Klappentext: Michele Wilkes ist Rettungssanitäterin, und sie liebt Ihren Job hinter dem Lenkrad der Ambulanz. Gemeinsam...
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Klappentext: Michele Wilkes ist Rettungssanitäterin, und sie liebt Ihren Job hinter dem Lenkrad der Ambulanz. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Leonard Betts bildet sie ein Team, das schon mach aussichtslosem Fall das Leben gerettet hat. Doch dann kommt der Abend, an dem Michele einen heranrasenden Abschleppwagen übersieht. Leonard ist auf der Stelle tot. Als Leonards Leiche aus dem Kühlhaus des Hospitals verschwindet, schalten sich Mulder und Scully ein. Eine abenteuerliche Suche beginnt. Eine Suche, die sie an makabre Orte führt und zu ungewöhnlichen Ermittlungsmethoden greifen läßt. Eine Suche, an deren Ende sich Mulders kühne Theorie zum Fall Betts zu bestätigen scheint, während Scully einer furchtbaren Gewißheit ins Auge blicken muß...
Everett Owens
Leonard Betts Roman
auf Basis der gleichnamigen Fernsehserie
von Chris Carter, nach einem Drehbuch von
Vince Gilligan, John Shiban und Frank Spotnitz
Aus dem Amerikanischen von
Thomas Ziegler
digitalisiert von Vlad
Erstveröffentlichung bei:
HarperTrophy – A Division of HarperCollins Publishers, New York
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
The X-Files – Regeneration
The X-Files™ « 1998 by Twentieth Century Fox Film Corporation
All rights reserved
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Akte X Novels – die unheimlichen Fälle des FBI. – Köln : vgs
Bd. 14. Leonard Betts : Roman / Everett Owens. Aus dem Amerikan. von
Thomas Ziegler. – l. Aufl. – 1999
ISBN 3-8025-2596-5
1. Auflage 1999 © der deutschen Übersetzung vgs Verlagsgesellschaft, Köln 1999 Coverdesign: Steve Scott Umschlaggestaltung der deutschen Ausgabe: Papen Werbeagentur, Köln © des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der ProSieben Media AG Satz: ICS Communikations-Service GmbH, Bergisch Gladbach Druck: Clausen & Bosse Printed in Germany ISBN 3-8025-2596-5
Besuchen Sie unsere Homepage im WWW: http://www.vgs.de
1
Der Krankenwagen des Pittsburgh City Hospitals raste mit flackerndem Blaulicht und schrillem Sirenengeheul den Hügel hinauf. Die Rettungssanitäterin hinter dem Lenkrad, Michele Wilkes, steuerte das Fahrzeug routiniert durch den dichten Verkehr, scherte energisch nach links aus, dann wieder nach rechts. Trotz des Lärms und der Hektik um sie herum ließ Wilkes die Straße niemals aus den Augen – eine Ange wohnheit, die ihr nach all den Jahren in diesem Job zur zweiten Natur geworden war. Sie wußte, daß sie in der Nacht von Freitag auf Samstag besonders vorsichtig sein mußte. Wilkes nahm das Funkmikrofon vom Halter und schaltete es ein. „Wir sind mit einem männlichen Herzanfall unterwegs, Alter zweiundsechzig. Geschätzte Ankunft zwölf Minuten“, meldete sie knapp. Die Zentrale antwortete ebenso bündig. „Verstanden, Ankunft in zwölf. Notteam steht bereit.“ Wilkes erlaubte sich einen Blick in den Rückspiegel. „Wie geht’s ihm, Leonard?“ Wilkes’ älterer Kollege, Leonard Betts, beugte sich im Fond des Krankenwagens über einen männlichen Schwarzen, dessen Herzschlag mit einem digitalen Herzmonitor überprüft wurde. „Er steckt bis zum Arsch im Alligator“, erwiderte Betts ruhig. Während er sprach, gab der Monitor eine Reihe von kurzen, durchdringenden Tönen von sich. Der Patient keuchte laut und schnappte dann nach Luft. Wilkes hörte, daß der Monitor wie rasend piepte. „Was ist los? Hat er einen Herzstillstand?“ Betts ignorierte die Frage, riß sich das Stethoskop vom Kopf und drückte sein Ohr an die Brust des Mannes. Zufrieden mit dem, was er hörte, wandte er sich wieder an seine Kollegin und gab Entwarnung: „Nein.“ Dann griff er in eine Schublade und nahm eine große 5
Subkutanspritze heraus. Er entfernte die Schutzkappe und stieß die Spritze in die Luftröhre des Mannes – sofort pfiff Luft aus dem Röhrchen, und die Pieptöne des Monitors wurden wieder regelmäßig. Die Atmung des Patienten normalisierte sich. Wilkes hörte den regelmäßigen Signalton aus dem Fond und fragte sich, was gerade passiert war. „Was hast du gemacht?“ rief sie über ihre Schulter hinweg. Mit geübten Bewegungen befestigte Betts die Spritze mit einem Klebeband. Er ließ den Patienten keinen Moment aus dem Auge. „Ich habe seine Brust aspiriert“, entgegnete er dann. „Er hat einen Spannungspneumothorax, der auf sein Herz drückt. Es sah nur aus wie ein Herzanfall.“ Beeindruckt schüttelte Wilkes den Kopf. Es erstaunte sie immer wieder, daß Leonard selbst in den brenzligsten Situationen klang, als würde er einen verstauchten Zeh behandeln. „Gute Arbeit“, lobte sie. „Wie bist du darauf gekommen?“ Betts starrte so durchdringend auf seinen bewußtlosen Patienten, als könne er durch dessen Haut sehen. Schließlich murmelte er: „Weil er an Krebs stirbt. Er zerfrißt bereits einen Lungenflügel.“ Wilkes kannte die technische Ausstattung des Krankenwagens genau. Keines der Geräte konnte Leonard diese Information geliefert haben. „Woher weißt du das, Leonard?“ fragte sie mit verwundertem Kopfschütteln. Doch Betts antwortete nicht; er starrte weiter auf die Brust des Mannes. Wilkes drehte den Kopf und sah für einen Moment nach hinten. Sie wollte wissen, wie er es jedes Mal schaffte, im voraus die Diagnose zu stellen, die Stunden später von den Ärzten im Krankenhaus bestätigt wurde. Und so bemerkte sie nicht, wie die Ampel vor ihr von Grün auf Rot sprang.
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Keith Talent haßte diese Art Job. Eine College-Party. Die Kids parkten auf der ganzen Länge der stillen Vorstadtstraße Stoßstange an Stoßstange. Wahrscheinlich würden außer seinem eigenen Abschleppwagen noch drei oder vier andere zur Stelle sein und die Miatas und Range Rovers davonkarren, die die Auffahrten der Nachbarn blockierten. Dies war bereits Talents dritter Einsatz, und beim letzten Mal hatte er seine 9 mm-Automatik ziehen und einen dreisten Halbstarken vertreiben müssen, der um jeden Preis verhindern wollte, daß sein Jeep abgeschleppt wurde. Immerhin kam er jetzt zügig vorwärts. Er war diese Strecke schon so oft gefahren, daß er die Ampelphasen im Schlaf beherrschte – bei Sechsundsechzig Kilometern pro Stunde brauchte er nicht einmal zu bremsen. Talent sah das Blaulicht einen Sekundenbruchteil, bevor der Krankenwagen auf die vor ihm liegende Kreuzung schoß. Er trat mit beiden Füßen auf das Bremspedal, doch er wußte, daß er zu schnell war. Im letzten Moment hieb Talent auf die Hupe. Als Wilkes die Autohupe hörte, warf sie ruckartig den Kopf herum. Die Scheinwerfer des Abschleppwagens tauchten die eine Hälfte ihres Gesichts in grelles Licht, und bevor sie noch reagieren konnte, krachten die beiden Fahrzeuge aufeinander. Die Wucht des Aufpralls zerfetzte Metall und Fleisch wie eine Bombenexplosion. Der Krankenwagen wurde an der Seite getroffen, rutschte in einem Schauer von Glasscherben über die Straße und prallte schließlich gegen einen Laternenpfahl, der halb aus seinem Sockel gerissen wurde. Der Lampenaufsatz schwankte. Dann sackte er nach unten und erhellte die Kabine des Abschleppwagens, in der Keith Talent bewußtlos über dem Lenkrad hing. Benommen stieß Wilkes die Tür des Wagens auf und stolperte nach draußen. Von einer tiefen Stirnwunde tropfte Blut auf ihre Uniform. Sie schwankte leicht und griff haltsuchend nach der eingedrückten Tür des 7
Rettungsfahrzeugs. „Leonard?“ rief sie leicht zittrig, doch sie bekam keine Antwort. Bis auf das Hupen des Abschleppwagens war es auf der menschenleeren Downtown-Straße still wie in einer Gruft. Wilkes schleppte sich zum Heck des Krankenwagens und erkannte, daß die beiden hinteren Türen sperrangelweit offen standen. Nervös blickte sie ins Innere: Der Patient war tot; immer noch lag er angeschnallt auf der blutbefleckten Trage, die zur Seite geschleudert worden war. Der Herzmonitor zeigte nur noch eine blaue Linie. Die gesamte medizinische Aus rüstung – Verbände, Flaschen, Pumpen, Infusionsbeutel – war durch den Aufprall wild durcheinandergeworfen worden. Doch ihren Partner konnte Wilkes nirgendwo finden. „Leonard!“ schrie sie. Sie wandte sich von dem Wrack ab und suchte die Umgebung ab. Schließlich fiel ihr Blick auf zwei Beine, die zehn oder zwölf Meter weiter auf dem Bürgersteig lagen. Eine Reihe von Zeitungsständern verbargen den Körper von der Hüfte aufwärts. Wilkes stolperte zu den Beinen, duckte sich unter einem Kabel durch und bog mehrere Ständer zur Seite. Der Rest des Körpers kam in Sicht. Zumindest der Großteil davon. Wilkes’ Magen rumorte, und sie mußte die Hand vor den Mund schlagen, um sich nicht zu übergeben. Sie wankte, lehnte sich an einen der Zeitungsständer und zwang sich, noch einmal hinzusehen. Leonard Betts’ blauweiß uniformierter Körper lag bäuchlings auf dem Boden, in einer Lache Blut, das hellrot aus seinem Halsstumpf sprudelte. „Oh Gott, Leonard!“ schluchzte Wilkes unkontrolliert. Und dann sah sie ihn, nur ein paar Meter weiter, eingeklemmt zwischen einem Autoreifen und dem Bordstein. Leonard Betts’ abgetrennter Kopf starrte sie mit offenen Augen an. Michele Wilkes stand in der Tür der Leichenhalle des 8
Monongahela Medical Centers. Sie verfolgte, wie ein Mitarbeiter der Nachtschicht ein Laken von der Leiche des Patienten zog, den sie vor fünf Stunden in der Notaufnahme hätte einliefern sollen. Doch statt auf der Intensivstation lag der Mann jetzt auf dem rostfreien Stahl eines Kühlschubfachs in der Leichenhalle. Routiniert schloß der Angestellte das Schubfach und schlug die Tür zu; die Verriegelung rastete mit einem Klicken ein, das für Wilkes etwas Endgültiges hatte. Der schlimmste Tag in Wilkes’ Leben war fast vorüber. Die Verwaltung des Hospitals hatte ihr gesagt, daß sie freinehmen könne, doch nichts erschien ihr abwegiger, als in ihr leeres Haus zurückzukehren. Lieber wollte sie so lange auf den Beinen bleiben, bis sie so erschöpft war, daß sie vielleicht ein paar Stunden Schlaf finden konnte. Wilkes war in die Leichenhalle hinuntergekommen, um sich von Leonard zu verabschieden, dem besten Partner, den eine Rettungssanitäterin haben konnte: immer ruhig, immer hilfsbereit, immer mit der richtigen Diagnose zur Stelle. Leonard mußte ein Einzelgänger gewesen sein, denn in ihrer Freizeit hatten sie nie etwas gemeinsam unternommen. Trotzdem hatte sie ihn gemocht und sich glücklich geschätzt, ihn zum Partner zu haben. Als sie die Halle betrat, wußte Wilkes nicht, ob sie erleichtert oder enttäuscht sein sollte, daß seine Leiche bereits präpariert und weggeschlossen worden war. Sie beobachtete, wie der Angestellte zwei Namensschildchen beschriftete und sie in die kleinen Rahmen unter den Griffen der Schubfächer steckte. Dann wartete sie, bis der Mann in einem angrenzenden Büro verschwunden war, und betrat die Leichenhalle. Sie wußte, daß es dem Angestellten wahrscheinlich nicht gefallen würde, doch diese letzte Geste war sie Leonard schuldig. Wilkes huschte über die glänzend weißen Bodenfliesen zu der Reihe von Schubfächern, in denen die kürzlich Verstorbenen aufbewahrt wurden. Dort stand der mit Filzstift geschriebene 9
Name Betts, Leonard M. Sie preßte ihre Fingerkuppen gegen die Schublade aus rostfreiem Stahl und flüsterte: „Es tut mir leid, Leonard. Es tut mir so leid.“ Greg Jones war Medizinstudent im ersten Semester. Und im Gegensatz zu manchen seiner Freunde nahm er seine Ausbildung ernst – sehr ernst. Vielleicht war das der Grund, warum er als einziger Erstsemesterstudent bereit war, den morbidesten Praktikantenjob zu übernehmen: die Aufsicht in der Leichenhalle. Inzwischen hatte er sich an die Witze gewöhnt. Wenn er von der Arbeit nach Hause kam, legten seine Zimmergenossen, die gerade erst gefrühstückt hatten, sofort los. „Hast du die letzte Nacht wieder die Zeit totgeschlagen?“ pflegte einer stets zu fragen und damit den Ball ins Rollen zu bringen. „Was sollte er auch sonst totschlagen?“ warf daraufhin ein anderer ein. „Alle anderen in der Leichenhalle sind ja sowieso schon tot.“ „Er hat’s leicht“, spottete ein dritter. „Ich meine, was ist das Schlimmste, was passieren könnte? Daß einer von ihnen wieder zum Leben erwacht?“ Jones störte es nicht; ihm gefiel sein Job. Meistens konnte er während des Dienstes eine Menge anderen Kram erledigen, und nirgendwo konnte er so ungestört lernen wie im Büro der Leichenhalle. Allerdings machte ihm manchmal die Stille zu schaffen. Deshalb nahm er auch meist seinen Walkman mit: Ein wenig Rachmaninoff schuf die richtige Atmosphäre, wenn er sich mit Anatomie befassen mußte. Auch heute nacht blätterte Jones in seinem Lehrbuch und markierte gerade eine Kapitelüberschrift, als er etwas Ungewöhnliches hörte, ein metallisches Klirren, das die Musik übertönte. Er drehte die Musik leiser und lauschte. Ein Poltern. 10
Er schaltete den Walkman aus und nahm die Kopfhörer ab. Jones setzte sich kerzengerade auf. „Hallo?“ rief er in das Halbdunkel der Leichenhalle. Mann, meine Zimmergenossen lachen sich tot, dachte er. Jetzt bin ich doch noch paranoid geworden. Ich benehme mich wie ein verängstigtes... Ein Krachen aus der Halle ließ Jones von seinem Stuhl auffahren. Zitternd holte er tief Luft, bevor er wieder rief: „Hallo? Ist da jemand?“ Als er keine Antwort erhielt, machte er ein paar zögernde Schritte und betrat vorsichtig den großen Raum. Er blieb abrupt stehen, als er entdeckte, daß eins der Kühlschubfächer offen stand. Es war leer. Aufgrund der Dunkelheit konnte er das Namensschild nicht erkennen, doch er erinnerte sich an den Namen – er hatte ihn erst vor einer Stunde auf das Schild geschrieben: Betts, Leonard M. Während er sich weiter in den Raum hineintastete, kam er an einem Seziertisch vorbei. Darunter, auf dem Boden neben dem Kühlfach, lag ein etwa volleyballgroßer Klumpen, der mit einem weißen Laken zugedeckt war. Jones blickte sich hastig um, bevor er sich bückte, um das Laken wegzuziehen, das den übel zugerichteten und fast völlig gefrorenen Kopf von Leonard Betts freigab. Als Jones das Laken wieder senkte, spürte er, wie sich jemand näherte. Er fuhr herum, doch er war nicht schnell genug. Nur noch aus dem Augenwinkel registrierte er die glänzende Stahlstange über seinem Kopf – ein Leichenhal lenwerkzeug, mit dem man Knochen brach –, da sauste sie auch schon nieder. Jones ging in die Knie. Das letzte, was er bewußt wahrnahm, war das verzerrte Spiegelbild eines Mannes im rostfreien Stahl der Kühl Schubfächer. Und obwohl das Spiegelbild verschwommen war, konnte er eines deutlich erkennen: Die Gestalt hatte keinen Kopf. 11
