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Herta Vogel Lockvögel im Netz KGB im Kontext Mit Beiträgen von Heinrich Bergen, Herta Vogel, Martha Neufeld, Gerda Siebert, Katharina Hermann und Eugen Warkentin
Für unsere Kinder und Enkel
Inhaltsverzeichnis
Treffen in Fulda. Das Medium Heinrich Bergen Kindheit und Jugend in der Verbannung Lockvögel im Netz
5 16 17 46
Herta Vogel Stein des Anstoßes Jäger und Gejagte
85 86 114
Martha Neufeld Freiwild. Bilder aus meinem Leben
146 147
Gerda Siebert Mutters Opfergang. Grenzerfahrungen
184 185
Katharina Hermann Vaters Vermächtnis
217 218
Eugen Warkentin Der versiegte Juschanlee. Streiflichter
252 253
Treffen in Fulda. Das Medium Als wir uns von der Lehrerbildungsanstalt in Kasachstan verabschiedeten, war ich neunzehn Jahre alt. Vor mir lag mein ganzes Leben. Jetzt, wo wir uns in Fulda wieder treffen, bin ich 64 und meine Haare sind weiß. - Das Leben ist gelebt. Seit 1980 bin ich mit meinem Ehemann und meinen zwei Kindern in Bayern. Hier lebe ich seitdem und bin 1999 nach 15 Jahren Berufstätigkeit mit 62 in Rente gegangen. In den letzten Jahren bekam ich einige Anrufe von ehemaligen LBAMitschülern. Auf diese Weise treten Elisabeth Wiens, Katja Hermann und Helene Boschmann in mein Leben. Ihre Familiennamen sind mir fremd. Ich habe Mühe, mich zurechtzufinden - wer ist wer. Ich habe alles so gründlich verdrängt, dass mich ihre Mitteilungen kaum berühren. Ich bin ausgelaugt. Nach der Schicht im Altenheim habe ich zu Hause in zweiter und dritter Schicht weiter zu funktionieren: der Haushalt mit zwei Schulkindern, der berufstätige Ehemann mit dem Bau des Eigenheimes. Allmählich wird es leichter: Beide Kinder haben die Fachhochschule abgeschlossen und stehen finanziell auf eigenen Beinen. Der Ehemann ist inzwischen in Rente gegangen. Ich bin noch berufstätig, aber nicht mehr lange: Die Tochter hat geheiratet und wird uns im Dezember 1999 zu Großeltern machen. Auf dieses Kind freue ich mich riesig! Für dieses Kind will ich ganz viel Zeit haben und beantrage sofort die Rente. Da bekomme ich wieder einen Anruf von einer Freundin aus der LBA und schlage ein Klassentreffen vor. Am anderen Ende ist Begeisterung zu hören und es kommt sofort die Frage: »Wann und wo?« »Bei mir zu Hause«, schlage ich spontan vor. »Aber erst, wenn ich Oma und in Rente bin - also nicht vor Januar 2000. Und ihr zwei Hübschen - Elisabeth und Katja - macht euch auf die Spurensuche und stellt derweil fest, wer denn alles von unseren Mitschülern in Deutschland ist. Treibt ihre Namen und Koordinaten auf. Dann sehen wir weiter.« 5
Die zwei machen sich ans Werk. Im Frühling 2001 liegt das überraschende Ergebnis vor: 42 Personen haben sich zum Treffen angemeldet! Woher so viele? Wir waren ja nur 24 Deutsche in der Klasse? - Elisabeth hatte unser Klassenfoto in »Volk auf dem Weg« veröffentlicht und zum Treffen eingeladen. Da haben sich auch Absolventen aus Parallelgruppen und früheren Jahrgängen gemeldet. Sehr erfreulich! Aber für ein Einfamilienhaus eindeutig zu viel. Nach reiflichen Überlegungen schlägt Elisabeth den »Richtershof« vor - eine Freizeiteinrichtung in der Röhn, etwa 30 Kilometer von Fulda entfernt. Dort findet das Treffen vom 31. August bis 01. September 2001 statt. Bei mir persönlich hat sich eine Situation ergeben, wo ich nicht weiß, ob ich am Treffen werde teilnehmen können. Mein Ehemann hat gesundheitliche Probleme, deshalb kommt er nicht mit. Kann ich ihn alleine lassen? Wird er während meiner Abwesenheit alleine zurecht- kommen? Nach einem Unfall ist mein Auto in der Werkstatt. Wird es rechtzeitig fertig sein? Mein Sohn hat im März sein Studium als Bauingenieur beendet und sucht zur Zeit eine Arbeitsstelle. In den Monaten seiner Arbeitslosigkeit liest er mein 1986 veröffentlichtes Buch »Im Paradies ... der Arbeiter und Bauern«, in dem ich das Leben meiner Familie in der Verbannung geschildert habe. Damals, als das Buch veröffentlicht wurde, war er erst 12 und hat davon nicht viel mitbekommen. Jetzt, erwachsen, macht er sich daran, es zu korrigieren und für eine Neuauflage aufzubereiten. Dabei stellt er mir jede Menge Fragen unter anderem auch über mein Scheitern an der Lehrerbildungsanstalt und was dazu geführt hat. »Warst du mit 19 Jahren schon so ein überzeugter Christ, dass du ohne Bedenken dein Lehrerdiplom opfertest?« Und: »Wo waren eure Freunde, als es bei euch in der LBA ... kritisch heiß wurde? Ihr habt euch doch zusammengesetzt? Die Lage besprochen und beratschlagt?« Jetzt, wo ich abwäge, ob ich am Treffen teilnehmen kann, spreche ich mit ihm darüber. 6
»Welche Klasse trifft sich?«, will er wissen. »Wieder deine Therapeuten?« »Nein. Die LBA-Klasse, von der ich mich im Mai 1957 verabschiedet habe.« Er sieht mich verdutzt an. »Sind die jetzt alle hier?!« »Nein, nicht alle. Aber wer überlebt hat und in Deutschland ist ...« Er lässt mich nicht zu Ende reden und fällt mir ins Wort: »Und du überlegst noch?! Du fragst noch?! Selbstverständlich fährst du hin! Ist es die Gruppe, die du da in deinem Buch beschrieben hast? - Wahnsinn!« Er fegt all meine Bedenken und Zweifel weg. Er regelt all meine Probleme. Er lässt mir keine Wahl. - Ich muss! Einen Tag vor unserer Abfahrt bekommt er die Stellenzusage und ob er schon am 1. September beginnen könne statt am beim Vorstellungsgespräch vereinbarten 1. Oktober. Der 1. September ist aber ein Samstag und gerade der Tag des geplanten Klassentreffens. Er sagt dem Arbeitgeber zu, er würde Montag, den dritten September pünktlich zur Stelle sein. Jetzt kann nichts mehr dazwischenkommen oder schief gehen. Am 31. August 2001 fährt er in der Früh mit mir los zum »Richtershof«. Ich lass mich fahren und führen. Ich sitze ganz still neben meinem Sohn und überlege, wen ich da wohl treffen werde. Wer lebt noch? Wen gibt es nicht mehr? Wer ist in Deutschland, wer noch »drüben«? Um 10 Uhr treffen wir da ein. Mein Sohn verspricht, mich morgen um 14 Uhr hier abzuholen. Er verabschiedet sich und verschwindet. In diesem Augenblick höre ich eine Männerstimme hinter meinem Rücken auf Russisch sagen: »Wie sie der Siegrid ähnelt!« - »Stimmt doch gar nicht!« wirbele ich herum. »Wer sind Sie?« »Aber wir müssen uns doch nicht siezen? Wir waren schon mal per Du.« »Das ist lange her. Erst muss ich wissen, wer Sie sind. Geduzt werden nur Freunde.« Er reicht mir die Hand und stellt sich vor. 7
»Wir sind doch alte Freunde?« Er war mit meiner Schwester befreundet und hat die LBA schon 1955 abgeschlossen. Seit damals haben wir uns nicht mehr gesehen. Da stehen mehrere grauhaarige Damen und Herren herum, die ich ich könnte es schwören! - noch nie gesehen habe. Plötzlich packt mich eine Frau und wirbelt mich herum: »Herta! Du Knirps! Wie geht es dir? Bist immer noch so lebhaft, wie damals! Hast dich nicht verändert und bist nicht gewachsen!« »Ja, als es Zeit war zum Wachsen, da haben die Russen am Griesbrei gespart! Jetzt könnte ich in die Breite wachsen, aber davor hüte ich mich!« Alle Umstehenden lachen. »Aber wer ... sind Sie? - Käte Mantler?!« Immer wieder fahren Autos vor und Leute steigen aus. Wir sehen sie durch das Fenster und versuchen zu erraten, wer wer ist. Es ist kein eigentliches Klassentreffen, denn von den insgesamt 31 Personen, die hier eintreffen, sind 19 aus der LBA, der Rest sind Ehepartner. Aus unserer Klasse sind es zehn. Die Freude, die Aufregung, die Erwartungen sind groß. Es ist alles sehr schön vorbereitet. Auf den Tischen - Schalen mit Obst und Blumendekoration. An der Wand - eine große Fotomontage, die an die gemeinsame Jugendzeit erinnert. Die Leitung dieser Veranstaltung, sozusagen die Moderation, wurde von den Organisatorinnen wie selbstverständlich zwei Herren übertragen, die beide nicht zu unserer Gruppe gehören und schon vor uns die LBA abgeschlossen haben. Sie sind unsere Vorhut von damals: Ein paar Jahre älter als der Durchschnitt, selbstbewusster, ein sicheres Auftreten. Sie sind eben unsere Avantgarde, unsere Leithammel und Vorbilder aus den LBA-Jahren, denen wir nacheiferten, weil sie hervorragend im Lernen und in der Laienkunst waren; mit denen wir »mitgingen«, weil sie so lustig und ideenreich die illegale deutsche Jugendgruppe leiteten. Wir sitzen alle in der Halle, während unser Moderator die Vorstellungsrunde beginnt. Jeder Absolvent der LBA berichtet kurz über sein Leben nach dem Abschluss. Ich höre aufmerksam zu und werde plötzlich mit solcher Wucht in die Vergangenheit versetzt, dass 8
mir der Atem stockt und ich keinen Einfluss mehr auf den weiteren Verlauf meines Verhaltens habe. Ich hatte gehofft, die Gleichgesinnten - die Gläubigen von damals würden sagen, wie sie um mich gebangt und für mich gebetet hätten. Die Andersdenkenden - die Atheisten von damals - seien vielleicht überrascht und bestürzt von der Heftigkeit der Verfolgung gewesen. Ich dachte, wir würden alle gemeinsam überlegen, wie es hätte gewesen sein können. Wie, auf welchem Wege mein Name in die Zeitung gelangt sein könnte? Doch nichts dergleichen geschieht: Die Kollegen stellen sich vor, ohne die Ereignisse von 1957 auch nur zu erwähnen. Da brechen aus mir Fragen heraus, die ich so nie habe stellen wollen. Als ob nicht ich spräche, sondern jemand anders durch mich, mit meinem Sprechorgan. Das Auditorium hält den Atem an, ist sprachlos vor Schreck, weigert sich, mit mir zu diskutieren. Warum sind alle so befangen? Sind wir immer noch nicht fähig, nicht reif genug Tabus zu brechen? Die Ereignisse im Frühling 1957 haben mich umgehauen, mein ganzes Leben umgekrempelt. Ich habe nie einen konkreten Verdacht gehabt. Für mich waren die »Kommunisten« und die »Russen« an allem schuld, denn dort in der Verbannung waren sie für uns der Inbegriff des Bösen. Von ihnen wurden wir verfolgt. Die Zusammenhänge, die Ursachen und Folgen, die Hintergründe konnte ich nicht begreifen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, wie sich das konkret abgespielt haben könnte. Als ich jetzt zu Wort komme, schlagen die Wellen der Erinnerung über meinem Kopf zusammen. Sie durchbrechen alle Schranken. Ich vergesse Ort und Zeit. »Jetzt oder nie!«, blitzt ein Befehl durch meinen Kopf. »Jetzt oder nie stellst du deine Fragen!« Ich bin in Trance. Ich stehe wieder in der LBA, umringt von verständnislosen Gesichtern. In mir vibriert und zittert eine Metallklinge. Ob ich stehend oder sitzend spreche - weiß ich nicht. Ich habe kein Körpergefühl. Ich schwebe. Die Wahrnehmung der äußeren Realität ist verschwommen. Eine fremde, unbekannte Stimme ... schleudert ... unbequeme 9
Fragen ... aus mir heraus: »Wer war es?! Warum ich?! Warum 57 und nicht früher?« Ich gieße Öl ins Feuer! Die Flamme sticht hoch und ich stehe mittendrin! Ich kann nicht anders! Es gibt kein Ausweichen. »Bei der Umerziehung ging es nicht um den Glauben, sondern darum, aus mir einen Zuträger zu machen! Mit allen Mitteln! Warum? War dem Geheimdienst ein Spitzel abhanden gekommen? Brauchte man dringend Ersatz?! Wo war er denn geblieben? Ich konnte die Fragen nicht beantworten; wer predigt da, wer leitet den Chor, wer macht die Jugendarbeit? Wen hätte ich denn nennen sollen? Meine Freunde und meine Mutter?! Dann wäre ich ein Held geworden, wie Pawlik Morosow, der seinen Vater und Großvater verriet!« Alle Anwesenden sind Zeugen von etwas Rätselhaftem, Ungewöhnlichem. Sie fühlen sich angegriffen und sind verblüfft. Nur mühsam finde ich in die Gegenwart zurück und bin erschrokken über die Fragen, die Es da gestellt hat. Übelkeit steigt in mir hoch. Ich befürchte, mich übergeben zu müssen. Da höre ich die Stimme unseres Moderators: »Ja, fragst du das uns? Fragst du ... hier? Meinst du, ... einer von uns?...« »Ja! Ja!«, schreit Es überraschend in mir. »Du sagst es, Junge! Hier und jetzt werden diese Fragen gestellt und geklärt!« »Wie kann der Mann überhaupt solche Fragen stellen?«, wundere ich mich. Dieser Gedanke, es könnte einer von den Unseren, von den hier Anwesenden gewesen sein, ist mir noch nie gekommen. Erst seine Frage bringt mich darauf. - »Gar nicht so abwegig! Man kann den Verräter gar nicht nahe genug bei sich suchen.« Hätte der Moderator meine Fragen im positiven Sinne aufgegriffen und die Anwesenden aufgefordert, sich an den Frühling 57 zu erinnern, wäre bei mir nie der Groschen gefallen - nie wäre es zu einem konkreten Verdacht gekommen! Während mir das durch den Kopf geht, sage ich achselzuckend: »Einer muß es gewesen sein! Jemand hat meinen Namen in die 10
Zeitung gebracht. - Das ist Tatsache. Er konnte dort nicht von alleine auftauchen.« »Pratt und Jesubtschenko?«, sagt David zögernd. »Die haben ja angeblich den Artikel gemeinsam verfasst.« »Stimmt. Aber die waren nie in der Gemeinde oder in der Jugendgruppe«, sage ich. »Die haben mich da nicht sehen können. Und derjenige, der mich dort gesehen hat, der hat auch alle anderen gesehen. Warum hat er denn nur meinen Namen dem Jesubtschenko ins Ohr geflüstert? Ich war doch so was von unbedeutend!« Elisabeth stimmt zu: »Herta und ich waren noch keine Gemeindemitglieder. Wir waren nicht gefestigt im Glauben. Ich hatte sie mitgenommen. Durch mich kam sie in die Gemeinde. Wir hatten da nur mehrere Male zugehört und schon krachte es über unseren Köpfen!« »Richtig! Und deshalb ist meine Frage: Warum kam ich in die Zeitung? Es gab da Jungs« - ich zeige auf unsere zwei Moderatoren »es gab Jungs, die viel bedeutender waren. Warum hat man mich beim Kragen genommen und nicht einen von euch? Glaubt bitte nicht, ich würde es euch wünschen, aber nach sowjetischen Gesetzen konnte man euch schon ein Vergehen nachweisen. - Ihr hattet mit Jugendlichen im religiösen Sinne gearbeitet und das war verboten. Somit hattet ihr dem Staat den Gehorsam verweigert.« Betretenes Schweigen. Ich bringe Unbehagen ins Treffen und zerstöre die Idylle. »Es war dein Schicksal, Herta«, sagt die Ehefrau des Moderators. Ich nicke: »Richtig! Schicksal - klingt gut. Ich habe es ja auch angenommen, wie es kam. Meine Mutter glaubte unerschütterlich an das Schicksal! Wer spielte damals mein Schicksal? Wem war ich gut genug, um jene Diskussion in der Öffentlichkeit loszutreten? Wer kassierte die 30 Silbergroschen - den Lohn des Verrats? Einer muss es gewesen sein! Und solange sich keiner dazu bekannt hat, sage ich: Jeder hätte es sein können! Jeder! Und wie war die Belohnung? Wie sahen die 30 Groschen aus? Habt ihr alle wirklich gehofft, nie mit dieser Frage konfrontiert zu werden?« 11
Meine Freunde schweigen. - Es ist ihnen unangenehm, an Vergangenes erinnert zu werden, das man längst verdrängt hat und so gerne vergessen möchte. Einer der Moderatoren erzählt folgende Anekdote. Schiffbrüchige retten sich auf eine Insel. Sie sind froh, mit dem Leben davongekommen zu sein. Sie loben Gott und danken. Sie bauen sich eine Hütte und schauen sich um, ob es auf dieser Insel auch etwas Essbares gäbe. Inzwischen schlägt der Blitz ein und die Hütte fackelt ab. Sie jammern und hadern mit Gott: »Warum jetzt das noch?! Ist es nicht genug, was wir erlitten haben?« Später kommt ein Schiff und rettet sie. »Wie habt ihr uns gefunden?«, wundern sich die Gestrandeten. Die Antwort lautet: »Wir haben eine Rauchsäule hochsteigen sehen und darauf Kurs gehalten.« - Also Fazit: »Alles hat einen höheren Sinn.« Klarer Fall! Auf die LBA bezogen: Die einen wurden verheizt, um die anderen zu retten. Sehr löblich und auch tröstlich! Das ist aber keine Erklärung. Die Frage bleibt offen: Wer hat mich verheizt und mit mir auch ein halbes Dutzend Freunde in Flammen aufgehen lassen? Wer war der Brandstifter? Das Schicksal? Aber das braucht Hände, um vollstreckt zu werden. Nach dem Abendessen teilen wir uns in Gruppen auf, sehen uns Alben an, erinnern uns an die vielen Prüfungen, die wir gemeinsam bestehen mussten, an den Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft. Wie viel wir dabei gelacht und gesungen haben ... trotz aller Armut, Schwierigkeiten und des Hungers. Zum Schluss singen wir das wunderschöne Lied »Bewahre uns Gott, behüte uns Gott! Sei mit uns auf unseren Wegen...« - Diesen Weggefährten haben wir alle dringend nötig. Am anderen Morgen nach dem Gottesdienst ziehen wir gemeinsam Bilanz. Erstens steht fest, die 19 anwesenden LBA-Absolventen haben gemeinsam 139 Kinder und Enkel vorzuweisen, also 7,3 im Schnitt. Eine stattliche Zahl! 12
Zweitens ist unter uns eine Absolventin, die 10 Kinder bekommen und großgezogen hat. - Eine hervorragende Leistung! Sie wurde dafür noch in der Sowjetunion als »Mutter Heldin« mit einer Mutterschaftsmedaille geehrt. Drittens hat einer der Anwesenden den Dienst bei der Sowjetarmee verweigert und sollte deshalb vor das Kriegstribunal. Viertens haben sieben der Anwesenden LBA-Absolventen es geschafft, trotz aller Widrigkeiten einen Hochschulabschluss zu erreichen. Kurzum, unsere Biographien sind derart verschieden und die Erlebnisse zum Teil so extrem, dass ich vorschlage, ein Sammelporträt des Russlanddeutschen zu schaffen. »Zeigen wir Menschen aus Fleisch und Blut, mit Höhen und Tiefen, mit Hass und Liebe! Menschen, denen nichts Menschliches fremd ist. Wir wollen uns aber nicht wiederholen. Allgemein ist unser Schicksal durch die Memoirenliteratur zur Genüge beschrieben. Deshalb fangen Sie ihre Schilderungen bitte nicht bei Adam und Eva an, nicht bei der Zarin Katharina und auch nicht beim Batjko Machno! Am besten beginnt ihr damit, wie es mit der Berufswahl war und wie ihr in die LBA gekommen seid. Als Rückblick, innerer Monolog oder im Dialog sollte dann auch das Elternhaus kurz zum Vorschein kommen. Woher, wann und wie kam die Familie nach Kasachstan?« Und jeden Einzelnen bitte ich, sich so genau wie möglich an den Frühling 1957 zu erinnern, damit diese Ereignisse von verschiedenen Standpunkten her erörtert werden und mit allen Facetten und Kanten zum Vorschein kommen. Denn was in den bisherigen Veröffentlichungen überhaupt noch nicht angesprochen wurde, ist der Verrat und die Person des Denunzianten, des Kollaborateurs, des Zuträgers. Und die hat es auch unter uns durchaus gegeben. Jeder Jugendliche wurde auf die eine oder andere Weise mit Verleumdung und Verrat konfrontiert. Jeder wusste, vertraut man sich jemandem an, so ist man ihm mit Haut und Haar, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das machte uns allen das Leben schwer und hat so manches junge Glück und so manche berufliche Laufbahn zerstört. 13
Dort in der Sowjetunion wurden wir unter dem Sammelbegriff »Sonderumsiedler« in die Verbannung geschickt. Hier werden wir als »Aussiedler« wieder in einen Topf geworfen. Man könnte meinen, wir seien wirklich eine einheitliche Menge, ohne Individuen und ohne Gesichter. Ich fordere die Anwesenden auf, ihren individuellen Werdegang zu schildern und dabei die Rolle der Kommandantur und des KGB so genau wie möglich darzustellen. Die Begeisterung meiner Kollegen hält sich in Grenzen. Die einen schlagen vor, den Inhalt genau zu besprechen und die Themen aufzuteilen. Das lehne ich ab: Jeder soll sich spontan erinnern und niederschreiben, was er persönlich erlebt hat und interessant findet. Die anderen sind skeptisch: »Wer soll denn das lesen? Wen interessiert unser Leben?« Doch ich lasse mich nicht beirren: »Es gibt hier in Deutschland bestimmte Kreise, die sich sehr wohl für unser Leben interessieren. Außerdem haben wir ja Kinder und Enkel, die heranwachsen und irgendwann mal fragen werden: ›Wo warst du ... damals?‹ Oder: ›Was hast du getan, als die anderen verfolgt wurden?‹ Wer soll ihnen diese Fragen denn beantworten, wenn nicht wir? Und wann, wenn nicht jetzt?« So habe ich alle Anwesenden zur Mitarbeit an diesem Sammelband eingeladen. Wir geben ihm den Arbeitstitel »LBA-Absolventen erinnern sich«. Ich erläutere noch kurz die Rahmenbedingungen und räume ihnen Bedenkzeit ein. »Wir beginnen mit der Arbeit, wenn ihr von mir ein Rundschreiben bekommt.« Damit verabschiede ich mich. Mein Sohn kommt gerade herein, um mich abzuholen. Nach einem Jahr Arbeit liegt nun das gemeinsame Werk vor. Ich bedanke mich bei allen, die sich aktiv an der Aufklärung der unsichtbaren Wahrheit beteiligt haben. Es ist uns gelungen, die Tendenzen der KGB-Tätigkeit unter den Verbannten aufzuspüren und die Konturen und Ausmaße ihrer Unterwanderung sichtbar zu machen. 14
Natürlich ist das Thema noch lange nicht erschöpft und nicht alles zusammengetragene Material konnte hier verwendet werden. Vielleicht werden wir diesem Buch einen zweiten Band folgen lassen. Wir haben beschlossen, den Namen des Städtchens unserer Jugend hier gar nicht zu nennen, denn er tut nichts zur Sache. Er besteht aus mehreren zischenden Lauten, die so typisch für das Russische sind und für den westlichen Leser einen Zungenbrecher darstellen. Wir nehmen einfach die Abkürzung Eska und sagen Ihnen, liebe Leser, es ist ein kleiner malerischer Ort im Norden Kasachstans, der direkt an der Station »Kurort Borowoje« liegt. Es ist bestimmt keine große Bildungslücke, wenn Sie nicht wissen, wo genau auf der Landkarte dieses Eska liegt. Es ist aber nicht zu verzeihen, wenn Sie nichts über das Schicksal der zwei Millionen Landsleute in der UdSSR zwischen 1941 - dem Kriegsbeginn und 1991 - dem Zusammenbruch des Systems des »realen Sozialismus« wissen. Es ist ratsam, sich über diese Volksgruppe zu informieren, zumal diese Leute seit dem Fall des »Eisernen Vorhangs« zu Tausenden in die Bundesrepublik Deutschland einströmen. Sie sind längst zum festen Bestandteil dieser Gesellschaft, zu Ihren Nachbarn und Arbeitskollegen geworden. Sie sind inzwischen in jedem Sportverein, jeder Schule und Hochschule zu finden. Wenn Sie genau hinsehen, finden Sie die Aussiedler, ihre Kinder und Enkel sogar schon in Ihren eigenen Familien, als Schwiegertöchter und Schwiegersöhne. Da will man doch wissen, woher sie kommen, wer sie sind und, vor allem, wie sie »geworden« sind. Nicht wahr? Herta Vogel, Bobingen, den 01.09.2002
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Heinrich Bergen
Geboren 1934 in Neu-Hoffnung, Gebiet Stawropol im Kaukasus. 1941 evakuiert nach Kasachstan, Gebiet Kokschetau. 1956 die LBA in Eska, Gebiet Kokschetau absolviert. Seit 1958 mit Linda Blank verheiratet. 1961 nach Frunse (heute Bischkek genannt) in Kirgisien umgezogen. Berufstätigkeit als Tischler, Schreiner, Drechsler. 1977 mit Frau und fünf Söhnen im Alter von 6 bis 17 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Bisher sind 8 Enkel hinzugekommen, 18 bis 1 Jahr. 1977-1983 Möbel-Auslieferer; Kraftfahrer im Straßenbau; Umschulung zum Elektromechaniker (mit Gesellenbrief). Ab 1984 Kontrolleur in einer Zahnrad-Fabrik. Seit 1994 in Rente.
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Kindheit und Jugend in der Verbannung Am 4. Oktober 1941 war es so weit. Die Pferdegespanne kamen in unser Dorf Neu-Hoffnung im Gebiet Stawropol herein, verteilten sich in die einzelnen Höfe. Die Einwohner wurden aufgerufen, ganz schnell ihre Habseligkeiten aufzuladen und nach Möglichkeit auf der Fuhre Platz zu nehmen. Der Befehl, die Koffer zu packen, war vor einem Tag bekannt gegeben. Es wurde darauf hingewiesen, nur das Nötigste mitzunehmen, das andere solle man stehen lassen, die Häuser verschließen, denn wir würden bald wieder zurückkommen. Ich war damals noch nicht volle sieben und habe wenig von der Aufregung und den Strapazen der Erwachsenen mitbekommen. Für mich war es ein wunderbares Erlebnis, hoch oben fahren zu dürfen. In der nächstliegenden Eisenbahnstation wurden alle in Viehwaggons verladen. Beide Enden des Waggons waren zweistöckig eingerichtet. Unten wie oben nahmen jeweils drei Familien mit all ihrem Hab und Gut Platz. Unsre Familie - Mutter, zwei Brüder und eine Schwester, ich war der Jüngste - bekam oben ein Plätzchen. Ich konnte so bei gutem Wetter auch manchmal zum Fenster hinausschauen. Aufrecht stehen konnte man nur im mittleren Bereich des Waggons, der freigehalten wurde und mit einem kleinen runden Eisenofen versehen war. So rollte der Zug mit uns ab. Ziel und Richtung waren keinem bekannt. Als wir die erste große Station Asow am Don passiert hatten, wurde diese von den deutschen Bombern total zerstört. Solch Schicksal erwartete manche Stationen. Lange Strecken wurde unser Zug von den deutschen Flugzeugen beobachtet und begleitet. Und wenn er in die nächste Station für eine Pause einlenkte, waren das Personal und die Einwohner für kurze Zeit beruhigt: Die Deutschen da oben würden doch sie mit den Deutschen hier unten, zumindest so lange sie da seien, nicht angreifen. Die Fahrt ging so Tag für Tag, Woche für Woche, mit vielen Alarmpausen und technischen Pannen weiter. Nach und nach wurde durch Beobachtung der Laufbahn der Sonne festgestellt, dass der Zug sich in Richtung Osten bewege. Aber wie 17
lange kann man denn in die gleiche Richtung fahren? Es sind schon vier Wochen - und immer noch kein Ende der Welt, ja nicht einmal ein Ende von Russland in Sicht! Sogar ich war schon vom Fahren satt geworden, wie viel mehr die Kranken oder Altersschwachen, oder die schwangeren Frauen, denen die Zeit abgemessen war ... Alles gab es unterwegs, auch Geburten auch Begräbnisse. Die Zeit ist unbarmherzig, sie lässt sich nicht wie ein Gummiband dehnen. Nach genau einem Monat »landeten« wir endlich am frühen Morgen des 4. November auf der Station »Kurort Burabaj« in NordKasachstan. Der erste winterliche Reif hatte die Zäune und Sträucher versilbert. Mit eisigem Odem empfing uns der schöne Kurort. Für uns alle eine unbekannte, fremde Welt, die uns mit der gleichen inneren Kälte empfing; denn für die Einheimischen waren wir Faschisten, die sie jetzt in ihren ohnehin kleinen und jämmerlichen Häuschen unterbringen sollten. Die meisten Männer waren im Krieg, und ihre Frauen wurden verpflichtet, für die Familien der Feinde zu sorgen. Man kann sich leicht vorstellen, mit welcher »Gastfreundlichkeit« wir empfangen wurden. Sie wussten auch nicht, dass wir wie auch sie gleichberechtigte Sowjetbürger waren und nicht aus dem Ausland zu ihnen gebracht wurden. Aber die Gleichberechtigung war leider nur Theorie. Praktisch waren wir ab jetzt Gefangene, die von den Fuhrleuten, die mit ihren Ochsenwagen schon auf uns warteten, gruppenweise in die entlegensten Dörfer zerstreut wurden. Vom Kommandanten in Empfang genommen und in Listen eingetragen, bekam jeder Erwachsene - ab dem 14. Lebensjahr - die »Spielregeln« erklärt: Erstens, hieß es, die Bewegungsfreiheit eines jeden Einzelnen ende mit der Grenze des Dorfes, die ohne seine Genehmigung nicht überschritten werden dürfe. Zweitens müsse jeder sich monatlich ohne Aufforderung beim Kommandanten melden und ein Autogramm hinterlassen. Drittens wurde jedem die Konsequenz der Nichtbefolgung der vorigen Punkte klar und deutlich ans Herz gelegt. So sah die wirtschaftliche, politische und klimatische Wetterlage aus, mit der hauptsächlich unsere lieben Mütter fertig werden 18
mussten. Sie allein hatten dafür zu sorgen, dass die Kinder irgendwas zwischen die Zähne bekamen. Die meisten Väter und erwachsenen Söhne waren schon vor der Aussiedlung, Ende der 30er-Jahre, »aufgeräumt« worden. Man hatte sie in Gefängnisse oder Arbeitslager gesteckt. Der Rest wurde hier, in Kasachstan, eingeholt, den Familien entrissen und in die »Trud-Armee« verschickt oder auch in Gefängnisse eingesperrt. Auch mein ältester Bruder Johann mit knapp 20, so auch meine Schwester Anna mit 17 Jahren kamen in diesen Sog hinein. Johann, der nach Tscheljabinsk verschickt wurde, war nach einem Jahr verschollen. Mutter und Geschwister haben nach ihm ergebnislos gesucht. Und Anna wurde nach einem Jahr als Krüppel - mit einem Bein entlassen. Im April 1944 kam sie durch Schnee und Matsch von der Station »Kurort Burabaj« bis Saretschenka - eine Strecke von etwa 60 km - zu Fuß auf Krücken nach Hause gehumpelt. Mein zweiter Bruder, Peter, musste schon mit 13 erwachsen sein und mitten im Winter schwerste Männerarbeit verrichten. Nur ich durfte faulenzen auf dem warmen Ofen, solange es den noch gab, und wurde von den Erwachsenen umsorgt. Mit der Schule hatte ich es nicht sehr eilig. Nicht deshalb, weil wir uns an Lenins Slogan orientiert hätten: Lernen ist nie zu spät! Nein, mir fehlten dazu die nötigsten Kleinigkeiten wie Schuhe und Strümpfe, Mütze und Mantel, Heft und Bleistift - kurzum alles. Dass es eine allgemeine Schulpflicht gab, hatte ich auch noch nicht mitgekriegt. Die Dorflehrer kümmerten sich auch nicht um mich, sie wussten wahrscheinlich nicht, dass es mich überhaupt gab. Mir war‘s recht so. Ich nutzte die Zeit und wärmte den Ofen von oben, bis der 2. Weltkrieg zu Ende ging. Zu dieser Zeit hatten meine Mutter und Schwester für mich die nötigsten Klamotten genäht und gestrickt, so dass ich schon manchmal das Nest verlassen konnte. Dies war in Dorogowka, wohin wir ohne Genehmigung des Kommandanten bei Nacht und Nebel mitten im Winter geflohen waren. Und hier hatte auf einmal meine Schwester die Idee, mich in der Schule anzumelden. »Wozu denn das?«, war meine Frage. 19
»Weil alle Kinder zur Schule gehen«, sagte sie. »Die können schreiben und lesen«, erwiderte ich. »Aber ich kann doch nichts! Was soll ich dort tun, in der Schule?« »Gerade deshalb, weil man dort schreiben und lesen lernen kann!«, sagte sie. Nun, das Weitere ist ja schon klar. Es gab keine Ausrede mehr, ich setzte mich mit fast 11 Jahren auf die Schulbank. Staunend entdeckte ich zu meinem Trost und Erleichterung, dass es noch viele solche gab wie mich, die weder schreiben noch lesen konnten. Unter meinesgleichen fühlte ich mich wohl und kam auch bald mit allem zurecht. Die Verhältnisse in der Schule waren erbärmlich: Kein Schreibpapier, keine Tinte noch Federhalter, ein Lese- und ein Mathematikbuch für die ganze Klasse. Hausaufgaben mussten auf Zeitungen geschrieben werden. Die hatte auch nicht jeder. Als Tinte diente Rote-Bete-Saft oder in Milch aufgelöster Ruß vom Kessel oder Pfanne. In der Klasse wollte sich die Dunkelheit im Winter, wenn die Sonne erst halb zehn aufgeht und der Unterricht schon um 8.00 Uhr beginnt, von der Petroleumlampe nicht verdrängen lassen. Eine Uhr hatten nur die Reichsten im Dorf. Die Ärmeren hatten bestenfalls einen Hahn im Stall als Wecker. Aber wenn die Hütte samt dem Stall im Schnee begraben liegt, wenn nur noch der Schornstein hinausragt, wenn man drinnen nicht weiß, ob es draußen Tag oder Nacht sei, dann kommt auch der Hahn mit seinem Rhythmus durcheinander und wird unzuverlässig. Manchmal, wenn Tür und Fenster über Nacht vom Schneesturm zugemauert waren, musste ich im Dach eine Lücke aufreißen, um mich aus der Gefangenschaft zu befreien. Das tat ich in der Hoffnung, oben würde kein Wolf auf mich warten. Diese waren keine seltenen Gäste im Dorf, an dessen Ende unsere Hütte sich befand. Angst, Hunger und Kälte mussten weichen, denn beim Unterricht durfte man nicht fehlen. Wir Schüler kamen oft eine ganze Stunde zu früh, umringten im Flur die angeheizten Öfen, genossen die wärmenden Strahlen der brennenden Holzscheite und teilten einander vergnügt und unbekümmert unsere letzten Erlebnisse mit. Nur selten kam jemand zu spät. Es war uns viel zu peinlich, eine 20
Schande, nach Beginn des Unterrichts anzuklopfen und den Lehrer um Einlass zu bitten. Und wenn jemand unanständig in die Klasse hereingeplatzt kam, musste er zurück und etliche Male diesen Gang wiederholen, bis er alles richtig kapiert hatte. Auf Ordnung und Reinlichkeit wurde sehr geachtet. Der Klassenordner hatte vor Beginn der ersten Stunde die Aufgabe, alle Anwesenden zu begutachten, ob Hände und Ohren sauber gewaschen, ob die Fingernägel und die Haare nicht zu lang waren. Bei denen es etwas zu beanstanden gab, die mussten sich vorne an die Wandtafel stellen und auf Anweisungen des Lehrers warten. War jemand drei Tage nacheinander nicht in Ordnung, so musste er die Mutti zur Schule mitbringen. Das mochten wir nicht sehr gern, und gerade deshalb war es ein wirkungsvoller Hebel für die Lehrer, uns Ordnung beizubringen. Es mussten aber auch oft unsere Ohren herhalten. Und wenn das Ohr, der Festigkeit halber doppelt gelegt, von der Hand des Lehrers gepackt und ins Lehrerzimmer gezogen wurde, hatte der Betroffene nicht viel Bewegungsfreiheit und Widerstandsmut. Im Lehrerzimmer folgte dann eine eindringliche Ermahnung. So verging Jahr um Jahr. Und eines Tages war ich 14. Wie schon erwähnt, war dies zu jener Zeit eine besondere Altersstufe. Ab jetzt wurde ich als erwachsen angesehen. Nicht in der Schule. Da war ich erst in der 4. Klasse. Auch nicht zu Hause. Da war ich sowieso der Kleinste, der die Befehle der Älteren ohne Widerrede zu befolgen hatte. Aber beim Kommandanten! Der hatte mich persönlich zu einem Gespräch eingeladen. Solche Ehre wurde nicht jedem erwiesen. Ich folgte der Einladung und meldete mich bei ihm zur angegebenen Zeit. Nach kurzem Einstieg las er mir meine Pflichten und Rechte vor, die ich ab jetzt zu befolgen hätte. Er überzeugte sich, dass ich die Spielregeln verstanden hatte, und wollte sogar eine Unterschrift von mir haben. Dann fügte er hinzu, dass ich ab jetzt jeden Monat ihn besuchen und ihm ein Autogramm geben dürfe. Das versprach ich ihm und habe es, soviel ich mich erinnern kann, auch eingehalten. Der erste Stolz und die Freude, erwachsen zu sein, verflogen ganz 21
schnell, wie der Nebel zur Mittagszeit. Ein Gefühl der Bedrängnis und Einengung wurde daraus, das sich auch bald im praktischen Leben bestätigen sollte. Ich stieg jedes Jahr eine Klasse höher. Das Lernen machte mir keine Mühe, sondern viel Spaß! Fast jedes Lehrjahr schloss ich mit Auszeichnung ab. So kam ich in die 7. Klasse. Da es in dem Dorf keine weiteren Bildungsmöglichkeiten gab, machte der Klassenlehrer uns auf die Zukunft aufmerksam. Wir sollten überlegen und uns umschauen, was wir werden wollen. Wir schauten uns um, aber außer den paar Schafhirten und Kolchosbauern war nichts zu sehen. Und die kamen ganz ohne Ausbildung zurecht. Selbst der Dorfrat hatte nicht mehr als 7 Klassen hinter sich. Da müsste man schon weiter schauen, um etliche Berufe ins Visier nehmen zu können. Aber da gab es eine ganze Reihe von Hürden: Erstens stand uns der Kommandant im Wege; zweitens gab es in den Nachbardörfern auch nichts zu sehen; drittens gab es zu den größeren Ortschaften so gut wie keine Verkehrsverbindung; viertens war da die große Armut. Noch aber war es zu früh, mit dem Hürdenlauf zu beginnen. Bis zum Abschluss der 7. Klasse waren es noch gut 6 Monate. Die Lehrer, von denen 5 den Namen Iwan trugen - Iwan Seliwjorstowitsch, Iwan Abramowitsch, Iwan Yegorowitsch, Iwan Tjerentjewitsch und Iwan Dementjewitsch - bemühten sich sehr, uns so viel Wissen wie möglich ins Leben mitzugeben. Als Iwan Nr. 5, Direktor der Schule, die »Verfassung der UdSSR« mit Ehrfurcht und Eifer uns Schülern zu erklären begann, proklamierte er in höchsten Tönen, die Sowjetunion sei das ganz, ganz demokratischste Land von allen Ländern der ganzen Welt! Bei uns hätte ein jeder das Recht auf Arbeit, Ausbildung, medizinische Versorgung und vieles mehr. Und all das unabhängig von Sprache, Hautfarbe oder Religion. Was eigentlich Demokratie war, wusste natürlich keiner von den Schülern. Ob der Lehrer sich selber darüber im Klaren war?... Bei der Gleichberechtigung merkte ich schon Unstimmigkeiten. Aber wenn er - unsere einzige Autorität - es so feierlich und überzeugend be22
haupten kann, dann muss man es einfach glauben. Und ob das alles stimmt, würde sich ja bald in der Zukunft zeigen. Anfang Juni 1952 war es so weit. Die 7. Klasse war abgeschlossen. Hinsichtlich eines Berufes war noch nichts gefunden, aber es wurde gesucht. Mein Bruder Peter war der festen Ansicht, dass ich weiterlernen solle, und nahm die Leine und Fürsorge in seine Hand. Er hatte nach der Aussiedlung keine Gelegenheit zum Lernen bekommen. Ich sollte es besser haben. Bald erfuhren wir, dass ein Mädchen aus unserer Gegend, Irma Sippel - sie war mir zwei Jahre voraus - eine Ausbildungsstelle gefunden hatte, und zwar als Grundschullehrerin, und diese Lehrer-Bildungs-Anstalt (LBA) befinde sich in der Stadt Eska, einem an der Station Kurort Burabaj liegendem Ort mit etwa 40.000 Einwohnern. Nach den ersten Erkundungsgesprächen mit ihr waren meine Hausgenossen alle Feuer und Flamme, ich solle auch diesen Beruf anstreben und es sofort mit dem Einstieg versuchen. Mein Großvater und Vater seien Lehrer gewesen. Ich hatte leider keine Gelegenheit, die beiden jemals kennen zu lernen. Meine Angehörigen waren sicher: Ich würde es ganz bestimmt auch schaffen, diesen geachteten, ehrwürdigen Beruf zu erklimmen. Und 7 Klassen reichten aus, um in die LBA aufgenommen zu werden. Und wie üblich, der Kleinste wird auch am wenigsten gefragt, ich hatte ja auch nichts einzuwenden und fügte mich dem Beschluss des Familienrates. Den Hürdenlauf übernahm für mich mein lieber Bruder. Er holte vom Kommandanten die Genehmigung ein, nahm mein Zeugnis in die Tasche, fuhr nach Eska, suchte die LBA auf, und da in meinem Zeugnis mit großen Buchstaben »mit Auszeichnung« zu lesen war, konnte er mich gleich ohne Aufnahmeprüfung in die Liste eintragen lassen. Die schon erwähnte LBA-Schülerin Irma S., die mit den städtischen Verhältnissen hier schon zwei Jahre Erfahrung hatte, fand im Kreise ihrer Bekannten eine private Unterkunft für mich. So wurden für mich die Schienen gelegt und die Weichen gestellt. Eine Woche vor Beginn des Unterrichts packte meine Mutter für mich den Koffer und ich fuhr los, in einen neuen, unbekannten Abschnitt meines Lebens. 23
Am 24. August ’52 kam ich in Eska an. In Begleitung von Irma brauchte ich nicht lange die LBA zu suchen und machte mich gleich mit dem Gebäude bekannt. Der lange Korridor mit den vielen Fenstern machte einen freundlichen Eindruck. Es roch ganz kräftig nach Farbe. Der Holzfußboden, Türen und Fenster waren alle frisch gestrichen. Die weißen Wände, wo es ein freies Plätzchen gab, mit Porträts von Genosse Stalin und Co. verziert, die jeden Eintretenden und Vorbeigehenden mit misstrauischen Blicken, denen man nicht ausweichen konnte, begleiteten. Vorm Ausgang, am schwarzen Brett, war eine handgeschriebene Liste ausgehängt. Ich schaute nach und fand auch gleich meinen Namen. Also bis jetzt war alles in Ordnung, planmäßig und reibungslos gelaufen. Die Verfassung schien zu funktionieren. Ein Stipendium war mir auch zugesagt, wenn auch nur fürs erste Halbjahr. Es waren 140 Rubel monatlich im ersten Jahr, für jedes weitere 20 Rubel mehr. Zum Vergleich: Im Sommer konnte ich in der Forstei 10 Rubel pro Tag verdienen. Das nächste Semester war von den Zwischenprüfungen abhängig. Wer da in irgendeinem Fach eine Drei bekam, hatte keine Kopeke zu erwarten. Für mich wäre das katastrophal gewesen, ganz auf die Tasche meines Bruders angewiesen zu sein. Er hatte inzwischen seine Familie - Frau und zwei Kinder - zu versorgen. Mutter und Schwester wohnten auch bei ihm und brauchten oft seine Hilfe. Mein Stipendium reichte halbwegs für den Lebensunterhalt: 50 Rubel der Wirtin für die Unterkunft, fürs Kochen und Waschen, der Rest musste für alles andere gestreckt werden. Mit Klamotten war ich sehr arm dran. Jahrelang hatte ich nur ein einziges Hemd. Und wenn es in der Wäsche war, zog ich manchmal ein Trikot unter den Sakko an. Meines Erachtens sah ich ganz anständig aus. Doch eines Tages kam unsere junge Klassenlehrerin Irina Alexandrowna Bashenova auf mich zu. Sie war vielleicht 3-4 Jahre älter als ich, vor kurzem aus der Universität zu uns gekommen. Sie zog mich vorsichtig am Ärmel zur Seite und ermahnte mich unter vier Augen, ich solle doch so gut sein und ein ordentliches Hemd zum Unterricht anziehen. Das T-Shirt sähe ja auch nicht schlecht aus, 24
aber es passe nicht in die Klasse, es gehöre auf den Sportplatz. Es war für mich eine peinliche Angelegenheit. Aber die Ermahnung kam so diskret und liebevoll, da konnte sie ihren Zweck nicht verfehlen. Nie wieder ließ ich mich im Trikot in der Klasse blicken. Wenn ich heute an die damaligen spartanischen Verhältnisse denke, kann ich es selber kaum glauben und nachvollziehen, wie man da noch Mut und Lebenskraft aufbringen konnte. Das Domizil, in dem ich untergebracht war, bestand insgesamt aus einem Zimmer von etwa 25 Quadratmetern. Es war eine Lehmhütte, die bis zu den Fensterchen in der Erde steckte. Eine Ecke davon, zwei mal anderthalb Meter, war vom Ofen besetzt, dessen immer warme Liegefläche der Wirtin Tante Pascha und ihrer 20jährigen Tochter Natascha als Schlafstätte diente. Zur anderen Seite von der Tür befand sich ein ziemlich robustes und hohes Bettgestell mit Doppelfunktion: Von allen Seiten mit Brettern zugenagelt, ergab sich ein geräumiger Getreidespeicher. Mit Brettern von oben überdeckt - wurde daraus ein Doppelbett. Da schliefen ich und mein Freund Waldemar Schmoor, den ich als Untermieter in diese Hütte aufnahm. Waldemar stammte auch aus Neu-Hoffnung. Unsere Familien hatten das gleiche Schicksal und kannten sich gut. Er hatte die LBA-Ausbildung schon vor einem Jahr begonnen. Außer uns beiden war in der dritten Ecke noch ein Fräulein aus der LBA, nähmlich Irma Pfannenstiel, einquartiert. Einen Kleiderschrank gab es nicht. Für ihn war sowieso kein Platz. Außerdem wäre er überflüssig: Wir hatten ja nichts zum Hineinhängen. Die Wirtin hatte für ihre Sachen eine kleine Kommode. Dies war auch alles, was an Mobiliar vorhanden war. Die vierte Ecke, direkt vor dem Ofen - das war die Küche und Essecke. Da stand ein Tisch mit etlichen Hockern, eine Bank mit einem Wassereimer, unter der Bank - der Abwassereimer. Über diesem konnte man sich waschen. Wie? Man nahm einen Schluck Wasser in den Mund, wärmte es etwas an - es war manchmal dem Einfrieren nahe - und ließ es dann langsam in die Hände laufen, wie aus einem Wasserhahn. So hatte jeder sein fließendes Warmwasser. Für den Tee müsste man erst den Ofen anheizen. Und weil 25
das nicht so einfach war, begnügten wir uns mit einem trockenen Stückchen Brot zum Frühstück. Strom gab es im Haus nur für eine Glühbirne, die ohne Schalter montiert war und somit die ganze Nacht brannte, bis der Strom am Morgen abgeschaltet wurde. Eine Steckdose zu montieren war unter Strafe verboten. Der Generator der Möbelfabrik, der den Strom lieferte, konnte nicht mit seiner dürftigen Leistung bei Tag neben den eigenen Maschinen auch noch die Umgebung versorgen. Darum war von 9 bis 18 Uhr kein Strom zu haben. Man kann sich das heute kaum vorstellen, auch nur etliche Tage ohne Strom auszukommen. Die Waschmaschine, der Kühlschrank, der Backofen, der Staubsauger, der Herd mit Mikrowelle, der Fernseher und Radio - alles steht still, stumm und regungslos da. Alles ist auf einen Schlag unbrauchbar und nutzlos geworden. Vom Rasieren bis zur Heizung - nichts läuft mehr. Eine Katastrophe! Damals schien uns alles ganz normal zu sein. Man kämpfte jeden Tag ums Überleben und freute sich über die kleinsten Fortschritte, die man verzeichnen konnte. Und je weiter die Zeit in die Vergangenheit rückt, desto rosiger scheint sie aus der heutigen Sicht gewesen zu sein. Es gibt einen Ausdruck: Die Vergangenheit malt mit goldenem Pinsel. Und das stimmt! Später sammeln sich alle Erinnerungen unter einem Titel: Die guten alten Zeiten ... Man nennt sie gut und romantisch, aber sie zurückdrehen und noch mal durchleben zu wollen? - Nein, danke, um keinen Preis! Da im Gedicht, das ich 1994 zum 60. Jahrestag meines Freundes Waldemar geschrieben habe, auch diese Zeit erwähnt und in Erinnerung gerufen wird, dachte ich, es wäre am Platz, es hier einzuflechten.
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Zum 60. Geburtstag meines Freundes Mein lieber Freund im Städtchen Kaarst, Weil heute du Geburtstag hast, So will ich keine Zeit verlieren Und dir von Herzen gratulieren! Denn 60 Jahre, immerhin, Ist eine Zeit - da steckt was drin! Ein Anruf war schon längst geplant, Doch kriegt man etwas in die Hand, Dann hat man später mehr davon Als von dem Gruß per Telefon. Ich denke oft an jene Stunden, Es ist schon 40 Jahre her, Da wir als Freunde uns gefunden, Und sind es heute noch viel mehr! Es war doch eine gute Zeit, Als wir in Eska damals lebten, In Armut und Bescheidenheit Nach Lehrer-Zukunft strebten. Ein Hüttlein klein war unser Heim, Im Ganzen - nur ein Zimmer. Das karge Licht wie Mondenschein, Das brannte auch nicht immer. Paar kleine schiefe Fensterlein, Mit dickem Schnee an ihren Scheiben, Die ließen keinen Strahl hinein, Um hier das Dunkel zu vertreiben.
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Bewirtet hat uns Tante Pascha, Verwitwet, doch nicht ganz allein, Mit ihrem Töchterlein Natascha Sie war bei zwanzig, nicht mehr klein. Die beiden schliefen stets hoch oben, Der Ofen war ihr warmes Bett. Und wir, wir wärmten uns per Odem, Vom eignen Dampf, auf hartem Brett. Es klingt erbärmlich hinterher, Doch damals fiel uns gar nichts schwer! Es war für uns auch nicht zu viel, Nur fühlten wir uns wie beklommen, Als noch ein Fräulein Pfannenstiel In unsern Raum ward aufgenommen. Sie war sympathisch, freundlich, nett, An ihr war gar nichts auszusetzen, Doch brauchte sie ein eignes Bett, Nach den moralischen Gesetzen. Durch Schieben, Rücken, hin und her, Das fiel uns auch nicht allzu schwer, So wurde dann zu guter Letzt Die letzte Ecke auch besetzt. Drei »Frauenzimmer« und wir - zwei, Da mussten wir uns manchmal fügen. Doch ließen wir uns von den drei Nicht ohne Weiteres unterkriegen. Und gingen abends wir zur Ruh‘, Entzogen uns in unsre Ecke, Dann drückten sie die Augen zu, Bis wir verschwanden in der Decke. Und gingen sie vor uns zur Ruh‘, Dann spielten wir die »blinde Kuh«.
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Zu manchen Tagen, manchem Feste Besuchten uns verschiedene Gäste. Es kamen Onkel und auch Tanten, Bald waren’s Fremde, bald Verwandte Und jeder fand zur Nacht ein Eckchen, Ein kleines Kissen und ein Deckchen! Mit Mut, Humor und Fantasie Verfloss die Zeit in Harmonie. Auch füllten wir gar oft und viel Die Zeit mit Schach- und Saitenspiel. Und jedes Glück und Missgeschick Begleitet wurde mit Musik. War auch der Magen öfters leer, Der Weg zum Kommandant sooo schwer, War auch der Tee oft kalt und klar, Weil einfach nichts zum Brühen war, Kein Äuglein in dem Suppenteller, Und in der Tasche - auch kein Heller, War uns der Borschtsch auch oft zu sauer Und schon verleidet auf die Dauer Doch niemals haben wir gestöhnt, Was uns auch immer widerfahren; Wir wurden ja auch nicht verwöhnt In den vorangegang‘nen Jahren. Wie haben wir es nur geschafft? Wer gab uns Mut und Lebenskraft? Die Hilfe kam von oben her, Wir wissen es, es war der Herr, Weil unsre Mütter früh und spät Um unser Wohl zu Ihm gefleht.
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Heut‘ sagen wir: Es war doch schön!... Ob unsre Kinder uns versteh’n?... Dies sind nur drei von sechzig Jahren, Die hier ganz kurz geschildert sind, Die Zeit, da wir zusammen waren. Für andre Jahre - bin ich blind. Das Schicksal warf uns auseinander. Ein jeder zog die eigne Bahn. Bekamen kaum mal voneinander Ein Lebenszeichen dann und wann. Heut ist Entfernung überwunden. Per Autobahn und Telefon Sind wir aufs Beste stets verbunden, Und machen auch Gebrauch davon. Ich wünsche dir und mir nicht viel, Nicht Reichtum, Ruhm und Ehre, Nur dass das »vorgesteckte Ziel« Beständig unser Leitstern wäre! * * *
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Abgesehen von der Kommandantur und vielleicht etwas ärmeren Ausstattung gegenüber den Einheimischen wurden wir Deutsche hier in Kasachstan, im Vergleich mit anderen Gebieten der Sowjetunion, relativ gut behandelt. Für viele war ein deutscher LBA-Schüler ein wahres Wunder. Aber immerhin ist es bedrückend, wenn die gesamte Klasse eine Reise nach Moskau plant und auch unternimmt und wir nicht dabei sein dürfen. Erstens fehlten die Mittel dazu und zweitens - die Reisefreiheit. Der Reiseleiter, ein Pädagoge der LBA, konnte uns nicht die Fahrt garantieren. Ob vielleicht doch welche die Reise mitgemacht haben, weiß ich nicht. Womit ich von Anfang an zu kämpfen hatte, war die aufdringliche Werbung, Mitglied des Komsomol zu werden, also dem kommunistischen Jugendverband beizutreten. Da ich einer der Besten in der Klasse war, konnten und wollten die Aktivisten es nicht begreifen, warum ich so rückständig sei und nicht auch eintrete. Ich hatte dagegen zwei schwerwiegende Argumente. Erstens ging das gegen mein Gewissen, denn der Komsomol ist ja ein atheistischer Verein. Der Atheismus aber war nicht meine Überzeugung, denn meine Mutter hatte mich zum christlichen Glauben erzogen. Dieses Argument konnte ich aber nicht laut sagen. Dazu fehlte mir der Mut. Das hätte meine weitere Laufbahn gefährdet. Mein zweites Argument habe ich den Aktivisten dann umso lauter vorgehalten: »Was habe ich von der ehrenhaften Mitgliedschaft beim Komsomol, wenn ich jeden Monat zum Kommandanten laufen muss und ohne seine Genehmigung nicht einmal in den nächsten Ort fahren darf?« »Und wenn dieser Zustand aufhören würde, würdest du kommen?«, drängten sie weiter. Da ich aber keine Änderung des Zustandes erkennen noch ahnen konnte, sagte ich zu. Dies hatte Folgen. Einige Zeit hatte ich Ruhe und hoffte, für Jahre nicht mehr mit dieser Frage belästigt zu werden. Leider hatte ich mir mit meiner leichtfertigen Zusage selber eine Falle gestellt, in die ich nun hineintappte. Wie und wer sich da für mich eingesetzt hat, habe ich nie erfahren. 31
Im Jahre 1954, zwei Jahre vor dem Ende der allgemeinen Meldepflicht, kamen unsere Klassenlehrerin, die Mitglied des Komsomol war, und unsere Aktivisten auf mich zu. Sie brachten mir eine freudige Nachricht: »Du musst nicht mehr zum Kommandanten laufen!« »Dich hat man von der Kommandantur befreit!« »Du bist jetzt ein freier Bürger! Genau wie jeder von uns!« »Jetzt musst du aber unserem Verein betreten! Du hast es versprochen!« Ich unterdrückte mein Gewissen und trat dem Komsomol bei. Schweren Herzens steckte ich den Komsomol-Ausweis in die Tasche. Daraufhin bekam ich auch einen ganz normalen sowjetischen Pass, der nicht wie bisher auf sechs Monate beschränkt war. Kurz darauf nutzte ich meine Freiheit und fuhr per Eisenbahn in den Winterferien zu Besuch nach Karaganda. Nachts bei der Rückfahrt schlief ich über den Köpfen der Sitzenden auf der mittleren Klappliege. Mein Sakko diente mir als Kopfkissen. Mein gesunder Schlaf ließ es mich nicht merken, wie und wann mein »Kissen« verschwand und mein Kopf auf dem kahlen Brett landete. Vom Schaffner zum Aussteigen geweckt, griff ich nach meinem Sakko, aber der war ein paar Stationen früher mit jemand anderem bereits ausgestiegen. In der Tasche befanden sich etwas Geld, mein neuer Personal- und auch der Komsomol-Ausweis. Nach dem ersten Schock, bestohlen worden zu sein, kam auch gleich der erste Trost: Jetzt bin ich ohne mein Zutun auch wieder frei vom Komsomol! Denn ich habe gegen die Satzung verstoßen und das rote Büchlein nicht am Herzen, wie vorgeschrieben, sondern unter dem Kopf aufbewahrt. Also verschlafen. Erleichtert von diesen Gedanken, ging ich nach Hause, hoffend auf eine harte Strafe - auf den Ausschluss aus dem kommunistischen Jugendverband. Doch es sollte anders kommen. Am ersten Tag nach den Ferien kam ich in die Schule und wurde von Maria Jefimowna - Stellvertreterin des Direktors - mit Freude und ausgebreiteten Armen empfangen. »Gott sei Dank, du bist noch am Leben!«, rief sie mir entgegen. 32
»Die Polizei hat angerufen und sich nach dir erkundigt. Du sollst dich sofort bei ihr melden. Deine Papiere hat man irgendwo gefunden.« »Wieder eine Meldepflicht!«, dachte ich und ging widerwillig mit gemischten Gefühlen hin. Dem Polizisten musste ich ausführlich erklären, wie und wo ich die Papiere verloren hätte. »In Zukunft passen Sie bitte besser auf ihre Dokumente auf«, mahnte er mich sanft. »Sie haben ja noch mal Glück gehabt! - Ihre Ausweise hat man auf der Straße gefunden. Nicht auszudenken, wenn sie einem feindlichen Agenten in die Hände gefallen wären!« Damit drückte der Beamte mir die Dokumente in die Hand und ließ mich laufen. Ich durfte und musste bis auf Weiteres im Komsomol bleiben. Wie hätte ich mich gefreut, wenn anstatt der Papiere mein Sakko gefunden worden wäre! Dann hätte ich ein Problem weniger gehabt. Zum Thema »Problem« möchte ich hier ein lyrisches Intermezzo einflechten. Kürzlich erzählte mir eine Frau Folgendes. Sie saß in ihrem Zimmer. Da kam ihre fünfjährige, im Wuchs etwas klein geratene Enkelin zu ihr gelaufen und schüttete ihre Sorgen aus: »Oma, ich habe ein Problem«, sagte die Kleine. »Was hast du, mein Kind?! Ein Problem? Was könnte denn das sein?« »Stell dir mal vor, Oma, in einem Jahr bin ich sechs und dann muss ich zur Schule. Aber da werde ich bestimmt die Kleinste in der Klasse sein, wie auch jetzt im Kindergarten. Und die Größeren werden mich immer necken und ärgern. Was soll ich bloß machen?« Als ich das Wort »Problem« hörte, musste ich an meine LBA-Jahre denken. Nicht an die Armut, an die dürftigen Verhältnisse jener Zeit. Das waren doch keine Probleme ... Nur Schwierigkeiten, aus denen das ganze Leben bestand. Das waren Herausforderungen, mit denen man fertig werden musste, um zu überleben ... Aber Probleme gab es einfach nicht! Sie durfte es gar nicht geben. Der Begriff »Problem« war in unserem täglichen Wortschatz nicht 33
vorhanden. Erst der 19. Parteitag der KPdSU konfrontierte uns mit diesem Begriff. Es war im November 1952. Da kam in unserem Stundenplan ein neues Fach hinzu: »Beschlüsse des 19. Parteitages«, der gerade zu Ende gegangen war. Das Wichtigste, was wir zu bewältigen hatten, war natürlich die ausgedehnte, oft von heftigem Applaus unterbrochene Rede von Genosse Stalin. Die Überschrift lautete: »Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR!« Die LBA-Schüler waren vor zwei Monaten aus allen Richtungen, aus verschiedenen Verhältnissen und Schichten hierher gekommen, hatten wahrscheinlich alle ihre Probleme gehabt, ohne es zu wissen. Aber jetzt hatten wir mit dem Begriff »Probleme« ein wahres, gemeinsames Problem. Wir diskutierten miteinander und überlegten, was der Begriff wohl bedeuten möge. Denn Schwierigkeiten könnten es doch nicht sein? Der Sozialismus wäre ja seit 35 Jahren etabliert. Er habe sich siegreich schon auf halb Europa ausgedehnt! Alle Gegner seien aus dem Weg geräumt, isoliert und vernichtet. Eine neue Generation sei herangewachsen und hätte alle Zweige der Wirtschaft fest im Griff ... Und sollte doch über Schwierigkeiten gesprochen worden sein, warum dann so viel Applaus?... Heute haben wir uns an dieses Wort so gewöhnt, dass die sorglosen Kinder schon von Problemen reden. Und wenn das Wort Problem auf einmal aus dem Gebrauch verschwinden sollte, hätten wir wahrscheinlich ein Problem mehr. Wir müssten nach Ersatz suchen. Währenddessen kam der Lehrer in die Klasse und schaffte uns mit zwei Worten Klarheit: »Problem bedeutet - ungelöste Aufgabe«... So was einfaches! Wie konnten wir nur so naiv sein und nicht selber auf diesen Gedanken kommen? Klarer Fall: Es gab noch eine Menge ungelöster Aufgaben, von denen ein Großteil überhaupt unlösbar war. Darüber hörte man aber nichts in den Nachrichten. Denn laut diesen ging ja schon seit 30 Jahren alles nur noch aufwärts. Die Kühe legten mit der Milch zu; die Hühner, die sich mit künstlicher Beleuchtung über 34
die Länge von Tag und Nacht manipulieren lassen, legten schon zwei Eier pro Tag; die Ernte stieg von Jahr zu Jahr. - Dabei mussten Tausende Tonnen Getreide in Kanada, Amerika und Argentinien eingekauft werden, um den Bedarf des Landes zu decken. - Darüber wiederum berichtete das Radio nichts. Wenn wir, so der Lehrer, in Ausbeutung von Kohle und Erdöl noch hinter Amerika stehen, dann nur aus dem Grund, weil wir schonender, sparsamer mit den Naturgütern umgehen. Die Amis denken ja gar nicht an die Zukunft! Sie würden am liebsten heute alles aus der Erde buddeln und pumpen. Bei uns hingegen laufe alles planund zweckmäßig. Merkwürdig, dass bei solchem Stand der Dinge Alexej Stachanow, ein Kohlengrubenarbeiter, der durch Rationalisierung an seinem Arbeitsplatz an einem Tag auf einmal ein Zehnfaches an Kohle hochschaffen konnte, nicht als rücksichtsloser Ausbeuter der unterirdischen Reserven dafür bestraft wurde, sondern als höchstes Vorbild in der ganzen Sowjetunion, sogar in den Schulbüchern, gepriesen wurde. War er nicht vielmehr ein Nachahmer der gierigen, kurzsichtigen Amerikaner, die nicht an morgen denken?... Im Gegenteil, jetzt sollte jeder Arbeiter in der Produktion ein Stachanow werden. Die Stachanow-Bewegung wurde zu einem Übel für viele Tausende Arbeiter, und nicht nur in der Kohle-Branche. Denn die Tagesnormen wurden überall drastisch angehoben, ob die Voraussetzungen dazu gegeben waren oder nicht. Wurden diese nicht erfüllt, bekam der Arbeiter dementsprechend weniger Lohn. Auch auf andere sozialistische Länder erweiterte sich dieser Vorstoß. In der DDR ergab sich später nach dem sowjetischen Vorbild eine Hennecke-Bewegung. In der Praktik also galt doch überall das Prinzip: je mehr, desto besser! Blieben da die Sparsamkeit und schonender Umgang mit den Naturgütern nicht auf der Strecke?... Ich hatte immer wieder Probleme damit, all die Gegensätze zwischen Theorie und Realität unter einen Hut zu bekommen. Übten wir doch im Fach »Logik« das vernünftige, logische Denken. 35
Man müsse sich nur an bestimmte Methoden und Richtlinien halten. Die Plan- und Zweckmäßigkeit nicht außer Acht lassen. Außerdem solle man die Dialektik beherrschen, das heißt, die Kunst des Unterredens und der Diskussion. Sie, die Dialektik, habe etwas mit Beweglichkeit, Anpassungsfähigkeit, Uneindeutigkeit, Manövrierfähigkeit, Haltlosigkeit, Ungenauigkeit und Ähnlichem zu tun. Ich habe in einer Zeitschrift eine interessante praktische Erklärung über die Dialektik gelesen. Schade, dass dieses humorvolle Beispiel zu jener Zeit nicht im Lehrbuch stand. Es wäre sehr hilfreich gewesen. Ich möchte es hier weitergeben. Vielleicht kann sich auch der Leser darüber amüsieren oder sogar etwas lernen. Etliche Bauern eines sozialistischen Landes kommen zum Bürgermeister: »Genosse Bürgermeister, sage uns bitte, was man unter Dialektik zu verstehen hat.« »Liebe Genossen, ich kann es euch auch nicht so einfach erklären, will euch aber ein Beispiel erzählen. Also stellt euch vor, da kommen zwei Genossen zu mir. Der eine ist sauber, der andere - schmutzig. Ich biete ihnen ein Bad an. Wer von beiden wird wohl das Bad annehmen?« »Der Schmutzige«, sagten die Bauern. »Nein, der Saubere«, antwortete der Bürgermeister, »denn er ist es gewohnt zu baden, der Schmutzige legt keinen Wert auf ein Bad. Wer von ihnen wird also das Bad annehmen?« »Der Saubere«, antworten die Bauern. »Nein, der Schmutzige, denn er hat ja ein Bad nötig«, sagt der Bürgermeister. »Also wer von beiden nimmt das Bad an?« »Der Schmutzige«, rufen die Bauern. »Nein, beide«, sagt darauf der Bürgermeister, »denn der Saubere ist gewöhnt zu baden, und der Schmutzige bedarf eines Bades. Also wer nimmt das Bad an?« »Beide«, sagen die Bauern verdutzt. »Nein, keiner von beiden«, sagt der Bürgermeister, »denn der Schmutzige ist nicht gewöhnt zu baden, und der Saubere hat kein Bad nötig.« 36
»Ja, aber Genosse Bürgermeister«, begehren die Bauern auf, »wie sollen wir denn das verstehen? Jedes Mal sagst du etwas anderes und nur das, was dir gerade in den Kram passt.« »Da seht ihr‘s. Das ist eben Dialektik - alles fließt, alles ändert sich!«, lachte der Bürgermeister. So sieht also das logische Denken aus. Will man eine richtige Antwort geben, muss man erst wissen, wen man vor sich hat, was für ihn als zweckmäßig gilt, wie er über die Frage denkt und empfindet, was er erwartet und so weiter. Aus diesem Grund ist es ratsam, niemals voreilige Schlüsse zu ziehen; denn man kann leicht in eine Falle geraten. Darum war im Umlauf auch dieses bewährte Prinzip: Sage nicht, was du denkst, aber überlege, bedenke gut, was du sagst. Denke nicht zu laut - wer weiß, was der Zuhörende mit deinen Gedanken anstellen wird. Mein Vater zum Beispiel war viel zu frei und zu offen. Er hat für diese »Fehler« mit seinem Leben bezahlt. Ich wollte nicht seine Fehler wiederholen und übte mich in Vorsicht und Schweigsamkeit. Lebte meistens nach dem Prinzip: Rede, wenn du gefragt wirst, oder: »Reden ist Silber, aber Schweigen ist Gold.« Und weil Gold im Vergleich zum Silber doch wesentlich höher im Wert steht, bevorzugte ich natürlich das Gold. Dies wurde für mich zur Gewohnheit, später zum Charakterzug. Ich kam auch nicht schlecht damit zurecht. Als ich mit meinem Cousin bekannt wurde, waren wir beide bei 21 und in verschiedenen Ecken der Sowjetunion aufgewachsen, da stellte ich zu meiner Genugtuung fest, auch er halte sich an die gleichen Regeln. Wir konnten uns stundenlang schweigend unterhalten und haben uns wunderbar verstehen können. Aber auf die Dauer war es auch nicht immer das Richtige und Beste. Nur mit Gedanken kommt man oft nicht weiter. Da gilt es, über den eigenen Schatten zu springen, ob man will oder nicht. Besonders, wenn man von der Liebe - diesem wunderbaren Gefühl der Zuneigung zum anderen Geschlecht - überfallen wird. Wenn man schon eine bestimmte Person ins Auge gefasst hat, da kann man mit seiner Verschlossenheit ins Schwitzen kommen, bis man die drei schönsten Worte, die es überhaupt gibt und die doch 37
jeder gerne hören möchte - ich liebe dich - über die Lippen bringt. Im Russischen sagt man: Es gibt keinen Rauch ohne Feuer. Bei mir war es ein Feuer ohne Rauch. Innerlich brannte in mir das heißeste Feuer, das mich zu Asche zu verbrennen drohte, aber nach außen ließ ich niemanden etwas merken. Für mein Verständnis war es eine Schande, verliebt zu sein. Fast ein Verbrechen. Woher diese Befangenheit und Beklommenheit? Wahrscheinlich waren es Folgen meiner seltsamen Kindheit. Da ich nie einen Vater kennen gelernt hatte und auch die meisten Familien um mich herum nur aus Müttern mit Kindern bestanden, hatte ich über die Aufgabe und Funktion des Vaters in der Familie keine Ahnung. Ab und zu sah ich doch eine Familie mit einem Vater, was ich als Ausnahme verstand. Ich konnte es nicht begreifen, wie der Vater wohl zur Familie hinzugekommen sei. Für mich war das nicht normal. Rätselhaft. Den Aufklärungen auf der Straße, die ich in schmutzigsten Varianten mitbekam, glaubte ich kein Wort. Meine Mutter hatte nie Zeit gehabt, mir von meinem Vater etwas zu erzählen. Sie musste täglich von früh bis spät dafür sorgen, dass ich überhaupt überleben konnte. Mit 12-13 Jahren schaffte ich im Sommer auf den Feldern. Da wurden alle Anwesenden in Listen eingetragen, und bei den Russen ist es üblich, hinter den Namen und Vornamen unbedingt noch den Namen des Vaters zu stellen. So wurde auch ich nach dem Namen meines Vaters gefragt. »Ich weiß nicht«, war meine Antwort. »Was? Du weißt nicht, wie dein Vater geheißen hat?«, fragten sie verwundert. »Ich habe n i e einen Vater gehabt«, behauptete ich und ging davon. Die Anwesenden glaubten, ich mache Witze, lachten und machten sich über mich lustig. Was sie da witzig fanden, erfuhr ich erst später. Da stellte es sich tatsächlich heraus, ich hätte auch einen Vater gehabt und ohne ihn hätte es mich gar nicht geben können. Jetzt, in der LBA, war ich sogar in Sachen Beruf zu seinem Nachfolger geworden. In einem halben Jahr würde ich mein Diplom und den Titel »Lehrer« erhalten. Ob ich davon jemals Gebrauch machen würde, war ziemlich unsi38
cher. Es mussten vorher noch die letzten Hürden genommen werden. Und sollte ich auf der Spur des Vaters bleiben, so wird meine Lehrer - Karriere wohl auch nicht von Dauer sein... In den vier Jahren meiner beruflichen Ausbildung waren sehr viele Sonderumsiedler in die LBA gekommen. Unter ihnen waren etliche Kaukasier, ein beträchtlicher Teil polnischer Abstammung und viele Deutsche. Nicht alle kamen in die LBA, weil sie vom Beruf des Lehrers träumten. Wie sich herausstellte, hatten fast alle männlichen Kollegen versucht, eine technische Ausbildung im Bahn- oder Bergbau-Technikum anzutreten. Viele Mädchen hatten sich in Fachschulen für Krankenschwestern oder Landwirtschaft um einen Ausbildungsplatz beworben. - Alle landeten unweigerlich in der Lehrerbildungsanstalt in Eska. Wenn junge Sonderumsiedler nicht als Analphabeten im Kolchos bleiben wollten und eine berufliche Ausbildung anstrebten, wurden sie von sämtlichen Bildungseinrichtungen der ganzen Umgebung höflich aber bestimmt auf die LBA verwiesen: »Versuchen Sie es dort« oder »dort werden Sie erwartet« oder ironisch »dort freut man sich auf Ihr Kommen«. Die Deutschen, die hier auf diese Weise zusammentrafen, waren in jeder Hinsicht ein sehr buntes Publikum. Hier waren Deportierte von der Wolga, Evakuierte aus dem Kaukasus und der Ukraine, Repatriierte aus dem Ausland und auch Einheimische, die schon in Kasachstan geboren waren. Der Altersunterschied war beträchtlich. Wir sprachen verschiedene Mundarten und gehörten zu verschiedenen Konfessionen. Gemeinsam hatten wir sehr wenig: Die nationale Zugehörigkeit und den ausgeprägten Willen zum Lernen. Hier wurden wir alle in einen Topf geworfen und von der Kommandantur überwacht. Dass aus diesen Tatsachen für die Lehrerschaft der LBA besondere Aufgaben entsprangen, war mir damals nicht bewusst. Mit dem 19. Parteitag begann meine Ausbildung, und mit dem 20. ging sie zu Ende. Nikita Chruschtschow hatte inzwischen das Ruder im Kreml übernommen. Von ihm wurde der Personenkult des Genossen Stalin zu Grabe getragen. 39
Als dieser vor drei Jahren starb, fürchteten viele, die Erde müsste stehen bleiben, da Stalin ja die Achse gewesen sei, um die sie sich gedreht habe. Es war ein Irrtum. Die Erde blieb nicht stehen, bekam sogar etwas mehr Schwung. Stalins Nachfolger Malenkow versuchte die Wirtschaft von militärischen Schienen mehr auf zivile Belange zu lenken. Dies konnte er aber nicht durchsetzen - er wurde von Genosse Chruschtschow verdrängt. Jetzt hatte dieser das Sagen im Kreml und klärte das sowjetische Volk über die Vergangenheit auf. Von ihm erfuhren wir jetzt, warum auf dem 19. Parteitag vor vier Jahren während der Rede Stalins so heftig applaudiert wurde. Es sei die grenzenlos übertriebene Verehrung Stalins schuld daran gewesen und die Angst des Volkes vor seinen Repressalien. Jeder Delegierte hatte Angst, mit dem Klatschen als Erster aufzuhören, weil er als Dissident verpetzt werden und unter die Räder kommen könnte. Ab jetzt solle alles anders werden, verkündete Nikita. Die Parole hieß: Was die Partei sagt - so wird’s gemacht! In der Partei aber gab Nikita Sergejewitsch den Ton an. Der jungen Generation versprach er feierlich, sie werde den Kommunismus leibhaftig erleben. In Sachen Wohlstand werde die Sowjetunion bald die USA »einholen und überholen«. Auch gegen die Gläubigen war er sehr kämpferisch gestimmt. Diese seien sowieso »ein Überbleibsel von gestern« dem Aussterben nahe. In ein paar Jahren würde er, Nikita Sergejewitsch persönlich, dem Sowjetvolk im Fernsehen den letzten Baptisten vorführen. Dann gehörten sie der Vergangenheit an! Seine Redegewandtheit war beträchtlich. Er konnte die Masse mitreißen, war aber nicht imstande, seine Pläne zu verwirklichen, weil er von Genosse Breshnew verdrängt und vorzeitig, ohne gefragt zu werden, in den Ruhestand versetzt wurde. Dies ist hier, zeitlich gesehen, um sieben Jahre vorgegriffen. * * *
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Es waren die letzten Monate vor der Prüfung und dem Staatsexamen. Wohin es nach der Abschlussfeier mit dem Diplom in der Hand weitergehen sollte, wusste niemand. Die jungen Pädagogen mit Arbeitsplätzen zu versorgen, war Aufgabe der Kreisbehörde für Volksbildung. Wer örtliche Beziehungen hatte, konnte auf diese Weise eigene Vorsorge treffen. Wer weiterstudieren wollte, musste sich beizeiten um einen Studienplatz bemühen. Etliche Absolventen des Vorjahres - darunter auch mein Freund Waldemar - hatten sofort nach dem LBA-Abschluss ein Hochschulstudium antreten können. Ich machte einen Versuch. Auf Empfehlung meines Musiklehrers schickte ich meine Bewerbung an das Konservatorium in Omsk. Die Ausbildung zum Lehrer in der LBA machte mir Spaß. Aber nur der Musikunterricht brachte mir das Glücksgefühl! Mein Musiklehrer Viktor Konowalow glaubte, bei mir ein großes musikalisches Talent entdeckt zu haben. Unter seiner Leitung spielte ich ständig im Orchester, wie im »großen« - zirka 20 Spieler, so auch im »kleinen« - etwa 10 Teilnehmer. Ich spielte meistens alles auswendig, war nicht besonders an die Noten gebunden. Durch das ständige Üben beherrschte ich meine Mandoline mit einer bestimmten Virtuosität. Es gab Tage, da war alles in mir und ringsherum Musik. In Musik glaubte ich mich auflösen zu können! Meine Liebe zur Musik und mein musikalisches Gedächtnis muss ich von meinem Vater geerbt haben. Er soll ein leidenschaftlicher Gitarrenspieler gewesen sein. Leider konnte ich ihn nicht kennen lernen. Ich hätte gerne in Richtung Musik weiterstudiert, bekam aber vom Konservatorium keine Antwort und habe keine weiteren Versuche unternommen. Um eine Arbeitsstelle brauchte ich mich nicht zu bemühen. Kurz vor den letzten Prüfungen bekam ich ganz unerwartet ein Angebot von der Direktion der LBA, die fürs nächste Schuljahr dringend zwei Musiklehrer brauchte. Einen in Klasse Mandoline, den zweiten für den Unterricht in Akkordeon. Mein bisheriger Lehrer war mit der Miliz in Konflikt geraten und 41
musste die LBA verlassen. Seine Stelle wurde nun mir angeboten. Dem zweiten Musiklehrer waren im Rausch beide Hände angefroren. Nach intensiver Behandlung im Krankenhaus konnten seine Finger zwar gerettet werden, waren aber nicht mehr so beweglich und gehorsam wie zuvor. Er musste ausscheiden. Der Alkohol hatte ihn den Beruf gekostet. Jetzt wurde nach Ersatz gesucht. Da mein Klassenkamerad Albert Pfeifer - etwas älter als ich - sehr gut Akkordeon spielte, wurde ihm die zweite Stelle angeboten. Wir nahmen die Angebote an. Dass ich mich sehr darüber gefreut hätte, meinen Lehrern von heut auf morgen als gleichwertiger Kollege gegenüberzustehen, kann ich nicht sagen. Mich bedrückte das ängstliche Gefühl, meine Gewissensfrage, die in mir wie eine Zeitbombe tickte, müsste irgendwann freigelegt werden. Aber wie? Und was dann? Diese ungelösten Fragen schob ich vor mir her. Sie bereiteten mir Unbehagen. Ich fand keinen Ausweg und keine Lösung. Vorerst überließ ich sie der Zukunft. Jetzt galt es zunächst die Prüfungen zu meistern. Sieben Zwischenprüfungen hatte ich bis dahin gut überstanden. Ich bekam in jedem Semester mein Stipendium, und meine Mutter - jedes Jahr von der Direktion der LBA Dankesbriefe. Sie wurde für die gute Erziehung des Sohnes gelobt, indem meine Leistungen und beispielhaftes Verhalten hervorgehoben wurden. Bei allen Semesterprüfungen zitterte ich besonders vor dem Aufsatz. Das war für mich echt problematisch. Nie hatte ich Zeit und Geduld, all die Bücher zu lesen, die uns für die Sommerferien empfohlen wurden. Es war jeweils eine Liste mit 20 und mehr literarischen Werken. Und die Themen für Aufsätze wurden immer aus den im Programm vorgesehenen Büchern gegeben. Kein freies Thema zur Auswahl. Dass ich da noch mit guten Noten durchkam, schreibe ich der Gnade der Lehrer bei der Bewertung zu. Bei mir gab es da wirklich nicht viel zu lesen! Ich konnte nur das weitergeben, was im Schulbuch in Kurzform geschildert war. In meinen Aufsätzen 42
wurden diese Kurzberichte noch mal erheblich gekürzt. Aber vielleicht wurde die Kürze auch als ein Pluspunkt gesehen, wie es einst bei meinem Vater der Fall gewesen sein soll. Nach dreijähriger Haft kam er 1933 krank und entkräftet nach Hause und erholte sich anschließend in einer Kur im Kaukasus. Im Jahre 1935 - inzwischen war ich geboren worden - kam auch schon die nächste Haft. Drei Jahre später wurde er von Augenzeugen in Magadan zum letzten Mal gesehen. Da wurde er - noch am Leben, aber total entkräftet - in die Totenkammer geworfen, wo er erfror. Zeugnisse oder Urkunden gibt es darüber nicht. Das war jetzt ein tragischer Rückblick. Ich wollte eigentlich etwas über seinen Kuraufenthalt erzählen. Eines Tages war ein Ausflug für alle Kurgäste obligatorisch angesagt. Das Ziel war, einen gewissen Berg zu besteigen, um oben einen herrlichen Panoramaausblick zu erleben. Für meinen Vater war das eine enorme Anstrengung. Jeder Schritt, von Schmerzen begleitet, verlangte Mut und Willenskraft. Sehnsüchtig hob er immer wieder den Blick nach oben, ob das Ziel nicht schon bald erreicht wäre. Wer einigermaßen fit war und ein offenes Auge für die Schönheit der Schöpfung hatte, der konnte wirklich mit höchster Freude diese einmalige Gelegenheit genießen. Nach dem Ausflug sollten alle Teilnehmer in einem Aufsatz die Erlebnisse des Tages schildern. Die drei besten Aufsätze sollten mit einem Preis ausgezeichnet werden. Manche hatten sehr viel zu berichten. Von den Blümchen am Wegesrand bis zu den fernen Bergspitzen, die bis in die Wolken ragten. Sie hatten sich wirklich bemüht, so ausführlich wie möglich alles zu erfassen. Als das Ergebnis der Bewertung und die Gewinner von der Jury dem in Spannung wartenden Publikum vorgestellt wurden, bekam mein Vater den ersten Preis. Es wurde sofort auch sein ganzer Aufsatz vorgelesen. Dazu benötigte der Juror, der den vollen Text auswendig vortrug, insgesamt nur fünf Sekunden, denn der ganze Aufsatz bestand aus einem einzigen Satz: »Von unten an bis oben - ach, wäre ich endlich droben!« 43
Doch nun zur Gegenwart ... Das Abschlussexamen verlief nicht viel anders als die vorangegangenen Semesterprüfungen. Das gleiche Zittern, das gleiche Fiebern. Aber doch mit einer Vorfreude: Es sind die letzten Prüfungen! Um das Stipendium brauchten wir uns auch keine Gedanken mehr zu machen. Trotzdem bemühte sich jeder um einen guten Abschluss, der uns wichtig erschien als Trittbrett für die weitere Laufbahn. Mit dem Diplom verbanden wir unsere Zukunftsträume, egal ob Arbeit oder Studium. In Hochspannung und Anstrengung verliefen diese Wochen. Und soviel ich weiß, haben alle das Examen bestanden. Es war ja auch das Ziel und Streben der Pädagogen. Sie zitterten mit uns; denn nach dem Resultat der Abschlussprüfungen wurde auch ihre Arbeit von höheren Instanzen bewertet. Die Ergebnisse waren erwartungsgemäß gut ausgefallen. Drei Absolventen unseres Kurses erfüllten die Voraussetzungen für ein Diplom mit Auszeichnung. Dazu mussten 75 % der etwa 40 Fächer im Laufe von vier Jahren die Höchstnote 5 aufweisen. Der Rest durfte die Note 4 haben. Alle drei - Irina Schwarz, Siegrid Neufeld und Andrej Bergen, wie ich hier genannt wurde - waren Deutsche und kamen sofort an die Ehrentafel. Natürlich nicht persönlich - nur unsere Fotos. Die Abschiedsrede hielt der Direktor der LBA Wladimir I. Rekubrazki. Für diese Angelegenheit wurde die gesamte Belegschaft im Hof aufgestellt. Die Absolventen durften nach einer Ehrenrunde, mit uns dreien an der Spitze und mir als Fahnenträger, in eine Kolonne geordnet, sich auch vorne aufstellen. Mit viel Herzlichkeit und besten Empfehlungen für die Zukunft sprach der von allen geachtete und geliebte Direktor zu den neu gebackenen Lehrern. Wir sollten den hohen Ruf des Pädagogen in Ehre und Würde halten. In den Dörfern und Städten, wo ein jeder zur Arbeit hinkomme, sollten wir ein positives Bild des Lehrers präsentieren. Nach einer halben Stunde war auch diese Zeremonie vorbei. Wir bekamen unsere Diplome und feierten den Abschluss mit gemeinsamem Essen, was sich zeitlich bis nach Mitternacht ausdehnte. Dann ging die ganze Schar auf den der Stadt nahe gelegenen Berg, um noch einen Sonnenaufgang in der Höhe gemeinsam zu erleben. 44
Der Kurort Borowoje ist eine wunderbare Insel der Schönheit inmitten der weiten Steppen Kasachstans. Die Landschaft ist mit einem Stückchen Schweiz vergleichbar, das sich in der grenzenlosen Ebene verloren hat. Die letzten Blicke gleiten über die Stadt, den See mit der grünen Umrahmung von Wäldern. Dann geht ein jeder seinen eigenen Weg, mit Wehmut, Ungewissheit und verschiedenen Erwartungen an die Zukunft.
