer in der Hand. Dann ritt er unter seinen Kriegern auf und ab, schwang die Lanze und untersuchte das Gewehr, das man ihm mitgebracht hatte. Mahtoree winkte einen alten Krieger heran, übergab ihm die Gefangenen und sagte: „Wenn meine jungen Leute die Pawnee schlagen, gib den Weibern Messer! Hat mein Vater verstanden?" Der Häuptling stieg zu Pferde und gab das Zeichen zum Aufbruch. Doch der Fluß war zu breit für einen Kampf. Nur einige nutzlose Schüsse wurden gewechselt. In dem allgemeinen Trubel hatte sich der Trapper vorsichtig den gefesselten jungen Gefangenen genähert. Er hatte die Unterredung des Häuptlings mit dem alten Krieger beobachtet und ahnte, daß Middleton und Hover, sobald der Kampf entbrannt war, von den blutrünstigen Weibern umgebracht werden sollten. Blitzschnell zerschnitt der Alte die Lederriemen, mit denen Paul gefesselt war, und schob ihm das Messer zu. „Befreit Euch selbst weiter, aber Vorsicht!" murmelte er. Der Gefangenenaufseher verteilte gerade Messer unter die Weiber. Diese schlössen einen Kreis und tanzten und sangen gellende Racheleder. Der Trapper trat in die Mitte des Kreises, gebot Schweigen und fragte: „Warum singen die Mütter der Sioux mit bitteren Zungen? Die Gefangenen sind noch nicht in ihrem Dorf, ihre jungen Leute sind noch licht mit den Skalpen zurückgekommen!" Die Weiber heulten auf und schwangen ihre Messer. „Die Sioux-Weiber mögen bedenken, wenn ein Bleichgesicht stirbt, springen hundert dort auf, wo es gefallen ist!". rief der Trapper unerschrocken." Die Weiber zogen ihren Kreis enger und enger. Plötzlich stürzten sie wie toll auf ihre Opfer zu. Da fiel dem Trapper der Naturforscher ein, der immer noch abseits hoch zu Esel saß. „Mächtiger Zauberer meines Volkes!“ rief der Alte in der Siouxsprache, „erhebe deine Stimme und sprich!“ Asirtus, der durch das lärmende Treiben nervös geworden war, stieß plötzlich einen lauten Schrei aus – das erstemal seit seiner Ankunft im Lager. Die Weiber erschraken ob der ungewohnten Töne und stoben wie erschreckte Geier kreischend auseinander.
Middleton und Hover hatten inzwischen die zerschnittenen Fesseln abgeschüttelt. Der Alte eilte zu ihnen, um ihnen beizustehen, da legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter. Es war Ismael Busch! Ohne ein Wort zu verlieren, fesselten der Grenzer und seine Söhne den alten Trapper, Middleton und Hover. Die Frauen wurden aus Mahtorees Zelt geholt, und der Zug machte sich auf den Weg zum Lager des Auswanderers. Am Flusse standen sich inzwischen die feindlichen Parteien gegenüber. Die Pawnee zogen sich vom Ufer zurück, um die Sioux herüberzulocken, doch als diese nicht darauf eingingen, mußten die Wölfe einen anderen Weg wählen. Der junge Häuptling der Pawnee führte seine Krieger in schnellem Galopp wieder an das Ufer, um einen günstigen Übergang zu suchen. Jeder Reiter der Sioux nahm nun noch einen Krieger hinten aufs Pferd. So konnte Mahtoree seine ganze Streitmacht gegen die Feinde zusammenfassen. Hartherz hatte dies beobachtet und machte am Ufer halt. Hier war der Fluß doppelt so breit wie sonst und anscheinend sehr flach. In der Mitte ragte eine ziemlich große Sandbank über die Wasserfläche. Hartherz sprach kurz mit seinen Kriegern, dann ritt er durchs Wasser zu der kleinen Insel. Auf dem festen Sandboden sprengte er mehrmals mit dem stolzen Tier auf und ab, um seine Feinde herauszufordern. Die Sioux brüllten vor Wut. Einige von ihnen wollten sich in die Flut stürzen, doch Mahtorees Befehl hielt sie zurück. Er selbst ritt ein Stück in den Fluß. Mehrere Male hob er die Hand, die Innenfläche nach außen gewendet. Es war das Zeichen zum Waffenstillstand. Er warf sein Gewehr ans Ufer und ritt tiefer ins Wasser, um seine Aufrichtigkeit zu beweisen.
Hartherz ritt zur äußersten Spitze der Sandbank, warf ebenfalls sein Gewehr weg und kehrte dann wieder um. Jeder Häuptling hatte jetzt nur noch Speer, Bogen, Köcher, Streitaxt, Messer und Lederschild. Der Sioux ritt jetzt durch den Fluß zur Insel, die er nicht weit von Hartherz erreichte. Der Pawnee war etwas zurückgewichen und erwartete seinen Feind mit Würde. Durch einen höflichen Wink lud er den anderen ein, näher zu kommen. In einiger Entfernung hielt er an. Er ließ seinen Gegner nicht aus den Augen. Eine lange, feierliche Pause folgte. Schließlich warf Mahtoree seinen Schild über die Schulter und grüßte. „Möge der Pawnee auf die Hügel gehen", sagte er. „Er wird sehen, daß die Erde sehr groß ist. War» um können die Rothäute nicht Raum finden für ihre Dörfer?" „Ist je ein Krieger der Wölfe in die Dörfer der Sioux gekommen, um Raum für sein Zelt zu erbitten?" antwortete Hartherz verächtlich.
„Wenn die Pawnee jagen, schicken sie dann Boten zu Mahtoree, ihn zu fragen, ob Sioux in der Prärie sind?" rief der Häuptling. „Wahcondah hat nicht gesagt: Dieser Büffel ist für die Pawnee und jener für die Sioux. Das schnellste Pferd kann in vielen Tagen nicht aus dem Dorf der Sioux in das der Wölfe laufen. Es ist Raum für alle, die ich liebe, sagt Wahcondah. Warum also sollte ein roter Mann «.einen Bruder schlagen?" Hartherz stellte die Lanze auf den Boden und stützte sich nachlässig darauf. Lächelnd erwiderte er: „Sind die Teton der Jagd und des Krieges müde?" Mahtoree überhörte diese Beleidigung und entgegnete: „So spricht ein junger Häuptling. Mahtoree hat mehr Winter gesehen als sein Bruder. In langen Nächten, als es dunkel war in seinem Zelt und die Jüngeren schliefen, hat er über die Not seines Volkes nachgedacht. Er sagte zu sich: Tötet der Wolf den Wolf, oder beißt die Schlange ihre Schwester? Sie tun es nicht! Darum, Sioux, tut ihr Unrecht, auf dem Pfad zu gehen, der in das Dorf einer Rothaut führt, mit dem Tomahawk in der Hand." „Der Sioux möchte den Krieger seines Ruhmes berauben? Er möchte zu seinen jungen Leuten sagen: Geht, grabt Wurzeln in der Steppe, ihr seid nicht länger Krieger? Haha!" „Wenn Mahtorees Zunge je so etwas sagt", antwortete der Häuptling unwillig, „dann mögen seine Weiber sie ihm ausschneiden und mit den Büffelstücken verbrennen. Nein" — er ritt einen Schritt näher —, „die Rothäute können nie ohne Feind sein. Aber möge mein Bruder seine Augen öffnen, sieht er nirgends einen ändern Feind, den er töten möchte?" Bei den letzten Worten deutete der Teton auf Ismaels Zelte, die man von dort aus sehen konnte. Hartherz sann nach, dann fragte er: „Was meinen die weisen Häupter der Sioux, das geschehen müsse?" „Sie meinen", erwiderte Mahtoree mit lauter Stimme, „daß der Stiefel jedes Bleichgesichts verfolgt werden müsse wie die Spur des Bären! Das Langmesser, das in die Steppe kommt, darf sie nicht mehr verlassen! Sie haben Pferde und Gewehre. Sie sind reich, wir arm!" Aber da brauste der Pawnee auf: „Nein! Hartherz hat nie einen Fremden getötet! Sie kommen in sein Zelt und essen und gehen hinaus in Sicherheit. Sein Arm wird sich nie gegen einen Fremden erheben!" „Tor, dann stirb mit leeren Händen!" schrie Mahtoree. Er schoß