JAPANISCHE BIBLIOTHEK
Mishima Yuk io Liebesdurst Roman Aus dem Japanischen übertragen von Josef Bohaczek Mit einem Na...
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JAPANISCHE BIBLIOTHEK
Mishima Yuk io Liebesdurst Roman Aus dem Japanischen übertragen von Josef Bohaczek Mit einem Nachwort versehen von Irmela Hijiya-Kirschnereit Insel Verlag
Originaltitel: Ai no kawaki © 1950 Mishima Yōko In der Japanischen Bibliothek werden alle Namen in ihrer ursprünglichen japanischen Gestalt belassen. Hierbei steht in der Regel der Familienname voran, gefolgt von dem persönlichen Namen oder einem Schriftstellernamen. Die Japanische Bibliothek im Insel Verlag wird herausgegeben von Irmela Hijiya-Kirschnereit.
© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2000 Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vertrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Satz: TypoForum GmbH, Nassau Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany Erste Auflage Frühjahr 2000
Liebesdurst
I
A
n dem Tag kaufte Etsuko bei Hankyū zwei Paar Socken. Ein Paar dunkelblaue, ein Paar braune. Schlichte, einfarbige Socken. Da war sie eigens bis Ōsaka gekommen, erledigte hier aber nur den besagten Einkauf sofort an der Endstation der Hankyū-Linie im gleichnamigen Kaufhaus, machte unverzüglich kehrt, bestieg den Zug und fuhr wieder heim. Auch im Kino war sie nicht gewesen. Nicht mal auf einen Tee, geschweige denn essen. Großstadtgewühl war Etsuko zuwider wie nichts sonst. Hätte sie etwa nach Shinsaibashi wollen oder nach Dōtonbori – nichts leichter als das: Gleich hier in Umeda die Treppe runter und mit der U-Bahn hinfahren. Oder raus aus dem Kaufhaus, über die Kreuzung, und schon hätte sie da gestanden, wo die Gezeiten der Großstadt Woge um Woge tosend an ihren Strand branden, übertönt von den lang gezogenen Rufen der Schuhputzerjungen, die am Straßenrand ihre Dienste feilbieten. Ōsaka, Metropole der einflußreichen Kaufleute, Strolche, Fabrikanten, Börsenmakler, Strichmädchen, Opiumschmuggler, Angestellten, Gauner, Bankiers, Provinzbeamten, Stadträte und Balladensänger, der Mätressen, geizigen Ehefrauen, Zeitungsreporter, Varietékünstler, Serviererinnen, Schuhputzer – Etsuko, geboren und aufgewachsen in Tōkyō, war sie fremd, flößte ihr sogar Angst ein, unerklärliche Angst. Oder war, wovor Etsuko in Wahrheit graute, 7
womöglich gar nicht diese Stadt, sondern – das Leben an sich? Leben, dieses grenzenlose, abertausendfältige, üppig mit Treibgut beladene, launenhafte, gewalttätige und doch stets klare, durchsichtige, azurblaue Meer. Etsuko machte eben ihre Einkaufstasche aus Chintz weit auf und verstaute die gerade erstandenen Socken ganz zuunterst, als ein Blitz über die Scheiben der offenstehenden Fenster zuckte. Unter dem krachend nachrollenden Donner begannen die gläsernen Stellagen im Verkaufsraum zu vibrieren. Heftig fegte ein Windstoß herein und kippte eine der Tafeln mit der Aufschrift »Sonderangebote« um. Die Verkäufer hasteten zu den Fenstern, um sie zu schließen. Im Nu war es ziemlich dunkel geworden. Mit einem Mal schienen die auch tagsüber eingeschalteten Lampen viel mehr Licht zu geben. Nach Regen sah es vorderhand nicht aus. Etsuko hängte sich die Einkaufstasche in die Armbeuge. Die runden Bambusbügel ließ sie vom Handgelenk den Unterarm entlang hinuntergleiten und fuhr sich mit beiden Handflächen an die Wangen: siedend heiß. Das passierte ihr häufig. Ohne ersichtlichen oder gar krankhaften Grund flammte es ihr glühend die Wangen hoch, als würden sie angefacht. Unter der rauhen Berührung ihrer ursprünglich zarten, mittlerweile jedoch schwielig gewordenen, sonnenverbrannten Hände, die ihrer trotz allem verbliebenen Feinheit wegen um so ungepflegter wirkten, brannten die heißen Wangen noch heftiger. Etsuko war, als gäbe es jetzt, in diesem Augenblick, nichts, wozu sie nicht imstande gewesen wäre. Zum Beispiel diese Kreuzung hier überqueren, kerzengerade, aufrecht schreitend wie auf einem Trampolin – und dann mitten hineinhech8
ten in das Gassen- und Häusergewirr. Bei diesem Gedanken blieb ihr Blick auf dem Gewühl der Menschenmenge haften, die achtlos den Verkaufsraum durchströmte, und sie verfiel augenblicklich einem Wachtraum. Optimistisch, wie sie war, ging dieser Frau die Fähigkeit völlig ab, sich so etwas wie Unglück überhaupt vorstellen zu können. Daher rührte auch ihre Furchtsamkeit. Und woher hatte sie ihre augenblickliche Beherztheit? Von dem Donner vorhin? Den zwei Paar Socken, die sie gerade gekauft hatte? Etsuko keilte sich durch die Menschenmenge hindurch zur Treppe; auf den Stiegen Geschiebe und Gedränge; hinunter in den zweiten Stock und von dort ins Erdgeschoß, in die Halle unweit des Fahrkartenschalters der Hankyū-Linie. Sie warf einen Blick nach draußen. Prasselnd ging ein schwerer Wolkenbruch nieder. Er konnte eben erst eingesetzt haben, in den letzten ein, zwei Minuten, Doch waren die Gehsteige naß, als würde es schon eine ganze Weile gießen. Etsuko schritt zu einem der Ausgänge. Von einer leichten Benommenheit infolge der Anstrengung abgesehen war sie wieder gefaßt und sicher. Schirm hatte sie keinen dabei. Hinausgehen kam somit nicht mehr in Frage. Vielmehr, es erübrigte sich bereits. Seitlich am Ausgang stehend sah sie dem strömenden Regen zu, wie er die Straßenbahnen, die Verkehrsampeln und die Läden auf der gegenüberliegenden Straßenseite gleichsam auslöschte. Sogar bis dorthin, wo sie stand, spritzten vom Pflaster abprallende Regentropfen hoch und netzten ihr Kleid unten am Saum. Am Ausgang war einiges los – Männer kamen, Aktentaschen über dem Kopf, angerannt, eine westlich gekleidete Frau schützte ihr Haar notdürftig mit ihrem Halstuch – Etsuko war, als kämen die alle zu ihr, 9
kämen nur ihretwegen hierher. Sie war die einzige nicht völlig Durchnäßte. Als ob sich eine Schar männlicher und weiblicher Büromenschen rund um sie in gebadete Mäuse verwandelt hätte. Schimpfend und scherzend blickten sie in den Regen hinaus, dem sie gerade entronnen waren, ehe sie sich, fast ein wenig triumphierend, wieder umwandten und mit reglosen Gesichtern eine Weile schweigend in den regenverhangenen Himmel starrten. Gleich all den anderen nassen Gesichtern ringsum blickte auch Etsukos Gesicht zum Regenhimmel empor. Als ob der Regen von ungeheuer hoch oben schnurgerade herunterfiele und auf diese Gesichter zu. Donner grollte nur noch von fern. Bloß das Rauschen des Regens betäubte die Ohren, das Gemüt. Gegen dieses Rauschen kam das gelegentliche Hupen der Autos genausowenig an wie das durchdringende Geplärr der Bahnhofslautsprecher. Etsuko löste sich aus der Menge der Regenflüchtlinge und reihte sich ans Ende der lang gewundenen, schweigenden Warteschlange vor einem der Fahrkartenschalter. An die dreißig, vierzig Minuten waren es von Umeda bis zur Bahnstation Okamachi an der Hankyū-TakarazukaLinie. Expresszüge hielten da nicht. Nach dem Kriege hatte die Präfekturverwaltung außerhalb der Stadt Toyonaka eine Menge sozialer Wohnsiedlungen errichtet, um den vielen Obdachlosen aus dem brandbombenverheerten Ōsaka hier neue Heimstätten bieten zu können, wodurch sich die Einwohnerzahl von Toyonaka verdoppelte. Auch die Gemeinde Maiden, wo Etsuko wohnte, lag im Bereich der Stadt Toyonaka und gehörte zur Präfektur Ōsaka; war also im strengen Sinn eigentlich nicht »auf dem Land«. Es brauchte einem jedoch bloß nach etwas Ausgefallenerem zu sein, oder etwas Preiswerterem, schon mußte man 10
gut eine Stunde vergeuden für die Fahrt nach Ōsaka. An diesem Tag, dem Vortag der Herbsttagundnachtgleiche, hatte Etsuko eine zabon kaufen wollen, um sie vor dem buddhistischen Hausaltar darzubringen. Ryōsuke, ihr verstorbener Gatte, hatte diese riesigen Zitrusfrüchte aus Kyūshū stets sehr gemocht. Am Obststand des Warenhauses waren zabon leider aus gewesen, und draußen welche kaufen zu gehen, dazu hatte Etsuko eigentlich die Lust gefehlt. Dennoch – aus Gewissensbissen vielleicht oder irgendeinem stummen Antrieb – war sie drauf und dran gewesen, auf die Straße hinauszugehen, als ihr der Regen dazwischenkam. Das war’s. Nichts weiter. Etsuko stieg in den Lokalzug Richtung Takarazuka und setzte sich. Draußen Regen und Regen, Regen ohne Ende. Der Geruch von Druckerschwärze aus der Abendzeitung, die ein vor ihr stehender Fahrgast auseinanderfaltete, riß sie aus ihren Gedanken. Wie jemand, der etwas auf dem Kerbholz hat, blickte sie um sich. Doch nichts Auffälliges war zu merken. Monoton wiederholte sich von Bahnhof zu Bahnhof immer dasselbe Ritual: Ein schriller Signalpfiff des Schaffners, daraufhin bebendes Anfahren, gefolgt von quietschendem Aneinandermahlen wie von dunklen, schweren Ketten – als ob sich der Zug nur mühsam vorwärts quälte. Der Regen hatte aufgehört. Etsuko drehte sich um und blickte unverwandt auf ein Lichtbündel, das sich durch einen Wolkenspalt zwängte. Gleich einem ausgestreckten, weißen, kraftlosen Finger lag es auf den Wohnblockreihen in Ōsakas Vorstädten. Etsuko geht wie eine Schwangere. Sie hat einen Gang, der überzogen lässig wirkt. Da sie selbst sich dessen aber nicht 11
bewußt und ansonsten niemand da war, der sie darauf aufmerksam machen oder es ihr abgewöhnen hätte können, wurde diese Art zu gehen ihr Etikett, das an ihr hing wie ein Stück Papier, das böse Buben einem Spielkameraden heimlich hinten am Kragen festgemacht haben. Von der Bahnstation Okamachi ging sie am Torii des Hachiman-Schreins vorüber, passierte das Kunterbunt der vorstädtischen Einkaufsstraße, und als sie bei ihrem gemächlichen Tempo endlich das dicht verbaute Gebiet hinter sich gelassen hatte, die Häuserreihen zurücktraten und spärlicher wurden, umhüllte Etsuko bereits die Abenddämmerung. In den Reihen der Sozialbauten waren die Lichter an. Der Weg durch diese Wohnanlage – überall die gleiche Form, die gleiche Enge, das gleiche Leben, die gleiche Armut – hätte eine Abkürzung bedeutet, auf die Etsuko allerdings verzichtete. Das Innere dieser jedem Blick von außen preisgegebenen Behausungen mit ihren billigen Teeschränkchen, Klapptischchen, Radioempfängern, Musselin-Sitzkissen, das bisweilen geradezu augenfällig armselige Essen, und wie es überall dampfte – all das machte Etsuko wütend. Ihr Gemüt, dessen Vorstellungskraft sich ausschließlich in und an Wohlstand entwickelt hatte, vermochte diese Armut überhaupt nicht als solche wahrzunehmen, erfaßte eben nur glückliche Umstände. Mit zunehmender Dunkelheit setzte der Gesang der Baumzikaden ein, in den hier und da noch stehengebliebenen Pfützen spiegelte sich verlöschendes Abendlicht. In den Reisfeldern rechts und links spielte eine feuchte Brise. Dunklen Wogen gleich stand auf den Feldern mit gebeugten Ähren die Frucht. Ohne den kornsatten Schimmer des Mittags glich sie einer unüberschaubaren Masse bewußtloser Pflanzenleiber. Einem dieser langweiligen, belanglosen, typisch ländlichen Feldwege folgte Etsuko bis zu einer schmalen Straße, 12
die einen Bach entlanglief. Sie befand sich bereits im Gemeindegebiet von Maiden. Zwischen Bach und Straße erstreckte sich ein Bambuswäldchen. Die ganze Gegend hier bis hinüber nach Nagaoka ist übrigens berühmt für ihren breitstämmigen mōsōchiku-Bambus. In einer Schneise des Bambuswäldchens wurde ein schmaler Weg sichtbar, der zu einer Holzbrücke und über den Bach führte. Etsuko überquerte die Brücke, ging am Haus eines ehemaligen Pächters vorbei und gelangte über eine Steintreppe, die sich in weiten Kehren durch einen Hain aus Ahorn- und diversen Obstbäumen sowie um eine Hecke aus Teesträuchern herum nach oben wand, zum Seiteneingang des Sugimotoschen Hauses, ein auf den ersten Blick villenartiges Anwesen, obschon dessen gerissener Besitzer für die weniger auffälligen Bereiche aus Einsparungsgründen verblüffend minderwertiges Baumaterial verwendet hatte. Aus dem Hinterzimmer drang das Lachen der Kinder ihrer Schwägerin Asako. Lachen schon wieder, die Fratzen; möchte bloß wissen, was die ständig zu lachen haben; ungezogenes Gelächter das, unerhört …, dachte Etsuko, allerdings ohne daraus etwas abzuleiten. Sie stellte die Einkaufstasche auf der Schwelle ab. Im Jahre 1934 war es gewesen, als Yakichi Sugimoto ein zehntausend tsubo * 1 großes Grundstück im Dorf Maiden erworben hatte, fünf Jahre vor seiner Pensionierung bei dem marinen Frachtunternehmen Kansai Shōsen. Vom Sohn eines Pachtbauern in der Gegend von Tōkyō hatte sich Yakichi emporgearbeitet, unter harten Entbehrungen mit eisernem Fleiß ein Studium absolviert und im Anschluß daran eine Stelle in der Zentrale von Kansai Shōsen 1 * s. Glossar, S. 228
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angetreten, die sich damals in Dōjima, Ōsaka, befand. Seine Braut hatte er sich allerdings aus Tōkyō geholt und auch seine drei Söhne zur Ausbildung dorthin geschickt; er selbst brachte über die Hälfte seines Lebens in Ōsaka zu. 1934 wurde er dann geschäftsführender Direktor, 1938 Präsident, ein Jahr darauf trat er in den Ruhestand. Anläßlich der Beerdigung eines alten Freundes besuchte das Ehepaar Sugimoto zufällig den neuen, städtischen Friedhof Hattori Reien, der eingebettet lag in ein sanft hügeliges Gelände, von dem sie sofort ganz hingerissen waren. Als sie nähere Erkundigungen einzogen, stießen sie zum ersten Mal auf den Namen Maiden. Schließlich entschieden sie sich für ein Grundstück in Hanglage, bewachsen mit einem Bambuswäldchen und Edelkastanien. Auch ein Obstgarten gehörte dazu. Im Jahr 1935 errichteten sie dort zunächst ein einfaches Landhaus. Die Edelobstkultur übertrugen sie einem Berufsgärtner. Indes, von ›gepflegtem Landhausstil‹ und ›wonnevoll der Muße pflegen‹, wie seine Frau und seine Söhne sich das ausgemalt hatten, war überhaupt keine Rede. Vielmehr hatte die Familie jedes Wochenende geschlossen von Ōsaka aus im Auto anzurücken, damit Yakichi unter freier Sonne seinem Steckenpferd frönen konnte, dem Ackerbau. Kensuke, sein ältester Sohn und im übrigen ein völlig desinteressierter, lustloser Dilettant, hatte für diese Passion seines energiestrotzenden Vaters nichts als abgrundtiefe Verachtung und widersetzte sich ihr nach Kräften. Am Ende gab er aber klein bei wie immer und schwang, wenn auch widerwillig, gemeinsam mit seinen Brüdern die Hacke. Nicht wenige unter den Geschäftsleuten in Ōsaka sind außerstande, ihre angeborene Knickrigkeit abzulegen, schätzen aber umgekehrt auch den feinen Lebensstil der Leute in 14
Kyōto droben, und diese Synthese aus Leichtlebigkeit und pessimistischer Lebenshaltung bewirkt, daß sie sich nicht Villen in prominenten Strand- oder Thermalorten anschaffen, sondern Häuser in entlegenen Berggegenden bauen, wo der Boden billig ist, Geselligkeit kaum Geld kostet und sie obendrein nach Herzenslust ihrer Lieblingsbeschäftigung nachgehen können, dem Ackerbau. Bald nach seiner Pensionierung übersiedelte Yakichi Sugimoto ganz nach Maiden. Der Name dieses Dorfes geht vermutlich auf die beiden Begriffe mai, d. h. »Reis«, und den, d. h. »Feld«, zurück und nicht, wie die heute verwendeten Schriftzeichen gleicher Lautung wohl suggerieren sollen, auf »Reis« und »Palast«. Nachdem die ganze Gegend in grauer Vorzeit vom Meer bedeckt gewesen sein dürfte, ist der Boden heute äußerst fruchtbar, und ein Grundstück von über drei Hektar trägt alle Arten von Obst und Gemüse. Dank des Fleißes einer Pächterfamilie und dreier Hilfsgärtner, welche dem Amateurgärtner Sugimoto tatkräftig unter die Arme griffen, standen die Sugimoto-Pfirsiche nach ein paar Jahren auf dem lokalen Markt hoch im Kurs. Dem Krieg stand Yakichi Sugimoto reserviert gegenüber. Wenngleich auf eine etwas sonderbare Art reserviert. Die Stadtleute, verkündete er, die müssen sich mit miesen Rationen durchschlagen und irrwitzige Schwarzmarktpreise für Reis hinblättern; und warum? Nur weil sie keinen Funken Weitblick haben. Er hingegen, er habe ihn, den Weitblick. Drum könne er es sich jetzt auch gutgehen lassen als Selbstversorger. Alles und jedes schrieb er seinem sogenannten Weitblick zu. Sogar sein Beschluß, den unvermeidlichen Ausstieg aus dem Berufsleben ernstlich ins Auge zu fassen, war für ihn so sehr Folge seines Weitblicks, daß ihm Frustration und Langeweile, die Schreckgespenster des Pensioni15
stendaseins – wie übrigens auch der Gefangenschaft – irgendwie erspart blieben. Wenn er gegen das Militär stichelte, dann eher humorvoll – wie einer, der im Grunde genommen gar keinen Groll hegt. Wobei seine Anwürfe in der Feststellung gipfelten, daß jenes angeblich brandneue Medikament, das er sich über einen guten Freund im Armeeoberkommando in Ōsaka hatte besorgen lassen, als seine Frau an akuter Lungenentzündung erkrankt war, zwar eine militärärztliche Erfindung, ansonsten jedoch völlig wirkungslos gewesen sei; abgesehen vielleicht davon, daß es seine Alte um die Ecke zu bringen vermochte … Er mähte, er jätete. Das Blut des Bauern regte sich erneut in ihm, und die Scholle wurde ihm Leidenschaft. Frei von den Blicken seiner Frau und von keiner Gesellschaft beobachtet, schneuzte er sich sogar in die Finger. Aus dem Inneren seines bisher in Goldketten, Gilets und Hosenträger gepferchten Leibes trat das bäuerliche Skelett zutage, sein soigniertes Gesicht wich nach und nach den knorrigen Zügen des Furchenmannes. Hätten seine ehemaligen Untergebenen ihn nun sehen können, wäre ihnen unmittelbar klar gewesen, daß jene zornige Braue und der durchdringende Blick, die ihnen immer solchen Schrecken eingejagt hatten, in Wahrheit nichts anderes waren als Kennzeichen alter Bauernphysiognomien. Zum ersten Mal in seinem Leben ereignete es sich, daß Yakichi über Grund und Boden sozusagen verfügte. Nicht, daß er bisher keine Grundstücke besessen hätte. Bei diesen hatte es sich aber durchweg um Bauland gehandelt. Eine Art Baugrundstück hatte er anfangs ja auch in diesem Anwesen hier gesehen, das erst jetzt anfing, »Scholle« zu werden für ihn. Jener Trieb, für den sich der Begriff »Besitz« ausschließlich in Form von Grund und Boden manifestiert, war von 16
neuem in ihm erwacht. Erstmals fühlte er sich in der Lage, richtig zu erfassen, mit Hand und Herz zu begreifen, was sein Lebenswerk war. Daß er, wie viele Emporkömmlinge, für seinen Vater nur Verachtung gehabt hatte und für den Großvater Flüche, führte er nun darauf zurück, daß keiner der beiden es auch nur zum kleinsten Fleckchen eigenen Grund und Bodens gebracht hatte. Aus einer Art von Liebe, die geradezu an Rachsucht grenzte, ließ Yakichi beim Familientempel eine irrsinnig pompöse Familiengruft errichten. Daß jedoch der erste, der hineinkam, ausgerechnet Ryōsuke sein würde, damit hatte er nicht im entferntesten gerechnet. Da hätte er die Gruft ja gleich im »Hattori Reien« errichten lassen können, dem städtischen Friedhof nebenan. Den Söhnen, wenn sie ab und an mal aus Ōsaka zu Besuch herauskamen, war die Metamorphose ihres Vaters jedesmal völlig schleierhaft. Von gewissen persönlichen Ausprägungen abgesehen, waltete in allen dreien – in Kensuke, dem Ältesten, in Ryōsuke, dem Mittleren, und in Yūsuke, dem Jüngsten – jenes gemeinsame Vaterbild, das die Hand ihrer verstorbenen Mutter in ihnen herangezogen hatte. Aufgewachsen im Kleinbürgermilieu von Tōkyō und von dessen Spießigkeit geprägt, hatte sie ihren Mann immer genötigt, sich zu betragen wie ein Großindustrieller, etwas anderes litt sie nicht. Bis zu ihrem Tode hatte sie ihm strikt untersagt, sich in die Finger zu schneuzen, in Gegenwart anderer in der Nase zu bohren, zu schmatzen und die Suppe zu schlürfen oder gar seinen Auswurf in die Asche des Holzkohlenbeckens zu befördern – an sich durchweg Laster, in welchen die soziale Umwelt generös kleine Marotten großer Herren zu erblicken geneigt ist. Auf seine Söhne wirkte dieser Wandel in Yakichi erbärmlich, hirnverbrannt, ein hochgestochenes Getue, bei dem eins 17
nicht zum anderen paßte. Zwar führte er sich auf wie weiland der Herr Generaldirektor von Kansai Shōsen; ohne seine geschäftsmäßige Geschmeidigkeit aber, die ihm mittlerweile abhanden gekommen war, wirkte er nur noch aufgeblasen und dünkelhaft. Am nachhaltigsten äußerte sich das in seinem Tonfall: grölend wie der eines Bauern, wenn er einem Gemüsedieb hinterherbrüllt. Im Salon, der etwa zwanzig Tatami messen mochte, prangte ein Bronzebüste von Yakichi. Auch in Öl hing er da, porträtiert von einer der Koryphäen des Kansai. Büste und Porträt waren im gleichen Ahnenreihenstil gehalten wie die Präsidentenbildergalerien in den umfangreichen Katalogen, die zu den fünfzigjährigen Bestandsjubiläen der diversen Kaiserlich-Großjapanischen XY GmbHs verteilt zu werden pflegen. Was seine Söhne so abstieß an jener Büste, war die mutwillige Querköpfigkeit, die anmaßende, asoziale Großspurigkeit in ihrer Pose, mehr noch aber im Innern dieses alten Landmanns, dessen Seitenhiebe auf das Militär sich anhörten wie die plumpen Angebereien eines Provinzdemagogen. Von den gutgläubigen Dörflern hingegen wurden sie gar als Beweise seiner patriotischen Gesinnung genommen und trugen ihm noch größere Achtung ein. Daß Kensuke, sein Ältester, für den Yakichi nun wirklich das Letzte war, dennoch früher bei ihm Unterschlupf würde suchen müssen als alle anderen, war nicht ohne Ironie. Ihm war klar, daß ihm sein chronisches Asthma ein Leben in Nichtstun ermöglichte und überdies das Einrücken ersparte, nicht aber freiwillige Dienstleistungen. Also entledigte er sich dieser Pflicht dadurch, daß er sich über seinen Vater eine Stelle im Postamt von Maiden verschaffen ließ. Er zog samt seiner Frau bei ihm ein, und häusliche Scherereien schienen 18
so gut wie unausweichlich. Kensuke kostete es aber wenig Mühe, die tyrannische Art seines herrischen Vaters an sich abgleiten zu lassen, wobei er seine zynische Begabung voll ausspielen konnte. Der Krieg verschlimmerte sich zusehends, und die drei Gärtner mußten der Reihe nach einrücken. Einem von ihnen, einem Burschen aus der Präfektur Hiroshima, gelang es jedoch, seinen jüngeren Bruder, der gerade die Pflichtschule hinter sich gebracht hatte, an seiner Stelle in diesem Haus unterzubringen. Der Junge hieß Saburō und war, wie seine Eltern, Angehöriger der Tenri-Sekte. Zu deren großen Feierlichkeiten im April und Oktober bekam er frei, um mit seiner Mutter an den mehrtägigen Exerzitien der Tenri-Anhänger teilzunehmen. Angetan mit einem weißen happi-Umhang, auf dem Rücken in großen Lettern das Wort tenri, verrichtete er dann auch vor dem innersten Heiligtum der Sekte seine Andacht. Etsuko stellte ihre Einkaufstasche auf dem Holzboden der Innenveranda ab und blickte sodann angestrengt in das Dämmerdunkel des Raumes, als prüfe sie die Wirkung dieses Geräusches. Ohne Unterlaß erklang in einem fort das Kinderlachen. Dieses Kinderlachen war aber, wie sie bei näherem Hinhören feststellte, in Wirklichkeit ein Weinen. Es erschütterte die Stille des dunklen Raumes. Beim Kochen wird Asako das Kind einfach sich selber überlassen haben, mutmaßte sie. Asako war die Frau von Yūsuke, der noch nicht aus Sibirien zurück war. Im Frühjahr 1948 hatte sie zusammen mit ihren beiden Kindern hier Unterschlupf gesucht, etwa ein Jahr bevor Etsuko ihren Mann verlor und auf Einladung von Yakichi hierherkam. Etsuko schickte sich an, auf ihr Zimmer zu gehen, als sie das Licht im Flurfenster des sechs Tatami großen Raumes 19
bemerkte. Sie erinnerte sich nicht, es beim Weggehen angelassen zu haben. Sie machte die Schiebetür auf. Am Tisch saß Yakichi, vertieft in irgendeine Lektüre. Ein wenig betreten wandte er sich zur Schwiegertochter um. Augenblicklich erkannte Etsuko an dem roten Halblederbändchen, das kurz zwischen seinen Armen hervorlugte, daß es ihr Tagebuch war, in dem er gelesen hatte. »Da bin ich wieder«, sagte Etsuko mit heller, heiterer Stimme. Trotz dieses unerbaulichen Sachverhalts war ihr Gesicht gegenüber vorhin, als sie allein war, wie verwandelt, und ihr Verhalten glich dem eines jungen Mädchens. Diese Frau, die ihren Mann verloren hatte, war, wie man so sagt, »ein Mensch, der wußte, was sich gehört«. »Grüß dich; ’s ist spät geworden, was?« erwiderte Yakichi, obwohl ihm »Was, du bist schon da?« vermutlich nähergelegen hatte. »Ich hatte schon solchen Hunger. Hab’ ich mir eben derweil das Buch da ausgeborgt von dir und ein bißchen drin geschmökert, nur so, zum Zeitvertreib.« Das Buch, das er nun herzeigte und das er flugs mit ihrem Tagebuch vertauscht hatte, war ein Roman, eine Übersetzung, die Kensuke ihr geliehen hatte. »Also, mir ist das zu schwer. Keine Ahnung, worum’s da überhaupt geht.« Bauernkniehosen, ein Militärhemd und darüber die Weste eines seiner alten Anzüge – in den vergangenen Jahren hatte sich sein Aufzug kein bißchen verändert. Doch der Unterschied zwischen dieser geradezu kriecherischen Unterwürfigkeit soeben und seiner Art von früher, während des Krieges, als Etsuko ihn noch nicht kannte, hätte größer nicht sein können. Dazu machte sich langsam körperlicher Verfall bemerkbar, der Blick hatte an Stärke verloren, die Lippen hielt seinerzeit der Stolz fest geschlossen, nun klafften sie ausein20
ander. Und beim Reden blieben ihm schaumige Speichelbläschen in den Mundwinkeln hängen wie einem Pferd. »Nirgends waren zabon aufzutreiben. Sosehr ich auch gesucht habe, es gab keine.« »Schade.« Etsuko setzte sich auf die Tatami und steckte ihre Hand unter den Obi. Vom Gehen hatte sich unter dem Obi Hitze gestaut wie in einem Treibhaus. Ihre Brust, wie sie spürte, war tropfnaß von Schweiß, konzentriertem, kaltem Schweiß – wie Nachtschweiß. Wabernd schien sein Geruch die umgebende Luft zu erfüllen, obgleich der Schweiß selbst bereits ausgekühlt war. Sie fühlte, wie sich etwas über ihren ganzen Körper ausbreitete – eine Art widerwärtiger Spannung. Unvermutet sackte ihr aufrecht sitzender Körper zusammen. Ihre Haltung in solchen Augenblicken konnte durchaus mißverständlich wirken auf jemanden, der sie nicht sehr gut kannte. Auch Yakichi hatte das bisweilen fälschlich für Koketterie gehalten. Später fand er heraus, daß es sich dabei um ein völlig unbeabsichtigtes, durch extreme Müdigkeit ausgelöstes Verhalten handelte, und hielt sich in solchen Fällen mit Avancen zurück. Zusammengeklappt wie sie dalag, nestelte sie sich ihre tabi * von den Füßen. Auf den tabi waren Kotspritzer. Die Sohlen waren grauschwarz verschmutzt. Krampfhaft bemüht, den Gesprächsfaden wiederaufzunehmen, sagte Yakichi: »Ganz schön dreckig, was?« »Ja, in der Tat. Der Weg war äußerst schlecht.« »Ein unheimlicher Wolkenbruch war das. Hat’s in Ōsaka auch geregnet?« »Ja, eben als ich bei Hankyū einkaufen war.« In Etsukos Erinnerung war alles wieder gegenwärtig: die ohrenbetäu21
bende Wucht des Wolkenbruchs, als ob alle Welt zu Regen geworden wäre, und der mit Regenwolken hermetisch verschlossene Himmel. Sie schwieg. Etwas anderes als dieses Zimmer hatte sie nicht. Unbekümmert zog sie sich um – vor Yakichis Augen. Die Stromstärke war gering, und die schwache Glühbirne erhellte den Raum nur dürftig. Yakichi schwieg. Schweigend bewegte sich Etsuko. Nur das schrille wischende Geräusch der Seide beim Aufbinden des Obi war zwischen ihnen vernehmbar wie Schreie eines Lebewesens. Lange ertrug Yakichi das Schweigen nicht. Er spürte Etsukos wortlosen Tadel und zog sich nach ein paar Anweisungen für das Essen in sein Acht-Tatami-Zimmer auf der anderen Seite des Flurs zurück. Etsuko ging zum Tisch und knotete dabei ihren schmalen Nagoya-Obi, den sie für gewöhnlich benutzte. Mit der einen Hand preßte sie hinten den Obi an den Rücken, mit der anderen blätterte sie teilnahmslos in ihrem Tagebuch. Ein leicht hämisches Lächeln verzog ihre Lippen. Vater weiß nicht, daß das hier gar nicht mein richtiges Tagebuch ist. Wie soll er auch. Wer weiß schon, daß Menschen sich sogar zu so etwas versteigen, nur um das eigene Herz geschickt hinters Licht zuführen. Da, die Seite von gestern. Etsuko beugte sich näher zu der vollgeschriebenen, dunklen Seite und las: Mittwoch, 21. September Der heutige Tag ist ohne besondere Vorkommnisse zu Ende gegangen. Die quälende Hitze ist vorbei, im Garten zirpen die Grillen. Morgens ins Dorf gegangen, um bei der Lebensmittelausgabestelle unsere Miso-Ration abzuholen. Das Kind der Leute dort hat sich eine Lungenentzündung geholt, 22
aber gerade noch rechtzeitig Penizillin bekommen und wird dem Vernehmen nach durchkommen. Obgleich es andere betrifft, fiel mir ein Stein vom Herzen. Für das Leben auf dem Land braucht man ein unkompliziertes Gemüt. Habe vermutlich meine diesbezügliche Lektion gelernt und bin auf dem besten Weg. Empfinde keine Langeweile. Nun ist mir nicht mehr langweilig. Überhaupt nicht mehr langweilig. Habe mittlerweile die Behaglichkeit des Ausspannens schätzen gelernt, das die Feldarbeit dem Bauern zwischendurch gönnt. Geborgen in der großherzigen Liebe unseres Vaters fühle ich mich fast zurückversetzt in meine Backfischzeit mit fünfzehn oder sechzehn. Ein unkompliziertes Gemüt, eine schlichte Seele ist alles, was man braucht auf dieser Welt. Mehr ist, glaube ich, nicht nötig. Auf dieser Welt sind nur die nötig, die körperlich arbeiten; das Herz, das sich dem Sumpf des Großstadtlebens überläßt, muß früher oder später darin untergehen. Habe Schwielen an den Händen bekommen. Vater hat mich dafür gelobt. Jetzt sind es richtige Hände, solche, die sich gehören für einen Menschen. Jähzorn und Niedergeschlagenheit sind mir fremd geworden. Die unselige Erinnerung, die mich so quälte, die Erinnerung an den Tod meines Mannes, quält mich nun nicht mehr so schrecklich. Der verschwenderische Herbstsonnenschein hat mich besänftigt, bin duldsam geworden, möchte gerne allem und jedem danken. Denke an S. In der gleichen Lage wie ich, ist sie meine Seelenbegleiterin geworden. Auch sie hat ihren Mann verloren. Denke ich an ihr Unglück, fühle ich mich ebenfalls getröstet. S. ist wahrhaftig eine Witwe mit einem reinen Empfinden und einfachem, schönem Gemüt, deshalb wird sich bestimmt wieder eine gute Partie für sie finden. Möchte mich nur zu gerne einmal mit ihr aussprechen, bevor es soweit ist. 23
Aber Tōkyō und hier, das wird wohl nicht gehen. Wird mir einmal schreiben, sagte sie, aber … … Der Anfangsbuchstabe ist zwar der gleiche, aber kein Mensch merkt etwas, weil ich in der weiblichen Form von ihm rede. Es gibt keine Beweise, also habe ich nichts zu befürchten, auch wenn der Name S. sehr oft vorkommt. Für mich ist das ein falsches Tagebuch, doch so ehrlich sein kann keiner, daß er zu einer komplett falschen Persönlichkeit wird. Sie rekapitulierte, was sie beim Niederschreiben dieser Heucheleien tatsächlich gedacht hatte und versuchte, sie umzuschreiben. Mit der Ausrede: Auch wenn ich es umschreibe – was ich wirklich denke, wird ja doch nicht draus, machte sie sich ans Umschreiben. Mittwoch, 21. September Ein qualvoller Tag ist zu Ende. Wundere mich selber, wieso ich diesen Tag überstehen konnte. Morgens ins Dorf gegangen, um bei der Lebensmittelausgabestelle unsere MisoRation abzuholen. Das Kind der Leute dort hat sich eine Lungenentzündung geholt, aber gerade noch rechtzeitig Penizillin bekommen und wird dem Vernehmen nach durchkommen. Wie schade! Wenn ihr nur das Kind sterben würde, dieser Person, die mich immer hinterrücks ausrichtet, dann wäre mir wenigstens ein bißchen leichter. Für das Leben auf dem Land braucht man ein unkompliziertes Gemüt. Trotzdem sind die Sugimotos durch die Bank verdorbene, schwabbelige, leicht eingeschnappte Angeber, die einem das Leben auf dem Land nur noch unerträglicher machen. Ja, ich mag ein unkompliziertes Gemüt. Bin sogar davon überzeugt, daß es auf dieser Welt nichts Schöneres gibt 24
als eine unkomplizierte Seele in einem unkomplizierten Körper. Aber was soll ich denn tun angesichts der tiefen Kluft zwischen meinem Gemüt und solchen Gemütern? Wo gibt es etwas Qualvolleres als den Versuch, die Rückseite einer Münze zu ihrer Vorderseite zu machen? In eine Münze ohne Loch eins zu machen, das wäre wohl am einfachsten. Selbstmord ist das. Bin öfter nahe dran, mich tatsächlich auszuklinken. Der Partner haut ab. Flieht irgendwohin, ganz weit weg. Bin also wieder allein, der Langeweile ausgeliefert. Meine Schwielen an den Fingern, was für ein blöder Witz. Nichtsdestoweniger lautete Etsukos Credo: Nur nichts zu ernst nehmen. Vom Barfußlaufen holt man sich wunde Füße. So wie man zum Gehen Schuhe braucht, muß man zum Leben so etwas wie einen »Entschluß« parat haben. Etsuko blätterte achtlos die Seiten um und redete mit sich selber. Trotzdem bin ich glücklich. Ich bin glücklich. Niemand kann das bestreiten. In erster Linie deshalb, weil es keinen Beweis gibt. Sie blätterte die dunklen Seiten durch. Dann die weißen. Immer weiter. Und schließlich war ein Jahr dieses glücklichen Tagebuchs um. Mahlzeiten im Hause Sugimoto unterlagen einer absonderlichen Regelung: Das Reiskochen für alle vier Gruppen – Kensuke und seine Frau im oberen Stockwerk, Asako und ihre Kinder im Erdgeschoß, in einem anderen Teil davon Yakichi und Etsuko, in den Dienstbotenzimmern Saburō und Miyo – oblag Miyo, die Zubereitung der Beilagen hingegen jeder Gruppe selbst. Auch die Mahlzeiten nahmen alle getrennt von den anderen ein. Diese absonderliche Regelung entsprang Yakichis Egoismus. Die beiden anderen Familien erhielten monatlich eine bestimmte Summe, über die sie 25
zwar frei verfügen konnten, mit der sie allerdings auch auskommen mußten. Nur sich selber hielt er für ausgenommen von dieser strikten Regelung. Etsuko, die nach dem Tod ihres Gatten allein dastand, hatte er nur deshalb eingeladen, um sich ihre Kochkünste zunutze zu machen. Das und nicht mehr war sein ganzes Motiv. Von jeder Obst- und Gemüseernte beanspruchte Yakichi das Beste für sich und verteilte den Rest an die übrigen Familienmitglieder. Die Shiba-Kastanie trug die wohlschmekkendsten Maronen, aber nur Yakichi war es gestattet, sie aufzulesen. Allen anderen Familienmitgliedern nicht. Mitbeteiligt wurde einzig und allein Etsuko. Schon zu dem Zeitpunkt, als der Entschluß in ihm reifte, Etsuko ein solch ungeheures Vorrecht einzuräumen, mochte Yakichi von gewissen Hintergedanken nicht völlig frei gewesen sein. Die edelsten Shiba-Kastanien, die erlesensten Weintrauben, die besten Fuyū-Kaki, die besten Erdbeeren, die besten Pfirsiche mit ihm teilen zu dürfen – keine Gegenleistung dünkte Yakichi zu groß für dieses Vorrecht. Solche Privilegien, kaum daß Etsuko hierhergekommen war, entfachten auf der Seite der beiden anderen Familien Eifersucht und Neid und provozierten darüber hinaus weitere, infame Unterstellungen. Diesen an sich nicht unplausiblen Verleumdungen schien eine Art Suggestivkraft innezuwohnen, mit nachhaltigen Auswirkungen auf das Verhalten von Yakichi. Allerdings gab der Gang der Ereignisse den Gerüchten auf eine Weise Nahrung, die es deren Urhebern wiederum schwermachte, ihren eigenen Augen zu trauen. Diese Frau hatte vor noch nicht ganz einem Jahr ihren Mann verloren und sollte sich nun mit seinem Vater körperlich eingelassen haben? Konnte diese blutjunge Frau mit genügend Aussichten, wieder unter die Haube zu kommen, 26
aus freien Stücken die zweite Hälfte ihres Lebens wegwerfen? Was hatte sie davon, wenn sie sich so einem Alten hingab, der schon den Rubikon der Sechzig überschritten hatte? Tat sie es »des Lebensunterhalts willen«, wie das heute Usus ist? Denn Verwandte hatte sie ja tatsächlich keine mehr. Gerüchte über Gerüchte bauten um Etsuko herum einen die Neugierde ständig schürenden Zaun. Gelangweilt, matt, jedoch nicht ohne unbekümmerte, großzügige Lässigkeit schritt sie den ganzen Tag in diesem Gehege auf und ab wie ein Laufvogel. Kensuke und seine Frau Chieko saßen im Wohnzimmer im zweiten Stock gerade beim Essen. Chieko war eine Frau, die ihren Mann wegen des Eindrucks geheiratet hatte, den sein zynisches Gehabe auf sie machte, doch war ihre Zuneigung mit günstig gelegten Fluchtpfaden versehen, so daß sie seine lächerliche Untüchtigkeit verkraftete, ohne im geringsten vom Eheleben enttäuscht zu sein. Ihre Ehe hatten diese beiden schon etwas in die Jahre gekommenen Exemplare von Dichterjüngling und Dichtermaid nach dem Motto geschlossen: »Es gibt nichts Dümmeres auf der Welt als die Ehe.« Und doch brachten sie es fertig, sogar jetzt noch, am Erkerfenster im zweiten Stock traulich nebeneinandersitzend Prosagedichte von Baudelaire zu rezitieren. »Er tut mir schon leid, unser Vater«, sagte Kensuke, »in dem Alter nehmen die Scherereien kein Ende. Vorhin, wie ich an Etchans * Zimmer vorbeikomme, brennt dort Licht, obwohl sie eigentlich aus sein mußte. Leise schleiche ich mich hinein – sitzt da nicht unser Vater und liest heimlich Etchans Tagebücher. So selbstvergessen, verstehst du, daß er nicht einmal merkt, daß ich hinter ihm stehe. Wie ich ihn anrede, springt er hoch vor Schreck. Dann fängt er sich wieder und funkelt mich wütend an. Aber so, daß mir unwillkür27
lich die Erinnerung hochkommt, wie ich mich als Kind immer vor seinem Gesicht gefürchtet habe, wenn er wütend war. Nicht mal ansehen konnte ich ihn damals vor Angst. Und dann sagt er: ›Wenn du der Etsuko nur ein Sterbenswörtchen davon erzählst, daß du mich ihr Tagebuch lesen gesehen hast, dann schmeiß ich euch beide raus hier, dich und deine Frau, verstanden?‹ Stell dir das mal vor!« »Worüber sich der Vater wohl solche Sorgen macht, daß er dieses Tagebuch gelesen hat?« »Wahrscheinlich macht er sich langsam Gedanken darüber, daß Etchan in letzter Zeit etwas unruhig ist. Aber daß sie auf Saburō scharf ist, hat er sicherlich noch nicht mitgekriegt. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Schlau, wie die ist, schreibt sie doch so was nicht in ihr Tagebuch.« »Saburō?! Nein, also das kann ich mir gar nicht vorstellen! Aber wenn du das sagst, bei dem fabelhaften Durchblick, den du immer hast, da wird es schon stimmen. Aus Etsuko werde ich auch nicht recht schlau. Wenn sie doch nur sagen würde, was sie denkt und tut, was sie tun will, dann könnten wir ihr behilflich sein, und sie würde sich auch wohler fühlen.« »Reden und tun sind zweierlei, das ist ja das Interessante. Seit Etchan hier ist, ist der Alte doch wie ausgewechselt, richtig schüchtern, nicht?« »Nein, also den Mut verloren hat Vater nach der landwirtschaftlichen Bodenreform.« »Naja, da ist auch was dran. Als Sohn eines kleinen Pächters gab es ihm schon eine ganze Menge, als er endlich sagen konnte: ›Ich besitze Grund und Boden‹, da plusterte er sich auf wie ein Landser, der Unteroffizier geworden ist. Dreißig Jahre bei einem marinen Frachtunternehmen arbeiten – das ist alles, was einer tun muß, der kein Grundbesitzer ist, aber einer werden möchte; Direktor muß er natürlich auch noch 28
werden. Das war die schrullige Lebensphilosophie, die er sich zurechtgelegt hatte. Sein größtes Vergnügen war, diesen Prozeß mit soviel ›schaffe, spare‹ auszuschmücken wie möglich. Im Krieg hat er ganz schön was losgehabt, mein Alter; über Tōjō * redete er nur wie über einen schlitzohrigen alten Kumpel, der sich mit Aktien gesundgestoßen hat; ich, als einfacher Postangestellter, hab da immer nur andächtig zugehört. Als Grundeigentümer, der auch auf seinem Grundstück lebte, hat es ihn bei der Nachkriegs-Bodenreform nicht so sehr erwischt, aber daß ein kleiner Pächter wie der Okura, daß so ein Bauernlümmel um einen Pappenstiel Grundbesitzer werden konnte, das hat ihn arg getroffen. Seither hat er ständig gesagt: ›Das hätte ich früher wissen müssen, dann hätte ich keine sechzig Jahre geschuftet.‹ Als es plötzlich nur so wimmelte vor Kerlen, die alle keinen Finger krumm gemacht hatten und nun trotzdem Grundbesitzer waren, das war für meinen Alten, als hätte er irgendwie seine Daseinsberechtigung verloren. Er wurde ziemlich sentimental und fing an, sich als Opfer seiner Zeit zu gefallen. Damals, als er mit seinem Schicksal am meisten haderte, wenn er da als Kriegsverbrecher verhaftet und nach Sugamo gebracht worden wäre, das hätte ihn glatt wieder um was weiß ich wieviel jünger gemacht.« »Etsuko hat’s gut, sie hat fast gar nichts davon mitbekommen, was für ein Tyrann Vater ist. Mal ist sie ziemlich niedergeschlagen, dann wieder sehr aufgekratzt, alles geht bei ihr durcheinander, aber jetzt einmal abgesehen von Saburō, wie konnte sie nur die Geliebte ihres Schwiegervaters werden, wo doch noch nicht einmal die Trauerzeit für ihren Ehemann abgelaufen ist, also das versteh ich einfach nicht.« »Nun ja, sie ist halt eine ziemlich einfache, willenlose Person. Gibt immer nach wie eine Trauerweide im Wind, ist aber 29
dermaßen blindlings darauf bedacht, ihre Treue unbefleckt zu halten, daß sie es gar nicht merkt, wenn ihr Partner plötzlich ein anderer ist. Von einem staubigen Wind hierhin und dahin geweht, fällt ihr gar nicht auf, daß der Mann, an den sie sich klammert, weil sie ihn für den ihren hält, längst ein anderer ist, nicht wahr.« Für Kensuke, den völlig agnostischen Skeptiker, war das menschliche Leben in höchstem Maße durchsichtig; davon war er ziemlich überzeugt. Auch nachts lebten die drei Familien nebeneinanderher wie Fremde. Asako war von ihren Kindern in Anspruch genommen. Die Kinder mußten früh zu Bett, und mit ihnen ging auch sie schlafen. Kensuke und seine Frau kamen vom Obergeschoß nie herunter. Durch die Fensterscheiben im Obergeschoß zeigte sich ein sanfter, mit den fernen Lichtern der Sozialwohnanlagen wie mit Sand bestreuter Hang. Zwischen hüben und drüben lag nur ein dunkles Meer von Reisfeldern, so daß die Lichter anmuteten wie die einer Küstenstadt auf einer fernen Insel, erfüllt von schier nie enden wollendem feierlichen Gepränge und Treiben. Auch hätte man sich vorstellen können, daß in jener Stadt eine stille religiöse Zusammenkunft stattfand, bei welcher reglose Menschen im Schein der Lichter in Verzükkung oder Ekstase verfielen, und in dieser andächtigen Stille, im selben Lampenlicht, so mochte man sich weiter einbilden, ereignete sich ein mit großer Sorgfalt und kaltem Kalkül ausgeführter, unsäglich lange Zeit in Anspruch nehmender Mord. Dennoch war gleichzeitig offenkundig, daß das Leben dort noch viel eintöniger verlief als hier, noch viel erbärmlicher. – Wäre es Etsuko nur gelungen, die Lichter der Sozialbauten ebenso zu sehen, hätten diese nie solchen Abscheu in ihr hervorrufen können. Aber auch einem Schwarm ganz 30
schwach leuchtender Vogelläuse, die sich auf einem faulenden Baumstamm gesammelt haben und geräuschlos ihre Flügel ruhen lassen, hätten die unzähligen Lichter gleichen können. Von Zeit zu Zeit erschallte der Pfiff der Hankyū-Bahn und hallte nah und fern über den nächtlichen Reisfeldern wider. Dann raste in hohem Tempo der Zug heran und vorbei, wie wenn ein mehrere Dutzend starker Schwarm jener schmalen, hageren Nachtvögel aufgescheucht worden wäre, die sonst immer mit schrillem Kreischen ihren Nestern zustieben. Der Pfiff ließ die Nacht erschauern. Es war übrigens auch die Jahreszeit, da, wer durch diese Stimme erschreckt hochblickte, in einem Winkel des Himmels bläuliches Licht wie lautlosen Donner aufzucken und verschwinden sehen konnte. Es gab niemand, der nach dem Abendessen und vor dem Zu-Bett-Gehen das Zimmer aufgesucht hätte, in dem sich Etsuko und Yakichi aufhielten. Früher war Kensuke gelegentlich zum Zeitvertreib auf einen Plausch vorbeigekommen. Asako war mit den Kindern gekommen. Nicht selten hatten sich alle hier versammelt und den Abend in fröhlicher Ausgelassenheit zugebracht. Allmählich aber ließ Yakichi immer deutlicher durchblicken, wie zuwider ihm das war, so daß schließlich alle wegblieben. Die Stunden der Zweisamkeit mit Etsuko wollte Yakichi durch nichts und niemanden gestört haben. Nicht daß sie da etwas Besonderes vorhatten. Manchmal spielten sie den ganzen Abend Go. Das hatte Etsuko von Yakichi gelernt. Außer Go beherrschte Yakichi keine Künste, mit denen er sich vor einer jungen Frau als Lehrer hätte produzieren können. Auch diesen Abend spielten sie eine Partie. Etsukos Finger wühlten ständig in der Schale mit den GoSteinen, sie genoß deren harte Schwere. Ihre Augen hingen 31
wie gebannt am Brett. Wer sie sah, mußte sie für völlig dem Spiel hingegeben halten, doch war sie lediglich fasziniert von der bedeutungslosen Regelmäßigkeit in der Anordnung der gekreuzten schwarzen Linien. Auch Yakichi war sich nicht ganz sicher, ob ihre Hingabe nun tatsächlich dem Go-Spiel galt. Ohne Hemmungen sah er der jungen Frau vor sich zu, wie sie sich mit lockerer Unbekümmertheit ihrem Vergnügen hingab. Ihr Mund stand leicht offen, und ihre scharfen Zähne waren zu sehen, die so weiß waren, als wären sie ein wenig gebleicht. Bisweilen knallte sie ihren Stein laut auf das Brett. Wie ein Peitschenschlag. Wie man nach einem angreifenden Hund schlägt. In solchen Fällen blickte Yakichi heimlich und mißtrauisch nach dem Gesicht der Schwiegertochter und setzte seinen Stein nachdrücklich maßvoll, wie eine Ermahnung. »Ganz schön schneidig. Fast wie beim Duell von Miyamoto Musashi und Sasaki Kojirō auf der Insel Ganryū, was?« Etsuko hörte schwere Schritte hinter sich im Korridor. Nicht so leichte wie die einer Frau, nicht so bedrückte wie die eines älteren Mannes. Fußsohlen, auf denen jugendlich heiße Schwere lag, brachten die Holzbohlen im nächtlichen Flur förmlich zum Ächzen und Schreien. Ihre Finger mit dem Go-Stein hielten inne. Besser gesagt: Etsukos Finger vermochten sich gerade noch auf den GoStein zu stützen. Sie mußte ihre unwillkürlich zitternden Finger gegen den Stein pressen, so fest sie nur konnte. Aus diesem Grund heuchelte sie Zögern. Allerdings handelte es sich um keinen schwierigen Zug. Daher kam es sehr darauf an, nicht durch unangemessenes Zögern bei ihrem Schwiegervater Verdacht aufkeimen zu lassen. Die Shōji glitten auf, Saburō steckte seinen Kopf herein, blieb aber auf dem Flur knien und sagte: »Gute Nacht.« 32
»’s recht«, knurrte Yakichi im Vorbeugen, während er den nächsten Stein setzte. Etsuko starrte auf seine harten, knotigen, häßlichen, alten Finger. Saburō gab sie keine Antwort. Sie wandte sich auch nicht um. Die Shōji glitten zu. Die Schritte entfernten sich in die Miyos Schlafkammer entgegengesetzte Richtung, dorthin, wo nach Westen zu das DreiTatami-Zimmer von Saburō lag.
