M. E. Austen
Liebesspiel
Roman
Die englische Originalausgabe dieses Romans erschien unter dem Titel Love-Act 1982...
21 downloads
372 Views
933KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
M. E. Austen
Liebesspiel
Roman
Die englische Originalausgabe dieses Romans erschien unter dem Titel Love-Act 1982 im Verlag Jonathan Cape, London © Copyright 1982 by Michael Austen Aus dem Englischen von Claus Fischer Autor und Verlage da nken dem Verlag Faber & Faber für die freundliche Genehmigung zum Abdruck von drei Zeilen aus «Burnt Norton» der «Four Quartets», in: Collected Poems 1909-1962 von T. S. Eliot Der Vers «Nothing, like something, happens any where» stammt aus dem Gedicht «I remember, I re member» in The Less Deceived von Philip Larkin, das im Verlag Marvell Press erschien. Lizenzausgabe mit Genehmigung des Benziger Verlags, Zürich/Köln und dem Goldmann Verlag, München für die Deutsche Buch -Gemeinschaft C. A. Koch’s Verlag Nachf. Berlin • Darmstadt • Wien Diese Lizenz gilt auch für: die Bertelsmann Club GmbH, Gütersloh die Europäische Bildungsgemeinschaft Verlags GmbH, Kor n westheim die Buchgemeinschaft Donauland Kremayr & Scheriau, Wien © 1984 by Benziger Verlag, Zürich/Köln und Wilhelm Goldmann Verlag, München Schutzumschlag: Wolfgang Lauter Umschlagfoto: Bavaria Gesamtherstellung: May + Co, Darmstadt Printed in Germany • Buch-Nr. 05587 1
Inhalt: Die junge Sekretärin Shirley macht die aufregendste Erfahrung ihres Lebens, als sie auf eine Kleinannonce antwortet: »Modell gesucht für besondere Aufgaben. Schauspielerische Fähigkeiten und Diskretion Bedingung.« Shirley, die nach Kindheit und Jugend in einem problematischen Elternhaus abgerutscht ist, lernt so mit Paul Fox einen Herrn in mittleren Jahren kennen, der einer verlorenen Liebe nachtrauert und mit Shirley noch einmal die Geschichte seiner Beziehung mit Julia nachvollziehen will – einer Beziehung, die seiner Schüchternheit und Mutlosigkeit halber im entscheidenden Augenblick zunichte wurde. Und so beginnt ein Spiel mit genau vorgezeichneten Rollen, das von Begegnung zu Begegnung zu neuen Überraschungen führt. Der Roman Liebesspiel ist ein dramatischer erotischer Thriller – ein literarischer Erstling, der charakteristisch ist fü r eine seit kurzem zu beobachtende neue Entwicklung englischen Erzählens. Im Zentrum dieses Romans einer Verführung steht dabei das Thema von der Manipulation menschlicher Beziehung durch oberflächlich fixierte Rollenerwartung, insbesondere der Manip u lation der Frau durch den Mann. Erst wenn dieses Spiel durc h brochen wird, so zeigt der Roman, wird mit einer Offenheit die Erfahrung der Liebe möglich.
Für Pat Dear love, for nothing less than thee Would I have broken this happy dream, It was a theme For reasony much too strong for phantasy, Therefore thou waked’st me wisely; yet My dream thou brok’st not, but continued’st it; Thou art so true, that thoughts of thee suffice, To make dreams truth, and fables histories; Enter these arms, for since thou thought’st best, Not to dream all my dreams, let’s act the rest. John Donne, The Dream
1 Lange saß er da, war er sich über den Anfang nicht im klaren. Auf dem Schreibtisch standen ein Aschenbecher und ein Tinte n faß, lagen ein Briefbeschwerer, einige leere Bö gen Papier. Auf einer Kante des Aschenbechers ruhte, angelehnt, ein Federhalter. Sonst nichts. Er schraubte die Kappe des Füllers ab und prüfte gemächlich die Feder. Ein Haar hatte sich in der Spitze verfa n gen, und es dauerte ein Weilchen, bis er es heraus zupfen konnte. Anschließend schraubte er die Kappe wieder auf. Eine Zeitlang starrte er aufs Fenster, trommelte er mit den Fingern auf die Tischplatte. Er überlegte, ob er eine Zigarette rauchen sollte. Schließlich schob er den Stuhl zurück und stand auf. Er gähnte. Er kratzte sich am Kopf, ging träge zum Bett hinüber und legte sich hin. Eine Feder quietschte; die Steppdecke, die nur zur Hälfte drüber gezogen war, rutschte nun vollends auf den Boden. Er legte die Hände vors Gesicht und schloß die Augen, um nachzudenken. Fünf Minuten nur, nicht länger; dann mußte er sich eingestehen, daß es für ihn keine Entschuldigung gab. Mit einem Seufzer erhob er sich. Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Bald darauf hatte er mit dem Schreiben begonnen.
2 Über Mr. Fox sollten Sie zunächst eins wissen, nämlich, daß er kein Psychopath war. Jedenfalls nicht im üblichen Sinne des Wortes. Wäre er einer von denen gewesen, hätte ich mich siche r lich nie mit ihm eingelassen. In unserem ehrenwerten Gewerbe hütet man sich vor ihnen wie sonst vor nichts auf der Welt. Glücklicherweise habe ich beizeiten gelernt, in dem Punkt auf der Hut zu sein. Sie sind nämlich gar nicht so, wie die meisten Menschen vermuten. Es fängt schon damit an, daß sie selten so aussehen wie sie auf Phantomzeichnungen dargestellt werden, die ja rückblickenden Angaben zu verdanken sin d: Sie haben keine Hasenscharte, keine abstoßenden körperlichen Mißbildungen und auch keine bösartigen, zu eng beieinanderliegenden Augen. Ebensowenig fingern sie mit nervöser Erregung an herumliegen den Messern, und sie halten auch ein brennendes Streichholz nicht in der Hand, bis die Fingerkuppen versengt sind. Im Ge genteil: Ganz harmlos wirken sie, ganz nach der Art des Sohnes, von dem ein Vater träumt. In der Tat, die meisten kommen einem richtig nett vor, haben Augen, sanft wie ein Reh – auf die Augen sollte man sich bei Männern nie verlassen – und scheinen nachdenklich, rücksichtsvoll, in allem gefällig. Gerade die sind mordsgefährlich; die muß man loswerden, so schnell es geht. Ich bin zwei Männern dieser Art begegnet, und beide Male ist mir der Schreck gehörig in die Knochen gefahren. Der erste hat mir die Wohnungseinrichtung verwüstet. Natü r lich fing er nicht gleich damit an, als er hereinkam, sondern erst einige Zeit spät er. Ich hätte sogar merken müssen, was da auf mich zukommen konnte. Anfangs wirkte er ziemlich normal, er war auf eine gewisse jungenhafte Weise sogar hübsch und, um ganz ehrlich zu sein, ich war einigermaßen gespannt, wie es mit ihm wohl sein würde. Er re dete kaum, aber das hat nicht viel zu bedeuten – reden tun viele nicht, jedenfalls nicht, bis es vorbei
ist, dann allerdings kriegen sie den Schnabel nicht mehr zu. Er war sehr penibel, zog sich ungemei n ordentlich aus und verlor sogar ein wenig die Fassun g, als er keinen Bügel fand, um sein Jackett aufzuhängen. Höflich war er obendrein. Ich mußte ihn nicht um das Geld bitten. Er fragte mich ruhig, wohin er es legen sollte und reichte es mir dann sanftmütig wie ein Lamm, mit leiser, freundlicher Stimme. All es in allem sehr nett. Probleme gab es erst, als wir im Bett lagen. Möglicherweise hätte ich schon vorher etwas merken müssen. Er legte sich allzu vorsichtig hin, als strecke er sich auf einem Operationstisch aus statt auf einem Bett, als handele es sich um irgendeine Zeremonie, die wir schweigend vollziehen müßten. Das verunsicherte mich zwar, wenn auch nicht sonderlich; ich war nur ein wenig enttäuscht. Ich dachte plötzlich: Es wird mir doch keinen Spaß machen, aber was soll’s? Selbst dann gab es nicht gl eich Probleme. Ich kniete mich neben ihn auf das Bettlaken und begann, seinen Körper mit meinem Haar zu streicheln. Er hatte eine gute Figur: weder Falten noch Bauchansatz. Er hielt sich in Form. Und er war sauber. Nur lag er völlig reglos da, starrte die Zimmerdecke an und wich meinem Blick aus, wann immer ich seine Augen suchte; alles schien kalt und klinisch, wie zwischen Krankenschwester und Patient. Trotzdem, andere Hinweise ließen darauf schließen, daß er genoß, wofür er gezahlt hatte, und deshalb nah m ich seinen in die Hand. Er bewegte sich nicht, stöhnte jedoch leise, als ich ihn massierte. Eine Zeitlang schien er sich zu entspannen. Der Ärger begann, als ich mich über ihn beugte. Er sagte ganz ruhig: «Laß das.» Ziemlich bestimmt, doch ohne die Stimm e zu heben. «Bitte, laß das.» Ich weiß nicht mehr, welcher Teufel mich damals geritten hat. Ich hätte ihm auf der Stelle gehorchen sollen, aber ich glaubte, alle Tricks zu kennen, die man nur kennen kann; ich spürte, daß er auf irgendwie seltsame Weise wol lte, daß ich weitermachte, und mich irritierte die Art, wie er einfach dalag, und aus dem Grunde fragte ich: «Warum? Magst du das nicht?» Und leckte seinen weiter . Er antwortete nicht. «Den meisten Männern gefällt das», sagte ich. «Und mir auch.» Ich warf ihm
einen verstohlenen Seitenblick zu. Ich kann mich nicht mehr genau an die Worte erinnern, aber ich hörte mit dem Reden nicht mehr auf. Ich begann, ihm zu schmeicheln: wie hübsch sein Ding sei, wie groß und hart, und wie toll ich es fände – all das üblic he Zeug, das Männer gern hören möchten. Er murmelte die ganze Zeit über vor sich hin, ich konnte aber nicht verstehen, was er sagte, und außerdem war ich wie verrückt entschlossen weite r zumachen, weil er mir befohlen hatte aufzuhören. Und ich wollte mich fast schon beglückwünschen, daß ich es doch richtig ge macht und er es letztendlich doch gewollt hatte, weil ich spürte, wie er sich unter mir zu winden begann, und ich dachte, daß es ihm gleich kommen müßte, als ich schließlich hörte, was er da sagte: «Schm utzig. Schmutzige Frau. Schmutzige Frau. Schmu t zig.» Er wiederholte es immer wieder und wurde lauter und lauter. Trotzdem machte ich weiter. An Warnungen hat es mir also nicht gefehlt. Den Höhepunkt erreichte er nie. Eben lag er noch auf dem Bett, im nächs ten Augenblick war er schon aufg e sprungen und begann, alles in Stücke zu schlagen. Nicht nur das häßliche Geschirr und das Glas – er demolierte die ganze Wo h nung, zerfetzte die Laken, zerriß den Teppich und schmetterte die Stühle gegen die Wand, bis sie Kl einholz waren. Fast fünf Minuten lang führte er sich auf wie der reinste Berserker, hatte er die Selbstbeherrschung total verloren. Er schrie unentwegt das gleiche Wort – «Schmutzi g! Schmutzig!», spuckte es mit jedem neuen Gegenstand aus, den er an die Wand schleuderte. Gerettet hat mich eins – daß ich weder schrie noch ihn zu bremsen versuchte. Ich handelte rein intuitiv. Auf eine seltsam verrückte Weise hatte er völlig vergessen, daß ich überhaupt da war; er war in seinem Gewaltausbruch blind. Ich wage ni cht dran zu denken, was hätte geschehen können, wenn ich mich ihm in den Weg gestellt hätte. Er hätte mich mühelos schnappen und mit dem Kopf gegen die Wand knallen können, bis mein Kopf Matsch gewesen wäre, oder mit einem Handkantenschlag das Genick brech en können. Doch ich kauerte mich in die Ecke, konnte vor Schreck nicht einmal schreien und sah zu, wie er sich
austobte. Was ihn schließlich zur Ruhe kommen ließ, war reine Erschöpfung. Er war ausgebrannt. In einem letzten Aufflakkern von Wut kippte er das Bett um, dann stand er nur noch da und schnappte nach Luft, wobei er gelegentlich mit dem Fuß nach einer Flasche oder einer Blechdose trat, die vom Regal herunte r gefallen war. Schließlich lehnte er sich gegen die Wand und begann zu weinen. Von da an konnt e man nur Mitleid mit ihm empfinden. Fünf Minuten flehte er mich an, ihm nicht böse zu sein, und er bat mich, ihn in den Arm zu nehmen. Ich half ihm beim Anziehen und beteuerte, er brauche sich keine Sorgen zu machen, doch selbst als ich ihn zuletzt durch die Türe nach draußen zu bugsi e ren vermochte, hatte sein Schluchzen nicht aufgehört. Ich nahm nicht an, daß er wiederkommen würde, suchte mir aber für alle Fälle umgehend eine neue Wohnung. Auch wenn ich beinahe mittellos war – das war mein Seelenfrieden mir wert. Ich habe nie herausgefunden, wie der zweite an meinen Namen und meine Adresse gekommen ist, aber vorgewarnt brauchte ich nicht zu werden. Ich merkte sofort, woran ich mit ihm war. Vielleicht entsprach er den üblichen Vorstellungen besser, vie l leicht auch nicht, aber er machte mich nervös, kaum daß ich die Tür geöffnet hatte. Er war ein kleiner, drahtiger Typ und wahnsinnig überreizt. Er hatte nicht am Haupteingang des Ge bäudes geklingelt, und ich hatte ihn auch nicht die Treppe he raufsteigen gehört. Er fragte einfach nur ruhig: «Shirley?» und trat in den Schatten des Flurs zurück, so daß ich seine Augen nicht sehen konnte. Wenn er nicht ausgerechnet das getan hätte, wäre ich vielleicht nicht gar so vorsichtig gewesen, aber seine Ruhe, seine langsame Art, die übermäßige Selbstbeherrschung, mit der er meinen Namen ausgesprochen hatte, lösten in mir alle Alar m glocken aus, und ich empfand plötzlich Angst. Von der Sekunde an stand alles auf Messers Schneide. Zunächst brachte ich keinen Ton heraus. Dann sa gte ich: «Shirley ist weggezogen.» Er schaute mich an. Zwischen seiner Frage und meiner Antwort war die Pause zu lang gewesen. Ich spürte, wie es in meinem Inneren zu
rumoren begann. «Wann?» fragte er und verharrte unbeweglich im Schatten. «Vor einer Woche», erwiderte ich. Die Wohnungstür stand weit offen. Die gemütliche Inneneinrichtung, die alles andere als einen kürzlichen Umzug verriet, war über meine Schulter hinweg deutlich zu sehen. Ich geriet in Panik. «Ah… nein, vor einem Monat schon, es muß einen Monat her sein, jawohl», sagte ich lahm. Er verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen; für einen Augenblick fiel das Licht auf sein Gesicht. Ich konnte es an seinen Augen ablesen, daß er mir nicht glaubte. Sie verengten sich leicht; er seufzte. Man vergißt natü r lich nie, ob man ein Appartement vor einer Woche oder vor einem Monat bezogen hat – zu spät. Ich spürte, wie mir der Schweiß ausbrach. Ich hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Er trug Handschuh e; die Arme hingen schlaff an ihm herunter. «Und jetzt wohnen Sie hier, nicht wahr?» «Ah, ja», entgegnete ich. «So ist es.» Er zögerte einen Moment. «Und wo lebt Shirley jetzt?» «Weiß ich nicht», erwiderte ich. «Sie hat keine Adresse hinterlas sen.» Wieder wechselte er mit dem Gewicht von einem Fuß zum anderen und blickte dann auf seine Handschuhe runter. «Das ist schade», meinte er. «Sehr schade. Ich bin weit gereist, um sie zu besuchen.» Und er seufzte noch einmal. Ich bete nicht oft, aber damals habe ich gebetet. Ich sagte zu mir selbst: «Lieber Gott, wenn es dich gibt, dann hilf mir aus dieser Klemme heraus.» Der Mann stand da und starrte mich an. «Es tut mir leid», sagte ich. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Er schien alles noch einmal zu überdenken und nickte dann zögernd. Es war kein Nicken des Dankes, eher der Anerkennung, als wollte er sagen: «In Ordnung, ich geb’s auf. Ich weiß, wer du bist, aber offenbar weißt auch du, wer ich bin, also hat es keinen Zweck, es weiter zu versuchen.» Ganz so, als ob sein Spiel nur mit einem ahnungsl o sen Opfer funktionierte. Er bedachte mich mit einem letzten, flüchtigen Blick, dann begann er schwerf ällig die Treppe hinu n terzugehen.
Sofort stürzte ich in die Wohnung zurück und schlug die Tür hinter mir zu. Ich konnte selbst dann kaum atmen. Ich lehnte mich gegen die Tür, preßte mein Ohr daran und lauschte. Es war einer dieser Augenblicke, von denen man sonst nur liest. Ich konnte keine Schritte hören, wußte, daß er auf der Treppe st e hengeblieben war. Ich ahnte, daß er die Gefahr abwog, sich überlegte, ob er zurückkommen und noch einmal klingeln sollte. Er ging ein paar Stufen hinunter und blieb erneut stehen. «Bitte, lieber Gott», sagte ich zum zweitenmal. Dann kamen die Schritte wieder herauf. Dicht vor der Tür blieb er stehen. «Bitte, lieber Gott, ich tue alles, was du willst», stammelt e ich. Ich konnte fühlen, wie er da stand und lauschte, nur ein paar Zentimeter entfernt auf der anderen Seite der Tür – lauschte auf Geräusche aus der Wohnung. Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten sollte. Wenn ich mich be wegte, würde er wissen, daß ich an der Tür gelehnt hatte, wenn ich stehenblieb, würde er wissen, daß ich lauschte. Ich dachte: wenn ich nur den Fernseher angehabt hätte oder das Radio liefe. Und dann endlich knirschte ein kleines Steinchen unter seiner Schuhsohle, als er kehrtmachte und wieder die Treppe hinunte r zugehen begann. Diesmal blieb er nicht stehen. Ich hörte, wie er über den Treppenabsatz bog und dann endlich den dumpfen Schlag, mit dem die Außentür zufiel. Fünf Minuten lang rührte ich mich nicht vom Fleck, überzeugt, daß es sich um einen Trick handelte. Dann glitt ich an der Tür runter, kauerte auf dem Bo den wie ein Häufchen Elend und heulte. Nach diesem Erlebnis habe ich die Wohnung drei Tage lang nicht verlassen. Ich bin sicher, er hätte mich umgebracht. Aber Mr. Fox war wie keiner der beiden; ganz und gar nicht. Wie ich bereits sagte, er war kein Psychopath: aber er war gef ähr lich, in gewisser Weise mindestens so gefährlich wie diese, doch auf eine andere Art. Mr. Fox war unheimlich. Ein seltsam er Vogel. Es hat sehr lange gedauert, bis ich kapierte, wo’s bei ihm langging. Was ich zu erklären versuche, ist, daß es ganz bestim m te Typen gibt. Man lernt, sie zu erkennen. Man muß das sogar –
und nicht nur diese psychopathischen Kerle, bei denen das ei ge ne Leben davon abhängen kann, daß man sie rechtzeitig erkennt – sondern alle Typen. Man muß sie einfach alle kennen, das ge hört zum Geschäf t; wenn man nicht gelernt hat, sie zu unte r scheiden, kann man nie wirklich gut sein. Das gerade ist ja die Kunst: zu erkennen, wer es zum ersten Mal macht, wer zu den sogenannten harten Burschen gehört, wer einsam ist, und so weiter. Sie reden nicht gern darüber von sich aus. Sie erwarten, daß man es von selber merkt. Die, für die es das erste Mal ist, sind am leichtes ten zu erke n nen. Meistens sagen sie es einem sogar noch, aber das brauchten sie gar nicht – es wäre nicht weniger offensichtlich, wenn sie es in Neonbuchstaben auf der Stirn stehen hätten. Die sind so akkurat mit ihren Klamotten, so fängt’s schon mal an. Dann fixieren sie dich wie eine Ware. Wenn man denen in einer Bar begegnet, beobachten sie einen stundenlang und bestellen dabei einen Drink nach dem andern. Man kann fast hören, wie sie zu sich sagen: «Ist das eine oder ist das keine?», jedesmal ist das so . Das geht mir wirklich auf die Nerven. Am Anfang, als ich noch nicht so viel Erfahrung hatte, bin ich manchmal zu so einem hing e schlendert und habe so was gesagt wie «Na, hast du dich en t schieden?» oder «Willst du mich eigentlich nicht fragen, ob ich einen Drink möchte?» Nun ja, also wirklich nur manchmal: ich war selten so sarkastisch – der springende Punkt ist der, ganz egal was man sagt, ob nett oder pampig, man jagt diesen Typen einen gewaltigen Schrecken ein, wenn man sie anspricht. Man muß einfach warten können. Es hat keinen Zweck, sie provozieren zu wollen. Die stecken mi t sich selber in einem umständlichen moralischen Zwiespalt, mit dem sie allein zurandekommen mü s sen. Wenn man sich einschaltet und die Sache beschleunigen will, sind sie zu nichts bereit. Man muß einfach dasitzen, warten und die endlosen Stunden voller Seitenblicke und Angegafftwerden ertragen. Natürlich, manchmal ist alles umsonst, und sie hauen einfach ab, aber genausooft wanken sie schließlich auf dich zu und laden dich zu ‘nem Dr ink ein. Wenn man sie nicht vorher
irgendwo trifft, sondern sie stehen vor deiner Wohnungstür, dann ist es lustiger. Die stehen dann da und stottern fast immer sowas wi e: «Eh… oh, entschuldigen Sie bitt e… ich bin nicht sicher, ob ich hier richtig bin.» Gen auso als versuchten sie, eine seit langem verschollene Tante aufzuspüren. Sie sind entsetzlich nervös. Man muß es denen leichtmachen, reinzukommen, ihnen helfen, sich zu entspannen – nicht mit Alkohol, weil das Zittern des Glases ihren Zustand nur noch ver schlimmern würde –, sondern einfach, indem man ihnen schnell mit der Hand einen runterholt. Man könnte meinen, daß sie sich danach sofort ve r drücken, aber es ist eigenartig, sie bleiben immer. Ich nehme an, sie schämen sich ein bißchen, haben vielleicht da s Gefühl, sich einem beweisen zu müsse n; sie haben Angst vor dem, was man vielleicht über sie denken könnte. Als ob sie uns interessierten. Etwas später sind sie dann soweit für den eigentlichen Durc h gang. Die Möchtegern -harten-Burschen sind ebenfalls ziem lich einfach zu nehmen. Als Anf ängerin denkt man natürlich, daß gerade die es sind, die einem Schwierigkeiten machen, aber das ist ganz und gar nicht der Fall. Die haben die berühmte rauhe Schale und den weichen, süßen Kern. Sie wollen bemuttert, im Arm gehalten werden. Natürlich würden sie einem das niemals sagen – aber das ist ja der Witz dabei –, sie wollen geliebt werden, wollen, daß man ihnen Zärtlichkeiten ins Ohr flüstert und sie fest an die eigene Brust drückt. Es erinnert mich immer daran, wie Mütt er ein Baby im Arm halten – und das kommt der Wahrheit näher, als man vielleicht glauben möchte –, sie sind im Grunde an nichts anderem als an deinen Titten interessiert. Ich will damit nicht sagen, daß sie alles übrige nicht auch wollen oder nicht schaffe n würden, aber das ist reine Routine, so als ob sie lediglich ihr System von schmutzigem Wasser säubern. Sie machen’s schnell, ungeschickt, und sind sehr leicht verletzbar. Und dennoch sind sie großzügig und, in gewissem Sinn, auch treu. Wenn man ihnen gef ällt, kommen sie immer wieder und bringen einem Geschenke mi t; manchmal gehen sie sogar mit einem aus. Sie sind auch nicht knickrig wenns ans Bezahlen geht.
Sie tragen ihr Geld in großen Scheinen lose in der Jackettasche mit sich ru m, zählen ein paar Schei ne ab, egal wieviel man auch verlangt; dann legen sie noch ein paar drauf, damit man sich was Hübsches zum Anziehen kaufen kann. Richtig süß. Dann sind da noch die Einsamen. Sie wollen oft nichts anderes als reden und reden, ganz gleich worüber; sie wollen einfach nur reden. Und sie entschuldigen sich andauernd. Sie entschuldigen sich, daß sie gekommen sind, entschuldigen sich, daß sie deine Zeit stehlen (obwohl sie natürlich dafür bezahlen), entschuldigen sich, dich zu langweilen (du hast das sicher schon hundertmal gehört); entschuldigen sich, daß sie da dieses und dort jenes Problem haben, von dem sie dir aber ein anderes Mal erzählen wollen. Es tut ihnen alles sehr, sehr leid. Das sind die Einsamen. Und dann sind da noch all die anderen. Die Spanner. Die , denen man’s mit dem Mund machen muß. Die, die keinen hoch kri e gen. Die Stöhner und Grunzer und die, die mit dir über ihre Frau reden wollen. Dann noch jene, die ihre Hosen sorgfältig auf Bügelfalte über den Stuhl legen und ihre Armbanduhr abnehmen. Andere, denen dein Name gefällt. Männer, die ihr ganzes Klei n geld aus allen Taschen kratzen und in einem kleinen Haufen vor dir auf den Tisch legen. Und die Betrunkenen. Alle Typen und Charaktere; die Liste ist endlos. Man lernt sie alle kennen, die ganze Palette menschlicher Schwächen. Man lernt, sie zu erke n nen und zu verabscheuen. Wie jeder, der öffentlich zu Diensten steht, anderen Dienste leistet. Aber Mr. Fox war nicht wie einer von denen. Er paßte in keine der gängigen Schablonen. Nicht in die des harten Burschen, des Schwätzers, des Spanners oder des Betrunkenen. Und schon gar nicht in die des Psychopathen. Er war vollkommen andersartig. Wie ich schon gesagt habe, er war unheimlich. Ein komischer Heiliger.
3 Genau in dem Augenblick, als der Zug über die Battersea Pier Bridge ratterte, kam mir der Verdacht, daß ich im Begriff stand, auszubrechen. Doch dann tue ich den Gedanken damit ab, daß es mal wieder nur damit zusammenhängt, daß man Wasser übe r quert; aber während ich zwischen den dicken Metallverstr ebun gen des Brückengeländers auf die träge dahinfließende Themse hinunterblickte, hatte ich das Gefühl, in ein neues Land aufz u brechen, alles Vertraute hinter mir zu lassen. Reisen erscheinen einem immer bedeutsam, egal, welches Ziel man hat. Ich glaube, wenn man selbst auf Reisen ist, kommt man sich immer irgen d wie besonders vor, während man sich, wenn man andere Reise n de beobachtet, unwichtig und bedeutungslos fühlt. Ich frage mich dann immer, wohin sie wohl fahren und aus welchem Grund; ich stelle mir vo r, sie müssen mit einer unheimlich wic h tigen Mission betraut sein, wie sie so voller Entschlossenheit dahingehn, um ihr Ziel zu erreichen. Damals, auf jener Reise, fühlte auch ich mich bedeutend. Ich preßte mein Gesicht an die Fensterscheibe und verfolgte aufgeregt, wie wir aus London hinausglitten. All die eigentümlichen, unvergeßlichen Szenen, wie die Standbilder eines Films: Den Mann auf dem Wandsworth Common, der einen Stock in hohem Bogen fortschleuderte und sein hinterherjagender Hund; oder ein Fußbal l, der, von Kinde r beinen getreten, lautlos durch die Luft flog. Das Wetter war sonnig, ein warmer Frühlingstag. Und ich fühlte mich gut. Zugegeben, ich befand mich nur auf dem Weg nach Brighton, aber ich hatte dort geschäftlich zu tun. Ich mußte jemanden treffen; er hatte meine Reise bezahlt, und ich hatte einen Job zu erledigen. Mal etwas anderes. Es war natürlich klar, daß die Dienste, die ich am Ende zu leisten hätte, nicht sehr von meiner sonstigen Tätigkeit abweichen würden, aber es war nicht das übliche Arrangement: es lag sogar ziemlich außerhalb des Ge
wohnten. Ich vermute, ich war zum erstenmal, solange ich zu rückdenken kann, deshalb so aufgeregt und geradezu überdreht, weil ich nicht wußte, was mich erwarten würde. Aber da war noch dieses andere Gef ühl, das ich erstmals verspürte, als der Zug auf der Brücke die Themse überquerte, das Gefühl des Ausbrechens. Ich genoß jede einzelne Minute dieser Reise. Ich erinnere mich daran, als wäre es erst gestern gewesen. In Gatwick verläuft das Rollfeld des Flug hafens im rechten Winkel zur Eisenbahnlinie, und als wir daran vorbeiratterten, hob gerade ein Jet von der Startbahn ab. Er war schon voll im Steigflug, aber weil er direkt auf uns zukam, schien es, als stehe er in der Luft und würde nur von einem leichten Zittern geschüttelt. Die Positionslichter strahlten grell, obwohl es heller Tag war, und als seine Nase sich steil in die Höhe richtete, warf es mich geradezu um; sie war viel länger und größer, als ich sie mir vorgestellt hatte. Das win d schnittige Flugzeug schien mit der Schwerkraft zu kämpfen, sich eine Sekunde lang in die Luft zu krallen, bis es schließlich Fuß faßte. Wir hatten es schon ein gutes Stück hinter uns gelassen, als es den Schienenstrang kreuzte, aber ich kann es noch heute ganz deutlich vor mir sehen, wie es auf der Startbahn erzitterte. Hügel flogen dahin, die anstiegen und von den Schienen wieder we g tauchten, riesige Felder von einem erstaunlichen Grün, behagl i che Gehöfte und Vieh, das gemächlich an Weidezäunen entlan g trottete. Alles war so frisch und neu für mich. Immer wieder preßte ich meine Nase ans Fenster, um so viel von dem aufz u nehmen, wie ich nur konnte, schwenkte meine Augen gleich Kameras über die Landschaft und hoffte irgendwie, all das nie zu vergessen. Ich versuchte mich zu er innern, wann ich das letzt emal außerhalb Londons gewesen war – sicher vor über einem Jahr. Ich fragte mich, wie ich das nur fertiggebracht hatte, all das so lange auszuhalten – die stickige Enge, die schwüle, drückende Luft, das klebrige, schmutzige Gefühl am Ausschnitt des Kleids. Es war wie eine Befreiung und noch mehr.
Es dauerte sage und schreibe bis zu unserer Ankunft in Brig h ton, bis es mir endlich gelang, dieses Gefühl einzuordnen. Die Bremsen faßten quietschend, die Puffer der Wagen prallten leicht aufeinander, und manche der Mitreisenden schreckten aus dem Schlaf hoch. Ich saß nur da und beobachtete, wie die Leute ihr Gepäck zusammensuchten und wieder ins Leben draußen sto l perten. In der Luft lag eine Art erschöpftes Seufzen und ein Schwall wiederbe lebten Geplauders. Im nächsten Augenblick kam der Zug schlingernd zum Stillstand, und die Waggontür flog auf. Erst, nachdem ich aus dem Wagen geklettert war und zum erstenmal die Seeluft auf der Zunge schmeckte, wußte ich, um welche Art von Gefühl es sich die ganze Zeit bei mir gehandelt hatte: es war die Stimmung von Ferien, wie man sie als kleines Kind empfindet, das Versprechen von Sand und Sonne, der kurze Zauber der Freiheit. Ich bin 1958 in Coventry geboren worden, ein kleiner, mitlei d erweckender Ort. Während des Kriegs war das Zentrum von Bomben fast völlig zerstört worden, und nachdem es wieder aufgebaut worden war, hatte die Innenstadt trotz der herrlichen neuen Kathedrale, auf die ich eigentlich hätte stolz sein müssen, jeden besonderen Charakter verloren. Ich erinnere mich noch, daß einer unserer etwas aufgeschlossenen Lehrer in der Schule ein Gedicht vorlas, in dem der Ort erwähnt wurde. Es stammte von einer ziemlich berühmten Persönlichkeit, obwohl der Name mir nicht mehr einfällt; sie war dort auch geboren worden, und das Gedicht handelte von dem Wiedersehen mit Coventry. Ich kann mich nicht mehr genau an alles erinnern, aber eine Zeile ist mir im Gedächtnis geblieben, und sie enthält wohl so den ganzen Sinn des Gedichts. «Nichts, wie Etwas, erei gnet sich irgendwo.» Das gefällt mir. Nun, in meinem Fall stimmte das nicht so ganz, aber ich habe für den Ort mehr oder weniger dieselben Gefühle. Ich war dort nie besonders glücklich, und ich will dorthin auch nie zurückkehren. Es ist ein Nicht-Ort. Wir bewohnten die eine Hälfte eines guten, soliden, alleinst e henden Doppelhauses der Mittelklasse. Es war von mit Kieseln
bedeckten überhohen Mauern umgeben, mit einem schmiedee i sernen Gartentor, auf dem ich gern hin und her schwang, obwohl mir das verboten wa r. Nebenan wohnten die Williamsons und auf der anderen Seite eine Mrs. Bryant. Ihr Mann hatte sie verla s sen, schon bevor wir in die Straße gezogen waren, und gelegen t lich hatte sie Männerbesuch. Deswegen durfte ich auch nicht mit ihr reden, obwohl mir nie wirklich erklärt wurde, was sie eigen t lich Verbotenes tat. Sie hatte einen pickeligen Sohn namens Timothy: den habe ich immer vom Mülleimer aus mit Steinen beworfen. Zu Hause führte mein «geliebter» Vater das Regiment. Zu sagen, daß ich ihn nicht mochte, w äre sogar noch eine Unter treibung. Gelegentlich, wenn ich meine etwas objektiveren Mo mente habe, glaube ich verstehen zu können, woher sein Unmut rührte, aber das ändert meine Gefühle nicht im geringsten – es ist nur eine Erklärung. Von Rechts wegen (er sprach immer von Rechten) hätte er Filialleiter einer Bank sein müssen. Er war es aber nicht. Das war der schreckliche Schicksalsschlag, der ihn zeitlebens lähmte; mehr nicht. Fünfundzwanzig Jahre lang hatte er in derselben Zweigstelle in einem Randbezirk de r Stadt gea r beitet, und fünfundzwanzig Jahre lang war er bei Beförderungen immer wieder übergangen worden. Er hörte nie auf, über die Gründe nachzugrübeln. Jedes Jahr sah er einen neuen Mitarbeiter auftauchen und sich breitmachen, ehe dieser ihn wie mit ei nem Bocksprung überrundete, und das hinterließ in meinem Vater einen pathologischen Haß auf alle jungen Leute. Um diesen Haß irgendwie ausleben zu können, wurde er Direktor einer Son n tagsschule – Gott allein weiß, warum er gerade auf diesen Posten verfallen ist; nur um sich zu rächen, denn er war nicht wirklich religiös. Nichtsdestoweniger wurde an jedem Sonntag die gesa m te Familie im Gänsemarsch aus dem Haus und zu Vaters kostb a rem 1100er geführt, in dem dann, mit ihm am Steuer natürlich, die majestätische Prozession zur Kirche ihren Anfang nahm. Wann immer seitdem jemand in meiner Gegenwart das Wort «Vater» ausspricht, taucht dieses Bild vor meinem geistigen Auge auf: nicht sein dummes, angeschwollenes Gesicht mit den Glot z
augen, sondern sein Hinterkopf un d der in lebhaftem Rot leuc h tende Fleck unten an seinem Nacken, auf den ich während der ganzen Fahrt wie gebannt starrte. —Er war, natürlich, ein «guter» Vater. Oh, ja. Er hat uns nie geschlagen, weder mit Pantoffeln noch mit dem Gürtel, und er hat uns stets unser Taschengeld pünktlich ausgehändigt allerdings erst am Samstagabend, wenn alle Geschäfte bereits geschlossen hatten. Ich nehme an, er dachte, am Sonntag würden wir uns reiflich überlegen, wie wir es ausgeben; jedenfalls konnten wir nicht gleich loss türzen und alles Geld für klebrige Süßigkeiten und unnütze Schallplatten auf den Kopf hauen – und wir erhie l ten kleine rote Notizbücher, in die wir unsere Ausgaben eintr a gen mußten. Einmal im Monat mußten wir sie ihm zur Revision vorlegen wie ich schon sagte, er arbeitete in einer Bank. Sonntags hielt er uns dann – angeregt durch eine besonders gelungene Predigt am Morgen – beim Mittagessen Vorträge über Themen wie «Die We lt, und wie ich sie sehe», «Der Kummer mit der Jugend von heute» oder «Was Gott gesagt hat, aber irgendwie von der Bibel übersehen worden ist». Und so unglaublich es auch klingen mag, wir haben ihm tatsächlich zugehört. Ich habe an ihn geglaubt. Er war so etwas wie die letzte Instanz für alles, über seine Meinungen gab es keine Diskussion, seine lehrreichen Verlautbarungen waren unfehlbar. Mittlerweile sehe ich ihn natürlich genau als das, was er war: Bei Gott, ein Heuchler vom Scheitel bis zur Sohle, kalt und lieblos. Er interessierte sich für nichts und niemanden außer sich selbst. Und am aller wenigsten für meine Mutter. Die arme Mama, sie hatte nie eine echte Chance bei ihm. Sie durfte keine eigene Persönlichkeit entwickeln. In seinem Weltbild hatte sie ihren Kindern eine Mutter und ihm selbst eine Ehefrau zu sein, darüber hinausgehende existentielle Bedürfnisse waren ihr nicht erlaubt. Seine moralische Rechtschaffenheit ließ ihr keinen Raum für irgend etwas anderes. Er preßte sie in genau die Schablone, die er für sie vorgefertigt hatte: eine Hausfrau, die ganz in ihrem Heim aufgeht, eine Art unterwürfiger Hirtenhund,
der nur seine Schnauze in seine Seite zu stoßen brauchte, damit es ihm gutging. Bis auf unbedeutende Auflehnungsversuche nahm sie alles stumm hin, als hätte man sie geknebelt oder mit einem Maulkorb versehen. Er erwartete von ihr nur, daß sie seinen Worten zustimmte. Es gab eine Zeit, da wünschte ich mir sehnlichst, sie gekannt zu haben, bevor sie meinem Vater bege g net war; jetzt möchte ich das nicht mehr – er hatte es geschafft, sich die Arme zu schnappen, bevor sie sich entw ickeln konnte, sie war zu jung regelrecht abgerichtet worden. Trotzdem wurden meine Schwester und ich – ich war die ältere – anders von ihm behandelt. Wir waren «junge Leute», und er achtete darauf, daß wir nicht «in die Irre» gingen. Schließlich hatte er uns von Geburt an in seiner Gewalt; er konnte mit uns tun, was er wollte. Er wollte zwei süße kleine Marionetten. Wir waren beide fleißig und deshalb gut in der Schule. Wir ha t ten leuchtende, glänzende Schulranzen, trugen Söckchenhalter und Zöpfe, die uns bis über die Schultern in den Rücken baumel ten. Wenn wir die Antwort auf eine seiner Fragen wußten, hoben wir brav einen Finger in die Höhe, und wir stellten keine Dummheiten an. Vater hatte allen Grund, mit uns zufrieden zu sein. Das einzige, was das Bild etwas trübte, wenn man so sagen darf, war die Tatsache, daß ich irgendwann eine Brille brauchte. Mein Vater war ein wenig verstimmt – er machte dauernd en t sprechende Anspielungen. Ich glaube, er war auf unbestimmte Weise verletzt, es verdarb das angenehme Bild, und das schien irgendwie auf ihn zurückzufalle n: es schien deutlich zu machen, daß er doch nicht ganz so perfekt sein könnte, weil er der We lt eine so erschreckende erbliche Belastung nicht vorenthalten hatte. Zweifellos suchte er die Schuld bei mei ner Mutter – ihr Bruder Harry war fast blind. Davon mal abgesehen verlief mein Leben siebzehn Jahre lang ohne nennenswerte Störungen. Und dann wurde ich schwanger. Man sagt, so was passiert immer nur den dummen, süßen Un schuldslämmern; im allgemeinen, ich hab da so meine Zweifel. Ich jedenfalls war vollkommen naiv und unschuldig. Wenn ich so
zurückdenke, staune ich noch immer, daß ich überhaupt einen Freund haben durfte; vielleicht hat mein geliebter Vater sich eingebildet, daß eine Portion Toleranz in dies em Punkt ihm den Anstrich eines aufgeschlossenen modernen Vaters geben würde. Was auch immer die Ursache sein mochte, ich war derart übe r rascht, so perplex, daß ich länger als zehn abends von zu Haus wegbleiben durfte und so krampfhaft darauf versessen, me inen Freund bei der Stange zu halten, daß ich ihm erlaubte, forscher ran- und weiterzugehen als jedes andere Mädchen das geduldet hätte. Natürlich behaupteten alle, daß sie «es machten»; auch wenn’s nicht stimmte, aber ich glaubte ihnen. So kam’s, wie es kommen mußte. Eines Abends, während wir uns auf dem Rüc k sitz des Cortinas seines Vaters die Glieder verrenkten, spritzte der gute David mir seine paar Tröpfchen heißen Saft zwischen die Beine, praktisch ohne daß ich es richtig merkte, und schon war es passi ert. Ich war in der Oberprima mit guten Aussichten auf ein hervorragendes Abiturzeugnis, und ein Studienplatz für Geschichte an der Universität von Durha m war mir so gut wie sicher. Zwei Monate sagte ich zu niemandem ein Wort davon, nicht einmal zu meiner Mutter. Tag um Tag verstrich, einer so übelkeiterregend wie der andere, das, was passiert war, schien mir gleichzeitig immer näherzurücken und immer weiter hergeholt zu sein. Es durfte doch einfach nicht wahr sein – nur dieses eine Mal. Es war gegen alle Gesetze der Statistik, die Chancen standen nicht einmal eins zu einer Million. Ich geriet immer mehr durc h einander. Ich kriegte kaum noch den Mund auf. Ich war blaß und zitterte, weil ich kaum noch schlief. Selbst als ich es meiner Mutter dann endlich sagte , war es keine bewußte Entscheidung von mir – sie fragte mich einfach, was ich denn hätte. Der Schreck darüber brachte sie beinahe unter die Erde. Es war gar keine Frage, daß ich das Baby natürlich nicht be kommen durfte. Sobald mein Vater informiert war, gab’s da nichts mehr zu diskutieren. Ich war völlig durcheinander – ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich eigentlich wollte –, tatsächlich, glaube ich, wußte ich die ganze Zeit überhaupt nicht,
was eigentlich los war. Ich habe seltsame Erinnerungen an die Zeit, in einer Art Delirium sagte ich Dinge wie, daß ich das Baby bekommen, daß ich David heiraten würde (der anscheinend nicht im Traum dran gedacht hatte), daß wir unsterblich ineinander verliebt wären; aber bei alldem handelte es sich bloß um da s, was man immer so sagt, un d außerdem wurde ich in der ganzen Geschichte überhaupt nicht gefragt. Mit der ihm eigenen Tüchtigkeit hatte mein Vater die Abtre i bung innerhalb weniger Tage arrangiert. Überstürzt wurde ich in eine Klinik in Birmingham verfrach tet und die Frucht jener seltsam unwirklichen Nacht entfernt, während meine Sinne der Wirkung einer starken Dosis eines Narkotikums erlagen. Ich war so schnell wieder zu Hause, daß ich kaum den Eindruck hatte, je weggewesen zu sein. Der Gedanke, daß in mei nem Körper ein menschliches Wesen begonnen hatte, heranzuwachsen, kam mir gar nicht – jedenfalls damals nicht. In der ganzen Zeit sprach mein Vater kein Sterbenswort mit mir. Wenn er mir etwas zu sagen hatte, geschah es durch einen Vermittler: meine Mutter , natürlich. Sie wenigstens hatte Mitg e fühl. Jetzt ist mir klar, daß es wahrscheinlich das einzige Mal war, wo sie sich gegen ihn auflehnte; sie stritt mit ihm und bestand darauf, daß ich die nächsten zwei Monate zu Hause bleiben durfte, bis entschieden wa r, was mit mir geschehen sollte. Ich wurde nicht ein einziges Mal nach meiner Meinung gefragt. Nach ein paar Tagen weinte ich nicht mehr, sondern saß nur im Haus herum und starrte ausdruckslos vor mich hin. Das ganze Malheur schien nicht mir, sondern einem anderen Mädchen passiert zu sein. Was aus David geworden ist, weiß ich nicht. Ich mache ihm keinen Vorwurf. Natürlich war er an der Geschichte nicht schuldlos, er hätte einen Pariser benutzen sollen, aber beide waren wir noch unreif. Wenn ich überhaupt ei n Gefühl für ihn habe, dann tut er mir ein bißchen leid. Ich weiß, daß mein Vater seine Eltern aufgesucht hat, und ich wage kaum, mir vorzustellen, wie das wohl abgelaufen ist; aber Vater war andererseits viel zu feige, um irgend jemandem eins auf die Hörn er zu geben. Er hat
wahrscheinlich bloß verlangt, daß sie ihm die Kosten für die Abtreibung erstatteten. Wie auch immer, doch was meinem geliebten Vater den Rest gab, war, daß es sich nicht umgehen ließ, die Schule zu informieren. Jeden anderen konnte er mit irgendwelchen traurigen Geschichten über eine plötzliche, lan g anhaltende Krankheit abspeisen, aber die Schule verlangte ein Attest, und er mußte es beibringen. Es gab keine Möglichkeit, die Wahrheit zu verheimlichen, und als wäre das nicht schon ernie d rigend genug, meldete der Rektor es auch noch der Sonntag s schule meines Vaters, was ihn wenigstens vorübergehend zu einem gebrochenen Mann machte. Ich wurde zum Abitur zwar zugelassen, fiel aber in allen Fächern durch (einmal gab ich die Papierbögen gänzlic h leer ab), und bald danach wurde ich zu Hause auch nicht mehr gebraucht. Ich wurde zur Un -Person, eine Tochter, die nie existiert hatte. Mein Vater hatte beschlossen, daß ich Krankenschwester we r den sollte. Als Ausbildungsplatz wurde ein Hospital in Londo n ausgesucht, und meine Mutter wurde mit der Neuigkeit zu mir geschickt. «Sag ihr, daß sie nach London geht. Sag ihr, sie wird Krankenschwester.» «Dein Vater sagt, du gehst nach London. Er sagt, du wirst Krankenschwester.» Einfach so. Vielleicht glaubte er , daß ich als Krankenschwester Absolution für meine Sünden erhalten würde – das war so seine Logik. Dadurch, daß ich anderen half, würde vielleicht auch die fürchterliche Wunde, die er erlitten hatte, mit der Zeit heilen. Ich selber hatte kaum irgendwelche Gefühle. Wie alle Entscheidungen, die er traf, nahm ich auch diese einfach hin. Ohne zu protestieren, bewarb ich mich um einen Ausbildung s platz. Ich kann mich undeutlich an einen Stapel von Formularen und an ein Vorstellungsgespräch erinnern, ansonsten ve rlief die ganze Sache außerordentlich problemlos. In einem Monat sollte ich anfangen. Dann – nur noch eine Woche. Benommen schlich ich durchs Haus, packte einen Koffer. Dann reiste ich ab. Was geschehen war, begriff ich eigentlich erst wirklich, als der Zu g sich in Bewegung gesetzt hatte. Meine Mutter hatte weinend auf
dem Bahnsteig gestanden, während Vater im Wagen vor dem Bahnhof wartete, nachdem er mein Gepäck wenigstens bis ins Abteil getragen hatte. Hätte meine Mutter Autofahren können, wäre er wahrscheinlich nicht mal mit zum Bahnhof gekommen. Falls mein Vater auf meine Errettung gehofft hatte, so wurde er wieder enttäuscht. Meine Karriere als Krankenschwester endete ziemlich schnell: gegen Ende des zweiten Jahres wurde ich von der Schwesternschule gef euert. Als ich das erste Mal im Schw e sternheim mit einem Mann in meinem Bett erwischt wurde, ging’s mit einer Verwarnung ab. Beim zweiten Mal sah die Sache schon anders aus. Da hätte kein Jammern und Wehklagen mehr was genützt; selbst wenn ich auf Knien da rum gebeten hätte, bleiben zu dürfen (was ich natürlich nicht tat – ich haßte diese alten geilen Säcke, die das Heim leiteten), wäre ich trotzdem geflogen. Ich hatte mir einen ziemlich eindeutigen Ruf erworben. Dabei hatte es langsam genug begonnen. Eine ganze Weile be griff ich nicht, daß ic h es nur tat, um meinen Vater zu kränken, um mich an ihm zu rächen, vielleicht war es ganz am Anfang nicht einmal so. Ich kam mir häßlich vor mit meiner Brille, fühlte mich von allen ungeliebt, hatte nicht die Spur Selbs tvertrauen und hielt mich überhaupt für ein völlig wertloses menschliches Wesen. Ich traute mich nicht mal zu den ersten Schwesterntan z tees, und als ich es dann doch tat, verschanzte ich mich hinter albernem Gekicher und einer Traube plappernder Jungfrauen . Obwohl ich sie nicht ausstehen konnte, war ich ohne ihren Schutz gelähmt vor lauter Hemmungen: ich war schüchtern, schlecht angezogen und hatte unheimliche Angst vor einem Schwips. Wie dem auch sei, als ich zu Weihnachten nicht nach Hause eingeladen wurd e, kam der erste Mann zu mir wie der Fuchs in den Hühnerstal l: es war der reinste Schaufensterei n bruch, eine Sache für eine Nacht. Ich war betrunken, aber die Ursache lag woanders: ich ließ mich von ihm bumsen, weil ich mir dann weniger häßlich vorkommen mußte, fast als für ihn bestimmte Entschädigung. Nach dem ersten Mal ging es immer leichter. Schon bald kam der nächste, und danach wieder einer.
Die längste Beziehung dauerte zwei Wochen, aber die Dauer spielte keine besondere Rolle für mic h: nach jeder Bu mserei ging es mir besser. Ich leistete mir Kontaktlinsen, sah damit besser aus, und die Pausen zwischen den Männern wurden noch kürzer. Ich war selbstsicherer, weniger zimperlich, aber wurde nicht klüger. Sehr bald schon war ich leicht zu haben, eine sich ere gute Nummer für jeden, der es mit etwas Nachdruck darauf anlegte. Ich war mir nicht ganz im klaren darüber, was eigentlich lief, bis gegen Ende des ersten Jahrs. Da merkte ich, daß andere Mä d chen über mich tuschelten und den Kopf schüttelten, wenn ich ihnen auf dem Flur begegnete, und ich fragte mich, was sie wohl hatten. Es dauerte einige Zeit, bis ich was kapierte. Wieder war es kein bewußter Vorgang, nichts, was ich im voraus beschlossen hätte. Es passierte eher zuf ällig. Wir waren einen trinken gega n gen, ein paar Mädchen von uns und ein paar Jungs, die scharf auf uns waren. Ich kannte sie nicht, aber die wußten offensichtlich über mich Bescheid, und im Lauf des Abends bemerkte ich, wie zwei von ihnen immerzu miteinander flüsterten, wobei sie in meine Richtung nickten. Sie stichelten sich geil an, tranken ihr Bier viel zu schnell, und auf einmal wußte ich, was passieren würde. Ein paar Minuten später drängelte sich einer von den beiden, ein schmieriger Typ mit strähnigen Haaren und einer Stupsnase, neben mich, fragte, ob er mir einen Drink spendieren dürfte. Ich fühlte mich hilflos und dachte, daß ich wohl keine Wahl mehr hatte und den Rest des Abends mit ihm verbringen müßte, weil ich ausnahmsweise mal niemanden vor den Kopf stoßen wollte. Und er hatte mich überrumpelt – das gab den Ausschlag – für ihn war es eine ausgemachte Sache, er verlangte sein Recht. Gleich nach dem ersten Drink, und der angebotenen Zigarette, als hätte er dadurch sein Recht auf mich klargestellt, fragte er frei von der Leber weg , ob wir nicht in seine Wohnung gehen wollten. Wie einer plötzlichen Eingebung folgend – ich hatte es wahrhaftig nicht geplant – zuckte ich mit den Schultern und sagte: «Warum nicht?» Dann, wir hatten kaum die Kneipe verlassen, blickte ich ihn an und sagte frech: «Du hast gar nicht
gefragt, wieviel.» Dem hat’s total die Sprache verschlagen. Ich tat überrascht. «Hat dein Freund dir das denn nicht gesagt? Es kostet dich mindestens einen Zehner.» Er wurde blaß und brac h te noch immer kein Wort raus. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und gab mich ganz mitleidig. «Ach, du meine Güte», sagte ich, «ich glaube, da hat dich jemand ganz schön reingelegt.» Er fing leise an zu fluchen. Ich fühlte mich großartig und war plötzlich so voller Selbstvertrauen wie noch n ie. Ich redete hastig weiter, bevor ich Zeit zum Nachdenken fand. «Na gut, spielt ausnahmsweise keine Rolle, vergiß es. Also, willst du nun oder nicht?» Ich glaube, er war viel zu durcheinander, um einen Rüc k zieher zu machen, und wahrscheinlich hätte er si ch auch ge schämt, allein in die Kneipe zurückzugehen. Schließlich nickte er dümmlich, und wir gingen zu seiner Wohnung. Ich verlangte zuerst das Geld. Es bereitete mir unglaublich viel Spaß – und der Kerl verschaffte mir hinterher, vielleicht weil ich gar nicht drauf gefaßt war, meinen ersten richtigen Orgasmus. Von da an machte ich es nur noch für Geld. Natürlich brauchte ich einige Zeit, um mir einen festen Kundenstamm aufzubauen. Der zweite, der es für Geld mit mir treiben durfte, war der Freund des erst en Burschen, aber im großen und ganzen waren es alle eigentlich ganz arme Würstchen und solche, die Spaß daran fanden, mal zur Abwechslung gegen Geld zu bumsen. In gewisser Weise war es die beste Zeit meines Lebens; ich stellte fest, daß es mir selbst unge heure Erregung verschaffte und au ßerdem Macht über Männer – tatsächlich sogar über die Me n schen im allgemeinen, denn durch eine irgendwie umgekehrte Logik empfanden die anderen Mädchen eine Art Ehrfurcht davor, daß ich in dem Ruf stand, meinen Körper zu ve rkaufen. Ein gefallenes Mädchen zu sein, hatte wohl immer schon etwas eigenartig Romantisches an sich. Aber es konnte nicht mehr lange so gehen, sogar ich wußte das. Als die Gerüchte über mich immer lauter und der Teppich zu meiner Schlafzimmertür immer au sgetretener wurde, war es irgendwann nur noch eine Frage der Zeit, bis etwas passierte. Ich
war mir darüber völlig im klaren, konnte aber einfach nicht mehr aufhören. Ich glaube, die Aussicht auf das, was kommen würde, gefiel mir sogar. Eines Nachts im Mai flog meine Zimmertür auf und die Oberschwester mit zwei ihrer Busenfreundinnen stür m ten herein, während einer der armen Kerle sich gerade auf mir abmühte. Sie wirkten noch nicht mal sonderlich schockiert – schließlich hatten sie ja Bescheid gewußt – und ich unternahm nicht den geringsten Versuch, mir die Decke überzuwerfen; ich lag einfach nackt da und wollte mich ausschütten vor Lachen. Man gab mir vierundzwanzig Stunden Zeit, um zu verschwinden, und das alte Miststück von Oberin schrieb meinen Eltern. Me in Vater reagierte einen Monat später mit einem Antwortbrief an mich und teilte mir mit, ich sollte es nicht wagen, mich zu Hause noch mal sehen zu lassen und daß meine Mutter einen Nerve n zusammenbruch gehabt hätte. Was mich in meinem Verhalten jedoch nur bestätigte. Die nächsten drei Monate oder so waren die einzige Zeit, in der ich ausschließlich für Geld auf Männe r fang ging: das heißt, ich mußte es tun, um leben zu können. Ich saß in Bars herum, verteilte aufmunternde Blicke an Gäste in Hotelhallen und stand eine Zeitlang sogar kurz vorm Straße nstrich. Aber dann rettete mich der günstige Umstand, daß wir in der Schule Schreibmaschine gelernt hatten, und die Behörde, bei der ich registriert war, besorgte mir einen Job. Danach wohnte ich fast ein Jahr lang mit zwei Arbeitskolleginnen aus dem Büro zusammen. Wir verdienten wenig und nagten fast am Hunge r tuch, aber ich habe mein Einkommen durch käufliche Liebe nicht aufgebessert. Ich würde gern sagen können, daß es aus Respekt für meine Mutter geschah, aber der wahre Grund war, daß es einfach unmöglich war, während ich mit den beiden anderen zusammenlebte. In dieser Zeit hatte ich sogar einen festen Freund, der mich aber nach einem Monat langweilte. Dann folgte ein kurzes Zwischenspiel mit Rauschgift, was mich nur noch mehr deprimierte, und dann beschloß ich, auszuziehen. Ich suchte mir eine Halbtagsarbeit und baute mir langsam wieder einen festen Kundenkreis auf. Aus einem mir selbst unerklärl i
chen Grund erzählte ich meinen Arbeitskollegen, ich sei eine unverheiratete Mutter und müßte mich die restliche Zeit um meine Tochter kümmern. Ich nannte sie Sa lly, und ich ging sogar soweit, mir ein paar Schnappschüsse von einem Baby zu beso r gen, damit ich was zum Herumzeigen hatte. Jeder bezeugte mir seine Anteilnahme, die ich aber nicht an mich herankommen ließ. Man könnte sagen, daß meine Schauspielerkarriere hiermit be gann, obwohl ich es selbst noch nicht ahnte. Und so verlief mein Leben seit nunmehr zwei Jahren in der immer gleichen Bahn. Ich verdiente mehr als genug für meinen Lebensunterhalt, machte aber in keiner Richtung besondere Fortschritte. Zu dem Zeitpunkt, als all dies geschah, war ich gelangweilt und deprimiert und der festen Überzeugung, daß sich etwas ändern müßte. Das tat es auch. Die Ferien in Brighton hätten beinahe das Ergebnis sorgfältiger Planung sein können. Nachdem ich den Bahnhof verlassen hatte, ging ich nicht sofort auf die Suche nach einem Hotel, sondern schlenderte in Richtung zum Wasser. Es war kalt auf der Uferpromenade – so zeitig im Jahr hatte die Sonne noch keine wirkliche Kraft, und eine steife Brise drang durch meinen Mantel. Trotzdem setzte ich mich auf eine Bank zwischen den beiden Landestegen und sah ein paar Arbeitern dabei zu, wie sie den Anstrich der Balustrade für die bevorstehende Saison erneuerten – in einem leichten luftigen Türkis, einer richtigen Sommerfarbe. Der Wind spielte mit me i nem Haar und fuhr mir in den Kragen, so daß mir ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief, aber es kümmerte mich wenig. Ich fühlte mich unbeschwert und wie neugeboren, frei alles zu tun, was ich wollte, plötzlich in der Lage, ein ganz neues Leben anzufangen. Ich beobachtete die Möwen, die am Rand der Pr o menade entlangstolzierten und in den böigen Windstößen zum Himmel aufstiegen, und gab mich dem abg edroschenen Gedan ken hin, daß ich genau wie sie die völlige Freiheit besaß, zu wä h len, wohin ich ging und wann. Ich spürte, wie sich ein Lächeln auf meinem Gesicht ausbreitete und beschloß, daß ich mich gut amüsieren würde. Als es schließlich zu kalt zum Sitzenbleiben
wurde, lief ich die Promenade zu dem steinigen Strand hinunter und warf ein paar Kiesel in die Wellen. Anschließend ging ich in ein Café, von dem aus man einen Blick auf die Promenade hatte, und trank eine Tasse Kaffee. Mein Gesicht brannte nach dem kalten Wind, und ich vertrödelte eine geschlagene Stunde damit, mich aufzuwärmen und träumend zum Fenster hinauszublicken. Als nächstes nahm ich mir in einer Pension am Strand ein Zimmer mit Blick aufs Meer, legte mich aufs Bett und schlief auf der Stelle ein. Als ich aufwachte, war es bereits sieben Uhr abends und du n kel. Ich lag eine Weile nur einfach so da und überlegte, wie ich den Abend verbringen könnte, ganz zufrieden mit allem, dann stand ich auf, duschte und ging los, um mir irgendwo einen Drink zu genehmigen. Ich war in bester Ferienstimmung und nach einer halben Stunde beschloß ich, weiterzuziehen und mir ein riesiges Steak zu leisten. Ich fand ein Restaurant, bestellte dazu eine halbe Flasche Wein, und schließlich nach einer Stunde machte ich mich wieder auf den Weg, satt, gutgelaunt und be r stend vor Energie, im Kopf nur den Gedanken an einen Mann. Es war nicht besonders schwierig, einen geeigneten Kandidaten ausfindig zu machen. Ich gabelte ihn in einer Hotelbar auf, und später schmuggelte ich ihn in meine Pension. Es war nichts als ein kleines Ferienabenteuer; ich nahm kein Geld von ihm, wir bumsten einfach miteinander und schliefen beide danach ein. Ich habe es nur getan, weil ich mich danach sehnte und um dieses Gefühl der Leichtigkeit noch etwas aufrechtzuerhalten und weil ich einen Grund zum Feiern sah. Der Himmel mag wissen, was der Mann sich gedacht ha t; wahrscheinlich war er bloß übe r rascht, aber als wir am nächsten Morgen aufwachten, war ich irgendwie glücklich. Ich sagte ihm, ich wäre wegen einer Konf e renz hier und hätte mich einfach einsam gefühlt, und er nickte weise, als wollte er sagen, daß ihm so etwas jede Nacht passiere. Wenigstens fragte er mich nicht nach einer Adresse oder so, er akzeptierte es als das, was es war und ging schließlich mit der
Bemerkung, es sei «nett» gewesen. Nun, genau das empfand ich auch, obwohl er nicht besonders gut gewesen war. Nach dem Frühstück ging ich in mein Zimmer zurück und überlegte, was ich tun sollte, bis es an der Zeit war, mich auf den Weg zum Bahnhof zu machen. Eine Zeitlang blätterte ich in einem Magazin, blickte aus dem Fenster und spielte mit der Idee, für immer nach Brighton zu ziehen. Im Sommer war hier be stimmt mehr als genug los, und ich war zuversichtlich, daß ich Arbeit als Sekret ärin finden könnte. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden, bis ich mir hier wieder neue Kundschaft aufg e baut hätte; sicher würde ich eine Zeitlang den Gürtel enger schnallen müssen, aber warum nicht? Nichts konnte schlimmer sein als meine gegenwärtige Si tuation. Ja, ich würde hierher ziehen, direkt ans Meer, und dem stinkenden London den Rü k ken kehren. Nachdem ich diesen Beschluß gefaßt hatte, holte ich das Script hervor, weil ich dachte, es könnte nicht schaden, nochmal einen Blick auf meinen Text zu wer fen. Es war ein ziemlicher Schreck. Sobald ich anfing, die ersten paar Abschnitte zu lesen, überfielen mich wieder meine alten Ängste und die Verrücktheit dieses Jobs. Fast vierundzwanzig Stunden lang hatte ich nicht mehr daran gedacht – seit meiner Ankunft war Mr. Fox nicht ein einziges Mal in meinen Gedanken aufgetaucht. Natü r lich war ich aufgeregt gewesen, aber nur so allgemein. Ich hatte alles in den hintersten Winkel meines Gehirns verdrängt und meine Aufregung dem Feriengefühl zugeschrieben, mir selbe r vorgemacht, es sei etwas anderes, als es tatsächlich war. Jetzt, wo ich es nüchterner betrachtete, kam es mir ganz anders vor. Es war absurd. Die ganze Geschichte war völlig hirnverbrannt. Was hatte ich hier zu suchen? Warum war ich bis nach Brighton gereist? Wofür? Ich mußte völlig den Verstand verloren haben. Ich schmeckte einen üblen Geschmack auf der Zunge. In diesem Augenblick beschloß ich, daß ich unter gar keinen Umständen etwas mit Mr. Fox zu tun haben wollte. Ich würde die Geschic h te nicht zu Ende führen.
