Loge des Feuers von Michael Breuer
Seit langem galt der Vulkan als erloschen, doch plötzlich erhellten Flammen die Fin...
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Loge des Feuers von Michael Breuer
Seit langem galt der Vulkan als erloschen, doch plötzlich erhellten Flammen die Finsternis des bodenlosen Kraters. Qualmwolken stiegen gen Himmel. Solides, Jahrtausende altes Gestein zerbarst und gab den Blick auf kochende Lava-Ströme frei. Keinem menschlichen Beobachter wäre es möglich gewesen, in dieser Gluthölle zu überleben – doch Menschen war der Zutritt zu dieser Domäne ohnehin verwehrt. Nur ein Wesen vermochte hier zu existieren – eine Kreatur, die den Krater seit Urzeiten ihre Heimat nannte. Ein lautes Brüllen erfüllte die Höhle und stieg mit den Qualmwolken zum Himmel empor. Die Zeit des Schlafes war vorüber. Malforga erwachte …
Brienza/Italien Donnergrollen erfüllte die Mittagsluft. Kurz schien die Erde zu beben, dann stiegen plötzlich dichte, rußige Qualmwolken aus dem steinigen Krater auf. »Ich dachte, der Vulkan sei erloschen«, entfuhr es Marie Dupont. Unwillkürlich fröstelte die junge Französin, als sie das beeindruckende Naturschauspiel beobachtete. Sie rasteten auf halber Höhe des Kraters, und dass sich Matteo, der alte Führer der kleinen Touristengruppe, beim Anblick der Qualmwolken bekreuzigte, trug ebenfalls nicht gerade zu ihrem Wohlbefinden bei. »Nicht erloschen, Signora«, korrigierte er sie dann, »der Monte Malforga war müde. Er hat lange geschlafen und neue Kraft gesammelt.« Matteo machte eine Pause und blickte sie unergründlich an. »Jetzt ist er erwacht!« Abermals bekreuzigte sich der knorrige Touristenführer. Wie um die dramatische Wirkung seiner Worte zu verstärken, schlug die Kirchturmuhr des im Tal gelegenen Dorfes zwölf Mal. Das Glockenspiel schien der jungen Frau durch Mark und Bein zu gehen. »Was hast du denn, Schatz?«, fragte ihr Freund, der fünfundzwanzigjährige Pierre Rodin, besorgt. »Du zitterst ja wie Espenlaub.« Er lächelte sie an. Vielleicht lag ihr einfach nur das Essen schwer im Magen, denn am Vorabend hatte die ganze Touristen-Gruppe an einem opulenten Begrüßungs-Gastmahl teilgenommen. Er schlang den Arm um Maries Hüfte, um sie sanft an sich zu ziehen. »Das ist doch nur ein bisschen Qualm«, beruhigte er sie, »er wird schon nicht gleich ausbrechen!« Die junge Frau zwang sich zu einem zögerlichen Lächeln. »Ja, du hast sicher Recht«, erwiderte sie dann. Dennoch warf sie dem qualmenden Krater einen skeptischen Blick zu, als traue sie
dem Frieden nicht so ganz. »Gehen wir endlich weiter«, forderte ein männliches Mitglied der sechsköpfigen Gruppe in gebrochenem Italienisch. Pierre wandte den Kopf. Es handelte sich um einen stämmigen, Brille tragenden Deutschen, auf dessen schief sitzender Schirmmütze das Logo einer bekannten Zigarettenmarke prangte. Mit einem beherzten Schluck leerte er eine mitgebrachte Flasche, die ein giftgrünes Getränk zweifelsohne hochprozentiger Natur enthielt. Der ältliche Fremdenführer musterte die Touristen, warf dann einen abschätzenden Blick in Richtung Gipfel und nickte mürrisch. »Also dann«, brummelte er und schulterte seinen Rucksack, um sich übergangslos in Bewegung zu setzen. Ohne sich noch einmal umzusehen, stiefelte er den Hang hinauf. »Na komm, Schatz«, munterte Pierre Rodin seine immer noch besorgt wirkende Freundin auf. Widerwillig kickte sie einen SchlackeBrocken beiseite, setzte sich aber ebenfalls in Bewegung. Zärtlich streichelte Pierre ihre Seite, während er ihr beim unwegsamen Aufstieg behilflich war. Pierre blickte über die Schulter zurück. Mittlerweile bildeten sie den Abschluss der kleinen Gruppe. Der Führer nahm nicht gerade viel Rücksicht auf die langsameren Touristen, fast so, als habe er es plötzlich furchtbar eilig. Unwillkürlich lächernd schüttelte der junge Franzose über sich selbst den Kopf. Jetzt ließ er sich schon von Maries Ängsten anstecken. Er erinnerte sich an die Worte des knorrigen Fremdenführers. Nach dessen Schilderungen war der Monte Malforga im Jahr 1679 zum letzten Mal ausgebrochen. Die Folgen der verheerenden Eruption hatten das am Fuß des Kraters gelegene Dorf Brienza in Schutt und Asche gelegt. Seither galt der Vulkan jedoch als erloschen. Es gab also nicht wirklich Anlass zur Sorge, wenn auch die unvermittelt aufsteigenden Qualmwolken ein wenig beunruhigend wirkten.
»Komm, wir verlieren den Anschluss«, sagte Pierre und reichte seiner Freundin fürsorglich die Hand. Marie nickte lächelnd. Etwas schneller setzten sie ihren Aufstieg fort. Bisher war ihr gemeinsamer Urlaub, mit dem sie dem tristen Studien-Alltag an der Pariser Sorbonne entfliehen wollten, absolut harmonisch verlaufen. Es war Pierres Einfall gewesen, eine Italienrundreise zu machen, die sie über Rom nach Umbrien bis hinunter zu den Abruzzen führen sollte. Die wildromantische Landschaft, so hatte er gehofft, würde ihnen sicher helfen, den Kopf einmal frei zu bekommen von den quälenden Gedanken an Seminar-Scheine und trockene Lehrbücher. Das verliebte Lächeln seiner Freundin verriet Pierre, dass er mit der bisherigen Reise-Route genau richtig gelegen hatte. Mittlerweile waren sie den anderen wieder näher gekommen. Unmittelbar vor ihnen mühte sich der Brille tragende Deutsche mit dem Aufstieg ab. Der Schweiß lief ihm in Strömen herab; er sah aus, als habe er gerade frisch geduscht. »Zum Teufel, ist das heiß hier«, fluchte er mürrisch. Pierre konnte ihm nicht widersprechen. Je näher sie dem qualmenden Kratergipfel kamen, desto wärmer wurde es. Die Luft war angefüllt mit schwefligem Gestank und machte das Atmen schwer. Der Franzose wischte sich über die Stirn, um dann die obersten Knöpfe seines Hemdes zu öffnen. »Machst du schon schlapp?«, lachte Marie neben ihm und stieß ihm scherzhaft in die Rippen, »die paar Meter schaffen wir jetzt auch noch.« Von ihren Befürchtungen, dass der Vulkan ausbrechen könnte, war nicht mehr viel übrig geblieben. Stattdessen blitzte der Schalk in ihren grünen Augen. »Schlappmachen?«, erwiderte Pierre in gespielter Empörung. »Ich laufe gerade erst zur Höchstform auf.« Lachend versetzte er seiner Freundin einen sanften Klaps auf den
Hosenboden und setzte den Aufstieg fort. Wie sich herausstellte, war es wirklich nicht mehr allzu weit. Schwer atmend erreichten sie den alten Matteo, der die kleine Gruppe anführte und jetzt stehen geblieben war. »Geben Sie bitte Acht, wenn Sie sich dem Krater nähern«, warnte er die Anwesenden ernst, »wenn Sie hineinstürzen, kann Ihnen niemand mehr helfen!« Matteo drehte sich um. Ein Hustenanfall schüttelte seinen knorrigen Körper. »Treten Sie vorsichtig näher«, bat er dann, »und kein Gedränge bitte!« Als hätte er den Kommentar des Fremdenführers nicht gehört, arbeitete sich der stämmige Deutsche nach vorne, bis er den Kraterrand erreicht hatte. Neugierig blickte er hinab und erbleichte sichtlich. Nachdem auch die anderen Touristen den Krater näher in Augenschein genommen hatten und die Reihe an Pierre und Marie war, verstanden sie seine Reaktion. Durch die aufsteigenden Qualmwolken hindurch erblickten sie brodelndes, kochendes Magma, das nur auf den richtigen Moment zu lauern schien, in einer gewaltigen Eruption hinauf zu schießen und die Landschaft mit seiner feurigen Flut zu überschwemmen …
* »Wie ein erloschener Vulkan sieht das wirklich nicht gerade aus«, stellte Pierre fest. Auch er war bleich geworden. Es war eine Sache, die Urgewalten eines Feuer speienden Vulkans aus naturwissenschaftlichen Büchern zu kennen – leibhaftig am Rand eines qualmenden Kraters zu stehen, erfüllte einen geradezu zwangsläufig mit einem mulmigen Gefühl. Völlig unvermittelt spürte Pierre, wie sich die Finger seiner Freundin erschrocken in seinen Oberarm krallten.
»Wer ist das?«, flüsterte Marie leise. Irritiert löste Pierre seine Aufmerksamkeit von dem qualmenden Feuerschlund. »Wovon redest du?«, fragte er, doch die Antwort ergab sich von selbst, als er sich umblickte. Völlig lautlos hatten sich der kleinen Gruppe sechs Personen genähert. Es schien, als seien sie plötzlich aus dem Nichts materialisiert … Noch unheimlicher als ihr überraschendes Auftauchen war jedoch die Kleidung der Fremden. Sie trugen weite, aschgraue Kutten, die beinahe ein wenig an eine Mönchstracht erinnerten. Das Gesicht wurde von einer ebenfalls grauen, spitz zulaufenden Kapuze verhüllt, die lediglich Sichtlöcher für die Augen aufwies und den jungen Studenten unwillkürlich an den Ku-Klux-Klan denken ließ. Pierre blickte von einem Vermummten zum anderen. Die Gestalten hatten die Touristen-Gruppe eingekreist. Man musste keine Geistesgröße sein, um zu erkennen, dass sie nichts Gutes im Sinn hatten. »Was wollen Sie?«, fragte der Deutsche barsch. Auch ihm schien der Schreck über das unerwartete Auftauchen gehörig in die Glieder gefahren zu sein. Die Vermummten schenkten ihm keine Beachtung. Stattdessen griff einer von ihnen, offenbar der Anführer, in die Falten seiner Kutte. Als er seine Hand wieder hervorzog, befand sich ein Revolver darin. Eine der anwesenden Frauen stieß einen schrillen Schrei aus. Der Bewaffnete beachtete auch sie nicht. Stattdessen deutete er mit der Waffe auf den alten Touristen-Führer. »Du, verschwinde!«, befahl er mit grollender Stimme und machte eine auffordernde Bewegung mit dem Revolver. Zögernd trat Matteo einen Schritt zurück. Sein Blick glitt über die Menschen, die er hierher geführt hatte. Wortlos flehte er um Verzei-
hung, bevor er sich abrupt abwendete und den steinigen Abhang hinab rannte. Als der alte Italiener außer Sichtweite war, nickte der Bewaffnete seinen Begleitern knapp zu. Die Vermummten näherten sich den Touristen und zogen den Ring um sie enger. »Was wollt ihr?«, fragte nun auch Pierre, der nicht die Absicht hatte, ein wehrloses Opfer abzugeben. »Seid ihr auf unser Geld aus?« Der Kopf des bewaffneten Vermummten ruckte zu ihm herum. Für einen Moment war er abgelenkt. Der Brille tragende Deutsche – wieso fiel Pierre gerade jetzt auf, dass er seinen Namen nicht wusste? – schien nur auf eine solche Chance gewartet zu haben. Sein vorheriger Alkoholkonsum war ihm nicht anzumerken, als er wie eine lebende Kanonenkugel auf den Kapuzenträger zuschoss. Von der Wucht des Angriffs überrascht, prallte dieser zurück. Nur mit Mühe gelang es ihm, das Gleichgewicht zu halten. Doch schon sehr bald hatte er sich wieder in der Gewalt. Brutal schlug er dem Deutschen den Pistolenlauf ins Gesicht. Der Mann ging daraufhin mit einem Aufschrei zu Boden. Die Chance war vertan. Man ließ den wimmernden Deutschen und den Rest der Touristen nun nicht mehr aus den Augen. Der Anführer der Unheimlichen ließ die Waffe ein Stück sinken. Mit volltönender Stimme stimmte er einen leiernden Gesang an, in den seine Begleiter kurz darauf einfielen. Pierre überlegte. Die Worte schienen eine vage Ähnlichkeit mit dem Lateinischen zu haben, doch im Grunde verstand er nur ein einziges Wort. Malforga. Unwillkürlich erschauerte der Franzose. Er fühlte sich an rituelle Kirchengesänge erinnert. Es wirkte fast so, als würden die Vermummten dem Vulkan huldigen. Und sie wurden erhört … Das Grollen des Berges wurde von Minute zu Minute stärker. Der
aufsteigende Qualm verdichtete sich und erschwerte die Sicht. Dann brachen die Vermummten mit einem letzten »Malforga!« ihre Huldigung ab. Ohne ein weiteres Wort erhielt der deutsche Teilnehmer der Touristen-Gruppe einen Stoß in den Rücken, der ihn dem Krater entgegen taumeln ließ. Er schrie erschrocken auf. »Lasst mich in Ruhe!«, forderte er hilflos und sein Körper spannte sich, um sich zur Wehr zu setzen. Panik flackerte in seinen Augen. Ein zweiter Stoß beendete seinen aussichtslosen Kampf. Grell hallte sein Schrei durch die aufgeheizte Mittagsluft, als er abstürzte. Mit entsetzt aufgerissenen Augen beobachtete Pierre, wie das Opfer dem kochenden Magma entgegen fiel. Bereits bevor er aufschlug, fing seine Kleidung Feuer. Pierres Herz hämmerte in seiner Brust, als er sah, was am Grund des Kraters geschah. Unmittelbar bevor der Deutsche die Oberfläche der Lava erreichte, löste sich etwas aus dem kochenden Magma-See. Pierre konnte nicht genau erkennen, um was es sich handelte, aber ohne Zweifel lebte es. Und es war gewaltig. Ein riesiger Rachen klaffte auf, schnappte nach dem Körper des Touristen und schloss sich mit einem entsetzlichen Geräusch wieder. Im nächsten Moment ließ sich die monströse Kreatur wieder in die Lava zurückfallen. Unvermittelt stiegen abermals Rauchschwaden auf und verhüllten die grässliche Szenerie. Pierre blickte Marie an, die das Monstrum ebenfalls gesehen haben musste. Ihre Augen spiegelten Angst und nackte Panik. Er atmete tief durch. An der Absicht der Kapuzenmänner konnte kein Zweifel bestehen: Sie alle würden das Schicksal des Deutschen teilen! Aber nicht Marie!, dachte Pierre mit bitterer Entschlossenheit. »Lauf!«, rief er ihr laut zu. Ohne auf ihre Reaktion zu achten, warf er sich im selben Moment mit seinem ganzen Gewicht gegen den hin-
ter ihm stehenden Kapuzenmann. Vollkommen überrascht verlor dieser das Gleichgewicht und schlug hart auf die Felsen. Marie bot sich dadurch eine einmalige Chance! Der Anführer der Vermummten riss seine Waffe hoch. »Nun lauf schon!«, rief Pierre noch einmal. Dann peitschte der erste Schuss. Weißglühender Schmerz explodierte in der Schulter des Franzosen. Jetzt endlich warf sich Marie herum und rannte stolpernd den Abhang hinunter. Kugeln sirrten durch die Luft, doch wie durch ein Wunder wurde sie nicht getroffen. Der Anführer der Vermummten stieß einen wüsten Fluch aus. »Paolo, ihr nach!«, befahl er einem der Kapuzenmänner. Mit funkelnden Augen blickte er hinab auf den vor Schmerzen stöhnenden Pierre Rodin. »Den hier zuerst«, befahl er kalt. Unbarmherzige Hände zerrten den Franzosen vom Boden hoch, dem Krater entgegen. Während seine Freundin Marie verzweifelt um ihr Leben rannte, nahm das Ritual auf dem Gipfel des Monte Malforga seinen grausigen Fortgang …
* Marie Dupont wagte nicht, sich umzusehen. Tränen verschleierten ihren Blick, als sie vom Gipfel her einen heiseren, von Grauen erfüllten Schrei hörte. Pierre!, schoss es ihr durch den Kopf. Sie ahnte, dass man auch ihn in den brodelnden Krater gestoßen hatte – hinab zu dem, das dort unten lauerte. Aufschluchzend stolperte sie weiter. Hinter sich hörte sie aus einiger Entfernung das Fluchen ihres Verfolgers. Offenbar schien er ebenfalls Probleme zu haben, auf dem steinigen Abhang nicht das
Gleichgewicht zu verlieren. Darüber hinaus war er kein Leichtgewicht. Schon nach kürzester Zeit hatte Marie einen größeren Vorsprung gewonnen. Vor sich konnte sie sehen, wie der kahle Felsboden allmählich in verdorrt aussehendes Gras überging. Etliche Meter tiefer ragte ein kleiner Laubwald auf. Aus ihren Wandertouren mit Pierre wusste Marie, dass sich in unmittelbarer Nähe des Wäldchens eine Straße befand. Wenn sie es bis dorthin schaffte, war sie vielleicht gerettet … Keuchend erreichte sie die ersten Ausläufer des Laubwäldchens. Hinter ihr war der vermummte Verfolger stehen geblieben, um abermals auf sie anzulegen. Ein weiterer Schuss peitschte. Marie stieß einen gellenden Schrei aus, als die Kugel ihren Oberarm streifte. Sie flüchtete ins trübe Halbdunkel der eng beieinander stehenden Bäume. Ihre Gedanken überschlugen sich. Vielleicht konnte sie sich irgendwo im Unterholz verstecken … Gehetzt blickte sie sich nach einem Versteck um und entdeckte einen etwa hüfthohen Busch. Gerade noch rechtzeitig gelang es der jungen Frau, in Deckung zu gehen, denn nun drang auch ihr Verfolger in das kleine Wäldchen ein. Lauernd blickte er sich nach allen Seiten um. Schritt für Schritt näherte er sich Maries Versteck. Noch hatte er sie nicht bemerkt … Kalter Schweiß trat auf die Stirn der Französin. Ihre Finger tasteten über den Boden und stießen auf einen armdicken abgestorbenen Ast. Maries Miene wurde hart. Mit einem Mal war sie völlig ruhig. Der Vermummte passierte den Busch, ohne die kauernde Französin bemerkt zu haben. Ratlos ließ er die Pistole sinken. In diesem Moment sprang Marie aus ihrem Versteck. Mit einem wilden Aufschrei schlug sie die provisorische Keule auf den Schädel ihres Verfolgers. Ein hässlicher Laut war zu hören, dann sackte der
Kapuzenmann ohne einen Laut von sich zu geben zusammen. Blut färbte den grauen Stoff der Kapuze rot. Schwer atmend ließ die Französin den Knüppel sinken. Langsam löste sich ihre Anspannung, und ein ersticktes Schluchzen brach sich Bahn. Dennoch war sie sich darüber im Klaren, dass sie von hier verschwinden musste. Die Straße, hämmerte es in ihr, ich muss es runter zur Straße schaffen. Mit stolpernden Schritten kämpfte sich Marie durch das dichte Wäldchen, bis sie endlich den Asphalt erreichte. Sie betete inständig, dass doch ein Wagen vorbei kommen möge. Tatsächlich näherte sich in einiger Entfernung ein altersschwacher Fiat Panda. Als der Fahrer die torkelnde, blutende Französin erblickte, stieg er voll in die Eisen und sprang aus dem Wagen. Marie Duponts Kraftreserven waren erschöpft. Noch ehe der Fahrer sie erreichte, brach sie auf dem erhitzten Asphalt zusammen …
* Einige Stunden später Der fünfzigjährige, weißhaarige Stationsarzt seufzte unhörbar und rieb seine Schläfen, als sich die Zimmertür öffnete und eine Krankenschwester den Kopf in den Raum steckte. »Dottore, ich habe der Patientin ein Beruhigungsmittel gegeben. Sie schläft jetzt«, erklärte sie. »Danke«, antwortete der Arzt, »hat sie noch etwas gesagt?« Die Schwester schüttelte den Kopf. »In Ordnung, ich sehe später noch einmal nach ihr«, erwiderte er. Die Krankenschwester zog sich zurück und schloss die Tür hinter sich. Mit einem neuerlichen Seufzen lehnte sich Dr. Guiseppe Maligore im Sessel zurück. Es war ein harter Nachmittag für ihn gewesen,
und die rätselhafte neue Patientin bereitete ihm nach wie vor Kopfzerbrechen. Ratlos blickte er auf ihre Papiere, die er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Marie Dupont, eine französische Studentin. Sie war in der Nähe des Dorfes Brienza vor den Augen eines Autofahrers zusammengebrochen. Dieser hatte sie sofort in das Hospital in Terni gebracht, das nur wenige Kilometer entfernt lag. Die Französin hatte einen Streifschuss erlitten und stand überdies unter einem schweren Schock. Ihre Geschichte klang völlig wirr: Eine Horde von Kapuzenmännern, die harmlose Touristen in den Krater des Monte Malforga stieß, auf dessen Grund ein gewaltiges Untier hauste … Maligore schüttelte den Kopf. Er war ein aufgeschlossener Mann, aber das klang wirklich verrückt. Außer Frage stand allerdings, dass die Französin von irgendjemandem angeschossen worden war und etwas so Grauenhaftes erlebt hatte. Etwas, das sie völlig aus dem Gleichgewicht geworfen hatte. Der Arzt sorgte sich ernsthaft um ihren Geisteszustand. Dr. Maligore hatte bereits mit der Polizeistation in Brienza telefoniert, aber keine näheren Details in Erfahrung bringen können. Grübelnd begann er mit dem Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte zu trommeln. Die Sache war wirklich mehr als ungewöhnlich, und das schmeckte ihm gar nicht. Er erinnerte sich an einen Vorfall, der bereits einige Monate zurücklag. Eine alte Dame, ebenfalls Patientin in seinem Hospital, hatte einen Albtraum durchlitten, den eine Krankenschwester vorübergehend als Realität erlebte. Knapp einen Tag später war die alte Dame unter mysteriösen Umständen gestorben. Im Nachbarort Montecastrilli hatten sich ebenfalls mehrere merkwürdige Todesfälle ereignet, die bis heute nicht gänzlich aufgeklärt werden konnten. Man redete heute noch von einem Blut saugenden Nebelgespenst …
Erst durch das Eingreifen eines ehemaligen Studienkollegen Maligores, der mittlerweile als Parapsychologe tätig war, hatte die unheimliche Todesserie ein überraschendes Ende genommen. Dr. Maligore bezweifelte zwar insgeheim, dass die Geschichte Marie Duponts wirklich in das Gebiet der Parapsychologie fiel, doch es war sicher kein Fehler, seinen ehemaligen Kommilitonen auch diesmal zu kontaktieren, zumal er ohnehin noch die ein oder andere Frage an ihn hatte, was die zurückliegenden Ereignisse in Montecastrilli betraf. Ohne weiter nachzudenken griff er nach dem bereitstehenden Telefon.
