KLEINE JUGENDREIHE
Lew Scheinin
Die gestohlenen Dinare Und zwei weitere Kriminalerzählungen
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KLEINE JUGENDREIHE
Lew Scheinin
Die gestohlenen Dinare Und zwei weitere Kriminalerzählungen
VERLAG KULTUR UND FORTSCHRITT BERLIN 1958
9. Jahrgang, 1. Dezemberheft Aus dem Russischen übersetzt von Viktor Gronfain Die Die drei Erzählungen erscheinen mit freundlicher Genehmigung des Verlages des Ministeriums für Nationale Verteidigung. Veröffentlicht im Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin W 8, Taubenstraße 10 Lizenz-Nr. 3 – 285 48/58 Umschlag und Illustrationen: Paul Klimpke Satz und Druck: VEB Landesdruckerei Sachsen, Dresden III-9-5 185
Die gestohlenen Dinare Bevor ich einen spaßigen Fall erzähle, der mir gleich zu Beginn meiner Arbeit als Untersuchungsrichter begegnete, möchte ich von einem Straßenräuber berichten, durch den ich zum ersten Mal erfuhr, welchen ungeahnten Widerhall manchmal das Vertrauen in der Seele eines Kriminellen findet. Dieser Dieb, ein großer, athletisch gebauter Mann, hatte verschlafene, für seinen Beruf ungewöhnlich gutmütige Gesichtszüge und schaute mit runden, stets erstaunt blickenden Augen in die Welt. Er besaß etliche Vorstrafen und war in der Verbrecherwelt, wie übrigens auch bei dem MUR (Moskauer Kriminalamt), unter dem Spitznamen „Seehund“ bekannt. Eines Tages bat mich der „Seehund“ nach Schluß seiner Vernehmung um eine Zigarette und meinte, als er sie sich angezündet hatte:
„Für das Stäbchen und die freundliche Unterhaltung mit mir schönen Dank! In diesem Fall möchte ich mich auch nicht lumpen lassen – wie man in den Wald hineinruft, so schallt es bekanntlich wieder heraus… Gestatten Sie mir also, Ihnen einen Vorfall aus meinem Leben zu schildern, der gewiß nicht alltäglich ist…“ „Bitte, erzählen Sie“, sagte ich und beobachtete, wie sich auf dem Gesicht des „Seehunds“ eine leichte Verlegenheit widerspiegelte. „Wie Sie wissen, klaue ich schon lange“, begann er und wurde noch verlegener, „aber auf Mord und Totschlag bin ich nie ausgegangen und werde es auch nicht tun. Ich habe stets nachts gearbeitet: Da warte ich zum Beispiel in irgendeiner dunklen Gasse auf einen Passanten oder – noch besser – auf ein Dämchen. Na, und da gehe ich einfach heran, sage guten Tag, erleichtere sie um ein Pelzchen, eine Uhr, ein Täschchen oder was es sonst noch alles gibt. Dabei benehme ich mich sehr gebildet, da ich ein Mann von Kultur bin, das Kino liebe und ungehobelten Benimm nicht vertragen kann, den ich als Überrest der alten Welt betrachte. Aus dem gleichen Grunde habe ich – Sie können es mir ruhig glauben – noch keinen Menschen auch nur mit einem Finger berührt, zumal meine Finger, mit Verlaub zu sagen, so beschaffen sind, daß man sie besser nicht in Bewegung setzt. Da – sehen Sie selbst!“ Und der „Seehund“ streckte mir lächelnd seine riesigen Pranken entgegen. Dann seufzte er und fuhr fort: „Ich will Ihnen nichts vormachen, das Gewissen hat mich nie geplagt. Ich lebte also ruhig dahin und habe, wie man so sagt, wenig Bauchschmerzen gehabt, bis ich auf eine Person weiblichen Geschlechts gestoßen bin.“ „Liebe?“ fragte ich, in der Annahme, daß ich jetzt die Ge-
schichte einer unglücklichen Liebe zu hören bekäme, wie sie einem nicht selten von Untersuchungsgefangenen erzählt wird. „Aber nein, es geht um das Gewissen“, antwortete der „Seehund“. „Es geschah eines Nachts in einer Gasse des Dewitschje Polje. Ich befand mich auf dem Anstand und wartete auf ,meinen Fisch’. Es war bitter kalt, keine Seele ringsum, stockdunkel. Plötzlich höre ich, wie eine Haustür zuknallt. Ein junges Mädchen läuft auf die Straße, schlank, in einem Pelzmäntelchen mit hochgeschlagenem Kragen. Sicherlich hatte sie Angst vor der Einsamkeit und der nächtlichen Finsternis. Ihre Absätzchen klappern auf dem Pflaster. Beim Rennen schaut sie sich immer wieder um, ob nicht jemand hinter ihr her ist. Na, denke ich, da hab ich wieder mal Glück! Werde gleich dieses Pelzchen nationalisieren. Ich trete hinter dem Torbogen hervor, wo ich mich versteckt hielt, und gehe direkt auf sie zu. Kaum sieht sie mich, da läuft sie mir entgegen, und – stellen Sie sich vor – sie faßt mich am Arm und fleht mich an: ,Mein Herr, entschuldigen Sie, bitte, um Gottes willen, aber ich habe furchtbare Angst. Keine Menschenseele ist in der Nähe, begleiten Sie mich doch bis zur nächsten Kutsche!’ Es wäre besser gewesen, sie hätte mich umgebracht! Aber so – ich kann heute noch nicht verstehen, wie das möglich war: Ich habe sie auf der Stelle untergehakt und ihr zugeflüstert: ,Bitte, regen Sie sich nicht auf, ich werde Sie begleiten, haben Sie keine Angst!’ – ,Ach’, flötete sie, ,ich bin Ihnen ja so dankbar! Ich habe gleich gespürt, daß Sie ein anständiger Mensch sind.’ Und dann stiefeln wir los. Mir klopft das Herz, ganz heiß wird mir, und ich begreife mich selbst nicht mehr. Ich bringe es einfach nicht fertig, mein Handwerk auszuüben – beim besten Willen nicht. Weiß der Teufel, wie
das zuging! Ich habe sie also begleitet, persönlich in einen Pferdeschlitten gesetzt, in die Pelzdecke eingewickelt und ihr gute Fahrt gewünscht. Da sehen Sie, Herr Untersuchungsrichter, was Vertrauen aus einem Menschen alles machen kann!“ „Aber danach haben Sie doch Ihre Beutezüge fortgesetzt?“ fragte ich. „Drei Tage bin ich nicht zur Arbeit gegangen, habe sie aber dann wieder aufgenommen. Ich muß jedoch sagen, es war mir, als wäre innerlich etwas gesprungen. Die Frauen hörte ich ganz auf zu berauben, überhaupt hing mir bereits alles zum Halse heraus. Kurz, ich habe das Gleichgewicht verloren und innerlich einen Knacks bekommen… Und jetzt werde ich meine Strafe erhalten, und danach mache ich Schluß. Ich hab’s satt, mir ist die Lust endgültig vergangen!“ Und die runden Augen des „Seehunds“ verrieten eine so starke Gemütsbewegung, daß ich ihm auf der Stelle seinen Entschluß glaubte. In jenen Jahren arbeitete ich als Volksuntersuchungsrichter im Moskauer Bezirk Krasnaja Presnja. Zu meinem Arbeitsbezirk gehörte die gesamte Gorkistraße, Krasnaja Presnja und die angrenzenden Straßen und Gassen. Das Moskauer Kriminalamt – MUR – gehörte ebenfalls zu meinem Arbeitsbereich, und im Laufe der Zeit entspannen sich zu vielen Mitarbeitern des MUR die besten, kameradschaftlichsten Beziehungen. Besonders freundete ich mich mit dem Leiter der ersten MUR-Brigade, Nikolai Filippowitsch Ossipow, und seinem Stellvertreter Georgi Fjodorowitsch Tylner an. Ossipow und Tylner waren damals etwa dreißig Jahre alt. Die erste MUR-Brigade befaßte sich mit der Aufklärung von Morden und bewaffneten Raubüberfällen, sie war also das Herz des Fahndungsdienstes. Anfang der zwanziger Jah-
re war das Berufsverbrechertum noch ziemlich groß, und meine Freunde steckten bis zum Hals in der Arbeit. In Ossipow und Tylner lernte ich zwei sehr begabte Kriminalisten kennen, die in ihrem nicht leichten Beruf aufgingen. Nikolai Filippowitsch war ein hagerer, blonder Mann von stets tadelloser Haltung. Aus dem flinken, klugen Blick seiner leicht zugekniffenen grauen Augen sprach Menschenkenntnis; das Denken und der Jargon der Verbrecher waren ihm gut vertraut. Was mich anbelangte, so war ich als Untersuchungsrichter noch ein junger Dachs, und die Freundschaft mit diesen Menschen hatte für mich nicht nur ihre angenehmen, sondern auch nützlichen Seiten. Ich lernte vieles von diesen beiden erfahrenen Kriminalisten und lauschte gierig den spannenden Schilderungen ihrer Erlebnisse, die sie bei der Lösung verwickelter Kriminalfälle hatten. Wiederholt war ich dabei, wenn Ossipow und Tylner Verbrecher vernahmen. In der ersten Zeit konnte ich kaum verstehen, wovon sie redeten, weil die Fragen und Antworten so viel „Rotwelsch“ enthielten, das heißt Ausdrücke aus der Gaunersprache, daß man zunächst den Eindruck bekam, die Vernehmung würde in irgendeiner unbekannten Fremdsprache geführt. Selbstverständlich wußte auch die Moskauer Verbrecherwelt über Ossipow und Tylner genau Bescheid. Und wenn auch die Ganoven die Angestellten des Kriminalamtes im allgemeinen nicht liebten, Ossipow und Tylner zollten sie offen Hochachtung und bezeugten ihnen gegenüber sogar gewisse Sympathien, so seltsam das auch klingen mag. Das kam daher, weil Ossipow und Tylner „etwas von ihrem Job verstanden“ – wie sich die Kriminellen ausdrückten – und außerdem Gerechtigkeitssinn und persönlichen Mut besaßen.
Ossipow hatte sich niemals erlaubt, Untersuchungsgefangene zu verhöhnen und ihre menschliche Würde mit Füßen zu treten. Obwohl er sich eisern an die Gesetze hielt und keinerlei Zugeständnisse machte, verstand er es gleichzeitig, mit den Verhafteten warm und mit großem Einfühlungsvermögen zu sprechen. Tylner, ein wohlerzogener, gutaussehender und stets korrekter Mann, war durch sein phänomenales Gedächtnis berühmt. Er hatte, wie man sich im MUR ausdrückte, „die gesamte Unterwelt Moskaus im Kopf“. Er kannte fast alle Namen, Decknamen, Kennzeichen und Vorstrafen der Moskauer Verbrecher. Die Ganoven wußten das nur zu gut und sagten, man sollte „Baron Tylner am besten nicht unter die Augen geraten“, ihm könnte man kein X für ein U vormachen. Zu meinem Wirkungsbereich gehörte unter anderem die in die Gorkistraße mündende Blagowestschenskajagasse, und in dieser Quergasse stand und steht auch noch heute ein schönes, mit Kacheln verkleidetes Haus, in dem vor allem leitende Mitarbeiter der Regierung wohnten. Hier lebte auch der Volkskommissar S. In einer Julinacht drangen Diebe in die Wohnung von S. ein, der in seinem Landhaus weilte, und nahmen außer vielen kleinen häuslichen Dingen auch einen großen Lederbeutel mit. Er enthielt eine Sammlung von älteren und uralten Münzen, die S. in vielen Jahren zusammengetragen hatte. S. erhob um diesen Diebstahl ein furchtbares Geschrei. In der zweiten MUR-Brigade, die sich mit der Ermittlung von Wohnungseinbrüchen befaßte, war man sich gleich darüber einig, daß der Dieb äußerst schwer zu finden sein dürfte, und daß dieser Fall mehr Ungelegenheiten machen würde als mancher andere. Als Stepanow, der Leiter der zweiten Brigade, ein großer, sehr liebenswürdiger und äußerst respek-
tabler Mann mit diplomatischem Geschick, von dieser Sache erfuhr, geriet er so aus der Fassung, daß er sogar eine Zigarette über die von ihm festgelegte Norm rauchte. Stepanow tat im Leben alles nach einer ein für allemal festgesetzten Einteilung, überstürzte nichts und vertrat den Standpunkt, daß Hast schädlich für die Gesundheit sei. Deshalb hatten ihn die Kriminellen mit dem Spitznamen „Wasja das Faultier“ bedacht. Er betrachtete lange seine blankpolierten Fingernägel und sagte dann leise zu seinem Gehilfen Krotow: ,,Mischa, meinen Sie nicht auch, daß es sich nicht um einen einfachen, sondern um einen qualifizierten Diebstahl handelt?“ Der schlaue Krotow sah seinen Chef einen Augenblick überrascht an, doch plötzlich ging ihm sin Licht auf: Also darauf wollte Stepanow hinaus! Und Krotow schwor sofort Stein und Bein, daß er in seinem ganzen Leben keinem qualifizierteren Diebstahl begegnet wäre. Fälle von einfachem Diebstahl mußten nämlich vom Kriminalamt bis zu Ende bearbeitet werden, während die Ermittlungen bei sogenannten qualifizierten Verbrechen den Volksuntersuchungsrichtern oblagen. Ein Einbruchdiebstahl oder „ein Diebstahl unter Anwendung technischer Mittel“ galt als qualifiziert. Im gegebenen Fall jedoch waren die Diebe durch das Fenster in die Wohnung eingedrungen und gehörten somit zweifellos zu der Kategorie von Wohnungsdieben, die man als „Fenstersteiger“ bezeichnete. Deshalb brummte Stepanow jetzt mit einem ironischen Blick auf Krotow, der sich nach wie vor in Beteuerungen erging, im eifrigen Bestreben, diesen unbequemen Fall abzuschieben: „Mischa, im Artikel 162 des Kriminalgesetzbuches gibt es aber unter den aufgeführten Merkmalen für qualifizierten Diebstahl aus unerfindlichem
Grund keinen Hinweis auf die Versicherungen eines Herrn Krotow. Der Diebstahl, mein Bester, ist doch mit Fenstereinstieg verbunden gewesen, nicht wahr?“ Krotow stockte, schlug die Augen nieder, ergab sich jedoch nicht. „Ja, aber das Fenster wurde doch unter Anwendung technischer Mittel geöffnet“, sagte er ausdrucksvoll und sah seinem Chef mit treuherzigem Blick in die Augen. „Tatsächlich? Mir will das noch nicht ganz einleuchten“, antwortete Stepanow. „Doch wenn Sie, mein Lieber, beweisen können, daß Finger technische Mittel sind, dann sieht die Sache selbstverständlich ganz anders aus…“ „Wassili Jakowlewitsch!“ rief Krotow aus. „Alle Tatbestände sprechen dafür, daß man das Fenster mit einem Stemmeisen geöffnet und den Riegel aufgebrochen hat. Da haben Sie sowohl die technischen Mittel als auch das Element eines Einbruchs.“ „Wirklich? Schade, schade. Es ist natürlich traurig, von einem so interessanten Fall Abschied nehmen zu müssen, aber Gesetz ist Gesetz, Mischa!“ Und Stepanow verstieß erneut gegen seine Tageseinteilung, indem er sich eine zweite Zigarette anbrannte, diesmal jedoch bereits aus Zufriedenheit. „Tja, mein Guter, da kann man nichts machen… Überweisen Sie den Fall entsprechend Artikel 108 an den Volksuntersuchungsrichter. Bereiten Sie die Abgabenachricht vor.“ Am nächsten Tag erhielt ich diesen Fall nebst einer in schwülstigem Stil abgefaßten Verfügung. Eine Stunde später rief mich Stepanow telefonisch an, erkundigte sich in seiner liebenswürdigen Art nach meiner Gesundheit, meinem Wohlbefinden und meiner Arbeit, ließ sich dann lange lobend über das Wetter und die Sängerin Tatjana Bach in der „Csärdäsfürstin“ aus, legte mir dringend