einen Pfeil auf die nackte Brust seines nichts ahnenden Tieres. Im Nu sandte Hartherz einen Pfeil zurück. Er blieb im Schild des Sioux stecken, ohne diesen zu verletzen. Jetzt rauschten die Bogen und schwirrten die Pfeile, bis die Köcher leer waren. Ein Kampf von Pferd zu Pferd begann. Schlag auf Schlag folgte. Schwenkungen, Angriffe, Rückzüge. Der Sand stob auf. Noch war keiner unterlegen. Da mußte sich der Sioux vom Pferde werfen, um einem sicheren Stoß zu entgehen. Der Pawnee bohrte die Lanze in das Tier und erhob ein Triumphgeschrei, als er vorbeigaloppierte. Doch gleich darauf brach seine eigene Stute infolge des Blutverlustes unter ihm zusammen. Mit Messer und Tomahawk stürzte Mahtoree sich auf den Gegner. Hartherz griff nach dem Messer, nahm die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger und schnellte sie gegen den Feind. Die Spitze traf die nackte Brust des Sioux. Bis an den hörnenen Griff drang die mörderische Klinge ein. Mahtoree griff mit einer Hand an die Waffe. Sein Gesicht wurde dunkel vor Haß und Zorn. Er taumelte zum Rande der Sandbank. „Sohn der Wölfe", schnaubte er, „der Skalp eines mächtigen Sioux wird niemals im Pawneerauch trocknen!" Er zog das Messer aus der Wunde und warf es wütend nach dem Pawnee. Dann stürzte er sich ins Wasser und verschwand im reißenden Strudel. Auf beiden Ufern erhob sich wildes Geschrei. Die feindlichen Krieger sprangen in den Fluß, um ihrem Häuptling zu Hilfe zu kommen. Hartherz kümmerte sich nicht darum. Er nahm sein Messer und tauchte in den Strom, um den Skalp seines Todfeindes zu holen. Auf der Sandbank hatten inzwischen die besser berittenen Pawnee unter ihren Feinden ein wildes Blutbad angerichtet. Die Sioux wurden zum Rückzug gezwungen. Die Sieger verfolgten die Fliehenden auf das andere Ufer. Doch dort stellten sich ihnen unberittene Sioux entgegen, und sie mußten sich zurückziehen. Da hörten sie das Kriegsgeschrei ihres Häuptlings. Im nächsten Augenblick war er in ihrer Mitte und schwenkte den Skalp des großen Mahtoree als Siegesbeute. Mit neuer Wut
wandten sich die Pawnee jetzt gegen die Feinde. Die blutige Trophäe in der Hand von Hartherz trieb beide Parteien an, das Äußerste zu wagen. Hitzig wogte der Kampf hin und her. Die Pawnee wurden immer ärger bedrängt und mußten sich zurückziehen. Von vielen Pfeilen getroffen und aus zahllosen Wunden blutend, sank ein Pawneehäuptling zu Boden. Jeder Siouxkrieger Wollte den Skalp des Toten erobern. Unvorsichtig sprangen sie aus den schützenden Deckungen. Sie prallten auf Hartherz und einige auserlesene Krieger. Es begann ein Kampf Mann gegen Mann. Die zurückgehenden Pawnee nahmen den Leichnam ihres Häuptlings mit. Die Sioux folgten ihnen auf den Fersen. Ihre große Übermacht drohte die Wölfe zu vernichten. Da krachte von einer kleinen Anhöhe eine Gewehrsalve. Sechs Sioux zugleich sanken tot nieder. Ismael und seine Söhne fielen über ihre verräterischen Bundesgenossen her. Das hatten die Sioux nicht erwartet! In kopfloser Flucht verließen sie die noch kämpfenden Häuptlinge. Jetzt griffen die Pawnee wieder an. Eine zweite Salve des Auswanderers und seiner Söhne vollendete ihren Sieg. In völliger Auflösung stürzten die Fliehenden davon. Sie hatten keine Zeit mehr, ihre Gefallenen mitzunehmen. Ihr tapferster Häuptling, der Schreckliche Adler, gab als Letzter die Hoffnung auf den Sieg auf. Unter einem Hagel von Pfeilen zog er sich vorsichtig dahin zurück, wo er sein Pferd im hohen Grase versteckt hatte. Hier fand er Boreescheena, den greisen Freund Mahtorees. Ein Pfeil hatte ihn durchbohrt. „Dies war mein letzter Kriegspfad", stöhnte Boreescheena, „soll ein Pawnee das weiße Haar eines Sioux in sein Dorf tragen, zum Spott für Weiber und Kinder?" Der andere half dem Verwundeten aufs Pferd. Dann stieg er selbst auf und trieb das Tier in rasendem Galopp auf die offene Prärie hinaus. Sofort begannen die Pawnee eine wilde Verfolgung. Mit jeder Sekunde kamen sie näher. „Halt", flüsterte der Alte schwach, „der Adler meines Volkes muß seine Fittiche weiter entfalten. Möge er die weißen Haare eines alten Kriegers in ein Dorf der Sioux bringen." Der Schreckliche Adler sprang vom Pferd und half dem Sterbenden herab. Schwankend kniete der Alte nieder und warf einen letzten dankbaren Blick auf seinen Stammesgenossen. Dann hielt er den Nacken zum Schlage hin. Mit ein paar Hieben seines Tomahawks trennte der Schreckliche Adler dem Knienden das Haupt vom Rumpf. Das blutige Haupt schwingend, jagte er mit Triumphgeschrei über die Prärie. Wohlbehalten erreichte er sein Dorf — einer der wenigen Sioux, die dem Gemetzel dieses furchtbaren Tages entgangen waren.
Gericht in der Prärie Am folgenden Morgen fiel das Licht der Sonne auf die weite, einsame Prärie. Scharen von Raubvögeln kreisten schreiend über dem Schlachtfeld des gestrigen Tages. Die Familie des Auswanderers versammelte sich zwischen ihren Zelten. Seit Morgengrauen war alles auf den Beinen. Ismael erteilte einen Befehl. Seine Söhne führten die Gefangenen ins Freie. Middleton und Ines, Paul und Ellen, der Doktor und der Trapper setzten sich auf die ihnen angewiesene Plätze. Neugierig liefen die Kinder und Esther herbei. Auch Hartherz war da. Er stützte sich auf seine Lanze, in der Nähe graste seine dampfende Stute. Ismael kümmerte sich nicht um ihn. Mit finsterem Blick maß er die Gefangenen. Dann wandte er sich an den Kapitän. „Ich bin heute berufen, das Amt auszuüben, das in den An» Siedlungen gewählte Richter innehaben. Ich erkläre deshalb feierlich, daß ich heute Gericht halte und allen das geben werde, was sie verdienen — und nicht mehr!" Er machte eine Pause und blickte seine Zuhörer erwartungsvoll an. Middleton erklärte: „Wenn Übeltäter bestraft werden, und der, der niemanden beleidigt hat, die Freiheit erhält, dann müßten wir die Plätze tauschen, denn Ihr müßtet hier sitzen!" „Ihr wollt damit sagen, ich hätte Euch Unrecht getan, weil ich diese Dame gegen ihren Willen aus dem Hause ihres Vaters in diese Einöde entführte", antwortete Ismael kühl. „Ich will Eure Worte nicht bestreiten. Ich habe in aller Ruhe nachgedacht und bin zu dem