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II
D
ie Hunde machen Nächte auf dem Land zum reinen Irrsinn mit ihrem Gekläff. Am Schuppen hinter dem Haus hing Maggie an der Kette, die alte Setter-Hündin. Der Obstgarten lief in ein schütteres Wäldchen aus, durch das ein Pack streunender Hunde zog. Maggie spitzte die Ohren und gab ein langgezogenes, schauderhaftes Heulen von sich, als wolle sie aller Welt ihr Leid klagen. Die wilde Meute hielt in ihrem Lauf durchs Bambusgras inne und gab Antwort. Damit war es um Etsukos ohnedies leichten Schlummer geschehen. Vor kaum einer Stunde war sie eingeschlafen. Bis Tagesanbruch blieb noch viel Zeit, die sie mit Schlafen zuzubringen hatte wie ein Pensuni, das man absolviert. Etsuko durchforschte sich nach einer angemessenen Erwartung an den kommenden Tag. Jede noch so kleine, banale Erwartung würde reichen. Ohne solche Erwartung kann der Mensch sein Leben nicht bis morgen ausdehnen. Die für morgen liegengelassene Näharbeit, die Fahrkarte für die morgen anzutretende Reise, das Sake-Restchen, in der Flasche aufgespart, um es doch lieber erst morgen zu trinken, solche Dinge spendet der Mensch dem morgigen Tag. Eher darf er ihn nicht in Empfang nehmen. Was für Erwartungen, überlegte Etsuko, sollte sie also hegen? Ach ja, die zwei Paar Socken, ein Paar dunkelblaue, ein Paar braune. Saburō die zwei Paar Socken zukommen zu lassen war alles, was das Morgen für Etsuko zu bedeuten hatte. Wie eine fromme Gläubige entdeckte Etsuko Sinn in dieser Erwartung, einen lauteren, reinen Sinn. An 34
diese beiden dünnen Fäden klammerte sich Etsuko, an den dünnen dunkelblauen und den dünnen braunen Faden, als wäre »morgen« ein geheimnisvoller, aufgeblähter, dunkler, düsterer Ballon, an dem sie baumelnd hing ohne den leisesten Gedanken daran, wohin er sie tragen würde. Nicht denken – das war für Etsuko die Grundlage ihres Glücklichseins und die Ursache ihres Daseins. Immer noch spürte Etsuko am ganzen Körper Yakichis bornierte, knotige, spindeldürre Finger. Ein, zwei Stunden Schlaf hatten nichts davon wegwischen können. Eine Frau, die von einem Gerippe liebkost wird, entrinnt dieser Liebkosung nie wieder. Etsuko war, als wäre sie von Kopf bis Fuß von einer zweiten Haut umspannt, dünner als die Larvenhaut, der ein Schmetterling sich gerade zu entschlüpfen anschickt. Sie fühlte sich wie überpinselt mit einem transparenten Firnis, dem Auge nicht wahrnehmbar, halb eingetrocknet, und die geringste Bewegung im Dunklen würde ihn craqueleartig splittern lassen. Langsam gewöhnten sich ihre Augen an das Dunkel, und Etsuko blickte umher. Yakichi schnarchte nicht einmal. Sein Nacken schimmerte wie ein gerupftes Huhn. Tickend zergliederte die Uhr auf dem Regal die Zeit, unter dem Fußboden zirpten Grillen: Die einzigen diesseitigen Konturen einer Nacht, die ohne sie nichts Irdisches mehr an sich gehabt hätte, die Etsuko mit der gnadenlosen Furcht erfüllte, zu erstarren wie eine in Gallerte gefallene Fliege. Mühsam hob Etsuko den Kopf ein wenig an. Bläulich schimmerten die Perlmutterintarsien auf den Türen des Zierschränkchens. Sie preßte die Augen so fest zu, daß ihr die Lider beinahe einsanken. Ihre Erinnerung blendete ein knappes halbes Jahr 35
zurück: Kurz nachdem sie in dieses Haus gekommen war, fing Etsuko an, Spaziergänge zu unternehmen. Prompt hieß es unter den Dörflern, sie sei nicht ganz dicht. Sie scherte sich nicht um das Gerede der Leute und machte weiterhin ihre Spaziergänge. Allein. Damals begann den Leuten aufzufallen, daß sie ging wie eine Schwangere. In den Augen ihrer Beobachter stempelte sie das zu einer Frau mit Vergangenheit. Von einer Ecke des Sugimotoschen Grundstücks aus überblickte man den Hattori Reien-Friedhof jenseits des Baches. Waren nicht gerade Äquinoktial-Feiertage, gab es nur sehr wenige Friedhofsbesucher. In den Stunden nach Mittag warfen die zahllosen weißen Grabsteine auf den weiten Hängen anmutige Schatten. Der waldumsäumte Friedhof auf dem wellig hügeligen Gelände bot einen heiteren, reinen Anblick. Und bisweilen sah man von weitem, wie das Sonnenlicht einen Quarzkristall im Granit eines Grabsteines funkelnd aufblitzen ließ. Ganz besonders liebte Etsuko die Weite des Himmels über dem Friedhof und die Ruhe auf dem Weg, der durch ihn hindurchführte. Wie niemals sonst kam ihr vor, als würden dieses makellose Weiß, diese besinnliche Stille, dieser Duft der Gräser und der jungen Triebe der Bäume ihre Seele aller Hüllen entkleiden. Frühling, Kräutersammelzeit. Etsuko ging den Bach entlang, um Wildkräuter zu pflücken, Speiseastern etwa oder Schachtelhalm, die sie in ihre Kimonoärmel tat. An einer Stelle hatte der Bach sein Bett ein wenig verlassen und rieselte über das Ufergras. Da wuchs wilde Petersilie. Unter einer Brücke querte der Bach das Betonband einer Autostraße, die von Ōsaka kommend geradewegs bis zum Friedhofstor führte und dort endete. Etsuko ging um das Rasenoval vor 36
dem Eingang des Friedhofs herum und strebte ihrem üblichen Spazierweg zu. Daß ihr eine solche Muße vergönnt war, fand sie geradezu unbegreiflich. Ob es wirklich kein Aufschub von irgend etwas war, den diese Muße zu bedeuten hatte? Etsuko ging an ein paar Catch-Ball spielenden Kindern vorbei. Nach einer Weile langte sie innerhalb der hart den Bach entlang verlaufenden Umzäunung bei einer grasbewachsenen Parzelle an, auf der noch keine Grabsteine standen. Sie wollte sich eben hinsetzen, als sie einen Jungen bemerkte, der dort ausgestreckt auf dem Rücken lag und ein Buch über dem Gesicht hielt, in dem er hingebungsvoll las. Es war Saburō. Kaum hatte er den Schatten eines Menschen über sein Gesicht streichen fühlen, hob er den Oberkörper und sagte: »Gnädige Frau!« In diesem Augenblick fielen alle die vorhin gesammelten Kräuter aus Etsukos Ärmel heraus und ihm ins Gesicht. Den raschen Wechsel seines Gesichtsausdrucks empfand Etsuko auf kühle, rationale Weise angenehm wie die Lösung einer simplen Gleichung, die glatt aufgeht. Denn zunächst hatte er das Herabfallen des Grünzeugs auf sein Gesicht für einen Scherz von ihr gehalten und spielerisch-übertreibend auszuweichen versucht. Gleich darauf aber hatte er an Etsukos Miene erkannt, daß es bloß Zufall war. Sogleich nahm sein Gesicht einen entschuldigenden, ernsten Ausdruck an. Er stand auf. Dann ließ er sich auf alle viere nieder und half Etsuko, die verstreuten Kräuter wieder einzusammeln. Und dann, erinnerte sich Etsuko, fragte ich ihn: Was tust du denn da? »Ein Buch lese ich«, erwiderte er und klappte errötend sein Abenteuerbuch zu. Etsuko erinnerte seine Redeweise an Kommißsprache. Nur – beim Militär konnte er unmöglich 37
gewesen sein, er wurde dieses Jahr erst achtzehn. Die Anklänge an Kommißsprache rührten daher, daß Saburō, ein Junge aus Hiroshima, sich nun in korrekter Hochsprache versuchte. Unaufgefordert plauderte Saburō dann aus, daß er ins Dorf gegangen sei, für die Brotration, und daß er auf dem Rückweg ein wenig habe bummeln wollen, wobei sie, die gnädige Frau, ihn nun ertappt habe. Das war mehr kindische Anbiederei denn eine Entschuldigung. Etsuko versprach ihm, es niemandem zu verraten. Sie erinnerte sich, daß sie ihn über die Schäden des Atombombenabwurfs befragt hatte und er zur Antwort gab, daß zwar seine eigene Familie verschont geblieben sei, weil sie nicht direkt in der Stadt Hiroshima gelebt habe; Verwandte von ihnen habe es aber schon erwischt; da sei von der ganzen Familie keiner übriggeblieben. Damit war der Gesprächsstofferschöpft. Genauer gesagt: Saburō hatte Hemmungen, Etsuko irgend etwas zu fragen. Als ich Saburō zum ersten Mal sah, hielt ich ihn für über zwanzig. Für wie alt ich ihn im Hattori Reien schätzte, als er so dalag, daran erinnere ich mich nicht mehr. Obwohl wir erst Frühling hatten, trug er sein mit Flicken übersätes Baumwollhemd vorne offen und hatte die Ärmel aufgekrempelt. Vielleicht, weil ihn die ausgefransten Aufschläge störten. Er hatte prachtvolle Arme; Arme, wie man sie bei Stadtmännern erst zu sehen bekommt, wenn sie über fünfundzwanzig sind. Und als ob diese sonnengebräunten, voll entwickelten Arme so etwas wie Scham vor sich selbst empfänden, waren sie eingehüllt in dichten, goldfarbenen Flaum. Die Blicke, die Etsuko auf ihn richtete, schienen irgendwie tadelnd. Nicht, daß ihr diese Art zu schauen besonders zu Gesicht stand. Sie verfügte bloß über keine andere. Ob er etwas in dieser Richtung ahnte? Ausgeschlossen. Er dachte lediglich 38
daran, daß es außer einem lästigen Dienstherren noch eine lästige Frau gab, die bei ersterem eingezogen war. Seine Stimme! Diese leicht nasale, gedämpfte, melancholische und dabei doch kindliche Stimme von ihm! Wie er redete! Als ob er seinem schweigsamen Wesen mühsam jedes Wort förmlich einzeln abringen müßte! Wie unverfälschte, wilde Früchte, so schwer wog jedes Wort. Nichtsdestoweniger war Etsuko am darauffolgenden Tag durchaus imstande, ihn ohne eine Gefühlsregung anzuschauen. Das heißt, ohne etwas Tadelndes im Blick, nur mit einem Lächeln. Na klar, es war ja auch überhaupt nichts passiert. Dann war da noch die Sache damals, etwa einen Monat nachdem sie hierhergekommen war: Eines Tages kam Yakichi zu ihr und wollte einige seiner alten Kleider und Hosen, die er immer zur Feldarbeit trug, ausgebessert haben. Er hatte es ziemlich eilig, und sie war an diesem Tag bis in die späte Nacht damit beschäftigt. Nachts um eins kam Yakichi, der eigentlich um diese Zeit längst hätte schlafen müssen, plötzlich in ihr Zimmer. Er lobte ihren Eifer, schlüpfte probeweise in die frisch ausgebesserten Kleider und paffte eine Weile schweigend seine Pfeife. »Schläfst du eigentlich gut jetzt?« »Ja, hier ist es ganz ruhig, im Unterschied zu Tōkyō.« »Mach mir doch nichts vor«, setzte Yakichi hinzu. »Ehrlich gesagt«, erwiderte Etsuko artig, »kann ich in letzter Zeit fast gar nicht schlafen. Vermutlich, weil es so ruhig ist, zu ruhig, wie mir scheint.« »Das tut mir leid, ich hätte dich nicht hierherholen sollen«, meinte Yakichi in bedauerndem Tonfall, wenngleich nicht ohne einen direktoral-sarkastischen Beiklang. Schon zu dem Zeitpunkt, als Etsuko beschloß, Yakichis Einladung anzunehmen und nach Maiden zu kommen, hatte 39
sie sich auf derlei nächtliche Besuche gefaßt gemacht. Mehr noch, sie wünschte sie sich sogar. Als ihr Mann starb, hätte sie gerne mit ihm in den Tod gehen wollen – wie eine indische Witwe. Sonderbar, diese Phantasie von einem gemeinsamen Tod. Nicht um simples Nachfolgen in den Tod ging es ihr. Aus Eifersucht auf ihren Gatten wollte sie mit ihm ins Jenseits. Ihr war nicht nach einem Durchschnittstod, wie ihn bald eine hätte sterben können, sondern nach einem langsamen, qualvollen Tod. Oder sehnte die rasend eifersüchtige Etsuko etwas herbei, das sie für immer vor weiterer Eifersucht bewahren würde? Verbarg sich hinter dieser, um nicht zu sagen: aasgierigen Sucht ein dementsprechend wildes Besitzstreben, eine absolut ziel- und zwecklose Gier? Der Tod ihres Gatten. Ein Tag im Spätherbst; immer noch konnte sie den Leichenwagen vor dem Hintereingang des Isolierkrankenhauses halten sehen. Arbeiter luden den Sarg auf. Die Leichenhalle, der stickig-feuchte Mief nach Weihrauch, Schimmel und Leichen; dick von schmutziggrauem Staub überzogene Lotus-Artefakte in unheimlicher Verrenkung; die feuchten Tatami-Matten für die Totenwache; das schäbige, abgewetzte Ledergestell zur Aufbahrung der Toten; aus dieser Leichenhalle mit dem buddhistischen Altar, in dem ständig neue Totentafeln mit den postumen Namen Verblichener auftauchten und verschwanden wie in einem Wartezimmer, trugen die Leichenträger den Sarg eine leicht ansteigende Rampe hinauf. Einer der Träger hatte Militärstiefel an. Ihre Nägel produzierten auf dem Betonboden ein Geräusch, das sich anhörte wie Zähneknirschen. Die Türflügel des Hinterausgangs schwangen auf. Und herein flutete Sonnenlicht von so überwältigender Macht, wie Etsuko bis dahin und seither keines erlebt hatte. Anfang November diese Flut von Sonnenlicht, Sonnen40
licht, welches sich gleich einer üppigen, durchscheinenden Springquelle aus Helligkeit über alles ergoß. Der Hintereingang des Isolierkrankenhauses führte zu einem tiefer gelegenen, während des Krieges abgebrannten Stadtteil. In einiger Entfernung verlief der mit Unkraut überwucherte Damm der Chūō-Linie. Zur Hälfte bestand das Stadtviertel aus neuen oder in Bau befindlichen Holzhäusern, die andere Hälfte war noch grasbewachsene Brandstätte, übersät mit Schutt, Gerumpel und Müll. Die Novembersonne herrschte über beide. Sie gleißte auf den Lenkstangen der Fahrräder, die auf der breiten Chaussee dahinfuhren. Und nicht nur da. Sogar die Scherben der Bier- und sonstigen Flaschen in den Müllhaufen der Brandruinen blitzten blendend ins Auge. Diese Helligkeit stürzte mit der Wucht eines Wasserfalls auf den Sarg und die hinter ihm gehende Etsuko herab. Der Motor des Leichenwagens sprang an. Der Sarg war an seinem Platz, und Etsuko bestieg den Wagen. Die Fenster waren verhängt. Bis zum Krematorium drehten sich ihre Gedanken nicht um Eifersucht und nicht um Tod. Nur an das überwältigende Licht dachte sie, das soeben über sie gekommen war. Sie nahm die Herbstblumen auf ihrem Schoß von einer Hand in die andere. Chrysanthemen. Klee. Chinesische Glockenblumen. Von der Totenwache schon arg mitgenommene Kosmosblüten. Etsuko ließ es geschehen, daß ihr gelber Blutenstaub in den Schoß fiel und ihr Trauergewand beschmutzte. Was hatte sie empfunden, als das Licht sie überflutete? Befreiung und Erlösung? Erlösung von der Eifersucht, den unzähligen schlaflosen Nächten, vom urplötzlichen Ausbruch der Krankheit ihres Mannes, vom Isolierkrankenhaus, von den entsetzlichen nächtlichen Fieberphantasien, vom Gestank, vom Tod? 41
Machte die Tatsache, daß auf dieser Erde solch überwältigendes Licht existierte, Etsuko nicht eher noch eifersüchtiger? War diese Eifersucht womöglich die einzige Gefühlsregung, deren sie über eine längere Zeitspanne hinweg fähig war? Man kann sich nicht befreit und erlöst fühlen, ohne gegen etwas zu sein; nicht gegen Befreiung oder Erlösung an und für sich, sondern gegen etwas ganz Neues. Dem Löwen, der den Käfig verläßt, gehört in diesem Augenblick eine Welt, die um vieles weiter ist als die des wilden Löwen, der Gefangenschaft nie gekannt hat. Solange er gefangen war, existierten für ihn nur zwei Welten: Die Welt innerhalb und die Welt außerhalb seines Käfigs. Nun ist er frei. Er brüllt. Er reißt Menschen, er verschlingt Menschen. Dennoch ist Unzufriedenheit in ihm, weil eine dritte Welt, eine, die mit der Welt innerhalb seines Käfigs so wenig identisch ist wie mit der Welt außerhalb desselben, nicht existiert. Etsuko hingegen hatte mit solchen Dingen überhaupt nichts zu schaffen. Ihre Seele kannte nur Zustimmung. In dem Licht, das sie am Hintereingang des Isolierkrankenhauses überflutet hatte, sah Etsuko nichts als eine grandiose Verschwendung des Himmels, welche sich eben unvermeidlicherweise über die Erde ergoß. Das Halbdunkel im Innern des Leichenwagens fand sie letzten Endes angenehmer. Während der Fahrt klapperte irgend etwas im Sarg ihres Mannes. Vielleicht seine Lieblingspfeife, die sie ihm in den Sarg getan hatte und die nun beim Fahren gegen dessen hölzerne Innenverschalung schlug? Sie hätte sie doch lieber in etwas einwickeln sollen. Etsuko legte ihre Hand an die Stelle unter dem weißen Sargtuch, wo sich das Klappern vernehmen ließ. Sogleich hörte der Gegenstand, Pfeife oder was immer, mit dem Geräusch auf, als hielte er den Atem an. Etsuko hob den Vorhang etwas und sah vor ihrem Lei42
chenwagen einen anderen seine Fahrt verlangsamen und von der Fahrbahnmitte in ein ödes Beton-Rondeau einbiegen, an dessen Rand Bänke standen sowie ein heizkörperförmiges Gebäude von ungewöhnlicher Größe. Das Krematorium. Soweit sie sich erinnerte, dachte sie damals: Nicht um meinen Mann zu verbrennen, bin ich hier. Ich komme, um meine Eifersucht zu verbrennen. Doch war ihre Eifersucht tatsächlich zusammen mit der sterblichen Hülle ihres Mannes in Flammen aufgegangen? Es war, als hätte sie sich die Eifersucht von ihrem Mann geholt, wie man sich eine ansteckende Krankheit zuzieht. Die hatte dann ihr Fleisch befallen, ihre Nerven und ihre Knochen. Hätte sie also ihre Eifersucht tatsächlich verbrennen wollen, dann hätte sie selber weiter und weiter hinter dem Sarg hergehen müssen bis ins Innerste dieses brennofenförmigen Gebäudes. Vor dem Ausbruch seiner Krankheit war ihr Mann drei Tage lang nicht zu Hause gewesen. Im Büro schon. Ryōsuke war keiner, der wegen einer amourösen Affäre blaumachte. Es fiel ihm bloß schwer, dorthin zurückzukehren, wo Etsuko wartete, also nach Hause. An die fünfmal war Etsuko bis zur öffentlichen Fernsprechzelle in ihrer Nachbarschaft gegangen, hatte aber doch immer wieder Hemmungen gehabt, anzurufen. Rang sie sich dann zu einem Anruf im Büro durch, war es ausnahmslos er, der abhob. Nie war er am Telefon grob zu ihr. Aber wie er in weichem, schmeichelndem Tonfall seine Ausreden daherschnurrte, ganz gezielt mit dem gewissen Einschlag ins Ōsakaische, das erinnerte Etsuko immer an die liebevolle Sorgfalt, mit der er seine Kippen im Aschenbecher drehte und wendete – um sie auszudampfen –, und das verschlimmerte ihre Pein noch. Sie hätte es vorgezogen, von Ryōsuke beschimpft zu werden. Auf den ersten 43
Blick hätte man diesem Kerl von einem Mann eine Grobheit oder zwei ohne weiteres zugetraut, er jedoch säuselte in zärtlichen Tönen Versprechungen über Versprechungen, die er allerdings nie zu halten gedachte. Etsuko war außerstande, dem irgend etwas entgegenzusetzen. Sie hätte lieber Zurückhaltung üben und gar nicht anrufen sollen. »Ich kann hier schlecht reden, weißt du, aber ich hab da gestern auf der Ginza einen alten Freund getroffen, der hat mich überredet, und wir sind vorerst einmal Mah-Jongg spielen gegangen, nicht. Der Typ ist ein großes Tier im Handelsministerium, den kann ich schlecht links liegenlassen. … … Wie? Jaja, ich komme nach Hause heute. Heute komme ich gleich nach Haus … … Aber ich habe hier jede Menge Arbeit, weißt du, bergeweise. Abendessen? Ist mir gleich, kannst du machen oder auch nicht … … Ganz wie du glaubst … … Sollt ich vorher schon was gegessen haben, eß ich halt noch einmal … … Wir sollten übrigens langsam aufhören, der Kawaji da neben mir, dem geht das nämlich schon auf die Nerven, sagt er … … Gut, einverstanden. … … Also, bis später … … « Unter den Kollegen kehrte Ryōsuke nicht den Schönling hervor, der er an sich war, sondern spielte seine Erfolge eher herunter. Etsuko wartete. Und wartete weiter. Er kam nicht. Hatte sie ihm an den seltenen Abenden, die er zu Hause verbrachte, auch nur ein einziges Mal Vorwürfe gemacht oder eine Szene? Sie blickte immer nur mit traurigen Augen zu ihrem Gatten auf. Dieser Hundeblick, diese wortlose Traurigkeit in ihren Augen, trieben Ryōsuke zur Weißglut. Worauf diese Frau nur wartete, die Hand ausgestreckt wie ein Bettler, wartete mit ihren traurigen Augen, die denen eines Bettlers immer ähnlicher wurden … … in Einsamkeit und Furcht schnüffelte sie, wie er meinte, nach dem häßlichen Skelett, zu 44
dem ihre ehelichen Beziehungen nach dem Verlust sämtlicher Details eines normalen Lebens mittlerweile verkommen waren. Er drehte ihr seinen starken – oder eher sturen – Rükken zu und stellte sich schlafend. Eines Nachts, im Sommer, fühlte Ryōsuke im Schlaf die Lippen seiner Frau auf seinem Körper und versetzte ihr dafür eine Ohrfeige. »Schäm dich!« murmelte er wie schlaftrunken und langte ihr eine. Ohne Gefühlsregung, als schlüge er nach einer Stechmücke, die sich auf ihn gesetzt hatte. In jenem Sommer fing er an, Spaß daran zu finden, Etsukos Eifersucht zu schüren. Etsuko bemerkte bei ihrem Mann immer mehr Krawatten, die sie nie zuvor gesehen hatte. Eines Morgens stand er vor dem großen Spiegel und rief nach seiner Frau; sie möge ihm doch die Krawatte binden. Vor Freude und Furcht zitterten ihr die Finger, so daß sie die Krawatte nicht ordentlich binden konnte. Als sie fertig war, ging er gereizt etwas auf Distanz und sagte: »Na? Wie ist die? Schickes Muster, was?« »Ach ja, hab ich noch gar nicht bemerkt. Die ist offenbar neu! Hast du sie dir gekauft?« »Was ist? Was ziehst du für ein Gesicht? Tu nicht so, als hättest du’s nicht ohnedies bemerkt!« »Die steht dir gut.« »Mein ich doch auch.« Aus dem Schreibtisch von Ryōsuke lugte ein Taschentuch jener Frau hervor, als wäre es so beabsichtigt gewesen. Getränkt mit billigem Parfüm. Und etwas noch Widerwärtigeres, das im ganzen Haus einen lauchähnlichen Gestank verbreitete. Auf seinem Schreibtisch hatte er Fotografien einer Frau aufgestellt. Etsuko zündete jede einzelne mit einem Streichholz an und verbrannte sie alle, Stück für Stück. Darauf hatte es ihr Mann auch angelegt. »Wo sind meine Bil45
der?« fragte er, als er heimkam. Etsuko stand da, Arsentabletten in der einen, ein Glas Wasser in der anderen Hand. Er schlug ihr die Tabletten aus der Hand. Etsuko taumelte zurück und fiel über einen Spiegel, wobei sie sich auf der Stirn einen Schnitt zuzog. Unvorstellbar, wie rasend zärtlich ihr Gatte in dieser Nacht zu ihr war! Dieser launische Sturm, der nur eine Nacht lang währte! Welch erbärmliche Karikatur von Glück! Am selben Abend, an dem Etsuko abermals beschloß, Gift zu nehmen, kam ihr Mann nach Hause … … Zwei Tage später brach die Krankheit aus … … Zwei Wochen später war er tot. »Ich hab so Kopfweh; entsetzlich, wie mir mein Kopfweh tut«, sagte Ryōsuke schon beim Eingang, ohne Anstalten zu machen, hereinzukommen. Etsuko, die in diesem Augenblick neuerlich Gift hatte nehmen wollen, sah sich nun darin gestört und meinte, ihr Mann sei eigens heimgekommen, um sie zu quälen. Unter normalen Umständen hätte sie sich ärgerlicherweise gefreut über seine Rückkehr. Diesmal aber nicht. Die Hand an die Schiebetür gelegt, stand sie da und blickte kühl von oben herab auf ihren im dunklen Flur kauernden Mann und empfand Stolz, Stolz auf die Beute, die ihr der Köder Tod eingebracht hatte. Dennoch entging ihr, daß der Tod ihrem Bewußtsein bereits unversehens entglitten war. »Hast du getrunken?« Ryōsuke schüttelte den Kopf und sah flüchtig an ihr hoch – mit dem gleichen Hundeblick übrigens, den er an seiner Frau stets so verächtlich gefunden hatte. Ein niedergeschlagener, fiebriger, treuherziger Blick wie von einem Haustier, das nicht fassen kann, warum da plötzlich in seinem Körper eine Krankheit aufgetreten ist, und das stumm anklagend an sei46
nem Herrn emporsieht. Vermutlich beschlich Ryōsuke nun zum ersten Mal das beklemmende Gefühl, daß sich in seinem Körper etwas ihm Unverständliches anbahnte. Eine Krankheit, gewiß, aber eine, bei der es mit Kranksein allein nicht sein Bewenden hatte. Die nun folgenden sechzehn Tage waren – bei aller Kürze – die glücklichste Zeit in Etsukos Leben … … Die Flitterwochen und der Tod ihres Gatten – wie frappant sich die beiden kurzen Phasen ihres Glücks doch glichen! Nun brach Etsuko mit ihrem Gatten auf in das Reich des Todes. Enorme körperliche und seelische Strapazen bis zur Erschöpfung erwarteten sie, unstillbare Begierde und Qual – genau wie bei der Hochzeitsreise. Da lag er nun, ihr Gatte, mit nackter Brust, heimgesucht von Fieberwahn, genarrt von der taschenspielerischen Geschicklichkeit des Todes, stöhnend wie eine Braut. Wenige Tage vor dem Ende, als sich die Krankheit bereits in seinem Gehirn ausgebreitet hatte, setzte er sich bisweilen plötzlich auf, bewegte den Oberkörper wie bei gymnastischen Übungen, streckte seine ausgedörrte Zunge heraus, bleckte seine vom blutenden Zahnfleisch ziegelroten Schneidezähne und brach in lautes Gelächter aus. In ihrem Zimmer im zweiten Stock des Hotel »Atami«, am Morgen nach der Hochzeitsnacht, da hatte er auch so gelacht. Er hatte das Fenster geöffnet und auf den leicht welligen Rasen hinuntergeschaut. Da war eine deutsche Familie mit einem großen Windhund. Der fünf- oder sechsjährige Sohn wollte mit dem Hund Spazierengehen. In dem Moment sah der Hund eine Katze im Gebüsch verschwinden und setzte ihr augenblicklich nach. Vor Schreck vergaß der Junge, die Leine loszulassen und wurde mit dem Hintern über den Rasen geschleift. Bei diesem Anblick brach Ryōsuke in ein 47
spontanes, heiteres Gelächter aus. Bleckte die Zähne und lachte einfach drauflos. So aus vollem Hals hatte Etsuko ihn noch nie lachen sehen. Sie schlüpfte in ihre Pantoffel und stürzte zum Fenster. Der Rasen blitzte und funkelte im Morgenlicht, und aufgrund des raffiniert angelegten Neigungswinkels verschwamm die Grenze zwischen dem Garten und dem in der Ferne glitzernden Ozean. Anschließend begaben sie sich in die Lobby hinunter. An einer Säule befand sich ein Regal mit bunten Reiseprospekten, darüber die Aufschrift »ZUR FREIEN ENTNAHME«. Ryōsuke nahm sich einen und faltete daraus, während sie aufs Frühstück warteten, einen Flieger. Ihr Tisch stand an einem Fenster mit Blick auf den Garten. »Schau«, sagte er und ließ den Prospektflieger hinaussegeln Richtung Meer. Wie einfältig. Nicht mehr als eine seiner vielen kindischen Faxen, um die Aufmerksamkeit seiner Begleiterin zu erregen. Damals wollte Ryōsuke aber Etsuko wirklich eine Freude machen, seine Frischangetraute beeindrucken. Welch gradlinige Offenheit! Etsukos Familie verfügte noch über ein gewisses Vermögen. Ein Vermögen wie ein kompakter Haufen, der vom Vater und Etsuko zäh verteidigt wurde, den einzigen Überlebenden einer alten Familie, die von einem berühmten Heerführer der Bürgerkriegsepoche abstammte. Kriegsende. Vermögenssteuer. Der Tod ihres Vaters. Etsukos Vermögen schmolz zu einem lächerlich kleinen Aktienbündel. An jenem Morgen im Hotel »Atami« waren sie beide jedenfalls ein echtes Paar. So wie jetzt, neuerlich zusammengeschweißt durch das hohe Fieber von Ryōsuke. Was für einen reichen, vielschichtigen, brünstigen und absonderlichen Genuß ihr dieses so unerwartete, grausame Glück bedeutete, das Etsuko nun aufs neue beschieden war! Die Art und Weise, 48
wie sie ihren Gatten pflegte, hätte ein unbeteiligter Dritter aber nur schwerlich mit ansehen können. Es vergingen mehrere Tage, bis sich die Diagnose Bauchtyphus erhärtete. Ryōsuke hatte seinen Zustand längere Zeit für eine aberrante Form eines grippösen Katarrhs gehalten. Ungeachtet der anhaltenden Kopfschmerzen, der Schlaflosigkeit und des völligen Mangels an Appetit fehlten immerhin zwei charakteristische Symptome für das Frühstadium von Typhus: allmählicher Temperaturanstieg sowie die Unregelmäßigkeit von Puls und Körpertemperatur. In den ersten beiden Tagen traten Kopfschmerzen und körperliche Abgeschlagenheit auf, aber kein Fieber. Nachdem er abends überraschend heimgekommen war, ging er am darauffolgenden Tag nicht ins Büro. Diesen Tag brachte er eigentümlicherweise zur Gänze mit Aufräumen zu – wie ein Kind, das zum Spielen in eine fremde Wohnung gekommen ist. Seine fiebrige Mattigkeit ließ unerklärliche Angst in ihm hochsteigen. Etsuko kochte Kaffee und brachte ihn in sein sechs Tatami großes Zimmer. Da fand sie ihren Mann in seinem blau-weiß-gesprenkelten Hauskimono der Länge nach auf dem Boden liegen, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Wie prüfend biß er sich auf die Lippen: nicht geschwollen, aber ein Gefühl, als könnte es bald soweit sein. »Ich mag keinen Kaffee«, sagte er, als er Etsuko hereinkommen sah. Unschlüssig blieb sie stehen, und er sagte es noch einmal. »Zieh mir den Obi-Knoten nach vorn. Der drückt mich wie verrückt. Mir ist das zu mühsam.« Schon längere Zeit war es ihm unangenehm gewesen, wenn Etsuko ihn anfaßte. Nicht einmal ins Jackett helfen lassen wollte er sich von ihr. Was mochte wohl heute in ihn 49
gefahren sein? Etsuko stellte das Tablett auf dem Schreibtisch ab und kniete sich neben ihn. »Was treibst du denn da? Wie eine Masseurin!« sagte er. Etsuko schob ihre Hand unter ihm durch und zog den Knoten nach vorn. Ihr Mann machte keinerlei Anstalten, seinen Körper ein wenig anzuheben. Sein massiger, schwerer Rumpf drückte mit dem ganzen Gewicht auf Etsukos zarte Hand. Ihr Rist schmerzte. Dennoch tat es ihr leid, daß die ganze Prozedur nur wenige Augenblicke dauerte. »Wäre es nicht besser, gleich ins Bett zu gehen? Soll ich das Bett herrichten?« »Laß mich zufrieden. So ist es ganz angenehm.« »Wie ist das Fieber? Ist es inzwischen gestiegen?« »So wie vorher. Ganz normal.« Was sie jetzt tat, kam für sie selbst überraschend: Sie preßte ihrem Gatten die Lippen auf die Stirn, um seine Temperatur festzustellen. Er schwieg. Unter den geschlossenen Lidern bewegten sich träge seine Augäpfel. Die fette, graue Haut auf seiner Stirn … … richtig, die würde – charakteristisch für Typhus – ihre Fähigkeit zur Transpiration zunehmend einbüßen, austrocknen und zu einer brennend heißen Stirn werden, danach die Stirn eines Irrsinnigen … … und schließlich die tonfarbene Stirn eines Toten … … Am nächsten Tag kletterte die Temperatur ihres Mannes abends in kürzester Zeit auf 39° 8'. Er klagte über Kopfschmerzen und Kreuzweh. Ständig auf der Suche nach einer kühlen Stelle auf dem Kopfkissen bewegte er unausgesetzt den Kopf und beschmierte das Kissen mit Pomade und Schuppen. Von dieser Nacht an gab ihm Etsuko das Wasserkissen. Er konnte nur Flüssigkeit zu sich nehmen, und auch die nur mit Mühe. Etsuko schabte Äpfel, preßte sie durch ein Tuch, goß den Saft in eine Schnabeltasse und gab ihn ihrem 50
Mann zu trinken. Der Arzt, der am nächsten Morgen kam, sagte, es handle sich nur um Grippe. Auf diese Weise sah ich meinen Mann zu mir zurückkehren, wieder mir unter die Augen kommen. Als ob ich einem Stück Treibgut zusehen könnte, wie es vor meinen Knien angespült wird, beugte ich mich vor und begutachtete langsam und genau diesen seltsamen, gequälten Körper auf der Wasseroberfläche. Wie die Frau eines Fischers war ich jeden Tag am Strand gewesen, hatte ganz allein gelebt, gewartet. Und schließlich fand ich im stillen Wasser zwischen den Felsen an der Küste einen angeschwemmten Leichnam. Einen Leichnam, der noch atmete. Ob ich ihn gleich an Land gezogen habe? Nein, herausgezogen habe ich ihn nicht. Ich tat nichts anderes, als mich über das Wasser zu beugen und mit Hingabe, mit Leidenschaft, in schlafloser Anstrengung, ohne Pause einfach so zu verharren. Ich wachte also über diesem seltsamen, völlig vom Wasser umspülten Körper und wartete, ob er nochmals stöhnen würde, schreien und am Ende seinen heißen Atem aushauchen. Eines wußte ich: Falls dieses Stück Treibgut je wieder zu sich käme, würde es mich ohne jeden Zweifel augenblicklich verlassen und von der Flut hinweggetragen werden in eine endlose, weite Ferne. Ein zweites Mal würde es vielleicht nicht mehr zu mir zurückkehren. Ohne irgendeinen Zweck habe ich ihn aufopfernd gepflegt, aber wer weiß schon davon. Wer weiß schon, daß die Tränen, die ich über das Sterben meines Mannes vergoß, aus Gram geweint waren über den Abschied von jener Hingabe, die mir selber meine Stunden und Tage verzehrt hatte. Etsuko erinnerte sich an den Tag, an dem sie einen Wagen mit Fahrer mietete und ihren Mann in die Klinik eines befreundeten Internisten einlieferte. Und wie drei Tage später jene Frau, die von den Fotos damals, Ryōsuke im Kranken51
zimmer besuchen kam, wo ihr Etsuko ein heftiges Wortduell lieferte. Wie sie das denn ausbaldowert habe? Etwa von den Kollegen aufgeschnappt, die ihn besucht hatten? Ha, die haben es ja gar nicht wissen können! Oder hätten Weiber wie sie eine Hundenase, einen ganz feinen Riecher, mit dem sie sogar Krankengeruch wahrnehmen könnten? Sei sie auf die Art dahintergekommen? Noch eine andere erschien. Eine weitere Frau kam drei Tage hintereinander. Und wieder eine andere Frau tauchte auf. Bisweilen stießen die Frauen beim Weggehen zusammen und maßen einander verächtlich. Etsuko wollte keine Eindringlinge auf ihrer Insel für zwei. Das erste Telegramm nach Maiden schickte sie erst ab, nachdem ihr Mann seinen letzten Atemzug getan hatte. Es freute sie immer noch, wenn sie an den Tag dachte, an dem die Diagnose ihres Mannes endgültig feststand. Im zweiten Stock des kleinen Spitals gab es nur drei Zimmer nebeneinander, davor einen Korridor und auf der gegenüberliegenden Seite Fenster. Gewöhnliche Fenster mit Ausblick auf ein gewöhnliches Stadtviertel. Im Korridor roch es überall nach Kresol. Etsuko mochte diesen Geruch. Kaum nickte ihr Mann kurz ein, war sie schon im Korridor, ging auf und ab und inhalierte in vollen Zügen den Geruch dieses Desinfektionsmittels. Er war ihr lieber als die Luft von draußen. Krankheit und Tod sollte dieses Mittel durch seine purifizierende Wirkung abwenden, aber vielleicht wirkte es eher für das Leben als für den Tod. Warum sollte das nicht der Geruch von Leben sein? Er prickelte angenehm in der Nase wie frischer Morgenwind, diese strenge, grausame, medizinische Ausdünstung. Bereits seit zehn Tagen betrug das Fieber konstant 40° C. Etsuko saß neben dem von diesem Fieber gepeinigten Körper 52
ihres Mannes, aus dem dieses Fieber, das er in sich verschlossen hielt, zu entweichen suchte. Er keuchte und blähte die Nasenflügel wie ein Marathonläufer gegen Ende des Rennens. Hier, in seinem Bett, mutierte sein Dasein zu einem Körper in Bewegung, der mit voller Hingabe immer weiter und weiter lief. Etsuko, die feuerte ihn gewissermaßen an: »Weiter, noch ein bißchen! Noch ein bißchen!« Ryōsuke rollte die Augen nach oben, seine Finger langten nach dem Zielband, wollten es zerreißen. Doch kriegten sie nichts zu fassen als den Rand der Decke, unter der sich, wie in einem Heuhaufen, brütend die Hitze staute samt dem Geruch des Viehs, das darin geschlafen hatte. Bei der Morgenvisite kam der Chefarzt des Spitals und machte Ryōsuke die Brust frei. Sie hob und senkte sich heftig vom schweren Atem, die fieberheiße Haut hob sich dem tastenden Finger entgegen wie eine Fontäne heißen Wassers. Ist Krankheit nicht letztlich hochgeputschtes Leben? Der Chefarzt horchte Ryōsuke ab. Etsuko sah, wie das elfenbeinerne Stethoskop auf seiner Brust leichte, weiße Druckstellen hinterließ, und sobald das Blut zurückströmte, zeigten sich da und dort auf der Haut undurchsichtige, rosafarbene Pünktchen. »Was ist das denn?« fragte sie. »Das, hm … … «, erwiderte der Chefarzt mit einem leichten Anflug von Indignation, wenngleich nicht ohne Andeutung der Bereitschaft, der außerberuflichen Freundschaft willen volle Aufklärung geben zu wollen, » … … dabei handelt es sich um, äh, Masern … … später, ja? … … « Nach der Visite geleitete er Etsuko hinaus und sagte: »Es ist Typhus. Bauchtyphus. Endlich haben wir auch die Resultate der Blutuntersuchung. Wo hat er sich denn das geholt, der Ryōsuke? Mir hat er gesagt, daß er auf einer Geschäftsreise 53
Brunnenwasser getrunken hat. Ob es davon kommt? Naja, so schlimm ist es ja nicht. Wenn nur das Herz mitmacht, dann besteht keine Gefahr. Es handelt sich um eine eher seltene Form von Typhus, deshalb hat die Diagnose ein wenig auf sich warten lassen. Wir werden heute noch die nötigen Formalitäten erledigen und ihn morgen dann in eine Spezialklinik überweisen, die für solche Fälle auch eingerichtet ist. Wir haben hier ja nicht mal ein Isolierzimmer, nicht wahr.« Mit seinen trockenen Fingerknöcheln trommelte der Arzt an die Wand, wo Zettel mit Brandschutzvorschriften angeschlagen waren, und wartete, schon halb verdrießlich, darauf, daß diese von der Krankenpflege erschöpfte Frau mit den dunklen Ringen unter den eingefallenen Augen nun in ein Gezeter ausbrechen, ihm etwas vorjammern würde, wie: »Herr Doktor! Ich flehe Sie an! Bitte nicht von hier wegbringen, Herr Doktor! Eine Überweisung wäre der sichere Tod für diesen Patienten! Das Leben eines Menschen zählt mehr als Vorschriften! Herr Doktor! Bitte! Alles, nur nicht ins Isolierkrankenhaus! Haben Sie doch die Güte, Herr Doktor, und überweisen Sie ihn in die Isolierstation der Universitätsklinik! Bitte!« Mit deduktiver Neugier wartete der Herr Doktor auf solche oder ähnliche Ausbrüche aus Etsukos Mund. Etsuko hingegen schwieg. »Sie sind müde, nicht wahr?« sagte der Arzt. »Nein«, antwortete Etsuko auf eine Weise, die sich durchaus mit dem Beiwort »tapfer« belegen ließe. Etsuko fürchtete sich nicht vor Ansteckung. (Das mochte auch der Grund sein, vielleicht der einzige, warum sie bisher davon verschont geblieben war.) Sie kehrte zu dem Stuhl neben dem Bett ihres Mannes zurück und nahm ihre Strickerei wieder auf. Der Winter rückte näher, und sie strickte an einem Pullover für ihren Mann. In diesem Zimmer war es 54
vormittags ziemlich kalt. Sie schlüpfte mit einem Fuß aus ihrer Sandale und rieb eine Fußbeuge an der anderen. »Es steht schon fest, was ich habe, nicht? So ist es doch, oder?« Nur das fragte Ryōsuke, keuchend und in einem kindlichen Ton. »Ja.« Etsuko hatte sich erhoben, um seine vom Fieber ausgedörrten, rissigen Lippen mit einem feuchten Wattebausch abzutupfen. Sie ließ es aber nun sein und rieb kosend ihre Wange an der seinen. Die unrasierte Wange des Kranken brannte auf ihrer Wange wie heißer Strandsand. »Es ist alles in Ordnung. Deine Etsuko wird sich schon drum kümmern, daß du wieder gesund wirst. Mach’ dir keine Sorgen. Falls du stirbst, sterbe ich auch. (Wer sollte diese Heuchelei schon merken! Es gab ja keinen unbeteiligten Dritten als Zeugen, nicht einmal Gott, an den Etsuko nicht glaubte.) Aber das ist ja ohnedies völlig ausgeschlossen. Du wirst sicher wieder gesund, ganz sicher.« Frenetisch küßte Etsuko seine rissigen Lippen. Sie verströmten unausgesetzt heiße Luft wie eine Heizanlage. Mit ihren Lippen befeuchtete Etsuko die blutverschmierten Lippen ihres Mannes. Sie waren beinahe so stachelig wie Rosen. Ryōsukes Gesicht verzerrte und wand sich förmlich unter dem Gesicht seiner Frau. Etsuko merkte, wie sich der mit Gaze umwickelte Türgriff bewegte und die Tür einen Spalt weit aufging. Sie ließ von ihrem Mann ab. Es war eine Schwester, die Etsuko mit den Augen Zeichen machte. Etsuko ging in den Korridor hinaus. Ans Fenster gelehnt stand da eine Frau in langem Rock, darüber ein halblanges Pelzcape. Die Frau von den Fotos. Auf den ersten Blick hätte man sie fast für eine Eurasierin halten können. Ihre Zähne waren so 55
ebenmäßig, als wären sie gar nicht echt, ihre Nasenflügel edel geschwungen wie Fittiche. Sie hatte einen Blumenstrauß dabei, eingewickelt in nasses Paraffinpapier. Es klebte an ihren rot gelackten Fingernägeln. Etwas Rat- und Hilfloses war um diese Frau, sie sah aus wie ein Vierbeiner, der sich aufgerichtet hat und nun auf den Hinterbeinen zu gehen versucht. Sie mochte an die Vierzig sein. Etwa in dem Alter, in welchem plötzlich Krähenfüßchen und Augenfältchen hervorgehüpft kommen wie Soldaten aus einem Hinterhalt. Sie sah jedoch aus wie fünfundzwanzig oder sechsundzwanzig. »Guten Tag«, sagte die Frau. Ein leichter Akzent war in ihrer Sprache spürbar, ließ sich aber nicht einordnen. Etsuko vermutete, daß das Wesen solcher Frauen auf die einfältigeren unter den Männern exotisch wirkte. Das war sie, die Frau, wegen der sie so gelitten hatte. Es fiel ihr schwer, die Qualen der Vergangenheit und die gegenwärtig anwesende Verkörperung ihrer Ursachen rasch auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Ihre Pein war bereits so weit ausgereift (eine etwas sonderbare Formulierung vielleicht), daß sie sich verselbständigt hatte, zu etwas geworden war, das mit der konkreten Realität hier nichts mehr zu tun hatte. Diese Frau glich einem kariösen Zahn – einem gezogenen: Auch der schmerzt nicht mehr, wie ein Kranker, der all die unbedeutenden kleinen Krankheiten hinter sich hat und sich der Krankheit zum Tode gegenübersieht, so empfand Etsuko es nun als feige Schlamperei, eine solche Frau für die Ursache ihres Leidens gehalten zu haben. Eine Visitenkarte mit einem Männernamen in der Hand behauptete die Frau nun, sie komme in Vertretung ihres Mannes. Auf der Karte stand der Name eines Aufsichtsrates in Ryōsukes Firma. Angesichts der Schwere der Krankheit, gab ihr Etsuko zu verstehen, bestehe Besuchsverbot, sie könne 56
sie nicht ins Krankenzimmer führen. Etwas wie ein Schatten huschte über die Miene der Frau. »Aber mein Mann hat mich ausdrücklich gebeten, den Patienten zu treffen, um mich persönlich davon zu überzeugen, wie es ihm geht.« »Mein Mann ist derzeit nicht in der Lage, jemanden zu treffen.« »Es würde meinem Mann schon genügen, wenn ich einen Blick auf den Kranken werfen dürfte.« »Sollte Ihr Herr Gemahl sich hierherbemühen, würde ich ihm das ermöglichen.« »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst? Ich meine, mein Mann darf hinein und ich nicht? Das hört sich ja beinahe so an, als hätten Sie irgendeinen Verdacht.« »Also gut, niemand darf hinein. Ist Ihnen das recht?« »Sonderbar, wirklich sehr sonderbar, die Art, wie Sie reden. Sind Sie seine Frau? Sind Sie die Frau von Ryōsuke?« »Keine Frau außer mir hat das Recht, meinen Mann ›Ryōsuke‹ zu nennen.« »Ach, seien Sie doch nicht so. Lassen Sie mich bitte zu ihm. Ich bitte Sie herzlich darum. Hier – nichts Besonderes, nur als kleiner Zimmerschmuck.« »Vielen Dank.« »Gnädige Frau, haben Sie doch bitte die Güte und erlauben Sie, daß ich ihn sehe. Wie geht es ihm denn? Es ist doch hoffentlich nichts Ernstes?« »Niemand weiß im Augenblick, ob er sterben wird oder durchkommt.« Der Hohn, mit dem Etsuko das sagte, erschütterte die Frau. Sie ließ ihre Haltung fahren und sagte drohend: »Also gut, dann geh ich einfach rein!« »Bitte, wie Sie wollen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, 57
kommen Sie ruhig weiter«, sagte Etsuko und wandte sich um. »Wissen Sie übrigens, was mein Mann hat?« »Nein.« »Typhus.« Abrupt blieb die Frau stehen und wechselte die Farbe. »Typhus?« wisperte sie. Zweifellos eine ungebildete Frau. Reagierte entgeistert wie ein Haustrampel auf das bloße Wort ›Lungenkrankheit‹. Nicht viel, und sie hätte sich vielleicht noch bekreuzigt! Ausländerflittchen! Was trödelte die denn noch rum hier. Etsuko öffnete ihr freundlich die Tür. Daß die Frau so entsetzt reagierte, freute sie diebisch. Sie rückte den Stuhl am Kopfende des Bettes noch ein wenig näher zum Kranken und lud die Frau ein, Platz zu nehmen. Notgedrungen kam die Frau ängstlich und zögernd ins Zimmer. Daß ihr Mann mit ansehen mußte, wie sich diese Frau fürchtete, bereitete Etsuko unsägliches Vergnügen. Die Frau zog ihr Cape aus, wußte aber nicht gleich, wohin damit. Wo Bazillen waren, lauerte Gefahr. In Etsukos Händen selbstverständlich auch. Zweifellos kam sie mit den diversen Ausscheidungen ihres Gatten in Berührung. Am sichersten war wohl, das Cape gar nicht auszuziehen. Sie hängte es sich wieder um die Schultern. Dann zog sie den Stuhl ganz weit weg und setzte sich hin. Etsuko las ihrem Mann den Namen auf der Visitenkarte vor. Ryōsuke blickte die Frau kurz an und verharrte schweigend. Die Frau schlug ihre Beine übereinander. Sie war nun sehr bleich und sagte auch nichts. Etsuko stand hinter ihr und beobachtete aufmerksam ihren Mann. Wie eine Krankenschwester stand sie da. Eine Sorge machte ihr zu schaffen: Was ist, wenn mein Mann diese Frau überhaupt nicht liebt? Alle meine Qualen – für nichts und wie58
der nichts. Dann haben mein Mann und ich uns ein lächerliches Theater vorgemacht. Meine Vergangenheit war nichts als ›SoloSumo‹, ein Kampf ohne Gegner. Wenn nicht wenigstens eine Spur von Liebe zu dieser Frau in seinen Augen aufglänzt, dann ist es aus mit mir. Wie aber, wenn mein Mann weder diese Frau geliebt hat noch die anderen drei, die ich nicht hereingelassen habe? Ah, nicht auszudenken! Jetzt, nach alldem, ein solcher Ausgang, entsetzlich! Seinen Blick noch immer nach oben gerichtet, verschob Ryōsuke sein Federbett. Es war vorher schon am Herunterfallen gewesen. Nun zog Ryōsuke ein Knie an, wodurch das Federbett langsam nach der Seite jener Frau hin aus dem Bett zu gleiten begann. Die Frau zog ihre Knie ein wenig an, machte aber keine Anstalten, auch nur die Hand auszustrekken. Rasch eilte Etsuko herbei und brachte das Bett in Ordnung. Während dieser kurzen Augenblicke wandte Ryōsuke der Frau sein Gesicht zu. Etsuko, die sich gerade am Federbett zu schaffen machte, konnte das nicht sehen. Aber intuitiv wußte sie, daß ihr Mann und diese Frau jetzt eben Blicke getauscht hatten. Und zwar verächtliche. Dieser Mann, mit seinem hohen Fieber. Er hatte ihr mit den Augen zugezwinkert und sie angelächelt. Eigentlich war es eher unterschwellige Wahrnehmung als Intuition: An einer leichten Bewegung seiner Wangen hatte sie bemerkt, was vorging. Sie hatte es bemerkt und empfand darüber eine Art von Erleichterung, die sich üblichem Verständnis entzieht. »Aber du wirst es schaffen, ganz sicher. Dein Herz ist sehr stark, an dich kommt keiner ran«, stieß die Frau plötzlich impulsiv heraus. Ryōsuke stieg ein zärtliches Lächeln in sein bärtiges Ge59
sicht (wann hatte er jemals seine Frau so angelächelt?), und schwer atmend sagte er: »Schade, daß ich dir diese Krankheit nicht anhängen kann. Du würdest sie eher überstehen als ich.« »Also, das ist ja unerhört!« Zum ersten Mal blickte die Frau Etsuko an und lachte. »Ich, ich übersteh’s nicht«, wiederholte Ryōsuke. Eine lastende Stille folgte. Plötzlich lachte die Frau zwitschernd auf. Wenige Minuten später ging sie. In dieser Nacht setzten bei Ryōsuke Bewußtseinsstörungen ein. Die Typhuserreger griffen das Gehirn an. Im Wartezimmer unten plärrte laute Radiomusik. Wilde Jazzmusik. »Ich halt das nicht aus. Hier liegt ein Schwerkranker, und da unten der Lärm aus diesem Scheißradio … … «, brachte Ryōsuke gerade noch heraus. Er hatte rasende Kopfschmerzen. Um den Patienten nicht zu blenden, war die Glühbirne im Zimmer mit einem Tuch umwickelt. Etsuko hatte gar nicht erst die Schwester darum gebeten, sondern war selbst auf den Stuhl gestiegen und hatte ihr Musselin-Tragetuch um die Lampe gewickelt. Der Effekt war, daß die Lampe ungesunde, grasgrüne Schatten auf das Gesicht des Patienten warf. Die blutunterlaufenen Augen in seinem grünlich schimmernden Gesicht waren nun voll Wut und Tränen. »Ich geh runter und sag denen, sie sollen abdrehen«, sagte Etsuko, legte ihre Strickerei weg und stand auf. Sie ging bis zur Tür, als hinter ihr entsetzliches Stöhnen ausbrach. Ein Schrei wie von einem Tier, das niedergetrampelt wird. Etsuko fuhr herum. Ryōsuke hatte sich im Bett aufgesetzt und hielt mit beiden Händen seine Decke fest wie ein kleines Kind. Unausgesetzt starrten seine Augen die Tür an. 60
Die Schwester hatte das Schreien gehört und kam ins Zimmer. Zu zweit legten sie Ryōsuke wieder um wie einen Klappstuhl und verstauten seine Arme unter der Decke. Stöhnend ließ es der Kranke über sich ergehen. Nach einer Weile begann er wild die Augen zu rollen und schrie: »Etsuko! Etsuko!« Alle und jeden Namen hätte er rufen können, und doch wählte er just diesen einen. Nicht weil er das wollte, sondern weil sie es war, die das wollte. Sie hatte sich zur der wunderlichen Überzeugung verstiegen, daß er, wenn er diesen Namen rief, quasi eine Vorschrift befolgte, daß sich das so gehörte. »Sag das bitte noch einmal«, sagte sie. Die Schwester war den diensthabenden Arzt holen gegangen und nicht mehr im Zimmer. Etsuko beugte sich über seinen Oberkörper und schüttelte ihn, als wolle sie ihm ein Geständnis abringen. Daraufhin stöhnte er nochmals: »Etsuko! Etsuko!« Spät nachts begann er plötzlich zu brüllen: »Ganz schwarz! Ganz schwarz! Ganz schwarz! Ganz schwarz!« und anderes wirres Zeug. Dann sprang er aus dem Bett und fegte die Medikamentenfläschchen und das Trinkglas vom Tisch. Der Boden war übersät mit Splittern, auf denen er barfüßig herumlief und sich die Füße blutig schnitt. Drei Männer samt dem Hausdiener mußten kommen, um ihn zu bändigen. Am nächsten Tag bekam Ryōsuke eine Beruhigungsspritze und wurde auf einer Tragbahre in einen Krankenwagen geschafft. Ein Körper von 17 kan * ist in der Tat keine Kleinigkeit. Zu allem Übel regnete es. Den ganzen Weg von der Eingangstür des Gebäudes bis zum Haupttor der Anstalt, wo der Wagen wartete, hielt Etsuko schützend einen Regenschirm über ihn. 61
Das Isolierkrankenhaus. Welche Freude für Etsuko, als sich das häßliche Gebäude jenseits einer Überführung, die ihre Schatten auf die schmale, mit Schlaglöchern übersäte Straße warf, langsam aus dem Regen schob! Das Leben auf einer einsamen Insel, ihr Ideal, das Leben, von dem sie immer geträumt hatte – endlich nahm es konkrete Formen an. Niemand würde imstande sein, ihnen bis da hinein zu folgen. Gelebt wurde hier nur für eins: Widerstand gegen Krankheitserreger. Unablässige Lebensbejahung, brutale, rücksichtslose Lebensbejahung ohne Bedacht auf Anschein und Eindruck, jede Sekunde durch Fieberwahn, Inkontinenz, blutigen Stuhl, Erbrechen, Durchfall, Gestank aufs neue herausgeforderte Lebensbejahung jenseits Legalität oder Moral; wo es zuging wie auf einer Gemüseauktion, nur daß hier – statt wie dort von den Händlern die Preise – ununterbrochen geschrien werden mußte »ich lebe noch! ich lebe noch!«. Oder wie an einer emsigen Haltestelle, an der Leben kam und Leben ging, abfuhr und ankam, Fahrgäste aussteigen ließ und einsteigen; wo einer Masse beweglicher Körper ein und dieselbe Daseinsform aufgebürdet und zur gemeinsamen Identität wurde: die Seuche; wo der Wert eines Menschen dem einer Bazille oft so nahe kam, daß beinahe eins aufs andere hinauslief und Krankheitserreger zum gemeinsamen Begriff, zum Inbegriff schlechthin von Patient wie Pflegepersonal wurden; zum Inbegriff ebendieses Lebens um seiner selbst willen, ohne sonstigen Zweck; und weil Leben hier lediglich ein Dasein bedeutete, das gerade noch als solches gelten durfte, deshalb existierte hier auch kein kleinliches Wollen oder Habenwollen mehr. Hier herrschte Glückseligkeit – Glückseligkeit, diese verderblichste aller Speisen, und das in ihrer allerverderblichsten, nicht mehr genießbaren Form. 62
Etsuko lebte inmitten von Gestank und Tod, als sei sie geradezu versessen darauf. Ihr Mann war nicht mehr imstande, seine Ausscheidung zu kontrollieren, am Tag nach seiner Ankunft hatte er Blut im Stuhl – die gefürchteten Darmblutungen waren eingetreten. Trotz des unverändert hohen Fiebers verlor er weder an Gewicht noch verschlechterte sich seine Gesichtsfarbe. Im Gegenteil: auf seiner harten, armseligen Liegestatt lag er da, glänzend, rosig und pummelig wie ein Neugeborenes. Auch hatte er keine Kraft mehr zum Toben. Matt hielt er sich mit beiden Händen den Bauch oder strich sich über die Brust, spreizte tolpatschig vor seiner Nase die Finger und roch daran. Was Etsuko betrifft, so bestand sie nur noch aus Blick und aus Starren. Ihre Augen hatten das Schließen verlernt, waren wie zwei Fenster, die nichts anderes mehr konnten als gnadenlos offenstehen, mochte Sturm kommen oder Regen. Die Krankenschwestern wunderten sich über den förmlichen Fanatismus, mit dem sie ihren Mann pflegte: an der Seite dieses halbnackten, nach Stuhl und Urin stinkenden Kranken gönnte sie sich nicht mehr Ruhe als höchstens ein bis zwei Stunden am Tag, während denen sie mehr döste als schlief. Selbst dann träumte sie, daß ihr Mann, der von ihr weg in einen tiefen Abgrund geschleift wurde, ihren Namen rief, worauf sie unverzüglich erwachte. Als letztes Mittel empfahl der Arzt eine Bluttransfusion. Allerdings nicht ohne den – wenn auch verblümten – Hinweis, daß die wohl nicht wirklich was bringen würde. Immerhin bewirkte die Transfusion, daß Ryōsuke merklich ruhiger wurde und längere Zeit durchschlief. Eine Schwester kam mit der Rechnung, und Etsuko ging mit ihr hinaus in den Korridor. 63