* Frankreich, südliches Loiretal, am späten Nachmittag. »Das erste Siegel ist geöffnet … das erste Siegel der Mac …« Professor Zamorra flüsterte die Worte vor sich hin. Vor ihm auf dem Tisch seines »Zauberzimmers« lag das seltsame Buch aufgeschlagen, von dem er nicht sicher wusste, woher es eigentlich stammte und wie es in seinen Besitz geraten war. Der von unzähligen Zeichnungen umgebene Text, handschriftlich mit Dämonenblut verfasst, war in einer Sprache gehalten, die nur noch sehr wenige Magier beherrschten. Diese Schrift war schon alt gewesen, als die Welt noch jung war. Seltsamerweise entsprachen einige der Schriftzeichen den bislang unübersetzbaren Hieroglyphen auf Zamorras Amulett, mit denen man bestimmte magische Vorgänge auslösen konnte. Und, was für den Parapsychologen noch interessanter war: Ein einzelnes Zeichen konnte einen ganzen Satz beinhalten; Sätze in dieser Schrift mochten ganzen Kapiteln entsprechen. Zudem war dieses Buch in zwölf Blöcke von Seiten aufgeteilt, die zu einer festen Masse verschweißt zu
sein schienen. Jeder dieser Blöcke wurde von einem Siegel verschlossen, das in seinem Aussehen einem der Zeichen des Amuletts entsprach. Dass Buch und Amulett miteinander zu tun hatten, war klar. Aber was würde Merlin dazu sagen, der vor fast einem Jahrtausend die handtellergroße Silberscheibe mit den unglaublichen magischen Fähigkeiten geschaffen hatte? Zamorra hoffte, dass sich bald eine Möglichkeit fand, Merlin danach zu fragen. Aber er befürchtete, dass der alte Zauberer sich weiterhin ausschweigen würde; wie er es immer tat, wenn es um einige seiner speziellen Geheimnisse ging. »Das erste Siegel ist geöffnet …« Mehr wusste Zamorra bislang nicht. Das Siegel entsprach dem Amulett-Symbol für die Zeitschau. Aber er bezweifelte, dass es in dem zugehörigen Buchkapitel um diese Möglichkeit ging, einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Seit das Siegel geöffnet worden war, in einer magischen Aktion, die den Druiden Gryf beinahe das Leben gekostet hatte und nach deren Ende trotz der Absicherung ein schwarzmagisches Wesen im Château Montagne auftauchte, konnte Zamorra einen Teil der Schrift lesen. Nicht genug, um wirklich zu verstehen, worum es ging, aber …* Die Ash-Tore schließen sich. Zamorra zuckte hoch. War er tatsächlich eingeschlafen? Hatte er im Traum diese Worte gehört? Nein, es konnte kein Traum sein, denn da waren auch Schriftzeichen, die dasselbe aussagten: Die Ash-Tore schließen sich. Ash-Tore? Was bedeutete das? Noch ehe er dazu kam, intensiver darüber nachzudenken, störte lautes Getöse die Stille über Château Montagne, dicht gefolgt von einem ehrlich entrüsteten »Mister MacFool!« Professor Zamorra stieß ein unwilliges Brummen aus. Zögerlich *siehe PZ 800: »Luzifers Höllenfestung«
öffnete er ein Auge, überlegte kurz, ob er den Lärm einfach ignorieren sollte und setzte sich schließlich widerwillig im Bett auf. Bett? Wieso befand er sich im Bett? Hatte er doch geschlafen und von dem Buch und den Worten geträumt? Es schien so … und er musste sich damit abfinden, dass er sich nicht mehr im »Zauberzimmer«, sondern in seinem Bett aufhielt. Neben ihm schlief Nicole Duval, seine Sekretärin und Lebensgefährtin. Sie hatte sich nicht einmal gerührt. Der infernalische Lärm schien sie völlig kalt zu lassen. Entweder war sie heute mit einem wirklich tiefen Schlaf gesegnet, oder sie wollte die unliebsame Aufgabe, aufzustehen und nachzuschauen, was der übermütige Jungdrache nun wieder angestellt hatte, einfach auf möglichst elegante Weise auf Zamorra abwälzen. Der Meister des Übersinnlichen rieb sich kurz die Schläfen und schwang dann wenig enthusiastisch die Beine aus dem Bett. Seufzend warf er sich etwas über und bahnte sich seinen Weg durch das momentan etwas derangiert aussehende Schlafzimmer. Überall lagen unübersehbare Spuren eines leidenschaftlichen Abends mit Nicole. Von solchen Abenden hatte es in letzter Zeit allerdings entschieden zu wenige gegeben. Der Kampf gegen die Mächte der Finsternis hatte sie voll und ganz vereinnahmt. Umso mehr hatten Zamorra und Nicole die gemeinsamen Stunden genossen. Schmerzhaft stieß sich der Parapsychologe den Zeh an einer am Boden liegen gebliebenen Weinflasche und schaffte es nur mühsam, einen unfeinen Fluch zu unterdrücken. Um seine Laune stand es nicht gerade zum Besten. Nicole und er waren ausgesprochene Nachtmenschen, was nicht weiter verwunderlich war. Schließlich waren auch die Dämonen bevorzugt nachts aktiv. Vor der Mittagszeit aus dem Bett gescheucht zu werden, empfand Zamorra demzufolge fast schon als vorsätzliche Körperverletzung.
Mittlerweile war es zwar schon Nachmittag – aber das machte ihm das Aufstehen auch nicht gerade leichter … Unter leise gemurmelten Verwünschungen trat der Parapsychologe hinaus in den Flur und machte sich auf den Weg ins Erdgeschoss. Als er es erreichte, wehte ihm der Duft heißen Kaffees entgegen. Der Dämonenjäger überlegte kurz, ob er sich zuerst eine Tasse genehmigen sollte, um seine Lebensgeister endgültig auf Trab zu bringen. Schließlich entschied er sich aber dagegen. Erst wollte er nachsehen, welche Katastrophe Fooly verursacht hatte. Danach konnte der Tag wahrscheinlich nur noch besser werden … Der Parapsychologe gab sich einen Ruck und betrat das Kaminzimmer des Châteaus, das er als Herkunftsort des Lärms erkannt hatte. »Was hat er denn nun schon wieder angestellt?«, fragte er ohne weitere Begrüßung. William, der Butler, fuhr herum. Er hielt einen frisch geleerten Eimer Wasser in den Händen. »Guten Morgen Sir«, erwiderte er dann leicht indigniert, »sehen Sie bitte selbst!« Zamorra nickte und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Der etwa 1,20 Meter große Jungdrache lag geräuschvoll schnarchend auf einer Couch des Kaminzimmers. Die Tatsache, dass sowohl er selbst, als auch der Stoff der sündhaft teuren Couch völlig durchnässt waren, schien seinen Schlaf nicht im Geringsten zu stören. Eigentlich beneidenswert, dachte der Dämonenjäger und erinnerte sich, dass er selbst eigentlich auch ganz gern noch ein paar Stündchen in den Federn gelegen hätte. Um die Couch herum lagen mehrere Flaschen aus dem gut sortierten Weinkeller des Châteaus, die alle eines miteinander gemeinsam hatten: Sie waren leer. In diesem Moment blähte sich der ohnehin reichlich kugelige
Bauch des schuppigen Jungdrachen noch weiter auf. Das große Krokodilmaul klappte auf. Im nächsten Augenblick erfüllte ein wie Donnerschlag widerhallendes Rülpsen das Kaminzimmer, begleitet von einer Qualmwolke und einem kleinen Feuerstoß, der jedoch keine Zerstörungen anrichtete. Plötzlich wusste Zamorra, was der geleerte Wassereimer in der Hand des Butlers zu bedeuten hatte. Aufseufzend fuhr sich der Parapsychologe mit der Hand durch das Gesicht. Ein betrunkener Glücksdrache – das hatte ihm wirklich noch gefehlt … »Ich weiß nicht, was ihn überkommen hat, Sir«, lamentierte William neben ihm. Zamorra winkte ab. »Lassen Sie’s gut sein«, erwiderte er dann, »der Kater wird ihm sicher eine Lehre sein.« Zu großen Diskussionen fühlte er sich vor dem ersten MorgenKaffee nicht in der Lage. »Sorgen Sie einfach dafür, dass er nicht unfreiwillig das Château anzündet«, seufzte er. »Ich brauche erst einmal einen ordentlichen Kaffee.« Zamorra nickte dem Butler noch einmal zu und machte sich auf den Weg in die Küche. Seine Mundwinkel zuckten unwillkürlich angesichts des absurden Anblicks, der sich ihm gerade geboten hatte. Zielstrebig folgte der Parapsychologe dem Kaffee-Duft und betrat, immer noch schmunzelnd, die Küche. Nachdem er sich eingeschenkt hätte, nahm er mit dem dampfenden Kaffee am Küchentisch Platz und genoss die vorübergehende Ruhe, von der er schon ahnte, dass sie nicht allzu lange andauern würde. Und tatsächlich – noch ehe der Dämonenjäger seine Tasse geleert hatte, klingelte das Visofon.
* Eine gute Stunde später kehrte Zamorra aus seinem Arbeitszimmer
in die Küche zurück. Auch Nicole war mittlerweile aufgestanden und widmete sich mit großem Appetit dem Verzehr eines Brötchens. Zamorra ließ seinen Blick über den Körper seiner bildschönen Partnerin schweifen. Nicole hatte sich noch nicht fertig angezogen, sondern lediglich ein bezauberndes Nichts aus schwarzer Seide übergestreift, das mehr enthüllte, als es verbarg. Zamorra riss sich widerwillig von dem aufregenden Anblick los, goss sich frischen Kaffee nach und berichtete von dem Anruf. »Dr. Maligore?«, fragte Nicole erstaunt, nachdem er geendet hatte. Sie konnte sich noch gut an den italienischen Arzt erinnern, der so gerne lächelte. »Ich hätte nicht gedacht, dass er sich noch einmal meldet.« Nachdem sie damals in Montecastrilli gemeinsam mit Ted Ewigk das Blut saugende Nebelgespenst und den für seine Untaten verantwortlichen Zauberer unschädlich gemacht hatten, waren sie sofort nach Frankreich zurückgereist, um unbequemen Fragen des Arztes und der Polizei zu entgehen. Nicht gerade die freundlichste Art, sich zu verabschieden …* Zamorra nickte. »Ich denke, wir sollten in dem Dorf einmal nach dem Rechten sehen«, erklärte er dann. »Ich habe am Computer ein wenig recherchiert und herausgefunden, dass im Laufe der Zeit in der Gegend von Brienza immer wieder Personen verschwunden sind, ohne dass es eine Erklärung dafür gab.« Nicole zog eine Schnute. »Wäre das trotzdem nicht eher ein Fall für die örtliche Polizei?« Der Parapsychologe lächelte flüchtig. »Das würde ich normalerweise auch sagen«, antwortete er, »aber der früheste Fall, auf den ich gestoßen bin, liegt einhundert Jahre zurück. Genau einhundert Jahre. Ich habe das dumpfe Gefühl, mit etwas gründlicherer Suche könnten wir noch auf weiter zurückliegende Fälle stoßen. Das Ge*siehe PZ 740: »Das Blutgespenst«
schehen scheint sich alle 25 Jahre zu wiederholen.« »Das ist in der Tat seltsam«, musste die Französin zugeben. Unvermittelt huschte ein spitzbübisches Lächeln über ihr Gesicht. »Vielleicht sollten wir die Sache doch einmal näher unter die Lupe nehmen. Bei der Gelegenheit könnten wir gleich den Einkaufsbummel in Rom nachholen, der beim letzten Mal ausgefallen ist.« Zamorra seufzte. Er erinnerte sich noch bestens daran, wie ihm beim Studium der letzten Kreditkartenabrechnung nach einer von Nicoles berüchtigten Shopping-Touren fast schwarz vor Augen geworden war. »Ich sage dir, irgendwann werden wir uns keine Frühstücksbrötchen mehr leisten können«, prophezeite er scherzhaft. »Ja, soll ich denn Kartoffelsäcke tragen?«, gab Nicole in gespielter Entrüstung zurück. »Du bist schon ein knauseriger Chef, weißt du das?« Lachend winkte Zamorra ab. »Lass uns das ausdiskutieren, wenn wir in Italien sind. Erst schauen wir uns in Brienza um. Shoppen können wir danach immer noch.«
* Brienza Die Nachmittagssonne zog sich bereits langsam hinter die Hügel zurück, und wie ein dichter Mantel legte sich die Abenddämmerung um den kleinen Turm der Dorfkirche. Eine perfekte Idylle. Der übergewichtige alte Mann, der dieses Bild durch das Fenster seines Zimmers beobachtete, musste bei der tief roten Färbung des Himmels jedoch an etwas ganz anderes denken. Zu frisch war seine Erinnerung an jene Dinge, deren Zeuge er vor wenigen Stunden geworden war. Schweigend starrte er durch die Glasscheibe. Seine flei-
schigen Züge blieben unbewegt. »Monsignore Greganti, kann ich noch etwas für Sie tun?« Der massige Priester drehte sich langsam um und zog die Soutane über dem Kugelbauch straff. Ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Nein danke, Maria«, antwortete er dann, »Sie können für heute Schluss machen.« Die ältliche Haushälterin nickte. »Danke, Monsignore.« Sie zögerte einen Moment und blieb im Türrahmen stehen. »Sie sollten auf den Doktor hören und heute Abend früh zu Bett gehen«, riet sie sanft, nachdem sie auffällig den Stirnverband des Priesters gemustert hatte. Monsignore Greganti lächelte matt. »Das werde ich. Es war ein harter Tag.« Die Haushälterin antwortete mit einem mütterlichen Lächeln und verließ den Raum. Nachdem ihre Schritte auf dem Flur verhallt waren, ließ sich der Schwergewichtige müde in einen gut gepolsterten Ohrensessel sinken. Treue, alte Maria! Seit er in Brienza seinen Dienst im Namen des Herrn verrichtete, kümmerte sie sich schon aufopferungsvoll um ihn und seinen Haushalt. Er rechnete kurz nach. Über 30 Jahre war er bereits Gemeindepriester des kleinen Dorfes. Ein halbes Leben … Seufzend griff Greganti nach dem Rotweinglas, das neben ihm auf dem Tisch bereit stand. Kurz nippte er daran, stellte es jedoch schnell wieder zurück. Zu viel Alkohol würde ihm in seinem Zustand nicht bekommen. Vorsichtig tastete er über den dicken Kopfverband, den ihm der Dottore vor wenigen Stunden angelegt hatte. Die Verletzung hatte sich als relativ harmlos herausgestellt. Das änderte jedoch nichts daran, dass sie verdammt schmerzte. Sein Schädel fühlte sich immer noch an, als hätte ein Pferd dagegen getreten.
Wahrscheinlich wäre es wirklich am Besten gewesen, dem Rat des Doktors zu folgen, doch die Ruhe musste warten. Andere Dinge gingen vor. Der Priester war verabredet, und eine Absage kam nicht in Frage. Beim Gedanken an das bevorstehende Treffen verschwand das matte Lächeln endgültig von Gregantis Lippen. Schmerzhaft wurde ihm bewusst, dass er eigentlich schon viel zu spät dran war. Müde erhob sich der schwergewichtige Priester und näherte sich dem wuchtigen Schrank, zu dem nur er allein einen Schlüssel besaß. Diesen nestelte er nun mit zitternden Fingern unter den Falten seiner Soutane hervor. Nachdem er aufgeschlossen und die Flügeltüren des Schranks geöffnet hatte, starrte Monsignore Greganti mit unbewegter Miene ins Innere. An einem Haken hingen eine aschgraue, weite Kutte sowie die dazugehörige Kapuze. »Vergib mir, Herr«, flüsterte Greganti fast unhörbar. Hastig nahm er die Kutte aus dem Schrank und begann damit, sich umzuziehen.
* Eine halbe Stunde später näherte sich der vermummte Priester schwer atmend der geheimen Kammer, in der das angekündigte Treffen stattfand. Greganti zögerte noch einen Moment, bevor er sich schließlich überwand und die schwere Tür öffnete. Spärlicher Kerzenschein flackerte über die Granitwände des fensterlosen Raums, dessen einzige Einrichtung ein klobiger Holztisch war, um den sich fünf Männer versammelt hatten. Fünf Mörder, wie sich Greganti ins Gedächtnis rief. Und ich bin der Sechste, dachte er bitter. Dabei konnte er im Grunde keiner Fliege etwas zuleide tun. Ihm
lag einzig das Wohl seiner Gemeinde am Herzen … Und genau darum war es nötig, diese abscheulichen Morde an unbescholtenen Touristen zu begehen, selbst wenn es allen Geboten des Herrn widersprach. Auch die übrigen Männer trugen die aschgrauen, mönchsartigen Kutten und versteckten ihre Gesichter unter spitz zulaufenden Kapuzen. Es herrschte angespannte Stille. Lediglich das ungeduldige Trommeln der Finger des Anführers der Kapuzenmänner war zu hören. Das flackernde Licht brach sich in dem roten Edelstein seines schweren Siegelrings. Als sie das Quietschen der Tür hörten, wandten die Männer die Köpfe und blickten Greganti entgegen. Unsicheren Schrittes begab sich der Priester an seinen Platz zur Rechten des Anführers. »Du kommst spät, Bruder Paolo«, brach dieser nun das geisterhafte Schweigen, gerade als sich Greganti hinsetzen wollte. Paolo war der Deckname des Priesters innerhalb der Gruppe, deren Mitglieder streng darauf achteten, ihre Identität nicht voreinander zu offenbaren. Lediglich das Oberhaupt kannte die wahren Namen der einzelnen Männer. Mit gesenktem Kopf nahm Greganti Platz. »Verzeiht, Brüder«, erwiderte er dann. »Es geht mir immer noch schlecht. Der Schlag der Frau hat mir ganz schön zugesetzt.« Die Frau … In seinem Inneren war Greganti fast dankbar dafür, dass sie ihm entkommen war, auch wenn dies Gefahr für das Dorf bedeutete. Er glaubte nicht, dass er es übers Herz gebracht hätte, sie zurück zum Krater zu schleifen. Dazu kannte er sich zu gut. Der Anführer stieß einen missbilligenden Ton aus. »Du hattest ihn verdient!«, sagte er mitleidlos. »Wie konntest du dich nur von ihr übertölpeln lassen?« Greganti sackte sichtlich in sich zusammen. Er setzte zu einer Erwiderung an, als das Oberhaupt der Gruppe auch schon rüde ab-
winkte. »Wir haben Malforga verärgert!«, erklärte der Anführer der Kapuzenmänner und erhob sich. »Er hat nicht die seit Jahrhunderten vorherbestimmte Anzahl an Opfern bekommen, und seine Rache wird furchtbar sein!« Die Augen des Meisters fixierten die einzelnen Mitglieder der Gruppe. »Fürchtet seinen Zorn!«, grollte er prophetisch. »Schon einmal hat er unser Dorf in Schutt und Asche gelegt. Wollt ihr, dass sich dies wiederholt?« Niemand wagte eine Erwiderung. Der Meister fuhr fort: »Wenn wir Malforga nicht besänftigen, wird er sich aus seiner feurigen Gruft erheben. Unser Dorf muss vor dem Dämon geschützt bleiben! Wir tragen Verantwortung, Brüder – niemals wieder darf Brienza ein Raub der Flammen werden!« Die übrigen Kapuzenmänner senkten in betretenem Schweigen die Köpfe. Schließlich ergriff einer von ihnen zögernd das Wort. »Das Mädchen ist längst über alle Berge. Sollen wir ein neues Opfer suchen?« Der Meister zischte ungeduldig. »Ich weiß, wo sie ist. Außerdem hat sie bereits an dem Gastmahl teilgenommen, das sie zum Opfer weiht. Sie ist vorbestimmt, und niemand kann ihren Platz einnehmen! Doch unsere Aktivitäten dürfen nicht ans Licht der Öffentlichkeit dringen.« Zustimmendes Gemurmel wurde laut. Der Anführer der geheimnisvollen Gruppe atmete tief durch. »Für heute scheint Malforga zufrieden gestellt zu sein. Ich werde im Laufe des morgigen Tages eine Entscheidung treffen, wie wir weiter vorgehen. Haltet euch bis dahin bereit! Die Loge des Feuers darf nicht versagen …« Er machte eine Handbewegung, die signalisierte, dass die Versammlung beendet war. Wortlos erhoben sich die Untergebenen
und strebten der Tür entgegen. Auch Greganti entfernte sich. Als der letzte der Kapuzenmänner den Raum verlassen hatte, ließ sich der Großmeister der Loge wieder in seinen massiven Holzstuhl sinken. Geistesabwesend streichelte er über seinen Siegelring. Er hatte sich vor seinen Untergebenen nichts anmerken lassen, doch er hatte Angst. Seit undenklichen Zeiten war das Dorf dank der Loge vor Malforgas Zorn sicher gewesen. Ihm bangte vor dem, was geschehen würde, wenn sich der Dämon nun aus seinem feurigen Grab erhob …
* Terni »Danke, das reicht fürs Erste«, erklärte Zamorra mit einem mitfühlenden Lächeln und richtete sich vom Krankenbett auf. »Versuchen Sie sich noch ein wenig zu erholen.« Die bleiche Französin nickte müde. Obwohl es sie innerlich aufgewühlt hatte, dem Parapsychologen ihre Erlebnisse in Brienza zu schildern, sah Marie Dupont schläfrig aus. Zamorra wechselte einen Seitenblick mit Nicole und nickte dann dem ebenfalls anwesenden Dr. Maligore zu. Gemeinsam verließen sie das Krankenzimmer, um das Büro des Arztes aufzusuchen. Nachdem die beiden Dämonenjäger über die Regenbogenblumen im Keller des Châteaus in Ted Ewigks Palazzo Eternale in Rom übergewechselt waren, hatten sie sich einen Mietwagen besorgt, um auf schnellstmöglichem Wege ins rund 70 Kilometer entfernte Terni zu gelangen, wo sie am frühen Abend eintrafen. Dr. Maligore war über das rasche Erscheinen der Beiden sehr erfreut gewesen und hatte sie sofort mit einigen unangenehmen Fragen zu den Geschehnissen in Montecastrilli bestürmt.
Nicoles bewährter Charme und einige kleine Notlügen halfen schließlich, die Neugier des Arztes vorerst zu befriedigen. Trotz seiner Aufgeschlossenheit gegenüber paranormalen Phänomenen konfrontierten sie Dr. Maligore nicht mit der grausigen Wahrheit. »Nehmt bitte Platz«, erklärte der weißhaarige Arzt, als sie sein Büro erreicht hatten. Er schloss die Tür hinter sich und setzte sich ebenfalls. »Nun, was haltet ihr von der Geschichte?« Zamorra rieb sich das Kinn. »Ich will ehrlich sein, Guiseppe, ich denke, in Brienza geht irgendetwas vor.« Der Arzt hob eine Augenbraue. Ein ironisches Lächeln huschte über seine Züge. »Das ist wohl offensichtlich. Sonst hätte ich euch ja kaum angerufen.« »Du sagtest, du hast bereits mit der Polizei vor Ort telefoniert?«, schaltete sich Nicole ins Gespräch ein. Dr. Maligore nickte. »Dort war man bemüht, mich sehr schnell abzuwimmeln. Das kam mir doch sehr spanisch vor.« Auch die beiden Dämonenjäger fanden das Verhalten der Beamten merkwürdig. Zamorra wechselte einen raschen Blick mit Nicole. »In Ordnung«, erwiderte er schließlich nach kurzem Überlegen, »wir sehen uns einmal in Brienza um und versuchen Licht in diese Geschichte zu bringen.« Die Miene des Arztes erhellte sich. Er ahnte nicht, dass Zamorra und Nicole sich das Dorf auf jeden Fall angesehen hätten. Was der Parapsychologe bei seinen Recherchen auf Château Montagne herausgefunden hatte, war Grund genug, Brienza einmal näher unter die Lupe zu nehmen. Außerdem hatte Merlins Stern bei der Untersuchung von Marie Dupont angeschlagen. Innerhalb der letzten 24 Stunden musste sie mit Magie in Berührung gekommen sein. »Ich danke euch«, antwortete Dr. Maligore und erhob sich, um den beiden Dämonenjägern die Hand zu geben. Er warf einen Blick auf die Uhr. »Es ist schon spät. Übernachtet ihr in Terni?«
Zamorra und Nicole überlegten einen Moment. Schließlich schüttelte der Parapsychologe den Kopf. »Wir fahren weiter nach Brienza und suchen uns dort ein Zimmer. So können wir morgen am Vormittag direkt mit unseren Nachforschungen beginnen.« Dr. Maligore nickte. »Das wird das Beste sein«, musste er zugeben. »Allerdings hoffe ich, dass ihr euch danach nicht wieder einfach aus dem Staub macht.« Er zwinkerte seinem ehemaligen Studienkollegen vertraulich zu. »Wenn ihr zurück seid, könntest du mir übrigens ruhig einmal verraten, wie du es schaffst, immer noch so jung auszusehen. Falls du nämlich einen Jungbrunnen entdeckt hast – ich selbst könnte auch ein Schlückchen daraus vertragen.« Der Parapsychologe zwinkerte zurück. »Du weißt doch, Guiseppe, meine Gefährtin hält mich jung.« Ehe der Arzt weitere neugierige Fragen stellen konnte, verabschiedeten sich Zamorra und Nicole hastig. Nicht zum ersten Mal in den letzten Jahren ahnte der Parapsychologe, dass es langsam an der Zeit war, sich über die Folgeerscheinungen seiner ewigen Jugend Gedanken zu machen.