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Der Mann von der Spurensicherung beugte sich über den Boden der Leichenhalle, richtete seine Kamera auf das blutige Laken und machte aus den verschiedensten Winkeln eine Reihe von Fotos. Der Kopf, der vergangene Nacht unter dem Laken gelegen hatte, war nicht mehr da. Ein weiblicher Police Detective in Zivil lehnte an einer überdimensionalen Spüle aus rostfreiem Stahl und befragte den Verwalter, der Greg Jones vor sechs Monaten eingestellt hatte. „Ein tüchtiger Arbeiter“, erklärte der Verwalter. „Ein guter Junge.“ Die Polizistin notierte diese Aussagen aus reiner Höflichkeit. Dies brachte sie nicht weiter. Einer ihrer uniformierten Kollegen, der am nächsten Untersuchungstisch stand, bekam ähnliche Antworten von einem Pfleger zu hören, der behauptete, in der letzten Nacht nichts Ungewöhnliches bemerkt zu haben. Die Polizistin war kaum überrascht. Das Monongahela Medical Center war eines der ältesten Krankenhäuser der Stadt und wurde straff geführt. Eine verschwundene Leiche war zweifellos etwas Ungewöhnliches, doch schließlich ging es hier nicht um die Entführung des Lindbergh-Babys. Das einzig wirklich mysteriöse Element in diesem Fall, dachte sie zum wiederholten Male, ist diese rothaarige FBI-Agentin. Die Frau stöberte in dem leeren Kühlfach herum, in dem sich der verstorbene Leonard Betts bis etwa 3.30 Uhr befunden hatte. Was die Polizistin nicht ahnen konnte, war, daß Special Agent Dana Scully durchaus ähnliche Gedanken durch den Kopf schossen, obwohl sie ihrer Pflicht mit der gewohnten Gründlichkeit nachging. Scully drückte die rechteckige Silbertür zur Seite und spähte in das leere Kühlfach. Mit ihrer Stifttaschenlampe leuchtete sie das dunkle Schubfach aus und 12
bemerkte das Blut, das sich an der Stelle gesammelt hatte, wo normalerweise der Kopf ruhte. Scully hatte schon mehr Leichenhallenfächer geöffnet, als sie zählen konnte, doch dies war das erste Mal, daß sie bewußt die Ausmaße wahrnahm. Das Fach war tief – etwa zwei Meter fünfzig, schätzte sie –, hatte aber nur eine Höhe von rund fünfundvierzig Zentimetern. Nicht viel Bewegungsspielraum – aber natürlich brauchte ein Toter nicht viel Platz. Die Fußabdrücke an der Innenseite der Fachtür kamen ihr allerdings ausgesprochen merkwürdig vor. Einer der Männer von der Spurensicherung hatte sie entdeckt, als er die Tür mit einem roten Puder präparierte. So unwahrscheinlich es auch erscheinen mochte, doch diese Spuren sahen aus, als wäre die Tür des Schubfachs von innen aufgetreten worden. Scullys Partner, Special Agent Fox Mulder, gesellte sich zu ihr und spähte ebenfalls in den sterilen Hohlraum. „Gemütlich“, scherzte er. „Wer würde da wohl freiwillig ausziehen?“ „Ich schätze, derjenige, der gestern nacht hier eingesperrt wurde“, erwiderte Scully. Mulder öffnete die Fallakte in seiner Hand. „Das müßte dann Leonard Morris Betts gewesen sein, vierunddreißig. Aber vielleicht sollte man auch erwähnen, daß Mr. Betts, als er gestern nacht hier eingeliefert wurde, keinen Kopf mehr hatte.“ Mulder überflog die Daten. „Er wurde bei einem Unfall mit seinem Krankenwagen verstümmelt. Arbeitete als Sanitäter im Rettungsdienst für dieses Krankenhaus. Offenbar genoß er hohes Ansehen; die Lokalzeitung ist voller Kondolenzen und Nachrufe.“ Scully hörte zu, obwohl sie nicht wußte, was sie von all dem halten sollte. Keine einzige von Mulders Informationen schien ihr besonders interessant zu sein. „Was ist mit dem Angestell ten, der zu diesem Zeitpunkt Dienst hatte?“ fragte sie gelangweilt. 13
Erneut warf Mulder einen Blick in die Akte. „Jemand hat ihn von hinten niedergeschlagen und seine Kleidung gestohlen. Er hat nicht gesehen, wer es war. Es wurde kein Alarm ausgelöst, also ist niemand eingebrochen.“ Scully nickte und wartete, doch Mulder hatte nichts mehr zu sagen. Sie zuckte die Schultern. „Und?“ „Unheimlich, was?“ Noch einmal überdachte Scully alle Fakten, doch die Wahrheit war, daß sie nichts Unheimliches daran finden konnte. „Mulder... was zum Teufel machen wir hier eigentlich?“ Er lächelte. „Habe ich schon erwähnt, daß Mr. Betts keinen Kopf mehr hatte?“ „Ja, das haben Sie“, erwiderte Scully leicht gereizt. „Und ich hoffe, Sie wollen nicht andeuten, daß eine kopflose Leiche aus einem verriegelten Kühlfach dieser Leichenhalle ausgebrochen ist.“ Mulder zuckte unschuldig die Schultern. „Wollen Sie das?“ setzte Scully mit hochgezogenen Brauen nach. „Denn dies ist offensichtlich nur ein bizarrer Vertuschungsversuch.“ „Was sollte denn Ihrer Meinung nach vertuscht werden?“ fragte Mulder leise. „Ich vermute, daß es sich um gewerbsmäßigen Leichendiebstahl handelt. An den medizinischen Fakultäten herrscht ein Mangel an Leichen zu Studienzwecken.“ Mulder nickte, als hätte er dies bereits in Erwägung gezogen, doch Scully ließ sich davon nicht stören und brachte ihren Gedankengang zu Ende. „Ein skrupelloser Händler für Medi zinbedarf könnte Höchstpreise dafür zahlen, ohne Fragen zu stellen.“ „Aber warum sollten die Diebe einen kopflosen Mann stehlen und so viele vollständige Leichen zurücklassen?“ Bevor Scully antworten konnte, trat ein junger uniformierter 14
Police Officer auf Mulder zu. „Sir?“ Es war offensichtlich, daß er das Gespräch der beiden Bundesagenten nur ungern störte. Mulder drehte sich zu ihm um. „Es geht um die Videoaufnahmen, die Sie angefordert haben. Ich glaube, wir haben etwas gefunden.“ Mulder und Scully folgten dem Cop, der mit schnellen Schritten zu einem der Untersuchungstische ging und sechs Schwarzweißfotos im Format 8x10 ausbreitete. Die grobkörni gen Aufnahmen zeigten die Rückansicht eines Mannes, der durch das menschenleere Krankenhaus schlurfte und draußen in der Nacht verschwand. „Die hier sind um 4.13 Uhr heute morgen von der Kamera in der Notaufnahme gemacht worden“, erläuterte der Polizist. Scully tippte auf das deutlichste Foto. „Das ist Ihr Übeltäter“, sagte sie zu Mulder. „Er trägt die gestohlene Uniform.“ Ihr Partner nahm das Foto vom Tisch und betrachtete es aus der Nähe. „Sieht so aus“, brummte er, „aber leider verraten uns diese Fotos nicht das allermeiste.“ Irgend etwas an diesen Aufnahmen störte Mulder. Auf jedem verbarg eine Art Nebel oder Reflexlicht den Mann und umhüllte vor allem seinen Kopf. Der Nebel war allein auf den Mann konzentriert und zeigte sich sonst nirgendwo auf den Fotos. Mulder zeigte es dem Beamten. „Was sind das für Reflexe?“ Der Cop beugte sich tiefer über die Aufnahmen. „Schlechtes Video“, erwiderte er schließlich. „Das Überwachungssystem ist nicht gerade das neueste Modell.“ Mulder nickte dem jungen Mann zu, doch Scully kannte diese Geste. Sie bedeutete: „Sie irren sich, doch ich werde meine Zeit nicht verschwenden und mit Ihnen herumstreiten.“ In diesem Moment fiel Mulder etwas ein, das nichts mit den unscharfen Fotos zu tun hatte. „Wenn das unser Mann ist, was hat er dann mit der gestohlenen Leiche gemacht? Er hat sie nicht dabei.“ 15
„Vielleicht hat er Angst bekommen und war gezwungen, sie zurückzulassen“, vermutete Scully. „Die Klinik ist gründlich durchsucht worden, Scully. Wo hätte er die Leiche eines erwachsenen Mannes verstecken können, ohne daß sie entdeckt wird?“ Scully dachte einige Sekunden über diese Frage nach und erkannte dann, daß die Antwort auf der Hand lag – zumindest für sie, die viel Zeit mit Leichen verbracht hatte. „Ich zeige es Ihnen“, verkündete sie. Ein paar Minuten später fand sich Mulder in einem kleinen weißen Raum im Keller des Krankenhauses wieder und starrte ein gelbschwarzes Warnschild an, auf dem „Gefährliches Biomaterial – medizinische Abfälle“ stand. Ein Müllschlucker, der wie ein riesiges Faß aussah, nahm den Großteil des winzigen Raumes ein. Scully band sich eine blaue Kran kenhausschürze um und wandte sich an Mulder. „Alle Krankenhäuser verfügen über Entsorgungssysteme für medizinische Abfälle“, erklärte sie, klappte einen Augenschutz nach unten und streifte schulterlange Gummihandschuhe über. „In dieser Einheit werden OP-Abfälle beseitigt – amputierte Gliedmaßen, entfernte Tumore. Sie werden kleingemahlen, dann mit Mikrowellen erhitzt. Das Resultat ist sterile Asche, die als Straßenbelag verwendet wird.“ Mulder verschränkte die Arme vor der Brust und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. „Dann werden wir hier wohl nichts mehr finden“, meinte er. „Das hängt davon ab, wie oft der Abfall verarbeitet wird. Wenn wir Glück haben, dann nur alle paar Tage einmal.“ Scully entriegelte die luftdichte Tür des Müllschluckers, die sich leise zischend öffnete. Sie schwang die schwere Tür auf und leuchtete mit ihrer Taschenlampe in das Innere. Das Licht enthüllte zahllose versiegelte Plastikbeutel, von denen jeder blutige Körperteile unterschiedlicher Größe enthielt. 16
„Wir haben Glück“, urteilte Scully. Diesen Ansicht konnte Mulder nicht teilen. Er verspürte nicht die geringste Neigung, in diesen Vorhof der Hölle zu sehen, doch schließlich siegte die Neugier. Als er einen großen Zeh zu erkennen glaubte, schauderte er vor Abscheu. „Wie sicher sind Sie, Scully? Absolut sicher?“ Scully biß die Zähne zusammen, griff bis zum Ellbogen hinein und tastete suchend umher. Die schmatzenden Geräusche, die ihre Suche verursachten, versetzten Mulders Magen in Aufruhr. Offenbar frustriert, beugte sich Scully noch tiefer hinein. „Um Gottes Willen... seien Sie vorsichtig!“ Doch Scully ignorierte Mulders Mahnung und intensivierte ihre Suche. „Ich denke, Sie werden mir helfen müssen“, befand sie schließlich. „Ihre Arme sind länger.“ Mulder öffnete den Mund und wollte protestieren. Doch er änderte seine Meinung, als Scully den Kopf wandte und ihn streitlustig anfunkelte. Wenige Minuten später trug Mulder ebenfalls Schutzkleidung. Widerwillig trat er neben Scully vor den offenen Müllschlucker. Nur zögernd griff er hinein und ließ seine Hände durch den zähen Brei wandern. Mehrere Minuten suchte er mit zusammengebissenen Zähnen, um dann plötzlich zusammenzuzucken. „Ich glaube, ich habe was gefunden“, meldete er. Leise ächzend fischte er das Objekt vom Boden der Kammer. Scully richtete ihre Taschenlampe darauf. „Leonard Betts“, bestätigte sie, nachdem sie das Gesicht anhand der Fotos aus der Fallakte wiedererkannt hatte. „Zumindest sein Kopf, ergänzte Mulder, „aber wo ist sein Körper?“ Mulder legte den Kopf beiseite und tastete zusammen mit Scully noch einmal das Innere des Müllschluckers ab, durchwühlte den mit Fleisch gefüllten Bottich. 17
„Er ist nicht hier unten, Scully“, stellte er dann fest und zog seine Arme heraus. „Hier ist einfach nicht genug Platz dafür.“ Während Mulder seine Handschuhe abstreifte, setzte Scully die Suche fort. Nachdenklich biß er sich auf die Lippen. „Scully... was ist, wenn er den Körper gar nicht versteckt hat? Was ist, wenn es ihm irgendwie gelungen ist, ihn aus dem Krankenhaus zu schaffen?“ „Aber warum hat er sich dann die Zeit genommen, den Kopf hier unten zu deponieren?“ Mulder schlüpfte aus seiner Laborschürze. „Vielleicht finden Sie die Antwort dort...“ Er wies auf den zerschundenen Kopf, der auf einem Stoß von Körperteilen lag. „Ich schlage vor, Sie untersuchen ihn.“ Ohne mit ihrer gründlichen Inspektion des Müllbehälters innezuhalten, bedachte Scully ihren Partner mit einem wenig erfreuten Schulterblick. „Wir wissen bereits, wie er gestorben ist – bei einem Autounfall. Was soll dabei herauskommen?“ „Vielleicht nichts“, räumte Mulder ein. „Aber er ist alles, was wir im Moment haben. Also... warum suchen wir uns nicht einen ruhigen Ort, wo Sie Leonard Betts’ Kopf unter die Lupe nehmen können?“ Scully wandte sich endgültig zu Mulder um. Ihm war anzusehen, daß er es kaum erwarten konnte, diesen Raum zu verlassen. „Und was werden Sie in der Zwischenzeit tun?“ „Ich sehe mir Betts’ Wohnung an. Wir wissen, wie er gestorben ist. Ich will auch wissen, wie er lebt.“ „Gelebt hat“, korrigierte Scully. „Gelebt hat“, wiederholte Mulder langsam.
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Die Digitalanzeige der Laborwaage flackerte und zeigte schließlich das Gewicht an. Scully hob Leonard Betts’ Kopf von der Schale und legte ihn auf den Autopsietisch. Dann schaltete sie das Diktiergerät ein und begann mit ihrem Bericht. Das Mikrofon nahm sowohl Scullys Stimme als auch das leise Klirren von Stahl auf, als sie ihre Instrumente auf dem Tisch ordnete. „Fall Nummer 2268-97, Leonard Betts“, sagte Scully ausdruckslos. „Da die Überreste unvollständig sind, bezieht sich die Untersuchung allein auf einen abgetrennten Kopf. Gewicht: Elf Pfund, sechsundfünfzig Gramm.“ Scully nahm eine visuelle Untersuchung des Kopfes vor und drehte ihn in ihren Händen, die von Latexhandschuhen geschützt wurden. „Die Überreste zeigen keine Anzeichen von Rigor mortis oder Nekrose.“ Sie zog die Augenlider hoch. „Die Corneae scheinen auch nicht getrübt zu sein. Dies scheint nicht zum beglaubigten Zeitpunkt des Todes zu passen, der jetzt“ – Scully warf einen Blick auf die Uhr an der Laborwand – „jetzt neunzehn Stunden zurückliegt.“ Scully dachte über das Phänomen nach. Sie hatte von Fällen gelesen, bei denen die Leichen der Verstorbenen noch Tage nach ihrem Tod erstaunlich gut erhalten waren, allerdings hatte es sich dabei um Fälle von Mumifizierungen unter speziellen klimatischen Bedingungen gehandelt. Vorerst hatte sie keine plausible Erklärung dafür, daß dieser Kopf so... Scully suchte nach dem passenden Adjektiv... daß dieser Kopf so gut aussah. Sie griff nach einem Skalpell und diktierte: „Ich werde jetzt mit dem intermastoiden Einschnitt beginnen.“ Routiniert setzte Scully die Spitze des Skalpells hinter Leonard Betts’ rechtem Ohr an, doch als die Klinge die kalte Haut berührte, riß Leonard Betts die Augen auf. 19
Scully sprang zurück, schnappte nach Luft und ließ das Skalpell fallen, das klirrend gegen ein in den Boden eingelassenen Abfluß schepperte. Sie preßte ihre Hand gegen die Brust und atmete tief durch, um ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Entsetzt starrte sie den Kopf auf dem Tisch an. Er stierte mit weit aufgerissenen Augen und ohne jede Regung zurück. Nichts. Scully wußte, daß sie sich das nicht nur eingebildet hatte. Betts’ Augen fixierten sie weiter. Als sie einen Schritt nach vorn trat und ihren Mut sammelte, um mit der Autopsie fortzufahren, öffnete Betts den Mund. Zunächst war die Bewegung kaum wahrnehmbar, doch dann legten sich die Lippen wieder aufeinander. Fassungslos verfolgte Scully, wie sich auch Leonard Betts’ Augen langsam wieder schlossen. Der Verwalter des kleinen Komplexes, in dem Leonard Betts gewohnt hatte, forderte Agent Mulder auf, ihm eine Treppenflucht hinaufzufolgen. Er erzählte Mulder dieselbe Geschichte, die er dem Police Officer schon am Telefon mit geteilt hatte: Daß Betts ein ruhiger Mieter gewesen war, seine Miete stets pünktlich bezahlt hatte und daß er sich wünschte, mehr Mieter wie ihn zu haben. Vor einer Tür im zweiten Stock blieb er stehen. „Die hier?“ fragte Mulder. Der Verwalter brummte zustimmend und nahm einen Schlüssel von einem Bund an seinem Gürtel. Die gedämpften Stimmen der Männer, gefolgt vom Klicken eines Schlüssels im Schloß, waren deutlich hörbar – auch für die Gestalt, die sich in den Schatten des dunklen Apartments verbarg. Bevor die Tür geöffnet wurde, huschte sie lautlos durch das Wohnzimmer und verschwand im Bad.