ans Herz, die Operette anzusehen, und warf schließlich fast am Ende unseres ausführlichen Gesprächs, so ganz nebenbei, ein: „Ach ja, Lew Romanitsch, wir haben Ihnen da einen kleinen Fall überwiesen, Sie dürfen uns das nicht übelnehmen. Sie wissen doch, da ist nichts zu machen, das Gesetz schreibt es nun mal so vor. Aber wir werden Ihnen selbstverständlich helfen, worauf Sie sich verlassen können. Mit allen Mitteln werden wir Ihnen helfen. Seien Sie doch so gut, Teuerster, und teilen Sie uns die Übernahme dieses Falls mit, ich brauche Ihre Bestätigung für meinen Rechenschaftsbericht. Krotow wird sie bei Ihnen abholen.“ Als ich den Telefonhörer auflegte, ahnte ich noch nicht, was für ein Unheil das listige „Faultier“ auf meinen vertrauensseligen Kopf geladen hatte. Arglos übergab ich meine Bestätigung dem überraschend schnell aufkreuzenden Krotow. Begriffen habe ich es erst am nächsten Morgen, als mich der Gouvernementsstaatsanwalt Sergej Nikolajewitsch Schewerdin anrief, ein gütiger und kluger alter Mann, der im Zarismus wegen revolutionärer Tätigkeit eingekerkert war. Er bat mich, ihn noch am gleichen Tage in der betreffenden Angelegenheit aufzusuchen. Bevor ich zu ihm ging, machte ich mich sorgfältig mit dem Fall vertraut und wurde gewahr, daß man die Merkmale des qualifizierten Diebstahls buchstäblich an den Haaren herbeigezogen hatte. Aber die Übernahme war bereits bestätigt, mir waren die Hände gebunden. Schewerdin hörte sich meinen Bericht an und vertiefte sich in die Dokumente. Dann sagte er lächelnd: „So, so. Na, das ist ja sehr interessant. Stepanow ist kein Dummkopf. Er hat Ihnen den Fall unterschoben, und Sie
ahnungsloser Engel hatten nichts Eiligeres zu tun, als das Ding in die Hand zu nehmen. Sie sind in dem glücklichen, aber gefährlichen Alter, in dem Sie bereits gelernt haben, was Sie tun müssen, aber noch nicht erfaßt haben, was man nicht zu tun braucht. Stepanow dagegen hat weniger das erste als vielmehr das zweite gelernt. Tja, was machen wir nun? Diesen Einsteigeeinbruch aufzuklären ist eine ziemlich hoffnungslose Angelegenheit. Der Bestohlene aber rauft sich die Haare, brüllt wie ein Löwe und verlangt von uns einen Bericht. Begleite mich zum Volkskommissar, mein Sohn, ich sehe viele Unannehmlichkeiten vor mir, da ich S. nur zu gut kenne.“ Als mich Schewerdin dem Volkskommissar als Untersuchungsrichter für seinen Fall vorstellte, knurrte der kleine, dicke Mann mit dem graumelierten Haar gereizt: „Was, das ist der Untersuchungsrichter? Na, dann wird mir klar, wieso die Gauner die Wohnungen von Volkskommissaren ungestraft ausplündern können! Genosse Schewerdin, ist bei Ihnen ein Kindergarten oder die Staatsanwaltschaft?“ Schewerdin widersprach sehr höflich, doch bestimmt, und erklärte, daß ich trotz meiner Jugend als Untersuchungsrichter bereits gute Arbeit leiste und zu großen Hoffnungen berechtige. Im übrigen würde es ihm nie einfallen, den Genossen Volkskommissar nach dem Alter seiner Mitarbeiter zu fragen. S. wurde noch wütender und schrie, daß er sich bei der Regierung beschweren würde, falls seine Münzsammlung nicht innerhalb von drei Tagen wieder herbeigeschafft sei. Er pfeife auf alle anderen gestohlenen Sachen, aber er sei ein Numismatiker, der sein Leben lang alte Münzen gesammelt habe. Seine Sammlung sei von unschätzbarem Wert, sie enthalte sogar durchlochte Dinare aus der Zeit Alexanders von
Mazedonien. „Das ist keine Kleinigkeit! Ihre Bierruhe, Herr Staatsanwalt, ist mir unverständlich. Und was soll ich von einem Milchbart als Untersuchungsrichter halten? Nein, meine Herren, ich warte drei Tage und, keine Minute länger!“ Schewerdin, der ebenfalls ernsthaft erbost war, aber es offensichtlich nicht für angebracht hielt, dieses Gespräch in Gegenwart eines jungen Untersuchungsrichters fortzusetzen, bat mich, im Vorzimmer zu warten. Eine halbe Stunde später verließ er, rot vor Wut, den Arbeitsraum von S. und fuhr mit mir zur Dienststelle. Unterwegs und auch noch in meinem Büro brummte der Alte die ganze Zeit über die „Herrenallüren“ von S. und dessen „unzeitgemäßen Dünkel“. S. wurde übrigens einige Jahre später seines Postens als Volkskommissar enthoben, da er das in ihn gesetzte Vertrauen nicht rechtfertigte. Zunächst schickte mich Schewerdin zu Stepanow. Er sollte alle Möglichkeiten des MUR erwägen, um uns zu helfen. Doch leider erklärte mir Stepanow rundheraus, daß er diesen Fall pessimistisch betrachte. „Sie müssen verstehen, lieber Lew Romanowitsch“, sagte er, „es ist doch ein Einsteigediebstahl, und der Langfinger hat, als er durchs Fenster in diese Wohnung stieg, nicht gewußt, wen er bestiehlt. Ein ausgekochter Berufsdieb würde in so ein Haus überhaupt nicht eindringen, das darf man dabei nicht vergessen. Folglich war hier irgendein blutiger Anfänger am Werk. Und diesen Neuling kann man jetzt lange suchen. Krotow und ich, wir haben bereits Nachforschungen angestellt, bevor wir Ihnen diesen kleinen Fall übergaben, mein Bester. Doch sie waren erfolglos.“ Und Stepanow lächelte dabei harmlos und liebenswürdig.
In denkbar schlechter Stimmung ging ich zu meinen beiden Freunden. Nachdem Ossipow mich gründlich ausgefragt hatte, schüttelte er nur den Kopf und schimpfte über dieses verfluchte „Faultier“, das es stets verstand, sich auf Kosten anderer aus der Affäre zu ziehen. Sie liebten Stepanow und seine „diplomatischen Methoden“ nicht. Ossipow hatte volles Verständnis für meine verzwickte Lage und wollte mir gern helfen. Aber als erfahrener Kriminalist wußte er auch, wie hoffnungslos diese Angelegenheit war. Er sagte, ebenso wie Stepanow, ein „Professionaler“ wäre auf keinen Fall in die Wohnung eines Volkskommissars gestiegen. „Ich weiß wirklich nicht, wie man dir helfen könnte“, erklärte Ossipow. „Aller Voraussicht nach wird dich dieser Numismatiker nicht in Ruhe lassen. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn man es mit Sammlern zu tun hat; es sind meistens Verrückte.“ In diesem Augenblick betrat die Sekretärin das Zimmer und überbrachte Ossipow ein chiffriertes Telegramm aus Odessa. Er las den Inhalt und dachte über irgend etwas nach. Plötzlich erhellten sich seine Züge, und mit dem Gesicht eines Menschen, der unerwartet den Ausgang aus einem Labyrinth gefunden hat, streckte er mir das Telegramm entgegen. „Lies!“ sagte er. „Das hat etwas mit unserer Sache zu tun. Du bist anscheinend als Glückspilz geboren.“ Ich ergriff das Telegramm, las es zweimal durch, konnte aber beim besten Willen nicht verstehen, weshalb es bezeugen sollte, daß ich ein Glückspilz sei. Da hieß es wörtlich: „An den Leiter des MUR, Jemeljanow, Operative Information: Bekannter Knacker Admiral Nelson heute mit Schnellzug nach Moskau im internationalen Waggon abgefahren. Möglichkeit von gefährlichen Gastspielen nicht ausgeschlos-
sen. Admiral Nelson vor einem Jahr durch Amnestie vorfristig entlassen. Haben keinen Anlaß, ihn zu verhaften. Nelson war vor der Revolution unter dem Namen Jastrshembski, alias Romanescu, alias Schulz tätig. Leiter des Gouvernement-Kriminalamtes Odessa, Nikolajew.“ „Kolja, was hat denn das mit den durchlochten Dinaren zu tun?“ fragte ich Ossipow schüchtern. „Und ob es damit zu tun hat!“ rief er fröhlich. „Ich kenne Admiral Nelson sehr gut. Er knackt Geldschränke wie Nüsse, hat bereits zur zaristischen Zeit gearbeitet, eine Kapazität von europäischem Ruf, sozusagen der letzte der Mohikaner. In der Verbrecherwelt ist sein Wort Gesetz. Kurz und gut: er wird uns helfen! Hol mich morgen früh ab, wir fahren zum Bahnhof, ihn zu begrüßen.“ Am nächsten Morgen standen wir auf dem Kiewer Bahnhof und warteten auf den Schnellzug aus Odessa. Als der Zug einfuhr, gingen wir zum internationalen Waggon, um Admiral Nelson abzufangen. Er erschien mit einem Strohhut auf dem Kopf und trug einen eleganten Regenmantel über dem Arm. In der Hand hielt er einen soliden Spazierstock mit großem Elfenbeingriff, der mit einem Löwenkopf verziert war. Der Admiral war nicht mehr ganz jung, hager, rothaarig, über dem einen Auge trug er eine schwarze Seidenbinde, das andere blickte lustig und furchtlos in die Welt. Man konnte ihn für einen erfolgreichen Kaufmann, einen alten Seebären oder einen ausländischen Konzessionär halten. „Seien Sie gegrüßt, Admiral!“ rief Ossipow und ging auf ihn zu. „Ich heiße Sie in der Hauptstadt herzlich willkommen!“ „Nikolai Filippowitsch, welch eine Überraschung!“ schrie der Admiral erfreut und schüttelte Ossipows Hand mit einer
Miene, als hätte er vorher eine schlaflose Nacht vor Sehnsucht nach diesem Wiedersehen verbracht. „Es ist schon lange her seit wir uns das letztemal begegnet sind. Wie ich sehe, haben die Spürnasen vom Kriminalamt Ihnen bereits meine Ankunft gesteckt. Die haben auch nichts anderes zu tun, als einen so schwerbeschäftigten Menschen wie Sie zu belästigen, eijeijei! Dabei bin ich doch nackt wie ein Baby gekommen, ohne Gepäck, ohne Werkzeug. Weshalb erheben die Brüder da so einen Lärm, weshalb, frage ich Sie? Ich bin hergekommen, um mich ein bißchen umzuschauen, um mich aufzuheitern, zu besinnen, und diese Dummköpfe beunruhigen Sie! Andererseits muß ich den Kerlen dafür dankbar sein, konnte ich Sie doch dadurch wiedersehen.“ „Es liegt etwas Ernstes vor, Admiral“, unterbrach ihn Ossipow. „Kommen Sie, setzen wir uns in ein Restaurant!“ „Wenn der Pristaw (Polizeioffizier im zaristischen Rußland) sagt, man soll sich setzen, ist es klug, stehen zu bleiben, so beliebt man bei uns in Odessa zu scherzen“, sagte der Admiral lächelnd. „Gut, wollen wir ein Glas Bier zischen und ein bißchen plaudern. Aber wer ist dieser nette junge Mann?“ fragte er und wies auf mich. „Das ist mein Busenfreund. Wir machen gemeinsame Sache“, antwortete Ossipow. Als der Admiral sich im Bierlokal die Geschichte der durchlochten Dinare angehört hatte, begann er vor Entrüstung zu toben: „Was bauen die hier in der Hauptstadt bloß für einen Mist?“ schrie er mit Schaum vor dem Mund. „Wieso machen sich die Moskauer Klaubrüder so breit, frage ich Sie? Das ist doch der Gipfel der Frechheit, sich in die Wohnung eines Volkskommissars einzuschleichen! Als ob für so ‘nen Diebstahl nicht genug NÖP-Leute (Meist Fabrikanten. In der
Periode der Neuen ökonomischen Politik, besonders 1921 – 1925, wurden kapitalistische Bestrebungen in der Sowjetunion in beschränktem Maße geduldet.), Privatfirmen oder ausländische Niederlassungen da sind, aber nein, die müssen sich ausgerechnet an der Sowjetmacht vergreifen! Das ist ja Konterrevolution, das kann ich wohl als Sowjetmensch behaupten! Nikolai Filippowitsch, Sie kennen meinen curriculum vitae – so heißt doch Lebenslauf auf lateinisch, nicht wahr. Ich bin nicht mehr sehr stark in Latein, aber Sie wissen doch alles, und ich frage Sie: ,Hat Admiral Nelson nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution auch nur einen staatlichen oder genossenschaftlichen Geldschrank geknackt? Ja oder nein?’“ „Nein, nicht ein einziges Mal, Admiral“, pflichtete ihm Ossipow bei. „Das ist Tatsache.“ „Tatsache? Das ist doch keine Tatsache, sondern eine Frage der Weltanschauung und meine profession de foi, wie die Franzosen zu sagen pflegen. Hören Sie gut zu, junger Mann, für Sie ist es nützlich, so etwas kennenzulernen, denn Sie haben das Leben noch vor sich. Meine Überzeugungstreue! Glauben Sie, daß ich mit meinen Händen, von denen der Berliner Polizeipräsident auf dem Internationalen Kriminalistenkongreß in Wien im Jahre 1913 sagte, sie seien ein hervorragendes Phänomen, ja, er hat wörtlich gesagt: ,Meine Herren, das ist Wunder und Artistik.’ – Glauben Sie, daß ich mit diesen Händen auch nur eine Sparkasse oder selbst eine kleine Bezirksfiliale der Staatsbank ausgenommen hätte? Gott bewahre mich davor. Ich hätte mir gesagt: ,Semjon, hack dir besser die Hände ab, bevor du auch nur eine Kopeke vom Volk nimmst!’ Deshalb bin ich doch so tief empört!“ „Was können wir nun gemeinsam unternehmen, Admiral?“ unterbrach Ossipow diesen Redeschwall.
Admiral Nelson sah Ossipow bedeutungsvoll an und sagte dann leise: „Sie kennen meine Prinzipien, Nikolai Filippowitsch? Kurz: die Münzen werden da sein, der Mann aber nicht. Klar?“ „Völlig!“ antwortete Ossipow und erhob sich vom Tisch, womit er zu verstehen gab, daß die beiden Parteien auf hoher Ebene zu einem Abkommen gelangt waren. Nachdem wir uns vom Admiral verabschiedet hatten, der sich vorher noch Ossipows Telefonnummer notierte und uns versicherte, daß er sich umgehend mit gewissen Leuten treffen würde, um „ein Ultimatum zu stellen“, setzten wir uns ins Auto und fuhren zum MUR. „Und du glaubst wirklich, Nikolai Filippowitsch, daß dieser Gauner aus Odessa irgend etwas erreichen wird?“ fragte ich verzagt. „Wenn diese Münzen ein Mensch und nicht ein Gespenst gestohlen hat“, entgegnete Ossipow zuversichtlich, „dann werden sie in spätestens 48 Stunden in unserem Besitz sein. Du kennst diesen Kerl nicht, mein Lieber. Allein seine Ankunft in Moskau ist für die Kriminellen schon ein großes Ereignis. Und nun hat er auch noch die Wut im Bauch! Ich kann mir vorstellen, was für einen Staub er jetzt im Dschungel aufwirbeln wird. Der Admiral Nelson war niemals und wird auch niemals ein Polizeispitzel sein, das weiß ich. Aber, wenn man sich an ihn als Menschen wendet, wird er eher sterben, als das nicht erfüllen, was er versprochen hat.“ „Na, mir kam er mehr wie ein Aufschneider und Schwätzer vor“, meinte ich. „Dieses Märchen von der Begeisterung des Berliner Polizeipräsidenten…“
„Märchen?“ wiederholte Ossipow. „Na warte, wir fahren ja zu mir. Ich werde dir zeigen, was das für ein Märchen ist. Dieser Mensch hat wirklich goldene Hände.“ Eine halbe Stunde später blätterte ich bereits in den vergilbten Seiten einer Akte der Moskauer Kriminalpolizei. Auf dem Aktendeckel war zu lesen: „Jastrshembski, Kasimir Stanislawowitsch – alias Romanescu, Jean – alias Schulz, Wilhelm. Einer der gefährlichsten internationalen Geldschrankknacker, arbeitete im Russischen Reich und im Ausland, aktenmäßig erfaßt von der Kriminalpolizei in St. Petersburg, Odessa, Moskau, Rostow am Don und Nachitschewan sowie im Königreich Polen.“ Die Akte enthielt zahlreiche Anzeigen, Anfragen und Rapporte aller dieser Dienststellen und die Abenteuer des schwer greifbaren Admiral Nelson. Am ausführlichsten war ein „Memorandum“ des Direktors vom Polizeidepartement im Innenministerium, Belezki, vom 13. März 1913, adressiert an „Seine Hochwohlgeboren Herrn Minister für innere Angelegenheiten N. A. Maklakow. Es wurde gemäß einer Verfügung des Ministers abschriftlich an die Leiter der Kriminalpolizeiabteilungen in den größten Städten des Russischen Reiches „zur Kenntnisnahme und Auswertung“ weitergereicht. Der Inhalt lautete folgendermaßen: Entsprechend der Anordnung Eurer Hochwohlgeboren berichte ich hiermit über die verbrecherische Tätigkeit des bekannten Spezialisten für das Aufbrechen und Aufschweißen von Stahlsafes, eines Bürgers von Odessa, der unter den Namen Jastrshembski, Romanescu und Schulz bekannt ist und wiederholt für die von ihm begangenen strafrechtlich verfolgbaren Handlungen obenerwähnten Charakters vor Gericht stand.