4 Mr. Fox hatte sich auf ganz unübliche Weise mit mir in Verbi n dung gesetzt. Wie ich schon sagte, er war anders; tja, und das zeigte sich schon bei der ersten Kontaktaufnahme. Zu dem Zeitpunkt, als ich seine Anzeige entdeckte, lief fast mein ganzes Geschäft über Kontakte und Mundpropagand a: Ich war das, was man eine Edelnutte nennt. Nur am Anfang meiner Karriere – während der Schwesternheim -Tage – mußte ich mich nicht ganz sauberer Tricks bedienen. Danach erlebte ich einen beachtlichen Aufschwung; ich bin nie auf den Straßenstrich gegangen oder habe Männer in Kneipen angemacht. Ich hatte auch keine ve r gilbte Karte in irgendeinem Fenster ausliegen – «Französischun terricht bei Shir ley, Telefon… » oder was ähnlich Zickiges. Nur während der drei Mon ate, bevor ich richtige Arbeit fand, wäre ich beinahe dazu gezwungen gewesen, aber ich überlebte so. Ich habe mich nie so tief erniedrigen müssen. Mein Geschäft lebte von dem, was ich «Empfehlungen» nennen möchte. Es gab ein paar Hotelportiers und ein halb es Dutzend Taxifahrer, die me i nen Wert und meine Fähigkeiten anzupreisen wußten, sie suc h ten die Freier für mich aus, erhielten eine Provision, und ich vertraute ihnen. Es war eine lukrative Sache. Darüber hinaus gab es noch die Mundpropaganda, das heißt, zufriedene Kunden machten Bekannte oder Geschäftspartner auf ihren Glück streffer aufmerksam. In puncto Pulver brauchte ich nicht wählerisch zu sein – Geld genug hatten sie alle – aber es konnte schon mal vorkommen, daß mir das Aussehen eines Kunden nicht gefiel, und dann hatte er eben Pech gehabt. Ich bildete mir gern ein, daß ich zu meinem und nicht zu deren Vergnügen arbeitete, obwohl sie natürlich das Gegenteil glaubten; schließlich hatte ich ja auch noch meinen anderen Job und benötigte das Geld nicht gar so dringend. Wenn ich nicht in Stimmung war, mußten sie sich trollen, so einfach war das. Ich tat es, weil es mir Spaß machte.
Um ganz ehrlich zu sein, ich sah mich gern ein bißchen so wie Jane Fonda in dem Film Klute – eine hochkarätige Edelnutte, unabhängig, cool professionell, mit ganz speziellen Raffinessen. Ich war nie die Art von Nutte, die aufgedonnert und parfümiert in einem Hintertreppen -Zimmer rumlungert. Zumindest glaubte ich das. Es mag vielleicht übertrieben klingen, wenn ich sage, daß der Reiz des Neuen rasch verflogen war, aber tatsächlich verhielt es sich so. Bald hatte ich einfach die Nase voll. Langsam aber sicher wurde es eintönig wie jeder andere Job. Gott weiß, wonach ich Ausschau hielt; ich glaube, mir war überhaupt nicht bewußt, daß ich nach irgend etwas suchte. Als ich in einem Magazin blätterte, stieß ich auf eine kleine Anzeige. Sie stand auf der Rückseite: in einem Kasten und ging fast unter in dem Wust von Sexhilfen, Penis-Vergrößerern und Massagesalons. MODELL GESUCHT für beso ndere Aufgaben. Schauspieler i sche Fähigkeiten und Diskretion unerläßlich. Anfragen mit Photo unter Chiffre 1453. Das war alles. Das und kein Wort mehr. Keine Silbe über Geld, nichts von dem üblichen Blond/Brünett-Unsinn – nur das. Zunächst mal brach ich in Gelächter aus. Schauspielerische Fähigkeiten und Diskretion sind die Eckpfeiler unseres Berufs. Was war daran so Besonderes? Ich weiß noch, daß ich mich dann eine Weile nicht mehr damit beschäftigte und weiter müßig in der Zeitschrift blätterte, sogar ei ne der gräßlichen Kurzgeschichten las. Doch als ich mit dem Durchblättern fertig war, stellte ich fest, daß ich die Rückseite vor mir hielt und leer auf das kleine Kästchen starrte. «Besondere Aufgaben». Das zielte darauf ab, Interessentinnen neugierig zu machen – wie ein unverständlicher Hinweis in einem Kreuzworträtsel ärgerte es mich mehr und mehr, je länger ich darüber nachdachte. «Schauspielerische Fä higkeiten» und «Diskretion». Warum? Wofür? Was für schauspi e lerische Fähigkeiten und was für eine Art von Diskretion? Es war mir alles schleierhaft. Auch nach nochmaligem Durchlesen war
ich nicht klüger. Die Anzeige hatte mich angesprungen, hatte mich neugierig gemacht, und sie ging mir einfach nicht mehr aus dem Sinn. Je mehr ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, daß sie mich nicht mehr losließ. Schon da wußte ich, daß ich antworten würde, weigerte mich nur noch, mir dies einzugest e hen. Schließlich warf ich das Magazin auf einen Stuhl und fing an, die Wohnung aufzuräumen. Eine halbe Stunde später beschäftigte ich mich bereits wieder mit dem Inhalt der Anzeige und überzeugte mich noch einmal davon, daß ich nichts mißverstanden oder etwas überlesen hatte. Das war natürlich nicht der Fall, wie mir eigentlich schon vorher klar war, bevor ich die Zeitsc hrift noch mal zur Hand nahm. Ich war wie behext davon, einfach weil alles so geheimnisvoll war. Was mochte sich hinter der Anzeige verbergen? Alle möglichen verrückten Visionen sch ossen mir durch den Kopf. Filme, Mä n nermagazine mit scharfen Nacktfotos von Mädchen, harte Po r nos? Es war klar, daß die Anzeige sich an eine Prostituierte wandte – «Modell» hat nur diese eine Bedeutung; aber was war mit «Photo» gemeint. Was für eins? Ein Nacktfoto oder ein Portrait? Vielleicht bloß ein Paßfoto? Es war einfach zu verrückt. Ich beschloß, die ganze Geschichte zu vergessen und verstaute das Magazin in einer Schublade. Wenn man es genau durchdachte, was blieb dann schon? Nichts. Keine wirklichen Hinweise und keine Einschränkungen – es wurde schlicht und einfach für irg endwas eine Prostituierte gesucht. Nun, ich würde die Sache endgültig vergessen. Und dann schickte ich meinen Brief drei Tage später doch ab, warf ihn hastig in den Briefkasten, bevor ich Zeit hatte, es mir noch einmal zu überlegen. Es waren nur ein paar Zeilen: ich bat um weitere Einzelheiten und legte ein kleines Photo bei – eine eher neutrale Aufnahme, keine Nacktpose mit lüstern aufgewo r fenen Lippen, sondern nur Gesicht, Schultern und Brustansatz. Ziemlich eitel glaubte ich, daß meine Augen diesen geheimnisvol len lockenden Ausdruck hatten. Alles andere würde man sich vorstellen müssen. Ich merkte, die Anzeige ging mir nicht aus
dem Kopf. Nachdem ich sie zum erstenmal gelesen hatte, stellte ich fest, daß ihr Inhalt mich unentwegt beschäftigte, ich konnte mich also genausogut hinsetzen und sie beantworten. Dann fragte ich mich, ob ich am Ende die Bedeutung des Wortes «Modell» nicht doch mißverstanden hatte. Die Frage beantwort e te ich mir schnell selber. Diese Art von Magazin, in dem die Anzeige veröffentlicht worden war, die Seite, die Plazierung, das alles ließ nur die eine Interpretation zu: «Modell», das war nur ein anderes Wort für Prostituierte, wie ich es von Anfang an verm u tet hatte. Davon abgesehen, würde kein echtes Modell mit etwas Selbstachtung auf eine Anzeige reagieren, in der «Diskretion» als unerläßliche Voraussetzung verlangt wurde. Also, was nun? Ich erwog alle Möglichkeiten, die ich mir vo r stellen konnte. Männermagazine mit Nacktfotos kamen nicht in Frage. Dafür konnte man kaum schauspieleri sche Fähigkeiten verlangen. Pornofilme kamen da schon eher in Betracht. Wenn Diskretion erbeten, ja sogar verlangt wurde, handelt e es sich wahrscheinlich um knallharte Pornos, und illegal noch dazu. «Diskretion» konnte eine verschleierte Art sein, das anzu deuten; schließlich konnte man schlecht für so einen Film werben, indem man erklärte, daß man die Absicht habe, gegen den Pornogr a phie-Paragraphen zu verstoßen. Warum wurde es aber dann überhaupt erwähnt? Zu einem späteren Zeitpunkt wäre dieses Thema doch viel leichter zu besprechen – etwa, wenn es auch um die Honorarfrage ging. Auch der Begriff «Schauspielerische Fähigkeiten» paßte nicht. Keiner der Pornofilme, die ich gesehen hatte, setzte irgendwelche schauspielerischen Talente voraus – außer… na ja, das alles war einfach ein Witz. Aber es mußte doch was dran sein. Vielleicht eine Live -Show? Ein scharfer Auftritt vor Publikum? Ich hatte das Gefühl, damit der Wahrheit etwas näher zu kommen. Möglicherweise versuchte eine Bar in Soho auf diese Weise Mädchen für eine phantasievolle Pornoshow anzuheuern – irgendeine Song-and-dance-Nummer, eine Art Ede lStrip. Aber diskret? Wie paßte das alles zusammen.
Was ich mir sonst nur noch vorstellen konnte, Fetischismus. Als Edelnutte von Format war ich so was bisher imm er aus dem Weg gegangen – Schulmädchenzöpfe und Röckchen, Leder, Nazistiefel und Lederpeitsche – all das war für mich tabu, ich wollte nichts damit zu tun haben, und das war von mir auch nur selten verlangt worden. Aber vielleicht war es genau das, was hinter der Anzeige steckte: «Schauspielerische Fähigkeiten» mochte gut und gern der Grandezza entsprechen, in der sie sich ihre speziellen Phantasien ausmalten. – Une pike de théâtre. Was die «Diskretion» anging – nun, es handelte sich wahrscheinlich um jemanden aus dem öffentlichen Lebe n: einen bekannten Ge schäftsmann, einen Politiker oder vielleicht einen gutsituierten Lord. Kurz, ich beschwor in meiner Phantasie alle möglichen lächerlichen Inszenierungen herauf: dekadente Vergnügungen im alten Rom, schwülst ige Dramen in einem Sultanspalast, die alle das Ziel hatten, daß ein trauriger alter Bock sich im Anblick jungen Fleisches einen runterholte. Etwas enttäuscht gelangte ich zu dem Schluß, daß von allen Möglichkeiten diese die größte Wahrscheinlichkeit besaß; der einzige schwache Punkt in meiner Theorie war, daß der Betreffende es überhaupt nötig haben sollte, so ‘nen Zauber zu veranstalten – warum kaufte er sich nicht einfach seine Wünsche. Nichtsdestoweniger antwortete ich. Ein Versuch konnte nicht schaden, sagte ich mir, und ich brauch te ja nicht anzunehmen. Natürlich ergriff ich ein paar Vorsichtsmaßnahmen. Nach me i nen Erfahrungen mit den beiden Psychopathen hielt ich es nicht für ratsam, meine Adresse anzugeben, bevor ich nicht etwas mehr über die Geschic hte wußte oder mir ein Bild von dem Inserenten machen konnte. Wenn er, wer immer er sein mochte, «Diskretion» verlangte, dann hatte auch ich das Recht, auf meine Sicherheit bedacht zu sein. Name und Adresse, die ich angab, waren falsch. Es kostete mich ein ige Mühe, bis ich ein Verfahren entwickelt hatte, das funktionieren würde. Ich konnte schlecht die Adresse einer meiner Freundinnen angeben – denn dadurch wären sie dem gleichen Risiko ausgesetzt gewesen, und davon
mal abgesehen, fiel mir niemand ein, den ich als Deckadresse hätte benutzen können und dem ein solcher Brief nicht verdäc h tig vorgekommen wäre. Endlich, als ich die Hoffnung schon fast aufgegeben hatte, kam mir die Ide e: ich konnte Tom um Hilfe bitten. Tom war Portier und Mädchen für alles bei un s im Büro; ein alter Knabe von etwa sechzig Jahren, der Typ, der für jeden Mitarbeiter einen flotten Spruch auf Lager hat und von dem zwanghaften Bedürfnis geplagt wird, mit jeder Frau zu flirten. Unser Verhältnis war geradezu kumpelhaft – die üblichen kleinen Rippenstöße, das vielsagende Kopfnicken, alles vollkommen harmlos; aber plötzlich dachte ich mir, daß er ein kleines Ko m plott schätzen könnte und gern eine Rolle darin übernehmen würde. Er sortierte und verteilte die eingehende Post, und ich war siche r, er würde gegen meinen Plan nichts einzuwenden haben. Ich ersann eine Geschichte, daß ich einen Verehrer am Gängelband hätte, aber nicht wollte, daß er meinen wirklichen Namen erführe. Der Mann würde mir über die Büroadresse schreiben, und zwar in der An nahme, daß mein Name Sylvia Rivers sei (der Name, für den ich mich entschieden hatte); würde Tom alle Post für mich zurückhalten, die auf diesen Namen einginge? Er war sofort einverstanden und fühlte sich offensich t lich geschmeichelt, daß ich ihn in mein Geheimnis eingeweiht hatte; darüber hinaus hatte er an dem kleinen Komplott wie erwartet einen Heidenspaß. Natürlich konnte er sich nicht enthal ten, alle möglichen klugen Sprüche loszulassen und immer wieder den Kopf zu schütteln, aber er schwor mir absolut e Verschwie genheit. Damit war die Bühne bereit, und ich brauchte nur noch zu warten. Vage verspürte ich eine gewisse eitle Genugtuung angesichts meines kleinen Tricks. Durch die einfache Tatsache, daß ich Namen und Adresse falsch angegeben hatte, hatte ich das Gefühl, jeder Situation gewachsen zu sein, egal wie sie auch aussehen mochte. Über eine Woche lang erfolgte nichts. Wider Willen wurde ich von hoffnungsloser, täglich wachsender Erregung ergriffen und quälte mich mit Selbstzweifeln – hätte ich ein and eres Foto von
mir schicke n oder doch besser gar nicht schreiben sollen? Was, wenn mein Brief zu förmlich, zu direkt gewesen war? Hätte ich ein paar unzüchtige Anspielungen machen oder mich in zweide u tigeren Andeutungen ergehen sollen? Jeden Morgen fing ich Tom allein auf dem Korridor ab und fragte nach einem Brief, aber seine Antwort war jeden Morgen dieselbe: tut mir leid, nichts dabei. Seine Witze und das ewige Gestichel gingen mir mehr und mehr auf die Nerven. Und dann endlich, eines Mittwochmorgens, als ich gerade das Büro betrat, blinzelte er, winkte mich an seinen Tisch und reichte mir unauff ällig einen dicken braunen Umschlag. Ich hatte die Hoffnung fast schon aufgegeben. Eine Zeitlang versuchte ich, dem Drang zu widerstehen, ihn sofort zu öffnen, ind em ich mir sagte, daß ich ruhig warten könnte, bis ich zu Hause war, bevor ich den Inhalt in Augenschein nahm, aber es nützte nichts. Wie ein Teenager mit feuchten Augen, der einen Liebesbrief an den Busen preßt, huschte ich schließlich doch auf die Toilet te, schloß mich in eine der Kabinen ein und riß das Kuvert auf. Nachdem ich den Inhalt betrachtet hatte, war meine Verwirrung noch größer. Der Umschlag enthielt fünf Dinge, die ich längere Zeit verblüfft angestarrt habe, als müßte ich sie mir für irgendein komisches Gedächtnisspiel wieder in Erinnerung rufen. Ich hatte das Gefühl, nichts erreicht zu haben, und keine Ahnung, wozu all das dienen sollte, kurz, ich war noch nervöser, aufgeregter und verwirrter als zuvor. Als mir bewußt wurde, daß ich schon zie m lich lange meinen Platz verlassen hatte, stopfte ich alles wieder in den Umschlag und kehrte an meine Schreibmaschine zurück. Ich wollte mir später alles noch in Ruhe ansehe n; dann hoffte ich die ganze Sache klarer zu sehen. Nachdem ich nach Hause gekommen war, kochte ich mir eine Tasse Kaffee, steckte mir eine Zigarette an und breitete die fünf Dinge vor mir auf dem Tisch aus, um sie methodisch zu unters u chen. Ich wollte den Sinn darin finden. Das erste war eine Rüc k fahrkarte für den Zug nach Brighton. Ich nahm sie genau in Augenschein, um zu überprüfen, was in dem Brief dazu stand. In
der Tat, es handelte sich um eine Platzreservierung für den er wähnten Tag – und zwar in der ersten Klasse. Das zweite war ein Taschenbuch. Diesmal untersuchte ich es genauer, nahm das Titelbild, den Titel und den Namen des Au tors in mich auf, aber das einzige, was ich davon wiedererkannte, war das Bild – ein Gauguin, nahm ich an. Ich drehte das Buch um, und ich hatte recht: ein Gemälde mit dem Titel Niemals mehr – derselbe wie der des Buches. Von dem Autor, Matthew Fowler, hatte ich bis dahin noch nichts gehört, und das Buch hatte keinen Klappentext. Ich wedelte es hin und her, falls etwas zwischen den Seiten lag, das herausfallen sollte, aber nichts. Ich legte es aus der Hand und wandte mich dem nächsten Gegenstand zu. Es waren drei Seiten eines sorgfältig und eng mit Schreibmaschinenzeilen bedeckten Schriftstücks, wie ein kurzes Theaterstück. Auf der Toilette im Büro hatte ich es nur mit einem kurzen Blick gestreift, und es hatte keinerlei Sinn ergeben; diesmal las ich es sorgfältig ganz durch und war immer noch nicht klüger. Der vierte Gegenstand war der Brief, den ich noch einmal über flog. Es handelte sich um ein einziges Blatt Papier, ebenfalls maschinengeschrieben, aber ohn e Briefkopf. Der Ton war fast barsch und ein wenig entmutigend. Liebe Ms Rivers, danke für Ihre Anfrage. Falls Sie an meinem Vorschlag intere s siert sein sollten, beachten Sie das beiliegende Manuskript bitte sorgfältig. Am 21. März fahren Sie von Brighton mit dem Zug um 11.32 wieder zurück nach London. Ihr Platz ist reserviert, die Nummer entnehmen Sie der beiliegenden Fahrkarte. Das Abteil wird leer sein bis auf einen anderen Mitreisenden – ein Mann von etwa sechzig Jahren, der einen hellgrauen Anzug träg t. Alle anderen notwendigen Einzelheiten werden Sie in dem Manuskript finden, dessen Dialog Sie, wenn Sie ihn auswendig gelernt haben, mit diesem Mann wiederholen werden. Zu Ihrer Orientierung sollte ich Ihnen noch mitteilen, daß Sie eine Schauspielschüle rin An
fang Zwanzig sind, also kleiden Sie sich bitte entsprechend. Zweifellos werden Sie glauben, Anspruch auf weitere Erkläru n gen zu haben – ich aber habe meine Gründe, sie Ihnen vorz u enthalten, und würde Sie bitten, keine Fragen zu stellen. Ich bin sicher , daß der beiliegende Scheck ausreichend sein wird, um Ihre Ausgaben zu decken, selbst wenn sich unvorherge sehene Mehrkosten ergeben sollten. Falls diese Arrang ements Ihnen nicht zusagen oder wenn Sie nicht mehr weiterm achen möchten, melden Sie sich bitte rechtzeitig vor dem 21. unter Chiffre 1453 bei dem Magazin, in dem Sie auf die Anzeige gest o ßen sind. Mit freundlichen Grüßen P. Fox Das war alles. Ich nahm noch einmal den letzten Gegenstand in Augenschein – den Scheck. Er lautete auf 100 Pfund, war mit P. Fox unterschrieben und auf Ms Sylvia Rivers ausgestellt. Ge schah mir recht. Falls eines Tages weitere Schecks über größere Summen eintreffen sollten, würde ich ein Bankkonto auf meinen Bühnennamen eröffnen müssen. Bis zum 21. März waren es noch mehr als vierzehn Tage, also Zeit genug, um über die ganze Sache gründlich nachzudenken. Länger als eine Woche überlegte ich unschlüssig, wog nach allen Seiten ab, aber aus welchem Blickwinkel ich auch das Ganze betrachtete, es war und blieb mysteriös. Jemand beza hlte mir 100 Pfund – im voraus – wofür? Dafür, daß ich wie ein Flittchen per Anzeige aufgerissen wurde. Anders konnte man es nicht be schreiben. Was ich auch hineinlesen wollte, es lief immer wieder auf dasselbe hinaus: Kontakt zwischen Freier und Nutte, ei n schriftlich vorform u lierter Kontakt vielleicht und der dazu auch noch ziemlich pr ä tentiös, aber nichtsdestoweniger ein unzweideutig sexuell orie n tierter Kontakt.
Ich las das Manuskript wieder und immer wieder. Das Mädchen sitzt im Zug und liest das Buch, das ich zugeschickt bekommen hatte. Gegen Ende der Reise gelangt sie zur letzten Seite, klappt es zu, und der Mann, der ihr gegenübersitzt, fragt sie nach dem Inhalt. Eine Zeitlang unterhalten sie sich darüber, und dann wechseln sie das Thema. Es handelt sich um das altvertraute Schema. Nach einem kurzen Schweigen zielen seine Fragen – die anfängliche Barriere ist ja jetzt gebrochen – auf ihre Person, und nachdem sie London erreicht haben, fühlt er sich bemüßigt sie zu einem Drink einzuladen. Eine Zeitlang spielt sie die «Oh -ichglaub-das-sollte-ich-lieber-nicht»-Rolle, erklärt sich schließlich aber doch einverstanden, natürlich, und sie steuern die nächste Kneipe an. An dieser Stelle endete das Manuskript. Es war kaum sonderlich originell zu nennen. Was da nach passieren sollte, wurde nicht beschrieben, ließ sich aber unschwer erraten, wie ich meinte. Die beiden Hauptpersonen hatten nicht einmal Namen: da stand einfach «Mann» und «Mädchen» in Rot getippt, gefolgt von ihren Sätzen in Schwarz. Er fragt das Mäd chen nicht einmal nach seinem Namen. Die Regieanweisungen waren dagegen außerordentlich detai l liert. Überall im Dialog fanden sich präzise Anweisungen, die genau umrissen, was jeder tun sollte oder wie die Sätze gespr o chen werden sollten. Da stand etwa Mädchen schließt müde das Buch oder Mann beugt sich vor und ergreift das Buch, und Anmerkungen in Klammern wie (mit Ironie) oder (amüsiert). Es sah genau wie ein Einakter aus, oder wie ich mir ein Filmdrehbuch vorstellt e: ich konnte mir die Episode als Anfang sszene für Hunderte von Filmen vorstellen, die zuf ällige Begegnung im Zug, aber was passierte danach? Eine erste Kontaktaufnahme, aber mit we l chem Ziel? Von neuem beschäftigte ich mich mit den verschi e denen Möglichkeiten. Die Idee mit der Live -Show, die Song-and dance-Nummer auf der Bühne einer Bar in Soho, fiel jetzt natü r lich weg, aber wie sah es mit Pornof ilmen aus? Vielleicht hande l te es sich schließlich und endlich um nichts anderes als eine Testinszenierung im Stil von Vorsicht, Kamera! Der Regisseur
wollte feststellen, ob ich spielen konnte, meinen Text zu lernen und in eine Rolle zu schlüpfen vermocht e; im Lokal würde dann die große Enthüllung kommen; falls meine Hirngespinste inzw i schen nicht einen kompletten Idioten aus mir gemacht hatten, würde der Mann etwas sagen wie «Sie sollten zum Film gehen – haben Sie sich das schon einmal überlegt?» Und dann, nach ein paar Drinks: «Paß auf, ich will offen zu dir sein – ich bin Filmr e gisseur. Ich glaube, ich hätte da was für dich. Warum kommst du nicht heute nachmittag mal im Studio vorbei, und wir sehen, wie du dich auf Zelluloid machst?» So ungef ähr stellte ich mir die übliche Kontaktaufnahme in derartigen Filmen vor, und dann dachte ich noch einmal darüber nach. Das stimmte alles hinten und vorne nicht – die Anzeige hatte keinen Zweifel daran gela s sen, was für eine Art Mädchen gesucht wurde, alles, was der Kerl zu tun hatte, bestand darin, mir ein halbgares Manuskript in die Hand zu drücken, sobald ich im Studio war, mir zu erklären, daß ich mich ausziehen sollte, damit er sehen konnte, ob meine Titten stramm und groß genug waren und anschließend bei einem Drink das Finanzielle zu besprechen. Die ganze Geschic h te im Zug war für einen Pornofilm geradezu lächerlich. Wieder betrachtete ich die Fahrkarte, die Pl atzreservierung in der ersten Klasse. Und das Buch, um Gottes willen. Nein, Pornofilm schied ebenfalls aus. Widerstrebend wandte ich mich der letzten verbleibenden Möglichkeit zu – dem Fetischisten. Es handelte sich am Ende wohl doch nur um den sittsam bek annten Schulmädchen-Komplex: knappes Turnhöschen und Zöpfchen – nur etwas abgewandelt. Anfangen würde es mit dem kleinen Spiel im Zug, gefolgt von einem hastigen Drink in einer Kneipe, und dann endlich würde er stottern, daß er mich etwas fragen müsse. Auch diese Situation versuchte ich mir im voraus auszumalen: er würde mir nicht in die Augen sehen, sonder n nervöse Blicke in die Runde werfen wie ein Spatz, um zu sehen, ob von irgendw o her Gefahr drohte. Seine knochigen Knie würden durch seine Hose stechen wie Stöcke, und sein Kragen würde drei Nummern zu groß um seinen dürren Hals hängen. Am Ende würde ich
diejenige sein, die es ihm vorschlagen mußte, weil es ihm vor lauter Nervosität die Sprache verschlagen haben würde – aber zu guter Letzt würden wir dann doch in seine Wohnung gehen. Ich würde seine speziellen erotischen Phantasien erraten und ihm jeden noch so kleinen Hinweis aus der Nase ziehen müssen. Hinauslaufen würde es darauf, daß er auf allen vieren durch das Zimmer kroch, die Hosen heruntergelassen bis zu den Knöcheln. Nein, das war nichts für mich. Ich hatte genug Geschichten über solche Typen gehört und beschloß, die ganze Geschichte abz u blasen. Ich fühlte eine Spur Mitleid dem Mann gegenüber, aber mein Entschluß stand fest. Die Reise fiel ins Wasser. Ich nahm den Scheck und wedelte mir damit vor den Augen herum. Ich würde ihn zurückschicken. Ich würde nicht hingehen, aber ich würde auch sein Geld nicht nehmen. Und doch… Ich las den Brief zum hundertstenmal. Fahren Sie nach Brig h ton… nehmen Sie den Zug um 11.32 zurück nach London. Ihr Platz ist bereits reservier t… lernen Sie den Text des Man u skripts… Höflich doch bestimmt. Nicht das, was man gemeinhin von einem alten Knaben wie ihm erwarten würde – er war selbsts i cher, das ließ sich nicht übersehen. Er schien anzunehmen, daß ich, da ich auf das Inserat geantwortet hatte, wohl auch mitm a chen würde. Je öfter ich den Brief las, um so weniger gefiel mir der herrische Ton. Es war, als hätte ich in dieser Sache überhaupt keine Wahl, als sei alles vorherbes timmt. Nicht mit mir, Mr. Fox, sagte ich laut. Ihr kleines Theaterstück gefällt mir nicht. Mir schreibt niemand vor, was ich zu tun habe. Nein, ich werde nicht mitmachen, sagte ich entschlossen. Ich fahre nicht nach Brighton – und außerdem werde ich den Scheck behalten.
5 Verärgert verstaute ich das Manuskript in meiner Handtasche und trat ans Fenster. Es hatte sich eingetrübt; flach und grau erstreckte sich die See bis zum Horizont, leblos, da der böige Wind vom Vortag sich gelegt hatte. Unten auf der Promenade spazierte eine Handvoll Leute oder lehnte gelangweilt am Gelä n der, um die Zeit totzuschlagen. Die Möwen, die noch am Vortag zuvor dicht über meinem Kopf ihre Kapriolen geschlagen hatten, hockten jetzt steif auf dem Wasser und schaukelten sanft hi n und her, während die Gezeiten sie näher an den Strand und dann wieder weiter weg trieben. Ein Hauch von Vergänglichkeit lag über allem – gestern noch schienen alle zügig voranzuschreiten, heute schien es, als hätten sie kein Ziel, nicht den geringsten Grund, irgend etwas in Angriff zu nehmen. Das Feriengefühl in mir hatte sich plötzlich in Luft aufgelöst und mich ziemlich deprimiert zurückgelassen. Warum nur war ich schließlich doch nach Brighton gekommen? Voll Reue erinnerte ich mich daran, wie ich besch lossen hatte, nicht zu fahren, das Geld einfach zu behalten und das alles zu vergessen. Warum hatte ich dann bloß meine Meinung ein weit e res Mal geändert? Während ich auf die stumpfsinnige, leblose Szenerie am Strand hinunterblickte, wurde mir klar, daß es die pure Langeweile gewesen war. Die Anweisungen in dem Man u skript hatten mir ein Ziel gegeben, wiesen eine Richtung, mac h ten der Langeweile ein Ende. Für ein bißchen Abwechslung hätte ich versucht, dem Teufel die Hörner abzuschleifen. Wie eine hoffnungsvolle junge Schauspielerin, die für eine Vorsprechpr o be übt und davon träumt, die Hauptrolle zu ergattern, die ihren Namen bereits in Großbuchstaben sieht, hatte ich meine Textzei len mit geradezu heiliger Inbrunst auswendig gelernt, die Bew e gungen und Geste n vor dem Spiegel eingeübt, meine Frisur ein
paarmal verändert, ich hatte posiert und gri massiert und au s drucksvolle Blicke geübt; und war nach Brighton gefahren. In einem Anfall vo n Selbsterkenntnis wurde mir klar, wie ich mich selber übertölpelt hatte, um die Reise doch machen zu können, genauso wie die Beunruhigung, die der Brief in mir ausgelöst hatte, meinen eigenen Beschwichtigungen zum Opfer gefallen war. Ein armseliger Selbstbetrug, mehr war es nicht gewesen. Ich redete mir ein, wenn ich schon am Ab end vor dem Treffen fahren, seinen Instruktionen also nicht präzise gehorchen würde, dann hätte ich ihn ausgetrickst und die Kontrolle über die Situation behalten. Müde wandte ich mich vom Fenster ab und kramte meine Sachen zusammen. Hiermit war ich nicht länger als ein paar Minuten beschäftigt. Ich blickte mich im Zimmer um, überlegte, was ich sonst noch tun könnte, hockte mich auf die Bettkante, Blei in den Gliedern, und hatte das Gefühl, jeden Augenblick in Tränen ausbrechen zu müssen. Was sollte ich tun ? Wohin konnte ich gehen? Ich mußte einfach den Zug nach London nehmen und in mein altes Leben zurückkehren. Der Traum von Brighton, die Idee, für immer hierher zu ziehen, war verrückt; dieses trostlose, graue Nest war ja noch schlimmer als die Stad t: im Winter würde ich hier vor Langeweile sterben. Es gab keinen Grund, zurückzufahren, keinen Grund, hierzubleiben, keinen Grund, überhaupt irgend etwas zu tun. Unerklärlicherweise dachte ich plötzlich an Fox, und ob er wohl jemals genauso fühlte. Ob er wohl je in Frage stellte, was er tat? Wenn wir in meiner Wohnung wären, würde er sich dann fragen, warum er so gehandelt hatte? So wär ’s normal. Hinterher, nac h dem sie dich gebumst haben, liegen sie alle da und denken da s selbe. Warum bin ich hergekommen? Warum mu ßte das sein, mußte es überhaupt sein? Man kann es an ihren Augen sehen – wenn sie befriedigt oder total ausgepumpt sind, nehmen ihre Augen einen leblosen, glasigen Ausdruck an, als wären sie ve r blüfft. Sie versuchen zu verstehen, wie sie sich gefühlt hatten, wie ihre Begierde plötzlich wichtiger gewesen war als alles andere auf der Welt. Ganz sicher war Fox auch nicht anders. Wahrscheinlich
war er häßlich oder brabbelte vor sich hin – und versuchte in genau diesem Augenblick, sich aufzugeilen für das große , err e gende Erlebnis, wobei er schon im voraus verschämt kicherte. Und doch… wieder… dieser Brief… seine Festigkei t… seine Entschlossenheit… Ich erinnere mich genau, was ich in jenen Augenblicken dachte. Ich dachte, nun, irgendwann mußt du so oder so zum Bahnhof gehen, warum bist du nicht früher da und siehst dir diesen Knaben erstmal an? Wenn du gesehen hast, wie er ist, dann kannst du dich noch immer endgültig entscheiden. Ich war um elf Uhr vormittags da: mehr als eine halbe Stunde vor der Abfahrtszeit meines Zuges. Als ich am Bahnsteig ankam, wurde gerade der Zug, der dreißig Minuten vor meinem nach London abfuhr, zum letztenmal ausgerufen. Eine Sekunde lang zögerte ich, erwog, meine Entscheidung eine weiteres Mal umz u stoßen und den früheren Zug zu nehme n. Ich blieb stehen, unschlüssig, unfähig zu entscheiden – bis die Entscheidung mir schließlich aus der Hand genommen wurde. Der Fahrkartenko n trolleur schloß die Sperre, und ich sah bestürzt, wie der Zug sich in Bewegung setzte und in den Morgen hinausglit t; eine Gel e genheit mehr, die ich entweder verpaßt oder unbewußt ergriffen hatte. Ich setzte mich auf eine häßliche Bank mit zwei Armstützen, die um eine Säule herumgebaut war. Sie erlaubte einen Blick auf die meisten Bahnsteigsperren und stand der Abfahrt stafel, vor der Fox sicherlich stehenbleiben würde, um sich zu informieren, direkt gegenüber. Mein Zug wartete schon auf seinem Gleis; ganz offensichtlich pendelte er nur zwischen London und Brighton hin und her, und die Lokomotive brauchte nicht umgekoppe lt zu werden. Ich zündete mir eine Zigarette an und harrte der Dinge, die da kommen sollten. Kurz nach der Abfahrt des letzten Zugs, tat ich noch nichts. Meine Blicke schweiften umher, fielen auf die beiden großen, glasgedeckten Überdachungen, die den Bahn hof luftig und hell erscheinen ließen. Ein Bahnbeamter schlenderte vorüber, klette r te mühsam auf das Podest unter der Abfahrtstafel und machte
sich an einem der Hebel zu schaffen. Plötzlich ertönte ein Kli k ken, und eine neue Reihe von Bestimmungsorten leuc htete auf der Tafel auf. Der Beamte sprang wieder herunter und ging davon. Ich schaute nervös hin und her, registrierte alles, und unterzog jeden Neuankömmling einer genauen Musterung. Nach ungefähr zehn Minuten hatten sich die ersten Fahrgäste mit Ziel London an der entsprechenden Sperre eingefunden und bildeten unschlüssig eine Reihe, weil sie nicht wußten, ob sie sich nun in einer Schlange aufstellen sollten oder nicht. Fox befand sich nicht unter ihnen. Was mich nicht überraschte, es war schließlich noch ziemlich früh. Ein Zug fuhr ein, und eine Gruppe Neua n kömmlinge ergoß sich auf den Bahnsteig. Energisch gingen sie auf die Sperre zu und strömten ins Freie. Plötzlich war es schwie rig, alle im Auge zu behalten; besorgt musterte ich die Gruppe mit aufmerksamen Blicken, vermochte aber keinen grauen Anzug zu entdecken. Fünf Minuten später wurde die Sperre geöffnet. Sofort wälzte sich die Menge vorwärts und breitete sich auf den Bahnsteigen aus, wobei die Leute sich so schnell bewegten, als handle es sich um ein Rennen. Noch immer kein Anzeichen von ihm. Es war bereits nach 11 Uhr 20. Immer mehr Menschen strömten in den Bahnhof, und ich hatte Mühe, sie alle im Auge zu behalten. Familien mit Kindern, junge Männer und Frauen, beachtlich viele elegant gekleidete Frauen mittleren Alters, die offenbar den Tag in der Stadt zu verbringen gedachten, aber nur wenige ältere Männer. 11 Uhr 25. Er ließ es auf den letzten Moment ankommen. Ein alter Mann, in Decken verpackt, wurde von einer Schwester im Rollstuhl vorbeigerollt. Ich starrte ihn an und fragte mich, ob das vielleicht Fox sein könnte. Er war eingefallen und welk im Ge sicht und hatte rote, wässerige Augen – unverkennbar war er sehr krank, und ich mußte über mich selber lachen. Aber wo blieb mein Mann? 11 Uhr 30. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich den Zug noch verpassen. Ich fühlte mich hilflos und war kaum in der Lage, bei den Fahrgästen, die in letzter Minute eintrafen,
noch den Überblick zu behalten, denn jetzt wollte ich ihn ve r zweifelt sehen und hoffte glei chzeitig, daß ich ihn vielleicht verpaßt hätte; ich konnte mir nicht vorstellen, daß er so spät noch auftauchen würde. Ein älterer Mann in einem grauen Wintermantel hinkte vorüber, auf einen Stock gestützt. War er es? Ein halber Krüppel? Mö g lich; unwahrsch einlich, aber immerhin möglich. Ich folgte ihm durch die Sperre und auf den Bahnsteig, beobachtete, wie er mühsam in den nächsten Wagen kletterte und stand dann selber davor. Als er eingestiegen war, warf er noch einen Blick zurüc k: es konnte sich nicht um Fox handeln, er war mindestens fün f undsiebzig Jahre alt. Ich fuhr blitzschnell herum, für den Fall, daß ich einen anderen möglichen Kandidaten übersehen hatte. Bis zur Abfahrt des Zuges blieben nur noch zwei Minuten. Er mußte einfach kommen. Der Schaffner erschien neben mir, die Trillerpfeife bereits zwischen den Lippen. Wo blieb Fox, um Himmels willen? Dann plötzlich ein neuer Gedanke. Ich hatte mich im Tag ge irrt. Wartete am falschen Zug. Ich kramte meine Fahrkarte he r vor. Es hatte alles seine Richtigkei t. Ein letzter Schub Reisender. Die Sperre wurde geschlossen. Kein Mr. Fox. Ich fluchte leise vor mich hin. Der verdammte Idiot hatte sich verdrückt. Kaum war ich eingestiegen und die Tür hinter mir zugefallen, setzte sich der Zug mit einem Ruck in Bewegun g. Mein Her z schlag hörte auf zu rasen, aber ich konnte mir beim besten Willen nicht vormachen, daß ich nicht enttäuscht gewesen wäre. Jetzt war es zu spät, ich würde nie erfahren, was die Geschichte zu bedeuten hatte. Ich lehnte mich gegen die Tür und seuf zte wie erleichtert, aber es hatte keinen Sinn. Ich fühlte mich nicht wirklich erleichtert. Die ganze Sache schien lächerlich; obwohl ich mir wieder kla r machte, daß er für meinen kleinen Ausflug ja bezahlt hatte; trotzdem kam es mir jetzt wie die reinste Zeitverschwendung vor. Das Manu skript, mein Einüben, die Fahrkarte, das ständige Schwanken zwischen Angst und Übermut, alles das eine einzige
Verschwendung. Der Bahnsteig glitt vorüber, während der Zug an Tempo gewann und Gepäckträger, Bänke und die Säulen, die das Bahnhofsdach stützten, zurückblieben und schließlich immer schneller frei zu rotieren schienen wie die letzten Zentimeter eines Films, der sich von der Rolle löst. Ich war ganz allein dort am Ende des Zuges, meine Enttäuschung wurde immer größer, und ich hatte plötzlich nichts mehr, worauf ich mich freuen oder wenigstens neugierig sein konnte. Und dann noch die Ironie der ganzen Geschichte! Nach all meinem hilflosen Zögern, nach meinem Zaudern, meiner Unschlüssigkeit angesichts der En t scheidungen, war er es, der sich gedrückt hatte, nicht ich. Wut kochte in mir hoch und machte der Enttäuschung Platz. Traurig beobachtete ich durch das schmutzige Fenster, wie wir uns von Brighton entfernten, dann holte ich meine Fahrkarte aus der Handtasche, weil ich mir sagte, daß ich genausogut erster Klasse fahren könnte, nachdem er schon dafür bezahlt hatte. Der Platz hatte die Nummer C46 und befand sich in einem Wagen ziemlich im vorderen Teil des Zuges. Ich begann mich dorthin durchzuarbeiten, wobei ich in meiner Wut immer wieder im Weg stehende Leute anrempelte, ohne daß ein Wort der Entschuld i gung über meine Lippen gekommen wäre. Ich hätte nie gedacht, daß er doch da sein könnte. Das ist die reine Wahrheit. Ich war völlig davon überzeugt, daß er, da ich ihn auf dem Bahnhof nicht gesehen hatte, auch nicht im Zug sein könnte. Noch heute begreife ich nicht, daß ich ihn übersehen konnte: Ich kann nur vermuten, daß er mit demselben Zug am gleichen Tag aus London gekommen war und auf seinem Platz auf die Rückfahrt gewa rtet hatte. Als ich mich dem Abteil nähe r te, verspürte ich einen winzigen Funken neu aufbrennender Hoffnung – schließlich bestand noch diese letzte Chance. Kaum daß ich ihn erblickte, verwandelte sich die Hoffnung in helles Entsetzen. In gewisser Weise war es komisch – ich hatte nur einen Blick in das Abteil geworfen, denn in meiner Verwirrung, dieser Mischung aus Enttäuschung und Zorn, rannte ich an der Tür vorbei und begriff erst, was ich aus den Augenwinkeln wah r
genommen hatte, als ich schon vorbei war. Ein grauer Anzug, volles, silbernes Haar, eine goldgerahmte Brille. Er hatte in einer Ecke gesessen und aus dem gegenüberliegenden Fenster geblickt. Ich stand etwa zwei Türen weiter auf dem Gang und zitterte. Plötzlich hatte ich ein Würgen in der Kehle, un d mein Magen geriet in Aufruhr. Ich hatte keine Kontrolle mehr über mich. Oh, nein, dachte ich, was hast du nur angestellt? Du hättest dich überall hinsetzen können, und dann hättest du ihn nicht gesehen. Da war der andere Zug, all die anderen freien Plätz e; wie bist du nur in diese vermaledeite Geschichte hineingeraten? Dann wurde ich zur Seite geschleudert. Der Zug jagte in eine Kurve, und das plötzliche Schlingern hatte mich gegen die Fe n sterbrüstung geworfen, wo ich mir den Arm anschlug. Eine Weile stand ich einfach nur da, umklammerte die Haltestange und fluchte leise, sowohl über den unerwarteten Schmerz als auch über meine eigene Dummheit. Ich rieb mir die brennende Stelle, beschloß, eine Zigarette zu rauchen und überlegte es mir dann wieder anders. Ich kam mir völlig überfordert vor. Ich war sicher, daß er mich nicht bemerkt hatte, daß ich mich immer noch woanders hinsetzen konnte, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, daß ich jetzt nicht mehr zurück konnte, daß es keinen Grund mehr gab, mich zu drücke n. Ich hatte so lange durchgehalten – hatte so viele Entscheidungen getroffen –, daß es mir unmöglich war, dieser letzten aus dem Weg zu gehen. Ich mußte in das Abteil hineingehen. Ein Bild schoß mir durch den Kopf: eine Schauspielerin, die in der Kulisse wartet. Und dann der alte Kindertrick: man zählt bis zehn, und dann geht’s los. Ich begann zu zählen. Und kam zum Ende. Jetzt. Ich gab mir gewaltsam einen Ruck und ging auf die Tür des Abteils zu. Es war unglaublich; es gibt kein anderes Wort, um es zu be schreiben. Als ich eintrat, blickte er einfach auf – vielleicht ein wenig überrascht, aber nicht mehr als es jeder andere bei einem so plötzlichen Auftritt gewesen wäre –, sagte «Guten Morgen» und blickte dann wieder zum Fenster hinaus. Ich war platt. Mein Herz hämmerte so wild, daß es mir die Sprache verschlug, und
ich stand einfach nur da und gaffte ihn mit blödem Gesichtsau s druck an, als erwarte ich, daß er etwas sagte wie «Ms Rivers?» und anschließend wissend grinste. Aber das tat er nicht. Er schien nicht das geringste Interesse an mir zu haben, sein ganzes Verhal ten ein einziges Dementi, daß er etwas mit der Inszenierung dieses Zusammentreffens zu tun haben könnte. Seine Augen hatten mich kaum wahrgenommen. Sie waren kurz über mich hinweggehuscht wie die eines jeden Reisenden, der kurzzeitig aus einer Träumerei gerissen worden ist. Ich war nur ein Mensch unter vielen, für die Dauer einer Reise in sein Leben gespült. Ich spürte, wie meine Beine zu zittern begannen, denn in diesem Moment begriff ich zum er stenmal, daß ich mich auf etwas eingelassen hatte, mit dem ich nicht fertigwurde, und plötzlich hatte ich Angst. Dann gelang es mir nicht einmal, die Tür zu schließen. Ich war mit einer derart aufgeregten Hektik in das Abteil geplatzt, daß die Tür verklemm t hatte und jetzt weit offen stand. Ich mühte mich mit dem Griff ab und spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß. Er stand auf, und wenig später hörte ich seine Stimme hinter mir, weich und beruhigend: «Kann ich Ihnen helfen?» Ich nickte schwach, quetsch e ein «Vielen Dank», hervor, und er schloß die Tür ohne den geringsten Kraftaufwand. Noch immer gab er mir kein Zeichen des Erkennens, kein ve r stohlenes Blinzeln oder so; er schloß einfach die Tür hinter uns, und das Rattern der Räder auf den Schienen erst arb mit einem Schlag. Stille legte sich auf alles. Die We lt war ausgesperrt; jedes Gefühl für die Wirklichkeit blieb zurück. Ich schob meine Han d tasche in das Gepäcknetz, ließ mich voller Verzweiflung auf meinen Platz sinken und beobachtete ihn, wie er wie der an se i nen Fensterplatz zurückkehrte. Er war tatsächlich um die Sechzig. Wenigstens das erleichterte mich etwas. Insgeheim – so geheim, daß ich es sogar vor mir selbst zu verbergen versucht hatte – war mir nämlich der beän g stigende Gedanke gekommen, daß sein Brief ein Trick sein könn te, daß er mich bezüglich seines Alters angelogen hatte, um mich arglos in den Wagen zu locken, wo er sich dann als einer von der
gewalttätigen Sorte herausstellen würde. Er war ein alternder – wenn auch nicht gealterter –, harmloser Mann. Und er mußte derjenige welcher sein. Ich betrachtete den Anzug noch einmal genauer, für den Fall, daß die Beleuchtung mich getäuscht hatte, aber er war hellgrau, genau wie der Brief es versprochen hatte. Er nahm langsam wieder Platz, warf mi r ein offenes Lächeln zu und fuhr sich mit der Hand durch die silberne Haarmähne. Ich hatte ihn vollkommen falsch eingeschätzt. Er hatte nichts von diesen sabbernden Typen in bekleckerten Hosen an sich. Er saß au f recht, seine goldgerahmte Brille war sorgf ältig zurechtgerückt, seine Haltung vornehm. Er hatte eine Art trauriger Würde an sich – eine Ausstrahlung, von der alte Menschen oft umgeben sind und die anderen das Gefühl vermittelt, daß sie Zeiten voller Schmerz und Tränen durchlebt haben, die man selbe r sich nicht im entferntesten vorstellen kann. Und er war noch immer attraktiv. Das Kinn fest und scharfg e schnitten, die Nase gerade und nicht vom Schnaps verf ärbt; nur die Ringe unter den Augen, verstärkt von den Brillengläsern, verrieten sein Alter. Mein Blick wurde von seinen Händen ang e zogen, die verschränkt in seinem Schoß lagen; die Haut war mit braunen Punkten wie mit Teeflecken bedeckt, ein weiterer Hi n weis darauf, daß er nicht mehr jung war. Einen Augenblick lang verspürte ich einen Anflug von Trau rigkeit bei dem Geda nken, daß Menschen auf solche Weise alt werden, langsam verfa llen, dahinwelken wie Pflanzen. Ich dachte, daß er als junger Mann wahrscheinlich einfach umwerfend gewesen sein mußte. An dem kleinen Finger seiner linken Hand steckte ein go ldener Siegelring – ich fragte mich, ob er wohl je verheiratet gewesen war. Er mußte gespürt haben, daß ich ihn so direkt angaffte, denn plötzlich wandte er sich um, nahm die Brille ab und blickte mich offen an. Er hatte weiche Augen von strahlendem Blau, eigent lich ziemlich freundlich, die mich nichtsdestoweniger so durc h dringend fixierten, daß ich wegsehen mußte. Ich begann nervös in meiner Handtasche nac h dem Buch zu kramen, das ich lesen sollte, und schlug es auf der erstbesten Seite auf.
Wie ich es heu te sehe, war genau das seine Absicht – mich dar an zu erinnern, wer ich war und was ich zu tun hatte, denn er sprach kein Wort und unternahm auch sonst nichts, außer, daß er seine Brille wieder aufsetzte und seine Aufmerksamkeit erneut der Landschaft vor de m Fenster zuwandte, sobald ich zu lesen begonnen hatte. Ohne daß es mir richtig aufgefallen war, hatte das Spiel schon begonnen. Eine Zeitlang versuchte ich erfolglos, mich auf das Buch zu konzentrieren. Abgesehen von der Tats a che, daß ich bislang nur eine n flüchtigen Blick hineingeworfen hatte, weil das Manuskript den Akzent auf das Ende des Buches legte, konnte ich nicht hoffen, auch nur eine Spur zu verstehen, solange Fox nur wenige Zentimeter von mir entfernt saß. Ich blätterte die Seiten um, las einige Sätze immer und immer wieder, nahm aber nichts davon auf; sie hätten genausogut in einer fre m den Sprache geschrieben sein können. Ein paarmal merkte ich, wie er mich ansah, und als der Zug durch einen Tunnel schoß, hatte er keine andere Wahl, als zu mir herüberzublicken, um seine Augen mit irgend etwas zu beschäftigen. Jedesmal wurde meine Angst stärker, denn die Gewißheit in mir wuchs, daß er bald sprechen oder sonst etwas unternehmen würde. Ich wußte, daß unsere Konversation planmäßig nicht vor unserem Halt in Croydon beginnen sollte, aber andererseits war ich sicher, daß er etwas sagen würde, daß er eine Erklärung abgeben würde für das, was vorging – oder wenn schon nicht das, dann wenigstens einen Hinweis auf seine genauen Erwartungen. Aber weder das ei ne noch das andere. Er unternahm nichts, sagte nichts, fuhr nur fort, aus dem Fenster zu starren. Einmal, als ich meine Haltung so veränderte, daß ich das Buch leicht in die Höhe hielt, entdec k te ich in dem Glasfenster zum Gang sein Spiegelbild. Ich gab vor, zu lesen, beschränkte mich tatsächlich aber darauf, ihn zu beobachten. Er streckte die Beine aus, stützte das Kinn in die Hand, verhielt sich sonst aber reglos. Mir kam der Gedanke, daß er mich genauso beobachten könnte wie ich ihn, und ich blinzelte ihm zu, aber er reagierte nicht. Später dann schlug ich aufreizend meine Beine übereinander, so daß der Saum meines Rocks weit
über die Knie hinaufru tschte, aber er schien vollständig in An spruch genommen von der vor dem Fenster vorüberfliegenden Landschaft. Wir verharrten in völligem tiefem Schweigen; ein absurdes Stück Theater. Der Bann des Unwirklichen wurde nur einmal kurz unterbr o chen; der Schaffner erschien, um unsere Fahrkarten zu kontro l lieren. Er platzte so unerwartet herein, riß die Tür so ungestüm auf, daß mir vor Schreck beinahe das Buch aus der Hand gefallen wäre. Das Rattern der Räder auf den Schienen hatte plötzlich wieder seine volle Lautstärke und wirkte irgendwie beruhigend. Ich konnte meine Fahrkarte nicht gleich finden, aber Fox beu g te sich sofort vor und streckte die seine dem Schaffner entgegen; sie wurde gelocht, und dann wartete der Schaffner, während ich hektisch meine Tasche durchwühlte. «Die anderen sind also nicht aufgetaucht?» fragte er. Die Frage richtete sich nicht direkt an einen von uns beiden, aber einen Augenblick lang verstand ich nicht, was er meinte. Dann fielen mir wieder die kleinen «Rese r viert»-Schildchen ein, die an die anderen Sitze geheftet waren. «Offenbar nicht», sagte Fox ruhig. Der Schaffner schüttelte den Kopf. «M anche Leute müssen wirklich Geld wie Heu haben», beklagte er sich, ehe er die Schil d chen von den leeren Plätzen zu reißen begann. Endlich fand ich meine Fahrkarte, und der Schaffner ging ohne ein weiteres Wort. Erneut wurde der Lärm der Außenwelt ausgesper rt, erstarb in demselben Moment, in dem die Tür zugeschlagen wurde. Nac h dem der Schaffner gegangen war, fiel mir erst die Bedeutung der Schildchen, die er mitgenommen hatte, auf: Fox mußte das ganze Abteil reserviert haben, um sicherzugehen, daß wir nicht gestört wurden. Danach konnte ich nicht mehr klar denken. Gatwick hatten wir bereits erreicht. Wir jagten nur so dahin. Ein Flugzeug befand sich gerade im Landeanflug und strich dicht über den Zug hi n weg, als wir den Flugplatz passierten. In ein paar Minut en wären wir in Croydon und die Konversation würde beginnen. Mein Verstand war wie leergewischt – ich konnte mich nicht an die
Anweisung erinnern, wer als erster das Wort ergreifen, wie der erste Satz lauten sollte. Ich blätterte die letzte Seite des Buche s auf, überflog sie hastig, als könnte ich dort einen Hinweis finden. Wie fing es an? Gott allein weiß, wie oft ich die letzte Seite jenes Buchs gelesen habe. Voller Verzweiflung studierte ich jedes einzelne Wort, aber nichts blieb hängen. Lediglich an der alle r letzten Satz kann ich mich erinnern – ein Mann fragt eine Frau: «Du wirst kommen, nicht wahr?», und alles bleibt in der Schw e be. Heute weiß ich, daß dieser Satz seine Bedeutung hatte, aber damals fühlte ich mich nur noch seltsamer, orientierungsloser und weniger in der Lage, mit der Situation fertigzuwerden. Dann fuhren wir durch die ersten städtischen Randbezirke, das offene Land lag jetzt hinter uns und wurde von dichter und dichter zusammenrückenden Häusern ersetzt, die mehr und mehr verwahrlosten und verfielen, je näher wir London kamen. Die ganze Zeit sagte ich mir, daß ich immer noch aussteigen konnte, wenn ich wollte – Himmel, ich konnte einfach aufstehen und das Abteil verlassen oder in Croydon aus dem Zug steigen. Es gab doch niemanden, der mich hätte zurückhalten können. Mein Herzschlag raste immer schneller; ich schwitzte und war außer Atem, die Luft im Abteil war auf einmal stickig. Wie ge hetzt sah ich mich um, registrierte die hübsche, saubere Aufm a chung der Sitze, den blauen, geknöpften St offbezug, die gestär k ten weißen Nackentücher, die Leselampen, den Spiegel. Fox trommelte sanft mit den Fingern auf der Leiste unterhalb des Fensters. Durch das Fenster auf der anderen Seite des Gangs konnte ich sehen, wie wir einen Lieferwagen auf der Stra ße neben dem Bahndamm überholten; er gehörte einem Autoverleih in Cro y don. Dann gingen wir in die große Kurve um eine ständig wachse n de Ansammlung von Neubauten, und der Zug wurde etwas langsamer. Ich konnte die Bremsen schleifen hören; ein leichtes Ruckein und dann ein Geräusch wie von einem Teekessel, in dem das Wasser anfängt zu kochen. Wir fuhren in den Bahnhof
ein, kamen abrupt zum Stillstand und warteten. Die Zeit schien den Atem anzuhalten. Ein paar Türen öffneten sich schnappend, auf dem Bahnsteig wurden Rufe laut, und die Türen fielen mit dumpfen Schlägen wieder zu. Ich blickte nicht auf. Wie gebannt starrte ich auf mein Buch. Es war soweit. Wenn der Zug sich in Bewegung setzte, mußte ich den Roman ausgelesen haben und das Buch schließen. In jenem Augenblick war ich mir absolut sicher, daß ich nicht in der Lage sein würde, zu tun, was Fox erwartete.