Schluß gekommen, daß es falsch war, ein Kind von seinem Vater wegzuführen. Die Dame soll zurückkehren, so bequem und sicher wie irgend möglich." „Wer wird es Euch danken?" murrte Abiram. „Ruhe!" donnerte Ismael. „Hättest du geschwiegen, wäre mir diese Schande erspart geblieben." „Wenn Ihr endlich anfangt, Eure Irrtümer einzusehen, dann bleibt nicht auf halbem Wege stehen!" forderte Middleton gebieterisch. „Was uns beide betrifft", meinte Ismael, „so war auf beiden Seiten Unrecht. Ihr seid in mein Lager eingebrochen und habt mein Eigentum zerstört." „Ich tat es zur Befreiung —" „Wir sind quitt", fiel ihm Ismael ins Wort. „Ihr und Euer Weib seid frei. Ihr könnt gehen, wohin Ihr wollt. Abner, gib dem Kapitän die Freiheit." Middleton eilte zu der weinenden Ines. Ismael fuhr in seiner Verhandlung fort: „Nun zu Euch, Doktor. Ich habe mit Euch einen offenen, ehrlichen Vertrag geschlossen. Wie habt Ihr ihn gehalten?" „Daß ein gewisser Vertrag zwischen Dr. med. Obed Battius und Ismael Busch, Viator oder wandernder Anbauer, bestand", erklärte der Naturforscher, „will ich nicht leugnen. Da die genannte Zeit aber vorüber ist, so glaube ich annehmen zu dürfen, der Handel sei zu Ende." „Ismael!" fuhr die ungeduldige Esther dazwischen. „Laß den giftigen Teufel laufen. Er ist ein Betrüger mit Büchse und Arzneiglas. Ich liebe keine Reisegefährten, welche die Zunge eines ehrlichen Weibes schwer machen können." Ismael lächelte und antwortete: „Andere Leute mögen anders über die Kunst des Mannes denken, Esther. Geht, Mottenfänger, Ihr seid frei, geht in die Ansiedlungen und bleibt dort, den Rat möchte ich Euch noch geben. Und nun zu Euch, junger Mann. Ihr seid mir oft genug ins Gehege gekommen, unter dem Vorwand, Bienen zu fangen. Wir haben miteinander eine ganz nette Rechnung zu begleichen. Nicht nur, daß Ihr Verwirrung in mein Lager gebracht habt, Ihr habt auch ein Mädchen gestohlen, eine Verwandte meiner Frau, die ich an Kindes Statt annehmen wollte." „Hört, Ismael Busch", erwiderte der Bienenjäger, „ich will nicht leugnen, daß ich etwas hart mit Euren Kisten und Töpfen umgegangen bin. Sagt, was Ihr haben wollt, und ich ersetze den Schaden. Aber über Ellen Wade werden wir uns nicht so leicht einigen können. Das Mädchen . . ." „Nelly", unterbrach ihn der Auswanderer, „ein Jahr lang hast du in meinem Zelt gegessen und geschlafen. Ich hoffe, dir gefällt das freie Leben der Grenzbewohner so gut, daß du bei uns bleiben willst." „Laßt dem Mädchen seinen Willen", mischte sich Esther ein, „der einzige, der sie hätte überreden können zu bleiben, liegt in der kalten Prärie." „Nelly", sagte der Auswanderer nach kurzer Pause, „wenn dein Herz dich wegzieht, will ich dir nicht im Wege sein. Willst du uns verlassen und mit diesem Burschen in die Ansiedlungen ziehen, oder willst du bei uns bleiben?" Nelly errötete und trat schweigend, aber entschlossen zu Paul hinüber. „Nehmt dem Burschen die Fesseln ab", befahl Ismael und wandte sich an Paul mit den Worten: „Nehmt sie und behandelt sie gut." Dann trat er einen Schritt zurück und sah sie alle an. „Ich glaube, Euch allen gerecht geworden zu sein", sagte er. „Nur eine Frage noch an den Kapitän. Wollt Ihr zu Eurer Reise in die Kolonien meine Wagen benutzen oder nicht?" „Wie ich hörte, suchen mich einige Soldaten in der Nähe der Pawneedörfer. Ich will diesen Häuptling begleiten, dann werde ich meine Leute treffen." „Um so besser. Pferde sind genug da. Geht, sucht Euch zwei aus, und dann verlaßt uns in Frieden!" „Das ist unmöglich, solange der Greis, der fast ein halbes Jahrhundert der Freund meiner Familie war, Euer Gefangener ist. Warum haltet Ihr ihn fest?" „Stellt keine Fragen, die zu bösen Antworten führen", antwortete der Auswanderer finster. „Geht, solange Euch der Weg offen steht." „Der Rat ist gut", sagte der alte Trapper ruhig. „Die Sioux sind eine blutgierige Bande, man ist nie sicher vor ihnen. Darum sage ich Euch: Geht und achtet besonders auf die
Niederungen, daß Ihr nicht wieder vom Feuer umzingelt werdet. Die Jäger brennen in dieser Zeit oft das Gras nieder, damit die Büffel im Frühling eine bessere Weide finden." „Ich kann diesen Gefangenen selbst nicht mit seiner Einwilligung in Eurer Hand lassen, wenn ich nicht weiß, was er verbrochen hat", erklärte Middleton. „Also, seht her: mit diesem Stück Blei hat er meinen besten Jungen erschossen!" Ismael hielt dem Kapitän die Kugel hin, die sie in der Wunde des toten Asa gefunden hatten. Alle warteten, was der Trapper darauf sagen würde. „Ich habe lange genug gelebt und viel Böses gesehen", sprach dieser nach einer Weile. „Aber ich spreche die Wahrheit, ob Ihr es glaubt oder nicht. — Wir umgingen Euer Lager", wandte er sich an Ismael, „und wollten Eure Gefangenen befreien. Ich wurde als Späher auf die Prärie geschickt, die anderen blieben in Deckung. Ich lag im Gras versteckt, als zwei Jäger aneinander gerieten. Sie benahmen sich nicht so, wie Männer tun sollten, wenn sie in der wilden Steppe einander begegnen. Aber ich hoffte, sie würden in Frieden auseinander gehen. Ich sah, wie der eine mit seiner Flinte auf den Rücken des anderen zielte und einen heimtückischen Mord beging. Es war ein edler, männlicher Junge, der Bursche! Länger als eine Minute dauerte es, bis er fiel. Dann richtete er sich noch auf den Knien auf und kämpfte einen verzweifelten Todeskampf am Gehölz." „Warum, um Gottes willen, habt Ihr nicht früher gesprochen?" rief Middleton. „Denkt Ihr vielleicht, ein Mann, der sechs Jahrzehnte in der Wildnis gelebt hat, habe nicht gelernt, verschwiegen zu sein? Ich nahm den Doktor mit zu dem Verwundeten, damit er vielleicht noch helfen könne, und unser Freund, der Bienenjäger, sah ebenfalls, daß in dem Gebüsch ein Toter lag." „Das stimmt", bestätigte Paul. „Da ich aber nicht wußte, welche besonderen Gründe der Alte hatte, die Sache zu verschweigen, sagte ich auch nichts." „Und wer war der Täter?" fragte Middleton, „Da steht er! Es ist eine Schande, aber er gehört zur Familie des Ermordeten." „Das ist eine gemeine Lüge!" schrie Abiram. „Ich gab ihm nur zurück, was er mir getan hat!" „Genug. Laßt den Alten gehen", keuchte Ismael. „Jungen, fesselt Abiram!" „Faßt mich nicht an!" brüllte Abiram. „Der Teufel soll euch holen, wenn ihr mich anfaßt!" Er blickte um sich wie ein Wahnsinniger. Die jungen Leute schreckten vor ihm zurück. Nur Abner, der Älteste und Entschlossenste von ihnen, ging auf ihn zu. Da wollte Abiram fliehen, doch er fiel mit dem Gesicht zur Erde und blieb reglos liegen. Ismael ließ ihn von seinen Söhnen aufheben und ins Zelt tragen. Dann verabschiedete er sich von den ändern: „Nun bleibt nichts mehr übrig, als daß jeder seines Weges geht. Ich wünsche, daß es Euch allen wohl ergehe." Als der Pawnee mit seinen weißen Freunden hinter einer Anhöhe verschwunden war, ließ Ismael die Zelte abbrechen. Die Pferde waren schon angespannt, und der Hausrat wurde
auf die verschiedenen Wagen verladen. Als die Familie aufbrechen wollte, vermißte man Abiram. Die Söhne wollten ihn suchen, doch der Vater befahl ihnen, abzufahren. Schweigend zeigte er nach Osten, und die Jungen wußten, daß es jetzt zurück in die Ansiedlungen ging. Aber niemand fragte. Ein Wagen nach dem ändern fuhr knarrend und rüttelnd die Anhöhe hinunter. Ismael und Esther blieben allein auf dem Lagerplatz zurück. Als alle verschwunden waren, deutete der Auswanderer auf eine kleine Baumgruppe nicht weit vom Fluß. Esther erkannte, daß sich dort jemand an einem Ast erhängt hatte. Es war Abiram. Sie gingen hin, nahmen ihn ab und schaufelten ihm ein Grab. Dann folgten sie den Spuren ihrer Wagen und holten diese noch am Abend ein. Wochenlang zogen sie weiter gen Osten, bis sie wieder in den Ansiedlungen untertauchten. Von Ismael Busch und seiner Familie hat seitdem niemand mehr gehört.
