Edgar Wüpper
Indianergeschichten Zeichnungen von Charlotte Panowsky
Loewe
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Edgar Wüpper
Indianergeschichten Zeichnungen von Charlotte Panowsky
Loewe
Dieses Buch ist auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. ISBN 3-7855-2793-4 - 5. Auflage 1999 © 1996 Loewe Verlag GmbH, Bindlach In anderer Ausstattung 1991 erstmals im Loewe Verlag erschienen Umschlagillustration: Charlotte Panowsky
Inhalt Der Große Fluss ........................................ 6 Bruder Büffel..........................................14 Die Geschichte von der Grille ................22 Yoni spricht mit den Pflanzen ................28 Das Verschenkfest.................................. 37 Der weiße Mann....................................... 43 Wakan tanka, der Große Geist. ............. 50
Der Große Fluss Sanft schüttelt ein kühler Morgenwind das Büffelgras der Prärie. In Tautropfen glitzern und blitzen die ersten Sonnenstrahlen. Nicht weit vom Fluss, zwischen den Hügeln, stehen in mehreren Kreisen bunt bemalte Indianerzelte, die Tipis. Es ist ein Lager der Ikce Wicasa, die von den Weißen Sioux genannt werden. Zwischen den Zelten herrscht noch Ruhe. Nur ein paar Hunde streichen umher und die angepflockten Ponys grasen gemütlich am Hang. Da wird ganz vorsichtig die Decke eines Zelteinganges zur Seite geschlagen und zwei Indianerjungen, Catinga und Chara, kriechen heraus. Sie schleichen auf leisen Sohlen durchs Lager. Kurz vorm Hang, dort oben, wo die Pferde weiden, schrecken sie plötzlich zusammen. Ein Schatten taucht hinter einem Zelt auf. „Wo wollt ihr denn so früh hin?", lacht Tashunka, ein älterer Indianerjunge.
„Wir wollen über den Großen Fluss!", sagt Catinga. Tashunka muss wieder lachen. „Ihr Verrückten! Es hat tagelang geregnet, der Große Fluss ist über die Ufer getreten! Das schafft ihr nicht!" Aber die beiden Jungen hören schon nicht mehr. Längst hat sie das hohe Büffelgras verschluckt. Vögel zwitschern und von den blumen-übersäten Hügeln weht ein kühler, süßer Duft herüber. Catinga und Chara scheuchen Präriehühner auf, die laut schimpfend mit schwerem Flügelschlag flüchten. Es ist ein sehr schöner Frühlingsmorgen. Das fette, sattgrüne Büffelgras glänzt in der Sonne. Und da sehen sie auch schon den Fluss. Träge schiebt er braungraue Wassermassen durchs Tal. Die Stämme der Uferpappeln und Weiden stehen wie Stangen im Wasser. Selbst am Steilufer, dort, wo der Fluss einen leichten Bogen macht, sind die Fluten fast bis an den Rand gestiegen.
Dahin gehen die beiden Jungen. Sie hocken sich auf die Erde und überlegen. Catinga nimmt einige flache Kieselsteine und lässt sie übers Wasser tanzen. Nach einer Weile fragt Chara: „Versuchen wir's?" Catinga nickt. „Am besten dort drüben, zwischen den Pappeln!" Sie waten langsam ins seichte Wasser. In Höhe der Pappelstämme bekommt der Fluss langsam Fahrt und sie müssen sich am Gestrüpp festhalten.
Auf einmal reißt es Catinga die Beine weg. Prustend taucht er wieder auf und kann sich an einem Ast festklammern. „Versuchen wir's lieber etwas weiter oben!", schlägt Chara vor. Langsam kämpfen sie sich Schritt für Schritt vorwärts. Chara hat die Führung übernommen. Doch plötzlich verliert er den Boden unter den Füßen. Er schlägt um sich und rudert mit den Armen. Aber schon hat ihn die Strömung mitgerissen. Alles geht rasend schnell! Catinga sieht gerade noch den Kopf seines Freundes, dann verdecken Pappeläste ihm die Sicht. Catinga watet, so schnell er kann, ans Ufer zurück. Dann läuft er flussabwärts zum Steilufer. Plötzlich hat er Angst. Aufgeregt starrt er in die Fluten. Er sieht etwas Dunkles. Aber es ist nur ein Baumstamm, der im Wasser treibt. Am Steilufer angekommen, brüllt Catinga den Namen seines Freundes. Immer wieder.