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Lockvögel im Netz Mitte August 1956 trat ich meine Berufstätigkeit als Musiklehrer an. Sechs Wochen - bis Ende September - war ich mit einer Gruppe der LBA-Schüler auf den Feldern. Die Kolchosen waren in der Erntezeit nie imstande, mit ihrer eigenen Kraft die Ernte einzubringen. Studenten und Schüler sämtlicher Schulen waren eine billige und unentbehrliche Hilfe. Verdienen konnte man da nichts. Die Buchführer waren in Mathematik so schlau, dass am Ende, unterm Strich, immer nur eine Null für die armen Azubis herauskam. Man konnte froh sein, wenn man nach der Abrechnung nicht fürs Essen noch zuzahlen musste. Der reguläre Unterricht begann am 1. Oktober. Die Struktur und Profil der LBA hatten sich inzwischen geändert. Seit einiger Zeit wurden nicht mehr nur Grundschullehrer, sondern auch Sportlehrer ausgebildet. Aufnahmebedingung war die allgemeine Hochschulreife, sprich das Zeugnis der 10. Klasse. Somit waren meine ersten Schüler, die ich mit der Mandoline bekannt zu machen hatte, kaum jünger als ich. Für mich war das keine günstige Konstellation. Ich hatte das Gefühl, am falschen Platz zu sein und »in fremden Schuhen zu stecken«. Besonders mulmig war mir bei jeder Begegnung mit den Kollegen. Gestern noch waren sie meine Erzieher und jetzt nannten sie mich nach allen Regeln der Etikette »Andrej Iwanowitsch«. Da kam die Einladung, richtiger vielleicht - Vorladung, bei der Sitzung des pädagogischen Rates dabei zu sein. Auf einen Schlag hatte ich alle 2025 Kollegen vor mir. Ich nahm ganz hinten in der Nähe der Tür Platz, um so schnell wie möglich wieder verschwinden zu können. Gespannt wartete ich auf den Verlauf der Besprechung. Das Schuljahr hatte kaum begonnen. Während die sachlichen Fragen des Unterrichts behandelt wurden, verlief alles einigermaßen ruhig. Zuletzt kam der Punkt »Verschiedenes«. Da entfalteten sich solche Turbulenzen und Streitereien, die ich von meinen lieben Pädagogen nie erwartet hätte. Fast jeder hatte dem anderen etwas vorzuwerfen, zu beanstanden. Der eine 46
sollte in einem Restaurant etwas über den oder den gesagt haben, der andere habe sich im Bus über jemanden so und so geäußert und dergleichen. Die kurzen Sommerferien hatten heiße, aufregende Spuren in ihren Gemütern hinterlassen. Hier wurde alles ausgepackt. Da kam das Innere der Personen zum Vorschein, das äußere Bild, das sie jetzt von sich gaben, war ihnen im Moment egal. Ich saß da wie gelähmt. Es war mir peinlich. Ich vermied es, jemanden anzusehen, um nicht auch in eine Zwickmühle zu geraten. Wie war ich froh, davonlaufen zu können und meiner Arbeit nachgehen zu dürfen! Das Erlebte hinterließ in mir eine tiefe Spur der Enttäuschung. Ich musste ununterbrochen über meine Zukunft nachdenken. Ich war um eine Erfahrung reicher geworden: Die Pädagogen sind ja auch nur arme Sünder, belastet von Egoismus, Rechthaberei, Ehrgeiz und Unversöhnlichkeit. Diese Einsicht war keine aussichtsreiche Voraussetzung für eine dauerhaft gute Zusammenarbeit. Ungefähr 12 Wochen konnte ich einigermaßen ruhig meine Arbeit verrichten. Dann war es mit der Ruhe aus. Am Montag, den 24. Dezember 1956 erreichte mich eine Vorladung vom KGB. Um 19 Uhr sollte ich ein bestimmtes Zimmer im Gebäude der Polizei aufsuchen. Jetzt ist es an der Zeit, dem Leser in mein Seelenleben und Weltanschauung Einblick zu gewähren. Schon vor meinem Eintritt in die LBA hatte ich mich bekehrt und war ein gläubiger Christ geworden. Als solcher schaute ich mich natürlich gleich nach Ankunft in Eska nach Gleichgesinnten um. Gemeinsam mit meinem Freund Waldemar fand ich über Heinz Kröker zu einer kleinen Gruppe, die sich wöchentlich zu Bibellesungen traf. Zu Beginn waren es nur 10-15 Personen, darunter einige wenige Jugendliche. Die Gruppe wurde größer. Drei Mädchen aus der LBA - die Schwestern Siegrid, Herta und Martha Neufeld - hatten aus einem Kolchos ihre Mutter und den kranken Bruder nach Eska geholt. Die Mutter dieser Mädchen Justine Neufeld - gründete hier 1955 einen mehrstimmigen Chor. Sie übte mit uns spannend und interessant das einfache und praktische Ziffern-System ein. Klein und zierlich stand sie vor uns auf 47
einer kleinen Bank mit dem Dirigentenstab in der Hand. - Das hat mir sehr gefallen! Sie erinnerte mich an meine eigene Mutter, die auch einst begeisterte Chorsängerin war und mir schon manche Übung im Ziffern-Singen beigebracht hatte. Zu dieser Zeit organisierte sich die Gruppe zur Gemeinde. Es kamen immer mehr Gläubige aus verschiedenen Richtungen hinzu: Kirchliche und Brüder - Mennoniten, Baptisten, Evangelisch-Lutherische und vielleicht noch andere. In Eintracht fanden hier alle ihre Heimat im Glauben. Ich besuchte diese Versammlungen aus innerem Trieb und Verlangen nach Gottes Wort. Nun wurde ich am Heiligen Abend 1956 vom KGB vorgeladen. Die Gemeinde, die offiziell noch nicht registriert war und daher keinen geeigneten Raum für die Gottesdienste hatte, versammelte sich in Privathäusern, um dieses für die ganze Christenheit so wichtige Fest zu feiern. Diese Versammlungen, die ich auch schon etliche Jahre regelmäßig besuchte, waren für die Staatsbehörden ein Dorn im Auge. Nikita Sergejewitsch hatte doch dem Volk versprochen, den letzten Gläubigen demnächst öffentlich vorzuführen. Das wollte ihm nicht so richtig gelingen! Deshalb wurde mit allen möglichen Mitteln versucht, diese Zusammenkünfte zu unterbinden. Mit verleumderischen Artikeln in den Zeitungen, mit »Aufklärungen« in den Betriebsversammlungen wurde die Öffentlichkeit gegen die Gläubigen aufgehetzt. Den Hass bei den Menschen hervorzurufen - ist keine große Kunst, auch ein minimales Quantum an Wissen ist dazu nicht nötig. Die Zweckmäßigkeit rechtfertigt jedes Mittel. Was in der Zeitung steht, dem wird geglaubt. Und da stand eines Tages schwarz auf weiß: Die Baptisten opfern ihre eigenen Kinder! Nach Beweisen oder Fakten wurde nicht gefragt. Es genügte, wenn es in der Zeitung stand. Sofort war ein allgemeines Feindbild da, das für alle Miseren des Alltags verantwortlich gemacht werden konnte. Wie schon zu Zeiten Neros wurden hier Zielscheiben aufgebaut, in die jeder seine selbst gebastelten giftigen Pfeile mit staatlicher Absegnung abschießen durfte. 48
So war die Atmosphäre unter der Sonne der »menschenfreundlichsten Verfassung der Welt«. Schweren Schrittes suchte ich in dem dunklen Korridor nach dem entsprechenden Zimmer und klopfte an. Der Beamte - ein bildschöner Kasache in Uniform - bat mich herein und deutete auf den an seinem Tisch ihm gegenüberstehenden Stuhl: »Bitte, nehmen Sie Platz.« Dann stellte er sich mit Rang und Namen vor, so auch das Amt, das er vertrat. Bis dahin hatte ich noch nie von einem KGB gehört. Der volle Name bedeutet: Komitee für Staats-Sicherheit. Deutsch müsste es eigentlich KSS heißen. In der DDR hieß das treffliche Kürzel »Stasi«. Gleiches Amt - gleiche Aufgaben. Dieses Komitee soll den Staat vor jeglichen feindlichen Elementen - meistens doch vor den eigenen Bürgern - schützen, beizeiten die maskierten Gegner des Sozialismus und Kommunismus entlarven und isolieren. Und solche Elemente, so der Beamte, gebe es überall und immer. Man müsse deshalb auf der Hut sein, Augen und Ohren offen halten, um den Feinden keine Gelegenheit zu bieten, dem Staat und den Sowjetmenschen irgendwelche Schäden zuzufügen. Nach einer ausführlichen Einleitung, in der er immer wieder mit Beispielen aus dem Leben die Wichtigkeit und Zweckmäßigkeit seines Komitees betonte, schlich er sich langsam in meine Umwelt und privates Leben ein. Auf den ersten Blick erschien alles tolerant und gut gemeint. Er wusste über mich und mein Leben genau Bescheid. Ich bewunderte seine Wachsamkeit und fragte mich, woher wohl seine Allwissenheit auf diesem Gebiet stammen könnte. Er war über meine Lernerfolge und Berufstätigkeit in der LBA bestens informiert. Er wusste alles über meine gegenwärtigen familiären Verhältnisse und auch über meinen Glauben. Er fand nichts Schlimmes dabei, dass ich Gottesdienste besuchte und meinte: »Bei uns ist ja Gewissensfreiheit. Sie dürfen auch weiterhin ihren Glauben frei ausüben. Nur, wie gesagt, Augen und Ohren offen halten. Sie sind ja als Lehrer tätig und Mitglied des Komsomol. Deshalb habe ich volles Vertrauen zu Ihnen. Sie werden mir in 49
meiner verantwortungsvollen Arbeit zum Wohle unserer sozialistischen Heimat sehr behilflich sein.« Zielstrebig und planmäßig appellierte er an meinen Patriotismus. Wenn er nur hätte ahnen können, wie wenig in mir davon zu finden war. Aber so tief konnte er mit seinem bohrenden Blick denn doch nicht eindringen. In diesem Sinne verlief der erste Abend. Das Gespräch war noch nicht abgeschlossen. Morgen wolle er mich wieder zur gleichen Zeit im gleichen Zimmer bei sich sehen. Dass Weihnachten war, darum scherte er sich nicht! Im Kalender gab es kein Weihnachten. Der 25. und 26. Dezember waren normale Arbeitstage wie jeder andere auch. Der Abend kam, und ich saß wieder in seinem Zimmer. Der zweite Abend verlief ziemlich identisch mit dem ersten. Jetzt wollte er wissen, wer und zu welchem Thema in der letzten Versammlung gepredigt hatte. Da habe ich etliche Sätze über den geistlichen Inhalt der Versammlung fallen lassen. Mehr auch nicht. Ansonsten sprach er über das gleiche Thema, äußerte die gleichen Appelle wie am Abend zuvor. Wieder endete das Gespräch ohne Abschluss. Ich hörte ihm meistens schweigend zu. Meine einsilbigen Antworten auf seine Fragen gefielen ihm nicht besonders. Er schloss wahrscheinlich daraus, ich hätte ihn immer noch nicht recht verstanden. Deshalb sollte ich auch noch den dritten Abend bei ihm verbringen. Ich war gehorsam und kam. Von seiner Höflichkeit und Toleranz des ersten Abends war immer weniger zu spüren. Sein Ton wurde härter, die Geduld und gespielte Gutmütigkeit gingen auch zu Ende. Offensichtlich war es für ihn Zeit, eine andere Saite anzuschlagen, nämlich die der Gewalt und Macht. Mit Nachdruck verlangte er, ich solle nicht nur den Inhalt der letzten Andacht schildern, sondern auch die Namen der Redner nennen. Da nannte ich die Namen von zwei Glaubensbrüdern - den des Gemeindeältesten und den meines zukünftigen Schwiegervaters, die in der letzten Versammlung gepredigt hatten. Er wollte mehr wissen: 50
»Und weiter?! Wer ist da noch aktiv tätig in eurer Sekte? Wer leitet den Chor? Wer verführt und verleitet Kinder und Jugendliche? Ah?!« Erschrocken sah ich ihn an und stammelte: »Ich weiß nicht ... Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen.« »Du weißt nicht?!«, brüllte er mich an. »Du weißt nicht, wer den Chor leitet, in dem du singst?! Dir ist der Name Neufeld unbekannt?! Du weißt nicht, dass diese Neufeld und ihre Töchter Vaterlandsverräter sind?! Dass sie zu den Faschisten gelaufen sind zu Beginn des Krieges?! Du weißt nicht, dass sie als Spione zurück in unser Land eingeschleust wurden?! Natürlich weißt du davon nichts! Woher auch. Sie sind Seelenfänger höchster Klasse! Aber wir haben sie entlarvt!« »Davon weiß ich wirklich nichts. Aber wenn Sie das alles schon wissen, warum fragen Sie dann mich?« »Ich frage dich, weil ich deine Hilfe brauche. Diese Neufelds sind ja nicht die Einzigen. Es besteht da ein ganzes Spionagenetz. Wir müssen jedes Glied ausfindig machen. Keiner darf uns entkommen. Verstehst du jetzt, wozu ich dich brauche? Du sollst in der Gemeinde und am Arbeitsplatz wachsam sein. Unsere Feinde sind gut geschult und nicht einfach zu überführen.« Ganz nebenbei brachte er Namen von weiteren Glaubensgeschwistern ins Gespräch. - So führte er mir vor Augen, er wisse so manches über die Zusammensetzung unserer Gruppe und über das Gemeindeleben. Jetzt hatte er mich fest im Griff. Ich hatte ihm schon versprochen, Augen und Ohren offen zu halten und ihm jeden Spion zu melden, der mir über den Weg laufen würde. Doch das war ihm zu wenig. Ich sollte das sofort auf der Stelle mit meiner Unterschrift bestätigen. Durch seinen barschen Ton mutlos geworden, niedergeschlagen und ermüdet von den drei Abenden, unterschrieb ich einen kurzen, von seiner Hand geschriebenen Zettel: So versprach ich dem Geheimdienst meine Hilfe in Beschaffung von Informationen. Da in diesem Schriftstück keine konkreten Infos verlangt wurden, nahm ich es in meiner Unerfahrenheit auch nicht so schlimm auf. 51
Ich war sehr froh, für heute das Gespräch beenden zu dürfen. Da war auch für ihn das Ziel der Gespräche erreicht. Er verabschiedete mich mit der dringlichen Warnung, keinem einzigen Menschen von dieser Sache etwas mitzuteilen. Dies sei ein Geheimnis nur unter uns. In den folgenden zwei Monaten habe ich mit niemandem darüber gesprochen - ich wüsste nicht, wem ich mich hätte anvertrauen können. Ich hatte auch keine Ahnung, in welcher Gefahr ich mich befand. In der Gefahr nämlich, dem Bösen meine Seele zu verpfänden, zu seinem Handlanger zu werden, ihm alles und jeden zu verraten. Da ich mich längere Zeit bei dieser ominösen und zwielichtigen Behörde nicht meldete, wurde ich wieder vorgeladen. »Sie wollten mich doch jeden Monat besuchen, Andrej Iwanowitsch. Was ist? Haben Sie es vergessen?« Ich versicherte dem Herrn, mein Versprechen nicht vergessen zu haben. »Bis jetzt habe ich keinen Spion, Verräter oder sonstigen Schädling entdeckt. Ich hatte also keinen Grund, Sie zu besuchen. Sofern ich einem Volksfeind begegne, melde ich es Ihnen sofort.« »So! Sie sahen also keinen Grund, mich aufzusuchen? Was Ihre Mitschülerin Siegrid Neufeld inzwischen treibt - ist Ihnen wohl nicht der Rede wert?! Wollen Sie mich veräppeln? Jetzt sagen Sie nur noch, Sie kennen diese Person nicht! Für wie blöd halten Sie mich denn?!« »Siegrid Neufeld? Was habe ich mit ihr zu tun? Warum fragen Sie mich?« »Wen soll ich denn sonst fragen? Habt ihr nicht beide im vergangenen Jahr Diplome mit Auszeichnung bekommen?« »Ja, das schon. Aber ich war nie mit ihr befreundet. Ich habe sie seit der Abschlussfeier in der LBA nicht mehr gesehen. Ich weiß nicht einmal, wo sie inzwischen arbeitet. Woher soll ich denn wissen, was sie treibt?« Daraufhin ließ er mich laufen. Verschlossener und nachdenklicher denn je, grübelte ich über den Stand der Dinge nach. Gleichzeitig versuchte ich, in Ruhe und Ge52
lassenheit die Stunden des Unterrichts hinter mich zu bringen. Es wollte mir kaum gelingen, meine innere Unruhe vor meinen Schülern zu verbergen. Es war Anfang März. Alle Lehrer wurden zur nächsten Sitzung des pädagogischen Rats zusammengetrommelt. Ich hatte die vorige Sitzung noch nicht vergessen und verspürte in mir nichts als Widerwillen. Es sei sehr wichtig, hieß es. Einen Artikel der örtlichen Zeitung wolle man besprechen und beurteilen, hörte ich. »Wenn die Erziehung vernachlässigt wird« - so lautete die Überschrift. Verfasst war der Artikel vom Hausmeister, der mit Erziehung und Unterricht nichts zu tun hatte. Unter seiner Verwaltung waren Schaufeln, Besen, Pinsel und dergleichen. Er war bettelarm, allein stehend und nicht mehr jung. Er trug den Titel »Stellvertreter des Direktors im wirtschaftlichen Bereich«, war ein Deutscher und Mitglied der Kommunistischen Partei. Was ihn dazu bewogen hatte, diesen für die LBA kompromittierenden Artikel zu schreiben, der wie ein Blitz aus heiterem Himmel einschlug, wer seine Helfer waren - ist Geheimnis geblieben. In seinem Schreiben wurden Genuss von Alkohol, Schlägereien, schlechte Disziplin und schwache Leistungen der Schüler angeprangert. Bei etlichen Lehrern - namentlich genannt - verlaufe der Unterricht uninteressant und langweilig. Außerdem »glaubt die Absolventin und Komsomolzin Herta Neufeld an Gott und besucht Gottesdienste einer Sekte. Der Direktor Rekubrazki und Partorg Tschudakov wissen von alledem, ziehen es aber vor, den Müll nicht aus dem Hause zu tragen.« Hier kam die Unterschrift - Pratt. Was in diesem Schreiben geschildert wurde, waren eigentlich alles Tatsachen. Alkoholgenuss, Schlägereien und schlechtes Benehmen - wo gab es sie nicht? Für die LBA war es aber nicht typisch. Was die Qualität des Unterrichts der genannten Lehrerinnen betraf, hier hatte der Mann seine Kompetenz maßlos überschritten. Die betroffenen Personen waren wütend. Der Schreiber war zum Glück nicht anwesend, sonst wären die Fetzen geflogen. Zu diesem Punkt wurde Widerspruch beschlossen. Die anderen Tatsachen sollten durch 53
persönliche Gespräche geprüft und bei Bestätigung der Anschuldigungen - entsprechende Maßnahmen ergriffen werden. Dies wurde auch mit Nachdruck durchgeführt. Keine Schlägerei oder Sauferei wurden so bestraft und verurteilt wie der letzte Punkt: »Besuch von Gottesdiensten.« - Das war für die LBA und das ganze Personal die größte Schande. Sie fühlten sich in diesem Punkt wirklich als Versager. Waren all die Stunden des Unterrichts in Biologie, Astronomie, Materialismus, Darwinismus und Naturkunde fruchtlos geblieben? Bei vielen - ja. Auch bei mir hatten sie immer wieder das Gegenteil von dem bewirkt, was sie eigentlich bewirken wollten. Für mich hatte das Buch der Bücher, die Bibel, immer noch mehr Überzeugungskraft als alle anderen zusammen. Auch wenn ich in Theorie Darwins die beste Note hatte, überzeugen konnte sie mich nie. Hier muss man mehr glauben und phantasieren als sonst wo. So habe ich die Dinge erlebt. Beim pädagogischen Rat saß ich wieder mäuschenstill in meiner Ecke, hatte Angst, mich zu rühren, um nicht die Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Schweigend überlegte ich, was wohl geschehen würde, wenn ich jetzt aufstünde und sagte: »Auch ich bin einer von denen, die an Gott glauben und Gottesdienste besuchen!« Sicher würden sie alle einen Schock bekommen. »Nein«, dachte ich, »solange ich nicht gefragt werde, rede ich nicht.« Der Sturm ging haarscharf an mir vorbei. - Vorerst. Aber eines war mir klar: Die nächste Explosion war nicht mehr weit. Wie die erwähnte »Sekten-Besucherin« behandelt und bearbeitet wurde, ist mir im Einzelnen nicht bekannt, denn ich musste noch schneller als sie die Wände der LBA verlassen. Ich erfuhr aber, dass mehrere aus dem Abgangskursus auf Grund ihres Glaubens zu den letzten Prüfungen nicht zugelassen wurden. Vier Jahre Ausbildung - ohne Abschluss ... Hunger und Entbehrungen - alles umsonst. Etwa 10 Tage nach der Sitzung des pädagogischen Rates kam ich wie gewöhnlich zum Unterricht. Vor der Eingangstür traf ich den 54
Lehrer im Fach Marxistische Philosophie, der auch Sekretär der Parteiorganisation der LBA war. Ich wich ihm höflich aus um ihm den Vortritt zu lassen, aber er zog mich am Ärmel zur Seite und fragte ohne jeglichen Einstieg: »Hör mal, Andrej Iwanowitsch, auch du sollst zu den Sektierern gehören?... Bist auch du bei den Gottesdiensten gewesen?« Mir wurde dunkel vor Augen, der Boden unter mir wankte. Zum Überlegen war keine Zeit. »Nein!« ... Ich zögerte ... »Ja! Doch ... auch ich bin da gewesen ...« Dabei betonte ich etwas das letzte Wort. »Wissen Sie, Pawel Iwanowitsch ...« Er unterbrach mich: »Sind das doch Halunken! Unseren Klatschmäulern jucken ständig die Zungen!« »Ja«, sagte ich, »das stimmt. Aber ich gehe auch jetzt ab und zu hin - erfülle dabei einen bestimmten Auftrag«, fügte ich unsicher hinzu. »Ach so? Alles klar!«, sagte er und ging seinen Weg. Mir wurde auch klar, dass dies der Anfang vom Ende meiner Lehrerkarriere war. - Ich stand plötzlich auf der Abschussliste. Ein paar Tage später hatte mein »Freund« von der Stasi wieder Sehnsucht nach mir. Ich hatte ihm zwar nichts zu berichten, ging aber trotzdem hin. Diesmal war er so zornig und wütend wie noch nie. Was das wohl zu bedeuten hatte? Belämmert stand ich vor ihm und wartete ab, was kommen würde. Aus und vorbei war es mit der Toleranz. Ich sei ein Schandfleck fürs ganze Sowjetvolk! Dem hohen Ruf eines Pädagogen sei ich nicht gerecht geworden und solle diesen Beruf aufgeben. Nach einer Weile heftiger Beschimpfungen kam auch die Ursache seines Zorns heraus: »Du hast mein Vertrauen nicht verdient! Hast meine Warnung nicht beachtet! Du hast das Geheimnis verraten! Und jetzt raus mit dir! Ich will dich nicht mehr sehen!« Das brauchte er mir nicht zweimal zu sagen. Ich war schneller draußen als meine Mütze auf dem Kopf. Noch nie wurde ich auf solche 55
Weise verabschiedet! In meiner Aufregung führte ich auf dem Heimweg Selbstgespräche. »Du sprichst mir aus dem Herzen, Genosse Nurgalijew! Auch ich sehe dich lieber von hinten als von vorn.« Dann beruhigte ich mich etwas und überlegte: »Mein ehemaliger Lehrer und jetziger Kollege Pawel Iwanowitsch hat direkten Draht?... Zu dieser Behörde?... Zu diesem meinem »Genossen«? Wieso? Was hat er?... Und wenn er, wer dann noch alles? Ist etwa die gesamte Lehrerschaft der LBA ein verlängerter Arm des Geheimdienstes?! - Aha! Deshalb! Nur deshalb ... werden alle lernhungrigen Sonderumsiedler ausgerechnet hier konzentriert!« So war ich ihnen auf die Schliche gekommen. Diese Erkenntnis ließ mich erstarren. Meine vierjährige Ausbildung lief wie ein Film vor meinem geistigen Auge ab: Ich wurde vorzeitig von der Meldepflicht befreit - als Gegenleistung musste ich sofort dem Komsomol beitreten! Ich bekam einen Arbeitsplatz in der LBA - sofort folgte die »Weihnachtsfeier« unter vier Augen mit Genosse Nurgalijew! Wir werden hier vom ersten bis zum letzten Tage vom Geheimdienst ausgebildet und »erzogen«! Zu welchem Zweck? Mit welchen Zielen? ... Ist doch klar! - Die Kommandantur hat man abgeschafft, jetzt werden Zuträger, Handlanger, Provokateure und Informanten gebraucht ... in allen Siedlungen, in jeder Schule. Und unsere »neue nationale Intelligenz« soll diese Aufgaben übernehmen? Ich bin ihnen auf den Leim gegangen ... Wen haben sie sonst noch alles von meinen Freunden und Mitschülern geködert?! Warum hat mich keiner gewarnt?! Meine Gedanken überschlagen sich. Ich gerate in Panik und spreche ein Stoßgebet: »Oh, großer Gott! Ich danke dir für deine Führung! Ich habe Nurgalijews Geheimnis ausgeplaudert. Nun bin ich auf einen Schlag frei vom KGB! Raus aus dieser Falle.« Etliche Tage später stand meine Mitgliedschaft beim Komsomol auf der Tagesordnung. Von den Lehrern der LBA waren etwa 10 noch im Komsomolalter, das heißt unter 30 Jahren. Nach einer stundenlangen Diskussion, die ich wie immer schweigend über mich ergehen ließ, stellte einer die Frage: 56
»Wir als Atheisten, erzogen nach der Lehre von Marx und Lenin, schauen auf die Gläubigen als arme Leute, die sich im Irrtum befinden. Wie schaust du auf uns von deinem Standpunkt aus?« »Genauso«, war meine einzige Antwort. Nach diesem Gespräch wurde beschlossen, mich, als unverbesserlichen Idealisten, aus dem Komsomol auszuschließen. Das Bezirkskomitee wurde gebeten, diesen Beschluss zu bestätigen. Mein Foto wurde von der Ehrentafel entfernt. Dafür stand mein Name plötzlich in der Wandzeitung unter der Rubrik »Gift«, wo die Schüler dringend gewarnt wurden, sich vom Abschaum und Gift fern zu halten. Mir wurde dunkel vor Augen, alles um mich wankte, als ich den Artikel las. - Zu krass war der Übergang von der Ehrentafel zum Abschaum. Die Vorladung vom Bezirkskomitee ließ nicht lange auf sich warten. Ich kam rechtzeitig und wurde gebeten Platz zu nehmen. Um meinen Ausschluss möglichst eindrucksvoll durchzuführen, wurde ich gezwungen, auch den ersten Teil des Protokolls, die »Aufnahme« mitzuerleben. Mit gezielter Verachtung und Spott wurden den Neuzugängen Fragen über den Glauben und Aberglauben gestellt. Wo diese keine Antwort wussten, wurden sie von vorne ausgiebig aufgeklärt. Nach dem ersten Teil kam ich dran. Es wurde der Beschluss und Empfehlung meiner Kollegen vorgelesen. Darauf folgte wieder eine lebhafte Debatte über den ganzen Sachverhalt. Es kam der Vorschlag, mit dem Komsomol-Ausweis mir auch das Diplom zu entziehen. So weit kam es dann doch nicht, denn sie hätten damit ihre Kompetenz weit überschritten. Ich legte ihnen meinen roten Umschlag auf den Tisch und wurde entlassen. »Noch ein Schritt weiter raus aus dem Netz!«, konstatierte ich zufrieden. »Nur nicht die Nerven verlieren. Vielleicht gelingt es mir, dem Schicksal meines Vaters doch noch zu entkommen.« Ich stellte mir lebhaft vor, wie einsam er gewesen sein musste, welche Ängste er ausgestanden hatte, bevor er in Magadan von eben dieser Behörde in den Tod befördert wurde. 57
Jetzt erst war ich reif, um ihm im Geiste nahe zu sein. Nach den Turbulenzen und allen Geschehnissen der letzten Wochen konnte ich selbstverständlich nicht mehr meinem Beruf nachgehen. Wortlos und erleichtert unterschrieb der Direktor am 10. April 1957 meine Entlassung. Er sah meine Lage scheinbar auch als aussichtslos an. Wahrscheinlich hatte er sich schon Gedanken gemacht, wie er mich wohl loswerden könnte. Der Verfassung nach durfte er mir nicht kündigen. Die Umstände aber zwangen ihn dazu. Seine Gutmütigkeit hat ihn wohl davon abgehalten, mir im persönlichen Gespräch unter vier Augen den Laufpass zu geben. - Ich musste freiwillig gehen. Auch ein Paradox der Dialektik. Hiermit war meine Lehrerkarriere für immer beendet. Sie dauerte insgesamt nur 6 Monate. Mein Diplom landete ganz tief in der Schublade, damit ich es nicht so bald wieder zu sehen bekam. - Zu viel Aufregungen waren mit ihm verbunden. Jetzt wollte ich erst mal Abstand finden und mich erholen. Nach 5-wöchiger Ruhe von jeglicher Verantwortung und Vorladungen hatte ich mich entschieden, den Schreinerberuf zu erlernen. In der Möbelfabrik war mein Jugendfreund Heinz Kröker - der Sohn unseres Gemeinde-Ältesten, schon etliche Jahre beschäftigt. Am 20. Mai 1957 wurde ich ihm als Lehrling zur Seite gestellt. Er brachte mir das Hobeln, Schleifen, Stemmen und Leimen bei. Obzwar die Einzelteile maschinell hergestellt wurden, mussten noch viele schweißtreibende Handarbeiten ausgeführt werden, bis ein Kleiderschrank oder eine Kommode ihre Form und Qualität bekamen. Es war schon eine gewaltige Umstellung für mich, nach der Mandoline den Hobel in den Händen zu halten. Meine Leidenschaft zur Musik stillte ich inzwischen in der Gemeinde, wo ich nicht nur weiterhin im Chor sang, sondern auch Musikfreunde um mich scharte und nicht nur Mandoline, sondern abwechselnd auch Gitarre und Geige spielte. Mein jetziger »Mentor« Heinz Kröker spielte mit. 58
Nach drei Monaten war meine Lehre zu Ende und ich war Schreiner geworden. Inzwischen hatte ich mich bei der Baubehörde um ein Grundstück beworben und auch eins zugeteilt bekommen. Jetzt war ich doppelt belastet: Nach der Schicht im Möbelkombinat ging es nahtlos weiter beim Bauen des eigenen Hauses. Mein Bruder Peter, der in einer Forstwirtschaft beschäftigt war, half mir mit Baumaterialien. Dies wurde wiederum zur Ursache, eine Vorladung zu bekommen. Sie kam aus einer Bank. Ahnungslos suchte ich nach dem vorgegebenen Zimmer. Und, was meinen Sie, wen ich da antraf? - Richtig! Meinen alten »Stasi-Freund«, der mich nie mehr sehen wollte! Ich hatte mich zu früh gefreut, ihn für immer »verloren« zu haben. Er gab so schnell nicht auf! Wieso das? Scheinbar hatte er mit mir noch manches vor. Ich aber sah ihn mit anderen Augen. Er war für mich kein Rätsel mehr, sondern der Böse leibhaftig. Meine Erkenntnisse nach der letzten Begegnung mit ihm hatten mich zu einem anderen Menschen gemacht. Ich war selbstbewusster und kritischer geworden. Ich trug den Mantel nicht mehr auf beiden Schultern und saß nicht mehr zwischen allen Stühlen. Ich hatte mich entschieden: für mein Volk und für meinen Glauben. Das brachte mir Vorteile ihm gegenüber. »Wie geht es Ihnen?«, fragte er mich fast freundlich und ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort. »Ihnen geht es prächtig! Sie bauen ein Haus? Woher beziehen Sie Baumaterial? Ist doch schwer aufzutreiben? Passen Sie mal auf: Für jedes Brett und jeden Nagel will ich Quittungen sehen! Sonst können Sie was erleben!« Sein Wissen über mich war immer noch auf dem neuesten Stand. »Woher nur? Die LBA-Lehrer und Freunde sind nicht mehr in meiner Nähe. Hat er sich etwa neue Quellen erschlossen?« Mir war das unangenehm, als hätte ich kein Privatleben. »Jetzt warnt er mich auch noch vor Schwierigkeiten und droht gleichzeitig. - Ein äußerst unangenehmer Typ. Spielt auch noch den Schutzengel!« Da ich mit eigenen Kräften das Haus zum Winter nicht fertig stellen konnte, ging ich auf den Vorschlag der Gemeinde ein: Sie wür59
de mir helfen, das Haus so schnell wie möglich unter Dach und Fach zu bringen, um dann ein Jahr darin Versammlungen abzuhalten. Das Haus hatte um die 70 Quadratmeter, die Trennwände wurden zunächst weggelassen. Zum Augustmonat war das Dach fertig, und die Versammlungen begannen. Die Gemeinde nahm ständig zu. Es hatten sich etwa 40 Personen zur Taufe gemeldet, unter denen auch meine zukünftige Braut, Linda Blank, und ich waren. Nach der Prüfung der Taufwilligen in der Abendversammlung ging die ganze Gemeinde um Mitternacht über den Berg zum See, um dort, ohne gestört zu werden, die Taufe zu vollziehen. Es war eine feierliche Stunde, in der Stille der Nacht, am wunderschönen See und bei Mondschein ins Wasser zu steigen. Die Taufe wurde vom Prediger Andreas Pankraz durchgeführt. Am kommenden Tag - Sonntag, den 4. August 1957 - wurde die Gemeinde um 40 Mitglieder größer. Für die Behörden und Parteifunktionäre - 40 Probleme mehr. Ich musste regelmäßig mit allen Belegen und Quittungen eine Prüfstelle in der Bank zufrieden stellen. Der Herr gab seinen Segen zu allem, und die Gemeinde konnte sich ein ganzes Jahr ungestört in meinem Hause versammeln. Am 22. Juni 1958, an Lindas Geburtstag, feierten wir in unserem Haus mit der ganzen Gemeinde unsere Hochzeit. Irgendwann und irgendwie hatte ich es doch geschafft, meiner Zukünftigen meine Liebe zu offenbaren. An Einzelheiten kann ich mich nicht mehr erinnern, wahrscheinlich bin ich dabei vor Erregung ohnmächtig geworden. Vielleicht wüsste meine liebe Frau mehr darüber zu berichten, aber etwas muss doch auch geheim bleiben. Nachdem 1956 alle Sonderumsiedler von der Kommandantur befreit waren, die Rückkehr in ihre Geburtsorte aber verboten blieb, zogen sie scharenweise in den asiatischen Süden. Das mildere Klima, die blühenden Obstbäume im Frühling übten eine magische Anziehungskraft auf uns aus, weil sie uns so sehr an die alte Heimat im Kaukasus, Krim und Ukraine erinnerten. Im Januar 1961 entschloss sich auch meine Familie nach Frunse die Hauptstadt Kirgisiens, die jetzt Bischkek heißt - zu wechseln. 60
Ich hoffte, auf diese Weise endlich den Genossen Nurgalijew im Nacken loszuwerden. Er hatte mich persönlich zwar schon lange nicht mehr behelligt, trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, seine Schergen ständig um mich zu haben. Mit meiner Mutter und Schwester Anna zusammen kauften wir am Rande der Stadt ein kleines Haus und zogen um. Gleichzeitig erwarben wir nebenan eine Baustelle, um für uns - meine Frau, unseren zweijährigen Sohn Peter und mich - ein eigenes Haus aufzubauen. Jetzt begann die Arbeitssuche. Nach etlichen Wochen fand ich auch eine Stelle, wieder in einer Möbelfabrik und wieder als Schreiner. Nach einer Lehrerstelle zu suchen, kam mir gar nicht erst in den Sinn. Diesen Beruf hatte ich, wie man sagt, endgültig an den Nagel gehängt. Also wurden am Tag wieder Schränke und nach dem Feierabend das Haus gebaut. Mit dem Bau kamen wir gut voran und konnten schon mitten im Sommer einziehen. Die erste Nacht auf dem kaum fertig gelegten Fußboden in der Küche ist uns bis heute in Erinnerung geblieben. Wir hatten es nicht gemerkt, dass vor uns schon andere den Raum bezogen hatten, nämlich die Moskitos. - Es ist eine ganz winzige Art von Mücken, die man weder hören noch sehen kann, aber ganz gut spüren. Nach einer unruhigen Nacht erwachte ich mit einem Ausschlag, der auf Masern oder Röteln schließen ließ. So ging ich zur Arbeit. Ich konnte vor Juckreiz kaum arbeiten. Anstatt die Holzteile zu schleifen, musste ich, wie Hiob einst mit Scherben, mit Schmirgelpapier meine Arme und Schultern reiben. Nachdem die Mitarbeiter mein komisches Verhalten und Aussehen bemerkt und erkundet hatten, stellten sie die Diagnose eindeutig fest: Moskitos! Am Abend, vor dem Schlafengehen, schaute ich mir die Wände genauer an - da wimmelte es von diesen kleinen Plagegeistern. Es galt, sie erst mal zu vertreiben, Türen und Fenster hermetisch abzuriegeln, um einigermaßen Ruhe zu finden. Gegen diese kleinen Viechern kann man sich noch wehren. Wenn aber die Zweibeinigen in der Umgebung zur Plage werden, wird man sie nicht so leicht wieder los. 61
Zwei Jahre konnte ich relativ ruhig und erfolgreich den Hobel führen. Ich war, wie alle anderen auch, Mitglied der Gewerkschaft. Bei Betriebsversammlungen trug man mir die Protokollführung an. Wenn der Brigadier mal fehlte, war ich als erster Stellvertreter am Zuge. Die Brigade zählte 26 Personen, und wir kamen gut miteinander aus. Im Februar ’63 wurde ich von der Firma für einen Monat zur Fortbildung für Schreiner geschickt. Mit großem Interesse nahm ich an diesem Lehrgang teil, denn die Schulbank zu drücken war immer noch meine Lieblingsbeschäftigung. Nach Abschluss legte ich dem Chef ein Zeugnis mit der Note »Fünf« in allen 10 Fächern vor. Der freute sich ganz herzlich darüber, gratulierte mir zu diesem Erfolg, und in der nächsten Betriebsversammlung sprach er mir vor allen Versammelten Lob und Anerkennung aus. »Es war«, so der Redner, »kein Fehler, Genosse Bergen zum Kursus zu schicken! Er hat unser Vertrauen nicht enttäuscht! Unsere Hoffnungen hat er aufs Beste bestätigt.« Da sich unsere Brigade im allgemeinen Wettbewerb gut bewährt hatte, bekam sie in den nächsten Tagen den hohen Titel »Brigade der kommunistischen Arbeit« zuerkannt. In feierlicher Umrahmung wurde jedem Einzelnen ein roter Umschlag in die Hand gedrückt, mit dem der Inhaber zum »Udarnik kommunistitsheskogo truda« zum Musterknaben, zum »Aktivisten der kommunistischen Arbeit« erklärt wurde. Wochen später machte mir mein Vorgesetzter ein Angebot: »Genosse Bergen, Sie haben die Fortbildung ausgezeichnet bestanden und verfügen auch über bestimmte Führungsqualitäten. Deshalb biete ich Ihnen an, die Leitung der Brigade zu übernehmen.« Ich dachte nach. »Es ist für Sie nicht gut, mich zum Brigadier zu befördern«, erwiderte ich dem Meister. »Bei dem Titel, den die Brigade trägt, soll ich als Baptist ihr Anführer sein?! Das passt nicht zusammen und wird auf die Dauer nicht gut gehen. Sie werden sich dafür irgendwann vor Ihren Vorgesetzten verantworten müssen.« Außer mir waren noch zwei Baptisten in der Brigade, schon ältere 62
Männer. Bisher hatte das keinen gestört. Die Erfüllung des Plans stand an erster Stelle und der Meister sagte: »Das soll mir doch egal sein, dass du ein Baptist bist. Hauptsache die Arbeit läuft gut und der Plan wird erfüllt!« Dies sprach sich aber bald rund, und eines Tages, auf einer Gewerkschaftsversammlung, waren wir drei auf der Tagesordnung. Wir wurden als unwürdige Fremdkörper der Brigade bezeichnet. Wir seien Verräter, die Truman, der anscheinend auch ein Baptist gewesen sein soll, anbeten und seine Ideologie verbreiten. Uns wurde der unlängst ausgehändigte rote Umschlag und der damit erhaltene hohe Titel wieder entzogen. Derselbe Chef, der mich vor Tagen so hoch erhoben und gelobt hatte, schrie wütend, ich sei nicht einmal würdig, in einer Brigade mit dem kommunistischen Titel zu arbeiten. Über meine Beschäftigung solle nachgedacht werden. Ich dürfe auch nicht mehr Protokoll führen. Das machte mich überhaupt nicht traurig. Aber meines Erachtens hatten hier die Bosse ihre Kompetenz überschritten: Durfte ich als Gläubiger in der Gewerkschaft sein, so dürfte ich auch als ihr Sekretär tätig sein. Diese Frage wollte ich gerne geklärt haben und gab sie einem meiner Arbeitskollegen mit, der einen Atheisten-Kursus besuchte. Am nächsten Tag nach der Arbeit stellte dieser Kollege mich einem kompetenten Mann namens Boris Galperin vor, der mich in meinen Rechten aufklärte. Den hohen Titel, sagte er, den sei ich nicht würdig zu tragen, da bei mir die »kommunistische Moral« fehle. Auch Brigadier einer kommunistischen Brigade dürfe ich nicht sein. Aber in der Gewerkschaft dürfte ich nicht vom Tisch gejagt werden. Da hätten die örtlichen Aktivisten etwas den Bogen überspannt. Er würde dafür sorgen, dass dies wieder in Ordnung käme. Und er hat sein Wort gehalten. Auf der nächsten Versammlung kam der Chef zu mir und flüsterte mir ins Ohr, ich solle wieder den Platz am Tisch einnehmen und Protokoll führen. Ich war etwas verblüfft und meinte: »Das ist doch nicht korrekt. Sie haben mich kürzlich vor allen An63
wesenden vom Platz am Tisch verwiesen. Ich kann mich jetzt doch nicht stillschweigend wieder dort hinsetzen?« Darauf ging er nach vorne und bekannte: »Werte Genossen, auf der vorigen Versammlung ist uns ein Fehler unterlaufen, indem wir Genosse Bergen das Vertrauen entzogen, Protokolle zu schreiben. Es war falsch. Er darf auch weiterhin diese Arbeit verrichten. Ich bitte Sie!« Ich ging und schrieb weiter. Galperin lud mich zu sich ein. Die Hauptsache in diesem Gespräch war nicht die Gewerkschaft, sondern der Glaube. Da ging es erst richtig zur Sache. Der Mann hatte irgendwann auch ein Bibelseminar besucht und kannte sich ziemlich gut in der Heiligen Schrift aus. Ich weniger. Da nahm er mich ernsthaft in die Mangel. Und dies waren etliche seiner Argumente: »Wie könnt ihr Christen nur alles glauben, was in der Bibel steht? Das ist doch das unsittlichste Buch, das es je gegeben hat. Was hat denn Lot (1. Mos. 19) mit seinen Töchtern gemacht, oder sie mit ihm?! Und der Heilige Noah (1. Mos. 9) ließ sich voll süßen Weines laufen und den Fluch für seinen Unfug legte er auf seine Kinder und Enkel! ... Ihr sprecht von Liebe, sogar zu den Feinden, und was steht in der Bibel? ›Wer nicht seinen Bruder, Schwester oder Mutter hasst, kann nicht mein Jünger sein!‹ (Luk. 14,26) Das Buch ist doch von A bis Z voller Widersprüche. Oder so ein Vers: ›Die sich in diesem Leben auf Christus verlassen, sind doch die elendsten Menschen‹ ... und ›die in Christus entschlafen sind, sind verloren‹. (1. Kor. 15)«. Alles Worte aus der Bibel, aber wie angewandt! Zermürbt und geschlagen verließ ich sein Zimmer. Ich fühlte mich in dieser Stunde schwach und hilflos dem kämpferischen Atheisten ausgeliefert. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Mann noch irgendwann eine Chance bekommen könnte, seine kommunistische Ideologie wie ein altes Kleid zur Seite zu werfen, um ein neues Leben, ein Leben mit dem von ihm verhöhnten Christus zu beginnen. Aber für Gott ist niemand zu groß, den er nicht demütigen und zur Erkenntnis bringen könnte. Mit großem Interesse und staunend über die Gnade Gottes las ich 64
die folgende Nachricht im Journal »Vera i Shizn« - »Glaube und Leben« Nr. 5/1999: Eines der erfreulichsten Ereignisse dieses Jahres für die Mitarbeiter der Mission »Licht im Osten« sei ein Brief eines ehemaligen bekannten Propagandisten des Atheismus Boris Galperin gewesen. Etliche Zeilen aus seinem Brief: Werte Brüder und Schwestern! Den größten Teil meines Lebens habe ich der Propaganda der Gottlosigkeit gewidmet. Lange Zeit leitete ich den Koordinationsrat für atheistische Erziehung im Stadtkomitee der Partei. Nach vielen Jahren schmerzlichen Suchens kam ich zum Glauben an Gott und bekehrte mich. Jetzt bereite ich mich auf die Taufe in der Zentral-Baptisten-Gemeinde Saporoshje vor ... 14 schwere Operationen habe ich überstanden und bin Gott dankbar, dass er mich erhalten und mir noch Zeit zur Bekehrung gegeben hat. Da mein Gesundheitszustand sehr schwach ist - jeder Tag könnte mein letzter sein - wird der Termin meiner Taufe wahrscheinlich vorgezogen ... Mit der Liebe Christi: Boris Galperin Welch eine Wandlung ist in diesem Mann vorgegangen! Hier hat Gott wirklich ein Kamel durchs Nadelöhr gezogen. Dass der Mann in seinen alten Tagen vielleicht aus Altersschwäche durchgedreht oder vom Gedächtnisschwund befallen sei, kann man gedanklich in keinem Fall zulassen. Bevor ich diese letzten Sätze schrieb, habe ich mich beim Missionsbund »Licht im Osten« nach seinem Wohlergehen erkundigt. Boris Iossifowitsch Galperin sei gesundheitlich wieder ziemlich gut hergestellt, hieß es, und ist in Saporoshje an einem biblischen College tätig. Er unterrichtet christliche Ethik! Ist das nicht ein Wunder der Gnade Gottes in unseren Tagen? Aus einem Saulus ist ein Paulus geworden! Aus einem Verfolger der Gemeinde - ein Prediger. Wie gerne würde ich heute in seine Schule gehen und das Gespräch von 1963 fortsetzen. Damals war mir nicht danach zumute. Meine Familie nahm inzwischen zu. Der zweite Sohn, Paul, kam während meiner Fortbildung zur Welt. Meine liebe Frau hatte eine 65
schwere Krankheit hinter sich und war arbeitsunfähig. Der Lohn in der Möbelfabrik schrumpfte. Die Versorgung zu Chruschtschows Zeiten wurde schwieriger. Da war ich gezwungen, mich nach anderer Arbeit umzuschauen. Dabei warf ich das Auge auf die Trolleybusfahrer, die wesentlich besser als Schreiner entlohnt wurden. Mitte 1964 verließ ich die Möbelfabrik und wechselte in die »Verwaltung für Omnibusse der Stadt Frunse«. Zunächst in die Reparaturabteilung für Innenausstattung und nebenbei, nach Feierabend, machte ich den Führerschein für Omnibusse. Bis ich diesen bekam, hatte ich mir die Arbeit des Omnibusfahrers näher angeschaut. Nachdem ich ihre Strapazen kennen gelernt hatte, war meine Lust hierzu vergangen. Ich legte den Führerschein in die Schublade, zum Diplom, und blieb bei der Reparatur. Wir hatten inzwischen vier Söhne - Andreas und Rudi waren geboren. Anfang 1967 lud mich ein Bekannter ein, mir die Arbeit in einem Kunstverein als Drechsler anzuschauen. Hier wurden verschiedene Souvenirs mit nationalen Motiven gedrechselt, bemalt und lackiert. Ich sah mir die anmutigen Schachfiguren an und war zunächst skeptisch, was die Verdienstmöglichkeiten betrifft. Dann wagte ich es doch, das Schneideisen des Drechslers - ich hatte es mir in der Schmiede anfertigen lassen - in die Hände zu nehmen. Und siehe da - es funktionierte! Gleich im ersten Monat brachte ich den zweifachen Lohn eines Schreiners nach Hause. Auch Linda konnte ich bald mit Lackierarbeit beschäftigen. Ab jetzt ging es mit unserem Wohlstand steil nach oben. Am 28. Mai 1969 erlitten wir einen schweren Schlag, der meiner lieben Frau fast das Leben gekostet hätte. Sie schaffte mit ihrer Schwester Irene an der Kreissäge. Da löste sich ein meterlanger Span vom Brett, kam auf die Säge, wurde mit Wucht zurückgeschlagen und bohrte sich mit der Spitze in Lindas Bauch. Sie brach ohnmächtig zusammen, ich war in der Nähe und konnte sie noch auffangen, trug sie ins Auto und fuhr sofort ins Krankenhaus. Unterwegs, auf der holprigen Straße kam sie mit furchtbaren Schmerzen zu sich. Es dauerte nahezu eine Stunde, bis ich das richtige 66
Krankenhaus erreicht hatte. Da gab es noch mal eine Wartezeit, bis sie in Behandlung genommen wurde. In einer 8-stündigen Operation wurden die gerissene Leber und der Ausgangsdarm ganz nahe am Magen zusammengenäht. Der Krisenzustand, die Gefahr, dass die Magensäure die Fäden auflöse, dauerte noch eine ganze Woche an. Dann ging es langsam der Besserung zu. Es dauerte Monate, bis sie sich wieder schmerzfrei bewegen konnte. Ein Glück war bei dem Unglück dabei, denn der Unfall geschah vor dem Frühstück, bei leerem Magen. Sonst hätte es für sie keine Rettung gegeben. Gott sei Dank, meine Frau wurde mir noch einmal geschenkt. Das Leben ging weiter. 1970 bauten wir uns ein größeres Haus, ganz unterkellert. Da hatten wir eine Drechselbank, Säge- und Hobelmaschine installiert und konnten so unsere Erzeugnisse zu Hause anfertigen und ins Lager abliefern. Gleich nach dem Einzug ins neue Heim kam unser fünfte Sohn der Eduard zur Welt. * * * In dieser Zeit kamen Gerüchte auf, laut Vereinbarungen in Helsinki, unter die auch Breshnew seine Unterschrift gesetzt hatte, solle es für uns Deutsche bald Ausreisemöglichkeiten nach Deutschland geben. Es wurden geheim schon Listen von Ausreisewilligen aufgestellt, mit denen etliche Aktivisten sich auf den Weg nach Moskau machten. Dort sollten diese Listen den russischen Behörden und auch der Deutschen Botschaft übermittelt werden. Doch es war nicht so einfach, die Mauer der Stasi zu durchbrechen. Die einzelnen Boten wurden von KGB-Männern abgefangen und, bestenfalls, gewaltsam nach Hause befördert. Manchmal auch nicht nach Hause ... Ab und zu gelang einzelnen Familien die Ausreise. Die meisten jedoch bekamen auf ihre Wysows - Einladungen der Angehörigen aus Deutschland - eine Absage nach der anderen. Aber der Drang und Zug der Masse nach Westen wuchs und nahm zu. Es wurden 67
die verschiedensten Möglichkeiten und Methoden ausprobiert, um die Ausreisegenehmigung zu erwirken. Manche wurden mit der Zeit ungeduldig. Sie gingen in die Ämter und warfen den Beamten die Personalausweise auf den Tisch, was die Verwerfung sowjetischer Staatsangehörigkeit bedeuten sollte. Andere suchten nach Wegen, wo sie mit Schmiergeld oder Geschenken weiterkommen konnten. Aber es war immer ein Risiko dabei; zu viel wollte und konnte mancher nicht anbieten, war das Angebot aber zu gering, wurde man wegen Bestechungsversuch angezeigt und bekam bis zu drei Jahren Gefängnis. Ein solcher Fall ist mir persönlich bekannt. Nachdem Lindas Tante, Lilli Prinz, 1973 ausreisen durfte, ließen wir uns von ihr im nächsten Jahr einen Wysow schicken. Es war nur ein schwacher Haken, aber wir wollten es versuchen. Als ich mit dem Wysow im September ’74 in die zuständige Behörde kam, wurde ich wegen des geringen Verwandtschaftsgrades ausgelacht. Aber sie nahmen den Antrag an. Genau nach einem Monat kam die Absage. - Keine Aussicht. Im Laufe des nächsten Jahres lief ich nicht zu den Behörden, sondern schrieb fleißig Briefe an alle Regierungsmänner, die mir einfielen. Der Inhalt fast derselbe: Bitte um Genehmigung zur Ausreise. Insgesamt waren es 30 Briefe, die ich an den Kreml adressiert habe. Nur eine einzige Antwort traf bei mir ein - und das war kein anderer als Genosse Andropow, der oberste Chef vom KGB. Der beteuerte, er sei für die Ausreise der Deutschen aus der UdSSR nicht zuständig, denn er sei »in dieser Angelegenheit nicht kompetent.« (?!) Im Frühling 1976 tauchte auf einmal eine Tonbandkassette auf, die von einem zum anderen die Runde machte. Da erklärte ein gewisser Rechtsanwalt ausführlich die Gesetze und notwendigen Schritte, mit denen man die Ausreise notfalls erzwingen könne. Und dieser wirksame Hebel hieß: Austritt aus der sowjetischen Staatsbürgerschaft. Von diesen Ratschlägen machten ich und mit mir noch eine ganze Gruppe Gebrauch. Zunächst aber ging ich in die zentrale Stadtbücherei, forschte in verschiedenen Zeitschriften, vergewisserte mich, ob die Angaben 68
und Paragraphen auf der Kassette auch mit den geschriebenen Gesetzen übereinstimmten. Manche ließen sich finden, aber manche waren für einfache Bürger nicht zugänglich. Oft fehlten ausgerechnet die Seiten mit den Paragraphen, die auf der Kassette angegeben waren. Sie waren vorsichtshalber entfernt worden. Die vorhandenen jedoch stimmten. Dem Rat des Rechtsanwalts nach, sollte man bei den Behörden ein Formular verlangen, das für die Ausbürgerung vorgesehen ist. Diesem - ausgefüllt und unterschrieben - eine Reihe von Bescheinigungen, den Personalausweis und eine Quittung der Bank über 500 Rubel Austrittsgebühr pro Pass hinzufügen. Dann alles zusammen per Post mit Einschreiben und Rückmeldung an das Präsidium des Obersten Sowjets abschicken, das allein für die Staatsbürgerschaft zuständig sei. Die dazu vorgesehenen Formulare bekam keiner von uns zu Gesicht. Deshalb schrieben wir die Anträge von Hand und beschafften uns im Laufe von Monaten alle notwendigen Bescheinigungen. Mitten im Sommer, am 16. Juni 1976, wagten wir den Gang zur Bank, um die Gebühren loszuwerden. Wir waren eine Gruppe von 15 Familienvorstehern. Jeder hatte zwei und mehr Pässe in der Tasche, die gebührenpflichtig waren. Wir hatten vereinbart, alle zusammen diesen Weg zu gehen, nach dem Motto: Gemeinsam sind wir stark. So stellten wir uns alle an den Schalter, erklärten der Kassiererin unser Anliegen. Diese machte zunächst ein langes Gesicht und große Augen. Sie konnte unser Anliegen schwer verstehen. Noch nie hatte sie eine solche Art von Gebühren entgegennehmen müssen. Aber wenn so viele Leute mit so viel Geld kommen, dachte sie wahrscheinlich, warum sollte man das Geld nicht annehmen? Je mehr Geld da ist, umso besser für die Bank, dachte sie. Das Geld nahm sie an und stellte jedem Einzelnen eine Quittung aus, so wie ich es ihr diktierte. Nämlich: »Gebühr für die Ausbürgerung im Zusammenhang mit der Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland«. Ein paar Tage nach unsrer Bank-Aktion ging eine andere Gruppe mit demselben Zweck in die gleiche Bank. Da war die Kassiererin 69
von ihrem Chef schon informiert und strengstens gewarnt worden, solches Geld in Empfang zu nehmen. Die Leute drehten um, gaben sich aber nicht zufrieden mit dem misslungenen Versuch. Sie fuhren in andere Städte und versuchten es dort. Etlichen war dieser Trick gelungen. Tage später war auch hier nichts mehr los. Flächendeckend waren alle Banken und Kassen vorgewarnt worden. Und die Kassiererin, die uns bedient hatte, hörte man sagen, habe unserethalben ihren Arbeitsplatz verloren. Also, mehr Geld ist auch nicht immer gut. Nachdem wir unsere Papiere abgeschickt hatten, fing für uns eine neue Zeit des Wartens und Hoffens an. Gierig hörte man Nachrichten von allen möglichen Rundfunksendern wie Deutsche Welle, Stimme Amerikas, Monte Carlo und andere. Besonders interessant und spannend war die »Mund-zu-Mund-Propaganda«. Bei privaten Besuchen und Gesprächen war die Ausreise nach Deutschland Thema Nummer eins. Da gab es so manche märchenhaften Berichte zu hören. Von einer Familie Rogalski, die vor uns in Deutschland angekommen und kinderreich war, wurde Folgendes erzählt: Eines ihrer Kinder sollte sich mit irgendwelcher Tat strafbar gemacht haben. Mit welcher - wurde nicht erwähnt. Die Strafe jedoch bekäme der Vater zu spüren. Er sei zu einer bestimmten Anzahl von Schlägen verurteilt worden, die er ratenweise, täglich vor Arbeitsbeginn im Polizei-Revier abzuholen hätte. So lange, bis er die volle Strafe hinter sich hatte. Genauer gesagt: auf dem Hintern! Auf den ersten Blick - eine lustige, unterhaltsame Geschichte. Man lacht oft zu gern über fremdes Leid. Wie viel Wahrheit in dem Bericht steckte, konnte niemand nachweisen. Bei mir aber kam nach dem Lachen ein schmerzliches Erwachen: Mir fielen sofort meine fünf Buben ein, die nicht von der ruhigsten und bravsten Art waren. Vier von ihnen besuchten schon die Schule. Da hatten sie sich auch schon manchen Streich geleistet, für den ich zur Verantwortung gezogen wurde. Unser Haus war nicht weit von der Schule. Sofern eine Einladung vom Lehrer kam, packte ich schon vorsorglich meinen Werkzeug-Koffer und Bohrmaschine unter den Arm. 70
Ich war zu 99 Prozent sicher, es gäbe wieder für einen meiner Söhne etwas abzubüßen. Und Wünsche hatten die Lehrer immer parat. Bald fehlte ein Schränkchen, bald ein Regalchen. So freuten sie sich auf meinen Besuch und hofften auf die nächste Gelegenheit, die nicht lange auf sich warten ließ. Die Rogalski-Geschichte ging mir nicht aus dem Kopf. »Wenn ich nach Deutschland komme«, überlegte ich, »muss ich unbedingt die Familie aufsuchen und klären, inwieweit die Geschichte stimmt. Wenn diese bestätigt wird, dann weiß ich, was auf mich zukommt! Denn im Falle eines Falles werde ich in der neuen Heimat nicht mehr sitzen können! Aber noch ist es nicht so weit. Abwarten.« Nie geht die Zeit so langsam wie beim Warten. Von Moskau kam die Bestätigung, unsere Dokumente seien dort angekommen. Über alles Weitere verbreitete sich auch nach fünf Monaten nur Grabesstille, weil den Verantwortlichen zu unseren Anträgen keine Antwort einfiel. Bei den Besuchen der örtlichen Ämter wurden wir jedes Mal ganz eindeutig abgewiesen mit dem Argument: »Auf solche Weise - über die Ausbürgerung - ist noch nie jemand ausgereist. Ihnen wird es auch nicht gelingen!« Wir sollten in die Bank gehen und unser Geld zurücknehmen, bevor diese Möglichkeit mit dem Jahresschluss verstrichen sei. Doch hierzu waren wir nicht mehr zu bewegen. Wir planten eine Reise nach Moskau. Ende November 1976 gingen wir - sicherheitshalber wieder als Gruppe von 15 Personen - zum Bahnhof. Wir wären gern geflogen, aber da wir keine Pässe hatten, konnten wir keine Flugtickets kaufen. Per Eisenbahn konnte man auch ohne Pässe reisen. Beim Einsteigen fielen uns schon etliche Personen auf, die uns ständig im Auge behielten. Ohne Zweifel, es waren Stasi-Männer, die uns begleiteten. Drei Tage später, beim Aussteigen, erkannten wir sie sofort wieder und beschlossen, uns in keinem Fall zu zerstreuen, sondern zusammenzubleiben. Durch die große Menschenmenge am Bahnhof zwängten wir uns möglichst schnell hindurch, stiegen in 71
die U-Bahn, stiegen aus, machten etliche Schleifen und wieder rein, doch alles vergebens. Unsre Begleiter konnten wir auf keine Weise abschütteln. Nach verlorenem Katz-und-Maus-Spiel blieben wir mitten auf der Straße stehen, um die Situation zu beurteilen und vielleicht einen Ausweg zu finden. Etwa 20 Meter hinter uns blieb sofort auch eine kleine Gruppe von 4 Personen stehen, uns im Auge behaltend. Anfänglich hatten wir geplant, im Hotel zu übernachten. Doch jetzt schien uns das viel zu riskant zu sein. Im Hotel wären wir ja alle auf verschiedene Etagen und Zimmer verteilt, aus denen wir von den Sicherheits-Männern problemlos einzeln herausgeholt werden könnten. Aus diesem Grund beschlossen wir, da der Tag schon zu Ende ging, zurück zum Bahnhof zu fahren, dort im Wartesaal den Morgen abzuwarten, und dann zu sehen, was man weiter unternehmen könne. Am Bahnhof angekommen, nahmen wir auf den Bänken Platz, ließen uns ermüdet nieder, und siehe da, am Ausgang, nicht weit von uns ließen sich auch unsre Aufpasser nieder. Unter ihnen waren auch Frauen, die emsig mit ihrem Strickzeug hantierten und so ihrem Verhalten einen möglichst friedlichen und unauffälligen Schein gaben. Sie setzten sich so geschickt hin, dass sie über ihren Stricknadeln uns alle beobachten konnten. Sofern jemand von den Unseren den Saal verließ, ob ins WC oder nach draußen, sofort waren zwei von den Aufpassern hinter ihm her. Diese für beide Seiten spannende Geduldsprobe hielt bis zum frühen Morgen an. Etwa um 4 Uhr früh waren die »Handarbeiter« wahrscheinlich von Müdigkeit oder Hunger überwältigt und hatten uns für einige Augenblicke verlassen. Diese nutzten wir aus, ergriffen unsere Taschen, und in einem Nu waren wir draußen. Vergewisserten uns noch mal, ob hinter uns die Luft rein sei, dann ging es los so schnell wie nur möglich, schräg und quer über die Straßen und Hecken, so oft wie möglich um die Ecken - direkt in Richtung Stadtmitte. Keine Straßenbahn oder Bus hätte uns schneller dahin gebracht. Für mich ist es heute noch ein Rätsel, wie wir ohne Stadtplan, einfach nach Gespür so schnell die Kilometer in der fremden Großstadt hinter 72
uns brachten und die richtige Straße mit dem OWIR-Gebäude erreichten. Hier ließen wir uns zum Gespräch mit dem Chef des Amtes Genosse Obidin eintragen. Kaum hatten wir uns alle angemeldet und im Wartezimmer Platz genommen, wurde die Eingangstür mit Wucht von einem aus der Puste geratenen Mann aufgestoßen. Mit suchendem Blick musterte er die Reihe der Sitzenden und beruhigte sich erleichtert. Unter uns war eine tapfere, schlagfertige Frau. Die hatte ihn sofort als einen der Aufpasser von gestern erkannt und begrüßte ihn mit den Worten: »Na? Haben sie uns wiedergefunden? Beruhigt, was?« Bestürzt drehte sich der Mann um und verließ das Zimmer, schneller noch, als er es betreten hatte. Für einen Spitzel ist es eine peinliche Blamage, von einfachen Leuten, in der Öffentlichkeit, bei so vielen Zeugen in seiner geheimen Mission durchschaut und entlarvt zu werden. In Gedanken versunken, kaum atmend, warteten wir auf Einladung zum Gespräch. Endlich war die Zeit da. Der Erste wurde aufgerufen, nach 10-12 Minuten - der Nächste. Die aus dem Zimmer Herauskommenden sahen nach dem Gespräch nicht sehr glücklich und befriedigt aus. Man konnte ohne zu fragen das Resultat des Gesprächs aus ihren Gesichtern ablesen. Sie wiesen alle Schattierungen auf: von kreidebleich bis zu purpurrot. Wir waren nicht sicher, ob wir überhaupt von Obidin empfangen wurden. Keiner von uns kannte ihn persönlich. Jemand erzählte, vor einiger Zeit soll man hier Besuchern wie uns folgenden Streich gespielt haben. - Ein Feuerwehrmann setzte sich in seiner schicken Uniform an Obidins Schreibtisch, präsentierte sich als Chef des Hauses und fertigte die Bürger einen nach dem anderen mit dem gleichen Rezept ab. Um diese Zweifel auszuräumen, wurde ich vorm Eintritt ins Empfangszimmer von meinen Kameraden gebeten, festzustellen, ob es tatsächlich Obidin sei. Nachdem ich mein Anliegen und Wunsch dem Herrn am Tisch erklärt hatte, erhielt ich zum wiederholten Mal die gleiche Antwort, 73
nämlich - ich solle meinen Pass zurücknehmen, der auf mich zu Hause im Revier warte, und auch das eingezahlte Geld von der Bank abholen. Eine hauchdünne Hoffnung, dass mein Antrag von den örtlichen Behörden noch mal überprüft werde, war aus seinem letzten Satz doch zu erkennen. Jedenfalls, wenn ich die erwähnten Bedingungen erfülle. Ich bedankte mich bei ihm und, bevor ich das Zimmer verließ, bat ich ihn so höflich wie möglich, einen Blick in seinen Ausweis werfen zu dürfen, um den erwähnten Zweifel zu beseitigen. »Aber selbstverständlich, bitteschön!« - Er reichte mir geöffnet den Ausweis hin, auch lange genug, um buchstabieren zu können, aber vor Erregung konnte ich kaum lesen. Die Buchstaben hüpften durcheinander, das Foto schien ziemlich unscharf zu sein, doch seine Art und Weise zerstreuten jeden Zweifel - es war Genosse Obidin. Es war Mittagszeit, als jeder von uns bei ihm im Zimmer eine Viertelstunde verweilt hatte. Jetzt überlegten wir, wo und wie wir die nächste Nacht verbringen könnten. Da nahm der Herr des Hauses uns diese Sorge ab. Laut seiner Anordnung sollten wir uns sofort, in Begleitung von zwei Personen, die draußen auf uns warteten, zum Flughafen begeben. Dort würden wir durch Fürsprache unsrer Begleiter mit Flugtickets versehen und ins Flugzeug befördert werden. Wir hatten gegen diesen Plan nichts einzuwenden, waren froh, nicht wieder drei Tage und Nächte im Zug verbringen zu müssen. Mit dem Flieger IL-18 dauerte es nur etwa vier Stunden. Mitte der 70er-Jahre gab es auf dem Roten Platz in Moskau öfters für die Polizei aufregende Situationen. Es fanden sich immer wieder »freche« Gruppen von deutschen Bürgern, die das Recht auf Demonstrationen auf den Prüfstand stellten und so mit Losungen und Transparenten der Öffentlichkeit ihren festen Willen zur Ausreise kundgaben. Das Resultat war jedes Mal das gleiche: gewaltsame Auflösung der Kundgebung. In den Augen von Obidin waren wir nichts anderes als auch potenzielle Demonstranten, die die nächste Unruhe auf dem Roten Platz verursachen könnten. Deshalb wollte er uns so schnell wie möglich aus der Hauptstadt entfernen.
