Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Walter Niebuhr Liebe 70
Kriminalroman
Die größte Illu...
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Cover DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Walter Niebuhr Liebe 70
Kriminalroman
Die größte Illustrierte Amsterdams feiert Erfolge mit einer Bild-Text-Serie über das Studentenpaar Adrian und Antje – ‚Liebe 70‘. Autor: der Journalist Wetering, seine Themen: Alltag, Neigungen, Probleme junger Leute. Er geht in Hörsäle und Kneipen, kümmert sich um Schlagerproduktion und Wohnungsangelegenheiten; sein Weg führt zu den Provos, die diese Welt in Frage stellen, und zu den Hippies, die ihr entfliehen wollen. Wetering kann seine Arbeit nicht fortsetzen – er kommt bei einer Segeltour ums Leben. Obwohl die Polizei einen Unfall nachweisen kann, vermutet Adrian, der Freund des Toten, Mord, und er behält recht damit. Er geht den Spuren des ideenreichen Wetering nach und legt um ein Haar dem Falschen die Hand auf die Schulter.
Walter Niebuhr
Liebe 70
Verlag Das Neue Berlin
Pünktlich auf die Minute lief der Nachmittagszug aus Groningen in den Amsterdamer Zentralbahnhof ein. Am Ausgang des Bahnsteiges herrschte das übliche Gedränge. Nur ein junger Mann schien es nicht eilig zu haben. Er ließ den Strom der Reisenden vorüberfluten und schaute sich suchend um. Er war groß und schlank. Auffallend wirkte der Gegensatz zwischen den blauen Augen und dem kastanienbraunen Haar. Manch einer blickte zurück, um ihn noch einmal zu betrachten, und nicht wenige glaubten, seinem Gesicht in den letzten Wochen schon begegnet zu sein. Die Menge verlief sich schnell. Am Packwagen hantierten die Träger mit Kisten und Körben, und auf dem benachbarten Bahnsteig packte ein Zeitungsjunge seine Ware zusammen. Nun kam er herüber, wohl in der Hoffnung, noch einen Kunden zu finden. Der Wartende machte eine abwehrende Handbewegung und wandte sich zum Gehen. Doch der kleine Verkäufer ließ sich nicht beirren, er schwenkte seine druckfrischen Abendblätter und verkündete anreißerisch die Schlagzeilen. – Der Erfolg war außerordentlich. Der junge Mann griff nach der Zeitung, warf dem Verkäufer ein Geldstück hin und stürzte davon. In wenigen Augenblicken hatte er die weiträumige Halle durchquert. Am Südausgang rief er atemlos nach einem Taxi. „Kalverstraat elf, NACHTEXPRESS!“ 6
„Kalverstraat?“ wiederholte der Chauffeur brummig. „Zu Fuß sind Sie in fünf Minuten da.“ „Mir kommt es auf jede Sekunde an“, rief der Mann erregt. Er griff in die Tasche seines Trenchcoats und reichte einen 10-Gulden-Schein nach vorn. „So schnell Sie können!“ „Besten Dank, Mynheer!“ Der Fahrer tippte an die Mütze, gab Gas und tat sein Bestes, um den Wagen so rasch wie möglich durch das Gewühl des Spätnachmittagsverkehrs zu lotsen. Im Rückspiegel konnte er sehen, daß sein Fahrgast fast teilnahmslos dasaß und auf die Titelseite einer Zeitung starrte. In der Hoogstraat staute sich der Verkehr. Die Autoschlangen kamen nur noch schrittweise voran. „Den Rest laufe ich zu Fuß!“ Der junge Mann schlug die Wagentür zu und jagte die Straße hinunter. Seine Zeitung hatte er vergessen. Der Fahrer langte sie sich vom Rücksitz. Was konnte die Aufmerksamkeit seines Kunden so gefesselt haben? „TOD DES JOURNALISTEN WETERING EINWANDFREI UNFALL!“ Achselzuckend legte der Chauffeur das Blatt beiseite. Erven Weterings Tod war keine Sensation mehr. Gestern früh hatte man die Leiche am Ufer der Zuidersee gefunden, das gekenterte Boot aufgebracht. Segelunfall. Wasser hatte eben keine Balken, und die tückischen Böen in der Muiderbucht waren schon manchem zum Verhängnis geworden.
„Das ist ein Korridor und keine Rennbahn, verstanden!“ schnauzte ein muskelbepackter Vierziger und hielt den jungen Mann, der ihm gerade einen Stoß Manuskripte 7
aus der Hand gefegt hatte, mit hartem Griff am Oberarm fest. „Lassen Sie mich!“ Der jäh Gebremste versuchte sich aus der Umklammerung zu befreien. „Ich muß zum Chefredakteur.“ „Zum Chef?“ Er schaute sich sein Gegenüber genauer an. „Sie hab’ ich doch schon öfter gesehen!“ Seine Miene hellte sich auf. „Sie sind Adrian van Campen, der Held von der Wetering-Story Liebe 70. Was wollen Sie denn von unserem Chef? Ich bin übrigens Klaas Vermeulen, Reporter hier im Hause.“ „Das fragen Sie noch!“ entgegnete van Campen und riß sich los. „Wie kommt der NACHTEXPRESS dazu, solche Schauergeschichten zu verbreiten? Wie können Sie behaupten, Wetering sei tot?“ „Das ist leider wahr, mein Lieber“, sagte Vermeulen ruhig. „Ich selbst habe ihn gestern vormittag im Schauhaus identifiziert. Und seit gestern mittag weiß ganz Amsterdam, daß Erven Wetering in der Nähe von Huizen aus dem Wasser gefischt wurde. Er war bereits tot, als sie ihn fanden. Ertrunken.“ Die Sicherheit des Journalisten traf Adrian wie ein Schlag. Erven Wetering tot – es war nicht vorstellbar. Seit Adrian in Amsterdam zu studieren begonnen hatte – seit drei Jahren also –, war Erven immer an seiner Seite gewesen: als Freund, als Ratgeber, als Wegweiser, als Motor. Ihm, dem jungen Provinzler, hätte Erven diese Stadt erschlossen, er hatte ihm gezeigt, wie man mit ihren Menschen am besten und schnellsten zurechtkommt. Wenn Amsterdam ihm mit der Zeit liebenswert geworden war, so hatte Erven nicht wenig dazu beigetragen. „Ich kann es nicht fassen“, sagte er tonlos. „Erven war mein bester Freund.“ 8
Vermeulen legte ihm die Hand auf die Schulter. „Tut mir leid für Sie, Herr van Campen. Es war ein Schock für uns alle.“ Einige Augenblicke schwiegen die Männer. Dann wandte sich Adrian zum Gehen. „Bleiben Sie doch noch“, sagte der Reporter herzlich und schob Adrian in eine der kleinen Redaktionsstuben, die zu beiden Seiten des Korridors lagen. „Sie sagten, Erven sei Ihr bester Freund gewesen. Ich kann mit einigem Recht behaupten, er war mein bester Schüler. Schade um ihn. Er hatte den sechsten Sinn für das, worauf es im Journalismus ankommt.“ Vermeulen öffnete die Tür eines Schränkchens und holte eine Geneverflasche hervor. „Nehmen Sie erst mal einen zur Stärkung!“ Van Campen schüttelte den Kopf. Stärkung, was hieß das schon? Er wollte gar nicht stark sein. Er hatte das Gefühl einer schrecklichen Leere. Nichts und niemand konnte jetzt dieses Gefühl beseitigen. „Sie sind ganz blaß geworden. Wollen Sie lieber ein Glas Wasser?“ Da Adrian auf die Frage nicht reagierte, schenkte Vermeulen zwei Gläser voll Genever und stellte eines vor Adrian hin. „Mir ist es gestern genauso gegangen.“ Er kippte den Schnaps hinunter. „Ausgerechnet beim Segeln mußte es Wetering erwischen!“ „Beim Segeln?“ Adrian erwachte aus seiner Erstarrung. „Das ist unglaublich! Erven verstand davon mehr als sonst jemand!“ „Das sagen Sie so, van Campen.“ Vermeulen kratzte sich am Kopf. „Aber eine Böe ist eine Böe. Auch wenn man noch soviel vom Segeln versteht. Und ein Starboot, 9
das davon überrascht wird, braucht mindestens zwei Mann Besatzung, um damit fertig zu werden.“ Adrian griff nach dem Glas und leerte es in einem Zug. „Vor einem Jahr hat Erven sich die Delphin gekauft. Seitdem ist er noch nie allein damit gesegelt.“ „Hätte er es am Dreiundzwanzigsten nur auch so gehalten! Es war ein stürmischer Tag.“ „Warum sollte Erven ausgerechnet an diesem Tage von allen guten Geistern verlassen gewesen sein?“ Vermeulen zuckte die Schultern. „Mich dürfen Sie so etwas nicht fragen. Bei SCHAU HIN wissen die Herren sicher mehr darüber. Die haben Kommissar Thelen so lange bearbeitet, bis er ihnen die Exklusivberichterstattung über Weterings Tod zugesichert hat.“ Adrian ging zur Tür. „Besten Dank, Herr Vermeulen. Entschuldigen Sie den Auftritt. Aber ich war … ich bin noch jetzt ganz durcheinander.“ Der Reporter schüttelte ihm die Hand. „Versteh’ ich. Übrigens, eins muß ich Ihnen noch sagen: eine KlasseStory, die Wetering mit Ihnen und Ihrer Verlobten für SCHAU HIN gestartet hat, eine der anständigsten Folgen, die er je unter der Feder hatte. Der Verlag wird sich verdammt umsehen müssen, ehe er wieder solch einen Mitarbeiter findet.“
Das Verlagshaus SCHAU HIN war ein zwölfstöckiger imposanter Glaspalast, entworfen von avantgardistischen Baukünstlern, die der Welt zeigen wollten, daß nur der modern sei, der sich kühn über alle architektonischen Konventionen hinwegsetzt. Schon die Vorhalle schockierte den Besucher. Riesige abstrakte Mosaiken bedeckten ringsum die Wände, in der Deckenkonstruktion 10
wie in den Säulen herrschte eine verwirrende Vielfalt asymmetrischer Formen. Am Fahrstuhl wurde Adrian van Campen von einer Blondine in stahlblauer Livree angesprochen. „Gut, daß Sie kommen. Der Chefredakteur hat schon nach Ihnen gefragt.“ „Wo kann ich ihn sprechen?“ „Herr Vickbons bittet Sie, im Kasino auf ihn zu warten. Er ist gerade bei Herrn Keetenheuve.“ „Beim Verleger? Das kann ja Stunden dauern.“ „Bestimmt nicht. Wenn Sie ins Kasino gehen, lasse ich den Herren ausrichten, daß Sie dort sind.“ „Sagen Sie, daß ich nicht länger als eine Viertelstunde Zeit habe.“ „Sie können sich auf mich verlassen, Herr van Campen.“ Das Mädchen warf ihm einen freundlichen Blick zu und verschwand in der Telefonzentrale. Adrian fuhr mit dem Lift in den achten Stock, ging in das sonnendurchflutete Kasino und setzte sich an einen freien Ecktisch. Er war viel zu sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, um wahrzunehmen, was um ihn vorging. An den Nachbartischen waren die Gespräche verstummt, neugierig wandte man sich nach ihm um, steckte die Köpfe zusammen und tuschelte. Als wenig später ein hochgewachsener Herr in dunkelgrauem Anzug an Adrians Tisch trat, ihm stumm die Hand drückte und dann mit ihm den Raum verließ, folgten ihnen viele Blicke, und man nickte einander bedeutungsvoll zu. „Ein schwerer Schlag für uns, Herr van Campen.“ Philipp Vickbons, Chefredakteur der größten niederländischen Illustrierten, öffnete die Tür zu seinem weiträumi11
gen Arbeitszimmer und bat Adrian, in einem der wuchtigen Ledersessel Platz zu nehmen. Er selbst stellte sich ans Fenster. „Kein Verlust in den letzten Jahren hat uns so getroffen wie dieser. Keine Serie ist so gut angelaufen wie Liebe 70. Unter Umständen müssen wir sie abbrechen, denn ein Mann wie Wetering ist eigentlich unersetzlich. Aber lassen wir das erst mal beiseite. Haben Sie schon mit Ihrer Verlobten gesprochen?“ „Nein.“ „Fräulein Rust ist ganz verstört. Sie saß den Vormittag über hier und weinte. Ich habe sie in meinem Wagen nach Hause bringen lassen.“ Er sah Adrian mitfühlend an. „Sie kommen wohl direkt aus Friesland von Ihrem Herrn Vater? Bringen Sie wenigstens gute Nachrichten von dort?“ Er spricht heute wie ein Pfarrer, dachte Adrian. Dieser Ton paßt zu ihm sowenig wie der Zweireiher. „Meinem Vater geht es etwas besser. Der Arzt hofft, daß er langsam wieder zu Kräften kommt.“ „Und zu Hause, in Zuiderhart, haben Sie nichts von dem erfahren, was uns hier bewegt hat?“ Adrian schüttelte den Kopf. Vickbons seufzte. „Wer kümmert sich in Geldern oder Friesland groß darum, was bei uns in Amsterdam passiert.“ „Ich weiß nur, daß Erven beim Segeln verunglückt sein soll, und kann das einfach nicht glauben.“ Vickbons ließ sich ebenfalls in einem Sessel nieder und sagte nachdenklich: „Sie sollen alles erfahren, was ich über Ervens Tod weiß. Ich kann mich doch auf Ihre Diskretion verlassen?“ „Was soll das bedeuten?“ 12
Vickbons beugte sich vor. „Kommissar Thelen hat uns zugesichert, die Angelegenheit so vertraulich wie möglich zu behandeln. Praktisch heißt das: Die Öffentlichkeit erfährt über den Unfall nur das, was wir freigeben. Die Angehörigen hätten natürlich ein Recht auf die ganze Wahrheit, doch Wetering war Waise und Junggeselle. Sie aber als sein bester Freund …“ „Warum denn diese Geheimnistuerei?“ fiel Adrian ihm ins Wort. „Herr van Campen, bitte verstehen Sie unsere Situation.“ Der Chefredakteur legte beschwichtigend seine Hand auf Adrians Schulter. „Erven Wetering gehörte zu den besten Journalisten von Amsterdam. Seine großartige Bildergeschichte Liebe 70 machte ihn zum Liebling von Millionen Lesern. Und wenn ein Star einem Unfall zum Opfer fällt, wirkt das wie ein Schock. Die Öffentlichkeit will erfahren, wie das geschehen konnte. Natürlich haben wir es erklärt: Erven Wetering allein an Bord seines Starbootes Delphin, plötzlich einsetzende starke Böe, beim schnellen Wenden und Reffen fällt er unglücklich über eine Schot, schlägt mit dem Kopf auf eine eiserne Klampe, verliert das Bewußtsein und wird über Bord gespült.“ „Das wurde also öffentlich erklärt“, wiederholte Adrian langsam. „Und wie sah es wirklich aus?“ Vickbons zog die Brauen hoch. „Unser Freund Wetering soll stark angetrunken gewesen sein, als er das Gleichgewicht verlor.“ „Ausgeschlossen!“ „Genau das habe ich Kommissar Thelen auch gesagt. Es hat ihn aber nicht im geringsten beeindruckt, auch nicht, als jeder Mitarbeiter unseres Aufnahmeteams bereit war zu bezeugen, daß Wetering nie trank.“ 13
„Wetering und Trunkenheit? Das ist doch völlig widersinnig!“ „Der Kommissar stützt sich auf das gerichtsmedizinische Gutachten und Zeugenaussagen.“ Adrian sprang auf. „Das muß ich schwarz auf weiß sehen!“ Der Chefredakteur nickte. „Sprechen Sie mit Kommissar Thelen, Herr van Campen.“ Er faßte nach dem Hörer. „Am besten, ich melde Sie gleich an. Er ist nicht leicht zu erreichen.“
Überall im Polizeipräsidium sprach man mit Respekt von ihm, bewunderte seine Sachlichkeit, seine Logik. Wann und wo aber auch immer von ihm die Rede war, nie sprach man von Kommissar Thelen, sondern stets vom „Gummiball“. Der etwas zu klein geratene und recht beleibte Thelen verdankte diesen Spitznamen wohl nicht nur seiner Statur, sondern auch seiner quirligen Unruhe. Jetzt hob er abwehrend die Hände und sagte mit Nachdruck: „Herr van Campen, so kommen wir nicht weiter. Die Fakten mögen uns nicht gefallen, sie mögen uns empören, unbegreiflich für uns sein – aus der Welt zu schaffen sind sie nicht. Oder wollen Sie behaupten, unsere Gerichtsmediziner verstünden ihr Handwerk nicht?“ „Davon kann ja keine Rede sein“, erwiderte Adrian erregt und ging in dem kleinen Büro auf und ab. „Ich vermag nur nicht einzusehen, warum sich mein Freund ausgerechnet am dreiundzwanzigsten Juni völlig anders verhalten haben soll als sonst. Sehen Sie darin keinen Widerspruch, Kommissar?“ „Sicher ist das ein Widerspruch. Aber einem studierten jungen Mann ist wohl Psychologie nicht so ganz fremd.“ 14
„Ich studiere Kunstgeschichte, Herr Kommissar.“ „Ausgezeichnet!“ Der „Gummiball“ sprang vom Stuhl. Beide Männer liefen jetzt nebeneinanderher, ein paar Schritte nach rechts, ein paar Schritte nach links, mehr Platz bot das Zimmer nicht. „Nehmen wir Rembrandt oder van Dyck. Nehmen wir Frans Hals oder van Gogh. Stecken Leben und Werk dieser großen Maler nicht voller Widersprüche? Haben diese Meister nicht auch Bilder gemalt, die ihnen kein Wissenschaftler und Kunstkenner zuschreiben würde, stände nicht unverkennbar das Signum des Malers darunter? Wäre das Signum entfernt, würden Sie sich zutrauen, ein völlig unrembrandtsches Bild Rembrandt zuzuordnen? Niemals. Sie würden in einer Expertise wissenschaftlich nachweisen daß Rembrandt so etwas nie hätte malen können, weil es seinem innersten Denken und Wollen zutiefst widersprach.“ „Widersprüche in Stilfragen und künstlerische Aussagen stehen auf einem ganz anderen Blatt, Herr Kommissar.“ Das Telefon schrillte. Thelen meldete sich: „Was gibt’s denn? Soso. Aber doch nicht jetzt. Nein. Im Moment bin ich beschäftigt. Was heißt hier ‚dringend‘? Was meinen Sie, was sich hier alles zusammendrängt! Ende!“ Er knallte den Hörer auf die Gabel. „Manche Leute glauben, Kriminalisten seien Übermenschen, die zehn Dinge zu gleicher Zeit tun könnten. Daß man ein sorgfältig vorbereitetes Verbrechen nicht im Handumdrehen aufklären kann, werden die wohl nie begreifen.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Sie haben einen schlechten Zeitpunkt gewählt, Herr van Campen. Heute ist Großkampftag.“ Er sah auf die Uhr. „Fünf Minuten noch. Wo waren wir stehengeblieben?“ 15
„Bei den Widersprüchen.“ „Natürlich. Dies Zimmer steckt voll davon.“ Thelen sprang mit einem Satz zum Aktenschrank, ließ das Rollo heruntersausen und zeigte mit ausgestrecktem Arm auf die Reihen von Ordnern. „Was glauben Sie, was Sie dort finden? Lesen Sie ein paar Tage in den Vernehmungsprotokollen, und Sie wissen vor Widersprüchen nicht mehr aus noch ein. Da lebt einer unbescholten fünfzig Jahre, geachtet von seinen Mitbürgern, geehrt mit Titeln und Medaillen, und ganz unvermittelt begeht dieser Ehrenmann ein abscheuliches Verbrechen. Wie verträgt sich das miteinander? Da ist eine Lehrerin, intelligent, vielseitig begabt, geliebt von ihren Schülerinnen, ein fröhlicher, optimistischer Mensch, und dann wird diese Frau ohne sichtbaren Anlaß von heute auf morgen zur Trinkerin, verfällt völlig dem Alkohol. Das Ende ist Entziehungskur, Rückfall, Selbstmord. – In unserer Kriminalgeschichte wimmelt es von solchen Ungereimtheiten. Jetzt kommt natürlich die Wissenschaft und bastelt sich für jeden dieser unglaublichen Fälle ein psychologisches Gutachten zusammen. Es beweist mit einer Fülle von Fachausdrücken, daß bei diesem der Hang zum Alkoholismus, bei jenem der zum Selbstmord schon von Jugend an im Keim vorhanden war und daher logischerweise irgendwann einmal zum Ausbruch kommen mußte. Und so ist jeder unserer Fälle von der wissenschaftlichen Seite her diagnostiziert und abgeschlossen. Von der menschlichen Seite her aber bleiben für uns Rätsel über Rätsel.“ Thelen nickte einige Male vor sich hin. „Wir Kriminalisten ermitteln nicht das Warum, für uns ist ausschlaggebend, wie sich die Menschen verhalten. Und Erven Wetering segelte am dreiundzwanzigsten Juni nachmittags, fünfzehn Uhr dreißig, mit seinem Starboot Del16
phin allein ab. Dafür gibt es drei Zeugen. Und wenn er sonst nie allein absegelte, am dreiundzwanzigsten Juni tat er es. Aus uns unbekannten Gründen. Und wenn er sonst nie trank – mehrere Zeugen haben zu Protokoll gegeben, daß er die waghalsigsten Segelmanöver allein ausführte, daß er grölend am Heck der Jacht stand, eine Flasche in der Hand. Natürlich können Sie die Zeugenaussagen anzweifeln. Aber wie erklären Sie sich dann den Befund der Gerichtsmediziner? Wenige Stunden nachdem Wetering aus der Zuidersee geborgen wurde, stellte man bei ihm einen Blutalkoholgehalt von null-Komma-zwei Promille fest, Indiz für einen mittleren Rausch.“ Thelen blieb am Fenster stehen. Er blickte hinaus. Über den Dächern der Amsterdamer Altstadt lag der Schein der Abendsonne. Adrian hatte sich, des ewigen Umherlaufens müde, auf einen Stuhl gesetzt. Thelen trat zu ihm und sah ihn wohlwollend an. „Vor Jahren las ich das Buch eines Amerikaners: ‚Der Mensch, das unbekannte Wesen.‘ Der Mann hat recht, Herr van Campen. Er wies nach, daß man zehn, zwanzig, dreißig Jahre mit einem Menschen zusammen leben kann, als Bruder, Vater, Ehemann oder Freund. Man glaubt, ihn durch und durch zu kennen, aber man täuscht sich. – Wissen Sie, was Ihr Freund während der letzten Wochen mit sich herumtrug? Vielleicht war es etwas, über das er nicht sprechen konnte, nicht sprechen wollte. Das Schweigen kann über seine Kraft gegangen sein. Die Spannung mußte sich lösen, daher tat er, was er noch nie getan hatte, er betrank sich. Mit dem Ergebnis, daß er zum ersten Mal in seinem Leben die Kontrolle über sich verlor. Und dieses eine Mal wurde ihm zum Verhängnis.“ 17
Adrian wollte etwas entgegnen, aber er kam nicht mehr dazu. Hastig wurde die Tür geöffnet. „Der Herr Polizeirat erwartet den Ermittlungsbericht über den Mord an dem Hauptkassierer umgehend“, rief ein langaufgeschossener Beamter ins Zimmer. „Bin ja schon unterwegs.“ Thelen gab Adrian die Hand. „Auf ein andermal. Sie sehen ja, wie unsereins gehetzt wird. Besorgen Sie sich inzwischen das Buch von diesem Amerikaner! Vielleicht beantwortet es Ihre Frage.“ ‚Der Mensch, das unbekannte Wesen‘ – Adrian hatte das Buch gelesen. Eine bequeme Philosophie, besonders für einen Kriminalkommissar. Wer sich damit zufriedengab, den Menschen als unbekanntes Wesen hinzunehmen, brauchte keine Zeit zu verlieren, um Ursachen und Motiven für eine Tat auf die Spur zu kommen. Er würde sich damit begnügen, die Fakten zu registrieren. Warum beklagte sich Thelen eigentlich, daß man ihm keine Ruhe ließ, Probleme so umsichtig und gründlich zu erforschen, wie es ihnen zukam? Vielleicht war es ihm ganz recht, daß er aus Zeitmangel nicht jedem Hinweis nachzugehen brauchte. Oder sparte er sich Umsicht und Gründlichkeit für seine großen Sachen auf? Ein tödlicher Unfall beim Segeln war sicher keine große Sache, ja eigentlich kaum der Rede wert. Die Öffentlichkeit war informiert worden, alles schien klar und einleuchtend. Jetzt noch Fragen zu stellen war unpassend, das schadete nur der Publicity des toten Starjournalisten. Die Millionen SCHAU-HIN-Leser würden ihrem Blatt nie verzeihen, wenn der Fall in der Muiderbucht sich anders zugetragen hätte, als man ihnen weisgemacht. Sie wollen ja nicht die Wahrheit schlechthin, sie wollen eine melodramatisch stilisierte Wahrheit. Es machte sich besser, wenn Erven Wetering dem blin18
den Schicksal zum Opfer gefallen war, einer heimtückischen Böe, die jäh vom Himmel auf die Zuidersee herabstürzte. Erfüllt von bitteren Gedanken, ging Adrian die Herrengracht hinunter. Seit er vor drei Jahren von Zuiderhart gekommen war, um sich hier an der Universität immatrikulieren zu lassen, hatte es ihm diese Straße mit ihren stattlichen Adelspalästen, ihren rostbraunen hohen Giebelhäusern angetan. Hier im Innern von Amsterdam war noch etwas von der Atmosphäre des niederländischen Patrizierbarocks übriggeblieben, dessen Meister er liebte. Heute spürte er nichts von der Harmonie dieser Straße, hatte keinen Blick für die prachtvollen Ulmen, die die Gracht zu beiden Seiten säumten und deren tiefdunkles Grün sich in ihrem Wasser spiegelte. An der Ecke Huiderstraat blieb er vor einer riesigen Plakatwand stehen. ADRIAN UND ANTJE – DER SENSATIONELLE ERFOLG EINER LIEBESGESCHICHTE AUS UNSEREN TAGEN. MITERLEBT UND FÜR MILLIONEN LESER INS BILD GERÜCKT VON ‚SCHAU HIN‘. Das waren sie beide, Antje und er. Lachend, fröhlich, übermütig, inmitten einer Gruppe junger Leute, überlebensgroß. Ein vergnügter Wegweiser ins Konsumzeitalter! Über Nacht waren sie durch SCHAU HIN prominent geworden. Dabei hatte keiner von ihnen das Blatt leiden können, seine Kulissenhistörchen, seine Sentimentalitäten. Erven hatte bisweilen eine Nummer Seite für Seite auseinandergenommen. Er hatte ihnen gezeigt, wie hier manipuliert wurde. Zum Schluß aber hatte er gegrinst. „Alles nur Futterneid, ihr Lieben. Schaut euch den Um19
bruch an, der ist mehr als gekonnt. Die Drucktechnik macht denen keiner nach, die Aufmachung springt jeden an, der Werbeetat, der Kundendienst – märchenhaft! Eines Tages schreib’ ich auch für die Brüder, aber auf meine Art und das, was mir gefällt.“ Sie hatten ihn ausgelacht. Doch Anfang April war er plötzlich am Singel in Antjes Mansarde erschienen, begleitet von einem Kamerateam, und hatte ein paar Flaschen auf den Tisch gestellt. „Hört zu, ihr beiden! In acht Tagen beginnt das große Spiel für euch: Liebe 70! Und so wahr ich hier sitze, ehe der Monat Mai zu Ende ist, seid ihr das prominenteste Liebespaar von Amsterdam.“ „Der wievielte Cocktail ist das heute schon, Erven?“ „Der zweite. Mehr trinke ich sowieso nicht. Also keine Widerrede! Ich habe neulich Farbfotos von euch machen lassen, und alte Hasen haben sie getestet. Ergebnis: ihr seid unerhört fotogen. Adrian ist zwar kein Adonis, doch den wollen wir auch gar nicht. Er hat ein interessantes Profil, ein offenes Gesicht. Antje aber ist schön. Naturblondes Haar und grüne Augen findet man. nicht alle Tage. Lach mich ruhig aus, Mädchen, wenn du lachst, wirst du noch schöner. Du bist genau der Typ, den man im Jahre siebzig sehen will. Schlank, nicht zu klein, gute Figur, kannst also Mini, Midi, Maxi tragen – das ist sehr wichtig für die Serie, das muß schon sein bei Liebe 70 …“ „Und was muß noch sein?“ „Nichts muß sein“, sagte Erven nachdrücklich. „Alles andere hängt davon ab, was ich will, was wir drei wollen.“ „Erven, wir sind keine Schauspieler.“ „Zum Glück. Auch die SCHAU-HIN-Leser haben allmählich genug von der ewigen Mimerei. Inszenierte Skan20
dale ziehen nicht mehr. Immer dieselben Effekte, abgestanden, gekünstelt, an den Haaren herbeigezogen. Wir machen etwas ganz Neues. Junge Leute von heute, wie sie wirklich sind: kritisch, aufgeschlossen, risikobereit. Junge Liebe. Wie leicht oder wie schwer ist das im Amsterdam unserer Tage? Was euch begegnet, was ihr erlebt, was ihr wollt, das wird die Serie – das Leben selbst.“ „Das Leben selbst bei SCHAU HIN?“ „Ja. Liebe 70, eure Geschichte, das ist nur der Rahmen, die unterhaltsame Verpackung.“ „Und was willst du verpacken?“ „Was zur Sprache gebracht werden muß, was faul und morsch ist in unserer Gesellschaft, der ganze Sumpf, an dessen Rand wir stehen und in den wir immer mehr hineingleiten.“ „Das bringst du doch bei SCHAU HIN nicht unter!“ „Ihr werdet es erleben. Ich bin lange genug in der Branche. Ich weiß, was ich durchsetzen kann und wo.“ Was auch an Gegenargumenten vorgebracht wurde, Erven widerlegte sie. Früh um zwei, als Antje noch einen Mokka servierte, standen ihre Namen unter einem Vertragsentwurf des SCHAU-HIN-Verlages, der Erven Wetering, Adrian van Campen und Antje Rust für vierzig Folgen des Foto-Romans Liebe 70 verpflichtete. „Bin ich froh, daß du endlich da bist, Adrian!“ Antje umarmte ihn stürmisch. „Die letzten zwei Tage waren schrecklich, und dann noch ohne dich. Komm, setz dich, du siehst ganz elend aus. Wo warst du denn so lange?“ Adrian ließ sich in einen Sessel fallen. „Ich hatte mit euch am Bahnhof gerechnet. Da bekam ich den NACHTEXPRESS in die Hände. Fünf Minuten später war ich in der Kalverstraat. Von Vermeulen erfuhr ich, was geschehen ist.“ 21
„Beim NACHTEXPRESS warst du?“ Antje sah ihn erstaunt an. „Warum?“ „Ich konnte einfach nicht glauben, was da auf der ersten Seite stand.“ „Hat Erven nicht beim NACHTEXPRESS seine Karriere begonnen?“ „Stimmt. Vermeulen war sein Lehrmeister.“ „Klaas Vermeulen.“ Antje nickte. „Erven hat eine Menge Geschichten über ihn erzählt. Das muß ein hartgesottener Bursche sein. Was hat er zu dir gesagt?“ „Er hat mir die Hand gedrückt und einen Genever angeboten. Zu guter Letzt hat er Liebe 70 gelobt.“ Adrian lächelte bitter. „Was sollte er auch sagen?“ „Bei SCHAU HIN waren alle wie vor den Kopf geschlagen.“ „Alle?“ „Alle, die mit mir gesprochen haben.“ „War sie wirklich echt, diese allgemeine Teilnahme?“ „Dazu kenn’ ich die Leute noch zuwenig. Warum fragst du?“ „Ich könnte mir denken …“ Adrian überlegte einen Augenblick. „Es gibt eine Menge Redaktionszimmer in dem Hochhaus“, fuhr er dann langsam fort, „manchmal hatte ich den Eindruck, als sähe man da und dort den eigenwilligen Journalisten Wetering lieber gehen als kommen.“ „Davon weiß ich nichts. Hat Erven mit dir darüber gesprochen?“ „Er hat so etwas angedeutet. Leute mit eigenem Kopf seien dort nicht sehr gefragt. Liebe 70 müsse man durchboxen, nicht gegen die Leser, aber gegen manche Besserwisser.“ „Meinst du, daß jetzt, da Erven tot ist, diese Besserwisser triumphieren?“ fragte Antje ungläubig. 22
„Das könnte schon sein. Liebe 70 war etwas Neuartiges. Aber nach ein paar Wochen wird bei SCHAU HIN alles beim alten sein. Keiner wird mehr den Frieden stören.“ „Du sagst das so bitter, Adrian. Gibst du unserer Story nun keine Chance mehr?“ Adrian stand auf und trat ans Fenster. Klarheit war immer das beste, dachte er, auch wenn sie noch so sehr traf. „Machen wir uns keine Illusionen, Antje“, sagte er mit Nachdruck. „Die Story läuft noch zwei Fortsetzungen. Soviel hat Erven an Material in die Redaktion gegeben. Dann ist es vorbei mit Liebe 70.“ „Und wir?“ fragte sie leise. „Für uns beide geht die Welt nicht unter.“ Er setzte sich zu ihr auf die Couch und legte seinen Arm um ihre Schulter. „Ich studiere weiter, ungestörter, ohne das ewige Herausgerissenwerden durch Termine. Du ruhst dich noch ein paar Tage aus und gehst dann wieder ins Fotolabor in die Oranienstraat. Du warst ja immer gern dort. Und wir haben mehr Zeit füreinander als in den letzten Wochen.“ Mit einem Ruck stand Antje auf. „War das eben ernst gemeint?“ „Ich versuche, den Tatsachen ins Auge zu sehen.“ „Wir können doch nicht wieder von vorn anfangen. Versteh mich, Adrian“, sagte sie bittend. „Liebe 70 hat so vieles verändert. In acht Fortsetzungen sind wir großartig herausgekommen. Überall spricht man von uns. Wir bekommen eine Einladung nach der anderen. Das kann nicht plötzlich alles vorbei sein.“ „Du wirst es erleben“, sagte Adrian. Warum konnte Antje nicht begreifen, daß jetzt vieles anders werden würde? Warum klammerte sie sich an die Illusion, was so schön begonnen, müsse auch weiterhin 23
schön bleiben? Hatte sie nicht verstanden, was Wetering mit Liebe 70 zeigen wollte? Sicher nicht die Liebe von Adrian und Antje, die war für ihn nie mehr als ein Aufhänger gewesen. Was Erven fasziniert hatte, war die Möglichkeit, anhand einer Liebesgeschichte Probleme, Denk- und Verhaltensweisen junger Leute bekanntzumachen und zur Diskussion zu stellen. Das war ihm großartig gelungen, und das würde es nie wieder geben. „Warum sind wir denn so gut herausgekommen, Antje? Weil Erven etwas aus uns gemacht hat. Aus uns und um uns! Ohne ihn wären wir ein Liebespaar wie tausend andere. Er hat uns ins Rampenlicht gestellt. Das Publikum hat uns beide nur akzeptiert, weil Erven Wetering dahinterstand.“ „Erven Wetering und SCHAU HIN. Meinst du nicht, daß andere auch schreiben können?“ „Nicht so wie er. Nicht von seiner Warte aus. Phil Vickbons ist viel zu intelligent, als daß er sich um einen Nachfolger für Erven bemühen würde.“ „Man munkelt aber schon davon.“ „Wer munkelt?“ „So genau weiß ich das nicht. Ich habe im Kasino ein paar Andeutungen gehört.“ „Im Kasino will der eine immer besser informiert sein als der andere. Das meiste, was du zu hören bekommst, ist Klatsch oder Spekulation. Glaub mir, ein so alter Hase wie Vickbons macht sich keine Illusionen mehr über Liebe 70. Ich finde das sehr vernünftig von ihm.“ Antje sah ihn zweifelnd an. „Seit wann lobst du Vickbons?“ „Er versteht sein Handwerk, das hab’ ich nie bestritten. Unter seiner Leitung ist SCHAU HIN so geworden, wie sie heute ist: verkitscht, verlogen, aber ein großes 24
Geschäft. Mehr will er gar nicht, und mehr kann er wahrscheinlich auch nicht. – Weterings Journalismus war genau das Gegenteil. Erven wich nicht aus, schrieb nicht drumherum, nannte die Dinge beim Namen.“ „Aber was Erven schrieb, verkaufte sich doch genausogut, war genauso spannend.“ „Nicht genauso! Erven schaffte die Spannung anders, nicht mit Sensationen und Sentimentalitäten. Erven hat seine Leser informiert, ohne aufzubauschen, Konflikte braucht man nicht erst künstlich zu erzeugen, unser Alltag ist voll davon.“ „Ich weiß. Erven hat oft davon gesprochen. Er hat recht gehabt, und das ist unser Glück.“ Antje lächelte zuversichtlich. „Deshalb läuft Liebe 70 auch bestimmt weiter.“ „Wieso das?“ „Weil unser Leben voller Konflikte ist. Weil man sie den Leuten nur zeigen muß. Das kann ein guter Texter. Und gute Texter finden sich in Amsterdam bestimmt. Wer so viel Geld zahlt wie SCHAU HIN, braucht nicht lange nach einem Autor zu suchen.“ Adrian schüttelte den Kopf. „Du hast mich noch nicht verstanden, Antje. Erven sah die Welt, in der wir leben, mit anderen Augen als die SCHAU-HIN-Journalisten. Er hatte seinen ganz persönlichen Standpunkt.“ „Bestreite ich gar nicht. Jeder gute Journalist hat seine persönliche Handschrift.“ „Wie soll ich dir das nur begreiflich machen?“ Adrian ging zur Couch und streckte sich aus. Während er das Tapetenmuster betrachtete, schweiften seine Gedanken zurück in die Monate Mai und Juni. Eine Geschichte vor allem war es, an die er sich jetzt erinnerte. Sie hatten es satt, ihr Liebesleben von möblier25
ten Zimmerwirtinnen regulieren zu lassen. Ein Thema, das die Leute ansprach. Zehntausenden ging es ähnlich wie ihnen. Erven und sein Kamerateam begleiteten sie bei ihrer Wohnungssuche. Sie wurden hinters Licht geführt von sogenannten Maklern, die sich für ein und dieselbe Wohnung ein dutzendmal von Interessenten die Miete im voraus bezahlen ließen. Sie trafen Hausbesitzer, denen sie das baufällige Dachgeschoß instand setzen oder die Kellerraume ausbauen sollten. Andere erwarteten von ihnen, daß sie Hauswart oder Heizer ersetzten. Man fütterte sie mit falschen Hoffnungen und Versprechungen. Erven übertrieb nicht, er gab nur ein ungeschminktes Bild des gegenwärtigen Wohnungsmarktes. Die Krönung der Geschichte war der Tip mit der Zweizimmerwohnung. Am Montag sollte sie frei werden, weil die Besitzerin am Sonnabend gestorben sei. Der Tip kostete sie ein paar hundert Gulden. Als sie am Montagnachmittag dort klingelten, öffnete eine alte Dame im Schlafrock die Tür. Erstaunt über die verwirrten Gesichter, hatte sie zu einer Tasse Tee eingeladen. Ja, in der vergangenen Woche sei sie etwas bettlägerig gewesen. Heute sei der erste Tag, an dem es ihr wieder besser gehe. Einer ihrer beiden Neffen war es, der den Tip mit der toten Tante verkauft hatte. Adrian hatte Ervens Konzeption amüsant und realistisch gefunden. Keetenheuve aber war sie zu hart. Der Haus- und Grundbesitzerverein könnte Krach schlagen, der Verband der Hausmakler würde auf Schadenersatz klagen und so weiter. Vickbons sollte sich selbst etwas einfallen lassen. „Erinnerst du dich an die Folge ‚Auf Wohnungssuche‘?“ fragte Adrian. 26
„Freilich. Sie war eine unserer besten.“ „Dank Wetering. Er hat sie regelrecht durchboxen müssen. Vickbons wollte eine ganz andere Variante.“ „Davon wußte ich nichts.“ „Ich erzähle sie, um dir zu zeigen, wie verschieden man dasselbe Thema behandeln kann. Bei Vickbons sollten wir zunächst wochenlang vergeblich suchen. Dort ist es zu eng, hier zu laut. Dann aber finden wir weit draußen in parkartiger Landschaft eine Traumwohnung. Zwar nur eine Mansarde, aber großzügig ausgebaut, mit allem Komfort. Sie gehört zur Villa eines Malers. Wir wollen schon ablehnen, weil der Preis zu hoch ist, da macht er mir ein Sonderangebot, weil ich Kunsthistoriker bin. Als Gegenleistung verlangt er, daß ich hin und wieder im Lande umherfahre, Ausstellungen besuche und ihn über die Entwicklung auf dem Kunstmarkt auf dem laufenden halte – alles auf seine Kosten. – Wir ziehen also ein und sind glücklich. Dann aber benutzt er einen Wochenendtrip von mir, um sich an dich heranzumachen. Du sollst ihm Modell stehen als Halbakt. Um die Wohnung nicht zu verlieren, willigst du schweren Herzens ein. Er fotografiert dich mit einer versteckten Kamera, und mit diesem Foto will er deine Hingabe erpressen. Du bleibst jedoch standhaft, und ich knöpfe mir den Lüstling vor. So behalten wir unsere Ehre, sitzen allerdings wieder auf der Straße.“ „Wie edel von uns!“ Antje lachte. „Es kommt noch besser. Die Sache mit der toten Tante hat Vickbons inspiriert. Nur ist sie ihm nicht melodramatisch genug. Nach seinem Willen öffnete uns keine alte Dame im Schlafrock die Tür, sondern wir finden die ganze Familie im Sterbezimmer versammelt. Die Todkranke fragt nach unseren Wünschen, und wir erzählen ihr, wie 27
arglistig uns der Neffe getäuscht hat. Der alten Dame läuft es eiskalt über den Rücken. Auf der Stelle läßt sie das Testament ändern, enterbt den Unwürdigen und vermacht uns als den Getäuschten und Anständigen das Wohnrecht. Darauf schließt sie für immer die Augen.“ „Ach, Adrian, sei nicht so streng mit Vickbons! Die Leute wollen gerne Märchen lesen.“ „Es geht nicht darum, sondern um den Unterschied der beiden Geschichten. Vickbons’ Story ist maßgeschneidert für SCHAU-HIN-Moral: Unsere Welt ist heil und gut, aber es gibt noch ein paar Bösewichte, und mit denen müssen wir fertig werden. Ervens Story sagt das Gegenteil: Unsere Welt ist aus den Fugen. Höchste Zeit, etwas zu unternehmen, um sie einzurenken.“ „Nimm nicht alles so grundsätzlich, Adrian. Es kann doch auch eine Zwischenlösung geben.“ „Mach dir nichts vor, Antje. Mit Erven Wetering ist auch Liebe 70 gestorben.“ „Hör auf!“ sagte sie heftig. „Das klingt, als wärst du froh darüber, daß es vorbei ist mit unserer großen Chance. Quält dich der Gedanke gar nicht?“ „Soll ich dir sagen, was mich quält?“ Er sprang auf. „Daß ich etwas glauben soll, was ich nie und nimmer glauben kann. Daß Erven sich an Bord der Delphin sinnlos betrunken haben soll …“ „Aber so war es doch, Adrian“, rief sie. „Die Polizei hat alles genau untersucht …“ „Ja, das hat sie, weiß Gott, und niemand kann ihr einen Vorwurf machen.“ Er lief im Zimmer auf und ab. „Der Kommissar hat mich genauestens informiert. Am vierundzwanzigsten Juni frühmorgens wird ein Mann in Segelkleidung bei Huizen tot aus dem Wasser gefischt. Er wird als Erven Wetering identifiziert. Bei der Obduk28
tion entdeckt man Spuren, die auf Alkoholmißbrauch hinweisen. Sein Starboot Delphin wird bei Bloemwarder gekentert aufgefunden. Augenzeugen geben zu Protokoll, daß ein Starbootsegler am dreiundzwanzigsten Juni spätnachmittags zwischen Dixmuiden, Bloemwarder und Huizen waghalsige Segelmanöver ausführte. Er war allein an Bord, betrunken, denn er grölte mit einer Flasche in der Hand zum Festland herüber. Also liegt der Fall offen zutage: Erven Wetering hat sich am dreiundzwanzigsten Juni siebzig bei Windstärke sieben an Bord vollaufen lassen, hat die Kontrolle über seine Delphin verloren, ist über Bord gefallen und ertrunken. Ein etwas außergewöhnlicher Unfall – aber ein Unfall. Alkoholmißbrauch mit Todesfolge. Eine einfache Sache – logisch, plausibel – für die Polizei, aber nicht für mich.“ „Adrian, rühr nicht immer alles von neuem auf. Du machst dich krank. Das führt zu nichts. Erven ist tot.“ „Ja, er ist tot. Das ist das einzige, was ich glauben muß. Aber ist er so gestorben, wie die Polizei es darstellt?“ „Adrian, wir dürfen darüber nicht sprechen. So wie es in der Zeitung stand, mit der Böe aus heiterem Himmel, so muß es auch für uns beide sein. Alles andere ist tabu.“ „Vickbons hat es mir zu verstehen gegeben. Es gibt eine Version für die Zeitung und eine für die Polizei.“ „Begreifst du denn nicht, warum …“ „Natürlich. Aber vielleicht wird es irgendwann eine dritte Version geben.“ „Was soll das heißen?“ Sie sah ihn erschrocken an. „Vielleicht war alles ganz anders. Wie, kann ich dir jetzt nicht sagen.“ Er hörte auf umherzulaufen, blieb stehen, lehnte sich an den Schrank und sagte langsam: „Erven war mein bester Freund. Drei Jahre lang sind wir durch dick und dünn miteinander gegangen. Er war mein 29
Vorbild in vielem. Ein Mann wie Wetering stirbt nicht solchen Tod. Man kann nicht leben und kämpfen wie er und dann so absurd, so sinnlos enden. Wenn ich mich damit abfinden soll, dann gibt es keine Logik im menschlichen Leben, dann hat nichts, was wir tun, einen Sinn, dann ist alles blinder Zufall.“ Konnte nicht Absicht dahinterstecken, grübelte er, gerade weil alle Begleitumstände auf einen Unfall abzielten? Wessen Absicht? Konnte man einen Unfall beim Segeln von langer Hand vorbereiten? Aber eine Böe … Und wer konnte vorher wissen, daß Erven ausgerechnet am dreiundzwanzigsten Juni nachmittags auf die Idee kommen würde, seine Delphin zum ersten Mal allein zu segeln? Antje trat zu ihm. „Es gibt keine dritte Version, Adrian. Schlag dir das aus dem Kopf.“ Sie legte die Arme um seinen Hals. „Glaub mir, für Liebe 70 wird ein neuer Texter gefunden; das möchtest du doch auch?“ Ihr Blick war so voller Hoffnung und Zuversicht, daß Adrian nichts anderes blieb, als ihr zuzunicken. Zum ersten Mal spürte er, daß sie beide nicht nur vieles verband, sondern manches auch trennte. Im Grunde genommen war diese Welt für Antje eine heile Welt, die sie nicht einen Augenblick lang in Frage stellte. Ervens Tod hatte sie zwar erschreckt, aber ihr Zutrauen nicht erschüttert. Warum sollte er sie jetzt noch mit seinen Zweifeln beunruhigen? Viele Dinge kann man miteinander teilen, wenn man liebt, aber es gibt Bereiche, da jeder auf sich selbst gestellt ist.