Da unten, am Ast eines weit ins Wasser ragenden Baumes, sieht er ihn. „Warte!", ruft er, springt ins Wasser und reißt seinen Gürtel herunter. Aber schon wird die Strömung so stark, dass sich Catinga kaum auf den Beinen halten kann. Er will Chara seinen Gürtel zuwerfen, als Rettungsleine. Zu kurz! Er sieht sich um. Schnell rudert er zu einem großen Busch und bricht einen langen Ast ab. Damit kann er ihn erreichen. Langsam zieht er den Freund zu sich heran. Schließlich hat auch Chara festen Boden unter den Füßen. Zitternd und keuchend erreichen die beiden das Steilufer. Erschöpft werfen sie sich auf den Rücken und lassen sich von der Sonne trocknen. Chara hat Schrammen an Armen und Beinen, aber sonst ist alles in Ordnung. Die beiden Indianerjungen liegen noch lange am Ufer. Erst gegen Abend kehren sie ins Lager zurück. Tashunka möchten sie nicht unbedingt
treffen. Aber kaum sind sie an den ersten Zelten vorbei, laufen sie ihm und Großvater Matho direkt in die Arme. Schnell wollen sie sich vorbeidrücken. „Na, ihr zwei, habt ihr den Großen Fluss besiegt?", grinst Tashunka schadenfroh, als er die Schrammen an Charas Körper sieht.
„Den Großen Fluss kann man nicht besiegen!", sagt da der Großvater. „An vielen Tagen gestattet er das Durchwaten, an manchen nicht. Das sagt der Fluss den Menschen. Und ...", er zwinkert den beiden Jungen zu, „heute hat er zu euch gesprochen!"
Bruder Büffel Eine braungraue Staubwolke weht mit Pferd und Reiter ins Indianerlager. Schon dröhnen die Trommeln. Kinder kreischen vor Freude und Stimmen schwirren durcheinander. Der Bote hat gute Nachrichten gebracht: Nicht weit entfernt haben die Jäger neun Büffel erlegt.
Nach der ersten Aufregung kommt Bewegung ins Lager. Alle wissen, was zu tun ist. Die Kinder laufen und holen die Ponys herbei. Die Frauen werfen einigen Pferden bunte Decken über den Rücken. Anderen legen sie seitlich zwei lange Holzstangen an und binden sie über dem Hals der Pferde mit Büffelsehnen zusammen. Am unteren Ende sind zwischen die Holzstangen Äste geflochten. Darauf soll das Fleisch ins Lager transportiert werden. Nachdem die Pferde gesattelt sind, reiten die Frauen los. Die kleinen Ponys ziehen sie an Stricken hinterher. Schon nach kurzer Zeit sind sie hinter den Hügeln verschwunden. Währenddessen sind die zurückgebliebenen Frauen, die Kinder und die alten Leute auch fleißig. Sie schichten Brennholz auf und machen Feuer. Darüber soll später ein saftiger Braten brutzeln. Neben den Zelten werden aus Ästen und Stangen Gestelle aufgebaut, auf denen das Büffelfleisch getrocknet wird. In der Zwischenzeit haben die Frauen nach einem kurzen Ritt ihr Ziel erreicht. An Ort
und Stelle zerlegen sie die Büffel. Danach werfen sie die Felle mit der wolligen Seite nach unten über die Packpferde und die Tragegestelle. Darauf wird das Fleisch gelegt, die Felle werden darüber geklappt und verschnürt. Dann geht es zurück ins Lager.
Dort angekommen werden zuerst die Alten und Kranken mit den besten Fleischstücken versorgt. Und bald duftet es
überall zwischen den Zelten nach köstlichem Braten, es wird erzählt, viel gelacht und gegessen. Auch für die Hunde ist heute ein Festtag, sie balgen sich ausgelassen um die Reste.
Aber nach dem Essen gibt es noch eine Menge Arbeit. Wiluta hockt vor ihrem Tipi und schneidet Fleisch in Streifen, die dann auf Schnüre gehängt werden und in der Sonne trocknen. Beim Arbeiten singt sie leise vor sich hin: Bruder Büffel, sei nicht traurig, du lebst weiter, in uns und mit uns! Yoni sitzt neben ihrer Großmutter und hilft. Als sie das Lied hört, fragt sie: „Sag, Großmutter, ist der Büffel schlau?"