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Am 2. Dezember kamen wir nach Hause. Vor Weihnachten ging ich ins Revier und holte unsere Pässe ab. Das Geld jedoch ließen wir für ewige Zeiten der Bank. Das Jahr ging zu Ende. Ein neues begann. Am 5. Januar 1976 bekam meine Schwester Anna plötzlich eine Einladung ins Amt. Ich fuhr mit ihr hin, begleitete sie bis zur Tür, hinein durfte ich nicht. Nach kurzer Zeit rief sie mich herein. Da fragte mich die Frau Beamtin, ob ich meinen Bruder Peter nicht auch rufen könnte. Natürlich konnte ich das. Ich eilte hinaus und schlitterte mit meinem »Shiguli« über die frisch verschneiten, glatt gefahrenen Straßen durch die Stadt. Ich fand meinen Bruder und brachte ihn ins Sprechzimmer. Jetzt saßen wir alle drei da und wussten nicht, was wir zu erwarten hätten. Die Frau ließ sich Zeit, zettelte ein Gespräch nach dem anderen an, erkundigte sich dann, ob unsere Papiere alle in Ordnung seien, die Pässe und manches andere. Nach ungefähr einer Stunde kam endlich der lang ersehnte Satz: »Fahrt nach Hause, packt eure Sachen, euch ist die Ausreise genehmigt. Zahlt die Gebühren für die Reisepässe ein, wechselt 90 Rubel pro Person in D-Mark um. Und sorgt dafür, dass ihr am 16. Januar aus dem Lande seid.« In 11 Tagen also sollten wir Russland verlassen?! Hätten wir uns nicht schon lange auf diesen Fall vorbereitet, wäre es fast unmöglich gewesen, all die erforderlichen Dinge so kurzfristig zu erledigen. Aber das Haus hatte ich schon, bevor wir die Pässe abschickten, auf Lindas Bruder Paul überschrieben. Meinem Cousin und Schwager Johann Penner hatte ich inzwischen mein Auto geschenkt. Koffer, Kisten und Kasten standen bereit, warteten, voll gepackt zu werden. Unser ältester Sohn Peter war 17 und inzwischen schon auf der Liste bei dem Wehrdienst-amt. Mit 18 - das wäre im April gewesen hätte er zum Militärdienst gehen müssen. Jetzt musste er abgemeldet werden. Ich fuhr mit ihm in das entsprechende Amt. Ein Leutnant nahm uns in seinem Zimmer in Empfang. Nachdem er unser Anliegen vernommen hatte, schaute er so nachdenklich Peter an und sagte: »Weißt du auch, was euch erwartet, wenn ihr nach Deutschland 75
kommt? Zunächst werdet ihr alle in ein Lager eingesperrt. Was ein Lager ist, wisst ihr wahrscheinlich? Mit Stacheldraht umgeben, werdet ihr euch nach der Freiheit, die ihr hier genießen durftet, noch umschauen ... Hast du keine Angst davor? Willst du trotzdem nach Deutschland?« »Doch, ich will«, war seine Antwort. »Und wenn im Falle eines Falles Krieg zwischen uns und Deutschland ausbrechen sollte, wirst auch du dann auf uns schießen?« »Das werde ich wohl tun müssen.« »Ach, so ist die Sache?! Na gut, fahr hin. Aber dies sollst du wissen: Zum Militärdienst können wir dich auch von dort holen.« Hiermit hatten wir diese Abmeldung auch hinter uns. Pünktlich am 16. Januar, es war Sonntag, stiegen wir mit unseren Familien in das Flugzeug Richtung Moskau. In Scheremetjewo angekommen, erkundigten wir uns gleich bei der Lufthansa-Agentur, ob es noch Tickets für den nächsten Flug gäbe. Die gab es leider nicht. Wir wollten aber unbedingt mit der Lufthansa fliegen, kauften für den nächstmöglichen Flug, den 20. Januar, Flugkarten und warteten im Hotel diesen Tag ab. Drei Stunden vor Abflug kamen wir mit all unseren Koffern und Säkken zum Flughafen. Die anderen wurden abgefertigt, und wir blieben mit unserem Gepäck daneben stehen. Es half kein Bitten noch Flehen - wir wurden zur Seite geschoben. Der Grund: Wir hätten unsere Koffer einen ganzen Tag vor Abflug zur Kontrolle herbringen sollen, damit sie genug Zeit hätten, alles durchzustöbern. Jetzt waren wir auf ihre Gnade angewiesen - und die war nur sehr knapp in Aussicht. Das Flugzeug stand schon startbereit, die Passagiere - auf ihren Plätzen. Nur wir saßen immer noch auf unsern Koffern. Im letzten Moment kam wirklich noch ein Mann auf uns zu, und da hieß es: Schnell, schnell die Sachen auf die Tische zur Kontrolle. Eine Hetze sondergleichen! Es dauerte wirklich nur etliche Minuten, da waren wir abgefertigt und durften die Grenze passieren. Welche Erleichterung brachte uns dieser Augenblick!... * * * 76
... und erst recht, als wir im Flugzeug unsere Plätze einnehmen konnten und so freundlich vom Personal empfangen und bedient wurden, dass uns die Tränen in den Augen standen. Eine ganz andere Welt tat sich vor uns auf. Die Stewardessen kamen ein ums andere Mal mit Fragen: »Wollen Sie etwas trinken?« »Ja, bitte.« »Was darf es sein? Cola? Fanta? Limonade? Mineralwasser? Bier?« Da kamen wir mit der Auswahl in Verlegenheit. Lauter unbekannte Sachen. Wir schauten uns den mit Flaschen und Dosen voll gestellten Wagen an und zeigten dann mit dem Finger, was unsren Augen gefiel. »Möchten Sie in eine Zeitung reinschauen?«, fragte sie weiter. »Ja, gerne.« »Welche darf es sein? Die oder die, oder diese?« »Irgendeine, mir sind sie sowieso alle unbekannt«, sagte ich. Da reichte die Dame mir wahrscheinlich die größte Zeitung, die es in Deutschland gibt - die »Frankfurter Allgemeine«. Ich dachte zunächst, es seien 20-30 Exemplare einer Zeitung, die ich an alle Passagiere verteilen sollte. Aber es war eine einzige Zeitung, mit fast 200 Seiten und bei einem Kilo an Gewicht! Das kann doch nicht wahr sein! Die Moskauer Zentralzeitungen »Prawda« und »Iswestija« hatten normalerweise, wenn nicht gerade eine Rede von Chruschtschow oder Breshnew drinnen stand, nur 4 Seiten! Ein immenser Unterschied! Wenn ich nur einen Blick auf jede Seite werfen sollte, so würde die Zeit bis Frankfurt nicht reichen. Ich las etliche Schlagzeilen und legte sie zur Seite. - Die ganze Atmosphäre der gegenwärtigen Situation war viel spannender als jeder Zeitungsbericht. Wir befanden uns alle wie in einem Rausch. Da kam die Stewardess wieder auf uns zu, lud unsere Kinder ein, ihr zu folgen. Sie durften das Cockpit betreten, direkt zu den Piloten, und die ganze Menge von Schaltern, Lämpchen und Hebeln bewundern. Andreas durfte sogar etliche Tasten betätigen, um das Flugzeug sich von einer Seite auf die andere neigen zu lassen. Strahlend vor Freude kamen sie wieder auf ihre Plätze. 77
Nach zwei Stunden in der Luft landete unsere Maschine in Frankfurt. Es war Mitternacht, aber wir wurden von den Schwestern des Roten Kreuzes erwartet, freundlich empfangen und begrüßt, dann in Busse verladen und nach Friedland gebracht. Um 4 Uhr früh konnten wir die für uns vorbereiteten Zimmer betreten und uns zur Ruhe legen. Jetzt erst war ich sicher, nicht nur dem Genossen Nurgalijew, sondern auch dem Netz seiner Behörde endgültig entkommen zu sein. Ein bisher ungeahntes Gefühl der Freiheit überwältigte mich! * * * Am Morgen ging das Staunen weiter. Wir schauten die sauberen Straßen und Häuser an, das Geläut der Kirchenglocken begleitete unsern Gang in den Speisesaal. Sollte dies ein Lager sein, mit dem der Leutnant in Frunse uns Angst einjagen wollte? Wo ist denn der Stacheldraht? Und die Türme mit den Wächtern? Kein einziger Soldat oder Polizist in Sicht! Die waren hier total überflüssig. Alles sah so ruhig und friedlich aus. Friedland - einen treffenderen Namen könnte man diesem Städtchen wahrhaftig nicht geben! Unsere erste Niederlassung nach Friedland und Rastatt war ein Übergangswohnheim in Stuttgart. Es war neu renoviert und eingerichtet und sollte demnächst eingeweiht werden. Viktor Blank, Lindas Cousin, der vor einem halben Jahr in Korntal mit seiner Familie eine Heimat gefunden hatte, hatte dort für uns Zimmer reserviert. Von hier aus erledigte ich den ganzen Papierkram, mit dem jeder Aussiedler als Neuankömmling konfrontiert wird. Bei dieser langwierigen Lauferei von einem Amt zum anderen konnte ich immer wieder nur staunen, wie freundlich und zuvorkommend ich von den Beamten überall mit dem im Schwabenland üblichen »Grüß Gott!« empfangen wurde. Wenn ich beim Ausfüllen von verschiedenen Anträgen mit dem amtlichen Deutsch nicht zurechtkam, hörte ich öfters zum Trost: »Das ist doch nicht schlimm, dafür sind wir ja da!« Oder: »Kein Problem, wir verstehen auch nicht alles!« und Ähnliches. Nachdem ich alle Ämter, die auf dem 78
Laufzettel aufgelistet waren, aufgesucht hatte und alle möglichen Anträge gestellt waren, sagte ich zu meiner Frau: »Schade, ich hätte gern noch eine Runde gedreht!« Um mit meinem Staunen nicht zu einseitig zu sein, möchte ich auch etliche negative Überraschungen erwähnen. Da wir auf den öffentlichen Verkehr angewiesen waren, fiel uns der Zustand der Haltestellen in Stuttgart auf. Obwohl da etliche Müllbehälter platziert waren, mussten die Kehrleute die herumliegenden Zigarettenstummel mit der Schaufel zusammenhäufen und in die Eimer füllen. Da erinnerte sich einer unserer Jungs: »Und ihr habt uns erzählt, dass in Deutschland jedes KaugummiPapierchen in den Mülleimer geworfen wird!« Zweitens, das Verhalten der Kinder in der Öffentlichkeit, hier zum Beispiel in der Straßenbahn. Es war um die Mittagszeit. Eine Gruppe Schüler stand auf der Haltestelle. Kaum hatte der Fahrer angehalten und die Tür geöffnet, stürmte die ganze Gruppe Hals über Kopf mit einem lauten Geschrei in den Fahrsalon. Die Kinder besetzten die noch freien Plätze und unterhielten sich mit der gleichen Lautstärke weiter. An der nächsten Haltestelle stiegen etliche ältere Personen ein, doch keinem von den Kindern kam es in den Sinn, aufzustehen und Älteren den Platz anzubieten, was wir als eine Selbstverständlichkeit erwarteten. Hierzu wurden die Kinder in den Schulen der UdSSR von der ersten Klasse an erzogen. Von der Bevölkerung wurde das mit »sehr gut« und »anständig« bewertet. Es galt noch der Begriff »Ehre das Alter!« Ist er heute schon veraltet? Zehn Wochen nach unserer Ankunft durften wir, meine Frau, ich und Peter, unser Deutsch in einem Sprachkursus, der auf sechs Monate angelegt war, verbessern. Dank dem, dass wir zu Hause schon immer die deutsche Sprache pflegten, konnten unsere Schüler in die gleichen Klassen der normalen Schule aufgenommen werden. Langsam erfuhren wir von der neuen Richtlinie der Erziehung in deutschen Schulen, die so genannte antiautoritäre Erziehung, die seit den Sechzigerjahren im Gange war. Der Begriff »freie Entfaltung« gehört auch zu dieser Methode, deren Frucht sich ganz 79
schnell im Verhalten der Kinder in Rücksichts- und Respektlosigkeit den Erwachsenen gegenüber erkennen lässt. Aus meiner Sicht ist diese Methode ein guter Nährboden, auf dem sich Egoismus, Gewalt bis Brutalität entfalten können. Endlich ergab sich die Gelegenheit, den Vater Rogalski zu treffen. Meine erste Frage war, wie viele Schläge er wohl für seine Kinder bisher kassieren musste. Lachend antwortete er: »Keinen einzigen!« Es war also ein Märchen, das sich ein talentierter Erfinder ausgedacht hatte. Mit Erleichterung nahm ich dies zur Kenntnis und konnte mit ihm von Herzen lachen. Eine Schwierigkeit, mit der jeder Aussiedler konfrontiert wird, ist die Arbeitssuche. Ich kam mit 43 nach Deutschland, da hörte ich manchmal: In diesem Alter ist es nicht so einfach, eine Stelle zu finden. Die Firmen schauen meistens nach Jungen aus, nach 2030-Jährigen, mit viel Erfahrung. Auf einen Schlag fühlte ich mich ins Lager der Alten abgeschoben. Dann übernahm ich aber eine Arbeit, die für Alte nicht gerade geeignet war - als Möbelauslieferer. Das heißt, ich lieferte den Kunden die bestellte Ware Wohnschränke, Küchen und sonstige Möbel - ins Haus und baute sie auf. In manchen Häusern älteren Baujahres gab es keinen Aufzug. Da galt es, mit dem Kühlschrank auf dem Buckel, bis zu 100 Stufen hinaufzumarschieren. Dabei habe ich manchmal an den Aufsatz meines Vaters denken müssen: »Von unten an bis oben ach, wäre ich endlich droben.« Nach einem Jahr wollten meine Bandscheiben nicht mehr mitmachen. Eine Abnutzung hatte sich schmerzlich bemerkbar gemacht. Ich schaute mich nach anderer Arbeit um und stellte im Arbeitsamt einen Antrag auf Umschulung. Nach einem Jahr, in dem ich inzwischen als Kraftfahrer im Straßenbau tätig war, kam die Genehmigung, und ich wurde in zwei Jahren und zwei Monaten zum Elektromechaniker ausgebildet. Im Oktober ’83 - kurz vor meinem 50. Geburtstag - bekam ich nach den Prüfungen meinen Gesellenbrief, mit Belobung versteht sich, wie auch früher. Denn Lernen war immer noch meine Lieblingsbeschäftigung. Zudem war seit langem mein Wunsch, dem elektrischen Strom näher auf die Schliche zu 80
kommen. Seine Tücken kannte ich schon, aber wie man ihm das nützliche Arbeiten beibringen kann, hat mich immer wieder fasziniert. Doch Arbeit in diesem Beruf konnte ich nicht finden. Bekam aber, dank dem guten Abschluss, nach einem halben Jahr in der Zahnrad-Fabrik eine Stelle als Kontrolleur. Hier durfte ich nach zehn Jahren Berufstätigkeit auch mein Rentenalter erreichen. Mein Gesellenbrief landete, wie auch mein Lehrerdiplom mit dem Omnibus-Führerschein, gut verwahrt, neu und ungebraucht, in der Schublade. Trotz all den Schwierigkeiten, die es auch in Deutschland zu bewältigen gab, haben wir es keinen Augenblick bereut, hier zu sein. Ich möchte an dieser Stelle der deutschen Regierung gegenüber, so auch jedem Amt und Beamten für die freundliche Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland, für alle Mühe, Menschlichkeit und Geduld mit uns Aussiedlern einen herzlichen Dank aussprechen. Ende 1980 konnten wir fast ohne Eigenkapital ein Haus kaufen und einziehen. Es gab manche neidische Blicke der Ansässigen zu ertragen, was ich ihnen auch nicht übel nehme. Sie konnten ja nicht ahnen, dass ich nur die Haustür und den Flur als meine bezeichnen konnte. - Der Rest vom Haus gehörte den Banken, die uns vertrauensvoll ihre Darlehen vorstreckten. Zur Zeit haben wir fast zwei Drittel des Hauses bezahlt und leben in der Vorfreude, irgendwann schuldenfrei zu sein. Neulich rechnete ich aus, wann ich die letzte Rate zu zahlen hätte, und konnte es kaum glauben: Ab November 2062 wird das Haus uns gehören! Also im Alter von 128 Jahren! Welch ein grenzenloses Vertrauen der Bank mir gegenüber! Schwer zu denken, dass ich mich zu dieser Zeit noch freuen könnte. Da bleibe ich lieber bei meiner Vorfreude und sorge dafür, dass keine anderen Schulden als die finanziellen mich belasten. Unsre Zufriedenheit, in Deutschland zu leben, wurde noch mal verdoppelt, nachdem wir - meine Frau und ich - im April 1986 eine Wochenreise in die UdSSR zu den Verwandten in Frunse machten. Nach der Landung in Scheremetjewo wurden wir beide drei Stunden festgehalten und schikaniert, weil in unsrem Koffer Kinderhefte und etliche geistliche Bücher vorgefunden wurden. Die Fern81
sehmannschaft mit Flutlicht wurde herbeigerufen. Die Sachen mussten alle noch mal in den Koffer gepackt und dann vor der Kamera wieder Stück für Stück rausgeholt werden. Eine Dokumentation wurde gedreht, wie gewissenhaft die sowjetischen Grenzbeamten ihre Pflichten erfüllen. Dass die Gruppe mit der Reiseleiterin, die leider nicht Russisch konnte, im Bus auf uns wartete, war ihnen ganz egal. Sie erlaubten sich zwischendurch sogar noch eine Kaffeepause. Erst nach drei Stunden ließen sie uns mit dem erleichterten Koffer gehen - alle Bücher und Hefte waren beschlagnahmt, Kassetten wurden abgehört, neue Filme aus der Fassung gezogen und unbrauchbar gemacht und, und, und. Das Radiogerät mit Kassettenrecorder, das ich als Geschenk für die Verwandten mit hatte, sollte ich aber unbedingt zurück nach Hause nehmen. Solch teure Geschenke seien verboten. Als wir nach der »Abfertigung« in den Bus stiegen, wurden wir aus den Lautsprechern mit einem Schlager »getröstet«, in dem es wiederholt hieß: »Sei nicht traurig, Susan, es fängt alles erst an ...«(!) »Wie treffend«, dachte ich. »Wenn dies nur der Anfang ist, was erwartet uns denn noch alles auf der weiteren Reise?« Zum Glück war bei der Rückreise nicht wieder der extrem gewissenhafte Mann am Tisch. Nach dem Radiogerät, das ich trotz Verbot doch verschenkt hatte, wurde nicht gefragt. Aber am Nachbartisch war es ziemlich laut geworden. Eine Frau aus unserer Gruppe hatte vom Grab ihrer Mutter, die neulich verstorben war, ein Beutelchen Erde, so etwa ein Kilogramm, zum Andenken mitgenommen. Da wurde sie lautstark zurechtgewiesen: »Sowjetische Erde zu exportieren ist v e r b o t e n!« Erst die Tränen der Frau konnten das Herz des Beamten erweichen. Und wenn der Beamte letztendlich nachgibt, ist es auch dem Gesetz egal. Sie durfte die Tüte mitnehmen. Zu Hause angekommen, bekamen wir sofort die Nachricht von der Katastrophe in Tschernobyl zu hören. Wir waren an dem Tag, 26. April 86 in Frunse angekommen. Weder hier noch in Moskau bei der Rückreise hatten wir irgendetwas von dem atomaren Unheil erfahren. Gorbatschows »Glasnostj« war zu der Zeit noch nicht 82
geboren. Erst unter dem Druck der westlichen Welt geschah die Entbindung. Nach dieser atemberaubenden Reise wollten wir nie mehr freiwillig den Boden der UdSSR betreten. Fünf Jahre später konnte dies keiner mehr. Die »unzerstörbare Union der freien Republiken, für ewige Zeiten zusammengeschmiedet«, wie es in der Staatshymne hieß, hatte ohne jegliche Hilfe von außen sich selbst zerstört und sich in ihre Bestandteile aufgelöst. Die hoch gepriesene brüderliche Freundschaft der Nationen, die jahrzehntelang als Leim und Bindemittel der Völker besungen wurde, verwandelte sich plötzlich in Dynamit und sprengte alles auseinander. Der Nationalismus ließ hier neue Grenzen und Barrieren zwischen bislang »brüderlichen« Republiken entstehen. Alles hat seine Zeit (siehe in Prediger, Kap. 3,8): Lieben hat seine Zeit, und Hassen hat seine Zeit; Krieg hat seine Zeit, und Friede hat seine Zeit. Auch unser Leben hat seine Zeit, Ziel und Zweck. Jeder muss für sich den Sinn seines Lebens erkennen. Mit dem folgenden Gedicht schließe ich. Der Mensch und die Zeit Die Kindheit geht so schnell vorbei, Die Zeit steht leider niemals stille. Von ihrem Bann ist niemand frei Ihr unterliegt des Menschen Wille. Die Kraft des Lebens schmilzt dahin, Der Druck der Zeit wird immer schwerer, Und kennt man nicht des Lebens Sinn, Dann wird das Leben immer leerer. Wird hier der letzte Punkt gestellt Von unsrem Dasein in der Welt? Nein, nein, hier ist er nicht am Platz, Dies ist noch nicht der letzte Satz! 83
Wir halten an der Hoffnung fest, Auch wenn wir oft im Zweifel schweben: Wer gläubig diese Welt verlässt, Hat Aussicht auf ein ewiges Leben. Drum lasst uns heute dankbar sein Und furchtlos in die Zukunft schauen; Was er verspricht, das trifft auch ein. Ihm kann man rückhaltlos vertrauen!
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Herta Vogel, geborene Neufeld
Geboren 1937 in Waldheim/Saporoshje. Während des Zweiten Weltkrieges Flucht in den Westen. 1944 im Warthegau als Deutsche eingebürgert. 1945 - Verschleppung nach Kasachstan. 1953 - Abschluss der 7. Klasse einer nicht vollen Mittelschule. 19531957 - LBA-Schülerin im Gebiet Kokschetau, Fachrichtung Grundschullehrerin (ohne Abschluss). 10. Klasse Abendschule - Zeugnis der allgemeinen Hochschulreife. Nach Studium in Zelinograd (195964) Kreisarchitektin in Jesil (1964-66), Vollaspirantin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungsinstitut Aprelewka/ Moskau (1966-72), Dozentin für Architektur und Chefingenieurin für das Projekt in Pawlodar/Ostkasachstan (1972-80). 1980 - mit Ehemann und zwei Kindern in die Bundesrepublik Deutschland ausgereist. Hier Umschulung. Tätigkeit 1984-99 als Altenpflegerin und Beschäftigungstherapeutin im Altenheim der AWO in Bobingen/Augsburg. Seit 1999 in Rente. Veröffentlichungen: »Im Paradies ... der Arbeiter und Bauern«, »Wir Kinder ohne Väter« als Co-Autorin in »Heimat in der Fremde«, Kurzgeschichten, Gedichte und Artikel in »Menschenrechte«, »Volk auf dem Weg« und »Neues Leben«.
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Stein des Anstoßes In den 30er-Jahren des vorigen Jahrhunderts, als die Bolschewiken in Russland durch die Geheimpolizei die Andersdenkenden ermorden ließen, lebte im Süden des Landes im Gebiet Saporoshje ein deutscher Buchhalter mit seiner Frau und vier Kindern. Fünf Kinder waren ihnen schon als Säuglinge verstorben. Nun war die Frau - Lehrerin von Beruf - zum zehnten Mal schwanger, was sie überhaupt nicht glücklich machte. 1937 kam ich als fünftes lebendes Kind meiner Eltern zur Welt und wurde ab sofort für alle Beteiligten zum Stein des Anstoßes. Schon die Umstände meiner Geburt waren außerordentlich. Da steht eine junge schwangere Frau hoch oben auf einem Baugerüst und bessert den Außenputz aus. Plötzlich krümmt sie sich, umfängt ihren Bauch mit beiden Händen, geht auf die Knie und stößt einen gellenden Schrei aus - die Wehen haben eingesetzt. Ihr Ehemann läßt den Eimer mit Mörtel fallen und eilt nach oben: »Just, halt durch! Ich bringe dich gleich ins Krankenhaus ...« »Ich will nicht ... ins Krankenhaus«, röchelt sie. »Ich will keine Kinder ...« Dann wieder dieser lang gezogene, nicht enden wollende, durch Mark und Bein gehende Schrei. Der Mann ist verzweifelt: Er kann die Hochschwangere nicht die steile Leiter hinunterschaffen, legt sie hin und schiebt ihr ein Brett unter den Kopf. Auf den Schrei kommt seine Schwiegermutter aus dem Haus, registriert blitzschnell die Lage und steigt wenige Minuten später die Leiter hoch mit einem Armvoll Laken und Tüchern. »Wir brauchen warmes Wasser, Peter, und hol mir bitte die Schere«, sagt sie ihrem Schwiegersohn und kniet neben ihrer Tochter nieder. Mit einem Tuch wischt sie ihr den Schweiß von der Stirn, befreit ihren Unterleib und schiebt ihr ein Laken unter die Hüften. Die Schwangere ergreift ihre Hand. »Ich will nicht, verstehst du ... Ich habe Angst ... Ich will kein Kind«, schreit sie plötzlich. »Nie wieder! Ich kann nicht! Ich will nicht ...« - »Nur noch dieses eine Mal, Justine ... Nur einmal. Da musst du 86
durch. Es ist ja gleich vorbei ...«, spricht die Mutter beruhigend auf sie ein und siehe da - nach zwei weiteren Schreien - hält sie ein Mädchen in den Händen. Gerade rechtzeitig kommt der Schwiegersohn mit der Schere und durchtrennt die Nabelschnur. Oma wikkelt das Neugeborene in ein Leintuch, drückt das warme Bündel behutsam an ihre Brust und steigt die Leiter hinunter. Sie ist dabei die Ruhe selbst, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, auf einem Baugerüst ein Neugeborenes zu empfangen. Anschließend kommen Mutter und ich doch noch ins Krankenhaus zur Behandlung. Gefreut hat sich auf meine Ankunft wohl keiner, denn ich bringe für alle nur neue Sorgen und Plagen mit. Nur fünf Wochen später bin ich schon »Tochter eines Volksfeindes« und Halbwaise - die Geheimpolizei hat auf dem Höhepunkt des Terrors im Laufe der Massenverhaftungen und Hinrichtungen auch meinen Vater spurlos verschwinden lassen. Der Beginn meines Lebens war also ziemlich turbulent und so sollte es auch mindestens 20 Jahre lang bleiben. Meine Mutter musste wirklich keine weiteren Kinder mehr zur Welt bringen und war sogar zum Oberhaupt der Familie aufgestiegen. Jetzt musste sie sich nicht nur alleine um die Erziehung ihrer Kinder kümmern, sondern auch für Unterkunft und Brennmaterial, für Kleidung und Nahrung sorgen. Schon eine Woche nach Vaters Verhaftung muss die Familie die Dienstwohnung der MTS - einer Maschinen-Traktoren-Station räumen, in die der neue Buchhalter einziehen soll. Für eine große Familie ist es unmöglich, in so kurzer Zeit eine Unterkunft zu finden. Der Winter rückt heran und ... wir stehen auf der Straße ... Mutter versucht, in ihrem erlernten Beruf als Grundschullehrerin eine Stelle zu bekommen. Doch - Fehlanzeige: »Einer Ehefrau des Volksfeindes werden keine Kinder anvertraut«, heißt es lapidar. Sie hat ab nun Berufsverbot. Mein 13-jähriger tauber Bruder soll sich nach Vaters Verhaftung in der Taubstummenschule beharrlich geweigert haben, das rote Halstuch der jungen Pioniere zu tragen. Das wird als »antisowjetisches Benehmen« gewertet und der Mutter zum Vorwurf gemacht. Zur 87
Strafe für seine »feindselige Gesinnung« soll mein Bruder Bernhard von der Schule verwiesen werden. Mich kann Mutter nicht mehr stillen, da sie durch all die Aufregungen die Milch verloren hat. »Nun schreit auch noch dieses Kind Tag und Nacht! - Irrenhaus! Nicht auszuhalten! Es ist zum Verrücktwerden ...« »Gebt doch dem Kindlein endlich einen Grießbrei«, sagt die Nachbarin. »Es ist ja nicht mehr anzuhören!« »Grießbrei?!«, fragt Mutter gereizt. »Und woher soll ich den nehmen? Soll ich stehlen gehen? Wir haben kein Geld, um Milch zu kaufen ...« Alles zusammen wird ihr zu viel und verzweifelt greift sie zum Strick ... Großmutter holt sie aus der Schlinge. »Ich muß zusehen, wie meine Kinder eines nach dem anderen verhungern«, schluchzt Mutter »und kann gar nichts dagegen tun ... Gar nichts. Das halte ich nicht aus.« Doch Großmutters Gottvertrauen ist unerschütterlich. Sie zitiert irgendwelche Bibelstellen, tröstet, weint und betet mit ihrer Tochter. In dieser Nacht ist meine Mutter ein anderer Mensch geworden. Sie hat nie mehr versucht, sich das Leben zu nehmen. Aber etwas in ihr ist zerbrochen: Sie kann seitdem weder lachen noch weinen. Innerlich ist sie erstarrt. Doch irgendwie geht das Leben weiter. Angehörige und Fremde, Deutsche und Ukrainer helfen unserer Familie, wo sie nur können, und allmählich, sehr langsam renkt sich das Dasein wieder ein. Wir ziehen in die Sommerküche eines Nachbarn. Mutter bekommt in der Schule eine Stelle als Putzfrau und ihr wird später auch eine kleine Dienstwohnung zugewiesen. Dann »steigt sie auf« zur Verkäuferin im Schulbüfett. Das Leben scheint erträglicher zu werden. Und ausgerechnet in dieser Zeit platzt Nikolaj Tus - Vaters Freund - mit der Nachricht herein: »Habt ihr schon gehört? Krieg ist mit Deutschland - Hitler hat Kijew bombardiert. - Ihr werdet befreit ...« »Wie bitte? Befreit?« Den Frauen verschlägt es die Sprache. Großmutter, Mutter und Tante Liese starren den Mann wortlos an. 88
»Das hat uns gerade noch gefehlt!«, entfährt es Großmutter. »Nimmt unser Unglück denn nie ein Ende?« Der Mann verschwindet wieder. Die Frauen trauen ihm nicht, denn er ist nicht nur ein Ukrainer, sondern auch Kommunist und von Beruf Milizionär. Obwohl er Vaters Freund ist, hat ausgerechnet er ihn festgenommen und abgeführt. - Gegen seine Überzeugung erfüllte er diesen Befehl. Einen Versuch, meinen Vater zu retten, hat er nicht gewagt. Er hätte ja sagen können: »Peter, in der kommenden Nacht soll ich dich verhaften. Komm, ich verstecke dich in meinem Haus, meinem Keller oder meiner Laube. Bei mir wird dich keiner suchen, denn ich bin außer Verdacht.« Doch dieses Risiko ging Nikolaj nicht ein. Mein Großvater hingegen hatte es vor der Revolution während eines Pogroms gewagt. Mit Vollbart und der Pfeife im Mundwinkel, stand er breitbeinig mit auf der Brust verschränkten Armen in seiner Hofeinfahrt, während russische Bauern mit Mistgabeln ihre Opfer durch die Straßen trieben. Als die Verfolgten vorbeikamen, machte er einen Schritt zur Seite und ließ sie durchs Tor in seinen Hof schlüpfen. Kurz darauf kam die Meute um die Ecke und er hörte: »Kornej, wo ist der Schneider-Jid mit seinen Jungs hin?« Da zeigte Großvater mit der Pfeife die Straße entlang. Seine Zivilcourage hat sich gelohnt, denn als die Verfolger Stunden später zu seinem Hof zurückkamen, waren die Männer längst über alle Berge. Nein, diese Courage zeigte der sowjetische Milizionär Nikolaj Tus nicht. Er war eben kein Held. Er erfüllte nur den Befehl und verhaftete meinen Vater. Anschließend haben seine Frau und er viel Gutes für unsere Familie getan. Aber konnte man ihnen trauen? Wer weiß, wann der nächste Befehl kommt und wie er aussehen wird, den dieser Mann dann auch ohne Widerrede auszuführen hat. Schon wenige Tage später ziehen nach Osten Flüchtlinge und Viehherden durch Waldhein, das jetzt Rot Front heißt. Die Erwachsenen unterhalten sich halblaut mit sehr ernsten Gesichtern. Ihnen ist klar: In dieser Situation haben die Deutschen in Russland nichts zu 89
lachen. Dann kommt der Befehl, alle Deutschen sollen sich ab sofort zur Evakuierung bereithalten, »damit sie nicht dem Feind in die Hände fallen«. Für Vaters Schwester Maria, verheiratet mit einem Ukrainer, gilt dieser Befehl nicht. Sie ist durch ihre Heirat Ukrainerin geworden. Betroffen sind ausdrücklich nur die Deutschen. In der Nachbarschaft werden Schweine und Gänse geschlachtet, denn Lebensmittel für zwei Monate sollen mitgenommen werden. Meine Familie hat kein Vieh zum Schlachten, außer einigen Hühnern und dem Hahn. Die werden gebraten und in einem emaillierten Eimer mit Bratenfett übergossen. Zusätzlich machen die Frauen viel Nudeln und rösten reichlich Zwieback. Das ist alles. Andere Vorräte gibt es bei uns nicht. »Und das soll unsere Verpflegung für zwei Monate sein?! Acht Personen sollen davon leben? Nie und nimmer reicht das ...«, lamentiert Mutters Schwester Liese. »Wir werden verhungern ...« »Ja, wenn wir sparsam damit umgehen, reicht es höchstens für zwei Wochen«, sagt meine Mutter. »Aber darauf kommt es auch nicht mehr an. Kommen wir wirklich nach Sibirien, so überleben wir es sowieso nicht. Dafür fehlt uns die nötige warme Kleidung. - Wir werden erfrieren.« Nur Großmutter will nicht aufgeben. »Wir dürfen nur nicht den Mut und unser Gottvertrauen verlieren. Vielleicht kommen die Deutschen doch noch rechtzeitig ... Dann sind wir frei!« »Ja, Oma, was denn nun? Gott oder die Deutschen? Wer soll uns retten? Auf wen wartest du? Meinst du, ausgerechnet unseretwegen werden sich die Deutschen beeilen?« Da kommen auch schon Lastautos in den Hof, um das Gepäck und die Menschen zum Bahnhof zu bringen. Hier lagern wir zwei Tage und zwei Nächte mit sehr vielen anderen Leuten im Freien. Ich bin noch nicht vier Jahre alt - quirlig, beweglich, neugierig - und halte die ganze Familie auf Trab, die mich ja nicht unbedingt hier verlieren will. Bald näht man mir einen weißen Stofffetzen auf den Mantel, wo nebst meinem Namen darauf hingewiesen wird, wo der Findling eventuell abzuliefern sei. 90
Überfüllte Züge rollen einer nach dem anderen nach Osten. Es gibt nicht genug Waggons, um alle gleichzeitig wegzuschaffen. Mit dem letzten Zug aus wenigen offenen Plattformen verlassen Parteifunktionäre, Lehrer und Angehörige der örtlichen Verwaltung den Ort. Alle noch verbleibenden Zivilisten werden von Uniformierten zusammengetrieben und wir müssen uns auf einem abgeernteten Feld neben der Bahn flach auf den Boden legen. Um diese Menschenmenge herum pflanzen zwei Männer in Uniformen Kartoffeln: Sie graben Löcher in den Boden und legen da etwas hinein. Etliche Uniformierte machen sich ebenso an den Schienen zu schaffen. Ein Raunen geht durch die Menge: »Die legen Minen! ... Es ist ein Sprengkommando. Sie können uns nicht abtransportieren ... Die Deutschen sind nicht mehr weit ... Wir sollen vernichtet werden.« Frauen flüstern es einander zu. Doch was tun? Nachts wird die Bahn gesprengt. - Es knallt fürchterlich! Eisenund Holzstücke zischen durch die Luft und gehen in der Menschenmenge nieder. Ein großer heißer Metallsplitter bohrt sich in ein Gepäckstück neben der Schläfe meines Bruders. Die Menschen schreien und laufen um ihr Leben. Die Minen explodieren ... Mutter trägt mich mit einer Hand, unter die Achsel geklemmt, mit der anderen Hand zieht sie meinen tauben Bruder hinter sich her, denn bei Dunkelheit ist er völlig hilflos. Plötzlich steht der Getreidespeicher in Flammen. Es riecht nach geröstetem Zwieback und verbranntem Brot ... Über unseren Köpfen kämpfen zwei Flugzeuge, bis das eine mit schwarzem Rauchschweif abstürzt und das andere hinter den Wolken verschwindet. Bei Sonnenaufgang sind die Uniformierten verschwunden. - So entkommen wir nicht nur dem höllisch gefürchteten Sibirien, sondern auch dem Mordanschlag der »inneren Streitkräfte«. Obwohl es Tote und Verletzte gibt, sind wir mit dem Schrecken davongekommen und beeilen uns, den Bahnhof zu verlassen. Als wir zu Fuß mit unseren Bündeln und Koffern nach Hause kommen, ist die Wohnung ausgeplündert und völlig verwüstet. - Sie hat 91
weder Fensterscheiben noch Türen. Alle Möbel und sämtlicher Hausrat sind verschwunden. Wir sind jetzt unter deutscher Besatzung. Mit einem Handwagen voll Gepäck gehen wir nach Mariawohl, wo unsere Verwandten leben, und ziehen in das vor zehn Jahren enteignete Haus des Großvaters ein. Das Leben normalisiert sich. Die Bauern säen und ernten. Alles verläuft friedlich und nichts scheint noch an den Krieg zu erinnern. Doch diese Ruhe ist trügerisch. Es ist nur ein kurzes Zwischenspiel. Zwei Jahre später, im Herbst 1943, ziehen die deutschen Truppen aus der Ukraine ab. Mit ihnen flüchtet die deutsche Zivilbevölkerung vor der Roten Armee. Auch meine Familie ist bei dem »Großen Treck« dabei. Mutter hat natürlich Bedenken: »Was wird aus meinem Mann, wenn ich mit den Kindern in den Westen fliehe? Wie, wo und wann soll er uns finden, wenn er dieses Inferno überlebt?« Dieselben Sorgen hat auch ihre jüngere Schwester. Ihr Mann wurde zu Beginn des Krieges mobilisiert und ist seitdem verschollen. »Euren Männern könnt ihr nicht helfen, wenn ihr ihretwegen auch hier bleibt«, meint Großmutter. »Mit Sicherheit aber gehen wir alle vor die Hunde, wenn wir jetzt nicht mit den anderen mitgehen.« Monatelang dauert die Flucht mit Pferdewagen aus der Ukraine in den Warthegau. Den ganzen Winter 1943/44 ziehen auf den schlammigen Wegen viele Frauen und Kinder. Männer sind nur wenige dabei - ein Greis, ein Invalide. Mein 19-jähriger Bruder Bernhard ist taub, deshalb für keinen Dienst geeignet und auf der Flucht ist er dabei. Wir Flüchtlinge bekommen Trockenrationen, wie auch die Soldaten der sich zurückziehenden Armee: Wurst, getrocknete Kartoffeln, Erbsen, Bohnen. - Die deutsche Armee hat die Verpflegung der Flüchtlinge übernommen. Zusätzlich versorgt uns das Rote Kreuz gelegentlich mit einer warmen Mahlzeit. Meistens ist es eine Erbsen- oder Kartoffelsuppe. Partisanen begleiten den Treck und lauern hinter jedem Busch. Bleibt 92
ein Wagen liegen, weil ein Rad gebrochen oder ein Pferd gestürzt ist, so sind die Menschen in Lebensgefahr. Solche Fuhren verschwinden spurlos. Unter schwierigsten Umständen, unter Angst und Gefahr muss jeden Abend Futter für die Pferde beschafft werden. Nachts werden oftmals Pferde gestohlen. Nach unsagbaren Strapazen und völlig erschöpft kommen wir im Frühjahr 1944 in Neukirchen an und atmen erleichtert auf. »Gott sei Dank! Wir haben es überstanden.« Im Warthegau werden wir eingebürgert und sollen hier, auf ursprünglich polnischem Boden, heimisch werden. Kann denn das gut gehen? Meine Schwestern und ich gehen zur Schule. Ich - in die erste Schule meines Lebens. - Und das ist eine deutsche Schule. Ich bin stolz, lesen und schreiben zu lernen. Alle Erwachsenen - auch mein Bruder Bernhard - arbeiten zusammen mit den Polen auf den Höfen und Feldern der deutschen Großbauern. Meine Familie freundet sich mit den Polen an. Doch das alles ist nur ein kurzes Intermezzo vor dem Sturm, denn die Front rückt plötzlich und unaufhaltsam näher. Wir fliehen weiter gen Westen, kommen aber nicht weit. Um uns herum schlagen Geschosse ein. Flammen steigen hoch. Flüchtlingskrempel, Menschen und Pferde fliegen in die Luft. Es donnert, dröhnt und kracht ohrenbetäubend. - Die Netzebrücke wird zerstört. Sowjetpanzer überrollen den Treck. Wir beeilen uns, aus dem Kessel herauszukommen, und retten dabei nur unser nacktes Leben. Jetzt herrscht hier Anarchie mit allem, was dazugehört - mit Bränden, Plünderungen, Schändungen und Morden. Um die Zerstörungen zu beenden, wird eine polnische Selbstverwaltung tätig, die Ordnung schafft und kurz darauf meinen tauben Bruder zum Bau eines Militärflughafens mobilisiert. Vergebens versucht Mutter, ihn freizubekommen - es geht nicht. Wir verlieren ihn aus den Augen. Die Rote Armee zieht durch die Straßen Neukirchens und wird von der Bevölkerung mit Brot und Salz begrüßt - nach altem slawischem Brauch. Damit ist unsere Flucht beendet. Aus der Befreiung ist nichts geworden. 93
Aber auch die Freude der Polen währt nicht lange. Gen Osten gehen endlose Güterzüge mit wertvoller Fracht: Technik, Baumaterialien, Fabrik- und Werkausrüstungen. Förster Stephan besucht uns öfter und empört sich: »Was soll das, Frau Neufeld? Warum plündern die Russen unser Land?« »Sie sind die Sieger. Hast du etwas anderes erwartet?«, erwidert meine Mutter. Stephan wird sehr nachdenklich, verschwindet in seinem sumpfigen Wald und lässt sich lange nicht blicken. Als er wiederkommt, bringt er zwei große Wollknäuel und ein Bündel roher Wolle mit: Mutter soll ihm Handschuhe stricken ... fünf Paar ... mit Daumen und Zeigefinger. Mutter sieht ihn fragend an: »Handschuhe? ... Fünf Paar? ... Es ist April ...« »Die Nächte sind kalt«, erklärt er lakonisch. »Stephan, dein Vorhaben ist gefährlich und ... aussichtslos. - Mit einer Peitsche bricht man den Beilrücken nicht!«, sagt Mutter. »Aber ich bin nicht alleine, und uns bleibt keine Wahl!« Der Förster kommt jetzt nur noch bei Dunkelheit. Er bringt Wolle und holt Handschuhe ab. Davon braucht er immer mehr. Eines Tages kommt unsere Nachbarin Pani Wanda zu uns gehetzt. Ihr Mann ist bei der polnischen Miliz. »Frau Neufeld«, keucht sie. »Frau Neufeld, Sie werden für zehn Tage nach Sibirien verschickt, sagt mein Mann ...« »Nach Sibirien? ... Für zehn Tage? - So ein Unsinn! Nur dorthin müßte man mehr als zehn Tage fahren ...« »Ja! Re-pa-tri-ie-rung nennt man das, sagt mein Mann.« »Was soll denn das bedeuten? Das Wort habe ich noch nie gehört.« Dann besucht uns ihr Bruder - der Förster Stephan: »Frau Neufeld, warum wollen sie zurück nach Russland? Sie sind doch Deutsche?« »Wer spricht denn hier vom Wollen? Wir müssen - die Sieger haben uns schon auf ihrer Liste. Meinen Sohn werde ich dann wohl nie wiedersehen.« »Ich verstecke Sie ... Bitte, bleiben Sie ... Die Russen trauen sich 94
nicht in den Wald - mit ihrer schweren Technik bleiben die da im Sumpf stecken!« »Nein, Stephan, du kannst uns nicht helfen. Der große Bruder wird hier festen Fuß fassen, die Sümpfe trockenlegen und auch deinen Wald erobern ...« Bald darauf werden wir zur Station gebracht, um in die Sowjetunion zurückgeschickt zu werden. Der Güterzug, der für diesen Zweck bestimmt ist, besteht aus offenen Plattformen, die mit verschiedener Technik beladen sind: Da sind Panzer und Traktoren, Kanonen und Sämaschinen, Eisenbahnschienen und große blanke Metallbehälter mit runden, glatten Seiten. Wo sollen hier Menschen Platz finden? Nur die ersten drei Wagen haben etwas höhere Wände, sind aber bis zur Hälfte mit Kohle gefüllt. Meiner Mutter gelingt es, einen Ballen Bettsachen auf den dritten Wagen zu werfen, Großmutter und uns, die drei kleineren Kinder, darauf zu setzen und uns so Platz für die lange und beschwerliche Fahrt zu sichern. Die Erwachsenen laufen, um die Koffer mit Kleidern und Taschen mit Lebensmitteln zu holen. So machen es auch die anderen. Plötzlich fährt der Zug an und jagt mit vollem Dampf davon. Es gibt ein unvorstellbares Durcheinander. Panik bricht aus. Manche springen vom Zug und verletzen sich. Die Frauen werfen die Sachen hin und laufen dem Zug mit lautem Geschrei nach: Es werden alle Familien zerrissen. - Wo soll eine Mutter später ihre Kinder suchen? Nach einer halben Stunde hält der Zug im Wald an. Von der Lokomotive läuft ein junger Pole den Zug entlang, fuchtelt mit den Armen und schreit: »Pani, Wald ... Wald!« Aber die erschrockenen alten Weiber können nicht begreifen, warum sie mit den kleinen Kindern in den Wald sollen. Da laufen den Zug entlang, dem Burschen entgegen, ein sowjetischer Offizier und zwei Soldaten. Der Offizier schießt, der Bursche fällt und rutscht die Böschung hinab. Die Russen haben die Lokomotive erreicht. Der Offizier ergreift die Griffstange, springt aufs Trittbrett und hält dem Lokführer die Pistole unter die Nase. 95
»Zurück! ... Sofort fährst du zurück, oder ich knalle dich ab wie einen räudigen Hund!« Weiter folgt eine undefinierbare Fluch- und Schimpftirade. Langsam kriecht der Zug rückwärts zur Station zurück. Nachdem das Einsteigen beendet ist, beginnt die Reise. Zwei Tage und zwei Nächte fährt der Zug, ohne anzuhalten ... Auch nachts können die Erwachsenen kein Auge schließen, denn die Funken aus dem Schornstein der Lok lösen ständig Feuer aus. Auf dem Kopftuch, auf der Schulter, auf den Bettsachen flackern hier und da kleine Flammen auf, die man rechtzeitig löschen muss. In der Dunkelheit hört man flüsternde Frauenstimmen. »Was wollen die Polen eigentlich? Warum sollten wir in den Wald?« »Die Polen wollen das Verschleppen von Menschen und Gütern verhindern. Es ist aber schief gelaufen.« »Hat der Offizier den Burschen erschossen?« »Ach wo. Der hat ja in die Luft geschossen, und der Junge fiel vor Schreck um.« Sie lachen. »Und wo bringt man uns hin? Zurück in die Ukraine?« »Die Polen sagen, nach Sibirien für zehn Tage.« Sie lachen wieder. »Haben die eine Ahnung!...« »Repatriierung - was könnte das bedeuten?« »Es bedeutet Heimkehr«, meldet sich mit heiserer Stimme der einzige anwesende Greis zu Wort. »Heimkehr - also nach Hause in die Ukraine ...« Wir fahren durch das zerstörte Posen, sehen die zerschossenen Gebäude in Warschau, lassen Brest hinter uns und sind auf sowjetischem Gebiet. Doch statt nach Süden über Rovno und Shitomir nach Kijew geht die Reise in eine andere Richtung. Wir fahren über Gomel und Brjansk, über Kursk und Woronesh immer weiter nach Osten. Bald werden wir auf offenen Plattformen, bald in Viehwagen gepfercht befördert, bis wir das Uralgebirge überqueren und hoch oben auf einem Gipfel ein aus weißem Stein gemeißeltes Kreuz in den Himmel ragen sehen. - Jetzt sind wir in Asien. Fast drei Monate dauert diese Reise ins Ungewisse. 96
Endlich sind wir am Ziel: Kasachstan, Gebiet Akmolinsk, Station Atbasar ... Ein Dutzend niedriger Lehmhütten mit Gras auf den flachen Dächern und sonst nichts, außer sauberem feinem Sand ... Die glänzenden Schienen laufen im Sand zum Horizont wie in Sehnsucht ausgestreckte Arme ... Hier endet zunächst das Abenteuer unserer Flucht und Rückführung. Von hier aus werden wir mit Ochsenfuhren in verschiedene Kolchosen gebracht. So kommen wir im August 1945 im Kolchos Bogorodka an, werden vom Kommandanten registriert und unter die Meldepflicht gestellt. Er nimmt Fingerabdrücke und verliest unser Urteil: Wir seien Staatsfeinde, Vaterlandsverräter, Hitlers Spione und deshalb - »verbannt für ewige Zeiten«. Ach, das also ist die Repatriierung?! - Wie vielfältig und vieldeutig doch das schöne Russisch ist! Jetzt wissen wir Bescheid! Repatriierung bedeutet »Verbannung für ewige Zeiten« und nicht Heimkehr ... Als wir so in Bogorodka landen, bin ich noch nicht acht Jahre alt. Meine Kindheit ist sehr ereignisreich und trotz allem doch gut behütet. Meine Familie scheint sich zur Hauptaufgabe gemacht zu haben, auf all den verschlungenen und gefährlichen Wegen, doch die Kleinste nicht zu verlieren. Kurzum, die Familie behandelt mich wie einen Koffer ohne Griff: zum Mitschleppen zu schwer, zum Wegwerfen zu schade. Mutter und Geschwister haben den Stein des Anstoßes inzwischen lieb gewonnen und hüten ihn wie ihren eigenen Augapfel, denn sie wollen ihn auch in Zukunft nicht missen. Unsere tragische Lage an diesem Ort habe ich zunächst nicht erkannt. Am ersten September - nur wenige Tage nach unserer Ankunft renne ich schräg über die Straße zur Schule. - Eine russische Schule, obwohl ich kein Wort Russisch kann. Es ist sonniger Herbst, und ich trage ein helles Sommerkleid und 97
Sandalen. Klein und dünn, mit schöner Schleife im dicken Zopf, hüpfe ich in der Pause im Hof mit hochgehobenem Finger, auf dem ein Marienkäfer sitzt, und singe: »Maikäfer, flieg! Dein Vater ist im Krieg ...« Plötzlich schubst mich jemand. Ich verliere den Käfer und schicke mich an loszuheulen ... doch überlege es mir blitzschnell anders, denn größere Buben haben mich umringt, schubsen mich hin und her und sehen dabei gar nicht freundlich aus. Wie ein Luftballon fliege ich durch den Kreis und habe Mühe, mich auf den Beinen zu halten. Da werde ich von der festen Hand unserer Schuldirektorin aufgefangen und ins Klassenzimmer geführt. Mit strenger Stimme weist sie die Jungs zurecht, aber ihre Worte kann ich nicht verstehen. Das Lernen fällt mir leicht und macht mir große Freude. Ganz schnell lerne ich Russisch und die Sprache gefällt mir sehr. Die Direktorin hat mein entwaffnendes und sonniges Gemüt erfasst und mich scheinbar in ihr Herz geschlossen. Sehr bald bekomme ich von ihr den Auftrag, ein Gedicht auswendig zu lernen, um es in einer Elternversammlung vorzutragen. »Vogelradio« heißt das Gedicht, in dem das Pfeifen, Gurren, Schilpen und Zwitschern aller heimischen Vögel imitiert wird. Als ich das Gedicht bei einer Vormittagsveranstaltung in Anwesenheit aller Mütter und Babuschkas des Dorfes vortrage, gewinne ich einen Applaus und erobere flugs sämtliche Herzen. Die Frauen sind gerührt. »Wie das Kind so schön Russisch zwitschert, als wäre es seine Muttersprache! Kaum zu glauben, dass es eine Nemotschka und Faschistin sein soll ...« Zwei Mädchen bringen mir seitdem öfter etwas zum Frühstück mit. »Meine Oma läßt dich grüßen!«, sagt die eine und überreicht mir ihr Mitbringsel. »Das ist von meiner Mama«, sagt die andere. »Damit das Vögelchen auch weiterhin zwitschert, sagt sie.« Einmal ist es ein Ei, dann Quarkküchlein, Kartoffelpuffer, Plinsen oder auch nur Pellkartoffeln. - Was sie gerade selber essen. Wir sind hier Fremde, Verbannte, Feinde. Aber die Einheimischen 98
sind uns gegenüber ohne Hass und Groll, obwohl jede Familie Kriegsopfer zu beklagen hat. Außerdem ist das einfache russische Volk sehr kinderlieb. Trotz der friedlichen Umgebung führen unsere Erwachsenen einen harten Kampf gegen den Hunger und die Kälte. In unserer Wohngemeinschaft aus 24 Personen stehen die Schwächsten und die Kleinsten immer im Mittelpunkt. Ich komme mir so richtig geliebt, umhegt und behütet vor. Mutter zerschneidet eine Decke und näht daraus für uns drei Jüngsten warme, bis zum Knöchel lange Hosen. Unser Cousin Jakob schnitzt und bastelt für alle Holzpantoffeln. Anderes Schuhwerk gibt es nicht. Aus Wollresten und alter Wolle bekomme ich warme Socken, Handschuhe, Mütze, Schal und einen sehr bunten Pullover. Ein abgewetzter Regenmantel muss gekürzt werden. Aus dem abgeschnittenen Teil näht meine Schwester für mich eine passable karierte Schultasche, die ich stolz über der Schulter trage. Viel schwerer läßt sich der Hunger bezwingen. Februar, März, April 1947 - die schrecklichste Zeit unseres Lebens in der Verbannung. Der Hunger wird unerträglich. Er ist für mich mit Magenkrämpfen, Schwellungen der Beine und mit unüberwindlicher Schwäche verbunden. Ich kann mich nicht mehr auf den Beinen halten und muss der Schule fernbleiben. Als es wärmer wird, trägt Mutter mich in den Hof und setzt mich auf Stroh an der Wand in die Sonne, bevor sie zur Arbeit geht. Als das erste Grün aus dem kargen Boden sprießt, bekomme ich von ihr täglich den Auftrag, bis zur Mittagszeit einen großen Kochtopf mit Gänsegras zu füllen. Sie stellt den Topf mit Küchenmesser drin neben mich und geht. Erst wenn die Sonne hoch am Himmel steht und der Morgentau verschwindet, krieche ich auf die Straße, ziehe den Kochtopf neben mir her und fülle ihn nach und nach mit Gras, das wir Gänsekraut nennen. Um die Mittagszeit eilt Mutter von der Feldarbeit heim und bringt ihre Ration mit etwa 200 Gramm dicke Sauermilch und eine halbe gekochte Zukkerrübe. Sie trägt mich ins Haus und setzt mich an den Tisch. Das Gras kocht sie in Salzwasser, wie man Nudeln kocht. Jedem von uns legt sie davon auf den Teller und gibt einen Eßlöffel voll Sauer99
milch und etwa 50 Gramm gewürfelte Zuckerrübe dazu. Bald aber kommt eine Zeit, wo ich das Gras nicht mehr herunterschlucken kann und nur noch die Milch abschlecke. Unbegreiflich, wie meine Mutter es schafft, unter diesen Bedingungen auf den Beinen zu bleiben und auch noch zu arbeiten. Bis zur neuen Ernte sind es noch gut drei Monate. Wer und was könnte uns retten? Da lässt der liebe Gott ein Wunder geschehen ... Am sechsten Juni 1947 fängt es plötzlich an zu schneien und das Unwetter dauert drei Tage lang. Nie mehr in den folgenden 30 Jahren haben wir so etwas erlebt. Und dieses unerwartete Naturphänomen rettet unser und anderer Menschen Leben auf recht seltsame Weise. Die Schafe der Kolchose hat man gerade erst geschoren und auf die Sommerweide getrieben, wo es für sie keinerlei Unterkunft gibt. Als jetzt das Unwetter beginnt, bemüht sich der Hirte vergebens, die Herde ins Dorf zu treiben. - Schafe gehen nicht gegen den Wind. Sie blöken jämmerlich, pressen sich aneinander, laufen in Windrichtung und entfernen sich immer weiter vom Dorf. Schließlich legt sich die erschöpfte und hungrige Herde in den nassen Schnee ... Die einen krepieren sofort, die anderen werden mit Ochsenfuhren ins Dorf gebracht und auf die Höfe verteilt - sie sollen gerettet werden. Unser Zimmer ist voll Schafe. Sie zittern, stöhnen und husten wie kranke Menschen. Unsere Mutter heizt den Ofen, damit den Tieren das kurz geschorene Fell schneller trocknet. Etwa ein Drittel der 300 Tiere wird gerettet. Den anderen wird der Hals durchgeschnitten, bevor sie krepieren. Die Innereien und Rippchen werden sofort an die Kolchosbauern verteilt. Das Fleisch wird eingesalzen und bis zur neuen Ernte den Feldarbeitern in verschiedener Form serviert. Da es lebensgefährlich ist, halb verhungerten Menschen sofort ein sattes Fleischgericht vorzusetzen, übernimmt jetzt meine Tante Liese - ehemals Krankenschwester von Beruf - die Regie. Zunächst sollen die Unterernährten nur eine kräftige Fleischbrühe erhalten. Dann darf Bouillon mit Einlage aus Getreideflocken, Sauerampfer und 100
wilden Zwiebeln folgen. Erst wenn der Verdauungstrakt sich wieder an normale Kost gewöhnt hat, darf auch Fleisch verzehrt werden. Sogar die Kommunisten im Dorf sehen in diesem Ereignis etwas Schicksalhaftes, wenn nicht Mystisches. Sie sagen: »Gott hat die Gebete der Hungernden erhört und sich erbarmt ...« Und sie sagen: »Njet Chuda bes Dobra«, also »Kein Übel ohne Güte«, was in etwa dem deutschen Sprichwort »Kein Unglück so groß, hat was Gutes im Schoß« entspricht. - Der Kolchos hat zwar Schafe verloren, aber dafür Menschen gerettet. Kann man es denn unter diesen Umständen uns verübeln, wenn wir darin einen Schicksalswink sehen und dem Höchsten für seine Gnade danken? Unserem Gottvertrauen liegt die Gewißheit zugrunde, unschuldige Opfer zu sein, was wir keinem beweisen müssen, denn Er weiß Bescheid. Dazu kommen die Demut, der Glaube an das Schicksal und das positive Denken. - Jeder Situation etwas Gutes abzuringen. Diese Einstellung zum Leben, der Zusammenhalt unter den Verbannten und das Behüten der Schwächsten hilft uns allen, diese schreckliche Zeit in der Verbannung zu überstehen. Richtig gehässig, niederträchtig und gemein ist uns gegenüber nur ein einziger Mann - der Kommandant, bei dem sich alle Erwachsenen einmal im Monat melden müssen. Er ist nicht an der Front gewesen und hat sich alle Orden und Tapferkeitsabzeichen, die seine Brust schmücken, hier im Hinterland im Kampf mit schutzlosen Frauen und Kindern verdient. Als allmächtiger Herrscher verwaltet er in dieser Region alle Sonderumsiedler und entscheidet alleine über ihr Leben und ihren Tod. Als meine älteste Schwester schwer krank wird und mit hohem Fieber und geschwollenen Gelenken liegen bleibt, fleht meine Mutter den Kommandanten um Erlaubnis an, ihre Tochter ins Kreiskrankenhaus bringen zu dürfen. »Bitte, erlauben Sie es mir, sonst muss das Mädchen sterben«, bittet die Mutter. »Sterben?!«, höhnt der Kommandant, der seinen Worten nach un101
ser Gott, Zar und Chef in einer Person ist. »Sterben? Nein, krepieren wird sie! Alle sollt ihr hier krepieren, mitsamt euren Welpen ...« Er verweigert der Frau die Erlaubnis. Und sie betet für ihn: »Herr, verzeih ihm, denn er weiß nicht, was er tut!« Über die breite Straße kommt eine alte Kasachin mit einem Tonkrug saurer Stutenmilch zu uns. Die Alte meint, durch den Verzehr von Schaffleisch sei meine Schwester an Bruzellose erkrankt. Sie gibt ihr von der sauren Milch zu trinken und hilft meiner Mutter, Kräuterumschläge auf die geschwollenen Gelenke meiner Schwester zu machen. Die Kranke kommt durch. Der Alten kann Mutter es nur mit einem »Vergelts Gott« danken. Dann tritt noch ein Ereignis ein, das fast an ein Wunder grenzt: Zu Weihnachten 1947 steht plötzlich unser Bernhard vor der Tür. - Im Warthegau 1945 abgeholt, nach fast drei Jahren in Kasachstan wiedergesehen! Er hat uns gefunden durch ... Ja, durch wen wohl? Durch Nikolaj Tus, der jetzt Kommandant eines KriegsgefangenenLagers in Saporoshje ist und unter den Häftlingen den Sohn seines Freundes erkannt hat. Männerarbeitskraft ist im Kolchos Mangelwahre. Bernhard beginnt sofort als Tischler, Fassbinder und Zimmermann zu arbeiten, was er in seiner Jugend in der Taubstummenschule erlernt hat. Er fertigt Fensterrahmen und Türen an, stellt Kübel, Bottiche und Zuber her, repariert die Wagen und Schlitten der Kolchose. Dann lernt er bei einem alten Russen auch noch, aus Schurwolle warme Filzstiefel zu walken. Das erste Paar - das Probepaar - bekomme ich. Jetzt kann ich auch bei größtem Frost zur Schule gehen, ohne kalte Füße zu bekommen! - Es ist einfach herrlich, einen so guten großen Bruder zu haben! Da der Vorstand der Kolchose mit der Arbeit meines Bruders sehr zufrieden ist, wird sie entsprechend entlohnt und wir müssen nicht mehr so schrecklich hungern. Als im Kreiszentrum Balkaschino eine Molkerei gebaut wird, muss jeder beteiligte Kolchos Bauarbeiter für ein Jahr stellen. So kommen meine Geschwister Bernhard und Flora nach Balkaschino, das zwar keine Stadt ist und nur 5000 Einwohner hat, aber im Gegen102
satz zu Bogorodka ein Krankenhaus und eine Mittelschule besitzt. Ein Jahr später - Anfang Januar 1950 - organisieren meine Geschwister unsere Flucht. Sie kommen mit dem Lastwagen am späten Abend nach Bogorodka, packen in der Nacht all unsere Habseligkeiten und bringen uns in der Morgendämmerung nach Balkaschino. Das Auto hat der Direktor der Molkerei zur Verfügung gestellt, der auch diesen Fluchtplan ausgeheckt hat, weil er unseren Bernhard als einzigen Böttcher und Fassbinder - unbedingt in seinem Betrieb behalten will. Dem Plan des Direktors entsprechend, begeben sich Mutter, Flora und Bernhard sofort nach Ankunft zur Kommandantur, um sich bei Winokurov zu melden. Doch hier herrscht Alarmstufe 1 - der Kolchosvorstand Bogorodka hat die Flucht deutscher Sonderumsiedler gemeldet. Gefährliche Verbrecher sollen mit einem Laster unterwegs sein und müssen eingefangen werden. Als meine Angehörigen dort auftauchen, lässt Winokurov sie sofort verhaften. Gerade noch im rechten Augenblick erscheint der Direktor der Molkerei und klärt den Sachverhalt auf. - Er brauche dringend diesen Böttcher Bernhard Neufeld und habe auch die Erlaubnis des Ministerrates der Republik, sich da Fachleute zu holen, wo er sie finde. Der Kommandant muss nachgeben, ist aber wütend und droht, unsere Familie in den Kolchos zurückzuschicken. Vorerst aber will er uns »für den Rest des Lebens« im Auge behalten, denn Mütterchen Russland sei zwar groß, aber Verräter und Spione hätten hier keine Chance unterzutauchen - das wache Auge seiner Behörde sei überall! Diese Flucht wird uns allen zum Verhängnis. Ich glaube, meine Geschwister und auch die Mutter haben die Risiken unterschätzt und die Drohungen des Kommandanten nicht ernst genommen. Die Tragweite der Folgen wird erst zwei Jahre später sichtbar. Vorerst freuen wir uns über die Erleichterungen, die wir hier genießen. Meine Geschwister haben hier an der Baustelle Geld verdient und sogar etwas gespart. Jetzt kaufen sie eine Erdhütte ganz am Ende der Hauptstraße, bauen größere Fenster ein, setzen einen neuen Ofen und wir ziehen ein. 103
Martha, Siegrid und ich gehen zur Schule. Als ich an Lungenentzündung und Martha etwas später an Rippenfellentzündung erkranken, werden wir im Krankenhaus behandelt. Das Leben scheint sich zu normalisieren, obwohl die Erwachsenen selbstverständlich auch hier der Meldepflicht nachkommen. Bernhard und Flora arbeiten beim Industriekombinat, das aus einer Ziegelei und einer Tischlerwerkstatt besteht. Meine Schwester und andere deutsche Frauen holen mit Ochsenfuhren Baumstämme aus dem Wald. Bernhard lernt eine Gruppe jüngerer Burschen zu Fassbindern an, da im Kombinat eine Böttcherei eröffnet werden soll. Als Brigadier ist in der Werkstatt ein demobilisierter Leutnant Tschursin tätig, der sechs Jahre nach dem Krieg immer noch seine Uniform mit einem blanken Orden an der Brust trägt. Er kommandiert, schreit und macht sich wichtig, obwohl er nie an einer Werkbank gearbeitet hat und wenig vom Tischler- und gar nichts vom Böttcherberuf versteht. Deshalb führt Bernhard die Rechnung für die Fassbinder. Über seiner Werkbank hängt eine untaugliche astige Fassdaube, auf der er täglich vermerkt, wer was gemacht hat. Daraus lässt sich auch der Monatslohn errechnen. Zu dieser Zeit wird in der Tischlerei ein Russe namens Kudrin verhaftet und der Spionage beschuldigt - er hätte »Verbindungen zum Westen« - weil für ihn ein Brief aus dem Ausland gekommen sei. Eine Woche später ist der Mann tot: Er habe sich erhängt, behauptet die Miliz. Von seinen Lehrlingen erfährt auch Bernhard von diesem Ereignis. Als nun Ende des Monats im Kontor der Lohn ausgezahlt wird, sind die Böttcherlehrlinge enttäuscht: Sie bekommen nur die Hälfte dessen, was ihnen zusteht. Sie beschweren sich beim Direktor: »Brigadier Tschursin betrügt uns um unseren Lohn. Da, unser Boris hat alles aufgeschrieben und ausgerechnet ...« Bernhard reicht dem Buchhalter, der auch anwesend ist, seine Faßdaube mit der Abrechnung. Der überprüft und bestätigt: »Stimmt - Genosse Tschursin hat eine andere Berechnung vorge104
legt.« Er reicht Bernhard die Fassdaube zurück. In diesem Augenblick stürmt der Brigadier herein, flucht und schreit: »Du Missgeburt verleumdest mich?! Beschuldigst mich der Lüge?!« Drohend hebt er die Faust. Bernhard hebt die Fassdaube, um sich zu verteidigen. Zu Handgreiflichkeiten kommt es zwar nicht, doch Tschursin tobt und schimpft. »Du Faschist! Du wirst da landen, wo Kudrin ist! Dafür werde ich sorgen!« Drohend verlässt er das Kontor. Die Burschen bitten den Direktor, ihnen Bernhard als Brigadier zu geben: »Er erklärt gut, ist genau und ehrlich bei der Abrechnung ... Und Tschursin läuft nur wutschnaubend herum und stört bei der Arbeit ...« Sehr aufgeregt kehren alle in die Werkstatt zurück. Dann folgt alles Schlag auf Schlag. Als die Frauen mit den Ochsenfuhren aus dem Wald im Kombinat eintreffen, wird Flora sofort von zwei Milizionären festgenommen und in die Kommandantur gebracht, wo sie von Winokurov und einem Unbekannten vernommen wird. »Dein Bruder, Bernhard Neufeld, ist Faschist und SS-Mann, das wissen wir. Erzähle uns Einzelheiten über deinen Bruder.« »Mein Bruder ... ist taub, das ist ärztlich bestätigt ... und der Kommandantur bekannt. Als Behinderter ist er nie in der Armee gewesen und kann daher einfach nicht SS-Mann sein. Sonst hätte man ihn ja auch nicht aus dem Lager entlassen ...« »Und wie erklärst du das?« Man legt ihr ein Foto aus unserem Familienalbum vor. Sie erstarrt vor Schreck! - Auf diesem Foto umarmt sich Bernhard mit einem Freund seiner Kindheit, den er im Warthegau im Sommer 1944 zufällig getroffen hat und der eine SSUniform trägt. »Wie kommt dieses Foto aus unserem Album hierher? Hat es etwa Beine bekommen?«, schießt es ihr durch den Kopf, doch zum Überlegen bleibt ihr keine Zeit. »Na, erkennst du deinen Bruder? Oder willst du behaupten, er sei es nicht?«, drängt der Kommandant. »JJJa«, stottert sie aufgeregt. »Der in Zivil ist mein Bruder.« »Und wen umarmt er?! - Einen Faschisten! Willst du auch jetzt noch 105
behaupten, dein Bruder sei kein Faschist? Wir erwarten von dir ein ehrliches Geständnis«, wird drohend hinzugefügt. »Erzähle uns, womit beschäftigt sich dein Bruder?« Sie zuckt mit den Achseln: »Womit schon? Er arbeitet in der Tischlerei ... liest viele Bücher, die er aus der Bibliothek holt ... Er hat für den Kulturpalast ein großes Ölgemälde gemalt, das die ›Drei Recken‹ darstellt ...« »Und eine Organisation gegründet, um die Sowjetmacht zu stürzen, stimmt‘s?«, wird sie unterbrochen. »Welche Organisation?«, stammelt die Schwester. »Eine Jugendorganisation ... im Untergrund«, fährt der Fremde fort. »Du gehörst ihr wohl auch an? Erzähle uns, wo trefft ihr euch, wie viele seid ihr und was ist euer Ziel?« »Was fällt Ihnen ein? Das ist nicht wahr! Das stimmt nicht!«, protestiert sie energisch. »Du wirst wohl die Handschrift deines Bruders kennen?«, sagt Winokurov und legt vor ihr eine Fassdaube auf den Tisch. Sie liest: »Weg mit der Sowjetherrschaft!« »Na, bestätigst du die Handschrift deines Bruders? Hat er das geschrieben oder nicht?«, wird sie bedrängt. »Ich weiß nicht, wer das geschrieben hat«, weint Flora. »Mein Bruder ist krank, aber kein Verbrecher ...« »Ist er verrückt? Nur Idioten können den Sturz der Sowjetmacht wünschen und planen.« »Nein, er ist nicht verrückt, er ist taub.« »Das haben wir schon gehört. Na ja, unsere Ärzte werden es herausfinden, ob er ein Verrückter oder ein Feind ist. Je nachdem gehört er jetzt ins Irrenhaus oder ins Gefängnis ... Du kannst gehen.« Im Wartezimmer stößt sie auf Bernhard, der jetzt hineingeführt wird. Zu Hause stürzt sie sich als Erstes aufs Familienalbum und zeigt der Mutter den leeren Fleck: »Weißt du, wo das Foto ist? - Winokurov hat es mir eben vorgelegt! Wie kann es nur dahin gekommen sein? Wer hat es uns gestohlen?« »Wollen mal überlegen, wer da in Frage kommt.« Sie sehen einander erschrocken an. »Alexander Keksel - dein Verehrer«, sagt Mutter. »Dem hast du vorigen Monat das Album gezeigt und nicht ge106
merkt, wie das Foto dabei verschwunden ist.« Die Schwester weint: »Keksel? - Das ist unmöglich! Er ist doch ein Deutscher ... ein guter Freund ...« »Tja«, sagt Mutter »auch gute Freunde haben Schwächen - da bedient sich Winokurov ... Keksel ist Röntgenologe - da muss er dem Kommandanten seine Treue und Ergebenheit beweisen, wenn er nicht in den Kolchos zu den Ochsen will.« »Das glaub ich nicht! Das glaub ich einfach nicht«, protestiert die Schwester. Als Bernhard am Abend kommt, erfahren wir von seiner Auseinandersetzung mit dem Brigadier Tschursin und dessen Drohungen. Beim Kommandanten hätte man ihm eine Spritze verabreicht und dann viele Fragen gestellt. Er ist benommen, fühlt sich verfolgt und in Lebensgefahr. Mutter appelliert an seine Vernunft: »Du kennst das Schicksal deines Vaters und Großvaters. - Du musst dich fügen, Bernhard. Es bringt nichts, wenn du mit dem Kopf gegen die Wand rennst und Parolen auf die Fassdaube schreibst. - Die Macht der Behörden ist unbegrenzt. Wir sind ihnen ausgeliefert. Ich habe große Angst um dich.« Am anderen Morgen wird mein Bruder von der Miliz abgeholt und zur Zwangsbehandlung ins Krankenhaus eingeliefert. Mutter darf ihn einmal in der Woche besuchen. Er befindet sich in einem Einzelzimmer mit vergittertem Fenster. Er ist traurig, niedergeschlagen, hat einen leeren Blick. Mutter spricht mit der Ärztin über seinen Zustand. »Ihr Sohn ist geisteskrank. Er leidet an Verfolgungswahn und bekommt Beruhigungsspritzen.« »Mir gefällt sein Zustand nicht«, sagt Mutter. »Ich finde es merkwürdig, dass er so geistesabwesend ist. Er freut sich gar nicht auf meinen Besuch, als hätte er mich nicht erkannt. Gefährden diese Spritzen nicht seine Gesundheit? Zu Hause würde er sich vielleicht schneller beruhigen und erholen?« Die Ärztin antwortet schnell, ohne die Mutter anzusehen: »Aminazin - ist das beste Beruhigungsmittel, das wir haben. Er darf sofort nach Hause, wenn er gesund und für die Gesellschaft unschädlich ist.« 107
Als Bernhard drei Monate später aus dem Krankenhaus entlassen wird, ist er ein anderer Mensch: Er ist antriebslos, schläft viel, sitzt stundenlang und starrt vor sich hin. Vergebens hoffen und warten wir auf Besserung. Die Zeit vergeht, aber es ändert sich nichts: Er arbeitet nicht, er malt nicht, er liest nichts. Das ist das Ende meines Bruders. Man hat seine Persönlichkeit gebrochen, seine Psyche, den Intellekt und Kreativität zerstört, jetzt ist er »für die Sowjetgesellschaft unschädlich«. Im Laufe der nächsten Jahre nimmt die Krankheit meines Bruders verschiedene Formen an, aber gesund und arbeitsfähig wird er nicht mehr. Das ist die Rache des Kommandanten für unsere Flucht aus dem Kolchos, die er nicht verhindern konnte. Seit der Krankheit meines Bruders machen sich Not, Armut und Hunger bei uns wieder breit. Die älteste Schwester, zur einzigen Verdienerin geworden, kann nicht die ganze Sippe ernähren und jeder muss sehen, wo er bleibt. Meine Schwester Siegrid schließt im Jahre 1952 mit einer Lobesurkunde die siebte Klasse ab und wird ohne Aufnahmeprüfungen zur Ausbildung in der LBA in Eska aufgenommen. Ein Jahr später folge ich ihr. Dafür muss ich aber Aufnahmeprüfungen ablegen und mich mit dem Kommandanten persönlich anlegen, weil er mir keine Erlaubnis zum Verlassen des Ortes geben will. Obwohl Josef Stalin - der langjährige Herrscher der Sowjetunion - inzwischen verstorben ist, hat sich in unserem Leben vorerst nichts geändert: Der Bruder ist krank, wir nagen am Hungertuch und sind vom Kommandanten abhängig. Von Eska bin ich begeistert, denn die Natur hier - der See, das Kleingebirge und der Wald - erscheint mir wie ein Garten Eden. Mit dem Anfang des Lehrgangs beginnt für mich ein neues Leben: Ab nun bin ich erwachsen und auf mich selbst gestellt. Das Schuljahr beginnt mit vier Wochen Arbeit auf der Tenne im Kolchos. - Hier drehen wir den ganzen Tag die Putzmaschine, hantieren mit Schaufeln und Eimern, um den Weizen der neuen Ernte zu trocknen, und lernen uns nebenbei kennen. Wir sind alle zwi108
schen 14 und 17 Jahren, arbeiten, singen und lachen viel. Wir sprechen und singen nur russisch, obwohl unter uns nur zwei Russen und 28 Sonderumsiedler verschiedener Herkunft sind. Die meisten sind Deutsche, was man an den Namen und Familiennamen erkennen kann. Dann sind da zwei Kaukasier und zwei Polen. Gesprochen über unsere Herkunft und das bisherige Leben haben wir miteinander nie. Im ersten Lehrjahr geht es mir nicht gut. Ich bin ständig hungrig. Im Wohnheim sind wir 16 Mädchen in einem Zimmer, wo wir je zu zweit in einem Bett schlafen. Im Zimmer ist es nie richtig warm, denn das Brennmaterial für unseren Ofen wird uns sehr knapp zugeteilt. Ich hab noch Glück, dass ich mit meiner Schwester Siegrid in einem Zimmer bin und sie mir bei der Verrichtung des Stubendienstes hilft. Ich bin zu schwach, um alleine einen Eimer Kohle oder Wasser zu tragen. Der Unterricht in der LBA läuft in zwei Schichten, da nicht genügend Räume zur Verfügung stehen. Siegrid und ich haben gemeinsam eine alte Steppjacke und ein Paar geflickte Filzstiefel, die wir auch in zwei Schichten tragen: Nach dem Unterricht läuft meine Schwester so schnell sie kann ins Wohnheim, wirft die warmen Stücke ab, ich schlüpfe hinein und renne zum Unterricht ... Manchmal bin ich nicht schnell genug und komme etwas zu spät. Die Ausstattung der anderen Mädchen ist nicht besser, nur das jede ihre eigenen Sachen hat und sie nicht mit einer Schwester teilen muss. Somit bin ich für Siegrid eine Belastung. Abgesehen davon gefällt es mir in der LBA gut, das Lernen fällt mir nicht schwer und ich bekomme immer ein Stipendium, auch wenn es nur sehr gering ist. So ergibt es sich, dass meine Schwester Siegrid und ich gar nichts von dem können, was Mädchen in unserem Alter normalerweise lernen: das Nähen und Stricken, das Waschen und Bügeln, das Kochen und Putzen. Es gibt einfach keinen Haushalt, in dem wir das alles hätten lernen können und müssen. Deshalb entwickeln wir ganz ungewöhnliche Interessen und Leidenschaften. Meine Schwester interessiert sich für den Sternenhimmel. - Bald kennt sie jeden Stern und jeden Planeten am nördlichen Firmament. 109
Dann verschwindet sie jeden Abend für mehrere Stunden aus dem Wohnheim. Ich weiß nicht, wo sie ist, und mir ist unbehaglich. Als es mir gelingt, sie zur Rede zu stellen, erklärt sie mir, als Gasthörerin besuche sie die Abendschule, und zwar den Unterricht in Astronomie, Mathematik und Physik. - Sie wolle nach Abschluss der LBA unbedingt studieren und Kosmonautin werden. Jetzt ist mir auch klar, warum sie sich jede Kopeke vom Mund abspart und regelmäßig diese Broschüren über den Kosmos kauft. Im zweiten Schuljahr 1954-55 habe ich in der Klasse gute Freunde gefunden, mit denen ich Skisport und Gymnastik treibe. Außerdem sind wir in der Laienkunst aktiv. Mit meiner Freundin Elisabeth üben wir irgendwelche Tänze ein, die wir dann - mit Blumenkranz und bunten Schleifen - auf der Bühne vorführen. Mit unserem Klassensprecher Walter spiele ich in Bühnenstücken - einmal bin ich seine kleine, lästige Schwester, ein andermal - seine Sekretärin. Im großen Chor bei Pjotr A. Bojko singen Elisabeth und ich die Solopartie. - Kurzum, ich bin für jeden Spaß zu haben. Das Leben ist schön! Eines Tages nimmt meine Freundin Elisabeth mich zu einer illegalen Versammlung deutscher Jugend mit und verspricht mir, es würde da sehr interessant sein. Und wirklich: Da sind viele junge Leute, unter denen ich mehrere aus der LBA bekannte Gesichter sehe. Auch meine Schwester Siegrid, ihre Freundinnen und Freunde aus den höheren Semestern sind da. Hier spielen, tanzen und singen wir unter Anleitung und in musikalischer Begleitung zweier junger Herren aus der LBA. »Grünes Gras, grünes Gras unter meinen Füßen, ich hab verloren meinen Schatz, werd ihn suchen müssen.« - Es ist so lustig und interessant, dass ich noch oft mit meiner Freundin zu diesen Jugendtreffs gehe. »Wir dürfen nur niemandem erzählen, wo wir waren und wen wir da gesehen haben«, schärft sie mir ein. Ich halte mich daran und rede nicht darüber. Einmal stoßen wir bei solcher Gelegenheit auf einen Gottesdienst, bei dem außer den mir schon bekannten Jugendlichen auch ältere Leute anwesend sind. Zunächst ist für mich das Wesentliche an all 110
diesen Versammlungen die deutsche Sprache und die von Kindheit bekannten Melodien. Hier fühle ich mich geborgen. Aktivisten des kommunistischen Jugendverbandes agitieren seit langem jeden Einzelnen, ihrem Verein beizutreten. Doch die meisten Sonderumsiedler sind in dieser Frage sehr zurückhaltend. Als dann im Herbst 1954 unsere Vorhut - die deutschen LBA-Schüler der höheren Semester dem Verein beitreten, ist auch für uns - die Jüngeren - kein Halten mehr. Für mich ist meine Schwester ausschlaggebend: Was sie macht, ist gut und kann auch für mich nicht falsch sein. In diesem Herbst treten ich und auch fast die ganze Gruppe dem Komsomol bei. Meine Naivität und der Herdeninstinkt lassen mich alle Bedenken und Warnungen vergessen und in die Falle gehen. Wie konnte das nur passieren?! Ich habe keinen Augenblick vergessen, »wes Geistes Kind« ich bin, und dennoch ... Zunächst aber geht das Leben ohne wesentliche Zwischenfälle weiter. Im Sommer 1955 kommt erst unsere Mutter nach Eska, später wird Martha nach der 10. Klasse Schülerin der Sportabteilung in der LBA und anschließend holt Mutter auch den Bernhard zu uns. Wir haben ein Zimmer bei einer russischen Greisin gemietet und sind wieder alle zusammen. Nur die älteste Schwester Flora hat geheiratet und ist zu ihrem Ehemann in einen Kolchos gezogen. Mutter kommt auch in die Gemeinde und organisiert da einen mehrstimmigen Chor, mit dem sie nach allen Regeln der Kunst das Ziffernsystem einübt. Mutter steht auf einer kleinen Bank, damit alle sie sehen können, gibt den Ton an und schwingt das Zepter. Sie bewegt ihre Arme breit und leicht, wirkt dabei manchmal auch sehr energisch, strahlt Heiterkeit und Freude aus. Viele LBA-Schüler sind dabei. Auch meine zwei Schwestern und ich singen begeistert mit. Mit der Gründung dieses Chores macht meine Mutter ihren verhafteten und ermordeten männlichen Kollegen alle Ehre, als würde sie den dunklen Kräften des Bösen, sprich dem KGB, einen Wink geben: »Hallo! Wir sind noch da - die Reste der alten Garde. Ihr könnt unsere Sprache und unsere Lieder nicht ausrotten!« Ist es eine 111
bewusste Provokation? Nein, ich glaube nicht. Aber die schlichte Tatsache, dass sie es wagte, nach allem, was geschehen war - nach der Ermordung ihrer Brüder, Schwäger, ihres Vaters und Ehemannes und nach 20 Jahren Berufsverbot - ihre Stimme zu erheben, wenn auch nur im Gesang von christlichen Chorälen in der verhassten und verbotenen deutschen Sprache - allein diese Tatsache erscheint dem Geheimdienst als unerhörte Frechheit und Herausforderung. Noch hat die Behörde nicht »reagiert«, noch ist nichts geschehen, doch meine Mutter erschrickt selbst vor ihrer Courage und gibt schon nach einem Jahr die Leitung des Chores ab. Drei Jahre nach Stalins Tod weht im Frühling 1956 ein Lüftchen der Liberalisierung zu uns in die Verbannung hinüber. - Wir schnappen gierig nach frischer Luft. In einer allgemeinen Komsomol-Versammlung werden wir mit dem Inhalt der geheimen Rede Chruschtschows vor dem XX. Parteitag bekannt gemacht. Hier werden grausige Details der Folter, der Versklavung, der Tötung Tausender von Unschuldigen unter Stalins Herrschaft zugegeben. Nikita Sergejewitsch bestätigt freimütig alle Grausamkeiten, die bisher von der sowjetischen Regierung hartnäckig geleugnet wurden. Wir in der Verbannung deuten diese Nachricht als Ende der Willkür und Gewalt und sind voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Unser Literaturlehrer - ein verbannter Krimtatar - erzählt uns im Unterricht über »Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch« von A. Solschenizyn und meint, dieses und ähnliche Werke der russischen Schriftsteller würden wohl bald veröffentlicht werden. Eine Amnestie für politische Häftlinge wird erwartet. Fast alle Mitschüler meiner LBA-Klasse zähle ich zu meinen Freunden. Jedenfalls gibt es da keinen, mit dem ich irgend welche Konflikte gehabt hätte. Viele Klassenkameraden sind zu verschiedener Zeit bei uns in diesem gemieteten Zimmerchen gewesen und haben dabei auch meinen Bruder und meine Mutter kennen gelernt. Meine beste Freundin Elisabeth schläft als Untermieterin eine Zeit lang sogar mit mir in einem Klappbett. Mit deutschen Burschen - dem Klassensprecher Walter und Gewerkschaftler David - bereiten wir 112
uns gemeinsam auf die Prüfungen vor. Einige Kameraden - darunter auch der Kaukasier Daud - schauen einfach mal vorbei, um über die Lyrik von Alexander Block und Sergej Jessenin zu diskutieren. Diese zwei Poeten waren bis vor kurzem verpönt, deshalb gibt es von ihnen nichts in unserer Bibliothek auszuleihen. Wir sind auf unsere Notizen angewiesen und tauschen Gedanken aus. Da nimmt auch meine Mutter plötzlich an unserer Diskussion teil. Sie erzählt uns, warum diese zwei Dichter nach der Revolution in Ungnade gefallen und ihre Werke für lange Zeit verboten waren. Der Lyriker Jessenin hätte in seinen Gedichten zu viel Anteilnahme und Mitgefühl für die Bauern gezeigt und dargestellt, wie sie von der neuen Macht im Kreml betrogen, ausgeraubt und vernichtet wurden ... Als Zeuge der Zeitgeschichte war dieser Bauernsohn den Kommunisten ein Dorn im Auge, deshalb wurden seine Werke verboten, er wurde gehetzt und gejagt, bis er im Alter von knapp 30 Jahren Selbstmord beging. Und der mit Jessenin befreundete Alexander Block habe zwar begeistert den revolutionären Kampf der Arbeiter begrüßt, aber an ihre Spitze Jesus Christus gesetzt, als Symbol der Menschlichkeit, der Gnade und Gerechtigkeit. Das wäre aber nicht im Sinne der Bolschewiken gewesen, denn sie vertraten eine ganz andere Moral - das Recht des Stärkeren nämlich, das Faustrecht. So sei auch dieser Schriftsteller mit seinem Epos »Die Zwölf« in Ungnade gefallen. Meine Freunde staunen: »Woher wissen Sie das alles? Besitzen Sie etwa die Werke von Jessenin und Block?« »Nein, woher denn. Ihre Werke habe ich nicht. Aber ich habe sie gelesen, als ich so jung war wie Sie jetzt. Damals waren sie noch nicht verboten ...« Wir sind eine gläubige christliche Familie und dennoch relativ gebildet und offen. - Eines schließt das andere nicht aus.