In diesem wie auch in den vorangegangenen Jahren fanden, nach Unterlagen des Polizeidepartements, freche Beraubungen und Einbrüche in Banksafes verschiedener Städte des Reiches statt, aber besondere Aufmerksamkeit verdienen die in Nishni-Nowgorod und Samara registrierten Fälle. In Nishni-Nowgorod drang am 12. August vorigen Jahres ein unbekannter Täter nachts in die Räume der örtlichen Filiale der Wolga-Kama-Bank ein, wo er zwei Safes einer Spezialkonstruktion aufbrach, die von der bekannten deutschen Firma Otto Grill & Co. in Leipzig gekauft worden waren. Wie die polizeilichen Ermittlungen ergaben, die in dieser Angelegenheit von den Beamten der Polizei in NishniNowgorod durchgeführt wurden, hat sich der Übeltäter in den Räumlichkeiten der Bank höchstens 30 Minuten aufgehalten. So lange hatte sich der Nachtwächter, der Bürger Iwan Prochorow Kosolup, eigenmächtig von seinem Posten entfernt. Kosolup ist jedoch in Anbetracht seines bisherigen langjährigen und einwandfreien Dienstes in der Bank sowie angesichts des äußerst guten Leumundzeugnisses, das ihm sowohl die örtliche Polizei als auch der ehrwürdige Pater Warsonophius ausgestellt haben, von jeglichem Verdacht frei. Nach Aussagen des Kosolup hatte selbiger zu Beginn der zweiten Nachtstunde, als er sah, daß der Verkehr verstummt war, sich keine Passanten mehr auf der Straße befanden und sogar im Restaurant des Hotels „Rossija“ die Lichter ausgelöscht wurden, beschlossen, vorübergehend seinen Posten zu verlassen, um zu Hause Tee zu trinken. Er tat dies nachts nicht selten, um den Schlaf zu verjagen. Also schloß er die Eingangstür ab und ging nach Hause. Unterwegs begegnete er einem unbekannten jungen Mann mit steifem Hut, einer
sogenannten Glocke. Der Mann bat ihn um Feuer zum Anzünden einer Zigarette. Als Kosolup 30 Minuten später auf seinen Posten zurückkehrte, entdeckte er, daß die Eingangstür geöffnet war, und auch die zum Keller führenden Stahltüren offenstanden, wo sich die Banksafes befanden. Kosolup rief unverzüglich die Polizei herbei. Wie sich herausstellte, hatte der Einbrecher mit ungewöhnlicher Geschicklichkeit und außerordentlicher Sachkenntnis zwei Safes geöffnet, obwohl diese mit Geheimschlössern völlig einmaliger Konstruktion versehen waren. Nachdem der Übeltäter aus den obenerwähnten Safes rund 100 000 Rubel in staatlichen Banknoten geraubt hatte, verschwand er in unbekannter Richtung. Da die Leipziger Firma Otto Grill & Co. der Direktion der Wolga-Kama-Bank die Garantie gegeben hatte, daß ihre Safes infolge der besonders geheimen Schloßkonstruktionen von Außenstehenden nicht geöffnet werden könnten, benachrichtigte der Bankdirektor, Herr Golostschekin, unverzüglich die Firma telegrafisch von dem Vorgefallenen, Noch am gleichen Tage kam ein Antworttelegramm: Der Oberingenieur der Firma, Hans Schmelz, sei nach NishniNowgorod abgefahren, die Firma übernähme die Reisekosten. Einige Tage später traf der genannte Schmelz in Nishni-Nowgorod ein, untersuchte in Gegenwart des Bankdirektors und einiger Vertreter der Polizeibehörde beide Safes auf das genaueste und erklärte, daß sogar er als Schöpfer dieser Konstruktion die Stahlkammern in dreißig Minuten nicht öffnen könnte, sondern mindestens fünf Stunden dazu benötigen würde, und das auch nur mit Spezialwerkzeugen. Dann vertraute Ingenieur Schmelz dem Polizeimeister von Nishni-Nowgorod in einem Privatgespräch an, daß im Falle
der Festnahme des Täters die Firma Otto Grill & Co. ihm nach Verbüßung seiner verdienten Strafe vorschlagen wolle, unter günstigsten Bedingungen in ihrem Betrieb zu arbeiten. Daß dieser Vorschlag der Firma ernst gemeint ist, geht aus folgender Tatsache hervor: Ingenieur Schmelz hat sich sogar erlaubt, dem Polizeimeister ein äußerst wertvolles Geschenk dafür anzubieten, falls dieser bei den Verhandlungen mit dem Missetäter die Rolle eines Vermittlers übernehme. Auf dieses Geschenk hat der Polizeimeister selbstverständlich verzichtet, so geht es jedenfalls aus seinem Rapport an den Gouverneur von Nishni-Nowgorod hervor. Inzwischen gelang es, im Rahmen der von der örtlichen Polizei angestellten Ermittlungen festzustellen, daß sich am 13. August auf dem die Wolga stromab fahrenden Dampfer ,Großfürstin Tatjana’ ein unbekannter junger Mann mit einer Glocke, elegant angezogen und rothaarig, als Passagier der I. Klasse befand. Am Abend des gleichen Tages beteiligte er sich im Salon der I. Klasse zusammen mit anderen Passagieren an einem Glücksspiel. Wie man später herausbekam, befand sich unter den Kartenspielern der berüchtigte, mit Vorliebe auf Dampfern ,arbeitende’ Falschspieler Sigmund Pschedezki. Er kehrte vom Markt in Nishni-Nowgorod zurück, wo er sich für den polnischen Grafen Lankewitsch ausgegeben hatte. Als Pschedezki auf dem Dampfer eine Reihe von russischen und persischen Kaufleuten bemerkte, die ebenfalls vom Markt zurückkamen, veranstaltete er erneut ein Hasardspiel, an welchem auch der obenerwähnte junge Mann mit der Glocke teilnahm. Es ging um hohe Beträge. Nach Aussagen des Kellners der Schiffsküche, des Tataren Mursajew, welcher die Spieler sowohl mit Erfrischungs - als auch mit alkoholischen Getränken versorgte, wurde um
Zehntausende gespielt, und Pschedezki gewann einen Gesamtbetrag von mindestens 100 000 Rubel. Was den jungen Mann mit dem steifen Hut betrifft, so hat auch er nach Aussage von Mursajew viel verloren und beim Zahlen das Geld aus einer großen Ledertasche genommen, die er nicht einen Augenblick aus der Hand ließ. Wie Mursajew weiter mitteilte, war diese Ledertasche bis zum Rand mit Banknoten gefüllt. Nach Beendigung des Spiels suchten die Passagiere ihre Kajüten auf. Plötzlich vernahm Mursajew, der den Salon aufräumte, einen Lärm in der dritten Kajüte. Er schlich sich zur Tür und spähte durchs Schlüsselloch. Dabei sah er, wie der junge Mann mit der Glocke den falschen Grafen Lankewitsch am Kragen packte, heftig hin und her schüttelte und brüllte: ,Gib den halben Gewinn her, du Gauner, sonst stoßich dich aus dem Hemd!’ Pschedezki schrie, daß er lediglich bereit wäre, dem jungen Mann dessen Verlust zurückzuerstatten. Schließlich kam es zwischen den beiden zu einer Schlägerei, und der junge Mann mit der Glocke schlug Pschedezki mit einem Rettungsring auf den Kopf. Daraufhin händigte der Falschspieler dem jungen Mann die Hälfte des gesamten Gewinns aus, nahm seinen kleinen Koffer und verschwand bei Nacht und Nebel an der nächsten Dampferanlegestelle, die völlig tot dalag. Der Rothaarige rief ihm noch vom Deck aus nach: ,Jetzt hast du einen Sohn von Mutter Odessa kennengelernt, du Graf! Ein Anfänger bist du, aber kein Falschspieler.’ Er war sehr lustig. Nach Ankunft des obenerwähnten Dampfers ,Großfürstin Tatjana’ in Samara, wo der junge Mann mit der Glocke ausstieg, wurde dort in der übernächsten Nacht ein dreister Raub in der Kaufmannsbank von Samara ausgeführt. Ein
unbekannter Täter öffnete zwei Safes und entwendete 156 000 Rubel. Nach den polizeilichen Ermittlungen war am Abend der Ankunft des Dampfers ,Großfürstin Tatjana’ in Samara ein rothaariger junger Mann mit einer Glocke im Hotel ,Wolga’ abgestiegen. Er wies sich durch einen Paß auf den Namen Kasimir Jastrshembski aus. In der nächsten Nacht gegen drei Uhr kehrte er mit einer Tasche aus der Stadt in das Hotel zurück und gab dem ihm öffnenden Zimmermädchen Agrafena Gorina fünf Rubel Trinkgeld. Dabei war er, wie die Gorina aussagte, völlig nüchtern, aber offensichtlich sehr müde. Die vorstehenden Angaben brachten ein gewisses Licht in unseren Fall, zumal nach Unterlagen der Kriminalpolizei von Charkow der bekannte Geldschrankknacker SchulzRomanescu, bei ihr auch unter dem Namen Jastrshembski geführt wird. Kaum hatten wir jedoch diese Unterlagen erhalten und geprüft, da war Jastrshembski auch schon aus Samara – unbekannt wohin – abgereist. Erst acht Monate später tauchte eine neue Spur von ihm in Berlin auf. Der Berliner Polizeipräsident berichtete über folgenden Vorfall, der die Aufmerksamkeit der deutschen Polizei auf sich lenkte: Im Februar des laufenden Jahres 1913 wurde in Berlin eine Technische Ausstellung eröffnet, auf der sowohl die deutschen als auch andere europäische Firmen ihre Erzeugnisse vorführten. Im Pavillon für Banken- und Handelsausrüstung zeigte eine Reihe von Betrieben neue Stahlsafes mit Geheimverschlüssen. Insbesondere wurden auch die Safes der Firma Otto Grill & Co vorgeführt. Zu Reklamezwecken setzten sowohl diese Firma als auch die deutschen Elektro-
werke Siemens & Schuckert, welche Safes mit elektrischer Signalalarmeinrichtung zeigten, einen großen Geldpreis für denjenigen Besucher aus, der erstens den Safe öffnen könnte und zweitens ihn aufmachen würde, ohne daß die elektrische Alarm-Sirene sich automatisch einschaltete. Am 7. Februar trat im Beisein einer größeren Zuschauermenge irgendein rothaariger Mann mit einer Glocke auf den Leiter des Pavillons zu und erklärte, daß er versuchen wolle, die ausgestellten Safes der beiden Firmen aufzubrechen. Zum größten Erstaunen der Firmenvertreter und zur Begeisterung des Publikums öffnete er innerhalb 22 Minuten beide Safes, wobei er im zweiten Fall die geheime Signalanlage vorher auszuschalten vermochte. Die Geldpreise wurden ihm sofort überreicht, und er forderte alle Anwesenden in gebrochenem Deutsch auf, in die Bierstube ,Wagner’ mitzukommen, wo er sie auf seine Kosten bewirtete. Nachdem er selbst viel getrunken hatte, führte er einen Hackentanz vor und brachte Trinksprüche auf die Stadt Odessa aus, die er ,Mutter Odessa’ nannte. Inzwischen läutete der obenerwähnte Ingenieur der Firma Otto Grill & Co. Hans Schmelz, die Berliner Polizei an und teilte dieser mit, daß die Methode, wie der Unbekannte die Safes geöffnet habe, an den Raub in Nishni-Nowgorod erinnere. Darauf eilten Vertreter des Berliner Polizeipräsidiums zu der Bierstube ,Wagner’ und forderten den unbekannten jungen Mann auf, sich zu legitimieren. Er zeigte ihnen einen russischen Paß auf den Namen Jastrshembski mit einem Visum zur Reise ins Ausland, ausgestellt vom Kreispolizeichef des Ortes Konotop. Die Beamten der Berliner Polizei forderten ihn trotzdem auf, mitzukommen, um seine Personalien näher festzustellen. Jastrshembski weigerte sich entschieden
und bat das Publikum, das auf seine Kosten bereits reichlich getrunken hatte, um Schutz. Es setzte sich einmütig für ihn ein und drängte die Polizisten zurück, wobei Jastrshembski entkam. Indem ich Euer Hochwohlgeboren über das oben Dargelegte informiere, möchte ich es meinerseits für unbedingt erforderlich halten, an den Herrn Außenminister, seine Hochwohlgeboren Herrn Sasonow, heranzutreten mit dem Vorschlag, sich auf dem üblichen Dienstwege an die deutsche Polizei zu wenden und diese um Ermittlung, Verhaftung und Auslieferung des genannten Schwerverbrechers Jastrshembski alias Schulz zu ersuchen. S. P. Belezki Direktor des Polizeidepartements im Innenministerium, Staatsrat. Aus der weiteren Korrespondenz, die diese Archivakte enthielt, konnte man entnehmen, daß das zaristische Innenministerium über das Außenministerium fast ein ganzes Jahr hindurch mit der deutschen Polizei in Verbindung stand, die Admiral Nelson suchte oder wenigstens so tat. Dann brach der Krieg aus, und der frisch-fröhliche Schriftwechsel wurde eingestellt. Es war bereits Abend geworden, als ich mich mit dem Inhalt der vergilbten Dokumente vertraut gemacht hatte. Anschließend ging ich mit Ossipow in das Kino „Ars“, an dessen Stelle sich heute das Stanislawski-Theater befindet. Wir kauften Eintrittskarten und beschlossen, noch ein wenig spazieren zu gehen, da uns bis zum Beginn der Vorstellung noch eine runde Stunde Zeit verblieb. „Was meinst du, Nikolai, wie wird dieser Admiral Nelson wohl einmal enden?“ fragte ich Ossipow.