Wiluta nickt. „Die Büffel sind voller Kraft und Weisheit, sie sind unsere Brüder und Schwestern. Sie sorgen für uns, sie geben uns alles, was wir zum Leben brauchen. Unsere Tipis nähen wir aus Büffelhaut, die Felle liegen auf unseren Betten." „Und unsere kleinen runden Boote, mit denen wir über den Fluss rudern!", sagt Yoni. „Ja, die Boote werden aus Astgeflecht gebaut und mit Büffelhaut überzogen. Aber denk auch an das Werkzeug: Das ist aus Büffelknochen. Und die Sehnen, die nehmen wir zum Binden und Nähen. Und dein Schlitten ist aus den Rippen gebaut!" Wiluta singt noch einmal das Lied vom Büffel und Yoni versteht jetzt, was ihre Großmutter meint. Als sie das Fleisch geschnitten haben, sagt Wiluta: „Gib mir die Pflöcke!" Sie legt das feuchte Büffelfell mit der Haarseite nach unten auf die Erde und spannt es, indem sie die Holzpflöcke durch das Fell in die Erde schlägt. Dann
nimmt sie den Schaber aus Büffelknochen und kratzt das Fleisch von der Haut. „Das wird eine gute Schlafdecke für dich!", sagt sie zu Yoni. An diesem Tag sind alle fröhlich und guter Laune. Die Jäger tanzen und singen ein Lied zu Ehren der Büffel.
Am nächsten Tag brennt die Sonne und gegen Nachmittag ist das Dörrfleisch trocken. Wiluta und Yoni zerstampfen das Fleisch und mischen es mit Büffelfett und getrockneten Beeren. Sie kneten alles gut durch und schütten es in eine Büffelblase. Jetzt wird noch Büffeltalg darüber gegeben, damit es lange frisch bleibt. Wiluta lacht: „Das reicht für die kalten Monate!" *
Die Geschichte von der Grille Matho hockt auf seinem Lieblingsplatz neben dem Tipi. Kinder spielen zwischen den Zelten. Als sie Matho sehen, kommen einige näher heran. „Warum sitzt du so oft hier auf dem Boden?", fragt Rasa. Matho lacht: „Ich bin alt und gehe bald zur Erde zurück. Durch meinen Körper fühle ich das Herz von Mutter Erde schlagen. Wir kommen von ihr und gehen zu ihr zurück, wenn wir alt sind." „Du meinst, du wirst wieder zu Erde, wenn du einmal stirbst?", fragt Nana. „Ja, so ist es!" Die Kinder wissen, dass ihnen Matho heute noch eine Geschichte erzählen wird. Manchmal sitzt er auf seinem Platz und es scheint, als sehen seine Augen durch alles hindurch. Nanas Mutter sagt dann:
„Großvater träumt!" Dann lassen ihn die Kinder in Frieden. Aber wenn er ihnen zulacht und mit ihnen spricht, dann wird er bestimmt eine seiner Geschichten erzählen. Viele kennen die Geschichten schon, aber die Kinder hören sie immer wieder gern, weil sie jedesmal anders oder noch schöner sind. Die Kinder warten ungeduldig. Schließlich sagt Matho: „Ich könnte euch die Geschichte von der Grille erzählen!" Die Mädchen und Jungen rutschen näher zu ihm.
„Das war vor vielen Sommern. Wowini und ich reisten viele Tage zu einem Ort, wo die weißen Männer wohnten. Sie wollten mit uns Verhandlungen führen, damit sie auf unserem Land jagen und Häuser bauen konnten. In ihrem Ort standen viele eckige Häuser aus Holz und Stein und dazwischen zogen Pferde große Holzkisten, an deren Seiten große runde Scheiben aus Holz und Eisen angebracht waren. So rollten diese Kisten fast von allein und die Pferde schafften große Lasten. Es war viel Lärm in diesem Ort. Ich ging mit einem Weißen zu dem Versammlungshaus, wo wir miteinander verhandeln wollten. Trotz der vielen Geräusche hörte ich plötzlich eine Grille zirpen. ,Eine Grille!', sagte ich und blieb stehen. ,Was ist?', fragte der Weiße. ,lch höre eine Grille zirpen!' Der Weiße hielt ebenfalls an. ,lch höre nichts!', sagte er fast etwas ärgerlich. ,Hier
sind keine Grillen - und selbst wenn, bei dem Lärm könnte man sie nicht hören!' Ich hatte sie aber gehört und wusste auch, woher ihr Zirpen kam. Vor einem Haus stand ein kleiner Busch. Ich ging dorthin und bog einige Zweige zur Seite. Da saß die Grille und zirpte immer noch! Der Weiße kam heran und sah, dass ich richtig gehört hatte. Jhr habt aber ein sehr gutes Gehör!', meinte er und fügte lächelnd hinzu: .Indianer sind eben Kinder der Wildnis!' Er wollte mir schmeicheln. ,Weiße hören genauso gut wie Indianer!', sagte ich. Er wollte es aber nicht glauben. So nahm ich ein Stück Metall, das die Weißen Geld nennen und das sie mir