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Einen Moment später betrat Agent Mulder das Apartment, erleichtert, daß der Verwalter nicht darauf bestanden hatte, ihn zu begleiten. „Danke“, sagte er zu dem älteren Mann, der nickte und zum Treppenhaus zurückschlurfte. Mulder schaltete das Licht ein und schloß die Tür, bevor er sich umsah. Leonard Betts’ kleines Apartment war nicht gerade luxuriös zu nennen. Das bunt zusammengewürfelte Mobiliar – ein Bett, ein Tisch und drei Stühle – gehörte zu der Sorte, die man auf Flohmärkten oder in Second-Hand-Läden für zehn Dollar das Stück kaufen konnte. Mit viel Wohlwollen hätte man die Einrichtung spartanisch nennen können, wären nicht die Bücherregale gewesen, die eine ganze Wand des Apartments einnahmen. In den Regalen standen hauptsächlich gebundene medizinische Fachbücher. Mulder fuhr mit den Fingern über einige der Buchrücken, durchquerte dann den Wohnbereich und betrat die Küche. Auf der Anrichte, die die beiden Räume teilte, lag ein kleiner umrandeter Zeitungsausschnitt. Mulder nahm ihn in die Hand. Die Schlagzeile lautete: „Betts zum Rettungssanitäter des Jahres gewählt.“ Zum Artikel gehörte ein Foto, das einen ernsten Leonard Betts mit Kittel und Krawatte zeigte. Mulder legte den Ausschnitt wieder zurück und ging durch die Küche ins Bad. Er knipste das Licht an – und blieb wie angewurzelt stehen. Die Badewanne war mit einer trüben, rötlichbraunen Flüssigkeit gefüllt. Zuerst hielt Mulder sie für Blut, dann aber bemerkte er Spuren der Flüssigkeit auf dem gefliesten Boden und konnte erkennen, daß sie dünner als Blut und leicht teefarben war. Mulders Augen folgten den Tropfspuren. Sie führten vom Badezimmerboden auf den Toilettensitz und von da auf die Bank eines offenen Fensters. Neben der Wanne lag ein Häuflein fleckiger Kleidungsstücke auf dem Boden. Er wußte, wo er sie schon einmal gesehen hatte. Mulder trat ans Fenster. Die Gazevorhänge wiesen ebenfalls 21
bräunliche Flecke auf. Er blickte nach draußen und suchte die umzäunten Hinterhöfe der Nachbarhäuser ab. Hunde bellten, und er fragte sich, ob er denjenigen, der die Spuren hinterlassen hatte, knapp verpaßt hatte. Mulder wandte sich vom Fenster ab und kniete neben der Wanne nieder. Zögernd tauchte er einen Finger in die Flüssigkeit, rieb sie zwischen den Fingern und roch daran. Er glaubte, den Geruch zu kennen. Dann beugte er sich nach vorn und öffnete das Schränkchen unter dem Waschbecken. Im Inneren entdeckte er mehrere Literflaschen antiseptischer Povidon-Jod-Lösung. Während Mulder noch überlegte, warum die Badewanne voller Jod-Lösung war, klingelte sein Handy. „Hallo“, meldete er sich abwesend und sah zum offenen Fenster hinüber. Am anderen Ende der Leitung marschierte Scully im Pathologie-Labor des Monongahela Hospitals nervös auf und ab. „Ich bin’s“, sagte sie hastig, als Mulder abnahm. „Ich habe hier etwas Seltsames entdeckt.“ „Und was?“ „Ich habe eine Computertomographie von Leonard Betts’ Überresten gemacht – insgesamt viermal. Jedesmal war das Bild unbrauchbar. Als wäre es von einem Schleier überzogen.“ „Wie bei den Überwachungsfotos“, bemerkte Mulder. „Ja, aber das Gerät ist ein Spitzenprodukt und arbeitet laut den Technikern einwandfrei.“ Scully seufzte – diese Resultate waren einfach frustrierend. „Sie meinen, nur eine Art Strahlung könnte die Bildverzerrung erklären, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, woher die Strahlung kommen soll.“ Geduldig wartete Scully auf Mulders Antwort. Sie wußte, daß er diese neue Information erst einmal verdauen mußte. „Was haben Ihre anderen Untersuchungen ergeben?“ fragte er 22
schließlich. Scully senkte den Blick. Sie war froh, daß Mulder ihren verlegenen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte. „Ich, äh, bin noch nicht dazu gekommen.“ „Warum nicht?“ fragte Mulder. Er klang neugierig, nicht vorwurfsvoll. „Ich habe...“ Scully zwang sich, tief Luft zu holen und noch einmal von vorn zu beginnen. „Ich habe eine extrem ungewöhnliche postmortale galvanische Reaktion beobachtet.“ „Der Kopf hat sich bewegt“, übersetzte Mulder sofort, und Scully wußte nicht, ob sie verärgert oder dankbar sein sollte, daß er nicht überrascht klang. „Er...“ – Scully schüttelte den Kopf, als könne sie nicht glauben, daß diese Worte tatsächlich aus ihrem Mund kamen – „... hat mir zugeblinzelt.“ Sie nahm ihre unruhige Wanderung wieder auf und schwächte ihre Bemerkung sofort ab. „Ich meine, es war nur eine galvanische Reaktion – eine elektrische Restspannung, die chemisch in den toten Zellen gespeichert war. Aber, äh...“ „Hat er geblinzelt oder Ihnen zugezwinkert?“ Scully malte sich das verschmitzte Grinsen auf dem Gesicht ihres Partners aus. Als Mulder seine Sticheleien fortsetzte, runzelte sie verärgert die Stirn. „Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß er lebt, oder, Scully?“ Scully atmete hörbar in ihr Handy. „Nein, Mulder. Das will ich keineswegs behaupten.“ „Oder ist Ihnen vielleicht auch der Gedanke gekommen, daß er noch nicht ganz tot ist?“ „Wie meinen Sie das?“ „Ich bin in Leonard Betts’ Apartment. Die Kleidung, die die Person auf diesen Überwachungsfotos trug, liegt hier auf dem Boden, Scully. Und es sieht so aus, als hätte es sich derjenige, der sie getragen hat, hier gemütlich gemacht.“ 23
Noch einmal ging Mulder suchend durchs Wohnzimmer und kehrte dann wieder ins Bad zurück, bevor er schloß: „Vielleicht ist er zu Hause gewesen.“ Scully starrte ausdruckslos ins Leere. „Leonard Betts?“ fragte sie gedehnt. „Ohne seinen Kopf?“ Tausend schlechte Pointen kamen ihr in den Sinn, doch plötzlich hatte sie den beunruhigenden Verdacht, daß ihr Partner sie gar nicht aufzog – daß er es ernst meinte. „Mulder, ich weiß nicht einmal, was ich dazu sagen soll.“ Mulder zuckte die Achseln. Er wußte selbst, wie es klang. „Vorsichtshalber“, erklärte er, „werde ich die Ortspolizei bitten, das Haus zu überwachen. Wer auch immer hier war, könnte zurückkehren. Ich melde mich wieder.“ Er beendete das Gespräch und steckte sein Handy in die Tasche. Dann verließ er den Raum und ließ die Badezimmertür mit einem Knall ins Schloß fallen. Durch die Erschütterung kräuselte sich die dunkle Flüssigkeit in der Wanne. Momente später stieg eine Blase an die Oberfläche. Dann zwei Blasen. Dann drei. Irgend etwas bewegte sich in der Jod-Lösung und schlug Wellen. Schließlich tauchte ein fischbauchweißer Kopf auf, und das Gesicht eines Mannes wurde sichtbar – das Gesicht von Leonard Betts. Doch seine Züge waren merkwürdig deformiert. Die Ohren lagen flach am Kopf, die Nase hob sich kaum vom Rest des Gesichts ab. Die Haut war wächsern, der Mund lippenlos, und die Augenbrauen fehlten. Die Augen selbst waren winzig – aber als er die Lider öffnete, bewegten sich seine Pupillen blitzartig hin und her und nahmen ihre Umgebung wachsam in sich auf.
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Michele Wilkes wurde für zwei Wochen krankgeschrieben und nach Hause geschickt, um sich von den Verletzungen zu erholen, die sie sich beim Unfall zugezogen hatte. Einen Tag lang hielt sie es aus, daheim herumzusitzen und vor sich hin zu grübeln, dann rief sie an und gab Bescheid, daß sie am nächsten Morgen wieder zur Arbeit erscheinen würde. Ihr Gesicht war um die Augen und am rechten Wangenknochen noch immer bläulich verfärbt. Ein Schmetterlingsverband bedeckte die Wunde an ihrer Stirn. Im Pausenraum des Krankenhauses hatte sie sich einen Styroporbecher mit Kaffee gefüllt und passierte gerade die äußere Doppeltür der Notaufnahme, als sie hörte, wie ihre Name gerufen wurde. „Michele?“ Die Stimme ließ Wilkes zusammenfahren. Sie war noch immer ein wenig schreckhaft. Ein gutaussehender Mann in einem langen dunklen Trenchcoat kam auf sie zu, klappte seine Brieftasche auf und zeigte ihr seine Dienstmarke. „Michele Wilkes?“ „Ja?“ Während sie in ihren Krankenwagen kletterte, warf Wilkes einen neugierigen Blick auf das Foto neben der Marke. „Ich bin Special Agent Mulder vom FBI. Sie waren Leonard Betts’ Partnerin?“ Wilkes’ Gesichtsausdruck verriet Mulder, wie verstört sie war. Mit sanfter Stimme sprach er weiter. „Man hat mir gesagt, daß Sie heute wieder Ihren Dienst angetreten haben.“ Wilkes nickte und rang sich ein mattes Lächeln ab. „Ja. Ich dachte mir, es wäre das Beste, sofort wieder aufs Pferd zu steigen“, erklärte sie. Mulder erwiderte das Lächeln. Er wußte, daß die Befragung für sie nicht leicht sein würde, doch sie hatte Informationen, 25
die er dringend benötigte. „Laut den Akten sind Sie für die Bestattung von Leonard Betts’ sterblichen Überresten verantwortlich.“ Erneut nickte Wilkes. „Er hatte keine Familie – auch keine Freunde, soweit ich weiß.“ „Abgesehen von?“ Wilkes dachte ein paar Sekunden über die Frage nach. Ihre eigene Antwort machte sie traurig. „Ich mochte ihn, aber eigentlich war ich nicht seine Freundin. Er ließ niemanden an sich heran.“ Für einen Moment wandte Wilkes die Augen ab und erhaschte einen Blick auf ihr Bild im Rückspiegel des Krankenwagens. Die Blutergüsse erinnerten sie wieder an den Unfall. „Ich bin mir nicht sicher, ob man mich überhaupt seine Partnerin nennen könnte. Die meiste Zeit habe ich bloß versucht, ihm nicht im Weg zu stehen.“ Die Bemerkung kam Mulder seltsam vor – nicht unbedingt die Worte, aber das Unbehagen, mit dem sie sie aussprach. „Warum das?“ „Er hat mich nicht gebraucht“, sagte sie ohne Bitterkeit. „Im Grunde hat er niemanden gebraucht. Leonard war ein äußerst begabter Rettungssanitäter. Er konnte Krankheiten besser diagnostizieren als jeder Arzt, den ich kenne. Sie wissen doch, daß man von manchen Menschen sagt, daß sie einen nur ansehen müssen, um zu erkennen, was einem fehlt, oder?“ „Hmmm.“ „Leonard konnte das. Vor allem bei Krebs. Ich habe ihm immer gesagt, er hätte Onkologe werden sollen. Er hat sogar freiwillig Wochenenddienst auf der Krebsstation gemacht. Den Patienten vorgelesen und so weiter.“ Diese Neuigkeit erregte Mulders Aufmerksamkeit. Er prägte sich die Information ein und setzte die Befragung fort. „Gibt es sonst noch etwas über ihn zu berichten? Irgend etwas Ungewöhnliches?“ „Nein“, erwiderte Wilkes kopfschüttelnd. Sie dachte kurz 26
nach und fügte dann hinzu: „Doch. Er ist nie krank gewesen. Das war ziemlich ungewöhnlich. Ich meine, wenn man unseren Beruf bedenkt. Er war die Gesundheit in Person.“ „Wurde er im Dienst je verletzt?“ hakte Mulder nach. „Nein. Niemals. Ich meine, bis...“ Wilkes’ Stimme versagte, und Mulder nickte eilig. „Ja, ich weiß“, murmelte er mitfühlend. Wilkes fing sich wieder und ließ ihren Blick forschend über Mulder gleiten. „Verzeihen Sie... ich verstehe wirklich nicht, was das alles mit dem Diebstahl von Leonards Leiche zu tun hat. Ich meine, es klingt fast so, als hätten sie Leonard in Verdacht.“ Mulder bedachte sie mit einem nervösen Blick, der im krassen Widerspruch zu seinem ungezwungenen Lachen stand. „Nein, nein. Sie waren mir eine große Hilfe“, erklärte er gestikulierend. „Danke, daß Sie mir Ihre Zeit geopfert haben.“ Mit diesen Worten machte der Agent auf der Achse kehrt und ging davon. Und Michele Wilkes konnte ihm nur nachsehen und sich fragen, was das nun wieder zu bedeuten hatte. Im Krankenhaus verfolgte Scully, wie Leonard Betts’ abgetrennter Kopf aus einem trommelgroßen Stahlbottich auftauchte, der mit einer dicken, sirupartigen Flüssigkeit gefüllt war. Dampf stieg aus dem Bottich auf, während eine über dem Tank angebrachte elektrische Winde das abgetrennte Haupt in die Höhe hievte. Der Kopf war jetzt mit einer Schicht aus einer Art durchsichtigem Plastik überzogen. Scully hatte den ganzen Morgen im Pathologie-Labor des Monongahela Hospitals mit der Vorbereitung dieser Prozedur verbracht. Sie hatte eigentlich nicht damit gerechnet, daß Mul der auftauchen würde, doch sie und der Pathologe des Krankenhauses – ein humorloser Mann – hatten kaum mit dem Test begonnen, als ihr Partner erschienen war. Gemeinsam musterten sie den tropfenden Kopf. 27
„Werden hier auch die Donuts glasiert?“ fragte Mulder. Scully ignorierte die Bemerkung und erklärte ihre weitere Vorgehensweise. „Diese Prozedur wird Biopolymerisation genannt. Es handelt sich im Grunde um einen High-TechMumifizierungsprozeß. Die Überreste werden in Kunstharz getaucht. Sobald der Harz hart geworden ist, kann die Probe in Scheiben geschnitten und untersucht werden.“ „Oder man kann sie als Briefbeschwerer benutzen...“ Scully warf ihrem Partner einen Seitenblick zu und seufzte. „Jedenfalls sollte ich in Kürze ein paar Autopsie-Ergebnisse für Sie haben.“ Schließlich präsentierten sie und der Pathologe die Probe, die sie untersuchen wollten: einen Querschnitt durch Leonard Betts’ Kopf, hauchfein geschnitten. Der Pathologe hielt die in Glas gerahmte Probe hoch – in Mulders Augen erinnerte sie beunruhigend an ein schädelförmiges Stück Frühstücksfleisch. „Ich beginne mit einem Querschnitt des Vorderhirns Ihres Mr. Betts“, erläuterte der Pathologe, „genauer gesagt des vorderen Stirnlappens.“ Während er sprach, plazierte er die Probe unter einem großen stereoskopischen Mikroskop und beugte sich über das Okular. Er drehte am Schärferegler und zog verwirrt die Brauen hoch. „Nun, das ist wirklich seltsam“, murmelte er. „Was?“ fragte Scully alarmiert. „Ist mit dem Bild etwas nicht in Ordnung?“ wollte Mulder wissen. „In gewissem Sinne, ja“, bestätigte der Pathologe. „Hier, sehen Sie selbst.“ Er schaltete einen Videomonitor ein, der an das Mikroskop angeschlossen war. Mulder und Scully lehnten sich nach vorn, als das Bild der vergrößerten Probe sichtbar wurde. Mulder konnte wenig damit anfangen – er sah lediglich eine Ansammlung purpurn eingefärbter Zellen, die an Hüttenkäse erinnerte. Scully verriet das Bild wesentlich mehr. „Oh, mein Gott“, stieß sie verblüfft hervor. „Sein ganzes 28
Gehirn sieht wie ein einziges riesiges Gliom aus.“ Das war ein Wort, das Mulder kannte. „Er hatte Krebs?“ fragte er überrascht. „Er war davon förmlich durchsetzt“, erwiderte Scully. „Jede Zelle dieser Probe, im Grunde jede Zelle in seinem Kopf und Gehirn, alle scheinen kanzerös zu sein. Der Krebs hat alles durchdrungen.“ Für Mulder ergab das keinen Sinn. „Könnte jemand in diesem Zustand am Leben bleiben?“ „Am Leben bleiben?“ schnaubte der Pathologe. „Dieser Zustand ist meines Wissens nach nicht einmal möglich. Dieser Mann wäre längst tot gewesen, bevor er einen derart extremen metastasischen Zustand erreicht hätte.“ „Und wie erklären Sie sich dann das Ergebnis?“ Der Pathologe hob die Schultern. „Vielleicht hat der Polymerisierungsprozeß die Probe irgendwie verfälscht.“ Er blickte wieder durch das Mikroskop. „Vielleicht sehen wir gar nicht das, was wir zu sehen glauben.“ Mulder nagte an seinem Daumen und starrte auf den Videoschirm. „Oder vielleicht“, spekulierte er, „sehen wir es zum ersten Mal deutlich.“ „Was wollen Sie damit andeuten?“ fragte Scully. Mulder grinste und zog die Brauen hoch. Er wies auf die Querschnittprobe. „Daß diese Probe die Wahrheit sagt.“ Michele Wilkes blinkte und bog links in die Straße ein, die zum Parkplatz des Krankenhauses führte. Für den Rettungsdienst war es ein hektischer Tag gewesen; ständig hatten die Zentrale und die Einsatzwagen über Funk Meldun gen ausgetauscht. Aus dem Lautsprecher drang die Stimme eines Fahrers, den Wilkes kannte, und sie hörte zu. „Monongahela, 136 hier, unterwegs mit männlichem Patienten, Alter zwanzig. Keine sichtbaren Verletzungen. Atemstillstand. Keine Reaktion auf CPR. Bitte um Rat.“ 29
Unwillkürlich mußte Wilkes daran denken, daß Leonard mit Sicherheit gewußt hätte, was zu tun war. Der Operator in der Zentrale machte dem Fahrer einen Vorschlag. „Einssechsunddreißig. Vergewissern Sie sich, daß seine Luftröhre nicht blockiert ist.“ Das Standardverfahren, dachte Wilkes. Jeder Rettungssanitäter, der etwas von seinem Beruf verstand, hätte dies als erstes überprüft. Während sie den Krankenwagen direkt vor die Tür zur Notaufnahme steuerte, lauschte sie weiter den Stimmen aus dem Funkgerät. Ihr neuer Partner saß im Fond und kümmerte sich um einen dreißig Jahre alten Feuerwehrmann, der sich eine Rauchvergiftung zugezogen hatte. Wilkes hielt den Wagen an, während ihr Kollege die Entladung des Patienten vorbereitete. Als Wilkes den Schlüssel aus dem Zündschloß zog, drang wieder die Stimme des ratlosen Fahrers aus dem Funkgerät. „Luftröhre ist frei“, meldete er. „Patient reagiert nicht. Puls ist schwach.“ Wilkes betete im stillen für die Rettungssanitäter und ihren Patienten – im selben Moment kam eine vertraute Stimme aus dem Lautsprecher und ließ sie regungslos verharren. „Wagen 208 an Zentrale. Betrifft Anfrage von Einheit 136.“ Wilkes zögerte. Sie beugte sich nach vorn und drehte die Lautstärke auf. Das war unmöglich. Die Stimme fuhr fort: „Eins-sechsunddreißig, hier ist Allegheny Catholic 208. Ich weiß, daß ihr bis zum Arsch im Alligator steckt, aber es klingt, als hätte euer Patient einen anaphylaktischen Schock erlitten.“ Wilkes konnte es nicht fassen. Es war Leonard. „Überprüft es“, hörte sie die Stimme – Leonards Stimme – sagen, „und gebt ihm nullkommadrei Milliliter Epinephrin.“ Nach ein paar Momenten bestätigte Wagen 136 Betts’ Diagnose und bat dann um eine Wiederholung der 30
empfohlenen Behandlung. „Das kann nicht sein...“, flüsterte Wilkes. „Leonard?“ Hinter ihr im Krankenwagen zog Wilkes’ neuer Partner die Trage mit dem Patienten aus dem Fahrzeug. Er bemerkte, daß Wilkes wie angewurzelt hinter dem Lenkrad saß. „Michele!“ fauchte er. „Helfen Sie mir gefälligst!“ Wilkes riß sich zusammen und sprang aus dem Wagen, doch sie ließ die Tür offen und lauschte weiter der gespenstischen Stimme ihres ehemaligen Partners. Beunruhigt fragte sie sich, ob dies die ersten Symptome einer Demenz waren. Leonard würde es wahrscheinlich wissen.