„Ich selbst denke oft an ihn und seinesgleichen“, antwortete Ossipow. „Wie soll ich es dir sagen, mein Freund, das ist ein sehr schwieriges und kompliziertes Problem. Wir haben von der Vergangenheit eine ziemlich große Verbrecherwelt geerbt, mit ihren eigenen Gewohnheiten, Überlieferungen und, damit du es weißt, mit ihren besonderen ,Schulen’ innerhalb der einzelnen Gattungen. Heute, während der NÖP, hat die Kriminalität wieder einen gewissen Nährboden erhalten. Luxus, Restaurants, Pferderennen, Schiebergeschäfte, Schwarzhandel, Tingeltangel und nicht zuletzt die NÖPLeute selbst lassen natürlich die Straffälligkeit wieder anwachsen. Es gibt auch noch viele alte ,Spezialisten’ – Einbrecher, Diebe, Inhaber aller möglichen Schlupfwinkel usw. Ich glaube, daß die meisten früher oder später gefaßt und dorthin geschickt werden, wo sie hingehören. Ein gewisser Teil aber wird sicherlich ,umgeschmiedet’ und beginnt ehrlich zu arbeiten. Was der Admiral machen wird, ist schwer zu sagen. Doch daß er noch niemals Safes der Staats- und Genossenschaftsbanken ausgeplündert hat, ist eine Tatsache. Immerhin etwas! Alles andere wird die Zeit bringen…“ Der Morgen des nächsten Tages begann mit einem telefonischen Anruf der Sekretärin von S. die mir mitteilte, S. befinde sich nach wie vor in großer Erregung und wolle daran erinnern, daß nur noch zwei Tage Frist geblieben seien. Ich kann nicht behaupten, daß mich diese Nachricht erfreut hätte. Am Nachmittag teilte mir Ossipow mit, Admiral Nelson habe ihn soeben davon verständigt, daß die Nachforschungen auf vollen Touren liefen, die Münzen aber vorläufig noch nicht da seien. Gegen Abend rief Schewerdin an, und an der Besorgnis, mit der sich dieser gute Alte nach dem Verlauf der Dinge erkundigte, merkte ich, daß er ernsthaft beunruhigt war. Ich
schloß daraus, daß uns nichts Gutes blühen würde, falls sich die Münzen nicht einfänden. In großen Zügen berichtete ich Schewerdin, daß die Genossen vom MUR bestimmte Maßnahmen getroffen, leider aber bisher noch keine Ergebnisse erzielt hätten. „Schade, schade!“ sagte Schewerdin und seufzte, „unser Geschädigter tobt schon zu sehr… Geben Sie sich nur Mühe, mein Engelsgesicht, tun Sie alles Mögliche, sonst werden wir beide nichts zu lachen haben.“ Es ist nicht schwer, sich meinen Zustand vorzustellen, als ein wenig später die mir wohlbekannte Hupe von Ossipows Dienstwagen ertönte. Wie aus der Pistole geschossen, raste ich auf die Straße und erblickte bereits von weitem das lächelnde Gesicht meines Freundes, neben dem einer seiner begabtesten Mitarbeiter, Nikolai Leontjewitsch Noshnizki, saß. „Komm schnell, steig ein!“ rief mir Ossipow zu. „Der Admiral hat angerufen und gebeten, sofort zum ,KulturEckchen’ zu kommen.“ Ich nahm Platz, und wir sausten zur Gorkistraße. Dort befand sich in einem niedrigen, jetzt schon längst abgetragenen Haus an der Ecke der Kleinen Gnesdnikowskajastraße das sogenannte Kultur-Eckchen, eine Bierstube, die sich weniger durch Kultur, als durch schmackhafte Krebse und eine besonders zarte Zarte (Fisch, zur Familie der Karpfen gehörend) auszeichnete, die man mit eingeweckten Erbsen zum Bier servierte. Admiral Nelson erwartete uns bereits an einem Ecktischchen. Er trug einen eleganten, modernen Anzug, auf seinem Gesicht lag ein feierlicher Ausdruck. „Guten Abend, guten Abend!“ sagte er würdevoll. „Na, Sie haben mir ja eine feine Arbeit aufgehalst, verflucht noch
mal! Da kommt der Mensch nun her, um sich zu erholen. Schöne Erholung! Bei so einer Erholung ist es nicht weit zum Sarg, wie mein seliger Papa zu sagen pflegte, und es gab in Odessa keinen klügeren Menschen als ihn und wird es wohl auch nicht mehr geben. Übrigens war er der beste Mechaniker in dieser großen Stadt, und ich habe an mir selbst erfahren, daß die Vererbungsgesetze keine Erfindung von Scharlatanen sind. Eines Tages – ich will auf der Stelle umfallen, wenn…“ „Können wir nicht schneller zu Sache kommen?“ unterbrach ihn Ossipow. „Die Geschichte mit Ihrem seligen Papachen haben Sie mir bereits im Jahre 1921 erzählt.“ „Pardon, das habe ich vergessen, Ehrenwort, ich habe es vergessen“, versicherte der Admiral. „Also gut, ich kann auch rascher zur Sache kommen. Gestern bin ich gleich vom Bahnhof losgegangen, habe meine besten Gewährsleute zusammengetrommelt und eine Plenarsitzung abgehalten. Ich habe eine so eindringliche Rede geschwungen, daß die Jungen weinen mußten. ,Ihr verfluchten Ungeheuer der Konterrevolution’, habe ich zu ihnen gesagt. ,Ihr seid derart gewissenlos, ihr Pack, euch auf einen Volkskommissar zu stürzen und bei ihm irgendeine lumpige und völlig unnütze Münzensammlung zu stibitzen, um sein unersetzliches Leben zu verkürzen! Wegen irgendwelcher dreckigen Dinare mit Löchern haltet ihr ein Mitglied der Regierung von wichtigsten Staatsgeschäften fern, ihr Denikin-Strolche! Ich habe alle meine Geschäfte in Odessa sausen lassen und bin hierher geeilt, um euch mein Pfui ins Gesicht zu schreien. In der Moldawanka (Stadtteil von Odessa) hat man drei Tage ausgespuckt, als man von eurer gemeinen Untat erfuhr, für die es keine Worte gibt, ihr Machno Verbrecher!’ (Konterrevolutionärer Bandenführer in der Ukraine (1918 – 1921).
– Mindestens eine halbe Stunde habe ich geredet, und man hat mir dreimal Wasser reichen müssen, so habe ich mich aufgeregt. Schließlich erhob sich der König der Moskauer Wohnungseinbrecher, Sie kennen ihn, Nikolai Filippowitsch.“ Ossipow nickte. „Ich weiß, Senka der Panther.“ „Eben derselbe. Bittere Tränen vergießend, erklärte er, daß er es nicht gewesen sei. Was soll ich Ihnen viel erzählen? Dort war die Krem von Moskau versammelt, und alle schworen, ihre eigentliche Tätigkeit ab sofort einzustellen und nicht eher wieder aufzunehmen, bis sie diese verdammten Münzen gefunden hätten, derentwegen wir alle in Schimpf und Schande geraten sind. Und wer sollte es wohl besser wissen als Sie, daß die Brüder tatsächlich ihr Wort gehalten haben.“ „Das stimmt!“ bestätigte Ossipow. „In den letzten 24 Stunden wurde zum ersten Mal seit Jahren kein einziger Einbruchdiebstahl begangen.“ „Was heißt Einbruchdiebstahl?“ fragte der Admiral beleidigt. „Was heißt Einbruch, wenn seit einem Tage überhaupt niemand mehr arbeitet! Wir mußten doch auch die Taschendiebe und Straßenräuber aller Spezialitäten und Schattierungen mobilisieren. Ist etwa auch nur ein NÖP-Mann ausgezogen worden, ist auch nur irgendeinem Weibsbild eine Handtasche entrissen oder irgendwo eine Brieftasche geklaut worden? Aber was soll ich Ihnen noch alles erzählen, es genügt, wenn ich Ihnen sage, daß wir den Belagerungszustand über die Stadt verhängt haben. Diese durchlochten Dinare kommen uns teuer zu stehen! Denken Sie vielleicht, daß auch nur einer von uns zehn Minuten geschlafen hätte? Wenn Sie das glauben, ist es aus mit meiner Achtung vor Ihnen.“
„Aber nein, das denke ich nicht!“ beeilte sich Ossipow zu erklären: „Weil Sie ein kluger Mensch sind! Ich will Ihnen noch mehr verraten, ich selbst habe die ganze Nacht in unserem Hauptquartier verbracht.“ „In der Zoogasse?“ fragte Ossipow lächelnd. „Nicht doch, Nikolai Filippowitsch, das hätte ich von Ihnen nicht erwartet.“ Die Züge des Admirals verfinsterten sich. „Admiral Nelson hat sein ganzes Leben lang keinen Schlupfwinkel verpfiffen, und derartige Fragen entsprechen nicht unserer Abmachung. Kurz, ich werde nichts mehr sagen.“ „Ist schon gut, reden wir nicht mehr darüber.“ Ossipow schmunzelte. „Setzen wir lieber unsere Sitzung fort!“ „Einverstanden! Bis zum Morgen habe ich also dort gesessen, aller halben Stunde kamen Menschen aus sämtlichen Teilen der Stadt zu mir, und jeder meldete: ,Nicht gefunden!’ Gegen sieben Uhr morgens hätte kein Medizinprofessor der Welt für mein Leben auch nur einen Pfifferling gegeben, so ein Fieber hatte ich vor Aufregung. Gegen acht war ich bereits mit einem Bein im Jenseits. Das Herz arbeitete kaum noch, der Puls stockte und Manka der Floh, unsere Herbergsmutter, schluchzte, als sie mich sah, und jammerte’ ,Admiral, mein Bester, solltest du wirklich wegen irgendwelcher Dinare mit Löchern sterben? Oje, was werden wir dann nur Odessa sagen? Wenn wir eingestehen, daß wir schlecht auf dich aufgepaßt haben, wird man mir meinen Stall abbrennen!’ – Und wer, denken Sie, wer mich schließlich gerettet hat? Senka der Panther. Er kam um neun Uhr dreißig angelaufen, und als er sah, daß ich kaum noch atmete, wußte er gleich, was zu tun sei. Der Panther ist nämlich ein Mann von überdurchschnittlicher Bildung; er hat die
Feldscherschule in Shmerinka fast beendet, und weiß Gott, wenn er nicht ein Dieb geworden wäre, würde er heute längst Medizinprofessor sein. Kurz, er stürzte sofort zum nächsten Krankenhaus, entführte dort am hellichten Tage irgendeinem Kranken ein Sauerstoffkissen und brachte es mir. Gott gebe ihm Gesundheit, es war der einzige Diebstahl, der an diesem furchtbaren Tage begangen wurde. Da sehen Sie, wie ich mich in Moskau erholt habe, Nikolai Filippowitsch.“ „Bitte, zur Sache, Admiral!“ forderte Ossipow unerbittlich. „Aber wir nähern uns ihr ja gerade, ich werde gleich Anker werfen“, entgegnete der Admiral. „Als ich wieder ein wenig Luft schnappte, stürzte, aus vollem Halse brüllend, Kolka das Kaninchen vom Marienwäldchen ins Zimmer. Er sah aus, als hatte er sieh gerade vom Pfahl des türkischen Sultans losgerissen oder in der Straßenbahn der Linie B die britische Krone gestohlen. ,Was schreist du so, du Idiot?’, fragte ich ihn, aber er blökte immer weiter. Endlich hatte Senka der Panther ihm alles aus der Nase gezogen: Es stellte sich heraus, daß die Jungen diesen verfluchten Dieb gefunden hatten, der erstens kein Moskauer, zweitens, das ist noch wichtiger, keiner aus Odessa, und drittens überhaupt kein richtiger Dieb war, sondern irgendein hergereistcr Stümper aus Tula. Und nun möchte ich Sie fragen, ist das nicht eine verrückte Welt?“ „Wo sind denn die Münzen?“ fragte Ossipow ruhig und sah dem Admiral forschend in die Augen. „Genau die gleiche Frage, so originell sie auch ist, habe ich Kolka dem Kaninchen gestellt“, antwortete der Admiral ironisch. „Die Münzen sind in Tula. Dieser Stümper hatte nichts Eiligeres zu tun, als sie dorthin zu schaffen. Jetzt ist eine Delegation hingefahren, um sie zu holen. Sie wird in
Tula das Unterste zuoberst kehren und nicht eher ruhen, bis sie die Münzen gefunden hat. Sicherlich werden die Jungs sie bald bringen.“ Jetzt konnte sich selbst Ossipow nicht mehr beherrschen und seufzte erleichtert auf. Bei mir begann sich alles vor Freude zu drehen. Noshnizki lachte so schallend, daß ihm Tränen die Backen herunterkullerten. In diesem Augenblick warf jemand ein Steinchen gegen das Fenster. Admiral Nelson sprang wie von der Tarantel gestochen auf und schrie: „Die Boten sind gekommen, die Musik spielt einen Tusch!“ Und damit stürzte er aus der Bierstube. Einige Minuten später kehrte er mit feierlicher Miene zurück. In der Hand trug er eine große Ledertasche mit Metallverschlüssen. „Da sind sie“, erklärte der Admiral, und sein einziges Auge funkelte vor satanischem Stolz. „Ich laß mir den Kopf abhacken, ein anderer hätte sie nicht gefunden. Nicht einmal sämtlichen Polizisten der Welt wäre das gelungen. Selbst wenn die Teilnehmer des Wiener Internationalen Kriminalistenkongresses, auf dem der Berliner Polizeipräsident meine geschickten Hände so lobend erwähnte, diese Münzen gesucht hätten, es würde ihnen nichts weiter übriggeblieben sein, als sich in der Moskwa zu ersäufen… Wegen der noch nie dagewesenen Blamage. Junger Mann“, wandte sich der Admiral dann an mich, „Sie stehen erst am Anfang Ihres Lebens und sind mir äußerst sympathisch. Schauen Sie her, freuen Sie sich, und merken Sie sich: Zu so etwas sind nur Diebe fähig, wenn ihre Ehre angetastet wird. Und darüber hinaus: der Name Admiral Nelson und seine enorme Autorität sprechen für sich!“
Er ließ die Verschlüsse aufschnappen und öffnete die Ledertasche. In ihrem Innern ruhten die Münzen in Spezialfächern wie Tauben in ihren Nestern. Wir betrachteten sie. Es waren rund 200 Stück. Alle aus Kupfer, mit Grünspan und Patina überzogen, kleine und große mit aufgeprägten Stieren und Schlangen, Adlern und Steinböcken, Sphinxen und Kranichen. „Ich bitte, sich angesichts der Jahrtausende zu erheben!“ erklärte der Admiral in ehrfürchtigem Ton, und stand auch tatsächlich auf. „Sehen Sie, den Löchern nach zu urteilen, sind es die gleichen Dinare, derentwegen ein so fürchterlicher Lärm geschlagen wurde… Mein Gott, welche Ironie des Schicksals, pflegte Rechtsanwalt Nikolai Nikolajewitsch, Schneerson aus Odessa zu sagen, der mich im Jahre 1915 verteidigte, als mich die Kriminalpolizei schließlich doch geschnappt hatte. Es ist wirklich ein Hohn und direkt widerlich, diese Münzen in die Hand zu nehmen: wegen so einem Dreck sind Menschen dieser großen Stadt wie Kater hin und her gehetzt, denen man Baldriantropfen zu riechen gab! Und ein Volkskommissar hat sich wegen so ‘nem lumpigen Kupferzeug aufgeregt! Wahrlich, auch große Menschen sind Dummköpfe, wie der Philosoph Spinoza meinte, obwohl er das sehr wahrscheinlich selbst gar nicht gesagt hat.“ Der Admiral war in Fahrt. Nachdem er einige Gläschen Wodka hintergekippt und sie mit einem großen Glas Bier heruntergespült hatte, überfiel er uns mit einem Redeschwall. Aus Höflichkeit – immerhin hatte dieser Mensch uns geholfen – unterbrachen wir ihn nicht. Ossipow wurde nur immer trauriger. Er konnte Geschwätz nicht ausstehen. Und nun ergossen sich über uns philosophische Sentenzen und prahlerische Erinnerungen eines alten Geldschrank-
knackers, lyrische Abschweifungen und die Diebesgeschichten der Moldawanka von Odessa. Schließlich versiegte sein Quell, oder genauer gesagt, der Admiral war müde geworden. Die Pause nutzend, wollten wir uns bereits verabschieden, als er plötzlich erklärte: „Und wissen Sie, was das seltsamste an diesem seltsamen Fall ist: Admiral Nelson hat sich zum erstenmal im Leben damit befaßt, nach Diebesgut zu forschen, anstatt zu stehlen. Und wie sich herausstellte, ist das bedeutend interessanter. Aufs Ehrenwort eines alten Geldschrankknackers: Es war der glücklichste Tag meines Lebens.“ Auf einmal nüchtern geworden, schaute uns der Admiral mit dem traurigen Blick eines alternden Menschen an, der schlagartig erkennt, daß er sein Leben umsonst vertan hat. Ossipow wurde sofort munter und sah dem Admiral forschend ins Gesicht. „Von allem, was Sie uns heute erzählt haben, Semjon Michailowitsch“, sagte er ernst und redete den Admiral zum ersten Male so an, „ist dies das Wertvollste und Klügste. Und wenn Sie, nachdem Sie diese Münzen gefunden haben, von jetzt an auch noch Ihren künftigen Lebensweg selbst zu finden verstehen – und das ist stets möglich, wenn der Mensch einen Kopf und keinen Kohlkopf hat sowie ein Herz und kein faules Ei in der Brust – so bin ich Ihr treuer Verbündeter. Ich würde mich freuen, mich auf diese Weise revanchieren zu können.“ An dem plötzlichen und starken Erröten des Admirals merkte ich, daß Ossipow, wie immer, mitten ins Schwarze getroffen hatte. Ein allgemeines Schweigen folgte, das oft mehr besagt als die schönsten Worte. Der Admiral saß mit gesenktem Kopf da und sann über etwas nach. Ossipow blickte ihn unentwegt an, und in seinen
