KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR- UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
VITALIS P A N T E N B U R ...
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KLEINE
B I B L I O T H E K
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR- UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
VITALIS P A N T E N B U R G
LEMMING-ZÜGE RÄTSEL UM EIN SELTSAMES TIER
VERLAG MURNAU
SEBASTIAN
LUX
•MÜNCHEN•INNSBRUCK • BASEL
Geheimnisvolle Gletscherwanderung Ein bisher immer noch nicht ergründetes Geheimnis der Tierwelt sind die in gewissen Zeiträumen auftretenden Massenheere der Lemminge, dieser reizend anzusehenden Tiere aus der Familie der Wühlmäuse. Ihre Heimat ist der hohe Norden der Alten wie der Neuen Welt, ihr Lebensraum sind die unwirtlichen Zonen jenseits oder oberhalb der Baumgrenze, die lebensfeindlichsten Gebiete der Erde. Niemand fand bisher eine verständliche Antwort auf die Frage, weshalb diese Tiere in den Jahren ihrer unglaublichen Vermehrung plötzlich in riesigen Heeren auswandern und sich gegen alle Vernunft und gegen alle Hindernisse der Natur unter steter Abwehr ihrer zahlreichen bepelzten und gefiederten Feinde schließlich todesverachtend ins Meer stürzen.
Blendend weiß leuchtet die riesige Kuppel des Hardanger-Gletschers weithin über die norwegische Hochebene. Jetzt, gegen Winterende, hat die Sonne schon sehr viel Kraft. Hell singend zischen die schmalen Bretter unserer Ski über den sanft geneigten Hang. Spielend leicht gleitet uns voraus der schwere Langschlitten. Die dem Schlitten vorgespannten Hunde trommeln mit ihren scharfbekrallten, sehnigen Läufen über die Bahn aus körnigem Firn. Unversehens bricht der Leithund „Björn" nach rechts aus der Spur. Erik, mein Gefährte, schreit: „Geradeaus!" Er will ins Ledergeschirr greifen, um den Hund wieder auf Kurs zu zwingen. Zu spät! Die beiden bärenstarken Leittiere gehorchen dieses Mal, ganz gegen die Regel, nicht. Wie von Sinnen rasen sie dahin. 2
Die wolfswilden Burschen haben offenbar eine Beute ausgemacht und sind einfach nicht mehr zu halten. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als schleunigst hinter ihnen herzufahren. Auf der gleißenden Firnfläche liegt ein winziger dunkler Punkt; wie wir näherkommen, beginnt er sich zu bewegen und entfernt sich sehr rasch. Ein lebendiges Wesen mitten im Bereich der Eisesstarre, ein winziges Tier in der leblosen Einöde! Das Hundepaar stürmt auf der Spur des Flüchtigen dahin, unbekümmert um die Last des Schlittens und die energischen Ordnungsrufe. Die Hunde sind voll unbändigen Jagdeifers. Ein Berglemming hat sich mutterseelenallein, dem unerfindlichen Wandertrieb seiner Artgenossen folgend, auf dem mächtigen Eisriesen verirrt und sucht nun einen Ausweg. Gleich darauf stehen wir alle vier vor dem allerliebsten Kerlchen, das mit funkelnden Augen, auf den hinteren Grabefüßchen aufgerichtet, furchtlos Front gemacht hat gegenüber Menschen und Hunden, die ihn wie Giganten überragen. Mit gespitzten Lauschern beobachten der Leithund Björn und seine Gefährtin Tyttö den Kleinen, hecheln mordgierig, und ihre Flanken fliegen. Ein Zuschnappen ihrer dolchartig scharfen Fänge —, und weg wäre der Kleine. Er ist nicht einmal so groß wie ein Maulwurf. Doch die Wühlmaus hat Mut! Sie reckt sich, faucht und zischt in hemmungslosem Zorn; nicht ein Füßchen breit geht sie zurück. Und die Hunde? Seht doch, sie haben keinen Mut und wagen es nicht, über den tapferen Burschen herzufallen. Entzückend anzuschauen ist der kleine Nager in seinem hellbraunen Pelzkleidchen. Die Hamsterbäckchen plustert er auf, so daß die langen Schnurrhärchen weit abstehen. Wütend blitzt der putzige Racker aus tiefdunklen Kugeläugelchen seine Gegner an. Man hört seine durchdringend hohen Quiektöne, die zuweilen in ein seltsames Grunzen übergehen. Die kleine Tundrenwühlmaus hat messerscharfe und nadelspitze Zähnchen, mit denen sie blitzschnell empfindlich zubeißen kann. Ihre Feinde hüten sich daher, mit diesen natürlichen Waffen Bekanntschaft zu machen, und sie gehen den angriffslustigen Beißern gern aus dem Wege, wenn sie nur ein einziges Mal die schlimme Erfahrung einer zerfetzten Lippe gemacht haben. Ein gewiegter Lem3
mingjäger unter den Hunden und den Raubtieren wird daher hübsch Geduld haben, bis der Kleine ihm den Rücken zukehrt, um in seinem Höhlenbau zu verschwinden —, falls er sich überhaupt dazu entschließt, was keineswegs die Regel ist. Dann erst wird der Räuber zuspringen und den Lemming zu erhaschen versuchen. Hier, auf der blanken Firnfläche des großen Gletschers, fehlt dem Alleinwanderer jede Rückzugsmöglichkeit. Er ist gezwungen, unsere Anwesenheit zu ertragen. Erik hält dem wütenden Kerl die Skistockzwinge vor die Nase. Der Lemming weicht nicht zurück sondern fährt ohne Besinnen auf das Eisen zu und schnappt danach. Seine Stimme überschlägt sich fast beim wütenden Quieken. Er ist völlig außer sich; es sieht so.aus, als ersticke er vor lauter Grimm. Ebenso plötzlich aber wird er still, als habe er sich einfach überanstrengt und könne nicht mehr. Unser kleiner Gletscherwanderer liefert uns ein Musterbeispiel für Hie unerklärliche, beispiellose Starrköpfigkeit der Lemminge, die jedem Tierinstinkt hohnspricht. Blindwütig, trotzig bis zur selbstmörderischen Starrheit ist die arktische Wühlmaus, nicht nur in der Masse sondern auch als Einzelwesen. Vor nichts weicht sie zurück; Ausreißen widerstrebt ihrer maßlosen Halsstarrigkeit. Was ihr entgegentritt, muß beiseite rücken oder —, sie selbst läßt es sich den eigenen Tod kosten. Jemand hat einmal gesagt, der Lemming sei der Typ des „dickschädeligen Cholerikers in der Tierwelt". Anfang der vierziger Jahre wälzte sich ein kilometerlanger, wimmelnder Heerbann von Berglemmingen wie eiri ungeheurer, hellbrauner Wollteppich von Norden her auf diesen riesigen Eisschild des Hardanger-Gletschers zu. Die Lemminge hätten den Gletscher am Uferrande flink und, abgesehen von den Opfern durch ihre Verfolger und Vertilger aus dem Tierreich, ohne Verluste umgehen können. Doch starrsinnig, wie diese Wühlmäuse nun einmal sind, marschierten sie mitten über die verderbenbringende Eisfläche, und das Eis forderte unbarmherzig seinen Tribut. Ungezählte Tausende verschwanden — es war Spätsommer — in den tückischen Spalten und Rissen, in den quirlenden Eiswasserbächen und in den strudelnden Gletschermühlen. Gibt der Gletscher im Sommer nach der Schneeschmelze das blanke Eis wieder frei, so kommen heute 4
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noch — viele Jahre nach diesem Heerzug des Verderbens — die noch gut erkennbaren Reste der Tierchen wieder zum Vorschein. Vielleicht ist unser kleiner Einzelgänger, der wütend jeden anfaucht, der sich ihm nähert, ein Nachkomme von Teilnehmern an jenem Heerzug, der damals mitten über den Gletscher gezogen ist. Was aber zwang ihn, ganz allein und trotzig die gleiche Route einzuhalten? Wir finden keine Erklärung für sein Verhalten. Es gibt noch andere Rätsel um die Wühlmäuse der Tundren. Kein Zoo zeigt einen Lemming, kein Mensch hatte bis'her Erfolg damit, ihn längere Zeit in Gefangenschaft lebend zu erhalten. Ob es uns gelungen wäre, den zornentbrannten, furchtlosen Burschen derart in Wut zu bringen, daß er sich — im wörtlichsten Sinne — zu Tode geärgert hätte? Man sagt, daß bei den Lemmingen so etwas vorkommen kann. Ein schwedischer Bauer soll einen Lemming einmal mit einem Stock so maßlos gereizt haben, daß dem Tier die „Galle schließlich das Blut vergiftete". Ohne daß ihm ein körperliches Leid zugefügt worden sei, habe der Lemming einen langen, wütenden Klageton von sich gegeben und sei dann buchstäblich mausetot umgefallen. Die Geschichte vom Sterben einer Wühlmaus durch übersteigerte Wut konnte von uns nicht nachgeprüft werden. Die Tatsache aber, daß Lemminge in ihrer Wut außer sich geraten und sich sinnlos gebärden, wird von vielen Augenzeugen bestätigt. Die Erklärung, die der schwedische Zoologe Ekman für diese blindwütigen Ausbrüche des Lemmings gegeben hat, kommt der Wahrheit wohl am nächsten; er glaubt, dieses rätselhafte Benehmen sei aus völliger Ratlosigkeit in Augenblicken wirklicher oder vermeintlicher Gefährdung zu verstehen. Mein Wandergefährte Erik und ich meinen, der tolldreiste Kerl habe nun genug Ärger und Aufregung ausgestanden. Wir wollen es nicht dazu kommen lassen, daß er vor Wut überschäumt oder wie der Lemming des schwedischen Bauern vielleicht sein Leben einbüßt. So überlassen wir den kühnen Gletscherwanderer wieder der Einsamkeit. Unsere Schlittenhunde haben allerdings kein Verständnis für diese Großmut. Nur mit hartem Zupacken und energischem Zuspruch zwingen wir sie auf den alten Kurs. Im Abfahren sehe ich noch, wie der Racker, nunmehr in Frieden gelassen, noch eine ganze 5
Weile argwöhnisch, angriffsbereit in seiner Stellung verharrt und dann unverdrossen — vielleicht siegesbewußt — seine unerklärbare Langreise ins Irgendwohin fortsetzt.