geschenkt hatten. Ich wartete, bis einige Weiße an uns vorübergingen, und ließ das Stück Metall auf den Boden fallen. Es machte beim Aufprall ein kurzes ,Kling', ein Geräusch, nicht lauter als das Zirpen der Grille. Aber sofort drehten sich die Weißen herum, bückten sich, hoben das Metall auf und gaben es uns zurück. .Siehst du!', sagte ich. ,Das Geräusch des Stückes Metall und das Zirpen der Grille waren ungefähr genauso laut. Ihr habt die Grille nicht gehört - und ich hätte ganz sicher nicht auf das Geräusch des Metalls geachtet. Denn jeder nimmt nur das wahr, was er gewohnt ist und was ihm wichtig erscheint. Für den weißen Mann ist das Geräusch von Geld alltäglich. Wir Indianer hören auf die Stimmen der Natur, weil wir sie lieben und weil sie zu unserem Leben gehören!'"
Yoni spricht mit den Pflanzen Die ersten Reiter erreichen die kleine Anhöhe vor dem Wäldchen. Sie springen ab und sehen sich um. „Das ist ein guter Platz!", meint Satank. Die anderen nicken zustimmend. Also wird hier das Herbstlager aufgebaut. Nach und nach erklettern Pferde, die ihre Lasten auf langen Gestellen hinter sich herschleifen, ebenfalls die Höhe. Auch Hunde schleppen leichtere Bündel.
Bald haben sich alle versammelt und es geht ans Abladen. Jeder hat zu tun. Zuerst werden die Tipis aufgestellt: Die drei Hauptstangen bindet eine Indianerin unterhalb der Spitzen mit Lederschnüren zusammen. Dann werden die drei Stangen aufgerichtet. An dieses Gerüst werden von allen Seiten weitere Stangen gelehnt. Zum Schluss wird die Zeltdecke aus Büffelhaut über das Holzgerüst gewuchtet. An der Spitze bleibt ein Loch. Da kann der Rauch abziehen. Dieses Loch kann aber durch zwei Klappen ganz oder teilweise verschlossen werden. Unterdessen haben die Kinder Decken und Felle ins Zelt gebracht. Auch der Hausrat wie der Kochkessel aus Büffelmagen, Trinkgefäße und Löffel aus Hörn, Holzschüsseln, Behälter aus Leder, Kindertragen, Waffen, Kleidung, Musikinstrumente oder Tabakpfeifen liegt schon an seinem Platz. Männer holen Brennholz, machen Feuer und bald ist es in den Tipis behaglich warm.
Das Lager steht: Die Zelte sind in Kreisen angeordnet, die Eingänge weisen nach Osten, wo die Sonne aufgeht. Am nächsten Morgen will Großmutter Wiluta mit Yoni und Rasa Krauter sammeln gehen. Die beiden Mädchen freuen sich, denn die alte Frau sieht viele Dinge, die junge Indianer gar nicht bemerken, und kann dazu noch viele Geschichten erzählen. Schon auf dem Weg zum Waldrand zeigt
sie auf zwei auffliegende Präriekraniche, die kreischend davonsegeln. „Wenn die Kraniche schreien, wechselt das Wetter!" Prüfend schaut Wiluta zum Himmel, wo ein paar grauweiße Wolken dahinziehen. „Heute Abend wird es regnen!" Schweigend gehen sie den Sandpfad entlang. Da entdeckt Rasa einige kleine Mistkäfer, die eifrig über den Weg in Richtung der baumlosen Prärie laufen. „Schau mal!", ruft Rasa. „Die haben es aber eilig!" Großmutter lacht. „Sie spüren, dass Büffel in der Nähe sind! Wenn unsere Männer nach Büffeln suchen, dann halten sie auch nach Mistkäfern Ausschau. Denn sie wissen, dass die beiden Fühler am Kopf der Käfer genau in die Richtung zeigen, wo die Büffel sind! Ich weiß nicht, warum, vielleicht hören die Käfer das Stampfen der Hufe ..." Rasa und Yoni gucken Großmutter von der Seite an, ob sie einen Spaß macht. Aber sie schaut ganz ernst aus, dann wird es wohl stimmen! Inzwischen haben die drei schon den
Waldrand erreicht. Da stehen die dichten, undurchdringlichen Büsche der Erdbohne. „Hast du den Grabstock?" Yoni gibt ihn der alten Frau, die sofort an einer bestimmten Stelle die Erde aufgräbt. Schon liegt ein großes Lager randvoll mit Erdbohnen vor ihr.