In seinem Briefkasten fand Adrian einen Zettel. „Buyteweck wieder umgefallen. Nun geht’s auf Biegen oder Brechen. Freu.“ 30
‚Freu‘ war Hendrik Freukelaer, Vorsitzender der ‚Jonge akademische Vereenigung‘ und Mitstreiter im Kampf um die längst überfällige Studienreform. Was Hendrik, Adrian und viele andere Studenten von ihrer Universität verlangten, war das, was auch an anderen Hochschulen mehr oder weniger lautstark gefordert wurde: neue Prüfungsordnungen, Ablösung veralteter Methoden in Lehre und Forschung, Ausbau der Seminarräume, Verbesserung der technischen Ausrüstung, Verdoppelung der Arbeitsplätze für Diplomanden und Examenssemester, vor allem aber die Beseitigung einer hierarchischen Ordnung, die den Ordinarius noch immer mit allen Rechten eines Selbstherrschers ausstattete. Immer wieder hatte die Leitung des Kunsthistorischen Instituts verkündet, sie werde bald von Grund auf Wandel schaffen, immer wieder hatte sie alle wichtigen Entscheidungen hinausgezögert. Kurz bevor Adrian zu seinem erkrankten Vater nach Zuiderhart gerufen wurde, war es dann zu einer Kraftprobe gekommen. Zwei konsequente Frager und Mahner hatten den Institutsdirektor, Professor Maarten Buyteweck, so in die Defensive gedrängt, daß der keinen anderen Rat mehr gewußt hatte, als die beiden zu relegieren. Und zwar mit der Begründung, wer trotz mehrfacher Zurechtweisung weiter versuche, Vorlesungen in Diskussionsrunden umzuwandeln, zeige deutlich, wie wenig ihm an Lehrveranstaltungen und einer Institutsordnung liege. Er bekämpfe die Freiheit von Lehre und Forschung, proklamiere den Terror einer anarchistischen Minderheit und disqualifiziere sich damit selbst. Die ‚Jonge Vereenigung‘ erklärte sich nun mit den zwei Relegierten solidarisch und rief zum Vorlesungsstreik auf. Als sich drei weitere Studentengruppen dem Aufruf anschlossen, mußte Professor 31
Buyteweck einlenken. Er gab den Sprechern die Zusicherung, er werde den Antrag auf Relegierung zurückziehen. Die Studenten verließen sich auf sein Wort. Am Institut lief alles wieder seinen gewohnten Gang. So war es noch am zweiundzwanzigsten Juni gewesen, bevor Adrian nach Zuiderhart gefahren war. Warum ging es plötzlich auf Biegen oder Brechen? Buytewecks Kolleg über ‚Spätbarock und Manierismus‘ begann um zehn Uhr. Adrian mußte sich beeilen. Der Eingang zum Hörsaal 2 wurde durch Mitglieder der ‚Jonge Vereenigung‘ blockiert. Adrian fand den Vorraum des Hörsaals zum Bersten mit Studenten gefüllt. Mehrere von ihnen hielten Transparente mit flüchtig gepinselten Losungen in den Händen: ‚Vor leeren Bänken lügt sich’s leichter.‘ – ‚Wer zweimal lügt, dem glaubt man nicht, auch wenn in Hörsaal 2 er spricht‘. „He, Adrian, halt dich hier nach links!“ rief ein baumlanger Student mit großer schwarzer Hornbrille. Adrian zwängte sich zu ihm durch. „Was ist geschehen, Hendrik?“ „Gut, daß du da bist. Wir müssen uns stark machen.“ „Was ist mit Buyteweck?“ „Weißt du von nichts?“ Hendrik Freukelaer sah ihn erstaunt an. „Natürlich, du warst ja ein paar Tage auswärts! Paß auf. Vorgestern haben unsere beiden Sprecher dem Herrn und Meister wieder ein paar harte Fragen gestellt. Und zwar mitten in der Hauptvorlesung. Hart und gezielt! Wir hatten sie vorher bis aufs I-Tüpfelchen miteinander abgesprochen. Wie reagierte der hohe Herr? Überhaupt nicht. Er überhörte sie und setzte das Kolleg fort, als sei nichts gewesen. Allgemeines Gescharre. Die beiden wiederholten ihre Fragen, unterstützt vom Getrampel des Auditoriums. Buyteweck zuckte hochmütig die Schultern, 32
packte seine Aufzeichnungen zusammen und verließ wortlos den Hörsaal. Gestern Beratung beim Dekan. Erfolg: Heute früh hing am Schwarzen Brett der Beschluß, daß die zwei mit sofortiger Wirkung relegiert werden.“ „Und unsere Antwort ist wieder Streik?“ „Das ist erst der Anfang. Diesmal kommt der Herr Ordinarius nicht so billig davon. Der nächste Schritt muß sein: Alle Fragen, die uns auf den Nägeln brennen, werden öffentlich diskutiert. Wer Institutsdirektor bleiben will, muß sich unseren Fragen stellen.“ „Einverstanden, Hendrik. Aber es müssen unsere Fragen sein. Diesen Strauß fechten wir Kunsthistoriker ganz allein mit ihm aus.“ „Warum betonst du das so?“ „Na siehst du nicht, das sind doch alles Fremde.“ Adrian wies auf eine Gruppe von bärtigen Gestalten. „Habt ihr euch etwa Unterstützung von anderen Fakultäten geholt?“ „Wir nicht. Keine Ahnung, woher die kommen.“ „Frag sie. Wenn sie hier nichts verloren haben, ’raus mit ihnen.“ „So geht das nicht, Adrian.“ Freukelaer schüttelte mißbilligend den Kopf. „Das wäre undemokratisch. Unsere Vorlesungen sind öffentlich, also können wir aus unseren Streiks keine exklusiven Veranstaltungen machen.“ „Habt ihr etwa auch Presse eingeladen?“ „Nein. Warum?“ „Ich frag’ mich, was der Herr da drüben am Fenster bei uns sucht.“ Adrian nickte zu einem schwergewichtigen Mann in kariertem Polohemd und Kordhosen hinüber. „Klaas Vermeulen ist das, Reporter beim NACHTEXPRESS.“ 33
„Klär ihn auf, um was es hier geht. Ich muß ’rüber, um Buyteweck abzufangen. Wenn wir ihm jetzt unsere Forderungen präsentieren, dann gibt er nach.“ Adrian bahnte sich einen Weg zum Reporter. „Seit wann interessiert sich der NACHTEXPRESS für die Belange der Kunsthistoriker?“ Vermeulen zog ihn zu sich heran. „Wenn ich van Campen hieße, würde ich mich aus dem Staube machen. Bei dem Krawall springt für Sie nichts ’raus.“ „Es wird keinen Krawall geben. Dies ist ein normaler Protest gegen einen Institutsdirektor und seinen autoritären Leitungsstil.“ „Mehr nicht?“ Vermeulen wiegte den Kopf. „Ich dachte, hier braut sich was zusammen.“ „Wahrscheinlich hat sich einer wichtig tun wollen und Sie falsch informiert.“ „Nicht nur mich. Schauen Sie mal rechts ’rüber zur Säule!“ Adrian glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Links und rechts der Mittelsäule hatten zwei Kameramänner von SCHAU HIN Stellung bezogen. „Wenn die sich hierherbemühen, lohnt sich’s bestimmt“, sagte Vermeulen leise. „Die warten nur darauf, daß es hier rund geht und die Polizei dazwischenhaut.“ „Polizeieinsatz bedeutet Bruch der Universitätsverfassung.“ „Not kennt kein Gebot, mein Lieber!“ erwiderte Vermeulen lachend. „Vom Notstand kann überhaupt keine Rede sein.“ „Noch nicht. Aber vielleicht sorgen einige Anwesende schnell dafür, daß es einer wird.“ Der Reporter deutete auf die bärtigen jungen Männer, die sich vor den Türen 34
des Seminars aufgebaut hatten. „Gehören die auch zu Ihren Kommilitonen?“ „Nein, die gehören nicht hierher“, sagte Adrian. „Mir ist aber, als wäre ich dem großen Blonden schon mal begegnet und dem mit der abgewetzten Lederjacke auch.“ „Ich gehe jede Wette ein, daß das Provos sind. Für die Polizei sind diese Typen das rote Tuch!“ Sirenen heulten auf. Kreischende Bremsen, Pfiffe und Kommandorufe kündigten an, daß die Journalisten auf ihre Kosten kommen würden. Viele Studenten stürzten an die Fenster. Andere liefen zum Außentor und bauten sich dort als eine lebende Mauer auf. „Sämtliche Türen verrammeln!“ schrie der große Blonde mitten in dem allgemeinen Durcheinander. „Barrikadenbau!“ rief ein Schwarzbärtiger und warf sich gegen die Tür, die zum Kunsthistorischen Seminar führte. „Stopp, das geht zu weit! Ihr könnt hier nicht alles demolieren!“ Mehrere besonnene Studenten versuchten den Schwarzbart zu bremsen, wurden aber von seinen Kumpanen beiseite geschoben. Dem vereinten Anprall der Bärtigen hielt die Tür nicht stand. Hinter ihnen drängte ein Teil der Studenten in die Seminarräume. Neugierige, Schaulustige und zum Kampf mit der Polizei Entschlossene. Das Beispiel des Vortrupps machte Schule. Gemeinsam mit ihnen schleppte man Tische, Bänke, Stühle und Regale in den Vorraum, um sie vor der Außentür aufzutürmen. Wo waren nur Freukelaer und die anderen vom Streikkomitee geblieben? Vergeblich hielt Adrian Ausschau nach einem Verantwortlichen. „Jetzt sind Sie an der Reihe!“ Einer der SCHAU-HINFotografen, der inzwischen eifrig Schnappschüsse ge35
macht hatte, wollte Adrian mit sich ziehen. „Wir holen uns einen Stuhl oder was sonst greifbar ist, und Sie klettern damit auf die Barrikade. Und hoch oben ein strahlendes Siegerlächeln, bitte! Das kommt als Knüller auf die Titelseite!“ Adrian riß sich los und lief durch die Seminarräume. „Wo steckt denn Freukelaer, verdammt noch mal!“ schrie er. „Im Hauptgebäude. Er rückt Buyteweck auf den Pelz“, rief ihm ein Examenssemester zu. „Und die andern vom Komitee?“ „Weiß der Teufel! Wahrscheinlich leisten sie ihm Hilfestellung. Miserable Organisation! Komm, wir müssen unsern Arbeitsraum schützen. Die schlagen sonst alles kurz und klein!“ Sie kamen zu spät. Die Sirenen der anrückenden Polizeikommandos hatten die Studenten offensichtlich kopflos gemacht. In wilder Hast rissen sie in allen Räumen des Instituts die Tische auseinander, fegten, was darauf an Zeichnungen, Dias und Karteikästen lag, auf den Fußboden. Vergeblich riefen Adrian und sein Kommilitone die Hereinstürmenden zur Vernunft auf. Man stieß sie beiseite, riß die Bücher aus den Regalen und verwandelte auch den Forschungsraum der Examenssemester in wenigen Minuten in ein Schlachtfeld. Vermeulen fand Adrian am Boden knieend, bemüht, unter Haufen von Papieren und zerbrochenem Glas etwas von dem wiederzufinden, was er in den vergangenen Monaten in langwieriger Kleinarbeit über Patrizierbarock in den Niederlanden zusammengetragen hatte. „Wie die Vandalen“, knurrte der Reporter. „Aber dankbare Bildmotive! So gar nichts von akademischer Langweile. Was Provos und Polizei alles zustande bringen!“ 36
Von draußen dröhnte der Lautsprecher. Eine schneidige Stimme forderte die Studenten auf, das Hörsaalgebäude sofort zu räumen. Andernfalls werde man sie wegen Aufruhr und Landfriedensbruch zur Verantwortung ziehen. Gelächter, hundertstimmige Buh- und Pfui-Rufe waren die Antwort. Kurz darauf zersplitterten die großen Fensterscheiben der Seitenfront, und Polizisten drangen in den Vorraum ein. Sie bildeten einen Stoßkeil. Rasch folgten ihnen neue Uniformierte. Als sie mit gezogenen Schlagstöcken gegen die Studenten vorgingen, griffen die jungen Leute zum ersten besten, was erreichbar war. Stuhlbeine flogen durch die Luft, ein Polizist wurde an der Stirn getroffen. Da ertönte ein greller Pfiff, und jetzt knüppelten die Ordnungshüter erbarmungslos alles nieder, was ihnen den Weg versperrte. Seit einer halben Stunde saßen sich Rechtsanwalt Dr. Kroon und Adrian van Campen in einer großen schmucklosen Kanzlei gegenüber. Bisher hatte Adrian fast ununterbrochen berichtet. Er hatte lange gezögert, noch einmal jemandem seine Zweifel am Unfalltod Weterings anzuvertrauen, und sich dann doch für die Aussprache mit dem Rechtsanwalt entschieden. In den alten Ledersesseln saß man nicht sehr bequem, die Federung verdiente ihren Namen nicht mehr. Allerdings paßten die ramponierten Sitzgelegenheiten zu den kahlen Wänden und dem Ungetüm von Schreitisch mit seiner zerkratzten Platte. Die spartanische Aufmachung ließ eher auf einen Winkeladvokaten schließen denn auf einen bekannten Anwalt. Diese Wirkung konnte jedoch beabsichtigt sein. 37
Dr. Kroon, ein zierlicher Enddreißiger mit scharfgeschnittenen Zügen, hatte sich mehr als einmal für die jugendlichen Gegner der Wohlstandsgesellschaft engagiert und die Öffentlichkeit in seinen Plädoyers aufgefordert, die Warnungen der Jungen ernst zu nehmen. „Konsumterror“ sei mehr als ein Schlagwort, dahinter stecke der gesunde Abscheu vor einer Gesellschaft, die den Massen immer wieder neue Bedürfnisse suggeriere, um sie davon abhängig und damit willfährig und willenlos zu machen. Wer so argumentierte, mußte wohl seinen Klienten vor Augen führen, daß er auf jeden Komfort verzichten konnte. „Eine interessante Geschichte haben Sie da erzählt“, sagte der Anwalt, setzte seine Lesebrille auf, um seine Notizen zu überfliegen. „Dennoch gibt es im Augenblick nicht viel, was Sie ermutigen könnte. Sie haben sich umgesehen und umgehört, aber nichts in der Hand, was die Unfallthese des Kommissars in Frage stellt.“ „Die These ist zunächst einmal schlecht fundiert“, rief Adrian eifrig. „Das beginnt schon bei den Zeugenaussagen. Zwei Urlauber, ein Kioskbesitzer und zwei Verkäuferinnen wollen gesehen haben, von Dixmuiden aus, daß ein Segler in Ölzeug und Südwester an Bord des Starbootes Delphin bei Windstärke sechs oder sieben halsbrecherische Manöver ausführte. Die Verkäuferinnen haben außerdem zu Protokoll gegeben, daß dieser Segler gegen achtzehn Uhr mit einer Flasche in der Hand an Deck herumgetorkelt sei und zotige Lieder gebrüllt habe.“ „Können Sie den Zeugen das Gegenteil beweisen?“ „Noch nicht. Ich kann aber ihre Aussagen für fragwürdig erklären. Gestern war ich in Dixmuiden und habe mit ihnen gesprochen. Natürlich bleiben sie bei ihren Aussagen. Nur sind sie nicht imstande, weder die Del38
phin von einem anderen Starboot zu unterscheiden noch Erven Wetering von einem anderen Segler in Ölzeug und Südwester. Ich habe die verschiedensten Fotos gezeigt. Für sie war jedes Starboot die Delphin und jeder Segler Erven Wetering.“ Dr. Kroon wiegte den Kopf. „Unterstellen wir, daß die Zeugen nicht in der Lage waren, Segler und Boot zu identifizieren. Können Sie aber den Beweis erbringen, daß Wetering zur fraglichen Zeit nicht in der Muiderbucht war? Sein Boot ist bei der kleinen Insel Bloemwarder gekentert, seine Leiche wurde dort gefunden. Außerdem ist erwiesen, daß er um fünfzehn Uhr dreißig vom Jachthafen losgesegelt ist. Was nützt Ihnen die vage Möglichkeit, daß es auch ein anderer Starbootsegler gewesen sein kann, der den Zeugen durch sein absonderliches Verhalten auffiel?“ „Sehr viel. Ich habe ja nicht nur mit den Zeugen des Kommissars gesprochen, sondern auch mit anderen Leuten.“ „Mit Augenzeugen?“ „Ja, das ist der zweite Punkt. Es gibt einen Sporttaucherclub ‚Taifun‘, der vis-à-vis von Bloemwarder dreimal wöchentlich trainiert.“ Adrian zog ein kleines Notizheft aus der Tasche. „Ein gewisser Siefke ist sogar den ganzen Sommer über jeweils nach Feierabend eine Stunde im Wasser. Am dreiundzwanzigsten Juni hat er das Boot zwischen siebzehn und achtzehn Uhr dreißig gesehen.“ „Haben Sie mit ihm gesprochen?“ „Nein, noch nicht. Siefke hat Urlaub, trampt irgendwo an der Côte d’Azur herum, genaues Reiseziel gibt es nicht. Aber seine Klubfreunde sagten mir, ein paar Tage nach dem Dreiundzwanzigsten habe er sich darüber mokiert, was die Zeitungen zu dem Segelunfall gebracht 39
hätten. Das sei nichts als Spinnerei. Er habe ein Starboot in der Nähe von Bloemwarder gesehen – mit zwei Mann an Bord, die sich gegenseitig behindert hätten. Deshalb sei es kein Wunder gewesen, daß eine richtige Böe mit denen leichtes Spiel gehabt hätte.“ „Hat er gesehen, wie die Delphin kenterte?“ „Nein. Das Boot sei hinter Bloemwarder verschwunden.“ „Gilt dieser Siefke als zuverlässig?“ „Seine Kameraden halten große Stücke auf ihn. Einer, der nicht viel Worte macht.“ „Wann ist sein Urlaub zu Ende?“ „Mitte Juli soll er wieder zurück sein.“ Dr. Kroon zog die Stirn nachdenklich in Falten. „Ein Zeuge gegen sechs. Er allein will zwei Mann an Bord der Delphin gesehen haben. Nehmen wir einmal an, dieser Siefke habe sich nicht getäuscht, und Wetering habe tatsächlich einen Vorschotmann an Bord gehabt, der seinen Anordnungen nicht Folge leistete und dadurch das Kentern verursachte. Dieser Mann kann ungewollt, das heißt fahrlässig, den Tod Weterings verursacht haben.“ „Interessant ist die Zeitfolge“, fuhr Adrian fort. „Gegen siebzehn Uhr dreißig hat Siefke die Delphin mit den zwei Mann an Bord manövrieren sehen. In unmittelbarer Nähe von Bloemwarder. Gegen achtzehn Uhr, also eine halbe Stunde später, fällt den beiden Frauen am Strand von Dixmuiden der betrunkene Segler auf. Ich kombiniere jetzt einmal die beiden Aussagen. Wäre es nicht denkbar, daß es in der Zwischenzeit hinter Bloemwarder, von Land aus nicht einzusehen, einen Zweikampf gegeben hat …“ „… oder ein unglückliches Hin und Her …“ „… bei dem Wetering über Bord gestoßen wurde …“ „… oder auch nur gefallen ist …“ 40
„Doktor Kroon, für mich steht fest, daß der zweite Mann an Bord der Schuldige ist. Hätte er sich sonst so viel Mühe gegeben, dem Publikum am Festland einen Betrunkenen vorzuspielen? Bis auf zweihundert Meter hat sich die Delphin dem Ufer genähert. Da kann nur Absicht dahinterstehen.“ Der Anwalt sah Adrian lange prüfend an. „Das klingt sehr abenteuerlich, Herr van Campen. Wetering verließ allein mit der Delphin den Jachtclub.“ „Der zweite Mann kann später zugestiegen sein.“ „Und wer sollte dafür in Frage kommen?“ „Fragen wir lieber: Wer könnte ein Motiv gehabt haben, Erven Wetering zu beseitigen?“ „Herr van Campen, warum klammern Sie sich so an die Idee einer absichtlichen Tötung? Selbst wenn Ihre Kombination zuträfe, müßte man zunächst Fahrlässigkeit annehmen, die der Schuldige vertuschen wollte.“ „Möglich. Aus Angst vor Strafe und aus Furcht vor gesellschaftlicher Achtung. Aber hier steckt meines Erachtens ein ausgeklügeltes Täuschungsmanöver dahinter. Der Betrunkene mit der Flasche in der Hand … der Alkohol, der bei Weterings Obduktion nachgewiesen wurde. Das läßt für mich nur einen Schluß zu: einen vorgefaßten Plan, also Mord.“ „Und wer käme als Täter in Frage?“ „Wetering war engagierter Journalist. Wer sich engagiert, hat Feinde. In den letzten Jahren gab es in Amsterdam kaum einen zweiten Journalisten, dessen Artikel so viel Staub aufgewirbelt haben.“ „Ich weiß. Aber selbst wenn sich diese oder jene Personen oder Personengruppen durch Wetering beunruhigt fühlten, ergibt das noch lange kein Mordmotiv.“ „Erven war außerordentlich gut informiert. Er ver41
schaffte sich Zugang zu den verborgensten Quellen, durchschaute so manche Zusammenhänge. Vielleicht wollte der Täter verhindern, daß Wetering bestimmte Karten aufdeckte.“ „Sie nehmen also Präventivmord an. Haben Sie eine Ahnung, welcher Personenkreis Weterings Ermittlungen fürchtete?“ „Es gibt viele Möglichkeiten.“ Adrians Antwort klang wenig überzeugend. „Sie haben also keine.“ Dr. Kroon lächelte. „Wie wollen Sie nun weiter verfahren?“ „Zuerst mit Kommissar Thelen sprechen.“ „Unbedingt! Schon wegen der Aussage dieses Sporttauchers. Selbst wenn der Mann im Moment nicht greifbar ist. Sollten die Klubkameraden bei dem bleiben, was sie zu Ihnen gesagt haben, müßte das Thelen zu denken geben.“ „Oder er wird ärgerlich. Kein Kriminalist hat es gern, wenn jemand Kontakt zu seinen Zeugen aufnimmt. Und wenn jetzt einer kommt und neue Zeugen beibringt, die die Untersuchungsergebnisse des Kommissars in Frage stellen?“ „Thelen ist nicht kleinlich. Er will nicht um jeden Preis recht behalten.“ Dr. Kroon erhob sich, aber Adrian wollte das Gespräch noch nicht beenden. „Wenn Sie noch etwas Zeit für mich hätten?“ Er reichte dem Anwalt seine Zeitung. „Sicher hat das nichts direkt mit Weterings Tod zu tun. Trotzdem werd’ ich das Gefühl nicht los, daß es irgendeinen Zusammenhang geben muß.“ Dr. Kroon überflog die Titelseite. In großer Aufmachung berichtete Klaas Vermeulen im NACHTEXPRESS über die ‚Schlacht im Hörsaal 2‘. 42
„Eine Gruppe Radikalinskis machte sich die allgemeine Panik zunutze, um eine Privatrechnung zu begleichen. Sie nahm Rache an besonnenen Studenten, die sich dem Terror der linken Minderheit nicht beugten, und vernichtete in wenigen Minuten die Arbeit vieler Monate: Materialien für Dissertationen, die kurz vor der Vollendung standen, Forschungsaufträge der Diplomanden und Assistenten. Ist dies auch Wahnsinn, so hat er doch Methode.“ „Gehören Sie zu den Betroffenen?“ fragte Dr. Kroon. Adrian nickte. „Zweihundert Dias zertrümmert, achtzig Karteikarten fehlen, die Zeichnungen sind verschmutzt und unbrauchbar. Jetzt muß ich wieder von vorn anfangen. Und das kann einigen Leuten nur recht sein.“ „Welchen Leuten?“ „Leuten, denen meine Fragerei unbequem geworden ist.“ „Beziehen Sie nicht alles zu sehr auf sich, Herr van Campen? Sollten die Tische und Regale nicht dem Bau einer Barrikade dienen?“ „Gewiß. Aber in den näher gelegenen Seminarräumen gab es davon genug. Warum stürzte der Anführer, nachdem er die Tür eingedrückt hatte, den Korridor entlang in unser abgelegenes Arbeitszimmer und schlug mit seinen Kumpanen dort alles kurz und klein?“ „Was waren das für Leute?“ „Keine Kunsthistoriker. Wahrscheinlich gar keine Studenten. Zweien bin ich schon einmal begegnet. Ich glaube, auch bei einer Randaliererei.“ „Sie meinen, es war bestellte Arbeit?“ „Ja. Vermeulen hat ein paar fotografiert. Er hält sie für Provos.“ 43
„Aha, daher weht der Wind.“ Der Anwalt lächelte. „Jetzt wollen Sie von mir wissen, ob es wirklich Provos sind.“ Er betrachtete die Aufnahmen in der Zeitung und gab sie Adrian zurück. „Tut mir leid, ich kenne sie nicht. Allerdings würde jeder Amsterdamer Polizist sofort ‚Provos‘ schreien. In bestimmten Stadtvierteln kann passieren, was will: Einbruch, Raub, Schlägerei, Fahrerflucht, Notzucht – immer sollen es zunächst die Provos gewesen sein. Jeder junge Mann zwischen sechzehn und sechsundzwanzig, der breite Koteletten, lange Haare oder sonst eine zottelige Mähne trägt, ist für unsere Ordnungshüter automatisch ein Provo, ein Unruhestifter, Bürgerschreck, Feind des Königshauses, also ein potentieller Verbrecher. Vielleicht sind diese Hauptakteure der Polizei tatsächlich als Randalierer bekannt.“ „Wenn wir wenigstens einen von ihnen zu fassen kriegten! Ihn könnte man zwingen, seine Auftraggeber zu nennen.“ „Machen Sie sich doch keine Illusionen, Herr van Campen“, sagte Dr. Kroon entschieden. „Glauben Sie etwa, einer dieser Burschen kennt seinen Auftraggeber? An die Hintermänner solcher Aktionen ist gar nicht heranzukommen, sie lassen sich von Kontaktleuten die Schläger zusammensuchen. Meist wenden diese sich an Cliquen, die aus einschlägig Vorbestraften bestehen, und handeln mit ihnen den Preis aus. – Aber selbst einen Kontaktmann zu ermitteln ist schwierig, sogar für die Polizei. Und wenn Sie ihn nun zu fassen bekämen, was wäre damit erreicht? Ein Kontaktmann, der den Namen seiner Auftraggeber preisgibt, ist erledigt.“ „Sollen wir uns dem Terror einer solchen Clique beugen? Wenn ich eins hasse, dann ist es Fatalismus!“ „Er wäre hier auch unangebracht. Sie machen zwei 44
Fehler, Herr van Campen. Der erste ist, Sie beziehen diese Aktion zu sehr auf sich. Nun ist aber der Aufwand, der hier getrieben wurde, ganz ansehnlich, sicher bezweckte er mehr, als einen unbequemen jungen Mann einzuschüchtern und ihn für die nächsten Monate mit Arbeit einzudecken. Der zweite Fehler wiegt schwerer. Ihr Kunsthistoriker habt erlebt, daß ihr nicht Herr in eurem eigenen Hause seid. Ihr habt den Vorlesungsstreik schlecht vorbereitet, habt euch von einer kleinen Gruppe das Heft aus der Hand nehmen lassen. Hoffentlich zieht ihr Lehren daraus. Diese Typen sind nicht ungefährlich. Merkt sie euch genau. Andernfalls arbeitet ihr den Auftraggebern einer solchen Clique in die Hand. Und dem lachenden Dritten!“ „Lachenden Dritten? Meinen Sie damit die Presse?“ „Natürlich. Wem nützt denn so ein Krawall in den Mauern der Universität? Den Herrschaften, die nach einer starken Hand rufen. Ihr Sprachrohr ist unsere Presse. Junge Intelligenzler sind radikal. Radikale sind gefährlich, ergo muß man sie zur Räson bringen. Diese These war wieder einmal zu beweisen. Lagen die Reporter nicht schon auf der Lauer, bevor es überhaupt zu Tätlichkeiten kam? Besteht nicht die Möglichkeit, daß die Presse hier bißchen Regie geführt hat?“ „Das wäre ja beispiellos!“ „Beispiele gibt es schon.“ Die Turmuhr der Herz-Jesu-Kirche schlug zwölfmal, als Adrian das Haus des Anwalts verließ. Schon zwölf? Fast zweieinhalb Stunden war er bei Dr. Kroon gewesen. Was brachte er mit von ihm? Nur wenige Hinweise, ein paar Ermahnungen. Sah der Anwalt so wenig Chancen? Zurückhaltung war doch sicher nicht seine Art. Wie konnte er sonst Provos und radikale Stu45
denten verteidigen, wenn sie der Staatsgewalt in die Quere kamen? Adrian hatte den Ausgang des Vondelparks erreicht und stieg in ein Taxi. „Zum Singel, bitte!“ Auch wenn Kroon ihm davon abriet, sich um die Rowdys zu kümmern, irgend etwas hatte ihr Auftritt in der Uni mit Wetering zu tun! Wieder betrachtete er Vermeulens Fotos im NACHTEXPRESS. Ein Bild zeigte den Blonden, wie er den Arm in die Höhe reckte. Der Pulloverärmel hatte sich hochgeschoben und den Unterarm freigegeben, dabei wurde eine Tätowierung sichtbar. Schläger mit Tätowierungen an den Handgelenken waren auch vor drei Wochen in der Palmengracht dabeigewesen, als der Provo-Keller gestürmt werden sollte. Natürlich, den großen Blonden kannte er von daher! Auch den in der schäbigen Lederjacke, der das Seminar aufgebrochen hatte! Plötzlich war ihm der dritte Juni wieder ganz gegenwärtig. Antje, Erven und er gingen die Palmengracht entlang, um die fünfte Folge vorzubereiten. Erven Wetering war bester Laune gewesen. „Dauernd hat Vickbons mich gefragt, was ich bei den Provos will. Es klang, als fürchte er, daß wir ein paar Läuse mitbrächten.“ „Wahrscheinlich hat er Angst, daß du wieder ein paar Vorurteile aufs Korn nimmst“, meinte Adrian. „Vorurteile, die er selbst mit gezüchtet hat. Unsere liebe Presse hat so viel Schauermärchen über die Unzucht der Provos verbreitet, daß heute jeder Spießer eine Gänsehaut bekommt, wenn er nur dieses Wort hört. Tagediebe, Rowdys, Asoziale – anderes kann er sich darunter nicht vorstellen. Natürlich schlagen sich Provos dann 46
und wann mit der Polizei herum, aber sind immer die Provos schuld daran? Oft helfen sie armen Teufeln, die sich ohne eigenes Verschulden in den Maschen des Gesetzes verfangen haben und nun gejagt werden. Provo hat etwas mit Protest zu tun. Seltsam, daß ausgerechnet Niederländer, deren Geschichte so eng mit Protestantismus verknüpft ist, heute von Protest nichts mehr wissen wollen. Als ob es nicht das Vorrecht der Jugend wäre, Sturm zu laufen gegen das längst Überfällige! Als ob unsere Zeit diesen Protest nicht geradezu herausfordere! Viele junge Leute finden es einfach zum Kotzen: die stupide Jagd nach dem Geld, das ewige Haben-Haben-HabenWollen. Mit vollem Recht! Provo-Manieren sind nicht jedermanns Sache – zugegeben. Aber dafür sind Provos ehrlicher als Kleinbürger, nicht so verlogen und verbogen. Wir werden ihnen in unserer Serie einen Platz einräumen, denn da gehören sie hinein. Gleichzeitig können wir dabei ein bißchen den Finger auf die Wunde legen und zeigen, was faul, miefig und unehrlich ist bei uns. Vielleicht wird mancher Leser hellhörig, wenn wir ihm erzählen, daß bei den Provos nicht nur harte Fäuste und rauhe Sitten zu finden sind, sondern mitunter auch Mut, Entschlossenheit und politischer Instinkt.“ „Gehört denn das in eine Fortsetzung von Liebe 70 hinein?“ fragte Antje. „Vickbons hat mich dasselbe gefragt.“ Wetering schmunzelte. „Man braucht einen Aufhänger dafür, und den hab’ ich schon. Du, Antje, verstehst etwas von Fotografieren, Adrian studiert Kunstgeschichte, also seid ihr beide Augenmenschen. Also habt ihr Freude an Sehenswertem. Das aber gibt es in unserer Altstadt in Hülle und Fülle. Immer wieder zieht ihr aus, um Neues zu entdecken. Während ihr Portale, Giebel und Treppen fotogra47
fiert und skizziert, führt euch der Weg wie von ungefähr in das Haus Palmengracht dreißig mit seinem spätbarocken Treppenaufgang. Ganz zufällig stoßt ihr mit Hausbewohnern zusammen, und zwar mit einer Provo-Gruppe, die sich dort seit Wochen häuslich niedergelassen hat.“ Wetering schien recht zu behalten. Es lief alles so an, wie er es sich gedacht hatte. Adrian und Antje fanden in der Palmengracht dankbare Motive, und der Kontakt mit den Provos im Keller ergab sich fast von selbst. Einer, ein wendiger Kleiner, spielte den Maître de plaisir. „Kommt ’rein und macht es euch gemütlich, wenn euch unsere Matratzen nicht zu speckig und unsere Pullis nicht zu fleckig sind. Euer Freund, der Pressemensch, hat uns mächtig scharf auf euch gemacht.“ Die Geneverflaschen, Weterings Einstand, gingen von Hand zu Hand. „Zeigt her, was ihr anzubieten habt“, rief man aus der Runde Adrian zu. „Schließlich seid ihr heute die Hauptattraktion!“ „Irrtum, mein Lieber“, entgegnete Wetering. „Hauptrollen spielen heute mal zur Abwechslung die Gastgeber. Wir sind nichts als Zuhörer, furchtbar neugierige Zuhörer allerdings, denn bestimmt habt ihr viel zu erzählen.“ „Paßt auf, daß ihr nicht rot werdet, wenn ich loslege!“ sagte ein vierschrötiger Jüngling mit Knollennase grinsend. „Neulich nachts im Vondelpark haben wir direkt hinter dem Denkmal Gruppensex …“ „Halt sofort das Maul, Pieter“, befahl der Kleine, „deine Bettgeschichten will keiner mehr hören.“ „Laßt Cornelis reden“, riefen einige. „Du beginnst, Cornelis!“ wurde angeordnet. Aus der hintersten Ecke erhob sich langsam ein aschblonder Junge. „Warum gerade ich? Wo mir das Reden so schwerfällt.“ Er wies auf seine Hasenscharte. 48
„Nimm einen kräftigen Schluck! Zier dich nicht, Cornelis!“ ermunterte ihn die Runde. „Wenn sich sonst keiner findet, mach’ ich eben den Anfang.“ Cornelis griff nach der Flasche. „Vorigen April ist es gewesen, unten am Brouwerkai, da hatte es den Jack beinah erwischt. Der arme Kerl hat mir leid getan, und auf seine Jäger hatt’ ich ’ne Wut. Drei Loren hab’ ich in Schwung gebracht, beinah wären die Kerle darunter geraten, auf jeden Fall hatte Jack erst mal ’ne Minute Vorsprung. Das genügte, um ihn oben auf dem Kornspeicher zu verstecken. Kenn’ mich nämlich aus auf den Speichern am Kai. Heilfroh ist er gewesen, daß er endlich mal Luft schnappen konnte. Gejagt hatten sie ihn von Heidelberg nach Frankfurt über Rotterdam bis zu uns.“ „Warum?“ fragte Wetering. „Ein GI, der die Kurve kratzt. Als sein Bataillon nach Vietnam verlegt werden sollte, ist er im letzten Moment abgesprungen. Völlig zerlumpt kam er hier an, der arme Hund. Lange konnte er natürlich nicht auf dem Speicher bleiben. Da hab’ ich ihm Mädchenkleider besorgt, war nicht so leicht, was Passendes zu finden, und bei Mondschein sind wir eng umschlungen auf meine Bude gegangen. War nur ’ne Notlösung, aber immerhin. Mit der Zeit wurde die Nachbarschaft neugierig auf meine Braut, aber die anderen hatten schon gesammelt – er mußte ja einen Paß kriegen für die Tour nach Schweden; da wollte er hin, weil die nicht ausliefern an die Amis. Hatte schon einen Fachmann an der Hand, der solche Pässe besorgen kann; als der aber merkte, daß wir in Zeitdruck waren, wollte er hundert Gulden mehr kassieren. Da sind wir ihm auf die Bude gerückt und …“ „’raus mit euch!“ 49
„Verduftet!“ „Platz hier, das ist nicht euer Keller!“ Der Rest von Cornelis’ Erzählung ging in einem wüsten Tumult unter. Der Keller war plötzlich erfüllt von Rufen, Schreien, Drohungen und erhobenen Fäusten. Flaschen und Aschenbecher flogen durch die Luft. Zu spät hatten die Provos bemerkt, daß während Cornelis’ Bericht eine Gruppe Lederjacken bei ihnen eingedrungen war. Ein stämmiger Blonder, vermutlich der Anführer der Gruppe, bemühte sich, den SCHAU-HIN-Fotografen die Kameras zu entreißen, ein anderer mit mehreren breitflächigen Narben im Gesicht schlug wie rasend auf Erven Wetering ein. Adrian versuchte vergeblich, seinem Freunde zu Hilfe zu kommen. Eine Kette kräftiger Arme sperrte Antje und ihn vom Geschehen ab, so als seien die Helden von Liebe 70 für die Rowdys tabu. Erven Wetering gelang es schließlich, seinen Gegner durch einen Judogriff zu Fall zu bringen. Als auch der stämmige Blonde von den Provos überwältigt wurde, hielten die übrigen die Zeit für gekommen, das Feld zu räumen. „Gehört das bei euch zur Tagesordnung?“ fragte Wetering, als der letzte Eindringling hinausgeprügelt war. Der Kleine zuckte die Schultern. „Solange wir in der Palmengracht sind – sowas war noch nie da!“ „Für wen waren die Prügel eigentlich gedacht?“ „Natürlich für eure Illustrierte“, wieherte der Vierschrötige mit der Knollennase. „Provos prügeln sich am liebsten. So hättet ihr’s doch gern!“ „Hör auf, Pieter!“ Der Kleine wurde ärgerlich. „Du siehst nicht weiter als bis zur Wand. Typen wie diese wollen unsern Keller in Verruf bringen und uns dazu. Damit morgen die Polizei anrückt und den Laden dichtmacht. Achtgroschenjungentour ist das.“ 50
„Wie wehrt ihr euch dagegen?“ fragte Adrian. „Besser aufpassen. Provos sind kein eingetragener Verein mit Fahne, Mitgliedsausweis und dem anderen Klimbim. Heute stößt einer frisch zu uns, morgen geht ein anderer wieder. Wir packen zu, sind nicht zimperlich, aber jeder kann vernünftig mit uns reden. So schnell setzen wir keinen vor die Tür. Nur bezahlte Schläger dürfen sich hier nicht breitmachen. Wir müssen noch mehr auf dem Quivive sein.“ Später waren sie noch mit Cornelis auf den Speicher gegangen, um sich das Versteck des GI anzusehen. In seiner Bude waren noch ein paar von den Kleidungsstücken, die die „Braut“ aus Minnesota damals tragen mußte, um inkognito zu bleiben. Wetering konnte mit der Ausbeute zufrieden sein. Sie zeigte die Provos einmal in einer anderen Beleuchtung. Das war am dritten Juni gewesen, und zwei Wochen später hatte es noch ein Nachspiel gegeben. Adrian erinnerte sich, daß Erven ihm vor seiner Fahrt nach Zuiderhart so etwas angedeutet hatte. Einige Typen, so meinte Wetering, hätten das Kriegsbeil noch nicht begraben. Am Abend vorher sei er überfallen worden, und zwei oder drei von denen, die im Keller von Palmengracht dreißig dabeigewesen seien, der Blonde und der mit den Narben, wären die Anführer gewesen. Wenn das nicht aufhöre, brauche er eine Leibwache.
Zwei Einsätze damals gegen Wetering und einen gestern gegen das Kunsthistorische Seminar, resümierte Adrian. Wer hatte die Aktionen gesteuert? Was sollte für die Auftraggeber herausspringen? 51
Vielleicht kannte die Polizei die Clique schon? Wenn nicht, so mußte man sie darauf aufmerksam machen. Aber wie? Mit den beiden Fotos im NACHTEXPRESS? Adrian lächelte. Sollte Thelen ihm helfen, brauchte er mehr Beweismaterial. Und das mußte sich finden lassen! Er klopfte an die Scheibe. Der Chauffeur wandte sich um. „Was ist, Mynheer?“ „Fahren Sie nicht zum Singel, sondern zur Calverstraat!“
Irgend etwas stimmte heute nicht mit Vermeulen. Zuerst ließ er durch die Redaktionssekretärin mitteilen, er sei bei einer wichtigen Besprechung und müsse im Anschluß daran sofort weg. Als Adrian jedoch nicht abzuwimmeln war und in einer Korridornische auf einem Hocker Posten bezog, lief er mehrmals an ihm vorbei, schüttelte den Kopf und zuckte die Schultern. Schließlich blieb er stehen. „Brennt’s denn so sehr, van Campen?“ Adrian nickte. „Drei Minuten müssen Sie für mich übrig haben.“ „Keine Sekunde länger.“ Seufzend schob ihn der Reporter in seine Kabine. Als Adrian nach den Fotos vom Uni-Krawall fragte, fing Vermeulen unvermittelt an, in Regalen und Schubladen herumzukramen. „Tut mir leid“, sagte er wie beiläufig, „die Fotos auf der Titelseite haben Sie ja gesehen. Mehr war diesmal nicht drin für den NACHTEXPRESS.“ „Wo sind denn die übrigen Aufnahmen?“ „Keine Ahnung.“ Der Reporter vermied es, Adrian anzusehen. „Unsereins macht seine Arbeit, so gut er kann. Was damit wird, ist eine andere Sache.“ 52
„Das sind Ausflüchte, Vermeulen.“ Adrian hatte Mühe, die Ruhe zu bewahren. „Sie sind nicht irgendein kleiner Schmock, der jedem Gulden hinterherlaufen muß, Sie sind wer in diesem Hause.“ „Verbindlichen Dank für die Blumen.“ Vermeulen verbeugte sich. „Zur Zeit kann ich mich nicht gerade darüber freuen. Was ich in diesem Hause darstelle, ist manchmal für die Katz. Es gibt Leute, die können einem das Leben sauer machen.“ „Wo sind die andern Aufnahmen vom Uni-Krawall?“ „Zum Teufel noch mal, van Campen, wollen Sie mich nicht verstehen, oder können Sie nicht?“ Vermeulen lief rot an. Er schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. „Ich dachte, bei SCHAU HIN hätte man Ihnen beigebracht, wie der Hase läuft. Vor nicht allzulanger Zeit haben Sie dort wohl einen Vertrag unterschrieben, indem Sie Herrn Keetenheuve eine Menge Rechte eingeräumt haben.“ „Seit wann kennen Sie meinen Vertrag?“ „Ich war nicht scharf darauf, ihn kennenzulernen. Aber heute früh, mitten im Umbruch, als ich meine Doppelseite mit acht Fotos von Uni-Krawall fast fertig hatte, da platzte ein smarter Junge der Firma SCHAU HIN herein und verlangte höflich, aber bestimmt sämtliche Bilder, die ich gestern in der Uni von Ihnen geschossen habe. Zuerst hab’ ich ihn ausgelacht. Das Lächeln verging mir, als er mir die Kopie Ihres Vertrages unter die Nase hielt. Danach haben Sie SCHAU HIN das Recht eingeräumt, sämtliche Fotos, auf denen Sie zu sehen sind, exklusiv zu veröffentlichen.“ „Schön und gut. Aber Sie haben in der Uni nicht nur Aufnahmen von mir gemacht.“ „Natürlich nicht.“ 53
„Also, wo sind die andern?“ Vermeulen sah auf die Uhr. „Die drei Minuten sind längst um. Sie verplempern Ihre kostbare Zeit bei mir, van Campen. SCHAU HIN braucht Sie dringend.“ Er grinste über das ganze Gesicht. „Ahnen Sie noch nichts von Ihrem Glück?“ „Ich verstehe kein Wort.“ „Meinetwegen noch eine Minute. Auf der Suche nach einem Ersatzmann für Wetering hat Keetenheuve alle Schreiber seines Hauses durch die Mangel gedreht. Ohne Erfolg. Zu guter Letzt hat er sich bis vierzehn Uhr mit Phil Vickbons eingeschlossen, und seitdem weiß es das ganze Zeitungsviertel: Liebe 70 läuft weiter wie bisher!“ „Unmöglich!“ „Vickbons macht’s möglich!“ „Wie soll er denn? So etwas kann er doch nicht.“ „Keetenheuve verlangt, daß er es können muß. Und wenn der große Keetenheuve etwas verlangt …“ Vermeulen stand auf und sah an Adrian vorbei. „Jetzt wissen Sie, wo alle andern Aufnahmen sind. Auch Sie werden noch dahinterkommen, wer den Ton angibt im Zeitungsviertel.“
Die Vorhänge waren zugezogen, um das Zimmer gegen die Strahlen der Julisonne zu schützen. Auf dem kleinen Rauchtisch stand eine Flasche französischer Cognac. „Zuerst trinken wir ein Glas miteinander!“ sagte Vickbons freundlich und warf Adrian einen aufmunternden Blick zu. „Nach den gestrigen Verwüstungen im Kunstgeschichtlichen Seminar muß Ihnen ja scheußlich zumute sein. Die Arbeit vieler Wochen zunichte gemacht! Nun stärken Sie sich erst mal, mein Lieber.“ Er schob Adrian 54
ein Glas herüber. „Reden Sie sich alles von der Seele. Es wird eine ganze Menge sein.“ Er lächelte. „Ich kann mir schon denken, was Sie jetzt sagen werden. Dasselbe, was ich zu Keetenheuve gesagt habe: Erven Wetering war ein Genie – ich bin nur ein alter Praktiker, also kein Mann für Liebe 70.“ „Warum übernehmen Sie eine Aufgabe, der Sie sich nicht gewachsen fühlen?“ fragte Adrian verstimmt. „Ein Chefredakteur hat es nicht nötig, den Lückenbüßer zu spielen.“ „Keetenheuve wollte die Serie um jeden Preis fortsetzen“, sagte Vickbons ausweichend. „Er hat unsere Fotografen in die Uni beordert, und was sie von dort mitgebracht haben, übertraf seine Erwartungen. Außerdem hat er den NACHTEXPRESS animiert, uns ein bißchen zu unterstützen. Die ‚Schlacht um Hörsaal zwei‘ wird also der Grundstock unserer neunten Folge. Wenn einem Journalisten so aussagekräftiges Material vorgelegt wird, dann kann er einfach nicht nein sagen.“ „Aussagekräftig für ein Groschenblatt“, erwiderte Adrian scharf. „Ein Vorlesungsstreik gibt nicht viel her, ein Krawall aber um so mehr.“ „Wir halten uns ganz an Weterings Konzeption.“ Vickbons holte vom Schreibtisch einen Stenogrammblock. „Hier sind Aufzeichnungen unserer Redaktionsbesprechung vom zwanzigsten Juni. Neunte Folge. Schauplatz: Universität. Thema: Studenten kämpfen um ihre Rechte. Adrian stellt Forderungen. So hatte Wetering es vorgeschlagen, so war es akzeptiert worden. Und so sollte ich weitermachen. Offen gestanden, ich wußte nicht wie. Wo sollte ich da einhaken? Was gab das Thema her? Mir war es viel zu abstrakt. Da flatterte uns eine vertrauliche Information auf den Schreibtisch: Provos wollen Studentenstreik mißbrauchen. Polizei plant Sondereinsatz 55
gegen universitätsfremde Elemente. Konnten wir uns das entgehen lassen? Eine Chance, aus allernächster Nähe aufzunehmen, was sich tatsächlich abspielt, was wir für unser Thema brauchen?“ „Das Thema heißt doch: ‚Studenten kämpfen um ihre Rechte‘. Vom Kampf ist die Rede, nicht von Krawall!“ „Warum sollen wir um Worte streiten?“ „Es geht um mehr, Herr Vickbons. Bleibt Liebe 70 unter Ihrer Regie realistisch – im besten Sinne des Wortes –, oder machen Sie daraus einen Reißer?“ „Was für eine Frage, Herr van Campen.“ Vickbons schüttelte verwundert den Kopf. „Was wurde in der Uni denn fotografiert? Ihre Freunde, wie sie kämpften! Ihre Freunde, wie sie eine Barrikade bauten! Ihre Freunde, wie sie sich mit der Polizei herumprügelten! Also sind unsere Aufnahmen nichts anderes als ein treues Bild der Wirklichkeit im besten Sinne des Wortes. Wie kann man da von Reißer reden?“ „Es war ein Krawall“, beharrte Adrian, „und der hat nichts mit unserem Kampf zu tun. Das wissen Sie sehr gut. Sie selbst haben von universitätsfremden Elementen gesprochen. Alles, was im Vorraum von Hörsaal zwei und auch im Seminar geschah, ging auf deren Konto. Die Zertrümmerung unserer Arbeitsräume, der Bau der Barrikade, das wurde von ihnen in die Wege geleitet. Daß einige von uns mitgemacht haben, ist traurig. Es zeigt, daß noch längst nicht alle begriffen haben, worum es geht. Wenn SCHAU HIN sich mit uns beschäftigt, dann muß unsere Situation gezeigt werden. Sie kennen unsere Forderungen: Verdreifachung der Zuwendungen aus dem Staatshaushalt, Verdoppelung der Assistentenstellen, vierzig neue Arbeitsplätze für Diplomanden, bessere technische Einrichtungen, Abschaffung überalterter 56
Prüfungsordnungen, Schutz gegen die Willkür des Institutsdirektors.“ „Ich weiß, ich weiß, Herr van Campen. Die Dinge sind wichtig für Sie und Ihre Freunde, aber die breite Masse unserer Leser hat ganz andere Sorgen. SCHAU HIN kann sie ihr nicht abnehmen, aber sie lassen sich viel leichter tragen, wenn man gut unterhalten wird. Gute Unterhaltung ist unsere Hauptaufgabe! Was tatsächlich passiert und was Schlagzeilen macht, davon gehen wir aus. Das ist unser Realismus, und den verquicken wir mit einer spannenden Spielhandlung. In unserem Falle natürlich mit Adrian und Antje. Dabei denken wir uns den Verlauf ungefähr so: Antje hat in ihrem Fotolabor einen Auftrag eures Professors Buyteweck ausgeführt. Es handelt sich um einige Kästchen mit Dias, die dort für ihn entwickelt wurden, hochinteressante Aufnahmen übrigens, die zum ersten Mal die Rembrandt-Restaurateure bei ihrer Arbeit im Rijksmuseum zeigen. Gerade als Antje das Kunstgeschichtliche Seminar betritt, erfolgt der Sturm der Provos. Antje fürchtet um die Dias, ruft um Hilfe. Adrian bringt sie in den Arbeitsraum der Examenssemester und schützt sie dort tapfer gegen die anstürmenden Rowdys. Er schlägt sich mit ihr durch, bringt sie und die Dias in Sicherheit. Die Provos nehmen Rache. Sie verwüsten die Arbeitsräume, vernichten Adrians Diplomarbeit. Die Polizei endlich macht dem wüsten Treiben ein Ende. – Adrian und Antje im Dienste der Wissenschaft …“ „Das ist doch nicht Ihr Ernst, Herr Vickbons!“ „Wenn es ums Geschäft geht, bin ich immer ernst. Zwei Drittel der Bilder haben wir bereits, der Rest wird gestellt. Ihr Professor gestattet uns, die Ergänzungsszenen in seinem Institut aufzunehmen. Morgen um zehn 57
Uhr beginnen wir. Antje freut sich, daß die Serie weiterläuft. Und Sie, van Campen? Ihr Gesicht spricht Bände!“ Der Chefredakteur schenkte Adrian einen zweiten Cognac ein. „Freude und Dank habe ich von Ihnen nicht erwartet. Ich hoffe allerdings auf Ihre Loyalität.“ „Etwas zuviel verlangt, Herr Vickbons.“ Adrian stand auf. „Nein, so können wir nicht auseinandergehen.“ Der Chefredakteur legte begütigend den Arm um Adrians Schulter. „Ein Vierteljahr lang haben wir zusammengearbeitet, das sollte auch weiterhin möglich sein. Schließlich bindet uns ein Vertrag aneinander.“ „Ich kenne meinen Vertrag, hab’ ihn heute noch einmal durchgelesen.“ Adrian entzog sich der wohlwollenden Annäherung. „Er verpflichtet mich nicht zu dem, was Sie vorhaben. Was Sie spannende Spielhandlung nennen, ist Effekthascherei. Der Leser sieht nichts als randalierende Studenten und böse Provos. Sensationen um der Sensation willen. Nichts ist von dem übriggeblieben, was Wetering mit der neunten Folge vorhatte. Schlimmer noch: Die Bilder peitschen die Emotion der Spießer auf, wecken Haßgefühle gegen Provos, die mit der Sache nichts zu tun hatten.“ Vickbons setzte sich wieder. „Bitte, nehmen Sie noch für einen Moment Platz, Herr van Campen. Wir beide können uns arrangieren, ganz bestimmt. Ja, wir müssen es sogar. Heute früh hab’ ich Keetenheuve prophezeit, daß Sie sauer reagieren werden. Seine Antwort: Wenn Sie Liebe 70 nicht fortsetzen, sind wir geschiedene Leute. – Herr van Campen, ich kann einem Keetenheuve nicht die Stirn bieten. Täte ich es, ich wäre morgen kein Journalist mehr und in wenigen Wochen wirtschaftlich ruiniert. Können Sie es sich leisten?“ 58
„Ich studiere, Herr Vickbons. Wenn ich mit SCHAU HIN breche, muß ich mich erheblich einschränken, im übrigen sehe ich keine Nachteile. Bis in das Dekanat der Philosophischen Fakultät wird wohl der lange Arm Ihres Verlegers nicht reichen.“ „So sicher würde ich nicht sein.“ Vickbons wiegte den Kopf. „Es gibt Beispiele. Leute, die sich sehr sicher wähnten, mußten über Nacht ihre Sachen packen und aus Amsterdam verschwinden. Ich könnte Ihnen sogar Namen nennen … das heißt …“ Er stockte, zauderte einen Moment und fuhr dann lächelnd fort: „Schluß mit dem fruchtlosen ‚Was wäre, wenn‘. Machen wir uns an die Arbeit, Herr van Campen. Meine Konzeption der neunten Folge kennen Sie, jetzt möchte ich gern die Ihre kennenlernen. Wir beide werden uns so lange miteinander raufen, wie Wetering und ich es getan haben. Zum Schluß ist stets etwas Vernünftiges dabei herausgekommen.“
Gegen Abend wurde es im Kasino des Verlagshauses merklich ruhiger. Der größte Teil der Tische lag verwaist da, nur in der Nähe des Büfetts, wo das Stammquartier der Bildreporter und Fotografen war, herrschte noch Betrieb. Adrian setzte sich zu Ary Scheffer, einem der Kameramänner des Liebe-70-Teams. „Trinkst du einen Genever mit, Ary?“ „Warum nicht.“ Adrian holte zwei Schnäpse und stieß mit Scheffer an. Der Bildreporter grinste. „Du hast doch etwas auf dem Herzen.“ „Nicht der Rede wert. Habe nur gehört, ihr hättet die Fotos von der Schlacht im Hörsaal zwei, die Vermeulen geschossen hat.“ 59
„Stimmt. Aber unsere sind besser. Meiner Meinung nach hätten wir die vom NACHTEXPRESS gar nicht gebraucht.“ „Kann ich sie mal sehen?“ „Jederzeit. Ist was Besonderes damit?“ „Könnte sein, ein Freund von mir war’ drauf zu sehen, womöglich mit geschwungenem Stuhlbein.“ „Kapiert. Wäre nicht schön, wenn so eins drunter wär’.“ „Ihr schießt doch immer eine Menge auf Vorrat. Nicht alle sind scharf und gut belichtet.“ „Dafür sind es eben Schnappschüsse.“ „Trinken wir noch einen?“ „Wenn es sein muß.“ Adrian holte die nächste Lage. „Was macht ihr eigentlich mit den Fotos, die kleine Fehler haben?“ „Die sortieren wir aus.“ „Kommen die nicht ins Archiv?“ Scheffer schüttelte den Kopf. „Ins Archiv kommen immer nur die besten.“ „Richtig. Es wird viel zuviel Mittelmäßiges aufbewahrt.“ „Manche heb’ ich natürlich für mich auf.“ Ary Scheffer kniff ein Auge zu. „Weiß man denn, ob sich nicht mal ein Liebhaber findet?“ „Muß der auch Liebhaberpreise zahlen?“ Der Fotograf schmunzelte. „Keiner muß. Jeder weiß schließlich, was ihm so ein Schnappschuß wert ist. Außerdem komme ich gern entgegen.“ „Das läßt sich hören.“ Adrian lachte. „Noch einen?“ „Aller guten Dinge sind drei. Aber dann ist Schluß. Sonst schmeißen wir beim Sortieren alles durcheinander.“ 60
Adrian verließ das Verlagshaus in bester Stimmung. Vier Schläger der Totenkopfclique – schwarz auf weiß … jeder von ihnen beim Überfall auf Wetering in der Palmengracht dabeigewesen. Thelen würde Augen machen! Kommissar Thelen sah sich die vier Fotos stirnrunzelnd an. „Für uns ohne Interesse. Sonst noch was?“ „Im Augenblick nicht.“ „Was?“ Thelen lief rot an. „Deswegen lassen Sie mich aus einer Besprechung holen?“ Er schnellte von seinem Platz hoch und lief zum geöffneten Fenster, als brauche er dringend frische Luft. „Unsereins weiß vor lauter Arbeit nicht, wo ihm der Kopf steht, und Sie platzen herein und stehlen einem Zeit mit solchen Lappalien.“ „Ist bei Ihnen immer Großkampftag, Herr Kommissar? Seit Anfang der Woche hab’ ich mich bemüht, einen Termin zu bekommen.“ „Ist bekannt. Wenn das Telefon im Vorzimmer klingelte, war van Campen am Apparat. Wir nahmen schon an, Sie würden von einer Bande gejagt und brauchten Polizeischutz. Aber nein! Nur ein paar Rowdys, Provos oder wer weiß was für Typen machen Ihnen Kopfzerbrechen, obwohl man Ihnen noch kein Haar gekrümmt hat. Was raubt Ihnen außerdem den Schlaf? Die angebliche Aussage eines Sporttauchers! Dabei ist der Mann erst in zwei Wochen wieder greifbar. Wirklich, ein Berg muß kreißen, um eine Maus zu gebären.“ „Dieser Sporttaucher hat immerhin zwei Mann an Bord der Delphin gesehen. Zwei Mann, die miteinander im Streit lagen, kurz bevor Wetering ertrank. Dieser zweite könnte der Mörder Weterings sein. Eine solche Aussage ist keine Lappalie, sondern im höchsten Grade alarmierend!“ 61
„Alarmierend wäre sie, wenn dieser Sporttaucher hier vor mir stünde und das Protokoll seiner Aussage unterschriebe. Solange das nicht der Fall ist, ist alles, was Sie heute vorgebracht haben, nur Gerede. Und dafür habe ich keine Zeit.“ „Ich dachte immer, Wetering sei Ihr Fall, Kommissar Thelen.“ „Zum Kuckuck noch mal, Wetering ist kein Fall mehr. Sein Tod ist geklärt. Zweifelsfrei.“ „Trotzdem werden meine Zweifel von Tag zu Tag größer.“ „Das ist Ihr Problem, van Campen, nicht das des Morddezernats. Uns halten zehn echte Fälle Tag und Nacht in Atem. Fälle, die schleunigst geklärt werden müssen, Kapitalverbrechen, bei denen die Täter heiße Spuren hinterlassen haben. Außerdem geschieht beinah jeden Tag ein neues Verbrechen, und auch das müssen wir klären. Das sind unsere Probleme, Herr van Campen.“ Adrian ging zur Tür. „Ich werde Sie nicht wieder belästigen, Kommissar.“ „Jetzt seien Sie bloß nicht empfindlich!“ Thelen hielt Adrian zurück. „Glauben Sie wirklich, dieser mysteriöse Sporttaucher weiß heute noch, was er seinen Kameraden damals erzählt hat? Hunderte solcher Augenzeugen habe ich erlebt, die sich Wochen später an nichts mehr erinnern konnten.“ „Und wenn nun dieser Siefke die berühmte Ausnahme ist?“ „Dann melden Sie sich mit ihm in zwei Wochen bei mir!“
„Das Wunder aller Wunder ist die Liebe …“ Die Stimme der jungen französischen Sängerin füllte den engen Raum 62
der Mansardenwohnung. Antje kam aus dem Bad und war mit einem Satz beim Radio. Ein Druck auf die Tastatur, der Gesang brach ab. Vor wenigen Wochen noch war das ihr Lieblingslied gewesen – Adrian hatte ihr eine Langspielplatte der Matthieu mit Originaltext aus Paris mitgebracht. Aber augenblicklich wollte sie nichts mehr von Liebe hören. Gestern abend hatte sie eine Illustrierte in die Ecke gefeuert, nur weil irgendwo auf der letzten Seite ein Schöngeist die Liebe definiert hatte als ‚das Zueinanderstreben und Einswerden zweier Wesen‘. So etwas darf man eben nicht in die Finger bekommen, wenn man zum dritten Mal einen ganzen Abend lang umsonst gewartet hat. Zueinanderstreben? Einswerden? Sie spürte seit Tagen nichts mehr davon. Jetzt waren Adrian und sie wieder zwei völlig verschiedene Menschen, und sie war sehr unglücklich darüber. Was war nur in Adrian gefahren? Weterings Tod hatte ihn erschüttert, genau wie sie und Vickbons und alle, die ihn näher kannten. Vielleicht wurde Adrian schwerer damit fertig, weil er Wetering am nächsten gestanden hatte. Aber trotzdem! Kein Grund, sich so zu verändern. Das heißt, in den wenigen Stunden, die sie in dieser Woche zusammen waren, hatte er mitunter versucht, so lieb und zärtlich zu sein wie früher. Mehr als ein Versuch war es aber nicht gewesen. Er war ja doch mit seinen Gedanken ganz woanders, setzte sich dauernd mit Kommissar Thelen, Vickbons Keetenheuve und SCHAU HIN auseinander. Warum nur? Probleme hatte es früher auch gegeben, aber jetzt hatten sie die Oberhand. War das auch ihre Schuld? War sie nicht mehr attraktiv genug? Antje trat vor den Spiegel. Ach was, in solch miserabler Verfassung konnte sie ihr Spiegelbild sowieso nicht 63
leiden. Außerdem, es lag ja nicht an ihr, es lag auch nicht an Adrian, daß es jetzt so mit ihnen geworden war, es lag nur an SCHAU HIN. Vickbons als Nachfolger Weterings bei Liebe 70, das konnte nicht vom ersten Tag an glatt gehen. Es hätte aber schlimmer kommen können. Vickbons gab sich viel Mühe mit Adrian. Wenn der das nur endlich einsehen würde! Warum überhaupt diese endlosen Diskussionen? Sie beide brauchten sich nur fotografieren zu lassen, die Verantwortung für Bildauswahl und Text trug Vickbons. Sie hörte, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Endlich! Adrian trat in den kleinen Flur und öffnete die Tür zum Wohnraum. „Tut mir leid, daß es so spät geworden ist, aber ich hab’ es nicht eher geschafft. Wirklich nicht. Bitte, verzeih mir.“ Er wollte sie in die Arme nehmen, aber Antje entzog sich ihm. „Hab’ eigentlich nicht mehr mit dir gerechnet“, sagte sie leise. „Warum nicht?“ „Du hast mich in den letzten Tagen oft warten lassen. Immer war etwas anderes schuld daran. Das hat es früher nie gegeben.“ „Gerade in den letzten Tagen gab es schwierige Dinge. In der Uni, beim Verlag …“ „Ich weiß, ich weiß“, unterbrach sie ihn heftig. „Durch wen wurden sie denn so besonders schwierig? Durch Adrian van Campen, der sich einfach großspurig über alles hinwegsetzt, was mir Freude macht.“ Er sah sie verwundert an. „Alles, was dir Freude macht, heißt doch nicht Liebe 70?“ „Alles nicht, aber vieles hängt damit zusammen. Auf dem Tisch liegt ein Zettel. Auf der linken Seite steht, was 64
wir im letzten Vierteljahr an Honorar bekamen, auf der rechten Seite, was wir uns dafür gekauft haben. Sag nicht, ohne das hätten wir auch leben können, früher habe es auch gereicht. Sei ehrlich, es hat nie gereicht, seit wir uns kennen, und ich will auch kein Früher mehr. – Wir sind hochgekommen, es geht uns gut, und wenn wir mit Vickbons weitermachen, geht es uns bald glänzend. Nach und nach schaffen wir uns alles das, wovon wir früher nur geträumt haben: die eigene Wohnung, den Zweisitzer, anständige Garderobe, Fahrten in den Süden, den Bungalow. Willst du das immer wieder aufs Spiel setzen?“ „Antje, ich hab’ dir schon erklärt …“ „Ja, das hast du … aber so energisch, so unbedingt, so starrköpfig. Ach, Adrian, du bist klug, weißt viel mehr als ich, nur eins kannst oder willst du nicht begreifen!“ „Und das ist?“ „Vickbons kann nicht so schreiben wie Wetering. Er kann nur so schreiben wie Vickbons. Das schmeckt dir nicht, aber kommt es darauf an? Millionen Lesern gefällt die Art, wie er schreibt. Wenn er Liebe 70 weiterführt, wie er es für richtig hält, werden wir den Lesern von SCHAU HIN wie bisher gefallen. Wenn dir die eine oder andere Szene gegen den Strich geht, ist das ein Grund, dauernd dagegen Front zu machen? Warum reizt du ihn unaufhörlich? Verdirbst uns alle Freude? Warum läßt du dich kaum noch hier bei mir sehen? Nur einen einzigen Grund kann es geben: daß wir dir plötzlich alle über sind – SCHAU HIN, Liebe 70 und vor allem ich! Denn du denkst nur noch an dich, ganz allein an dich!“ Sie wandte sich ab, bemüht, die Tränen zu verbergen. Doch bald war es mit ihrer Beherrschung vorbei. Sie warf sich aufs Bett und schluchzte. 65
Antje hat nicht ganz unrecht, dachte Adrian. Wie soll sie begreifen, was in mir vorgeht, wenn ich nicht über alles mit ihr sprechen kann? Sie weiß nichts von meinen Fahrten nach Huizen und Dixmuiden, von meinem Besuch bei Dr. Kroon und manch anderem Gespräch. Ich kann ihr nicht sagen, wo ich war und warum ich sie habe warten lassen. Das ist nicht gut für uns. Aber vielleicht ist etwas anderes noch schlimmer: daß ich es nicht geschafft habe, Zweifel, Mißtrauen, Argwohn zu verbergen, daß ich Antje, Vickbons und andere langsam kopfscheu mache. Statt mir nichts anmerken zu lassen und alles mit einem Lächeln zu überspielen, beunruhige ich meine Umgebung und schade mir selbst. Wenn mir schließlich alle aus dem Wege gehen, weil ich sie vor den Kopf stoße, werde ich nie Licht ins Dunkel bringen. Was immer auch Vickbons und Keetenheuve von mir verlangen, es gibt nur eins: Zähne zusammenbeißen und mitmachen. Um jeden Preis. Auch um den der Selbstverleugnung.