Draußen wartete ein blasser Junge mit einer Sportmütze. Als er ihrer ansichtig wurde, zog er schweigend die Mütze und machte eine Verbeugung. Über dem linken Ohr hatte er eine kleine kahle Stelle, er schielte ein wenig, und seine Nase war auffallend dünn. »Willst du etwas von mir?« fragte Etsuko. Der Junge aber spielte bloß mit seiner Mütze, machte mit seinem rechten Fuß kreisende Bewegungen auf den Dielenbrettern und gab keine Antwort. »Ach, das da, nicht?« sagte Etsuko und zeigte ihm die Rechnung. Der Junge nahm das Geld in Empfang und ging. Etsuko blickte auf seine Jacke mit dem schmutzigen Rücken und dachte, daß das Blut, das nun in Ryōsukes Körper zirkulierte, das Blut dieses Jungen war. Das kann ihm ja nicht helfen! Blutspenden lassen müßten sie einen Mann, der mehr überschüssiges Blut hat. Das Blut eines solchen Jungen zu verkaufen war wirklich das Letzte. Noch dazu einem Mann, der welches übrig hatte! Unversehens waren Etsukos Gedanken wieder bei ihrem kranken Ryōsuke. Sein überschüssiges Blut, sein verseuchtes, das sollten sie verkaufen! An Gesunde … … Dann würde Ryōsuke gesund und die Gesunden würden krank. … … Und die städtischen Mittel für das Isolierkrankenhaus würden zweckdienlich eingesetzt. … … Aber das geht ja nicht, daß Ryōsuke gesund wird. Wenn er gesund wird, macht er sich wieder dünn, haut er wieder ab. … … Etsuko spürte, daß sich ihre Gedanken wachtraumartig trübten. Als wäre mit einem Mal die Sonne untergegangen, lag alles wie im Dämmerlicht. Die Fenster zeigten eine Reihe gleicher Ansichten: schneeweiß bewölkter Abendhimmel. … … Dann brach Etsuko im Korridor zusammen und verlor das Bewußtsein. Obwohl es sich nur um eine leichte Blutleere im Gehirn 64
gehandelt hatte, bestand der diensthabende Arzt auf einer längeren Ruhepause. Nachdem sie dieser Anordnung vier Stunden lang nachgekommen war, erschien eine Schwester und teilte ihr mit, daß es mit Ryōsuke zu Ende gehe. Seine Lippen schienen irgendwelche Worte in den Sauerstoffinhalator zu sprechen, den ihm Etsuko mit den Händen aufs Gesicht gedrückt hielt. Was mochten die unhörbaren Worte zu bedeuten haben, die ihr Mann mit solcher Intensität – und dabei geradezu fröhlich – ununterbrochen vor sich hin sprach? Ich hielt den Inhalator so fest ich konnte. Am Ende wurden mir die Hände steif und die Schultern gefühllos. Ich schrie förmlich: ›Bitte ablösen, schnell!‹ Die Schwester erschrak und übernahm für mich den Inhalator. Eigentlich war ich gar nicht müde oder so. Ich hatte bloß Angst. Angst wegen der unhörbaren Worte, die mein Mann irgend jemand, irgend etwas Unbekanntem gegenüber von sich gab. Kann auch sein, daß es meine Eifersucht war oder auch die Angst vor meiner Eifersucht, ich weiß es nicht. Wäre ich eine von denen, die imstande sind, die Beherrschung zu verlieren, hätte ich vielleicht losgeschrien: ›Stirb schon endlich! Stirb schon endlich.‹ Beweist das denn nicht auch mein haßerfüllter Blick, den ich den beiden Ärzten nachschickte, als sie sich, da sein Herz ohne Anzeichen für einen bevorstehenden Stillstand unvermindert weiterschlug, spät nachts schlafen legten und einander im Weggehen zuflüsterten: ›Wer weiß, vielleicht schafft er’s doch noch‹? Mein Mann starb und starb nicht. Diese Nacht, sie ist die letzte Auseinandersetzung zwischen mir und meinem Mann gewesen. Damals kamen mir die Chancen auf ein gemeinsames Glück im Falle seiner Genesung fast so gut vor wie der Gesundheitszustand meines Mannes zu diesem Zeitpunkt. Wenn mir also weniger an einem solch aussichtslosen Glück gelegen war als in einem flüchtigen 65
Glückserleben des Augenblicks, dann bot mir die Sicherheit seines Sterbens eher die Möglichkeit dazu als das unwahrscheinliche Weiterleben meines Mannes. Hier angelangt, waren meine Hoffnungen, die ich in sein von einem Augenblick zum nächsten währendes Leben setzte, und die Erwartung seines Todes letztlich ein und dasselbe. Aber der Körper meines Mannes will weiterleben. Er will mich hintergehen. Vielleicht ist das die Krise, läßt der Arzt Hoffnung durchschimmern. Wieder überkommt mich die Eifersucht. Auf die Rechte, die Ryōsukes Gesicht hält, fallen Tränen. Die Linke jedoch versucht ein ums andere Mal, ihm den Inhalator vom Mund zu nehmen. Die Schwester ist auf dem Stuhl eingenickt. Die Nachtluft wird kälter. Draußen vor dem Fenster sieht man die Signale des Bahnhofs Shinjuku, kreisende Neonreklamen. Schneidendes Pfeifen von Zügen und das leise Mahlen der Räder vermischen sich mit dem Hupen anfahrender Automobile. Mit einem gestrickten Schultertuch schütze ich mich vor der Kälte, die mir langsam in den Nacken kriecht. Wenn ich jetzt den Inhalator wegziehe, würde niemand etwas bemerken. Kein Mensch hier, der es sehen könnte. An andere als menschliche Zeugen glaube ich nicht. Dennoch – ich brachte es nicht fertig. Meine Hände hielten den Inhalator weiter abwechselnd bis zum Morgen. Daß ich es nicht fertigbrachte, wird wohl auf so manche Einflüsse zurückzuführen gewesen sein. Liebe vielleicht? Nein, ganz bestimmt nicht. Meine Liebe hoffte viel eher auf seinen Tod. Vernunft? Die auch nicht. Meiner Vernunft genügte es festzustellen, daß es keine Zeugen gab. Feigheit? Ich und feige! Ich fürchtete mich doch nicht einmal vor einer eventuellen Ansteckung durch Typhus! Jedenfalls weiß ich bis heute nicht, worin diese Einflüsse bestanden haben mochten. Knapp vor Tagesanbruch, als die Kälte der Nacht ihren Höhepunkt erreichte, wurde mir allerdings klar, warum es dieses Schrittes gar nicht bedurft hätte. Der Himmel war bereits grau. Die Wolken66
haufen, die mit dem Heraufbrechen der Morgendämmerung aufzuglühen gehabt hätten, begnügten sich vorerst damit, dem Himmel einen Anstrich finsterer Schroffheit zu verleihen. Plötzlich wurde der Atem von Ryōsuke extrem unregelmäßig. Wie ein satt getrunkener Säugling sein Gesicht abrupt von der Brust abwendet, so wandte Ryōsuke sein Gesicht vom Inhalator ab. Als ob plötzlich ein Faden gerissen wäre. Ich war nicht überrascht. Ich legte den Inhalator neben das Kopfkissen und zog den Handspiegel hervor, der in meinem Obi steckte. Es war ein altertümlicher Spiegel, hinten mit rotem Brokat überzogen. Ein Geschenk meiner Mutter, die starb, als ich noch ziemlich klein war. Ich hielt ihn meinem Mann vor den Mund, doch er beschlug nicht. Rein und klar spiegelten sich seine bartumrahmten Lippen, aufgeworfen, wie schmollend, als wolle er sich über etwas beschweren. Hatte sich Etsuko nicht deshalb dafür entschieden, die Einladung Yakichis nach Maiden anzunehmen, weil sie eigentlich ins Isolierkrankenhaus wollte? War sie nicht hierher gekommen, um quasi ins Isolierkrankenhaus zurückzukehren? Dieses Fluidum der Familie Sugimoto, das Etsuko mit unsichtbaren Ketten fesselte, sich unaufhaltsam in ihre Seele fraß, das war doch, je länger, desto mehr, das Isolierkrankenhaus schlechthin. Die Nacht, in der Yakichi zu Etsuko ins Zimmer kam, um sich von ihr seine Arbeitskluft ausbessern zu lassen, war mit Sicherheit Mitte April gewesen. In jener Nacht hielten sich Etsuko, Kensuke und seine Frau Chieko, Asako und ihre zwei Kinder, Saburō und Miyo, die Dienstmagd, in der acht Tatami großen Arbeitsstube auf und klebten, wenn auch ein wenig später als in anderen Jahren, emsig Papiertüten für die Biwas. Sonst hatten sie immer Anfang April mit dem Tütenkleben begonnen, dieses Jahr aber 67
waren sie ein wenig hinterher, weil die Bambussprossen außergewöhnlich geraten waren und ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht hatten. Stülpt man den Biwas nicht Papiertüten über, solange sie ungefähr fingerkuppenlang sind, werden sie von Rüsselkäfern befallen, die ihnen den Saft aussaugen. Um diese Tausende von Papiertüten anzufertigen, stand also in der Mitte ein Topf mit Kleister, jeder hatte neben sich einen Stapel alter Illustriertenseiten auf dem Boden liegen, und nun wurde um die Wette geklebt, so daß auch für einen allenfalls ins Auge springenden Artikel keine Zeit zum Schauen blieb, denn wer einmal ins Hintertreffen geraten war, der schaffte es nicht mehr, die anderen einzuholen. Eine Attraktion besonderer Art stellte bei dieser nächtlichen Tätigkeit das griesgrämige Gesicht von Kensuke dar, der ständig etwas zu räsonieren hatte: »Das geht mir vielleicht auf die Nerven. Die reinste Sklavenarbeit. Wie komme ich überhaupt dazu. Der Alte hat sich garantiert schon aufs Ohr gelegt. Seilt sich einfach ab. Versteh nicht, wieso ihr euch das alle so ruhig gefallen laßt. Wie war’s zur Abwechslung mal mit einer Revolte? Wenn wir nicht zumindest eine Lohnerhöhung fordern, wird der Alte nur noch arroganter. Wie ist es, Chieko, sollen wir fürs erste mal eine Erhöhung ums Doppelte verlangen? Aber mein Lohn ist ohnedies null, somit bekäme ich auch bei einer Erhöhung ums Doppelte nicht mehr als vorher. Ha, hört euch mal das an: ›Gelassenheit der japanischen Bevölkerung gegenüber Aufstand in Nordchina‹ steht da. Junge, Junge! Und auf der Rückseite: ›Menüplan für jahreszeitgemäßes Kochen in Krisenzeiten‹ … … « Durch sein Gelaber schaffte Kensuke nicht mehr als ein, zwei Tüten in der Zeit, in der andere zehn fertigbrachten. Gelegentlich aber dürfte dieses Räsonieren vermutlich bloße 68
Spiegelfechterei gewesen sein, um zu vertuschen, was auch alle anderen wußten: wie lebensuntüchtig er eigentlich war. Durch sein Geschwafel machte er lieber von vornherein auf Spaßmacher, als unfreiwillig zum Hampelmann zu werden. In den Augen von Chieko, welche in puncto Streiten ehrenvolle Ebenbürtigkeit für sich in Anspruch nahm und zu ihrem Mann mit aufrichtigem Respekt hochblickte, erschien es hingegen wie heldenhafter Zynismus. Aus der tiefen Einsicht heraus, daß der Groll ihrem Schwiegervater gegenüber durchaus im Einklang stand mit der landläufigen Auffassung davon, was das gebührliche Empfinden einer ihrem Gatten zugetanen Ehefrau sei, stand sie diesem in der abgrundtiefen Verachtung ihres Schwiegervaters mit vollster Überzeugung zur Seite. Etsuko sah, mit welch zuvorkommender Liebenswürdigkeit diese geniale Frau nicht nur ihren eigenen Anteil an Tüten erledigte, sondern flugs und unauffällig auch den ihres Gatten, und konnte ein leises Lächeln nicht unterdrükken. »Du bist aber schnell, Etsuko«, sagte Asako. »Zwischenstand«, sagte Kensuke und zählte, wie viele Tüten jeder gemacht hatte. Etsuko lag mit dreihundertachtzig an der Spitze. Asako hatte für so etwas kein Gespür, Saburō und Miyo nur argloses Staunen. Kensuke und seiner Frau jedoch kam Etsukos Fertigkeit ein ganz klein wenig unheimlich vor. Vor allem Kensuke betrachtete die schiere Zahl als einen Ausdruck von Lebenstüchtigkeit, aber auch als massiven Vorwurf und konnte sich einen sarkastischen Seitenhieb nicht verkneifen: »Mensch, die einzige hier, die sich glatt mit Tütenkleben durchschlagen könnte, ist Etsuko.« Worauf Asako, die das wörtlich nahm, fragte: »Du hast wirklich schon mal als Tütenkleberin gearbeitet, Etsuko?« 69
Etsuko verabscheute das in kleinlich provinzieller Weise auf Standesdünkel gestützte Klassendenken dieser Leute, ihre gemeinen Vorurteile. Als Nachfahrin eines berühmten Heerführers der Bürgerkriegsepoche fand sie diese Emporkömmlingsmentalität schlicht inakzeptabel. Gezielt verkehrt herum kam ihre Erwiderung: »Ja, habe ich.« Kensuke und Chieko tauschten Blicke. Diese Nacht würde ihre Bettkonversation mit großer Sorgfalt die Abstammung dieser vornehmtuenden, auf den ersten Blick scheinbar so harmlosen Etsuko durchhecheln. Zu diesem Zeitpunkt zollte Etsuko der Existenz von Saburō nichts, was den Namen Aufmerksamkeit verdient hätte. Nicht einmal sein Aussehen hätte sie sich in Erinnerung rufen können – logischerweise, da er ja kein Wort redete, allenfalls über das leere Gewäsch der Familienmitglieder seines Dienstherren schmunzelte und sich ansonsten nur emsig abmühte, mit seinen unbeholfenen Fingern Tüten zu kleben. Über seinem mit Flicken bedeckten Hemd, das er gewöhnlich anhatte, trug er ein altes, viel zu weites Jackett von Yakichi sowie neue khakifarbene Hosen; wegen des schwachen Lichts saß er im Kniesitz, mit vorgebeugtem Oberkörper da. Bis vor acht oder neun Jahren hatte man im Sugimotoschen Haushalt Blanchard-Lampen verwendet. Die gaben mehr Licht, erzählten diejenigen, die sich an früher erinnerten. Aber seit hier elektrisches Licht eingeführt wurde, hätten sie zwar Hundert-Watt-Birnen, müßten sich aber mit einer Stromleistung von nicht mehr als etwa vierzig Watt begnügen; und das Radio, das man zumindest nachts hätte empfangen können müssen, war unter bestimmten Wetterbedingungen gar nicht reinzukriegen. Übrigens, daß sie überhaupt nicht aufgepaßt hätte, 70
stimmt gar nicht. Während sich Etsuko mit ihren eigenen Tüten befaßte, wurde sie öfter durch Saburōs Unbeholfenheit abgelenkt. Seine dicken, schlichten Finger irritierten sie. Sie blickte in die Runde: Chieko half ihrem Mann kleben. Dann wäre doch an sich nichts dabei, wenn sie dafür Saburō half. Da bemerkte Etsuko erleichtert, daß ihm ohnehin Miyo, die neben ihm saß, zur Hand ging, sobald sie mit ihrem Teil fertig war. Damals fühlte ich mich erleichtert. Richtig, keine Spur von Eifersucht oder so. Nur leichte Genugtuung, weil ich eine Belastung los war. Von da an nahm ich mir vor, nicht zu Saburō hinzusehen. Das bereitete mir insofern auch gar keine Mühe, als mein Schweigen, meine gebeugte Haltung, mein Elan usw. unwillkürlich, auch ohne zu ihm hinzusehen, Saburōs Schweigen, seine gebeugte Haltung, seinen Elan usw. nachahmten. Aber nichts ereignete sich. Elf Uhr. Alle zogen sich in ihre Zimmer zurück. Was ging diese Nacht in Etsuko vor, als sie über ihrer Näharbeit saß und Yakichi um ein Uhr in ihr Zimmer kam, seine Pfeife schmauchend, und fragte, wie sie denn schlafe? Die Ohren des alten Mannes, Nacht für Nacht auf Etsukos Schlafzimmer gerichtet, die ganze Nacht hindurch gespannt hinüberlauschend in ihre Kammer auf der anderen Seite des Flurs, um jedes noch so feine Anzeichen von Schlaf oder Wachen einzufangen … … Ohren, die wie ein verlassenes Tier, einsam, mit angehaltenem Atem schlaflos lauschten, während alle in tiefem Schlummer lagen – daß es diese Ohren gab, daß sie da waren, erweckte in Etsuko unversehens das anheimelnde Gefühl von Vertrautheit. Gleichen die Ohren der Alten nicht makellos reinen Muschelschalen, erfüllt mit lauterster Weisheit? Der tierähnlichste Teil des menschlichen Kopfes, die Ohren, gelten im Falle der Alten als Verkörpe71
rung der Klugheit. War das der Grund, warum Etsuko Yakichis übertriebene Aufmerksamkeit nicht nur als widerwärtig erlebte? Fühlte sie sich von Scharfsinnigkeit umhegt, geliebt? Nun ja, solch schönfärberische Namengebungen sind wohl nicht mehr als überdrehte Spitzfindigkeiten. Yakichi stand hinter Etsuko. »Was denn, was denn!« sagte er, als er den Abreißkalender am Türbalken sah. »So unordentlich? Das ist ja noch die Vorwoche!« Etsuko wandte sich ein wenig um: »Oh, Verzeihung.« »Ein Grund für ›oh, Verzeihung‹ ist es ja nun wieder nicht«, gab er jovial zurück, und man hörte, wie ein Blatt nach dem anderen abgerissen wurde. Das Geräusch hielt inne. Im selben Augenblick fühlte sich Etsuko um die Schulter genommen und spürte gleichzeitig, wie sich Finger, dünn und kalt wie Bambusstäbe, von oben her in ihren Ausschnitt schoben. Sie machte eine schwache Abwehrbewegung, gab jedoch keinen Laut von sich. Nicht daß sie hätte schreien wollen, aber nicht können; sie schrie eben nicht. Wie ließe sich die Haltung Etsukos in diesem Augenblick erklären? Als defätistisch, liederlich, träge? Nahm sie alles in Kauf wie ein Durstiger, der auch trübes Wasser trinkt, auf dem Rost schwimmt? Ausgeschlossen. Etsuko war kein bißchen durstig. Sie war plötzlich total wunschlos. Als wäre sie nur deshalb nach Maiden gekommen, um auf diesem Weg wieder zum Isolierkrankenhaus, zur Seuche als dem entsetzlichen Ausgangspunkt ihrer Selbstzufriedenheit zurückzukehren. Sie dürfte das eben Erlebte nicht anders geschluckt haben als ein Ertrinkender, einem natürlichen Impuls folgend, sogar Meerwasser schluckt. Wer auf seine Wünsche verzichtet, verliert das Recht auf Entscheidungsfreiheit. Was ihm bleibt, ist schlucken. Und sei es Meerwasser. 72
In Etsukos Miene deutete im übrigen auch nichts auf den Todeskampf einer Ertrinkenden hin. Oder es bekam bis zum Augenblick ihres Todes keiner so richtig mit, daß sie ertrank. Sie schrie nicht, diese Frau, die sich selbst und eigenhändig geknebelt hatte. Der achtzehnte April war der »Berggangtag«, so genannt wegen eines Brauchs in jener Gegend: An diesem Tag wurde nicht gearbeitet, die ganze Familie rückte geschlossen aus, und Jung und Alt wanderte auf den Hängen und in den Tälern umher und sah sich die blühenden Kirschbäume an. Außer Yakichi und Etsuko hatten sich alle im Sugimotoschen Haushalt an denjami übergessen, wie man ein populäres Gericht aus geschnippelten Bambussprossen hier nennt. Die geernteten Bambussprossen kamen in einen Lagerschuppen, von wo Okura, der ehemalige Pächter, sie auf seinem Fahrrad mit Lastanhänger zum Verkauf auf den Markt beförderte. Dort wurde die Güteklasse bestimmt – eins, zwei oder drei –, nach der sich wiederum der Preis richtete. Die vom Verkauf übriggebliebenen und wie Kehricht aus dem Schuppen gefegten Bambussprossen bildeten stets einen ziemlich großen Haufen, so daß alle im Hause Sugimoto von April bis Mai ganze Kessel voll geschnippelter Bambussprossen essen mußten. Dennoch ist der Berggangtag ganz wunderbar. Hübsche Lackschatullen werden randvoll mit Köstlichkeiten gefüllt, die eingerollten Binsenmatten unter den Arm geklemmt, dann geht’s los zum Picknick unter blühenden Kirschen. Die älteste Tochter von Asako ging schon zur Schule. Für sie hielt dieser Tag noch eine ganz besondere Freude bereit; denn es war schulfrei. Etsuko erinnert sich: Die Aussicht, die Stimmung, alles an diesem Tag war wie auf den 73
kunstlosen Bildern in den Schulfibeln. Ein jeder wurde zu einem kunstlosen Fibelbildmenschen. Zumindest übernahm ein jeder diese Rolle. Ein herzhafter Mistgeruch erfüllte die Luft – immer ist dieser Mistgeruch dabei, wenn das Landvolk vertraulich wird. Und was da für Ungeziefer herumschwirrte! Das surrte und summte nur so von Käfern und Bienen und was noch allem. Im Sonnenlicht flirrte und gleißte der Wind. Im Wind flippen und drehen sich spielerisch Schwalbenbäuche. Am Morgen des Berggangtags arbeiteten sich die Menschen geradezu kaputt an all den Vorbereitungen. Etsuko machte gomokuzushi (gesäuerter Reis mit Gemüsen und Fisch). Als sie fertig war, guckte sie durch das Holzgitter vor dem Küchenfenster und sah die ältere Tochter von Asako auf den Fliesen im Vorraum spielen. Ihre Mutter hatte sie in ein knallig rapsgelbes Jackett gesteckt. Geschmacklos. Da hockte sie nun auf dem Boden und blickte intensiv nach unten – was trieb dieses achtjährige Mädchen eigentlich? Bei genauerem Hinsehen bemerkte Etsuko die gußeiserne Teekanne, die da auf den Fliesen stand und dampfte. Wie gebannt starrte die achtjährige Nobuko auf etwas, das sich in den Lehmfugen zwischen den Fliesen bewegte. Es waren zahllose Ameisen, die da hervorgewimmelt kamen, nachdem ihnen jemand heißes Wasser in ihren Bau gegossen hatte. Zahllose Ameisen zappelten in dem heißen Wasser, das aus dem Eingang ihres Baus quoll. Das war es, worauf dieses achtjährige Mädchen mit dem Bubikopf tief zwischen ihren Knien wortlos starrte. Beide Handflächen hielt sie gegen die Wangen gepreßt und machte keinerlei Anstalten, sich die vorfallenden Haare aus dem Gesicht zu streichen. Das Zusehen versetzte Etsuko in eine Art angeregter Stimmung. Asako merkte, daß jemand die Teekanne fortgenom74
men hatte und kam zur Küchentüre, um nach ihrer Tochter zu rufen. Bis dahin hatte Etsuko auf Nobukos kleinen Rücken im gelben Jackett und die etwas hochgeschobenen Ärmel geblickt, als sähe sie sich selber, wie sie irgendwann früher einmal war. Ab diesem Tag hegte sie eine Art mütterlicher Zuneigung für dieses achtjährige Mädchen mit dem gleichen häßlichen Gesicht wie seine Mutter. Vor dem Weggehen gab es noch ein paar kleinere Differenzen wegen der Frage, wer zurückbleiben bleiben und das Haus hüten solle, doch setzte sich letztlich die von Etsuko vorgeschlagene Lösung durch, und Miyo mußte in den sauren Apfel beißen. Etsuko hatte ihre Auffassung eher nebenbei und ohne besondere Absicht geäußert, dennoch wurde sie zu ihrer Verblüffung glatt akzeptiert. Der sehr einfache Grund: Yakichi war auch dafür gewesen. Der Pfad vom Sugimotoschen Anwesen zum Nachbardorf war so schmal, daß einer hinter dem anderen gehen mußte. Etsuko staunte wiederum über den ebenso unbewußten wie unangenehmen, jedoch überaus passenden Reflex, der in dieser Situation ausnahmslos bei allen zum Tragen kam. Ein aufs feinste angepaßter, animalischer Reflex, bei den Leuten hier genauso wirksam wie bei Ameisen: Die Arbeiterinnen erkennen Arbeiterinnen aus einem anderen Bau, die Königin erkennt die Arbeiterinnen und die Arbeiterinnen erkennen die Königin, und das alles nur über den Tast- und den Geruchssinn. Ausgeschlossen, daß sie das bewußt feststellen. Jedenfalls liegt bislang kein Beweis für eine Bewußtseinsleistung vor. An der Spitze dieser ohne klare Absicht zustande gekommenen Formation ging Yakichi, gefolgt von Etsuko, dann Kensuke, Chieko mit Asako und Nobuko (ihr fünf Jahre alter Bruder Natsuo war der Obhut von Miyo anvertraut wor75
den). Den Abschluß bildete Saburō, der ein großes, arabesk gemustertes Tragetuch mit dem Proviant auf der Schulter trug. Die Gruppe wanderte an einem etwas entlegeneren Teil an der Rückseite des Sugimotoschen Grundstücks vorüber. Yakichi hatte dort bis zum Krieg Weintrauben gezogen, nachher aber damit aufgehört. Von den etwa dreihundert tsubo * waren nun an die hundert mit niedrigen Pfirsichbäumen bewachsen. Den übrigen Teil nahmen drei windschiefe Gewächshäuser ein, deren Scheiben größtenteils schon bei verschiedenen Taifunen zu Bruch gegangen waren, Öltonnen standen herum, randvoll mit Regenwasser gefüllt, verwilderte Weinreben rankten sich frei wuchernd in alle Richtungen, auf strohbedeckte Beete fiel Sonnenlicht. »Schöne Sauerei, das«, meinte Yakichi und stieß mit seinem Bambusstock gegen einen Glashauspfosten, »sobald wieder einmal ein bißchen Geld hereinkommt, sollten wir das reparieren lassen.« »Das sagst du immer, Vater«, sagte Kensuke, »aber diese Glashäuser werden wohl in alle Ewigkeit so bleiben.« »Weil ewig kein Geld hereinkommt, was?« »Eigentlich nicht« – erwiderte Kensuke heiter und kam mehr oder weniger in Fahrt. »Weil das Geld, das du einnimmst, entweder für die Reparatur der Glashäuser nicht langt oder zuviel ist, nicht wahr.« »Ah ja? Um dir dein Taschengeld zu geben, ist es wohl auch immer zuviel oder zuwenig, was?« Unter solchem Geplänkel langten sie am Gipfel eines kleinen Hügels an. Zwischen den Kiefern dort standen auch vier, fünf Kirschbäume. Eine berühmte Kirschbaumallee gab es dort nicht. Unter ein paar wilden Kirschen die Binsenmatten ausrollen, das war schon die ganze »Blütenschau«, mehr war 76
da nicht. Unter den einzelnen Kirschbäumen hatten sich schon die vor ihnen eingetroffenen Bauernfamilien ausgebreitet. Als sie der Familie Sugimoto ansichtig wurden, grüßten sie alle freundlich. Ihnen aber Platz anzubieten, wie früher einmal, das fiel ihnen nicht ein. Kensuke und Chieko zogen von da an flüsternd über die anwesenden Bauernfamilien her. Auf Yakichis Anordnung wurden die Binsenmatten schließlich auf einer Böschung ausgebreitet, von wo aus man die blühenden Kirschbäume alle überblicken konnte. Ein Bekannter – ein Bauer in den Fünfzigern, mit pfirsichrosa Krawatte zum gobrettartig gemusterten Anzug aus einer Hilfsgüter-Sonderzuteilung – kam mit einem Sake-Fläschchen, Sake-Tassen und einer großen Flasche doburoku * eigens bis zu ihnen gestapft. Ohne mit derWimper zu zucken nahm Kensuke eine Tasse dieses Gebräus an und trank. Warum tut er das? Ich würde das niemals trinken, dachte Etsuko, die ihm dabei zusah und seine Inkonsequenz dumm fand. – Jetzt hat Kensuke doch tatsächlich die Sakeschale angenommen. Dabei hat er die ganze Zeit gelästert. Würde er doburoku gern trinken, dann wäre das nicht weiter verwunderlich. Aber man sieht ihm doch an, daß er sich daraus überhaupt nichts macht. Es hat ihn bloß gefreut, Sake von jemandem zu trinken, über den er gerade hergezogen ist, ohne daß es der Betroffene ahnt. Ein törichtes, charakterloses Vergnügen. Ein höhnisches Vergnügen. Freut sich, daß er sich ins Fäustchen lachen kann. Daß es unter den Menschen auch welche gibt, die zu nichts anderem auf die Welt gekommen sind. Gott muß geradezu eine Schwäche haben für die Verschwendung und das Überflüssige. Als nächste nahm Chieko das Schälchen. Nur weil ihr Mann auch getrunken hatte. Etsuko lehnte ab. Damit goß sie wieder ein wenig Wasser 77
auf die Mühlen derer, die über ihre Verschrobenheit tuschelten. An diesem Tag schien sich im gesamten Familienverband irgendwie eine Art Ordnung zu etablieren. Diese ging Etsuko keineswegs gegen den Strich. Sie war durchaus zufrieden mit der objekthaft ausdruckslosen Beziehung zwischen Yakichis ausdrucksloser Aufgeräumtheit und ihrer eigenen Ausdruckslosigkeit; zufrieden mit dem wortkargen Saburō, der sich ohne ebenso wortkarge Gesprächspartner langweilte; nicht minder zufrieden mit der unter dem Mäntelchen der Toleranz verborgenen Feindseligkeit von Kensuke und seiner Frau sowie dem stumpfsinnigen Mütterlichkeitsgetue von Asako. Zum Urheber hatte diese Ordnung niemand anderen als Etsuko. Nobuko kam mit einer kleinen Wiesenblume daher und lehnte sich an Etsukos Knie. Was das denn für eine Blume sei, fragte sie die Tante. Und Etsuko, die den Namen dieser Blume nicht kannte, fragte Saburō. Saburō warf nur einen kurzen Blick auf die Blume und gab sie Etsuko sofort wieder zurück: »Diese Blume heißt murasuzume.« * Etsuko war verblüfft. Weniger über den seltsamen Namen der Blume als vielmehr über die gedankenschnelle Armbewegung, mit der er ihr die Blume zurückgegeben hatte. Die luchsohrige Chieko hatte diesen kurzen Diskurs aufgeschnappt und mischte sich ein: »Der sieht immer drein, als hätte er von nichts ’ne Ahnung, dabei weiß er alles. Sing doch mal ein Tenri-Lied. Toll, wie du dir das alles gemerkt hast.« Saburō lief rot an und senkte den Blick. »Ach, bitte sing. Was zierst du dich denn so? Sing doch«, sagte Chieko und hielt ihm ein gekochtes Ei hin. »Da, das schenk ich dir. Und du sing, bitte.« 78
Saburō blickte kurz auf das Ei zwischen Chiekos Fingern. Sie trug einen Ring mit einem billigen Stein. In seinen welpenschwarzen Augen blitzte es ganz kurz auf. Dann sagte er: »Ich singe. Ei brauche ich keins« und lächelte wie entschuldigend. »Es war irgendwas mit ›Myriaden Welten aufgereiht‹ oder so, nicht?« ermunterte in Chieko. »›Vor Augen‹ heißt es«, erwiderte er mit ernster Miene, wandte seinen Blick dem Nachbardorf zu, das vor ihnen ausgebreitet lag, und hob an zu deklamieren, als deklamierte er ein kaiserliches Vermächtnis. Das Dorf lag in einer kleinen Mulde. Während des Krieges befand sich dort ein Stützpunkt der Heeresfliegertruppe, ein sehr günstiges Versteck, von dem aus die Offiziere zum Flugplatz Hotarugaike fuhren. Am Ufer des Baches, der dort floß, standen Kirschbäume. Im kleinen Garten der Volksschule wuchsen ebenfalls welche. An einem Reck über einer Sandgrube spielten zwei, drei Kinder. Sie sahen aus wie vom Wind bewegte Fusselballen. Das Lied, das Saburō deklamierte, lautete: »Da Myriaden Welten aufgereiht vor unsern Augen, doch keine verständige Seele weit und breit, niemand hier auch, der sie lehrt, Nichtwissen daher Selbstverständlichkeit, da erscheinet Gott vor aller Augen und lehret die Unwissenden alles … … « »Also im Krieg war das verboten. ›Da Myriaden Welten aufgereiht vor unsern Augen, doch keine verständige Seele weit und breit‹, diese Stelle klingt nämlich«, ließ Yakichi alle an der Fülle seines Wissens teilhaben, »als wäre der Tennō mitgemeint. Rein logisch gesprochen, nicht wahr. Deswegen haben es die vom Informationsamt verboten.« 79
Auch an diesem Tag, am Berggangtag, ereignete sich überhaupt nichts. Eine Woche später bekam Saburō, wie jedes Jahr, drei Tage frei und fuhr nach Tenri, um am Tenri-Fest am 26. April in der Prozession mitzuziehen. Zusammen mit seiner Mutter und den Gläubigen aus seiner Heimatgemeinde würde er an den Exerzitien der Tenri-Anhänger teilnehmen und auch zum innersten Heiligtum der Sekte pilgern. Etsuko war noch nie in Tenri gewesen. Im Zentrum des prachtvollen Haupttempels, errichtet aus den Spenden der Gläubigen in ganz Japan und durch freiwillige Arbeitseinsätze – bei ihnen hinokishin, »Zypressen-Glaube«, genannt – befand sich ein Tisch, der nach dem Manna, das am Jüngsten Tag vom Himmel fallen würde, den Namen »Manna-Tisch« trug. Im Winter sollen dort, so hatte sie gehört, durch eine dachlukenartige Öffnung Schneeflocken hereingeweht werden und im Wind von oben herunter tanzen. »Zypressen-Glaube« … … diesem Wort haftet der Geruch ganz frischen Holzes an. Es klingt nach heiterer Gläubigkeit und Freude an der Arbeit. Alte, denen die Arbeit bereits zu viel geworden war, sollen bei solchen Anlässen Erde in ihre Taschentücher geschaufelt und weggetragen haben, um mit dabei zu sein. Wie dem auch sei. Diese drei kurzen Tage der Abwesenheit von Saburō brachten durch ebendiese Abwesenheit ein sonderbares Geßihl auf, das mir völlig neu war. Wie ein Gärtner, der als Lohn langer Mühen einen prachtvollen Pfirsich in der Hand wiegt und sich an seiner Schwere freut, so wog ich die Schwere seiner Abwesenheit in meiner Hand und freute mich daran. Auch könnte ich nicht behaupten, daß die Tage einsam gewesen wären. Für mich waren diese drei Tage etwas Erfülltes, Frisches, Gewichtiges: Und zwar Freude. Überall, im ganzen Haus entdeckte ich seine Abwesenheit. Im Garten, im Arbeitszimmer, in der Küche, in seiner Schlafkammer. 80
Vor dem Fenster seiner Schlafkammer hing sein Bettzeug zum Lüften. Ein dunkelblaues, schlichtes, dünnes Baumwollfuton. Etsuko wollte zum Abendessen goma-ae machen, blanchiertes Gemüse mit Sesam, und ging nach hinten in den Garten, um Rapsblätter zu pflücken. Saburōs Schlafkammer ging nach Südwesten hinaus und hatte Nachmittagssonne. Sie leuchtete jeden Winkel davon aus, bis ganz hinein zur zerrissenen Schiebetür. Etsuko war nicht hierhergekommen, um in das Zimmer hineinzuspähen. Sie wurde angelockt von einer feinen, in der Nachmittagssonne webenden Witterung, wie sie eine junge Bestie verströmt, die sich behaglich in der Sonne räkelt. Ganz selbstverständlich stellte sie sich zu dem Futon und blieb eine Weile bei dem etwas abgenutzten, festen Stoff, der roch und glänzte wie Leder. Neugierig, als berühre sie ein Lebewesen, stupste sie mit dem Finger hin. Warm und weich federte die in der Sonne aufgegangene Baumwolle zurück. Etsuko wandte sich ab und stieg langsam die Steintreppe im Schatten der Eichen zum Acker hinter dem Haus hinunter. Und endlich fiel Etsuko wieder in den schon so lange ersehnten Schlummer.
81
III
D
as Schwalbennest war bereits leer. Bis gestern waren sie jedenfalls noch hier, mochte man meinen. Das Zimmer von Kensuke und seiner Frau im Obergeschoß hatte Fenster nach Süden und Osten. Unter letzterem, geschützt durch den Dachvorsprung des Eingangs, hatte sich eine Schwalbenfamilie eingenistet, deren Anblick ihnen den Sommer über vertraut geworden war. Etsuko war zu Kensuke ins Zimmer gekommen, um ein Buch zurückzubringen, das er ihr geliehen hatte. Sie lehnte sich gegen die Fensterbrüstung und beugte sich hinaus. »Die Schwalben sind nicht mehr da, nicht wahr?« stellte sie fest. »Dafür sieht man heute die Burg Ōsaka. Im Sommer war die Luft zu dunstig, da konnte man sie nicht sehen.« Kensuke hatte bis jetzt ausgestreckt auf dem Boden gelegen und gelesen. Nun legte er das Buch weg. Dann öffnete er das Südfenster und zeigte auf den Horizont im Südosten. Von hier aus machte die Burg keineswegs den Eindruck eines unerschütterlich auf festem Grund erbauten Bollwerks. Sie wirkte eher wie abgehoben, frei schwebend. Bei klarer Luft und aus der Ferne vermeinte man, so etwas wie die Seele der Burg zu sehen, die ihren Gebäudeleib verlassen hatte, sich hoch und höher reckte und nun von oben weite Umschau hielt. Etsuko kam der Bergfried der Feste Ōsaka vor wie das schattenhafte Gaukelbild einer Insel, das immer und immer wieder die Augen der Schiffbrüchigen narrt. Dort lebt wahrscheinlich kein Mensch mehr. Doch wer weiß, 82
in dem vom Staub bedeckten Bergfried, da lebt vielleicht noch jemand. Der Schluß, daß dort niemand lebe, erleichterte sie letzten Endes. Welch unselige Einbildungskraft, die sich zwanghaft sogar in Mutmaßungen darüber erging, ob in dem Bergfried dort Menschen lebten oder nicht und dadurch unausgesetzt die Grundlagen ihres Wohlbefindens in Frage stellte, welche ja darin bestanden, nicht denken zu müssen. »Woran denkst du, Etsuko? An Ryōsuke? Oder … … «, fragte Kensuke vom Erkerfenster her. In dieser Stimme – die solche Anklänge normalerweise eigentlich nicht zeigte – schwang diesmal etwas mit, das frappant an die Stimme von Ryōsuke erinnerte. Etsuko war so erschüttert, daß sie nicht anders konnte als zu sagen, was sie eben gedacht hatte. »Weißt du, ich habe eben darüber nachgedacht, ob in dem Schloß dort immer noch Menschen leben oder nicht.« Ihr dunkles Kichern reizte Kensukes Zynismus. »Also liebst du die Menschen doch, Etsuko. Menschen, Menschen, Menschen. Du bist vielleicht was von seelisch in Ordnung! So total normal wie du, das werd ich nie sein, nicht einmal annähernd. Du müßtest nur ein wenig mehr aus dir herausgehen, meiner Diagnose nach. … … Deshalb … … « Sie hatten spät gefrühstückt. Danach war Chieko die Teller und Schalen spülen gewesen und kam jetzt gerade mit einem Tablett voll Geschirr, ein Tuch darüber gebreitet, die Treppe hoch. Von ihrem Mittelfinger baumelte gefährlich ein kleines Päckchen, das sie dem im Erkerfenster sitzenden Kensuke in den Schoß fallen ließ, ehe sie ihr Tablett abstellte. »Ist eben gekommen.« »Ah, endlich, das Präparat, das lang ersehnte.« Er machte es auf, und drin war ein Fläschchen mit der Auf83
schrift: Himrod’s Powder. Ein amerikanisches Asthma-Mittel, das ein Freund von ihm in einer Handelsfirma in Ōsaka besorgt und ihm geschickt hatte. Gestern noch hatte Kensuke über ihn gelästert, weil das ersehnte Präparat ewig nicht gekommen war. Kaum wollte Etsuko die Gelegenheit nutzen und sich entfernen, sagte Chieko: »Na, hör mal, ich komme und sofort gehst du – irgendwie ist das schon, ich meine … « Doch was aufs Tapet kommen würde, wenn sie blieb, konnte sich Etsuko ungefähr ausmalen. Kensuke und seine Frau legten eine für Menschen mit Langeweile typische, fast krankhafte Freundlichkeit an den Tag. Klatsch und freundliche Nötigung … … diese beiden Wesenszüge der Menschen auf dem Land hatten von Kensuke und seiner Frau mit ihren HighSociety-Allüren bereits unmerklich Besitz ergriffen. HighSociety-Allüren in Form von Besserwisserei und ungebetenen Ratschlägen. »Was du wieder daherredest. Ich habe Etsuko nur ein paar Ratschläge gegeben. Da hat sie die Gelegenheit ergriffen und sich dünn machen wollen, die Etsuko.« »Dein Plädoyer ist eigentlich nicht gefragt … … Übrigens hätte ich da auch einen Rat für Etsuko. Ich stehe nämlich ganz auf deiner Seite, mußt du wissen und würde dir gerne eine Anregung geben. Besser gesagt: einen Ansporn vielleicht. Etwas in der Richtung.« »Bitte, bitte, nur zu.« Außenstehende mußte dieses flitterwöchnerhafte Getue einigermaßen ermüden: eine Jungvermählten-Farce, Tag für Tag, Nacht für Nacht zum besten gegeben – auch ohne Publikum – von Kensuke und Chieko, dem in die fade Provinz verschlagenen Ehepaar. Nie wurden sie der ständigen Neuaufführung ihres Erfolgsstückes müde oder ihrer eingespielten 84
Rollen, die sie nicht einmal mehr in Frage stellten. Bestimmt würden sie, allgemein »das Brautentenpaar« geheißen, denselben Schinken auch noch mit achtzig spielen. Etsuko kümmerte sich um die beiden nicht länger und schickte sich an, die Treppe hinunterzusteigen. »Du gehst also doch.« »Ja. Ich führe Maggie ein wenig spazieren. Danach komm ich noch mal vorbei.« »Einen eisernen Willen hast du, das muß man dir wirklich lassen«, gab Chieko zurück. Ein Vormittag in der Mußezeit des bäuerlichen Jahres, den stillen Wochen vor der Ernte. Yakichi machte sich im Birnengarten zu schaffen, Asako war mit Natsuo, den sie abwechselnd auf dem Rücken trug oder neben sich her zuckeln ließ, und Nobuko, die an diesem Tag – »Herbst-Äquinoktium« – schulfrei hatte, unterwegs ins Dorf, um von der Verteilungsstelle ihre Ration Babynahrung zu holen. Still und friedlich putzte Miyo ein Zimmer ums andere. Unter dem Baum neben der Küchentür machte Etsuko Maggies Kette los. Sollte sie zur Minō-Landstraße gehen und in einem großen Bogen bis zum Nachbardorf? Etwa im Jahre Shōwa 10 (1935) soll Yakichi ein Fuchs bis zur Landstraße hinterhergelaufen sein, als er dort nachts allein unterwegs war. … … Allerdings wären das gute zwei Stunden. Zum Friedhof? Das war wiederum zu kurz. Durch das Vibrieren der Kette in ihrer Handfläche bekam sie alle Regungen von Maggie mit. Etsuko ließ Maggie ihren Willen und ging ihr nach. Im Kastanienhain zirpen Herbstzikaden. Sonnenlicht fleckt den Boden scheckig. Hier und dort schieben sich bereits Shibatake-Pilze durchs faule Laub. Die Shibatake-Pilze von hier hatte Yakichi ausschließlich für sich 85
und Etsuko vorbehalten. Ganz ohne Hintergedanken hatte Nobuko einmal welche gepflückt und mitgebracht zum Spielen – worauf sie von Yakichi prompt ein paar Ohrfeigen einheimste. Jeder Tag dieser Mußeperiode, dieser irgendwie erzwungenen Ruhepause drückte Etsuko aufs Gemüt wie einem Kranken, der sich nicht im geringsten krank fühlt. Ihre Schlaflosigkeit nahm zu. Wozu lebte sie überhaupt? Um der Gegenwart zu leben, war jeder Tag einfach zu lange und zu langweilig. Sich der Vergangenheit zuwenden, hieße alles bedenklich verunsichern. Über der Landschaft, über der Jahreszeit waberten blendend die Ferien, die Etsuko aber nur betrachten konnte wie jemand, der längst aus der Schule ist und deshalb keine mehr hat. Nicht ganz allerdings, in ihrem Fall; denn nicht einmal als Schülerin hatte sie die Sommerferien gemocht. Sommerferien empfand sie beinahe als lästige Verpflichtung. Sie mußte selber gehen, selber die Tür öffnen, selber hinaustreten ins Licht. Als Schülerin, die von klein auf weder tabi noch Kimono selber hatte anziehen müssen, hatte sie die Schule, in die sie jeden Tag ging, weil sie mußte, stets als Ort angenehmer Freiheit erlebt. Aber wenn sie bloß ein Opfer ihrer stadtfräckischen Schlappheit werden sollte, wozu dann noch die grausame Banalität dieser bäuerlichen Mußezeit? Was Etsuko antrieb, war jener Durst, der auf ihr lastete und den sie, aus Gewohnheit, wie eine Aufgabe empfand. Ein Durst wie der eines Betrunkenen, der Wasser verlangt – und sich dabei vor dem Brechreiz fürchtet, der ihn beim Trinken vielleicht überkommen würde. Sogar im Wind, wie er durch den Kastanienhain hier strich, waren die Elemente all dieser Empfindungen. Schon hatte er die Wildheit des Taifuns verloren, wehte nur noch 88
sacht ein leises Zittern in die unteren Blätter, mit angehaltenem Atem, als wäre er ein Verführer. Vom Haus des Pächters klangen Axthiebe herüber. Jemand schlug Brennholz. Noch ein, zwei Monate, und es würde wieder losgehen mit dem Kohlenbrennen. Am Rand des Wäldchens, in den Boden gegraben, befand sich ein kleiner Kohlenmeiler, in dem Okura jedes Jahr die Holzkohlen für den Sugimotoschen Haushalt brannte. Maggie zog Etsuko in dem Wäldchen hierhin und dahin und brachte dadurch ein wenig Schwung in ihren schleppenden Schwangerengang. Etsuko hatte wie immer einen Kimono an. Um ihn nicht an den Baumstümpfen zu zerreißen, hielt sie beim Laufen den Saum ein wenig gerafft. Emsig schnüffelte die Hündin umher. Deutlich sichtbar arbeiteten ihre Rippen unter dem heftigen Atem. An einer Stelle zeigte der Boden des Wäldchens eine Aufwölbung. Wahrscheinlich ein Maulwurfshügel, dachte Etsuko und blickte zusammen mit dem Hund darauf nieder. Plötzlich traf ganz leichter Schweißgeruch ihre Nase. Da stand Saburō. Maggie sprang an ihm hoch bis zur Schulter und leckte ihm übers Gesicht. Lachend versuchte er, sie mit der freien Hand – in der anderen hielt er eine Schlaghacke – abzuwehren und hinunterzudrücken, aber der Hund ließ nicht so leicht von ihm ab. Schließlich wandte er sich an Etsuko: »Ziehen Sie doch bitte an der Kette!« Da erst kam Etsuko wieder zu sich und zog an der Kette. Die Hacke auf seiner Schulter war es gewesen, der sie einige Augenblicke lang geistesabwesend zugesehen hatte, wie sie mehrmals im Takt hochschnellte, als er sich mit energischen Bewegungen den Hund vom Hals schaffen wollte. Im schräg durch die Bäume brechenden Licht vollführte die 87
stahlblaue, zur Hälfte mit Erde verkrustete Schlaghacke hüpfende Bewegungen. Holla, Vorsicht! Womöglich fällt mir das scharfe Ding noch hinauf! – obwohl sie sich über eine solch gefährliche Möglichkeit voll im klaren war, empfand sie seltsamerweise keine Beunruhigung und reagierte auch nicht. »Wo warst du denn umgraben?« fragte Etsuko. Da sie stehenblieb, konnte auch Saburō nicht weitergehen. Redeten sie so miteinander weiter und gingen dabei zurück, dann konnte Chieko sie von ihrem Fenster im Obergeschoß Seite an Seite daherkommen sehen; gingen sie in die andere Richtung, dann mußte Saburō wieder zurückgehen, woher er gekommen war, hatte Etsuko kurz überschlagen und sich deshalb für einen Plausch im Stehen entschieden. »Bei den Auberginen. Sobald die Auberginen abgepflückt sind, hab ich mir gedacht, gehst du gleich umgraben.« »War das nicht auch im nächsten Frühling gegangen?« »Ja, das schon. Aber jetzt hab ich gerade Zeit.« »Ohne was zu tun hältst du’s nicht aus, wie?« »Ja.« Etsuko starrte ausgiebig auf Saburōs schlanken, sounengebräunten Hals. Er hatte einfach zur Hacke greifen müssen. Diesen inneren Überschwang fand sie sehr ansprechend an ihm. Außerdem gefiel es ihr, daß die Mußezeit des bäuerlichen Jahres diesem anscheinend nicht leicht zu beeindruckenden Jungen genauso auf die Nerven zu gehen schien wie ihr. Unversehens fiel ihr Blick auf seine bloßen Füße in den zerschlissenen Turnschuhen. Ausgerechnet Socken muß ich ihm schenken Jetzt, in Zeiten wie diesen, und wie schrecklich schwer mir die Entscheidung fällt. Was wohl meine Verleumder sagen würden, wenn sie das wüßten! Ich sei eine Frau mit Vergangenheit, tuscheln sie im Dorf. Dabei treiben sie’s noch viel ärger, ohne alle Hemmungen. Wo die Schwierigkeiten 88
meines Handelns nur herrühren? Ich will überhaupt nichts. Toll, wenn eines Morgens, während ich noch die Augen zuhabe, die Welt plötzlich anders wäre. Müßte eigentlich schon langsam kommen, dieser Morgen, dieser lautere Morgen. Von niemandem erbeten würde er anbrechen, und gehören würde er auch niemandem. Mein Traum wäre der Augenblick, in dem mein Handeln unwillentlich ganz eins wäre mit meinem wunschlosen Ich. Völlig unbedeutende, unauffällige Handlungen von mir. … … Richtig! Letzte Nacht hat mich schon der bloße Gedanke daran getröstet, Saburō zwei Paar Socken zu schenken … … Jetzt nicht … … Ich gebe ihm die Socken – und dann? … … Er lacht, geniert sich ein wenig und sagt »danke schön.« Dann dreht er sich um und geht … … Ganz deutlich sehe ich das vor mir. Das würde ich nicht aushallen. Kein Mensch ahnt, wie ich mich abgemartert habe vor diesem schmerzlichen Entweder-Oder, viele Monate lang. Ab dem TenriFest Ende April, den ganzen Mai Juni … … die lange Regenzeit hindurch, Juli, August … … den mörderischen Sommer und dann den September … … irgendwie ist mir wieder nach einer so entsetzlichen, extremen Bestätigung, wie ich sie beim Tod meines Mannes erlebt habe. Auch das, besonders das ist Glück … … Hier schlug Etsukos Denken plötzlich um. Trotzdem bin ich glücklich. Niemand hat das Recht zu bestreiten, daß ich glücklich bin. Betont langsam nestelte sie aus ihrem Kimonoärmel die zwei Paar Socken heraus. »Hier. Die schenke ich dir. Die bin ich gestern für dich ins Hankyū kaufen gefahren.« Einen Augenblick lang sah ihr Saburō voll ins Gesicht. Und ein wenig fragend, wie Etsuko schien. Nur eine ganz schlichte Frage lag in seinem Blick. Nicht der leiseste Verdacht. Es ging ihm nicht ein, daß eine sonst immer recht 89
distanzierte, nicht mehr junge Frau ihm nun auf einmal mir nichts, dir nichts Socken schenkte. Da fiel ihm ein, daß allzu langes Schweigen ungehörig war. Er lächelte, wischte sich am Hosenboden die erdigen Hände ab, nahm die Socken in Empfang und sagte: »Danke schön.« Dabei schlug er die Hacken seiner Turnschuhe zusammen und salutierte. Beim Salutieren schlug er aus Gewohnheit, ganz natürlich die Hacken zusammen. »Du darfst aber niemandem sagen, daß du sie von mir hast, ja?« sagte Etsuko. »Ja«, antwortete er. Dann stopfte er die neuen Socken in die Hosentasche und ging. Nur das. Nichts war. Und das sollte alles gewesen sein, was Etsuko seit gestern abend erwartet hatte? Nie und nimmer. Für sie war diese Lappalie vielmehr etwas mit zeremoniellem Bedacht Geplantes und mit Sorgfalt Organisiertes. Ausgehend von dieser Lappalie müßte nun in ihrem Inneren ein dramatischer Wandel Platz greifen. So als trieben Wolken vorbei. Als verdüsterten sich die Fluren und die Landschaft nähme eine andere Bedeutung an. Einem flüchtigen Blick schiene auch im menschlichen Leben ein solcher Wandel zu existieren. Einer, der nur der geringfügigsten Veränderung der Sichtweise bedürfte, um auch das menschliche Leben als etwas Veränderbares erkennbar zu machen. Etsuko war hochmütig genug anzunehmen, daß ein solcher Wandel, der ja überhaupt nicht zu vollbringen ist, sofern sich die Menschenaugen nicht in Eberaugen oder dergleichen verwandeln, ohne ihr Zutun möglich sei. Was sie sich nicht eingestehen wollte: Solange wir Menschenaugen haben, können wir unsere Sichtweise verändern, wie wir wollen, die Antwort wird doch immer die gleiche bleiben. 90
Und dann gab es an diesem Tag plötzlich jede Menge zu tun. Ein sonderbarer Tag. Etsuko kam aus dem Kastanienwäldchen heraus auf die grasbewachsene Uferböschung des kleinen Flusses. Auf der einen Seite befand sich die Holzbrücke zum Eingang des Sugimotoschen Grundstücks. Auf der gegenüberliegenden Seite des Flusses lag ein Bambushain. Am Friedhof entlang floß ein Bach, der in den Fluß einmündete. Vereint machten die beiden Wasserläufe einen abrupten Knick nach Nordwesten, wo sich die Reisfelder ausbreiteten. Maggie schaute aufs Wasser und begann zu bellen. Kinder bellte sie an, die im Wasser wateten und mit Netzen Karauschen fischten. Die Kinder wiederum schimpften wie die Rohrspatzen auf die alte Setter-Hündin und brüllten, was sie bei ihren Eltern an verleumderischem Klatsch über die junge Witwe aufgeschnappt hatten – die sie zwar nicht sahen, aber am anderen Ende der Kette vermuteten –, in deren Richtung. Kaum erschien Etsuko auf der Uferböschung, schwangen die Kinder ihre Körbe, kletterten die gegenüberliegende Böschung hoch und entflohen ins durchsonnte Bambusdickicht. Bis ganz tief drinnen im hellen Bambusdickicht schwangen die unteren Blätter der Stämme verräterisch nach. Wahrscheinlich hielten sich die Kinder dort versteckt. Von der anderen Seite des Bambushains her war eine Fahrradklingel zu hören. Wenig später tauchte der Postbote auf, der sein Fahrrad über die Holzbrücke schob. Er war an die fünfundvierzig, sechsundvierzig Jahre alt und hatte die Angewohnheit, die Leute anzuschnorren, deshalb galt er allgemein als zudringlich. Etsuko ging zur Brücke und nahm ein Telegramm in Empfang. Falls sie keinen Namensstempel habe, meinte der Postbote, solle sie ein »sign« machen. Auf das Niveau von »sign« 91
hatte es das Englische also schon gebracht, sogar hier in diesem Provinznest. Fasziniert starrte er auf den bleistiftförmigen Kugelschreiber, den Etsuko nun zu diesem Zweck hervorzog. »Sagen Sie, was ist denn das für ein pen?« »Ein ball-pen ist das. Was ganz Billiges.« »Na, das ist aber merkwürdig. Lassen Sie mich’s doch mal ansehen.« Weil er ihn unablässig des langen und breiten bewunderte, überließ ihm Etsuko schließlich großmütig den Kugelschreiber und stieg mit dem an Yakichi adressierten Telegramm die Steintreppe hoch. Sie fand das ulkig: Wie kompliziert es doch war, Saburō die läppischen zwei Paar Socken zu geben, und dem Postboten einen Kugelschreiber zu schenken dagegen so simpel. Kann ja auch gar nicht anders sein. Wenn sie nicht verliebt sind ineinander, kommen die Leute ganz mühelos miteinander zurecht. Wenn sie bloß nicht verliebt sind ineinander. Bei den Sugimotos war das Telefon längst verkauft worden – zusammen mit dem Bechstein-Klavier. Nachrichten aus Ōsaka, auch nicht dringende, kamen nun per Draht statt per Telefon. Auch ein Telegramm mitten in der Nacht erschreckte bei den Sugimotos niemand. Dennoch strahlte Yakichi geradezu, als er dieses Telegramm öffnete. Absender war Keisaku Miyahara, Minister ohne Portefeuille, einst jahrgangsjüngerer Schulkollege von Yakichi, später sein Nachfolger als Präsident von Kansai Shōsen. Nach Kriegsende war er dann in die Politik gegangen. Nun befand er sich auf einer Wahlkampfreise nach Kyūshū. Weil sich kurzfristig ein Spielraum von einem halben Tag ergeben habe, wolle er bei Yakichi vorbeikommen und etwa dreißig bis vierzig Minuten bleiben, hieß es. Das Überraschende daran: Dieser Besuchstag war heute! 92
Der Zufall wollte es, daß Yakichi gerade einen Funktionär der örtlichen landwirtschaftlichen Genossenschaft bei sich zu Besuch hatte. Der Mann war – trotz der tagsüber immer noch beträchtlichen Hitze salopp mit einem Lumberjack um die Schultern – unterwegs, um Erkundigungen einzuziehen. In diesem Sommer hatten die hoffnungslos verrotteten Zustände im Funktionärskader, der von der Jugendorganisation dominiert wurde, Anlaß zu Neuwahlen gegeben. Dieser Mann war also einer der neugewählten Funktionäre und hatte es sich zur Aufgabe gestellt, vor allem die Alt-Eigentümer um ihre geschätzte Meinung zu bitten. Eine solche Vorgehensweise war seiner Überzeugung nach hier, in dieser Hochburg der konservativen Partei, der letzte Schrei. Als er Yakichi beim Lesen des Telegramms aufstrahlen sah, fragte er ihn, was das denn für eine Glücksbotschaft sei, die er da bekommen habe. Yakichi zögerte, als befände er sich im Besitz eines erfreulichen Geheimnisses, das er nicht sofort enthüllen wolle, konnte aber letztlich nicht umhin, es auszuplaudern. Übertriebene Selbstverleugnung ist für betagte Körper Gift. »Na ja, ein Telegramm von Miyahara, dem Minister ohne Portefeuille; daß er mich besuchen kommt; aber inoffiziell; deshalb sei so gut und laß’ im Dorf nichts verlauten davon. Er kommt sich erholen, also kann ich Belästigungen nicht dulden. Miyahara und ich, wir haben seinerzeit dieselbe Oberschule besucht. Zwei Jahre nach mir hat er dann bei Kansai Shōsen angefangen.« Die beiden Sofas und die elf Sessel im großen Salon, um die sich lange Zeit kein Mensch gekümmert hatte, sahen aus wie von langem Warten erschöpfte Frauen. Die Atmosphäre, die ihre weißen Leinenüberzüge verbreiteten, war die einer hoffnungslos irreversiblen Austrocknung jeglichen Gefühls. 93
