Hanna Johansen
LENA
Roman
Carl Hanser Verlag
ISBN 3-446-20131-9 © 2002 Carl Hanser Verlag München Wien
Satz: Satz...
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Hanna Johansen
LENA
Roman
Carl Hanser Verlag
ISBN 3-446-20131-9 © 2002 Carl Hanser Verlag München Wien
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch Druck und Bindung: Kösel Kempten Printed in Germany
Die 79-jährige Lena erwartet Nichte Phia zum Kaffee. Heute wird sie ihr all das erzählen, was sie zeitlebens verschwiegen hat. Heute wird sie erstmals „mein Kind“ zu ihr sagen und richtig verstanden werden. Denn heute wird sie Phia erzählen, dass sie, Lena, ihre leibliche Mutter ist, nicht Lotte, die Schwester, bei der Phia aufgewachsen ist. Sie wird auch offen über Willem, den freundlichen Nachbarn, sprechen, der Phias Vater ist. Heute muss es sein, dass Phia sich endlich in die Geschichte der Tante, Mutter, Geliebten, Ehefrau und Arbeiterin Lena hineindenkt… doch Phia kann infolge einer Panne nicht kommen. Während dieser Stunden der Besuchs- und Gesprächsvorbereitungen werden wir hineingezogen ins Leben einer Frau, die sich aufrecht durch Kriegs- und Familienwirren gemogelt hat. Lena wertet ihre Entscheidungen nicht mehr; es ist einfach so gekommen, Reue hat sie keine. Ein Stück Frauengeschichte des 20. Jahrhunderts, geprägt von Eigenständigkeit und gesellschaftlichen Zwängen.
1
Um vier will sie hier sein. Mit dem Zug, sagt sie. Nicht daß sie kein Auto hätte. Autos sind zum Fahren da, sage ich. Ach, Lena, sagt sie. Sie weiß, daß ich alles über die Klimaveränderung weiß, und ist so lieb, mich nicht daran zu erinnern. Wie spät? Noch nicht mal eins, Zeit genug, den Tisch zu decken. Hier vorne in der Veranda, wo sie so gern sitzt und auf die Straße sieht. Zwetschgenkuchen hat sie sich wieder gewünscht, wenn’s geht, hat sie gesagt, und Zwetschgenkuchen geht heutzutage sogar im November. Daß sie ausgerechnet am zwölften kommen will, wundert mich. Ich glaube, sie weiß gar nicht, daß das Ludwigs Geburtstag ist. Ich habe es ihr jedenfalls nie gesagt. Nicht mal fünfundneunzig, als sie bei mir gewohnt hat. Ein ganzes Jahr mit Phia, das habe ich mir oft gewünscht. Und es ist so schön gewesen. In dem Jahr habe ich mir überlegt, ob ich sie mitnehmen sollte auf den Friedhof, weil es sein Sechzigster war. Mein kleiner Bruder, mit achtundvierzig. Er ist immerhin ihr Onkel. Aber wir hätten damit rechnen müssen, seiner Witwe in die Arme zu laufen, und das wollte ich ihr ersparen. Schließlich weiß sie nichts über all die Vorwürfe, die in der Luft liegen, und was soll ich sie damit belasten. Habe ich gedacht. Vielleicht war das falsch. Wir müssen darüber reden, wenn sie kommt. Kalt war es heute, so früh am Morgen. Aber ich friere nicht nur morgens, und der Friedhof ist immer windig, im November erst recht, wenn das ganze Laub schon unten ist. Früher hat mir diese Jahreszeit gefallen, aber jetzt wird es glatt mit all den
nassen Blättern. Ich gehe trotzdem zu Fuß. Lächerlich käme ich mir vor, in einem Taxi. So viele Krähen wie heute morgen sind sonst nie dagewesen. Krähen wie früher, wenn ich den langen Weg auf der Heerstraße in die Schule gegangen bin. Und genauso laut. Oben in den Eichen hatten sie ihre Nester. Erst in der vierten Klasse habe ich keine Angst mehr gehabt vor ihnen. Da ist Lotte auch in die Schule gekommen. Die hat von Anfang an keine Angst gehabt, weil ich dabei war. Immer muß ich mit Lena gehen, hat sie gejammert, hier, in dieser Küche. Die hat neunundzwanzig natürlich noch ganz anders ausgesehen, eine Küche, wie man sie damals hatte. Ich will allein gehen, jammert Lotte im Türrahmen, Mutter schiebt den Aschenkasten zurück, sieht zur Tür, schüttelt bloß den Kopf, und Lizzy sitzt am Tisch und kreischt, ich will auch in die Schule. Du bist erst vier, sagt Lotte. Wir drei Schwestern, und so verschieden. Ich gehe sonst nicht zu den Gräbern. Das Lebendige zählt, sage ich. Im Osten graben sie jetzt die Gefallenen wieder aus. Und nicht nur Gefallene, auch Frauen und Kinder. Warum? Umgebettet werden sie, nein, ihre Knochen, und die Angehörigen fahren mit Reisegesellschaften in die Ukraine und anderswohin, um Abschied zu nehmen. Abschied? Vielleicht ist das besser, als wenn sie wieder vom Volk ohne Raum reden würden. Unser Vater muß irgendwo hinter Berlin liegen. Aber wozu soll ich mir das ansehen. Vielleicht würde Lotte hinfahren, wenn sie noch am Leben wäre. Dann könnte ich sie natürlich nicht allein fahren lassen. Aber all die neuen Kriege und daß man dort jetzt auch schon wieder Massengräber aufmachen muß. Damit haben wir nicht gerechnet. Eine Zeit für Totengräber. Alle reden von diesen neunziger Jahren und daß die nun zu Ende gehen. Ich frage mich, was das sein soll. Wahrscheinlich meint jeder etwas anderes. Für mich sind es die siebziger Jahre
gewesen, meine siebziger. Und was ist damit gesagt? Daß ich bald achtzig werde, sonst nichts. Zehn Jahre Zeit zum Älterwerden, zehn Jahre, in denen ich Phia wiedergefunden habe und den Mann verloren, der das Wichtigste war. Für mich. Willem. Nach vierzig Jahren. Vierzigeinhalb. Aber das neue Jahrtausend, von dem überall die Rede ist, damit kann ich nichts anfangen. Tausend, Millionen, Milliarden, Billionen, Billiarden, kann ich dazu nur sagen. Mit Vaters Stimme höre ich das, ein Kinderlied, das einem nicht aus dem Kopf geht. Tausend war mir schon immer zuviel. Tausend Mark hat ein Liter Milch gekostet, als ich klein war. Oder zweitausend. Das ist nichts für mich. Neunzehnhundert, damit kann ich was anfangen. Kein Mensch war auf dem Friedhof. Chrysanthemen habe ich aufs Grab gestellt, weil er die immer so gemocht hat. Und nachher bei Ellie vorbei, in diesem Heim, von dem man trübsinnig wird. »Was hast du denn an«, sage ich. Sie saß auf einem Stuhl im Aufenthaltsraum vor dem Fernseher und war schwarz wie eine Krähe. Es sah entsetzlich aus. Sonst trägt sie immer was Geblümtes, das ist auch nicht mein Geschmack, aber es sieht besser aus als das Schwarze. »Alles in der Wäsche«, sagt Ellie und sieht mich an. Sie schüttelt den Kopf: »Du bist ja auch in Schwarz.« »Ich war auf dem Friedhof.« Sie hat ganz recht, ich trage sonst nichts Schwarzes, nicht mal in den letzten Jahren. Dabei gäbe es Gründe genug. Mehr als genug. »Ist jemand gestorben?« sagt Ellie. »Ja.« Mehr will sie nicht wissen. Sie ist nicht mehr wie früher, die letzte von meinen Freundinnen, sie will auch sterben, aber das sagt sie nicht. Statt dessen: »Du bist empfindlich.« Man sollte es nicht glauben, aber Ellie war mal im Fernsehen.
Eine Serie über die Nachkriegszeit, und sie war eine von den Trümmerfrauen. Im Westen hat sie gewohnt, wo so gut wie nichts stehengeblieben ist. Das ganze Aufräumen hat sich gar nicht gelohnt, aber irgendwo mußte man ja anfangen. Das wollte ich natürlich sehen. Mein Willi nicht. Ist doch zwanzig Jahre her, sagt er. Länger, sage ich. Die sollten lieber mal was über die Gefangenschaft zeigen, sagt er. Sonst bestimmt Willi, was angestellt wird und was nicht, nur dies eine Mal konnte ich nicht nachgeben. Ellie kommt im Fernsehen, sage ich. Ellie? brummt mein Ehemann, den ich nie hätte heiraten sollen, und geht ins Bett. Als wüßte er nicht, wer Ellie ist. Aber sonst brummt er auch und schläft vor dem Fernseher ein. Ellie hat es sehr gut gemacht im Fernsehen. Sachen hat sie erzählt, die ich noch nie gehört habe. Das kleine Mädchen, das nebenan im Keller verhungert ist. Die Kohlen, die sie im Hafen gefischt haben, zentnerweise. Und wie sie gehustet hat und keinen Menschen mehr. Dabei waren wir Freundinnen, und ich dachte immer, wir hätten über alles geredet. »Weißt du noch, wie du im Fernsehen warst?« sage ich zu Ellie, heute morgen, in diesem Raum, wo der Fernseher läuft, damit sich niemand langweilt. »Fernsehen?« »Die Trümmerfrauen«, sage ich. »Ach, die.« Sie hat es vergessen. Das ist nicht auszuhalten. Aber sich zu erinnern ist oft auch nicht besser. Zum Beispiel Vaters Stimme, wenn sie auf einmal so anders klingt. Das kann ich mir nicht leisten. Eines Abends sagt er das, wir drei Mädchen schon im Bett, und er sagt es so, daß von Mutter keine Antwort kommt. Diesen Ton, wenn etwas ein für allemal gesagt sein sollte, den kannte ich, und wenn ich ihn hörte, wußte ich, daß es um etwas ging, das ich wissen mußte. Meine Schwestern schliefen wirklich, sie waren ja noch klein, aber
ich ging schon in die Schule und lag wach und konnte nicht herausfinden, um was es sich handelte. Erst dachte ich, es ginge um die neue Wohnung, die wir uns so gewünscht haben. Aber das war es nicht. Mutter wollte sich die Haare abschneiden lassen, aber das habe ich erst später herausgefunden. Oder Szenen wie die, als Willi unsern Fernseher genommen und auf den Teppich geschmissen hat. Zweimal, weil er beim erstenmal heil geblieben war. Dann mußte ich meinen Ehemann ins Krankenhaus fahren, weil das herumfliegende Glas ihm die Beine zerschnitten hat. Und überall Blut auf dem Teppich, bis heute ist das nicht ganz rausgegangen. Man sagt ja, bei einem Fernseher fliegt alles nach innen. Das stimmt, aber nur zuerst. Danach wollte mein Willi einen neuen Fernseher anschaffen. Damit du den auch hinschmeißen kannst? habe ich gesagt. Keine Antwort. Aber er ist immer wieder damit gekommen. Ist ja gut, sage ich, und wir hatten wieder einen. In Farbe. Er ist trotz der Farbe eingeschlafen in seinem Sessel, und ich konnte in mein Zimmer gehen und was Vernünftiges tun. Merkwürdig, als Willi tot war, wollte der Fernseher nicht mehr. Das habe ich nie begriffen. So ein Fernseher ist ja kein Hund. Der Apparat steht heute noch im Keller. Weil ich nicht weiß, was ich damit machen soll. Die Zeiten, wo man ihn einfach der Müllabfuhr mitgeben konnte, sind vorbei. Und von dem Gedanken, daß alles, was mal funktioniert hat, sich wieder reparieren läßt, komme ich auch nicht los. Aber neunzig, als immer der Golfkrieg übertragen wurde, da habe ich im Ernst überlegt, wieder einen anzuschaffen. Als ob irgendwas gewonnen wäre, wenn ich allein in meiner Stube sitzen und zusehen könnte, wie Mütter mit ihren Kindern in den Luftschutzkeller gehen, wie Gasmasken verteilt und Ziele getroffen werden. Ich wußte ja schon im Zweiten Weltkrieg, daß man Feindsender hören muß,
wenn man die Wahrheit erfahren will. Nur daß damals die Amerikaner die Feinde waren, in die wir unsere Hoffnungen gesetzt haben. Und daß es danach mit den Kriegen für immer vorbei sein würde, das haben wir auch geglaubt. Phia hat als Kind bei uns vor dem Fernseher gesessen, wenn sie hier war. Erst vor dem alten, dann vor dem neuen. Schade, daß du keinen mehr hast, sagt sie heute. Sie würde gern sehen, ob es die alten Kindersendungen noch gibt. Das kannst du doch auch zu Hause, sage ich. Sie schüttelt den Kopf und lacht: Das ist nicht das gleiche. Ich glaube, ich weiß, was sie meint. Phia erinnert sich an so vieles, was ich vergessen habe. An einen Kuchen, der aus dem Fenster geflogen ist, eine Gefriertruhe, die tagelang offen war, und natürlich die Sache mit dem Schrankschlüssel. Aber daß sie sich nicht erinnert, wie Willi am Tisch über seinem Haushaltsbuch gesessen hat, wundert mich. Das sollte sie auch wissen, wenn wir schon über die Vergangenheit reden. In den sechziger Jahren waren die Zahlen viel kleiner. Ich habe heute noch im Ohr, wie er sie beim Rechnen vor sich hin sagt, eintönig wie das Vaterunser in der Kirche und laut genug, damit wir alles hören können. Und Phia erinnert sich nicht. Wenn es um die Jahresabrechnung ging, wurden die Zahlen natürlich größer. Tausend, zweitausend, viertausend. Wenn er an seinen Tausendern herumgerechnet hat, hätte ich mir am liebsten die Ohren zugehalten. Und nicht nur, weil ich daran denken mußte, wie die Milch tausend Mark gekostet hat. Oder an das Tausendjährige Reich, das zwölf Jahre gedauert hat. Wenn es das Fernsehen damals schon gegeben hätte, sagt Willem, hätte keiner diese Leute gewählt. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Bei uns zu Hause war jedenfalls auch ohne Fernsehen klar, was wir von denen zu erwarten hatten. Aber was man dann draußen zu hören bekam, hat anders geklungen. Sogar im Bunker noch. Da erst recht. Wir haben getan, als
würden wir schlafen, mein kleiner Bruder und ich, damit uns niemand ansieht, was wir denken. Und als alles vorbei war, wollten sie es schon immer gewußt haben. Vor allem die, die am lautesten geredet haben. Die älteren Leute fühlen sich heute nicht mehr so einsam wie früher, hört man, weil sie ihren Fernseher in der Stube haben. Ich weiß nicht, ob ich das glauben soll. Für mich wäre das nichts. Ich habe mich nie richtig ans Fernsehen gewöhnt. Das liegt an meinen gemeinsamen Abenden mit Willi. Nein, am Radio. Schon in den zwanziger Jahren hatten wir eins. Als Lehrer braucht man das, hat Vater erklärt. Das hat mir gefallen. Und wir haben es auch gebraucht, vor allem später, wegen der Feindsender, die man nicht hören durfte. Und erst recht nach dem Krieg, als es die neuen Radios gab. Das beste Stück in meiner Stube, Plastik mit Holzmaserung, falls es nicht doch Holz war, das wie Plastik aussah. Jedenfalls Hochglanz, Tasten in Elfenbein und ein magisches Auge. Natürlich nach der Währungsreform. Was ich über die Welt weiß, weiß ich aus dem Radio. Zum Lesen hätte die Zeit nie gereicht. Wofür ein Radio auch gut sein kann, habe ich damals noch nicht geahnt. Viel später, wenn Willem bei mir war, habe ich es laufen lassen, damit man uns nicht hört. Manchmal sogar, wenn Willi nebenan noch vor dem Fernseher schlief. Da war das Radio aber auch ein Problem, weil ich ihn nicht gehört hätte, wenn er doch einmal aufgewacht wäre, bevor ich ihn wecken ging. Daß sie beide den gleichen Namen hatten, ist mir erst gar nicht aufgefallen. Für mich war der Klang so grundverschieden wie die beiden Männer. Ein Wink des Schicksals, hat Willem gemeint. Und praktisch war es auch. Man weiß ja nie, ob man im Schlaf redet. Ich rede doch nicht im Schlaf, sage ich. Und ob, sagt Willem. Und was rede ich so?
Das wollte er nicht verraten. Mein Geheimnis, höre ich ihn sagen. Heute noch. Dabei ist er tot. Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte unser Fernseher oben im Schlafzimmer stehen sollen. Wo du immer davor einschläfst, sage ich zu Willi, im Bett wäre das doch viel einfacher. Aber davon wollte er nichts wissen. Obwohl er sich jedesmal beklagt hat, wenn er nachher noch nach oben mußte. Das Schlafzimmer sollte unten sein, hat er gesagt. In meinem Zimmer wollte er es haben, ausgerechnet in meinem Zimmer, wo ich alles liegenlassen kann, was geflickt und gebügelt werden muß. Das kannst du auch oben machen, sagt er. Und was ist mit dem Badezimmer? sage ich. Dagegen konnte er nichts vorbringen. Das Badezimmer ist nun mal oben. Aber bei jedem Familienfest kommt er auf das Thema und versucht, die andern auf seine Seite zu ziehen. Natürlich umsonst. Alle wissen, daß das Badezimmer oben ist, und ich brauche gar nichts mehr dazu zu sagen. Und als Phia hier war, habe ich es auch laufen lassen, mein Radio, damit sie nichts hört. Warum eigentlich? Im Grunde wollte ich doch, daß sie es wußte. Und irgendwann mußte ich es ihr sowieso sagen. Angst gehabt habe ich, das ist der Grund. Dabei bin ich nie ängstlich gewesen. Das hätte ich mir gar nicht leisten können. Bloß wenn die Preise steigen, bekomme ich es mit der Angst, aber das ist eine andere Geschichte. Erst in den letzten Jahren bin ich so ängstlich geworden. Als wäre das eine Sache des Alters. Ich stelle mir vor, der Zug könnte entgleisen, mit dem Phia kommen will. Das kommt vor, alle möglichen Unfälle, seit man nicht mehr fürchten muß, daß die Züge bombardiert werden. Im Dunkeln gehe ich nicht aus dem Haus, man könnte ja überfallen werden. Als ob man nicht genausogut am hellichten Tag überfallen werden könnte. Mit dem Alter hat das nichts zu tun. Eher damit, daß Willem
gestorben ist. Da hat es angefangen, vor dreieinhalb Jahren. Andererseits haben die Alten schon immer gesagt, daß man ängstlich wird, auch ohne daß ihnen ein Willem gestorben wäre. Ich habe es nicht geglaubt. Oder ich habe gedacht, daß das für mich nicht gilt. Dabei habe ich immer gut zugehört. Vor allem Tante Phie, die wir Schwestern so geliebt haben, und die war ziemlich alt. Schon immer ziemlich alt, haben wir gedacht. Phi-e, mit zwei Silben. Mir kommen jedesmal die Tränen, wenn ich an sie denke. Sie war anders als wir alle. Wat den eenen sin Uhl is, hat sie gesagt, und wir haben geantwortet: Is den annern sin Nachtigall. Und gelacht. Das hat uns besser gefallen als Vater, wenn er sagte: Das kann ich mir nicht leisten, oder: Da sieht man, daß ihr keinen Krieg erlebt habt. Darum haben wir achtundfünfzig das Kind nach ihr getauft, Sophia. Was Tante Phie wohl dazu sagen würde, sagt Lotte nach der Taufe mit ihrem stillen Lächeln, und meint das ernste Kind in ihrem Arm. Vor der Kirchentür stehen wir alle, für den Photographen. Ist doch klar, sagt Lizzy, die gerade rechtzeitig mit ihrem Dampfer das Festland erreicht und eine Flasche Sekt im Arm hat, als sollte ein Schiff getauft werden: Wat den eenen sin Uhlis… Is den annern sin Nachtigall, sage ich tapfer, und Lotte fängt an zu weinen und gibt mir das Kind, und Lizzy weiß überhaupt nicht, was los ist, und Lottes Paul versucht uns zu trösten, bis wir am Ende alle drei in Tränen aufgelöst dastehen. Es war entsetzlich. Lizzy, die ihre kleinen Mädchen seit Jahren nicht gesehen hatte, Lotte, die nie mehr Kinder bekommen konnte, und ich mit meiner Nichte auf dem Arm. Ja, meine Nichte. Bloß die kleine Sophia schaut sich um und fängt an zu lachen. Der Photograph drückt ein paarmal auf den Auslöser. Sie lacht, sagt Lizzy. Zum erstenmal.
Nein, sagt Lotte und lacht auch. Das kann sie schon lange. Gleich nach der Geburt hat sie damit angefangen. Gibt’s das? Das gibt’s, sage ich. Ich war ja dabei. Wo ist eigentlich dein Gatte? sagt Lizzy. Sie kann ihn nicht leiden und ist die einzige, die das auch zeigt. Sitzt zu Hause. Vor dem Fernseher? sagt Lizzy. So komisch ist das gar nicht. Willi sagt, nie wieder setzt er einen Fuß in eine Kirche. Wer seinen Vater kennt, versteht warum. Und daß dieser Vater noch nicht mal ein Jahr tot ist, macht es nicht leichter. Da hätte ich versuchen sollen, ihn zu dieser Taufe zu überreden? Nein. Ich habe ihm geholfen, das Fernsehprogramm wiederzufinden. Außerdem hat er noch diese fromme Schwester mit den frommen Kindern und eine Mutter, die das wunderbar findet. Und alle haben den Krieg überlebt. Tante Phie nicht. Natürlich nicht. Nicht bloß, weil sie so alt war. Ich kann nicht in den Bunker gehen, hat sie gesagt. Du kannst nicht? sage ich. Deine Beine sind doch in Ordnung. Ich kann nicht. Ich komme dich abholen. Nein, sagt sie, du paßt auf Ludwig auf. Das ist wichtig. Und auf dich, sage ich. Nein. Ich kann nicht. Du willst nicht in den Bunker gehen? Das ist doch dasselbe, sagt sie. War das nun Angst, oder war es Tapferkeit? Daß man das nicht unterscheiden kann. Ich habe damals nicht nachgefragt, weil ich sie liebhatte. Weil sie sich deutlich genug ausgedrückt hatte. Weil es rücksichtslos gewesen wäre, noch mehr von ihr zu verlangen, und daß ich sie nicht ganz verstehen konnte, war meine Sache. Alte Leute waren für uns vor allem Menschen, die so waren, wie wir nie werden wollten. Außer Tante Phie. So wollten wir werden. Und später zeigt sich, daß beim Altwerden Vorbilder gar nichts helfen. Sie machen nur traurig. Da helfen auch Tante Phies Verse nicht weiter, die so geheimnisvoll klingen. Wie
Zaubersprüche aus dem Märchenbuch. Heute fällt mir alles mögliche wieder ein, was sie erzählt hat. Aber ich glaube, daß wir das Wichtigste gar nicht gehört haben. Oder nicht verstanden. Wenn man jung ist, hört man die Wörter und hat keine Ahnung, wie ernst es dem Menschen ist mit dem, was er sagt. Nicht nur, wenn man jung ist. Wir sagen ja nie die ganze Wahrheit, sondern nur das, was sich sagen läßt. Und was wir den andern zumuten können. Das meiste behalten wir für uns. Daraus folgt, daß man das, was gesagt wird, nicht allzu ernst nehmen muß. Schon darum nicht, weil es gesagt wird. Und selbst das wenige kann einem zuviel werden. Vielleicht habe ich überhaupt nichts verstanden, denke ich heute. Hören wir den Jungen auch so zu? Daß wir nur die Hälfte begreifen, meine ich? Und merken es gar nicht, weil wir auch mal jung waren und darum glauben, daß wir Bescheid wissen? Früher habe ich immer gewußt, wie alt ich bin. Jetzt muß ich rechnen. Neunundsiebzig. Ich bin nicht die einzige. Andere müssen das auch. Mit achtzig wird man nicht mehr älter, sagen Leute, die es wissen müssen, dann wird man alt. Aber das würde Phia nicht verstehen. Mit ihren einundvierzig. Das Alter bringt auch neue Freiheiten, sagt sie. Ach, Kind. Dabei klingt es gut, ich weiß bloß nicht, wie ich es in die Tat umsetzen soll. Daß ich nicht mehr alles wissen muß, was neu ist auf dieser Welt, ist klar. Das begreift sie besser. Dabei sage ich mir oft, daß es vielleicht doch nur Faulheit ist. Ich kann natürlich auch nirgends mitreden, so ohne Fernsehen. Wenn ich höre, worüber die Leute in der Straßenbahn sprechen – lauter Fernsehgrößen, von denen ich noch nie was gehört habe. Bei den Kindern fängt es an. Was die alles gesehen haben müssen, um mitreden zu können. Die armen Kinder, denke ich oft und frage mich, was aus ihnen werden soll. Zum Glück brauche ich das alles nicht zu wissen. Mit wem sollte ich wohl darüber reden. Die Familie hat das Gespräch abgebrochen. Soweit sie
noch leben, meine ich. Nur Phia ist da, und mit der brauche ich nicht übers Fernsehen zu reden. Wir haben genug anderes zu besprechen. Mit den Nachbarn habe ich außer guten Tag und guten Weg noch nie viel zu tun gehabt. Und keine Freundinnen. Die jungen Leute achten heute auf ihre Freundschaften. Die machen das viel besser als wir. Das hätte ich auch tun sollen. Aber wie? Es war einfach nicht die Zeit danach. Und immer zuviel zu tun. Was rede ich denn. Es ist überhaupt nicht wahr, daß ich keine Freundinnen hatte. Ich hatte. Eva, und vierunddreißig mußte sie mit ihrer Mutter nach Amerika, von einem Tag auf den andern. Später Annie. Und all die andern. Aber vor allem Annie. Achtzehn waren wir und haben davon geträumt, zusammen auszuwandern, natürlich auch nach Amerika, aber nur geträumt. Wie hätte ich wohl auswandern sollen, wenn ich für meinen kleinen Bruder verantwortlich war. Mutter ging es nicht gut, und er war erst drei. Eines Tages klingelt es. Eine von der NS-Frauenschaft. Sie fragt nach unserer Mutter. Unsere Mutter schläft, sage ich. Mitten am Tage? sagt die Frau. Die Frauen werden jetzt doch gebraucht. Hilfsdienst und Reichsluftschutz. Luftschutz? sage ich. Aber sie will mit Mutter sprechen. Sie ist krank, sage ich. Das Herz. Das ist etwas anderes, sagt sie, dann muß sie in die Müttererholung. Die Frau nimmt ein Blatt aus ihrer Tasche: Wir haben sehr schöne Heime, da können Mütter wieder gesund werden. Gesund? denke ich. Aber das Blatt habe ich genommen, damit sie wieder geht. Und sie geht. Gottseidank, ich weiß ja nie, was ich sagen soll, wenn sie wegen dem BDM fragen. Ein Jahr später der Krieg. Das haben wir nicht für möglich gehalten nach dem ersten, sagt Mutter bei den
Radiomeldungen, kurz vor ihrem Tod. Nicht daß sie sich gewundert hätte. Den Leuten, die das Sagen hatten, hat sie alles zugetraut. Vom ersten Tag an. Wir hätten doch auswandern sollen, hat Annie immer gesagt, mit der ganzen Familie. Gleich im Januar einundvierzig hat es ihr Haus getroffen. Dabei waren sie die ersten, die ihre Dachbalken gekalkt haben. Alle verschüttet. Es gab ja noch keine Bunker am Anfang. Bloß sie und ihre Schwester konnten lebendig herausgeholt werden. Ich darf gar nicht daran denken. Bei Verwandten auf dem Land sind sie dann untergekommen, ein Glücksfall, und nach dem Krieg – ich weiß nicht, wie oft ich rausgefahren bin, um was zum Essen zu besorgen. Wir waren ja nicht ausgebombt und hatten noch alles mögliche, was man eintauschen konnte. Wie gut, daß Vater das nicht mehr erleben mußte. Er hätte sich von den alten Sachen nicht trennen können. Dann ist Willi aus der Gefangenschaft zurückgekommen, bloß Haut und Knochen. Bist du das wirklich, sage ich. Jede Woche bin ich losgefahren, um bei Annie draußen auf dem Feld zu helfen, weil kein Mann mehr auf dem Hof war. Der Alte gestorben, die Brüder im Krieg geblieben. Drei Brüder, von denen alle gedacht haben, die würden sich mal wegen dem Hof die Köpfe einschlagen. Muß das sein, sagt Willi, immer diese Leute. Guck dich doch an, sage ich, willst du verhungern? Dann nimm wenigstens diesen nichtsnutzigen Kerl mit. Ludwig hat er gemeint, meinen kleinen Bruder, der im alten Kinderzimmer schlief und noch in die Schule ging. Aber wenn einer unnütz war, dann war es mein Willi, solange er seine Stelle noch nicht hatte, mit seinen zwei linken Händen und unfähig, einen Gedanken zu Ende zu denken. Ich habe mir nichts anmerken lassen, weil er sich erst mal erholen mußte. Jedenfalls gab es Ärger, wenn man die beiden miteinander allein ließ. Und Ludwig kam ja auch grade ins schwierige
Alter, mit allem, was dazugehört. Viel zu früh, wenn man mich fragt. Erst wollte er nicht mit aufs Land, aber es ging einfach nicht anders, und kaum waren wir draußen, wollte er gar nicht mehr nach Hause. Es war, als hätten sie dort bloß auf ihn gewartet. Ich bin also allein nach Hause gefahren, ich wurde ja in der Gärtnerei gebraucht. Zum Glück waren Sommerferien. Und nachher, als die Schule weiterging, wie haben wir das gemacht? Keine Ahnung. Sind wir nicht mehr rausgefahren, weil mit der Währungsreform alles anders wurde? Wie kann man das nur vergessen. Das soll ihm wohl passen auf dem Hof, sagt mein Willi, all die Frauenzimmer und kein Mann im Hause. Das hätten wir im Krieg auch gern gehabt. Und das habe ich nicht vergessen. Kaum hat es die ersten Wohnungen in der Stadt gegeben, war Annie wieder da, einundfünfzig, eine Stelle im Büro hatte sie auch, und wir haben uns doch aus den Augen verloren. Aber nicht lange. Fünfundfünfzig, Willi hatte seine Stelle, und ich hatte Willem. Wie mache ich das, sage ich zu Annie. Du kommst zu mir, sagt sie. Ein paar Jahre war ich praktisch nie mehr bei ihr gewesen, und sie wollte trotzdem für mich lügen. Ein paarmal ist Willi ausgerastet, wenn ich zu ihr gefahren bin. Er hat es wohl nicht geglaubt. Und meistens hat es ja wirklich nicht gestimmt. Aber wir waren klug genug, uns nie bei ihr zu treffen, Willem und ich. Ich hatte noch andere Freundinnen, aber keine war wie Annie. Überall hab ich ausgeholfen, wenn Not am Mann war. Ich bin schließlich nicht nur bei der Feldarbeit zu gebrauchen. Mit drei Jahren konnte man mich schon zum Milchholen schicken, und darauf bin ich mein Leben lang stolz gewesen. Wenn wir dich nicht hätten, sagt Mutter. Aber Freundinnen sterben. Der Tod ist ein Einzelfall. Jedesmal. Zuerst merkt man es gar nicht. Bis man begreift, daß das so weitergeht. Und jetzt ist keine mehr da. Bloß Ellie, aber die ist im Heim und durcheinander. Sie sitzt vor dem Fernseher
und weiß nachher nicht, was sie gesehen hat. Sie behauptet, daß sie mich erkennt, aber ich glaube, das sagt sie bloß, weil sie es nicht zugeben will. Weil sie es nicht aushält. Und es ist ja auch nicht zum Aushalten. Ich erkenne euch alle, sagt sie und erkennt keine Seele. Heute morgen habe ich ihr Blumen mitgebracht. »Was für schöne Tulpen«, sagt sie. Dabei sind es Chrysanthemen. Wo soll ich wohl im November Tulpen hernehmen? Nicht mal heutzutage, wo die Blumen von überall her eingeflogen werden. Bei Tulpen lohnt sich das nicht. Bei den Blumen ändern sich die Moden schneller als bei den Kleidern. Das hat schon vor Ludwigs Tod angefangen. Er hat aufs Einheimische gesetzt, aber das ließ sich nicht halten. Nachher ist es immer schlimmer geworden. Zum Glück wird Wilma heute damit fertig. Wilma wird mit allem fertig. »Ludwig läßt dich grüßen«, sage ich. Ich weiß nicht, ob man das sagen darf, wenn er seit dreiundachtzig auf dem Friedhof liegt. Aber Ellie hat ihn immer so gern gehabt. Meinen Bruder. Wenn er nur nicht so jung wäre, hat sie früher oft gesagt und ist darüber eine alte Jungfer geworden. »Ach, Ludwig«, sagt sie heute nachdenklich in ihrem Schwarzen, »wenn er nur nicht so jung wäre.« Sie weiß also, wer er ist. Vielleicht erkennt sie mich wirklich. »Wie geht es«, sage ich, »schmeckt dir das Essen?« »Natürlich schmeckt mir das Essen, ich bin nicht empfindlich.« »Kommst du mit den Leuten hier gut zurecht?« »Natürlich komme ich mit den Leuten hier gut zurecht, ich bin nicht empfindlich.« Dann zieht sie mich zu sich heran wie früher, wenn wir unsere Geheimnisse geteilt haben, und sieht mich mit diesem Gesicht an, das wir früher gemacht haben, aber dann auf einmal ganz erschrocken: »Lena, warum weinst du denn, du verstehst aber auch gar nichts.«
»Schon gut«, sage ich. Sie lacht wieder. »Stell dir vor, früher hat eine Frau das Essen gebracht«, flüstert sie mir ins Ohr, »und jetzt ist es auf einmal ein Mann.« »Kann der das denn?« sage ich. »Und ob der das kann – wenn er nur nicht so jung wäre.« Dann lachen wir beide, wie wir früher gelacht haben. Aber es ist gar nicht zum Lachen. Wenn ich denke, wie die Männer in unserm Alter im Krieg geblieben sind. Ellie hat einfach keinen kennengelernt, keinen passenden, meine ich. Vielleicht ist das besser, als den Falschen zu nehmen. Ellie sieht zum Fenster hinaus und sagt: »Du mußt zum Essen dableiben.« Man kann in so einem Heim nicht zum Essen dableiben, aber das sage ich nicht. »Ich komme wieder, Ellie, jetzt muß ich weiter, meine Nichte kommt zu Besuch.« »Du hast also eine Nichte«, sagt Ellie, »wie schön für dich.« Der Fernseher läuft, und sie winkt mir nach in ihrem Schwarzen. Ja, ich habe eine Nichte, sie kommt um vier. Ich habe sie selbst geboren, meine Nichte, und das weiß sie immer noch nicht. Wir hätten es ihr früher sagen sollen. Dann wäre heute alles einfacher. Und warum habe ich es nicht wenigstens in dem Jahr erzählt, als sie hier bei mir an ihrem Buch geschrieben hat? In diesem Jahr, als es so einfach gewesen wäre? Wenn sie mit mir in der Veranda gesessen hat? Mir kommt es so vor, als wäre ich nach Hause gekommen, hat sie gesagt. Fünfundneunzig. Und seitdem höre ich jedesmal, wenn ich allein in der Veranda sitze, Phias Stimme: als wäre ich nach Hause gekommen. Und ich? Ich hätte bloß zu sagen brauchen, ja, so ist es. Du bist nach Hause gekommen. Alles andere hätte sich von selbst ergeben. Statt dessen habe ich ganz dumm vor Glück dagesessen und kein Wort herausgebracht. Warum eigentlich nicht? Habe ich Angst
gehabt, etwas zu verlieren? Ich hätte doch auch etwas gewinnen können. Oder gemeint, daß dieses Jahr für sie schon schwierig genug war, auch ohne daß alles auf den Kopf gestellt wird, was ihre Herkunft betrifft? Wir hätten das ganz anders machen müssen. Aber das ist leicht gesagt. Wann denn? Und wie denn? Und jetzt bin ich die einzige, die Phia noch sagen kann, wie alles gewesen ist. Die letzte von der alten Generation, ausgerechnet ich, die Älteste. Lotte und Lizzy weggestorben. Und unser Ludwig auch. Wir haben so auf ihn aufgepaßt, vor dem Krieg, im Krieg und nach dem Krieg. Fünfzig hat er seine Lehre angefangen, Gärtner sollte er werden, Mutters Brüder waren ja im Krieg geblieben. Die hatten die Gärtnerei zusammen aufgebaut, und Ludwig sollte sie mal übernehmen. Wir müssen ihn doch wenigstens fragen, sagt Lotte. Fragen? Ob er Gärtner werden will, sagt Lotte. Was soll er denn sonst machen, sage ich. Er wird also gefragt. Und was sagt er? Natürlich will ich Gärtner werden. Geschäftsführer sind ja auch nichts für so einen Betrieb. Bei Mutters Brüdern war einer für den Friedhof zuständig gewesen, einer für den Laden und die Gärtnerei gemeinsam. Im Krieg haben wir Frauen weitergemacht, Friedhofsgärtnerei, Gestecke, Kränze. Totensonntag. Nach dem Krieg mußte es weitergehen, und ohne mich wäre der Laden nie wieder auf die Beine gekommen. Das ist natürlich zuviel für einen, und Ludwig war erst zwanzig, als er einsteigen sollte. Fünfundfünfzig, im Sommer, als schon ein Kind unterwegs war. Da mußte ihm doch einfach jemand unter die Arme greifen, und ich habe mich mit allem ausgekannt, seit den Dreißigern, wo sie mich angelernt haben. Und ich soll alles an mich gerissen haben? Im Oktober bin ich noch mit Lotte nach Friedland gefahren, am sechsten. Der jüngere Onkel war ja vermißt, und da durfte man die Hoffnung nicht aufgeben. Geglaubt haben wir nicht mehr daran, daß er dabei war, bei
den letzten Kriegsgefangenen. Es hieß auch, daß von den einfachen Soldaten wohl nicht viele kommen würden, mehr die höheren Chargen. In der Zeitung stand, daß bloß die Russen behaupten, es gäbe gar keine Kriegsgefangenen mehr, sondern nur noch Kriegsverbrecher und Mörder, aber die ganze Wahrheit hat wohl noch nie in der Zeitung gestanden. Da hieß es ja auch, Adenauer hätte sie im September freigekriegt, während man bei uns gesagt hat, das hätten wir Ollenhauer zu verdanken, im letzten Augenblick in Moskau, als die Regierungsleute schon wieder abreisen wollten. Unser Onkel war jedenfalls nicht dabei, im Oktober in Friedland, und Ludwig hat das Geschäft allein übernommen. Und ich habe gedacht, er würde durchhalten. »Das muß ich ihr auch sagen.« Hier sitze ich und rede mit mir selber. Nicht bloß im Kopf, wie früher. Und nicht einzelne Wörter, wie früher. Ganze Sätze: »Das muß ich ihr auch sagen.« Das ist neu. Ganze Sätze, Wort für Wort und bis zum Punkt. Um sie nicht zu vergessen? Um mir Mut zu machen? Um sie loszuwerden? Bis jetzt tue ich es nur, wenn ich allein in der Wohnung bin, manchmal auch draußen auf den leeren Straßen. Wer weiß, wann ich anfange, auch unter Leuten Selbstgespräche zu führen. Entsetzlich. Aber was kann man dagegen tun? Es ist einfach zuviel drin, in meinem Kopf, zuviel Vergangenes, das noch da ist, und es wird mehr. Mit jedem Tag, der vergeht, wird es mehr. Ich habe gehört, es liegt gar nicht am Alter, wenn man mit sich selbst redet, sondern am Alleinsein. Und wer kann das unterscheiden?