Die Julinacht war lau und windstill. Das Wasser der Herrengracht floß träge dahin. Adrian lehnte am Geländer der kleinen Brücke und blickte gedankenversunken einigen abgerissenen Ulmenblättern nach, die langsam auf der Wasseroberfläche dahintrieben. Wer ihn heute abend unter Vickbons Regie erlebt hatte, könnte glauben, er ließe sich jetzt treiben wie diese Blätter, ziellos, wohin der Strom wollte. Er bückte sich, hob ein paar Steinchen auf und warf sie in die Gracht. Sie prallten klatschend auf dem Wasser auf, es bildeten sich Kreise, dann floß das Wasser träge wie zuvor. 66
„Ich schau den grauen Fluten nach und fange an zu träumen“, summte plötzlich eine Stimme neben ihm, und ein junger Mann schwang sich aufs Geländer. „Welch ein schönes Bild! Amsterdams populärstes männliches Fotomodell auf den Spuren des weisen Heraklit. Alles fließt, nichts bleibt, wo es ist. Nur der einsame Träumer steht wie festgenagelt.“ Der „rote“ Jakob, ein schmächtiger, spitznasiger Junge mit schulterlanger krauser Haarmähne, Jakob Breda, der unermüdliche Theoretiker unter den Studenten, lachte Adrian herausfordernd an. „Was willst du von uns, wo brennt’s?“ „Ich brauche deine Hilfe, Jakob“, sagte Adrian ernst. „Du brauchst uns? Wirklich? Ein Teenager-Idol von SCHAU-HIN-Gnaden sucht Rückenstärkung ausgerechnet bei einem der bösen Radikalinskis?“ „Mir geht es nicht so gut, wie du denkst.“ Adrian hatte keine Lust, auf den spöttischen Ton einzugehen. „Glaub’ ich. Du hast einen bitteren Zug um den Mund, Fotomodell. Hab’ ich dir nicht schon vor Wochen prophezeit, daß dich das Establishment aufsaugt mit Haut und Haaren?“ „Wer hat unser Seminar zerschlagen, Jakob?“ „Ihr selber. Wir haben euch rechtzeitig unsere Hilfe angeboten. Aber dein lieber Hendrik Freukelaer hat dankend abgelehnt. Die ‚Jonge Vereenigung‘ sei stark genug, diesen Strauß mit Buyteweck allein auszukämpfen. Wie stark er war, haben wir ja erlebt. Läßt sich von einem Haufen Achtgroschenjungen das Heft aus der Hand nehmen.“ „Er war bei Buyteweck, als sie das Seminar stürmten.“ „Und wo waren die andern? Dilettantisch organisiert war das, so echt liberal. Für die Presse ein gefundenes 67
Fressen. Ist dir nicht aufgefallen, daß SCHAU-HINFotografen schon da waren, ehe es überhaupt losging? Die werden unsern Spießern genau die Bilder servieren, die sie brauchen, um recht laut nach dem Büttel zu schreien. Und du leistest diesem Unternehmen auch noch Schützenhilfe, indem du bei ihrer Show brav mitmimst.“ Adrian überhörte den aggressiven Ton, in dem Jakob Breda dies alles vorbrachte. Er hatte ja recht. „Warum ich bei Liebe 70 weiter mitmache, erkläre ich dir später“, sagte er ruhig. „Im Moment interessieren mich diese Achtgroschenjungs. Könnt ihr euch nicht ein bißchen um sie kümmern?“ „Warum sollten wir?“ „Alles Porzellan, das sie zerschlagen haben, geht auf Konto der linken Studenten und der Provos. Euch wird man eines Tages die Rechnung präsentieren. Stört euch das nicht?“ „Im Gegenteil!“ Jakob griente. „Je mehr sie an der Uni zerschlagen, je mehr die Polizei dazwischenhaut, um so besser. Vielleicht bekommt im nächsten Semester jeder Professor seinen Hörsaalschutz, der lästige Frager sofort zum Schweigen bringt. Kann uns nur recht sein, wenn die Dinge sich zuspitzen. Erst dann wird die träge Mehrheit aus ihrem Schlaf erwachen. Erst dann haben wir die Masse der Studenten hinter uns.“ „Meinetwegen. Aber zunächst mal könnte es nicht schaden, über die geplanten Aktionen der Schlägerbande informiert zu sein.“ Adrian griff in die Seitentasche seines Jacketts. „Ich hab’ mir die Porträts der Schläger besorgt. Sie sind zu unscharf, um in SCHAU HIN zu erscheinen. Vielleicht erkennt ihr trotzdem einen.“ „Gib her!“ Breda ging mit den Fotos unter die nächste Laterne. „Technisch gesehen, okay“, meinte er. „Man 68
könnte sie kopieren und als Steckbrief ’rumgehen lassen. Vorher aber muß ich eins wissen: Warum sollen wir dir helfen?“ „Sagt dir der Name Erven Wetering etwas?“ „’ne ganze Menge. Heller Kopf war das. Schade um ihn.“ „Die Schläger haben ihn zweimal überfallen. Ich muß wissen, warum.“ „Ich denke, Wetering ist in der Zuidersee ertrunken.“ „Das ist er. Ich will wissen, wie es dazu kam.“ „Ein beneidenswertes Programm.“ „Darum brauch’ ich deine Hilfe.“ „Gut, weil’s um Wetering geht. Ich lass’ die Bildchen kursieren.“ Breda angelte aus der Hosentasche seiner vielfach geflickten Lodenkombination ein Portemonnaie heraus und verstaute sie darin. „Versprich dir nicht allzuviel davon. Ein Steinchen im Mosaik, mehr wird das nicht.“ „Was weißt du jetzt schon, Kommissar?“ „Der Zufall will, daß ich nicht nur unsere Leute instruiere, sondern auch nachts durch die Straßen wandle. Komme mit vier Stunden Schlaf aus. Da Nachtwandler sich manchmal über den Weg laufen, weiß ich, daß Wetering in den letzten Wochen überall war und nirgends. Selbst wenn ich dort auftauchte, wo ich eigentlich nichts zu suchen hatte, traf ich ihn.“ „Also wo?“ „Leute, die da heimisch werden, sind nicht unsere Kragenweite. Wenn sie sich auch high fühlen, sie sind und bleiben arme Teufel.“ „Paradiso?“ Jakob nickte. „Paradiso is in time. Lohnt sich schon, dort ein bißchen die Ohren zu spitzen.“ „Wann hast du Wetering im Paradiso gesehen?“ 69
„Zweite, dritte Juniwoche.“ „Jakob, ich hab’ Durst!“ Adrian gab ihm einen Stoß in die Seite. „Schauen wir auf einen Sprung ins Paradiso.“ „Das wollte ich sowieso. Aber du bleibst draußen“, sagte Jakob und drohte mit dem Finger. „Willst du dein Image ruinieren? Spießer mögen keine Helden, die Hasch inhalieren und sich in Schummerecken ’rumsielen.“ „Ich bin mein freier Herr.“ „Sieh mal an, frei bist du?“ Jakob lachte laut auf.
Der große Kuppelbau an der Kreuzung St.-Anna-Straat / Warmoesstraat, von Freimaurern errichtet und jahrzehntelang Schauplatz ihrer geheimnisvollen Sessionen, fand in den sechziger Jahren keinen Käufer mehr und wäre abgerissen worden, hätte sich die Amsterdamer Stadtverwaltung nicht im letzten Augenblick entschlossen, hier ein Hippiecenter zu errichten. Ein kühnes Unterfangen, wenn man bedenkt, daß die modernen Jünger Buddhas keiner Lehre ihres Meisters bereitwilliger folgten als der von der Heimatlosigkeit. Allen Unkenrufen der hauptamtlichen Fürsorger und Jugendpsychologen zum Trotz erfreute sich der Bau mit seinen weitläufigen fensterlosen Räumen und seinem mystischen Halbdunkel schnell großer Beliebtheit bei den umherstreunenden Blumenjünglingen und -jungfrauen. Bald machte die Legende die Runde, im Paradiso könne jeder Tramp nach seiner Fasson selig werden, und die akademisch Gebildeten unter seinen Verehrern priesen es als eine Hippieoase in der Wüste der Leistungsgesellschaft. So eilte der Ruf des Hauses von Land zu Land. Wem das Gras im Hydepark zu feucht und die Steinquadern unter den Seinebrücken zu kalt waren, der trampte nach Amsterdam, um 70
ganz unter seinesgleichen zu sein. Mundpropaganda sorgte dafür, daß man sich in Hippiekreisen bald Wunderdinge vom Paradiso erzählte. Nirgendwo sonst käme man den köstlichen Vorstufen des Erleuchtetseins so nahe, ja, man gerate dort durch den Wechsel von Drogenextase und Tanzrausch in jenen paradiesischen Zustand, der die Nichtigkeit dieser Welt überwinde und der Überwirklichkeit kosmischen Einsseins nahekomme. Von Katzenjammer, Depression und Schlaflosigkeit sprach man natürlich nicht.
Elektroverstärkte Gitarren dreier Bands und die orphischen Urlaute ihrer Sänger sorgten dafür, daß es in dieser Mischung von Musichall und Trampmoschee keinen Quadratmeter Boden gab, wo sich ein Hippie einsam und verlassen hätte fühlen müssen. „Komm mit zum Bodhi-Baum!“ schrie Jakob lachend seinem Begleiter zu, schob Adrian durch das Gewühl der Tanzenden und bugsierte ihn die Treppe hoch zu einer Empore, auf der gerade zwei Bänke Platz hatten. Sie fanden sie besetzt von mehreren Hippiepärchen, die dort innig verschlungen ruhten, weitabgewandt. „Hier sind wir überflüssig“, meinte Adrian und betrachtete amüsiert die verzückten Buddhajünger. „Einen besseren Überblick findest du nicht“, entgegnete Jakob, kniete sich neben die Bank und flüsterte den Hippies etwas zu. Sie fuhren auseinander, sprangen auf und stürzten die Treppe hinunter. „Selig sind die Leichtgläubigen.“ Jakob lachte triumphierend und schob die Bank dichter ans Geländer. „Man braucht nur die Parole auszustreuen, im Indragarten gibt’s Stoff, dann wird jeder Schläfer munter.“ 71
„Gibt es denn welchen?“ „Irgendeiner wird schon was verkaufen. Hauptsache, wir haben die Bank.“ Adrian sah seinen Begleiter lächelnd an. „So kenn’ ich dich gar nicht, Jakob. Fühlst dich hier ja wie zu Hause. Verträgt sich das mit deiner Doktrin?“ „Wer Informationen braucht, muß mitspielen. Außerdem bestätigt dieser trauliche Hippiezauber nur unsere Theorie. Ein bißchen Gift, ein bißchen Rausch, eine Handvoll Mystik, ein paar Gramm Exotik – mehr hat dieses System seiner Jugend nicht zu bieten.“ „Du vergißt SCHAU HIN!“ „Wie konnte ich nur?“ Er grinste und machte eine Verbeugung. „Übrigens hat dein Freund Wetering ganz gern hier oben gesessen. Von dieser Bank hat man die Band am besten im Auge. Kennst du den Mann am Flügel?“ „Nein. Er ist wirklich gut, fast zu gut für den Laden.“ „Vorsicht. Im Paradiso laufen nicht nur Halbnarren herum. Hier gibt’s mehr Sachverständige, als du denkst. Wer pfuscht, wird ausgepfiffen. Dick Kaiser braucht allerdings keine Angst zu haben. Er steckt alle in die Tasche. Er spielt überhaupt nur, wenn er Lust hat.“ „Gehört er denn nicht zur Band?“ „Er arrangiert eine Menge für sie.“ „Kann man davon leben?“ „Da hättest du Wetering fragen sollen. Der hockte viel mit ihm zusammen. War schon ein Allroundgenie, dein Freund, in jeder Sparte zu Hause.“ „Du scheinst dich intensiv mit ihm beschäftigt zu haben.“ „Er hat mir imponiert, obwohl …“ Jakob hielt inne, denn auf der obersten Stufe der Emporentreppe erschien 72
Pieter mit der Knollennase aus dem Keller in der Palmengracht und winkte ihm zu. „Moment mal.“ Jakob ging hinunter und wechselte ein paar Worte mit ihm. „Woanders werd’ ich nötiger gebraucht.“ Er tippte Adrian leicht auf die Schulter. „Kommst auch ohne mich zurecht! Ich meld’ mich wieder.“ Unten im Saal stellten die Musiker ihre Instrumente beiseite, die Tanzfläche leerte sich. Es sah nach einer längeren Pause aus. Der Mann am Flügel, überschlank, hager, mit tief gekerbten Falten im Gesicht, hockte rauchend auf seinem Schemel und kritzelte in Notenblättern. Adrian verließ die Empore und ging langsam zum Musikpodium. „Herr Kaiser?“ „Bitte?“ machte der Pianist ungehalten und blickte auf. „Ach, Herr van Campen. Spielt die nächste Fortsetzung im Paradiso?“ „Noch nicht spruchreif.“ Adrian lächelte verbindlich. „Können wir uns ein bißchen unterhalten?“ Dick Kaiser nickte. „In zehn Minuten etwa. Hinter dem Indragarten, dort ist ’ne kleine Bar.“ Ein barocker Meister hätte seine Freude daran, dies alles malen zu können, dachte Adrian, als er durch den Tausend-Blüten-Saal und den Indragarten zur Bar schlenderte. Dankbare Motive für den Höllen-Breughel , diese Gesellschaft auf dem Fußboden: Meditierende, in sich zusammengesunken, in Jogi-Stellung Hockende, im Halbschlaf oder Halbrausch vor sich hindämmernde Hippies. Schwer zu entscheiden, was echt war an Weltflucht und Weltekel und was Pose. „Nehmen wir einen Highball?“ fragte Dick Kaiser und placierte sich auf einen Hocker neben Adrian. „Eine der 73
wenigen Dinge, die hier zu genießen sind.“ „Ich verlass’ mich auf Sie“, sagte Adrian. „Sie sind ja hier zu Hause.“ „Zu Hause bin ich, wo ich mich wohl fühle, Herr van Campen. Ihnen wird es wohl nicht anders gehen. Aber die Kunst sieht sich nach Brot um, selbst wenn es noch so hart ist.“ „Ich könnte mir härteres Brot vorstellen als dieses.“ „Sie sind kein Musiker. Seien Sie froh darüber!“ „Wer Sie am Flügel sieht, hat den Eindruck, es mache Ihnen Freude, zu spielen.“ „Der Eindruck ist kalkuliert. Anders lassen sich gewisse Produkte eben nicht verkaufen.“ „Verstanden. Sie testen, wie dieser oder jener Titel beim Publikum ankommt. Und Sie testen freundlich und beschwingt, damit kein Zuhörer auf den Gedanken kommt, daß er getestet wird.“ „Auf Ihr Wohl!“ Kaiser nahm sein Cocktailglas und prostete Adrian zu. „Ein bißchen haben Sie schon gelernt bei SCHAU HIN!“ Adrian nickte. „Wenn man sich länger dort aufhält, ist das nicht zu umgehen.“ Er trank seinen Highball in kleinen Schlucken. „Neulich hat mir dort jemand weismachen wollen, ein Komponist müsse heute den Markt genauso erforschen wie ein Produzent von Schönheitsseife.“ „Darüber reden Sie besser mit Komponisten.“ Kaisers Lippen wurden schmal. „Ich bin nur Arrangeur.“ „Sie sind ein großer Könner“, entgegnete Adrian. „Sonst hätte Erven Wetering nicht so viel Zeit für Sie geopfert.“ „Er wird sie nicht nur für mich geopfert haben“, murmelte Kaiser, offenbar verstimmt. Die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, schien ihm nicht zu behagen. Kurze Zeit über starrte er wortlos in sein Glas, dann 74
wandte er sich wieder Adrian zu. „Was soll’s, Herr van Campen? Alles, was vor Wochen hier geredet wurde, ist in den Wind gesprochen. Mit Wetering ist auch diese Story untergegangen.“ „Welche Story?“ „Titel unbekannt. Er hat mir nicht gesagt, woran er das aufhängen will. Unsereins macht sich keinen Vers auf das, was Journalisten fragen.“ „Was hat er denn gefragt?“ „Das Übliche: Wie entsteht ein Hit? Wie bringt man ihn unters Volk?“ „Dann kann es ja nicht viel Gesprächsstoff gegeben haben.“ „Vielleicht haben wir nicht nur über Hits gesprochen.“ Kaiser betrachtete sein Ebenbild im Spiegelglas der Bar. „Mit einem Manne wie Wetering konnte man über vieles …“ Er verstummte, als sich eine Blondine an ihm vorbeischlängelte und ihn dabei absichtlich streifte. Sie hielt Ausschau nach einem Hocker in seiner Nähe, fand jedoch nur am anderen Ende des hufeisenförmigen Tresens einen freien Platz. Von dort aus ließ sie den Arrangeur und Adrian nicht aus den Augen. „Mit Wetering konnte man über vieles reden“, nahm Adrian den Faden wieder auf. „Sie verschwenden Ihre Zeit, van Campen“, sagte Kaiser abweisend. „Ich bin nur ein kleiner Fisch. Wetering warf die Angel nach großen aus.“ „An wen denken Sie?“ „Überlegen Sie selber.“ Adrian zögerte einige Augenblicke. „Soviel ich weiß, hat Franz van Laar in den letzten Jahren die meisten Hits geschrieben.“ 75
„Na bitte! Welch ein Jammer, daß Wetering verunglückte, bevor er van Laars goldene Worte in Druck geben konnte.“ „Klingt fast so, als seien Sie ihm nicht grün?“ „So grün wie Immergrün.“ Kaiser lachte. „Mynheer van Laar ist mein Herr und Meister. Jede Note, die ich aufs Papiers kritzle, jeder Ton, den ich anschlage, entsprang seinem Schöpferhirn. Er zahlt das Taxi, mit dem ich von hier ins Tabarin und vom Tabarin ins Eden fahre, genauso wie den Highball, den wir beide getrunken haben.“ „Und was tut der Meister unterdessen?“ „Er braucht sich sein Geld nicht mit Klimpern zu verdienen. Es genügt, wenn er seinen Fans die Gnade seiner persönlichen Anwesenheit erweist.“ Um Kaisers Lippen zuckte es spöttisch. „Wohin er auch geruht, einen Fuß zu setzen, für ihn ist immer ein Tisch reserviert. Dort pflegt er Hof zu halten und seine Günstlinge auszuzeichnen.“ „Und wann pflegt er zu komponieren?“ „Nachdem er genug Atmosphäre getankt hat, bestellt er eine Kanne Tee Spezialmischung und zieht sich in sich selber zurück. Stunden später, wenn er aus dem Schneckenhaus kriecht, ist die Welt um eine Schöpfung reicher.“ „Muß eine vielversprechende Mischung sein, dieser Spezialtee. Das Rezept hat Erven sicher sehr interessiert.“ „Ich hab’ ihm alles gesagt, was ich darüber wußte.“ Der Arrangeur stieg vom Barhocker. „Vergessen Sie unser Gespräch, van Campen!“ Er warf dem Mixer ein Geldstück zu und ging fort, ohne sich noch einmal umzuschauen.
„Wie wär’s mit einem bißchen Feuer?“ Sie war auf den leeren Barhocker geklettert und ging sogleich auf Tuchfühlung mit Adrian. Das kurzgeschnit76
tene blonde Haar hob sich effektvoll ab vom schwarzen Hosenanzug aus dünnem Leder. Adrian zündete ein Streichholz an, sie nahm es ihm aus der Hand und berührte dabei seine Fingerspitzen. „Was wollten Sie denn aus Dick herausquetschen?“ fragte sie. „Dick Kaiser lohnt sich nicht. Früher nicht und jetzt noch viel weniger.“ Der schleppende Tonfall verriet, daß sie mehr getrunken hatte, als ihr gut tat. „Was halten Sie von einem Mokka?“ meinte Adrian. „Entweder – oder halte ich davon.“ Sie lehnte sich an seine Schulter. „Entweder man trinkt ihn hier, unter nachgemachten Menschen, da schmeckt er mir nicht – oder wir trinken ihn später bei Wilhelmina am Vischerdamm, da schmeckt er jedem.“ Adrian schmunzelte. „Im Moment also noch keinen Mokka. Was gefällt Ihnen an Dick Kaiser nicht, schöne Wilhelmina?“ „Leute, die nur reden, mag ich nicht.“ Er zog sie vom Hocker. Während sie im Indragarten tanzten, fragte er: „Warum lohnt sich Dick nicht?“ „Weil er ein Krebs ist. Zwei Schritt vor, drei zurück, verstehst du? Weil er einfach keinen Mumm hat.“ „Keinen Mumm als Musiker oder als Liebhaber?“ Sie kicherte. „Kann man nicht trennen. Dick gehört zu den Menschen, die alles haben könnten, wenn sie nur wollten. Aber sie nehmen immer nur ’nen kleinen Anlauf, viel zu kleinen, damit schaffen sie gerade die erste Hürde, und bei der zweiten stolpern sie schon. An die dritte und vierte trauen sie sich erst gar nicht ’ran.“ „Kennen Sie ihn so gut?“ „Und ob!“ Sie warf den Kopf nach hinten. „Ihn und 77
seinen Spezi, van Laar. Wenn Dick sich richtig trauen würde, hätte er längst mit van Laar gebrochen. Immer diese kleinen Anläufe. Vor ein paar Wochen war er wieder drauf und dran, Kunststück, da hatte ihm Wetering auch den Rücken gestärkt. Der hat mit ihm geredet wie mit einem kranken Kaninchen. War eben Wetering, ein ganzer Kerl! Der hätte keine Ruhe gegeben, der nicht! Deswegen hat man ihn auch zur ewigen Ruhe gebettet!“ „Wer?“ Adrian hielt mit dem Tanzen inne. „Wer hat Wetering zur ewigen Ruhe gebettet?“ Wilhelmina tat erstaunt. „Ist doch keine große Neuigkeit, oder?“ „Erlaube mal, Wetering ist beim Segeln verunglückt.“ „Verunglückt?“ Sie lachte kurz auf. „Glaubst du alles, was in der Zeitung steht? Ein Unglück ist es bestimmt nicht für den gewesen, eher ein Glück.“ „Ein Glück? Für wen?“ fragte Adrian eindringlich. „Für den, der vor Wetering Ruhe haben wollte.“ Zum ersten Mal, seit Adrian begonnen hatte zu recherchieren, sprach jemand von Mord. Wenn Wilhelmina auch getrunken hatte, mehr als ihr guttat, auch wenn man ihre Enttäuschung über Kaiser in Rechnung stellte, sie mußte Kenntnis haben von bestimmten Zusammenhängen. „Was ist denn? Tanzen wir nicht weiter?“ Sie schmiegte sich an ihn. „Mit Ihnen tanze ich gern, Wilhelmina, nur …“, er sah sie prüfend an, „nur dies Gerede eben hat mich etwas stutzig gemacht.“ Wilhelmina schob die Unterlippe vor. „Wieder einmal einer, der alles besser weiß.“ „Vorläufig weiß ich überhaupt nichts.“ „Tu nicht so. Fühlst dich unwiderstehlich, weil dein 78
schönes Profil an jeder Litfaßsäule klebt. Hältst es nicht für möglich, daß du eines Tages genauso abserviert wirst wie ich. Weißt du, wer ich war? Wilhelmina Steyn, the first lady of pop. Und was krieg’ ich heute dafür? Selbst der billigste Agent zuckt mit der Schulter, wenn ich ihn um einen Job anbettle. Glaub mir, ich kenn’ sie alle, diese ganze miese Gesellschaft!“ „Erzähle!“ „Was soll’s? Vorbei ist vorbei!“ Sie tanzten eine Weile schweigend, dann sagte sie leise: „Ist doch nicht unmöglich, daß einer bei diesem Segelunfall nachgeholfen hat.“ „Wer?“ „Es gibt noch andere gute Segler.“ „Aber er hat den Jachtclub allein verlassen.“ „Braucht deswegen noch längst nicht allein an Bord geblieben zu sein.“ „Hat ihn jemand geentert? Oder tauchte plötzlich ein Froschmann an Deck auf?“ „Zuviel Aufwand. Geht auch einfacher.“ „Nämlich?“ „Gibt ’ne Menge Möglichkeiten zwischen Amsterdam und der Muiderbucht. Hübsche Bungalows gibt es da, Anlegestege für Segelboote. Hab’ schon manchmal auf so einem Steg gesessen und jemand zugewinkt.“ „Und?“ „Hab’ nicht lange zu winken brauchen. Die facht ging längsseits, und der Steuermann war nicht mehr allein. Keiner hat es gesehn, außer uns beiden.“ „Der zweite Mann ist also zugestiegen. Wo?“ „Dixmuiden würd’ ich sagen.“ Ein Solo des Drummers, der sein Instrument mit ekstatischer Besessenheit bearbeitete, unterbrach ihr Ge79
spräch. Sie merkten nicht, daß sich ein paar Lederjacken langsam durch das Tanzgetümmel vorarbeiteten. „Partnerwechsel!“ Adrian fuhr herum und fand sich und Wilhelmina umringt von einem halben Dutzend handfester Kerle. „Laß deinen Macker los, Blondy“, knurrte einer Wilhelmina an. „Unsereins will sich auch mal mit ’ner flotten Mieze schaffen.“ „Ich wechsle, wenn’s mir paßt“, protestierte Wilhelmina und legte beide Arme um Adrian. „Stopp.“ Der Bursche stieß seinen rechten Arm gebieterisch in die Höhe, daraufhin brach die Musik ab. Adrian schaute gebannt auf das Handgelenk des Anführers. Wieder ein Totenkopf! Die Tätowierung, die ihm in letzter Zeit immer häufiger begegnete. „Kann ich mich für morgen nachmittag um fünf zum Tee einladen?“ fragte er schnell. Sie nickte. „Vischerdamm sieben, drei Treppen hoch.“ In diesem Moment setzte die Band mit voller Lautstärke ein. Der Scheinwerfer begann zu flackern, dann wurde es dunkel. Man pfiff, johlte, kreischte, doch die Musik spielte weiter. Als wenig später die Lampen wieder aufflammten, waren weder Wilhelmina noch die Lederjacken irgendwo zu sehen.
„Fräulein Steyn ist nicht zu Hause.“ Eine rundliche Fünfzigerin in Hausmantel und Lockenwicklern lehnte in der halbgeöffneten Etagentür und beäugte neugierig den jungen Herrn. „Wir sind für heute um siebzehn Uhr verabredet. Vielleicht hat sie sich verspätet.“ Adrian wickelte gelbe Ro80
sen aus ihrer Umhüllung. „Wurden Sie so liebenswürdig sein und die Blumen ins Wasser stellen?“ „Bitte kommen Sie doch herein, und legen Sie ab, Mynheer.“ Die Vermieterin bat Adrian in die Diele, hing seinen Trenchcoat auf einen Bügel und öffnete die Tür zu einem großen, sonnigen Zimmer. „Wenn Sie inzwischen in Fräulein Steyns Zimmer Platz nehmen wollen, ich hole gleich eine Vase.“ Adrian sah sich um. Wilhelminas Domizil war sehenswert. Ein kleiner Schreibtisch war das einzige Stück, das den herkömmlichen Vorstellungen von einem Möbel entsprach. Alle anderen Einrichtungsgegenstände, angefangen bei der strandkorbähnlichen Sitzhöhle in der Fensterecke über die drei Glasfaserhocker in Rot, Türkis und Indigo bis zum etlichen Meter langen lindwurmartigen Sack, der sich vor dem Gaskamin ringelte, schienen Ausstellungsstücke einer Designermesse zu sein. Vor allem dieses Sackungetüm, mit Kunststoff kugeln gefüllt und Teddyplüsch bezogen, das sich vor dem Kamin breitmachte, Bett und Couchgarnitur zugleich, mußte von Formgestaltern ersonnen sein, die niemals in die Verlegenheit kamen, in den von ihnen entworfenen Möbeln auch wohnen zu müssen. Unbegreiflich, wie jemand freiwillig inmitten dieser Originalitäten leben konnte, dachte Adrian. Nicht ganz so frisch wie die Möbel waren die grellbunten Plakate an den Wänden, die Wilhelmina abwechselnd als ‚Hippiemuse‘, als ‚Lady of Blues‘ und sogar als ‚Pop-Wunder der Niederlande‘ anpriesen. „Hoffentlich müssen Sie nicht zu lange warten.“ Die Vermieterin stellte die Blumenvase auf den Schreibtisch zwischen zwei Fotografien im Glasrahmen, die eine andere Wilhelmina zeigten: jünger, kecker und 81
siegessicherer, als Adrian sie im Paradiso kennengelernt hatte. „Hat Fräulein Steyn gesagt, wohin sie gegangen ist?“ „Das hör’ ich nie von ihr.“ Die Frau seufzte. „Leider Gottes nie. Da kommen Anrufe, mal frühmorgens, mal spät in der Nacht, dringende Anrufe! Nie weiß man, was man sagen soll.“ „Fräulein Steyn hat wohl zur Zeit kein festes Engagement?“ Die Vermieterin nickte bekümmert. „Das ist ja der ganze Jammer, Herr …“ „… van Campen.“ „Ja, Herr van Campen, so ist das. Übrigens, ich heiße Amalie Brouwster.“ Sie lächelte vor sich hin. „Künstler, die bei mir wohnen, sagen meistens Tante Amalie zu mir oder Muttchen. Weil man Künstler in einem fort bemuttern muß. Hab’ ich nicht recht? Ob sie tanzen, singen, dichten oder Feuer fressen, sie bleiben Kindsköpfe. Und unsere Pop-Lady Wilhelmina braucht erst recht einen zum Trösten, wo es ihr in letzter Zeit gar nicht gut geht.“ „Ich habe davon gehört.“ Adrian probierte den Glasfaserhocker in Rot als Sitzgelegenheit aus, für einige Minuten konnte man es sicher darauf aushalten. „Warum eigentlich? Fräulein Steyn müßte doch gut im Geschäft sein. Man braucht sich nur die Plakate anzusehen.“ „Für das, was war, gibt keiner was, Herr van Campen. Vor zwei Jahren, da hingen die Plakate überall, da drückten sich die Foto- und Pressefritzen die Klinke in die Hand, da hockten jeden Tag Musiker und Manager hier herum. Fräulein Steyn hätte alles fordern können, sie hätten ja gesagt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Und nun? Sie sind der erste Besucher seit Wochen. Und ausgerechnet 82
Sie müssen warten. Hoffentlich haben Sie Zeit für eine Tasse Tee?“ „Sicher, Frau Brouwster.“ Adrian lächelte ihr so strahlend zu wie auf einem SCHAU-HIN-Plakat. „Man hat mir schon Wunderdinge von Ihrem Tee erzählt.“ „Wilhelmina weiß, was sie an Tante Amalie hat.“ Erhobenen Hauptes verließ die Wirtin das Zimmer. Adrian nahm einen Schnellhefter vom Schreibtisch und blätterte darin. Er enthielt Kritiken und Zeitungsausschnitte. Etliche stammten aus verschiedenen Nummern des NACHTEXPRESS. Einige Bilder zeigten Wilhelmina, Dick Kaiser und Franz van Laar in ausgelassener Runde am Strande von Deauville, den Hitparadenkönig und die Pop-Lady beim Wasserski, Phil Vickbons und Wilhelmina Steyn in einem Feinschmeckerlokal der Altstadt. „Würden Sie mir bitte die Tür öffnen?“ Adrian nahm Frau Brouwster das Tablett ab, stellte es auf den Schreibtisch und rückte zwei der Faserhocker heran. „Nicht sehr bequem hier zum Teetrinken“, meinte die Gastgeberin. „Aber darauf kommt’s ja bei Wilhelmina nicht an. Was nicht hypermodern ist, paßt nicht zu ihrem Image, haben die Manager gesagt.“ Während er den Tee und die selbstgebackenen Keks der Tante Amalie immer wieder lobte, erfuhr er zwar viel über die Freuden und Leiden des Künstlerlebens im allgemeinen, über Wilhelmina aber nur sehr wenig. „Warum kein Hahn mehr nach ihr kräht, wird schon seine Gründe haben. Ich bohr’ da auch nicht weiter nach. Vielleicht erzählt sie Ihnen, warum sie in diese Pechsträhne geraten ist – wenn sie sich heute überhaupt noch blicken läßt.“ Bis halb sieben leistete Adrian Frau Brouwster Gesellschaft, dann erbat er sich von ihr die Telefonnummer und verabschiedete sich. 83
Sooft er am folgenden und übernächsten Tag auch anrief, jedesmal erhielt er dieselbe Auskunft: kein Lebenszeichen von Fräulein Steyn, kein Anruf, keinerlei Nachricht. Frau Brouwster war bereits fest entschlossen, Vermißtenanzeige zu erstatten, da erschien am dritten Tage ein kleiner ältlicher Mann mit einem Brief von Wilhelmina. Darin wurde Frau Brouwster gebeten, zwei Koffer zu packen und dem Überbringer der Nachricht zur Weiterbeförderung zu übergeben. Und während Tante Amalie noch mißtrauisch das Stück Papier gegen das Licht hielt – man mußte ja heutzutage so vorsichtig sein –, da klingelte das Telefon, das Fernamt kündigte ein Gespräch aus Rotterdam an, und dann konnte Frau Brouwster Wilhelmina höchstpersönlich hören. Mit leiser Stimme gab sie der Wirtin den Auftrag, dem Mann die Koffer auszuhändigen, verbat sich jede Nachfrage nach dem Wohin, Warum und Wie-lange ihres Fernbleibens. Die Miete sei für das nächste Quartal bereits telegrafisch angewiesen und müsse umgehend eintreffen. Tatsächlich, Tante Amalie hatte kaum alles Notwendige zusammengepackt, und der kleine Mann war keuchend mit den beiden großen Koffern verschwunden, als sich auch schon der Telegrammbote mit der angekündigten Überweisung meldete. So konnte Frau Brouwster Adrian nur kopfschüttelnd erklären, dies alles sei unverständlich, soviel sie auch mit Künstlern schon erlebt habe. Mit Recht und Gesetz habe es zwar seine Richtigkeit, aber was so begonnen, könne kein gutes Ende nehmen.
„Und jetzt das Neueste vom Tage! Folge zehn von Liebe 70 heißt Surprise-Party!“ Philipp Vickbons stand mit dem 84
Rücken zum Fenster seines Arbeitszimmers und lächelte Adrian und Antje aufmunternd zu. „Surprise-Party.“ Er ließ das Wort genießerisch auf der Zunge zergehen. „Ihr könnt euch doch was darunter vorstellen?“ „Eine Party mit Überraschungen!“ rief Antje. „Wer so was gibt, muß sich Gags einfallen lassen, um seine Gäste in Spannung zu halten. Einem Gast wird die Brieftasche mit wichtigen Papieren, der Frau des Gastgebers eine kostbare Perlenkette gestohlen. Man ruft die Polizei, und alle Gäste werden verhört. Zum Schluß stellt sich der Polizist als ein verkleideter Gast heraus, und alles Gestohlene war in der Hausbar versteckt.“ „Ja, das sind so althergebrachte zahme Späße“, sagte Vickbons schmunzelnd. „Liebe 70 serviert schärfere Kost. Darauf deutet schon der Schauplatz hin.“ Er machte eine kleine Pause und sah die beiden bedeutungsvoll an. „Turfmarkt, meine Lieben, Turfmarkt. Stellt euch vor, die Party findet statt in der ersten Etage eines breiten grauen Hauses, von dessen Balkon man eine sehr interessante Aussicht hat, und …“ „… und zwar auf den Hintereingang der Nederlandsche Bank“, ergänzte Adrian. „Ich kann mir die schärfere Kost vorstellen: obskure Gestalten mit Nylonmasken, Hilferufe, ein Blutüberströmter in der Uniform eines Wachmanns wird zum Entsetzen der Partygäste hereingetragen …“ „Keine Angst, Herr van Campen“, sagte Vickbons abwehrend. „Wir greifen nicht in die Mottenkiste, bei uns ist alles realistisch und aktuell. Selbstverständlich wird es knallen, sonst fehlte das Salz an der Suppe. Ich denke an Sprengsätze, Molotowcocktails, Benzinkanister – an ein kleines Feuerwerk in den Bankräumen. Antje wird vom Balkon aus die Brandstifter und Bombenleger entdecken, und Adrian wird ihnen das Handwerk legen.“ 85
„Und worin besteht die schärfere Kost?“ fragte Adrian trocken. „Sie kommt in der Art und Weise zum Ausdruck, wie wir die Story aufziehen.“ Vickbons spann seinen Faden weiter. „Unser Ziel ist eine Kampfansage an jede Form der Aggression. Was wir in der neunten Folge begonnen haben, wird in der zehnten fortgesetzt. Warnung vor den Kräften der Zerstörung, den Anbetern der Gewalt, den radikalen linken Kräften, die unsere Ordnung unterminieren wollen. In der letzten Woche wurden in drei Kaufhäusern Bomben gelegt, der Kassenraum der Kreditbank brannte völlig aus. Wer war am Werk? Jugendliche Terroristen, Anarchisten, ultralinke Studenten – mit einem Wort: Provos! Unsere Leser sollen ein Gespür dafür bekommen, wie die Leute aussehen, die uns in die Luft sprengen wollen. Sie sollen wachsam werden, zur Selbsthilfe greifen, und ihr beide …“ „Wir beide sollen mithelfen, den Teufel an die Wand zu malen“, unterbrach Adrian seinen Redefluß. „Die Teufel sind mitten unter uns“, fuhr Vickbons unbeirrt fort, „wohin man nur schaut: Brutalität, Aggression, Zerstörungswut. Liebe 70 wird offenkundig machen, wer dahintersteckt. Wir werden nicht davor zurückschrecken, auch die geistigen Urheber der Stadtguerillas beim Namen zu nennen. Der ideologische Sumpf muß trockengelegt werden. Nicht umsonst beziehen viele Provos ihre geistige Nahrung …“ „Wer hat denn nun die Bomben gelegt? Wer waren die Brandstifter? Die Polizei tappt im dunkeln. Wissen Sie Näheres?“ rief Adrian. „Details spielen für uns keine Rolle!“ Vickbons winkte ab. „Wir schreiben unsere eigene Geschichte.“ „Also ich finde die Idee von Herrn Vickbons Klasse!“ mischte sich Antje ein. „Surprise-Party am Turfmarkt, das 86
gibt schon vom Bild aus eine Menge her. Außerdem spricht man überall von Brandstiftern und Bombenlegern. Warum sollten ausgerechnet wir einen Bogen darum machen?“ „Ich frage mich nur, ob der Zeitpunkt richtig gewählt ist“, wandte Adrian ein. „Noch steht nicht fest, wer hinter den Terrorakten steckt, noch ist kein einziger Name bekannt. Man sollte nicht wieder wie in der neunten Folge die Provos für alles verantwortlich machen. Weder hier noch dort haben wir Beweise …“ „… und selbst wenn wir sie hätten, könnten wir getrost darauf verzichten“, entgegnete Vickbons. „Ein bißchen versteh’ ich mein Handwerk. Solange ich dieses Blatt leite, hat es noch kein Verfahren wegen übler Nachrede, geschweige denn wegen Verleumdung gegeben. Und selbst wenn uns jemand ein Verfahren anhängen sollte, wir haben einen Fonds, um so etwas abzufangen. Welches Thema wir auch anpackten, wir lagen goldrichtig.“ Das Telefon unterbrach sein Plädoyer. Vickbons meldete sich. „Wie geplant, Herr Keetenheuve, wir bleiben am Ball, wie besprochen!“ Er wandte sich Adrian und Antje zu. „Es bleibt also beim Turfmarkt. Morgen einundzwanzig Uhr Beginn der Nachtaufnahmen am Grauen Haus. Macht’s gut bis dahin!“ „Einen Moment noch, Herr Vickbons“, protestierte Adrian, jedoch der Chefredakteur schob ihn sanft zur Tür. „Morgen abend besprechen wir alles in Ruhe, jetzt geht es beim besten Willen nicht mehr.“
„Es ist sehr anstrengend mit dir, Adrian. Vickbons braucht nur den Mund aufzumachen, schon fährst du ihm dazwischen.“ Zum ersten Mal hängte sich Antje nicht bei Adrian ein, als sie das Verlagsgebäude verließen. 87
„Du entschädigst ihn reichlich, Antje. Was auch von seinen Lippen kommt, du nimmst es gläubig auf, wie eine Offenbarung.“ Adrian war zu aufgebracht, um sachlich zu reden. „Vickbons hat eben einen Nerv dafür, was in der Luft liegt.“ „Das hat er wirklich: ein bißchen Terror, Horror, eine Portion Sex dazu, und das ganze Ragout wird von ihm serviert mit der Scheinheiligkeit des Pharisäers.“ „Vickbons soll ein Pharisäer sein?“ „Ja, er tut, als entsetze er sich über Gewalt, Grausamkeit, Aggressionsakte, also über Erscheinungen, die er selbst täglich sät und fördert, durch das, was er schreibt und fotografieren läßt.“ „Mein Gott, Adrian, es wird immer schlimmer.“ Sie blieb mitten auf dem Voorburgwaal stehen und blitzte ihn an. „Die Provos zertrümmern euer Seminar, vernichten deine Examensarbeit, legen Bomben, stecken Häuser in Brand. Ist Vickbons schuld daran? Tun sie es SCHAU HIN zuliebe? Nein, weil sie Anarchisten sind, Feinde unserer Ordnung. Erst wenn das alles passiert ist, greift Vickbons es auf. Ihn kannst du nicht verantwortlich machen für diese Eskalation der Gewalt!“ Was war nur in Antje gefahren? Konnte sich ein junges Mädchen so schnell wandeln? Adrian sah sie befremdet an. Wo war sie geblieben, die liebenswerte Antje des Frühjahrs, mit der er glücklich gewesen war? Das war nicht mehr Antje, mit der er viele Tag und Nächte lang Amsterdam immer wieder von neuem entdeckt hatte. Die Wochen gemeinsamer Arbeit mit Vickbons hatten ihre Spuren hinterlassen. Antje redete ihm nicht nur nach dem Munde, sie sprach auch schon seine Sprache. Vor 88
einigen Tagen hatte sie ihm vorgeworfen, der Tod Weterings habe eine Scheidewand zwischen ihnen errichtet. Er hatte das bestritten. Jetzt sah er ein, die Scheidewand war da. Nur hieß sie nicht Wetering, sondern Vickbons. Das Netz aus Spekulation, Karrieremachen, Haschen nach Publicity hatte sie schon eingefangen. Konnte man sie noch daraus befreien? Er durfte sich nicht täuschen, ihre Beziehung hatte an Zauber, an Innigkeit verloren. Wie wollte er all das zurückgewinnen, wenn ihre Interessen immer mehr auseinandergingen? Viel von dem, was ihn bewegte, mußte er ihr verschweigen. Außerdem hatte es keinen Sinn, ihr manche Dinge zu erklären, sie wollte sie nicht verstehen. Gemeinsam mit Wetering hatten sie in der Palmengracht die Provos kennengelernt, sie hatten erfahren, wie viele prächtige Burschen es unter ihnen gab. Und doch fand sie es jetzt richtig, daß Vickbons Anarchisten, Achtgroschenjungs und Provos in einen Topf warf. Ihr wollte nicht einleuchten, daß Absicht dahinter stand. Nichts kam SCHAU HIN so gelegen wie die Sprengstoffattentate einer kleinen Gruppe von Guerillas, den „Desperados“. Zuerst hatten sie Brüssel und Rotterdam unsicher gemacht und jetzt in Amsterdam ihr Gastspiel gegeben. Mit den Provos hatten sie nichts zu tun, das wußten Jakob Breda, die Polizei und bestimmt auch Vickbons. „Kommst du mit zu Roeterts Gartenparty?“ fragte Antje unvermittelt. „Vickbons hat uns eine Einladung verschafft.“ „Was sollen wir dort?“ „Roetert ist der kommende Mann in der Televisionwerbung. Alle Publicitymanager werden dort sein. Vickbons meint, es sei wichtig, ständig Kontakte zu suchen.“ 89
Kontakte? Adrian unterdrückte ein Lächeln. Ja, Kontakte brauchte er dringend, aber wahrscheinlich andere, als dieser Herr Roetert sie vermitteln konnte. „Ich versprech’ mir nichts davon, Antje“, sagte er gleichmütig. „Aber ich. Ich gehe hin, auch ohne dich.“ „Du gehst ohne mich zu einer Party?“ Ihre Augen wurden böse. „Weil du nicht verstehen willst, was ein Mann wie Roetert für uns bedeuten kann. Ein Sprungbrett, Adrian, und was für eins!“ Er wandte sich ab. „Spring allein, Antje. Ich bleib auf dem Teppich.“ „Gut denn. Ich komme auch ohne dich zurecht.“ Kaum war Antje im Straßengewühl verschwunden, spürte Adrian das Verlangen, ihr nachzugehen oder sie in der nächsten halben Stunde am Singel zu überraschen. Er würde sie einfach in die Arme ziehen und alles an Mißverständnissen und Streitereien in Kauf nehmen, komme, was da wolle. Dann aber hörte er die Turmuhr der Oude Kerk zwölfmal schlagen, und ihm kam zum Bewußtsein, wieviel Zeit er bereits verloren hatte. Wenn er die Suche nach Wilhelmina weitertreiben wollte, durfte er keine Stunde länger warten.