Rückkehr in die Ansiedlung Middleton und seine Freunde erreichten wohlbehalten das Dorf der Pawnee. Mit großem Jubel wurden sie empfangen. Singende Frauen und Mädchen begrüßten die Krieger. Die Trophäen der gefallenen Feinde wurden ausgestellt. Die Greise erzählten von den Taten früherer Helden. Überall aber wurde Hartherz gepriesen und sein Ruhm verkündet. Middletons Artilleristen, die er hier unter den Indianern wiedergetroffen hatte, waren mit einem Kaufmann übereingekommen, sein Boot zu benützen, das fahrbereit unten im Fluß lag. Etwas unbehaglich war Middleton beim Abschied zumute. Die Bewunderung, die Hartherz für Ines hegte, war ihm keineswegs entgangen. Darum gab er seinen Leuten geheime Anweisungen, die Sicherheitsmaßnahmen bei der Abreise zu erhöhen. In der Morgenfrühe begleitete der ganze Stamm seine Schar bis an das Ufer des Flusses. Hartherz sprach zum Abschied noch einige Worte, die der Trapper übersetzte. Der Indianer pries Ruhm und Alter seines Volkes. Er sprach vom Glück im Krieg und auf der Jagd. Er rühmte, wie die Wölfe ihr Recht verteidigt und ihre Feinde bestraft hätten. Nachdem er den Stolz seiner Zuhörer befriedigt hatte, sprach er von den Bleichgesichtern. Vorsichtig deutete er die Ungerechtigkeit der Weißen gegen die Indianer an, versicherte aber, daß er die Abschiednehmenden als seine Freunde erkannt habe. Zum Schluß schilderte er seinem Volke die Erlebnisse des jungen Offiziers und huldigte mit wenigen ernsten Worten der Schönheit Ines'. Das feierliche Abschiednehmen dauerte geraume Zeit. Gegen Doktor Battius waren die jungen Leute in ihren Höflichkeiten zurückhaltend, umso aufmerksamer dafür die Greise. Middleton und die Seinen bestiegen das Boot. Der Trapper hob ein kleines Bündel auf, das bisher vor seinen Füßen gelegen hatte. Er rief Hektor und nahm als letzter seinen Sitz ein. Die Artilleristen stießen grüßend ein lautes Geschrei AUS, die Indianer antworteten ebenso. Dann wurde das Fahrzeug in die Flut gestoßen und glitt schnell stromabwärts. Lange saßen sie alle schweigend da. „Freund Steuermann", bat der alte Trapper schließlich, „lenkt das Boot auf jenen sandigen Vorsprung dort und erfüllt mir eine kleine Bitte." „Warum denn?" fragte Middleton. „Wir sind gerade so schön in Fahrt." „Wir werden uns nicht lange aufhalten", erwiderte der Alte, und schon waren sie an der bezeichneten Stelle. „Kapitän", sagte der Trapper und schnürte sein Bündel auf, „ich möchte mit Euch einen kleinen Handel machen, ehe wir uns trennen." „Trennen?" riefen alle erstaunt. „Hol's der Teufel, alter Mann", rief Paul, „wollt Ihr vielleicht zu Fuß in die Ansiedlungen, wo Ihr es doch mit dem Boot viel bequemer habt?" „Ich hatte gehofft, Ihr würdet mit uns kommen", erklärte Middleton. „Ihr sollt nichts entbehren, was Eure Tage angenehm machen kann." „Ich weiß, mein Junge, Ihr würdet Euer Möglichstes tun. Aber ich habe nicht mehr lange zu leben, und für die wenigen Stunden, die mir noch bleiben, will ich meinen Frieden
haben. Ich brauche die Einsamkeit in Gottes freier Natur und kann in den Ansiedlungen nicht leben." „Ich kenne Euch gut genug, um zu wissen, daß man Euch nicht überreden kann, Euren Entschluß zu ändern. Was kann ich für Euch tun?" fragte Middleton. „Nicht viel, Kapitän", erwiderte der Alte und öffnete sein Bündel. „Hier sind vier Biberfelle. Ich fing die Tiere, etwa einen Monat ehe wir uns trafen. Und hier ist noch eins von einem Waschbären. Es ist freilich nicht viel wert, aber es kann den Handel abrunden." „Und was soll damit geschehen?" „Bietet sie einem Fallensteller an. Was Ihr dafür an Fallen bekommt, sollt Ihr für mich in das Pawnee-Dorf schicken. Sorgt dafür, daß mein Zeichen darauf kommt, ein N mit einem Hundeohr und einem Flintenschloß. Dann wird keine Rothaut mein Recht bestreiten. Für all Eure Mühe habe ich nicht mehr zu bieten als meinen Dank." „Es soll alles nach Eurern Wunsche geschehen", sagte Middleton. „Legt die Felle zu meinem Gepäck." „Danke, Kapitän. Euer Großvater war ein freier, edler Mann. Die Delawaren nannten ihn die Offene Hand. Ich wünschte, ich könnte Eurer Frau ein paar Marderpelze schicken, aber ich bin zu alt und kann Eure Gefälligkeit nicht mehr erwidern." Der Trapper sprang an Land und pfiff nach Hektor. Noch einmal blickte er sich um und grüßte. Rasch glitt das Fahrzeug davon. Noch lange sahen sie den Trapper, auf seine Flinte gelehnt, am niedrigen Ufer stehen. Zu seinen Füßen lag Rektor. Sie kamen schnell vorwärts und waren bald am Ziel. Sie hatten für die Reise nur den dritten Teil der Zeit gebraucht, die für eine Fahrt zu Lande nötig gewesen wäre. Voller Freude empfing in der Garnison Middletons der Vater die totgeglaubte Tochter. Paul und Ellen heirateten. Auf Wunsch seiner jungen Frau und seiner Freunde gab der Bienenjäger seinen Beruf auf und trat in den Dienst des jüngsten amerikanischen Staates Louisiana.
Das Ende des alten Trappers Im folgenden Herbst stand Middleton als Soldat am Missouri, nicht weit von den Dörfern der Pawnee. Paul Hover war auch in seiner Kompanie, und sie beschlossen, Pferde zu nehmen und sich nach dem Schicksal ihres alten Freundes zu erkundigen. Als sie in die Nähe der Pawnee kamen, schickte der Kapitän einen Indianer aus einem befreundeten Stamme als Boten, um seine Ankunft zu melden. Doch sie ritten und ritten, ohne ein Zeichen von den Pawnee zu erhalten. Sie kamen von der Hochebene in einen üppigen Weidegrund. Die sinkende Sonne verströmte ihr goldenes Licht über die weite Prärie. In Gruppen grasten die Pferde in der Ebene. Pawneeknaben hüteten sie. Paul entdeckte den wohlbekannten Esel des Doktors wieder, der sich an dem saftigen Gras gütlich tat. Sie näherten sich einem jungen Hirten, doch dieser blickte sie überhaupt nicht an. „Sonderbar" sagte Middleton. Dann bog ein Reitertrupp um eine kleine Anhöhe. An der Spitze der Indianer ritt der Häuptling der Wölfe. Alle waren unbewaffnet und trugen weder Schmuck noch Federn. Die Begrüßung war freundlich, aber zurückhaltend. Middleton konnte sich das Benehmen der Pawnee nicht erklären. Schweigend setzten beide Gruppen ihren Weg fort. Im Dorfe hatten sich die Indianer auf einem freien Platz versammelt. Hartherz gab mit der Hand ein Zeichen. Er und seine Begleiter saßen ab. Die Pferde wurden beiseite geführt. Der Kreis öffnete sich, und Hartherz winkte Middleton und Hover in die Mitte. Dort saß der Trapper auf einem Stuhl. Er war dem Ende nahe. Sein Auge blickte starr, seine Gesichtszüge waren verfallen und traten im Licht der sinkenden Sonne scharf hervor. Leicht wehten die langen grauen Locken in der Abendluft. Die Flinte lag auf seinen Knien. Zwischen seinen Füßen streckte sich Hektor, als schliefe er. Aber das stimmte nicht, die Indianer hatten ihn nur ausgestopft. Hartherz beugte sich vor und fragte: „Hört mein Vater die Worte seines Sohnes?" „Sprecht!" antwortete der Trapper leise. Middleton trat heran. In tiefer Bewegung ergriff er die Hände des Alten. Ein Schimmer des Widererkennens verklärte die verfallenen Züge. „Schön, daß Ihr da seid — ich brauche jemanden, der englisch spricht. Wollt Ihr einem alten, sterbenden Mann eine Bitte erfüllen?" Middleton versprach, alles solle geschehen. Stockend, mit immer größerer Pause, brachte der Alte sein Anliegen vor. Seine Flinte, seinen Ranzen und sein Pulverhorn möge der Offizier einem Manne in der Kolonie unter den Otsegohügeln bringen. Seine Fallen vererbte er dem Pawneehäuptling. „Ich bin froh, daß Ihr gekommen seid, um mein Haupt in das Grab zu legen", wandte sich der Trapper an den Kapitän. „Den Hund legt zu meinen Füßen — ein Jäger braucht sich in Gesellschaft eines Hundes nie zu schämen —* Der Alte war erschöpft. Eine lange Pause folgte. Endlich fuhr er fort: „Ich habe keine Verwandten in der weiten Welt. Wenn ich tot bin, ist mein Geschlecht zu Ende. Mein Vater liegt begraben an der See — die Knochen seines Sohnes werden in der Prärie bleiben." Middleton bat den Trapper, den Ort zu nennen, wo sein Vater begraben sei. Er erklärte sich bereit, den Sohn an seiner Seite beisetzen zu lassen. Aber der Trapper lehnte ab. Sein einziger Wunsch war, daß ein Stein auf sein Grab in der Prärie gesetzt werden solle. Er bat, Namen, Alter und Todestag in den Stein hauen zu lassen, dazu einen Bibelspruch. „Mein Name wird dann nicht ganz verloren sein auf Erden." Der Greis verstummte. Reglos saß er da. Sein Blick war nach Westen gerichtet, wo die Sonne hinter leuchtenden Wolken versank. Tiefe Ehrfurcht erfüllte die schweigenden Anwesenden. Plötzlich packte der Trapper Middletons Hand mit unglaublicher Kraft. Von seinen Freunden gestützt, erhob er sich. Hoch aufgerichtet stand er da und rief laut: „Hier!" Dann sank er auf seinen Sitz zurück. Er war tot. Ein alter Häuptling erhob sich und verkündete seinem Stamme: „Ein starker, gerechter und weiser Krieger hat den Pfad eingeschlagen, der ihn zu den gesegneten Gefilden seines Volkes führen wird. Als Wahcondahs Stimme ihn rief, war er bereit, zu antworten.