2
Der Tisch muß gedeckt werden. Wir nehmen die Sammeltassen. Aber das hat noch Zeit. Vielleicht auch nicht. Bei mir ist alles so langsam geworden. Von früher kenne ich das nicht. Ich bin immer schnell gewesen. Nicht so schnell wie Lizzy, die hatte ein Tempo drauf, daß einem schwindlig werden konnte. Bis zum Schluß. Ob die Ergebnisse dadurch besser werden, ist eine andere Frage. Ach, Luise – niemand hat sie so genannt, das war nur auf dem Papier. Mutter hat es versucht, aber Vater hat Tin Lizzy zu ihr gesagt, und dabei ist es dann geblieben. Trödeln, das hat es bei mir nie gegeben. Und jetzt? Jetzt bin ich dauernd am Trödeln. Den ganzen Tag. Könnte die Zeit sonst so schnell vergehen? Die Zeit verändert sich ja nicht, bloß ich bleibe hinter der Zeit zurück. Zum Glück ist mein Kopf noch klar. Soweit ich weiß. Vielleicht sollte ich Phia fragen, ob das auch stimmt. Alte Leute täuschen sich ja leicht über ihren Kopf. Und wer weiß, ob das so bleibt. Aber was rede ich. Das einzige, was sicher ist: daß es nicht so bleibt. Es ist zum Lachen. Während alles immer schneller wird, werde ich immer langsamer. Früher habe ich die Sachen in die Hand genommen, und in Null Komma nichts waren sie fertig. Das sagt man so. Natürlich brauchen die Dinge ihre Zeit, wenn man sie gründlich machen will, und alles gründlich machen, darauf habe ich Wert gelegt. Was man nicht gründlich macht, muß man zweimal machen. Es gab jedenfalls immer etwas Dringendes zu tun, man ist gar nicht zur Besinnung gekommen. Ich schaff das schon, habe ich gesagt. Daß ich irgendwas nicht schaffen könnte, ist mir gar nicht in den Sinn
gekommen. Freizeit? Schön wär’s. Heute haben die Menschen mehr Zeit für sich selber. Das ist freundlich ausgedrückt, sagt Phia. Zu freundlich. Sie kommen zu nichts. Und warum nicht? Weil sie sich zuviel von alldem aufhalsen, was heutzutage so schnell geht. Das kommt mir bekannt vor, aber wenn Phia sagt, es würden immer neue Versuche gemacht, die Langsamkeit neu zu erfinden, kann ich nur lachen. Darauf wären wir nicht gekommen. Warum einfach, wenn es auch umständlich geht, würde Tante Phie sagen. Wer ist Tante Phie, sagt Phia. Daß sie das nicht weiß. Und ich habe ihr erzählt, wer Tante Phie war. Aber als sie mehr wissen wollte, hat sich gezeigt, daß ich nicht genug wußte und nie genug gewußt hatte. Und niemand, den ich hätte fragen können. Damit haben wir nicht gerechnet, als alle noch da waren. Tante Phie, die keine Kinder hatte und uns drei so geliebt hat. Die wir bei Phias Taufe so vermißt haben. Die Photos habe ich im Nachttisch. Ich weiß, daß sie da sind, und das reicht. Wozu soll ich mir die auch noch ansehen? Das führt zu nichts. Aber ich sehe es auch so. Phia in ihrem Taufkleid, auf meinem Arm. Sie lacht. Wir drei Schwestern lachen auch, aber wie. Uns war ja eher nach Weinen zumute. Links Lizzy, wie sie ihre Sektflasche in die Luft hält, und ganz rechts neben Lotte steht ihr Paul mit seinem Gesicht wie Ferdinand Lesseps und zieht das weiße Tuch aus seiner Tasche. Für uns. Wenn Tante Phie im Krieg mit uns in den Bunker gekommen wäre, hätte sie vielleicht noch dabeisein können. Wie oft habe ich versucht, sie zu überreden, bis es zu spät war. Sie wollte sich nicht helfen lassen. Immer wenn jemand Hilfe gebraucht hat, war ich da. Du arbeitest ja nicht, hieß das dann, und das hat gestimmt, aber ich hätte lieber gearbeitet, wenn mein Willi sich nicht in den Kopf gesetzt hätte, daß er mich ernähren mußte. So ein Unsinn. Aber bei ihm war ein solcher Ernst dahinter, daß ich mich nicht getraut habe, etwas dagegen zu sagen. Schon um des lieben
Friedens willen. Er war unberechenbar. Unberechenbar? Nein. Berechenbar war er in seiner Unbeweglichkeit und in seinen Ausbrüchen. Darum war auch klar, daß ich ihn mit seiner Vorstellung vom Geldverdienen durchlassen mußte. Ich habe also kein Geld verdient, sondern mich bloß nützlich gemacht. Warum auch nicht. Aber das machen die jungen Frauen heute besser. Siebenundfünfzig hatte ich das Auto und konnte überall schnell hin, wo Not am Mann war, damals ist man ja im Stadtverkehr noch vorwärts gekommen. Bis dreiundachtzig, als Ludwig gegen die Mauer gefahren ist. Da konnte ich mich einfach in kein Auto mehr setzen, weil ich immer an ihn denken mußte. Nicht mal in ein Taxi. Es war auch kein Auto mehr nötig, weil meine Hilfe in der Gärtnerei nicht mehr willkommen war. Aber siebenundfünfzig war ein Wagen das größte, auch wenn er schon alt war. Mein Willi hat mir das natürlich nicht gegönnt. Erst sagt er, wozu brauchst du einen Führerschein. Damit ich für Ludwig fahren kann, sage ich. Und als der Wagen da war, mußte ich meinen Ehemann fahren. Obwohl er nirgends hin mußte. Nur damit ich beschäftigt war. Besonders wenn ich was vorhatte. Wenn du mir den Wagen nicht gibst, sagt er. Das wäre ja noch schöner, sage ich. Das hätte ich nicht sagen sollen. Nicht so. Er wußte ja selber, warum ich ihn nicht ans Steuer lassen wollte – einmal und nie wieder. Zum Glück hat er das damals überlebt, und die Familie im andern Auto auch. Er wollte auch nicht glauben, daß Ludwig mir das Auto gegeben hat. Hör zu, hab ich gesagt, weißt du, wieviel Jahre ich in der Gärtnerei ausgeholfen habe? Ohne eine Mark dafür? Hättest du ja nicht müssen, sagt er. Da hat er angefangen mit seinem Haushaltsbuch. Mit Blaustiften, die man nicht ausradieren konnte. Die hatten sie im Amt auch. Nach dem Krieg ist er zurückgestuft worden,
weil er achtunddreißig schon Beamter war. Darüber ist er nie weggekommen. In der Stube hat er gesessen vor seinen Heften mit der Buchführung. Kein Fernsehen. Und erst recht, wenn Phia bei uns war, später. Ich rechne, sagt er. So ein Unsinn. Als ob ich Geld aus der Haushaltskasse nehmen würde. Um mir ein gebrauchtes Auto zusammenzusparen? Nach allem, was ich für das Geschäft getan hatte. Oder die Reise nach Amerika? Die hat Lotte bezahlt. Wir hatten uns ja darauf geeinigt, daß ich sie begleiten mußte auf dieser Reise. Dann die Reparaturen, vor allem aufgeschlitzte Reifen, jahrelang. Ludwig hat sie bezahlt, habe ich gesagt. Hat aber nicht gestimmt. Das war Willem. Die Verwandtschaft, habe ich damals gedacht, die brauchte das mit den Reifen nicht zu wissen, weil sie Willi auch so schon nicht leiden konnte. Aber aus der Haushaltskasse hätte ich nie was genommen, auch wenn er nicht kontrolliert hätte. Ob Phia das verstehen würde? Wahrscheinlich finden die jungen Leute von heute das bloß noch zum Lachen. Aber es war überhaupt nicht komisch. Buchführung muß sein, sagt Willi. Wenn das stimmt, dann bin ich froh, daß er es macht. Ich würde keine machen, obwohl ich glaube, daß man wissen sollte, wo das Geld bleibt. Ich könnte das jedenfalls nicht. Rechnen liegt mir, aber bei großen Zahlen wird mir schlecht. Das kommt über mich, dann weiß ich kaum noch, wo ich bin, ich muß mich festhalten, und mein Willi ist kein Mann, an dem man sich festhalten könnte. Aber mit großen Zahlen wird er fertig. Daß die andern ihn nicht gemocht haben, ist kein Wunder. Ich habe ihn ja auch nicht aus Liebe geheiratet. Einen Mann habe ich gesucht, den ich nicht lieben mußte. Das wollte ich nie wieder erleben, nur weil es einmal schiefgegangen war. Die große Liebe, habe ich gedacht. So dumm kann man sein. Aber ich mußte ja unbedingt mit diesem Fritz ins Bett gehen, ahnungslos, wie ich damals war, und außer mir, weil er anderswo eingesetzt
werden sollte. Am andern Morgen ein heißer Kuß am Bahnhof, und dann nur noch Postkarten. Und ich habe im Ernst geglaubt, daß er mich liebt. Am liebsten hätte ich gar keinen Mann mehr gehabt nach diesem Reinfall, aber dreiundvierzig mußte man einen Vater haben für ein Kind. Daß Willi kein besonders guter Vater sein würde, habe ich in der Eile ganz übersehen. Und das Kind von Fritz ist dann ja auch nicht zur Welt gekommen. Geheiratet haben wir trotzdem. Aber der Reihe nach. »Ich komme vom Hundertsten ins Tausendste.« Das hat Phia auch gesagt, als sie an ihrem Buch gearbeitet hat und die Arbeit immer schwieriger wurde. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Und als sie in ihrer Verzweiflung ihre Notizen gleich bündelweise aus dem Fenster oder genauer durch das Fenster geschmissen hat und wir den Glaser kommen lassen mußten, da habe ich ein für allemal begriffen, daß das nicht auf die leichte Schulter zu nehmen war. Phia ist sonst die Geduld selber, wie ihre Mutter Lotte, und neigt überhaupt nicht zu Wutausbrüchen. Aber das waren wohl nur die Anfangsschwierigkeiten im Sommer, denn die eigentlichen Sorgen schienen erst nachher anzufangen. Vom Hölzchen aufs Stöckchen, hat sie gesagt, hier, in dieser Veranda, auf der Straße liegt noch alter Schnee, wie nach dem Krieg, als es so kalt war und der Schnee auf den Trümmern liegenblieb, und sie spricht über ihr Buch, als wäre es zum Lachen, damit ich mir keine Sorgen mache. Dabei mache ich mir Sorgen, auch darum, weil ihr Haar von Woche zu Woche kürzer wird. Bald wird gar nichts mehr übrig sein, habe ich fünfundneunzig gedacht, und das im Winter. Sie sagt, das wäre gut für die Arbeit, und ich lasse mir nichts anmerken. Immer wenn ich hier sitze, auch ohne Schnee, höre ich ihre Stimme, wie sie sagt, das Schlimmste ist, daß alles dazugehört, das Hölzchen und das Stöckchen, und daß sie nicht mehr weiß, was sie weglassen darf. Wir lachen. Ich hätte mir lieber die
Zunge abgebissen, als zu verraten, daß ich mir trotzdem Sorgen gemacht habe. Am Ende war Phia sogar froh, wenn sie ihre Papiere nicht mehr finden konnte. Was nicht da ist, kommt nicht ins Buch, hat sie gesagt. Und was geschieht? Kaum ist es gedruckt und gebunden, ihr Buch, da tauchen die verlorenen Papiere wieder auf. Phia wirft einen Blick darauf und wird blaß. Man müßte es einstampfen, sagt sie. Einstampfen? Dieses Buch. Die Leute wissen doch gar nicht, daß etwas fehlt. Sie schaut noch unglücklicher. Ist es wirklich so schlimm, sage ich. Sie nickt. Und diesmal weiß ich nicht, wie ich sie zum Lachen bringen soll. Bei mir gehört auch alles dazu, aber im Leben ist das natürlich etwas anderes als in Büchern. Im Leben gehört immer alles dazu. Darum ist es so schwer, darüber zu sprechen. Und es passiert auch nicht der Reihe nach, in meinem Leben jedenfalls nicht. Oft ist das, was noch kommen soll, schon da, und was vorbei ist, geht nicht weg. Daß ich Willi im Erholungsheim kennengelernt habe. Ich war für die Verwundeten im Einsatz, bevor sie wieder an die Front konnten, nur halbe Tage, weil ich zu Hause für Ludwig verantwortlich war. Küchenarbeiten und Mahlzeiten ausgeben. Willi hatte einen einfachen Durchschuß und war schon fast wiederhergestellt, aber wirklich kennenlernen kann man einen Menschen im Lazarett nicht, sage ich mir heute, auch wenn es gar kein Lazarett war. Das weiß Phia schon. Das muß ich nicht mehr erzählen. Vielleicht doch. Man kann das ja alles auch falsch verstehen. Vor allem, wenn man nicht miterlebt hat, wie es damals war. Aber wer will das hören, Leute, die vom Krieg erzählen. Ich habe mir geschworen, das nie zu tun. Unser Vater hat auch nicht vom Krieg erzählt. Vom ersten, meine ich. Als Kind ist Phia oft dabeigewesen, wie mein Willi bei allem und jedem auf den Krieg gekommen ist. Nach zwanzig Jahren
noch. Am Anfang denkt man ja, man erfährt etwas darüber, wie es wirklich war. Aber nicht bei ihm. Er hat überhaupt nichts verstanden. Er redet und redet, als wäre es eine Pfadfinderübung gewesen. Immer seine alte Leier. Wir konnten es beide nicht mehr hören. Nun laß das doch, habe ich gesagt, das ist vorbei. Und er hat geredet, als wollte er nicht, daß es vorbei war. Das Lebendige zählt, sagt Willem. Das Lebendige bei meinem Willi war, daß er die Heizung abgestellt hat. Zum Beispiel. Oder den Kühlschrank. Oder nebenan angerufen, weil ihm der Hund zu laut war. Oder meinen Schmuck in den Kohlenkeller gebracht. Was soll das, sage ich. Einbrecher, sagt er. Was für Einbrecher? Schweigen. Und warum kommen mir heute die Tränen, wenn ich denke, daß er tot ist? Weil sie ihn zu Hause nicht ernst genommen haben? Eine Familie von Theologen und Juristen? Weil seine Laufbahn im Amt keine Laufbahn war? Weil ihm sein Parteibuch zum Verhängnis geworden ist? Unsinn, er war gegen die Partei, er hatte bloß nicht den Mut, nein zu sagen, als sein Vorgesetzter deutlich wurde, weil er Beamter war. Ja hat er auch nicht gesagt. Bis der Chef sagt, Kommunisten können wir hier nicht brauchen. Da hat Willi den Antrag gestellt. Mit Nazis konnte er wirklich nichts anfangen, und bei ihm zu Hause waren sie auch dagegen. Willi wäre aber auch ohne Parteibuch nach dem Krieg bei den Routinearbeiten gelandet. Und wir haben dann ja genug steile Karrieren gesehen, denen das Parteibuch nicht im geringsten geschadet hat. Ich hätte ihm das nicht antun dürfen, denke ich heute. Ihn heiraten.
3
Jetzt zuerst den Tisch decken. Was gemacht ist, ist gemacht. Die Sammeltassen hat Phia als Kind gern gemocht. Dann hat sich ihr Schönheitssinn verändert, und Sammeltassen waren das letzte, bis sie irgendwann doch wieder danach gefragt hat. Und heute weiß niemand mehr, was Sammeltassen sind. Sie kaufen alles im Dutzend und werfen es im nächsten Jahr wieder weg, weil etwas Neues auf den Markt kommt. Aber was rede ich, ich habe keine Ahnung, was die Leute wirklich tun, und weiß nur, was in der Zeitung steht. Papier ist geduldig. Ich weiß nicht, ob man das heute noch sagt. Es ist jedenfalls wahr. Aber nicht bloß Papier. Der Mensch ist auch geduldig. Das ist nicht mein Problem, sagt man heute. Schon die Kinder reden so. Da sieht man, daß sie keinen Krieg erlebt haben. Aber das sagt man nicht. Sie können ja nichts dafür. Und leichter haben sie es deswegen auch nicht. Du machst die Augen zu, und wenn du sie wieder aufmachst, hat ein Generationenwechsel stattgefunden. Wer soll das aushalten. Wenn alles immer größer werden muß und schneller. Bloß die Jugend dauert länger. Nicht nur die, sagt Phia. Das Autofahren ist heute auch schon wieder so langsam wie mit der Postkutsche. »Postkutsche.« Phia hat schon immer gewußt, wie man mich zum Lachen bringt. Wo ist mein Taschentuch? Wo es hingehört. Nein, nicht die Sammeltassen. Wir nehmen die weißen mit dem Klee. Die hat sie immer am liebsten gehabt, sogar in den Jahren, als alles ganz bunt sein mußte oder ganz erdverbunden oder ganz streng. Vier sind es noch mit sechs Untertassen, auch aus
Mutters Haushalt. Das waren schon meine Lieblingstassen, als ich klein war, und nicht nur, weil Mutter sie so selten aus dem Schrank genommen hat. Die sind alt, hat sie gesagt und die neuen genommen. Warum eigentlich? Weil sie nicht in den Schick der zwanziger Jahre gepaßt haben? Oder hat sie womöglich doch gedacht, daß bei drei kleinen Kindern was kaputtgeht? Vielleicht waren das schon ihre Lieblingstassen, als sie ein Kind war. Diese hohe, geschwungene Form, wie man sie später nie mehr hatte. Kein Gold und kein Silber, überhaupt nichts Prächtiges, bloß Klee, richtiger Klee mit rötlichen Blüten und graugrünen Blättern. Oder doch etwas Silber, an den Rändern, schon zu meiner Zeit so abgenutzt, daß kaum noch etwas davon übrig war, und daß das Silberne früher Gold gewesen ist, kann man auch nirgendwo sehen. Phia war noch ganz klein und so vorsichtig mit dem Porzellan, wie ich es einem Kind nie zugetraut hätte. Und jedesmal wenn sie draußen an den Straßenrändern den Klee wiedererkannt hat, ist sie stehengeblieben und war außer sich vor Freude. Aber eines Tages war ich so dumm, ihr zu sagen, daß die Vierblättrigen Glück bringen, und sie war untröstlich, weil sie keine gefunden hat. Immer nur Dreiblättrige. Wie auf der Untertasse, habe ich gesagt, aber das war ein schlechter Trost. In unserm Garten hat sie auch nach Klee gesucht und keinen gefunden. Warum nicht, sagt sie, weil es Unkraut ist, sage ich. Seitdem hat sie Unkraut geliebt. Aber diese Tassen habe ich nur gebraucht, wenn Phia bei uns war. Bei Willi weiß man nie, was passiert. Was sind das für Tassen? sagt er. Von meiner Mutter. Und warum habe ich die noch nie gesehen? Weil nicht mehr viele übrig sind. Solche Tassen hätten wir im Krieg auch gern gehabt, sagt Willi. Ich weiß schon, dort gab es nichts als Blech. Sagt er jedenfalls. Es hat wirklich nichts gegeben auf dieser Welt, was
ihn nicht an den Krieg erinnert hätte. Sogar das Wetter. Man mußte es bloß erwähnen, und schon war mein Willi gewissermaßen in Uniform. Oft hat ihm ein Blick aus dem Fenster genügt, um bei den alten Geschichten zu landen. Aber wenn man nachfragte, wußte er nicht, was er sagen sollte, und fing von vorne an. Ich muß Phia sagen, daß es in meinem Kopf jetzt ähnlich aussieht wie in seinem. Immer dieselben Sachen. Sie kommen bei jeder Gelegenheit und lassen praktisch keinen Platz mehr übrig für irgendwas anderes. Amerika zum Beispiel. Alles mögliche höre ich über Amerika und denke doch bloß an Philadelphia. Die Stadt der schwesterlichen Liebe. Die Stadt, wo ich Phia geboren habe. Achtundfünfzig. Das Ganze ging natürlich nur, weil man mir so lange nichts angesehen hat. Das heißt, wenn ich will, daß man mir nichts ansieht, dann sieht man mir nichts an. Man durfte mir auch nichts ansehen. Wir haben uns das so zurechtgelegt, Lotte und ich: sie bekommt endlich das Kind, das sie sich wünscht. Die ganze Familie freut sich mit ihr. Ihre Schwangerschaft ist aber nach der Fehlgeburt vor drei Jahren schwierig. Zu schwierig, um sie der einheimischen Medizin anzuvertrauen. Wir müssen also nach Philadelphia, wo sie angeblich eine Spezialistin kennt. Das glaubt doch kein Mensch, sage ich zu meiner Schwester. Warum denn nicht? sagt Lotte. Du kannst doch überhaupt nicht lügen. Das wirst du schon sehen, sagt Lotte. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Seit wann bist du ängstlich? sagt Lotte. Damit war die Sache beschlossen. So ungewöhnlich war das Ganze wohl auch gar nicht. Alle guten Ideen sind älter, als wir glauben, schreibt Phia. Fast drei Monate waren wir drüben bei dieser Schulfreundin von Lotte, die Hebamme war und sich mit komplizierten
Schwangerschaften auskannte. So Lotte. Schon seit langem hätten sich die beiden wiedersehen wollen. Natürlich hat es diese Schulfreundin nie gegeben. Ich war es, die eine Schulfreundin hatte, die mit ihrer Mutter nach Amerika mußte, als ihr Vater abgeholt wurde, und ich habe nie wieder von ihr gehört. Aber eine Freundin gab es dort wirklich, Susan, und Lotte hatte sie fünf Jahre früher kennengelernt, bei ihrer ersten Amerikareise. Dabei war Lotte alles andere als unternehmungslustig. Aber von ihrem treulosen Verlobten aus der Nachkriegszeit war eines Tages ein Brief gekommen. Airmail. Charles. Mit seiner amerikanischen Schrift hat er Lotte eingeladen, seine junge Familie zu besuchen, und Susan war seine Schwester. Sie war Lottes erster Gedanke, als Phia unterwegs war: Wir fragen Susan, die kennt sich aus. Susan war noch an ihrer alten Adresse und hat uns ein billiges Apartment besorgt. Ganz in ihrer Nähe, in einer schönen Straße, wie es sie bei uns gar nicht gibt. Lotte hat alles gleich wiedererkannt, es waren ja auch kaum fünf Jahre vergangen, und damals haben sich die Städte noch nicht so schnell verändert wie heute. Sogar ich habe vieles wiedererkannt, weil wir die Photos von ihrer ersten Reise immer wieder angesehen haben. Vor allem die amerikanische Familie. Dabei sehen Menschen in der Wirklichkeit so anders aus als auf den Bildern. Dreiundfünfzig, als dieser Brief von Charles kam, wußte Lotte nicht, ob sie die Einladung annehmen sollte. Sie hatte Angst vor dem Reisen, und Amerika war weit. Aber Lizzy hatte eben angefangen, zur See zu fahren, und war begeistert. Eine solche Einladung läßt man sich doch nicht entgehen, sagt sie. Du kommst zu mir auf die Seven Seas, da gibt es nichts zu überlegen. Und Lizzy redet so lange auf Lotte ein, bis sie ja sagt zur Überfahrt. Nur mit der Seven Seas ist es nichts geworden. Wenn wir nach Südamerika fahren, sagt Lizzy,
dann kommst du eben mit uns nach Südamerika, aber Lotte wollte nicht nach Buenos Aires, sie wollte nach Philadelphia. Oder vielleicht doch lieber nicht nach Philadelphia. Der Frühling kam, alle haben von Mau-Mau geredet und von der Maikäferplage, und Lotte sagt, aber in Amerika haben sie eine Atombombe gezündet, und Lizzy sagt, was hat das mit den Maikäfern zu tun, und Lotte sagt, mit Amerika. Ich sage, aber nicht in Philadelphia. Warum wir gedacht haben, der Koreakrieg wäre bald zu Ende, weiß ich heute noch nicht. Bei jedem Krieg haben wir das gedacht, als wir jung waren, weil wir uns einfach nicht vorstellen konnten, wozu das Kriegführen gut sein soll. Das kann ich heute noch nicht, aber inzwischen habe ich begriffen, daß es trotzdem stattfindet und erst zu Ende geht, wenn niemand mehr daran glaubt, und oft nicht einmal dann. Was aus der Politik werden sollte, war dreiundfünfzig jedenfalls unklarer denn je, aber Lizzy sagt, das ist kein Grund, zu Hause herumzusitzen. So ist sie gewesen. Immer. Ich habe gedacht, wenn es Krieg gibt, bin ich lieber zu Hause, aber so was behält man für sich. Nachher durch den Kanal, sagt Lizzy dann, und die Ostasienroute. Das mußt du unbedingt machen, wenn du schon mal über den Teich bist. Aber für Lotte war Philadelphia weit genug. Wie war’s, habe ich sie gefragt, als sie zurückkam. Ich hätte gar nicht zu fragen brauchen. Lotte strahlte. So hatte ich sie seit langem nicht mehr gesehen. Bloß in der Besatzungszeit mit ihrem Charly. Sie strahlte, als hätte ihr nichts Besseres zustoßen können, als wieder bei uns zu sein, und zugleich auch so, als würde sie am liebsten sofort wieder ein Schiff nach Amerika besteigen. Ein Schiff besteigt man nicht, hat Lizzy gesagt. Jedesmal. Ein Schiff ist kein Berg. Und wenn sie nicht da war, haben wir beide es gesagt, zweistimmig, kaum daß irgendwo die Rede
auf ein Schiff kam: Ein Schiff ist kein Berg. Wie war Charly, sage ich. Wunderbar, sagt Lotte. Und seine Frau erst, und die Kinder. Sie hatte Photos, damit wir uns die wunderbare Familie in ihrem wunderbaren Heim vorstellen konnten, einem schneeweißen Häuschen aus Holz und mit Säulen. Heute würde uns das alles vielleicht nicht mehr so wunderbar vorkommen, denke ich oft, und ich frage mich, ob es die Photos noch gibt. Sie müßten bei Phia sein. Sie will die Schachtel mit Lottes Photos mitbringen, damit ich ihr alles erklären kann. Vielleicht sind diese Abzüge in ihrem amerikanischen Mäppchen noch dabei. Sie will endlich alles darüber wissen, hat sie gesagt. In diesem Jahr, als sie bei mir gewohnt hat, wollte sie das auch, aber wir sind nicht dazu gekommen. Wie ist das möglich, denke ich heute. Vielleicht lag das an ihr. So ein schwieriges Jahr für sie. Von ihrem Mann war sie endlich geschieden, und ob dieser andere, der dann aufgetaucht ist, besser war, kann ich nicht beurteilen. Ich habe ihn nie gesehen, Phia ist zu ihm gefahren. Sechs Stunden hin und sechs Stunden zurück. Oder waren es vier? Glücklich hat sie nicht ausgesehen. Sie mochte auch nicht über ihn sprechen, und das kann kein gutes Zeichen sein. Unsinn, ich habe auch nie über Willem gesprochen, und doch war er das Beste in meinem Leben, außer Phia, meine ich. Ich muß sie fragen, was aus dieser Sache geworden ist, wenn sie kommt. Auch wenn sie lieber nicht darüber sprechen möchte. Inzwischen weiß ich natürlich mehr über die Geschichte als fünfundneunzig. Nicht daß sie es erzählt hätte – es steht in ihrem Buch. Vielleicht auch das nicht ganz so, wie es sich abgespielt hat, aber daß er ihr einen Antrag gemacht hat, obwohl er verheiratet war, scheint von der Wahrheit nicht allzuweit weg zu sein. Ein merkwürdiger Mann, würde ich sagen. Obwohl es darauf nun auch nicht mehr ankommt,
nachdem sie ihn nicht geheiratet hat. Eine schwierige Geschichte war das. Ich beneide sie nicht darum. Und ich verstehe, daß sie nichts erzählen wollte. Wie hätte ich ihr wohl helfen sollen. Lauter dummes Zeug hätte ich geredet. Als ob man andere vor den Fehlern bewahren könnte, die man selbst gemacht hat. Es wären ja nicht mal dieselben Fehler gewesen. Und als es ernst wurde mit diesem Mann, ist Willem gestorben, und unglückliche Liebesgeschichten waren kein Thema mehr. Vielleicht hat sie damals auch bloß so unglücklich ausgesehen, weil sie zuviel gearbeitet hat. Sie wollte ja unbedingt dieses Buch schreiben, und das in unserer Familie, wo Bücher nicht mal gelesen werden. Vielleicht hilft der Blick auf die Gärten, habe ich gesagt, sommerliche Gärten hinter den Reihenhäusern, in denen die Vögel singen. Und der Nachbarhund in den Rosen wühlt, seit man keine Zäune mehr hat, aber das habe ich nicht gesagt. Und dann die Birke mit ihren tausend Blättern. Oder Millionen. Billionen, sagt Phia, mindestens. Es ist etwas so Wunderbares, eine erwachsene Tochter zu haben. Auch wenn sie es nicht weiß. Und kein Grund, Tränen zu vergießen. Liegt das am Alter? So alt bin ich doch gar nicht. Ist es wahr, hat sie gesagt, daß du meinen Namen ausgesucht hast? Hat Lotte dir das erzählt? Hat sie. Stimmt es denn nicht? Halb und halb, sage ich, wie das meiste. Phia wollte wissen, was das heißt. Das ist doch ganz einfach. Lotte hat geglaubt, sie würde mir einen Wunsch erfüllen. Und für mich war es umgekehrt. Darüber konnten wir reden. Aber ich weiß immer noch nicht, warum Phia keine Kinder hat. Sie war ja lange genug verheiratet. Wie hätte ich wohl danach fragen sollen. Man muß auch immer damit rechnen, alles noch schlimmer zu machen. Und das gehört sich nicht. Außerdem war es bei uns einfach nicht üblich, über schwierige Dinge zu reden.
Vielleicht hat sie sich darum eine ganz falsche Vorstellung von meinem Leben gemacht. Du hast gelebt, wie du es wolltest, sagt sie. Zu mir. Ich höre ihre Stimme noch. Willem war ein paar Wochen tot, und sie wollte mich trösten. Nein, konnte ich nur sagen. Ich wollte ganz anders leben. Aber es war nicht zu machen. Die Jüngeren machen sich ein Bild von uns, und wir erkennen uns nicht wieder. Natürlich nicht, wenn sie das Wichtigste nicht wissen. Außerdem, wer möchte im Alter schon so gesehen werden, wie er wirklich ist? Wir wissen es ja selber nicht. Ein Bild von uns haben wir in die Welt gesetzt, und daran wollen wir nicht rütteln. Dabei glauben wir selbst nicht an dieses Bild, weil wir das meiste besser wissen. Jedenfalls besser, als Phia es in ihrem Buch schreibt. Vielleicht ist es gar nicht so ungewöhnlich, denke ich heute, daß man ein Buch schreibt, wenn man ein Studium abgeschlossen hat. Einmal und nie wieder, sagt Phia und meint die Arbeit an diesem Buch. Und inzwischen hat sie genau das, was sie nie wollte, eine Stelle in einem Marktforschungsinstitut. Herausfinden, wie man den Leuten noch mehr Sachen andreht, die sie gar nicht brauchen, das ist nichts für mich, hat sie immer gesagt. Aber sie muß ja leben. Mit deinem Abschluß findest du bald eine andere Stelle, sage ich. Nicht in der Nachbarstadt, sagt sie, wo inzwischen jede zweite einen solchen Abschluß hat. Dann eben anderswo, sage ich. Aber diese Stadt muß es sein, weil ihre alleinerziehende Freundin Caroline eine Professur bekommen hat, und das läßt sich ohne Hilfe nicht machen. Wie Phia den Mut hatte, nach dreißig noch mit dem Studieren weiterzumachen, das habe ich bewundert. Zu meiner Zeit wäre das undenkbar gewesen. Ein Studium wäre überhaupt undenkbar gewesen, weil ja schon die höhere Schule undenkbar war. Nicht mal die mittlere Reife, weil ich fünfunddreißig zu Hause gebraucht wurde, mit dem
Säugling, und Mutter zu schwach, um sich darum zu kümmern. Zum Glück konnte Lotte in der Schule bleiben und Englisch lernen. Ohne Lottes Englisch – unser ganzes Leben wäre anders verlaufen. Mit fünfzehn erwachsen sein, das mußten wir, während man heute mit dreißig das Ende der Jugend beklagt. Und die Gründung einer eigenen Familie wenn überhaupt, dann immer noch in ferner Zukunft sieht. Vielleicht ist das gar nicht so schlecht. Es ist nur gut und recht, wenn die jungen Frauen heute so viele Möglichkeiten haben. Aber Phia war in einem Alter, wo man sich beeilen muß, wenn man Kinder haben will. Das wußte sie selber, und es hatte keinen Sinn, es ihr auch noch unter die Nase zu reiben. Dabei hätte ich so gern wieder junges Leben im Haus gehabt. Alles muß heute schneller werden. Nur in einem Punkt nicht, sie denken, daß sie sich mit dem Kinderkriegen bis Mitte Vierzig Zeit lassen können. Aber was rede ich. Ich war ja auch nicht mehr die Jüngste damals. Dieses Buch ist mein Kind, sagt Phia. Eine schöne Idee, und trotzdem falsch. Ach, Kind, sage ich. Sie hat es mir nicht übelgenommen. Aber daß sie ausgerechnet neun Monate daran gearbeitet hat, das ist schon merkwürdig. Von Juli bis April, als müßte wirklich ein Kind geboren werden. Danach ist sie noch drei Monate bei mir geblieben, und das habe ich auch gebraucht in all meinem Unglück. Siebenunddreißig war sie, genauso alt wie ich, als mir die Panne passiert ist. Es war eine Panne. Aber ich bin immer froh gewesen, daß sie passiert ist, diese Panne. Das hätte ich ihr sagen sollen, wenn ich nur gewußt hätte wie. Mein Kind, hätte ich am liebsten zu ihr gesagt, wenn sie als Kind tagsüber bei mir war, weil Lotte arbeiten mußte. Tagesmutter heißt das heute. Mein Kind, ein kleines Mädchen, das neben mir durch den Garten hüpft und alles wissen will. Was aus den kleinen grünen Spitzen und Blättern wird, die aus
dem Boden herauskommen. Warum ich die einen ausreiße und die andern nicht. Unkraut, sage ich. Dann muß ich erklären, was ich gegen Unkraut habe, und das ist bei jedem Unkraut etwas anderes. Am liebsten mochte sie die geheimnisvollen roten Triebe der Pfingstrosen, die so weich aussehen und sich doch durch den harten Boden arbeiten. Pfingstrose, hat sie gesagt, das ist ein schönes Wort. Sie hat es geübt und war stolz, daß sie alle Wörter aussprechen konnte, auch die ganz schweren. Goldlack, Stiefmütterchen und Petersilie. Stiefmütter kannte sie nur aus dem Märchenbuch, und die haben zu den Blumen mit ihren schönen Gesichtern überhaupt nicht gepaßt. Du bist mein Stiefmütterchen, sagt das kleine Mädchen, das mein Kind ist, und ich bin deine Petersilie. »Meine Petersilie.« Mein Kind, hätte ich am liebsten die ganze Zeit gesagt. Aber wenn sie nun einmal Lottes Kind geworden war, dann mußte Lotte es ihr beibringen. Es wird Zeit, habe ich gesagt, als Phia in die Schule gekommen war. Lotte hat genickt und nichts unternommen. Eines Tages habe ich gemerkt, wie ich im Unrecht war. Daß es nicht an mir war, Phia zu sagen, daß sie mein Kind war, habe ich schnell begriffen. Aber lange habe ich nicht begriffen, daß es auch nicht an mir war, Lotte zu drängen. Zu lange. Ich war die letzte, die das Recht dazu hatte. Lotte war nie die Stärkste, und daß ihr Paul so früh verunglücken mußte, hat sie nie überwunden. Phia erinnert sich ja nicht mal an ihn. Und sie hat versucht, sich zu erinnern, später, andere erinnern sich auch an ihr erstes Lebensjahr, sagt sie, da können die Psychologen sagen, was sie wollen. Sie hat vor dem Photo gestanden, das ihre Mutter auf der Kommode stehen hatte, und versucht, ihn wiederzuerkennen. Aber ihr Vater ist für sie nie etwas anderes geworden als der Mann auf dem Photo.
Mein Kind, denke ich die ganze Zeit. Und zum Glück erlaubt unsere Sprache, auch zu Kindern, die nicht im eigentlichen Sinn unsere Kinder sind, mein Kind zu sagen. Sogar wenn sie keine Kinder mehr sind.