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Professor Charles Burks von der University of Maryland war sich bewußt, daß ihn bestimmte Leute für verrückt hielten. Im besten Fall sahen sie in seinen Forschungen eine Art Pseudowissenschaft. Zu diesen bestimmten Leuten gehörten eine Reihe seiner Kollegen von der biologischen Fakultät und die meisten Verwaltungsangestellten der Universität, doch zum Glück hatte er einen unkündbaren Vertrag. Außerdem machte es ihm nichts aus, ebensowenig wie dem FBI-Agenten, der ihm diese Gewebeprobe gebracht hatte. Seine Partnerin hingegen war da von einem ganz anderen Kaliber. Burks konnte an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, daß sie – vorsichtig gesagt – eine Skeptikerin war. Burks schaltete das Licht aus, und im Labor wurde es dunkel. Dann legte er einige andere Schalter um, die den Raum in rotes Licht tauchten, und machte sich an die Arbeit. Obwohl er klein und rundlich war, bewegte sich Burks so schnell, daß sich Scully und Mulder beeilen mußten, um ihm durch das abgedunkelte Labor zu folgen. Burks war aufgeregt. Diese Probe war anders als das Material, mit dem er bisher gearbeitet hatte – ein kompletter Querschnitt eines menschlichen Schädels. Er legte die Probe auf ein 50 x 60 cm großes Stück Fotopapier. „Ich habe noch nie mit menschlichem Gewebe gearbeitet“, sagte er zu den FBI-Agenten, während er die Probe mit einem Draht erdete. „Wonach suchen Sie genau?“ „Das werde ich Ihnen sagen, sobald wir es finden“, erwiderte Mulder. Er wollte nicht, daß das Experiment durch irgendwelche Erwartungen verfälscht wurde. Scully konnte ihre Neugierde nicht länger im Zaum halten. „Hat man eigentlich schon einmal die Wissenschaftlichkeit dieses Verfahrens in Zweifel gezogen, Dr. Burks?“ fragte sie 32
vorsichtig. Burks war an derartige Einwände gewöhnt. Inzwischen machte er sich nicht mehr die Mühe, sich zu rechtfertigen, und reagierte statt dessen mit Humor auf seine Gegner. „Nur wenn man mit den Ergebnissen nicht zufrieden war“, entgegnete er grinsend. Mulder wußte, daß seine Partnerin mit dieser Antwort nicht zufrieden sein würde. Er kam dem Professor zu Hilfe. „Chuck hat hier in den Staaten einen Großteil der Pionierarbeit in Sachen Kirlian-Fotografie geleistet“, eröffnete er Scully. „Allerdings ziehe ich den Oberbegriff Aura-Fotografie vor“, fügte Burks hinzu und schaltete eine Reihe von Geräten ein, die leise zu summen begannen. Dann wandte er sich wieder an Scully und erklärte das Verfahren. „Ich kann die koronale Entladung eines Organismus fotografieren, indem ich ihn hochfrequenter Elektrizität aussetze.“ Scully kannte den Begriff nicht. „Koronale Entladung?“ wiederholte sie. Mulder warf ein: „Die Lebenskraft. Was die Chinesen als Chi bezeichnen. Ihre Existenz ist in östlichen Kulturen eine akzeptierte Tatsache.“ „Und die theoretische Basis der holistischen Medizin, der Akupunktur“, nickte Scully und ignorierte Mulders belehrenden Tonfall. „Aber ich verstehe nicht, was das mit diesem Fall zu tun hat.“ „Es könnte die undeutlichen Ergebnisse Ihrer computertomographischen Untersuchung von Betts’ Kopf erklären“, meinte Mulder. An der Maschine leuchtete eine rote Diode auf. Burks drückte einen Knopf, und eine Induktionsspule knisterte. Winzige Elektrizitätsströme sprangen über die Oberfläche der Probe. Eine fahle Aura, deutlich sichtbar, umgab sie für zwei oder drei Sekunden, um dann zu verblassen. Burks grinste. Dies war ein wichtiger Moment. 33
„Mit diesen Geräten kann ich Phantombilder von ganzen Blättern machen, die vorher zerschnitten wurden“, strahlte er und griff nach dem belichteten Fotopapier. Er eilte durchs Labor und legte es in ein Entwicklerbad. „Oder das rudimentäre Bild eines Eidechsenschwanzes, der kurz zuvor abgetrennt wurde. Was, wie Sie zugeben müssen, bemerkenswert ist.“ Burks klang mehr als nur ein wenig stolz, während er das Negativ im Entwicklerbad bewegte. Scully warf Mulder einen skeptischen Blick zu, als der Professor das Bild aus der Schale nahm und hochhielt. „Ich glaube, da ist etwas.“ Mulder beugte sich vor, und trotz ihrer Zweifel folgte Scully seinem Beispiel. „Ich weiß zwar nicht, wonach Sie suchen, aber wir haben es hier eindeutig mit energetischer Aktivität zu tun.“ Burks befestigte das Negativbild an einer Lichtleiste. Er legte einen Schalter um, und die Neonröhren flammten flackernd auf. Der Querschnitt von Betts’ Kopf war als Silhouette sichtbar, deren Ränder von einem leuchtenden elektrischen Kranz gesäumt waren. Aber die Silhouette endete nicht wie die Probe: Sie ging in einen gut sichtbaren Phantomhals und gut erkennbare Schultern über, die bis zum Rand des Fotos und weiter reichten. Mulder ergriff als erster das Wort. „Würden Sie glauben, daß das Haupt dieses Mannes abgetrennt wurde, Chuck?“ Dr. Burks schien dies für einen Scherz zu halten. „Kommen Sie“, kicherte er, bevor ihm dämmerte, daß Mulder es ernst meinte. „Unmöglich.“ „Oh doch“, konterte Mulder. Dann wandte er sich an seine Partnerin: „Sind wir mit den Ergebnissen zufrieden?“ Doch Scully konnte Mulder nur anstarren und sich fragen, welch seltsamen Hypothesen wieder einmal in seinem Kopf 34
herumspukten. Scully hielt den Umschlag mit Leonard Betts’ Gewebeprobe in der einen und das von Dr. Burks angefertigte Aurafoto in der anderen Hand, als sie und Mulder das Labor verließen. Sie mußte nicht lange warten, bis er ihr seine Gedanken verriet. „Ich weiß nicht, wie Sie dazu stehen“, erklärte Mulder, „aber für mich sah das verdammt nach Schultern aus.“ Widerwillig schüttelte Scully den Kopf. „Ich bin mir nicht sicher, wie ich dieses Foto erklären soll oder was es beweist.“ „Was ist, wenn es beweist, daß Leonard Betts noch am Leben ist?“ „Mulder!“ Mulder blieb stehen und sah seine Partnerin an. „Sie sagten vorher, daß Betts’ Gewebe von Krebs zerfressen war“, erinnerte er sie. „Was sind Krebszellen denn anderes als normale Zellen, die aufgrund einer gestörten DNA rasend schnell und unkontrolliert wachsen?“ „Ich habe keine Ahnung, worauf Sie hinauswollen...“ „Hören Sie einfach zu“, verlangte Mulder. „Es könnte doch einen Fall geben, bei dem Krebs nicht durch eine geschädigte DNA entstanden ist. Was ist, wenn dieser Krebs kein aggressiver oder destruktiver Faktor, sondern ein ganz normaler Seinszustand wäre?“ Scully schüttelte den Kopf. Sie entschied sich, Mulder keine ausführliche medizinische Belehrung über die Unmöglichkeit einer derartigen Mutation zu erteilen. „Selbst wenn dies möglich wäre, Mulder... Leonard Betts ist enthauptet worden.“ „Ja, aber was ist, wenn die Lebenskraft – sein Chi oder wie Sie es nennen wollen – irgendwie eine Blaupause seines Trägers gespeichert hat und das rapide Wachstum der Zellen kein Krebs, sondern eine Art... Regeneration ist?“ Scully fixierte ihr Gegenüber. „Sie glauben, daß Leonard Betts ein neuer Kopf gewachsen ist?“ rief sie entgeistert. 35
Doch Mulder ließ sich nicht beirren. „Die Flüssigkeit, die ich in Betts’ Badewanne entdeckt habe, war Povidon-Jod. Sie wird oft von Laborforschern bei Reptilien und Amphibien eingesetzt, um die Regeneration zu beschleunigen. Wir beide wissen doch, daß Salamander in der Lage sind, sich neue Gliedmaßen wachsen zu lassen.“ Der mitleidige Blick, den Scully ihrem Partner zuwarf, sprach Bände. Dieses Mal war er endgültig zu weit gegangen. Für einen Moment schloß sie gottergeben die Augen und seufzte dann: „Salamander sind die eine Sache. Aber kein Säugetier verfügt über diese Art von Regenerationsfähigkeit. Und es gibt auf dieser Erde keine Kreatur, die sich einen neuen Kopf wach sen lassen kann.“ „Manche Würmer können es“, hielt Mulder dagegen. „Wenn man sie zerschneidet, bekommt man zwei Würmer.“ „Mulder, es sind Würmer!“ „Ich will damit nur sagen, daß so etwas in der Natur vorkommt.“ Scully schwieg und schob Mulders Theorie für den Moment beiseite. Es gab Dringlicheres. „Ganz gleich, ob so etwas vorkommt oder nicht – irgend jemand gibt sich größte Mühe, das Beweismaterial zu beseitigen.“ Auch hierfür hatte Mulder eine Erklärung. „Vielleicht versucht Betts nur, sein Geheimnis zu bewahren.“ Als Scully antworten wollte, klingelte ihr Handy. Sie nahm den Anruf entgegen, ohne die Augen von Mulder zu wenden. „Scully“, meldete sie sich. Mulder beobachtete, wie eine Gruppe von müde aussehenden Studenten aus einem nahen Hörsaal kam, und wartete geduldig, daß Scully ihr Telefonat beendete. „Wunderbar. Danke“, sagte sie schließlich, unterbrach die Verbindung und steckte ihr Handy in die Tasche. Mulder zog fragend die Brauen hoch. „Tja, Leonard Betts hatte offenbar mehrere Geheimnisse. 36
Eins davon ist, daß er ein Alter ego namens Albert Tanner hatte“, informierte ihn Scully. Der Name sagte ihm nichts. „Ich habe Betts’ Fingerabdrücke von Danny überprüfen lassen. Das Ergebnis waren zwei Namen. Der erste war Leonard Betts, der zweite Albert Tanner. Aber im Gegensatz zu Leonard hat Albert eine lebende Verwandte. Seine Mutter, Elaine Tanner. Interessanterweise leben – oder lebten – alle drei in Pittsburgh.“ Mulder und Scully fuhren zu dem ruhigen Wohngebiet, wo Elaine Tanner laut ihren letzten Informationen lebte. Schmale, zweistöckige Holzhäuser säumten die Straßen. Im Haus unter der Adresse, die man Scully genannt hatte, brannte kein Licht, aber Mulder bestand darauf, zur Tür zu gehen und zu läuten. Schließlich flammte hinter dem winzigen Sichtfenster der Tür ein Licht auf. Eine Frau, ungefähr Ende Fünfzig, öffnete. „Ja?“ sagte sie lächelnd und nur leicht überrascht, daß zu dieser späten Stunde noch Fremde an ihrer Tür klingelten. Mulder musterte die hellrosa Schürze der Frau und ihr fröhliches Gesicht. „Elaine Tanner?“ fragte Scully. „Ich bin Agent Scully, und dies ist Agent Mulder. Wir sind vom FBI.“ Selbst dies schien die Frau nicht zu beunruhigen, obwohl ihr Erstaunen offensichtlich war. „Oh... was kann ich für Sie tun?“ „Ihr Sohn ist Albert Tanner?“ Diese Frage schien Mrs. Tanner allerdings zu verwirren, doch nach einer Pause nickte sie bedächtig, und Scully fuhr fort: „Können wir Ihnen ein paar Fragen stellen?“ Erneut nickte Mrs. Tanner und öffnete die Tür zur Gänze. Scully und Mulder folgten ihr ins Wohnzimmer. „Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment“, sagte Mrs. Tanner, „ich habe etwas auf dem Herd stehen.“ Nachdem die Frau durch eine Tür im hinteren Teil des Raums 37
verschwunden war, ließ Mulder seinen Blick durchs Zimmer wandern und stutzte. „Scully...“ Er wies auf ein gerahmtes Foto, das auf einer Mahagonikommode stand. Scully folgte der Richtung von Mulders ausgestrecktem Finger – das Foto zeigte den Mann, den sie als Leonard Betts kannten. Scully nahm das Bild von der Kommode und betrachtete es genauer. Als Mrs. Tanner ins Wohnzimmer zurückkehrte, zeigte ihr Scully das Foto. „Ma’am, ist das Ihr Sohn?“ Mrs. Tanner lächelte stolz. „Ja“, strahlte sie, „das ist Albert.“ Scully zögerte; sie wußte nicht, wie sie ihre nächsten Fragen formulieren sollte. „Wir kennen diesen Mann unter dem Namen Leonard Morris Betts“, begann sie. „Haben Sie diesen Namen schon einmal gehört?“ Mrs. Tanners Lächeln verblaßte langsam. „Nein...“ Mulder hakte nach. „Hat Ihr Sohn vielleicht Decknamen benutzt, von denen Sie wissen?“ „Warum stellen Sie mir all diese Fragen?“ erwiderte Mrs. Tanner. Mittlerweile war alle Fröhlichkeit aus ihrem Gesicht gewichen. Für einen Moment herrschte Stille. Den Agenten wurde langsam klar, daß Mrs. Tanner möglicherweise nicht wußte, was ihrem Sohn zugestoßen war. Als Scully wieder das Wort ergriff, sprach sie so sanft wie möglich. „Ma’am, wissen Sie, daß Ihr Sohn vor kurzem gestorben ist?“ Mrs. Tanner starrte Scully an, als wäre sie verrückt. „Was meinen Sie mit ,vor kurzem’, Agent Scully?“ Scully und Mulder wechselten einen irritierten Blick. „Mrs. Tanner, wann ist Ihr Sohn gestorben?“ stellte Mulder die nächstliegende Frage. „Vor sechs Jahren“, erklärte sie. Die Gesichter der Agenten verrieten ihr, daß sie damit nicht gerechnet hatten. „Er starb bei einem Autounfall. Warum?“ 38
„Mrs. Tanner“, fragte Scully ruhig, „könnten Sie uns vielleicht die Sterbeurkunde zeigen?“ „Natürlich“, versicherte Mrs. Tanner mit zunehmend verwirrt klingender Stimme. Als sich die Frau abwandte und in einem der Nebenzimmer verschwand, blickte Scully ihr leicht ratlos hinterher. Mulder pfiff leise durch die Zähne. „Schönes Durcheinander, was?“
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Im Vergleich zum Allegheny Catholic Hospital wirkte das Monongahela wie aus dem Mittelalter. Das moderne Gebäude war erleuchtet wie ein Casino in Las Vegas, und als Michele Wilkes über den Parkplatz schlenderte, fiel ihr der alte Witz wieder ein: „Eine todschicke Klinik!“ Auch wenn das Allegheny Catholic selbst bei dichtem Verkehr nur eine halbe Stunde Fahrt vom Stadtkern entfernt war, hätte es für manche arme Seelen auch auf dem Mond liegen können – für jene, die zum Monongahela geschickt wurden, da sie eben keine Versicherung hatten und nicht in der Lage waren, die privaten Krankenhaussätze zu bezahlen. Allerdings war es nicht nur das Gebäude, das Wilkes’ Arbeitgeber deklassierte. Michele bemerkte auch die glänzenden Ambulanzen: Keines der Fahrzeuge war älter als zwei Jahre. Vor zwei Stunden hatte sie ihre Schicht beendet. Sie hatte geduscht und Freizeitkleidung angezogen und war dann zum Allegheny Catholic gefahren. Die Stimme aus dem Funkgerät verfolgte sie noch immer. „Bis zum Arsch im Alligator.“ Sie hatte diesen Ausdruck bisher erst von einem Menschen auf diesem Planeten gehört: Leonard. Und es war auch seine Stimme gewesen, darauf ging sie jede Wette ein. Heute abend würde sie Leonard Betts finden – oder erkennen, daß sie tatsächlich langsam verrückt wurde. Gemächlich spazierte Wilkes durch die Reihen der Krankenwagen und blickte sich aufmerksam um. Sie entdeckte zwei Rettungssanitäter, die in ihrem Fahrzeug auf einen neuen Einsatz warteten. Wilkes trat ans Beifahrerfenster der Ambulanz. „Entschuldigung“, begann sie nervös, „ich... äh... ich suche nach einem Rettungssanitäter. Den Fahrer von Wagen 208.“ Die Sanitäter wechselten einen Blick. Die schwarze Frau auf 40
dem Beifahrersitz wandte sich an ihren Partner. „Der Neue?“ Der Fahrer nickte, und sie drehte sich wieder zu Wilkes herum. „Ja, 208 steht dort drüben. Er hat gerade seine Schicht beendet, aber wenn Sie sich beeilen, erwischen Sie ihn noch.“ Wilkes dankte ihr und marschierte zu Wagen 208, der ungefähr dreißig Meter weiter im Schatten zwischen zwei nur spärlich leuchtenden Straßenlaternen geparkt war. Als sie sich näherte, entdeckte Wilkes einen einzelnen Mann, der mit einem Erste-Hilfe-Koffer aus dem Fahrzeug stieg. Obwohl seine Gesichtszüge nicht zu erkennen waren, kamen ihr seine Statur und sein Gang bekannt vor. Wilkes klopfte das Herz bis zum Halse, als sie sich zwang, seinen Namen zu rufen. „L-Leonard?“ Der Mann blickte kurz in Wilkes’ Richtung und ging dann schnell, aber gelassen davon. Wilkes lief ihm nach, aber als sie die Stelle erreichte, wo sie ihn zum letzten Mal erblickt hatte, war niemand mehr zu sehen. Vielleicht ist es doch ein Irrtum gewesen, sagte sie sich. Doch dann bemerkte sie etwas: eine Eiche, die zwölf Meter weiter am Rand des Parkplatzes stand – der ungleichmäßige Schatten des Stamms verriet Wilkes, daß sich dahinter jemand verbarg. Vorsichtig trat Wilkes näher und wählte einen Weg, der es ihr erlaubte, den Schatten im Auge zu behalten, ohne selbst gesehen zu werden. Fünf Meter vor dem Baum blieb sie stehen und unterdrückte den Impuls, kehrtzumachen und davonzulaufen. Dann, widerwillig, trat der Mann ins Licht. Es war Leonard Betts. Als Wilkes sprach, waren ihre Worte kaum hörbar. „Oh, mein Gott, Leonard! Bist du das wirklich?“ Betts schenkte ihr ein mattes, melancholisches Lächeln. Wilkes hatte jetzt keine Angst mehr – sie konnte nur nicht fassen, was sie sah. Sie mußte sich daran erinnern, daß dies kein Traum, daß Leonard kein Geist war. „He, Michele.“ Leonards trat auf seine ehemalige Partnerin 41