Ihre Heimat ist die arktische Tundra Die Lemminge gehören zur Familie der Mäuse, von denen sie sich durch gedrungeneren Körperbau, einen dickeren Kopf und viel kürzeren Schwanz unterscheiden. Zwei Lemmingarten leben im hohen Norden: der Berglemming, der in Skandinavien, auf der Halbinsel Kola und in Teilen Nord-Rußlands zu finden ist, und der Halsbandlcmming, der in Grönland und in der kanadischen Arktis seine Heimat hat. Der etwas größere Lemming der Alten Welt ist etwa fünfzehn Zentimeter lang, das Stummelschwänzchen mißt nur zwei Zentimeter. Entsprechend dem rauhen Klima ist der Lemming mit einem dichten, langen Pelzkleid ausgestattet. Der Untergrund ist hellbraun mit schwarzen Fleckchen. Gelbe Streifen ziehen sich von den Augen zum Hinterkopf. Stutzschwänzchen und Pfoten sind gelb; unterwärts herrscht ein fast sandfarbenes Gelb vor. Buschbirken- und Frauweidenzone, die waldlosen Tundren Eurasiens, die Barren Grounds Nordamerikas, im Norden auch die Meeressäume, sind seine Wohngebiete. Die Nahrung besteht aus dem wenigen, was die dürftige Hochgebirgs- oder subarktische Pflanzenwelt bietet. Rentierflechte, zarte Blätter und Kätzchen der Weide, allerlei Wurzelwerk, das der Lemming mit seinen ausgezeichneten Grabwerkzeugen freilegt, sind seine Hauptnahrung. Ob auch der Berglemming Fleischkost nicht verschmäht, zumindest in Zeiten großer Not, ist bisher nicht beobachtet worden. Dagegen berichtet der Zoologe Alwin Pedersen, ein vorzüglicher Kenner und Beobachter der grönländischen Tierwelt, vom dort heimischen Halsbandlemming, daß er einmal ein Tier überraschte, das sich auf dem Meereis an einem von Jägern erlegten Seehund gütlich tat. Diese Entdeckung brachte ihn auf den Gedanken, einige Lemminge, die er gefangenhielt, mit Fleisch zu füttern. Sie nahmen diese Kost gern an, ganz gleich, ob es von Flugwild oder Säugetieren stammte. Fett und Speck rührten sie allerdings nicht an. Daß 6
der Halsbandlemming Aas frißt, hält Pedersen für bewiesen, bezweifelt auch nicht, daß der Lemming mit seinen scharfen Zähnen — er trug selbst schmerzhafte Fleischwunden an den Fingern von solchen Bissen davon — ein Vogeljunges angreifen und töten kann. Zwischen der riesig breiten, treibenden Eisbarre vor der ostgrönländischen Küste und dem kilometerdicken Inlandschild aus ewigem Eis dehnt sich ein achtzig bis hundert Kilometer tiefer Streifen hügeligen Landes, der im Sommer völlig eis- und schneefrei ist. Hier gibt es ein richtiges Tier- und Pflanzenparadies, zu dem sich so weit nördlich im weiten Rund um den Pol kaum ein Gegenstück findet. Allerlei bunte Blumen webt die große Lebensspenderin, die Sonne, hier in die meilenweiten, ziemlich flachen oder nur leicht gewölbten Grasflächen. Das wundervolle Land breitet sich am Fuß der von ewigem Firnschnee gekrönten Randberge aus. Oft verweilte ich auf Expeditionen in dem fjordreichen Küstenland und bestieg die grüngepolsterten Moränenhügel. Die Silberspiegel vieler kristallklarer Seen und das Geglitzer munter dahineilender Gletscherflüßchen blinkten herauf. Die lichten Wollgräser leuchteten wie weiße Wattetupfen inmitten dichter Moos- und Graspolster am Saum der Gewässer. Hoch über mir am azurblauen Himmel schwebte auf seinen schnittigen Schwingen fast unbewegt der erbittertste Feind aller Vögel und vieler Erdtiere dieses Eldorados, der Falke Grönlands. Der elegante graubraunweiß gesprenkelte Flieger ist unbestrittener Herr des grönländischen Luftreviers. Sein Tisch ist im Sommer stets reich gedeckt. Karger werden die Mahlzeiten zum Sommerende, wenn fast alles Flugwild südlichen, wärmeren Breiten zustrebt. Seine wichtigste Beute und Ernährungsgrundlage im Herbst und Winter ist deshalb der kleine Halsbandlemming, der hier zu den Überwinterern gehört. Nach den vielen maulwurfartigen Höhlengängen zu schließen, denen man auf Schritt und Tritt begegnete, mußte er in dieser Küstengegend reichlich vertreten sein. Obwohl der Sommer ihm ein gut tarnendes Pelzkleidchen geschenkt hatte, konnte der Falke ihn mit seinen teleskopartig scharfen Augen selbst aus beträchtlicher Höhe noch entdecken. Plötzlich kam Bewegung in den anscheinend leblos segelnden Flieger. Er legte die Flügel hart an den Körper und stieß in steilem
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Winkel pfeilschnell auf die Erde zu. Kaum zwei, drei Handspannen über einem Moosplacken spreizte er die Schwingen und schoß sofort wieder hoch. In seinen scharfen Fängen trug er ein kleines Wollknäuel. Durch das Glas erkannte ich deutlich einen Lemming. Leicht hochsegelnd, strich der fliegende Freibeuter zu den schroffen Felswänden hin ab. Dort mußte wohl sein Horst sein, an einer unzugänglichen Stelle, die durch einen weißen Fleck gekennzeichnet war. Ich schritt zu dem grünen Polster, wo der Falke sich die Mahlzeit geholt hatte. Hier hatten die kleinen Nager ihre verzweigten Gänge und Behausungen in der moosüberwucherten Lehmkuppe. Ich ließ mich auf einem Felsen in der Nähe nieder und verhielt mich ganz ruhig. Es dauerte nicht lange, da steckte ein Lemming sein schnurrhaarbesetztes breites Köpfchen aus einem der vielen Löcher. Schließlich rückte er, immer wieder nach mir hin schnuppernd, dann blitzschnell zurückkehrend, ganz heraus. Der Kleine sah allerliebst aus; er glich eigentlich mehr einem Hamster oder einem Murmeltier als einer Maus. Dicht, seidenweich mußte das Fellchen sein. Der Rücken war schwarz-bunt gefärbt; die Kante dieses Sattels war vom Kopf bis zum Stummelschwänzchen rostrot. Beiderseits des Halses hob sich der Saum so stark ab, daß er wie ein Halsband aussah. Dieser Halsbandlemming bevölkert außer dem Norden Rußlands westlich des Weißen Meeres und Sibiriens einschließlich Kamtschatkas das ganze arktische Amerika. Sein Siedlungsgebiet erstreckt sich von Nord-Grönland bis zu den Aleuten, von Labrador und der kanadischen Arktis-Inselwelt bis zur BeringStraße. Doch lebt er nur jenseits der Baumgrenze, in den Barren Grounds, den öden Tundren. Der Halsbandlemming gilt als das am meisten charakteristische Landsäugetier der waldlosen arktischen Zonen. Seine helle Unterseite zeigt einen leicht rötlichen Schimmer. Gegen Ende des Sommers wohl beginnt sie vom Bauch her zu bleichen, wird bald ganz weiß, danach bleicht auch die Oberseite. Liegt das ganze Land unter Schnee und Eis, dann hat der hocharktische Halsbandlemming sein langhaariges Winterkleidchen angezogen. Es tarnt ihn ebenso gut, wie es der bunte Pelz im Sommer tat. 8
Lemming vor seiner „Einfahrt" 9