Nach den Zeitungsausschnitten zu urteilen, die Adrian am Vischerdamm gefunden hatte, gehörten die Fotografen des NACHTEXPRESS zu den Journalisten, die seinerzeit am kräftigsten die Werbetrommel für die Pop-Lady Wilhelmina gerührt hatten. Also mußte im Verlagshaus in der Kalverstraat noch mehr über sie zu finden sein. 90
Adrian nahm an, daß während der Mittagszeit die meisten Mitarbeiter in der Kantine säßen und er unbeobachtet im Pressearchiv herumstöbern könnte. Tatsächlich war er dort fast allein, und es dauerte nicht lange, da fand er in den Wochenendbeilagen des Jahrgangs 69 ausführliche Berichte über Wilhelmina Steyn. Seine Freude darüber wurde allerdings bald getrübt. Ein breitschultriger Mann, Mitte Dreißig, hatte die Unverfrorenheit, ihn innerhalb von zehn Minuten zweimal um den Jahrgang 69 zu bitten. Adrian musterte den Zudringlichen von Kopf bis Fuß. Das kantige Kinn, die buschigen Augenbrauen wirkten noch abstoßender als die kratzende Stimme. „Richten Sie sich auf eine halbe Stunde Wartezeit ein“, erwiderte er nach der zweiten Belästigung gelassen, worauf sich der Breitschultrige in eine Ecke verzog, um von dort aus Adrian unablässig zu fixieren. Zwanzig Minuten mochten vergangen sein, da dröhnte Klaas Vermeulens kräftige Stimme durch den schmalen Raum. „Hallo, van Campen! Seit wann befassen sich Kunsthistoriker mit der Gegenwart? Neulich haben Sie mir weismachen wollen, daß Sie nur das siebzehnte Jahrhundert reizen kann.“ „Wie immer kommen Sie im richtigen Augenblick“, sagte Adrian lächelnd und klappte den dickleibigen Band zu. „NACHTEXPRESS-Lektüre schwächt die Nerven. Jetzt hab’ ich eine Aufmunterung verdient. Trinken wir einen Genever?“ „Kommen Sie mit nach oben. Irgendwo muß da noch ein Fläschchen stehen.“ „Was wir trinken, geht auf meine Rechnung.“ „Fotomodell müßte man sein“, seufzte der Reporter. 91
Als sie in seinem Arbeitsraum saßen und das erste Glas getrunken hatten, wurde Vermeulen ernst. „Wir beide sind neulich aneinandergeraten, wegen der Uni-Fotos. Vickbons hat sie nun auf Effekt getrimmt. Wir beide waren dabei, wir wissen, wie es wirklich war. Sind Sie jetzt noch sauer auf mich?“ „Warum sollte ich?“ Adrian warf dem Reporter einen ironischen Blick zu. „Im Zeitungsviertel kommt es stets darauf an, wer den Ton angibt. Klaas Vermeulen kann es sich nicht leisten, Keetenheuve die kalte Schulter zu zeigen. Ich auch nicht. Sie haben zwar keinen Vertrag mit ihm, sind Journalist einer unabhängigen Zeitung …“ „Unabhängig!“ echote Vermeulen. „Lieber Freund, es tut sich was in unserer Branche. Ich wäre von allen guten Geistern verlassen, wenn ich mich gerade jetzt wegen ein paar Fotos stark gemacht hätte.“ Er schaute aus dem Fenster und sah den grauweißen Wolken nach, die vom Wind schnell gegen Osten getrieben wurden. „Es hat keinen Sinn, sich mit Leuten anzulegen, die über kurz oder lang Appetit kriegen könnten, einen mit Haut und Haaren zu verspeisen.“ Er kippte den Genever hinunter. „Darüber zu orakeln ist witzlos. Was haben Sie im Archiv gesucht?“ „Eine wirklich lesbare Story. Geschrieben von Klaas Vermeulen.“ „Da haben Sie aber lange suchen müssen.“ „Ich brauchte nur zwei Jahre zurückzublättern: ‚Wilhelmina Steyn, das Pop-Wunder‘. Flott und unterhaltsam bis auf einen kleinen Fehler, eine falsche Prophezeiung. Wilhelminas Superkarriere fand nicht statt. Warum nicht?“ Der Reporter wiegte den Kopf. „Wer einmal Erfolg hat, verliert leicht die Maßstäbe. Will zu schnell nach 92
oben, dann fängt er an zu stolpern und findet sich ganz unten wieder.“ „Vielleicht hat jemand ein Bein gestellt?“ „Kommt vor, ist aber nicht ausschlaggebend.“ Vermeulen kniff ein Auge zu. „Wer die Leiter hübsch Stufe für Stufe hochsteigt, findet Halt, braucht nicht zu fallen. Wilhelmina Steyn machte sich Illusionen. Sie wollte nicht wahrhaben, daß sie protegiert wurde. Was sie konnte, war beachtlich, fand Publikum. Aber genausoviel konnten hundert andere auch. Nur hatte Wilhelmina die richtigen Leute gefunden, die ihr alle Hindernisse aus dem Weg räumten: Franz van Laar und Phil Vickbons. Wenn die aufs Knöpfchen drücken, dann läuft die Schau, dann ziehen alle mit: TELEGRAAF, Television, Elektrola, SCHAU HIN …“ „… und natürlich auch der NACHTEXPRESS!“ „Kein Grund für uns, Spielverderber zu sein. Das PopWunder kam an, verkaufte sich – ließe sich auch heute noch bestens verkaufen, wenn es sein bißchen Grips besser zusammengehalten hätte.“ „Was hat sie denn falsch gemacht?“ Der Reporter zuckte die Schultern. „Irgendwann fährt der Teufel in so ein Weibsbild. Kaiser hat sie entdeckt, van Laar hat sie für ein paar Wochen nach England geschickt, damit sie den Girls in den Musichalls ihre Masche abguckt, und kurz danach hat er Wilhelmina groß herausgebracht. Unser lieber Phil, der mit seinem Schwager Franz immer am gleichen Strang zieht, hat die Werbetrommel für das Mädchen gerührt. Statt nun den drei Herren recht dankbar zu sein und sie sich zu erhalten, mischt sie sich in deren Privatangelegenheit ein, versucht einen gegen den anderen auszuspielen. Nun ist Fräulein Steyn keine Pompadour und 93
keine Dubarry – also mußte die Sache unweigerlich ins Auge gehen.“ „Wann war das?“ „Knapp ein Jahr ist es her. Neuntes Schlagerfestival in Scheveningen. Große Gartenparty, van Laar feiert mal wieder eine Goldene Schallplatte. Wilhelmina trinkt zwei, drei Glas Sekt zuviel, wird schwatzhaft, und zwar so ausgiebig, daß ihre drei Gönner sie sofort fallenlassen. Ergebnis: kein Titel mehr bei Elektrola, keine Minute mehr bei Television, totale Sperre bei allen Bands.“ „Ist die Reaktion nicht zu hart? Was konnte sie schon groß ausplaudern?“ Vermeulen grinste. „Wer jung ist, eine gesunde Portion Sex ausstrahlt, wird leicht intim mit den Leuten vom Bau. Wie intim sie mit Vickbons geworden ist, weiß ich nicht. Mit Kaiser war sie lange liiert, und van Laar ist auch kein Kostverächter. Beim intensiven Kennenlernen erfährt man ganz von selbst eine Menge über den anderen, Tratsch, Seelennöte, aber auch Fakten. Oft sogar brisante Fakten. Genug, um damit die Klatschspalten zu füllen. In Scheveningen waren Leute, denen zuckte es in den Fingern, die Fakten publik zu machen.“ „Taten sie es nicht?“ „Storys von dieser Sorte verkauft man an den, der am meisten dafür bietet.“ „Also an Vickbons?“ „Genau. Seitdem gibt es kein Pop-Wunder mehr. Dafür aber etwas viel Anmutigeres, Liebe 70 mit dem unerschrockenen Adrian und der schönen Antje.“ Das Telefon schrillte. Vermeulen meldete sich. „Wann soll es über die Bühne gehen? Morgen? Natürlich sind wir dabei. Eine Galaparty läßt sich der NACHTEXPRESS nicht entgehen. Darf ich noch einen 94
Verehrer Ihrer Kunst mitbringen? Einen jungen Helden, dem ganz Amsterdam zu Füßen liegt? Ja? Erraten? Dem Gastgeber ein kräftiges Toitoitoi!“ Der Hörer landete krachend auf der Gabel. Vermeulen begann in den Schubfächern des Schreibtisches herumzukramen und fragte wie beiläufig: „Prinzengracht siebzehn kennt wohl jeder Kunsthistoriker?“ „Nummer siebzehn? Das kann nur dies Patrizierhaus sein, das ganz aus dem Rahmen fällt. Kein Barockpalast wie ringsum die benachbarten Häuser, altholländische Backsteine ohne jede Unterbrechung durch Natursteine. Zwei Schornsteine, die wie Kanonen aussehen.“ „Bravissimo! Als Fremdenführer wären Sie brauchbar. Nummer siebzehn also, ein apartes Eigenheim für Ästheten und Snobs. Sie haben es bestimmt schon von innen gesehen?“ Adrian winkte ab. „Das ist schon Jahre her. Der Besitzer war gerade gestorben.“ „Morgen abend gibt der neue Hausherr seinen Einstand: Seine Hoheit, Franz van Laar, Musenkönig von Schnulzens Gnaden.“ „Keine schlechte Schlagzeile.“ „Aber schlecht unterzubringen. Sie werden sich die Fete doch nicht entgehen lassen?“ fragte der Reporter vertraulich. „Soll ich mich selbst einladen?“ „Ich nehme Sie mit. Der Hausherr ist bereits informiert, er rechnet mit Ihrem Kommen.“ Vermeulen faßte sein Gegenüber fest ins Auge. „Wer sich für Wilhelmina Steyn interessiert und für das Paradiso, für den sind van Laar und Dick Kaiser doppelt wichtig. Wetering hat in den letzten Wochen Dinge recherchiert, denen Sie auf die Spur kommen möchten.“ 95
„Warum zerbrechen Sie sich meinen Kopf?“ Adrian stand auf und machte Miene zu gehen. „Ich habe Sie nicht gebeten, mir zu helfen.“ „Wie sollten Sie auch.“ Vermeulen verzog die Lippen. „Akademiker bleiben lieber unter sich. Menschenskind, merken Sie denn nicht, daß dieser Doktor Kroon Sie keinen Schritt weiterbringt? Wie kann ein Anwalt, der sich für Provos und linksradikale Studenten stark macht, ausgerechnet Ihnen nützlich sein? Solch einer steht draußen vor der Tür.“ „Und wo stehen Sie, Vermeulen?“ „Mittendrin!“ „Auf welcher Seite?“ „Auf der Seite der Wahrheit!“ „Solange sie gut bezahlt wird?“ „Für Sie arbeite ich auch ohne Honorar, van Campen. Ich hab’ schon immer eine Schwäche gehabt für Leute, die nicht lockerlassen. Deshalb nehm’ ich Sie mit in die Prinzengracht.“
Das Patrizierhaus war festlich erleuchtet. Zwei Diener in altväterischer Livree, Pechfakeln in den Händen, flankierten den Treppenaufgang. Ein Page nahm Adrian und Vermeulen die Mäntel ab und führte sie in eine mit schwarzen und weißen Fliesen ausgelegte Vorhalle. Auf den ersten Blick wirkte die gesamte Innenarchitektur wie mit dem Lineal gezogen, überall rechte Winkel und glatte Flächen, es gab keine barocken Schnörkel, keine Dekors. „Schlicht und geradlinig, glasklar und nüchtern – wie die Musik des Hausherrn“, murmelte der Reporter. Franz van Laar erwartete seine Gäste in einem Raum mit dunkler Holztäfelung und Parkettfußboden. Der Page 96
hatte kaum die Tür geöffnet, da erhob sich hinter dem Flügel ein schlanker Mann im Smoking, strich sich mit einer betonten Geste die weißblonden Strähnen aus der Stirn und ging den Ankömmlingen entgegen. Das Zimmer war weiträumig, und Adrian hatte Gelegenheit zu beobachten, wie seltsam der König der leichten Muse sich vorwärts bewegte. Eigentümlich unelastisch war dieser Gang. Die Füße schleiften fast auf dem Boden, die Oberarme blieben steif, während die Unterarme beim Gehen vor- und zurückschlenkerten. „Großartig, daß Sie meiner Bitte gefolgt sind und etwas früher kommen“, begrüßte er den Reporter. „Ehe die anderen Gaste eintreffen, haben wir so noch Zeit füreinander. Und wie nett, daß Sie Herrn van Campen mitgebracht haben.“ Er schüttelte Adrian die Hand. „Seit der ersten Folge zähle ich zu den Freunden von Liebe 70. Ein natürliches und herzerfrischendes Paar, Ihre Partnerin und Sie. Wie oft habe ich Phil gebeten, uns einmal bekannt zu machen. Aber eifersüchtig schirmt mein Schwager Sie gegen alles ab, was mit Schaugeschäft zu tun haben könnte. Ein großer Wurf, diese Story, nur weiter so!“ Laar wartete auf eine Reaktion seines Gastes, aber Adrian verspürte keine Neigung, auf die Komplimente einzugehen. „Wenn ich richtig informiert bin“, fuhr der Komponist fort, „interessieren Sie sich besonders für Patrizierhäuser des siebzehnten Jahrhunderts.“ Adrian nickte. „Wenn man sechs Semester studiert hat, wird es Zeit, sich auf ein Spezialgebiet zu konzentrieren.“ „Ein prachtvolles Thema, das Sie da unter den Fingern haben.“ Van Laar ereiferte sich, sein Gesicht bekam einen schwärmerischen Zug. „Barock! Eine Welt der Geschlossenheit, der Kraft, des Wissens um die Werte des 97
Lebens und um seine Vergänglichkeit. Überall findet das in der Kunst des siebzehnten Jahrhunderts seinen Niederschlag.“ Er wies mit ausgestrecktem Arm auf den Flügel. „Dies Instrument ist hier im Grunde genommen völlig deplaziert. Ein Cembalo müßte da stehen, wird es später auch – aus italienischer Zypresse –, und dann werden Madrigale und Motetten im Stil der Vivaldi, Scarlatti, Rameau und Monteverdi erklingen. Prinzengracht siebzehn, das soll ein Modell werden. Ein Gegengewicht zu dem hektischen, unwesentlichen, überspannten Leben, das wir heute leider zu führen gezwungen sind. Sie ahnen, was mir vorschwebt, Herr van Campen?“ Er warf Adrian einen seelenvollen Blick zu. „Reinheit des Stils, innere und äußere Harmonie.“ „Groß geplant, Herr van Laar.“ Vermeulen zog die Stirn kraus. „Ich frag’ mich nur, ob der Markt Ihnen das auf die Dauer auch honorieren wird.“ „Den Markt lassen wir in diesem Hause erst gar nicht über die Türschwelle, mein Lieber!“ Laar legte den Arm vertraulich um die Schulter des Reporters. „Wer mich hier aufsucht, in meinem ‚Bueno retiro‘, der legt in der Garderobe alles ab, was ihn noch an den Markt fesselt.“ Er führte seine Besucher in die oberen Räume. „Hier möchte ich endlich ganz für mich sein – entfernt, aber nicht getrennt von den Wurzeln, die uns nähren.“ Sie traten in das hellste Zimmer des Hauses, es lag nach Südosten zu. Ein Notentisch, eine große Genemuider Strohmatte, taubengraue Tapeten, ein breiter gewichtiger Sessel mit Blumenmuster, eine silberne Stehlampe und drei mehrflammige Messingleuchter auf einer Konsole, das war die gesamte Einrichtung. Doch durfte man den Wandschmuck nicht ausklammern, er war sehenswert. 98
Van Laar schmunzelte. „Nun, wie gefällt Ihnen mein Studio?“ Adrian glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Möglich, daß van Laar eine kleine Galerie alter Meister besaß, aber ausgeschlossen, daß dazu der „Schalksnarr“ und das „Zigeunermädchen“ von Frans Hals und Vermeer van Delfts „Atelier“ gehörten. Die Originale hingen im Louvre, im Rijksmuseum und in Berlin. „Frisch von der Leber weg, Herr van Campen! Wie gefällt Ihnen mein ‚Schalksnarr‘?“ „Ich halte nichts von spontanen Urteilen“, erwiderte Adrian und trat zu dem Gemälde. „Ein bißchen Zeit müssen Sie mir schon gönnen … Es ist Frans Hals’ Manier, und sie ist es auch wieder nicht“, meinte er nach einer Weile. „Das Original, ich habe es selbst in Paris gesehen, ist ein prächtiger Bursche in bunter Faschingstracht und fordert jeden Betrachter auf, lustig zu sein in seiner lockeren Gesellschaft. Auch der hier hat einen Blick, der zum Fröhlichsein animiert. Wie er zur Laute singt, das ist gekonnt. Aber alles in allem singt und lacht er nicht, wie man sechzehnhundertsiebzig sang, sondern eher wie um neunzehnhundertsiebzig.“ „Eine gute Expertise.“ Der Hausherr lächelte selbstgefällig. „Wäre ich Ihr Professor, Sie hätten Ihr Examen schon in der Tasche. Ja, das ist Pieter Huigens, umschwärmt von Teenagern, unser ‚Übermütiger Vagabund‘. – Sie erinnern sich noch an meinen Hit des Jahres achtundsechzig? Hundert Arbeitsstunden haben dem Maler nicht gereicht, um ihn in Frans-Halsscher Manier als ‚Schalksnarr‘ zu porträtieren.“ Ein Diener unterbrach das Gespräch. „Konsul Leuckwart und Mynheer Keetenheuve.“ 99
„Ich muß in der Vorhalle die Honneurs machen, schauen Sie sich nur alles in Ruhe an.“ Durch die offene Tür konnte Adrian sehen, wie die Gäste in die Vorhalle strömten. Sie bewegten sich mit der Ungezwungenheit alter Freunde und Bekannter. Flure und Zimmer waren schnell von Stimmengewirr erfüllt. Van Laar begrüßte die Ankommenden, strahlend lächelnd, und wechselte mit jedem einige Worte. Zwar waren alle geladen, aber während er mit ihnen sprach, erweckte er den Eindruck, als sei er glücklich wie über eine unerwartete Begegnung. „Hab’ ich zuviel versprochen?“ erkundigte sich Vermeulen grinsend. „Ist König Franz mit seinem Hofstaat nicht sehenswert?“ Adrian zog den Reporter zu dem Prachtstück der Laarschen Sammlung, zu einer Poussin nachempfundenen ‚Inspiration des Dichters‘. „Selbstherrlicher geht’s nimmer“, sagte er. „Letztes Jahr, als ich nach Paris trampte, habe ich das Original im Louvre gesehen. Es stellt einen jungen Dichter dar, der in Gegenwart Apollos von der Muse mit einem Lorbeerkranz gekrönt wird. Die Erhabenheit künstlerischen Schöpfertums, das ist die Aussage. Auf diesem Konterfei ist allerdings alles so verwässert, daß man dem Musensohn van Laar nur sein Beileid aussprechen kann.“ „Ich schrei’ gleich vor Freude!“ Vermeulen hatte die Brille aufgesetzt und beäugte die Gesichter der Muse und des Dichters. „Franz van Laar als gottbegnadeter Künstler – und als Muse: Wilhelmina Steyn.“ „Das ist wirklich eine Überraschung“, meinte Adrian lachend. „Dann dürfte diese Inspiration vor dem Festival in Scheveningen entstanden sein.“ 100
„Anzunehmen. Aber wenn er sich heute noch mit ihr in seinem Allerheiligsten zur Schau stellt, ist ein Comeback dieser Dame nicht ausgeschlossen.“ Sie stiegen langsam die Treppe hinunter und gesellten sich zu den anderen, die mit einem Cocktail- oder Sektglas in der Hand auf und ab promenierten, sich zu kleineren Gruppen zusammenfanden, die Gläser füllen ließen oder am kalten Büfett Leckerbissen auf die Teller häuften. „Schauen Sie mal unauffällig zum Kamin ’rüber“, flüsterte Vermeulen. Adrian erkannte in der Ecke die weißhaarige Löwenmähne des Verlegers Keetenheuve. Neben ihm stand, ins Gespräch vertieft, ein hagerer Sechziger mit rosiger Glatze und scharf vorspringender Nase. Seine Physiognomie ähnelte der eines bejahrten Geiers. Gerade winkte er gebieterisch nach einem Sektglas. Im selben Moment erspähte er Vermeulen. „Machen wir Jan van Laar pflichtschuldigst unsere Aufwartung“, sagte der Reporter. „Um ihn kommt man nicht herum.“ Jan van Laar schüttelte Adrian herzlich die Hand. „Den jungen Helden von Liebe 70 brauchen Sie mir nicht vorzustellen, Vermeulen. – Mein Sohn hat Sie mir als Sachverständigen in Fragen Patrizierhäuser gerühmt“, wandte er sich an Adrian und schmunzelte gönnerhaft. „Für Sie als Kunstenthusiast mag das Haus ja eine Augenweide sein, und Keetenheuve meint, bei unserer Prominenz würde es bald Schule machen, sich in AltAmsterdam einzuquartieren. Meine Ansicht ist, habe ich Appetit auf ein Museum, zahle ich ’nen Gulden Eintritt. Wohnen würde ich nie darin.“ „Ich kann Sie verstehen, Herr van Laar“, stimmte Vermeulen ihm zu. „Wer so idyllisch wohnt wie Sie, 101
weit ab vom Schuß, mit Blick auf Wolken und Wasser, das Geplätscher der Zuidersee im Ohr …“ „Ja, ja, mein Lieber, Dixmuiden ist nicht zu übertreffen.“ Jan van Laar nickte. „Als Franz und ich uns dort anbauten, hatten wir uns geschworen, nie mehr das Terrain zu wechseln. Und kaum sind ein paar Jahre ins Land gegangen, da entdeckt mein Filius seinen Hang fürs Stilvoll-Aristokratische.“ „Vergessen Sie nicht die Publicity des Wohnwechsels“, schaltete sich Keetenheuve ein. „Die Frauenseiten der großen Blätter, die Teenager-Hefte, alle werden Bildreportagen bringen.“ „Publicity, mein lieber Keetenheuve, ist unbestritten Ihr Metier.“ Jan van Laar verbeugte sich leicht. „Da will ich nicht mitreden.“ Der SCHAU-HIN-Verleger lachte spöttisch. „Und ich habe mir immer eingebildet, Sie feierten bald das vierzigjährige Jubiläum in unserer Branche.“ Jan van Laar ließ sich ein neues Glas reichen. „Höchste Zeit, mich zurückzuziehen und meine Memoiren zu schreiben. Was halten Sie von dem Titel ‚Gebt mir mein Lehrgeld zurück‘?“ Er lachte laut auf, und Vermeulen stimmte in das Gelächter ein. „Papa, ich muß dir Herrn van Campen für einen Augenblick entführen.“ Franz van Laar führte Adrian den Flur entlang und öffnete die Tür zu einem kleinen Kabinett. „Ich habe etwas auf dem Herzen.“ Er bat Adrian, auf einem Bänkchen Platz zu nehmen. „Phil hat mir erzählt, was sich alles abgespielt hat in Ihrem Seminar. Der Vandalismus dieser aufgeputschten jungen Leute, der ohne jede Achtung vor Kunst und Wissenschaft die Früchte jahrelangen Forschens gefährdet, hat mich zutiefst bewegt.“ 102
Adrian sah seinen Gastgeber verwundert an. Der Mann verfügte über ein vielseitiges Repertoire. Vor kaum einer halben Stunde spielte er den Wiedererwecker des Barocks, jetzt den besorgten Staatsbürger. „Was hat Sie denn so bewegt, Herr van Laar?“ fragte er trocken. „Die Triebkräfte, die hier deutlich werden. Herr van Campen, als ich so alt war wie jene Provos, da hab’ ich auch rebelliert, und ich war nicht allein. Meine Freunde und ich, auch wir standen auf gegen das Althergebrachte, gegen Spießer und was denen lieb und teuer war. ‚Epatez le bourgeois!‘ war unser Schlachtruf. Dem braven Bürger sollte es gruseln, wenn er uns sah. Nein, auch wir waren keine Lämmer. Dennoch: Wir empfanden sozial, wir waren keine Anarchisten. Was aber tun diese Provos? Sie zerstören zügellos, ohne Sinn und Verstand. Sie lieben nichts, sie kennen nichts als den furchtbaren Haß. Haß gegen die Welt der Väter. ‚Trau keinem über dreißig‘, das ist ihr Motto, und darin liegt zugleich ihre Tragik. Wir alle, Vickbons, Keetenheuve, die meisten unter meinen Gästen, Vermeiden nicht ausgenommen, sind nicht schuldlos an dieser Entwicklung. Wir haben uns viel zu sehr uns und unseren Geschäften gewidmet. Wir haben die Augen verschlossen vor dem, was da heranwuchs. Auch meine Hippiefreunde sind Kinder dieser Zeit, allein gelassen von uns, ohne Wissen, worauf es ankommt in dieser Welt. Auch ihre Existenz ist wie die der Provos letztlich tragisch. Und weil Tragödie und Musik Schwesterkünste sind, hat mich die Idee nicht mehr losgelassen, ein tragisches Musical zu komponieren, ein Tragical, das diesen Konflikt zum Thema hat. Die Verlorenheit der Jugend soll das zentrale Motiv werden. Herr van Campen, Sie ken103
nen diese Verlorenen besser als ich, kennen ihre Sprache, ihre Wertvorstellungen, ihre Leiden und Süchte. Sie sollen mein Berater werden, als Sachverständiger sozusagen.“ „Ich habe wenig Zeit“, sagte Adrian. Er hatte Mühe gehabt, während der langen Ansprache ernst zu bleiben. „Ich weiß, was Sie alles beschäftigt.“ Der Komponist nickte verständnisvoll. „Sie sind verlobt mit einem der reizvollsten Mädchen dieser Stadt, mein Schwager stiehlt Ihnen viel von Ihrer freien Zeit, und gegenwärtig stehen Sie noch ganz unter dem Eindruck des Todes von Erven Wetering. Glauben Sie mir, auch mich hat die Nachricht von dem tragischen Unfall zutiefst erschüttert, auch ich wehre mich heute noch gegen den Gedanken, daß ein so untadeliger Sportsmann plötzlich die Kontrolle über sich und sein Boot verloren haben soll.“ „Verstehen Sie etwas vom Segeln, Herr van Laar?“ fiel Adrian ihm ins Wort. Der Hausherr ließ einige Augenblicke verstreichen, ehe er antwortete. „Verstehen, das ist ein gefährliches Wort. Ich verstehe etwas von Musik, von dem, wonach sich die Menschen sehnen. Beim Segeln stehe ich meinen Mann, wenn es darauf ankommt. Mich mit Wetering zu messen wäre mir nie eingefallen, er war ein Könner. Übrigens verbinden uns viele gemeinsame Erinnerungen. Gerade die letzten Gespräche im Paradiso gaben mir die Gewißheit, daß ein Journalist durchaus fähig ist, in die schwierige Sphäre unserer leichten Muse einzudringen. Wetering war den Zusammenhängen auf der Spur, die Inspiration, Produktion und Konsumentenpsychologie aneinanderketten. Hätte er nur alles in Ruhe zu Papier bringen können, wäre es ein großer Erfolg geworden, ein Erfolg wie Liebe 70.“ 104
Van Laar hatte hastig geredet, als müsse er etwas loswerden. „Aber halten wir uns an das Zukünftige“, sagte er nun mit Nachdruck. „Wie gefällt Ihnen mein Plan? Finden Sie nicht, daß die Zeit reif ist, für ein solches Tragical?“ „Wie stellen Sie sich eine Zusammenarbeit denn vor?“ fragte Adrian. „Das liegt bei Ihnen, junger Freund.“ Van Laar erhob sich. „Ich will heute noch kein Ja von Ihnen hören. Beschlafen Sie die Sache, und seien Sie versichert, daß ich meinem Schwager nicht ins Gehege kommen werde. Rufen Sie mich bis Ende der Woche an, und sagen Sie mir, ob Sie grundsätzlich bereit sind.“
Lange hatte Dr. Kroon seinem Besucher zugehört, ohne ihn zu unterbrechen. Als Adrian aber auf Klaas Vermeulen und den NACHTEXPRESS zu sprechen kam, stand der Anwalt abrupt auf. „Ich hatte mir unsere Zusammenarbeit anders vorgestellt, Herr van Campen“, sagte er ungewöhnlich heftig. „Als Sie mich das erste Mal besuchten, glaubte ich, Sie brauchten meinen Rat und meine Hilfe. Statt dessen reden Sie mit diesem und jenem und vergrößern dadurch nur den Kreis der Eingeweihten.“ Er verschwand im Nebenraum und kam mit drei Schnellheftern zurück, die bis zum Bersten mit Zeitungsausschnitten gefüllt waren. „Was Ihnen das NACHTEXPRESS-Archiv, Klaas Vermeulen und der imitierte Poussin über Wilhelmina Steyn erzählt haben, hätten Sie von mir schneller erfahren können.“ Adrian biß sich auf die Lippen. Als er jedoch die ersten Seiten des Materials überflogen hatte, schwand sein Unmut. 105
„Wie sind Sie bloß daran gekommen?“ fragte er erstaunt. Dr. Kroon lächelte. „Ich bin bei vier Ausschnittsdiensten abonniert. Ohne ein Pressearchiv ist unsereins aufgeschmissen. Wer mit wem – das ist meist die Kardinalfrage.“ „Van Laar und SCHAU HIN waren es, die Wilhelmina aufbauten. Warum sind sie nun nicht mehr an ihr interessiert?“ Dr. Kroon wiegte den Kopf. „Wenn man einen Star fallenläßt, der sich blendend amortisiert, müssen schwerwiegende Gründe vorliegen. Vielleicht hat gerade dies Ihren Freund Wetering auf den Gedanken gebracht, sich für die Geschäftspraktiken des Herrn van Laar zu interessieren. Hat er Ihnen nie erzählt, worauf diese Paradiso-Interviews mit Komponist und Arrangeur hinauslaufen sollten?“ „Erven sprach kaum über seine Arbeit. Seine Ansicht war: Erst wenn eine Geschichte gedruckt sei, habe es Sinn, darüber zu reden.“ „Was wußte Wilhelmina eigentlich konkret?“ „Sie machte nur Andeutungen. Wetering sei einer zweifelhaften Sache auf der Spur gewesen, und das sei ihm zum Verhängnis geworden. Sein Tod habe gewissen Leuten gut in den Kram gepaßt. Wetering habe den Jachtclub zwar allein verlassen, aber ein zweiter Mann könne trotzdem später an Bord gegangen sein. Anlegestege gebe es genug. Beispielsweise in Dixmuiden.“ „Wieder der zweite Mann?“ Der Anwalt blätterte im Kalender. „Noch zehn Tage, bis der Sporttaucher zurück ist, der zwei Mann an Bord gesehen haben will.“ „Bei der Einstandsparty in der Prinzengracht hab’ ich ein bißchen die Ohren gespitzt“, sagte Adrian. „Irgendwann kam das Gespräch auch auf Dixmuiden. Zufällig 106
besitzt Franz van Laar dort einen Bungalow, und zufällig ist er auch ein passionierter Segler.“ „Franz van Laar als der zweite Mann an Bord?“ Der Anwalt wiegte den Kopf. „Wenn Wilhelmina gerade ihn verdächtigt, so kann man wohl kaum von Zufall reden.“ „Daß sie unmittelbar nach dieser Verdächtigung spurlos verschwand, ist erst recht keiner.“ „Warum erfahre ich das jetzt erst?“ „Ich wollte die Sache auf eigene Faust ergründen.“ „Sie überschätzen Ihre Möglichkeiten, Herr van Campen. Mittel und Wege, einen neuen Aufenthaltsort schnell herauszufinden, stehen einem Einzelgänger kaum zur Verfügung. Oder wissen Sie inzwischen, wo sich Fräulein Steyn aufhält?“ „Noch nicht.“ „Unter Umständen kann Wilhelmina als Zeuge wichtiger sein als dieser Sporttaucher. Unterstellen wir einmal, Wetering sei einem Verbrechen zum Opfer gefallen, dann kennt Wilhelmina möglicherweise das Motiv. Aber nun ist sie über alle Berge. Oder haben Sie Anhaltspunkte?“ „Ich habe versucht, mich im Archiv des NACHTEXPRESS über sie zu informieren.“ „Das war ein Fehler.“ Dr. Kroon trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. „Wenn Sie sich um Helfer bemühen, warum ausgerechnet bei der Presse? Der Reporter Vermeulen beispielsweise erfährt als erster, daß Sie nicht an einen Segelunfall glauben. Seitdem läuft er Ihnen dauernd über den Weg. Er wird schon wissen, warum er Ihnen eine Einladung für diese Party verschafft hat.“ Adrian blickte Dr. Kroon unsicher an. „Ich hatte bis jetzt den Eindruck, er wolle mir helfen.“ 107
„Helfen will er auf jeden Fall!“ Der Anwalt lachte bissig. „Fragt sich nur wem. Vielleicht steht er im Dienste der Leute, die die Aufklärung von Weterings Tod verhindern wollen. Überlegen Sie einmal, was das für Gesellschaftskreise sein können, die den wahrheitsliebenden Außenseiter Wetering fürchteten. Provos? Hippies? Radikale Studentengruppen? Oder die Herrschaften, die sich daran gewöhnt haben, uns Sand in die Augen zu streuen, uns mit Surrogaten zu füttern – die Herren vom Establishment?“ „Kommen wir ohne Schlagworte nicht aus?“ „Warum stört Sie der Begriff?“ „Weil ich ihn satt habe. An jeder Seminarwand kleben die Aufklärungsparolen unserer Roten Zellen. Das Establishment ist unser Königshaus, sind die Banken und Wirtschaftskapitäne, die Massenmedien, der Beamtenapparat und alle anderen, die hierzulande den Ton angeben. Gehört vielleicht auch das NEUE MAGAZIN dazu, das seit Jahr und Tag Erven Weterings scharfe Attacken brachte und sich einen Haufen Verleumdungsklagen einhandelte? Ich wehre mich dagegen, daß alles, was den Radikalen nicht paßt, in einen großen Topf geworfen wird. Das ist mir zu billig.“ „Haben Sie sich schon einmal überlegt, warum Sie an der Universität nicht weiterkommen mit Ihrer Studienreform? – Welchen Namen würden Sie der Wand geben, gegen die Sie immer wieder vergeblich anrennen?“ „Engstirnigkeit, Mangel an Weitblick, Angst vor durchgreifenden Veränderungen, Kultur als Stiefkind des Etats …“ „Bleiben wir ruhig beim letzten Punkt. Wer weigert sich, Ihnen das Geld zu bewilligen, das Sie so nötig brauchen?“ 108
„Natürlich die, die es haben.“ Adrian lachte. „Womit wir wieder bei den Kapitalisten oder dem Establishment gelandet wären. Bitte schön, sollen Provos und linke Studenten diesen Klüngel bekämpfen. Ich bin mit ihm weder verschwistert noch verschwägert.“ „Immerhin werden Sie zur Zeit von ihm bezahlt.“ „Das mußte kommen.“ Adrian verzog ironisch die Mundwinkel. „Solange Wetering Liebe 70 schrieb, konnte ich das Honorar mit gutem Gewissen kassieren. Seit Vickbons Regie führt, möchte ich jeden Tag aussteigen. Warum das unmöglich ist, wissen Sie.“ „Ich wollte Sie nicht kränken. Ich wollte Sie nur auf die Zusammenhänge hinweisen. Wenn Sie Fragen über Personen haben, kommen Sie zuerst zu mir. Mein Archiv steht Ihnen zur Verfügung!“ „Ich habe schon jetzt eine Frage. Wer ist eigentlich dieser Jan van Laar? Vermeulen hofiert ihn, Keetenheuve spricht mit ihm wie mit seinesgleichen, und Phil Vickbons zog sich nach Mitternacht mit ihm in die hinteren Räume zurück.“ „Sieh an, der Geier taucht wieder aus der Versenkung auf. Bei diesem Herrn brauche ich das Archiv nicht zu Rate zu ziehen. Wir hatten vor Gericht schon öfters das Vergnügen. Seine Personalien: Jahrgang neunzehnhundertzehn, Handelsschule, Kaufmannslehre abgebrochen, danach Volontär beim Daily Mirror in der Londoner Fleetstreet, in den dreißiger Jahren Rückkehr nach Holland und Heirat mit einer Dame zweifelhaften Rufes. Mit ihrem Kapital gründet er einen Zeitungsverlag für okkulte Schriften, steigt um in die Werbebranche, ist ab und an in unsaubere Affären verwickelt, übersteht die bittere Zeit von vierzig bis fünfundvierzig, ohne daß ihm und seiner Familie ein Haar gekrümmt wird, und läßt sich 109
nach dem Abzug der Faschisten als Widerstandskämpfer feiern. Finanziert später Fotomagazine mit Nackedeis, lanciert seinen Sohn Franz mit Startkapital ins Schaugeschäft und verheiratet sein verwöhntes Töchterlein Claire mit Philipp Vickbons.“ „Und was macht er zur Zeit?“ Der Anwalt zuckte die Schultern. „Man munkelt so manches. Die Zeit für Verlags-Neugründungen ist nicht günstig. Mit SCHAU HIN zu konkurrieren wird er nicht erwägen. Doch auch diesem Mammutunternehmen sind Grenzen gesetzt. In Kürze tagt ein Parlamentsausschuß über Fragen der Pressekonzentration. Jan van Laar wird noch abwarten.“ „Und warum bemüht sich Vermeulen um Jan van Laar?“ „Die Auflage vom NACHTEXPRESS sinkt. Ich könnte mir denken, daß Vermeulen damit liebäugelt, demnächst für SCHAU HIN zu arbeiten. Da wäre es ganz natürlich, sich bei Vickbons’ Schwiegervater einzuschmeicheln. Sie sehen, von ihm ist wirklich keine Hilfe zu erwarten.“ „Was soll ich Ihrer Meinung nach tun?“ fragte Adrian. Dr. Kroon überlegte eine Weile. „Mit organisierten Gruppen wollen Sie nicht zusammenarbeiten“, sagte er schließlich. „Bleiben also nur Einzelgänger. Mit wem waren Sie denn im Paradiso?“ „Mit einem Kommilitonen. Kennen Sie Jakob Breda?“ „Aber natürlich.“ Der Anwalt nickte. „Ein heller Kopf. Zuverlässig und vor allem verschwiegen.“
Am Spätabend des achten Juli fiel ein feiner Sprühregen. Straßenbahngleise glänzten in der Dunkelheit, Feuchtigkeit und Finsternis beherrschten das Hafenviertel. 110
Adrian stand an der Toreinfahrt eines Speichers und wartete auf Breda. Es roch nach Lebertran und Stockfisch, doch Adrian war in den letzten Nächten weit unangenehmeren Gerüchen ausgesetzt gewesen. Sie hatten die Treffs und Kollektivbehausungen unzähliger Provos und Hippies durchgekämmt, in der Hoffnung, einen Hinweis über den Verbleib von Wilhelmina Steyn zu erhalten. Die Landebrücken streckten ihre braungeteerten Planken in die Zuidersee; an einigen lagen Binnenschiffe. Trotz der Nachtschwärze waren die Kähne am gegenüberliegenden Ufer noch in Umrissen zu erkennen. Drüben wurde eine Fähre losgemacht, langsam glitt sie näher. Ein vertrauter Pfiff ertönte. Adrian eilte zur Anlegestelle und begrüßte Jakob Breda. „Möglich, daß es sich heute nacht lohnt“, sagte Breda und zeigte auf einen kleinen Ewer, der fest vertäut hin und her schlingerte. „’ne Viertelstunde von hier, am Brouwerkai, liegt so’n ähnlicher Pott. Auf dem kampieren Tramps, die gerade von ’ner kleinen Reise zurück sind.“ Sie gingen die Kais entlang, vorbei an den weißen Pfählen und den Ankerbojen, auf denen am Tage ganze Möwenschwärme schaukelten. „Das erste Ergebnis unserer Fotoaktion liegt vor“, berichtete Breda. „Vier Bilder hattest du mir gegeben. Einen dieser Schläger, den Kerl mit dem Gesicht voller Narben, haben wir ausgemacht. Cornelis, du kennst ihn doch noch aus der Palmengracht …“ „Der mit der Hasenscharte? Der den desertierten GI als seine Braut ausgegeben hat?“ „Ja, der Cornelis hat ihn zuerst wiedererkannt und ist ihm ein bißchen auf den Fersen geblieben. Das Nar111
bengesicht muß im Hafenviertel wohnen, zwischen Tasman- und Taanstraat. Genaues Quartier muß noch ermittelt werden. Letzten Sonnabend hat er sich flott in Schale geschmissen und ist ins Trianon am Leidseplein. Hatte dort einen Treff.“ „Mit wem?“ „Cornelis meinte, der andere wäre ein Typ gewesen, den man sofort ins Herz schließt. Breitschultrig, kantiges Kinn, buschige Augenbrauen, so Mitte Dreißig. Vom Gespräch der beiden hat unser Mann nichts mitgekriegt. Plötzlich war Narbengesicht verschwunden. Also hängt sich Cornelis an den anderen und bleibt bis Dixmuiden auf seiner Spur. Dort am Strandweg, wo ’ne Menge Prominenz wohnt, schlägt der Breitschultrige Haken und hängt Cornelis ab. Sollen wir den in Zukunft auch beschatten, wenn er uns über den Weg läuft?“ „Gerade der ist wichtig, der ist mir neulich schon aufgefallen. Eventuell ist er wichtiger als der mit den Narben.“ „Sehr sicher ist so eine Personenbeschreibung nicht. Ein Foto wäre besser.“ „Vielleicht ergibt sich das in den nächsten Tagen.“ „Wir bleiben auf jeden Fall dran. Einen von der Bande kaufen wir uns schon noch. So, da liegt der Pott, den wir suchen.“ Nichts auf dem Ewer verriet, daß sich um diese nächtliche Stunde jemand an Bord aufhielt. Breda ließ eine Taschenlampe aufblinken, sprang an Deck und zog Adrian hinter sich her bis zu der Stelle, wo eine schmale Stiege hinunter in den Schiffsrumpf führte. Unten roch es muffig und säuerlich. Der Lichtkegel der Lampe huschte über fünf bärtige Gestalten, die in Persennings eingewickelt auf dem Boden schliefen. 112
„Ist was?“ knurrte einer schlaftrunken und rieb sich die Augen. „Keine Bleibe mehr für euch, zieht weiter!“ Breda lachte, „’ne Bleibe ist das letzte, was wir suchen. Nun sperr schon deine Äuglein auf.“ Er zog ein Röhrchen aus seinem Regenmantel. „Na, wie steht’s? Ganz frische Ware, zu Schleuderpreisen.“ „Völlig blank, keinen lumpigen Cent mehr“, maulte der Junge vor sich hin. „Halber Cent pro Pille, Einführungspreis bis drei Uhr früh. Welcher Muffel verpennt eine solche Chance?“ Breda klatschte in die Hände. „Zur Kasse, Leute, zur Kasse!“ Er gab Adrian die Lampe, und der leuchtete ungeniert die Gesichter der Schlafenden ab. Fluchend und stöhnend richtete sich einer nach dem anderen auf. „Der Boy hat sie nicht alle!“ schimpfte der Bursche, der zuerst wach geworden war. Er riß Jakob das Röhrchen aus der Hand, schüttete eine Tablette auf den Handrücken und beäugte sie kritisch. „Scheint was zu taugen.“ „Das Zeug gehört euch, wenn ihr eure Köpfe ein bißchen anstrengt.“ Adrian ließ Aufnahmen von Wilhelmina reihum gehen. „Wem ist die Frau in den letzten Tagen über den Weg gelaufen?“ „Wegen ’ner Mieze schlägt der mitten in der Nacht Alarm!“ Kopfschüttelnd betrachtete ein Strubbelkopf die Bilder. „Mußt ja mächtig scharf sein auf die Biene. Was spuckst du denn aus für ’nen Tip?“ „Kommt ganz drauf an.“ „Was ist, wenn ich zu den Fotos noch eins dazulege? 113
Eins, das du bestimmt nicht kennst, weil’s ganz neu ist. Mit Straße und Hausnummer.“ „Meinst du eine Amsterdamer Straße?“ Der Strubblige grinste. „’n paar hundert Kilometer mußt du schon schaffen, wenn dir so viel am Wiedersehen liegt.“ „Okay“, sagte Adrian. „Drei Zwanziger.“ Der Junge wühlte einen schmutziggrauen Beutel unter der Persenning hervor, kramte darin und förderte endlich ein mehrfach zusammengefaltetes Papier ans Licht. „Fünf Zwanziger, sonst wird nichts draus.“ Adrian zog vier Scheine aus seiner Brieftasche. „Garantiert keine Blüten, Freunde!“ Breda leuchtete jeden 20-Gulden-Schein ab „Laß sehen, was du zu bieten hast.“ Der Junge faltete das Papier auseinander. „Wenn sie das nicht ist, lass’ ich mich hängen. In Hamburg, Nähe Hauptbahnhof, da läuft so ’ne breite Straße ’runter, eine Nahkampfdiele neben der anderen, paar Spielklubs auch. Und vor einem steht ein Onkel, der drückt jedem so ’nen Zettel in die Hand. Scheint dort Usus zu sein, einem die Taschen mit Papier vollzustopfen.“ „Und ob sie das ist!“ rief Breda triumphierend. Fett gedruckt stand auf dem Handzettel: ‚Die Attraktion der Sonderklasse: Songs von Hongkong bis Surabaja – Mientje aus Holland im Zwielicht‘. Als sie draußen wieder frische Luft atmeten, stieß Adrian seinen Begleiter begeistert in die Rippen. „Hast schon eine gute Nase, Jakob. Ohne dich hätte ich’s nicht geschafft.“ „Wer viel rumkommt, lernt die Ohren spitzen.“ Breda lachte. „Bin ein paar hundert Jahre zu spät auf die Welt 114
gekommen. Im Mittelalter wär’ ich Vagant geworden und hätte die Kirchenväter gerupft.“ „Wohin gehörst du eigentlich, Jakob Breda? Zu den Maoisten, den Anarchisten, den Provos, den Radikalliberalen oder Liberalradikalen …“ Breda wurde ernst. „Ich gehöre zu den Partisanen.“ „Und was ist eure Alternative?“ „Die Desperados verbrennen sich die Finger beim Spiel mit der Revolution, außerdem liefern sie dem Establishment einen willkommenen Vorwand, uns allesamt als kriminell zu diffamieren. Sie verstehen nichts von Strategie und haben dazu noch schlechte Nerven. Wir Partisanen haben Zeit. Wir wissen, daß unsere Stunde kommt. Bis dahin nutzen wir jede Gelegenheit, den Massen klarzumachen, wer in diesem Lande wirklich kriminell ist.“ Er sprang über einen niedrigen Zaun. „Viel Glück in Hamburg!“
Kurz vor acht klingelte der kleine Wecker auf Antjes Nachttisch. Sie rieb sich die Augen, dehnte und reckte sich und schlug die Decke zurück. Heute war Mittwoch, ein wichtiger Mittwoch! Vielleicht wurde es ihr großer Tag. Neben ihr rührte sich nichts. „Adrian, es ist acht!“ Sie stieß ihn an, zweimal, dreimal, er schlief weiter. Antje zog die Vorhänge beiseite, öffnete das Fenster, ging ins Bad, duschte, stellte in der Kochnische den Wasserkessel aufs Feuer und klapperte mit Geschirr und Töpfen. Adrian schlief wie ein Toter. Zuerst hatte sie nur den Kopf geschüttelt, jetzt fing sie 115
an, sich zu ärgern, und mit dem Ärger kamen auch die Selbstvorwürfe. Das alles hatte sie sich selbst zu verdanken – ihrer Inkonsequenz! Wann war er heut früh gekommen? Um halb vier oder vier. Die Nacht vorher dasselbe! Unerträglich! Aber daran war nur sie schuld, ganz allein sie. Nach dem großen Krach wegen der Surprise-Party am Turfmarkt hatte sie sich richtig verhalten. Er mußte ihr den Mansardenschlüssel zurückgeben, und das hatte gewirkt. Zum ersten Mal seit einem Vierteljahr konnte er nicht mehr zu ihr kommen, wann er wollte. Das hatte ihm zu denken gegeben. Er war pünktlich zu den Aufnahmen erschienen, hatte sich nicht mehr mit Vickbons angelegt, und zu ihr war er freundlich und höflich gewesen. Wenn die Arbeit zu Ende war, ging jeder seiner Wege. Keine gereizte Auseinandersetzungen mehr über SCHAU HIN und Publicity. Drei Abende ohne Adrian – es hatte ihr nichts ausgemacht, irgend etwas gab es immer, um sich abzulenken. Wenn nur der vierte Abend nicht so trostlos gewesen wäre. Da fing das Grübeln an, ob Adrian nicht doch ein bißchen recht hatte, ob es nicht falsch sei, ihn schon wieder allein zu lassen, ob Vickbons’ gute Ratschläge wirklich so gut seien. Doch, sie sind gut, sagte sie sich nachdrücklich. Adrian ist ein Querkopf, ihm fehlt das Weltstädtische, das Urbane, das Fünfgeradeseinlassen, eben dies Flair, das uns Amsterdamern von Kindheit an so natürlich ist. Vickbons hat recht: Die Provinz mit ihrer Bedächtigkeit, Prüderie und Gründlichkeit klebt noch an ihm, außerdem übertreibt er den wissenschaftlichen Ernst. Den Pfiff, den Pep, den hat er nicht, und den braucht heute jeder, der 116
nach oben will. Darum sperrt er sich gegen alles, was anders ist als Weterings Masche. Deshalb hätte ich nicht weich werden dürfen am vierten Abend. Er wäre schon ganz von selbst gekommen, hätte um den Schlüssel gebettelt. Daß ich ihm den Schlüssel noch in seine Wohnung gebracht, ihn in den Briefkasten gesteckt habe, als er nicht zu Hause war – das hab’ ich jetzt auszubaden! Noch in derselben Nacht ist er gekommen, lieb und zärtlich war er, kein Wort mehr über den alten Streit. Seit vorgestern aber geht er wieder seine eigenen Wege, wo es doch gerade jetzt darauf ankommt, Kontakte wahrzunehmen, die Publicity auszunutzen. Eine Chance, die man jetzt verschenkt, kommt nie wieder. „Adrian, bitte, steh endlich auf. Wir haben heute noch einiges vor!“ Er blinzelte müde zum Wecker. „Erst halb neun. Noch eine halbe Stunde, Antje, bitte!“ „Es geht wirklich nicht. Wir müssen uns beeilen.“ Geduscht und frisiert, saß sie in einem duftigen Sommerkleid auf der Bettkante. Appetitlich gedeckt stand der Frühstückstisch am Fenster. „Sei so lieb und stehe auf! Jede Stunde, die du weiterschläfst, kostet uns hundert Gulden.“ „Heut ist doch Mittwoch, und der ist drehfrei.“ „Für SCHAU HIN allerdings. Trotzdem mußt du schleunigst ins Bad. Um zehn wartet am Voorburgwaal ein Klassejob auf uns.“ „Laß ihn warten!“ Adrian drehte sich schläfrig auf die andere Seite. „Nein, ich lass’ ihn nicht warten.“ Antje ging zum Waschbecken und kam mit einem triefendnassen Schwamm zurück. „Wärst du gestern mit zu Keetenheuves Party 117
gekommen, hättest du längst gefrühstückt. Statt dessen schlägst du die Nachtstunden tot bis zum Hellwerden. Wer weiß, wo und mit wem!“ Sie drückte den Schwamm über seinem Kopfe aus. Adrian fuhr prustend hoch und packte sie. Und während sie sich lachend wehrte, legte er sie quer über das Bett und machte Miene, sie zu versohlen. Die kleine Balgerei ermunterte ihn schließlich doch. Er sprang aus dem Bett. „Was sollte ich denn bei Keetenheuve?“ fragte er und verschwand unter der Dusche. „Wichtige Leute kennenlernen.“ „Waren denn welche da?“ „Na, und ob!“ Antje strahlte. „Roetert hat angebissen. Neulich, bei der Fete in seinem Garten, deutete er schon was an, und gestern wurde er konkret. Wenn wir heute nicht pünktlich bei ihm sind, sucht er sich ein anderes Paar für seine Werbespots.“ „Was denn für Werbespots?“ „Da staunst du!“ sagte Antje stolz. „Eine TV-Serie, die wir beide ganz allein bestreiten werden. Bademoden einundsiebzig!“ Mit einem heftigen Ruck riß Adrian den Plastvorhang zur Seite. „Antje, das ist Unfug. Wir haben einen Exklusivvertrag mit SCHAU HIN!“ „Na und? Roetert läßt die Serie bei Television erst anlaufen, wenn Liebe 70 bei der vierzigsten Folge angelangt ist. Vickbons hat nichts dagegen.“ Aber ich, hätte Adrian fast gerufen, aber er biß sich auf die Lippen. Was für einen Sinn hatte es noch, mit Antje über Werbung zu streiten. Ein halbes Dutzend Partys hatte genügt, aus ihrer natürlichen Freude am Erfolg eine Sucht nach Publicity werden zu lassen. Ein Viertel118
jahr noch, und sie würde zu jeder Konzession bereit sein. Schweigend zog er sich an. „Es tut mir leid“, sagte er schließlich. „Du mußt absagen. Ich kann beim besten Willen nicht. Jedenfalls nicht in den nächsten Tagen.“ „Dann machst du mir alles kaputt.“ „Das bildest du dir nur ein.“ Adrian blickte auf die Uhr. „Es war gut, daß du mich so energisch geweckt hast. Ich muß noch einiges an der Uni klären. Kurz vor Mittag geht mein Zug nach Brüssel.“ „Brüssel?“ wiederholte Antje fassungslos. „Was willst du in Brüssel?“ „Ich will zu Professor Huygens, er ist Experte für flämischen Barock.“ „Und das muß unbedingt heute sein?“ „Es geht nicht anders. Übermorgen spricht er in Rom auf einem Kongreß, dann fliegt er nach Warschau und Bukarest zu Tagungen. Wenn ich ihn vorher nicht spreche, verliere ich ein Vierteljahr. So viel Zeit kann ich nicht mehr verschenken.“ „Du kommst also frühestens in drei Tagen zurück“, sagte Antje tonlos. „Bestimmt ist Roetert dann nicht mehr an uns interessiert. Es wäre die Chance gewesen. Mit dieser Serie wäre uns der Durchbruch ins Fernsehen geglückt. Für immer!“ Vielleicht ist es zu rasch gegangen mit uns, überlegte Adrian. Antje und ich, wir fingen eben erst an, uns zu entdecken, da kam schon Erven mit Liebe 70. Zuerst war es wie ein Traum, nach seinem Tod kam das jähe Erwachen, die Ernüchterung und jetzt die Zerreißprobe. Er zog sie an sich. „Antje, unser Glück hängt nicht von SCHAU HIN und Television ab. Heute sind wir für 119
sie noch interessant, später zählt nur noch das, was wir wirklich sind.“ Sie machte sich unwillig los. „Fahr nach Brüssel, wenn du fahren mußt. Ich wünsche dir viel Glück.“ Ihre Stimme zitterte. „Aber nimm mir nicht übel, daß ich etwas vom Leben haben will, Adrian. Vielleicht bereust du einmal, daß du mich gerade jetzt im Stich gelassen hast.“ Das Erster-Klasse-Abteil im FD-Zug nach Brüssel war fast leer. Am Fenster saß apfelsinenschälend eine alte Dame mit Silberlöckchen und mühte sich mit einem Kreuzworträtsel ab. Adrian half, so gut er konnte, und wurde dafür abwechselnd mit Orangescheiben und kandierten Früchten gefüttert. „Zuiderseeinsel mit drei Buchstaben. Der letzte ein K. Ein K! Das kann doch nicht schwer zu raten sein, aber ich komm’ einfach nicht drauf. Überlegen Sie mal!“ „Wie bitte? Was ist?“ Adrian sah die Fragerin etwas verstört an. „Aber nein, so etwas!“ Die alte Dame schüttelte bedauernd ihren Kopf. „Jetzt hab’ ich Sie noch aus dem Schlaf geschreckt. Nur wegen dieser vertrackten Insel, dabei kenn’ ich den Namen. Urk heißt sie, natürlich Urk, da hätte ich gleich draufkommen müssen. Schlafen Sie weiter, junger Mann, gesunder Schlaf ist die Gabe der Jugend.“ Die Stimme der alten Dame, eben noch so nah, klang schon wieder wie aus weiter Ferne. Diese fatale Müdigkeit! Kein Wunder! Die Suche nach Wilhelmina hatte zu viele Nachtstunden gekostet. Jetzt forderte der Schlaf energisch sein Recht. Warum sich dagegen wehren? Bis Brüssel würde es ohnehin noch Stunden dauern. „Mechelen! Mechelen!“ 120