* Nur noch vereinzelt stiegen die Rauchwolken aus dem Krater des Monte Malforga zum Nachthimmel auf. Eine trügerische Ruhe lag über dem zerklüfteten Berg, dem im klaren Licht der Sterne etwas Wildromantisches anhaftete. Die Menschen im Dorf zu Füßen des Vulkans ahnten jedoch, wie falsch der friedliche Eindruck war und nicht wenige bekreuzigten sich in dieser Nacht. Den Einwohnern von Brienza war die Legende um den Dämon im Inneren des Berges nur allzu gut bekannt. Doch nur wenige von ihnen wussten, dass sich hinter der Sage grausige Realität verbarg.
Denn Malforga existierte … Als würde das unheimliche Geschöpf die von Angst erfüllten Gedanken der Menschen unten im Dorf spüren, reckte es seinen massigen Leib der Krateröffnung entgegen und ließ ein zorniges Brüllen hören. Noch nie in den vergangenen Jahrhunderten war es geschehen, dass die Loge des Feuers ihm nicht die volle Anzahl an Blutopfern dargebracht hatte. Maßlose Wut erfüllte den uralten Dämon. Die im Vergleich zum Gesamtkörper winzig kleinen Augen des Monstrums blickten hinauf – dorthin, wo zwischen den aufsteigenden Rauchschwaden das fahle Blinken der Sterne zu erkennen war. Noch übte sich Malforga in Geduld, doch wenn die Loge nicht bald ihren Verpflichtungen nachkam, würde er sich aus seiner felsigen Gruft erheben und wie ein feuriger Engel der Vernichtung über das Dorf hereinbrechen. Beim Gedanken an die kommenden Zerstörungen erschütterte ein grollendes Lachen den Körper des gewaltigen Dämons. Das ihn umgebende Magma begann stärker zu brodeln …
* Vormittag Gemeinsam traten Zamorra und Nicole ins Freie. Nach ihrem hastigen Abschied von Dr. Maligore hatten sie sich umgehend auf den Weg nach Brienza gemacht, wo es ihnen glücklicherweise gelungen war, trotz der mittlerweile vorgerückten Stunde noch ein Zimmer in einer etwas windschiefen, aber gemütlichen Privat-Pension zu ergattern. Aufmerksam ließ die schöne Französin ihren Blick über die breite Hauptstraße des Dorfes schweifen. »Also gut, Chef, wo fangen wir an?«, fragte sie schließlich. Zamorra lächelte. »Ich würde sagen: gleich dort drüben!« Der Parapsychologe deutete auf eine größere Menschenansamm-
lung, die in etwa zweihundert Metern Entfernung auf dem Vorplatz eines Gebäudes zu erkennen war. Neugierig setzten sich die beiden Dämonenjäger in Bewegung. Je näher sie der Gruppe kamen, desto deutlicher wurde der unübersehbar volksfestartige Charakter der Zusammenkunft. Kaum hatten sie das bunte Treiben erreicht, als die Menschentraube sie auch schon fröhlich vereinnahmte. »Scusi«, sagte Zamorra, als ihm ein bärtiger Hüne ein Glas Wein in die Hand drücken wollte. »Was wird denn eigentlich gerade gefeiert?« Ein altes Mütterchen, deren Haare komplett von einen Kopftuch bedeckt wurden, mischte sich ein. Es dauerte einen Moment, bis der Parapsychologe die Wirtin der Pension erkannte, in der sie die Nacht verbracht hatten. »Die neue Feuerwache wird eingeweiht«, erklärte die Alte fröhlich. Zamorra warf ihr einen kürzen Seitenblick zu. Auf den ersten Blick wirkte sie heiter, doch aus unerfindlichen Gründen glaubte der Parapsychologe zu spüren, dass dies nur Fassade war. Er runzelte kurz die Stirn und blickte dann hinüber zu dem angesprochenen Gebäude. Tatsächlich handelte es sich um eine Feuerwache. Während er noch seinen Blick schweifen ließ, öffnete sich das Garagentor und ein nagelneuer Löschzug fuhr im Schritttempo ins Freie. Unwillkürlich pfiff Zamorra, als er das gewaltige Fahrzeug betrachtete. »Ist der nicht ein bisschen groß geraten?«, fragte er, an den neben ihm stehenden Hünen gewandt. Dieser stieß ein schallendes Lachen aus, das schmerzhaft in den Ohren des Parapsychologen widerhallte. »Ach, wissen Sie, Signore«, erklärte er dann mit einem verschmitzten Grinsen, »in Süditalien gibt es eine Stadt gleichen Namens. Dort unten wartet man wahrscheinlich heute noch auf EU-Subventionen.
Sie sollten erst mal unser Polizei-Revier sehen!« Er zwinkerte Zamorra zu, sichtlich gut gelaunt. »Wahrscheinlich eine einfache Verwechslung im Computer, aber Sie wissen ja wohl, wie das ist: Wenn es einmal drinsteht, dann stimmt es auch!« Zamorra nickte. Die Bürokratie war schon ein Kapitel für sich; das hatte er schon mehrfach am eigenen Leib erfahren. Begeistert begann der Hüne die technischen Details des gewaltigen Löschzugs herunterzubeten, als die Pensionswirtin Zamorra vertraulich in die Rippen stieß und so seine Aufmerksamkeit auf sich lenkte. »Eigentlich hätte Monsignore Greganti das Haus und den Wagen feierlich einsegnen sollen, aber ich habe gehört, der Ärmste sei die Treppe seines Weinkellers hinuntergestürzt und habe sich den Kopf angeschlagen. Daher musste der junge Pfarrer aus Terni herkommen.« Sie machte eine bezeichnende Geste, die andeuten sollte, dass Monsignore Greganti bei seinem Sturz offenbar nicht ganz nüchtern gewesen war. Zamorra lächelte flüchtig, um seine Aufmerksamkeit wieder dem Geschehen am Löschzug zuzuwenden. Dort war jetzt der junge, etwas unbeholfen wirkende Priester nach vorne getreten und begann mit dem liturgischen Ritual. Die beiden Dämonenjäger sahen noch einen Moment zu, dann entschieden sie, ihren Weg fortzusetzen. Sie gingen auf die Suche nach der örtlichen Polizeipräfektur. Das Gebäude war nicht schwer zu finden. Es handelte sich um einen für ein kleines Dorf geradezu obszön überdimensionierten Glaspalast, der einer Großstadt viel besser zu Gesicht gestanden hätte. Zamorra schüttelte grinsend den Kopf. Nur kurz darauf fanden sie sich in der Amtsstube von Commisario Perone wieder. Perone begrüßte sie freundlich und forderte sie auf, Platz zu neh-
men. Er war ein hoch gewachsener, schlanker Mann, dessen Haar an den Schläfen bereits zu ergrauen begann. Nachdem sich seine Gäste hingesetzt hatten, begab er sich ohne Eile wieder hinter seinen Schreibtisch und blickte die Neuankömmlinge neugierig an. Er machte ganz den Eindruck eines gemütlichen Dorfpolizisten, in dessen Kriminalstatistik eingeworfene Fensterscheiben und ein gelegentlicher Wagendiebstahl die schwerwiegendsten Delikte darstellten. Besser gesagt, er versuchte, diesen Eindruck zu erwecken. Für einen Polizisten, in dessen Bezirk vor nicht einmal 24 Stunden mehrere Touristen in einen Vulkankrater gestoßen worden waren, war Perone in Zamorras Augen ein wenig zu gemütlich. Es gehörte nicht viel Menschenkenntnis dazu, um zu spüren, dass hier etwas faul war. »Also dann, was kann ich für Sie tun?«, fragte der Polizist freundlich. Zamorra wechselte einen kurzen Blick mit Nicole und entschied sich dann dazu, gleich mit offenen Karten zu spielen. »Im Hospital in Terni liegt eine angeschossene Patientin, die eine sehr interessante Geschichte zu erzählen hat«, begann er. Die Augen des Polizisten blitzten kurz auf. Er blieb jedoch weiterhin freundlich, wenngleich diese Freundlichkeit die Augen nun nicht mehr mit einschloss. Perones Blick besaß jetzt etwas eindeutig Lauerndes. Er lehnte sich im Sessel zurück und spielte mit seinem roten Siegelring. »Marie Dupont«, bestätigte er nickend. »Sind Sie Reporter?« »Ich schreibe für keine Zeitung«, gab Zamorra zurück. »Ich bin Parapsychologe und aus beruflichen Gründen an der Geschichte von Signora Dupont interessiert. Was hat sich auf dem Monte Malforga abgespielt?« Perone blickte ihn an, als habe Zamorra soeben vor seinen Augen einen Kleinwagen verschluckt. Dann gewann er seine Fassung zu-
rück. Seine Miene wurde ernst. »Mit Sicherheit nichts, das in den Bereich der Parapsychologie fällt«, erwiderte er dann knapp. Abrupt erhob er sich und signalisierte so, dass er die Unterredung als beendet betrachtete. »Ich bedaure«, erklärte Perone, »doch aus ermittlungstechnischen Gründen darf ich Ihnen keine Einzelheiten des Falls nennen.« Die beiden Dämonenjäger sahen sich kurz an, dann erhoben sie sich ebenfalls. »Wenn Sie sonst ein Anliegen haben, bin ich jederzeit für Sie da«, erklärte Perone, wohl um die Abfuhr nicht ganz so schroff erscheinen zu lassen. »Wir werden gewiss auf Sie zurückkommen«, flötete Nicole zuckersüß, »und nun, entschuldigen Sie uns, Commisario, wir möchten uns noch ein wenig im Dorf umsehen.« Als die beiden Dämonenjäger wieder hinaus in die Mittagssonne traten, war das Fest vor der neu errichteten Feuerwache immer noch in vollem Gange. Wahrscheinlich würde es noch bis in die Nacht andauern. »Wohin nun?«, überlegte Zamorra laut. »Sollen wir dem Rathaus einen Besuch abstatten, Cherie?« Nicole lächelte und deutete auf den Vulkan, der sich dunkel-drohend über dem Dorf erhob. »Später! Lass uns erst ein wenig Bergsteiger spielen«, schlug sie vor. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg.
* Kaum hatten die beiden unangemeldeten Besucher das Büro des Polizisten verlassen, verschwand das Lächeln endgültig von Perones Lippen. Ein Ausdruck mühsam unterdrückter Wut trat auf sein Gesicht. Was bildete sich dieser Zamorra eigentlich ein?
Aufgebracht griff er nach dem bereit stehenden Telefon und wählte eine Nummer. Eine Viertelstunde lang hörten Perones Kollegen die lautstarke Stimme des Beamten durch die verschlossene Tür, dann wurde es langsam wieder still in seinem Büro. Mit verkniffenen Mundwinkeln lehnte sich Perone im Schreibtischstuhl zurück. Seine Wut war kühler Nachdenklichkeit gewichen. Was er bei seinem kurzen Telefonat über den Parapsychologen in Erfahrung gebracht hatte, bot genug Anlass, sich Sorgen zu machen. Das Wichtigste war, dass er jetzt nicht den Kopf verlor! Perone wandte den Kopf. Durch das Fenster seines Büros konnte er den düster aufragenden Monte Malforga sehen. Der Polizist kannte das Geheimnis des Berges nur allzu gut. Schließlich war er der Großmeister der geheimnisvollen Loge des Feuers. Ohne die Augen vom Berg abzuwenden, schweiften Perones Gedanken in die Vergangenheit ab. Die Geheimloge war im Jahr 1679 kurz nach dem verheerenden Ausbruch des Monte Malforga gegründet worden. Die Mitglieder sahen es als ihre Aufgabe an, Brienza vor der teuflischen Zerstörungswut des im Berg hausenden Dämons zu schützen und schlossen einen Pakt mit ihm. Alle 25 Jahre erhob Malforga Anspruch auf Menschenopfer, die ihm von der Loge willig dargebracht wurden. Nur der jeweilige Großmeister kannte die Namen der einzelnen Mitglieder, die sich aus hoch stehenden Persönlichkeiten der Dorfgemeinschaft rekrutierten. Perone selbst hatte das Amt von seinem Vater übernommen, vor mittlerweile 30 Jahren. Der Polizist seufzte leise. Die Zeit schien in Brienza still zu stehen. Die beständige Angst vor dem Dämon ließ die Tage zu Ewigkeiten werden. Auch Perone selbst fürchtete sich vor Malforgas Zorn. Doch er hatte seinem Vater einst auf dem Totenbett geschworen, das Dorf zu
schützen und niemals den Pakt zu brechen, der Brienzas Sicherheit gewährleistete. Die Konsequenzen dieses Schwurs standen ihm klar vor Augen. Zamorra musste verschwinden, bevor er seine Nase zu tief in die Angelegenheiten der Loge stecken konnte! Perone dachte einen Moment nach. Oberste Priorität genoss das Blutopfer für Malforga. Egal, was geschah, die Loge musste ihre Pflicht erfüllen. Es war also notwendig, jemanden mit der Angelegenheit zu betrauen, der außerhalb der Dorfgemeinschaft stand. Perone lächelte, als ihm ein spontaner Einfall kam. Wieder griff er zum Telefon …
* Eine gute Stunde nach ihrem Gespräch mit Perone hatten die beiden Dämonenjäger den Gipfel des Monte Malforga erreicht. Beide schwitzten aufgrund der merklich angestiegenen Temperatur. Zamorra hatte die obersten Knöpfe seines Hemdes geöffnet und sein Amulett hervorgeholt. Nachdenklich hielt er Merlins Stern in den Händen. »Spürst du etwas?«, fragte Nicole, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Zamorra nickte. Die Silberscheibe, die einst von dem sagenhaften Zauberer Merlin aus der Kraft einer entarteten Sonne geschaffen worden war, hatte sich deutlich erwärmt. Der Dämonenjäger blickte sich um. Schon beim Aufstieg war ihm aufgefallen, dass es im unmittelbaren Umfeld des Kraters kaum Anzeichen von Vegetation gab. Das Gelände wirkte, als habe es der Odem des Bösen gestreift und jegliche Spur von Leben im Keim erstickt. Zamorra zweifelte keine Sekunde daran, dass hier dämonische Kräfte am Werk waren.
Neugierig trat er näher an den rauchenden Krater heran. »Sei vorsichtig«, warnte Nicole, die ein paar Schritte zurückblieb. Wenn Marie Duponts Geschichte stimmte und tatsächlich ein Dämon im Berg hauste, war es besser, auf alles gefasst zu sein. Zamorra nickte abermals. Das Amulett in den Händen haltend, blickte er in den Krater hinab. Am Grund sah er kochende Lavafluten. Von einem Monster war nichts zu erkennen. Der Parapsycholpge hustete angesichts des beißenden Rauches. »Nicht sehr einladend«, murmelte er trocken und trat sicherheitshalber wieder zurück. Der Dämonenjäger begab sich wieder an die Seite Nicoles. »Kein Monster weit und breit«, erklärte er ihr. »Dennoch, irgendetwas ist da unten, sonst hätte das Amulett nicht angeschlagen.« Ein Kichern unterbrach seine Ausführungen. Zamorra und Nicole fuhren herum. Überrascht erkannten sie die Wirtin ihrer Pension, die sich ihnen völlig unbemerkt genähert hatte. Das war jetzt schon das zweite Mal, dass die Frau ihnen an diesem Vormittag unvermittelt über den Weg lief. »Was suchen Sie hier oben?«, fragte Zamorra. Die Wirtin kicherte erneut, dann wurde ihr von Falten zerfurchtes Gesicht übergangslos ernst. »Legen Sie Ihr Ohr an den Berg, Signor Zamorra«, forderte sie den Parapsychologen auf. Dieser runzelte die Stirn. Energisch stampfte die Wirtin mit ihrem Gehstock auf den felsigen Boden. »Na los doch«, forderte sie. Achselzuckend kam Zamorra der Aufforderung nach. Es schien der Frau wirklich wichtig zu sein. Ohne sie aus den Augen zu lassen, ging er in die Knie und horchte einen Moment an dem warmen Fels. Nicole beobachtete ihn etwas amüsiert. Die Wirtin nickte befriedigt. »Ja, genau so! Spüren Sie den Herzschlag des Berges?«, fragte die alte Frau mit zusammengekniffenen Augen.
Schließlich richtete sich Zamorra wieder auf. »Ehrlich gesagt, spüre ich hier gar nichts«, erwiderte er. »Ha«, trumpfte die Alte auf, »das liegt eben daran, dass dieser Berg kein Herz hat!« »Ich kann Ihnen nicht folgen, gute Frau!«, antwortete der Meister des Übersinnlichen und runzelte die Stirn. »Bitte drücken Sie sich doch etwas deutlicher aus, oder lassen Sie uns in Ruhe!« Die Frau trat einen Schritt zurück. Ihre Augen funkelten, als sie den verständnislos dreinblickenden Parapsychologen anstarrte. »Der Berg … der Berg selbst ist das Monster, capiche?« Ohne eine Antwort abzuwarten, warf sich die Frau herum und hastete in einer für ihr Älter erstaunlichen Geschwindigkeit den Berg hinab. »Was war das denn für ein Auftritt?«, fragte Nicole entgeistert, während sie der davon eilenden Wirtin hinterher blickte. »Ich habe keinen Schimmer«, antwortete Zamorra ebenso verblüfft. »Aber ich habe das dumpfe Gefühl, wir haben die gute Frau nicht zum letzten Mal gesehen.« Er überlegte einen Moment. »Lass uns zurück ins Dorf gehen«, erklärte er dann. »Hier oben kommen wir im Moment doch nicht weiter.« Nicole nickte. Die beiden Dämonenjäger machten sich an den Abstieg. Noch wussten sie nicht genau, was sich über ihren Köpfen zusammenbraute, aber sie ahnten, dass es nichts Gutes sein konnte.
* »Setzt euch, Brüder!« Selbst durch den dicken Stoff der Kapuze klang Perones Stimme schneidend. Wieder hatten sie sich auf seine Anweisung in der geheimen, fensterlosen Kammer versammelt. Regungslos wartete der Polizeichef,
bis die fünf Männer an dem klobigen Holztisch Platz genommen hatten. Durch die Sichtschlitze seiner Kapuze fixierte er jeden Einzelnen von ihnen. Seine Blicke schienen die Männer auf ihren Stühlen festzunageln. »Ihr könnt euch sicher denken, warum ich diese außerplanmäßige Versammlung einberufen habe«, begann er dann. Zustimmendes Gemurmel erhob sich. »Es sind Fremde nach Brienza gekommen: ein französischer Parapsychologe und seine Sekretärin. Sie sind gestern Abend eingetroffen und sind seither damit beschäftigt, neugierige Fragen zu stellen. Einige von euch werden sie bereits getroffen haben.« »Soll ich mich ihrer annehmen?«, fragte ein stämmiger Mann am Fußende des Tisches grollend. »Ich könnte ihnen sicher schnell beibringen, dass Schnüffler hier nicht erwünscht sind.« Unter dem Stoff der Kapuze verzogen sich die Lippen des Polizeichefs unwillkürlich zu einem Lächeln. »Nein, Luigi«, antwortete er dann. »Ich habe bereits einige Erkundigungen über unsere Gäste eingezogen. Sie sind gefährlicher, als ihr vielleicht denkt, Brüder. Bevor wir uns dem letzten Opfer für Malforga zuwenden können, müssen sie verschwinden.« Perone atmete tief durch. »Ich habe mich deshalb mit Don Panucci in Verbindung gesetzt«, schloss er. Abermals murmelten die Männer unruhig. Mit einer herrischen Handbewegung sorgte das Oberhaupt der Loge für Schweigen. »Still«, befahl er. »Don Panucci ist ein Sohn unseres Dorfes und hat seine Herkunft nicht vergessen. Wenn die Familie uns helfen kann, wird sie es tun.« Perone lehnte sich zurück und musterte die einzelnen Männer. Er konnte ihre Unruhe verstehen. Über viele Jahre hinweg war es der Loge gelungen, ihre Angelegenheiten ohne Hilfe von außerhalb zu regeln. Nur so war es möglich gewesen, den Fluch, der auf Brienza
lastete, geheim zu halten. Wenn sich nun die Mafia einmischte, stieg die Gefahr, dass alles ins Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde, ins Unermessliche. Darüber hinaus fürchteten die Männer um die Enthüllung ihrer wahren Identität. Dennoch musste es sein. Zamorra war neugierig, viel zu neugierig. Und er war gefährlich! Soviel hatte Perone bei seinen Erkundigungen bereits herausgefunden. Es war daher unumgänglich gewesen, Don Panucci zu verständigen. Panucci war in Brienza groß geworden. Bereits in jungen Jahren hatte er jedoch das Dorf verlassen und sich der Ehrenwerten Familie angeschlossen, wo er sich bis zum lokalen Mafia-Patriarchen emporarbeitete. Doch seine Herkunft hatte er nie vergessen. Und er wusste um den Fluch. Denn sein Vater war vor Jahren ebenfalls Mitglied der Loge gewesen … Unwillkürlich lächelte Perone unter dem Schutz seiner Kapuze, dann zwang er seine Gedanken in die Gegenwart zurück und wandte sich wieder den wartenden Männern zu. »Luigi«, begann er. »Du und Paolo werdet euch noch einmal zum Berg begeben und versuchen, Malforga zu besänftigen. Der Dämon darf nicht auf den Gedanken kommen, wir könnten ihn um sein Opfer betrügen wollen.« Unter, der Kapuze verzogen sich Perones Lippen zu einem milde belustigten Grinsen, als er beobachtete, wie Greganti zusammenzuckte. Armer, alter Stefano? Der Priester war im Grunde immer schon ein Hasenfuß gewesen … »Um alles andere wird sich die Familie kümmern«, fuhr er fort. »Don Panucci hat bereits jemanden geschickt, der das Problem Zamorra aus der Welt schaffen wird …«
*
Noch während das Oberhaupt der Loge des Feuers diese Worte aussprach, hielt ein feuerroter Alfa Romeo am Ortsrand von Brienza. Nach einem kurzen Moment stieg der Fahrer aus. Lässig zündete er sich eine Zigarette an und lehnte sich an den Wagen, um den Anblick des beschaulichen Dörfchens auf sich wirken zu lassen. Er hatte dunkles, ölig glänzendes Haar und kalte, hart wirkende Augen, die an Kieselsteine erinnerten. Mit unbewegter Miene ließ er seinen Blick über die malerischen kleinen Häuser gleiten, verharrte kurz am Turm der Dorfkirche und schnippte schließlich die nur halb aufgerauchte Zigarette in den Straßenstaub. Es war keine Zeit für romantische Landschaftsbetrachtungen. Schließlich hatte er einen Auftrag zu erledigen! Ruhig trat er hinter den Wagen, um den Kofferraum zu öffnen. Dort lag ein schwerer Hartschalenkoffer, an dessen Inhalt die römische Polizei sicherlich brennend interessiert gewesen wäre. So befand sich darin neben mehreren gefälschten Ausweisen unter anderem auch ein zerlegtes Präzisionsgewehr, das erst vor wenigen Tagen in Rom dazu gedient hatte, den Kronzeugen eines landesweit Aufsehen erregenden Mafia-Prozesses auszuschalten. Mit einem schmalen Lächeln ließ der Mann die Schlösser des Koffers aufschnappen und kontrollierte mit routinierten Handgriffen seine Ausrüstung. Schließlich nickte er befriedigt, verschloss den Koffer wieder und hob ihn heraus. Die Anweisungen des Mannes waren eindeutig. Er sollte nach Brienza fahren, dort einen umherschnüffelnden Parapsychologen und seine Sekretärin ausfindig machen und beide möglichst unauffällig eliminieren. Das war für ihn nichts anderes als ein Routine-Auftrag. Er ärgerte sich darüber, dass der Don ihn wegen einer solchen Lappalie hergeschickt hatte, doch Don Panuccis Wort war Gesetz.