Sein subarktischer Vetter, der Berglemming Skandinaviens und der Kola-Halbinsel, behält dagegen auch im Winter das gleiche Gewand wie im Sommer. Den größten Teil seines Lebens bringt der Lemming in den unterirdischen Bauen zu. Sie bestehen aus einem Hauptgang, der zweieinhalb bis zwei Meter lang sein kann, und einer Anzahl Stichröhren. Sie sind derartig eng, daß nur der schlanke Lemming eben noch hindurchschlüpfen kann. Die Hauptröhre erweitert sich am Ende zu einem kleinen Hohlraum, der etwa so groß ist wie eine geballte Faust. Hier hat der Lemming sein Nest, das er sich aus trockenem Gras mit Haar aus dem eigenen Kleidchen oder vom Moschusochsen bereitet. Obwohl es in diesen Nestern selbst im klirrend-kalten Winter arktischer Zonen mollig warm ist, hält der Lemming keinen Winterschlaf. Selbst in der härtesten Frostzeit gräbt er sich unter dem Schnee auch über der Erde Gänge, die er benutzt, um an seine Nahrung, an Wurzelwerk und Grasnarben, heranzukommen. Beim Fressen hält der kleine Kerl sein Futter genau wie unser heimisches Eichhörnchen zwischen den Vorderfüßchen, was ganz allerliebst aussieht. Warum sich diese kleine Wühlmaus kein Vorratslager für die lange, karge Jahreszeit anlegt wie zum Beispiel unser sprichwörtlicher Hamster, ist ungeklärt. Der Lemming zieht es vor, nachts im Freien umherzuschweifen, tagsüber aber sich möglichst versteckt zu halten. Da in den hohen Breiten seiner Heimat die Sonne im Sommer monatelang nicht untergeht, hat er es darin nicht ganz leicht. Seine Neugierde ist aber recht groß und lockt ihn immer wieder aus dem Bau heraus, was ihm oft zum Verderben wird. Die Schlupf- und Nistgänge sind immer nahe der Oberfläche angelegt. Der Grund: Die Erde taut ja nur wenig im Sommer auf, ist darunter bis in große Tiefen felshart gefroren, so daß der kleine Lemming trotz seiner sonst vorzüglichen Grabewerkzeuge nicht hineinkommt. Der niedliche Wicht, nahe meinem Beobachtungssitz, der mich offenbar als unerwünschten Störenfried ansah, verhielt sich ähnlich wie ein Meerschweinchen. Er grunzte, quiekte, zirpte und pfiff, jagte .hierhin und dorthin, sprang auch schon einmal hoch. Aus 10
seinen tiefbraunen Äugeldien schaute er mich dabei bitterböse an. Als ich auf ihn zuschritt und die Hand nach ihm ausstreckte, schoß er auf dieses feindliche Etwas los und versuchte hineinzubeißen. Dann eilte er wieder zurück, flitzte unglaublich fix bald hierhin, bald dorthin, fuhr wie der Blitz in eine Einfahrt und kam dann wieder aus einer anderen zum Vorschein. Zur Abwechslung rannte er auf einen großen Stein zu und versteckte sich darunter. Ich wälzte den Brocken zur Seite und verstellte ihm den Weg zu seinem Bau. In schlauer Überlegung entwich er zu einer sumpfigen Stelle unterhalb des Wohnhügels. Hierhin konnte ich ihm nicht folgen. Er sprang äußerst geschickt von einer trockenen Moosblüte zur anderen. Aber die feuchte Umgebung schien ihm gar nicht zu behagen. Er schalt noch ärgerlicher als zuvor. Sumpf und Moor meidet der Lemming, obwohl er sich auch hier recht gut bewegen könnte.
Die Anlage der „Lemmingburg" Ich winkte meinen Gefährten Einar, den Geologen unserer Expedition, heran. Er hatte in der Nähe eine Schnee-Eule erlegt. Schnell erklärte ich ihm, daß es schon lange mein Wunsch sei, einen Lemmingbau genauer zu untersuchen. Ob er mitmachen wolle. „Mit .Vergnügen", sagte er. Wir machten uns mit Spitzhacke und Handspaten, die er stets mitführte, sogleich ans Werk. Was uns am meisten überraschte, waren die zahlreichen Seitengänge, die in alle Richtungen abzweigten. Sie dienten einem ganz bestimmten hygienischen Zweck, nämlich als WC's der Lemminge. Die Reinlichkeit dieser kleinen Wühlmäuse geht so weit, daß sie den Bau aufgeben, wenn ihre „Latrinen" keine weitere Benutzung mehr zulassen. Knud Rasmussen, der große Polarforscher und ausgezeichnete Kenner hocharktischer Gebiete, stieß auf einer seiner berühmten Schlittenfahrten im nördlichen Teil Grönlands auf die winzigen Wohnungen der Lemminge, die, wie er in sein Tagebuch schrieb, „trotz der Kleinheit durch die Geschicklichkeit der Anlage überraschten". Im Reisetagebuch seiner Fahrt über das grönländische Inlandeis zum Peary-Land berichtet er über einen gut erhaltenen Winterbau: „Er ist wie eine kleine Höhle eingegraben, aber man erkennt doch deutlidi die behagliche Inneneinrichtung. Im Bau ist eine richtige Pritsche, und es sind sogar .Decken' darauf, wahrscheinlich für die 11
Jungen bestimmt, und zwar aus eigenen dichtverfilzten Haaren, Was mich aber am meisten in Staunen versetzte, ist ein kleines guteingerichtetes WC in einen Seitenschacht des Haupteinganges. Hier sind große Haufen von Exkrementen angesammelt, während es sonst überall rein und fein ist. Unsere Eskimos, die das Leben und die Gewohnheiten des Lemmings während ihres Aufenthaltes in GrantLand eingehend kennengelernt haben, behaupten, es sei das reinlichste aller Tiere und die kleinen hygienischen Vorkehrungen entsprängen seinem Sauberkeitsbedürfnis." Nach Auffassung dieser Polarmenschen gibt es in der Arktis kein anderes Tier, das darin dem Lemming gleichkommt. Sie bewundern diesen zierlichen Mitbewohner ihrer Welt sehr und rühmen an ihm Mut und Hartnäckigkeit, Ausdauer und Genügsamkeit, und sie sagen: Der Lemming hat die Brust eines Menschen, die Füße eines Bären, den Bart eines Seehundes, Gebiß und Schwanz eines H a sen. Selbst tiefste Temperaturen und rasende Stürme können dem Lemming, der unter dem Schnee lebt, nichts anhaben. Ihm geht es gerade im Winter weit besser als allen anderen Tieren, die diesem harten Klima im Freien trotzen müssen. Zu dieser Zeit gibt es nur einen furchtbaren Feind für den Lemming: Tauwetter und Nässe. Kommt Wasser in die Baue, so sterben die Tiere einer ganzen Gegend in kurzer Zeit, und die von der Katastrophe betroffenen Gebiete sind im folgenden Sommer völlig frei von Lemmingen. Wegen der Ungunst der Bodenverhältnisse trifft man die Tiere an der Ostküste nicht weiter südlich als bis zum Scoresbysund. In Südostgrönland kann nämlich manchmal auch mitten im Winter plötzlich Tauwetter eintreten. Da der Moschusochse ebenfalls keine Feuchtigkeit verträgt, findet man den Lemming immer in Gegenden, wo auch dieser Polarbewohner zu Hause ist. Man weiß nicht viel darüber, auf welche Weise der Lemming im Winter in den Erdbauen unter dem Schnee sein Leben, verbringt. Unbekannt ist auch, warum er sich gelegentlich über der Erde Behausungen anlegt. Pedersen nimmt an, in solchen Fällen seien die Lemminge gezwungen gewesen, ihre unterirdischen Baue aus irgendwelchen Gründen aufzugeben. Da es ihnen im tiefen Winter unmöglich sei, neue Höhlen in der steinhart gefrorenen Erde an12
zulegen, machten die Lemminge sich ein Lager im Schnee über der Erde zurecht. Noch bevor in Grönland im Spätwinter das Tauwetter einsetzt, erscheinen plötzlich kleine Löcher im Schnee, durch die der Halsbandlemming sich ins Freie begibt. In dieser Zeit geht er_ auf Brautschau. Sein Instinkt führt ihn zu anderen Lemmingbauen. Sind zwei Männchen hinter dem gleichen Weibchen her, so fallen sie wild übereinander her, zerbeißen und zerkratzen sich, bis der Schwächere auf der Walstatt bleibt. Der Sieger in diesem Turnier auf Tod und Leben um die Gunst der Gefährtin pflegt den Unterlegenen noch obendrein halb aufzufressen. Pedersen traf des öfteren Lemminge an, die der Sieger auf schreckliche Weise zugerichtet hatte. Duldsamkeit und Verträglichkeit sind nach den Erfahrungen Pedersens ganz unbekannte Eigenschaften bei den arktischen Wühlmäusen. Ihre Mordlust übertrifft selbst die Blutgier der reißgierigen Polarwölfe. Als Beweis führt Pedersen mehrere Versuche an, die er mit gefangenen Lemmingen machte. Sperrte man mehrere Tiere in den gleichen Käfig, so dauerte es nicht lange, bis die Schwächeren von den Stärkeren gerissen und aufgefressen wurden. Das währte so lange, bis schließlich nur noch ein einziger übrigblieb. Ein vorbildlicher Ehemann scheint Herr Lemming ebenfalls nicht gerade zu sein. Wenn die Jungen — in Ostgrönland gegen Mitte Mai oder Anfang Juni — zur Welt kommen, ist der Vater längst über alle Berge, ohne sich im geringsten um seinen Nachwuchs zu kümmern. In der Regel setzt die Lemmingmutter fünf Junge. Einen Monat später bereits sind die Kleinen selbständig genug, um allein mit dem harten Leben der Polarwelt fertig zu werden. Mitte August kommt schon der zweite Wurf an. Es heißt, daß in den Bauen unter dem Schnee selbst im späten Winter noch Lemminge zur Welt kommen. Dieser Kinderreichtum ist ein Beweis dafür, wie gut es dem kleinen Nager unter der dichten Schneedecke geht. Hier kommt er schnell an seine Lieblingskost, die saftigen Knospen der Kriechweide. Im Gegensatz zu allen anderen Tieren dieser äußersten Zone der Welt mit ihren peitschenden Stürmen und ihrer klirrenden Kälte 13