Adrian fuhr aus seiner Polsterecke hoch und rieb sich erstaunt die Augen. Träumte er? Ihm gegenüber hatte doch eine alte Dame gesessen, und es war ein wohltuender Anblick gewesen, der keinerlei Unlustgefühle hervorrief wie jetzt dieses kantige Kinn, die buschigen Augenbrauen des breitschultrigen Mannes, der ihn hinter seiner Sportzeitung beobachtete. Nein, er träumte nicht. Wenn dies Mechelen war, dann mußte die alte Dame längst ausgestiegen sein, denn sie wollte ja nach Tilburg. Möglicherweise saß der Kerl schon seit eine Stunde vis-à-vis und überwachte seinen Schlaf. Zufällig oder absichtlich? War das nicht der Mann, der ihn vor kurzem im NACHTEXPRESS-Archiv zweimal gestört und von dem auch Jakob Breda berichtet hatte? Adrian mißtraute eigenen allzu schnellen Kombinationen, vor allem, wenn er verschlafen war. „Schlägt man einen falschen Weg ein, verirrt man sich um so mehr, je schneller man geht. Wie könnte man zum Ausgangspunkt zurückkehren? Die Eitelkeit sträubt sich dagegen, das hartnäckige Festhalten an Prinzipien verbreitet über die ganze Umwelt einen falschen Schein, der Menschen und Dinge entstellt. Man sieht sie nicht mehr, wie sie sind, sondern wie man sie haben möchte.“ Ein französischer Aufklärer hatte das formuliert, und Adrian fand diese Warnung oft bestätigt. Der Breitschultrige legte jetzt seine Zeitung beiseite. „Kennen Sie sich aus in Brüssel?“ fragte er. Ja, da war sie wieder, diese kratzende Stimme. Die konnte es kaum ein zweites Mal geben. „Eben les’ ich nämlich, daß da ein Boxkampf über die Bühne geht“, kratzte die Stimme weiter, „und zwar in der 121
Flamenhalle. Städtevergleichskampf Amsterdam–Brüssel. Fahrplanmäßig sind wir erst zehn Minuten nach Beginn in Brüssel. Wäre also wichtig zu wissen, wie weit es ist vom Hauptbahnhof bis zur Flamenhalle.“ „Vielleicht hilft Ihnen das.“ Adrian griff in seine Manteltasche und reichte seinem Gegenüber einen Stadtplan. „Sehr liebenswürdig. Besten Dank.“ Der Mann studierte den Plan, machte sich Notizen und gab ihn dann dankend zurück. Den Rest der Fahrt verbrachte er wieder hinter seiner Zeitung. Auf dem Brüsseler Hauptbahnhof wartete Adrian, bis sich die Menschen verlaufen hatten, dann suchte er eine Telefonzelle und rief den Flugplatz an. Er erfuhr, daß die nächste Maschine nach Hamburg gegen einundzwanzig Uhr starte, und ließ einen Platz für sich buchen. Er hatte also noch viel Zeit. Langsam schlenderte er über den Bahnhofsvorplatz zum Hotel Rijkshof hinüber. Beim Abgeben des Koffers an der Garderobe bemerkte er, daß der Reißverschluß der Seitentasche halb geöffnet war. Ein sperriger Gegenstand blockierte das vollständige Zuziehen. Adrian stutzte. „Einen Moment, bitte“, sagte er zur Garderobiere. „Ich brauche den Koffer noch einmal.“ Er zog den Reißverschluß zurück und förderte ein schmales braunes Paket zutage. Zeitungen, Fahrpläne, Briefpapier waren verschwunden. Während er geschlafen hatte, etwa zwischen Utrecht und Mechelen, mußte jemand beides miteinander ausgetauscht haben. Der Kerl im Zug? Adrian gab den Koffer ab und ging mit dem Päckchen in eine Waschkabine. Es war etwa anderthalb Pfund schwer, gut verschnürt, durch mehrere Folien geschützt. Zwischen den einzelnen Hüllen steckten Zettel. Neben 122
Hippieslogans wie ‚Je higher, um so freier‘ und ‚Träume sind keine Schäume‘, die in Druckschrift gemalt waren, fand er eine mit Schreibmaschine geschriebene Karte: „Wer in Hamburg zurechtkommen will, geht zum Drummer in der Gammeltimpe Hansaplatz 8 und gibt dieses Päckchen ab.“ Der Inhalt der Hüllen sah gepreßtem Tabak ähnlich und entpuppte sich nach kurzer Geruchsdiagnose als Haschisch. Man wollte ihm also Rauschgiftschmuggel anlasten! Das konnte nur heißen, daß ein Zusammentreffen mit Wilhelmina verhindert werden sollte. Wenn das zutraf, dann wußte Wilhelmina sehr viel mehr, als sie im Paradiso angedeutet hatte. Adrian mußte unwillkürlich lächeln. Die Fahrt nach Hamburg würde sich lohnen! Nach einem ausgiebigen Abendessen im Rijkshof bestellte sich Adrian ein Taxi zum Flugplatz. Sie waren etwa zehn Minuten unterwegs, als der Chauffeur sich plötzlich umwandte. „Erlauben Sie einen kleinen Umweg, mein Herr?“ „Warum?“ fragte Adrian erstaunt. „Möchte gern die Klette abschütteln, die sich an uns gehängt hat. Der graue Opel fällt mir seit fünf Minuten auf den Wecker.“ Das Taxi bog mit einer scharfen Rechtskurve in eine Seitenstraße ein, umfuhr einen Häuserblock und hielt vor einer Großgarage. „In einer Viertelstunde muß ich am Flugplatz sein“, sagte Adrian. „Das schaffen wir bequem.“ Der Mann schob die Mütze in den Nacken. „Bin kein Hasenfuß, aber wenn ich spitzkriege, daß meine Fahrgäste beschattet werden, 123
hört der Spaß bei mir auf. Vor zwei Jahren endete so was mit einem runden Loch in der Windschutzscheibe. Seitdem paß ich auf.“ Er sah prüfend in den Rückspiegel. „Den haben wir abgehängt.“
Leises Klopfen an der Zimmertür. „Acht Uhr, mein Herr!“ Adrian sprang mit einem Satz aus dem Bett und trat ans Fenster. Wie hieß das Hotel? Fernsicht! Der Name versprach nicht zuviel. Da lag sie nun vor ihm im satten Blau eines Hochsommertages, die weltberühmte Außenalster, seit alters bedichtet und besungen als Beförderer vieler Lustbarkeiten und edelster Stein im Gewande Hammonias. Ein riesiges Wasserbecken, belebt von Segel- und Ruderbooten, durchkreuzt von flachen weißen Dampfschiffen und Fähren, umrahmt von Promenadenwegen und Villengärten. Aus der Ferne grüßten die Türme der City herüber. Fast unglaubhaft, diese Beschaulichkeit im Zentrum einer Zweimillionenstadt! Es klopfte wieder. Der Kellner kam, um das Frühstück zu servieren. „Bleiben Sie mehrere Tage, mein Herr?“ „Wenn’s nach mir ginge, zwei Wochen. Nur, die Geschäfte lassen das kaum zu.“ „In Hamburg sind die Nächte lang, heißt ein schönes Lied. Natürlich muß man wissen, wo und wie. Sonst kann eine lange Nacht sehr teuer werden.“ „Was erzählt man sich denn über den Hansaplatz?“ „Hansaplatz?“ Der Kellner schaute Adrian zweifelnd an. „Ist die Frage ernst gemeint?“ „Ja“, sagte Adrian. „Man hat ihn mir empfohlen.“ „Sankt Georg heißt das Viertel, und als ich noch jung 124
war, war das ’ne ganz ordentliche Vorstadt, liegt ja auch vis-à-vis vom Hauptbahnhof, und die Straßen drum herum müßten eigentlich so was wie ’ne Visitenkarte sein. Nun haben sie aber vor ein paar Jahren ’ne alte Straße in der Nähe vom Gänsemarkt abgerissen, wo Mädchen drin gewohnt haben, die ihre dreißig Mark schneller verdienen, als unsereins ein Bier servieren kann. Sie verstehen schon! Tschä, weil die nun heimatlos geworden sind, streichen sie alle in Sankt Georg ’rum und nehmen die Quiddjes aus.“ „Wen?“ „Na, die Fremden eben, die vom Bahnhof kommen und noch von nichts ’ne Ahnung haben. Nu kommt zu der Halbwelt noch die halbe Unterwelt dazu. Und das macht sich von Tag zu Tag breiter, in der Bremer Reihe, in der Lohmühlenstraße, am Steindamm, und am frechsten sind sie wohl am Hansaplatz. ’n Cousin von mir, Hauptwachtmeister, der macht seit zwei Jahren Dienst auf Revier einundzwanzig in der Kirchenallee, der hat mal gesagt, Revier einundzwanzig ist jetzt das härteste geworden. Davidswache in Sankt Pauli ist dagegen das reinste Sanatorium.“ Er verbreitete sich noch über den Ausflug seines Kegelklubs, der am Hansaplatz sehr unfriedlich geendet habe, kannte aber das Zwielicht und die Gammeltimpe nicht einmal dem Namen nach. Es war ein Tag zum Sonnenbaden und Schwimmen. Adrian schlenderte durch das Uhlenhorster Villenviertel, vorbei an Bikini-Schlankheiten, die in Vorgärten hollywoodschaukelten, und an Damen, die mit ihren Dackeln oder Pekinesen an der Leine die Schöne Aussicht auf und ab promenierten. Er fütterte Schwäne mit den Resten seines Frühstücks und sonnte sich auf einer Bank in den Anlagen. Gegen elf Uhr rief er schließlich die Auskunft an, um die Telefonnummer des Zwielicht zu erfahren. 125
Wann auch immer er in den nächsten Stunden die achtstellige Zahl wählte, kein Teilnehmer meldete sich. Erst am Nachmittag hatte er Glück. Eine quäkende Stimme erkundigte sich nach seinen Wünschen. „Tritt bei Ihnen zur Zeit eine niederländische Künstlerin auf?“ „Ganz recht, mein Herr. Soll ich Ihnen für heute einen Tisch reservieren? Wir beginnen zweiundzwanzig Uhr. Die Dame hat ihre Show kurz vor Mitternacht. Internationale Klasse, mein Herr.“ „Könnten Sie mir ihre Hamburger Adresse geben?“ „Bedaure, mein Herr. Zu Auskünften dieser Art sind wir nicht befugt.“ Einige hundert Schritt vom Zwielicht entfernt, bei ‚Mutti Dolores‘, einem winkligen Artistenkeller in der Bremer Reihe, aß Adrian Rundstück warm, ein hanseatisches Nationalgericht. Die kleine, mollige Wirtin, vor Jahrzehnten Musikclown, fand den jungen Mann am Ecktisch sympathisch und setzte sich nach dem zweiten Bier ‚für einen Momang‘ zu ihm. „Sind Sie auch vom Bau, junger Mann?“ „Ich bin nur Publikum.“ „Nur Publikum ist gut.“ Sie lachte. „Kein Varieté ohne Artisten – aber ohne Publikum erst recht nicht.“ „Variete seh’ ich gern, am liebsten aber geh’ ich ins Kabarett.“ „Na, hoffentlich kommen Sie hier auf Ihre Kosten. Wo Sie in Amsterdam und Rotterdam so gute Kabaretts haben.“ „Wer sagt Ihnen, daß ich Holländer bin?“ „Das merkte ich, als Sie Ihren Mantel an den Haken hängten und guten Abend sagten.“ „Sie haben ein feines Gehör, Mutti Dolores.“ Sie legte ihm ihre Patschhand auf den Unterarm. „Ist 126
noch keine halbe Stunde hier und sagt schon Mutti zu mir. Manch einer darf das noch nicht mal nach Monaten. Aber Sie dürfen.“ Sie plauderten über Variete und Kabarett, über Zirkus und Operette. „Kommen Künstler aus dem Zwielicht auch hierher?“ erkundigte sich Adrian nach einer Weile. „Warum nicht? Übrigens tritt da jetzt eine Landsmännin von Ihnen auf.“ Es ergab sich, daß Wilhelmina schon öfters im Keller ihre Aalsuppe oder ihren Labskaus gegessen und mit Mutti Dolores über Amsterdam und den Rembrandtplein geklönt hatte. „Blicke schmeißen kann sie, Mynheer, und die Stimme soll ja genauso flott sein wie Hüften- und Oberweite. Ein Jammer, daß sie keinen besseren Laden erwischt hat. Was für ’ne Art von Publikum bleibt schon im Zwielicht hängen!“ „Vielleicht sollte man ihr was Besseres besorgen!“ „Wenn du das versuchst, paß aber schön auf, mein Junge. Kriegt Lamperti Wind davon, kann er verdammt falsch werden.“ Adrian schmunzelte. „Er muß ja nicht alles merken. Sie wissen nicht zufällig, wo sie hier wohnt?“ „Einen Momang!“ Die Wirtin lief in die Küche und kam mit einer Lage Lütt und Lütt zurück. „Die Mientje hat was von exklusiv verlauten lassen, so auf privater Basis. Flottbeker oder Elbchaussee … mit Swimmingpool und Fontäne.“
Das ‚Zwielicht‘ machte seinem Namen alle Ehre. Mit Ausnahme eines Scheinwerfers, der die Künstler auf dem 127
winzigen Nudelbrett abwechselnd in ein lila oder rosa Licht tauchte, hatte die Direktion fast auf jede Beleuchtung verzichtet. So wie die Platzanweiserinnen in den Kinos später kommende Besucher mit abgeschirmten Taschenlampen auf ihre Plätze zu lotsen pflegen, so geleitete der Chef des Hauses, Baptiste Lamperti, seine Gäste an die kleinen Tische. Es entsprach dem Stil des Zwielicht, daß man hier auf eine Getränkekarte verzichtete. Der Kellner stellte Adrian die Wahl zwischen ‚Piano‘, ‚Intermezzo‘ und ‚Fortissimo‘ anheim, ansonsten empfahl er halbtrockenen Sekt „Hausmarke“. Adrian versuchte sein Glück mit ‚Intermezzo‘. Es schmeckte nach einer Mixtur aus Kirschsirup und Hustensaft mit einem Schuß Primasprit. Ein Gongschlag kündigte den Beginn der „Nonstoprevue“ an. Lamperti, drahtiger Vierziger mit Bürstenschnitt und scharfer Nase, bestieg das Nudelbrett und bat um die geschätzte Aufmerksamkeit für Striptease-Variationen, kreiert von Madame Sans Gêne. Eine Brünette tänzelte herbei und trug effektsicher ihre Haut zu Markte. Ihre Künste hätten die Ahnfrau dieses Genres, die Königstocher Salome, vor Neid erblassen lassen. Diese hatte seinerzeit zehn Minuten gebraucht, um sich vor Herodes ihrer sieben Schleier zu entledigen, die Zwielicht-Artistin verlängerte die Prozedur auf eine knappe halbe Stunde. Was an der Brünetten zu besichtigen war, wirkte drall und üppig. Als zweite Attraktion präsentierte Lamperti eine gertenschlanke Indonesierin: Balila aus Surabaja. Balila zeigte Stil und Harmonie in jeder Bewegung ihres Körpers. Sie bewies, was tausendjährige Tanztradition zu leisten vermag. Das Publikum saß wie versteinert da, alles Gekichere und Geschnalze verstummte. Man war überwältigt von der Anmut der Tänzerin. 128
Beide Darbietungen lagen auf völlig verschiedenen Ebenen. Adrian war verblüfft. Balila hätte auch im Casino de Paris oder im Lido auftreten können. Entweder zahlte Lamperti extrem hohe Gagen, oder die Indonesierin war erst wenige Wochen in Europa. „Noch einen Intermezzo?“ fragte der Kellner und griff nach Adrians halbgeleertem Glas. „Den zweiten trink’ ich erst nach Mitternacht.“ Adrian sagte es so bestimmt, daß sich der Kellner sofort zurückzog. Ein Tusch der Drei-Mann-Kapelle. „Und nun Mientje!“ Lamperti geleitete Wilhelmina auf das Bühnchen, küßte ihr die Hand und bat um Ruhe. Sie begann mit einem Song aus ‚Mahagonny‘, interpretierte den Refrain ‚Denn wie man sich bettet, so liegt man, da deckt einen gar keiner zu.‘ sehr eigenwillig und brachte dann Blues, Folklore und Beat. Der schwermütige Grundton, das rauhe Timbre ihrer Stimme, die sparsame Gestik entsprachen Texten und Melodien ihres Repertoires. Adrian kaufte der Blumenfrau einen Strauß Rosen ab, steckte ein Kärtchen dazu und ließ ihn in Wilhelminas Garderobe bringen. Es waren keine fünf Minuten vergangen, da trat Lamperti an seinen Tisch. „Die Künstlerin bedankt sich herzlich für die Blumen. Leider kann sie Ihrer Einladung nicht folgen. Sie hat noch anderweitige Verpflichtungen.“ „In einem anderen Lokal?“ „Wo denken Sie hin!“ Lamperti hob die Hände. „Das würde ich nie gestatten. Doch in den Vororten gibt es 129
Kunstfreunde, die ihre Partys gern mit einer Attraktion der leichten Muse krönen.“ „Verstanden.“ Adrian winkte dem Kellner und zahlte. Draußen stand ein graublauer Mercedes mit laufendem Motor. „Fahren Sie nach außerhalb?“ Der Chauffeur griente. „Aber nicht Sie, junger Mann.“ Adrian besorgte sich ein Taxi und beauftragte den Fahrer, den Mercedes nicht aus den Augen zu lassen. Kurz darauf stieg Wilhelmina in den Wagen, der sich in Richtung Hauptbahnhof in Bewegung setzte. Adrians Taxi blieb hinter ihm bis zur Elbchaussee. Vor der Teufelsbrücke bog der Mercedes in eine Seitenstraße und hielt zweihundert Meter weiter. Auf das Hupsignal antwortete Hundegebell. Eine Lampe flammte in dem parkartigen Garten auf, und eine große Gestalt eilte mit einer Dogge an der Leine zu der schmiedeeisernen Pforte, schloß auf und half Wilhelmina aus dem Wagen. Knarrend drehte sich der Schlüssel zweimal im Schloß, einige Augenblicke später erlosch die Gartenbeleuchtung, und der Mercedes fuhr von dannen. „Hinterher?“ fragte der Taxifahrer. „Nein, danke.“ Adrian zahlte und stieg aus. Hirschpforten 32. ‚G. Mutesius‘ stand auf dem Türschild. Die mächtige Villa, ein Wohnpalast mit Zinnen und Türmchen, lag weitab von der Straße, versteckt hinter Erlen, Birken und Edeltannen. Nichts deutete daraufhin, daß hier eine Gesellschaft gegeben wurde. Ein Trick von Lamperti? Versteckspiel von Wilhelmina? Ärgerlich ging Adrian die Hirschpforten hinunter, fand an der Elbchaussee-Kreuzung eine Telefonzelle und blät130
terte im dickleibigen Teilnehmerverzeichnis. ‚Mutesius, Gernold – Musikverlag Polyphon GmbH, 36 22 48 31.‘ „Bei Mutesius“, meldete sich eine wohlklingende weibliche Stimme. „Van Brengen, Amsterdam. Entschuldigen Sie die Störung zu so später Stunde!“ „Keine Ursache, Herr van Brengen, Herr Mutesius ist noch zu sprechen.“ „Würden Sie so freundlich sein und mich mit Fräulein Wilhelmina Steyn verbinden. Es ist dringend.“ „Bedaure.“ Die Stimme hatte alle Verbindlichkeit verloren. „Das Fräulein erreichen Sie erst morgen vormittag wieder ab zehn Uhr.“
Es wurde bereits hell, und in den Gärten und Anlagen rund um die Außenalster begannen die Vögel mit dem Frühkonzert, als der Nachtportier der Fernsicht die Hoteltür hinter dem letzten Gast verschließen konnte. Adrian war von der Elbchaussee nicht gleich ins Hotel gefahren, sondern hatte die ersten Stunden des neuen Tages dazu benutzt, sich über Herrn Mutesius zu informieren. Rund um das Funkhaus an der Rotenbaumchaussee gingen selten die Lichter aus, denn eines der sechs Orchester hatte gewöhnlich in den Studios Nachtaufnahme. Wenn das Funkkasino um Mitternacht Feierabend machte, mußten die Kneipenwirte in den Nebenstraßen den Durst der Streicher, Bläser und Schlagzeuger löschen. Musikertratsch war als Informationsquelle nicht zu verachten. Adrian erfuhr, daß der Hausherr der Monstrevilla Hirschpforten 32 bei den Orchesterleuten nicht gerade beliebt war. Die ersten Nachkriegsjahre hatte Mutesius 131
Kaffee- und Teeschmuggel betrieben und bis 1951 in einem Nest an der holländischen Grenze in Schieberkreisen Vormachtstellung genossen. In Hamburg stieg er dann in den Schrotthandel ein, und als Jahre später der Boom in dieser Branche abflaute, investierte er seine Millionen ins Schallplattengeschäft. Gernold Mutesius, von den Musikern „Gernegroß“ genannt, besaß Gespür für das, was sich in nächster Zeit gut verkaufen ließ. Vor kurzem machte er Schlagzeilen, als er in Blankenese eine abbruchreife Villa erstand, um dort die erste ‚Norddeutsche Diskjockei-Akademie‘ zu errichten. Als Adrian an der Theke in der Alten Laterne mit einem pausbäckigen Klarinettisten Brüderschaft trank, hatte er hinter vorgehaltener Hand erfahren, daß ‚Gernegroß‘ in den letzten Jahren sechs oder sieben Titel des holländischen Komponisten van Laar in die wöchentlichen Schlagerparaden lanciert habe. Wenn Mutesius und van Laar auch jetzt noch zusammenarbeiteten, dann war es wohl Mutesius gewesen, der Wilhelmina den Job im Zwielicht vermittelt hatte, sicherlich auf Veranlassung van Laars. Demnach hatte der Komponist dafür gesorgt, daß Wilhelmina spurlos aus Amsterdam verschwand. Warum? Nur ein Gespräch mit Wilhelmina konnte Klarheit bringen. Unten im Hausflur wurde es plötzlich unruhig. Adrian sah zur Uhr. Halb sechs. Das Stimmengewirr schwoll an, Stiefel polterten die Treppe hinauf. Derbes Pochen an die Zimmertür. „Aufmachen! Polizei!“ Adrian öffnete drei Männern in Ledermänteln. Sie zeigten ihre Dienstmarke und blickten sich mißtrauisch im Zimmer um. 132
„Inspektor Niehus, Rauschgiftdezernat“, stellte sich ein kleiner, untersetzter Mann vor. „Dürfte ich mal Ihre Papiere sehen?“ Adrian nahm seinen Paß aus der Brieftasche und reichte ihn wortlos dem Inspektor. Der Kriminalist verglich den Hotelgast mit dem Lichtbild im Ausweis und fragte dann bissig: „Sie wissen, weshalb wir hier sind, Herr van Campen?“ „Ich habe keine Ahnung, Herr Inspektor“, sagte Adrian. „Es liegt eine Anzeige gegen Sie vor. Sie sind dringend verdächtig, gegen unsere Rauschgiftgesetze verstoßen zu haben, indem Sie Haschisch aus den Niederlanden in die Bundesrepublik verbracht haben, um sich dadurch Vermögensvorteile zu verschaffen. Was können Sie dagegen vorbringen?“ Adrian zuckte die Schultern. „Eine Verleumdung. Wie kommen Sie zu diesem Verdacht?“ „Sie bestreiten also, Haschisch über die deutsche Grenze gebracht zu haben?“ „Ja.“ „Warum sind Sie in Hamburg?“ „Private Gründe.“ „Und Ihr gestriger Aufenthalt am Hansaplatz?“ „War ganz privat.“ „Wie Sie meinen, Herr van Campen.“ Niehus’ Stimme wurde eisig. „Öffnen Sie bitte Ihr Gepäck.“ Adrian hob den Deckel seines Koffers. „Bitte, überzeugen Sie sich.“ Während seine beiden Begleiter Nachttisch, Kleiderschrank und Bett durchwühlten, hinter Spiegel und Bilder, unter Teppich und Läufer schauten und im Bad das Unterste zuoberst kehrten, inspizierte Niehus den Kofferinhalt. 133
„Ich weiß nicht, ob das, was Sie hier treiben, in Hamburg zulässig ist, Herr Inspektor“, sagte Adrian so gelassen wie möglich. „Wenn unsere Beamten in Amsterdam gegen ausländische Touristen so vorgingen wie Sie, müßten sie mit einem Disziplinarverfahren rechnen.“ „Andere Länder, andere Sitten!“ brummte Niehus und warf den Kofferdeckel zu. „Beschweren Sie sich bei Ihrem Konsul in der Johnsallee.“ Er gab den Beamten einen Wink, die Ordnung im Zimmer wiederherzustellen, und zückte sein Notizbuch. „Am Mittwoch ist Herr van Campen gegen dreizehn Uhr fünfzehn auf dem Amsterdamer Hauptbahnhof kurz vor Abfahrt des Brüsseler Zuges mit einem Hippie zusammengetroffen. Dabei wurde ihm Haschisch übergeben, mit dem Auftrag, die Ware am Hansaplatz zu veräußern. Wieviel haben Sie kassiert?“ „Herr Inspektor, ich habe keinen Haschisch in Empfang genommen und konnte deshalb auch niemandem das Zeug übergeben.“ „Wie lange gedenken Sie noch in Hamburg zu bleiben?“ fragte Niehus unfreundlich. Adrian zögerte einen Moment mit der Antwort. „Wenn Sie mich morgen früh wieder aus dem Bett trommeln, nehme ich die Maschine um sieben Uhr dreißig. Andernfalls bleibe ich bis Sonntagabend.“
Punkt zehn Uhr rief Adrian bei Mutesius an, und wieder meldete sich die wohlklingende Frauenstimme. „Tut mir leid, Herr van Brengen. Fräulein Steyn hat vor einer Viertelstunde das Haus verlassen.“ „Wo kann ich sie erreichen?“ „Das ist mir nicht bekannt. Ich werde mich informieren.“ 134
Adrian hörte Gewisper und Getuschel. „Fräulein Steyn ist zum Friseur gegangen.“ „Zu welchem, bitte?“ „Das kann ich nicht sagen.“ Wütend legte Adrian den Hörer auf. Wenn es ihm heute nicht gelang, Wilhelmina zu sprechen, war seine Fahrt nach Hamburg umsonst gewesen. Übermorgen erwarteten ihn Antje und Vickbons mit dem Kamerateam. Bis Mitternacht im Zwielicht herumzuhocken hatte überhaupt keinen Sinn. Lamperti würde ihn wieder mit Floskeln abspeisen. Es mußte ihm gelingen, Wilhelmina auf schnellstem Wege zu erreichen. In Hamburg gab es eine Unzahl von Frisiersalons, mehrere Dutzend davon in den Elbvororten. Der Reihe nach rief Adrian die Figaros in Blankenese, Nienstedten und Othmarschen an. Eine Kundin, auf die seine Beschreibung zutraf, war in keinem der Salons bedient worden. Im Flottbeker „Adrett“ schließlich erklärte die Chefin, daß eine junge Ausländerin seit fünf Minuten unter der Haube säße, sie spreche holländischen Akzent. „Wie lange wird die Verschönerung dauern?“ fragte Adrian. „Etwa noch eine Dreiviertelstunde.“ Das Taxi brauchte für die Fahrt eine knappe halbe Stunde. Adrian durfte im Vorraum warten. Ein Blick durch den Vorhang brachte ihm die Gewißheit, daß sich der Aufwand gelohnt hatte. Als Wilhelmina an der Kasse ihre Rechnung beglich, streifte sie mit einem Seitenblick Adrian und schien grenzenlos überrascht. Durch eine Handbewegung deutete sie an, daß es besser sei, die Begrüßung nach draußen zu verlegen. Sie gingen einige Schritte schweigend nebeneinanderher, dann fragte sie: „Warum sind Sie hergekommen?“ 135
„Warum haben Sie mich am Vischerdamm versetzt und sind sang- und klanglos aus Amsterdam verschwunden?“ fragte er zurück. Sie nahm seinen Arm. „Es ging nicht anders, glauben Sie mir. Über ein halbes Jahr stand ich vor verschlossenen Türen, bekam höfliche Absagen – da fühlt man sich sterbenskrank, und man möchte sich dauernd betrinken. Wenn einem dann Hals über Kopf ein guter Vertrag für zwei Monate geboten wird, greift man zu, und alles andere wird unwichtig.“ „Einverstanden. Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch im Paradiso?“ „Nicht mehr so ganz.“ Ihr Blick wurde unsicher. „Ich hatte sehr viel getrunken.“ „Den Eindruck hatte ich nicht. Sie waren völlig bei der Sache. Bei Dick Kaiser und Franz van Laar …“ „Natürlich“, unterbrach sie ihn hastig. „Ich war maßlos sauer auf Dick.“ „Und nicht nur auf ihn. Auch auf seinen Brötchengeber, den Herrn van Laar, der Sie nach dem Festival in Scheveningen fallenließ und dessen Schwager Vickbons dafür sorgte, daß man Sie totschwieg. Und Sie waren sicher, daß es Leute gab, die schuld waren an Erven Weterings Tod, Leute, die in Dixmuiden wohnen, auf Grundstücken mit Badestegen, wo ein Starboot schnell einmal anlegen und einen Vorschotmann an Bord nehmen kann.“ „Hören Sie auf.“ Erschrocken blieb sie stehen. „Wenn ich das gesagt habe, muß ich nicht völlig bei Sinnen gewesen sein.“ „Alkohol macht ehrlich.“ „Nein, Adrian, bitte! Wenn ich zuviel trinke, fange ich an, furchtbares Zeug zu spinnen. In Scheveningen ging’s mir genauso.“ 136
„Und warum haben Sie mich in Ihre Wohnung gebeten? Weil Sie mit mir unter vier Augen sein wollten! Weil Sie mir Namen nennen, Beweise in die Hand geben wollten!“ „Ich fürchte, Sie haben mich falsch verstanden.“ „Warum hat man uns im Paradiso voneinander getrennt? Weil gewisse Leute glaubten, Sie würden mir über Ervens Tod sagen, was Sie wissen.“ „Ich weiß nichts, Adrian. Ich kann Ihnen nicht helfen.“ „Sie werden mir helfen, Wilhelmina. Ich bleibe so lange in Hamburg, bis Sie mir alles gesagt haben.“ „Machen Sie sich nicht unglücklich. Sich, Antje und mich“, sagte sie leise, ihre Stimme zitterte. „Riskieren Sie nicht Ihren Vertrag mit SCHAU HIN. Keetenheuve läßt nicht mit sich spaßen.“ Ein roter Sportwagen hielt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. „Denken Sie zuerst an Antje und sich.“ Wilhelmina drückte ihm rasch die Hand und eilte über die Fahrbahn. Die Wagentür wurde von innen geöffnet. Wilhelmina stieg ein, und der Wagen fuhr davon, ohne daß Adrian den Fahrer zu Gesicht bekommen hatte.
Baptiste Lamperti begrüßte Adrian wie einen alten Bekannten mit freundschaftlichem Händeschütteln. „Eine Ehre für unser Haus. Amsterdams Publicity-Star schon zum zweiten Mal im Zwielicht. Darf ich Sie offiziell von der Bühne aus begrüßen?“ „Auf keinen Fall. Ich bekomme sonst Ärger mit der Redaktion.“ „Wie Sie wünschen.“ Lamperti verbeugte sich. „Wir respektieren selbstverständlich jedes Inkognito.“ 137
Bis zu Wilhelminas Auftritt lief die Vorstellung ab wie am Abend vorher. Madame Sans Gêne zeigte, was sie nicht verbergen wollte, Balila faszinierte von neuem, der Schlagzeuger verlor wie am vergangenen Abend beim dritten Solo seinen Jazzbesen und ließ die Zuschauer unter den Tischen danach suchen. Auch Wilhelminas erstes Lied, der Mahagonny-Song, wurde wieder virtuos interpretiert. Die nächsten Lieder aber bekamen eine unverkennbar aggressive Note. „Mientje“ sang, als stände sie unter einem Druck, von dem sie sich zu befreien suchte. Adrian fing sie in dem engen Gang vor der Künstlergarderobe ab. „Ich war schlecht heute, Adrian, und Sie wissen, wer daran schuld ist. Sie sind nur in die Vorstellung gekommen, um mich auszuhorchen. Wenn ich Sie unten sitzen sehe, könnte ich vor Wut in den Vorhang beißen.“ „Sagen Sie mir, was Sie über Weterings Tod wissen“, forderte Adrian freundlich und bestimmt. „Dann nehme ich die Frühmaschine nach Amsterdam.“ „Fräulein Steyn, bitte beeilen Sie sich beim Umziehen.“ Baptiste Lamperti kam eilig den Gang entlang. Er schob Wilhelmina in eine Umkleidekabine und schloß sofort hinter ihr die Tür. „Tut mir leid, Herr van Campen, aber ich muß Sie ersuchen, sofort mein Haus zu verlassen. Bitte, haben Sie Verständnis für meine Situation.“ „Wie soll ich das verstehen, Herr Lamperti?“ „Einige meiner Gäste nehmen Anstoß daran, daß Sie sich hier aufhalten.“ „Zeigen Sie mir die Leute. Ich werde mich mit ihnen unterhalten.“ 138
Lamperti trat von einem Fuß auf den anderen. „Unmöglich. Das würde die Situation nur komplizieren.“ „Warum?“ „Die Herrschaften legen Wert darauf, anonym zu bleiben.“ „Sind Sie nicht der Hausherr im Zwielicht?“ „Herr van Campen, ich bitte Sie!“ Lamperti hob beschwörend die Hände. „Sie kennen die Verhältnisse nicht. Am Hansaplatz ist jeder Gastronom auf das Wohlwollen dieser Herrschaften angewiesen. Ich kann nicht anders – so schwer es mir fällt, einen so prominenten Gast wie Sie zu brüskieren. Bitte, gehen Sie auf der Stelle, sonst muß ich unseren Portier rufen. Hier, durch diese Seitentür.“ Als Adrian wieder auf der Straße stand, schoben sich aus der gegenüberliegenden Gammeltimpe mehrere verwegen aussehende Kerle. Einer kam langsam herüber. „Warum bist du nicht drüben in der Timpe, Vater?“ „Was soll ich denn da“, murmelte Adrian gleichgültig beim Weitergehen. Der Bursche blieb an seiner Seite. „Der Drummer hat schon gestern mit dir gerechnet. Wirst allmählich überfällig. Mach keine Zicken, sonst kann ich für nichts garantieren.“ „Ich brauche keine Garantie.“ Aus einer Toreinfahrt schoben sich vier Gestalten und vertraten ihm den Weg. Adrian drehte sich um. Doch der Rückweg war ihm versperrt. Die übrigen Gammler waren bis auf wenige Schritte herangekommen. „Du lieferst jetzt endlich den Stoff ab!“ brüllte der Kerl, der ihn angesprochen hatte. Adrian blieb stehen. „Ich habe nichts.“ 139
„Leibesvisitation!“ rief der Sprecher. Sofort stürzten sie sich auf Adrian, rissen ihm den Mantel ’runter und zerrten an seinem Jackett herum. Adrian stieß gegen Schienbeine, verteilte Haken nach links und rechts und glaubte schon, sich freigekämpft zu haben. Da spürte er einen schweren Schlag. Ihm war, als habe jemand von oben einen Sack Zement auf ihn herunterfallen lassen, dann verlor er das Bewußtsein.
Mühevoll war es, die Augen zu öffnen, er schloß sie sofort wieder. Später versuchte er es noch einmal, wollte erkennen, wo er sich befand. Alles um ihn her schien weiß zu sein, ermüdend weiß. Schließlich fanden seine tastenden Augen einen Farbtupfer in dieser weißen Eintönigkeit. Blaue Augen waren da, ein breiter roter Mund. Sie mußten dem Wesen gehören, das neben ihm saß – wie lange eigentlich schon? – und immer wieder Fragen stellte. „Herr van Campen. Sie sind Patient im Sankt-GeorgHospital. Verstehen Sie, was ich sage?“ Adrian hob die rechte Hand. „Sie dürfen Ihren Kopf nicht bewegen. Er ist verletzt. Außerdem haben Sie eine Gehirnerschütterung. Man hat Sie zu Boden geschlagen, am Hansaplatz. Erinnern Sie sich, Herr van Campen?“ Die tiefblauen Augen gefielen Adrian besser als der breite rote Mund mit seinen bohrenden Fragen. Leider waren sie nicht voneinander zu trennen. „Liege ich auf Privatstation?“ Der rote Mund lächelte. „Erster Klasse, Einbettzimmer, Mynheer. Wie es sich schickt für so prominente 140
Kranke. Ihre Redaktion sorgte umgehend dafür, daß Sie aus der dritten in die erste Klasse umgebettet wurden.“ „Was für eine Redaktion?“ „Sie wissen wohl gar nicht mehr, wohin Sie gehören? SCHAU HIN natürlich.“ Die Stimme begann ihn zu reizen. „In Hamburg haben wir anderes, ich will nicht sagen Besseres. Aber was man in Amsterdam liest, wissen wir trotzdem. Hamburg ist ja kein Dorf.“ „Kein Dorf“, sagte er matt. „Das Tor zur Welt – Halbwelt, Unterwelt.“ „Am Jungfernstieg wäre Ihnen das nicht passiert. Nicht einmal auf der Reeperbahn. Was suchten Sie ausgerechnet am Hansaplatz, Herr van Campen?“ Was nutzte ein Einbettzimmer, wenn man dieser Stimme nicht entfliehen konnte. Adrian schloß die Augen. Warum konnte er nicht auch die Ohren schließen? „Sie sind noch ohne Kraft. Trauen Sie sich zu, morgen schon Besuch zu empfangen?“ „Wer will mich besuchen?“ „Ihre schöne Antje, Herr Vickbons und sein Team.“ Adrians Versuch, den Kopf zu heben, mißlang. Er schmerzte bei der geringsten Bewegung. „Sind alle Schwestern im Hause so witzig wie Sie?“ fragte er nach einer längeren Pause. „Sie haben die witzigste zugeteilt bekommen.“ Wenn der Mund lächelte, wurde er noch breiter. „Warum hat man Sie überfallen?“ „Interessiert Sie das?“ „Würde ich sonst fragen?“ Adrian drehte den Kopf ein wenig zur Seite und blinzelte. Diese Samariterin war kaum zu ertragen. „Nicht einschlafen, Herr van Campen! Erinnern!“ 141
„Lassen Sie mich in Ruhe, oder ich beschwere mich.“ „Erst erinnern, Herr van Campen. Danach dürfen Sie schlafen. Schlafen, soviel Sie wollen.“ Adrians Aufmerksamkeit konzentrierte sich ganz auf den frischlackierten Nachttisch. Mit beiden Händen stemmte er sich dagegen. Seine Kraft reichte noch, ihn umzustoßen. Mit lautem Gepolter schlug er auf den Fußboden. Gläser, Röhrchen, Thermometer zerbrachen klirrend. Das farbenfrohe Wesen stürzte Hals über Kopf aus dem Zimmer und ließ den aufsässigen Patienten allein. Zwei Schwestern kamen herbeigeeilt, fühlten den Puls und maßen die Temperatur. Ein Arzt erkundigte sich nach seinem Befinden und suchte behutsam zu erfahren, warum der Nachttisch sein Gleichgewicht verloren habe. Adrians Antwort hatte Kopfschütteln und Stirnrunzeln zur Folge. „Sie müssen geträumt haben, Herr van Campen. Hier im Zimmer war keine Schwester. Wer sollte auch auf den Gedanken kommen, Sie mit Fragen zu quälen.“ Am späten Abend, als Adrian wieder erwachte, saß der Arzt mit betretenem Gesicht auf dem Bettrand. „Es tut mir sehr leid, daß das geschah.“ „Daß ich niedergeschlagen wurde?“ „Nein. Ich spreche von dieser unverschämten Person, die sich für eine Schwester ausgegeben hat und Sie belästigte.“ „Das war keine Schwester?“ „Eine Reporterin vom GROSCHENBLATT.“ Der Arzt seufzte. „Eine Landplage, eine Seuche – dieses Papier. Wo sie eine Sensation wittern, packen sie gierig zu. Motto: GROSCHENBLATT sprach als erstes mit der Leiche.“ 142
Er zog eine Zeitung aus der Tasche seines Kittels. „Liebe-70-Star aus Amsterdam will sich an nichts erinnern“, las er vor. Er legte das Blatt auf die Bettdecke. Ein Foto zeigte den Taxistand am Hansaplatz, wo Männer des Unfalldienstes dem blutüberströmten Adrian einen Kopfverband anlegten. Ein zweites präsentierte das Opfer des Überfalls schlafend im Krankenhausbett. Adrian begann zu lesen. „Die Polizei hüllt sich in Schweigen. Der ausländische Gast, Starnachwuchs und Publicity-Held Nummer 1 an der Amstel, erinnert sich an nichts. Kann er oder will er sich nicht erinnern? Die Mieter vom Hansaplatz 18 haben gellende Schreie gehört, Hilferufe, Morddrohungen und Röcheln. Viele von ihnen trauen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr vor die Haustür. Sie haben Angst vor Schlägerbanden und Rollkommandos, die wehrlose Passanten krankenhausreif schlagen. Schluß damit! GROSCHENBLATT mahnt: Ruhe und Ordnung an erster Stelle! Attraktives Nachtleben erst danach! GROSCHENBLATT fordert: Strenge Maßnahmen gegen die Rowdys! GROSCHENBLATT legt den Finger auf die Wunde. Ehe dieses Verbrechen nicht die gerechte Sühne findet, läßt GROSCHENBLATT nicht locker. Es ruft von dieser Seite aus allen Berufskollegen der europäischen Metropolen zu: Helft uns, dem nächtlichen Terror ein Ende zu machen! Jagt die Ruhestörer aus ihren Schlupfwinkeln! Schafft weltoffene, aber auch saubere und sichere Städte! SCHAU HIN, die große Illustrierte aus Amsterdam, ist als erste Zeitung dem Aufruf von GROSCHENBLATT gefolgt. Morgen trifft ihr Kamerateam, geleitet von Chef143
redakteur Philipp Vickbons, bei uns ein. Gemeinsam mit GROSCHENBLATT wird SCHAU HIN die Hintergründe des Verbrechens am Hansaplatz enthüllen.“ Adrian ließ die Zeitung sinken. „Können Sie den Journalisten nicht das Haus verbieten?“ „Ich kann es nicht“, erwiderte der Arzt. „Das ist Sache des Chefarztes.“ Er nahm die Zeitung wieder an sich. „Man darf die Macht eines solchen Blattes nicht unterschätzen. Vor Monaten hat sich ein Krankenhaus in Eppendorf stark gemacht und zudringliche Presseleute an die Luft gesetzt. Das ist den Ärzten teuer zu stehen gekommen. Keine Woche verging mehr, ohne daß Berichte über Unregelmäßigkeiten der Krankenhausverwaltung, enttäuschte Patienten, mangelnde Hygiene oder Kunstfehler der Ärzte veröffentlicht wurden.“ „Wie wird sich Ihr Chefarzt verhalten?“ „Das ist fast eine Examensfrage, Herr van Campen.“ Der Arzt sah Adrian nachdenklich an. „Die beantworte ich nur ungern. Zunächst wird Professor Zeißner wahrscheinlich diesen Herrn aus Amsterdam und den Chefredakteur vom GROSCHENBLATT zu einem Cocktail bitten und ihnen nahelegen, so viel Rücksicht wie möglich auf unsere Kranken zu nehmen. Ganz im Interesse der GROSCHENBLATT-Forderung: mehr Ruhe, mehr Ordnung, mehr Sicherheit. Solange die Fotografen und Reporter hier auf Pantoffeln ’rumschleichen und sich an seine Anweisungen halten, wird er sie ungeschoren lassen.“ Liebe 70 im Krankenzimmer, das hätte noch gefehlt, dachte Adrian. Vickbons hatte der Effekte genug, er brauchte sie nur zu arrangieren. Das zertrümmerte Kunsthistoriker-Seminar, die vermeintlichen Provo-Exzesse waren ein angemessener Auftakt. Bombenleger am Turfmarkt – die 144
Steigerung! Jetzt aber kam es noch besser: Karbolgeruch, Seine Majestät, der Chirurg, als Herr über Leben und Tod; das machte sich so seriös für die Onkel und Tanten unter den Lesern. Und für die Freunde des Horrors steht ein Zuhälterschuppen und eine Spielhölle am Hansaplatz bereit. Zwischen beiden hin- und herpendelnd die verzweifelte Antje, die endlich ihren totgeglaubten Freund, mit müdem Lächeln auf den umschatteten Zügen, im Sankt-GeorgHospital wiederfindet. Was hatte das alles noch mit Weterings Konzeption zu tun? Mit dem Alltag junger Leute aus den Niederlanden? Der Arzt hatte die Vorhänge zugezogen. „Sie müssen viel schlafen, Herr van Campen. Heute wird Sie niemand mehr stören.“ „Und morgen?“ „Besuchszeit im äußersten Falle eine halbe Stunde. Mehr werde ich nicht gestatten.“ Er nickte Adrian freundlich zu und schloß leise die Tür hinter sich. „Bitte die letzte Einstellung noch einmal!“ Vickbons sprang behend um das Krankenbett herum und korrigierte die Scheinwerfer. „Antje, bitte denken Sie daran: Ihre Mimik muß noch eine Spur dramatischer wirken. Wenn Sie die Tür öffnen und Adrian blaß und abgekämpft in den Kissen sehen, dann muß sich in Ihrem Gesicht all das widerspiegeln, was das Herz einer Liebenden bewegt. Die Freude, ihn wiederzusehen, heißes Mitgefühl, Zorn auf die Verbrecher, die Ihren Geliebten zusammenschlugen. Ist das klar?“ Antje bejahte. „Bleiben Sie aber trotz allem so anmutig, lieblich und bezaubernd, wie unsere Leser Sie kennen und schätzen. 145
Keine Tränen, keine verzerrten Lippen, keine rollenden Augen.“ Vickbons hob die Hand. „Achtung! Wiedersehen im Sankt-Georg-Hospital zum vierten Mal.“ Zum vierten Mal öffnete sich die Tür, und Antje trat mit einem großen Strauß Sommerastern an Adrians Bett. Zum vierten Mal öffnete Adrian mühsam die Augen, erkannte Antje, streckte ihr zwar matt, aber dennoch glücklich die Arme entgegen. Von der Straße drang vielstimmiges Geschrei in das Zimmer. „SCHAU HIN ’raus, SCHAU HIN ’raus!“ Vickbons war mit einem Satz am Fenster. „Was soll das bedeuten?“ Er riß das Fenster auf. „SCHAU HIN ’raus, SCHAU HIN ’raus, werft sie aus dem Krankenhaus!“ riefen Sprechchöre laut und deutlich. „Her mit den Kameras!“ befahl Vickbons. „Die werden wir uns kaufen.“ „SCHAU HIN und das GROSCHENBLATT verpesten unsere Hansestadt!“ ertönten einzelne Rufe, worauf der Chor wieder einfiel: „SCHAU HIN ’raus, SCHAU HIN ’raus, werft sie aus dem Krankenhaus!“ „Warum greift die Polizei nicht ein?“ schrie der Chefredakteur aufgebracht. „Wer garantiert hier eigentlich Ruhe und Ordnung?“ „Schluß für heute, meine Herren!“ Der Arzt war unbemerkt ins Zimmer getreten. „Ihre halbe Stunde Besuchszeit ist abgelaufen.“ Mit einer Gebärde, die keinen Widerspruch zuließ, wies er die Journalisten vom Fenster. „Beugt man sich dem Terror der Straße?“ knirschte Vickbons. „In Amsterdam hätte man diese Mini-Revoluzzer auseinandergeknüppelt. Die Hanseaten fassen ihre Provos wohl mit Samthandschuhen an.“ 146
Um die Mundwinkel des Arztes zuckte es leicht. „Jeder erntet, was er gesät hat, Herr Vickbons. Darf ich Ihnen einen Rat geben? Wenn Sie jetzt unser Haus verlassen, benutzen Sie besser den Ausgang, der an der Küche vorbeiführt. Es wäre schade um die wertvollen Kameras.“
Gegen Abend klopfte es leise. Antje stand in der Tür. „Der Arzt hat mir eine Viertelstunde erlaubt. Darf ich dich stören?“ „Setz dich, fünfzehn Minuten sind schnell vorbei.“ Adrian richtete sich auf und nahm sie in seine Arme. „Nicht so heftig, Lieber.“ Sie faßte nach ihren Haaren. „Geht es dir besser?“ „Solange du bei mir bist.“ „Hätten wir uns diese Geschichte nicht sparen können? Mußtest du unbedingt nach Hamburg?“ „In Brüssel hätte mir dasselbe passieren können.“ „Warum wolltest du mir weismachen, du müßtest für zwei Tage nach Brüssel?“ „Ich war in Brüssel.“ „Für ein paar Stunden.“ „Weißt du das so genau?“ Antje lachte. „Versteckspielen lohnt sich nicht für dich. Dein Gesicht ist schon zu bekannt, Liebster. Man registriert alles, was du tust.“ „Wer registriert?“ „Ich kenne keine Namen. Aber im Verlag weiß man immer, wo du bist. Und ich bin ganz froh darüber. Denke doch an unseren Vertrag! Es hängt zuviel davon ab. Für dich, für mich, für SCHAU HIN.“ „Ich werde nicht vertragsbrüchig, Antje. An den Ta147
gen, die ich für Hamburg eingeplant hatte, waren keine Termine angesetzt.“ „Du bist entsetzlich leichtsinnig, Adrian. Wer sich mutwillig in Gefahr begibt, wer den Einzelgänger spielt, sich mit Provos und Ganoven einläßt …“ „Hör auf!“ Adrian sah ihr prüfend in die Augen. „Warum versteckst du dich hinter Vickbons Worten?“ „Du irrst dich gründlich.“ Antje fuhr hoch. „Kaum bin ich mit dir allein, fängst du Streit an. Wer steht zwischen uns? Etwa diese Wilhelmina?“ „Was weißt du über sie?“ fragte er verblüfft. „Daß sie tingelt. Das sie sich im Paradiso an dich ’rangemacht hat. Daß du wie verrückt herumgerannt bist, als sie aus Amsterdam verschwand. Das alles erfahre ich von anderen. Warum sagst du mir kein Wort davon? Was wolltest du von ihr?“ „Ich habe geglaubt, sie wüßte Bescheid, wie einige Dinge zusammenhängen. Dinge, über die ich mir viel Gedanken gemacht habe.“ „Beziehen sie sich auf Ervens Tod?“ „Ja. Inzwischen habe ich gemerkt, daß sie sich nur interessant machen wollte.“ „Gott sei Dank, daß du das einsiehst! Vickbons kennt ihre Masche, er hat sie längst durchschaut.“ „Reden wir nicht mehr davon.“ Adrian nahm ihre Hand. „Erzähle mir lieber, was sich inzwischen zu Hause getan hat. Wie bist du mit Roetert verblieben?“ „Die wollen mich groß ’rausbringen. Nicht nur Bademoden, auch Pelz- und Winterkollektion! Mein Kleiderschrank wird schon zu klein für all die chicen Modelle“, sagte sie übermütig. „Wenn du wieder gesund bist, sollst du natürlich auch mitmachen. Sie legen großen Wert auf dich.“ 148
„Ich habe kein Talent zum lebenden Kleiderständer.“ „Werde nur erst einmal gesund.“ Antje küßte ihn zärtlich. „Nichts ist wichtiger. Übrigens, Phil meint, dies Intermezzo in Hamburg mit Zwielicht, Hansaplatz und Krankenhaus würden ihm die Leser aus der Hand fressen. Es wird ein Superknüller.“
In mehreren kleinen Trupps zu sechst oder acht kamen sie den Steindamm hinunter. An der Kreuzung schienen sie sich zu sammeln, doch dann verloren sie sich wieder im Gewühl der Passanten. Wenig später jedoch sickerten einzelne Gruppen in das Gelände des Sankt-GeorgHospitals ein. Einige umlagerten die Portiersloge und verwickelten den Pförtner in eine längere Diskussion, andere kletterten über die Mauer des Krankenhausgartens und liefen auf die Wirtschaftsräume zu, während eine dritte Gruppe auf dem Umweg über den Heizungskeller in die oberen Stockwerke eindrang. Der letzte Trupp postierte sich auf dem Dach eines kleinen Vorbaus. Von dort aus erscholl auch der Sprechchor: „Erst Manipulation, dann Kapitulation? Zum Frühstück eine Leiche, zum Abendbrot ’ne nackte Frau, das Rezept ist stets das gleiche, GROSCHENBLATT, SCHAU HIN, schau, schau!“ Vickbons trat auf den kleinen Balkon von Adrians Zimmer und winkte den jungen Leuten zu. „Vielen Dank für die kostenlose Werbung!“ Er rief einen der beiden Kameramänner herbei. „Schef149
fer, wir unterbrechen erst einmal hier oben. Jeden Augenblick kann die Polizei eingreifen. Suchen Sie sich geeignetes Schußfeld. Und so viel Handgemenge wie möglich ins Objektiv!“ Der Kameramann packte seine Ausrüstung zusammen. Vickbons kehrte zu Adrian und Antje zurück. „Ihr braucht nichts zu befürchten. Die Polizei weiß, wie man mit diesen Typen fertig wird.“ „Ich sehe aber keinen einzigen Polizisten“, rief der zweite Mann vom Aufnahmeteam, „nur Kommandotrupps. Die rückten uns verdammt auf den Pelz.“ Der Chefredakteur stürzte auf den Balkon und beugte sich über die Brüstung. „Das ist ja sagenhaft“, fluchte er. „Völlig unbehelligt klettert die APO hier zu uns herauf.“ Vom Balkon des ersten Stockwerkes flogen Tomaten und Eier nach oben. „Türen und Fenster schließen!“ ordnete Vickbons an. Er war blaß geworden. „Phil, laß uns abbrechen, ehe es noch schlimmer kommt.“ Antje saß zitternd neben Adrian. „Ich verstehe nicht, wo der versprochene Polizeischutz bleibt.“ Der Chefredakteur bemühte sich, seiner Stimme Festigkeit zu geben. „Außerdem verfügt das Krankenhaus ja auch über Personal, um Ruhe zu gewährleisten.“ Die Tür wurde geöffnet. Ein graubärtiger Fünfziger in weißem Kittel trat ins Zimmer. „Sie müssen das Hospital sofort verlassen, Herr Vickbons. Bitte weisen Sie Ihre Mitarbeiter an.“ „Unmöglich, Herr Professor. Wir brauchen mindestens noch eine halbe Stunde.“ „Keine Minute mehr“, sagte der Chefarzt entschieden. „Aber wir hatten doch Ihre Zusage.“ 150
„Legen Sie Wert auf ein Handgemenge mit der APO?“ Die Augen hinter den Brillengläsern musterten Vickbons ironisch. „In diesem Fall sollten Sie zur Auffahrt gehen, dort wird es Ihnen an Gelegenheit nicht mangeln.“ Seine Stimme wurde hart. „Hier in den Krankenzimmern wird nicht gekämpft. Weder für die Freiheit der Presse noch für die Vergesellschaftung des GROSCHENBLATTS.“ Vickbons gab noch nicht auf. „Herr Professor, die Polizei hat mir persönlich zugesichert …“ „Die Polizei ist hier nicht Hausherr“, unterbrach ihn Professor Zeißner scharf. „Wollen Sie bitte auf der Stelle meinen Anweisungen Folge leisten!“ Über dem Jungfernstieg lag der Schein der Nachmittagssonne. Es war fünf Tage nach den Ereignissen im Krankenhaus. Adrian durfte sich frei bewegen, blieb aber noch in Behandlung. Er verließ den kleinen Alsterdampfer und überquerte den breiten Fahrdamm. Vor der Filiale der Dresdner Bank blieb er stehen, augenscheinlich gefesselt von den letzten Notierungen des Kurszettels. Das Glas der Fensterscheibe bestätigte ihm seine Vermutung, der Breitschultrige war ihm wieder auf den Fersen. Er hielt sich zwar in respektvoller Entfernung, und eben studierte er an einem Zeitungsstand die Titelseiten der Illustrierten, doch ließ er kein Auge von seinem Landsmann. Eine amerikanische Reisegesellschaft, die lärmend fast den ganzen Bürgersteig für sich beanspruchte, kam Adrian sehr gelegen. Er mischte sich unter die Gruppe, um hundert Meter weiter, gedeckt durch zwei baumlange Touristen, in die Vorhalle eines Kaufhauses einzuschwenken. Der vorspringende Erker im ersten Stock verschaffte ihm den gewünschten Überblick. 151
Sein Schatten stand unschlüssig an der Abzweigung Alsterarkaden, machte langsam kehrt und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Er äugte nach links und rechts, spähte in die kleinen Läden, passierte das Kaufhaus und drehte bei der Bankfiliale wieder um. Dabei geriet er in das Schußfeld eines Straßenfotografen, der auf der Jagd nach Kunden war. Der Mann aus Amsterdam lehnte unwirsch ab. Doch als er an der Arkadenecke nochmals umkehrte, nahm ihn der Lichtbildner erneut ins Visier. Der Breitschultrige machte eine ärgerliche Handbewegung und wechselte die Straßenseite. Einige Minuten lang musterte er kritisch alle brünetten jungen Männer, die an ihm vorbeikamen, dann verschwand er im Terrassenrestaurant Alsterpavillon. Adrian winkte den Fotografen heran, lächelte zufrieden, gab ein stattliches Trinkgeld und folgte seinem Landsmann. Von der Garderobe des Restaurants aus konnte er sehen, daß der Breitschultrige inzwischen an einem Tisch auf der Balustrade saß, neben ihm ein älterer Herr mit rosiger Glatze und scharf vorspringender Nase. In der zweiten Juliwoche schien sich alle Welt in Hamburg zu treffen. Jan van Laar machte da keine Ausnahme.