Es wurde Zeit. Sorgfältig schloss der Killer den Wagen ab, griff nach seinem Ausrüstungskoffer und begann, dem Dorf entgegen zu schlendern. »Der Tod ist nach Brienza gekommen«, flüsterte er zu sich selbst. Der Satz gefiel ihm, und wieder trat ein schmales Lächeln auf seine Lippen. Schließlich begann er eine fröhliche Melodie zu pfeifen, die er auf der Herfahrt im Autoradio aufgeschnappt hatte. Er ahnte noch nicht, wie sehr er sich täuschte, denn der Tod war längst vor Ort …
* Die Nachmittagssonne zog sich bereits hinter die Hügel zurück, als sich Greganti und sein Logen-Bruder auf Befehl des Großmeisters an die Besteigung des Monte Malforga machten. Der Sonnenuntergang tauchte die Landschaft in einen unwirklichromantischen Dämmerschein, der in krassem Gegensatz zu den furchtbaren Dingen stand, die hier kürzlich geschehen waren. »Komm schon, Paolo«, spornte Gregantis Partner ihn an. Er hatte seine liebe Mühe mit dem Aufstieg. »Ich kann nicht so schnell, Luigi«, antwortete er weinerlich. Sein Atem ging keuchend. »Außerdem tut mein Kopf weh.« Luigi stieß ein hartes Lachen aus und blieb stehen. »Stell dich nicht so an und komm!«, forderte er unnachgiebig. »Hättest eben besser aufpassen sollen! Sich von einer Frau übertölpeln zu lassen …« Er schüttelte verächtlich den Kopf und wandte sich ab, um seinen Marsch fortzusetzen. Greganti holte noch einmal rasselnd Atem, dann schickte er sich widerwillig an, seinem Logen-Bruder zu folgen. Nicht nur seine schlechte körperliche Verfassung bereite ihm Probleme. Er hatte schlicht und ergreifend Angst vor dem rasenden Zorn des Dämons. Wenigstens war es nicht mehr allzu weit. Während Greganti noch
seinen Gedanken nachhing, hatte Luigi schon weitere zwanzig Meter hinter sich gebracht und das Ziel erreicht. Dort wartete er ungeduldig auf ihn. Hinter ihm gähnte die gewaltige Öffnung des Vulkankraters. Kleine Rauchschwaden stiegen kräuselnd in den Himmel auf. Auf Greganti wirkten sie wie ein düsteres Omen. Er hatte schon einmal an einem Opferritual für Malforga teilgenommen, vor 25 Jahren – und auch damals hatte es Probleme gegeben. Wie von selbst stiegen die vergangenen Ereignisse vor seinem geistigen Auge auf. Damals waren sie bei den Vorbereitungen von einem Jungen aus dem Dorf überrascht worden. Um zu verhindern, dass dieser etwas über die Aktivitäten der Loge verriet, hatten sie ihn kurzerhand ebenfalls dem Dämon geopfert. Das verzerrte Gesicht des Jungen, als er von den Maskierten in den Krater geschleudert wurde, verfolgte Greganti heute noch in seinen Albträumen … Luigi war jetzt dicht an den Kraterrand getreten und winkte seinen Logen-Bruder zu sich herüber. Unbewegt starrte der Kapuzenmann hinab in das brodelnde Inferno. Gehorsam trat Greganti neben ihn. Sie fassten sich an den Händen. Als Luigi die schweißnasse Haut des anderen spürte, stieß er ein hartes kleines Lachen aus. »Das hättest du dir bei deiner letzten Sonntagspredigt wohl nicht träumen lassen, nicht wahr, Bruder?« Belustigt beobachtete er, wie Greganti die Augen weit aufriss. Er konnte sich bildlich vorstellen, wie er unter dem Stoff seiner Kapuze totenbleich wurde. »Du weißt …?«, fragte der Priester stockend. »Natürlich! Du scheinst mich für reichlich dumm zu halten, Monsignore!« Das letzte Wort spuckte er dem anderen förmlich ins Gesicht. Der ertappte Monsignore Greganti versuchte seine Hand loszureißen, doch er wurde erbarmungslos festgehalten. Wieder lachte Luigi
spöttisch. »Erst lässt du dich von dieser Frau niederschlagen und am nächsten Morgen überraschst du die Gemeinde mit einem Kopfverband. Um daraus den richtigen Schluss zu ziehen, muss man keine Geistesgröße sein.« Greganti ließ die Schultern hängen, doch schon wurde er aus seiner Lethargie gerissen. »Los jetzt, konzentrier dich«, befahl Luigi. Gemeinsam starrten sie hinab in den Krater und versuchten, ihren Geist frei zu machen von allen störenden Gedanken. Trotz Gregantis Aufregung hatten sie bereits nach kurzer Zeit Erfolg. Zunächst nahmen sie nur eine vage Präsenz von unvorstellbarer Bösartigkeit wahr, die aus dem Krater zu ihnen herauf waberte. Dann ertönte die Stimme des Dämons in ihren Köpfen. Auch der hartgesottene Luigi zuckte unwillkürlich zusammen, als er völlig unvermittelt auf mentalem Wege die Stimme Malforgas vernahm. Um sie herum herrschte völlige Stille, doch in den Köpfen der beiden Männer hallten die Worte des Dämons wie Donnerschläge wider. »Mich hungert!« Luigi fand zuerst den Mut zu einer Antwort. Er sprach laut, damit sein Partner ihn ebenfalls hörte. »Wir haben dein letztes Opfer noch nicht wieder eingefangen.« Er war jetzt merklich kleinlauter als noch beim Aufstieg. Zu ihrer beider Erstaunen ließ der Dämon auf mentalem Wege ein Kichern hören. Es klang uralt und beinhaltete nicht die geringste Spur echter Heiterkeit. »Das sehe ich, Mensch«, erwiderte Malforga danach grollend. »Wollt ihr es mir verweigern?« »Natürlich nicht«, beeilte sich Luigi zu sagen. »Eilt euch, meine Geduld ist nicht unerschöpflich.« »Wir werden in deinem Sinn handeln«, versicherte das Mitglied
der Loge unsicher. Er trat einen Schritt zurück, als ihn Malforgas Befehl innehalten ließ. »Halt!« Das Wort ließ ihn wie unter einem Peitschenhieb zusammenzucken. Zögernd näherte er sich wieder dem Krater …
* »Na, das war ja wohl bis jetzt nichts!« Seufzend ließ sich Nicole Duval auf dem Bett nieder und streckte die langen Beine von sich. Zamorra nickte missmutig, ohne sich umzudrehen. Der Meister des Übersinnlichen stand am Fenster und betrachtete nachdenklich den Hügel des nahen Monte Malforga, der vom Sonnenuntergang in einen blutroten Dämmerschein gehüllt wurde. Seit dem Vormittag waren sie ununterbrochen in Brienza unterwegs gewesen, ohne auch nur ein einziges hilfreiches Detail über das Schicksal der Touristen in Erfahrung bringen zu können. Im Rathaus hatte man sie mit der Begründung abgewimmelt, dass eine Vorsprache ohne Termin völlig ausgeschlossen sei. Als sie dann versuchten, einen solchen zu vereinbaren, erklärte man den beiden Dämonenjägern mit todernstem Gesicht, dass man ihnen höchstens einen Termin in etwa zwei Wochen anbieten könne. Momentan sei der Herr Bürgermeister völlig ausgebucht. Ähnlich niederschmetternd war ihr Versuch verlaufen, die örtlichen Kirchenbücher einzusehen, um zu überprüfen, ob in den einschlägigen Chroniken ähnlich gelagerte Vorkommnisse verzeichnet waren. Der Pfarrer, so sagte man ihnen, sei aufgrund seines Sturzes immer noch unpässlich. Der Küster wiederum weigerte sich schlicht und ergreifend, den beiden Fremden Einblick in die Kirchenbücher zu gewähren. Wo Zamorra und Nicole sich auch hinwendeten, überall stießen
sie auf eine Mauer des Schweigens. So waren sie schließlich entmutigt in ihre Pension zurückgekehrt. Die seltsame Wirtin hatten sie seit ihrem eigenartigen Auftritt am Vulkankrater nicht mehr zu Gesicht bekommen. »Da ist etwas faul im Staate Dänemark«, murmelte der Meister des Übersinnlichen verdrießlich. Nicole lächelte. »Das ist offensichtlich, da musst du nicht den Hamlet zitieren.« Zamorra wandte kurz den Kopf und lächelte ebenfalls. »Nun lass mich doch einmal mit meiner professoralen Bildung protzen«, gab er in gespielter Gekränktheit zurück. »Das tust du doch ohnehin ständig.« Der Parapsychologe grinste und sah wieder aus dem Fenster. Übergangslos wurde seine Miene ernst. »Was ist los?«, fragte Nicole. Schnell setzte sie sich im Bett auf. »Sieh selbst«, gab Zamorra zurück und winkte sie zu sich. Die Französin blickte ebenfalls hinaus. »Donnerwetter«, entfuhr es ihr unwillkürlich. Es schien, als sei der Monte Malforga mit einem Mal wieder überaus aktiv geworden. Zunächst war nur orangeglühendes, Unheil verkündendes Licht zu sehen. Dann loderte eine meterhohe Stichflamme auf, die weit in den Himmel hinein ragte, um dann plötzlich kleiner zu werden, bis schließlich nur noch Rauchwolken die Bergspitze umkränzten. »Meinst du, er bricht aus?«, fragte Nicole besorgt.. Zamorra rieb sich das Kinn. »Das sah mir nicht nach einem typischen Vulkan-Phänomen aus. Das Feuer hat etwas mit der dämonischen Ausstrahlung zu tun, die das Amulett wahrgenommen hat.« Er sah Nicole an. »Ich schlage vor, wir sehen uns das aus der Nähe an!« Aufseufzend griff Nicole nach ihren Stiefeln.
* Zitternd trat Bruder Luigi wieder an den Kraterrand heran. Malforgas Wort war Gesetz. Der Dämon duldete keinen Widerspruch. Kurz blickte er hinüber zu Greganti, dessen Augen vor Angst geweitet waren. »Ich spüre eine fremde Präsenz in meinem Dorf!«, grollte der Dämon ungehalten. Luigi registrierte die Wortwahl sehr genau. Sein Dorf … Malforga betrachtete Brienza also als seinen ureigenen Besitz. »Was verschweigt ihr mir?« Unwillkürlich zuckten die beiden Männer zusammen. Der mühsam unterdrückte Zorn in Malforgas Stimme ließ die telepathisch übermittelten Worte wie Keulenschläge auf den Geist der Menschen einhämmern. »Zwei Fremde halten sich seit heute in Brienza auf«, erklärte Luigi mit zitternder Stimme. »Ein Professor und seine Sekretärin. Sie wollen das Verschwinden der Menschen aufklären, die wir dir als Opfer dargebracht haben.« Das Brodeln der Lavafluten am Grund des Kraters wurde heftiger. »Sie sind gefährlich«, grollte der Dämon. »Selbst von hier aus spüre ich ihre Macht. Seht zu, dass ihr sie so schnell wie möglich hierher schafft, damit ich mich an ihrer Kraft laben kann!« »Wir werden es versuchen«, gab Luigi zurück und deutete eine ehrerbietige Verbeugung an. Entsetzt zuckte er zurück, als ein wütendes Zischen in seinen Gedanken laut wurde. »Für meine Diener gibt es keine Versuche. Bringt sie her oder opfert euch selbst!« Das rotglühende Magma wallte erneut auf. Lava-Blasen platzten, und die Rauchentwicklung nahm deutlich zu, sodass beiden Männern Tränen in die Augen traten. Dann löste sich blitzartig etwas aus dem flüssigen Gestein.
Luigi umklammerte panisch die klammen Finger seines LogenBruders, doch Greganti riss sich los und taumelte einige Schritte zurück. Der Italiener stieß einen heiseren Schrei aus, als er sah, was aus den Tiefen des Kraters zu ihm hinauf schoss. Durch den Qualm konnte er es nicht allzu gut erkennen, doch es wirkte wie eine Art Tentakel, der aus glutflüssiger Lava gebildet wurde. Viel Zeit darüber nachzudenken blieb Luigi nicht, denn im nächsten Moment schloss sich der verlängerte Arm des Dämons auch schon um seine Körpermitte. Die graue Kutte ging in Sekundenschnelle in Flammen auf. Aus geweiteten Augen beobachtete Monsignore Greganti entsetzt, wie sein Logen-Bruder dem Vulkan entgegen gezerrt wurde. Luigi schrie wie am Spieß, als der Tentakel ihn in die Luft hob und er einen entsetzlich langen Moment hoch über der gähnenden Krateröffnung schwebte. »Bringt mir die beiden Fremden«, forderte Malforga noch einmal, »oder ihr werdet enden wie dieser hier!« Urplötzlich löste der Dämon seinen Klammergriff. Der brennende Logen-Bruder stürzte in den rauchenden Schlund des Kraters. Übergangslos erlosch sein Schreien. Einen Sekundenbruchteil war Greganti dankbar dafür, dass die Pein seines Bruders geendet hatte, dann löste sich eine meterhohe orangefarbene Stichflamme aus dem Vulkan. Greganti schaffte es gerade noch rechtzeitig, den Arm vor die Augen zu reißen. Dennoch spürte er, wie die Hitze seine Augenbrauen versengte. Er wurde zurückgeschleudert und stieß einen schmerzerfüllten Laut aus, als er hart auf den felsigen Boden aufschlug. Der Priester stürzte einige Meter den Hang hinunter, ehe er schwer atmend liegen blieb. Als er sich endlich mühsam aufraffte, war das Feuer bereits merklich kleiner geworden. Einen Moment lang starrte er noch voller
Grauen auf die rauchende Krateröffnung, dann warf er sich panisch herum und hetzte hinab ins Dorf. Das Bild des Lava-Tentakels, der sich durch Luigis Kutte fraß, hatte sich scheinbar unlöschbar in seine Netzhäute eingebrannt.
* Als die beiden Dämonenjäger den Berggipfel erreichten, hatte sich der Vulkan wieder beruhigt. Zamorra spürte deutlich, wie sich das Amulett auf seiner Brust stark erwärmte. »Nicht zu nahe herangehen«, warnte Nicole. »Ich traue dem Frieden nicht.« Zamorra nickte. »Ich stimme dir zu«, meinte er. »Wir sind schon nahe genug.« Die rauchende Krateröffnung war noch etwa zwanzig Meter von ihnen entfernt, aber das musste reichen. Ehe sie nicht wussten, was hier vorging, war es nicht ratsam, sich dem Vulkan weiter zu nähern. Vorsichtig ging der Meister des Übersinnlichen in die Knie und nahm Merlins Stern ab. Während er sich in den nötigen Trance-Zustand versetzte, verschoben seine tastenden Finger die Hieroglyphen, die am Rand der handtellergroßen Silberscheibe angeordnet waren. Sofort glitten diese wieder in ihre Ausgangsposition zurück. Der stilisierte Drudenfuß in der Mitte des Amuletts verblasste. An seiner Stelle war nun eine Art Bildschirm zu erkennen. Die Zeitschau war aktiviert. Zamorra konzentrierte sich stärker und richtete seine Gedanken auf die unmittelbare Vergangenheit. Zunächst blieb das Bild auf dem Miniatur-Bildschirm unklar und verschwommen, um gleich darauf einem rückwärts laufenden Film zu gleichen. Neugierig sah ihm Nicole über die Schulter.
Der Dämonenjäger ließ das Bild einfrieren und stoppte so den Rücklauf der Darstellung. Ein weiterer Gedankenbefehl folgte. Im nächsten Moment liefen die Ereignisse vorwärts in Normalgeschwindigkeit ab. Gespannt beobachtete er, wie zwei Kapuzenmänner in grauen, mönchsartigen Kutten den Gipfel erklommen und sich schließlich am Kraterrand an den Händen fassten. Ihrer Haltung wohnte etwas Unterwürfiges inne. Zamorra hätte viel für eine akustische Übertragung der Ereignisse gegeben. Es schien ihm absolut eindeutig, dass die beiden Männer mit jemand oder etwas Zwiesprache hielten. Im nächsten Moment überschlugen sich die Ereignisse, als ein feuriger Tentakel aus dem Krater schoss und einen der beiden Männer an sich riss. Mit der Flucht des überlebenden Kapuzenmannes beendete der Parapsychologe die Wiedergabe. Langsam löste er sich aus der Trance, schüttelte die letzte Schläfrigkeit ab und richtete sich wieder auf. »Das war wohl der letzte Beweis, dass wir es mit etwas Übernatürlichem zu tun haben«, erklärte er, immer noch leicht geschockt vom Schicksal des Kapuzenmannes. Nicole nickte. »Hätte der andere nicht an uns vorbei kommen müssen, als er geflüchtet ist?«, fragte sie. Zamorra zuckte mit den Achseln. »Nicht zwangsläufig«, antwortete er nach kurzem Überlegen, »er könnte eine andere Route genommen haben oder er hat sich ganz einfach versteckt. Laut Marie Dupont sind diese Kapuzenmänner zwar eiskalte Burschen, aber nach seinem Erlebnis hier dürfte ihm kaum der Sinn nach einem Plausch mit uns gestanden haben.« Das klang einleuchtend. »Was nun?« Nicole sah den Parapsychologen erwartungsvoll an. Dessen Blick war auf das friedlich wirkende Brienza gerichtet. »Ich habe langsam das Gefühl, außer uns weiß das ganze ver-
dammte Dorf, was hier vorgeht«, murmelte er und ballte die Fäuste. »Wir gehen jetzt da runter – und dann reden wir Klartext!«
* Malforga spürte, wie sich die beiden Menschen wieder entfernten. Die Gedanken des uralten Dämons überschlugen sich. Deutlich war die weißmagische Präsenz der beiden spürbar gewesen. Darüber hinaus hatten sie einen Gegenstand von großer Macht mit sich geführt. Nicht zuletzt aus diesem Grund hatte Malforga von einem direkten Vorgehen abgesehen. Noch war sich der Dämon nicht sicher, wie weitreichend die Fähigkeiten der beiden Menschen wirklich waren, und daher war er vorsichtig. Malforga hatte in seinem langen Leben ohnehin noch nie zu überstürzten Handlungen geneigt. Auch an den höllischen Intrigenspielen zeigte er keinerlei Interesse. Ihm genügte es, in seinem Vulkankrater dahinzudämmern und sich in regelmäßigen Abständen an den dargebrachten Opfern der Sterblichen zu laben. Nun jedoch war seine dämonische Idylle zum ersten Mal seit vielen Jahrzehnten empfindlich gestört worden. Das Monstrum stieß ein missmutiges Fauchen aus und wälzte seinen titanischen Körper in den kochenden Lava-Fluten, doch selbst dies vermochte seine Laune nicht zu bessern. Seine Diener hatten sich als unzuverlässig erwiesen – und nun trieben sich auch noch neugierige Fremde hier herum, die über genügend Macht verfügten, um selbst ihm gefährlich zu werden. Grollend reckte Malforga sein scheußliches Haupt der Krateröffnung entgegen. Es war an der Zeit, Maßnahmen zu ergreifen und seine unfähigen Diener für ihr Versagen zu bestrafen.
* Gerade war die kleine Dorfschenke noch von Musik und Gelächter erfüllt gewesen, doch als Zamorra und Nicole den Raum betraten, änderte sich dies abrupt. Schlagartig kehrte Stille ein. Die Gesichter der Gäste wirkten abweisend, aber auch gespannt. Neugierig taxierten sie die beiden Fremden. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können. »Na, das ist ja mal eine Begrüßung«, stellte die Französin trocken fest. Zamorra lächelte. »Wir machen wahrscheinlich einen etwas ungewöhnlichen Eindruck«, antwortete er. Das machten sie in der Tat. Der Parapsychologe trug ein weißes Anzugjackett, das durch die Rußwolken auf dem Gipfel des Monte Malforga deutlich gelitten hatte. Nicole war mit ihrem hauteng anliegenden, schwarzen Leder-Dress bekleidet, den sie zuweilen scherzhaft ihren »Kampfanzug« nannte. Zamorra nickte den übrigen Gästen freundlich zu, dann bahnte er sich mit Nicole seinen Weg zur Theke. Der schwergewichtige Wirt, der gerade mit dem Spülen von Gläsern beschäftigt war, blickte ihnen einen Moment skeptisch entgegen. Schließlich warf er jedoch sein Spültuch lässig über die Schulter, wischte sich die Hände an der Schürze ab und kam herüber. Zamorra bestellte Wein für Nicole und sich. Brummig nickte der Wirt und ging, um das Gewünschte zu besorgen. Hinter ihnen stieg der Geräuschpegel jetzt langsam wieder an. Der Reiz des Neuen war verflogen, und die Gäste wandten sich wieder ihren ursprünglichen Aktivitäten zu. Der Wirt kehrte zurück und stellte zwei Weingläser auf der Theke ab. »Kann ich Ihnen auch etwas zu essen bringen?«, fragte er gedehnt. »Grazie, no. Im Moment nicht«, bedankte sich Zamorra. Er ent-
schied sich, gleich aufs Ganze zu gehen. »Wie wäre es denn mit ein paar Informationen?« Das ohnehin verschlossene Gesicht des Wirtes wurde noch eine Spur abweisender. »Worüber?« Zamorra nippte an seinem Wein. Er schmeckte ausgezeichnet. »Darüber, was in diesem Dorf eigentlich vorgeht!«, antwortete Nicole an seiner Stelle. »Ich weiß nicht, was Sie meinen, Signora«, gab der Wirt zurück. Nicole sah dem übergewichtigen Gastwirt tief in die Augen. »Ich spreche von der Loge«, erwiderte sie nach einem Moment. Der Wirt erbleichte und bekreuzigte sich. »Woher wissen Sie …?«, stammelte er. Zamorra lächelte unwillkürlich. Nicole setzte ihre telepathischen Fähigkeiten nicht oft ein, da es ihr innerlich widerstrebte, auf diesem Wege die innersten Geheimnisse eines Menschen ausspionieren zu können. In diesem Fall ging es jedoch nicht anders. Freiwillig würde hier niemand mit der Wahrheit herausrücken. »Ich habe meine Quellen«, antwortete die Französin geheimnisvoll. Der erschrockene Schankwirt konnte nicht ahnen, dass es sich bei dieser ominösen Quelle um seinen eigenen Kopf handelte. »Also, erzählen Sie mal, wir sind ganz Ohr!«, sagte Nicole betont locker. Der Wirt atmete tief durch, bekreuzigte sich noch einmal und lehnte sich dann vertraulich zu Nicole herüber. »Die Loge beherrscht das Dorf, auch wenn niemand weiß, wie viele Mitglieder sie genau hat und wer sich unter ihren Kapuzen verbirgt.« Er machte eine Pause. Sein Blick wirkte gequält, als er fortfuhr und die schreckliche Wahrheit verkündete: »Sie opfern Menschen!« Nicoles Miene wurde hart. Wenn sie die Gedanken des Wirtes richtig verstanden hatte, wusste das ganze Dorf von den Machenschaften der Loge, ohne dass jemand wagte, sich gegen sie aufzulehnen. »Warum?«, fragte die Französin knapp.