„Liebe Wiesenmaus", sagt Wiluta, „ich nehme mir ein paar deiner Vorräte und gebe dir dafür etwas Speck!" Dann schiebt sie vorsichtig mit der Hand die Erde über den Mäusebau. Sie macht das gleiche noch einige Male und bald ist die Ledertasche mit leckeren Erdbohnen gefüllt. Großmutter hat gute Laune. „Wisst ihr auch, dass es fliegende Mäuse gibt?" Die beiden Mädchen sehen sie ungläubig an.
„Das ist die Geschichte von einem kleinen Vogel, der setzte sich einfach auf den Rücken eines Adlers und rief: ,lch fliege von allen Vögeln am höchsten!' Da hatte er natürlich Recht: Denn selbst ein Adler kann nicht höher fliegen als derjenige, der auf ihm draufsitzt! Die anderen Vögel schnappten sich den Angeber. Zur Strafe steckten sie ihn in ein Mauseloch. Der Vogel verliebte sich aber in die Maus. Und deshalb sind die Fledermäuse auch halb Vogel und halb Maus!" Die beiden Mädchen müssen lachen. „Los, wir wollen noch etwas Salbei sammeln!" Großmutter geht voran und findet nach einer Weile ein paar Stauden. „Sag ihnen zuerst, wozu wir ihre Blätter brauchen, und beruhige sie mit einigen Worten!", fordert Wiluta Yoni auf. Yoni streichelt behutsam die Pflanze und sagt: „Du hilfst uns, wenn es im Hals kratzt!" Großmutter lächelt: „Ja, so ist es gut. Es
ist egal, was du sagst, die Pflanze muss nur spüren, dass du sie magst und sie ernst nimmst!" Yoni und Rasa pflücken Blätter ab, aber nur so viel, dass die Pflanze weiterleben kann. Großmutter nickt zufrieden. „Kein Indianer pflückt sinnlos Blumen und Krauter ab oder reißt ganze Pflanzen aus der Erde. Wenn jemand das tut, dann blühen die Blumen nicht mehr. Dann haben sie auch keine Samenkörner und bekommen keine Blumenkinder. Sie sterben
einfach aus und die Erde wird traurig." Unterdessen sind sie wieder auf dem Heimweg. „Wenn ihr Lust habt", sagt Wiluta, „dann können wir morgen noch Süßgras sammeln und unten am Bach etwas rote Weidenrinde für meinen Tabak!" Kaum haben sie das Zeltlager erreicht, spüren sie die ersten Tropfen auf der Haut: Es beginnt zu regnen.
Das Verschenkfest Wasser spritzt hoch, als Takuni ihr Pony in den Fluss treibt. Sie springt hinterher und hält sich am Schwanz des Tieres fest. Die anderen Kinder machen es mit ihren Pferden genauso. Und die Ponys schwimmen lustig drauflos, nur ihre Köpfe ragen aus dem Wasser. Manchmal lassen die Kinder die Pferdeschwänze los und tauchen, aber dann haben sie jedesmal Mühe hinterherzukommen und sich wieder anzuhängen. Nach einiger Zeit haben die Ponys keine Lust mehr und schwimmen ans Ufer zurück. Sie schütteln sich das Wasser aus dem Fell. Aber dann springen die Kinder auf die Ponyrücken und los geht ein Wettrennen bis zu den Weideplätzen. Nana hat mit seinem Pony einen guten Start erwischt und führt auf der ganzen Strecke durch die Senke entlang dem Fluss. Doch am kleinen Hügel überholt ihn seine Schwester Takuni mit ihrem
geschenkten Pony. Lachend springt sie vom Pferd. Die Kinder pflocken die Tiere an und laufen zu den Tipis. Die Mädchen gehen zu den Frauen, die auf dem Platz unter den Bäumen ein Ballspiel vorbereiten. Das dauert noch etwas und so holen sich die Jungen Pfeil und Bogen um ein kleines Spiel zu machen. Einer schießt einen Pfeil in die Luft. Die anderen gucken schnell, wie hoch und in welche Richtung er fliegt, und schießen dann sofort ihre Pfeile ab. Es kommt darauf an, dass die Pfeile möglichst nahe dem ersten in der Erde stecken. Die