Augen schimmerte jene warme menschliche Anteilnahme, an der es einem wirklichen Kriminalisten nicht fehlen darf. Nur zu oft begegnete ich später leider Untersuchungsrichtern, denen es daran mangelte. Nach einer langen Pause hob der Admiral den Kopf und sagte leise, beinahe flüsternd: „Ich glaube, es war Archimedes, der gesagt hat, daß er die Welt aus den Angeln heben könnte, falls man ihm einen Hebel geben würde. Ich bin nicht Archimedes, und die Welt hat sich ohne mich gewandelt. Aber da ich sehe, daß sie sich richtig gewandelt hat, hat sich auch in mir irgend etwas verändert. Ich bin schon ziemlich alt, Nikolai Filippowitsch, und in meinen Jahren fällt es schwer, ein neues Leben zu beginnen. Aber Sie haben mir Vertrauen geschenkt, und das ist ein ähnlicher Hebel wie der, von dem Archimedes träumte. Ich werde versuchen, meine alte verknöcherte Welt umzumodeln. Ich werde versuchen, den verrosteten Safe aufzuschmelzen, den ich in meinem Inneren herumschleppe. Wer weiß, vielleicht ist in ihm etwas Wertvolles erhalten geblieben. Vielleicht…“ Er erhob sich rasch und lief aus der Bierstube, ohne sich zu verabschieden. Als ich Schewerdin erzählte, was geschehen war, lachte der Alte so heftig, daß ich mich um ihn zu sorgen begann. Dann, und das kam völlig unerwartet für mich, sagte er in strengem Ton: „Und trotzdem, mein Bester, habe ich mich hier mit den Genossen beraten, jawohl, und wir haben einstimmig beschlossen, daß Sie sich vor dem Disziplinarkollegium des Gouvernementsgerichts zu verantworten haben… Ja, eben dort. Schreiben Sie eine Erklärung!“
Völlig durcheinandergeraten, verließ ich Schewerdins Arbeitszimmer und ging schnell zu Snitowski und Laskin, meinen ersten Lehrmeistern. Beide waren sichtlich verstimmt. Laskin knurrte unwirsch „Tag“ und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Snitowski sah mich kühl an. Außer ihnen befand sich der Vertreter der GouvernementsStaatsanwaltschaft, Ostrogorski, im Zimmer, ein großer, stattlicher Mann mit üppigem blondem Haar und großen grauen Augen, die diesmal sehr streng blickten. Er beaufsichtigte die Untersuchungen. „Kleine Kinder – kleine Sorgen, große Kinder – große Sorgen“, begann Snilowksi. „Ja, Lew Romanowitsch“ – er hatte mich bisher noch nie so angeredet – „ich bin sehr, sehr betrübt über Ihr eigenartiges Verhalten. Es war nicht gut, mein Herr, gar nicht gut. Ich erlaube mir sogar zu sagen: es war beschämend! Haben wir Sie das etwa gelehrt, Herr, oder…?“ „Iwan Markowitsch, gestatten Sie…“ stammelte ich. „Gar nichts gestatte ich.“ Snitowski hieb dabei mit der Faust auf den Tisch. „Gar nichts gestatte ich! Ei – jei – jei, da setzt sich so ein Untersuchungsrichter mit einem xbeliebigen Verbrecher in eine Bierstube! Das ist ja furchtbar, furchtbar!“ „Niederschmetternd“, pflichtete ihm Laskin bei. „Es ist einfach unbegreiflich!“ ließ sich auch Ostrogorski vernehmen. „Als Schewerdin uns alles erzählt hat“, fuhr Snitowski fort, „sind wir übereingekommen, daß das nicht ungestraft bleiben kann und darf… Man muß Sie für die Zukunft belehren, jawohl, belehren, daß kein Mensch das Recht hat, unsere Körperschaft zu beschmutzen.“
Eine Woche später stand ich bereits vor dem großen, mit grünem Tuch bespannten Tisch, hinter dem das Disziplinarkollegium des Gouvernementsgerichts in voller Besetzung und mit dem finsteren, bärtigen Degtjarew an der Spitze thronte. Bis dahin hatten es meine teuren Lehrmeister verstanden, mich voll und ganz davon zu überzeugen, daß ich eine große und unverzeihliche Sünde begangen hatte. Und so berichtete ich jetzt mit größter Offenheit den Mitgliedern des Disziplinarkollegiums, wie und warum alles so gekommen und geschehen war. Ach, wie elend war mir dabei zumute! Degtjarew hörte sehr aufmerksam zu, und in seinen sonst so finster dreinschauenden Augen glomm – wie seltsam das auch sein mochte – irgendwo, ganz in der Tiefe, ein freundlicher, ja vielleicht sogar fröhlicher Funke auf. Mag sein, daß er gerade deshalb böse an seinem Bart kaute und von Zeit zu Zeit unheilverkündend einwarf: „Erzähle, erzähle weiter, erzähle alles! Sieh mal an, wie geschickt du bist. Du bist mir vielleicht einer! Wollte ein Sherlock Holmes werden!“ An all das erinnerte ich mich aber erst später, denn damals war mir nicht nach Überlegungen zumute, und ich hatte nur Angst, in der Aufregung etwas zu verschweigen. Jedoch ich verschwieg nichts. Die Richter berieten sich nur zwanzig Minuten, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Und als Degtjarew den Beschluß verlas, hörte ich mit Mühe, wie durch einen Nebel, der meinen Kopf verhüllte, die Hauptsache heraus: daß man mich nicht von meiner Arbeit suspendiert und das Kollegium angesichts meiner Jugend und offenen Reue beschlossen hatte, sich mit einem mündlichen, aber strengen Verweis zu begnügen.
Und da – heute kann ich es sagen – kamen mir nach all den vorangegangenen Aufregungen die Tränen, worauf Degtjarew in sehr freundlichem, für ihn erstaunlichem Ton leise sagte: „Macht nichts, macht gar nichts; genier dich nicht, wein dich ruhig aus, mein Kleiner. Möge es dein letzter Kummer im Leben sein!“ Lange Zeit später, ungefähr Mitte der dreißiger Jahre, führte mich das Schicksal erneut mit dem Admiral Nelson zusammen. Ich arbeitete damals bei der Generalstaatsanwaltschaft der UdSSR als Leiter der Untersuchungsabteilung, und als ich eines Tages in das Arbeitszimmer des Generalstaatsanwaltes der UdSSR, I. A. Akulow, kam, fand ich ihn in heller Aufregung. „Da, Lew Romanowitsch, schauen Sie sich doch nur dieses Unglück an“, wandte sich Akulow an mich. „Ich habe den Safeschlüssel verloren, muß aber in zwei Stunden meinen Bericht vor der Regierung abstatten, und alle Unterlagen sind im Safe. Unser Mechaniker wagt sich nicht heran, da es ein komplizierter Geldschrank mit irgendeinem Spezialschloß ist. Er meint, daß man sich mindestens einen Tag damit herumplagen müßte.“ Ich blickte zu dem massiven Stahlschrank hinüber. Dabei fiel mir sofort ein, daß Ossipow mir vor ein paar Jahren erzählt hatte, Admiral Nelson habe mit seiner Vergangenheit endgültig Schluß gemacht und sei nach Moskau gezogen, wo er als technischer Leiter einer Mechanikergenossenschaft ehrlich arbeite. „Einen Augenblick, Iwan Alexejewitsch, ich werde versuchen, Ihnen zu helfen“, sagte ich zu Akulow.
Ich rief Ossipow an, der bereits im Innenministerium der UdSSR arbeitete, und erzählte ihm von dem Mißgeschick, das dem Generalstaatsanwalt widerfahren war. „Alles klar, mein Alter“, entgegneter er. „Ich werde sofort versuchen, Semjon Michailowitsch zu finden, und falls es gelingt, komme ich zusammen mit ihm hin“, antwortete mir Ossipow. „Ich habe ihn allerdings seit einem Jahr nicht gesehen und weiß nicht, ob er überhaupt noch lebt.“ Akulow, der stets alles schon aus Andeutungen verstand, fragte, kaum daß ich den Telefonhörer aufgelegt hatte, „Sagen Sie, handelt es sich nicht um den Admiral Nelson, von dem Sie mir erzählt haben?“ „Ja, er ist es, Iwan Alexejewitsch.“ „Nun, nach allem, was ich von ihm gehört habe, wird er uns schon helfen. Alte Fachleute lassen einen nie im Stich.“ Und Akulow lächelte dabei mit jenem einmaligen, weichen und schalkhaften Lächeln, das seine Mitarbeiter an ihm so gern sehen. Es war noch keine halbe Stunde vergangen, als Nikolai Filippowitsch zwar etwas außer Atem, aber noch immer in alter Frische erschien. Ihm folgte ein adrett gekleideter alter Herr mit einem Köfferchen in der Hand und einer schwarzen Binde um das eine Auge, die mit derselben Korrektheit angelegt war, die sein ganzes Wesen auszeichnete. Die Jahre waren auch an ihm nicht spurlos vorübergegangen. Man konnte den Admiral nur schwer wiedererkennen, so sehr war er gealtert. Nur ganz in der Tiefe seines Auges glimmte noch immer jenes lebendige Feuer, das ich von unserer ersten Begegnung her im Gedächtnis behalten hatte. Akulow empfing den Admiral mit gewohnter Höflichkeit, und mit Taktgefühl.
„Guten Tag, bitte setzen Sie sich doch! Man hat mir erzählt, daß Sie einer der besten… hm… Mechaniker seien. Ist es nicht so?“ „Diese Ansicht vertraten seinerzeit fast alle Polizeibehörden Europas, Genosse Akulow“, antwortete der Admiral mit Würde. „Aber es ist nun mal eine Eigenschaft der Polizei, sich mehr zu irren, als irgend jemand anders. Übrigens soll ich mich tatsächlich mit Safes etwas ausgekannt haben. Handelt es sich um diesen Sarg?“ Er zeigte bei diesen Worten auf den unglückseligen Geldschrank. „Ganz richtig. Er stammt, wenn ich mich recht besinne, aus Deutschland.“ „Ja, Leipziger Arbeit“, bestätigte der Admiral, während er den Panzerschrank näher in Augenschein nahm. „Allerdings keine ,prima Arbeit’, wie die Deutschen sich auszudrücken pflegen. Es ist ein Safe von der Firma Otto Grill & Co. und ich bin mit deren Produktion etwas vertraut. Wir haben hier Doppelgriffe aus nichtrostendem Stahl mit einer Innenfeder und einer automatischen Seitenbremse – sehen Sie, hier links – , die das Schloß zuhält, falls man das Geheimnis nicht kennt. Und da sitzt das Geheimnis selbst, es ist ziemlich musikalisch, tja, die Deutschen lieben eben die Musik.“ Admiral Nelson drückte dabei auf das Köpfchen eines der fünf Messingbolzen, mit denen das Schloß vernietet war. Das Köpfchen gab sofort nach und rückte melodisch klingelnd zur Seite. „Ganz richtig“, meinte Akulow lächelnd. „Ich sehe, daß die Polizei sich doch nicht immer irrt, Semjon Michailowitsch, so heißen Sie doch? Sie sind wirklich ein großer Spezialist.“ „Loben Sie mich bitte nicht vorzeitig, sonst kann es noch schiefgehen“, verwahrte sich der Admiral. – „Jetzt wollen
wir uns mit diesem ,Deutschen’ anfreunden, so wie es sich gehört.“ Er holte aus seinem Köfferchen einen dünnen Stahldraht und einen langen Schlüssel mit verschiebbaren Barten hervor und begann damit ganz lautlos zu operieren. „Safeschlösser vertragen keine Grobheit“, erklärte er. „Man muß mit ihnen delikat umgehen. Sie schätzen, genauso wie Frauen, mehr die Aufmerksamkeit als die Kraft. Natürlich wirkt es komisch, wenn so ein alter Knacker wie ich von Frauen spricht. Aber in seiner Jugend kannte sich der ehemalige Admiral Nelson nicht nur allein in Safes gut aus, obwohl er bloß ein Auge hatte. Übrigens, Genosse Akulow, man hat mich eben deshalb Admiral Nelson genannt, denn der war ja auch einäugig. Im Oktober 1905 hatte ich ein Gastspiel in Amsterdam gegeben und, jetzt kann man ja ruhig darüber sprechen, dort einen prächtigen Safe gekapert. Am nächsten Tag las ich in der Zeitung, daß eine Woche später in England der hundertste Todestag von Horatio Nelson festlich begangen würde, der, wie Sie wissen, am 21. Oktober in der Seeschlacht von Trafalgar gefallen war, nachdem er die französisch-spanische Flotte vernichtet hatte. Ich bekam Lust, meinem Namensvetter eine Aufmerksamkeit zu erweisen. So kaufte ich eine Unmenge der berühmten holländischen Tulpen, verfrachtete sie auf ein Schiff und fuhr nach England. Drei Güterwagen beförderten meine Tulpen zum Friedhof, wo ich mich selbst in einem neuen Frack und Zylinder einfand. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: Als das Publikum meine Tulpen sah, wurde ich mehr begafft als der Erste Lord der Admiralität. Und dann hielt ich eine Rede. ,Ladies and Gentlemen’, sagte ich. ,Es ist für mich eine Ehre und ein Vergnügen, hier die einmalige Stadt Odessa zu vertreten, die der Welt so viel hervorragende Dichter, Musi-
ker, Seeleute und Rechtsbrecher geschenkt hat. Euer einäugiger Admiral verstand sein Fach, was übrigens vielen einäugigen Menschen eigen ist.’ – Man bereitete mir eine Ovation. Ja, im Alter bleiben uns nur noch die Erinnerungen! Kant soll das gesagt haben, doch davon bin ich nicht ganz überzeugt.“ „Davon, daß nur die Erinnerungen bleiben, oder davon, daß es Kant gesagt hat?“ warf Akulow rasch ein. „Nikolai Filippowitsch kann Ihnen bestätigen, daß es sich nur um das Letztgenannte handelt. Davon aber, daß ich außer den Erinnerungen bereits seit langem nichts mehr besitze, ist außer mir auch das gesamte Kriminalamt überzeugt.“ „Stimmt“, meinte Ossipow. Und im gleichen Augenblick öffnete der Admiral mit den Worten: „Na endlich, danke dir schön, mein Kleines!“ den Safe. Akulow dankte dem Admiral und fragte höflich, was er ihm schuldig sei. Doch der Admiral winkte so bestimmt ab, daß diese Frage gegenstandslos wurde. „Nochmals besten Dank, Semjon Michailowitsch“, sagte Akulow. „Ich bin aufrichtig erfreut darüber, daß ich Sie jetzt kennengelernt habe, wo man bereits sagen kann, daß Sie die schwerste, sogar die allerschwerste Prüfung bestanden haben, die man sich denken kann. Ich meine damit nicht den Safe.“ „Ich verstehe Sie, Genosse Akulow“, antwortete der Admiral leise. „Sie denken dabei nicht an den Safe, sondern an den, der ihn geöffnet hat. Tja, offen gesagt, begann die Wandlung bereits damals, als wir nach den durchlochten Dinaren suchten. Und ich gehe auch jetzt jedes Jahr in das Puschkin-Museum – dort gibt es eine Abteilung für alte Münzen – , betrachte mir diese Dinare und gedenke des un-
bekannten, längst verschiedenen Meisters, der sie vor so vielen Jahren geprägt hat. Doch noch mehr verdanke ich den lebenden und bekannten Meistern, die unsere bewundernswerte Zeit prägen… Und die sogar so abgegriffene Münzen umprägen wie mich.“