Der Wirt schien mit sich zu ringen. Aus den Augenwinkeln sah Zamorra, dass ihr Gespräch von einem hoch gewachsenen Mann mit ölig glänzenden Haaren interessiert beobachtet wurde. Von Zeit zu Zeit nippte er an seinem Mineralwasser, ohne die Dämonenjäger dabei aus den Augen zu verlieren. »Der Dämon«, stieß der Wirt plötzlich hervor, »der Dämon, der im Berg haust. Ihm opfern sie die Menschen. Damit er friedlich gestimmt bleibt und nicht noch einmal den Vulkan zum Ausbrechen bringt.« Der hoch gewachsene Beobachter nahm jetzt sein Glas und kam näher. »Ist das denn schon einmal geschehen?«, mischte er sich neugierig ein. Als sich die Aufmerksamkeit ihm zuwandte, lächelte er entschuldigend. »Ich störe doch nicht?«, fragte er leutselig. Zamorra schüttelte den Kopf. Der Fremde machte ohnehin nicht den Eindruck, als ließe er sich leicht abwimmeln. »Vor über 300 Jahren wurde Brienza durch das Wirken des Dämons fast völlig zerstört«, fuhr der Wirt fort. Es war, als habe Nicoles Aufforderung einen inneren Bann bei ihm gebrochen. Fast schien es, als sei er froh, sich endlich alles von der Seele reden zu können. »Seither ist die Loge aktiv und wacht darüber, dass es sich niemals wiederholt.« Die schmalen Lippen des Fremden verzogen sich zu einem ironischen Lächeln. »Ein Dämon?«, fragte er und lachte. »Das glauben Sie doch selbst nicht.« Zamorra und Nicole blickten ihn strafend an. Abermals lächelte der Fremde schief und stellte sich dann etwas verspätet vor. »Entschuldigen Sie, Brazzo ist mein Name. Ich bin auf der Durchreise nach Terni und konnte nicht umhin, Ihrem Gespräch zu lauschen.« Er warf dem immer noch bleichen Wirt einen Seitenblick zu. »Sie glauben wirklich daran, dass ein Dämon in dem Berg haust?«
Dieser nickte müde. »Die Loge ist unser einziger Schutz vor seinem Zorn.« Nicole zog eine Augenbraue hoch. »Haben Sie schon einmal daran gedacht umzusiedeln?« Der Schankwirt seufzte. »Ah, Signora, Sie sind jung, Sie kommen nicht von hier. Der Dämon würde uns überall finden! Er hat Möglichkeiten, die jenseits des Vorstellbaren liegen.« Mit einem Mal wirkten die alten, müden Augen des schwergewichtigen Mannes noch trauriger. »Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf: Hüten Sie sich vor dem Berg. Er ist sehr hungrig in diesen Tagen.« Er blickte Nicole noch einen Moment lang an, dann wandte er sich abrupt ab. »Entschuldigen Sie mich, ich habe noch andere Gäste zu bedienen!« Ohne ein weiteres Wort stapfte er von dannen. »Verrückte Geschichte«, brach Brazzo nach einem Moment die einsetzende Stille. Zamorra nutzte die Gelegenheit, um nun sich und Nicole vorzustellen. Er fand den Fremden nicht sonderlich sympathisch. Dessen vertrauliches Lächeln wirkte wie aufgesetzt und die Augen machten einen kalten, reptilartigen Eindruck. Dennoch wollte er nicht zu unhöflich sein. »Darf ich Sie noch zu einem Glas Wein einladen?«, fragte Brazzo schließlich. Aus unerfindlichen Gründen schien er daran sehr interessiert zu sein, weitere Informationen aus Zamorra und Nicole herauszuholen. Nicole lehnte dankend ab. »Wir haben morgen einen langen Tag vor uns.« Sie zahlten ihre Getränke, verabschiedeten sich und verließen das Lokal. Nachdenklich machten sich die beiden auf den Weg zurück zur Pension. Unmittelbar, nachdem sie die Schenke verlassen hatten, erlosch Si-
gnor Brazzos Lächeln, als habe jemand einen geheimen Schalter umgelegt. Achtlos warf er ein paar Münzen auf die Theke, dann folgte er Zamorra und Nicole.
* »Gruselig«, murmelte Nicole, als sie an Zamorras Seite durch den frühen Abend zurück zur Pension ging. »Seit über 300 Jahren läuft es hier auf dieselbe fürchterliche Art und Weise ab, und niemand traut sich, etwas an den Zuständen zu ändern.« Der Parapsychologe nickte grimmig. »Fragt sich nur, wer alles zu der Geheimloge zählt. Theoretisch ist jeder verdächtig. Wir wissen ja noch nicht einmal, wie viele Mitglieder es sind.« Nicole überlegte. »Ich denke, es werden ziemlich einflussreiche Personen sein. Ansonsten wäre es kaum möglich, die Ereignisse hier über einen so langen Zeitraum geheim zu halten.« »Das ist sehr wahrscheinlich.« Zamorra rieb sich das Kinn. »Die wichtigsten Schaltstellen des Dorfes dürften mit Logen-Mitgliedern besetzt sein. Unser wackerer Commisario ist zum Beispiel ein ganz heißer Kandidat.« Nicole nickte. »Das denke ich auch. In dem Fall wird die Loge jetzt schon darüber informiert sein, was wir hier treiben.« »Die werden ohnehin Bescheid wissen«, vermutete der Parapsychologe. »Wir sind ja nicht gerade unauffällig vorgegangen.« Langsam rückte die windschiefe Pension in Sichtweite. Zamorra blickte sich um. Er hatte ein ungutes Gefühl. »Ich denke, das wird eine aufregende Nacht«, murmelte er. »Glaubst du, wir kriegen noch Besuch?« Zamorra nickte. »Die Loge kann es sich nicht leisten, dass wir aller Welt von den Zuständen in Brienza erzählen. Wenn ihr Geheimnis gewahrt bleiben soll, müssen sie uns aus dem Weg räumen.« Die Französin dachte kurz nach. »Du hast Recht. Also müssen wir
unseren Schönheitsschlaf wohl verschieben.« »Es ist besser, auf alles gefasst zu sein.« Die beiden Dämonenjäger sahen sich noch einmal nach allen Seiten um, dann betraten sie gemeinsam die kleine Pension.
* Vorsichtig folgte der schlanke, hoch gewachsene Mann dem ausgetretenen Trampelpfad, der hinauf zum Gipfel des Monte Malforga führte. Unzählige Touristen und Wanderer waren hier schon entlang gegangen, jedoch hatten, wenn man den Worten des Schankwirtes glauben durfte, längst nicht alle von ihnen den Heimweg angetreten. Brazzos Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. Nachdem er Zamorra und Nicole zu deren Pension gefolgt war, hatte er das Haus noch eine Viertelstunde beobachtet, bis sämtliche Lichter ausgegangen waren und er sich sicher war, dass alle Bewohner zu Bett gegangen waren. Unmittelbar danach hatte er sich an die Besteigung des Berges gemacht. Die wirre Erzählung des Wirtes ging dem Killer nicht mehr aus dem Kopf. Brazzo besaß eine gehörige Portion Menschenkenntnis. Er spürte instinktiv, dass der Mann nicht log. Der Wirt glaubte fest an das, was er seinen Gästen erzählt hatte. Ohnehin wurde Brazzo, seit er vor Ort eingetroffen war, das Gefühl nicht los, dass in dem Dorf etwas nicht stimmte, ohne dass er dies genauer begründen konnte. Der Killer sah sich um. Mittlerweile stand der Mond hell über dem nächtlichen Dorf. Es blieb noch genug Zeit, sich um den neugierigen Parapsychologen und seine Sekretärin zu kümmern. So lange die beiden schliefen, liefen sie ihm nicht weg. Da konnte er sich auch ebenso gut einmal den Berg aus der Nähe ansehen, vor dem hier alle
Welt solche Angst zu haben schien. Im Nachhinein, so überlegte er, waren selbst die Anweisungen des Dons ungewöhnlich. »Ein simpler Auftrag«, hatte er am Telefon zu ihm gesagt, »du gehst rein, knipst die beiden aus und verschwindest sofort wieder. Sonst hast du dich um nichts zu kümmern.« Dass Don Panucci es für nötig hielt, diese letzte Anweisung extra zu betonen, kam Brazzo seltsam vor. Sollte der Patriarch etwa Bescheid darüber wissen, was hier vorging? Immerhin kam er aus dieser Gegend. Je weiter er kam, desto weniger wollte Brazzo sein Auftrag gefallen. Irgendetwas ging hier vor, von dem er keine Ahnung hatte – und das schmeckte ihm gar nicht. Außerdem machte es die Arbeit riskanter. Der Trampelpfad mündete jetzt in eine kleine Ebene, von der aus es nur noch wenige Meter bis zum Kraterrand waren. Brazzo atmete einen Moment tief durch. Obwohl er absolut durchtrainiert war, hatte ihn der lange Marsch durch das zerklüftete Gelände doch etwas angestrengt. Abermals sah er sich um. Es war ruhig hier oben. Lediglich die vereinzelten Laute kleiner Nachttiere waren zu hören, und natürlich das beständige Grollen des angeblich erloschenen Vulkans, aus dem unvermindert Rauchwolken gen Himmel stiegen. Wieder verzogen sich Brazzos schmale Lippen zu einem Zähne fletschenden Grinsen. »Wollen wir doch mal sehen, ob hier wirklich ein Dämon zu Hause ist«, murmelte er mit grimmigem Humor und überwand die letzte Distanz zum Kraterrand. Vorsichtig suchte er sich eine Stelle, die ihm ausreichend stabil zu sein schien, dann blickte er vorsichtig über die Kante. Als hätte etwas in dem Krater seine gemurmelten Worte gehört, stob ihm eine gewaltige Qualmwolke entgegen, die ihm für einen
Moment die Sicht nahm. Hustend taumelte Brazzo einen Schritt zurück. »Was für eine Sauerei!«, fluchte er heftig, nachdem er sich etwas erholt hatte und ihm das ganze Ausmaß der Bescherung offenbar wurde. Sein ganzer Oberkörper war mit schmierigem Ruß bedeckt. Ärgerlich wischte er sich mit dem Ärmel des Jacketts über die Stirn – mit dem Ergebnis, dass er den Dreck etwas großflächiger in seinem Gesicht verteilte. Er hätte viel für einen Spiegel gegeben. Wahrscheinlich sah er schon wie ein Schornsteinfeger aus. Ein zweites Mal bewegte er sich vorsichtig in Richtung des Kraterrands, diesmal etwas respektvoller. Die Rußwolke hatte ihm doch einen gehörigen Schrecken eingejagt. Vorsichtig spähte der Killer über die Kante. Sein verbissenes Grinsen wurde etwas breiter. »Wie ich mir dachte«, murmelte er leise. Von einem Dämon war – natürlich – nichts zu sehen. Das brodelnde Magma, das er tief auf dem Grund des Kraters erblickten konnte, war zwar ein Ehrfurcht gebietender Anblick, jedoch für einen Vulkan völlig normal. Brazzos Anspannung löste sich ein wenig. Er betrachtete die glühend heißen, flüssigen Gesteinsmassen einen Moment lang und wollte sich gerade abwenden, als er plötzlich einen brennenden Schmerz am rechten Fußgelenk spürte. Der Killer stieß einen lauten Fluch aus und verlor das Gleichgewicht. Er kippte nach hinten, um hart auf das zerklüftete Felsgestein zu schlagen. Erst jetzt realisierte er, woher seine Schmerzen rührten. Um seinen Knöchel hatte sich ein fingerdicker Strang aus glühender, halb flüssiger Lava gewickelt, der direkt aus dem Krater kam. Flammen züngelten an seinem Hosenbein empor. Brazzo begann zu schreien.
* Durch die Sichtschlitze der grauen Kapuze konnte man die Augen des Maskenmannes erkennen, hinter dem sich der ehrwürdige Monsignore Greganti verbarg. Sie waren weit aufgerissen und zeigten deutliche Anzeichen keimender Hysterie. Der furchtbare Tod Luigis nagte an ihm. »Was hast du, Bruder Paolo?«, fragte einer seiner vier Begleiter, ohne in seinem Marsch innezuhalten. »Mir gefällt das nicht«, murmelte der Priester leise. »Ich weiß nicht, ob dieser Überfall wirklich eine gute Idee ist.« »Still, wir sind gleich da«, unterbrach der Großmeister die Diskussion. Perone starrte einen Moment lang auf das Ziel ihres Marsches, dann wandte er sich zu Greganti um und griff ihn hart an den Schultern. »Du hast gesehen, was mit Bruder Luigi geschehen ist«, sagte er beinahe sanft. »Wenn wir nicht handeln, wird Malforgas Zorn über uns hereinbrechen. Wir müssen die beiden zu ihm bringen, damit er sich an ihnen laben kann.« Greganti zitterte immer noch, beruhigte sich aber ein wenig. »Was ist mit Don Panuccis Mann? Warum lassen wir ihn die Sache nicht in die Hand nehmen?«, fragte er schließlich schüchtern. Der Polizeichef lächelte grimmig unter seiner Kapuze. »Wir haben keine Zeit, auf ihn zu warten. Wir müssen noch in dieser Nacht handeln. Morgen könnte alles zu spät sein!« Greganti blickte den Großmeister stumm an. Schließlich nickte er. »Malforgas Wille geschehe«, murmelte er leise. Die fünf Kapuzenträger wandten sich wieder dem Ziel ihres Marsches zu. Die kleine Pension, in der Zamorra und Nicole abgestiegen waren, lag in völliger Dunkelheit. Lautlos bewegten sich die Männer auf die Eingangstür des Hauses zu und verharrten dort.
»Sie scheinen alle zu schlafen«, stellte der Großmeister fest, »dennoch sollten wir vorsichtig sein. Malforga hat gesagt, dass die beiden gefährlich sind.« Er sah seine Begleiter der Reihe nach an, dann nickte er knapp. »Also gut«, begann er, »brich die Tür auf, Francesco!«
* »Still!« Der Meister des Übersinnlichen hob den Finger an die Lippen. »Ich glaube, ich habe etwas gehört …« Nicole legte den Kopf leicht schief und lauschte in die Dunkelheit des Zimmers. Zunächst herrschte Ruhe. Dann war aus dem Erdgeschoss der Pension plötzlich ein lautes Rumpeln zu vernehmen. Die Französin blickte Zamorra an. »Es geht los«, murmelte dieser grimmig. »Du hattest Recht«, gab Nicole zu. Seit sie aus der Schenke heimgekehrt waren, hatten die beiden Dämonenjäger in ihrem Pensions-Zimmer auf der Lauer gelegen und darauf gewartet, dass die Loge aktiv wurde. Nun zeigte sich, dass Zamorras Gefühl nicht getrogen hatte. Der Parapsychologe glitt aus dem Bett und nahm links von der Zimmertür Aufstellung. Nicole folgte einen Moment später, um die andere Seite abzusichern. Beide waren mit Strahlwaffen der EWIGEN bewaffnet. Unten war es jetzt wieder still geworden. Das musste jedoch nichts zu bedeuten haben. Zamorras durch jahrelange Auseinandersetzungen mit dem Übernatürlichen geschärfte Sinne trogen ihn selten. Dennoch wurde er von den nachfolgenden Ereignissen überrascht. Obwohl einen Moment zuvor weder Schritte noch Flüstern auf dem Gang zu hören gewesen waren, warf sich plötzlich ein schwerer Körper gegen die Zimmertür, die sofort nachgab.
Mit einem lauten Splittern sprang die Tür aus dem Schloss und schwang nach rechts auf. Gerade noch rechtzeitig sprang Nicole ein Stück zur Seite. Die Tür erwischte lediglich ihren Fuß und richtete keinen größeren Schaden an. Ein in Grau gekleideter, massiger Mann drängte ins Zimmer. Sein Gesicht war durch eine spitz zulaufende Kapuze unkenntlich gemacht. Der Meister des Übersinnlichen fackelte nicht lange, riss den Eindringling an der Schulter herum und rammte ihm die Faust in den Magen. Die Reaktion war erstaunlich. Es gab nämlich keine. Jedenfalls für einen kurzen Moment, dann griff der Fremde nach Zamorras Arm und warf ihn ohne große Kraftanstrengung über die Schulter. Der Parapsychologe stieß einen wilden Schrei aus, als er quer durch den Raum flog und hart auf einer Kommode aufschlug, die unter dem Aufprall splitternd zusammenbrach. Zamorra schüttelte sich kurz. Der Eindringling schien über Bärenkräfte zu verfügen, wenn er ihn wie ein Spielzeug durch die Luft schleudern konnte. Während sich der Dämonenjäger noch vom Boden aufrappelte, wurde Nicole aktiv. Mit einem wilden Kampfschrei auf den Lippen ging sie in Angriffsstellung und setzte zu einem Handkanten-Schlag an. Noch zögerte sie, ihren Blaster einzusetzen. Sie wusste nur allzu gut, welch verheerende Verletzungen die nadelfeinen Laserstrahlen anrichten konnten, und immerhin kämpften sie hier nicht gegen Dämonen, sondern gegen Menschen … Auch Nicoles Aikido-Schläge schienen den Fremden wenig zu beeindrucken. Vielleicht hat man ihm eine Droge verabreicht, die das Schmerzempfinden herabsetzt, schoss es Zamorra durch den Kopf, als
er heran eilte, um seine Gefährtin zu unterstützen. Aus den Augenwinkeln sah er vier weitere Kapuzenmänner durch den Türrahmen in den Raum drängen. Das wurde allmählich zu viel. In dem engen Zimmer hatten die beiden Dämonenjäger wenig Chancen gegen eine solche Übermacht. Zamorra zerknirschte einen Fluch zwischen den Zähnen, um sich dann mutig auf die neuen Angreifer zu stürzen. Er kam genau drei Schritte weit, bevor er sich einen Fausthieb einfing, der sich anfühlte, als hätte er ihm den Kopf von den Schultern gerissen. Dem Parapsychologen schwindelte. Ihm wurde schwarz vor Augen. Während Nicole sich noch tapfer gegen den massigen Kapuzenmann zur Wehr setzte, spürte Zamorra, wie sich jemand an seinem Gürtel zu schaffen machte. Der Blaster, schoss es ihm durch den Kopf. Im nächsten Moment fühlte er sich auch schon vom Boden hochgerissen. Etwas kaltes Metallisches wurde gegen seine Schläfe gedrückt. »Hör auf, dich zu wehren, wenn du nicht willst, dass wir euch gleich hier erledigen!«, vernahm er die an Nicole gerichteten Worte eines Mannes, der es offenbar gewohnt war, Befehle zu geben. Der Kampflärm verebbte. Das war’s, dachte Zamorra bitter, Ende der Fahnenstange!
* Brazzos Stimme überschlug sich. Dem Auftragskiller gelang es, sich aufzusetzen. Er schlug in heller Panik auf die Flammen ein, die von seinem rechten Hosenbein emporzüngelten. Es nützte nicht viel. Aus geweiteten Augen starrte er auf den rotglühenden Tentakel, der sich um seinen Knöchel geschlungen hatte. Seltsamerweise spürte er fast keine Schmerzen. Unvermittelt ging ein heftiger Ruck durch sein Bein, und wieder
kippte er nach hinten. Brazzo brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass er langsam aber sicher auf den gähnenden Krater zugezogen wurde. Die Fingernägel des Killers splitterten, als er in wilder Panik versuchte, irgendwo auf dem rauen Felsboden einen Halt zu finden. Seine Anstrengungen waren vergeblich. Was immer in dem Krater hauste – es besaß unglaubliche Kräfte. Zentimeter um Zentimeter näherte er sich der Kante. In einem letzten Winkel seines Verstandes, der von der Panik unberührt geblieben war, verfluchte sich Brazzo wegen seiner Neugier. Nun wusste er zwar, dass die Geschichten der Dorfbewohner nicht an den Haaren herbeigezogen waren, aber das nutzte ihm nicht mehr viel. Er hätte auf den Don hören sollen … »Das hättest du in der Tat, kleiner Mann, wer immer dieser Don auch sein mag!«, vernahm Brazzo plötzlich eine donnernde Stimme. Ein bösartiges Lachen folgte. Der Killer zuckte zusammen. Immer noch war es völlig ruhig auf dem Gipfel des Monte Malforga, von dem unablässigen Grollen des Vulkans abgesehen. Die Worte waren wie mit einer großkalibrigen Pistole direkt in sein Bewusstsein gefeuert worden. Das Wesen im Krater schien sich offenbar telepathisch zu verständigen. Viel Zeit blieb Brazzo allerdings nicht mehr, über die unfassbaren Fähigkeiten der Kreatur nachzudenken. Ein weiterer Ruck ging durch sein Bein. Im nächsten Moment hing der Auftragskiller auch schon mit dem Unterleib über der Felskante. Verzweifelt krallte er sich fest und versuchte, nicht den Halt zu verlieren. »Dein Herz ist schwarz«, erkannte der uralte Dämon befriedigt, »so wie es mir gefällt …« Abermals zerrte der rotglühende Tentakel an Brazzos Bein. Die vom Angstschweiß glitschigen Finger tasteten blind umher, fanden
jedoch keinen weiteren Halt mehr. Mit einem gurgelnden Aufschrei rutschte der Auftragskiller endgültig über die Felskante, um dem feurigen Magma entgegen zu stürzen. Das ist das Ende, schoss ihm durch den Kopf, bevor sich sein Bewusstsein verdunkelte. Er ahnte nicht, wie sehr er sich täuschte. Es fing erst an.
* Nicole ließ die Arme sinken. Nur für einen kurzen Moment spielte sie mit dem Gedanken, nach ihrer Waffe zu greifen. Der Anblick ihres halb bewusstlosen Partners, dem der Anführer der Kapuzenmänner den Lauf des Blasters gegen die Schläfe drückte, traf sie mitten ins Herz. Es gab keine Chance mehr, die Gegner rechtzeitig zu überwältigen. »So ist es gut«, bemerkte einer der Kapuzenträger, möglicherweise das Oberhaupt der ominösen Feuerloge, befriedigt. Nicole konnte förmlich sehen, wie er unter seiner Kapuze die Lippen zu einem schmierigen Grinsen verzog. Zu oft hatte sie machtgierigen Menschen wie ihm gegenüber gestanden. »Entwaffnet sie!« Einer der Vermummten trat auf sie zu und nahm ihr den Blaster ab. Die nächsten Geschehnisse nahm Nicole nur wie in Zeitlupe wahr. Unvermittelt war ein ohrenbetäubender Knall zu hören. Während die Französin noch um ihr Trommelfell fürchtete, färbte sich die Kutte des offenbar schmerzunempfindlichen Kapuzenträgers in der Herzgegend rot. Ohne einen Laut von sich zu geben, sank er in die Knie und prallte dann mit dem Gesicht nach vorne auf den Boden. Der Anführer kreiselte herum. Zamorra, der nun nicht mehr festgehalten wurde, kippte zur Seite. Nicole eilte zu ihrem Gefährten,
ohne dass sich jemand um sie kümmerte. Die Geschehnisse sorgten offenbar für eine innerliche Lähmung der Eingedrungenen. Im Türrahmen stand die greise Wirtin der Pension. Sie trug ein Gewehr in den Händen, das offenbar noch älter war als sie selbst. Ihr Gesicht war hasserfüllt. »Ihr habt uns lange genug terrorisiert«, zischte sie mit funkelnden Augen. Das Oberhaupt der Loge stieß ein Schnauben aus. »Was willst du, Frau?«, bellte er, »haben wir euch nicht immer vor der Wut des Dämons geschützt?« Die Greisin nickte. »Ja, doch zu welchem Preis!« »Manchmal ist es nötig, das Blut Weniger zu opfern, um das Wohl Vieler zu erhalten!«, erklärte der Kapuzenmann. Die Augen der alten Wirtin drohten aus den Höhlen zu treten. »Das Blut weniger? So wie das Blut meines Enkels vielleicht?« Der Großmeister atmete tief ein. »Ich kenne deinen Enkel nicht, Frau!« Das Gesicht der Alten verzerrte sich. »Ihr habt ihn vor Jahren in den Krater gestoßen! Aus Angst, er könne euch verraten.« Das Oberhaupt der Loge schüttelte unmerklich den Kopf, als er sich erinnerte. »Wir alle müssen Opfer bringen, um Brienza vor dem Zorn des Dämons zu beschützen«, erklärte er dann mit emotionsloser Stimme. »Es muss einmal ein Ende haben«, fauchte die Greisin und machte Anstalten, ihr Gewehr durchzuladen, wobei ihr die altertümliche Waffe offenbar einige Schwierigkeiten bereitete. Gelassen nickte der Anführer der Kapuzenmänner in Richtung seiner Begleiter. Diese setzten sich sofort in Bewegung und gingen drohend auf die alte Frau zu. Die Wirtin hantierte immer noch umständlich an dem Gewehr herum, sah aber schließlich ein, dass es keinen Sinn hatte und schleuderte die Waffe den Angreifern entgegen.