Geht, meine Kinder, gedenkt des gerechten Häuptlings der Bleichgesichter und reinigt Euren Weg von Dornen." Unter einer Eiche wurde Nathanael Bumppo, Wildtöter, Falkenauge, Pfadfinder, Lederstrumpf und Trapper, begraben. Die Pawnee stellten eine Ehrenwache. Ein Stein wurde darauf errichtet. Einfach, wie es der Alte wollte, war die Inschrift. Aber Middleton hatte noch hinzufügen lassen: „Möge keine rohe Hand je seine Ruhe stören!"
NACHWORT I. Zu allen Zeiten haben die Dichter das Abenteuer besungen. Es ist das Saatkorn des Heldentums. Es wächst aus der Gefahr, die den Menschen täglich umdroht. Die Begegnung mit Feinden und wilden Tieren, das Eindringen in den Urwald und das Bezwingen des ewigen Eises und zerklüfteter Gebirge, die entfesselten Elemente, ein Sturm, eine Feuersbrunst, ein über seine Ufer tretender Strom oder das tobende Meer bergen Gefahren, die den Menschen jeden Augenblick vernichten können. Der Feigling hat Angst vor der Gefahr, er flieht vor ihr und verbirgt sich an einem sicheren Ort. Der Mutige aber tritt ihr entgegen, er ringt mit ihr und bezwingt sie — oder wird nach ehrenhaftem Kampf von ihr verschlungen. Überall, wo ein mutiger Mensch der Gefahr begegnet, entbrennt ein Kampf. Dieser kann nicht allein mit der rohen Kraft des Körpers oder nur mit der Gewalt der Waffe geführt werden, sondern ebenso notwendig werden die Kraft des Geistes und die Stärke der Seele dazu gebraucht. Sie bilden den sittlichen Kern des Abenteuers und begeistern den Dichter, es zu besingen und seinen Helden zu feiern. Deshalb wollen wir im Abenteuer nicht bloß die Überwindung der Hurch wilde Tiere, rohe Naturgewalten oder böse Menschen hervorgerufenen Gefahren sehen, sondern wir wollen in ihm auch den Sieg des Guten erkennen, das den Bestand der geordneten menschlichen Gesellschaft schützt und erhält. Die beiden ersten großen Abenteuerberichte der abendländischen Literatur stammen von Homer. Es sind die Lieder der Ilias und Odyssee. Aus der Gefahr des großen Krieges, den der Raub der griechischen Königin Helena durch den trojanischen Königssohn Paris entfesselte, ergaben sich Hunderte von Abenteuern, von denen eines die Geschichte des trojanischen Pferdes ist. Als der Krieg mit der Zerstörung Trojas beendet war, mußte der siegreiche Held Odysseus noch zehn Jahre durch Länder und Meere irren und abermals Hunderte von Abenteuern bestehen. Doch das glückliche Ende war die Rückkehr in seinen Palast und zu seiner treuen Gattin Penelope. Ein nicht weniger abenteuerlicher Bericht ist das deutsche Nibelungen» lied: Hier wurde die große Schuld, welche die Burgunder durch die Ermordung des Helden Siegfried auf sich luden, durch ihren Untergang gesühnt. Aber so wie das Nibelungenlied und die Ilias oder die Odyssee sind alle großen Heldenlieder der europäischen Völker Abenteuergeschichten. Zu ihnen gehören auch die Lederstrumpferzählungen von James Fenimore Cooper. Der Schauplatz ist Nordamerika, die Zeit, in der sie handeln, das 18. Jahrhundert. Wie die Steine und Perlen einer bunten Kette reihen sich hier die Abenteuer aneinander, aber hinter alledem steht immer das große Schicksal des Menschen, dessen Weg von vielem Bösen überschattet ist. Doch Güte, Treue und Liebe überwinden schließlich das Böse, schenken dem Menschen die innere und äußere Freiheit.
II. Ein kurzer geschichtlicher Überblick soll die Entwicklung Amerikas im 17. und 18. Jahrhundert aufzeigen. Etwa gleichzeitig gründeten Engländer und Franzosen zu Beginn des 3.7. Jahrhunderts ihre ersten Kolonien in Nordamerika: Die Engländer 1603 Virginia an der Ostküste des Kontinents, die Franzosen nahmen Kanada für sich. Sie trieben Pelzhandel und bekehrten die Indianer. Die holländische Siedlung Neu-Amsterdam (1612) wurde 1664 von den Engländern eingenommen und hieß fortan Neu-York. Die jüngste englische Kolonie, Georgia, entstand 1732. Zur Zeit unserer Erzählungen wurde die nordamerikanische Küste vom 30. bis zum 45. Breitengrad ausschließlich von den Engländern beherrscht. Hinter dem englischen Kolonisationsgebiet breitete sich das französische aus. Quebec, Montreal, Chikago, St. Louis, New Orleans an der Mündung des Mississippi gehörten dem König von Frankreich. Die Stärke des französischen Amerika beruhte auf der Kraft der militärischen Organisation und auf der straff zentralisierten, durchgreifenden Verwaltung, während die Stärke des englischen Amerika die demokratische Gleichheit der Kolonisten war, also eine mehr geistige Grundlage besaß. Die Franzosen kolonisierten von oben, vom Staat, die Engländer von unten, vom Menschen her. Kein Wunder, daß unter den damaligen Verhältnissen „Neufrankreich" eine stärkere politische und militärische Kraft als „Neuengland" besaß. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts trennte der Ohio das englische (Ost» liehe) Markt= und Kolonialgebiet und das französische (westliche). Die Indianer aber stellten die weltgeschichtlich tragische Frage: „Die Franzosen beanspruchen alles Land zur Rechten, die Engländer alles Land zur Linken des Ohio. Wo liegt dann des Indianers Land?" Solange in Nordamerika Frieden herrschte, trieben Europäer und Eingeborene, also die Indianer, miteinander Handel. Doch machten dabei die Indianer vielfach einen schlechten Tausch: sie nahmen Schnaps für Pelze. In der Geschichte des „Letzten Mohikaners" erklärt der Häuptling Magua, daß er durch den Schnaps verdorben und zum Bösewicht gemacht worden sei. Auch der edle Häuptling Chingachgook wurde im Alter durch den Schnaps der Weißen zugrunde gerichtet, wie die Geschichte der „Ansiedler" zeigt. Im allgemeinen aber lebten die europäischen Kolonisten und Indianer verhältnismäßig friedlich nebeneinander. Es kamen sogar gelegentlich Mischehen zwischen den zum Christentum bekehrten Rothäuten und den Weißen vor. Im „Letzten Mohikaner" tritt ein junges Mädchen namens Cora auf, deren Mutter die Tochter eines Engländers und einer Indianerin war. Eindrucksvoll schildert Cooper das Schicksal dieses unglücklichen, zwischen den Rassen stehenden Geschöpfes. Auch die Ines der letzten Erzählung „Die Prärie" ist ein europäisch«indianischer Mischling. Etwa seit dem Ende des 17. Jahrhunderts entwickelte sich zwischen den beiden großen Kolonisationsmächten in Nordamerika ein ständig wachsender politischer Gegensatz. Während sich im schmalen Küsten» gebiet die englischen Ansiedler in immer größerer Menge stauten, verfügten die Franzosen über das weite, schier unendliche Hinterland bis hinunter zum Golf von Mexiko. Sie hatten gar nicht so viele Menschen, um die ungeheuren Gebiete des Ohio und Mississippi gründlich durchorganisieren zu können. Bereits 1689—1697 und 1702—1713 hatten zwischen England und Frankreich zwei Kolonialkriege stattgefunden. Doch an den Macht= Verhältnissen in Nordamerika änderte sich dadurch kaum etwas. Als dann aber seit etwa 1740 aus Virginia und Pensylvania englische Siedlergruppen ins Ohiotal vorstießen, wuchsen die Spannungen ins Unerträgliche, bis sie sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts in einem schweren und entscheidenden Krieg entluden. Das Zeitalter der Pioniere, wie man die Jahre von 1600 bis 1750 bezeichnet, wurde von der Epoche der großen Kriege — etwa 1750 bis etwa 1790 — abgelöst. In dem zermürbenden Siebenjährigen Krieg (1756—1763) standen nicht nur Franzosen und Engländer gegeneinander; auch die Indianer trennten sich in eine englische und eine französische Gruppe, die sich ebenfalls im tödlichen Haß bekämpften. Die Rothäute waren es, die eigentlich die Rechnung dieses Krieges bezahlen mußten. Im Solde der Europäer rotteten sie sich gegenseitig aus.