führt der Lemming selbst in der schlimmsten Jahreszeit ein geradezu behagliches Dasein. Nur dadurch läßt es sich erklären, daß er während dieser Jahreszeit noch Nachwuchs ernähren und hochbringen kann. Mit dem Beginn der Schneeschmelze wird es wegen der zunehmenden Durchfeuchtung des Bodens dem Völkchen der Lemminge in ihren Behausungen unbehaglich. Wenn die Schmelzwasser rieseln, wimmelt es in der oberirdischen Landschaft von den pelzigen Wühlern. Die Scharen der an die Oberfläche gekommenen Lemminge tummeln sich nicht nur auf den eisfreien Stellen; auch auf Firnschneefeldern, auf dem Eis, selbst in den höchsten Felsen und auf den inselartigen Felskegeln, die aus dem grönländischen Inlandeis herausragen, huschen sie zu Tausenden umher. Polarreisende erzählen, daß ihre Neugier und Aufdringlichkeit dann sehr lästig werden kann. Sie machen sich an Kochtöpfe, Schlafsäcke, Kisten, Säcke und Kleidungsstücke heran —, alles untersuchen sie mit ihren schnüffelnden Nasen und zappelnden Pfötchen. Sie reagieren äußerst angriffslustig und zornig, wenn man nach ihnen greift, um sie zu vertreiben. Blitzschnell schlagen sie jedem, der ihnen zu nahe kommt, die messerscharfen, nadelspitzen Zähnchen ins Fleisch. \ In dieser Zeit des ersten Frühlings verlieren die Halsbandlem\ minge ihre Doppelkrallen, die ihnen — eine Merkwürdigkeit der ^Jatur — im Herbst am dritten und vierten Zeh der Vorderfüße /ewachsen sind. Die „Zusatzkrallen" kommen plötzlich unter den eigentlichen Krallen zum Vorschein und zeichnen sich durch besondere Größe und Kräftigkeit aus. Man vermutet, daß die Natur den Lemmingen mit diesen „Spitzhacken" für die vermehrte Grabarbeit kn härtesten Winter Werkzeuge zur Verfügung stellt, die sie in der wärmeren Jahreszeit nicht mehr benötigen, da sie dann ihre Tage meist über der Erde verbringen. Zu den Seltsamkeiten der Lemminge gehört es auch, daß sie, sobald sie sich in die Erde wühlen, ihre Ohröffnungen verschließen können. An den Ohren sitzen starke, bewegliche Haarbüsche, die sie über die Ohren klappen können, damit keine Erde eindringen kann. Sobald der Polarsommer naht, wird das Gewühl der LemmingSippschaft immer größer. Die Familien sammeln sich zu Gruppen, zu Völkern, zu Heeren, die zuweilen als eine einzige, von unbe14
greiflichen Kräften bewegte graubraune Woge dahinziehen. In Grönland endet ein solcher Zug meist sehr rasch in den eiskalten Wassern des Meeres. Die niedlichen Kerle ertrinken dann zu Tausenden und Abertausenden, unaufhaltsam getrieben von ihrem geheimnisvollen Wanderinstinkt. Aber nicht in jedem Jahre gibt es diese Todeswanderungen der Lemmingheere. Wie die verhängnisvollen Tierzüge trotz vieler Erklärungsversuche im Grunde noch ein Rätsel sind, so ist die Tatsache, daß diese Massen der Überlandwanderer in dem einen Jahr ungeheuer groß, in dem andern dagegen kaum nennenswert sind, noch immer von Rätseln umgeben. Alwin Pedersen nimmt auf Grund langjähriger Beobachtungen und Erhebungen an, daß es in Nordost-Grönland alle drei Jahre zu diesen Todesmärschen ins Meer kommt.
Der kleine Lemming ernährt alle Im Laufe der letzten Jahre hat man das Augenmerk auch auf die tierische Umwelt der Lemminge gerichtet, um vielleicht von dieser Seite dem rätselhaften Verhalten der Wühlmäuse auf die Spur zu kommen. Dabei hat man festgestellt, daß zwischen dem Auftreten der zahlreichen Feinde der Lemminge und der mehr oder weniger starken Vermehrung der Nager deutlich nachweisbare Beziehungen bestehen. Viele Feinde der kleinen Wühlmäuse können nicht existieren und ihre Nachkommenschaft nicht aufziehen, wenn es nicht genug Lemminge gibt. Andererseits vermehrt sich in guten Lemming-Jahren das Raubzeug, das den Wühlmäusen nachstellt, in ungewöhnlichem Maße. Der niedliche Nager hat vielerlei Feinde. Zu ihnen gehören Polarfuchs und Hermelin, denen im Einerlei des arktischen Speisezettels das Lemmingfleisch höchst willkommen ist, und selbst Eisbär und Polarfuchs verachten den Lemming als gelegentliche Zusatzkost keineswegs. Die Raubvögel machen ständig Jagd auf diesen Vertreter des artenreichen Mäusegeschlechts, allen voran die prachtvolle Schmarotzer- oder Schwalbenmöve, einer der elegantesten Flieger im Reich der Vögel. Falke, Rabe und weiße Möwe und der zäheste Überwinterer unter dem Flugwild, die Schnee-Eule, stürzen sich auf die beliebte Beute, sobald die Lemminge ihre Unterschneewohnun15
gen verlassen und sich im Freien tummeln, wenn sie sich zum großen Aufbruch sammeln oder wenn sie unterwegs sind zu ihrem unbekannten Ziel. Vilhjalnur Stefanson, ein berühmter amerikanischer Polarforscher und geduldiger Tierfreund, erzählt in seinem Buche „Länder der Zukunft" von Polarfüchsen und Schnee-Eulen, die er zur gleichen Zeit bei der Lemmingjagd antraf und längere Zeit beobachten konnte. Er pirschte sich im Schutze eines Schneewalles heran, so daß er den Tieren ganz nahe kam. Das Oberraschende war, daß von der sprichwörtlichen Schläue des Fuchses am Ende dieser Jagdzüge nichts mehr zu spüren war. „Ein leichter Schneefall hatte den Boden mit einer zehn bis fünfzehn Zentimeter tiefen Schneeschicht bedeckt", so beginnt Stefansons spannende Schilderung. „Der Schnee lag noch — unberührt vom Winde — eben und flaumig da. Unter diesem Schnee sah man überall Tunnels grabende Lemminge; törichterweise glaubten sie sich unbeobachtet. Die Füchse sprangen in einem gemächlichen elastischen Trab herum. Alle paar Minuten konnte ich sehen, wie einer stehenblieb, den Kopf auf die Seite legte und lauschte. Wahrscheinlich waren Gesichts- und Geruchssinn ebenfalls in Tätigkeit. Aber sie machten tatsächlich den Eindruck, als ob sie nur lauschten. Nach einigen Augenblicken gespannter Aufmerksamkeit machte der Fuchs einen hohen Satz in die Luft, ungefähr wie ein Schwimmer vom Sprungbrett, und fuhr mit Nase und Vorderpfoten zugleich in den Schnee. In der Hälfte der Fälle wurde der Lemming im selben Augenblick erwischt, in der anderen Hälfte kurz hinterher, und nur in ganz wenigen Fällen entkam er, wahrscheinlich in ein Loch in dem gefrorenen Boden. Wenn der Fuchs nicht gestört wird, tötet er den Lemming bei einem solchen Überfall mit einem scharfen Biß; er läßt ihn dann auf den Schnee fallen, betrachtet ihn einen Augenblick verächtlich, packt ihn dann wieder und begräbt ihn, ohne sich an ihm gütlich zu tun, in dem weichen Firn; er läuft dann davon und vergißt aller Wahrscheinlichkeit nach die vergrabene Beute. Denn wenn der Fuchs vielleicht nach Tagen hungrig wird und ihm die Erinnerung an den Lemming wieder kommt, liegen möglicherweise hundert Kilometer zwischen ihm und dem Versteck. Wenn 16