Hauptsache bei dem Spiel ist der Spaß und nicht das Gewinnen. Nach einiger Zeit tut sich etwas auf dem Spielplatz. Die Mädchen und Frauen treiben einen Lederbeutel wie einen Ball mit langen Stöcken über das Spielfeld. Jede Spielerin hat zwischen den Bäumen ein „Haus" und muss versuchen den Ball dort unterzubringen. Der Lederbeutel fliegt durch die Luft und alle stürzen übereinander. Die Männer und Jungen feuern
lautstark die Spielerinnen an. Als das Spiel zu Ende geht, humpeln manche Mädchen vom Spielfeld, weil sie von den Holzstöcken getroffen wurden. Andere haben blaue Flecken. Aber alle sind glücklich, weil das Spiel viel Spaß gemacht hat. Auch Takuni ist zufrieden. Trotzdem ist sie aufgeregt, denn morgen ist ein Festtag für sie. Da wird Großvater Matho ihr die Ohrläppchen durchstechen. Das ist ein großes Ereignis. Auf diese Weise wollen Großeltern und Eltern zeigen, wie sehr sie Takuni lieb haben. Großmutter wird ein großes Festessen vorbereiten. Mit diesen Gedanken schläft Takuni an diesem Abend ein. Am nächsten Morgen sitzt sie in Groß-mutters Tipi und lässt sich das Gesicht bemalen. Im Zelt nebenan kämmt ihr Vater der Mutter das lange schwarze Haar. Als Bürste benutzt er einen Stachelschweinschwanz und mit einem schmalen Holzstab zieht er den Scheitel. Dann flicht er zwei Zöpfe und schnürt sie mit bemalten Lederbändern. In die Schnüre
steckt er zur Verzierung den Flaum von Adlerfedern. Schließlich ist es soweit. Draußen werden Decken ausgebreitet und Matho durchsticht vorsichtig die Ohrläppchen von Takuni. Es tut ein bisschen weh, aber bei all der Aufregung merkt sie das kaum. Um Takuni liegen auf einer Decke all die Dinge, die ihre Eltern und Großeltern in ihrem Namen verschenken wollen: ein Umhang aus Otterfellen, Mokassins aus Hirschleder, Decken, Felle, Perlenschnüre und viele kleine Kostbarkeiten. Matho muss sich das schönste Geschenk aussuchen. Dann gibt es die Hauptsache des ganzen Festes: das große Essen. Alle haben sehr gute Laune, sie lachen und erzählen Geschichten. Später tönen die Trommeln durchs Lager und die alten Krieger tanzen. Es ist ein schöner Tag für Takuni. *
Der weiße Mann Oberhalb des Zeltlagers vor einem kleinen Wäldchen spielen die Kinder. Sie lachen laut, also muss es sehr lustig sein! Das Spiel heißt „Weißer Mann". Sie haben alle noch nie einen Weißen gesehen, aber schon viel über diese komischen Menschen gehört. Sie sollen bleiche Gesichter haben und kurzes Haar auf dem Kopf - dafür aber lange Haare unter der Nase und am Kinn! Den Oberkörper und die Beine tragen sie verhüllt, dass keine Sonne und keine Luft an die Haut kommen. Und auf dem Kopf haben sie ein Ding, das sieht aus wie ein kleiner Kochkessel! Gerade wird Hoka von den anderen Kindern mit weißer Tonerde das Gesicht bemalt. Dabei müssen alle kichern. Rasa hat ein kleines Stück Fell. „Komm, klemm es zwischen Nase und Lippe!", sagt sie zu Hoka. Nana hat einen Streifen Birkenrinde und
heftet ihn mit zwei Holzstückchen so zusammen, dass er auf den Kopf von Hoka passt. Stocksteif steht er da, inmitten der anderen Kinder, die sich vor Lachen kaum halten können.