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Jäger und Gejagte. Im Sommer 1956 absolviert Siegrid die LBA mit sehr gutem Erfolg und bekommt ein Diplom mit Auszeichnung, das sie zum Studium an einer pädagogischen Hochschule ohne Aufnahmeprüfungen berechtigt. Doch davon macht sie keinen Gebrauch. Im letzten Schuljahr hat sie sich sehr verändert. Sie ist bedrückt, weint oft und statt an eine Hochschule geht sie in den dreckigsten und kleinsten Aul der ganzen Region und unterrichtet dort Deutsch und Russisch. Sie muss erfahren haben, unter welchen nicht offiziellen Bedingungen sie - eine Deutsche, eine Verbannte unter Meldepflicht - hätte studieren dürfen. Wer auch immer ihr diese Bedingungen nahe gelegt haben mag - gute Freunde oder eine dubiose Behörde - aus moralischen Gründen nimmt sie das für sich nicht in Anspruch und verzichtet auf ihren Traum. Der Arbeitsplatz, den sie zugewiesen bekommt, sieht wie eine Bestrafung aus. Es ist praktisch »eine Verbannung in der Verbannung«. Wofür wird sie bestraft? Und von wem? - Diese Fragen bleiben offen. Im Herbst 56 wird die Kommandantur aufgehoben. Jeder muss sich persönlich verpflichten, nie in seinen Heimatort zurückzugehen. Die Deutschen beginnen innerhalb des Landes zu wandern. In der Gemeinde, in der sich bisher Gläubige verschiedener Richtungen und Konfessionen zusammengefunden haben, beginnt sich das geistige Leben gerade erst wieder zu entfalten. Alle Versammlungen werden in Hochdeutsch, ruhig und bescheiden, ohne großes Aufsehen zu erregen durchgeführt. Jetzt passieren hier seltsame Dinge. Einige Herren kommen aus Lagern und Gefängnissen zu ihren Familien. Aus verschiedenen Gegenden siedeln sich Familien von Baptisten in Eska an. Die Herren empfehlen sich und segnen sich gegenseitig für verschiedene Aufgaben in der Gemeinde ein. Sie stellen große Zelte auf und feiern mit Hunderten von Teilnehmern - sehr oft in russischer Sprache - Ostern, den Muttertag, das Erntedankfest und zahlreiche Hochzeiten. Einheimische Anwohner neh114
men Anstoß daran. So hat sehr bald eine bestimmte Kategorie der Herren das Sagen in der Gemeinde übernommen und entwickelt mit der Bibel in der Hand eine ungestüme, für unsere Volksgruppe ungewöhnliche Tätigkeit, die Misstöne und Unbehagen hervorruft. Das alles interessiert mich wenig, ja, ich merke davon kaum etwas, bis ich nicht selbst aus heiterem Himmel und ohne Vorwarnung hart getroffen werde. Frühjahr 57. Tauwetter ... Auch im politischen Sinne: Chruschtschow hat im Kreml mit dem Personenkult Stalins aufgeräumt und sich da häuslich niedergelassen. Als Schülerin der Lehrerbildungsanstalt komme ich eines Tages ins Klassenzimmer, unterhalte mich mit jemandem und lache. Da zieht mich plötzlich eine Mitschülerin am Ärmel und flüstert: »Vorsicht! Über dich hat man in der Zeitung geschrieben.« »In welcher Zeitung? Was geschrieben?« »In der örtlichen, im ›Trud‹... Du seist Sektiererin.« »Was soll ich sein? Hab‘s nicht verstanden.« Es läutet und der Unterricht in Kinderliteratur, den unser Direktor führt, beginnt. Nach dem Unterricht bestellt er mich in sein Arbeitszimmer. »Da über Sie ein Zeitungsartikel erschienen ist, muss ich mit Ihnen etwas besprechen, Genossin Neufeld.« »Darf ich bitte den Artikel lesen, Wladimir Iwanowitsch?« Er reicht mir die Zeitung und schaut aus dem Fenster, während ich lese. Die Zeitung behauptet, in der LBA liege die Erziehungsarbeit im Argen: Zwei Schüler - ein Pole und ein Ingusch aus unserer Gruppe - stünden wegen einer Schlägerei vor Gericht. Zwei Russinnen - Mitglieder des Komsomols - träumten von einer komfortablen Wohnung mit fließendem Wasser und drückten sich vor schwerer Körperarbeit. Komsomolzin Herta Neufeld glaube an Gott und gehöre einer Sekte an. Weiter wörtlich: »Der Direktor Wladimir I. Rekubrazki und der Parteivorsitzende Pawel I. Tschudakow wissen von alledem, wollen aber den Müll nicht aus dem Hause tragen.« 115
Unterschrift: Pratt - das ist unser Hausmeister, ein deutscher Kommunist. Ich reiche dem Direktor die Zeitung zurück: »Danke. Jetzt können wir uns unterhalten.« »Dieser Artikel zielt auf mich, trifft aber Sie«, sagt er. »Sie sollten es schriftlich widerlegen.« Ich denke nach: Unser Direktor hat einen polnischen Namen, ist Verbannter wie wir. Er ist nicht groß, hat einen Buckel und kluge verständnisvolle Augen. Ihm möchte ich nicht schaden. »Sie haben Recht, Wladimir Iwanowitsch, der Artikel zielt auf Sie und Sie müssen sich verteidigen. Mich hat keiner gefragt, wohin ich gehe und an wen ich glaube. Ich habe dazu nichts zu sagen, denn es ist meine persönliche Angelegenheit.« »Verstehen Sie denn nicht, was Sie erwartet?! Und ich werde Ihnen nicht helfen können! Schreiben Sie an die Zeitung, das Ganze sei ein Zufall gewesen, man habe Sie verleitet, Sie würden es bereuen und in Zukunft unterlassen.« »Was sollte ich bereuen, Wladimir Iwanowitsch? Ich habe kein Verbrechen begangen. Auf den Gottesdienst bin ich wirklich zufällig gestoßen, bin aber später oft und gerne hingegangen. Schon wegen der deutschen Sprache und der schönen Lieder, die mir aus meiner Kindheit bekannt sind und die ich schon fast vergessen hatte. Bevor ich etwas an die Zeitung schreibe, muss ich nachdenken.« Im Klassenzimmer starren mich meine 29 Kollegen schweigend an. Unsere Gruppe ist etwas Besonderes: Vor vier Jahren, zu Beginn der Ausbildung, standen 28 von 30 Personen unter der Kommandantur. Nur zwei Russen brauchten sich nicht monatlich beim Kommandanten zu melden. Alle anderen - zwei Inguschen ausgewiesen aus dem Kaukasus, zwei Polen ausgesiedelt aus der Ukraine, 24 Deutsche deportiert von der Wolga, evakuiert aus dem Kaukasus, der Ukraine, der Krim, verschleppt aus dem Warthegau waren die so genannten Sonderumsiedler. Obwohl wir damals alle noch keine 18 Jahre alt waren, hatte man uns »Zeitpässe«, gültig für sechs Monate, ausgehändigt und unter die öffentliche Aufsicht gestellt, nur wegen unserer nationalen Zugehörigkeit. 116
Nach dem Unterricht kommt unsere Klassenlehrerin und führt eine Versammlung durch. »Genossen, etwas Entsetzliches ist passiert - in unserer Gruppe ist eine Sektiererin! Das ist eine große Schande für uns alle! Und jetzt wollen wir Herta Neufeld zu Wort kommen lassen. Sag mal, wie ist das möglich? Wie konnte es dazu kommen? Wer hat dich verleitet?« »Erklären Sie mir bitte das Wort Sekte, Maria Nikolajewna. Ich höre es zum ersten Mal.« »Was du nicht sagst?! Du gehörst einer Sekte an und weißt nicht, was das ist?« »Ich möchte nur wissen, was Sie unter Sekte verstehen. Es klingt bei Ihnen so negativ, wie ein Schimpfwort.« »Tja, weißt du, die Sekte ist im Mittelalter entstanden und besteht aus Abtrünnigen der offiziellen Kirche. Sie versammeln sich insgeheim in Privatwohnungen zu ihren Gottesdiensten. Das ist vom Staat ver-bo-ten! Verstehst du?« »Nein, ich verstehe das nicht. Welcher offiziellen Kirche soll ich abtrünnig geworden sein? Ich besuche deutsche Gottesdienste, das heißt, die Kirche meines Volkes. Dort neben dem Marktplatz steht die orthodoxe Kirche, die jeden Sonntag von Gläubigen Ihres Volkes besucht wird. Was ist da für ein Unterschied? Wenn man neben Ihrer Kirche für uns ein Gemeindehaus bauen und unsere Gottesdienste erlauben würde, so wären auch wir keine Sektierer. Verstehe ich das richtig?« »Samoltschi!«, schlägt sie plötzlich mit der flachen Hand auf den Tisch. »Schweige sofort!« Aufgeregt und Hilfe suchend wendet sie sich an meine Klassenkameraden. »Genossen, hört ihr, wie frech sie ist?! Sie schämt sich gar nicht! Sie sagt stolz ›die Kirche meines Volkes‹! Willst du uns etwa einen Vortrag über Kirche und Sekte halten?! Weißt du, was dir dafür blüht?!« »Bitte, Maria Nikolajewna, machen Sie weiter«, unterbricht sie Jakob Schütz, der Leiter des kommunistischen Jugendverbandes unserer Klasse. »Sie fragen und Neufeld antwortet - das ist ja sehr interessant.« 117
»Interessant?! Dann wird ja bald die ganze Gruppe in der Sekte sein! Aber jetzt zur Sache: Sag mal, Herta, wie bist du in die Sekte gekommen? Wer hat dich verführt?« »Mit dem Wort Sekte bin ich nicht einverstanden. Die Gottesdienste besuche ich freiwillig. Ich bin volljährig und lasse mich weder zwingen noch verführen.« »Wer von unseren Schülern geht noch dorthin? Du bist doch sicher nicht die Einzige?« »Ich bin für mich und nicht für andere verantwortlich. Wollen Sie aus mir einen Zuträger machen?« »Gut, dann stelle ich die Frage anders: Wer von den Anwesenden gehört zusammen mit Neufeld der Sekte an?« Ich höre ein Geräusch und schaue mich um: Drei Kolleginnen sind aufgestanden: Elisabeth, Helene und Sieglinde. Maria Nikolajewna ist dieser Situation nicht gewachsen. »Seid ihr denn alle verrückt?!«, schreit sie. »Schämt ihr euch denn gar nicht?!« Und wieder unterbricht sie unser Komsorg Jakob Schütz: »Wieso verrückt? Warum schämen? Maria Nikolajewna, Sie stellen Fragen und bekommen ehrliche Antworten. Ist das ein Grund, hysterisch zu werden?« »Schütz, Sie sind Komsorg und nehmen die Sektierer in Schutz?! Das ist ein Aufstand! Eine Rebellion!« »Es ist kein Aufstand. Es sind Gewissensfragen«, sagt jemand. »Mich interessiert euer Gewissen nicht! Ich kann mit euch nicht arbeiten. Sollen doch andere sich mit euch befassen!« Sie läuft schluchzend aus dem Klassenzimmer. »Was wird jetzt werden?«, sagt hinter meinem Rücken unser Klassensprecher Walter. »Und an alledem ist Neufeld schuld«, wirft Nikolaj - einer der beiden Russen ein. Plötzlich sprechen und schreien alle durcheinander: »Woran ist Neufeld schuld? Hat sie den Zeitungsartikel geschrieben?! Oder hat sie vielleicht diese Versammlung veranstaltet?«, fragt Schütz. 118
Sie streiten lange, bis sie zu dem Ergebnis kommen, ich solle einen Widerruf an die Zeitung schreiben, beichten, bereuen und mich entschuldigen. »Was soll ich widerrufen? Was bereuen? Bei wem soll ich mich entschuldigen? Wofür? Was ich wirklich glaube, denke und fühle, scheint euch allen egal zu sein?« Ich bin verzweifelt. »Warum bist du aufgestanden?«, frage ich meine Freundin Elisabeth auf dem Heimweg. »Na, hör mal! Ich hab dich schließlich in die Gemeinde gebracht! Ein Christ antwortet, wenn er gefragt wird.« »Diese Freude hättest du ihnen nicht machen müssen! Dein Name ist nicht in der Zeitung!« »Du wärst auch aufgestanden, wenn es umgekehrt gewesen wäre.« »Vielleicht ... Ich weiß nicht. Wahrscheinlich hast du Recht.« Es folgt eine Reihe von Versammlungen und Unterredungen, zu denen ich entweder alleine oder zusammen mit den anderen drei Kolleginnen vorgeladen werde. Bald kommt als Fünfte meine Schwester Martha aus der Sportabteilung hinzu. Alle Fragen werden hauptsächlich an mich gerichtet, weil man wohl der Zeitung Rechenschaft über meine »Umerziehung« schuldig zu sein glaubt. Das Leitmotiv aller dieser Vorladungen lautet: »Wie bist du dahin gekommen? Wer hat dich verführt? Wer geht noch dorthin? Wer sind die Verantwortlichen in dieser Sekte? Wer leitet die Jugendarbeit? Wer vergiftet die Seelen der unschuldigen Kinder? Wer? Wer? Wer?« »Ich nenne keine Namen. Fragen Sie die Person, die Ihnen mich genannt hat. Sie wird Ihnen auch weitere Freunde verraten.« Zwei Herren aus dem Partei- und Komsomolvorstand des Gebietes reisen aus Kokschetau an und befleißigen sich meiner »Umerziehung«. »Sie sind Absolventin. In zwei Monaten könnten Sie das Lehrerdiplom haben und in einer Schule arbeiten. Wenn Sie aber nicht widerrufen, bekommen Sie das Diplom nicht. Schreiben Sie an die Zeitung, sagen Sie, wer Sie verleitet hat ...« »Verstehe ich Sie richtig? - Bevor ich Lehrerin werden darf, muss 119
ich ... jemanden verraten? Ist das Ihr Ernst? Wie soll ich dann ... weiterleben?... Als ... als zerstörte ... kaputte ... zerbrochene ... als ... Verräterin? Nein«, durch Tränen sehe ich die Herren an und schüttele langsam den Kopf. »Nein, ich glaube nicht, dass ich ... unter diesen Bedingungen ... Lehrerin werden ... will und Kinder erziehen kann. Nein, so nicht ...« Dann gibt es eine Versammlung des kommunistischen Jugendverbandes der LBA, die vom Vorsitzenden ihres Vorstandes Valentin Wlassenko geführt wird. Er fragt mich: »An wen und wie glaubst du? Erkläre es uns ausführlich: Wenn du uns überzeugst, bekehren wir uns alle!« Im Saal wird gelacht - die Komsomolzen erwarten ein lustiges Schauspiel. »Überzeugen darf ich euch nicht, sonst beschuldigen Sie mich der religiösen Propaganda. Es euch zu erklären will ich trotzdem versuchen. Ich glaube an Gott als die höhere Gerechtigkeit und die höchsten Prinzipien. Ich glaube an Jesus, den Gekreuzigten - das Symbol der Liebe ... Und ich glaube an den Heiligen Geist, der in jedem von uns wirkt ...« »Ja, was denn nun?«, unterbricht mich Wlassenko. »Jesus, Gott, Geist - du weißt wohl nicht so genau, an wen du glaubst?« »Doch, doch! Sie haben mich richtig verstanden: Ich glaube an die Dreieinigkeit - Gott den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist.« Es ist sehr still geworden, als hielte die Menge im Saal den Atem an. »Du glaubst also, die Welt wurde von einem Allmächtigen mit langem weißem Bart erschaffen?«, fragt Wlassenko, um das Gespräch ins Lächerliche zu ziehen, und fährt fort: »Und dieses Männlein schwebt nun über den Wolken und regiert die Welt?« »Das sind scheinbar Märchen aus Ihrer Kindheit! Sie wollen wissen, wie ich glaube? Nicht so, wie Sie sich das vorstellen: Mein Gott hängt nicht an der Wand, ich habe ihn im Herzen. Ich glaube, wie Leo Tolstoj, als er die orthodoxe Kirche verließ; wie Max Planck und Albert Einstein, als sie sich mit der Relativitätstheorie befassten.« 120
Applaus, Lachen, Trampeln und Schreien unterbrechen mich. »Sag doch gleich wie Karl Marx!« »Lass die Gelehrten aus dem Spiel - die hatten mit den Pfaffen nichts am Hut!« »Tolstoj war Atheist! Ihn hat man verteufelt - predali anafeme.« »Tolstoj wurde aus der Kirche ausgestoßen!« Wlassenko schafft Ruhe. Ich spreche weiter: »Man muss nichts mit Pfaffen zu tun haben, um an Gott zu glauben. Wisst ihr nicht, dass Einstein auf die Frage eines Journalisten nach seinem Glauben geantwortet haben soll, er glaube an den Gott von Spinoza? Seht mal nach, an wen und wie Spinoza glaubte - er war keineswegs Atheist! Und was Tolstoj betrifft ... Ja, aus der Kirche hat man ihn ausgestoßen, weil er anders glaubte, als die orthodoxe Kirche es lehrt. Die Großen dieser Welt lehnen eben die eine oder andere Form des Glaubens ab, nicht aber den Glauben selbst. Leo Tolstoj wurde nicht Atheist, sondern Protestant.« Wieder werde ich ausgepfiffen: »Hirngespinste! Das hättest du wohl gern?!« »Du hoffst, dich in gute Gesellschaft zu bringen!« »Was ist mit Karl Marx, Engels, Lenin? Sind Sie keine Vorbilder für dich?« »Religion sei Opium fürs Volk - nie davon gehört?« »Doch, das behauptet Karl Marx«, sage ich. »Stellst du etwa seine Aussage in Frage?« »Willst wohl gescheiter sein als unsere Klassiker?!« »Die Aussage von Marx kann ich weder bestätigen noch in Frage stellen. Was die Klassiker betrifft, so kamen sie alle aus protestantischen Elternhäusern - genau wie ich.« Ohrenbetäubender Lärm. »Ist doch glatt gelogen!« »Woher willst du das wissen?!« »Und so was Rückständiges will Lehrerin werden!« »Und das soll eine Absolventin sein!« »Dir darf man keine Kinder anvertrauen!« Ich frage in den Lärm hinein: 121
»Warum denn nicht? Weil ich nicht lügen will? Das werden Sie den Kindern schon beibringen!« »Im Komsomol ist sie auch noch!« Ich ergreife wieder das Wort: »Woher ich das weiß? Ja, lest ihr denn die Klassiker nicht? Ihre gesammelten Werke sind in der Bibliothek für jeden zu haben! Schlagt doch mal ihre Biografien auf! Der 17-jährige Wladimir Uljanow hat sich selbst als evangelisch bezeichnet, als er sich um einen Studienplatz an der Uni bewarb. Das ist im Band 30 der Leninwerke nachzulesen - da ist ein eigenhändig von ihm ausgefülltes Formular abgebildet. Friedrich Engels soll sich sogar noch mit 28 zum evangelischen Glauben bekannt haben. Und Karl Marx wurde mit sechs Jahren evangelisch getauft; als er 19 war - so wie ich jetzt - schrieb er einen Abschlussaufsatz über die Vereinigung der Gläubigen mit Christus; mit 25 hat er dann evangelisch kirchlich Jenny von Westphalen geheiratet. Das sind biografische Daten, die keiner leugnen kann. Religion sei Opium fürs Volk hat Marx später gesagt, als er Atheist geworden war oder sich vielleicht einer okkulten Sekte angeschlossen hatte. Lesen Sie den Briefwechsel mit seinem Vater ...« Meine letzten Worte gehen im Lärm unter. »Das sind Verleumdungen sozialistischer Klassiker!« »Du nennst Marx einen Sektierer?! - Unerhört!« »Weg mit der aus unserer Lehranstalt!« »Hinter Gitter gehörst du - zum Nachdenken!« »So ein Nichtsnutz! An der Wand müsste man dich verreiben!« »Die ganze Sekte ausheben wie ein Wespennest!« Wlassenko bemüht sich, die Situation in den Griff zu bekommen. »Was du da faselst!«, sagt er. »Das ist ja der sozialistischen Denkweise widrig! Wieso bist du überhaupt im Komsomol?« »Weil Sie so hartnäckig darauf bestanden haben.« »Ha!... Wurdest du etwa gezwungen?« »Nein. Aber unter Druck gesetzt.« »Wieso hast du deine Ansichten so lange verschwiegen? Du hast deinen Gott verleugnet. - Dafür wird er dich bestrafen!« »Geleugnet habe ich nicht. Dazu gab es bis heute keinen Anlass. 122
Außerdem ist Er nicht kleinlich. Bei Ihm heißt es: ›Prüfet alles und das Gute behaltet.‹ Wie hätte ich über den Komsomol urteilen können, wäre ich ihm nicht beigetreten? Die Beziehung des Menschen zu Gott ist das Gewissen. Und das muss nicht zur Schau gestellt werden, denn es ist Privatsache.« Im Saal ist es sehr still. »So?! Meinst du?! Aber deine Zugehörigkeit zum Komsomol ist nicht nur deine Privatsache! Da haben wir auch noch ein Wörtchen mitzureden! Du hast wohl unsere Satzung nicht gelesen, bevor du dem Verein beigetreten bist? Eine Gläubige können wir im Komsomol nicht haben!« »Die Satzung habe ich sehr genau studiert - da ist kein Wort über die christliche Weltanschauung zu finden. Da heißt es nur, die Mitglieder des Verbandes müssen entschieden die religiösen Vorurteile bekämpfen. Mein Glauben hat mit Vorurteilen nichts zu tun, deshalb schließt er meine Zugehörigkeit zum Komsomol nicht aus. Wenn Sie aber das Gegenteil behaupten, so werde ich noch mal darüber nachdenken.« »Tu das! Das will ich dir dringend empfehlen! Schreibe einen Widerruf an die Zeitung! Wenn du deine Ansichten nicht änderst ...« »Meine Ansichten sind kein Kleidungsstück ... Ändern! Nur weil Sie es so wollen?!« »Ja, dann werfen wir dich aus dem Komsomol und der Lehranstalt ...« »Wieso aus der Lehranstalt?! Dürfen Sie das? Was ist mit Gewissensfreiheit?« »Gewissensfreiheit willst du?! Sei froh über das ›Tauwetter‹, sonst hättest du für den Rest deines Lebens Gewissensfreiheit an der Kolyma! Trotzdem wird sich ein Weg finden, dich aus der LBA zu werfen. Du glaubst doch nicht im Ernst, man würde dir die Kindererziehung anvertrauen?! Also, denk mal nach, was du weiter machen wirst, solange du noch Zeit hast.« »Ich werde mich an das Bildungsministerium wenden.« »Spar dir die Mühe - wir handeln im Auftrag des Ministeriums!« Dann meldet sich unsere Pädagogiklehrerin - eine junge Russin und Komsomolzin, Valentina N. Bobina, klein und stupsnasig - zu Wort: »Was habt ihr, Komsomolzen, unseren Sektierern zu erwidern? Ihr 123
könnt sie bedrohen, wie Genosse Wlassenko soeben, ohne dabei selbst etwas zu riskieren. Aber überzeugen könnt ihr sie nicht. Ihr stellt ihnen Fragen, um sie auszulachen, und sie argumentieren so ernsthaft, dass es nichts zum Lachen gibt. Die Schwestern Neufeld ernähren mit ihren winzigen Stipendien ihren kranken Bruder und die Mutter. Sie mieten ein kleines Zimmerchen und ihr einziger Reichtum sind Bücher. Ich finde unsere Sektanten sehr sympathisch! Es ist ein Vergnügen, mit ihnen zu diskutieren! Sie führen mit uns eine ehrliche Diskussion. Sie könnten uns ja auf die Heilige Schrift verweisen, und wir wären erledigt. Sie aber geben uns die gleiche Chance und beziehen sich auf Tolstoj und Einstein. Und wenn sie Marx und Lenin zitieren, so wissen sie Bände und Seiten zu nennen! Wer von den Anwesenden kann Kapitel und Seiten der Klassikerwerke nennen, von der Bibel schon ganz zu schweigen?« Sie wird unterbrochen: Pfeifen, Trampeln, Klatschen, Schreien. »Wir sind nicht unterrichtet! Die Bibel steht nicht im Programm!« »Wo sollten wir die Bibel erlernen, in der Sekte etwa?!« Die Lehrerin spricht weiter: »Wie wollt ihr die Gläubigen vom Atheismus überzeugen, wenn ihr nichts über die Religion wisst? Ich möchte in euch, Komsomolzen, die Wissbegierde sehen, die in unseren Sektierern steckt! Ich will damit sagen: Seine Überzeugungen muss man erleiden, nur dann kann man sie auch verteidigen! In diesem Punkt könntet ihr von den Gläubigen so manches lernen.« Das Licht fällt aus, im Saal krachen Stühle und es wird geflucht. Damit ist diese Versammlung beendet. Auf dem Heimweg habe ich das Gefühl, es verschiebe sich etwas in meinem Genick, vor den Augen wird es dunkel und die Beine werden schlaff. Ich halte mich am Zaun fest und rutschte zu Boden. Zu Hause erzähle ich der Mutter von meinem außerordentlichen Erlebnis während der Versammlung. »Ich schwebte in der Luft! Als gäbe es keinen Boden unter den Füßen. Leicht schwindlig war mir ... Ich weiß nicht, ob ich sitzend oder stehend gesprochen habe ... Die Antworten schossen aus mir heraus, noch bevor die Fragen richtig angekommen waren. Selt124
sam, sehr seltsam ... was ich da geantwortet habe ... Ich wusste gar nicht, dass ich das alles weiß. Und woher? Verliere ich den Verstand? Oder ... habe ich schon ... einmal gelebt?« »Nein, nein!«, tröstet mich die Mutter. »Im Streitgespräch - da kommt eben die Eingebung, die Intuition. Gott verläßt die Seinen nicht!« Murmelt sie plötzlich. »Den Seinen gibt es der Herr im Schlaf. Denn nicht du streitest, sondern Er.« »Ach, Mama! Bei dir ist immer alles so einfach. Wenn es doch so wäre!« Am nächsten Tag werde ich im Chemieunterricht mündlich abgefragt. Zum Schluss fragt die Lehrerin: »Glaubst du an Gott?« »Ja. Das habe ich schon gestern in der Versammlung gesagt.« »Hast du uns nichts Neues mitzuteilen?« »Nein. In puncto Weltanschauung hat sich bei mir über Nacht nichts getan.« »Schade. Setz dich. Zwei!« »Ungenügend?... In Chemie? Habe ich Ihre Fragen nicht ausführlich genug beantwortet?« Im nächsten Unterricht fragt sie mich wieder ab und gibt mir wieder eine schlechte Note. »Was wollen Sie von mir? Ich kann heute nicht das Gegenteil von dem behaupten, was ich gestern gesagt habe. Das wäre doch lächerlich! Würden Sie es mir denn glauben?« »Nein. Du musst die LBA verlassen. - Einen anderen Ausweg gibt es für dich nicht.« »Selbstverständlich werde ich die LBA verlassen! - Nach dem Staatsexamen mit dem Diplom in der Hand.« »Nein! Du bekommst das Diplom nicht! - Dir darf man keine Kinder anvertrauen.« »Dann müssen Sie mich ausschließen. Ich brauche das Diplom und gehe nicht freiwillig.« »Ausschließen? - Geht nicht! Dafür fehlt der Grund, die Handhabe.« »Meine Weltanschauung? Mein Glauben? - Kein Grund?« »Nein. Wir haben Gewissensfreiheit. Aber mangelnde Lernerfolge wären ein Grund ...« 125
So geht es nun täglich weiter, über Wochen hinweg. - Die Lehrer wechseln sich ab. Ich bleibe die Gleiche. - Steter Tropfen höhlt den Stein. Es ist zermürbend ... Dann befasst sich eine Lehrergruppe mit uns. Scheinbar müssen sie alle zu diesem Thema Stellung nehmen und sich mit diesem »Fall« beschäftigen. Eine Lehrerin, Swetlana W. Burkowa, Russin und Kommunistin, gibt sich besonders energisch: »Sie sind fast vier Jahre hier in der Ausbildung. Sie haben Pflichten dem Staat und der Gesellschaft gegenüber, die dringend Lehrer in dieser entlegenen Gegend brauchen! Ihre Ausbildung hat eine Menge gekostet. Sie sind es dem Vaterland schuldig! - Schreiben Sie einen Widerruf an die Zeitung, sonst bekommen Sie das Diplom nicht ...« »Moment mal«, falle ich ihr ins Wort. »Vaterland? Das müssen Sie mir näher erklären. Meinen Sie das Land, dessen Regierung meinen Vater ohne Gerichtsverfahren verschwinden ließ und mich - im Alter von fünf Wochen schon! - zur ›Tochter des Volksfeindes‹ machte? Und diese ›entlegene Gegend‹, wie Sie es so schön umschreiben, ist unser Verbannungsgebiet! - Vergessen Sie das, bitte, nicht! Vor einem Jahr wurde die Kommandantur aufgehoben, aber zurückkehren in unsere Geburtsorte dürfen wir nicht. Warum denn? Nur weil wir hier dringend gebraucht werden?! Oder weil man uns vieles schuldet und nicht zurückgeben will?« »Ach, das ist es also! Jetzt sprichst du schon über Politik«, fällt Swetlana Wassiljewna ein. »Ihr seid mit eurer Lage unzufrieden und nur aus Protest Sektierer geworden?! Ihr sucht ja nur Ausreden und wollt euch rechtfertigen.« »Sie zäumen den Gaul beim Schwanze auf: Sie reden über Politik, wenn Sie unsere Schulden beim Vaterland aufzählen. Wir sind keine Verbrecher und müssen uns nicht rechtfertigen! Der Glaube gehört einfach zu unserem Überleben.« »Neufeld! Bleiben wir bei der Religion! Verwickeln Sie sich nicht auch noch in politische Fragen!«, mischt sich unser Literaturlehrer - der Krimtatar - ins Gespräch ein. »Und Sie, Swetlana Wassiljewna, sollten vorsichtiger sein«, wendet er sich an seine Kollegin. »Zerbrechen können wir, doch das ist 126
nicht unsere Aufgabe. Wir wollen erziehen, biegen, aber nicht brechen. Verstehen Sie?« »Keine Bange, die zerbricht nicht: Eichen werden nach dem Sturm nur stärker.« »Welche Eichen?«, erwidert der Lehrer. »Schilf, nur Schilf ... Sehen Sie sich diese Kinder nur mal genauer an ...« Ich spüre glühenden Schmerz im Genick und werde ohnmächtig. Mit kaltem Wasser ins Gesicht und zum Trinken erlange ich mein Bewusstsein wieder. »Ich bin sooo müde, bitte lassen Sie mich in Ruhe ... Ja?« Endlich darf ich gehen. Mit meinen Kräften bin ich am Ende. Vor einem halben Jahr wurde ich wegen Lungentuberkulose operiert. Die Ernährung ist bei uns immer noch sehr mangelhaft. Zu Hause - hungrig und müde - gleich ins Bett. Die besorgte Mutter bringt mir Tee und eine Scheibe Brot mit Margarine. »Wie war es?«, fragt sie. »Schlimm. Bin wieder zusammengeklappt. Die sollen mir sagen, wo mein Vater geblieben ist! Dann erst werde ich mit ihnen über unser ›Vaterland‹ diskutieren!« »Da ist eine Generation herangewachsen, die von den Kommunisten Rechenschaft verlangen wird!«, entfährt es meiner Mutter. »Ach, Mama! Wo siehst du denn die Generation? Allein sind wir, ganz allein. Alle Freunde haben wir verloren ... Vielleicht haben wir auch nie welche gehabt? Alle haben Angst und wenden sich von uns ab. Was soll aus uns werden? Aus dir? Aus Bernhard? Ich habe keine Kraft. Ich sehe keinen Ausweg.« Am nächsten Morgen bleibe ich im Bett. Mutter hat die Asche hinausgetragen, Holz und Kohle geholt und macht Feuer. Plötzlich geht die Tür auf und eine Gruppe Jugendlicher drängt sich in den engen Raum. »Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, fragt Mutter überrascht. »Wir sind Komsomolzen aus der Lehrerbildungsanstalt.« »Meine Tochter ist krank«, stellt sich Mutter ihnen in den Weg. »Man wird sie wohl noch besuchen dürfen?« Sie wird von zwei 127
Mädchen zur Seite geschoben. Es sind nicht Freunde aus meiner Klasse, sondern vier Mädchen und zwei Burschen - alles Russen aus anderen Gruppen - mit meiner Klassenlehrerin Maria Nikolajewna. »Ich wollte eigentlich zu Ihnen«, wendet sich die Lehrerin an meine Mutter, während sich die Jugendlichen in unserem Zimmer umsehen. Drei von ihnen heben die Tischdecke, setzen sich auf den Fußboden und räumen unser Bücherregal aus, das unter dem Tisch eingerichtet ist. Das vierte Mädchen nimmt vom Fensterbrett das ›Neue Testament‹ und blättert darin. Die Burschen stehen vor dem Spruchkästchen »Nimm und lies«, das an der Wand hängt. »Was ist denn das für ein komisches Buch? Das kann man ja gar nicht lesen«, sagt das Mädchen mit dem Testament in der Hand und kommt an mein Bett. »Ist das jüdisch?« »Quatsch! Es ist ein Teil der Bibel. Die Schrift ist gotisch, deshalb kannst du sie nicht lesen.« »Ich dachte, ihr seid Deutsche?« »Sind wir auch. Die Bibel ist deutsch. Es ist eine alte Ausgabe. Siehst du? - In Stuttgart 1911 gedruckt, von Doktor Martin Luther übersetzt.« »Woher kennst du diese Schrift? Kannst du mir das vorlesen?« Sie reicht mir das aufgeschlagene Buch. Ich lese einige Zeilen, übersetze und erkläre sie ihr, so gut ich kann. »Es ist doch jetzt Ostern. Wird das bei deinen Eltern nicht gefeiert?«, frage ich. »Doch, mit bunten Eiern und Quarkkuchen. Aber was Ostern bedeutet, weiß ich nicht.« Ich zeige ihr das Bild ›Jesus am Kreuz‹ und sage: »So hat man ihn am Karfreitag hingerichtet, und am Sonntag sei er dann auferstanden, steht in der Bibel. Schau dir die Farbbilder an.« Dann stehen die zwei Burschen neben meinem Bett: »Du, hör mal, wer hat das geschrieben?« Sie haben Sprüche gezogen und reichen sie mir. »Das habe ich abgeschrieben. - Es sind Sprüche für jeden Tag.« Ich 128
lese: »Alle eure Sorgen werfet auf Ihn ... Siehe, Ich bin bei euch alle Tage ... Nicht vom Brot allein lebt der Mensch ... Seht ihr? Wenn ich in der Früh einen Spruch gezogen hab, dann weiß ich, warum ich ohne Sorgen zum Unterricht gehe - weil man vom Brot allein nicht leben kann. Stimmt doch, oder? Und jetzt lasst mich bitte, ich bin sehr müde.« Die Mädchen haben alle Bücher vom Regal auf den Fußboden geworfen und wühlen darin herum. »Hier ist nichts, außer wissenschaftlich-populären Ausgaben«, sagen sie zur Lehrerin. »Sucht ihr was Bestimmtes?«, fragt Mutter über die Schulter, bekommt aber keine Antwort. »Haben Sie jetzt endlich Zeit für mich?«, fragt Maria Nikolajewna barsch. »Wie lange soll ich noch warten?« »Ich habe Sie nicht eingeladen«, gibt Mutter zurück. »Sie platzen hier einfach herein ... Gefrühstückt haben wir auch noch nicht.« »Was soll das da bedeuten?«, zeigt die Lehrerin auf einen Spruch an der Wand. Mutter zuckt die Achseln: »Sie sehen ja: ›Gott ist die Liebe‹. Sie können sich alles anschauen, wir haben nichts versteckt.« »Sagen Sie Ihrer Tochter, sie soll einen Widerruf an die Zeitung schreiben, sie soll sich von ihrem Glauben lossagen, sonst hat sie keine Zukunft!« »Meine Tochter ist erwachsen. Ich mache ihr keine Vorschriften. Und die Zukunft liegt in Gottes Hand.« »Schämen sollten Sie sich! Sie haben mit diesem Unsinn Ihre Kinder ins Unglück gestürzt! Nur Sie alleine haben Schuld daran! Was wollen Sie damit erreichen?« Mutter ist blass und zittert: »Ich habe meine Kinder gelehrt, Gut und Böse, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden ...« »Ach! Und dazu brauchten Sie ... diesen dämlichen Chor? Diese ... Gesänge?«, fällt die Lehrerin meiner Mutter hämisch ins Wort. Ich stehe auf und stelle mich zwischen sie: 129
»Lassen Sie meine Mama in Ruhe! Und gehen Sie, bitte, gehen Sie!« Ohnmächtig sinke ich nieder. Um die Mittagszeit kommt meine Schwester Martha nach Hause. Sie ist nicht im Unterricht gewesen, sondern war auf Arbeitsuche gegangen. Mit Erfolg: Morgen darf sie in der Nähwerkstatt anfangen. Ich bin im Praktikum in der 3. Klasse einer Grundschule. Es macht mir Spaß, Grammatik und Rechnen, Singen, Malen und Sport zu unterrichten. Nach dem Unterricht auf dem Heimweg werde ich wieder ohnmächtig. Sobald ich am Boden liege, sehe ich sofort alles ganz klar: die leere Straße, die fallenden Schneeflocken, den vorbeilaufenden Jungen ... Ich erhebe mich, doch die Beine gehorchen nicht. Dieser Zustand wiederholt sich immer öfter. Ich kann den Unterricht nicht mehr besuchen. Meine Freundin Elisabeth holt mich ab zur Versammlung des Jugendverbandes - wir werden ausgeschlossen. Doch nicht Freunde aus unserer Klasse sitzen da zu »Gericht«, sondern auserlesene »kämpferische Atheisten« der LBA. Aber auch ihnen und den anwesenden Lehrern fällt nichts Neues ein. Seit Wochen wiederholen sie stumpfsinnig immer dasselbe: »Es gibt keinen Gott! Widerruft! Schreibt an die Zeitung ...« Ich habe kein klares Empfinden mehr ... Meine Gefühle sind gedämpft. Mich lässt alles kalt. Mutter begleitet mich in die Poliklinik, wo ich der Ärztin meine Beschwerden schildere: Schwindel und Ohnmacht. Sie diagnostiziert Kreislaufstörungen und Erschöpfung, verabreicht mir eine Aufbauspritze und schickt mich zum Neurologen. Der Nervenarzt tastet meine Gesichtsknochen ab, prüft die Reflexe und schreibt etwas in die Kartei. »Was ist mit Ihnen los? Können Sie nicht schlafen?« »Doch, ich schlafe. Aber nach dem Schlafen bin ich müde, weil in meinem Kopf die ganze Nacht Streitgespräche geführt werden.« »O je. In solchem Zustand ist ein Mensch nach langer Überforde130
rung. Aber welche Belastungen hat denn so ein junges Mädchen? Sind Sie verheiratet?« »Nein. Mein Name ist Neufeld - sagt Ihnen das nichts?« »Neufeld? Ich habe einen Patienten Boris Neufeld. Ist das Ihr Verwandter?« »Ja. Er heißt Bernhard und ist mein Bruder. Er mag nicht, wenn man ihn Boris nennt. Aber mit meiner Gesundheit hat das wenig zu tun. Ich besuche die Lehrerbildungsanstalt.« »So, so ... Neufeld aus der LBA. Ich hab da was gehört. O la la!« Plötzlich lacht er: »Dann sind es Sie, die unsere Obrigkeit in Atem hält?! Sagen Sie, wie ist es Ihnen gelungen, so viel Aufsehen zu erregen? Sie sehen so vernünftig und sympathisch aus, und dabei machen Sie so viel Lärm.« Ich atme erleichtert auf: »Den Lärm mach ja nicht ich, sondern andere gackern um mich herum.« Dieser Arzt hat einen polnischen Namen. Ob er auch ein Verbannter ist? Ich weiß es nicht. »Erzählen Sie, wie war das?«, fragt er neugierig. »Man hat Sie ›erzogen‹? Ha! Wie denn? Versammlungen? Unterredungen? Was?! 17 Mal in anderthalb Monaten? Wahnsinn! Das geht an Ihre Substanz! Machen wir Schluss damit: Sie sind nicht verpflichtet, für das Heil dieser Hohlköpfe zu sorgen!«, fügt er mit sarkastischem Lächeln hinzu. Am nächsten Tag bekomme ich von einer ärztlichen Kommission eine Bescheinigung, die mich zu einem akademischen Urlaub für ein Jahr berechtigt. Als ich in die LBA komme, um diesen Urlaub zu beantragen, bittet mich die pädagogische Direktorin, Maria J. Draganowa, geborene Schlieve, einen Abend mit ihren Kindern zu verbringen: Sie müsse zur Sitzung des pädagogischen Rates und die Kleinen könne man nicht alleine lassen. Ich finde das unerhört! Einerseits habe ich Berufsverbot, mir dürfe man keine Kinder anvertrauen, heißt es. Andererseits ... lädt sie mich zu sich nach Hause ein, zu ihren eigenen Kindern. Was will sie damit sagen? Ist sie privat anderer Meinung? 131
Ich verbringe mit den Kindern einen lustigen Abend. Dann packe ich meinen Koffer und trage die Lehrbücher in die Bibliothek. Dort treffe ich unseren Gesangslehrer Pjotr A. Bojko, den alten »Verdienten Dirigenten der Ukraine«, der für irgendwelche »Verbrechen« hierher verbannt ist. »Ich freue mich, dass Sie aus dem Schlamassel sauber heraus sind«, wendet er sich an mich im leeren Lesesaal. »Die Umstände haben Sie an die Spitze der Ereignisse gebracht. Die Ereignisse legen sich wieder, aber Sie sind geschädigt.« »Warum hat Pratt das gemacht? Er ist doch Hausmeister? Zuständig für die Wirtschaft der LBA und nicht für die Erziehung? Hatte er es nötig? Ich verstehe das nicht.« »Pratt ist ein Strohmann - wissen Sie das nicht? Haben Sie das ganze Theater auch richtig verstanden? Das war ja alles vom langen Arm geplant und eingefädelt. Die Religiosität der Deutschen sollte durch die Deutschen selbst bekämpft werden. Verstehen Sie? Pratt und Sie wählte man und hoffte, Sie schnell kleinzukriegen. Aber Sie haben sich tapfer geschlagen und das ganze Drehbuch durcheinander gebracht! Unseren Kriechern und Zuträgern haben Sie eine Lehre erteilt. Alle Achtung! Pratt ist kein Kämpfer. Er hat getan, was man von ihm verlangte. Den Zeitungsartikel hat Nikolaj T. Jesubtschenko geschrieben. Der wollte nebenbei unseren Direktor - den Rekubrazki - aus dem Amt jagen und selbst Direktor der LBA werden. Seien Sie nicht traurig, ohne Diplom gehen zu müssen. - Als Lehrerin arbeiten hätte man Sie doch nicht lassen.« Ich bedanke mich bei diesem guten alten Lehrer für die Aufklärung und verabschiede mich von ihm. Wir haben uns nie mehr gesehen. Noch am selben Tag verlasse ich Eska. Auf dem Bahnsteig stehen Kameraden aus der LBA und winken mir nach. Nachdem mein Traum vom Lehrerberuf geplatzt und meine Ausbildung an der LBA ohne Abschluss geblieben ist, lande ich in einem kleinen Hirtendorf irgendwo gegenüber dem Himmel auf der breiten flachen Hand der Steppe. Das Dorf besteht aus wenigen niedrigen Lehmhütten, die im Halb132
kreis um den Brunnen unter dem einzigen großen Baum liegen. Jede Hütte ist mit den dazugehörigen Stallungen durch einen großen gedeckten Hof verbunden, der die Menschen und Haustiere zu jeder Jahreszeit vor dem extremen Klima schützt. Mein Schwager und die Schwester Flora leben hier als einzige Deutsche unter den Kasachen seit mehreren Jahren. Jetzt ist die Schwester im Kreiskrankenhaus, wo sie ihr erstes Kind bekommen hat. Und den Schwager - Viehhirte der Kolchose - bekomme ich kaum zu sehen, denn er ist ständig mit der Herde auf der Weide. Hier erlebe ich täglich eine richtige »Morgensymphonie im Bauernhof«, denn es gibt eine Menge für mich zu tun. Der Hahn kräht - er ist mein Wecker. Es ist fünf Uhr. Mit dem Eimer in der Hand eile ich durch den Hof, melke die Kuh und bringe sie in die Herde. Jetzt ist sie friedlich, die Kuh. Aber bei meinem ersten Melkversuch, als sie meine Unsicherheit spürte, peitschte sie mir ihren Schwanz um die Ohren und schlug aus, dass der Melkeimer durch den Stall kullerte. Seit ich ihr ein großes Stück Kochsalz in ihre Krippe gelegt habe, sie vor dem Melken hinter den Ohren kraule und nach dem Melken mein Dankeschön ins Ohr flüstere, sind wir die besten Freunde. - Auch ein gemeines Rindvieh will menschlich behandelt werden! Die Sonne schickt die ersten Strahlen über den Horizont. Es ist frisch und Tau glänzt auf dem Gras. Alle Einwohner des Bauernhofes erwachen und wollen bedient sein: Das Kalb muht, das Schwein grunzt, die Ferkel quieken ... Jeder bekommt sein Frühstück und es wird ruhiger. Nur aus dem Hühnerstall tönt ein vielstimmiger Chor. Enten und Gänse schnattern, Hühner fliegen mit lautem Geschrei von der Stange. Der Hahn stolziert unter ihnen umher und kräht. Alle bekommen Futter und auch frisches Wasser gieße ich in den Holztrog. Das Kalb binde ich hinter dem Garten mit einer langen Leine an einen Pfahl, damit es grasen kann. Die Gänse marschieren langsam hinunter zum Fluss ... Die Enten watscheln ihnen hinterher. Im Hof ist es still und ruhig geworden. Die Sonne ist aufgegangen. Die Schwalben zwitschern unter dem Dach und die Bienen summen in der blühenden Akazie. 133
Nach dem Frühstück suche ich mit dem Fahrrad eine ältere Feldscherin auf, die mir Aufbauspritzen verabreicht - 30 Ampullen davon habe ich aus der Apotheke in Eska mitgebracht. Am Abend erlebe ich erneut die Symphonie im Bauernhof. - Alles ist so, wie der Neurologe es verordnet hat: viel Bewegung und frische Luft, gutes Essen, keine Aufregung, keine geistige Beschäftigung ... Nein, nein. Ganz so einwandfrei läuft es dann doch nicht. Klar, eine geistige Beschäftigung kommt nicht in Frage, da es im Aul keine Bibliothek gibt und in den Haushalt meiner Schwester sich auch keine Bücher verirrt haben. Nicht einmal einen Gesprächspartner habe ich hier, abgesehen von der Kuh und der Katze ... Aber das Denken, Grübeln, Erinnern lässt sich einfach nicht abstellen oder ausschalten. In Gedanken bin ich ständig bei meinen Kameraden in der LBA: Was machen sie jetzt? Legen Prüfungen ab? Mündlich? Schriftlich? Welche Themen werden wohl für den Aufsatz angeboten? Unentwegt muss ich an die Ereignisse der letzten Wochen denken. Dass ich nicht bei den Abschlussprüfungen dabei sein darf - das wurmt mich. Was ist an mir so schlecht oder verderblich, dass man mir keine Kinder anvertrauen darf? Mutter sagt, es liege nicht an mir, sondern an unserer Familie. Was aber stimmt mit der Familie nicht? Ich lasse das Schicksal meiner Familie vor meinem geistigen Auge vorbeiziehen. - Auch da finde ich beim besten Willen keine Antwort auf die mich beschäftigenden Fragen. Na gut: Vater wurde verhaftet und Mutter hatte als Lehrerin Berufsverbot. Aber all das passierte noch in einem anderen Leben, in einer anderen Welt - in der Ukraine vor 20 Jahren! Wo ist denn der Zusammenhang zwischen den Ereignissen von 1937 und denen von 1957? Wer weiß denn hier und jetzt noch etwas davon, was damals geschah? Was ist die Ursache meines Scheiterns? Warum stand plötzlich mein Name in der Zeitung? Mein Name und kein anderer? Ist den einen verboten, was den anderen erlaubt ist? Ich habe nichts Besonderes getan, nur was viele meiner Kameraden und Freunde aus der LBA auch getan haben. - An deutschen Gottesdiensten haben wir teilgenommen und im Chor gesungen ... heimlich, ohne es an die 134
große Glocke zu hängen. Dann kam plötzlich dieser Anschlag, anders kann man das gar nicht nennen, denn zwischen meinem »Vergehen« und der »Strafe« fehlt jede Verhältnismäßigkeit. Wegen Teilnahme an Gottesdiensten bekomme ich Berufsverbot? Ja, aber nicht offiziell, denn einen Beschluss des pädagogischen Rates diesbezüglich gibt es nicht. Auf allen Bildungsebenen im Lande wird Gewissensfreiheit proklamiert, was auch in der Verfassung - der Konstitution der UdSSR - verankert ist. Offiziell soll in der Öffentlichkeit alles human und demokratisch aussehen. Vor allem dem Ausland wird ein System »mit menschlichem Gesicht« vorgegaukelt, während im Hintergrund mit harten Bandagen gekämpft wird. Als ich mich zu dieser Erkenntnis durchgerungen habe, atme ich erleichtert auf: »Na also! Wer sagt es denn! Nicht umsonst habe ich in der LBA vier Jahre lang gebüffelt! Wenigstens das Denken habe ich da gelernt, wenn auch sonst nicht viel!« Der innere Monolog führt mich aber unermüdlich weiter. Und was ist mit der Gemeinde? Da war ich einfache Zuhörerin, noch nicht einmal Mitglied. Da spielte ich überhaupt keine Rolle und habe auch keine Aktivitäten entwickelt. Nein, der »Anschlag« galt eindeutig nicht mir, dafür war ich zu unreif und naiv. War ich nur das Mittel zum Zweck? Und nicht das Ziel? Das sagte jedenfalls Rekubrazki - der LBA-Direktor, man ziele auf ihn, während ich verdroschen würde. Wollte man beobachten, wie er darauf reagiert? Wie dem auch sei - ich war nicht das Ziel, sondern die Keule, mit der jemand um sich schlug. Aber warum ausgerechnet ich? Der Literaturlehrer Jesubtschenko habe den Direktor treffen wollen deshalb der Zeitungsartikel. Wen aber wollte derjenige treffen, der dem Lehrer ausgerechnet meinen Namen als »Gläubige und Sektiererin« lieferte? Wem schien ich für diese Debatte gut genug? Auf diese Frage finde ich keine Antwort. Wahrscheinlich gab es keinen »Richard Sorge« in unseren Reihen, keinen Provokateur, aber durch unsere Jugend und Naivität brachten wir es zustande, uns selbst zu verraten. Vertrauen durfte man 135
hier praktisch keinem. Das wusste jeder. Und doch hatte jeder und jede von uns einen »allerbesten Freund« oder eine »allerbeste Freundin«, denen er glaubte, seine geheimsten Träume und Gedanken anvertrauen zu können. So schlau war aber auch der Geheimdienst! - Ausgerechnet da, bei den besten Freunden, bediente er sich ... ganz unauffällig und harmlos. Da kommt zum Beispiel ein Lehrer für russische Sprache und Literatur in die Klasse und erteilt den Auftrag, jeder Schüler solle für einen seiner Kameraden eine Charakteristik erstellen. Er listet auf, worauf geachtet werden soll, und gibt auch ein Schema vor, nach dem man sich richten könne. Die Arbeit werde benotet. Der Lehrer sammelt die Arbeiten ein, sieht sie durch und lässt einige Schüler einen nach dem anderen nach vorne an seinen Tisch kommen - das Ergebnis wird besprochen, ergänzt und benotet. Wie sollten die 16- bis 18-jährigen da Verdacht schöpfen? - »Ein Schelm, wer Böses dabei denkt!« Nicht in allen Gruppen läuft es so ab. Ich habe nie den Auftrag bekommen, jemanden schriftlich zu charakterisieren, wie auch manche meiner Kameraden. Das bedeutet nur, daß wir nicht zum Vertrauenskreis des KGB gehören, nicht zu den Jägern, sondern zu den Gejagten. Denn auch in unserer Klasse haben die einen die anderen charakterisiert. Wie die »Auslese« getroffen wurde, wie bestimmt wurde, wer wen zu beurteilen habe - ist mir unbekannt. Diejenigen, die Genaueres darüber wissen, verweigern mir die Auskunft. Trotzdem lassen sich Tendenzen erkennen: Ausgerechnet der Lehrer - Jesubtschenko N. T. - schreibt später den Zeitungsartikel, in dem ich als »Rückständige, Gläubige« dargestellt werde. Wie dem auch sei, die Lehrer hatten mit uns ein leichtes Spiel. Es war für sie nicht schwer, die Jugendlichen aufs Glatteis zu führen. All das geht mir durch den Kopf, während ich in diesem Dorf auf einem bescheidenen Bauernhof die Haustiere versorge. Gesundheitlich geht es mir schon viel besser: Die Spritzen, das gute Essen, Bewegung an der frischen Luft - wirken Wunder. Meine Analyse ordnet die Gedanken. Das Mosaik nimmt klare Konturen an, ist aber noch lückenhaft. 136
Meine Schwester ist inzwischen aus dem Krankenhaus zurück und hat einen kleinen Schreihals mitgebracht, dem ab nun unsere ganze Aufmerksamkeit gilt. Es hat Komplikationen gegeben, deshalb war sie einen ganzen Monat weg. Sie hat nicht nur ihr Baby, sondern auch ein Fachbuch über Säuglingspflege mitgebracht. Endlich ein gedrucktes Wort in diesem Haus! Ich stürze mich darauf und beginne es sofort zu lesen, während sich meine Schwester mit ihrem süßen Heinrich beschäftigt. »Warum schreit denn der Kleine? Ihm fehlt doch nichts? Oder?«, frage ich. »Hungrig ist er. Gleich kriegt er die Brust.« Doch der Junge schreit wie am Spieß und hört gar nicht mehr damit auf. So geht das drei Tage und drei Nächte. Die erschöpfte Mutter weint. »Vielleicht hast du keine Milch? Oder sie reicht ihm nicht?«, frage ich. »Wenn das Kind gesund ist, trocken und satt - dann muss es schlafen.« Meine Schwester wird ärgerlich. »Woher willst du das wissen? Du Siebengescheite ... Du hast ja keine Ahnung!« Sie schluchzt. »Nicht heulen - lesen«, ich drücke ihr das Buch in die Hand. »Steht hier in deinem Buch alles geschrieben.« Ich hole Kuhmilch, verdünne sie zur Hälfte mit abgekochtem Wasser. »Dein Bub soll fünf- bis sechsmal am Tag 100 bis 150 Gramm Milch bekommen. - Das ist nicht wenig! Mal sehen, was er noch trinkt, nachdem er schon deine Brust bekommen hat.« Mein Vorhaben durchzuführen ist gar nicht so einfach, denn wir haben weder ein graduiertes Fläschchen noch einen ordentlichen Schnuller, der darauf passen würde. Und wie soll ich die richtige Temperatur der selbst gemixten Babynahrung feststellen? Improvisieren - heißt das Zauberwort. Ich finde ein leeres Penicillinfläschchen, auf dem 10 ml steht, fülle es und mein kleiner Neffe leert es schmatzend 10 Mal nacheinander aus. Das ist eine Leistung! - Dann fallen ihm die Augen zu und er schläft zufrieden ein. 137
Jetzt endlich findet auch die viel geplagte und besorgte junge Mutter Ruhe. »So einfach ist das ...«, staunt sie. »Warum hat mir denn das niemand gesagt?« »Was hat denn unsere Mutter mit mir gemacht ... vor 20 Jahren ... als sie die Milch verloren hatte? Sie hat mich ja auch nicht verhungern lassen.« »Das weißt du? Du kannst dich daran erinnern?!«, staunt sie. Ich lache: »Nein, nein. So siebengescheit bin ich nun doch nicht! Mama hat es mir erzählt, wie unglücklich sie war, als sie zum zehnten Mal schwanger war ... Wieviel Angst sie vor der Zukunft hatte wegen der vielen Verhaftungen ... Wie Papa dann verhaftet wurde ... Wie sie schlief ... auf einem Stuhl sitzend, auf die Wiege gestützt, weil für sie kein anderer Platz war. In den Nächten hat sie mir den Tod gewünscht ... und sogar darum gebetet ... Das alles hat sie mir erzählt ... und geweint.« In den kommenden Tagen und Wochen gibt es mit dem kleinen Erdenbürger keine Probleme: Er isst und schläft, nimmt zu und wächst und macht zwischendurch nur mal kurz die Augen auf. Bis er uns eines Tages breit und offen anlächelt. - Ist das eine Freude! Dann blinzelt er in die Sonne, niest, gähnt, spitzt verdrießlich die Lippen und ... schläft wieder ein. In dieser Zeit kommen ganz viele Briefe von meinen Freunden aus der LBA - die Staatsprüfungen sind vorbei, sie haben ihre Diplome bekommen, Arbeitsplätze hat man ihnen zugewiesen in verschiedenen Kreisen und Gebieten. Sie verabschieden sich voneinander, von der Stadt und auch von mir. Die meisten schicken mir auch ein Foto zum Andenken. Sie sind alle guter Dinge und voller Zuversicht. Diese Briefe unterbrechen mein eintöniges, gemütliches, tierisch-pflanzliches Dasein. Ich erfahre, daß auch meine Freundinnen, die sich zum Glauben bekannt haben, zur Prüfung nicht zugelassen wurden. Zwei Kameraden seien gezwungen worden, sich mit einem Artikel in der Wandzeitung zu ihrer atheistischen Weltanschauung zu äußern und sich von den »rück138
ständigen Sektierern« zu distanzieren. Ansonsten - heile Welt! Während ich alleine im Aul sitze, mit Kuh und Katze Zwiesprache über meine Erlebnisse in der LBA halte, wird mir klar: Hier wurde mit Kanonen auf Spatzen geschossen. Aber warum? Fühlt sich das System durch unsere Sprache, durch Gebete und Gesänge bedroht? Es war Opposition, es war eine Form des zivilen Ungehorsams, die schnurstracks zum Rausschmiss aus der LBA führte. - Das sind Tatsachen, die mein Bewusstsein schärfen und die Neugier wekken. Es ist nicht Theorie, es sind nicht Vermutungen, sondern meine eigene, persönliche, praktische Erfahrung, die sich durch nichts relativieren oder rückgängig machen läßt. An diesen Tatsachen lassen sich all meine bisherigen und künftigen Erlebnisse und Erfahrungen messen und überprüfen. So klar und in diesen Worten konnte ich darüber damals nicht denken, doch ich verspürte in mir ein brennendes Bedürfnis nach Aktion, nach Tat, nach Protest gegen alle Heuchelei und Lügen, gegen Verrat und Ungerechtigkeiten dieses Systems. Kurz vor Weihnachten 1957 kommt ein Brief von meiner Mutter, die mich nach Eska zurückruft, ich solle kommen und zu Hause meine Schwestern im Dienst am kranken Bruder ablösen. Ihm gehe es sehr schlecht, mit ihm sei es sehr schwer und meine Schwestern seien am Ende ihrer Kräfte. Pünktlich zu den Feiertagen bin ich in Eska. Jetzt, im Jahre 2002, kommt im Laufe dieser Recherche - 45 Jahre nach den geschilderten Ereignissen - noch ein sehr interessanter und aufschlussreicher Brief, von einer Person, von der ich es nie erwartet hätte. Sie berichtet mir Folgendes. Nach den Semesterprüfungen und vor dem Staatsexamen saßen alle Deutschen aus unserer Klasse, etwa 10 oder 12 Personen, im Lehrerzimmer und wurden einzeln ins Kabinett des Direktors vorgeladen. Offiziell ging es um die Zuteilung der Arbeitsplätze. Als Erster wurde unser Klassensprecher Walter vorgeladen, nach ihm - der Gewerkschaftler David, dann war unser Komsorg der Jakob dran. Und als Vierter oder Fünfter kam der Mensch dran, der mir das berichtet. 139
»Worum es bei den anderen vor und nach mir ging - weiß ich nicht. Bei mir jedenfalls ging es nicht um den zukünftigen Arbeitsplatz, sondern ... um den Glauben. Da saßen fünf unserer Pädagogen, vor denen ich Platz nehmen musste. Und der Roman J. Kasakow sagte, man dürfe keinem Gläubigen ein Lehrerdiplom geben ... Nicht wegen des Glaubens. Nein. - Wir hätten ja Gewissensfreiheit! Aber wegen der Gefahr des Missbrauchs - das müsse ich verstehen. Ich verstand zwar noch nicht, worauf er hinauswollte, aber das Blut schoss mir in den Kopf und hämmerte in meinen Schläfen. Da ergriff unser Lehrer für marxistische Philosophie das Wort und erklärte mir ausführlich anhand eines Beispiels, was sie meinten. Er sagte: »Sie kennen doch die Geschwister Neufeld, nicht wahr? Mit der Herta sind Sie ja vier Jahre in einer Klasse gewesen. Und ihre Schwester die Siegrid Neufeld - hat im vergangenen Jahr sogar ein Diplom mit Auszeichnung erhalten. Das war ein großer Fehler von uns. Stellen Sie sich vor, gleich im ersten Jahr ihrer Arbeit hat sie ihre Stellung als Lehrerin im Dorf mißbraucht und den Leuten das Lesen der Bibel beigebracht!« Dann wieder Roman Kasakow: »Die Wissenschaft hat bewiesen - es gibt keinen Gott und hat es auch nie gegeben! Uns passiert das nicht nochmal, dass wir rückständigen, unwürdigen Leuten Kinder anvertrauen ... Wir sind wachsam! Deshalb sagen Sie uns jetzt, glauben Sie an Gott oder nicht?« An meinem ganzen Körper kribbelte es, als wären überall Ameisen auf der Haut. »Was wollen Sie von mir?!«, schrie Es plötzlich aus mir heraus. »Das haben Sie schon einmal gefragt! Wie oft wollen Sie das noch fragen?!« Ich lief davon. Im Lehrerzimmer verlor ich den Boden unter den Füßen, wurde von meinen Kameraden aufgefangen, hinaus in den Vorgarten geführt und auf eine Bank gesetzt. Jemand reichte mir einen Becher Wasser und fragte: »Was ist denn los? Kriegst du keinen Arbeitsplatz?« Eines der Mädchen sagte: »Jetzt fliegst auch noch du ... ohne Diplom ... Nimmt denn das kein Ende?« Doch dann kam der Philosophielehrer Pawel I. Tschudakow und schickte meine Kameraden ins Lehrerzimmer zurück. - Dort ging 140
die Arbeit weiter, dort wurden sie aufgerufen. Er setzte sich zu mir und war sehr freundlich, höflich und zuvorkommend. »Warum regen Sie sich so auf? Das ist doch alles halb so wild«, sagte er. »Sie müssen jetzt nur dem Komsomol beitreten und dann geht alles in Ordnung. Es muss auch keiner davon erfahren, hier nicht, in Ihrer Familie nicht und auch nicht an Ihrem zukünftigen Arbeitsplatz.« Es gab keinen Menschen, dem ich mich hätte anvertrauen können ... der mir einen Rat gegeben hätte. Meiner Mutter und meinen Schwestern, die ja weit weg waren, konnte ich das nicht antun - so kurz vor dem Abschluss alles aufgeben. Sie würden das nicht verstehen. Sie hatten in den vier Jahren so viel für mich getan, sie hatten selber gehungert, nur damit ich lernen konnte. Dann ging alles reibungslos und sehr schnell. - Ich trat dem Komsomol bei, habe das Staatsexamen bestanden, das Diplom bekommen und mit der Arbeit in einer Grundschule begonnen. Sei nicht traurig, Herta, dass du damals nicht in der Schule arbeiten durftest. Ich hatte daran wenig Freude, weil ich ständig überlegte, wie hoch für mich der Preis war. Mir hat man das Rückgrat gebrochen und trotzdem war Mißtrauen da: Eine Woche nach meiner Ankunft am Arbeitsplatz, sagte mir eine russische Arbeitskollegin, man habe sie alle aufgefordert, mich zu beobachten und sofort zu melden, sollte jemandem in meinem Benehmen etwas im religiösen Sinne auffallen. Du, Herta, hast damals das Diplom verloren, aber ich habe ... Gott verloren. Im Gebet versuche ich zu Ihm zu finden, doch will es mir nicht gelingen. - Ich fühle mich so verloren, elend und leer ...« Soweit der Brief, der auch der einzige dieser Art bleibt. Ich rufe den Adressaten an und frage: »Wieso du? Wie bist du ins Visier geraten? Warst du jemals in der Versammlung?« »Nein. In Eska nicht. Aber meine Mutter war Mennonitin, genau wie deine. Ich glaube, deshalb ...« »Das habe ich nicht gewusst. Woher konnten die Lehrer und die Behörde das wissen?« 141
»Weiß ich nicht. Entweder wurde am Wohnort meiner Familie spioniert, oder es wurde meiner Personalakte der Geburtsname meiner Mutter entnommen oder ... vielleicht aus einer Charakteristik.« Diesem Menschen bin ich unendlich dankbar, denn ich erkenne jetzt im Nachhinein doch deutlich hinter meinem Scheitern einen bösen Willen und nicht nur mein Missgeschick. Mir wird klar, dass ich solche Briefe, sollten sie auch geschrieben worden sein, damals und dort im Hirtendorf, gar nicht bekommen konnte. Außerdem wird klar: Besonders hartnäckig gejagt wurde nur eine ganz kleine Gruppe der Deutschen in Russland. Der Geheimdienst verfolgt das Ziel, alle bekennenden Christen im Lande namentlich zu erfassen, und dafür ist ihm jedes Mittel recht. Als Jäger werden mit Vorliebe Deutsche anderer Konfessionen rekrutiert, denn einige Leiter der offiziellen Kirchen erklären die nicht registrierten Gemeinden außerhalb des Gesetzes und liefern dem KGB alle aus, die mit den Überwachungsmaßnahmen und Methoden des KGB nicht einverstanden sind. Gläubige werden angeworben, mit Provokationen, Verleumdungen und Verrat die Gemeinden von innen zu zerstören. Manche Christen meinen, dem Geheimdienst einen großen Gefallen zu tun und sich eine größere persönliche Freiheit zu erkaufen, wenn sie ihre Glaubensgenossen anschwärzen und verpetzen. Hier glaube ich, etwas deutlicher werden zu müssen. In den 50er-Jahren kommen etliche Familienväter nach langjähriger Lagerhaft frei. Vorher müssen sie sich aber verpflichten, nicht nur selbst als Sprachrohr des KGB in den jeweiligen Gemeinden zu dienen, sondern der Behörde auch ihre Kinder als Werkzeuge zur Beschaffung von Informationen zur Verfügung zu stellen. Als einige dieser Kinder sich der Anwerbung durch den KGB widersetzen, werden sie mit der Frage erpresst: »Soll Ihr Vater dahin zurück, woher er gekommen ist? - Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen.« Selbstverständlich ist ihnen »das Hemd näher als der Rock«, wenn sie sich mit der Rolle des Zuträgers auch nicht anfreunden können. Sie geraten in einen seelischen Konflikt. 142
Ein Freund erzählt mir, er habe jedes Mal, wenn er zum entsprechenden KGB-Mann bestellt wurde, Juckreiz, Hautausschlag und manchmal sogar Schüttelfrost bekommen. Anderen Jugendlichen wird bei der Anwerbung gesagt, sie könnten ruhig ihren Glauben ausüben, sollten aber in ihrer Umgebung »Augen und Ohren offen halten«. Somit ist den Jägern das erlaubt, wofür die Gejagten bestraft und verfolgt werden. Einigen wird bei der Anwerbung gesagt, sie müßten sich auch nicht sofort entscheiden, sie könnten erst mal in Ruhe darüber mit ihrem Vater sprechen. Eine Person tut das und berichtet, der Vater sei weder überrascht noch empört gewesen und hätte erklärt, man könne mit gutem Gewissen diesen Auftrag übernehmen, denn der Verrat gehöre zum christlichen Glauben - Judas habe Christus verraten und es wäre ihm verziehen. (?!) Derart vom Vater unterstützt und ermuntert, tritt diese Person den Spitzeldienst an und der Vater erhält ... Dankesbriefe von der Direktion der LBA. Dieser Mensch, in jeder Hinsicht Mittelmaß, gewinnt bald Spaß und Freude an der neuen Aufgabe, denn die Chance, manipulative Macht über andere Menschen auszuüben, macht süchtig und stärkt das Selbstwertgefühl. In diesem Fall hat der KGB einen konsequenten und überzeugten Zuträger gewonnen, der auch zehn Jahre später seine Finger im Spiel hat, als in derselben Zeitung ein ähnlicher Fall nach gleichem Muster wie 1957 gehandhabt wird. Diese Person kann das Böse nicht als solches erkennen - ihr fehlt die Reue im Ansatz. »Ich habe nichts Unrechtes getan!«, höre ich. »Ich habe nichts verdreht und nichts dazu-gelogen, sondern nur das weiter geleitet, was ich wirklich gehört und gesehen habe. Ich wusste auch nicht, zu welch dramatischen Folgen das führen würde. Sollten einige von euch dadurch den Beruf oder den Arbeitsplatz verloren haben, so ist das nicht meine Schuld, sondern euer Problem. - Nicht ich, sondern ihr habt gegen die sowjetischen Gesetze verstoßen.« »Ach! Wirklich?« So viel Offenheit reißt mich doch glatt vom Hokker. »Gegen welche denn?« Diese Person fühlt sich geehrt, als sie in den Unterlagen des KGB zeitweise zum »Führungsoffizier der LBA« befördert wird und so 143
an brisante Informationen über Schüler auch anderer Gruppen und Kurse kommt. Schade nur, dass sie dieses Wissen geheim halten muss und damit nicht in ihrer Umgebung angeben darf. Soll ich jetzt Namen nennen? Nein. - Zu viel der Ehre. Rache und Schuldzuweisungen sind nicht mein Stil und mein Konzept. Ganz im Gegenteil. Ich möchte mich aussöhnen mit der Vergangenheit, die Schwierigkeiten mit mir hat. - Sie will nicht vergehen. Sie lässt nicht los. Sie bohrt und nagt, sie frisst und fragt. Nein, Namen nennen, das trüge nicht zur Versöhnung bei. Das Einzige, was zählt, ist die Tendenz. Und die stimmt. »Der größte Lump im ganzen Land, das ist und bleibt der Denunziant.« Das gilt für mich heute genauso wie vor 45 Jahren. Für mich beginnt um Weihnachten 57 eine Balance auf des Messers Schneide, in der ich versuche, mit allen mir verfügbaren Mitteln die Grenzen des Möglichen in diesem Lande auszuloten. So gehe ich durchs Leben als bekennende Deutsche, als bekennende Christin ohne Bodenhaftung, ohne Rückendeckung, ohne einer Gemeinde anzugehören. Immer im vollen Bewusstsein, von Mutters guten Wünschen und Gebeten getragen und von der Liebe des Höchsten begleitet, einen oder mehrere KGB-Informanten an den Fersen zu haben. Man lässt mich frei herumlaufen und benutzt mich als Lockvogel. Jeder Gläubige, jeder Deutsche oder Ausländer, der irgendwie mit mir in Kontakt kommt, wird vom KGB aufs Korn genommen. Ich kann weder dafür noch dagegen etwas tun. Allerdings sind in den Gefilden, in denen ich mich während meines Studiums und der Aspirantenzeit bewege, solche Begegnungen äußerst selten. Nur ein einziges Mal vergesse ich die Spitzel um mich und das bleibt nicht unbestraft. Da treffen sich auf dieser Gratwanderung zwei Menschen, zwei Gejagte, zwei verwandte Seelen und gehen spontan, ohne Vorurteile, rauschend und knisternd in Flammen ihrer einmaligen Liebe auf. Nach außen wird davon wenig sichtbar. Dem einen kostet es das Leben. Dem anderen bleibt ... die Erinnerung ... eine verklungene Liebesmelodie ... ein zarter Duft ... ein warmer Sonnenstrahl ... und die ewige Frage »Warum?« 144
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Martha Neufeld
Geboren 1933 in Mariawohl Ukraine, im Gebiet Saporoshje. In den Kriegsjahren 1943-1945 - im Warthegau als Deutsche eingebürgert. Im August 1945 - verschleppt nach Kasachstan. Bis 1977 - Verbannung in den Gebieten Akmolinsk/Bogorodka und Balkaschino und Kokschetau/Eska. 1977 - Umsiedlung nach Kant in Kirgisien. Ausbildung: 10 Klassen der vollen Mittelschule. Abschluss - allgemeine Hochschulreife. 1955-57 Lehrerbildungsanstalt (LBA), Fachrichtung - Sport. (ohne Abschluss) Fernstudium: Ausbildung zur Bibliothekarin mittlerer Qualifikation im Technikum, Kokschetau. 1964-69 - Fernstudium der Germanistik (deutsche Sprache und Literatur für deutsche Schulen) im pädagogischen Institut Kokschetau. Berufstätigkeit: 1962-77 - Deutschunterricht in der kasachischen Internatschule der Stadt Eska. 1977-81 - Bibliothekarin im Bibliotheken-System der Stadt Kant in Kirgisien. Seit August 1981 in Deutschland. 1998 verwitwet. Keine Kinder.