4
Bald zwei. Um vier will sie kommen. Weil es üblich ist, um vier zu kommen? Nein, weil sie dann am Morgen ihrer Freundin noch das Dreijährige abnehmen kann. Ihr Sessel steht jetzt in der Veranda. Schon als Kind hat sie am liebsten hier gesessen, fast noch in der Küche, aber doch draußen. Wer vorbeigeht, kann uns dann sitzen sehen. Ich muß nicht wissen, wer vorbeigeht, aber Phia hat das gern. Sie wird sich wundern, daß unsere Straße jetzt eine Baustelle ist und noch eine Weile so bleiben wird, weil es zu kalt ist zum Weiterarbeiten. Wieder Schutt, wie früher. Nein, anders als früher. Fünfzehn Jahre war sie verheiratet. Und kein Nachwuchs. An ihrer Ehe ist keinem was aufgefallen, man hätte meinen können, es wäre alles in Ordnung, aber wahrscheinlich war nicht alles in Ordnung. Andererseits kommt Kinderlosigkeit auch in den besten Ehen vor. Und Lizzy hat immer gleich Kinder gehabt, aber ihre Ehen waren trotzdem das Letzte. Jedenfalls kommt Phia eines schönen Tages mit ihrem Sessel und zieht bei mir ein. Ich habe lange genug auf sie einreden müssen. So ein düsteres Loch ist nichts für dich, habe ich gesagt und die unbeschreibliche Einzimmerwohnung gemeint, in die sie sich geflüchtet hatte. Hauptsache allein, sagt Phia. Dabei wollte sie gar nicht allein sein, und erst recht nicht in so einem teuer vermieteten Loch, sondern bloß weg von ihrem Mann. Abends ist sie zu mir gekommen, wenn ihr die Decke auf den Kopf gefallen ist, und ich habe gesagt, das ist nichts für dich. Bis sie ja gesagt hat, ich ziehe zu dir, aber ich nehme das kleine Zimmer.
Du brauchst einen schönen Blick in den Garten, habe ich gesagt. Und Ruhe für deine Arbeit, habe ich gesagt, und ich bleibe vorne. Warum ich das vordere Zimmer gebraucht habe, konnte ich ihr ja nicht gut sagen. Gottseidank, das weiß sie nun. Schließlich hat sie mir geholfen, als ich die Geheimtür zum Nachbarhaus wieder zumauern mußte. Es war eigentlich mehr ein Loch zum Durchsteigen, und wie oft habe ich gedacht, wir hätten die Öffnung größer machen sollen. In den mittleren Jahren rechnet man einfach nicht damit, daß der Mensch älter wird. Die Sache mit meinem Liebhaber weiß sie seitdem, und wie ich ihr den Rest sagen soll, weiß ich trotzdem nicht. Aber das Kind muß alles wissen, und ich bin die letzte, die es ihr sagen kann. Die ganze Wahrheit, meine ich. Im Juli war das, als sie gekommen ist, fünfundneunzig. Alle haben von den Grünen geredet und wie in Berlin der Reichstag eingepackt wird, und bei uns sitzt zum erstenmal die CDU in der Regierung. Wat den eenen sin Uhl is, sagt Willem, und Tante Phie hätte das auch gesagt. Es war ein heißer Tag. Endlich hatte Phia ihr Examen und ihre Scheidung. Den ehelichen Haushalt hatte sie bei ihrem Frühaufsteher zurückgelassen, von dem sich eines Tages zeigte, daß er die Morgenstunden, in denen sie sich vom Studieren ausruhte, nicht bloß für seine Exkursionen, sondern auch zum Fremdgehen benutzte. Aber das war nicht das Schlimmste. Die Probleme haben angefangen, als sie ihr Studium doch noch abschließen wollte, nachdem sie es in den ersten Ehejahren abgebrochen hatte. Da ist ihr Anselm so ausgerastet, wie man es bei einem Mann von heute gar nicht mehr vermuten würde. Und daß sie nicht klein beigeben wollte, konnte er erst recht nicht vertragen. Sie hat jedenfalls bloß diesen Sessel mitgenommen, der noch von Lotte stammte, und mit dem kam sie zu mir. Außerdem hatte sie zwei große Koffer bei sich und jede Menge Schachteln mit Büchern, die so zugeschnürt
waren, als wollte sie ihren Inhalt nie wiedersehen. Mit grünen Schnüren. Und einen von diesen kleinen Kästen, bei denen man kaum glauben kann, daß es sich um einen Computer handelt. Brauchst du nicht einen größeren Bildschirm? sage ich. Nicht nötig. So Phia. Bei ihr muß alles zweckmäßig sein. Das hat sie von mir, würde ich sagen. Wir haben keinen Sinn für das Überflüssige. Bloß für dieses Buch, das sie sich in den Kopf gesetzt hatte, dafür galt das nicht. Nicht weil es ein Buch werden sollte, sondern weil es überhaupt nicht zweckmäßig war. Um das Eheleben im allgemeinen sollte es gehen, wie sie es in ihren Jahren an der Universität zusammengetragen hatte: Universalgeschichte der Monogamie. Was für ein Titel. Über zwei Dinge hat sie sich beklagt, daß die Arbeit so lange dauerte und daß überhaupt nicht das Buch dabei herauskam, das sie sich vorgestellt hatte. Es schien ihr schwerzufallen, was sie gelernt hatte, in eine ordentliche Form zu bringen. Und vor allem hat sie nicht gewußt, was sie weglassen sollte. Du weißt zuviel, hab ich gesagt. Wenn es nur das wäre, sagt Phia. Es war schlimmer. Es lag in der Natur dieses Buchs, das ihr über den Kopf wachsen wollte. Das tun Kinder auch, habe ich gedacht. Man läßt weg, was nicht dazugehört, sage ich. Du hast gut reden, sagt Phia. Wir sind nicht im neunzehnten Jahrhundert. Der Stand der Dinge ist heute der, daß man nichts weglassen kann, wenn man nicht vereinfachen will. Wer das Leben auf eine einfache Formel bringt, lügt. Das hat es früher auch schon gegeben, denke ich und sage: Muß es denn unbedingt ein Buch über die Ehe sein. Das gibt es doch schon. Wir haben viel gelacht in diesem Jahr. Und nicht nur darüber. Aber wie dieses Buch sich breitgemacht hat, das war überhaupt nicht zum Lachen. Am Ende gab es praktisch nichts mehr auf dieser Welt, was nicht dazugehört hätte. Vielleicht hätten sogar
Lottes Photos dazugehört, für die wir unter diesen Umständen nie recht Zeit gefunden haben. In Phias Buch ging es ja um alle möglichen Arten von ehelichem Zusammenleben, und davon sprechen diese Photos Bände. Natürlich nur, wenn man über die Menschen mehr weiß, als die Bilder zeigen. Phia ist merkwürdig in diesen Dingen. Sie ist neugierig, weil sie weiß, daß sie zuwenig weiß, aber wenn wir anfangen, darüber zu reden, kommen wir weiß der Himmel wie, vom Thema ab, und schon reden wir über etwas ganz anderes. Zuerst merkt man es gar nicht. Dann habe ich gedacht, vielleicht hat sie auch Angst vor dem, was sie noch erfahren könnte. Oder sie glaubt, sie wüßte das meiste schon. Aber da täuscht sie sich. Sie weiß ja von dem, was sie weiß, das Wichtigste nicht, weil sie nicht alles weiß. Und ob sie weiß, daß es an der Angst liegt? An dieser Angst, weil wir nicht wissen, was aus uns werden soll, wenn etwas Unbekanntes ans Licht kommt. Erst recht, wenn es etwas Verschwiegenes ist. Zu meiner Zeit haben wir schon als Kinder gelernt, daß über schwierige Dinge nicht gesprochen wird. Heute weiß man ja, daß das falsch ist, und die jungen Leute können über alles reden. Das stimmt gar nicht, sagt Phia. Ach, Kind, sage ich, wenn du wüßtest, über was wir alles nicht reden konnten, und heute sieht man das jeden Tag im Fernsehen. Das ist was anderes, glaubt sie. Trotzdem, sage ich, es hilft, das Reden. Hat es euch denn geholfen? Uns? sage ich. Willi und dir? Phia kennt unsere langen Abende vor dem Fernseher. Und sie hat ihn gut genug gekannt, um zu wissen, wie komisch die Frage war. Ich konnte nur darüber lachen. Wie hätte ich denn mit meinem Willi reden sollen? Das ist nicht zum Lachen, sagt sie und lacht auch. Natürlich nicht. Es war nicht auszuhalten. Phia wußte genau, was ich gemeint habe, obwohl sie das meiste gar nicht wissen konnte. Vielleicht hat sie an
den Ornithologen gedacht, von dem sie endlich geschieden war. Und das war eine ganz andere Geschichte. Trotzdem, sage ich. Heute lernen die jungen Leute, daß man sagen darf, was man denkt. Mag sein, sagt sie, aber es hilft nicht viel. Damit haben wir nicht gerechnet. Die Menschen dürfen den Mund aufmachen, und trotzdem vermissen sie etwas. Vielleicht erwarten sie zuviel. Und vielleicht gilt das nicht bloß für die politischen Verhältnisse. Über alles sprechen können, heißt ja auch, über alles sprechen müssen. Darum beneide ich sie nicht, die Jungen. Das würde ich nicht aushalten. Es hilft nicht viel, hat sie gesagt. Ich muß fragen, was sie damit meint. Man weiß nie genug. Aber das merkt man erst, wenn die, die man fragen könnte, nicht mehr da sind. Und wahrscheinlich würden wir auch, wenn sie noch da wären, mit dem Fragen irgendwann aufhören und später glauben, daß sich gleich dahinter noch das versteckt, was wir eigentlich wissen wollen. Weil es immer erst interessant wird, wenn man genauer hinsieht, hat Phia gesagt, hier, an diesem Tisch. Auf diesem Stuhl. Der Sessel war ja hinten im großen Zimmer. Sie hat gemeint, daß alles mit allem zusammenhängt. Wer nicht auf Kleinigkeiten achtet, muß das Ganze falsch verstehen. Wie im Leben, sage ich. Genau, sagt Phia. Eine einzige zufällige Beobachtung, sagt sie und meint die Forschung, kann das ganze Denken in eine neue Richtung lenken. Was dabei herauskommt, ist unberechenbar. Wer das nicht will, muß weglassen. Und wer wegläßt, scheitert, sagt Phia und meint die Industrie, aber nicht sofort. Erst kommt der Erfolg. Und dann kommt all das, womit man nicht gerechnet hat. Nicht bloß der Müll. Als Laie darf man das nicht sagen, aber Sophia weiß, wovon sie spricht. Vom Chaos. Das hat sie studiert. Weil sie die Ordnung liebt. Das hat sie auch von mir. Nicht jede Art von Ordnung, meine ich. Nicht die schneidigen Uniformen aus der Zeit, als ich jung
war, da haben mir die langen Haare besser gefallen, mit denen die jungen Männer später herumgelaufen sind. Warum sie sich dann wieder die Schädel kahlgeschoren haben, werde ich nie begreifen. Dafür bin ich zu alt. Ich habe die falschen Erinnerungen, wenn es um Ordnung geht. Die Aufmärsche der dreißiger Jahre. Hordenführer, Oberhordenführer, Jungenschaftsführer, Oberjungenschaftsführer. Und so weiter. Aber das war vor Phias Zeit. Sie kennt das natürlich, alle kennen es, weil sie genug Filme darüber gesehen haben, schwarzweiß und in Farbe. Da muß man heute niemandem mehr was erzählen. Aber daß junge Leute sich wieder für Hakenkreuze interessieren, das kann ich nicht begreifen. Sie wissen doch alles. Zurück zu Lotte, die dreiundfünfzig mit amerikanischen Familienphotos und so strahlend zurückkam, wie ich sie lange nicht gesehen hatte. Ich wollte sie am Hafen oder wenigstens am Bahnhof abholen, aber sie haben mich in der Gärtnerei gebraucht, und das Auto hatte ich ja noch nicht. Bei uns haben alle die Luft angehalten, wegen dem Aufstand in Berlin und weil niemand wußte, wie es weitergehen würde, und Lotte hatte noch nichts davon gehört auf dem Schiff. Sie sah wunderbar aus. Was ist los, Lotte, habe ich gesagt. Hast du dich verliebt? Ganz im Gegenteil, sagt sie, ich bin froh, daß ich nicht mit ihm verheiratet bin. Mit Charly. Gottseidank, sage ich. Erst in diesem Augenblick weiß ich, daß ich mich vor ihrer Reise gefürchtet habe. Immerhin hat sie das Leben gelernt mit diesem Mann, und das verwechselt man leicht mit Liebe. Vor allem sechsundvierzig und nachdem Lizzy und ich schon verheiratet waren. Charly ist auch so ein Mann, der sein Wort nicht hält, habe ich achtundvierzig gedacht. Alle haben wir das gedacht. Immerhin waren sie so
gut wie verlobt. Bis er sich verabschiedet hat. Für immer, aber den Mut, das auch zu sagen, hat er nicht gehabt. Falsch, sagt Lotte, er hat es erst in Philadelphia gemerkt. Du glaubst aber auch alles, was man dir erzählt, sage ich. Das wollte Lotte nicht gelten lassen. Sie kannte ihn schließlich besser ich. Und was für die Männer im allgemeinen gilt, kann in besonderen Fällen ja auch einmal falsch sein. Habe ich damals gedacht. Heute glaube ich, daß es nur besondere Fälle gibt. Jedenfalls schreibt er aus sicherer Entfernung, daß nichts daraus wird. Lotte hat als erste begriffen, wie recht er hatte. Sie war merkwürdig erleichtert. Weil es gar keine Liebe war, sagt sie, sondern nur die Freude darüber, daß man ganz anders leben konnte, als wir es gelernt hatten. Ein Wort nicht halten, kann also die bessere Lösung sein. Denke ich heute. Das hätte ich im Krieg schon wissen sollen. Damals konnte ich das nicht mal denken. Wir waren alle so aufeinander angewiesen, daß nur höhere Gewalt oder der Tod einem das Recht gab, ein Wort nicht zu halten. Manchmal denke ich, am schlimmsten war es für Ludwig, als Charly sich verabschiedet hat. Er hatte ja nur noch Augen für diesen Amerikaner gehabt und jede Gelegenheit benutzt, in seiner Nähe zu sein, als wollte er lernen, so zu werden wie er. Aber ich glaube, das kann man nicht lernen. Mich hat ihr Charly natürlich an Fritz erinnert, an diesen Menschen, den ich dreiundvierzig so geliebt habe und der plötzlich versetzt wurde und nur noch Postkarten schrieb, als er erfuhr, daß ein Kind unterwegs war. Von einem Mal? hat er geschrieben. Damals gab es das öfter, Männer, die nicht glauben wollten, daß man von einem einzigen Mal ein Kind kriegen kann. Dann kamen auch keine Postkarten mehr. Warum nicht? Es ist möglich, daß er an die Front mußte, aber unwahrscheinlich bei all den kriegswichtigen Talenten, die er angeblich hatte. Es ist auch möglich, daß er bei den Angriffen
umgekommen ist. Aber ich war so wütend, daß ich dachte, er will einfach nicht mehr, und ich bin heute noch überzeugt, daß das die Wahrheit ist. Jedenfalls habe ich nicht nach ihm gesucht. Warum ich trotzdem gedacht habe, ich könnte nur mit diesem Mann glücklich sein, würde heute niemand mehr verstehen. Ich habe jedenfalls geglaubt, daß danach mit der Liebe Schluß sein mußte. Diesen Fehler mache ich nicht noch einmal, das habe ich mir geschworen. Und Willi geheiratet, diesen Mann, von dem ich sicher war, daß ich ihn nie lieben würde. Das Kind mußte ja einen Vater haben. Und als ich dieses Kind verloren habe, konnte ich nicht mehr zurück. Aber das weiß Phia ja. Warum ich dreiundvierzig geheiratet habe, meine ich. Warum ich keine Kinder habe, hat sie mich gefragt, und die Frage ist ihr nicht leichtgefallen. Das ist der Augenblick, wo die Wahrheit raus muß, habe ich mir gesagt und mit dieser Hochzeit angefangen. Phia konnte nur den Kopf schütteln, so überrascht war sie. Heute würde sich kein Mensch mehr so dumm anstellen wie ich damals. Sie wissen alles über die Liebe und was dazugehört. Kein Mann wird mich je unglücklich machen, hab ich mir damals gesagt. Das hast du dir gesagt? sagt Phia. Mitten im Krieg? Als die halbe Welt von Männern unglücklich gemacht wurde? Womit das Gespräch an einem Punkt war, von dem kein Weg zu unsern Familienangelegenheiten und alldem zurückführte, was ich falsch gemacht habe. Und zu der heiklen Frage nach späteren Schwangerschaften erst recht nicht. Wenn ich noch mal von vorne anfangen könnte, müßte ich das ganz anders machen. Aber damals? Dreiundvierzig? Es ging gar nicht anders. Es hat einfach nie diesen Moment gegeben, wo ich mich so oder so hätte entscheiden können. Ich sehe ihn jedenfalls nicht. Damals nicht und heute auch nicht. Aber daß ich einen Fehler mache und ihn bereuen würde, das habe ich von Anfang an gewußt. Ich dachte, ich müßte diesen Fehler
machen, um noch schlimmere Fehler mit noch schlimmeren Folgen zu vermeiden. Heute wird so viel über Lebenswege gesprochen und wie man sie plant. Das kommt mir unbegreiflich vor. Wie können wir denn irgendwas planen? Vielleicht wissen sie heute, wie das geht. Unsinn, hat Phia gesagt. Es ist genauso wie immer und heißt bloß anders. Trotzdem denke ich, ich hätte das nicht tun dürfen. Wie dumm man sein kann. Wie dumm. Aber ich konnte ja nicht wissen, daß es den Richtigen doch gab. Viel später. Und jetzt ist er schon drei Jahre tot. Nein, dreieinhalb. Willem. Mit seiner warmen Stimme und seinen warmen Händen. Ganz neu anfangen wollte er, mit mir und unserm Kind. Und ich habe gedacht, das geht nicht, verheiratet, wie wir beide waren. Dabei hat meine Ehe aus gemeinsamem Fernsehen bestanden. Erstens Sport und zweitens all diese Filme über Menschen, die bei der erstbesten Gelegenheit ihre Meinung ändern und auf andere keine Rücksicht nehmen. Ein gegebenes Jawort schien auf dem Bildschirm eigentlich nur zu bedeuten, daß man bereit war, für eine Weile auszuprobieren, wie die Sache sich bewähren würde. Und wenn nicht, dann eben nicht. Warum mein Ehemann das sehen wollte, habe ich nie begriffen, weil er meist schon am Anfang eingeschlafen ist. Wie oft habe ich gedacht, ich hätte Willi nicht heiraten dürfen. Es war einfach nicht recht. Ich könnte heulen, wenn ich daran denke. Aber dreiundvierzig war ich noch nicht soweit, wie Charly es uns dann nach dem Krieg vorgemacht hat mit seinem amerikanischen Freiheitsgefühl. Er war so anders als die Männer, die wir kannten. Schon wie er sich bewegt hat. Wir haben uns bei jedem Schritt von tausend Augen beobachtet gefühlt, die nur darauf warten, daß wir etwas falsch machen. Charly nicht. Vielleicht macht man gerade darum so viel falsch, weil man alles richtig machen muß. Es war schon
falsch, Willi als Ersatzvater auszusuchen für ein Kind, das ich von einem einzigen Mal mit meinem Rüstungsspezialisten bekommen sollte. Aber ihn auch dann noch zu heiraten, als ich das Kind schon verloren hatte, das war eine Gemeinheit. Und ich habe im Ernst gedacht, der Anstand verlangt das. Als wäre die Fehlgeburt nicht ein Wink des Schicksals gewesen. Wie durch ein Wunder habe ich die Sache überlebt. Außerdem war Krieg, Vater durfte nichts merken, und mein kleiner Bruder, für den ich die Verantwortung hatte, der war erst acht. Keine guten Voraussetzungen, um schwierige Entscheidungen zu treffen. Ich war ja auch erst dreiundzwanzig. Natürlich habe ich das Kind nicht gewollt, aber als ich es verloren habe, das war entsetzlich. Mit Lotte hätte ich darüber reden können, aber die war weit weg im Einsatz. Du bist überarbeitet, habe ich mir gesagt, reiß dich zusammen, das gibt sich. In Wahrheit wußte ich nicht, wozu ich weiterleben sollte, aber das fragt man sich nicht in solchen Zeiten, wenn es immer weitergehen muß. Vor allem wegen meinem kleinen Bruder, der mich gebraucht hat. So ohne Mutter. Noch ein Kind, das wäre das letzte gewesen, aber ich konnte von dem Gedanken nicht loskommen. Ein eigenes Kind, nachdem ich immer für die kleinen Geschwister gesorgt habe. Es sollte wohl nicht sein. Wer möchte auch in solchen Zeiten geboren werden, wo nur noch gemordet wird. Wie ist das möglich: man kann sich ein Leben ohne Kinder gar nicht vorstellen und erlebt bloß Pannen. Zwei Schwangerschaften und doch kein Kind. Das sollte ich nicht sagen. Phia ist ja da. Was zählt dann, daß sie Lottes Kind geworden ist. Das Lebendige zählt.
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Der Zwetschgenkuchen steht in der Küche und riecht wie früher. Unsinn. Zwetschgenkuchen riecht immer gleich. Nur eins ist anders als früher, jetzt muß ich auch noch daran denken, wie gern Willem ihn gemocht hat und daß Willem nicht mehr da ist, und daß ich immer noch nicht weiß, wie ich das aushalten soll. »Das Lebendige zählt?« Er hat gut reden. Die Fenster müßten geputzt werden. Aber jetzt im November sieht man das nicht so genau. Mir fällt dann immer ein, wie ich die Veranda zunageln mußte und wie Ludwig mir helfen wollte und keinen Nagel gerade einschlagen konnte und so enttäuscht war, daß er nie mehr einen Hammer in die Hand genommen hat. Jedesmal denke ich das, und das ist Gift. Ist das Wohnzimmer aufgeräumt? Es kommt mir so kalt vor. Alles in Ordnung, und warum auch nicht. Ich brauche es ja kaum, und im Winter schon gar nicht. Die Küche und mein Zimmer mit dem Radio, das reicht. Das ist natürlich erst nach dem Krieg mein Zimmer geworden. Vorher hatten wir Herrn Rasmus aus Belgien einquartiert, weil uns nicht soviel Wohnraum zustand. Er war beim Flugzeugbau und konnte alles mögliche reparieren, was bei uns kaputtgegangen ist. Das Photo mit seinen Kindern sehe ich noch vor mir. Er hat in der Küche seinen Muckefuck gekocht und so gern geredet. Vor allem mit unserm Vater, den hat er gemocht, und er konnte es nicht fassen, daß Vater dann doch wegmußte. All die Weihnachtskarten, die er nachher geschickt hat. Oben sollte auch noch jemand einquartiert
werden, aber dafür war Ludwigs Dachkammer wirklich zu klein. Das Wohnzimmer mit der Tür zum Garten ist für mich Phias Zimmer geworden. In der Mitte der Tisch, an dem sie geschrieben hat, unser großer Tisch, der von Anfang an zu klein war für ihre Arbeit. Da sehe ich sie noch sitzen. An demselben Tisch, an dem sie schon ihre Kinderzeichnungen gemacht hat, Willi seine Buchführung, Ludwig seine Hausaufgaben, Vater seine Korrekturen und wir drei Schwestern alles, wofür Kinder einen Tisch brauchen, also ein halbes Kinderleben. Und jetzt brauche ich ihn nicht mehr. Phias Tisch. An der Wand steht jetzt das Sofa. Mutters altes Sofa mit einem neuen Bezug aus den fünfziger Jahren. Das hat mit Phia nichts zu tun. Es ist mein Sofa, auch wenn ich nie wieder darauf sitzen werde, weil ich es nicht aushalte. Aber sie hat mir geholfen, es ins Wohnzimmer zu stellen, damit es mir nicht immer ins Auge fällt in meinem Zimmer. Was hilft das. Ich sollte es ganz weggeben. Aber wie Willem auf diesem Sofa gestorben ist, daran müßte ich auch denken, wenn es nicht mehr da wäre. Alles andere erinnert an Phia. Dabei stammt das meiste von meinen Eltern. Die Stühle. Das Büfett. Der komische alte Teppich, den sie in ihrem Buch beschreibt. Er ist genauso aus der Mode, wie sie sagt. Bloß von Willis Blut, das er bei seiner Szene mit dem Fernseher vergossen hat, schreibt sie nichts. Gottseidank. Was würden die Leute sonst denken. Wahrscheinlich kennt sie die Geschichte gar nicht, sonst hätte sie sich das nicht entgehen lassen, allein schon als ein Beispiel für männliches Verhalten in der Ehe. Ich muß sie danach fragen. Nicht vergessen. All diese Sachen. Und alle voll mit Erinnerungen. Jedes Möbelstück, jeder Winkel dieser Wohnung, jeder einzelne Teller, die verfolgen mich mit ihren Erinnerungen. Ein Blick,
und schon laufen sie in meinem Kopf ab, nichts als Wiederholungen den lieben langen Tag, und oft bin ich nicht sicher, ob es wirklich Erinnerungen sind, es sind ja nicht mal Wiederholungen. Jedesmal sehen sie wie neu aus, und vielleicht sind sie wirklich jedesmal anders. Vergangene Zeiten sind wie Unkraut. Die wachsen und wachsen, und ich will nicht in Erinnerungen ersticken. Vielleicht müßte ich umziehen, um das alles abzuschütteln. Wie Ellie? Nein. Dann schon lieber Erinnerungen. Ordnung müßte ich machen in all dem Durcheinander. Aber wie macht man das? Ich kann ja nicht mal Phia die Wahrheit sagen. Bis jetzt jedenfalls nicht. Vielleicht müßte man alles aufschreiben und zu den Dokumenten legen, aber das könnte ich nie. Jedenfalls nicht so, wie es sein müßte, der Reihe nach. Das Zimmer ist jetzt so still. Nur diese Fliege, die versucht, hier durch den Winter zu kommen. Fliegt mir an den Kopf, als hätte sie schon den Verstand verloren, und erinnert mich an die Mücken, mit denen Phia zu kämpfen hatte. Fünfundneunzig. Mutters Glasschrank klirrt, wenn vorne ein Lastwagen durchfährt. Vor dem Krieg hat die Urne von Vaters einzigem Bruder auf dem Glasschrank gestanden. Ob ich Phia das auch erzählen muß? Jetzt steht ihr Buch in diesem Schrank. Universalgeschichte der Monogamie. Und die Leselampe wackelt, wenn es oben bei Drechslers kritisch wird. Für mich ist das Phias Lampe, wie sie Licht auf ihre Papiere wirft. Und das Fenster, für das wir damals den Glaser gebraucht haben. Ausgerechnet an einem Wochenende. Daher die Mücken. Der Blick nach draußen, der ihr so viel bedeutet hat. Die Katze sitzt wieder da, wo sie immer sitzt, unter der Birke. Das ist nicht so selbstverständlich, wie es klingt. Katzen haben ein kurzes Leben. Eines Tages kommen sie nicht mehr. Erst merkt man es gar nicht. Dann doch diese Frage. Ob es für immer ist. Und dann ist es für immer. Fast immer.
Nein, hat Phia gesagt, die Katze kommt nicht in mein Buch. Warum denn nicht, wenn du sie doch gern hast. Weil es ein Buch über Vögel ist, sagt sie, und eine Katze im selben Buch, das darf ich den Vögeln nicht antun. Ich dachte, es soll ein Buch über die Ehe werden. Ach, Lena. Ach, Kind? Das kann ich dir erklären, sagt sie. Weißt du, wenn vierundneunzig Prozent der Vögel sich um irgendeine Art von ehelicher Bindung bemühen… Aber sie kann es nicht erklären, weil wir so lachen müssen, daß gar nichts zu erklären übrigbleibt. Jetzt ist die Birke morgens voll Rauhreif, und darin sitzen dick und rund die Amseln. Wie schwarze Äpfel vor dem grauen Schneehimmel. Diese Winter in den Neunzigern sind wie früher, als es noch richtige Winter gab. Kalt. Es hat geschneit und geschneit. Wir Kinder haben am Fenster gestanden und zugesehen, als dürfte uns keine einzige Flocke entgehen. Stundenlang, kommt es mir heute vor, hat es nichts anderes gegeben auf dieser Welt als Schneeflocken, die sich vom Wind treiben lassen und irgendwann zu Boden gehen. Später hatten wir jede Menge Verantwortung, und wenn es geschneit hat, war das nicht mehr das gleiche. Wer zu tun hat, stellt sich nicht ans Fenster, bloß um dem Schnee zuzusehen und sich vorzustellen, man wäre eine Schneeflocke und würde tanzen, solange es geht, und sich dann am Boden in einen Wassertropfen auflösen. Kein Wunder, daß wir geglaubt haben, es gäbe keine solchen Winter mehr wie in den zwanziger Jahren. Dabei habe ich nach dem Krieg so gefroren wie noch nie, wenn ich aufs Land gefahren bin, um etwas zu essen zu besorgen. Annie war auch ganz blaugefroren. Und siebenundvierzig war der Winter noch schlimmer, aber da haben uns nicht die Schneeflocken gekümmert, sondern die Feuerung. Ludwig ist nur noch in die Schule gegangen, um neue Hausarbeiten zu holen, weil sie nichts zum Heizen hatten.
Aber in den Neunzigern sind mir die Winter wieder vorgekommen wie früher. Weil ich Zeit habe, denke ich und denke auch, daß ich das jedesmal denke. Merkwürdig, dieses Gefühl von zuviel Zeit, jetzt, wo nur noch wenig übrig ist. Aber die Winter sind auch wieder nicht wie in den Zwanzigern, es heißt, sie wären wärmer, aber mir kommen sie eisiger vor, und Eis macht das Gehen schwer. Weil Willem gestorben ist, denke ich. Und weil ich soviel herumgehe, wenn die Tage lang sind. Ja, lang sind sie. Und gehen doch schneller vorbei. Das soll verstehen, wer kann. Am Nachmittag ist kein Rauhreif mehr in der Birke. Aber Spatzen und Amseln. Meisen. Buchfinken. Nicht mal zwei Drittel der Zugvögel kommen zurück, sagt Phia. Im Radio haben sie es auch gesagt, und jetzt frage ich mich, was mit den andern passiert. Haben sie die Reise nicht überstanden? Was ist ihnen zugestoßen? Altersschwäche? Oder leben sie noch, anderswo, weil sie ein besseres Land gefunden haben? Wenn man das wüßte. Heute Krähen. Sie kommen jetzt sogar in die Gärten. Ich muß Phia erzählen, daß das Lottes Lieblingsbaum war, schon als Kind. Da war er noch klein, und sie hat Scherenschnitte gemacht, eine Birke im Wind und kleine Vögel in den Zweigen, und im Krieg hat sie immer gefragt, ob der Baum noch steht. Darum habe ich gedacht, er würde Phia guttun. Schließlich hat sie ihre Mutter mit zwanzig verloren. Lotte hatte ein schwaches Herz, wie unsere Mutter. Dabei hat Vater immer gesagt, bei Mutter liegt es an der Grippe, an der sie beinahe gestorben wäre. Das schlägt aufs Herz. Aber andere Sachen schlagen auch aufs Herz. Die Sorgen in der Inflationszeit, der sogenannte Haussegen, das Tausendjährige Reich und dann noch ein Weltkrieg. Kein Wunder, daß sie vierzig gestorben ist, denke ich heute. Lotte hatte keine Grippe und doch ein schwaches Herz.
Dreiundfünfzig war sie natürlich noch gesund, als sie ihre Amerikareise gemacht hat. Und wie strahlend sie im Juni zurückgekommen ist. Eine unbeschreibliche Begeisterung ging von ihr aus, die sich auf alle übertrug, die mit ihr zu tun hatten. Und dieses Strahlen hat ihr geholfen, ihre große Liebe zu finden, da bin ich sicher, ausgerechnet auf dem düsteren Gang der Schirmbildstelle. Die Leute sitzen auf den Bänken, die an der Wand stehen, und warten, daß sie aufgerufen werden. Wie Lotte in der Stille zum erstenmal seine Stimme hört, denkt sie: Wie gut, daß ich nicht Mrs. Rigby geworden bin. Zum Glück mußten sie lange genug warten. Und als sie dann noch sitzengeblieben sind, um sich gegenseitig ihre Aufnahmen zu zeigen, war längst alles klar. Eine ganze gemeinsame Zukunft. Lotte und Paul. Nie wieder habe ich zwei Menschen gesehen, die so glücklich waren miteinander. Nach fünf Jahren war immer noch kein Kind da. Nur eine Fehlgeburt, die im Kino angefangen hat, ausgerechnet bei diesem Film über Ferdinand Lesseps, der Paul so ähnlich sah. Die Reise nach Friedland war zuviel gewesen für Lotte, würde ich sagen. Aber das sagt man nicht. Es war auch so schon traurig genug. Ich hätte sie nicht mitnehmen dürfen. Nachher weiß man das. Aber Lizzy war auf See. Außerdem wollte Lotte unbedingt mit, und sie wußte ja auch noch nichts von ihrer Schwangerschaft. Daran mußte ich immer denken, als dann die Suezkrise kam. Aber Willem hätte ich bestimmt nicht kennengelernt, wenn ich allein nach Friedland gefahren wäre. Auf dem Rückweg. Zu dritt kommt man leichter ins Gespräch, so niedergeschlagen, wie wir alle waren. Zuerst hat er Lotte gegenüber gesehen und erst später gemerkt, daß ich neben ihm saß, in einem Abteil mit lauter Menschen, die die Reise umsonst gemacht hatten. Der letzte Transport von Kriegsgefangenen. Wer dort nicht ankam, war nicht mehr vermißt, der war tot, obwohl manche es selbst dann nicht
wahrhaben wollten. Wir hatten schon vor der Reise nicht geglaubt, daß Kurt noch am Leben war, Mutters jüngster Bruder, in den wir alle drei mal verliebt gewesen waren. Gestritten haben wir uns darüber, wer sich Hoffnungen machen durfte, aber das war vor dem Krieg. Und dann wurde er eingezogen. Friedland war die letzte Gelegenheit, noch etwas für ihn zu tun, wenn man nicht ganz aufgeben wollte. Und so sinnlos wie alles, was mit diesem Krieg zu tun hatte. Willem war wegen seinem Bruder hingefahren. Und der ist sowenig dabeigewesen wie unser Onkel Kurt. Danach war nichts mehr, wie es gewesen war. Meine alte Freundschaft mit Annie hat sich bewährt. Jedenfalls habe ich oft behauptet, daß ich zu ihr muß. In diesen Jahren hat sie alle paar Tage meine Hilfe gebraucht. Angeblich. Wir waren so erfinderisch, wie es uns kein Mensch je zugetraut hätte. Nach zwei Jahren mußte ich Auto fahren lernen, bei Ludwig in der Gärtnerei ging es aufwärts, und nicht nur, weil die Zeiten besser wurden. Ich habe gearbeitet wie verrückt, und das war auch nötig, er war ja so jung. Mit zwanzig einen Betrieb übernehmen, das ist nicht so einfach. Und dann eine Ehefrau, die unter Blumenallergien leidet, und ein Kind zu versorgen. Ich nehme es dir ab, habe ich zu Dagmar gesagt, aber davon wollte sie nichts wissen. Kein Füßchen durfte Wilma in die Gärtnerei setzen. Wegen der Allergien. Sie hätte sich ja was holen können. Aber wie es so geht, heute ist Wilma die Chefin. Jedenfalls hat Ludwig mir den Wagen gekauft. Wozu brauchst du ein Auto, sagt mein Willi. Damit ich für meinen Bruder fahren kann. Wer soll das bezahlen, sagt er. Du nicht, sage ich. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Nicht in diesem Ton. Das war der Moment, wo er angefangen hat, das Haushaltsgeld nachzurechnen. Ich habe einen günstigen Wagen gefunden, der schon viel erlebt hatte. Der Nachteil war,
daß mein Willi vorbeikommen und auf einen Blick sehen konnte, wo ich war und wo ich nicht war. Einmal hat er bei Annie geklingelt, an einem von seinen schlechten Tagen. Komm rein, sagt Annie. Natürlich war ich nicht bei ihr. Und warum nicht? sagt Willi. Setz dich, sagt Annie, willst du einen Kaffee. Das Holz für die Zwischenwand ist nicht rechtzeitig angekommen, sagt sie, und da ist Lena natürlich gleich weitergefahren mit den Blumenkisten, die noch wegmußten. Annie hat sich gut gehalten beim Lügen, das muß man ihr lassen. Obwohl ihr die Wahrheit über alles ging. Aber wir haben es auch geübt. Zum Glück hat sie weit weg gewohnt. Und Willi konnte nicht dauernd aus seinem Amt weglaufen, um herauszufinden, wie ich meine Tage verbracht habe. Dann wurde ich schwanger. Nicht von einem Mal wie im Krieg und natürlich nicht von meinem Mann. Eine Panne. Aus Leichtsinn. Und ausgerechnet im September, als auf jeder freien Wand »Keine Experimente!« zu lesen stand. Mit Ausrufungszeichen und einem Bild von Dr. Adenauer, das aussah wie das Titelbild für einen Arztroman. Aber da wußten wir noch nicht, daß was passiert war. Wie wir gelacht haben, als wir es gemerkt haben. Die letzten Plakate klebten noch an den Wänden, verregnet und beschmiert, und wir haben gelacht, obwohl uns auch nach Weinen zumute war. Mir jedenfalls. Wie ich ihm die Tränen aus den Augen laufen sah, vor Lachen, wenn ich es nicht besser gewußt hätte. Keine Experimente. Als wäre die atomare Bewaffnung kein Experiment gewesen. Wir waren mehr für »Keine Wehrpflicht«, aber dafür gab es keine absolute Mehrheit. Was war damals nicht alles verboten. Seit es die Pille gibt, ist die Liebe erlaubt. Die jungen Leute haben es gut, habe ich gedacht, kein Wunder, daß sie nicht mehr heiraten. Aber ich habe mir das wohl zu rosig vorgestellt. Liebe, sagt Phia, ist heute nicht mehr verboten, aber einfacher ist sie darum nicht geworden.