Die wildesten Leidenschaften wurden entfesselt. Alle Sittengesetze, die das Leben der menschlichen Gesellschaft bestimmen, gerieten ins Wanken. Hier gab es keine Menschenachtung, Menschenwürde und Menschenliebe mehr. Das grausame Gesetz des „Auge um Auge, Zahn um Zahn" regierte, doch so, daß Böses mit noch viel Böserem vergolten wurde. Wie weit sich auch die Weißen in diesem unmenschlichen Krieg hinreißen ließen, bewies der Umstand, daß sie — wie die Indianer — eine hemmungslose Kopf Jägerei trieben. Sowohl der englische wie der französische Gouverneur zahlte hohe Preise für jeden Skalp eines erlegten Feindes, ohne Rücksicht, ob es sich um einen Mann, eine Frau oder ein Kind handelte, ob es ein Roter oder ein Weißer war. Zunächst waren die Franzosen in diesem Krieg im Vorteil. Ihre Macht brach jedoch zusammen, als 1759 Quebec, das französische Bollwerk in Kanada, von den Engländern erobert wurde. Der Friede von 1763 wischte mit einem Federstrich das ganze französische Kolonialsystem in Nordamerika hinweg: die bisher französischen Kolonien wurden englisch. Der lang währende Krieg war für beide Mächte recht kostspielig geworden. Großbritannien glaubte, einen großen Teil der entstandenen Schuldenlast auf die amerikanischen Kolonien abwälzen zu können. Im Frühjahr 1764 beschloß das englische Parlament die „Zuckerakte", welche? gewisse, nach Nordamerika eingeführte Waren, wie Zucker, Kaffee, Wein, Indigo, ostindische Seide, hoch besteuerte. Es sei gerecht und notwendig, „Steuern aus Amerika zu ziehen, um die Kosten zu decken, die durch die Verteidigung und Beschützung dieses Landes verursacht wurden". Doch die Einwohner Neu-Englands erhoben gegen die einseitige und ungerechte Besteuerung Einspruch. Auch die im Frühjahr 1765 an die Stelle der Zuckerakte tretende „Stempelakte" lehnten sie ab. Sie verlangten Gleichberechtigung mit dem Mutterland, denn auch sie seien Engländer und wollten nicht von ihren englischen „Mit-Untertanen" wie Wilde behandelt werden. In dem Parlament, das diese Steuern beschließe, so sagten sie, seien keine Abgeordneten aus Amerika vertreten, es könne daher auch für die Einwohner Amerikas keine Steuern festsetzen und von ihnen fordern. In England selbst gab es vernünftige Männer, die diese Ansicht teilten. „Sie haben kein Recht, Amerika zu besteuern. Ich freue mich, daß Amerika sich widersetzt hat", rief Pitt im Januar 1766 im Unterhaus aus. Am 10. Juni 1768 kam es in Boston zu schweren Unruhen, als die englischen Zollbeamten die Schaluppe „Liberty" beschlagnahmten, die mit einer Ladung Wein aus Madeira eingelaufen war. Boston war damals die bedeutendste Stadt in Neu-England. Der englische Gouverneur, General Gage, legte darauf am i. Oktober 1768 siebenhundert Mann und Artillerie nach Boston, welche in den öffentlichen Gebäuden ein« quartiert wurden, weil sich die Bürger weigerten, sie in ihre Häuser aufzunehmen. Doch die Ruhe kehrte nicht zurück. 1770 folgte ein neuer Aufstand in Boston, und im folgenden Jahr erhoben sich die „Regulatoren", etwa 1500 Mann, in Nordcarolina. Im Gefecht bei Almansee wurden drei» hundert von ihnen getötet und sechs Rädelsführer öffentlich hingerichtet. Die Gegensätze hatten sich bereits so verschärft, daß Stimmen laut wurden, welche die Unabhängigkeit für Neu-England forderten. „Das Land muß unabhängig werden, nichts Geringeres kann uns mehr genügen!" erklärte 1774 Samuel Adams. Zunächst war die Unabhängigkeitsbewegung noch sehr klein. Im September 1774 versammelten sich die Abgeordneten von zwölf Staaten in Philadelphia zu einem Kongreß. Sie forderten bescheiden die Gleichberechtigung der freien Engländer. Die Amerikaner würden sich nie zu Knechten eines Ministeriums oder einer Nation herabwürdigen. „Gebt uns den Zustand zurück, in dem wir uns am Ende des letzten Krieges befanden, und augenblicklich wird auch die frühere Eintracht wieder« kehren." Am 26. Oktober 1774 löste sich der Kongreß auf, nachdem er noch eine Bittschrift an den englischen König geschickt hatte. Wenn damals die britische Regierung den maßvollen Vorschlägen verständiger Engländer gefolgt wäre, hätte alles wieder gut werden können. Stattdessen schickte sie Soldaten und eröffnete die Feindseligkeiten. Das erste Gefecht dieses Krieges bei Lexington im April 1775 verlief für die Amerikaner günstig. Es gelang ihnen auch, den Engländern am 10. Mai 1775 das Fort Ticonderoga zu entreißen. In diesen Wochen trat Georgia als dreizehnter Staat der Konföderation bei. Am 14. Juni 1775 wurde der Oberst George
Washington vom Kongreß zum Oberbefehlshaber der amerikanischen Armee ernannt, ein Amt, das er acht und ein halbes Jahr innehatte. Er verzichtete auf jedes Gehalt; nur die reinen Unkosten, die ihm entstanden, wollte er erstattet haben. Großartig bei dem nun beginnenden Kriege war, daß die Amerikaner nicht um materielle Vorteile kämpften, sondern nur das eine Ziel kannten: Freiheit — Gleichberechtigung — Achtung ihrer Menschenwürde. Dafür brachten sie die schwersten Opfer. Der jahrelange Krieg war eine ununterbrochene Kette von Rückzügen und Verfolgungen auf beiden Seiten, dazu fortgesetzte Verwüstungen der amerikanischen Kolonien. Mitte 1775 begannen die Amerikaner den Feldzug gegen Kanada, um auch diese seit zwölf Jahren englische Kolonie für den Kampf gegen England zu gewinnen. Doch die Absicht scheiterte. Ende 1776 mußten sie die Belagerung von Quebec aufgeben. Andererseits mißlang im Frühjahr 1776 der Versuch der Engländer, Nordcarolina zu erobern. Die Amerikaner mußten die größten Schwierigkeiten überwinden. Der Krieg kostete viel Geld, und das besaßen sie nicht. Außerdem brauchten sie Soldaten. Sie auszuheben und auszubilden, war eine große, schwere Aufgabe. Doch George Washington meisterte sie. Ende 1777 ernannte auf seinen Vorschlag der Kongreß den Deutschen Friedrich Wilhelm von Steuben zum Generalinspekteur der Armee. Er reorganisierte sie im Sinne der vorbildlichen preußischen Armee. Neben ihm schuf Graf Pulaski die amerikanische Reiterei. Der junge französische Marquis Georges Lafayette und der polnische Freiheitskämpfer Thaddäus Kosciusko kämpften in den Reihen der Amerikaner. Alles, was sich in Europa für die Freiheit begeisterte, stand auf ihrer Seite. Die Engländer indessen kauften sich bei verschiedenen kleinen deut» sehen Landesvätern, so in Hessen und Braunschweig, 17 ooo Soldaten, da in ihrem eigenen Lande die Werbungen für den Krieg wenig Erfolg hatten. Die zunehmende Erbitterung stärkte die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung mehr und mehr. Am 