In dem Getöse hat keiner bemerkt, dass Inyan, Nanas Vater, herangekommen ist. Er sagt nur: „Zwei Ponys haben sich losgerissen!" Sofort sind alle ruhig, denn sie wissen, dass Hoka und zwei andere Jungen auf die Tiere aufpassen sollten. Die drei laufen sofort los um die Ponys wieder einzufangen. Bei den anderen ist die gute Laune wie weggeblasen. Sie schämen sich auch ein
bisschen, denn sie haben die drei überredet bei dem Spiel mitzumachen. Indianerkinderwerden nicht bestraft, aber wenn so etwas öfter vorkommt, heißt es eben: „Auf den oder die ist kein Verlass!" Und das ist sehr hart, denn alle Jungen und Mädchen wissen, dass es eine Ehre ist, wenn die Erwachsenen ihnen vertrauen. „Habt ihr ,Weißer Mann' gespielt?", fragt Inyan. „Ja", sagt Rasa, „hast du schon einen gesehen?" „Ein paarmal. Aber Großvater Matho kennt sie besser. Er war sogar dort, wo die Weißen leben ..." Den Kindern ist der Spaß am Spielen vergangen, sie gehen mit Inyan zum Lager zurück. „War Großvater Matho auch in den Tipis der Weißen?", fragt einer. Inyan muss lachen. „Sie haben keine Tipis. Ihre Wohnungen sind auch nicht rund wie unsere Zelte. Sie schichten Steine aufeinander, hoch wie die Hügel, mit vier Ecken. Ein paar Löcher lassen sie darin, damit das Licht hereinkommt."
Einen Augenblick sind die Kinder still. Dann meint Nana: „Jagt der Weiße auch Büffel wie wir?" „Nein, sie schießen auch nicht mit Pfeil und Bogen. Sie haben lange Rohre, die Feuer spucken und die Büffel töten. Die Weißen schießen viel mehr Büffel, als sie jemals essen können. Meist nehmen sie nur das Fell oder die Zunge. Den Rest lassen sie verderben. Sie lieben die Erde, die Tiere, die Pflanzen nicht. Sie fällen gesunde Bäume und ändern sogar den Lauf der Flüsse, wenn es ihnen passt..." Inyan ist richtig wütend geworden. „Großmutter und du, ihr mögt die Weißen nicht!" „Nein. Wer die Tiere und Pflanzen nicht liebt, der kann auch andere Menschen nicht achten. Als die Weißen über die großen Wasser in unser Land kamen, waren sie klein und schwach. Die Indianer gaben ihnen zu essen. Aber jetzt ist der weiße Mann groß und mächtig. Er überschwemmt unser Land wie ein Fluss, der im Frühjahr über seine Ufer tritt und alles niederreißt."
Die Kinder und Inyan sind am Rande der Anhöhe angekommen. Von hier kann man auf das Zeltlager hinuntersehen.
Am Hang gegenüber hat Hoka mit den beiden anderen Jungen die ausgerissenen Ponys wieder angepflockt. Inyan hockt sich ins Gras. Die Kinder setzen sich auch und sehen ihn erwartungsvoll an. Lange schaute Inyan auf die bunten Tipis. Aus einigen steigt heller Rauch auf. Zwischen den Zelten stehen Frauen und Männer. Lachen schallt herauf. Mädchen kommen mit prallen Wasserschläuchen vom Bach zurück. Inyan dreht sich zu den Kindern um. „Eines Tages werdet ihr gegen die Weißen kämpfen müssen, damit alles so bleibt, wie es ist!", sagt er mit ernstem Gesicht
Wakan tanka, der Große Geist Es ist gemütlich im Tipi. Das Feuer prasselt und strahlt eine behagliche Wärme aus. Draußen heult ein Schneesturm und rüttelt an den Zeltwänden. Winona ist im Tipi von Großmutter Wiluta geblieben. Die beiden hocken auf den dicken warmen Winterfellen. Lange Zeit schweigen beide. Sie denken an alles Mögliche. Die Stille tut ihnen gut. Großmutter stopft sich eine Pfeife mit Kinnikinnick, dem Tabak aus Krautern und roter Weidenrinde. Das ist ihre Lieblingsbeschäftigung. Sie lächelt zufrieden vor sich hin. „Großmutter, erzähl mir vom Großen Geist!", bittet Winona. Wiluta nimmt einen glühenden Holzspan. Sie steckt ihre Pfeife an und pafft eine süß duftende Wolke vor sich hin. „Wakan tanka, der Große Geist, das ist
alles, was uns umgibt und unser Leben ausmacht. Wir leben mit der Natur. Alles wächst und stirbt. Bäume blühen, dann werfen sie ihr Laub ab und es wird zu Erde. Indianer werden geboren, wachsen auf und gehen, wenn sie alt sind, zu Mutter Erde zurück. Der Große Geist ist in allem und sorgt dafür, dass alles Leben weitergeht!" Winona rückt etwas näher zum Feuer. „Dann sorgt der Große Geist für alle Lebewesen?" „Ja! Und alle leben voneinander. Schau, die Luft, die ich einatme, atmen die Bäume aus. Und was ich ausatme, atmen wiederum die Bäume ein. Alles kommt und geht!" Winona steht auf und legt noch etwas Brennholz aufs Feuer. „Und deshalb sind die Pflanzen und Tiere auch unsere Brüder und Schwestern?" „Ja!" „Und mögen die uns auch?" „Wir Indianer lieben unsere Schwestern und Brüder. Du weißt, dass wir mit ihnen reden. Wir zertreten keine Blumen und Krauter oder reißen lebende Bäume nieder.