Ach, Kind, sage ich, weil sie so niedergeschlagen aussieht, wenn sie das sagt, und ich traue mich nicht zu fragen, was sie damit meint. Würde sie das nicht von selber sagen, wenn es ihr leichtfiele? Und das Neuste ist, daß sie nun doch wieder heiraten, Hochzeiten wie im Kino mit allem Drum und Dran, höre ich. Als könnten sie die Freiheit nicht mehr aushalten. Oder weiß der Himmel warum. Ich muß Phia fragen, was das zu bedeuten hat. Nicht vergessen. Irgendwas ist immer verboten. In den Neunzigern ist es das Essen. Das hätten wir uns damals nicht träumen lassen. Wir hatten andere Sorgen. Ein Kind von einem andern durfte siebenundfünfzig nicht sein. Das muß Phia wissen. Auch wenn es ihr weh tut, einer Panne ihr Leben zu verdanken. Für mich ist die Pille zu spät gekommen. Aber was rede ich. Wenn es sie ein paar Jahre früher gegeben hätte, dann wäre Phia nicht auf die Welt gekommen, und das wäre nicht auszuhalten. Mir ist schon schlecht geworden, bevor ich einen Test gemacht habe. Kaum habe ich gemerkt, daß was passiert ist, was ist mein erster Gedanke? Daß ich mit Willi schlafen muß. Vorsichtshalber. Bloß, wie fängt man das an, wenn man es seit Jahren nicht mehr gemacht hat? Alkohol wäre die Lösung, aber er gehört nicht zu denen, die sich ohne Anlaß betrinken. Da ruft seine Mutter an, und das tut sie sonst nicht. Sein Vater hat einen Schlaganfall gehabt, aber es geht ihm gut. In der Nacht schläft Willi schlecht. Er redet ja immer im Schlaf, kurze Befehle und langes Murmeln, aber in dieser Nacht schreit er. Am nächsten Tag ruft sie wieder an, seine Mutter, weil der Vater gestorben ist. Die Beerdigung hat es dann möglich gemacht. Die ungewohnte Unterkunft im Hotel. Seine Mutter war ja nicht davon abzubringen, uns die Übernachtung zu bezahlen, weil sie im Trauerhaus keinen Platz mehr hatte, seine fromme Schwester wurde dort gebraucht, samt Familie.
So seine Mutter. Wir nehmen den Zug, sage ich. Wozu haben wir ein Auto, sagt er. Wir? denke ich. Aber das sage ich unter diesen Umständen besser nicht. Der Zug kam für ihn nicht in Frage. Weißt du, was das kostet? sagt er. Und er wollte fahren. Im Krieg bin ich auch gefahren, sagt er, aber seitdem nicht, sage ich, das liegt nicht an mir, sagt er. Und damit hat er recht. Ist es mein Vater oder deiner, sagt er. Er fährt also, ich hätte fast gebetet, und es ist auch alles gutgegangen, nur eine Schramme auf dem Parkplatz. Wie kann man sich nur so hinstellen, sagt er und meint die andern Wagen, die schon dastehen. Für die Beerdigung war es noch zu früh. Wir hätten doch zuerst ins Hotel fahren sollen, sage ich. Dann haben wir unsern ersten gemeinsamen Spaziergang gemacht, über den Friedhof, mir ist schlecht, weil ich im zweiten Monat bin, aber wenn ich nicht will, daß man mir etwas anmerkt, dann merkt man mir nichts an, und während wir über die Kieswege gehen und die Gräber reihenweise auf uns zukommen, erklärt mein Willi mir, daß man im Krieg auch nicht zuerst an die Unterkunft denkt, wenn es hart auf hart geht. Was soll ich sagen, wir sitzen in der Kirche, erste Reihe, Willi fängt an zu ächzen, sein Vater war ein frommer Mann, über den man viel Gutes sagen kann bei dieser Gelegenheit. Ich kenne das, all das Gute, das man über ihn sagen kann, weil er ein verdienter Beamter der Kirche war, und die Angst kenne ich auch, die alle vor ihm gehabt haben, ohne darin einen Gegensatz zu seiner Güte zu sehen. Auch dieses Ächzen neben mir kenne ich. Das ist so ziemlich das einzige, was Willi von seinem Vater mitbekommen hat, und dieses Ächzen ist normalerweise der Anfang von etwas, das ich seine Ausbrüche nenne. Im besten Fall springt er auf und rennt davon, und im schlechtesten geht er auf irgend jemanden los, der gerade in der Nähe ist. Um Gottes willen, denke ich, in der Kirche. Aber
nichts von alledem geschieht. Als die Trauergemeinde zu singen versucht, hört sein Ächzen auf, gottseidank, denke ich, aber da irre ich mich. Willi fängt an zu weinen, leise, und er hört auch nicht auf, als es wieder still wird. Er ist der einzige. Vorne hat wieder ein frommer Mann das Wort. Jahrelang hat Willi seinen Vater nicht gesehen, denke ich, und jetzt heult er. Selbstmitleid oder Erleichterung, denke ich. Oder beides. Und abends im Bett, in diesem ungewohnten Hotelbett, jetzt von Wein und Bier und Familie verwirrt, schluchzt er wieder, das arme Waisenkind, und ich kann nicht so tun, als würde ich es nicht hören. Ich lege also meinen Arm um ihn, und mein Problem ist gelöst. Wenn dieses Kind auf die Welt kommt, weiß er, daß er der Vater ist. Danach hat das Weinen aufgehört und nie wieder angefangen. Dabei war ich gar nicht so sicher, daß das Kind auf die Welt kommen sollte. Ich dachte, ich müßte es wegmachen lassen. Dabei wollte ich gern ein Kind, hatte ich immer gewollt, nur war mein Leben nicht danach. Und was hätte ein Kind auch mit einem Vater wie Willi anfangen sollen. Ich kann mich auf ihn einstellen, aber ein Kind kann das noch nicht. So lange habe ich hin und her überlegt, bis es zu spät war. Und das habe ich nie bereut. Aber die Sache mit Willi habe ich bereut, weil er nach der Beerdigung wollte, daß das zu Hause so weiterging mit uns, und ich wußte nicht, wie ich ihn davon abbringen sollte. Wenn er nicht meistens vor dem Fernseher eingeschlafen wäre, hätte es Abend für Abend so weitergehen sollen. In unserm Alter, hab ich gesagt, ich bin abends jedenfalls müde, und du auch. Ich bin nicht müde, sagt mein Willi. Und warum schläfst du dann ein? Weil das Programm langweilig ist. Du hast dir das Programm doch selber ausgesucht. Weil sie alle langweilig sind. Ist ja gut, sage ich.
Es hat keinen Sinn, mit ihm zu reden. Er hört nicht zu. Oder nur so lange, bis sein Stichwort fällt, und dann kommt er nicht mehr davon los. Das bringt nichts. Schon gar nicht, wenn es darum geht, daß er mich in Ruhe läßt. Was soll ich sonst tun. Kopfschmerzen erfinden, das liegt mir nicht. Im Bett ist er genauso wie beim Reden. Lange halte ich das nicht aus. Muß ich dem Kind das auch erzählen? Ich glaube schon. Es ist schließlich ein Teil der Wahrheit, und wenn sie diesen Teil nicht weiß, wie soll sie das andere richtig verstehen? Ich schäme mich, und das muß sie wissen. Daß ich Willi auch bei meiner ersten Schwangerschaft ausgenutzt habe, weiß sie ja schon. Es war gar nicht schwer, darüber zu reden. Warum? Weil es eine Jugendsünde war? Muß man sich wegen einer Jugendsünde nicht schämen? Vielleicht. Vielleicht hatte Phia darum den Mut, mich danach zu fragen? Wenn jemand fragt, ist es viel leichter. Nicht leicht genug. Ich hätte ihr ja mehr erzählen müssen als das, wonach sie gefragt hat. Viel mehr. Und danach konnte sie nicht gut fragen, solange sie nicht wußte, was noch alles dazugehört hat. Eigentlich wäre dieses alberne Alibi gar nicht nötig gewesen. Wir haben uns dann ja ganz anders entschieden. Lottes Idee. Sie war die einzige, mit der ich gesprochen habe, weil sie auch die einzige war, die Willem kannte. Schließlich war sie dabeigewesen, auf der Reise nach Friedland, als wir uns kennengelernt haben. Von da an hat sie alles gewußt. Aber ich war auch die einzige, die gewußt hat, daß sie keine Kinder mehr haben konnte nach ihrer Fehlgeburt. Was lag also näher, als daß sie diejenige spielt, die ein Kind erwartet. Und deswegen mußte sie nach Amerika, weil dort ihre angebliche Schulfreundin lebte, die angebliche Hebamme. Ihre angebliche Schwangerschaft stellte sich ja als so kompliziert heraus, daß die einheimische Medizin ein zu großes Risiko war. Und daß sie eine solche Reise nicht allein machen konnte, leuchtete
jedem von selbst ein. Wir waren sehr vorsichtig. Außer den beiden Vätern hat niemand etwas erfahren. Bis heute nicht. Lizzy und ihre Seven Seas waren auch diesmal auf der falschen Route. Wir überlegten nicht lange und nahmen ein anderes Schiff. Ein Schiff ist kein Berg, sagten wir. Und es wurde auch Zeit, weil ich bald nicht mehr verbergen konnte, was mit mir los war. Susan war zwar keine Hebamme, aber eine große Hilfe. Sie hatte alles schon arrangiert, als sie uns am Hafen abholen kam. Die Wohnung, das Telephon, die Klinik und eine echte Hebamme. Und was hat sie uns nicht alles gezeigt, bis es soweit war. Am Hafen fing es an und hat eigentlich überhaupt nicht aufgehört. Daß ich einmal so viel von der Welt sehen würde, damit hatte ich nicht gerechnet, und das in einem Zustand, der nicht nur das Gehen, sondern auch das Sitzen in bequemen Autos mühsam machte. Ich konnte trotzdem gar nicht genug bekommen davon. Es war, als würde das Gewicht der Dinge sich von Grund auf ändern, weil wir sie mit Susans Augen zu sehen bekamen. Sie war auf eine Art neugierig, die mir noch nie begegnet war. Sie wollte es wirklich wissen. Auch das, was wir dachten. Lotte hat übersetzt. Außer Hello, Good luck und Thank you habe ich nicht viel behalten. Nur einen Satz: You can always change your mind. Lotte übersetzt. Zum erstenmal habe ich an ihren Fähigkeiten gezweifelt. Doch, sagt Lotte, das hat sie wirklich gesagt. Das wäre schön, denke ich heute, wenn man es sich anders überlegen könnte. Aber schwer, danach zu handeln. Susan hatte keine Kinder, weil ihr Mann, kaum daß sie getraut waren, bei der Befreiung Europas umgekommen ist. Charly hat mehr Glück gehabt. Seine Kinder waren inzwischen fünf Jahre älter als auf Lottes Photos und konnten nicht fassen, daß es Menschen gibt, die kein Englisch verstehen. Trotzdem wunderbare Kinder. Wenn Susan keine Zeit hatte, zeigte
Charly uns sein Philadelphia, und das war wieder ganz anders als das von Susan. Der Schrein der Demokratie. Die Wiege des Bundesstaats, sagt er, der Unabhängigkeit, der Weltgeschichte. Die Stadt der schwesterlichen Liebe, sagt Susan, sagt Lotte. Charly lacht. Well, sagt er, die Gründerväter haben wohl eher ans Brüderliche gedacht. Aber sie hat ganz recht, meine Schwester. Susan hat versprochen, uns zu besuchen. Bald. Aber sie war auch eine von denen, die immer gebraucht werden. Ich habe die Hoffnung trotzdem nie aufgegeben. Und immer davon geträumt, noch einmal nach Philadelphia zu reisen, um sie wiederzusehen. Aber allein? Mehr als ein paar Brocken Englisch habe ich achtundfünfzig ja nicht gelernt. Und gestern kommt dieser Brief von C. Rigby. Charly. Wer sonst. Ich sehe ihn immer, wie er mit dem Jeep vorfährt, um Lotte nach Hause zu bringen. Wie Ludwig mitfahren wollte. Sein amerikanisches Lachen, so offen. Und so glücklich. Susan ist gestorben, schreibt er. Sie nun auch. Und ich weiß nicht, wie ich den Brief beantworten soll. Aber Phia kann mir helfen, wenn sie kommt. Sie ist keine von von denen, die sagen, das ist dein Problem. Und Englisch kann sie auch. Nie wieder habe ich eine so schöne Reise gemacht. Eigentlich gar keine Reisen, aber das ist eine andere Geschichte. Keine besondere. Ich habe es auch nie vermißt, das Reisen, und hätte gar nicht gewußt, was ich irgendwo auf der Welt soll, wo ich nicht hingehöre. Bloß nach Philadelphia wollte ich wieder, weil es so schön war. Das denke ich oft. Heute noch. Dabei weiß ich nicht mal, ob ich eine Flugreise vertragen würde. In meinem Alter. Warum eigentlich nicht? Ich bin gesund. Das heißt, ich habe keine Krankheiten. Aber Susan ist tot. Ich hätte nie gedacht, daß es einmal zu spät sein könnte. Reisen war bei uns einfach nicht üblich, und wer wegmußte, war froh, wenn er wieder nach Hause konnte. Nicht bloß wegen der Kriege. Es hat auch
alles zu lange gedauert und zuviel gekostet. Wir konnten uns das jedenfalls nicht leisten und waren mehr für die eigenen vier Wände. Außer denen natürlich, die für die Seefahrt waren, und wohin die führt, kann man bei Lizzy sehen, eine unglückliche Ehe und drei überstürzt in die Welt gesetzte Kinder. Jedenfalls wurde unsere Sophia Barbara auf dem Papier dann nicht von mir, sondern von Lotte geboren und ist amerikanische Staatsbürgerin. Was unsere Mutter wohl dazu sagen würde. Sie wäre so gern ausgewandert. In das Land der unbegrenzten Möglichkeiten, wie sie immer gesagt hat. Wenn sie es geschafft hätte, dann würde es Phia heute nicht geben. Und mich würde es auch nicht geben. Oder wäre ich auch ich, wenn sie mich irgendwo drüben zur Welt gebracht hätte? Und hätte sie dann auch eine Frisierkommode im Schlafzimmer gehabt und ihr Haar gebürstet? Charlys Frau hatte jedenfalls keine und Susan auch nicht, aber die war auch keine Ehefrau. Ohne ihre Frisierkommode mit dem seidenen Hocker kann ich mir Mutter gar nicht vorstellen. Auf der Glasplatte eine silberne Bürste, ein silberner Handspiegel und ein Zerstäuber, den ich sonntags benutzen durfte. Ein Duft, den ich nie wiedergefunden habe. Nur eine unscheinbare Flüssigkeit in dem geschliffenen Glas. Dieser Gummiball hatte es mir angetan, wie er mit gelber Seide umhäkelt war und Fransen hatte, die ich mir immer in orientalischen Märchen vorgestellt habe. Das bessere Leben. Vater wollte nichts wegräumen, als sie gestorben war. Vielleicht hätte ich es tun sollen. Drei Jahre später haben Willi und ich geheiratet. In Weiß natürlich. Kaum mehr als eine Hochzeitsnacht, er mußte ja wieder an die Front. Vater war der einzige, der sich über die Hochzeit gefreut hat. Ludwig war dagegen, Lotte und Lizzy konnten mit Willi nicht viel anfangen und ich auch nicht. Und wer weiß, denke ich heute, ob Vater sich wirklich gefreut hat. Umzuräumen gab es nicht viel. Unser Schlafzimmer kommt in das Zimmer, wo ich
früher mit Lotte und Lizzy geschlafen habe, Ludwig bleibt, wo er ist, in der kleinen Kammer mit der Dachluke, und Vater auch, im Elternschlafzimmer mit dem großen Schrank und Mutters leerem Bett neben seinem. Aber er will, daß ich die Frisierkommode in unser eheliches Schlafzimmer stelle. Das gehört dazu, sagt er. Sie erinnert ihn zu sehr an unsere tote Mutter, denke ich und erfülle ihm seinen Wunsch. Obwohl unser Zimmer eigentlich zu klein ist für noch ein Möbel. Und daß die Kommode mich auch an Mutter erinnert, daran denkt er nicht. Oder doch? Aber alles andere erinnert ja auch an die Tote. Schon die Schlafzimmertür, jedesmal ist mir, als sähe ich sie hinter dieser Tür auf ihrem Hocker sitzen, und durchs Fenster scheint das Licht auf sie. Vielleicht sieht Vater etwas anderes. Aber wie er Mutters leeres Bett neben sich aushält, kann ich nicht begreifen. Du hast ja auch ein leeres Bett neben dir, sagt er. Als wüßte er nicht, daß das etwas ganz anderes ist. Ich muß also mit ihm darüber gesprochen haben. Das wundert mich. Mutters Kleider waren auch in seinem Schrank hängengeblieben. Dabei hat ihm die Art, wie sie sich anzog, überhaupt nicht gepaßt. Mußt du immer etwas Besonderes haben. Nicht daß er es oft gesagt hätte, aber so einen Satz vergißt man nicht. Der kommt einem auch dann in den Sinn, wenn er gar nicht ausgesprochen wird. Sein Schweigen war deutlich genug. Es ging nicht ums Geld, Mutter hat wenig ausgegeben, aber Sinn für das Besondere hat sie gehabt. Das hat er nicht vertragen. Lizzy und ich haben uns auf Mutters Seite geschlagen. Vielleicht hätten wir das nicht tun sollen. Aber das wissen Kinder noch nicht. Da sieht man, daß ihr keinen Krieg erlebt habt, sagt Vater. Das hat immer gewirkt. Dabei habe ich gedacht, daß die Inflation viel schlimmer war. Das ist natürlich Unsinn, aber ich hatte ja wirklich noch keinen Krieg erlebt. Lotte hat wie immer den Mund gehalten, wenn es
darum ging, auf welcher Seite wir waren. Aber das ist lange her. Nach dem Krieg hat sie sich wieder zu uns durchgeschlagen und in Vaters Zimmer geschlafen. Ihre Englischkenntnisse wurden sofort gebraucht, erst beim amerikanischen Roten Kreuz, noch während der Ausgangssperre, dann ist sie als Dolmetscherin in MP-Jeeps mitgefahren. Ist das nicht gefährlich, sage ich. Nein, lacht sie, die besonderen Vorkommnisse, von denen sie immer reden, die kommen gar nicht vor. Lizzy hatte ihre kleinen Mädchen und einen Ehemann, Vater kam und kam nicht, und ich bin aufs Land gefahren, um bei Annies Verwandten zu helfen, die immer genug zu essen hatten. Und Lotte bringt Kaffee und Seife und harte Währung nach Hause. Eine Schachtel macht hundert Reichsmark. Das war die Zeit, als noch alles in Zigaretten umgerechnet wurde. Nanu, sagt Lizzy, ihr Ehemann erlebte gerade eine vorübergehende nachkriegsbedingte und ganz untypische Flaute, echte Sargnägel, sagt Lizzy, und ganz umsonst? Weil du’s bist, sagt Lotte. Und Lizzy weiß den Liebesbeweis zu schätzen. Lotte hat nie eine Zigarette angefaßt. Lizzy inhaliert. Darunter tut sie es nicht. Warum? Aus Trotz. Lizzy brauchte nur ein einziges Mal zu hören, eine deutsche Frau raucht nicht, um hinzugehen und sich Zigaretten zu besorgen. Mit siebzehn. Aber mußte sie sich deswegen auch gleich ein Kind machen lassen? Und dann heiraten? Einen Mann, der überhaupt nicht zu ihr paßte? Und nach ein paar Jahren allein dastehen mit zwei kleinen Mädchen? Ich helfe dir, habe ich gesagt. Aber nichts zu machen, das war das letzte für Lizzy, sich helfen lassen. Ans Aufhören hat sie nie gedacht. Wir haben es immer wieder versucht, aber von ihren Schwestern wollte sie sich wohl nichts sagen lassen, auch nicht, was das Rauchen anging. Ich habe andere Sorgen. So ihre Antwort. Und das war richtig. Bloß daß es nichts miteinander zu tun hatte. Und daß sie nachher
tatsächlich vom Rauchen gestorben ist. Ihren Trotz hat sie nicht aufgegeben. Ich hätte ja längst von was anderm gestorben sein können, sagt sie, als es sechsundachtzig zu Ende geht. Wer sagt denn… sagt sie und hustet und lacht dieses Lachen, das sie schon immer gelacht hat, und ich weiß nicht, ob ich auch lachen oder doch weinen soll. Und Lotte, sagt sie, die hat nie einen Sargnagel angefaßt und ist auch schon tot. Nach dem Krieg habe ich sie abholen lassen, Mutters Frisierkommode mit dem dreiteiligen Spiegel. Nicht für Geld, sondern für harte Währung. Muß das sein, sagt Lotte. Sie versteht nicht, wie man Mutters Frisierkommode für Zigaretten weggeben kann. Was soll ich damit, sage ich, obwohl damals jede anständige Ehefrau eine Frisierkommode mit einem dreiteiligen Spiegel haben mußte. Wenn sie nicht ausgebombt war, meine ich, oder Flüchtling. Wahrscheinlich war ich keine anständige Ehefrau. Wat den eenen sin Uhl is, würde Tante Phie sagen und das mit der Nachtigall weglassen. Sie hat nie geheiratet. Warum nicht? Dumme Frage, hat sie gesagt. Du solltest lieber die andern fragen, warum sie heiraten. Da kannst du was lernen. Nicht mal den Zerstäuber habe ich behalten. Auch den Spiegel und die Bürste nicht. »Das war ein Fehler.« Was rede ich denn. Noch mehr Erinnerungsstücke sind wirklich nicht das, was mir fehlt. Die Wahrheit ist, daß ich immer an Vater denken mußte, wie ihn die Kommode an seine schöne junge Frau erinnert hat, also an Mutter, wie sie auf dem Hocker saß, um sich das lange Haar zu bürsten. Natürlich nicht mit der silbernen, sondern mit einer Alltagsbürste. Jeden Tag. Vom Fenster fiel ein Streifen Licht herein. Heimlich habe ich zugesehen. Durch die Tür. Aber bei Mutter konnte man nichts verheimlichen. Komm her, hat sie gesagt, wir wollen deine Haare auch bürsten. Meine Haare waren natürlich viel kürzer als ihre. Außerdem hatte ich Zöpfe. Ich flechte sie dir wieder,
sagt Mutter. Ich brauche gar nichts zu sagen. Sie weiß auch so, daß es das Schönste ist, was ich mir vorstellen kann. Mutters Hand mit dem Aquamarin, wie nur sie einen hat. Aquamarin. Was für ein Wort. Durchsichtiges Hellblau, und manchmal blitzt es von innen. Sie greift nach der silbernen Bürste, und das Blaue blinkt. Dann bürstet sie mir das Haar. Ganz langsam. Wir zählen. Vierundzwanzig. Fünfundzwanzig. Sechsundzwanzig. Hundert Striche müssen es sein, damit das Haar schön wird, und bis hundert kann ich schon zählen. Zwischendurch streicht sie mit ihren Händen über mein Haar. Bis sie den Bubikopf hatte. Lizzy wollte das auch. Sie konnte noch gar nicht richtig sprechen und wollte schon einen Bubikopf. Kommt nicht in Frage, sagt Vater. Woher er das wußte? Von Lotte, woher denn sonst. Und dann war Lotte die erste, die zum Friseur gegangen ist, viel später natürlich. Am Tag nach der Konfirmation. Wir hatten den kleinen Ludwig, und Lotte sagt, ich brauch jetzt eine praktische Frisur. Kein Wort von Vater. Aber noch im Krieg hat er zu mir gesagt, wenn du dir die Haare auch abschneiden läßt, sind wir geschiedene Leute. Ich bürste meine Haare heute noch. Jeden Tag. Aber wozu?
6
Wie sie wohl aussieht, unsere Phia. Ich sehe sie immer noch vor mir mit diesen Haaren, wie sie jede Woche kürzer wurden. Mitten im Winter. Dabei hat sie meine langen Haare bewundert. Nicht nur, als sie klein war. Hundert Bürstenstriche. Heute macht man das wohl nicht mehr. Heute muß man irgendwas kaufen, damit sie schön werden, die Haare. Und Phia hat ihre abgeschnitten. Warum? Weil das gut ist für die Arbeit, hat sie gesagt. Dabei ist sie sonst nicht abergläubisch. Schon als Kind nicht. Märchen konnte sie nie genug hören, aber sie hat immer gewußt, daß es Märchen sind. Mit Erfindungen mußte man ihr nicht kommen. Nicht mal mit dem Weihnachtsmann. Ein einziges Mal hatten wir einen. Bei Lotte haben wir den Heiligen Abend gefeiert, schon am Nachmittag, weil Ludwig nachher zu Hause auch noch als Weihnachtsmann auftreten mußte. Lizzy war ausnahmsweise nicht auf See. In ihrem Grünseidenen saß sie auf Lottes grünem Plüschsessel und wollte den Weihnachtsmann nicht erkannt haben. Phia war drei und hat den ganzen Abend versucht, ihrer Tante zu erklären, daß es sich um Onkel Ludwig gehandelt hat. Das war doch nicht Ludwigs Stimme, sagt Lizzy. Er hat zwei Stimmen, sagt Phia, als Onkel Ludwig und als Weihnachtsmann. Und während wir noch dachten, wir hätten eine kindliche Illusion zerstört, konnten wir sehen, daß das Kind gar keinen echten Weihnachtsmann brauchte und daß ein Weihnachtsmann, den man spielen mußte, ihr viel besser gefiel. Im nächsten Jahr war sie untröstlich, als der Weihnachtsmann nicht gekommen ist. Er war schon am Morgen da, lügt Lotte, und hat die Geschenke dagelassen.
Weiß der Himmel, was das Kind gedacht hat. Für uns Schwestern war klar, daß Dagmar ihn uns nicht gegönnt hat, auch ohne daß wir darüber reden mußten. Ein Blick hat genügt. Es gibt Dinge, über die kann man mit einem Kind wirklich nicht sprechen. Darauf muß es von selber kommen, das Kind. Jedenfalls hatten wir von da an keinen Weihnachtsmann mehr. Und Phia sagt, er kommt nicht wieder, weil ich ihn erkannt habe. Davon war sie nicht mehr abzubringen. Noch fünfundneunzig, als wir beide Weihnachten gefeiert haben, hat sie das gesagt, es war ihre Schuld, weil sie den Mund nicht halten konnte. Nein, Phia, sage ich, es war wegen seiner Familie. Und das glaubt sie nicht. Wieder so eine Gelegenheit, ihr die Wahrheit zu sagen, die ich verpaßt habe. Man soll keine Zwietracht säen, habe ich gedacht. Aber die Wahrheit ist nun mal, daß Dagmar eifersüchtig war. Auf seine Schwestern. Und jetzt sind alle gestorben, außer meiner trauernden Schwägerin und Phia, die weggezogen ist und in den freien Stunden das Kind ihrer Freundin hütet. Nichts als Erinnerung, das ist doch kein Leben. Und jedesmal dieser Abschied. Aber was rede ich. Ein Abschied hat nie stattgefunden. Wie denn auch? Wenn einer im Krieg bleibt oder gegen eine Mauer fährt oder ohne Vorbereitung auf meinem Sofa stirbt. Und wenn man das Sterben kommen sieht, ist es auch kein Abschied. Man muß sich ja nützlich machen. Die Hoffnung aufgeben, das ist schon schlimm genug. Und um Fehler wiedergutzumachen, ist das der falsche Augenblick. Als es mit Willi zu Ende ging, habe ich die ganze Zeit gedacht, ich hätte ihn nicht heiraten dürfen. Das ist nicht wiedergutzumachen. Und es ist nicht auszuhalten. Unsinn. Wenn man denkt, was Menschen einander antun, und nicht nur in den Kriegen, dann zählen solche Sorgen nicht. Die sind auszuhalten. Was nicht auszuhalten ist, daran stirbt man. Und ich habe es schließlich überlebt. Glück hat natürlich auch
dazugehört. Viel Glück. Ein gutes Leben. Das denke ich jetzt, wo alle tot sind. Aber das Sterben ist jedesmal ganz anders gewesen als ein Abschied. Etwas wie ein dumpfer Stoß, gegen den man nichts machen kann. Und danach bloß noch Vergangenheit. Die Toten leben in der Erinnerung weiter? So ist es. Aber das ist kein Leben. Jedesmal ein Stück vom Leben, das aus der Zukunft herausgerissen wird. Und wofür denn all die Mühe mit der Gegenwart, wenn nicht für die Zukunft? Davon ist jetzt nicht mehr viel übrig. »Eigentlich gar nichts, seit Willem tot ist.« Aber was rede ich. Phia ist noch da. Und Phia hat viel Zukunft vor sich. Was will ich mehr? Wissen, was auf sie zukommt? Das kann man nicht wissen. Dabei werden die Vorhersagen jedes Jahr genauer. Aber das gilt wohl nur fürs Wetter. Und wir haben uns so daran gewöhnt, daß der Ärger groß ist, wenn es doch mal anders kommt. Jetzt muß sie schon im Zug sitzen. Ich bin so froh, daß sie nicht mit dem Auto fährt. Wenn man denkt, was alles passiert. Ich hätte keine ruhige Minute. So viel Trauer. Aber das Leben mußte weitergehen, und das Trauern ist nie ganz an mich herangekommen. Damals. Alles hing ja von mir ab, als der Krieg anfing und Mutter starb. Wer gebraucht wird, hat keine Zeit zum Trauertragen. Vater war noch bei uns, weil er für diesen Krieg zu alt war, aber er war auf einmal wie ein Kind. Seine Schulstunden konnte er geben wie immer, oder nicht wie immer, weil die Schule nicht so war wie immer, aber zu Hause mußten wir Schwestern ihm sagen, wo es langging. Gepaßt hat ihm das nicht, aber was sollten wir machen. Wir haben zusammengehalten. Und wenn es schwierig wurde mit ihm, mußte Lotte die Sache in die Hand nehmen. Auf sie hat er gehört. Obwohl sie ihre Haare abgeschnitten hatte. Oder vielleicht gerade darum. Und zu mir sagt er, wenn du dir die Haare auch abschneidest, sind wir geschiedene Leute. Heute tut er mir leid. Dann waren Lotte
und Lizzy anderswo im Einsatz, ich mit Ludwig im Bunker und Vater als Brandwache unterwegs. Bis ihm das Alter nichts mehr genützt hat und er doch noch eingezogen wurde, ganz am Schluß, als die Engländer schon fast am Einmarschieren waren. Er war froh, daß wenigstens Lizzy und ich verheiratet waren. Und hatte keine Ahnung, wie wir verheiratet waren. Wie sollte er auch. Lizzys Ehe spielte sich in ihrer eigenen Wohnung ab. Und wenn ich mir nichts anmerken lasse, dann merkt man mir nichts an. Vater schon gar nicht. Brautkleid genügt, habe ich gedacht, aber das hätte er nicht verstanden. Und er brauchte es auch nicht zu verstehen, es war ja schlimm genug, daß er wegmußte. Vierzehnachtzehn habe ich auch überlebt, hat er gesagt. Zum Abschied. Und sonst? Wie oft habe ich versucht, mich zu erinnern. Manchmal glaube ich, es ist das einzige, was er gesagt hat, als er gehen mußte, und ich glaube, daß es gelogen war. Ich meine, wenn er uns damit trösten wollte, dann kann er an diesen Trost nicht geglaubt haben. Alles andere war so klar, daß es gar nicht mehr gesagt werden mußte. Gefallenenmeldung ist keine gekommen. Damit hat fünfundvierzig auch niemand mehr gerechnet. Ich mußte die Gärtnerei am Laufen halten, die Beerdigungen haben ja nicht aufgehört. Und irgendwie ist es gegangen. Vater war gar nicht mehr er selber im Krieg. So ohne Mutter. Und mit all dem Elend in der Schule. Zwei von den besten Kollegen waren gleich dreiunddreißig entlassen worden, die jüngeren im Krieg, und ein paar HJ-Führer waren genug, um die ganze Atmosphäre zu vergiften. Von der Raumknappheit und dem ewigen Alarm ganz zu schweigen. Und dann mußte Ludwig weg, in die Landverschickung, dabei war er erst Herbst einundvierzig in die Schule gekommen, noch nicht mal sechs. Kein Wunder, daß er nicht bei dieser fremden Familie sein wollte. Zum Glück war er nicht weit weg. Die können mit mir machen, was sie wollen, sagt Vater und meint die Aufpasser in
der Schule, das Kind kommt wieder nach Hause. Er ist tatsächlich hingefahren und hat ihn geholt. Das habe ich ihm hoch angerechnet. Aber er konnte mit Ludwig eigentlich nicht viel anfangen. Dabei braucht so ein Junge doch einen Vater. Daß ich das damals nicht gewußt habe. Und was hätte ich auch tun sollen. Nach dem Krieg, Ludwig ist zehn geworden, kommt er eines Tages nach Hause und strahlt. Ich denke, mich trifft der Schlag. Weißt du, was das ist? sage ich, so ruhig wie möglich. Eierhandgranaten, sagt er. Bist du verrückt geworden? sage ich. Als hätte ich ihm nicht oft genug – denke ich, so ruhig wie möglich. Es ist nichts passiert. Gottseidank. Ich dachte immer, er war ein ganz normales Kind. Ich muß Phia fragen, was sie meint. Nicht vergessen. Nein, wie soll sie das wissen, sie hat nie ein Kind großgezogen. Aber das hatten wir ja auch nicht. Jede tut das zum erstenmal. Dann kam eine Zeit ohne Todesfälle. Immer zuviel zu tun und keine Pausen. Man wußte vor Arbeit nicht, wo einem der Kopf stand, und erst in den späten Siebzigern, Phia war schon auf der Universität, da habe ich Angst bekommen, als Lottes Leidensgeschichte anfing. Daß sie nicht mehr da war, war nicht auszuhalten. Und trotzdem, es ist weitergegangen. Es gab ja Willem. Mit ihm konnte man über alles reden. Und nicht bloß reden. Solange es Willem gab, konnte es weitergehen. Bis vor drei Jahren. Dreieinhalb. Das letzte halbe Jahr war das schönste. Als ob wir uns neu verliebt hätten. Bis zum März. Von einem Augenblick auf den andern war er nicht mehr. So schnell alles zu Ende. Und er war noch keine Siebzig. Seitdem denke ich, daß er wiederkommt, jeden Morgen denke ich das, bis ich aufstehe. Dann weiß ich, daß es unmöglich ist, und mir wird kalt. Aber ich sehe ihn nie zwischen den Lebenden herumgeistern wie unsern Vater. In dem Jahr ist alle Trauer gleichzeitig gekommen, auch die, mit
der ich schon längst Frieden gemacht hatte. Trauer nicht nur um all die Toten in der Familie, auch um das vergebliche Schlangestehen in der Inflation, um die ohnmächtige Verzweiflung, wenn die Zahlen davongaloppierten und nicht wieder einzuholen waren, Trauer um die Nachbarskinder, als ihr Vater sich vor ihren Augen erschossen hat, weil sein Geschäft kaputtgegangen ist. Trauer um meine Freundin Eva, die mit ihrer Mutter ins Ausland mußte und sich nie mehr gemeldet hat. Trauer um Onkel Franz, der abgeholt worden ist. Vaters einziger Bruder. Als die Nachricht über seinen angeblichen Herztod kam, haben wir den Herztod glauben wollen, weil sich mit allem andern noch weniger leben ließ. Dabei kannten wir die Wahrheit. Und die Urne mit seiner Asche hat bis zum Krieg auf dem Glasschrank gestanden. Die konnte man auf eigene Kosten kommen lassen. Das muß man sich mal vorstellen. Wer weiß, ob er das wirklich ist, habe ich gedacht. Und Trauer um alle, die Uniformen anziehen und wegmußten, und um die, die nicht wiedergekommen sind. All die Toten. All die Umgebrachten. Trauer um mein ungeborenes Kind, das ich im Krieg verloren habe. Um den kleinen Günter von nebenan, der mit einem Blindgänger gespielt hat. Und die Angst, die man damals um dumme Jungen hatte, für die jeder unbekannte Gegenstand ein Abenteuer war. Und alle, die von zu Hause wegmußten. Und immer denken, daß das auf der halben Welt so weitergeht. Bis heute. Das erleben wir nicht mehr, sagt Willem. Daß das aufhört, meint er. Ich kann die Nachrichten nicht mehr anhören. Obwohl sie nicht schrecklicher sind als früher. Wann wären die Nachrichten denn je gut gewesen? Oft schlimmer. Aber all das Leiden, das hinter den Schlagzeilen steckt. Ich kann ja nicht einmal die Verkehrsmeldungen aushalten, weil ich mir jedesmal die Unfälle vorstelle mit allem, was dazugehört. Ganze Familien. Ich komme gar nicht mehr davon
los. Information heißt das heute, aber es ist was ganz anderes. Und wenn ich nicht mit ihm darüber reden kann, stelle ich das Radio lieber gar nicht erst an. Nicht bloß um Willem habe ich sechsundneunzig getrauert und um mich, weil ich nicht wußte, wie mein Leben weitergehen sollte. Es war, als hätte ich all die Jahre auf einem Meer von Trauer gelebt. Und auf einmal wird das Boot undicht. In einem richtigen Boot würde man anfangen zu schöpfen. Aber ich war wie gelähmt. Warum mußten alle so früh gehen? Warum Annie. Als es mit ihr zu Ende ging, haben wir Abschied genommen. So muß man das wohl nennen. Gutzumachen gab es nichts. Bloß Fragen und Antworten. Und all das, was sich sonst nicht sagen läßt. Aber es war entsetzlich. Wenn man nichts tun kann. Annie würde ich jetzt brauchen. Nicht weil sie für mich lügen würde, was bei ihr viel bedeutet, denn sie hat es immer mit der Wahrheit gehalten. Sie hat Ludwig gern gehabt. Ich glaube, er hat sie noch besucht. Und daß er sich selbst gegen die Mauer gefahren hat, hat sie auch gewußt. Bloß warum, das konnte sie mir nicht sagen. Annie. Lügen brauche ich keine mehr, jetzt kümmert mich die Wahrheit. Vielleicht geht es immer um die Wahrheit. Und was ist Wahrheit, denke ich. Ist sie wahr, wenn sie unvollständig ist? Ist sie nicht immer unvollständig? Natürlich muß etwas fehlen dürfen. Aber was darf fehlen, und was nicht? Annie ist so grauenvoll belogen worden. Ausgerechnet sie. Aber das gehört nicht hierher. Vielleicht ist es leichter, selbst zu lügen, als daß man sich belügen lassen muß. Mein Leben lang habe ich gedacht, daß es umgekehrt ist. Muß ich das auf meine alten Tage anders sehen? Umdenken ist ja viel schwerer, als immer behauptet wird. All meine Lügen, denke ich, wie soll Phia das verstehen. Und wie konnte ich damit leben? Noch mal von vorne anfangen, denke ich, und alles anders machen. Warum denkt man so
etwas, denke ich und denke auch, daß ich nichts, aber auch gar nichts noch mal erleben möchte. Nicht so. Und was heißt dann der Gedanke, daß ich noch mal von vorne anfangen möchte? Auswandern? Nein. Mutter hätte es nicht ausgehalten, wenn ich wirklich mit Annie nach Amerika gegangen wäre. Dabei hat sie selbst auswandern wollen, vor dem Krieg natürlich, dem ersten, aber als sie mit ihrer Lehre fertig war und anfangen wollte zu sparen, war es schon zu spät. Und nach dem Krieg gab es Vater, an dessen Seite ihre Zukunft stattfinden sollte. Daß sie überhaupt nicht zueinander paßten, habe ich erst viel später gesehen. Lotte wollte das bis zuletzt nicht glauben. Gut, sie hatte ihre Gründe. Wann Mutter es gemerkt hat, das würde ich sie heute gern fragen. Und vieles andere auch. Wie konnte sie sich so irren. Hat es daran gelegen, daß sie ihn im Krieg kennengelernt hat? Das kann nicht gutgehen, würde ich heute sagen, aber das weiß man erst, wenn man älter wird. Oder lag es daran, daß sie so jung war? So jung war sie eigentlich gar nicht, mit ihren dreiundzwanzig bei Kriegsende. Vielleicht haben ihre Eltern dahintergesteckt, damit sie in den unsicheren Zeiten gut versorgt war. Wenn man das wüßte. Ich habe die Großeltern ja überhaupt nicht gekannt. Ich glaube, das war die Grippe, aber nicht mal das weiß ich. Und warum Mutter nicht über sie gesprochen hat, weiß ich auch nicht. Ihr Haar hat sie sich jedenfalls eines Tages doch abschneiden lassen. Das muß man sich mal vorstellen. Wenn wir wenigstens in der Stadt gewohnt hätten, aber so, wo jeder jeden kannte. Wir haben ja noch in der Schule gewohnt, eine kleine Dienstwohnung, Küche, Stube, eine Kammer für die Eltern und uns Kinder, gute Stube, Waschküche. Und jedes Schulkind konnte Mutters Bubikopf sehen. Das kann ich mir nicht leisten, sagt Vater. Was das bedeutet, ist mir sofort klar, weil ich schon in die Schule gehe und mir anhören muß, was die Kinder dazu sagen.