zu, um sie zu umarmen. Wilkes wich zurück, obwohl sie nicht wußte, warum sie sich plötzlich fürchtete. „Es ist okay“, meinte Betts beruhigend. Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu und nahm sie in die Arme. Zögernd erwiderte sie seine Umarmung, während sich alles um sie drehte. Ein Teil von ihr wollte es ohne zu fragen akzeptieren. Während Leonard sie in seinen Armen hielt, spürte Wilkes, wie ihre Schuldgefühle schwanden. Er lebte, und sie, sie hatte ihn nicht umgebracht. Betts schluckte hart. In seinen Augen schwammen Tränen. Er konnte spüren, wie sich ihre Furcht in Freude verwandelte, er konnte ihre Erleichterung fühlen – und er wollte nicht tun, was er tun mußte. „Es ist okay“, wiederholte er sanft. „Ich wünschte nur, du hättest mich nicht gefunden.“ „Wovon redest du?“ flüsterte sie zurück. Betts löste eine Hand von Wilkes’ Rücken. Eine gefüllte Injektionsspritze blitzte auf. „Leonard?“ Verwirrt sah ihn Wilkes an und wartete auf seine Antwort. Doch Betts’ einzige Antwort bestand darin, ihr die Nadel zwischen die Schulterblätter zu rammen. Die Spritze pumpte ihren tödlichen Inhalt in Wilkes’ Körper, während Betts seine ehemalige Partnerin unerbittlich festhielt. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis sie von Krämpfen geschüttelt wurde. „Es tut mir leid“, flüsterte Betts. „Es tut mir so leid.“ Taumelnd versuchte Wilkes, sich aus Betts’ Griff zu befreien, aber einen Moment später war schon alles vorbei. Sie verdrehte die Augen und erschlaffte. Betts legte Wilkes’ Leiche behutsam auf den laubbedeckten Boden. „He, Sie da!“ Betts fuhr herum und blinzelte in den Strahl einer Taschenlampe. Er schirmte seine Augen ab und sah einen stämmigen Wachmann aus Richtung des Krankenhauses auf 42
sich zustürmen. Betts richtete sich auf, schwang sich über ein Geländer und rannte den Weg hinunter. Als der Wachmann die Stelle erreichte, wo er Betts zuerst entdeckt hatte, verharrte er. Der Strahl seiner Taschenlampe fiel auf Michele Wilkes’ Leiche. Einen Moment lang starrte er in ihre toten Augen und setzte dann dem Täter nach, der noch immer in Sichtweite war. „HALT!“ befahl er. „BLEIBEN SIE SOFORT STEHEN!“ Betts ignorierte die Zurufe und erreichte den Parkplatz, wo er im Zickzack durch die geparkten Autos lief und schließlich bei seinem klapperigen Dodge Dart anlangte. Fieberhaft suchte er nach seinen Schlüsseln. Er konnte die Schritte des Wachmanns hören. Endlich fand er sie! Betts steckte den Schlüssel in die Wagentür, doch kaum hatte er ihn gedreht, wurde er auch schon von seinem Verfolger angesprungen. Betts schlug schwer auf dem Pflaster auf, und bevor er sich aufrappeln konnte, war der Wachmann über ihm. Das nächste, was Betts sah, war die Taschenlampe, die auf seinen Kopf niedersauste: Das wuchtige Batterieende traf seine Stirn, und ihm schwanden die Sinne. Verzweifelt kämpfte Betts gegen die Bewußtlosigkeit, die sich seiner bemächtigen wollte. Es gelang ihm, den zweiten Schlag mit dem Unterarm abzuwehren, er war jedoch nicht stark genug, um zu verhindern, daß der kräftige Wachmann sein Handgelenk packte und ihm Handschellen anlegte. Verschwommen nahm Betts wahr, wie der Wachmann den zweiten Schellenring am Türgriff des Wagens befestigte. „Du bleibst hier, Hurensohn!“ Der Wachmann tastete Betts ab, fand aber nichts. Er zog den Schlüssel ab, der noch immer in der Autotür steckte, und schob ihn in seine Tasche. Betts lag blutend am Boden. Beide Männer keuchten wie Schwergewichtsboxer. Der Wachmann löste sein Walkie-talkie vom Gürtel und drückte den Sendeknopf. „Ronnie, nimm ab, Mann!“ Während er auf die Antwort wartete, blickte der Wachmann 43
zu den Bäumen hinüber. Ein paar Momente später drang eine blecherne Stimme aus dem Lautsprecher des Walkie-talkies. „Was ist?“ „Wir haben einen Notfall auf dem Personalparkplatz.“ Der Wachmann warf seinem Gefangenen einen grimmigen Blick zu und lief dann den Weg zurück zu der Stelle, wo er die Leiche der Frau gefunden hatte. Sobald sein Bezwinger außer Sichtweite war, rappelte sich Betts mühsam auf. Er zerrte heftig an den Handschellen. Dann rüttelte er am Türgriff, allerdings ohne Erfolg. Betts warf einen langen, forschenden Blick in die Richtung, in der der Wachmann verschwunden war – er wußte, daß ihm nicht viel Zeit blieb, bis jemand kam, um ihn abzuführen. Er mußte schnell handeln. Mit der freien Hand packte er den Daumen der gefesselten Hand und zog. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Betts schloß die Augen und biß die Zähne zusammen, um nicht zu schreien. Er versuchte, sich ganz auf die Stimmen in der Ferne zu konzentrieren und seine Schmerzen einfach zu ignorieren. „Jemand soll eine Trage holen.“ „Ich kann keinen Puls feststellen.“ „Ich muß nach diesem Kerl sehen.“ Dann ein Geräusch näher an seinen Ohren – das seines Daumens, der sich mit einem Ruck aus dem Gelenk löste – gefolgt von dem übelkeitserregenden Knirschen von Knochen und Knorpel und zerreißendem Fleisch. Weniger als dreißig Meter weiter kniete der Wachmann neben Michele Wilkes. Sein Kollege und ein Notarzt waren ihm zu Hilfe geeilt. Am Gesichtsausdruck des Arztes konnte der Wachmann erkennen, daß die Diagnose negativ war. Hier war nichts mehr tun, und so kehrte er zum Parkplatz zurück und wünschte sich im stillen, er hätte dem Mörder ein paar Schläge mehr verpaßt. Der Mistkerl hätte es verdient. Als sich der Wachmann dem Auto näherte, verlangsamte er seine Schritte. Er richtete seine Taschenlampe auf die Stelle, 44
wo er Betts zurückgelassen hatte – und hielt verwirrt inne. Das Auto war da, und auch die Handschellen baumelten noch am Türgriff. Doch der Gefangene war verschwunden. Vorsichtig pirschte der Wachmann um das Auto herum. Als er in die Lücke zwischen dem Dart und dem daneben parkenden Sportwagen bog, konnte er die Handschellen besser erkennen, und bei genauerem Hinsehen bemerkte er das frische Blut, das an der Tür hinunterrann. Die Blicke des Wachmanns folgten der Blutspur zum Boden, und was er sah, ließ ihn erst fassungslos den Kopf schütteln, danach wurde ihm schlagartig schlecht. Auf dem Pflaster lag Leonard Betts’ Daumen. Er sah aus, als wäre er am Gelenk abgerissen worden.
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Im Morgengrauen schneite es. Kleine, feuchte Flocken wehten in Agent Mulders Gesicht, als er sich auf dem Personalparkplatz des Allegheny Catholic Hospitals bückte. Durch Latexhandschuhe geschützt, hob er den abgetrennten Daumen auf, untersuchte ihn und steckte ihn in einen Plastikbeutel. Im Hintergrund plärrten lautstark Polizeifunkgeräte, während uniformierte Cops den Tatort mit gelbem Polizeiband absperrten. Wachmänner des Krankenhauses erklärten den von der Nachtschicht erschöpften Angestellten, warum sie noch nicht in ihre Autos steigen durften. Mulder verfolgte die Blutspur vom Boden hinauf zu den Handschellen, die noch immer am Türgriff hingen. Als er aufblickte, entdeckte er Scully, die sich mit einem Regenschirm von der Stelle näherte, wo man Michele Wilkes’ Leiche gefunden hatte. Er zeigte ihr den Plastikbeutel mit dem Daumen. „Unglaublich, was manche Leute so verlieren“, scherzte er, doch Scully zeigte keinerlei Reaktion, und er wurde wieder ernst. „Was haben Sie herausgefunden?“ „Michele Wilkes wurde ermordet, aber wenn der Wachmann die Tat nicht beobachtet hätte, hätten wir es vielleicht nie festgestellt.“ „Warum nicht?“ „Ich habe eine gebrauchte Injektionsspritze im Gras entdeckt. Man hat ihr eine tödliche Dosis Kaliumchlorid verpaßt“, erklärte Scully. „Da es sich dabei um einen Elektrolyten han delt, der auf natürliche Weise im Körper vorkommt, suchen die Gerichtsmediziner normalerweise nicht danach.“ Der Schnee fiel dichter, und auch Mulder spannte seinen Schirm auf. „Betts war hier, Scully. Wilkes muß ihn aufgespürt 46
haben. Dann hat er sie umgebracht, um sein Geheimnis zu schützen.“ Unter anderen Umständen hätte Scully ihm mit Sicherheit widersprochen. Statt dessen nickte sie mit wachsender Überzeugung. „Ja, der Wachmann hat ihn als den Täter identifiziert. Allerdings haben seine Kollegen ausgesagt, sein Name sei Truelove.“ „Scully, wissen Sie, wie dieser Mann entkommen ist?“ Mulder wies auf die blutbefleckte Autotür. „Er hat seinen Daumen ausgerissen. Weil er wußte, daß er sich einen neuen wachsen lassen kann.“ „Mulder, so funktioniert das nicht“, protestierte sie matt. „Aber ist es unvorstellbar?“ Scully warf Mulder einen Blick zu, der verriet, daß sie es in der Tat für unvorstellbar hielt. Doch noch gab sich Mulder nicht geschlagen. „Vielleicht ist Betts’ Regenerationsfähigkeit kein größerer Entwicklungssprung als der aufrechte Gang oder die Kommunikation durch Sprache“, spekulierte er. „Sprache... Evolution – es handelt sich dabei um einen Prozeß, der in Schritten abläuft, Mulder. Nicht in Sprüngen.“ Mulder schüttelte den Kopf. „Die neueste Evolutionstheorie widerspricht dem. Die Wissenschaftler nennen das Phänomen ,Punktualismus’ oder ,punktuelles Gleichgewicht’. Nach dieser Theorie laufen evolutionäre Fortschritte kataklysmisch ab, nicht graduell. Die Evolution erfolgt nicht gleichmäßig, sondern in großen, abrupten Sprüngen. Und das Unerklärliche spielt sich in den Lücken ab – der Lücke zwischen dem, was wir sind, und dem, was Leonard Betts geworden ist.“ Scully dachte eine Weile über Mulders Argumente nach. Dann sagte sie: „Ihre Theorie setzt einen Menschen voraus, der so radikal weiterentwickelt ist, daß man ihn kaum noch als Menschen bezeichnen könnte.“ Mulder hob die Schultern und lächelte. „Andererseits – wie 47
entwickelt ist ein Mensch, der einen Dodge Dart fährt?“ Scully musterte das Auto, schien den Scherz aber nicht zu verstehen. Mulder seufzte und zog einen weiteren Plastikbeutel mit einem Beweisstück aus der Tasche seines Trenchcoats: Es waren die Wagenschlüssel, die der Wachmann Betts abgenommen hatte. Mit einem leisen Klimpern hielt er sie vor Scullys Gesicht. Mulder nahm die Schlüssel aus dem Beutel und schloß den Kofferraum auf, der lediglich eine mittelgroße Kühlbox enthielt. Als er die Box geöffnet hatte, trat Scully an seine Seite. Die Box enthielt versiegelte Plastikbeutel voller Tumore, dieselbe Art, die sie auch in der Bio-Entsorgungseinheit im Monongahela Hospital gesehen hatten. Die Beutel waren in Eis gepackt, das teilweise geschmolzen war. Voller Unbehagen griff Scully nach einigen der Beutel und las die Etiketten. „Myeloides Sarkom. Epitheliales Karzinoid. Das sind Krebstumore.“ Scully sah ihren Partner an. „Das ist alles OPAbfall, der entsorgt werden sollte. Was hatte er damit vor?“ Mulder hatte eine Erklärung parat, doch allein der Gedanke daran erfüllte ihn mit Übelkeit. „Sie werden es vielleicht nicht wissen wollen“, sagte er knapp. Der Ausdruck von Abscheu, der über Scullys Gesicht huschte, verriet Mulder, daß sie dieselbe Vermutung hatte. „Scully, es besteht die Möglichkeit, daß Leonard Betts nicht nur Krebs hat...“ Scully beendete den Satz. „... sondern daß er Krebs zum Leben braucht? Sie wollen damit sagen, daß das hier...“ „... sein Imbiß ist“, schloß Mulder und sprach damit aus, was sie beide dachten. „Das könnte auch erklären, warum die Evolution, die natürliche Auslese, Krebs – die größte Gefahr für die Gesundheit unserer Spezies – in unseren genetischen Bauplan integriert hat.“ Was Mulder damit andeutete, widersprach jeder anerkannten Theorie zu diesem Thema. Scully machte eine hilflose Geste. 48
„Warum... warum denke ich die ganze Zeit, daß sich Darwin in diesem Moment in seinem Grab herumdreht?“ „Dann fragen Sie sich doch mal“, argumentierte Mulder hitzig, „warum Betts Rettungssanitäter ist? Warum besucht er regelmäßig Krebsstationen?“ Mulder nickte auf die Box mit den Tumoren hinunter. „Weil er so Zugang zu seinem bevorzugten Nahrungsmittel bekommt.“ Während Scully über diese Vermutung nachdachte, schaltete ein uniformierter Police Officer in der Nähe sein Funkgerät ab und trat auf sie zu. Er warf einen Blick auf sein Notizheft. „Das Fahrzeug ist auf eine Elaine Tanner, 3108 Old Bank Road, zugelassen.“ Mulder und Scully wechselten einen Blick. „Ob Mom wohl weiß, daß ihr toter Sohn mit ihrem Wagen unterwegs ist?“ fragte Mulder sarkastisch. Beide Agenten kannten die Antwort auf die Frage. Die alte Frau hatte gelogen. Elaine Tanner hörte das Hämmern an der Tür, und obwohl der Besuch für sie nicht völlig unerwartet kam, überraschte sie die Anzahl der Police Officers, die sich vor ihrer Haustür drängten, dann doch. Trotzdem hielt sie es für das Beste, sie mit einem Lächeln zu begrüßen. Die FBI-Agentin, die schon vor zwei Tagen bei ihr gewesen war, zeigte ihr ein Blatt Papier. „Elaine Tanner, wir haben einen Durchsuchungsbefehl für Ihr Haus.“ Der eisige Tonfall der FBI-Agentin war zuviel für Mrs. Tanner. Ihr freundlicher Gesichtsausdruck verdüsterte sich. Wenige Momente später wimmelte es in ihrem Wohnzimmer von Polizisten, die die Schränke und Schubladen durchwühlten. Mulder informierte Scully, daß er nach oben gehen und sich dort umschauen wollte, während sie Mrs. Tanner verhörte. „Mrs. Tanner, wir wissen, daß Ihr Sohn noch lebt und daß Sie 49
Kontakt zu ihm haben. Sagen Sie uns, wo wir ihn finden können.“ Scully wartete auf eine Antwort, doch die alte Frau wagte noch nicht einmal, ihr in die Augen zu sehen. Statt dessen verfolgte sie stumm, wie einer der Police Officers einige ihrer kostbaren antiken Figurinen zur Seite schob. „Gestern nacht hat Ihr Sohn eine Frau ermordet“, versuchte es Scully noch einmal. „Wenn Sie lügen, um ihn zu schützen, machen Sie sich der Mittäterschaft an diesem Mord schuldig.“ Diesmal bekam Scully eine Reaktion. Mrs. Tanner hob den Kopf und blickte sie an. Doch bevor sie etwas sagen konnte, kam Mulder mit einer Flasche Povidon in der Hand zurück. „Mrs. Tanner“, unterbrach er, „darf ich Sie fragen, wofür Sie das hier benutzen?“ Die alte Frau verzog keine Miene, und Mulder fuhr fort: „Das ist eine ziemlich große Flasche. Schneiden Sie sich oft?“ An Mulders Tonfall erkannte die alte Frau, daß er es herausgefunden hatte, daß er – zumindest teilweise – Bescheid wußte. Wenn dies der Fall war, dann wollte sie, daß er verstand. Daß er verstand und Leonard in Ruhe ließ. „Als mein Sohn acht Jahre alt war“, begann sie bedächtig, „gab es zwei Jungen, die ihn ständig ärgerten, weil er anders war. Er hat sie einfach ignoriert. Er wußte, daß er besser war als sie. Eines Tages lauerten sie ihm auf dem Heimweg auf. Sie verprügelten ihn... und er, er hat nicht einmal versucht, sich zu wehren. Er lag einfach da und steckte die Schläge ein.“ Mrs. Tanner wandte den Kopf und sah Scully direkt in die Augen. „Deshalb glaube ich nicht, daß er jemand getötet hat“, schloß sie. „Und wenn er es getan hat, dann hatte er seine guten Gründe.“ „Was für Gründe, Mrs. Tanner?“ „Gott hat etwas mit ihm vor“, erklärte die alte Frau trotzig. „Gott will, daß er bleibt – auch wenn die Leute es nicht verstehen... Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.“ 50
Und Mulder und Scully wußten, daß sie nicht mehr aus ihr herausbekommen würden.