diese begrabenen Lemminge je gefunden und gefressen werden, so geschieht es vermutlich durch einen Wolf oder durch einen andern Fuchs. Aber diesmal konnte der Fuchs den Lemming nicht ungestört ver- . graben. Von einem nahegelegenen Erdhöcker aus verfolgte eine Eule den Vorgang mit ebenso scharfem Auge und gespannter Aufmerksamkeit wie ich. Wenn der Fuchs stillstand und auf einen Laut unter dem Schnee horchte, duckte sich die Eule auf dem nahen H ü gel flugbereit zusammen. Während der Fuchs noch bei seinem Anlauf und Luftsprung war, breiteten sich die Flügel der Eule aus, und bevor der Räuber seine Beute vergraben hatte, war ihm die Eule auf dem Nacken. Der Fuchs mußte das zum tausendsten Male erlebt haben, und doch tat er ganz überrascht. Kein Zweifel, seine Aufmerksamkeit war so vollkommen von der Aufgabe, den Lemming zu erjagen, gefesselt, daß er die Eulen zeitweilig vergaß. Bei dem Rauschen der Flügel und dem sich nähernden Schatten krümmte er sich wie in feiger Furcht, war sich aber offenbar bewußt, daß der Angriff der Eule nicht ihm galt, sondern seinem Opfer. Er beeilte sich, die Beute in Sicherheit zu bringen. Trotz seiner vor Furcht kriechenden und schleichenden Fluchtbewegung nahm der Fuchs den Lemming, den er hatte fallen lassen, wieder auf. Dann machte er, um zu fliehen, einen Satz, der für einen Fuchs schnell zu nennen war, aber doch langsam im Vergleich mit dem Gleiten der Eule. Die Eule schwebte direkt über dem Flüchtenden und streckte ihre Krallen nach ihm aus, ohne ihn zu berühren; offenbar war Vorsicht ein Teil ihres Kriegsplanes. Und nach zwei, drei scharfen Kreuz- und Quersprüngen und vergeblichen Versuchen, der Eule zu entgehen, wandte sich der Fuchs gegen seinen Verfolger und machte einen großen Sprung in die Luft, um sich seiner zu erwehren. Was die Eule beabsichtigte, wurde mir schon bald klar; ihr Angriffsmanöver sollte den Fuchs verleiten, nach ihr zu schnappen, so daß er in der Aufregung den Lemming aus dem Maul fallen ließ. Ich selber sah niemals, daß die Eule Erfolg mit diesem Trick hatte, denn in jedem Fall, den ich beobachtete, gab es die Eule etwa nach einer halben Stunde auf, den Fuchs zu ärgern. Aber Es17
kimos erzählten mir, sie hätten gesehen, daß Füchse ihre Lernminge fallen ließen, wenn sie nach den Eulen schnappten, worauf die Eule den in den Schnee gefallenen Lemming erhaschte und aufund davonflog. Ein solcher zeitweiliger Erfolg erklärt den heiteren Optimismus, mit dem die Eulen daran festhalten, die Füchse zu beobachten und zu ärgern. Aber auch die Schläue der Eule .hat ihre Grenze. Warum wartet sie nicht, bis der Fuchs den Lemming zehn oder zwölf Zentimeter tief in dem weichen Schnee vergraben hat und davontrottet? Ein kurzes Scharren mit den Krallen im Schnee, und die Eule würde den begehrten Lemming besitzen. Dieses kleine Mehr an Intelligenz würde der Eule den Kampf ums Dasein während des nördlichen Winters weit leichter machen . . . " Übrigens verhelfen Zeiten, in denen viel Lemming-Nachwuchs aufgezogen wird, auch den Schnee-Eulen und anderen Lemming-Vertilgern zu reichlicherem Nachwuchs. Die Schnee-Eule brütet in ertragreichen Lemmingjahren in ihren primitiven Nestern über Gelegen, die bis zu zwölf Eier aufweisen können. In Sommern mit wenig Lemmingen sieht man dagegen SchneeEulen selten. Auch der Falke Grönlands hat dann viel weniger oder gar keinen Nachwuchs. Die wunderschön gezeichnete Schwalbenraubmöwe ist ebenfalls in der Aufzucht ihrer Jungen abhängig von der Menge der Lemminge. Manche Polartiere stellen sich sogar von irgendeiner anderen Nahrung auf Lemmingfleisch um, wenn v'hnen genügend Wühlmaus-Beute geboten wird. Die Eismöwen zum Beispiel, die sonst fast ausschließlich Fischfang treiben, machen in den üppigen Lemmingjahren erfolgreich Jagd auf die Scharen dieser Nager. Das gleiche gilt vom Hermelin. Zoologen, Entdeckungsreisende, Geographen, Jäger und Tierfänger haben sich Gedanken über den Wandertrieb der Lemminge und ihre Wanderzüge gemacht, und es sind im Laufe der Zeit die verschiedensten Erklärungen versucht worden. Der Polarzoologe Pedersen, der viele dieser Lemming-Wanderungen erlebt und beschrieben hat, beschäftigte sich vor allem mit der Frage, wie die Halsbandlemminge, die ursprünglich wohl nur in ganz Nordasien und im arktischen Norden Nordamerikas beheimatet waren, auf die entlegene Insel Grönland gekommen sind. Und er 18
meint, daß sie nur von der Inselwelt Nordkanadas nach Grönland herübergewechselt sein können. Die verhältnismäßig schmale und oft vereiste Meerenge zwischen den kanadischen Inseln und Grönland habe den wanderlustigen Tieren kein größeres und schwierigeres Hindernis in den Weg gelegt als jene, die der Lemming in anderen Nordregionen der Erde nachweislich überwindet. Über ihren weiteren Weg von Grönland nach Skandinavien stellte dann der Geophysiker Professor Alfred Wegener, der sich um die Erforschung Inner-Grönlands hochverdient gemacht und im ewigen Eis Grönlands den Tod gefunden hat, eine interessante Theorie auf. Wegener glaubte, daß die Vorfahren der skandinavischen Berglemminge von Grönland nach Osten über das Meer in den europäischen Norden gewandert seien, allerdings zu einer Zeit, als — nach Wegeners Auffassung von der „Kontinentalverschiebung", der Verschiebung der Erdteile — Nordeuropa nur durch einen schmalen Sund von Grönland getrennt gewesen sei, ähnlich dem heutigen Meeresarm vor der grönländischen Nordwestküste. Nach Wegener haben im Verlauf vieler Jahrmillionen auf der Nordpolarkuppel bedeutende Versetzungen der Festländer und Inseln stattgefunden. Er begründete seine Ansicht unter anderem ausdrücklich mit dem Hinweis auf die selbstmörderischen Züge der Berglemminge Nordeuropas, die immer zur Ozeanküste hinstrebten, also gegen Westen oder Nordwesten, in der Richtung, in der heute, weit entfernt, Grönland liegt. Dieser Trieb stecke noch von jener fernen Vorzeit her in den Lemmingen, so daß sie beim Auftreten von Überbevölkerung, Hungersnot und Seuchen instinktiv westwärts zögen, um die vermeintlich nur schmale Meeresstraße zu durchschwimmen und zu den Weidegründen ihrer ursprünglichen Zwischenheimat — Grönland — zurückzukehren. Ihr durch so viele Generationen hindurch vererbtes Ahnungsvermögen sage ihnen, sie könnten dieses „grüne" Land, von wo ihre Vorfahren gekommen waren, nach kurzer Schwimmfahrt erreichen. Eine anschauliche Beschreibung der Selbstvernichtung eines Lemmingzuges im Meer verdanken wir dem russischen Naturbeobachter K. Nossilow, der viele Jahre als Jäger und Fänger an der rus19
sischen Eismeerküste lebte. Sein Bericht, den man in „Brehms Tierleben" nachlesen kann, gilt als eine der eindrucksvollsten Schilderungen dieses Naturereignisses, die wir kennen. „Der Mai ist herangenaht", so erzählt Nossilow, „die rötliche Sonnenscheibe bleibt Tag und Nacht über dem Horizont, und die Polarnatur erwacht zu regem Leben. Besonders zahlreich, in Scharen zu Tausenden, streichen die Raubmöven niedrig über das Gelände. Das sei, meinen die Samojeden, ein Anzeichen, daß die Wanderung der Lemminge bald eintrete. Und in der Tat, als ich eines Morgens aus der Hütte trat, ergoß sich ein Strom dieser Tierchen heran. Sie marschierten wie in einem Heerbann einher, überall nach Kräften sich gegen ihre schreienden und fliegenden Feinde wehrend. Soweit man auch vom erhöhten Standpunkt und mit bewaffneten Augen blicken mochte, überall die beweglichen Reihen der Mäuse und über ihnen die kreisenden Möven. Auf jedem Hügelchen und Stein aber hockten Schnee-Eulen, die sich bereits sattgefressen hatten. Weiterhin am Fuß der Berge lungerten die Eisfüchse, füllten ihre Rachen mit Mäusen und schleppten sie zu ihren Schlupfwinkeln. Am Fuße eines Felsblockes lief eine Menge Lemminge hin und her, wie gequält von der Ungewißheit, wie dieses Hindernis zu nehmen sei. Einige sprangen gegen die Wand, um zurückzufallen und seitwärts einen Ausweg zu suchen, andere bissen ärgerlich in den Stein und zerbrachen ihre Zähnchen oder kratzten ihn mit Nägeln; wieder andere versuchten, sich unter dem Schnee durchzuwühlen, und nur wenige, denen es wunderbarerweise gelungen war, den Block zu erklettern, zogen hastig weiter. Ich verließ nun diese vom Wahnsinn getriebenen Tiere und begab mich ans Ufer, dessen Tonschiefer absatzweise steil abfiel und mit Alken, Tauchern und anderen Vögeln zu Tausenden besetzt war. Doch auch dort gab's für die Lemminge keinen Halt. Gleich schwarzen Tropfen stürzten sie sich über dreißig Meter tief auf das Ufereis hinab; von der Seite sah es aus wie ein Wasserfall. Während ein Teil der Mäuse kopfüber hinuntersauste, krallten sich andere an die Vorsprünge und kullerten von Absatz zu Absatz. Die dort in Masse befindlichen Tauchenten wichen ihnen aus und ließen sie zwischen ihren Nestern friedlich vorbei. 20