6 Es ist schon eigenartig: wann immer mir Gedanken über die Schauspielerei gekommen waren, hatte ich gedacht, daß sie einen beim erstenmal auf die Bü hne stoßen oder mit einem Text aus den Kulissen schubsen müßten. Tatsächlich aber ist es ganz anders. Heute weiß ich, daß man, wenn der Augenblick der Wahrheit da ist, wenn man sein Stichwort hört, nicht etwa vor lauter Angst sagt: «Ich kann nicht», oder, «Ich will nicht», so n dern man geht einfach raus und spielt seinen Part runter. Man hat gar keine Zeit zum Nachdenken, man ist darauf progra m miert, instinktiv zu reagieren. Mit einem Ruck setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Ich hatte den Teil meiner Rol le bestimmt tausendmal geübt: wie ich das Buch sinken lassen und dabei leise seufzen wollte. Zu meiner Überraschung – oder meinem Entsetzen – merkte ich, daß ich den ersten Schritt getan hatte. Er blickte mich an und fragte, seine Stimme freundlich, beinah e amüsiert. «Hat es Ihnen gefa l len?» Ich sah auf und erwiderte seinen Blick. Er lächelte; schwer zu beschreiben – trocken und ein bißchen überlegen. «Wie… wie bitte?» fragte ich. Meine Stimme klang schwach und viel zu hoch. «Das Buch… ich konnte nicht umhi n, den Titel zu lesen… hat es Ihnen gefallen?» «Oh! Ich verstehe. Ja… es hat mir gut gefallen; sehr gut. Ke n nen Sie es?» Er antwortete nicht sofort, und ich merkte, daß ich überstürzt und zu undeutlich gesprochen hatte. Ich fragte mich, ob er mich mit der Pause dazu bringen wollte, langsamer zu sprechen, aber er wirkte nicht, als wäre er aus dem Konzept gebracht. «Eh… ja. Tatsächlich habe ich es sogar mehrmals gelesen», antwortete er schließlich.
«Wirklich? Dann muß es Ihnen aber gut gefallen haben.» Wi e der lächelte er, antwortete aber nicht. «Das Ende war ja eher enttäuschend», fuhr ich rasch fort. «Ach ja?» «Man weiß nicht, was aus ihnen wird… Ich meine, man weiß nicht, ob sie weitergemacht haben.» «Nein, das weiß man nicht, das stimmt.» «Es verdirbt einem die ganze Geschichte – es ist, als hätte der Autor nicht gewußt, wie er sie beenden soll.» Er schwieg, vie l leicht um über meine Bemerkung nachzudenken, als hätte er diesem Argument nicht schon früher jede Menge Überlegung gewidmet. «Ich nehme an, die Möglichkeit besteht, daß er es wirklich nicht wußte.» «Das klingt nicht gerade, als wären Sie davon fest überzeugt.» «Nun… vielleicht nicht.» Wieder herrschte Schweigen. «Sie m a chen ein Geheimnis daraus», sagte ich. Er lächelte, beugte sich vor, als wäre er zu einem Entschluß gekommen. «Haben Sie das Motto gelesen?» «Eh… ja, ich glaube.» «Da haben Sie’s.» «Was habe ich da? Die Antwort?» «Ja. Kann ich das Buch mal für einen Moment sehen?» «Natürlich.» Auf dieses Stichwort hin streckte er die Hand aus, reichte ab er nicht ganz bis zum Buch heran wie es im Manuskript festgelegt war, deshalb rutschte er auf den mittleren Platz mir gegenüber. Als er das Buch ergriff, bemerkte ich, daß seine Hand schwach zitterte, und das überraschte mich; es war mir nicht in den Sinn gekommen, daß er ebenfalls nervös sein könnte. Ich versuchte herauszufinden was geschah: wir hatten uns genau an das Man u skript gehalten und dennoch kam es mir gar nicht vor wie ein Theaterstück, eher wie eine alltägliche Situation, und ich stellte überrascht fest, daß mir die Sätze meines Textes ganz geläufig von den Lippen kamen.
Er schob sich die Brille in die Stirn, wie jemand, der kurzsichtig ist, es tun würde, dann suchte er nach der Seite. Als er sie gefu n den hatte, hielt er das Buch auf Armeslänge von sich weg und begann leicht zu schielen. «Da haben wir’s ja schon», sagte er, bevor er zu zitieren anfing. Seine Stimme klang fast krächzend, während er jedes Wort mit präziser Betonung deklamierte. «Rasch nun, hier, jetzt immer – Lächerlich die ungenutzte traurige Zeit erstreckt sich vorher und nachher.» Er hielt das Buch noch einen Augenblick lang in die Luft und betrachtete es schweigend. Seine Augen waren weich. «Woher stammt das?» fragte ich, wie im Manuskript vorgesehen. «Eliot – ‹Burnt Norton›.» «Oh.» «Verstehen Sie jetzt?» «Ich bin nicht ganz sicher. Man weiß noch immer nicht, ob sie zusammenkommen oder nicht.» Er scharrte mit den Füßen, leicht irritiert und irgendwie beinahe jungenhaft. «Das ist es doch gerade! Es spielt überhaupt keine Rolle, ob oder ob nicht – verstehen Sie das nicht? Die Gewißheit sollte Ihnen gar nicht gegeben werden – der Autor wollte es nicht.» Er wartete darauf, daß ich etwas sagte, doch laut Manuskript hatte ich Schweigen zu bewahren. «Die Moral tritt so oder so klar zutage.» «Tut sie das?» «Natürlich tut sie das.» «Und wie lautet sie dann?» Er fixierte mich mit einem harten Blick, so daß ich mich zum erstenmal seit Beginn unseres Gesprächs unwohl fühlte. «Zeit ist unwiederbringlich», sagte er langsam. «Es gibt keine zweite Chance.» Er schloß das Buch und betrachtete es wie von fern. Ich nickte, obwohl ich nur die Hälfte verstand, und fuhr fort. «Ich verstehe»,
sagte ich. «Sie wollen sagen, wenn sie nicht miteinander geschl a fen haben, hätten sie es tun sollen.» «Es war ihre Verantwortung. Andernfalls hätte alles andere ke i nen Sinn gehabt, egal, ob es vorher oder nachher passierte.» Er beobachtete mich, um meine Reaktion zu prüfen. Vielleicht hätte ich schon in jenem Moment, ganz am Anfang der Ge schichte, einen ersten Schimmer davon haben müssen, was los war, aber es kam mir alles so abstrus, so verwirrend vor, daß ich mich beim besten Willen nicht zurechtzufinden vermochte. Ich glaubte ganz sicher, daß er mir eine Erklärung geben, mir sagen würde, was er beabsichtigte. Leichten Herzens fuhr ich fort: «Es bleibt trotzdem enttäuschend. Der Autor hatte kein Recht, ein Buch so zu beenden.» Seine Stimmung schlug um. Er lachte zurückhaltend und schnaubte. «Ich gebe Ihnen völlig recht.» Ich beobachtete ihn, wie er neuerlich das Buch be trachtete, den Umschlag auf sich wirken ließ, ehe er es mir zurückgab. Unsere Blicke kreuzten sich, und für einen Sekundenbruchteil glaubte ich, ihn blinzeln zu sehen; es war dieses Funkeln in seinen Augen. Ich war verwirrt, nicht länger sicher, ob er noch spielte, und wußte nicht, wie ich mich dazu verhalten sollte. Aber was immer es gewesen war, es ging vorüber. Er lehnte sich wieder gegen die Rückenstütze seines Sitzes und blickte wieder aus dem Fenster. An dieser Stelle sah das Manuskript eine Unterbrec hung vor – eine Atempause –, und ich schaute ebenfalls hinaus, denn ich erinnerte mich, daß er mit dem nächsten Satz an der Reihe war und daher entsche iden würde, wann die Pause beendet war. Ich entspannte mich. Inzwischen hatten wir uns Streatham genähert , und die Schi e nen neben uns vervielfältigten sich zu einem Gefüge miteinander verwobener Muster, die unter dem Fenster hin und her sch ossen. Ein Autofriedhof glitt vorüber mit Bergen vergammelnder Altrei fen und Schichten rostigen, zusammengepreßten Metall s, das kaum noch Ähnlichkeit mit den ehemaligen Fahrzeugen hatte ; dann ein Bahnhof, die sitzenden und stehenden Leute auf den Bahnsteigen sahen aus wie Plastikminiaturen auf einer Modelle i
senbahn. Ich überlegte, wie ich wohl gewirkt haben mochte, ob meine Sätze natürlich geklungen hatten oder nicht. Es war viel einfacher gewesen, als ich es mir vorgestellt hatte – wir hatten uns streng an das Manuskript gehalten, aber das machte es noch eigenartiger. Ich war sicher, daß er innerhalb der nächsten Minute fortfahren würde. «Leben Sie in London?» Er hatte wieder das Wort ergriffen, wie im Manuskript vorges e hen, aber die Plötzlichkeit und seine höfliche Art hatten mich in einem unaufmerksamen Moment ertappt, und ich mußte mich zusammenreißen, um mich auf meine An twort konzentrieren zu können. «Na ja… so in etwa», antwortete ich. «Entschuldigen Sie, es geht mich auch nichts an.» «Nein, nein – so habe ich es nicht gemeint. Ich komme nur gerade von einem Besuch bei meinen Eltern zurück, und ich weiß nie genau, ob ich jetzt dort zu Hause bin oder in London.» «Sind Sie Studentin?» «Ja.» «Was studieren Sie?» Er hielt inne, als hätte er sich selber reden gehört und verzog halb amüsiert das Gesicht. «Es tut mir leid, das muß Ihnen wie ein Verhör vorkommen.» «Nein, das ist schon in Ordnung, ich bin da nicht so», sagte ich, «aber vielleicht können Sie es erraten?» Seine Hand flatterte hoch zum Kinn. «Ach du meine Güte, da habe ich mir ja was Schönes eingebrockt.» «Na los doch – versuchen Sie’ s.» Ich bemühte mich, neckisch zu klingen, wie das Manuskript es verlangte, und mir wurde klar, daß die Person, die ich spielte, weit weniger schüchtern angelegt war, als ich im Augenblick scheinen mußte. «In Ordnung… Kunst?» riet er. «Falsch! Wie sind Sie gerade auf Kunst verfallen?» «Aus keinem besonderen Grund.» «Ach, kommen Sie, Sie müssen doch einen Grund dafür gehabt haben. Ich wette, es war meine Kleidung.»
«Vielleicht», sagte er dümmlich. Wir lachten beide, wie es im Manuskript stand. In meiner Nervosität klang mein Lachen etwas hysterisch, und ich sah ihn zusammenzucken. Ich war wieder an der Reihe. «Versuchen Sie’s nochmal.» Er überlegte. «Eh… Musik?» «Nein.» «Englisch?» «Nein.» «Du liebes bißchen, langsam wird’s peinlich.» Er lächelte. «Wie wär’s mit Atomphysik?» «Nein!» Wieder lachte ich, erfreut, daß es diesmal natürlicher zu klingen schien. «Bauen Sie mir eine Eselsbrücke.» Im Manuskript stand, daß ich jetzt ‹dick auftragen› sollte. Ich versuchte, so laienschauspielerhaft wie möglich zu klingen und rezitierte: «Wofür seid Ihr, Romeo?» «Theater, ja natürlich!» «Endlich.» «Wie dumm von mir – das hätte ich mir doch denken können.» Er ließ sich in die Polster zurücksinken und lächelte. Die ganze Geschichte wirkte so lächerlich harmlos, daß ihre Unschuld mir plötzlich bedrohlich ersch ien. Ein Hauch von Furcht ließ meine Haut erschauern – ich fragte mich, ob das dicke Ende nicht erst noch kommen würde. Seine Selbstbeherrschung war vollko m men; ich blickte verzweifelt aus dem Fenster, und kaum nahm ich die Szenerie draußen wahr, kam mir ein neuer, erschrecke n der Gedanke. Wir fuhren bereits durch Clapham Junction, und der Anblick des Bahnhofs, nur einen Katzensprung von London entfernt, ließ mir etwas durch den Kopf schießen, was ich vorher noch gar nicht bedacht hatte. Er mußte die ganze Sache genau ausgetüftelt haben. Er mußte den Dialog bis auf die letzte Se kunde berechnet haben, so daß der letzte Satz genau mit unserer Ankunft in Victoria Station zusammenfallen würde. Es war ein geradezu verrücktes, bis ins letzte Detail ausgefeiltes Arr ange ment: die Fahrkarten, das reservierte Abteil, der Augenblick, in dem ich das Buch zu schließen hatte – jede Einzelheit, und sei sie
noch so geringfügig, war berücksichtigt worden. Er mußte es vorher geprobt haben. Was dann geschah, hätte mir beinahe de n Rest gegeben. Ich vergaß total meinen Text. Natürlich war jenes plötzlich aufbli t zende Begreifen ein Schock für mich gewesen, aber als mich jetzt auch noch mein Gedächtnis im Stich ließ, geriet ich in Panik. Ein bedrückendes Schweigen entstand. Draußen vor dem Fenster teilten sich die Geleise. Alles glitt von mir weg. Ich spürte, wie mir das Blut ins Gesicht schoß. In diesem Moment hätte ich sagen sollen: O.K. das war’s. Ich habe jetzt genug von diesem ganzen Zauber, aber aus irgendeinem Grund erschreckte eine solche Vorstellung mich noch mehr; ich starrte Fox hilflos an, sehnte mich mit jeder Faser meines Wesens nach der Sicherheit des Manuskripts zurück. «Ich… eh…» stotterte ich, ehe ich sagte: «Oh, Gott!» Sein Lä cheln schwand auf der Stelle, und ein Aus druck müder Verzweif lung kroch über sein Gesicht. Ich hatte alles ruiniert, und zwar komplett. Er wartete noch einen Augenblick ab. In der Ferne konnte ich Battersea Power Station sehen – wir hatten beinahe schon Victoria Station erreicht. Ich betete darum , gerettet zu werden. Wenn mir nur mein Text wieder einfiele, wenn ich nur aushielte, bis wir angekommen waren. «Und Sie?» Das Stichwort wurde geflüstert, als existierte ta t sächlich ein Publikum, das es hören könnte. «Oh Gott, ja», plat z te ich heraus, ehe ich den Versuch unternahm, mich wieder in den Griff zu kriegen – die Sätze aus dem Manuskript brachen wie eine Sturmflut aus mir hervor. «Und Sie? Aber verlangen Sie von mir nicht, zu raten, denn ich habe nicht den geringsten Anhalt s punkt.» Es klang absurd, aber sein Stirnrunzeln glättete sich, und er zögerte. Ich war nicht sicher, ob er das Zögern spielte oder ob ich ihn ebenfalls aus dem Konzept gebracht hatte. «Ich… ich bin an der Sussex -Universität.» Dann rasch: «Ich halte dort Vorl e sungen.» Ich lachte. «Doch nicht zufälligerweise Englisch?» «Nein, nein.» Er entspannte sich. «Französisch.»
«Darin war ich in der Schule nie besonders gut.» Er lächelte und zuckte mit den Schultern. «Aber ich bilde mir gern ein, daß die Schuld bei meinem Lehrer lag», sagte ich. «Ja, im allgemeinen ist es unser Fehler, fürchte ich.» Ich lachte, nicht weil mich die Bemerkung amüsiert hätte, sondern aus Erleichterung darüber, daß ich wieder einigermaßen Haltung gewonnen hatte. Wir überquerten mittlerweile die Themse, und Fox und ich blickten beide zur Chelsea Bridge hinüber. Sie gli t zerte weiß im kalten Sonnenschein, ein leuchtend roter Bus befand sich auf halber Strecke zwischen beiden Ufern. Jetzt, wo das Ende nahe war, hatten wir zu einem leichteren Tonfall ge funden. «Wie auch immer, das Theater ist weit interessanter», sagte er. «Erzählen Sie mir mehr darüber.» «Es ist ein Job wie jeder andere.» «Ich bin sicher, das stimmt nicht.» «Doch, das ist es, glauben Sie mir. Wenn Sie an einer Rolle ar beiten.» Der Zug wurde langsamer, und wieder hörte ich dieses Ge räusch wie von kochendem Wasser. «Sind Sie eine sehr gute Schauspielerin?» «Auf diese Frage erwarten Sie doch keine ernsthafte Antwort, oder?» «Warum nicht?» «Es wäre nicht besonders bescheiden, wenn ich ‹ja› sagte, nicht wahr?» «Versuchen Sie’s.» Er rutschte vor bis an den Rand seines Sitzes. Ich schluckte. «Na gut», sagte ich. «Ich bin einfach grandios.» Wieder funkelten seine Augen, nur für einen Augenblick, dann lehnte er sich zu rück. «Ich dachte, Sie wären es vielleicht wir klich», sagte er und zwin kerte mir zu. Erneut war ich überrascht und unsicher, ob es sich um Spiel oder Wirklichkeit handelte. Sollte das Blinzeln ande u ten, daß ich gut war oder nur die Person, die ich spielte? Das Manuskript hatte kein Blinzeln erwähnt. Aber die Stunde der
Prüfung war fast vorüber. Der Zug schob sich bereits an der Bahnsteigkante entlang, und von draußen drangen Rufe und das Schlagen von Türen ins Abteil. Flüchtig hatte ich das Gefühl, in eine heile gesunde We lt zurückzukehren, jetzt, wo die Reise ihr Ende nahm, genau wie das Manuskript. Er stand plötzlich auf und strich seinen Anzug glatt. «Nun, es sieht so aus, als wären wir angekommen», sagte er. «Auf all e Fälle wünsche ich Ihnen viel Glück mit der Schauspielerei – schade, ich hätte gern mehr über Sie erfahren.» «Vielleicht kann ich Ihnen ja das nächste Mal, wenn ich diese Strecke fahre, mehr erzählen.» Er lächelte. Ich verstaute das Buch in meiner Handtasche und schickte mich an, ebenfalls aufzustehen. «Und herzlichen Dank dafür, daß Sie mir behilflich waren, den Sinn des Romans zu verstehen. Welches Buch des Autors würden Sie mir als nächstes empfehlen?» Meine Beine waren weich wie Gummi, als ich mich hochzog; der Zug blieb stehen, und ich wäre beinahe wieder in den Sitz zurückgefallen. Seine Hand gab mir Halt. «Tja, ich weiß nicht recht. Vielleicht Rückstart.» Er hielt inne, eine Hand auf dem Türgriff. «Nein, warten Sie. Das Duett – das wird Ihnen gefallen.» «Warum?» «Das Ende ist gänzlich unmißverständlich – das Paar schließt einen Selbstmordpakt.» «Mußten Sie mir das verraten?» «Entschuldigung!» Er lächelte. «Ich konnte nicht dagegen an.» Er schob die Abteiltür auf, und ein Schwall kalter Luft traf uns. Ich fühlte mich plötzlich stolz und voll freudiger Erregung da r über, daß ich es tats ächlich geschafft hatte. «Kann ich Ihnen Ihr Gepäck abnehmen?» «Es geht schon, danke.» Er wartete auf mich, während ic h die Tasche aus dem Netz hob, und bedeutete mir, vor ihm auf den Gang zu treten. Die letzten Zeilen des Textes sollten laut Man u skript au f dem Bahnsteig gesprochen werden. Bis wir draußen waren, sagte er kein Wort, und vorübergehend glaubte ich, daß er
sich drücken würde und den Teil, wo er sie zu einem Drink einlädt, einfach wegfallen ließe. Wir gingen auf die Sperre zu, plötzlich überall von Menschen umgeben: das Publikum. Ich fühlte mich erleichtert und froh, wieder in London zu sein, in vertrauter Umgebung. Ich vermutete, daß sich das Spiel von nun an ändern würde – daß jetzt, wo wir uns wieder mitten im wirkl i chen Leben befanden, alles anders verlaufen würde; die geheime Welt des Zugabteils lag nun einmal hinter uns. Ein Gepäckträger machte einen Schritt zurück, gerade als ich an ihm vorbeiging, ich geriet aus dem Tritt, und Fox prallte gegen mich. Seine Reaktion war außergewöhnlich; er sprang zur Seite, als hätte er einen Stromschlag erhalten. Dann entschuldigte er sich ungeschickt und mit viel zuviel Nachdruck. Ganz offensicht lich durften wir uns nicht berühren – jedenfalls jetzt noch nicht. Er unternahm keinen Versuch, unseren Zusammen stoß als Vorwand zu benutzen, damit er mich betatschen konnte. Wir gingen weiter. Endlich, als wir nur noch ungef ähr zehn Meter von der Sperre entfernt waren, blieb er stehen. «Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit. Möchten Sie gern etwas trinken?» Seine weichen blauen Augen wirkten jetzt nervös. «Ich kenne ein hü b sches Lokal gleich hier um die Ecke.» Ich dachte: jetzt geht’s los. Mit meiner verführerischsten Lolita Stimme antwortete ich: «Ich fürchte, ich muß gleich zur Schule. Wir haben heute nachmittag Pr obe.» Er schien enttäuscht zu sein, obwohl es genau so im Manuskript gestanden hatte. «Trot z dem herzlichen Dank…» «Verstehen Sie mich nicht falsch. Nur einen Drink auf di e Schnelle…» «Ich möchte wirklich gern… aber…» Es entstand ein kurzes Schweigen. Leute hasteten vorüber. Er wartete, bis sie irgendwo verschwunden waren, ehe er in fragendem Tonfall zitierte: «Rasch nun, hier, jetz t…» Ich griff es auf. «‹Lächerlich die traur i ge verschwendete Zeit› – war es das?»
«Beinahe – die ungenutzte traurige Zeit – , aber dicht dran.» Ich hielt noch einen Moment länger durch, bis ich sagte: «Na gut, warum nicht? Aber nur einen…» «Sie sind auf dem richtigen Weg», sagte er und strahlte. Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Das war das Ende des Manuskripts. Er ni ckte, als wolle er mir zu meiner Leistung gratulieren. Am liebsten hätte ich gefragt «War ich gut?» oder «Wollen Sie mir nicht applaudieren?», aber ich kam nicht dazu – er hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt, und ich war gezwungen, ihm zu folgen. Auch an der Sperre brachen wir unser Schweigen nicht. Wir gaben unsere Fahrkarten ab und marschier ten auf den Ausgang zu. Ganz plötzlich spürte ich, wie meine Stimmung umschlug. Ich weiß nicht genau, warum; ich denke, ich muß ihm einen Seitenblick zugewor fen und den Ausdruck von Besorgnis und Unruhe auf seinem Gesicht gesehen haben. Aber was immer es war, ich fühlte mich auf einmal niederg e schlagen. Mir war wieder eingefallen, was nun kommen würde. Ich dachte, tja, das war’s wohl, die Ferien sind vorüber, jetzt heißt es wieder an die Arbeit gehen. Soviel zum Thema Spaß, die kleine Charade. Es war etwas anderes und eine angenehme Ab wechslung gewesen, solange es gedauert hatte, aber jetzt mußte der geschäftliche Teil der Reise anfangen. Und ich hatte einfach nicht die Nerven dafür. Die Szene in der Kneipe, das langsame Fallenlassen der Maske. In ein paar Stunden würden wir uns in meiner Wohnung befinden. Ich betrachtete ihn, sah ihn so, wie all die anderen hinterher dalagen, wie er zu verstehen versuchte, warum er es unbedingt hatte tun müssen. Es war idiotisch gew e sen von mir, das zu vergessen; jetzt fühlte ich mich elend und wütend. Die deprimierende Bahnhofsatmosphäre vertiefte meine Stimmung nur noch; durchschnittlich, billig und herunterg e kommen. Ich ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Ich bin ganz sicher, was ich gesagt hätte –zweifellos etwas Sarkastisches wie: «Nun, Mr. Fox, das war ja nun alles ganz lustig – wie geht’s denn nun weiter?», aber ich kam nicht dazu, es zu sagen. Ich hätte dadurch die eherne Regel gebrochen, derzufolge ich keine Fragen
stellen durfte. Wir hatten den Ausgang fast erreicht, als er abrupt stehenblieb und sich gegen die Stirn schlug. «Oh, verdammt!» «Na, was ist denn?» fragte ich. «Ich habe meinen Regenschirm im Zug vergessen.» Er sah mich nicht an. «Hören Sie, würden Sie einen Moment hier auf mich warten. Ich laufe schnell zurück und hole ihn.» «Sicher», sagte ich und zuckte mit den Schultern. «Was immer Sie wollen.» «Es dauert nur ein paar Sekunden.» Ich nickte uninteressiert, und er drehte sich um und ging. Ich sah ihm nach, wie er entschlossen auf die Sperre zueilte. Sein silbernes Haar bewegte sich bei jedem Schritt auf und nieder. Dann verlor ich ihn in der Menge aus den Augen. Ich stand da, starrte mit leerem Blick auf das Men schengewühl und überlegte, was ich tun sollte. Er hatte mir eine Chance gegeben, auszuste i gen, wenn ich wollte – jetzt war es an mir, mich davonzumachen, der Augenblick, in dem ich mich am besten absetzen konnte, wie ich schon vorher beschlossen hatte. Abe r nun wußte ich nicht, was ich wollte. Ich versuchte, mir Fox in Erinnerung zu rufen, aber schon hatte sich sein Gesicht in Nichts aufgelöst. Er hatte nicht versucht sich nur zu nähern. Genaugenommen hatte er überhaupt nichts versucht. Ich blickte mich um, sah um mich herum die müden Gesichter der Langeweile, hörte das Echo leerer Stimmen überall im Bahnhof. Es gab nichts, einfach nichts, auf das ich mich freuen konnte. Meine Ferien in Brighton waren zu Ende, die Schauspielerei hatte ihr Ende gefunden. Ich wollte nicht bleiben und schaffte es dennoch nicht, zu gehen. Wenn ich wartete, was würde geschehen? Vielleicht hatte ich ihn falsch verstanden. Das Zitat aus dem Buch kam mir in Erinnerung. Es gibt keine zweite Chance. Ich verlagerte mein Gewicht auf den anderen Fuß und setzte meine Tasche ab. Ich würde sehen, was im Lokal passierte, bevor ich meine endgültige Entscheidung traf. Aber Fox kam nie zurück.
7 Ich muß wohl mindestens zwanzig Minuten gewartet haben, bis ich die Hoffnung, daß Fox doch wieder auftauchen würde, en d lich aufgab. Anfangs redete ich mir ein, es wäre mir egal. Wä h rend ich mit der Untergrundbahn nach Hause fuhr, versuchte ich mir vorzumachen, daß es nicht etwa Enttäuschung oder Niede r geschlagenheit war, was ich fühlte, sondern nur ein e Art alberner Antiklimax. Ich sagte mir, daß ich dankbar dafür sein müßte, daß nichts passiert war; tatsächlich versuchte ich mir sogar vorzum a chen, mich über sein Verschwinden zu freuen: so brauchte ich weder die Szene in der Pute über mich ergehen zu lassen noch das erniedrigende Ritual in meiner Wohnung. Im letzten Moment hatte er kalte Füße bekommen und sich aus der Affäre gezogen – und mir war der peinliche Teil der ganzen Geschichte erspart worden. Nein, der wahre Grund, warum ich mich etwas depr i miert fühlte, war, daß ich den Blick für die Realität verloren hatte; auch gut, jetzt hatte ich eben meine verdiente Strafe bekommen. Ich erblickte mein Spiegelbild im Fenster des U -Bahnwagens und sah das Gesicht einer Idiotin – unschuldige, einf ältige Augen, eine blöde Nutte, die vergessen hatte, was sie war. Hochkarätige Edelnutte! Ganz große Sonderklasse! So eine brillante Schauspi e lerin, daß ich mich sogar selbst aufs Kreuz gelegt hatte. Dann beschlich mich noch ein anderes Gefühl, ganz schwach am Anfang, sozusagen nur der Hauch eines Gefühls. Ich war ein wenig in meinem Stolz verletzt. Er hatte mich nicht attraktiv gefunden, er war nicht die Spur scharf auf mich gewesen. Das Bild, das ich ihm geschickt hatte, hatte gelogen; meine Augen hatten ganz und gar nichts Lockendes an sich. Es war ein Kam e ratrick gewesen, ein Lichteffekt. Unvermittelt schien mich das große Elend zu überkommen. Ich bildete mir ein, die anderen Passanten würden mich anstarren, mein verschwitztes Kleid klebte mir am Rücken. Mein mühsam
aufgebautes Selbstbewußtsein bröckelte und brach rund um mich zusammen. London war der übelste, unpersönlichste Ort, den man sich vorstellen konnte. Ich kam mir vor wie ein Stück Fleisch auf dem Hackbrett eines Metzgers, ein Stück, das ein wählerischer Kun de zugunsten eines anderen zurückgewiesen hatte. Mir gegenüber räusperte sich ein alter Mann laut und anhaltend, bevor er in sein Taschentuch spuckte. Ich hatte Angst, mir würde schlecht und ich müßte mich übergeben. Als ich an jenem Nachmittag nach Hause kam, mußte ich fes t stellen, daß in meine Wohnung eingebrochen worden war – weiß Gott eine an Zynismus nicht mehr zu überbietende Wendung des Schicksals. Geld hatten sie keins gefunden, aber sie hatten den Fernseher und das Radio mitgenommen und einige Nipp esfigu ren zerschlagen, wohl nur so zum Spaß. Die Wohnung hatte jene scheußliche Atmosphäre, die sich einstellt, wenn jemand mit Gewalt eingedrungen war, deine Sachen begrabscht hat. Ich hatte das Gefühl, verletzt worden zu sein, auf dunkle, unverständliche Weise vergewaltigt. Trotzdem weinte ich nicht, obwohl ich kurz davorstand, aber dann kaufte ich mir eine Flasche Wodka und trank mir einen gehörigen Rausch an. Ich erinnere mich, wie ich an jenem Abend in einem Sessel mitten drin in dem verwüsteten Durcheinander in meinem Zimmer saß, mit Fox ’ Scheck vor meinen Augen hin und her wedelte und versuchte, die Geschic h te von der komischen Seite zu sehen. Zahlbar an Ms Sylvia Ri vers – das war ja wohl zum Lachen. Ich konnte den Scheck nicht einmal einlösen – der Fangschuß. Doch als Tom mir vierzehn Tage später den zweiten Umschlag überreichte, kapierte ich, daß die Reise nach Brighton nur eine Probevorstellung gewesen war. Zuerst konnte ich es einfach nicht glauben. Diesmal machte ich mir nicht die Mühe, auf die Toilette zu rennen, um den Inhalt anzuschauen, sondern riß den Umschlag an meinem Platz auf, ohne mich darum zu kümmern, ob die anderen zuschauen konnten oder nicht. Ich erinnere mich, daß ich den Inhalt nicht sofort herauszog, sondern erst einmal in den Umschlag spähte, als hätte ich Angst vor dem, was ich vie l
leicht finden könnte. Das Kuvert enthielt einen weiteren Bogen Papier und wieder einen Scheck, lose beiliegend. Ich zog ihn heraus. Er belief sich auf 150 Pfund. Ich war vollkommen pe r plex. Ich muß kre idebleich geworden sein – June, eine der anderen Tippsen, beobachtete mich und erkundigte sich, was ich denn hätte. Ich war so verwirrt, daß ich den Scheck in das Kuvert zurückstopfte und nicht wußte, was ich ihr antworten sollte. Sie fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Sie sagte, ich wäre leiche n blaß und bot mir an, etwas zu trinken zu holen. Da endlich fiel mir eine Antwort ein. Ich sprudelte hervor, daß ich in Ordnung wäre, alles bestens – mein Vater hätte mir lediglich etwas Geld geschickt, das sei al les. Es war mir klar, daß sie mir kein Wort glaubte. Sie warf mir einen mißbilligenden Blick zu und schien noch ‘ne spitze Bemerkung draufsetzen zu wollen, überlegte es sich dann aber anders. Ich steckte den Umschlag in meine Ta sche und beschäftigte mich mit dem Papierkram auf meinem Schreibtisch. Ich wartete ein halbe Stunde, dann hielt ich es nicht länger aus. In der Sicherheit einer verschlossenen Klozelle kippte ich mir mit vor Aufregung zitternden Fingern den Inhalt des Kuverts auf den Schoß. Wieder prüfte ich den Scheck. Kein Irrtum – 150 Pfund, zah l bar an Ms Sylvia Rivers und von derselben Bank in der City Londons. Vorsichtig schob ich ihn wieder zurück: mit zwei Fingern, wie eine Glasscherbe. Dann, ein neues Manuskript. Diesmal war es länger; es umfa ßte ungefähr fünf Seiten, und ich überflog es rasch. Auch dieser Text schien keinen Sinn zu ergeben; ich beschloß, mich zu Hause sorgfältiger damit zu beschäftigen. Und schließlich war da, genau wie beim erstenmal, ein Brief. Ohne Briefkopf. Ohne Absender. Er lautete:
Liebe Ms Rivers,
Ich war von Ihrer Leistung im Zug am 21. März sehr beeindruckt
und möchte mich für mein kommentarloses Verschwi nden
entschuldigen.
Ich wäre Ihnen nun sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie ein weiteres Engagement annehmen würden , etwas längerwährend diesmal, aber wieder ohne alle Tücken. Den Dialog, den zu lernen ich Sie bitten möchte, lege ich bei. Sie spielen dieselbe Rolle wie im Zug; der Name des Mädchens ist Juliet Kent, und sie ist, wie Sie wissen, Schauspielschülerin. Dies mal treffen sie sich in der Tate Gallery, eher zuf ällig. Sie haben den Mann seit der Zugfahrt und dem anschließenden Drink in dem Lokal nicht mehr gesehen. Er sitzt auf einer der Bänke gegenüber einem Gemälde mit dem Titel «Nach dem Essen» von Patrick Caul field in der Abteilung Moderne Britische Malerei, und zwar um 15 Uhr am 11. April. Sollte Ihnen dieser Termin nicht passen, nehmen Sie bitte so schnell wie möglich über Chiffre 1453 Kontakt mit mir auf. Bitte halten Sie sich genau an die im Dialog erteilte n Anweisun gen, und ich darf Sie noch einmal ersuchen, keine Fragen zu stellen. Tun Sie nichts, was nicht zu Ihrer Rolle gehört, auf gar keinen Fall. Auch diesmal lege ich einen Scheck bei, den Sie hoffentlich für Ihre Dienste als angemessen betrachten. Sol lte er aber nicht ausreichen, so schreiben Sie bitte an Chiffre 1453, und wir wer den versuchen, zu einer zufriedenstellenden Lösung zu gelangen. Ich freue mich darauf, Sie am 11. April wiederzusehen. Mit freundlichen Grüßen P. Fox Ich brauchte nicht lange , um zu entscheiden, daß ich wieder mitmachen würde. Mein Entschluß stand sofort fest, obwohl ich das Manuskript noch nicht richtig gelesen hatte. Vor allem war ich überglücklich, daß er mich doch nicht zurückgewiesen hatte. Mein ganzer Schwung und das Int eresse, die ich während der
letzten vierzehn Tage verloren hatte, kehrten in einer Springflut plötzlichen Selbstvertrauens zurüc k: ich hatte die Rolle beko m men – er war von meiner Leistung «sehr beeindruckt» gewesen. Kaum war ich an jenem Nachmittag zu Hau se angekommen, setzte ich mich hin und las das Manuskript. Um ehrlich zu sein, ich kann nur sagen, es war ziemlich enttäuschend. Es bot wieder keinerlei Information über ihn. Ich hatte gehofft, im Dialog eine Erklärung für die ganze Geschichte zu finden, aber es gab keine. Er war intellektueller und gekünstelter verfaßt als der im Zug, doch nicht weniger verwirrend – im Gegenteil. Weder enthielt er Einzelheiten über die Person von Fox, noch Hinweise auf seine Herkunft oder seinen Wohnort; das einzige, was enthüllt wurde, war sein Vornam e: Paul. Das wenigstens paßte zu ihm – P. Fox, Paul Fox –, aber es half mir auch nicht weiter. Wirklich überr a schend aber war, wie sich die Rahmenbedingungen geändert hatten. Ich hatte beim ersten Mal den Dialog für eine Konta kt aufnahme zwischen Freier und Nutte gehalten; ein alter Mann, der im Begriff stand, einem Mädchen einen Antrag zu machen; diesmal war es genau andersrum. Ich sollte ihm einen Antrag machen. Diesmal hatte er mich zur Anstifterin der ganzen Ang e legenheit gemacht; vage überlegte ich, ob das wohl von Anfang an sein Ziel gewesen sein mochte – sich die Genugtuung zu verschaffen, daß er von mir angemacht wurde und nicht umg e kehrt. Undeutlich kam mir der Gedanke, daß er auf diese Weise vielleicht seine Moral hochhalten wollte: vielleicht glaubte er, daß er, wenn er das Mädchen den ersten Schritt tun ließ, selbst keine Verantwortung mehr an dem trug, was geschehen würde? Denn Juliet, das Mädchen, war in der Tat alles andere als schüchtern. Jene Direktheit und das Se lbstvertrauen, das ich schon im ersten Manuskript an ihrer Rolle entdeckt hatte, war wieder da, diesmal noch stärker betont – sie neckte und lockte ihn, ja sie beschwatzte ihn geradezu, mit ihr zu gehen. Sie war geradeheraus, zudringlich und obendrein amüs ant. Ich selbst wäre ganz gern so gewesen wie diese Juliet auf dem Papier. Zu
meiner Überraschung merkte ich, daß ich anfing, mich auf die Rolle zu freuen. Als der 11. April dann nahte, wurde ich natürlich wieder immer nervöser. Zugegeben, es war kaum lä nger als eine Woche her, daß ich das Manuskript erhalten hatte, aber ich hatte jeden freien Augenblick damit zugebracht, die Rolle einzustudi eren, um jede Nuance genau hinzukriegen. Laut Manuskript sollte ich einen Museumsführer in der Hand halten, und des halb war ich schon ein paar Tage in der Tate Gallery gewesen und hatte mir einen gekauft und die Gelegenheit gleich dazu genutzt, mal nachzus e hen, wo all die Bilder, auf die sich der Text bezog, hingen – alles in allem hatte ich mir wirklich große Mühe gemacht und die ganze Sache sehr ernst genommen. Außerdem hatte ich ein neues Bankkonto eröffnet. Aus dem Ende dieses Manuskripts schloß ich, daß es eine Fortsetzung geben würde, und wenn ich auch diesmal meine Sache gutmac h te, würde es mit Sicherheit auch ei nen weiteren Scheck geben. Ich war begierig, weiterzumachen, erpicht darauf, diese Ge schichte in der Tate Gallery hinter mich zu bringen, damit wir an dem nächsten Manuskript arbeiten konnten. Nur sehr selten plagten mich meine anfänglichen Befürchtungen – ich sah in Fox nicht länger einen dieser traurigen, bemitleidenswerten Typen, von denen ich bereits gesprochen habe. Tatsächlich hatte ich beinahe vergessen, wie unsere Beziehung überhaupt zustande gekommen war. Von 14 Uhr 30 an wartete ich vor dem Museum. Angezogen war ich ungefähr so wie bei der Zugfahrt – gestreiftes T-Shirt, Jeans und Stiefel diesmal, aber immer noch so, wie man es von einer Schauspielschülerin erwarten würde. An dem Tag war es allerdings kälter und windiger, deswegen trug ich eine leuchtende, metallisch glänzende Skijacke, die, wie ich fand, gut zu dem geforderten Image paßte. Ich war eine Dreiviertelstunde früher zur Stelle, weil ich gewissermaßen vor dem Bühnenauftritt einen Blick auf ihn erhaschen wollte. Ich bin mir nicht ganz
sicher, was ich eigentlich zu sehen hoffte, das mir helfen würde, die Situation zu verstehen – die Richtung, aus der er kam? Einen Wagen? Eine Begleitung? In jedem Fall war es verschwendete Zeit, denn ich erfuhr nichts von Bedeutung. Eine Gruppe alter n der Hipp ies hatte sich auf der weißen Treppenflucht, die zum Haupteingang hinaufführte, niedergelassen, und ich versteckte mich hinter ihnen, in der Hoffnung, daß Fox mich nicht beme r ken würde, wenn er eintraf. Er bemerkte mich tatsächlich nicht. Um drei Uhr hielt ein Taxi vor dem Außentor, und Fox erschien. Er hatte noch genau fünfzehn Minuten, um sich in aller Ruhe an seinen Platz zu begeben. Er sah genauso aus wie beim letzten Mal: das silberne Haar, die Brille, der graue Anzug, aber diesmal trug er einen schwer en Mantel, der eine Stange Geld gekostet haben mußte. Eigentlich hatte ich erwartet, daß er irgendwie heimlichtuerisch wirken müßte; ich hatte mir vorgestellt, daß er sich immer wieder nervös umblicken würde, um festzustellen, ob er vielleicht ve r folgt wur de – alles, was man so tut, wenn man Heimlichkeiten vorhat. Aber er tat nichts dergleichen. Er bezahlte den Taxifa h rer, blickte auf seine Armbanduhr und ging dann zielstrebig auf das Gebäude zu, wobei er weder nach rechts noch nach links blickte; ein Mann, der zu tun hatte. Ich war ein wenig enttäuscht; halb und halb hatte ich mir gewünscht, seine Reaktion beobac h ten zu können, wenn er mich vor der ausgemachten Zeit erblic k te – würde er mir zu verstehen geben, daß er mich erkannte, oder in eine andere Richt ung blicken? Vermutlich das letztere, anso n sten hätte das Manuskript wenig Sinn ergeben. In jedem Fall, ich würde es nie erfahren, denn er verschwand beinahe genauso schnell im Inneren des wuchtigen Gebäudes, wie er davor aufg e taucht war. Ich blieb noch ei n paar Minuten draußen sitzen, bis ich mich aufrappelte und hineinschlenderte. Im Gewühl der vielen Me n schen, die durch die Räume gingen, hatte ich plötzlich ein ung u tes Gefühl: diesmal würde das Spiel nicht in der abgeschlossenen Welt eines Abteils stattfinden, diesmal würden wir von Menschen
umgeben sein, die uns vielleicht den Blick auf die laut Manuskript zu studierenden Bilder verstellten, uns anrempelten oder gar unterbrachen. Unvermittelt hatte ich das Gefühl, der Situation doch nicht gewachsen zu se in, eingeschüchtert von dem Geda n ken an das, was vor mir lag. Wieder lockte die Vorstellung, ei n fach abzuhauen – ich hatte sein Geld bekommen, ich brauchte gar nicht hier zu sein; jeder, der seine fünf Sinne beisammen hatte, hätte die 150 Pfund genommen un d auf den Kopf geha u en, statt nach den Anweisungen eines obskuren Manuskripts hier in der Tate Gallery herumzulungern. Ich war beinahe soweit, mich umzudrehen und zu gehen, als ich plötzlich dachte, nein, das wäre ein Fehler – du hast hier eine Gans, die goldene Eier legt. Wo die ersten herkommen, sind noch mehr; wenn er dir das nächste Manuskript und einen weit e ren Scheck geschickt hat, kannst du dich immer noch absetzen. Fünfzehn Minuten, und alles ist vorbei. Davon abgesehen, wenn du wirklich ehrlich bis t, du wüßtest nur zu gern, was passieren wird.
8 Er saß genau da, wo er es angekündigt hatte, auf der Bank ge genüber dem Gemälde, welches er erwähnt hatte. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, als ich mich ihm näherte – was auch nicht von mir erwartet wurde – , denn das Treffen sollte ja rein zufällig sein. Ich konnte mir die Szene gut in ihrem Zusammenhang vorstellen. Laut Text gönnte er sich eine kurze Ruhepause; er war seit ungef ähr einer Stunde im Museum und erschöpft von der vielen Kunst, so daß er sich fünf Minuten hingesetzt hatte, bevor er weitermachte. Ich trat näher heran, bis ich ungefähr fünf Meter hinter ihm stand und mir zum erstenmal der Tatsache bewußt wurde, daß ich einige Macht über diesen Mr. Fox hatte. Das Gemälde war seltsam, es wirkte auf mich beunruhigend. Es zeigte das Innere eines Restaurants, einen Tisch, ein paar Stühle, eine Trennwand, im Hintergrund einen weiteren Raum und eine Gestalt, die sich durch ein Servierfenster oder über die Schwin g tür zum Saloon lehnte. An der Trennw and hing ein Plakat von einem Alpensee und einem Schloß; davor stan d ein Aquarium mit ein paar Fischen darin. Nichts Außergewöhnliches, alles absolut glaubwürdig: die Innenansicht eines ruhigen italienischen Restaurants vielleicht. Das Seltsame daran war der Stil, in dem es gemalt war: die Dekoration hatte etwas von einer Blaupause an sich. Die Stühle, der Tisch, sogar die Gestalt waren nur Umrisse, die der Maler mit blauer Farbe ausgefüllt hatte, abgesehen von dem Alpenposter. Letzteres war haarklein und bis ins letzte Detail ausgearbeitet worden wie eine riesige Fotografi e: es wirkte fast überrealistisch, denn sogar der blaue Dunst der Berge war perfekt gemalt. Das Gemälde rief ein eigentümliches Gefühl hervor, denn es ließ einen über die Wirklichkeit der verschiede nen Komponenten nachdenken – war nur das Poster wirklich oder nur das Restaurant oder beides? Während ich mich Fox näherte, stellte sich mir unsere Situation einen flüchtigen Auge n
blick lang genauso dar: wer tat diesen Schritt – war es Juliet ode r ich selber? Ich trat neben die Bank und blieb stehen, wobei ich so tat, als wolle ich nachprüfen, ob er es wirklich war oder nicht, ehe ich mich vorbeugte. Er wandte sich mir halb zu, spürte meine Ge genwart, die Nähe eines anderen. «Nun, gefällt es Ihnen ?» fragte ich leichthin, einen neckenden Tonfall in der Stimme. Er fuhr herum, blickte überrascht auf und sagte dann: «Mein Gott! Hallo! Was machen Sie denn hier?» «Dasselbe wie Sie, vermute ich», lautete meine Antwort. «Bilder anschauen.» Er lächelte. «En tschuldigen Sie, das war eine ziemlich dumme Frage von mir – Sie haben mich überrascht.» «Das wollte ich auch. Sie sahen aus, als wären Sie eine Ewigkeit weit entfernt.» Ich deutete auf den freien Platz neben ihm. «Darf ich?» «Natürlich.» Ich setzte mich. Glücklicherweise saß niemand sonst in unserer Nähe. «Wie auch immer», fuhr ich fort, «gefällt es Ihnen?» Er schien verwirrt. Ich streckte die Hand aus. «Das Bild – ge fällt es Ihnen?» «Oh! Ja, sehr. Und Ihnen?» «Ich glaube an dem Punkt waren wir schon einmal.» «Wie?» «Das Buch, erinnern Sie sich nicht? Das war das erste, was Sie im Zug zu mir sagten: «Hat es Ihnen gefallen?» Er lachte. Wieder fielen mir seine Augen auf; sie funkelten – vor einem ganz eig e nen, inneren Amüsement, das nicht für mich bestimmt wa r. «Stimmt, das habe ich.» Er schwieg einen Augenblick lang. «Nun, dann bin ich jetzt an der Reihe – wie lautet Ihr Urteil?» Ich setzte eine ernste Miene auf und posierte mit ausgestreckter Hand. «Ich finde, das Bild-im-Bild-Element verstärkt den surre a len Eindruck, was meinen Sie?» sagte ich geschwollen. Er blickte mich von der Seite an, auf dem Gesicht den Au s druck staunender Überraschung. «Wenn ich diese Worte nicht
eben aus Ihrem Mund gehört hätte, würde ich glauben, sie stammten aus einem Museumsführer .» Ich kicherte. «Tun sie auch. Ich habe sie eben erst gelesen.» Ich hielt den Museumsfü h rer in die Höhe, den ich mitgebracht hatte. Er schnaubte, dann lachten wie beide. «Ja, ich hätte daran de n ken müssen, daß Sie Schauspielerin sind. Ich glaube, in dem Punkt kann ich Sie nicht schlagen.» Den Anweisungen im Man u skript zufolge hatte ich jetzt starke Zweifel zu zeigen. Ich schnitt eine Grimasse und hatte seine gesammelte Aufmerksamkeit. «Wer’s glaubt, wird selig , Sam», sagte ich. Es hörte sich komisch an: di e Situation war zu vielschichtig für diese Worte. «Da fällt mir ein, wie heißen Sie eigentlich?» fuhr ich rasch fort. «Das letzte Mal haben Sie vergessen, es mir zu sagen.» «Oh… Paul.» Ich lachte wieder, so wollte es das Manuskript. «Was ist daran so komisch?» «Oh… nichts», antwortete ich. Er gab vor, gekränkt zu sein. «Kommen Sie schon – was gefällt Ihnen nicht an ‹Paul›?» «Es ist nichts. Ganz und gar nichts.» «Was ist es dann?» «Ach, ich weiß auch nich t… Sie sehen nur nicht wie ein ‹Paul› aus.» «Was für ein Name würde dann zu mir passen?» «Ach, du meine Güte!» rief ich aus. «Ich hätte gar nicht erst damit anfangen sollen… Malcolm oder John… was weiß ich… Lawrence, Matthew… irgendwas in der Art.» Er blickte mich seltsam an. «Es tut mir leid, ich werde ihn ändern lassen.» Ich lehnte mich zurück und stützte die Ellbogen gegen die Sit zlehne. «Ich habe Sie nur auf den Arm genommen… Paul ist ein hübscher Name für Sie.» «Danke. Jetzt kann ich wieder atmen.» An dieser Stelle hatte ich eine Pause. Ich wartete; ganz klar, den beiden sollte jetzt erst mal der Gesprächsstoff ausgegangen sein, so daß dieses zufällige Zusammentreffen für einen Augenblick beinahe peinlich wurde. Ich schwieg noch eine oder zwei Sekunden länger, bevor ich
strahlend fortfuhr: «Na, los… machen Sie schon.» Er wirkte verblüfft. «An dieser Stelle sollten Sie mich etwas fragen.» «Pardon?» «Mein Name – Sie sollten mich nach meinem Namen fragen.» «Ach, entschuldigen Sie!» Er heuchelte Erleichterung. «Nun, Mademoiselle, dürfte ich so kühn sein, Sie zu ersuchen, mir Ihren Namen zu nennen?» Er blinzelte. «Sie dürfen, Sir», sagte ich mit großer Geste. Dann rasch: «Ich dachte schon, Sie würden mich danach nie fragen. Ich heiße Juliet. Paßt das zu mir?» «Eh… ja, ich denke schon. Ich freue mich, Sie zu sehen, Juliet.» «Ganz meinerseits, Sir.» Mit gespielter Förmlichkeit gaben wir uns die Hände, dann schwiegen wir wieder. Jetzt, wo sie aufgeführt wurde, war die ganze Angelegenheit sogar noch seltsamer; bei den Proben hatte ich gar nicht bemerkt, wie doppelbödi g alles angelegt war – die Charade mit den Namen, der Dialog über die Schauspielerei. Plötzlich schien alles mit Absicht so ersonnen, und zwar zu meinem Vorteil, nicht zu seinem. Ich war völlig verloren. Ein Paar baute sich vor uns auf und begann sich leis e flüsternd über das Bild zu unterhalten. Fox blickte zu ihnen hoch und dann wieder auf seine Hände hinunter. «Nun, wie sind die Pr o ben gelaufen?» fuhr er fort. «Welche Proben?» «Die, zu denen Sie es nach unserem Drink in dem Lokal so eilig hatten.» «Oh, gut… es nimmt langsam Form an.» Er warf mir wieder einen Seitenblick zu. «Sollten Sie jetzt nicht eigentlich in der Akademie sein?» Ich zuckte mit den Schultern. «Wahrscheinlich. Manchmal muß man einfach blaumachen. Man wird so ve r krampft und angespannt mit der Zeit – ich komme oft hierher, um abzuschalten. Jedesmal nehme ich mir einen anderen Raum vor. Heute stehen Dada und Surrealismus auf meinem Plan.» «Dann befinden Sie sich in der falschen Abteilung.» Er ließ seinen Blick rasch durch den Saal schweifen. «Ich dachte, das hier wäre Moderne Britische Malerei oder so was.»
«Ist es auch. Ich bin Ihnen hierher gefolgt – Sie sind direkt an mir vorbeimarschiert. Ich bin ein halbes Jahrhundert lang hinter Ihnen hergetigert und habe mich gefragt, ob ich Ihnen nun guten Tag sagen soll oder nicht.» «Sie haben die richtige Entscheidung getroffen.» Ich blickte ihn an, um seinen Gesichtsausdruck zu studieren, aber er war schon wieder in die Betrachtung seiner Hände versunken, als sei ihm peinlich, was er gerade gesagt hatte, weil es seine Gefühle verr a ten konnte. Nach einem kurzen Schweigen meinte er: «Tja, wenn Sie heute Ihren Surrealistentag haben, sollten wir vielleicht besser weitermachen.» «Ach, das ist nicht so wichtig», sagte ich. «Nein, wir müssen.» «Sie brauchen nicht mitzukommen.» «Ich begleite Sie gern.» Er lächelte. «Sie können mir die Bilder erklären.» «Jesus!» rief ich aus. «Gut, daß ich meinen Führer dabei habe.» Wir standen beide gleichzeitig auf, und eine Sekunde lang war ich nicht sicher, wer wen führen sollte. Das Manuskript hatte sich in diesem Punkt nicht klar ausgedrückt, aber ich beschloß aus einer momentanen Eingebung heraus, die Führung zu überne h men; wenn ich den regelmäßigen Besucher darstellen sollte, mußte ich mich auch besser auskennen. Nur gu t, daß ich schon vorher in der Tate Gallery gewesen war, sonst wären wir eine Ewigkeit herumgelaufen. Er paßte sich meinem Tempo an, und gemeinsam schritten wir durch die Gänge, wobei wir die Gemä l de betrachteten, aber nicht davor stehenblieben. Ich blickte Fox an und fragte: «Was machen Sie hier eigentlich? So dumm ist die Frage nämlich gar nicht?» «Oh… ich schlage nur die Zeit tot», sagte er leichthin. «Ich bin mit meiner» – er fiel sich selbst ins Wort, wie ich es laut Man u skript von ihm erwartete – «das heißt, ich habe in einer Stunde eine Konferenz. Ich dachte, ich schaue mich hier ein wenig um, damit ich was zu tun habe. Es ist in der Tat sehr entspannend, genau wie Sie gesagt haben.» «Was ist das für eine Konferenz?»