4. Juli 1776 verkündete der Kongreß die Unabhängigkeit der dreizehn konföderierten Staaten: Neu-England hatte das Band zum Mutterland endgültig zerschnitten! Wegen der 1763 verlorenen Kolonien hatte Frankreich England hassen gelernt. Es begünstigte die Amerikaner und ihre Unabhängigkeitsbestrebungen. Dem diplomatischen Geschick Benjamin Franklins und Arthur Lees gelang es, am 17. Dezember 1777 die Anerkennung der amerikanischen Unabhängigkeit durch die französische Regierung und im Früh» jähr 1778 ein Bündnis mit Frankreich zu erreichen. Auch Spanien (1779) und Holland traten auf die Seite Amerikas. England sah sich einer gewaltigen atlantischen Koalition gegenüber. Darum schlug es im Juni 1778 den Amerikanern einen Waffenstillstand vor. Es versprach ihnen Freiheit in Verwaltung und Gesetzgebung und Aufnahme amerikanischer Abgeordneter in das englische Parlament. Doch dazu war es nun zu spät. Alle britischen Wiedervereinigungsbestrebungen beantwortete der Kongreß mit der unerschütterlichen Forderung nach der Anerkennung der amerikanischen Unabhängigkeit. Der Krieg war für alle Teile schwer, kostspielig und nervenzerreißend. Während er von 1775 bis Ende 1778 auf die Küsten von Virginia und Nordcarolina und auf die nördlichen und mittleren Staaten beschränkt blieb, trugen ihn die Engländer jetzt mit dem Angriff auf Georgia in die südlichen Staaten. Ihre Hoffnungen, hier die Negersklaven zu Aufständen gegen die Amerikaner zu reizen, scheiterten. Immerhin gelang es ihnen, die Indianer in Kanada zu Raubzügen gegen die konföderierten Staaten anzustacheln. Der englisch-französisch-spanische Seekrieg spielte sich auf dem Atlantik ab, vor allem vor der amerikanischen Küste. Einen schweren Schlag erlitten die Engländer durch die Kapitulation ihrer Nordarmee nach dem Gefecht bei Yorktown am 16. Oktober 1781. Sie bewog unter anderem die Stadt London, am 27. November 1781 dem englischen König eine Bittschrift zu übergeben, worin sie das Ende des Krieges und die Anerkennung der Unabhängigkeit Amerikas vorschlug. Das Parlament erhob die gleiche Forderung. Im August 1782 begannen die Friedensverhandlungen in Paris, die sich über ein Jahr hinzogen. Am 3. September 1783 wurde zwischen England und seinen Gegnern der Friede unterzeichnet, der die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten anerkannte.
Am 25. November 1783 räumten die Engländer New York. Wenige Tage später, am 4. Dezember, verabschiedete sich Washington von seinen Soldaten. Am 23. Dezember gab er sein Amt als Oberbefehlshaber dem Kongreß zurück und ging wieder nach Mount Vernon —: eine Persönlichkeit, deren Name nicht mehr aus der Geschichte gelöscht werden kann — gleich erhaben in ihrer Leistung für das amerikanische Volk wie in ihrer persönlichen Bescheidenheit. Der Kongreß nahm am 17. September 1787 die Verfassung der Vereinigten Staaten an und wählte am 3. März 1789 einstimmig George Washington zum Präsidenten. Das Land war durch den Krieg wirtschaftlich erschöpft. Die ungeheuren Kriegslasten hatten die Währung durch eine Inflation an den Rand des Abgrundes gebracht. In Charlestown kosteten 100 englische Pfund Sterling im April 1777: 108 amerikanische Pfund Sterling, im Mai 1779: 950, im Mai 1780: 5248! Aber das Volk war fleißig und kam bald wieder zu Wohlstand. Von den vier Millionen Einwohnern, welche die Vereinigten Staaten 1790 besaßen, widmeten sich drei Viertel der Landwirtschaft. Sie blieb das Fundament des wirtschaftlichen Aufbaus. Cooper schildert das anschaulich in seiner vierten Erzählung „Die Ansiedler". Der amerikanische Volkscharakter wurde vor allem von einer Kraft geprägt: von der Liebe zur Freiheit. Sie schuf jene vorbildliche Demokratie, die von 1789 an das Ideal der Völker Europas war. Von hier holte sich die Französische Revolution ihre geistigen Anregungen. Amerika blieb auch später noch das Land der Sehnsucht und der Zuflucht für die in Europa verfolgten Freiheitskämpfer. So fand auch der Deutsche Karl Schurz in Amerika seine Heimat, nachdem der Traum der Freiheit in Europa nicht verwirklicht worden war. Der Aufstieg Amerikas zur Weltmacht, den wir in diesem Jahrhundert erlebt haben, wäre ohne jene Ereignisse von 1600—1800 nicht möglich gewesen.
III. Das ist der große historische Hintergrund, vor dem die hier wiedergegebenen fünf Geschichten spielen. Doch bevor zu ihnen noch einiges gesagt wird, sollen Leben und Persönlichkeit Coopers kurz geschildert werden. James Fenimore Cooper wurde in dem Jahre, als George Washington zum ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt wurde, als Sohn eines wohlhabenden Politikers, Richters und Geschäftsmannes geboren und wuchs in der Grenzersiedlung seines Vaters am Otsego-See im Herzen des Urwaldes des Staates New York auf. Seine Familie gehörte zu denen, welche bewußt und unerschrocken für die Unabhängigkeit ihres Volkes eingetreten waren und sich aktiv an deren Herbeiführung beteiligt hatten. In seinem vierten Roman „Die Ansiedler" schildert Cooper anschaulich das Leben einer solchen Familie in der Wildnis. Wir dürfen hierin eine Darstellung der Verhältnisse und der Umwelt seiner Jugendjahre sehen. Als Jüngling wurde James Fenimore Cooper von seinen Eltern nach Albany und an die Yale Universität geschickt, um dort zum Gentleman erzogen zu werden. Doch er hielt es dort nicht lange aus und wurde Seekadett. Als solcher erlebte er eine an Stürmen reiche Seereise nach Europa, deren Erinnerung sich in seinem Buch „Pfadfinder" spiegelt. Cooper wurde Marineoffizier, gab jedoch schon nach wenigen Jahren den Dienst auf. Er heiratete die Tochter eines reichen und vornehmen Bürgers aus New York und lebte dann als Farmer nördlich der Stadt in einer Gegend, wo er stets das geliebte Meer sehen konnte. 1820 begann er Romane zu schreiben, obwohl ihm eigentlich Kunst und Dichtung völlig ferne standen; unter seinen Freunden befanden sich wohl Ärzte, Rechtsanwälte, Richter und Kaufleute, aber keine Schriftsteller und Künstler. Cooper unternahm mehrere Reisen nach Europa. Er fuhr nach Frankreich und schloß sich dem greisen Republikaner Lafayette an, der vor fünfzig Jahren im nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg auf selten der Amerikaner mitgefochten hatte. Mit großer Leidenschaft trat Cooper in Frankreich für die Republik ein und wandte sich somit gegen das Königtum. In der Schweiz bewunderte er die republikanischen Staatseinrichtungen. Allerdings entgingen seinem scharfen Blick auch nicht die Mängel der Demokratie. 1830 erlebte er in Paris die Juli Revolution.