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Freiwild. Bilder aus meinem Leben »Wieso haben Sie so schlechte Füße?«, fragt mich der Chef der Orthopädie in Günzburg, wo ich sitze und Fußabdrücke machen lassen muss, um Schuheinlagen zu bekommen. Indem ich ihn anstarre und über sein »Wieso?« nachdenke, eilen meine Gedanken zurück in die Vergangenheit. Auf einem unendlichen Ackerfeld finde ich mich wieder. Man schreibt das Jahr 1946. Es ist Frühling in Kasachstan, der erste Frühling in der Verbannung. Ein Junge, etwas jünger als ich, und ich müssen das Feld umpflügen. Wir haben zwei Paar Ochsen, die der Junge antreibt. Ich, als die Ältere, muss den Pflug in der Furche halten. Es ist früh am Morgen. Die Sonne klebt noch wie ein Feuerball am Horizont. Das zu ackernde Feld ist noch mit Raureif bedeckt und glitzert in der Sonne. Wunderschön! »Oh Schreck!« - schon wieder eine Senke, wo sich die Nässe am längsten hält. Wir springen auf die Ochsen, um keine nassen Füße zu bekommen. Die aus rohem Kalbsleder gefertigten Sandalen mögen die Feuchtigkeit nicht. Bei Nässe verlieren sie die ihnen zugedachte Form und fallen von den Füßen. Im trockenen Zustand sind sie kaum als Sandalen zu erkennen. Einmal nass angezogen und an den Füßen getrocknet, behalten sie in etwa ihre Form. Also, wir reiten auf den Ochsen durch die Mulde. Eines Tages haben diese Sandalen mir dermaßen die Fersen aufgerieben, dass ich nicht mehr gehen kann. Am Standort der Brigade gibt es kein warmes Wasser, keine Salbe - nichts. Was tun? Ich reiße aus und schleppe mich zu Fuß nach Hause. Mutter macht Wasser warm, entfernt den klebenden Dreck und das Blut von den Wunden. Sie schmiert meine Fersen mit Fett ein und verbindet sie. Es ist noch nicht hell am nächsten Morgen, da poltert schon der Brigadier grob an die Tür: »Aufmachen! Wo ist sie, die es wagt, von der Brigade abzuhauen?!« Mutter öffnet. »Willst dich vor der Arbeit drücken?!« 147
»Da in der Ecke, auf dem Stroh, liegt sie«, sagt Mutter und deckt meine Füße auf, damit er sie sehen kann. Der kräftige Mann, in Lederstiefeln und Lederjacke, hebt drohend seine Reitpeitsche und kommt auf mich zu. In diesem Augenblick greift Mutter zum Küchenmesser und stellt sich drohend vor ihn. »Wenn du jetzt meine Tochter anrührst, kriegst du es mit mir zu tun!«, faucht sie zornig, wie eine Katze. Und der große, starke Mann lässt vor der kleinen Frau, die um ihr Kind kämpft, seine Peitsche zu Boden sinken. »Gut, aber morgen früh ist sie wieder auf dem Feld!« Als ich wieder zu mir komme, sitze ich immer noch im OrthopädieGeschäft in Günzburg und bin dem Chef eine Antwort schuldig. »Ja, also ... Warum ich schlechte Füße habe? - Ich hatte keine Kindheit« - mehr bringe ich nicht heraus. Mein Gesprächspartner kann damit nichts anfangen, fragt weiter, will mehr wissen. Ich lebe schon seit 20 Jahren in Deutschland und habe mich bisher vergeblich bemüht, die Verbannung zu vergessen. Es gelingt leider nicht. Bei jedem geringsten Anlass schweben mir ähnliche Bilder vor den Augen. Die Verbannung gehört einfach zu meinem Leben. Und, obwohl mir das gar nicht gefällt - sie hat mich geprägt! Ich habe auch begriffen, dass die Einheimischen uns nicht verstehen können, wenn wir über uns nichts erzählen wollen. Jetzt habe ich mich überwunden und lege los! Ich hole alles in die Gegenwart, auch wenn es wehtut. * * * »Bogorodka« - so heißt unser erster Verbannungsort in Kasachstan. Bis zur Eisenbahnstation, etwa 100 Kilometer von hier entfernt, sind wir in Viehwaggons aus Deutschland gekommen. Es war eine sehr, sehr schwere Fahrt, die viele nicht überlebt haben. In »Atbasar« - so heißt die Station - dürfen wir aussteigen. Neben den Schienen - ein paar Erdhütten, ansonsten - öde Steppen, so weit das Auge reicht. »Hier ist unser Verderben« - sagt eine der Frauen mutlos. Die Erwachsenen sind alle sehr ernst und still. 148
Da kommen auch schon Ochsengespanne an - jede Kolchose darf sich hier »Arbeitskräfte« holen. Unter uns sind keine Männer, nur Greise und Frauen mit Kleinkindern und Halbwüchsigen. Mutter und ihre Schwester mit Familien wollen unbedingt zusammenbleiben. Wir übernachten im Freien. Obwohl es erst August ist, war die Nacht empfindlich kalt. Die Steppe ist mit Raureif bedeckt. Weil in unserem Haufen wenig »Arbeitskraft« zu sehen ist, werden wir bei Sonnenaufgang als Letzte abgeholt. »Hast du Hunger?«, fragt die Fahrerin meine jüngste Schwester und gibt ihr einen irdenen Krug - eine Krynka - mit einem Löffel drin. Herta nimmt einen Löffel voll heraus und starrt auf »das Etwas«, das wie ein Igel aussieht. Lange zupft sie schwarze Stacheln heraus und isst. - Es war ein Brei aus zerdrücktem wildem Schwarzhafer, mit Salzwasser gekocht. - Die Fahrerin schaut ihr zu und sagt nachdenklich: »Dir schmeckt das nicht? Warte, warte, du wirst bald noch ganz was anderes essen ...« Wie Recht sie hat! In Bogorodka angekommen, werden wir sofort bei russischen Familien einquartiert. Obwohl jede einheimische Familie Tote, Verstümmelte und Vermißte zu beklagen hat, werden wir - die Familien der vermeintlichen Feinde - aufgenommen. Der Kommandant lässt unverzüglich alle »erwachsenen« Neuankömmlinge antreten, zu denen nun auch ich, mit nicht vollen 12 Jahren, gehöre. Er erklärt uns unseren Status als »Sonderumsiedler«: In dieser Kolchose werden wir arbeiten und dürfen uns nicht von ihren Ländereien ohne seine schriftliche Erlaubnis entfernen. Zum Schluß erkundigt er sich, ob wir auch alles verstanden hätten, und nimmt Fingerabdrücke. Auch von mir. Wir müssen ihm sehr gefährlich erscheinen. Der Zeigefinger meiner rechten Hand wird auf eine schwarze Platte gedrückt um ihn anschließend auf weißes Papier zu drücken. Den Sinn dieser komischen Handlung des uniformierten Herren habe ich damals nicht verstanden. 149
Bogorodka ist ein sehr armes Dorf. Die Einheimischen haben ein Dach über dem Kopf, auch wenn es meistens nur Lehmhütten sind. Jede Familie hat eine Kuh und Hühner. Sie haben Kartoffeln und Gemüse geerntet. - Sie sind auf den Winter vorbereitet. Was aber soll hier aus uns werden?! Bald knüpfen wir Kontakte zu den Deutschen, die schon seit 1941 hier leben. Viele von ihnen sind schon an Hunger und Kälte gestorben. * * * »Wenn wir bei dieser Frau den Winter überleben, sind wir im Frühling nackt«, meint Mutter eines Tages, denn für jede Tasse Milch und jede Kartoffel muss ein Kleidungsstück weg. Sie und ihre Schwester gehen zum Vorsitzenden der Kolchose und bitten um das im Zentrum leer stehende, zweigeschossige Haus. Er stellt es ihnen zur Verfügung. »Was wollt ihr damit? Es ist unbewohnbar!« Es soll ursprünglich eine Kinderkrippe gewesen sein. Seit es aber fast keine Kleinkinder mehr im Dorf gibt, steht es leer. Es sieht verwahrlost und baufällig aus: Ins Obergeschoss dürfen wir Kinder nicht, weil die morsche Holztreppe einzustürzen droht. Alle Fenster und Türen fehlen. Da haben sich die Dorfbewohner während des Krieges wohl »Ersatzteile« und »Brennmaterial« geholt. Unsere Frauen bringen so gut wie möglich zwei Zimmer in Ordnung: Die Fenster werden fast alle zugemauert, nur kleine Glasscheiben werden eingesetzt. Es gelingt ihnen auch, zwei Türfüllungen zu zimmern und einzuhängen. - Jetzt müssen Schnee und Frost draußen bleiben! In jedem Zimmer mauern die Frauen einen Herd zum Kochen und alle »Neuankömmlinge« - 20 Personen, darunter zwei Großmütter über 70 Jahre alt - verbringen hier den ersten Winter in der Verbannung. Wir schlafen auf Stroh. Das Ungeziefer frisst uns fast auf. Dagegen haben wir kein Mittel. 150
Großmutter erleidet einen Schlaganfall, wird bettlägerig und liegt auf Stroh in der Ecke. In den ersten Jahren unserer Verbannung gehen meine zwei jüngeren Schwestern sofort in die Schule. Eines Morgens liegen auf dem Herd etliche walnussgroße Pellkartoffeln. Mutter sagt: »Rührt sie nicht an! - Diese Kartoffeln sind für Oma!« Meine zwei kleine Schwestern gehen ohne Frühstück zur Schule. Ich schiele immer wieder zum Herd auf die Kartoffeln, bevor ich zur Arbeit in die Feldarbeiter-Brigade gehe. Ich kann mich kaum überwinden: Ich bin so hungrig, dass ich Magenkrämpfe bekomme. Zur Schule gehe ich in diesen Jahren nur gelegentlich, vielleicht zwei bis dreimal in der Woche. Um nicht zu verhungern bin ich meistens in der Brigade auf dem Feld. Aber zu den Jahresprüfungen im Frühling bin ich immer pünktlich zur Stelle und bestehe die Prüfungen parallel mit meiner zwei Jahre jüngeren Schwester Siegrid. Ich habe ja den meisten Stoff, den sie jetzt in der Schule lernt, schon im Warthegau in deutscher Sprache durchgenommen. Hungrig sind wir immer und alle. Auch in der Brigade ist Schmalhals Küchenmeister! Meistens gibt es hier Krümelsuppe, mit Wasser gekocht. An Fleisch oder Fett ist nicht zu denken! Eines Tages, als wir gerade die Mittagspause genießen, bricht direkt über unseren Köpfen ein gefährliches Unwetter aus. Es blitzt und donnert! Ein starker Sturm fegt über die Steppe. Das Arbeitsvieh drängt sich unruhig um unsere Unterkunft - nämlich um eine Holzbude auf Rädern. Plötzlich schlägt ein Blitz neben unserer Bude ein! Er erschlägt ... nein, keinen Sonderumsiedler, um den es eh nicht schade gewesen wäre! Der Blitz erschlägt das beste Pferd der Brigade. So ein Jammer! Den Verlust des Pferdes bedauern wir alle sehr. Andererseits sind die Arbeiter froh, endlich mal wieder ein Stück Fleisch zwischen die Zähne zu bekommen. An dem besagten Tag haben wir nicht mehr gearbeitet: Es ist zu nass. Satt und faul liegen wir in unserer Bude auf den Pritschen und genießen die Ruhepause. »Wer sorgt da für Gerechtigkeit?... auch für die Geringsten! Ist das 151
nicht ein Wunder?« Vielleicht nicht in diesen Worten aber in diesem Sinne fließen meine dankbaren Gedanken. Wahrscheinlich nicht nur meine ... Als ich in die Gemüse-Brigade der Kolchose geschickt werde, sagt Mutter in der Früh: »Wenn du heute aus der Arbeit ein paar Kartoffeln mitbringen könntest, wäre schön. Ich habe gar nichts für Oma. - Gekochten Weizen kann sie nicht essen.« Unsere Brigade muss die Saatkartoffeln sortieren, die brauchbaren auslesen und für den Frühling vorbereiten. Draußen liegt noch Schnee. Im Keller ist es kalt und nass. Die Arbeiterinnen haben wattierte Hosen und Jacken an. Wir knien auf einem Brett vor einem riesigen Kartoffelhaufen. Ich habe ein kleines Messer in meiner Tasche. Damit schneide ich die matschigen Kartoffeln und esse die weißen Scheiben, die nach dem Schälen übrig bleiben. Die Kartoffeln schmecken süß, denn sie waren gefroren und sind aufgetaut. Hauptsache, ich bekomme etwas in den Magen. »Aber wie schaffe ich es, Kartoffeln mitzunehmen?«, dieser Gedanke quält mich die ganze Zeit. Bald merke ich: Die Frauen werden gegen Mittag immer dicker. Als wir dann nach Hause gehen, haben sie auch in ihren Eimern Kartoffeln. Der Heimweg führt uns über den Dorfplatz. Und da steht plötzlich unser Brigadier vor uns. Es gibt kein Entkommen! »Na, was haben wir denn da?! Weiblein - Babonjki, schüttet mal aus!«, sagt er. Die Frauen folgen seiner Aufforderung und leeren ihre Eimer aus, indem sie die Kartoffeln alle auf einen Haufen schütten. »Und du?«, dreht er sich zu mir um. Ich halte ihm schweigend meinen leeren Eimer entgegen. Der Mann stutzt, legt seine Stirn in Falten und sagt: »Räume die Kartoffeln auf! Die können ja nicht hier liegen bleiben! Ordnung muss sein! Nimm sie mit nach Hause!« Dass die Frauen alle außergewöhnlich dick sind, merkt er nicht. Einen vollen Eimer Kartoffeln bringe ich nach Hause! Mutter freut sich. * * * 152
An eine Frühlingsnacht in Bogorodka erinnere ich mich so deutlich, als wäre es gestern gewesen. Eine sehr klare Mondnacht. Der Vollmond steht über unseren Köpfen. Mein Cousin Jakob und ich pflügen ein Stück Neuland um. Es ist unser künftiger Kartoffelgarten. Dieses Stückchen Land hat uns die Verwaltung der Kolchose zugeteilt. Warum in der Nacht pflügen? Weil wir und die Ochsen am Tag auf den Feldern der Kolchose gebraucht werden. Das Steppengras ist sehr dicht und der Pflug kann die Scholle kaum umdrehen. Ans Zerkleinern ist nicht zu denken! Der Pflug biegt die Scholle einfach mit dem Gras nach unten. Saatkartoffeln haben wir keine. Es gibt nur Kartoffelschalen, die unsere Tante Liese im Winter, in Asche verpackt, für den Frühling aufgehoben hat. Unter die Grasschollen legen wir also diese Schalen. Unsere Hoffnung ist sehr groß! Wir hoffen fast auf ein Wunder. Ebenso groß ist im Herbst die Überraschung. - Wir ernten viele große, schöne Kartoffeln. Unsere Arbeit und das Hoffen haben sich gelohnt! Nur der Mond am Himmel ist Zeuge, wie zwei deutsche Kinder in der Verbannung im fernen Kasachstan ein Stückchen Neuland erschlossen haben. * * * Winter 1947/48. Seit Tagen tobt ein Schneesturm bei starkem Frost. Am Abend meint Mutter: »Bei diesem Wetter setzt ein guter Wirt nicht einmal einen Hund vor die Tür, geschweige denn einen Menschen! Wer jetzt unterwegs ist - ist verloren.« Plötzlich klopft es an der Tür. - Unser Bruder Bernhard stolpert herein. Von Atbasar bis Bogorodka, fast 100 Kilometer hat er bei diesem Wetter zu Fuß zurückgelegt. Wenn das kein Wunder ist! Mein Bruder ist seit seinem 3. Lebensjahr nach überstandener Hirnhautentzündung taub. In einer Taubstummen-Schule hat er nicht nur 10 Klassen absolviert, sondern gleichzeitig auch das Tischler- und Böttcherhandwerk erlernt. Er war mit uns im Warthegau. Bei Kriegsende wurde er, trotz seiner Taubheit, von den Russen abgeholt. Wir verloren ihn aus den Augen. 153
Als er jetzt so unerwartet wieder auftaucht, ist unsere Freude sehr groß. Bernhard wird vom Vorstand der Kolchose sofort in die Tischlerei geschickt, wo er sämtliche Fahrzeuge der Kolchose wie Wagen und Schlitten repariert. Für seine Arbeit wird er mit Naturalien entlohnt und wir hungern nicht mehr so dramatisch. Als im Kreiszentrum Balkaschino eine Molkerei gebaut wird und jede Kolchose für geraume Zeit Bauarbeiter stellen muss, werden meine älteren Geschwister - Bernhard und Ellfriede - dorthin geschickt. Nach einiger Zeit holen sie auch die Mutter und uns, die jüngeren drei, nach Balkaschino. So einfach geht das nicht, denn wir sind ja unter der Kommandantur. Deshalb organisieren die Geschwister eine Flucht. Im Winter kommt in der Nacht ein Lastauto von der Baustelle, all unsere Habseligkeiten laden wir auf und fahren ins Kreiszentrum. Meine jüngeren Schwestern und ich bleiben bei einer Familie, wo für uns schon ein Zimmer gemietet ist. Mutter und die großen zwei melden sich sofort beim Kommandanten. Der schimpft und schäumt vor Wut, weil ihm gleich eine ganze Familie »durch die Lappen« gegangen ist. »Glaubt ja nicht, dass ihr uns irgendwann mal entkommt! Mütterchen Russland ist zwar groß, aber unsere Feinde finden nirgendwo Unterschlupf. Wir werden euch im Auge behalten, solange ihr lebt!« Diese seine Drohung hat er wahr gemacht, allerdings mit der Einschränkung: »solange ihr in der Sowjetunion lebt.« Seine andere Drohung, uns in den Kolchos zurückzuschicken, schwebt noch lange über unseren Köpfen. * * * In Balkaschino trifft unsere Familie ein neues großes Unglück mein großer Bruder Bernhard wird sehr krank. Über die Ursachen und den Verlauf dieser Krankheit und seinen frühen Tod könnte ein ganzer Kriminalroman geschrieben werden. Das passt aber nicht ins Konzept dieses meines Berichtes. Hier nur so viel: Durch die 154
Krankheit meines Bruders ist die materielle Lage der Familie katastrophal. Rette sich, wer kann! Um nicht zu verhungern, muss jeder sehen, wo er bleibt. Meine jüngere Schwester Siegrid, die stets Klassenbeste ist, bekommt das Abschlusszeugnis für die siebte Klasse mit einer »Lobesurkunde« und geht, ohne Aufnahmeprüfungen zur Ausbildung in die LBA im Gebiet Kokschetau. Als ein Jahr später auch unsere Kleinste, nach bestandenen Aufnahmeprüfungen, ihrer Schwester folgt, schärft Mutter ihnen ein: »Haltet zusammen! Gemeinsam könnt ihr es schaffen. Siegrid, pass auf die Kleine auf und hilf ihr, wo du kannst. Und du, Herta, sollst deiner Schwester gehorchen.« Die Mädchen zählen gerade erst 17 und 15 Lenze. Auch ich steuere nach der siebten Klasse eine Berufsausbildung an. Mit meinem Abschlusszeugnis in der Tasche besuche ich den Kommandanten und erkundige mich nach den Möglichkeiten. »Wohin dürfte ich denn fahren? Welchen Beruf könnte ich denn ergreifen?« Seine Antwort klingt sehr freundlich: »Wohin du willst, Mädchen, wohin du willst - entweder nach Akmolinsk oder nach Eska.« »Ich versuche es in Akmolinsk.« Er stellt mir die Erlaubnis aus, für Bildungszwecke Balkaschino zu verlassen und die Gebietsstadt, die später Zelinograd und heutzutage Astana heißt, aufzusuchen. Hier nehme ich an den Aufnahmeprüfungen in der Schule für Krankenschwestern teil. Obwohl ich die Prüfungen mit gutem Erfolg bestehe, werde ich nicht aufgenommen. - Aufgenommen werden nur Töchter des Landes und Kinder der Kriegsopfer, auch wenn sie kein großes Wissen nachweisen können. Enttäuscht und um eine wichtige Erfahrung reicher kehre ich nach Balkaschino zurück. Hier besuche ich die achte, neunte und zehnte Klasse, während Mutter sich um den kranken Bernhard kümmert und unseren »Haushalt« führt. Meine älteste Schwester ist die einzige Verdienerin und muss uns alle ernähren. Ich bin unterernährt und sehe in meiner körperlichen Entwicklung zurückgeblieben aus. Ich schätze, es sind die Folgen der außergewöhnlichen Belastung, der ich in der Kolchose zwischen meinem 155
12. und 15. Lebensjahr ausgesetzt war. Wie dem auch sei - in den Jahren meiner frühen Jugend bin ich sehr oft krank, bin körperlich nicht belastbar und mache das Einzige, was ich kann - ich lerne. In der Schule passieren ein paar Kuriositäten. Im Malunterricht fordert man uns auf, als Hausaufgabe ein Bild zu malen. Das Thema darf jeder selbst wählen, es soll dann im Unterricht erläutert oder interpretiert werden. Unter Mutters Papiersachen finde ich eine lustige Postkarte, die zufällig aus dem Warthegau »mitgekommen« ist. Das Motiv gefällt mir sehr und ich male es ab: Da sitzt ein Bär und hobelt an der Tür eines Schränkchens. Vor ihm an der Wand - ein Porträt eines schönen Mädchens. Verliebt lächelnd, schaut der Bär auf das Mädchen, während er hobelt und hobelt und hobelt. Die halbe Tür hat er schon schräg abgehobelt ... Mein Kunstwerk gefällt mir sehr! Meine Interpretation: Man solle sich bei der Arbeit nicht ablenken lassen. Meinem Mallehrer dagegen gefällt mein Gemälde überhaupt nicht: Er schleppt mich mitsamt meiner Arbeit zum Schuldirektor und behauptet, mein Bild habe einen politischen Hintergrund und sei antisowjetisch. Bis heute habe ich seine Logik nicht begriffen! Ein anderes Ereignis. Wir feiern in der Schule den Neujahrsmaskenball. Da taucht unter den Masken plötzlich ein Grenzposten auf. - Eine imposante Gruppe aus drei Personen. Ein Pfosten und neben ihm ein Grenzsoldat mit Schäferhund an der Leine. Der Pfosten, schwarz-weiß schräg gestreift, schreitet majestätisch dahin. Neben ihm der fesche Soldat in Militäruniform: Mantel, Pelzmütze mit rotem Stern und sogar einem richtigen Gewähr über der Schulter. Der Schäferhund - in selbst gebastelter Hundemaske, Pelzjacke und Filzstiefeln - zerrt zornig an der Leine. Diese Maskengruppe wird von allen Seiten bewundert. Lehrer und Schüler geben sich Mühe zu erraten, wer wohl in diesem Kostüm steckt. Als man erkannt hat, wer der Soldat ist - oh, Schreck! - wird die Gruppe von zwei Lehrern aus dem Saal geführt und »ward nie mehr gesehen«. So eine Frechheit! Eine Deutsche will die Grenzen von Mütterchen Russland bewachen! Meine russischen Freunde Mascha - der Pfosten - und Arkascha - der Wach156
hund - müssen mit mir leiden. Der Schülerjury, die dieser Maskengruppe unbedingt den ersten Preis geben will, erklärt der Direktor, das Kostüm sei fehlerhaft gewesen, denn »unsere Pfosten an der sowjetischen Grenze sind niemals schwarz-weiß, sondern rot-weiß«. Josef Stalin lebt zu dieser Zeit nicht mehr, sonst, fürchte ich, hätte man andere Argumente gefunden und ganz andere Geschütze aufgefahren. So kommen wir ungeschoren davon. Ich bestehe die Abschlussprüfungen und bekomme das Zeugnis der mittleren Reife, das auch gleichzeitig die allgemeine Hochschulreife bedeutet. * * * Jetzt werde auch ich Schülerin der Lehrerbildungsanstalt in Eska, wo meine jüngeren Schwestern schon seit Jahren sind. Weil ich schon die 10. Klasse abgeschlossen habe, kann ich hier die Sportabteilung in zwei Jahren absolvieren. Meine ältere Schwester heiratet einen Deutschen und zieht zu ihrem Ehemann in eine nahe gelegene Kolchose. In Eska mieten wir ein Zimmer bei einer russischen Babuschka und nehmen Mutter und Bernhard auch mit. Wir drei Studierenden bekommen Stipendien, gemeinsam etwa 600 Rubel alter Währung im Monat. Davon bezahlen wir die Miete und müssen zu fünft (!) davon leben, denn weder Mutter noch der kranke Bruder bekommen Rente. Ein Eimer Kartoffeln kostet 20 Rubel. Unser Einkommen ist zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Es ist das Schuljahr 1955/56, allgemein erholt sich alles im Lande, nur bei uns nimmt die Not kein Ende. Wir gehen in den Unterricht buchstäblich in Lumpen gekleidet. Ich glaube, meinen jüngeren Schwestern macht das nichts aus. Aufgeschlossen und fröhlich nehmen sie in der LBA an der Laienkunst, an vielen Sportsektionen, an Leserkonferenzen, Ausflügen und dergleichen teil. Sie haben sich auch einer christlichen Gemeinde in der Stadt angeschlossen, wohin ab sofort auch Mutter und ich ihnen folgen. Sie sind beide hier 157
in der LBA dem Komsomol - dem kommunistischen Jugendverband - beigetreten. Ich selbst bin schon seit der 9. Klasse im Komsomol. Ich verstehe meine Schwestern nicht ganz, ich habe Hemmungen, in meiner Lumpenkleidung unter die Leute zu gehen. Ich schaue neidisch auf andere Mädchen, die sich zu dieser Zeit schon vieles leisten können, sich schön und mit Geschmack kleiden. Dass wir ein richtiges Lumpenpack sind, muss auch Außenstehenden aufgefallen sein. Eines Morgens liegt vor der Tür unserer Hütte ein Stück Stoff, so groß, dass jede von uns daraus ein Sommerkleid mit kurzen Ärmeln bekommt - dunkelgrün mit feinen weißen Blümchen. Der Spender ist bis jetzt unbekannt geblieben. Ich bedanke mich bei ihm auf diesem Wege ganz herzlich! Möge er sich bei mir melden! Als ich zu Hause meine Bedenken äußere über unsere Gottesdienstbesuche, erwidert Siegrid recht sicher: »Wovor hast du Angst? Schon viele LBA-Schüler sind diesen Weg gegangen. Wir sind nicht die ersten. Natürlich darf man nicht jedermann auf die Nase binden, dass wir glauben und Gottesdienste besuchen. Ansonsten ist Gewissensfreiheit, sagen die Lehrer.« Mir ist das nicht geheuer, mir ist angst und bange! Obwohl, angenehm ist es schon, einen Zufluchtsort zu haben; nicht mehr so ganz alleine zu sein; sich im Kreise der Gleichgesinnten zu wissen. Sogar unsere Mutter lebt seelisch wieder auf und scheint am Leben ein wenig Freude zu haben: Sie organisiert hier in der Gemeinde einen Chor, nach allen Regeln der Singkunst. Es wurde hier natürlich auch vorher viel und gern gesungen. Aber Gesangbücher gibt es nicht. Die wenigsten Sänger können die Texte der Lieder auswendig. Von den Regeln des mehrstimmigen Chorgesangs ist da keine Spur. Mit großer Freude macht sich meine Mutter Justine Neufeld, geborene Dück nun daran, einen richtigen Chor zu gründen. Sie hat während ihrer Ausbildung zur Grundschullehrerin in der Ukraine das Dirigieren gelernt. Ihre Stimme wurde auch im Kirchenchor gezogen und gefördert. Später hat sie einen Chor der Schulkinder geleitet. Jetzt führt sie als unabdingba158
re Voraussetzungen für alle Sänger folgende Regeln ein: Jeder Sänger muss sein eigenes Liederheft haben, in dem der vollständige Text des jeweiligen Liedes enthalten ist. Sie testet die Stimmen und teilt die Sänger in drei Gruppen ein. Sie schreibt die Melodie für jede Gruppe in Ziffern auf und übt sie getrennt ein. Erst dann übt der gesamte Chor gemeinsam. Es sind bereits etwa 25 meist junge Sänger. Viele von ihnen sind LBA-Schüler. Mutter, klein und schmächtig, steht vor dem Chor auf einer kleinen Bank und hat einen Bleistift statt Dirigentenstab in der Hand. Ich erinnere mich da zum Beispiel an folgende Lieder: »Dort, dort in jener Ferne liegt das Land meiner Ruh«, »Ich geh den schmalen Lebensweg, den Jesus selbst gebannt«, »Vertrau auf Gott, wenn Stürme toben«, »Sind die Tage trüb und dunkel«, »Jesus nimmt die Sünder an«, »Ich will dich mit den Augen leiten«, »Von meinem Jesu will ich singen« und viele andere mehr. Der Chor übt jetzt regelmäßig einmal in der Woche und bekommt immer mehr Teilnehmer. Zur Einstimmung singen wir zu Beginn »Öffnet weit die Türen, macht die Fenster rein! Lasst die liebe Sonne ein!« Das klingt fast wie eine Hymne zur Freude über Gottes schöne Welt. Zum Abschluss jubeln wir dann: »Schnell eilt die Zeit. Macht euch bereit! Denn wir wollen jetzt voneinander gehn und sagen drum: auf Wiedersehn! Lebt wohl, lebt wohl, auf Wieder-sehn!« In der LBA spielen Siegrid und ich im Streichorchester Mandoline. Alle drei singen wir im Chor der LBA-Schüler, der vom verdienten Dirigenten der Ukraine Pjotr A. Bojko geleitet wird. Der hat inzwischen die guten Stimmen unserer Herta und ihrer Freundin Elisabeth entdeckt, die jetzt in dem großen Schulchor die Solopartie singen. Obwohl wir immer noch hungern und in Lumpen gekleidet sind, scheint uns der Himmel wolkenlos zu sein. Warum sollten wir gesund und jung - nicht jubeln, Gott preisen und danken?! Wo doch das Schlimmste überstanden ist. Im Sommer 1956 hat Siegrid die LBA mit sehr gutem Erfolg abgeschlossen und bekommt ein Diplom mit Auszeichnung, das ihr das 159
Recht gibt, ohne Aufnahmeprüfungen ein Hochschulstudium in entsprechender Fachrichtung anzutreten. Das war bis jetzt auch ihr Ziel und Wunsch und Streben. Doch stattdessen geht sie in ein kleines Kasachendorf und unterrichtet dort Russisch und Deutsch. Das Gehalt eines Lehrers ist zu jener Zeit äußerst gering und doch gibt sie einen Teil ihres Geldes unserer Mutter ab, um den Unterhalt des kranken Bruders zu unterstützen und den Studienabschluss ihrer Schwestern zu sichern. * * * Der Blitz schlägt ein! Aus heiterem Himmel und ganz unerwartet steht plötzlich der Name meiner jüngsten Schwester Herta in der örtlichen Zeitung. Es ist März 1957 - weniger als drei Monate bis zu ihrem und meinem Staatsexamen. Sie erzählt zu Hause der Mutter und mir, wie man sie heute gleich zum Schuldirektor vorgeladen und anschließend in einer Klassenversammlung durch den Fleischwolf gedreht hat. »Was soll ich tun?«, fragt sie die Mutter und mich. »Was habe ich verbrochen? Was habe ich falsch gemacht?« Wir sind ratlos und können ihr nicht helfen. Im Zeitungsartikel stand, Herta Neufeld sei eine Sektiererin! Sie glaube an Gott und besuche Gottesdienste! So einer könne die Erziehung der Kinder nicht anvertraut werden! Ab nun steht sie täglich unter Beschuss. Muss Rede und Antwort stehen. Ich absolviere mein aktives Praktikum in einer dritten Klasse der Mittelschule. Für die letzte Stunde meines Praktikums bekomme ich den Auftrag, mit den Kindern über Gott zu sprechen. Die Direktoren der LBA und der Schule wollen testen, wie ich mich verhalten werde. Stellen Sie sich vor, wie ich mich an dem betreffenden Morgen gefühlt habe. Vorbereitet habe ich mich auf diese letzte Stunde nicht. Ich habe mich ganz und gar auf den Höchsten verlassen. Nur eine Frage spukt die ganze Zeit in meinem Kopf herum: »Wie wird Gott wohl diese Sache regeln? Wie?« 160
Die Stunden verlaufen an diesem Tag ganz normal - die erste, die zweite. Ich beginne zu zappeln, zu zittern. Die letzte Pause ... Gleich beginnt die letzte Stunde und Gott greift immer noch nicht ein! Plötzlich - in der letzten Minute vor dem Klingelzeichen! - ein Tumult auf dem Flur - ein freudiges »Hurra!« - Die Klassentür wird aufgestoßen: »Die letzte Stunde fällt aus! Die letzte Stunde fällt aus! Hurra!« Eine offizielle Erklärung gibt es dafür nicht. Ich glaube, den Grund zu kennen! »Danke!«, sage ich schmunzelnd meinem unsichtbaren Gesprächspartner. »Danke! Auf dich kann man sich verlassen. Bist wirklich ein Fels in der Brandung!« In der LBA weiß ich meiner Schwester nicht zu helfen. Mich betrifft es vorerst nicht direkt, trotzdem fühle ich mich verantwortlich. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen und gehe wie üblich zum Unterricht. Etwa eine Woche später, während einer Orchesterprobe, reicht mir jemand eine Zeitung mit den Worten: »Lies mal!« Ich erstarre vor Schreck: »Jetzt bin auch ich dran!« Jetzt berichtet auch in dieser Zeitung ein großer Artikel über die Übeltaten der Neufeld-Schwestern: »Sie besuchen deutsche Gottesdienste, singen in einem deutschen Chor, glauben sogar an Gott ... Sie wollten sich in unser Bildungssystem einschleichen, um die Seelen unserer Kinder zu zerstören. Gerade noch rechtzeitig wurden diese Feinde entlarvt!« Ich zittere am ganzen Leibe. Die Noten laufen vor meinen Augen auseinander wie kleine Käfer. Übelkeit steigt in mir hoch. Ich befürchte, mich übergeben zu müssen, und verlasse fluchtartig den Raum. Die LBA wirkt wie ein aufgeschreckter Bienenschwarm. Offizielle Besucher aus den Kreis- und Gebietsbehörden geben sich die Klinke in die Hand. Die Angelegenheit wird breitgetreten und zieht immer größere Kreise. Diverse Versammlungen auf verschiedenen Ebenen werden durchgeführt, im Laufe derer noch drei Schülerinnen sich als gläubige Christen zu erkennen geben. Darüber will ich mich hier nicht weiter äußern, denn sie werden sich vielleicht auch 161
an diesem Projekt beteiligen und ihre Erinnerungen niederschreiben. Die LBA-Schüler werden aufgefordert, sich an der »Umerziehung der Sektierer« aktiv zu beteiligen. Es erscheint eine Wandzeitung, die in karikierter Form über die »rückständigen und unterentwikkelten Sektierer« berichtet. Da sind dann schon alle Namen komplett aufgeführt. Während der offenen Versammlung des kommunistischen Jugendverbandes müssen wir ausführlich erklären, wie wir glauben, an wen und warum. Wir antworten so gut es geht und geben unsere Verbrechen zu: »Ja, wir besuchen deutsche Gottesdienste. Ja, wir singen in einem deutschen Chor christliche Hymnen.« Da steht Petja Dronkin - ein Russe aus Hertas Klasse - auf, reißt die Wandzeitung herunter, zerknüllt sie, wirft sie in die Ecke und verlässt wortlos die Versammlung. - Natürlich gehen all diese Versammlungen nicht nur uns mächtig auf die Nerven, sondern auch den anderen Schülern. Sie haben ganz andere Interessen und Sorgen, zumal die Prüfungszeit näher rückt. * * * Ich muß die LBA ohne Abschluss verlassen, da ich zum Staatsexamen nicht zugelassen werde. So stehe ich also an der Schwelle meines selbstständigen Lebens mit einem Nichts in der Hand. Herta hat diesen ganzen Druck nicht ausgehalten und ist krank geworden. Sie hat die Stadt verlassen und ist zur verheirateten Schwester in den Kolchos gefahren. Ich bin sehr einsam und trage die Verantwortung für Mutter und den kranken Bruder. Wie soll es weitergehen? Wo soll und kann ich mir Hilfe und Rat holen? Ich sehe keinen Ausweg. Die Gemeinde hält sich mehr als bedeckt! Ich fühle mich von ihr buchstäblich fallen gelassen. Da entschließe ich mich zu einem guten Bekannten zu gehen und ihn um Rat zu fragen. In der LBA, die er vor einem Jahr abgeschlossen hat, haben wir gemeinsam im Orchester gespielt. Und in der Gemeinde singen wir gemeinsam im Chor. Er ist in der 162
Gemeinde ziemlich aktiv in der Jugendarbeit und hat da eine Musikgruppe gegründet. Bei ihm also klopfe ich eines Morgens an. Er nimmt gerade sein Frühstück ein und lässt sich durch meine Anwesenheit nicht stören. Das ersehnte Gespräch kommt nicht zustande. Ein offener und ehrlicher Austausch, den ich erhoffe, findet nicht statt. Er geht auf meine Fragen zum brennenden Thema nicht ein. Ich verstehe die Welt nicht mehr! Wir sind doch Gleichgesinnte?! Wir sitzen doch im gleichen Boot?! Jetzt beschleichen mich Zweifel: Ist das wirklich so? Oder ist das nur Schein? Auf dem Heimweg überfällt mich ein ungutes Gefühl ... Etwas stimmt nicht! Meine Gedanken überschlagen sich. Plötzlich sehe ich ganz klar, als würden mir Schuppen von den Augen fallen. Die Gemeinde wird von innen zerstört, nicht von außen! Diese Zerstörung ist bereits in vollem Gange! Begonnen hat sie, von den meisten unbemerkt, etwa vor einem halben Jahr, als etliche Familien neu hinzugereist sind. Wie konnte ich nur so blind sein und vorher nichts bemerken? Vorher war diese Gemeinde ein Sammelsurium aller deutschen Gläubigen verschiedener Konfessionen. Wir hatten überlebt und hier eine Heimat im Glauben gefunden. Alle gemeinsam, in echter christlicher Liebe, jubelten wir Gott - unserem Retter in der Not - unseren Dank entgegen. In echter Freundschaft zueinander haben wir die Jugendlichen - mehrere Privathäuser aus Stroh-Lehm-ziegeln in unserer Freizeit gebaut. Darunter auch für uns. So bekamen Mutter und der kranke Bruder ein sicheres Dach über dem Kopf. Bei allen Helfern in dieser Sache bedanke ich mich hier recht herzlich. Das alles ist den Behörden ein Dorn im Auge. Sie suchen und finden »Christen«, die diese Idylle zerstören. Jetzt bleibt von Freundschaft und Zusammenhalt keine Spur mehr. Als mein Bruder Bernhard wieder nach Aleksejewka in die Nervenklinik gebracht werden muss, sollen zwei Begleitpersonen mitfahren. Aber woher nehmen? In meiner Not bitte ich die Nachbarn, die drei erwachsene Söhne haben und zur Gemeinde gehören. Auf meine Bitte höre ich nur ein trockenes »Nein«. - Keine Anteilnahme, keine Erklärung. Nein, sie begleiten den Kranken nicht. Statt163
dessen tun ganz fremde, unbekannte Jungs - Schüler der Fahrschule - dem Kranken diesen Gefallen. Vergelts ihnen Gott! Die Brüder in der Gemeinde streiten miteinander um Posten und Einfluß. Sie streiten darum, ob es nun eine Baptisten- oder Mennonitengemeinde ist. Sie streiten, ob man die Gemeinde registrieren lassen soll oder nicht. Sie beurteilen, wer den »richtigen Glauben und die richtige Taufe« hat und wer die falsche. Nein, mit meinen Sorgen kann ich da wirklich keinem kommen. Die Not der Mitmenschen ist diesen Herren gleichgültig. In ihrer Zerstörungslust sind ihnen alle Mittel recht. Jeder von ihnen will Prediger und Ältester der Gemeinde sein und die Spielregeln bestimmen. Dabei schaffen sie Abhängigkeit und manipulieren die Mitmenschen. Es sind Wölfe im Schafspelz! Sie predigen Wasser und trinken Wein. Diese Art von Gemeinde ist mir zuwider. Es ist nicht mehr der Zufluchtsort für Gestrandete. Es ist keine geistige Heimat mehr für Deutsche verschiedener Konfessionen. Es ist auch keine Gemeinschaft von Gleichgesinnten mehr. Ich verlasse diesen Ort, so schnell ich kann, und fahre so weit weg, wie es nur geht. Meine zwei jüngeren Schwestern werden hier getauft. Aber bald verlässt auch die Jüngste diesen Ort. Nur Mutter und Siegrid bleiben hier als Gemeindemitglieder zurück. Auffallend ist: Auch die besagten Familien verlassen nach wenigen Jahren wieder diesen Ort. Woher sie gekommen, wohin sie gegangen - ist mir unbekannt. Wer Augen hat, der sehe! Und wer denken kann, der zähle zwei und zwei zusammen. Scheinbar sind sie - nach erfüllter Aufgabe - jetzt unterwegs zu einem neuen Einsatzort, um sich weitere »dreißig Silberlinge« zu verdienen. Die Ereignisse vom Frühjahr 57, die sich in der LBA und in der Gemeinde abgespielt haben, sind Meilensteine in meinem Leben. Sie haben nicht nur meinen weiteren Lebensweg bestimmt, sondern auch maßgeblich meinen Charakter geprägt. Ich kann bis jetzt das Wort Gottes in Russisch nicht ertragen. Mein ganzer Körper verspannt sich. Ich zittere, sehe mich verstohlen um und überlege, wer der Anwesenden mich verraten wird und welche schlimmen 164
Folgen zu erwarten seien. Ich vertraue keinem mehr, weder Bekannten, Freunden, noch Verwandten. Ich werde zur Einzelgängerin und suche bei keinem mehr Trost oder Rat. Nur zu meinem unsichtbaren Vertrauten, der mir schon so oft seine Anwesenheit und sein Interesse an mir bewiesen hat, behalte ich engen Kontakt. Dafür brauche ich keine Vermittler. * * * Nach zwei Jahren meiner Abwesenheit kehre ich im März 1959 in diese Stadt zurück und werde Sekretärin bei der russischen Internatsschule der Station »Kurort Borowoje«. Diese Schule ist ein Experiment für Kinder der Eisenbahner, die weit verstreut der Bahn entlang leben. Diese Stelle behalte ich dreieinhalb Jahre lang. Gleichzeitig bekomme ich im Fernstudium den Abschluss einer Bibliothekarin mittlerer Qualifikation. Bei der Abschlussfeier entschuldigt sich der Direktor des Technikums bei mir ganz diskret dafür, dass nicht ich »als beste Absolventin des Jahres« ausgezeichnet werde, sondern eine ältere Kasachin. Ich habe damit keine Probleme. Ich sehne mich nicht nach Auszeichnungen und Anerkennung. Hauptsache, man lässt mich in Ruhe und ich bekomme mein Diplom. Mein Leben normalisiert sich. Ich wohne zu Hause mit Mutter und Bruder und habe eine gute Strecke bis zu meinem Arbeitsplatz zu gehen, denn einen regelmäßigen Busverkehr gibt es noch nicht. Eines Tages kommt ein Kasache zu mir ins Arbeitszimmer und stellt sich als Direktor der Kasachenschule vor. Er erörtert mir sein Problem. Seine Schule soll zu einem Internat für die Kinder der Aule kleiner Hirtendörfer - umfunktioniert und ausgebaut werden. Er bittet mich, ihm ausführlich zu erklären, wie ich hier meine Arbeit organisiert habe. Welche Aufgaben ich hier übernommen habe und wie mein Tagesablauf sei. Ich bin bereit, ihm jede Frage zu beantworten. Er hospitiert bei mir drei Tage, schaut mir genau auf die Finger, folgt mir auf Schritt und Tritt - er nimmt die Sache ernst. 165
Zum Schluss bietet er mir die Stelle der Chefsekretärin in seiner Schule an. Als ich ihn schweigend ansehe und kurz überlege, fügt er schnell hinzu: »Da Sie ja in der Nähe meiner Schule wohnen, ist es für Sie doch vorteilhaft?« Ich zögere mit der Antwort und überlege seinen Vorschlag. Verlokkend klingt es schon, aber, aber, aber ... »Ich biete Ihnen auch den Deutschunterricht in den fünften bis siebten Klassen an. Sie kriegen so viele Stunden, wie Sie wollen. Auch mit der Bezahlung werden Sie zufrieden sein!« Er wirbt so richtig um mich, es scheint ihm ernst zu sein. »Sie haben sich über mich aber gründlich informiert!«, lache ich ihn befreiend an. »Dann werden Sie wohl auch ahnen, was mich zurückhält, Ihrem Vorschlag freudig zuzustimmen? Ich nehme Ihr Angebot unter einer Bedingung an: Sie stellen mich nicht auf eigene Faust ein, sondern auf Befehl des OblONO und RajONO - der Gebiets- und Kreisbehörden für Volksbildung. Und das, noch bevor ich hier kündige. Ich kann diesen Arbeitsplatz nicht aufgeben, bevor ich ganz sicher bin, einen neuen zu bekommen!« »Kein Problem! Kein Problem!«, strahlt er mich zufrieden an. Und es gibt da wirklich keine Probleme. Vom September 1962 bis Juli 1977 bin ich in dieser Schule als Deutschlehrerin und die ersten Jahre auch als Sekretärin beschäftigt. Als dann am pädagogischen Institut in Kokschetau eine neue Fachrichtung eröffnet wird, und zwar Germanistik - Deutsche Sprache und Literatur für deutsche Schulen - werde ich begeisterte Fernstudentin dieser Fakultät. Das Studium macht mir große Freude und ich bekomme ohne jegliche Probleme 1969 mein Lehrerdiplom. Das war mein sehr langer Weg zum Beruf des Lehrers, der schon vor 24 Jahren im Warthegau begonnen hatte. Da habe ich in der Stadt Exin schon im Schuljahr 1944-45 eine deutsche LBA besucht. An deutschen Schulen habe ich nicht unterrichtet, da es sie damals in der Stadt Eska nicht gab. Ob es sie anderswo gegeben hat, kann ich nicht sagen. 166
Jetzt widme ich mich ganz dem Deutschunterricht und überlasse die Aufgaben der Sekretärin einer neuen Mitarbeiterin deutscher Abstammung, wie ich. Diese Jahre an der Kasachenschule sind meine schönsten und fruchtbarsten Lehrerjahre! * * * Wir schreiben Mai 1969, ich bin schon sechs Jahre an dieser Schule. Da wendet sich der Schuldirektor mit folgenden Worten an mich: »Martha Petrowna, bitte entlassen Sie morgen die Schüler nach der vierten Stunde nicht aus dem Klassenzimmer.« »Wieso?«, frage ich. »Soll ich eine fünfte Stunde anhängen?« »Nein. Ihr Bruder kommt zu Besuch«, sagt er. »Es sind eigentlich mehrere Brüder«, ergänzt er schmunzelnd, ohne weitere Erklärung. »Ich habe keinen Bruder und schon gar keine Brüder, die mich hier besuchen könnten«, meine ich. Am nächsten Tag halte ich die Kinder nach dem Unterricht im Deutsch-Kabinett zusammen. - Wir warten. Als sich nichts tut, beginnen wir deutsche Lieder zu singen. Das können meine Schüler besonders gut und singen auch sehr gern. Wie immer beginnen wir mit den »kleinen« Liedern, wie »Alle meine Entchen«, »Fuchs, du hast die Gans gestohlen«, »Ein Männlein steht im Walde« und dergleichen. Da klopft es an der Tür, etliche Herren treten ein und nehmen in den hinteren Reihen Platz. Uns wird angedeutet, weiterzumachen. Unser Repertoire an Liedern, die wir im Laufe der Jahre gelernt haben, ist fast unerschöpflich. Es geht weiter mit dem »ABC-Lied«, »Auf einem Baum der Kuckuck saß«, »Die Katz sitzt auf der Lauer«. Dann kommen die »größeren« Lieder dran: »Alle Vögel sind schon da«, »Sah ein Knab‘ ein Röslein stehn«, »Mein Vater war ein Wandersmann«. Die anwesenden Herren loben meine Schüler und bedanken sich bei ihnen in gutem Deutsch für den schönen Vortrag. Die Kinder sind stolz und verabschieden sich artig auch auf Deutsch, als ich sie endlich entlasse. Die Herren stellen sich als eine Gruppe von Lehrern aus der Deut167
schen Demokratischen Republik vor. Begleitet wird diese Delegation - welch eine Überraschung! - von meinem Cousin Eugen Warkentin, der als Korrespondent der deutschen Zeitung »Freundschaft« in Zelinograd tätig ist. - Daher die Ankündigung meines Direktors, mein »Bruder ... nein, mehrere Brüder« kämen zu Besuch. Während der folgenden Gespräche fühle ich mich unbehaglich, als würde ich eingesponnen. Ich bewege mich, sehe mich um, schaue nach rechts, nach links ... Und stelle fest: Ganz nahe an mir dran, hinter oder neben mir steht unsere neue Sekretärin. Mir wird heiß und kalt: »Sie ist beauftragt ...«, schießt es mir durch den Kopf. »Kein persönliches Wort soll mit den deutschen Brüdern gesprochen werden.« Deutschunterricht - ist das einzige Thema. Auch mit meinem Cousin kommt es zu keinem Privatgespräch unter vier Augen, denn aus Zeitmangel drängt er zum Aufbruch. »Nein, nein«, geht unser Schuldirektor lachend dazwischen. »So leicht kommen Sie mir nicht davon! Ich bitte sehr für eine Minute in unseren Speisesaal - da gibt es eine kleine Stärkung.« Die Delegierten lachen, unterhalten sich lebhaft. Der eine meint: »Mal sehen, wie lang eine kasachische Minute ist.« Zur allgemeinen Heiterkeit werden es dann zwei volle Stunden, was die Gäste dem Direktor versuchen klar zu machen. Er ist gut gelaunt und ganz entspannt. »Warum immer sputen, eilen, hasten? Eile mit Weile - sagt man doch bei Ihnen. Das habe ich bei unserer Martha Petrowna gelernt. - Da hat sie wohl Recht, oder? Gäste wie Sie haben wir nicht oft zu begrüßen - dann nehmen wir uns einfach die Zeit dazu.« * * * Ein herrlicher Morgen beginnt - sonnig, warm, trocken. Es ist der 1. September - Beginn eines neuen Schuljahres. Gestern schon sind alle Schüler angereist. Wir stehen alle im Schulhof. Die Schüler nach Klassen aufgestellt. Die Lehrer - vor den Schülern. Die Kinder - in feierlichen Uniformen. Die Mädchen tragen braune Klei168
der, weiße Schürzen und weiße Schleifen in den schwarzen Haaren, die in Zöpfe zusammengeflochten sind. Die Jungs sind alle in dunklen Anzügen mit weißem Hemdkragen. Es ist eine Feierstunde vor dem neuen Schuljahr. Der Direktor begrüßt die Anwesenden und wünscht für das kommende Jahr gute Zusammenarbeit und viel Erfolg. Der ganze Schulhof ist von strahlender Sonne überflutet. Die Schüler verlassen in Reih und Glied den Hof und gehen in die Klassenzimmer, wo der Unterricht beginnt. Nur die Deutschgruppe einer Klasse bleibt im Schulhof zurück. »In welches Klassenzimmer gehen wir? Wo ist das Deutsch-Kabinett?« »Gehen wir erst einmal bis zu der Bank da an der Hecke, dann sehen wir weiter«, sage ich. Mein Deutsch-Kabinett hat man in ein anderes Gebäude verlegt, erfahre ich. Und weil die Sommerferien scheinbar zu kurz waren, wird das Zimmer immer noch renoviert. Während ich diesen Sachverhalt kläre, singt meine Gruppe draußen im Hof neben der Bank deutsche Lieder. - Das ganze Repertoire wie gehabt! Passanten bleiben stehen, schauen und hören staunend zu: »Kasachen ... singen deutsch?« Kasachischen Kindern kann man das öffentliche Singen nicht verbieten ... auch wenn sie deutsch singen! Es ist ein Aufsehen, worüber in der Stadt noch lange gesprochen wird. Ganz überraschend bekomme ich wieder Besuch - ein Hochschulprofessor aus Kokschetau wohnt einen ganzen Tag meinem Unterricht bei. Zum Schluss lobt er mich und besonders meine Schüler. »Das sind ja Engel und keine Kinder! Und nicht nur die Anfänger, sondern alle Altersstufen von der fünften bis zur siebten Klasse gleich. Sagen Sie mal, wie schaffen Sie das? Haben Sie ein Geheimnis? Eine Zauberformel vielleicht?« »Nein, nein«, protestiere ich. »Weder sind es Engel, noch bin ich eine Hexe. Es sind ganz normale Kinder - intelligent und bescheiden. Es sind ja Kinder von Schafhirten. Und was machen die Hirten und ihre Familien auf den Weiden? Sie haben da weder Radio 169
noch Fernseher - also singen sie. Es ist doch allgemein bekannt, dass die Kasachen viel und gerne singen. So habe ich mir diese ihre Neigung für den Deutschunterricht zunutze gemacht. Singend lernen die Kids die Sprache mit Spaß und Freude. Dann fällt es ihnen auch nicht schwer, anschließend die Grammatik zu pauken.« »Haben Sie eine Ahnung, was ich in diesem Zusammenhang in anderen Schulen alles zu sehen und zu hören bekomme?!« Ich zucke die Achseln: »Nein. Das weiß ich nicht. Mir kommt meine Unterrichtsmethode so natürlich und selbstverständlich vor. - Sie entspricht dem Alter der Schüler und ihrem kulturellen Erbe, wenn ich das so sagen darf. Haben Sie dagegen etwas einzuwenden?« »Nein. Ganz im Gegenteil: Ich staune, wie Sie darauf gekommen sind. Haben Sie irgendwelche Literatur, die mir unbekannt sein könnte?« »Nein. Woher denn? Sie haben uns Ihre Vorlesungen doch auch schmackhaft gemacht und, dem Alter der Studenten entsprechend, jedes Thema mit Beispielen aus dem praktischen Leben verbunden. - Von Ihnen habe ich es gelernt ... im Studium.« Einige Tage später bekomme ich Post aus Kokschetau vom Rektor eben der Hochschule, die ich vor einigen Jahren abgeschlossen habe. - Mir wird vorgeschlagen, an die Hochschule zu wechseln, um dort Deutsch zu unterrichten und gleichzeitig am methodischen Kabinett mitzuwirken. Das ist ein Angebot! Eine Anerkennung, dass es mir fast den Atem verschlägt! Es ist dermaßen verlockend, dass ich schwach werde und meine Unterlagen hinschicke. Auch die Einladung zum Vorstellungsgespräch nehme ich an und handle mir dabei noch zwei Wochen Bedenkzeit aus. Doch nein. Nach reichlichen Überlegungen lehne ich die Stelle ab aus folgenden drei Gründen. Erstens habe ich die Ereignisse vom Frühjahr 57 noch nicht vergessen. - Bei erster Gelegenheit könnte es wieder heißen: »Feinde und Spione ... schmuggeln sich in unser Bildungssystem ein.« Dieses Mal könnte es noch schlimmer kommen - man könnte behaupten: »Deutsche Saboteure haben alle Heiligtümer - die Spitzenpositio170
nen in den Hochschulen erobert, um dort ihr Unwesen zu treiben.« Dass es da Neider geben könnte - ist sehr gut denkbar. Dann bleibe ich lieber ganz bescheiden hier, bei meinen kleinen Freunden. Zweitens, »ein Gespenst geht um« in Kasachstan - das Gespenst der Ausreise. Noch ist alles sehr vage und unbestimmt. Noch wird nur von »Familienzusammenführung« hinter vorgehaltener Hand geflüstert. Obwohl meine Familie keine Angehörigen in Deutschland hat, ist es doch ein Silberstreifen am Horizont, ein Hoffnungsschimmer, es könnte sich für die gesamte Volksgruppe etwas ändern. Diese zwei Argumente kann ich aber meinen Professoren nicht nennen und führe deshalb die dritte Ursache an: Wegen familiärer Umstände könne ich dieses verlockende Angebot nicht annehmen. Und das ist nicht gelogen, denn es stimmt: Ich sehe keine Möglichkeit, meine Mutter hier alleine zu lassen oder sie nach Kokschetau mitzunehmen. Hier haben wir ein eigenes Haus mit Grundstück, wenn auch klein und bescheiden. Wie und wo würde ich sie in Kokschetau unterbringen? In einem Plattenbau ohne Aufzug? Irgendwo im vierten oder fünften Stock? Sie kann nicht mehr Treppen steigen - da würde sie schnell eingehen. »Schuster, bleib bei deinem Leisten!« - Und so bleibe ich, wo ich bin. * * * Auch in dieser Zeit, wo mich meine Lehrertätigkeit voll erfüllt, gibt es viel Aufregendes und Trauriges in unserer Familie. Zur gleichen Zeit, als ich in Kokschetau mein Lehrerdiplom erhalte, verstirbt im Invalidenheim in Kuptschanowka der kranke Bruder. Am Tag seiner Beerdigung, am achten Juni 1969, bekommt meine jüngste Schwester in Aktjubinsk im Entbindungsklinikum ihr erstes Kind. Da gibt es Komplikationen - Mutter und Kind schweben in Lebensgefahr. Eigentlich müsste ich überall gleichzeitig sein, was aber ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wer Kasachstan kennt, kann sich bildhaft die riesigen Entfernungen zwischen den Orten Kokschetau, Zelinograd und Aktjubinsk vorstellen. 171
Zuerst nehme ich das Diplom in Empfang, dann muss ich mich ganz alleine um die Bestattung meines Bruders an einem für mich unbekannten Ort kümmern. Das ist mit solchen Schwierigkeiten und Strapazen verbunden, dass da keine Zeit und Kraft für Trauer und Pietät bleibt. Meine inzwischen 68-jährige Mutter ist mir da keine Hilfe oder Unterstützung. Ich bin froh, wenn sie auf den Beinen bleibt und mit ihrem schwachen Herzen nicht zusammenklappt. Als das vorbei ist, eile ich nach Aktjubinsk. Nein, ich kann mich wirklich nicht über Langeweile beklagen. Ich bin inzwischen für die ganze Familie eine Art Feuerwehr und erste Hilfe gleichzeitig. Ich habe in diesen Jahren geheiratet und mich umgehend wieder scheiden lassen, als ärztlich festgestellt wurde, ich könne keine Kinder bekommen. Jetzt bin ich froh, dass ich allein stehend bin und für meine Nächsten da sein kann. Wie intensiv und aufregend mein jetziges Leben auch sein mag, so merke ich doch die ständige Gegenwart nicht nur meines unsichtbaren Begleiters, sondern auch seiner etwas weniger unsichtbaren Widersacher. Neben meinem Arbeitszimmer in der Schule gibt es eine Lehrwerkstatt, wo die Buben in Werken unterrichtet werden. Die Werklehrer wechseln immer öfter. Bei mir entsteht ein ungutes Gefühl: Ich bin wie auf einem Präsentierteller - offen und beobachtet. Eines Tages taucht in der Werkstatt ein neuer Lehrer auf, der in den Pausen versucht, mit mir vertrauliche Gespräche anzuknüpfen. Angeblich ist er ein Deutscher - sein Name bleibt mir unbekannt. Zuerst geht es ihm um die Religion. Zu welcher Konfession ich gehöre und welche Unterschiede es da gäbe. »Keine Ahnung«, sage ich. »Keine Ahnung! Ist ja auch egal.« Ich bin auf der Hut und lasse ihn abblitzen. »Nein, danke!«, denke ich. »Mit diesem Thema kommst du bei mir nicht weit.« In den nächsten Tagen nimmt er einen neuen Anlauf und versucht es mit einem anderen Thema. Jetzt will er meine Meinung zur Gleichberechtigung der Deutschen im Vielvölkerstaat wissen. »Wir werden doch in diesem Land nie die gleichen Rechte haben!«, provoziert er mich. 172
»Jeder ist seines Glückes Schmied!«, sage ich lächelnd und: »Wie man sich bettet, so liegt man! - Das gilt für alle und in diesem Sinne sind wir gleichberechtigt.« Am anderen Tag ist dieser Herr aus der Werkstatt verschwunden und die Stelle bleibt eine Woche lang unbesetzt. Dann taucht da ein anderer auf - etwas jünger und intelligenter. Der versucht es mit mir nicht gleich am ersten Tag, geht aber im Endeffekt genauso plump zur Sache wie sein Vorgänger. Dieser ist angeblich an der Wolga geboren und die Autonomie der Deutschen an der Wolga hat es ihm angetan. Diesem Herren sage ich ganz offen, dieses Thema interessiere mich nicht, denn ich stamme nicht aus der Gegend. Dabei denke ich mir: »Jungs, gebt es auf! Ich gehe euch nicht auf den Leim! Ich lasse mich von keinem aufs Glatteis führen. Da hättet ihr früher aufstehen müssen!« * * * Es beginnt die Zeit der Veränderungen, nachdem 1975 das Abkommen von Helsinki auch vom sowjetischen Präsidenten Breshnew unterschrieben wird. Eines Tages werde ich vom Direktor ins Passamt der Stadt geschickt. »Gehen Sie mal hin. Da muss ganz dringend etwas übersetzt werden.« »Ich habe noch zwei Unterrichtsstunden. Ich kann doch nicht so einfach weg!« »Doch, doch! Sie können. Das macht nichts! Gehen Sie ruhig.« Ich komme ins Passamt und werde in ein schmales Zimmer geführt. Der Mann hinter dem Tisch bietet mir einen Stuhl an. Auf dem einzigen Fensterbrett, genau mir gegenüber, surrt leise ein Elektrogerät, dessen Bestimmung mir unklar ist. Ich bitte den Mann um den zu übersetzenden Text. »Das kann warten! Das hat Zeit«, meint er und beginnt mit mir ein Gespräch. Von einem Thema zum anderen geht unsere Unterhaltung. Das macht mich nervös und ärgerlich. 173
»Was will der eigentlich von mir? Warum bin ich hier? Bestimmt nicht zum Übersetzen!« Endlich kommt er zum Thema: »Die Ausreise der Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland.« Ob ich schon gehört hätte, dass Deutsche aus unserer Stadt in die BRD auswandern möchten? Ob schon jemand von ihnen zu mir gekommen sei, um Formulare ausfüllen zu lassen? »Wieso?«, frage ich. »Sollten sie? Ich bin doch keine Anlaufstelle für solche Sachen. Habe derartige Formulare noch nie gesehen.« Die ganze Zeit habe ich das Gefühl, unser Gespräch werde von diesem surrenden Gerät aufgenommen. »Ja, wissen Sie vielleicht, warum die Deutschen ausgerechnet nach Westdeutschland wollen? Sind es alles Feinde unseres Vaterlandes?«, will er wissen. Jetzt wende ich mein Gesicht zu ihm und weg von diesem Gerät und frage ihn im Flüsterton: »Ja, würden Sie denn die Leute nach Ostdeutschland gehen lassen?« Er schüttelt schweigend den Kopf. »Na also, da ist die Antwort! Wie sind Sie eigentlich auf mich gekommen bei der Suche nach einer Übersetzerin?«, frage ich ihn jetzt. »Ganz einfach«, sagt er. »Im Archiv der Kreisabteilung für Volksbildung bin ich auf Ihre Personalakte gestoßen.« »Ist das wirklich so einfach? Liegt meine Akte da herum und jeder kann auf sie stoßen?« Statt einer Antwort gibt er mir den Auftrag, es ihm sofort zu melden, sollte ich erfahren, wer ausreisen möchte. »Selbstverständlich!«, sage ich. »Selbstverständlich ... rein theoretisch ...« »Wie bitte?! Wieso theoretisch?!«, fragt er überrascht. »Na, wie soll denn das praktisch vor sich gehen? Ich erfahre, zum Beispiel, dass jemand vorhat auszureisen, und renne zu Ihnen?... Durch die ganze Stadt?... Und lasse die Schulkinder im Stich? Das würde meinen Direktor aber sehr freuen! Andererseits, wer sind Sie? Ich kenne Ihren Namen nicht. Und wo finde ich Sie? Sie sehen nicht so aus, als wäre diese Passabteilung Ihr ständiger Arbeitsplatz.« 174
»Nein - nein«, unterbricht er mich lachend. »Sie müssen nicht rennen! Sie schreiben uns einfach.« »Ja - ja«, nicke ich ihm zum Abschied zu und gehe. »Da kannst du lange warten, Bürschlein, bis du von mir Post bekommst. Da hast du dir die Richtige ausgesucht!« Die Zeiten haben sich geändert. - Ich werde nicht aufgefordert, irgendetwas zu unterschreiben und mit solcher Art Angeboten werde ich nie mehr behelligt. Ich danke dem Höchsten und bin zufrieden, dass ich niemanden verraten musste, kein Leben zerstört und keinen Menschen ins Unglück gestürzt habe. Jetzt wird es eng an meinem Arbeitsplatz. Ich fühle deutlich, meine Zeit an dieser Schule ist abgelaufen. Der Schuldirektor, der mich in diese Schule geholt hat, wird abgelöst. Es kommt zu kleinen Zwischenfällen. Zum Beispiel wird mir das Leistungsabzeichen »Bester der Volksbildung der Republik« nicht wie den anderen während der Lehrerkonferenz feierlich überreicht, sondern ganz schlicht bei einer allgemeinen Schulversammlung ausgehändigt. Die Arbeit wird immer mehr. Sechs bis sieben Praktikantinnen werden mir zu Beginn des neuen Schuljahres aus dem Institut Kokschetau zugeteilt. Die Schüler werden älter, denn wir sind zu einer 10-Klassen-Schule geworden. Die Arbeitsbedingungen werden schlechter. Mein Arbeitszimmer - das Deutsch-Kabinett - liegt jetzt in einem Gebäude, wo sich auch die Schlafräume der jüngeren Schüler befinden. Mehrere neue Erzieherinnen - meist ältere Kasachinnen - werden eingestellt, die sofort zu stalinistischen Methoden greifen, wenn sie mal sachlich, diskret und taktvoll kritisiert werden. Das will ich jetzt etwas näher erklären, damit der Leser weiß, worum es geht. Diese neu eingestellten älteren Frauen nehmen es nicht so genau mit ihrer Arbeitszeit. Öfters kommen sie bis zu zwei Stunden später in den Dienst. Während ich in meinem Arbeitszimmer Unterricht habe, toben die jüngeren Schüler auf den Fluren und in den Schlafsälen herum. Wenn dann auch noch die Erzieherin fehlt, sind die Kinder ohne Aufsicht und machen sol175
chen Lärm, dass ich mein eigenes Wort nicht höre und den Unterricht nicht durchführen kann. Um diesen Missstand auszuräumen, spreche ich das Problem bei der Sitzung des pädagogischen Rates, ohne Namen zu nennen, an. Ich bitte die Erzieherinnen, doch rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen, und erkläre auch, warum. Bei der nächsten Sitzung des Rates werde ich von einer älteren Erzieherin massiv angegriffen und des »unkorrekten politischen Verhaltens« beschuldigt. Ich hätte, angeblich, aus einem Leninporträt ein Anschauungsplakat für den Deutschunterricht gemacht. Es läuft mir kalt über den Rücken und tierische Angst steigt in mir hoch. »Kehrt jetzt die Stalinära zurück?!« Sämtliches visuelles Hilfsmaterial hängt in meinem Kabinett ziemlich hoch in einer kleinen Nische, nämlich in einem zugemauerten Fenster. Es ist vom Fußboden aus kaum zu erreichen. Da ist diese alte Kasachin sich nicht zu schade gewesen, auf den Tisch zu kraxeln und in meinen Plakaten zu stöbern! Nur um mir eins auszuwischen! Ich wusste bis dahin gar nicht, dass sie es war, die regelmäßig ihre Arbeitszeit verkürzte. Am anderen Tag nehmen meine Praktikantin und ich all unsere Unterlagen vom Haken und sehen sie aufmerksam durch. Tatsächlich! Eine der vorigen Praktikantinnen hat im Geschäft ein Plakat gekauft und auf der Rückseite ein Anschauungsmittel gefertigt. Was auf der vorderen Seite mit Farbspritzern dargestellt ist, kann man aus der Nähe nicht erkennen. Nur von Weitem gesehen erkennen wir das Motiv - Lenins Büste. Mir reicht es! Ich mag nicht mehr! Ich gebe auf! Ich muss weg aus dieser Schule! Aber wohin? Und wie? * * * Auch dieses Mal, wie schon so oft, ergreift mein unsichtbarer Begleiter die Zügel und führt mich schnurstracks - auf schmerzlichsten Wegen - aus dem Labyrinth. Ich muss nur ganz stille werden. Mich führen lassen. Mich fügen. Mund halten und aushalten! Dann geht fast alles. 176
Zuerst werde ich durch einen Autounfall aus dem Unterricht, aus der Schule herausgerissen. Ein PKW fährt mich an, ich kippe auf die Motorhaube, werde von da auf den Weg geschleudert, der mit Glatteis überzogen und mit grobem Sand gestreut ist. Das passiert im Januar 1976 vor dem Kreiskrankenhaus an der Bushaltestelle. Es geht ohne Blutvergießen ab. Das linke Schienbein hat einen Riss. Am rechten Bein ist ein Knochen unter dem Knie gebrochen. Alle Register werden gezogen: Knochen genagelt, das Bein in Gips, anschließend Massage, Fußbäder, Krankengymnastik, Gehübungen. - Eine langwierige Geschichte, die Monate dauert. In dieser Zeit brauchen Mutter und ich viel fremde Hilfe. Mutter heizt jeden Morgen den Ofen und kocht für uns beide. - Das kann sie. Alles andere müssen meine Schwester Siegrid und ihre Familie übernehmen. Der Neffe bringt uns das Wasser von einer etwa 500 Meter entfernten Wasserpumpe und kauft für uns ein. Meine schwangere Schwester hilft mit der Wäsche und beim Putzen. Der Schwager besorgt uns die Kohlen für den Winter. Kaum kann ich Mitte April einigermaßen mit einem Stock gehen, da verstirbt Siegrid ... im Krankenhaus ... an einem Schlaganfall ... bei der Geburt ihres vierten Kindes. Der Schock, der Schreck, der Schmerz sind dermaßen groß, dass ich dafür bis jetzt keine passenden Worte finde. Diese Tragödie stelle ich so dar, wie sie sich tatsächlich abgespielt hat. Ich kann sie weder verschweigen noch beschönigen, auch wenn sich jemand daran stoßen mag. Hätte meine liebe Schwester nur auf den Rat der Ärzte gehört, würde sie vielleicht noch leben. Schon bei der Geburt ihres dritten Kindes war ihr Blutdruck lebensgefährlich hoch. Sie war anschließend fast eine Woche blind. Ihr Sehvermögen kehrte damals nur langsam zurück. »Noch mal Glück gehabt!«, sagte damals die Ärztin. »Die nächste Schwangerschaft kann Sie das Leben kosten.« Als der Fall dann nach acht Jahren trotz besseren Wissens eintritt, schlägt die Ärztin sofort Alarm und gibt meiner Schwester einen Abtreibungstermin. Sie aber geht - völlig freiwillig, ohne von jemandem dazu gezwun177
gen zu werden - zum Gemeindeältesten zur Beratung. Er hätte dieses Gespräch ablehnen und die junge Frau auf den ärztlichen Rat verweisen können. Tut es aber nicht. Er berät sie, obwohl er dazu weder befugt noch verpflichtet ist. Sie lässt daraufhin den Termin verstreichen. Jetzt ist der Ernstfall eingetreten: Meine Schwester verstirbt auf dem Entbindungstisch. Schicksal? - Ja! Schicksal. Direkt aus Gottes Hand. Siegrid sah den Himmel offen stehen und trat ein. Sie sah das, was sie begehrte, und griff zu! Sie nutzte ihre Chance ... und nahm auch ihr Kind mit ... auf die Milchstraße ... zu den Sternen. »Gethsemane, in deine stillen Räume Lass oft mich pilgern aus dem Lärm der Zeit. Gethsemane, im Schatten deiner Bäume Gib mir den Frieden, den die Welt nicht beut. Und kommt auch mir dereinst die bängste Stunde, Dann bett ich mich auf deinem heil‘gen Grunde, Dass ich dem Tod getrost ins Auge seh - Gethsemane!« Diese Zeilen finde ich von Siegrids Hand geschrieben auf einem Zettel. Sie scheint auf diese weite Reise gut vorbereitet gewesen zu sein. - Sie hat neun Monate Todesangst, Ringen im Gebet um die richtige Entscheidung und schließlich die Ergebung hinter sich. Sie war vorbereitet: »Dass ich dem Tod getrost ins Auge seh Gethsemane!« Wir aber, die Hinterbliebenen, haben daran hart zu knabbern. Wir müssen mit diesem Verlust fertig werden. Dieses Mal sind Gottes Wege für uns sehr schwer zu verstehen. Wir hadern. Drei Kinder - dreizehn, elf und neun Jahre alt - bleiben ohne Mutter. In diesem Land! Unter diesen Lebensverhältnissen! Was soll aus ihnen werden?! Doch, wie schon so oft, gilt für mich auch jetzt: »Stillhalten! Aushalten! Mund halten!« Unser Herr und Heiland weiß immer Rat, Er weiß, was Er tut. Auch wenn wir Ihn nicht verstehen. Schon nach kurzer Zeit schenkt Er den Kindern eine neue Mama, die nicht nur eine treue Ehefrau für meinen verwitweten Schwager, eine liebevolle Mutter für meine Nichten und den Neffen, sondern 178
auch eine Schwester für mich wird. An dieser Stelle danke ich ihr dafür, dass sie die Kinder ins Herz geschlossen und alle drei, wie ihre eigenen zwei, in christlicher Liebe großgezogen und wohl erhalten nach Deutschland gebracht hat. Kein einziges ist ihr dabei verloren gegangen oder auf die schiefe Bahn geraten! Damals aber, als Siegrid weg war, hatten es die Kinder nicht leicht, sich in der neuen Situation zurechtzufinden. Für Mutter und mich - die wir Hilfe brauchen - gibt es keinen anderen Ausweg, als nach Kant in Kirgisien umzuziehen, wo inzwischen die älteste Schwester mit ihrer Familie lebt. Der Abschied von den Kindern fällt uns sehr schwer. Obwohl ich sie in guten Händen weiß, komme ich mir wie eine Verräterin vor, die diese Kinder im Stich lässt. Trotzdem brechen wir alle Zelte und Brücken ab und ziehen um. * * * In Kant angekommen, kaufen wir uns als Erstes ein Häuschen in derselben Straße, wo die Familie Johann Vogt lebt, das heißt die Familie meiner Schwester. Als unser Container ankommt und ausgepackt wird, schauen alle Nachbarn neugierig zu. Ihr übereinstimmendes Kommentar lautet: »Wie arm ihr doch seid!« Und das stimmt, denn außer Bündel mit Bettsachen und Kartons mit Büchern kommt da wenig zum Vorschein. Jetzt schaue ich mich nach Arbeit um. Und da sieht es gar nicht so schlecht aus. Hier hätte ich endlich »muttersprachlichen Deutschunterricht« deutschen Kindern erteilen können. Doch dafür fehlt mir die Kraft. Ich bin erschöpft und ausgelaugt und lehne diese Stelle ab. Stattdessen nehme ich eine Stelle im zentralen Bibliothekensystem der Stadt Kant an. Da ist meine Vorgesetzte eine ältere, allein stehende Deutsche - Ella Karlowna - die zu meinem Schutzengel und zur Freundin wird. Hier in Kant werde ich sehr krank. Immer wieder muss ich der Arbeit fernbleiben. Mehrere Operationen werden notwendig. Einmal sind es Nierensteine, die entfernt werden müssen, weil sie die 179
Harnleiter verstopfen. Dann sind es Blasensteine, die eine Entzündung und starke Schmerzen verursachen. Dann muss die Gebärmutter entfernt werden, wo man ein Myom, das heißt eine Muskelgeschwulst, entdeckt hat. Unter diesen Umständen ist es gut einen Arbeitsplatz zu haben, wo keiner unter meiner Abwesenheit leidet. Und doppelt so gut ist es, eine verständnisvolle Vorgesetzte zu haben, die nicht schimpft, nicht böse guckt, sondern ermuntert. »Die Katalogisierung der Bücher läuft uns ja nicht davon. Wenn Sie wieder gesund sind, machen Sie da weiter, wo Sie heute aufgehört haben.« Es tut mir auch richtig gut, bei der sommerlichen Hitze von bis zu 40 Grad Celsius im Schatten ganz still und ruhig, im kühlen Raum, mir meine Brötchen zu verdienen. Meine Vorgesetzte sorgt sogar dafür, dass jegliche Aufregung von mir fern gehalten wird. Als in Frunse, der Hauptstadt Kirgisiens, ein Gerichtsverfahren stattfinden soll, werden alle Mitarbeiter »der ideologischen Front« Lehrer, Erzieher, Bibliothekare, Juristen, Journalisten und Schauspieler - aufgefordert, den Zuschauersaal zu füllen, damit für Angehörige und Gleichgesinnte der Angeklagten kein Platz bleibt. Vor Gericht stehen hier gläubige ausreisewillige Deutsche, die unter fadenscheinigen, fragwürdigen Anschuldigungen für mehrere Jahre ins Gefängnis geschickt werden. Als alle anderen Mitarbeiter nach Frunse fahren, um den Saal zu füllen, wie gesagt, meint meine Vorgesetzte so ganz nebenbei: »Sie müssen nicht mit. Sie haben dringende Arbeit zu erledigen. Außerdem muss ja jemand da sein, falls Besucher kommen.« Warum tut sie das? Weiß sie schon im Voraus, was das für ein Prozess sein soll? Will sie mich schützen und schonen? Oder gehöre ich zum Kreise der Verdächtigen, die vom Prozess fern gehalten werden sollen? Handelt sie auf Anordnung von oben? Wie dem auch sei, hier bin ich im ruhigen Hafen und erhole mich an Leib und Seele. Die Ärzte, meine Verwandten und die ganze Umgebung geben sich große Mühe, mein Leben zu erhalten. * * * 180
Das ruhige Leben nimmt plötzlich ein Ende, als die Ausreisefrage auf der Tagesordnung steht. Nach langem, hartem Kampf um die Ausreise ist unsere Jüngste mit Ehemann und zwei Kindern schon 1980 in Bayern gelandet. Sie schickt meiner Mutter und mir sofort einen »Wysow« - ein Dokument, das uns berechtigt, einen Ausreiseantrag zu stellen. Doch »Gottes Mühlen mahlen langsam« und noch viel langsamer sind die sowjetischen Behörden. Sie legen uns jegliches erdenkliches Hindernis in den Weg. Die ältere Schwester mit Familie hat schon mehrere Absagen hinter sich. Sie bekommen den »Wysow« von der Mutter Maria Vogt. Zu der Zeit konnte nur einen Ausreiseantrag stellen, wer »Familienangehörige oder nahe Verwandte« in Deutschland nachweisen konnte. Offiziell ging es um »Familienzusammenführung«, was den Behörden ein weites Feld der Interpretation bot. Der jüngste Sohn meiner ältesten Schwester ist im Armeedienst. Jetzt wird die Familie Vogt vor die Wahl gestellt: Entweder sollen die Eltern ihren Ausreisewunsch aufgeben oder sich schriftlich verpflichten, ihren Jüngsten dazulassen. Es ist zu der Zeit ein beliebtes Erpressungsmittel der Behörden. Für die Eltern - eine sehr schwere Entscheidung, denn der weitere Verlauf der Geschichte ist ungewiss. Die Familie entscheidet sich für ihren Sohn und verzichtet auf die Ausreise. Für mich ergibt sich daraus eine sehr heikle Situation. Über meinen Antrag ist noch nicht entschieden. Was soll ich tun, falls ich die Erlaubnis bekomme? Mich mit der 80-jährigen Mutter alleine auf den Weg begeben oder auf die Familie Vogt warten? Da bekomme ich von meiner lieben Schwester eine schallende Ohrfeige, genauer gesagt einen Tritt gegen das Schienbein, mit dem sie mich direkt in mein Glück befördert. »Fahr ohne uns!«, sagt sie. »Wenn Jakob aus der Armee zurück ist und wir die Erlaubnis bekommen, dann fahren wir, ohne uns nach dir und der Mutter umzuschauen!« Das sitzt! Ohrfeigen sollen ja eine wirksame Therapie bei Schock sein. Ich habe zwar keinen Schock, aber meine Unentschlossenheit ist wie weggeblasen. Jetzt weiß ich, woran ich bin. 181
Da verstirbt ganz plötzlich meine Mutter. Am Abend des 25. Juni 1981 geht sie zu Bett und wacht in der Früh nicht mehr auf. »Herzstillstand«, sagt der Arzt. »Es hat einfach aufgehört zu schlagen.« Eben ist Mutter unter der Erde, da kommt der Bescheid: Mutter und ich dürfen nach Deutschland ausreisen. Am 26. Juli, genau einen Monat nach Mutters Tod, fahre ich los - ich lass mich einfach fallen. Meine Schwester und ihr Schwiegersohn begleiten mich nach Moskau. Die Zugfahrt dauert vier Tage und drei Nächte. Als ich in der Botschaft zum ersten Mal meinen Namen deutsch ausgesprochen höre, kann ich nur noch weinen. Am Abend, den 30.07.1981 fliege ich nach Deutschland. Ich schlafe schon längst in Friedland im weißen Bett, während meine Schwester und ihr Schwiegersohn immer noch unterwegs aus Moskau zurück nach Kant sind * * * In Kant in Kirgisien habe ich mich fallen lassen und werde in Friedland sanft aufgefangen ... von einem netten Herrn aus Oberschlesien ... einem Witwer ... zehn Jahre älter als ich. Es hat den Anschein, wir hätten uns unser Leben lang nach einander gesehnt und auf ein Treffen gewartet. Gleich am ersten Tag treffen wir uns in der Kantine am Mittagstisch. Er erkennt sofort meine seelische Not und nimmt sich meiner an. Es ist beiderseits Liebe auf den ersten Blick. - Auch höheren Semestern fällt ab und zu das Glück in den Schoß! Schon zwei Monate später heiraten wir und werden vom katholischen Pfarrer in der Kirche getraut. Wir sind fest entschlossen, den Rest unseres Weges gemeinsam zu gehen, »bis dass der Tod uns scheidet«! Hier finde ich Wärme und Beistand, Zuflucht und Geborgenheit. - Alles, wonach ich mich in der Verbannung so gesehnt und was ich nie gefunden habe. Es werden 16 glückliche Ehejahre! So werde ich reichlich entschädigt für meine karge Jugend. Darüber könnte ich vieles erzählen, doch ist es nicht Thema dieser meiner Erinnerungen. 182
Als Pauls Kinder und Enkel aus Polen und Siegrids Kinder und Enkel aus Kasachstan kommen, haben wir beide alle Hände voll zu tun. Wir helfen den jungen Leuten bei Behördengängen. Wir übersetzen ihre Ausweise und Zeugnisse. Wir geben unseren Schulkindern Nachhilfeunterricht in allen möglichen Fächern. Und jetzt weiß ich auch plötzlich, warum ich in Kasachstan Germanistik studiert habe, wo es dort doch keinen Bedarf an derartigen Fachkräften gab. Ich habe studiert, um für diese meine Kinder da zu sein, wenn sie mich brauchen. Das alles gehört schon zu einem anderen Kapitel. Hier enden meine Erinnerungen an die Verbannung, an den Rausschmiss aus der LBA und an den Zerfall der christlichen Gemeinde in Eska. Bis hierher hat mich Gott geleitet! Ich danke ihm und bin zufrieden. Ich habe mein Schicksal mit allen Höhen und Tiefen angenommen, wie es mir zugedacht war. Nur eine Frage ist bisher ohne Antwort geblieben: Wer war es damals, zu Ostern 1957, dem der Name Neufeld zur falschen Zeit und am falschen Ort über die Lippen gegangen ist? Und warum? Aus Versehen? Aus Angst? Unter Druck? Aus Hass? Im Zorn? Oder versprach man sich dafür vielleicht eine Belohnung? Es wäre doch interessant, sich einmal darüber zu unterhalten. Vielleicht gemeinsam zu weinen? Oder zu lachen? Nur, was ausgesprochen wird, nur, was beim Namen genannt wird, kann bereinigt werden.
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Gerda Siebert, geborene Hertha Zander
Geboren 1935 in der Ukraine, in Scharowka, Gebiet Woroschilowgrad. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges deportiert nach Kasachstan. Nach der 7. Klasse Besuch der Lehrerbildungsanstalt (1953 bis 1957). Abschluss Grundschullehrerin. Berufstätigkeit als Lehrerin und Bibliothekarin. Weiterbildung im Fernstudium in Leningrad zur Kulturreferentin. Berufstätigkeit als Kulturreferentin im Kreisrat. 1984 - Arbeitsplatz gewechselt in eine staatliche Versicherungsbehörde und Beginn der Ausreisebemühungen. 1989 in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. In erster Ehe geschieden. In zweiter Ehe verwitwet. Ich habe vier Kinder und zehn Enkelkinder.
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Mutters Opfergang. Grenzerfahrungen Mein Vater wurde in der Nacht vom 05.12.1937 zusammen mit allen anderen deutschen Männern unseres Dorfes abgeholt. Die Ehefrauen haben das Gefängnis aufgesucht und ihren Männern zu essen gebracht. Sie haben sich nach den Ursachen der Verhaftungen erkundigt, bekamen aber keine Auskunft. Ihnen wurde gesagt, in 2-3 Tagen würde alles geklärt sein und die Männer kämen alle heim, es bestünde keine Ursache zur Aufregung. Auf die Heimkehr dieser Männer warten die Familien bis heute. Kein einziger ist je zurückgekommen. Später haben die Frauen erfahren, dass die Männer gar nicht mehr da waren und dass die Gefängniswärter sich über die Lebensmittel gefreut haben, denn sie nahmen alles für sich. Meine Mutter blieb alleine zurück mit sechs Kindern, von denen das älteste zehn Jahre und das jüngste zwei Monate alt war. Um uns alle zu ernähren, musste Mutter ab sofort in der Kolchose arbeiten. Vor Aufregung und Kummer hat sie die Milch verloren und konnte ihr Baby nicht mehr stillen. Die 10-jährige Ella musste das Baby mit Kuhmilch ernähren, während Mutter das Vieh der Kolchose versorgte. Die kleine Sina erkrankte an Dysenterie und starb. Ab nun war ich die Jüngste. Die Schwester meiner Mutter kam aus der Westukraine zu uns auf Besuch und nahm meine Schwester Lydia zu sich, weil sie nur eine einzige Tochter hatte und weil sie meiner Mutter irgendwie helfen wollte. Obwohl Mutter jetzt nur noch für vier Kinder zu sorgen hatte, war das Leben für sie trotzdem sehr schwer. Als der Zweite Weltkrieg begann, war die Westukraine sofort unter deutscher Besatzung. Es gab keine Möglichkeit, meine Schwester von der Tante abzuholen. Sie flüchteten nach Polen und wurden in Heinau am 28.04.1944 als Deutsche eingebürgert. Das wussten wir natürlich nicht und für meine Mutter galten ihre Schwester und Tochter Lydia jahrelang als verschollen. So wurde unsere Familie auseinander gerissen.