«Ach… nur eine Universitätsangeleg enheit. Eh… Einschre i bungstermine für die Studenten und so weiter. Nicht sonderlich aufregend.» Wie vorgegeben, beharrte ich nicht länger auf dem Thema. Wieder bemerkte ich, wie genau auch dieses Treffen vorausb e rechnet war – der Zeitraum, den dieser Dialo g in Anspruch nahm, entsprach genau dem, der nötig war, um die Abteilung Surrealistische Kunst zu erreichen. Fast im selben Moment, in dem wir das Thema fallengelassen hatten, erreichten wir das erste im Manuskript erwähnte Ausstellungsstück. «Richtig», sa gte er und beugte sich vor, wobei er seine Brille zurechtrückte. «Du meine Güte, was, um alles in der We lt, soll das denn sein?» Das Ausstellungsstück war ein großer, metallgerahmter Glask a sten, der eigentlich nur aus zwei Scheiben bestand, zwischen denen sich maschinenartige Designs in der Manier von Heath Robinson befanden. Als ich das Ding zum erstenmal gesehen hatte, war es mir schwergefallen, zu unterscheiden, wo vorn und hinten war; jetzt ging es mir nicht besser. Ich sagte: «Oh, eigentlich müßte es Ihnen doch gefallen.» «Warum?» «Sehen Sie sich den Titel an.» Er beugte sich noch einmal vor und las, dann wandte er mir langsam das Gesicht zu. Es strahlte geradezu vor aufrichtigem Vergnügen. Wenn er es spielte – und ich konnte nur annehmen, daß es so war, schließlich hatte er mir ja das Manuskript geschickt –, dann hatte er den Ausdruck geradezu perfekt hingekriegt. «Guter Gott!» sagte er und wandte sich wieder dem Ausste l lungsstück zu, um den Titel laut vorzulesen. «‹Die Brücke, nackt ausgezogen von ihren Junggesellen, waagrecht.›» «Sie hätten mich glatt hereinlegen können.» Er richtete sich auf, verschränkte die Arme und betrachtete mich neugierig. «Gut, was haben Sie mir also über das Werk zu sagen.» «Einen Moment bitte.» Ich tat so, als blättere ich in dem Führer, bis ich den entsprechenden Passus fand. «Ich glaube, da brauche
ich etwas Inspiration.» Ich fuhr mit dem Finger die Seite hinu n ter, bis ich endlich ausrief: «Junge, das wird Ihnen gefallen! Hier steht: ‹Verschiedene Notizen des Künstlers, die unter dem Titel Die grüne Schachtel gesammelt und veröffentlicht worden sind, geben uns einen Schlüssel zu dieser Arbeit, die man als das Di a gramm einer Liebesmaschine interpretieren kann. Ihr ironischer und erotischer Charakter wird noch durch die Darstel lung von Menschen als phantastische Maschinen verstärkt…›» «Tja, nun…» sagte Fox geringschätzig. «Spießer!» Er war schon weitergegangen und stand vor einem weiteren Gemälde, diesmal einer in Senfgelb gehaltenen Darstellung von zwei ineinander verschmolzene n, verdrehten Gestalten, die einander auf einer Kommode tatsächlich verspeisten. «Was ist das hier?» fragte er. «Welches? Oh, der Dali. Dali langweilt mich; angeblich geht es hier um den Spanischen Bürgerkrieg, glaube ich – Sie verstehen schon, daß di e Leute sich gegenseitig aufessen und so. Ich ziehe Magritte vor.» «Gibt es hier irgendwelche Bilder von ihm?» «Ja, da ist eins. Da hinten.» Ich führte ihn zur Wand gegenüber, zu einem anderen Gemälde. Es war beunruhigend: ein zeitloser, morbider Anblick – im oberen Teil sah man einen schlafenden Mann, eingeschlossen in eine sargähnliche Kiste, während im unteren Teil eine zementartige Tafel in einem bleiernen Himmel schwebte. Auf dieser Tafel waren seltsame Gebilde zu sehen – eine Kerze, ein Vogel, ein Spiegel, ein Hut, eine Krawatte und ein Apfel. Ich fand nicht den geringsten Zugang zu dem Gemälde; im Gegenteil, es stieß mich ab. Es hatte etwas Alptraumhaftes. «Es heißt ‹Der sorglose Schläfer›», sagte ich. «Gefällt es Ihnen?» Er antwortete nicht, sondern stell te statt dessen eine Gegenfr a ge. «Was sagt der Führer darüber?» «Einen Augenblick.» Ic h suchte wieder nach der entspreche n den Seite und überflog sie. «Nicht besonders viel – nur daß es freudianisch sei.» Er nickte, und ich fuhr fort. «Einige von Da lis anderen Bildern gefallen mir besser. Kennen Sie das mi t den
zerbrochenen Fensterscheiben, wo die Scherben auf dem Boden Teile des Blicks nach draußen sind? Eins von denen habe ich als Poster in meiner Wohnung hängen. Man weiß nie genau, was real ist und was ni cht.» In dem Mo ment, als ich das sagte, fiel mir wieder ein, daß es genau diese Wirkung war, die ich beim Betrachten des ersten Bildes empfu n den und die mich bei der Lektüre des Manuskriptes immer so beunruhigt hatte. Wieder, aber diesmal heftiger als je zuvor, ergriff mich Verwirrung angesichts der Vorgänge um mich he r um – eine Zeitlang hatte ich beinahe vergessen, daß ich ja eine vorgegebene Rolle spielte. «Ja, die kenne ich», sagte er. Ich riß mich zusammen, um ihn meine vorübergehende Ve r wirrtheit nicht merken zu lassen. «Und das mit der Pfeife?» fragte ich. «Was für eins?» Er blickte mich an, jetzt wieder ganz ernst, und seine blauen Augen unterstrichen die Frage. «Sie müssen es gesehen haben – es ist einfach ein Gemälde von einer riesigen Pfeife, so realistisch, daß man glaubt, man kann sie anfassen, und darunter steht in großen Buchstaben: ‹Dies ist keine Pfeif e›. Einfach sagenhaft.» «Was ist es denn, wenn es keine Pfeife ist?» «Ein Gemälde – Sie wissen schon, Öl auf Leinwand. Es ist alles andere als eine Pfeife.» Wieder stieß er dieses leise Schnauben aus, das er oft von sich gab, wenn er amüsiert war. «Ja, ich verstehe, was Sie meinen.» Dann fügte er hinzu: «Ein ziemlich schmutziger Trick.» «Ah… deswegen mag ich ihn ja gerade», sagte ich. Das Man u skript hatte «neckend» verlangt, aber bei mir kamen die Worte zu schwer heraus, zu sehr gespielt, und ich sah ihn leicht zusa m menzucken, wie er es schon im Zug hin und wieder getan hatte. Ich fuhr rasch fort. «Da fällt mir ein, wo wir gerade von schmu t zigen Tricks reden – ich habe noch ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen.» Er wirkte ein wenig beunruhigt. «Mit mir, was habe ich denn getan?»
«Dieses Buch, das Sie mir empfohlen haben.» Er lächelte. «Das Duett?» «Ja, ich habe es gerade gelesen. Sie haben mir erzählt, die beiden würden am Ende Selbstmord begehen. Das stimmt überhaupt nicht. Sie sind nach Australien ausgewandert, Sie Lügner!» Seine Lippen kräuselten sich erheitert. «Das muß wohl Wunschdenken meinerseits gewesen sein.» «Wie?» «Am Ende war ich die beiden s o leid, daß ich mir wünschte, sie würden sich gegenseitig erschießen.» Ich betrachtete ihn mit einer Spur Überraschung, wie es im Manuskript stand, obwohl ich mir nicht klar war, warum es an dieser Stelle nötig sein sollte. «Trotzdem war es ein gemeiner St reich, den Sie mir da gespielt haben», sagte ich. «Wirklich?» fragte er leichthin. «Außerdem wollte ich Ihnen das Ende nicht verderben.» «Aber Ihretwegen habe ich die ganze Zeit gedacht, die beiden würden sich die Schlagadern aufschneiden oder sonstwas Grä ßli ches tun. Sie sind ein Schuft.» Er schmunzelte. «Ah, das ist die Kunst des Romanschriftstellers, oder nicht?» «Was?» «Täuschung.» Wieder fing ich seinen Blick auf. Er hielt dem meinen einen Moment lang stand, dann blickte er weg. Das Spiel änderte sich mit jeder Sekunde; jetzt war ich mir nicht mehr länger sicher, daß ich es war, die mit ihm spielte. Ich spürte, daß er die Situation völlig unter Kontrolle hatte und daß ich nichts, aber auch gar nichts tun konnte, um diesen Zustand zu ändern. Ich mußte we itermachen. «Würden Sie gern einen Kaffee tri n ken?» fragte ich strahlend und veränderte die Atmosphäre damit zwischen uns wieder etwas zu meinen Gunsten. «Ich habe keine Lust mehr zum Bilderanschauen.» Er zögerte. «Kommen Sie schon, diesmal bin ich dran», sagte ich. «Sie ha ben damals die Drinks im Anschluß an die Zugfahrt bezahlt.»
Er blickte auf seine Armbanduhr, runzelte die Stirn. «Nun, ich würde wirklich gern, aber – » «Oh, nicht schon wieder. Genau das habe ich beim letzten Mal gesagt», protestierte ich. Er lächelte. «Richtig, ich erinnere mich. Aber der Unterschied ist, daß Sie damals doch Zeit hatten, ich hingegen heute wirklich nicht. Ich muß in meine Konferenz. Ich bin schon zu spät dran.» «Ehrlich?» «Ehrlich.» Er wirkte aufrichtig. Auf den nächsten Teil des Spiels freute ich mich nicht gerade. Ich holte tief Luft. «Das ist schade», sagte ich leise. Wieder ru n zelte er die Stirn, als hätte er diese Äußerung nicht erwartet, dann betrachtete er mich für einen Moment nachdenklich. Schließlich antwortete er langsam: «Ja, das ist es.» Wir schwiegen. Dann sagte er leichthin: «Na ja, vielleicht dürfen Sie mir bei unserer nächsten Begegnung einen spendieren.» «Ja», erwiderte ich flach. Wieder Schweigen. «Tja, ich muß sehen, daß ich mich auf den Weg mache», sag te er und versuchte locker zu klingen. «Ja.» «Was für ein außerordentlicher Zufall, daß wir uns hier getro f fen haben.» «Ja, nicht wahr?» Er hielt wiederum inne, wohl weil er nicht wußte, wie er seinen Abgang bewerkstelligen sollte. Ich schluckte, um mich auf den Sprung ins kalte Wasser vorzubereiten. «Wann ist nächstes Mal?» fragte ich unvermittelt. Er war vol l kommen sprachlos. Plötzlich war ich nicht mehr sicher, daß diese Frage wirklich im Manuskript gestanden hatte. Ich holte tief Luft. «Um Himmels willen!» rief ich aus. «Schauen Sie, wir werden uns nicht wieder so zufällig begegnen, es sei denn wir verabreden uns. Ja, ich frage Sie, ob Sie Lust haben, mich wiederzusehen. Ich weiß, ich bin eine Frau, und ich setze mich über sämtliche Regeln hinweg, aber ich hab’s nun einmal gesagt. Wir leben im Zeitalter
der Emanzipation.» Ich brach ab. «Ich dachte nur, ich hätte eine Spur von…» «Eine Spur von Bedauern bei mir entdeckt?» «Ja.» Er verfiel wieder in Schweigen. «Haben Sie auch», sagte er en d lich. Ich atmete wieder freier. Erleichterung. «Also?» Von neuem wurde er von Zweifeln geplagt. «Ich bin mind e stens doppelt so alt wie Sie.» «Na und?» Schweigen. Er schien die Möglichkeiten abzuwägen – nicht ihre praktische Anwendung – , die ihm jetzt noch blieben, um zu kneifen. Ganz plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher, daß er die Sache durchziehen würde. Doch schließlich nickte er, wobei er die Luft mit einem leisen Zischen zwischen seinen Zähnen entweichen ließ. «Nun, darf ic h Sie anrufen, wenn ich das nächste Mal in der Stadt bin?» «In Ordnung», antwortete ich langsam. Ich ließ seine Augen mit meinem Blick nicht los. Sie waren weich, beinahe hilflos . «Sie werden mich an der Royal Academy of Dra matic Arts anrufen müssen, zu Hause habe ich leider kein Telefon.» «In Ordnung.» Er nickte wieder. «Nach wem muß ich fragen?» «Juliet Kent.» «Das ist alles?» «Es reicht aus, um mich zu finden.» Er war verlegen. Eine Gruppe amerikanisch aussehender Touri sten schob sich an uns vorbei und starrte uns dabei so ungeniert an, da ß ich mir selber wie ein Ausstellungsstück vorkam. Plöt z lich fiel mir ein, daß ja während der ganzen Unterhaltung Leute um uns herum gewesen sein mußten – ich hatte mich so stark auf meine Rolle konzentriert, daß ich sie praktisch überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Jetzt fühlte ich mich, als tauchte ich lan g sam wieder auf, als bahnte ich mir schwimmend einen Weg zurück in die Wirklichkeit, nachdem ich lange unter Wasser gewesen war. Etwas Ähnliches spürte ich auch bei Fox, obwohl
wir uns noch immer im Rahm en des vorgeschriebenen Textes bewegten. «Tja, ich weiß nicht genau, was ich sagen soll», meinte er. «S a gen Sie gar nichts.» Die Amerikaner steckten die Köpfe tuschelnd zusammen, einer nickte in unsere Richtung. «Wenn Sie rechtzeitig zu Ihrer Konferenz kom men wollen, sollten Sie sich besser auf den Weg machen.» Er riß sich zusa m men. «Ja.» «Und ich gehe einen Kaffee trinken.» «Gut.» Ein Augenblick verstrich. «Also dann auf Wiedersehen.» «Auf Wiedersehen.» Er nickte. Ich schwieg, betrachtete ihn noch eine Sek unde, dann drehte ich mich um und ging davon. In diesem Augenblick war ich mir außerordentlich bewußt, auf der Bühne zu stehe n: die Amerik a ner beobachteten die kleine Szene, in die sie hineingeplatzt wa ren, mit offensichtlicher Heiterkeit. An meinem Gang war etwas Schwingendes, das ich nicht abstellen konnte: bühnenhaft, nac h drücklicher als meine sonstige Art zu gehen. Ich erreichte den Türbogen, einen offenen Eingang, und drehte mich noch einmal um. «Sie werden anrufen, nicht wahr?» fragte ich so ruhig ich konnte. Er blickte mir nach, sein silbernes Haar leuchtete in einem verirrten Sonnenstrahl, und blinzelte. Ich machte kehrt und verließ den Raum.
9 Ich ging tatsächlich eine Tasse Kaffee trinken. Nachdem ich Fox verlassen hatte, stiefelte ich schnurst racks in die Caféteria im Erdgeschoß des Gebäudes, nahm Platz und rauchte rasch hinte r einander drei Zigaretten. Ich wußte, daß er mir nicht nach unten folgen würde; soviel begriff ich selbst damals schon von der Inszenierung. Wenn das Ende des Manuskripts unsere Trennung war, dann würde ich ihn nicht mehr sehen; und tatsächlich war ich froh, allein zu sein. Ich fühlte mich so angespannt, so überreizt vom Ende der Vorste l lung, daß ich nicht abschalten konnte – tausend Fragen rasten mir durch den Kopf und ver langten nach Antworten. War er mit meiner Leistung zufrieden gewesen? Würde er sich wieder mit mir in Verbindung setzen? Und wann? Was bedeutete eigentlich dieses Blinzeln? Warum hatte ich den Satz über die schmutzigen Tricks geschmissen? Ich glaube, sogar damals schon, ganz am Anfang in der Tate Gallery, fing ich an, auf meine Arbeit stolz zu sein. Ich nehme an, im Rückblick könnte man sagen, bis die Manuskripte nach und nach eintrafen, hatte ich nichts, worauf ich wirklich stolz sein konnte; jetzt, nach dieser erstaunlich gelungenen Vorstellung, hatte ich das Gefühl, als gäbe es nichts, was ich nicht könnte, ich dachte, ich würde die We lt im Sturm erobern. An jenem Nac h mittag trank ich mir einen ganz kräftigen Schwips an. Die näc h sten Tage schleppten sich so dahin. Ich war überzeugt, daß Fox mir ein neues Manuskript schicken würde, fühlte mich gleichze i tig aber hoffnungslos frustriert, weil ich nicht das Geringste tu n konnte, um die Angelegenheit zu beschleunigen, und ich konnte ihn nicht sehen. Er kam von irgendwo und verschwand nach irgendwo, und ich konnte nichts anderes tun als warten. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann war das Außerg e wöhnliche an der ganzen Geschichte für mich, wie schnell ich es
aufgab, seinen Grund für diese komplizierte Inszenierung heraus finden zu wollen. Ich dachte überhaupt nicht mehr darübe r nach, so vollkommen ging ich in meiner kleinen schauspielerischen Welt auf. Zu diesem Zeitpunkt hätte es mich wahrscheinlich kaum noch interessiert, hätte er mi r alles zu erklären versucht – ich hatte meinen Spaß daran, und es wirkte heilsam auf mic h wie eine Art Therapie. Es kam mir so vor, als wäre das alles nur zu meinem Vorteil inszeniert worden. Mit jede m Tag, der verging, wurde ich ungeduldiger; jeden Morgen ging ich auf Tom los und f ragte nach einem Brief, bis es ihm auf die Nerven ging. «Vielleicht sollten Sie dem armen Kerl reinen Wein einschenken», sagte er und spielte damit auf die Geschichte an, die ich ihm ganz am Anfang aufgetischt hatte. Doch ich war scharf darauf, mein nächst es Manuskript zu be kommen, brannte darauf zu erfahren, was Fox über unse r Tre f fen in der Tate Gallery zu sagen hatte – man könnte sagen, ich wollte meine Kritiken lesen. Zehn Tage später traf es endlich ein, ein großes braunes Kuvert von derselben Art wie die früheren, nur dicker diesmal. Irgendwie, ich weiß heute nicht mehr wie, schaffte ich es, der Versuchung, den Umschlag zu öffnen, bevor ich zu Hause war, zu widerstehen. Als es dann soweit war, zog ich als erstes den Brief heraus – eine gute Kritik von Fox war inzwischen wichtiger für mich geworden als das Geld. Wie immer: Kein Briefkopf, keine Adre s se, der übliche undatierte, abrupte Anfang – er unterschied sich in der Form in nichts von den vorangegangenen. Liebe Ms River, meinen herzlichen Glückwunsc h. Ihre Vorstellung in der Gal erie war großartig und genau das, was ich erhofft hatte. Ich bin jetzt zutiefst überzeugt davon, daß Sie in der Lage sein werden, einen weitaus anspruchsvolleren Auftrag zu übernehmen – falls Sie damit einverstanden sind –, und daher habe ich Ihnen wieder ein Manuskript beigelegt, das Sie bitte sorgfältig lernen wollen.
Die Situation ist folgende: Paul hat Juliet in der Schauspielsch u le angerufen, und sie haben sich verabredet. Pauls nächster Be such in der Stadt fällt mit einer Aufführung des Stücks, in dem Juliet mitspielt, zusammen. Sie haben beschlossen, nach der Vorstellung gemeinsam essen zu gehen. Paul hat sich das Stück angesehen, er ist sehr beeindruckt, und Juliet selber ist wie aufg e dreht und voll freudiger Erregung üb er ihren Erfolg. Sie treffen sich in der Bar des Restaurants – Paul ist schon vorausgegangen, und Juliet gesellt sich dort zu ihm. Bitte kommen Sie am 6. Mai um 23 Uhr 15 zu Antonio’s in der Wardour Street. Ich bin mir der Tatsache bewußt, daß der Te r min in Anbetracht des Umfangs des Unternehmens vielleicht etwas kurzfristig ist, hoffe aber, daß es Ihnen trotzdem möglich sein wird, ihn einzuhalten. Bitte tragen Sie ein weißes Kattunkleid (Stil Mitte der 70er Jahre) und – wenn es geht – ein schulterla n ges Haarteil. Wie üblich habe ich wieder einen Scheck beigelegt, den Sie für Ihre Dienste hoffentlich als ausreichend empfinden werden; andernfalls wenden Sie bitte das bereits beschriebene Verfahren an. Ich freue mich darauf, Sie am 6. Mai zu sehen. Mit herzlic hen Grüßen Paul Fox Ich nahm das Manuskript aus dem Umschlag. Der Text war lang, sehr viel länger als die bisherigen – fast so umfangreich wie ein normales Theaterstück. Als erstes schlug ich die letzte Seite auf und mußte lachen, als ich die letzten Zeil en las. Ich fühlte mich ein wenig hinters Licht geführt. Dann fischte ich den Scheck heraus. Diesmal war ich wirklich baff. So viel hatte ich nicht erwartet. Der Mann mußte vollkommen verrückt sein – die Summe wurde immer höher. Der Scheck belief sich inzw ischen auf 300 Pfund. Am Abend las ich das Manuskript. Es war ein eigenartiges Ge fühl. Je weiter ich las, um so mehr versenkte ich mich in die Geschichte der beiden Menschen, so daß ich am Ende völlig
gefangen von ihnen war. Die spielenden Personen schiene n plötzlich zum Leben erwacht zu sein und ihre Persönlichkeit noch weiter entwickelt zu haben, so daß sie jetzt auch eine wirkli che Existen z außerhalb des Manuskripts zu besitzen schienen – eine, die ich mir leicht ausmalen konnte und die durch und durch glaubwürdig war. Dennoch war ich von dieser Entwicklung in gewisser Weise auch enttäusch t: solange sie nur gewissermaßen Sprachrohr für den Dialog gewesen waren, hatte ich das Gefühl, die Lage im Griff zu habe n; allmählich wurde mir klar, daß ich gewissermaßen nur die zweite Geige zu spielen hatte. Ich konnte (und wollte) die Sache vorantreiben – ich wollte, daß die beiden zusammenkamen; aber in den Rollen gingen sie nach ihrem eigenen Tempo vor, und das war ganz und gar nicht das, was ich mir darunter vorstellte. Ich glaube, ich war ein wenig enttäuscht – weil ich wollte, daß sie sich ineinander verliebten (die Vorste l lung, das zu spielen, gefiel mir gut), aber sie waren so zurückha l tend und er vor allem so nervös. Nichtsdestoweniger handelte das Manuskript vom Verliebtsein – oder zumindest dem Weg dorthin – das war offensichtlich. Die Handlung selbst war gradlinig: sie verlief ganz nach dem klass i schen, romantischen Muster ab. Paul und Juliet trafen sich in der Bar, die Fox in seinem Brief erwähnt hatte, und von Anfang an lief alles ganz normal: Juliet strahlte nur so. Sie war in Höchs t form; sie war gut gewesen, und das Stück war umwerfend gela u fen. Als sie in der Bar eintraf, platzte sie fast vor Aufregung und Begeisterung. Fox war überwältigt – damals im Zu g hatte sie scherzhaft behauptet, eine brillante Schauspielerin zu sein, aber er war wie vom Donner gerührt, daß sie tatsächlich eine so phan tastische Schauspielerin war. Es war fast zwangsläufig, daß sie sich ineinander verliebten. Juliet war so voller Le bensfreude, so voller Zärtlichkeit an diesem Abend, daß sie wohl jedem Mann erlegen wäre, und Pauls Zurückhaltung war bald verflogen. Beide schwelgten in der romantischen Umgebung: Wein und Kerze n schein, leise zärtliche Musik, die Intimität des Abends.
Ihre Unterhaltung war nicht gerade tiefsinnig. Sie sprachen über die Kunst der Schauspielerei, sein Leben, ihre Zukunft – sie redeten einfach über alles. Aber was sie sagten, war gar nicht wichtig; es ging nur darum, sie einander näherzubringen und das Ende des Abends vorzubereiten. Später am Abend nahm er sie mit in seine Wohnung. Ich war sicher, es mußte damit enden, daß sie miteinander schliefen, alles schien wie geschaffen dafür, es wäre nur natürlich gewesen, aber zu meiner Überraschung – und wie ich ber eits erwähnte, Enttäu schung –, taten sie es nicht, jedenfalls stand es nicht mehr im Manuskript, denn es endete vorher. Sie flüsterten miteinander, sie kuschelte sich im Taxi eng an ihn, sie küßten sich – mehr aber nicht: die Geschichte war süß und harmlos und romantisch. Eine Zeitlang überlegte ich, ob das Ende der Geschichte zu dem Charakter der Rollen überhaupt paßte – ich hatte das Gefühl, daß Juliet nicht so lange gewartet hätte – , schließlich war sie es ja auch gewesen, die im vorangegangenen Manuskr ipt die Initiative ergriffen hatte. Aber sie wartete, sie würden eine weitere Vera b redung ausmachen, und auch ich würde in meinem eigenen Saft schmoren müssen. Ich verspürte tatsächlich so etwas wie Eife r sucht; die Liebesszene reizte mich, und sie zu spiel en würde mir einiges abverlangen, aber es würde irgendwie ein Gefühl aus zweiter Hand sein, eine ‹Gebrauchtfassung› einer Liebesszene und nicht das Original. Ich war dann doch nicht sicher, ob das Erlebnis mir Spaß machen würde. Allerdings enthüllte das Manuskript diesmal mehr über Fox. Im gleichen Maß, wie Juliet etwas über ihn erfuhr, erfuhr auch ich es, denn diesmal befragte sie ihn ziemlich detailliert – sie wollte alles über ihn wissen, wie sie sagte. Anfangs war er alles andere als begeistert, von si ch selbst zu sprechen, aber sie ließ nicht locker, und schließlich zwang sie ihn, die Geschichte seines Lebens zu erzählen. Es war eine Kurzfassung, knapp und in dürren Worten erzählt. Er beschränkte sich auf die nackten Fakten und wurde nur ausführlicher, wenn Juliet darauf bestand. Er war in Leeds geboren und aufgewachsen, als Sohn eines
Zahnarztes; gutes Mittel -Klasse-Material, wie er sagte. Ich hatte keinen Hauch eines Yorkshire -Akzents bei ihm bemerkt und Juliet genausowenig. Allerdings hatte er seit dem achtzehnten Lebensjahr fast ausschließlich im Süden gelebt, so hatte er seinen Akzent schon bald verloren. Er war gut in der Schule gewesen und hatte eine besondere Sprachbegabung an den Tag gelegt, die ihm ein Stipendium in Cambridge eingetragen hatte. Allerdings mußte sein Studium an der Universität erstmal warten – es herrschte Krieg. Er wurde eingezogen, diente in der Marine, brachte es aber fertig, seine Dienstzeit praktisch unversehrt zu überstehen. Er hatte sich während der Ausbildung ein Bein gebrochen und war auf einen Schreibtischposten abkommandiert worden. 1946, nach Kriegsende, ging er nach Cambridge, pr o movierte mit Auszeichnung und verbrachte anschließend ein paar Jahre in Frankreich. Kaum war er nach England zurückgekehrt, begegnete er ein er Frau namens Mary, heiratete sie 1952 und begann in Bristol zu unterrichten. Juliet fragte ihn erneut über seine Ehe aus – obwohl aus dem Manuskript klar hervorging, daß sie ihn zu diesem Punkt schon ausgefragt hatte, als sie nach der Rückkehr aus Brighton auf einen Schluck in die Kneipe gegangen waren. Diesmal wollte sie alles ganz ausführlich wissen. Die Ehe war glücklich gewesen: Mary war eine stille Frau, die sich damals gerade zur Bibliothekarin ausbilden ließ, als er sie kenne nlernte. Aber als einig e Jahre nach ihrer Heirat das erste Kind geboren wurde, gab sie ihren Beruf auf und arbeitete nie wieder. Sie ha t ten zwei Kinder – Andrew und Sally, jetzt zwanzig und achtzehn, die beide studierten. 1970 war seine Frau Mary bei einem Aut o unfall ums Leben gekommen. Das Manuskript erwähnte diesen Punkt nüchtern wie im Polizeibericht: sie war allein unterwegs, auf dem Heimweg von einem Einkaufsbummel, und wurde von einem Lieferwagen, der vorschriftswidrig über eine Kreuzung gefahren war, voll frontal gerammt. Juliet ging nicht näher darauf ein. Allerdings fragte sie ihn, ob er jemals daran gedacht hätte, wieder zu heiraten, und er antwortete, daß es vor ein paar Jahren eine Frau gegeben habe, es sei aber ein Ir rtum gewesen – in
letzter Sekunde habe er erkannt, daß er es eigentlich nur wegen der Kinder in Betracht zog: um ihnen wi eder eine Mutter zu geben. Jedenfalls habe es nicht funktioniert, sagte er, und so beschloß er, allein zu bleiben. Nach Brighton war er erst vor nicht allzu langer Zeit gezogen. Nachdem die Kinder aus dem Haus waren, hatte er irgendwohin gehen wollen, wo er noch nicht gewesen war. Er hatte ein Haus bei den Hügeln gekauft und verbrachte viel Zeit mit seiner einz i gen wirklichen Leidenschaft, der Photographie. Er führte ein ausgesprochen ruh iges Leben, wie er sagte, ging spazieren und entwickelte die Abzüge seiner Fotos in seiner eigenen Dunke l kammer. Er las auch viel, ging aber nur selten aus, hin und wi e der ins Theater oder in Konzerte. Juliets Stück war das erste, das er seit ungefähr zwei Jahren gesehen hatte. Juliet fragte ihn nach seiner Arbeit, doch dazu hatte er nicht viel zu sagen. Hauptsächlich betrieb er Sprachforschung, wie er sagte; in der Vergangenheit hatte er gelegentlich Übersetzungen ge macht – Camus und Aragon –, aber in letz ter Zeit auch nicht mehr. Er saß in verschiedenen Universitätsausschüssen, wesw e gen er häuf ig in London war, ansonsten blieb er zu Hause – abgesehen von seiner Arbeit hielt er sich vom Universitätsleben fern. All das schien recht glaubwürdig. Ich erinnerte mich daran, wie ich ihn das erstemal im Zug gesehen und was ich dabei empfunden hatte: jene Ausstrahlung von Würde, diese tiefe innere Traurigkeit, die aus eigenem Erleben kommt. Ich konnte mir vorstellen, wie er sich allein versorgte, wie er allein spazi eren ging und fotografierte; ich konnte mir vorstellen, daß dieser Mann seine Frau verloren hatte und zwei erwachsene Kinder hatte. Vor allem konnte ich mir vorstellen, daß er Marys Tod ganz schlicht und sachlich beschrieb, um sich zu schützen – als eine Ar t Selbstschutz. Trotzdem, irgend etwas sti mmte nicht. Zunächst kam ich nicht darauf – ich vermute, die Wahrheit ist, es war mir damals auch gar nicht so wichtig, aber zwei Dinge irr i tierten mich: Das erste war, was sah Juliet in dem Mann? Als Unbekannter im Zug hatte er etwas eigenartig Geheimnisvolles
an sich gehabt, aber wie er sich in diesem Manuskript so stin k normal darstellte, schien an ihm nichts Besonderes dranzusein, was ein Mädchen wie Juliet anziehen würde. Ich hatte den Ve r dacht, daß er sich eher unter Wert verkaufte, daß da aber gleic h zeitig noch etwas anderes sein mußte, was ihn für ein Mädchen in Juliets Alter attraktiv machte – falls sie nicht einfach eine Vorli e be für ältere Männer hatte. Die zweite Sache, die mir ungewöh n lich erschien, die irgendwie nicht zu seiner Rolle paßte, war, daß dieser Mann mir überhaupt seine Manuskripte schickte, diese merkwürdigen Szenen erfand, die wir spielten. Ich fragte mich, nicht ohne Besorgnis, ob der Tod seiner Frau ihn am Ende nicht doch aus dem Gleichgewicht geworfen und zu einer Art Doppe l leben verdammt hatte. Möglich wär’s, dachte ich. Alle unsere Kunden haben irgendwelche Probleme, und wir sind in gewisser Weise ihre Therapeuten, so daß nichts sonderlich Ungewöhnl i ches daran gewesen wäre. Sie alle führe n ein Doppelleben. Aber um ehrlich zu sein, ich habe mir diesbezüglich nicht allzu viele Gedanken gemacht. Vielleicht hätte ich’s doch tun sollen. Schon damals, so glaube ich jetzt, standen mir genügend Anhaltspunkte für den wahren Hintergrund zur Verfügung. Ich hätte mich intensiver mit ihm beschäftigen müssen, hätte Nachforschungen über ihn anstellen sollen. Aber was mich hinderte war, daß ich meine Illusionen nicht zerstören wollte; die Situation gefiel mir, so wie sie war. Ich bemühte mich sogar, alle die Widersprüche zu übersehen. Eine einfache Möglichkeit gab es noch, die ich hätte ausprobieren können, nämlich an Chiffre . 145 3 zu schreiben, um zu sehen, wieviel Geld ich hätte aus ihm herausquetschen können. Wen n ich heute seine Briefe noch mal lese, ist mir klar, daß ich mein Honorar ohne Schwierigkeiten in die Höhe hätte treiben können – schon damals fraß er mir aus der Hand, obwohl ich es noch nicht wußte. Aber ich unterließ es, ihm zu schreiben. Ich hatte viel zu viel Angst, ihn zu verlieren. Ich fü rchtete, wenn du anf ängst ihn wie ‘ne Zitrone auszupre s sen, beschließt er vielleicht, die ganze Geschichte sein zu lassen, also ließ ich die Finger davon. Davon abgesehen waren 300
Pfund mehr, als ich sonst in einem Monat verdiente – meistens jedenfalls – , und ich habe nie zu denen gehört, die auf Teufel komm raus mehr herausschinden wollen, als eine Sache von sich aus hergibt. Ich legte den Scheck in eine Schublade und beschloß, ihn nicht eher einzulösen, als bis ich ihn tatsächlich auch verdient hätte. In der Hinsicht stand mir jedoch noch eine unerwartete Überraschung bevor. Ich genoß die Vorbereitung auf den großen Abend, obwohl es diesmal viel anstrengender war, den Text zu lernen. Da er so viel länger als die vorherigen war und auch mehr Konzentrati on verlangte – Stichwörter, die ich aufgreifen mußte, Sätze, die ich unterbrechen sollte –; es war fast unmöglich, den Text allein zu lernen. Das Problem war nur, daß ich niemanden hatte, der mich abhören konnte. Eine Zeitlang erwog ich, June, das andere M äd chen bei mir im Büro, ins Vertrauen zu ziehen, so daß sie Pauls Rolle sprechen konnte, aber das hätte bedeutet, ihr die ganze Geschichte erzählen zu müssen, und dazu konnte ich mich ei n fach nicht durchringen. Schließlich kaufte ich ein paar Kassetten für meinen Recorder und nahm alles auf Band auf, wobei ich Pauls Text mit ganz tiefer Stimme und meinen eigenen in norma lem Tonfall sprach. Sobald ich damit fertig war, verbrachte ich Stunden damit, das Band immer und immer wieder abzuhören, bis ich sicher wa r, daß ich es von A bis Z auswendig konnte, ehe ich dazu überging, den Text mit den entsprechenden Bewegungen zu begleiten – ich hielt ein Glas, gab vor zu essen, legte meinen Kopf auf die Sof alehne, als säße ich schon im Taxi und ließe auf dem Heimweg meinen Kopf an seine Schulter sinken. Doch es war hoffnung s los. Wenn ich es ohne Band versuchte, konnte ich mich selbst nicht richtig überprüfen. Ich fertigte ein zweites an, auf das ich diesmal nur seinen Text sprach und Raum für meine Antworten ließ. Es dauerte beinahe die ganzen zwei Wochen bis zum 6. Mai, bis ich auch nur halbwegs zufrieden war.
Darüber hinaus verbrachte ich Tage damit, nach einem passe n den Kleid Ausschau zu halten. Etwas Derartiges, wie er es in seinem Brief beschrieben hatte, trug man heute schon lange nicht mehr, und die Verkäuferinnen, mit denen ich sprach, guckten mich ziemlich komisch an. Um mir die Fragerei zu ersparen, erzählte ich immer, es sei für eine Rolle in einem Stück – was es ja in gewisser Weise auch war – , aber ich kam mir doch ziemlich dämlich vor, wenn ich danach fragte. Zu guter Letzt fand ich aber doch noch eins – ebenso das verlangte Haarteil –, und richtete mich zu Hause vor dem Spiegel her. Anfangs war es ein ziemlicher Schock – ich brach bei meinem Anblick in alber nes Gekicher aus, und wieder wurde mir die Absurdität des ganzen Vorhabens überdeutlich, aber dann bemerkte ich erstaunt, daß ich in meiner neuen Aufmachung ausgesprochen hübsch aussah. Das lange rabenschwarze Haar bot einen guten Kontrast zu meinen braunen Augen – ich wunderte mich, daß ich nie auf den Gedanken gekommen war, mir das Haar langwachsen zu lassen. Am 6. Mai war alles soweit. Es sollte ein unvergeßlicher Abend werden.
10 In welchem Sinn er unvergeßlich werden sollte, merkte ich aber erst, al s es schon zu spät war. Heute weiß ich meinen Fehler natürlich, aber damals war ich einfach zu unerfahre n; ich war schlicht eine Novizin in meinem Job. Mein Absturz aus höchsten Höhen hatte keine geringere Ursache als mein maßlos überste i gertes Selbstbewuß tsein. Gott allein weiß, wovon ich besessen war, aber als ich an jenem Abend aus dem Taxi stieg und über den Bürgersteig auf den Eingang des Restaurants zuschlenderte, kam ich mir wirklich wie eine grande dame von der Bühne vor und erwartete, daß mir jeder mann ohnmächtig zu Füßen sinken müßte. Vermutlich lag es an meinen ‹Kritiken › – das, was Fox in seinen Briefen geschrieben hatte, war mir zu Kopf gestiegen: von meiner ersten Vorstellung war er ‹sehr beeindruckt› gewesen, und beim zweitenmal war ich großar tig gewesen und genau das, was er erwartet hatte. Meine «Rollen-Fehltritte» – sicher, es waren nur wenige – hatten sich in Luft aufgelöst; ich war absolut sicher, eine geborene Schauspielerin zu sein, und jede Rolle, wie kompl i ziert Fox sie sich auch ausde nken mochte, perfekt spielen zu können, so dachte ich wenigstens. Als ich mich der Eingangstür zu dem Restaurant näherte, ve r spürte ich daher auch nicht die geringste Nervosität – eine leichte prickelnde Erregung vielleicht, aber keine weichen Knie, kein Herzflattern: nichts von dem, was ich bei den vorausgegangenen Gelegenheiten empfunden hatte. Eigentlich hätte mir das eine Warnung sein sollen. Später vielleicht , wäre ich besser auf der Hut gewesen, denn heute weiß ich, daß man eine Höchstleistung nicht ohne diesen Adrenalinstoß, ohne dieses Lampenfieber zustande bringen kann. Statt dessen sah ich dem Abend mit größtem Vergnügen entgegen, schwatzte und scherzte mit dem Taxifahrer auf dem Weg zum Restaurant, und die paar Cocktails, die ich mir genehmigt hat te, bevor ich meine Wohnungstür hinter mir zugeworfen hatte, verursachten mir ein nur leichtes,
angenehmes Schwindelgefühl. Und außerdem war ich schon ‘ne Viertelstunde zu spät dran. Es passierte genau das, was passieren mußte. Der Gesichtsausdruck, mit dem der Portier mich empfing, hätte mir eine weitere Warnung sein sollen. Es war ein schlanker It a liener in eleganter Garderobe. Er öffnete die Tür genau in dem Augenblick, als ich meine Hand nach dem Türknopf ausstreckte. «Guten Abend, Madam», sagte er. «Ha ben Sie einen Tisch re servieren lassen?» Seine Stimme war ölig und geschult. «Ich bin in der Bar mit einem Herrn verabredet», antwortete ich. Er neigte leicht den Kopf. «Natürlich.» Wenn ich zurückdenke, bin ich sicher, daß ich es mir nur eingebildet habe, aber damals hätte ich schwören können, daß seine Mundwinkel sich seku n denlang spöttisch verzogen. Sein ganzes Benehmen schien au s drücken zu wollen: «Ja, und ich kann mir schon denken, wesw e gen ihr verabredet seid.» Für einen Moment war ich verwirrt. Ich dachte: so offensichtlich kann es doch nicht sein, jetzt bin ich Juliet, nicht die Shirley. Ich zögerte, dann fand ich meine Stimme wieder. «Wo entlang bitte?» fragte ich. Wieder schien da der Anflug eines spöttischen Lächelns zu sein, aber er trat nur beis ei te und zeigte mir den Weg. Und dann machte ich meinen zweiten großen Fehler. Zweifellos ging es mir zum Teil auch darum, dem Portier eins auszuwischen, denn als ich den Durchgang zur Bar erreichte, einen Blick hineinwarf und Fox auf der anderen Seite des Raums auf einem Hocker sitzen sah, mit dem Rücken zu mir, da stach mich plötzlich der Hafer. Er wirkte so selbstsicher, so nonchalant, daß ich mir dachte: Nein, wenn dieses dämliche Manuskript so gottverdammt wichtig ist, dann kannst du auch noch einen Augenblick warten, Mr. Fox; ich gehöre dir nicht; du hast mich nicht mit Haut und Haaren gekauft. Ich blickte den Portier an und sagte: «Oh, es tut mir leid, ich würde mich vorher gern etwas frisch machen.» Wieder neigte er spöttisch de n Kopf. «Wie Sie wünsc hen.» Er führte mich durch den hinteren Teil des Restaurants, bevor er sich mit einer angedeuteten Verbeugung
und einer Spur von Herablassung zurückzog. Ich war nahe dran, eine patzige Bemerkung zu machen, ließ es dann aber sein. Die Toiletten waren muffig und stickig; ohne Fenster, nur eine grelle Neonlampe; und kaum hatte ich den Waschraum betreten, da wurde mir blitzartig klar, daß ich einen falschen Zug gemacht hatte. Plötzlich war meine Selbstsicherheit wie weggewischt. Der Seitenhieb gegen den Portier war lächerlich; ich hätte sofort mit meiner Vorstellung beginnen sollen. Ich ärgerte mich über mich selbst und bildete mir ein, den Sitz des Haarteils überprüfen zu müssen, aber das war noch lächerlicher; ich hatte mehr als genug Zeit darauf aufgewendet, mich anzuziehen und zurechtzum a chen, so daß beim besten Willen nichts mehr zu tun blieb. Dann warf ich einen Blick auf die Uhr. Fünf nach halb zwölf. Ich war verunsichert, hatte meine Selbs t sicherheit nicht wiedergewonnen. Ich ging durch das Restaurant zurück zur Bar, als mich die erste Vorahnung überfiel, daß an diesem Abend vielleicht alles schiefgehen könnte. Ich weiß nicht, wie ich auf den Gedanken ka m; es war nicht mehr als ein nage n der Zweifel, eine Art Omen, wie eine in der Theatergarderobe zerschlagene Flasche. Mir wurde bewußt, daß ich mich wie eine Närrin benommen hatte, aber da war es schon zu spät; es bede u tete lediglich, daß ich bereits auf tönernen Füßen stand, als der nächste Schlag kam. Und der erschütterte mich bis in die Grundfesten. Ich betrat die Bar, blieb stehen und richtete meine Augen auf den Punkt, wo er gesessen hatte. Laut Manuskript sollte er sofort herumwirbeln und «Juliet!» rufen. Aber nichts geschah. Entsetzt starrte ich auf den Barhocker, auf dem er gesessen hatte. Er war leer. Plötzlich schnürte sich mir die Kehle zu, und ich spürte, wie um mich herum alles anfing sich zu drehen. Er war weg. Mit einem verzweifelten Blick versuchte ich die ganze Bar zu erfassen. An den Tischen in einer Ecke saßen nur zwei Paare, zurückgelehnt in ihren Sesseln, und unterhielten sich, während sie die Speisenkarten studierten. Der Barmann füllte Gläser mit Brandy und stellte sie auf den Tresen zum Restaurant bereit. Fox
war nirgends zu sehen. Nervös blickte ich auf meine Uhr, ob wohl ich die Zeit gen au wußte und sonnenklar war, was sich ereignet haben mußte. Er hatte einfach nicht auf mich gewartet, das war alles. Eine simple Erklärung. Fox hatte mir fünfzehn Minuten Zeit eingeräumt, und als ich nicht auftauchte, war er gegangen. Mir wurde fast übel und ich hatte das Gefühl, wie ein Gespenst auszusehen. Mein großer Auftritt, ich hatte ihn selber gründlich verpatzt. Da stand ich nun, völlig verstört, mit offenem Mund und wie festgewurzelt. Meine kindische Einlage konnte höchstens ein paar Sekunden gedau ert haben, aber mir kam es jetzt wie eine Ewigkeit vor; ich zögerte einen Herzschlag lang, bis ich erkannte, daß mir nichts andres übrigblieb, als zu gehen. Da, gerade als ich im Begriff stand, mich umzudrehen, sprach er mich an. Seine Stimme schien mit ih rem Dröhnen die leisen Gespräche an den Tischen zu übertönen. «Juliet! Hier bin ich!» Wahrscheinlich war sein Ausruf gar nicht so laut, er hatte mich nur völlig überrasch t; er trat aus einer Ecke hinter mir, die ich übersehen hatte, als ich den Raum betret en hatte, auf mich zu. Ich flog herum. «Juliet, Sie waren großartig!» sagte er. Der Dialog hatte angefangen, aber ich hatte bereits keinen Boden mehr unter den Füßen. Er näherte sich mir mit ausgestreckten Armen. Ich überlegte, wie ich ihn hatte übersehen können; er mußte sich einfach an den Tisch gesetzt haben, weil ich mich verspätet hatte – aber wie auch immer, meine Konzentration war zum Teufel. Er strahlte mich mit leuchtenden Augen an. «Ganz ehrlich, Sie waren umwerfend. Absolut phantastisch! Meinen herzlichen Glückwunsch.» Ich versuchte ihn zu bremsen, da bemerkte ich, daß die Paare in der Ecke bereits zu uns herüberstarrten. «Nun, kommen Sie schon – sagen Sie etwas», drängte er mich. Ein tödliches Schweigen entstand. Ich wußte, daß ich an der Reihe war; daß die letzte Bemerkung sich (laut Manuskript) auf ein Lächeln falscher Bescheidenheit bezog, mit dem ich eigen t lich seine Komplimente hätte erwidern sollen, das ich aber nicht
zustandegebracht hatte. Die Adern an meinen Schläfen begannen wie wild zu pochen, und ich spürte, wie mir glühend heiß wurde. «Ich… eh…» Die Sekunden dehnten sich zu einer Ewigkeit. «Ich…» Er ließ mir noch ein Weilchen Zeit, dann beugte er sich vor und soufflierte. Seine Stimme hatte einen flehenden Unterton. «Danke, das ist seh r nett von Ihnen…» flüsterte er. Ich nickte dümmlich und stieß hervor: «Danke, das ist sehr nett von Ihnen, Paul, aber ich glaube Ihnen nicht.» Er trat unruhig von einem Fuß auf den anderen, bis er die Szene nochmal probierte. «Nein, ehrlich, Juliet! Sie haben allen anderen die Schau gestohlen. Sie hätten die begeisterten Kommentare der Zuschauer hören sollen, als wir hinausgingen.» Es war total verrückt. Indem er meinen Fehler auszubügeln versuchte, übertrieb er in seinem Enthusiasmus maßlos, und ich sah den Text als das, was er – aus dem Zusammenhang gerissen – war: lächerlich, banal, Schmierentheater. Doch trotzdem erwa r tete Fox, daß ich weiter mitmachte. Wieder brachte ich meinen Text nicht zustande. Er runzelte die Stirn. «Nun, es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen…» Ich wiederholte die Worte, wobei zum erstenmal ein Anflug von Ärger in meiner Stimme mitschwang: «Nun, es ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, das zu sagen.» Dann stand ich da und wartete auf seinen nächsten Satz. Meine Arme hingen sc hlaff an mir herunter, wie die einer Puppe. Plötzlich drehte er sich um. Ich hatte total vergessen, wie es weitergehen sollte. Er bückte sich, griff hinter sich, und als er sich wieder aufrichtete, hielt er mir einen Strauß Rosen vor die Nase. Ich erinnert e mich, die Rosen waren im Manuskript erwähnt worden, aber jetzt hatten sie mir gerade noch gefehlt. Ich war mir der anderen Leute um uns herum nur zu deutlich bewußt. Sie starrten zu uns herüber, mit gerunzelter Stirn und verwunderter Miene. Ich stieß hef tig die Luft aus. «Oh, mein Gott.» «Eh… die sind für Sie», sagte er.
Ich starrte auf die Blumen, dann in seine Augen. Er hielt mir die Rosen entgegen, wartete darauf, daß ich sie annah m; auf dem Gesicht einen rührenden, flehenden Ausdruck, als wisse er, da ß er zu weit gegangen war und es doch nicht zugeben könne. Aber ich hatte genug. Ich gab eine Art müdes Schnauben von mir und ließ das Manuskript Manuskript sein. «Hat es wirklich noch Sinn, weiterzumachen?» fragte ich lan g sam. Einen Moment lang betrachtet e er mich verwirrt, sagte aber nichts. Ich mußte die Sache zu Ende bringen. «Ich meine, der Witz ist ja jetzt wohl weg, oder?» Seine Verwirrung hielt noch eine oder zwei Sekunden an – als versuche er sich darüber kla r zuwerden, ob ich mich nicht doch an das Manuskript hielt und er vielleicht einen Fehler gemacht hatte –, aber dann fiel sein Ge sicht in sich zusammen. Die Hand mit den Blumen sank herab. «Warum sagen Sie mir nicht einfach, was Sie von mir wollen?» fragte ich. «So ungewöhnlich kann’s ja wohl nicht sein.» Die Stille im Raum schien sich ganz auf uns zu konzentrieren, und der Barmann, der damit beschäftigt war, Gläser abzutrocknen, er starrte. «Wir müssen doch sicherlich mit dieser lächerlichen Komödie nicht weitermachen!» Um ihm Gerechtigkeit widerf ah ren zu lassen: als er merkte, was passierte, schaffte er es, seinem Abgang so viel Würde zu geben, wie es bei einer solchen Gel e genheit möglich ist. Ich hätte mir denken müssen, was er tun würde. Vermutlich war es das einzige, was er unter diesen Um ständen tun konnte, aber dennoch war es die Reaktion, die ich am wenigsten erwartet hätte. Er machte kehrt und ging hochau f gerichtet schnurstracks aus der Bar. Er protestierte nicht, fluchte nicht einmal, er machte bloß auf dem Absatz kehrt und eilte zur Tür. Und wie üblich tat ich das Schlimmste, was ich nur tun konnte: ich stand einfach da und blickte ihm nach. Als er im Durchgang verschwand, hatte ich sekundenlang ein Gefühl von Déjà-vu – sein Haarschopf wippte auf und nieder –, dann war er verschwunden. In diesem Augenblick war er noch hier bei mir gewesen, im nächsten stand ich allein.
Gott allein weiß, wie lange ich dastand und fassungslos hinter ihm herstarrte. Plötzlich fielen mir all die Leute ein, die mich beobachteten. Schweigend starrten sie mich an, voller Faszinati on, und ich spürte, wie ich tief errötete. Jemand unterdrückte ein Kichern, dann begann ein anderer laut zu reden – zu laut, als wolle er vorspiegeln, nichts von dem Schauspiel mitbekommen zu haben. Ich mußte irgend etwas tun. Ich öffnete den Mund, wollte mich entschuldigen oder mit irgendeiner hoffnungslosen Erklärung aufwarten, brachte aber kein Wort heraus. Ich warf einen Blick zur Bar hinüber, dann zur Tür. Endlich beschloß ich, Fox zu folgen. Das war ein weiterer Fehler: ich hätte einfa ch nach Hause ge hen sollen. Statt dessen ergriff ich die Rosen, die Fox auf den Tisch gelegt hatte, und stürzte zur Tür. Ein paar Sekunden lang versuchte ich in panischer Hektik, sie aufzustoßen, bis ich be griff, daß ich ziehen mußte. Hinter mir brach Gelä chter los, dann war ich auf der Straße. In letzter Minute. Fox war schon ein gutes Stück weit entfernt. Er ging schnell und entschlossen. Er hatte die Ecke Shaftesbury Avenue erreicht und bog ab. Ich verlor ihn aus den Augen. Die Bürgersteige waren noch im mer belebt; selbst zu so später Stunde schoben sich die Touristen durch Soho, starrten in die Fenster der Sex Shops oder lungerten vor den Strip -Lokalen herum. Blindlings lief ich die Straße hinauf, wobei ich immer wieder mit anderen Passanten zusammenstie ß. Dann begann ich zu rennen. Ich hatte keine Ahnung, was ich sagen würde, sollte ich ihn einholen; ich wollte ihn einfach zum Stehenbleiben zwingen. Ich fühlte mich so gedemütigt und en t täuscht. Was immer ich tat, er war mir stets einen Schritt voraus. Wenn ich ihn nur dazu bringen könnte, mir alles zu erklären. Aber meine Eile war vergebens. Schweratmend erreichte ich die Ecke und blickte zum Piccadilly hinunter. Er war verschwunden. In einiger Entfernung sah ich ein Taxi, das sich vom Bordstein löste und in den laufenden Verkehr einfädelte, und für eine Sekunde erwog ich, ebenfalls ein Taxi anzuhalten. Dann gab ich auf. Ich war noch immer außer Ate m; mit so einem lächerlichen
Haarteil und dem kräftigen Make -up geriet man schnell in Hitze. Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe, machte noch ein paar Schritte und blieb stehen. Plötzlich bemerkte ich die Blumen in meiner Hand. Einen Augenblick lang konnte ich mir nicht vo r stellen, warum ich sie mitgenommen hatte, dann begriff ich. Auch in den Augenblicken tiefen Gekränktseins, lassen einen von Kindesbeinen an eingeübte Gewohnheiten erstaunlicherwe i se nicht los. Mir hatte man eingetrichtert, man darf nichts we g werfen. Ich hatte einen regelrechten Abscheu vor jeglicher Ve r schwendung. Mein Vater konnte sich über die s Thema nicht genug auslassen – all dies Gefasel über Pennies und Tale r! Trotz dem, ich holte wild aus und schleuderte den Strauß Rosen in den Rinnstein. Dann machte ich kehrt und ging langsam nach Hause. Es ist schwer zu erklären, aber als ich am nächsten Morgen erwachte, hatten sich mein Ärger und die Enttäuschung fast völlig gelegt. Der Schlaf heilt wie die Zeit manche Wunden, und am Ende der Nacht hatte er mir alle Gehässigkeit genommen und mich leer, ja, in gewisser Weise sogar beschämt zurückgela s sen. Lange Zeit noch lag ich auf dem Bett, starrte die Zimmerdecke an und beobachtete, wie der Vorhang sich im Wind bauschte. Ich wußte nicht, wie spät es war, und es war mir auch egal. Ich dac h te an nichts Besonderes, nicht einmal an die Ereignisse des ve r gangenen Abends und meinen großen schauspielerischen Au f tritt. Dieser Morgen verstrich wie in Zeitlupe, das Licht f iel blaß und diffus durchs Fenster, die Farben wirkten stumpf, wie gefühllos. Ich lauschte dem Lärm der Autos unten auf der Straße, den Frauen, die ihre Kinderwagen vorbeischoben und ihren anderen Kindern zuriefen, nicht so zu trödeln. Jemand, der vor sich hinpfiff, antwortete, als er gegrüßt wurde, und ich erkannte die Stimme des Fensterputzers. Die We lt war erträglich auf diese Distanz unwichtig, und irgendwie machtlos. Nichts schien sich zu ereignen, die Minuten verstrichen und wurden zu Stunden, nichts veränderte sich oder schien von Bedeutung. Einmal hörte
ich ein Radio dröhnen, als ein Stockwerk unter mir ein Fenster geöffnet wurde; die versch wommene Wärme der Stimme des Nachrichtensprechers wirkte unerschütterlich. Endlich, so gegen zwölf Uhr, stand ich auf und ließ mir ein Bad einlaufen. Ich klemmte mir einen Stapel Zeitschriften unter den Arm, schloß die Tür, damit der Dampf nicht abziehen konnte und suhlte mich dann in dem heißen Naß, ließ wohlig die Wärme auf meinen Körper einwirken. Als das Wasser langsam abkühlte, und ich mich in der Wanne nicht mehr wohlfühlte, trocknete ich mich ab, zog mich an, bereitete mir eine Omelette und begann, die Wohnung aufzuräumen. Es sollte ein Großreinemachen in jeder Hinsicht werden. Einige meiner Stammkunden riefen an, aber ich sagte ihnen ab, da ich mich nicht wohl fühlte und sie sollten es in ein paar Tagen wieder versuchen. Als es nichts mehr zu putzen gab, widmete ich mich endlich wieder dem Manuskript. Es lag seit dem Vorabend, als ich es mir in letzter Minute noch einmal angesehen hatte, auf dem Wohnzimmertisch. Ich nahm es und wollte es in den Mülleimer werfen, doch ich zögerte ein paar Sekunden, bevor ich es hineinfallen ließ. Die erste Zeile stach mir ins Auge: «Juliet! Sie waren großartig! Ganz ehrlich, Sie waren umwerfend, absolut phantastisc h!» Ich versuchte zu lachen, wollte hören, wie es klingen würde, aber es gab absolut nichts Komisches, worüber ich hätte lachen können. Ich ließ das Man u skript in den Papierkorb gleiten, wo es aufgeschlagen und ve r dreht liegenblieb. Auch das war wieder ein Fehler – ich hätte es sofort in die Mülltonnen im Hinterhof werfen sollen, wo auch das erste gelandet war. Anschließend nahm ich die Kassette aus dem Recorder. Ich warf und zielte auf den Papierkorb, verfehlte ihn aber, und die Kassette schlitterte klappernd über die Dielenbretter. Ich ließ sie liegen, wo sie hinfiel. Und der letzte Fehler endlich war, daß ich beschloß, den Scheck zurückzuschicken. Ich wollte ihm einfach nichts schuldig bleiben – ich wollte alle Fäden, die Sylvia Rivers mit Juliet Kent und mir verbanden, durchtrennen. Ich holte den Scheck aus der
Schublade, suchte mein Briefpapier und setzte mich an den Tisch am Fenster. Ich blickte eine Weile hinaus, dann begann ich zu schreiben, schrieb die Worte so nieder, wie sie mir einfielen. Lieber Mr. Fox beiliegend erhalten Sie den Scheck über 300 Pfund zurück, den Sie mir als Ausgleich für meine Diens te geschickt haben. Da ich Ihnen leider keinen ‹Dienst› leisten konnte, finde ich, sollten Sie ihn zurückerhalten. Sie können mir glauben, ich brauche Ihr Geld nicht. Ich weiß nicht, was für ein Spiel Sie spielen, und ich denke, ich will es auch nicht mehr wissen. Es tut mir sehr leid, wenn Sie von meiner Leistung bei Antonio’s nicht beeindruckt waren, aber meine überzeugendsten Erfolge erziele ich im allgemeinen in einer anderen Rolle. Wenn Sie eine solche Vorstellung erleben möchten, läßt sich das sicher arrangieren; mit Sicherheit ist sie nicht perverser als alles, was Sie vielleicht vorhatten. Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß ich in Zukunft keine weiteren Engagements von Ihnen entgegennehmen kann, denn ich bin eine sehr beschäftigte Frau und kann es mir nicht leisten, noch mehr Zeit zu verschwenden. Mit freundlichen Grüßen, Sylvia Rivers (Ms) P. S.: Wenn Sie gern ein Erinnerungsstück an unsere gemeinsame Bühnenkarriere haben möchten, so läßt sich das ermögl ichen: Sie finden Juliets Haartei l in der U-Bahnstation Piccadilly Circus unter dem ganzen anderen Dreck, der dort auf dem Boden der Damentoilette herumliegt. Ich las den Brief einmal durch, knüllte ihn zusammen und warf mit dem Knäuel nach dem Papierkorb. Wieder daneben. Später am Nachmittag unternahm ich einen zweiten Versuch.