Wie dumm Kinder sein können, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Wie will ein Lehrer denn kleine Mädchen richtig erziehen, haben die Leute gesagt, wenn seine eigene Frau wie ein Mann aussieht. Bei so einer weiß man nie, was die sich sonst noch herausnimmt. Ein paar Jahre später wäre das natürlich kein Problem mehr gewesen. Es war einfach zu früh. Aber das war nicht das schlimmste. Früher war es üblich, vom Haussegen zu sprechen, der schief hängt. Mir ist es vorgekommen, als wäre überhaupt kein Haussegen mehr da. Asta Nielsen ist schön und gut, sagt Vater, aber was hat das mit uns zu tun? In dieser Stimmung sind wir umgezogen. Das Haus konnten wir uns leisten, weil es auch eine Dienstwohnung war, die uns dann nach und nach gehört hat. Und ich bin es, die in diesem Haus geblieben ist. Mit dem kleinen Ludwig. Daß es den Krieg überstanden hat, ist ein Wunder. Ein Reihenhaus mit zwei Etagen. Reihenhäuser lassen sich besser heizen. Es kann auch nicht jeder herumschleichen wie bei einem freistehenden Haus. Dafür sind sie hellhörig, aber daran gewöhnt man sich. Man paßt eben auf. Hinten ein kleiner Garten, vor allem zum Wäscheaufhängen und für all die Arbeit, die auch das kleinste Stück Land macht, wenn man das Gemüse selbst anpflanzt. Heute sieht man ihm das nicht mehr an, mit den Büschen und den Rosen. Höchstens noch ein paar Beeren und Kräuter, im übrigen ein einziger großer Garten fürs Auge hinter den Häusern. Aber das täuscht. Auch jetzt hat jeder den Garten, von dem er träumt, ob es den Nachbarn gefällt oder nicht. Ich war immer dagegen, die Zäune wegzunehmen, nicht aus Starrsinn, sondern weil ich mir von Anfang an vorgestellt habe, wie der Nachbarhund in meinen Rosen wühlt. Das hat er dann ja auch. Das Fenster zum Hof, sagt Phia, aber den Film habe ich nie gesehen. Ich war gegen das Wühlen. Phia hat sich gewundert über meine kleinlichen Ansichten, das paßt doch
überhaupt nicht zu dir, hat sie gesagt und im Ernst gemeint, Wühlen könnte gut sein gegen das Unkraut. Vielleicht hast du recht, sage ich, aber bei mir wird nicht gewühlt. Das war im Herbst, bloß die Sache mit dem Hund war unabhängig von den Jahreszeiten. Der Hund von nebenan gehört nach nebenan und nicht in meine Rosen, sage ich. Er liegt nicht in den Rosen, sagt Phia. Er liegt vor der Terrassentür. Noch schlimmer, sage ich. Wenn ein Hund mal irgendwo gelegen hat, kann man nichts mehr machen. Er kommt immer wieder. Bei der Kälte holt er sich den Tod, sagt Phia. Soll mir recht sein. Das ist doch nicht dein Ernst, Lena. Meint Phia. Außerdem war sie der Meinung, daß ich die Sache mit den Nachbarn durchsprechen müßte, damit das Problem ein für allemal gelöst war. Vor allem im Winter. Sie wollte mir nicht glauben, daß das keinen Sinn hatte. Dieser Hund war so ziemlich das einzige, worüber Willem nicht mit sich reden ließ. Es war schließlich sein Hund. Aber er sagt, es ist Gertruds Hund, und mit Gertrud wollte ich nicht reden. Wie hätte ich Phia das erklären sollen? Ich ließ sie also in dem Glauben, daß es für mich Lebensbereiche gibt, in denen die Macht des vernünftigen Worts nicht gilt. Und warum auch nicht. Es gibt sie wirklich. Ach, dieser Hund. Hinten vor der Tür zu Phias Zimmer hat er gesessen. Stundenlang. Sie wußte gar nicht, wie sie sich das erklären sollte, und hätte ihn am liebsten hereingelassen. Erst recht nach Willems Tod, da hat der Hund dagesessen und geheult. Laut geheult, auch dann noch, als der Tote gar nicht mehr bei mir war. Erst hab ich gedacht, er würde nie aufhören. Dann hat er Pausen gemacht, aber immer wieder angefangen, bis es irgendwann still geblieben ist. Er
war auch nicht mehr zu sehen. Gertrud wird ihn zu ihrer Schwester aufs Land gegeben haben. Es hat nichts genützt. Er ist wiedergekommen, aber ganz still gewesen. Hat vor der Wand gesessen, nehme ich an, vor der Wand mit dem Durchbruch zu meinem Zimmer, oder vor dem großen Schrank, der an dieser Wand steht. Im Garten hat man ihn jedenfalls nicht mehr gesehen. Was soll ich sagen – er hat mir gefehlt. Das hätte ich nicht erwartet. Dann sind sie weggezogen, Gertrud und der Hund. In die Stadt. Ich komme vom Hundertsten ins Tausendste. Weil ich Zeit habe. Das bin ich nicht gewöhnt. In unserm Leben hat es keine Pausen gegeben. Nur wenn man irgendwo warten mußte oder im Bunker. Aber was sind das für Pausen. Auf dem Schiff nach Amerika hatte ich zum erstenmal tagelang nichts zu tun. Wie haben wir das genossen, Lotte und ich, als ich schwanger war und sie das Kind bekommen sollte. Was hatten wir nicht alles zu reden. Erst in den Achtzigern haben die Pausen angefangen. Als Ludwig sich gegen die Mauer gefahren hat, war es mit dem Arbeiten in der Gärtnerei zu Ende. Willi war tot, Lizzy wollte sich noch nie helfen lassen, und auch sonst gab es immer weniger Gelegenheit, sich nützlich zu machen. Auf einmal hat mein Leben aus Pausen bestanden. Man soll das genießen, denkt man, solange man zuviel zu tun hat. Wie früher die weisen Alten, von denen es immer heißt, sie hätten zufrieden auf einer Bank vor dem Haus gesessen und ihren Lebensabend genossen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wovon die Leute reden. Zu meiner Zeit hat es das jedenfalls nicht gegeben. Ich habe es versucht, das Genießen, aber das ist nicht so einfach. Und es war auch gar nicht nötig, weil Willem jeden Tag zu mir gekommen ist. Und jedes einzelne Mal habe ich gedacht, ich hätte den Durchbruch größer machen sollen, damit er es nicht so schwer hat. In dem Jahr mit Phia gab es wieder mehr zu tun, obwohl ich längst nicht soviel gearbeitet habe wie
sie. Aber danach war Willem tot, und ich wußte nicht, wofür ich leben sollte. Weitergegangen ist es trotzdem. Und inzwischen bin ich schon fast in dem Alter, wo man Anerkennung dafür bekommt, daß man seinen Haushalt noch allein versorgt. Von denen, die mitten im Leben stehen. Dabei ist was dran. Es geht nicht mehr so wie früher. Warum nicht? Ich habe den Verdacht, daß wir einfach faul werden. Und weil sich das nicht gehört, sagen wir, es ist das Alter. In Wahrheit ist es Trotz. Faulheit und Trotz. Und was ich alles vergesse. Das ist auch so eine Sache. Namen. Wörter. Alles, was gestern und vorgestern war. Aber es stört eigentlich nur, wenn ich mit andern rede. So allein fällt es kaum auf. Mein Kopf ist jedenfalls voll genug von alldem, was ich nicht vergesse. Und wie eines Tages unsere Mutter, die sonst alles tat, was von ihr verlangt wurde, mit einem Bubikopf nach Hause kam, das werde ich nie vergessen. Es war Frühling, der Himmel blau, die Straße warm, wir durften Kniestrümpfe anziehen, und ich habe gedacht, daß ich den Schock nie überwinden würde. Dabei hat sie wunderbar ausgesehen. Aber was sollte aus uns werden, wenn es die hundert Bürstenstriche nicht mehr gab? Es gab sie wirklich nie wieder, nicht mit der Alltagsbürste und nicht mit der silbernen. Lotte hat das natürlich gefallen. Der Bubikopf hat ihr auch gefallen, aber Vater gegenüber hätte sie das nie zugegeben. Ich habe Mutter auch beneidet um ihren Mut, würde ich heute sagen. Das hat es nicht leichter gemacht. Ob es nun mit dem Bubikopf zusammenhing oder mit dem Umzug oder weiß der Himmel womit, es wurden keine neuen Geschwister in die Welt gesetzt. Erst viel später, als niemand mehr damit gerechnet hat. Ausgerechnet fünfunddreißig, als wieder von Krieg in Europa geredet wurde und nach dem neuen Gesetz sogar Vater noch zu den Wehrpflichtigen gehören würde, mit seinen dreiundvierzig, wenn der Krieg sofort losgegangen wäre. Und dann dieses sogenannte
Blutschutzgesetz. Wir kannten ja keine Juden, nur meine Freundin Eva, und die war schon vor einem Jahr weggegangen. Dabei waren sie nicht mal richtige Juden. Keine gute Zeit für Kinder. Ich war fünfzehn, Mutter hatte gar nicht die Kraft für ein Neugeborenes, und darum wurde Ludwig gewissermaßen mein erstes Kind. Ich war es, die seine kleinen Finger genommen und gesagt hat, das ist der Daumen, der schüttelt die Pflaumen. Oder, mit Vaters Stimme, das sind die Tausend, Millionen, Milliarden, Billionen, Billiarden. Das Baby lacht, weil es nicht weiß, wie das dreiundzwanzig war mit dem Geld, und Mutter muß auf dem Sofa liegen und zuschauen. Es liegt an der Grippe, sagt Vater und meint die Grippe von neunzehnachtzehn, an der Mutter um ein Haar gestorben wäre. Wochenlang im Bett und wenig Hoffnung. Das war der Anfang ihrer Ehe. Vater war gerade heil aus dem Krieg zurückgekommen. Und fünfunddreißig sagt er, daß das zuviel war für sie. Vielleicht hat er recht gehabt. Ludwig war eigentlich gar nicht mein erstes, sondern mein zweites Kind, wenn ich es genau nehme. Schon als Lizzy auf die Welt kam, habe ich gefunden, daß ein richtiges Baby viel besser ist, als mit Puppen zu spielen. Ich war fünf, also genau im richtigen Alter für so ein Baby, während Lotte noch zu klein war, um zu helfen, und nur gestört hat. Bei Lottes Geburt war ich erst drei. Eine Schwester hatte ich mir gewünscht, aber in der Praxis war es überhaupt nicht das, was ich erwartet hatte. Außerdem mußte ich einspringen, weil Mutter lange im Bett bleiben mußte. Zum Milchholen war ich nicht zu klein. Tausend Mark für einen Liter. Wenn wir dich nicht hätten, sagt Mutter. Irgendwann konnte sie dann doch wieder aufstehen. Aber Zeit hatte sie keine mehr. Für mich, meine ich. Ich glaube, ich habe gedacht, daß die kleine Lotte schuld ist, und das ist ja auch richtig. Falsch war, daß ich ihr das übelgenommen habe und
nichts mit ihr zu tun haben wollte. Von da an war es ihr Daumen, der die Pflaumen schüttelt, und ich war groß genug, um allein zu spielen. Aber all die Angst, die Vater und Mutter hatten, weil niemand wußte, was aus uns werden sollte, wenn die Preise praktisch von einer Stunde auf die andere stiegen und man mit Billionen und Billiarden rechnen mußte, dafür konnte Lotte wirklich nichts. Heute weiß ich das, damals war ich zu klein und hatte eine Wut auf meine Schwester. Dann konnte Mutter wieder selbst zum Milchmann gehen, zweitausend Mark, und als es kalt wurde, hat es neues Geld gegeben. Schluß mit den Billionen. Aber die Angst sitzt mir in den Knochen für immer. Und an der Wut auf meine Schwester hat die neue Mark auch nichts geändert. Erst fünfunddreißig wurde das anders, als unser Bruder auf die Welt kam. Bevor es soweit war, hat Mutter uns gesagt, was bevorstand. Lizzy war zehn und konnte es nicht fassen. Ich habe versucht, es ihr zu erklären. Mutter mußte viel liegen und durfte sich keine Sorgen machen. Sie ist bloß krank, sagt Lizzy. Weil sie ein Kind kriegt, sage ich. In dem Alter! sagt Lizzy. Bist du überhaupt schon aufgeklärt? sage ich. Das war gemein. Sie wußte längst alles, weiß der Himmel woher, von mir jedenfalls nicht. Es war nichts zu machen. Sie wollte es erst glauben, wenn sie es mit eigenen Augen gesehen hatte. Und als sie es dann mit eigenen Augen sehen konnte, wollte sie es immer noch nicht glauben. Wozu brauchen wir noch ein Kind? sagt Lizzy. Sie war beleidigt. All die Jahre hatte sie mich auf ihrer Seite gehabt, wenn andere ihr das Leben schwermachten. Aber diesmal lagen die Dinge so, daß ich nichts für sie tun konnte. Mutter ging es auch nachher nicht gut. Zum Glück wußten Lotte und ich, was zu tun war. All die Streitereien zwischen uns – auf einmal nur noch Kinderkrankheiten. Jetzt war Verantwortung gefragt. Wir waren keine Kinder mehr, sondern fünfzehn und zwölf, und seitdem unzertrennlich. Und Lizzy
war wütend. Zum erstenmal war sie diejenige, die allein war. Kein Wunder, daß sie die erste Gelegenheit zum Kinderkriegen benutzt und geheiratet hat, ein Jahr vor Kriegsende, und das konnte ja nicht gutgehen. Das ist mir erst später klargeworden, viel später, als sie schon tot war, denn wenn man mittendrin steht, sieht man zuwenig und das wenige oft auch noch falsch. Erst aus der Ferne fängt man an zu begreifen, was sich eigentlich abgespielt hat. Und meistens ist auch das nur die halbe Wahrheit. Wie oft ich das denke. Und ich denke es auch bei all den Nachrichten, die uns heute erreichen. Was wirklich abläuft, werden erst unsere Enkelkinder sehen. Und die werden dann wohl auch ihre eigenen Sorgen haben.
7
Wer klingelt? Phia? Sitzen meine Haare? Ich habe ja ganz vergessen, die Frisur neu zu machen, nach all dem Wind heute morgen. Aber das kann sie noch nicht sein. Um halb drei. Ein Mann ist es, aalglatt vom Scheitel bis zur Sohle. Aber er kommt nicht vom Herrenausstatter. Photos will er mir verkaufen. »Photos?« sage ich. Ich brauche doch keine Photos. »Von Ihrem Haus und dem Garten.« »Garten? Wieso Garten?« »Von oben«, sagt er, »sehen Sie sich das an.« Zwei Luftbilder mit Dächern und Grün, in einer Ecke Zahlen. Da fehlt nur noch das Zielkreuz. Mir bleibt die Spucke weg. »Mit dem Hubschrauber!« sagt er, als wäre es sein ganz persönliches Verdienst. »Hubschrauber?« sage ich. »Sind Sie verrückt?« Er zuckt zusammen. Das hätte er nicht gedacht, ein perfekt angezogener Herr, daß alte Frauen so schreien. Jetzt denkt er, daß ich verrückt bin, so sieht er jedenfalls aus. Damit muß man rechnen. Vielleicht hat er recht. Trotzdem finde ich es verrückt, mit einem Hubschrauber zum Photographieren in meinem privaten Luftraum herumzufliegen. Und wer sagt mir denn, daß sie nicht auch Waffen an Bord haben? »Eine schöne Erinnerung!« »Erinnerung?« schreie ich. Er schreit jetzt auch. Wahrscheinlich hält er mich für schwerhörig. Auch gut. »Auf dieser Liste können Sie bestellen, in jeder Größe. Hochglanz oder matt, wie Sie wollen. Auch Poster.« Daß laut Liste außerdem Videos möglich sind, verschweigt er, lächelt aber.
Seine Schuhe sind schwarz, Hochglanz, und er hat keinen in die Tür gestellt, wie das früher üblich war. »Nichts bestelle ich«, sage ich. Sonst nichts. Aber ziemlich laut. Als alte Frau, die im Kopf nicht mehr ganz richtig ist, darf man das. Einen schönen Nachmittag wünscht er mir, bevor er geht. Das ist heute üblich. Schöne Tage, schöne Nachmittage, schöne Abende. Schöne Sommer und schöne Winter bis zu einem schönen Ableben. Einen schönen Abgang hätte ich ihm wünschen sollen. Und auf der Liste nachsehen, wer Photos bestellt hat. Aber was geht mich das an. Mit einem Hubschrauber meinen Garten photographieren. Das muß man sich mal vorstellen. Warum nicht gleich mit einer Spezialkamera durch die Dächer direkt ins Privatleben? So was muß man sich heute gefallen lassen. Damit sie nicht aus der Übung kommen, würde Willem sagen, weil bei uns zuwenig Krieg ist. Was soll ich mit Photos von meinem Garten? An die Wand hängen? Lotte hatte Photos stehen, auf ihrer Kommode. Lotte, habe ich gesagt, weißt du, was du tust? So ein Hausaltar, der zieht Gespenster an, das tut nicht gut. Das macht trübsinnig. Das tröstet, sagt Lotte. Aber das stimmt nicht. Es ist umgekehrt, diese Photos erinnern bloß daran, daß man Trost braucht, aber diesen Trost nicht findet und nie finden wird, solange man ihn sucht. Das Lebendige zählt, sagt Willem. Das ist leicht gesagt und trotzdem richtig. Arme Lotte. Sie ist aus ihrem Trauern nicht mehr herausgekommen, und wenn sie das Kind nicht gehabt hätte, ich weiß nicht, was aus ihr geworden wäre. Fünfundneunzig hat Phia erzählt, wie ihre Mutter früher vor diesen Bildern stehengeblieben ist, als würde sie ihnen Fragen stellen. Und wie sie dann weitergegangen ist, weil keine Antwort kam.
Oder weil sie die Antworten schon kannte. Sprechen mochte sie nicht darüber, sagt Phia. Sie sagt aber auch, daß es vielleicht ganz anders war, als sie denkt. Daß sie etwas Wichtiges vergessen hat. Sie war ja noch klein. Oder daß sie als Kind schlecht zugehört hat. Daß sie immer noch etwas anderes hören wollte als das, was ihre Mutter gesagt hat. Als wäre es nicht die ganze Wahrheit, sagt Phia. Und das war es ja auch nicht. Mich wundert nur, daß Kinder das hören können. Lotte und Paul, die so glücklich verheiratet waren. Die einzigen in der Familie, und dann keine Kinder. Aber ausgerechnet er mußte nach fünf Jahren unter ein Auto kommen. Phia konnte noch nicht mal sprechen. Von da an mußte sie ihre untröstliche Mutter trösten. Und dabei ist es geblieben. Lotte ist nicht darüber weggekommen. Da hat auch die Arbeit in Ludwigs Gärtnerei nicht geholfen. Und dann hätte sie Phia sagen sollen, daß sie gar nicht ihre Tochter war? Das konnte niemand von ihr verlangen. Und wer weiß, wie das Kind darauf reagiert hätte. Wir hätten ihr ja sagen müssen, daß sie es nicht weitersagen darf, und das kann man von einem Kind nicht verlangen. Wir hätten es auch gar nicht erklären können. Einem Kind. Wir mußten warten, bis sie erwachsen war. Und da ist Lotte gestorben. Sie hat alles soviel besser gemacht, als ich es gekonnt hätte. Und da hätte ich Klartext reden und Phia ihre tote Mutter wegnehmen sollen? Ohne daß Lotte noch ein Wort dazu gesagt hätte? Das habe ich nicht gekonnt. Phia hat sich übrigens nie beklagt, weil sie als Kind ihre Mutter trösten mußte. Vielleicht sehe ich das falsch. Ich muß sie fragen. Aber so was fragt man nicht. Trotzdem. Wenigstens versuchen muß ich es. Ich glaube, um unsern Vater hat Lotte auch wieder getrauert, als sie Paul verloren hatte, sie war ja die Vatertochter in der Familie. Was sollte sie auch machen, wenn Lizzy und ich
zusammengehalten haben. Wie Pech und Schwefel. Bis Ludwig kam, meine ich. Unsere Mutter hatte auch Photos auf dem Büfett. Ihre Eltern vor einer südländischen Dekoration aus der Kolonialzeit und längst tot. Ihr großer Bruder in Uniform, erst zum Photographen, dann aus dem Krieg nicht zurückgekommen. Aus dem ersten, meine ich. Daß die beiden jüngeren im zweiten bleiben sollten, konnte sie noch nicht wissen. Vater auch in Uniform und mit einem Kindergesicht. Diese Photos müssen noch irgendwo sein, wahrscheinlich im Keller. Wir gehen sie nachher zusammen suchen. Wenn Phia kommt. Wie soll das Kind sonst wissen, wovon ich rede. Mehr als fünfzig Jahre ist es her, daß ich alles weggeräumt habe, und jetzt sehe ich die Bilder vor mir, als wäre es gestern gewesen. Mutter als Braut auf einem Korbstuhl vor dem stehenden Bräutigam, dahinter Palmwedel, die den Krieg im Photoatelier überlebt hatten und überhaupt nicht zu den Gesichtern paßten. Ein Rahmen in Silber, ziemlich verschnörkelt, wie man sie damals hatte. So oft habe ich davorgestanden, Mutter in Weiß als stille Braut, die ihre Grippe überlebt hat, und hinter ihr steht er, wie es sich gehört, ganz der zukünftige Familienvater. Und das mit seinem Kindergesicht. Er sieht ins Leere, wie versteinert, vom Photographiertwerden oder vielleicht doch vom Krieg. Wenn man das wüßte. Der erste war ja ganz anders als der zweite. Vater hat nie davon erzählt. Das ist mir immer ganz natürlich vorgekommen. Weil wir noch Kinder waren, habe ich gedacht. Vielleicht ist das falsch. Vielleicht hat er auch Mutter nichts erzählt. Ich habe sie nie gefragt, und jetzt ist es zu spät. »Ich muß Phia fragen, was sie meint.« Wenn ich heute an Mutters Hochzeitsphoto denke, kommt mir jedesmal dieses andere Gesicht dazwischen, das sie im Beerdigungsinstitut hatte. Ich weiß nicht, wie ich die auseinanderhalten soll. Dabei haben gute zwanzig Jahre dazwischen gelegen, und in denen hat sie
ganz anders ausgesehen. Ihren Aquamarin hat sie mir gegeben, bevor sie gestorben ist, meine Mutter, die im Bett liegt und nicht mehr aufstehen kann. Den brauchst du jetzt mehr als ich, hat sie gesagt und die Siegesmeldungen gemeint, die sie nicht aushalten konnte. Und Ludwig hat sie auch gemeint. Seitdem trage ich ihn, ihren Ring, jetzt am Mittelfinger, und solange ich ihn trage, kann mir nichts passieren. Ihr Sterben war so langsam. Die ganze Zeit hatte sie Angst vor den englischen Giftgasbomben, von denen immer geredet wurde. Nichts als Gerüchte. Das Radio durfte nicht mehr laufen. Als ob das etwas nützen würde. Aber die Photos wollte sie in der Nähe haben. Auch Kinderphotos von uns allen, wie es damals üblich war, wenn man sich alle paar Jahre den Photographen leisten konnte. Nicht mal das Eisbärenfell hat gefehlt. Und jetzt habe ich wieder diesen Traum gehabt. Ich bin ein Kind und schlafe. Dann wache ich auf und liege auf einer Eisscholle, die auf dem schwarzen Meer schwimmt. Ich bin so weiß wie das Eis und kein Kind in diesem Traum, sondern ein kleiner Eisbär, der auf den Wellen schaukelt. Der kleine Eisbär hüpft auf dem Eis herum, damit es noch mehr schaukelt. Guck mal, Mama, rufe ich. Keine Antwort. Guck mal, Mama. Und wieder keine Antwort. Dann sehe ich, daß rundum nichts ist als Wasser. Keine Mama, kein Land, kein Eis, und der kleine Eisbär, der ich bin, treibt der Sonne entgegen und ist ganz allein. Ich würde lieber etwas anderes träumen, aber Träume können wir uns nicht aussuchen. Meine Insel hat einen Namen, auch wenn sie nur eine Eisscholle ist und gar keine richtige Insel. Den Namen habe ich vergessen, wie ich alle Namen vergesse im Traum. Was rede ich – nicht nur im Traum. Alle Namen vergesse ich, außer denen, die zu meinem Leben gehören. Meine Insel hat einen schönen Namen, soviel weiß ich im Traum, und wenn er mir nicht einfällt, komme ich nie mehr nach Hause und muß für immer auf dem Weltmeer
treiben, wo die Sonne mich nicht kennt und doch auf mich wartet. Ach, das führt zu nichts. Mutter hatte noch mehr Photos. Immer ein paar zusammen in einem Rahmen, Verwackeltes von Wochenenden oder Ausflügen, und wir Menschen alle so klein, daß man uns nur mit Mühe erkennen konnte. Die weißen Wolken um so deutlicher mit dem Gelbfilter. Vater hatte einen Apparat. Als Lehrer braucht man das, sagt er. Aber Mutter hatte diese Photos erst stehen, als unser Jüngster geboren war und sie nicht mehr recht gesund wurde. Wir Mädchen kümmerten uns um Ludwig, und sie fing an, Photos hinzustellen. Alles mögliche aus unserm gemeinsamen Leben. Als wären nicht nur die Toten tot, sondern alles, was vorbei ist. Vierzig ist sie gestorben, Ludwig wird fünf, und was tut Vater? Läßt alles, wie es ist. Dabei habe ich nie gehört, daß die beiden miteinander geredet hätten. Jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern. Nur zu uns Kindern höre ich sie sprechen. Aber wer weiß schon, was es zu bedeuten hat, wenn zwei miteinander schweigen. Nach der Beerdigung stellt Vater ein Bild von Mutter zu den andern, ein altes, mit ihrem Lächeln und ihren langen Haaren. Sonst darf nichts verändert werden. Sogar die silberne Bürste, der Handspiegel und der Zerstäuber müssen auf der Frisierkommode bleiben. Vom leeren Bett neben ihm ganz zu schweigen. Wie kann der Mann das nur aushalten, habe ich gedacht, Mutters leeres Bett. Selbst wenn sie geschwiegen haben. Wenn sie geschwiegen haben. Wie soll ich das wissen? Nach dem Umzug in den Zwanzigern hatten wir Mädchen endlich ein Zimmer für uns. Aber da konnten wir nicht mehr hören, was die Eltern geredet haben. Und gerade da wäre es wichtig gewesen. Mutter hatte sich die Haare abschneiden lassen, und seitdem wußte ich, daß sie sich nicht einig waren, und nicht nur wegen dem Bubikopf. Von da an
habe ich aufgepaßt und bin mit den Ohren praktisch überall gewesen. Aber sie waren auf der Hut, und wenn sie wollten, daß wir etwas nicht mitbekamen, mußten sie es nur abends im Bett besprechen. Geheiratet haben sie, als der Krieg zu Ende war. Nein, als Mutter die Grippe überstanden hatte. Nein, erst als die Räteherrschaft vorbei war. Alles war unsicher wie noch nie, und da redet man nicht über einen Krieg, den man überlebt hat. Und bald war sie ja auch in andern Umständen. Aber später? War es doch sein Schweigen, das Mutter schlecht vertragen hat? »Ich hätte sie fragen müssen.« Das sage ich heute. Zu ihren Lebzeiten bin ich nicht darauf gekommen. Vielleicht hat sie darauf gewartet. Vielleicht auch nicht. Vielleicht war es ihr lieber, wenn wir die Wahrheit nicht wußten. Vielleicht hat sie sich auch gewünscht, nicht zu wissen, was ihr Mann im Krieg erleben mußte. Vielleicht kann man einem Mann gar nicht mehr in die Augen sehen, ohne daß einem der Soldat in die Quere kommt, von dem er erzählt hat. Das ist doch kein Leben. Und wer weiß denn, ob es hilft, über Dinge zu sprechen, mit denen man schlecht fertig wird. Vielleicht macht man alles nur schlimmer. Und wenn der Soldat, von dem ein Mann erzählt, nicht viel mit dem zu tun hat, der er wirklich gewesen ist? Nicht weil er lügt, meine ich. Vielleicht wäre Lügen gar nicht das schlimmste. Ich meine, weil niemand erzählen kann, wie es wirklich war. Es kommt immer etwas anderes dabei heraus. Wie soll einer das aushalten? So könnte es gewesen sein. In den Gesichtern von Mutter und Vater spricht nichts dagegen. Aber das sagt nicht viel. Genauso möglich ist, daß er alles für sich behalten hat, weil niemand zuhören wollte. Oder weil er nicht wußte, wie anfangen. Vielleicht hat Mutter immer gleich abgewunken wie wir, weil sie ihrem Mann, wenn er nicht
wußte, wie anfangen, das Leben leichter machen wollte? Oder weil sie längst neue Sorgen hatten? Das Lebendige zählt, würde Willem sagen. Aber gehören Erinnerungen nicht zum Lebendigen? Willem hat jedenfalls über die Gegenwart gesprochen und die Vergangenheit vergangen sein lassen. Weil die sich nicht ändern läßt, sagt er. Und jetzt, wo er tot ist, weiß ich so vieles nicht. Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß, hat man früher gesagt. Unsinn ist das. Mir ist, als käme es gerade auf das an, was ich nicht weiß. Je länger, je mehr. Oft weiß ich gar nicht mehr, was ich denken soll. Die ganze Wahrheit? Wie eine Mauer, die nicht hält, weil ein wichtiger Baustein fehlt. Zum Beispiel Gertrud. Ich müßte wissen, warum Willem sie geheiratet hat. Ich glaube, er hat nicht darüber sprechen wollen. Oder habe ich es gar nicht erst versucht? Nicht mal das weiß ich. Über alles konnte man mit ihm reden, habe ich immer gedacht, und dabei weiß ich nicht, wie er gelebt hat. Dafür weiß ich, wie er gestorben ist. Zuerst dachte ich, das ist das Schlimmste, was passieren konnte, ihn in den Armen halten, während er stirbt. Jetzt kommt es mir als ein Glück vor. In einem Augenblick vom Leben in den Tod. Nur ein Schritt. Und kein Zurück. Nie mehr. Bei Vater haben wir im Grunde geglaubt, er kommt irgendwann doch noch. Dabei haben wir schon, als er wegmußte, gewußt, daß es für immer ist. Volkssturm – das wäre zum Lachen, wenn es nicht zum Weinen wäre. Warum konnte er nicht wenigstens in der Umgebung bleiben, wie die andern? An der sogenannten Heimatfront? Hat er irgendwann doch was Falsches gesagt? Das würde zu ihm passen. Oder auch nicht, er hat immer gewußt, was er seiner Familie schuldig ist. Vierzehnachtzehn habe ich auch überlebt, sagt er mit seiner Volkssturmbinde. Was soll man zum Abschied sonst auch sagen. Und dann, als die Männer nach und nach wiedergekommen sind und er nicht dabei war, wußten wir
natürlich, warum nicht. Wir haben ihn trotzdem angemeldet beim Suchdienst des Roten Kreuzes. Und nicht nur das. Immer wieder habe ich Vater aus irgendeiner Menschenmenge auftauchen und auf mich zukommen sehen. Seine eckigen Bewegungen. Unter lauter Fremden habe ich seine Stimme gehört oder seinen Atem von hinten gefühlt, wenn ich an unserm alten Tisch gesessen habe. Das hat aufgehört, als wir Nachricht hatten. Ein Kamerad, ein Kriegsversehrter, der hat gesehen, wie es ihn getroffen hat, unsern Vater, da war nichts mehr zu machen. Er sagt, es wäre schnell gegangen. Und dann habe ich das vor mir gesehen, beim Einschlafen, bei der Arbeit und wenn Ludwig seine Hausaufgaben gemacht hat, Vater mit der Panzerfaust, Vater, wie er umgeworfen wird und wie nichts mehr zu machen ist. Und als ob ich es nicht glauben könnte: mit den Jahren ist er wieder lebendig geworden wie am Anfang, um mir von weitem zuzuwinken oder vor mir herzugehen und zwischen fremden Menschen zu verschwinden. Man sollte meinen, es genügt zu wissen, daß er tot ist. Das ist nicht wahr. Vielleicht muß man doch zu den Gräbern fahren. Wenn es ein Grab gibt. Als Vaters Tod bestätigt war, habe ich umgeräumt. Siebenundvierzig. Für die alten Möbel konnte man auf dem schwarzen Markt noch was bekommen. Ludwig hat geholfen, mein eheliches Schlafzimmer ins Elternzimmer zu bringen, und sich dann in unserm alten Zimmer eingerichtet. Es dauert nicht lange, und Willi kommt aus der Gefangenschaft. Was soll das? sagt er. Mißtrauisch ist er. Und ganz ohne Grund. Die Veränderung paßt ihm nicht. Dabei ist das Elternzimmer größer, schöner, heller und nach hinten raus. Warum, sagt mein Ehemann. Weil es größer ist, sage ich, und schöner und heller und nach hinten raus.