Wir bitten die Tiere, die wir töten, um Verzeihung, denn ohne sie würden wir verhungern. Wir achten und verehren sie und viele Indianer tragen ihre Namen. Und du kennst doch unser altes Sprichwort: Ein Baum kann ohne den Menschen leben und die Tiere und der Fluss auch. Die ganze Erde kann ohne den Indianer leben, aber wir nicht ohne sie!" Wieder schweigen beide eine Weile. Großmutter klopft ihre Pfeife aus und stopft sich in Ruhe eine neue. Draußen jault der Sturm wütend ums Zelt. Dann beginnt Wiluta wieder zu erzählen: „Alles greift ineinander über. Wir nennen es die Kreise des Lebens. Ja, und auch die Dinge selbst stellen Kreise dar, sie sind kreisrund. Die Sonne, der Mond, die Erde sind rund und bewegen sich in Kreisen! Sogar der Wind draußen stürmt in runden Wirbeln ..." „Ja", sagt Winona. „Auch die Wohnungen von Menschen und Tieren sind rund. Wie unsere Tipis oder die Vogelnester im Frühjahr..."
Großmutter lächelt: „Alles Runde ist ohne Anfang und ohne Ende. Sieh die Jahreszeiten. Jetzt haben wir Winter, dann kommt der Frühling, der Sommer und der Herbst. Und dann ist wieder Winter und alles beginnt von neuem!" Wiluta legt die Pfeife zur Seite.
Winona schaut sie an: „Aber wie können wir Wakan tanka erkennen?" „Das ist ganz einfach. Geh hinaus zu all den Dingen, in denen er lebt. Zu den Bergen, dem Fluss, den Tieren. Sieh, die Sonne erschafft alles Leben auf der Erde. Doch die Sonne braucht auch die Hilfe der Wolken und des Regens, sonst würde alles verdorren. Und aus der Erde bekommen die Pflanzen die Nahrung. Dabei ist keine Pflanze oder ein Tier wie das andere." „Aber die Blätter der Bäume, die sind alle gleich!" „Nein, das stimmt nicht!", widerspricht Großmutter. „So sieht es auf den ersten Blick aus. Wir werden im Frühjahr zu den Pappeln und Weiden unten am Fluss gehen und uns die Blätter ansehen!" Großmutter gähnt. „Es ist spät, ich bin müde!" „Noch eine Frage, Großmutter", sagt Winona. „Wacht der Große Geist über uns und beschützt er uns?" „Wenn wir Mutter Erde und alle anderen Lebewesen lieben und achten, brauchen wir keine Angst zu haben. Alles geht ganz von
selbst seinen Weg. Wir leben ruhig und zufrieden und finden alles, was wir brauchen, vor unseren Tipis: die Büffel, die Früchte und die Krauter. Das ist ein schönes Leben!"
Edgar Wüpper wohnt mit seiner Frau, vier Pferden, einer Kuh, Hund, Katzen und Hühnern auf einem kleinen Bauernhof in der Nähe von Kassel. Er schreibt hauptsächlich Kinderbücher zu den Themen Umwelt, Indianer und Tiere. Wenn ihr Fragen, Vorschläge oder ganz einfach Lust habt zu schreiben, hier seine Adresse: Edgar Wüpper Schulstr. 4 34305 Niedenstein (Bitte habt Verständnis dafür, dass nur Briefe beantwortet werden können, denen Rückporto beiliegt. Danke.)
Charlotte Panowsky wurde 1953 in Simbach geboren. In München studierte sie zunächst Kunsterziehung und Kunstgeschichte und schloss dann 1979 ein Grafikstudium ab. Sie hat inzwischen zahlreiche Bücher für verschiedene Verlage illustriert, darunter viele Krimis.