Die Heimat des Halsband-Lemmings während des kurzen Polarsommers
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Auf einem Umwege gelangte ich nun auf das Ufereis hinab. Dort lagen zu Hunderten tote Lemminge, während Tausende sich zum offenen Meere fortbewegten. Um weiter beobachten zu können, begab ich mich meerwärts bis zum Freieise, obgleich das bei dem Landwind, der das Eis leicht abtreiben konnte, nicht ohne •Gefahr war. Auch hier drangen die Lemminge unaufhaltsam vor, kletternd, springend, fallend und sich durch den Schnee bohrend. Hier und da hielten Hunderte von ihnen an der Eiskante einige Augenblicke still, das Gesicht zur blauen See gewandt, als hätte der Meeresduft sie berauscht oder als wandle sie Furcht an vor der unbekannten Ferne. Dann aber richteten sie sich in die Höhe, eilten wieder vorwärts und stürzten sich in das kalte Seewasser. Zwischen den Eisschollen und über sie hinweg schwimmen und klettern die Mäuse wie wahnsinnig und unentwegt in der einmal angenommenen Richtung vorwärts, ob auch schon der Tod unter ihnen aufgeräumt hat und sich überall ihre dunklen toten Körperchen auf den Wellen schaukeln. Ich schreite längs der Eiskante einher, zwei Kilometer weiter, immer dasselbe Schauspiel der sich vom Uferrande herabwerfenden Mäuse, nur daß hier und da ein Trupp Seehunde die Schwimmenden abfängt und gierig verschlingt. Sechs Tage und Nächte dauerte dieser Zug, und wir befanden uns durch ihn wie im Belagerungszustande. Am zweiten Tage änderte der Zug, da starker Wogengang eingetreten war, seine Richtung und ergoß sich dem Westufer entlang zur Karischen Pforte hin." Soweit Nossilow's Erzählung . . . Auf der Erde findet sich kein anderes Lebewesen, das, wie der Lemming, einem unerklärbaren Triebe folgend, entweder in den Ozean rennt, um sich darin selbstmörderisch zu ertränken, oder auf dem Lande gleich einem Amokläufer todesverachtend ins sichere Verderben marschiert. Dieses Verhalten der Lemminge steht im schärfsten Gegensatz zu dem sonst überall in der Natur geltenden Gesetz des Selbsterhaltungstriebes. Manche glauben deshalb, das Massensterben der Lemmingarmeen sei der naturgegebene Ausgleich, um die von Zeit zu Zeit einsetzende ungeheure Vermehrung zu begrenzen. Annähernd damit zu vergleichen seien nur die Milliardenschwärme der Heuschrecken. Andere meinen, ein unbändiger Wandertrieb zwinge die Männchen, die keine Weibchen gefunden 22
hätten, in die Ferne, wieder andere sagen, der Hunger zwinge die Tiere dazu, Nahrung in anderen Gebieten zu suchen. Nach der letzten Auffassung wären also die Lemmingwanderungen des hohen Nordens nichts anderes als Hungerzüge zu einem irgendwo vermuteten nahrungsreichen „gelobten Land"! Diese Theorie vertritt auch der amerikanische Zoologe Ivar T. Sanderson, der in seinem „Buch der Säugetiere" schreibt: „Im Lande der Lemminge kommt es zuweilen zu gewaltigen Massenvermehrungen, vielleicht dadurch, daß in manchen Jahren Flechten, die Hauptnahrung der Lemminge im Frühling, von Zeit zu Zeit das Fruchtbarkeits-Vitamin E anreichern, möglicherweise auch andere Wirkstoffe bilden; sicherlich spielen auch noch weitere Faktoren entscheidend mit: der Nahrungsraum, die Besiedlungsdichte, klimatische Bedingungen und manches anderes. Unter günstigen Umständen wächst der Bestand eines Gebietes, mit dem Bestand wächst auch die Zahl der jährlichen Würfe, es gibt nicht nur mehr Junge je Wurf, sondern die Würfe folgen auch schnell aufeinander, und das geht solange gut, bis das Gebiet mit Lemmingen regelrecht übervölkert ist. Die Nahrung wird knapp und immer knapper, und nicht minder wichtig ist, daß sich die dicht zusammengedrängten Tiere buchstäblich „auf die Nerven fallen". Jetzt kommt es zur Auswanderung. Sie geht nach allen Richtungen vor sich, nicht nur dem Meere zu. Jeder dieser Wanderzüge aber endet mit Tod und Vernichtung: Zu Millionen werden die Wandernden von Seuchen dahingerafft und von vierfüßigem oder geflügeltem Raubzeug gefressen. Unzählige ertrinken beim Versuch, einen Fluß, einen See, einen Fjord zu durchschwimmen, Ungezählte gehen an Erschöpfung zugrunde." Sanderson hat auch für die Selbstvernichtung der in Massen auftretenden Lemminge eine Erklärung: „In Skandinavien", so schreibt er, „folgen die Lemminge vorwiegend den sehr häufigen, oft nach West verlaufenden Tälern, und so gelangen sie in die Nähe menschlicher Siedlungen und schließlich tatsächlich dann und wann ans Meer. Wie sollen sie schließlich auch wissen, daß gerade dieses Wasser kein Fluß ist, sondern ein Meeresarm? Sie gehen ins Wasser und kommen natürlich darin um. Fast stets läuft sich der Wanderzug tot, selbst dann, wenn eine Gegend erreicht wird, 23
von der wir annehmen möchten, sie müßte den Lemmingen doch zusagen. Das hat seinen Grund darin, daß diese Nager ganz bestimmte Anforderungen an ihren Lebensraum stellen; verlassen sie ihre hochnordische Lebenszone, so vegetieren sie längere oder kürzere Zeit, pflanzen sich wohl auch fort, dann aber erlischt der Stamm der Auswanderer. Im alten entvölkerten Lemmingraum ist nun wieder Platz; die Tiere, die dort verblieben sind, vermehren sich, die Lawine wächst, bis dann wieder einmal das große Wandern und mit ihm das große Sterben beginnt." In Norwegen glauben einige Forscher — im Gegensatz zu Pedersen — festgestellt zu haben, daß sich die Todesmärsche der Lemminge in Zwischenräumen von fünf bis zehn Jahren wiederholen, immer dann, wenn eine Massenvermehrung stattgefunden hat. Diese Vermehrung des Berglemmings kann jedes Maß übersteigen. Wirft das Weibchen in der Regel zweimal im Jahr drei bis vier Junge, so können es in „Lemmingjahren" bis zu zehn Junge sein, bei vier Würfen! Während die eben zur Welt Gekommenen noch blind herumtaumeln, setzen die ältesten Schwestern schon selbst ihren ersten Wurf. Viele Junge sterben schon früh dahin. Ein feuchter Sommer, ein kalter, frühzeitiger und schneeloser Herbst fordern gewaltige Opfer unter ihnen. Das Raubwild stellt den quicklebendigen Kleinen unerbittlich nach. In manchen Jahren räumt auch eine Art seuchenähnlichen Hinsterbens, die „Lemming-Pest", gewaltig unter den Heerbannen auf. Selbst das Ren, gleich dem Lemming ein reiner Pflanzenfresser, verschmäht den Wicht meist nicht als gelegentliche Delikatesse. Auch der im Sommer hier und dort über das eisfreie Land promenierende Eisbär erschlägt ihn mit Prankenhieben und stopft sich den Rachen voll. Die gefiederten und bepelzten Freibeuter des hohen Nordens haben zudem einen stark ausgeprägten Instinkt dafür, ob ein Lemmingjahr zu erwarten ist. Sie finden sich beizeiten zahlreich ein, um an die leichte Beute und den übermäßig gedeckten Tisch heranzukommen. Bitterster Hunger in Notzeiten hat auch Lappen, Samojeden und andere Polarmenschen dazu bewegen können, Jagd auf Lemminge zu machen, um sie zu verspeisen.