Ohne sich noch einmal umzublicken, warf sie sich herum und hastete wieselgleich in Richtung der Treppe. Nicole, die das Ganze beobachtete, war erstaunt, wie rasch sie sich zu bewegen verstand. Die Männer setzten ihr nach. Das Oberhaupt der Loge verfolgte ihre Bemühungen vom Türrahmen aus. Zamorra schien derweil wieder einigermaßen zu Bewusstsein gekommen zu sein. »Du musst verschwinden«, flüsterte er Nicole leise zu. »Spinnst du?«, erwiderte die Französin. »Denkst du, ich lasse dich hier zurück?« Der Parapsychologe ließ ein gequältes Lächeln aufblitzen. »Sie werden mich zum Vulkan schaffen, um mich zu opfern. Wenn wir beide matt gesetzt sind, haben wir keine Chance. Außerdem habe ich immer noch das Amulett.« Nicole seufzte. Natürlich hatte Zamorra Recht, dennoch schmeckte es ihr gar nicht, ihren Geliebten in der Hand der Dämonendiener zurücklassen zu müssen. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen und blieb an einem kleinen Fenster hängen, von dem sie wusste, dass darunter einige Büsche standen. Ihre Entscheidung war gefallen. Nicole hauchte Zamorra einen Kuss auf die Wange, dann setzte sie sich blitzschnell in Bewegung und hechtete auf das Fenster zu. Der Großmeister der Loge fuhr herum, als er bemerkte, was sich abspielte, doch er kam zu spät. Fluchend riss er den Arm vor die Augen. Im nächsten Moment erfüllte das Splittern von Glas den Raum. Als er den Arm wieder senkte, war Nicole schon fort …
* Ein beunruhigendes Grollen erfüllte die rußigen Eingeweide des
Monte Malforga. Rauchwolken umkränzten den Gipfel des Vulkans und verdeckten die bleiche Scheibe des Mondes. Wer in diesen Minuten aus dem Fenster sah, konnte deutlich ein feuriges Glühen erkennen, das die Kraterspitze umgab. Es schien, als würde der Berg insgeheim Kraft für einen bevorstehenden Ausbruch sammeln. Niemand jedoch ahnte, was sich wirklich auf und in dem Monte Malforga abspielte. Zunächst brachen nur die Laute des tätigen Vulkans die Stille des nächtlichen Berggipfels, dann war ein geisterhaftes Stöhnen zu hören. Unendlich langsam reckte sich eine rotglühende Hand aus der Krateröffnung. Die Finger suchten nach einem sicheren Halt, tasteten fast verwirrt umher und fanden ihn schließlich. Im nächsten Moment zog sich ein monströses Geschöpf über den Felsrand. Die Umrisse der Gestalt mochten zwar immer noch an einen Menschen erinnern, der Körper schien jedoch komplett aus glühendem Magma zu bestehen. Für einen kurzen Augenblick stand das Wesen aufrecht, dann ließ es sich vornüber auf die Knie fallen. Gedankenfetzen irrlichterten durch die trüben Reste seines Bewusstseins, vage Erinnerungen an eine frühere Existenz, die jedoch schnell hinweg geweht wurden. Kein Atemzug hob die Brust des Geschöpfs, als es auf Händen und Füßen auf den Felsen kauerte. Es besaß keine Lungen mehr, die Sauerstoff benötigten. Alles, was an dem Wesen einmal menschlich gewesen sein mochte, war von dämonischer Hand ausgelöscht worden. Langsam richtete sich das Wesen wieder auf und wandte den Kopf in Richtung des kleinen malerischen Dorfes zu Füßen des Vulkans. Die Lavaklumpen in seinem Gesicht, welche den Platz der Augen einnahmen, blitzten kurz auf, als es einen mentalen Befehl vernahm.
Zögernd tat das Geschöpf einen ersten Schritt. Der rotglühende Fuß brannte sich ein Stück in den harten Boden ein. Rauchwölkchen stiegen auf, als die Erde verdampfte. Das Wesen strahlte eine unvorstellbare Hitze aus, die direkt aus dem feurigen Herz des Berges kam. Zunächst noch unsicher, dann immer zielstrebiger, setzte sich die Kreatur in Bewegung. Immer noch trieben fragmentarische Erinnerungsfetzen durch das Bewusstsein des Wesens, doch längst waren sie bedeutungslos geworden. Der Mensch, der einmal den Namen Brazzo getragen hatte, existierte nicht mehr. Jetzt gab es nur noch den Magma-Mann …
* Perone zitterte vor unterdrückter Wut, als die übrigen Männer zurückkehrten und Bericht erstatteten. Die greise Wirtin, die Bruder Francesco erschossen hatte, war ebenso entkommen wie die Sekretärin des Parapsychologen. »Unfähige Narren«, zischte er. Dieses Mal ging alles schief … »Wenigstens haben wir den Mann!« Er deutete auf den am Boden kauernden Zamorra, den er seit Nicoles Flucht mit seinem E-Blaster in Schach hielt. »Fesselt ihn, und dann lasst uns hier verschwinden. Malforga wird nicht ewig auf uns warten.« Zamorra hob seinen Kopf. »Denkt ihr wirklich, dass der Dämon sich mit mir zufrieden geben wird?« Perone machte eine drohende Bewegung mit dem Blaster, als wolle er Zamorra schlagen. »Keine Bange, du wirst nicht das letzte Opfer sein. Malforga wird sich an den Pakt halten, den er mit unseren Vorvätern geschlossen hat. Das Dorf wird sicher sein.« Zamorra enthielt sich einer Antwort und schüttelte stumm den Kopf. Wenn er eins in den langen Jahren seiner Dämonenjäger-Lauf-
bahn gelernt hatte, dann, dass den Mächten der Hölle nicht zu trauen war. Widerstandslos ließ er sich von einem der Logen-Mitglieder fesseln. Es hatte keinen Sinn, sich zu wehren, solange er mit der Waffe in Schach gehalten wurde. Nachdem man ihm die Handgelenke auf dem Rücken verschnürt hatte, zerrte man Zamorra hoch. »Gehen wir«, befahl Perone. »Nehmt Bruder Francescos Leichnam mit.« Zwei der Kapuzenmänner trugen den toten Körper, während ein Dritter zusammen mit dem Anführer Zamorra in Schach hielt. Gemeinsam verließen sie die kleine Pension und traten hinaus in die kühle Nachtluft. Ohne äußerliche Regung wartete der Parapsychologe, während sich einer der Kapuzenmänner entfernte, um einen Wagen zu holen. Er warf einen Blick zum Berg. Immer noch umgab feuriges Glühen den Gipfel. »Er wird ausbrechen«, flüsterte Zamorra. Plötzlich war er sich ganz sicher. »Euer Tun ist umsonst.« Der Kopf des Großmeisters ruckte zu ihm herum. »Schweig!«, befahl er wütend. »Malforga wird uns beschützen!« Aber in seinen Augen las Zamorra, dass sein Vertrauen in den Dämon längst erschüttert war.
* Nicole Duval verbarg sich geschickt im Dunkel zwischen zwei Häusern. Sie hielt den rechten Oberarm umklammert. Bei ihrem Sprung aus dem Fenster hatte sie sich schmerzhaft die Schulter geprellt. Sonst war sie jedoch glücklicherweise von größeren Blessuren verschont geblieben. Die Büsche, die hinter der Pension angepflanzt waren, hatten ihren Sturz wie erwartet gedämpft.
Aus zusammengekniffenen Augen beobachtete die Französin, wie die Mitglieder der Loge den gefesselten Zamorra in einen grauen Kombi verfrachteten und eilig davonfuhren. »Verdammt!« Zu Fuß hatte sie kaum eine Chance, die Kapuzenmänner rechtzeitig einzuholen. Als sie sicher war, dass man sie im Rückspiegel nicht mehr sehen konnte, verließ sie die schmale Gasse und hetzte hinüber zur Pension, wo sie und Zamorra ihren Leihwagen geparkt hatten. Bereits im Laufen fummelte sie den Zündschlüssel hervor. Dann sprang sie hinters Lenkrad und startete den Motor. »Dann wollen wir doch mal sehen, was du so unter der Haube hast, Kleiner«, murmelte sie und trat grimmig das Gaspedal durch.
* Widerstandslos ließ sich Zamorra in den Frachtraum des grauen Kombis drängen. Zwei der Logenbrüder hielten ihn dort mit den EBlastern in Schach. Er musterte die beiden Männer. Bei einem handelte es sich offenbar um den Anführer der Gruppe. Der andere war dicklich und machte einen nervösen Eindruck. Der Parapsychologe traute sich durchaus zu, die beiden Männer in einem geeigneten Moment zu überwältigen. Allerdings war er nach wie vor gefesselt, und die auf ihn gerichtete Strahlermündung trug ebenfalls nicht gerade zu seinem Wohlbefinden bei. Die beiden anderen Logen-Mitglieder nahmen auf dem Fahrerund Beifahrersitz Platz. Im nächsten Moment setzte sich der Wagen in Bewegung. Zamorra atmete tief durch. Der Kombi verließ das Dorf und bog in eine schmale Straße ein, die sich den Nordhang des Berges entlang schlängelte und allem Anschein nach hinauf zum Gipfel führte. Der Fahrer schien die Route wie seine Westentasche zu kennen, denn er legte ein mörderisches Tempo an den Tag. Vielleicht ist er
auch einfach nur lebensmüde, dachte der Dämonenjäger gallig. Zamorra überlegte. Nicole war sicher bereits auf seiner Spur. Gemeinsam würde es ihnen zweifelsfrei gelingen, die Männer zu überwältigen, zumal diese selbst in unterschiedlichem Maß von Zweifeln an ihrer Mission geplagt zu sein schienen. Der Dämon, der innerhalb des Berges hauste, war freilich wieder eine ganz andere Sache … Nachdenklich wandte der Parapsychologe den Kopf. Durch die Frontscheibe konnte er erkennen, dass sie sich dem unheimlichen Glühen am Gipfel des Berges stetig näherten. Mit quietschenden Reifen fuhr der Kombi um eine enge Kurve. Im nächsten Moment stieß der Mann am Steuer einen erstickten Laut aus und trat voll in die Eisen. Schlingernd kam der Wagen zum Stehen. Zamorra und seine beiden Bewacher wurden wild umhergeschleudert. Sofort erkannte der Parapsychologe seine Chance. Ehe sich die Männer von der Vollbremsung erholen konnten, ließ sich der Dämonenjäger nach vorne kippen und rammte dem bewaffneten Oberhaupt der Loge mit voller Wucht den Kopf in die Magengrube. Keuchend ließ dieser den Blaster fallen und stürzte nach hinten. Sofort stellte Zamorra den Fuß auf die Waffe. »Bind mich los«, befahl er mit Zwang in der Stimme, an den eingeschüchterten verbleibenden Kapuzenmann gewandt. Zitternd kam Greganti der Aufforderung nach. Erst jetzt wandte Zamorra den Kopf, um zu sehen, was den Fahrer zu der Vollbremsung veranlasst hatte. Er glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Mitten auf der engen Fahrbahn, in etwa fünfzig Metern Entfernung, stand ein unheimliches Wesen, dessen Körper aus purem Magma zu bestehen schien. Die Gestalt glühte feuerrot. War dies der Dämon aus der Tiefe des Berges? Endlich war Zamorra von seinen Fesseln befreit. Schnell hob er
den Blaster auf und durchsuchte den am Boden liegenden Großmeister nach dem zweiten Strahler. Der Dämonenjäger steckte sich die zweite Waffe hinten in den Hosenbund und hielt die beiden Männer in Schach. »Was ist das?«, hörte er den Innrer im vorderen Teil des Wagens stammeln. »Ich weiß nicht! Fahr es um! Fahr es einfach um!« Die Stimme des Beifahrers überschlug sich fast. Die beiden Männer waren in heller Panik. Zeit zu verschwinden, dachte Zamorra. Ohne den eingeschüchterten Kapuzenträger aus den Augen zu lassen, öffnete er die Hecktüren des Kombis. Gerade noch rechtzeitig, wie sich herausstellte, denn im nächsten Moment trat der Fahrer das Gaspedal durch und schoss auf die unheimliche Gestalt zu. Zamorra verlor das Gleichgewicht und stürzte aus dem Wagen. Hart prallte er auf den steinigen Boden, wobei es ihm gelang, sein Gesicht mit dem Arm zu schützen. Fluchend wirbelte er herum. Der graue Kombi raste mit aufheulendem Motor dem dämonischen Wesen entgegen, ohne das Tempo zu drosseln. Das Geschöpf rührte sich keinen Millimeter. Im nächsten Moment kam es zur Kollision. Das Magma-Wesen wurde mehrere Meter zurückgeschleudert. Gleichzeitig verlor der Fahrer die Kontrolle über den Kombi. Der Wagen brach seitlich aus und kam von der Straße ab. Polternd raste das Fahrzeug den felsigen Abhang hinab, um sich dann mehrfach zu überschlagen und schließlich als verbeulter Klumpen Blech zur Ruhe zu kommen. Zamorra stieß einen Fluch aus. Er hielt es für unmöglich, dass einer der vier Insassen den Unfall überlebt hatte. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Magma-Mann zu. Das dämonische Geschöpf war wieder aufgestanden. Es schien nicht verletzt zu sein, sofern Zamorra dies beurteilen konnte.
Kurz blickte es dem Parapsychologen entgegen, dann setzte es sich übergangslos in Bewegung. Zamorra spürte, wie sich Merlins Stern auf seiner Brust erwärmte, doch der Magma-Mann schien kein Interesse an ihm zu haben. Ohne ihn weiter zu beachteten, machte sich das Wesen auf den Weg zum Auto-Wrack. Ein Grollen erschütterte den Berg. Die Erde begann zu beben. Zamorra ahnte, was dies bedeutete: Ein Vulkan-Ausbruch kündigte sich an. Der Heftigkeit des Bebens zufolge schien er unmittelbar bevorzustehen. Die Gedanken des Parapsychologen überschlugen sich. Das Dorf musste gewarnt und nötigenfalls evakuiert werden. Um den Magma-Mann musste er sich später kümmern. So sehr es ihm auch widerstrebte, das dämonische Wesen entkommen zu lassen, die Bevölkerung hatte Vorrang. Zamorra sah dem seltsamen Wesen noch einen Moment hinterher, dann wandte er sich ab und machte sich eilig auf den Weg zurück nach Brienza. Bereits nach wenigen Metern wurde er von dem grellen Licht eines Scheinwerfers geblendet. Ein Wagen näherte sich. Der Dämonenjäger zog den Blaster. Er war auf alles gefasst. Immerhin wusste er nicht, über wie viele Mitglieder die Loge tatsächlich verfügte. Waren bereits weitere Feinde hierher unterwegs? Im nächsten Moment erkannte er den Leihwagen und atmete auf. Nicole! Die Französin bremste hart, als sie Zamorra sah. Sie kurbelte die Fensterscheibe nach unten. »Was ist passiert?«, fragte sie atemlos. Zamorra winkte ab. »Das erzähle ich dir unterwegs. Wir müssen das Dorf warnen. Ich habe das dumpfe Gefühl, der Berg hier wird uns jeden Moment um die Ohren fliegen …«
*
Während Zamorra und Nicole zurück nach Brienza rasten, näherte sich das Wesen, das einmal den Namen Brazzo getragen hatte, dem verbeulten Auto-Wrack. Der Magma-Mann besaß keinen eigenen Willen mehr, war nur noch Werkzeug Malforgas. Der uralte Dämon lag grollend in seiner Magma-Gruft. Er hatte den Auftragskiller zu seinem Werkzeug gemacht, um seine Diener für ihr Versagen zu bestrafen. Nun sah es aus, als sei ihm diese Aufgabe abgenommen worden. Das Magma-Wesen hatte den zerstörten Wagen jetzt erreicht. Die Hecktüren standen weit offen. Mit unbewegter Miene blickte das Geschöpf hinein. Der hintere Teil des Wagens war leer. Die beiden Logenbrüder auf den Vordersitzen waren jedoch tot, sie hatten den Unfall nicht überlebt. Abermals stieß Malforga in seiner Gruft ein Grollen aus, als er durch die Augen des Magma-Manns den Wagen untersuchte. Zwei seiner Diener waren entkommen, das spürte der Dämon mit seinen magischen Sinnen. Aber auch sie würden Malforgas Zorn zum Opfer fallen. Niemand würde seiner grausamen Strafe entkommen. Der gewaltige Dämon konzentrierte sich und schickte erneut ein Beben durch den felsigen Leib des Berges. Gestein barst. Dichte Rauchwolken stiegen gen Himmel, als die Lava der Krateröffnung entgegen stieg, überquoll und wie ein feuriger Fluss ins Tal hinab strömte. Der Magma-Mann wandte sich vom Auto-Wrack ab. Die glühenden Kugeln, die er anstelle von Augen besaß, blitzten kurz auf, als er den Kopf wandte und das Ausbrechen des Vulkans beobachtete. Bald würde ganz Brienza wissen, was es bedeutete, gegen den Willen des Dämons zu handeln. Langsam setzte sich das unheimliche Geschöpf wieder in Bewegung. Das Dorf zu Füßen des Berges war sein neues Ziel. Dort hielten sich diejenigen auf, denen der Zorn Malforgas galt.
Die Befehle Malforgas waren eindeutig: Erst würde der MagmaMann die unfähigen Diener des Dämons strafen, dann die beiden Fremden suchen, deren magische Präsenz Malforga gefühlt hatte. Und schließlich würde das ganze Dorf in einer feurigen Orgie der Vernichtung vergehen! Malforga lachte in grimmiger Vorfreude, während sich sein Diener unaufhaltsam Brienza näherte …
* Atemlos stolperte Greganti durch die Dunkelheit. Seine rechte Körperseite schmerzte. Er vermutete, dass er sich eine oder mehrere Rippen angebrochen hatte, als er aus dem Kombi herausgeschleudert worden war. Auch der Großmeister der Loge war noch am Leben. Greganti hatte gesehen, wie er sich erhob und davon taumelte. Ihr Oberhaupt hatte keinen Blick für das Schicksal seiner Brüder übrig gehabt, sondern war einfach in der Finsternis verschwunden, nachdem er sich die verräterische Logen-Tracht vom Körper gerissen hatte. Ein weiteres Beben erschütterte den Berg und brachte Greganti aus dem Gleichgewicht. Nur mühsam konnte er sich auf den Beinen halten. Als er kurz den Kopf wandte, sah er brodelnde Lava aus dem Krater treten. Nun war es also soweit. Brienza würde dem Zorn des Dämons zum Opfer fallen – so wie es vor über 300 Jahren schon einmal geschehen war. Alles war umsonst gewesen. Die Loge des Feuers war am Ende ihrer langen Geschichte angekommen. Greganti taumelte weiter. Mit einer Hand riss er sich die graue Kapuze vom Kopf. Mit dem Ende der Loge sah er keinen Sinn mehr in diesem Mummenschanz. Das schwammige, vor Schmerzen verzerrte Gesicht des Priesters kam zum Vorschein. Tränen rannen über seine fleischigen Wangen,
als er die Stoffkapuze von sich schleuderte. Sein Kopfverband war verrutscht. Er überlegte einen Moment, bevor er auch diesen abriss. Am Fuß des Berges sah er die Lichter des Dorfes leuchten. Dort lag sein Ziel. Die Loge des Feuers war an ihrer Aufgabe gescheitert. Nun mussten die Einwohner Brienzas vor dem Zorn des Dämons gewarnt werden. Greganti war sich natürlich darüber klar, dass man auch im Dorf bereits den Ausbruch des Vulkans bemerkt hatte, doch niemand dort unten ahnte etwas von dem fürchterlichen Magma-Wesen. Der Priester blickte kurz über die Schulter. Das Monster war nicht zu sehen, dennoch zweifelte Greganti nicht daran, dass es ihm dicht auf den Fersen war. Schwer atmend hetzte er weiter …
* Aus dem Rückspiegel sahen Zamorra und Nicole die aus dem Vulkan quellenden Lavaströme – rot glühende, fein verästelte Flüsse des Verderbens, die unaufhaltsam dem Dorf entgegen rannen. Der Parapsychologe stieß einen Fluch aus und griff in sein Jackett, um per Handy Hilfe anzufordern. Endlich erreichten sie Brienza. Auch dort war man natürlich bereits auf den Ausbruch aufmerksam geworden. Die Menschen waren aus ihren Häusern geströmt und liefen panisch umher. Nicole bremste ab und parkte am Straßenrand. Zu groß war die Gefahr, dass ihr jemand in der allgemeinen Aufregung vor den Wagen lief. Die beiden Dämonenjäger stiegen aus und betrachteten das Treiben einen Moment lang. Ordnungskräfte waren offensichtlich keine vorhanden. Die meisten Menschen strömten in Richtung der Dorfkirche.
Zamorra war nicht verwundert darüber. Die streng katholischen Dorfbewohner suchten dort in der Stunde der Not Schutz. »Lass uns hinterher gehen!«, entschied der Parapsychologe. »Wir müssen die Leute beruhigen.« Gemeinsam begaben sie sich zum Kirchplatz. Das Hauptportal des weiß gestrichenen Gotteshauses stand einladend offen. Im Inneren drängten sich die Menschen. Viele von ihnen beteten leise, den Blick auf das über dem Altar hängende Kreuz gerichtet. Andere saßen einfach stumm da, verzweifelt angesichts der tödlichen Bedrohung. Ein Priester war nicht anwesend, dafür erblickten Zamorra und Nicole eine alte Bekannte. »Na schau, die kennen wir doch«, stellte die hübsche Französin fest. Vor dem Altar hatte sich nämlich die resolute Wirtin ihrer Pension aufgebaut und sprach auf die Menschen ein. »Wir müssen das Dorf verlassen, ehe die Lava uns erreicht«, sagte sie gerade mit einer für ihr Alter erstaunlich kräftigen Stimme. Als sie die beiden Dämonenjäger erblickte, stockte sie kurz. Zamorra und Nicole nutzten die Gelegenheit, um die Menge zu durchqueren und sich an die Seite der Greisin zu begeben. »Die Signora hat völlig Recht«, bestätigte der Parapsychologe. »Wenn die Lava erst einmal Brienza erreicht hat, ist es zu spät zur Flucht. Die Loge wird euch nicht helfen.« Ein Raunen ging durch die Menge, als man erfuhr, dass Zamorra von den Aktivitäten der Loge wusste. Ehe der Dämonenjäger jedoch fortfahren konnte, ertönte ein barsches »Unsinn!« von der Kirchentür her. Zamorra runzelte die Stirn. Im Eingangsportal stand Commisario Perone. Der Polizist taumelte ein paar Schritte in den Raum. Er schien unsicher auf den Beinen zu sein.