Das ist kein Grund, sagt mein Willi. Damit Ludwig endlich aus dem schrägen Loch rauskonnte. Die Kammer war wohl nicht gut genug für ihn? Der Junge wächst, sage ich. Das sehe ich. Und er braucht Platz für seine Aufgaben. Willi hat gemeint, daß Kinder ihre Aufgaben in der Stube machen sollten. Dann weiß man wenigstens, was sie tun, sagt er. So war es bei ihm zu Hause, und das hat sich bewährt. Bewährt nennst du das? Das hätte ich nicht sagen dürfen. Nicht so. Und mein kleiner Bruder hat ja auch nicht durchgehalten. Wenn Ludwig nicht gewesen wäre, wer weiß, wann ich es fertiggebracht hätte, Vaters Sachen wegzuräumen. Ich habe gewußt, daß er tot ist, und doch ein schlechtes Gewissen gehabt. Als dürfte man ihn nicht aufgeben. Ich habe mich sogar dabei erwischt, wie ich auf ihn warte, ohne es zu wollen, wenn es mal eine Minute nichts zu tun gab. Sogar fünfundfünfzig noch, als wir nach Friedland gefahren sind, Lotte und ich. Die letzten Kriegsgefangenen aus dem Osten. Stillschweigend haben wir gedacht, er könnte vielleicht doch dabeisein. Wir wären uns lächerlich vorgekommen, davon zu reden, weil es gegen jede Vernunft war. Er war ja tot. Und wir alle an unserer alten Adresse und keine Flüchtlinge, da müßten wir längst etwas gehört haben, wenn der Kamerad sich geirrt hätte. Und warum sollte der sich wohl geirrt haben. Mit den großen Teilen bin ich gut fertig geworden. Vaters Papiere hat Lotte übernommen. Sie konnte mit Papieren etwas anfangen. Aber sie hat nichts damit angefangen. Als sie gestorben ist, war alles noch in genau den Schachteln, in die ich es verpackt habe. Das hat mich überrascht. Es muß der falsche Moment gewesen sein. Siebenundvierzig hatte Lotte noch das neue Leben mit ihrem amerikanischen Verlobten im Kopf, zu dem die Papiere eines Toten nicht passen wollten, und wenn man von einem solchen Verlobten sitzengelassen wird, passen sie noch weniger. Und
in ihr späteres Leben erst recht nicht. Jedenfalls stehen diese Schachteln jetzt bei mir im Keller, und ich hoffe, daß Phia Zeit dafür findet. Sie hat ja versprochen, sich um alles zu kümmern. Deine paar Sachen, hat sie gesagt. Aber sie hat keine Ahnung, was noch alles zum Vorschein kommen kann. Wenn nur keine fremden Leute sich damit beschäftigen müssen. Oder meine Schwägerin. Am besten, wir machen das zusammen, solange ich ihr noch sagen kann, um was es geht. Aber nicht heute. Lizzy war keine Hilfe. Sie hatte mit dem Geldverdienen und zwei kleinen Mädchen schon mehr zu tun, als sie schaffen konnte. Also habe ich mich um Vaters Sachen gekümmert. Seine guten Sachen waren kein Problem, für die gab es einen Markt. Aber all das kleine Zeug, das niemand mehr brauchen konnte, das war nicht auszuhalten. Abgenutzte Wäsche, getragenes Schuhwerk, altgewordenes Rasierzeug. Ohne diese Sachen konnte ich mir sein Leben nicht vorstellen, aber ohne sein Leben waren sie bloß Müll. Da sieht man, daß ihr keinen Krieg erlebt habt, höre ich ihn sagen. Wie wir das gehaßt haben als Kinder. Es hieß ja nichts anderes, als daß wir nutzlose Geschöpfe waren, die ihren Platz in der Welt nicht verdienen. Und das schlimmste daran ist, daß er recht hatte. Im zweiten Krieg habe ich das gemerkt. Dabei mußten wir nicht hungern wie die Leute im ersten. Die Lektion haben wir erst nach dem Krieg gelernt, als nichts mehr zu haben war. Die Stadt noch voll von Trümmern, und ich räume Vaters alte Sachen aus den Fächern und traue mich nicht, sie wegzuwerfen. Was machen mit seinen Brillen? Mit diesen Brillen, die so zu ihm gehört haben und nur zu ihm? Auf den schwarzen Markt beim Bahnhof? Nein. In den Keller räumen und warten, daß jemand vorbeikommt, dem sie passen? Natürlich ist bis heute niemand gekommen, und mir passen sie auch nicht. Ich hätte sie ebensogut gleich wegwerfen können. Jetzt muß Phia sich noch damit abgeben. Seine angefangenen
Hefte und halben Stifte sind kein Problem, die kann Ludwig in der Schule brauchen. Auf Vaters Fahrrad fährt er sowieso schon die ganze Zeit. Aber was ist mit seinem Kamm und seinen Hosenträgern? Ich stecke sie in den Mülleimer und höre Vaters Stimme. Jedesmal. Diese Stimme höre ich nicht gern. Von Anfang an nicht. Vater hat nie zu denen gehört, die zuschlagen, und uns trotzdem angst gemacht. Warum eigentlich? Das ist schwer zu sagen. Es war etwas Düsteres an ihm. Etwas, das wir nicht durchschauen konnten. Und wenn er zu Hause war, wurde alles gleich dunkler. Dabei habe ich immer gedacht, ich kenne ihn. Wie konnte ich nur. Keine Ahnung habe ich gehabt. Lotte und Lizzy wußten auch nicht mehr. Jede hat sich ihr Bild gemacht, jede ein anderes, aber mehr als dieses Bild wollten wir gar nicht sehen. Wir haben gehört, was er gesagt hat, gesehen, was er getan hat, und uns einen Reim darauf gemacht. Das hat uns genügt. Es mußte uns auch genügen, denn wer etwas anderes versucht hat, wurde eines Besseren belehrt. Darüber spricht man nicht, hieß das. Oder hieß das auch nicht, denn mit bloßem Schweigen kann man das gleiche ausdrücken. Sogar besser als mit Worten. Und in späteren Jahren, wenn wir ihn gefragt hätten? Das war undenkbar. Einem solchen Mann stellt man keine Fragen. Jedenfalls nicht über Dinge, die er nicht von selbst erzählt. Wir hätten auch gar nicht gewußt, wie man nach dem fragt, was hinter dem Sichtbaren steckt. Und hätten wir es gewußt, dann hätte er nicht gewußt, wie antworten. Er hätte nicht geglaubt, daß es möglich ist, auf solche Fragen zu antworten. Unsinn. Wir wußten ja nicht einmal, daß wir mit unbeantworteten Fragen gelebt haben. Daß in unserem Bild so vieles gefehlt hat. Das merkt man erst später. Und dann glaubt man, daß das Wichtigste fehlt und daß alles, was man zu wissen geglaubt hat, nichts zählt gegenüber
dem, was wir nicht wissen, und weiß nicht, wie man damit leben soll. Vater hat uns Kindern früh beigebracht, daß er sich nicht in die Karten gucken läßt. Mutter war ganz anders, nie unfreundlich, und wenn wir noch so dumm gefragt haben. Trotzdem haben wir auch von ihr gelernt, daß das, worüber sich reden läßt, Grenzen hat. So vieles, an das der Mensch lieber nicht denken und nicht erinnert werden möchte, weil es weh tut, weil es Kräfte kostet, die für das Leben dringend gebraucht werden, oder weil es andern das Leben schwermachen könnte. Die Vergangenheit und die Gegenwart sind voll von Erfahrungen, an die man nicht gerührt haben möchte. Und die Zukunft ist es auch. Bei uns jedenfalls. Heute denke ich, das gilt auch für andere, vielleicht für alle und womöglich sogar für die, die über alles reden können. Warum Vater nicht wollte, daß ich Mutters Kleider ausräume, habe ich nie begriffen. Vielleicht hätte Lotte das erklären können, wenn ich sie gefragt hätte. Wenn ihm die Sachen wenigstens gefallen hätten. Aber er hatte nie ein gutes Wort dafür übrig, weil sie etwas Besonderes waren. Nach dem Krieg waren sie gut zum Tauschen, und daß sie nicht nach der neusten Mode waren, spielte sechsundvierzig keine Rolle. Über solche Dinge konnten wir nur lachen. Unsinn. Haben wir nicht trotz allem versucht, uns schön anzuziehen? Die kleinen Mädchen in Rot, neue Röcke aus alten Fahnen. Jedenfalls habe ich Mutters Kleider und Kostüme eingetauscht, bevor Vaters Tod amtlich war. Nur einen Mantel habe ich behalten. Bis heute. Aber ich konnte ihn nie tragen. Gepaßt hätte er schon, aber es ging einfach nicht. Nicht nur, weil er schwarz war. Er hat zu sehr an sie erinnert. Manteltaschen, in die sie schon ihre Hände gesteckt hat, das ist nicht auszuhalten. Dabei könnte sie noch leben, habe ich lange gedacht. Sie war ja erst fünfundvierzig.
Bloß einmal habe ich ihn übergezogen, ihren Mantel. Als Willem gestorben ist und ich auf Phia warten mußte. Ganz blaß ist sie geworden, als sie mich so gesehen hat, in Schwarz. Tote Gegenstände, die ihren Besitzer überleben. Am schlimmsten war Vaters Aktentasche. Solange ich denken konnte, war er mit dieser Tasche weggegangen und mit dieser Tasche nach Hause gekommen. Für Ludwig war das nichts. Daß sonst jemand sie mit sich herumtragen sollte, konnte ich mir nicht vorstellen. Nicht weil sie alt war, das hat damals keinen gestört. Weil sie so zu Vater gehörte. Es war besser, sie in den Mülleimer zu stecken, damit sie nicht in fremde Hände fallen konnte. Aber ich habe sie wieder herausgeholt und in den Keller gebracht. Dann konnte ich nicht aushalten, wie sie im Kellerregal stand, als würde sie auf ihn warten, obwohl er längst tot war. Nach unserer Friedlandreise habe ich sie noch einmal weggeworfen, diesmal für immer, und jedesmal, wenn ich daran denke, höre ich Vater sagen, ich hätte keinen Krieg erlebt. Aber was soll das. Wir sind erwachsen. Oder hört das nie auf? Mit Lotte konnte ich über alles sprechen. Bloß nicht über unsern Vater, und über seine Aktentasche erst recht nicht. Ich bin froh, daß sie nie danach gefragt hat. Ihr wäre es auch nicht recht, wenn ich Phia davon erzähle. Gegen Vater durfte man nichts sagen. Dabei war es wirklich nicht einfach mit ihm. Das muß das Kind wissen. Wie soll es sonst verstehen, was wir aus unserm Leben gemacht haben. Das sagt man so. Gemacht? Es ist eher gekommen, und wir haben getan, was wir konnten. Heute fragt man sich ja, ob es auch das war, was wir wollten. Was für eine Frage. Sie ist nie aufgetaucht. Nicht so. Die Frage war eher, was wir mußten. Ich wünschte, es wäre anders gewesen. Vielleicht hätte ich dann vieles besser gemacht. Und jetzt läßt sich nichts mehr ändern. Aber damals ließ sich auch nichts ändern. Ob Phia das
verstehen könnte, wo sie in einer andern Zeit groß geworden ist? Daß ich sie nicht bei mir behalten habe, ist leicht zu verstehen. Ich hätte eine schlechte Mutter abgegeben, das sieht man auf den ersten Blick. Und wenn Phia gesagt hat, daß sie gern mein Kind gewesen wäre, dann spricht das nicht dagegen. So etwas sagen Kinder leicht mal. Lotte war besser für ein Kind. Alles hat sie richtig gemacht, und daß sie Paul so früh verlieren würde, konnten wir ja nicht wissen. Das Verlorene festhalten, als wäre es dann noch da. Das tut nicht gut, sage ich zu Lotte, wie sie nach Pauls Unfall die Photos aufstellt. Und du? sagt sie. Bei dir ist ja auch alles noch da. »Aber nicht so.« Wie recht sie hatte. Das weiß ich heute. In meinem Kopf ist nichts als Vergangenheit. Fast nichts. Dabei möchte ich, daß es anders wäre. In unserm Leben ist nur eins wirklich da, sagt Willem, das, was jetzt ist. Die Vergangenheit ist vorbei, und die Zukunft ist noch nicht da. Das ist ein schöner Gedanke und ebenso wahr, wie er schön ist. Aber in der Praxis liegt die Sache anders. Zukunft habe ich nicht mehr viel zu erwarten, und je weniger es ist, um so schneller geht dieser Augenblick dazwischen vorbei, den Willem gemeint hat. Er verschwindet einfach in all dem Vergangenen, das schon in meinem Kopf herumgeistert. Was vorbei ist, ist vorbei, habe ich als Kind gelernt. Und das ist nicht wahr. Es wird immer lebendiger. Aber ich will nicht in der Vergangenheit leben. Das Lebendige zählt. Seit Willem tot ist, schaffe ich das nicht mehr. Man will das Vergangene ja nicht ganz aufgeben, und genau das geht nicht. Sie nutzt das aus, die Vergangenheit, sie klammert sich fest und läßt nicht mehr los, wenn man ihr einmal den kleinen Finger gereicht hat. Sie will nicht bloß die ganze Hand, sie will alles. Ist das ein Grund, Photos hinzustellen? Nein. Bis jetzt jedenfalls nicht. Wer weiß, was ich tue, wenn das Alter
fortschreitet. Und es schreitet ja fort, soviel ist sicher. Photos sind nicht lebendig. Nicht mal so lebendig wie die Erinnerung. Vielleicht nehmen sie uns sogar Erinnerung weg, weil uns mit der Zeit alles, was sie nicht zeigen, unwirklicher vorkommt als das, was sie zeigen. Bis wir es vergessen haben und uns nur an das erinnern, wovon es ein Photo gibt. Nein, das ist nicht wahr. Aber wie meine Galerie aussehen müßte, weiß ich: meine toten Eltern, Vater und Mutter einzeln. Und miteinander. Meine tote Schwester Lotte, etwas Heiteres aus ihren jungen Jahren, dann das glückliche Ehepaar mit der Tochter auf dem Arm. Vielleicht noch eine Postkarte von Philadelphia. Meine tote Schwester Lizzy, als Kind, bei Kriegsende als Mutter von zwei kleinen Mädchen, dann als Stewardeß auf der Seven Seas und schließlich als Mutter von drei männlichen Babys. Kein Bild von ihren Männern, nicht dem ersten und nicht dem zweiten. Als Braut war Lizzy sowieso eine Fehlbesetzung. Dabei hat sie so gut ausgesehen in Weiß. Aber eine hochschwangere Neunzehnjährige, die die Beine übereinanderschlägt und raucht, zur Feier des Tages mit Spitze, das hat nicht allen gefallen. Arbeiten konnte sie. Davon gibt es keine Photos. Und meinen toten Bruder Ludwig würde ich hinstellen, von dem niemand zugibt, daß er sich umgebracht hat. Weiß Phia das eigentlich? Ein Verkehrsunfall, zurückzuführen auf ein koronares Geschehen, das für einen Kontrollverlust verantwortlich war. So die offizielle Version, wie seine Familie sie auch gebraucht. Aber er war selbst verantwortlich, dieses eine Mal und bei den beiden andern Unfällen auch. Soviel ist sicher. Sonst hat er natürlich immer Mühe gehabt mit der Verantwortung. Und bei der Beerdigung hat Dagmar an mir vorbeigesehen. Als wäre ich Luft für sie, so hat sie am Grab gestanden, seine Witwe. Mir nicht die Hand gegeben, damit es auch ja alle sehen. Spricht bis heute nicht mit mir. Sie glaubt, daß der Fehler bei mir liegt. Wir
Schwestern haben das Kind ja praktisch großgezogen. Wir haben ihn verwöhnt, meint sie, und ihn nicht auf das Leben vorbereitet, wie es nun mal ist. Daß ich nicht lache. Wie das Leben nach fünfunddreißig war, sollte sie selber wissen, auch wenn sie noch ein Kind war. Auf was hätten wir ihn denn wohl vorbereiten sollen? Auf den Krieg etwa? Auf die Hamsterzeit? Die kalten Winter? Auf Adenauer vielleicht? Auf das Wirtschaftswunder oder auf was? Die Umwälzungen im Blumenhandel? Wahrscheinlich hätten wir ihn auf sie vorbereiten sollen, auf Dagmar, die Prinzessin aus dem Morgenland, die keine Blumen verträgt und nun in Trauer geht, seit sechzehn Jahren, und überall herumerzählt, daß ich ihren Mann auf dem Gewissen habe. Und die Ehe unserer Nachbarn habe ich dann wohl auch auf dem Gewissen, Gertrud ist ja in diesen Jahren ihre beste Freundin geworden. Willem, habe ich gesagt, Gertrud weiß es. Sie weiß alles. Nein, sagt Willem. Sie kann gar nichts wissen, dann würde sie etwas sagen. Sie will sich nichts anmerken lassen, sage ich. Ausgeschlossen, sagt er, das würde ich merken. Er traut seiner Frau nicht zu, einen solchen Betrug wegzustecken. Er hat sie unterschätzt, würde ich sagen. Was sollte sie denn sonst tun, die Stimmung vergiften? Reinen Tisch machen? Konsequenzen ziehen? Sie hätte nur zu verlieren gehabt. Hoffentlich hast du recht, sage ich. Dann haben wir das Thema nicht mehr berührt. Und wahrscheinlich bin ich auch schuld, wenn Dagmars Töchter nicht so wollen, wie sie sollen. Die erste hat nichts für Männer übrig und ist ganz wild auf Blumen, ob sie nun von Chemikalien verseucht sind oder nicht. Die zweite hat nichts für ihre Mutter übrig und läßt sie nicht an ihre Kinder heran. Und das ist schlimm für eine Mutter.
Jedes Jahr im November, wenn ich Ludwig zum Geburtstag Blumen bringe, stelle ich mir vor, was meine Schwägerin sagen würde, wenn sie auch da wäre. Kein Wort, nehme ich an. Darum gehe ich früh hin. Wahrscheinlich weiß sie das und wartet, bis der Mittag vorbei ist. In ihrem ewigen Schwarz fällt sie heutzutage gar nicht mehr auf. Die jungen Leute laufen ja fast alle so herum. Aber das ist etwas anderes. Die haben die schwarzen Uniformen nicht mehr erlebt, und mit Beerdigungen hat es auch nichts zu tun. Ludwigs Beerdigung war die schlimmste. Lotte war schon nicht mehr dabei. Zum Glück mußte sie das nicht mehr erleben. Es hätte ihr das Herz ausgerissen. Aber Lizzy war da, die diesen Bruder immer so überflüssig gefunden hat. Und dann war sie diejenige, die sich nicht fassen konnte. Geheult hat sie. Geschrien. Ist ja gut, wollte ich sagen. Habe ich aber nicht. Ich wußte, daß sie recht hatte. Unser Ludwig hat Dagmar nie geliebt. So was sollte man nicht sagen, und ich habe es auch nie gesagt. Nie heißt in diesem Fall, daß ich es nicht mal Lotte gesagt habe, mit der ich sonst alles geteilt habe, seit wir erwachsen waren. Von einem Tag auf den andern, mit fünfzehn und zwölf auf einmal keine Kinder mehr. Daß Dagmar nicht die Richtige war für unsern Ludwig, hätte ein Blinder sehen können. Von Anfang an habe ich das gewußt und zusehen müssen, wie alles in die falsche Richtung gelaufen ist. Lotte muß es auch gewußt haben, ohne daß wir darüber ein Wort verloren hätten. Es gibt Sachen, die verstehen sich einfach von selbst. Ludwig hat eine Gärtnerstochter geliebt, seit er in der Lehre war, aber da ist nichts draus geworden, und auf einmal kriegt eine andere ein Kind von ihm. Das kann nicht gutgehen. Erst haben wir gedacht, es liegt daran, daß sie nicht von hier ist. Die Flüchtlinge waren ja alle mindestens Gutsbesitzer gewesen im Osten, wenn man ihnen glauben wollte. Vielleicht hat es bei
ihr sogar gestimmt. Kein Wunder, daß sie anders war. Aber daran hat es nicht gelegen. Es dauert nämlich gar nicht lange, da zeigt sich eines Tages, daß sie politisch auf der andern Seite steht. Ich weiß ja, daß es sie gegeben hat, diese Leute, die dafür waren, sogar für den totalen Krieg haben sie gebrüllt, aber in unserer Familie? Dagmar meint also eines Tages ganz nebenbei bei Kaffee und Kuchen: Zuerst waren wir doch alle begeistert. Wir? sage ich bloß. Aber ich muß es wohl so gesagt haben, daß das Gespräch zu Ende war. Drei Buchstaben mit langen Folgen. Dabei weiß ich, daß sie noch ein Kind war und es von ihren Eltern hat. Wenn man wenigstens über die Gegenwart mit ihr reden könnte. Aber das geht auch nicht. Als ob es darauf ankäme, sagt Ludwig, in einer Ehe. Und da irrt er sich. Mit Willi war es auch so. Das heißt, er war nicht für die Nazis. Aber für unsere Leute war er auch nicht. Von Politik wollte er überhaupt nichts mehr hören. Und gewählt hat er auch nicht. Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich ihn nicht genommen. Ich habe keine Ahnung, wie er vor dem Krieg war. In seinem christlichen Elternhaus. Nachher war jedenfalls nichts mehr mit ihm anzufangen. Da hatte er bloß noch seine Abenteuer im Feld und all die Vorgesetzten im Kopf mit ihren Ungerechtigkeiten. Und diesen Mann habe ich geheiratet. Heute fasse ich mir an den Kopf und kann es nicht begreifen. Phia hat es auch nie begriffen. Ich habe versucht, es ihr zu erklären. Es ist nicht zu erklären. Sie hätte diesen Fehler jedenfalls nicht gemacht. Ob es auch ein Fehler war, bei Willi zu bleiben, als Phia unterwegs war, weiß ich bis heute nicht. Das Kind hat vom ersten Tag an ausgesehen wie ich. Und jetzt sieht sie aus wie ich, als ich Willem gefunden habe. Nur mit kurzen Haaren. Ob er daran gedacht hat, wenn wir fünfundneunzig zu dritt in meiner Küche gesessen haben? Vor
vierzig Jahren habe ich sie kennengelernt, deine Tante Lena, sagt er. Phia nickt. Aber sie schweigt. Sie weiß nicht, daß das der Moment ist, wo sie fragen müßte. Oder sie möchte ihn nicht in Verlegenheit bringen. Ich sehe ihn immer noch vor mir, wenn er sie so angesehen hat, seine Tochter. Willem. Ich muß mich zusammennehmen. Was soll Phia denn von mir denken, wenn ich so rote Augen habe. Sie macht sich auch so schon genug Sorgen. Sie schlägt ganz nach Lena, haben alle gesagt und sich nichts dabei gedacht. Die Vererbung geht ja oft ihre eigenen Wege. Und heute stelle ich sie mir vor und denke, das ist die Person, die ich hätte sein können. Oder wohl doch nicht. Sie hat schließlich Lotte als Mutter gehabt. Keine Inflation und keinen Krieg erlebt. Keine Geschwister. Und als ihr Leben angefangen hat, war von allem genug da. Da muß ja ein ganz anderer Mensch dabei herauskommen. Gut, daß sie Lottes Kind gewesen ist. Sie hatte die beste Mutter, die ich mir vorstellen kann. Mir hätte die Ruhe gefehlt. Immer mußte ich unterwegs sein. Wie Lizzy. Nein, anders als Lizzy. Ein Schiff ist kein Berg, würde sie sagen, denke ich und denke auch, daß ich das schon oft gedacht habe, nicht nur hier in der Veranda, sondern auch draußen an den Straßenecken und Fußgängerstreifen. Todesfallen sind das, hört man, und vielleicht wäre das gar nicht das schlechteste. Ich gehe viel herum, damit die Tage nicht so lang sind. Merkwürdig, daß die Tage immer länger werden, je weniger einem davon noch bleiben. Aber was rede ich. Sie werden kürzer. Kaum haben sie angefangen, die Tage, wird es schon Abend. Besonders im Winter, wenn es so früh dunkel wird. Jetzt fängt es auch bald an mit dem Dunkelwerden. Und kalt ist es.
8
Nur diesen einen Sessel hat Phia fünfundneunzig mitgebracht, sonst keine Möbel aus ihrem Haushalt. Die hätten ja auch keinen Platz gehabt. Jetzt hat sie eine Wohnung, in die der Sessel passen würde. Aber sie läßt ihn bei mir. Vielleicht weiß sie, daß ich mich inzwischen an ihn gewöhnt habe und daß ich mir vorstelle, wie sie darin sitzt. Und ihre Stimme höre. Und wie wir gelacht haben, beim Gedanken daran, daß sie unsern Weihnachtsmann gleich beim ersten Mal durchschaut hat. Ludwig, der so gut verkleidet war und seine Stimme nicht verstellen konnte. Und wie sie sich geärgert hat, daß sie das nicht für sich behalten konnte. Mit drei Jahren? sage ich. Warum nicht, sagt sie. Das hätte ich wissen müssen, dann wäre er bestimmt im nächsten Jahr wiedergekommen. Nein, das glaube ich nicht. Warum glaubst du nicht? Wegen seiner Familie. Und das glaubt sie nicht. Diese Gelegenheit, ihr die Wahrheit zu sagen, wie konnte ich die verpassen. Er ist wirklich schön anzusehen, ihr Sessel. Ganz hell und ein kleiner Teppich auf dem Sitz, auf dem dünne eingewebte Geister ihre Arme nach oben strecken, weil Phias Kaffeefleck nicht mehr rausgegangen ist. Lotte habe ich auch schon auf diesem Sessel sitzen sehen, damals noch mit dem alten grünen Plüschbezug. Wie sie sich Mühe gegeben hat, nicht allzu traurig auszusehen. Phia auf ihrem Schoß. Davon gibt es auch ein Photo. Das Kind hat den gleichen grauen Blick wie sie. Haare kann man abschneiden, der Blick bleibt. Unsere Mutter hatte diesen Blick auch. Bis zuletzt. Draußen ist es auch grau, aber schlechtes Wetter hat Phia noch nie gestört. Von ihrem
Sessel aus kann sie gut auf die Straße sehen mit ihrer Baustelle, wenn sie kommt. Falls es nicht schon zu dunkel ist und die Scheiben nur noch uns in der Veranda spiegeln. Ich sitze lieber mit dem Blick zur Küche. Wozu muß ich wissen, wer vorbeigeht, das bringt nichts. Und es hat so viel Wechsel gegeben in den letzten Jahren, daß ich praktisch niemanden mehr kenne. Nicht nur wegen der Todesfälle. Früher sind die Leute nicht so oft umgezogen. Aber Sechsundsechzig, da wird auf einmal das Nachbarhaus frei. Lizzy war mein erster Gedanke. Lizzy, sage ich, das wäre was für euch. Sie war schwanger und wollte gerade ihren Erich heiraten. Lieber nicht, sagt Lizzy und sieht ganz erschrocken aus, wir wollen in der Stadt wohnen. Lizzy, die sich nie helfen lassen will, denke ich heute. Oder lag es doch an ihrem Mann? Vielleicht wollte sie nicht, daß wir zu genau mitkriegen, was sich zwischen ihnen abgespielt hat. Eine viel zu kleine Mietwohnung mitten im Stadtverkehr hat sie sich ausgesucht. Als wäre das das richtige für Kinder. Aber Lizzy hat schon immer gemacht, was sie wollte. Also habe ich meinen zweiten Gedanken in die Tat umgesetzt, Willem. Mit Frau und Sohn ist er eingezogen. Am Anfang hat sie mich eingeladen, meine neue Nachbarin Gertrud, um zu erzählen, wie sie nur ihrem Mann zuliebe mitgekommen ist und selber viel lieber in der Stadtwohnung geblieben wäre. Aber man muß dankbar sein, hat sie gesagt, auch wegen dem Sohn, der adoptiert war und sich so gut entwickelt hat. Für Kinder, hat sie gesagt, ist es ein Segen. Einen Garten zu haben, hat sie gemeint, aber ich habe ihren Udo nie im Garten gesehen. Vielleicht kann Phia sich darum nicht an ihn erinnern. Aber daß es bloß Dankbarkeit war, wenn Gertrud sich im Garten abgearbeitet hat, kann ich nicht glauben. Hätte sie sich dann darüber beklagt, daß Männer Gärten zwar besitzen, aber nichts dafür tun wollen? Ein
Gedanke, auf den ich nie gekommen wäre. Mit all den Gärtnern in der Familie. Ich bin jedenfalls nicht gern zu ihr gegangen, immer mit dem schlechten Gewissen. Ich wußte gar nicht, was ich sagen sollte. Und das muß sie gemerkt haben, jedenfalls haben wir uns dann nur noch gegrüßt und irgendwann auch das nicht mehr. Vielleicht ist sie wirklich nicht hinter unser Geheimnis gekommen, weil sie viel jünger war als ich. Männer haben ja sonst nur Augen für junge Frauen. Gertrud mit dem frommen Sinn ist die erste Gärtnerin, habe ich jedesmal gedacht, wenn ich sie in ihrem Garten auf den Knien sah. Einer von Tante Phies Sprüchen ist das, der mir geblieben ist, und jedesmal ärgere ich mich auch, daß ich nie gefragt habe, welche Gertrud sie meint. Diese kann es ja nicht gewesen sein. Für mich hat ein neues Leben angefangen, als sie eingezogen sind. Das war der Moment für den Maurerkurs. Selbst ist die Frau, habe ich gesagt. Aber erst später, als Phia bei mir war, weil sie auch eine von denen ist, die alles können. Eigentlich war es ja ein Spruch von Lizzy, und die hatte ihn von Tante Phie übernommen. Aber wer will das noch so genau wissen. Phia hat das natürlich gefallen. Vor allem darum, sagt sie, weil es auch bei den Schimpansen die Weibchen sind, die mit Werkzeug besser umgehen können als ihre Männer. Und ausdauernder. Sie wollte auch wissen, ob ich nie Lust hatte, ein Haus zu bauen. Das war nicht nötig, Kind, sage ich, ein Haus hatten wir schon. Aber es mußte an die neuen Verhältnisse angepaßt werden. Solides Werkzeug habe ich angeschafft, wie man es sich in den sechziger Jahren wieder leisten konnte. Das liegt heute noch im Keller, wie so vieles, was niemand mehr braucht. Außer Vaters Aktentasche natürlich, die endgültig weg ist und an die ich trotzdem jedesmal denke, wenn ich nach unten gehe. Wo ist eigentlich sein Photoapparat
hingekommen? Ach ja, Lizzy hat ihn verkauft, für Zigaretten. Fünf Reichsmark das Stück. Wie konnte ich das vergessen. In Ludwigs Gärtnerei habe ich geübt, Mäuerchen und Terrassen, die dem Ganzen ein neues Aussehen gegeben haben. Keinen Stein konnte ich in die Hand nehmen, ohne an das Aufräumen nach den Angriffen zu denken. Jedesmal hatte ich diese Frauen vor Augen, wie sie die Eimer mit Schutt weiterreichen, wenn ich so allein meine Platten gegossen oder mein Mauerwerk hochgezogen habe. Das war natürlich, bevor ich den Film gesehen habe, und da war es dann wieder ganz anders. Ellie, die im Fernsehen vom Steineklopfen erzählt hat und davon, wie sie gehustet hat und nicht genug zu essen und keinen Menschen mehr. Und wie die ganze Mühe nur ein Tropfen auf den heißen Stein war. Alles sinnlos kaputtgeschlagen und sinnlos zurechtgeklopft, denke ich, und hier stehe ich und baue Mäuerchen, die niemand braucht. Lächerlich. Ich hätte aufgegeben, wenn ich nicht gewußt hätte, wofür ich die Arbeit gemacht habe. Sie stehen heute noch, kleine Rampen für die Schubkarren, Klinkerbrüstungen, geschmackvoll abgestuft, obwohl Wilma so erfolgreich ist, daß sie anbauen mußte. Und dann habe ich mich an unser Haus gewagt. Eine neue Küche, wie man sie Sechsundsechzig hatte, und von der Küche einen Durchbruch zum Flur, weil alles so eng war. Muß das sein, sagt Willi. Aber es war mein Haus, und gekostet hat es ihn nichts. In all dem Staub auch gleich den Durchbruch zum Nachbarhaus, von meinem Arbeitszimmer aus, keine große Sache, die ich in ein paar Tagen erledigen konnte, wenn Willi im Amt war. Zwischendurch den Schrank davorschieben, der dann auch als Tür dienen sollte. In den Schulferien mußte das natürlich sein, damit Willem mit seiner Familie verreisen konnte. Ich habe keinen Augenblick gezögert, aber ziemlich waghalsig ist mir das Ganze doch vorgekommen. Dabei gilt wohl auch dafür der Gedanke, daß alle guten Ideen älter sind,
als wir glauben. Jedenfalls hatte von da an unser Nomadisieren in Liebesdingen ein Ende, und Annie mußte nicht mehr für mich lügen. Ich hätte das Loch größer machen sollen, denke ich jetzt. Willem ist ja älter geworden, und das Durchsteigen ist von Jahr zu Jahr mühsamer gewesen. Er hat sich nichts anmerken lassen, um mir keine Sorgen zu machen. Ich habe erst recht nichts gesagt, um ihm keine Sorgen zu machen, aber gedacht habe ich es jedesmal. Heute ist das Türchen längst wieder zugemauert. Das letzte Mal, daß ich die Maurerkelle angefaßt habe, aber ohne Phia hätte ich das nicht geschafft. Was für ein Glück, daß sie da war. Ich wußte nicht, was aus mir werden sollte, weil er tot war, und war so durcheinander, daß ich nicht mal wußte, wie ich Ziegelsteine ins Haus schaffen sollte. Ganz gewöhnliche Ziegelsteine, nicht diese großen, die nach dem Krieg so praktisch waren. Diesen Teil der Wahrheit weiß sie seitdem. Sie hat sogar in ihrem Buch darüber geschrieben. Aber nicht ganz so, wie es wirklich war. Das darf man natürlich in einem Buch, es stimmt schließlich auch sonst einiges nicht, und ich bin ja froh, wenn nicht jeder die ganze Wahrheit nachlesen kann. Was Gertrud denkt, ist jetzt nicht mehr wichtig. Und bei der Verwandtschaft kümmert sich sowieso niemand um Bücher, wahrscheinlich wissen sie nicht einmal, daß Phia geschrieben hat. Woher sollten sie auch. Wir haben es jedenfalls nicht erzählt. Daß Willem ausgerechnet bei mir sterben mußte, auf meinem Sofa, das war entsetzlich. Und nicht mal richtig angezogen. Ich war wie gelähmt. Habe nur dagesessen und nicht gewußt, was ich tun sollte, bis Phia nach Hause gekommen ist. Aber was zählt das. Daß er tot ist, zählt. Phia hat ihn so gern gehabt, fünfundneunzig, wenn wir zu dritt in meiner Küche gesessen haben. Natürlich nicht in der Veranda, wo einen jeder sitzen sehen kann, der vorbeikommt. Mein Ehemann wollte nicht mal in der Küche sitzen, aber aus
andern Gründen. Die gute Stube mußte es sein, weil sie zu Hause auch eine hatten. Das Leben ist zu kurz, um in der Küche zu sitzen, hat er gesagt. Ach, Willi. Weil sein Vater das auch gesagt hat. Ich sehe das genau andersrum, wenn ich darüber nachdenke. Schon als wir Kinder waren. Und erst recht, seit ich alles so schön umgebaut hatte. Alle waren begeistert, bloß meinem Willi hat das nicht gepaßt. Ihm hat ja überhaupt nichts gepaßt. Jedenfalls hat er erst nach dem Umbau damit angefangen, daß er nicht in der Küche sitzen wollte und seinen toten Vater zitiert hat. Willem hat sich verändert in diesem Winter mit Phia. Ich könnte gar nicht sagen wie. Er war noch einmal ganz neu für mich. Wie am Anfang. Mit all seiner Wärme. Nur daß es einen ganz anders trifft, wenn man älter ist. Als wäre die Liebe etwas ganz Unerwartetes und Unverdientes. Heute glaube ich, es ist ihm gleich gewesen, ob jemand sieht, wie er bei uns sitzt. Nach all den Jahren. Als wären wir endlich die Familie, die wir hätten sein sollen. Wie gut, daß er das noch erlebt hat, denke ich immer. Ich hätte es ihr gleich sagen sollen. Er ist dein Vater, hätte ich sagen müssen. Sie hatte doch ein Recht darauf. Wo sie nie einen Vater gehabt hat. Wäre das wirklich so schwer gewesen? Wie einfach das heute klingt. Aber was hätte nicht alles dazugehört. Zuviel. Das habe ich nicht geschafft. Und heute kommt es mir noch schwieriger vor. Willem wäre ich es auch schuldig gewesen. Schließlich hatte er das Kind gewollt. Als es unterwegs war, meine ich. Aber nicht so wie ich, sondern ganz. Damit hatte ich nicht gerechnet. Neu anfangen wollte er. Er und ich und das Kind. Mir blieb die Luft weg, das geht nicht, hab ich bloß rausgebracht, das geht nicht. Doch, sagt er, das geht. Das Lebendige zählt. Nein, höre ich eine Stimme in meinem Kopf, nein, nein, nein. So viel kaputtmachen, sage ich, das dürfen wir nicht. Meine Eltern
sind auch zusammengeblieben, sage ich, und was hätten wir denn tun sollen, wenn sie nicht zusammengeblieben wären. Ihr wart Kinder, sagt er, aber wir sind erwachsen. Wenn wir es jetzt tun, können alle noch einmal neu anfangen. Neu anfangen? Wir hatten wochenlang dieses eine Thema, und ich konnte immer nur den Kopf schütteln und nein sagen. Wenn man einmal sein Wort gegeben hat, darf man nicht weglaufen. Der Anstand verlangt das. Und was die Familie dazu sagen würde, ist ein Kapitel für sich. Heute weiß ich, wie falsch das war. Oder ich habe es damals schon gewußt, aber ich konnte einfach nicht danach handeln. Willem und Gertrud haben dann diesen Jungen adoptiert, Udo. Weil Gertrud sich ein Kind gewünscht hat. Und heute frage ich mich, ob das alles war. Konnte sie keine Kinder bekommen? Wollte sie nicht? Und er? Ich dachte, wir hätten über alles geredet. Darüber nicht. Als er Sechsundsechzig ins Nachbarhaus gezogen ist, gingen die Heimlichkeiten weiter, und ich hasse Heimlichkeiten. Daß ausgerechnet mein Leben aus Heimlichkeiten bestehen mußte, begreife ich heute noch nicht. Ich glaube, es ist nicht zu begreifen. Je länger, je weniger. Dabei habe ich als Kind gedacht, wenn ich groß bin, begreife ich alles. Das ist Unsinn. Soviel weiß ich jetzt. Alle haben uns damals um unsere neue Küche beneidet, die sich so großzügig zum Flur hin geöffnet hat. Seitdem haben wir nichts mehr renoviert. Ich hätte gern mehr gemacht, aber mein Willi hat sich gesträubt gegen Veränderungen und gegen die Unruhe und gegen das Geldausgeben, obwohl es mein Geld gewesen wäre. In solchen Dingen mußte ich nachgeben, weil ich die Stärkere war. Dafür muß man zahlen. Achtzig ist er gestorben. Willi. Wie sein Vater, nach einem Schlaganfall. Nur daß er erst noch monatelang im Rollstuhl sitzen und ich ihn unten in meinem Zimmer unterbringen
mußte. Wir sind eigentlich nie wirklich allein gewesen, habe ich gedacht. Als er dreiundvierzig zu uns gezogen ist, gab es Vater und meinen kleinen Bruder. Ludwig war zuerst da und hat es Willi fühlen lassen. Mit acht. Muß das sein, sagt Willi. Er ist ein Kind, sage ich, er braucht Zeit. Dann mußte Willi wieder einrücken, beim nächsten Urlaub fing alles von vorne an, und dann gab es keinen Urlaub mehr. Vater war auch noch im Hause. Er hat sich nicht eingemischt, aber für das, was er gedacht hat, würde ich heute die Hand nicht mehr ins Feuer legen. Er war ja nicht blind. Vielleicht hat er so getan, als wäre alles in Ordnung, um es nicht noch schlimmer zu machen. Und wie Willi aus der Gefangenschaft kommt, ist Ludwig im schwierigsten Alter. Ich muß sehen, daß in der Gärtnerei nichts schiefläuft. Und wie Ludwig mit zwanzig heiratet und sich mitten im Sommer in den Betrieb einarbeiten muß, wie hätte es da ohne mich gehen sollen? Und im Oktober hatte ich Willem. Das ist natürlich nicht das, was man sich unter einer Ehe vorstellt. Kein Wunder, daß es Willi nicht gepaßt hat. Heute hört man oft, in der Ehe sollte man sich genug Zeit füreinander nehmen. Das mag ja stimmen, aber nicht bei uns. Wenn wir uns mehr Zeit genommen hätten, wir hätten es nicht ausgehalten. Ich jedenfalls nicht. Daß es Menschen gibt, mit denen man nicht reden kann, das habe ich nicht gewußt. Ich habe es erst richtig gesehen, als mein Willi nach dem Krieg nach Hause kam. Ich habe ja nicht mal aus ihm rausgekriegt, wie es war, in der Gefangenschaft. Und als er den Schlag hatte, wußte niemand, wie das weitergehen sollte. Nur nicht unterkriegen lassen, war die Devise. Ich hatte keine freie Minute. Mußte das Wasser für seine Pflege aus der Küche holen, weil das Badezimmer oben war. Ihn beruhigen, so gut es ging. Am liebsten hätte er mich gar nicht mehr aus dem Haus gelassen. Ich muß doch einkaufen, sage ich. Und Willem
mußte ich auch anderswo treffen, wie früher, als er noch in der Stadt gewohnt hat. Einkaufen, sagt Willi, was brauchen wir schon. Ist ja gut, sage ich. Gut? sagt er. Du hast gut reden. »Zum erstenmal hat er mir leid getan.« Was rede ich. Er hat mir schon immer leid getan. Von Anfang an. Als ich ihn geheiratet habe. Ich war krank vor Unglück, weil ich das Kind verloren hatte, und niemand durfte es merken, weil der ganze Haushalt von mir abhing. Als er im Krieg war, hat er mir leid getan. Als er nachher mit Ludwig nicht zurechtgekommen ist. Bis er endlich seine Stelle hatte. Als ich Willem gefunden habe, ein Glück, mit dem ich nie gerechnet hätte. Und auf das Willi nie hoffen durfte. Darum habe ich keinen Augenblick daran gedacht, ihn zu verlassen. Und das schlimmste war, daß er das wußte und nicht das geringste daran ändern konnte. Aber was macht mich so sicher? Wer sagt denn, daß er keine große Liebe hätte finden können? Oder wenigstens eine bessere Frau? Vor allem in der Nachkriegszeit, als es so viele alleinstehende Frauen gab? Ein Leben lang als Notlösung neben einer Person zu leben, die macht, was sie will, das ist eine Zumutung. Das ist nicht wiedergutzumachen. Wir hatten ja nicht mal eigene Möbel, außer den Betten und ein paar Sachen aus den fünfziger Jahren. Unsere Fernsehsessel. Alles andere war noch von meinen Eltern. Es tut mir leid, habe ich gesagt, als er im Sterben lag, es tut mir leid. Er hätte ein besseres Leben haben können. Und ich habe es verhindert. Das hätte ich anders machen müssen. »Alles.« Und wenn ich seine große Liebe war? Ach, Willi. Schluß damit, das führt zu nichts. Wie Willem und Gertrud nebenan einziehen, will mein Willi einen Hund anschaffen. Andere Leute haben auch Hunde, sagt er und meint unsere neuen Nachbarn. Das schon, sage ich. Es
war ein rührender Hund, Phia hat ihn in ihrem Buch beschrieben, genau so, wie er war, das vergißt man nicht. Bloß daß sie nicht wußte, warum er vor der Tür gelegen hat. Aber was rede ich, es war gar nicht derselbe Hund. Der war ja längst tot. Aber der neue hat genauso ausgesehen. Ich konnte mir jedenfalls nicht vorstellen, wie mein Willi morgens und abends stundenlang mit einem Hund durch die Straßen läuft. Er auch nicht. Er hat wohl geglaubt, daß ich das machen würde. Nein, habe ich gesagt. Und nicht nur darum. Ich mag nicht, daß man Hunden sagen muß, was sie zu tun haben, weil ihnen sonst etwas fehlt, und manchmal habe ich mich gefragt, ob Willem das gefiel. Nein, hat er gesagt, aber Gertrud macht das sehr gut. Wie das wohl herausgekommen wäre, denke ich heute, wenn wir uns doch zusammengetan hätten. Daß Willem mich besucht hat, wenn ich zum Bügeln oder Flicken in meinem Zimmer war, durfte Willi natürlich nicht wissen, und ich glaube, er wußte es doch. Geredet hat er nie davon, aber er ist ausgerastet. Vielleicht wäre er in jedem Fall ausgerastet, es gehörte irgendwie zu ihm, und nicht nur wegen dem Krieg. Was soll ein Mann auch tun, wenn seine Frau ihn nicht liebt und doch zu ihm hält. Mitleid ist schwer auszuhalten. Ich habe immer gemeint, ich wäre dazu verpflichtet, wie die Dinge nun einmal lagen, aber wer weiß, vielleicht war das genau die Grausamkeit, die ich vermeiden wollte. Und vielleicht war diese Art von Grausamkeit doch das Beste, was er vom Leben zu erwarten hatte. Ach, Willi. Aber das ist vorbei. Er ist gestorben und der Fernseher mit ihm. Dieser Farbfernseher, der mich jedesmal an unsern ersten erinnert hat. Und daran, wie Willi ihn eines Abends, als ich ausnahmsweise auf dem Sessel neben ihm eingeschlafen war, statt in mein Arbeitszimmer zu gehen und etwas Sinnvolles zu tun oder mich mit Willem zu unterhalten, mit beiden Händen gepackt und hoch in die Luft gestemmt hat, als wollte er ihn
den aus dem Garten hereinschauenden Augen des Allmächtigen als Beweismittel vorführen. Ein Gesicht hat er gemacht wie sein Vater auf der Kanzel. Er stemmte noch einmal nach, wie ein Prophet das Goldene Kalb stemmen würde, um das die gottlose Menge ihre Orgien veranstaltet, bevor er es mit dem Ausdruck des Jüngsten Gerichts zu Boden schmettert. Aber der Apparat ist heil geblieben, und die ganze Szene mußte wiederholt werden, bis es wirklich Scherben gab. Willi konnte nicht fassen, daß man ihn nicht im Krankenhaus behalten wollte, als die Wunden an seinen Beinen genäht waren. Diese Leute haben ja keine Ahnung, sagt er. Aber zu einem einfachen Arzt hätte er es doch wohl bringen können, höre ich seinen Vater sagen, der als Theologe meinte, daß aus seinem einzigen Sohn nichts werden konnte, weil ihm die Voraussetzungen fehlten. Wie soll ein Heranwachsender damit leben? Hätte ich ihm nicht wenigstens diesen Hund gönnen sollen? Die letzten zehn Jahre waren entsetzlich. Sie haben ihn pensioniert, mit einem Händedruck entlassen. Daß er nicht mehr zu gebrauchen war, sagt ja niemand, aber wie sollte einer wie Willi wohl darüber wegkommen. Er ist noch schwieriger geworden, als er sowieso schon war, und hat wieder angefangen, mir nachzuspionieren. Aufgeschlitzte Reifen gab es nicht mehr. Das war früher, als ich soviel mit dem Auto unterwegs war. Statt dessen sind meine Sachen verschwunden. Aus dem Badezimmer, von der Garderobe, aus meinem Schrank. Und natürlich Schlüssel. Phia war noch ein Kind. Sie ist ganz still geworden und konnte es nicht begreifen. Ich habe nie ein Wort gesagt und einfach gesucht. So lange, bis alles wieder da war. Oder auch nicht alles. Willi hat zugesehen und sich amüsiert, als würde ein Theaterstück gespielt, das ihn nichts angeht. Hat Phia gesagt. Ich habe das natürlich anders gesehen. Daß Lizzy
in diesen siebziger Jahren so oft bei uns war, hat ihm auch nicht gepaßt. Muß das sein, sagt er. Ja, das muß sein. Meine Schwester kommt ja auch nicht dauernd angerannt, sagt er. Das ist was anderes, sage ich. Seine Schwester wohnt erstens im Süden, ist zweitens glücklich verheiratet und drittens fromm. Unsere Lizzy hat es nicht so gut getroffen. Und Lotte ist auch bei mir vorbeigekommen, wenn sie in der Gärtnerei Feierabend hatte, aber aus andern Gründen. Ich wünschte, sie würden noch leben. Es ist so still im Haus, seit niemand mehr kommt. Das ist doch kein Leben. Aber still ist das falsche Wort. Drechslers wohnen schließlich oben, und die sind nicht gerade das, was man stille Mieter nennt. Er ist klein und hübsch und gewalttätig, sie hat Geschmack und Haare auf den Zähnen. Wenigstens ist was zu hören, würde ich sagen, aber für Phia war das nichts. Wenn zwei sich streiten, denkt sie gleich, die Welt geht unter. Erst recht, wenn es über ihrem Kopf geschieht und die Schreibtischlampe wackelt. Ich denke, du schreibst ein Buch über das Eheleben, habe ich gesagt. Ich schreibe keinen Roman, sagt Phia. Das war ganz am Anfang, als sie noch nicht wußte, daß es doch ein Roman wurde. Warum eigentlich nicht? Weil es das schon gibt, sagt sie, um mich zum Lachen zu bringen, und wir kommen aus dem Lachen gar nicht mehr heraus. Mit der Wahrheit hat das wenig zu tun, denn wissenschaftliche Bücher über die Ehe gibt es wahrscheinlich auch schon. Das Lachen hat eher mit all den Dingen zu tun, über die man nicht zu reden braucht. Ach, Kind, habe ich gesagt. Und während wir noch gelacht haben, war aus der oberen Wohnung zu hören, wie Drechslers sich wieder vertragen. Wird jemand umgebracht? lacht Phia.