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Lemmingzug hinterläßt Öde und Grauen Die erste Nachricht über die Verheerungen, die in den durchwanderten Gebieten durch die Scharen der Berglemminge entstehen können, verdanken wir Claus Magnus, einem nordischen Bischof und Geschichtsschreiber, der 1567 eine Lemming-Wanderung erlebt hat: „Diese vom Himmel bei starkem Gewitter herabgeregneten ,Lemars', die gleich den Heuschrecken in ungeheuren Schwärmen auftreten, zerstören alles Grüne, und was sie einmal angeknabbert haben, stirbt ab, als wäre es mit Gift in Berührung gekommen. Wenn sie abziehen wollen, versammeln sie sich wie die Schwalben. Manchmal aber sterben sie haufenweise und verpesten die Luft, wovon die Menschen Schwindel und Gelbsucht bekommen, oder werden von den Hermelinen aufgefressen, welch letztere sich an ihnen misten." Die Menschen jener abergläubischen Zeit vor vierhundert Jahren waren von dieser ungewöhnlichen Naturerscheinung so beeindruckt, daß sie annahmen, nur der Himmel könne die Heerscharen der Lemminge herabgesandt haben. Als man daran ging, den Mageninhalt der Nager genauer zu untersuchen, fand sich jedoch nur „irdische Nahrung", so daß die Legende von dem „himmlischen Lemmingregen" einer wissenschaftlich vertretbaren Auffassung wich. Schon im 18. Jahrhundert begannen Naturforscher vom Range des Schweden Carl von Linne (1707 — 1778) die Erscheinungen der Lemming-Züge und Lemmingjahre mit wissenschaftlicher Gründlichkeit zu studieren. Heute weiß man, daß die großen Heerzüge der Lemminge durchweg erst im Spätsommer einsetzen. Einen der seltenen Fälle, daß der Aufbruch der Masse schon im Winter begann, erlebte als einziger der schon mehrmals erwähnte Arktisforscher Pedersen, der mitten im Januar an dem eisbedeckten Scoresbysund, dem größten Fjord der Welt, auf die Wanderscharen stieß und aufs höchtse darüber verwundert war. „Der Schnee auf dem Eise", schreibt Pedersen, „war ziemlich lose, so daß den Tierchen nichts anderes übrigblieb, als hüpfend und springend vorwärts zu kommen. Darauf versteht sich der Lemming allerdings gut. Unverständlicherweise zog diese Armee unzählbarer 25
weißer Lemminge gegen die Fjordmündung hin, wo offenes Wasser war. Statt der Kante des festen Eises zu folgen, warfen sich die Tierchen nun mutig in die eiskalte Flut und versuchten schwimmend die nächste treibende Eisscholle zu erreichen. Nicht alle konnten an den sehr glatten Kanten hochkommen. Sie paddelten tapfer weiter, bis sie ihr Ziel erreichten oder umkamen. Kein einziges der Tiere dieser Armee erklomm das jenseitige feste Ufer, wozu eine Strecke von nicht weniger als rund zehn Kilometern schwimmend zurückzulegen war. Überdies verfolgten Schwärme von Raben, Schnee-Eulen-und Füchsen die wandernden Wühlmäuse. Es gab keinen erkennbaren Grund, warum die Lemmingarmee mitten im Winter aufgebrochen war." Die wandernden Tiervölker leisten ihren Heerführern in blindem Gehorsam Gefolgschaft, ganz gleich, ob vor ihnen hohe Felshänge Tod für Zehntausende verheißen, oder der Weg über ein Gletscherfeld, durch einen See, einen reißenden Fluß oder in einen Fjord führt, oder was sonst gerade an Hindernissen auf ihrem starr eingehaltenen Kurs liegen mag. Einem sicheren, bestimmten Instinkt folgend, nehmen sie dabei immer den gleichen Weg, wie es auch schon Linne beobachtet hat. Nie werden sie durch Schaden oder Erfahrung klug. Zu Zehntausenden lassen sie sich eher totfahren, wenn sie eine Straße oder Eisenbahn kreuzen, als daß sie ausweichen. Steht ihnen ein haltendes bespanntes Fahrzeug im Wege, so klettern sie lieber über Pferde und Gefährt, als unter ihnen herzuschlüpfen. Wo ein Lemming-Heerzug vorübergehastet ist, bleibt eine völlig kahlgefressene Landschaft zurück. Die skandinavischen Bauern, über deren Äcker und Weiden ein Lemmingheer zog, bewahren die Erinnerung an dieses grauenvolle Ereignis Generationen lang im Gedächtnis. „Wo ein Lemmingheer in Erscheinung tritt", klagt ein norwegischer Naturfreund, „ist es in wenigen Tagen, ja Stunden mit der Vegetation zu Ende. Graswälle und Weideplätze werden in meilenweitem Umkreis bis auf die Grundwurzeln durchwühlt und vernichtet. Tritt Schneefall ein, so wird das Vernichtungswerk mit verdoppelter Energie unter dem Schutz der hartgefrorenen Kruste fortgesetzt. Sind Äcker, Wiesen und Matten genügend bearbeitet, dann geht es an das Wurzelwerk der Jungholzbestände, die von Millionen 26
Zähnchen in Windeseile ihrer schützenden Rindenhülle entkleidet und dem Verderben preisgegeben werden. Gleich fühlbar, wenn nicht noch schlimmer, sind die Nachwehen, die ein solches Ereignis für das jagdbare Wild und den Jäger nach sich zieht. Die Orte, wo der Lemming gehaust hat, werden jahrelang vom Wild gemieden. Die Elche treten meilenweite Wanderungen an, um sich dem Machtbereich der Nagerschwärme zu entziehen. Schneehühner und Birkwild verstreichen auf ungeahnte Entfernungen, und selbst das genügsame Rentier scheint im allgemeinen durch die widerlichen Ausdünstungen der Lemmingplätze so vergrämt zu werden, daß es ohne weiteres seine Lieblingsstandorte preisgibt, um in unzugänglichen Berghängen Zuflucht zu finden. Die Ausdünstung der Lemmingplätze muß für das geruchsempfindliche Wild von derart kräftiger Beschaffenheit sein, daß ihm selbst im zweiten Jahre nach dem Durchzug der Aufenthalt an den verwüsteten Plätzen zuwider ist. Erfahrene Bergjäger rechnen im allgemeinen mit einem Zwischenraum von fünf bis sechs Jahren, ehe der Wildbestand in einem von Lemmingen verheerten Revier seine alte Höhe wiedererlangt. Wie indessen alles in der Welt unter verschiedenartigen Gesichtspunkten gewürdigt werden kann, so fehlt es auch in diesem Falle nicht an Beobachtern, die in dem Ausbruch einer Lemmingplage etwas Gutes erblicken. Der unersättliche Heißhunger zwingt die Tiere, bei ihrer Nahrungsaufnahme tief in die unteren Erdschichten einzudringen, die auf diese Weise mit vollkommener Gründlichkeit durchwühlt, zernagt und zermürbt werden, und zwar in einer räumlichen Ausdehnung, die keines Menschen Hand unter diesen unwirtlichen Breiten je bewältigen könnte. Damit ist der erste Anstoß zu einem umfassenden Verwitterungs- und Durchlüftungsprozeß gegeben, der nach Verlauf einer entsprechenden Ruhefrist dem natürlichen Fruchtertrag des wilden Bodens auf Jahre hinaus zugute kommt. Die Natur hat es also auch in diesem Falle so eingerichtet, daß die Nagerscharen nicht nur sinnlos vernichten, sondern daß das Kahlfressen und Aufwühlen einer Landschaft sich, auf längere Sicht gesehen, doch in gewisser Weise als nützlich erweisen kann. 27