Lieber Mr. Fox was gestern Abend bei Antonio’s passiert ist, tut mir leid, aber ich bin keine sehr gute Schauspielerin. Ich vermute, ich habe mir alles ganz anders vorgestellt, und als Sie mich dann dort in der Bar überrascht haben, war mein Verstand wie lahmg elegt. Wenn ich Sie vor all den Leuten in Verlegenheit gebracht habe, möchte ich mich dafür entschuldigen und schicke Ihnen anbei Ihren Scheck zurück, weil ich nicht glaube, daß ich ihn verdient habe. Weiter kam ich nicht. Es hatte keinen Sinn, mir etwas vorzum a chen; ich wollte die Sache noch immer zu Ende bringen. Ich riß das Blatt vom Block und fing auf einem neuen Bogen noch einmal an. Diesmal schrieb ich sehr schnell, bevor die Vernunft eine Chance hatte, mich davon zu überzeugen, daß ich mich töricht benahm. Lieber Mr. Fox es tut mir sehr leid wegen gestern abend. Wenn Sie bereit wären, das Risiko auf sich zu nehmen, würde ich es gern noch einmal versuchen. Wenn nicht, lege ich Ihnen für diesen Fall Ihre n Scheck bei. Ich hätte volles Verständnis. Sylvia Rivers Ein letzter Impuls ließ mich meine Telefonnummer und die richtige Adresse in Klammern hinzufügen. Ich faltete den Brief ungelesen zusammen, schob ihn mit dem Scheck in ein Kuvert, adressierte es an Chiffre 1453 und lief nach unten zum Briefk a sten. Als das erledigt und ich wieder in die Wohnung zurückg e kehrt war, holte ich das Manuskript aus dem Papierkorb und deponierte es in der Schublade, wo der Scheck gelegen hatte. Ich kann guten Gewissens nic ht behaupten, daß ich mit einer Antwort auf meinen Brief rechnete. Ich hatte ihn mehr als Ab
schiedsgeste geschrieben; nur um ihm mitzuteilen, daß es mir leid tat. Nichtsdestoweniger ging ich jeden Nachmittag, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam, sofort zum Briefkasten und schob verzweifelt meine Hand hinein. Es war eine letzte Hoffnung. Es war, als sähe ich in einem Nest nach und betete jeden Tag, ein Ei darin vorzufinden, und jeden Tag mußte ich meine Hand leer zurückziehen, zutiefst enttäuscht. Ich durchlitt Höllenqualen. Doch am zehnten Tag, unglaublicherweise, fand ich einen dü n nen Umschlag, warf einen Blick auf die Handschrift, erkannte sie und raste die Treppen hinauf. Liebe Ms Rivers, herzlichen Dank für Ihren Brief vom 7. Mai, es war lieb von Ihnen, daß Sie sich die Mühe gemacht haben, den Scheck zu rückzuschicken. Ich habe das Gefühl, selbst einen Teil Schuld an den Ereigni s sen bei Antonio’s zu tragen – ganz zweifellos habe ich Sie übe r rascht und verwirrt, da ich zu Beginn unseres Dialogs nicht an dem Platz war, wo ich hätte sein sollen. Da Sie sich verspätet hatten, bin ich schon einmal an den Tisch vorausgegangen, Ihre Ankunft nicht zu verpassen. Inzwischen ist mir klar, daß Sie wahrscheinlich schon im Restaurant gewesen sein müssen – auf diese We ise entsteht genau die Art von Mißverständnissen, die sich leicht ergeben können, wenn Anweisungen nicht genau befolgt werden. Ich danke Ihnen, daß Sie mir erneut Ihre Dienste angeboten haben, und nach sorgfältiger Überlegung bin ich zu dem Schluß gekommen , daß wir es noch einmal versuchen sol l ten. Ich hoffe, wir können diesen bedauerlichen Zwischenfall vergessen. Ich schicke Ihnen daher Ihren Scheck zurück und hoffe, daß der zusätzliche Betrag alle Kosten abdeckt, die Ihnen am 6. Mai vielleicht entstanden sind. Obwohl ich verschiedene Gründe habe, aus denen ich am lie b sten wieder Antonio’s vorschlagen würde, scheint es mir dennoch nicht empfehlenswert, deshalb habe ich einen Tisch im La Luna
in der Curzon Street reserviert, und zwar für den 23. Mai. Ich hoffe, der Termin ist nicht zu kurzfristig. Im übrigen gelten dieselben Regeln wie beim letzen Mal. Mit freundlichen Grüßen Paul Fox Ich warf einen Blick auf den Scheck, den er beigelegt hatte. Er lautete auf 350 Pfund. Plötzlich, so schien es mir, machte da s Leben wieder Freude.
11 Zumindest teilweise war der Abend des 23. Mai ein überwält i gender Erfolg. Natürlich war mein Talent im Anfangsstadium noch nicht voll entwickelt – wirklich beherrscht habe ich meine Rolle erst in der allerletzten Nacht –, doch selbst damals war ich schon gut (auch wenn ich mich selbst lobe). Ich hatte mich in Juliets Charakter eingefühlt, begann darin aufzugehen – in gewis ser Weise identifizierte ich mich vermutlich sogar mit dieser Juliet. Als das Taxi am 23. Mai abends durch die Straßen Richtung La Luna rollte, war ich von fieberhafter Nervosität erfüllt. Ich hatte in der Zwischenzeit ziemlich hart an der Rolle gearbeitet und immer wieder versucht, mich an Juliets Stelle zu versetzen, mir vorzustellen, wie sie fühlen mochte. Nun, da der Zeiger der Uhr unaufhaltsam auf 11 Uhr 15 zurückte und damit auf den Auge n blick, in dem ich das Restaurant betreten mußte, fing ich an, mir immer und immer wieder jenes Wort aus seinem ersten Brief vorzusagen: aufgedreht, um mich für meinen Auft ritt in Sti m mung zu bringen. Du platzt schier vor Erregung, Juliet, sagte ich mir; du bist noch keine Stunde von der Bühne runter, und du hast noch immer Lampenfieber. Du kannst nicht ruhigbleiben. Du fingerst an deinem Ring herum, streichst dir immer wied er über’s Haar, die Luft, die du atmest, scheint dünn wie Höhenluft zu sein, du lachst übertrieben, du fühlst dich, als schwebtest du auf einer viel höheren Ebene als die Menschen um dich herum. Diesmal war ich wild entschlossen, alles richtig zu machen. Der Abend war mild, und die Atmosphäre in den Straßen anr e gend. Die Gehsteige waren bevölkert von verliebten Paaren. Frühlingshaft leicht gekleidet, sie schlenderten Arm in Arm an den Schaufenstern vorüber. Die Luft roch nach Sommer und lauen langen Abenden . Als ich aus dem Taxi stieg, rief mir der Fahrer ein fröhliches Auf Wiedersehen nach, und das gab mir
weiteren Auftrieb – endlich schienen die Dinge unter einem guten Stern zu stehen. Das La Luna ähnelte Antonio’s wie ein Ei dem anderen, nur der spöttisch grinsende Portier fehlte. Ich rauschte durch die Tür, wobei ich dieses Mal das Selbstvertrauen nicht wirklich empfand, sondern nur spielte – ein feiner Unte r schied, den ich zu schätzen begann. Zum Restaurant ging es nach links; der Raum lag im Halbdunkel, nur erhellt von Kerzenschein, dessen warmer Glanz sich auf den Gesichtern der Gäste wide r spiegelte, und im Vorübergehen bemerkte ich ein junges Mä d chen etwa in meinem Alter, das lachte und sich offenbar prächtig amüsierte – lautlos, denn eine Glaswand tre nnte das Restaurant vom Gang ab. So wie die müßte ich sein, dachte ich plötzlich: sorglos und natürlich, völlig aufgegangen in meinem Lachen. Rechterhand lag die Bar. Hier stimmte man sich offenbar auf das Essen ein, studierte vorab die Speisekarte und ent spannte sich bei einem Drink; ich nehme an, das war auch der Grund, weshalb Fox sich für dieses Lokal entschieden hatte. Ein Ober eilte auf mich zu, um mir meinen Mantel abzunehmen; diesmal verzichtete ich darauf, den Sitz meines Haarteils zu überprüfe n: es war fast auf die Sekunde 11 Uhr 15, und ich wußte, er würde bereits an der Bar sitzen. Indem ich ihm nochmals geschrieben hatte, war ich unbewußt auch auf seine Spielregeln eingegangen. Pünktlichkeit war eine davon. Ich ging sofort in die Bar. Diesmal fa nd ich ihn, mit dem Rücken zu mir, rauchend. In dem Augenblick, als er sich umwandte, war ich sicher, daß es klappen würde. Es waren kaum andere Gäste in der Bar, und die intime Atmosphäre des kleinen Raums beruhigte meine Nerven. Er trat mit denselben Erö ffnungssätzen auf mich zu wie beim letzten Mal, ein Leuchten unverhüllter Freude in den Augen. «Juliet, Sie waren großartig!» rief er aus. «Ganz ehrlich, Sie wa ren einfach umwerfend, absolut phantastisch! Meinen herzlichen Glückwunsch!» Er machte eine klei ne Pause, um mir Gelegenheit zu geben, Juliets gespielte Verlegenheit zum Ausdruck zu bringen, dann fuhr er fort. «Nun, kommen Sie schon – sagen Sie etwas.»
Ich biß mir auf die Unterlippe. «Danke, das ist sehr nett von Ihnen, Paul, aber ich glaube Ihnen ni cht.» Er wehrte meinen Widerspruch mit einer Handbewegung ab. «Nein, ehrlich, Juliet! Sie haben allen anderen die Schau gestohlen. Sie hätten die begei sterten Kommentare der Zuschauer hören sollen, als wir hinau s gingen.» «Nun, es ist wirklich sehr freundli ch von Ihnen, das zu sa gen…» Er bückte sich leicht, griff hinter sich nach den Rosen. Ich spürte, wie ein nervöses Kichern in mir aufstieg, und biß mir erneut auf die Lippen. Diesmal hielt ich durch. Als er mir die Blumen überreichte, trat ein lustiges, ju ngenhaftes Lächeln auf sein Gesicht. «Hier, die sind für Sie.» «Für mich! Oh, Paul, das hätten Sie nicht tun dürfen.» Ich blic k te ihn mit großen Augen an. «Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.» «Nun, dann sagen Sie eben nichts.» Ich atmete den Duft der Blumen ein, dann legte ich sie auf den Tisch und beugte mich vor, um ihn zu küssen. Er hielt mir fast väterlich seine Wange hin, und ich berührte sie ganz sacht mit den Lippen. «Rosen! So was schenkt man doch heutzutage gar nicht mehr!» «Ich dachte – » «Ich habe nur Spaß gemacht. Sie sind hinreißend! Seit Jahren ist niemand mehr so nett zu mir gewesen.» «Eigentlich wollte ich sie auf die Bühne werfen, als Sie sich zum Schluß verbeugt haben.» «Gut, daß Sie das nicht getan haben. Ich hätte wahrscheinlich gedacht, es wären Tomaten und mich weggeduckt oder so was.» «Nein, das hätten Sie nicht – Sie wissen, wie gut Sie waren.» Er blinzelte und fuhr gleich fort: «Wie auch immer, was halten Sie von einem kleinen Drink zur Feier des Tages? Was möchten Sie trinken?» Ich rutschte auf den Hocker neben ihn und sagte mit meiner besten, rauchigen Shirley Temple -Stimme: «Kann ich bitte ein
großes, großes Glas Wein bekommen, Mister?» Er lachte. «Rot oder weiß?» «Weiß und sehr trocken», sagte ich, wieder mit normaler Sti m me. «Ich sterbe vor Durst.» Er winkte den Barmann herbei, was mir ein paar Sekunden Zeit zum Nachdenken gab. Es lief perfekt, besser als ich es zu hoffen gewagt hätte. Es war alles eine Frage der ersten Sätze – wenn man gleich am Anfang den richtigen Ton traf , dann schienen die Worte wie von selber zu fließen und klangen kein bißchen ge künstelt. Weiter so, sagte ich mir, mach einfach weiter und alles wird bestens. Während der Barmann eine Flasche Wein öffnete, trat eine Verzögerung ein. Da dieser Fall im Manus kript nicht vorgesehen war, schwiegen wir. Aus den Augenwinkeln sah ich Fox nervös mit seiner Zigarette spielen, wobei er die Glut immer wieder über den Rand des Aschenbechers rollte, um die Asche abzustreifen, kaum daß sie sich gebildet hatte. Er war auff älliger gekleidet als bei den vorangegangenen Gelegenheiten: cremefa r benes Jackett, braune Hose, ein etwas zu kräftig grünes Hemd und eine gelbe Krawatte – leichte Sommerkleidung, alles in allem extravaganter, als es seinem normalen Stil entsprach. Er schi en seinen Aufzug für flott zu halten, wie ich vermutete. Es stand ihm nicht besonders. Endlich kam der Wein, und er reichte mir mein Glas. «Sind Sie hungrig?» fragte er. Ich mußte mich konzentrieren. «Hungrig! Ich bin halb verhun gert!» In Wirklichkeit war mir vor lauter Aufregung der Appetit vergangen, aber ich versuchte, trotzdem ungeduldig zu klingen. «Es ist verrückt, vor einer Vorstellung kriege ich keinen Bissen runter, aber hinterher… na, Sie werden’s ja sehen. Sie ahnen ja nicht, worauf Sie sich da eingelassen haben.» «Ich glaube, mein Kontostand wird’s verkraften.» «Aber ich zahle für den Wein.» «Seien Sie nicht albern, das werden Sie nicht.» «Warum nicht?» «Weil… weil ich Sie eingeladen habe.»
«Haben Sie nicht.» «Eh… ja, nun…» «Wir machen halbe-halbe oder gar nichts…» «Wir werden sehen. Immerhin bin ich älter als Sie.» Er lächelte verlegen. «Ich habe mir übrigens die Freiheit genommen, für uns beide zu bestellen, Juliet. Ich hoffe, es stört Sie nicht. Der Koch hier bereitet ein phantastisches Steak zu. Sind Sie damit einve r standen?» «Klingt gut.» «Sind Sie sicher?» «Ich habe es nur getan, weil es schon so spät ist. Wir können die Bestellung immer noch abändern, wenn Sie wollen.» Er hielt inne und fuhr dann sanft fort: «Das ist Ihr Abend heute, wissen Sie.» Er warf mir einen Blick zu. Ich hatte dem Satz vorher nicht viel Bedeutung geschenkt, aber jetzt blitzten seine Augen sche l misch, als er einen Schluck von seinem Drink nahm. Ganz ei n deutig genoß er das Spiel. «Nein, alles bestens.» Er nickte. Nach ei ner winzigen Pause fuhr er fort: «Tja, ich wußte gar nicht, daß Sie eine so gute Schauspielerin sind. Ich dachte, Sie wären vielleicht gut, aber nicht dermaßen brillant.» «Ich bin nicht brillant.» «Diese letzte Szene – das war einfach phantastisch.» «Sie versuchen mir zu schmeicheln.» «Absolut nicht. Glauben Sie mir, Sie haben eine große Zukunft vor sich.» Wieder suchte ich seine Augen. Er blickte zur Seite. «Da hätten Sie gestern in der Vorstellung sein sollen», sagte ich. «Weshalb?» «Die reinste Katastrop he – wenn Sie das Fiasko gestern mite r lebt hätten, Sie würden anders reden.» «Warum, was ist passiert?» Ich nahm einen Schluck Wein und begann zu erzählen. Die Geschichte handelte davon, daß ich mit meinem Kleid – genauer gesagt, mit Juliets Kleid – an ein em Möbel der Bühnenkulisse hängengeblieben war, und was für Schwierigkeiten sie gehabt hatte, bis sie wieder frei war. Es war ein belangloser Dialoga b
schnitt ohne alle Zweideutigkeiten wie vieles vorher; es galt nur, uns miteinander zu unterhalten, während wir austranken. Trot z dem, es war mein erster Monolog – und ich verausgabte mich geradezu, sprang sogar vom Hocker, um zu demonstrieren, wie das Malheur passiert sein sollte (ich hatte es sorgf ältig eingeübt), und er brüllte dabei vor Lachen. Ich glaube, ich muß besser gewesen sein, als ich es mir in meinen kühnsten Träumen ausg e malt hatte, denn er schien absolut hingerissen davon, wie ich durch den Raum stolzierte und so tat, als zerre ich dabei an meinem hängengebliebenen Kleid. Ich war fast ein wenig en t täuscht, daß ich außer ihm kein größeres Publikum hatte – so gut fand ich mich selbst. Als ich den letzten Schluck Wein getrunken hatte, schlug er vor, an unserem reservierten Tisch Platz zu nehmen. Während wir durch das Restaurant schritten, wurde mir klar, daß er mit dem Oberkellner eine Sonderabmachung getro f fen haben mußte. Wir brauchten nicht zu warten, traten einfach ein und wurden von einem Kellner empfangen, der uns neben unserem Tisch erwartete. Dann hätte ich beinahe den Faden der Handlung verlore n. Laut Manuskript sollte Fox mir den Stuhl anbieten, aber es war der Kellner, der den Stuhl abbürstete und für mich zurechtrückte. Ich warf Fox einen verzweifelten Blick zu, wie gelähmt vor Angst, daß ich wieder alles verderben würde, aber er muß meine wachsende Panik bemerkt haben, denn er gab mir einfach mit einem Nicken zu verstehen, daß ich die Dienste des Kellners akzeptieren solle, und strich die nächsten darauf bezogenen Dialogzeilen. Er überspielte den kleinen unvorhergesehenen Zwischenfall, als sei nichts passiert. «Gut, gehen wir jetzt zu einem Rotwein über, oder wollen Sie bei dem selben bleiben?» «Nein, ein Roter wäre mir sehr recht.» Er wandte sich an den Kellner und bestellte ein Flasche Saint Emilion. Wir unterhielten uns beiläufig über das Restaurant, und dann saßen wir schwe i gend da und sahen uns an, während der Kellner die Flasche öffnete, die er geholt hatte. Es wurde beinahe ein Wettstreit, wer
dem Blick des anderen länger standhalten konnte, ein Spiel, das im Manuskript aber darauf endet e, daß er als erster wegschaute. Es kam mir in den Sinn, daß er die Szene mit Absicht so ge schrieben hatte, um mein Selbstvertrauen zu stärken und mich auf den nächsten Teil vorzubereiten. Außerdem paßte es auch zu dem Bild, das ich mir von Juliets Charakt er gemacht hatte: sie mochte lächeln und kichern, aber sie wäre nicht die erste, die den Blick senkte. Und darüber hinaus hatte es noch einen seltsamen Effekt: als ich ihn anstarrte und das Lächeln in seinen Augen dem Lachen begegnete, das ich in den meine n heuchelte, übe r trug es sich auf meine Stimmun g: Ich fühlte mich ein wenig verwegen, wie eine kleine Teufelin, mehr Juliet als Shirley. Endlich schaute er beiseite, und ich fand Gelegenheit, mich im Restaurant ein wenig umzusehen. In unserer Nähe saß nur noch ein Paar, alle übrigen Gäste befanden sich auf der entgegeng e setzten Seite des Raums, dicht bei den Fenstern, und alle waren in leise Gespräche vertieft, an uns völlig desinteressiert. Wieder erwies sich diese Intimität als hilfreich, denn ich kam mir nicht so exponiert vor. Der Kellner füllte die Gläser, zog sich zurück. «Santé!» sagte Fox. «Prost.» Ich hob mein Glas, stieß mit ihm an und trank. Der Wein lag samtig und schwer in meinem Mund, bevor ich schluckte. Ich setzte das Glas wieder ab. «Paul?» fragte ich leise. «Ja?» Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her. «Ich möchte Sie etwas fragen, aber ich weiß nicht, wie ich es sagen soll.» Er lachte auf. «Wirklich? Es fällt Ihnen doch sonst nicht schwer, Fragen zu stellen.» «Was halten Sie von mir?» fr agte ich rasch. «Du meine Güte, Juliet! Sie haben aber auch eine Art, zum Kern der Dinge vorz u stoßen.» «Bitte, sagen Sie’s mir.» Er schob seinen Stuhl ein wenig zurück und legte die Hände auf dem Tischtuch aufeinander. «Na ja, ich denke, Sie sind… sehr… ich denke, Sie sind sehr nett. Sonst wäre ich ja wohl nicht hier, oder?»
«Gut, in Ordnung, aber was halten Sie von mir? Ich meine, warum spiele ich Ihrer Meinung nach das Spiel mit?» Er zog die Augenbrauen hoch und pfiff leise durch die Zähne, wie er es auch schon in der Tate Gallery getan hatte, als ich ihn in Ersta u nen versetzt hatte. «Bitte», beharrte ich. Er schien nach Worten zu suchen. Plötzlich begriff ich, was er vorhatte: er vertauschte unsere Rollen und nahm alle Fragen, die ich im Hinblick auf sein e Motive haben mochte, vorweg, indem er so tat, als ginge die ganze Sache von mir aus. Das Spiel lief so ab, daß ich die aktive Rolle übernahm – er dagegen spielte den Passiven, stellte es so dar, als führe ich ihn. Das verwirrte mich, denn alle Einwände, die ich vielleicht gehabt hätte, waren plöt z lich ohne Sinn. Ich war ausmanövriert: als Autor des Manuskripts hielt er alle Trümpfe in der Hand. «Darüber habe ich noch nicht wirklich nachgedacht», meinte er schließlich. «Natürlich haben Sie das.» Ich mußte weiter nachhaken. «Sie müssen darüber nachgedacht haben. Sie denken, ich hätte die Absicht, Sie zu verführen, nicht wahr?» «Das ist nicht sehr fair, Juliet, wissen Sie.» «Ich weiß, daß es nicht fair ist. Trotzdem, beantworten Sie mir die Frage.» Er schmunz elte beinahe, wenn auch schüchtern. «Nun ja, ich gebe zu, der Gedanke ist mir durch den Kopf gegangen.» «Aha! Also doch. Und?» «Und was?» «Zu welchem Schluß sind Sie gekommen?» Er hob abwechselnd die Hände. «So etwas können Sie mich doch nicht so direkt fragen!» «Doch, ich habe es gerade getan.» Ich beugte mich vor, ganz lüsterne Boshaftigkeit. «Sie glauben, ich mache mich an ältere Männer ran, stimmt’s?» «Nein!» «Sie glauben, ich sei auf der Suche nach einer Vaterfigur, an dessen väterlicher Brust ich mich ausweinen kann.»
«Ach, Unsinn! Das ist ja lächerlich.» Er warf hektische Blicke nach links und rechts. «Müssen wir uns hier weiter über dieses Thema unterhalten?» «Ich möchte nur klare Verhältnisse schaffen, Paul; jeder soll eindeutig wissen, woran er mit dem anderen ist.» Den Teufel will ich, dachte ich. «Na gut, dann sagen Sie’s mir», meinte er plötzlich und beugte sich vor. «In Ordnung, das werde ich.» Ich holte tief Luft und blinzelte. «Wir sind nichts weiter als gute Freunde.» Er prustete los. Wie aus einem Ballon, in den man eine Nadel sticht, die Luft en t weicht; wir brüllten beide vor Lachen, alle Spannung zwischen uns wich augenblicklich. «So habe ich es auch immer gesehen», sagte er lächelnd. Ich begriff, was geschehen war: er hatte das Thema entsc härft. Natürlich war nichts geklärt worden, aber indem wir wenigstens darüber gesprochen hatten, konnten wir so tun, als sei es damit erledigt; tatsächlich schien es so, als wäre die Luft jetzt gereinigt. Ich fühlte mich entspannter, weniger able h nend ihm gegenüber. «Ich möchte nur nicht, daß Sie denken, ich erwartete später irgendeine Art von Gegenleistung, das ist alles», fügte ich hinzu. «Das wäre mir nie in den Sinn gekommen», erwiderte er und lächelte erneut. «Gut… na ja, in Ordnung…» Es war vorbei. Du gerissener alter Bock, dachte ich, mußte aber im Text gleich weitermachen. Danach plätscherte die Unterha l tung so dahin. «Wie dem auch sei, erzählen Sie mir, wie fanden Sie die anderen Schauspieler. Ich brenne darauf, Ihre Meinung zu hören.» Diese nächste , ziemlich umfangreiche Textpassage drehte sich in erster Linie um das Stück, und Paul bestritt den größten Teil davon. Zwischendurch wurde die Vorspeise serviert – Krabben cocktail – ich stürzte mich mit mehr Appetit darauf als ich erwa r tet hatte. Während wir aßen, beschränkte sich meine Funktion darauf, ihm gelegentliche Fragen zu stellen, so daß ich Zeit fand, darüber nachzudenken, was sich ereignet hatte.
Ganz eindeutig hatte sich etwas geändert. Beinahe unmerklich wurde ich in Gefühle hineinmanövriert, die ich nicht vorausg e ahnt hatte: indem ich ihm jetzt die Sätze direkt ins Gesicht sagte, die er geschrieben hatte, wurde ich in Juliets Lage versetzt. Je länger wir unsere im Manuskript vorgegebenen Rollen spielten, um so mehr wurde unsere reale Beziehung – nämlich Callgirl und Kunde – beschnitten. Ich hatte das Gefühl, mich immer tiefer in irgend etwas zu verstricken; ich wußte, ich glitt in eine Falle, aber welcher Art war sie und mit welchem Zweck? Im Augenblick allerdings mußte ich mich auf andere Ding e konzentrieren – es ist gar nicht so einfach, während eines ganz normalen Essens mit einem Gegenüber die Rolle einer anderen zu spielen. Tatsächlich war es ein außerordentliches Bravourstück an Im provisation. Dummerweise hatte ich mich bei den Proben gar nicht so sehr darum gekümmert, aber es geschah ein paarmal, daß wir mit Eingriffen von außen fertigwerden mußten, auf die wir keinen Einfluß hatten – etwa wenn der Kellner unversehens an unserem Tisch auftauchte, um Wein nachzuschenken oder eine flackernd niedergebrannte Kerze durch eine neue zu erse t zen. Das waren Gelegenheiten der Angst, bei denen mir das Herz stehenzubleiben drohte. Jedesmal fürchtete ich, den Faden zu verlieren, zu vergessen, an welcher Stelle im Manuskript wir gerade waren, doch ich schaffte es; wohl auch deshalb, weil er die meiste Zeit redet e: es war der Abschnitt, in dem er mir sein Leben erzählte. Natürlich sprach er auch vom Theater, über die Aufführung am Abend, über andere Stücke, fragte mich nach meinen Zukunftsplänen und nach meiner Kindheit und so we i ter. Aber im großen und ganzen bestritt er die Unterhaltung, erzählte von sich selbst, von seinem Haus und seinem Hobby, der Photographie, und ich brauchte bloß zu nicken. Aber schließlich gab es genügend andere Probleme. Manchmal stellte ich mir vor, in welch verzwickte Situationen wir hätten geraten können, etwa, wenn wir gezwungen gewesen wären, die
Schmackhaftigkeit des Steaks zu loben, nachdem es serviert worden war. Gelegentlich gab er eine improvisierte Bemerkung von sich, etwa «Schmeckt Ihnen das Fleisch?» oder «Noch etwas Salat?» – kleine Abweichungen vom Manuskript, aber er schob sie immer nur dann ein, wenn im Text gerade eine Pause vorgesehen war, sonst wäre ich wahrscheinlich schnell aus dem Konzept geraten. Es war schon anstrengend genug, auf alles zu achten. Aber alles in allem hatte ich meinen Text parat und schaffte es auch, den größten Teil meiner anf änglichen Begeisterung, der prickelnden Erregung über den Abend zu retten. Die Umstände unserer Verabredung und die Um gebung, in der sie stattfand, hatten etwas Schillerndes an sich, das mehr und mehr auf unser Ge plauder abfärbte: allmählich fühlte ich mich dem von mir vorau s geahnten Ende des Abends gewachsen, ich brauchte mich nicht einmal sonderlich zu wappnen. Es gab im Manuskript einen Absatz, der diesen Effekt zu bea b sichtigen schien. Er setzte ein, nachdem wir den Hauptgang beendet hatten und auf das Dessert warteten. «Was ich nie be greifen werde», begann Fox, «das ist, wie man sich überhaupt so auf eine Bühne hinauf trauen kann.» Er spielte mit seinem Glas, ließ einen Finger auf dem Rand kreisen. «Ich würde vor Angst sterben. Was macht Ihnen daran so viel Spaß?» «Die befriedigte Eitelkeit, nehme ich an», lautete meine An t wort. «Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu ste hen, allein im Rampenlicht – Sie wissen schon.» Er bedachte mich mit einem langen prüfenden Blick. «Ich glaube nicht, daß Sie so überaus eitel sind. Es muß noch einen anderen Grund geben.» «Sie kennen mich noch nicht gut genug. Wahrscheinlich haben Sie in Ihrem Leben noch nie jemanden mit so viel Eigenliebe wie mich getroffen.» Er lächelte. «Aber Sie haben recht, es gibt noch andere Gründe.» «Und die wären?» Ich fing an, nervös am Tischtuch zu zupfen und strich es mit dem Handteller glatt, dann blickte ich auf. Ich hatte diese Bew e
gung mindestens hundertmal geübt, wobei ich meinen Augen einen verschleierten Ausdruck zu geben versuchte. «Na ja, ich weiß nicht, wie ich es genau erklären soll», begann ich plötzlich. «Es hat etwas Magisches. Wenn Sie da oben auf der Bühne st e hen, sind Sie wie im Rausch, Sie befinden sich in einem überse n sitiven Zustand.» Ich warf ihm einen raschen Blick zu, um zu sehen, wie ich an kam. Um seine Augen lag eine seltsame Spur von Belustigung, und beinahe hätte ich mich ablenken lasse n. «Es ist, als wenn man unter Drogen stünde», fuhr ich fort. «Man glaubt, alles erfühlen zu können. Man bemerkt die kleinsten Einzelheiten, alles nimmt eine besondere Wirklichkeit an. Man weiß, daß man sich so weit nach oben gearbeitet hat, die Proben, da s Auswe n diglernen des Textes, die Stunden und Stunden, die man damit zugebracht hat, eine Bewegung immer und immer wieder einz u studieren, und das alles hat einen hier herauf auf die Bühne geführt – und dann auf einmal ist man da und spielt, man ko n zentriert sich so stark, daß man einfach alles wahrnimmt. Man weiß, was man sagen und tun wird, in gewisser Weise braucht man also nicht mehr darüber nachzudenken – man kann sich ganz darauf konzentrieren, es zu erleben.» Ich streifte ihn erneut mit einem prüfende n Blick. Er genoß jede Minute meiner Vorstellung. «Man spürt wirklich die kleinste Kleinigkeit, ganz gleich, was es ist, das Material des Kleids, das man trägt, das Kitzeln eines Haars im Nacken oder wie sich die Schuhe beim Gehen an den Füßen anfühlen. Kl ingt das verrückt?» Er schüttelte rasch den Kopf. «Nein, gar nicht.» «Und am merkwürdigsten ist das Ende, wenn alles vorbei ist und das Gefühl wieder entschwindet – nicht sofort, sondern langsam; wenn man wieder auf die Erde zurückkehrt. Schritt für Schritt sinkt man wieder zurück in seinen Normalzustand und kann sich bald gar nicht mehr daran erinnern, wie diese Empfi n dungen genau waren, wie man sich eigentlich da oben gefühlt hat.» Er nickte.
«Es ist fast so, als ob man mit jemandem schläft», sagte ich. I ch fing seinen Blick auf und fragte mich, ob er diesen Absatz wohl auch geschrieben hatte, um mich herauszufordern. Und dennoch spürte ich, wie mich ein seltsam kitzelnder Schauer durchrann, während ich die Rolle der Juliet spielte – in gewisser Weise spürte ich, daß der Vergleich zutraf und gut war. «Ein besserer Ve r gleich fällt mir nicht ein – sind Sie jetzt schockiert?» Er lächelte und schüttelte langsam den Kopf. «Man hat dasselbe erhöhte Bewußtsein, empfindet hinterher die gleiche Unwirklichkeit», fuhr ich fort. Leicht nervös ergriff ich mein Weinglas. «Entschu l digen Sie, Sie müssen denken, ich bin vollkommen durchg e dreht.» «Nein, absolut nicht.» Er klang ehrlich. «Und noch etwas», sagte ich, «man verändert sich. Man verliert einen Teil seiner Persö n lichkeit und nimmt die Persönlichkeit der Figuren an, die man spielt. Man fangt an, sich anders zu verhalten, so zu sprechen, wie sie es tun würde n; manchmal fangt man sogar fast an zu glauben, was sie glauben. Man hat etwas von einem Chamäleon an sich.» «Ihr erster Vergleich hat mir besser gefallen.» «Das kann ich mir denken.» «Aus Ihrem Mund klang es sehr aufregend.» Er blinzelte erneut – diesmal ohne Anweisung aus dem Manuskript – , und ich lachte. «Tja, nun, Sie haben mich gefragt, warum es mir soviel Spaß macht.» Wir verfielen in Schweigen. Die Szenerie hatte etwas von einer Verschwörung an sich – einer Verschwörung, an der ich freiwillig teilnahm. Gleichzeitig war aufgrund der Tatsache, daß wir diese Szene miteinander gespielt hatten, eine Art Band zwisch en uns entstanden – ich hatte das Gefühl, daß es unmöglich wäre, ihn zu hassen. Daran merkte ich wieder, wie er mich manipuliert hatte. Nachdem das Dessert serviert worden war, griffen wir unseren Dialog wieder auf – diesmal sprachen wir über seine Arbeit, Studenten, die er unterrichtet hatte, und sein Lieblingsland –
Frankreich. Ich entspannte mich, denn jetzt brauchte ich nur hin und wieder ein paar Fragen einzuwerfen und konnte mich anson sten darauf beschränken, zuzuhören und das Dessert zu genießen – eine köstliche Crêpe Suzette, herrlich leicht, die mir im Mund zerging. Der Wein war mir ein wenig zu Kopf gestiegen, ich fühlte mich leicht benommen und verspürte einen warmen Schleier um die Augen. Ganz eindeutig war ich in exakt der Stimmung gefangen, die er vorausgeplant hatte, denn als der Kaffee kam, begann ich mich auf angenehme Art schläfrig zu fühlen – genau wie das Manuskript es verlangte. Dann beging ich meinen ersten Fehler an diesem Abend, denn während ich mich diesem zufriedenen Gefühl der Sätti gung hingab, beschloß ich, mir eine Zigarette zu gönnen. Ich griff in meine Handtasche und holte die Schachtel heraus. Augenblicklich wurde ich auf meinen Fehltritt hingewiesen. Fox beugte sich vor wie ein Falke und sagte scharf: «Ich hätte nicht gedacht, daß Sie rauchen, Juliet.» Für ein Weilchen geriet ich aus der Fassung, dann besaß ich die Geistesgegenwart, zu erkennen, was er meinte, und fing mich wieder. Ich seufzte bedauernd. «Ja , Sie haben recht. Ich sollte es aufgeben, nicht wahr?» «Zumindest haben Sie mir das damals im Lokal gesagt», antwor tete er schnell. «Na gut, macht nichts – ich hätte gerade Lust darauf gehabt.» Widerstrebend schob ich die Packung zurück in meine Handtasche – ich kam zwar beinahe um vor Gier nach einer Zigarette –, doch gleich zeitig war ich auch ungemein stolz, daß ich Ruhe bewahrt und so schnell reagiert hatte. Es war meine erste Erfahrung in unvorhergesehener Improvisation – , und es sollte nicht meine letzte bleiben. Wir unterhielten uns noch eine Zeitlang über Sussex, dann hatten wir auch unseren Kaffee getrunken. Der Kellner erschien, um nachzuschenken, aber Fox winkte ab. Ich war müde und wollte auch den letzten Teil endlich hinter mich bringen. Fox wirkte ebenfalls erschöpft. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und lehn te sich zurück. «Kommt es Ihnen nicht seltsam vor, mit einem alten Mann wie mir auszug e
hen?» fragte er dann. «Aber Sie sind doch kein alter Mann», protestierte ich rasch. «Ach, kommen Sie, ich bin alt genug, um Ihr Vater zu sein. Das muß für Sie doch eigenartig sein.» Wieder begann ein Verdacht in mir zu nagen – hatte er auch diesen Teil des Dialogs so verfaßt, daß der Altersunterschied zwischen uns beiden nicht mehr so ungewöhnlich wirken sollte, nachdem er erst einmal zur Sprache gebracht worden war? Ich war mir nicht sicher. «Na ja, ein bißchen vielleicht», sagte ich. «Aber Sie sind ja noch kein Greis.» «Ich bin über fünfzig.» «Das ist noch nicht alt.» Ich schwieg einen Herzschlag lang. «Und davon abgesehen, Sie wirken mit Sicherheit nicht wie mein Vater.» «Wirklich nicht?» Er warf mir einen Seitenblick zu. «Nein, be stimmt nicht», sagte ich mit Überzeugung. Zum erstenmal ve r glich ich ihn tatsächlich mit meinem Vater. Dann fuhr ich fort: «Er würde sich nicht einmal im Traum in einem Lokal wie diesem sehen lassen, der alte Langweiler, damit fängt’s schon mal an.» «Verstehen Sie sich nicht mit ihm?» fragte Fox. Plötzlich kam mir der Text des Manuskripts sehr persönlich vor. Während der Proben war es mir nicht so aufgefallen, aber jetzt? Ich fragte mich: weiß er etwas über mich, hat er etwa Nachforschungen angestellt? «Doch, ich verstehe mich sogar blendend mit ihm», sagte ich. «Oh.» Das Thema war vom Tisch. Wir schwiegen wieder. «Es war ein herrliches Essen», sagte ich. «Ja, es war herrlich, und eine große Freu de für mich, daß Sie mein Gast waren.» «Aber ich habe – » «Fangen wir nicht schon wieder damit an.» Ich wartete. «Vielleicht sollten wir es einmal wiederholen?» fragte ich ruhig.
«Ja, das… das fände ich sehr schön.» «Gut, wenn Sie das nächstemal in der Stadt sind.» «Ja.» Erneutes Schweigen. Ich nickte verträumt, wie im Text vorg e schrieben. Die meisten anderen Tische waren bereits leer, und die Kellner räumten schon ab, um anzudeuten, daß das Lokal bald schließen würde. Ich fühlte mich erleichtert. Wir hatte n es beinahe hinter uns, nur noch den letzten Teil, dann war’s geschafft. Er setzte sich plötzlich gerade auf. «Wie auch immer, ich gla u be, es ist Zeit, daß ich Sie nach Hause bringe. Sie müssen müde sein.» «Ja.» «All die erotische Ausstrahlung, die heute abend von Ihnen ausging.» Ich sah ihn scharf an. «Machen Sie sich nicht über mich lustig.» «Das lag nicht in meiner Absicht», sagte er lächelnd. «Sie sind doch müde, nicht wahr?» «Na ja, ein bißchen schon.» Ich versuchte ein angedeutetes Gähnen. «Entschuldigen Sie.» Er lächelte. «Einen Moment bitte, ich muß nur schnell die Rechnung bezahlen.» Noch einmal wollte ich protestieren, aber er winkte ab und ging, um mit einem der Kellner an der Bar zu sprechen. Ich lehnte mich träge zurüc k: ich war wirklich müde. Die intensive Konzentration, die mir während des Abends abverlangt worden war, hatte mich völlig erschöpft – auf einmal wurde mir klar, daß ich die ganze Zeit ‹auf der Bühne › gewesen war, und das ohne Pause. Ich blickte zu Fox hinüber. Er stand über die Ba rtheke gebeugt und füllte einen Scheck aus, wobei ihm das Haar immer wieder über die Augen fiel, so daß er sich ständig unterbrechen mußte, um es mit der Hand zurückzustreichen. Ich dachte an das Man u skript und was jetzt noch bevorstand: der Text war so gu t wie zu Ende, aber da kam noch der Kuß, sozusagen als Abschluß. Wi e
der fragte ich mich, ob es im wirklichen Leben möglich war, daß ein einundzwanzigjähriges Mädchen sich echt in einen Mann von Fünfzig verliebte. Im allgemeinen steckte in solchen Fällen ei n bestimmtes Motiv dahinter oder wenigstens ein konkreter Grund: Geld, das Prestige einer sozial höheren Schicht, aber zwischen Juliet und Fox war weder das eine noch das andere zu erkennen. Zweifellos, er war charmant, er machte Eindruck auf mich, aber sc hließlich handelte es sich auch um mich, nicht um Juliet – ich hatte das Gefühl, daß die von ihm ausgehende Fasz i nation einfach nur eine Illusion war, hervorgerufen durch die Tatsache, daß ich mich an sein Manuskript halten mußte. Es war schwierig für mich , meine eigenen Gefühle nicht mit denen der Rolle Juliets zu verwechseln. Aber was mochte sie erwarten? Juliet wurde als ungewöhnlich attraktiv beschrieben; sie hatte einen Freund (wenn auch keinen festen, wie sie gesagt hatte), sie hätte jeden Mann haben können, den sie wollte. Und doch, was würde heute abend noch geschehen? Ich fühlte, daß auch das Letzte möglich war. Nach der begeisternden Theatervorstellung und dem gelungenen Abend sollte Juliet wie in einem Rausch schweben. Ich war verwirrt, meiner eigenen Gefühle nicht sicher. Nachdem Fox die Rechnung beglichen hatte, holten wir unsere Mäntel und verließen das Restaurant. Er mußte das Taxi für eine bestimmte Zeit vorausbestellt haben, denn als wir auf den Bü r gersteig hinaustraten, wartete es bereit s; der Fahrer rauchte. Schweigend stiegen wir ein. Kaum hatten wir Platz genommen und die Türen geschlossen, ließ der Fahrer den Motor an und fädelte sich in den Verkehr ein. Wir machten es uns im Fond bequem, dicht nebeneinander sitzend, jedoch ohne uns zu berüh ren, und die Situation kam mir absurd vor, wenn ich daran dac h te, was folgen würde. Ich hätte am liebsten losgekichert und mußte angestrengt aus dem Fenster schauen, um ernst zu ble i ben. Obwohl es fast ein Uhr morgens war, herrschte auf den Straßen noch reger Verkehr. Der Mond stand klar am Himmel, und die Laternen auf den Gehsteigen tauchten die Straße in mattes Licht, daß die Farben unnatürlich und irgendwie verw a
schen wirkten. Müde blickte ich aus dem Fenster und dachte an nichts Besonderes, mußte mic h dann aber zusammenreißen und an meine Rolle erinnern, als ich einen leichten Stoß in die Seite erhielt – eine Aufforderung, daß unser Spiel weiterging und ich die Konversation wieder aufnehmen sollte. Ich brauchte die Schläfrigkeit in meiner Stimme nicht zu spi e len, sie stellte sich ohne alle Mühe selber ein. «Haben Sie je in London gelebt?» fragte ich. Er wandte sich mir halb zu. «Eine Zeitlang – bevor Mary und ich geheiratet haben. Warum fragen Sie?» «Sie scheinen sich gut auszukennen.» «Das sieht nur so aus.» «Aber Sie wissen sehr genau Bescheid, die Lokale und so. Sie kannten ja sogar den Koch eben.» «Nun ja… ich gehe viel zum Essen, wenn ich in der Stadt bin.» «Mmm, den Eindruck habe ich auch», antwortete ich. Ich war nicht ganz sicher gewesen, ob ich meiner Stimme einen argwö h nischen Unterton geben sollte – auf alle Fälle war er unüberhö r bar. Ich kuschelte mich ein wenig näher an Fox. «Wann kommen Sie das nächstemal?» «Ich weiß es noch nicht genau. Ich rufe Sie an.» «Wird es bald sein?» Er sah mich an und hielt meinem Blick stand. «Möchten Sie es?» Ich lächelte sanft und ließ meine Hand auf seinen Arm sinken. Wieder schwiegen wir, dann bog das Taxi um eine Ecke, und die Lichter der City blitzten vor uns auf. Ich fragte mich, wohin wir fahren würden – er hatte dem Fahrer keine Adresse genannt. Ich spähte hinaus, um festzustellen, ob ich die Straßen wiedere r kannte. Wir fuhren nach Norden, gerade passierten wir Euston, in Richtung auf meine Wohnung. Der Stoff seines Sommer jacketts fühlte sich weich und küh l an unter meiner Hand, die jetzt, in meiner nervösen Erwartung des bevorstehenden Kusses, feucht geworden war. Eigenartig, dachte
ich – nach all den Männern, die deinen Körper benutzt haben, kann ein Kuß dich immer noch nervös machen. «Während Sie verheiratet waren», fragte ich ruhig, «hatten Sie da jemals eine Affäre?» Die Trennscheibe zwischen uns und dem Fahrer war geschlo s sen – was unser Spiel beträchtlich erleichterte. «Das ist eine weitere unfaire Frage», sagte er. «Vielleicht – aber trotzdem, bitte antworten Sie.» «Nein… tatsächlich, ich hatte keine.» «Haben Sie Ihre Frau sehr geliebt?» «Ja.» «Und Sie vermissen sie?» «Natürlich.» Seine Stimme klang kühl, ein wenig peinlich be rührt. Es war mein Stichwort. Langsam schob ich eine Hand an sein Gesicht und wandte es mir zu. Seine Haut fühlte sich straff und glatt an. «Ich möchte Sie küssen», sagte ich sanft. Er blickte mir direkt in die Augen, seine Pupillen blitzten ängstlich. Er antwortete nicht. Jetzt oder nie. Sanft drängte ich mich näher an ihn und re ckte mich, um seine Lippen berühren zu können. Es war sicherlich der merkwürdigste Kuß meines Lebens. In gewisser Weise wußte ich und auch wieder nicht, was geschah. Seine Lippen waren trocken und zuckten nervös. Als ich seine Lippen streifte, ging ein lei chtes Zittern durch seinen Körper – mir entging keine Einzelheit; und doch hatte ich zur gleichen Zeit, da alles vorher festgelegt worden war, das Gefühl, gar nicht wirklich dabei zu sein. Nicht ich war es, sondern nur mein Körper. Er aber war von innigem Drängen erfüllt. Seine Arme um schlossen meine Schultern und hielten mich fest – mir schien, als hätte er Angst, der Augenblick könnte ihm entfliehen. Ein Schauer durchlief ihn. Es war, als versuche er, diese Sekunden zur Ewigkeit auszudehnen. Dann wollte ich instinktiv und mehr aus Gewohnheit als aus echter Leidenschaft ihm einen Zunge n kuß geben. Sofort biß er die Zähne zusammen, um mich daran
zu hindern, und ich fühlte mich zurückgewiesen – überrascht und seltsam enttäuscht. Bald darauf löste er sich von mir. Er saß da und starrte geradeaus. Ich hörte seinen Atem: es war das Atmen eines alternden Mannes, ein wenig mühsam schon. Ich wußte, daß mein Verhalten falsch gewesen war: so hatte er es nicht gewollt. Ich zog ihn noch einmal an mich, gegen seinen halbh erzigen Widerstand, um ihm noch einmal einen Kuß zu geben. Diesmal heuchelte ich keine Leidenschaft. Es war ein unschuldiger, bein a he jungfräulicher, kindlicher Kuß. Damit hatte ich ins Schwarze getroffen. Er begann meinen Nacken zu streicheln, fuhr mir mi t zitternden Fingern über den Kopf. Eine Weile liebkoste er mich auf diese schüchterne Art. Schließlich lösten wir uns voneinander. Ich kuschelte meinen Kopf in seine Armbeuge. Meine Lippen prickelten, und ich fühlte einen eigenartigen Schauer durch meinen Körper laufen. Der gespielte Kuß hatte mich erreg t; meine Empfindungen waren völlig anders gewesen als sonst bei meinen Kunden. Er mußte ebenfalls gespürt haben, daß etwas Eigenartiges geschehen war, denn er ließ das Schweigen länger andauern als im Text vorgesehen. Als er es endlich brach, wirkten die vorgeschrieb e nen Textzeilen wie Eindringlinge, der Situation unangemessen. «Also, ich weiß nicht recht, was ich sagen soll.» Ich seufzte. «Dann sag nichts.» «Ich glaube, du bist…» «Nein, bitte nicht», unterb rach ich ihn. «Sag nichts. Halt mich nur – so wie jetzt.» Er nickte. Den Rest der Fahrt legten wir schweigend zurück. Ausdruck s los bemerkte ich, wie wir meiner Wohnung näher und näher kamen, und ich war mir nicht mehr sicher, ob ich froh sein würde, wenn wir dort ankamen. Der Kuß war so durch und durch harmlos gewesen, seine Umarmung derart leidenschaftslos, so unerotisch, daß der Gedanke, ich könnte in meiner Funktion als Prostituierte benutzt worden sein, absurder erschien, als wenn wir weit voneinander entfernt jeder in eine Ecke der Rückbank
gedrückt gesessen hätten. Ich fühlte mich entspannt, denn jeder von uns hatte nur noch einen oder zwei Sätze zu sagen. Die Nagelprobe war vorüber. Ich glaube, ich hätte nichts dagegen gehabt, den Rest der Nacht so zu verbringen. Müßig überlegte ich – begleitet von einem Anflug von Trauri g keit –, ob dies wohl das letzte Mal gewesen war, vielleicht war das alles, was er haben wollte – dieser unschuldig mädchenhafte Kuß. Ich fragte mich, ob ich möglicherweise nur eine Ar t Etappe auf einer sentimentalen Reise war: vielleicht versuchte er, eine Kin d heitsliebe noch einmal nachzuerleben, ein Erlebnis, das er als Junge gehabt hatte und nicht vergessen konnte. Ich verspürte einen Stich – mir war eine Jungmädchenliebe vorenthalt en wor den; und er war alt genug, um mein Vater sein zu können, das hatte er selber gesagt. Schließlich bog das Taxi in meine Straße ein. Der Fahrer hielt direkt vor meinem Haus, ohne lange nach der Adresse suchen zu müssen. Er ließ den Motor laufen. Dann sagte Fo x: «Nun, da wären wir.» Seine Stimme klang resigniert, müde. «Ja.» Er löste seinen Arm von meiner Taille. «Danke, daß du ge kommen bist.» «Danke für die Einladung.» Kurze Pause. «Es war wirklich ein sehr schöner Abend.» «Ich freue mich, daß es dir ge fallen hat.» Wir zögerten. Juliet wußte offenbar nicht, wie sie den Abend beenden sollte. «Also!» Wieder eine Pause des Zauderns, dann traf sie ihre Entsche i dung. Ich beugte mich z u ihm hinüber und gab ihm einen zarten Kuß, dann blickte ich ihm in die Augen. «Du rufst mich an?» «Ich rufe dich an.» «Bald?» «So bald wie möglich.» Er lächelte, seine Augen leuchteten. Ein letztes Berühren der Lippen, dann rutschte ich zur Tür und stieg aus. «Also, gute Nacht.» «Gute Nacht, Juliet.»
Ende des Manuskripts. Ich hie lt noch die Tür, da ich nicht ge nau wußte, wann ich sie zuschlagen sollte. Er nickte mir zu. Und dann, Gott weiß warum, sagte ich es. Ich konnte mich nicht zurückhalten. Manchmal denke ich, daß ich sein Nicken mißverstanden habe; oder aber auch nicht. Viel leicht glaubte ich noch immer, daß er in Wirklichkeit doch nur auf das eine aus war, vielleicht war es auch etwas anderes und ich wollte einfach an dieser Stelle nicht Schluß machen. Auf jeden Fall aber sagte ich es. «Möchtest du mit nach oben kommen?» Es stand nicht im Manuskript, und es war ein entsetzlicher Fehler. Plötzlich fiel sein Unterkiefer herab, das Leuchten in seinen Augen erlosch, und er beugte sich herüber, um mir die Tür aus der Hand zu reißen und zuzuschlagen. Er hämmerte an die Trennscheibe zwischen Fahrer und Passagierraum, und sofort setzte sich das Taxi wieder in Bewegung. Ich blieb auf dem Bürgersteig zurück und starrte verstört hinter den langsam entschwindenden Rüc k lichtern her.
12 In jener Nacht fand ich keinen Schlaf. Sobald ich zu Hause war, ging ich geradewegs zu Bett, entschlossen, nicht an ihn zu de n ken und mir meine wohlverdiente Nachtruhe zu gönnen. Ob wohl ich reichlich erschöpft war – der Abend hatte beinahe meine letzten Kräfte gekostet –, fand ich keinen Schlaf. Ich schwebte stundenlang an der Schwelle des Schlafs in jenem seltsamen Niemandsland, in dem man weder wirklich wach noch ganz eingeschlafen ist. Ich wälzte mich unruhig im Bett hin und her, mit dem Bemühen, meine Gedanken zu beruhigen. Endlich fand ich mich damit ab, daß ich in dieser Nacht keinen Schlaf finden würde. Ich mußte den Abend überdenken – Schlaf allein vermochte ihn nicht zu bewältigen. Ich knipste das Licht an, setzte mich auf , zündete mir eine Zigarette an, schaltete das Licht wieder aus und ließ mich ins Bett zurücksinken. Im Du n keln lag ich sinnend da, rauchte. Ich fühlte mich schuldig. Wenn ich es mir heute überlege, er scheint es verrückt – die Idee, daß ich ihn in gewisser Weise hintergangen habe; der Gedanke, daß mit mir ein Spiel getrieben wurde, kam mir gar nicht; statt dessen glaubte ich, ihn enttäuscht zu haben und mich dafür schämen zu müssen. Entsetzt bemerkte ich, daß ich überhaupt nicht mehr an das Geld gedacht hatt e: er hatte mir 350 Pfund für den Abend be zahlt – alles andere hatte ihn auc h noch eine ganz schöne Stange Geld gekostet – das Essen, Taxi und so, und ich hatte ihm am Ende die ganze Sache doch noch verdorben, auch wenn ich echt gut gewesen war; ich hatte an seinen Augen, seiner offensichtl i chen Begeisterung ablesen können, daß ic h genau die Wirkungen erzielt hatte, die er sich vorstellte; von ein paar kleinen Schnitzern abgesehen, im großen und ganzen hätte ich wir klich stolz auf mich sein können – das heißt bis auf jenen letzten Satz, mit dem ich alles wieder kaputtgemacht hatte.
Ich war eben nicht Juliet. Sie würde ihn nicht in ihre Wohnung eingeladen haben, jedenfalls nicht so rasch. Sie ging ganz in der Romantik des Augenblicks auf, verliebt in die Liebe an sich und nicht in ihn. Vielleicht würde sie irgendwann mal mit ihm ins Bett gehen, aber nicht gleich nach dem ersten Abend – es hätte für sie zu sehr nach reinem Sex ausgesehen und nicht nach der romantischen Liebe, von der sie träumen mochte. Ich hatte sein Nicken nicht wirklich mißverstanden – es war mir als Vorwand gerade recht gewesen, um meinen Egoismus zu befriedigen: ich hatte gewollt, daß er mit nach oben käme, ich hatte mehr über ihn in Erfahrung bringen und das Rätsel lösen wollen. Ich wollte das Rätsel lösen, das er um mich und sich selbst geschaffen hatte, ihn selber entlarven, denn mehr als alles andere widerstrebte mir die Macht, die er über mich hatte, die Art, auf die er mich man i pulieren konnte. Wenn ich ihn ins Bett bekäme, so hatte ich im Unterbewußtsein gedacht, könnte ich ihn abschreiben – danach würde auch er zur Armee der anderen traurigen Gestalten geh ö ren, die in meinem Appartement gelandet waren. Ich wollte Macht über ihn, nicht mehr und nicht weniger. Also hatte ich meine übliche Rolle gespielt – die Hure. Ich erinnerte mich, was er in seinem Brief ges chrieben hatte: «Tun Sie nichts, was nicht zu Ihrer Rolle gehört, auf keinen Fall.» Ich fragte mich, was für eine Rolle er damit meinte – Shirley, Sylvia oder Juliet? In jenen Augenblicken begriff ich, glaube ich, zum erstenmal, daß diese Juliet, deren Rol le ich zu spielen hatte, eine reale Pe r son war. Gott allein weiß, warum ich nicht schon früher auf den Gedanken gekommen bin, aber plötzlich wurde mir alles klar. Diese Juliet hätte ihn nicht mit in ihre Wohnung genommen, das hätte sie nicht getan. Sie war nicht einfach nur eine Person in einem erfundenen Stück, keine reine Erfindung. An Hinweisen auf ihre reale Existenz hatte es die ganze Zeit eigentlich nicht gemangelt: die Kleider, das Haarteil, das hartnäckige Beharren darauf, daß ich keine Fragen zu st ellen hatte. Ich spielte die Rolle eines Menschen aus seiner Vergangenheit, keine idealisierte, konstruierte Vision. Möglicherweise hatte ich von all dem schon
vorher eine vage Ahnung, aber es war mir nie so deutlich klarg e worden. Ich hatte mir immer vorge stellt, eine Phantasiefigur zu spielen, eine etwas kompliziertere Version des alten perversen Schulmädchen-und-Zöpfe-Spiels. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen und die Dinge schienen wie von selbst den ihnen zustehenden Platz einzunehmen. Er versuchte, die Vergangenheit wieder lebendig zu machen, die Höhepunkte seines Lebens noch einmal zu genießen, ein letztesmal die Tage mit Juliet an sich vorüberziehen zu lassen. Das war der Grund dafür, wenn er ‹keine Fragen› wollte. Wenn ich ihn an irgendeinem Punkt daran erinnerte, daß ich nicht Juliet war, dann hatte alles seinen Sinn verloren. Immer wenn ich buchstäblich aus der Rolle fiel, ze r störte ich das ganze komplizierte Gebilde. Er stellte sich vor, ich sei Juliet, er erlebte ganz bewußt jede Sekunde, die er mit ihr verbracht hatte, ein zweites Mal. Ich selbst hatte es im Man u skript erklärt, in jener Passage über die Schauspielerei – er wußte, was passieren würde und konnte sich daher ganz darauf konze n trieren, es zu erfahren. Und sie hatte ihn ganz eindeut ig nicht mit nach ‹oben› gebeten; es war dort, an dem Punkt zu Ende gew e sen, wo auch das Manuskript geendet hatte. Mit Entsetzen be griff ich, daß mein Angebot die zerbrechliche Struktur seines Phantasiegebildes völlig zerstört hatte. Ich knipste das Licht wieder an, stieg aus dem Bett und nahm mir das Manuskript noch einmal vor. Enthielt es noch weitere Hinweise? Ich kroch wieder ins Bett zurück und las das Ende noch einmal. JULIET (hoffnungsvoll): Du rufst mich an?
PAUL: Ich rufe dich an.
JULIET: Bald?
PAUL (langsam): So bald wie möglich.
Pause, Juliet gibt Paul einen Kuß, rutscht zur Tür und steigt aus. Draußen
bleibt sie stehen und hält die Tür fest.
JULIET (rasch): Dann gute Nacht.
PAUL: Gute Nacht, Juliet.