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Bei unserer Deportation ging alles sehr schnell: Nur 24 Stunden wurden uns zum Packen gegeben. Die Mutter schaffte es nur, Hühner und Gänse zu schlachten und abzubrühen, nahm einen Eimer Griebenschmalz mit und packte noch die notwendigsten Kleider und Bettsachen ein. Alles andere blieb stehen und liegen: das Haus mit allen Sachen und der Stall mit dem Vieh. Uns wurde gesagt, wir kämen in zwei bis drei Tagen wieder zurück. Zur Bahn wurden wir in der Nacht mit Pferdewagen gebracht. Meinen Bruder Richard und mich hatte Mutter mit einem Pelz zugedeckt und wir hörten die Hunde im Dorf bellen und heulen. Weiter wurden wir in Güterwaggons transportiert, in denen es Pritschen gab und sehr eng war. Keiner wusste, wohin die Reise ging. An den Haltestellen holten meine Geschwister heißes Wasser und überall war sehr viel Militär. Die Reise dauerte mehrere Wochen. Wir waren alle froh, als wir endlich aussteigen durften. Mit Ochsenfuhren brachte man uns in das kleine Russendorf Andrejewka, im Kreis Tschkalowo, Gebiet Kokschetau. Dieses Dorf war lange vorher von enteigneten Bauern aus Zentralrussland gegründet worden. Man hatte sie bei der Zwangskollektivierung von Haus und Hof vertrieben, nach Kasachstan verschleppt und auf freier Steppe ausgesetzt. Hier bekamen sie Baustellen, markiert durch einen nummerierten, in den Boden gerammten Pfahl, zugewiesen. Ihnen wurde empfohlen, es sich hier »bequem und häuslich« einzurichten. Jeweils zwei Familien bauten sich gemeinsam eine Erdhütte aus Lehm und Stroh. Auf diese Weise sind die Dörfer Wischnewka, Selönyj Hai, Jasnaja Poljana, Nowodworowka und Donezkoje entstanden. Viele Neusiedler sind gleich im ersten Winter vor Hunger und Kälte gestorben. Die Überlebenden haben dann diese Steppe urbar gemacht. Später kamen noch mehrere Familien polnischer Abstammung und Inguschen und Tschetschenen aus dem Kaukasus hinzu. Wir wurden zuerst in den Sandgruben, etwa drei Kilometer vom Dorf entfernt, ausgeladen und verkrochen uns in den Nischen und 186
Löchern der Grube. Wir Kinder sammelten Kuhfladen zum Heizen. In der Mitte der Sandgrube stellten unsere Mütter Kochtöpfe auf Steine und machten Feuer. Die Erwachsenen stahlen Erbsen, Kartoffeln und Karotten von den Kolchosfeldern. Im Spätherbst, als Frost eintrat, wurden wir ins Dorf abgeholt und auf Befehl zu den Einheimischen einquartiert. Es waren raue Menschen, die wenig Grund hatten, sich auf uns als Untermieter zu freuen. Wir bekamen bei einer Russenfamilie die Küche zugeteilt. Bis zum Frühling sollten wir dableiben. Bald darauf erkrankte meine Schwester Ella an Windpocken. Eine Erkältung kam hinzu. Im Dorf gab es weder einen Arzt noch Medikamente. Ihr Fieber war so hoch, dass kein Hausmittel und keine Volksweisheiten sie retten konnten. Sie verbrannte buchstäblich innerhalb weniger Tage im Alter von nur 15 Jahren. So hatte unsere Mutter im Winter 1942 nur noch drei Kinder behalten: den Reinhold, geboren 1929, den Richard, geboren 1933, und mich - Jahrgang 1935. Während im Winter die Außentemperatur auf minus 35 bis 45 Grad Celsius sank, wurden die neugeborenen Kälber und Lämmer auch in der Küche untergebracht, in der wir jetzt lebten. Mutter stand in der Früh auf, trug den Mist und das nasse Stroh hinaus, bestreute den Erdfußboden mit Asche aus dem Ofen und heizte ihn mit Kuhmist. Manchmal wachte ich nachts vor Kälte auf, ging zu den Lämmern und Kälbern und kuschelte mich zwischen ihnen ein. Mutter ging von Haus zu Haus und tauschte Kleider gegen Lebensmittel ein: Kartoffeln, Mehl, Hirse, Gerste, Milch oder Eier. Sie hat bei den Russen auch jede Arbeit angenommen: Tabak geschnitten, Hirse gestampft, Wolle gesponnen und Jacken, Tücher, Handschuhe und Socken gestrickt. Sie hat Schafe geschoren und den Stall ausgemistet. Bezahlt wurde sie mit Lebensmitteln. Am Abend strickte die Mutter bei schwachem Licht der selbst gebastelten Funzel - ein Fläschchen mit Kerosin und der Docht aus Watte. Sie saß auf der Ofenbank und hatte ihre Füße in die warme Asche des Herdes gestellt wegen der unerträglichen Kälte. Ein187
mal nickte sie ein - ihre Haare und ihr Tuch fingen an der Funzel Feuer. Vor Kummer, Elend und Hunger war Mutter so verzweifelt, dass sie versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Eines Abends ging sie hinaus und kam lange nicht zurück. Meine Brüder gingen sie suchen, aber sie war nicht da. Dann haben wir alle nach ihr gerufen und gesucht, sogar auch die russischen Nachbarn und die Wirtin mit ihren Kindern. Als wir sie in einer Schneedüne fanden, war sie kaum noch am Leben. Sie wurde ins Haus getragen, der ganze Körper wurde mit Schnee eingerieben und mit einem rauen Handtuch abgerieben und massiert, bis sie ganz rot und warm war. Während Mutter so behandelt wurde, habe ich geschrien und geweint, sie solle uns doch bitte nicht alleine lassen! Mein großer Bruder Reinhold sagte zu mir und dem Richard: »Euer Heulen und Weinen hilft der Mutter nicht. Wir müssen ihr alle bei der Arbeit helfen, wo wir nur können.« Und das haben wir immer getan. Im Sommer 1942 mussten wir die bisherige Unterkunft verlassen, weil die russische Familie uns nicht mehr dulden wollte, was auch verständlich war. Am Rande des Dorfes stand eine halb zerfallene Lehmhütte, die durften wir für uns herrichten. Die Hütte hatte kein Dach und keine Fenster, nur die Wände waren vorhanden. Obwohl ich noch klein war, kann ich mich gut erinnern, wie ich Rasenschollen schleppte, die Reinhold mit dem Spaten aus dem Boden herausstach. Das Dach der Hütte deckten wir mit Schilf und obendrauf legten wir diese Schollen. Wir Kinder wurden im Sommer auf die Kolchosfelder getrieben zum Jäten, zur Heuernte; im Herbst mussten wir beim Dreschen auf der Tenne den feuchten Weizen mit der Schaufel auflockern, damit er trocknet und nicht fault. Wir haben sehr gehungert und durchwühlten auf der Suche nach etwas Essbarem die Abfallhaufen der Einheimischen. Da fanden wir Kartoffelschalen, rösteten sie auf der Herdplatte und aßen sie. Wir durchstreiften Wiesen und Felder und aßen alles, was wir finden 188
konnten: Sauerampfer, Hasenkraut, wilde Zwiebeln und Knoblauch. Wir zerstörten Vogelnester und tranken die Eier. Beim Frühlingshochwasser schwoll der kleine Bach zum großen Fluss an und da gab es Fische. Wir hatten weder Netz noch Angel und fischten mit einem Eimer ohne Boden. Wir stellten Fallen auf Murmeltiere und Zieselmäuse. Reinhold war ein großer Meister im Suppekochen geworden. - Er zauberte Suppen fast aus nichts. Richard machte mit 10 Jahren »Schusterarbeiten«. - Auf Bestellung der Dorfbewohner bastelte er Holzpantoffeln. Meine Brüder haben in den Nachbardörfern gebettelt. Im Winter bei großem Frost umwickelten sie mit Lumpen ihre Füße und gingen für mehrere Tage auf Betteltouren. Manche Russenfrauen waren barmherzig. Sie waren selber nicht reich, aber sie gaben, was sie konnten: getrocknetes Brot, Zwiebeln, Kartoffeln, Sauerkraut. Manchmal sogar ein Ei, aber auch altes Fußzeug. Um den Heimweg nach einer Betteltour abzukürzen, gingen meine Brüder einmal geradeaus, der Nase nach über die Steppe und stießen auf einen kleinen See. Das Wasser war nicht eingefroren und hatte am Rande eine weiße Kruste. - Es war hoch konzentriertes Salzwasser. Anschließend sind mehrere Dorfbewohner mit Schlitten hingefahren, haben das Wasser zu einem dicken salzigen Schleim gekocht und nach Hause gebracht, denn auch Salz war Mangelware. Unseren Garten konnten wir nicht bepflanzen, weil wir kein Saatgut hatten. Dann ging Mutter zum Vorsitzenden der Kolchose und bat verzweifelt um Hilfe. Er bewilligte ihr 16 Kilogramm Abfälle von verschiedenen Getreidesorten: Hirse, Hafer, Roggen, Gerste, Weizen. Später stellte er sie in der Viehfarm als Melkerin ein. Von da an bekamen wir unsere Mutter kaum noch zu sehen. Sie hatte per Hand 17 Kühe zu melken. Im Sommer wurde dreimal täglich gemolken und im Winter zweimal. Zwischen den Melkzeiten reparierten die Frauen die Farm; im Frühjahr ackerten sie mit Ochsen die Felder um und schoren die Schafe; im Winter bereiteten sie das Saatgut für den Frühling vor. 189
Wir kochten eine Suppe aus Gänsekraut und Brennnesseln, schlugen zwei Vogeleier hinein und brachten diese Suppe der Mutter zur Viehfarm. Sie freute sich auf eine warme Mahlzeit und gab uns Milch zu trinken. Sofort hatte es die Farmleiterin gemerkt und verbot uns, die Mutter zu besuchen. Die Frauen haben dann Milch in Wärmflaschen abgefüllt, in der Futterkrippe versteckt und später um den Leib gebunden und nach Hause gebracht. Im Sommer sind wir oft auf den kasachischen Friedhof gegangen, der fast drei Kilometer vom Dorf entfernt war, um dort wilde Erdbeeren zu sammeln. Die Kasachen wussten noch nicht, dass sie genießbar waren. Ganze Eimer voll Beeren und Pilze haben wir für den Winter getrocknet. Süßholzwurzel, Kamille und andere Kräuter haben wir für den Winter gesammelt. Den ganzen Sommer sammelten Richard und ich Kuhmist zum Heizen im Winter. Wenn die Melkerinnen den Kuhstall ausmisteten, durften sie der Reihe nach mit einer Ochsenfuhre Mist nach Hause fahren. Dann haben wir ihn geformt und getrocknet. Anderes Heizmaterial gab es nicht. Im Herbst haben wir auf den abgeernteten Feldern Ähren, Erbsen, Kartoffeln und Beeten nachgelesen. Wenn uns der Feldhüter dabei erwischte, schlug er uns mit der Peitsche und nahm uns alles weg. Im Frühling 1943 bekam die Mutter von der Kolchose ein Kalb zur Belohnung dafür, dass sie von 17 Kühen hatte 15 Kälber nach einem Monat gesund an die Kälberzüchterin übergeben können. Wenn mehrere Kühe kalbten, blieb Erstmilch übrig, weil die neugeborenen Kälber noch nicht so viel Milch brauchten. Die Frauen gossen diese Milch in einen großen Kessel und kochten sie auf. Es entstand nahrhafter und schmackhafter Frischkäse. Dann lud die Farmleiterin alle Kinder der Melkerinnen ein und wir durften uns satt essen. Abwechselnd hatten die Melkerinnen auch Nachtdienst. Wenn unsere Mutter dran war, kamen wir zur Nacht zu ihr. Wir halfen ihr bei der Arbeit. Im großen Kessel war warmes Wasser und 190
sie hat uns im Holztrog gebadet, unsere Kleidung gesäubert und über den Dampf gehängt, wegen der vielen Läuse. Im Herbst 1943 ging ich zum ersten Mal zur Schule, aber nur so lange, wie ich barfuß gehen konnte, denn ich hatte weder Schuhe noch einen Mantel. Alles, was ich am Leibe trug, war aus der Wolle gestrickt, die Mutter beim Scheren der Schafe geklaut hatte. Der Winter 1943-44 war außerordentlich kalt und schneereich. Mehrere Tage tobte ein Schneesturm und hinterher fiel die Temperatur bis minus 45 Grad Celsius. Das ganze Dorf lag unter Schneeverwehungen. Aus den Dünen ragten nur noch die Schornsteine hervor. Die Leute konnten nicht raus. Futter konnte von den Vorratsstellen auf den Feldern nicht geholt werden. Das Vieh konnte nicht getränkt werden. Die Kühe in der Farm haben gebrüllt, dass es im ganzen Dorf zu hören war. Von der Farm bis zur Tränke spannten die Frauen einen Strick, hielten sich daran und führten jede Kuh einzeln zur Tränke. Als der Sturm aufhörte, holten die Frauen Futter von den Feldern, mussten aber auch nach ihren Kindern sehen. Die Häuser waren zugeschneit. Da kamen zwei-drei Frauen und schaufelten den Schnee so lange, bis sie an die Tür oder an ein Fenster kamen. In unserer Hütte war es so kalt, dass in allen Ecken Schnee und Eis waren. Mein Bruder Richard und ich, zehn und acht Jahre alt, lagen auf einer Strohmatratze unter der Federdecke und konnten nicht raus. Diese Federdecke war das einzige warme Stück, das Mutter nicht für Lebensmittel eingetauscht hatte. Wir haben rohen Weizen gekaut, Möhren und Beeten genagt. Wir konnten nicht heizen, weil wir keine Streichhölzer hatten. Später haben meine Brüder Streichhölzer gebastelt aus gespaltetem Schilf und gelbem geschmolzenem Schwefel. Im Ofen haben wir immer zur Nacht feuchten Kuhmist verscharrt, damit er glimmt. In der Früh stocherten wir in der Asche herum, bis das »Streichholz« Feuer fing. Wenn aber die Glut ausgegangen war, mussten wir mit dem Eimer zu denen gehen, wo Rauch aus dem Schornstein kam. 191
Als ich in diesem Winter von der Schule fernblieb, wurde die Mutter von dem Lehrer darauf angesprochen. Er verlangte, Mutter solle mich zur Schule schicken. Sie antwortete: »Holen Sie meine Kinder ab! Ich kann sie nicht nackt und barfuß aus dem Haus jagen, bei Schnee und Frost.« In diesem Winter kamen schon einige verwundete russische Soldaten nach Hause. Da haben sie ihren Hass an uns ausgelassen. Bis dahin gab es im Dorf nur zwei Männer: den Vorsitzenden der Kolchose und den alten Schmied. Der Soldat Browko hat sofort zwei Familien aus seinem Haus geworfen: die Familie Rex aus vier Personen und die Familie Stumpf aus drei Personen. Die Kinder und Erwachsenen sind alle nackt und barfuß durch den Schnee zu uns gelaufen: Sie wussten, dass Mutter nicht zu Hause ist, und waren auch sicher, sie würde sie nicht rausjagen. So lebten wir elf Personen in einem Zimmer. Unser Vorzimmer haben wir im Winter nicht beheizt, wegen Mangel an Brennmaterial. Meine Mutter brachte manchmal, wenn sie kurz nach Hause kam, ein Bündel Futterreste zum Heizen mit. Einmal holte sie der demobilisierte Tschernjak zu Pferde kurz vor unserer Hütte ein und verlangte, das Bündel von Wermut und Stacheln zurückzutragen. - Es wäre Futter für die Schafe. Der Mann peitschte auf sie ein. Sie schlug die Hände schützend vor die Augen, ließ das Bündel fallen und der Wind blies alles weg. Mit roten Striemen im Gesicht und Tränen in den Augen trat sie ein. Als die Frauen das Saatgetreide bearbeiteten, haben sie in den Taschen, Strümpfen und Büstenhaltern Weizen nach Hause gebracht. In der Pfanne haben wir ihn geröstet und gegessen. Einmal kam Frau Maria Klassen an dem Weizenhaufen vorbei, scharrte schnell einen halben Eimer voll und lief davon. Der demobilisierte Browko sah sie laufen und schrie ihr nach, sie solle stehen bleiben. Sie lief weiter, kam an unserer Hütte vorbei und schlüpfte unter. Den Weizen schüttete sie unter die Schilfbündel in unserem Vorzimmer. Minuten später polterte auch Browko herein. 192
»Was hast du gestohlen?!«, schrie er Frau Klassen an. Sie zeigte ihm ihren leeren Eimer. »Und warum bist du gelaufen?«, fragte er. »Weil meine Füße frieren«, sagte sie. Browko hat unser Vorzimmer durchsucht und den Weizen unter dem Schilf gefunden. Dann sind sie vom Dorfsowjet mit einer förmlichen Durchsuchung gekommen und haben all unsere Vorräte herausgescharrt und mitgenommen: Weizen, Erbsen und Hirse, Kartoffeln, Möhren und die letzten Beeten. Alle Beteuerungen der Mutter, diese Lebensmittel seien nicht gestohlen, sondern von den Kindern auf den abgeernteten Feldern gesammelt worden, halfen nichts. Der Tschernjak hat ihr die Hände auf dem Rücken zusammengedreht, er hat sie mit Fäusten auf den Kopf und den Rücken geschlagen. Ein Schüsselchen Weizen hatte Reinhold in die Asche im Ofen geschüttet - das war alles, was elf Personen nach dieser Hausdurchsuchung zu essen hatten. Frau Klassen und meine Mutter wurden mehrmals verhört, kamen vor Gericht und wurden verurteilt: Frau Klassen musste für drei Jahre ins Gefängnis und ihre Kinder blieben unter fremden Menschen zurück. Keiner konnte ihnen helfen, denn jeder kämpfte um sein eigenes Leben. Meine Mutter bekam als Mitbeteiligte ein Jahr auf Bewährung. Sollte sie noch mal beim Diebstahl erwischt werden, so käme auch sie ins Gefängnis. Der Winter ging dem Ende zu. Wir hungerten entsetzlich! Der Gedanke an das Essen verdrängte alles andere. Brot, nur ein Stück Brot wollte ich haben. Keiner sprach mehr mit den anderen. Jeder hatte mit seinem Hunger zu kämpfen. Meine Brüder verboten mir, die Mutter um Essen anzuflehen. Sie sagten: »Wenn Mutter Brot hätte, würde sie es dir geben. Sie hat aber nichts. Wenn du trotzdem bettelst, hält sie es nicht mehr aus und geht weg ... für immer.« Das saß! Diese Vorstellung, ohne Mutter zu bleiben, war für mich noch schlimmer als der Hunger. Am Abend konnte ich vor Hunger 193
nicht einschlafen. Meinen Brüdern ging es genauso. Wir wälzten uns von einer Seite auf die andere, auf den Bauch und auf den Rücken. Schließlich nahm die Müdigkeit Überhand, die Magenkrämpfe ließen nach und ich schlief ein. Am anderen Tag ging dieser Kampf mit den Magenschmerzen und der Verzweiflung wieder los. Mein Bruder Reinhold, der schon 15 Jahre alt war, half den Melkerinnen beim Ausmisten der Farm. Als er mit dem Ochsengespann des Mistwagens an einem Hirsehaufen der Kolchose vorbeikam, klaute er etwas Hirse: Er scharrte sie in einen Sack, versteckte ihn unter dem Mist und fuhr weiter. Obwohl kein Mensch zu sehen war, wurde er nach wenigen Metern geschnappt. Was hat die Mutter da durchgemacht! Mein Bruder kam vor Gericht und wurde für acht Kilogramm Hirse zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Weder seine Minderjährigkeit noch die unerträglichen Hungerqualen wurden vom Gericht als mildernde Umstände anerkannt. Sehr lange wusste die Familie nicht, wohin man ihn gebracht hatte. Erst später erfuhren wir: In der Mongolei hat er bis auf den letzten Tag diese Strafe abgebüßt. Die von ihm gestohlene Hirse hat man uns weggenommen und wir hungerten weiter. Wir suchten wieder in den Abfällen nach Kartoffelschalen, die zu dieser Jahreszeit aber schon halb verfault waren. Solche Schalen haben wir gewaschen, geröstet und gegessen. Dabei haben wir uns vergiftet. Nach einiger Zeit bekamen wir Bauchschmerzen und große Übelkeit und uns wurde schwindlig. Mutter lief zur Russin Tatjana, bei der zu Hause sie oft Wolle gesponnen und gestrickt hat. Später hat Mutter uns erzählt, wie sie zusammen mit der Tatjana uns gerettet hat - mit Urin und frischer Kuhmilch. Wir mussten beides trinken und erbrachen dann weiße Klumpen von Frischkäse und hellgrüne Flüssigkeit, die wie Molke aussah. Mutter verbot uns Schalen zu sammeln. Eines Morgens roch es so gut nach frischem Gebäck. Wir wunderten uns: »Woher hat Familie Rex das Mehl für die Fladen?« 194
Einige Zeit später kam eine Nachbarin zu uns und wollte Feuer holen. Ihre Glut im Ofen sei ausgegangen. Diese Frau ist sonst nie zu uns gekommen. Sie selbst war eine gebürtige Polin, aber mit einem Deutschen verheiratet. Ihr Mann war in der Trudarmee. Diese Frau legte den Schürhaken ins Feuer, schwätzte mit den Frauen und sah jedem von uns auf die Füßse. Plötzlich ergriff sie den glühenden Schürhaken, schlug damit mehrmals auf Maria Rex ein und sprach dabei: »Das kriegst du für den Diebstahl!... Für den Diebstahl! Du Diebin! Du Gaunerin!« Verbrannte Haare und Hautfetzen blieben am Schürhaken hängen. Die Nachbarin hatte den Diebstahl entdeckt. Sie ging den nackten Fußspuren im Schnee nach und kam direkt zu uns. Frau Rex war so schwer verletzt, dass kaum noch Hoffnung auf Heilung bestand. Die Dorfbewohner haben diese brutale Tat verurteilt. Verschiedene Frauen aus dem Dorf versuchten zu helfen und brachten Fischtran, Kartoffelstärke und Gänsefett. Das alles wurde als Wundheilsalbe verwendet. Es hat sehr lange gedauert, bis die Wunden verheilt sind. Ein paar Tage später fuhren die Melkerinnen zum Heulager, um Futter für die Kühe zu holen. Auf dem Rückweg geriet Mutter mit ihrer hoch beladenen Ochsenfuhre in eine Grube mit eiskaltem Wasser. Da hat sie sich den Fuß gebrochen und ist fast ertrunken. Die anderen Frauen haben sie mit einem Strick aus dem Wasser gezogen. So war sie auf Krücken längere Zeit zu Hause. Sie war sehr krank. Von dieser Zeit an litt sie an Asthma. Im Winter 1944-45 brach in unserem Dorf eine Typhusepidemie aus, weil man sich vor den vielen Läusen nicht zu retten wusste. Es gab keine Seife und auch keine anderen Mittel gegen das Ungeziefer. Das halbe Dorf ist ausgestorben - die Krankheit machte keinen Unterschied zwischen den Nationalitäten. Die besser Ernährten starben am Hungertyphus als Erste. Wir, die schon halb verhungert waren, blieben verschont. 195
Uns allen wurden die Haare geschoren. Mutter brühte in einem Holzbottich Brennnesseln und Wermut ab und badete uns mehrmals in diesem Aufguss. Außerdem haben wir in dieser Zeit viele rohe wilde Zwiebeln und Knoblauch gegessen. Die Leichen konnten nicht begraben werden, weil der Boden tief gefroren war und unter meterhohem Schnee lag. Männer waren keine da und Frauen konnten den steif gefrorenen Boden nicht ausheben. So wurden die Leichen in einer Scheune gelagert, bis der Frühling kam. Als Mutter wieder zur Arbeit gehen konnte, wurde sie zum Kälberhüten eingeteilt, weil sie mit dem Asthma nicht mehr Kühe melken konnte. Beim Hüten der Kälber haben Richard und ich der Mutter geholfen. Das Kalb, das die Mutter als Belohnung für ihre Arbeit bekommen hatte, war inzwischen zur Kuh geworden. Wir waren sehr froh, eigene Milch zu haben. Leider blieb für uns nur fettarme Milch übrig, weil wir dem Staat 6 bis 8 Kilogramm Butter im Jahr als Steuer für die Kuh abliefern mussten. Hinzu kamen noch die staatlichen Zwangsanleihen, die eine neue Ausbeutung und Drangsal für das Volk bedeuteten. Deutsche Frauen wurden zur Trudarmee abgeholt und mussten ihre minderjährigen Kinder alleine zurücklassen. Auch darüber könnte ich noch viel erzählen. In all diesen Jahren konnte ich immer nur im Frühling und im Herbst zur Schule gehen. In der Zwischenzeit habe ich entweder Kleinkinder fremder Leute betreut, um etwas zu essen zu bekommen, oder in der Kolchose gearbeitet oder der Mutter bei ihrer unmenschlich schweren Arbeit so weit wie möglich geholfen. Wenn ich in der Schule war, hörte ich aufmerksam zu, was der Lehrer erzählte, und schaute, was er an die Tafel schrieb. Lernmaterialien gab es überhaupt keine. Ich kratzte Ruß von Mutters Kochtopf, löste ihn in Milch auf, goss diese Lösung in ein Fläschchen - das war meine Tinte. Ein angespitzter Unkrautstengel war meine Feder. Die Schule abonnierte eine Zeitung. Der Lehrer las uns aus der Zeitung vor, zerschnitt sie 196
dann und teilte Stücke davon an uns - die deutschen Schulkinder aus. Die russischen Schüler bekamen vom Vorstand der Kolchose Schreibpapier, Tinte, Federhalter mit Feder und Buntstifte zugeteilt. »Weil ihre Väter an der Front kämpfen und unser Vaterland verteidigen«, erklärte der Lehrer. Und wir seien die Feinde, die Faschisten, die ihr Vaterland überfallen hatten. Logisch: Die Russenkinder wollten mit uns nicht spielen. Ich glaube, den Einheimischen wurde gar nicht gesagt, dass auch wir gleichberechtigte Sowjetbürger waren. Einmal mussten wir eine Schularbeit in Mathematik schreiben. Ich konnte die Aufgabe lösen, aber der Ruß verlief auf der Zeitung und machte alles unlesbar. Vor mir saßen Russen und hatten so schöne violette Tinte! Ich hatte in der Asche eine richtige Feder gefunden und mit einem Faden an ein Stöckchen gebunden. Ich stand auf und versuchte, meine Feder in die schöne Tinte der Russen zu tauchen. Das Mädchen wollte mich nicht eintauchen lassen und hielt das Tintenfass mit ihrer Hand zu. So passierte es, dass ich aus Versehen in die Hand stach. Das Mädchen weinte. Der Lehrer schimpfte und ließ mich wissen, welch schweres Verbrechen ich begangen hatte! Den Rest des Tages stand ich auf Knien in der Ecke und bekam für die Kontrollaufgabe, die ich nicht aufschreiben konnte, eine schlechte Note. Im Mai 1945 war der Krieg zu Ende. Das ganze Land atmete erleichtert auf. Nur für uns - Deutsche in der UdSSR - ging das Sterben und der Kampf ums Überleben weiter. Mutter suchte nach ihrer Schwester und ihrer Tochter Lydia; bekam vom Roten Kreuz ihre Anschrift im Gebiet Omsk, wohin sie aus dem Warthegau nach dem Krieg verschleppt worden waren. Mutter holte Lydia ab. Nach fünf Jahren Gefängnis kam auch mein Bruder Reinhold wieder zu uns. So war die Familie wieder vereint. Alles, was ich bisher so eindringlich über unser Leben in der Verbannung erzählt habe, hätte ich auch in zwei Sätzen sagen können. Ungefähr so: »Wir lebten in der Verbannung, haben gehungert und mussten 197
schwer arbeiten. Für mich gab es nie einen geregelten Schulbesuch.« Der Leser hätte dann aber nicht nachvollziehen können, welch großes Glück ich im Jahre 1953 erlebt habe. Im Sommer dieses Jahres bekam ich mit 17 Jahren das Zeugnis einer »nicht vollen Mittelschule«, das heißt, ich hatte die siebte Klasse geschafft. Zum ersten Mal erlebte ich das Glücksgefühl! Dieses Zeugnis war deshalb so wichtig, weil es mir rein theoretisch die Möglichkeit und das Recht zu einer Berufsausbildung gab. Das hatte uns der Schuldirektor bei der Aushändigung der Zeugnisse erklärt. Ich war beflügelt: Geologin wollte ich werden! Und hatte sogar das Recht darauf! Wir standen aber immer noch unter der Kommandantur. Ich schickte meine Unterlagen an das Bergbautechnikum des Nachbarstädtchens, holte mir vom Kommandanten eine schriftliche Erlaubnis, mein Dorf zu verlassen, um an den Aufnahmeprüfungen teilzunehmen. In diesem Technikum kam sofort die Ernüchterung: Als Deutsche wurde ich gar nicht erst zu den Prüfungen zugelassen. Ich nahm meine Unterlagen und begab mich zur Forstschule im benachbarten Ort. Dort durfte ich zwar an den Prüfungen teilnehmen, bestand sie auch mit gutem Ergebnis, wurde aber zum Unterricht trotzdem nicht zugelassen. Mein Name befand sich nicht auf der Liste der eingeschriebenen Schüler. Das könnte ja ein Versehen sein, bei meinen guten Noten. In der Kanzlei, wo ich ziemlich naiv und schüchtern nachfragte, wurde ich ohne Umschweife aufgeklärt: 75 Prozent aller Fachschüler seien Kasachen. Die restlichen 25 Prozent der Ausbildungsplätze stünden den Kriegsveteranen und den Kindern der Kriegsopfer zur Verfügung. Da ich weder zu den einen noch zu den anderen gehörte, bekam ich ohne weiteren Kommentar meine Unterlagen rübergeschoben. Mit den Papieren in der Hand stand ich im Korridor am Fenster und weinte bitterlich: Mir wurde klar, warum der Schuldirektor sagte: »Rein theoretisch« gäbe das Zeugnis uns das Recht auf eine 198
Berufsausbildung. Rein theoretisch - ja, aber praktisch unmöglich! Recht haben bedeutet nicht, Recht zu bekommen. Ich wollte auf keinen Fall zurück in den Kolchos und für den Rest meines Lebens Melkerin sein wie meine Mutter. Da kam auf mich eine Lehrerin zu und fragte mich, warum ich weine. Sie hörte mir zu, versuchte zu trösten und machte mir den Vorschlag, bei ihr zu bleiben, ihre drei Kinder zu hüten, im Haushalt zu helfen und im Fernunterricht mit der Berufsausbildung zu beginnen. Sie wollte dafür sorgen, dass ich nach einem Jahr in die Ganztagsabteilung übernommen würde. Das war der rettende Strohhalm! Ich griff sofort zu. So wurde ich Schülerin der Abteilung für Obst- und Gemüseanbau. Bei meinen Wirten hatte ich Unterkunft und Kost. Durch die Lehrerin lernte ich andere Berufsschüler kennen, bei denen ich Unterlagen und Fachliteratur ausleihen konnte. Am Abend, wenn die Kinder und die Wirte schliefen, machte ich meine Schulaufgaben und bereitete mich auf die Prüfungen vor. So schaffte ich in einem Jahr Fernunterricht extern die Prüfungen für zwei Kurse. Ich wollte aber so gern mit den anderen gemeinsam im Hörsaal sitzen und Vorlesungen hören. Dieses Versprechen konnte oder wollte meine Wirtin nicht erfüllen. Daraufhin beschloss ich, diese Berufsschule zu verlassen. Eine Bekannte aus unserem Dorf hatte eine Ausbildung in der Lehrerbildungsanstalt begonnen. Bei einer gemeinsamen Heimfahrt mit dem Zug erzählte sie mir über den interessanten Unterricht in der LBA. Ich beschloss, dort mein Glück zu versuchen. Der Direktor der LBA war ein Pole, aufgewachsen in einem Waisenhaus, ein sehr gütiger Mensch. Zu ihm kam ich mit meinem Anliegen. Er hörte mir zu und ich wurde im September 1954 in die LBA gleich in den zweiten Kursus ins dritte Semester aufgenommen. Statt einer Geologin sollte aus mir jetzt eine Grundschullehrerin werden. Der Anfang in der LBA war für mich sehr schwer. Ich hatte ja das 199
erste Jahr versäumt und die Anforderungen waren hier sehr hoch. Außerdem musste ich im ersten Semester ohne Stipendium auskommen. Ich war im Heim in einem Zimmer mit neun anderen Mädchen untergebracht. Wir schliefen zu zweit in einem Bett und hatten für alle Zwecke alle zusammen nur einen Tisch. Diese Bedingungen waren nicht gerade optimal zum Lernen. Trotzdem war ich glücklich, der Kolchose entronnen zu sein. Ich bemühte mich sehr, das Versäumte nachzuholen, um diesen Ausbildungsplatz nicht zu verlieren. Weil ich kein Geld hatte, lebte ich von den Lebensmitteln, die Mutter mir einmal im Monat überbringen ließ. Das war sehr umständlich, zeitraubend und lief so ab: An einem Bahnhof unterhielt die Kolchose ein Wirtshaus, so eine Art Herberge mit Ausspann. Kolchosbauern, die aus privaten Gründen hierher kamen - zum Arzt, zum Basar, zur Post, zum Zug übernachteten in diesem Wirtshaus, ließen das Pferdegespann da und gingen ihren Geschäften nach. Mit diesen Leuten schickte Mutter mir einen Sack mit Lebensmitteln. Da war Mehl und Brot, Nudeln und Speck, manchmal etwas Zucker und Gänsefleisch. Jetzt lag es an mir, diesen Sack vom Wirtshaus abzuholen. Da ich kein Geld hatte, fuhr ich mit dem Güterzug hin und zurück, was nicht ungefährlich war, denn eine Erlaubnis vom Kommandanten hatte ich nicht. Jederzeit hätte man mich schnappen können. Außerdem war ich anschließend schwarz wie ein Schornsteinfeger. Nur die Zähne und die Augen waren in meinem Gesicht noch zu sehen. Mit diesen Lebensmitteln musste ich bis zur nächsten Gelegenheit auskommen. So schlug ich mich ein ganzes Semester durch. In der Klasse, in die ich eingeteilt wurde, kannte ich vorerst niemanden. Ein deutsches Mädchen Katja Frickel setzte sich zu mir an den Tisch und wurde meine beste Freundin. Ich merkte sehr bald, dass es eine ungewöhnliche Klasse war, die ausschließlich aus Sonderumsiedlern bestand. Hier waren Inguschen, Polen und ganz viele Deutsche. Wir unterstanden alle der Meldepflicht und zogen an diversen Tagen in großer fröhlicher 200
Schar in Richtung Kommandantur. Hier fühlte ich mich wohl! Ich gehörte dazu und war keine Ausnahme mehr. Unsere Klassenleiterin mochte uns Deutsche nicht. Von unserem Benehmen war sie nicht begeistert, denn sie stand im leeren Klassenzimmer und beschwerte sich, wir hätten ihren Unterricht geschwänzt. »Wir hatten ein Rendezvous mit dem Genossen Oberst! Er hatte große Sehnsucht nach uns und bestand auf diesem Stelldichein!«, witzelte Sultan - der Jüngste der ganzen Gruppe, ein vorlauter trotziger Ingusche. Wir alle lachten. »Das Lachen wird euch bald vergehen! Dieser Unfug wird Folgen haben!«, schimpfte und drohte die Lehrerin. »Beklagen Sie sich doch beim Kommandanten ...«, kam ein Vorschlag vom Komsorg Jakob Schütz. »Nicht wir haben die Meldepflicht erfunden.« Er war Vollwaise, wolgadeutscher Abstammung, aber in Kasachstan geboren. »Nein, beklagen Sie sich lieber gleich bei der Regierung«, ließ ein Pole verlautbaren. Ich staunte nicht wenig, was sich unsere Jungs alles erlaubten! Hatten sie denn keine Angst? Die Lehrerin kochte vor Wut und schaute Hilfe suchend die anderen an. Aber was sah sie da? In der Mitte dieses Haufens standen Schulter an Schulter drei junge Männer: Daud - der Älteste in unserer Klasse, ein Ingusch aus dem Kaukasus, rechts neben ihm stand Walter - unser Klassensprecher - ein Deutscher aus der Ukraine; links vom Daud stand Harry, ein Wolgadeutscher, dessen Gesicht eine einzige große Brandnarbe war. Diese drei boten ein imposantes Bild. Daud - groß und breitschultrig, stand breitbeinig mit verschränkten Armen und lächelte die Lehrerin ironisch an. Walter - groß und schlank, selbstbewusst und ernst, sah der Lehrerin direkt in die Augen und wich ihren Blicken nicht aus. Herausfordernd und hitzig blitzten ihr Harrys tiefschwarze Augen aus der Brandnarbe entgegen. Diese drei sagten kein Wort. Sie ließen den Tumult ihrer Klassenkameraden um sich herum einfach geschehen. Sie boten der Lehrerin die Stirn, ohne frech zu werden. 201
Dagegen war sie machtlos und verließ verärgert den Raum. Als wir im nächsten Monat wieder in großer Schar unserer Meldepflicht nachkommen wollten, stoppte uns der Direktor am Ausgang und schickte uns ins Klassenzimmer zurück. Bevor er mit dem Unterricht in Kinderliteratur begann, machte er uns den Vorschlag, im Laufe des Tages jeweils zu zweit zur Kommandantur zu gehen. »So könnt ihr euch und mir viel Ärger ersparen«, sagte er. »Ihr müsst ja nicht alle gleichzeitig losrennen! Bitte, verwandelt die Meldepflicht nicht wieder in einen Ausflug oder sogar in eine Demonstration!« Wir sind seinem Rat gefolgt. Er war ein herzensguter Mensch und keiner von uns wollte ihm Ärger bereiten. Ich bestand die Semesterprüfungen und fuhr in den Ferien zur Mutter und zu meinen Geschwistern. Materiell war das Leben im Kolchos besser geworden. Meine Geschwister arbeiteten und wurden mit Naturalien entlohnt. Die Familie hungerte nicht mehr. Jedoch Glück und Freude wollten sich nicht einstellen. Die Gesundheit meiner Mutter war dahin. Sie hatte die Hoffnung auf ein besseres Leben verloren. Sie hoffte nicht mehr, Vater wiederzusehen. Sie hoffte nicht mehr, in die Ukraine zurückzudürfen. Sie hoffte und dachte nur noch an das Leben nach dem Tode. Sie konnte nicht mehr arbeiten und der Kolchos zahlte ihr 13 Rubel und 9 Kopeken Rente im Monat. Das war zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel. Für das nächste Schuljahr hatten Katja und ich uns in ein Privathaus eingemietet. Jetzt schliefen wir gemeinsam in einem Bett und waren auch in der LBA unzertrennlich. Unsere Geschwister versorgten uns ausreichend mit Lebensmitteln und wir hatten jetzt auch die Möglichkeit, regelmäßig für uns zu kochen. Der Unterricht in der LBA war interessant, die Gruppe hielt zusammen wie Pech und Schwefel. Die Kameraden waren aufgeschlossen, fröhlich und witzig. Besonders ausgelassen und fröhlich waren wir während der alljährlichen Landarbeit. Da haben wir viel gesungen. Mir gefiel mein jetziges Leben und ich dachte: 202
»Obwohl ich keine Kindheit hatte, so habe ich doch noch ein Zipfelchen Glück in meiner Jugend erwischt!« Dann wurde im Jahre 1956 auch noch die Kommandantur aufgehoben, nachdem Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der KPdSU den Personenkult Stalins entlarvt hatte. Jetzt durften wir uns auch wieder frei im ganzen Lande bewegen. Man könnte meinen, wir seien jetzt wirklich allen anderen Völkern dieses großen Landes gleichgestellt. Grund zur Freude? Sicherlich. Doch irgendwie will sich die Freude bei uns nicht einstellen. Es gibt zu viele Wenns und Abers. In unsere Heimatdörfer dürfen wir nicht zurück. Von Entschädigungen für das requirierte Vermögen kann keine Rede sein. Ins Ausland dürfen wir nicht reisen. Die Berufswahl bleibt für uns auch weiterhin eingeschränkt. Rein theoretisch, sagt man uns, hat jeder Sowjetbürger das Recht, jeden beliebigen Beruf zu ergreifen. Wie weit hier die Theorie und Praxis auseinander klaffen, weiß jeder Deutsche, der versucht hat, Pilot zu werden oder Jura zu studieren. Die Freiheit des Wortes und des Gewissens wird uns wiederholt auf allen Ebenen zugesichert. Wer diesen - rein theoretischen - Beteuerungen glaubt, wird sofort, praktisch und unverzüglich eines Besseren belehrt. Im Frühling 1957 erscheint in der örtlichen Zeitung ein Artikel, in dem behauptet wird, eine Schülerin unserer Klasse - sie wird beim Namen genannt - Herta Neufeld, sei eine Sektiererin, glaube an Gott und besuche Gottesdienste. Herta ist eine von den Deutschen aus der Ukraine, die in den Warthegau geflohen waren, dort als Deutsche eingebürgert wurden und nach Kriegsende nach Kasachstan verschleppt wurden, was die Russen Repatriierung nannten. Noch am selben Tag erscheint die Klassenleiterin vor der Gruppe und führt eine Versammlung durch. Das Leitmotiv lautet: »Welch eine Schande! Welch eine Schande! Welch eine Rückständigkeit! Welch ein Schandfleck für die ganze Gruppe! Wie konnte das nur passieren?! Wer hat dich verleitet?!« Die Gruppe wird aufgefordert, das Verhalten der Herta zu verurteilen, sich von ihr zu distanzieren, um sich von dieser unglaublichen 203
Schande reinzuwaschen. Es herrscht Schweigen. Keiner macht den Mund auf. Ich persönlich war weder schockiert noch überrascht. Meine Mutter und Schwester Lydia waren auch Gläubige, gehörten zur Baptistengemeinde im Kolchos und besuchten dort die Gottesdienste. Ja, die Baptisten versammelten sich manchmal sogar bei uns zu Hause zum Gebet, zur Bibelstunde oder zum Singen. Manche Kameraden in der Klasse waren neugierig und überrascht: Sie hörten zum ersten Mal im Leben etwas über den christlichen Glauben. Das waren die deutschen Kinder, die in der Verbannung ohne Eltern aufgewachsen waren. Wir sollten die Herta jetzt umerziehen. Mir war das so zuwider, dass ich demonstrativ zu keiner Versammlung mehr ging - ich drückte mich einfach. Aber auch während des Unterrichts ließen die Lehrer sie nicht in Ruhe: Täglich wurde sie in irgendeinem Fach zur Antwort aufgerufen. Anschließend wurden ihr Fragen über ihre Weltanschauung und ihren Glauben gestellt. An eine solche Unterrichtsstunde erinnere ich mich. Der Geschichtslehrer und Parteichef Pawel Iwanowitsch hatte die Herta zum Thema unserer Hausaufgabe ausgefragt und sie hatte, vor der Gruppe stehend, ihm alle Fragen beantwortet. »Wie kann eine so gute Schülerin wie Sie an Gott glauben? Wie passt das zusammen? Mir antworten Sie eins und denken dabei etwas ganz anderes?«, fragte er nachdenklich. Sie antwortete: »Nein, nein. Das ist kein Widerspruch. Ihnen antworte ich die Hausaufgabe. Nicht meine persönliche Meinung. Das sind zwei verschiedene Paar Stiefel. Da kann man nichts verwechseln.« »Was denken Sie ganz privat über Gott und die Welt?«, war seine nächste Frage. »Wie sieht denn Ihr Glaube aus? Ist Gott ein Zauberer, der alles kann?« »Mit Zauber hat das nichts zu tun, eher schon mit Logik, in der wir ja hier auch unterrichtet werden, nicht wahr? Wenn Sie, Pawel Iwanowitsch, in der Früh vergessen Ihre Uhr aufzuziehen, dann bleibt sie am Abend stehen. - Von nichts kommt nichts. Nicht wahr? Aber 204
unsere Erde dreht sich. Die Sonne geht auf und unter. Die Jahreszeiten folgen aufeinander. Meinen Sie wirklich, das alles tut sich von selbst? Keiner hat diese große Uhr des Weltalls aufgezogen? Haben Sie dafür eine andere Erklärung als ich?« Diese Antwort ist in meinem Gedächtnis geblieben. Was ich da hörte, war so einfach, einleuchtend und gleichzeitig faszinierend. »Ach!«, sagte der Lehrer. »Die Theorie des Erstimpulses? Sonst noch was?« Weiter wusste er darauf nichts anderes zu erwidern, als der Herta eine schlechte Note zu geben. Im Übrigen habe ich mich mit diesem Thema nicht weiter befasst, da ich zu dieser Zeit ganz andere Sorgen hatte. Erstens standen wir alle kurz vor dem Staatsexamen und mussten uns intensiv darauf vorbereiten. Zweitens hatte ich einen jungen Mann kennen gelernt und mich unsterblich in ihn verliebt. Es war ein Deutscher, der in Koturkul seine Berufsausbildung abgeschlossen hatte und schon ein Jahr arbeitete. Wir trafen uns jedes Wochenende, gingen ins Kino, zum Tanzen oder am See spazieren. Er sah gut aus. Wir liebten und küssten uns! Wir konnten gar nicht genug voneinander kriegen! Ich hatte Flügel hinter dem Rücken und Schmetterlinge im Bauch. Er machte mir einen Heiratsantrag und hatte es damit sehr eilig. Meine beste Freundin Katja Frickel war beim Standesamt meine Zeugin. Ich war im siebten Himmel und hoffte, es würde ewig so bleiben. Diese Eheschließung führte dazu, dass ich mich unverzüglich um einen Arbeitsplatz am Wohnort meines Ehemannes kümmern musste. So kam ich nach bestandener Prüfung mit meinem Diplom in der Hand nach Krasnyj Jar im Gebiet Kokschetau, wo mein Ehemann lebte. Hier fiel ich aus allen Wolken. Weder beruflich noch privat gestaltete sich mein Leben so, wie ich es mir wünschte. In der Schule gab es für mich keine Stelle, da der Stellenplan voll belegt sei. Man bot mir einen Arbeitsplatz in der Redaktion der örtlichen Zeitung an. Nach Neujahr ging eine Lehrerin in den Entbindungsurlaub und ich bekam ihre vierte Klasse. Am 25. Mai 1958 habe ich diese Klasse in 205
die Sommerferien verabschiedet und genau einen Monat später kam mein erstes Kind zur Welt. Es war eine Tochter. Doch zu dieser Zeit war mein Familienglück schon zerstört. Ich hatte in dieser kurzen Zeit erfahren, warum mein Geliebter es mit unserer Eheschließung so eilig hatte. Er hatte in dem Kolchos, wo er arbeitete, ein junges Mädchen geschwängert und mit dem Kind sitzen lassen. Seine Mutter hätte ihn dazu ermuntert, denn das Mädchen sei ungebildet und darüber hinaus selber an ihrer Situation schuld. Sie hätte ja auf sich besser aufpassen könnenen. Damit die Angehörigen dieser jungen Frau ihn nicht zur Heirat zwingen konnten, hatte er es so eilig, mit mir die Ehe zu schließen. Obwohl mich in dieser Angelegenheit keine Schuld traf, machte ich mir Vorwürfe. »Wie konnte ich nur so blind sein vor Liebe?« Jetzt sah ich meinen Mann im ganz anderen Licht. Ich machte ihm Vorwürfe, mich von Anfang an belogen und betrogen zu haben. »Lügen haben kurze Beine«, sagte ich, »und außerdem sind sie keine gute Voraussetzung für eine lange und glückliche Ehe.« Trotz alledem konnte ich mich nicht entscheiden, meinen Mann zu verlassen. Ich bin ohne Vater aufgewachsen und hatte panische Angst, meiner Tochter könnte dasselbe passieren. So kamen 1960 und 1961 noch zwei Kinder zur Welt - eine Tochter und ein Sohn. Jetzt blieb ich für drei Jahre zu Hause. Mit drei Kindern, mit einer Kuh, Schweinen, Geflügel und Garten gab es für mich hier mehr als genug zu tun. In unserer Nähe sollte eine Kinderbibliothek entstehen. Ich bewarb mich und bekam die Stelle. Die Arbeitszeit war hier nicht so streng reglementiert und ich konnte sie mir selbst einteilen. In der Früh, während des Schulunterrichts kamen kaum Besucher in die Bibliothek. So konnte ich später zur Arbeit kommen. In der Mittagspause konnte ich nach Hause gehen und meinen Kindern das Essen vorbereiten. Anfallende Schreibarbeiten und Vorbereitungen zu verschiedenen Veranstaltungen erledigte ich zu Hause am Abend oder 206
am Wochenende. Trotzdem war es nicht leicht, alles unter einen Hut zu bringen und meine Kinder, sechs, vier und drei Jahre alt, stundenlang alleine zu Hause einzuschließen. Wenn ich am Abend nach Hause kam, durften sie draußen spielen, während ich im Hause Geschirr und Bücher aufräumte, mit denen sie gespielt hatten, und die Asche zusammenkehrte, die sie aus dem Ofen gescharrt hatten. Dann versorgte ich meine Haustiere, holte die Kinder von der Straße und badete sie, denn sie sahen ja wie Ferkel aus. Nach dem Nachtmahl noch ein Märchen vorlesen und dann ab ins Bett. Dann war auch ich schon zum Umfallen müde. Das alles ging an meinem Mann völlig vorbei. Er war fast nie zu Hause. Und wenn er da war, so hatte er wenig Interesse an den Kindern. Er hat nie mit ihnen etwas unternommen. Er arbeitete zu dieser Zeit als Fahrer des ersten Parteisekretärs des Kreises. Da war ein unglaubliches Abhängigkeitsverhältnis! Mein Mann war ein Bote, ein Sklave, ein Leibeigener dieses Sekretärs. Für die Familie blieb da weder Zeit noch Sinn noch Interesse. Auch mein Leben verlief in einem Trott: ein Tag wie der andere, keine Ruhepause, keine Abwechslung. Während meiner Arbeit in der Bibliothek habe ich mit Kindern und Jugendlichen große kulturelle Breitenarbeit gemacht und verschiedene Veranstaltungen durchgeführt. Dazu gehörten Leserkonferenzen, Malwettbewerbe, Museumsbesuche, Ausflüge. Bald wurde mir von meinen Vorgesetzten nahe gelegt, ich solle mich in Sachen kulturelle Breitenarbeit oder zur Bibliothekarin weiterbilden. Nur so könne ich mir meinen Arbeitsplatz sichern. Ohne solchen Abschluss, könne ich jederzeit entlassen werden. Es müsse nur mal jemand mit dem entsprechenden Diplom auftauchen und sich um meinen Arbeitsplatz bewerben. Jetzt könnte ich ausführlich über meine Aufnahmeprüfungen ins Institut für Kultur in Leningrad erzählen, über die schöne Stadt, die Museen und Theater. Das ist aber alles nebensächlich und passt nicht so recht in diesen Bericht. Ich nahm zu Beginn diese Ausbildung gar nicht so ernst. Es sollte vielmehr so eine Schnaufpause im Alltag sein. Ich wollte immer 207
wieder zwischendurch vom Alltäglichen Abstand nehmen können. Doch es entpuppte sich als fünf lange Jahre Knochenarbeit. Zu allem Übel wurden mir immer mehr ehrenamtliche Aufgaben zugeschoben. Mein Leben wurde immer unerträglicher. Mir blieb keine Zeit mehr zum Schlafen. Ich brach zusammen und musste ärztlich behandelt werden. Jetzt zog meine Mutter zu uns, um mir mit den Kindern, mit dem Haushalt und dem Garten ein wenig zu helfen. In der Kinderbibliothek organisierte ich einen Treffpunkt für Schüler. Da habe ich mit ihnen am Nachmittag verschiedene Veranstaltungen vorbereitet und an Wochenenden vorgeführt. Dazu gehörten: Märchenabende, ein Drama-Zirkel, »Tag des Buches«, der internationale Tag der Frau und »Schutz der Kinder« wurden feierlich begangen. Zu diesen Feierlichkeiten wurden die Mütter und Großmütter eingeladen. Dann gab es Wettbewerbe der fleißigsten Leser. Wer am meisten Fragen zum Inhalt zahlreicher Bücher beantworten konnte, war der Gewinner. Da gab es verschiedene Preise. Die Gewinner bekamen einen kostenlosen Rundflug mit dem Flugzeug über den »blauen Bergen«, Seen und Wäldern dieser Region. All diese Veranstaltungen und viele mehr hatte ich beschrieben, mit Fotos versehen und ein solides, großes Album angelegt. Dieses Album wurde zur Grundlage meiner Diplomarbeit zum Thema »Kulturelle Breitenarbeit mit Kindern«. Das Album und die Abhandlungen meiner Diplomarbeit wurden von meinen Professoren in Leningrad noch viele Jahre später als Anschauungsmaterial im Institut verwendet. An meinem Arbeitsplatz in der Bibliothek im Kreis Kokschetau entstand ein »methodisches Zentrum« - eine Anlaufstelle für angehende Bibliothekare, die oft zu mir ins Praktikum geschickt wurden. Hier habe ich auf Kreis- und Gebietsebene Seminare für Bibliothekare und Kulturreferenten durchgeführt. Zu dieser Zeit war meine Ehe schon am Ende. Wir sahen uns kaum noch. Mein Mann kam immer seltener nach Hause und übernahm hier auch keine Pflichten mehr. Er benahm sich zu Hause wie ein 208
Ehrengast, der rundherum bedient werden musste. Ich habe um ihn gekämpft mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Ich wollte meinen Kindern unbedingt die Vaterlosigkeit ersparen. Ich habe diesen Kampf verloren. Als ich zum Staatsexamen nach Leningrad musste, war meine Mutter wegen schwerem Asthma im Krankenhaus. Da habe ich meinen Mann an seinem Arbeitsplatz aufgesucht und ihm in Anwesenheit seines Chefs für die kommenden drei Wochen die Verantwortung für unsere Kinder übertragen. Ich habe auch den Chef, der ja die höchste Parteiinstanz des Kreises war, ausdrücklich gebeten, Rücksicht zu nehmen. Ich bat ihn, meinem Mann drei Wochen lang einen geregelten Arbeitstag zu gewähren oder Urlaub zu geben. Beide versprachen es und beteuerten, ich könne ruhig zu den Prüfungen fahren. Meine Geschwister sollten sich in dieser Zeit um unsere kranke Mutter kümmern. Mein Mann versprach mir noch, zur Abschlussfeier nach Leningrad zu kommen. Und so fuhr ich mit gutem Gewissen weg. Zur Abschlussfeier kam er nicht. Und auch sonst bekam ich von ihm keine Nachricht. Sehr beunruhigt, mit schlechten Vorahnungen fuhr ich drei Wochen später nach Hause. In Kokschetau, ich war noch nicht am heimatlichen Bahnhof angekommen, traf ich die Mutter meiner Arbeitskollegin: Sie stand da und passte auf ihren Enkel und meine drei Kinder auf, die auf den Tischen eines Kiosks schliefen. Das war im Jahre 1970. Die älteste Tochter war 12 und das jüngste Kind - mein Sohn war erst neun Jahre alt. Die Frau sagte mir, mein Mann hätte seinen Arbeitsplatz gekündigt und schon vor einer Woche mit einer anderen Frau den Ort verlassen. Die Kinder hat er einfach alleine zurückgelassen, ohne sie jemandem anzuvertrauen. Das habe ich ihm nie verziehen und kann es auch nicht vergessen. Dreizehn Jahre waren wir verheiratet. Er hat von Anfang an mit russischen Frauen rumgemacht. Die Frauen wechselten ständig. - Sie gaben ihm das Gefühl, er sei etwas Besonderes. Sie stellten keine 209
Ansprüche und übertrugen ihm keine Pflichten. Sie boten ihm eben ein leichteres Leben, als ich es ihm bieten konnte. Ich war so verletzt und enttäuscht, dass ich nervenkrank wurde und mich in ärztliche Behandlung begeben musste. Der Nervenarzt verschrieb mir starke Beruhigungsmittel, die mich ständig schläfrig machten. Am liebsten wäre ich eingeschlafen und nie mehr aufgewacht. Aber ich hatte Pflichten. Meine Mutter kam aus dem Krankenhaus zurück. Mit ihrer Gesundheit war es endgültig vorbei - sie brauchte Pflege. Ihre Rente immer noch 13 Rubel und 9 Kopeken - und mein Spottlohn - 90 Rubel monatlich - reichten vorne und hinten nicht. Ich war mit meinen Kräften am Ende und suchte einen Hypnotiseur auf. Allmählich kam ich zur Ruhe. Erst viele Monate später begann mein Mann, der sich irgendwo in Zentralrussland niedergelassen hatte, mir Alimente, 10 Rubel pro Kind im Monat, zu überweisen. An meinem Arbeitsplatz gab es in den kommenden Jahren viele Turbulenzen. Ich wurde in die Kreisbehörde der Gewerkschaft in die Kulturabteilung versetzt. Dann wurden zwei Kreise zusammengelegt, viele Arbeitsplätze dabei wegrationalisiert und ich dabei hin und her geschoben, bis ich vor der Wahl stand: Entweder arbeitslos werden oder die Kulturabteilung im Kreisrat der Deputierten übernehmen, allerdings unter der Bedingung, dass ich der Kommunistischen Partei beitrete. Das war eine schwere Entscheidung! Nächtelang habe ich nicht schlafen können. Ich sah keinen anderen Ausweg, trat der Partei bei und wurde Kulturreferentin im Kreisrat. Mir unterstanden ab nun die »Kultur-Häuser« und die Kulturreferenten in allen Siedlungen des Kreises. Hier wurde meine ganze Tätigkeit von der Parteibehörde kontrolliert. Jedes Seminarprogramm, jeden Vortrag, jedes Programm der Laienkunst musste ich vorher schriftlich vorlegen und von arroganten Parteifunktionären absegnen lassen. Das gefiel mir nicht. Außerdem wurde ich immer wieder in die Kolchose geschickt, um den Stand der Aussaat oder der Ernteeinbringung zu kontrollieren. Auch das gefiel mir nicht, weil es nichts mit Kultur zu tun hatte 210
und offiziell nicht zu meinen Pflichten gehörte. Zu dieser Zeit ließ ich mich nicht mehr so ohne weiteres ausbeuten. Dabei blieben meine kranke Mutter und die Kinder auf der Strecke. Mein Gehalt war auch hier minimal und reichte kaum für das Nötigste. Die Kinder wuchsen heran, begannen eine berufliche Ausbildung außer Haus und ich brauchte mehr Geld. So suchte ich nach einem Nebenverdienst und fand ihn in einer staatlichen Versicherungsbehörde. Diese Arbeit gefiel mir und ich wechselte ganz dorthin. Das Leben schien erträglicher zu werden. Zu dieser Zeit lernte ich einen Mann kennen. Es war ein ruhiger Herr, sehr anständig, aufmerksam, zuvorkommend und zärtlich. Er wollte mich heiraten, aber ich konnte ihm lange nicht zusagen. Seit der Trennung von meinem Ehemann waren sieben Jahre vergangen. Meine Mutter hat mir mehrmals gesagt, ich solle nicht alleine bleiben. Es sei nicht gut für eine junge Frau, alleine zu sein. Ich ging meine zweite Ehe ein - mit einem Russen. Er war ein herzensguter Mensch und hat bei allen Arbeiten im Hause mit angefasst ohne zu murren und zu klagen. Er hat mir sogar geholfen, meine liebe Mutter zu pflegen, die nur vier Monate nach dieser Eheschließung verstarb. Kurz vor ihrem Tod ließ sie mich zu sich kommen und sagte: »Auf dem Fensterbrett liegt die Bibel, da findest du einen Zettel mit einer Adresse. Wenn ich gestorben bin, rufst du, bitte, dort an ...« Ich versprach es ihr. Als Mutter im Sterben lag und ihre Augen schon gebrochen waren, suchte ich nach Adressen unserer Angehörigen. Vor Aufregung fiel mir der Familienname von Vaters Schwester nicht ein und ich sprach leise mit mir selbst: »Wie ist nur der Familienname von Tante Mariechen?« Plötzlich sagte Mutter: »Altmann.« Also hat sie bis zum Schluss hören können und war bei vollem Bewusstsein. Sie rief noch paar Mal: »Richard! Richard!«, und wurde dann ganz still. Eine halbe Stunde später kam mein Bruder Richard, den ich ange211
rufen hatte. Aber sie war schon ruhig und leise hinübergeglitten und hatte aufgehört zu atmen. Zur Beerdigung kam die ganze Baptistengemeinde aus Kokschetau, die ich nach Mutters Zettel in der Bibel benachrichtigt hatte. Die Gläubigen haben sehr schön gesungen. Es wurden Gedichte vorgetragen und deutsch und russisch gebetet. Bei dieser Beerdigung war die Mutter der stellvertretenden Parteisekretärin in Ideologie anwesend. Sie hat zu Hause davon erzählt und ihre Tochter gebeten: »Die Leute haben gesungen wie die Engel ... Es war wunderschön. Ich will auch so beerdigt werden. Versprichst du es mir, bitte?!« Kurz darauf hat sie mich auf der Straße angesprochen: »Sie sind Parteimitglied und veranstalten Baptistenauftritte?« Ich sagte: »Ja. Das war der letzte Wille meiner Mutter. Sie hat es verdient, dass ich ihn respektiere.« Kaum waren sechs Monate vergangen, da schlug das Unglück wieder zu: Mein Bruder Richard verunglückte tödlich. Er ertrank im See unter ungeklärten Umständen und konnte erst sieben Tage später geborgen werden. - Mutter hat ihn auf ihrem Sterbebett gerufen und so musste er ihr folgen. All diese Verluste sind kaum zu verkraften. Nur die Zeit schwächt den Schmerz langsam ab. Genau nach einem Jahr verstarb aus heiterem Himmel mein zweiter Ehemann. Mein Sohn aus dieser Ehe war noch nicht zwei Jahre alt. Das war mir dann doch zu viel! Nimmt das Unglück denn wirklich kein Ende?! Mein Mann war aus der Arbeit gekommen, hatte das Vieh versorgt und zu Abend gegessen. Auf dem Sofa vor dem Fernseher ist er eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Meine Schwester Lydia, die mit der Tante während des Krieges in Deutschland war und anschließend ins Gebiet Omsk verschleppt wurde, hat schon gleich nach dem Krieg gesagt, früher oder später würde sie nach Deutschland ausreisen. Keiner in der Familie nahm das ernst. 212
Jetzt erzählte sie mir bei jeder Begegnung Neuigkeiten über die Ausreisebewegung der Deutschen und der Juden aus Russland. Was sie erzählte, klang völlig unglaublich und ich verlor meine Angst. Allmählich kamen die Deutschen in der ganzen Sowjetunion in Bewegung. Einzeln und in Gruppen wurde die Ausreise in die DDR oder BRD betrieben. Nur wenige bekamen die Erlaubnis zur Ausreise. Viele wurden wegen ihres Ausreisewillens diskriminiert und bestraft. Wieder andere schickten Delegationen nach Moskau, um die Wiederherstellung der Autonomie an der Wolga zu erzwingen. Auch in Kokschetau wurde demonstriert: Etwa 200 Personen versammelten sich auf dem Platz im Stadtzentrum und hoben ihre Plakate und Transparente vor der Parteizentrale hoch. Sie verlangten: »Gebt uns unsere Heimat an der Wolga zurück!« Doch schon nach wenigen Minuten war alles vorbei: Die Miliz war zur Stelle! Die Transparente wurden zerrissen, fünf Personen verhaftet und der Rest vom Platz vertrieben. An meinem Arbeitsplatz haben die Kollegen noch lange darüber diskutiert. Sie wunderten sich: »Was wollen die eigentlich? Was fehlt ihnen denn? Hitler wollte auch eine Heimat an der Wolga.« Und sie lachten. Als ich persönlich darauf angesprochen wurde, hielt ich es nicht aus und habe ihnen gründlich meine Meinung gesagt. »Warum denn nicht?! Die Autonomie an der Wolga hat Lenin dem arbeitenden deutschen Volk gegeben. Und Lenins Feinde haben sie vernichtet, weil sie neidisch waren auf den wirtschaftlichen Erfolg. Ich bin zwar nicht an der Wolga geboren, aber ich kann diese Menschen sehr gut verstehen. Frauen und Kinder wurden des Faschismus beschuldigt und in die Wüste verschleppt. Aber es gab keine Faschisten an der Wolga. Es waren einfache Bauern. Sie säten, ernteten und versorgten den Staat nicht nur mit Brot und Fleisch, sondern auch mit Pferden für Budönnyjs Reiterarmee.« Überrascht und wortlos sahen mich meine Kollegen an. Ich war ja selbst überrascht über meinen Ausbruch und fuhr fort: »Und was war der Dank dafür? Die Väter wurden uns weggenommen, unsere Muttersprache wurde uns weggenommen und bis jetzt 213
- 30 Jahre nach dem Krieg! - dürfen wir nicht in unsere Dörfer zurück.« »Warum denn?«, unterbrach mich ein Kollege. »Wahrscheinlich habt ihr doch Dreck am Stecken?!« »Dummkopf!«, entfuhr es mir. »Russen leben jetzt in unseren Häusern! Kämen wir zurück - so könnte es einen Bürgerkrieg geben. Das befürchtet die Regierung.« Meine Schwester Lydia hat 10 Jahre lang sehr aktiv um ihre Ausreise gekämpft: Sie hat mehrmals den Wohnsitz gewechselt. Mit anderen Ausreisewilligen ist sie nach Moskau gefahren und hat dort vor der deutschen Botschaft demonstriert. Sie hat mehrere Ausreiseanträge gestellt und Briefe an Politiker in aller Welt geschrieben. Wenn ich ihr so zuhörte, kam mir ihr Bestreben nicht mehr so abwegig und unmöglich vor ... Im Jahre 1984, als meine Schwester im Kaukasus lebte, bekam sie mit ihrer Familie endlich die Genehmigung zur Ausreise. Mein Sohn hatte den Armeedienst hinter sich gebracht und beide Töchter waren nach abgeschlossener Berufsausbildung zu mir zurückgekommen. Wir fuhren in den Kaukasus, um uns von unseren Angehörigen zu verabschieden. Konkrete Hoffnungen und Pläne für unsere Ausreise hatten wir nicht. Zu der Zeit war es noch sehr schwer, das Ausreisevisum zu bekommen. Das Beispiel meiner Schwester hatte uns aber Mut gemacht. Ab nun waren wir hellhörig für solche Informationen geworden. Drei Jahre später, 1987, kam meine Schwester mit ihrem Sohn zu Besuch nach Sotschi. Da habe ich ihr schon die Kopien von allen persönlichen Unterlagen mitgegeben und um einen Wysow gebeten. Jetzt schmiedeten wir Pläne und machten uns ans Werk. Zuerst sollten meine Kinder in den Kaukasus umsiedeln, was auch prompt klappte. Von dort aus war es zu der Zeit leichter, die Ausreiseerlaubnis zu bekommen. Dann gab ich vor, meine Kinder im Kaukasus zu besuchen, und fuhr rüber, ohne hier zu kündigen, ohne die Wohnung aufzulösen, ohne mich in der Parteiorganisation abzumelden. Da hatte ich übrigens schon drei Monate keine Beiträge mehr entrichtet. Und im 214
Kaukasus erwartete mich schon der Wysow von meiner Schwester. Ich wollte noch zurück, um mich ordnungsgemäß abzumelden, aber meine Nachbarin ließ mich wissen, ich solle mich dort lieber nicht mehr blicken lassen. Es hatte sich herumgesprochen, dass ich ausreisen wolle, und manche Leute schäumten vor Wut: Ein Parteimitglied wolle ausreisen! Das dürfe man nicht zulassen! Lynchen wolle man mich! Ich habe mir dann diese weite Reise - über 3000 Kilometer in eine Richtung! - gespart. Mein rotes Parteibüchlein habe ich an die Organisation per Einschreiben abgeschickt. Im Begleitschreiben habe ich erklärt, nie eine überzeugte Kommunistin gewesen zu sein. Ich sei in einer Notsituation der Partei beigetreten. Man könne auch sagen, man habe mich dazu erpresst. »Und jetzt wünschen Sie mir Glück und streuen Sie mir Salz auf den Schwanz. Ich habe es sehr eilig, von hier wegzukommen!« Erst 1989 schaffte ich es, mit beiden Söhnen nach Deutschland zu kommen. Hier atmete ich erleichtert auf, obwohl es auch hier Schwierigkeiten gab. Wir kannten die Sprache nicht ausreichend, wir kannten die Gesetze des Landes nicht. Es begann unsere Wanderung aus einem Lager ins andere. Aber keiner bedrohte oder bedrängte uns. Wir ließen uns im schönen Waiblingen am Neckar endgültig nieder. Beide Töchter mit ihren Familien kamen erst 1991, als sich die Sowjetunion als Staat bereits aufgelöst hatte. Wir sind endgültig hier angekommen! Hier haben wir eine neue Heimat gefunden. Beide Söhne haben hier geheiratet. Alle meine Kinder, Schwiegertöchter und Schwiegersöhne sind berufstätig. Jede Familie hat ihr Auskommen. Keiner von ihnen ist Sozialhilfeempfänger, keiner ist drogen- oder alkoholabhängig. Meine zehn Enkel und Enkelinnen sind gesund und gehen in den Kindergarten oder zur Schule. Für diesen Segen danke ich Gott täglich in meinen stillen Gebeten vor dem Schlafengehen. 215
Auch hier gehöre ich keiner christlichen Gemeinde an, dennoch fühle ich mich nicht ganz ungläubig und gottlos. Ich bin sicher, Gott liebt mich so, wie ich bin, sonst hätte er mich nicht aus der Wüste in die Freiheit geführt. Ich danke dem deutschen Volk dafür, dass es uns hier aufgenommen hat. Ich bete für den Frieden in der Welt, damit keine Mütter das erleben müssen, was wir erlebt haben.
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Katharina Hermann, geborene Frickel
Geboren 1938 in Kasachstan, Gebiet Akmola, Kreis Makinsk im Dorf Nemezkoje (in den 40er-Jahren Woroschilowka, in den 60erJahren - Rosa Luxemburg). Schulbesuch: 1946-53. Abschluss - 7. Klasse der nicht vollen Mittelschule. Berufsausbildung: 1953-57 Lehrerbildungsanstalt (LBA) in Eska, Gebiet Kokschetau. Abschluss im Juni 1957 - Grundschullehrerin. Berufstätigkeit: 1957-93 Lehrerin an verschiedenen Grundschulen. Verheiratet seit 1957. Am 31. August 1993 bin ich mit Ehemann und drei Kindern in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. 1995-98 habe ich als Haushaltshilfe in der Erholungsklinik »Höhenblick« gearbeitet. Seit 1998 bin ich Rentnerin.