Und doch – wenn sie in diesem Zimmer stand, fühlte sich Etsuko seltsam beruhigt. An sonnigen Tagen war es ihre Aufgabe, morgens um neun alles Fensterartige in diesem Raum zu öffnen. Dann ließen die nach Osten gehenden Fenster mit einem Mal die Morgensonne hereinfluten – um diese Jahreszeit bis knapp an die Wange von Yakichis Bronzebüste. Nicht lange nach ihrer Ankunft hier in Maiden hatte sie einmal die Fenster geöffnet und war erschrocken zurückgeprallt: Als hätten sie mit angehaltenem Atem bis zu diesem Augenblick gewartet, breiteten zugleich mit dem öffnen der Fenster unzählige Schmetterlinge – zu viele, als daß sie bis zum Flüggewerden von den paar Rapsblüten hätten leben können, die in einer Vase dort steckten – gemeinsam die Flügel aus und flatterten wie auf ein Kommando auf und ins Freie. Emsig gingen Etsuko und Miyo mit Wedel und Wischtuch ans Werk. Sogar die Glasvitrine mit dem ausgestopften Paradiesvogel wischten sie sauber. Dem tief in Möbeln und Balken sitzenden Schimmelgeruch gegenüber waren sie allerdings machtlos. »Wenn ich nur wüßte, was man gegen diesen Schimmelgeruch tun könnte«, sagte Etsuko. Sie polierte gerade die Bronzebüste und blickte um sich. Miyo gab keine Antwort. Mit einem Gesicht, als sei sie gar nicht völlig wach, stand diese Landpomeranze auf einem Stuhl und staubte mit ausdruckslosem Gesicht Bilderrahmen ab. »Ein ekelhafter Geruch«, wiederholte Etsuko nachdrücklich, aber wie zu sich selbst. Worauf sich Miyo, auf dem Stuhl stehend, ihr zuwandte und sagte: »Ja. Der ist ekelhaft. Wirklich.« Etsuko war sauer. Wütend dachte sie darüber nach, warum ein- und derselbe bäuerlich dickfellige Umgangston ihr bei Saburō anheimelnd und tröstlich vorkam, bei Miyo hinge94
gen stark auf die Nerven ging. Was Etsuko so in Rage brachte, war nichts anderes, als daß zwischen Saburō und Miyo sehr viel mehr Ähnlichkeit bestand als zwischen ihr selbst und Saburō. Etsuko setzte sich in den Sessel, den Yakichi aller Wahrscheinlichkeit nach heute abend dem Minister anbieten würde. Sogleich nahm ihre Miene etwas von der gönnerhaften, ein wenig mitleidigen Großherzigkeit an, mit der dieser vielbeschäftigte Mann die gute Stube eines von der Gesellschaft vergessenen Schulfreundes mustern würde. Als einziges Gastgeschenk, dachte sie, würde der Herr Minister einige -zig Minuten seines Tages mitbringen, dessen Minuten und Sekunden sonst quasi Auktionswert hatten, und selbige überaus bedeutsam dem Hausherrn zum Präsent machen. »Nur keine Umstände«, hatte Yakichi immer wieder zu Etsuko gesagt und so etwas wie eine glückliche Grimasse geschnitten. Wer weiß, sagte sie sich, vielleicht ergab sich durch die Visite dieses großen Tieres für Yakichi völlig unverhofft die Gelegenheit zu einem Neubeginn: »Wie wär’s? Willst du nicht wieder für uns kandidieren? Gleich nach dem Krieg, da konnte sich bald ein Schnösel wichtig machen, auch wenn er von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte, aber das ist vorbei, nun ist in der Politik ebenso wie in Handel und Industrie für unsere großen Vorgänger mit ihrem reichen Erfahrungsschatz wieder die Zeit der Auferstehung gekommen.« Daraufhin würden Yakichis Lästermaul, seinem Lästermaul unter der Maske der Selbsterniedrigung, augenblicklich Schwingen wachsen, und dann käme er so richtig in Fahrt: »Ich kann doch nicht. Ein alter Tatter wie ich taugt doch zu nichts mehr. Auch wenn ich hier den Bauern spiele: Kaltes Wasser ist nichts für alte Männer, heißt es; wenn ich 95
noch für was gut bin, dann höchstens zum Bonsai-Schnippeln. Aber es tut mir nicht leid. Ich bin zufrieden. Vielleicht sollte ich das vor dir nicht sagen, aber etwas Gefährlicheres, als sich in Zeiten wie diesen in vorderster Front zu exponieren, gibt es nicht, davon bin ich überzeugt. Keiner weiß, wann das alles plötzlich wieder umkippt, ist es nicht so? Ist doch alles nur Schein heutzutage, egal was, bloßes So-tunals-ob. Auch der Frieden ist nur ein So-tun-als-ob und die Wirtschaftskrise, genauso ist auch der Krieg nur Schein, oder die Hochkonjunktur. Dabei leben und sterben in dieser Scheinwelt unzählige Menschen. Selbstverständlich leben und sterben sie; sind ja Menschen. Das ist ganz selbstverständlich. Nur – in dem ganzen So-tun-als-ob findest du nichts, das es wert wäre, sein Leben dafür einzusetzen. Ist es nicht so? Nur ein Narr würde für so etwas sein Leben einsetzen. Ich bin aber ein Mensch, der sich mit Haut und Haar einsetzen können muß, sonst bring ich nichts weiter. Nicht nur ich. Wer eine Aufgabe übernimmt, muß bereit sein, ihr sein Leben zu widmen, sonst ist er dafür nicht der Richtige. Das ist mein Standpunkt. Aber man braucht sich ja nur umzusehen: Keiner von den heutigen Machern hat eine Aufgabe, die es wert wäre, sein Leben dafür einzusetzen; übernehmen müssen sie sie trotzdem, die armen Teufel. Tja, so ist es eben. Doch von dem allen abgesehen bin ich ein alter Tatter. Meine Frist ist bemessen. Bitte das als Galgenhumor zu nehmen und nicht ungehalten zu sein. Ich bin ein alter Tatter, ein Haufen Meische, aus der man allenfalls noch Suppe kochen kann, wenn der Sake ausgepreßt ist. Sie nochmals auszupressen, um zweitklassigen Sake draus zu machen, das wäre grausam.« Der Name der Essenz, deren bestechenden Duft Yakichi 96
dem Minister in die Nase steigen zu lassen gedachte, um sich selber als weder ruhm- noch gewinnsüchtig zu präsentieren, lautete »gelassen und friedlich«. Und was versprach so ein bestechendes Duftmittel? Nun, jedenfalls würde es die zurückgezogene Existenz Yakichis mit gesellschaftlichem Prestige anreichern. Die schlau verborgenen Klauen des weltmüden alten Falken würden für schärfer gehalten werden, als sie tatsächlich waren. Des Morgens Trank – Magnolientau Herabgefallene Chrysanthemenblüten – des Abends Speise Im Salon hing eine Kalligraphie von Yakichis eigener Hand mit seinem Lieblingszitat aus dem chinesischen Klassiker Li Sao. Innerhalb einer einzigen Generation eine solche Liebhaberei zu entwickeln ist an sich durchaus bemerkenswert. Doch falls eine einzige angeborene Verschrobenheit die Entwicklung eines solchen Steckenpferdes bewerkstelligt haben sollte, dann hatte diese pächterhafte Verschrobenheit möglicherweise den Ehrgeiz von Yakichi einzudämmen vermocht. Menschen vornehmer Abstammung indes übertünchen sich kaum je mit Eleganz. Bis nachmittags hatte man im Hause Sugimoto alle Hände voll zu tun. Immer wieder behauptete Yakichi, daß ein übertriebener Empfang unnötig sei. Allen war jedoch klar, daß er sauer gewesen wäre, wenn sie ihn beim Wort genommen hätten. Einzig Kensuke hielt sich im Oberstock versteckt und drückte sich vor jeglicher Arbeit. Flink schichteten Etsuko und Chieko o-hagi in Lackschatullen, ein jahreszeitliches Konfekt zum Herbst-Äquinoktium aus Reis und süßen Bohnen, bereiteten für alle Fälle ein Abendessen vor, wobei sie vorsorglich auch Sekretär und Fahrer mit einkalkulierten. Man schickte um die Frau von Okura, damit sie ein Huhn schlachten komme. Als sie in ihrem gemusterten Arbeits97
kleid zum Hühnerstall ging, liefen ihr die beiden Kinder von Asako neugierig hinterher. »Nein! Das kommt nicht in Frage. Wie oft hab ich euch schon gesagt, ihr dürft nicht zusehen, wenn ein Huhn geschlachtet wird!« hörte man Asako aus dem Haus schreien. Sie konnte weder kochen noch nähen. Dennoch hielt sich Asako für überaus befähigt, ihren Kindern eine kleinbürgerliche Erziehung angedeihen zu lassen. Als Nobuko mit einem billigen Comic-Heft angerückt kam, das sie von Okuras Tochter geliehen hatte, geriet Asako außer sich. Sie nahm es ihr weg und gab ihr dafür ein Bilderbuch zum Englischlernen. Als Revanche schmierte die Kleine das Gesicht der Königin pastellblau an. Etsuko nahm die Lackschalen aus dem Schrank und polierte eine nach der anderen. Dabei schauderte sie ein wenig vor Erwartung, das Huhn schreien zu hören, wenn ihm der Hals umgedreht wurde. Sie hauchte die Schalen an und wischte sie blank. Danach spiegelten die bernsteinfarbenen Schalen Etsukos Gesicht. Fahrig wiederholte sich diese Tätigkeit, doch in Gedanken ließ Etsuko die Szene ablaufen, wie im Schuppen einem Huhn der Hals umgedreht wurde. Der Hinterausgang der Küche führt unmittelbar zum Schuppen. Dorthin, in ihrer Hand baumelnd ein Huhn, lenkte die o-beinige Frau des Bauern Okura nun ihre Schritte. Die Strahlen der Nachmittagssonne reichten bis zur Hälfte des Schuppens und tauchten dessen andere Hälfte in um so tiefere Dunkelheit. Gußeiserne Gerätschaften zeichneten unscharfe Schattenrisse, die gerade noch erkennen ließen, daß es Hauen und Schaufeln sein mußten, die dort hinten verstaut worden waren. An der Wand lehnten zwei, drei schon leicht ramponierte Fensterläden. Ein geflochtener Tragekorb. Ein Zerstäuber zum Einnebeln der Kakibäume mit insektizidem 98
Kupfervitriol. Die Frau setzte sich auf einen schiefen kleinen Stuhl und klemmte die Flügel des heftig flatternden Huhns fest zwischen ihre dicken, klobigen Knie. Nun erst sah sie die beiden Kinder in der Schuppentür stehen, die ihr bis hierher nachgegangen waren und alle ihre Handgriffe und Bewegungen beobachteten. »Na, das geht aber nicht, kleines Fräulein, sonst schimpft die Mutter. Geht weg von hier. Das hier ist nichts für Kinder.« Das Huhn gackerte. Die anderen Hühner im Stall bekamen mit, was hier los war und begannen gleichfalls zu lärmen. Nobuko und der kleine Natsuo, die Hand seiner Schwester fest umklammert, standen da, die Sonne im Rücken, nur ihre Augen funkelten. Wie angewurzelt standen sie mit angehaltenem Atem da und verschlangen Frau Okura mit ihren Blicken, wie sie sich über das aus Leibeskräften strampelnde, flatternde Huhn beugte und umständlich mit beiden Händen nach dessen Kragen langte. Gleich danach hörte Etsuko das Huhn kreischen, verstört, aufgeregt, eher unsicher, als sei es sich nicht ganz im klaren darüber, wie man das macht. Yakichi schaffte es, seine Enttäuschung über das Nichterscheinen des Gastes zu verbergen und sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihm das Warten zusetzte. Allerdings nur bis etwa gegen vier Uhr. Als die Schatten unter den Ahornbäumen im Garten dann immer dunkler wurden, fing er jedoch an, sein Unbehagen offen zur Schau zu tragen. Er rauchte hektisch, stürzte schließlich Hals über Kopf hinaus, in den Birnengarten, wo er sich da und dort ziellos zu schaffen machte. Etsuko ging statt ihm zum Friedhofstor, wo die Auto99
Straße endete, um nachzusehen, ob nicht vielleicht doch eine Luxuslimousine Richtung Sugimotosches Grundstück gefahren komme. Ans Brückengeländer gelehnt blickte sie ins Weite auf die in sanften Kurven heranführende Straße. Hier war die Pflasterung zu Ende, und zwischen üppigen Reisfeldern, deren Ernte schon bald zum Einfahren war, Feldern mit Mais in strammen Reihen, winzigen, im Waldschatten versteckten Sümpfen, den Gleisen der Hankyū-Linie, Dorfstraßen, Flüssen, Bächen, zwischen all dem hindurch lief die unfertige Autostraße weiter und immer weiter, so weit das Auge reichte, und Etsuko, wie sie hier an dem einen Ende der Autostraße stand und schaute, überkam eine Empfindung, als schwinde ihr das Bewußtsein. Eine Luxuslimousine – daß hier eine Luxuslimousine gefahren kommen sollte, diese Straße entlang, Etsuko bis vor die Füße, um dort anzuhalten – eine solche Vorstellung überstieg jedwede Träumerei, grenzte sogar ans Wunderbare. Ja, gegen Mittag, da hätten zwei, drei Autos hier gehalten, sagten die Kinder. Aber jetzt – nicht mal eine Spur von ihnen. Richtig, heute war ja »Mitteltag«, der Tag des Herbst-Äquinoktiums. Und wir? Da haben wir von morgens an o-hagi gemacht, in Lackschatullen getan und weggesteckt, damit die Kinder sie nicht womöglich durcheinander brachten, die waren ja überall dran. Vor lauter Abstrampeln hat dann keiner von uns mehr dran gedacht. Einmal habe ich mich vor dem Ahnen-Altar kurz verneigt. Ansonsten habe ich davor nur ein Räucherstäbchen entzündet, wie immer. Den lieben langen Tag haben wir gewartet und gewartet – auf das Kommen eines Lebenden. An die Toten hat keiner mehr gedacht. In fröhlichem Durcheinander kamen zum Tor des Hattori Reien-Friedhofs Besucher heraus. Eine Familie, bestehend aus einem, wie sie sah, ganz gewöhnlichen Ehepaar in mittleren Jahren und vier Kindern, darunter ein Mädchen im 100
Grundschulalter. Die Kinder blieben ständig zurück oder liefen voraus. Bei genauem Hinsehen merkte Etsuko, daß sie in dem Rasenoval innerhalb der Umgehungsstraße Grashüpfer um die Wette fingen. Sieger war, wer die meisten Grashüpfer fing ohne auf den Rasen zu treten. Zunehmend legte sich Dämmerung über den Rasen. Auch im Friedhof, so weit er jenseits des Eingangstores sichtbar war, drangen – wie Wasser in Watte – Schatten zwischen Gräber, Büsche, Baumgruppen und Rasenhügel. Nur auf die Gräber auf dem Hang ganz hinten legte sich das Licht der untergehenden Sonne, im letzten Abendrot glänzten Grabsteine und Gruppen immergrüner Laubbäume. Angeleuchtet von diesem milden Licht sah der Hang beinahe aus wie ein Gesicht. Den Anblick dieses Ehepaares in mittleren Jahren, wie es so dahinschlenderte, lachend, plaudernd, ohne sich im mindesten um die Kinder zu kümmern, fand Etsuko richtig albern. In ihren romanhaften Anschauungen waren Ehemänner grundsätzlich treulos und die Frauen litten. Und kamen sie in die Jahre, dann schwiegen sie einander nur noch an; entweder aus Gleichgültigkeit oder aus Haß, eins von beiden. Aber dieser Mann hier in seinem auffällig gestreiften Jackett mit andersfarbener Hose und seine Frau in einem lila Kostüm, in der Hand die Einkaufstasche, aus der eine Thermosflasche hervorlugte – die beiden sahen aus, als hätten sie mit Romanen nichts zu tun, nicht das geringste. Diese Leute gehörten dem Teil der Menschheit an, der das Erzählgut dieser Welt nach Tisch gesprächsweise in den Mund nimmt und dann vergißt. An der Brücke angekommen, rief das Paar nach den Kindern. Unsicher wandten sie sich auf der Straße nach vorn und nach hinten, da nirgends jemand zu sehen war. Zu guter Letzt wandte sich der Mann höflich an Etsuko: 101
»Könnten Sie uns bitte sagen, wo hier die Straße zur Hankyū-Station Okamachi abzweigt?« Während Etsuko dem Ehepaar die Abkürzung durch die Reisfelder und die Wohnhausanlage erklärte, sperrten die beiden ungläubig die Augen auf über das gestochene Japanisch aus dem Yamate-Viertel von Tōkyō. Da drängten auch schon die vier Kinder heran und starrten an Etsuko hoch. Eins davon, ein etwa siebenjähriger Junge, streckte ihr ganz langsam seine zur Faust geballte Hand entgegen und öffnete die Finger ein klein wenig: »Guck mal!« sagte er. Im Käfig, den seine kleinen Finger formten, hockte gekrümmt eine grasgrüne Heuschrecke. Langsam streckte und beugte das Insekt im Schatten der Finger seine Glieder. Derb schlug ihm die ältere Schwester mit der flachen Hand von unten gegen den Handrücken. Unwillkürlich öffnete der Junge die Finger, die Heuschrecke schnellte hoch, fiel zu Boden, machte dort einen Hopser und noch einen und verschwand in den Grasbüscheln am Straßenrand. Schon war der schönste Geschwisterzank im Gange. Lachend schlichteten die Eltern. Alle nickten Etsuko respektvoll zu, setzten sich wieder gemütlich in Marsch und entfernten sich auf dem grasbewachsenen Feldweg. Ob das Automobil, das die ganze Sugimoto-Sippe so sehnlich erwartete, nicht vielleicht hinter ihr war, fiel Etsuko plötzlich ein, und sie drehte sich um. Aber natürlich war da weit und breit kein Auto. Nach und nach wurden die Schatten auf der Straße dichter, und es begann leicht zu dämmern. Schon war es für alle Schlafenszeit, doch die Gäste hatten sich letztlich nicht blicken lassen. Trotz der schweren, bedrückten Stimmung, die auf jedem einzelnen lastete, blieb ihnen nicht viel übrig, als sich an dem gereizten, wortkargen Yakichi ein 102
Beispiel zu nehmen und dreinzuschauen, als könnten die Gäste immer noch kommen. Seit Etsuko hier in diesem Haus war, hatte nichts und niemand je vermocht, die ganze Familie geschlossen in eine solche Erwartung zu versetzen. Kann sein, daß er es bloß vergessen hatte, jedenfalls erwähnte auch Yakichi das HerbstÄquinoktium nicht. Er wartete. Und wartete, schmerzlich hin und her geworfen zwischen Hoffnung und Enttäuschung, wie seinerzeit Etsuko auf die Rückkehr ihres Mannes gewartet hatte – zwecklos und von allen im Stich gelassen. »Er kommt, ganz bestimmt kommt er« ist ein grausamer Ausspruch. Ein Verdikt, das einem ebendieses Kommen nun wirklich unmöglich erscheinen läßt. Nicht einmal Etsuko, die ein wenig ahnte, wie Yakichi zumute war, hielt die hochgespannte Erwartung, die er den ganzen Tag über gehegt hatte, für bloße Geltungssucht. Allerdings verletzen uns enttäuschte Hoffnungen weit weniger als das Nicht-Eintreten von Dingen, die wir mit besonderem Eifer geringgeschätzt haben. Dolchstöße in den Rücken sind das. Yakichi reute es, daß er dem Genossenschaftsfunktionär das Telegramm gezeigt hatte. Das nahmen die jetzt bestimmt zum Anlaß, ihm das Etikett »Fallengelassener« anzuheften. Um, wie er ein ums andere Mal betonte, wenigstens einen Blick auf das Gesicht des Ministers werfen zu können, hatte der Funktionär bis acht Uhr abends bei den Sugimotos ausgeharrt und mit Hand angelegt, wo er nur konnte. Auf diese Weise war ihm, angefangen von Yakichis Nervosität, Kensukes halb spöttischen Lästereien und den Vorbereitungen sämtlicher Familienmitglieder für einen würdigen Empfang, über das Herannahen der Nacht bis hin zu aufkeimenden Befürchtungen und der endgültig schwindenden Erwartung nicht das Geringste entgangen. 103
Etsuko zog aus den Ereignissen dieses Tages für ihr Teil die Lehre, daß man überhaupt nichts erwarten darf. Gleichzeitig empfand sie – zum ersten Mal, seit sie hier in Maiden war – ein sonderbares Gefühl der Zuneigung für Yakichi, wie er sich nun trotz seiner enttäuschten Erwartungen verzweifelt abmühte so zu tun, als könne ihm das alles nichts anhaben. Außerdem hätte jenes Telegramm auch ganz gut ein dummer Streich sein können, den irgendeiner von Yakichis zahlreichen Bekannten in Ōsaka im Verlauf eines Saufabends ausgeheckt hatte. Etsuko war auf dezente Weise nett zu Yakichi. Unauffällig, intim und sorgfältig darauf bedacht, daß er es ihr nicht als Mitleid auslegte. Es war schon zehn vorbei, als der niedergeschlagene Yakichi aus einem bisher nie gekannten, demütigenden Angstgefühl heraus an Ryōsuke dachte. In einem Winkel seines Herzens spielte er mit einem Schuldbewußtsein, das ihn sein Lebtag lang noch kein einziges Mal angewandelt hatte. Es gewann an Schwere, legte sich wie herbe Süße auf die Zunge und konnte, je nachdem, wie man damit umging, dem Gemüt durchaus schmeicheln, wie ihm schien. Beweis dafür war, daß er Etsuko an diesem Abend schöner fand als je zuvor. »Diesen Sonnwendtag heute ist es einigermaßen turbulent zugegangen bei uns, was? Laß uns doch an seinem Todestag miteinander sein Grab in Tōkyō besuchen«, sagte er. »Ich darf mitfahren?« gab sie mit – je nachdem, wie man hinhörte – leicht freudig klingendem Unterton zurück, um nach einer Weile hinzuzusetzen: »Aber du brauchst dir wegen Ryōsuke wirklich keine Gedanken zu machen, Vater. Er war niemals mein, auch als er noch lebte.«
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Dann folgten zwei verregnete Tage. Der dritte Tag, der sechsundzwanzigste September, war heiter. Schon vom Morgen an wuschen alle emsig die aufgestaute Wäsche. Etsuko hängte die über und über geflickten Socken von Yakichi zum Trocknen auf (wenn sie ihm eigenmächtig neue kaufte, würde er bestimmt sauer), als ihr plötzlich die von Saburō einfielen. Was er wohl damit gemacht hatte? Heute morgen hatte er wie immer seine zerschlissenen Turnschuhe angehabt, barfüßig. Und mit einem etwas vertraulicheren Lächeln als sonst hatte er »guten Morgen, gnädige Frau« gesagt. Durch einen Riß im Turnschuh unter seinem schmutzigen Knöchel lugte eine verkrustetete Wunde, die vermutlich von einem scharfen Grashalm stammte. Er will sie wohl zum Ausgehen anziehen. Dabei sind die doch gar nicht so was Teures, Ach, die Burschen auf dem Land, was die ßir Vorstellungen haben. Aber fragen, warum er sie denn nicht anzog, konnte sie ihn auch nicht gut. An den Ästen der vier mächtigen Buchen vor der Küche hatte man Stricke festgemacht. Dicht an dicht hing auf diesen kreuz und quer laufenden Hanfstricken die Wäsche und bauschte sich im lebhaften Westwind, der aus dem Kastanienwäldchen daherfuhr. Die angekettete Maggie, über ihrem Kopf das spielerische Flattern der weißen Schatten, setzte sich immer wieder kerzengerade hin und brach, als hätte sie sich wieder darauf besonnen, in ein stoßweises Bellen aus. Etsuko war mit dem Wäscheaufhängen fertig und schlenderte zwischen den vollgehängten Leinen umher. Dabei schlug ihr ein kräftiger Windstoß eine noch nasse Schürze um die Wangen, die unter dieser kühlfrischen Ohrfeige aufglühten. Wo mochte Saburō sein? 105
Wenn sie die Augen schloß, hatte sie das Bild seiner schmutzigen Knöchel mit der verkrusteten Wunde von heute morgen vor sich. Kleine Eigenheiten, die er so an sich hatte, wie er lächelte, seine Armut, der Schmutz auf seinen Kleidern, das alles gefiel Etsuko. Seine entzückende Armut! Die vor allem hatte es Etsuko angetan. Seine Armut war für Etsuko, was die bestrickende Schamhaftigkeit einer Jungfrau für einen Mann darstellt. Vielleicht ist er gerade in seinem Zimmer, still in einen Ritterroman vertieft? Etsuko trocknete sich die nassen Hände mit der Schürze ab und durchquerte die Küche. Neben der Hintertür der Küche stand ein Abfallbehälter, eine Tonne, in die Miyo immer die Speisereste und das verfaulte Gemüse warf. Sobald sie voll war, leerte sie sie in eine etwa zwei Tatami große Kompostgrube. Etwas Unvermutetes in dieser Abfalltonne fiel Etsuko auf und ließ sie anhalten. Unter gelb gewordenen Gemüseblättern und Fischgräten lugte funkelnagelneuer Stoff hervor. Dieses Blau kam ihr bekannt vor. Ganz vorsichtig schob sie ihre Finger hinein und zog das stoffene Etwas hervor. Es waren Socken. Ein Paar blaue Socken kam zum Vorschein und darunter ein Paar braune. Nichts deutete daraufhin, daß sie auch nur ein einziges Mal über Füße gestülpt worden wären. Die Sicherheitsnadel mit dem Warenzeichen des Kaufhauses hing auch noch dran. Eine Weile stand sie wie gebannt vor der unvorhergesehenen Entdeckung. Die Socken entglitten ihren Fingern, fielen in die Tonne und blieben auf den vergammelten Speiseresten liegen. Nachdem sie an die zwei, drei Minuten so dagestanden hatte, lugte Etsuko um sich und verscharrte dann hastig, wie eine Frau einen abgetriebenen Fötus, die Socken unter 106
gelben Gemüseblättern und Fischgräten. Sie wusch sich die Hände. Beim Waschen und abermaligen, sorgfältigen Abtrocknen an der Schürze spann sie ihre Gedanken weiter. Ihre Gedanken wollten zu keinem rechten Ende kommen. Noch bevor sie zu einem Ende kamen, kochte allerdings eine Wut in ihr hoch, die keiner Erklärung bedurfte und ihr Handeln diktierte. Als Saburō, der eben in seiner drei Tatami großen Schlafkammer sein Arbeitsgewand anzog, Etsuko vor dem Erkerfenster seiner Stube auftauchen sah, nahm er hurtig die formelle Kniesitz-Haltung ein, während er sich das Hemd zuknöpfte. Die Knöpfe an den Ärmeln waren noch offen. Er ließ einen prüfenden Blick über Etsukos Gesicht huschen. Sie machte noch keine Anstalten, etwas zu sagen. Nun hatte er die Ärmel zugeknöpft. Sie schwieg immer noch. Die völlige Regungslosigkeit ihrer Miene verblüffte ihn. »Was ist eigentlich mit den Socken, die ich dir neulich geschenkt habe? Willst du sie mir nicht zeigen?« sagte Etsuko sanft. Doch einem feinen Ohr mußte diese Sanftheit unheimlich vorkommen. Sie war in Rage. Den undefinierbar aus einem Gefühlswinkel emporgestiegenen Ärger schürte und verstärkte Etsuko nach Kräften; denn sonst hätte sie nicht einmal diese Frage stellen können. Ihr Ärger entstammte einer auf der Hand liegenden Notwendigkeit, war ein unabweisbarer, abstrakter Affekt. In den schwarzen Dackelaugen von Saburō zeigte sich eine Regung. Er knöpfte den bereits zugeknöpften linken Hemdsärmel nochmals auf und dann wieder zu. Diesmal war er es, der beharrlich schwieg. »Was ist? Warum sagst du nichts?« Etsuko stützte ihren Arm auf das Fensterbrett und fixierte ihn spöttisch. Trotz ihrer Wut kostete sie diese Freude voll 107
aus. Sagenhaft! Dergleichen hätte sie sich bisher gar nicht vorstellen können. Diesen Hals, leicht vorgeneigt, braungebrannt, geschmeidig, die frische Rasur – das alles so triumphierend, so gierig mit Blicken in sich aufnehmen zu können. … … Unmerklich mischte sich ein zärtlich kosender Ton in Etsukos Redeweise. »Ist ja schon gut, deswegen brauchst du dich doch nicht gleich so zu genieren. Ich habe sie gesehen. In der Mülltonne nämlich, weggeschmissen … … Wer hat sie denn weggeschmissen? Warst du das?« »Ja, das war ich.« Saburō antwortete ohne Zögern. Diese Antwort machte Etsuko unsicher. Er deckt jemanden. Andernfalls hätte er zumindest ganz kurz zögern müssen. Da hörte Etsuko ein Schluchzen hinter sich. Miyo hielt die graue, für ihre Größe viel zu lange alte Serge-Schürze vors Gesicht gepreßt und weinte. Zwischen den einzelnen Schluchzern war zu hören, wie sie abgehackt hervorstieß: »Ich hab sie weggeschmissen. Ich hab sie weggeschmissen.« »Wie? Und weswegen heulst du dann?« Während Etsuko auf Miyo einredete, blickte sie Saburō schnell ins Gesicht. Ängstliche Hast stand in seinen Augen und der heimliche Wunsch, Miyo etwas mitzuteilen. Dieser Ausdruck ließ den Ruck, mit dem Etsuko daraufhin Miyo die Schürze vom Gesicht riß, beinahe ins Grausame ausarten. Zum Vorschein kam Miyos verschrecktes, rotes Gesicht. Ein gewöhnliches Landmädchengesicht. Wenn schon, dann konnte man es, verheult und tränen verschmiert, wie es war, eher häßlich nennen. Zum Platzen pralle, knallrote Backen wie überreife Kaki, armselige, dünne Brauen, total ausdrucksunfähige, große, stumpfsinnig blickende Pupillen, eine un108
interessante Nase … … bloß die Form ihrer Lippen machte Etsuko ein klein wenig nervös. Während sie selber eigentlich mehr schmale Lippen hatte, waren Miyos bebende, tränenund rotznaß glänzende, von einem pfirsichartigen Flaum umrahmte Lippen gerade richtig, das heißt klein, kirschrot, etwa von der Dicke eines Nadelkissens. »Sag mir doch warum. Nicht, daß mir das Wegwerfen der Socken irgend etwas ausmacht. Ich verstehe bloß nicht den Grund dafür, deshalb frage ich.« »Ja … … « Saburō fiel Miyo ins Wort. Eine solche Hurtigkeit erweckte den Eindruck, es wäre gar nicht er selber. »Wirklich, gnädige Frau, ich war’s, der sie weggeschmissen hat. Ich dachte mir, die sind ja viel zu schade für mich, deswegen habe ich sie weggeschmissen. Ich war’s, gnädige Frau.« »Auch wenn du so ungereimtes Zeug daherredest, nutzt dir das nichts.« Miyo stellte sich vor, daß Yakichi von Etsuko erfahren würde, was Saburō getan hatte und Saburō dafür bestimmt Prügel bekommen würde von Yakichi. Sie durfte nicht zulassen, daß er sie noch länger deckte und unterbrach ihn: »Ich habe sie weggeschmissen, gnädige Frau. Saburō hat sie mir gleich gezeigt und gesagt, daß er sie von Ihnen bekommen hat. Und da hab ich gesagt, das gibt’s doch nicht, daß dir die gnädige Frau so was schenkt, einfach nur so. Mir ist das ganz verdächtig vorgekommen. Da ist der Saburō wütend geworden und hat gesagt, ›na, dann schenk ich sie halt dir‹, hat sie hingelegt und ist weggegangen. Und da hab ich sie weggeschmissen, weil Frauen ja keine Männersocken tragen können.« Miyo hob wieder die Schürze vors Gesicht. Das hatte 109
Hand und Fuß. Falls man die niedliche Haarspalterei, daß »Frauen ja keine Männersocken tragen können«, überhörte. Etsuko gab sich damit halbwegs zufrieden und sagte resignierend: »Schon gut. Wein nicht. Was werden denn Chieko und ihr Mann denken, wenn sie dich so sehen. Ein Paar Sokken oder zwei sind doch wirklich kein Grund für so ein Theater. Schluß jetzt. Wisch dir die Tränen ab.« Etsuko vermied es, Saburō anzusehen. Sie legte Miyo den Arm um die Schulter und führte sie weg. Dabei blickte sie immer wieder auf die Schulter, die sie im Arm hielt, den etwas schmutzigen Nacken, die unordentliche Frisur. Eine solche Frau! Um alles in der Welt, eine solche Frau! Heiter prangte der Herbsthimmel, von den Wipfeln der Buchen schallte – wohl zum ersten Mal in diesem Jahr – das Geschrei der Würger, und Miyo, dadurch abgelenkt, latschte in eine vom letzten Regen stammende Pfütze. ›Ah‹ machte Etsuko, als der Schlamm auf ihr Kleid hochspritzte und zog ihren Arm zurück. Sogleich war Miyo auf allen vieren wie ein Hund. Und mit demselben Zipfel ihrer Serge-Schürze, mit dem sie sich vorher die Tränen abgewischt hatte, putzte sie nun penibel Etsukos Kleid. In Etsukos Augen war diese wortlose Ergebenheit, die sie übrigens ebenso wortlos dastehend an sich geschehen ließ, weniger ein Landmädchenkniff; viel eher schien sich ihr darin eine freche, unterwürfig tuende Feindseligkeit zu äußern. – Einige Tage später sah Etsuko Saburō. Er hatte jene Sokken an, lächelte unschuldig, als ob nichts gewesen wäre, und verbeugte sich zum Gruß vor ihr. Etsuko hatte nun etwas gefunden, das ihrem Leben Sinn gab. 110
Von diesem Tag bis zu dem verfluchten Vorfall beim Herbstfest am zehnten Oktober hatte Etsuko etwas, wofür sie lebte. Etsuko hätte nie und nimmer um Erlösung gefleht. Daß ihr trotzdem ein sinnhafter Lebensinhalt zufiel, muß deshalb verwundern. Das Leben für nicht lebenswert zu halten, daran ist weiter nichts Besonderes. Einigermaßen Sensiblen fällt es schwer, das Leben nicht für nicht lebenswert zu halten. Auf dieser Schwierigkeit basierte Etsukos Glückseligkeit, so daß für sie nichts, was gemeinhin als »Lebenssinn« gilt – während wir nämlich dem Warum unseres Lebens fragend hinterherlaufen, ohne es zu erhaschen, leben wir ja auch; und wenn andererseits das Wesen unseres Daseins in dem Bestreben liegen sollte, diesen seinen Doppelaspekt rückwirkend, kraft einer entdeckten Sinnhaftigkeit, zu einem einzigen zu verschmelzen, dann besteht der Sinn des Lebens doch wiederum nur in der permanenten Illusion dieser Verschmelzung, der aus dem Versuch stammenden Illusion nämlich, diese Rückwirkung eines Lebenssinnes vorwegnehmend schon als gegeben zu betrachten, ehe sie überhaupt erfolgt ist – so daß nichts, was sich in der geschilderten Weise als »Lebenssinn« bezeichnen ließe, für Etsuko irgendwie von Belang war. Einbildungskraft unterschied Etsuko scharf von Illusion; doch wenn sie diesen »Lebenssinn«, der ihr da unerwartet aufgekeimt war wie eine sonderbare Pflanze, irgendwo einordnen mußte, dann zog sie Einbildungskraft als Urteilskategorie vor, da ihr deren Gefahren vertrauter waren – wie ein Abenteuerflug mit genauem Ziel und verläßlicher Ankunftszeit. Sie verfügte über eine Begabung ähnlich der Fingerfertigkeit, mit der ein Bettler sich die Läuse aus den Kleidern holt und sie ohne Ausnahme eine nach der anderen zerdrückt. Dank dieser Bega111
bung konnte ihre Vorstellungskraft jählings in Fahrt kommen und sie veranlassen, alle möglichen Unterlagen zum Zwecke der Hintanhaltung etwaiger Gedanken an die Nichtigkeit ihres eigenen Daseins zu sammeln – genauer gesagt: alle möglichen Unterlagen, die ihr Dasein seines Sinnes entkleideten, um trotzdem als Begründung für ihre Behauptung herzuhalten, daß sie an derlei ja gar nicht dachte – sowie alle Dinge und Fakten, die Etsuko auch nur durch den leisesten Anschein einer Hoffnung hätten hinters Licht führen können, sorgfältig auszumerzen, wie ein Gerichtsvollzieher kippte diese Vorstellungskraft alle Hoffnung um und brachte an ihrer Rückseite ein Pfandsiegel an. Eine Leidenschaft, die größer wäre als diese, gibt es nicht und kann es nicht geben, weil sich die Leidenschaft dieser Welt durch nichts zersetzen läßt als durch Hoffnung. Hier angelangt, ähnelten Etsukos Instinkte denen eines Jägers: Nahm sie auf weite Entfernung zufällig wahr, wie sich im Unterholz die weiße Blume eines Wildhasen bewegte, schärfte sich ihre List, im ganzen Körper geriet das Blut in Wallung, die Sehnen spannten sich, das Nervengeflecht fieberte, vor straffer Konzentration wurde sie kompakt und eins wie ein Pfeil. In den Tagen und Monaten ohne solchen Lebensinhalt wurde sie zu einem völlig anderen Jäger, erbat nichts als einen Platz am Lagerfeuer und verbrachte Tage und Nächte müßig. Es gibt Menschen, denen fällt leben einigermaßen leicht, und Menschen, denen leben einigermaßen schwerfällt. Eine Ungerechtigkeit, die sogar Rassendiskriminierung übertrifft, an der Etsuko sich aber durchaus nicht stieß. Selbstverständlich haben es die Leichtlebigen besser, dachte Etsuko. Sie brauchen sich ja auch keine Gedanken um eine Begründung dessen zu machen, was über leben hinausreicht. Die hingegen, denen leben schwerfällt, 112
suchen immer gleich nach Begründungen außerhalb. »Das Leben ist schwer« kann jeder sagen, darauf braucht sich keiner was einzubilden. Unsere Fähigkeit, im Leben die eine oder andere Schwierigkeit zu entdecken, trägt immerhin dazu bei, uns das Leben da und dort auch ein wenig zu erleichtern. Andernfalls wäre das Leben für uns weder schwer noch leicht, sondern bloß ein schlüpfriger Hohlraum ohne jeden Halt. Solcher Auffassung vom Leben wird nun durch jene an sich keineswegs besondere Fähigkeit, die nicht mehr ist als ein alltäglicher Bedarfsartikel, ein Riegel vorgeschoben, und doch kommt sie dem Teil der Menschen, denen es nie einfiele, das Leben so zu sehen, überhaupt nicht zu Bewußtsein. Wer mit der Waage seines Lebens gemogelt hat, damit es gewichtiger aussieht, büßt dafür in der Hölle. Das Gewicht des Lebens ist, ganz ohne zu mogeln, normalerweise so wenig spürbar wie das der Kleider, und wem vom Manteltragen die Schultern weh tun, der ist eben krank. Daß ich schwerere Kleider zu tragen habe als andere, liegt bloß daran, daß meine Seele durch Zufall im Schneeland geboren ist und noch dort lebt. Meine Lebensprobleme sind für mich nicht mehr als eine Rüstung, die mich schützt. Ihr Lebenssinn ließ sie weder das Morgen noch das Übermorgen oder jede sonstige Zukunft für eine Bürde halten. Bürde blieben sie trotzdem, doch eine geringfügige Schwerpunktverlagerung verlieh Etsuko und ihrem Blick in die Zukunft etwas Beschwingtes. Und durchaus nicht aus Hoffnung. Etsuko beobachtete den ganzen Tag unablässig, was Saburō und Miyo so trieben. Küßten sie sich vielleicht unter einem Baum? Spannten sie etwa tief in der Nacht eine Schnur zwischen ihren weit auseinander liegenden Kammern? Entdeckungen dieser Art konnten sie bestenfalls quälen, doch Unsicherheit, meinte sie, würde sie noch viel mehr quälen und war daher fest entschlossen, Beweise für eine Liebe zwi113
schen den beiden ans Licht zu bringen, nötigenfalls mit den niederträchtigsten Mitteln. Rein vom Ergebnis her gesehen bewies diese Leidenschaft auf geradezu unheimliche Weise nur, daß die Bereitschaft des Menschen zu leidenschaftlicher Selbstquälerei keine Grenzen kennt. Ein solcher Aufwand an Leidenschaft, nur um eine Hoffnung zunichte zu machen, bildete möglicherweise, ob stromlinienförmig oder gewölbt, das getreue Abbild einer Form menschlichen Existierens. Denn Leidenschaft ist etwas Formhaftes. Nur deshalb vermag sie zu jenem Medium zu werden, welches das menschliche Leben so vollkommen zur Darstellung bringt. Kein Mensch merkte, wie Etsuko die beiden überall beobachtete. Im Gegenteil, man hielt sie für gelassen und arbeitsamer als sonst. So wie Yakichi bei ihr, so schnüffelte Etsuko nun während der Abwesenheit von Saburō und Miyo in deren Kammern herum. Corpus delicti fand sich allerdings keines. Die beiden gehörten nicht zu den Tagebuchschreibern. Wenn sie nicht einmal imstande waren, Liebesbriefe zu schreiben, dann ahnten sie von zärtlicher, jeden Augenblick der Liebe stetem Erinnern anheimstellen wollender Verschwörung ganz ohne Zweifel genauso wenig wie von jener Verschwörung der Liebe, die schon dem Gegenwärtigen zur verklärenden Schönheit der Reminiszenz zu verhelfen sucht. Die beiden hinterließen keinerlei Erinnerung, keinerlei Beweisstück. Waren sie zusammen, dann fanden sich Blick und Blick, Hand und Hand, Lippen und Lippen, Brust und Brust … … und dann, dann fanden sich vielleicht sogar ihre … … ! Aah! Wie einfach! Welch gradliniges, schönes, abstraktes Handeln. Wörter und Sinn waren unnötig, eine Einstellung wie die eines Athleten, der sich zum Speerwurf anschickt, diese mit der Einfachheit des Zwecks völlig übereinstim114
mende Einstellung, dieses Handeln … … welch schlichte, abstrakte Schönheit das gesamte Tun doch bestimmte. Was für Beweise hätte es schon hinterlassen sollen. Heran und vorbei, wie eine Schwalbe, die über den Acker dahinflitzt. Gelegentlich kam ein Wachtraum über Etsuko, der ihr Sein wie in einem weit ausladenden Schwung einer prächtigen Wiege in die Finsternis des Weltalls entrückte, um im selben Augenblick zum Springquell zu werden, dessen Wassersäule diese Wiege heftig durchschüttelte und gleißend, glitzernd an ihr zerstäubte. Was Etsuko in Miyos Zimmer fand, waren: ein wertloser Handspiegel in einem Zelluloidrahmen, ein roter Kamm, eine billige Hautcreme, Mentholatum-Salbe, ein einziger AusgehKimono aus gemusterter Chichibu-Seide, ein zerknitterter Obi, ein Koshimaki, d. h. ein halb rockartiges Kimono-Untergewand, nagelneu, ein unmögliches Sommerkleid, ein Unterkleid dazu (im Sommer lief Miyo mit nichts als diesen beiden Kleidungsstücken am Leib glatt bis in die Stadt einkaufen), eine uralte Frauenillustrierte, Seite um Seite umgebogen, mit Eselsohren wie verdreckte Kunstblumen, ein rührseliger Brief einer Freundin aus ihrem Dorf … … und überall hingen und klebten ein, zwei rötlich braune Haare. Was Etsuko in Saburōs Zimmer fand, waren noch viel einfachere Gebrauchsgegenstände. Sind die beiden etwa so umsichtig, daß sie mein Herumstöbern schlauerweise mit einkalkuliert haben? Oder habe ich vor lauter Übergenauigkeit übersehen, was ich eigentlich suche, wie in der Kriminalerzählung von Poe, die mir Kensuke geliehen hat, wo »der entwendete Brief« ganz offen vor aller Augen im Briefhalter steckte? Beim Verlassen von Saburōs Kammer begegnete ihr Yakichi, der gerade zufällig in ihrer Richtung durch den Korridor 115
ging. Der Korridor war hier zu Ende. Es gab keinen Grund für Yakichi, durch den Korridor hierherzukommen. Es sei denn, er wollte zu dieser Kammer. »Ah, hier bist du«, sagte Yakichi. »Ja«, erwiderte Etsuko ohne jede Begründung. Als sie zusammen durch den Korridor zu Yakichis Zimmer zurückgingen, rempelte der alte Mann Etsuko ein wenig plump an. Nicht etwa, weil der Korridor zu eng gewesen wäre. Einfach so. Wie ein schmollendes Kind im Gehen seine Mutter anrempelt, die es an der Hand hinter sich herzieht. Im Zimmer und wieder beruhigt, fragte Yakichi: »Was wolltest du denn eigentlich dort, in der Kammer von dem?« »Mir sein Tagebuch anschauen.« Daraufhin sagte Yakichi nichts mehr, bewegte nur noch undeutlich seinen Mund. Am zehnten Oktober wurde in etlichen Dörfern hier in der Gegend das Herbstfest gefeiert. Saburō, von den Mitgliedern der Burschengruppe eingeladen, zog sich um und ging vor Einbruch der Dunkelheit weg. Bei solchen Festen herrscht meist solches Getümmel, daß es zu gefährlich wäre, mit Kindern hinzugehen. Um Nobuko und Natsuo, die unbedingt hinwollten, zurückhalten zu können, machte sich Asako erbötig, zusammen mit den Kindern das Haus zu hüten. Nach dem Essen machten sich dann Yakichi, Etsuko sowie Kensuke und seine Frau auf zum Dorfschrein, um sich das Fest anzusehen. Miyo nahmen sie auch mit. Seit der Abenddämmerung schon hallte nah und fern das Dröhnen der großen Trommeln, vermischt mit Stimmen, Geschrei und Gesang, die im Spiel des Windes aufklangen und verebbten. Schreie aus der Nacht über den Reisfeldern und die Nachtlieder der gefiederten und anderen Tiere des 116
Waldes, die aus der Stille aufklingen, tun ihr keinen Abbruch, sondern lassen sie eher noch fühlbarer werden. So tief sind die Nächte auf dem Land selbst in Gegenden, die im Dunstkreis der Großstädte liegen. Nur noch vereinzelt hörte man Grillen zirpen. Nachdem Kensuke und seine Frau sich für das Ausgehen zurechtgemacht hatten, öffneten sie im zweiten Stock die Fenster und lauschten dem Gedröhne der Trommeln, das aus allen vier Windrichtungen hereindrang. »Das ist wahrscheinlich die Trommel vom HachimanSchrein vor dem Bahnhof. … … Die jetzt ist eindeutig die vom Dorfschrein, zu dem wir jetzt gehen. … … Und das ist wahrscheinlich die Trommel vom Dorfschrein vor dem Rathaus im Nachbardorf. Dort dürfen die Kinder trommeln, die mit den weiß gepuderten Nasen; sie wechseln immer ab beim Schlagen. Die hat den kindlichsten Klang. Ab und zu hört sie ganz auf.« Diese Wortgefechte im Ratespiel und die mitunter sehr temperamentvoll geäußerten Meinungen des Ehepaares entfernten sich bisweilen so weit voneinander, daß sie fast in echten Streit überzugehen drohten. Das Ganze erweckte viel mehr den Eindruck, man wohne einem Theaterstück bei als der Unterhaltung eines achtunddreißigjährigen Mannes mit seiner siebenunddreißigjährigen Frau. »Nein, das kommt doch von Okamachi her. Der Klang dieser Trommel kommt vom Hachiman-Schrein vorm Bahnhof.« »So etwas von borniert wie du! Jetzt wohnst du schon sechs Jahre hier und weißt immer noch nicht, in welcher Richtung der Bahnhof ist?« »Na gut, dann sei bitte so freundlich und bring mir mal Karte und Bussole.« »Gnädige Frau, derlei Gegenstände existieren hier nicht.« 117
»Ich bin wohl eine gnädige Frau, aber du bist nur ein gewöhnliches Mannsbild.« »Klar, was denn sonst. Übrigens kann nicht jede die Gattin eines gewöhnlichen Mannsbildes werden. Die Frauen dieser Welt sind durchweg Frau Abteilungsleiterin, Frau Fischhändlerin, Frau Trompetenbläserin oder so. Du hast es gut. Als Gattin eines gewöhnlichen Mannsbildes repräsentierst du die absolute Spitze, die Krönung der Gattinnen-Karriere, als Weibchen verfügst du über ein Monopol auf das Leben des Männchens. Kann ein Weibchen noch höher hinaus?« »Ich mein doch was ganz anderes. Du bist ein ganz alltägliches Mannsbild, hab ich gesagt.« »Alltäglich? Na wunderbar! Das Alltägliche ist nämlich der letzte Schnittpunkt von menschlichem Leben und Kunst. Das Alltägliche verachten hieße ja, nicht verlieren können; sich vor dem Alltäglichen fürchten wäre ein Beweis für mangelnde menschliche Reife. Nimm doch die Haiku aus der Zeit vor Bashō, Danrin oder Shiki und die noch früheren, sie alle schöpfen doch aus der Vitalitätsfülle einer Epoche, in welcher die Ästhetik des Alltäglichen noch nicht tot war.« »Ja. Und deine Haiku, die sind überhaupt das Nonplusultra der Alltäglichkeit, nicht wahr?« In diesem Stil, die Fußsohlen gleichsam vier, fünf suri * über dem Erdboden, spann sich das Gespräch endlos weiter, allerdings nicht ohne ein emotionales Leitthema: die Empfindung grenzenloser Hochachtung, die Chieko der »Bildung« ihres Mannes entgegenbrachte. Vor gar nicht allzu langer Zeit waren Ehepaare wie dieses in Tōkyōs ›Intelligenzija‹ durchaus keine Seltenheit. Diesen gutartigen Ästheten immer noch verbunden, erinnerten die beiden an eine Frau mit einer längst aus der Mode gekommenen Frisur, die in der Provinz aber immer noch als chic gilt. 118
Kensuke zündete sich eine Zigarette an, lehnte sich ans Fenster und blies den Rauch hinaus. Im Wipfel des Kakibaums nahe dem Fenster verfing und kräuselte sich der Rauch, ehe er in der Nachtluft verfloß wie ein Büschel weißer Haare im Wasser. Nach einer Weile sagte er: »Vater ist immer noch nicht fertig, was?« »Es ist Etsuko, die noch nicht fertig ist. Vater wird ihr wohl beim Obi-Binden behilflich sein oder so. Ob du’s nun glaubst oder nicht, Vater geht Etsuko sogar beim Schnüren des Unterkimono zur Hand. Wenn sie sich umzieht, dann bleibt die Zimmertür immer fest zu und ein Gewispere und Getuschel ist das, was daran so lange dauert, das, nun ja … … « »Der treibt’s ganz schön auf seine alten Tage.« Wie von selbst kam im Zuge ihres Gesprächs die Rede auch auf Saburō. Etsuko wirkte aber neuerdings ruhig und entspannt, so daß sie daraus den Schluß zogen, sie habe endgültig abgelassen von ihm. Gerüchte sind meist wahrhaftiger als Tatsachen, Tatsachen deswegen oft genug verlogener als Gerüchte. Zum Dorfschrein nahmen sie den Weg durch den Wald hinter dem Haus, gingen eine Weile auf das Kiefernwäldchen zu, wo sie diesen Frühling die Kirschblütenschau abgehalten hatten, zweigten aber an einer Weggabel ab und kamen nach einer Weile an einem mit Binsen und Wassernuß bewachsenen Moor vorüber. Danach fiel der Weg steil bergab zu einer kleinen Ansiedlung, an deren anderem Ende sich auf einem Berghang der Dorfschrein befand. Miyo mußte mit einem Lampion vorangehen, Kensuke ging hinter ihr und leuchtete mit einer Taschenlampe auf den Boden. An der Weggabelung trafen sie einen ehrlichen, biederen Bauern; Tanaka mit Namen. Da er auch zum Fest 119
wollte, schloß er sich ihnen an. Er hatte eine Flöte bei sich und übte im Gehen. Unerwartet geschickt entlockte er seinem Instrument heitere und dabei doch schwermütig klingende Weisen, so daß ihre Prozession, mit dem Lampion an der Spitze, beinahe den Anschein eines Trauerzuges erweckte. Um die Situation ein wenig aufzuhellen, spendete Kensuke nach jedem Stück Applaus, in den die anderen einfielen. Von der Oberfläche des Moors hallte das Klatschen wider. »Merkwürdig, hier hört sich das Trommeln an, als wäre es weiter weg«, bemerkte Yakichi. »Wegen der Geländeform«, erwiderte Kensuke von hinten. In diesem Augenblick stolperte Miyo unversehens und fiel fast hin. Kensuke übernahm deshalb den Lampion und setzte sich an die Spitze. Man konnte diesem ein wenig geistesabwesenden Ding nicht die Führung überlassen. Als Kensuke auf dem engen Weg von Miyo den Lampion übernahm – genau vor Etsukos Augen –, wich Etsuko aus. Miyos Gesicht sah ein wenig blaß aus – möglicherweise wegen des Lampionlichts. Ihre Augen wirkten matt. Auch ihr Atem ging ein wenig schwer. In letzter Zeit waren Etsukos Augen dermaßen scharfsichtig geworden, daß sie das alles in dem kurzen Augenblick zu erfassen vermochten, da der Lampion die Hände wechselte und Miyos Oberkörper ein wenig anleuchtete. Wenig später war diese Entdeckung jedoch schon wieder vergessen; denn angesichts der überall von den Dachtraufen der Bauernhäuser herabhängenden großen, prächtig bunten Fest-Lampions ergingen sich die Teilnehmer dieser Gruppe, die nun den Steilhang herunterkam, in bewundernden Rufen und Seufzern. 118
Die Dorfleute waren fast alle zum Fest gegangen, die Häuser standen leer, nur die Lampions hielten stille Wache im Dorf. Die Sugimoto-Sippe überquerte die Steinbrücke über das Flüßchen, welches das Dorf durchfloß. Die Gänse, die sich untertags auf diesem Fluß tummelten, schliefen nachts dort in ihren Ställen. Durch das um diese Stunde recht ungewöhnliche Treiben wurden sie nun aufgeschreckt und erhoben ein lautes Schreien und Geschnatter. Mit seiner Feststellung, das klinge ja ganz wie nächtliches Säuglingsgeschrei, buchte Yakichi einen Heiterkeitserfolg, weil allen sogleich Natsuo einfiel und dessen unordentliche Mutter. Sehr sorgfältig war Etsuko darauf bedacht, daß ihren Blikken, mit denen sie Miyo in ihrem Ausgeh-Kimono musterte, keine ungebührliche Schärfe anzumerken war. Nicht etwa der Sugimotos wegen; aber wenn sie Miyo so scharf ansah, hielt die sie vielleicht noch für eifersüchtig. Das war es, was Etsuko vermeiden wollte. Sie brauchte sich das nur vorzustellen; bereits an der bloßen Vorstellung, von dieser dümmlichen Landpomeranze womöglich für eifersüchtig gehalten zu werden, ging Etsukos Selbstwertgefühl in Fransen. Lag es an der nicht völlig gesunden Gesichtsfarbe, war es die gemusterte Chichibu-Seide, diese Nacht jedenfalls war Miyo nicht völlig unhübsch. Heutzutage geht es drunter und drüber. Daß ein Dienstmädchen anders ging als in etwas Gestreiftem, war seinerzeit streng verpönt; zumindest bis damals, als ich klein war. Ein Dienstmädchen und derart aufgetakelt, das wäre damals einer Sittenverletzung gleichgekommen, als Besudelung der öffentlichen Ordnung hätte man das gewertet. Meine selige Mama hätte eine so unverschämte Person noch am selben Tag hinausgeworfen. Von unten nach oben gesehen oder von oben nach unten: Standesdünkel funktioniert als Ersatz für Eifersucht. Beweis 121
dafür ist, daß Etsuko niemals Saburō gegenüber einen solchen Standesdünkel an den Tag legte. Etsuko hatte einen unten leicht verkürzt gearbeiteten Kimono aus Kreppseide mit Chrysanthemen-Streumuster angelegt, wie man ihn auf dem Land kaum zu sehen bekommt, mit einem glänzend schwarzen haori darüber, einem Überwurf. Zudem ließ sie einen Hauch ihres sorgsam gehüteten Houbigant spüren. Dieses für ein Dorffest völlig unpassende Parfüm war offensichtlich für Saburō bestimmt. Yakichi, der von solchen Dingen nichts ahnte, hatte es ihr bei vorgeneigtem Kopf bis tief in den Nacken gesprüht: Wie auf dem nahezu unsichtbaren, hautfarbenen Nackenflaum winzigste Parfumtröpfchen perlenartig erschimmerten, war von einer Schönheit gewesen, die ihresgleichen suchte. Von Natur aus verfügte Etsuko über zarte, feinporige Haut, und trotz des Gegensatzes zwischen dem hier Yakichi anheimgegebenen luxuriösen Bereich und dem mehr stofflichen, erdverkrusteten Hautbereich auf ihrer starkknochig gewordenen Hand standen die beiden nicht in Widerspruch zueinander, ging der eine nahtlos in den anderen über, setzte sich die Haut der lehmigen Hand ungehemmt und ohne Schranken fort bis in die des duftenden Busens. Durch die Schaffung dieses künstlichen Gegensatzes hatte Yakichi sich selber – und vermutlich zum ersten Mal – in das Refugium des Gefühls einladen können, Etsuko wirklich zu besitzen. Als die Gruppe um die Ecke bei der Lebensmittelausgabestelle bog, kamen sie in eine kleine Gasse, wo Azetylenlampen ihren stechenden Geruch verbreiteten. Erst in ihrem Licht fielen ihnen die Buden auf und das lebhafte Treiben der Händler. Zuckerzeug verkaufte einer, ein anderer Windräder, die mit ihren Stielen in Strohballen steckten. Neben einem Regenschirmverkäufer bot einer – nicht ganz saisongemäß – 122
Feuerwerkskörper an und Pappenmarken und Luftballons. Mit Einsetzen der Feste-Saison erstanden diese Händler bei den Zuckerbäckern in Ōsaka unverkaufte Reste zu sehr günstigen Preisen. An Trageriemen befestigte Tonnen über der Schulter, so lungerten sie dann im Hankyū-Bahnhof Umeda herum und sprachen unbekümmert die Vorübergehenden an, um von ihnen zu erfahren, wo man denn heute aussteigen müßte, um zu einem matsuri zu kommen, zu einem Schreinfest. Diejenigen von ihnen, die im Areal des HachimanSchreins vor dem Bahnhof Okamachi schon Konkurrenten mit allzu großem Platzvorteil vorgefunden hatten, machten sich zu diesem zweitklassigen Dorfschrein auf. Über Feldwege kamen sie hergewandert, in kleinen Grüppchen, überwiegend alte Männer und alte Frauen, in einem Trott, der verriet, daß sie etwaige Träume vom großen Geld schon halb begraben hatten und weiteren Brotneid untereinander für sinnlos hielten. Kinder bildeten einen Kreis um ein Spielzeugauto, das so eingestellt war, daß es immer in einem Oval fuhr. Die Sugimotos gingen von Stand zu Stand und ergingen sich immer lebhafter in der Debatte, ob sie Natsuo so ein Auto um fünfzig Yen kaufen sollten oder nicht. »Teuer. Zu teuer. Wenn Etsuko mal nach Ōsaka fährt, kann sie ja eins mitbringen, das kommt viel billiger. Und das Zeug, das sie dir hier andrehen, in solchen Buden da, das kaufst du heute, und morgen ist es schon hin«, verkündete Yakichi laut und mit Nachdruck. Wütend starrte ihn der betagte Spielzeughändler an, Yakichi starrte ebenso zurück. Die Runde ging an Yakichi. Der Alte gab auf und wandte sich wieder den Kindern zu. Trunken vor kindischem Triumph ließ ihn Yakichi stehen, durchschritt ein Torii und stieg die steile Steintreppe dahinter hoch. 123