Sie schließt sofort die Tür. Würde ein weiter es Manuskript folgen? Ich war fast sicher. Er wäre nicht soweit gegangen, wenn es hier einfach zu Ende gew e sen wäre; ja, es mußte noch eins geben. Aber jetzt, nach dem, was heute abend geschehen war, würde er mich noch mal die Juliet spielen lassen? Würde er das Risiko eingehen? Ich wünschte mir so sehr, noch eine letzte Chance zu erhalten. Ich war sicher, daß ich die Rolle spielen konnte: ich würde ganz darin aufgehen, wenn er mich nur ließ. Ich war mit jeder Vorste l lung besser geworden; ich fing an, zu ve rstehen, was für eine Art Mädchen Juliet war, entwickelte langsam gewisse Eigenschaften, eine bestimmte Art zu sprechen. Das nächstemal würde ich absolut Spitze sein; es würde eine blendende, unvergeßliche Vorstellung werden. Ich schaltete das Licht aus un d legte mich wieder hin. In meinem Kopf drehte sich alles. Ich fühlte mich beinahe, als wäre ich betrunken – der Mangel an Schlaf, die plötzliche Erregung. Ich erinnere mich, in lautloses Flehen au s gebrochen zu sein: Bitte, hab Vertrauen, ich werde dich ni cht enttäuschen. Wenn ich es heute betrachte, sehe ich all das nicht ohne Ironie. Irgendwann in jener langen dunklen Nacht, bevor der Schlaf mich endlich zu überwältigen begann, wurde mir noch etwas klar. Ich wollte wissen, wie es weiterging. Ich war genau so gespannt auf das Ende ihrer Geschichte, wie ich mich nach der Chance sehnte, es spielen zu dürfen. Die nächsten vierzehn Tage waren schrecklich: es war das län g ste Warten meines Lebens. Gegen Ende der ersten Woche verfiel ich in tiefe Depressionen. Es war ganz und gar nicht so, daß mein Wunsch, die Rolle zu bekommen, nachließ; im Gegenteil, er wurde mit jedem Tag stärker, ich konnte kaum noch an etwas anderes denken – er bemächtigte sich meiner total, jede wache Minute, und er drang bis in meinen Schlaf ein, so daß es mir schwerfiel, zu unterscheiden, was Traum und was Wirklichkeit war. Natürlich hatte ich noch meine anderen Kunden, aber auch
die kamen immer seltener. Es machte mir keinen Spaß mehr, sie zu übertölpeln; die Hingabe und Leidenschaft, die ic h ihnen immer vorgespielt hatte, vermochte ich jetzt nicht mehr zu he u cheln. Ich empfand keinen Spaß mehr daran und hatte daher auch keinen Grund, mich weiter mit ihnen abzugeben, außer des Geldes wegen. Nach und nach blieben sie fort – zuerst verlor ich nur den einen oder anderen meiner Stammkunden, dann wurden es mehr. Zuletzt waren es nur noch ein paar. Jeden Tag fieberte ich dem Briefträger entgegen, und jeden Tag wurde ich enttäuscht. Ich verstand Fox, wollte es aber trotzdem nicht glauben. Endlich bes chloß ich, selbst Nachforschungen anzustellen. Wenigstens hatte ich dann etwas zu tun. Als erstes schrieb ich an das Magazin unter Chiffre 1453. Es wurde ein pathetischer, beinahe schmachtender Bittbrief. Ich flehte um eine letzte Chance, versprach, nie wi eder einen solchen Fehler zu begehen, erniedrigte mich, bettelte. Ohne Erfolg. Der Brief kam ungeöffnet zurück, begleitet von einem kurzen Schre i ben des Magazins: Chiffre 1453 war nicht mehr belegt; offe n sichtlich benötigte der Kunde sie nicht mehr. Dann nahm ich mir die Universität vor. Erst wollte ich einen Brief schreiben, dann aber überlegte ich es mir anders. Wenn ich ihn anrief, standen meine Chancen, ihn davon zu überzeugen, daß ich es wirklich ehrlich meinte, vielleicht besser. Ich wußte nicht, was genau ich sagen wollte – ihn bitten wahrscheinlich oder in der Rolle von Juliet, die sich erkundigen wollte, wann er das nächstemal in die Stadt käme. Trotz meiner wilden En t schlossenheit war es nicht so einfach, den nötigen Mut aufz u bringen. Gut zehn Minuten saß ich zögernd da, den Telefonhörer in der Hand und redete mir zu, bis ich endlich die Nummer der Universität wählte. Es meldete sich die Telefonistin, und ich fragte nach Paul Fox von der Französischen Fakultät. Wie hatte ich bloß damit rechnen könne n? In keinem seiner Briefe hatte er eine Telefonnummer oder Anschrift angegeben – was hätte es für einen Sinn gehabt, sie geheimzuhalten, wenn es so einfach gewesen wäre, ihn über die Universität aufzuspüren?
Er hatte alle Spuren verwischt. Es gab keinen Paul Fox an der Französischen Fakultät; es gab keinen Dozenten dieses Namens in irgendeiner anderen Fakultät, keinen Paul Fox an der gesamten Sussex-Universität. Es traf mich wie ein Donnerschlag. Hatte ich mir wieder mal alles nur eingebildet? Vielleicht ging es ihm gar nicht darum, seine Vergangenheit noch einmal zu erleben, wie ich gedacht hatte; immerhin existierte ein Paul Fox nicht – und eine Juliet? Ich überlegte. Vielleicht hatte er einfach seine Lehrtätigkeit au f gegeben, das war alles; oder, wenn er seine Vergangenheit wieder zurückholen wollte, dann bestand ja die Möglichkeit, daß er zu der Zeit, als er Juliet kennengelernt hatte, an der Sussex als Do zent tätig gewesen war. Ich rief ein zweites Mal an. Diesmal verband die Telefonistin mich mit einem der älteren Mitglieder der Französischen Fakultät. Er war sehr beschäftigt und daher kurz angebunden. Ich sagte, ich versuchte einen alten Freund aufzuspüren, ich glaubte mich zu erinnern, daß er einmal an der Sussex Universität gelehrt hätte – ein gewiss er Paul Fox; ob er mir wohl weiterhelfen könne? Seine Antwort war kurz und mürrisch, eine Spur von ‹Ist das denn wirklich so wichtig?› in seiner Stimme. Nein, der Französischen Fakultät habe nie ein Mitglied dieses Namens angehört – er sei seit der Einweihung der Universität dabei, und wenn er den Namen nicht kenne, dann kenne ihn auch niemand sonst. Es tue ihm außerordentlich leid, daß er nicht helfen könne. Ich probierte noch alles mögliche; ich rief die Fernsprechau s kunft an und erkundigte mich nach eine m P. Fox im Gebiet von Brighton. Es gab zwei, von denen sich keiner als Paul herausstell te. Dann London – es bestand ja immerhin eine Chance, daß er in London wohnte: schließlich hatte er auch sein Bankkonto hier. In London gab es fünfzehn P. Fox, und ich ackerte sie alle durch – Peter, Patrick, Philip und Paulas und sogar eine Pauline, ja, aber nicht einen einzigen Paul. Eigenartigerweise war ich noch nicht mal sonderlich überrascht.
Ich hatte noch eine letzte Trumpfkarte, die ich ausspielen konn te – das Bankkonto. Ein paar Tage lang kämpfte ich mit meinem Gewissen, dann gab ich der schlechteren Hälfte meines Wesens nach. Einer meiner regelmäßigen Kunden war Geschäftsführer einer Bank. Ich bat ihn, herauszufinden, wem das Konto gehörte. Natürlich weigerte er sich und wollte mich mit dem üblichen Schmus von wegen Berufsgeheimnis und so abspeisen. Darüber hinaus werde das Konto nicht bei seiner Bank geführt – es sei ihm daher unmöglich, diese Information zu beschaffen. Warum ich mich überhaupt so dafür interes sierte, wollte er wissen. Mit dieser Frage hatte ich allerdings gerechnet. Es war das erstemal, daß ich mir meinen Beruf für etwas zunutze machte, das ich für falsch hielt. Ich wußte, daß es falsch war, aber ich war damals so besessen von Fox, daß ich fast alles getan hätte, um ihm auf die Spur zu kommen. Ich versicherte dem Bankmenschen, daß ich nichts Unrechtes im Sinn hätte, daß ich weder hinter dem Geld auf dem Konto her sei noch die Information anderweitig ausz u nutzen trachtete, aber falls er mir nicht besorgte, was ich von ihm haben wollte, dann würde seine Frau leider erfahren müssen, weshalb er so häufig Überstunden machen müsse. Offensichtlich war es nicht so schwierig, die Information zu beschaffen, wie er behauptet hatt e: ich erhielt sie nur wenig e Tage später in einem einfachen Kuvert. Ich muß gestehen, daß ich mich ein wenig schämte. Dem Begleitbrief zufolge war das Konto erst kürzlich eröffnet worden. Die Bewegungen darauf waren ziemlich ungewöhnlich: eine größere Einzahlung – zweitausend Pfund Anfang März, und fünf größere Abhebungen; einmal 350 Pfund, einmal hunder t fünfzig Pfund und dreimal je hundert Pfund, abgesehen von einer Anzahl kleinerer Beträge. Einen Augenblick lang war ich völlig perplex. Die beiden größeren Beträge hatte ich erhalte n; die kleineren waren wohl für Zugfahrten, Essen und so weiter draufgegangen, aber von den dreimal je hundert Pfund hatte ich nur einmal hundert erhalten. Das war ein weiterer Schoc k: er kennen zu müssen, daß ich zwei erfolglose Vorgängerinnen
besaß. Die be i weitem wichtigste Information aber war die Adresse. Sie lautete 38 Blenheim Rise, Chelsea. Am Abend ließ ich’s mir gutgehen und feierte – verfrüht, wie sich bald herau s stellen sollte. Am nächsten Morgen nahm ich ein Taxi und fuhr zur angegebenen Adresse. Ich trug das weiße Kleid, hatte das Haarteil angelegt, war sehr aufgeregt und mehr als zufrieden mit mir selbst. Ob er zu Hause war? Was würde er wohl sagen? Vielleicht sollte ich ihm einfach nur ein paar Zeilen hinterlassen? Ich hätte mir darüber keine G edanken zu machen brauchen. Das Haus existierte zwar – sonst wären die Kontoauszüge wohl auch an die Bank zurückgegangen –, aber es war unbewohnt. Durch die Milchglasscheiben der Vordertür konnte ich die Briefe sehen, die verstreut im Flur lagen. Ich hatte alle meine Hoffnungen auf diesen Besuch gesetzt. Während der Rückfahrt im Taxi vergoß ich Tränen der Wut und Enttäuschung. Von da an sah ich nicht einmal mehr in meinen Briefkasten, wenn ich von der Arbeit nach Hause kam. Und in der darauffo l genden Woche erreichte ich den absoluten Tiefpunkt. Ich ging kaum noch aus der Wohnung; meinen Kunden erklärte ich, krank zu sein und sie nicht empfangen zu können. Ich aß kaum noch etwas und fing an zu trinken, allein in meiner verwaisten Wohnung. Mit diesem einen Sat z, jenen sechs einfachen Wö r tern: «Möchtest du mit nach oben kommen?», Worte, nach denen andere sich verzehrten, hatte ich ihn verloren. Und in der Tat hätte ich meine letzte Chance vielleicht für im mer verpaßt, wäre der Umschlag vollständig in den Briefka sten gerutscht. Ich hatte aufgehört, nachzuschauen, hatte mich selbst endgültig zum Versager gestempelt; aber eines Nachmittags lugte er aus dem Briefkastenschlitz, direkt in Augenhöhe, als ich zum Eingang hereinkam. Ein Drittel des Kuverts schaute noch he r aus, weil es nicht ganz durchgerutscht war. Anfangs zog ich es fast ängstlich heraus, aber dann stürmte ich die Treppe zu meiner Wohnung hinauf. Meine Depressionen waren wie weggewischt. Ein kleines hysterisches Lachen entrang sich meinen Lippen.
Wieder drei Dinge: ein Scheck, ein Manuskript, ein weiterer Brief. Fieberhaft öffnete ich den Brief. Liebe Ms Rivers,
herzlichen Dank, daß Sie am 23. Mai in das Restaurant geko m men sind.
Wie Sie dem langen zeitlichen Abstand zwischen unserem let z ten Treffen und der heutigen Briefsendung sicher entnehmen konnten, habe ich lange darüber nachgedacht, ob ich das ganze Projekt abblasen soll oder nicht. Ich glaube nicht, daß es no t wendig ist, Ihnen meine Gründe im Detail zu erklären – ich gehe davon aus, daß Sie wissen, worauf ich mich beziehe. Nichtsdestoweniger habe ich beschlossen, weiterzumachen. Es ist Ihnen in jener Nacht gleich mehrmals gelungen, genau die Wirkung zu erzielen, auf die ich gehofft hatte – eine bemerken s werte Leistung, wie ich zugeben muß, da es sic h um eine auße r ordentlich anspruchsvolle Aufgabe handelte. Ich möchte Sie daher fragen, ob Sie bereit wären, einen weiteren Auftrag anz u nehmen – vorausgesetzt, es kommt nicht zu weiteren Entgle i sungen – ; ich lege ein neues Manuskript bei, das zu lernen ic h Sie bitte. Die Handlung spielt, wie Sie sehen werden, im Hyde Park. Ich werde Sie dort am 25. Juni um 12 Uhr 30 am Orch e sterpodium erwarten. Ich hoffe, dieses Datum paßt Ihnen. Paul und Juliet haben sich in der Zwischenzeit noch zweimal getro f fen. Einmal hat Paul sie ins Theater ausgeführt und anschließend zum Essen eingeladen; beim zweitenmal hat Juliet in ihrer Wo h nung für ihn gekocht. Sie werden im Manuskript Verweise auf diese beiden Gelegenheiten finden. Wie auch immer, trotz dieser Verabredungen hat sich ihre Beziehung nicht nennenswert ve r ändert – sie hat sich mehr oder weniger auf der gleichen Basis weiterentwickelt. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diesmal ein blau -weiß ge streiftes T-Shirt und Blue Jeans tragen könnten. Ich hoffe, daß wir schönes Wetter haben, aber falls nicht, nehmen Sie bitte eine Jeansjacke mit.
Wie stets lege ich Ihnen als Ausgleich für Ihre Dienste einen Scheck bei. Mit freundlichen Grüßen Paul Fox Die Summe betrug wieder 300 Pfund; das Standardhonorar, wie ich daraus schloß. Die zusätzlichen fünfzig Pfund für den 23. Mai erklärten sich durch den mißglückten Abend, an dem ich die Vorstellung verpatzt hatte. Dem Manuskript wandte ich mich mit beinahe noch größerem Interesse zu. Ich war begierig, wie es weitergehen würde. Ich la s ungefähr eine knappe halbe Stunde, dann war ich fertig, und ein kleines Lächeln stand auf meinen Lippen. Jetzt wußte ich die Antwort auf die Frage, die ich mir von Anfang an gestellt hatte; ich wußte, warum er mich für die Rolle haben wollte und nicht ei ne wirkliche, ernsthafte Schauspielerin.
13 Unglücklicherweise, zumindest für Fox, war der 25. Juni kein besonders schöner Tag. Als ich am Morgen erwachte, zogen schwere Wolken über den Himmel – der Würgegriff der Hitze, der London in den letzten zehn Tagen gelähmt hatte, war endlich gebrochen. Es regnete zwar nicht, obwohl es ständig danach aussah, aber der Wind hatte aufgefrischt und trieb die Wolken vor sich her, so daß sie sich nicht abregnen konnten. Es war ein trüber, scheußlicher Tag, wie jeder U rlauber ihn fürchtet – schon gar nicht das Wetter für T-Shirts und Lustwandeln auf dem Rasen des Hyde Park. Natürlich, Fox hatte selbst in diesem Manuskript erklärt, daß man die Vergangenheit nicht wieder beleben kann – äußere Umstände drängten sich immer wieder dazwischen, veränderten den einen oder anderen Aspekt und verdarben damit die Wirkung – , aber es schien, als scheue die Natur bei dieser besonderen Gelegenheit weder Mühe noch Nachdruck, damit es an der Wahrheit dieser Erkenntnis auch nicht die geringsten Zweifel geben konnte. Dennoch zog ich mich an jenem Morgen so getreu seinen An weisungen wie eben möglich an, indem ich das T-Shirt, das ich eigens für diesen Auftritt gekauft hatte, über ein anderes streifte, den Hals mit einem Schal verhüllte und schließlich in die Jean s jacke schlüpfte, die er erwähnt hatte. Ich fürchtete, daß mir in dieser Aufmachung vielleicht ein wenig kalt sein würde, aber ich war bereit, im Interesse der künstlerischen Leistung, die ich zu vollbringen gedachte, ein wenig zu leiden. Ich verließ die Wohnung genau um elf Uhr vormittags. Den Hyde Park konnte ich in etwas mehr als einer halben Stunde erreichen, aber ich wollte schon etwas früher dasein, um mich zu orientieren und an die dort herrschende Atmosphäre zu gewö h nen. Mögli cherweise war ich auch immer noch nicht ganz von meiner alten Krankheit kuriert, ihn vor seinem Auftritt sehen zu
wollen, sozusagen den Schauspieler ohne Kostüm, aber in erster Linie war der obengenannte Grund maßgeblic h: ich wollte eine durch und durch professionelle Vorstellung erreichen. Natürlich war ich schon in der Woche vorher im Hyde Park gewesen, um mich mit der Kulisse vertraut zu machen – dem Orchesterpodium, dem ganzen Drumherum, so daß jetzt nichts davon neu für mich war, aber ich wollte einfac h etwas Zeit dort verbringen, herumlaufen und die Atmosphäre des Parks in mich aufnehmen, damit ich mich später ganz auf mein Spiel konze n trieren konnte. Ich war wild entschlossen, Erfolg zu haben, auch die kleinste Kleinigkeit genau hinzukriegen. Da war nur eins, was mir noch Sorgen bereitete. Nicht meine Nervosität – denn ich war, Gott sei Dank, nervös genug, um meine Leistung zu steigern –, sondern das Manuskript, es war unvollständig. Anstatt jedes Wort, das gesagt werden sollte, niederzuschreiben, hatte Fox nur kurze Szenen skizziert, die über das ganze Treffen verstreut werden sollten. Den Rest mußten wir improvisieren, die Rollen von Paul und Juliet vor Ort mit Leben erfüllen. Ich glaubte zu verstehen, warum er auf diese Methode verfallen war. Anders als im Restaurant, wo es schon außero r dentlich kompliziert gewesen war, würde es hier absolut unmö g lich sein, den Dialog auf die konkrete Handlung – Bootsfahrten und so weiter – abzustimmen, zumindest nicht ohne eine ge meinsame Probe. Es gab noch einen weiteren Grund, obwohl ich ihn damals noch nicht erkannte: auf diese Weise konnte Fox prüfen, ob ich Phasen längerer Improvisation gewachsen war, denn wenn nicht, hätte es wenig Sinn gehabt, mit mir weiterz u machen – die letzte Nacht wäre als schriftlich fixierte Szene völlig undenkbar gewesen. Wenn ich das gewußt hätte, wäre ich wah r scheinlich noch skeptischer gewesen, aber so wie ’s im Moment aussah, bestand meine einzige Furcht darin, daß ich die Passagen, die er nicht fixiert hatte, vielleicht nicht schaffen würde. Ich hatte Angst, steckenzubleiben, daß mir nichts einfallen oder daß ich dummes Zeug daherplappern würde wie beim erstenmal im Restaurant.
Trotz allem war ich freudig erregt. Als ich aus Richtung Knightsbridge Station kommend in den Park wanderte, hinauf zum Orchesterpodium, schien mir alles wie ein Traum. Es fällt mir schwer, diesen unwirklichen Zustand zu beschreiben, am besten trifft die Stimmung, wie Juliet den Zauber der Schauspi e lerei beschrieben hatte, zu. Noch nie hatte ich Bäume und Bl u men so wahrgenommen, alles wirkte auf mich wie jene zusa m menklappbaren Papptheaterbühnen, an die ich mich aus meiner Kindheit erinnern konnte – Figuren vor einem sorgf ältig ausg e malten Hintergrund. Es war, als ob man eine 3-D-Brille trägt: Vögel, die vom Himme l herunterstießen und den Eindruck erweckten, als könnten sie einen tatsächlich treffen. Ein Fußball, der über den Rasen kullerte, schien direkt aus einer Leinwand auf einen zuzurollen. Von allen Seiten drangen Geräusche wie in Quadrophonie auf mich ein – es war, als hätte ich die We lt noch nie so intensiv gesehen, lebendig, pulsierend, jede Sekunde auf immer und ewig unwiederbringlich. Ich sah Fox nirgends, als ich unseren Treffpunkt erreichte, so daß ich mich in einiger Entfe r nung auf eine Bank setzte und mich umsah, ob ich ihn vielleicht verpaßt hatte. Ein paar japanische Touristen fotografierten sich abwechselnd auf den Stufen des Orchesterpodiums, wobei sie sich unter heftigem Geschnatter gegenseitig in den Vordergrund stießen und dann plötzlich in eine steife Pose verfielen, wenn der Auslöser gedrückt wurde. Einer nach dem anderen lösten sie sich aus der Gruppe und trippelten nach vorn, um den Fotografen abzulösen, bis endlich jeder sein eigenes Foto hatte und sie sich mit einem Ausbruch schrillen Gekichers davonmachten. Ein paar Rollerskater sch ossen den Hang hinunter und drehten ihre Pi rouetten auf dem Weg, einige tanzten zur Musik aus den Kop f hörern ihres Walkman. Auf einer andern Bank, etwas entfernt von mir, saß ein Liebe s paar, in ein ernstes Gesprä ch vertieft. Ich beobachtete sie eine Zeitlang und versuchte zu erraten, worüber sie sich unterhalten mochten. Offenbar durchlebten sie eine Krise: sie starrten beide auf das Gras zu ihren Füßen, streiften einander hin und wieder
mit Seitenblicken, dann sc hauten sie wieder kopfschüttelnd geradeaus. Plötzlich ergriff der Junge wie in einem Ausbruch von Verzweiflung die Hand des Mädchens, aber als es keine Reaktion zeigte, ließ er sie wieder los. Endlich stand er auf und ging davon. Das Mädchen sah ihm nach und begann leise zu schluchzen. Peinlich berührt blickte ich in eine andere Richtung, aber dann mußte ich wieder hinüberschauen. Das Mädchen war ebenfalls aufgestanden und ging langsam davon. Eine kleine Pantomime nur für mich. Wie aus heiterem Himmel kam plötzlich Fox an mir vorüber. Er mußte mich gesehen haben; es war unmöglich, daß er mich nicht bemerkt hatte, und dennoch nahm er mich nicht zur Kenntnis. Er war vom anderen Ende des Parks gekommen, aus Richtung Marble Arch, nicht vom Hyde Park Corner, von wo ich ihn erwartet hatte. Wieder einmal war ich sehr verwirrt. Fox ging um das Orchesterpodium herum, bis zu der Stelle, wo die Jap a ner fotografiert hatten, und setzte sich auf eine der Stufen. Er sah nicht zu mir herüber. Nach Manuskript verspätet Juliet sich um eine halbe Stunde. Ich sprang auf und eilte in Richtung auf den See und die Caféteria davon. Es war erst zwölf, und ich hätte mir denken können, daß Fox schon um die Mittagsstunde hiersein würde. Er war offenbar pünktlich gekommen, um sogar das Wa rten auf Juliet noch ei n mal zu erleben – sehr dumm von mir, nicht auch daran gedacht zu haben. Wieder einmal fürchtete ich alles zu verderben, diesmal zwar nicht aus Egoismus, aber dennoch – was für ein ärgerlicher Fehler. Ich war jetzt nicht mehr ganz sic her, ihn um 12 Uhr 30 auch noch dort anzutreffen. Würde er mir trotz meines Fehlers noch vertrauen? Niedergeschlagen schlenderte ich die Serpentine Road zur Caféteria hinauf, bestellte mir eine Tasse Tee und saß allein, den Tränen nahe. Wenn er nicht mehr da war, würde ich mir das nie verzeihen können. Die We lt, die noch vor wenigen Minuten so farbig und pulsierend auf mich gewirkt hatte, schien plötzlich fahl und leblos, kaum mehr ein Schatten von vorher. Ich rauchte rasch hintereinander zwei Zigaretten un d starrte auf
meine Armbanduhr. Der Sekundenzeiger kroch über das Ziffe r blatt, langsam aber stetig. Mit jeder Sekunde, die verstrich, hatte ich das Gefühl, daß die Chance, die mir geboten worden war, und all ihre Möglichkeiten weiter und weiter hinter mir zurück blieben und Teil der Vergangenheit wurden. Die Worte, auf die ich mich vorbereitet hatte, würden nie gesprochen werden, die gespielten Küsse für immer auf dem Papier geschrieben bleiben. Plötzlich war mir kalt, und ich ärgerte mich über meine unpa s senden Kleider. Absurd bei diesem Wetter, wo alle anderen sich warm eingepackt hatten. Um zwanzig nach zwölf stand ich auf, bezahlte und ging ge mächlich wieder in Richtung Orchesterpodium und versuchte, mich in Stimmung zu bringe n: wenn er noch da war, wenn er gewartet hatte, dann würde er eine Vorstellung erleben, die er nie vergessen würde. Wenn… immer so viele Wenn’s. Natürlich war er noch da. Ich konnte ihn schon von der We g biegung aus erkennen, obwohl es noch gut hundert Meter waren. Mein Herz machte ein en Satz, auch wenn ich noch einen leisen Zweifel hegte, ob er es tatsächlich war. Aber er war’s. Er saß auf einer Bank dicht am Rand der Rasenfläche, mit gesenktem Kopf, wie jemand, der sich in eine Kirchenbank gesetzt hat, um zu beten. Er wirkte müde, ent täuscht. Er hatte die Stirn in die Hand gestützt und massierte seine Augenbrauen und Schläfen mit langsamen, festen, eindringlichen Bewegungen, als hätte er Kop f schmerzen. Ich fragte mich, ob das bereits zu seiner Rolle gehö r te. Ich schlich mich auf dem Ra sen hinter ihn und näherte mich der Bank mit gestelzten, lautlosen Schritten, genau wie das Ma nuskript es verlangt hatte, so daß er mich weder sehen noch hören konnte. Er wirkte sehr verletzlich; ich hatte plötzlich das Gefühl, Macht über ihn zu haben. Wie der hämmerte mein Herz wie verrückt. Noch ein paar Schritte. Mit einer raschen Bew e gung bedeckte ich seine Augen und sagte: «Rat mal, wer hier ist?» Er schoß plötzlich in die Höhe. «Juliet!» Er platzte mit dem Namen heraus, als habe er es wirklich nicht ge glaubt. «Lieber
Gott, tu so was nie wieder.» Er nahm meine Hände von seinen Augen, ließ sie aber nicht los. Ich machte einen Satz über die Bank hinweg und stellte mich vor ihm auf. «Hast du nicht mehr mit mir gerechnet?» «Ich hatte die Hoffnung schon beina he aufgegeben.» Er wirkte noch immer niedergeschlagen. Wieder empfand ich diese selts a me Umkehrung des Rollenspiels: als hätte er und nicht ich den Tränen nahe in der Caféteria gesessen. «Es tut mir leid, Paul, ich konnte einfach nicht eher weg. Peter – du weißt schon – wollte, daß wir den ganzen zweiten Akt noch einmal durchgingen. Bin ich sehr spät dran?» «Nun ja…» «Ich bins, nicht wahr? Hast du gedacht, ich hätte dich versetzt?» Ich legte einen neckischen Ton in meine Stimme, aber sein G e sichtsausdruck blieb mürrisch. «Es ist mir in den Sinn geko m men», sagte er. «Ernsthaft?» «Warum nicht?» Er warf mir einen langen Blick zu, sagte aber nichts weiter. «Es tut mir leid. Kannst du mir noch einmal verzeihen?» fragte ich schüchtern. Er zögerte seine Antwort ein en Moment hinaus, als könne er sich zu dieser Frage nicht ohne intensives Nachde n ken äußern. Dann blickte er auf. In seinen Augen lag eine Spur Gerissenheit, die ich dort noch nie bemerkt hatte. «Vielleicht», sagte er und fügte liebevoll hinzu: «Du wirst allerdings etwas mehr Reue zeigen müssen als bisher.» Und lächelte spitzbübisch. Es war das Stichwort, auf das hin ich ihn küssen sollte. Bis zu diesem Moment war mir gar nicht aufgefallen, wie geschickt er das Gespräch gesteuert hatte. Als ich auf ihn zutr at und mich, wie im Manuskript vorgesehen, auf seine Knie setzte, dachte ich vage, daß ein zuf älliger Zuschauer in uns genau dasselbe sehen würde wie ich in dem Liebespaar vor knapp einer Stunde: eine Pantomime. Ich balancierte auf seinen Beinen, aber als ich mich vorbeugte und meine Lippen auf die seinen preßte, begann das Spiel mich zu erregen, und ich erinnerte mich jener besonderen Erregung, die ich empfunden hatte, als ich das erstemal mit
jemandem für Geld ins Bett gegangen war. Meine Zunge stieß instinktiv in seinen Mund vor, wobei ich den Zwischenfall im Taxi völlig vergessen hatte. Diesmal aber wies er mich nicht zurück. Er reagierte, indem er seine Hand an meine Wange legte und langsam mein Ohrläppchen liebkoste. Ich erschauerte. Nach ein paar Seku nden löste ich mich leicht von ihm und blickte ihm in die Augen. Sie wirkten weich und milde. «Da – bist du zufrieden?» fragte ich leise. Er lächelte, hielt meinen Blick fest. «Nein. Ich glaube dir noch nicht, daß du es ernst meinst.» Die Doppeldeutigkeit überraschte mich. Ich lächelte und küßte ihn noch einmal, diesmal länger, als das Manuskript es verlangte. «Jetzt ist es genug», sagte ich fest. Ich richtete mich auf, rutschte von seinen Knien und neben ihn auf die Bank. Mein Gesicht war vor Eifer gerötet, und mein Herz raste. Ich war nicht ganz sicher, wer eigentlich mit wem gespielt hatte, aber das war jetzt nicht mehr wichtig. Ich schwieg noch ein paar Sekunden, bevor ich fortfuhr, froh, mich auf dem sicheren Boden des Manuskripts bewegen zu können. «Gu t», sagte ich. «Was machen wir jetzt? Wieviel Zeit hast du?» «Ungefähr eine Stunde, dann muß ich leider wieder zu einer Konferenz», antwortete er geradeheraus und ohne einen Anflug des vorherigen Gekränktseins. «Oh, Gott, das tut mir leid. Durch mein Zuspätkommen habe ich alles verdorben, nicht wahr?» «Überhaupt nicht. Das Warten hat sich gelohnt.» «Ich bin von Schmeichlern belagert.» Er schaute mich lachend an. «Ein Zitat von Pope?» «Ja», antwortete ich langsam. «Bist du sicher, daß du Franz ö sisch lehrst?» Er lächelte, nahm den Ball aber nicht auf. «Was hältst du von einem Spaziergang?» «Ja, gut», sagte ich strahlend. «Oder, nein! – warum fahren wir nicht lieber Boot auf dem See?» Er bedachte mich mit einem vernichtenden Lächeln. «Damit du dich im Heck auss trecken und deine Finger romantisch durchs
Wasser gleiten lassen kannst, während ich in der Mitte sitze und über den Rudern eine Herzattacke erleide? Meinst du das?» «Genau das meine ich.» Ich sprang auf und ergriff seine Hand. «Komm schon, Großvater!» Ich zog ihn auf die Beine. Während wir zum Bootshaus gingen, mußten wir zum erste n mal improvisieren. Tatsächlich hatte er nichts mehr geschrieben, bis wir im Boot sitzen sollten, abe r all meinen Befürchtungen zum Trotz ging es ganz gut – ich fand es viel einf acher, als ich es mir vorgestellt hatte. Es gab allerdings auch vieles, worüber wir uns unterhalten konnten: er begann damit, daß er sich über die Rollerskater äußerte und mich fragte, wozu die Kopfhörer die n ten; dann wurden wir von ein paar Reitern überho lt, die auf dem sandigen Streifen neben dem geteerten Weg dahintrabten, und wir unterhielten uns eine Zeitlang übers Reiten. Mir unterlief ein winzigkleiner Fehler – ich erzählte ihm von dem Liebespaar, das ich vorher beobachtet hatte. Erst nachdem ich ang efangen hatte, wurde mir klar, daß ich damit seine Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkte, daß ich ganz und gar nicht zu spät gekommen, sondern schon vor ihm hier gewesen war, aber ich glaube, er bemerkte es überhaupt nicht – jedenfalls gab es kein Stirnrunzeln und kein plötzliches Zusammenzucken wie sonst bei solchen Gelegenheiten. Mehr noch, als ich – etwas gewagt – erwähnte, wie die Szene einer Theatersequenz geähnelt habe, warf er mir einen Seitenblick zu und schien über meine Worte leicht am ü siert. Ich merkte sofort, daß sich meine Position danach verä n dert hatte, daß uns nun etwas Verschwörerisches miteinander verband – unbewußt hatte ich damit nämlich zugegeben, daß mir das Spiel Freude bereitete und daß ich das Geheimnis für mich behalten würde: ein winziger Schritt in Richtung Unterwerfung. Es war nicht schwer, ein Boot zu miete n; nur drei oder vier andere befanden sich auf dem Wasser. Wir hatten nicht gerade das idyllische Wetter, das der Szene angemessen gewesen wäre, hatten dadurch aber den Vorteil, nicht lange warten zu brauchen. Ich stieg hinein und setzte mich nach hinten, und als er uns i cher auf seinen Platz zusteuerte, versetzte ich dem Boot einen
kleinen Stoß, so daß er beinahe ins Wasser gepurzelt wäre. Es war genau das Richtige, exakt die Prise Improvisation, auf die er gehofft hatte: inzwischen kannte ich das Mädchen, das ich spielte – die neckende Unschuld, die unbändige Lebensfreude. Natürlich stieß er einen Schrei aus; dann sah er den heiteren Aspekt, und sein plötzlich aufblitzendes Läc heln zeigte, daß er den Einfall zu schätzen wußte. Ich fragte mich daraufhin sogar, ob ich nicht rein zufällig etwas getan hatte, was tatsächlich passiert war, etwas, das er absichtlich nicht ins Manuskript aufgenommen hatte, weil es zu kompliziert zu spie len oder gar abwegig gewesen wäre. Er nahm seinen Platz bei den Rudern ein und drohte zum Spaß väterlich mit dem Zeigefinger. Fox stieß das Boot vom Steg ab und ruderte aufs Wasser hinaus. Ungefähr fünf Minuten verstr i chen in Schweigen. Ich entspannte mich, lehnte mich zurück und versuchte mir vorzustellen, wie es gewesen sein mußte: eine Kulisse wie aus dem Bilderbuch – Sonne, das Plätschern des Wassers am Rumpf, Schwalben, die dicht über der Seeoberfläche dahinglitten, gelegentlich Geschrei der Jugendlich en in den and e ren Booten. Ich war ein wenig traurig – betrübt darüber, daß es heute nicht so sein konnte wie in dieser Erinnerung, an der teilzuhaben mir gewährt worden war. Und doch… mir fiel ein, was jetzt kommen würde – das Mißtrauen und der Streit, die plötzliche Wut, mit der ich auf ihn losgehen sollte. Unvermittelt hörte er auf zu rudern und ruhte sich über den Riemen au s: das Signal für mich, mit dem Dialog fortzufahren. Ich lehnte mich gegen das Heck, schlang zum Schutz gegen die Kälte die Arme um mich und beobachtete die Enten, die eilends davonschwammen, als wir auf sie zutrieben. «Ich wünschte, es wären nicht immer nur diese Eintagstreffen», sagte ich und ließ eine plötzliche Niedergeschlagenheit erkennen. «Ich sehe dich nur einmal im Monat.» «Nein, öfter.» «Na gut, aber nicht viel öfter.» Ich sah auf das Wasser hinaus. «Wie auch immer, du weißt, was ich meine.» Er seufzte. «Ja, ich wünschte mir auch, es wäre häufiger.» Ich ließ eine angemessene
Pause verstreichen. «Verdammt nochmal – warum kann ic h dich nicht besuchen?» «Das haben wir doch alles schon besprochen. Du weißt, wa r um.» Ich blickte ihm ernst in die Augen und flüsterte eindringlich. «Du hast mir doch die Wahrheit gesagt, Paul, oder? Du bist doch nicht verheiratet, nicht wahr?» «Das habe ich dir bereits beantwortet. Meine Frau ist vor fünf Jahren gestorben.» «Und du hast nicht wieder geheiratet?» «Und ich habe nicht wieder geheiratet.» «Keine heimlich zu Hause versteckte Geliebte?» «Nein.» «Dann verstehe ich nicht, weshalb ich nicht zu dir kommen und dich besuchen kann!» Ich setzte mich ruckartig auf, wodurch das Boot zu schwanken anfing. «Ich meine, deine Kinder sind ach t zehn und zwanzig, du meine Güt e! Sie sind erwachsen. Sie we r den Verständnis haben!» «Sie – » Er schnitt sich selbst das Wort ab. Was immer er zu sagen sich angeschickt hatte, er begriff, daß es keinen Sinn hatte, fortzufahren. Beinahe verzweifelt schüttelte er den Kopf. «Warum geht es nicht? Beim letztenmal hast du gesagt, sie wä ren der Grund; du könntest es nicht ertragen, die Kinder einwei hen zu müssen oder so ähnlich.» «Das ist es nicht.» Er zog die Riemen ein, und von den Ruderblättern fielen kleine Tropfen ins Wasser. Ich wartete auf eine ausführlichere Erkl ä rung, aber es schien, als hoffte er, mit dieser simplen Ablehnu ng davonzukommen. «Ich warte», sagte ich. Er seufzte tief. «Du wirst mir nicht glauben.» «Ich entscheide, was ich glaube.» Er zuckte mit den Schultern und wandte die Augen ab. Es en t stand ein kurzes Schweigen, dann sagte er leise: «Ich will dich in einer eigenen We lt belassen.» Ich blickte ihn an, aber er wich meinen Augen aus. «Ich möchte nicht, daß du zu mir nach Hause
kommst, denn wenn du das tätest, wäre alles zerstört. Mich mit dir zu treffen, macht mich nicht zuletzt deshalb so besonders glücklich, we il es völlig losgelöst von allem anderen stattfindet. Klingt das lächerlich? Kannst du mich verstehen?» Ich betracht e te ihn lange, ohne etwas zu sagen. Dann antwortete ich: «Ja, ich denke schon. Ich bin dein kleines Nebenbei, stimmts nicht?» «Nein!» Er hie lt inne. «Sei fair, Juliet. Es ist nur, daß alles, was sich ereignet hat, in einer anderen We lt passiert zu sein scheint. Ich möchte, daß es so bleibt.» Ich spitzte den Mund. «Davon abgesehen», fuhr er fort, «dachte ich immer, dir ginge es gena u so.» Er warf mir rasch einen Seitenblick zu, ohne sich eine Blöße zu geben. «Vielleicht war es einmal so», antwortete ich und blickte ve r drossen auf den See hinaus. Ich ließ die Worte eine Zeitlang nachklingen, bis ich plötzlich fortfuhr: «Wie auch immer, lan g sam bin ich das alles leid. Es fängt an, mich zu langweilen.» «Ich verstehe.» «Ich werde ausgenutzt», sagte ich mürrisch, wobei ich immer noch der Anweisung gemäß vom Boot fortblickte, gleichzeitig aber seinen Gesichtsausdruck wahrzunehmen suchte. «Ich habe einen etwas anderen Eindruck.» «Was soll das heißen?» «Nun, du hast ja mit der ganzen Sache angefangen.» Ich starrte ihn ungläubig an. Mir wurde kaum bewußt, daß ich spielte. «Mein Gott, du hast vielleicht Nerven! Was fällt dir ein, so etwas zu sagen! Du reißt mich in einem Zugabteil auf, setzt mich unter Alkohol, lädst mich zum Essen ein, flüsterst mir Schmeicheleien ins Ohr, bis ich nicht mehr geradeaus denken kann, und dann erwartest du, daß ich sage, ich wäre diejenige, die mit alldem angefangen hätte!» «Du weißt, daß es ganz und gar nicht so war.» «Ach, wie war’s denn dann?» «Du hast dich mir aufgedrängt – in der Tate Gallery.» «Ich habe nur ausgesprochen, was ziemlich offensichtlich war.» «Nun, vielleicht läßt man manche Dinge besser ungesagt.»
«Ach ja?» «Ja. Wenn du älter bist, wirst du das vielleicht begreifen.» Ich war nicht sicher, ob es sich um Juliet oder um mich hande l te, die jetzt die Geduld verlor. «Ach, du meine Güte, jetzt fang bloß nicht so an! Komm mir nicht mit der Ich-bin-der-weise-alte-Daddy-Nummer. Ich bin vielleicht dreißig Jahre jünger als du, aber ich bin nicht ganz so naiv, weißt du.» «Ich weiß.» «Und?» Er antwortete nicht sofort. Das Boot war auf das Ufer zug e trieben, und er mußte wieder in die Ruder greifen, um es auf Kurs zurückzubringen. Ein paar Spaziergänger beobachteten uns und schienen interessiert unserer Unterhaltung zu lauschen, wobei sie offenbar nicht wußten, ob sie sich amüsiert oder pei n lich berührt zeigen sollten. Mein Herz schlug heftig, so sehr hatte ich mich in die Szene und meinen Ärger hineingesteigert, und jetzt wurde er noch ärger, als ich merkte, daß er wieder mit uns beiden spielte – Sylvia und Juliet. Ich konnte es kaum erwarten, daß er seinen nächsten Satz sagte, damit ich Gelegenheit zu meinem nächsten Ausbruch bekam. Endlich hörte er auf zu rudern und sprach sehr langsam weiter, wobei er jedes Wort sorgfältig abwog. «Hör zu, Juliet… wenn ich verheiratet wäre… würde das wirklich soviel ausmachen?» Mein Zorn brach sich freie Bahn. Ich versuchte mich aufzurich ten, landete aber in einer halb knieenden Stellung. «Du bist ve r heiratet! Ich wußte es! Ich wußte es die ganze Zeit. Himmel, Paul –» Er versuchte, das heftig schwankende Boot vor dem Kentern zu bewahren. «Bin ich nicht, das habe ich dir doch gesagt. Ber u hige di ch – du wirst uns noch beide über Bord stürzen.» «Na, wenn schon!» Er blickte sich verlegen um. «Wir haben Zuschauer», flüsterte er. «Gut.»
Er schüttelte den Kopf wie ein müder Vater. «Warum hast du mir das nicht gesagt?!» rief ich. «Hör doch… ich bin nich t verhei ratet.» «Warum fragst du dann, ob es mir etwas ausmachen würde?» «Antworte doch erstmal auf die Frage.» «Warum sollte ich?» Er hielt meinen Blick fest, versuchte mich niederzustarren – wie im Restaurant. Diesmal hatte er sich die Rolle des Siegers zugeschrieben. «Würde es irgendeinen Unterschied machen?» wiederholte er. «Ich…» Ich sollte überlegen und dann meine Meinung ändern. Ich redete langsamer. «Ja, das würde es, es würde heißen, daß… oh, Himmel, ich weiß nicht. Vielleicht nich t… Ich bin so du rch einander.» Er beließ es dabei aber nicht, sondern starrte mich weiter an, in den sonst so sanften Augen wieder diese eigenartige Wildheit. «Es wäre das Ende, nicht wahr?» Ich spürte, wie mein Zorn nachließ. «Ja, das wäre es.» «Das ist alles, was ich wis sen wollte.» Er griff nach den Riemen und begann wieder zu rudern. «Und jetzt Schwamm drüber», sagte er. «Aber du bist nicht verheiratet?» fragte ich ein letztes Mal. «Nein.» Sekundenlang blickte er mir in die Augen, ehe er wieder zur Seite blickte. Das wa r das Ende von Teil zwei des Manuskripts. Ich lehnte mich an die weißgestrichene Rückenstütze und ruhte mich aus. Ich fragte mich, warum er sich wohl wünschte, ausgerechnet diese Szene noch einmal zu erleben; was für ein Vergnügen kann man dabei empfinden, wenn man einen Streit noch einmal durchmacht? Das Manuskript war plötzlich viel natürlicher ge worden – das Mißtrauen und die Auseinandersetzung hatten ihm die gewisse Künstlichkeit genommen; die beiden Charaktere waren eine Spur glaubwürdiger geworden. Vi elleicht hatte er die Szene deswegen mithineingenommen – weil er das Gefühl hatte, sich eng an die Vergangenheit halten, die unangenehmen Auge n blicke genauso noch einmal durchleben zu müssen wie die sch ö
nen, damit die Magie der schönen Begebenheiten um so realisti scher wirkte. Ich sah zu, wie er ruderte, die Riemen rhythmisch ins Wasser tauchte und sich dann nach hinten lehnte, gegen den Druck der Ruderblätter. Er wich meinem Blick aus, denn er wußte, daß ich ihn beobachtete. Jetzt wirkte er älter als an de m Abend im Re staurant; sein Gesicht war bleich, unter den Augen dunkle Ringe, und ich bemerkte ein Doppelkinn, das sich vor seinem Kragen aufstülpte, wann immer er an den Riemen zog. Plötzlich bemer k te ich eine Ähnlichkeit mit meinem Vater – sie hatten das gleiche Alter, und auch ihre Kinnpartien glichen sich viel stärker, als ich vorher bemerkt hatte. Ein Anflug von Bitterkeit traf mich wie ein spitzer Pfeil. Endlich wandte ich meine Augen ab. Wir glitten schweigend im Boot dahin. Der Wind frischte wieder auf, so daß ich die Ärmel meiner Jacke über die Hände herunterziehen mußte, um sie vor der Kälte zu schützen. Als ich ein paar Regentropfen spürte, blickte ich zum Himmel auf und fragte mich nervös, was wohl passieren würde, wenn es anfing zu regnen. Er er wartete doch sicher nicht, daß wir in so einem Fall weitermachten. Eine Se kunde darauf warf er den gleichen besorgten Blick nach oben. «Soll ich eine Weile rudern?» fragte ich schließlich. «Wenn du willst.» Wir tauschten die Plätze. Ich war froh, daß er di esen Vorschlag im Manuskript erwähnt hatte – so konnte ich mich wenigstens etwas aufwärmen. Allerdings war ich nicht gerade ein Erfolg; ich hatte erst zweimal in meinem Leben gerudert, und wir mußten den Text vorübergehend unterbrechen, damit er mir erklär en konnte, was ich zu tun hatte. Endlich fand ich den Bogen raus, ruderte ein paar Minuten schweigend und nahm dann den Text wieder auf. «Erzähl mir von ihr», sagte ich. «Von wem?» «Deiner Frau.» Er rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. «Was wills t du wissen?» «Wie war sie?»
Er lächelte. «In welcher Hinsicht?» «Erinnere ich dich an sie?» Ich versuchte, die Frage beiläufig klingen zu lassen. Er überlegte. «Ein bißchen. Manchmal.» «Wann?» «Wenn du nachdenklich bist.» Er setzte sich wieder etwas be quemer hin. «Wenn du nachdenkst, dann zupfst du genauso an den Lippen wie sie.» Nachdem ich das Manuskript gelesen hatte, war mir die Idee gekommen, diese Angewohnheit zu entwickeln. «Und wann noch?» fragte ich. «Wenn du wütend bist. Dann hast du denselben Au sdruck in den Augen wie sie.» Ich lächelte gezwungen. «Und wenn ich dich küsse?» Plötzlich schien er sich wieder unwohl zu fühlen. «Worauf willst du hinaus, Juliet?» «Ach, nichts. Es interessiert mich nur, das ist alles.» «Das glaube ich dir nicht.» Er leg te seine Hände auf meine, um mich vom Rudern abzuhalten. Das Boot glitt weiter und wurde langsamer. Mit einer Spur nervöser Neugier fragte ich mich, wie er die nächste Zeile wohl sprechen würde. «Du denkst, ich versuche, die Vergangenheit wieder zum Leben zu erwecken, nicht wahr?» Ich antwortete nicht. «Nicht wahr?» wiederholte er seine Frage. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. «Vielleicht. Der Gedanke ist mir allerdings gekommen.» «Da irrst du dich.» Er warf mir einen harten Blick zu. «Man kann die Vergangenheit nicht wieder zum Leben erwecken. Niemals.» «Nicht einmal, wenn ich dich küsse?» Meine Stimme war schwach. «Nein, nicht einmal dann.» Er schwieg und wandte die Augen ab. «Mit einem Namen wie dem deinen solltest du das eigentlich wissen.» «Juliet?» Er ließ meine Hände los und lehnte sich wieder zurück. «Ja.
Romeo vermochte Julia mit seinem Kuß nicht wieder ins Leben zurückzurufen, nicht wahr?» Seine Augen funkelten. «Äußerst clever.» «Aber wahr.» Und dann, als wollte er sein Argument unauff ällig unt erstrei chen, beugte er sich vor und küßte mich unvermittelt, ganz ohne Anweisung aus dem Textbuch. Der Kuß war in keiner Weise leidenschaftlich, nur eine kurze Berührung der Lippen, um dafür zu sorgen, daß der Scherz haftenblieb. Wieder einmal war ich völlig überrascht und für einen Augenblick aus dem Konzept gebracht. Er spielte noch immer mit mir, manipulierte mich, um mir immer einen Schritt voraus sein zu können. Ich wußte nicht, wie ich reagieren sollte. Gleich darauf zerstörte er die Stimmung, indem e r plötzlich auf die Uhr blickte und Anstalten machte, umzukehren. «Wir fahren jetzt besser zurück, sonst komme ich zu spät zu meiner Konf e renz. Soll ich wieder rudern?» Ich nickte, und wir tauschten die Plätze. Während wir zum Bootshaus zurückruderten, fra gte er mich nach der neuen Produktion, in der ich in Kürze auftreten sollte, aber der Dialog hatte keine Bedeutung – er war eindeutig nur als Füllsel gedacht, genauso, als ich an der Reihe war, mich nach seiner Konferenz zu erkundigen; es gab keinerlei Dop pel deutigkeit in den Sätzen, und er leierte seine ohne viel Begeist e rung herunter. Nachdem wir aus dem Boot geklettert waren, schlenderten wir die Serpentine Road hinunter. Wir unterhielten uns nicht dabei. Ich war für das an dieser Stelle vorgesehene Schweigen dankbar – Arm in Arm wanderten wir wie irgendein beliebiges Liebespaar in Richtung auf das Orchesterpodium, wo der letzte Teil des Spiels stattfinden und wo wir uns trennen sollten. Es schien alles schlüssig. Die einfach e Tatsache, daß wir uns geküßt und die Worte gesagt hatten, die laut Textbuch für uns vorgesehen waren, hätte alles andere unnatürlich aussehen lassen – obwohl es nur eine gespielte Liebe war, existierte trot z dem eine Art Band zwischen uns: Liebe zu spielen, bedeutete,
ihren Geist zu erfühlen. Es schien, als wäre das Ritual des Spiels ausreichend, um es zum Leben zu erwecken. Und wieder verstärkte – wie Juliet gesagt hatte – das Spiel die Empfänglichkeit für die Geschehnisse ringsumher. Ich konnte eine leichte Angespanntheit in seinem Griff spüren, wußte, daß er mit der bevorstehenden letzten Szene leichte Befürchtungen verband. Und dann war da wieder jenes eigenartige Gefühl, das ich schon beim Betreten des Parks erlebt hatte – als erwache um mich herum alles zu verstärktem Leben: die Bäume, die Vögel, seine Hand in meinem Rücken und der Stoff seines Mantels unter meinen Fingern. Ich stand gerade im Begriff, das Schweigen zu brechen und mich über eine Frau zu äußern, die an uns vorübergegangen war, als er plötzlich stocksteif stehenblieb , die Augen auf eine Gestalt gerichtet, die uns in einiger Entfernung entgegenkam. Dann murmelte er etwas und zog mich nach rechts auf den Weg, der hinter der Caféteria entlangführte. Ich mußte irgendeine Reaktion zeigen, etwas improvisieren. Schließlich fiel mir nur die natürlich ste Äußerung ein. «Was ist los?» fragte ich. Er sah ängstlich und verwirrt aus, genau wie ich bei unseren ersten Begegnungen gewirkt haben mußte. «Nichts, nur jemand, den ich kenne – ich möchte ihm nicht begegnen.» «Von der Univers ität?» fragte ich leichthin. «Nein… na ja, je mand von der Konferenz, zu der ich gleich gehe.» Plötzlich verspürte ich das Bedürfnis, es ihm heimzuzahlen, ihn in die Defensive zu drängen, wie er es so oft mit mir gemacht hatte. Hier schien mir ein Hebel daf ür in die Hand gegeben zu sein. «Wäre es denn ein solcher Skandal?» fragte ich. Er wußte nicht weiter, und es lag klar auf der Hand, daß er fürchtete, ich könnte wieder einmal alles zerstören. Verzweifelt suchte er nach einer passenden Antwort. Ich ließ ih n noch ein paar Sekunden schm o ren, dann erbarmte ich mich seiner. «Was würde er sagen, wenn er dich mit einer 21jährigen Schau spielschülerin sehen würde?»
«Genau.» Er wirkte erleichtert. «Könntest du nicht sagen, ich wäre deine Tochter oder so?» «Eh… nein… er kennt Sally.» «Ach, so ein Pech.» Er warf mir einen Blick zu, und ich blinzelte. «Es wäre intere s sant gewesen, herauszufinden, wie gut ich als Schauspielerin wirklich bin.» «Ich glaube nicht, daß dazu eine Notwendigkeit besteht», sagte er mit einer gew issen Schärfe. Damit hatte er seine Niederlage zugegeben – die erste. Ich verspürte süßen Triump h: zum er stenmal war ich ihm voraus gewesen, hatte das Spiel kontrolliert, wie er es sonst so gern tat. Ich verspürte eine Vorahnung weit e rer solcher Momente; doch wann und immer wieder warum? Ich verfolgte den Gedanken nicht weiter. Wir spazierten weiter, und wen immer er gesehen hatte, er war nicht mehr da. Wir setzten unseren Weg zum Orchesterpodium fort, wo das Spiel heute angefangen hatte, setzten uns aber nicht. Jetzt waren viel mehr Leute da, trotz des schlechten Wetters hatte sich der Park während der Mittagspause gefüllt, größtenteils Büroangestellte, die etwas frische Luft schnappen wollten. Einige von ihnen verzehrten Sandwiches oder rauchten eine Zigar ette. Fox führte mich zu einem Platz hinter dem Orchesterpodium, wo uns ni e mand hören konnte. Ich spürte, wie mein e Erregung wuchs, denn nun kam der letzte Teil, und ich freute mich darauf, ihn zu spielen. Fox blickte mich an. «Tja, tut mir leid, Juliet, aber es ist halb zwei. Ich muß los.» Ich blickte ihn fest an. Es war Juliets Jetzt -oder-nie. «Paul?» Meine Stimme war leise. «Ja?» «Wann werden wir miteinander schlafen?» Ich war nicht sicher gewesen, ob er so tun würde, als sei er entsetzt. Tatsächlich blickte er mich nur starr an, ohne sein Blinzeln. «Wir werden doch miteinander schlafen, nicht wahr?» Noch immer antwortete er nicht. «Du willst doch, oder nicht?» Ich bemühte mich, unsicher zu klingen, verletzt. «Sei nicht albern.»
«Es ist nicht albern.» «Das habe ich nicht gemeint – natürlich will ich mit dir schl a fen.» «Also?» Er legte mir die Hände auf die Schultern und betrachtete mich lange, wieder ohne etwas zu sagen. Nervös fuhr ich fort: «Wir könnten zu mir in die Wohnung gehen, jetzt gleich, wenn du willst… die anderen sind nicht da… dort können – » Er schüttel te beinahe niedergeschlagen den Kopf. «Warum nicht?» Ich fragte mich, ob er wirklich nervös war oder nur so tat. «Was hast du noch bei unserer ersten Begegnung im Zug gesagt: Rasch jetzt, hier, nun – immer. Lächerlich die ung e nutzte traurige Zeit – Stimmt das nicht?» «Doch.» «Nun, so eine langweilige Konferenz kannst du doch wohl mal verpassen, oder?» Er lächelte schwach; ließ die Hände sinken. «Ich bin nicht ganz sicher, daß es das ist, was Elio t gemeint hat», sagte er. Ich blickte zu Boden, gab vor, gekränkt zu sein. Hätte Juliet sich wirklich so angeboten? Es war gerade noch denkbar. Vielleicht hatte sie gedacht, er sei einfach nur nervös – der Altersunterschied, ein Anfall von Schuldgefühlen? Ein langes Schweigen entstand; ein elegant gekleideter junger Managertyp ging dicht an uns vorüber. Dann sagte Fox: «Es ist nicht, was du denkst, Juliet. Du mußt Verständnis haben. Es ist nicht so, als ob ich nicht wollte – es ist nur, daß…» Ihm fehlten di e Worte; plötzlich schien er allen Mut zu verlieren. «Himmel! Das ist ja wie eine Liebesszene zwischen zwei pickeligen Teenagern. Ich dachte, ich hätte all das längst hinter mir.» Endlich schien er zu einer Entscheidung zu kommen. Er tastete sich langsam vor. «Hör zu… in vierzehn Tagen muß ich wieder nach London und bleibe die Nacht über hier. Wenn ich uns in einem guten Hotel ein Zimmer bestelle…» Wieder verließ ihn der Mut. «Ach, das ist einfach verrückt.» «Nein, ist es nicht.»
Er blickte mich an und fuhr dann fort, als sei er peinlich be rührt. «Also gut… wenn ich uns ein Zimmer in einem Hotel bestelle, vielleicht… so hast du genu g Zeit, dir zu überlegen, ob du wir k lich willst.» Er schien erleichtert, einen Ausweg gefunden zu haben. «Ich brauche die Zeit nicht, Paul. Himmel, es ist doch die natür lichste Sache der We lt! Liebende gehen miteinander nun mal ins Bett, weißt du.» Er nickte und sah mich an, antwortete aber nicht. «Aber gut, wenn du es so haben willst…» «Nun, ich hätte auch Zeit, darüber nachzudenk en.» Ich zuckte mit den Schultern. «Das schmeichelt mir nicht übermäßig.» «Entschuldige, so hatte ich es nicht gemeint.» «Nein», sagte ich kühl. Neues Schweigen. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, als müsse er zu einer Beerdigung statt eine Einladung zu einer Liebesstunde zu erhalten. Ich fuhr fort: «Mein Gott, wie sind wir nur so geworden? Es ist alles so schwerfällig.» «Ja.» Neuerliches Schweigen. Diesmal war es an mir, die Stimmung zu zerstören. «Gut, dann machen wir’s also auf deine Weise. Du rufst mich an?» «Ja.» «Versprochen?» «Ich verspreche es dir.» «Gut, dann solltest du jetzt zusehen, daß du zu deiner Konf e renz kommst.» Ich versuchte zu lächeln. Er nickte wieder, schien aber nicht zu wissen, wie er seinen Abgang bewerkstelligen sollte. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und gab ihm einen flücht i gen Kuß. «Na, geh schon.» «Gut.» «Aber vergiß nicht, mich anzurufen.» «Nein.» Dann küßte er mich. Wir sagten uns Auf Wiedersehen. Im nächsten Augenblick hatte er sich umgedreht und schritt in
Richtung Hyde Park Corner davon. Einmal blieb er stehen, winkte zurück, dann verschwand er durc h das Ausgangstor. Ein verrückter, banaler, theatralischer Abschied. Ich blieb noch eine Weile stehen und blickte ihm noch immer nach, obwohl er längst außer Sicht war. Ich versuchte, mir darüber klarzuwerden, was genau ich ihm versprochen hatte, und rauchte eine Zigarette, während sich mein Herzschlag langsam wieder beruhigte. Es war eine tadellos gespielte Vorstellung gewesen, daran gab es keinen Zweifel. Ich fühlte mich erschöpft, erregt, beinahe wie angetru n ken. Was war geschehen? Was genau hatte ich akzeptiert; was hatte ich ihm angeboten? Ich fühlte, daß die Sachlage sich seit den ersten Manuskripten verändert hatte. Als ich angefangen hatte, mich mit ihnen zu beschäf tigen, hatte ich Sex zu bieten gehabt, sonst nichts. Jetzt war es nicht mehr so einfach und direkt. Der Beginn im Zug war nun zu einer eigenen Geschichte geworden, hatte gewissermaßen ein Eigenleben entwickelt: einen Anfang, eine Mitte und einen Schluß. Dieses langsame For t schreiten auf einen Höhepunkt hatte in dem Augenblick bego n nen, als ich auf die Anzeige gestoßen war, und mit einem selts a men, hilflosen Gefühl der Angst erkannte ich, daß ich es nicht mehr kontrollieren konnte. Unvermittelt fuhr mir der Wind unter die Jacke, und ich erschauerte. Es würde noch ein weiteres Spiel geben, dessen war ich sicher, eines, das in einem Hotel spielte. Mit leisem Widerstreben wünschte ich mir, nein sagen zu kö n nen, aber in meinem Herzen wußte ich, daß ich es nicht tun würde.