Nach seiner Rückkehr in die Heimat 1833 setzte er seine ganze Kraft für die demokratischen Ideale ein und führte — teilweise vor Gericht — seine Auseinandersetzungen mit der Presse voller Leidenschaft, aber auch mit Erfolg durch. Als er 1851 starb, war er nicht nur ein anerkannter großer Schriftsteller, sondern auch eine hochgeachtete und angesehene Persönlichkeit, die zu allen Zeiten mutig für ihre demokratische Überzeugung eingetreten war. Cooper war Republikaner. Die Demokratie seiner amerikanischen Heimat erschien ihm wesentlich besser und fortschrittlicher als die mit vielen unnützen Einrichtungen der Vergangenheit belasteten Monarchien in Europa. Oft geriet er mit seinen Ansichten in scharfen Gegensatz zu den vornehmen Verwandten seiner Frau. Als Grundbesitzer schloß er sich der bäuerlichen Demokratie Jeffersons an und geriet da= durch in Widerspruch zum Kaufmannsgeist der Yankees, die er verachtete. Für das Seemannsleben empfand Cooper eine besondere Vorliebe. Der englische Schriftsteller Sir Walter Scott war ein vornehmer, in einem überalterten Feudalismus wurzelnder Mann; darum mochte ihn Cooper nicht. Als Gegenstück zu Scotts „The Pirate" schrieb der Amerikaner seinen Roman „The Pilot". Mit großer Liebe zeichnet er in diesem Buch das Leben zur See. Das Meer, die Weite der Wasser, zog ihn immer und immer wieder an. In seiner Erzählung „Wildtöter" steht ein großer See im Mittelpunkt des Geschehens. An diesem See finden all die vielen Abenteuer statt. Cooper versteht es, mit wenigen Worten ein wundervolles Stimmungsbild einer solchen Landschaft zu zeichnen. Die Darstellung der Seefahrt im „Pfadfinder" gehört zum Schönsten, was die jüngere Literatur auf diesem Gebiet aufzuweisen hat.
IV. Im Jahre 1823 veröffentlichte Cooper seinen „Lederstrumpf", der seinen Namen in der westlichen Welt bekannt und berühmt gemacht hat. Bereits vor Cooper waren zahlreiche Romane erschienen, welche die Ereignisse der amerikanischen Kriege im 18. Jahrhundert behandelten, aber nicht einer von ihnen erreichte in der großartigen Wucht der Darstellung die Schöpfungen Coopers. Sein Werk blieb, während all die anderen bald vergessen waren. Die fünf vorliegenden Erzählungen werden durch die in ihrem Mittelpunkt stehende Gestalt, Nathanael Bumppo, zu einer Einheit zusammen» geschlossen. Dieser Natty erscheint von seiner Jugend bis in sein hohes Alter unter den verschiedensten Namen. Sein Leben wird etwa durch die Jahre 1720 und 1804 begrenzt. Als junger Mann hieß er Wildtöter, später Falkenauge, dann Pfadfinder, in den „Ansiedlern" wird er Lederstrumpf genannt, und in der letzten Erzählung bezeichnet ihn Cooper schlicht als der Trapper. Weil nun die „Ansiedler" die erste Erzählung dieser Serie war, die Cooper veröffentlichte (1823) wurde der Name Lederstrumpf als Sammeltitel über alle fünf Erzählungen gesetzt. Mit vollem Recht wird immer wieder darauf hingewiesen, daß der letzte und tiefste Sinn der Erzählungen Coopers folgender ist: Nur da ist reine und echte Versöhnung aller Menschen und Rassen möglich, wo sich der Mensch im Urzustand der Natur, in der Wildnis befindet. Erst der gemeinsame Kampf gegen die Gefahr, das gemeinsam bestandene Abenteuer vermag den Menschen zu lehren, was ihm sein Nächster wert ist. Cooper hat hier offensichtlich den Leitgedanken des französischen Aufklärers und Philosophen Jean Jacques Rousseau übernommen, der gegen die Verkommenheit der menschlichen Gesellschaft die Forderung „zurück zur Natur" aufstellte. Träger dieser Auffassung ist Natty Bumppo, der im Zentrum der Ereignisse steht. Er ist auch der Träger jenes unerschöpflichen Glaubens an das Recht, das über allen Völkern herrscht, ganz gleich, ob sie weiß oder rot sind. Er tritt für den Grundsatz ein, daß auch in der Wildnis das Recht gilt. Neben dem Weißen erscheint als Ergänzung der gleichen Meinung der Indianer Chingachgook. Auch er ist in erster Linie der Mensch, in zweiter der Indianer. Der Bund dieser beiden durch eine gemeinsame humanitäre Auffassung verbundenen Männer bildet das Fundament der Erzählungen. Beide gehören keinem besonderen Volke an. Sie sind schlechthin Menschen, die zufällig eine weiße und rote Haut tragen, aber beide das
allgemeine Menschenrecht vertreten und sich der von Gott gegebenen Gerechtigkeit unterwerfen. Um diese zwei Männer ranken sich alle anderen Figuren der Erzählungen und alle Abenteuer wie die vielen Reben eines Efeus um einen Baumstamm. Die zahlreichen Gestalten werden fein charakterisiert. Jeder einzelne Mann hat sein Gepräge. Da erscheint Harry March, der rücksichtslose Draufgänger, neben ihm Tom Hutter, der Seeräuber im Ruhestand, denen es nicht darauf ankommt, auch einmal Macht vor Recht gehen zu lassen. Neben dem pflichtbewußten und ehrenhaften Oberst Munroe steht der junge Sir Duncan Heyward. Besonders liebevoll wird Cap geschildert, der verhinderte Seeheld. Er ist zwar ein Prahlhans, aber doch auch gutmütig und einfältig. Meisterhaft ist die Darstellung des Richters in der vierten Erzählung. Viele liebenswürdige Frauengestalten treten auf: Judith, die das rauschende Leben in der Gesellschaft dem unerbittlichen Daseinskampf im Urwald vollzieht; die weiche Hetty, die sich mit kindlichem Vertrauen in ihr Schicksal ergibt; dann Cora und Alice, Mabel, die beherzte Tochter des Sergeanten, Elisabeth, die Tochter des Richters, und ihre Freundin Luise; Ellen und Ines, und schließlich die einzige Mutter, die uns begegnet, Esther, die bei aller Rauheit doch ein Herz voll mütterlicher Liebe besitzt. In packenden und ergreifenden Bildern stellt Cooper die furchtbare Wildheit jener Zeiten dar. Die Menschen und ihre Eigenarten schildert er ebenso anschaulich, wie die von Menschenhand fast noch unberührte Natur. Mag sein Stil auch weitschweifig sein, so versteht Cooper es doch, in wenigen, packenden Worten einen Menschen, eine Landschaft oder ein Geschehen zu schildern. Als Dichter vermochte er die von ihm dargestellten Ereignisse und Personen aus der Enge ihrer Zeit in jene überzeitliche Höhe hinaufzuheben, wo sie auch in Zukunft jedem lebenden Geschlecht nahe sein werden. Dies ist ihm nur dadurch gelungen, daß er in allem, was er schildert, immer den höchsten sittlichen Sinn des menschlichen Lebens und Wirkens herausarbeitet. Solange diese Sittengesetze ' ihre Geltung behalten, werden die Leser stets aufs neue von Coopers packenden Erzählungen gefesselt sein. Es war dem Autor sehr ernst mit seinem Werk. Er trieb umfassende wissenschaftliche Vorarbeiten, bevor er seine Erzählungen schrieb. Nur dadurch konnte er ein wahrheitsgetreues Bild von den Menschen und Zuständen geben. Das von ihm geschaffene Bild des Indianers blieb bis zum Ende des 19. Jahrhunderts der gültige Maßstab für die Einstellung der öffentlichen Meinung des amerikanischen Volkes gegenüber den Eingeborenen. Sein Werk wird immer gültig bleiben „als ein Denkmal, das beide Rassen ehrt". Hunderte und aber Hunderte von Lederstrumpfausgaben sind seitdem in allen europäischen Sprachen für die Jugend erschienen. Aber nur in den wenigsten von ihnen ist etwas von dem echten Lederstrumpfgeist Coopers zu spüren. In den meisten ist das Abenteuer zum Selbstzweck herabgesunken, während es für Cooper das Mittel zum Zweck, nämlich zum Zwecke des Guten und der Darstellung guter Menschen im Gegensatz zu den Bösewichten ist. v. G.