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Vaters Vermächtnis Ich gehöre zu einer russlanddeutschen Familie, die während des Krieges weder deportiert noch evakuiert, weder verschleppt, vertrieben noch repatriiert wurde. Und warum dieses Privileg? Ganz einfach: Ich bin im Verbannungsgebiet aller Russlanddeutschen geboren, nämlich im Norden Kasachstans. Als die Deutschen aus allen Siedlungsgebieten des europäischen Russlands in die Steppen von Kasachstan kamen, waren wir schon da. Mit 15 Jahren bekomme ich das Abschlusszeugnis für die siebte Klasse mit einer »Lobesurkunde« und versuche sofort, eine Berufsausbildung in Akmolinsk - unserer Gebietsstadt - zu beginnen. Ich melde mich beim Bahn-Technikum an und bekomme prompt eine Absage. »Wieso?«, überlege ich. »Das kann ja nur ein Fehler sein! Mit meiner Lobesurkunde müssen die mich sogar ohne Aufnahmeprüfungen nehmen!« Auf mein Nachfragen hin werde ich aufgeklärt: »Wegen Ihrer Nationalität können wir Sie nicht an unserem Technikum einschreiben. Versuchen Sie es bei der Veterinär- oder Krankenschwesterschule. Diese Berufe sind für Deutsche erlaubt.« Das will ich aber nicht. So bleibt mir nur noch die Möglichkeit, es in der LBA in Eska im Gebiet Kokschetau zu versuchen. Dort melde ich mich mit allen notwendigen Unterlagen an und werde tatsächlich ohne Aufnahmeprüfungen aufgenommen. Jetzt beantrage ich beim Gebietskommandanten die Erlaubnis, meinen Geburtsort für Bildungszwecke verlassen zu dürfen. Die Zeit vergeht, das Schuljahr soll bald beginnen, und die Erlaubnis kommt immer noch nicht. Das regt mich auf! »Wozu brauche ich diese blöde Erlaubnis? Ich fahr ohne ...«, sage ich. »Nein! Wir Deutschen dürfen uns nicht frei im Land bewegen«, sagt Vater. »Das ist kein Scherz! Dafür wirst du bestraft. Und das Lernen kannst du dann vergessen!« Vater begleitet mich zu unserem Dorfkommandanten und erklärt 218
ihm die Situation. Der Kommandant ist kein schlechter Mensch. Er begreift unsere Notlage und stellt mir das heiß begehrte Schriftstück aus. Dabei belehrt er mich: »Wenn du dort ankommst, Mädchen, musst du dich sofort, noch am selben Tag, bei der dortigen Kommandantur melden. Vergiss es nicht! Sonst gibt es Probleme.« Ich bin doch so unerfahren! Mit meinen 15 Jahren habe ich mein Dorf noch nie verlassen. Ich habe noch nie einen Bus oder Bahn gesehen! Es gibt keine Verbindung zwischen unserem Dorf und dem Kreiszentrum Makinsk. Und nun soll ich ganz alleine so weit in die fremde Welt reisen. Wie soll ich aus Nemezkoje überhaupt fortkommen? Ich habe Angst, muß aber vorwärts, ich muss mich bewegen, wenn ich nicht für immer im Kolchos hängen bleiben will! Da gehen Lastwagen mit Holz. Sie fahren bis Makinsk. Oben auf dem Holz sitze ich und fahre 90 Kilometer auf dem holprigen Weg. Es gibt noch keinen Asphalt. Weiter geht es noch 40 Kilometer mit dem Zug bis Eska. Während der ganzen Fahrt habe ich nur eine Sorge und einen Gedanken, ob ich auch rechtzeitig ankommen und die Kommandantur ausfindig machen werde. »Nicht auszudenken, wenn ich das verpasse! Vater hat ja schließlich für mich gebürgt. Jetzt noch klingen seine Worte in meinen Ohren, wie er dem Kommandanten dankt: ‚Ich versichere Ihnen, meine Tochter wird Ihr Vertrauen nicht missbrauchen. Sie wird nichts Unrechtes tun. Sie wird Ihnen und mir keine Schwierigkeiten machen.‘» In der LBA angekommen, werde ich im Schülerheim mit 14 Mädchen in einem Zimmer einquartiert. Auf meine Frage nach der Kommandantur werde ich beruhigt: »Sie sind nicht die Einzige. Es genügt, wenn Sie sich morgen früh dort melden. Wir vermerken auf Ihrer Bescheinigung, Sie seien rechtzeitig bei uns hier eingetroffen.« Ich kenne hier keine Seele und fühle mich sehr einsam. Am Abend vor dem Einschlafen weine ich unter meiner Decke vor Sehnsucht nach meinen Eltern und Geschwistern. 219
Meine Eltern stammen beide aus dem Gebiet Saratow an der Wolga. Da gab es ein deutsches Dorf Karamyschewka, in dem meine Mutter Eva-Katharina im Jahre 1896 geboren wurde. Sie hat vier Jahre die Schule besucht. Da hat sie Russisch und Deutsch gelernt. Beide Sprachen beherrschte sie sehr gut. Wegen Landmangels an der Wolga ist die Familie meiner Mutter mit anderen achtzehn bis zwanzig Familien im Jahre 1909 nach Kasachstan umgezogen. Das geschah auf Grund der Stolypin‘schen Bodenreform. Dort, im Kreis Makinsk, gründeten sie eine »Tochterkolonie«, ein neues Dorf, das sie auch Karamyschewka nannten. Drei Jahre nach diesem Umzug verstarb mein Großvater - der Vater meiner Mutter. Da sie das älteste Kind in der Familie war, musste sie schon mit 16 Jahren viel schwere Männerarbeit leisten. Das hat sie geprägt. Mein Vater Andrej Frickel ist 1894 ebenfalls im Gouvernement Saratow geboren. Er hat noch zur Zeit des Zaren in Russland ein Priesterseminar besucht und ist evangelischer Pfarrer geworden. Für seine Zeit war er ein hoch gebildeter Mann. Er hatte Kunst und Musik studiert, konnte gut singen und kannte sich mit vielen Musikinstrumenten aus. Er spielte Gitarre, Mandoline und Balalaika. Er liebte die Natur und befasste sich mit der Rolle des Menschen in der Natur. Er interessierte sich für Geschichte, Politik und zwischenstaatliche Beziehungen. Im Jahre 1916 kam er als frisch gebackener Pfarrer nach Karamyschewka im Kreis Makinsk mit dem einzigen Wunsch, hier eine Gemeinde zu gründen und eine Kirche zu bauen. Hier trafen sich meine Eltern und haben 1917 geheiratet. Im selben Jahr kam die Oktoberrevolution mit dem Sturz der Regierung, mit Unruhen, mit dem Bürgerkrieg und Blutvergießen. Da war der Traum meines Vaters aus. An Kirchebauen und Gemeindegründen war nicht mehr zu denken. Vater hat in der Landwirtschaft gearbeitet und seinen erlernten Beruf als Priester nur nebenbei ausgeübt: Brautpaare getraut, Säuglinge getauft und bei Beerdigungen gepredigt. Aber auch das nur so lange, bis die neuen Machthaber begannen, Kirchen zu zerstören und Geistliche aller Schattierungen zu verfolgen. 220
Im Jahre 1920 haben meine Eltern mit anderen jungen Familien ein neues Dorf, Nemezkoje, gegründet. Den Bebauungsplan hat mein Vater entworfen: das Dorfzentrum zwar ohne Kirche, aber mit Schule, Laden, Dorfrathaus. Schöne breite Straßen mit Platz für Bäume und anderes Grün. Grundstücke für einzelne Wohnhäuser. Das Dorf lag am Ufer eines kleinen Flusses, der von vielen Quellen gespeist wurde. Das Wasser in diesem Fluss schmeckte süß und war immer sehr kalt und klar. In der Umgebung gab es mehrere Birkenhaine und kleine Seen. Die Natur war unberührt und unverbraucht. Es war wunderschön. Die Wohnhäuser wurden alle aus Strohlehm oder Grasschollen gebaut und hatten dicke warme Wände. Als einziger gebildeter Mann war mein Vater in Nemezkoje Schriftführer im Dorfrat, dann Verkäufer und später Lehrer in der soeben gegründeten Grundschule. Er durfte an Fortbildungskursen für Lehrer teilnehmen und blieb in der Schule bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. In diesem Dorf bekamen meine Eltern elf Kinder, von denen ich das zehnte bin. Erwachsen geworden bin ich als Siebte und Jüngste. Vier meiner Geschwister sind als Kleinkinder gestorben. Im Herbst 1941 wurde mein Vater in die Trudarmee nach Karaganda geschickt und kam im Sommer 1944 krank und völlig entkräftet nach Hause. Er kam langsam auf die Beine, erholte sich und wurde sofort als Buchhalter in der Kolchose eingesetzt. Erst 1949 durfte er als Lehrer in die Schule zurück. Er war sich seiner kritischen Lage sehr wohl bewusst. Jedes Wort legte er auf die Goldwaage, denn im Dorf hatte man nicht vergessen, dass er ein ausgebildeter Priester war. Um die Weihnachtszeit liefen im Morgengrauen Kinder und Jugendliche durch das Dorf, klopften an jede Tür, sangen und sprachen im Chor ihre Weihnachtswünsche. Vater hatte viele kleine Münzen vorbereitet und verschenkte sie an die kleinen Gratulanten, während Mutter ihnen Gebäck gab. Sofort wurde Vater zum Dorfsowjet zu einer Unterredung bestellt. Sein Benehmen sei unerhört, wurde ihm vorgeworfen. Für einen sowjetischen Lehrer gehöre es sich nicht, religiöse Vorurteile zu fördern! Vater geriet in große Verlegenheit. 221
»Es ist doch ein alter Volksbrauch. Die Kinder kommen ja nicht nur zu mir. Sie rennen von Haus zu Haus«, rechtfertigte er sich. »Wie würde es denn aussehen, wenn ausgerechnet unsere Tür vor ihnen verschlossen bliebe?« Er musste versprechen, den Gratulanten nicht mehr zu öffnen. Jahre später, als mein Vater schon Rentner war, gab es wieder einen Vorfall. Da Vater einst Schriftführer des Dorfrates gewesen war, kamen die Dorfbewohner gewohnheitsmäßig mit sämtlichen schriftlichen Angelegenheiten zu ihm. Er hat für die Leute Anträge gestellt, Formulare ausgefüllt und Briefe aufgesetzt. Da bekam er eines Tages ganz unerwartet »hohen Besuch« - ein Herr aus der Kreisbehörde für Volksbildung, der Schuldirektor und der Vorsitzende des Dorfrates platzten herein. Sie erkundigten sich höflich nach dem Befinden des Rentners, nach seinen Freizeitaktivitäten und sagten dann auch, warum sie gekommen seien. Ihnen sei gemeldet worden, der Lehrer Frickel habe eine Bibel auf dem Tisch liegen und bete seine Sünden bei Gott ab. Wortlos reichte Vater ihnen das Buch hin, das auf seinem Tisch lag und äußerlich einer Bibel ähnelte. Einer nach dem anderen blätterten die Besucher in dem Buch und überschlugen sich dann in Entschuldigungen - es war ein Fremdwörterbuch! Der Zuträger blieb unbekannt. Mit Sicherheit aber war es jemand, dem Vater einen Gefallen getan hatte. Während des Krieges kamen Flüchtlinge und Verbannte in unser Dorf. Darunter waren Deutsche aus dem Kaukasus, aus der Ukraine, von der Krim und von der Wolga. In den 50er-Jahren lebten in Nemezkoje etwa 220 Familien. Darunter waren dann auch schon Kasachen, Russen und Mordwinen. Jetzt in der Stadt Eska treffe ich wieder viele Deutsche. Im ersten Schuljahr in der LBA sind in unserer Klasse von 30 Schülern nur zwei Russen, zwei Polen und zwei Tschetschenen. Alle anderen sind Deutsche. Viele in der Klasse sind zwei bis drei Jahre älter als ich und alle, außer den zwei Russen, stehen wir hier unter der Meldepflicht bei der Kommandantur. In dem Zimmer des Schülerheims fühle ich mich nicht wohl. Für 222
14 Mädchen ist das Zimmer zu klein. Es ist immer kalt und laut. Ich kann mich nicht konzentrieren, wenn ich meine Hausaufgaben mache. Außerdem haben wir alle zusammen nur einen Tisch und müssen uns anstellen, um Hausaufgaben zu machen. Deshalb suche ich mir eine private Unterkunft. Zwei Jahre lebe ich bei der Familie Elsa Prib und zwei Jahre bei Willi und Maria Boll. Natürlich miete ich mir da nicht ein eigenes Zimmer, sondern eine Ecke, wo ein Bett und eine kleine Nachtkiste für meine Privatsachen stehen. Der Familientisch steht mir hier am Abend für meine Hausaufgaben zur Verfügung. Mehr kann ich mir nicht leisten. Das wäre unbezahlbar. Gekleidet bin ich sehr bescheiden, aber dadurch unterscheide ich mich nicht im Geringsten von meinen Klassenkameraden. Fast alle meine Mitschüler kommen aus kleinen Dörfern der näheren und weiteren Umgebung. Wir tragen alle kurze Steppjacken, mehrfach geflickte und gestopfte Kleidung. Wir sind alle gleich arm und schämen uns dessen nicht. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, so stelle ich fest, dass mein Leben schon immer sehr einfach und karg war. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich mit Puppen oder mit anderem Spielzeug gespielt habe. Ich war unterernährt, lag tagelang im Bett, war zu schwach zum Aufstehen. Irgendwie hing ich zwischen Leben und Tod. Die ganzen Kriegsjahre haben wir uns von Sauerampfer, Brennnesseln und anderen Kräutern ernährt. Während Vater im Lager der Arbeitsarmee war, arbeitete Mutter im Kolchos. Da war der Lohn im Herbst 50 bis 60 Kilogramm Weizen - viel zu wenig für eine Familie zum Überleben. Aber mehr zahlte der Kolchos einfach nicht - er lieferte alles an den Staat ab und der sorgte für die Front. Zu dieser Zeit waren wir fünf Kinder zu Hause. Der älteste Bruder Johann war seit 1939 im Soldatendienst. Mein zweiter Bruder Jakob lernte in einer Forstfachschule, die er 1944 mit sehr gutem Erfolg abschloss. Um seine Ausbildung zu finanzieren, hat meine Mutter alles verkauft: Uhren, Kissen, Federdecken. Sie hat Tabak gepflanzt und verkauft. Später, als er mit der Ausbildung fertig war und geheiratet hatte, gab es auch etwas Hilfe von ihm. Sein Lohn 223
war nicht hoch und trotzdem gab er etwas der Mutter ab. Mutter sorgte für das Überleben aller ihrer Kinder. Aber für gute Kleidung hat es bei uns nie gereicht. Das Kreiszentrum Makinsk war zu dieser Zeit nur mit Ochsen zu erreichen. Die Reise von 90 Kilometern dauerte ganze zwei bis drei Tage in eine Richtung. Und dann nochmal zwei bis drei Tage zurück. Das war schon fast wie eine Weltreise! Alle besseren Pferde hatten die Kollektive an die Front geliefert. Für den eigenen Bedarf waren nur kranke und unterernährte Tiere zurückgeblieben. Für sie gab es keinen Hafer, denn auch der ging restlos an die Front. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einen ganzen Laib dunkles Brot im Herbst 1950 gesehen. So ein Luxus! So ein Reichtum! Ich empfand es wie ein Wunder, wie ein Geschenk Gottes. In diesem Jahr war die Ernte sehr gut und der Vorstand der Kolchose hat seinen Arbeitern alle Schulden ausgezahlt. Nach drei Unterrichtsstunden mussten alle Schüler auf die Tenne um den Erwachsenen beim Einbringen und Versorgen des Weizens zu helfen. Es war uns ein Vergnügen, mit Holzschaufeln und Eimern den feuchten frischen Weizen zu bewegen und aufzulockern. Alle freuten sich über die reiche Ernte. Das gute Brot war da! Wir würden nicht mehr hungern! In der Schule wurde in diesem Jahr die fünfte und in den folgenden Jahren auch die sechste und siebte Klasse geöffnet. Jetzt konnten auch die Kinder weiterlernen, die schon vor drei bis vier Jahren die vierte Klasse beendet hatten. Die Versorgung mit Lernmaterial und Büchern ließ allerdings noch viel zu wünschen übrig. Schulhefte, Federhalter, Tinte und Buntstifte waren Mangelware. Vier bis fünf Schüler teilten sich einen Satz Lehrbücher. Die Grundschullehrer unterrichteten jetzt auch alle Fächer in der fünften bis siebten Klasse. Ihnen zur Seite wurden auch noch Absolventen der 10. Klasse aus den Nachbardörfern gestellt. Das Unterrichtsniveau war erdenklich und verständlich niedrig. Zu Beginn meiner Ausbildung in der LBA wird es mir schmerzlich bewusst, wie mangelhaft mein Wissen und wie groß die Lücken sind. Hier sind die Anforderungen hoch und ich lege mich richtig 224
ins Zeug, um mich bei den Prüfungen nicht zu blamieren. Auch bei meinen Klassenkameraden sieht es nicht besser aus. Bei allen ist der Wille zum Lernen sehr groß. Wir sind richtig wiss- und lernbegierig! Wir scheinen alle aus einem Holz zu sein und alle in einem Boot zu sitzen. Und was für Menschen da herangewachsen sind! Wir sind bescheiden und dankbar für alles, was uns hier an Wissen geboten wird. Wir sind hilfsbereit, ehrlich und gut zueinander. Hier gibt es keinen Klatsch und keine Intrigen. Jeden Sommer und Herbst arbeiten wir zwei bis drei Monate in der Landwirtschaft in Kolchosen und Sowchosen. Bei der Heuernte setzen wir mit Gabeln große Schober. Dann putzen wir auf dem Dreschboden mit Holzschaufeln und Eimern den Weizen. Nichts ist auf der Tenne mechanisiert, alles ist Knochenarbeit. Trotzdem sind wir guter Laune, wir singen, lachen und scherzen. Wir freuen uns über unsere Gesundheit, über das schöne Herbstwetter und die gute Ernte. Nach den vielen Hungerjahren ist das Brot das Wichtigste im Leben. Im März 1954 - ich zähle gerade 16 Lenze - bestellt mich der Direktor der LBA Rekubrazki in sein Arbeitszimmer und empfiehlt mir, mich sofort zur Kommandantur zu begeben, dort würde ich erwartet. Etwas ratlos und verdutzt, was das wohl bedeuten könne, gehe ich noch ins Klassenzimmer zurück, um meine Schultasche zu holen. Es ist gerade Pause. Da teile ich meiner Freundin und Tischnachbarin so nebenbei mit, ich müsse jetzt zur Kommandantur, habe aber keine Ahnung, warum und wieso. Sofort versammeln sich um uns etliche Mitschüler. Die einen geben mir Ratschläge, die anderen warnen mich. »Nichts unterschreiben! Nichts unterschreiben! Lieber stehend sterben als auf Knien leben.« »Sterben! - So ein Quatsch! Hab ja keine Angst! Die werden dich schon nicht umbringen!« »Jetzt verstehe ich gar nichts!«, sage ich. »Wer soll mich denn umbringen? Und was soll ich nicht unterschreiben?« Es läutet. Ganz verdattert nehme ich meine Tasche und gehe. In der Kommandantur empfangen mich zwei Herren. Der ältere 225
sitzt am Tisch und ist ins Lesen vertieft. Vom jüngeren bekomme ich ein Formular in die Hand gedrückt mit dem Befehl: »Lesen Sie das aufmerksam durch, füllen sie es aus und unterschreiben es!« Da steht gedruckt: »Ich (Familien-, Vor- und Vaters Namen sind einzutragen) bin (Geburtsort und Datum eintragen) geboren und verpflichte mich, nie mehr gegen die Gesetze der Sowjetunion zu verstoßen.« »Was soll denn das?!«, frage ich empört. »Was habe ich falsch gemacht? Wieso ›nie mehr‹? Ich habe noch nie gegen die Gesetze verstoßen!« »Du bist doch eine Deutsche!«, sagt der Jüngere. »Ja, ich bin eine Deutsche«, sage ich. »Ist das ein Verbrechen? Habe ich schon deshalb die Gesetze des Landes verletzt, weil ich als Deutsche geboren bin?! Lenins Mutter war übrigens auch eine Deutsche ... von der Wolga ...« »Lesen Sie weiter! Lesen Sie weiter«, sagt der ältere Mann. Ich lese: »Ich verpflichte mich, meinen Wohnort nur mit schriftlicher Erlaubnis des Kommandanten zu verlassen und sofort Meldung zu erstatten, sollte jemand aus meinem Umkreis gegen diese Vorschrift verstoßen.« In Gedanken versunken sitze ich da: »So, so. Meldung erstatten soll ich ... Berichten ... über meine Freunde aus der LBA, scheinbar. Wer sollte hier denn sonst diese Vorschrift missachten?« Mein Gedankengang wird unterbrochen. »Na, sind Sie fertig? Unterschreiben Sie!« Ich schiebe das unausgefüllte Blatt von mir und stehe auf. »Nein. Ich unterschreibe das nicht. Wofür halten Sie mich denn?« Dann haben die beiden mich angeschrien und beschimpft, ich sei eine Verräterin und wolle meine Heimat nicht vor den Feinden und Spionen schützen. »Welche Feinde denn? Wo sind Spione? Hier in Kasachstan?! Ich sehe keine.« »Und all die Sonderumsiedler? Das ist doch Gesindel! Teufelsbrut! 226
Die warten doch nur auf eine Gelegenheit, von hier abzuhauen! Ins Ausland ...« Ich lache ganz laut, ich kann mich gar nicht beherrschen. »Ins Ausland?! Abhauen?! Wohin kann man denn von hier aus abhauen? Über den Nordpol nach Amerika vielleicht?!« Dann knallt es ganz fürchterlich und ich zucke vor Schreck zusammen. »Sie schießen auf mich?«, frage ich entsetzt und erinnere mich an die Warnung meiner Klassenkameraden. Es knallt wieder. Sie schießen tatsächlich auf mich aus ihren Pistolen! Wie gut, dass meine Freunde mich auf diese Situation etwas vorbereitet haben! Ich habe keine Angst. Umbringen werden sie mich ja nicht. Trotzdem kann ich es kaum fassen, was hier passiert: Neun Jahre nach Ende des Krieges schießen zwei Männer auf ein 16-jähriges Mädchen, um es zur Mitarbeit beim Geheimdienst zu zwingen. Das ist haarsträubend! Und all das passiert am helllichten Tag! Es geschieht im selben Raum, in dem »das verbrecherische Element« monatlich seiner Meldepflicht nachkommt und seine Anwesenheit an diesem Ort durch Unterschrift bestätigt. Sollte ich das jemals jemandem erzählen - kein Mensch würde es mir glauben! »Podpischi! - Unterschreibe!«, verlangen die Männer und zielen auf mich. Ich schüttle den Kopf und gehe zur Tür: »Nein, Genossen, tut mir Leid. Das kann ich nicht unterschreiben. Von mir aus dürfen Sie weiter Schießübungen machen. Auf Wiedersehen!« Zu Hause setze ich mich sofort hin und schreibe einen Brief an meine Eltern. Nein, nein, das soeben Erlebte schildere ich ihnen nicht, denn es würde sie zu Tode erschrecken und sie würden sich viele Sorgen um mich machen. Ich habe beschlossen, Widerspruch gegen die Meldepflicht einzulegen. Mit der Erfassung der Sonderumsiedler, mit der Eintragung aller Verdächtigen in die Listen der Kommandantur, hat meine Familie schon manche bittere Erfahrung gemacht. Mein Vater hatte es mal gewagt, ins 12 Kilometer entfernte Nach227
bardorf zu gehen, um Zirkel, Lineal und Dreieck zu kaufen. Dafür musste er 100 Rubel Strafe zahlen - für jene Zeit ein ganzes Vermögen! Meine ältere Schwester Maria hat mal unseren Bruder in der 25 Kilometer entfernten Waldwirtschaft besucht, um seine Wäsche in Ordnung zu bringen. Sie war zwei Tage dort und hat gewaschen, Ungeziefer vertilgt, geflickt und gestopft. Anschließend war sie zwei Wochen im Gefängnis. Hinterher schickte der Vorstand der Kolchose sie als Nachthirte mit den Kollektivkühen auf die Weide. Welche Ängste sie da ausgestanden hat! Sie war 24 Jahre alt und ganz alleine in der Dunkelheit. Sie hatte Angst vor den hungrigen Wölfen, die in Rudeln auf der Steppe herumstöberten. Sie fürchtete nicht nur um ihr Leben, sondern auch um das Leben der Kühe. Sollte auch nur ein Tier gerissen werden oder verloren gehen, so hatte man ihr mit einem Verfahren gedroht, wegen unredlichen und fahrlässigen Umgangs mit dem kollektiven Eigentum. Meine Schwester hat sich gegen solche ungerechte Behandlung gewehrt und Anfang der 50er- Jahre einen Brief nach Moskau an den Kreml geschickt. Sie stellte einen Antrag auf »Entlassung aus der Meldepflicht«, da sie keine Sonderumsiedlerin sei, sondern eine Einheimische, die hier in Kasachstan geboren war. Auf die Idee, solchen Antrag zu stellen, hatte sie unser Vater gebracht. Er hatte von Angehörigen im Altaj und im Gebiet Omsk in Sibirien erfahren, es gäbe dort keine generelle Meldepflicht für Deutsche. Dort würden nur die Zugereisten - Deportierten, Evakuierten, Repatriierten - von der Kommandantur erfasst. Dort hätten viele nach einem bestimmten Formular ihre Befreiung von der Meldepflicht erreicht. Vater hatte sich dieses Formular beschafft. Doch weder er noch meine älteren Geschwister hatten damit Erfolg. Auch meine Schwester Maria bekam eine Absage und blieb bis auf weiteres unter Aufsicht. Seit ich nicht mehr zu Hause bei meinen Eltern lebe, hänge auch ich am selben Haken. Das ärgert mich maßlos! Und jetzt, wo man mich zu bestimmten Diensten zwingen will, bin ich entschlossen, mich zu wehren! Ich bitte meinen Vater um dieses Formular, fülle es aus und schicke 228
es per Einschreiben nach Moskau an Kliment Woroschilow - den damaligen Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets. Die Antwort bekomme ich nicht persönlich. Wieder bestellt mich der LBA-Direktor in sein Arbeitszimmer und delegiert mich zur Kommandantur. Da treffe ich wieder auf die gleichen zwei Männer in Uniform der »inneren Sicherheit«. Ohne Kommentar bekomme ich einen Brief vorgelegt, den ich lesen soll. Es ist die Antwort aus dem Kreml. Sie lautet: »Registrieren auf allgemeiner Grundlage!« Jetzt soll ich bestätigen: »Mit dem Inhalt dieses Briefes wurde ich bekannt gemacht«, Datum und Unterschrift. Dieser Aufforderung komme ich nach und verlasse den Raum. So schnell lasse ich mich nicht abspeisen und schreibe sofort wieder nach Moskau. Dieses Mal schicke ich meinen Antrag per Einschreiben an den Generalsekretär der Kommunistischen Partei G. M. Malenkov. Ende Juni 1954 bekomme ich - wieder auf demselben Wege über den Direktor und die Uniformierten - die Antwort aus Moskau. Jetzt lautet sie: »Die Unterlagen der Antragstellerin sollen genau überprüft werden. Anschließend soll sie aus den Listen gestrichen und von der Meldepflicht befreit werden.« Der Kommandant sagt mir, welche Urkunden und Bescheinigungen ich vorlegen muss, um einen ganz normalen Pass zu bekommen. Im Herbst 1954 ist es dann so weit: Ich bekomme einen fünf Jahre gültigen Pass und bin somit ein ganz normaler Sowjetbürger. Jetzt darf ich mich frei im Land bewegen. Gebrauch kann ich davon allerdings nicht machen, weil mir zum Reisen das Geld fehlt. Aber nach Hause zu meinen Eltern ins Dorf Nemezkoje fahre ich jetzt in den Schulferien, ohne eine schriftliche Erlaubnis des Kommandanten zu beantragen. Auch das ist schon ein großer Erfolg. Die anderen Deutschen in der LBA und auch meine ganze Familie haben bis zur Aufhebung der allgemeinen Meldepflicht 1956 Zeitpässe, mit drei oder sechs Monaten Laufzeit. So ein Pass schränkt die Bewegungsfreiheit des Besitzers ein. Das Ziel: Jeder soll in dem Ort bleiben, der ihm zugewiesen ist. Keiner soll ausreißen und sich selbst den Wohnort wählen. 229
Sollten Sie mich jetzt fragen, warum ich befreit wurde, meine Familie aber nicht, so kann ich da nur Vermutungen anstellen. Die Zeit hat sich geändert. J. W. Stalin, der 30 Jahre lang mit harter Hand das ganze Land regiert hat, ist gestorben. Die Meldepflicht ist nicht mehr so streng. Wahrscheinlich arbeiten die Politiker schon daran, die Kommandantur aufzuheben, weil ja sehr viele gegen sie protestiert haben. Der Geist des Widerstandes regt sich langsam und das strenge Regime ist nicht länger aufrechtzuerhalten. Das ist übrigens auch die Meinung meines Vaters. Bei der Aufhebung der Kommandantur 1956 muss sich jeder Einzelne verpflichten, nie in seinen Geburtsort oder Aussiedlungsort zurückzukehren und irgendwelche Entschädigung für das erlebte Unrecht zu verlangen. Das Hauptziel ist: Die Sonderumsiedler sollen nicht ihre Häuser zurückverlangen, die sich die Einheimischen angeeignet haben. Die Kaukasier pfeifen auf diese Verpflichtung: Sofort nach der Aufhebung der Kommandantur ziehen sie scharenweise in ihre Bergregionen und werfen die sich dort angesiedelt habenden Russen aus den Häusern. Es sollen dort bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen. Somit haben die Tschetschenen und Inguschen ihre angestammten Siedlungsgebiete und autonomen Rechte zurückgewonnen. Auch die Deutschen sind mit der Neuordnung ihres Lebens nicht zufrieden. Sie gehen aber nicht auf die Barrikaden, veranstalten keine Messerstechereien, sondern beschreiten besonnen, vornehm und geduldig den Weg der Beschwerden. So beginnt ein Jahrzehnte dauernder Papierkrieg. Jedes einzelne Menschenrecht gilt als Zugeständnis und muss bei den örtlichen Behörden langatmig erkämpft werden. Zu diesen Rechten gehören vor allem die Pflege und Weitergabe der Muttersprache, nationale Presse, freie Berufswahl, freier und gleichberechtigter Zugang zu allen Bildungseinrichtungen, Ausübung der Gewissensfreiheit, Wiederherstellung der deutschen Autonomie und schließlich das Recht auf Ausreise. Das alles ist nicht einfach und geht auch an uns, den Schülern der LBA, nicht spurlos vorbei. 230
Viele von uns leben auch noch lange nach dem Krieg in größter Armut, weil die Familien groß sind und die Väter und Ernährer fehlen. Ein Mädchen aus unserer Klasse - Katja Mantler - bricht nach fast drei Jahren ihre Ausbildung ab. Einen Vater hat sie nicht und die Mutter ist krank geworden. Jetzt muss sie sich um die Familie kümmern und geht in den Kolchos zurück. So ähnlich geht es auch Dorothea Dirks. Ihr Vater ist in der Trudarmee ums Leben gekommen. Materiell hält sie es nicht durch und bricht ihre Ausbildung ab. Nach Aufhebung der Kommandantur verlassen beide Kaukasier unserer Gruppe ohne Abschluss die LBA. Denn auch sie sind in den Kampf um ihre nationalen Rechte geraten. Der eine geht wegen einer Schlägerei ins Gefängnis. Der andere, ausgeschlossen aus der LBA, arbeitet anschließend als Lastautofahrer. Im Frühling 1957 lesen wir in der Kreiszeitung einen Artikel, unterschrieben von unserem Leiter der Wirtschaftsabteilung - einem deutschen Kommunisten namens Pratt. Im Artikel wird behauptet, eine Schülerin unserer Klasse - Herta Neufeld - sei eine Sektiererin, glaube an Gott und besuche heimlich Gottesdienste. So eine dürfe nicht Lehrerin werden und sowjetische Kinder unterrichten. Diese Herta - ein kleiner Käfer - ist humorvoll, lebhaft und ein guter Kamerad. Auch sie ist ohne Vater aufgewachsen und stammt aus einer sehr armen Familie. Ihre Mutter und der kranke Bruder können nicht arbeiten und bekommen auch keine Rente. Ich bekomme Angst um sie, als ich den Artikel lese. Noch am selben Tag führt unsere Klassenlehrerin eine Versammlung durch und stellt die Herta zur Rede: »Wie ist denn das passiert?! Wie konntest du in die Sekte geraten? Wer hat dich verführt? Welch eine Rückständigkeit! Welche Schande!« Herta versucht die Fragen zu beantworten. Sagt etwas über Gewissensfreiheit. Die Lehrerin unterbricht sie und fordert die ganze Klasse auf, das Benehmen der Herta zu verurteilen. Alle schweigen. Nur unser Komsorg - Jakob Schütz - meldet sich zu Wort. »Warum unterbrechen Sie, Maria Nikolajewna? Sie stellen Fragen und Neufeld antwortet. - Das ist doch interessant!« 231
Zum Schluss dieser Versammlung bekennen sich noch drei Mädchen zum christlichen Glauben. Auch sie haben heimlich den Gottesdienst einer Gemeinde besucht. Jetzt ist die Katastrophe komplett! Alle vier - Herta Neufeld, Elisabeth Weingart, Helene Janzen und Sieglinde Sukkau - müssen die LBA ohne Abschluss verlassen. Vier Jahre Ausbildung, mit grossen Schwierigkeiten verbunden alles umsonst! Es ist unglaublich und unvernünftig, was unsere Kolleginnen da gemacht haben! Tief in meiner Seele bin auch ich und manch ein anderer deutscher LBA-Schüler gläubig. Aber es in der Öffentlichkeit zugeben?! Niemals! Das kommt fast einem Selbstmord gleich. Sie bekommen keine Diplome und keine Arbeit. Meine Eltern haben erzählt, in den 30er-Jahren seien ganze Familien der Gläubigen über Nacht verschwunden. Die Männer kamen in Lager und Gefängnisse oder wurden sofort erschossen. Und die Familien wurden als Feinde und Spione betrachtet. Sie wurden ihr Leben lang verfolgt und beobachtet. Meine Eltern waren gottesfürchtige Menschen, sie verhielten sich ruhig und haben mit niemandem über ihren Glauben gesprochen - nur um bei ihren Kindern zu bleiben. Sie waren niemals im Klub bei großen Festen und haben keine Reden gehalten von der großen Tribüne wie die Kommunisten. So gingen sie ihren eigenen Weg mit verstecktem Glauben im Herzen. Das war keine Heuchelei und kein Verrat, sondern nur ein Weg zum Überleben. Als ich noch zu Hause bei meinen Eltern war, hat Mutter streng geheim uns Kindern erzählt, was in der Bibel geschrieben steht. Vater war zwar dabei, hat aber zu diesem Thema geschwiegen. Ich habe erst nach seinem Tod erfahren, dass er ein ausgebildeter Theologe war. So hat er nicht nur sich, sondern auch uns Kinder geschützt. - Was wir nicht wussten, konnten wir auch nicht aus Versehen verraten. Mutter hat mit uns das »Vaterunser« gebetet und zu Weihnachten und Ostern schöne Lieder gesungen. An manche davon kann ich mich bis heute erinnern. Das sind »Stille Nacht, heilige Nacht«, »O du fröhliche, o du selige«, »Der Himmel steht offen«, »So nimm denn meine Hände und 232
führe mich«. Diese Lieder konnte meine Mutter auswendig und auch ich habe sie gelernt. Die religiösen Bücher hatten meine Eltern in Papier gewickelt, mit Wachs übergossen, in ein Kästchen gelegt und im Stall oben an einem trockenen Platz in die Wand eingemauert. In den 30er-Jahren haben die Kommunisten das Häuschen durchsucht und die Wände überall mit Spießen durchbohrt. Die Bücher haben sie nicht gefunden. Bevor ich mein Elternhaus verlasse, spricht Vater zum ersten und letzten Mal mit mir sehr ernsthaft und eindringlich über den Glauben. Er sagt, unser Herr und Heiland erwarte von uns keine Lippenbekenntnisse und keine besondere Kleiderordnung. Um mich an Ihn zu wenden, müsse ich keine besonderen Räume aufsuchen. Ich könne unter freiem Himmel und in Lumpen gekleidet, egal in welcher Sprache und in welcher Lautstärke, zu Ihm beten und Er würde mich erhören. Und er wiederholte mehrmals: »Nur an deinen Taten soll man dich erkennen! Nur an den Taten wird Er dich messen. Deine Taten sind das Einzige, was bei Ihm zählt!« Dieses Gespräch mit meinem Vater hat mich sehr beeindruckt. Wenig Worte, nur Taten - das ist zu meinem Verhaltenskodex geworden. Jetzt in der LBA sehe ich meine Freundinnen ins Messer rennen ... Mir läuft es kalt über den Rücken. Herta hat keinen Vater, der sie so belehrt hätte wie meiner mich. Ich bete für sie, insgeheim, still und leise, wo ich gehe und stehe, zu jeder Tageszeit, an jedem beliebigen Ort. Genau wie mein Vater es mir empfohlen hat. Der Herr möge sie behüten und begleiten durch ihr ganzes Leben. * * * Sofort nach dem bestandenen Staatsexamen heirate ich im Juni 1957 einen Deutschen aus dem benachbarten Bergbau-Technikum. Karl Hermann heißt er, ist drei Jahre älter als ich und hat noch zwei Ausbildungsjahre vor sich. Bis 1955 wurden in dieses Technikum keine Deutschen aufgenommen. Karl hat bis dahin als Elektromonteur gearbeitet und studiert jetzt am Technikum Elektromechanik. 233
Ich bekomme in der Schule eine Stelle als Laborantin und mache auch Vertretungen, wenn jemand von den Lehrern krank ist. Wir haben ein Zimmer bei Frau Amalia Frasch gemietet, die 1941 aus der Krim umgesiedelt ist. Wir leben von meinem kleinen Gehalt und dem Stipendium meines Mannes. Wir haben kein Geschirr und keine Bettwäsche. Alles hat Karl in der Wirtschaftsabteilung seines Technikums ausgeliehen. Seine Eltern sind 1956 ins Gebiet Almaty nach Issyk umgezogen. Ihre Familie besteht aus neun Personen, aber nur zwei davon sind berufstätig. Das Einkommen der Familie ist gering. Sie können uns nicht helfen. Auch von meinen Eltern ist keine Hilfe zu erwarten. Zwei meiner älteren Geschwister machen jetzt nachträglich ihre Berufsausbildung und haben kein eigenes Einkommen. Karl und ich ernähren uns von schwarzem Brot, Kartoffeln und Tee. Für andere Lebensmittel - Fleisch, Milch, Mehl, Eier und Butter - reicht unser Geld nicht. Das alles ist für uns unerschwinglich. Als dann im Mai 1958 unser erster Sohn zur Welt kommt, ist unsere Lage katastrophal. Das Kind ist oft krank und trotzdem gebe ich es mit dreieinhalb Monaten in die Krippe, um zur Arbeit zu gehen. Ich bin am Verzweifeln! - Kein Geld für Arznei und für Lebensmittel. Karl ist dabei, seine Ausbildung abzubrechen, damit wir nicht alle verhungern müssen. Doch es gelingt mir, bei einem Verwandten etwas Geld auszuleihen. Wir leben aus der Hand in den Mund. Karl ist im Lernen sehr gut und bekommt im Sommer 1959 das Diplom eines Elektromechanikers im Bergbau. Zur Arbeit wird er nach Karaganda eingeteilt, wo es sehr viele Kohlengruben gibt. Er muss noch 50 Kilometer weiter in die Steppe - direkt ins Zentrum vom Karlag - dorthin, wo ganz viele Häftlingslager sind. In Tentek werden von politischen und kriminellen Sträflingen gleichzeitig drei neue Kohlengruben errichtet. Ich bleibe inzwischen mit unserem einjährigen Sohn ohne meinen Mann in Eska zurück. In dieser Stadt leben zwei Tanten und drei verheiratete Cousins von Karl. Obwohl ihnen meine verzweifelte Lage bekannt ist, hat mich keiner von ihnen besucht und sich erkundigt: 234
»Wie geht es dir? Kommst du zurecht alleine mit dem Kind? Brauchst du Hilfe?« Fürwahr: »Der Satte versteht den Hungrigen nicht!« Ohne Tränen kann ich nicht an diese schwere Zeit denken. Aber unser Herrgott zeigt uns immer wieder einen Ausweg. Im August bekommt mein Karl Vorschuss und schickt mir 200 Rubel. Das Geld reicht für eine Fahrkarte nach Karaganda und zum Abschicken des Gepäcks. Die Miete für zwei Monate bleibe ich der Wirtin schuldig. Und auch alle anderen Schulden kann ich nicht tilgen. Ich schicke ein Telegramm an die Verwaltung meines Mannes und kündige unsere Ankunft für den Sonntag an. Um sechs Uhr in der Früh stehe ich mit meinem Kind am Bahnhof Karaganda, aber weit und breit ist keiner zu sehen, der mich abholen würde. Für die letzten Groschen kaufe ich zwei Brötchen für den Sohn und bete inständig, mein Mann möge doch rechtzeitig meine Nachricht erhalten haben. Kurz vor zwölf Uhr taucht mein Karl mit seinem neuen Freund auf - die Freude ist groß. Wir sind gerettet! Karl ist an seinem freien Tag in die Verwaltung gegangen. Die Sekretärin hat ihn gesehen, gerufen und ihm das Telegramm ausgehändigt. Bis Ende Oktober haben wir alle Schulden beglichen und uns in Briefen herzlich bedankt. Damals habe ich mir geschworen, allen aus meiner nächsten Umgebung zu helfen, wer sich in Ausbildung befindet. Und das habe ich in den folgenden Jahren auch nach meinen Möglichkeiten getan. Als 1965 mein Schwiegervater verstarb, war die jüngere Schwester meines Mannes noch in der Ausbildung. Ihre Mutter war Hausfrau und hatte noch Schulkinder zu Hause. Der 16-jährigen Frieda konnte die Mutter nicht helfen. Da habe ich ihr drei Jahre lang pünktlich jeden Monat 15 bis 20 Rubel der neuen Währung (nach 1961) geschickt. Karls jüngster Bruder Waldemar erlernte nach der achten Klasse einen Beruf. Er wohnte vier Jahre bei uns, hatte hier freie Kost und ich habe auch seine Wäsche gewaschen, geflickt und gestopft. Karls Neffe, Viktor Hermann, wohnte fünf Jahre während seiner Ausbildung bei uns. Seine Eltern schickten ihm Geld, die Arbeit hatte ich. 235
Ich habe mich nicht geschont und vor keiner Arbeit gedrückt. Oft habe ich mich an die Worte meines Vaters erinnert: »An deinen Taten wird man dich messen.« Das ist jetzt aber weit vorgegriffen. Vorerst holt Karl mich und unseren Sohn vom Bahnhof Karaganda ab und bringt uns in seinen Bestimmungsort - nach Tentek. Der Name des Ortes bedeutet in Kasachisch »Wahnsinn, verrückt«. Auf der Landkarte des Zaren Russlands war südlich von Akmola die »Hungersteppe« eingetragen. Das war das kasachische Kleingebirge oder Bergkuppen. Im Frühling blüht hier ein wahrer Blumenteppich. Aber schon im Juni ist alles vorbei - die Steppe ist gelb. Das Klima ist hier menschenfeindlich: fast keine Niederschläge und große Temperaturschwankungen. Im Winter fällt die Temperatur bis minus 45 Grad und im Sommer steigt sie bis plus 45 Grad Celsius im Schatten. Wer schwache Lungen hat, für den ist die trockene Luft mörderisch. Tentek - der Wahnsinnsort, in den mein Mann seine Familie im Sommer 1959 bringt, ist erst vor einem Jahr entstanden und hat eine Legende. Vor langer Zeit soll an dieser Stelle eine große Schafherde durch ein Unwetter zugrunde gegangen sein. Die Hirten verlieren die Orientierung, werden verrückt, wahnsinnig - und erfrieren zusammen mit den Tieren. Anfang des 20. Jahrhunderts kämpfen wieder einmal Hirten mit ihren Herden ums Überleben. Sie haben Feuer gemacht und - damit der Wind es nicht ausbläst - legen sie viele schwarze Steine, die in großer Menge da herumliegen, um die Flammen. Die Steine erwärmen sich, beginnen zu glühen und geben sehr viel Wärme ab, als sie zum Schluss lichterloh verbrennen. Geologen durchqueren die Hungersteppe und finden in ihrem Schoß einen großen Schatz - die schwarze Steinkohle. Ein neuer Ort entsteht und bekommt seinen Namen - Karaganda, was auf kasachisch »schwarzer Stein« bedeutet. Im Jahre 1930 gehen die ersten Kohlengruben in Betrieb. Erbaut wurden sie von Häftlingen, die in den vorangegangenen Jahren hier scharenweise verhungerten oder an verschiedenen Krankheiten starben. Zuerst kamen die ehemaligen Kulaken - die enteigneten Großbauern aus dem europäischen Teil der Sowjetunion - in den Genuss, 236
hier dem Sozialismus auf die Sprünge zu helfen. Ihre Reihen lichteten sich zu schnell und mussten aufgefüllt werden. Dazu dienten die Repressierten - politische Sträflinge aller Couleur aus allen Enden und Teilen des Landes. Als auch dieses Menschenmaterial zu versiegen drohte, kam die Arbeitsarmee sehr zustatten - die Russlanddeutschen, die hier für die Sünden des Zweiten Weltkrieges zu büßen hatten. Ausgerechnet hier war während des Krieges auch mein Vater in den Kolonnen der Trudarmee. Später - zwischen 1945 bis 1955 - wurden viele Kriegsgefangene der deutschen Wehrmacht hier festgehalten und in den Kohlengruben »verwendet«. Auch Lager von Kriminellen - Männer und Frauen getrennt waren hier angesiedelt. Aus allen Kategorien dieser Sträflinge gibt es Überlebende, von denen manche auch befreit werden. Sie sind aber nicht richtig frei, sondern ihnen werden Bedingungen gestellt, sie müssen Verpflichtungen unterschreiben. - Es ist Freiheit auf Bewährung. Die meisten bleiben in diesem Gebiet. Wo sollen sie auch hin, wenn sie vor vielen Jahren entwurzelt wurden? Sie haben ihre Familien, ihre Angehörigen, ihre Berufe und ihre Heimat verloren und siedeln sich in der Nähe der Kohlengruben an. So entstehen die Trabanten Majkuduk, Saran, Abaj, Aktas und unser Tentek, welches 1961 in Schachtinsk umbenannt wird. Mehr als die Hälfte aller Einwohner von Schachtinsk sind ehemalige Sträflinge. So kommen wir unter einen rauen Menschenschlag. Ihre Sprache ist grob und mit vielen Flüchen gewürzt. Am Anfang habe ich Angst vor ihnen. Wenn man sie aber näher kennen lernt, so sind es harmlose Menschen mit schwerem Schicksal. Es sind viele gute Menschen unter ihnen. Sie fluchen aus Gewohnheit ohne Bosheit oder Zorn. Trotzdem stört es mich. Aber der Mensch gewöhnt sich an alles, wenn er nur Arbeit und Brot hat. Mein Mann lebte zuerst mit 20 anderen Männern in einem Zelt. Als unser Sohn und ich zu ihm kommen, werden wir gemeinsam mit einem anderen Ehepaar in einem noch nicht fertigen kleinen Zimmer untergebracht. Wir schlafen zu dritt in einem Bett, sind aber 237
zufrieden, weil wir zusammen und satt sind. Es gibt in ganz Schachtinsk nur ein einziges Kaufhaus. Aber es ist voll mit Lebensmitteln. Vieles sehe ich zum ersten Mal im Leben - Süßigkeiten, verschiedene Fleischsorten und Konserven, frisches Obst und Gemüse. Keiner hat zu Hause einen Kühlschrank, deswegen wird nicht viel auf einmal eingekauft und täglich muss man in allen Abteilungen lange anstehen. Nach einem Monat bekommen wir ein Zimmer in einem Einfamilienhaus aus Fertigteilen. In den anderen zwei Zimmern leben Eheleute mit vier Kindern. Dieses Haus ist sehr kalt. Obwohl wir rund um die Uhr zwei Öfen mit Kohlen heizen, sind im Winter die Wände mit Raureif bedeckt. Im März 1960 gehe ich auf Arbeitssuche und bekomme prompt die erste Klasse angeboten. Doch wohin mit dem Sohn? Die Kinderbetreuung funktioniert noch nicht so richtig. Einen Krippenplatz bekomme ich nicht und bringe ihn für fünf Monate zu den Schwiegereltern nach Issyk. In der Schule werden fast jeden Monat neue Klassengruppen aufgemacht. Der Ort wächst unkontrolliert und platzt aus allen Nähten! Wenn im September 59 die Schule noch keine 300 Schüler hat, so sind es Ende Mai 1960 schon über 1400 - in einem Schuljahr fast der fünffache Zuwachs! So viele Familien mit Kindern sind dazugekommen. Die Regierung investiert hier in den 60er-Jahren sehr viel in zivile Bauten. Über Nacht werden große Wohnblocks mit Zentralheizung und fließendem Wasser aus dem Boden gestampft. Es entstehen Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser. Im Mai 1960 bekommen wir in einem Vierfamilienhaus eine kleine Wohnung mit separatem Eingang. In diesem Zimmerchen hüpfe ich vor Freude, lache und weine zugleich! Endlich sind wir unter uns! Haben einen eigenen Eingang! Eine Küche nur für mich! Keiner stört uns und wir stören keinen! - Das Leben ist herrlich! So viele verschiedene Menschen sind in diesem Ort zusammengeströmt, aber zwei bis drei Jahre gibt es keine Verbrechen, keinen Diebstahl. Wir sind alle gleich reich und gleich arm. Wir haben 238
gute Nachbarn, mit denen wir Freude und Leid teilen. Keiner hat hier Verwandte, deshalb sind wir aufeinander angewiesen. Es sind alles junge Familien. Wir feiern gemeinsam die anfallenden Feste und helfen uns gegenseitig bei Kinderkrankheiten und sonstigen Problemen und Schwierigkeiten. Ich erzähle deshalb so ausführlich über diese raue Gegend und ihre Menschen, damit der Leser sich ein Bild macht, unter welchen Umständen mein Mann und ich hier als »junge Spezialisten« leben. Es ist kein Luxus. In dieser Einzimmerwohnung leben wir vier Jahre, bekommen noch zwei Kinder und ziehen im April 1964 in eine Dreizimmerwohnung um. Hier haben wir so viel Platz, dass die Kinder sich voller Vergnügen auf dem Fußboden wälzen. Es ist eine helle und, für damalige Verhältnisse, eine sehr schöne Wohnung. Wir haben hier 29 Jahre - bis zu unserer Ausreise nach Deutschland - gewohnt. Mein Berufsleben gestaltet sich schwieriger, als ich es erwartet habe. Die Schulklasse mit 42 Kindern, die ich im Frühjahr 1960 übernehme, ist viel zu groß für einen optimalen Unterricht. Der Stellenplan ist knapp bemessen und sofort nach dem Unterricht muss ich in der Bibliothek weiterarbeiten. Am Abend schreibe ich die Pläne und korrigiere die Schulhefte für den nächsten Tag. Es bleibt kaum Zeit für die Familie, für den Haushalt und für mich selbst. Obwohl ich mit Schülern und ihren Eltern nie Schwierigkeiten gehabt habe, fühle ich mich als Lehrerin so richtig ausgebeutet. Nach der Geburt des dritten Kindes lege ich für zwei Jahre Pause ein. Aber der Lohn meines Mannes ist gering. Als Alleinverdiener kann er die Familie nicht ernähren. Also nehme ich im Herbst 1964 meinen Beruf in der Grundschule wieder auf, obwohl es sehr schwer ist, allen Anforderungen gerecht zu werden. Mit meinen Schülern bereite ich viele Feste zum besseren Verständnis des Lernmaterials vor. Dazu gehören solche Themen wie: »Die Bedeutung der Arbeit für den Menschen. Wichtigkeit verschiedener Berufe«, »Das Brot - unser Hauptnahrungsmittel. Die Nahrungskette in der Natur«, 239
»Das Leben der Tiere und ihre Bedeutung für den Menschen«, und Ähnliches. Zu jedem Thema suchen die Kinder Gedichte, Lieder, Erzählungen und bereiten einen Vortrag vor. Das alles wird geprobt, eingeübt und dann den Eltern bei einer Versammlung vorgetragen. Ich lenke die Aufmerksamkeit der Kinder auf Freundschaft verschiedener Nationen, auf die Wichtigkeit des Friedens in der Welt. Ich erziehe sie zu Hilfsbereitschaft, Ehrlichkeit und Liebe zur Natur. Niemals habe ich mit den Kindern gegen Gott gesprochen. Von meinen Eltern kenne ich die 10 Gebote Gottes und bringe den Kindern und ihren Eltern den Sinn dieser Gebote nahe. Meine Arbeit ist interessant und spannend, aber auch kompliziert und anstrengend. Im April 1967 versetzt man mich in eine 8-Klassen-Schule als Lehrerin der ersten Klasse und Deutschlehrerin für die fünfte und sechste Klasse. Hier gehört es zu meinen Aufgaben, die Kinder mit dem lateinischen Alphabet vertraut zu machen, ihnen das Übersetzen Deutsch - Russisch und umgekehrt beizubringen und einfache Dialoge zu üben. Auf diesen Unterricht bereite ich mich gründlich vor und komme damit ganz gut zurecht. Für das nächste Schuljahr, das Jahr 1967/68, schlägt mir der Direktor vor, nur noch Deutsch zu unterrichten. Ich willige ein. Schwierigkeiten macht mir die fünfte Klasse, in der ich Klassenleiterin bin. Die Schüler sind hier aus verschiedenen Schulen zusammengewürfelt. Sie bringen schwache Kenntnisse in allen Fächern mit. Es gibt Schlägereien und Störungen im Unterricht. Da nehme ich Kontakt zu den Eltern auf und arbeite mit ihnen individuell und in Gruppen. Das alles trägt Früchte: Schon nach drei bis vier Monaten verstehen wir uns besser, es gibt Kameradschaft in der Klasse, Nachhilfe wird organisiert. Es kommen weniger Beschwerden von anderen Lehrern. Als Beispiel führe ich einen Schüler - Jura Krasnoselskij an, der die fünfte Klasse zum dritten Mal wiederholt. Er ist älter als die anderen, sehr kräftig und stört oft den Unterricht. Über ihn beklagen sich die Lehrer am meisten. Am Ende des ersten 240
Vierteljahres ist er in allen 10 Fächern gleich schlecht. Ich habe Hilfe für ihn bei Kollegen, Eltern und Schülern organisiert. Und es geht bergauf. Zum Ende des zweiten Vierteljahres hat Jura nur vier schlechte Noten. Auch sein Benehmen ändert sich positiv: Er wird ruhiger und ausgeglichener. Sein Vater hat dazu wesentlich beigetragen. Mit ihm habe ich vereinbart, er solle ab und zu in den Unterricht kommen, wenn er Zeit hat, und das Benehmen seines Sohnes beobachten. Das hat er gemacht. Dann hat er mit Jura in der Freizeit Fußball gespielt und ihm zum Geburtstag ein Fahrrad geschenkt. - Vermehrte körperliche Anstrengung in der Freizeit führt dazu, dass der Junge sich im Unterricht besser konzentrieren kann, weniger zappelt und keinen mehr stört. Der Schuldirektor rät mir, im Fernstudium den Abschluss als Lehrkraft für Fremdsprachen zu machen. Ich berate mich mit meinem Ehemann, spreche darüber mit meinen Arbeitskollegen und willige ein. Im Dezember 1967 kommt ein Inspektor vom Schulamt und inspiziert unter anderem auch den Deutschunterricht. Er ist mit meinem Unterricht zufrieden und schreibt viel Lob in sein Protokoll. In dieser Zeit melde ich mich in Kokschetau zu Aufnahmeprüfungen für das Fernstudium in Deutsch an. Ich besorge mir die nötige Literatur und bereite mich auf die Prüfungen vor. Doch dazu kommt es nicht mehr. Zu Neujahr 1968 verschwindet aus der Schule ganz unerwartet unser Direktor Giesbrecht - ein Deutscher. Die Ursache bleibt unbekannt. An seine Stelle kommt die Direktorin Baschkirewa. Sie ist überheblich und arrogant - ein unangenehmer Mensch. Zum Deutschunterricht werden unsere großen Klassen in zwei Gruppen aufgeteilt, damit die Schüler besser lernen können. Eines Morgens kommen meine Kollegin und ich zur ersten Unterrichtsstunde, wie üblich. Wir nehmen unsere Klassenhefte und schauen auf den Stundenplan - in welches Klassenzimmer jede von uns gehen muss. Da sitzt unsere Direktorin auf dem Tisch und sagt plötzlich: »Ich habe das Recht, euch, Deutsche, heute nicht in den Unterricht gehen zu lassen!« 241
»Ist das Jahr 47 wiedergekommen?!«, entfährt es mir, ohne dass ich nachgedacht hätte. Sie antwortet nicht. Vater hat mir erzählt, im Jahre 1947 hätten alle Lehrer deutscher Nationalität die Schulen verlassen müssen. Ich erkläre es der Direktorin, die es angeblich nicht gewusst hat. Meine Kollegin und ich gehen ins Schulamt und beschweren uns über die Baschkirewa. Der Inspektor erklärt uns, der Bildungsetat sei überzogen, man müsse einsparen und deshalb mitten im Schuljahr die Zahl der Lehrer reduzieren. Das Amt sucht einen Ausweg und beschließt, die Klassen dürfen für den Deutschunterricht nicht in zwei Gruppen aufgeteilt werden, wenn die Lehrkraft keine Spezialausbildung als Lehrer für Fremdsprachen hat. Das ist paradox! Es bedeutet: Hast du die höhere und bessere Bildung - so unterrichtest du 21 Schüler. Ist deine Ausbildung nicht so gut - siehe, wie du mit 42 Schülern zurechtkommst! Nach zwei bis drei Tagen werde ich in eine andere Schule versetzt und meine Kolleginnen arbeiten mit 42 Schülern in der Klasse weiter. Ich kann es bis heute nicht begreifen, warum in erster Linie am Deutschunterricht und an den Deutschlehrern gespart wird. Etwas anderes fällt dem Schulamt gar nicht ein! Meine Kolleginnen, Schüler und ihre Eltern setzen sich für mich ein und protestieren heftig gegen meine Versetzung. Es hilft alles nichts. Ich muss weg. Später erfahre ich, dass mein Schüler Jura Krasnoselskij nicht mehr zur Schule geht, sich in Diebstähle und andere kriminelle Sachen verwickelt und schließlich zum Sträfling wird. Auch seine Eltern haben gegen meine Versetzung protestiert, doch sie waren machtlos. Meine Aufnahmeprüfung für das Fernstudium fällt ins Wasser. Ich bekomme keine Freistellung, um an diesen Prüfungen teilzunehmen. Zuerst wird der Termin verschoben und dann gerät er ganz in Vergessenheit. In dieser Schule, in die ich ohne mein Einverständnis versetzt werde, arbeite ich 25 Jahre - bis zu unserer Ausreise nach Deutschland 1993. Mir werden viele ehrenamtliche Aufgaben und unbezahlte 242
Öffentlichkeitsarbeit zugeschoben. - Mir bleibt kaum noch die Möglichkeit zum Atmen. Meine eigenen Kinder wachsen heran und besuchen dieselbe Schule, in der ich unterrichte. Ich muss mich ihrer nicht schämen. Sie lernen gut, sind selbstständig und erledigen fast den ganzen Haushalt ohne mich. In dieser Zeit leben bei uns immer irgendwelche Angehörigen, die in Ausbildung sind und die mein Mann und ich materiell unterstützen. Wenn ich an meine Berufstätigkeit als Lehrerin denke, so komme ich zu dem Schluss, wir, Lehrer deutscher Nationalität, werden im Bildungssystem der Sowjetunion ausgenutzt und diskriminiert. In den Jahren 1960 bis 70, als es in Schachtinsk ziemlich turbulent zuging, als hier alles im Aufbau, im Entstehen war, konnte man deutsche Fachkräfte gut brauchen. Sofern alles Gestalt annimmt, gut organisiert ist und reibungslos funktioniert, werden die Deutschen überflüssig. Dann kommen die Herren des Landes und setzen sich ins gemachte Nest. Ich denke dabei an unseren Direktor Giesbrecht. Aber auch einfache Lehrer deutscher Nationalität - wie ich - werden so lange verschoben und versetzt, bis man sie da hat, wo kein anderer hinwill. Und für gleiches Gehalt müssen wir doppelt und dreifach so viel leisten wie eine andere Fachkraft. Wenn mir jemand widersprechen will, so bitte ich, mir das Gegenteil zu beweisen. Jeder Betriebsleiter und Personalchef ist froh, wenigstens einen Deutschen in seinem Arsenal zu haben, um auf ihn alles Unentgeltliche abzuladen: die Wandzeitung, die Laienkunst, Organisation der Feierlichkeiten, Ausflüge, die Gewerkschaftsarbeit und alles, was es sonst noch gibt und was keiner machen will. Und hier wird ständig und hartnäckig mit zweierlei Maß gemessen. Beispiele erwünscht? Bitte sehr, so viel Sie wollen! Es ist in den 80er-Jahren. Wir haben in der Schule zwei bis vier Sitzungen des pädagogischen Rates, Besprechungen oder Beratungen in der Woche. Die Namen sind unterschiedlich - der Sinn immer der gleiche. All das wird entweder um 12 Uhr 30 oder um 19 Uhr durchgeführt, da der Unterricht in zwei Schichten läuft. Nach einer Grippe komme ich zur Arbeit und versäume an diesem Tag 243
eine Beratung. Am anderen Tag werde ich durch die Sekretärin zum Direktor vorgeladen. Der schimpft wütend und sagt, es sei »ein schwerer politischer Fehler« von mir, die Besprechungen zu schwänzen. Ich rechtfertige mich: »Ich habe zum ersten Mal gefehlt! Bisher war ich immer dabei!« Das beeindruckt ihn nicht. Bei der nächsten Versammlung sind von etwa 70 Lehrern nur 30 bis 35 anwesend. Er beginnt trotzdem die Besprechung. Vor Beleidigung laufen mir die Tränen über die Wangen und ich verlasse den Raum. Seine Stellvertreterin folgt mir in den Korridor und fragt mich, warum ich weine. Ich lasse Dampf ab und erzähle ihr alles. »Dem ist es doch egal, wer alles fehlt! Hauptsache, ich bin rund um die Uhr da! Als wolle er ständig wissen, wo ich bin und was ich tue. Das ist ungerecht! Er schikaniert mich nur, weil ich eine Deutsche bin.« Sie beruhigt mich und verspricht, ihn zur Rede zu stellen. Ich sinne auf Rache! »Das werde ich ihm heimzahlen! So lasse ich mich nicht behandeln!« Bei der nächsten Besprechung platziere ich mich gut sichtbar ganz vorne. Sobald der Direktor den Raum betritt, hebe ich die Hand, um mich bemerkbar zu machen, und rufe laut und frech: »Sie können beginnen, Genosse Direktor! Hermann ist da!« »Was ist los?«, fragen die Kollegen und beginnen miteinander zu tuscheln. Er errötet ganz verlegen. Er kann mir ja in Anwesenheit der ganzen Mannschaft schlecht die Leviten lesen, ohne sich selbst zu verraten. Zwei Monate lang schikaniere ich ihn auf diese Weise und bestrafe ihn für seine Ungerechtigkeit. Deutsch sprechen dürfen wir nur im Unterricht, mit den Schülern. Wenn Lehrer deutscher Nationalität bei den Besprechungen aufeinander treffen und ein paar Worte in ihrer Muttersprache wechseln, ermahnt sie gleich ein ganzer Chor von Stimmen: »Ej! Was soll das! Nicht deutsch reden! Das versteht doch kein Mensch! Vielleicht verhöhnt und verlacht ihr uns? Das ist unfair! Das ist widrig! Das ist schamlos!« 244
In solchen seltenen Fällen sind sich alle Nichtdeutschen plötzlich einig: Deutsch gehöre einfach nicht in die Öffentlichkeit. Unserem Schulamt unterstehen 11 Mittelschulen, in denen mehr als ein Viertel aller Schüler deutscher Abstammung sind. Aber kein einziger Direktor ist ein Deutscher! Im Gebiet Karaganda sind 28 Kohlengruben in Betrieb. Mindestens ein Drittel aller Kumpel und ein großer Teil der Ingenieure und Techniker unter Tage sind Deutsche. Doch in der Verwaltung und auf den Direktorenposten gibt es keinen Deutschen. Da sitzen ausnahmslos Russen und Kasachen. Mein älterer Bruder Jakob hat nach dem Studium in Almaty im Forschungsinstitut für Forstwirtschaft gearbeitet und eine Dissertation geschrieben. Doch zur Verteidigung der Arbeit - zur mündlichen Hauptprüfung - ist es nie gekommen. Vier Jahre lang bekommt er keinen Urlaub - er ist unabkömmlich, im Betrieb unentbehrlich, ohne ihn geht es keine Woche, keinen Tag! Bis er schließlich mit 52 Jahren einen Schlaganfall erleidet und arbeitsunfähig wird. Dann geht es im Betrieb plötzlich auch ohne ihn! Seine Kollegen am Forschungsinstitut - Russen und Kasachen bekommen alle für die Hauptprüfung und den Erwerb des wissenschaftlichen Grades eines Kandidaten die notwendige Freistellung. Nur für meinen Bruder - den einzigen Deutschen in dieser Einrichtung - gelten die Regel und das Gesetz nicht. Nach seinem Tod kommt ein Russe und macht der Ehefrau den Vorschlag, Jakobs Dissertation als Buch zu veröffentlichen, um das »kostbare und interessante Material« auf diese Weise den Fachleuten zugänglich zu machen. Seine Familie bekommt als Andenken an ihn ein Exemplar des Buches: Da steht an erster Stelle der Namen des Russen, der am Thema überhaupt nicht gearbeitet hat, dann folgen die Namen meines Bruders und seines Laboranten. Wer da meint, wir hätten in Russland um unsere Rechte nicht gekämpft, der ist falsch gewickelt! Es ist ein ununterbrochener, fast 300 Jahre langer Kampf! Leider haben wir ihn verloren und kommen deshalb jetzt »heim« zu unserem Volk, wo wir hingehören. 245
Auch meine Generation nimmt die Staffel auf und ist nicht feige! Die einen laufen Sturm gegen die Kommandantur, die anderen gehen für unseren Glauben und Gewissensfreiheit durch das Feuer. Um das physische Überleben, um die Bildung und höhere Berufsausbildung, muss jeder Einzelne kämpfen. Die Muttersprache wird uns ohne persönlichen Einsatz auch nicht in die Wiege gelegt, sondern muss im Kampf erobert werden. Wieder andere setzen sich für den Neuaufbau der Autonomie ein. Mein Vater hat diesbezüglich Anträge und viele Briefe nach Moskau geschickt. Es fahren mehrere Delegationen hin und verhandeln mit den kommunistischen Machthabern. Es ist für jeden Einzelnen ein Risiko für sein Leben und seine persönliche Freiheit! Die Männer und Frauen tun es trotzdem. Sie nehmen jede Gefahr auf sich! Aber erreichen können sie nichts. Dann kommt der Endkampf - würde ich es fast nennen, dieses ultimative »Entweder-oder«. Entweder bekommen wir unsere eigene Republik und die wirkliche Gleichstellung mit anderen Nationen des Landes oder die freie Ausreise für jeden Bürger deutscher Nationalität. Bis in die 70er-Jahre ist es ein Kampf der Einzelnen um die Ausreise zu Angehörigen - die so genannte Familienzusammenführung. Jetzt wird es ein organisierter Kampf um »das Recht auf Ausreise«. Beides läuft parallel. Wie mein Mann und ich diesen »Endkampf« hautnah erleben, will ich hier erzählen. Bis in die 70er-Jahre werden die gläubigen Mennoniten und Baptisten besonders verfolgt, weil sie, angeblich, dem Endsieg des Kommunismus im Wege stehen. Viele von ihnen fristen ihr Dasein in Gefängnissen und Psychiatrien. Somit hat das Schicksal diesen Teil der Russlanddeutschen in die vorderen Reihen des Freiheitskampfes gestellt, obwohl sie dafür am wenigsten geeignet scheinen. Im Jahre 1972 treffen sich zwei dieser Verfolgten - Johann Unger und Peter Bergmann - nach verbüßter Haftstrafe und gründen ein »Deutsches Nationalkomitee« mit dem Ziel: Auswanderung der Deutschen aus der UdSSR. Sie scharen eine Gruppe kampfbereiter Aktivisten aus allen Schichten und Konfessionen der Russlanddeut246
schen um sich. Mit dieser Gruppe besprechen sie die Kampfmethoden und die Aufgabenteilung. Mit friedlichen Mitteln, ohne Bomben und Granaten, wollen sie das Recht auf Freizügigkeit für unsere Volksgruppe erstreiten. Johann Unger geht nach Deutschland und unterstützt den Kampf von hier aus. Peter Bergmann siedelt nach Estland um und organisiert mit einer Gruppe deutscher Patrioten Demonstrationen in Tallin und Moskau. Sie halten Kontakt zu den Mitgliedern des Komitees in Kasachstan und Kirgisien, die wiederum Verbindungen zu den Ballungsgebieten an Ort und Stelle knüpfen. Natürlich agiert das Komitee und das von ihm aufgebaute Netz im tiefsten Untergrund. Zur Sicherheit nehmen die Männer Kontakt zum Akademiker Sacharov auf und registrieren in Espelkamp mit Hilfe der dortigen Mennoniten - das Gegenstück: »Hilfsaktion für ausreisewillige Volksdeutsche«. Dieser Kampf hat viele Namen und Gesichter. Die Hauptakteure werden selbst über alle Einzelheiten dieses Kampfes berichten. Hier dazu nur so viel. Im August 1973 schreitet das Komitee zur ersten offenen Aktion, die in der Öffentlichkeit die Bezeichnung »Aufstand in Issyk« bekommt. In diesem Ort lebt die große Verwandtschaft meines Mannes. Ein Halbbruder von Karl - Viktor Werner - nimmt an diesem Aufstand teil und wird verhaftet. Die Aktion läuft folgendermaßen ab. Etwas mehr als 100 Personen ziehen vor das Gebäude der Stadtverwaltung und rollen dort ihre Transparente auf. Sie fordern: »Entweder Autonomie - oder freie Ausreise aus der UdSSR für alle Deutschen!« Schon nach wenigen Minuten sind die Transparente zerrissen und fünf Personen verhaftet. Doch ihr Ziel haben diese Demonstranten erreicht. Zum ersten Mal wird das »Programm - Maximum« des »Deutschen Nationalkomitees« öffentlich gemacht. Und es schlägt ein wie ein Blitz aus heiterem Himmel! So meldet sich die deutsche Minderheit endlich in die Völkerfamilie zurück. Russen, Kasachen, Kirgisen und andere Völker des Sowjetimperiums nehmen es staunend zur Kenntnis. Das Deutsche Nationalkomitee sorgt im Untergrund für Nachrichten im Auslandsradio. Das rettet den Verhafteten das Leben. 247
Der Gegenspieler - der KGB - ist lichtscheu, er fischt mit Vorliebe im Trüben und mordet im Dunklen. Schon eine Woche später werden die Verhafteten zu zwei und drei Jahren Gefängnis verurteilt. Viktor Werner hat eine Frau und drei kleine Kinder. Während drei Jahren seiner Gefängnishaft sorgt der Geheimdienst dafür, dass seine Frau keine Arbeit bekommt. So hofft man den Widerstand zu brechen. Die Familie überlebt dank der Hilfe von Angehörigen, Bekannten und Paketen vom Deutschen Roten Kreuz. Alle Pakete werden von Postangestellten geöffnet und nach Drucksachen durchsucht. Dabei bedienen sich die Postler, wie sie lustig sind, und überlassen dann die Reste der Frau Werner. Sofort nach dem »Aufstand in Issyk« geht eine Welle von Kundgebungen durch alle größeren Städte Kasachstans: In Aktübinsk, Zelinograd, Kokschetau und Karaganda wird für das »Programm Maximum« demonstriert. In Karaganda verläuft der organisierte Widerstand besonders dramatisch. Hier vereinbaren die Mitglieder des Nationalkomitees ein Treffen mit der Stadtverwaltung und eine Kundgebung für den 30. September 1973. Doch schon zwei Tage vorher, am 28.09. werden alle Organisatoren verhaftet und die geplante und angekündigte Kundgebung wird verboten. Die Stadtväter sind auf alles gefasst. - Sie ziehen eine Einheit der »Inneren Streitkräfte« heran und stellen sie am Platz der verbotenen Kundgebung schießbereit auf. Doch die Deutschen lassen sich nicht mehr einschüchtern und den Mund verbieten. Trotz aller Drohungen versammeln sich am Ort der verbotenen Demonstration etwa 400 Personen und protestieren lautstark gegen die Verhaftungen der vergangenen Tage. Ein Redner sagt: »Für unsere Freiheit müssen wir Opfer bringen! Diese Opfer werden nicht umsonst sein. - Sie werden das Recht auf Freizügigkeit für alle bringen. Exodus - totale Ausreise!« Dieser Redner und ein Dutzend anderer werden festgenommen. Die Kundgebung verläuft friedlich und die Soldaten schreiten nicht ein. Auch wir nehmen an manchen Veranstaltungen teil. Bei all diesen Kundgebungen und Versammlungen werden die Or248
ganisatoren und Redner verhaftet und der KGB hat alle Hände voll zu tun: Jetzt werden die Familien und die Wohnungen der Verhafteten überwacht. Die Wohnungstür ist ständig im Visier der Nachbarn, die sorgsam registrieren, wer da ein- und ausgeht. Sofern jemand von der Familie die Wohnung verlässt, geht einer der Nachbarn ihm nach, um die verdächtige Person keinen Augenblick aus den Augen zu lassen. Dann wird die Gesellschaft »Wiedergeburt« gegründet und offiziell zugelassen. Auch ich trete dieser Organisation bei. Von der Ortsgruppe der »Wiedergeburt« in Schachtinsk mit Herrn Arnhold an der Spitze wird eine Weihnachtsfeier in Deutsch organisiert. Ethnische Laienkunst, Lieder und Tänze, Kaffee und Kuchen werden dargeboten, aber ohne Gottes Wort. Nein, das ist nicht das, was wir suchen und brauchen. Es heißt, im Rahmen dieser Organisation könne man legal und ohne Gefahr seine Meinung sagen und seine Interessen vertreten. Man solle nur nicht auf den Straßen und Plätzen planlos umherziehen und die Republik unsicher machen. Alle Veranstaltungen sollen organisiert, vorher angekündigt und in geschlossenen Räumen stattfinden. Aber auch das ist eine Täuschung, nur um dem Geheimdienst die Arbeit zu erleichtern. Einmal bin ich mit einer Delegation aus Schachtinsk zur Kundgebung mitgefahren. Die Veranstaltung fand in einem großen Gebäude, »Klub Schachtörov«, statt. Viele Redner sind aufgetreten und haben über die Benachteiligung der Deutschen in der Ausbildung und im Beruf berichtet und nach der »Autonomie an der Wolga« gerufen. Alles verlief friedlich. Hinterher wurden alle Redner vom KGB zu Hause abgeholt und verurteilt. Insgesamt sind Anfang der 70er-Jahre um die 80 bis 100 Deutsche verhaftet und in Gefängnisse geschickt worden. Bekannt geworden sind die Namen von Erich Abel, Eduard Dajbert, Heinrich Reimer, Erika Zaft, Valentin Wiens, Friedrich Schnarr, Peter Bergmann. Sie sind in aller Munde und machen den Deutschen im ganzen Land Mut zum Widerstand. Der Kampf ist nicht mehr aufzuhalten. Er ist vielfältig, hartnäckig 249
und führt - Ende der 80er-Jahre - zum Exodus, zur totalen Ausreise. Das ist ein großer Verlust für die Landwirtschaft und Industrie in Kasachstan. Wir, die Russlanddeutschen, sind die Wühlmäuse, die das Fundament des »sozialistischen Lagers« untergraben und seine Kornkammer verwüstet haben. Somit kommt das ganze Gebilde zum Einsturz. Das ist der »zivile Ungehorsam« im Namen der Freiheit und Gerechtigkeit. Meine Eltern haben das nicht mehr erlebt. Von ihren 11 Kindern sind nur vier in den Jahren 93 bis 98 in die Bundesrepublik eingereist. Karl und ich sind im August 1993 gekommen. Auch unsere drei Kinder mit ihren Familien sind alle hier. Für meinen Mann und mich ist der Anfang nicht leicht. Unser Alter macht uns zu schaffen. Er ist 58 und ich 56 Jahre alt - für die Arbeit zu alt und für die Rente zu jung. Karl bekommt sechs Monate Sprachkurs und ich drei Monate, weil ich als Lehrerin gearbeitet habe. Die Lehrer in den Sprachkursen sind wenig daran interessiert, den Aussiedlern die Sprache beizubringen. Es wird viel unnötig geredet. Die Zeit geht schnell vorbei. Der Unterricht könnte und müsste, meiner Meinung nach, viel intensiver geführt werden. Mein Mann ist krank. Er hat eine Berufskrankheit der Bergarbeiter: Durchblutungsstörungen an Händen und Füßen. Er war 28 Jahre unter Tage in den Kohlengruben von Karaganda. Da war es immer kalt und nass. Jetzt hat er offene Beine und ist auf ständige ärztliche Hilfe angewiesen. Die materiellen Probleme kommen hinzu. Zu Beginn bekommt mein Mann Eingliederungshilfe und ich Sozialhilfe. Das hatte man in Rastatt geregelt. Da unsere Kinder aber im Raum Baden-Baden sesshaft geworden sind, ziehen auch wir im März 1994 zu ihnen. Die finanzielle Unterstützung kommt aber erst nach fünf Monaten! Wie sollen wir leben? Womit die Miete zahlen? Wofür Lebensmittel kaufen? Wie mit dem gehbehinderten Mann zum Arzt kommen? Ich muss zum Sozialamt gehen und um 250
Vorschuss betteln. - Welche Qual! Da bekomme ich einen Scheck über 300 oder 400 DM. Wenn man aber alles gleichzeitig benötigt, dann ist das ein Tropfen auf den heißen Stein. Es reicht vorne und hinten nicht. Bevor ich wieder zum Sozialamt gehe, kann ich drei Nächte nicht schlafen. So geht das ganze fünf Monate lang! Ich suche Arbeit. Egal, welche. Wir brauchen Möbel, Geschirr und anderen Hausrat. Ich habe Arbeit gefunden für zwei Stunden am Tag in einem Betrieb, der Bauteile aus Stahlbeton herstellt. Da hat das Sozialamt mir gleich seine Leistung um 230 DM gekürzt. Durch meine Arbeit habe ich nur 200 DM im Monat »gewonnen«. Schließlich finde ich Arbeit für den ganzen Tag als Haushaltshilfe in einer Erholungsklinik. Da bediene ich drei Jahre lang eine Geschirrspülmaschine und bin sehr froh, nicht mehr auf das Sozialamt angewiesen zu sein. Inzwischen haben alle unsere Kinder und Schwiegerkinder Arbeit. Sie verdienen sich ihre Brötchen selber und zahlen kräftig Steuern. - Wir sind keine Schmarotzer! Wir wollen diesem Staat und unserem Volk nicht auf der Tasche liegen und nichts schuldig bleiben. Das Sozialamt ist eine humane Einrichtung. Aber die Beamten benehmen sich da so, als würden sie den Bedürftigen ein Almosen aus der eigenen Tasche zahlen. Sie lassen jeden Besucher ihre Verachtung spüren. Durch diese Erniedrigung war uns das Brot vom Sozialamt bitter.
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Eugen Warkentin
Geboren 1937 in Mariawohl/Saporoshje. Während des Zweiten Weltkrieges Flucht in den Westen, Einbürgerung. 1945 - Repatriierung nach Kasachstan. 1953 - Abschluss der 7. Klasse einer Dorfschule. 1957 - Abschluss der pädagogischen Fachschule im Gebiet Kokschetau. 1958-63 Fernstudium an der pädagogischen Hochschule in Petropawlowsk/Nordkasachstan. 1957-66 Lehrertätigkeit in verschiedenen Dorfschulen des Gebietes Zelinograd. 1966-94 journalistische Tätigkeit (Mitarbeiter der Rayonzeitung in Balkaschino, Korrespondent der Zeitungen »Freundschaft« und »Neues Leben«). 1994 - Ausreise nach Deutschland.