»Unsinn«, wiederholte er, »die Loge des Feuers hat noch nie versagt. Wir werden den Zorn des Dämons von Brienza abwenden!« »Sind Sie denn blind?«, konnte sich Nicole nicht verkneifen. »Der Vulkan ist schon ausgebrochen. Wenn die Lava das Dorf erreicht, wird hier alles in Flammen stehen!« Perone machte eine unwirsche Handbewegung. Offensichtlich wollte er die Wahrheit nicht hören. Zamorra sah sich den Polizeibeamten genauer an. Perones Augen funkelten. Der Mann war verwirrt. und offenbar nicht mehr Herr seiner Sinne. Darüber hinaus schien er Schmerzen zu leiden. Kratzer zerfurchten seine rechte Wange. Ein Gedanke durchzuckte den Parapsychologen. Konnte sich Perone an Bord des Kombis befunden haben? Das würde bedeuten, dass er – wie sie schon vermutet hatten – ebenfalls der Loge angehörte. »Was macht Sie so sicher, dass die Loge den Dämon aufhalten kann?«, fragte er geradeheraus. »Wissen Sie mehr als wir?« Er machte einen Schritt auf Perone zu. Sein Blick bohrte sich in den des Dorfpolizisten. »Gehören Sie dem Geheimbund an?« Der Polizeibeamte öffnete den Mund, antwortete jedoch nicht. Zamorras unverblümte Frage schien ihm die Sprache verschlagen zu haben. Im nächsten Moment vernahm der Parapsychologe lautes Schreien außerhalb der Kirche. Ehe Zamorra reagieren konnte, fuhr Perone herum und taumelte wieder hinaus. »Was geht da vor?«, fragte Nicole stirnrunzelnd. »Das frage ich mich auch gerade«, gab der Meister des Übersinnlichen zurück. Die Schreie klangen nicht, als hätten sie etwas mit der Panik aufgrund des Vulkanausbruchs zu tun, denn die Lava konnte unmöglich bereits das Dorf erreicht haben. Zamorra gab Nicole ihren E-Blaster zurück und zog ebenfalls seine Waffe. Gemeinsam strebten die beiden Dämonenjäger dem Ein-
gangsportal zu. Draußen, auf der Kjrchturmtreppe, wären sie fast Perone in den Rücken gerannt. Dieser war stehen geblieben und starrte regungslos auf den Vorplatz. Die entsetzten Dorfbewohner hatten einen weitläufigen Kreis gebildet. Fassungslos starrten sie auf den dicklichen, abgerissen aussehenden Mann, der in diesen Minuten auf die Kirche zutorkelte. Sie alle kannten ihn, obwohl er mit dem gutmütigen Monsignore, der ihnen von der Sonntagsmesse so vertraut war, kaum noch etwas gemeinsam hatte. Der Blick des Priesters flackerte unruhig. An seinem Kopf war die verkrustete Verletzung zu sehen, die er sich angeblich bei einem Sturz zugezogen hatte. Sein übergewichtiger Körper war in eine graue Kutte gehüllt, die den Einwohnern des Dorfes nur allzu gut bekannt war. »Wer hätte das gedacht!«, murmelte Nicole. Der ehrwürdige Monsignore Greganti gehörte der Loge des Feuers an. Zamorra nickte abwesend. Er erkannte die Statur des Mannes eindeutig wieder. Bedachte man, dass Greganti nur zu Fuß den Berg hinab gestiegen sein konnte, hatte er Brienza auffallend schnell erreicht. Er musste den ganzen Weg gerannt sein. »Das Dorf ist verloren!«, rief der Priester unvermittelt. Ein entsetztes Aufstöhnen ging durch die Menge. »Die Loge des Feuers hat versagt. Malforga hat einen Dämon entsandt, um uns alle zu strafen!« Perone schnaubte geringschätzig und machte einen Schritt vorwärts. »Ihr redet wirr, Monsignore«, erklärte er laut, »die Loge kennt kein Versagen!« Der Blick des Priesters wurde ein wenig klarer. »Es gibt keine Loge mehr«, sagte er dann matt. »Fast alle Mitglieder sind tot; Niemand kann Malforga noch aufhalten.« »Das wird sich noch herausstellen!« Zamorra drängte sich an dem Polizisten vorbei und trat auf den
Vorplatz. »Die Loge mag vernichtet sein«, erklärte er mit fester Stimme, »aber noch ist das Dorf nicht verloren.« Der Meister des Übersinnlichen ließ seinen Blick über die verängstigten Menschen schweifen. »Wir werden versuchen, den Dämon zu stoppen«, verkündete Zamorra. In diesem Moment bemerkte er den Flammenschein am äußersten Rand des Dorfes. Der Magma-Mann hatte Brienza erreicht …
* Die Miene des Parapsychologen wurde hart, als er den Flammenschein bemerkte. Unwillkürlich fuhr Monsignore Greganti herum. Entsetzt sog der dickliche Priester die Luft ein, als er sah, wie dicht ihm Malforgas unheimlicher Diener auf den Fersen war. Im nächsten Moment geriet die glühende Gestalt des dämonischen Wesens in Sichtweite. Panikerfüllt wichen die Menschen zurück. Mit kantigen, steifbeinigen Schritten näherte sich der MagmaMann über die breite Hauptstraße des Dorfes dem Kirchplatz. Fast schien es, als würde das unheimliche Geschöpf die Nähe der überlebenden Logen-Mitglieder wittern. »Es ist zu spät«, murmelte Greganti resignierend, an die beiden Dämonenjäger gewandt. »Sie können ihn nicht aufhalten.« »Das wird sich noch zeigen«, antwortete Nicole kühl, ohne den Priester direkt anzusehen. Der Überfall in der Pension war ihr noch in lebhafter Erinnerung. Sie schob Greganti beiseite und hob ihren Blaster. Zamorra rief das Amulett. Einen Sekundenbruchteil später materialisierte Merlins Stern in seiner Hand. Die Silberscheibe hatte sich bereits deutlich erwärmt. Nicole kam an seine Seite, um ihm bei Be-
darf Deckung mit dem Blaster geben zu können. »Bleiben Sie zurück«, befahl der Parapsychologe überflüssigerweise. Die umstehenden Menschen hielten respektvollen Abstand von der sich abzeichnenden Konfrontation. Der Magma-Mann befand sich jetzt noch etwa vierzig Meter von ihnen entfernt, hielt aber zielstrebig auf sie zu. Konzentriert verschob Zamorra die uralten Symbole am Band der geheimnisvollen Silberscheibe und aktivierte so Merlins Stern. Das Amulett ging sofort zum Angriff über. Weit verästelte, silberfarbene Blitze jagten auf die glühende Gestalt zu. Als er die Handbewegungen des Parapsychologen beobachtet hatte, war der Magma-Mann kurz stehen geblieben. Nun schlugen die weißmagischen Entladungen mit voller Wucht in seine flammende Brust ein. Die dämonische Gestalt loderte gleißend hell auf. Das Wesen blieb kurz stehen und schüttelte sich. Dann setzte es sich wieder in Bewegung, als sei nichts geschehen. Es schien, als habe es die EnergieBlitze auf irgendeine Art absorbiert. Der Parapsychologe spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten. Unwillkürlich stieß Nicole einen Pfiff aus. Die hübsche Französin riss den Blaster hoch und legte auf den Unheimlichen an. Ein nadelfeiner Energiestrahl löste sich aus der Waffe und jagte durch die Nacht auf das dämonische Geschöpf zu. Abermals flammten die Umrisse des Magma-Manns grell auf, doch er blieb nicht stehen. Unbeirrbar setzte er einen Fuß vor den anderen. Sie ahnten, dass er erst stoppen würde, wenn er sein Ziel erreicht hatte. »Ganz schön hart im Nehmen, der Knabe«, murmelte Nicole beeindruckt. »Kann man wohl sagen«, erwiderte Zamorra. Er kannte nicht viele Gegner, die sowohl den Urgewalten von Merlins Stern als auch einem Blaster-Schuss standhalten konnten.
Die Französin betätigte ein weiteres Mal den Auslöser ihrer Waffe – wieder ohne eine nennenswerte Reaktion hervorzurufen. Zamorra nickte ihr zu und hob erneut das Amulett. Abermals glitten seine Finger über die geheimnisvollen Symbole der Silberscheibe. Schweiß trat auf die Stirn des Parapsychologen. Er spürte, wie ihm langsam heiß wurde. »Dauerfeuer«, knurrte er. Noch dreißig Meter trennten die glühende Gestalt von der Kirche …
* Ehe Zamorra ein weiteres weißmagisches Blitzgewitter auf den Unheimlichen einregnen lassen konnte, fühlte er sich brutal zur Seite gestoßen. Die Silberscheibe entglitt seinen Fingern, und er verlor den Halt. Er schlug hart auf dem Boden auf. Undeutlich sah er jemanden an sich vorbeihasten. Im nächsten Moment war Nicole neben ihm und streckte helfend die Hand aus. Doch er hatte das Amulett bereits wieder an sich genommen und sprang auf die Füße. »Perone«, entfuhr es ihm, als er erkannte, wer ihn umgestoßen hatte, »kommen Sie zurück!« Der Polizeibeamte schien völlig den Verstand verloren zu haben. Taumelnd hastete er auf die glühende Gestalt des Magma-Manns zu, um unmittelbar vor ihm stehen zu bleiben. Auch das dämonische Geschöpf hielt nun in seinem Marsch inne. Aus lodernden Augen blickte es den Menschen an, der ihm den Weg versperrte. Perone ließ sich ehrerbietig auf die Knie fallen. »Du kannst uns nicht einfach vernichten«, heulte der Polizeibeamte auf, »ich habe die Loge stets in deinem Sinn geführt. Wir haben
dir all die Jahre treu gedient.« Ein Raunen ging durch die Reihen der Dorfbewohner, als Perone mit diesen Worten indirekt zugab, der Großmeister der Loge gewesen zu sein. Fast schien es, als würden sich die Lippen des Wesens zu einem spöttischen Lächeln verziehen. Dann sprach es. »Ihr habt versagt«, erklärte der Magma-Mann schlicht. Unglaubliche dämonische Kälte schwang in diesen Worten mit. »Malforga duldet kein Scheitern.« Er machte einen Schritt auf Perone zu, bevor er die Worte sprach, die den Polizisten endgültig jeder Hoffnung beraubten: »Der Pakt ist hiermit aufgekündigt!« Perones Kopf ruckte nach oben. »Das kannst du nicht tun«, hauchte er. Der Magma-Mann enthielt sich einer Antwort. Seine glühenden Klauen schossen nach vorne und legten sich blitzartig um die Schultern des Polizeibeamten. Perone stieß einen gurgelnden Schrei aus. Weißglühender Schmerz tobte seine Nervenbahnen entlang. Undeutlich merkte er, wie er vom Boden hochgerissen wurde. Seine Kleidung hatte bereits zu brennen begonnen.
* Von alledem bekam Monsignore Greganti nichts mehr mit. Der dickliche Gottesmann hatte sich unmittelbar nach Erscheinen des Magma-Manns in die dunkle Sakristei seiner Kirche geflüchtet. Hier lag er nun im Dämmerlicht einer Kerze auf den Knien. Seine Lippen bewegten sich lautlos. Er blickte nicht auf, als er leises Türenquietschen hinter sich vernahm. »Hier versteckt Ihr euch also«, sagte eine alt klingende Frauenstimme.
Nun wandte Greganti doch den Kopf. Die greise Wirtin hatte die kleine, fensterlose Sakristei betreten. Langsam schloss sie die Tür hinter sich und blickte auf den Priester hinab. »Ihr betet?«, fragte sie fast erstaunt. Greganti nickte in stummer Verzweiflung. Die Miene der alten Frau wurde etwas sanfter. »Von euch hätte ich am wenigsten erwartet, dass Ihr diesen Mördern angehört. Seid Ihr euch darüber im Klaren, welche Schuld Ihr auf euch geladen habt – Ihr, ein Mann Gottes?« »Ich bin mir dessen bewusst«, antwortete der Priester schließlich mit brechender Stimme. »Wir haben nur versucht, das Richtige zu tun, doch nun ist alles verloren!« Die alte Wirtin stieß ein Schnauben aus. »Das Richtige? So wie damals, als ihr mir meinen Gino genommen habt?« Greganti schloss die Augen, als abermals die Erinnerung an die Ereignisse im jenem verhängnisvollen Sommer über ihn hereinbrach. Der Enkel der alten Frau hatte gedroht, alles über die Loge zu verraten, und so hatten sie keine andere Wahl gehabt, als ihn ebenfalls dem Dämon zu opfern. In seinen Gedanken sah er noch heute überdeutlich, wie der Junge in den Krater stürzte. »Es ging nicht anders«, verteidigte sich Greganti lahm, »er hätte alles aufgedeckt!« Ein Schütteln durchfuhr seinen schwergewichtigen Körper. Einen kurzen Moment sah es so aus, als könne er die Tränen nicht zurückhalten. »Und nun ist dennoch alles umsonst – Brienza ist dem Untergang geweiht«, schloss er. Die alte Frau nickte grimmig. »Gerade Ihr hättet wissen sollen, dass man mit den Dämonen der Hölle keine Geschäfte machen kann!« Abrupt beugte sie sich nach vorne und griff den knienden Priester
an den Schultern. »Auch wenn Ihr Schuld auf euch geladen habt, so seid Ihr immer noch ein Mann Gottes!« Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch. »Wenn Ihr noch ein bisschen Rückgrat habt; Monsignore, dann geht Ihr jetzt dort hinaus und versucht, das schlimmste Unheil abzuwenden.« Greganti sah der alten Wirtin in die Augen. Sein Blick flackerte. Er schien unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Schließlich kehrte ein wenig von seiner alten Entschlossenheit zurück. Langsam erhob er sich.
* Zamorra stieß einen Fluch aus, als er beobachtete, wie der brennende Perone in die Höhe gerissen wurde. Das Magma-Wesen schien eine unglaubliche Hitze zu verströmen. »Wir müssen ihn aufhalten«, rief Nicole überflüssigerweise. »Er bringt ihn um!« Der Parapsychologe nickte knapp und aktivierte abermals Merlins Stern. Wieder zuckten dem dämonischen Wesen, das immer noch keine Anstalten machte, von seinem Opfer abzulassen, silberne Blitze entgegen. Sein Körper loderte hell auf, als die weißmagischen Energien über ihn hinweg züngelten. Perones Schreien war jetzt einem schmerz erfüllten Röcheln gewichen, das vom Knistern der Flammen fast übertönt wurde. Schließlich – verstummte er völlig. Der Magma-Mann hob den mittlerweile reglosen Polizeibeamten mit beiden Händen hoch über seinen Kopf und schleuderte den brennenden Körper von sich. Sofort eilte Nicole zu ihm hinüber. Zamorras Blick folgte ihr. Die
Französin schüttelte stumm den Kopf, als sie erkannte, dass Perone nicht mehr zu helfen war. Der widerliche Gestank verbrannten Fleisches lag über dem Dorfplatz. Gegen die unvorstellbare Hitze hatte der Polizist nicht den Hauch einer Chance gehabt. Nicole richtete sich wieder auf und begab sich wieder an Zamorras Seite. »Wie sollen wir ihn aufhalten?«, fragte sie. »Frag mich was Leichteres!« Der Meister des Übersinnlichen war ebenfalls ratlos. »Wir können nur hoffen, dass er unter unserem konzentrierten Beschuss irgendwann zusammenbricht.« Zamorras Gedanken jagten sich. Sie konnten das Geschöpf weder im körperlichen Zweikampf überwältigen, noch hatten das Amulett und die Strahler irgendeine Wirkung gezeigt. Es musste ihnen etwas einfallen – und das schnell! Während Zamorra noch überlegte, setzte sich das unheimliche Wesen wieder in Bewegung und marschierte zielstrebig weiter auf die Kirche zu. Im Geiste sah der Parapsychologe das Gebäude schon in Flammen stehen. Plötzlich riss ein barsches »Bleib stehen!« den Dämonenjäger aus seinen Überlegungen. Verwundert wandte er den Kopf. Monsignore Greganti stand im Eingangsportal der kleinen Dorfkirche und blickte dem Magma-Mann entschlossen entgegen. Er hielt einen Gegenstand in den Händen, den der Parapsychologe auf die Entfernung nicht identifizieren konnte. Als er sah, dass Zamorra und Nicole ihn gespannt beobachteten, warf er ihnen ein trauriges Lächeln zu. »Verschwinden Sie«, befahl er, »dies ist nicht Ihr Kampf. Ich allein werde mich Malforga entgegenstellen.« Zamorra und Nicole glaubten, nicht richtig zu hören. »Sind Sie verrückt? Sie sehen doch, was er mit Perone gemacht hat!«, rief der Parapsychologe.
Greganti nickte traurig. »Die Loge des Feuers hat durch ihre Blutopfer unsagbar viel Schuld auf sich geladen. Das war der falsche Weg, mit dem Dämon umzugehen.« Entschlossenheit lag in seiner Stimme, die sich in seiner ganzen Körperhaltung widerspiegelte. Langsam begann der Priester auf den Magma-Mann zuzugehen. »Man kann sich mit der Hölle nicht arrangieren, das habe ich jetzt erkannt. Auf ihr verderbliches Tun gibt es nur eine Antwort.« Zamorra überlegte. Wenn er schnell genug war, konnte er den dicklichen Priester vielleicht noch erreichen, bevor dieser in sein Unglück lief … Doch es war zu spät. Greganti rannte bereits los. Blitzartig schoss er auf den Magma-Mann zu und baute sich vor ihm auf. Der Priester war nicht gekommen, um den Dämon zu bitten, das Dorf zu verschonen. Er fiel nicht vor ihm auf die Knie. Ohne äußerliche Regung öffnete Greganti die kleine Phiole, die er in der Hand gehalten hatte. »Nimm das«, rief der Priester laut und benetzte das Dämonenwesen mit dem Inhalt des Gefäßes. Im nächsten Moment stieß der Magma-Mann ein Grauen erregendes Heulen aus. Sein glühender Körper begann zu qualmen. Gebannt beobachteten Zamorra und Nicole, was geschah. Die Flüssigkeit schien eine verheerende Wirkung auf den MagmaMann zu haben. Das Lodern seines kantigen Körpers wurde schwächer. Dort, wo ihn die Flüssigkeit getroffen hatte, färbte er sich aschgrau, so als würde er langsam versteinern. Die vulkanische Hitze schwand. Doch mit welcher Flüssigkeit Greganti den Magma-Mann auch bespritzt haben mochte, die Menge war zu gering gewesen. Malforgas unheimlicher Diener war nicht ausgeschaltet. Er grollte vor Wut und Schmerz, riss die Arme nach oben und griff nach dem Priester. Greganti stieß einen Schrei aus. Er versuchte zurückzuweichen,
aber das Wesen war zu schnell für ihn. Ehe Zamorra und Nicole eingreifen konnten, hatte der Magma-Mann die Arme um den dicklichen Priester geschlungen. Im nächsten Moment war das Geräusch berstender Knochen zu hören. Der Körper des Monsignore erschlaffte. Nun erst schienen auch den Magma-Mann die Kräfte zu verlassen. Er ließ den Priester los, der daraufhin reglos zu Boden stürzte. Malforgas Diener ging in die Knie und kippte dann langsam zur Seite. Zamorra und Nicole eilten auf den Körper Gregantis zu. Der Priester lebte noch, schien aber dem Tode nahe zu sein. Ein Blutfaden rann von seinen Lippen. Als er die beiden Dämonenjäger über sich sah, lächelte er trotz seiner Schmerzen schwach. »Weihwasser war schon immer ein geeignetes Mittel, den Dämonen der Hölle Respekt zu lehren«, murmelte er mit ersterbender Stimme, »aber die Gefahr ist noch nicht gebannt.« Zamorra machte eine beruhigende Geste. »Wir werden einen Arzt holen. Bleiben Sie ruhig liegen!« »Er hat Recht«, unterbrach ihn Nicole und stieß ihren Gefährten an. Der Parapsychologe wandte den Kopf. Das Magma-Geschöpf war tatsächlich nur vorübergehend kampfunfähig. Immer wieder ging ein Zucken durch seine rauchenden Glieder, während es neue Energien sammelte. Der Meister des Übersinnlichen spürte, wie sich Gregantis verkrampfte Finger in den Aufschlag seines Jacketts krallten. Noch einmal raffte der Priester seine Kräfte zusammen. »Es hat nicht gereicht«, krächzte er. »Sie müssen …« Ein Hustenanfall unterbrach ihn. Als er wieder sprechen wollte, perlte Blut von seinen Lippen. »Sie müssen es noch einmal versuchen«, fuhr er schließlich fort. »Der Löschzug …«
Zamorra runzelte die Stirn, bis ihm plötzlich ein Licht aufging. Bei Ihrer Ankunft im Dorf waren er und Nicole Zeuge geworden, wie der Löschzug der neuen Feuerwehrwache feierlich durch einen Priester eingesegnet wurde. Das in den Tanks des Löschzuges befindliche Wasser war streng genommen kein Weihwasser im eigentlichen Sinne des Wortes, doch vielleicht reichte die Segnung des Wagens schon aus. Der Priester schien immerhin derselben Ansicht zu sein, sonst hätte er Zamorra kaum darauf aufmerksam gemacht. Der Parapsychologe spürte, wie Gregantis Körper erschlaffte. Behutsam ließ er den Körper zurücksinken und wandte seine Aufmerksamkeit dem Magma-Mann zu. Das Geschöpf hatte sich unendlich langsam auf den Bauch gerollt und versuchte sich hochzustemmen. Es war nur eine Frage von Minuten, bis es ihm gelingen würde. Er sah Nicole an. »Komm!«, rief er. Sie hatten nicht mehr viel Zeit …
* Gemeinsam hetzten die beiden Dämonenjäger die breite Hauptstraße entlang, bis sie sich der neu errichteten Feuerwehrwache Brienzas näherten. Erleichtert stellte Zamorra fest, dass man den Löschzug nach den Feierlichkeiten am Vormittag auf dem Vorplatz der Wache hatte stehen lassen. So blieb ihnen wenigstens erspart, sich erst mühsam Zutritt zum Gebäude verschaffen zu müssen. Vor dem Löschzug blieben sie stehen. »Ganz schön eindrucksvoller Schlitten«, murmelte Nicole. Zamorra konnte ihr nur zustimmen und war für die fehlgeleiteten EU-Subventionen unendlich dankbar, die dem Dorf zu dieser unverhofften Neuanschaffung verholfen hatten. Glaubte man dem bärtigen Hünen, mit dem Zamorra während des
Festes gesprochen hatte, wog das Fahrzeug gut 16 Tonnen und führte in seinen Tanks 5000 Liter Löschwasser mit sich. Wenn die Theorie des Priesters stimmte, sollte das reichen, um den Magma-Mann in seine Schranken zu weisen. »Ich fahre«, erklärte Nicole bestimmt, »kümmere du dich darum, dass wir dem Kerl gleich zu einer ordentlichen Dusche verhelfen können!« Der Parapsychologe nickte nur und eilte zum hinteren Teil des Wagens, wo der Feuerwehrschlauch aufgerollt war. Er musterte die Winde einen Moment lang und öffnete die Seitenklappe des Fahrzeugs. Aufblasbare Sprungkissen, Sauerstoffmasken, Löschgeräte, Spritzen und Stromaggregate kamen zum Vorschein. Seufzend machte sich der Parapsychologe ans Werk. Nicole öffnete unterdessen die Fahrertür. Unwillkürlich lächelte sie. In einem so kleinen Dorf hielt man es offenbar nicht für nötig, seine Autos abzuschließen. Umso besser für sie, denn es sparte Zeit, die dringend benötigt wurde. Die Französin ließ ihren Blick über die Armaturen schweifen und erkannte gleich darauf, dass ihre Glückssträhne hier endete. Der Zündschlüssel steckte nicht, aber das wäre wohl auch zu viel verlangt gewesen. Aufseufzend beugte sie sich unter das Lenkrad. Es war schon eine Weile her, dass sie im Laufe ihrer Abenteuer einen Wagen hatte kurzschließen müssen, aber sie ging mit zusammengebissenen Zähnen an die Arbeit. Schon kurz darauf hörte Zamorra, der immer noch hinter dem Fahrzeug beschäftigt war, wie der Motor ansprang. Er grinste unwillkürlich. In Sachen Autos konnte Nicole so schnell niemand etwas vormachen. »Kommst du dahinten klar?«, rief die Französin und steckte neugierig den Kopf aus dem Fenster.