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Normalerweise trank John Gillnitz vor Sonnenuntergang keinen Whisky. Bis zur Dämmerung blieb er gewöhnlich bei Bier – das war gesünder. Aber Emily trieb ihn zu den harten Sachen. Emily war der Grund, warum John schon zwanzig Minuten vor Steve, dem Besitzer, im Club Tip Top eingetroffen war. Sie war der Grund für die sieben Pintchen Jack Daniels, die er vor dem dritten Viertel des Steelers-Spiels hinuntergekippt hatte. John saß auf seinem Barhocker, nahm einen letzten Zug von seiner Camel und drückte die Kippe im überquellenden Aschenbecher aus. Er zog die letzte Zigarette aus der Packung und hatte sie schon angezündet, bevor er den Rauch der vorherigen ausgeatmet hatte. Mit einer energischen Geste knüllte er die leere Packung zusammen und versuchte, sie in den Abfalleimer auf der anderen Seite des Tresens zu werfen, den er jedoch um Armeslänge verfehlte. John nahm einen weiteren Zug und behielt den Rauch ein paar Momente in der Lunge. Er bestellte bei Steve ein weiteres Glas. Der Whisky half immer. Gedankenverloren fuhr er mit den Fingern durch seinen langen Bart. Emily wollte, daß er ihn abrasierte, und damit hatte der Streit angefangen. „Du wirst nie einen neuen Job finden, John.“ „Wer wird dich schon einstellen, wenn du so aussiehst, John?“ Und so weiter. Aber John gefiel der Bart. Alle paar Monate fragte ihn jemand, ob er ein Bandmitglied von ZZ Top sei, und John log stets und sagte ja. Dann bekam er die ganze Nacht Drinks spen diert, während er Geschichten über das Leben auf Tournee erzählte: die Groupies in Atlanta, die verwüsteten Hotelzimmer in Manhattan. Außerdem hatte Emily der Bart gefallen, als sie 52
ihn kennengelernt hatte... natürlich hatte er damals einen Job gehabt. Heute morgen hatte er einen Zwanziger aus ihrem Portemonnaie klauen müssen, um hierherkommen zu können, und jetzt waren ihm auch noch die Zigaretten ausgegangen. Er haßte Emilys Virginia Slims, doch wenn man drei Packungen am Tag rauchte, mußte man manchmal nehmen, was man kriegen konnte. Vielleicht sollte er doch noch nicht nach Hause gehen und stattdessen versuchen, jemand in der Bar anzu schnorren. Er sah sich um. Die Bar war fast leer. In einer Nische saßen ein paar Burschen, die er gerade beim Pool-Billard abgezockt hatte. Die ließ er besser in Ruhe. Und am anderen Ende des Tresens hockte ein magerer Kerl mit schütterem Haar, der ihm schon den ganzen Morgen komisch vorgekommen war. Erstens, weil der Kerl nicht trank – nun ja, Club Soda, aber das zählte nicht. Zweitens, weil John den Kahlkopf mehr als einmal dabei ertappt hatte, wie er ihn anstarrte. Am besten ging er doch nach Hause. Er warf den Zwanziger auf den Tresen und hoffte, daß er seine Rechnung abdeckte. Dann rutschte er leicht schwankend von seinem Barhocker. Leonard Betts verfolgte, wie der Mann mit dem langen, zottigen Bart aus der Bar wankte. So wie er rauchte und hustete, gab Betts dem Bärtigen noch ein Jahr, höchstens zwei. Und sie würden nicht angenehm verlaufen. Chemotherapie. Medikamente. Operationen. Betts zog einen Fünfer aus seiner Brieftasche und biß die Zähne zusammen. Er freute sich nicht auf das, was er gleich tun würde. Es kostete schrecklich viel Kraft und Konzentration. Sein neuer Daumen war noch immer nur ein fleischiger Stummel – es würde noch Tage dauern, bis er wieder voll einsatzfähig war. Betts stand auf und folgte dem bärtigen Mann. Als er auf die Straße trat, wurde er von der Helligkeit des Nachmittags vorübergehend geblendet. Immerhin hatte er mehrere Stunden 53
in der abgedunkelten Bar gesessen. Doch nach ein paar Wimpernschlägen entdeckte er Gillnitz, der in Schlängellinien auf einen Pickup zuging. Betts eilte ihm nach und steckte seine heilende Hand in die Manteltasche. Vorsichtig sah er sich um und stellte befriedigt fest, daß der Parkplatz menschenleer war. Der betrunkene Mann fummelte immer noch an der Tür seines Trucks herum. „Verzeihen Sie“, sagte Betts ruhig, um die Aufmerksamkeit des Bärtigen auf sich zu lenken. Gillnitz drehte sich um und starrte den Fremden an. Er kannte diesen Gesichtsausdruck aus Schuld und Reue – ein Ausdruck, auf den er selbst spezialisiert war. Er grunzte und wandte sich ab. „Es t-tut mir leid“, stotterte Betts. „Sie haben etwas, das ich brauche.“ Betts schüttelte das Skalpell aus seinem linken Ärmel und fing es mit seiner unverletzten Hand auf. Als er nach vorn stürzte, blitzte die Klinge in der Sonne auf. Sein Angriff erfolgte schnell und brutal – binnen Sekunden war alles vorüber.
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Die Durchsuchung von Elaine Tanners Haus hatte drei Stunden gedauert, und seit ihrer Enthüllung, daß Gott ihren Sohn am Leben erhalten wolle, hatte die alte Frau währenddessen kein weiteres Wort mehr gesagt. Die Polizei war dabei, die Regale wieder einzuräumen. Mulder polterte die Treppe herunter und suchte nach seiner Partnerin. „Scully?“ Scully kam aus dem Wohnzimmer. „Haben Sie etwas gefunden?“ flüsterte sie. Mrs. Tanner saß in Hörweite, und Scully wollte nicht, daß sie etwas Wichtiges erfuhr und an ihren Sohn weiterleitete. „Keine Spur von ihm“, flüsterte Mulder zurück. „Nicht mal eine alte Socke. Nur das hier.“ Mulder zeigte ihr die Quittung eines U-Keep-It-Storage. „Ein Möbellager?“ „An seinem Schlüsselring befindet sich ein Schlüssel mit der eingravierten Nummer 112.“ Scully sah zur anderen Seite des Raums hinüber, wo Mrs. Tanner plötzlich den Kopf gedreht hatte und sie aufmerksam beobachtete. „Überprüfen wir’s.“ Durch eine Ritze in der geschlossenen Lagerhaustür fiel ein schmaler Lichtstrahl auf Leonard Betts’ Rücken und warf die Silhouette seines nackten Körpers an die Wand. Das matte Leuchten um seinen Kopf erhellte das Blut auf seinen Lippen. Seine Haut war von einem glänzenden Schweißfilm überzogen, seine Augen traten aus den Höhlen. Betts war vor Schmerz halb wahnsinnig. Er senkte den Kopf und kämpfte mit etwas in seinem Inneren. Es bewegte sich in seinem Unterleib, zerrte an seinen Muskeln, dehnte seine Haut. Das Knacken brechender Knochen erfüllte 55
den kleinen Raum. Seine Kehle blähte sich. Betts warf den Kopf in den Nacken und öffnete – einer Python ähnlich, die ein Schwein verspeist – seinen Mund so weit, wie es keinem normalen Menschen möglich war. Doch Betts versuchte nicht, etwas zu verschlingen. Er gebar etwas – er gebar einen neuen Leonard Betts. Während er schmerzgepeinigt schrie, bahnte sich der Klumpen in seiner Brust den Weg nach draußen, durch zerrissenes Fleisch und den gebrochenen Kiefer von Leonard Betts’ bisherigem Mund. Der alte Kopf fiel ab. An seinem Platz befand sich jetzt ein unfertiger Ersatz, bleich und konturenlos wie an dem Tag, als man ihn fast in seiner eigenen Badewanne überrascht hatte. Mulder steuerte den gemieteten Sedan an einem Schild mit der Aufschrift U-Keep-It-Storage vorbei und bog auf den Parkplatz des Lagerkomplexes, einer Ansammlung von Klinkerschuppen mit Metallrolladentüren. Er fuhr weiter, bis er die garagengroße Einheit mit der Nummer 112 über der Tür fand. Mulder hielt, und die Partner stiegen aus und näherten sich mit leisen Schritten dem Eingang. Gerade als Mulder den Schlüssel aus der Tasche nahm, bemerkte er es. „Scully!“ Sie folgte seiner Blickrichtung. Blut quoll durch den unteren Türspalt. Behende zog Scully ihre Pistole und ging neben der Tür in Deckung. Mulder griff ebenfalls nach seiner Waffe, bückte sich und schloß leise die Tür auf. Als er sie nach oben drückte, spürte er einen leichten Widerstand, und dann – fiel ihm eine Leiche entgegen. Der Mann schien Ende Vierzig zu sein und hatte einen langen, ergrauenden Bart. Noch bevor Scully die klaffende Wunde in der Brust des Mannes näher in Augenschein nehmen konnte, hörten sie aus der Lagereinheit 56
das Aufheulen eines Automotors. Mulder warf Scully einen kurzen Blick zu und schob die Tür vollends nach oben. Helles Tageslicht überflutete den Garagenboden, der von leeren Kunststoffbeuteln, Styroporkühlboxen und Organtransplantatbehältern übersät war. Ein paar Schritte weiter, im Hintergrund des Lagers, röhrte ein Pickup auf, und zum ersten Mal erhaschten Mulder und Scully einen Blick auf den lebenden Leonard Betts. Hinter das Lenkrad geduckt starrte Betts die beiden Agenten an, ließ den Motor aufheulen und drückte aufs Gaspedal. Mit quietschenden Reifen raste das Fahrzeug auf die Agenten zu. Mulder warf sich auf Scully und riß sie zur Seite, während der Truck den leblosen Körper des bärtigen Mannes überrollte. Als der Truck aus dem Schuppen schoß, zwang Betts das Lenkrad hart nach rechts und raste auf die Ausfahrt des Lagerkomplexes zu. Sofort waren Scully und Mulder wieder auf den Beinen. Mulder drückte ab, und das Fenster im Fond des Pickups zersplitterte. Scullys Kugel traf den Benzintank, und die Explosion erfolgte augenblicklich. Der Pickup wurde einen Meter in die Höhe geschleudert und landete dann wieder auf dem Boden – ein hell auflodernder Sarg für Leonard Betts.
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Die Leiche von John Gillnitz lag unter dem kalten Licht einer Autopsielampe in der Leichenhalle des Monongahela Hospitals. Bis auf die beiden FBI-Agenten befand sich niemand in der sterilen Gruft. Scully trug Autopsiekleidung und beugte sich über die Leiche, während sie Mulder über ihre Erkenntnisse informierte. Was sie bei der Untersuchung festgestellt hatte, beunruhigte sie. „Mr. John Gillnitz“, begann Scully. „Der Tod trat durch massiven Blutverlust nach einer – wie es scheint – äußerst professionell durchgeführten Entfernung seines linken Lungenflügels ein.“ „Betts“, erklärte Mulder nachdrücklich. „Warum sollte er das getan haben?“ „Ich bin mir da absolut sicher, Scully – dieser Mann hatte Lungenkrebs, und Leonard Betts brauchte dringend sein krankes Organ.“ Scully zog die Brauen zusammen. „Und woher konnte Betts das wissen?“ „Michele Wilkes erzählte mir, daß er die außergewöhnliche Fähigkeit hatte, Krebs per Augenschein zu diagnostizieren“, berichtete Mulder. „Vielleicht hat er eine Art sechsten Sinn entwickelt.“ Scully schüttelte den Kopf. „Er hat diesen Mann also kaltblütig ermordet. Aber warum? Um seinen Hunger zu stillen?“ „Nicht direkt seinen Hunger... Aber Betts war hinter speziellen Nährstoffen her. Möglicherweise hat die Regeneration all seine Reserven aufgezehrt und ihn zu dieser verzweifelten Maßnahme getrieben.“ Scully seufzte. Sie war es leid, mit Mulder über seine abstrusen Theorien zu streiten. Sie musterte Betts’ verkohlten 58
Leichnam, der neben Gillnitz’ sterblichen Überresten lag. Wie bei den Leichen anderer Brandopfer waren die Arme vor der Brust erhoben und die Hände zu Fäusten geballt, als hätte das Opfer seine letzten Momente damit verbracht, gegen die Flam men zu boxen. Der Körper selbst war eine Masse aus rotverschmortem Gewebe und geschwärzter Haut, die jedes Mal, wenn sie ihn bewegen mußten, fetzenweise am Autopsietisch kleben blieb. Sein ganzes Haar war verbrannt... obwohl sich Scully nicht des Eindrucks erwehren konnte, daß sein Kopf – und insbesondere sein Gesicht – erstaunlich unver sehrt waren. „Nun“, sagte sie schließlich, „was immer Betts auch vorhatte – er hat sein Geheimnis mit ins Grab genommen.“ „Ja, zum zweiten Mal“, brummte Mulder. Scully runzelte die Stirn. Mulders Tonfall deutete an, daß der Fall vielleicht doch noch nicht abgeschlossen war. „Mulder, Leonard Betts ist tot. Dessen bin ich mir absolut sicher. Und er wird nicht zurückkehren.“ „Das hätten Sie auch über Albert Tanner gesagt“, konterte Mulder. „Ich verstehe nicht.“ „Vor sechs Jahren wurde Albert Tanner bei einem Autounfall getötet und von seiner Mutter beerdigt. Vor mehreren Tagen taucht derselbe Mann als Leonard Betts wieder auf. Erklären Sie mir das.“ „Offensichtlich hat hier jemand gelogen“, erwiderte Scully gereizt, aber ohne ihre Stimme zu heben. „Oder der erste Tod war inszeniert.“ „Darauf können Sie wetten.“ Scully konnte sich nicht vorstellen, wie sie den Gewinner dieser Wette ermitteln sollten – doch der Ausdruck in Mulders Augen verriet ihr, daß er wieder einmal eine Idee hatte, die ihr ganz und gar nicht gefallen würde.