Eine halbe Stunde nach Schluß der letzten Vorstellung im Hansa-Variete war im Artisten-Keller Hochbetrieb. Als Adrian kurz vor Mitternacht dort einkehrte, empfing ihn die Wirtin mit Augenzwinkern. „Sie werden schon erwartet. Gehen Sie gleich rechts durch die Tür, wo ‚Privat‘ draufsteht.“ 152
In dem winzigen Hinterzimmer saß Wilhelmina Steyn bei einem Glas Tee. „Mutti Dolores ist ein Goldstück“, sagte sie. „Wie sie das geschafft hat, Sie hierherzulotsen! Ich dachte, Sie würden auf ein Rendezvous mit mir keinen Wert mehr legen.“ „Es ist Ihr Risiko, Wilhelmina. Nicht meins.“ Adrian setzte sich. „Ahnen Sie denn, was für mich dabei auf dem Spiel steht?“ „Ich denke schon. Wer Erven Wetering umbrachte oder umbringen ließ, der verfügt über einige Macht. Sonst würde er nicht so viel Hilfstruppen aufmarschieren lassen, um die Aufklärung zu verhindern.“ „Sie sind ein richtiger Sankt Georg, ein Ritter gegen Tod und Teufel, Adrian van Campen. Es wäre schön, Sie könnten mir etwas abgeben von Ihrer Courage.“ „Als wir im Paradiso zusammen tanzten, hatten Sie genug.“ „Mut der Verzweiflung und drei Cocktails zuviel. Damals war ich ganz unten, keine Chance … ich hätte mir ’nen Strick nehmen können. Was heißt da schon Courage.“ „Seit dem Festival in Scheveningen hört man nichts mehr von Ihnen. Warum?“ „Darauf gibt es viele Antworten.“ „Mich interessieren alle.“ „Gut. Erstens: Ich habe gegen die Spielregeln verstoßen. Zweitens: Ich habe mich zu sehr auf Dick Kaiser verlassen. Drittens: Ich habe Franz van Laar nicht für so gefährlich gehalten. Viertens: Ich habe nicht einkalkuliert, daß Vickbons und van Laar unter einer Decke stecken. Wenn einer von beiden in die Klemme gerät, hilft ihm der andere heraus.“ „In welche Klemme kann ein Hitkönig geraten?“ 153
Sie lachte auf. „Waren Sie nicht Gast bei seiner Einstandsparty in der Prinzengracht?“ Adrian nickte. „Dann haben Sie gesehen, auf welch großem Fuß er lebt. Und das ist noch nichts, gemessen an den sogenannten Werbungskosten – er zahlt den Diskjockeis, damit sie seine Platten auflegen, den Bands, damit sie seine Schlager unters Volk bringen. Seine Schlager!“ „Warum sagen Sie das so bitter?“ „Seit drei Jahren hat er keinen Einfall, aber alle Vierteljahre drei neue Erfolgstitel.“ „Und wer komponiert sie?“ „Dick Kaiser.“ „Das nehmen Sie doch nur an.“ Sie schüttelte den Kopf. „Dick und ich, wir lebten eine Zeitlang zusammen. Da bleibt einem nichts verborgen. Acht Erfolge, großartige Sachen waren darunter – wie ‚Blauer Strand‘ und ‚Hallo, Jimmy‘ –, hat Dick komponiert, während ich dabei war. Als Kompositionen Franz van Laars kamen sie später auf den Markt. Van Laar hat eben den Namen. Er war überall eingeführt, ihm nahm man alles ab. Keiner weiß, daß er seit achtundsechzig völlig ausgebrannt ist, keiner weiß es außer Dick und mir.“ „Und Erven Wetering?“ „Immer der Reihe nach. Sie wollten wissen, warum seit Scheveningen alles vorbei war für mich.“ Wilhelmina stützte den Kopf in die Hände. „Ich bin so: Wenn mich jemand enttäuscht, so richtig enttäuscht, trink’ ich mal ein Glas zuviel. Das habe ich in Scheveningen auch getan. Weil Dick sich wieder einmal in den Hintergrund hatte drängen lassen. Da brauchte van Laar nur ein falsches Wort zu sagen, und ich riskierte ’ne Lippe. Das traf ihn. Er ließ mich abschirmen, Vickbons kaufte den Jour154
nalisten, die zugehört hatten, meine sogenannten Indiskretionen ab, und ich war erledigt.“ „Auch für Dick Kaiser?“ „Ich war sein schlechtes Gewissen. Wenn er mich sah, erinnerte ich ihn an seine Feigheit, daran, daß er immer nur kleine Anläufe unternahm, aber nie den Mut hatte, sich auf eigene Füße zu stellen. Was sollte er noch für mich tun? Er lebte weiter von den Brosamen, die von des Herrn Tische fielen, und wenn Erven Wetering nicht dahintergekommen wäre …“ „Machten Sie Erven darauf aufmerksam?“ Sie zündete sich eine Zigarette an. „Wir kamen ins Gespräch. Aber da war es schon nahe an der Wahrheit. Acht Nächte im Paradiso und Eldorado, immer Dick Kaiser auf den Fersen, ihn ausquetschend nach allen Regeln der Kunst, das konnte Franz van Laar nicht mit ansehen. Er selbst stellte sich Weterings Fragen, versuchte sein Glück mit Retuschen, Verschleierung und Entstellung. Aber Wetering ging ihm nicht auf den Leim und erfuhr so fast alles, was er für seine Story brauchte. Dicks Gesicht hellte sich von Tag zu Tag mehr auf. Endlich hatte er jemanden gefunden, der ihm den Rücken stärkte und der für ihn die Kastanien aus dem Feuer holen würde. Van Laar wurde immer ungenießbarer.“ „Wann haben Sie mit Erven Wetering über dieses Thema gesprochen?“ „Das erste Mal muß es Mitte Juni gewesen sein. Das zweite Mal ein paar Tage vor seinem Tod. Ich sagte ihm, wenn ihm noch Material fehle, brauche er sich nur an mich zu wenden. Er wollte mich anrufen.“ „Als Sie von Ervens Tod erfuhren – was war Ihr erster Gedanke?“ „Kein Unfall.“ 155
„Und der zweite?“ „Wieder ist Franz van Laar über die Runden gekommen!“ „Wie gut kennen Sie eigentlich Dixmuiden?“ „Das Grundstück am Strandweg kenne ich ganz gut. Ich war mehrmals dort mit Dick Kaiser, wenn bei den van Laars eine Party stattfand.“ „Und wie sieht es dort aus?“ „Die Villa ist sehr geräumig, aber mehr in altem Stil eingerichtet, so nach dem Geschmack Jan van Laars. Der Sohn hat sich hundert Meter daneben einen supermodernen Bungalow bauen lassen. Dort hat er gewohnt, bis er in die Prinzengracht umgezogen ist. Ein Bootsschuppen und ein Anlegesteg gehören zum Grundstück.“ „Und von diesem Anlegesteg haben Sie gesprochen, als wir uns im Paradiso über Weterings Tod unterhielten.“ „Ja. Er liegt sehr geschützt, ist durch Baumgruppen abgeschirmt, weder von links noch von rechts einzusehen. Falls Wetering mit seiner Delphin dort festgemacht hat, um Franz van Laar an Bord zu nehmen, dann braucht das kein Nachbar gesehen zu haben.“ „Und Sie? Waren Sie am dreiundzwanzigsten Juni in Dixmuiden?“ „Nein.“ „Wissen Sie, ob Franz van Laar zur fraglichen Zeit in seinem Bungalow war?“ „Nein. Aber er muß es gewesen sein. Kein anderer Täter kommt in Frage.“ „Warum?“ „Seine Existenz stand auf dem Spiel. Wäre Weterings Story im NEUEN MAGAZIN erschienen, dann wäre Franz van Laar erledigt gewesen. Wenn einer ein Motiv hatte, Wetering aus dem Wege zu räumen, dann er.“ „Wilhelmina, Sie kennen Franz van Laar seit Jahren. 156
Trauen Sie ihm einen Mord zu?“ „Ja.“ „Ich weiß, daß er Ihnen unsympathisch war, daß aus Antipathie Verachtung wurde, aus Verachtung Haß. Aber versuchen Sie bitte, einmal ganz nüchtern …“ „Ich weiß, was ich sage“, unterbrach sie ihn heftig. „Ich kenne van Laar durch und durch. Franz ist ein großer Blender, er wickelt alle ein mit seinem Charme und kann vorzüglich plaudern. Sobald ihm aber jemand in die Quere kommt, dann wird er heimtückisch und brutal. Da ist er ganz der Vater.“ „Was wissen Sie über Jan van Laar?“ „Ich hab’ mit Journalisten gesprochen, die einmal seine Angestellten waren. Er geht nicht nur über Leichen, sagen sie, er fleddert sie auch noch.“ Die Tür wurde einen Spalt geöffnet, und der Wuschelkopf der Wirtin sah herein. „Ihr müßt verschwinden, ich zeige euch den Weg“, flüsterte sie. „Wir kommen gleich, Mutti Dolores“, flüsterte Adrian zurück. „Wilhelmina, würden Sie alles, was Sie mir gesagt haben, auch gegenüber einem Amsterdamer Anwalt, notfalls auch vor einem Gericht wiederholen.“ „Ja.“ „Auch wenn man Ihr Schweigen mit einem Comeback erkaufen wollte?“ „Auch dann.“ Sie nestelte an den Knöpfen ihrer Bluse und löste einen Steckschlüssel von einem Band. „Nehmen Sie den Schlüssel, Adrian. Ich liefere mich Ihnen damit aus.“ „Zu welchem Schloß paßt er?“ Adrian verwahrte ihn in seiner Geldbörse. „Schließfach zweiundneunzig, Postamt sechs in Amsterdam. Bevor ich nach Hamburg fuhr, habe ich alles dort untergebracht, was ich Wetering geben wollte.“ 157
„Diesmal sind Sie sehr mutig, Wilhelmina.“ Er drückte ihr die Hand. „Ich habe etwas gutzumachen.“ Ihre Hand erwiderte den Druck. „Den Schlüssel hätte ich Ihnen schon in Amsterdam geben sollen. Statt dessen verschwand ich einfach ohne ein Wort. Als Sie dann plötzlich im Zwielicht auftauchten, bekam ich Angst um meinen Job. Erst als Sie im Krankenhaus lagen, ist mir klargeworden, daß man nicht feige sein darf.“ Die beiden standen auf und ließen sich von Mutti Dolores durch einen winkligen Gang auf den Hof führen. „Wo brennt’s denn?“ wollte Adrian wissen, als sie im Freien standen. „Ein Landsmann von euch“, antwortete sie. „Dreimal konnte ich ihn abwimmeln, das letzte Mal wäre er beinahe im Hinterzimmer gelandet. Er schwor Stein und Bein, gesehen zu haben, wie Herr van Campen mein Lokal betreten habe. Er müsse ihn heute unbedingt sprechen, es gehe um unaufschiebbare Dinge. Ein Spitzel – wenn ich meine fünf Sinne noch beisammen habe.“ „Wir wären ja schon mit ihm fertig geworden“, meinte Adrian. „Seine Schlägertruppe wartet vielleicht vorm Lokal nur auf seinen Pfiff.“ Die kleine resolute Frau brachte die beiden bis zum Hinterausgang eines Bürohauses. „Jetzt durch den Flur, und ihr seid auf der Kirchenallee. Und dann nichts wie ab ins Zwielicht beziehungsweise ins Hospital.“
„Sie trinken einen Kaffee mit, van Campen?“ fragte Dr. Kroon und holte aus der Schublade ein Glas Pulverkaffee. „Ich glaube, Sie brauchen eine kleine Stärkung.“ 158
„Schlechte Nachrichten?“ Adrian blickte den Anwalt unsicher an. „Gehen wir erst einmal Ihre Neuigkeiten durch. Sie haben einige interessante Informationen mitgebracht, und das Beweismaterial gegen Herrn van Laar entbehrt nicht der Pikanterie. Ein Hitparadenkönig, dem jahrelang nichts einfällt, dessen Einfälle samt und sonders von seinem Arrangeur stammen, das gäbe einen hübschen Skandal, und Erven Wetering hätte damit sicher einen Volltreffer gelandet, aber …“ „Aber?“ „In dieser Branche gilt der Satz: ‚Pack schlägt sich – Pack verträgt sich.‘ Vermutlich hat Dick Kaiser viele neuartige Einfälle, aber ihm fehlt das Talent, sie an den Mann zu bringen. Wäre er cleverer, dann hätte er seinen Komponisten längst austrocknen lassen.“ „Wäre Wetering nicht gestorben, wäre es sicher so gekommen.“ „Lassen wir einmal die Konjunktive aus dem Spiel. ‚Wäre, hätte, würde‘ bringen uns nicht weiter.“ Dr. Kroon nahm ein Stück Zucker und tauchte es in den Kaffee. „Seit Sie nach Hamburg geflogen sind, habe ich mich um das Gespann ein wenig gekümmert. Alle Informationen lauten: Kaiser und van Laar sind einander zugetan. Der Arrangeur fristet kein Aschenbrödel-Dasein. Er fährt jetzt einen Jaguar und lebt auch sonst auf großem Fuß.“ Adrian trank seinen Kaffee, aber er schmeckte ihm nicht mehr. „Wahrscheinlich hat van Laar erhebliche Konzessionen gemacht.“ Der Anwalt nickte. „Sicher, man wird sich geeinigt haben. Übrigens sind die beiden Herren seit zwei Tagen in Venedig, wirken an irgendeinem Festival mit.“ 159
„Eine neue Situation“, überlegte Adrian. „Als ich Kaiser im Paradiso kennenlernte, war er nicht gut auf seinen Brötchengeber zu sprechen. Und was Wilhelmina mir in Hamburg gesagt hat, wird durch das Material aus dem Schließfach bestätigt. Ich habe es nachgeprüft. Ein halbes Jahr bevor sehr erfolgreiche van-Laarsche Kompositionen auf den Markt kamen, hatte Kaiser bereits die Noten, Arrangements und Liedertexte zu Papier gebracht. Vorstudien, Entwürfe, Korrekturen – es liegt alles beieinander.“ „Herr van Campen, verstehen Sie mich bitte nicht falsch“, sagte Dr. Kroon eindringlich. „Daß Erven Wetering seine Zeit im Paradiso und Eldorado nicht verplempert hat, ist anzunehmen. Daß seine Enthüllungen viel Staub aufgewirbelt hätten, ebenfalls. Ein Hitkönig seit Jahren ohne Einfälle! Sein Arrangeur – der wahre Meister der leichten Muse! Vielleicht hätte es Kaiser geholfen, möglich, daß er danach wirklich ein gefragter Mann geworden wäre, der sich nicht mehr hinter einem bekannten Namen zu verstecken brauchte. Ebenso sicher ist auch für mich, daß van Laar sehr genau gespürt hat, was sich da gegen ihn zusammenbraute, daß er kein Mittel unversucht ließ, um die Veröffentlichung der WeteringStory zu verhindern. Nur braucht man nicht unbedingt daraus den Schluß zu ziehen, daß Franz van Laar am dreiundzwanzigsten Juni der zweite Mann an Bord der Delphin gewesen ist.“ „Welche Schlüsse ziehen Sie dann aus dem Kleinkrieg, der gegen mich geführt wird, seitdem ich mit Wilhelmina im Paradiso gesprochen habe? Warum hat Wilhelmina das Engagement so plötzlich bekommen?“ „Man möchte, daß Sie endlich Ruhe geben. Man wollte eine Neuauflage von Wilhelminas Indiskretionen vereiteln.“ 160
„Wer ist ‚man‘?“ Dr. Kroon zuckte die Schultern. Das Telefon klingelte. Er meldete sich. „Was sagen Sie?“ rief er. „Das kann doch nicht wahr sein! In welcher Zeitung? NACHTEXPRESS. Vielen Dank.“ Er packte Adrian an der Schulter. „Von heute ab haben Sie einen Verbündeten!“ „Was ist geschehen?“ „Kommen Sie mit. Drüben am Park ist ein Kiosk. Dort besorgen wir uns den NACHTEXPRESS. Sie werden Augen machen!“ Und Adrian machte Augen. „WETERINGS TOD KEIN UNFALL? RÄCHTEN SICH DIE PROVOS? ERSTE VERHAFTUNGEN!“ So lauteten die Schlagzeilen. Ein zweispaltiges Foto auf der Titelseite zeigte das Büro der Provos, vor dem ein Polizeiwagen hielt. Zwei Provos, die ihre Hände vors Gesicht hielten, wurden aus dem Hausflur gezerrt. „Aufsehenerregende Einzelheiten über die Terrorpraktiken der Ultralinken erfuhren wir aus zuverlässiger Quelle. Im Rahmen ihrer Kampfaktionen gegen die Massenmedien versteiften sich die Provos darauf, die massenwirksame Illustrierte SCHAU HIN unaufhörlich zu attackieren. Was konnte näherliegen, als gegen den Publikumserfolg des Starjournalisten Erven Wetering, Liebe 70, Front zu machen. Nur mit knapper Not konnte Wetering sein Leben retten, als er bei Aufnahmearbeiten in der Palmengracht im Mai dieses Jahres heimtückisch von Provos überfallen wurde. Es gibt Zeugen genug, die deutlich gehört haben, wie Morddrohungen gegen den Journa161
listen laut wurden. Im Juni, wenige Tage vor seinem Tod, wurde er in der Nähe seiner Wohnung überfallen, und wichtige Unterlagen fielen in die Hände der Provos. Studentenkrawalle in der Universität wurden benutzt, um das Kunsthistorische Seminar zu demolieren und die Examensarbeit des Helden von Liebe 70, Adrian van Campen, zu vernichten. Zusammenstöße mit der Hamburger Polizei vor dem Sankt-Georg-Hospital dienten einzig dem Zweck, die Aufnahmearbeiten des SCHAU-HIN-Teams zu sabotieren. Hatte man dabei auch im wesentlichen die APO eingespannt, so geht aus den Vernehmungen klar hervor, daß die Aktion von Amsterdam aus inspiriert wurde. Heute früh um acht Uhr wurde im Provo-Büro ein Papier beschlagnahmt, das weitere Anweisungen enthält für Terroraktionen gegen die Massenmedien. Unsere Redaktion kann als erste den Nachweis führen, daß die Radikalinskis in Erven Wetering nicht nur den SCHAU-HINJournalisten treffen wollten, sondern auch den intimsten Kenner der Provo-Machenschaften. Bereits für August hatte der NACHTEXPRESS eine große Wetering-Story vorbereitet: ,Provos heute – Minigangster oder ferngesteuerte Kommandotrupps‘, Enthüllungen, die von den Rädelsführern gefürchtet wurden. Ihre Antwort: die Beseitigung des zu gut informierten Journalisten.“ – Unterzeichnet mit K. V. Dr. Kroon schüttelte den Kopf. „Dieser Klaas Vermeulen ist einmal ein guter Reporter gewesen. Warum schmiert er jetzt solchen Unsinn zusammen?“ „Ich begreife die Polizei nicht.“ Adrian steckte die Zeitung in die Rocktasche. „Nichts als Kombinationen und Unterstellungen. Wie kann das ausreichen für einen Haftbefehl?“ 162
„Die Herren haben sich abgesichert. Ich kenne das. Jetzt ist es zu spät, um heute noch etwas zu erreichen. Aber morgen früh um neun bin ich beim Untersuchungsrichter.“ „Was kann man noch tun?“ „Wie ich Vermeulen kenne, wird er Ihnen heute noch über den Weg laufen.“ Kroon lächelte. „Sie sollten ihm nicht ausweichen, sondern sich von ihm überzeugen lassen, daß die Provos an allem schuld sind.“ „Spiel mit verdeckten Karten?“ „Solange wir nicht sämtliche Trümpfe in der Hand halten, die brauchbarste Taktik, van Campen.“ Eine leichte Brise kräuselte das Wasser der Zuidersee, das der letzte Schein der Abendsonne golden färbte. Mehrere junge Leute im Sporttaucherdreß standen auf einem schmalen Bootssteg und schauten gespannt in Richtung der untergehenden Sonne, als erwarteten sie von dort etwas Außerordentliches. „Glaubt ihr, er schafft es?“ fragte einer. „Wenn er noch drei Minuten unten bleibt, schafft er uns alle“, wurde erwidert. „Das wäre ’ne Wolke, nach drei Wochen Urlaub.“ Adrian näherte sich dem Steg. „Privatgelände!“ wies man ihn zurecht. „Ist bekannt“, sagte er und ging auf einen der Taucher zu. „Wir sehen uns nicht zum ersten Mal.“ Der Angesprochene zog die Taucherbrille ab. „Ach, Sie sind das! Stimmt, wir hatten schon mal das Vergnügen. Um was geht es denn heute?“ „Um dasselbe. Ich suche einen Zeugen für den Segelunfall beim Bloemwarder am dreiundzwanzigsten Juni.“ „Warten Sie, bis Siefke wieder an Land ist.“ Zwanzig Meter vom Steg entfernt kam der Kopf eines 163
Froschmanns zum Vorschein. Mit kräftigen Stößen erreichte er den Steg, schwang sich hinauf und riß sich die Kappe ab. „Geschafft, Freunde!“ Seine Kameraden umringten ihn. „Bestzeit, Siefke!“ Adrian gratulierte ihm ebenfalls. „Könnte ich Sie für ein paar Minuten sprechen?“ Siefke sah ihn erstaunt an. „Sie sind doch nicht etwa von der Presse?“ „Nein. Aber es ist mir sehr wichtig.“ „Meinetwegen, dann opfere ich mich.“ Er ging mit Adrian einige Schritte am Ufer entlang. „Mir wurde gesagt, daß Sie hier sehr häufig trainieren und daß Sie auch am dreiundzwanzigsten Juni im Wasser waren“, sagte Adrian. „Das stimmt.“ „Der Dreiundzwanzigste war ein stürmischer Tag mit Böen von Stärke sieben bis acht.“ „Na und? Ich trainiere bei jedem Wetter.“ „Können Sie sich noch an den Segelunfall erinnern?“ Siefke dachte eine Weile nach. „Da ist ein Starboot gekentert, stimmt’s?“ „Haben Sie beobachtet, wie das vor sich ging?“ „Nicht direkt. Aber das mußte so kommen. So wie die beiden da ’rummanövrierten, das konnte nicht anders enden als mit Kentern.“ „Können Sie beschwören, daß es zwei Mann waren? In der Zeitung schrieb man, nur einer sei an Bord gewesen.“ „Zeitung.“ Er spuckte verächtlich aus. „Was die Brüder sich aus den Fingern saugen! Hocken am Schreibtisch und wissen alles besser. Was ich gesehen habe, hab’ ich gesehen. Es waren zwei an Bord, und die beiden wa164
ren keine Crew. Sie harmonierten nicht. Einer wollte schlauer sein als der andere.“ „Wie weit war das Boot von Ihnen entfernt?“ „Schätze sechs- bis siebenhundert Meter. Reichte völlig, um zu beobachten, was sich an Deck abspielte. Steuermann und Vorschotmann hatten sich in der Wolle. Das mußte schiefgehen.“ „Wo kenterte das Boot?“ „Das hab’ ich nicht gesehen, könnte hinter der Insel gewesen sein.“ „Würden Sie das auch der Polizei erzählen?“ „Worauf wollen Sie hinaus?“ „Ein Starboot ist gekentert, eine Leiche wurde an Land gespült. Wo blieb der zweite?“ Siefke setzte sich auf einen Stein. „Ich würde sagen, der zweite hat’s Kentern besser überstanden. Nur kein Interesse daran, sich zu melden.“ Er schaute Adrian offen an. „Kennen Sie den zweiten?“ „Ich suche ihn. Der andere war mein Freund.“
Das Teewasser summte. „Wenn du aufgießt, für mich heute sehr stark, Adrian.“ Antje stand vor dem Spiegel und betrachtete sich wohlgefällig in dem gutsitzenden Hosenanzug. Sie freute sich über die neuen Ohrclips. „Gefalle ich dir?“ „Besser ohne Armband, Ohrringe und Diamantring.“ „Machst du dir nichts mehr aus Schmuck?“ Adrian goß das sprudelnde Wasser in die Teekanne. „Ich habe Schmuck gern, Antje. Aber dir sieht man an, daß du Schleichwerbung für Juweliere machst.“ „Lieber blaue Diamanten als ein blaues Auge“, gab sie schnippisch zurück. 165
„Seit wann ist Antje so schlagfertig?“ Er trat an den Spiegel und drehte sie zu sich herum, so daß er ihr ins Gesicht schauen konnte. „Früher hast du ernst genommen, was ich dir sagte. Auf wen hörst du jetzt?“ „Auf Leute, die tonangebend sind. Die wissen, wie man jemanden aufbaut, die nicht von einer fixen Idee besessen sind.“ „Bin ich das?“ Er lächelte. „Du weißt doch, seit Hamburg bin ich kuriert.“ „Hoffentlich.“ Sie setzte sich an den kleinen Tisch und schenkte ein. „Wenn du nicht wieder so anfängst wie damals, als du aus Zuiderhart zurückkamst, kann es werden wie früher.“ „So fängt es sicher nicht wieder an, Antje. Was steht noch zwischen uns?“ Sie zauderte einige Augenblicke mit der Antwort. „Ich werde nicht klug aus manchem. Seit acht Tagen habe ich hier Telefon, und jetzt kommen merkwürdige Anrufe, die ich nicht verstehe.“ „Wer ruft dich an?“ „Sie will gar nicht mich sprechen, sondern dich, und zwar sofort. Phil hat zwar gesagt, ich soll dich damit nicht behelligen, du seist eben erst zur Ruhe gekommen, aber ich mag solche Geheimnistuerei nicht.“ „Wer hat angerufen, Antje?“ „Bleibst du trotzdem ganz vernünftig?“ „Ja, ja.“ „Versprich es mir.“ Er streckte ihr die Hand hin. „Du kannst dich auf mich verlassen, Antje.“ „Abgemacht.“ Sie ließ einige Sekunden vergehen, dann sagte sie leise: „Diese Sängerin will irgend etwas von dir.“ 166
„Wilhelmina Steyn?“ „Ja. Gestern abend hat sie angerufen, du warst nicht da. Heute früh wieder. Sie hat dir auch geschrieben …“ „Aus Hamburg?“ „Nein, es war ein Stadtgespräch.“ „Unmöglich. Sie steht noch drei Wochen unter Vertrag im Zwielicht.“ „Das Gespräch kam aus der Stadt“, sagte Antje. Ein Klingeln unterbrach sie. „Ich schau schnell mal nach, wer draußen ist.“ Adrian erkannte die ölige Stimme des Chefredakteurs. Vickbons, in Hut und Regenmantel, kam eilig ins Zimmer. „Tut mir leid, Kinder, aber ein so wunderbarer Regen! Ja, merkt ihr denn das gar nicht? Den müssen wir nutzen! Schnell, Adrian, machen Sie sich fertig!“ „Sie wissen, was auf dem Attest steht. Bis übermorgen habe ich Schonzeit.“ „Ich weiß. Bestehen Sie ein einziges Mal nicht auf Ihrem verbrieften Recht. Wir hatten Ungelegenheiten genug durch Sie.“ „Adrian, Liebling, zieh dich schnell um! Ich bin schon fertig.“ Antje stand in einer weinroten Regengarnitur in der Tür. Adrian zögerte. „Riverboat-Show auf der Amstel!“ Vickbons trat von einem Fuß auf den anderen. „Seit Wochen plan’ ich das, und heute haben wir das ideale Wetter dafür. Vor einer Woche zwar hatten wir einen prima Landregen, aber da mußten wir ja Hals über Kopf nach Hamburg.“ „Meinetwegen.“ Adrian ging zur Flurgarderobe. „Warten Sie unten im Wagen auf mich.“ „Wozu? Warum gehen wir nicht alle zusammen“, fragte Vickbons erstaunt. 167
„Wenn ich mitkommen soll, muß ich noch eine Verabredung absagen.“ „Adrian, du hast mir versprochen, vernünftig zu sein“, sagte Antje bittend. „Ich werde doch noch telefonieren dürfen.“ „Wohl mit Wilhelmina“, entfuhr es Antje. Vickbons stieg die Zornröte ins Gesicht. „Diese Dame hat uns genug Ärger gemacht.“ „Würden Sie mir gestatten, mich selbst um meine Privatangelegenheiten zu kümmern“, erwiderte Adrian schroff. „Ich hoffte, Sie hätten aus dem Hamburger Abstecher Lehren gezogen“, sagte Vickbons mokant. „Wer für SCHAU HIN arbeitet, muß im Privatleben zurückstecken.“ „Wir könnten längst alle drei unten im Wagen sein. Statt dessen vergeuden wir Zeit mit Grundsatzerklärungen.“ „Kommen Sie, Antje. In zwei Minuten erwarten wir Herrn van Campen unten.“ Als die Tür hinter beiden ins Schloß gefallen war, wählte Adrian Wilhelmina Steyns Nummer. Niemand meldete sich. Er versuchte es noch ein zweites Mal. Wenn sie nicht zu Hause war, mußte sich wenigstens Frau Brouwster melden. Zwei Minuten waren längst vergangen, da rief Adrian die Störungsstelle an und bat, den Anschluß zu überprüfen. „Was wollte die Sängerin von dir?“ fragte Antje später. „Das ist eine lange Geschichte.“ Adrian winkte ab. „Wenn wir von der Show zurück sind, erzähle ich sie dir.“
Die Riverboat-Show war zu Ende, und immer noch regnete es in Strömen. Als Adrian am Vischerdamm aus dem Taxi stieg, sah er im Schein der Bogenlampen einen 168
Wagen des Rettungsdienstes vor dem Etagenhaus Nummer sieben parken. Im Treppenhaus drängten sich Frauen in Nachtjacken und Lockenwicklern, Halbwüchsige und Männer mit strubbligen Haaren in Bademänteln und Pyjamas. Adrian zwängte sich durch bis zum zweiten Stock und stieß hier auf einen kräftigen Mann in regennassem Trenchcoat, der die Hausbewohner ausfragte. Es war Klaas Vermeulen. „Hallo, van Campen! Wo man sich überall trifft. Wissen Sie Bescheid?“ „Nein.“ „Sie sind also gekommen, um Wilhelmina Steyn zu sprechen?“ „Nicht schwer zu erraten.“ Der Reporter schüttelte bedauernd den Kopf. „Sie kommen zu spät, van Campen. Schade um das Mädchen. Vor einer Stunde hat man sie gefunden. Einer von der Post wollte den Anschluß überprüfen. Als niemand Öffnete, alarmierte er den Hauswart. Hat wahrscheinlich das Gas gerochen.“ „Ist sie tot?“ Vermeulen nickte. „Vor ihrem Gaskamin soll sie gelegen haben, bei offenem Hahn, vermutlich seit Stunden. Auf jeden Fall konnte ihr keiner mehr helfen.“ „Ist die Polizei oben?“ „Würde ich sonst hier warten?“ Adrian wollte an dem Reporter vorbei ins obere Stockwerk, doch der packte ihn am Ärmel. „Noch ein paar Minuten. Ich brauche von Ihnen Details über Fräulein Steyn. Sie haben sie in Hamburg gesehen, kennen das Zwielicht, haben gehört, wie sie beim Publikum ankam …“ „Nicht jetzt!“ Adrian riß sich los und ließ Vermeulen stehen. 169
Obwohl alle Fenster des Treppenhauses weit geöffnet waren, spürte man im dritten Stock noch immer den Gasgeruch. „Wie konnte das bloß passieren“, jammerte eine ältere Frau. „Ich mache mir ja solche Vorwürfe!“ „Warum Vorwürfe?“ fragte Adrian. Die Frau musterte ihn mißtrauisch. „Kennen Sie Fräulein Steyn?“ „Ja, ich kannte sie.“ In diesem Wort schwang echte Trauer mit. Die Frau spürte das. „Ausgerechnet heute muß das passieren!“ sagte sie seufzend, „wo ich Frau Brouwster versprochen habe, mich ein bißchen um Fräulein Steyn zu kümmern.“ „Ist Frau Brouwster denn nicht hier?“ „Aber nein“, rief die Frau erregt. „Das ist es ja gerade. Gestern abend wurde sie telegrafisch nach Nimwegen gerufen, zu ihrer schwerkranken Schwester. Und da hat sie mich gebeten, wo wir doch Tür an Tür wohnen und immer gute Nachbarschaft halten, heute bei Fräulein Steyn nach dem Rechten zu schauen. Wie ich aber um zehn Uhr bei ihr war, da klagt sie über Kopfschmerzen, wollte keinen um sich haben. Na, denk’ ich mir, Künstler sind manchmal so, da soll sich unsereins nicht aufdrängen, und gehe zu meiner Schwägerin. Und wie ich heute abend zurückkomme – weil’s so regnete, wurde es etwas später –, da war das Unglück schon passiert.“ Aus der Tür der gegenüberliegenden Wohnung trat ein kleiner, wohlbeleibter Mann auf den Flur. „Nanu, wir kennen uns doch!“ begrüßte er Adrian. „Guten Abend, Kommissar. Könnte ich Sie wohl kurz sprechen?“ 170
„Meine Zeit ist knapp, van Campen.“ Thelen sah Adrian aufmerksam an. „Es sei denn, es handelt sich um neue und unaufschiebbare wichtige Dinge.“ Er nahm ihn beim Arm. „Begleiten Sie mich.“ Im zweiten Stock fing Vermeulen den Kommissar ab. „Unfall, Selbstmord oder. .?“ Thelen schob ihn beiseite. „Bis auf weiteres kein Kommentar.“ Vor der Haustür wandte er sich an Adrian. „Kannten Sie die Tote?“ „Ja.“ „Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“ „Vor fünf Tagen in Hamburg.“ „Dann kommen Sie bitte morgen früh um neun in mein Büro.“
Ein strahlendblauer Hochsommerhimmel lag am nächsten Morgen über der Stadt. Adrian hatte gerade das Haus verlassen, da hielt ein grauer Chevrolet am Bordstein. „Steigen Sie ein, mein Lieber!“ Phil Vickbons öffnete die Wagentür. „Sie wollen doch auch in die City. Ich nehme Sie ein Stück mit.“ Adrian setzte sich neben den Chefredakteur. „Daß Sie hier warten, ist sicher reiner Zufall.“ Vickbons lachte. „Genauso zufällig wie Ihr kleiner Ausflug nach Hamburg.“ Er startete. „Nicht alle Aufnahmen im Krankenhaus sind so geworden, wie sie hätten werden können“, sagte er unzufrieden. „Das wurde mir heute nacht klar, als ich die Texte schrieb. Schuld daran sind einmal die äußeren Umstände, vor allem das lahme Verhalten des Professors Zeißner. Uns bleibt nichts anderes übrig, als ein paar Szenen nachzustellen.“ 171
„Wann?“ „Am Nachmittag.“ „Geht nicht, Herr Vickbons, Heute ist aufnahmefrei! Den Nachmittag habe ich schon verplant.“ „Glaube ich. Aber bitte, haben Sie Verständnis. Übermorgen geht die Hamburg-Nummer in Druck. Bis dahin müssen Bilder und Texte stimmen.“ „Ich kann nicht jedesmal meinen Terminkalender über den Haufen werfen, bloß weil Ihnen etwas anderes einfällt. Die Tage, an denen ich zu Ihrer Verfügung stehe, sind im Vertrag genau festgelegt.“ „Van Campen, meine Devise lautet: Ein Dienst ist des anderen wert. Wenn Sie heute um drei pünktlich im Marien-Krankenhaus sind, können Sie in den nächsten Tagen von mir haben, was Sie wollen.“ „Ich werde Sie beim Wort nehmen, Herr Vickbons.“
Kommissar Thelen öffnete die Tür zu seinem Büro. „Viel Zeit bleibt uns nicht. Nutzen wir jede Minute.“ Er schob Adrian einen Stuhl hin. „Nehmen Sie Platz, und fassen Sie sich so kurz wie möglich.“ Adrian schüttelte den Kopf. „Ich habe eine Unmenge zu erzählen, Herr Kommissar. Wenn ich heute wieder nach einer Viertelstunde vor die Tür gesetzt werde, fange ich gar nicht erst an.“ „Mann Gottes, setzen Sie sich endlich. Leute die ’rumstehen, machen mich nervös.“ „Und mich machen Gesprächspartner nervös, die dauernd auf die Uhr schauen, wenn ich ihnen meine Gedanken vortrage.“ Thelen seufzte. „Schließen wir ein Gentleman’s Agreement. Sie setzen sich hin, und ich stecke meine Uhr 172
in die Hosentasche. Einverstanden?“ „Einverstanden.“ „Seit wann kennen Sie Wilhelmina Steyn?“ „Seit vier Wochen etwa.“ „Erzählen Sie!“ Adrian berichtete von seiner ersten Begegnung im Paradiso, von ihren Andeutungen über Weterings Tod, von der Einladung, sie am Vischerdamm zu besuchen, und von ihrem plötzlichen Verschwinden. Vor allem das habe ihn in seiner Ansicht bestärkt, Wilhelmina sei im Besitz wertvoller Informationen. So knapp er auch alle Fakten wiedergab, er ließ nichts aus: nicht die Burschen mit den tätowierten Totenköpfen, die ihn von Wilhelmina im Paradiso trennten, nicht die achtzig Gulden, die er einem Tramp am Brouwerkai für Wilhelminas Hamburger Adresse gezahlt hatte, nicht das Päckchen Haschisch, das man ihm im Zug nach Brüssel zugesteckt und das er wenig später weggeworfen hatte, weil es seiner Ansicht nach nur dem Zweck dienen sollte, seinen Aufenthalt in Hamburg zu erschweren. Er erwähnte auch den Breitschultrigen, der ihn auf der Fahrt nach Brüssel und in Hamburg beschattet hatte, berichtete über das Zwielicht und den Überfall am Hansaplatz, die Demonstrationen gegen SCHAU HIN und GROSCHENBLATT vor dem Sankt-Georg-Hospital und über sein Wiedersehen mit Wilhelmina im Hinterzimmer des Artistenkellers. Er gab sich Mühe, Wort für Wort zu wiederholen, was Wilhelmina ihm dort über van Laar und Kaiser, über Weterings Materialsammlung für seinen Artikel im NEUEN MAGAZIN anvertraut hatte. Er vergaß auch nicht, den Landsmann zu erwähnen, dessen zudringliches Auftreten Mutti Dolores veranlaßt hatte, das Gespräch im Hinterzimmer zu beenden. 173
„Stopp!“ Thelen hatte sich eine Menge Notizen gemacht, ohne Adrian ein einziges Mal zu unterbrechen. „Das ist ja eine halbe Odyssee.“ Er zündete sich eine schwarze Zigarre an und blickte nachdenklich den Rauchschwaden nach. „Mit der Hamburger Polizei hatten Sie keinen Kontakt?“ fragte er schließlich. „Ein Inspektor Niehus vom Rauschgiftdezernat weckte mich ziemlich unsanft im Hotel und suchte nach dem Päckchen Hasch. Das war alles, abgesehen von einem jungen Mann, der mich drei Tage nach dem Überfall im Krankenhaus aufsuchte und ein paar Routinefragen stellte.“ „Desto besser. Lassen Sie mich Ihren Bericht kurz zusammenfassen. Erstens: Sie sind nach wie vor der Meinung, daß Erven Wetering keinem Unfall zum Opfer fiel, sondern vorsätzlich getötet wurde. Zweitens: Wilhelmina Steyn hat Ihnen Klarheit verschafft über den Personenkreis, der an Weterings Tod Interesse gehabt haben könnte, und über seine Motive. Drittens: Von dem Moment an, als Sie Kontakt mit Fräulein Steyn aufnahmen, hat dieser Personenkreis immer von neuem versucht, ein Gespräch zwischen Fräulein Steyn und Ihnen zu verhindern. Viertens: Sie leiten daraus die Schlußfolgerung ab, daß Fräulein Steyns Tod diesem Personenkreis genauso gelegen kam wie seinerzeit Erven Weterings Tod. Mit anderen Worten: Ihrer Ansicht nach ist Fräulein Steyn genauso vorsätzlich getötet worden wie Erven Wetering.“ „Ich konnte zu keinem anderen Schluß kommen“, sagte Adrian mit Nachdruck. 174
Den „Gummiball“ hielt es nicht länger am Schreibtisch. Wieder begann die Wanderung durch das Zimmer, vom Schreibtisch zum Fenster, vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Schreibtisch. Es schien, als brauche der Kommissar körperliche Betätigung, um auch geistig beweglich zu bleiben. Die Zigarre im Mund, stieß Thelen in regelmäßigen Abständen kleine Dampfwölkchen aus. Wie eine Lok, die rangiert, dachte Adrian. „Herr van Campen, Sie kennen die Zeugenaussagen“, nahm Thelen den Faden wieder auf. „Soweit ich informiert bin, haben Sie sogar selbst mit Zeugen gesprochen.“ „Die Zeugen sind getäuscht worden. Sie haben einen Mann gesehen, der ihnen Erven Wetering vorspielte. Sie sollten fürchten, dieser betrunkene Segler müsse früher oder später die Herrschaft über sein Boot verlieren. Das Starboot kenterte tatsächlich, der Segler ertrank. Das erschien den Zeugen logisch, und diese Schlußfolgerung war kalkuliert. Kalkuliert von dem zweiten Mann an Bord der Delphin, der Wetering bereits über Bord gestoßen hatte.“ „Der zweite Mann an Bord – wo steckt der Zeuge, der ihn gesehen haben will? Haben Sie den Sporttaucher endlich aufgetrieben?“ Adrian berichtete über sein Gespräch mit Siefke. „Und auf dieser Aussage beruht ihre gesamte Konstruktion?“ Thelen unterbrach seine Wanderung und blieb vor Adrian stehn. „Sehr stark ist das Fundament nicht, mein Bester. Dieser Siefke könnte ja die Delphin mit einem andern Boot verwechselt haben.“ „Er macht einen zuverlässigen Eindruck. Sehen Sie“, Adrian zog aus seiner Kollegmappe einen Schnellhefter 175
und entnahm ihm mehrere Zeichenblätter, „das sind fünf Segelmanöver der Delphin, die Siefke aus dem Gedächtnis nachgezeichnet hat: vor dem Überstaggehen, nach dem Überstaggehen, nach dem Kreuzen, beim Wenden und beim Halsen. Steuermann und Vorschotmann sind sich nicht einig.“ „Ich bin kein Wassersportler.“ Thelen verglich kopfschüttelnd die Zeichnungen. „Diese Manöver kann ich nicht beurteilen. Was lesen Sie daraus, van Campen?“ „Die Bestätigung meiner Vermutung. Hinter Bloemwarder, einem unbewohnten Inselchen, auf dem im Juni auch keine Campingfreunde zelteten, befanden sich die Segler außer Sicht. Eben darum setzte einer der beiden alles daran, das Boot hinter die Insel zu manövrieren; denn dort konnte er unbeobachtet den anderen niederschlagen und ihn über Bord werfen. Hatte er das erreicht, so brauchte er nur noch nach Dixmuiden zu segeln und den Betrunkenen zu spielen, um anschließend nach Bloemwarder zurückzukehren, das Boot im Schutze der Insel kentern zu lassen und auszusteigen. Er konnte ja nicht wissen, daß das Boot mitten auf dem See mit zwei Mann Besatzung von einem Sporttaucher gesehen wurde.“ „Bester Herr van Campen! Von der Insel bis zum Festland sind es drei bis vier Kilometer. Wer schwimmt diese Strecke bei Windstärke sieben?“ „Er brauchte ja nur bis zur Insel zu schwimmen und konnte dort auf das Dunkelwerden warten.“ „Und wie kam er ans Festland?“ „Er wird schon eine Möglichkeit gefunden haben. Das bliebe noch zu untersuchen.“ „Nicht nur das, Herr van Campen. Wir müssen ganz von vorn anfangen.“ Thelen schaute Adrian wohlwollend 176
an. „Es tut mir leid, daß unsere ersten Begegnungen Sie enttäuscht haben und daß ich Sie abgefertigt habe wie einen Querulanten. Das war ungerecht, aber zur Zeit können wir vom Morddezernat längst nicht allem gerecht werden, was unsere Aufmerksamkeit verdient. Wir sind überfordert, und keiner hilft uns die Bürde tragen. Mit einer Ausnahme allerdings. Da kommt so ein junger Amateurdetektiv hereingeschneit, läßt sich einfach nicht abwimmeln, sosehr ich ihn auch schockiere, und gibt eine Reihe wertvoller Hinweise. Das ist anerkennenswert, denn eigentlich hatten Sie kaum eine Chance, etwas herauszufinden. Ihr Gesicht ist durch Fotoroman und Plakate stadtbekannt geworden, und nichts handicapt einen Detektiv mehr als sein eigenes Gesicht, wenn es bekannt ist. Daß Sie trotzdem nicht klein beigegeben haben, gefällt mir.“ Er rückte seinen Schreibtischstuhl näher. „Und jetzt zu den Korrekturen. Wir stimmen überein in der Beurteilung Weterings. Sicher gab es Leute, die um ihre Existenz bangten, solange er schrieb. Ihre These, daß sein Tod kein Unfall war, gewinnt dadurch an Glaubwürdigkeit. Weiterhin nehme auch ich an, daß Wilhelmina Steyn in der Lage war, Ihnen Wichtiges mitzuteilen. Nur will mir nicht in den Kopf, daß Franz van Laar nichts anderes übriggeblieben sein soll, um Enthüllungen Weterings zu verhindern, als ihn zu töten. Sie sind ihm selber begegnet, haben sich mit ihm unterhalten. Glauben Sie wirklich, ein cleverer Geschäftsmann ließe sich in solch ausweglose Situation bringen? Er brauchte sich nur mit Kaiser zu arrangieren, als Wetering ihm die Pistole auf die Brust setzte. Er hat in den letzten Jahren Hunderttausende verdient, er konnte Kaiser getrost am Boom beteiligen. Natürlich wäre 177
Weterings Story eine glänzende Möglichkeit gewesen, die Aufgeblasenheit und Hohlheit der ganzen Schlagerindustrie in unserem Lande zu entlarven. Ein Streitobjekt, bei dem es um Leben und Tod geht, aber war es sicher nicht. Merkwürdig ist allerdings, daß die Sängerin ihr Gastspiel in Hamburg ohne Vorankündigung abbricht, nach Amsterdam zurückkehrt und mehrfach versucht, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen. Sie hatte doch alles gesagt, was zu sagen war. Vierundzwanzig Stunden nach ihrer Rückkehr wird sie tot aufgefunden. Selbstmord ist so gut wie ausgeschlossen. Heute nacht hörten wir ihre Wirtin, Frau Brouwster. Sie war durch ein fingiertes Telegramm nach Nimwegen gerufen worden. Dieses Telegramm war ihr telefonisch übermittelt worden, und der Dringlichkeit wegen hatte sie die schriftliche Bestätigung nicht abgewartet. Wir haben uns bei der Post erkundigt, ein solches Telegramm wurde in Nimwegen nicht aufgegeben und in Amsterdam nicht aufgenommen. Der Anruf hatte also nur den einen Zweck: Frau Brouwster sollte für ein oder zwei Tage Amsterdam verlassen, damit Fräulein Steyn in der Wohnung allein blieb. Franz van Laar kann nicht der Anrufer gewesen sein, er hält sich seit drei Tagen in Venedig auf. Es muß also einen anderen Personenkreis geben, dessen Interessen auf dem Spiel standen und der deshalb ein Gespräch zwischen Ihnen und Fräulein Steyn verhindern wollte. Dieser Personenkreis muß bestimmte Enthüllungen gefürchtet haben. Und damit kehre ich zurück zum Ausgangspunkt. Wenn Erven Wetering vorsätzlich getötet wurde, dann von derselben Personengruppe, die Wilhelmina Steyn zum Schweigen brachte. Beide müssen im Besitz von Informationen gewesen sein, deren 178
Veröffentlichung diese Leute um jeden Preis verhindern wollten. Noch wissen wir nichts über die Personen oder die Motive.“ „Der NACHTEXPRESS ist uns da um Nasenlängen voraus.“ Adrian konnte nicht länger an sich halten. „Er kennt nicht nur die Täter, sondern auch die Motive.“ „Was der NACHTEXPRESS sich da zurechtkombiniert, ist unsinnig. Übrigens haben auch zwei andere Blätter diese Spekulationen fast wortwörtlich übernommen.“ „Hat es denn keine Verhaftungen gegeben? War das Foto auf der Titelseite mit dem Polizeiwagen vor dem Provo-Büro etwa eine Montage?“ „Das Foto stimmt. Mehr aber auch nicht.“ „Also wurden Provos festgenommen. Warum?“ Der Kommissar zog die Stirn kraus. „Dafür ist die Politische Abteilung zuständig. Sie arbeitet gegenwärtig mal wieder ausgesprochen prophylaktisch.“ „Man verhaftet also Bürger, obwohl sie nicht gegen das Gesetz verstoßen haben?“ Thelen zögerte einen Moment mit der Antwort. „Sie formulieren das sehr allgemein“, sagte er dann abweisend, „und übersehen vielleicht ein wenig die Schwierigkeiten meiner Kollegen von der anderen Abteilung. Im Kern der Sache haben Sie recht. Da gibt es nichts zu beschönigen. Nur entstehen manchmal heikle Situationen, bei denen man sich nicht anders zu helfen weiß. Sie verstehen mich?“ „Unter heiklen Situationen kann ich mir nichts vorstellen“, entgegnete Adrian beharrlich. „Denken Sie nur an den Ärger mit den Provos bei bestimmten Staatsbesuchen. Da wird der ausländische Gast auf Transparenten beschimpft, da werden faule Eier ge179