Das Jagdmesser Jawohl, die Verfügung war unterzeichnet, in der es schwarz auf weiß stand, der Inhaber des Lehrstuhls für Zoologie, Professor Burow, und sein Assistent Woronow hätten sich für ein Jahr auf die Kolgujew-Insel in der Barentsee zu begeben, um dort wissenschaftliche Forschungsarbeiten durchzuführen. Als die Dozenten und Studenten diese Verfügung lasen, mußten sie lachen, denn es war allgemein bekannt, daß zwischen dem Professor und seinem Assistenten ein gespanntes Verhältnis herrschte. Mancher spöttelte, die beiden hätten den Auftrag nicht von ungefähr erhalten, sondern aus gutem Grund – die Kälte der Arktis sollte die feindlichen Hitzköpfe abkühlen. „Sie werden von dort als unzertrennliche Freunde zurückkehren, passen Sie mal auf“, meinten die Spaßvögel. Übrigens waren am meisten von allen die beiden Hauptbeteiligten erstaunt. Man munkelte in der Universität, daß der Professor eine schlaflose Nacht verbracht habe, als er den Namen desjenigen erfuhr, den man als Reisegefährten für ihn auserkoren hatte. Auch Woronow sei, wie man sich zuflüsterte, darüber wenig erfreut. Aber solch ein Auftrag läßt sich nicht einfach ablehnen, und einige Tage später reiste die aus Prof. Burow und seinem Assistenten Woronow bestehende Expedition der Universität zur fernen Barentssee ab, wo die beiden Wissenschaftler ein langes Jahr gemeinsam verleben sollten. Bereits nach einem Monat erhielt man die ersten Briefe von ihnen. Burow und Woronow teilten darin ihre Eindrücke, ihre Reiseerlebnisse und ihre Pläne mit. „Alles wäre gut“, schrieb der Professor, „wenn nicht die ständige Anwesenheit dieses Subjekts wäre, das eigentlich selbst alle Voraussetzungen dafür besitzt, als Objekt für die
wissenschaftlichen Beobachtungen eines Zoologen zu dienen. Wirklich, dieser junge Mann verdirbt mir nach wie vor meine Stimmung. Hier, wo ich leider gezwungen bin, ihn stets vor Augen zu haben, merke ich erst richtig, wie begründet meine Antipathie gegen ihn war…“ Der Assistent Woronow wiederum beschwerte sich in seinen Briefen über die „völlige Unverträglichkeit des alten Griesgrams und die Qual, täglich mit ihm zu tun zu haben“. In der Universität las man die Briefe, lachte und wunderte sich immer von neuem, daß diese beiden Menschen, von denen jeder auf seine Weise sympathisch war, sich in ihrer gegenseitigen Abneigung so dickköpfig verhielten. Man stritt auch darüber, wie lange wohl diese unmotivierte Feindschaft dauern würde. Optimisten versicherten, daß sich Burow und Woronow schließlich aussöhnen und sogar einander schätzenlernen würden. Pessimisten behaupteten das Gegenteil. Selbst Wetten wurden abgeschlossen, und zwei Parteien verzankten sich deswegen ernstlich. Einen Monat später setzte ein Telegramm von der Kolgujew-Insel die Angehörigen der Universität davon in Kenntnis, daß Professor Burow von dem Assistenten Woronow ermordet worden war. Der Untersuchungsrichter, der mit der Klärung dieses Falles betraut wurde, erwog zunächst die Möglichkeit, zur Kolgujew-Insel zu reisen. Leider stellte sich heraus, daß man wegen schlechter Wetterverhältnisse und aus anderen Gründen zu dieser Jahreszeit nicht dorthin fahren konnte. Daraufhin trat der Untersuchungsrichter mit dem Kapitän des vor der Kolgujew-Insel kreuzenden Eisbrechers in Funkverbindung und erteilte ihm eine Reihe von Aufträgen. Er bat den Kapitän, die Leiche des Professors zu vereisen und nach Moskau zu überführen, die möglicherweise vor-
handenen Zeugen des Verbrechens zu verhören und eine äußerst sorgfältige Untersuchung des Tatortes durchzuführen. Der Untersuchungsrichter bat ferner darum, auch Woronow nach Moskau zu bringen, und zwar unter Bedingungen, die jede Fluchtmöglichkeit vereitelten, falls er überhaupt an etwas Derartiges denken sollte. Die Aufträge des Untersuchungsrichters wurden ausgeführt, und eines Tages betrat der Kapitän des Eisbrechers das Arbeitszimmer, ihm folgte ein Mann in mittleren Jahren mit einem verstörten, ängstlichen Gesichtsausdruck. Es war Woronow. „Nehmen Sie bitte Platz“, sagte der Untersuchungsrichter und betrachtete Woronow mit kalter Neugierde. „Danke“, antwortete Woronow leise. Nun begann die Vernehmung. Der Untersuchungsrichter informierte sich zunächst bis in alle Einzelheiten über die Vergangenheit dieses Menschen. Es war ein tadelloser, einwandfreier Lebenslauf. Woronow hatte die Jahre, bevor er Burow tötete und sich vor dem Schreibtisch eines Untersuchungsrichters wiederfand, sinnvoll und nutzbringend verbracht. Er war ein begabter junger Fachmann und hatte mit seinen 32 Jahren eine Reihe von selbständigen wissenschaftlichen Arbeiten aufzuweisen. Eine gesicherte und aussichtsreiche Zukunft hatte vor ihm gelegen. „Was, zum Teufel, hat Sie nur dazu getrieben, den Professor zu töten?“ fragte der sonst so ruhige und selbstbeherrschte Untersuchungsrichter scharf. „Worüber haben Sie sich denn dort mit ihm gestritten?“ Woronow zuckte nur fassungslos mit den Achseln.
„Sehen Sie“, sagte er unsicher und in entschuldigendem Ton, „die Sache ist nämlich die… der Fall liegt doch so, daß ich ihn gar nicht getötet habe…“ „Aber er ist ermordet worden?“ „Ja, er ist ermordet worden.“ „Hat sich an der Stelle, wo er ermordet wurde, noch irgend jemand befunden außer Ihnen beiden?“ „Nein, wir waren dort nur zu zweit, er und ich, außer uns war niemand da, konnte auch niemand da sein. Das weiß ich ganz genau.“ „Dann ist mir Ihr Leugnen unverständlich. Sie müssen mir doch recht geben! Wenn von zwei Menschen, die zusammen waren, einer ermordet wurde, so kann der Mörder doch nur…“ „… der andere sein“, fügte Woronow rasch hinzu. „Zweifellos ist es so. Aber ich habe ihn nicht getötet. Das furchtbarste für mich ist, daß ich mir durchaus bewußt bin, in einer ausweglosen Lage zu sein. Ich habe überhaupt keine Möglichkeit, mich zu verteidigen. Natürlich bin ich – wie es so schön heißt – völlig überführt. Wäre ich an Ihrer Stelle, würde ich überhaupt nicht daran zweifeln. Ich verstehe Sie. Ich bin auf alles vorbereitet. Auf das Schlimmste… Aber ich habe… ich habe ihn nicht ermordet!“ Und Woronow begann zu weinen. Dieser große, ruhige, gebildete Mann weinte wie ein Kind, hilflos und rührend. Dabei wollte er offensichtlich keinerlei Mitleid mit seinen Tränen erwecken, aber er versuchte auch nicht, sie zu unterdrücken. „Aber beruhigen Sie sich doch“, sagte der Untersuchungsrichter. „Wenn Sie ihn getötet haben – und alle Anzeichen sprechen dafür – , ist es besser für Sie, das einzugestehen. Falls Sie aber keinen Mord begangen haben, verteidigen Sie
sich. Widerlegen Sie, erklären Sie, bringen Sie Ihre Auffassung von der Sache vor!“ Der Untersuchungsrichter sagte das deshalb, weil die Schuld Woronows bei diesem ungewöhnlichen Fall völlig bewiesen zu sein schien. Alle Umstände deuteten darauf hin, daß nur Woronow - und kein anderer Professor Burow ermordet hatte. Aber zum Erstaunen des Untersuchungsrichters verzichtete Woronow nicht nur auf jegliche Verteidigung, sondern machte im Gegenteil aus eigenem Antrieb eine Reihe von ergänzenden und ihn selbst schwer belastenden Aussagen. Während er weiter seine Schuld ableugnete, packte dieser Mensch gleichzeitig vor dem Untersuchungsrichter immer neue Einzelheiten und Tatsachen aus, die für ihn geradezu vernichtend waren. Er schien, als wolle er sich selber fanatisch, beharrlich und unnachsichtig beschuldigen. „Als wir auf der Insel ankamen“, erzählte Woronow, „begannen sich unsere ohnehin schon feindseligen Beziehungen noch mehr zu verschärfen. Wir suchten uns zu beherrschen, aber die gegenseitige Abneigung sprach buchstäblich aus jedem Wort, jedem Blick und jeder Geste. Es war sehr schwer, sich ständig zügeln zu müssen. Und dabei half es noch nicht einmal. Ich fühlte, daß der Professor mich glühend haßte und zahlte es ihm mit gleicher Münze heim. Es gab Minuten, in denen mir offen gestanden der wahnsinnige Gedanke kam, den Professor zu schlagen, ihn fürchterlich zu verprügeln, ja sogar zu töten. Derartige Gedanken überfielen mich immer öfter. Sie sind auch in meinem Tagebuch zum Ausdruck gekommen. Ich habe das Tagebuch mitgebracht. Bitte, hier ist es.“ Woronow streckte dem. Untersuchungsrichter ein dickes Heft entgegen. Tatsächlich fanden sich unter den üblichen Eintragungen auch solche, die bezeugten, daß sich die fixe
Idee, Professor Burow ermorden zu müssen, Woronow mehr und mehr aufdrängte. „Ich weiß nicht“, fuhr Woronow fort, „vielleicht hätte ich mich am Ende wirklich nicht mehr beherrschen können und mich von einem plötzlichen Impuls hinreißen lassen, den Professor zu erschlagen, vielleicht. Aber ich habe ihn nicht getötet. Es ist wie folgt geschehen: Eines Morgens beschlossen wir, Enten zu jagen. Mitten auf der Insel befindet sich ein See. Wir fuhren mit einem Hundeschlitten dorthin, den der Nenze Wasja lenkte. Ungefähr auf der Hälfte des Weges zerbrach der Schlitten. Bis zum See waren es noch rund drei Kilometer. Wir gingen zu Fuß weiter. Wassja blieb zurück, um den Schlitten zu reparieren. Als wir den See erreicht hatten und auf die Enten zu schießen begannen, schwammen sie zum gegenüberliegenden Ufer. Ich schlug dem Professor vor, er solle dableiben, während ich zum anderen Ufer gehen würde, um von dort zu schießen. Der Professor war einverstanden, und ich ging um den See herum. Auf der anderen Seite angekommen, konnte ich auf die Entfernung von eineinhalb Kilometern ziemlich deutlich die Gestalt des Professors erkennen, der einsam am Ufer stand. Niemand war bei ihm, und es konnte auch keiner da sein. Das erkläre ich noch einmal ausdrücklich. Plötzlich knallte dort, wo der Professor stand, ein Schuß. Ich sah, wie der Professor schwankte und dann zu Boden stürzte. Ich begriff nicht, was geschehen war, und lief sofort zu ihm hin. Er war noch bewußtlos. Ein Jagdmesser, das bis zum Griff in seiner linken Augenhöhle steckte, hatte ihn schwer verwundet. Sein Gewehr lag neben ihm… Völlig aus der Fassung, bemühte ich mich, dem Unglücklichen zu helfen. Ich wollte das Messer aus seinem Auge he-
rausziehen. Aber es gelang mir nicht – es war mit einer ungeheuren Kraft hineingestoßen worden. Darauf lief ich verstört zu der Stelle zurück, wo wir den Schlitten gelassen hatten. Wasja hatte gerade die Reparatur beendet. Ich erklärte ihm, daß der Professor verunglückt war. Wir fuhren sofort los. Wasja trieb tüchtig die Hunde an. Doch als wir den Unfallort erreichten, war der Professor bereits tot. Wir brachten seine Leiche zum Winterlager. Dort gelang es uns unter großer Anstrengung das Messer, mit dem er getötet wurde, aus der Wunde zu ziehen. Das ist alles… Darf ich eine Zigarette rauchen?“ „Aber bitte sehr“, sagte der Untersuchungsrichter. Woronow brannte sich eine Zigarette an und machte gierig einen Zug. Nach einer kurzen Pause begann er wieder zu sprechen: „Wie Sie sehen, kann ich nichts zu meiner Entlastung vorbringen. Als Mensch mit Verstand ist mir klar, daß alles gegen mich spricht. Wahrscheinlich wäre es für mich sogar vorteilhafter, mit der Nachsicht des Gerichts zu rechnen und alles einzugestehen. Offenes Geständnis und Reue, so heißt es doch, nicht wahr? Ich bin kein Jurist, habe jedoch davon gehört. Aber ich kann nicht. Ich habe ihn nicht ermordet. Glauben Sie mir, ich habe ihn nicht ermordet… Doch ich bin nicht in der Lage, das zu beweisen. Ich habe an Sie nur eine Bitte. Hier sind die Briefe meiner Verlobten, und das ist ein Brief an sie. Bitte übergeben Sie ihr alles.“ „Das werde ich nicht tun“, antwortete der Untersuchungsrichter. „Sie können ihr die Briefe selbst überreichen. Ich habe nicht die Absicht, Sie zu verhaften, Woronow.“ Es gibt Kriminalfälle, die sich plötzlich und überraschend aufklären, und diese Lösung erweist sich dann durchaus nicht immer als Endglied einer langen Beweiskette, als logi-
sche Folge der bereits angestellten Untersuchungen und Ermittlungen. Denn gerade in solchen Fällen häufen sich oft die dunkelsten Dinge, die verworrensten menschlichen Beziehungen, und durch das Zusammentreffen der verschiedensten Umstände und Ereignisse entsteht ein derartiges Labyrinth, daß sich selbst ein erfahrener Untersuchungsrichter kaum noch darin zurechtfindet und schier verzweifeln könnte. Doch sein Einfühlungsvermögen, seine Begabung und seine Beharrlichkeit, sein sozialistisches Bewußtsein weisen ihm in einem solchen Fall den richtigen Weg. Mit der Entlassung Woronows hatte sich der Untersuchungsrichter in eine schwierige Lage gebracht, deutete doch alles darauf hin, daß Woronow der Mörder Professor Burows war. Das schien die folgerichtige und einzige Lösung dieses Falles zu sein. Auch die Öffentlichkeit, die ein berechtigtes Interesse an der Aufklärung des Mordes hatte, sah in Woronow den Schuldigen. Der vermeintliche Täter verdankte seine Freilassung lediglich der Tatsache, daß der Untersuchungsrichter von der Unschuld Woronows innerlich überzeugt war und seinen Aussagen Glauben schenkte. Er vertraute ihm entgegen aller formalen Logik, entgegen der erdrückenden Übermacht von Fakten, die gegen Woronow sprachen. Er glaubte ihm aus einem unbestimmten Gefühl heraus, aus jenen inneren Beweggründen, die nicht immer logisch erscheinen, die sich schwer in Worte kleiden lassen und auf die man sich eigentlich nicht berufen sollte. Und doch entspringen sie einer besonderen Befähigung des Untersuchungsrichters für seinen Beruf. Sie sind Ausdruck seines psychologischen Spürsinns und seines Einfühlungsvermögens. Der Untersuchungsrichter war also davon überzeugt, daß Woronow Professor Burow nicht getötet hatte. Doch die
Überzeugung eines Untersuchungsrichters reichte nicht aus, um Woronow zu rehabilitieren. Dessen Unschuld mußte bewiesen und das Geheimnis um den Tod Professor Burows enthüllt werden. Die nach Moskau überführte Leiche Professor Burows wurde von P. S. Semenowski einer gerichtsmedizinischen Obduktion unterzogen. Das ärztliche Gutachten bestand in der Hauptsache aus zwei Punkten: 1. Professor Burow war an der schweren Verletzung gestorben, die ihm ein Stich mit einem Jagdmesser in das linke Auge zugefügt hatte. 2. Dieser Stich wurde mit übermenschlicher Kraft ausgeführt. „Was heißt das: ,mit übermenschlicher Kraft’?“ fragte der Untersuchungsrichter. „Das heißt“, antwortete Semenowski, „daß die Kraft, mit der der Messerstich versetzt wurde, die Durchschnittskraft eines normalen Menschen übersteigt, deshalb habe ich den Ausdruck ,übermenschlich’ angewandt. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, was für eine Kraft das war.“ Der Untersuchungsrichter setzte seine Arbeit fort. Zunächst überprüfte er sorgfältig das Gewehr Professor Burows. Es war ein Jagdgewehr, das nichts Bemerkenswertes aufwies. Auch an dem Messer, mit dem der Professor getötet worden war, konnte man auf den ersten Blick nichts Besonderes feststellen. Es war ein gewöhnliches, billiges Jagdmesser mit einem Holzgriff. Und doch – als der Untersuchungsrichter es aufmerksamer betrachtete, entdeckte er am Knauf des Messers einen kleinen Fehler: Ein winziges Ende des Metallschaftes, auf den der Griff aufgesetzt war, ragte mit seiner Spitze aus dem Holzgriff hervor. Aber das war kaum zu bemerken.