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Wenn man für das FBI arbeitete, genoß man unter anderem den Vorteil, die Mühlen der lokalen Bürokratie beschleunigen zu können, wenn man es eilig hatte. In diesem Fall hatte Mulder nur zwei Tage gebraucht, um von einem Richter die Genehmigung für das zu bekommen, was er vorhatte, und er hatte noch einen weiteren Tag harter Arbeit investiert, um dieses Vorhaben in die Tat umzusetzen. Scully verbrachte die meiste Zeit in ihrem Hotelzimmer, erledigte den Papierkram und gab die Ermittlungsergebnisse im Fall Leonard Betts – den sie für abgeschlossen hielt – in ihren Laptop ein. Scully wollte sich gerade die Lokalnachrichten ansehen, als Mulder sie anrief und bat, in die Leichenhalle des Monongahela Hospitals zu kommen. Sie traf Mulder und einen jungen gerichtsmedizinischen Assistenten neben einem schmutzverkrusteten Sarg an. Scully konnte kaum fassen, daß Mulder es wirklich getan hatte. Er hatte den Leichnam Albert Tanners exhumieren lassen! Außerdem hatte er dafür gesorgt, daß die sterblichen Überreste von Leonard Betts wieder auf einem der Autopsietische plaziert worden waren. Was er damit bezweckte, blieb Scully zunächst schleierhaft. Sie verfolgte, wie der Assistent Albert Tanners Sarg öffnete und dann Platz für die beiden Agenten machte. Scully trat näher. Die Leiche im Sarg, vor sechs Jahren bei einem Autounfall verbrannt, war in derselben Faustkampfhaltung erstarrt wie Leonard Betts – doch die Ähnlichkeit der beiden Körper war damit noch lange nicht erschöpft. Obwohl das Gesicht ebenfalls vom Feuer geschwärzt und leicht mumifiziert war, gehörte es eindeutig demselben Mann. Befriedigt bemerkte Mulder den verblüfften Ausdruck in Scullys Miene. „Würde der echte Leonard Betts bitte aufstehen?“ fragte er jovial. Doch Scully war nicht so leicht zu überzeugen. „Mulder, es könnte sich bei diesen beiden Männern auch nur um 60
monozygotische Zwillinge handeln.“ Mulder sah sie ernst an. Er hatte in den letzten drei Tagen sorgfältig nachgedacht. „Das denke ich nicht, Scully. Ich denke, daß das, was wir hier sehen, weit über die Regeneration eines Daumens oder Gliedes oder sogar eines neuen Kopfes hinausgeht.“ „Mulder!“ „Überlegen Sie doch mal“, forderte Mulder. „Wie entsteht Krebs, Scully?“ „Rapides und unkontrolliertes Zellwachstum führt zu Tumoren – einer Masse biologisch diffuser zellularer Materie.“ Mit dieser Antwort hatte Mulder gerechnet, und er nickte zustimmend. Er wollte lediglich, daß seine Partnerin bereits auf dem richtigen Weg war, wenn er ihr seine Theorie darlegte. „Also eine Art Regeneration“, faßte Mulder zusammen. „Eine asexuelle Reproduktion. Wäre das kein evolutionärer Vorteil?“ Doch Scully war noch immer nicht bereit, ihm diese Hypothese abzukaufen. „Mulder“, wandte sie ein, „was Sie beschreiben, ist im Grunde genommen prä-evolutionär. Reproduktion durch simple Zellteilung.“ „Ich habe ja nicht behauptet, daß es Spaß macht“, spottete Mulder. Scully warf die Hände in die Luft. „Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. Die Regeneration eines ganzen Körpers... Ich weiß nicht, warum ich mir das überhaupt anhöre.“ „Weil“, erwiderte Mulder und nagelte sie mit Blicken fest, „ich glaube, daß der Autounfall, bei dem dieser Mann starb, eine List war, ein Täuschungsmanöver. Und weil ich glaube, daß der Mann, der hier liegt, sich reproduziert hat und noch immer am Leben ist.“
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„Ich habe Angst, Schatz.“ Elaine Tanner drückte den Schwamm aus, den sie in der Hand hielt, und eine rötlich orangene Flüssigkeit tropfte heraus. Sie beugte sich über die mit Povidon-Jod gefüllte Badewanne und preßte den kühlen Schwamm gegen die lilienweiße Haut ihres einzigen Kindes. „Das FBI scheint alles über dich zu wissen“, setzte sie hinzu. Wieder tauchte sie den Schwamm in die Lösung und drückte ihn diesmal über dem Rücken ihres Sohnes aus. Er schauderte, sagte aber nichts. „Sie haben den Sarg ausgegraben. Sie haben deinen...“ Mrs. Tanner zögerte. Sie wußte nicht, wie sie es nennen sollte. „... deinen Freund gefunden“, sagte sie schließlich. Mrs. Tanner versuchte verzweifelt, ihrem Sohn zu beweisen, wie stark sie sein konnte. Ein Teil von ihr wollte weinen – um ihn, um sich selbst –, doch sie wußte, was sie zu tun hatte. Wenn Leonard spürte, daß sie sich ihrer Entscheidung nicht hundertprozentig sicher war, würde er nicht tun, was er tun mußte, um sein Überleben zu sichern. „Ich glaube nicht, daß sie dich von jetzt an in Ruhe lassen werden“, flüsterte Mrs. Tanner. „Am Haus fahren ständig Streifenwagen vorbei und kreisen um den Block. Ich glaube, sie beobachten uns auch in diesem Moment.“ Leonard regte sich in der kühlen Flüssigkeit. Er betrachtete seine Hände. Selbst mit Povidon würde es noch Tage dauern, bis ihm Fingernägel wuchsen – Wochen, bis er Fingerabdrücke hinterließ. In diesem Stadium der Regeneration war seine Haut konturenlos. Leonard hörte seiner Mutter zu. Sie war der einzige Mensch auf Erden, dem er trauen konnte. „Du bist schwach, Leonard. Du mußt erst wieder zu Kräften kommen.“ Mrs. Tanner wartete einen Augenblick und ließ ihre Worte wirken. „Du weißt, was du zu tun hast“, setzte sie dann 62
nach. Leonard schwieg und schüttelte nur den Kopf. Er wollte nicht tun, was sie verlangte, er wollte es nicht einmal hören. Aber, so dachte er, es gibt keinen anderen Ausweg. Mrs. Tanner rang sich ein Lächeln ab. „Du hast eine Aufgabe zu erfüllen, und du mußt weiterleben“, fuhr sie fort, während sie mit dem Schwamm über den haarlosen Schädel ihres Sohnes fuhr. Er blickte zu ihr auf. Seine Augen waren bis auf zwei winzige rosafarbene Pupillen weiß, und obwohl sich seine Gesichtszüge – Ohren, Nase, Mund – nur erahnen ließen, sah sie den Sohn vor sich, den sie liebte. „Ich bin deine Mutter“, erinnerte sie ihn, „und es ist die Pflicht einer Mutter, ihrem Sohn zu helfen.“ Leonard Betts konnte die fürsorglichen Blicke seiner Mutter nicht länger ertragen. Er wandte sich ab und erhaschte im glänzenden Metall des Wasserhahns sein unförmiges Spie gelbild, das einen Ausdruck unendlicher Traurigkeit hatte. Einen halben Block weit von Elaine Tanners Haus entfernt saßen Mulder und Scully in ihrem gemieteten Sedan. Mulder hatte angeboten, das Haus allein zu überwachen – er wußte, daß seine Partnerin es für sinnlos hielt –, doch Scully hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten. Mulder argwöhnte, daß sie dabei sein wollte, wenn sich seine Theorien als falsch erwiesen. Trotz der eintönig verrinnenden Zeit behielt Mulder das Haus stur im Auge. Er war sicher, daß Leonard Betts – wenn er denn noch am Leben war – nicht direkt durch die Vordertür spazieren würde, und so konzentrierte er sich auf die Fenster und die Schatten. Er verfolgte aufmerksam, wie die Lichter anund wieder ausgingen. Er berechnete die dazwischenliegende Zeit und achtete auf alle Hinweise, die auf die Anwesenheit einer weiteren Person im Haus hindeuten könnten. Scully trank einen Schluck Kaffee und warf Mulder einen 63
Blick zu. „Selbst wenn dieser Mann existiert, wieso sollte er dann ausgerechnet hierhin zurückkommen?“ Natürlich gehörte es zu den ehernen Gesetzen der Verbrechensbekämpfung, daß ein Verbrecher stets an den vertrauten Ort zurückkehrte, aber Scully fragte sich, ob vielleicht noch mehr hinter Mulders Beharren steckte, das Haus zu überwachen. Mulder zuckte die Achseln. „Er geht wahrscheinlich davon aus, daß er in den Augen des FBI tot ist. Und Betts’ einzige Vertrauensperson ist seine Mutter. Wenn wir ihn überhaupt noch einmal finden, dann durch sie.“ Scully akzeptierte seine Erklärung für die Überwachungsaktion, doch die dahinterstehende Hypothese, daß sich Betts auf irgendeine Weise einen völlig neuen Körper regeneriert haben sollte, erfüllte sie nach wie vor mit äußerstem Widerwillen. Die nächsten dreißig Minuten schwiegen sie. Im Laufe ihrer Dienstzeit hatte Scully zwar gelernt, sich nicht mehr über Einsätze wie diese zu beklagen, sie hatte sich jedoch nicht einreden können, daß Überwachungsaktionen aufregend waren. In diesem Augenblick wurde die Stille der Nacht von einer fernen, immer näherkommenden Sirene zerrissen. Scully blickte zu Mulder hinüber und erkannte, daß auch er nicht wußte, was das zu bedeuten hatte. Plötzlich schlingerte ein Krankenwagen des Allegheny Catholic Hospitals mit heulender Sirene um die nächste Ecke und blendete die beiden FBI-Agenten für einen kurzen Moment mit seinen Scheinwerfern. Während der Krankenwagen direkt auf Elaine Tanners Haus zuraste, warf sein flackerndes Blaulicht verrückt tanzende Schatten auf die Wände der alten Häuser. Mulder war als erster aus dem Auto, dicht gefolgt von Scully. Beide hatten ihre Waffen gezogen und rannten auf das Fahrzeug zu. Krankenwagen bedeuteten Leonard Betts. Mulder stellte sich vor den heranrasenden Krankenwagen, der 64
nur fünf Meter vor ihm zum Halten kam. Er nahm eine Schußposition ein – Beine auseinander, Knie gebeugt, beide Hände an seiner Pistole. Da die Scheinwerfer des Krankenwagens verhinderten, daß er hinter der Windschutzscheibe mehr als nur Schemen sehen konnte, zielte er direkt auf das Lenkrad. „Raus aus dem Wagen!“ bellte er. Scully näherte sich aus einem etwas anderen Winkel. Sie konnte zwei Gestalten im Wagen erkennen. „Hände hoch!“ befahl sie und hob ebenfalls demonstrativ ihre Waffe. Doch die Personen in dem Krankenwagen reagierten nicht schnell genug für Mulder. „RAUS AUS DEM WAGEN!“ wiederholte er drohend. Der Fahrer stieg zuerst aus, und obwohl Scully nicht viel sehen konnte, bemerkte sie, daß er kahlköpfig war und etwa dieselbe Größe wie Leonard hatte. „He, he“, begann der Mann mit erhobenen Händen. „Was zum Teufel...?“ Mit zaudernden Schritten ging der Fahrer auf Mulder zu. Scully umklammerte ihre Pistole fester, bereit, das Ziel bei der ersten feindlichen Bewegung auszuschalten – doch als der Mann in den Strahl der Scheinwerfer trat, erkannte sie, daß es nicht Betts war. Sie entspannte sich ein wenig. Als nächstes registrierte sie, daß der zweite Rettungssanitäter, der mittlerweile aus der Beifahrertür gestiegen war, eine hispanische Frau war. „Was machen Sie hier?“ fragte Scully, ohne ihre Pistole zu senken. „W-w-wir haben einen Notruf erhalten“, stotterte die Sanitäterin. Sie zeigte Scully ihre offenen Handflächen. „Eine ältere Frau mit einem Brusttrauma und Blutverlust. 3108 Old Bank Road.“ Die Rettungssanitäterin warf dem Fahrer einen nervösen Blick zu. Sie hatte Angst um ihr Leben, aber auch um das der 65
Frau im Inneren des Hauses. „Das ist alles, was wir wissen“, fügte der Fahrer hinzu. Scully glaubte ihm. „Bleiben Sie hier“, befahl sie. Mehr brauchte Scully nicht zu sagen; ihr Partner hatte schon verstanden. Gemeinsam machten sie kehrt und spurteten den Bürgersteig entlang zum Haus. Mulder sprang über einen niedrigen Gartenzaun und war mit einem einzigen Satz die Verandatreppe hinauf. Er trat die Vordertür des dunklen Hauses auf und stürzte mit der Waffe im Anschlag ins Wohnzimmer, während Scully ihm den Rücken deckte. Als er sah, daß der Raum leer war, wandte sich Mulder zu seiner Partnerin um – und innerhalb weniger Sekunden hatten sie sich blickweise über das weitere Vorgehen verständigt: Mulder steuerte die Küche im hinteren Teil des Hauses an, während Scully vorsichtig die Treppe hinaufstieg. Schon im nächsten Augenblick schob sich Mulder durch die Schwingtür von Elaine Tanners Küche. Er hatte das unbehagliche Gefühl, geradewegs in eine Falle zu tappen, diese Empfindung verblaßte allerdings angesichts der Tatsache, daß hier irgendwo eine Frau war, die ärztliche Hilfe brauchte. Während er auf Zehenspitzen über den knarrenden Linoleumboden schlich, horchte er angestrengt auf irgendein verräterisches Geräusch, doch er konnte nur Scullys leichtfüßige Schritte auf dem Boden über ihm hören. Oben wurde Scully von einem ähnlichen Gefühl beschlichen – daß hinter jeder Tür, die sie öffnete, ein Mörder lauern konnte. Ein Mörder, sicher. Aber Leonard Betts – der Mann, an dem sie zwei Autopsien vorgenommen hatte? Ihr Verstand sagte ihr, daß es unmöglich war, doch dies war nur ein kleiner Trost im Vergleich zu der Angst, die mit fast greifbarer Macht an ihren Nerven zerrte. Scully hatte die Türen zum Bade- und Schlafzimmer aufgestoßen; jetzt war es nur noch ein Raum, den sie überprüfen mußte. Sie hielt die Smith & Wesson hoch, drehte den Türknauf mit der freien linken 66
Hand und drückte. Vor ihr auf dem Bett lag der Grund für die Anforderung des Krankenwagens. Scully senkte ihre Waffe. „Mulder!“ rief sie die Treppe hinunter. „Holen Sie die Sanitäter!“ In irgendeinem fernen Winkel ihres Bewußtseins nahm sie vage wahr, wie Mulder auf die Veranda rannte und die Rettungssanitäter alarmierte, aber ihre Aufmerksamkeit war jetzt ganz auf Elaine Tanner gerichtet. Die alte Frau lag bewußtlos auf der Bettdecke. Eine Wunde in ihrer Brust in Höhe des Brustbeins war fachmännisch mit einem Druckverband verarztet worden, doch das Blut sickerte bereits durch die Bandage. Scully beugte sich über die alte Frau. Als sie den Verband vorsichtig anhob, hörte sie, daß Mulder hinter ihr den Raum betrat. Beim Anblick der blutigen Öffnung in Elaine Tanners Brust schnitt sie unwillkürlich eine Grimasse. „Sie hat eine offene Wunde“, erklärte sie. Scully sah ihren Partner an, der nicht im mindesten überrascht zu sein schien, und fügte hinzu: „Ein chirurgischer Schnitt.“ Mulder biß die Zähne aufeinander. „Dreimal dürfen Sie raten, was entfernt worden ist...“ Die Rettungssanitäter stürmten ins Zimmer, und Scully trat zurück, um ihnen Platz zu machen. Die Folgerungen aus dieser offensichtlichen Heimoperation bestätigten Mulders wilde Theorie – daß Leonard Betts irgendwo dort draußen war und daß er diesen Eingriff vorgenommen hatte. Mulder war außer sich, daß es direkt vor ihrer Nase geschehen war. „Er hat ihr das angetan“, schäumte er, „und dann einen Krankenwagen gerufen.“ „Nach der Ankunftszeit zu urteilen, könnte er immer noch hier sein“, schlußfolgerte Scully. Mulder reagierte sofort und verließ das Schlafzimmer, um die Durchsuchung des Hauses fortzusetzen. Scully wandte sich wieder dem Bett zu, wo die Rettungssanitäter Elaine Tanner 67
behandelten. Im stillen fragte sie sich, ob Leonard ihr das wirklich angetan hatte, oder ob es nicht vielmehr ein Opfer war, das Mrs. Tanner für ihren geliebten Sohn dargebracht hatte.