In Maiden war tatsächlich alles teurer als in Ōsaka. Deshalb kaufte man hier auch nur das Nötigste. Fäkaldünger beispielsweise. »Gülle aus Ōsaka ist billig«, hieß es. Im Winter kam eine Fuhre davon auf zweitausend Yen. Ein Bauer karrte das Zeug mit einem Ochsen wagen aus Ōsaka heran, und Yakichi kaufte es widerstrebend. Allein schon vom Rohmaterial her gesehen, das da hineinkam, waren Fäkalien aus Ōsaka allem, was sie hier hatten, turmhoch überlegen und daher auch ganz gewiß dementsprechend wirksam. Als sich die Gruppe ans Treppensteigen machte, flutete ihnen von oben ein Dröhnen entgegen wie von schwerer Brandung. Funkenkaskaden spritzten plötzlich hoch und tanzten am Himmel, ein Krachen wie von splitterndem Bambus, untermischt mit Schreien des Entzückens attackierte ihre Trommelfelle. Unbarmherzig beleuchteten Flammen lebhaft lodernder Feuer den Wipfel einer alten Zeder. »Na, ob wir über diese Treppe wirklich bis zum Schrein kommen, weiß ich aber nicht«, sagte Kensuke zweifelnd. Daraufhin bog die ganze Gruppe ab und nahm einen kleinen, gewundenen Steig, der zur Hinterseite des Hauptgebäudes führte. Dort angekommen, war es Miyo, die auffällig außer Atem war, mehr noch als Yakichi. Unsicher, ein wenig bang rieb sie sich mit ihren großen Händen die blutleeren Wangen. Die Vorderseite des Hauptschreins bot einen Anblick wie die Kommandobrücke eines Schlachtschiffs, das seinen Bug mitten in einen tosenden Strudel aus Feuer und Geschrei hineinsteuert. Das Weibervolk und die Kinder konnten nicht hinein in diesen Strudel. Sie blieben auf dem Vorplatz stehen und blickten von hier aus auf den Tumult hinunter, vor dem ihnen die Steintreppe und das steinerne Geländer gerade noch ein Mindestmaß an Schutz boten. Sie redeten kein Wort, und das nur zu Recht. Denn unaufhörlich huschten die wilden 124
Schatten von Feuern und Menschen, letztere die ersteren übermäßig brechend und hindernd, über ihre Köpfe, über die Treppe, über ihre Hände, über das Steingeländer und flackerten ruhelos nach allen Richtungen umher. Als hätten sie unvermittelt enorme Kraft aufgesogen, schossen die Flammen bisweilen steil empor wie ein Tritt in den Himmel. Scharfkantig geschnitten stachen dann die Gesichter der zusehenden Frauen und Kinder hervor – unter ihnen schon längere Zeit auch die Sugimotos –, und purpurn wie vom Abendlicht beschienen glomm das vom Vordach des Schreins herabhängende Zugseil der Schelle auf. Dann wieder kamen die Schatten heraufgetanzt und leckten die Helligkeit des Augenblicks weg. Übrig im Dunkel blieb die verdattert schweigende Menschengruppe auf der Steintreppe. »Das ist ja fast, als wären die alle übergeschnappt. Saburō ist wohl auch dabei«, murmelte Kensuke wie zu sich selbst, als er auf die brodelnde Menge hinunterstarrte. Bei einem Seitenblick auf Etsuko bemerkte er, daß an ihrem haori eine Naht ein wenig geplatzt war. Ein merkwürdiger Reiz schien ihm heute nacht von ihr auszugehen. »Hoppla, bei deinem haori ist eine Naht geplatzt, Etsuko«, rief er überflüssigerweise, wie es seine Art war. In der Geräuschkulisse klang soeben ein neuer Ton auf, und die belanglose Nachricht von Kensuke drang nicht bis an Etsukos Ohr. Im dramatischen Feuerschein leuchtete ihr Gesicht ein wenig härter als gewöhnlich, ein wenig erhabener und – ein ganz klein wenig grausamer. Die Menschenmenge im Schreinhof drängte und schob unaufhörlich in Richtung jedes der drei Torii. Diese auf den ersten Blick scheinbar regellose Bewegung wurde von einem Löwenhaupt hoch über den Köpfen der Menge dirigiert, das mit schnappendem Maul und flatternder, grüner Mähne vor125
wärts schnellte, als spaltete es die Wogen auf seinem Weg. Bewegt wurde es von drei jungen Männern in Baumwollkimonos, die einander rasch abwechseln mußten, um sich den strömenden Schweiß abzuwischen. Über hundert Jugendliche mit weißen Papierlaternen in den Händen zogen hinter dem Löwen her, nahmen ihn in ihre Mitte und schoben und drängten sich samt ihren Laternen eine Weile dicht aneinander. Dann brach der Löwe wie in rasender Wut plötzlich aus und strebte einem anderen Torii zu. Und die Jugendlichen hinterher. Kaum eine Laterne gab noch Licht, die meisten schwangen nur noch die Stiele über ihren Köpfen, ohne zu merken, daß die Laternen daran längst in Fetzen gegangen waren. Dabei brüllten sie ununterbrochen aus Leibeskräften. In der Mitte des Schreinhofes hatte man Bambusstangen aufgerichtet, die nacheinander in Brand gesteckt wurden. Jede stand im Nu in Flammen, worauf die ganze Stange krachend explodierte. Fielen ihre Trümmer brennend zu Boden, wurde sofort eine neue aufgerichtet. Verglichen mit diesen irrwitzigen Flammenspielen zeichneten sich die Leuchtfeuer in den vier Ecken des Schreinhofes durch recht friedliches Brennen aus. Nichts lag diesen Dörflern ferner als Abenteuer – an einem gewöhnlichen Tag; doch nun trotzten sie dem Funkenregen und waren dem fast orgiastischen, hemmungslosen Treiben der Burschen, die sich rund um den Löwen drängten und balgten, unermüdlich auf den Fersen, konnten sich gar nicht satt sehen daran. Wirkte diese Masse aufs erste Hinsehen auch gelassen, schwangen in ihrem Inneren doch Wellen zäher Gewalt, welche in dem dichten Gedränge die vorderste Reihe der Zuschauer in die stoßende, balgende Masse der Burschen zu pressen drohte. Ältere Männer mit Fächern versahen Ordnerdienste. Sie zwängten sich zwischen die Burschen und die 126
Zuschauer und schrien sich heiser bei ihren Versuchen, erstere anzufeuern und letztere halbwegs im Zaum zu halten. Von den oberen Stufen der Steintreppe vor der Haupthalle aus schien es, als winde sich eine gigantische, dunkle Schlange um lodernde Feuer und schleuderte dabei nach allen Richtungen glühende Funken. Etsukos Augen hingen dort, wo die weißen Papierlaternen am wildesten aneinanderstießen. Yakichi, Kensuke oder gar Miyo existierten nicht mehr für sie. Die Verkörperung dieses Gebrülls, dieser Raserei, dieser irrsinnigen, fieberhaften Bewegung … … in der von einem Rausch beflügelten Vorstellung Etsukos konnte das nur Saburō sein. Die brodelnde, zwecklose Verschwendung von Lebenskraft mutete Etsuko an wie etwas Helles, Strahlendes, auf dessen gefahrvollem Chaos ihr Bewußtsein dahinschwebte, förmlich zerschmolz wie Eis in einer heißen Pfanne. Mit jedem Aufflammen der brennenden Stangen und Feuer fühlte sie ihr Gesicht mitglühen. Unversehens war da die Erinnerung an den Novembertag damals, dessen gleißendes Sonnenlicht über sie hereinbrach, als sich das Portal zum Abtransport des Sarges mit ihrem Mann öffnete. Chieko bemerkte, daß Etsuko nach Saburō Ausschau hielt. Selbstverständlich wäre sie nie auf die Idee verfallen, daß ihre Schwägerin auf mehr aus sein könnte. Aus unbefangener Freundlichkeit sagte sie: »Ist das nicht toll? Willst du nicht hingehen? Hier kriegst du gar nichts mit davon, wie wild so ein Fest auf dem Land sein kann!« Kensuke, dem das Zwinkern seiner Frau nicht entgangen war, erfaßte sofort den Hintergedanken bei diesem Vorschlag: Nie und nimmer würde sich Yakichi mitzukommen trauen, Kensuke konnte also seinem Vater eins auswischen und traf damit zwei Fliegen auf einen Schlag. 127
»Gut! Reißen wir uns zusammen und gehen wir. Komm doch mit, Etsuko, du bist schließlich noch jung.« Yakichi machte wie üblich ein mürrisches Gesicht. Das stolze, mürrische Gesicht eines Mannes, der gewohnt war, andere durch geringfügige Veränderungen seines Gesichtsausdrucks zu manipulieren. Früher, da hätte ein einziger solcher Blick genügt, einen leitenden Mitarbeiter um seine Entlassung ansuchen zu lassen. Etsuko sah ihn allerdings nicht an und erwiderte rasch: »Ja, ich geh mit.« »Und Vater?« sagte Chieko. Ohne zu antworten wandte sich Yakichi Miyo zu und machte auf diese Weise klar, daß sie hier zu bleiben hatte, bei ihrem Dienstgeber. »Ich bleib hier, komm möglichst rasch wieder zurück«, sagte er, vermied es aber, Etsuko anzusehen. Etsuko und das Ehepaar stiegen Hand in Hand die Treppe hinunter. Hand in Hand begaben sie sich vorsichtig hinein in die tobende Menge, als gingen sie ins Wasser. Die Zuschauer bewegten sich weit besonnener, als es von oben den Anschein gehabt hatte. Durch die Meute offenmäuliger, entgeisterter Fratzen hindurch nach vorn zu gehen, bereitete gar keine Mühe. Als eine brennende Bambusstange direkt neben Etsukos Ohren krachend zerbarst, kam ihr das Geräusch geradezu angenehm vor. Jedes absonderliche Geräusch hätte in ihren Ohren jetzt angenehm geklungen. Inbrünstig lauschten ihre zarten Ohren, die auf Kleinigkeiten nicht mehr reagierten, sondern nach trommelfellzerreißenden Gefahren lechzten, nach einer Regung in ihrem Innern von gleicher Kadenz. Die goldfarbenen Zähne gebleckt, glitt das Löwenhaupt plötzlich über die Köpfe der Menschen wie über Wellen128
kämme hinweg und auf das nächste Torii zu. Augenblicklich entstand rasender Tumult, menschliche Wellen wogten nach rechts und links. Viele helle, blendende Dinger verflossen zu einem einzigen Ganzen, das an ihren Augen vorüberhuschte: eine Meute feuerbeschienener, halbnackter junger Männer. Mit offenem, zerzaustem Haar die einen, andere mit hinten verknoteten weißen Kopfbändern, die Enden lose flatternd, stürmte die kastanienfarbene Meute unter tierischem Gebrüll an Etsuko vorüber in einer Wolke von dampfigem Körpergeruch. Augenblicklich gerieten sie heftig rempelnd, stoßend, drängend aneinander, dumpf prallten harte Muskeln an Muskeln, helles Flimmern erfüllte die Luft, als schweißüberglänzte Haut heftig an Haut klatschte, sich mit schmatzendem Geräusch löste, erneut aneinanderklatschte. Die wimmelnde Zahllosigkeit ihrer verknäuelten nackten Beine im Dunkel erweckte dabei den Eindruck einer fremdartigen, unheimlichen Bestie. Ob einer von den Männern wußte, welche Beine seine eigenen waren? »Wo ist denn eigentlich Saburō? Wenn sie nackt sind, weiß man gar nicht, wer wer ist«, sagte Kensuke. Damit sie nicht verlorengingen, hatte er immer noch seine Arme um Etsuko und seine Frau gelegt. Doch auf Etsukos glatter Schulter war seine Hand ständig am Abgleiten. »Ist doch wahr«, bestätigte er sich selbst, »in nacktem Zustand verstehst du auf einmal, warum die menschliche Individualität so schwach ist. Und es wird dir auch klar, warum man mit vier Typen von Denkkategorien auskommt: das Denken des dicken Mannes, das Denken des dünnen Mannes, das Denken des großen, schlanken Mannes und das Denken des kleinen Mannes. Und bei den Gesichtern? Da gibt es in jedem zwei Augen, eine Nase, einen Mund, und das ist es auch schon. Du siehst einfach keinen einäugigen Jungen. So 129
individuell und persönlich kann ein Gesicht gar nicht sein, daß es zu mehr taugt, als den Unterschied zwischen seinem Träger und anderen Leuten erkennen zu lassen. Liebe! Da ist ein Symbol scharf auf ein anderes Symbol, das ist alles. Und wenn es einmal zu einer körperlichen Beziehung kommt, dann doch auch nur, weil etwas Namenloses etwas Namenloses begehrt. Das ist doch nichts anderes als Monogonie zwischen Chaos und Chaos, Apersonalität und Apersonalität, nicht etwas zwischen Mann und Frau oder so, nicht wahr, Chieko?« Sogar Chieko wirkte einigermaßen genervt und säuselte nur etwas wie eine zustimmende Floskel. Etsuko lachte laut auf. Unausgesetzt murmelt er einem irgendwas ins Ohr, eine Denkleistung, fast wie geistiges Harnträufeln. »Hirn-Inkontinenz« sozusagen, genau das! Was für eine jämmerliche Anpinkelei. Ein Denken hat der Mann, genauso komisch wie sein Hintern. Aber das eigentlich Komische ist, daß er mit seinem Monolog so völlig danebengreift, mit dem Tempo des Gebrülls rundherum, der Aufregung, des Geruchs, des ganzen Tuns hier, dieser geballten Lebenskraft gar nicht übereinstimmt. Den Dirigenten möchte ich sehen, der einen solchen Musiker nicht sofort hinausschmeißen würde, wenn er ihn in seinem Orchester hätte. Aber bei einem Vorstadtorchester muß man eben auch zum falschen Spiel gute Miene machen. Etsuko riß ihre Augen auf. Sacht entglitt ihre Schulter Kensukes lästiger Hand. Sie hatte Saburō ausgemacht. Er brüllte, so daß seine schweigsamen Lippen weit offen standen. Weiß glänzten seine scharfen Zähne und funkelten im Schein der Feuer. Niemals hätte er zu ihr hergeblickt, doch sie konnte in seinen Augen den Widerschein der Feuer flackern sehen.
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Wiederum erhob sich das Löwenhaupt über die Menge, als wolle es sich einen Überblick verschaffen, änderte dann aber wie aus einer plötzlichen Laune die Richtung und fuhr mit wehender grüner Mähne stracks mitten in die Zuschauer und auf das Torii vor dem Portal des Hauptschreins zu. Wie eine Lawine kamen die halbnackten jungen Burschen hinterhergedonnert. Als hätten sich ihre Beine der Kontrolle ihres Willens entzogen, folgte Etsuko der rempelnden und schiebenden Meute. »Etsuko-San, Etsuko-San«, rief ihr Kensuke noch hinterher. Außerdem hörte sie noch das typische schrille Lachen von Chieko. Etsuko wandte sich nicht um. Sie fühlte etwas Inneres sich aus undeutlichem, unsicherem Schlamm erheben, aufrichten und als Stärke, als eine Art Muskelkraft nach außen treten. Des Öfteren ergeben sich im Leben Momente, in denen man davon überzeugt ist, tun zu können, was immer es sei, in denen man flüchtig viele dem Auge ansonsten nicht zugängliche Dinge zu erblicken imstande ist und die später, selbst wenn sie davor bis auf den Grund des Erinnerungsvermögens hinabgesunken sind, gelegentlich wieder emportauchen und einem die erstaunliche Fülle an Leiden und Freuden dieser Welt neuerlich mit suggestiver Kraft vor Augen führen, schicksalhafte Momente, denen keiner entgeht und in denen niemand, wer immer es sei, dem Unglück entrinnt, mehr zu sehen zu bekommen, als seine Augen zu sehen ertragen können. Etsuko hatte das Gefühl, daß es nichts gab, was sie jetzt nicht hätte tun können. Ihre Wangen waren wie Feuer. Eingepreßt in die ausdruckslose Masse stolperte sie mehr als sie ging auf das Torii vor dem Portal des Hauptschreins zu, immer fast in der vordersten Linie. Ein Fächerhieb eines Ordners mit Arbeitsschurz traf sie auf die Brust, doch spürte 131
sie ihn nicht im Widerstreit von Betäubung und heftiger Erregung Saburō bemerkte Etsuko nicht. Zufällig war sein makelloser, muskulöser, leicht gebräunter Rücken den andrängenden Zuschauern zugewandt. Brüllend und herausfordernd kehrte er sein Gesicht dem Löwenkopf im Zentrum zu. Locker hielt sein Arm die Papierlaterne hoch, in der zwar kein Licht mehr brannte, an der jedoch keine Risse oder Dellen zu sehen waren, die die anderen Laternen verunstalteten. Sein unausgesetzt hüpfender Unterkörper lag im Dunklen, sein kaum bewegter Rücken hingegen war wilden, schwindelerregenden Tänzen von Feuerschein und Schatten preisgegeben, das Muskelspiel um seine Schulterblätter herum war anzusehen wie die Muskeln eines Vogels, der seine Schwingen schlägt. Etsukos Finger waren begierig, ihn zu betasten. Welcher Art dieses Verlangen war, wußte sie nicht. Bildlich gesprochen, mochte ihr dieser Rücken wie ein bodenloser Ozean erschienen sein, in den hineinzuwerfen es sie verlangte. Ähnlich dem Bestreben eines, der sich ertränken will, welches aber nicht notwendigerweise auf den Tod als solchen aus ist. Was nach dem Ertrinken kommt, braucht nur anders zu sein als das, was bisher war, es genügt, falls und sofern es von einer anderen Welt ist. Da entstand in der Menge erneut eine wogenartige Bewegung, die alle vorwärts drückte. Die halbnackten Burschen leisteten Widerstand und folgten rückwärts gehend dem eigenwilligen Löwenkopf. Gerade als Etsuko von der hinter ihr andrängenden Menge vorwärts gedrückt wurde, kam ein feuerheißer, nackter Rücken von vorne auf sie zu. Mit ausgestreckten Händen hielt sie ihn von sich. Es war Saburōs Rükken. Sein Fleisch fühlte sich an wie einige Tage abgelegenes mochi, gestampfter Klebreis. Voll kostete Etsuko diese 132
Tastempfindung aus, genoß, wie überwältigend heiß er sich anfühlte. Wieder drängte die Menge von hinten, so daß sich Etsukos Fingernägel Saburō ins Fleisch gruben. In seiner Erregung spürte er nichts. Er hatte keinen Schimmer, wer die Frau war, die in dieser irrsinnigen Drängerei seinen Rücken preßte. Etsuko spürte, wie sein Blut zwischen ihre Finger quoll. Sehr wirkungsvoll schienen die Ordnerdienste nicht zu sein. Eine Horde übergeschnappter Burschen geriet in die Nahe einer der mitten im Schreinhof krachend brennenden Bambusstangen. Herabfallende brennende Trümmer wurden ausgetreten. Obwohl sie barfüßig waren, spürten die Leute die Hitze nicht. Eingehüllt in Flammen sprühte der brennende Bambuspfahl tiefrote Funken über die Zweige einer alten Zeder und tauchte sie in blauvioletten Qualm. Lohgelb, wie angeleuchtet von heller Morgensonne, brannten die Blätter des Bambus. Der schlanke Feuerpfahl begann zu beben, explodierte, schwankte eine Weile wie ein Schiffsmast hin und her, um plötzlich mitten in die brodelnde Menschenmenge hineinzustürzen. Etsuko war, als hätte sie eine Frau mit brennendem Haar laut lachen sehen. An alles nachher hatte sie keine klare Erinnerung mehr. Irgendwie war es ihr gelungen zu entkommen, danach stand sie vor der Steintreppe zum Hauptschrein. In ihrer Erinnerung tauchte ein Himmel voller Funken auf. Doch sie empfand keine Angst davor. Die Burschen strengten sich wieder an, zu einem anderen Torii zu stürmen. Schon hatten die Zuschauer ihre erst wenige Minuten zuvor ausgestandene Angst vergessen und liefen hinterdrein wie vorher. Nichts war gewesen. Nur Etsuko fragte sich, wieso sie hier war. Verwundert 133
betrachtete sie die Muster der unvermindert weitertanzenden flackernden Flammen und Schatten im Schreinhof. Unversehens spürte Etsuko einen Schlag auf der Schulter. Es war Kensuke mit seiner klebrigen Hand. »Hier bist du also! Wir haben uns schon Sorgen gemacht!« Etsuko sah ihn schweigend und ohne Empfindung an. Er aber sprudelte ohne Atem drauflos: »Es ist was passiert! Bitte komm mit!« »Was ist denn los?« »Na ja, komm mal mit.« Kensuke zog sie an der Hand mit sich und nahm mit großen Schritten die Treppe. Dort, wo Yakichi und Miyo vorhin zurückgeblieben waren, befand sich eine Mauer von Menschen, die etwas umringten. Kensuke schob die Leute zur Seite und führte Etsuko in ihre Mitte. Auf zwei zusammengeschobenen Bänken lag Miyo auf dem Rücken. Chieko beugte sich über sie, um ihr den Obi zu lockern. Yakichi stand ratlos und nutzlos da. Miyo war ein wenig ungeschickt gewesen beim Anziehen, so daß nun, da der Obi gelockert war, der Busenansatz zu sehen war. Sie war ohne Bewußtsein, ihr Mund stand leicht offen, die Fingerspitzen ihrer leicht verdrehten Hand berührten den Steinboden. »Was ist denn los?« »Sie ist auf einmal zusammengebrochen. Wahrscheinlich Blutleere im Kopf. Oder ein epileptischer Anfall.« »Man muß einen Arzt rufen.« »Tanaka ist gerade anrufen gegangen. Er wird angeblich ein Tragbahre mitbringen.« »Soll ich es Saburō sagen gehen?« »Nein, nicht nötig. Es dürfte nichts Besonderes sein.« Kensuke hielt das grünlich blasse Gesicht dieser Frau nicht 134
aus und guckte weg. Er gehörte zu denen, die sozusagen keiner Fliege etwas zuleide tun können. Kurz darauf kamen einige von der Burschengruppe mit der Tragbahre. Gefährlich war der Abstieg über die Steintreppe. Bedächtig stiegen sie die vielen Windungen hinab, Kensuke mit der Taschenlampe voran. Manchmal, wenn der Schein der Taschenlampe auf Miyos Gesicht mit den störrisch geschlossenen Augen fiel, sah es aus wie eine No-Maske. Bei diesem Anblick schrien die hinterdrein kommenden Kinder in gespieltem Schreck immer ein wenig auf. Pausenlos vor sich hin brummend ging Yakichi hinter der Tragbahre her. Was er brummte, verstand sich von selbst: » … … Die Schande. Das wird wieder ein Gerede geben. Schämen muß man sich für so einen Maroden. Ausgerechnet hier, mitten im Fest … … « Zum Glück brauchten sie auf dem Weg zum Arzt nicht an den Buden vorbei. Sie gingen mit der Tragbahre unter einem Torii durch auf einen dunklen Weg. Obwohl die Patientin und ihre Begleitung schon geraume Weile in der Ordination des Arztes verschwunden waren, harrte die Schar der Neugierigen vor der Tür aus. Der ständigen Wiederholungen des Festes überdrüssig, wollten sie wissen, wie dieser Vorfall hier ausgehen würde. Mit Steinekicken und Klatsch vertrieben sich diese Leute die Zeit und warteten fröhlich. Eine der erwarteten Zugaben des Festes, dank derer man sich die nächsten zwei Wochen keine Sorgen um Gesprächsstoff zu machen brauchte. Ein junger Arzt hatte die Ordination vor kurzem geerbt. Der leichtlebige Wunderknabe mit der randlosen Brille fand das Provinzlertum seines verstorbenen Vaters und seiner ganzen Verwandtschaft lächerlich. Das Villenbesitzergehabe der Sugimotos hingegen war ihm suspekt. Begegnete er ihnen 135
auf der Straße, heuchelte er mißtrauisch einen freundlichen Gruß. Mißtrauisch deshalb, weil er befürchtete, daß sie möglicherweise hinter die Fassade seiner Großstädter-Allüren blicken könnten. Die Patientin wurde ins Ordinationszimmer getragen, Yakichi, Etsuko, Kensuke und seine Frau wurden inzwischen in das Wartezimmer auf der anderen Seite des Gartens gebeten. Die vier sprachen kaum. Yakichi zuckte immer wieder, als müsse er eine Fliege oder dergleichen von seinen besenförmigen Augenbrauen verjagen, die dem Schädel der Bunraku-Puppe Shiratayū nicht unähnlich waren, oder er zog geräuschvoll Luft durch die Lücken zwischen seinen Backenzähnen. Er litt darunter, daß er die Nerven verloren hatte. Er hätte Tanaka nicht holen lassen sollen, dann wäre das ganze Theater mit der Tragbahre unterblieben, nur die Umstehenden hätten etwas gemerkt und die Sache hätte sich gehabt. Einmal, als er ins Genossenschaftsbüro gegangen war, brach einer der Angestellten, der eben etwas Lustiges zum besten gab, seine Erzählung ab und redete nicht mehr weiter. Es war der Angestellte, der an dem Tag bei den Sugimotos gewesen war, an dem der Minister hätte kommen sollen. Das hatte denen schon Stoff für Anekdoten geboten. Der heutige Vorfall war viel ärger. Die Gefahr war groß, daß er ihnen Stoff für noch Schlimmeres liefern würde. Etsuko besah sich die Nägel an ihren Händen, die sie ausgestreckt auf dem Schoß liegen hatte. Auf einem der Nägel sah sie einen Tropfen bereits getrockneten, flammendroten Blutes. Beinahe unbewußt hob sie den Nagel an ihre Lippen. Der Mediziner im weißen Kittel schob die Tür des Wartezimmers auf und eröffnete den Sugimotos mit etwas gezierter Förmlichkeit, aber ohne Umschweife: »Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie ist schon wieder bei sich.« 136
»Und was«, fragte Yakichi wegen dieser nichtssagenden Nachricht grob, »war die Ursache?« Der Arzt kam ganz ins Wartezimmer herein und zog die Schiebetür hinter sich zu. Dann setzte er sich, sorgfältig um die Bügelfalten seiner Hose bemüht, ein wenig tolpatschig hin und sagte mit unprofessionellem Grinsen: »Sie ist schwanger.«
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IV
S
eit dem Fest und der schrecklichen Nacht hinterher, in der sie zu allem Übel noch von Ryōsuke geträumt hatte, ihrem längst vergessenen Mann, tauchte die Erinnerung an ihn wieder auf und begann ihren Alltag zu überschatten. Doch mit ihrem umflorten Bild von ihm unmittelbar nach seinem Tod war diese Vision in ihrer Nacktheit, in ihrer bösen, verderbenbringenden Schädlichkeit nicht zu vergleichen. Darin verwandelte sich das Leben mit ihm in eine endlose Folge von Lektionen einer anrüchigen Lehranstalt in einem Geheimkabinett. Ryōsuke hatte Etsuko nicht geliebt; er unterwies sie vielmehr. Eigentlich hatte er sie auch nicht unterwiesen. Er richtete sie ab, er brachte ihr Kunststückchen bei, wie sie vagabundierende Straßenhändler verdorbenen Mädchen beibringen. Stunden voller widerwärtiger Perversionen, grausamer Lektionen, Zwang zu endlosem Memorieren, Peitschen, Züchtigungen, … … all das hatte Etsuko zu der perfiden Einsicht gelangen lassen: »Wer sich sogar Eifersucht verkneifen kann, hält es auch ohne Liebe aus.« Etsuko probierte alles in ihrer Macht Stehende, diese Einsicht umzusetzen. Ohne Erfolg. Zwar hatten die grausamen Lektionen Etsuko so weit gebracht, daß ihr jede Qual erträglich schien, selbst die unmenschlichste, um ihr den Verzicht auf Liebe möglich zu machen; das Rezept für die Lehre aus besagter Lektion jedoch … … 138
dieses Rezept, es erwies sich mangels einer essentiellen Ingredienz als wirkungslos. Hier, in Maiden, so hatte Etsuko geglaubt, gebe es diese Ingredienz. Sie hatte sie auch gefunden. Und war beruhigt. Nun aber sollte sich erweisen, daß diese Arznei ebenfalls arglistig gefälscht war und somit wirkungslos! Eine Fälschung. Sie hatte das befürchtet, geargwöhnt, und wieder war es eingetreten. Als der Arzt mit dünnem Grinsen »sie ist schwanger« sagte, durchfuhr Etsuko ein ungeheurer Schmerz. Sie fühlte alles Blut aus ihrem Gesicht weichen, ihr Mund war wie ausgedörrt, in ihrer Kehle stieg ein Würgen hoch wie nahendes Erbrechen. Keiner darf was merken! Sie beobachtete, wie sich in den Mienen von Yakichi, Kensuke und Chieko ein unernster oder eher noch dümmlicher Ausdruck von Überraschung ausbreitete. Richtig! In solchen Situationen ist man überrascht. Man hat überrascht zu sein. »Nein, so was. Also ich krieg den Mund gar nicht mehr zu«, tönte Chieko. »Da bleibt einem wirklich die Spucke weg, was das für Mädchen sind heutzutage«, warf Yakichi mit gespielter Gelassenheit hin, sichtlich um Auflockerung der Situation bemüht. Das ging an die Adresse des Arztes, quasi um ihm zu signalisieren: »Mit der Sache habe ich nichts am Hut.« Gleich als erstes hatte er im Kopf den Betrag überschlagen, den man dem Arzt beziehungsweise der Schwester an Schweigegeld würde stecken müssen. »Da ist man wirklich sprachlos, nicht, Etsuko-San«, wandte sich Chieko an ihre Schwägerin. »Ja«, knappte sich Etsuko mit dünnlippigem Lächeln ab. »Na, überraschen kann dich wohl so leicht nichts, du hast ja immer die Ruhe weg«, setzte Chieko noch hinzu. 139
Ganz recht. Überrascht war Etsuko keineswegs. Sie war eifersüchtig. Kensuke und seine Frau fanden diese Affäre gewissermaßen amüsant. Dieses Ehepaar hatte keinerlei moralische Vorurteile, eine Stärke, auf welche die beiden auch sehr stolz waren. Diese vermeintliche Stärke ließ ihnen andererseits aber nur den Standpunkt von Zuschauern ohne jeden Sinn für Gerechtigkeit. Daß jeder gern bei einem Brand zusieht, ist noch lange kein Grund zur Behauptung, es sei vornehmer, ihm vom Dachboden aus zuzusehen als von der Straße. Gibt es überhaupt so etwas wie eine vorurteilslose Moral? Ihr Traum von einer modernen Idealwelt machte ihnen das Landleben etwas erträglicher. Als einzige Waffe zur Verwirklichung dieses Traums hatten sie allerdings nur Ratschläge, gutgemeinte Ratschläge, auf die sie ein Monopol hatten. Daraus schöpften sie das Gefühl, geistig sehr beschäftigt zu sein. Geistige Beschäftigung, das ist in der Tat ein Betätigungsfeld für Kranke. Welche Fülle an Wissen – und das bei seiner Bescheidenheit – in ihrem Mann steckte, beeindruckte Chieko bis zum Herzklopfen. Nie hätte er sich irgend jemandem gegenüber damit gebrüstet, aber er konnte sogar Griechisch lesen! Zumindest in Japan eine Seltenheit. Immerhin beherrschte er nebenbei auch die lateinische Grammatik so weit, daß er zweihundertsiebzehn Verben konjugieren konnte. Außerdem war er nicht nur imstande, die langen Namen sämtlicher Personen aus zahlreichen russischen Romanen herzusagen, ohne einen auszulassen, sondern konnte auch endlos über so manches dozieren, das japanische No-Drama zum Beispiel, welches, um einen seiner Lieblingsausdrücke zu gebrauchen, zum »Kulturerbe« der Menschheit zählte und »in seiner subtilen Ästhetik 140
den hervorragendsten Schöpfungen westlicher Klassiker ebenbürtig« sei. Wie ein Autor, der sich für ein Genie hält, weil sich seine Bücher nicht verkaufen, nahm er den Umstand, daß man ihn nicht um Vorträge bat, zum Beweis dafür, daß die Welt seine Botschaft eben nicht fassen könne. Ein Wink mit der Hand, und schon würde sich die Menschheit irgendwie ändern, meinte dieses intellektuelle Paar, die Hände allerdings in den Taschen lassend, mit der Dünkelhaftigkeit des Soldaten im Ruhestand, die Kensuke aber möglicherweise just von dem Mann geerbt haben konnte, den er am meisten verachtete: Yakichi Sugimoto. Falls jemand ihre vorurteilsfreien und selbstlosen Ratschläge in den Wind schlug und dadurch in Schwierigkeiten geriet, dann waren es eben seine eigenen Vorurteile, die ihm das eingebrockt hatten. Ihre Überzeugung, jedermann beschuldigen zu können, wurde ihnen insofern zur Falle, als sie aus dem gleichen Grund auch stets jedermann entschuldigen mußten. Oder etwa nicht? Schließlich gab es für sie in dieser Welt nichts wirklich Bedeutsames. Auch ihr eigenes Leben hätten sie mit einem Wink ihrer Hand spielend ändern können, wäre ihnen das Senken der erhobenen Hand nicht zu beschwerlich gewesen. Ihre eigene Trägheit zu lieben, fiel ihnen tatsächlich ganz leicht. In diesem Punkt unterschieden sie sich von Etsuko. Als Kensuke und Chieko unter wolkenbedecktem Himmel vom Fest nach Hause gingen, diskutierten sie deshalb auch sehr angeregt und erwartungsvoll den weiteren Verlauf von Miyos Schwangerschaft. Miyo hatte man diese Nacht in der Klinik gelassen, sie würde erst nächsten Morgen nach Hause kommen. »Von wem das Kind ist, steht eindeutig fest: Saburō.« »Selbstverständlich«, erwiderte Chieko. 141
Daß seine Frau nicht die Spur eines Verdachtes gegen ihn hegte, enttäuschte Kensuke ausnahmsweise. In diesem Punkt regte sich bei ihm leichter Neid auf den toten Ryōsuke. Ein wenig provokant fragte er: »Und wenn ich es gewesen wäre?« »Bitte mach keine Witze. Ich kann unanständige Witze nicht leiden«, erwiderte Chieko und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu wie ein kleines Mädchen. Dann schüttelte sie die Hüften und schmollte. Sie, eine anständige Frau, goutierte keine profanen Scherze. »Saburō. Es kann nur Saburō gewesen sein.« Kensuke war derselben Meinung. Yakichi hatte die normale Leistungsfähigkeit bereits eingebüßt. Man brauchte bloß Etsuko anzusehen, dann war das klar, »Wie wird das weitergehen? Etchan dürfte das nicht so einfach weggesteckt haben, scheint mir« – er sah Yakichi und Etsuko fünf, sechs Schritte vor ihnen nebeneinander gehen und senkte die Stimme. Von hinten wirkte Etsuko etwas gereizt, so wie sie die Schultern hielt. Unverkennbar unter dem Einfluß einer stärkeren Gefühlsregung. »Sie dürfte immer noch in Saburō verschossen sein, so wie sie aussieht.« »Das muß aber sehr hart sein für sie. Warum hat sie immer nur solches Pech.« »So wie gewohnheitsmäßige Fehlgeburten gibt es halt auch gewohnheitsmäßigen Mißerfolg in der Liebe. Irgendwo in ihrem Nervensystem hat sich da halt so eine Gewohnheit eingeschlichen, und wenn sie sich verliebt, dann geht die Sache eben jedesmal schief.« »Aber Etsuko ist doch klug genug, daß sie ihr Gefühlsleben selber in Ordnung bringen wird.« »Wir sollten auch einmal ganz offen mit ihr reden.« Wer immer nur Kleider von der Stange trägt, ist durchaus 142
bereit, an der Existenz von Schneidern zu zweifeln. Ebenso waren diese beiden von ihren Konfektionstragödien hinreichend eingenommen, um zu bezweifeln, daß es Menschen gab, denen ihre Tragödien auf den Leib geschnitten waren. Wieder einmal erwies sich Etsuko für die beiden als schwer entzifferbar. Am elften Oktober regnete es schon vom Morgen an. Da es nicht aufhören wollte, schlössen sie die Fensterläden wieder. Dabei gab es untertags keinen Strom. Aus den stockfinsteren Räume im Erdgeschoß erklang unaufhörlich das penetrante Geheul von Natsuo, in das Nobuko halb aus Spaß und Sympathie mit einstimmte. Es war kaum mit anzuhören. Nobuko hatte am Vortag nicht mitgehen dürfen zum Fast und war an diesem Tag nicht in der Schule. Aus diesem Grund gingen Yakichi und Etsuko nach langer Zeit wieder einmal Kensuke und Chieko besuchen. Die Fenster im zweiten Stock hatten solide Glasscheiben und waren ohne Läden. Zwar regnete es nicht herein, aber bei genauem Hinsehen bemerkte man an der Decke eine undichte Stelle, unter die ein mit Lappen gefüllter Eimer gestellt worden war. Dieser Besuch war ein Ereignis. Daß Yakichi, der Wert auf eine, wie man so schön sagt: »hohe Schwelle« legte, die ihn von der Außenwelt abschirmte, Kensukes oder Asakos Zimmer besucht hätte, war noch nie vorgekommen, wodurch er sich selber, im eigenen Haus, einen verbotenen Bereich schuf. Kaum hatte er Yakichi eintreten sehen, legte der taktvolle Kensuke deshalb ausgesuchte Höflichkeit an den Tag und ging Chieko, die aufgeregt umherlief und sich nicht genugtun konnte an ergriffener Ehrerbietung, bei der Teezubereitung an die Hand, was seinen Eindruck auf Yakichi auch nicht verfehlte. 143
Yakichi – »nur keine Umstände, wir suchen nur ein wenig Unterschlupf« – und Etsuko – »wirklich, macht euch bitte keine Umstände« – wirkten wie Kinder beim »Firma«-Spielen: Herr Direktor mit Gattin besucht die Wohnung eines Untergebenen. »Also, aus Etsuko werd ich überhaupt nicht schlau. Nur ein wenig hinter Vater versteckt, so hat sie dagesessen«, sagte Chieko hinterher. Es goß unaufhörlich und in Strömen. Der Wind hatte ein wenig nachgelassen, aber das Rauschen des Regens war gewaltig. Etsuko wandte den Kopf, um dem Regen was ser zuzusehen, wie es tuschedick den tiefschwarzen Stamm des Kakibaums hinunterlief. Sie fühlte sich wie eingeschlossen in eine gnadenlos monotone, bedrückende Musik. Das Rauschen des Regens klingt wie ein Chor von zehntausenden sutrenrezitierenden Mönchen, Yakichi quasselt. Kensuke quasselt. Chieko quasselt. Menschliche Worte sind so nichtssagend. Was für lächerliche kleine Heimtücken, Was für Hohlheiten. Dieses gesäuselte, banale und dabei so eilfertige Sich-in-die-Höhe-Recken, was für ein Getue. Gegen dieses gnadenlose, mächtige Rauschen des Regens kommen Worte nicht an, ganz gleich von wem. Einzig der Schrei eines Menschen, der sich von Worten dieser Art nicht beirren läßt, könnte diesem Rauschen Paroli bieten, diese todesähnliche Mauer durchbrechen. Einzig der Schrei einer einfältigen Seele, die keine Worte kennt. Etsuko erinnerte sich an die Meute rosiger, nackter Figuren, wie sie vor ihr im Licht der brennenden Bambusstangen aufeinander eindrangen, an den Klang ihres Gebrülls erinnerte sie sich, das wie das Gebrüll junger, geschmeidiger Tiere klang. Dieses Gebrüll, das ist das einzige, worauf es wirklich ankommt. Jäh kehrte Etsuko zu sich selbst zurück. Yakichi redete mit hoher Stimme. Ihre Meinung war nun gefragt. 144
»Was machen wir jetzt mit Miyo? Angenommen, er war’s, dann hängt alles von ihm ab, meine ich. Einzig und allein auf die sittliche Haltung von dem Kerl kommt es an. Falls er sich weiter vor seiner Verantwortung drückt, ja, dann können wir einen so ehrvergessenen Mann nicht länger in diesem Haus dulden. Dann schmeißen wir ihn raus, ja, und behalten nur noch Miyo. Dafür lassen wir das Kind von Miyo auf der Stelle abtreiben. Wenn Saburō aber ehrlich und aufrichtig zu seiner Tat steht, ja, und Miyo zur Frau nimmt, ja, dann geht das auch in Ordnung, und wir behalten sie beide wie bisher, aber als Ehepaar. Entweder oder, nicht wahr. Was meinst du? Mein Standpunkt ist vielleicht etwas radikal, aber ich will dem Geist der neuen Verfassung Rechnung tragen.« Etsuko antwortete nicht. Kaum vernehmlich zerdrückte sie im Mund ein »Mhm« und fixierte einen belanglosen Punkt am Firmament, den ihre graziösen schwarzen Augen dort ausgemacht hatten. Der fallende Regen entlastete die Stille. Wenn Kensuke Etsuko so dreinblicken sah, dann schien sie ihm etwas von einer Wahnsinnigen an sich zu haben. »Es fällt dir also schwer, dich für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden, nicht wahr, Etsuko?« versuchte er ihr beizuspringen. Yakichi überging das brüsk, denn die Sache brannte ihm auf den Nägeln. Hinter den gegensätzlichen Alternativen, die Yakichi hier vor Kensuke und seiner Frau ausbreitete, stand sein dringendes Bedürfnis, Etsuko auf die Probe zu stellen: Stand sie auf Saburōs Seite, konnte sie nur die Heirat empfehlen; verurteilte sie ihn aber, wenn auch – und nur, um sich nicht selber in ein schiefes Licht zu rücken – gegen ihre Überzeugung, dann blieb ihr keine andere Möglichkeit, als der vorgeschlagenen Entlassung zuzustimmen. Hätten seine 145
früheren Untergebenen ihn zu so unterwürfigen Mitteln greifen sehen wie hier, hätten sie wohl ihren Augen nicht getraut. Yakichis Eifersucht war erbärmlich. Wäre er noch der Alte gewesen, dann hätte er seine Frau, falls er sie ihr Herz an einen anderen verlieren hätte sehen müssen, vermutlich mit einer einzigen Ohrfeige von diesem Wahn kurieren können. Glücklicherweise hatte ihm seine verstorbene Frau den Gefallen getan, nicht zu einem solchen Wahn zu tendieren, sondern zu dem eher niedlichen Wahn, Yakichi die Erziehung der gehobenen Gesellschaft angedeihen lassen zu müssen. Nun war Yakichi alt geworden. Von innen her gealtert. Wie ein ausgestopfter Adler, an dem innen die Termiten fressen. Obwohl er mit ansehen mußte, wie Etsuko eine heimliche Zuneigung zu Saburō entwickelte, war Yakichi nicht imstande, entscheidendere Maßnahmen zu treffen als diese. Die machtlose, erbärmliche Eifersucht im Blick dieses alten Mannes erinnerte Etsuko zuerst und vor allem an die Macht ihrer eigenen Eifersucht sowie an die unerschöpfliche »Leidensfähigkeit« in ihrem Innern, deren sie sich gern einem jeden gegenüber gerühmt hätte. Etsuko antwortete offen. Heiter und offen: »Jedenfalls werde ich Saburō einmal treffen und ihn nach der Wahrheit fragen. Das ist wahrscheinlich günstiger, Vater, als wenn du ihn direkt ansprichst.« Eine gemeinsame Gefahr verbündete Etsuko und Yakichi. Im Unterschied zu den verbündeten Nationen dieser Welt war es nicht gemeinsamer Nutzen, der sie zu Verbündeten machte, sondern Eifersucht. Danach unterhielten sich die vier noch ungezwungen bis Mittag. Nachdem er zum Essen in sein Zimmer zurückgekehrt war, schickte Yakichi Etsuko noch einmal mit ganzen 146
zwei gō * ihrer exklusiven Shiba-Kastanien ins Zimmer von Kensuke und Chieko. Beim Kochen verbrannte sich Etsuko leicht am Finger und zerbrach einen kleinen Teller. War das Essen weich, dann lobte es Yakichi ein ums andere Mal. War es aber hart, dann fand er es schlecht. Er beurteilte Etsukos Küche nicht danach, wie sie schmeckte, sondern nach ihrer Weichheit. An Regentagen wie diesem war die Veranda zu, und Etsuko kochte in der Küche. Damit der Reis, den Miyo gekocht hatte, nicht auskühlte, hatte sie ihn nicht in einen Behälter getan, sondern im Kochkessel gelassen. Miyo war mit dem Reiskochen fertig und nicht mehr hier. Die Holzkohle war bereits aus. Als Etsuko die Holzkohlen, die sie von Chieko zum Feuermachen mitgebracht hatte, in den kleinen Tonkocher tun wollte, verbrannte sie sich den Mittelfinger. Der Schmerz machte sie wütend. Was wäre, wenn sie schrie? Vermutlich war es auf keinen Fall Saburō, der sie schreien hörte und hierher käme. Herbeieilen würde sicherlich Yakichi im halboffenen Kimono, aus dem unten seine häßlichen, dürren, braunen Beine hervorlugten, und fragen, was los sei. Auf keinen Fall Saburō. Wenn Etsuko plötzlich in ein irres Gelächter ausbräche – dann wäre es wiederum Yakichi. Mißtrauisch und ohne etwa mit ihr mitzulachen würde er seine Augen zu Dreiecken zusammenkneifen und bloß die Ursache des Gelächters herauszufinden suchen. Über das Alter, in dem er aus vollem Hals mit einer Frau hätte mitlachen können, war er hinaus. Doch war er das einzige Echo, die einzige Resonanz einer keineswegs alt zu nennenden Frau. An die fünf tsubo mochte die Küche messen, auf deren 147
Lehmboden sich eine Pfütze von eingesickertem Regenwasser gebildet hatte, die nun das graue, trag durch die Glastür hereinfallende Licht reflektierte. Etsuko stand barfuß auf ihren klebrigen, nassen geta *, leckte mit der Zungenspitze den verbrannten Mittelfinger und blickte geistesabwesend zur Tür. Regenrauschen erfüllte ihren Kopf. Kein Zweifel, die alltäglichen Verrichtungen waren banal. Ihre Hände bewegten sich, als wären sie ihrer Fesseln ledig. Sie setzte den Topf aufs Feuer. Goß Wasser ein. Gab Zucker dazu. Gab scheibchenförmig geschnittene Süßkartoffel dazu. … … Heute mittag gab es umani, gekochte Pataten und in Butter gedünstete hatsutake-Pilze mit Hackfleisch, das sie in Okamachi erstanden hatte, sowie tororo, geriebene Yamswurzeln; das war alles, was Etsuko in ihrem geistesabwesenden Eifer zustande brachte. Dabei wandelte sie zerstreut umher wie eine traumverlorene Küchenmagd. Noch hat die Qual nicht angefangen. Warum denn nicht? Ich bin noch nicht wirklich am Leiden, Eigentlich sollte mir die Qual das Herz gefrieren, die Hände zittern lassen und die Beine lahmen. … … Ich, die hier Essen macht, wer bin ich eigentlich? Warum tu ich das alles überhaupt? … … Klar urteilen, genau urteilen, gefühls- und verstandesmäßig urteilen, das schaffe ich noch, was heißt, eine ganze Weile, noch ziemlich lang schaffe ich das … … Miyos Schwangerschaft hatte mir eigentlich den Rest geben müssen. Fehlt denn noch etwas? Muß nicht noch irgend etwas ganz Schreckliches hinzukommen? Als erstes muß ich meinem klarem Urteil folgen. Saburō zu treffen wird mir schwer fallen und kein Vergnügen sein. Aber ohne ihn zu sehen kann ich nicht leben. Saburō darf nicht weg von hier. Deswegen muß er heiraten. Mich? Wie verrückt! Miyo? Diese Landpomeranze, diese verfaulte Tomate, diese nach Pisse riechende Göre! 148
Damit wäre meine Qual ja komplett. Und ob, das wird etwas richtig Vollkommenes. Dann wird mir wohler. Eine kurze, trügerische Erleichterung. An die will ich mich klammern. Diesem Trug will ich trauen. Etsuko hörte eine Meise auf dem Fensterbrett zwitschern. Sie drückte die Stirn an die Scheibe und sah dem Vögelchen zu, wie es die Federn seiner nassen Flügel ordnete. Ein kleiner, weißer Fleck, wie ein Augenlid, blinkte unaufhörlich über das winzige, blitzend schwarze Äuglein. Unten, an der Kehle, stand etwas hervor aus dem feinen Flaum, etwas, das sich immerzu bewegte. Von dort her erklang das ungeduldige Zwitschern. Am Rand ihres Gesichtsfeldes bemerkte Etsuko etwas sehr Helles. Mittlerweile regnete es nur noch leicht. Aus der Mitte des Kastanien Wäldchens am Ende des Gartens wurde es hell, als öffnete sich im Dunkel eines Tempelraums ein goldener Tabernakel. Nachmittags hörte es endgültig auf zu regnen. Etsuko ging mit Yakichi in den Garten, um die Rosen aufzurichten, denen der Regen ihre Stützen weggeschwemmt hatte. In trüben Regenpfützen schwammen Grashalme und Rosenknospen. Abgefallene Blütenblätter trieben wie nach schweren Martern auf der Wasseroberfläche. Etsuko rettete eine Blüte, indem sie sie an das wiederaufgerichtete Stützholz band. Glücklicherweise war der Stengel nicht gebrochen. In ihren Finger spürte sie das Gewicht der Blüten, auf die Yakichi so stolz war. Tief blickte Etsuko in jeden einzelnen der leuchtend roten Blütenköpfe, die so angenehm frisch in ihren Fingern lagen. Yakichi hingegen arbeitete schweigend und ausdruckslos, als ginge ihm diese Tätigkeit auf die Nerven. Gummistiefel an den Füßen, die Beine in einer strammen Uniformhose, so 149
richtete er eine Rose nach der anderen wieder auf. Sein Dahinschuften ohne erkennbare Gefühlsregung im Gesicht und einsilbig, das war die Maloche eines Menschen, dessen Blut die Bauernnatur nicht vergessen hat. So wie er in solchen Momenten war, so mochte auch Etsuko ihn. Zufällig kam Saburō gerade vor Etsukos Augen den schmalen, gepflasterten Weg daher und rief ihnen zu: »Entschuldigung, ich habe das nicht bemerkt. Ich zieh mich um und mache das.« »Nicht nötig. Wir sind schon fertig«, sagte Yakichi ohne einen Blick auf Saburō. Sein leicht gebräuntes Gesicht unter dem breitkrempigen Strohhut lächelte Etsuko zu. Die Krempe saß ein wenig schief, so daß ihm die untergehende Sonne einen hellen Streifen über die Stirn zog. Beim Anblick der blitzend weißen Zähne in seinem lächelnden Mund, so weiß, als hätte sie der Regen blank geputzt, erhob sich Etsuko, als würde sie eben aufwachen. »Du kommst im richtigen Augenblick. Ich wollte mit dir sprechen. Gehen wir ein bißchen dort hinüber.« Noch nie hatte Etsuko mit Saburō in Gegenwart von Yakichi in einem so vertraulichen Ton gesprochen. Vertraulich selbst dann, wenn es sich um eine auch Yakichi gegenüber nicht mehr geheime Beziehung gehandelt hätte. Mehr noch – dieser Satz allein hätte durchaus als kühne Einladung ausgelegt werden können. Sie hatte ihre Ohren vor der grausamen Pflicht verschlossen, die nachher auf sie zukam und diese Worte halb trunken von der schieren Freude daran ausgesprochen. Ganz unerwartet lag infolgedessen ein kaum unterdrückbarer, süßer Hauch über ihnen. Saburō schaute verblüfft zu Yakichi. Etsuko hatte ihn jedoch bereits am Ellbogen und schob ihn sacht auf den schma150
len Weg zu, der zum Eingang des Sugimotoschen Hauses hinunterführte. »Willst du das so einfach im Gehen besprechen?« rief ihnen Yakichi halb verdrossen nach. »Ja«, erwiderte Etsuko. Die unbewußte Klugheit ihrer impulsiven Reaktion hatte Yakichi jede Möglichkeit genommen, ihrem Gespräch mit Saburō zuzuhören. Mit der belanglosen Frage »Wohin wolltest du denn eben?« eröffnete sie das Gespräch. »Eine Karte wollte ich aufgeben.« »Was für eine Karte? Zeig doch mal her!« Folgsam zeigte ihr Saburō die eingerollte Postkarte in seiner Hand: Die Antwort auf den Brief eines Freundes von daheim. Vier, fünf Zeilen einer sehr ungelenken Schrift enthüllten die allerjüngste Gegenwart des Schreibers. »Gestern war hier ein Fest. Ich gehöre auch zur Burschengruppe, deswegen habe ich fest mitgetobt. Heute bin ich dafür ganz schön müde. Aber das Herumtoben macht richtig Spaß.« Etsuko schüttelte sich vor Lachen. »Ganz einfach, die Karte«, sagte sie und gab sie Saburō zurück. Der sah ein wenig unzufrieden drein. Regentropfen und Flecken von hellem Sonnenlicht fielen auf den gepflasterten Steig durch das Ahorn Wäldchen. Die im Wind erzitternden unteren Zweige der Bäume ließen bereits hier und da rote Blätter sehen. Als Etsuko und Saburō die Treppe erreichten, öffnete sich plötzlich groß und weit der Himmel, der bisher hinter den Ahornzweigen verborgen war. Zum ersten Mal bemerkten die beiden die Federwolken am Himmel. Diese unsagbare Freude, dieser alle Worte übersteigende Reichtum verursachte Etsuko eine Art von Gewissensbissen. 151
Daß sie das bißchen Muße, das sie sich ja nur gegönnt hatte, um ihre Pein vollkommen zu machen, so sehr genoß, machte sie vor sich selbst suspekt. Wollte sie denn endlos fortfahren mit diesem leeren Gewäsch? Ohne jemals auf die heiklen Punkte zu sprechen zu kommen? Die beiden gingen über die Brücke. Der Bach war stark angeschwollen. Mit den vielen ausgerissenen Wasserpflanzen im erdbraunen Wasser, dessen lebhafte Strömung sie ständig auftauchen und verschwinden ließ, sah er aus wie frischgrünes, üppiges Haar. Als sie den Bambushain durchquert hatten und auf eine Straße hinaustraten, wo sich ihrem Blick weit und breit Reisfelder boten, saftig und grün nach dem vielen Regen, blieb Saburō unvermittelt stehen und zog seinen Strohhut. »Also, bis dann.« »Willst du deine Karte aufgeben gehen?« »Ja.« »Ich möchte mit dir reden. Gib sie nachher auf.« »Ja.« »Auf der Landstraße trifft man immer so viele Bekannte, deshalb ist es nicht so günstig, wenn wir uns auf der Straße treffen. Gehen wir lieber zur Autobahn hinüber, dann können wir unterwegs reden.« »Ja.« In Saburōs Augen stieg Unsicherheit auf. Daß die stets so eisige Etsuko sich so liebenswürdig um ihn kümmerte … Verlegen langte er mit der Hand hinter sich. »Ist was mit deinem Rücken?« fragte Etsuko. »Ja. Gestern nach dem Fest, da war da eine ganz kleine Schramme.« »Tut’s sehr weh?« fragte Etsuko mit zusammengezogenen Brauen. 152
»Nein. Es ist schon wieder gut«, antwortete Saburō heiter. So eine junge Haut, die ist ja fast unverwundbar, dachte Etsuko. Schlamm und das tropfnasse Unkraut am Wegrand beschmutzten die nackten Füße von Etsuko und Saburō. Gleich darauf verengte sich der Weg, so daß sie nicht mehr nebeneinander gehen konnten. Etsuko ging voran und raffte ihren Rocksaum ein wenig höher. In plötzlicher Sorge, ob Saburō überhaupt noch hinter ihr wäre, überkam sie das Bedürfnis, seinen Namen zu rufen, doch fand sie es unnatürlich, ihn zu rufen oder sich umzudrehen. »War das nicht ein Fahrrad?« fragte sich Etsuko und wandte sich um. »Nein.« Saburōs verlegen wirkendes Gesicht war direkt vor ihr. »Ach so. Mir war nämlich, als hätte ich eine Klingel gehört«, sagte sie und senkte den Blick. Zufrieden stellte Etsuko fest, daß die großen, ungeschlachten nackten Füße von Saburō genauso voll Schlammspritzer waren wie ihre. Auf der Autobahn war, wie üblich, kein Auto weit und breit. Die Betonfahrbahn war schnell getrocknet, nur hier und da standen noch ein paar Pfützen, in denen sich die weißen Federwölkchen spiegelten. Die scharfe, wie mit Kreide gezogene Sperrlinie verlief sich zwischen Horizont und fahlblauem Abendhimmel. »Daß Miyo schwanger sein soll, weißt du, nicht?« fragte Etsuko, nun, da sie wieder nebeneinander gingen. »Ja. Das habe ich gehört.« »Von wem?« »Von Miyo.« »So.« Etsuko fühlte ihr Herz schneller pochen. Gleich würde sie 153
die für sie schmerzlichste Tatsache aus Saburōs Mund hören müssen. Am Grunde dieser Bereitschaft hegte sie immer noch eine widersprüchliche Hoffnung, da sie meinte, Saburō könne eigentlich über keinen rechtsgültigen Beweis verfügen. Zum Beispiel hätte sie das Kind ja auch von einem der Burschen aus Maiden haben können, einem berüchtigten Tunichtgut, vor dem Saburō sie vielleicht öfter gewarnt hätte, aber Miyo hätte diese Warnungen schließlich in den Wind geschlagen. … … Nicht auszuschließen wäre auch ein Seitensprung, beispielsweise mit einem verheirateten Funktionär der Landwirtschaftsgenossenschaft oder so. Hoffnungen und verzweifelte Enttäuschungen gingen ihr abwechselnd durch den Kopf, nahmen Gestalt an und ängstigten sie so sehr, daß sie die Gewißheit schaffende Frage endlos vor sich her schob. Es war, als hingen nach dem Regen zahllose heitere Partikelchen in der frischen Luft, zahllose Elemente, die hurtig auf neue Verbindungen zuzutanzen schienen, deren flüchtige Anzeichen die beiden sich nach Herzenslust in die Nasen steigen und die Haut ihrer Wangen röten ließen, als sie eine Weile schweigend auf der menschenleeren Autostraße dahingingen. »Das Kind von Miyo, nicht wahr – «, begann Etsuko unvermittelt. » … … Das Kind von Miyo, also, wer ist denn eigentlich der Vater?« Saburō antwortete nicht. Etsuko wartete auf eine Antwort. Stille, die eine bestimmte Dauer überschreitet, erhält eine neue Bedeutung. Etsuko hielt es kaum aus, das Verstreichen dieser Dauer abzuwarten. Sie schloß die Augen und machte sie wieder auf. War sie es nicht, die auf eine Antwort drängte? Verstohlen blickte sie von der Seite nach Saburō auf, von dessen gesenktem Kopf unter dem Strohhut nur ein harter Profilriß sichtbar war. 154