Der Untersuchungsrichter betastete dieses winzige Metallspitzchen. Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke, und er sprang erregt auf. Bereits eine Stunde später drängte sich eine Gruppe von schnell herbeigerufenen Büchsenmachern und Jägern im Arbeitszimmer des Untersuchungsrichters. „Sagen Sie doch bitte“, fragte der Untersuchungsrichter, „wie würden Sie als Jäger handeln, wenn in Ihrem Gürtel ein Jagdmesser steckt und die Patrone beim Laden aus irgendeinem Grunde streikt? Das heißt, wenn sie beim Einführen in den Lauf steckenbleibt oder schlecht hineingeht? Vielleicht ist sie durch Feuchtigkeit leicht gequollen, oder sie ist ein bißchen verbeult oder schlecht angefertigt. Was würde ein Jäger in einem solchen Fall unternehmen?“ Die Männer sahen sich erst erstaunt an, berieten sich dann aber im Flüsterton. „In derartigen Fällen“, entschieden sie schließlich einmütig, „würde der Jäger das Messer nehmen, mit dem Griff leicht gegen die Zündkapsel klopfen und versuchen die Patrone vorsichtig hineinzustoßen.“ „Auch ich nehme das gleiche an“, sagte der Untersuchungsrichter lächelnd. „Und nun betrachten Sie sich einmal dieses Messer, beachten Sie dabei bitte das ein wenig herausragende Ende des Metallschaftes, und stellen Sie sich vor, daß ein Jäger die Patrone mit diesem Messer hineinstoßen wollte. Was würde dann geschehen?“ Die Jäger sahen sich das Messer an, prüften die Härte des Metalls, aus dem der Schaft hergestellt war, und kamen übereinstimmend zu der gleichen Schlußfolgerung. „Diese Metallspitze“, erklärten sie, „kann entsprechend ihrer Schärfe und Härte durchaus die Rolle eines Schlagbolzens spielen. Und wenn man mit diesem Messer auf die
Zündkapsel der Patrone schlägt, kann eine Explosion stattfinden und ein Schuß ausgelöst werden.“ Daraufhin wandte sich der Untersuchungsrichter an die Büchsenmacher. „Und sagen Sie mir bitte“, fragte er, „wohin richtet sich die Explosionskraft und wie groß ist ihre Wirkung, wenn die Patrone nicht ganz im Lauf steckt und infolge der Unvorsichtigkeit des Jägers vorzeitig explodiert?“ „Dann wird die Explosionskraft nach rückwärts wirken“, antworteten die Büchsenmacher. „Sie wird der Hand des Jägers, die das Messer hält, einen enormen Stoß geben und sie zu seinem Gesicht emporschleudern. Die Stärke diese Stoßes wird sehr groß sein und ungefähr dem Druck von 5 bis 7 Atmosphären entsprechen.“ Der Untersuchungsrichter seufzte erleichtert auf. Die Ahnung, die blitzschnell in ihm hochgestiegen war, bestätigte sich. Ausgerechnet in diesem Augenblick betrat Semenowski das Amtszimmer. Der Untersuchungsrichter schilderte ihm seine Ansicht zu diesem Fall, zeigte ihm das Messer und wiederholte die Äußerungen der Sachverständigen. „Das alles klingt sehr scharfsinnig und überzeugend“, sagte der Arzt gedehnt, „und man könnte Ihrer Auffassung beipflichten, wenn nicht noch ein Umstand beachtet werden müßte: Der Professor wurde doch durch einen Stich in das linke Auge getötet. Falls sich aber der Unfall so abgespielt hat, wie Sie vermuten, dann konnte er sich mit der rechten Hand nur am rechten Auge, aber niemals am linken verletzen.“ Und Semenowski rechnete gleich nach den Körpermaßen des toten Professors vor, daß sich dieser bei einem Rückstoß
durch die Explosion mit seiner rechten Hand nur am rechten Auge verwunden konnte. Die so klar und richtig erscheinende Hypothese des Untersuchungsrichters stürzte zusammen. Dennoch beharrte er auf seinem Standpunkt und stellte weitere Ermittlungen an. „Sagen Sie mir doch, bitte“, erkundigte er sich bei den Verwandten des Toten, „war Professor Burow eigentlich ein gesunder Mensch?“ „Ja, er war völlig gesund“, antworteten die Familienangehörigen. Der Untersuchungsrichter gab sich nicht damit zufrieden und forschte weiter: „Hatte er nicht doch vielleicht die eine oder andere Krankheit oder war er sonst irgendwie körperlich behindert?“ „Nein“, erklärten die Angehörigen, „er war ein völlig gesunder Mensch.“ Doch der Untersuchungsrichter ließ nicht locker und fragte: „Haben Sie einmal beobachten können, wie der Professor mit dem Skalpell gearbeitet hat?“ „Mehr als einmal“, erhielt er zur Antwort, „er hat oft zu Hause seziert.“ „Und in welcher Hand hielt er das Skalpell?“ fragte der Untersuchungsrichter vorsichtig, ja fast schüchtern vor Angst, daß jetzt vielleicht seine letzte Hoffnung scheitern würde. „Natürlich links – der Professor war doch Linkshänder.“ Der Untersuchungsrichter unterdrückte nur mit Mühe einen Freudenschrei. Jetzt war sie endlich heraus, die Wahrheit, die Klarheit, die letzte Gewißheit. „Linkshänder!“ Der Untersuchungsrichter eilte zu Semenowski. Und Semenowski machte sich sofort wieder ans Berechnen. Das Ergebnis bewies mit mathematischer Genauigkeit, daß der Professor beim Hineinstoßen der Patrone
mit der linken Hand sich bei der darauf folgenden Explosion nur am linken Auge verwunden konnte. Semenowski und der Untersuchungsrichter fertigten eine graphische Darstellung der Kurve an, die die linke Hand des Professors – zurückgeschleudert durch die Explosion – zu seinem linken Auge beschrieben hatte. Nun schien der letzte Beweis für die Unschuld Woronows erbracht zu sein. Es sah so aus, als könnte man bereits die Einstellung des Verfahrens beschließen, weil „ausreichende Tatmotive“ fehlten. Die Akte würde ins Archiv gebracht werden, und der Untersuchungsrichter würde sich mit den nächsten Fällen befassen. Es war aber noch eine Sache zu klären: Woher kam das Messer, durch das der Tod verursacht wurde? Der Bruder des toten Professors Burow, den der Untersuchungsrichter in alle Unterlagen des Falles eingeweiht hatte, erklärte unmißverständlich: „Ich würde Ihrer Behauptung, mein Bruder habe durch eigene Unvorsichtigkeit den Tod gefunden, zustimmen, bliebe nicht noch folgende Frage offen: Woher stammt dieses Messer? Ich versichere, daß der Professor ein derartiges Jagdmesser nicht besessen und auch keins für seine Expeditionsausrüstung erhalten hatte. Wem gehört es dann, wem? Und bis Sie, Herr Untersuchungsrichter, mir diese Frage nicht beantwortet haben, kann ich die Untersuchung nicht als abgeschlossen betrachten.“ Der Untersuchungsrichter mußte zugeben, daß Professor Burows Bruder auf seine Weise recht hatte, und es galt, eine Antwort auf die von ihn gestellte Frage zu finden. Der Untersuchungsrichter erkundigte sich zunächst bei Woronow nach dem Messer, aber der wußte nicht, wo es der Professor herhatte.
„Ich glaube“, sagte Woronow, „daß es dem Professor gehört hat. Wenigstens habe ich es oft bei ihm gesehen.“ Daraufhin durchstöberte der Untersuchungsrichter das Inventarverzeichnis der Expeditionsausrüstung. In einem großen Haufen von Listen, Frachtbriefen, Quittungen und Rechnungen, in einer Aufstellung von tausend Dingen – wie Schrot, Gewehre, Zelte, Konserven, Feldstecher, Pfannen, Töpfe, Thermosflaschen, Beile, Gabeln, Zangen, Hämmer, Kanister, Spirituskocher, Thermometer, Geschirr und so weiter , – forschte er nach einem Jagdmesser im Werte von etwa vier Rubel. Aber er entdeckte es nicht. Dann fiel ihm ein, daß die Expedition zur Barentssee von Archangelsk aus abgereist war und sich dort noch einige Tage aufgehalten hatte. Der Untersuchungsrichter ging zum Staatsanwalt und bat ihn, einen Tag nach Archangelsk fahren zu dürfen. „Weshalb?“ fragte der Staatsanwalt. „Wegen des Messers“, gab der Richter zur Antwort. Als er am nächsten Morgen in Archangelsk eintraf, suchte er – ohne sich erst in ein Hotel zu begeben – die Geschäfte auf. Man zeigte ihm Hunderte von Jagdmessern, teure und billige, finnische Dolche, Messer aus Wologda, Kostroma, Wjatka, aber keins glich dem, nach dem er forschte. Die Verkäufer wunderten sich über den herumnörgelnden, wählerischen Kunden. Die Geschäftsführer zuckten verständnislos die Achseln. Die Kassiererinnen kicherten. Aber das gewünschte Messer war nicht aufzutreiben. Gegen Abend schließlich betrat der Untersuchungsrichter am Dwinaufer einen kleinen Laden für Jagdausrüstungen. Das erste, was er erblickte, war ein Jagdmesser mit einem Holzgriff. Es glich dem aufs Haar, das Professor Burows Tod verursacht hatte.
„Was kostet dieses Messer?“ fragte er den Verkäufer aufgeregt. „Drei Rubel und fünfundsiebzig Kopeken.“ Der Untersuchungsrichter erfuhr von dem Leiter des Geschäfts, daß diese Messer von einer Handwerkergenossenschaft hergestellt wurden, die ihre gesamte Produktion nur an dieses Geschäft lieferte. In den Tagen, als sich die Expedition in Archangelsk aufgehalten hatte, waren solche Messer bereits im Handel gewesen. „Wir haben viele davon verkauft“, erklärte der Objektleiter, „aber wir können uns natürlich nicht an die Käufer erinnern.“ Der Richter kehrte nach Moskau zurück und setzte seine Nachforschungen fort. Endlich entdeckte er im Notizbuch des Professors unter den Hunderten verschiedener Eintragungen auch folgende: „Archangelsk: 3 Rub. 75 Kop. für ein Jagdmesser.“ „Bitte nehmen Sie Platz, Genosse Woronow“, sagte der Untersuchungsrichter schlicht: „Ich habe Sie zum letzten Mal herbestellt. Nehmen Sie von dem Beschluß über die Einstellung Ihres Verfahrens Kenntnis und unterschreiben Sie, daß man Ihnen die Kopie ausgehändigt hat. Hier bitte…“ Woronow griff zum Federhalter, und plötzlich begann vor seinen Augen alles zu schwanken und zu kreisen – der Federhalter, die Schreibtischgarnitur und das Gesicht des Untersuchungsrichters… Erst nach einer Weile kam ihm die Bedeutung dieser Worte voll zum Bewußtsein. Er begriff, daß alles Schreckliche nun hinter ihm lag, seine Unschuld erwiesen war und daß dieser so sachlich und nüchtern wirkende Mensch, der ihm mit un-
beweglicher Miene gegenübersaß, sein Leben und seine Ehre gerettet hatte.
Mister Growers Liebe Die Kolchosbauern des Dorfes Gluchowo erinnern sich bestimmt auch heute noch an den erstaunlichen Vorfall, der sich an einem Novembertag im Jahre 1938 ereignete. Gegen abend stieß plötzlich aus den Wolken ein kleines, hell angestrichenes ausländisches Flugzeug herab und landete mitten auf einem Feld. Der Maschine entstieg ein Pilot. Er wandte sich an die ihn umringenden Bauern und sagte auf russisch, aber mit einem starken ausländischen Akzent: „Oh, guten Tag! Ich bin Engländer, yes, und ich komme zu Ihnen aus London geflogen. Ich flog, um meine russische Braut zu holen, yes…“ „Hör auf zu schwindeln!“ schrie erbost Tante Sascha, die auf der Kolchose Brigadierin war und deren Sohn eine Flugzeugstaffel kommandierte. „Mit so einer Libelle und direkt aus London! Schau mal an, wie schlau du bist. Du kannst dir merken, wir verstehen von der Fliegerei auch nicht weniger als andere. Und nun komm mal mit zum Dorf-Sowjet, Bräutigam, dort wird man schon feststellen, was mit dir los ist! Na so was, habt ihr nicht genug Mädels bei euch zu Hause, daß ihr herkommen müßt, um euch bei uns welche zu holen?“ Auf die Meldung des Dorfsowjets hin trafen Vertreter der Untersuchungsbehörde ein. Der Unbekannte erklärte ihnen, er sei der englische Erdölingenieur Bryan Montagu Grower. Früher habe er in Grosny und Moskau gearbeitet. Jetzt sei er aus London über Stockholm gekommen und habe mit sei-
nem kleinen, Sportflugzeug einen Nonstopflug StockholmKolchose Gluchowo gemacht. Grower gestand, ohne das erforderliche Visum in die Sowjetunion geflogen zu sein. „Ich will und kann ohne die Frau, die ich schon seit langem liebe, nicht mehr leben!“
Am nächsten Tag wurde Grower nach Moskau gebracht und schilderte, als er dem Untersuchungsrichter gegenübersaß, ausführlich die Gründe seines Fluges. Wieder erklärte
er, daß er, Bryan Montagu Grower, Einwohner der Stadt Folkestone, 37 Jahre alt, zugeben müsse, ohne Visum in die Sowjetunion geflogen zu sein, obwohl er sich darüber im klaren war, damit gegen das sowjetische Gesetz zu verstoßen und sich strafbar zu machen. Aber trotz alledem habe er leider nicht anders handeln können. „Oh, ich weiß, daß es ein solches Gesetz Nr. 59/3d gibt. Ich habe diese Paragraph auswendig gelernt und bin bereit, mich zu rechtfertigen. Ich weiß, daß ich nach diese Paragraph verurteilt werden kann zu zehn Jahren, yes, aber ein englische Jurist hat mir gesagt, daß es gibt in Sowjetrußland noch eine weitere Gesetz Nr. 51 und daß diese zweite Paragraph kann mildern die andere, yes. Ich glaube, Herr Untersuchungsrichter, daß diese zweite Paragraph am besten auf Bryan Grower zutrifft.“ Grower sprach verhältnismäßig gut russisch, obwohl er manchmal die Fälle durcheinanderbrachte. Er war blond, groß und schlank, hatte ein feines, schmales Gesicht, einen sehr ausgeprägten, eigenwilligen Mund und große, kräftige Zähne; seine grauen Augen blickten offen in die Welt. Der Untersuchungsrichter schenkte Growers Erzählung, die jener ruhig und ohne Hast vortrug, von Minute zu Minute mehr Glauben. Trotzdem stellte er pflichtgemäß eine Reihe von Kontrollfragen, saß doch immerhin ein Mensch vor ihm, der die Hoheitsgrenze des Staates verletzt hatte. Am bestechendsten an der Haltung Growers war, daß er seine Verhaftung völlig richtig fand und ohne Zweifel innerlich darauf vorbereitet war, daß der von ihm zitierte zweite Paragraph in seinem Falle keine Anwendung finden könnte und ihm keine mildernden Umstände zugebilligt würden. Über die Geschichte seiner Liebe erzählte er folgendes:
Anfang der dreißiger Jahre nahm der begabte junge Ingenieur, der in seiner Heimat keine Arbeit fand, die Einladung an, als Spezialist nach Grosny zu gehen. Grower lockten sowohl der gute Verdienst als auch die interessante Arbeit. Außerdem wollte er gern mit eigenen Augen dieses rätselhafte und ihm noch völlig unbekannte Sowjetrußland kennenlernen, über das er die sich widersprechendsten und verschwommensten Ansichten gehört und gelesen hatte. Und dann befand er sich in Moskau, im Hotel „Metropol“, umgeben von Franzosen, Deutschen, Amerikanern, Schweden, Belgiern und Engländern. Was für Menschen waren darunter! Kaufleute und Touristen, Facharbeiter sowie Diplomaten, Sonderkorrespondenten und Agenten – Menschen der verschiedensten Altersstufen, Berufe und politischen Ansichten. Manche verbargen nicht ihre feindselige Einstellung gegenüber diesem Land und spotteten über die sowjetischen Fünfjahrpläne. Andere dagegen gaben zu, daß die Bolschewiki, was man auch sagen mochte, ihre Pläne verwirklichten, obwohl es unbegreiflich wäre, wie sie das fertigbrachten. Die dritten äußerten ihre Achtung vor den Anstrengungen eines Volkes, das entschlossen war, die industrielle Rückständigkeit des unermeßlich großen Landes in einer erstaunlich kurzen Zeitspanne zu überwinden. Grower lernte diese Menschen kennen, hörte sich ihre Gespräche an, ging dann durch die Moskauer Straßen spazieren, bewunderte die Basilius-Kathedrale und den Roten Platz, die Türme und Mauern des alten Kremls, die krummen Gassen des Arbat mit ihrem Kopfsteinpflaster und den Pferde-Kutschern an den Kreuzungen. Er freute sich über die hübschen, offenen Gesichter der russischen Frauen, die damals nicht sehr gut gekleidet waren, ihm aber durch ihre stattliche Erscheinung auffielen.