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Fünf Minuten später hoben die Rettungssanitäter die Trage mit Elaine Tanner hoch und brachten sie zum leeren Krankenwagen, wo Scully Wache hielt. Nachdem Scully die Sanitäter davon überzeugt hatte, daß sie ausgebildete Ärztin war, überprüfte sie Mrs. Tanners Lebenszeichen. In diesem Moment kehrte Mulder im Laufschritt zurück. Seine Suche war vergeblich gewesen. „Betts ist weg, Scully. Er muß zu Fuß geflohen sein.“ Scully deutete auf Mrs. Tanner. „Sie wird es schaffen, Mulder“, sagte sie leise. „Sie ist zwar noch nicht über den Berg, aber vielleicht kann sie uns verraten, wohin er verschwunden ist.“ Mulder verarbeitete diese Information und entwickelte einen Plan. „Sie bleiben bei ihr, Scully.“ Mulder griff in seine Jackentasche und zog sein Handy heraus. „Ich rufe das örtliche Polizeirevier an und lasse die Umgebung absperren.“ „Okay“, nickte Scully. Sie stieg in den Fond des Krankenwagens und setzte sich zu der Rettungssanitäterin. Beide Frauen griffen nach je einem Flügel der Doppeltür und schlugen sie zu. Die Sanitäterin rief dem Fahrer zu, er solle Gas geben, und der Wagen raste los. Die Sirene heulte auf, als Mulder die Einsatzzentrale der Polizei erreichte, und er mußte sein Ohr abdecken, um den Operator zu verstehen. „Hier ist Agent Mulder vom FBI.“ Er wartete auf die Bestätigung des Operators und fuhr fort: „Ich habe hier einen Notfall und brauche alle verfügbaren Einheiten in der 3108 Old Bank Road. Ich suche nach einem Mordverdächtigen.“ Der Krankenwagen schoß durch die Vorstadtstraßen von Pittsburgh, während Scully und die Sanitäterin Elaine Tanners 69
Herzfrequenz überwachten. Was sie sahen, gefiel ihnen nicht. Um 4.20 Uhr erreichte der Fahrer den Eingang der Notaufnahme des Allegheny Catholic Hospitals und hielt vor dem einzigen erleuchteten Teil des Gebäudes. Er sprang aus dem Wagen, lief zur Rückseite des Fahrzeugs und riß die Doppeltür auf. Seine Partnerin hatte bereits die Räder der Trage entriegelt und die Patientin für den Transport vorbereitet. Mit geübten Bewegungen zog das Paar Mrs. Tanner aus dem Krankenwagen und rollte die Patientin vorsichtig durch den Krankenhauseingang. Scully blieb im Fond des Krankenwagens sitzen und bewunderte ihre Effizienz, dann griff sie nach ihrem Handy, um Mulder Bericht zu erstatten. Er nahm beim ersten Klingelzeichen ab. „Mulder, ich bin’s.“ Ihr Atem war in der frostigen Nacht sichtbar. „Mrs. Tanner ist auf dem Weg in die Notaufnahme, aber sie hat während der Fahrt einen Herzstillstand erlitten. Sie wurde defibrilliert, und ihr Herz schlägt wieder, aber es besteht keine Chance, irgend etwas Zusammenhängendes aus ihr herauszubekommen – nicht heute nacht. Wie sieht’s bei Ihnen aus?“ Während er zuhörte, ging Mulder die Old Bank Road hinunter. Drei Streifenwagen parkten am Straßenrand, und ihre flackernden Blaulichter tanzten über die Hauswände, während uniformierte Officers von Tür zu Tür gingen. „Wir überprüfen gerade jedes Haus, Scully“, erklärte Mulder. „Ich weiß nicht, was wir sonst tun können...“ In der Zwischenzeit stieg Scully von der hinteren Stoßstange des Krankenwagens, das Handy immer noch fest an ihr Ohr gedrückt. Sie beobachtete, wie im Krankenhaus ein Notarzt zu den beiden Rettungssanitätern trat und die Patientin übernahm. Scully wollte ihnen gerade folgen, als sie plötzlich spürte, wie etwas ihren Kopf traf. Sie blieb stehen und griff nach ihren Haaren. „Wir haben einen County-Hubschrauber angefordert“, fuhr 70
Mulder fort, „aber bis der eintrifft, ist Betts wahrscheinlich schon entkommen.“ Scully musterte ihre Fingerspitzen. Sie waren feucht. Benetzt von einer rötlich-orangen Flüssigkeit. Scully atmete tief ein, fuhr herum und sah ein dünnes Rinnsal aus Povidon-Jod vom Dach des Krankenwagens laufen. An der Stelle, wo das Rinnsal die Oberkante der Doppeltür erreichte, tropfte es zäh und in einzelnen Tropfen auf das Pflaster. Noch immer drang Mulders Stimme an ihr Ohr. „Wenn er es geschafft hat, von einem Wagen mitgenommen zu werden oder ein Auto zu stehlen, sehen wir ihn vermutlich nie wieder, aber offenbar war sein Plan von langer Hand vorbe reitet. Wenn Sie irgend etwas aus Mrs. Tanner herausbekommen könnten – selbst wenn es nur eine Kleinigkeit ist...“ Scullys gepreßtes Flüstern unterbrach ihn. „Mulder, kommen Sie her!“ „Was?“ „Kommen Sie sofort her!“ Mulder stellte keine weiteren Fragen. Er beendete das Gespräch und rannte zu seinem Mietwagen. Vor dem Krankenhaus steckte Scully ihr Handy ein. Sie zog ihre Pistole und kletterte leise auf die hintere Stoßstange zurück. Dann benutzte sie den Türgriff als Fußstütze und han gelte vorsichtig nach oben, um einen Blick auf das Dach des Fahrzeugs zu werfen, wobei sie ihre Pistole schußbereit hielt. Als sie ihren Kopf über die Dachkante schob, fand sie ihren Verdacht bestätigt: Kleine Pfützen Povidon-Jod und zwei rötlich-braune Handabdrücke waren auf dem hellen Lack des Wagens deutlich sichtbar. Scully wollte soeben wieder hinunterklettern, als jemand ihren Fuß packte und vom Türgriff riß. Scully stürzte rücklings in die Tiefe – doch sie landete nicht auf dem Boden. Die 71
Person, die ihren Fuß gepackt hatte, hielt jetzt ihre Hüften umklammert und schleuderte sie in den Fond des Krankenwagens. Scully prallte gegen einen Medizinschrank, der durch die Erschütterung aufsprang. Verbandsmull, Spritzen und Alkoholflaschen aus Plastik fielen heraus. Instinktiv rappelte sich Scully wieder auf, riß mit einer Drehung ihre Waffe hoch und zielte auf den Angreifer. Es war Leonard Betts. Oder zumindest eine Version von Betts. Er trug die Uniform des Rettungsdienstes, doch sein unförmiges Gesicht hatte er nicht verbergen können: Seine Züge schienen von einer grausig aussehenden Schicht Mutantenfleisch bedeckt zu sein. Sie zögerte einen Moment, bevor sie schoß – und diese Sekunde reichte, damit ihr Betts die Pistole mit dem Rücken seiner bläßlich weißen Hand aus den Fingern schlagen konnte. Betts hob die Waffe auf, warf sie aus dem Krankenwagen und versetzte Scully einen so kräftigen Stoß, daß sie nach hinten kippte und hart mit dem Kopf gegen die Rücklehne des Fahrersitzes prallte. Benommen blickte sie auf und mußte hilflos mit ansehen, wie Betts die hinteren Türen zuschlug. Sie war gefangen. In dem engen Raum konnte sie das Povidon auf seiner Haut riechen. Dann hielt Betts etwas hoch. Scullys Augen brauchten einen Moment, um sich an die Dun kelheit des Krankenwagens zu gewöhnen, doch als er sich zu ihr umwandte und den Gegenstand ins Licht hielt, erkannte Scully, um was es sich handelte – ein Skalpell. Betts zögerte einen Moment und starrte auf sie hinunter. „Es tut mir leid“, sagte er dann zu Scully, „aber Sie haben etwas, das ich brauche.“ Scully sah ihm in die Augen. Seine Worte und die möglichen Folgerungen, die sich daraus ergaben, machten ihr angst. Sie hatte den seltsamen Eindruck, daß er es ehrlich meinte – daß das, was er tun würde, ihm tatsächlich leid tat. Doch sie hatte keine Zeit, genauer darüber nachzudenken. Betts stürzte sich 72
auf sie und zielte mit dem Skalpell direkt auf ihre Brust. Scully gelang es, den Angriff abzublocken, Betts’ Waffenarm mit ihrer linken Hand zu packen und die Klinge mit ihrem rechten Unterarm abzuwehren. Er zog seinen Arm zurück und stach wieder auf sie ein, doch Scully wehrte die Klinge erneut ab, diesmal mit ihrem linken Arm. Gleichzeitig holte sie mit ihrer freien Hand aus und versetzte Betts einen Kinnhaken, der ihn ins Taumeln brachte. Während er schwankte, verpaßte ihm Scully einen Fußtritt gegen die Brust, der ihn noch weiter zurückweichen ließ. Jetzt konnte sie sich hochrappeln, doch kaum war sie auf den Beinen, stürzte sich Betts erneut auf sie. Diesmal war Scully auf den Angriff vorbereitet. Sie trat mit aller Kraft zu und trieb ihren Absatz in Betts’ Achselhöhle. Er stolperte zurück. Scullys zweiter Tritt traf ihn vor die Brust, und ein leises Knacken verriet ihr, daß sie seine Rippen gebrochen hatte. Die Wucht des Trittes schmetterte Betts gegen die hintere Tür des Krankenwagens, wobei seine Hand mit dem Skalpell das Fenster durchstieß. Glas splitterte. Während Betts heulte und auf seinen aufgeschlitzten Arm starrte, witterte Scully die Chance, ihn endgültig zu erledigen. Doch als sie auf ihn losging, wirbelte Betts unerwartet herum und verpaßte ihr einen Schwinger, der Scully von den Beinen riß. Blut tropfte aus einer Platzwunde über ihrem Auge. Scully rollte so weit von Betts weg, wie es der enge Laderaum des Krankenwagens erlaubte. Sie drehte sich und keuchte entsetzt auf, als Betts seinen Arm durch das zerschmetterte Fenster hereinzog. Aus einem Dutzend Schnittwunden sprudelte Blut. Schmerzgepeinigt sank Betts auf die Knie und hielt sich den blutenden Arm, aber Scully sah, daß er das Skalpell noch immer umklammert hielt. Fieberhaft blickte sie sich um und suchte auf den Regalen nach einer Waffe – einem anderen Skalpell, einer großen Spritze, einer Knochensäge, irgend etwas. Was sie neben sich auf dem Boden fand, hätte sie amüsiert, wenn es nicht um ihr Leben gegangen wäre – es war 73
schwerlich als Waffe zu bezeichnen. Sie schaltete die kleine, eckige Einheit ein. Die Maschine summte, und Scully schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel, daß sie sich schnell genug aufladen würde. Betts stemmte sich taumelnd hoch. Unvermittelt schien er sich wieder an sein Vorhaben zu erinnern. Er stürzte durch den Krankenwagen auf Scully zu und zielte mit der Klinge auf ihren Hals. Doch Scully war vorbereitet. Sie fing den Aufprall seines Körpers mit den Fußsohlen ab, stieß ihn aber nicht zurück, sondern ließ ihn näherkommen, bis sich ihre Gesichter fast berührten. Als er erneut mit dem Skalpell nach ihrer Kehle stieß, hob Scully die beiden Defibrillator-Pole und preßte sie gegen Betts’ Schläfen. Mit einem lauten Knattern zischten dreihundert Joules Elektrizität durch Betts’ Schädel und schleuderten ihn rücklings durch die Doppeltür des Krankenwagens. Wie eine schlaffe Puppe schlug er auf dem Pflaster vor dem Eingang zur Notaufnahme auf. Scully hörte das Heulen näherkommender Polizeisirenen. Sie setzte sich auf, die Defibrillator-Pole entglitten ihren Händen. Keuchend starrte sie auf Betts’ reglose Gestalt. Sie ließ ihn auch nicht aus den Augen, als zwei Rettungssanitäter und ein Wachmann aus dem Gebäude stürmten und die Leiche umringten. Was hatte er noch gleich gesagt? Sie haben etwas, das ich brauche.
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Die elektrischen Türen des Eingangs zur Notaufnahme zischten, als Mulder das Gebäude verließ, um seine Partnerin zu suchen. Er überquerte den Parkplatz des Krankenhauses, der jetzt von den flackernden Blaulichtern mehrerer Streifenwagen erhellt war. Uniformierte Officers liefen umher und sicherten den Ort des Geschehens. Mulder fand Scully auf dem Beifahrersitz des Sedans. Er bemerkte den abwesenden Ausdruck in ihren Augen. Mulder hatte Scully gedrängt, sich ärztlich untersuchen zu lassen, und der Schmetterlingsverband an ihrer Stirnwunde würde wahr scheinlich verhindern, daß eine Narbe zurückblieb. Scully blickte auf, als er an den Wagen trat. Sie brauchte ihre Frage nicht laut zu stellen. „Sie haben Betts vor zehn Minuten für tot erklärt“, bestätigte Mulder. „Er ist wirklich tot?“ Mulder nickte knapp. Er wußte nicht genau, wie er die Antwort formulieren sollte. „Soweit sich das sagen läßt.“ Er konnte erkennen, daß die Nachricht Scully erleichterte, was ganz und gar nicht zu ihr paßte. Normalerweise zog sie es vor, wenn die Täter hinter Gittern und nicht auf dem Friedhof landeten. Mulder entschloß sich, mit etwas weniger düsteren Informationen fortzufahren. „Aber seine Mutter lebt. Hauptsächlich weil Betts die Wunde sorgfältig verbunden hat. Sie wird durchkommen... zumindest im Moment.“ Die Pause vor Mulders letztem Halbsatz beunruhigte Scully. Sie bedeutete, daß Mrs. Tanner nicht mehr lange zu leben hatte, selbst wenn sie die ,Operation’, die ihr Sohn an ihr vorgenommen hatte, überstehen sollte. Scully glaubte den Grund dafür zu kennen. 75
„Krebs?“ fragte sie. Mulder nickte und warf einen Blick in sein Notizbuch. „Metastasisches Rhabdomyosarkom, um genau zu sein. Sie befand sich bereits in entsprechender Behandlung. Vor drei Monaten hat man sie als gesund entlassen.“ Scully ließ die Informationen auf sich wirken und erinnerte sich, was Mulder aus der Aussage von Michele Wilkes gefolgert hatte – Betts verfüge über die außergewöhnliche Fähigkeit, Krebs per Augenschein zu diagnostizieren. Mulder hatte sogar spekuliert, daß er eine Art sechsten Sinn dafür habe. Damals hatte sie die Theorie im besten Fall für weit hergeholt gehalten. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Zuviel war passiert. Zuviel von dem, was Mulder vorhergesagt hatte, war eingetreten. Mulder spürte, daß seine Partnerin bedrückt war, und nahm an, daß es mit dem Tod von Betts zusammenhing. „Sie haben richtig gehandelt, Scully“, sagte er aufmunternd lächelnd. „Sie sollten stolz auf sich sein.“ Scully hob den Kopf und starrte Mulder an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Sie wußte seine Freundlichkeit zu schätzen, konnte sich aber kein Lächeln abringen. Für einen Moment war sie versucht, Mulder von dem zu erzählen, was Betts zu ihr gesagt hatte, und sie fragte sich, ob er nicht sogar von selbst darauf kommen würde. Er hatte die Berichte gelesen. Stellte er sich bereits dieselben Fragen, die Scully nicht mehr aus dem Kopf gingen? Warum hatte Betts Scully mit einem Skalpell angegriffen? Warum hatte er nicht ihre Dienstwaffe benutzt, als er die Chance dazu gehabt hatte? Was war das Motiv für seinen Angriff? Schließlich war ihm bereits die Flucht vom Tatort geglückt. Warum hatte er dieses Risiko auf sich genommen? Für Scully gab es nur eine logische Antwort, und sie erschreckte sie zu Tode. Als Scully schließlich sprach, hoffte sie, daß sie nur erschöpft klang. „Mulder“, sagte sie mit bebender Stimme, „ich will nach 76
Hause.“ Mulder nickte und verzichtete auf weitere Fragen. Wenn sie dazu bereit war, würde sie ihm schon erzählen, was sie belastete. Sacht schloß er die Beifahrertür des Mietwagens, ging um das Fahrzeug herum und nahm hinter dem Lenkrad Platz. Als sie den Parkplatz verließen, sah Scully im Rückspiegel, wie das Krankenhaus langsam kleiner wurde. Der einzige Schlaf, den Scully in den nächsten sechzehn Stunden fand, war ein unruhiges Nickerchen an Bord des Flugzeugs. Sie ging wieder zur Arbeit, obwohl dies weder erwartet noch verlangt wurde. Aus irgendwelchen Gründen war der Papierkram verlockender als die Aussicht, allein in ihrem leeren Apartment herumzusitzen. Bevor sie ihren Abschlußbericht zum Fall Leonard Betts schließlich abgab, hatte sie ihn lange und durchdringend angestarrt und sich gefragt, warum sie es vorzog, jene Worte zu unterschlagen, die Betts im Fond des Krankenwagens zu ihr gesagt hatte. Sie hatten nichts zu bedeuten – auf dem Weg nach Hause wiederholte sie diesen Satz wie ein stummes Gebet, wieder und immer wieder. Als die Nachrichten der lokalen Fernsehstation zu Ende waren, ging Scully zu Bett. Sie stellte den Wecker auf acht Uhr, obwohl sie wußte, daß Mulder bereits den Großteil der Washington Post gelesen haben würde, wenn sie am nächsten Morgen ins Büro kam. Als Scully erwachte, stand die Leuchtanzeige der Digitaluhr auf 2:08. Sie blieb ein paar Minuten im Bett liegen und wurde dann von einem Hustenanfall durchgeschüttelt. Zum scheinbar hundertsten Mal in dieser Nacht drehte sie sich auf die Seite und knipste die Nachttischlampe an. Vielleicht war es besser, wenn sie ein wenig las. Nachdem sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, bemerkte Scully etwas auf dem Kissen. Bluttropfen. 77
Sie streckte die Hand aus, rieb über den Kissenbezug und starrte das frische Blut an ihrem Finger an. Als sie sich nach vorn beugte, spürte sie etwas Warmes auf ihren Lippen. Sie berührte ihren Mund und entdeckte, daß Blut aus ihrer Nase lief. Dana Scully mußte nicht in einem der vielen medizinischen Fachbücher nachschlagen, die die Regale ihres Apartments füllten. Sie kannte die Symptome. Dies waren die ersten Anzei chen von Krebs.
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