Bei einem Briickenübergang im Lemmingjahr 1909 durch einen Schwärm dieser kleinen Wanderer konnte ein nordschwedischer Jäger feststellen, daß Lemminge in' nicht allzu großer Menge sich anders verhalten als Riesenkolonnen, deren Vorwärtsdrängen ohne jede Absicherung erfolgt. Kleinere Trupps verhalten sich allem Anschein nach vorsichtiger. Bei den Brückenpassanten, die der Jäger, vom Mondschein begünstigt, beobachtete, handelte es sich im ganzen um etwa ein halbes tausend Tiere. „Erst waren am Ostufer eine Menge Lemminge, am Westufer ein einziger. Gegen 9 Uhr abends kamen die anderen. Erst einer, der äußerst vorsichtig vorging, fortwährend bellte und aufmerksam auf das Summen der Telegraphendrähte horchte. Als dieser Führer die Brücke halb überschritten hatte, tauchten andere am Ostende auf. Viele bellten immer wieder und wieder. Bevor der erste drüben anlangte, waren bereits achtzehn auf der Brücke zu zählen. Sie hielten öfters an und schnüffelten in der Luft, genau wie ein Hund, der sich Wildwitterung holt. Jetzt nahmen die kleinen Wanderer die ganze Brückenbreite ein, nach einiger Zeit aber hatten sie sich zu einem Zug auf der rechten Seite vereinigt, und wenn nun einer auf die linke Seite geriet, so hielt er an, sog die Luft ein und wechselte hinüber auf die rechte Seite, wo er dann weiterlief." Zum Schluß verdient noch eine Schilderung Erwähnung, die beweist, daß Lemminge auch aus anderen Gründen als Hunger und Raumnot zum Aufbruch und zur Flucht gezwungen werden können. In den „Lebensbildern aus der Tierwelt" schildert Fritz Bley eine solche Lemmingwanderung, die nicht durch Dürre veranlaßt war und auch nicht aus dem vielleicht bestehenden Urtrieb erfolgte, das Meer und die Gegenküste zu erreichen. Sie wurde durch einen Tundrenbrand hervorgerufen. „Von den Randwäldern am Osthang des Ural hatte der träge Westwind Qualm hergebracht, und immer neue, immer dichtere Wolken wälzte er herbei. Unabsehbare Strecken Waldes brannten dort, und vor dem wilden Feuermeer her lief eine Glut, die nicht Halt machte vor der verdorrten Steppe, auch nicht vor den breiten Strömen. Die Glut versengte selbst das Moor über seiner eisigen Sohle. Wochenlang war in dem stickigen Qualm die Sonne nicht mehr zu sehen, und das 28
Wasser stank von verfaulendem Getier. Längst hatten die Elche ihre Stände verlassen und Zuflucht in den Schluchten der hohen Flußufer gesucht. In ganzen Flügen zog das Auerwild stromabwärts der Kühle des Nordens zu. Da kam auch in die Lemminge furchtbare Aufregung, zumal sie spürten, daß eine schreckliche Seuche sie befallen hatte, die unzählige Opfer forderte. Ohne Besinnen drängten sie zu den Flüssen und wanderten stromabwärts, unaufhaltsam dem Wasser nach. Wohin sie kamen, stießen sie auf andere, bereits auf der Wanderschaft begriffene Scharen, und, je weiter sie wanderten, desto abgegraster fanden sie das Land, desto schlimmer stank die Pestilenz der Leichen am Wege. Ihrer Spur folgten Füchse und Hermeline, und der Vielfraß mästete sich an ihrer Brut zum Platzen. Hoch in den Lüften streckte der Tod seine Krallen über ihnen aus in Gestalt von Adlern, Eulen, Bussarden und Raben. Selbst freche Krähen begleiteten in Scharen von Hunderten ihren Todesweg. Aber immer mehr wurden ihrer trotz der Verluste, denn aus allen Mooren drängten neue Scharen heran, ohne zu wissen, wohin, nur von dem einen Drange getrieben: vorwärts, vorwärts. Drüben am anderen Ufer des Ob das gleiche Bild jammervollen Elends. Müdes Kauern der von der Seuche Befallenen. Verzweifelte Gegenwehr mutiger kleiner Kämpfer gegen Reißzahn und Raubschnabel. Hunger, nagender Hunger und kein unzerbissener Halm uferauf, uferab! Mit Lust suchten sie zuweilen Erholung von der sengenden Hitze in der kühlen Flut. Scherzend quiekten sie sich an, wenn sie mit Behagen am Ufer umherschwammen. Aber bald war auch diese Freude ihnen gründlich verdorben. Wie zu Lande und in der Luft lockte ihr Wanderzug bald auch im Wasser zahllose Feinde an. Da kamen der Lachs und der große Schnapphecht; und selbst der Barsch, der in diesen Breiten seine zehn Pfund schwer wird, lernte zugreifen. Ihnen allen aber wurde der bissige Lemming zum Verderben. In Scharen trieben sie nach " ihren Angriffen auf die Lemminge sterbend oder tot an der Oberfläche stromab. Jeder hatte im Rachen die Leiche eines Lemmings, der, sich festgebissen und sterbend, seinen Feind mit ins Verderben gezogen hatte." 29
Dem Samojeden, dem nomadischen Jäger und Fänger dieser arktischen Steppe, vergeht das Lachen, wenn er das Herannahen von Lemming-Zügen bemerkt. Da erfahrungsgemäß nur klägliche Reste von der Heerschar übrigbleiben, ist es in diesem und dem nächsten Jahr aus mit dem Fang vieler schneeweißer Eisfüchse und Hermeline, deren Pelzkleider um so seidenweicher, schöner und kostbarer sind, je mehr Lemminge ihre Nahrung gebildet hatten. Eisfuchs und Hermelin pflegen- ja nur dann zahlreiche Nachkommenschaft aufzuziehen, wenn sie die Jungen mit Futter vollstopfen können; und Nahrung bietet ihnen fast .ausschließlich die kleine bissige Wühlmaus, die in der Tundra ihre Heimat hat.
Zoos ohne Lemminge Die niedlichen nordischen Wühlmäuse in Gefangenschaft zu halten, ihre Lebensweise zu studieren und die Rätsel ihres Verhaltens in der Natur zu lösen, ist seit je der Wunsch für jeden Tierforscher. Aber keinem Zoologischen Garten gelang es bisher, auf die Dauer Lemminge durchzubringen. Fast immer scheiterte die reizvolle Aufgabe an ihrer Unverträglichkeit untereinander. Der schwedische Naturforscher Kolthoff brachte einmal Halsbandlemminge von Nordost-Grönland mit nach Stockholm. Sie gediehen hier anfänglich gut und hatten sogar Junge. Man bemerkte an ihnen einen auffallenden Sinn für Ordnungsliebe. Sie verstanden es, sich vortrefflich einzurichten. Ein kleines Blechkästchen — und nur dieses — wurde von den Tierchen als Toilette benutzt. Jedes hatte seinen bestimmten Platz zum Schlafen und für das Futter. Gras, Löwenzahn, Weinbeeren, Heidewurzeln und dergleichen mummelten sie erstaunlich viel und schnell. Die Weibchen waren in rührender Weise um ihre Jungen besorgt und schleppten die Ausreißer immer wieder in ihre Wohnecke. Es stellte sich heraus, daß ältere Lemminge, die in Freiheit gelebt hatten, in Gefangenschaft nur mit Artgenossen auskamen, die von Anfang an Mitbewohner des gleichen Baues waren. Tiere aus verschiedenen Käfigen vertrugen sich nicht miteinander. Deshalb währte auch das Lemming-Idyll von Stockholm nur eine kurze Zeit. Der Berliner Zoo machte im Jahre 1889 Versuche, Lemminge zu halten. Eine Zeitlang hatte man Erfolg. Erstaunlicherweise zeigten 30
sie nicht das bissige, angriffslustige Verhalten, das sonst typisch ist für die in der Wildmark lebenden Tiere. Sie kamen sogar recht gut miteinander aus. Bei einem weiteren Zugang aber trat genau das Gegenteil ein: Die Tiere fielen sich an wie die Wilden und zer.fleischten sich gegenseitig. Alle Bemühungen der Berliner Tiergärtner waren umsonst. Lemminge sind keine Zoo-Tiere . ..
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