»Ist es deins?« »Ja. Ich glaube.« »Ja, ich glaube; heißt das, es könnte vielleicht auch anders sein?« »Nein« – Saburō errötete. Ein erzwungenes Lächeln tauchte auf und verschwand wieder, ohne einen bestimmten Winkel überschritten zu haben. »Ich bin’s.« Etsuko biß sich auf die Lippen über diese unzulängliche Dürre. Sie hatte sich in der schwachen Hoffnung gewiegt, er würde im Glauben, daß sich das ihr gegenüber einfach so gehörte, mindestens zu einer plumpen Lüge greifen oder zumindest erst einmal leugnen. Wenn er nur das Geringste für sie übrig gehabt hätte, wäre ihm ein so glattes Geständnis nie möglich gewesen. Mehr noch, als diese Tatsache zu erfahren, die schließlich für Yakichi und Kensuke, ja sogar für sie selbst längst auf der Hand lag, die Tatsache, daß Saburō Vater eines Kindes war, hatte sie damit gerechnet, daß Saburō diese Tatsache aus Furcht und Scham verschweigen würde. »So« – sagte Etsuko, als sei sie sehr müde. Ihre Wörter waren ohne jede Kraft. »Du liebst Miyo also?« Das war nun wieder ein Wort, mit dem Saburō nichts Richtiges anzufangen wußte. Es lag weit außerhalb des ihm Zugänglichen, dort, wo das Vokabular des Maßgeschneiderten und Luxuriösen war. Etwas Überflüssiges, jede Notwendigkeit Entbehrendes, Erzwungenes haftete diesem Wort an. Der durchaus innigen, aber deshalb nicht notwendigerweise immerwährenden Beziehung zwischen ihm und Miyo war das Wort Liebe seiner Meinung nach völlig unangemessen, wie ja auch die Anziehungskraft zwischen zwei Magneten nur innerhalb eines bestimmten Radius unwiderstehlich wirkt, außerhalb desselben aber nicht existiert. Er ging davon aus, daß Yakichi ihn und Miyo trennen würde. Diese 155
Annahme bereitete ihm auch keinerlei Kummer. Auch nachdem er von Miyos Schwangerschaft erfahren hatte, entstand in diesem jungen Gartenburschen nicht das Bewußtsein, Vater zu werden. Etsukos Verhör löste bei ihm einige Erinnerungen aus. Etwa einen Monat nachdem Etsuko nach Maiden gekommen war, hatte Yakichi Miyo in den Schuppen geschickt, um eine Schaufel zu holen, die aber so sehr im Schuppen verkeilt war, daß sie sie nicht herausbekam. Da war sie zu ihm gekommen, und er hatte sie ihr herausgeholt. Vielleicht hatte sie ihn damals anfeuern wollen, als er angestrengt zog und zog, jedenfalls befand sich ihr Kopf knapp unter seinen Armen, während sie einen alten Tisch wegstemmte, der an der Schaufel lehnte. Er roch den starken Geruch ihrer Gesichtscreme, vermischt mit dem Modergeruch des Schuppens. Als er dann die Schaufel heraus hatte und ihr hinhielt, nahm sie sie nicht. Sie stand bloß wortlos da und starrte ihn an. Wie von selbst streckten sich Saburōs Arme aus und umarmten Miyo. War das Liebe? Gegen Ende der Regenzeit, als diese Jahreszeit mit ihrer drückenden Schwüle wie eine Gefangenschaft auf ihm lastete, kroch Saburō einem inneren Antrieb folgend plötzlich durchs Fenster und sprang hinaus in den Nachtregen. Dann schlug er einen Bogen um das Haus herum und klopfte an Miyos Kammerfenster. Ganz deutlich konnte er das weißliche Gesicht des schlafenden Mädchens erkennen. Dann schlug Miyo die Augen auf und sah draußen das zum Schatten gewordene Gesicht von Saburō mit den weißen Zähnen. Im Nu schlug dieses Mädchen, dem tagsüber alles nur ganz langsam von der Hand ging, ihr Bettzeug zur Seite und war auf den Beinen. Ihr Schlafkimono klaffte vorne auseinander 156
und ließ eine Brust sehen. Der bogenförmige Busen war so fest und prall, daß es fast den Anschein hatte, der Kimono klaffte deswegen auseinander. Vorsichtig und geräuschlos öffnete Miyo das Fenster. Als Saburō sie ansah und wortlos auf seine schmutzigen Füße deutete, holte sie sofort ein Tuch, hieß ihn sich aufs Fensterbrett setzen und wischte ihm die Füße sauber. War das Liebe? In einem kurzen Augenblick schossen Saburō diese Erinnerungen wie Bilder durch den Kopf. Zwar hatte er Miyo haben wollen, aber daß er sie liebte, das glaubte er nicht. Den ganzen Tag lang dachte er daran, wann es Zeit zum Jäten wäre, daß er darum bitten würde, zur Marine gehen zu dürfen, falls es wieder zu einem Krieg käme, spintisierte über die Prophezeiungen der Tenri-Sekte und ihre Erfüllung, den Jüngsten Tag, da Manna vom Himmel auf den besagten Manna-Tisch fallen würde, hing seinen Erinnerungen an die glücklichen Tage in der Grundschule nach, als er durch Wälder und Felder streifte, oder dachte daran, was er gerne zum Abendessen hätte, aber an Miyo dachte er nicht einmal ein Hundertstel eines Tages lang. Wenn er so darüber nachdachte, dann war er sich nicht einmal sicher, ob er Miyo tatsächlich begehrte. Es war fast wie Hunger. Kämpfe mit den Begierden in seinem Inneren und dergleichen Erlebnisse waren diesem gesunden jungen Mann völlig fremd. Aus diesem Grund dachte Saburō einen Augenblick lang über die ihm unverständliche Frage nach, dann schüttelte er wie verwundert den Kopf: »Nein.« Etsuko traute ihren Ohren nicht. Ihr Gesicht strahlte beinahe so auf vor Freude, wie es gleichzeitig vor Kummer verfiel. Saburō war so sehr davon in Anspruch genommen, den Zug der Hankyū-Linie zu er157
spähen, der kaum sichtbar hinter den Bäumen dahinbrauste, daß er diesen Ausdruck im Gesicht von Etsuko nicht bemerkte. Hätte er ihn jedoch bemerkt, dann wäre ihm der Kummer aufgefallen, den seine Worte in Etsuko hervorriefen, auch wenn er nicht begriff, warum, und er hätte sie gewiß schleunigst zurückgenommen. »Du liebst sie nicht, das heißt … … « – sagte Etsuko, als lasse sie ihre Freude langsam im Mund zergehen. » … … Ich meine, ist das dein Ernst? … … «, bemühte sie sich zu verhindern, daß Saburō seine Antwort von vorhin widerrief, sondern sein »Nein« mit Bestimmtheit wiederholte. » … … Es macht mir ja nichts aus, wenn du sie nicht liebst, sag bloß, was du wirklich fühlst. Du liebst Miyo also nicht?« Saburō fand diese Wiederholung völlig überflüssig. Liebst du sie? Liebst du sie nicht? … … Mein Gott, was für ein sinnloses Getue. Die gnädige Frau redet, als wäre das Ganze so wichtig, daß der Himmel darüber einstürzt. Tief fuhr er mit seinen Fingern in die Hosentaschen und stieß auf ein paar Stücke getrockneten Tintenfisch, den er gestern beim Fest zum Sake gegessen hatte. Was die gnädige Frau wohl für ein Gesicht macht, wenn ich anfange, das Zeug hierzu lutschen? sagte er zu sich selber. Etsukos Bedrücktheit weckte in ihm den Wunsch, ein wenig Faxen zu machen. Er angelte sich ein Stück getrockneten Tintenfisch aus der Hosentasche, flippte es mit den Fingern hoch und fing es mit dem Mund auf wie ein Hund. Dann sagte er in aller Unschuld: »Nein. Ich liebe sie nicht.« Wenn Etsuko, die sich immer in alles einmischte, schnurstracks zu Miyo gegangen wäre, um ihr zu petzen, daß Saburō sie nicht liebe, hätte ihn das nicht überrascht. Diese beiden einfachen Menschen hatten sich noch nie auf eine Diskussion eingelassen, ob sie einander liebten oder nicht. 158
Langes Leid verblödet die Menschen. Von Leid Verblödete sind nicht mehr imstande, Freude anzuzweifeln. Von diesem Standpunkt aus kalkulierte Etsuko alles. Unmerklich hatte sie sich dem selbstgebastelten Gerechtigkeitssinn angenähert. Saburō liebt Miyo nicht, deshalb muß er sie heiraten, dachte sie. Überdies hatte sie ihre Freude daran, Saburō unter der Maske der Scheinheiligkeit das moralische Urteil aufzuzwingen: Ein Mann, der einer Frau, die er nicht einmal liebt, ein Kind macht, hat die Pflicht, sie zu heiraten. »Du hast es faustdick hinter den Ohren«, sagte Etsuko. »Macht einer ein Kind, die er gar nicht liebt. Jetzt mußt du Miyo aber heiraten.« Mit seinen schönen Augen erwiderte Saburō Etsukos Blick scharf. Um diesen Blick parieren zu können, sprach Etsuko mit mehr Nachdruck. »Und sag nicht, du willst nicht. Wir haben seit jeher sehr viel Verständnis aufgebracht für junge Leute, aber Schlamperei können wir nicht dulden. Vater hat angeordnet, daß ihr beiden heiratet. Und jetzt wird geheiratet.« Auf eine solche Wendung war Saburō nicht gefaßt. Er hatte immer geglaubt, daß Yakichi sie nun trennen würde. Aber heiraten ging auch. Ein wenig Gedanken machte ihm nur, was seine quengelige Mutter dazu sagen würde. »Ich glaube, ich rede zuerst mit meiner Mutter.« »Und wie stehst du dazu?« Etsuko gab sich nicht eher zufrieden, bis sie Saburō persönlich dazu gebracht hatte, einer Heirat zuzustimmen. »Wenn der Dienstherr anordnet, daß ich Miyo zur Frau nehmen soll, dann nehm ich sie zur Frau«, sagte Saburō. So oder so, es war für ihn nicht wirklich wichtig. »Jetzt ist mir um vieles leichter«, sagte Etsuko heiter. Das Problem wurde dadurch ganz einfach gelöst. 159
Etsuko ging ihrer selbstgemachten Illusion auf den Leim und berauschte sich an der glücklichen Wendung, daß Saburō Miyo gegen seinen Willen heiraten würde. Oder war das der Rausch einer Frau, die ihren Liebeskummer in Alkohol zu ertränken sucht? Alkohol, nicht um der Weinseligkeit willen getrunken, sondern zur Betäubung, nicht um sich Träumen hinzugeben, sondern um blind zu werden, absichtlich zum Zwecke der Verblödung getrunkener Alkohol? Trug diese gewaltsame Berauschung nicht die Handschrift des unbewußten Vorsatzes, sich selbst keiner Verletzung auszusetzen? Schon vor den Schriftzeichen für ›Heirat‹ empfand Etsuko Horror. Wie ein Kind, das hinter dem Rücken eines Erwachsenen hervorlugt, um das Fürchten zu lernen, lehnte sie sich in dieser Sache völlig an Yakichi an. Wo die Straße vor dem Bahnhof Okamachi rechts abbiegt und in die Autobahn einmündet, tauchten auf der Betonfahrbahn zwei große, schöne Automobile auf. Perlweiß das eine und das andere ein fahlblauer Chevrolet. Mit sanft schnurrenden Motoren kurvten sie an den beiden vorbei. Das erste Fahrzeug war voll mit jungen Männern und Frauen. Im Vorbeifahren konnte Etsuko Jazzmusik aus einem Radio hören. Das zweite Fahrzeug wurde von einem japanischen Chauffeur gelenkt. Im dunklen Fond saß, reglos wie Raubvögel, ein scharfäugiges, blondes, ältliches Paar. Mit leicht geöffnetem Mund gaffte ihnen Saburō erstaunt nach. »Diese Leute fahren nach Ōsaka zurück, nicht wahr?« sagte Etsuko. Und meinte gleichzeitig, der ganze betäubende Lärm und Trubel dieser Stadt würde vom Wind dahergeweht und hämmere ihr gegen die Ohren. Da Etsuko wußte, daß es dort nichts zu finden gab, hatte die Großstadt für sie nichts von dem, was sie für die Leute 160
vom Land so attraktiv macht. Die Großstadt war wie ein Gebäude, dessen Architektur vortäuschte, ständig etwas Neues in ihm entdecken zu können. Für Etsuko war diese malerische Architektur jedoch ohne Reiz. Sehnlichst wünschte sich Etsuko, Saburō würde sich bei ihr unterhaken. An diesem Arm mit seinem goldenen Flaum würde sie diese Straße immer weiter und weiter gehen. Schon bald wären sie beide dann in Ōsaka, mitten im Zentrum dieses Tohuwabohu von Großstadt und würden vom Gedränge des Menschenstroms mitgezogen. Davon würden sie zu sich kommen und um sich sehen. Von diesem Augenblick an würde vielleicht Etsukos wahres Leben beginnen. Hatte Saburō sich bei ihr untergehakt? Diesem desinteressierten Jungen wurde die schweigend neben ihm gehende Witwe, die älter war als er, langweilig. Ihm entging völlig, daß sie Morgen für Morgen ihr Haar sorgfältig ordnete, für ihn ganz allein, und nur aus Neugierde warf er einen flüchtigen Blick auf ihre wunderliche, duftende Haartracht. Nie im Traum hätte er vermutet, daß sich im Innern dieser merkwürdig dominanten Frau der jungmädchenhafte Wunschtraum verbarg, er möge ihren Arm ergreifen. Er hielt plötzlich an und machte kehrt. »Gehst du schon zurück?« Vertraulich blickte Etsuko zu ihm hoch. Ihre samtigen Augen schimmerten dabei ein wenig bläulich, als spiegelten sie die Farbe des Abendhimmels. »Es ist schon spät.« Die beiden waren doch ein ziemliches Stück weit gegangen. In einiger Entfernung glänzte aus dem Waldschatten das Dach des Sugimotoschen Hauses. In dreißig Minuten waren die beiden da.
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Danach nahm Etsukos wirkliches Leid seinen Anfang. Ihr sorgfältig in unendlich vielen Einzelheiten vorbereitetes, wirkliches Leid. Ähnlich dem nicht seltenen Schicksal derer, die ihr Leben lang an einer Aufgabe gearbeitet haben und kaum daß sie diese Aufgabe vollendet haben, einer tödlichen Krankheit zum Opfer fallen, qualvoll dahinsiechen und schließlich sterben. Außenstehende können dann nicht entscheiden, ob der Betreffende für die Vollendung seiner Aufgabe gelebt hat oder dafür, im Einzelzimmer einer feudalen Klinik qualvoll zu sterben. Etsuko hatte sich herzlich darauf gefreut, wie Miyo nun unglücklich werden würde, wie sich ihr Unglück schimmelartig über ihren Körper ausbreiten und ihn schließlich zugrunde richten würde. Nimmermüde hatte Etsuko darauf warten wollen, diese lieblose Ehe so enden zu sehen, wie ihre eigene Ehe damals gescheitert war (es hätte ihr nichts ausgemacht, ihr ganzes Leben opfern zu müssen, um das mit ihren eigenen Augen mit ansehen zu können; sie hätte gern gewartet, und wenn sie darüber alt und grau geworden wäre), reglos, ohne den Blick zu wenden, hätte sie dabei zusehen wollen. Dabei kam es ihr nicht unbedingt darauf an, Saburō die Gefährtin für einen Seitensprung zu werden. Etsuko wollte nur mit ansehen können, wie Miyo vor ihren, Etsukos, Augen jede Hoffnung verlieren, sich schinden, leiden, ermatten und zusammenbrechen würde. Doch schon bald sollte dieses Vorhaben eindeutig zunichte gemacht werden. Etsukos Bericht folgend, machte Yakichi die Beziehung zwischen Miyo und Saburō öffentlich bekannt. Auf die neugierigen Fragen der lästigen Dörfler verkündete er, daß die beiden in absehbarer Zeit ein Ehepaar würden. Um die Hausordnung nicht zu stören, mußten sie aber weiterhin in ihren 162
weit auseinander liegenden Räumen verbleiben. Einmal wöchentlich durften sie allerdings die Nacht gemeinsam im selben Zimmer verbringen. Saburō wartete auf das Tenri-Fest am sechsundzwanzigsten Oktober. Dort würde er mit seiner Mutter reden, danach konnten dann die Vorbereitungen für die Hochzeit anlaufen, bei der Yakichi als der offizielle Vermittler fungieren würde. Yakichi widmete sich diesen Dingen mit einer Art Leidenschaft. Mit einem bisher nie zu sehen gewesenen großväterlichen Lächeln stand er dem Verhältnis von Saburō und Miyo fast ein wenig zu verständnisvoll und großzügig gegenüber. Daß für diese neue Haltung von Yakichi der Gedanke an Etsuko durchaus nicht ohne Belang war, versteht sich von selbst. Das waren zwei Wochen! Etsuko erinnerte sich wieder an jene entsetzlichen Wochen vom Spätsommer bis zum Herbst, deren Nächte ihr Mann außer Haus verbrachte und sie schlaflos. Untertags hatte sie das Geräusch der Schritte gemartert, die sich der Türe näherten, unendlich langsam waren die Stunden dahingekrochen, in denen sie schwankte, ob sie ihn anrufen sollte oder nicht. Tagelang hatte sie keinen Bissen hinuntergebracht, hatte nur Wasser getrunken und im Bett gelegen. Eines Tages hatte sie beim Trinken empfunden, wie sich die Kühle des Wassers in ihrem Körper ausbreitete und war plötzlich auf den Gedanken verfallen, sich zu vergiften. Als sie sich die Freude vorgestellt hatte, die sie empfinden würde, wenn sich die weißen Giftkristalle mit dem Wasser zusammen in ihrem Organismus ausbreiteten, verfiel sie plötzlich in eine Art Verzückung und vergoß völlig quallose Tränen. Nun spürte sie die gleichen Symptome wie damals: unerklärliche Schüttelfröste, Gänsehaut bis in die Handrücken. War das nicht Kälte wie im Gefängnis? Froren so nicht die Häftlinge? 163
So wie sie früher die Abwesenheit von Ryōsuke gepeinigt hatte, so litt sie nun unter dem Anblick von Saburō. Als er diesen Frühling in Tenri war, hatte sie sich ihm näher gefühlt, als wenn sie ihn sehen konnte. Jetzt aber waren ihr die Hände gebunden, und sie mußte all die Vertraulichkeiten zwischen Saburō und Miyo mit ansehen, ohne einen Finger rühren zu dürfen. Eine grausame, unbarmherzige Strafe, die sie noch dazu selbst herbeigeführt hatte. Sie haßte sich, weil sie nicht dafür gewesen war, Saburō fortzuschicken und Miyos Kind abtreiben zu lassen. Vor Reue wußte sie nicht mehr aus und ein. Daß ihr ganz natürliches Verlangen, Saburō nicht zu verlieren, eine solche Qual nach sich ziehen würde! War dieses Bedauern aber frei von Selbstbetrug? Lag hier nicht eigentlich »umgekehrtes« Leiden vor? Konnte es sich nicht um vorhergesehenes, selbstverständliches Leid handeln, von ihr selbst erwartet, ja sogar herbeigesehnt? War es nicht Etsuko gewesen, die es vor noch nicht allzu langer Zeit danach verlangt hatte, gründlich zu leiden? Am fünfzehnten Oktober war in Okamachi Obstmarkt, bei welcher Gelegenheit die Produkte mit der höchsten Qualität für den Versand nach Ōsaka ausgewählt werden sollten. Das herrliche Wetter am Dreizehnten kam ihnen deshalb zur Kaki-Ernte sehr zustatten, und zusammen mit den Okuras hatten die Sugimoto-Leute alle Hände voll damit zu tun. Dieses Jahr überragten die Kaki alle anderen Obstsorten. Saburō kletterte auf die Bäume, Miyo stand unten, um die vollen Körbe in Empfang zu nehmen und leere hinaufzureichen. Wenn sie von unten hochsah, schwindelte ihr fast bei der schnellen Bewegung der Zweige, die zwischendurch immer den Blick freigaben in den strahlend hellen Himmel. Im Laub sah Miyo das hurtige Hin und Her der Fußsohlen von Saburō. 164
»Voll«, rief Saburō. Hier und da gegen die unteren Äste schlagend, wurde ein Korb voll schimmernder Kaki herabgelassen und von Miyo mit ausgestreckten Armen entgegengenommen. Ohne Erregung stellte ihn Miyo zu Boden. Breitbeinig stand sie da in ihren Pluderhosen und knüpfte den Korb los. Sodann schickte sie einen leeren Korb ins Geäst. »Komm doch herauf!« rief Saburō hinunter. »Gut!« rief Miyo zurück und kletterte in verblüffender Geschwindigkeit hoch. Etsuko kam vorbei. Sie trug ein Kopftuch, hatte die Kimonoärmel mit einem weißen Band hochgeknotet und brachte einen neuen Stapel leerer Körbe. Da hörte sie Stimmen im Baum. Saburō versperrte Miyo, die auf den Baum geklettert war, den Weg. Außerdem tat er so, als wollte er ihr mit Gewalt beide Hände von dem Ast losmachen, an dem sie sich festhielt. Miyo schrie und langte nach dem gerade vor ihren Augen baumelnden Knöchel Saburōs. Etsuko konnten sie nicht sehen, weil die Zweige davor waren. Dann biß Miyo Saburō in die Hand. Er schimpfte scherzhaft. Sie kletterte auf einen Ast über seinem und versuchte, ihm mit dem Fuß ins Gesicht zu treten. Er packte ihr Knie und hielt es fest. Bis jetzt hatten die Zweige ununterbrochen weit ausgeschwungen. Nun erzitterten die Spitzen der noch reich mit Laub und Früchten geschmückten Zweige nur noch ganz schwach, als ob eine leichte Brise sie sacht erschauern ließe. Etsuko schloß die Augen und drehte sich weg. Wie Eis lief es ihr die Wirbelsäule hinunter. Maggie kläffte. Vor dem Haupteingang der Küche saß Kensuke mit der Frau von Okura und Chieko auf einer Binsenmatte und sor165
tierte Kaki. Wieder einmal hatte er nicht verfehlt, als erster die Tätigkeit zu finden, bei der er sich am wenigsten bewegen mußte. »Etsuko, wo bleiben die Kaki?« rief er. Sie gab keine Antwort. »Was ist los? Du bist ja ganz blaß!« setzte er hinzu. Ohne zu antworten ging Etsuko durch die Küche durch und an der Rückseite wieder hinaus. Ohne zu denken ging sie bis zu den schattigen Buchen. Dort ließ sie die leeren Körbe ins Gras fallen, hockte sich hin und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Am selben Abend legte Yakichi beim Abendessen seine Stäbchen weg und sagte belustigt: »Saburō und Miyo sind fast wie junge Hunde. Der Miyo ist eine Ameise den Rücken hinuntergelaufen – na, die hat sich vielleicht aufgeführt! Ich war zwar daneben, aber ich hab mir gedacht, das Ameise-Herausnehmen überlaß ich doch lieber dem Saburō. Der ist mißmutig aufgestanden und hat sich angestellt, als war das wer weiß was für eine Plackerei. Wenn er deswegen solche Grimassen schneidet, ja, da könnte man auch einen undressierten Affen nehmen dafür. Aber so tiefer auch hineingefahren ist mit der Hand und auf ihrem Rücken herumgefummelt hat, ja, keine Spur von einer Ameise zu finden. Ich glaub’, da war von Anfang an gar keine da. Gleich darauf wird’s der Miyo zu kitzlig, und sie fängt an zu lachen, kugelt sich vor Lachen und kann sich gar nicht mehr einkriegen. Du, daß eine vor lauter Lachen eine Fehlgeburt hat, hast du das schon einmal gehört? Stell dir vor, der Kensuke behauptet, daß Kinder von Müttern, die viel lachen, groß und stark werden nach der Geburt, weil sie im Bauch ordentlich massiert worden sind.« In Verbindung mit dem, was sie vorhin gesehen hatte, ver166
ursachte diese Schilderung Etsuko einen Schmerz, als würde sie am ganzen Körper mit Nadeln gepiekt. Ihr Nacken tat weh, als stecke er in einem Joch aus Eis. Wie ein Fluß über seine Ufer tritt und die umliegenden Reisfelder überflutet, so schien sich ihr seelischer Schmerz mehr und mehr auch auf ihren Körper auszudehnen. Als ob die Seele ihrer Rolle nicht mehr gewachsen wäre und anfinge, Warnsignale auszusenden. Macht dir das nichts? Dein Kahn ist im Sinken. Rufst du immer noch nicht um Hilfe? Du hast deinen geistigen Kahn überlastet, einen letzten Zufluchtsort hast du aus eigener Schuld vertan, jetzt bleibt dir nichts mehr, als mit eigener Kraft im Meer zu schwimmen. Vor Augen hast du dann nur noch den Tod. Macht dir das nichts? Qual allein ist imstande, eine solche Warnung neu zu formulieren. Ihr Organismus war am Ende und drohte überdies seine geistige Stütze zu verlieren. Eine Empfindung, als stiege ihr von unten eine Glaskugel langsam durch den Schlund hoch in den Hals. Eine Empfindung wie rasende Kopfschmerzen, die den Schädel zu sprengen drohen. Auf keinen Fall rufe ich um Hilfe. Was Etsuko jetzt benötigte, war eine kühne Logik, mittels derer sie sich ohne jede Rücksicht ein Fundament schuf, von dem aus sie sich wieder glücklich vorkommen konnte. Ich muß das jedenfalls runter schlucken. Ich muß unter allen Umständen die Augen zumachen und das gutheißen. Ich muß diese Qual zu mir nehmen wie eine Köstlichkeit. Es gibt keinen Goldwäscher, der nichts außer Gold herausholt oder herauszuholen versucht. Blind holt er den Sand aus dem Flußbett hoch. In dem Sand ist vielleicht Gold, vielleicht keines. Sich im voraus aussuchen zu dürfen, ob welches da ist oder nicht, dieses Privileg hat niemand. Sicher ist nur eins: Wer nicht Gold waschen geht, bleibt so arm und elend, wie er ist. 167
Sicheres Glück besteht weiter darin, das Wasser der großen Ströme, die ins Meer münden, auszutrinken. Das habe ich bisher getan. Das werde ich auch weiterhin tun. Mein Magen wird das bestimmt aushallen. Auf diese Weise führt einen das schiere Übermaß an Leid zum Glauben an die Unzerstörbarkeit des leidgeplagten Körpers. Ist das so dumm? Am Vortag des Markttages hatten Okura und Yakichi eine Lieferung weggebracht, nun kehrte Yakichi die umherliegenden Seilstücke, Papierschnitzel, Strohreste, zerbrochenen Körbe und abgefallenes Laub auf einen Haufen, den er anzündete. Etsuko hieß er auf das Feuer achten, während er auffegte, was noch übrig war. Nachmittags herrschte dichter Nebel. Man hätte nicht sagen können, was Dämmerung war und was Nebel. Ungewöhnlich früh begann es dunkel zu werden. Undeutlich verging das Licht in einem Sonnenuntergang voll rauchiger Melancholie, aufgesogen vom Nebel, als wäre er graues Löschpapier, in dem sich die Abendsonne abzeichnete wie ein Tintenklecks. Aus einem unbestimmten Grund schien es Yakichi bedenklich, Etsuko auch nur für ganz kurz allein zu lassen. Vielleicht, weil ihre Konturen im Nebel schon auf wenige Meter Entfernung zu verschwimmen begannen. Unglaublich schön, wie der Nebel das Feuer färbte. Etsuko stand ruhig da und holte ab und zu mit einem Bambusrechen verstreute Strohreste heran. Die Flammen umschmeichelten ihre Hände, als wollten sie um sie buhlen. Yakichi bewegte sich ungefähr im Kreis um Etsuko herum und häufte die aufgefegten Reste neben ihr auf. Dann entfernte er sich wieder von ihr auf seiner Kreisbahn. Jedesmal wenn er in ihre Nähe kam, guckte er verstohlen von der Seite 168
nach ihr. Sie unterbrach ihr mechanisches Harken, und obwohl es eigentlich nicht kalt war, hielt sie ihre Hand über eine Flamme, die von einem zerbrochenen Korb knisternd hochfuhr. »Etsuko!« Yakichi ließ seinen Besen fallen und kam gelaufen, um Etsuko vom Feuer wegzuziehen. Etsuko hatte ihre Handfläche in die Flammen gehalten und sich die Haut verbrannt. Diese Brand-wunden waren mit dem verbrannten Mittelfinger von neulich überhaupt nicht zu vergleichen. Ihre rechte Hand würde sie nun für längere Zeit nicht gebrauchen können. Auf der weichen Haut der Handfläche hatte sich eine größere Brandblase gebildet. Die Schmerzen in der eingecremten und bandagierten Hand raubten Etsuko in dieser Nacht den Schlaf. Mit Entsetzen erinnerte sich Yakichi daran, wie sie in dem Augenblick, als das geschah, ausgesehen hatte. Woher hatte sie die Gelassenheit, mit der sie furchtlos in die Flammen blickte, furchtlos die Hand in die Flammen hielt? Diese sture, statuenhafte Gelassenheit? Woher nahm diese Frau, die sich einer Vielzahl verwirrender Gefühle hingegeben hatte, um sich dann einen Augenblick lang von all diesen Gefühlen loszureißen, ihre beinahe anmaßende Gelassenheit? Wäre Etsuko nicht gestört worden, hätte sie sich möglicherweise gar nicht verbrannt. Yakichis Ruf hatte Etsuko aus jenem Gleichgewichtszustand geweckt, welcher der Seele nur im tranceartigen Dämmerschlaf möglich zu sein scheint. Vielleicht war es erst in diesem Augenblick zur Verbrennung gekommen. Yakichi wurde ganz mulmig, wenn er den Verband an Etsukos Hand sah. Ihm war zumute, als hätte er diese Verletzung 169
verursacht. Da Etsuko eine Frau war, die man unter keinen Umständen hätte unvorsichtig nennen können, deren förmlich sinistre Ruhe, die sie stets zu bewahren wußte, einen fast ein wenig gruseln konnte, bedeutete eine solche Verletzung schon etwas Außergewöhnliches. Als sie vor einigen Tagen den Mittelfinger eingebunden hatte und Yakichi sie nach dem Grund fragte, lächelte sie bloß und sagte, es sei eine Brandwunde. Bestimmt hatte sie sich die Verletzung nicht einfach selber zugefügt. Losgeworden war sie diesen Verband, indem sie sich einen noch größeren einhandelte, der den ersten verdrängte. Die Gesundheit einer Frau, lautete eine Spruchweisheit, die sich Yakichi in jungen Jahren selber zusammengereimt hatte und die er Freunden stolz als seine eigene Ansicht zu präsentieren pflegte, beruht auf vielen überstandenen Krankheiten. Zum Beispiel ein Freund von ihm. Der hatte eine Frau geheiratet, die an unerklärlichen Magenschmerzen litt. Kaum waren sie eine Weile verheiratet, waren die Schmerzen verschwunden, und er konnte beruhigt sein. Dann, als sich Langeweile einstellte in ihrer Beziehung, fing sie an, ständig an Kopfschmerzen zu leiden, was ihrem Mann auf die Dauer die Laune verdarb, so daß er Zerstreuung außer Haus zu suchen begann. Als seine Frau dahinterkam, verschwanden zwar ihre Kopfschmerzen, dafür tauchten die Magenschmerzen aus der Zeit vor ihrer Ehe wieder auf. Ein Jahr später starb sie mit der Diagnose Magenkrebs. Was an der Krankheit einer Frau Wahrheit ist und was Lüge, das weiß kein Mensch. Glaubt man, es ist gelogen, dann kriegt sie auf einmal ein Kind oder stirbt. Außerdem sind Mißgeschicke von Frauen immer doppelbödig. Als ich jung war, hatte ich einen Freund, Kajima hieß er, ein richtiger Weiberheld; dem seiner Frau fiel jeden Tag versehentlich ein Tel170
ler aus der Hand, als ihr Mann ein Verhältnis anfing. Reines Versehen, denn von seiner Affäre hat sie angeblich gar nichts gewußt. Sie war jeden Tag völlig überrascht über den unabsichtlichen Lapsus ihrer Finger. Womöglich hat die ›Sarayashiki no O-Kiku‹ * ihren Teller auch aus so einem Versehen zerschlagen; interessant eigentlich. In irgendeinem Herbst hatte Yakichi einmal mit einem Bambusbesen den Garten gefegt und sich dabei, was sonst nie vorkam, einen Span eingezogen. Weil er sich nicht weiter darum kümmerte, kam es zu einer geringfügigen Eiterung. Doch ohne daß er es merkte, war der Eiter eines Tages weg und alles verheilt. Yakichi mochte keine Medizin und benutzte deshalb keine. Weil er Etsuko untertags vor seinen Augen leiden sah und nachts ihre Schlaflosigkeit neben sich spürte, wurde Yakichi in seinen nächtlichen Zärtlichkeiten noch beharrlicher. Er beneidete Saburō, weil Etsuko seinetwegen eifersüchtig war und empfand Eifersucht wegen Etsukos hoffnungslos einseitiger Liebe. Nichtsdestoweniger entging ihm nicht, daß ihm seine Eifersucht in gewisser Weise auch als Stimulus zugute kam. Deshalb erzählte er Etsuko, um sie ein wenig zu ärgern, stark aufgebauschte Geschichten über Saburō und Miyo. Dabei empfand er eine seltsame Verbundenheit, sozusagen eine paradoxe »freundschaftliche Zuneigung« zu den beiden. Wenn er seinen Mund zügelte und sich dieses Spielchen nicht allzu oft leistete, dann aus Angst, Etsuko zu verlieren. Sie war ihm mittlerweile unverzichtbar geworden, unverzichtbar wie Sünde oder schlechte Gewohnheiten. Etsuko war eine schöne Krätze. Yakichi war in einem Alter, in dem Krätze eine Art Notwendigkeit darstellt, um sich ein Jucken verschaffen zu können. 171
Schaltete Yakichi in seinen Gerüchten über Saburō und Miyo aus Rücksicht auf sie aber nur ein ganz klein wenig zurück, dann wurde Etsuko unruhig, weil sie befürchtete, es könnte etwas vorgefallen sein, das sie nicht erfahren sollte. Kann es etwas Ärgeres geben als eine solche Lage? Aber so kann nur jemand fragen, der Eifersucht nicht oft genug erlebt hat. Eifersucht ist nämlich eine Leidenschaft, die faktischer Evidenz nicht bedarf, was sie übrigens in die Nähe der Leidenschaft des Idealisten rückt. Einmal die Woche wurde das Bad angeheizt. Yakichi stieg als erster hinein – üblicherweise zusammen mit Etsuko, die an diesem Abend jedoch wegen einer nahenden Erkältung nicht baden wollte. Yakichi ging also allein und als erster ins Bad. Zufällig waren gerade sämtliche weiblichen Mitglieder der Sugimoto-Familie in der Küche versammelt. Etsuko, Chieko, Asako, Miyo und sogar Nobuko waren zur selben Zeit da, um Geschirr zu spülen. Wegen ihrer Erkältung hatte Etsuko einen weißen Seidenschal um den Hals gewickelt. Asako erzählte, was selten vorkam, von ihrem Mann in Sibirien. »Seit August habe ich keinen Brief mehr bekommen. Na ja, er ist immer schon schreibfaul gewesen, da kann man nichts machen, aber einmal die Woche könnte er zumindest schreiben. Natürlich, die Liebe zwischen Eheleuten kann man weder in Worten noch schriftlich richtig wiedergeben, aber daß sie es nicht einmal probieren, so etwas in Worten auszudrücken oder schriftlich, das ist typisch für die japanischen Männer, glaube ich.« Die Vorstellung, daß Yūsuke, der Mann von Asako, jetzt in der Tundra bei einer Außentemperatur von dreißig, vierzig Grad minus dieses Gespräch mit anhörte, erheiterte Chieko. 172
»Na, hör mal, glaubst du, die schicken das auch alles weg, wenn einer jede Woche schreibt? Wer weiß, vielleicht schreibt er ja wirklich so oft, der Yūsuke.« »Ah ja? Und wer kriegt dann alle die nicht abgeschickten Briefe?« »Die verteilen sie bestimmt an die sowjetischen Witwen.« Auf diese scherzhaft gemeinte Feststellung hin überkam es Chieko, daß sich Etsuko dadurch vielleicht ein wenig verletzt fühlen könnte. Asako hatte den Scherz jedoch wörtlich genommen. Ihre dämliche Antwort rettete nun die Situation: »Ach so? Obwohl die gar kein Japanisch lesen können?« Chieko ging darüber hinweg und wandte sich Etsuko zu, um ihr beim Abwasch zu helfen, »Dein Verband wird naß. Ich mach das schon.« »Danke.« Etsuko tat es aber leid, sich von mechanischen Verrichtungen wie Geschirrspülen oder Ähnlichem trennen zu müssen. Neuerdings verspürte sie ein nahezu sinnliches Bedürfnis danach, sich selbst zu einer Maschine zu machen. Sobald ihre Hand wieder verheilt war, würde sie für Yakichi und sich Herbst-Kimonos nähen, und zwar in einem Tempo, daß alle daheim Augen machen würden, darauf freute sie sich schon jetzt, der Stoff dafür war bereits gewaschen und gesäumt. Ihre Nadel würde mit übermenschlicher Geschwindigkeit nur so dahinfliegen. Die Küchenbeleuchtung bestand nur aus einer mickrigen Zwanzig-Watt-Birne, die zwischen den verrußten Deckenbalken herunterhing. In dem dunklen Spülbecken mußten die Frauen ihren Abwasch erledigen. Etsuko lehnte am Fensterrahmen; von hinten studierte sie Miyo, die gerade den Reiskessel wusch. Ihre Hüften, die sich unter dem ärmlichen, ausgebleichten Musselin-Obi abzeichneten, hatten ein wenig 173
zugesetzt. Sieht fast so aus, als würde sie jeden Moment ein Ei legen, was? Ein gesundes Mädchen, die leidet garantiert nicht unter Schwangerschaftserbrechen. Im Sommer ist sie ständig in kurzärmeligen Hauskleidern herumgelaufen, weiß aber nicht einmal, daß man sich die Achselhöhlen rasiert. Wenn sie geschwitzt hat, dann hat sie sich einfach ein Handtuch geschnappt und sich die Achseln trockengewischt, egal wer da war. Solch runde Hüften, wie reife Früchte, so elastische Kurven hatte auch Etsuko einst besessen, eine schwere, massive Fülle wie eine volle Vase. Das hat ihr alles der Saburō gemacht. Sorgfältig hat der junge Gärtner den Samen gesetzt, behutsam das Pflänzchen gezogen. Wie die Blütenblätter der Tigerlilie am Morgen aufeinanderkleben, naß vom Tau, als würden sie nie auseinandergehen, so klebte der Schweiß ihre Brustwarzen fest an seine Brust. Plötzlich hörte Etsuko Yakichi laut aus dem Badezimmer reden. Das Bad lag unmittelbar neben der Küche. Saburō war im Freien und legte von draußen Brennholz nach. Mit ihm redete Yakichi. Sein Plätschern und Planschen im heißen Wasser rief ihr den knochigen, alten Leib von Yakichi ins Gedächtnis. In seinen tief eingesunkenen Schlüsselbeinhöhlungen stand das Wasser und lief nicht ab. Mit seiner brüchigen Stimme, die von der Decke widerhallte, rief er zu Saburō hinaus: »Saburō! Saburō!« »Jawohl.« »Spar mit dem Brennholz. Von heute an soll Miyo mit dir zusammen baden; beeilt euch aber! Wenn ihr nämlich jeder extra badet, dann dauert es länger und kostet wieder ein, zwei Scheite Brennholz mehr.« Nach Yakichi gingen Kensuke und Chieko ins Bad. Anschließend Asako und die Kinder. Als sie herauskamen, hörte 174
Yakichi überrascht, wie Etsuko erklärte, daß sie doch rasch ein Bad nehmen würde. Etsuko stieg in die Wanne, tauchte bis zum Hals unter und tastete mit den Zehen nach dem Ablaufverschluß. Nur Saburō und Miyo würden noch baden. Sie tauchte bis zu den Wangen unter, steckte den nicht eingebundenen Arm ins Wasser und zog den Stöpsel des Beckens heraus. Weder Grund noch Zweck dieser Handlung waren triftig: Daß Saburō und Miyo zusammen baden, lasse ich nicht zu. Dieser läppische Grund war es, der Etsuko veranlaßt hatte, trotz ihrer Erkältung ins Bad zu steigen und den Ablaufverschluß herauszuziehen. Verschwenderisch war Yakichi nur beim Badezimmer gewesen: Es war vier Tatami weit, und der Boden sowie das viereckige Heiß Wasserbecken waren aus Hinoki-Holz. Durch den Ablauf des weiten und nicht sehr tiefen Beckens, dessen Verschluß nun heraus war, lief das Heißwasser mit einem wimmernden Geräusch wie von kleinen Muscheln ab. Etsuko starrte in das dunkle, ein wenig verschmutzte Wasser und lächelte ein Lächeln voll kindischer Befriedigung, das sogar sie selbst in Erstaunen setzte. Was tu ich denn eigentlich hier? Was ist das Interessante an diesem Schabernack? Sogar Kinder haben einen ordentlichen Grund für ihre Streiche. In der Welt der Kinder sind Streiche das einzige Mittel, mit dem sie die Aufmerksamkeit gedankenloser Erwachsener auf sich ziehen können. Die Kinder spüren es, wenn sie im Stich gelassen worden sind. Kinder und mißachtete Frauen leben miteinander in derselben Welt der Mißachteten, deren Bewohner nur aus diesem Grund und ganz ohne eigene Absicht grausam werden. Langsam kreisten an der Wasseroberfläche winzige Holzspäne, Haare, ölig-wolkige Shampoorückstände. Etsuko er175
hob sich etwas, legte den Arm auf den Beckenrand und preßte ihre Wange dagegen. Sogleich lief das Wasser von Schultern und Arm ab. Unter der schwachen, nackten Glühbirne schimmerte ihre gerade richtig erwärmte Haut in mattem Glanz. Die noch jugendliche Geschmeidigkeit ihres Oberarms, die Etsuko in ihrer Wange spürte, nahm sie als unglaubliche Sinnlosigkeit wahr, demütigend und vergeblich. Umsonst! Umsonst! Umsonst! sagte sie zu sich selbst. Wie ein blindes, dummes Lebewesen kam ihr die überschüssige Jugendlichkeit vor, die diese heiße Haut durchflutete. Der Anblick machte sie wütend. Etsukos Haar war aufgesteckt und wurde von einem Kamm zusammengehalten. Von der Decke fielen ihr gelegentlich Wassertropfen ins Haar oder ins Genick. Trotzdem ließ sie ihr Gesicht auf dem Arm liegen, wie es war, tat nichts, um den kalten Tropfen zu entgehen. Ab und zu fielen sie auf die eingebundene Hand, die sie zum Becken hinaushielt, und versickerten im Verband. Unendlich langsam floß das Wasser in den Abfluß. Die Grenze von heißem Wasser und darüber lagernder Luft sank zögernd von den Schultern zum Busen, vom Busen zum Bauch. Nach dieser zarten Liebkosung überkam sie schauderndes Frieren. Ihr Rücken war wie Eis. Das abfließende Wasser kräuselte schneller, floß schließlich an ihren Hüften hinunter und weiter. Tod. Das ist der Tod. Unwillkürlich wollte Etsuko um Hilfe rufen, sich in ihrer Bestürzung erheben. Da erst fiel ihr auf, daß sie nackt in dem leeren Wasserbecken kniete. Auf dem Rückweg in Yakichis Zimmer begegnete Etsuko im Flur Miyo und sagte heiter in neckendem Tonfall: »Ach, ich hab völlig vergessen. Ihr beiden wolltet ja auch noch baden, 176
nicht? Jetzt hab ich das ganze heiße Wasser ausgelassen. Das tut mir aber leid!« Miyo verstand die schnell hervorgesprudelten Sätze gar nicht. Wie angewurzelt stand sie da, gab keine Antwort, sondern starrte nur auf die nahezu blutleeren, bibbernden Lippen von Etsuko. An diesem Abend bekam Etsuko Fieber, das zwei, drei Tage anhielt. Am dritten Tag normalisierte sich ihre Temperatur wieder. Es war der vierundzwanzigste Oktober. Als sie, erschöpft nach der Krankheit, von ihrem Mittagsschlaf erwachte, war es bereits Nacht. Neben sich hörte sie Yakichi im Schlaf tief atmen. Mit sanftem, unsicherem Ton schlug die Wanduhr elf, von fern bellte Maggie, die endlose Wiederholung einsamer Nächte … … in unerträglicher Angst weckte Etsuko Yakichi. Der hob seine in einen karierten Schlafkimono gehüllten Schultern aus dem Bettzeug, griff tolpatschig nach der Hand, die ihm Etsuko hinstreckte und seufzte tief auf. »Ich bitte dich, laß meine Hand nicht los«, sagte Etsuko und starrte auf die wunderliche Maserung in der Zimmerdecke. Sie sah Yakichi nicht ins Gesicht. Auch Yakichi blickte Etsuko nicht an. »Mm.« Dann ließ Yakichi ein räusperndes Geräusch vernehmen und schwieg. Mit einer Hand langte er nach einem Papiertaschentuch unter dem Kopfkissen und spuckte den im Mund angesammelten Schleim hinein. »Heute nacht schläft Miyo im Zimmer von Saburō, nicht wahr?« sagte Etsuko nach einer Weile. » … … Nnein.« »Auch wenn du es vertuschst, ich merke es ja doch. Auch ohne es zu sehen, weiß ich, was die beiden tun.« 177
»Morgen in aller Frühe fährt Saburō nach Tenri. Weil übermorgen das große Fest ist. … … Die Nacht vor der Abreise, was kann man da machen.« »Ja ja, da kann man gar nichts machen.« Etsuko zog ihre Hand zurück. Sie zog sich die Decke über den Kopf und brach in ein Schluchzen aus. Yakichi war irritiert über die etwas unklare Situation, in der er sich befand. Warum kann ich nicht zornig werden? Was ist mit meiner Veranlagung zum Jähzorn? Wie kommt es, daß sich Yakichi wie ein geheimer Verschwörer vorkommen muß, nur weil sich diese Frau unglücklich fühlt? Mit rauher, zärtlicher Stimme, als wäre er halb im Schlaf, begann er auf Etsuko einzureden. Ehe er mit seiner Gute-Nacht-Geschichte diese Frau einlullen konnte, mußte er erst noch sich selbst und sein eigenes ambivalentes, gallertiges Urteil einlullen. »Wie dem auch sei, ja, du lebst auch hier, auf dem Land, und das ist so langweilig, daß es dir auf die Nerven geht. Da kommst du unnötig ins Grübeln. Bald ist der erste Todestag von Ryōsuke, und, das habe ich dir ja schon früher versprochen, wir können ja miteinander nach Tōkyō fahren und einen Friedhofsbesuch machen. Ich hab neulich den Kamisaka gebeten, daß er ein paar meiner Aktien von der Kintetsu-Bahn verkauft. Deshalb können wir sogar zweite Klasse fahren, wenn wir ein wenig auf den Putz hauen wollen. Andererseits, wenn wir beim Fahrgeld sparen, können wir in Tōkyō mehr ausgeben. Wir könnten nach langer Zeit wieder einmal ins Theater gehen oder so; in Tōkyō, da gibt’s ja Unterhaltungsmöglichkeiten ohne Ende. Aber meine Idealvorstellung, ja, das wäre überhaupt das Allerbeste: Ich gebe Maiden auf, und wir ziehen ganz nach Tōkyō. Ich überleg mir sogar, ob ich nicht wieder aktiv werden soll. Zwei, drei von meinen alten Freunden haben in 178
Tōkyō ein Comeback gemacht. Von dem undankbaren Kerl von Miyahara einmal abgesehen sind das alles Männer, auf die man sich verlassen kann. Wenn ich also nach Tōkyō komme, dann werde ich zwei, drei von den Leuten treffen und mit ihnen reden. So eine Entscheidung, ja, die ist gar nicht leicht. Aber was ich mir da ausgedacht habe, das ist alles nur für dich. Wenn du glücklich wirst, dann werde ich auch glücklich. Ich war zufrieden hier, auf diesem Hof. Aber seit du hier bist, bin ich wieder wie ein junger Bursche, der nicht weiß, was er will.« »Wann fahren wir?« »Wie war’s mit dem Express am Dreißigsten? Du weißt schon, der Heiwa. Ich stehe ziemlich gut mit dem Bahnhofsvorstand in Ōsaka. Ich fahr in den nächsten zwei, drei Tagen hin und besorg uns die Karten.« Doch das war es nicht, was Etsuko sich aus Yakichis Mund zu hören gewünscht hatte. Woran sie gedacht hatte, war etwas ganz anderes. Dieses so ungeheuer andere, dessentwillen sie Yakichi beinahe auf den Knien angefleht hätte, ließ Etsuko das Herz gefrieren. Sie bedauerte, daß sie Yakichi vorhin ihre heiße Hand hingestreckt hatte. Selbst nachdem sie den Verband abgenommen hatte, schwelte der Schmerz noch wie glühende Kohlen. »Bevor wir nach Tōkyō fahren, würde ich gerne etwas erledigt bekommen. Während Saburō in Tenri ist, möchte ich gerne, daß Miyo entlassen wird.« »Na, du bist vielleicht brutal.« Überrascht war Yakichi eigentlich nicht. Wer wäre schon überrascht darüber, wenn ein Kranker mitten im Winter Wikkenblüten sehen will? »Und was bringt dir das, wenn Miyo entlassen wird?« »Ich bin es einfach leid, daß ich wegen Miyo nun derma179
ßen krank geworden bin und leiden muß. Wo gibt es ein Haus, in dem eine Dienstmagd geduldet wird, die ihre Herrin krank macht? Wenn es so weitergeht, dann bringt mich Miyo noch ins Grab. Wenn Miyo nicht entlassen wird, dann ist es genauso, als wolltest du mich indirekt umbringen. Entweder Miyo geht oder ich gehe. Sollte es dir lieber sein, wenn ich gehe, dann kann ich meinetwegen schon morgen nach Ōsaka fahren und mir eine Stelle suchen.« »Du übertreibst maßlos. Wenn ich Miyo hinauswerfe, obwohl sie sich überhaupt nichts zu Schulden kommen hat lassen, das würde mir niemand verzeihen.« »Gut. Macht ja nichts. Dann geh eben ich. Hier möchte ich ohnedies nicht länger bleiben.« »Deswegen sage ich ja, gehen wir nach Tōkyō.« »Zusammen?« Diesen Worten haftete nichts an, das auf irgendeinen Sinn hingedeutet hätte, doch vermochten sie immerhin, Yakichi unsicher zu machen und bereit sich auszumalen, was sie anzukündigen schienen. Als wolle er das vorwegnehmen, rückte der Alte im karierten Schlafkimono von seiner Liegestatt nach und nach zu Etsuko hinüber. Etsuko, in ihre wattierte Bettdecke mit Ärmeln eingehüllt wie in einen Harnisch, ließ Yakichi nicht heran. Ein Paar absolut regloser Pupillen starrten Yakichi gerade in die Augen. Diese beiden Pupillen verrieten keinen Haß, keinen Groll, auch keine Liebe, machten Yakichi jedoch zurückweichen. »Nein, nein«, sagte sie mit tiefer, emotionsloser Stimme. »Ehe Miyo nicht entlassen wird, nein.« Wo mochte sie diese Art der Zurückweisung gelernt haben. Bis zu ihrer Krankheit hatte sie bloß die Augen geschlossen, wenn sie spürte, daß Yakichi unbeholfen wie eine ausgeleierte Maschine angekrochen kam. Alles spielte sich an der 180
Peripherie von Etsuko ab – ihre Augen dabei fest verschlossen –, an der Peripherie ihres Körpers. »Ausländische Ereignisse«, das umfaßte für Etsuko auch, was sich auf ihrem Körper ereignete. Wo fing das Außen für Etsuko an? Das eingekerkerte, erstickte Innen dieser zu derart subtilen Manövern fähigen Frau barg die Gewalt einer Sprengladung. Um so belustigender fand Etsuko deshalb auch die Verwirrung von Yakichi. »Was soll man mit so einem eigensinnigen Mädchen anfangen? Da hilft alles nichts. Mach, was du willst. Wenn du Miyo hinauswerfen willst, solange Saburō weg ist, wirf sie halt hinaus. Aber … … « »Saburō?« »Und der Saburō, der wird das so einfach hinnehmen?« »Saburō wird gehen«, stellte Etsuko schlicht fest. »Bestimmt wird er Miyo nachgehen. Schließlich sind die beiden ja ein Liebespaar. Damit Saburō geht, ohne daß ihn jemand dazu auffordert, muß man Miyo entlassen, dachte ich mir. Denn für mich ist es ja doch am besten, wenn Saburō geht. Aber ihm das selber zu sagen, das bringe ich nicht übers Herz.« »Endlich sind wir mal einer Meinung«, sagte Yakichi. In diesem Augenblick durchschnitt ein Pfiff die Nachtluft – der letzte Expresszug fuhr durch die Station Okamachi. Für Kensuke war das alles – die Verbrennung ebenso wie die Grippe – eine Art Kriegsdienstverweigerung. Ganz sicher; denn als einer, der sie hinter sich habe, müsse er’s schließlich wissen, sagte er lachend. Wie man es auch drehte und wendete – Etsuko hatte sich vor dem Arbeitseinsatz gedrückt, Miyo war im vierten Monat schwanger und konnte zu gröberen Arbeiten nicht mehr herangezogen werden, dieses Jahr 181
wurde also die schwere Arbeit – auf den gerade mal zwei tan * großen Sugimotoschen Reisfeldern die reifen Ähren schneiden, Kartoffeln ausgraben, Gras mähen, Obst ernten – hauptsächlich auf den Schultern von Yakichi ruhen. Ständig in seinen Bart brummend, werkelte – und faulenzte – er vor sich hin. Sogar dieses taschentuchgroße Stück Land, das vor der Landreform nicht mal als Reisfeld registriert war, hatte nun seine Lieferquote vorgeschrieben bekommen. Mit dem jährlichen Tenri-Fest vor Augen arbeitete Saburō wirklich mustergültig. Die Obsternte war beinahe abgeschlossen. Dazwischen erledigte er mit großem Eifer das Kartoffelgraben, mähte das Gras und besorgte das Umgraben der Felder. Die schwere Arbeit unter dem klaren Herbsthimmel hatte ihn noch stärker gebräunt und zu einem über seine Jahre hinaus reif aussehenden, kräftigen jungen Mann gemacht. Sein kurzgeschorener Kopf erinnerte an den massiven Schädel eines jungen Bullen. Neulich hatte ihm ein Mädchen aus dem Dorf, das er kaum vom Sehen kannte, einen glühenden Liebesbrief geschrieben, den er lachend Miyo vorlas. Noch einen Liebesbrief hatte er bekommen, den verschwieg er Miyo aber. Nicht daß er ihn etwa vertuscht oder dieses Mädchen getroffen hätte. Er schrieb auch nicht zurück. Es war nur seine angeborene Schweigsamkeit, die ihm den Mund verschloß. Allerdings war es eine neue Erfahrung für ihn. Hätte Etsuko auch nur geahnt, daß sich Saburō dessen inne war, geliebt zu werden, wäre das wohl auch für sie zu einem sehr bedeutungsvollen Anlaß geworden. Saburō fing an, sich ein wenig Gedanken darüber zu machen, wie die Umwelt ihn sah. Bisher war die Umwelt kein Spiegel für ihn, sondern nicht mehr als ein Raum, in dem er sich frei und ungehindert bewegte. 182
Diese neue Erfahrung verlieh seinem Auftreten, zusammen mit der Herbstsonnenbräune auf Stirn und Wangen, eine gewisse jugendliche Hochmütigkeit, die er zuvor nie an den Tag gelegt hatte. Miyo, durch Liebe empfindsam gemacht, bemerkte die Veränderung, nahm sie aber als gattenhaftes Verhalten, das Saburō nur ihr entgegenbrachte. Am Morgen des fünfundzwanzigsten Oktober machte sich Saburō in einem alten Jackett von Yakichi, khakifarbenen Hosen, den Socken von Etsuko und seinen Turnschuhen, seiner feinsten Ausstattung also, auf den Weg. Als Reisetasche diente ihm eine schlichte, rauhe Schultasche aus Gitterleinen. »Besprich mit deiner Mutter die Heirat. Bring sie mit, damit sie Miyo kennenlernen kann. Zwei, drei Tage kann sie gern hierbleiben«, sagte Etsuko zu ihm. Nicht einmal sie hätte zu sagen gewußt, warum sie so angelegentlich auf etwas einging, das doch nur selbstverständlich war. Hielt sie diese Komplikationen womöglich nur deshalb für erforderlich, um sich selbst in eine ausweglose Situation zu manövrieren? Oder malte sie sich das schreckliche Bild der verdutzten Mutter, die eigens hierher geholt worden war, die erwartete Braut aber nicht vorfand, nur deshalb aus, um ihren eigenen Absichten in den Arm zu fallen? Jedenfalls, als Saburō in Yakichis Zimmer ging, um sich zu verabschieden, hielt ihn Etsuko an, weil sie ihm das noch schnell gesagt haben wollte. »Ja. Vielen Dank.« Mit vor Reisefieber blitzenden Augen bedankte sich Saburō ungewöhnlich überschwenglich und blickte Etsuko, was er bisher nie getan hatte, voll ins Gesicht. Etsuko sehnte sich nach einem Händedruck von seiner harten, schwieligen Hand. Unwillkürlich streckte sie schon die im Heilen begriffene rechte Hand aus. Im letzten Augenblick 183
hielt sie sie aber zurück, weil ihr der Gedanke kam, die Berührung der Kruste könnte ihm in unangenehmer Erinnerung bleiben. Nur ganz kurz zögerte Saburō, dann zwinkerte er ihr nochmals mit heiterem Lächeln zu, wandte sich um und eilte den Korridor entlang. »Deine Tasche sieht aber leicht aus. Als würdest du in die Schule gehen«, rief ihm Etsuko noch hinterher. Nur Miyo begleitete ihn bis zum Tor über der Brücke. Das war ihr Recht. Und was dieses Recht betraf, hatte Etsuko, so viel war ihr beim Nachblicken klar, diesmal auch das Nachsehen. Dort, wo der gepflasterte Weg zu Ende war und die Treppe den Hügel hinunter führte, blieb Saburō noch einmal stehen und salutierte Yakichi und Etsuko zu. Noch lange nachdem seine Gestalt sich im bunten Laub des Ahorn Wäldchens aufgelöst hatte, leuchteten seine vom Lachen entblößten Zähne in Etsukos Erinnerung. Es war Zeit für Miyo, die Zimmer aufzuräumen. Nach fünf Minuten kam sie im Licht, das spärlich durch die Baumkronen fiel, müde angezuckelt. Auf die sinnlose Frage von Etsuko: »Ist Saburō weg?« antwortete Miyo ebenso überflüssig: »Ja, er ist weg.« Ihrem ausdruckslosen Gesicht war nicht anzusehen, ob sie sich freute oder ob sie traurig war. Beim Abschied von Saburō hatte Etsuko zärtliche Regungen empfunden und auch Reue. Ihr Inneres war erfüllt von innigem Bedauern und nagendem Schuldbewußtsein. Sie spielte sogar mit dem Gedanken, die Sache mit Miyos Entlassung fallenzulassen. Bei der Rückkehr zeigte Miyo, die sich bereits fest in Saburōs Alltag eingenistet hatte, in ihrem Gesicht eine Unbesorgt184
heit, die Etsuko wütend machte. Mühelos fand sie zu ihrer ursprünglichen Überzeugung zurück, daß jene Sache keineswegs fallenzulassen sei.