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Der versiegte Juschanlee. Streiflichter Landsleute, die unlängst in der Ukraine zu Besuch waren, erzählten mir, der Fluss Juschanlee, der bekannte und geliebte Wasserstrom, an dem die südliche Dörferreihe der Mennoniten an der Molosch wie an einer Schnur klebte, existiere nicht mehr. Er sei ausgetrocknet, versickert, verschwunden. Er sei tot. Dieser Nebenfluss der Molotschna war für die deutschen Bauern ein Symbol des Gedeihens, der Fruchtbarkeit, des Wohlergehens. Meine älteren Geschwister und Bekannte haben in der Verbannung von diesem Strom geschwärmt. Die Bauern liebten und schätzten ihn. Sie kamen in der Sommerhitze aus weiter gelegenen Dörfern mit Bretterwagen zum Juschanlee zum Baden. Bauernkinder ritten scharenweise ihre Pferde zu diesem Fluss und badeten gemeinsam mit den Tieren. Die Pferde schwammen und die Kinder hielten sich an ihren Mähnen und Hälsen. Das war ein Vergnügen! Und nun soll dieser Fluss verschwunden sein? Wie ist denn das möglich? Nur nach heftigem Regen sammeln sich im Flussbett Pfützen und schmutzige Lachen. Sofern aber die Sonne hoch am Himmel steht, verdunstet das Wasser und der Wind wirbelt den Staub hoch. Dieses Bild steht vor meinen Augen und ich denke nach: Ein Wasserstrom kann doch nicht einfach verschwinden? Wenn er versickert, so sucht sich das Wasser - Tropfen für Tropfen - neue Wege, bildet neue Quellen, mündet in Bächlein. Wenn er austrocknet, als Dunst und Dampf in die Luft steigt, so kommt er als Niederschlag wieder zur Erde. - Das ist der Kreislauf der Natur. Ist das nicht ein Symbol? Die Deutschen, die am Juschanlee, an der Molotschna, am Dnepr lebten, die sich dort eine Heimat gegründet hatten, wurden vertrieben. Das begann eigentlich schon vor der Oktoberrevolution von 1917. Aber erst nach dieser Revolution wurde es extrem und systematisch. Man hat die Deutschen wirtschaftlich vernichtet, dann gepeinigt, eingekerkert, verjagt, vertrieben, verbannt, erschossen oder auf eine andere Art und Weise hingerichtet. Warum? Nur weil sie an ihrem Glauben, an ihren Sitten und an ihrer Kultur festhielten. 253
Es gab Tausende und Tausende Opfer, aber vernichten konnte man das Volk nicht. Es versickerte, Tropfen für Tropfen. Und tauchte neu auf ... in Nord- und Südamerika ... in Australien ... in Deutschland. Meine Landsleute suchen und finden neue »Heimaten«, gründen neue Existenzen. Sie bauen hübsche, geräumige Häuser. Und haben viele Kinder. In Kanada, in Brasilien, Paraguay, Australien. Und in Deutschland. Und sie kommen scharenweise wieder, aus der ganzen Welt in die Ukraine, in ihre ehemalige Heimat, an die Molosch und den Juschanlee, um sich den Gräbern ihrer Vorfahren zu neigen, um sich die Reste ihrer Dörfer und Häuser zu beschauen. Wie Zugvögel zieht es sie in die alte, verlorene Heimat. Sie kommen, um Abschied zu nehmen. Um ihre Seelen zu beruhigen. * * * Ich bin Jogger. Da habe ich Zeit und Möglichkeit, ganz in Ruhe zu meditieren, nachzudenken. Wenn man bei beliebigem Wetter allein durch die Felder und Wälder läuft, abends, wenn der Mond dich freundlich anschaut, oder beim Frühlingswetter, wenn alles blüht und duftet, fühlt man sich so wohl. Und dabei kommt man auch auf gute Ideen. Unlängst joggten mein Freund Georg und ich zusammen. Das machen wir öfters, sobald er Zeit dazu hat. Georg ist Gymnasiallehrer, meistens sehr beschäftigt. Und da, beim Laufen, können wir uns gemütlich unterhalten. Einmal fragte er mich unvermittelt und etwas unverhofft: »Kannst du sagen, dass du hier zu Hause bist?« »Habe ich‘s? Schwierige Frage. Wenn ich ganz ehrlich sein soll eigentlich noch nicht. Aber dass ich hier, in Deutschland, in Dortmund, ein Zuhause habe, das spüre ich schon.« »Du weißt ja, ich bin in einem Dorf geboren, in Werden, an der Weser«, erklärt Georg. »Das ist meine Heimat. Da wohnt meine Schwester, dort sind unsere Eltern beerdigt. Und ich bin immer froh, 254
wenn ich mal ein paar Tage dort verbringen kann. Die Dorfleute begrüßen mich immer recht freundlich, berichten allerlei Neuigkeiten.« Georg hat mir gelegentlich Dutzende Geschichten über seine Landsleute erzählt - humorvolle, lustige, traurige, witzige. Ich sage ihm, er solle das mal aufs Papier bringen, aber er findet leider keine Zeit dazu. Wir laufen weiter, jeder in seine Gedanken vertieft, und dabei fährt Georg fort: »Werden ist mein Zuhause, aber auch hier, in Unna, fühle ich mich wohl. Komme ich mit dem Wagen von irgendwo und biege von der Autobahn in meine Ausfahrt ab, denke ich immer: Jetzt bin ich fast zu Hause - und freue mich.« »Weißt du, so geht es auch mir beim Joggen. Ich habe die nahe und weitere Umgebung von unserem Dortmund-Wickede durch mein Training kennen gelernt. Es gibt verschiedene Strecken, durch verschiedene Orte - Langläufer machen ja etwa 10 bis 15 und mehr Kilometer, und wenn ich dann auf dem Rückweg in unsere kleine Waldinsel komme und dort wieder mal dieselben alten Männer auf der Waldbank beim lebhaften, gemütlichen Tratschen treffe, denke ich auch immer: Jetzt bin ich zu Hause.« Ich muss gestehen: Manchmal beneide ich Georg. Er hat sein großes und sein kleines Zuhause. Seine richtige Heimat, den Ort, wo er geboren ist. Wo könnte ich mich wirklich zu Hause fühlen? Dort, wo ich geboren bin - in der Ukraine, im kleinen Dorf Mariawohl, unweit vom Steppenfluss mit dem orientalisch klingenden Namen Juschanlee? Dort lebte unsere Familie - Großmutter, Vater, Mutter, Geschwister. Aber aus jener Zeit kann ich mich nur an wenige verschwommene Episoden erinnern. ... Vater, ein Zweiräder mit weißem Schimmel - wir fahren ins Nachbardorf, den Schutzwaldstreifen entlang. Weiter nichts. Warum ausgerechnet das sich in mein Gedächtnis geritzt hat? Wahrscheinlich war es für mich ein Erlebnis - das erste Mal mit dem Papa von zu Hause fort. Dann kam das Jahr 1941, der Krieg und der Abschied vom Vater: 255
auf einem großen Hof viele Männer, langes Warten, traurige Gesichter, Tränen. So verschwand er, unser Papa, für immer. Das war, wie sich meine Schwester Johanna erinnert, am 05. September 1941. In Begleitung von Rotarmisten zog die Kolonne der Männer unseres Dorfes der Windwehr entlang. Wohin? Das wusste keiner. Bald bekam die Mutter zwei Briefe vom Vater. Im ersten, vom 08.09.41 aus dem Dorf Gajtschugur, berichtet er, sie seien in einer Scheune »einquartiert« und sollten in den nächsten Tagen »marschieren«. Sie würden nicht verpflegt, bekämen nicht einmal heißes Wasser und müssten mit dem auskommen, was sie von zu Hause mitgenommen hätten. Im nächsten Brief, vom 13.09.41 von der Bahnstation Wolskowaja, schreibt er, sie seien wieder mit dem Zug unterwegs, wüssten aber nicht, wohin. Der Vater bemerkt: »Unser ganzer Kommandobestand ist mit uns. Man nennt uns Rotarmisten.« Er macht sich große Sorgen: »Ich denke so oft an unsere Kinder. Der Lehrer Heinrich Regehr ist auch hier, und ich nehme an, dass die Kinder nicht zur Schule gehen. Lena, sporne sie doch an, in die Bücher zu schauen.« Dann fügt er noch hinzu: »14.09.41. Station Debalzewo. Gegenwärtig ist die Richtung zum Donbass. Auf Wiedersehen, meine Lieben!« Das war sein Abschied für immer. Die letzte Nachricht bekamen wir nach Jahren, schon nach dem Krieg, in Kasachstan. Unsere Verwandten - eine Familie Pankratz, die zu der Zeit in Martuk im Gebiet Aktjubinsk lebte - schickten uns eine Postkarte zu, die am 06. Februar 1942 aus Solikamsk im Ural von einem Pankratz abgeschickt worden war. Unter anderem berichtet er: »Den 4. Februar haben Johann Unrau und noch zwei Männer unseren Elektriker Abram Warkentin aus Mariawohl vom Wege erhoben und ins Lazarett getragen. Dieser Fall spricht davon, dass die Schwachheit bei ihm schon sehr groß ist. Sonst werden solche Menschen nach Hause geleitet und etliche Tage von der Arbeit befreit.« Das wird wohl das Ende seines Weges gewesen sein. 1943 - noch ein Abschied - diesmal von unserem Heimatdorf. Reg256
nerischer Herbsttag. Ein großes Durcheinander - das ganze Dorf auf Fuhren, und man zieht im Treck in Richtung Westen. Wohin? Das wusste keiner genau. Es hieß, wir seien auf der Flucht. Es waren ungeheure Strapazen, die ein halbes Jahr dauerten, bis wir im Warthegau, unweit von Posen landeten. War es ein Weg in die Heimat? Was wird dann mit den Hinterbliebenen - Vätern, Brüdern, Söhnen, die man im September verschleppt hatte? Und was mit uns? Unlängst las ich im Buch von Horst Gerlach »Die Russlandmennoniten«: »Man dachte auch noch immer daran, dass es je nach Kriegsausgang möglich sein würde, diese Leute wieder in ihrer Heimat anzusetzen. Andererseits waren die westpreußischen Ältesten über eine Ansiedlung auf das Land, das ihnen nicht gehörte, nicht sehr glücklich.« Also, auch im Warthegau konnte es kein Zuhause für uns geben. Am Ende des Krieges riss der Flüchtlingsstrom auch uns nach Westen. Doch weit kamen wir nicht. Einige Landsleute haben es geschafft, vor der Roten Armee zu fliehen, sich vor ihr und vor den Amerikanern zu verstecken. In den fünfzig Nachkriegsjahren haben sich diese Russlanddeutschen im Westen Deutschlands eingelebt, ihr Zuhause gefunden. Sie machen aber fast jährlich Busreisen in die ehemalige Heimat, ans Schwarze Meer - es zieht sie dorthin, wo sie ein Stück ihrer Seele verloren haben. Die meisten aber mussten damals zurück, sie wurden in die Viehwaggons gesteckt und los ging‘s, nein, nicht in die Heimat, wie versprochen, sondern nach Kasachstan, nach Sibirien bis hinter den Polarkreis. Unsere und fünf andere Familien - Neufeld, Thyssen, Unruh, Derksen, Ganjük - landeten in Bogorodka - einem weiten Steppendorf in Kasachstan, das im Winter von den heftigen Stürmen bis über den Dächern in Schnee »verpackt« wurde. Ich hatte mehr Glück als meine Geschwister Johanna und Jakob. Ich war jünger und konnte noch lernen. Schule, Fachschule, Hochschule, Lehrertätigkeit, Zeitungsarbeit. Aber haben wir uns, habe ich mich dort, in Kasachstan, zu Hause gefühlt? Niemals! Weil wir 257
wussten, was auch die Einheimischen uns spüren ließen: Wir sind nach Kasachstan verschleppt, verbannt - also bestraft worden. Wofür? Das interessierte eigentlich keinen. »Irgendwas wird wohl faul gewesen sein, sonst wärt ihr nicht nach Deutschland ausgerissen.« Nach dem Krieg vergingen Jahre. Man lebte sich ein. Aber bei den Deutschen in der Sowjetunion steckte es tief im Bewusstsein: »Hier sind wir fremd.« Kasachstan wollte uns nie offiziell anerkennen. Bei den Volkszählungen hieß es immer »und andere«. Fast eine Million Deutsche und nur - »die anderen«. Das Dorf Bogorodka ist für unsere Familie - ungeachtet aller Umstände - doch zu einem bedeutenden Ort, zur wichtigen Weiche geworden. Da sind beide Großmütter, meine Mutter und Schwager beerdigt. Mit Unterstützung ihrer Schwester hatte sich unsere Mutter ein schäbiges Häuschen gekauft, welches später viele Male von der Familie umgebaut und renoviert wurde. Jedes Mal, wenn ich nach Hause zu Besuch kam, merkte ich, wie sauber der Hof gekehrt, wie liebevoll der Garten gepflegt war. Aber dann kam die Zelina-Epopöe, die Neulanderschließung, und das Dorf schrumpfte zusammen und starb langsam, mit Schmerzen ab, weil man in der Nähe eine Neulandsiedlung aufbaute. Jedes Jahr kam ich zur Mutter, zu den Geschwistern in das im Winter verschneite, im Sommer mit Traktoren durchknetete staubige Dorf. Mir wurde jedes Mal schwer ums Herz. Warum? Hier hatte ich ein Stück meiner Kindheit verbracht. Hier am Fluss hatte ich stundenlang mit der Angel gestanden, hier hatten wir gebadet und von diesem hohen Flussufer sind wir Kinder im Winter mit Jubel und Geschrei im großen Ochsenschlitten runtergesaust, bis der Brigadier uns erwischte und fürchterlich ausfluchte. Kinder gewöhnen sich umfassender als Erwachsene an alles, was man im Grunde Heimat nennt. Was später kommt, sind nur Zwischenstationen - wo man arbeitet, wo man Freunde und Kollegen kennen lernt. Der Ort, wo man die Kindheit verbracht hat, ist viel wichtiger, wesentlicher, als alle folgenden »Zwischenstationen«. 258
Und mag es auch ein entlegener Verbannungsort, das kleine Dorf Bogorodka sein. Später aber war ich froh, das Dorf rechtzeitig verlassen zu haben. Ich wollte lernen. In Bogorodka gab es solche Möglichkeiten nicht. Dort gab es überhaupt keine Zukunft. Deshalb verließen die meisten Jugendlichen nach dem Schulabschluss dieses Dorf. ... Ich hatte mich in meine Gedanken vertieft. Plötzlich hörte ich: »Du bist ja so still.« »Ach, allerlei Gedanken.« - »Vergangenheit?« »Du hast mich ja selber darauf gebracht.« »Das habe ich schon gemerkt: Ihr Aussiedler lebt mehr in Gefühlen, in der Vergangenheit. Ihr seid so sensibel.« »Damit du es weißt: Aussiedler - das Wort kann ich nicht leiden. Es ist ein falscher Begriff. Klingt wie Außenseiter. Oft wird es auch in diesem Sinne gebraucht. Richtiger wäre Umsiedler.« »Tut mir leid. Umsiedler - das sind die Leute aus Ostdeutschland, die auch zu uns kommen. Aber sag mal - bist du wirklich niemals mehr in deinem Heimatdorf gewesen?« »Doch. Kurz vor der Ausreise. Ich wollte schon immer mal in die Ukraine fahren, zögerte aber, suchte nach Ausreden, nach Ursachen, um es nicht zu tun, bis ich einfach begriffen habe: Du hast Angst vor einer großen Enttäuschung. Du hast einige, wenn auch verschwommene, Vorstellungen aus der Kindheit behalten, gute Erinnerungen, verschiedene Erlebnisse. Sie sind wie Wetterleuchten nach einem heißen Sommertag: blitzen auf und verschwinden.« Ja, so zog ich es in die Länge - bis 1992, als ich dienstlich in die Ukraine reiste. Es ergab sich dabei die Möglichkeit, mein Heimatdorf zu besuchen. Ein kurzer Abstecher auf dem Wege von Berdjansk nach Saporoshje. Nach meinen Vermutungen musste Mariawohl unweit von unserer Route liegen. Aber man hatte das Dorf »umgetauft«: Seljony Jar, Schirokij Jar? Genau wusste ich es nicht. Deswegen mussten wir mit meinem guten Bekannten aus der Gesellschaft »Wiedergeburt« der Ukraine einen ziemlich großen Bogen machen, uns durchfragen, bis wir endlich am Ziel waren. Ich suchte nach etwas Vertrautem, nach einer Windwehr, nach dem Fluss. 259
Es ist für mich auch heute noch schwer, in Worte zu fassen, was ich in jenem Augenblick erlebte, was ich fühlte. Ich war sehr erregt. Uns kam ein Traktor entgegen. Ich fragte den Traktoristen, wie das Dorf heißt. »Seljony Jar«, war die Antwort. »Und früher? Wie hieß es früher?« - »Mariawohl.« Ich stellte mich vor und fragte nach dem Namen des Traktoristen. »Kuz, Anatolij Kuz.« »Kuz, Kuz ... Wissen Sie auch, Anatolij, dass unsere Mütter vor dem Krieg hier auf der Farm als Melkerinnen arbeiteten? An die Zeit hat sich unsere Mutter oft erinnert.« »Kann sein, kann sein«, lächelte er. »Gibt es hier noch irgendwen von den Alten, Hiesigen?« - »Onkel Olissko.« In wenigen Minuten begrüßten wir einen bejahrten, korpulenten Mann mit Schildmütze. »Warkentin?«, wiederholte er auffallend richtig unseren Namen. »Ich kannte Ihren Batjko, Ihren Vater. Wir arbeiteten zusammen in der Buchhaltung der Kolchose«, und er drückte mit beiden großen, harten Händen meine Hand. Es stellte sich heraus, dass unser ehemaliges Haus nicht zerstört ist. Man zeigte es mir aus der Nähe, hinter einem wackligen Zaun. Überstrichener roter Backstein, ein niedriges, schäbiges Schieferdach, ein paar karge Bäume, unter denen Enten schnatterten. Ich war höchst betroffen, und das Erste, was ich seufzend hervorbrachte, war: »Und wo sind all die Bäume, der schöne Obstgarten?« »Die Bäume sterben früher als die Menschen«, hörte ich Olisskos Stimme hinter mir. Ich schaute mich um: »Der ganzen Straße entlang stand ein Ziegelzaun mit hohem Tor vor jedem Hof. Stimmts?« »Da vorne ist der Rest davon«, erklärte unser Begleiter und streckte den Arm aus. Ich sah eine sechs Meter lange Ruine. Wie ein abgehackter Stummel. Ich hatte weder Lust noch Mut, das Haus zu betreten. In diesem 260
Moment erschien auch die Hausfrau und schaute mich irgendwie misstrauisch an. Ich beruhigte sie, dass wir nur vorbeischauen wollten, wir hätten es eilig. Ich machte noch einige Fotos von dem Dorf, von Olissko und Anatolij Kuz, und wir mussten tatsächlich weiterfahren. Mein Bekannter aus der »Wiedergeburt« eilte nach Saporoshje ... »Das war also dein Wiedersehen mit deiner Heimat?«, bemerkte mein Joggerfreund Georg. »Mit meiner verlorenen Heimat.« Den Rest unserer Joggingroute schwiegen wir beide. * * * Vitjka Parschin wiederholte die erste Klasse zum dritten oder vierten Mal. Er schaffte es mit dem Lernen einfach nicht. Viel älter als alle anderen Schüler der Klasse, war er wie ein Gulliver unter den Zwergen. Deswegen ging er auch meistens etwas gebeugt, er wakkelte mit dem Oberkörper und watschelte - er wollte halt solide aussehen. Und fluchen konnte er meisterhaft, wie ein erfahrener Mann. Aber irgendwie hörte es sich nicht schmutzig an. - Er machte es einfach so, als Redewendung, zur Wortverbindung, wie es die Erwachsenen bei uns in Bogorodka zu tun pflegten. Bei denen hatte er es auch gelernt - den ganzen Sommer verbrachte er in der Feldbrigade, wo seine Mutter Köchin war. Hier in der Brigade fühlte er sich wohl, wie zu Hause. Er liebte die Pferde leidenschaftlich und konnte meisterhaft reiten. Aber die Schule war für ihn wohl mehr als eine Qual, eine Strafe. Hier machte er nur Geschäfte - er handelte, er tauschte immer etwas um, verschiedene Kleinigkeiten: Radiergummi, Bleistifte, Tintenfläschchen. Oft für eine Brotscheibe. Es endete gewöhnlich mit einem Handschlag: »Abgemacht, mein Alter.« Im Geschäft war er ein echtes Schlitzohr. Er freute sich, wenn er irgendwem etwas vorschwindeln konnte. Es war bald nach dem Krieg. Jede Familie hatte Opfer zu beklagen. Der Schmerz des Verlustes war noch frisch. Deswegen wurde über 261
den Krieg oft gesprochen, viel erzählt. Besonders, wenn jemand aus der Armee heimkehrte - in schicker Uniform, mit mehreren Orden und Medaillen an der Brust. Diesen Männern liefen die Jungs auf der Straße in Scharen nach. Es war ja auch verständlich - die meisten Kinder wuchsen ohne Väter auf. Aber wir, Neuankömmlinge in Bogorodka, die im Treck durch halb Europa gezogen waren und den Krieg hautnah erlebt hatten, waren in solchen Fällen zurückhaltend. Und für die Dorfbewohner waren wir in etwa wie Menschen von einem anderen Planeten. Doch einmal, als während der Pause in der Klasse wieder über den Krieg gesprochen wurde, platzte ich heraus: »Ich habe selbst einen Fliegerkampf gesehen.« - »Du spinnst! Wo? Wie?« »In der Ukraine, in unserer Heimat.« - »Wieso - Ukraine? Du bist ja ein Deutscher.« »Ja, in der Ukraine. - Da bin ich geboren.« »Wie seid ihr dahin gekommen? Habt ihr euch eingeschleust?«, so Vitjka Parschin. »Wenn du keine Ahnung hast, wo die Ukraine ist, wie kann ich es dir erklären?«, schnauzte ich Vitjka an. »Hör doch lieber zu. Also, wir warteten auf die Ausreise ...« »Auf welche Ausreise? Aha, ihr wolltet ausreißen?! Wohin denn?« »Du Dummkopf! Vielleicht nach Kasachstan - das haben ja nicht wir entschieden. Wowka Ungefug und Saschka Naumann sind ja auch nach Kasachstan gebracht worden.« »Aha, gebracht - rausgeworfen hat man sie, verjagt.« »Du Rotznase, lass ihn doch erzählen ...«, so meine Kameraden. »Wir warteten an einem Bahnhof auf unsere Evakuierung. Hunderte Menschen. Auf einmal hörten wir hoch am Himmel: ta-tata, ta-ta-ta. Scharf, wie Peitschenhiebe. Und da sahen wir auch schon zwei Flugzeuge, sie jagten eins hinter dem anderen her, wie in einem Karussell. Unheimlich! Alle richteten ihre Blicke nach oben. Plötzlich schlingerte eine der Maschinen, kippte um und stürzte mit einem Rauchschweif ab - genau in die Menschenmenge. Im nächsten Augenblick explodierte sie, und die Flamme 262
schlug hoch. Über unsere Köpfe sauste eine Tragfläche mit einem roten Stern ...« »Was? Es war unserer? Ein roter Flieger?! Du lügst!«, brüllte Vitjka. »Ein Faschist ... und unseren Flieger!?« »Das haben doch alle gesehen. Auch den Piloten. Er wurde aus dem Flugzeug geschleudert ... tot ... Rotarmisten nahmen mit einem Auto die Leiche mit. Sie zogen in großer Eile ab.« Es wurde totenstill. Vitjkas Gesicht war kreideweiß. Er sprang auf mich zu, schlug mich zu Boden und hämmerte mit seinen Fäusten auf mich ein. Er war ja bedeutend stärker als ich, und sein Angriff kam so unverhofft. Ich fuchtelte mit den Armen, versuchte mich zu wehren. Dabei packte ich ihn am Ohr. Aus Wut und Verzweiflung riss ich unbarmherzig daran. Vitjka schrie vor Schmerz, ließ von mir ab und sprang auf. »Mein Ohr, mein Ohr, er hat es abgerissen!« Ich schaute auf meine Hand - sie war blutig. Da stand neben uns auch schon unsere Lehrerin Maria Jewgenjewna: »Kinderchen, Kinderchen, was ist denn hier los?« »Er lügt! Er spinnt! Er sagt, ein Deutscher hat unseren Flieger ...«, schrien alle im Chor. War es taktlos, dass ich den russischen Kindern so nüchtern, so wahrheitsgetreu über den Krieg erzählte? Vitjkas Vater war ja auch an der Front gefallen. Gewiss hat man der Familie berichtet: tapfer und heldenhaft. Aber wie der Krieg tatsächlich aussah, das wussten diese Dorfbewohner, diese Kinder nicht. Wir aber hatten dem Krieg in die Augen gesehen. Und wir hatten es ja auch nicht leichter, wenn nicht schwerer. Unsere Familien, wir Kinder und unsere Mütter wussten überhaupt nichts über unsere Väter - wo sie geblieben, wo sie umgekommen waren. Am Anfang des Krieges sagte man, sie seien an die Front geschickt worden. Der Krieg war schon zu Ende, von unseren Vätern aber keine Spur. Und nur Jahre später erfuhren wir, dass sie vor Hunger und Kälte im hohen Norden, in der Taiga umgekommen waren. Seit diesem Fall bekam Vitjka Parschin den Kosenahme Schlitzohr. Wir hatten uns schon bald versöhnt, arbeiteten zusammen und be263
förderten in der Brigade mit Ochsenfuhren Heu. Wie man im Dorf zu sagen pflegte - wir haben gemeinsam »den Ochsen die Schwänze gedreht«. * * * Es war in einem entlegenen Steppendorf in Nordkasachstan. Nach dem Kriege saßen hier in der Schule neben den »normalen« Schülern große halbwüchsige, breitschultrige Bengels. In einem Sportunterricht sollten wir eine Granate ins Ziel werfen. An diese Handgranate kann ich mich bis auf die kleinsten Einzelheiten erinnern, als hätte ich sie jetzt vor meinen Augen. Sie war aus Kiefernholz mit Beil und Meißel grob geschnitzt. Sie ähnelte dem von meinem Bruder gebastelten Kartoffelstampfer, den er der Mutter zu Weihnachten geschenkt hatte. Am dicken Ende hatte die Granate einen Riss, und am Griff waren braune Flecken, wie große Hühneraugen. Es war also eine vom Lehrer gebastelte Übungsgranate, die wir ins Ziel werfen sollten. Und das Ziel war ein klaffendes Fenster eines zweistöckigen Gebäudes, in dem irgendwann mal ein Kindergarten gewesen war. Es stand schon lange leer und war mit der Zeit von den Dorfbewohnern zerstört und die Einzelteile für andere Zwecke verwendet worden. Der Sportlehrer Roman R. Kotscherga maß zwanzig Schritte ab. Dann zeigte er uns - sehr geschickt und professionell -, wie man in Stellung geht, wie die Spannweite, wie der Handschwung sein müssen. Der Größte in der Klasse und der Erste in der Reihe war Wasja Makarow oder einfach Wrassja. Er machte es dem Lehrer geschickt nach und schleuderte die Granate genau durch den scheibenlosen Fensterrahmen. Ich war der Dritte, nahm einen tüchtigen Anlauf und feuerte das Ding aus aller Kraft und Wut - es krachte! Die Granate traf auf die scharfe Kante des Fensterpfostens, schlug an die andere Kante und ... zersplitterte. »Bist du verrückt?!«, brüllte der gewöhnlich besonnene Roman 264
Kotscherga, der vor einigen Monaten als Offizier aus der Armee entlassen worden war und noch ein Uniformhemd trug mit den dunkleren Stellen der entfernten Schulterklappen. »Du hast mir die ganze Stunde vermasselt. ‘ne Eins bekommst du! ‘ne Eins!« Die »Eins« war für mich unerwartet. Ich hatte noch nie eine so schlechte Note gehabt. Aber jetzt war es mir egal. Dieser Granatenknall kam auch für den Lehrer unvermutet, weil ich normalerweise ein schüchterner Junge war. Selten nahm ich teil an Schlägereien, die es öfters unter den Jungs gab. Und jetzt auf einmal solche Wut! Wieso? Warum? Das konnte ja unser Lehrer nicht wissen. Ihm war nur bekannt, dass wir »Nemzy« sind und von irgendwo für irgendwas nach Kasachstan »geschubst« wurden. Für uns - ein Verbannungsort. Für ihn - eine Heimat? Später, viele Jahre später sickerten Gerüchte durch, dass auch seine Eltern nicht freiwillig in diese Gegend gekommen seien. Und ich erinnerte mich an seinen alten Vater, der immer sehr höflich, den Hut lüftend, die Leute begrüßt hatte. Für dieses Dorf mit dem altrussischen Namen Bogorodka war das ganz ungewöhnlich. Na ja ... der Lehrer konnte ja nicht wissen, dass ich in meiner Kindheit schlimme Erfahrungen mit Granaten gehabt hatte. Während des Krieges lebten wir in der Ukraine, unweit vom Dnjepr, wo sich die größten Schlachten des Zweiten Weltkrieges abspielten. Und wie die Rotarmisten, so hinterließen auch die deutschen Soldaten hier Munition, Gewehre und Granaten, mit denen wir, Kinder, spielten. Wir kannten einfach kein anderes Spielzeug, weil es nichts anderes gab. Und da passierten öfters Unfälle. So auch in unserem Dorf Mariawohl. Im Sommer 1943 fanden zwei Brüder eine Handgranate, brachten sie in die Wohnung und hämmerten auf sie ein. Es knallte furchtbar. Die Finger eines der Jungen spritzten zusammen mit dem Blut an die Zimmerwände. Die Fensterscheiben flogen raus. In diesem Moment holte das 16-jährige Mädchen aus der Nachbarschaft aus dem Straßenbrunnen Wasser. Sie hatte gerade den Eimer hochgezogen, als es explodierte. Das Mädchen sackte zusammen, der Eimer polterte pfeifend in die 265
Tiefe. - Ein Granatsplitter, der durch das Fenster sauste, hatte die junge Nachbarin ins Herz getroffen. Sie war sofort tot. Später, als die Leute aus unseren Dörfern, auf Fuhren geladen, im Treck durch den regnerischen Herbst nach Westen flüchteten, haben sie den Krieg noch mal hautnah erlebt, greifbar gespürt, gesehen, gerochen. Also hatte auch ich vom Krieg die Nase voll. Wie übrigens auch Roman Kotscherga. Aber er musste dem Lehrplan folgen. Ich dagegen wollte mit Gewehren nichts mehr zu tun haben. Auch nicht mit Übungsgranaten. * * * Walter Gassjuk, kurz nach sechzig, ein kräftiger, korpulenter Mann mit starken, schwieligen Händen, die keine Arbeit scheuten und die vieles über sein Leben berichten könnten, steuerte sicher seinen abgenutzten roten »Volkswagen«. Neben ihm saß sein 10-jähriger Enkel Anton, Antoschka, der den Kopf unruhig und neugierig drehte, aus dem Wagen schaute und immer wieder fragte, wann sie endlich die Oder erreichen würden, den Fluss, über welchen der Opa ihm so viel erzählt hatte. Seit Walter nach Deutschland gekommen war, dachte er immer öfter daran, eine Fahrt in die weite Ferne zu machen. Deswegen saß er zuweilen stundenlang über Landkarten, die er sich extra angeschafft hatte, und studierte die Gegend des ehemaligen Warthegau, den Raum Warthe-Netze im heutigen Polen. Hierher, nach Westpolen an den Fluss Warthe waren seine Familie und viele, viele Landsleute aus den deutschen Siedlungen am Schwarzen Meer und am Dnepr während des Krieges umgesiedelt worden. Die Oder wollten sie bei Küstrin überqueren. Nein, hier war Walter noch nie gewesen. Aber als er die wasserreiche Oder sah, als er vor dem breiten, mächtigen Strom stand, war er sehr aufgeregt, sein Herz hämmerte und bebte, er hatte den Eindruck, als ob er diese Gegend schon einmal erlebt, gesehen hätte. Auch der Enkel war aufgeregt, er wollte dem Opa viele Fragen stellen, aber der ver266
stummte auf einmal. Er war in seine Erinnerungen versunken. Dann stieg er aus dem Auto und schaute auf das Ostufer des Flusses, auf die Ruinen einer Festung. Ganz oben auf der Mauer hatte man eine Panzerabwehrkanone als Andenken an die schweren Gefechte Ende des Zweiten Weltkrieges platziert. Walter wusste, unweit von hier mündet die Warthe in die Oder. Aber östlicher trifft sie sich noch mit der Netze, einem ruhigen Fluss, dessen Ufer von kleinen Kieferwäldern und saftigen Wiesen gesäumt sind. In dieser Richtung lag Walters Reiseziel. Die streckenweise holprigen Landwege schlängelten sich in Richtung Osten. Walter beeilte sich nicht. Er brauchte Zeit, um nachzudenken. Er musste manchmal halten, weil ihn ein Baum, eine Straßenkreuzung, eine alte Hütte an die Vergangenheit erinnerten. Er suchte die Stadt Scharnikau. So hieß sie vermutlich, so hatte er sie in seiner Erinnerung behalten. Wie heißt sie jetzt? Auf der Landkarte konnte er sie nicht finden. Es war eine kleine Stadt an der Netze. Hierher verschlug das Schicksal die Familie Gassjuk und Tausende anderer Flüchtlinge im Februar 1945 während der Flucht nach Westen. Walter kann sich bis heute an die Einzelheiten erinnern. Die Mutter, er und seine Geschwister saßen auf einer Fuhre, vor die zwei Schimmel gespannt waren. Es waren tüchtige Bauernwallache, die anfangs gut gefüttert, jetzt aber, nach monatelangen Strapazen, erschöpft und entkräftet waren. Sie quälten sich bei Schnee und Regen in Richtung Westen, durch die Kriegsgebiete - im Treck, aber manchmal auch einzeln, wenn man irgendwo allein auf der Strecke blieb. Es herrschte Nervosität, Panik, Unsicherheit. Oft wurden diese Flüchtlingsströme von sowjetischen Bombern angegriffen. Es gab auch unendlich grauenhafte Gerüchte über sowjetische Panzer, die Flüchtlingstrecks überrollten und vernichteten. Als die Situation beim Städtchen Scharnikau - Walter erinnert sich an diesen Namen, weil er irgendwie russisch, slawisch, klingt - ganz gefährlich schien, nahmen die Familie Gassjuk und viele andere Landsleute ihre Siebensachen, ja, nur das Wichtigste, nur das, was 267
tragbar war, und flohen in Richtung eines Waldes, um sich zu verstecken. Sie wollten einfach aus diesem Wirrwarr, aus diesem Durcheinander raus ... Diese Bilder haben sich für immer in Walters Gedächtnis eingeprägt. Er kreiste durch die Gegend. Endlich sah er einen älteren Man, der sich dem Fluss auf einem Fahrrad näherte. Vielleicht könnte er ihnen helfen? Auf die Begrüßung antwortete er freundlich. Aber als er begriff, dass es um die ferne Vergangenheit, um die Kriegszeit ging, verstummte er, sein Blick wurde abweisend und er wiederholte nur: »Nje rasumiju, nje rasumiju.« Also - er verstehe nichts. Und machte sich schnell davon. Endlich sagte Walter zu seinem Enkel Antoschka: »Es ist vielleicht gar nicht so wichtig, in welchem Wald, auf welchem Quadrat dieser Gegend wir uns vor so vielen Jahren befanden. In den vergangenen Jahren hat sich hier so viel verändert, die alten Bäume sind inzwischen abgeholzt, neue Wälder sind gewachsen. Und die neue Generation hat die Gegend verwandelt. Auch ich, dein Großvater, damals ein kleiner Junge, jünger als du jetzt, Antoschka, bin schon alt.« »Opa, was passierte denn hier vor so vielen Jahren? Warum suchst du eine Brücke, einen Wald?«, fragte der Enkel. »Du hast mir darüber nie etwas Genaues erzählt.« »Das, Anton, ist ein Wiedersehen mit der Vergangenheit, mit meiner Kindheit.« »Das habe ich schon gehört.« »Nein, diese Geschichte hast du noch nicht gehört. Ich wollte erst mal selber nachforschen und über vieles nachdenken. Ich wollte mir die Gegend anschauen. Aber so einfach, wie ich mir das vorgestellt habe, ist es nicht.« Sie machten eine Pause, ruhten sich aus und nach dem Essen und Trinken erzählte Walter folgende Begebenheit. »Als wir Ende Februar 1945 auf der Flucht einen Wald irgendwo in dieser Gegend erreichten, wurde es sehr schnell dunkel. Wir versuchten, eine geschützte Stelle im Wald zu finden. Gerade wollten wir uns ein wenig einrichten, um zu essen, als wir Motorengeräusch hörten. Alle wurden sofort still, keiner hatte mit so was gerechnet. 268
Uns ergriff die Angst, und das nicht ohne Grund. Bald erreichte eine Autokolonne unsere Unterkunft. Sie hielt ganz nahe von uns und durchleuchtete den dunklen Wald mit ihren Scheinwerfern. Selbstverständlich wurden wir entdeckt und drückten uns ängstlich in ein Häufchen zusammen. Und da hörten wir auch schon auf Russisch: »Wer seid ihr? Was macht ihr hier?« Wir schwiegen. Dann ertönte eine grobe Stimme: »Ausreißer! Wohin wollt ihr? Zu den Deutschen?« Nach einer kurzen Verzögerung trat ein junges Mädel aus unserer Gruppe heraus. Über ihrer Schulter hing eine weiße Tasche mit einem roten Kreuz. Alle schauten sie erschrocken an und flüsterten ihr zu: »Was machst du? Wohin?« Sie aber antwortete: »Man sieht doch, ich bin eine Krankenschwester, ich bin vom Roten Kreuz.« Aber sie schaffte nur ein paar Schritte, und da knallte es sehr laut, noch verstärkt durch den Widerhall. Das Mädchen sackte an einem Baum lehnend zusammen. In diesem Moment hörten alle Anwesenden eine laute Knabenstimme auf Russisch schreien: »Onkelchen, bitte nicht schießen! Wir sind aus Russland. Mein Name ist Gassjuk.« In die bedrückende Stille hinein trat ein Soldat. Er fragte kurz und ernst: »Wer seid ihr?« - »Aus Russland ... Gassjuk ist unser Name, Gassjuk.« »Wenn ihr Russen seid - was macht ihr hier? Wohin reißt ihr aus? Zu den Faschisten? Und wenn wir euch alle abknallen? Ja, einfach erschießen?« Das alles erzählte der Opa seinem Enkel Antoschka. Der Junge saß und starrte seinen Großvater an. Dann fragte er: »Opa, warum hast du mir das alles nie erzählt?« »Es ist eine sehr traurige Geschichte, ich dachte, du bist einfach noch zu klein, du würdest das alles noch nicht begreifen können.« »Und du kannst dich bis jetzt, nach so vielen Jahren, noch an alle Einzelheiten erinnern?« 269
»So was kann man einfach nicht vergessen. Man hätte uns ja alle erschießen können.« »Und was passierte danach?« »Die Soldaten ließen uns in Ruhe. Sie zogen weiter, Richtung Berlin.« - »Und ihr?« »Wir kehrten in den Warthegau zurück, nach Neukirchen, wo wir das Kriegsende abwarteten.« Diese Geschichte hatte aber eine Fortsetzung, eine fast unglaubliche ... Nach dem Krieg verschlug das Schicksal die Familie Gassjuk, wie auch alle andere Zeugen dieser nächtlichen Tragödie, nach Kasachstan, in das entlegene Dorf Bogodarowka. Sie wohnten auf einem Brigadehof, wo sich die Arbeiter jeden Morgen versammelten, das Vieh - die Pferde und Ochsen - versorgten. Im Winter, bei Frost und Schneesturm, holten sie von der Steppe mit Schlitten, mit Ochsengespann, Stroh und Heu. Eines von diesen Brigademitgliedern war Grischa Potapow, nach Kriegsende aus der Armee entlassen. Er war ungefähr siebenundzwanzig Jahre alt und besorgte in der Brigade die ganze Statistik, die Buchhaltung, also den Rechnungsdienst, da er fast der Einzige war, der vor dem Krieg noch die Schule besucht hatte. Das war die Zeit, als in jeder Familie noch die Kriegswunden schmerzten und man sich nicht traute, über die Verschleppung der Deutschen nach Kasachstan zu sprechen. Über die Vergangenheit sprach man in den Jahren so gut wie nie. Man musste von früh bis spät schuften, egal ob Männer oder Frauen, ob Erwachsene oder Kinder. So vergaß man sich in der Arbeit, im Kampf mit der tagtäglichen Not. Man war schon froh, wenn es etwas zu Mittag und zum Abendessen gab. Wenn nicht, musste man hungrig zu Bett gehen. Walter war zehn Jahre alt, aber weder er noch seine zwei jüngeren Geschwister konnten lernen - keine Kleidung, kein Fußzeug. Den ganzen Tag versteckten sie sich alle auf dem großen russischen Ofen. Dort spielten sie, dort stritten sie sich. Es kam auch vor, dass Walter mit dem jüngeren Bruder, dem Peter, barfuß auf das Eis im Hof lief, vor Freude brüllte, aber in wenigen Minuten wieder auf den 270
Ofen schlüpfte, sich wärmte und der Schwester erzählte, wie lustig es auf dem Eis war. Im Sommer verbrachten die Kinder die ganze Zeit am Fluss, angelten die winzig kleinen Gründlinge, Plötzen und Barsche, rösteten sie sofort im Feuer und verschlangen sie mit dem größten Genuss. Walter und sein Bruder begannen sehr früh zu arbeiten. Mit zwölf, dreizehn Jahren verstand man es, wie ein Erwachsener mit einem Ochsengespann umzugehen. Diese Kinder mussten sehr schnell ihre Kindheit vergessen. Es war im Frühling, etwa nach drei Jahren. Walter merkte, dass Grischa Potapow oft bis spät abends bei ihnen verweilte, in diesem Raum, wo sich die Menschen vor oder nach der Arbeit versammelten, um alles zu besprechen, sich zu wärmen oder einfach zu tratschen. Das war so üblich. Das machte den Kindern Spaß - man wusste alle Neuigkeiten im Dorf. Es gab ja auch sehr witzige Erzähler. Womit konnten sich die Kinder noch vergnügen? Bücher gab es keine. Sie konnten ja auch nicht Russisch lesen. Einmal kam Grischa betrunken zu ihnen, was in letzter Zeit öfter passierte, seit er erfahren hatte, dass er ernsthaft krank war. Er hatte Lungentuberkulose, was zu der Zeit einem Todesurteil gleichkam. Zu Hause war nur Walter mit der Mutter, Olga Gassjuk. Grigorij, gewöhnlich redselig, schwieg an diesem Abend. Dann fing er plötzlich an, ganz leise, mit schwacher Stimme zu sprechen: »Mit mir, Olga, ist bald alles vorbei ...« »Was meinst du damit, Grischa?« »Bestimmt hast du über meine Krankheit, die Tuberkulose schon gehört?« »Habe ich. Aber du bist noch jung, du schaffst es sicher. Mit dem Trinken solltest du allerdings rechtzeitig aufhören.« »Ja, ja. Ich weiß schon. Ich fühle es. Meine Kräfte versickern wie im Sand.« Dann hob er entschieden den Kopf, schaute Olga sehr ernst an und fragte sie: »Ihr seid doch hierher, nach Kasachstan, aus Polen gekommen?« »Ja«, Olga sah Grigorij verwundert an. »Könnt ihr euch auch an die 271
Nacht im Wald, als Soldaten die Flüchtlinge aufstöberten, erinnern?«, fragte Grigorij. »Selbstverständlich! Es war eine schreckliche Nacht. Aber wir haben hier keinem einzigen Menschen davon erzählt.« »Dort in der Nacht knallte ein Schuss und du, Walter, schriest laut: Onkel, bitte, Onkelchen, nicht schießen!« »Ja, die Krankenschwester, die junge Frau mit der weißen Tasche über der Schulter, die war sofort tot«, sagte Walter. »Das war ich ... Ich habe sie ... getötet«, stammelte Grigorij. »Sie, Onkel Grischa? Sie waren es?«, fragte Walter erstaunt. »Es war Krieg. Ein furchtbarer Krieg. Wir waren in der Offensive, Tag und Nacht. Es gab keinen Stillstand, keine Ruhe, keinen Schlaf.« Und Grigorij erzählte, wie Tausende von ihnen tagtäglich ums Leben kamen. Fast ganz Deutschland hatte sich den Amerikanern gestellt. Sie aber mussten jeden Quadratmeter Land, jeden Schritt erkämpfen. Und jeder dieser Schritte kostete Hunderte von ihren Soldaten. Sie hatten ein Ziel - Berlin zu erobern. Hier, schon ganz nahe am Ziel, wollte man nicht sterben. Aber wer fragte danach schon? Wer konnte das berücksichtigen? Hier am Endziel, ganz nahe vor Berlin war so ein schreckliches Durcheinander. Militärtruppen, Entlassene aus den Konzentrationslagern, Flüchtlinge alle strömten in Richtung Westen. Es war ein Ausbruch aus einem Hexenkessel. Keiner wusste, wie es weitergehen sollte, was morgen geschehen würde. Und in diesem Wirrwarr waren auch viele von denen, die ihren Wolfspelz in ein unschuldiges Schafsfell umzuwandeln versuchten, die sich aber bis zur letzten Minute wehrten und wo es nur ging noch hart zubissen. Selbstverständlich reagierten auch sie auf jedes Geräusch brutal, nach den Regeln des grausamsten aller Kriege. Grigorij sprach schnell und ununterbrochen, als ob er Angst hätte, jemand könnte ihn stören. Auf seine Stirn traten Schweißperlen, er wirkte erschöpft, brach auf einmal ab, als wollte er sich ausruhen. Und fuhr dann fort: »Aber die Krankenschwester ... die hätte ich nicht töten sollen. 272
Sie war unschuldig. Das quält mich außerordentlich ... das kann ich mir nicht verzeihen.« Und nach einer Pause: »Wie konnte das Schicksal so hart sein, dass unsere Wege sich noch mal gekreuzt haben? Ich habe in dieser Welt wahrscheinlich nicht mehr viel Zeit, deswegen wollte ich mein Herz erleichtern und alles erzählen.« Eine Weile war er ganz still. Dann bemerkte er: »Und an deine Stimme, Walter, an deine erschrockene Knabenstimme erinnerte ich mich auch oft. Hättest du nicht geschrien, wer weiß, was sich in der Nacht noch alles abgespielt hätte. Auch wir waren ja mit unseren Kräften am Ende - viele Tage ohne Schlaf, müde und hungrig. Und ständig in Gefahr, erschossen zu werden ...« Grigorij Potapow lebte nach diesem Gespräch noch ein halbes Jahr. Er hinterließ eine Frau und zwei kleine Kinder. So die eine Wahrheit. Und die andere: Walter und seine Mutter erinnerten sich sehr oft, auch nach Grischas Tod, an die schreckliche Nacht. Sie fühlten sich gespalten. Einerseits konnten sie bis jetzt nicht die Schrecken der Nacht und den Tod der Krankenschwester vergessen. Andererseits hatten sie in diesen Jahren Grischa als einen normalen, gutmütigen Menschen erlebt. Warum hat ausgerechnet er so brutal einer jungen, unschuldigen Frau das Leben genommen? Ist der Krieg daran schuld? Später, als Walter schon erwachsen war, las er ein Buch von Lew Kopelew, einem ehemaligen Offizier der Roten Armee. Der schrieb über die Gräueltaten in West- und Ostpreußen, die von den Soldaten der Roten Armee an den Zivilisten verübt wurden. Es war schrecklich, es war grausam, wie sie mit den völlig unschuldigen Menschen umgingen. Selbst nach Kriegsende, als die Kanonen schon schwiegen. Könnte Grischa ebenfalls unter ihnen gewesen sein? Walter wollte es nicht glauben, aber er konnte diesen Gedanken auch nicht loswerden. Das war auch eine Wahrheit des Zweiten Weltkrieges. Walter Gassjuk, einer von den Tausenden Einwanderern aus der 273
ehemaligen Sowjetunion, kam nach Deutschland aus Kirgisien, aus dem Tschu-Tal, wohin er in den Siebzigerjahren aus Kasachstan umgezogen war. Hier in Deutschland wurde die Familie nach Schleswig-Holstein in ein kleines Städtchen eingewiesen. Der Angestellte im Anmeldeamt schaute in die Unterlagen der Familie Gassjuk, richtete seinen Blick auf Walter und schmunzelte: »Sie haben so einen ... komischen Namen - nicht zu schreiben, nicht zu lesen.« »Für Sie vielleicht komisch. Ich aber bin mit ihm aufgewachsen. Mehr noch - er hat mir mal das Leben gerettet.« Der Angestellte schaute Walter von unten, über die Brille, an: »Wieso - gerettet?« »Das ist eine lange Geschichte.« »Na ja, na ja ...« Er grinste Walter irgendwie misstrauisch an. »Ihr Russen habt ja fast alle solche wehmütigen herzzerreißenden Geschichten zu erzählen.« Er sah Walter steif an und fügte hinzu: »Tränendrüsengeschichten ...« * * * Es waren die letzten Augusttage 1953. Kaum hatte ich die Schwelle des Wohnheimes in der Leninstraße der Stadt Eska im Gebiet Kokschetau überschritten, als ein Junge die Tür aufriss und aus aller Puste brüllte: »Unsere Jungs werden verprügelt!« Es dunkelte schon. Trotzdem sprangen alle auf und, wie vom Wind getrieben, stürzten sie hinaus. Ich - mit ihnen. Aus Solidarität. Wie eine wilde Horde rasten wir durch die Straßen und Gassen. Auf einmal hielt die Vorhut, überlegte, stritt sich - wohin weiter und eilte in eine andere Richtung. Die Horde - hinterher. Das Schlachtfeld fanden wir nicht. - Fehlalarm! Ins Wohnheim kehrten alle erregt und laut durcheinander redend zurück. Es wurden immer wieder gewisse »Zieselmäuse« erwähnt. »Worum geht es denn überhaupt? Weshalb diese ganze Aufregung?«, fragte ich endlich. 274
»Die Schüler der Bergbauschule nennen uns Esel, wir sie Ziesel«, erklärte man mir. »In dieser Fachschule sind fast nur Jungs und bei uns - fast nur Mädels. Und um diese Mädels, diese hübschen Geschöpfe, gibt es ständig Konflikte.« So schilderte man mir das »globale« Problem, das sich zwischen zwei »Alma Matern« der Provinzstadt Eska entwickelt hatte. In dieser Stadt werde ich jetzt vier Jahre leben und die pädagogische Fachschule besuchen. Als wir glücklich ins Wohnheim zurückkamen, dachte ich darüber nach, wie ich mich im Dunkeln beim Zusammenprall dieser Parteien verhalten hätte? Ich kannte weder die »Eigenen« noch die »Fremden«. Erst nach diesen turbulenten Ereignissen hatte ich die Möglichkeit, mich vorzustellen. Die Jungs schauten sich meinen riesigen Koffer aus weißem, ungefärbtem Furnier, den mir mein Bruder Jakob in Eile kurz vor meiner Abreise gebastelt hatte, ziemlich skeptisch an. Jemand musterte abschätzend: »Das ist ‘ne Kiste!« Später merkte ich, dass die Ausstattung der anderen Jungs nicht viel besser war. Damals lebten wir alle noch sehr, sehr bescheiden, um nicht zu sagen - arm. Und viele von uns kamen an die pädagogische Fachschule nicht des Berufes halber, sondern wegen des Stipendiums. - Es war eine Möglichkeit, das mittlere Bildungsniveau zu erwerben. Schon am nächsten Tag - ich hatte mich noch nicht normal eingerichtet - mussten mein Nachbar im Wohnheim Nikolaj Orlowski und ich mit einem alten Laster zur Heubeschaffung fahren. Eine Woche später versammelten sich alle Schüler auf dem Platz vor der Schule - einer langen niedrigen Baracke. Der Direktor Wladimir Iwanowitsch Rekubrazki, ein beleibter Mann mit einer sehr ruhigen Stimme, begrüßte uns und sagte: »Die Kolchosfelder tragen eine reiche Ernte. Und die Heimat fordert Sie - die zukünftigen Lehrer - auf, dieses goldene Getreide zu retten.« So erschien unsere erste »B«-Klasse in dem kasachischen Aul ShanaShol, was übersetzt neuer Weg bedeutet. Was aber in dieser von 275
Allah vergessenen Siedlung »neu« sein sollte, konnten wir nicht begreifen. Wir kamen fast alle vom Lande und waren so manches gewöhnt. Doch so eine Armut und so viel Schmutz im Dorf, das praktisch ohne Straße war und nur aus etlichen Lehmkaten bestand, hatten wir bis jetzt nicht gesehen. Unsere Gruppe bekam eine niedrige Erdhütte zur Verfügung - ohne Stuhl, ohne Tisch und Bank. Wir schleppten Stroh rein, drauf kamen Decken. So schliefen wir - die Mädels auf einer Seite, wir Jungs auf der anderen. Tag und Nacht drehten wir eine alte Putzmaschine und luden das gereinigte Getreide auf kleine Laster, die den Weizen nach Eska zum Getreidespeicher brachten. Die Autos gehörten einer Militärtruppe, die aus der Ukraine nach Kasachstan gekommen war. Angeblich waren es Seeleute der Schwarzmeerflotte. Aber nur der Uniform nach. Es waren ganz gewöhnliche Mechanisatoren und Kraftfahrer, die man in Eile in eine Uniform gesteckt und nach Kasachstan abkommandiert hatte. Gewöhnlich mussten mein Freund Nikolaj und ich mit diesen Lastautos mitfahren. Wir gruben uns tiefer ins Getreide ein und so ging es oft auch durch die dunkle Herbstnacht. Etwas romantisch war es schon: Der Mond schaute uns freundlich an und die Sterne funkelten am schwarzen Himmel. Da dachte ich oft an Bogorodka, an die Mutter, an die Geschwister. Ab zwölf Jahren haben wir Jungs schon in der Brigade gearbeitet. Bei der Heuernte. Jeder von uns war schon verantwortlich für ein Paar Ochsen, einen riesengroßen Leiterwagen. Hoch beladen wackelte die Fuhre im langsamen Ochsenschritt über die Steppe. Aber wehe, wenn es heiß war und die Bremsfliegen die geduldigen Ochsen angriffen. Dann konnten sie wild werden, losstürzen ... Ja, wir mussten im Dorf schnell mit den Erwachsenen Schritt halten. Und nur wenn es mal regnete, hatten wir Zeit, mit der Angel an dem Fluss geduldig zu warten. Als ich mich auf den Weg nach Eska machte, war die Mutter nicht sehr begeistert, aber auch nicht dagegen: Sie wusste, wie wichtig es für mich war, einen Beruf zu lernen. Aber ich konnte mir auch vorstellen, dass sie sich Sorgen um mich machte, denn es war ja 276
klar, dass ich für ein ganzes Jahr von zu Hause weg war. In den Ferien nach Hause zu fahren - das war bei den Entfernungen unmöglich ... In Shana Shol hat man sich um uns nicht viel gekümmert. Die Dorfbewohner hatten ihren eigenen Lebensrhythmus, ihre Gewohnheiten. Ich erinnere mich an eine Episode. Auf der Tenne mitten im Aul umringten Mechanisatoren den Baskarma, den Vorsitzenden der Kolchose und brüllten ihn an: »Was stehst du da mit aufgerissener Fresse? Die Menschen sind Tag und Nacht im Einsatz und bekommen nicht einmal genug Brot.« »Und was kann ich da ändern? Man hat einfach kein Brot gebracht.« »Ahaa, nicht gebracht. Und selber das Brot backen? Das wollt ihr nicht! Das versteht ihr nicht!« Der Vorsitzende wollte sich rechtfertigen, aber die Männer bedrängten ihn hart: »Das Getreide haben andere für euch gesät, es wird jetzt von uns eingebracht und ihr? Ja, ihr wollt nur fressen.« Und er zeigte in Richtung der Tenne: Dort versammelten sich zur Mittagszeit die Auleinwohner. Sie kamen mit ihren Fuhren, spannten die Pferde aus, schütteten ihnen Hafer ein. In einem großen Kessel kochte schon das Fleisch. Dann aßen sie alle zusammen Mittag langsam, gemütlich, mit Appetit. Nach dem Mahl füllten sie ihre Säcke mit Getreide und zogen ohne Eile nach Hause. Nach dem Prinzip: Das alles gehört uns, das ist für uns. Aber arbeiten mussten andere für sie. Im Prinzip hatten die Männer Recht, trotzdem störte mich, in welcher Art und Weise sie es machten. Diese Kasachen im Aul waren noch Halbnomaden, sie kannten kein anderes Leben, sie waren es so gewohnt. Und jetzt wollte man im Handumdrehen ihr Leben umkrempeln. Sie sollten sich von Grund auf anders verhalten. Ich dachte, so was wäre einfach nicht möglich. Man sollte mit ihnen anders umgehen, nachsichtiger sein, weil die Halbnomaden bisher von Viehzucht gelebt hatten und keine Erfahrungen im Ackerbau hatten. Diese Zeit auf dem Land war für uns, Schüler der Fachschule, sehr, sehr wichtig. Hier, in Shana-Shol, lernten wir uns kennen, hier 277
schweißte sich unsere Gruppe zusammen. Da unser Klassenleiter sich nicht oft sehen ließ, kam es irgendwie von selbst, dass Anja Rybinskaja, ein sympathisches, heiteres Mädchen, ihn ersetzte und unsere Gruppe zusammenhielt. Mascha Schamrai, von Natur aus sehr geschickt und ruhig, kochte für uns duftenden Borschtsch und andere schmackhafte Gerichte. Und wenn wir mal am Abend am Feuer saßen, wurde gesungen, und Wasja Timtschenko, der ein paar Jahre älter und erfahrener im Leben war, erzählte uns lustige Witze und gruselige Geschichten. Hier habe ich fast die ganze Zeit im Paar mit Nikolaj Orlowski gearbeitet. Hier lernten wir einander kennen und kamen gut miteinander aus. Als wir nach dem Ernteeinsatz nach Eska zurückkehrten, erwartete mich eine Überraschung - der Kommandant wollte mich sprechen, und zwar »sofort, dringend«. Ich dachte noch - warum? Vor der Abfahrt in die Kolchose hatte der Schuldirektor versprochen, mit dem Kommandanten alles zu regeln. Kaum erschien ich in der Kommandantur, fuhr mich ein junger Leutnant an: »Wieso bist du verschwunden?! Du kommst in den Knast, damit du weißt, was Ordnung ist!« »Ich war beim Ernteeinsatz, wo wir das Getreide retteten.« »Du brauchst mir nichts über eure Heldentat vormachen«, und er fluchte professionell, wie es wohl nur die Offiziere können. »Das nächste Mal erwarte ich dich rechtzeitig.« Dann aber stellte es sich heraus, dass ich meinen Pass nicht bei mir hatte. Eigentlich war es kein richtiger Pass, es war ein provisorischer Ausweis auf einem Halbblatt aus grobem, grauem Papier. Und wieder brüllte er: »Ich erwarte dich in zehn Minuten.« »Sie wissen doch: bis zum Wohnheim und zurück - vier Kilometer.« »Verschwinde! Sofort!« Auf dem Weg bis zu meiner Unterkunft und zurück dachte ich an meine Schwester Johanna. Nach dem Krieg, als die Kommandantur am heftigsten wütete, war sie sechzehn Jahre alt. Sie hat mir erzählt, wie oft der Kommandant sie und andere Frauen schikaniert 278
hat, wie er sie bis zum Kreiszentrum, vierzig Kilometer, zu Fuß jagte, selber im Wagen sitzend. Er hatte sich immer was Neues ausgedacht, wie man die Menschen schikanieren könnte. Für diesen Zweck hat man wahrscheinlich das »fähigste« Gesindel und richtige Schurken ausgesucht ... Im Wohnheim war es wie in einem Bienenstock - zehn, zwölf Betten in einem Zimmer. Die Schüler waren eine bunte Schar. Wir hatten einen Herzog, einen Sultan, zwei Brüder Wyssozki, zwei Brüder Krause. Und einen Fedja Dar, der Vollwaise war. Dar bedeutet Gabe, Talent. Fedja Dar war wirklich musikalisch begabt. Seinen Familiennamen bekam er im Waisenheim, weil sein richtiger Name unbekannt war. Das Publikum war also ein wahres Babylon - sehr bunt und verschieden. Den Namen nach waren es Polen, Deutsche, Russen, Tschetschenen. Wie es diese Völker aus den westlichen Gebieten nach Kasachstan verschlagen hatte, darüber wurde überhaupt niemals gesprochen. Nicht einmal unter uns. Wir wussten zu der Zeit noch nichts über die Ausmaße der Deportation. Das konnte man nur ahnen. Im nächsten Herbst, als wir wieder während der Ernte auf dem Lande arbeiteten, trafen wir dort ... Bulgaren. Das war so eine Überraschung: Wieso - Bulgaren? Wo gibt es in der Sowjetunion noch Bulgaren? Als wir versuchten sie anzusprechen, schüttelten sie nur die Köpfe. Konnten sie uns nicht verstehen? Oder wollten sie es nicht? Viele Jahre später war nachzulesen, welche ungeheuren Dimensionen die Deportationen hatten. Ganze Völker aus dem Kaukasus Tschetschenen, Inguschen, Balkaren; aus dem Baltikum - Letten, Litauer, Esten und viele andere Völker landeten in Sibirien und Kasachstan. Und es war nämlich so, dass Vertreter dieser Völker fast nur auf dem Lande als Traktoristen, Viehzüchter und Hirten, in den Kohlengruben, wo es besonders schwer und oft auch gefährlich war, anzutreffen waren. Der Lehrerberuf - das war schon eine Ausnahme. Deswegen lernten an unserer Fachschule so viele Deutsche, Polen, Tschetschenen, Tataren. Absurd? Aber das war nicht der einzige Unsinn, mit dem wir hier leben mussten. 279
Hier, an dieser Fachschule lernte schon ein Jahr meine Cousine Siegrid Neufeld. Als ich mich entschied, meine Unterlagen hierher zu schicken, dachte ich: »Da werde ich nicht allein sein, da gibt es schon eine bekannte Seele.« Als ich nach Eska kam, erfuhr ich, dass auch meine andere Cousine, Herta Neufeld, hier lernen wird. Nach zwei Jahren trat auch die dritte Schwester, Martha, die Ausbildung zur Sportlehrerin an. So sammelten sie sich in diesem Städtchen und holten auch ihre Mutter und später den kranken Bruder nach. An diese Zeiten erinnern mich einige Fotos: wir zu dritt - Siegrid, Herta und ich; oder alle zusammen - auch mit Martha dazu. Ernste Gesichter. Bescheiden gekleidet. Haben wir in den Zeiten nie gelacht? Doch, doch - wir waren noch sehr jung. Aber die bedrückende Situation der Jahre kann man von unseren Gesichtern doch irgendwie ablesen. Wenn wir aus dem Unterricht kamen, gab es in unserem »Starenkasten« - wie das Wohnheim in der Stadt genannt wurde - meistens ein großes Durcheinander. Einige kochten das Mittagessen, die anderen saßen am Schachbrett, umringt von denen, die selber nicht spielten, aber jeden Schachzug eifrig kommentierten und sich dabei heftig stritten. Es gab auch Possenreißer. Mit viel Geschick und Humor machte es Fedja Herzog, der immer betonte: »Ich bin ein Herzog, ein Adliger ... aus der Sowchose in den kasachischen Steppen.« An einem Nachmittag - wir hatten unser Stipendium bekommen und waren sehr gut gelaunt - sagte Fedja Herzog: »Jungs, ein Stipendium muss ›bespritzt‹ werden. Sonst wird man immer verschuldet sein. Ja, und was ist das schon für ein Fachschüler, der nicht ›bespritzt‹ ist? Trockene Fachschüler tun sich schwer. Wir müssen Abhilfe schaffen!« Man sammelte sofort Geld und in einigen Minuten stand auf unserem einzigen Tisch eine Weinflasche. Weingläser gab es keine, wir suchten uns leere Teegläser und Konservendosen, spritzten in jedes Gefäß ein paar Tropfen. Fedja wollte gerade einen Trinkspruch 280
aussprechen, als die Tür leise knarrte: In den Spalt schob sich ein grauer Kopf: »Roman Jelissejewitsch«, flüsterte jemand. Alle verstummten und versteckten die Konservendosen hinter den Rücken. Der Lehrer grinste, schaute sich unsere Runde an und zischte irgendwie heiser: »Ahaa, ihr tri-i-inkt. Aus we-e-lchem A-anlass?« »Das ist doch rein symbolisch«, versuchte der Kaukasier Sultan Chamtschijew zu scherzen. »Ja, ja, das merke ich schon«, krächzte die grauköpfige Gestalt. »Und Sie, Fjodor Herzog, machen mit? Sie sind ja schon älter, Sie sollten ja diese Jungs belehren. Aj-ja-jaj! Da muss ich über Ihr Benehmen im Schülerausschuss berichten.« »Wieder fängt er mit seiner Leier an«, flüsterte Fedja. »Jetzt gibt es kein Bremsen.« Tatsächlich wurden wir ihn nur mit Mühe los. Er schaute in jedes Zimmer, erwischte jemanden aus dem dritten Schuljahr und beschuldigte ihn, nachlässig gewesen zu sein und zugelassen zu haben, dass die Jungs Wein trinken. Anscheinend war er einfach froh, einen großen Skandal anzuzetteln. »Er will wieder mal beweisen, wie wachsam und prinzipiell er ist«, meinte Fedja Herzog. Aber Schlimmes folgte diesmal nicht. Es gab ja auch keinen Anlass dazu, denn unter uns war das Alkoholproblem nicht aktuell. Unser Stipendium war sehr knapp und reichte nur aus, um überhaupt zu überleben. Später lernten wir diesen Lehrer, den Roman J. Kasakow, der bei uns Geografie und Naturkunde unterrichtete, gründlich kennen. All seine Stunden verwandelte er in antireligiöse Propaganda und hielt unendliche Moralpredigten. Der Ernteeinsatz - das war ja einerseits gut. Aber selbstverständlich wollten wir so schnell wie möglich in die Schule, zum Unterricht kommen. Wir erwarteten was ganz Neues, Außerordentliches, etwas, wovon wir noch keine Vorstellung hatten. Das Neue war für mich der Musikunterricht. Ich hatte keine Ah281
nung, wie ich es mit dem Klavierspielen schaffen sollte. Das war für mich was Außerordentliches, denn ich wusste aus unserer Familie, in der immer viel gesungen wurde, dass ich unmusikalisch bin. Und tatsächlich, ich »hämmerte« fast ein Jahr Übungsetüden, dann einen Walzer und das war‘s. Und so ging es nicht nur mir, sondern vielen in der Klasse. Fedja Dar mit seinem musikalischen Talent war eine Ausname. In seinen Händen klang jedes Instrument wunderbar. Hatte das mit uns zu tun, oder lag es an der Lehrerin? Spielte ja auch keine Rolle. - Wir sollten ja nur eine Ahnung von diesem Fach bekommen. Anfänglich dachte ich ganz naiv, dass in einer pädagogischen Fachschule irgendwelche außerordentlichen Lehrer sein müssten. Denn sie sind ja Lehrer der künftigen Lehrer. Aber schon bald begriff ich, dass es ganz »normale« Menschen waren. Die einen schätzten wir sehr, an diese erinnere ich mich bis jetzt sehr gut, die anderen sind irgendwie verblichen. Wie zum Beispiel unser Klassenleiter Pjotr Jewgenjewitsch Danilow. Er trug immer einen grau-grünen Kittel und hatte Stiefel an, sozusagen eine Erinnerung an seine militärische Vergangenheit. Er unterrichtete bei uns Geschichte, aber ich kann mich an keine einzige Stunde erinnern. Ich weiß nur, dass es die Geschichte der UdSSR war. Aber die wurde so viele Male umgeschrieben, umgekrempelt, dass er vielleicht schon selber nicht wusste, was wahr und was Lüge ist. Seine Pflichten des Klassenleiters übergab er ziemlich schnell Anja Rybinskaja, die schon beim Ernteeinsatz beweisen konnte, dass sie eine gute Organisatorin war. Dieser Lehrer hat uns nichts Schlechtes getan, aber auch nicht viel Gutes gebracht. Er war sozusagen nicht mit uns, sondern nur bei uns, als Begleiterscheinung. Es gab bei uns einige Lehrer, die in diese Umgebung, in dieses Leben nicht hineinpassten. So die Musiklehrerin Nina Iwanowna. In Wirklichkeit keine »Nina« und keine »Iwanowna« - sie war eine Italienerin: Nonzia Djowani Kovalini. Sie bat uns einmal, ihren Tisch in die Wohnung zu tragen. Und da hatten wir die Möglichkeit zu sehen, wie bescheiden, wie arm diese Lehrerin lebte. Es war eigent282
lich keine Wohnung, sondern eine winzig kleine »Zelle«. Die Wände - mit alten Zeitungen beklebt. Tapeten gab es zu der Zeit noch nicht. Ich meine - bei uns, in Kasachstan. Aber eine Musiklehrerin war »Nina Iwanowna«, wie man sagt, von Gottes Gnaden. Das weiß ich von den Kameraden, die bei ihr Musikunterricht hatten. Wie diese Italienerin nach Kasachstan gekommen sein mag, ist mir rätselhaft. Es gab auch andere Lehrer, die sich vermutlich hier nicht zu Hause fühlten. Russische Literatur unterrichtete Alevtina V. Chobotnja. Sie erwähnte mal, dass sie aus Leningrad sei. Russisch sprach sie sehr richtig und gepflegt. Wir aber - Deutsche, Polen, Tschetschenen, Tataren - hatten mit der Aussprache manchmal Probleme. Sie staunte und jammerte. »In einigen Jahren werdet ihr Lehrer sein und den Kindern Russisch beibringen müssen. Aber wie, wenn ihr solch ein Kauderwelsch sprecht?«, meinte sie verzweifelt. Sie konnte mich, zum Beispiel, fragen: »Warkentin, erklären Sie mir bitte, was das für ein Wort ist? Wo haben Sie das aufgeschnappt?!« »In unserem Dorf Bogorodka. Da spricht jeder so.« »Was heißt - jeder? Es muss doch ein altes russisches Dorf sein Bogorodka?« »Das stimmt. Aber jetzt leben da auch Kasachen, Deutsche und Tschetschenen.« Sie verstummte. Ein heikles Thema? Wahrscheinlich. Ich hatte immer den Eindruck, dass auch sie nicht freiwillig hier gelandet sei. Die meisten von uns haben es aber mit der russischen Sprache geschafft und wurden später sogar Lehrer der russischen Sprache und Literatur. Aber die eigene Sprache, die Muttersprache, die wurde verdrängt. Man hörte später sehr oft, Kasachstan sei ein Land mit hundert Völkern, die friedlich miteinander auskommen. Sie sprachen alle russisch. Sie verloren alle ihre eigenen Sprachen. Ja, unsere Lehrer waren sehr verschieden: tüchtig, interessant, aber manchmal auch langweilig und geistlos. Ich vermute, keiner von uns allen hat den Pawel Iwanowitsch 283
Tschudakow vergessen. Dieser Lehrer entsprach - wenn ich es mir jetzt überlege - irgendwie seinem Namen, denn Tschudakow stammt vom Wort Tschudak ab, was so viel wie Sonderling oder komischer Kauz bedeutet. Er unterrichtete Geschichte der KPdSU, genauer gesagt, den »kurz gefassten Kurs« - so das Lehrbuch. Er hat sich bemüht, uns die Rolle des großen Genies Josef Stalin einzutrichtern. Er konnte sagen: »Na, mein Lieber, Sie steuern ja in eine ganz falsche Richtung.« Oder: »Ja, Lieber, was haben Sie sich da ausgedacht?« Und mit einem Mal wachten wir auf und erfuhren: Alles, was Tschudakow uns versucht hatte beizubringen, war falsch. War es für ihn eine Tragödie? Ich glaube nicht. Denn er hat ja nicht gekündigt, er arbeitete weiter. Aber im Grunde gesagt, waren die Geschichtslehrer in der Sowjetunion nicht zu beneiden. An einen Lehrer erinnere ich mich am häufigsten. Das ist Pjotr Andrejewischt Bojko. Als man ihn uns vorstellte, war er in einem weißen Anzug mit einem Orden an der Brust. Er war schon alt, beleibt. Er sprach uns sehr freundlich an, sagte, dass er einen Chor gründen möchte und hoffe, die meisten von uns würden da mitmachen. Dass er es ernst meinte, merkten wir bald. Er hat sich während der ersten Gesangstunde jede Stimme angehört. Die wenigen Jungs, die bei uns lernten, mussten praktisch alle am Chor teilnehmen. Jeden Mittwoch stand Pjotr A. Bojko mit seinem breiten Rükken vor der Ausgangstür und riegelte sie ab ... In einigen Monaten war es in der Stadt bekannt, die LBA habe einen Chor, der sich auch bald präsentieren konnte. In einem Jahr war er im Gebiet einer der besten Chöre. Ich sehe vor meinem geistigen Auge den alten Lehrer bei den Proben. Wir übten das sehr bekannte Lied von Solowjow-Sedoj »Die Nachtigallen«. Die Arme des Dirigenten breiteten sich aus wie Flügel, seine Lippen zitterten, das Gesicht, die Augen strahlten vor Freude, die Melodie stieg hoch und breitete sich aus. Es war ein wahrer Aufschwung, ein erregender, ergreifender Augenblick. 284
Pjotr A. Bojko war ein Mensch mit einem Geheimnis. Ich hatte den Eindruck, auch er passe nicht in diese Zeit und diese Umgebung. Er hatte keine Familie, war ganz allein. Später heiratete er eine ganz junge Frau. Dann kam die große Freude - er wurde Vater. Oft spazierte er auf unserem Schulhof mit dem Sohn, an dem auch die Schüler ihre Freude hatten. Der Lehrer erzählte uns, dass er von einem kleinen Häuschen irgendwo am Don träume, von einem kleinen Garten mit Kirschbäumen. Er wollte endlich sein Zuhause haben. Hat sich sein Wunsch erfüllt? Das weiß ich leider nicht. Ich denke oft an jene Zeit. Es war nicht einfach, denn das Stipendium reichte nie, es kam auch nicht selten vor, dass ich hungrig zu Bett ging oder dass ich dem Unterricht schwer folgen konnte, weil der Magen knurrte. Aber ich konnte lernen. Unsere Geschwister, die drei bis fünf Jahre älter waren, mussten arbeiten - als Traktoristen, Melkerinnen, im Walde bei der Holzfällung oder in den Kohlengruben. So gaben sie uns die Möglichkeit zum Lernen. Hatte ich Spaß daran? Selbstverständlich! Es war mein Traum. Deswegen ging ich ja so früh von zu Hause weg. Das war die einzige Möglichkeit zu lernen. Meine Freunde und ich spürten tagtäglich den enormen Druck: Bekommt man bei den Semesterprüfungen eine »3«, bleibt man ohne Stipendium. Für viele von uns bedeutete es - die Koffer packen. In unserer Gruppe »B« waren es fünf Schüler, die scheiterten, die aufgeben mussten. Also hieß es - pauken. Da hatte man nicht viel Zeit, um sich die herrliche Umgebung von Borowoje mit den malerischen Seen und Bergen anzuschauen, die Natur zu genießen. Ich musste manchmal mehr als mein Freund Nikolaj Orlowski mit dem Lehrbuch sitzen. Ich merkte, dass ich in Mathematik und besonders in Chemie aus meiner Dorfschule viele Lücken mitgebracht hatte. Obzwar ich dort ein »Otlitschnik« war, also nur »Ausgezeichnet« in meinem Zeugnis hatte. Das war schon eine Leistung, denn als wir 1945 nach Kasachstan kamen, sprachen wir Kinder praktisch nur deutsch und verstanden ein wenig Ukrainisch und Russisch. Aber nach einigen Monaten hatten wir auch mit der russischen Sprache keine Schwierigkeiten mehr. In der siebten Klasse war ich der einzige Deutsche 285
und hatte die besten Noten. So war es auch bei meinen Cousinen Martha, Siegrid und Herta, die im Kreiszentrum Balkaschino lernten. Sie waren auch unter den Allerbesten in der Schule. Das hatte wahrscheinlich auch damit zu tun, dass wir in unserer Kindheit schon so viele Lebenserfahrungen gemacht hatten. Den Krieg hatten wir hautnah, sozusagen live erlebt, wir hatten halb Europa gesehen. Die meisten Schulkameraden lebten auf dem Lande und hatten die Möglichkeit, am Samstag nach dem Unterricht nach Hause zu fahren, um sich Proviant zu holen. Hunderte Schüler aus den zwei Fachschulen machten sich jedes Wochenende auf den Weg. Viele von ihnen fuhren mit dem Zug. Da sie aber kein Geld hatten, fuhren sie schwarz. Die Schaffner jagten sie aus einem Wagen in den andern, sie pressten sich in die engen Vorräume. Sie krochen in die Güterzüge, wenn es im Winter nicht zu kalt war. Manchmal wurden die Schwarzfahrer zu frech, dann zeigten die Schaffner sie an, schrieben darüber der Verkehrspolizei, der Miliz, die dann Meldungen an unseren Schuldirektor machten. Er bekam nach jedem Wochenende solche Briefe, hat aber niemals jemanden bestraft, sondern lud die jungen Leute zu sich ein und hielt sie an aufzupassen, vorsichtiger zu sein. Einmal überredete mich mein Mitschüler Wassja Timtschenko, mit ihm nach Hause zu fahren. Ich fragte ihn: »Und die Fahrkarten?« »Ach, kein Problem, habe Erfahrungen«, meinte er. Wir schlichen uns in einen Personenzug, wurden aber im letzten Moment erwischt und herausgeworfen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns an die Waggontreppen zu klammern. Die Züge waren noch nicht so schnell wie jetzt, da war man noch imstande, sich festzuhalten. Aber ich muss schon zugeben, sehr komfortabel war das nicht. Wir kamen bis zum nächsten Bahnhof und beschlossen, unser Fahrzeug zu wechseln und auf einen Güterzug umzusteigen. Der war sicherer, weil es dort keine Schaffner gab. Wir krochen in einen leeren Güterwaggon, der von innen ganz schwarz von Kohlenstaub war. Als der Zug dann in Schwung kam, wirbelte der Staub auf - es war die Hölle. Nach einigen Minuten waren wir schwarz. 286
Als Wassjas Eltern uns erblickten, staunten sie: »Was ist denn mit euch los? Hat man euch durch den Schornstein gezogen?« Dann lachten sie laut und sagten: »Die Banja ist schon geheizt. Geht sofort baden!« An diesem Abend erinnerte ich mich an meine Familie - die Mutter, die Geschwister Johanna und Jakob. Ich bekam oft Briefe von meiner Mutter, die mir ausführlich über alle Neuigkeiten in der Familie und im Dorf berichtete. Sie hat in ihrem Leben Hunderte Briefe geschrieben, in einem guten Stil und fehlerlos, ob deutsch oder russisch. Briefe zu schreiben - dafür hatte meine Mutter ein Talent. In den Nachkriegsjahren in der Verbannung haben die Leute nach Verwandten, Freunden und Bekannten gesucht und nachgefragt. Briefe spielten dabei eine große Rolle, denn es waren ausführliche Berichte über das Erlebte und Erlittene. Es war eine Riesenfreude für Mutter und ihre Schwestern - meine Tanten Just und Liese - wenn sie einen Brief von jemandem bekamen, den sie jahrelang gesucht und endlich gefunden hatten. Sie besprachen diese Briefe an langen dunklen Abenden, wenn der Raum nur von einer kleinen Funzel beleuchtet war. Da kamen Erinnerungen hoch an die Zeiten, als sie noch ein Zuhause hatten. Ich kann mir nicht verzeihen, dass die meisten Briefe meiner Mutter verloren gegangen sind. Ich habe sie aufbewahrt, aber dann, beim Umziehen - und umgezogen bin ich ja oft! - gingen sie verloren. Während der Ausbildung in der Fachschule bekam ich auch manchmal Pakete von Zuhause, die so nach Mutters Gebäck, nach getrockneten Nudeln und gesalzenem Speck dufteten. Zu der Zeit hatten wir in unserem »Starenkasten« noch nie etwas über einen Kühlschrank gehört und konnten daher auch keine Lebensmittel länger aufbewahren. So freuten wir uns alle jedes Mal, wenn einer der 12 Stubenbewohner ein Paket von Zuhause bekam. - Dann wurde es ein schöner Heimatabend mit gemeinsamer Teerunde. Es war allbekannt - die pädagogische Fachschule in Eska bildet gute Fachkräfte, gute Grundschullehrer aus. Nach dieser Schätzung waren unsere Absolventen in den Fächern, in der Methodik und im praktischen Unterricht gut vorbereitet. 287
Was mich betrifft, so hatte ich Probleme mit dem Praktikum in der Schule. Und zwar wegen meines Stotterns. Ich stotterte schon seit der Kindheit. Von diesem Übel war auch mein Bruder betroffen. Das war nicht angeboren, das hatte wahrscheinlich mit den Erlebnissen während des Krieges zu tun. Während der Zeit in der Fachschule hatte sich meine Aussprache wesentlich gebessert, aber manchmal »haperte« es noch, besonders, wenn ich aufgeregt war. Dann fühlte ich mich irgendwie verkrampft. Und jedes Mal musste ich mich überwinden, mit mir kämpfen. Aber aufgeregt war ja praktisch jeder, wenn er vor einer Kinderschar stand und dazu noch der Methodiker und die Mitschüler dich beobachteten. Jetzt beim Praktikum, in der Schule wurde uns allen erstmals so recht klar, wer für den Lehrerberuf geeignet ist und wer weniger. Ich empfand mich immer noch nicht als Lehrer. Mit den anderen Jungs haben wir öfters darüber gesprochen, unser Ziel sei, die mittlere Reife zu bekommen. Und dann könnte man sehen, wie es weitergeht. Langsam näherte sich unser Vordiplompraktikum. Ich wählte mir eine Schule im Heimatdorf eines Mitschülers - in Tschernojarka. Und da hatte ich wirklich Glück. - Eine noch junge, aber schon erfahrene Lehrerin, Anna Petrowna, war einverstanden, mich in ihre Klasse zu nehmen. Sie war eine kluge, interessante Frau, die gut mit den Kindern umgehen konnte. Die Schüler waren von ihr begeistert, weil sie alles konnte: singen, tanzen, basteln. Sie machte mit der Klasse oft Ausflüge. Sie war streng, aber gerecht. Anna Petrowna half mir bei den Vorbereitungen zu den Stunden, sie analysierte meine Arbeit sachlich und sprach mir dabei immer Mut zu. Ich spürte zum ersten Mal, dass die Arbeit mit den Kindern mir Spaß macht, dass ich wirklich etwas kann, dass auch die Kinder von meinem Unterricht begeistert sind. Endlich war es so weit: der Abschiedsabend. Wir hatten es geschafft, wir hatten das Diplom in der Tasche. Und wir dachten schon daran, wie es jetzt weitergehen würde. Ich hatte ein so genanntes »freies« Diplom, das heißt, mir wurde keine Arbeitsstelle zugewiesen, ich musste sie mir selber suchen. Es wurde an diesem Abend sehr viel getanzt. Das Tanzen haben 288
uns unsere Mädels schon im ersten Schuljahr beigebracht. Wir Jungs trauten uns am Anfang nicht auf die Tanzfläche, denn wir traten den Mädchen auf die Zehen. Aber unsere Mitschülerinnen hatten Geduld. Und jetzt tanzten wir miteinander den Walzer ... wunderschön ... zum Abschied ... Wir sprachen über unsere Zukunft, über unsere Pläne und wussten, von den meisten trennen wir uns für immer. Ich denke noch oft an die besinnliche Lydia Petrowa, an die heitere und immer gut gelaunte Nadja Androssowa, an die intelligente, im alltäglichen Leben unbeholfene Musa Sewerinowa, an die sehr ruhige Walja Schewtschenko, an Alexej Tscherepow. Von Alexej wusste ich schon, dass er sich entschieden hatte, bei der Möbelfabrik, an der er jeden Tag auf seinem Schulweg vorbeiging, zu arbeiten. Ich besuchte ihn nach vielen Jahren und er erzählte mir, er hätte später noch den Beruf des Holzmechanikers erlernt. Ich merkte, dass er sehr von seinem Beruf begeistert war. Er machte Möbel, gute Möbel, die wunderbar nach Harz dufteten. Nach Jahren habe ich nachgedacht, welche Rolle die Fachschule in meinem Leben spielte. Hier bin ich erwachsen geworden, hier hat sich mein Charakter gefestigt. Aber wichtiger vielleicht das andere: Hier, in der Fachschule, fern von der Mutter und Geschwistern, lernte ich, für all mein Tun und Handeln die Verantwortung zu übernehmen. Für die Erfolge und für die Niederlagen. Das hat mir auch später im Leben geholfen: Wenn es kritisch wurde und ich entscheiden musste, war ich auch imstande, diese Entscheidung zu treffen. Doch das war später. Heute aber war Abschiedsabend. Bei dieser Feier fehlten leider zur selben Zeit in der Parallelgruppe meine Cousine Herta Neufeld und ihre Freundin Liese Weingart. Meine Cousine Martha aus der Sportabteilung war auch nicht da. Sie durften alle drei das Staatsexamen nicht ablegen. Sie wurden schikaniert und verfolgt, weil sie heimlich an Gottesdiensten teilgenommen hatten. Die Hetzjagd war vermutlich von unseren Lehrern - wie Roman J. Kasakow und seinesgleichen - vom Zaun gebrochen worden. Darüber schrieb man in den Zeitungen und veranstaltete Versammlungen. Man »reagierte«. Suspendiert wurde auch 289
Siegrid Neufeld, die diese Fachschule vor einem Jahr mit Auszeichnung absolviert hatte. Man verbot ihr in der Schule zu arbeiten. Man jagte die Klügsten und Begabtesten. Und das, nachdem Nikita Chruschtschow den Menschen, dem Sowjetvolk so vieles versprochen hatte. Das alles gehörte auch zu den Fünfzigerjahren, zu der Zeit, als man hoffte, mit dem Terror der »stalinistischen Epoche« sei es endlich vorbei. Nein, die Anhänger jener Zeit, die ewig Gestrigen, wollten nicht aufgeben ... Frühmorgens, traditionell gingen wir alle zum See in Eska, um dort den Sonnenaufgang zu erleben. Dann verabschiedeten wir uns. Dabei gab es auch Tränen. So trennten wir uns von der Fachschule, trennten uns voneinander, von der Stadt. Wir trennten uns von einem sehr wichtigen Abschnitt in unserem Leben ... * * * Berliner Bahnhof Lichtenberg. Zweimal wöchentlich läuft hier ein Zug aus Akmola - Saratow ein, der fast ausschließlich von Aussiedlern besetzt ist. Ich habe mich auf dem Bahnsteig vor dem durchblasenden feuchten Herbstwind hinter einer Glaswand verschanzt und versuche zu lesen. Dazu kommt es aber nicht, ich kann mich nicht konzentrieren. Das Bahnhofsgedränge scheint interessanter zu sein als jedes Buch. Der Zug muss bald einlaufen, man spürt es an der zunehmenden Erregung der Anwesenden. Ein Junge in Jeans schreitet den Bahnsteig mit einer Filmkamera in der Hand ab. Ein untersetzter bejahrter Mann hämmert seinem Gesprächspartner etwas Wichtiges ein. Ein verliebtes junges Paar wandelt umschlungen umher und scheint nichts und niemanden zu bemerken. Und plötzlich - eine bekannte Stimme. Das darf doch nicht wahr sein! Habe ich mich verhört? Nein. Aber ich traue meinen Augen nicht: Heinrich Wilhelmowitsch in höchsteigener Person. Den Mann hätte ich hier am wenigsten erwartet. Laut, vital und immer spru290
delnd, wie er immer war, hat er es auch hier auf dem Bahnsteig schon geschafft, über seine berühmte literarische Vergangenheit zu berichten. Anscheinend ganz fremden Menschen. Viele Jahre sind bereits ins Land gegangen, aber er hat sich kaum geändert. Nur da? Vielleicht hat sein Kopf etwas mehr Schnee bekommen. Nun läuft auch der Zug ein und quietscht müde mit den Bremsen: Hat er doch über fünftausend Kilometer nicht leichten Weges zurückgelegt. Die Menge strömt zu den Waggons. Umarmungen, Tränen der Erleichterung. Endlich ist alles vorbei: das monatelange Warten, die Hektik, die Gereiztheit wegen der Pässe, der Visa, der Launen der Beamten, des schmerzvollen Abschieds von der Vergangenheit, die Angst, dass die Zollbeamten die letzten Habseligkeiten, die man in ein paar Koffer verstaut hat, wegnehmen ... Schneller als die anderen ist das Team mit dem untersetzten Mann an der Spitze mit dem Gepäck der Ankömmlinge fertig geworden. Nun ziehen sie mit Koffern und Bündeln langsam ab. Der Bahnsteig wird leer. Nur eine junge Dame und ihre kleine Tochter stehen neben dem Gleis und sehen sich hilflos um. Warum wurden sie nicht abgeholt? Hat man sie vergessen? Oder ist man auf der Autobahn im Stau stecken geblieben? Eher das Letzte ... ... So geht es bereits fast zwanzig Jahre lang. Unser Volk findet nirgends Ruhe und sitzt auf den gepackten Koffern. Es schwebt irgendwie in der Luft und weiß nicht, was es morgen zu erwarten hat, obwohl es Jahr für Jahr getröstet wird: »Die Tore bleiben für euch offen.« Bei weitem nicht allen fällt es leicht, mit dem Alten zu brechen. Alles, was man sich im Schweiße seines Angesichts angeschafft hatte, wird zurückgelassen: das Haus, die Wohnung, auf die man jahrzehntelang gewartet hatte, die Datscha, die Bibliothek, die man sein Leben lang zusammengetragen hatte. Und, für viele das Schlimmste, man verlässt die Heimat, die uns das Wandern und das Abschiednehmen jahrhundertelang beigebracht hat. Die große Völkerwanderung begann schon Ende des 18. Jahrhunderts, als den hohen russischen Beamten die deutschen Namen unserer Dörfer 291
nicht gefielen und dass die deutschen Kinder in den Schulen ihre Muttersprache lernten. Schon damals ging‘s los: Umbenennen! Verbieten! In den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts, am Anfang der Sowjetzeit, schwappte wieder eine Welle Auswanderer über die Grenzen. Und wieder ein Verbot. Es wurde der Eiserne Vorhang der Sowjetzeit vorgeschoben. Entkulakesierung, Repressalien in den 30er-Jahren. Deportationen nach Sibirien und Kasachstan im Jahre 1941. Fast in jeder Familie war es so: Die Großeltern geboren irgendwo in der Ukraine, an der Wolga, ihre Kinder - in Sibirien, Kasachstan oder Mittelasien, ihre Enkelkinder - noch woanders. So wurden auch die Gräber unserer Nächsten zurückgelassen: am Dnepr, an der Wolga, am Irtysch usw. Ich bin mal in meine Heimat im Gebiet Saporoshje gefahren. Von den deutschen Dörfern sowie von den Gräbern unserer Vorfahren ist praktisch nichts mehr geblieben. Und wer soll nun die zurückgelassenen Grabstätten in Kasachstan und Mittelasien pflegen? Heute ist es noch möglich, den ehemaligen Nachbarn Geld oder Geschenke zuzustecken mit der Bitte, sich um die Gräber der Verwandten zu kümmern. Ob sich aber unsere Enkel an diese heilige Pflicht noch erinnern werden? Ob sie auch die Möglichkeit dazu haben werden? Nach dem Krieg, als man uns die Handschellen der Kommandantur abgenommen hatte, begaben sich die Deutschen auf die Suche nach einem besseren Leben. Sie gingen dorthin, wo es wärmer war - in den Süden Kasachstans und nach Mittelasien. Und dieses Hinund Herziehen will bis heute kein Ende nehmen ... Als ich am Berliner Bahnhof das Pfeifen der Lokomotive vernahm, erinnerte ich mich wieder an die letzten Briefe unseres Vaters, die er im Jahre 1941 unterwegs geschrieben hatte. Da steht: »Wenn die Lokomotiven heulen und die Kinder am Wege stehen und mit der Hand das Zeichen zum Geleit geben, dann denkt man mit Sehnsucht an die Seinigen in der Heimat ... Man schluckt eine Träne und weiter geht‘s.« Diese zwei Briefe sind unsere Familienreliquie, es sind die letzten Ratschläge für seine Familie. Im Februar 1942 wurde er irgendwo 292
bei Solikamsk, in der Taiga, völlig entkräftet, auf einem Wege von der Arbeit gefunden und ins Lazarett gebracht, wo er auch bald das Zeitliche gesegnet hat. Vater konnte damals nicht wissen, was ihn in naher Zukunft erwartet, aber eine Unruhe spürte man schon in seinen Briefen. Und wenn ich diese von der Zeit vergilbten Blätter in die Hand nehme, verschnürt es mir die Kehle. Dies ist nicht nur unsere tragische Vergangenheit. Das ist die Vergangenheit unseres Volkes. Das sind unsere nie verheilten Wunden.
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