14 Während der nächsten Tage änderten sich meine Gefühle ein weiteres Mal. Als der Abschied mehr und mehr in die Verga n genheit zurückwich und die Stimmung jener Augenblicke ve r blich, bekam ich allmählich wieder festen Boden unter die Füße. Ja, natürlich würde es ein weiteres Manuskript geben, aber was darin von mir verlangt wurde, war wirklich nichts Besonderes: es war nichts anderes als mein Beruf, das Gebiet der Schauspielerin, auf dem ich Expertin war. Es war ein langer Weg bis zu diesem Punkt gewesen, unterhaltsam, zugegeben, und sehr einträglich, aber wo lag letztendlich der Unterschied zwischen diesem Fall und dem, was ich einem Kunden normalerweise vorspielte? Wir würden es nach festen Anweisungen treiben – Sex auf der Bühne na und? So was geschah jeden Tag. Ich würde ohne alle Schwi e rigkeiten damit fertigwerden, es war alles andere als anspruch s voll, und gleichzeitig – konnte ich mir vorstellen genoß ich es womöglich noch, empfand vielleicht jene Erregung, deretwegen ich auf die Anzeige hin geschrieben hatte. Ich schlief gut und fest, fürchtete mich nicht vor dem, was da auf mich zukam. Ich beschränkte mich darauf, dem Kommenden entgegenzus e hen, und versuchte dabei, an andere Dinge zu denken. Drei Tage später traf der Brief ein. Ich kann nur sagen, es war ganz und gar nicht das, was ich erwartet hatte. Der erste Punkt, und gewisse r maßen der am wenigsten bedeutsame , der Umschlag war viel dünner, als ich angenommen hatte. Ich war davon ausgegangen, daß jetzt das dicke Ende kommen würde: das ganze Arrangement schien mir doch daraufhin aufgebaut – das Manuskript hätte das längste sein müssen. Wieder ein Scheck – 300 Pfund, ein Brief; aber ich sah mir zu erst das Manuskript an, diesmal nur fünf oder sechs Seiten lang. Mein Auge blieb sofort an de n Worten hängen, die oben rechts getippt waren – (Schauplatz: ein Kaffee -Ausschank). Ich konnte
es einfach nicht glauben. Ein Kaffee -Ausschank! Der alte Idiot hatte gekniffen. Ich legte das Manuskript beiseite und wandte mich dem Brief zu. Liebe Ms Rivers,
Danke, daß Sie in den Park gekommen sind. Sie waren großartig.
Diesmal lege ich ein weit kürzeres Manuskript bei. Nachdem sie sich bereits auf das Treffen in einem Hotel geeinigt hatten, hat Paul nun Juliet überraschend angerufen und ihr mitgeteilt, daß er wegen einer dringenden Angelegenheit nach London müsse. Er fragt sie, ob sie bereit wäre, sich kurz mit ihm zum Lunch zu treffen, und sie verabreden als Treffpunkt einen Kaffee Ausschank. Könnten Sie am nächsten Mittwoch, dem 2. Juli, um zwölf Uhr zu Alessandro’s in der Oxford Street kommen? Ich werde bereits an einem der Tische sitzen. Die Kleider, die Sie im Park getragen haben, sind auch bei diesem Anlaß passend. Ich bin mir darüber im klaren, daß Ihnen bis dahin nicht viel Zeit bleibt, und wenn Sie feststellen sollten, daß Sie das Datum nicht einhalten können, rufen Sie bitte das Magazin an und hi n terlassen Sie eine Nachricht für Chiffre 1453. Beiliegend Ihr Scheck. Mit freundlichen Grüßen, Ihr Paul Fox Etwas enttäuscht ließ ich den Brief sinken. Er mußte beschlossen haben, unsere gemeinsame Liebesnacht abzublasen. Ich griff wieder nach dem Manuskript und las es durch. Als ich damit fertig war, sagte ich leise aber deutlich: «Du Bastard, Fox!» Juliet hatte absolut recht gehabt – sie hatte nämlich scho n vor mir in etwa dasselbe gesagt. Der 2. Juli, das war bereits der nächste Mittwoch, ich hatte da her nicht viel Zeit. Am Wochenende wurde es wieder furchtbar heiß, und es fiel mir schwer, die nötige Energie aufzubringen. Nichtsdestoweniger erledigte ich zwei Dinge: Ich lernte den Text und kaufte mir ein Exemplar von Niemalsmehr, dem Buch, das ich damals während der Zugreise bei unserem ersten Zusammentre f
fen bei mir haben mußte. Ich wollte aus mehreren Gründen noch einmal darin lesen. Der Schluß unserer Vo rstellung, den Fox für seine Manuskripte ersann, hatte mich jedesmal an den letzten Satz jenes Buches erinnert. Das «Du wirst kommen, nicht wahr?» schien in jeder unserer Trennungen wiederzukehren. Darüber hinaus zitierten sowohl Paul als auch Juliet immer wieder jenes Motto am Anfang des Romans. In dem Text, den ich gerade lernte, fand sich schon wieder eine Anspielung darauf –, und ich dachte: wenn ich das Buch ganz durchlese, wirft es vielleicht etwas Licht auf unser Spiel. Natürlich hatte ich das Wesent liche schon erfaßt, aber ich hoffte, zwischen den beiden Buchdeckeln vielleicht eine Erklärung dafür finden zu können. Die Lektüre war jedoch durch und durch unbefriedigend, an ders kann ich es nicht ausdrücken. Die Handlung spielte auf einer griechischen Insel und drehte sich um zwe i Ehepaare, die sich in dem Hotel kennenlernten, in dem sie ihre Sommerferien ve r brachten. Am Anfang passierte nicht vie l: lange, komplizierte, doch äußerst bildkräftige Beschreibungen der Schauplätze, der kleinen Häfen und Strän de, der Bars und Restaurants, der allg e meinen Urlaubsstimmung. Ein Gefühl der Zeitlosigkeit schwebte über allem – man hatte den Eindruck, daß dieselben verwitterten Griechen, die ohne Eile ihren Geschäften in jenem Dorf nac h gingen, fischten, Ziegen hüteten oder einfach nur unbeweglich in den Cafés hockten, schon vor einem Jahrhundert dagewesen sein mochten. Sie waren unveränderlich; schweigende Beobachter des Treibens, das sich um sie herum abspielte. In diese Kulisse plat z ten die Eindringlinge aus England – die beiden Paare auf ihrer alljährlichen zweiwöchigen Flucht aus dem Alltag. Der stürm i sche Flug hatte sie durchgeschüttelt und aus ihrem Land und ihrer gewohnten eintönigen Umgebung, aber auch aus dem normalen Zeitablauf herausgerissen; hier galten neue Regeln – oder vielleicht gab es auch überhaupt keine. Anfangs verliefen die Begegnungen der beiden Paare ziemlich unterkühlt. Während der ersten paar Tage gingen sie einander absichtlich aus dem Weg: «Ich dachte, wir wären hierher geko m
men, um mal keine Engländer zu sehen!», sagte einer von ihnen, Mark, eines Morgens am Strand irritiert zu seiner Frau. Aber das hielt nicht lange an. Die ganz normale Höflichkeit verlangte, daß sie von der Anwesenheit der anderen Kenntnis nahmen, und sehr bald schon mußte Ma rk zugeben, daß die anderen nicht so una n genehm waren «wie der Touristentyp von der Insel, den man sonst im Ausland trifft.» Man traf sich zufällig – am Strand, auf Spaziergängen, in den Tavernen, in denen man zu Abend aß. Nach und nach wich die ursprüngliche Ablehnung, die jedes Paar angesichts der fremden Eindringlinge in seinem Paradies empfindet, dem Vergnügen an der neuen Gesellschaft: sie hatten dieselbe Wellenlänge – tatsäch lich sahen sie einander bald als echte Bereicherung ihres Urlaubs. Gegen Ende der ersten Woche fingen sie dann an, sich zu vera b reden: gingen gemeinsam an den Strand, fuhren ins Landesinn e re, um die Berge zu besteige n; abends speisten und tranken sie miteinander und saßen nachts noch lange auf der Hotelterrasse zusammen. Langsam entwickelte sich zwischen zweien von ihnen – Mark aus dem einen Paar und Sarah aus dem anderen – eine Art Flirt. Nichts Ernstes natürlich; beide führten gute Ehen und betrachteten die Zuneigung, die sie für den anderen empfanden, lediglich als schönes Amüsem ent, aber die magische Atmosphäre der Insel veränderte ihre Gefühle, ohne daß sie es recht merkten. Es war in der Tat ein Ausbruch, diese Reise: der Urlaub ließ sie den Alltag vergessen, vierzeh n Tage, in denen alles passieren konnte; die Uhren gingen ande rs, der Atem war leichter, und die üblichen Verhaltensmuster lösten sich auf geheimnisvolle Weise in Luft auf. Aus dem Flirt entwickelten sich tiefere Gefühle. Noch immer hatte keiner von ihnen das Gefühl, dem eigenen Partner untreu zu sein. Die Insel schi en nicht in derselben Real i tät wie der Alltag zu existieren. Verliebte begannen, sich wie Verschwörer zu treffen, entwickelten Mittel und Wege, um wie durch Zufall miteinander allein sein zu können: sie gingen gleic h zeitig schwimmen, waren als erste beim F rühstück oder vergaßen
Badeanzüge oder Fotoapparat im Hotel, so daß sie Gelegenheit hatten, zusammen zurückzugehen. Im weiteren Verlauf der Geschichte überschlugen sich die Ere i gnisse: der Leser sollte auf einen Höhepunkt vorbereitet werden. Die gemeinsame n Augenblicke, die sich das Liebespaar stahl, wurden beängstigend intensiv, denn alles, was sie füreinander empfanden, mußte in kürzeste Zeitspannen gepackt werden. Bald wurde Mark und Sarah klar, daß ihr Verhältnis früher oder später entdeckt werden mußte, schon jetzt herrschte um sie herum eine Atmosphäre des Mißtrauens: prüfende Seitenblicke der anderen Partner, kleine Störmanöver. So schlug Marks Frau eines Abends beispielsweise vor, man könnte doch zur Abwechslung wieder einmal allein essen gehen. «Wir wollen die anderen doch nicht langweilen, langsam müssen sie ja unseres Anblicks überdrüssig sein», verkündete sie und ließ allzu offensichtlich erkennen, daß sie eifersüchtig war. Aber die Affäre ging weiter – und wurde jetzt zur Gefahr; jedes kurze Zusa mmentreffen bestand nur noch aus nervösem Geflüster, jede Ausrede, um miteinander allein zu sein, vertiefte den Verdacht der anderen. Dann drang die reale We lt mit Macht in das Spiel ein. Plötzlich waren es nur noch drei Tage bis zum Ende des Urlaubs, die Realität rückte mit jeder Sekunde näher und näher, und doch hatten sie sich körperlich noch nicht gefunden. Unglaublich, nur noch zwei Tage bis zur Abreise. Dann nur noch einer. Wenn sie je ihrer Liebe Erfüllung geben wollten, dann mußte es in der letzten Nacht geschehen, und sie suchten nach einer Möglichkeit. Und das war, grausamerweise, der Punkt, an dem das Buch endete. Nachdem man dem Autor bis hierher gefolgt war und selber der Erfüllung entgegenfieberte, lie ß er einen plötzlich allein. Man erfuhr nie , ob sie miteinander geschlafen hatten oder nicht, man blieb zurück mit diesem letzten Satz, den ich bereits gelesen hatte – «Du wirst kommen, nicht wahr?» – , und hing gewissermaßen mit der Geschichte in der Luft, ohne Aussicht auf Erlösung, nur mit dem Wissen, daß jede Spekulation, die man anstellen mochte, sinnlos war. Wie Juliet schon in jenem ersten
Manuskript gesagt hatte, war es ungeheuer enttäuschend – in jeder Hinsicht. Ich hatte nicht viel Zeit, lange über den Roman nachzudenken, aber auf alle Fäl le hatte ich nicht gefunden, wonach ich suchte: einen Schlüssel zum Verständnis meiner Rolle. Es gab einige Punkte, in denen sich der Roman und unsere Beziehung glichen – die Intensität der Augenblicke, die das Liebespaar sich stahl, war unseren vom vorges chriebenen Text bestimmten Verabr e dungen vergleichbar, und auch sonst hatte die Handlung über weite Strecken dieselbe Künstlichkeit. Dennoch war ich verwirrt. Das Buch trat nicht etwa offen für Ehebruch ein – darum ging es überhaupt nicht; es handelte mehr davon, was es heißt, wenn man Dinge nicht zu Ende führt, das Leben ungelebt läßt. Mark und Sarahs Enttäuschungen waren auch die meinen – ich hatte den Verdacht, der Autor könnte mich auf höchst komplizierte Weise hereingelegt haben, ja, da ß das ganze Buch ein einziger grober Scherz sein mochte: ich war ihm gefolgt, und er hatte mich ins Leere laufen lassen. Sein letztes Lachen war die Insel, auf der man zurückblieb. Plötzlich hatte ich, wenn auch zu diesem Zeitpunkt erst unb e stimmt, die Idee zu einem Plan. Ich würde Mr. Paul Fox eine Lehre erteilen.
15 An jenem Mittwochmorgen kam ich etwas zu spät zu dem ve r einbarten Treffpunkt. Diesmal wollte ich nicht vor ihm dasein, um ihn kommen zu sehen. Ich hatte inzwischen gelernt, daß auf diese Weise nichts in Erfahrung zu bringen war. Ich war nicht länger daran interessiert, sein Erscheinen zu beobachten, wenn er Wert darauf legte, aus heiterem Himmel aufzutauchen, wie er es im allgemeinen tat, so war’s mir recht. Statt dessen beschloß ich, ihn ein wenig warten zu lassen, Juliet sozusagen bei dem Ve r such, ihn zu verletzen, etwas voraus zu sein – ein erster Hauch von Auflehnung. Es war ein kleines italienisches Café. Im Näherkommen warf ich rasch einen Blick durchs Fenster, konnte ihn aber nicht entdecken, dann tr at ich ein. Gleich neben der Tür begann eine lange Selbstbedienungstheke, die Tische standen alle im hinteren Teil des Raums und waren voneinander durch Hängepflanzen und schmiedeeiserne Dekorationen getrennt, so daß die Gäste in kleinen Nischen relativ un gestört sitzen konnten. In der Mitte des Raums standen vier runde Tische, an denen ein paar Leute saßen. Ich vermutete, daß ich Fox in einer der Nischen finden würde, da sie besser zu seinem Vorhaben paßten. Mit gespielter Vorfreude ging ich schwungvoll an der Theke entlang. Ich hatte immer noch vor, die Rolle im großen und ganzen so zu spielen, wie er es wollte, allerdings mit ein paar geringfügigen Abweichungen. Die Anweisungen zu Beginn des Manuskripts sagten, daß Juliet aufgeregt war und sich über den unerwarteten Anruf gefreut hatte. Er saß, wie ich vermutet hatte, in einer Nische, die am weitesten vom Eingang entfernt war, mit dem Rücken zu mir, vor sich auf dem Tischchen eine Tasse Kaffee. Er trug einen Anzug; ganz seriös, wie es sich für den Anlaß gehörte. Ich holte tief Luft, dann trat ich mit einem übe r schwenglichen Gruß neben ihn. «Hallo Paul, da bin ich.» Er
blickte mich mit einem angestrengten Lächeln an, auf das ich vorbereitet war. Ich beugte mich hinunter, um ihn zu küssen, aber er hielt mir nur die Wange hin. «Hallo, Juliet», sagte er ruhig. «He, was ist denn los?» «Nichts. Komm und setz dich.» Ich musterte ihn prüfend, während er den Blick abwandte und die Kaffeetasse beiseite schob. Er spielte sehr gut, besser als ich erwartet hatte. Ich zog meine Jacke aus, warf sie auf die Sitzbank und setzte mich ihm gegenüber, die Ellbogen auf die Tischplatte, das Kinn in die Hände gestützt, mein Gesicht ganz nah dem seinen. «Hat mein Kuß…», fragte ich ihn neckend im Flüsterton, «dich in Verlegenheit gebracht?» «Nein.» «Das glaube ich dir nicht.» Ich beugte mich noch weiter vor, um ihn nochmals zu küssen, aber er zuckte zurück. «Nun, ja, es war mir peinlich.» Er sprach ruhig, aber mit einer Spur von Gereiztheit; gleichwohl wußte ich, daß der Grund, den er angegeben hatte, nicht der Wahrheit entsprach. Eindeutig hatte er diese Passage so abgefaßt, damit wir das Thema schnell fallenlassen konnten. «Wer’s glaubt, wird selig», sagte ich. «Trot z dem schön, dich zu sehen.» «Ja.» «Besonders begeistert klingt das nicht.» «Ich freue mich dennoch.» Er rutschte auf seinem Platz hin und her. «Was möchtest du trinken? Einen Kaffee?» «Ja, einen Capuccino.» Meine Stimme klang verärgert. Er stand wortlos auf und ging zur Theke, um ihn zu holen. Ich nahm eine Schachtel Zigare tten aus meiner Handtasche und zündete mir eine an. Das stand nicht im Manuskript; davon abgesehen war es völlig unbedeutend, außer, nehme ich an, daß es mein zweiter winziger Akt der Auflehnung gegen die Rolle war. Als er kurz darauf an den Platz zurückke hrte, die Tasse in der Hand, merkte ich, daß es ihm sofort aufgefallen war. Ich kam ihm zuvor, bevor
er irgendeine wohlformulierte Ermahnung an mich richten kon n te; trotzig und bewußt provozierend sagte ich: «Ja, ich habe wieder angefangen, Paul.» Dabei wa rf ich ihm einen boshaften Blick zu. In seinen Augen blitzte Ärger auf. «Du bist sehr schwach», ta delte er. Er stellte den Capuccino vor mir auf dem Tisch ab, wobei etwas auf die Untertasse schwappte. In gewisser Weise hatte ich ihm den Krieg erklärt, und ich bemerkte, daß es ihm entgangen war, aber er ging nicht weiter darauf ein. Es entstand ein kurzes Schweigen, dann nahm ich den Dialog wieder auf. «Warum hast du mir beim letztenmal nicht gesagt, daß du heute in der Stadt sein würdest?» «Ich habe es selbst erst in letzter Minute erfahren. Es… es ha n delt sich um eine Art Krisensitzung.» Ich nickte. «Und vermutlich hast du wieder nur eine Stunde Zeit.» «Ja, leider, fürchte ich.» «Himmel!» Er reagierte nicht auf die Herausforderung, sondern ließ das Wort in der Luft hängen und rührte wieder in seiner Kaffeetasse herum. Ich fuhr fort. «Nun, hast du eine Entscheidung getroffen?» Ich legte eine Spur Sarkasmus in meine Stimme – Juliet hegte schließlich schon einen Verdacht. Er fingerte an seinem Ring herum, schie n nicht zu wissen, wie er auf das Thema zu sprechen kommen sollte. Endlich gab er sich einen Ruck. «Juliet, ich habe dich angerufen, weil ich glaube, daß wir miteinander reden müssen.» «Du willst nicht bis zum Letzten gehen, richtig? Deine En t scheidung ist gefallen.» «Nein… das ist es nicht.» «Was ist es dann? Himmel, du gibst mir nicht gerade das Ge fühl, sehr begehrenswert zu sein, weißt du.» Er blickte auf. «Ich habe dich angelogen», sagte er langsam. Mir fiel das Kinn heru n ter, als ich Bestürzung zu heuc heln versuchte. «Was soll das heißen?»
«Ich bin verheiratet, Juliet. Es tut mir leid. Mary ist gar nicht tot – ich habe dich angelogen.» Ich atmete schwer. Das Manuskript hatte mich angewiesen, nicht sofort zu antworten, sondern eine Zeitlang nur in maßlos em Erstaunen wortlos einfach dazusitzen. Fox blickte auf seine Kaffeetasse hinunter, die Haltung fast starr, nur seine Lippen spannten und entspannten sich. Ich kam mir plötzlich verloren vor, Proben hin, Proben her, ich wußte nicht, wie ich die nächste Ze ile rausbringen sollte. Ich hatte ihn be schimpfen, mich vom Manuskript lösen wollen, aber jetzt spürte ich, daß Juliets Antwort die einzig richtige war. «Ich verstehe», sagte ich endlich ruhig, aber voll Bitterkeit. Er schüttelte den Kopf. «Es tut mir leid.» «Um Himmels willen, sag bloß nicht, daß es dir leid täte. Das ist lächerlich.» «Ich bin…» Er unterbrach sich und hielt den Blick wieder ge senkt. Ich seufzte. Er hatte die Augen geschlossen und massierte seine Stirn mit langsamen Bewegungen der Hände, di e mich auf der Stelle an meinen Vater und seine ‹Migräne › erinnerten. Wann immer er zu Hause einen seiner schrecklichen Anfälle erlitt, durften wir Kinder nur schweigend durch abgedunkelte Räume huschen; der erschreckende Vergleich drängte sich mir völlig unerwartet auf, und vorübergehend verspürte ich einen Stich echter Bitterkeit. Dieser Mann hier war bis in die Zehenspitzen genauso heuchlerisch wie mein Vater, und in diesem Augenblick beschloß ich, es ihm heimzuzahlen. Mit einem einzigen, wilden Stoß drü ckte ich meine Zigarette aus. «Tja, das wär’s dann wohl», sagte ich. Er antwortete nicht, de u tete aber ein Nicken an. «Soviel zu unserer wunderbaren Liebe s nacht voller Leidenschaft.» Er reagierte nicht. An dieser Stelle hätte ich laut Manuskript eigentlich anfangen sollen zu weinen, aber aus irgendeinem Grund schien es mir nicht angemessen – ich wollte es ganz einfach nicht, und Juliet wäre meinem Gefühl nach auch nicht in
Tränen ausgebrochen; immerhin hatte er sie belogen und betr o gen. Statt dessen nahm ich einen Schluck Kaffee. «Mein Gott, ich komme mir vor wie in einem Bühnenstück. Einfach unglaublich. Ich hätte nie gedacht, daß mir jemals so was widerfahren könnte.» Er blickte mich trübsinnig an und knöpfte seinen Kragen auf. «Sag mir nur, warum», fragte ich jammernd. «Warum mußtest du mich anlügen?» Er gestikulierte verzweifelt mit den Händen. Aus dem vorderen Teil des Cafés hörten wir, wie der Eigentümer und seine Frau zu streiten begannen, als hätten wir sie auf eine gute Idee gebracht. Die Frau schmet terte einen Stapel Teller auf den Boden und schlug die Küchentür hinter sich zu, als sie hinausstürmte. Fox fand endlich wieder Worte. «Ich hätte nie gedacht, daß es so weit gehen würde.» Ich seufzte, schweigend. Dem nächsten Teil blickte ich mit gemischte n Gefühlen entgegen, denn ich war nicht glücklich über den Stimmungsumschwung. «Es hätte mir nichts ausgemacht», sagte ich. «Was hast du gesagt?» «Es hätte mir nichts ausgemacht», wiederholte ich. «Aber du hast gesagt – » «Das hast du doch nicht ernst genommen, oder?» «Natürlich, warum nicht?» «Du meine Güte, und ich dachte, ich wäre die Naive!» Mühsam hob er den Kopf und heuchelte äußerste Fassungslosigkeit. «Willst du damit sagen, es hätte für dich nicht den geringsten Unterschied bedeutet?» Eine Haarsträ hne fiel ihm in die Stirn, und er strich sie zurück. «Nein, natürlich nicht. Ich glaube, im geheimen habe ich sogar gehofft, daß du verheiratet wärst.» Müde schüttelte er den Kopf. «Du lieber Himmel, jetzt verstehe ich nichts mehr.» «Schau mal, Paul», bega nn ich wieder. «Ich weiß, es hört sich etwas verrückt an, aber es wäre irgendwie amüsanter so. Du weißt schon – eine Aff äre mit einem verheirateten Mann und so weiter.» Ich begleitete die Worte mit einer unterstreichenden Geste, aber sie waren dadurch auch nicht besser – sogar bei den
Proben war ich nicht glücklich damit gewesen. Er gab ein kurzes, hektisches Lachen von sich. «Verstehst du nicht, wie aufregend das auf mich wirkte?» fuhr ich fort. «Es war mal ganz was and e res als die üblichen langweiligen Ge schichten. Die geheimen Treffen, eine verstohlene Stunde hier und dort, die Unmöglic h keit, dich anzurufen, die Tatsache, daß du soviel älter wars t… all das…» Er starrte mich an, sein Blick aus weitaufgerissenen Augen schien mich durchbohren zu wollen. «Als o wußtest du, daß ich dich belogen habe?» «Ich glaube schon, ja.» Wieder schüttelte er den Kopf und blickte vor sich hin. Ich zündete mir eine neue Zigarette an, beobachtete ihn genau wi s send, was er als nächstes sagen würde. Während er die Zuckerdo se zwis chen seinen Händen hin und herschob, lieferte er eine außerordentlich beeindruckende Darstellung von Verwirrung. Es fiel schwer zu glauben, daß er die ganze Sache geschrieben hatte, daß die Szene nur gespielt war, und plötzlich fühlte ich mich hilflos, meine kleinen Gesten der Auflehnung gegen meine Rolle hatten keine Bedeutung mehr. Wie hilflos mußte sich auch Juliet gegenüber diesem Intriganten gefühlt haben, als sie nach und nach den Boden unter den Füßen verloren hatte. Jetzt blickte er auf, offenbar zu einer Entscheidung gelangt. «Was hat sich denn plötzlich geändert?» fragte er. Ich erwiderte seinen Blick, wollte mich wieder vom Text des Manuskripts lösen und es ihm heimzahlen. Aber nein, ich würde warten. Es kamen sicher noch bessere Gelegenheiten. Ich versuchte, verwirr t zu klingen. «Ach, ich weiß nicht», sagte ich. «Du mußt gewollt haben, daß ich dich belog. Du mußt gewollt haben, daß ich weiter vorgab, Witwer zu sein. Begreifst du das nicht?» Ich nickte kühl. «Also, was hat sich dann geändert?» Sein e Stimme war eindring lich. «Warum können wir nicht weitermachen?»
«Das kann ich dir nicht erklären.» Ich rutschte auf meinem Platz hin und her und fragte mich, ob ich dieses Spiel einmal bereuen würde. «Ich weiß, daß ich gelogen habe, aber wenn du es gewol lt hast, kann es doch keinen großen Unterschied bedeuten.» «Du hast alles kaputtgemacht.» «Das verstehe ich nicht.» «Es ist nicht mehr dasselbe wie vorher. Jetzt ist es kein Spiel mehr.» «Das ist doch albern – es kann wieder eins werden.» Er ließ meinen Blick nicht los. «Natürlich kann es wieder ein Spiel we r den – wenn wir wollen.» «Es wäre nie wieder wie vorher.» Er zögerte, dann beugte er sich über den Tisch vor und sagte beinahe flüstern d: «Schau, warum machen wir nicht einfach weiter wie bisher? Ich muß nächste Woche für ein paar Tage nach London. Warum kommst du nicht ins Hotel, wie wir es abgesprochen hatten?» Er klang wie ein Verbündeter, der sich mit mir zu einem Komplott verschwor. Ich antwortete nicht. «Erinnerst du dich noch an das Zitat?» «Welches?» «Du hast es selber kürzlich erwähnt – ‹Rasch nun –›» «Gut, gut, du brauchst nicht weiterzusprechen.» «Eine zweite Chance gibt es nicht, weißt du.» Er streckte die rechte Hand aus und legte sie auf meine linke; seine Augen blic k ten beschwörend. «Ich möc hte wirklich gern mit dir schlafen, Juliet. Bitte, sag ja.» Ich nahm meine Hand aus der seinen. «Das ist doch verrückt», sagte ich. «Letztesmal war ich es, die versuc h te, dich dazu zu überreden.» «Und?» «Das haben wir doch alles schon einmal durchgemacht.» «Ja und?» «Ich weiß nicht», zögerte ich. Ich hatte das Gefühl, ins Wanken zu geraten – ich oder Juliet – , und ich brauchte Raum zum Atmen. «Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Ja, ich brauche
mehr Zeit, um darüber nachzudenken. Das ist doch nur fair, oder? Letztesmal wolltest du Zeit zum Nachdenken haben.» Er lächelte. «Es ist doch fair, oder nicht?» Er zog die Augenbrauen in die Höhe und nickte. «Ja, vermu t lich ist es das.» Ich legte meine Hände vor mich auf den Tisch, eine gewisse r maßen abschließende Geste , als wollte ich mich selber davon überzeugen, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. «Ja, belassen wir es dabei – vielleicht komme ich, vielleicht auch nicht.» «Du gibst mir vorher nicht Bescheid?» In seiner Stimme schwang eine Spur Erregung mit. «Nein, ich sage es dir vorher nicht.» Ich genoß den Augenblick. «Du mußt einfach abwarten.» Er blickte zu den anderen Tischen hinüber, wo sich gerade ein Paar mittleren Alters erhob und zum Aufbruch wandte. Sie warfen uns einen vernichtenden Blick zu, da si e ganz offenbar unsere Unterhaltung mitgehört hatten. Fox suchte wieder meine Augen und sagte doppeldeutiger denn je: «Nun, ich denke, ich habe es wirklich nicht anders verdient.» «So ist es, Paul», antwortete ich. Dann setzte ich die Tasse an die Lippen, ohne seinen Blick loszulassen, und nahm einen gr o ßen Schluck. Ich spürte, wie sich meine Lippen zu einem Lächeln kräuselten, denn ich hatte das Gefühl, ihn mit meinen Worten in die Ecke gedrängt zu haben, wobei ich für einen Moment vergaß, daß er sie ja selber geschrieben hatte. Der Dialog neigte sich seinem Ende zu, nur noch ein paar Ze i len. Ich trank meinen Kaffee aus. «Möchtest du noch einen?» fragte Fox. «Nein, ich glaube nicht, danke.» «Bist du sicher?» «Ja… ich glaube, ich gehe jetzt.» «Ich habe noch eine halbe Stunde Zeit.» Der Satz hatte einen fragenden Unterton. «Ich glaube, ich möchte lieber gehen.» «Wie du willst.» Er war lediglich höflich. Selbst wenn ich Juliet gewesen wäre, hätte er es wahrscheinlich lieber gehabt, wenn ich
nicht länger blieb. «Also sehe ich dich vielleicht heute zum let ztenmal», sagte er ausdruckslos. «Ja, kann sein.» «Dann sagen wir uns besser Lebewohl.» Ich beschloß, meiner Stimme einen verstockten, festen Klang zu geben. «Leb wohl», sagte ich. «Ist das alles?» Er hielt meinen Blick noch einen Moment lang fest, während er überlegte, ob er protestieren sollte oder nicht, bis er sich schlie ß lich dagegen entschied. «Ich werde warten, Juliet.» «Gut», sagte ich. Die Anweisungen für meinen Aufbruch waren eindeutig. Ich sollte mich über den Tisch beugen, ihn einmal auf die Lippen küssen und mich dann sofort wieder aufrichten. Ich handelte genau nach diesen Anweisungen, und er unternahm keinen Versuch, sie zu änder n; dann ging ich aus dem Café, ein letztes, doppeldeutiges «Bis dann!» auf den Lippen. Ich hielt mich nicht in der Nähe des Cafés auf, um ihn beim Verlassen beobachten zu können, unternahm auch keinen Ve r such, herauszufinden, in welche Richtung er davongehen würde. Aber als ich zur U-Bahn-Haltestelle lief, ging mir sein letzter Satz nicht aus dem Kopf, und ich fing an, mich zu fragen, ob ich – wie es in dem Buch der Fall gewesen war – nicht doch hereing e legt worden war; vielleicht war dies das Ende.
16 Später an demselben Tag suchte ich das Arbeitsamt auf. Es war eine spontane Entscheidung: ich würde unter alles einen Schlu ß strich ziehen. Weder unterzog ich meine Motive einer genauen Prüfung, noch hatte ich etwas Besonderes vo r Augen; ich wollte lediglich einen Ganztag sjob – Arbeit, die gut genug bezahlt war, um mich ernähre n zu können, ohne daß ich wieder meine Li e besdienste anbieten müßte. Ich hatte auch keinen Gedanken auf die Fragen verschwendet, die man mir vielleicht stellen mochte. So wurde ich denn auch völlig überrascht. Die erste Frag e: Wo haben Sie in den vergangen en beiden Jahren gearbeitet? Ich antwortete, ich hätte als Teilzeit -Tippse gejobt, nur um anschli e ßend erklären zu müssen, wie es mir gelungen sei, davon zu leben. Ich erfand eine Geschichte, die nicht allzu weit von der Wahrheit entfernt war. Ich sagte, ich hätte mit jemand zusa m mengelebt, daß wir uns jetzt aber getrennt hätten. Der Sachbea r beiter bekam die Ironie daran natürlich nicht mit und fand me i nen Heiterkeitsausbruch wohl ein bißchen fehl am Platze. Als er mich nach meinen Vorstellungen für die Zuk unft fragte, wußte ich nicht, was ich darauf sagen sollte. Was für eine Art Arbeit ich suchte, hakte er nach. Ob ich mich umschulen lassen wolle? Einer plötzlichen Eingebung folgend, sagte ich: Kranke n schwester, und er schrieb es auf und versprach, sich de r Sache anzunehmen. Was die Zwischenzeit betraf – ob ich weiter Schreibarbeiten annehmen würde? Ich zuckte mit den Schultern und wurde belehrt, daß ich Glück hätte – ich könne schon am nächsten Tag anfangen – als Vertretung für ein Mädchen, das einen vierz ehntägigen Urlaub angetreten hatte. In diesen Tagen müsse man für jede Arbeit dankbar sein. Was die Tätigkeit als Krankenschwester anging, so versprach er, sich in ‹ absehbarer Zeit› mit mir in Verbindung zu setzen.
Als ich das Gebäude verließ, überlegte ich, warum ich übe r haupt hergekommen war. Es war nämlich nicht wirklich des Geldes wegen. Zugegeben, ich war ziemlich abgebrannt, denn ich hatte schon länger als zwei Wochen keinen Kunden mehr in meiner Wohnung empfangen; mit Fox und seinen Manuskripten war ich ständig so beansprucht, daß ich alle Anrufer abgewiesen hatte. Natürlich, da waren die Schecks, ich hätte sie jederzeit einlösen können, aber das wollte ich nicht. Sie lagen noch immer unberührt in meiner Schublade, eigenartigerweise betrachtete ich das Geld als Sylvias Eigentum und nicht als meins, unmoralisch erworbener Verdienst, den anzutasten mir widerstrebte. Ich war also knapp bei Kasse, und doch war das nicht der Hauptgrund. Aber meine wirklichen Gründe herauszufinden, gelang mir auch nicht. St att dessen startete ich einen Rundruf bei allen meinen Kunden, die dadurch nicht kompromittiert wurden, und erklärte ihnen, daß ich umzuziehen beabsichtigte, aber noch nicht genau wisse, wohin, daß ich mich aber mit ihnen in Verbindung setzen würde. Die meisten von ihnen äußerten sich nicht dazu, ja, sie schienen sogar überrascht, daß ich überhaupt anrief, aber einer, zynisch und hellsichtig wie immer, fragte mich, ob ich ‹in den Ruhestand› treten wolle. Ich sagte ‹ja› und legte den Hörer auf. Ich verstand noch immer nicht ganz, warum ich das alles getan hatte. Ich fühlte mich müde, ohne Interesse an irgend etwas, gelangweilt von allem um mich herum und am meisten von mir selber. Erst als Fox ’ letzter Brief eintraf, gestand ich mir selber ein, was meinen Rüc kzug in den ‹Ruhestand› in Wahrheit veranlaßt hatte. Der Brief kam drei Tage später; ein dünner, ganz gewöhnlicher Briefumschlag. Ich legte ihn auf den Tisch und starrte ihn lange Zeit einfach nur an – wohl wissend, daß ich ihn lesen würde, aber trotzdem von dem Wunsch erfüllt, den Augenblick noch hinau s zuschieben, mich selbst auf die Folter zu spannen. Ich weiß noch, daß ich mir einzuprägen versuchte, welcherart meine Gefühle in diesen Augenblicken waren, so als würde ich mir irgendwann einmal in der Zukun ft die Situation in Erinnerung
rufen müssen. Um mich herum war es ganz still, nur die Uhr tickte leise. Aus der Wohnung unter mir drang das Geräusch eines laufenden Fernsehers herauf, und unten auf der Straße brüllte ein Junge etwas Unverständliches; es er innerte mich an den Morgen, an dem ich im Bett gelegen und den Geräuschen gelauscht hatte, die von draußen auf mich eingedrungen waren, gedämpfte, ferne Laute aus einer anderen We lt. Jetzt fühlte ich mich genauso: allein, abgeschnitten von allem um mich he rum, sowohl inner- als auch außerhalb der Zeit. Ohne daß ich bewußt eine Entscheidung getroffen hätte, stand ich schließlich auf, ging in die Küche und kehrte mit einem Messer in der Hand an den Tisch zurück. Ich nahm den Brie f umschlag, betrachtete ihn sel tsam desinteressiert, dann schob ich die Messerklinge unter den ung ummierten Teil des Klebeve r schlusses und zog sie durch die Falznaht. Es gab ein kratzendes Geräusch, erschreckend laut in der Stille des Zimmers. Ich legte das Messer auf den Tisch und förd erte den Inhalt des Kuverts zutage. Es handelte sich um ein einzelne s Blatt Papier. Kein Scheck, kein Manuskript, lediglich ein einze l nes Blatt Papier. Auf dem Blatt stand schlicht und einfach: Die Bar des Carlton Hotel, Bayswater 21 Uhr 15, 9. Juli Fox hatte es nicht einma l für nötig befunden, zu unterschre i ben. Ich muß den Bogen wohl fünf Minuten einfach nur in der Hand gehalten haben, ganz ruhig, ohne irgendwelche Empf in dungen. Ich dachte nicht wirklich darüber nach, das war gar nicht nötig – ich hatte sofort begriffen. Sobald ich die Nachricht gel e sen hatte, wußte ich, warum ich zum Arbeitsamt gegangen war. Zum allererstenmal erkannte ich, was ich war: eine Prostituierte. Zum erstenmal fühlte ich mich wirklich als Nutte. Es hatte zwar immer schon ein wenig wehgetan, wenn ich auf der Straße Be merkungen hörte oder das unverschämte Grinsen und bede u tungsvolle Nicken geschniegelter Laffen in den Lokalen mitb e
kam, aber es hatte mich bisher nie wirklich getroffen. Doch jetzt sah ich mich mit ungewöhnlicher Kl arheit. Und es hatte eines Fox bedurft, um es mir zu zeigen, sein absurdes kleines Spiel, die Vorspiegelung, daß ich etwas anderes sei als das, was ich nun einmal war. Er wollte nicht einfach nur meinen Körper benutzen; er wollte weit mehr. Er wollte nicht nur einfach mit mir schlafen, er wollte tatsächlich mich, meinen Leib und meine Seele. Er wollte mich sozusagen in meiner Gesamtheit vereinnahmen, damit mir selbst nichts mehr blieb. Wie oft hatte ich mit meinem Körper gespielt? Er wollte, daß ich mit dem Herzen spielte. Ich griff noch einmal nach dem Kuvert, um mich davon zu überzeugen, daß es wirklich keinen Scheck enthielt. Endlich faltete ich den Bogen Papier sorgfältig zusammen und schob ihn wieder in den Umschlag. Anschließend stand ich auf, ging zur Schublade und legte den Umschlag zu den anderen Kuverts, die schon darin aufbewahrt wurden. Jede meiner Bewegungen war kontrolliert und präzise. Dann durchquerte ich den Raum, stellte mich vor den Spiegel und betrachtete mein Gesicht. Es schien mir fremd, unvertraut. Die Augen waren stark geweitet, zu fern, zu reglos. Mein Mund war ein schmaler Strich, die Lippen bleich. Es war beängstigend, als ich zu lächeln versuchte, um mich wiederzuerkennen. Mein Gesicht fühlte sich taub an, als hätte ich eine Maske aufgelegt. Ich drehte mich um und dann schnell wieder zurück, als hoffte ich, mich selber überraschen zu können. Es machte keinen Unterschied. Ich fühlte mich seltsam losgelöst von meinem Körper, als wären meine Glieder der Kontrolle eines anderen unterworf en. Die Zeit schien aufgehört zu haben. Mir war, als stünde ich außerhalb ihrer Grenzen, als existierte ich weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Ich kehrte dem Spiegel den Rücken und ging in die Küche, wo der Wecker stand. Die Zeiger bewegten sich kaum merklich: es mußte sich also um die Gegenwart handeln. Und doch wußte ich genau, was passieren würde. Und mir schien es, als wäre auch das bereits Vergangenheit.
17 Ich schloß di e Tür hinter mir. Es gab ein leichtes Klicke n, ein hauchzartes Klappen des Türdrückers, Ende und Anfang, gleic h zeitig enthalten in diesem einen Augenblick. Ich lächelte. Draußen war es noch hell. Der Widerschein eines flammenden Sonnenuntergangs leuchtete von den Gebäuden, tauchte die Backstein wände in lebhaftes Orange, und ich dachte: der Brand von London, setzt der Pest ein Ende. Die Luft stand ohne jeden Hauch. Menschen schlenderten über die Bürgersteige, genossen den Hochsommer. Ich wollte kein Taxi nehmen. Gemächlich schlenderte ich zur U-Bahnstation, jede Minute in die Länge dehnend, jede unwiederbringliche Sekunde dieses besonderen Abends auskostend. Ich kam mir wie betrunken vor, gleichzeitig heiter und ernst und völlig hemmungslos. Ich überquerte die Straßen, ohne stehenzubleiben, kümmerte mich kaum darum, ob Verkehr herrschte oder nicht. Ich dachte: wo er jetzt wohl sein mag? Ißt er zu Abend oder zieht er sich um? Sitzt er vielleicht schon in der Bar? Was immer er auch tat, es spielte keine Rolle. Um 21 Uhr 15, das wußte ich, würde er dasein. Der Stempelautomat entwertete meine Fahrkarte mit einem lauten Stampfen. Ich durchschritt die Sperre, betrat die Rolltre p pe und blieb reglos stehen. Während ich nach unten fuhr, hatte ich das Gefühl, zu ertrinke n: der Bahnsteig schwebte mir entg e gen, um sich mit mir zu treffen, die Stufen ebneten sich ein und verschwammen. Der Metallrost hatte spitze Zähne. Ich trat über ihn hinweg, spürte, wie der Boden mich zum Stillstand brachte. Was dann folgte, weiß ich nur noch bruchstückhaft. Ich stand wie unter Hy pnose. Ich entsinne mich noch, daß mir ein Poster ins Auge fiel. Dann starrte ich dem Zug entgegen, als er in die Station glitt und langsam ausrollte. Der Zugführer sah herüber; der Motor der Lok pochte; sein stetes Summen versetzte mich in
Erregung. Daran , wie ich in Bayswater angekommen bin, habe ich keine klare Erinnerung mehr. Danach ging ich in eine Kneipe, um die Zeit bis zu unserem Treff totzuschlagen. Ein Mann mit fettigem Gesicht bat mich um ein Streichholz. Ich blickte auf meine Armbanduhr. Dann endlich das Hotel. Daran wiederum kann ich mich ge nauestens erinnern. Ich sehe noch vor mir, wie ich mich vor einem Spiegel in Positur stellte und das Haarteil zurechtrückte. Ich dachte an Juliets Entscheidung, versuchte nachzuempfinden, wie sie sich gefühl t haben mochte. Ihre Stimme war zaghaft, winzig, wie ein Vogellied. Und sie würde mit schlaff herabhä n genden Armen dastehen. Fox saß an der Bar, mit dem Rücken zu mir auf einem Hocker. Mir schien, als habe er schon seit einiger Zeit gewartet. Er saß zusammengesunken, wirkte müde und schwenkte gedankenverlo ren seinen Whisky in einem Glas. Ich nahm das Ambiente in mich auf. Das kräftige Weinrot des Teppichs wirkte im Licht der orangefarbenen Lampe an den Wänden noch dunkler. Die Vo r hänge – schweres, samtartig es Material – waren bereits zugez o gen, verbannten den Sommerabend nach draußen. Außer uns war nur noch ein älteres Paar anwesend, das sich leise auf deutsch über einige Broschüren unterhielt, die aufgeschlagen vor ihm auf dem Tisch lagen. Am anderen Ende der Bar saß eine Frau mittleren Alters und blätterte in einer Zeitschrift. Ich ging auf Fox zu und blieb hinter ihm stehen. Er saß vollkommen reglos, als hätte er meine Anwesenheit gespürt und sei erstarrt, verängstigt in Erwartung dessen, was passieren moc hte. Meine Arme hingen schlaff an mir herab, wie ich es in letzter Minute noch vor dem Spiegel eingeübt hatte, ich tat einen tiefen Ate m zug, um mich zu sammeln. «Paul», flüsterte ich. «Ich bin’s.» Er fuhr herum, völlig überrascht. «Ich habe beschlossen, do ch zu kommen», sagte ich ruhig. Er fand nicht sogleich Worte. Seine Augen weiteten sich, dann
verdüsterten sie sich, als sei er dieses Mal nicht in der Lage, seine Rolle zu spielen. Schließlich blickte er zu Boden. «Gott sei Dank», sagte er. «Ich hätte es nicht ertragen können.» «Ich auch nicht.» Er nickte langsam. Instinktiv redete ich weiter, ohne Textvorgabe nach Manuskript und ohne es geprobt zu haben. «Hast du geglaubt, ich würde nicht kommen?» «Ja.» «Beinahe wäre ich es auch nicht.» Wieder nickte er. Er wirkte gebrochen, wie hilflos. Nichts ließ darauf schließen, daß er nicht die Wahrheit sagte. «Als du das letzte Mal aus dem Café gegangen bist, hattest du beschlossen, nicht zu kommen.» Es war eine Feststellung. «War es so offensichtlich?» «Ich war sicher.» «Trotzdem bist du hier und hast gewartet.» «Ja.» Wir schwiegen. «Wie lange bist du schon hier?» fragte ich dann nach einer We i le. Er blickte wieder zu Boden. «Eine Stunde… ungef ähr.» Sein Gesichtsausdruck war der eines alten Mannes, beinahe wie ein Geständnis; dennoch verspürte ich kein Mitleid. Ich wußte, daß ich alle Trümpfe in der Hand hielt. Ich beugte mich vor und ergriff seine Hände. Sie waren heiß und geschwollen und zitte r ten leicht. Eine Zeitlang hielt ich sie einfach nur, dann drückte ich sie fest und sagte: «Nun, ich bin ja hier.» Seine Augen wurden feucht, als würde er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Seine Lippen öffneten sich, aber er sagte nichts. Einen Moment lang glaubte ich, er hätte seinen Text vergessen, bis mir einfiel, daß es ja diesmal keinen gab. Er wußte einfach nicht, was er sagen sollte. Ich rührte mich nicht vom Fleck und suchte verzweifelt nach Worten. «Himmel, bin ich nervös», sagte ich endlich. «Ich auch.»
Wir lächelten uns ängstlich zu. «Möchtest du etwas trinken?» fragte er. «Ja, ich glaube, das sollte ich wohl.» «Wein?» «Nein, etwas Stärkeres – Brandy, bitte.» Er wandte sich ab und winkte der Bardame, offenbar erleichtert, einen Augenblick lang nichts sagen zu müssen. Ich war noch immer nervös, denn was ich geplant hatte, erschien mir plötzlich so abwegig. Die Ehrlic h keit seiner Reaktion hatte mich völlig überrascht. Jetzt, da ich sah, daß er total aus dem Gleichgewicht geworfen war, beschlich mich das Gefühl, daß mein Vorhaben ein ziemlich schaler Sieg für mich werden könnte. Er mied meinen Blick, als ich mich auf den Hocker neben ihn setzte. Die Bardame schob das Glas herüber und zog sich desinteressiert zurück. Endlich hatte er sich etwas gefangen. «Diese Woche war einfach grauenhaft», murme l te er. «Ich habe sie auch nicht gerade genossen.» «Ich konnte an nichts anderes mehr denken – plötzlich kam ich mir wieder wie ein Sechzehnjähriger vor, konnte nachts nicht schlafen, kriegte keinen Bissen runter.» Ich lächelte scheu. «Mir ging’s genauso.» Ich nahm einen großen Schluck Brandy und zuckte zusammen, als der scharfe Alkohol in meiner Kehle brannte. Er wandte sich mir zu, sah aus, als wolle er etwas sagen, zöge r te, setzte schließlich neu an. «Kannst du mir verzeihen?» fragte er unsicher. Seine Hände lagen auf dem Tres en der Bar. Ich ergriff sie und blickte ihm in die Augen. «Abwarten und Tee trinken», sagte ich scherzend. Seine Augen flackerten. Ich nippte wieder an meinem Brandy. Eine Welle von Übelkeit stieg in mir auf. Ich stellte das Glas ab. «Paul?» Er blickte mic h an, ängstlich diesmal. «Sollen wir nach oben gehen? Ich glaube, ich möchte gar nichts mehr trinken.» Er schien zusammenzuzucken. Es wirkte, als sei er darauf gar nicht vorbereitet, könne sich aber jetzt, da der Augenblick ge
kommen war, dem nicht mehr ent ziehen. Er nickte langsam, beinahe feierlich. Ich zögerte. «Schau, wenn du – » Er unterbrach mich mit plötzlicher Festigkeit. «Nein, du gehst zuerst. Wenn wir beide zusammen nach oben gehen, sieht das zu eindeutig aus. Ich komme in fünf Minuten nach. Hier, der Schlüssel.» Ein normaler Sicherheitsschlüssel, allerdings mit einem zwiebe l förmigen Anhängsel aus Holz daran, das sich unmöglich verbe r gen ließ. Ich glaubte, das deutsche Paar würde uns aus den Au genwinkeln beobachten; unser Verhalten muß sogar noch s tärker den Eindruck von Freier und Nutte erweckt haben, als wenn wir den Raum zusammen verlassen hätten. Mich überfiel das Verla n gen, sie zu provozieren, und ich beugte mich zu Fox vor, um ihn zu küssen. «Laß dir nicht zuviel Zeit», flüsterte ich. Er hielt mei nen Blick fest. «Fünf Minuten.» Ich ergriff noch einmal seine Hand und hielt sie in meiner, bevor ich aufstand. Er nickte mir beinahe unmerklich zu. Ich wandte mich ab und verließ die Bar. Als ich das Foyer betrat, strömte die Glut des Sonnenuntergangs , jetzt noch intensiver, zum Eingang herein und legte sich auf den Teppich im Flur. Ich ging schnurstracks durch die Halle, ohne einen Blick zur Rezeption hinüber, und erreichte die Treppe. Eine Gruppe Neuankömmlinge, die dort auf den Hotelboy warteten, tr aten beiseite, um mir Platz zu machen, und ihre Unterhaltung verstummte. Ich wußte, daß sie mir nachsahen. Ich stieg die Stufen mit einstudierter Lässigkeit hinauf, während ich ihre Blicke im Rücken spürte. Meine Haut prickelte unter der Bluse. Ich erreichte den ersten Stock und orientierte mich an den Hinweistafeln für die Zimmernummern: eins bis fünfzehn nach links, sechzehn bis zweiundzwanzig nach rechts. Ich warf einen Blick auf die Zimmernummer am Schlüssel: siebzehn. Noch hätte ich einen Rückzieher ma chen können, doch ich ging den Korridor hinunter. Er lag in schu mmrigem Halbdunkel, wie es auf dem Unterdeck eines Schiffs herrscht, und während ich auf die Zimmertür zuging, bemerkte ich, daß ich leicht zu taumeln begann, als sei ich tatsächlich auf einem Schiff, da s gerade von
einer schweren Welle unterlaufen wird. Ich erreichte die Tür. Ich brauchte sie nicht zu öffnen. Er hatte mir diese Möglichkeit eingeräumt, eine weitere Chance, die ganze Sache in letzter Minu te abzubrechen. Auf einmal begriff ich, warum er das getan hatte, warum er mich gebeten hatte, als erste zu gehen; es war ein weiterer Test – er wollte nicht einfach ein Arrangement, er wollte meine völlige Hingabe. Leicht glitt der Schlüssel ins Schloß. Ich drehte ihn um, ein leises Klicken, die Tür öffnete sich. Eine Sekunde lang befiel mich eine unbestimmte Angst, dann trat ich ein. Der Raum war ganz in Rot gehalten, das Bett stand an der Wand gegenüber dem Fenster. Ich lehnte mich gege n die Tür und schob sie mit dem Rücken zu. Einen Augenblick blieb ich so stehen, den Kopf gegen das Holz gestützt. Der Raum war nicht gerade üppig möbliert – ein Einbauschrank, zwei Stühle, ein Tisch, der Hotelaschenbecher; sonst nichts. Nirgendwo konnte ich einen Koffer entdecken. Plötzlich dachte ich: das ist doch wieder ein Trick. Er wird mich hier stehenlassen, wie bei unserem ersten Treffen. Es war alles nur ein krankhafter, perve r ser Witz: Fox war ein Frauenhasser, Juliet hatte ihn betrogen, und auf diese Weise wollte er sich rächen. Die ganze Geschichte, die Manuskripte, das Geld – alles diente nur diesem einen Zweck: dem Vergnügen sich zu rächen, sich vorstellen zu können, wie ich hier oben stand und auf ihn wartete, ihn jetzt endlich doch haben wollte. Oder vielleicht doch nicht. Ein weit schrecklicherer Ge danke ging mir durch den Kopf – ein Gedanke, der mich schon be schäftigt hatte, bevor ich ihm begegnet war: der Gedanke an die Männer, die plötzlich nachts wie tot vor meiner Wohnungstür gestanden hatten. Mein Magen krampfte sich zusammen. Vom Flur her konn te ich nichts hören, er würde das Zimmer mit einem Zweitschlüssel betreten, ohne klopfen zu müssen. Er hatte einen Haß auf Prostituierte, war vielleicht besessen von der Vorstellung, di e Welt von solchen wie mir befreien zu müssen. Womit würde er’s tun? Ei nem Messer? Einem Strumpf? Unsinn. Da war ja noch Juliet. Alles würde gut enden. Ich spielte doch
Juliets Rolle. Meine Angst verflog, kehrte aber unvermittelt doppelt so heftig zurück. Wo mochte Juliet jetzt sein? Ging es darum, hatte er sie ebenfalls ermo rdet, und ich sollte das alles noch einmal spielen? Ich wandte mich zur Tür hin, zögerte. Von draußen war ein Geräusch zu hören. Das Echo von Schritten auf dem Flur. Sie kamen näher, brachen vor der Tür ab. Dann, ein Klopfen. Ich rührte mich nicht von der Stelle, hielt den Atem an. Mein Herz hämmerte wie wild. Dann wieder ein Klopfen. Ich glaubte, es in meinem Rücken zu fühlen. Stille. Und dann ein heiseres Flüstern. «Juliet?» Wieder. «Juliet?» Ein Schauer panischer Angst durchlief mich, schnürte mir die Ke hle zu. Ich fühlte mich hilflos, fragte mich: hatte Juliet ihn ausgesperrt? Von der Tür her drang ein schwerer Seufzer herein. Füße scharrten, dann entfernten sich die Schritte wieder den Flur hinunter. Plötzlich wußte ich, daß es nicht richtig war, was ic h tat. So konnte es nicht enden. Ich würde ihn hereinlassen. Ich wirbelte herum, griff nach der Türklinke und riß die Tür auf. Er hatte den Treppenabsatz erreicht und stand im Begriff, nac h unten zu gehen, den Kopf tief auf die Brust gesenkt. «Paul!» rief ich. Er drehte sich um, als könne er es nicht glauben; seine Augen – unschlüssig – brauchten einen Augenblick, mich zu finden. «Paul!» wiederholte ich. «Es tut mir leid – bitte komm.» Er kam langsam auf mich zu, unsicheren Schritte s; und blieb vor mir stehen. Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins Zimmer. Dann schloß ich die Tür hinter uns. Er zitterte am ganzen Kö r per. Endlich war ich es, die Macht in den Händen hielt. Sekundenlang stand ich einfach nur da, blickte ihn an und lä chelte, während ich da rauf wartete, daß sich auch mein Her z schlag wieder beruhigte. Die Sonne war mittlerweile untergega n gen, ihre Glut verblaßte nach und nach. Schatten legten sich über den Raum. Ich zögerte noch, spannte ihn auf die Folter, dann legte ich ihm sanft die Arme um den Hals und zog ihn an mich.