Diese Häuser sind einfach zu hellhörig. Aber als Willi gestorben war, mußte ich vermieten. Erst umbauen. Treppenhaus abtrennen, oben eine Küche einrichten, für mich ein neues Badezimmer im Keller. Aber nicht selber, wie früher. Diesmal habe ich es machen lassen. Es war ja auch keiner mehr da, der dagegen war, daß Geld ausgegeben wurde. »Keiner mehr da.« Hier sitze ich und rede mit mir selber. »Das ist Gift.« Ob Tante Phie auch so geredet hat, wenn niemand dabei war? Das kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich höre ihre altgewordene Stimme mit diesen Zwischentönen, die sonst niemand hatte. Außer vielleicht Lizzy, aber erst, als sie älter wurde. Manchmal haben wir versucht, so zu reden wie sie, aber es hat immer falsch geklungen. Mit meinem Gedächtnis ist nicht mehr viel los, aber in diesem Punkt wird es von Jahr zu Jahr besser. Gut, daß du kommst, höre ich sie sagen wie damals. Gut, daß du kommst, dann brauche ich nicht mit mir selber zu reden. Sagt Tante Phie. Wie konnte ich das vergessen? Haben wir wirklich nicht gewußt, was das heißt? Nichts von Bedeutung, müssen wir gedacht haben. Dabei war es wichtig. Wie konnte ich so dumm sein, denke ich heute. Was hätte ich nicht alles wissen können über ihre alten Tage, wenn ich zugehört hätte. Und nach früheren Zeiten habe ich sie auch nicht gefragt. Dabei habe ich mich immer für eine gute Zuhörerin gehalten. Verzweifeln könnte ich, wenn ich denke, was ich versäumt habe. Und wie ich Tante Phie nicht gerecht geworden bin. Unserer Mutter auch nicht, aber das ist eine andere Geschichte. Ich wäre alt genug gewesen dafür. Oder doch zu jung. Ich muß damals angenommen haben, daß der Mensch mit der Zeit älter aussieht und daß das alles ist. Und warum sollte es Phia anders gehen mit dem, was ich zu erzählen habe? Man sagt ja, unsere ersten Jahre werden wieder
lebendig im Alter. Und das waren meine Schwestern. Vielleicht rede ich mit Lotte und Lizzy, wenn ich so vor mich hin spreche? Mit Willem nicht, mit ihm flüstere ich. Seinen Namen. Meistens höre ich ihn bloß. Diese Stimme, als wäre er noch da. Nein. Ganz anders. Und das Radio höre ich. Wie als Kind, nur daß es heute besser klingt. Meistens vergesse ich, es anzustellen, seit Willem nicht mehr ist. Sonst kaum Stimmen. Woher auch? Lizzys Töchter sind ein paar Jahre nach dem Krieg ihrem geschiedenen Vater in den Süden gefolgt und nie wiederaufgetaucht, und ihre Söhne aus den sechziger Jahren haben sich in alle Welt zerstreut. Ich konnte Phia nicht mal sagen, wo sie sind. Sie hat nach ihnen gefragt, weil sie in der Schulzeit manchmal auf sie aufgepaßt hat. Von Ludwigs Töchtern habe ich auch lange nichts gesehen. Mit ihrer Mutter sind sie über Kreuz, jede auf ihre Art, aber was mich betrifft, halten sie sich auf Dagmars Seite. Seit Ludwig tot ist, meine ich. Damit habe ich nicht gerechnet. Daß er sich umbringt, meine ich. Und daß sie mich dort nicht mehr sehen wollen, die Kinder. Und daß ich die letzte sein würde von den Geschwistern. Aber alles andere ist auch gekommen, ohne daß ich damit gerechnet hätte, das Gute und das Schlimme. Eigentlich haben wir nur mit dem Krieg gerechnet, jahrelang, und doch gehofft, wir würden drum herumkommen. Schluß damit. Das hilft ja nichts. Und jetzt? Das Lebendige zählt. Das ist leicht gesagt. Schließlich, wer ist noch da außer Phia? Meine Arbeit war immer da, wo ich gebraucht wurde. Und damit ist es schon lange nichts mehr. Ich muß etwas tun, habe ich mir Ende der Achtziger gesagt, als Lizzy auch tot war. Neue Freundinnen, habe ich mir gesagt. Aber wie? Beim Roten Kreuz haben sie Nachmittage, wo Senioren sich nützlich machen können. Nähen und Handarbeiten für den Basar. Und das ist so ziemlich das einzige, wofür ich nicht zu brauchen bin. Hand
anlegen wollte ich, aber wenn man mit der Mauerkelle und mit Pinseln umgehen oder auf dem Feld arbeiten kann und alles über Gärtnereien weiß, kann man sich an diesen Nachmittagen nicht nützlich machen. Und wenn ich mich nicht nützlich machen kann, was soll ich dort. Und worüber reden sie, die alten Leute? Wenn sie nicht über Krankheiten reden? Über die Jugend und wie sie immer schlimmer wird. So ein Unsinn. Wir Alten sind bloß neidisch. Natürlich haben sie es besser. Aber wir wissen doch gar nicht, womit die sich herumschlagen müssen. Und was noch alles auf sie zukommt, das möchte ich nicht erleben. Dafür können die jungen Leute doch nichts. Als ich jung war, gab es die HitlerJugend. War das etwa besser? Natürlich nicht, sagen sie und fangen von vorne an. Da ist mir schon lieber, wenn sie über Krankheiten reden, diese Alten. Ich habe sie mir angesehen, lauter Fremde, die aussehen, als würden sie in einer andern Welt leben. Und wahrscheinlich wäre ich für sie auch ein Buch mit sieben Siegeln. Wenn sie nicht wissen, wie ich früher gewesen bin, wie sollen sie da etwas anderes sehen als eine altgewordene Person, die den Anschluß verloren hat. Das ist nichts für mich, habe ich mir gesagt. Aber da hat Willem noch gelebt. Nachher habe ich angefangen, draußen herumzugehen, wenn das Wetter nicht zu schlecht war. Das ist, als wäre man Luft. Zuerst habe ich es gar nicht gemerkt, dann war ich erschrocken, und jetzt bin ich froh darüber. Es heißt ja, daß ich mich nicht mehr beobachtet fühlen muß. Hunde scheinen die einzigen zu sein, die mich sehen, und das ist nicht immer angenehm. Niemand, mit dem man reden könnte. Das kann doch nicht wahr sein. Aber das interessiert Phia nicht. »Man muß Geduld haben.«
Das hat Adenauer auch gesagt, aber darum muß es ja nicht falsch sein. Leider hat Geduld selten etwas genützt. Vielleicht heißt das nur, daß wir mit unerfüllbaren Wünschen leben. Aber was rede ich. Ich habe alles mögliche falsch gemacht, aber unerfüllbare Wünsche? Nein, die hat es bei mir nicht gegeben. Was nicht zu haben war, das habe ich mir gar nicht erst gewünscht. So was lernt man früh, oder man lernt es überhaupt nicht. Ich habe so viel Glück gehabt. Und manchmal sind mir Wünsche, die ich gar nicht hatte, erfüllt worden. Annie, die ich nie gesucht und doch gefunden habe. Mein Leben mit Willem. Mein Jahr mit Phia. Und das Schönste für mich war immer, wenn ich sie auf Lottes Armen gesehen habe. Wenn man zwanzig geboren ist, muß man sich zwar sagen lassen, man hätte keinen Krieg erlebt, aber was unerfüllbare Wünsche sind, lernt man trotzdem. Es gibt genug Gelegenheiten, das zu lernen. Man muß die Dinge so sehen, wie sie wirklich sind, leider auch ein Satz von Adenauer, aber vielleicht verstehen wir nicht das gleiche darunter. Er hat unsere Brüder und Schwestern in der Zone gemeint. Aber wie die dann wieder zu uns gestoßen sind, das hat er sich wohl doch nicht vorstellen können. Ach, Lizzy mit ihrer Raucherstimme. Schauspielerin hätte sie werden sollen. Wie sie Adenauer mit seiner Ssoffjettzone nachgemacht hat, das höre ich heute noch. Die ruhelose Lizzy, die sich nie helfen lassen wollte und trotzdem einen sicheren Hafen brauchte, wenn ihr Mann seine Anfälle hatte. Anfälle? sagt Lizzy. Wie würdest du das denn nennen? Lizzy hatte eine besondere Art von Lachen, das sie für Augenblicke wie diesen brauchte. Und nachdem sie gelacht und damit wieder aufgehört hat, nickt sie und gibt es zu: O.K. Anfälle. Ich glaube, sie ist immer ein bißchen eifersüchtig gewesen. Ihr Mann hat mir gefallen. Ich hatte nicht im geringsten die Absicht, ihn ihr wegzunehmen, falls das möglich gewesen
wäre, so sehr hat er mir dann doch nicht gefallen. Und außerdem hatte ich seit Jahren den wunderbarsten Liebsten, den man sich vorstellen kann, aber das hat Lizzy natürlich nicht gewußt. Jetzt denke ich oft, ich hätte es ihr sagen müssen. Damals dachten wir, wir müßten alles für uns behalten. Nur Lotte wußte Bescheid, sie war schließlich dabeigewesen, als wir uns kennengelernt haben, in diesem elenden Zug, mit dem wir von Friedland nach Hause gefahren sind. Stundenlang. Und als Phia unterwegs war, zwei Jahre später, mußte Lotte natürlich auch wissen, wer der Vater war. Lügen – das tut man nicht, wenn es so ans Lebendige geht. Wer weiß, vielleicht hätte sie das Kind gar nicht genommen, wenn es von meinem Mann gewesen wäre. Heute frage ich mich, ob Lizzy nicht trotzdem alles gewußt hat? Sie war ja nicht auf den Kopf gefallen. Und nicht nur sie? Auch andere? Ludwig und Dagmar? Die ganze Verwandtschaft? Die halbe Straße? Haben sie mich deswegen auf Distanz gehalten? Das würde vieles erklären. Vielleicht hat man uns doch gehört? Ich meine, wenn man den Krach zwischen den Drechslers und ihre erotischen Versöhnungen und ihren Fernseher bei mir unten hört, dann hören sie uns oben auch. Und nicht nur sie. Vielleicht auch Gertrud. Von ihrer Seite war es immer ziemlich still, aber wenn das getäuscht hat? Sie haben einfach wenig Geräusche gemacht. Außer dem Hund natürlich, und der war bei uns bestens zu hören. Vielleicht hat sie neben der Wand gesessen und jedes Wort verstanden. Nein. Wir hatten ja das Radio an. Und Phia? Wenn sie unsere Lügen längst durchschaut hat, wie den Weihnachtsmann, als sie noch klein war? Nur daß sie sich jetzt nicht mehr verplappert. Weil sie sieht, wie es mir schwerfällt, darüber zu sprechen, und weil sie es mir nicht noch schwerer machen will. Kann das sein? Daß sie es doch gewußt hat, als sie im Gartenzimmer gesessen und an ihrem Buch geschrieben
hat? Wenn sie guten Morgen und gute Nacht gesagt hat? Wenn wir mit Willem in der Küche gesessen haben? Vater, Mutter und Kind, und wir haben gedacht, sie hält ihn für einen liebenswerten Nachbarn und mich für ihre Tante Lena? Und sie hat uns in diesem Glauben gelassen, um uns nicht in Verlegenheit zu bringen? Oder hat sie auch Angst, etwas zu verlieren? »Nein.« Das kann ich mir nicht vorstellen. Sie hat ja gedacht, daß ich den ganzen Tag allein war. Mitleid habe ich herausgehört, wenn wir darüber gesprochen haben. Nicht daß wir wirklich darüber gesprochen hätten. Phia ist keine, die es auf die wunden Punkte von andern abgesehen hat wie Leute, die glauben, daß man über alles reden müßte. Und meine angebliche Einsamkeit muß sie für einen wunden Punkt gehalten haben. Wir haben das nie ausgesprochen, sie nicht, weil sie mich schonen wollte, und ich nicht, weil es zuwenig gewesen wäre. Und weil ich mich nicht getraut habe, mit der ganzen Wahrheit rauszurücken. Die bloßen Tatsachen hätten sich ja sagen lassen, aber was sind die Tatsachen für sich allein? Falsch sind sie, weil das Wichtigste fehlt, und eigentlich sind sie nicht mal Tatsachen, sondern Lügen, die zu nichts als falschen Vorstellungen führen. Belogen habe ich Phia nie. Und heute denke ich, es ist auch eine Lüge, wenn man die Wahrheit nicht sagt. Damit muß Schluß sein. Im März ist Willem gestorben, auf meinem Sofa, und Phia konnte mit eigenen Augen sehen, wie ich meine einsamen Stunden verbracht habe. Nachher war ich so verwirrt und erschöpft und verzweifelt, daß ich es bei dieser Art von Wahrheit gelassen habe, die ja kaum mehr war als eine nackte Tatsache. Aber dann habe ich es doch versucht. Als er tot war. Ich habe angefangen zu erzählen, wie es war, all die Jahre mit Willem. All die Heimlichkeiten und die Lügen. Wie ich ihn geliebt habe. Und was sagt Phia? Ach, Lena, sagt sie, du brauchst
nichts zu erklären. Ihr hat genügt zu wissen, daß ich glücklich war in diesen Jahren mit ihm. Dabei wollte ich, daß sie mehr weiß – es war nicht zu machen. Heute muß ich besser aufpassen, wenn sie kommt. Und wenn sie mich wieder schonen will? Das ist lieb von dir, werde ich sagen. Und trotzdem erzählen, die ganze Wahrheit. Wer weiß denn, wieviel Zeit mir noch bleibt. Aber das werde ich nicht sagen. Zurück zu Lizzy, die eifersüchtig war, zuerst wegen Ludwig, um den Lotte und ich uns gekümmert haben, und dann weil ihr Mann mir gefiel und weil er das wußte, vom ersten Augenblick an. Er hat auch immer gewußt, was ich dachte. Ich brauchte gar nichts zu sagen. Und weil ihm das gefiel, konnte ich vom ersten Augenblick an Klartext reden. Manchmal hat er Jenny zu mir gesagt, aus Versehen. Dann habe ich ihn Fritz genannt. Wer ist Jenny? sagt Lizzy. Daß sie das nicht weiß. Meine Schwester, sagt er. Und sie weiß nicht, ob sie das glauben soll. Ich habe ihm den Kopf zurechtgesetzt, sobald ich ihn an der Strippe hatte. Manchmal habe ich gedacht, ich bin die einzige, die ihn zu nehmen weiß. Aber das täuscht wohl. Wie oft hat Lizzy mich angerufen, von irgendeiner Telephonzelle. Ich höre ihre Stimme, wenn ich mein Telephon nur ansehe. Immer noch das alte. Dabei hat Phia versucht, mich zu einem neuen zu überreden, mit Tasten und allen Schikanen, die ich nicht brauche. Und erinnern würde es mich an gar nichts. Kann ich zu dir kommen? kommt es aus dem Hörer, der gleich noch schwerer wird. Lizzys Stimme. Natürlich, ich bin zu Hause. Und Willi? Das geht Willi nichts an. Sie kommt also, und in keinem guten Zustand. Jetzt müssen wir dich erst mal wieder in Ordnung bringen, sage ich. Sie heult nicht gern, aber manchmal läßt sich das nicht vermeiden. Zum Glück hat sie sich nie was gebrochen. Die Verletzungen
waren immer äußerlich. Und die Kinder, sage ich. Denen passiert nichts, sagt sie. Ein paar Jahre später ist sie auch mit den Kindern gekommen. Drei Söhne in dreizehn Monaten. Das ist Lizzy. Wir sind aus dem Fenster gestiegen, sagen die Zwillinge, als hätte es sich um ein Abenteuer gehandelt. Willi saß vor dem Fernseher, und wir haben Mensch ärgere Dich nicht gespielt an unserm alten Tisch. Nach ein paar Tagen waren sie soweit, daß sie wieder nach Hause wollten, in ihre Wohnung, die viel zu klein war für fünf Personen. Vier, sagt Lizzy, morgen geht er wieder auf Fahrt. Ich rufe also an. Hier ist Lena, sage ich. Verehrteste, sagt der Gatte, charmant wie immer. Ein attraktiver Mensch aus guter Familie, der die elterlichen Erwartungen nicht ganz erfüllt hat und als Chefsteward auf der Seven Seas gelandet ist. Danke für den Handkuß, sage ich. Warum können nicht alle Frauen so sein wie du? Weil ich nicht mit dir verheiratet bin. Leider, sagt der Gatte. Hör zu, sage ich. Mit meiner Schwester so umzugehen, das gehört sich nicht, und für einen Ehemann schon lange nicht. Weißt du… sagt er. Das weiß ich schon lange. Aber daß du besoffen gewesen bist, spielt überhaupt keine Rolle. Als ob du nicht wüßtest, was sich gehört. Aber ich… sagt er. Natürlich, du liebst sie. Also benimm dich danach. Heute abend ist sie wieder da. Manchmal war ich so erfolgreich, daß er monatelang keinen Tropfen angerührt hat. Am Anfang hat sie ihn uns vorenthalten. Jahrelang. Wir wußten, daß es auf dem Schiff den Mann ihres Lebens gab, aber niemand hat ihn zu Gesicht bekommen. Was sich auf der Seven Seas abgespielt hat, ging uns ja auch nichts an. Beide im Service, und er war ihr Chef. Lizzy war aber keine, die klein
beigibt, und das muß ihm gefallen haben. Hätte er sonst ein ganzes gemeinsames Leben lang versucht, ihr zu zeigen, wer der Chef war? Zum Glück hatte sie zwischendurch ruhige Zeiten, wenn er unterwegs war und sie wegen der Kinder zu Hause bleiben mußte. Ruhige Zeiten? Bei ihr hieß das, daß sie gearbeitet hat wie verrückt. Wann sie geheiratet haben, hat keiner von uns mitgekriegt. Eine Hochzeit reicht mir, hat Lizzy gesagt und ihren ersten Mann aus dem Krieg gemeint, von dem sie nicht spricht, weil ihre beiden Mädchen lieber von ihm auf das Leben vorbereitet werden wollten als von ihr. Sie waren kaum in die Schule gekommen. Lizzy wußte ausnahmsweise überhaupt nicht, was sie sagen sollte. Sie hat auch nicht gelacht. Soll ich mit den beiden reden, sage ich. Wenn du meinst, sagt meine kleine Schwester. Was soll das, habe ich die Kinder gefragt und gehofft, ich könnte sie von ihrem Entschluß wieder abbringen. Wir haben es einfach satt, sagen sie, zwei Rotznasen, die sich noch mit dem kleinen Einmaleins herumschlagen. So, ihr habt es einfach satt. Was habt ihr denn satt? Alles. Ich gebe es auf. Was sollen sie denn auch sagen. Aber sie sagen noch etwas. Langweilig und zuviel Arbeit, sagen sie und meinen das Leben mit ihrer Mutter nach dem Krieg. Mir bleibt die Luft weg, weil es wahr ist. Und wie hätte es denn auch anders sein sollen, allein mit zwei Kindern und immer zuwenig Geld. Da kann es einem sogar mit Lizzy langweilig werden. Und wer weiß, was ihr geschiedener Vater ihnen versprochen hat, ein Mann, der gleich nach Kriegsende wieder auf die Füße gefallen ist und geschäftlich Auslandsreisen macht. Kinder glauben ja alles. Viel Arbeit hat Lizzy nie was ausgemacht, aber Langeweile paßt nicht zu ihr. Oder doch. Vielleicht war sie diejenige, die sich gelangweilt hat. Vielleicht haben die Kinder das von ihr aufgeschnappt, denke ich heute.
Womöglich hat sie schon immer von der Seefahrt geträumt? Hätte sie sich sonst auf der Seven Seas anheuern lassen, kaum daß die Mädchen sich bei ihrem Vater eingelebt hatten und sicher war, daß sie nicht zurückkommen wollten? War ihr Umzug womöglich Lizzys Idee? Und ich habe immer gedacht, sie wäre auf die Seefahrt gekommen, um die Einsamkeit besser auszuhalten. Wie kurzsichtig bin ich gewesen. Vielleicht war Lizzy diejenige, die alles satt hatte und nur eins wollte, weg? Wie Annie und ich? Wie unsere Mutter? Wie Lotte mit ihrem Charles? Und bloß Lizzy hat ihren Traum in die Tat umgesetzt. Und dann diese winzige Stadtwohnung, drei Söhne praktisch auf einmal, und einen Ehemann auf den Weltmeeren.
9
»Wie früh es jetzt dunkel wird.« Was rede ich. Das sollte ich mit den Jahren wissen, daß es im November früh dunkel wird. Man müßte schon Licht machen. Draußen an der Baustelle haben sie Lampen aufgehängt, damit sie nicht schuld sind, wenn sich jemand was bricht. Und im Krieg durften nicht mal die Straßenlampen brennen. Am Tag war es damals auch ziemlich dunkel, weil die Veranda zugenagelt war. Nur eine Scheibe, weil niemand wußte, wie lange die Vorräte in der Gärtnerei noch reichen. Und auf der andern Straßenseite dieser Schnee in den Trümmern, den sehe ich noch. Daß unser Haus den Krieg überstehen würde, haben wir nicht gedacht, als gegenüber alles ausgebrannt war. Und dann die beiden Männer mit dem einen Fahrrad, die die Kellerluke freigelegt und sich bedient haben. »Wer plündert, wird erschossen! Der Polizeipräsident.« Gefroren haben wir, aber anders, als ich heute friere. Jetzt friere ich sogar, wenn es warm ist, und das Haus ist immer warm. Ludwig, denke ich, wie er mit Taschen voll Kohlen vom Bahndamm kommt. Aber das war nach dem Krieg. Da wurde keiner mehr erschossen. Ich brauche kein Licht. Kaffee kochen kann ich auch im Dunkeln, und damit hat es Zeit, bis Phia da ist. Bald werden Drechslers nach Hause kommen. Da muß man sich auf alle möglichen Arten von Lärm aus dem oberen Stockwerk gefaßt machen. Wie hältst du das aus, sagt Phia fünfundneunzig, weil sie Streitereien schlecht verträgt. Kein Wunder, sie hatte ja nie Gelegenheit, sich daran zu gewöhnen, immer allein mit der stillen Lotte und keine Geschwister. Wir sollten froh sein, daß diese Drechslers nicht auch noch Kinder haben, sage ich, um
sie zum Lachen zu bringen, und sie lacht. Ihr Kinderlachen. Sie hat auch ein anderes, das trauriger ist. Die Zeit vergeht, und ich weiß immer noch nicht, wie ich es ihr sagen soll. Die ganze Wahrheit. Kenne ich die denn? Was ich weiß, ist bloß die Spitze des Eisbergs. Und was ich alles vergessen habe. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte auch das, was ich noch weiß, vergessen. Was rede ich. Erzählen will ich es. Ich weiß gar nicht, was ich denken soll. Natürlich kann man im Alter denken, was man will. Das klingt gut. Weil es nicht mehr darauf ankommt? Das klingt schon weniger gut. Außerdem kommen keine neuen Gedanken, sondern bloß die alten. Die ganz alten Gedanken meine ich, und während ich immer langsamer werde, jagen sie immer schneller in meinem Kopf herum, so daß es schwierig wird, einen Gedanken zu Ende zu denken. Und wann ist ein Gedanke zu Ende? Wenn der nächste immer dazugehört? Keinen klaren Gedanken kann ich denken, aber das liegt nicht am Alter. Es liegt daran, daß die klaren Gedanken nicht vollständig sind. Und die vollständigen sind nicht klar. Beides zugleich kann man nicht haben. Und jedes für sich auch nicht. Genug gegrübelt. Es ist schon halb vier. Irgendwie muß es gehen, wenn sie da ist. Aller Anfang ist schwer, sagt man. Aber daß das dicke Ende nachkommt, sagt man auch. Gut, daß ich nicht die Sammeltassen genommen habe. Die mußte man zu Mutters Zeiten ja einfach haben, aber sonst war das Sammeln in unserer Familie nicht üblich. Mir wächst auch so alles über den Kopf, was noch im Haus ist. Dabei ist es nicht viel, zwei Zimmer, Küche, Keller. Wie kommt das? Das Alter? Angst vor Entscheidungen? Unsinn. Ich habe immer gewußt, was die richtige Entscheidung ist. Erst in den letzten Jahren bin ich nicht mehr so sicher. Späte Ehrlichkeit? Kann ich es endlich zugeben? Daß es mir immer zuviel war? Warum macht man das ein Leben lang mit? Als hätte man Angst. Nein. Es ging einfach nicht anders. Unsere
Eltern hatten soviel Sorgen. Nicht daß sie mit uns darüber gesprochen hätten, aber das merkt ein Kind auch so. Als ich drei war, habe ich das gelernt. Es mußte etwas Entsetzliches passiert sein, es hatte mit Geld zu tun, und ich wußte nicht, was es war. Ganz neue Gesichter. Die sind das erste, woran ich mich erinnere. Immer wieder habe ich sie geträumt, diese Gesichter. Ich stampfe mit den Füßen, ich suche einen Ausweg und bin gelähmt. Ich schreie im Schlaf. Und Mama kommt, mit diesem Gesicht, das nicht ihr richtiges Gesicht ist. »Angst.« Würde ich heute sagen. Aber darauf kommt ein Kind noch nicht. Oder doch? Ist ja gut, sagt sie. Meint sie aber nicht. Das ist der Daumen, singt sie, damit ich wieder einschlafe, weil ich noch klein bin, der schüttelt die Pflaumen. Und Vater nimmt meinen Daumen und sagt Tausend. Und dann Millionen, Milliarden, Billionen, Billiarden zu den andern Fingern. Aber vom Singen geht die Inflation nicht weg. Und niemand weiß, was man mit dem Geld von heute morgen noch kaufen kann. Wer keine Vorräte hat, ist geliefert. Davon träume ich heute noch. Nein, heute wieder. Seit Willem tot ist. Und als ob die Stimmung nicht auch so schon schlecht genug gewesen wäre, wurde Lotte geboren, und Mutter mußte im Bett liegen. Das kam mir vor wie das größte Unglück, das über uns hereinbrechen konnte. Das einzig Gute war, daß ich schon Schlange stehen konnte und die Milch nach Hause bringen oder auch keine Milch, wenn ich Pech hatte. Tausend Mark der Liter. Wenn wir dich nicht hätten, sagt Mutter. Mutters weißer Rücken, einmal habe ich ihn gesehen, mit seiner Wirbelsäule. So winzige Knochen. Ich war vollkommen verblüfft. Wie eine Perlenkette, fuhr es mir durch den Kopf, so deutlich, daß ich es nie mehr vergessen habe. Ich war noch klein und überzeugt, daß ich ein Geheimnis entdeckt hatte, etwas, das zu Mutter gehörte und nur zu ihr. Und weil es ein Geheimnis war, habe
ich nicht einmal ihr gesagt, daß ich es wußte. Als die Sache mit dem Bubikopf passiert ist, habe ich gemerkt, daß was nicht stimmt. Und die Angst sitzt mir auch in den Knochen. Am schlimmsten war es, wenn ich nicht wußte, um was es ging. Nach dreiunddreißig war das einfacher, weil Vater und Mutter sich in allem einig waren, was mit Politik zu tun hatte. Ich war dreizehn und wußte auch, um was es ging, soweit man das mit dreizehn wissen konnte. Aber im Grunde wußte ich nicht, daß es etwas Schlimmeres gibt als die Inflation oder Eheschwierigkeiten. Oft frage ich mich, ob die Leute von heute das wissen. Wahrscheinlich nicht, denke ich dann, wenn man so hört, worüber sie sich beklagen. Aber ich tue ihnen unrecht. Haben wir nicht auch die ganze Zeit über Kleinkram geredet? Bloß als es dann in den siebziger Jahren wieder hieß, wir lebten im Krieg, da bin ich nicht mitgekommen. Wie leicht ihnen das Wort über die Lippen geht, habe ich gedacht. Und wie falsch es ist. Ich weiß nicht, was das soll. Wir haben doch keinen Krieg, nicht hier bei uns, meine ich. Daß die Ungerechtigkeiten weitergehen, ist eine andere Sache. Da sieht man, daß sie keinen Krieg erlebt haben, würde Vater sagen. Die jungen Leute haben wirklich keine Ahnung. Dabei kennen sie doch alles aus dem Fernsehen. Und was eine Frau in den zwanziger Jahren allein dadurch anrichten konnte, daß sie sich die Haare abschneiden ließ. Wer würde das noch glauben. Heute ist ja alles erlaubt. Aber wer weiß, vielleicht stimmt auch das nicht, ich muß Phia fragen. Phia räumt auf. Das hat sie mir versprochen. Wenn ich nicht mehr bin, meine ich. Ach, Lena, hat sie gesagt, deine paar Sachen. Es geht nicht darum, ob es viel oder wenig ist, Kind. Worum geht es denn?