worfen und anderes, da muß die Polizei Wasserwerfer und Tränengas einsetzen. So etwas macht auf die hohen Gäste einen schlechten Eindruck, und diesen Eindruck möchte man in Zukunft vermeiden.“ „Durch vorsorgliche Verhaftungen? Das ist ungesetzlich.“ Thelen zuckte die Schultern. „Warum diskutieren Sie mit mir darüber, van Campen? Meine Abteilung arbeitet nach anderen Grundsätzen und Methoden. Beraten Sie sich mit Doktor Kroon.“ „Noch etwas, Herr Kommissar! Bei meinem letzten Besuch zeigte ich Ihnen die Fotos einiger der Schläger. Das waren die Burschen, die in der Uni unser Seminar demolierten und meine Examensarbeit vernichteten.“ „Ich erinnere mich. Hab’ ich Ihnen die Aufnahmen nicht zurückgegeben?“ „Mir wäre lieber gewesen, Sie hätten sie behalten und die Schläger überwachen lassen. Wir wären dann heute ein Stück weiter.“ „Gewiß. Wir müßten stets das Doppelte von dem tun, was wir tatsächlich tun. Herr van Campen, ich hab’ Ihnen unsere Situation geschildert. Auch unser Tag hat nur vierundzwanzig Stunden.“ „Vielleicht habe ich mit diesen Bildern mehr Glück bei Ihnen.“ Adrian zeigte Thelen die Schnappschüsse des Jungfernstieg-Fotografen. „Der Mann hat Kontakt zu den Rowdys und zum Hause van Laar. Ist er der Polizei bekannt?“ „Das läßt sich feststellen. Überlassen Sie mir die Bilder leihweise?“ „Sie können sie behalten, ich hab’ ja die Negative.“ „Tüchtig, tüchtig!“ Der Kommissar klopfte Adrian auf die Schulter. „Bis zum nächsten Mal dann. Und seien Sie 180
vorsichtig, Sie junger Held. Leute wie Sie werden noch gebraucht.“ „Ich weiß.“ Adrian lachte. „Solange Liebe 70 die Amsterdamer entzückt, bin ich unersetzlich.“
Die Maschine aus Venedig hatte Verspätung. Ungeduldig ging Adrian in der Flughafenhalle auf und ab. Schließlich blieb er vor einem Kiosk stehen und kaufte sich die neueste Ausgabe des NACHTEXPRESS. ‚HOLLANDS AS BEIM FESTIVAL MIT LIDOAUSBEUTE ZUFRIEDEN!‘ Ein Bild zeigte Komponist und Arrangeur, von Fans umlagert, in Badekleidung am Strand. Sie lächelten einander herzlich zu, als habe es nie Spannungen zwischen ihnen gegeben. ‚PROVO-ANFÜHRER NOCH IN HAFT. POLIZEI SCHWEIGT SICH AUS.‘ Unter der anreißerischen Schlagzeile stand nur eine kurze Mitteilung. Vor übermorgen werde die Polizei zur Verhaftung der Provos keine Stellung nehmen. Der Lautsprecher kündigte die Landung der Maschine an. Adrian ging zur Gepäckabfertigung. Er brauchte nicht lange auf Dick Kaiser zu warten. Der Arrangeur, braungebrannt von der Lidosonne, lächelte, als er Adrian erkannte. „Hallo, van Campen!“ „Ist van Laar mit derselben Maschine gekommen?“ „Wollen Sie mit ihm reden? Da müssen Sie sich drei Tage gedulden. Mindestens! Er hat dort noch Filmverhandlungen vor. Eilt es denn?“ Statt zu antworten, reichte Adrian ihm einen Zeitungsausschnitt. 181
‚TRAGISCHER TOD DER POP-LADY. IHR COMEBACK FAND NICHT MEHR STATT. UNFALL ODER SELBSTMORD?‘ Kaiser verlor alle Farbe. „Wilhelmina tot?“ Er holte tief Luft. „Wilhelmina soll sich selbst … Nein, das ist unmöglich … Spekulationen“, sagte er kopfschüttelnd, nachdem er den Artikel mehrmals gelesen hatte. „Was heißt ‚allzufrüh gescheitert‘? In Hamburg hatte sie Erfolg. Auch in Amsterdam wäre ein Comeback drin gewesen.“ „Etwa in einem Lokal von der Qualität des Zwielicht?“ „Ach was, natürlich in einem renommierten Haus. Mit neuen Liedern, Evergreens und einer guten Band.“ „Konnte sie sich wirklich Hoffnungen machen, Herr Kaiser? Vor Wochen waren ihre Chancen hier gleich Null. Sollte sich das geändert haben, ausgerechnet nachdem sie im Zwielicht kontraktbrüchig wurde und Hamburg Hals über Kopf verließ?“ „Möglich ist alles. Im Showgeschäft weiß man nie, woran man ist.“ „Wenn Wilhelmina sich jetzt an Sie gewandt hätte, hätten Sie ihr geholfen, in Amsterdam wieder eine Plattform zu finden?“ „Wie können Sie fragen!“ Der Musiker nahm seinen Koffer. „Jahr und Tag haben wir gut zusammengearbeitet. Natürlich gab es Mißverständnisse, Meinungsverschiedenheiten – aber wo gibt es die nicht!“ Er wandte sich zum Gehen. „Warten Sie noch auf jemanden?“ „Nein, ich komme mit.“ „Wilhelminas Ende ist mir unbegreiflich“, sagte Kaiser später im Taxi. „Wissen Sie mehr über ihren Tod als die Zeitungen?“ 182
„Nein. In Amsterdam kam ich zu spät. Aber in Hamburg hatten wir Kontakt miteinander. Wer hat sie eigentlich ans Zwielicht vermittelt?“ „Das wissen Sie doch.“ Kaiser zog nervös die Augenbrauen hoch. „Nein. Würde ich sonst fragen?“ „Erlauben Sie mal! Wenn jemand ein Jahr ohne Job ist und wie aus heiterem Himmel ein Engagement bekommt, noch dazu im Ausland, dann fragt er sich wohl zuerst: Wem verdanke ich das?“ „Wir haben über andere Dinge gesprochen, die Wilhelmina am Herzen lagen. Zum Beispiel über den Komponisten Dick Kaiser.“ „Das war eine fixe Idee von ihr.“ Der Musiker wurde blaß. „Sie hatte sich da in etwas verrannt.“ „Das war auch mein erster Eindruck. Als ich aber die Beweise in der Hand hatte …“ „Beweise?“ „Ja. Entwürfe, Korrekturen – alles von Ihrer Hand. Monate vor den Laarschen Kompositionen entstanden. Das waren keine Anregungen, es waren die Erfolgsschlager selbst.“ „Also Sie haben das Zeug jetzt.“ Kaiser wich Adrians Blick aus. „Sie glauben doch nicht, daß Sie damit noch etwas anfangen können.“ „Meinten Sie nicht vorhin, im Showgeschäft wisse man nie genau, woran man sei?“ sagte Adrian ironisch. „Hören wir auf, Katze und Maus zu spielen.“ Kaiser gab sich sichtlich einen Ruck. „Es hat eine Zeit gegeben, da flogen mir die Einfälle nur so zu. Leider konnte ich sie nur über van Laar publik machen. Er verdiente sich eine goldene Nase dabei, für mich blieb wenig. Damals lebte ich mit Wilhelmina zusammen. Natürlich lag sie mir in 183
den Ohren, ich hätte es nicht nötig, Zubringerdienste zu leisten, und solle mich selbständig machen. Unrecht hatte sie nicht. Aber van Laar hatte die Macht im Showgeschäft, mit ihm zu brechen war nicht ungefährlich. Ich wartete auf eine günstige Gelegenheit. Das Festival in Scheveningen war solch eine Chance. Zwei Schöpfungen van Laars wurden prämiiert, bekamen den Goldenen und den Silbernen Lorbeer – bei beiden waren Text und Musik von mir. Jetzt hätte ich ihn zwingen können, einen Vertrag zu unterschreiben, mit einer gerechten Tantiemenverteilung, so daß ich jederzeit vor Gericht meine Ansprüche hätte geltend machen können. Aber gerade in Scheveningen zeigte sich van Laar von seiner liebenswürdigsten Seite, versprach mir goldene Berge, und wieder ließ ich mich einwickeln. Das empörte Wilhelmina. Sie trank mehr, als sie vertragen konnte, trommelte ein paar Klatschreporter zusammen …“ Er zog die Mundwinkel herab. „Na, diese alte Geschichte werden Sie ja auch kennen.“ „Über Scheveningen bin ich im Bilde. Daß van Laar sauer reagierte, ist mir verständlich. Daß Sie aber Wilhelmina fallenließen, begreife ich nicht ganz.“ „Arrangeur war ich, mehr nicht. Wenn die andern sie fallenließen, wie konnte ich sie da halten?“ „Sie rührten keinen Finger mehr für sie, gingen ihr aus dem Wege.“ Der Arrangeur widersprach nicht. Er sah aus dem Fenster und schwieg eine Weile. Schließlich nahm Adrian den Faden wieder auf. „Rechneten Sie damit, daß der Streitfall irgendwann ausgetragen werden mußte?“ Kaiser nickte. „Als Wetering Wind von der Sache bekommen hatte, ging es um Biegen oder Brechen. Was er 184
anbot, klang überzeugend: eine Titelstory über van Laars Kompositionstechnik ‚Wie ein Hit entsteht‘. Er hatte fast alles beisammen, und ich wäre bestimmt groß herausgekommen.“ Er winkte resigniert ab. „Es hat nicht sollen sein.“ „Sie haben also doch wieder klein beigegeben?“ „Nicht ich, sondern van Laar. Wenn auch anders als geplant. Aber das Arrangement, das wir jetzt haben, ist trotzdem nicht von schlechten Eltern.“ „Sie haben sich endlich geeinigt?“ Kaiser griente. „Spät kam die Einsicht, doch sie kam. Für Wilhelmina bedeutete es ein Engagement, für mich die entsprechenden Prozente.“ „Van Laar also hat ihr den Job im Zwielicht besorgt?“ „Nein. Der Agent hieß Mutesius.“ „Gernold Mutesius aus Hamburg?“ „Ebender.“ „Wie kam er dazu?“ „Man wird ihn darum gebeten haben. Wilhelmina sollte aus Amsterdam verschwinden. Sie redete zuviel, trank zuviel, machte die Pferde scheu.“ „Sie hatte ja nichts zu verlieren.“ „Drum sorgte man dafür, daß sie wieder etwas zu verlieren hatte. Mutesius bot ihr eine anständige Gage, und der Zwielicht-Budiker Lamperti kam über Nacht zu einem Star. Damit Wilhelmina nicht den Rahmen der Kaschemme sprengte, engagierte ‚Gernegroß‘ auch noch die Tänzerin Balila.“ „Ein aufwendiges Manöver.“ „Das belastet Ihr Konto.“ „Wie meinen Sie das?“ „Tun Sie nicht so unschuldig. Ihr Tête-à-tête im Paradiso sollte das erste und letzte gewesen sein.“ 185
„Sie sind ja sehr gut informiert, Herr Kaiser.“ „Sagen wir lieber: Ich kann kombinieren.“ „Dann wissen Sie auch, wer in Amsterdam Mutesius für seine Zwecke einspannte.“ „Ich kann es mir denken.“ „Sagen Sie es.“ Eine Minute des Schweigens verging. Kaiser sah in sich gekehrt aus dem Fenster. „Ich habe schon viel zuviel geredet, van Campen“, sagte er langsam. „Und ich weiß genau, daß nichts dabei herausspringt. Wahrscheinlich ist dieser Zeitungsartikel schuld daran: Tragischer Tod der Pop-Lady.“ Er lachte kurz. „Was ist heute schon tragisch. Solange wir nicht dazu gehören, nehmen wir alles viel zu wichtig. Haben wir es geschafft, dann gibt es kaum noch Probleme, dann regelt sich alles von selbst. Glauben Sie mir, es bringt nichts ein, immer zornig vor der Tür des Paradieses zu stehen und Einlaß zu begehren. Das werden Sie auch noch lernen.“ „Mit anderen Worten: Sie gehören jetzt dazu.“ „Ja.“ „Und wer Einlaß gefunden hat ins Paradies, wer mit zur großen Familie gehört, hüllt sich am besten in beredtes Schweigen.“ Das Taxi hielt an einer Kreuzung. Kaiser legte die Hand auf Adrians Schulter. „Spotten Sie nicht über die große Familie. Es wird höchste Zeit, daß Sie sie ernst nehmen. Oder genügen Ihnen zwei Tote nicht?“
Die Dämmerung brach langsam herein, während Adrian den Schouwekai hinunterschlenderte. Eine Schar Möwen, aufgeschreckt durch den abendlichen Spaziergän186
ger, flog kreischend hinüber zum Werftgelände, das sich flach und grau von dem stumpfen Rot halbfertiger Schiffsrümpfe und den Riesenkränen abzeichnete. Als er an einem baufälligen Schuppen vorüberkam, hörte er den Pfiff, auf den er gewartet hatte. Das Erkennungszeichen von Jakob und seinen Freunden! Adrian trat an das halbblinde Seitenfenster. Man konnte drinnen nichts erkennen außer ein paar Haufen gebündelter Jutesäcke. Er pochte gegen die beiden verschlossenen Türen. Nichts regte sich. Dann hörte er ein Krachen und Splittern. Es mußte von der Breitseite des Schuppens kommen, die dem Wasser zugewandt war. Er lief an der Seeseite entlang und sah, wie zwei Bretter von innen nach außen gedrückt wurden. In der Lücke tauchte der blonde Strubbelkopf Jakob Bredas auf, und zwei kräftige Arme zogen Adrian in das dunkle Innere. Mit ein paar Hammerschlägen wurden die herausgebrochenen Bretter wieder festgenagelt, und nun prustete jemand laut los vor Lachen. „Fotomodell lief in die Falle – eine Schlagzeile für den, NACHTEXPRESS!“ Adrian rieb sich die Augen. „Wo steckst du, Partisan?“ „Hier herüber!“ Der Kegel einer Taschenlampe wies ihm den Weg zu einem verrotteten Ledersofa. „Was Besseres können wir dir leider nicht anbieten. Setz dich!“ Adrian ließ sich behutsam auf dem ächzenden Möbelstück nieder. „Was soll die Komödie?“ fragte er verstimmt. „Strategie und Taktik.“ Breda hockte sich neben ihn. „Begreifst du denn nicht, daß man dich auf Schritt und Tritt beschattet? Wer sich mit dir treffen will, muß schon auf sich achtgeben, vor allem, wenn er selbst gejagt wird.“ 187
„Von wem gejagt?“ „Frag nicht so naiv. Von deinen Brötchengebern, wem sonst! Seit der Hamburger Schau vor dem Sankt-GeorgHospital sind wir auch in Amsterdam für sie Staatsfeind Nummer eins. Kurz vor unserer Großaktion hier haben sie die Bullen auf uns gehetzt. Reiner Zufall, daß ich denen entwischt bin.“ „Warst du in euerm Büro, als sie kamen?“ „Ich hörte sie als erster. Durchs Toilettenfenster in den Hof, durch zwei Hinterhäuser, über paar Dächer. Die Nächte in Speichern und Schuppen.“ Adrian nahm Jakob die Taschenlampe aus der Hand und hielt das Licht auf ihn. Die Strapazen der letzten Tage waren unverkennbar. Unrasiert, übernächtig, blaß, mit tiefen Schatten unter den Augen saß Jakob Breda auf dem Sofa. „Soll ich was für dich tun?“ „Helf mir schon selber.“ Jakob lachte. „Partisanen legen keinen Wert auf barmherzige Samariter.“ Er wurde wieder ernst. „Ein Geschäft könnten wir machen.“ „Mit welcher Ware?“ „Sie ist hier im Schuppen.“ „Zeig schon her!“ „Geduld, Geduld! Das Imperium Romanum ist auch nicht an einem Tage aus den Angeln gehoben worden. Zunächst das Grundsätzliche.“ „Wie immer bei euch!“ sagte Adrian ergeben. „Fang an!“ „Sortier du erst mal deine Erinnerungen. Ende Juni, als wir ins Paradiso gingen, machtest du mich scharf auf eine Schlägertruppe, Achtgroschenjungen, die sich als Provos ausgaben.“ „Ich hab’ dir ein paar Fotos zugesteckt, aber du hieltest nicht viel davon.“ 188
„Immerhin haben wir einen von der Clique, das Narbengesicht, beschattet.“ „Beschattet ist übertrieben. Einen Treff habt ihr ausgemacht, das war alles: Narbengesicht im Trianon mit dem Breitschultrigen. Wißt ihr jetzt mehr?“ Jakob Breda grinste. „Über den Breitschultrigen schon. Und das Narbengesicht auch. Ein bißchen sogar über die ganze Totenkopfclique. Wer sie bezahlt, an was für Aktionen sie beteiligt war, und überhaupt …“ „Spann mich nicht länger auf die Folter, Jakob!“ „Geduld, Fotomodell. Erst müssen einige Dinge ins richtige Licht gerückt werden. Was haben diese Totenköpfe mit uns zu tun?“ „Sie kopieren euch in Kleidung und Slang, benutzen eure Bleiben, mischen sich unter euch.“ „Warum wohl?“ „Flucht in die Anonymität.“ Adrian zuckte die Schultern. „Das auch. Zum anderen: direkter Auftrag des Establishments an sie. Alles Porzellan, das sie zerschlagen, wird uns auf die Rechnung gesetzt.“ „Du beklagst dich doch nicht etwa darüber. ‚Je mehr die Polizei dazwischenhaut, je mehr die Dinge sich zuspitzen – um so besser‘, das waren deine Worte.“ „Damals! Inzwischen haben wir unsere Taktik geändert. Verhaftungen, Illegalität nützen uns nichts. Wichtig ist jetzt, die Massen aufzuklären, wer hier bei uns wen terrorisiert. Wir müssen einen von der Clique zwingen, die geistigen Urheber ihrer Terroraktionen beim Namen zu nennen. Je prominenter diese Namen sind, desto größer die Niederlage unserer Feinde. Es muß natürlich eine Entlarvung werden, die viel Staub aufwirbelt. Am besten eine Gerichtsverhandlung, bei der Schläger und Hintermänner auf der Anklagebank sitzen.“ 189
„Das wäre natürlich eine tolle Sache, Jakob. Aber wie wollt ihr das schaffen?“ „Wir schaffen es, wenn du ein bißchen mitmachst.“ Breda ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe wandern. Hinten, in einer Ecke zwischen Rettungsringen und Jutesäcken, lag eine Gestalt, eingerollt in eine Persenning. „Wollen wir das Paket erst mal begutachten!“ Jakob stupste Adrian in die Ecke. Was so sorgfältig eingerollt und verschnürt war, wurde auf die Seite gedreht und angeleuchtet. Adrian erkannte das Gesicht sofort. Das waren die breitflächigen roten Narben auf Wange und Kinn. In der Palmengracht und auch im Paradiso war der Bursche dabeigewesen. „Ganz gewiefter Junge“, bemerkte Jakob Breda. „Oft genug haben wir ihm eine Falle gestellt, aber er ist immer schön drum ’rumgegangen. Sein Pech war wohl, daß er sich ein bißchen überschätzt hat. Dachte, er könne auch ohne seine Clique zu Rande kommen, wollte auf eigene Faust absahnen. Da hat er sich nun doch übernommen. Seine Leute jagten ihn als Deserteur, und wir jagten ihn auch. Bevor ihn die anderen zu fassen kriegten, lief er uns ins Garn. Wir haben natürlich keine Zeit verloren und ihn ins Gebet genommen. Der Bursche weiß ’ne Menge und hat auch einiges schwarz auf weiß.“ „Ein guter Fang. Und den willst du mir überlassen?“ „Nicht ganz umsonst.“ „Was verlangst du dafür?“ „Du kennst Thelen. Er soll dafür sorgen, daß unsere Leute, die vor drei Tagen verhaftet wurden, morgen mittag wieder frei sind.“ „Zuviel verlangt!“ Adrian schüttelte energisch den Kopf. „Auf das Geschäft läßt sich der Kommissar nicht ein.“ 190
„Lehr du mich die Polizei kennen!“ Jakob gab ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß. „Dein Kommissar hat zwei Morde aufzuklären. Er kennt weder das Motiv des ersten noch das des zweiten. Aber dieser Bursche hier weiß Bescheid. Du mußt ihn nur zum Sprechen bringen. Er wird mit einem unmenschlichen Durst aufwachen. Gib ihm erst zu trinken, wenn er geredet hat. Damit gehst du zu Thelen.“ „Thelen braucht Fakten.“ „Die wird er kriegen. Von dir und von uns. Schwarz auf weiß. Aber erst müssen unsere Leute frei sein.“
Fast zwei Stunden mußte Adrian im Vorzimmer auf den Kommissar warten. Erst kurz vor elf ließ Thelen ihn zu sich bitten. „Hier geht’s heute zu wie in einem Taubenschlag.“ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Wenn Sie Neuigkeiten haben, gleich her damit!“ Adrian nahm Platz in einem Sessel, öffnete seine Mappe, holte einen Stapel Papiere hervor und begann gemächlich, sie zu ordnen. „Nun machen Sie schon den Mund auf!“ Der Kommissar beäugte interessiert die Ansammlung von Schriftstücken auf Adrians Knien. „Womit spielen Sie dauernd herum, van Campen?“ „Mit Beweismaterial.“ Adrian machte keinerlei Anstalten, dem Kommissar die Papiere auszuhändigen. Der „Gummiball“ mußte sich wieder Bewegung verschaffen. Er umkreiste Adrian mal in einem größeren, mal in einem kleineren Bogen und ließ die Papiere dabei nicht aus den Augen. „Reden wollen Sie nicht; hergekommen, um mir die Zeit zu stehlen, sind Sie auch nicht. 191
Also legen Sie das Material gefälligst auf den Tisch, und dann ab durch die Mitte!“ Adrian schob die geordneten Papiere wieder in seine Mappe. „Ich befinde mich in einer Zwangslage, Herr Kommissar. Ich möchte Ihnen sämtliche Schriftstücke übergeben, am liebsten sofort, aber ich darf es nicht. Ohne die Provos wäre ich nie an dieses Beweismaterial herangekommen. Als ich die Jungens bat, es Ihnen aushändigen zu dürfen, knüpften sie daran eine Bedingung. Um vierzehn Uhr müssen ihre inhaftierten Freunde wieder auf freiem Fuße sein.“ „Auf was haben Sie sich da eingelassen, van Campen.“ Thelen blieb stehen. „Die Provos wissen genau, daß Fragen wie Dauer und Aufhebung der Haft im Falle der drei vorsorglich Festgenommenen überhaupt nicht in mein Ressort fallen.“ „Die Ressorts im Polizeipräsidium sind meinen Informanten bekannt. Sie meinen aber, daß ein Hinweis des Leiters der Mordkommission Entgegenkommen finden wird.“ „Meinen kann man vieles.“ Thelen wischte sich abermals das Gesicht ab. „Wenn dieser Wust von Papieren, an die Sie sich klammern, als ob Ihr Seelenheil davon abhinge, wirklich etwas Neues bringt, dann sind Sie verpflichtet, ihn mir auf der Stelle auszuhändigen.“ Adrian ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Die Provos waren nicht verpflichtet, mir den Burschen in die Hände zu spielen, der einen Teil dieser Papiere mit sich führte. Sie hätten ihn Doktor Kroon übergeben, die Papiere vervielfältigen und veröffentlichen können, und der Leiter der Mordkommission hätte als einer der letzten von ihrer Existenz erfahren.“ „Lieber junger Freund.“ Thelen begann auf und ab zu laufen. „Ihr Amateure plustert euch gern auf und macht es 192
spannend, wenn ihr etwas erkundet habt.“ Er grinste. „Ich sehe Ihnen doch an der Nasenspitze an, daß Sie es nicht übers Herz bringen, dieses Zimmer zu verlassen, ohne mir die Papiere gezeigt und sich an meiner Überraschung geweidet zu haben.“ Er wurde wieder ernst. „Das Problem, die Provos vorzeitig zu entlassen, ist völlig sekundär. Soweit ich informiert bin, hat Doktor Kroon sie bereits verpflichtet, dafür zu sorgen, daß in den nächsten vierundzwanzig Stunden keine spektakulären Aktionen gestartet werden. Wird diese Verpflichtung ernst genommen, sehe ich keine Schwierigkeit, eine Vereinbarung zu treffen.“ „Ich nehme Sie beim Wort.“ Adrian legte den Papierstapel auf den Schreibtisch. Thelen überflog flüchtig die ersten Seiten. Dann warf er einen Blick auf Adrian, schob seinen Stuhl heran, setzte sich und begann zu lesen. Fast eine Viertelstunde verging, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. „Wie heißt der Bursche, von dem Sie die Kopien haben?“ fragte der Kommissar schließlich. „Dirk Pauls.“ „Wo steckt er jetzt?“ „In einer Sackgasse.“ Adrian lächelte. „Sobald die inhaftierten Provos frei sind, wird man Ihnen den Pauls vorführen.“ Thelen zog die Brauen hoch. „Soll das heißen, daß die Provos den Pauls irgendwo gewaltsam festhalten?“ „Ich würde es anders formulieren: Pauls steckt in der Klemme. Er mußte sich mit den Provos arrangieren. Sonst hätte man ihn an seine Clique ausgeliefert.“ „Und wie sieht das Arrangement aus?“ „Die Provos beschützen ihn so lange, bis die Polizei in der Lage ist, ihm ein sicheres Quartier zu gewähren.“ 193
„Dacht’ ich’s mir: prophylaktische Freiheitsberaubung.“ Thelen nahm seine Wanderung wieder auf. „Aber lassen wir das erst mal.“ Er nahm ein Blatt Papier in die Hand. „Pauls muß das Wasser bis zum Halse stehen, sonst hätte er niemals diese Selbstbezichtigungen unterschrieben. Er belastet sich und seine Kumpane in einer Weise … Wurde da nicht von Seiten der Provos erheblich nachgeholfen?“ „Es war nicht nötig.“ Adrian schmunzelte. „Pauls hat sich selbst in diese ausweglose Situation hineinmanövriert.“ „Das möchte ich gern von ihm bestätigt haben. Übrigens spricht Pauls hier ständig von einem Pieter, der alle Aktionen der Totenköpfe gesteuert haben soll. Ich nehme an, dieser Pieter ist identisch mit einem breitschultrigen jungen Mann mit buschigen Augenbrauen, der sich zuweilen an Ihre Person heftete.“ Adrian nickte. „Sie haben sein Bild von mir bekommen. Ist er in Ihrer Kartei zu finden?“ „Er ist uns nicht unbekannt. Einer der Typen, die nie auf eigene Rechnung arbeiten.“ „Wird er seine Auftraggeber nennen?“ „Wohl kaum.“ Thelen wiegte den Kopf. „Aber sie werden ihn fallenlassen. Vorausgesetzt, diese Papiere sind echt und die letzten Zeugenaussagen bestätigen sich.“ „Letzte Zeugenaussagen?“ Adrian sah den Kommissar überrascht an. Das klang ja so, als habe die Polizei ihre Recherchen wiederaufgenommen. Der Kommissar kramte in der obersten Schublade seines Schreibtischs herum. „Da war doch dieser Sporttaucher … Siefke heißt er ja wohl, wir haben mit ihm gesprochen. Der Mann bleibt eisern bei seiner Geschichte 194
mit dem zweiten Mann an Bord der Delphin, obwohl wir ihm die Aussagen der andern Zeugen, die alle nur von einem angetrunkenen Segler sprechen, nicht verschwiegen haben. Umsonst! Der Siefke hält durchaus für möglich, daß der erste Mann über Bord ging und daß der zweite daraufhin die Show inszenierte, das Boot kentern ließ und zur Insel Bloemwarder schwamm.“ „Das hab’ ich Ihnen schon vor Wochen gesagt, Kommissar.“ „Ich weiß, ich weiß. Nur war es damals nicht mehr als eine Hypothese. Jetzt erst gewinnt sie an Wahrscheinlichkeit, weil wir in der Lage sind zu beweisen, wie der Täter ans Festland kam.“ Thelen zog schmunzelnd einen Bogen Papier aus der Schublade. „Ein Faltboot ist ein recht brauchbares Fahrzeug. Es fällt nicht weiter auf, man kann es im Unterholz der Insel gut verstecken. Mit ihm konnte der Täter nach Einbruch der Dunkelheit ungesehen nach Huizen gelangen. Hier hab’ ich nun den Bericht über die Aussagen zweier Fischer aus der Steensgasse. Die beiden Alten haben am dreiundzwanzigsten Juni noch einmal abends ihre Netze kontrolliert, dabei hatten sie eine eigenartige Begegnung. Ein Wassersportler hantierte in der Dunkelheit recht unbeholfen an seinem Faltboot herum. Wahrscheinlich klappte etwas nicht beim Zusammenfalten. Sie boten ihm ihre Hilfe an, doch der Mann fertigte sie kurz ab. Nun haben die Huizener Fischer ein dickes Fell in bezug auf die Amsterdamer Wassersportler. Deswegen machten sie sich auch keine weiteren Gedanken über den Mann. Erst als wir mit ihnen sprachen, erinnerten sie sich lebhaft an die Geschichte.“ „Können sie den Mann beschreiben?“ „Sehr allgemein.“ 195
„Trauen sie sich zu, ihn bei einer Gegenüberstellung wiederzuerkennen?“ „Ja.“ „Dann hab’ ich nur noch eine Frage.“ Adrian spürte das Herz bis zum Hals klopfen. „Ist es denkbar, daß eine der Personen, die in den Paulsschen Papieren genannt werden, einer der Auftraggeber von Pieter Lastman also, für die Tat in Frage kommt?“ „Denkbar ist vieles.“ Thelen steckte den Bogen wieder in die Schublade und schob Adrian zur Tür. „Wünschenswert ist auch so manches.“ Er klopfte seinem Besucher wohlwollend auf die Schulter. „Wir haben noch ein gut Stück Arbeit vor uns. Gerade jetzt kommt es darauf an, die Nerven zu behalten. Die kleinste Unbedachtheit kann uns um den Erfolg bringen.“
Der Koch des Kasinos mußte verliebt sein, das Essen war völlig versalzen. „Überall im Hause steckt heute der Wurm.“ Phil Vickbons schob seinen Teller zur Seite. „Seit acht Uhr früh nichts wie Ärger.“ „Höchste Zeit, auszuspannen“, meinte Adrian und sah aus dem Fenster. Der Wind trieb weiße Wolkenballen schnell über das tiefe Blau des Himmels. „Das Wetter bietet sich geradezu an.“ „Wo denken Sie hin, mein Lieber!“ Der Chefredakteur lächelte nachsichtig. „Wir vom Bau sind nicht Herr unserer Zeit so wie Sie. Student müßte man sein!“ „Ich hätte große Lust, heute nachmittag zu segeln.“ „Ja, wenn’s nach der Lust ginge. Haben Sie überhaupt ein Boot?“ „Nein, aber einen Partner, der das seine vielleicht mit mir teilen wird.“ Adrian blickte den Redakteur heraus196
fordernd an. „Ich darf Sie doch beim Wort nehmen. Sie haben versprochen, mir jeden Wunsch zu erfüllen, falls ich nachmittags um drei zu den Aufnahmen im MarienKrankenhaus erscheine. Ich war pünktlich zur Stelle.“ „Erpresser!“ Vickbons winkte der Serviererin und bestellte zwei Schorle. „Grüßen Sie den Küchenchef von mir, wir trinken das Zeug nur, um das Salz herunterzuspülen.“ Das Mädchen brachte eiligst die Getränke. „Herr Meuffels bittet vielmals um Entschuldigung. Es wird nie wieder vorkommen.“ „Wir werden darauf achten!“ Vickbons wandte sich wieder an Adrian. „Warum muß es ausgerechnet heute sein?“ „Weil wir lange nicht mehr solch ideales Segelwetter hatten. Außerdem möchte ich Ihnen ungestört von einer Idee erzählen.“ „Etwa für eine Fortsetzung?“ „So was war noch nie da. Und es läßt sich machen ohne großen Aufwand von seiten des Verlages. Wenn das so läuft, wie ich es mir vorstelle, dann hätte ich endlich wieder Spaß an Liebe 70.“
Die Brise über der Zuidersee war frisch und krönte die langgezogenen Wellen mit weißen Schaumkämmen. Die Najade lag platt vor dem Wind. Groß- und Focksegel wölbten sich gleichmäßig und faltenlos. Phil Vickbons saß am Ruder. „Wie gefällt Ihnen das Boot?“ fragte er. „Soll das heißen: Wie gefällt Ihnen der Steuermann?“ Adrian beobachtete die unablässig heraufziehenden Wolken, die dunklen Streifen gekräuselten Wassers. 197
„Ich hatte eine Antwort erwartet, keine Gegenfrage.“ Vickbons ließ die Hand nicht von der Ruderpinne. „Ich muß schon wieder fragen“, meinte Adrian. „Wie lange soll die Najade noch mit Vollzeug fahren?“ „So lange, bis der Steuermann Kommando gibt, die Segel zu reffen.“ Vickbons schmunzelte. „Haben Sie Angst, daß wir uns beim nächsten Windstoß auf die Seite legen?“ „Erven Wetering würde jetzt reffen“, sagte Adrian mit Nachdruck. „Aber die Najade gehört Ihnen. Sie wissen, was Sie ihr zumuten können.“ „Boote sind eigenwillige Wesen. Wer mit ihnen zurechtkommen will, braucht Gefühl in den Fingerspitzen und ein bißchen Vertrauen. Beim Segeln ist es nicht anders als bei der Liebe“, sinnierte Vickbons genießerisch, „Boote und Frauen muß man durch und durch kennen, um sie richtig zu behandeln.“ „Wenn das stimmt, sollte man sie nicht oft wechseln.“ „Wer wechselt, will sich verbessern, stellt sich immer höhere Ziele“, wandte der Journalist ein. „Nur die bequemen, hausbackenen Seelen hängen am Bewährten, Erprobten.“ „In Ihrem Jachtclub, Herr Vickbons, gibt es Sportfreunde, die wechseln ihre Boote wie ihre Schuhe. Selten steckt Leidenschaft dahinter, meistens Ehrgeiz und übermäßige Eigenliebe.“ „Das haben Sie wunderschön formuliert, van Campen“, sagte Vickbons spöttisch. „So einen Vorschotmann habe ich mir gewünscht. Wo bleibt die ausgefallene Story, die Sie mir im Kasino versprochen haben?“ „Die erzähle ich, sobald wir in der Muiderbucht sind.“ „Wer sagt Ihnen, daß ich dorthin steuere?“ „Wenn Sie meine Geschichte hören wollen, müssen Sie es tun.“ 198
„Soll das ein Witz sein? Sie gehen scharf ins Zeug, mein Lieber. Seit wann bestimmt an Bord der Vorschotmann die Fahrtrichtung?“ Adrian lachte. „Irgendwo habe ich einmal gelesen: An Bord sein bedeutet gefangen sein. Ein kluger Steuermann sieht sich seine Mitgefangenen vorher an, ehe er sie an Deck läßt.“ Der Wind wechselte unversehens die Richtung, drückte hart backbord in die Segel. „Zum Teufel mit Ihren Sprüchen!“ Vickbons blickte besorgt auf das Wasser, dessen Dunkelheit nur durch den Gischt der Schaumkronen aufgehellt wurde. „Soll uns die Böe erst ganz auf die Seite drücken?“ Er umklammerte die Pinne. „Auf was warten Sie noch, Adrian? Großschot schricken! Noch mehr, noch mehr! Achtung, Großsegel killt! Schot nicht belegen! Reffen, reffen! Fock und Großsegel!“ Die Böe fiel so heftig und stoßartig ein, daß Adrian Mühe hatte, sie zu parieren. Er ging hochbords, riß Vickbons mit sich und federte den harten Druck auf die Segel durch Auffieren und Anholen der Großschot ab. Insgeheim freute er sich, daß sein großspuriger Steuermann jetzt gar nicht mehr Herr der Lage war. So scherte er sich bald um keines der ständig wechselnden Kommandos mehr, sondern handelte ganz nach eigenem Ermessen. „Junge, bei wem haben Sie segeln gelernt?“ fragte Vickbons, als die Najade im Windschatten einer Insel in ruhigerem Fahrwasser lag. „Bei Erven Wetering“, meinte Adrian. „Er besaß eben das, was manchen Journalisten fehlt: Fingerspitzengefühl.“ „Besten Dank für die Belehrung.“ Vickbons verzog den Mund. „Seit ich die Serie Liebe 70 übernommen ha199
be, ist kaum ein Tag vergangen, an dem Sie mir nicht auf die Zehen getreten sind: Erven hatte eine andere Konzeption, er hätte dieses und jenes viel taktvoller, seriöser, flotter, realistischer, amüsanter inszeniert. Jeder Blick von Ihnen war ein stiller Vorwurf. Zum Glück habe ich eine Elefantenhaut, sonst hätte ich Keetenheuve längst den Auftrag zurückgegeben. Zum ersten Mal seit zehn Jahren habe ich mir das bieten lassen. Da bezieht jemand wöchentlich ein stattliches Honorar von einem Blatt, das ich leite, und will mir, dem Chef, Vorschriften machen.“ Er schnaubte hörbar. „Alles wissen Sie besser, ganz gleich, ob’s um Reportagen oder ums Segeln geht. Nehmen Sie endlich zur Kenntnis, daß nur eines zählt: wie man durchkommt. Und Ihr Abgott Wetering kam nicht durch.“ „Fingerspitzengefühl und Alkohol vertragen sich schlecht miteinander“, entgegnete Adrian gleichmütig. „Ein Grund dafür, daß Erven Wetering niemals eine Flasche mit an Bord nahm.“ „Niemals?“ wiederholte Vickbons ungläubig. „Niemals.“ „Sie zweifeln also das medizinische Gutachten an?“ „Nein. Es widerspricht meiner These nicht im geringsten.“ „Da bin ich aber neugierig. Wie gelangte denn der Alkohol in Weterings Magen? Hatte etwa der Klabautermann seine Hand im Spiel?“ „Wenn Sie seinen Vorschotmann so nennen wollen, vielleicht.“ „Wie war das?“ Der Chefredakteur glaubte offenbar, sich verhört zu haben. „Vorschotmann? Bis jetzt haben alle Zeugen ausgesagt, daß Wetering allein an Bord der Delphin war.“ 200
„Die Zeugen werden schon wissen, was sie gesehen haben“, sagte Adrian ruhig. „Ich werde mich hüten, ihre Worte anzuzweifeln. Nur ist ein neuer Zeuge aufgetaucht. Der will unter Eid aussagen, er habe zwei Männer an Bord der Delphin gesehen.“ „Aber doch nicht am Nachmittag des dreiundzwanzigsten Juni?“ „Genau an diesem Tage. Er weiß sogar die Uhrzeit noch. Zwei Männer waren an Bord, und jeder von ihnen schien eine andere Vorstellung davon zu haben, wie man mit Böen fertig werden muß.“ „Ein kurioser Zeuge!“ Vickbons lachte auf. Er korrigierte den Kurs und steuerte geradewegs auf die Muiderbucht zu. „Hat dieser Geisterseher am Ende etwas mit der ausgefallenen Story zu tun, die Sie mir versprochen haben?“ „Sie haben recht, mich daran zu erinnern. Darf ich Ihnen vorher etwas beichten?“ „Beichten?“ Vickbons warf Adrian einen erstaunten Blick zu. „Ja, ich muß mir etwas von der Seele reden, hätte es längst tun sollen.“ „Also heraus damit!“ „Seit dem sechsundzwanzigsten Juni, als ich von meinem Vater zurück nach Amsterdam kam, ging es mir seltsam. Ich wurde das Gefühl nicht los, überwacht zu werden. Ob ich in die Uni ging, in ein Restaurant, zu Antje, in den Verlag, immer wieder begegnete ich auf dem Wege dorthin denselben Leuten. Schließlich witterte ich überall Spitzel. Ja, sogar Antje mochte mich fragen, was sie wollte, alles klang für mich berechnet, gezielt, als sei auch sie beauftragt, mich auszuhorchen. Klaas Vermeulen, der sich sehr kameradschaftlich verhielt, wurde 201
von mir ebenfalls verdächtigt. Selbst Wilhelmina Steyn traute ich nicht einen Augenblick lang.“ „Und trotzdem sind Sie ihr nach Hamburg nachgereist?“ „Die Fahrt war eine einzige Tortur. In jedem Mitreisenden vermutete ich einen Schnüffler. Kein Wunder, daß ich mir im Sankt-Georg-Hospital einreden wollte, der Überfall am Hansaplatz sei bestellt gewesen.“ Vickbons lächelte. „Bestellt von wem?“ „Von dem Mann, der mich überwachen ließ, der alle Hebel in Bewegung setzte, um eine Aussprache zwischen Wilhelmina Steyn und mir zu verhindern.“ „Und wer soll dieser Unbekannte sein?“ „Wilhelmina glaubte, es könne kein anderer sein als Ihr Schwager, Herr van Laar.“ „Franz van Laar?“ Vickbons schlug sich vor Lachen auf die Schenkel. „Das wird ja immer schöner. Mein lieber Schwager als Auftraggeber eines Heers von Schlägern und Spitzeln.“ Er schüttelte den Kopf. „Sie haben ihn doch kennengelernt in seinem neuen Domizil an der Prinzengracht. Ein verträumter Mensch, voller Launen und Grillen, eitel und selbstherrlich. Mir liegt dieser Typ gar nicht, aber bitte schön, dafür ist er Musiker. Ausgerechnet er soll herhalten als böser Mann, der sich eine Privatarmee engagierte, um Adrian van Campen das Leben schwer zu machen!“ „Hatte Ihr Schwager nicht Angst vor Wetering?“ „Schon wieder dieser Wetering! Was hätte er Franz denn tun können? Seine Schlager Schnulzen nennen? Ihn lächerlich machen? Wie viele haben das schon probiert. Solange der Absatz nicht darunter leidet, und der steigt immer weiter, kann Franz das nicht schrecken.“ „Absatz und Publicity sind siamesische Zwillinge. Stirbt die Publicity, ist es auch um den Absatz geschehen.“ 202
„Mein lieber Adrian, man merkt deutlich, daß Sie in der Provinz gelebt haben.“ Vickbons lächelte nachsichtig. „Franz van Laars Publicity ist fest gegründet, ja, ich möchte fast sagen, unerschütterlich. Seine Fans gehen für ihn durchs Feuer.“ Er legte den Arm um Adrians Schultern. „Schluß jetzt mit den Narreteien! Wir wollen uns den Tag nicht verderben, und ich lasse deswegen auch fünf gerade sein. Sie haben sich einfach zu früh aus der Obhut der Hamburger Ärzte befreit, mein Lieber. Kopfverletzungen soll man nicht unterschätzen, sie haben oft ein Trauma im Gefolge. Wenn man sich zuwenig Ruhe gönnt, plagen einen Depressionen. Aber keine Angst, das kriegen wir schon wieder hin! Ein guter Bekannter von mir ist Spezialist für Schockneurosen. Wenn Sie sich ihm anvertrauen wollen …“ „Was dann?“ „Vierzehn Tage ausspannen in einem schloßgartenähnlichen Park. Tägliche Gespräche mit dem Chefarzt. Musik, eine Sammlung alter niederländischer und flämischer Grafik, die sich sehen lassen kann. Dolce far niente! Ohne SCHAU-HIN-Reportagen, ohne Aufregungen. Dafür alle zwei, drei Tage lieber Besuch von Antje …“ „Hört sich verlockend an“, unterbrach ihn Adrian. „Vierzehn Tage abschalten. Was würde das kosten?“ „Für Sie keinen Cent. Keetenheuve hat die Krankenhausrechnung anstandslos beglichen, er wird auch hier nicht anders verfahren.“ „Ist Ihr Herr und Meister unter die Philanthropen gegangen?“ „Er tut nur das, was jeder Geschäftsmann tut. Er hat Sie aufgebaut, hat in Liebe 70 einige Zehntausende investiert, in der Absicht, das Zehnfache zu gewinnen. Ein kranker Held gefährdet die Serie, ein gesunder führt sie 203
zum gewünschten Erfolg. Ergo verspricht er sich alles von einem körperlich und seelisch gesunden Adrian.“ „Und was erwartet der Chefredakteur?“ „Daß Sie Ihrem Glück nicht länger im Wege stehen.“ Vickbons zwinkerte ihm freundschaftlich zu. „Junger Mann, nicht eine Sekunde hätte ich gezögert, wenn man mir das geboten hätte!“ „Was geboten? Das Honorar für Liebe 70?“ „Das war nicht einmal die Vorspeise.“ Vickbons machte eine wegwerfende Handbewegung. „Wenn Sie nicht so viel mit Ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt wären, hätten Sie auch schon etwas davon läuten hören, was wir mit Antje und Ihnen vorhaben. In zwei Jahren sind Sie das holländische Liebespaar Nummer eins. Zu Hause in meinem Schreibtisch liegen Vorverträge für vier Fernsehfolgen. Und das ist noch nicht mal das Zwischengericht! Was glauben Sie, wieviel Gänge daraus werden können? Haben Sie eine Ahnung, was Eurovision für eine halbe Stunde zahlt? Was bei Koproduktionen herausspringt?“ „Was soll diese Zukunftsmusik! Ich bin kein Schauspieler.“ „Gott sei Dank sind Sie keiner. Bleiben Sie so, wie Sie sind. Junge, unverbrauchte Gesichter, das wird die Masche der siebziger Jahre. Ich weiß, Sie haben ganz andere Interessen, Ihre Leidenschaft ist die Kunst des Barocks. Bleiben Sie dabei. Wir haben millionenschwere private Sammler, die einen Berater brauchen, wenn sie kaufen oder verkaufen wollen. Keetenheuve wird Sie einführen, und in ein paar Monaten werden Sie bei unserer High Society ein gesuchter Mann sein. Sie können ein Grundstück kaufen, ein Haus bauen und ein Leben führen, ganz wie es Ihren Vorstellungen entspricht.“ Vickbons hatte 204
sich so in Eifer geredet, daß es Adrian einige Mühe kostete, ernst zu bleiben. „Wann kann ich diese Vorverträge einmal sehen?“ fragte er. „Wenn Sie wollen, schon heute abend. Paßt es Ihnen?“ „Warum nicht? Wenn es um die Zukunft geht!“ „Okay. Dann segeln wir jetzt zurück. Vom Jachtclub aus rufe ich meine Frau an. Sie lädt noch rasch ein paar nette Leute ein, arrangiert eine kleine Party, ganz zwanglos.“ „Wird Ihr Schwiegervater auch zugegen sein?“ „Mein Schwiegervater?“ fragte Vickbons überrascht. „Kennen Sie Jan van Laar?“ „Wir lernten uns bei der Einstandsparty an der Prinzengracht kennen. Eine stattliche Erscheinung. Muß ein leutseliger alter Herr sein.“ „Ja, ja, schon richtig.“ Der Redakteur strich sich nervös das Kinn. „Nur glaube ich nicht, daß wir ihn heute abend bei uns haben werden. Jan van Laar hat sich aus dem Geschäftsleben zurückgezogen, lebt ganz seinen Hobbys.“ „Ich dachte, er sei noch mittendrin, schmiede Pläne, entwerfe Projekte, sei für alle neuartigen Ideen aufgeschlossen.“ „Aber nein, wer hat Ihnen das erzählt?“ fragte Vickbons erstaunt. „Wir sehen uns oft. Was er treibt, kann ich ganz gut beurteilen.“ „Soll das heißen, daß er nicht mehr als Zeitungsverleger tätig sein will?“ „Allerdings. Warum fragen Sie?“ „Wenn das wahr ist, dann fällt meine Story ins Wasser.“ „Wie war das eben? Wer fällt ins Wasser?“ 205
„Ach, lassen Sie nur.“ Adrian blickte auf die See hinaus, er verfolgte den Flug der Möwen. „Sicher alles Gerüchte.“ „Zum Teufel noch mal, so reden Sie doch endlich. Was für Gerüchte?“ Adrian wandte sich Vickbons zu und sah ihn fest an. „Man redet davon, daß gewisse Dokumente gehandelt werden. Dokumente, die nachweisen, daß Jan van Laar demnächst im Journalismus eine bedeutende Rolle spielen wird. Diese Dokumente haben Erven Wetering gehört. Eine Gruppe Rowdys hatte sich die Papiere angeeignet, und ganz außerplanmäßig versuchte einer von ihnen, daraus Kapital für sich zu schlagen. Er wollte sie an den Meistbietenden verkaufen. Das mußte schiefgehen. Seine Clique jagte ihn, und er lief dabei ausgerechnet den Provos in die Arme. Die interessieren sich sehr für diese Dokumente, nur bezahlten sie weder den geforderten Preis, noch ließen sie ihn wieder laufen. Sie nahmen diese Schriftstücke für bare Münze, ließen sie vervielfältigen und verwenden sie jetzt als Waffe in ihrem Kampf.“ „Ich weiß nicht, wovon Sie reden“, sagte Vickbons. „Die Provos sehen in diesen Dokumenten eine Beweiskette für die Machtgier des Establishments. Sie werden in den nächsten Tagen durch die Amsterdamer City ziehen mit Losungen: ‚Erst Manipulation – dann Kapitulation‘, mit riesengroßen Transparenten und meterhohen Karikaturen, die zeigen, wie der SCHAU-HINDrache andere Zeitungen verschlingt: die MITTAGSDEPESCHE, den NACHTEXPRESS, das HANDELSBLATT.“ „Ein schlechter Scherz“, knurrte Vickbons. „Das Publikum wird ihnen das nicht abnehmen.“ 206