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aburō ist zurück! Er hat die Abkürzung durch die Reisfelder genommen und kommt von der Wohnhausanlage her, ich hab’s gerade vom Fenster oben gesehen! Aber komisch: Er ist allein. Von seiner Mutter ist nichts zu sehen.« Eilig kam Chieko angelaufen, um es Etsuko mitzuteilen, die gerade beim Kochen war. Es war am Abend des siebenundzwanzigsten Oktober, dem Tag nach dem großen TenriFest. Etsuko grillte eben auf einem irdenen Holzkohlenrost Makrelen. Auf diese Nachricht hin legte sie das Gitter mit dem Fisch auf die Platte daneben und stellte die gußeiserne Wasserkanne aufs Feuer. Die betonte Ruhe, mit der sie diese Handlungen verrichtete, verriet etwas von der Hochspannung ihrer Gefühle. Dann erhob sie sich und bedeutete Chieko, mit ihr nach oben zu gehen. Rasch eilten die beiden Frauen in das obere Stockwerk. »Dieser Saburō bringt die Leute ganz schön auf Trab«, sagte Kensuke, ausgestreckt daliegend und in einen Roman von Anatol France vertieft. Wenig später aber ließ er sich von der Stimmung der Frauen anstecken und hielt sein Gesicht gemeinsam mit dem ihrigen zum Fenster hinaus. Die Sonne war bereits zur Hälfte hinter dem Wald im Westen der Wohnhausanlage verschwunden. In abendlicher Glut glomm der Himmel wie ein Kamin. Die Gestalt, die da unbeirrbaren Schritts zwischen den Stoppelfeldern näher kam, war eindeutig Saburō. Was konnte 186
daran merkwürdig sein? Er kam am festgesetzten Tag zur festgesetzten Stunde zurück. Lang und schräg lief sein Schatten vor ihm her. Damit seine Tasche, die an seiner Schulter hing, beim Gehen nicht auf- und abhüpfte, hielt er sie wie ein Schuljunge mit einer Hand fest. Er war ohne Hut. Mit ruhigem, festem Schritt, in dem weder Unsicherheit noch Furcht lag, kam er näher. Behielt er diese Richtung bei, käme er zur Hauptstraße. Er bog rechts ab und nahm den Feldweg. Nun mußte er beim Gehen ab und zu auf die Garbenstände achten. Etsuko fühlte heftiges Herzklopfen, doch weder aus Freude noch aus Furcht. Ob sie Glück erwartete oder Übel, vermochte sie nicht zu unterscheiden. Was sie erwartet hatte, kam unaufhaltsam auf sie zu. Es würde kommen, was kommen mußte. Das Rasen in ihrer Brust hinderte sie daran, die Worte auszusprechen, die sie hätte sagen sollen. »Was soll ich nur tun? Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich tun soll«, konnte sie gerade noch zu Chieko sagen. Hätten Kensuke und Chieko noch vor einem Monat Etsuko dermaßen zögerlich reden hören, wären sie aus dem Staunen nicht herausgekommen. Etsuko hatte sich verändert. Diese starke Frau hatte ihre Kraft eingebüßt. Worauf sie nun noch wartete, war das letzte freundliche Lächeln, das Saburō ihr bei seiner Heimkehr zuwerfen würde – solange er von nichts wußte – und – sobald er voll im Bilde war – die erste heftige Beschimpfung. Diese beiden einander ständig abwechselnd wiederkehrenden Vorstellungen, wie sehr hatten die sie gepeinigt in den vergangenen Nächten! Was danach kommen würde, war in ihren Augen bereits vorherbestimmt. Saburō würde Etsuko verfluchen und gehen, Miyo folgen. Morgen um diese Zeit würde Etsuko Saburō nicht mehr sehen können. O nein – ihn sich so richtig nach Her187
zenslust anschauen würde sie nur noch von diesem Fenster im oberen Stockwerk aus können, hier, jetzt, aus der Ferne, sah sie ihn vielleicht zum letzten Mal. »Sei nicht albern. Nimm dich zusammen«, sagte Chieko. »Wenn man soviel Courage hat wie du, als du Miyo gefeuert hast, dann gibt’s das doch gar nicht, daß du jetzt zu allem unfähig bist. Wir waren wirklich beeindruckt von dir. Wirklich, ich bewundere dich.« Chieko legte ihr den Arm um die Schulter, als wäre Etsuko ihre kleine Schwester. Diese eine Handlung, die Entlassung von Miyo, war für Etsuko die erste Maßnahme zur Linderung ihres eigenen Kummers, das erste Zugeständnis, ja sogar eine Unterwerfung. In den Augen von Kensuke und Chieko hingegen war Etsuko erstmals zum Angriff übergegangen. Eine Frau im vierten Monat mit ihrem Bündel auf dem Rücken aus dem Haus zu werfen, das ist keine Kleinigkeit, dachte Chieko in vollster Überzeugung. Miyos Schluchzen und Etsukos unnachsichtige Haltung, mit welcher Ungerührtheit sie Miyo zur Bahn brachte und mit Gewalt in den Zug bugsierte. Der dramatische Vorfall, dessen Zeugen sie am Vortag geworden waren, hatte dieses Ehepaar in starke Aufregung versetzt. Nie hätten sie sich vorgestellt, daß man in Maiden so etwas zu sehen bekommen würde. Miyo, den Tragekorb mit einem Band auf den Rücken gebunden, stieg die Steintreppe hinunter, Etsuko wie ein Gendarm hinterher. Yakichi, der sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte und Miyo nicht einmal ansah, als sie sich verabschieden kam, sagte lediglich: »Danke für die lange Mühe.« Asako, zu Tode erschrocken, konnte das alles nicht begreifen und lief kopflos umher. Kensuke und Chieko waren einigermaßen stolz darauf, daß sie ohne ein Wort der Erklärung dennoch von 188
Anfang an voll im Bilde waren. Weil sie Unmoral und Laster verstehen konnten, schmeichelten sie sich auch der Fähigkeit dazu, ähnlich den Journalisten, die gerne so tun, als seien sie die Führer und Bildner der Gesellschaft. »Bis hierher hast du’s geschafft, von jetzt an werden auch wir dir helfen. Du kannst dich jederzeit ohne Zögern an uns wenden. Wir werden für dich tun, was wir können.« »Bitte verlaß dich ganz auf mich. Auch Vater gegenüber brauchst du dir jetzt keine Zurückhaltung mehr aufzuerlegen.« So wetteiferten die beiden hier am Fenster, mit Etsuko in ihrer Mitte. Etsuko stand auf, strich sich mit beiden Händen das Haar über den Schläfen zurück und ging zu Chiekos Frisierschränkchen. »Bitte leih mir ein wenig Eau de Cologne.« »Da, bitte.« Etsuko nahm aus dem grünen Fläschchen ein paar Tropfen auf ihre Handfläche und rieb sie fahrig auf die Schläfen. Der Spiegel war mit einem verblaßten seidenen Spiegelüberzug versehen. Etsuko dachte nicht einmal daran, ihn wegzuziehen aus Angst vor ihrem eigenen Gesicht. Aus Unsicherheit, mit welcher Miene sie gleich Saburō gegenübertreten sollte, schlug sie einen Zipfel des Überzugs schräg hoch. Der Lippenstift kam ihr ein wenig zu grell vor. Sie nahm ihr dünn eingesäumtes Taschentuch und tupfte sich damit die Lippen ab. Verglichen mit der Erinnerung an unsere Gefühle verweht die Erinnerung an unsere Handlungen geradezu spurlos. Wenn Etsuko, die gestern noch ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken hatte mit anhören können, wie Miyo weinte, nachdem ihr mitgeteilt worden war, daß sie entlassen sei, die Miyo, obwohl sie schweren Leibes war, ihre Habe auf den 189
Rücken hatte binden lassen, um sie danach förmlich fortzuprügeln, wenn ihr, Etsuko, die nicht fassen konnte, daß jene Etsuko und ihr gegenwärtiges Selbst ein- und dieselbe Person waren, daraus nicht einmal Reue erwuchs, dann konnte ihr auch die zähe, angespannte Bereitschaft gegen das Bereuen nicht erwachsen, so daß sie nach einer Kette vergangener Seelenqualen, unfähig zu jedem Handeln, schließlich nur noch eines konnte: ihrer eigenen Gestalt innewerden, die auf einem kaum je verrückbaren Haufen verfaulter Gefühlsreste saß. Ließe sich nicht, was die Menschen ständig aufs neue Apathie lehrt – Schuld nennen? Kensuke und seine Frau ließen sich diese Gelegenheit zur Beistandleistung nicht entgehen. »Wenn Saburō dich jetzt haßt, war alles umsonst. Wenn Vater für dich einspringen würde und bereit wäre, zu sagen, daß er derjenige war, der Miyo entlassen hat, das wäre am besten. Aber die Größe hat Vater wohl nicht.« »Er hat gesagt, er sagt zu Saburō kein Wort, er habe es satt, Verantwortung zu übernehmen.« »Selbstverständlich sagt Vater so etwas. Trotzdem, überlaß nur alles mir. Ich werde dir schon nicht schaden. Wir können ja auch sagen, daß Miyo ein Telegramm bekommen hat; ihre Mutter sei plötzlich erkrankt, und sie sei deswegen nach Hause gefahren.« Etsuko fand wieder zu sich selbst zurück. In den beiden vor ihr Stehenden sah sie keine Ratgeber, sondern ein Paar wenig vertrauenswürdiger Führer, die sie in ein Gebiet mit lauem, trübem Nebel locken wollten. In solch einen Nebel durfte Etsuko kein zweites Mal mehr geraten. Das würde ihre gestrige Entschlossenheit zunichte machen. Selbst und gerade wenn Miyos Entlassung ein verzweifeltes Eingeständnis ihrer Liebe zu Saburō gewesen sein sollte, 190
zog Etsuko es vor, darin eine Pflicht zu sehen, einen Akt, den sie um ihrer selbst, um ihrer Art zu leben willen einfach hatte vollziehen müssen. »Saburō muß klar werden, daß ich diejenige war, die Miyo entlassen hat. Ich würd’s ihm doch lieber selber sagen. Ihr braucht mir nicht zu helfen. Ich erledige das schon alleine.« Für Kensuke und seine Frau war Etsukos nüchterne Entscheidung nichts anderes als verbales Um-sich-Schlagen infolge verzweifelter Verwirrtheit. »Denk doch einmal nüchtern. Wenn du das tust, dann ist doch alles umsonst gewesen.« »Chieko hat recht, das ist wirklich nicht ratsam. Überlaß das nur uns. Wir werden dir schon nicht schaden.« Etsuko setzte ein grundloses Lächeln auf und verzog den Mund. Ihrem Handeln würde damit allenfalls ein Bärendienst erwiesen. Diesem glaubte Etsuko nur dadurch entgehen zu können, daß sie diese beiden Leutchen brüskierte und zu Feinden machte. Wie ein müder, großer Vogel, der erschöpft seine Flügel ordnet, schob sie die Hände hinten unter den Obi, um ihn straff zu ziehen und stand auf. An der Treppe sagte sie noch: »Ihr braucht mir wirklich nicht zu helfen. Das ist auch angenehmer für mich.« Kensuke und seine Frau waren sprachlos über diese Art. Sie wurden so wütend wie Männer, die als Helfer zum Brandort geeilt kommen und dann von einem Wachmann daran gehindert werden. Für Feuer gilt allerdings eines: Gegen die Flammen ganz dringend erforderlich ist Wasser; doch gehörten diese beiden zu jenen, die mit nicht mehr als einer Waschschüssel voll lauwarmem Wasser angerückt kommen, um sie ins Feuer zu schütten. 191
»Also ich beneide jemand, der Hilfsbereitschaft so einfach ausschlagen kann«, sagte Chieko. »Und außerdem frage ich mich, warum Saburōs Mutter eigentlich nicht gekommen ist«, warf Kensuke ein. Weil sie sich von Etsuko, die nur auf die Rückkehr von Saburō achtete, hatten mitziehen lassen, war diese Entdeckung nicht zur Sprache gekommen – ein Lapsus, der ihm jetzt erst auffiel. »Aber das ist doch jetzt schon ganz egal. Ab jetzt werden wir der Etsuko überhaupt nicht mehr helfen. Das ist nämlich auch für uns angenehmer.« »Von jetzt an brauchen wir nur noch von oben zuschauen.« Kensuke sprach aus, wonach ihm eigentlich war. Gleichzeitig bedauerte er die, wenn auch geringfügige, Einbuße an Gelegenheit, seinem Edelmut gegenüber den Nöten anderer philanthropische Befriedigung zu verschaffen. Etsuko war die Treppe hinuntergestiegen und setzte sich neben den irdenen Holzkohlengrill. Sie nahm die Gußeisenkanne weg und legte wieder den Rost aufs Feuer. Yakichi hatte das Brett auf der Veranda nach draußen verbreitert, und auf dem Holzkohlengrill, der dort stand, wurde das Essen für Yakichi und Etsuko zubereitet. Weil Miyo nicht mehr da war, wurde das Reiskochen ab heute zu einer rotierenden Tätigkeit mit täglichem Wechsel. Heute war Asako dran. Anstelle von Asako, die in die Küche gegangen war, sang Nobuko Kinderlieder und spielte mit Natsuo. Sein halbirres Lachen gellte durch die Räume, über die bereits die Abenddämmerung hereingebrochen war. »Was ist denn?« Yakichi kam aus seinem Zimmer und hockte sich neben den Grill. Dann nahm er die eisernen Kochstäbchen und wendete emsig die Makrelen. »Saburō ist zurückgekommen.« 192
»Er ist schon zurück?« »Nein, noch nicht.« Auf eine Länge von vier, fünf shaku * bildeten Teebüsche eine Hecke um die Veranda. Die Reste der Abendsonne überglänzten die Hecke mit einem Licht, das förmlich an den Blatträndern zu kleben schien. Die noch nicht aufgeblühten Knospen warfen viele kleine, gleichförmige Schattenrisse. Im Kakibaum, dem es ein wenig an Pflege mangelte, wurden ein, zwei hoch aufgeschossene Zweige von unten her beleuchtet und glänzten um vieles heller. Das Pfeifen, das die Steintreppe heraufkam, war von Saburō. Etsuko erinnerte sich an die Peinlichkeit an dem Abend, als sie mit Yakichi Go spielte: Saburō war gekommen, um gute Nacht zu sagen, doch sie war außerstande, sich zu ihm. umzudrehen. Sie schlug die Augen nieder. »Guten Abend, ich bin wieder hier!« rief Saburō von unterhalb der Hecke, die nur seinen Oberkörper sehen ließ. Das Hemd stand über der Brust weit offen und gab den Blick auf den dunkelbraunen Hals frei. Etsukos Blick prallte auf sein unschuldiges, jugendliches Lächeln. Sie dachte daran, daß sie ein solch ungezwungenes Lächeln kein zweites Mal mehr zu sehen bekommen würde, und eine süße, schmerzliche Anstrengung legte sich in ihren Blick. »Ah«, machte Yakichi abwesend, ohne Saburō anzusehen. Er fixierte vor allem Etsuko. Fett von den Makrelen war ins Feuer getropft und Flammen züngelten hoch. Yakichi blies sie eilig aus, weil Etsuko nichts dergleichen tat. Verdammt noch mal, das ganze Haus hat schon längst bis zum Überdruß gemerkt, daß Etsuko verliebt ist. Nur er selber, der Kerl, den es eigentlich betrifft, ausgerechnet der hat von alledem keine 193
Ahnung. Mißmutig blies Yakichi die Flammen aus, die durch das Fischfett wieder hochfuhren. Erst jetzt erkannte Etsuko, daß der wahnwitzige Mut – mit dem sie eben noch Kensuke und Chieko gegenüber geprahlt hatte –, alles selber gestehen zu wollen, daß dieser Mut in Wahrheit eine Illusion war und nicht mehr. Woher hätte sie nach dem Blick in dieses reine, heitere Lächeln einen so abscheulichen Mut nehmen sollen? Jetzt allerdings gab es weit und breit niemanden mehr, der ihr geholfen hätte. … … Steckte aber, des allen ungeachtet, in diesem prahlerischen Mut nicht von Anfang an die Vorahnung seines Scheiterns, war er nicht verwoben mit der listigen Gier, die Länge der Frist, ehe Saburō aus irgendeinem Mund etwas Verhängnisvolles zugetragen wurde und Etsuko und Saburō friedlich unter einem Dach leben konnten, ohne einander zu hassen, möge sich doch zumindest um ein sun * verzögern? Nach einer Weile sagte Yakichi: »Merkwürdig. Der hat doch seine Mutter gar nicht mitgebracht.« »Wirklich?« gab Etsuko mit zweifelndem Unterton zurück, als erfahre sie das jetzt zum ersten Mal. Und in sonderbar erfreuter Bangigkeit: »Soll ich ihn vielleicht fragen? Ob sie später kommt oder gar nicht?« »Laß das. Sonst müssen wir in einem Aufwasch auch noch über die Sache mit Miyo reden«, fiel ihr Yakichi mit greisenhaft schlaffhäutiger Ironie ins Wort. Die folgenden zwei Tage umgab Etsuko eine unheimliche Ruhe. In diesen beiden Tagen kam etwas auf wie jene zynische Erholung, die schwer erklärliche Scheinbesserung im Befinden hoffnungslos Kranker, welche die pflegenden Angehörigen aufatmen und neuerlich, wenn auch vergeblich, längst aufgegebene Hoffnung schöpfen läßt. Was war geschehen? War das, was nun geschah – Glück? 194
Etsuko nahm Maggie auf einen langen Spaziergang. Mit Maggie an der Kette begleitete sie Yakichi, der wieder Expreß-Fahrkarten bis Ōsaka-Umeda bestellen ging, bis zur Bahnstation Okamachi. Am Nachmittag des neunundzwanzigsten Oktober. An derselben Haltestelle, zu der sie erst vor zwei, drei Tagen unerbittlichen Gesichts Miyo gebracht hatte, stand nun Yakichi locker an den frisch gestrichenen weißen Zaun gelehnt und plauderte eine Weile mit Etsuko. An diesem Tag war Yakichi rasiert, was selten vorkam, und trug einen Anzug. Am Arm hatte er außerdem noch seinen »SnakewoodStick«. Er ließ etliche Züge Richtung Umeda davonfahren. Etsukos ungewöhnlich glückliches Aussehen beunruhigte ihn. Emsig schnüffelte der Hund hierhin und dorthin, so daß Etsuko, mit aufgestellten geta auf den Zehenspitzen hinterherlaufend, gelegentlich ins Stolpern kam und Maggie schalt. Oder sie schaute mit feuchtschimmernden Augen und einem sanften Lächeln, als wäre das ihre Gewohnheit geworden, dem Kommen und Gehen der Leute zu, die beim Zeitungsstand und dem Fleischerladen vor dem Bahnhof stehenblieben oder auch weitergingen, ohne etwas zu kaufen. Beim Buchladen flatterten rote und gelbe Reklamewimpel für Kinderzeitschriften. Ein wolkiger Nachmittag mit recht frischem Wind. Warum sie gar so freudestrahlend dreinschaut; vielleicht hat sie mit Saburō geredet oder was. Kann sein, daß sie deswegen nicht mitkommt nach Ōsaka. Aber wenn es so ist, warum hat sie dann nichts dagegen, morgen mit mir so lange wegzufahren? Yakichi mißverstand sie. Ihr scheinbar glückliches Aussehen war in Wirklichkeit nicht mehr als die Ruhe nach langem Grübeln, dessen Ergebnislosigkeit sie nur tatenlos hinnehmen konnte. 195
Als ob nichts wäre, hatte Saburō gestern den ganzen Tag Gras gemäht und auf dem Feld gearbeitet. Er ließ keinerlei Zeichen von Erregtheit erkennen. Ging er an Etsuko vorüber, zog er den Strohhut und grüßte höflich. Auch heute morgen. Geredet hatte dieser von Natur aus schweigsame Bursche bisher immer nur, wenn ihm sein Dienstherr Anordnungen gab oder ihn etwas fragte, jedoch nie von sich aus. Ihm machte es überhaupt nicht aus, den ganzen Tag nichts zu reden. Wäre Miyo hier, dann würde er aber trotzdem zur Genüge mit ihr herumalbern. Auch wenn er schwieg, erweckte sein vor funkelnder Jugendlichkeit strotzendes Gesicht keineswegs den Eindruck schwermütiger Zurückgezogenheit. Es war, als wäre es sein ganzer Körper, der zur Sonne, zur Natur sprach, ja förmlich sang, als strotzten bei der Arbeit alle seine Glieder in ihren Bewegungen vor einer, wie man sie wohl auch bezeichnen muß: Beredsamkeit wahren Lebens. Nicht auszuschließen ist, daß der Besitzer dieser schlichten, gutgläubigen Seele vermutlich davon überzeugt war, daß Miyo noch da war, jedoch wegen irgendeiner Angelegenheit außer Haus übernachtet hatte und noch im Laufe des Tags zurückkommen würde. Und selbst wenn er diesbezüglich ein wenig besorgt gewesen wäre, hätte er nie Yakichi oder Etsuko nach ihrem Verbleib gefragt. Davon ausgehend, begann Etsuko an der Auffassung Gefallen zu finden, daß die Ruhe Saburōs gänzlich von ihr selbst abhing. Weil sie ihm noch nichts gestanden hatte. Folglich würde der immer noch ahnungslose Saburō Etsuko selbstverständlich nicht verfluchen oder wegen Miyo von hier weggehen wollen. An dieser Stelle angelangt, schien es ihr, als ob ihr langsam schwindender Mut zum Geständnis nicht bloß in ihrem eigenen Sinne, sondern auch in dem von Saburō läge 196
sowie im Sinne dessen, was sie als sein flüchtiges Glück ansah – und mithin als erstrebenswert. Warum war er aber nicht in Begleitung seiner Mutter zurückgekommen? Auch nach seiner Rückkehr vom großen Fest in Tenri war Saburō kaum bereit, davon zu erzählen, wie das große Fest oder die Reise gewesen sei, solange man ihn nicht eigens danach fragte. In diesem Punkt schwankte Etsuko erneut in ihrem Urteil. Aus jenen Bedenken erwuchsen Etsuko schemenhafte, schwer in Worten ausdrückbare Wünsche, die, falls dennoch ausgesprochen, Bagatellhoffnungen wären, kaum mehr als lächerliche Illusionen. Jene sündhafte Unaufrichtigkeit hinderte Etsuko ebenso wie diese Wünsche daran, Saburō offen ins Gesicht zu blicken. Der Saburō schaut drein, als könnte ihm nichts was anhaben, der läßt sich auch nicht aus der Fassung bringen – dachte Yakichi weiter. Wenn wir Miyo entlassen, dann geht Saburō ebenfalls, das war die Meinung von Etsuko, und ich hab’s mir eigentlich auch so gedacht, aber vielleicht war das eine Fehlkalkulation, Na, wennschon. Sobald ich mit Etsuko wegfahre, hat sich der Fall erledigt. Und wer sagt, daß sich nicht auch für mich die eine oder andere neue Gelegenheit bietet, wenn ich erst mal in Tōkyō bin. Etsuko band Maggie mit der Kette an den Zaun und wandte sich um zu den Schienen. Hell blitzten sie unter dem wolkenverhangenen Himmel. Ihre blendend hellen Stahlflächen mit den zahllosen Schleifspuren schienen vor Etsukos Augen in wunderlich trauter Gelassenheit dahinzulaufen. Auf dem geschwärzten Schotter zwischen den Schienen glitzerten feine, silbrige Schleifspäne. Bald begannen die Gleise hörbar zu vibrieren und ein dumpfes Dröhnen anzukündigen. »Es wird hoffentlich nicht regnen«, wandte sich Etsuko 197
unvermutet an Yakichi. Ihr Ōsaka-Besuch vor einem Monat war ihr eingefallen. »So wie der Himmel aussieht, wahrscheinlich nicht«, antwortete Yakichi und studierte intensiv den Himmel. Das Dröhnen war heran, ein Zug Richtung Ōsaka fuhr in die Station ein. »Steigst du nicht ein?« fragte Etsuko. »Warum fährst du eigentlich nicht mit?« Das Dröhnen des Zuges zwang zum lauten Sprechen und rechtfertigte so den Verhörton. »Ich bitte dich, in diesem Aufzug, außerdem ist doch Maggie da«, wandte Etsuko nicht sehr überzeugend ein. »Die Maggie kannst du ja dort bei dem Buchladen lassen. Der Besitzer ist ein Hundefreund, und wir sind seit jeher gute Kunden.« Bedächtig machte Etsuko den Hund los. Dabei freundete sie sich mit dem Gedanken an, diesen halben Tag in Maiden, den letzten vor ihrer morgigen Abreise, zu opfern. Jetzt nach Hause zurückkehren und mit Saburō Zusammensein stellte sie sich plötzlich eher schmerzlich vor. Obwohl Etsuko fest davon überzeugt gewesen war, daß er nach seiner Rückkehr vorgestern aus Tenri augenblicklich für immer verschwinden würde, mußte sie nun mitansehen, daß er immer noch hier war. Nicht nur, daß sie ihren Augen kaum trauen konnte, verunsicherte sie seine Gegenwart auch. Wenn sie ihn auf dem Acker die Hacke schwingen sah, als wäre nichts gewesen, wußte sie nicht ein noch aus vor Angst. Hatten sie den langen Spaziergang gestern nicht auch nur deshalb gemacht, um von dieser Angst loszukommen? Etsuko machte den Hund los und sagte zu Yakichi: »Also gut, ich komme mit.« Genauso, wie sie es sich damals ausgemalt hatte, als sie 198
Schulter an Schulter mit Saburō die menschenleere Autostraße entlanggegangen war, spazierte sie jetzt im Zentrum von Ōsaka, nun allerdings Schulter an Schulter mit Yakichi. Welch sonderbare Fügungen sich im Leben oft dadurch ergeben, daß man einander verfehlt. Erst im Gewühl draußen fiel ihnen ein, daß eine unterirdische Passage vom Hankyū-Kaufhaus bis in den Stationsbereich des Bahnhof Ōsaka führte. Yakichi hielt seinen Stock schräg vor sich und überquerte, Etsuko an der Hand hinter sich herziehend, die Kreuzung. Die Hände trennten sich. »Schnell! Schnell!« rief er vom Gehsteig auf der anderen Straßenseite. Die beiden gingen im Halbkreis um einen Parkplatz herum, angehupt von den pausenlos an dessen Rand vorüberfahrenden Autos, dann bahnten sie sich im Bahnhof Ōsaka ihren Weg durch die Menschenmassen dort. Ein lichtscheuer Kerl machte sich an Leute mit Gepäck heran und versuchte, ihnen Fahrkarten für den Nachtzug anzudrehen. Die dunkel gebräunte, elegante Nackenlinie dieses Jungen erinnerte Etsuko an Saburō, deshalb drehte sie sich nach ihm um. Yakichi und Etsuko durchquerten die große Eingangshalle mit ihrem entnervenden Lautsprechergebrüll, das Ankunftsund Abfahrtszeiten verkündete. In völligem Gegensatz dazu der stille Korridor, in den sie von dort aus gelangten. Ein in Kopfhöhe angebrachtes Schild trug die Aufschrift »Bahnhofsvorstand«. Von Yakichi, der in ein endloses Gespräch mit dem Bahnhofsvorstand vertieft war, allein gelassen, wollte Etsuko es sich in einem der mit weißem Leinen überzogenen Polstersessel ein wenig bequem machen und nickte unwillkürlich ein. Eine Stimme, die laut ins Telefon sprach, riß sie aus dem Schlaf. Als sie die Bahnangestellten in dem weiten Büro im 199
Stehen arbeiten sah, spürte sie nicht nur ihre eigene Müdigkeit, sondern empfand darüber hinaus eine so ungeheure Belastung, daß ihr vor seelischer Erschöpfung schon der bloße Anblick intensiven Alltagslebens zur Qual wurde. Ihren Kopf an die Rückenlehne des Polstersessels gebettet, bot sich ihr das Schauspiel eines Tischtelefons, das ununterbrochen mal Klingeln, mal laute Stimmen anlockte. Ein Telefon. Es kommt mir vor, als hätte ich so etwas schon ziemlich lange nicht mehr gesehen. Ein merkwürdiger Apparat, ständig überkreuzen sich darin die Gefühle der Menschen, er selber kann jedoch nur ein langweiliges Klingeln von sich geben. Ob es ihm wirklich kein bißchen weh tut von all dem Haß, der Liebe, den Wünschen, die durch sein Inneres laufen? Oder ist das Klingeln etwa sein fortwährendes Schreien infolge seiner krampfhaften, unerträglichen Qualen? »Du hast lange warten müssen. Tut mir leid. Ich habe Karten bekommen. Für den morgigen Expreß sind angeblich kaum welche zu kriegen. War ein echter Freundschaftsdienst.« Yakichi legte zwei blaue Fahrkarten auf ihre ausgestreckte Hand. »Für die Zweite Klasse. Ich habe mich angestrengt für dich.« Ausverkauft gewesen waren allerdings die Fahrkarten für die Dritte Klasse. Für die Zweite Klasse hätte er im Bedarfsfall auch am Schalter welche bekommen, aber weil er schon mal hier im Büro war und persönlich mit dem Bahnhofsvorstand gesprochen hatte, konnte er zu Zweite-Klasse-Fahrkarten nicht gut nein sagen. Anschließend kauften die beiden noch neue Zahnbürsten, Zahnpasta, eine Tagescreme für Etsuko sowie eine Flasche billigen Whisky für die sogenannte »Abschiedsfeier« heute abend im Hause Sugimoto. 200
Ihre Sachen für die morgige Reise hatten sie schon heute vormittag gepackt, die paar Dinge, die sie in Ōsaka gekauft hatten, waren schnell verstaut, nun blieb Etsuko nur noch, für die Abschiedsfeier ein etwas aufwendigeres Abendessen herzurichten als sonst. Auch Chieko, die seither kaum ein Wort mit Etsuko gewechselt hatte, und Asako halfen beim Kochen. Üblicherweise werden Gewohnheiten abergläubisch eingehalten. Deshalb war es kein Wunder, daß der Plan von Yakichi, das Abendessen heute – und nur heute – im Kreise der ganzen Familie sowie in der sonst immer unbenutzten zehn Tatami großen Stube einzunehmen, nicht gerade überschäumende Begeisterung zu entfachen vermochte. »Etsuko-San, daß der Alte mit so was daherkommt, ist sonderbar. Womöglich verabreichst du ihm in Tōkyō dann sein letztes Schlückchen. Schönen Dank für die Mühe«, sagte Kensuke, der in die Küche gekommen war, um zu naschen. Etsuko sah nach, ob das Reinemachen in der Stube zu Ende war. Noch war kein elektrisches Licht an, und im abendlichen Dämmerlicht wirkte der zehn Tatami große Raum trostlos, verlassen und öde wie ein leerer Pferdestall. Saburō, allein, sein Gesicht dem Garten zugekehrt, fegte mit einem Besen. Als Etsuko von der Schwelle der Stube her die unaussprechliche Gottverlassenheit dieses Jungen sah, die Dunkelheit des Raumes und das Wischen und das Schleifen des Besens auf den Binsenmatten verstärkten diesen Eindruck vielleicht noch –, meinte sie, zum ersten Mal seiner inneren Gestalt ansichtig zu werden. Ebenso heftig wie die Gewissensbisse, die an ihr nagten, war die Liebe, die ihr Herz entfachte. Durch diesen Schmerz war sie zum ersten Mal imstande, das Leiden an der Liebe 201
fügsam anzunehmen. Daß sie es seit gestern nicht ertrug, ihn anzusehen, mußte ein Streich gewesen sein, den offensichtlich die Liebe ihr gespielt hatte. Und doch erschien ihr seine Gottverlassenheit so robust und rein, daß Etsuko keine Fuge sah, die ihr Zugang gewährt hätte. Ihr liebendes Verlangen trat Vernunft und Erinnerung mit Füßen, mühelos vergaß Etsuko darüber sogar den naheliegenden Grund ihrer Schuldgefühle: das Dasein von Miyo. Nur Saburō Abbitte leisten, von ihm verflucht werden, sich selbst bestrafen wollen – was diese an sich löbliche Haltung äußerte, war ganz unbestreitbar Egoismus, Egoismus in solcher Reinkultur, wie ihn diese Frau, die ausschließlich mit sich selber befaßt gewesen zu sein scheint, wahrhaftig zum ersten Mal verspürte. Saburō merkte, daß Etsuko im Halbdunkel stand, und drehte sich um. »Wünschen Sie etwas von mir?« »Das Saubermachen ist erledigt, nicht?« »Ja.« Etsuko ging bis in die Mitte des Raumes und blickte um sich. Saburō, die Ärmel seines khakifarbenen Hemdes aufgekrempelt, stand reglos da, den Besen an die Schulter gelehnt. Er merkte, wie heftig die Brust dieser Dame, die wie ein Gespenst im Dunkeln dastand, wogte. »Also … «, preßte Etsuko mit Mühe hervor, »heute nacht, um ein Uhr, kannst du da beim Weingarten hinter dem Haus auf mich warten? Da ist etwas, was ich dir vor der Abreise unbedingt sagen möchte.« Saburō schwieg und antwortete nicht. »Nun? Kommst du?« »Jawohl, gnädige Frau.« »Kommst du? Kommst du nicht?« 202
»Ich werde kommen.« »Um ein Uhr, ja? Beim Weingarten, ja? So, daß es niemand merkt, ja?« »Jawohl.« Steif und gezwungen bewegte sich Saburō weg von Etsuko und fegte in die falsche Richtung. Hundert Watt hätte die Birne für den Zehn-Tatami-Raum stark sein sollen, doch gab sie beim Einschalten nicht mal so viel Licht wie eine Vierzig-Watt-Birne. Nun, da die trübe Beleuchtung an war, wirkte die Stube noch dunkler als im abendlichen Dämmerlicht. »Also, das drückt schon sehr auf die Stimmung«, sagte Kensuke, worauf während des Essens alle abwechselnd besorgt zur Lampe hochblickten. Zur Feier des Tages hatte man überdies das schöne Geschirr hervorgeholt; die acht Mitglieder der Familie waren in Form eines flachen, eckigen »U« um Yakichi herum gruppiert, der seinerseits mit dem Rücken zum Nischenpfosten saß; das umani oder was es war, sah in der tiefen Schüssel aus arita-Keramik * eher mickrig aus, so daß auf Vorschlag von Kensuke das »U« der Sitzanordnung enger gemacht und genau unter die Vierzig-Watt-Birne verschoben wurde. Das alles trug dazu bei, daß die Atmosphäre weniger einer Feier glich, als vielmehr der Stimmung einer Gruppe, die sich zu nächtlicher Heimarbeit zusammengefunden hat. Man erhob die Gläser mit dem zweitklassigen Whisky und prostete einander zu. Etsuko litt unter dem, was sie sich selber eingebrockt hatte und sah weder die dämlichen Grimassen von Kensuke, noch hörte sie das Blaustrumpfgewäsch von Chieko oder das vergnügte, kreischende Gelächter von Natsuo. Wie es einen 203
Bergsteiger nach immer schwierigeren Herausforderungen verlangt, wurde Etsuko von ihrer Fähigkeit zu Beklommenheit und Leid dazu verlockt, sich immer neue Sorgen und neues Leiden zu verschaffen. Dessenungeachtet haftete ihrem gegenwärtigen Bangen etwas an, das von der für Etsuko typischen Beklommenheit abwich, sozusagen etwas Mittelmäßiges. Als sie sich anschickte, Miyo zu entlassen, traten bereits die ersten Anzeichen dieser neuartigen Bangigkeit in Erscheinung. Fuhr sie damit fort, dann konnten die nach und nach begangenen Fehlkalkulationen ein Ausmaß annehmen, welches zu guter Letzt sogar darauf hinauslief, daß sie die einzige ihr hier auf Erden anvertraute Rolle, den einzigen Stuhl, auf dem zu sitzen ihr auf dieser Welt gerade noch gestattet war, verlor. Was für andere Eingang war, war für sie möglicherweise Ausgang. Und weil das Tor desselben so hoch lag wie ein Feuerwachtturm, verzichteten viele darauf, zu diesem Eingang hochzusteigen. Wenn aber Etsuko, die dort von Anfang an wohnte, einmal aus ihrer fensterlosen Kammer hinaustreten wollte ins Freie und das Tor des (vermeintlichen) Ausgangs öffnete, dann stiege sie ins Leere und stürzte womöglich zu Tode. Dabei besteht ja vielleicht das einzige Fundament aller in den Dienst des Verlassens des Zimmers gestellten Klugheit in der Voraussetzung, dieses Zimmer unter keinen Umständen zu verlassen. Etsuko saß neben Yakichi, brauchte also ihren betagten Reisegefährten nicht anzusehen; es sei denn, sie drehte sich zu ihm hin. Ihr genau gegenüber saß Saburō, von Kensuke zum Trinken animiert. Sein Glas faszinierte sie: gefüllt mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit, von der Lampe zum Schimmern gebracht, und ganz behutsam gingen seine großen, schlichten Hände damit um. 204
Er darf nicht so viel trinken. Wenn er heute abend zuviel trinkt, war alles umsonst. Wenn er verschläft, weil er betrunken ist, bricht alles zusammen. Es gibt ja nur heute nacht. Morgen bin ich schon Reisende. Als Kensuke wieder einschenken wollte, konnte Etsuko sich nicht mehr zurückhalten und streckte die Hand aus. »Was für eine gestrenge große Schwester. Laß doch dein liebes kleines Brüderlein ein wenig trinken!« Es geschah zum ersten Mal, daß Kensuke vor den anderen auf das Verhältnis zwischen den beiden hinwies. Saburō kam da nicht mehr mit. Die Fähigkeit, den Hintersinn von Worten zu ertüfteln, ging ihm ab. Er drehte das leere Glas in der Hand und lachte. Etsuko gab sich gelassen und konterte, ebenfalls lachend: »Aber für Minderjährige ist das doch Gift.« Die Flasche hatte sie schon vorher an sich genommen. »Oho, die Etsuko als Vorsitzende des Vereins zum Schutze Minderjähriger«, schnappte Chieko, für ihren Mann Partei ergreifend, mit verhaltener Aggressivität. An diesem Punkt angelangt, war es nun nicht mal mehr ausgeschlossen, daß die Abwesenheit von Miyo – ein Thema, das die letzten drei Tage tabu war – offen zur Sprache kam. Ein bißchen freundlich, ein bißchen aggressiv, genau im richtigen Maß – im Frieden dieser harmonischen Kühle hatte sich das Tabu gehalten. Dieses Tabu konnte nur dank einer Übereinkunft gewahrt werden, die zwar keiner kannte, an die sich aber zufällig alle hielten: Yakichi, der so tat, als wäre nichts gewesen, Kensuke und Chieko, deren Freundlichkeit zurückgewiesen worden war, und auch Asako, die mit Saburō so gut wie kein Wort wechselte. Würde hingegen auch nur an einer Ecke dieser Übereinkunft gekratzt, käme es augenblicklich zur Krise. Sogar, daß Chieko vor Etsuko deren 205
Taten verriet, lag nun nicht mehr im Bereich des Unmöglichen. Schrecklich, da habe ich eigens Saburō alles selber gestehen wollen heute nacht, war bereit, seine Vorwürfe einzustecken, und jetzt kommt es womöglich noch so weit, daß ich mit ansehen muß, daß er das alles von anderen erfährt! Eher als wütend zu werden, wird Saburō wohl schweigend seine Traurigkeit verstecken. Oder schlimmer noch, er wird auf die Anwesenheit der anderen Rücksicht nehmen und mir lachend verzeihen wollen. Damit hätte sich dann alles. Die vorweggenommene Qual, die unerfüllbare Lust, das freudige Zunichtewerden, alles, alles aus. Daß nur bis ein Uhr nachts nichts Verkehrtes passiert! Daß sich nur ja nichts Neues ereignet, bevor ich in Aktion trete! Etsuko saß da, bleich, steif und hatte aufgehört zu sprechen. Zwar hatte Yakichi vielleicht nur eine nebulöse Vorstellung vom Inhalt der Gefahr, die Etsuko empfand, doch immerhin genug Übung darin, ungefähr das Ausmaß ihrer Gemütsbewegung einzuschätzen, so daß er sich notgedrungen zum Sympathisanten ihres Leids und ihrer Hilflosigkeit aufschwang und für heute einmal die Großmut an den Tag legte, Etsuko vor Kensuke und seiner Frau in Schutz zu nehmen, worin er nicht zuletzt im Hinblick auf eine erquickliche Reise morgen eine unerläßliche Maßnahme erblickte. Um die Stimmung der Anwesenden auf den Nullpunkt zu bringen, eine Begabung, die er aus seiner Zeit als Firmenpräsident noch trefflich einzusetzen wußte, begann er in Form einer Rede des langen und breiten Belanglosigkeiten von sich zu geben und rettete damit Etsuko. »Saburō, für dich ist es besser, wenn du jetzt aufhörst. In deinem Alter, da hat’s für mich kein Rauchen gegeben und Alkohol sowieso nicht. Du rauchst nicht, und das find ich 206
wirklich in Ordnung. Wenn man in der Jugend keine unnützen Interessen und Neigungen hat, kann das für die Zukunft nur gut sein. Anfangen zu trinken, ja, dafür ist es mit vierzig immer noch früh genug. Für solche wie Kensuke ist es, ehrlich gesagt, sogar zu früh. Es sind halt auch die Zeiten andere. Daß die Zeiten anders sind, ja, das muß man unbedingt in Betracht ziehen, aber trotzdem … … « Alle verfielen in Schweigen. Plötzlich brach Asako ohne böse Absicht in verrücktes Gelächter aus: »Oh, jetzt ist mir der Natsuo eingeschlafen. Ich bring ihn nur schnell ins Bett.« Atsuko nahm Natsuo, der auf ihrem Schoß gesessen hatte und eingeschlafen war, hoch und stand auf. Nobuko ging mit ihr. »Nehmen wir uns Natsuo zum Vorbild und werden wir alle ganz brav«, sagte Kensuke mit gespielt kindlichem Tonfall und in Anspielung auf das, worauf Yakichi hinauswollte. »Etsuko-San, gib bitte die Flasche wieder zurück. Ab jetzt trink ich nämlich allein.« Geistesabwesend hatte Etsuko die Flasche neben sich gestellt, nun stellte sie sie ebenso geistesabwesend zu Kensuke. Sie bemühte sich krampfhaft, ihren Blick von Saburō abzuwenden, es gelang ihr aber nicht. Wenn ihre Blicke sich kreuzten, war er es, der verlegen wegsah. Als sie so auf Saburō starrte, erschien ihr die morgige Abreise, von ihr bisher als etwas schicksalhaft Unabänderliches definiert, plötzlich wie ein Vorhaben, das noch gar nicht feststand, sich noch beliebig ändern ließ. Das Reiseziel, das sie jetzt im Kopf hatte, war nicht Tōkyō, sondern, falls man das mit Gewalt Reiseziel nennen will, der Weingarten hinter dem Haus und sonst nichts. Was bei den Sugimotos gewöhnlich Weingarten hieß, bestand eigentlich nur aus drei Glashäusern, in denen Yakichi 207
aber keine Weintrauben mehr zog, und einem etwa hundert tsubo * großen Pfirsichgarten. Auf dem Weg zur Kirschblütenschau oder zum Schreinfest kamen sie dort vorüber, sonst aber war dieses drei-, vierhundert tsubo große Stück Land verwaist wie eine verlassene Insel, die von den Sugimotos kaum je besucht wurde. Etsuko war in Gedanken bereits nervös damit beschäftigt, was sie bei ihrem Zusammentreffen mit Saburō anhaben, welches Schuhwerk sie vorbereiten sollte, wie sie verhinderte, daß Yakichi etwas davon mitbekam und wie sie es anstellen mußte, damit sie vor dem Zubettgehen noch die entsetzlich quietschende Holztür des Hintereingangs zur Küche aufmachte, ohne daß es jemand merkte. Sich um eine solche Zeit an einem solchen Ort zu verabreden, dazu noch diese ganze Geheimniskrämerei, das alles war, wie ihr bei etwas distanzierterer Betrachtung auffiel, ein völlig überflüssiger Aufwand, falls es ihr nur um ein langes Gespräch mit Saburō ging. Ein geradezu lächerlich überflüssiger Aufwand. Anders noch vor einigen Monaten, als niemand etwas von ihrer Zuneigung ahnte. Aber nun, da die Sache bereits ein offenes Geheimnis war, hätte sie, um unnötige Mißverständnisse zu vermeiden, das »lange Gespräch« besser bei Tag irgendwo im Freien geführt. Worum es ihr ging, war ein schmerzliches Geständnis in Form eines langen Gesprächs und sonst nichts. Wessen Werk aber mochte dahinterstecken, daß Etsuko auf eine so umständliche Heimlichtuerei aus war? In dieser einen, dieser letzten Nacht wollte Etsuko ein Geheimnis haben, und sei es nur der Form halber. Zwischen sich und Saburō wollte sie ein Geheimnis haben, das erste und letzte vielleicht. Dieses Geheimnis wollte sie mit Saburō teilen. Auch wenn Saburō ihr letztlich überhaupt nichts 208
geben sollte, zumindest dieses – nicht ganz ungefährliche – Geheimnis wollte sie von ihm haben. So oder so, Etsuko empfand es als ihr Recht, wenigstens eine solche Gabe zu erhalten. Wegen der Kälte der Nacht und am Morgen schlief Yakichi ab Mitte Oktober mit einer wollenen Schlafmütze, die er »Nightcap« nannte. Für Etsuko war sie ein Indikator ganz besonderer Art. Nächte, in denen er mit Mütze ins Bett kroch, waren solche, in denen er Etsukos nicht bedurfte. Schlief er barhäuptig, so wurde sie diese Nacht gebraucht. Nach der Abschiedsfeier, um elf Uhr nachts, konnte Etsuko bereits Yakichi an ihrer Seite schlafen hören. Morgen früh ging es los, da mußte man die Nacht davor genügend schlafen. Sein wollenes Nightcap, das er diese Nacht aufhatte, war ein wenig verrutscht und legte seitlich einen Stirnansatz frei, wo sich schmutzigweiße Strähnen unter sein Haar mischten. Sein Haar würde niemals rein weiß werden, die unsaubere Färbung erinnerte eher an eine Sesam-Salz-Mischung. Im Schein der Stehlampe, die Etsuko in schlaflosen Nächten vor dem Einschlafen zum Lesen benutzte, besah sie sich nun das schwarze Nightcap. Nach einer Weile machte sie das Licht aus. Sie durfte Yakichi nicht dadurch argwöhnisch machen, daß er sie, falls er aufwachte, zu so ungewöhnlich vorgerückter Stunde noch lesen sah. Danach brachte Etsuko annähernd zwei Stunden mit entsetzlichem Warten im Dunkeln zu. Diese Ungeduld und ihre arg überhitzten Träume machten, daß Etsuko sich das Stelldichein mit Saburō als etwas unendlich Freudiges ausmalte. Daß sie Saburō alles gestehen wollte, um seinen Haß auf sich 209
zu laden, hatte sie vergessen wie eine Nonne, die im Banne der Leidenschaft zu beten vergißt. Etsuko zog über den Schlafkimono ihr Alltagsgewand an, das sie in der Küche versteckt hatte, band es mit einem zinnoberroten Untergürtel, wand sich einen alten, regenbogenfarbigen Wollschal um den Hals und schlüpfte in einen schwarzen Satin-Mantel. Maggie lag angekettet in der Hundehütte neben dem Eingang und schlief, es war daher nicht zu befürchten, daß sie bellen würde. Etsuko verließ die Küche durch den Hintereingang. Im Licht des Mondes war die wolkenlose Nacht beinahe taghell. Sie ging nicht geradewegs zum Weingarten, sondern zuvor noch bis vor Saburōs Schlafkammer. Das Fenster stand weit offen. Seine Bettdecke war zur Seite geschlagen. Er war zum Fenster hinausgestiegen und vor ihr zum Weingarten gegangen. Diese Rechtschaffenheit zu entdecken, bescherte ihr eine unvermutet sinnliche Freude. Der Einfachheit halber hieß es zwar immer »hinter dem Haus«, wenn vom Weingarten die Rede war, doch zwischen Haus und Weingarten verlief quer eine längliche Mulde, in der sich ein Kartoffelacker befand. An der dem Haus näheren Seite des Weingartens befand sich außerdem ein zwei bis drei ken * breiter Streifen Bambus, so daß die Konturen der Glashäuser vom Haus her nicht zu sehen waren. Etsuko folgte dem mit hohem Gras bewachsenen Weg durch die Mulde mit dem Kartoffelacker. Ein Kauz schrie. Im Mondlicht wirkte die lockere, gefurchte Krume des abgeernteten Kartoffelackers wie ein dreidimensionales Gebirgsmodell aus Pappmache. An einer Stelle, wo Dornbüsche den Weg versperrten, waren im Ackerboden zwei, drei Abdrücke von Turnschuhen. Sie stammten von Saburō. 210
Etsuko ging durch den Bambushain hindurch, erklomm eine Böschung, gelangte in den Schatten einer Eiche, und vom Mondlicht ausgeleuchtet lag vor ihr ein Winkel des Weingartens. Vor dem Eingang zu einem Glashaus, dessen Scheiben großteils zerbrochen waren, stand Saburō, gedankenverloren, mit verschränkten Armen. Das Mondlicht überzog die Schwärze seines kurzgeschnittenen Haares mit einem besonderen Schimmer. Die Kälte schien ihm nichts auszumachen, denn er trug keine Jacke. Er hatte einen handgestrickten Pullover an, den er von Yakichi bekommen hatte. Kaum hatte er Etsuko kommen sehen, ließ er die Arme sinken, schlug die Hacken zusammen und grüßte von weitem. Etsuko kam näher. Sie war nicht imstande, etwas zu sagen. Nach einer Weile blickte sie um sich und fragte: »Kann man sich denn hier irgendwo hinsetzen?« »Ja, im Glashaus ist ein Stuhl.« Aus dieser Antwort nicht die leiseste Spur eines Zögerns oder Verschämtheit herausspüren zu können, enttäuschte Etsuko etwas. Er duckte sich, betrat das Glashaus, und sie folgte ihm. Im Dach waren kaum noch Scheiben, die leeren Rahmen, vertrocknete Trauben, dürres Weinlaub warfen ihre Schatten auf die Streu am Boden. Dort lag ein verwitterter kleiner runder Stuhl. Den stellte Saburō auf, nahm sein kleines Handtuch, das er an der Hüfte im Gürtel stecken hatte und wischte den Stuhl sorgfältig sauber, ehe er ihn Etsuko anbot und sich selber auf eine rostige Tonne setzte, die er zu dem Zweck umgekippt hatte. Diese Sitzgelegenheit erwies sich aber als sehr wackelig, weshalb er sich wie ein Hündchen im 211