Um all das, was noch zum Vorschein kommt. Lena, hat sie gesagt, gehörst du etwa zu denen, die ihr Erspartes zwischen Buchseiten verstecken? Nein. Auch nicht unter den Hutbändern oder Sprungfedern. In den Falten vom Duschvorhang? Man kann sich nur wundern, wie sie es immer schafft, mich zum Lachen zu bringen. Schon als Kind konnte sie das. Dabei war mir gar nicht nach Lachen zumute, weil ich an Ellie denken mußte und wie ich ihr geholfen habe, als sie ins Heim sollte. Sie ganz durcheinander und fremde Leute drauf und dran, alles wegzuwerfen. Ellie war vollkommen starrsinnig, und ich wußte warum. Alles mußte auseinandergenommen und umgewendet werden. Ich weiß nicht, wie oft ich zu ihr gesagt habe, wir machen das zusammen, aber da war nichts zu wollen, heute nicht und morgen auch nicht. Wann denn, habe ich gesagt. Und sie: Ich schaff das schon. So ein Unsinn. Das schafft niemand. Ich schaffe es auch nicht. Aber ich habe gar nicht erst damit angefangen, Geld zu verstecken. Schon darum nicht, weil Willi es dann gefunden hätte. Er hat ja alles durchsucht. Und was für Geld denn auch. Trotzdem. Das Aufräumen ist nicht so einfach. Phia hat versprochen, daß sie es allein macht. Es ist ja auch noch lange hin. Habe ich gesagt. Um sie nicht zu beunruhigen. In Wahrheit weiß ich, daß es jeden Tag soweit sein kann, und sie weiß das auch. Jedenfalls habe ich ihr gezeigt, wo die Papiere sind, die man dann braucht, und gesagt, was man tun muß. Ob junge Leute sich das alles merken, ist nicht sicher. Ich habe es aufgeschrieben, das Blatt liegt bei den Dokumenten. Oder nicht? Wir müssen nachsehen. Nicht vergessen. Dabei möchte sie am liebsten nicht daran erinnert werden. Sie macht sich Sorgen um mich. Wie ich mit den Jahren ängstlich werde. Das sollte nicht sein, findet sie. Schon fünfundneunzig hat sie sich Sorgen gemacht. Und mit den Tränen gekämpft, als ich erzählt habe, wie ich
dreiundvierzig das Kind verloren habe und Willi dann doch geheiratet. Ohne daß er der Vater war. Nicht zu glauben. Mit den Tränen. Meinetwegen? Ja. Aber vielleicht nicht nur. Da konnte ich nicht gut fragen, warum sie keine Kinder hat. Mit siebenunddreißig. Sie hat auch geweint, wenn ich es nicht sehen konnte. Glücklich hat sie eigentlich nur ausgesehen, wenn wir zu dritt beim Kaffee gesessen haben. Daß du so groß geworden bist, sagt Willem. Solche väterlichen Bemerkungen hört niemand gern, aber Phia hat gestrahlt. Ich auch. Was ihr an ihm gefallen hat, sagt sie, ist eigentlich nicht das, was er zu sagen hatte, sondern immer die Art, wie er es tat. Setz dich, Kind, hat er gesagt. Jedesmal. Und ihr hat das gefallen? Ja. Damals hatte ich vor allem Angst, daß die Sache mit der Verbindungstür herauskommen würde. Aber das ist ja nun nicht mehr nötig. Und ich bin froh, daß Phia es weiß. Das macht es leichter, über alles andere zu reden. Aber mir wäre lieber, wenn sie es nicht in ihr Buch geschrieben hätte. Unter einem wissenschaftlichen Buch hatte ich mir eigentlich etwas anderes vorgestellt. Sie auch. Und dann ist es doch ein Roman geworden, da kann sie sagen, was sie will. Es hat auch Artikel in den Zeitungen gegeben, aber das bedeutet noch lange nicht, daß man viel Geld damit verdient, sagt Phia. Das hatte ich mir natürlich auch anders vorgestellt. Ein solches Buch habe ich noch nie gesehen, mit so schönen Farben. Na gut, das sagt nicht viel bei den wenigen Büchern, die ich in der Hand gehabt habe. Heute lesen die Leute ja viel mehr, aber zu meiner Zeit war das nicht üblich. Schon gar nicht in unserer Familie. Wir waren wohl immer zu sehr mit alldem beschäftigt, was als nächstes erledigt werden mußte. Als Kind hätte ich Lust gehabt zu lesen, aber es gab immer was zu tun. Wann hätte ich wohl lesen sollen. Nicht mal unsern Vater, der schließlich Lehrer war, habe ich mit einem Buch gesehen. Nur mit der Zeitung,
die hat er gelesen, und wie. Auch wenn das nach dreiunddreißig nicht mehr viel geholfen hat. Die Volkszeitung wurde ja gleich nach dem Reichstagsbrand verboten, die Lehrerzeitung auch, und das Naziblatt, das kommt mir nicht ins Haus, hat er gesagt, aber was wir dann hatten, war auch nicht viel besser. Am Schluß war das Papier so knapp, daß nur noch das Naziblatt gedruckt werden durfte, aber dann mußte er auch schon bald weg. Nach dem Krieg sehen wir uns wieder, sagt Herr Rasmus aus Belgien in unserer Küche, bevor er wieder in sein Zimmer geht. Ob er das wirklich geglaubt hat? Die meisten Männer vom Volkssturm wurden ja in der Umgebung eingesetzt, und warum ausgerechnet Vater wegmußte, begreife ich bis heute nicht. Und daß die Vereidigung ausgerechnet an Ludwigs Geburtstag stattfinden mußte. Mit Musik. Das muß man sich mal vorstellen. Vierzehnachtzehn habe ich auch überlebt, sagt Vater zum Abschied. Die Hand an der Haustür. In unserm Windfang. Ich höre das heute noch. Jedesmal, wenn jemand weggeht. Vor allem in dem Jahr, als Phia ein und aus gegangen ist. Jetzt geht natürlich niemand mehr weg, weil niemand mehr kommt, und ich denke es trotzdem. Ich denke es auch, wenn ich die Haustür aufmache, um nach draußen zu gehen. Vierzehnachtzehn habe ich auch überlebt. Und dann denke ich, wie er fünfundvierzig nicht überlebt hat. Ich muß Phia fragen, ob Lotte das erzählt hat. Und ob sie weiß, wie das fünfundfünfzig in Friedland war, als die Männer mit ihren wattierten Mänteln und Uniformmützen aus den Güterwagen gestiegen sind. Das Durcheinander von Säcken und Holzkisten und Stricken zum Zusammenbinden. Das Schluchzen und Schreien und Menschen, die sich um den Hals fallen, und wir zwei im Gedränge mit unserem Pappschild, mit einem Namen, einem Photo und einer Feldpostnummer. Umsonst. Auf dem Hinweg hatte Lotte mich noch damit
aufgezogen, wie ich vor dem Krieg in Mutters jüngsten Bruder verliebt war, und das vertrage ich überhaupt nicht. Aber ich vertrage noch weniger, wenn ich das Spiel mitmache. Sie war ja genauso verliebt gewesen und kann es genausowenig leiden, wenn man sie daran erinnert. Ich? sagt sie, ich war ja noch ein Kind. Lotte, sage ich, du warst kein Kind, wir waren beide erwachsen und wußten alles über das Leben. Was man mit siebzehn wissen kann, würde ich heute sagen, aber damals habe ich gedacht, das wäre schon alles. Lotte wollte das fünfundfünfzig nicht mehr wahrhaben. Kein Wunder, sie war seit einem Jahr glücklich verheiratet wie sonst niemand in der Familie. Auf dem Rückweg haben wir uns geschämt. Wie kann man sich nur so kindisch benehmen, als hätte es keinen Krieg gegeben. Natürlich war unser Onkel nicht dabei. Und Vater schon gar nicht. Wir waren beschämt und erschöpft und so niedergeschlagen, als hätten wir nicht von vornherein damit gerechnet. Und Lotte so blaß von den Strapazen, das sehe ich heute noch vor mir. Ich hätte sie nicht mitnehmen dürfen. Aber daß sie schwanger war, wußten wir ja noch nicht. Wir haben im Zug gesessen und kein Wort gesagt. Daß wir mit Willem ins Gespräch gekommen sind, ist ein Wunder. Das sagt man so. Aber es war ein Wunder. Den Mann zu finden, der für mich bestimmt war. Danach hat Lotte ihr ungeborenes Kind verloren. Das ist ungerecht. Aber drei Jahre später mußte ich ein Kind aufgeben, und sie hat es bekommen. Ausgleichende Gerechtigkeit? Nein. So kann man das nicht sehen. Dann wieder umgekehrt: ihr Paul kommt unters Auto, und mein Willem zieht ins Nachbarhaus. Kommunizierende Röhren, würde Phia sagen. Und Willem würde darüber lachen wie fünfundneunzig in meiner Küche. Vielleicht ist es gut, daß Phia das meiste nicht gewußt hat. Sonst würde das womöglich auch noch in ihrem Buch stehen.
Nichts gegen die Wahrheit, aber daß jeder sie nachlesen kann, das geht mir zu weit. Oder wollte Phia mir genau das ersparen? Hat sie doch mehr gewußt, als sie geschrieben hat? Ich muß sie fragen. Nicht vergessen. Ich sehe noch ihr Gesicht, wie sie meinen Willem tot daliegen sieht, vollkommen erschrocken und ratlos. Merkwürdig ist, daß sie keine Fragen gestellt hat. Auch später nicht. Aber es ist wohl alles ganz klar gewesen. Wenn sie gefragt hätte, wäre es leichter gewesen, ihr auch das zu sagen, was schwieriger war. Habe ich immer gedacht. Vielleicht ist das falsch. Vielleicht hätte ich den Mut nicht gehabt. Und eine Antwort zu finden, die unsere wunden Punkte nicht berührt, das haben wir früh genug gelernt. Dafür muß man nicht mal lügen. Und Fragen kann man ja auch nur stellen, wenn man die Antwort schon kennt oder wenigstens weiß, daß es etwas zu fragen gibt. Bloß kleine Kinder, die wissen das noch nicht und fragen, was das Zeug hält. Um es auszuprobieren. Oder um uns in Verlegenheit zu bringen. Was Phia alles nicht gewußt hat. Das muß man sich mal vorstellen. Bloß ein paar nackte Tatsachen. Aber hätte sie die nicht für sich behalten können? Daß sie einiges verändert hat, nützt doch gar nichts. Selbst wenn sie unsere Namen verändert hätte, die Verwandtschaft würde uns doch erkennen. Das einzige, was hilft, ist die Tatsache, daß keiner von ihnen Bücher liest. Oder sie würden es aufschlagen und nach einer halben oder nach drei Seiten ins Regal stellen. Trotzdem, ich kann ihr nicht böse sein. Weil sie es ist. Und weil ich über das Buch so lachen mußte. Sie schreibt Sachen, die sie mir gar nicht erzählt hat. Wie sie nebenan geklopft hat, weil der Hund im Garten nicht nur gewühlt, sondern Knochen ausgegraben hat, und wie Gertrud zu ihr gesagt hat, Sie können den Hund behalten, junge Frau, das hätte ich gern miterlebt. Aber was rede ich. Es
ist gar nicht so komisch, wie es klingt, selbst wenn Gertrud mit dem Hund ihren Mann gemeint haben sollte. Es ist entsetzlich und paßt überhaupt nicht zu dem Bild, das ich mir immer von meinem Leben gemacht habe. Aber das ist nun mal die Wahrheit. Darüber müssen wir auch reden. Ich habe lange gebraucht für das Buch, jeden Tag ein paar Seiten. Es hat mich so an unser gemeinsames Jahr erinnert und an die Art, wie wir miteinander geredet haben. Bis in die Nächte, wenn sie nicht verreist war oder am Schreibtisch sitzen mußte. Schön war das. »Als wäre ich endlich nach Hause gekommen.« Hat sie gesagt. An diesem Tisch. Das vergesse ich nie. Und wie sie gesagt hat, daß die Bindung zu den Kindern enger geknüpft wird als die in der Ehe, und wie ich gedacht habe, daß sie weder das eine noch das andere hat. Ein Jahr später ist sie gekommen, um es mir zu bringen, dieses Buch, von dem sie sagt, es wäre ihr Kind. Fertig gedruckt und gebunden und eingewickelt in einen großen roten Schal aus Seide. Für mich. Doch, das kannst du tragen, sagt sie, bevor ich den Mund aufmachen kann. Und sie hat recht gehabt. Nur im Hause natürlich. Wie schön, würde Willem sagen, wenn er noch am Leben wäre. Er hat rote Sachen gemocht. Sie hatte den Zug genommen, eine gute Stunde Fahrt. Ihre Freundin Caroline hat dort an der Universität eine Stelle, nachdem sie es sich hier mit den entscheidenden Leuten verdorben hatte. Das ist unvermeidlich, sagt Phia, wenn man sich als Frau nicht alles gefallen läßt. Und weil so eine Stelle mit einem Kleinkind unmöglich gewesen wäre, ist Phia mitgegangen, um sich nützlich zu machen. Muß das sein, habe ich gesagt. Das hätte ich nicht sagen dürfen. Nicht so. So klingt es wie Willi. Wahrscheinlich hat sie das falsch verstanden. Ich wollte sie ja nicht zurückhalten. Ich war nur überrascht, daß es das immer noch gibt. Ich schaff das schon, sagt sie.
Das könnte von mir sein, sage ich. Sie lacht. Alle guten Ideen sind älter, als wir glauben, sagt Caroline. Sagt Phia. Und daß sie Abstand braucht, hat sie auch gesagt und diesen Mann gemeint, zu dem sie ein paarmal gefahren ist: Er ist verheiratet. Das sind sie doch alle, sage ich. Sie nickt. Aber er hat so getan, als wäre er frei. Das ist auch nichts Neues. Ich weiß, sagt Phia. Und dann hast du es rausgefunden. Genau. Und dann war es zu Ende? Nein. Dann hat er mich heiraten wollen. Ach du liebe Zeit. Das habe ich auch gesagt, sagt Phia. Und jetzt schreibst du ein neues Buch, sage ich. Nein, sagt sie. Einmal und nie wieder. War es so schlimm? Ja. Außerdem kann ich mir das nicht leisten. Ich habe meinen Job. Und Caroline braucht mich. Carolines Kind muß inzwischen drei sein. Ein Alter, in dem man sie manchmal ins Pfefferland wünscht. Und froh ist, daß sie trotzdem dableiben. Daß ich Phia weggegeben habe, denke ich jetzt oft. Warum bloß? Es ging nicht anders, das ist immer klar gewesen. Und vielleicht war es doch falsch.
10
Auf dem Friedhof war es heute anders als sonst. Nicht nur die Krähen. Auch dunkler. Sein Vierundsechzigster. Fast hätte ich seine Älteste nicht erkannt, Wilma, die mit dem Geschäftlichen so gut zurechtkommt. Sie verträgt Blumen. Und wie. Ausbauen mußte sie, so gut läuft der Laden. Sie hat mich nicht gesehen, ich war zu weit weg. Zum Glück nicht. Das ist nicht auszuhalten, daß ich das denke. Was für ein aufgewecktes Kind sie war, diese Wilma, die sich für nichts als Pflanzen interessiert hat und in die Gärtnerei geschlichen ist, wenn ihre Mutter nicht aufgepaßt hat. Überall wollte sie Hand anlegen. Und war noch nicht mal im Kindergarten. Dann hat sie ihr Abitur gemacht und danach doch noch eine Gärtnerlehre. Für sie gab es einfach nichts anderes. Kein Wunder. Das kommt dabei heraus, wenn man einem Kind etwas verbietet. Dagmar mit ihren Allergien. Jedenfalls konnte Wilma den Laden gleich übernehmen, als Ludwig gegangen ist. Seitdem sehe ich sie nur noch von weitem. Vielleicht würde sie mich gar nicht mehr erkennen. Oder sie will mich nicht erkennen. Vielleicht hat sie Phias Buch gelesen und denkt nun gottweißwas über mich. Die jungen Leute lesen heute ja viel mehr als wir. Und ihre Freundin kommt aus einer Familie mit höherer Bildung. Die kennt sich aus mit Büchern. Vielleicht hat Phia den Cousinen sogar von ihren Plänen erzählt. Bevor sie zu mir gezogen ist, meine ich. Da haben die Schwierigkeiten angefangen. Schwierigkeiten, die Phia sich nicht erklären konnte, natürlich nicht, jedenfalls schreibt sie, wie es sich bei dem, was man für den Schoß der Familie hält, womöglich auch um ein Pulverfaß
handeln kann. Das ist übertrieben, würde ich sagen, aber es klingt gut. Und man kann dem Kind einfach nichts übelnehmen. Kisten mit Erika hat Wilma heute morgen abgeladen für die Winterbepflanzung, dann ist sie weitergefahren. Am liebsten wäre ich gleich wieder umgekehrt mit meinen lächerlichen Blumen, statt die Vase aufzufüllen und ins Grab zu stecken wie in all diesen Jahren. Chrysanthemen waren seine Lieblinge. Hat er gesagt. Und es spricht ja auch alles für sie, vor allem im Winter. Aber vielleicht hat er das nur gesagt. Damit wir ihn in Ruhe lassen. Wie kann man das heute wissen? Vielleicht haben ihn die Blumen allesamt zur Verzweiflung gebracht. Wäre er sonst gegen diese Mauer gefahren? Am Geschäft kann es nicht gelegen haben, das ist bestens gelaufen, nur ab und zu Schwierigkeiten mit den Leuten, wie überall. Kannst du mal mit ihm reden, sagt er zu mir, und dann rede ich mit dem Mann. Gern habe ich das auch nicht gemacht, vor allem, wenn man einen entlassen mußte. Das konnte Ludwig nicht. Aber jemand mußte es ja machen. Und ich soll alles an mich gerissen haben. Ich hätte es wissen müssen. Vielleicht haben ihn all die Blumen bloß gequält, und jetzt quälen wir ihn weiter, indem wir immer noch Blumen bringen. Da stehe ich mit meinem lächerlichen Strauß und der lächerlichen Vase an diesem lächerlichen Grab in der Kälte und denke, was soll das eigentlich. Davon wird er nicht wieder lebendig. Daß er nicht durchgehalten hat, dieser kleine Bruder, denke ich. Er ist doch immer gesund gewesen. Haben seine Schwindelanfälle womöglich doch etwas zu bedeuten gehabt? Der Arzt hat nichts gefunden, aber Ärzte sind auch nur Menschen. Und ich habe immer gedacht, der hält schon durch. Ich kannte ihn doch gut genug. Wie man sich irren kann. Jahrelang habe ich getan, was sich gehört, und heute weiß ich auf einmal nicht mehr, wie ich es aushalten soll. Vielleicht hat das auch an der Kälte
gelegen oder am Wind oder an den Krähen, die von ihren Bäumen auf die Gräber fliegen und schreien. Sie stolpern zwischen den Bepflanzungen herum, als könnten sie nicht mal richtig laufen. Aber das führt zu nichts. Vor dem Friedhof dieser Hund. Nicht wie die, vor denen ich Angst habe, wenn sie auf den Straßen unterwegs sind und vor mir stehenbleiben und ich nicht weiß, ob ich umkehren oder weitergehen soll. Sitzt da und wartet. Sieht aus wie Willems Hund. Genauso. Sieht mich an. Wedelt. Jault aber nicht. Ich glaube nicht, daß er es ist. Willem liegt ja auf einem andern Friedhof. Ich bin nie an seinem Grab gewesen. Nicht weil ich seiner Witwe ausweichen will, sondern weil er auch nicht an mein Grab kommen würde. Das haben wir so abgemacht. Das Lebendige zählt, sagt er. Nein. Hat er gesagt. Morgens wache ich auf und denke, er ist noch da, bis ich ganz wach bin und weiß, daß das vorbei ist, und nicht weiß, wozu ich aufstehen soll. Dann stehe ich auf, weil ich immer aufgestanden bin. Und nachher, wie Ellie in ihrem Schwarzen dasitzt und hustet und zu mir sagt, du hast ja immer alles durchgesetzt, was du wolltest, und wieder hustet, das ist nicht auszuhalten. Hast du dich erkältet? Du verstehst aber auch gar nichts, sagt sie und meint ihren Husten, als wäre es immer noch der Husten, den sie sich als Trümmerfrau geholt hat vom Staub und von den dünnen Jacken. Und wie sie nichts versteht und wie sie trotzdem alles versteht, das ist auch nicht auszuhalten. Was im Fernseher läuft, versteht sie auch. Sie kann es sogar erzählen. Jedenfalls einigermaßen. Daß ich trotzdem nichts verstehe, liegt an mir, weil ich nicht weiß, wer diese Fernsehmenschen sind, von denen sie redet.
Du verstehst aber auch gar nichts, sagt Ellie, und damit hat sie recht, aber die beiden Frauen drüben am Tisch tippen sich an die Stirn. Sie hat also doch Unsinn erzählt. Aber sie ist die einzige, die noch übrig ist und sich freut, wenn man sie besuchen kommt. Ich nehme jedenfalls an, daß sie sich freut. Sagen tut sie das natürlich nicht. Oder sie sagt es, und man weiß nicht, ob sie es wirklich meint oder ob sie es nur sagt, weil man das so sagt. Auch Leute, die nicht verwirrt sind, sagen solche Dinge und meinen etwas ganz anderes. Vielleicht würde sogar meine Schwägerin sagen, daß sie sich über meinen Besuch freut, wenn ich nach all den Jahren wieder bei ihr vorbeischauen würde. Aber da kann sie lange warten. Vielleicht ist es falsch, wenn ich Ellie besuche. Vielleicht mache ich ihr nur das Leben schwer. Und das ist auch ohne mich schon schwer genug. Dasitzen und warten, daß jemand kommt, zu dem sie sagen kann, du bist empfindlich. Empfindlich? Als der alte Nazi von gegenüber noch nach dem Krieg herumerzählt hat, daß ich Ludwig schlecht erziehe, da war ich empfindlich. Als ginge es immer noch darum, beim Jungvolk was zu werden. Wie sein Werner. Mit zwölf schon Oberjungzugführer, immer das große Wort, und dann bei der Flakstellung gefallen. Zum Glück war Ludwigs Jahrgang zu jung, um noch dranzukommen. Im Krieg mußte man ja den Mund halten. Und nachher hatte es keinen Sinn mehr. Diese Leute sind es nicht wert, daß man sich mit ihnen anlegt. Das Geld war nichts wert, und ich dachte, es wird wieder so wie dreiundzwanzig. Und dann wie neunundzwanzig und dreiunddreißig und neununddreißig. Dieses Jahrhundert war entsetzlich. Wie gut ich es habe. Phia ist noch da. Ich hätte sie nie weggeben dürfen. Die Rückfahrt auf dem Schiff war am schlimmsten. Alles so weiß gestrichen. Die Julisonne schien. Auf allen Seiten dunkles Meer. Bis zum Horizont. Und hinter
dem Horizont auch dunkles Meer. Drei Wochen hatte ich das Kind gestillt, dann mußte ich damit aufhören, und das hatten wir uns vorher nicht überlegt. Auf dem Schiff haben wir auf die Flasche umgestellt. Ich habe die ganze Zeit geheult, und Lotte war so glücklich über das Kind. Tränen vergossen hat sie natürlich trotzdem. Lena, sagt sie, jetzt können wir noch zurück. Nach Amerika? Das habe ich nicht gemeint. Wir können nicht zurück, sage ich. Unser ganzer Plan, sagt sie, so schlecht erfunden, das glaubt uns sowieso keiner. Ich habe bloß den Kopf geschüttelt, weil ich nicht wußte, was ich denken sollte. Sie ist doch dein Kind, sagt Lotte. Vielleicht hätte ich das Ruder herumreißen müssen. Aber das Leben ist kein Schiff. Vielleicht ist es eher ein Haus, das einstürzt, wenn man eine tragende Wand herausreißt. Es haben sich doch alle auf mich verlassen. Da kann man nicht einfach tun, wonach einem zumute ist. Willem, das Kind und ich, das war das einzige, was ich mir in diesem Augenblick gewünscht habe. Aber Wünsche sind nie meine starke Seite gewesen. Nichts als Luftschlösser. Und Luftschlösser kann man nicht wollen. Vielleicht ist es besser für Phia, wenn sie das nicht weiß. Oder bloß besser für mich? Aber was wäre aus Willi geworden? Wenn ich ihn verlassen hätte, meine ich. Ich hätte ihn doch nicht aus dem Haus werfen können. Wo hätte er hinsollen? Hilflos, wie er war? Und all das Entsetzliche, über das er nie reden konnte? Und dann dieses Leben mit mir, was sollte er denn tun? Er hatte ja nur seine Wut, um sich zu wehren, sonst nichts. Immer diese Angst, etwas falsch zu machen. Und was habe ich schon richtig gemacht. Ich bin froh, daß ich nicht noch mal von vorne anfangen muß. Das wäre bloß eine Gelegenheit, neue Fehler zu machen. Wenn ich heute die jungen Leute ansehe, gibt es mir einen Stich ins Herz, weil sie das alles noch
vor sich haben. Besonders die schwangeren Frauen mit ihren runden Bäuchen und den weichen Gesichtern. Vielleicht ist es besser für Phia, wenn sie kein eigenes Kind hat. Jedesmal denke ich das, wenn ich unterwegs die Kinderwagen sehe. Junge Mütter, denen die Angst im Gesicht steht. Wie ich das kenne. Dabei war noch gar kein Krieg, als wir unseren kleinen Bruder herumgefahren haben. Wir? Ich mach das schon, habe ich gesagt, weil Lotte und Lizzy noch in die Schule mußten. Oder durften. Ich wollte schließlich nicht schuld sein, wenn da was schiefging. Und es ist nichts schiefgegangen. Hausaufgaben haben sie an unserm großen Tisch gemacht, Lotte ohne ein Wort, Lizzy mit ihrem Lachen, wenn sie Schwierigkeiten hatte und sich nicht helfen lassen wollte. Geschwister erziehen sich gegenseitig, höre ich. So habe ich das nie gesehen. Bei uns war es eher so, daß ich sie erziehen mußte. Die Eltern hatten so viel auf ihren Schultern, da mußte man ihnen doch einfach etwas abnehmen, so gut man konnte. Und ich wollte unbedingt, daß sie zusammenblieben. Vielleicht war das falsch. Damals konnte ich nichts anderes denken. Aber wenn ich sehe, wie die Jungen sich heute ihre Kinder um den Bauch binden, denke ich immer, so hätte ich es auch machen müssen mit meinem Bruder. Wenn man das damals schon gewußt hätte. Dann würde er heute noch leben. Das muß man sich mal vorstellen. Wie schön für die Kinder, so bei ihrer Mutter. Mutters Aquamarin. Ich fühle ihn mit dem Daumen, in der Manteltasche, wenn ich herumgehe. Mir kann nichts passieren, denke ich dann. Nur das, was passieren muß. Eines Tages wird Phia ihn tragen, den Aquamarin. Oder soll ich ihn ihr jetzt schon geben? Gleich heute? Seit sie nicht mehr hier ist, habe ich angefangen mit dem Herumgehen. Nicht daß ich irgendwohin wollte. Wohin sollte ich auch wollen. Bloß heute auf den Friedhof, weil Ludwig Geburtstag hat. Und zu Ellie in
ihrem Heim. Es ist gar nicht richtig hell geworden. In der Kinderzeit hat mir das immer gefallen, wie der Wind an den letzten Blättern reißt, die nicht abfallen wollen. Die schönen, langen Abende. Trübsinn, denke ich heute, was habe ich nur daran gefunden? Die Ruhe? Und was ist mit den Stürmen? Den Sturmfluten und Deichbrüchen? Aber der März ist noch schlimmer, wenn alles so unruhig ist, wenn der kalte Wind plötzlich warm wird und dann doch wieder kalt. Wenn der Müll über die Straße fegt, die Äste von den Bäumen brechen und das Licht so grell durch die kahlen Stämme sticht, daß einem die Tränen kommen, das ist die Zeit, in der das Jahr prüft, ob man noch eins verdient hat. Angst vor dem Tod habe ich nie gehabt, das hätte ich mir gar nicht leisten können, nach allem, was wir überlebt haben. Erst in den Keller und dann in den Bunker. Acht war er da. Und ich soll ihn falsch erzogen haben. Das hat sie schon gesagt, als er noch am Leben war, meine Schwägerin. Wie du meinst, habe ich geantwortet. Und damit war das Thema vom Tisch. Immer rechtzeitig im Bunker – das will etwas heißen. Wenn die Türen zu waren, waren sie zu. All die Zuversicht bei den Angriffen, die man einem Kind schuldig ist. Ich habe die Toten gesehen, die sich bei der Sattlerei untergestellt hatten, aber bloß von weitem, damit der Kleine das nicht mit ansehen mußte. Die ganze Sattlerei mit dem Vordach weggefegt, und gebrannt hat es auch. Die von der Hitler-Jugend waren schon am Löschen. Man mußte das Rad sowieso hintenrum schieben, durch die Gärten, weil die Straße ein einziger Bombentrichter war. Sonst waren die Brände nicht so in der Nähe. Wir denken das gleiche, Ludwig und ich: ob unser Haus noch steht? Jedesmal. Gottseidank, sage ich, wenn es noch steht, und er sagt nichts, weil er dasselbe denkt. Das Sperrholz war aus den Fenstern geflogen. Zum Glück nur Holz, weil wir mit den Glasreserven aus der Gärtnerei sparsam umgehen mußten. Drinnen alles
drunter und drüber und Gottseidank nichts Schlimmeres. Der Junge hat zugeguckt, wie ich die Fenster wieder zugenagelt habe. Von Kneifzange und Hammer wollte er nichts mehr wissen. Nach seinem ersten Versuch. Das ist Frauensache, sagt er. Und bei der Gasmaskenverteilung fragt eine Hundertfünfzigprozentige von der Frauenschaft das Kind wegen der Hitler-Jugend. Freust du dich? Streicht ihm über den Kopf. Soweit die Gasmaske das zuläßt. Um Gottes willen, denke ich, was wird der Junge sagen, er ist ja nicht mal bei den Pimpfen. Die Wahrheit? Nein. Er sagt, ja, er freut sich. Gottseidank. Und nachts sehe ich ihn im Traum mit dieser Uniform, mit Koppelschloß und Armbinde und Fahnenwald und wache auf. Es ist nicht wahr, nur Voralarm. Der Bunker, in dem wir die Angriffe überstanden haben, steht heute noch. Sie haben ein Bild auf die Schmalseite gemalt, etwas Freundliches, und Efeu gepflanzt. Keine gepanzerten Türen mehr. Aber ich mache lieber einen Umweg, als mir das anzusehen. Das Lebendige zählt, sage ich dann. Merkwürdig nur, daß die Toten immer lebendiger werden. Unser kleiner Ludwig, hinter mir auf dem Gepäckträger, seine Kinderarme um meinen Bauch, nicht ein einziges Mal zu spät im Bunker, und ich soll ihn falsch erzogen haben. Aber was ist, wenn sie doch recht hat, meine Schwägerin? Es war ja meine Aufgabe, ihn auf das Leben vorzubereiten. Und er hat nicht durchgehalten. Sie haben ihn aufbahren lassen. Mit diesem kaputten Gesicht. Das war nicht auszuhalten. Vielleicht trauert Dagmar gar nicht mehr um ihn, sondern darüber, daß ich noch lebe. Ich glaube, an dem Tag, wo es mit mir zu Ende geht, zieht sie die Trauersachen aus. Das ist die ganze Wahrheit. Um Gottes willen, ich habe ja noch das Schwarze an. Das geht nicht. Was soll Phia von mir denken. Schnell. Aber was soll ich anziehen. Das mit den Punkten. Das hat ihr immer besonders gut gefallen, weiß mit schwarzen Punkten. Aber
Seide ist nichts im November. Lieber das Gestreifte, das ist wärmer. Seit Willems Tod habe ich es nie mehr angehabt. Ja, das sieht gut aus. Und den roten Schal. Wie spät ist es? Gleich vier? Schon? Wo ist das Taschentuch? Die Haare noch mal aufstecken? Ach was, Phia nimmt das nicht so genau. Aber meine langen Haare, die haben ihr gefallen. Wie langsam ich geworden bin. Sogar das Umziehen dauert. Sei doch froh, sagt Phia, wir brauchen Menschen, die langsam sind. Gerade heute. Als Gegengewicht gegen all die Hektik. Es tut wohl, hat sie gesagt, dir bei der Langsamkeit zuzusehen. Wie schön von ihr, habe ich gedacht und denke ich immer wieder, und denke jedesmal auch, wie sie unrecht hat, aber kann man das in einem solchen Augenblick sagen? Dem liebsten Menschen auf dieser Welt? Unmöglich. Ihr schien es wirklich wohlzutun. Mir nicht. Aber so ist das im Alter, man hat keine Zeit mehr. Der Mensch der Zukunft träumt davon, Zeit zu haben, sagt sie. »Ach, Kind.« Sie lebt, als wären unsere Tage nicht gezählt. Und sie hat recht. Da ist keiner, der mitzählt. Lebe ich denn anders? Nein. All die verlorene Zeit. Unsinn. Es ist alles noch da. Nur vorbei. Und vorbei ist nicht vorbei. Wenn ich denke, wie das alles in meinem Kopf ist. Und nur in meinem. In den Köpfen der andern sehen die Menschen ja ganz anders aus. Nicht nur, weil sie tot sind. Vielleicht sind sie nie so gewesen, wie ich sie in meiner Erinnerung sehe. Wir müssen uns beeilen mit dem Erzählen. Aber wie? Der Reihe nach? Schön wär’s. Ich habe zuviel im Kopf und alles gleichzeitig. Der Reihe nach hätte das mit der Wahrheit nichts mehr zu tun. Aber ich muß aufpassen, daß ich nicht die Hälfte vergesse. Andere würden sich eine Liste machen. Eine Liste? Daß ich nicht lache. Die Liste
möchte ich sehen. Außerdem lebt Phia in einer andern Welt. Unsinn, sie lebt in derselben Welt. Aber die Wörter haben eine andere Bedeutung für sie. Nicht nur die Jawörter. Und vielleicht nicht mal die. Wenn man das wüßte. Und wenn ich es schaffe, davon anzufangen, ob sie wieder ablenkt? Oder liegt das an mir? Nach jedem Strohhalm greifen, damit ich um die schwierigen Dinge doch noch herumkomme? Das kann gut sein. Und was wird Phia von alldem verstehen? Nur das, was ihr weh tut? Oder auch das andere? Mir wird angst und bange, wenn ich daran denke. Hoffentlich schaffe ich es irgendwie. Ob Lizzy das geschafft hätte, die immer so tat, als hätte sie vor gar nichts Angst? Ich glaube nicht. Es ist eine andere Art von Mut, die man dafür braucht. Und Lotte hat es erst recht nicht gekonnt. Die ganze Wahrheit? Das ist schwer. Je länger sie verborgen war, um so schwerer will sie heraus. Vielleicht schaffe ich das nicht. Aber ich will es nicht mit ins Grab nehmen. Trotzdem, ich frage mich, hätte das Kind nicht längst von selbst darauf kommen können? Die Fliege aus Phias Zimmer läßt sich hören. Der Zwetschgenkuchen hat es ihr angetan. Nein, sie war schon da, bevor ich gebacken habe. Es ist auch nicht das Licht. Ich habe das Licht gar nicht an, obwohl es längst an der Zeit wäre. Sie will in meiner Nähe sein. Wahrscheinlich wegen der Wärme. Oder ich rieche schlecht. Fliegen mögen das ja. Jedenfalls scheint sie zu hoffen, daß sich in meiner Nähe der kommende Winter überstehen läßt. Oder wissen Fliegen nichts von kommenden Wintern? Über solche Fragen konnte man mit Phia reden. Es hat ihr sogar Spaß gemacht. Bis in die Nacht. Bist du nicht müde? sagt sie. Ich? Nein. Ich bin nicht müde. Oder ich habe ganz dumm vor Glück dagesessen und zugehört, wie sie mit Willem gesprochen hat. Der schönste Winter in meinem Leben.
Das Telephon. Kann ich zu dir kommen, höre ich Lizzy atemlos und mit ihrem Lachen für Notfälle. Unsinn, Lizzy ist tot. Mein Telephon klingelt, wie es heute nicht mehr üblich ist. Laut. Schon vor drei Jahren hat Phia sich gewundert. Auch über den Hörer. Für Krafttraining geeignet, sagt sie, aber zum Telephonieren? Die jungen Leute telephonieren natürlich auch viel mehr als wir. Vor allem um Mitternacht, wenn dieser Laurenz anrief, als hätte er etwas zu verbergen. So was paßt doch überhaupt nicht zu Phia. Sie ist es. »Lena«, sagt sie, »es wird nichts. Die Züge fahren immer noch nicht.« »Die Züge fahren nicht?« »Kein Strom«, sagt Phia. »Zwei Stunden sitze ich schon auf dem Bahnhof.« »In der Kälte?« »Nein, im Café.« »Gottseidank.« »Kann ich nächsten Freitag kommen?« »Natürlich. Aber wieso kein Strom? Sind sie wieder mit diesem Atomzeug unterwegs?« Phia lacht. »Nein, kein Anschlag. Auch keine Entgleisung, kein Materialfehler, kein Personenunfall, kein menschliches Versagen. Du wirst es nicht glauben. Eine Krähe.« »Du machst dich lustig über deine alte Tante.« »Überhaupt nicht. Hat sich auf einen Isolator gesetzt, Kurzschluß, aus. Der ganze Bezirk lahmgelegt.« »Die sitzen doch dauernd auf den Drähten. Davon gibt es keinen Kurzschluß.« Phia weiß nicht, wie die Krähe das geschafft hat. Und wie sie herausgefunden haben, daß es die Krähe war, weiß sie auch nicht. Es wird ja keine Augenzeugen gegeben haben, als das Tier sich so unglücklich hingesetzt hat, daß es den Kurzschluß gegeben hat. Womit ein Vogel, der einen elektrischen Sitzplatz benutzt, normalerweise ja nicht rechnen muß. Bei der Bahn
könnten sie die Krähe auch erfunden haben, würde Willem sagen, damit die Fahrgäste sich keine Sorgen machen. »Hoffentlich passen die Krähen nächste Woche besser auf«, sage ich. Phia lacht. »Wie geht es dir?« »Gut.« »Du weinst nicht mehr?« »Nein«, sage ich. »Doch.« »Ziehst du dich auch warm genug an?« »Ach, Kind.« »Wir müssen überlegen, was wir zu deinem Achtzigsten machen«, sagt Phia. »Den müssen wir feiern.« »Wer soll den denn feiern«, sage ich. Das klingt nicht ganz so lebensbejahend, wie man es von älteren Leuten heute erwartet, und ich sage es auch nicht gern. Aber es ist nichts als die Wahrheit. »Du und ich«, sagt sie, »wer sonst?« »Ach, Kind.« »Wie wäre es mit einer Reise?« »Warum nicht«, sage ich. Und ich sage es eigentlich nur, um sie nicht zu enttäuschen. »Wenn es dir Freude macht.« Am Telephon klingt Phia wie Lotte, die gar nicht ihre Mutter war. Ich dachte immer, unsere Stimme würde uns in die Wiege gelegt. Vielleicht ist sie ein Geschenk von denen, die uns am nächsten sind. »Warum nicht nach Amerika«, sagt sie. »Amerika?« »Du mußt mir alles zeigen«, sagt sie. »Ich?« »Du bist doch dabeigewesen, in Philadelphia.« So würde sie das nicht sagen, wenn sie wüßte, wie es gewesen ist. Oder doch? Das Kind hat einen amerikanischen Paß und ist noch nie drüben gewesen. Ich muß sie fragen, warum nicht. Wo doch inzwischen alle hinreisen, als ginge es nur übers Steinhuder Meer. Es hat sich einfach nicht ergeben, hat sie gesagt. Aber
wer weiß, ob das die ganze Wahrheit ist. Was soll ich jetzt noch in Amerika? Mit neunundsiebzig. Unsinn. Philadelphia würde ich gern noch mal sehen. Wollte ich immer. Solange ich gesund bin. Aber was nützt das, wenn Susan tot ist? Ohne sie kann ich mir Amerika nicht vorstellen. »Warum sagst du nichts?« »Weil Susan tot ist.« »Wer ist Susan?« »Daß du das nicht weißt.« »Sag schon.« »Das erzähl ich dir nächsten Freitag. Alles.« »Nicht vergessen«, sagt sie.