Seine Lippen waren trocken und zitterten. Ich streifte sie flüchtig mit dem Mund, dann fester. Sein Atem schmeckte leicht nach Whisky, seine Augen waren weit geöffnet. Ich stieß meine Zunge zwischen seine Lippen, aber die Sp annung seiner Kiefer lockerte sich nicht. Ich zog mich zurück und betrachtete ihn erneut. Das Licht im Zimmer wurde rasch schwächer, und seine Haut hatte einen wächsernen Glanz. Er wich meinem Blick aus; starrte auf den Boden. Seine Arme hingen schlaff her unter. Ich werde ihn führen, sein Lehrer sein müssen, schoß es mir durch den Kopf. Ich ergriff eine seiner Hände am Gelenk, hob sie langsam an meine Brust und preßte sie dagegen. Er bewegte sich nicht. Ich bedeckte seine Hand mit meiner eigenen und begann, meine Brüste zu kneten. Ich massierte sie mit kräftigen, rhythmischen Bewegungen und spürte, wie meine Brustwarzen sich verstei ften. Er war völlig in meiner Macht, hilflos, der ideale Kunde. Endlich fand er den Mut, meinen Blick zu erwidern. Seine Au gen waren jetzt sanft, sie baten um Mitleid, denn er wußte, daß das, was er begonnen hatte, jetzt nicht mehr in seiner Hand lag. Schließlich legte er einen Arm um meine Schultern. Ich ließ ihn los. Seine Hände umschlossen meine Brüste, erst zart, dann zunehmend fordernder. Dann zog er mich an sich und küßte mich. Diesmal hatte sein Kuß etwas Suchendes. Er schien plöt z lich von Leidenschaft erfüllt. Ich machte mich los, trat ein paar Schritte zurück und fing an, meine Bluse aufzuknöpfen. Er stand wie gebannt da, beobachtete mich nur wie trunken. Langsam löste meine Hand Knopf für Knopf, dann schlüpfte ich aus der Bluse und ließ sie auf einen Stuhl fallen. Ich lächelte ihn an, legte die Hände auf meinen Rücken, um den Verschluß des Büstenha l ters zu öffnen. Unsicher tat er einen Schritt auf mich zu, zögerte wieder. Ich hakte den BH auf und ließ ihn von meinen Brüsten gleiten. Es war ein wunderbares Gefühl der Erleichterung. Ich stand unbeweglich da, beobachtete ihn und wußte, daß ich, wenn ich jetzt mit den Fingern sc hnippen würde, ihn dazu bringen könnte, vor mir niederzuknien und mich um Vergebung zu bitten. Ein Lächeln lag um meine Mundwinkel. Ich öffnete den
Reißverschluß meines Rocks, wand mich heraus und ließ ihn auf den Teppich rutschen. Fox stand noch immer reg los da, blickte mich wie gebannt an, als könne er nicht glauben, was da vor seinen Augen geschah. Ich schleuderte die Sandalen von den Füßen und fingerte an meinem Höschen. Jetzt mußte es schnell gehen. Ich zog es mit einer schlängelnden Bewegung aus und tat nackt einen Schritt auf ihn zu. Ich lächelte ihn verführerisch an, berührte seine zuckende steife Männlichkeit durch den Stoff seiner Hose. Dann zog ich ihn aus. Rasch. Dann betrachtete ich ihn sekundenlang. Nackt stand er vor mir, weiß und ängstlich. Seine Augen blickten mich hilflos an, aber ich empfand kein Mitleid. Ich schob mich dicht an ihn heran, griff ihm zwischen die Beine, nahm seinen Penis in die Hand und massierte ihn sanft. Dann ließ ich ihn los, er versteifte sich noch mehr; Fox stöhnte auf , bewegte sich jedoch nicht. Ich lächelte, ließ meine Hände rasch seine Lenden hinauf und hinuntergleiten, spielte mit seinem Glied, streichelte über die Eichel, zog die Haut langsam zurück. Ich ließ Fox dabei nicht aus den Augen. Ein Zittern durchlief ihn . Ich drängte mich an ihn, flüsterte ihm etwas ins Ohr, legte ihm die Hände auf die Schultern und ließ sie langsam seinen Körper hinuntergleiten. Als ich seine Hüften erreichte, massierte ich sie, bevor ich meine Finger wieder zur Innenseite seiner Schenkel wandern ließ, liebkoste wieder seinen Penis, dann nahm ich ihn in den Mund. Er zuckte zusammen, als habe er Schmerzen, doch dann legte er mir die Hände auf den Kopf. Während ich an seinem Glied leckte und saugte, zerzausten seine Finger mir das Haar. Dan n spürte ich, daß er bereit war. Ich richtete mich auf, ging zum Bett hinüber, wobei ich ihn bei der Hand hielt, legte mich aufs Bett und zog ihn auf mich herunter. Schüchtern machte er Anstalten, sich unter die Bettdecke zu verkriechen, aber ich hinderte ihn daran und flüsterte: «Nein, ich will dich nackt sehen.» Er widersprach nicht. Beinahe demütig streckte er sich aus, lag da und betrachtete mich. Jetzt wußte ich, daß er mir in allem gehorchen würde.
«Komm näher», lockte ich und reckte mich, um ihm entg egen zukommen. «Gib mir deine Hand. Leg sie hierher. Streichle meinen Rücken. Und beiß mich ins Ohr.» Er hielt seine Augen geschlossen. «Hab keine Angst», sagte ich. «Du kannst es fester machen. Und jetzt zwischen den Beinen. Oh, das ist gut. Regt es dich auf, daß ich schon feucht bin?» Sein Atem ging schneller, stoßweise. «Oh, Paul, wie sehr ich dich begehre. Preß dich fest gegen mich. Du bist so warm und hart. Ich bin so scharf auf dich.» Ich spürte, wie er zu zucken begann. «Möchtest du, daß ich dich küss e? Oh nein, ich will dich in mir spüren.» Ich zog ihn näher heran, hinderte ihn aber, als er über mich steigen wollte. «Nein, ich möchte auf dir sein.» Ich ließ ihm keine Gelegenheit, zu widersprechen. Ich rollte ihn auf de n Rücken und schwang mich über ih n. «Jetzt, ich führe dich. Gott, ist das gu t! Ganz tief rein in mich.» Er krümmte sich. «Mach schon», drängte ich, «noch tiefer.» Ich preßte, bis es nicht mehr tiefer ging und er mich ganz ausfüllte, dann hob ich mich an, stieß wieder auf ihn herab, stemmte mich noch härter gegen ihn. Er lag da, verzwe i felt und hilflos. In mir tat alles weh, ich wollte mich zusamme n krümmen, bewegte mich aber noch heftiger auf und ab. Seine Augen waren wieder geschlossen. Ich spürte, daß er bald soweit war. Er konnte es jetz t nicht mehr aufhalten, und er kam bald. «Hat sie es auch so gemacht?» Er hielt seine Augen noch fester geschlossen. «Ich glaube, du hast mich nicht verstanden. Hat sie es so gemacht?» Seine Augen öffneten sich. Ich lächelte auf ihn hinunter. «Nein, nicht ab schlaffen. War sie oben oder unten? Waren ihre Titten fester, größer?» Ich beugte mich vor. «War ihre Möse enger? Hat sie lauter gestöhnt?» Er zuckte zu sammen. «Mach die Augen zu, wenn du willst, deine Ohren kannst du nicht verschließen. He, bist du sich er, daß sie nicht blonder war als ich?» Ich fühlte, daß er nahe dran war.
«Komm schon, schneller und tiefer! Haben Sie was gesagt, Mr. Fox? Haben Sie gesagt, daß Sie Juliet geliebt hätten?» Er wollte etwas sagen. «Kommen Sie schon, noch eine kleine Anstren gung, Sie wissen, daß Sie es können.» Ich nagelte seine Arme gegen die Matratze. «Soll ich es aussprechen? Soll ich es sagen? Die gewissen Worte, Mr. Fox? Dafür haben Sie doch bezahlt.» Er versuchte sich zu befreien. «Hat sie es gesagt?… Hat sie es gesagt? … Ich wette… Ich we t te, sie hats gesag t… Rasch nun… hier… jetz t… immer – » Ei n sam und hilflos verströmte er sich leer in mich. Ich versuchte zu lächeln, aber es mißlang mir. Während ich ihn beobachtete, wie er sich unter mir wand, mußte ich an ein hilflose s Baby denken. Sein Gesichtsausdruck war so schmerzerfüllt, von der Niederlage gezeichnet, und seine Hände waren zu Fäusten verkrallt. Ich rollte mich herunter und stürzte auf das Kissen. Plötzlich merkte ich, daß ich selbst kurz davorstand, in Tränen ausz ubrechen. Ich versuchte, meiner wieder Herr zu werden.
18 Die Zeit zerrann. Wir lagen schweigsam und ohne uns zu regen. Dunkelheit lag über dem Raum, breitete sich wie langsamer Verfall aus, kroch über unsere Körper. Die Stille war absolut. Nur einmal hörten wir jemanden den Flur entlanggehen, dann das ferne Geräusch einer Tür, die geöffnet und geschlossen wurde, aber es schien eine ganze We lt entfernt zu sein, als pa s sierte es in einem anderen Leben. Nur das tauber werdende Gefühl in dem Arm, auf den ich mich gerollt hatte, erinnerte daran, daß ich am Leben war; ich empfand einen stumpfen Schmerz, konnte mich aber nicht entschließen, meine Lage zu verändern. Mein Kopf ruhte so auf dem Kissen, daß ich Fox sehen konnte. Er lag auf dem Rücken, leblos wie e ine Leiche und starrte aus weitgeöffneten Augen zur Decke empor; ich studierte seinen Körper mit der Gleichgültigkeit eines Leichenbeschauers. Die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Am Anfang hatte ich es nicht wirklich bemerkt, aber er sah so alt aus, wie er war, es ließ sich nicht verbergen. Kleine Hautfalten hingen schlaff von seiner Brust herab. Seine Schamhaare waren vol l kommen weiß, sein erschlafftes Glied lag darin eingebettet und erinnerte mich an verschrumpeltes Gemüse. Seine Beine waren unbehaart, die Haut glänzte und hatte in ihrer Weiße etwas Tö d liches; er lag so reglos da, daß ich an Leichenstarre denken mu ß te. Ich hatte ein Gefühl, als hätte ich ihn ermordet; ich hatte ihm nicht nur seinen großen Augenblick verdorben, ich hatte ihm seinen Traum zerstört. Ich fragte mich, wie lange er wohl für diesen Traum gelebt hatte. Ein Jahr? Fünf Jahre? Seit dem Tag, an dem es endlich geschehen war – als Juliet hier an meiner Stelle gelegen hatte. Mit einer Spur Bitterkeit dachte ich: konnte es wirklich etwas derart Besonderes gewesen sein, so unvergeßlich, daß es all dieser Mühe wert gewesen war? Auch den heutigen
Abend würde er nie vergessen, dessen war ich sicher, aber er würde nie versuchen, das, was zwischen uns geschehen war, noch einmal zum Leben zu erwecken, egal, wie weit es auch in der Vergangenheit zurückliegen mochte, er würde es nie mit dieser Art von romantischer Sentimentalität betrachten. Denn das und nichts anderes war es: ein Teil der Vergangenheit – jener explosi ve Augenblick, den wir beide erlebt hatten, schien bereits weit zurückzuliegen; ich konnte ihn distanziert betrachten. Die Be gierde, die ich empfunden hatte, war gänzlich erloschen, der Schmerz, den ich erlitten hatte, tot. Ich versuchte, mich zu erinnern, was ich gefühlt hatte. Ich hatte ihn gleichzeitig begehrt und war von dem Wunsch erfüllt gew e sen, ihn zu zerstören. Jetzt, da meine Rachegelüste befriedigt waren, schienen mir diese Triebe nichts Reales mehr zu haben, sie waren mit dem Haß erstorben. Meine freie Hand lag noch immer auf seinem Schenkel, aber als ich sie zu bewegen versuc h te, reagierten die Finger nicht; ich war überall von Taubheit erfüllt. Ich dachte daran, was über jeden Beischlaf gesagt wird, daß er in gewisser Weise ein kleiner Tod sei. Ich fragte mi ch nur wehmütig, wer von uns beiden tot war. Ich fröstelte. Jetzt, nachdem die Sonne untergegangen war, wurde es kühl im Zimmer. Eine Stimme aus mir, für die ich nicht verantwortlich war, sprach. Ich überraschte mich selbst. «Komm», sagte ich, «wir wollen uns hinlegen.» Es klang er schreckend laut; fast schien es ein Sakrileg, das Schweigen so zu brechen. Er antwortete nicht. Ich bewegte meine Hand, und diesmal prickelte sie nur leicht. Ich versetzte ihm einen sanften Klaps aufs Bein. Seine Augen flackerten auf, aber er wandte sich mir nicht zu. «Komm», sagte ich wieder. Mein Ton war freun d lich, nicht fordernd, und jetzt bewegte er sich – nicht, weil er unter der Decke zu mir kriechen wollte oder weil er die Kälte zu spüren begann, sondern weil er, wie ich gl aube, es nicht ertragen konnte, zu streiten. Wir glitten zwischen die glatten, gestärkten Laken, ohne uns zu berühren und doch in gewisser Weise zu sammen.
Es waren seltsam schöne Augenblicke, die wir dort nebenei n ander verbrachten, während wir die Zeit übe r uns hinwegstre i chen ließen. Es war die Erleichterung, das Gefühl, daß, was immer sich auch ereignet hatte, jetzt vorüber war; wir hatten etwas durchlebt, wir waren Überlebende. Es gab ein Bindeglied zwischen uns, etwas wie Respekt. Doch nach und nach, wä hrend wir so nebeneinanderlagen und die Wärme zurückkehrte, ließ auch dieses Gefühl nach. Erklärungen waren nötig, und ich wußte, daß die Zeit zum Sprechen gekommen war. Ich sagte das erste, was mir in den Sinn kam. Sanft fragte ich: «Ist sie tot?» Die Frage hing im Raum, ließ sich langsam rings um uns nieder, jetzt, da sein erstes Gebot – keine Fragen zu stellen – bede u tungslos geworden war: der Vorhang hatte sich hinter dem let z ten Akt geschlossen. Er bedachte mich mit einem scharfen, ironischen Lachen, und ich erkannte plötzlich die Doppeldeuti g keit in meiner Frage. «Nein», antwortete er endlich, dann fügte er noch, sozusagen als nachträglichen Einfall, hinzu: «Wenigstens glaube ich das nicht; möglich wäre es natürlich.» «Du weißt nicht, was aus ihr geworden ist?» «Nein.» Ich sagte darauf nichts, nickte nur leicht, dann dachte ich da r über nach; ich lag da wie er, blickte an die Zimmerdecke. Es waren unsere ersten Worte gewesen, die wir gesprochen hatten, seit wir nicht mehr auf der Bühne standen, und es wa r ein sel t sames Gefühl. Ganz plötzlich begriff ich, daß wir uns völlig fremd waren: ich wußte nichts über ihn und er nichts über mich. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Von irgendwo unter uns drang ein gleichmäßiges Brummen herauf: vielleicht eine Kli ma anlage. «Himmel, jetzt hätte ich Lust auf eine Zigarette», sagte ich. Se i ne Stimmung schien sich etwas zu bessern. «Ich habe welche im Jackett, ich werde sie holen.» «Nein, ich geh schon.»
Ich kletterte aus dem Bett und lief zu dem Stuhl, auf den ich sein Jackett geworfen hatte, als ich ihn auszog. Er sah mir gleic h gültig zu, wie ich mich zu der Tasche hinabbeugte. Dann folgten mir seine Augen, als ich wieder zum Bett zurückging. Ich war mir meines Körpers auf seltsame Weise bewußt, als sähe er mich in diesem Augenblick zum erstenmal nackt, und zwar nicht als Kunde, sondern als jemand, der es eigentlich nicht sollte. Beinahe schüchtern wie ein kleines Mädchen schlüpfte ich wieder unter die Decke und zog das Laken hoch bis zum Hals, um meine Brüste zu bedecken. Ich bot ihm das Päckchen an. «Möchtest du eine?» Er wollte nein sagen, besann sich dann aber anders und sagte: «Ja, bitte.» Ich langte den Aschenbecher vom Nachttisch und stellte ihn zwischen uns auf die Decke. Plötzlich schien es absurd, daß wir da so nebeneinander lagen, nach allem, was sich vorher ereignet hatte. Mir fiel der Moment ein, als wir im Taxi gesessen hatten, weit auseinander, vor dem ersten Kuß. Ich bin sicher, daß ihm derselbe Gedanke kam, denn er wich meinem Blick aus, als ich ihm die Zigarette anzündete, ehe er sich mehr oder weniger steif zurücklehnte. Eine Zeitlang schwiegen wir beide, nur unterbr o chen von dem Geräusch, das entstand, wenn wir abwechselnd an den Zigaretten zogen. «Ich nehme an, das wär’s dann wohl», sagte ich endlich. «Was meinst du damit?» fragte er ruhig. Seine Frage überraschte mich. Vielleicht war meine Bemerkung nicht präzise genug gewese n: es ging nicht klar daraus hervor, ob ich mich auf die Manuskripte bezog oder auf unser Verhältnis im allgemeinen. Ich formulierte es noch einmal, diesmal genauer. «Beabsichtigst du, nach dem heutigen Abend noch so weite r zumachen?» fragte ich. «Oh – nein, das war’s. Das letzte Manuskript.» Ich räusperte mich, mir saß ein Kloß im Hals. «Außer daß es gar kein Man u skript gegeben hat », sagte ich. Er lachte wieder dieses gereizte Lachen. «Ja, außer daß es keins gab.» Ich zog an meiner Zigarette, und die Glut knisterte laut in der Stille.
«Was passierte denn danach?» fragte ich und versuchte, so be i läufig wie möglich zu klingen. Er blickte mich an, als sei er leicht erstaunt. «Nichts.» Ich dac h te an Juliet. «Also hast du ihr anschließend den Laufpaß gegeben, nicht wahr?» Er schüttelte den Kopf. «Sie hat dir den Laufpaß gegeben?» fragte ich etwas sanfter. «Nein.» «Was dann?» Es schien ihm zu widerstreben, die Frage zu beantworten, bis er es sich offenbar anders überlegte. «Eine Nacht wie diese hat es nicht gegeben», sagte er schlicht. Seine Erklärung verwirrte mich. Sie ergab keinen Sinn. Ich starrte ihn ungläubig an. Einen Her z schlag lang fragte ich mich, ob er schon wieder seine Rolle spie l te, aber seine Augen blickten offen, und ich fühlte, daß es die Wahrheit war. «Soll das heiße n – » begann ich. «– es gab nie eine Nacht in einem Hotel.» Ich schwieg. Dann fragte ich sanft: «Sie ist nich t gekommen?» «Nein.» «Ist sie oder ist sie nicht?» Er schüttelte den Kopf und blickte zur Seite. «Ich bin nicht hin gegangen», sagte er. «Gott allein weiß, ob sie da war oder nicht.» Instinktiv streckte ich die Hand aus und fand die seine zw i schen den Laken. Dankbar streichelte er meinen Handrücken. Es war nicht so sehr der Grund, daß ich eine plötzliche Zuneigung für ihn empfand, als vielmehr, daß alles, was damals vorgefallen war, in sich selbst so bejammernswert schien. «Es tut mir leid», sagte ich. «Jetzt tut es mir auch leid», antwortete er mit einer Spur Bitterkeit. Eine Weile lag ich da und rief mir in Erinnerung, wie ich mich gefühlt hatte, bevor ich meine Wohnung verlassen hatte. Ich hatte mir vorzustellen versucht, was ihn mehr verletzen würde: das, was ich dann tatsächlich getan hatte, oder wenn ich gar nicht erst erschiene. Ich hatte mich schließlich für ersteres entschieden, aber nun fragte ich mich, ob das nicht wieder ein Fehler gewesen
war – wenn ich nicht gekommen wäre, hätte ihn das vielleich t härter getroffen. So oder so ein seltsamer Gedanke, denn jetzt, da sich alle Bitterkeit und aller Haß aufgelöst hatten, war ich nicht länger sicher, daß ich ihn überhaupt verletzen wollte. Statt dessen fühlte ich eine Art tiefer Traurigkeit. Ich drückte seine Hand, ließ sie dann los und fragte sanft: «Möchtest du mit mir darüber reden?» Ich hatte das Gefühl, in eine andere Rolle zu schlüpfen: in die einer Vertrauten oder Freundin, was eine Prostituierte ja gelegentlich für ihre Kunden auch sein muß. Er seufzte. «Es ist alles zu kompliziert, als daß man es erklären könnte.» «Warum versuchst du’s nicht?» Er schüttelte müde den Kopf. Ich blickte ihn an. «Jetzt ist alles vorbei, weißt du. Es geht mir nicht mehr darum, daß ich dir irgend etwas heimzahlen möchte .» Er hielt meinem Blick stand. «Wirklich», sagte ich. Er wandte die Augen ab und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. «Was möchtest du wissen?» «Warum du nicht hingegangen bist.» Er bedeckte seine Augen mit der freien Hand und fuhr sich dann durchs Haar. «Weil ich glaubte, daß sie nicht kommen würde.» «Warum sollte sie nicht?» «Weil ich sie belogen hatte.» «Nur deswegen?» Er überlegte. «Ja, nur deswegen.» Ich spürte, daß er nicht die Wahrheit sagte, aber die Erfahrung riet mir, nicht darauf herumzur eiten. Wenn es soweit war, würde er von selbst alles erzählen. «Ich dachte, es wäre dir bei all dem nur darum gegangen, mich soweit zu bringen, Juliet zu spielen, alles zu tun, was Juliet einmal getan hatte, damit du es noch einmal erleben kannst.» Er nickte. «Das war es auch – jedenfalls bis zu einem gewissen Punkt.» «Aber wenn sie nicht gekommen ist, wie kann ich…» Ich wollte sagen «nachspielen», aber in dem Augenblick, als ich dieses Wort aussprechen wollte, begriff ich plötzlich die ganze Wahrheit. Es
ging überhaupt nicht darum, etwas nachzuspielen – das nämlich war der springende Punkt. Es war gar nicht passiert, und ich sollte es spielen, um ihm die Illusion zu geben, als habe es sich doch so ereignet. Ich wandte mich ihm zu. Er blickte mich an und lächelte schwach, nicht amüsiert, eher verlegen. Seine Augen hatten einen leicht besorgten Ausdruck, als sei er nicht sicher, wie ich die Wahrheit aufnehmen würde. «Verstehst du jetzt?» fragte er. «Ich glaube, ich fange an zu begreifen», sagte ich langsam. Ic h zögerte und fuhr dann fort: «Damit ich dich richtig verstehe… du hast nicht mit Juliet geschlafen?» «Nein.» «Aber du hast dir vorgemacht, wenn wir es spielen, dann ist es so, als hättest du’s getan?» Er drückte seine Zigarette aus und schloß die Augen. «Ja.» «Du bist verrückt.» Ich wollte ihn nicht verletzen – ich sagte es, ohne nachzude n ken. Er sank in das Kissen zurück, seufzte leise, dann sagte er: «Ja, vielleicht hast du recht.» Der Gedanke war ihm wohl noch nie wirklich gekommen. Ich rief mir alles ins Gedächtnis zurück, was geschehen war – die Manuskripte, die er geschrieben hatte, die Zeit, die er darauf verwendet haben mußte, und das Geld. Es waren mehr als tausend Pfund. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie jemand so von etwas besessen sein konnte , daß er einen derart weiten Weg zurücklegte, und wofür – für eine Fiktion; um mit einer Stellvertreterin zu schlafen? «Du mußt also wie verrückt nach ihr gewesen sein», sagte ich leise. Ich streichelte ihn, um die Wirkung meiner Worte abzuschwächen, aber sie verletzten mich mehr als ihn. Wieder verspürte ich diesen Anflug von Eifersucht, der mich schon vorher gelegentlich geplagt hatte – daß jemand all das für ein anderes Mädchen tun sollte, solche schwindelnden Höhen der Leidenschaft erreichen konnte. Ich wiederholte es: «Du mußt völlig verrückt gewesen sein.» Seine Antwort übe r raschte mich. «Nun, eigentlich nicht. Ich war nicht verrückt nach ihr.»
«Du mußt es gewesen sein.» «Du irrst dich.» Er schüttelte müde den Kopf. «Ich…» «Was?» Er antwortete, als sei die Erklärung mehr für ihn selbst be stimmt als für mich. «Es machte mir Spaß, sie um mich zu haben – aber ich war nicht ‹verrückt› nach ihr. Nicht besessen.» «Wozu dann das Theater? Sieh dich doch mal an.» Er war wie ein dummer kleiner Junge, der sich nic ht richtig auszudrücken verstand. «Ja, natürlich, aber das war erst später.» «Warum?» rief ich aus. «Weil ich es nicht zu Ende gebracht hatte! Verstehst du das nicht? Es gab kein Ende. Ich wußte nicht, ob sie gekommen war oder nicht.» Plötzlich fiel mir da s Buch wieder ein. «Wie in dem Buch, das du mir gegeben hast?» Er warf mir einen raschen Blick zu, irgendwie verstohlen. «Was?» «Dieses Buch – Niemalsmehr – erinnerst du dich nicht?» Er wich meinem Blick aus. «Doch.» «Man erfahrt nie, wie es ausgeht.» Er blickte zur Seite. «Genau. Man darf an so einem Punkt nicht aufhören – das ist unverzeihlich. Dem Verlangen muß ein Ende gesetzt werden – entweder indem man es tötet oder indem man es befriedigt.» Wir lagen schweigend nebeneinander. Plötzlich hatte sich in seine Stimme wieder ein künstlicher Unterton eingeschlichen. Ich fühlte, daß er es nicht zum erstenmal sagte, sich die Worte vorher überlegt, vielleicht sogar irgendwo niedergeschrieben hatte. Ich spürte, daß es nicht echt war, verkniff mir aber einen Komm en tar. Statt dessen sagte ich: «Dann hast du das also alles geplant, um dein Verlangen zu befriedigen?» Er antwortete nicht sofort. Mir fiel auch die andere Möglichkeit ein, aber ich sprach sie nicht aus. «Ich habe nur versucht, etwas zu Ende zu bringen», sagte er endlich.
Wieder verfielen wir in Schweigen. Ich beschloß, das Thema auf sich beruhen zu lassen, und blickte zum Fenster hinüber. Im Haus gegenüber ging hinter einem Fenster das Licht an, und kurz sah ich eine Gestalt die Vorhänge zuziehen. Plötzli ch glaubte ich, ein schwaches Bindeglied zu bemerken. «Konntest du nicht ganz einfach versuchen, sie zu finden und zu fragen, ob sie dort war oder nicht?» «Glaubst du, sie würde mir antworten?» «Ja, warum nicht?» «Mit der Wahrheit?» Ich versuchte mich in Juliets Lage zu versetzen, dann gab ich mich geschlagen. Gleichgültig, ob sie dort gewesen war oder nicht, die Frage würde sie verletzen. «Gut», sagte ich, «wah r scheinlich hast du recht.» «Davon abgesehen hatte ich ihr schon genug mitgespielt!» Ich wußte, daß er mir noch immer nicht alles erzählt hatte, aber ich fühlte auch, daß ich nicht weiter in ihn dringen durfte. Die Ba r riere zwischen uns war mehr seine Verlegenheit als Bitterkeit, und ich war sicher, daß er sie im Lauf der Zeit überwinden wü r de. Ich versuchte, all das, was er mir erzählt hatte, zu verarbeiten. Irgendwie schien die Absurdität seiner Idee mehr und mehr in den Hintergrund zu treten. Je heftige r ich versuchte, sie zu ve r werfen, um so glaubwürdiger wurde sie für mich, wie ich be merkte. Eine Zeitlang schloß ich die Augen und bemühte mich, Ordnung in meine Gedanken zu bringen, aber es gelang mir nicht. Ich kannte diesen Mann kaum, und dennoch kam es mir nicht befremdend vor, hier so neben ihm zu liegen; wieder hatte ich dieses Gefühl, mit ihm irgendwie verbunden zu sein. Es war, als hätten wir beide denselben schweren Schicksalsschlag übe r standen; eine Geiselnahme, in deren Verlauf Geisel und Geise l nehmer Sympathie füreinander entwickelt hatten. Irgendwie spürte ich, daß er ebenso hilflos gewese n war ich wie ich, genau so unfähig, zu verhindern, daß er zum Geiselnehmer wurde, wie ich nicht in der Lage gewesen war, mich davor zu schützen, seine Gefangene zu werden. Und auf eine unerklärliche Weise wollte
ich nicht, daß es zu Ende ging – trotz allem, was vorgefallen war. Ob er wohl erwartete, daß ich jetzt aufstand und mich anzog? Sollte ich sofort aufstehen und gehen, oder würde er den ersten Schritt tun? Um das zu verhindern, fing ich wieder zu reden an. «Ich begreife immer noch nicht, warum du ge glaubt hast, Juliet würde nicht kommen. Im Café hatte sie doch gesagt, es spiele keine Rolle, daß du verheiratet bist.» Ich blickte ihn an. «Sie sagte, daß sie die ganze Zeit sogar darauf gehofft hätte.» Ein schwaches Lächeln war die Antwort. «Das hat sie gar nicht gesagt. Ich habe es erfunden.» «Du hast – was?» «Ich habe es erfunden. Sie hätte diesen ganzen Unsinn über eine Aff äre mit einem verheirateten Mann nie gesagt. Sie war ganz anders.» Plötzlich fiel mir wieder ein, wie unwohl mir bei diesen Sätzen gewesen war; ich hatte gespürt, daß sie nicht stimmen konnten. «Was hat sie dann gesagt?» fragte ich verwirrt. «Nichts dergle i chen.» Er wirkte seltsam defensiv, wie jemand, der sich in eine Lage hineinmanövriert hat, die er tunlichst hatte vermeiden wollen. Er seufzte. «Ich habe ihr gar nicht erzählt, daß ich verhe i ratet sei.» «Ach, komm…» «Ich habe ihr etwas anderes erzählt.» Auf einmal hatte ich genug davon. Ich war sicher, daß er mir wieder etwas vormachte. «Ich bin kein völliger Dummkopf, weißt du.» «Ich weiß. Aber ich sage die Wahrheit.» «Du erwartest doch nicht im Ernst, daß ich dir das glaube, oder?» Er drehte sich zu mir und blickte mir offen ins Gesicht. «Hör zu, Sylvia», begann er. Ich war all der Spielchen so müde. «Ich heiße nicht Sylvia», blaffte ich. «Mein Name ist Shirley – also nenn mich auch so.» Er hatte sich mir zugeneigt, um seinen Erklärungen mehr Ge wicht zu verleihen. Sekundenlang blickten seine Augen verwirrt,
dann ließ er sich lachend zurückfallen. Wieder war ich übe r rascht. Mit dieser Reaktion hatte ich am wenigsten gerechnet. «Was findest du daran denn so komisch?» fragte ich wütend. Er bog sich geradezu vor Lachen; die Falten in seinem Gesicht schienen mitzulachen. «Ich wüßte nicht, was daran so zum Lachen wäre.» Das Bett erzitterte unter seinem Lachanfall. «Nun?» Endlich unternahm er einen Versuch, sich zu beherrschen. Er versuchte, ernst auszusehen. «Mein Name ist auch nicht Paul Fox», brachte er endlich halb erstickt heraus. «Damit hatte ich auch nicht gerechnet. Na und? Wie heißt du wirklich?» Seine Augen waren noch immer feucht von seinem Heiterkeitsau s bruch. Ich fixierte ihn wütend. Endlich wurde er völlig ernst. «Fowler», sagte er. «Matthew Fowler.» Er sah mir in die Augen. Zunächst vermochte ich den Namen nirgends unterzubringe n. Dann fiel es mir wieder ein. «Du hast das Buch geschrieben», sagte ich verblüfft. «Ja.» «Niemalsmehr.» «Ja.» «Ist das dein Ernst?» Er nickte. Ich konnte ihn nur anstarren, wollte ihm immer noch nicht glauben, obwohl alles sich ganz plötzlich in einem Bi ld zusa m menfügte. Ich blickte ihm prüfend in die Augen, obwohl ich jetzt intuitiv wußte, daß er die Wahrheit sagte. Er hatte die ganze Geschichte von Anfang an geplant und unter Kontrolle gehabt, und ich begriff endlich, daß es absolut keinen Sinn hatte, ihm Widerstand entgegensetzen zu wollen. Ich mußte unwillkürlich lächeln, was auch meinen letzten Widerstand dahinschmelzen ließ. Er blickte mich prüfend an, dann erwiderte er mein Lächeln. «Es tut mir leid», sagte er ruhig. Ich ließ mich langsam ins Kissen sinken. Leise sagte ich: «Vie l leicht wäre es am besten, du erzählst mir alles von Anfang an.» Er streckte sich entspannt neben mir aus und antwortete: «Ja, ich glaube, du verdienst eine Erklärung.»
«Das denke ich auch.» «Es ist eine ziemlich lange Geschic hte», begann er zögernd. «Ich habe Zeit.» Er warf mir einen Seitenblick zu, um sich zu vergewissern, daß ich mich nicht lustig machte, dann meinte er: «Ich weiß nicht genau, wie ich anfangen soll.» «Du bist der Geschichtenerzähler, nicht ich.» Er lachte un d schloß die Augen. Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß er nicht wußte, ob er in der Lage sein würde, es mir wirklich zu erklären, daß er sich jetzt seiner selbst nicht mehr sicher war. Wieder kam mir jenes Bild in den Sinn: die Hure als Lebensberaterin, das Bett als Ersatz für die Couch des Psychiaters – meine Rolle bestand eigentlich nur darin, ihm mein Ohr zu leihen. Er öffnete die Augen wieder und starrte die Zimmerdecke an, versuchte einen Weg aus dem Labyrinth zu finden, das er selber geschaffen hatte. Endlich begann er. «Am Anfang war es nur ein Spiel.» Ich warf ihm einen Blick zu. «Ehrlich – genauso hat es angefangen.» Ich lächelte in die Dunkelheit. «Sag bloß jetzt nicht – du warst im Zug unterwegs nach London, als ein Mädchen dein Abteil betrat.» «Ich weiß, es klingt absurd – aber ja, genauso war’s. Die klass i sche Situation, der Anfang eines Romans.» «Und sie las in dem Buch Niemalsmehr?» Er nickte. «Wenn sie nicht in dem verdammten Buch gelesen hätte, wäre ich nie mit ihr ins Gespräch gekommen.» «Aber du konntest der Versuchung nicht widerstehen, sie zu fragen, ob es ihr gefiel.» «Genau.» «Warum?» «Warum nicht? Ich langweilte mich und fand es amüsant. Ich hielt es für vollkommen harmlos.» «Und es hatte ihr gefallen?» «Du kennst das Manuskript.» «Hat sie Wort für Wort dasselbe gesagt?» «Soweit ich es in Erinnerung hatte, ja. Ich habe nichts verä n dert, mit Ausnahme des letzten Manuskripts.» Er hielt inne.
Draußen zerriß das hysterische Heulen einer Polizeisirene die Stille. Wir warteten, bis der Lärm verklungen war. «Gut, weiter», sagte ich. Er fuhr bereitwillig fort, bereit, auch das letzte Detail prei s zugeben. «Du darfst nicht vergessen, daß ich mir dabei nicht das Geringste gedacht habe. Sobald wir die Victoria Station erreic h ten, würde jeder von uns seiner Wege gehen, und sie würde nie erfahren, daß ich der Autor war. Das war natürlich ziemlich dumm von mir, wie ich heute weiß, aber es hat immer etwas Seltsames, wenn man sieht, daß jemand das von einem selbst geschriebene Buch liest oder es in irge ndeinem Regal stehen sieht…» Seine Stimme wurde leiser. «Und dann stellte sich he r aus, daß du sie mochtest.» «Ja – aber das war es eigentlich nicht.» «Was war es dann?» «Nun, wie ich schon sagte – das Spiel. Sie zwang mich in eine Rolle hinein – ich mußte aus dem Handgelenk heraus die Ge schichte über meine Lehrtätigkeit an der Sussex Uni erf inden. Es war, als wenn ich eine Person für einen meiner Romane entwerfe. Dabei wollte ich ihr gar nichts vormachen, sondern sie nur nicht in Verlegenheit bringen.» «Gut, und was geschah dann?» Er zog die Augenbrauen in die Höhe und lachte wieder dieses kurze Lachen. «Dann passierte die entscheidende Dummheit. Am Ende der Fahrt wurde mir klar, daß ich mein kleines Spiel geno s sen hatte, und ich fragte mich, ob ich es wohl noch eine weitere Stunde durchhalten würde.» «Also seid ihr zusammen einen trinken gegangen.» «Ja.» «Und du hast ihr noch immer nicht gesagt, wer du wirklich bist.» «Nein. Ich hatte zwar daran gedacht, es zu tun, entschied mich dann aber dagegen.» Was er sagte, schien glaubwürdig. «Gut, und was war mit der Tate Gallery?»
«Ah, das war eine andere Sache.» Ich nahm die Zigaretten vom Nachttisch und bot ihm eine an, aber er schüttelte den Kopf. «Warum?» fragte ich. «Die Hand des Schicksals», meinte er mit einem Lächeln. «Es war tatsächlich ein Zufall?» «Absolut. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, daß ich sie dort treffen würde.» «Und warum hast du ihr dort nicht gesagt, wer du bist?» Er dachte nach. «Beinahe hätte ich gesagt ‹aus denselben Gründen›, aber das stimmt nicht ganz. Verstehst du, ich war sicher, daß sie auch bis zu einem gewissen Punkt ei n Spiel spielte – daß ihr Enthusiasmus, diese übermäßige Lebensfreude nur zum Teil echt war. Ich argwöhnte, daß sie ahnte, wer ich war; da war dieses Funkeln in ihren Augen, als wüßte sie genau, was vorging, wollte es aber nicht dadurch verderben, daß sie das Spiel auffliegen ließ. Erinnere dich an die Manuskripte. Ich konnte mir doch nicht ernsthaft einbilden, daß sie sich für den Menschen interessierte, der zu sein ich vorgab: ein Französischdozent Mitte Fünfzig, das wäre doch absurd. Ich glaubte, das Spiel sei beiderseitig.» Ich nahm einen tiefen Zug von meiner Zigarette. «Und vergiß nicht», fuhr er fort, «die ganze Zeit war sie es, die das Tempo der Handlung besti mmte, nicht ich. Immer machte sie den ersten Zug – küßte mich, bat mich, wiederzukommen, leitete jeden Schritt ein, den wir gemeinsam unternahmen. Ich dachte, es könnte amüsant sein, zu sehen, wie weit wir auf diese Weise gehen würden. Ich war sicher, daß sie in der Zwischenzeit ein Foto von mir gesehen oder es einfach irgendwie erfahren hatte.» Ich blickte versonnen zum Fenster hinüber und erinnerte mich der Manuskripte – all der Doppeldeutigkeiten. Vielleicht war es wirklich die Wahrheit. «Und dann hast du herausgefunden, daß sie keine Rolle schauspielerte?» «Na ja, nicht sofort. Ich glaubte noch eine ganze Weile, sie wüßte, wer ich wirklich bin – im Restaurant, im Theater, als sie für mich kochte.» «Wie?»
«Die Szenen haben wir ausgelassen, erinnerst du di ch? Ich habe sie nicht zu Papier gebracht – sie wären zu schwierig zu inszeni e ren gewesen. Erst als wir zusammen im Park waren, wurde mir klar, daß sie nicht schauspielerte, daß sie wirklich so war. Ein zauberhaftes liebenswertes Wesen.» Wieder einmal vers etzten seine Worte meiner Eitelkeit einen Stich – wieder wurde ich von Eifersucht geplagt, weil ich Juliet nur gespielt hatte, weil ich seine Worte nicht für mich selbst in Anspruch nehmen konnte. Ganz eindeutig hatte er mehr für sie empfunden, als er vorh er zugege ben hatte. Rasch fragte ich: «Aber auch da hast du ihr noch nicht die Wahrheit gesagt?» «Beinahe hätte ich es getan – diese ganze Geschichte von we gen verheiratet sein und so weiter. Ich versuchte, wie man so sagt, das Terrain zu sondieren. Aber die Sache war zu der Zeit schon zu weit gediehen; ich hatte so viele Einzelheiten über Paul erfinden müssen, hatte soviel gelogen… ich brachte es einfach nicht fertig.» «Deshalb hast du sie hingehalten, als sie mit dir schlafen wol l te?» «Ich brauchte Zeit zum Nachdenken, Zeit, um herauszufinden, wie ich mich verhalten sollte. Inzwischen war es kein Spiel mehr. Verstehst du? Für sie war es Ernst, und ich hatte sie die ganze Zeit an der Nase herumgeführt.» Ich drückte meine Zigarette aus, obwohl sie erst halb geraucht war, und stellte den Aschenbecher wieder auf den Nachttisch. «Gut, damit kämen wir also zu der Szene in der Kaffee-Bar.» Ich war von einer seltsamen Ungeduld erfüllt, jener eigenartigen Wißbegierde, die man empfindet, wenn man das Gefühl hat, daß Leute sich dem Ende ihrer Geschichte nähern und nicht schnell genug erzählen. «D u hast sie angerufen und gebeten, in die Ka ffee-Bar zu kommen.» «Ja, ich hatte beschlossen, reinen Tisch zu machen. Ich fand es nicht länger fair, weiterzumachen, ohne vorher die Fronten zu klären – sie sollte wissen, woran sie mit mir war.» «Und dann hast du doch wieder gekniffen?»
«Nein, ich habe es ihr gesagt – das war die einzige Abweichung in dem Manuskript.» «Und wußte sie schon Bescheid?» Er zögerte und rieb sich die Stir n. «Sie hatte nicht die leiseste Ahnung», sagte er leise. «Es war ein absoluter Schock für sie.» Ich stellte mir die Szene vor und versuchte mich in Juliets Lage zu versetzen, wie sie herausfand, daß sie sich in jemanden ve r liebt hatte, der gar nicht wirklich existierte, eine fiktive Person; sie mußte sich durch und durch gedemütigt gefühlt haben. «Das arme Kind», murmelte ich. Er atmete tief und blickte ins Leere. Das Zimmer wirkte kalt und leer. Mich beschlich bei seiner Erklärung dessen, was geschehen wa r, ein seltsames Gefühl – so als würde ich von etwas verlassen, als spaltete sich der Teil in mir, der Juliet gewesen war, von meinem übrigen Wesen ab und verließe den Raum. Ich erschauerte und streckte meine Hand aus, um mich der beruhigenden Gegenwart ei ner anderen Hand zu versichern. Fox ergriff sie, war aber zu sehr in seiner eigenen Welt verloren, um sie wirklich zu bemerken. «An der Stelle im Manuskript, an der du mir gesagt hast, du seist verheiratet, hast du ihr in Wirklichkeit also deine wahre Iden tität verraten?» fragte ich schließlich. «Ja.» «Sonst hast du nichts geändert?» «Nein – nichts.» Ich schwieg. «Und bist du nun verheiratet?» Er blickte mich überrascht an. «Würde sich dadurch irgend etwas ändern?» «Ich bezweifle es», sagte ich rasch, ohne seine Frage wiederz u erkennen. Er warf mir einen merkwürdigen Blick zu. «Nun, ich bin’s nicht.» Ich zögerte, bis ich, auf einmal verlegen, rasch fortfuhr. «Und als du es ihr gesagt hast, wie hat sie das aufgenommen?» «Nun.» Er schien erleichtert zu sein, da ß er mit seiner Ge schichte fortfahren konnte. «Sie nahm es scheinbar ganz ruhig
auf – später sagte sie sogar, sie habe eine dunkle Ahnung gehabt, daß ich nicht der sei, der zu sein ich vorgab.» Ich nickte. «Aber als sie dann ging, geschah es genauso wie in unserem Manuskript – sie sagte, ich würde abwarten müssen, ob sie käme oder nicht. Sie wollte es mir nicht sagen.» «War das ihre Art, sich zu rächen?» «Ich glaube. Ich bin sicher, sie hat an mein Buch gedacht, zu mindest an das Ende. Ich war überzeugt, daß sie nie beabsichti g te, in das Hotel zu kommen.» «Und deshalb bist du auch nicht hingegangen?» «Ja.» «Und jetzt bist du nicht sicher, daß du die richtige Entsche i dung getroffen hast.» Er zögerte. «Es ging mir einfach nicht mehr aus dem Sinn. Ich dachte, es gebe vielleicht eine Chance, daß sie mir verzieh, daß sie Erbarmen zeigte, sobald sie erst ihr Ziel erreicht hätte, aber es war zu spät, ich war nicht hingegangen.» Eine Zeitlang lagen wir schweigend nebeneinander, jeder damit beschäftigt, dieses ungelöst e Ende in seinem Innern zu verarbe i ten. Er hielt meine Hand, streichelte sie sanft, aber in Gedanken war er nicht wirklich bei mir, sondern bei Juliet und dem, was zwischen ihnen vorgefallen war und was noch hätte geschehen können. Ich fühlte mich ausgesch lossen; wieder dieser unerklärli che Wunsch, Juliet zu sein. «Und dann hast du das alles geplant», sagte ich, bloß um nicht weiter darüber nachdenken zu müssen. «Zu guter Letzt.» Das Licht im Haus gegenüber verlöschte. «Lange Zeit glaubte ich, es überwunden und als Episode, die sich nie wiederholen würde, in den hintersten Winkel meines Verstandes verbannt zu haben. Aber es ließ mir keine Ruhe. Dauernd ging es mir durch den Kopf, hauptsächlich wegen Niemalsmehr. Es war, als hätte sie die ganze Sache ausgeheckt, um mir eine Lektion zu erteilen, mich zu bestrafen, weil ich meiner Verantwortung der Geschichte gege n über nicht gerecht geworden war. Ich bekam nur, was ich ve r
diente: so wie ich meinen Lesern mitgespielt hatte, so wurde nun mir mitgespielt.» Ich dachte über seine Worte nach. Der Mond spähte durch eine Fensterecke herein, und der Raum ertrank in einer Flut kühlen milchigen Lichts. «Also hast du dir dieses Komplott ausgedacht, um an dein Ende zu gelangen.» «Ja», antwortete er. Wieder verfielen wir in Sc hweigen, und mich beschäftigte zum erstenmal ernsthaft, ob Juliet wohl gekommen war oder nicht. Bevor ich seine Geschichte gehört hatte, war ich sicher gewesen, daß sie die Verabredung eingehalten hatte, jetzt war ich davon nicht mehr so überzeugt. Je mehr ich darüber nachdachte, um so faszinierter war ich. Dann brach er das Schweigen, diesmal aber mit einer Spur von Prahlerei. «Teilweise war es auch ein Exper i ment – jedenfalls habe ich es gern so gesehen. Wenn man soviel Zeit in Phantasiewelten verbringt und fiktive Charaktere hierhin und dorthin manövriert, wird es manchmal schwierig, zu unte r scheiden, was Wirklichkeit und was Erfindung ist. Man kann sich und anderen außerordentliche Streiche spielen, wenn man dazu bereit ist.» Es war nicht nötig, daß er mich daran erinnerte. «Ich wollte herausfinden, ob ich eine fiktive We lt im Rahmen der Wirklichkeit zu schaffen vermochte.» Sein theoretisches Gefasel ging mir plötzlich auf die Nerven. «Und ist es dir gelungen?» fragte ich. Mein Tonfall schien ihm zu entgehen. «Ja, ich denke schon – aber nicht die We lt, welche ich mir vo r gestellt hatte.» Ich dachte an meinen Versuch, es ihm heimzuzahlen. «Weil ich mich dagegen aufgelehnt habe?» «Ja. Die Figuren, die man erfindet, tun nie genau das, was man von ihnen erwarte t. Sie haben ein Eigenleben.» Ich wurde mir meiner Lage bewußt und verspürte einen neuen Anflug von Bitterkeit. «Wie aufmerksam du doch beobachten kannst», sagte ich scharf. Diesmal bemerkte er meine Stimmung und war übe r rascht. Er schien immer noch mehr oder weniger in seinen Phan
tasievorstellungen gefangen. Ich spürte seine Blicke auf mir, sah sein leicht verwirrtes Stirnrunzeln. Ich fuhr fort: «Du hast nicht ein einziges Mal an mich gedacht, nicht wahr? Du hast dir nie überlegt, was in mir vielleicht vor gehen könnte.» Er antwortete nicht. «Du hast gedacht, die ist ja bloß eine kleine Nutte, stimmt’s?» Ich spürte, wie ich richtig wütend wurde. «Das stimmt doch, oder?» «Ich dachte, es würde dir nichts ausmachen…», murmelte er hilflos. «Weil du mich dafür be zahlt hast? Ja?» Wieder blieb er mir die Antwort schuldig. «Hast du dir je überlegt, was in mir vorgehen könnte, während ich diese Rolle spielte?» Er war sprachlos. «Du hast deine albernen Manuskripte verfaßt, um deine Pr o bleme zu lösen – und ich dachte sc hon, ich verliebe mich in dich.» «Du hast was?» Meine Worte waren für mich selber eine Überraschung gew e sen. «Ist das so unvorstellbar? Eine Zeitlang wußte ich nicht einmal mehr, wer ich war. Ich fing schon an zu glauben, ich sei Juliet.» «Es tut mir leid.» «Sag nicht, es täte dir leid, davon wird’s auch nicht besser.» Ich setzte mich auf und beugte mich über ihn. Die Wut, die ich schon vergessen glaubte, stieg wiede r in mir auf. Dabei war ich nicht wirklich wütend auf ihn, es war mehr ein letzter Versuch, mich durchzusetzen. «An jenem Nachmittag bin ich zum Ar beitsamt gegangen, um mir einen Ganztagsjob zu besorgen. Ich hatte die Nase von allem voll. Ich wollte mich nie wieder anfa s sen lassen, ich wollte keinen Mann mehr auch nur auf Rufweite in meine Nähe lassen. Ich war fertig damit.» Seine Augen blickten ängstlich, erfüllt von plötzlichem Entse t zen angesichts dieses Ausbruchs. «Dann dachte ich – nur noch einmal. Nur noch dieses eine letz te Mal. Und ich hatte genau geplant, was ich tun wollte. Ich
wollte di r wehtun. Kannst du das verstehen? Ich wollte dich wirklich verletzen. Ich wollte dir ein Messer in den Bauch ra m men. Himmel, ich war nahe dran, dich umzubringen, glaub mir. Aber ich wußte, daß du dann nicht lange genug leiden würdest. Ich wollte sehen, wi e du leidest; also dachte ich mir, was kann ich tun, um diesem Mann das Herz aus dem Leib zu reißen? Ich kann ihn am Boden zerstören. Und es war so einfach. Juliet! Ich würde statt dessen einfach sie zerstören.» Seine Augen starrten mich aus dem Dunkel an, entsetzt, und auf einmal fiel ihm ein, was ich getan hatte, begriff er vielleicht zum erstenmal, daß noch eine dritte Person betroffen war, nicht nur er und Juliet. Er sah so mitleiderregend und schutzlos aus, so vollkommen verblüfft, daß ich von einer un erwarteten Schwäche ergriffen wurde. «Und ich habe sie doch zerstört, oder?» fragte ich verzweifelt. Er antwortete nicht. «Habe ich oder habe ich nicht?» wiederholte ich. «Ja, das hast du.» Und jetzt erst erkannte ich die ganze Wahrheit. «Und genau darauf hattest du gehofft», sagte ich fassungslos, halb erstickt. «Genau das hast du gewollt!» Alle Bitterkeit war von mir gewichen. Ich brach in Tränen aus und hämmerte mit den Fäusten auf das Kissen, wie von Sinnen aus Wut darüber, daß ich ihn nicht länger vera bscheuen konnte, daß ich den einmal empfundenen Haß nicht mit neuem Leben zu erwecken vermochte. Zögernd streckte er die Hand aus, wie ein Kind, das ängstlich einen Finger in einen Käfig steckt, aber ich schlug aus, ohne darauf zu achten, ob ich ihn traf oder nicht, und es wa r mir auch egal. Er floh auf die ander e Seite des Betts, hoffte, daß ich mich beruhigte. Minutenlang drosch ich auf das Bett ein, brüllte und fluchte bis zur völligen Erschöpfung. Dann hatte ich mich ausgetobt. Ich schlug noch einmal wi ld um mich, bis ich mit einem letzten verzweifelten Zucken zusammenbrach. Es war wohl so eine Art Exorzismus. Fox zögerte abwartend, bis er sich mir vorsichtig, Zentimeter für Zentimeter, näherte und
eine Hand auf meine Schulter legte. Mittlerweile war mei n wilder Aufschrei zu einem leisen Schluchzen geworden, mein Her z schlag hatte sich beruhigt. Es war vorbei. Er hielt mich fest, streichelte meinen Kopf, meinen Rücken, langsam und zart. Auch mein Schluchzen erstarb. Ich spürte, wie er meine Stirn küßte, dann meine Wangen. Für mich war das Ende aller Verstel lung erreicht. Ich wollte jemandem nahe sein, und aus welchem Grund auch immer. Wir waren unauflösbar miteinander verbu n den – wir hatten ein Erlebnis geteilt, das nur uns gehörte. Ich spürte, wie er meine n Hals liebkoste, dann, wie seine Finger mit meinem Ohr spielten. Seine Hand fuhr suchend meinen Rücken hinunter. Das Zimmer schien verändert; das Fenster, bemalt mit dem blassen Blau des Mondscheins, verlieh ihm etwas Geiste r haftes. Von draußen drangen se ltsam verwischte Geräusche herein – das Brummen eines Wagens, das Summen der Nacht. Und er küßte die salzigen Tränen von meinen Augen, streifte meine Lippen mit den seinen. Ich kam mir jetzt erst richtig nackt in seinen Armen vor. Die Berührung seiner Haut , die Wärme seines Körpers waren so erschreckend wirklich, daß es mich eigenartig berührte – als kehrte ich aus dem Weltraum zurück auf die Erde. Seine Hände glitten zärtlich über die Rundungen me i nes Körpers. Wie oft hatte ich auf diese Weise dagelegen un d niemals die Berührung eines Menschen wirklich gespürt. Ich fühlte, daß Erregung ihn wieder ergriff. Ich preßte mich an ihn und spürte, wie sein Glied sich zwischen uns versteifte. Warm rieb er sich an meiner Haut, suchte blind nach dem Eingang. Ich umklammerte ihn fester und küßte ihn sanft. So liebten wir uns dann, auf der Seite liegend, langsam, in dem Wunsch, einander zu vergeben, still und ruhig und irgendwie beinahe unschuldig. Später, als ich in seinem Arm lag und beinahe schwerelos auf den Schlaf zutrieb, entsann ich mich eines vergessenen Geda nkens. Leise sagte ich: «Ich habe dein Buch gelesen, weißt du.»
Ich konnte sein Lächeln in der Dunkelheit nicht sehen, aber ich spürte es. «Hat es dir gefallen?» fragte er. Ich überlegte. «Nicht beso n ders», antwortete ich. Er nickte bedächtig. «Das Ende, nehme ich an.» «Ja – es hat nämlich keins, nicht wahr?» Er zuckte mit den Schultern. Der Mond schlüpfte hinter einer Wolke hervor, und vorübergehend war das Zimmer hellerleuchtet. Ich wurde wieder ganz wach. «Was ist wirklich passiert?» fragte ich. «Sind sie zu sammengekommen?» Ich spürte, wie er sich bewegte. «Was hast du gesagt?» «Sind sie zusammengekommen? Wie ist es ausgegangen?» Er lachte schläfrig. Ich drehte mich auf den Bauch und stützte mich auf die El lbo gen, so daß ich auf ihn hinuntersehen konnte. Er lachte nur. «Mach schon – erzähls mir», bettelte ich. Er rollte seinen Kopf von einer Seite auf die andere. «Bitte – ich verr at’s auch ni e mand.» Er öffnete sekundenlang die Augen und versuchte ernst zu werden. «Sind sie?» fragte ich. Er lächelte vielsagend. «Weiß der Hi m mel.»
19 Das zum Fenster hereinströmende Sonnenlicht weckte mich. Ein paar Minuten blieb ich bewegungslos liegen, bis mein Bewußtsein voll erwacht war und ich mich nach und nach an die Ereignisse und Gefühle der vergangenen Nacht erinnern konnte. Dann blickte ich zu ihm hinüber. Er schlief noch und schnarchte leise und friedlich vor sich hin; er wirkte erschöpft. Ich störte ihn nicht. Ich blickte mich um. Die Sonnenstrahlen ließen die au f und ab tanzende n Staubkörnchen erglühen. Ich sah ihrem Tanz zu und versuchte zu einer Entscheidung zu kommen. Schließlich schlüpfte ich so leise wie möglich aus dem Bett und begann mich anzuziehen. Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war; noch früh auf alle Fälle, denn es war so ruhig draußen. Aber ich hatte mich entschlossen; ich wollte nicht alles verderben, indem ich noch da war, wenn er aufwachte. Ich dachte; laß ihm die Erinnerung an jene letzten Augenblicke, bevor wir eing e schlafen sind. Ich war sic her, daß es so richtig war. Wir würden uns nicht wiedersehen, aber wenigstens hatten wir beide überlebt. Es hatte einen Sinn gehabt. Kurz darauf verließ ich auf Zehenspitzen den Rau m; wieder fiel die Tür mit einem leisen Klicken hinter mir ins Schloß. Leise ging ich den Flur entlang und dann über die Treppe nach unten. Der Nachtportier, der im Foyer höchst unbequem hinter der Rezept i on schlummerte, öffnete halb ein Auge und blinzelte mir zu. Es war erst sechs Uhr morgens. Er wußte, wer ich war.
20 Als er erwachte, stand die Sonne hoch und strahlend am Hi m mel. Er öffnete die Augen, noch verschlafen, dann drehte er sich um und streckte einen Arm über das Bett aus. Sie war nicht da. Einen Moment lang war er verwirrt und fragte sich, ob er träume. Seine Hand hing über den Rand des Betts. Dann begriff er. Es handelte sich um ein Einzelbett. Eine leise Traurigkeit überkam ihn, aber nichtsdestoweniger gelang es ihm, sich angesichts seines Irrtums ein Lächeln abzuringen. Dann gähnte er und griff nach seiner Uhr auf dem Nachttisch. Er rieb sich die Augen und stellte fest, daß es schon zehn Uhr war. Er war überrascht, daß er so lange geschlafen hatte. Endlich stand er auf. Eine Zeitlang fuhrwerkte er ziellos ge schäftig. Nicht daß er etwas Bemerkenswertes getan hätte – er stellte lediglich langsam das Einvernehmen zwischen sich und seiner Umgebung wieder her, orientierte sich. Schließlich ging er zum Schreibtisch hinüber und setzte sich dahinter auf den Stuhl. Auf seinem Tisch befanden sich ein Aschenbecher und ein Pa pierbeschwerer, ein Stapel Papier, die Bögen bedeckt mit krakel i gen, handgeschriebenen Zeilen, und ein Tintenfaß. Sein Füller ruhte rechts angelehnt an den Rand des Aschenbechers. Sons t nichts auf dem Tisch. Er gähnte, dann widmete er sich der letzten Seit e, die er am Abend zuvor geschrieben hatte. Seine Augen überflogen die Worte rasch; sie waren ihm vertraut, jetzt gewissermaßen Teil seiner selbst. Einmal hielt er inne, um ein Komma einzufügen. Ansonsten aber schien der Text in Ordnung zu sein. Da war nur eine Zeile, eine Formulierung, mit der er nicht ganz glücklich war. Er las sie noch einmal durch: «Wir würden uns nicht wiede r sehen, aber wenigstens hatten wir beide überlebt.» Langsam schüttelte er den Kopf. Einen Augenblick lang starrte er verträumt aus dem Fenster und trommelte mit den Fingerku p
pen auf die Tischplatte. Dann griff er nach seinem Füller und schraubte die Verschlußkappe ab. Endlich war er zu einer En t scheidung gelangt. Er strich das Wort «würden» durch und er setzte es durch «mochten».