Grower begegnete auf den Straßen Komsomolzen mit ihren KJP-Abzeichen; sie waren, wie er eingestehen mußte, nette und gut erzogene Jungen. Keiner von ihnen belästigte ihn oder warb ihn als „Komintern-Agenten“ an, keiner versuchte ihn zu überreden, die britische Krone zu rauben oder die Westminster-Abtei in die Luft zu sprengen. Ganz im Gegenteil. Sie erteilten dem Fremden gern jede gewünschte Auskunft, zeigten ihm den Weg zu dieser oder jener Straße und begleiteten ihn mit freundlich lächelnden Gesten dorthin. Ohne daß Grower es merkte, begannen ihm dieses Land, diese alte Stadt und dieses Volk immer mehr zu gefallen. Als er schließlich nach Grosny kam, wurde er so herzlich und gastfreundlich aufgenommen, daß es ihm bereits nach wenigen Monaten vorkam, als hätte er hier schon viele Jahre gewohnt und zahlreiche Freunde gewonnen. Völlig heimisch fühlte er sich, nachdem er Jelena Petrowna Golius kennengelernt hatte, die als Pharmazeutin in einer städtischen Apotheke tätig war. Dieses dunkeläugige, anmutige Mädchen, mit dem hübschen, schelmischen Lächeln und dem reinen Blick eines Menschen, der nichts zu verheimlichen hat, gefiel ihm. Jelena Petrowna sprach ein wenig Englisch, aber es haperte an der Aussprache. Grower schlug ihr vor, sich gegenseitig zu helfen: er würde ihr die englische Sprache beibringen, und sie sollte ihn Russisch lehren. Jelena Petrowna war einverstanden. Nach einem Jahr sprach Grower bereits recht gut Russisch, und Jelena Petrownas Englisch hatte sich merklich verbessert. Aber noch merklicher verbessert hatten sich ihre Beziehungen zueinander. Jelenas Vater, ebenfalls Apotheker, sah es mit wachsender Besorgnis und äußerte seiner Frau gegenüber Bedenken, daß dieser Langbeinige gar zu oft mit der
Tochter abends spazierenginge. Die Mutter nahm ihre Tochter in Schutz und wandte schüchtern ein, Bryan Montaguwitsch sei doch ein recht sympathischer Mensch. Der alte Apotheker antwortete darauf mit einem bösen Knurren und der nicht von der Hand zu weisenden Behauptung, daß „es in der Sowjetunion selbst genug junge Männer gebe“. Im übrigen habe er seine Tochter nicht großgezogen, damit sie im Londoner Nebel an Schwindsucht zugrunde gehe. Auf die Frage seiner Frau, weshalb denn Jelena unbedingt an Schwindsucht erkranken müsse, da doch in London immerhin einige Millionen durchaus nicht schwindsüchtiger Menschen leben, hielt ihr der Alte entgegen, daß sich die Engländer an das dortige Klima gewöhnt hätten. „Unsere Leute aber kriegen unbedingt die Schwindsucht, wenn sie auf die Insel geraten. Außerdem ist es besser, wenn Liebende die gleiche Sprache haben.“ Dabei kam Jelenas Eltern natürlich nicht in den Sinn, daß zu gleicher Zeit – weit von Grosny entfernt, hinter zwei Meeren – im nebligen London ein anderes Mutterherz ebenfalls vor Unruhe rascher schlug. Denn auch die ehrenwerte Mrs. Grower stellte besorgt beim Lesen der Briefe ihres Sohnes fest, daß der Name Jelena darin immer öfter vorkam. Sie betrachtete lange die Fotografie, die er ihr in einem Briet mitgeschickt hatte; er war darauf neben einer fremden jungen Frau zu sehen. Dann versetzte Mrs. Grower die Bibliothekarin, bei der sie sich schon seit Jahren Bücher entlieh, in großes Erstaunen, weil sie plötzlich nur noch Werke russischer Schriftsteller lesen wollte. Doch leider trug das keineswegs zu ihrer Beruhigung bei: Tolstois Anna Karenina wurde ihrem Mann untreu, obwohl er zweifellos ein Gentleman im wahrsten Sinne des Wortes war. Scholochows Aksinja verließ ebenfalls ih-
ren Mann und brachte dann auch Grigori kein Glück. Wera aus Gontscharows Roman „Die Schlucht“ hatte aus irgendeinem Grunde die Liebe eines würdigen Menschen wie Mister Raiski zurückgewiesen und ihr Herz dem mehr als verdächtigen Wolochow geschenkt. Und schließlich benahm sich selbst die Puschkinsche Tatjana so unglaublich shokking, daß sie als erste dem Mister Onegin – obwohl er ihr weiß Gott keinen Anlaß dazu gegeben hatte – einen Liebesbrief schrieb und dadurch diesen netten jungen Mann in eine recht peinliche Lage brachte… „Von Grosny, Herr Untersuchungsrichter, wurde ich zur Arbeit am Moskauer Erdölinstitut versetzt, und Jelena ging ebenfalls nach Moskau. 1934 endete mein Vertrag, und ich fuhr nach London zurück. Dann wollte ich wieder nach Rußland kommen, erhielt aber keinen neuen Vertrag, und, yes, Ich hatte auch kein Visum. Aber mir wurde klar, daß ich ohne Jelena nicht leben kann.“ Und so entschloß sich Grower, zu seiner Liebsten zu fliegen. Er wurde Mitglied des Londoner Aeroklubs und lernte in einigen Monaten ein Flugzeug zu steuern. Von seinen Ersparnissen kaufte sich Grower ein gebrauchtes, kleines Sportflugzeug und flog am 3. November 1938 vom Flugplatz Brooksborn in die Sowjetunion ab. Seine Route führte über Amsterdam – Bremen – Hamburg – Stockholm. Berichte über das erstaunliche Ereignis erschienen in fast allen Zeitungen der Welt. Ich erinnere mich noch einiger Überschriften aus jenen Tagen: „Die romantischste Tat des zwanzigsten Jahrhunderts“, „Auf den Flügeln der Liebe“, „Die Liebe eines Engländers kann Wunder verrichten“, „Selbst die große Entfernung kapituliert vor der Liebe“. Am 23. November meldeten englische Zeitungen, daß Kayser, ein Konservativer, beabsichtige, im Unterhaus eine An-
frage an Chamberlain in dieser Angelegenheit zu richten. Am 28. November teilte die Reuter-Agentur der Öffentlichkeit mit, daß dies geschehen war. Sir Chamberlain hatte dem Hohen Haus versichert, der englische Geschäftsträger in Moskau würde bei den sowjetischen Behörden in dieser Sache vorstellig werden. Die Zeitung „Daily Telegraph and Morning Post“ schrieb, Grower „scheint von Stockholm aus einen gefährlichen Flug unter schwierigsten Wetterbedingungen gewagt zu haben“. Die Hitlerpresse ließ damals sensationelle Artikel los, die der Welt weismachen sollten, Grower drohe die Todesstrafe. „Denn die Kommunisten können nicht verstehen, was Liebe ist. Wissen wir doch, daß man in der UdSSR nur nach Berechtigungsscheinen lieben darf, die von den sogenannten Ortskomitees ausgegeben werden. Wie kann man dort einen Grower und seine Gefühle begreifen, die ein Shakespeare besungen hätte?“ Im Gegensatz zu solchen unheilverkündenden Prophezeiungen schrieb ein britischer Jurist über diesen Fall: „Jawohl, Moskau hat berechtigten Grund, Bryan Grower zu verurteilen. Liebe und Gesetz – welch altes und ewig neues Problem! Die Paragraphen der sowjetischen Strafgesetzgebung – und ein lebendiges, pochendes, leidenschaftliches und so stark liebendes Herz! Rührt dieser tragische Konflikt nicht auch an das Herz des kaltblütigsten Richters? Wir glauben nicht, daß das Gericht Grower mit einer hohen Strafe belegen wird, und sehen diesem Verfahren mit Optimismus entgegen.“ Inzwischen wurde zur Nachprüfung von Growers Aussagen Jelena Petrowna vernommen. Sie bestätigte alles. Dann wurde ihr eröffnet, daß Grower wieder in die Sowjetunion gekommen sei, und sie erhielt sofort eine Sprecherlaubnis.
Als Grower erfuhr, daß er in einigen Minuten seine Jelena sehen würde, zuckte es in seinem sonst so ruhigen Gesicht. Er erblaßte und biß sich vor Aufregung auf die Unterlippe. Dann brannte er sich eine Beruhigungszigarette an. Als Jelena das Zimmer betrat, stürzte er auf sie zu und schloß sie in seine Arme. Sie lachten unter Tränen und flüsterten miteinander, lachten wieder und flüsterten von neuem. Am 31. Dezember 1938 verhandelte das Moskauer Stadtgericht über diesen Fall. Fast das gesamte Personal der Britischen Botschaft war zu dem Prozeß erschienen, in dem Bryan Montagu Grower, englischer Staatsbürger, geboren 1901, wohnhaft in Folkestone, angeklagt war, gegen das im Strafgesetzbuch der RSFSR festgelegte Gesetz 59/3d verstoßen zu haben. Diplomaten mit Monokeln und ihre Damen mit goldenen Lorgnons, würdige Attaches sowie englische und amerikanische Berichterstatter waren gekommen. Der kleine Gerichtssaal hatte bisher noch niemals so ein Publikum gesehen. Vor der Auffahrt des Stadtgerichts standen Diplomatenwagen – Rolls-Royces und Buicks. Der Vorsitzende des Gerichts, ein blonder, helläugiger Mann mit einem gutmütigen Gesicht, und die beiden Schöffen – eine alte Weberin von Trechgorka und eine junge Arbeiterin von einem Elektrowerk – kamen aus dem Beratungszimmer und nahmen an dem mit rotem Tuch bedeckten Richtertisch Platz. Die Zuschauer verstummten und betrachteten neugierig die Richter. Dann wanderten ihre Augen durch den schlicht eingerichteten Saal und blieben an dem Leninbild über dem Richtertisch haften. Ja, in diesem Gerichtssaal gab es weder eine Statue der Justitia, der Göttin der Gerechtigkeit, noch Kruzifixe, weder Polizisten in Paradeuniformen, noch Marmorsäulen. Die
Richter trugen keine schwarzen Seidenroben. Es fehlten auch die Rechtsanwälte in schwarzem Talar. Das Publikum hatte noch nie so schlichte, einfache Menschen auf Richterstühlen sitzen sehen. „Ich erkläre die Verhandlung für eröffnet“, sagte der Vorsitzende ruhig. „Der Angeklagte hat gewünscht, von dem Mitglied des Moskauer Anwaltskollegiums, Rechtsanwalt Romodow, verteidigt zu werden.“ Drei Stunden später zog sich das Gericht zur Beratung zurück, nachdem es den Angeklagten und seinen Verteidiger aufmerksam angehört hatte. Im Saal schwirrten die Stimmen durcheinander. Bryan Grower hatte zum Schluß erklärt: „Hoher Gerichtshof, ich habe die volle Wahrheit gesprochen. Meine letzten Worte möchte ich auf russisch sagen, obwohl ich einen Dolmetscher habe – ich will es in Ihrer Sprache sagen, weil ich Ihr Land, Ihr Volk liebgewonnen habe wie meine Jelena. Ich habe einige Jahre in Rußland gelebt, gemeinsam mit Russen gearbeitet und mich gemeinsam mit ihnen erholt. Und ich bin stolz darauf. Ja, ich habe mit Russen gelebt und gearbeitet, mit ihnen gemeinsam gelacht und gesungen, und es ist für mich eine Ehre, mich mit diesem Volk zu verschwägern… Das ist alles, Hoher Gerichtshof.“ Und nun beraten sich die Richter, während im Saal die Stimmen schwirren. Grower sitzt in Erwartung des Urteils da und denkt nach: Nein, er hat keine Angst, daß diese einfachen russischen Menschen, die jetzt über sein Schicksal entscheiden, ihn womöglich nicht verstehen könnten! Und so sinnt er weiter: wenn heute alle Fragen in der Welt von den einfachen englischen, russischen, amerikanischen und deutschen Menschen gelöst würden, dann brauchte überhaupt niemand mehr Angst zu haben.
Ein Klingelzeichen ertönte, und die Richter betraten den Saal. Der Vorsitzende verkündete folgendes Urteil: „Bryan Grower hat das sowjetische Hoheitsgebiet verletzt und ist ungesetzlich mit dem Flugzeug in die UdSSR gekommen. Diese Handlungsweise ist gemäß dem Gesetz § 59 der Strafgesetzordnung der Republik zu ahnden, und das Gericht erkennt den Angeklagten für schuldig. Jedoch konnte das Gericht“, fuhr der Vorsitzende fort, „nicht an den Motiven vorbeigehen, aus denen der Angeklagte seinen Rechtsbruch begangen hat. Das Gericht hält es für erwiesen, daß der Angeklagte eine Sowjetbürgerin aufrichtig und stark liebt und daß diese Liebe auf Gegenseitigkeit beruht. Ihre beiderseitige Zuneigung hat die Prüfung der Trennung bestanden und verdient deshalb Achtung. Die Sehnsucht nach der geliebten Frau veranlaßte den Angeklagten, in die Sowjetunion zu fliegen. Daher verurteilt das Gericht unter Zubilligung des § 51 der Strafgesetzordnung Bryan Grower zu einer Geldstrafe in Höhe von 1500 Rubel oder zu einem Monat Gefängnis.“ Die Zuhörer begrüßten dieses Urteil mit lautem Beifall. Und als es am Abend durch den Rundfunk bekanntgegeben wurde, stimmte ganz England dem Urteil des Moskauer Stadtgerichtes zu. Drei Tage später reisten Grower und seine Frau, Jelena, die ebenfalls ein Visum erhalten hatte, nach London ab. So endete dieser Fall. Siebzehn Jahre sind seitdem vergangen. Ich weiß nichts über das Schicksal der Familie Grower. Aber ich erinnere mich noch gut an die Gesichter der beiden Liebenden, an ihre Wiederbegegnung, an ihr aufgeregtes und glückliches Flüstern. Als Kriminalist habe ich nur noch hinzuzufügen: Die Aufrichtigkeit der Liebe dieser beiden Menschen darf als erwie-
sen betrachtet werden, zumal dies gerichtsnotorisch durch ein Urteil festgelegt worden ist, gegen das der Angeklagte keinen Einspruch erhoben hat. Darum wünsche ich Mister Bryan Montagu Grower und seiner Ehefrau recht viel Glück. Schließlich und endlich bietet diese ganze Geschichte eine gute Gelegenheit, erneut festzustellen, daß die weitverbreitete Ansicht falsch ist, die Kriminalisten hätten es nur mit negativen Lebenserscheinungen zu tun. Mein Ehrenwort, das ist durchaus nicht der Fall!