Schneidersitz, mit einem Knie aufgestellt, auf das Stroh am Boden kauerte. Etsuko schwieg. Saburō nahm einen Strohhalm vom Boden, wickelte ihn um den Finger, und der Halm quietschte. Dann stieß Etsuko heraus: »Ich war’s, die Miyo entlassen hat!« Saburō sah sie ganz ruhig an. »Ich weiß.« »Von wem hast du das gehört?« »Von Frau Asako habe ich das gehört.« »Von Asako … … « Saburō blickte zu Boden und wickelte wieder einen Strohhalm um den Finger. Etsukos Überraschung so direkt mit ansehen zu müssen, berührte ihn peinlich. Angestachelt von ihrer überspannten Einbildungskraft, sah Etsuko in der zu Boden blickenden Niedergeschlagenheit dieses Jungen wortlosen, aber erbitterten Widerspruch als Kehrseite seiner erstaunlich tapferen, ja sogar beispiellosen Fügsamkeit, mit der er in den vergangenen ein, zwei Tagen unter demonstrativ zur Schau gestellter Heiterkeit verzweifelt versucht hatte, mit dem Schmerz der ungerechtfertigten Trennung fertig zu werden. Dieser wortlose Widerspruch ging ihr mehr zu Herzen, als selbst die wildesten Beschimpfungen es vermocht hätten. Niedergeschmettert knickte sie im Sitzen auf ihrem Stuhl nach vor. Unfähig, sich zu besänftigen, rang sie ihre verschränkten Hände, riß sie wieder auseinander und sprach mit tiefer, fiebriger Stimme auf ihn ein. Gelegentlich blockierte etwas wie trockenes Schluchzen ihr Reden und verriet so die vehemente, nur mit Mühe unterdrückte Leidenschaft dahinter. Außerdem hörte es sich beinahe an, als wäre sie wütend. »Bitte vergib mir. Ich habe so gelitten. Anders wußte ich 212
mir nicht mehr zu helfen. Außerdem hast du mich belogen. Du und Miyo, ihr wart verliebt bis dorthinaus, und trotzdem hast du mir gesagt, du liebst sie nicht. Das war doch gelogen! Dieser Lüge von dir habe ich zu verdanken, daß ich gelitten habe und gelitten noch und noch. Damit du weißt, wie das ist, wenn man so viel an Kummer einzustecken hat, wie ich es mußte, ohne daß du das überhaupt je gemerkt hast, mußt du ungefähr die gleiche Menge grundlosen Kummer zu spüren bekommen. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie ich gelitten habe. Wenn man das herausnehmen könnte aus dem Herzen und vergleichen – am liebsten würde ich dann das Leid, das dich jetzt quält, und das meine miteinander vergleichen, dann würden wir ja sehen, wessen Leid das größere ist. So gelitten habe ich, daß ich es nicht mehr ertragen konnte und mir im Feuer selber die Hand verbrannt habe. Da, schau! Wegen dir! Diese Brandwunden habe ich wegen dir!« Im Mondlicht streckte ihm Etsuko ihre Handfläche mit der verkrusteten Brandwunde hin. Ganz vorsichtig, als fasse er nach etwas Furchtbarem, berührte Saburō die gekrümmten Finger von Etsuko und ließ sie gleich wieder los. In Tenri, da habe ich, glaube ich, auch solche Bettler gesehen. Die stellen ihre Wunden zur Schau, damit man Mitleid hat mit ihnen. Wirklich schrecklich, solche Bettler. Ich weiß nicht, die gnädige Frau hat was von einem unheimlich stolzen Bettler an sich, dachte Saburō, ohne zu ahnen, daß die Ursache ihres Stolzes in ihrem Leid lag. Selbst jetzt verstand Saburō immer noch nicht, daß Etsuko ihn liebte. Er strengte sich an, aus Etsukos weitschweifigen Eröffnungen handfeste Tatbestände herauszuklauben, die ihm halbwegs begreiflich waren. Die Frau da vor ihm litt. Nur soviel stand fest. Ob sie dafür einen triftigen Grund hatte 213
oder welchen, konnte er nicht wissen, doch litt sie auf jeden Fall seinetwegen. Wer leidet, den muß man trösten. Aber er konnte sich nicht vorstellen, wie er sie trösten sollte. »Lassen Sie nur. Wegen mir brauchen Sie sich keine Sorgen machen. Miyo-San ist zwar nicht hier, aber das ist nur eine Zeit lang ein bißchen hart und sonst nicht weiter schlimm.« Etsukos mißtrauischer Blick aber suchte in diesem sanften, einfältigen Mitleid nur eine unterwürfige Lüge, eine auf Abstand bedachte förmliche Höflichkeit. »Du lügst ja schon wieder. Du sagst, von einem geliebten Menschen mit Gewalt getrennt zu werden, das sei nicht weiter schlimm. Ist das denn die Möglichkeit? Da lege ich mein ganzes Inneres vor dir offen, bitte dich um Vergebung und was machst du? Du verschließt dein Inneres immer noch und bist nicht bereit, mir aus ganzem Herzen zu verzeihen, nicht?« Ein Gegner, der den bodenlos romantischen Zwangsvorstellungen von Etsuko noch tatenloser hätte gegenüberstehen können als das glasklare, schlichte Gemüt von Saburō, läßt sich nicht denken. Nach umständlichen Überlegungen gelangte er zu dem Schluß, daß Etsuko seine Lüge attakkierte. Wenn er sie also davon überzeugen konnte, daß das, was sie vorhin als seine große Lüge verurteilt hatte – »ich liebe Miyo nicht« –, der Wahrheit entsprach, dann würde sie sich beruhigen, meinte er. Mit aller Deutlichkeit sagte er: »Das ist keine Lüge. Sie brauchen sich wirklich keine Sorgen zu machen. Ich habe Miyo-San nämlich nicht geliebt.« Etsuko schluchzte nicht mehr. Sie lachte beinahe. »Schon wieder eine Lüge! Das ist ja wieder gelogen! Ja, glaubst du denn wirklich, daß du mich jetzt noch mit so kindischen Lügen hinters Licht führen kannst?« Saburō war ratlos. Er war mit seinem Latein am Ende und 214
wußte nicht mehr, was er dieser schwierigen Frau gegenüber noch hätte vorbringen können. Da gab es nur noch Schweigen. Zum ersten Mal konnte Etsuko in dieser wortlosen Sanftheit aufatmen. Von fern ertönte der Pfiff eines Lastzugs und ging ihr durch und durch. Saburō war mit seinen Gedanken beschäftigt und hatte keinen Sinn dafür. Was könnte ich sagen, damit mir die gnädige Frau glaubt? Neulich hat die gnädige Frau getan, als wäre das Problem Lieben oder Nichtlieben das Allerwichtigste überhaupt, als würde die Welt darüber einstürzen. Jetzt wiederum ist für sie alles Lüge, was ich sage, und nichts läßt sie gelten. Ach so, vielleicht will sie einen Beweis. Wenn ich ihr die Wahrheit sage, wird sie mir glauben. Er ging in eine hockende Stellung über und kam plötzlich schwunghaft ins Reden. »Es ist keine Lüge. Ich wollte Miyo-San auch nicht so unbedingt zur Frau haben. In Tenri habe ich dann mit Mutter darüber gesprochen. Mutter war von vornherein dagegen, denn zum Heiraten sei es noch viel zu früh. Es war mir unheimlich schwergefallen, das zu sagen, deswegen habe ich ihr das mit dem Kind nicht erzählt. Sie war dann jedenfalls immer mehr dagegen und hat gesagt, so eine Schlampe will sie nicht einmal sehen. Deswegen ist sie nicht mitgekommen nach Maiden, sondern von Tenri direkt heimgefahren.« Diese unbeholfene, holprig vorgetragene Rede steckte voller Wahrheiten, die ihm nur schwer über die Lippen kamen. Deshalb konnte sich Etsuko der traumgleichen Freude darüber, der strahlenden, flüchtigen Freude des Augenblicks rückhaltlos hingeben. Beim Zuhören hatten ihre Augen zu leuchten begonnen, ihre Nasenflügel bebten. In halb traumhaftem Zustand sagte sie: »Warum hast du 215
mir das denn nicht gesagt? Warum hast du das denn nicht schon früher gesagt?« Und weiter in diesem Ton: »So war das also. Deswegen hast du also deine Mutter nicht mitgebracht, nicht wahr?« Und weiter in diesem Ton: »So gesehen, hat’s dir eigentlich ganz gut gepaßt, daß Miyo nicht mehr da war, als du hierher zurückgekommen bist, nicht wahr?« Halb Gedacht-Unausgesprochenes und nur zur Hälfte Ausgesprochenes gerieten ihr bei diesen Worten durcheinander, so daß auch sie selber nicht mehr zwischen hartnäckig wieder kehrenden inneren Monologen und lauten Selbstgesprächen unterscheiden konnte. So wie im Traum Stecklinge im Handumdrehen zu früchtetragenden Bäumen wachsen und kleine Vögelchen bisweilen die gewaltige Größe von Zugpferden erreichen, so schwollen in Etsukos Träumen lächerliche Wünsche flugs zu fast schon verwirklichten. Vielleicht bin ich es, die Saburō liebt. Ich muß ein wenig Mut haben, muß versuchen, es herauszufinden. Ich darf keine Angst davor haben, daß meine Annahme fehlgeht. Trifft sie zu, werde ich glücklich. So einfach ist das. So dachte Etsuko. Hoffnung indes, die ihre Enttäuschung nicht befürchtet, ist eher eine Art Verzweiflung denn Hoffnung. »Gut … … Und wen hast du denn geliebt?« fragte Etsuko. Der Fehler, der dieser scharfsinnigen Frau hier möglicherweise unterlief, bestand darin, daß es Worte waren, denen die Beziehung zwischen ihnen beiden nun überlassen wurde. Hätte sie statt dessen Saburō zärtlich die Hand auf die Schulter gelegt, wären unter Umständen Myriaden von Fäden ge216
sponnen worden. Eine Berührung der Hände – sie hätte vielleicht die beiden heterogenen Seelen aneinanderzuschmelzen vermocht. Weil aber Worte zwischen ihnen standen wie unnachgiebige Tyrannen, verstand Saburō die ansteigende Blutröte in den Wangen von Etsuko nicht zu deuten. Er wich vor der Frage zurück wie ein Volksschüler vor einer Rechenaufgabe. Liebt … … liebt nicht … … Wieder! Schon wieder. Dieses auf den ersten Blick scheinbar nützliche Schlagwort fügte seinem bislang sorglos, aufs Geratewohl geführten Leben eine unnötige Bedeutung hinzu, zwängte darüber hinaus auch sein künftiges Leben in einen unnötigen Rahmen, so daß er darin nichts als einen ziemlich überflüssigen Begriff erkennen konnte. Den erforderlichen Raum, in dem dieses Wort als täglicher Bedarfsartikel existieren, ihm gegebenenfalls die Entscheidung über Leben und Tod zufallen könnte, den gab es in seinem Leben nicht. Was heißt, gab es nicht – er konnte ihn sich kaum vorstellen. Die Sorte von Besitzern solcher Räume, die blödsinnigerweise das ganze Haus in Flammen aufgehen ließen, um diesen Raum zu vernichten, fand er lächerlich. Ein Junge stand neben einem Mädchen. Daß Saburō Miyo küßte, ergab sich daraus völlig selbstverständlich. Sie schliefen miteinander. Danach begann in Miyos Bauch neues Leben zu keimen. Der nächste, ebenfalls sozusagen natürliche Schritt war, daß Saburō Miyos überdrüssig wurde. Immer öfter kam es zu dem kindlichen Spiel, dessen Partner aber nicht unbedingt Miyo hätte sein müssen, sondern auch jede andere hätte sein können. Überdrüssig geworden ist vielleicht nicht ganz korrekt: Miyo hatte bloß aufgehört, für Saburō die Miyo zu sein. 217
Sein Verhalten richtete Saburō durchaus nicht nach der Prämisse, daß ein Mensch, der eine bestimmte Person nicht liebte, stets eine andere Person lieben mußte oder der, wenn er gerade jemanden liebte, keine andere Person lieben durfte. Aus diesem Grund war er wieder um eine Antwort verlegen. Wer hatte denn diesen unschuldigen Jungen so weit in die Enge getrieben? Wessen Schuld war es denn, ihn so weit in die Enge getrieben zu haben, daß er nun x-beliebige Antworten gab? Saburō meinte, daß er sich nun eher auf die Urteile weitläufiger Erfahrung verlassen mußte als auf sein Gefühl – für jemand, der von klein auf nur anderer Leute Reis gegessen hatte, eine nur allzu verständliche Lösung. Aus dieser Sicht hatte auch er sofort heraus, daß Etsukos Augen zu bitten schienen: ›Sag doch meinen Namen.‹ Die gnädige Frau macht ernstlich feuchte Augen. Sie möchte wohl als Antwort auf diese Frage ihren Namen hören. Ganz bestimmt. Saburō griff nach ein paar der schwarzen, verschrumpelten Weinbeeren neben sich, rollte sie auf der Handfläche hin und her und sagte, mit gesenktem Kopf, unverblümt: »Sie, gnädige Frau.« Diese nun allzu flott hingesagte Lüge, die auf viel gröbere Weise zum Ausdruck brachte, daß er sie nicht liebte, als der Satz ›ich liebe Sie nicht‹ es je vermocht hätte, diese einfältige Lüge zu durchschauen bedarf eines kühlen Kopfs so wenig, daß auch die tief in ihre Träumereien versunkene Etsuko durch dieses eine Wort zur Besinnung kam und aufstand. Alles war zu Ende. 218
Sie faßte mit beiden Händen an ihr von der Nachtluft kaltes Haar und brachte ihre zerzauste Frisur in Ordnung. Ruhig, ja mutig sagte sie: »So, gehen wir langsam wieder zurück. Morgen fahren wir früh weg, deshalb sollte ich auch noch ein wenig schlafen, nicht wahr.« Saburō senkte leicht die linke Schulter und stand ein wenig unwillig auf. Etsuko fröstelte am Hals, und sie kuschelte sich fester in den regenbogenfarbigen Schal. Saburō bemerkte, daß ihre Lippen im Schatten des vertrockneten Weinlaubs dunkelviolett schimmerten. Wenn Saburō, ermüdet durch sein bisher recht diffiziles Gegenüber, ab und zu, ohne den Kopf zu heben, von unten hochgeblickt hatte, dann sah er nicht eine Frau, sondern irgendein beseeltes Monster, einen sonderbaren Fleischklumpen mit einer Seele drin, bekümmert, leidend, von Blut durchpulst, dann wieder freudig lachend, einen Klumpen mit bloß liegendem Nervengeflecht. Nun, da sie aufstand und sich fester in ihren Schal wikkelte, empfand Saburō Etsuko erstmals als Frau. Etsuko schickte sich an, das Glashaus zu verlassen. Er streckte den Arm seitlich aus und versperrte ihr den Weg. Etsuko wandte sich um und starrte Saburō durchbohrend an. Trotz der vielen Kleider, die sie trug, fühlte sich der Zusammenprall seines harten, muskulösen Arms und Etsukos weicher Brust an, als ob in dunklem, üppig mit Pflanzen durchwachsenem Gewässer das Ruder eines Bootes gegen den Kiel eines anderen Bootes stieße. Auch wenn sie ihn anstarrte – Saburō wich nicht mehr zurück. Sein Mund öffnete sich wie zum Sprechen, doch gab er keinen Laut von sich, zeigte nur ein heiteres beruhigendes 219
Lächeln. Außerdem blinzelte er zwei-, dreimal, ohne es zu merken. Sagte Etsuko in dieser Zeit nur deshalb nichts, weil ihr endlich aufgegangen war, wie machtlos Worte sind? Oder weil sie nun, da sie mit knapper Not der sicheren Verzweiflung habhaft geworden war, von derselben nicht mehr lassen konnte wie einer, den ein Blick bis auf den Boden des Abgrunds der Mittel beraubt hat, noch an anderes denken zu können? Bedrängt von einem frischen, jungen Körper, der sich über Komplikationen einfach hinwegsetzte, begann Etsuko zu schwitzen. Eine der geta * glitt von ihrem Fuß und fiel zu Boden. Weshalb sträubt sich Etsuko so heftig und dabei so unbewußt ihres eigenen Widerstands? Als sträubte sie sich – angelehnt an etwas. Saburō umschloß die Frau mit beiden Armen auf eine Weise, daß sie ihre Arme nicht bewegen konnte, und ließ sie nicht mehr los. Damit ihre Lippen nicht miteinander in Berührung kommen konnten, bewegte Etsuko ständig ihr Gesicht auf und ab. In seiner Hast achtete Saburō nicht auf Boden und Beine, stolperte über den Stuhl und ging mit einem Knie zu Boden. Augenblicklich entwand sich Etsuko seinen Armen und verließ fluchtartig das Glashaus. Warum schrie Etsuko? Warum rief sie um Hilfe? Wessen Namen rief sie? Wo gab es einen Namen, nach dem sie so inbrünstig hätte rufen wollen, wie nach dem von Saburō? Woher hätte für Etsuko eine rettende Hand kommen können, wenn nicht von Saburō? Warum rief sie dennoch um Hilfe? Und zu welchem Zweck? Woher, wohin, gerettet woraus, 220
wovor und: Wo war denn ein Ort, an den man Etsuko hätte bringen können? Saburō lief Etsuko nach und warf sie ins Gras neben dem Glashaus. Weich fiel der Körper der Frau in das hohe, büschelige Stielblütengras. Geritzt von scharfrandigen Grasblättern, hatten beide Schweiß an ihren Händen und Blut. Keiner von ihnen merkte es. Das erhitzte, schweißglänzende Gesicht von Saburō ganz nahe vor ihren Augen – in diesem Augenblick dachte Etsuko, daß an Schönheit wohl nichts auf dieser Welt an ein vom Trieb verklärtes Gesicht, an die vor Begierde leuchtende Miene eines jungen Menschen herankomme. Und dennoch – ihr Körper sträubte sich weiter. Mit der Kraft seiner Brust und seiner Arme hielt Saburō die Frau zu Boden gedrückt fest und biß spielerisch, wie zum Spaß, von ihrem schwarzen Satin-Mantel die Knöpfe ab. Etsuko war nur halb bei Bewußtsein. Für den großen, schweren Kopf, der da so rege auf ihrer Brust hin- und herrollte, fühlte sie förmlich überströmende Zuneigung. Und trotzdem schrie sie in diesem Augenblick auf. Noch bevor der schrille Schrei ihn überraschen konnte, war Saburōs behender Körper wieder Herr seiner selbst und erwog Flucht. Nicht aus logischer Überlegung heraus oder aufgrund einer gefühlsmäßigen Verbindung erwog er Flucht, sondern, etwas überspitzt gesagt, wie ein Tier, das intuitiv eine Gefahr für sein Leben spürt. Er zog seinen Körper weg, stand auf und lief in die dem Sugimotoschen Haus entgegengesetzte Richtung. In Etsuko wallten in diesem Augenblick ungeheure Kräfte hoch. Explosiv erwachte sie aus ihrem halbbetäubten Zustand und setzte Saburō nach. 221
»Warte! Warte!« schrie sie. Je mehr sie schrie, desto wilder floh Saburō. Im Laufen riß er ihre Hand los, mit der sie sich an seinem Rumpf festgeklammert hatte. Etsuko hielt seine Schenkel umfaßt und wurde mitgeschleift. Etwa ein ken weit wurde ihr Körper durch Dornbüsche geschleift. Yakichi, der unterdessen aufgewacht war und merkte, daß sich Etsuko nicht in ihrem Lager neben ihm befand, wurde von schlimmen Befürchtungen gequält. Er ging zu Saburōs Schlafkammer, nur um auch dort das Lager verwaist zu finden. Unter dem Fenster fanden sich Schuhabdrücke. Daraufhin ging er zur Küche und sah durch die weit offene Hintertür das Mondlicht hereinfluten. Von hier gelangte man nur zum Birnengarten oder zum Weingarten. Im Birnengarten, den Yakichi täglich pflegte, war die Erde frisch aufgegraben und locker. Yakichi nahm den Weg zum Weingarten hinunter. Er ging los, hielt an und kehrte nochmals um. An der Tür des Geräteschuppens lehnte eine Hacke, die er mit sich nahm. Nicht aus einem tieferen Motiv heraus. Vielleicht zur Verteidigung. Am Rand des Bambusdickichts angelangt, hörte er Etsuko schreien. Er schulterte die Hacke und begann zu laufen. Verzweifelt flüchtend drehte sich Saburō um und sah Yakichi angelaufen kommen. Da versagten ihm die Beine. Er blieb stehen und wartete, bis der schwer keuchende Yakichi bei ihm war. Etsuko, die merkte, daß dem flüchtenden Saburō die Kräfte schwanden, stand mißtrauisch auf. Die Schmerzen im ganzen Körper spürte sie noch nicht. Sie bemerkte, daß jemand neben ihr war. Bei näherem Hinsehen erkannte sie 222
Yakichi, der im Schlafkimono dastand, die Hacke zu Boden gestellt. Sein entblößter Brustkorb bewegte sich heftig. Gerade und ohne Scheu erwiderte Etsuko Yakichis Blick. Der Körper des alten Mannes zitterte. Er konnte dem Blick von Etsuko nicht standhalten und senkte die Augen. Diese Schwäche, dieses Zaudern erschütterte Etsuko. Sie nahm dem alten Mann die Hacke aus der Hand, schwang sie hoch und hieb nach der Schulter von Saburō, der auf nichts gefaßt war, nichts verstand und einfach verdattert dastand. Die gut gesäuberte, helle Schneide der Hacke verfehlte die Schulter und durchtrennte Saburō die Nackensehne. Irgendwo aus der Kehle entwich dem Jungen ein unterdrückter Schrei. Er taumelte vorwärts, so daß ihm der nächste Hieb schräg den Schädel spaltete. Saburō hob die Arme zum Kopf und fiel. Yakichi und Etsuko standen reglos da und blickten auf den sich noch ganz schwach windenden Körper. Allerdings nahmen die Augen der beiden überhaupt nichts wahr. Nach dreißig, vierzig Sekunden des Schweigens, die ihnen aber wie eine Ewigkeit vorkamen, sagte Yakichi: »Warum hast du ihn umgebracht?« »Weil du ihn nicht umgebracht hast.« »Ich wollte ihn ja gar nicht umbringen.« Etsuko starrte Yakichi mit irrem Blick an. »Du lügst. Du hast beabsichtigt, ihn zu töten. Daraufhabe ich jetzt gewartet. Um mich zu retten, gab es keine andere Möglichkeit, als Saburō zu töten. Und doch hast du gezögert. Gezittert. Ohne jede Selbstachtung gezittert. In diesem Fall blieb mir nichts übrig, als an deine Stelle zu treten und ihn zu töten.« »Jetzt willst du mir die Schuld zuschieben.« »Wer will das? Morgen früh gehe ich zur Polizei. Allein.« 223
»Nur keine Hast. Es lassen sich eine Menge Maßnahmen denken. Aber was soll das heißen: Der Kerl hat umgebracht werden müssen?« »Weil er mich gequält hat.« »Aber das war doch nicht seine Schuld.« »Keine Schuld! So ist das nicht. Das ist nur die selbstverständliche Vergeltung dafür, daß er mich gequält hat. Niemand darf mich quälen. Und es kann mich auch niemand quälen.« »Kann nicht? Wer bestimmt das denn?« »Ich bestimme das. Und was ich einmal bestimmt habe, davon lasse ich mich unter keinen Umständen mehr abbringen.« »Du bist wirklich eine schreckliche Frau.« Jetzt erst wurde Yakichi richtig klar, daß doch nicht er der Täter war, und er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Hör zu. Wir dürfen nichts übereilen. Überlegen wir uns in Ruhe, was zu tun ist. Bis dahin darf der da nicht gefunden werden.« Er nahm Etsuko die Hacke aus der Hand. Die Schneide war noch naß von frischen Blutspritzern. Danach führte er eine sonderbare Tätigkeit aus. Es gab ein abgeerntetes Areal mit weicher Ackererde. Wie einer, der bis spät in die Nacht auf dem Feld arbeitet, grub er dort emsig ein Loch. Es dauerte verhältnismäßig lange, bis die seichte Grube ausgehoben war. Während der ganzen Zeit saß Etsuko auf dem Boden und sah die auf dem Bauch liegende Leiche von Saburō an. Der Pullover war etwas verrutscht. An einer Stelle, wo das khakifarbene Hemd und der Pullover ein wenig umgeschlagen waren, lag etwas Rückenhaut bloß. Sie war blaß, matt und erdfarben. Der Kopf war zur Seite ge224
dreht, eine Wange tief ins Gras gedrückt, aus dem qualverzerrten Mund lugte das Weiß einer Zahnreihe hervor, und es sah beinahe so aus, als würde er lächeln. Die Augenlider unter der mit ausgetretener Gehirnmasse überdeckten Stirn waren ganz fest geschlossen, wie eingefallen. Yakichi war fertig mit dem Ausheben, kam zu Etsuko und klopfte ihr leicht an die Schulter. Der Oberkörper war blutverschmiert und schwer anzufassen. Yakichi nahm die Leiche an den Beinen und schleifte sie über das Gras. Sogar nachts blieben auf dem Gras schwarze Tropfen sichtbar. Jedesmal, wenn Saburōs Kopf im Dahinschleifen an Bodenunebenheiten oder Steine stieß, sah es aus, als würde er nicken. Oft und oft nicken. Die beiden legten die Leiche in das flache Grab und bedeckten sie schnell mit Erde. Am Schluß blieb nur noch ein lächelndes Gesicht mit geschlossenen Augen und halboffenem Mund. Die Vorderzähne leuchteten im Mondlicht in blendendem Weiß. Etsuko legte die Hacke weg, nahm ein wenig Erde und ließ sie mitten in den Mund fallen. Die Erde rieselte in die Mundhöhle und formte außen ein mundhöhlenartiges Loch. Yakichi grub seitlich vom Grab mit der Hacke Erde auf und bedeckte damit das tote Gesicht. Nachdem die aufgeschaufelte Erde hoch genug war, trat Etsuko, nur mit tabi * an den Füßen, sie fest. Die weiche Erde erweckte ein vertrautes Gefühl – als würde sie auf bloße Haut treten. Währenddessen ging Yakichi umher, inspizierte sorgfältig den Boden und beseitigte die Blutspuren; bedeckte sie mit Erde; verrieb sie mit den Füßen; dann waren sie getilgt. In der Küche wuschen sie die von Blut und Erde beschmutzten Hände. Etsuko zog ihren stark blutbespritzten Mantel 225
und die tabi aus. Ihre geta * hatte sie wiedergefunden und auf dem Weg hierher getragen. Yakichi zitterten die Hände so sehr, daß er nicht einmal Wasser schöpfen konnte. Das übernahm Etsuko, sie zitterte kein bißchen. Sorgfältig säuberten sie das Waschbecken von Blut. Etsuko nahm den zusammengerollten Mantel und die tabi und verließ als erste die Küche. Ein wenig spürte sie die Schürfwunden, die sie sich geholt hatte, als sie von Saburō dahingeschleift wurde. Ein richtiger Schmerz war das aber noch nicht. Maggie heulte. Auch diese Stimme verstummte sofort wieder. Yakichi hörte, wie Etsuko neben ihm schlief. Lange, grenzenlose Ermüdung, eine unermeßlich große Müdigkeit, selbst im Vergleich mit dem Verbrechen, das Etsuko eben begangen hatte, erfüllende Müdigkeit, entstanden aus den Erinnerungen an zahllose Mühen, welche alle dem Zweck galten, nützliche Handlungen auszuführen. Keinem Menschen ist es vergönnt, in den Genuß eines solch makellosen Schlummers zu kommen, es sei denn als Kompensation einer solchen Müdigkeit. Nach dieser kurzen Ruhe, der ersten, die Etsuko gewährt worden war, wachte sie auf. Rund um sie tiefe Finsternis. Sekunde um Sekunde zerhackt die Wanduhr melancholisch die Zeit. Neben ihr liegt Yakichi, schlaflos, zitternd. Etsuko versucht nicht einmal, ihre Stimme zu erheben. Da ist niemand, zu dem ihre Stimme dringen würde. Die mit Gewalt geöffneten Augen sind in das Dunkel gerichtet. Sie sieht nichts. Zu hören ist das ferne Krähen eines Hahnes. Bis Tagesanbruch blieb noch viel Zeit, trotzdem krähten rundherum die 226
Hähne. Weit weg begann irgendeiner – sie hätte nicht sagen können, welcher – zu krähen. Wie zur Antwort kräht daraufhin ein anderer auch. Und wieder ein anderer kräht. Nächtliches Hähnekrähen, abwechselnd, pausenlos. Immer weiter. Ohne Ende immer weiter. Aber nichts war.
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Glossar arita-yaki – Keramik aus der Region Arita in der Präfektur Saga (Kyūshū) doburoku – noch nicht zu Ende gegorener (»federweißer«) Reiswein Etchan – vertraulich für Etsuko geta – jap. Holzsandalen gō – trad. jap. Hohlmaß, 1 gō = 1,8 l kan – trad. jap. Gewichtsmaß, 1 kan = 3,75 kg ken – trad. jap. Längenmaß, 1 ken = 1,818 m murasuzume – wörtl. »Dorfspatz«; Anm. d. Übers. Sarayashiki no O-Kiku – Melodramatische Geschichte einer jungen Magd namens O-Kiku, die einen Teller (sara) zer schlagen hatte und zur Strafe dafür von ihrer Herrin in der Zisterne des Anwesens (yashiki) ertränkt wurde. Nach ihrem Tod spukte sie dort als tellerzählender Geist. shaku – trad. jap. Längenmaß, 1 shaku = 30,3 cm sun – trad. jap. Längenmaß, 1 sun = 3,03 cm tabi – zu trad. jap. Kleidung getragene »Socke« mit separier ter Großzehe tan – trad. jap. Flächenmaß, 1 tan = 993 m2 Tōjō Hideki – General, jap. Premierminister, 1941–1944 tsubo – trad. jap. Flächenmaß, 1 tsubo = 3,31 m2
Nac hwor t
W
ollte man den japanischen Schriftsteller mit dem höchsten internationalen Bekanntheitsgrad benennen, so fiele die Wahl wohl nach wie vor auf den Namen Mishima. Allem Anschein nach ist kein anderer japanischer Literat in so vielen Ländern so vielen Menschen aus unterschiedlichsten Schichten ein Begriff. Zweimal haben andere japanische Autoren, Kawabata und Ōe, den Literatur-Nobelpreis erhalten. Doch selbst nun, wo eine jüngere Generation mittlerweile mit einzelnen Werken weit höhere Auflagenzahlen erzielen mag, ist es immer noch Mishima, der das Bild der modernen japanischen Literatur in der Welt wie kein anderer prägt. Mishima – das ist für viele zuallererst ein visueller Eindruck, Erinnerung an Bilder von einem Mann mit muskulösem Körper, der mit entschlossen-grimmigem Gesichtsausdruck, ein Samurai-Schwert in der Hand, in einem japanischen Zimmer oder fast nackt im Schnee posiert. Sein Gesicht in Großaufnahme, den strengen Blick frontal in die Kamera gerichtet, eine Rose im Mund, oder Mishima, an einen Baum gefesselt, den nur mit einem Leinentuch bekleideten Körper von Pfeilen durchbohrt, in kunstvoller fotografischer Nachbildung von Guido Renis Gemälde des Heiligen Sebastian. Weniger häufig sieht man Bilder aus früheren Lebensphasen des Autors, etwa von seiner Hochzeit mit Yōko, der Tochter des bekannten Malers Sugiyama Yasushi, beim Anschneiden der Hochzeitstorte, oder man sieht die beiden auf der Fähre nach Staten Island, im Hintergrund die im Vergleich zu heute noch recht niedrige Kulisse der Wolkenkratzer von New York des Jahres 1960. Mishima ist zu die231
sem Zeitpunkt ein in Japan bereits sehr angesehener Autor, und auch im Ausland ist er nicht mehr unbekannt: 1957 waren seine Modernen Nō-Spiele in New York, 1958 dann auch in Hamburg, Bremen, Kiel, Heidelberg, Saarbrücken und Göttingen erfolgreich aufgeführt worden. Etwa zur selben Zeit erschienen auch die ersten Übersetzungen seiner Romane in westlichen Sprachen. Seit den 1960er Jahren gehört Mishima zu den meistübersetzten und international bekanntesten Autoren seines Landes, mehrfach wurde er für den Nobelpreis vorgeschlagen. Sein Schaffen ist so umfangreich wie vielfältig, es umfaßt Kurzgeschichten, Erzählungen und Romane, Gedichte, Dramen, darunter moderne Versionen europäischer wie japanischer Klassiker, außerdem auch kulturkritische Essays und scharfsinnige literaturtheoretische Schriften. Dennoch hat es den Anschein, als gehöre auch heute noch ein gewisses Maß an Überwindung dazu, sich ernsthaft mit diesem wichtigen Autor des 20. Jahrhunderts zu befassen, denn es schieben sich irritierende Bilder des Autors vor sein Werk, jene unzweifelhaft von starkem Narzißmus kündenden martialischen oder von sadomasochistischer Erotik durchtränkten Fotografien, von denen eingangs die Rede war, oder auch jene Bilddokumente, die am 25. November 1970 um die Welt gingen, als der Dichter seinem Leben nach einem mißglückten Appell vor Soldaten der Selbstverteidigungsarmee, die traditionellen Tugenden zu wahren und den Tennō wieder in alte Rechte zu setzen, durch seinen spektakulären Freitod mit dem Schwert ein Ende setzte. Zweifellos hat Mishima, dieser reflektierte und planvolle Mensch, das Bild inszeniert, das die Welt mit seinem Namen verbinden sollte, und dazu gehört beispielsweise auch, daß wir nur wenige Bilddokumente kennen, in denen er sich als Schriftsteller präsentiert. Viel eher war ihm ja daran gelegen, 232
das von ihm verabscheute Image des weltfernen, blutarmen Schreiberlings durch das eines weltgewandten Großbürgers und vielseitigen Unterhalters zu ersetzen. Doch spätestens mit seinem vieldiskutierten Tod wurde er zum Opfer seiner eigenen Inszenierung, denn mehr als ein Jahrzehnt lang überschattete jenes von damaligen japanischen Ministerpräsidenten persönlich als Irrsinn gebrandmarkte Ereignis seinen Ruf und verstellte den Zugang zu seinem Werk. Er hatte es selbst darauf angelegt, es zu einem Inhalt seiner »Philosophie« gemacht, und doch liegt gerade darin die Tragik des Autors Mishima, daß sein Leben und Werk in den Augen der Öffentlichkeit eine unauflösliche und gleichsam osmotische Verbindung eingegangen sind. So vermag seine Kunst die Biographie letztlich nicht zu transzendieren. Stets wird sie an ihr gemessen, bleibt sie auf verhängnisvolle, traurige Weise auf sie bezogen. Seine Lebensirrtürmer – Intarsien seiner Kunst. Seit Beginn der 198oer Jahre aber, so scheint es, löste sich langsam der Bann, die Erinnerung an das damalige Ereignis verblaßte, und die Konturen von Person und Werk treten aus größerer Entfernung um so klarer in den Blick. Mishima wird erneut zum Gegenstand literarhistorischer Betrachtung, man entdeckt ihn als postmodernes Phänomen, und er inspiriert Künstlerkollegen auf der ganzen Welt wie die Schriftsteller Marguerite Yourcenar, Nosaka Akiyuki, Ishihara Shintarō, Hans Eppendorfer und Hans-Ulrich Treichel, Filmregisseure wie Paul Schrader und Benoit Jacquot, die Komponisten Hans Werner Henze und Mayuzumi Toshirō, den Choreographen Maurice Bejart und viele andere, darunter auch bildende Künstler und Theaterregisseure, zu eigenen Interpretationen. Die Inspiration jedoch, die von Mishima ausgeht, be233
schränkt sich keinesfalls, ja nicht einmal vornehmlich, auf seine schillernde Biographie und seinen bizarren Tod. Sein literarisches Werk ist es, das von jenen Künstlern wiederentdeckt und neu interpretiert wurde. Und eine neue Lektüre erlaubt auch das vorliegende Werk. Wir lernen den 1925 geborenen Mishima in Liebesdurst mit einem seiner frühen Erfolgsromane kennen. Der Krieg ist vorüber, die Publikationsbeschränkungen früherer Jahre, die seinem Bekanntwerden in breiten Leserschichten entgegenstanden, sind mittlerweile aufgehoben. Mishima, der schon an der Adelsschule Gakushūin erste Texte in der Schülerzeitschrift und 1944 sein erstes längeres Prosawerk in Buchform unter dem Titel Hanazakari no mori (Der Wald in voller Blüte) veröffentlicht hatte, zählt Ende der vierziger Jahre bereits zu den bekanntesten Autoren der Nachkriegsgeneration. Gleich belesen in europäischer Klassik wie in japanischen Prosa- und Dramengenres vieler Jahrhunderte, voller Bewunderung für Thomas Mann und Racine, Nietzsche und das klassische Griechenland, publiziert er nahezu gleichzeitig erzählerische Experimente in der Sprache des Nō-Theaters und fesselnde Erzählungen, die auf aktuellen Geschehnissen beruhen. Er schreibt Dramen im Nō- und zeitgenössisch-modernen Stil, provoziert mit Themen wie lesbischer Liebe und mit Unterhaltungsromanen für Frauenzeitschriften und verfaßt daneben Essays über die Technik des Romans, in denen er sich mit Joyce und Radiguet auseinandersetzt. Mit dem Erscheinen seines autobiographischen Romans Geständnis einer Maske ist 1949 die Sensation perfekt. In Szenen von großer Suggestionskraft schildert er in diesem Werk, das mit einer Passage aus den Brüdern Karamasov überschrieben ist, Schlüsselerlebnisse aus dem Leben eines jungen Mannes, der sich allmählich seiner homoerotischen Veranlagung 234
bewußt wird. Ein unerhört neuer Erzählton hat sich über Nacht in Japan etabliert: Kühn und zitatenreich, stilistisch brillant, ironisch und mit dem Hang zur Reflexion wie zum symbolistischen Erzählgestus. Und gleich darauf ist die nächste Sensation fällig – ein Roman, diesmal bewußt konträr zum Erfolgswerk des Vorjahres angelegt. Liebesdurst spielt nicht im großbürgerlich-elitären Tōkyōter Milieu, sondern in der westjapanischen Provinz. »Ōsaka, Metropole der einflußreichen Kaufleute, Strolche, Fabrikanten, Börsenmakler, Strichmädchen, Opiumschmuggler, Angestellten, … «, heißt es gleich auf der ersten Seite. Hauptfigur ist nicht ein verwöhnter Knabe mit literarischen Ambitionen, sondern eine junge Witwe, die sich nach außenhin damit abgefunden zu haben scheint, daß sie den Rest ihres ereignislosen Lebens als Mätresse ihres Schwiegervaters im Großhaushalt der Familie unter den Augen ihrer wachsamen Schwägerinnen und Schwager zubringt. Nach der Parodie auf den shishōsetsu genannten autobiographischen japanischen Bekenntnisroman ist nun ein Erzählwerk ganz anderen Charakters fällig, mit dem der Autor seine Wandlungsfähigkeit vorführt und sein soeben erst verkündetes Romanideal, Geschichten zu entwerfen, die gnadenlos nach Art eines Uhrwerks auf den Höhepunkt zusteuern. Mit dem Kauf von zwei Paar Socken, dem banalsten Gegenstand, der sich denken läßt, nimmt die Geschichte ihren Lauf. Eine Alltagshandlung, die gleichwohl mit besonderem Aufwand, einer Zugfahrt in die Stadt, verbunden ist und bei der wir Etsuko im Menschengewimmel der Großstadt wie in einer filmischen Zoomszene, vom Dach eines Hochhauses herunter aufgenommen, zum erstenmal begegnen, dieser so gleichmütig wirkenden Frau, der die ihr fremde Stadt – sie selbst ist in Tōkyō aufgewachsen – eine unerklärliche Angst 235
einflößt: »Oder war, wovor Etsuko in Wahrheit graute, womöglich gar nicht diese Stadt, sondern das Leben an sich? – Leben, dieses grenzenlose, abertausendfältige, üppig mit Treibgut beladene, launenhafte, gewalttätige und doch stets klare, durchsichtige, azurblaue Meer.« Mit dieser prägnanten Eingangsszene ist der Ton gesetzt. Wir verfolgen Etsuko in ihrem bedrückend engen Lebensraum im Dorf am Rande der Großstadt in Szenerien mit Anklängen an Bilder aus neorealistischen italienischen Filmen, Nachkriegstristesse, oberflächlich idyllisiert durch das im Tages- und Jahreszeitenrhythmus regulierte Leben der Großfamilie mit dem hobbygärtnernden Patriarchen Sugimoto an der Spitze, umgeben von Kindern und Enkeln, die mit satirischer Schärfe gezeichnet sind. (Könnte es sein, daß Mishima hier sogar eine heimliche Karikatur von Tanizakis berühmtem, 1948 vollendeten Roman Die Schwestern Makioka untergebracht hat, der ebenfalls in dieser Region spielt?) Und mitten darin, doch von ihnen allen merkwürdig unberührt, Etsuko, die ein Tagebuch führt, um andere hinters Licht zu führen, mehr noch, »um das eigene Herz geschickt hinters Licht zu fuhren«. Etsuko, die sich nach dem starken Leben sehnt, lebt »wie eine in Gallerte gefallene Fliege« in der Erinnerung an Momente des Glücks in ihren Flitterwochen und in jenen von Verwesungsgeruch überwaberten Wochen, als sie ihren todkranken Mann hingebungsvoll pflegte, wohl wissend: »Er war niemals mein, auch als er noch lebte.« »Wie man die Krankheit Glück heilt«, lautet der Titel einer 1949 erschienenen Erzählung Mishimas. Auch in Liebesdurst sind es die paradoxen Bilder und Wendungen, die Oxymora, die sich bei der Lektüre ins Gedächtnis der Leser eingraben. »Diesem Trug will ich trauen … «, beschließt Etsuko, und »die Qual wie 236
eine Köstlichkeit zu mir nehmen.« Mishima modelliert Etsukos masochistisch-besessene Hingabe an den Mann, der ihr nichts als Gleichgültigkeit und leise Verachtung entgegenbrachte, in kräftigen Tönen: »Was für einen reichen, vielschichtigen, brünstigen und absonderlichen Genuß ihr dieses unerwartete, grausame Glück bedeutete, das Etsuko nun aufs neue beschieden war!« Doch Etsuko, die inmitten von Gestank und Tod lebt, »als sei sie geradezu versessen darauf«, weint nicht über das Sterben des Mannes, sondern über den Abschied von der Hingabe, den sein Tod bedeutet. Saburō, der Gärtnerjunge, der unbeholfene, nichtsahnende Naturbursche, wird zum Objekt von Etsukos heimlicher Sehnsucht. Sein muskulöser Körper, seine »entzükkende Armut«, seine »bestrickende Schamhaftigkeit« ziehen sie an, und wie in einer griechischen Tragödie nimmt das Unglück seinen Lauf. Mishima selbst spricht in seinem Essay von 1949 »Über die Romantechnik« davon, daß der Ablauf seines Idealromans einem Zugfahrplan gleiche. Die Überraschung, der Schrecken darüber, daß der für ein Uhr fünf angekündigte Zug auch wirklich auf die Sekunde genau eintrifft, diese Überraschung, welche durch die Pünktlichkeit verursacht wird, und keine andere sei sein Ziel. Das Werk als »ein großer erregender Zufall« setze voraus, daß seine innere Mechanik von jedem Zufall gereinigt sei. Liebesdurst wird von der Spannung eines auf ein unabänderliches Unheil ausgerichteten Endes getragen. In den einzelnen Stadien der Geschichte sind es jedoch die scharf beobachteten Einzelszenen, visuell effektvoll aufbereitet und von beträchtlicher psychologischer Raffinesse, die den Leser fesseln. Etsuko, die sich beim Kochen vor »geistesabwesender Eifersucht« verbrennt und einen Teller zerbricht, Yakichi und Etsuko beim Abendessen, beide, vom qualmenden Holzkoh237
lengrill eingeräuchert, in Gedanken vertieft, der Anblick des jungen Saburō beim Fegen des dunklen Tatami-Zimmers. Es sind die bekannten Mishimaschen Bilder, doch noch frisch und unverbraucht – die kathartische Sonnenlichtszene bei der Beerdigung, die sich später beim Anblick des Feuers über die Bilder vom archaisch-ekstatischen Dorffest schiebt, das glitzernde Sonnenlicht auf Schutt, Gerümpel, Müll und Scherben, das schon in Geständnis einer Maske wie in unzähligen anderen Werken bis hin zu seinem letzten Roman Nachkriegs-Nihilismus, Weltuntergangsszenerie und Apotheose in eins setzt. Und alles durchzogen von satirischen Seitenhieben auf das provinzielle Spießertum von Lokalpolitikern oder die pseudo-intellektuellen Verwandten, die Griechisch lesen und die Namen sämtlicher Personen aus russischen Romanen aufsagen können. Er habe sich beim Schreiben dieses Romans zeitweilig an Mauriac orientiert, bekannte Mishima in einer jener vielen Selbstdeutungen, mit denen er seinen Kritikern stets zuvorgekommen ist. Besonders bewunderte er dessen Romane L’ Agneau (Das Lamm, 1954) und Thérèse Desqueyroux. (Die Tat der Therese Desqueyroux, 1927). Zwar spielt bei Mishima die religiöse Thematik, die für den Katholiken Mauriac von zentraler Bedeutung ist, keine Rolle, doch er ist, ähnlich wie der französische Nobelpreisträger des Jahres 1952 in seinem Roman über die kluge, leidenschaftliche Frau, die versuchte, ihren selbstzufriedenen Mann umzubringen, bestrebt zu zeigen, daß das Verbrechen eine Konsequenz des letztlich aussichtslosen Bemühens darstellt, »die unermeßlich gefrorene Oberfläche, in der hier alle Seelen gefangen sind« (Mauriac, Therese), zu durchstoßen. Ist Mishima also ein Mauriac-Epigone? Wohl sicherlich ebensowenig, wie er in seinem ersten Roman Tōzoku (Die Diebe) von 1948 ein Radiguet- oder in 238
seiner Erzählung aus dem Jahr des Kriegsendes Chusei (Das Mittelalter) ein Epigone europäischer Dekadenzliteratur ist, obgleich er selbst auf diese Einflüsse verwiesen hat. Ao no jidai (Die blaue Periode, 1950) sei inspiriert von StendhalÜbertragungen, der Roman in zwei Teilen Kinjiki (Verbotene Liebe, 1953) sei »Stendhal, gewürzt mit Schwere im Stil von Ōgai«, und Der Tempelbrand, sein Meisterwerk aus dem Jahre 1956, sei »Ōgai plus Thomas Mann«, verkündet er. So richtet der Autor schon in den fünfziger Jahren den Blick kritischer Selbstdeutung auf das eigene Schaffen, konstatiert bei Geständnis einer Maske eine Mischung aus allen ihm verfügbaren Stilen und bilanziert Gewinn und Negativa seiner scheinbar chamäleonischen Anverwandlungskünste, alles nicht zuletzt in dem Bestreben, der Kritik mit ihrer ewig besserwisserischen Attitüde ein Schnippchen zu schlagen. Doch wäre er nicht der begabte, der genialische Mishima, wenn er sich nicht seiner Sache sicher fühlte. Denn dieser Autor ist von Anbeginn er selbst in seinem unverwechselbaren Stil, gleich welche Masken er sich zeitweilig zugelegt haben mag. Und Liebesdurst ist der Roman, der ihn bereits im Vollbesitz seiner Fähigkeiten als Romancier, doch frei von seinen späteren Manierismen zeigt, welche die prachtvoll angelegte, doch im Leerlauf kreisende Tetralogie Das Meer der Fruchtbarkeit aus den späten sechziger Jahren und viele weitere Werke prägen. Gewiß ist Mishimas Bezugnahme auf westliche Autoren auch ein Versuch, sich der »Weltliteratur« einzuschreiben. Doch dies gelang ihm weniger wegen der Experimente seiner »Wanderjahre«, wie er selbst die Zeit bis zu seiner ersten Auslandsreise in den frühen fünfziger Jahren nennt. Mishimas schöpferische Phantasie, sein gestalterischer Drang ließen ihn früh nach einer Synthese aus japanischen und abendländischen Elementen suchen, die er zu einer unver239
kennbaren eigenen Ästhetik verschmolz. Die unerhörte Präzision und Feinheit seiner Beobachtung, seine Virtuosität in der Gestaltung packender Narrationen, seine Feier des Lebens, des Todes und der Nacht, all dies sind Elemente eines ästhetischen Universums, dessen Originalität – und dessen Schattenseiten – zum künstlerischen Weltvermächtnis des zwanzigsten Jahrhunderts zählen. Irmela Hijiya-Kirschnereit
Liebesdurst ist die Geschichte einer unerfüllten Leidenschaft, die in Destruktion endet. Mishima Yukio (1925–1970) zählt zu den bekanntesten und bedeutendsten Autoren dieses Jahrhunderts. Sein umfangreiches Werk weist eine außerordentliche Vielseitigkeit der Stoffe und Genres aus. Es gilt als einer der führenden Vertreter der japanischen Moderne.
isbn 3-458-17010-3