„Zehntausend Flugblätter werden an die Passanten verteilt, Flugblätter mit Faksimiles der Dokumente.“ „Zum Kuckuck noch mal, was reden Sie da immer von Dokumenten?“ fuhr Vickbons Adrian an. „Was soll denn nun eigentlich dokumentiert werden?“ „Jan van Laars Rolle. Sie sagten doch, daß Sie die Hobbys Ihres Schwiegervaters kennen.“ „Lassen Sie die Schnörkel weg!“ „Es sind Sitzungsprotokolle. Aus ihnen geht hervor, daß ab Juli einundsiebzig vier große Zeitungen unter dem Dach einer neuen Gesellschaft, der Amstel-AG, vereinigt werden. Direktor der neuen Gesellschaft wird Jan van Laar. Stammkapital fünfzehn Millionen Gulden. Ein hoher Prozentsatz der Anteile ist bereits in den Händen der Familie Keetenheuve. Damit kontrolliert SCHAU HIN ab Juli einundsiebzig nicht mehr als bisher neununddreißig Prozent der gesamten Massenpresse, das war gerade noch zulässig, sondern vierundfünfzig Prozent. Damit verstößt der Verlag gegen das Gesetz zur Pressekonzentration, das übermorgen vom Parlament verabschiedet wird.“ Adrian hatte nüchtern und sachlich gesprochen, und gerade das schien Vickbons aufs äußerste zu empören. Seine Hände verkrampften sich, seine Lippen waren zu einem Strich geworden. „Und jetzt kommt der Beginn meiner Story für Liebe 70“, fuhr Adrian fort. „Sie setzt in dem Augenblick ein, da etwa fünf- bis sechstausend Provos vor dem Parlamentsgebäude erscheinen und eine Delegation dem Präsidenten die Kopien der Protokolle überreicht.“ „Sie sind krank, Adrian. Ihre Phantasie überschlägt sich.“ „Kann man eigentlich gesund bleiben in diesen herrli207
chen Zeiten?“ Adrian lachte ironisch. „Nanu, was bedeutet denn das?“ Er wies hinüber nach Bloemwarder. In schneller Fahrt kam ein Motorboot auf die Najade zu und manövrierte sich längsseits. Am Steuer saß Kommissar Thelen. „Hallo, van Campen! Hallo, Mynheer Vickbons!“ rief er, die Hände zum Schalltrichter geformt. „Tut mir leid, daß ich Ihre Segelpartie unterbrechen muß. Ich brauche Herrn Vickbons dringend im Präsidium.“ „Hat das nicht Zeit, Kommissar?“ rief Vickbons zurück. „Nein. Eine Identifizierung. Bitte steigen Sie um, Herr Vickbons. Alles Nähere erfahren Sie unterwegs.“ „Und wer soll die Najade nach Hause bringen?“ „Dafür sorgen wir. Herr van Campen versteht sich sehr gut auf Starboote.“
Von dem nahen Kirchturm schlug es sechsmal. Vickbons zählte halblaut mit. „Seit einer halben Stunde sitzen wir hier herum“, sagte er gereizt. „Worauf warten wir eigentlich, Kommissar?“ „Ich begreife Ihre Ungeduld, Herr Vickbons. Aber bitte haben Sie auch Verständnis für uns. Der Mann, auf den wir warten, muß jede Minute eintreffen.“ „Es wäre nicht notwendig gewesen, mich in solchem Eiltempo von der Najade wegzulotsen.“ „Es geschah in Ihrem Interesse.“ „Das müssen Sie mir schon erklären“, entgegnete der Journalist herablassend. „Aber natürlich.“ Thelen saß behäbig vor seinem Schreibtisch, die Beine weit von sich gestreckt. „Die 208
Probleme, mit denen Herr van Campen sich seit Wochen herumschlägt, darf ich wohl als bekannt voraussetzen.“ „Probleme? Nennen wir es lieber fixe Ideen.“ „Meinetwegen. Sie werden mir zustimmen, wenn ich seinen jetzigen Zustand als unberechenbar bezeichne. Wir müssen daher versuchen, einen Zusammenstoß zwischen ihm und anderen Personen zu verhindern.“ „Mein werter Kommissar, die Redaktion von SCHAU HIN sucht sich ihre Mitarbeiter sehr sorgfältig aus.“ Vickbons’ Ton wurde zusehends arroganter. „Wir wissen Bescheid über ihre Sorgen und Nöte, aber wir nehmen sie so, wie sie sind.“ „Gestatten Sie mir trotzdem einen kritischen Hinweis. Im Hamburger Sankt-Georg-Hospital brauchte van Campen unbedingte Ruhe. Er hatte Anspruch darauf wie jeder andere Kopfverletzte. Statt ihm diese Ruhe zu gönnen, inszenierten Sie dort eine turbulente Schau.“ „Dazu war ich gezwungen. Wir brauchten Bilder für die übernächste Folge. Van Campen war schuld daran, daß die Amsterdamer Aufnahmen verschoben werden mußten. Natürlich war es ein Risiko, im Krankenhaus zu fotografieren. Uns blieb keine andere Wahl.“ „Die Ärzte sind anderer Meinung, Herr Vickbons. Aber es ist noch etwas anderes, das mir nicht einleuchten will. Auch wenn es nur entfernt mit Herrn van Campen in Zusammenhang steht, sollten wir darüber sprechen. Wir wurden rechtzeitig informiert, daß gegen den Besuch eines ausländischen Staatsmannes eine Protestdemonstration stattfinden sollte. Eine Großaktion der Provos, die unserem internationalen Ansehen Schaden zugefügt hätte. Unser Sicherheitsdienst schlug sofort zu und nahm die Rädelsführer fest. In fast allen Amsterdamer Zeitungen erschien eine kurze Meldung. Doch zwei Zeitungen Ihres 209
Konzerns brachten die Verhaftungen in Zusammenhang mit dem Tode Erven Weterings.“ „Herr Keetenheuve hat die beiden Redakteure sofort ins Gebet genommen. Nicht sie sind die Urheber dieser Zeitungsente, sondern Vermeulen vom NACHTEXPRESS. Von ihm haben unsere Blätter wortwörtlich diese Spekulation übernommen.“ „Mag es sein, wie es will, jedenfalls kommt nun allerhand auf uns zu. Doktor Kroon hat sich entschlossen, van Campen in jeder Beziehung zu unterstützen. Er war bei mir und hat mir Zeugen genannt, die gesehen haben wollen, daß Wetering am dreiundzwanzigsten Juni nicht allein an Bord der Delphin war.“ „Dieser Provo-Anwalt ist ernst zu nehmen“, sagte Vickbons nachdenklich. Er griff nach seinem Etui und zündete sich eine Zigarette an. „Gewöhnlich steigt er nur ein, wenn er Erfolgschancen sieht. Aber der Fall Wetering ist doch für die Polizei längst abgeschlossen.“ „Für uns ja. Nicht für van Campen, nicht für Doktor Kroon, nicht für die Provos. Die wurden durch die gezielten Verdächtigungen aufgeputscht.“ „Wie unerfreulich für die Polizei.“ „Nicht nur für uns, Herr Vickbons. Wenn es kein Unfall war, dem Erven Wetering zum Opfer fiel, sondern ein Gewaltakt – und das wollen van Campen, Doktor Kroon und die Provos beweisen –, dann nimmt der Fall Wetering eventuell Ausmaße an … Kaum zu übersehen, was dann alles zur Sprache kommen wird.“ Der Kommissar warf einen schnellen Blick auf die Uhr. „Wo nur der Mann bleibt“, sagte er ungehalten. „Aber nutzen wir die Zeit. Was halten Sie von Pieter Lastman?“ „Lastman? Pieter Lastman?“ fragte Vickbons überrascht. „Wer ist denn das?“ 210
„Ein breitschultriger Bursche um die Dreißig, mit kantigem Kopf und buschigen Augenbrauen.“ „Tut mir leid, Kommissar.“ Thelen faßte in eine Schublade. „Sie kennen den Mann nicht, haben kein Wort mit ihm gesprochen?“ fragte er scharf und reichte dem Journalisten das Hamburger Foto. Nichts in Vickbons Gesicht deutete darauf hin, daß der Abgebildete ihm bekannt war. „Ich sehe ihn heute zum ersten Male“, sagte er achselzuckend. „Was ist mit ihm?“ „Das werden wir gleich hören.“ Thelen schaltete die Sprechanlage ein. „Ist denn dieser Pauls endlich ins Haus gebracht worden? So. Dann vorführen.“ Die Tür wurde bald darauf geöffnet. Ein Beamter schob einen bärtigen jungen Mann in grauer Lederkombination herein. „Sie heißen Dirk Pauls“, begann Thelen. Der Bärtige nickte. „Nehmen Sie Platz.“ Thelen wies auf einen Stuhl und bot Pauls eine Zigarette an. „Wir möchten wissen, was Sie mit Pieter Lastman zu tun hatten.“ Pauls zog hastig den Rauch ein. „War gut bei Kasse. Zahlte prompt.“ „Wem zahlte er?“ „Uns. Wenn er was für uns hatte.“ „Wieviel waren Sie?“ „So Stücker zwölf.“ „Beruf?“ Pauls grinste. „Na, wenn sich mal was anbot. Gelegenheitsjob, würd’ ich sagen, wurde bei uns groß geschrieben.“ „Was bot sich denn so an?“ „Wo Kerle gesucht wurden, die nicht lange fackelten.“ „Sie gehörten also einer Schlägertruppe an. Ihr Erken211
nungszeichen waren tätowierte Totenköpfe am rechten Unterarm.“ „Genau.“ „Wann trat Lastman an Ihre Truppe heran?“ „Ende Mai. Sonderauftrag für die von uns, die sich bei den Provos auskennen.“ „Wie lautete der Auftrag?“ „Na, wir sollten darauf achten, wann der Wetering im Provo-Keller erscheint. Der sollte dort ’ne Abreibung kriegen. So ganz auf die Zufällige. Ohne daß die Provos spitzkriegen, was eigentlich gespielt wird.“ „Warum sollte Wetering zusammengeschlagen werden?“ Pauls zog die Schultern hoch. „Wir fragen nie, warum. Nur das Wie ist wichtig.“ „Wie war das mit dem Wie?“ „Lastman meinte, ein paar Knochen könnten ruhig dabei in die Brüche gehen.“ „Es kam aber anders?“ „Wetering war ein harter Brocken. Mehr als ein Veilchen und ein paar Kratzer steckte er nicht ein.“ „Und was sagte Lastman dazu?“ „Er war sauer. Wir dachten schon, der läßt sich nie wieder blicken. Aber drei Wochen später steigt er plötzlich ’runter in unsere Timpe und meint, wir könnten uns mal wieder ’n paar blaue Lappen verdienen. Diesmal brauchte er aber Spezialisten, die mit Wetering fertig würden. Da ging ich mit. Ich kenn’ nämlich ’n paar todsichere Griffe.“ „Wofür?“ Pauls sah Thelen unsicher an. „Na, daß man zum Ziel kommt – daß der andre zu Boden geht und daß man kriegt, was man haben will.“ 212
„Was wollten Sie denn haben?“ „Seine Aktentasche.“ „Erzählen Sie ausführlich!“ „Lastman sagte, wenn Wetering die Kalverstraat ’runterkäme, sollten wir ihm nach. Wo keiner zuschaute, sollten wir ihn in eine Toreinfahrt drängen und ihm die Tasche abnehmen. Na, so ganz, wie wir es uns dachten, lief es nicht. Aber als ich seinen rechten Arm in die Mangel kriegte, mußte er die Tasche fallen lassen, und ich stellte sie erst mal sicher. Dann sah ich, was drin war, und dachte mir, das kann ein Mordsfisch sein, den du da an Land gezogen hast.“ „Was steckte in der Tasche?“ „Kopien. Ich hatte das Gefühl, damit wäre ein Geschäft zu machen. Sicherheitshalber hab’ ich sie die gleiche Nacht noch mal für mich privat kopiert.“ „Warum?“ „Besser ist besser. War ja kein Problem für mich. Ich kenne einen, der in ’ner Kopieranstalt als Bote arbeitet. Am nächsten Tag holte sich Lastman die Tasche und zahlte den ausgemachten Preis.“ „Weiter! Wann folgte der nächste Einsatz?“ „Zwei Wochen später hieß es, wir sollten in die Uni. Die Studenten machten dort Rabatz, da könnten wir ’n bißchen mitmimen. Wenn die Polizei anrückte, sollten wir ’ne Barrikade bauen, Lastman erklärte uns, wo wir die Tische und Stühle hernehmen sollten und daß dort nichts heil bleiben dürfe.“ „Wußten Sie, gegen wen sich diese Aktion richtete?“ „Genau nicht.“ Pauls schüttelte den Kopf. „Durch Fragen macht man sich nur unbeliebt. Als ich aber die Bilderseiten in SCHAU HIN sah, sagte ich mir, erst Wetering – nun van Campen. Später, in Hamburg, wo wir am 213
Hansaplatz mitgemischt haben, merkte ich so richtig, wer an den Kopien ein großes Interesse haben mußte. Natürlich konnte ich nicht ins Krankenhaus gehen. Da hab’ ich versucht, ihn abzupassen. In der Bremer Reihe, im Artisten-Keller, hätt’ ich ihn fast gehabt, nur die Wirtin mochte mich nicht. Und dann war er weg, und mir blieb nur die Sängerin. Als ich der ein paar Kostproben zeigte, stieg sie sofort ein. Sie wollte mich so schnell wie möglich mit van Campen zusammenbringen.“ „Aber van Campen war schon in Amsterdam.“ „Wir mußten versuchen, ihn dort zu treffen. Fräulein Steyn wollte das arrangieren. Am achtzehnten Juli in ihrer Wohnung! Als ich am Vischerdamm aufkreuzte, stand die Polizei schon im Treppenhaus, dann wurd’s mulmig. Die andern von der Blase waren hinter mir her.“ „Warum?“ „So ’ne Extratour ist eben ’n Risiko. Erwischen sie einen, ehe man seinen Schnitt gemacht hat, ist das Ding verratzt. Ich hatte kalkuliert, daß mir van Campen die Papiere abkauft und ich mit dem Geld ins Ausland verschwinde. Durch den Tod der Sängerin wurde mir der Boden verdammt heiß. Irgendwo mußte ich unterkriechen. Ich dacht’ schon, ich hätt’ ’n todsicheres Versteck, aber genau dort erwischten mich die Provos.“ „Das wäre also klar.“ Thelen nickte ihm zu. „Sagt Ihnen der Name Vickbons etwas?“ Pauls überlegte. „Irgendeiner von den Pressefritzen, würd’ ich sagen. Der Name taucht ’n paarmal in den Dokumenten auf.“ „Sind Sie diesem Vickbons schon einmal begegnet?“ „Nicht, daß ich wüßte.“ „Betrachten Sie den Herrn, der Ihnen gegenübersitzt, und sagen Sie mir, ob Sie ihn heute zum ersten Mal sehen.“ 214
Dirk Pauls blickte den Journalisten an. „Man sieht so manche Typen und vergißt sie wieder, aber der Herr ist mir noch nie in die Quere gekommen.“ Der Kommissar gab dem Beamten einen Wink. Pauls wurde abgeführt. „Was halten Sie von der Geschichte, Herr Vickbons?“ fragte Thelen, als sie allein waren. Vickbons war dem Verhör mit offensichtlicher Spannung gefolgt. „Pieter Lastman ist wohl der große Unbekannte, was?“ sagte er nun spöttisch. „Lastman ist uns bekannt.“ Thelen blätterte in seinen Akten. „Er bietet sich bestimmten Unternehmen an, um heikle Angelegenheiten für sie in Ordnung zu bringen.“ „Mag sein. Ich bin diesem Herrn noch nie begegnet.“ „Ihr Herr Schwiegervater hatte dafür wohl um so mehr mit ihm zu tun.“ Vickbons biß sich auf die Unterlippe. „Das kann ich mir nicht vorstellen. Jan van Laar lebt sehr zurückgezogen.“ „Nicht mehr lange. Er bereitet sein Comeback vor.“ „Seit wann gibt die Polizei etwas auf Gerüchte?“ „Die Gründung der Amstel-AG unter der Leitung Jan van Laars ist kein Gerücht, sondern ein Fakt.“ „Was Sie nicht sagen! Über die Amsterdamer Presse scheinen Sie besser Bescheid zu wissen als ich, Herr Kommissar.“ „Spielen Sie nicht den Ahnungslosen, Herr Vickbons. Ich habe mich mit den Papieren beschäftigt, die dieser Pauls bei sich führte. Natürlich sind es Kopien, aber an der Echtheit ihrer Aussage ist genausowenig zu zweifeln wie daran, daß ein solcher Fall von Pressekonzentration in unserem Lande einmalig wäre. Einmalig und gesetzwidrig. Vierundfünfzig Prozent in den Händen Keeten215
heuves und van Laars – das bedeutet die absolute Mehrheit und damit die Verfügungsgewalt über die gesamte öffentliche Meinung. Ich betrachte es als einen glücklichen Umstand, daß Erven Wetering diese Machtzusammenballung nach der Parlamentsdiskussion über Pressefragen ausgekundschaftet hat.“ „Einen glücklichen Umstand nennen Sie das?“ Vickbons war aufgesprungen. „Seit über zwanzig Jahren höre ich jetzt dies Gerede über drohende Pressekonzentration. Ja, sind wir denn die einzigen, die ihre Kräfte konzentrieren? Überall in der Welt kooperiert man! Warum soll die Presse von dieser Entwicklung unberührt bleiben? Daß sich Zeitschriften und Zeitungen immer enger zusammenschließen, ist die natürlichste Sache von der Welt. Wie anders will man der steigenden Kosten Herr werden, wie soll man sonst die verwöhnten Ansprüche der Leser befriedigen?“ „Sie können es wenden, wie Sie wollen, Herr Vickbons. SCHAU-HIN-Verlag in Kooperation mit AmstelAG, das ist gesetzwidrig.“ „Im Augenblick noch. In drei oder vier Jahren wird unser Parlament andere Gesetze beschließen. Wozu jetzt der Lärm? Schließlich sind die Amstel-AG und der SCHAU-HIN-Verlag zwei Unternehmen, die voneinander unabhängig existieren.“ „Nur dem Namen nach.“ „Es gibt finanzielle Verflechtungen, gewiß. Aber wo gibt es die nicht!“ „Sie bestreiten also nicht mehr die Echtheit dieser Papiere. Immerhin sind darunter Verlaufsprotokolle von Verhandlungen, die Amsterdamer Zeitungsverlage mit Herrn Keetenheuve führten, Übereinkünfte, Vorverträge …“ 216
„Streng vertrauliche Dokumente sind es“, fiel ihm Vickbons ins Wort. „Und es ist ein beispielloser Vertrauensbruch Weterings, sich diese Papiere hinterrücks beschafft zu haben. Als zeitweiliger Mitarbeiter von SCHAU HIN hatte er Zutritt zu vielen Räumen unseres Hauses. Er drang auch in Zimmer ein, die für ihn verschlossen waren. Als Erfolgsmensch besaß er natürlich auch die Zuneigung einiger weiblicher Angestellten. Er mißbrauchte sie, um an die Protokolle heranzukommen. Das war Werkspionage, Kommissar Thelen!“ „Spionage zu welchem Zweck?“ „Er wollte ein Druckmittel gegen den Verlag in der Hand haben.“ „Forderte er Schweigegeld?“ „Im Gegenteil; er schlug es ab.“ „Was forderte er statt dessen?“ „Das läßt sich nicht mit zwei Worten sagen.“ „Wir haben Zeit, Herr Vickbons.“ Thelen lehnte sich behaglich zurück. „Nehmen Sie wieder Platz, und holen Sie ruhig etwas weiter aus. Mir geht es um Klarheit, nicht um Schnelligkeit.“ Der Chefredakteur setzte sich wieder. „Erven Wetering war ein begabter Schreiber. Talente sind oft eigenwillig, mitunter selbstherrlich. Eine Zusammenarbeit mit ihnen ist nicht ohne Risiko. Darüber war ich mir im klaren, als ich Wetering für SCHAU HIN engagierte. Leider stellte sich schon während der ersten Folgen von Liebe 70 heraus, daß Wetering zu einer echten Mitarbeit gar nicht bereit war.“ „Wie zeigte sich das?“ „Indem er es rundweg ablehnte, die Konzeptionen einzelner Folgen mit Keetenheuve und mir abzustimmen. Das brachte uns in große Schwierigkeiten.“ 217
„Können Sie mir das erläutern?“ „Er benutzte Liebe 70 dazu, um im Rahmen einer locker gefügten Handlung gegen bestimmte Einrichtungen des öffentlichen Lebens und bestimmte Interessengruppen zu polemisieren. Er griff Wohnungsmakler an, Haus- und Grundeigentümer, Kreditfinanzierungsinstitute, attackierte Zustände an unsern Universitäten, die vorläufig nicht zu ändern sind, ja, er brach sogar eine Lanze für bestimmte Anarchistengruppen, verherrlichte Kriegsdienstgegner, ließ Provos zu Worte kommen und so weiter und so weiter. Natürlich in Weteringscher Manier: raffiniert unterschwellig und daher besonders effektvoll. Im Vordergrund eine poetische Liebesgeschichte, voll Atmosphäre, reich an Spannungen und Verwicklungen, immer glaubhaft und ansprechend – im Hintergrund die Auseinandersetzung mit unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung. Diese ständigen Attacken konnten wir nicht länger verantworten.“ „Was haben Sie dagegen unternommen?“ „Keetenheuve und ich haben Wetering unumwunden unsern Standpunkt klargemacht. Vor Folge vier, vor Folge fünf und nach Folge sechs. Sachlich und kritisch.“ „Mit welchem Ergebnis?“ „Wetering war nicht bereit, auch nur einen Pflock zurückzustecken. Was sollte ich tun? Keetenheuve hielt sich an mich. ‚Sehen Sie zu, wie Sie mit ihm fertig werden‘, das waren seine Worte. Ich machte also Wetering klar, daß wir auf seine weitere Mitarbeit verzichten würden, falls er unseren Wünschen nicht nachkäme. Es machte auf ihn keinen Eindruck. Seine Geschichte schreibe er so, wie er es für richtig hielte. Ich setzte einen Termin, er nahm keine Notiz davon. Noch einmal ging ich zu Keetenheuve, und wir berieten uns mit dem Justi218
tiar. Er schlug uns vor, Wetering sofort von der Arbeit an Liebe 70 zu suspendieren, ihm eine Abfindung zu zahlen. Weterings Meinung dazu war, SCHAU HIN könne es sich nicht leisten, auf einen so wichtigen Geheimnisträger wie ihn zu verzichten.“ „Damit spielte er auf die Gründung der Amstel-AG an“, unterbrach Thelen. „Ja. Er nannte Namen, zitierte Protokolle, ließ durchblicken, daß er im Besitz zahlreicher Unterlagen sei.“ „Ihre Reaktion?“ „Ich nannte ihn einen Erpresser. Er erwiderte, es handle sich um einen Zweikampf. Wer angegriffen würde, sei berechtigt, mit der gleichen Waffe zurückzuschlagen. Mir blieb keine andere Wahl, ich mußte in den Besitz seiner Unterlagen über die Amstel-AG kommen.“ „Sie wandten sich also an Pieter Lastman. Er hatte schon einmal in Ihrem Auftrag versucht, Wetering aus dem Felde zu schlagen. Im Provo-Keller an der Palmengracht.“ „Was blieb mir anderes übrig? Schließlich kämpfte Wetering mit unsauberen Mitteln gegen uns. Sollten wir da etwa prüde in der Auswahl unserer Helfer sein?“ „Lastman engagierte Pauls und einige andere Totenköpfe. Die überfielen Wetering und entwendeten ihm seine Akten. War dadurch die Gefahr für Sie vorüber?“ „Ich mußte es annehmen. Wie konnte ich ahnen, daß dieser Pauls auf eigene Faust Kopien herstellte.“ „Was sagte Wetering nach dieser Geschichte?“ „Er wußte, daß es für ihn zwei Möglichkeiten gab. Entweder er hielt sich an unsere Direktiven und führte Liebe 70 so weiter, wie es Keetenheuves und meinen Vorstellungen entsprach, oder er betrat unseren Verlag nicht mehr und ließ sich abfinden.“ 219
„Wie entschied er sich?“ „Er bat sich Bedenkzeit aus.“ Thelen rückte seinen Sessel zurecht. „Sie vereinfachen die Dinge zu sehr, Herr Vickbons“, meinte er bedächtig. „Ein so erfahrener Journalist wie Wetering wußte, mit welchem Gegner er es zu tun hatte. Daß Jan van Laar, Keetenheuve und Sie nicht die Waffen strecken würden, war ihm klar. Bevor er Ihnen eröffnete, welche Informationen in seiner Aktentasche steckten, hatte er sich abgesichert und das Originalmaterial dort deponiert, wo er es veröffentlichen wollte: beim NEUEN MAGAZIN.“ „Das ist eine Hypothese!“ „Wir haben mit den Redakteuren des NEUEN MAGAZINS gesprochen, es ist eine Tatsache. Seit dem neunzehnten Juni dieses Jahres liegen dort Weterings Unterlagen über die Amstel-AG. Beide Überfälle auf Wetering waren also ein Schlag ins Wasser, Herr Vickbons, Wetering saß am längeren Hebel.“ „Sie unterschätzen die Möglichkeiten unseres Verlages.“ „Daß Sie sich einer so trüben Figur wie Pieter Lastman bedienen mußten, spricht nicht gerade für Ihre Möglichkeiten. Aber lassen wir das erst mal. Ich habe da noch eine Frage, die ich auch Ihnen stellen muß. Wo hielten Sie sich am Nachmittag und Abend des dreiundzwanzigsten Juni auf, Herr Vickbons?“ „Das war vor vier Wochen?“ „Der Tag, an dem Erven Wetering starb.“ „Zum Glück habe ich meinen Terminkalender immer bei mir.“ Er holte einen kleinen Notizkalender hervor und schlug ihn auf. „Zur fraglichen Zeit war ich bei meinem Schwiegervater in Dixmuiden, Strandweg zehn.“ „Wie lange blieben Sie dort?“ 220
„Ich kam gegen sechzehn Uhr und verließ das Haus gegen dreiundzwanzig Uhr.“ „Gibt es dafür Zeugen?“ „Na, hören Sie mal, das Wort meines Schwiegervaters wird wohl genügen.“ „Es war eine reine Routinefrage. Sicher kann jemand vom Personal Ihre Angaben bestätigen.“ „Das Personal hatte seinen freien Tag.“ „Alle auf einmal und ausgerechnet an einem Dienstag?“ „Das ist doch wohl Privatangelegenheit. Wenn Jan van Laar geschäftliche Dinge zu besprechen hat, gibt er seinen Leuten frei.“ „Ihr Besuch war also geschäftlicher Natur?“ „Ja, aber wir haben natürlich zu Abend gegessen und später einige Cocktails getrunken. Der Chauffeur kam als erster vom Personal zurück, ich ließ mich von ihm nach Hause fahren.“ „Können Sie die genaue Uhrzeit nennen?“ „Das kann ich nicht“, sagte Vickbons unwillig. „Aber der Chauffeur wird sie noch wissen. Jedenfalls war es spät. Und nach dem Gutachten fand der Segelunfall etwa um neunzehn Uhr statt.“ „Das stimmt.“ Thelen nickte. „Aber gegen einen Mann wie Doktor Kroon sollte man sich nach allen Seiten hin absichern. Übrigens grenzt der Garten des Grundstücks Strandweg zehn doch an die Zuidersee?“ „Gewiß.“ „Und hat einen Anlegesteg für Segelboote?“ „Natürlich. Wie alle Gärten dort am Wasser.“ „Könnte es möglich sein, daß am Dreiundzwanzigsten zwischen sechzehn und siebzehn Uhr ein Starboot für kurze Zeit an diesem Steg festgemacht hat?“ 221
„Was soll ich darauf sagen? Wir saßen im Arbeitszimmer, seine Fenster gehen nicht zur Seeseite hinaus.“ „Wenn nun aber ein Zeuge aufträte, der behauptet, Wetering habe zur fraglichen Zeit dort angelegt?“ „Es wird keiner auftreten, Kommissar.“ Vickbons lächelte. „Der Garten liegt in einer kleinen Bucht, die mit Bäumen und Sträuchern dicht bestanden ist. Der Steg ist daher weder von links noch von rechts einzusehen.“ „Damit wäre auch dieser Punkt erledigt.“ Thelen klappte den Aktendeckel zu. „Ist die Vernehmung jetzt beendet?“ „Einen Augenblick!“ Thelen drückte auf einen weißen Knopf an der Wand, ging zum Schrank und öffnete die Tür. „Eine kleine Formalität noch.“ Er nahm Ölzeug und einen Südwester heraus. „Ich muß Sie um den gleichen Gefallen bitten wie die anderen Herren vor Ihnen. Kostümieren Sie sich bitte für zwei Minuten.“ „Wenn es sein muß, bitte schön.“ Mit einem Seufzer zog Vickbons die Segelkleidung an. Vom Flur her wurden Stimmen laut. Thelen öffnete die Tür, und das Zimmer füllte sich mit Männern, die die gleiche Segelkombination wie Vickbons trugen. Sie waren ungefähr von gleicher Größe und Statur. „Moment mal herhören!“ rief Thelen. „Alle Herren in Segelkleidung treten bitte an der Fensterseite in einer Reihe an.“ Er wandte sich an einen Beamten. „Darf ich bitten …“ Ehe sich der Redakteur von seiner Überraschung erholen konnte, wurden zwei ältere Männer mit weißgrauen Backenbärten und verwitterten braunen Gesichtern hereingeführt. Im Zimmer wurde es still. Die Blicke der beiden Män222
ner wanderten von einem zum anderen, verweilten da und dort etwas länger, dann flüsterten sie miteinander, und einer von ihnen winkte dem Kommissar. „Der dritte von links wär dat wesen.“ „Überlegen Sie genau.“ „Is keen Irrtum möglich. He war dat.“ „Sie werden das vor Gericht unter Eid aussagen müssen.“ „Deswegen war he dat trotzdem.“ Kommissar Thelen trat einen Schritt zurück. „Ich brauche Sie nicht mehr, meine Herren Kollegen. Die Beamten können den Raum verlassen.“ Das Zimmer leerte sich schnell. Thelen trat auf Phil Vickbons zu, der am Fenster stehengeblieben war und seiner Erregung nur noch mühsam Herr werden konnte. „Sie erwarten sicher eine Erklärung“, sagte der Kommissar. „Und die sollen Sie haben. Diese beiden Fischer aus Huizen haben am dreiundzwanzigsten Juni gegen zweiundzwanzig Uhr einen Mann in Ölzeug und Südwester mit Faltboot beobachtet. Dieser Mann waren Sie, Herr Vickbons. Die Männer haben Sie erkannt.“ „Das ist ja eine unglaubliche Unterstellung“, fuhr Vickbons hoch. „Nu kräh man nich so, leever Herr“, meinte der eine Fischer gemütlich. „Dat help ja nu all nix mehr.“ „Is good, dat he kräht hat, is all bannig good.“ Der andere nickte bekräftigend mit dem Kopf. „Nu hebben wi noch mal sin Stimm to hören kriegt, und dat wär haargenau de sülven wie am dreeuntwintichsten Juni.“ „Machen Sie sich doch nicht lächerlich!“ herrschte Vickbons ihn an. „Woher wollen ausgerechnet Sie meine Stimme kennen?“ 223
„Denk mal en beeten nach!“ Der andere Fischer weidete sich an Vickbons Zorn. „Wie du an din lütt Boot rumpütschert hebbst, do hebben wi ganz sacht frogt, ob wi di nich en beeten helpen sülln. Do hast du din Kopp fix wegdreiht. ‚Bemühen Sie sich nicht, ich bin gewohnt, allein zurechtzukommen.‘ So hast du snackt, genau so.“ „Besten Dank, meine Herren.“ Thelen verabschiedete die Fischer und schloß hinter ihnen die Tür. Vickbons hatte sich wieder gefangen. Er maß den Kommissar mit Blicken. „Sollten Sie die Absicht haben, diese Komödie vor einem Gericht zu wiederholen, so werden Sie ein Fiasko erleben“, sagte er höhnisch. „Die beiden Alten tun mir leid. Sicher sind sie ehrenwerte Männer, die ihren Beruf verstehen, nur darf man sie nicht überfordern. Wie sollen sie in der Lage sein, heute noch einen Mann zu identifizieren, dem sie vor ein paar Wochen zufällig im Dustern begegnet sind und dem sie kaum Aufmerksamkeit geschenkt haben! Sind diese senilen Graubärte alles, was Doktor Kroon aufzubieten hat?“
Ein schnittiger Zweisitzer hielt mit quietschenden Bremsen am Voorburgwaal. „Hallo, Adrian!“ Antje kurbelte das Wagenfenster hinunter. „Wo steckst du nur dauernd? Ein paarmal war ich schon bei dir, immer umsonst.“ „Ich komme vom Postamt. Seit Tagen lag dort ein Einschreiben für mich.“ Adrian musterte den Wagen. „Etwas Wichtiges?“ Ihre Stimme klang unsicher. „Es kann wichtig sein“, sagte er mit Nachdruck. „Er224
zähl du mir aber erst einmal, wie du zu diesem flotten Schlitten kommst!“ „Vorschuß für vierstellige Gagen.“ Antje lachte. „Der Verkäufer drängte ihn mir regelrecht auf – ohne Anzahlung. Wer so prominent ist wie wir, dem wirft man alles nach.“ „Bezahlt werden muß es eines Tages doch.“ „Und wenn schon. In ein paar Monaten reißt man sich um uns.“ „Du bist ja sehr optimistisch!“ „Natürlich!“ Antje öffnete den Wagenschlag. „Komm, steig ein, wir fahren zu mir. Schließlich müssen wir gründlich über die Angebote reden, die inzwischen gekommen sind.“ Adrian trat einen Schritt zurück. „Das lohnt nicht mehr, Antje.“ „Was soll das? Fängst du wieder an mit deinen seltsamen Ideen?“ „Ideen spielen keine Rolle, Antje. Jetzt entscheiden Fakten.“ Sie sah ihn erschrocken an. „Hängt es mit dem Einschreiben zusammen?“ „Es interessiert dich also auch.“ „Nur, weil du davon redest.“ „Oh, das kann nicht der Grund sein. Von der Postbotin weiß ich, daß du in den letzten Tagen immer bei mir zu Hause warst, wenn die Post ausgetragen wurde. Und jedesmal hast du die Frau aufgefordert, dir den Brief auszuhändigen. Aber sie hat ihn lieber mitgenommen, um ihn mir persönlich zu übergeben. Heute erst ist ihr eingefallen, eine Benachrichtigung in den Briefkasten zu werfen.“ „Adrian, bitte, versteh doch …“, sagte sie stockend. „Laß uns irgendwohin gehen und alles in Ruhe bespre225
chen. Schau mich nicht so an, ich krieg’ ja Angst vor dir.“ „Wer hat dich beauftragt, den Brief abzufangen?“ „Adrian, bitte! Mir blieb nichts anderes übrig.“ Antje suchte nach Worten. „So wie du dich aufgeführt hast, da konnte ich mich nicht auch noch gegen ihn stellen. Denk daran, wie Wilhelmina Steyn uns geschadet hat, so viel hat sie zwischen uns beiden erschwert. Besser wäre es gewesen, ich hätte dir gar nichts von dem Brief erzählt, nur durch mich wußtest du ja, daß sie dir geschrieben hat. Phil war empört, daß ich es dir gesagt habe, und ich mußte ihm versprechen, alles zu versuchen, damit du den Brief nicht in die Hände bekommst.“ „Er hat dich eingespannt gegen mich. Nicht erst jetzt, sondern seit Wochen.“ „Das siehst du schief, Adrian. Es ging um die Serie, um unsere Zukunft.“ „Es ging um Liebe 70, ich weiß. Und damit geht es nun zu Ende.“ „Was soll das heißen?“ „Frag andere!“ Er reichte ihr die Hand. „Welche anderen denn?“ Antje hielt seine Hand fest. „Du hast so viele Berater, Antje, die alle dein Bestes wollen. Sie waren immer für dich da.“ Er winkte nach einem Taxi. „Halte dich an deine neuen Freunde. Es tut mir leid, daß es so gekommen ist.“
Das Dienstzimmer des Kommissars war in Rauchschwaden gehüllt. Thelen qualmte den vierten Stumpen, seit er Vickbons bei sich hatte. „Endlich!“ Er schnellte vom Stuhl hoch, als Adrian den Raum betrat. „Haben Sie ihn?“ 226
Mit Hilfe einer Lupe entzifferte er den Poststempel auf dem Kuvert. „Aufgegeben am achtzehnten Juli um vierzehn Uhr im Postamt sechs, Vischerdamm. Drei Stunden später war Wilhelmina Steyn tot. Lesen Sie vor, Herr van Campen! Was immer sie geschrieben hat, es dürfte für Herrn Vickbons von Interesse sein.“ Adrian entfaltete den Brief. Er las langsam und machte immer wieder Absätze, Vickbons nicht aus den Augen lassend. „Amsterdam, achtzehnter Juli, dreizehn Uhr. Sie müssen sofort kommen, Herr van Campen! Da Sie kein Telefon haben, rief ich bei Ihrer Verlobten an, aber Sie waren nicht zu erreichen. Was ich Ihnen in Hamburg sagte, ist hinfällig. Das weiß ich, seit Pauls mit mir gesprochen hat. Aus allem, was er sagt, aus den Papieren, die er bei sich hat, geht hervor, wer Ihren Freund getötet hat. Ich habe Hamburg sofort verlassen, um Pauls mit Ihnen zusammenzubringen. Denn in derselben Nacht hörte ich am Hirschpforten ein Telefongespräch zwischen Mutesius und Vickbons. Vickbons war es, der mich aus Amsterdam fort haben wollte, der mir den Job im Zwielicht verschaffte. Für ihn stand viel mehr auf dem Spiel als für Franz van Laar. Ihr Freund Wetering hatte Vickbons und seinen Schwiegervater in der Hand. Er hätte alles, was sie vorhatten, zu Fall bringen können. Jetzt ist mir klar, warum Vickbons in Hamburg bei mir war und mich stundenlang bearbeitete, nur ja kein Wort mehr mit Ihnen zu sprechen. Heute früh war er bei mir am Vischerdamm, er wollte mich zwingen, sofort nach Hamburg zurückzukehren, da verlor ich die Nerven, und ich sagte ihm auf den Kopf zu, 227
wer Weterings Mörder sei. Seit er gegangen ist, fürchte ich mich. Lassen Sie mich nicht im Stich. Wilhelmina Steyn“. „Was sagen Sie dazu?“ fragte Thelen den Chefredakteur. Vickbons zuckte die Schultern. „Mit dieser Frage wenden Sie sich besser an einen Psychiater, der wird Ihnen wahrscheinlich nachweisen können, daß die Schreiberin an manischen Depressionen gelitten haben muß und daß solche krankhaften Stimmungen häufig zum Selbstmord führen.“ „Verwunderlich ist in diesem Zusammenhang allerdings Ihr auffälliges Interesse an diesem Brief“, schaltete sich Adrian ein. „Als Sie von Antje erfuhren, daß Wilhelmina mir geschrieben hatte, verlangten Sie von ihr, sie solle den Brief in Empfang nehmen.“ „Einfach lächerlich“, rief Vickbons empört. „Man kann Antje Rust als Zeugin laden“, schlug Adrian vor. „Verzichten wir lieber darauf“, meinte Thelen. „Herr Vickbons ist Zeugen gegenüber voreingenommen. Von Dirk Pauls wollte er zuerst gar nichts wissen, und die beiden Fischer tat er als senile Graubärte ab.“ „Mit Recht, Herr Kommissar. Diese angebliche Identifizierung entbehrte zwar nicht einer gewissen Komik, trotzdem täten Sie gut daran, Fischersleute lieber bei ihren Netzen zu lassen.“ „Ihr Vorschlag ist etwas voreilig, Herr Vickbons. Gerade zur Identifizierung von Faltbootfahrern erscheinen mir Huizener Fischer geeignet“, entgegnete Thelen sarkastisch. „Sie sehen wohl noch immer keinen rechten Zusammenhang zwischen Weterings Tod und dem Mann 228
im Faltboot? Herr van Campen wird so freundlich sein, diesen Zusammenhang herzustellen.“ „Wetering wurde im Jachtclub gesehen“, begann Adrian, „beim Ansegeln war er allein an Bord. Darauf basierte der Plan seines Mörders. Er war mit Wetering zu einer Segelpartie verabredet und konnte vom Anlegesteg des Gartens am Strandweg zehn in Dixmuiden unbemerkt zusteigen. In der Muiderbucht geriet die Delphin in mehrere Böen. Wetering wurde mit ihnen fertig, obwohl sich der zweite Mann an Bord so aufsässig benahm, daß dem Sporttaucher Siefke diese Disharmonie zwischen Steuermann und Vorschotmann zu denken gab. Immerhin erreichte der Mörder durch sein Verhalten, daß Wetering die Delphin in ruhigeres Fahrwasser steuerte, und zwar in den Windschatten von Bloemwarder. Und dort, im Schutze der Insel, bewies der zweite Mann an Bord, bewies der Judokämpfer Vickbons, daß er von Ringen mehr verstand als vom Segeln. Ein hinterhältiger Griff, und der ahnungslose Wetering stürzte und schlug mit dem Kopf auf die eiserne Klampe. Das war Maßarbeit! Er verlor das Bewußtsein. Sie flößten ihm Alkohol ein, Herr Vickbons, und stießen ihn über Bord. Wenig später aber kreuzten Sie vor Dixmuiden und führten den Leuten am Ufer einen betrunkenen Wetering vor. Zurückgekehrt in den Schutz von Bloemwarder, ließen Sie die Delphin kentern und sprangen ins Wasser. Mit dem Faltboot, das Sie auf der Insel versteckt hielten, kamen Sie unbemerkt zum Festland. Bis zur Landung lief alles nach Plan. Erst das Zusammentreffen mit den beiden Fischern …“ „Das ist ja unerträglich!“ fiel Vickbons heftig ein. „Herr Kommissar, ich weigere mich, diese krankhaften Reden länger mit anzuhören. Herr van Campen leidet, 229
wie Sie wissen, an den Folgen einer Kopfverletzung. Er bedarf ärztlicher Betreuung. Außerdem wird er offensichtlich nicht mit dem Tod seines Freundes fertig. Er kann mir nicht verzeihen, daß ich an Weterings Stelle getreten bin, daß ich Liebe 70 so weiterschreibe, wie es den Interessen unseres Verlages entspricht. Halten wir uns lieber an die Tatsachen! Für den dreiundzwanzigsten Juni habe ich ein einwandfreies Alibi und zwei unbestechliche Zeugen. Meinen Schwiegervater und seinen Chauffeur.“ „Ich habe mit beiden gesprochen“, sagte Thelen. „Der Chauffeur gibt zu Protokoll, er sei gegen zweiundzwanzig Uhr dreißig am Strandweg gewesen und habe Sie eine Viertelstunde später nach Hause gefahren. Sie hatten demnach genügend Zeit, sich umzuziehen, einige Cocktails zu trinken, um auf den Mann den Eindruck eines nicht ganz Fahrtüchtigen zu machen. Von der Stelle, wo Sie den Fischern aus Huizen begegneten, bis zum Hause Ihres Schwiegervaters läuft man nicht mehr als zwanzig Minuten.“ „Aber ich war doch nie und nimmer in Huizen! Den ganzen Nachmittag und Abend hab’ ich mit Jan van Laar zusammengesessen und sein Haus nicht einmal verlassen. Das kann mein Schwiegervater jederzeit beeiden!“ „Jan van Laar wird das nicht beeiden!“ sagte Thelen mit Nachdruck. „Das werden Sie erleben, Kommissar. Ich verlange eine Gegenüberstellung.“ „Nicht mehr nötig. Wir haben bereits mit Jan van Laar gesprochen. Natürlich wollte er uns anfangs glauben machen, er hätte am dreiundzwanzigsten Juni von sechzehn bis zweiundzwanzig Uhr dreißig ununterbrochen mit Ihnen zusammengesessen, ja, er wollte es schon zu Proto230
koll geben. Doch das Auftreten der beiden Fischer machte ihn unsicher. Zuerst waren es nur ein paar Minuten, die er Sie allein gelassen hatte, später wurde daraus eine halbe Stunde, und als wir nicht lockerließen, waren es zuletzt volle zwei Stunden, über die er nicht Rechenschaft geben konnte. Jan van Laar wird Ihretwegen keinen Meineid schwören, Herr Vickbons.“ Er schob ein Blatt Papier über den Tisch. „Lesen Sie das! Es trägt seine Unterschrift. Von einem Alibi kann also keine Rede mehr sein.“ Vickbons hielt die Armstützen seines Sessels fest umklammert. „So ein Narr!“ stieß er heiser hervor. „Hört, hört!“ Der Kommissar baute sich vor Vickbons auf. „Jan van Laar ist also ein Narr, Wilhelmina Steyn litt an Depressionen, van Campen an fixen Ideen und die beiden Fischer an Altersschwachsinn. Was werden Sie erst über Frau Brouwster sagen, die Wirtin Wilhelmina Steyns, die telefonisch zu ihrer lebensgefährlich erkrankten Schwester nach Nimwegen gerufen wurde und schier außer sich geriet, als sie die Schwester bei bester Gesundheit antraf. Wahrscheinlich unterstellen Sie ihr akustische Halluzinationen.“ „Herr Kommissar, das ist …“ „Geben Sie auf, Vickbons“, unterbrach ihn Thelen. „Alle weiteren Ausflüchte sind Zeitverschwendung. Den Mord an Wetering haben Sie kaltblütig vorbereitet, sorgsam haben Sie nach allen Seiten den Schein des Unfalls gewahrt. Als aber van Campen keine Ruhe gab und kurz vor der Aufklärung Ihres Verbrechens stand, da verloren Sie die Nerven. Am Vischerdamm deutet nichts auf einen Selbstmord und nichts auf einen Unfall hin. Das Glas, aus dem Fräulein Steyn zuletzt getrunken hatte, enthielt Reste eines schweren Betäubungsmittels. Wilhelmina 231
Steyn muß nach den ersten Schlucken das Bewußtsein verloren haben. Sie brauchten nur noch den Gashahn zu Öffnen.“ Die Vernehmung dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Gegen fünf Uhr gestand Philipp Vickbons.
Am Vormittag zogen Tausende von Provos und Studenten in Zehnerreihen über den Voorburgwaal dem Rathaus zu. Ein kräftiger Wind zerrte an ihren Fahnen und Transparenten. Immer von neuem erschollen ihre Sprechchöre: „SCHAU HIN, SCHAU HIN, schaut alle her! Wer so lügt, dem fällt auch Mord nicht schwer!“ Auf dem Bürgersteig verteilten junge Leute Flugblätter. Sie riefen: „Neueste Informationen über die AmstelAG.“ Und: „Ein Gang, ein Pool – eine Manipulation!“ Inmitten des Zuges sah man den blonden Strubbelkopf Jakob Bredas. Als seine Gruppe das Post- und Telegrafenamt passierte, bemerkte er auf der Freitreppe Adrian. Er warf beide Hände in die Höhe und schrie einen Gruß hinüber. Doch der Wind verwehte die Worte. „Was habe ich gesagt, van Campen!“ Klaas Vermeulen schlug Adrian auf die Schulter. „Mit Ihnen lande ich den Knüller des Jahres. Liebe 70 ist tot, die Amstel-AG geplatzt, SCHAU HIN angeknockt – der NACHTEXPRESS aber lebt besser als je zuvor. Wie gefällt Ihnen die neue Vermeulen-Serie ‚Adrian van Campen gibt zu Protokoll‘?“ „Suchen Sie sich einen anderen Helden.“ „Das habe ich nicht um Sie verdient“, erwiderte der Reporter. „Heute sind Sie der Mann des Tages. Verges232
sen Sie aber nicht, wer Ihnen geholfen hat, es zu werden. Wem verdanken Sie die ersten Informationen über Wilhelmina? Wer hat sie in der Prinzengracht eingeführt und Ihnen die Chance gegeben, die Herren Jan und Franz van Laar ganz zwanglos kennenzulernen? Glauben Sie, Doktor Kroon und seine Provos wären in die Jagd nach dem Täter mit eingestiegen, wenn ich sie nicht durch meine Zeitungsente provoziert hätte? Niemals wären Sie ohne mich ans Ziel gekommen. Hand aufs Herz!“ „Hand aufs Herz!“ Adrian blickte Vermeulen lächelnd an. „Als ich anfing, unbequeme Fragen zu stellen, hat mir keiner eine Chance gegeben. Nun wollen Sie als einziger gewußt haben, daß ich auf dem richtigen Weg war?“ „Ich wußte, daß wir beide einmal am gleichen Strang ziehen würden. So was spür’ ich eben. Mir kam das, was Sie ans Tageslicht zerrten, sehr gelegen. Der NACHTEXPRESS unter den Fittichen Jan van Laars, eventuell unter Vickbons Oberaufsicht, wäre das letzte gewesen.“ Er lachte breit und schob seinen Arm unter den Adrians. „Nun zieren Sie sich nicht länger, und kommen Sie mit in die Kalverstraat. Die Schlagzeile ‚Ich jagte den Doppelmörder‘ macht Sie zum Star der nächsten Wochen.“ Adrian schüttelte energisch den Kopf. „Ich studiere wieder, Vermeulen. Halten Sie sich an Thelen und Doktor Kroon, wenn Sie Informationen brauchen. Oder halten Sie sich ein bißchen mehr an die da unten!“ Er wies auf die vorüberziehenden Demonstranten. „Einige von ihnen wissen, was sie wollen. Und das ist immerhin schon ein Anfang.“
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Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten 1. Auflage • 1973 Verlag Das Neue Berlin, Berlin Lizenz-Nr.: 409-160/63/73 • ES 8 C Lektorin: Marianne Kauf hold Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden Ebook by *MM* 622 167 7 EVP 2,-