Zamorra nickte ihr zu. Kurzentschlossen packte er den abgewickelten Schlauch und hangelte sich auf das Dach des Wagens. Einen Moment später hörte Nicole, wie er von oben auf die Fahrerkabine klopfte. »Ich bin soweit, Nici«, rief Zamorra, »gib Gas!«
* Mit aufheulendem Motor setzte sich der Löschzug in Bewegung und schoss hinaus auf die Straße. Doch gleich darauf nahm die Französin den Fuß vom Gas und drosselte die Geschwindigkeit ein wenig. Bei aller Freude an schnellen Autos wollte sie nicht das Risiko eingehen, dass Zamorra auf dem Dach den Halt verlor. Die Dorfkirche lag ohnehin nur knapp 500 Meter entfernt. In der Tat hätte es den Parapsychologen bei Nicoles Blitzstart fast von den Füßen gerissen, doch in letzter Sekunde war es ihm gelungen, das Gleichgewicht zu halten. Mit grimmiger Miene krampfte er seine Finger fester um den Feuerwehrschlauch. Gleich würden sie wissen, ob der Ratschlag des sterbenden Priesters wirklich etwas taugte. Zamorra ging leicht in die Knie, als Nicole das Tempo anzog. Der Kirchplatz näherte sich stetig. Und dann sah der Meister des Übersinnlichen auch schon, dass seine Befürchtungen wahr geworden waren. Der Magma-Mann hatte sich von der Attacke Gregantis erholt und stand wieder auf seinen Füßen. An der Stelle, an der er gelegen hatte, hatte sich ein immer noch rauchendes Loch von etlichen Zentimetern Tiefe in den Boden gebrannt. Unheilige dämonische Hitze ging von dem Körper des Wesens aus. Es blickte sich um und suchte offenbar nach einem neuen Opfer. Schließlich hatte Malforgas Diener seine Wahl getroffen und
machte einen Schritt auf die Kirche zu. Für die Menschen, die dort Schutz gesucht hatten, schien unweigerlich das Ende gekommen zu sein. Doch der Magma-Mann sollte niemals dort ankommen, denn in diesem Moment erreichten Zamorra und Nicole den Platz. Die Französin bremste den Löschzug einige Meter vor dem Wesen ab. Zamorra öffnete das Ventil des Feuerwehrschlauchs. »Wasser marsch«, knurrte er.
* Der Parapsychologe umklammerte den Schlauch fester, als das Wasser mit enormem Druck hervor schoss. Zamorras Knöchel verfärbten sich weiß. Im nächsten Moment wurde der Magma-Mann von dem dicken Strahl frontal getroffen und von den Füßen gerissen. Das dämonische Geschöpf stieß ein unheimliches Heulen aus. Dampfwolken stiegen von seinem glühenden Körper auf. Das gesegnete Löschwasser tat seine Wirkung. Das Lava-Wesen kühlte aus … Die tiefrote Färbung seiner Haut nahm ab und begann einem schmutzigen Aschgrau Platz zu machen. Doch der Wille des dämonischen Geschöpfs war ungebrochen. Wie schon bei der Weihwasser-Attacke des Priesters kämpfte es sich wieder auf die Füße. Taumelnd und mit immer noch glühenden Augen stand es da und blickte dem unbekannten Feind entgegen. Der Körper des Wesens straffte sich, als erneut schwarzmagische Energien in seine nichtmenschlichen Adern gepumpt wurden und für einen neuen Kraft-Schub sorgten. Der Magma-Mann kämpfte gegen den nach wie vor auf ihn gerichteten Wasserstrahl an und sprang mit einem gewaltigen Satz zur Seite, sodass er den auf ihn gerichteten Fluten entging.
Doch Zamorra ließ ihm keine Chance und korrigierte die Richtung des Wasserstrahls. Wie ein Dampfhammer traf das Löschwasser das dämonische Geschöpf vor die Brust, um es abermals zu Boden zu schleudern. Der Magma-Mann stieß knurrende Laute aus. Zamorra konnte nicht sagen, ob es sich um Schmerzensäußerungen handelte oder ob das Wesen schlicht vor Wut tobte. Immer wieder versuchte es, den Wassermassen zu entgehen. Aber mit jedem Liter, der sich über den Magma-Mann ergoss, wurden seine Bewegungen schwerfälliger. Bald würden seine Gliedmaßen endgültig ausgekühlt sein. Langsam wurde sein Körper starr. Das unheimliche, tiefrote Glühen war vollständig verschwunden und dem dumpfen Aschgrau gewichen. Ein letzter scharfer Ruck ging durch seinen Körper, als der dämonischer Lebensfunke für immer erlosch. Mit müde wirkenden Augen schloss Zamorra das HochdruckVentil des Schlauches und ließ den Wasserstrom versiegen. Nachdenklich sah er vom Dach des Wagens auf den reglosen Körper, der in diesen Sekunden auseinander fiel. Nichts als eine graue breiige Masse blieb von dem tödlichen Monstrum zurück. Zamorra überlegte. Der Priester hatte von dem Magma-Wesen als Dämon gesprochen, der von Malforga gesandt worden war, um die Loge zu strafen. Das bedeutete im Umkehrschluss, dass ihr eigentlicher Gegner immer noch aktiv war. Ehe Zamorra diesen Gedankengang weiterverfolgen konnte, startete unvermittelt der Motor des Wagens. Nicole schien zu demselben Schluss gekommen zu sein … Doch in diesem Punkt täuschte sich der Meister des Übersinnlichen.
*
Unwillkürlich umklammerte Nicole das Lenkrad fester, während sie den Todeskampf des Magma-Manns beobachtete. Den Wassermassen hatte das unheimliche Geschöpf nichts entgegenzusetzen. Die Französin bemerkte nicht, wie die Beifahrertür des 16-Tonners ein kleines Stück geöffnet wurde. Zu fasziniert war sie von dem unheimlichen Anblick, den der Todeskampf der Bestie bot. Erst als die Tür mit einem Quietschen unvermittelt ganz aufschwang, riss Nicole erschrocken den Kopf herum. Gleich darauf runzelte sie die Stirn. Es war niemand zu sehen. Andererseits konnte sich die Tür wohl kaum selbsttätig geöffnet haben. Angespannt beugte sich Nicole über den Beifahrersitz, um einen Blick hinaus zu erhaschen. In diesem Moment wurde eine graugekleidete Gestalt sichtbar. Nicoles Augen weiteten sich. Keuchend zog sich der schwer verletzte Priester in die Kabine und ließ sich auf den Beifahrersitz sinken. Jede Bewegung musste ihm höllische Schmerzen bereiten. Nicole konnte kaum glauben, dass er noch lebte. Unendlich langsam wandte er den Kopf zu Nicole. Sein Blick flackerte. »Sie …«, begann er. Auch das Sprechen schien ihm schwer zu fallen. Mit jedem rasselnden Atemzug perlte Blut von seinen Lippen. Langsam griff er mit der Hand unter die graue Kutte. Als er sie wieder hervorzog, hielt er einen Revolver darin. »Was soll das?«, fragte Nicole. »Stecken Sie das Ding weg!« Der Priester hustete schwach und schüttelte den Kopf. »Raus mit Ihnen!«, befahl er knapp. »Ich habe schon einmal gesagt: Das ist nicht Ihr Kampf. Ich alleine muss mich Malforga entgegenstellen.« Nicoles Gedanken jagten sich. Der Priester hielt die Waffe direkt auf sie gerichtet. In der Enge der Fahrerkabine gab es keine Möglich-
keit zum Ausweichen. Nach Abwägen aller Möglichkeiten sah sie ein, dass es keine Chance gab, ihn rechtzeitig zu überwältigen. So schlecht sein körperlicher Zustand auch war, die Waffe in seinen Händen sprach dennoch eine deutliche Sprache. »Was haben Sie vor?«, fragte sie, um Zeit zu schinden. Greganti lächelte bitter, ohne den Revolver sinken zu lassen. »Ich werde den Fluch, der auf diesem Dorf lastet, ein für alle Mal beenden«, erklärte er. »Und nun raus mit Ihnen, sofort!« Etwas Warnendes lag in seiner Stimme. Die Französin erkannte, dass er sie kein drittes Mal auffordern würde. Sie nickte beschwichtigend und öffnete langsam die Fahrertür, um behutsam aus dem Wagen zu steigen. Wieder lächelte der Priester. Es sah aus, als würde er sie wortlos um Vergebung bitten. Im nächsten Moment rutschte er schneller, als man es ihm aufgrund seiner Verletzungen zugetraut hätte, hinüber auf den Fahrersitz und zog die Tür mit einem Ruck wieder zu. Einen Sekundenbruchteil später hörte Nicole das Starten des Motors.
* Zamorra wandte den Kopf und war überrascht, als er Nicole neben der Fahrerkabine des Löschzugs stehen sah. »Komm runter, schnell«, rief sie. Nicoles Worte waren ihm Warnung genug, und er überlegte nicht lange. Ohne zu zögern ließ der Meister des Übersinnlichen den Schlauch fallen und wollte gerade herunter springen, als der Löschzug auch schon losraste. Zamorra stieß einen Schrei aus. Abrupt wurde er von den Füßen gerissen und schlug hart mit dem Rücken auf dem Dach des Wa-
gens auf. Ihm drohte schwarz vor Augen zu werden. Der Parapsychologe wurde durch die Fliehkraft ein Stück nach hinten gedrückt, bis unvermittelt ein brutaler Ruck durch sein linkes Bein ging. Er hatte sich mit dem Fuß im Schlauch verheddert und wurde unbarmherzig festgehalten. Verzweifelt versuchte sich Zamorra zu befreien, während der Wagen mit mörderischem Tempo der Ortsgrenze entgegenraste.
* Fassungslos blickte Nicole dem Fahrzeug hinterher. »Was ist passiert?«, fragte eine raschelnde Stimme hinter ihr. Die Französin riss sich zusammen. Sie wandte sich um und sah die alte Wirtin hinter sich stehen. »Der Priester«, antwortete sie knapp. »Er war bewaffnet. Er sagte, er wolle sich Malforga alleine entgegenstellen.« Die Alte nickte langsam. »Ich habe so etwas vermutet«, murmelte sie leise. Nicole zog die Stirn kraus. »Wissen Sie, was er vorhat?« Abermals nickte die greise Wirtin. »Er wird versuchen, den Löschzug in den Krater zu steuern, um den Dämon ein für alle Mal zu vernichten.« Die Französin erbleichte. »Das schafft er nie«, gab sie zurück. »Da wäre ich mir an Ihrer Stelle nicht so sicher«, antwortete die Wirtin trocken, doch das hörte Nicole schon nicht mehr. Sie war bereits losgerannt, um die Verfolgung aufzunehmen.
* Keuchend überquerte Greganti die Ortsgrenze von Brienza und
lenkte den Löschzug auf die schmale Straße am Nordhang des Vulkans, die zum Gipfel führte. Unter Schmerzen trat er das Gaspedal durch. Die Straße vor seinen Augen schien sich tunnelartig zu verengen. Er hatte das Gefühl, durch einen schmalen, grauen Korridor einem winzigen Ziel entgegen zu fliegen. »Bin fast da …«, gurgelte es in einem verzweifelten Versuch, sich selbst bei Bewusstsein zu halten, von seinen aufgeplatzten Lippen. Er hörte die Worte, als habe ein anderer sie ausgesprochen. »Nicht mehr lange, dann ist es geschafft.« Ruhe und Frieden erwartete ihn, und sein Körper sehnte sich ebenso wie seine Seele danach. Es bereitete ihm immer größere Mühe, sich auf den Straßenverlauf zu konzentrieren. Die Landschaft verschwamm vor seinen Augen, doch irgendwie schaffte er es, nicht vom Weg abzukommen. Greganti wusste, dass er nicht scheitern durfte. Alles hing nun von ihm ab. Wenn das Wasser in den Tanks des gesegneten Löschwagens gegen Malforgas Diener gewirkt hatte, so würde es auch den Dämon selbst unschädlich machen können. Jedenfalls hoffte Greganti das. Er starrte durch die Frontscheibe in die Nacht hinaus, die vom gespenstischen Glühen der Lavamassen erhellt wurde. Wie durch ein Wunder war die Straße bisher von den Magma-Strömen verschont geblieben. Aber er wusste, dass sich das jederzeit ändern konnte. Eine scharfe Kurve tauchte vor seinem Auge auf, und im letzten Moment schlug Greganti das Lenkrad ein. Er würde dem Fluch des Dämons Einhalt gebieten. Zu viele Leben waren Malforgas Terror schon zum Opfer gefallen. Es musste ein Ende haben, ein für alle Mal. Während er abermals das Gaspedal durchtrat, bewegte der Priester unhörbar die Lippen. Monsignore Greganti tat etwas, das er in den letzten Jahren viel zu
selten getan hatte, gefangen in der Illusion und der Verblendung, die die Loge des Feuers, auf ihn ausgeübt hatte. Er betete.
* Der Fahrtwind peitschte Zamorra schneidend ins Gesicht. Der Meister des Übersinnlichen hatte es mittlerweile geschafft, den Oberkörper aufzurichten. Verzweifelt versuchte er, seinen Fuß zu befreien, doch immer wieder rutschten seine Finger ab. Die holprige Strecke trug ihren Teil dazu bei. Abermals wurde Zamorra mit einem Ruck zurückgeschleudert, als der mit halsbrecherischem Tempo dahinrasende Löschzug um eine Kurve fuhr. Der Schlauch zog sich eng zusammen und presste sein Fußgelenk hart zusammen. Der Parapsychologe schrie auf. Der Schmerz ließ glühende Feuerräder vor seinen Augen aufblitzen. Nur mühsam schaffte er es, sich zusammenzureißen und weiter an seiner Befreiung zu arbeiten. Immer wieder erschütterten neue Eruptionen den uralten Berg. Gesteinsbrocken lösten sich und polterten hinter dem Wagen auf die Straße. Zamorras Gedanken überschlugen sich. Es gab keinen Zweifel, was das Ziel des Fahrers darstellte … Also musste er so schnell wie möglich freikommen! Wieder richtete er sich auf, doch diesmal versuchte er sich nicht zu befreien, sondern griff an seinen Gürtel. Wie von selbst schlossen sich seine Finger um den Griff des Blasters. Zamorra atmete erleichtert auf. Der Strahler aus der Produktion der DYNASTIE DER EWIGEN war seine letzte Hoffnung. Während er die Waffe in Position brachte, wandte der Dämonenjäger kurz den Kopf. Unwillkürlich stellten sich seine Nackenhaare auf. Abseits der Straße wälzten sich träge Lavaströme dahin, und
die gähnende Öffnung des Kraters kam immer näher. Zamorra betätigte den Auslöser. Ein blassroter, nadelfeiner Strahl löste sich aus der Mündung und fräste sich in den Feuerwehrschlauch. Der Parapsychologe spürte einen brennenden Schmerz an seinem Fußgelenk und biss die Zähne zusammen. Schweiß trat auf seine Stirn. Endlich war es soweit. Zamorra befreite seinen Fuß aus den rauchenden Überresten des Schlauchs. Gerade noch rechtzeitig, wie er feststellte. Nur noch wenige Meter trennten den Löschzug noch von dem rauchenden Krater. Der Meister des Übersinnlichen stieß sich vom Wagen ab. Der felsige, zerklüftete Boden raste auf ihn zu. Zamorra riss im letzten Moment schützend den Arm vor das Gesicht. Dann war da gar nichts mehr.
* Langsam erholte sich Malforga in seiner feurigen Gruft von dem mentalen Schock, den ihm der Tod seines Dieners versetzt hatte. Der uralte Dämon schäumte vor Wut. Durch die Augen des Magma-Geschöpfs hatte er die Ereignisse in Brienza mitverfolgt, als sei er persönlich vor Ort gewesen. Nie hätte der Dämon gedacht, dass sich die Mitglieder der Loge einmal gegen ihn auflehnen könnten. Generation um Generation war ihm treu ergeben gewesen. All die Jahrhunderte über hatten sie ihm gedient! Doch dann waren diese Fremden gekommen! Malforga erinnerte sich an die Waffen des seltsamen Pärchens. Es hatte ihn ein Höchstmaß schwarzmagischer Energien gekostet, seinen Diener so lange gegen die beiden bestehen zu lassen, und nun fühlte sich der Dämon schwach und müde.
Zerknirscht gestand sich Malforga ein, dass es ein Fehler gewesen war, keine stärkere Kontrolle über das Dorf auszuüben und sich nicht von Zeit zu Zeit zu vergewissern, was in der Welt um ihn herum geschah. Nun war es zu spät! Sowohl sein gerade erst erschaffener Diener als auch die Loge des Feuers waren vernichtet. Wütend stieß der gewaltige Dämon ein Schnauben aus. Sein Körper blähte sich auf, als er weitere schwarzmagische Energien für eine letzte, gewaltige Eruption des Vulkans sammelte. Seine glühenden Augen blickten nach oben. Das fahle Licht der Sterne fiel durch die Krateröffnung zu ihm herab. Malforga lächelte grimmig. Doch im nächsten Moment gefror seine Miene. Etwas Gewaltiges schob sich vor den Sternenhimmel. Während sich der uralte Dämon noch fragte, was er da eigentlich sah, kippte das riesenhafte schwarze Etwas über die Felskante und stürzte in den Krater hinein.
* Die blutverschmierten Lippen Gregantis waren zu einem grimassenartigen Grinsen verzerrt, als er ein letztes Mal das Gaspedal betätigte und den Wagen über die Felskante steuerte. Durch die Frontscheibe des Löschzugs sah er nun das abstoßende Gesicht des Dämons auf sich zurasen. Nun würde seine Terror-Herrschaft ein Ende finden. Brienza würde endlich den Frieden erleben, von dem es seit über 300 Jahren träumte. Gregantis Bewusstsein verdunkelte sich angesichts des bevorstehenden Sieges, als die unerträgliche Hitze seine Sinne vernebelte. 16 Tonnen Stahl, 5000 Liter Wasser – und alles für dich! Greganti lachte wild, als ihm dieser letzte Gedanke durch den
Kopf schoss. Dann schlug der gewaltige Löschzug in den Körper des Monsters ein. Der Dämon wurde tief in die Lava-Massen gedrückt. Unerträgliche Schmerzen rasten durch seinen unförmigen Körper – Schmerzen, die noch größer wurden, als er die Wirkung der Segnung spürte, mit der man das Fahrzeug bedacht hatte. Malforga stieß ein qualvolles Heulen aus. Der im Wagen befindliche Treibstoff explodierte unter der Einwirkung der gewaltigen Hitze. Für ein Wesen, das im Feuer lebte, war dies eigentlich unerheblich, doch im Zusammenspiel mit dem gesegneten Wasser aus den Tanks des Wagens, das zischend verdampfte und den Krater mit einem tödlichen Nebel erfüllte, ergab sich ein Inferno sondergleichen. Im letzten Moment seiner bewussten Existenz verfluchte es Malforga abermals, sich nicht gründlicher um die Vorgänge in der Menschenwelt gekümmert zu haben. Dann wurde es Nacht um ihn …
* Ein klatschendes Geräusch, verbunden mit brennenden Schmerzen auf seiner Wange, riss Zamorra aus seiner kurzen Bewusstlosigkeit. Seine Augenlider flatterten. Er erkannte Nicole über sich. Sie musste ihm sofort gefolgt sein. Ehe sie ihm eine weitere Ohrfeige verpassen konnte, hatten sich blitzartig seine Finger um ihr Handgelenk geschlossen. »Ich bin wach«, gurgelte er und versuchte sich aufzurichten. Sofort sackte er wieder zusammen. Immer noch drehte sich alles vor seinen Augen. Unsanft riss Nicole ihn vom Boden hoch. »Komm schon, wir müssen hier weg!«, rief die Französin. Torkelnd kam Zamorra auf die Füße. Im nächsten Moment erschütterte eine weitere Explosion den uralten Berg. Gelbe Stichflam-
men schossen meterhoch in den dunklen Nachthimmel hinein. Für einen kurzen Moment war der Parapsychologe geblendet. Die dichten Rauchwolken trieben ihm Tränen in die Augen. Er hustete. »Was ist passiert?«, fragte er, während er von Nicole gestützt den Abhang hinuntertaumelte. »Erklär ich dir später«, wehrte die Französin ab. Endlich erreichten sie den kleinen Leihwagen. Erleichtert ließ sich der immer noch angeschlagene Zamorra in die Polster fallen, während sich Nicole hinter das Lenkrad schwang und scharf wendete. Als sie kurz darauf im Ort ankamen, fühlte sich Zamorra etwas besser. Nicole lächelte ihn an und streichelte zärtlich über seine rußverschmierte Wange. In knappen Worten erklärte sie ihm, was vorgefallen war. Zamorra keuchte. »Hat es denn funktioniert?«, fragte er schwer atmend. Das Grollen des Berges hatte sich beruhigt, doch das hatte nichts zu sagen. Ohne Nicoles Antwort abzuwarten, griff er an seine Brust. Nachdenklich streichelte er über das Amulett. Merlins Stern nahm keine Spuren schwarzmagischer Aktivitäten mehr wahr. »Es ist vorbei«, beantwortete Zamorra seine eigene Frage. Die beiden Dämonenjäger stiegen aus dem Wagen und sahen sich um. Die Menschen waren immer noch in heller Panik, dennoch war nicht zu übersehen, dass die Lava das Dorf wohl nicht mehr erreichen würde. Zamorra ließ seinen Blick über die zäh fließende Lava abseits der Straße schweifen, deren Fluss ins Stocken geraten war. »Die Lava kühlt ab«, stellte er fest. Jetzt, da der dämonische Einfluss geschwunden war, schien sich der Berg langsam zu beruhigen. »Ich denke, das Dorf ist sicher!« Ein raues Lachen unterbrach Zamorras Überlegungen. Die beiden Dämonenjäger fuhren herum. Sie waren nicht sonderlich erstaunt, als sie die greise Wirtin hinter sich stehen sahen. Die alte Frau stützte sich auf ihren Gehstock und blickte sie aus funkelnden Augen an.
»Für den Augenblick vielleicht«, erklärte sie dann. Zamorra runzelte die Stirn. »Was meinen Sie?« Die Greisin verzog das Gesicht. »Ich lebe lange genug in diesem Dorf, um zu wissen, dass das Böse immer nur schläft. Auch wenn es jetzt noch so aussehen mag, als sei Malforga bezwungen: Der Dämon wird wiederkehren. Er kehrt immer wieder!« Abermals streichelte Zamorra nachdenklich über sein Amulett. Zwar nahm er keine schwarzmagischen Strömungen mehr wahr, doch er wusste, dass dies unter Umständen nicht viel zu bedeuten hatte. Dennoch zwang er sich trotz seiner Schmerzen zu einem Lächeln. »Wenn sich in diesem Vulkan je wieder etwas Böses regen sollte, rufen Sie uns«, bot er an. »Wir werden vorbereitet sein!« Die Greisin nickte. Ihre Miene wurde noch eine Spur grimmiger. »Ich auch«, antwortete sie dann. Zamorra und Nicole verspürten das dringende Bedürfnis, der alten Frau, die nur für ihren Hass auf den Dämon zu leben schien, etwas Tröstendes zu sagen, doch die Worte erstarben ihnen auf den Lippen. Stumm blickten sie sich an. Ohne weiter auf eine mögliche Antwort zu warten, wandte sich die greise Wirtin ab und humpelte zurück zur Kirche. »Ich weiß nicht, wie es dir geht«, sagte Zamorra schließlich, »aber ich muss erst einmal zu einem Arzt!« Nicole nickte. »Wir sollten den Ort im Auge behalten«, murmelte sie. Zamorra massierte mit einer Hand seine schmerzende Schulter. »Allerdings«, gab er zurück. Es gab für seinen Geschmack eindeutig zu viele ungelöste Rätsel. Der Parapsychologe spürte, wie seine Knie wieder weich wurden. »Lass uns fahren«, schlug er vor. Nicole öffnete die Tür und blinzelte Zamorra über das Wagendach hinweg an.
»Zurück nach Terni?«, fragte sie. Der Meister des Übersinnlichen nickte. »Vielleicht fällt uns ja unterwegs eine gute Geschichte ein, die wir Guiseppe auftischen können, ohne dass ihm gleich die Augen aus dem Kopf fallen.« Nicole kicherte und schwang sich hinter das Lenkrad. »Warum habe ich nur das Gefühl, dass du dich dabei wieder auf meinen weiblichen Charme verlassen wirst?« »Das gehört eben zu deinem Arbeitsplatz-Profil als Sekretärin eines bekannten Parapsychologie-Professors.« Nicole lachte glockenhell auf. »Erinnere mich daran, dass wir uns demnächst noch einmal über meine Gehaltsvorstellungen unterhalten!« Ohne eine Antwort abzuwarten, trat sie das Gaspedal durch … ENDE
Besuch aus der Hölle von Christian Montillon »Wir töten ihn!«, krächzte eine der beiden düsteren Gestalten. Unter ihrer schwarzen Kutte schob sich eine braun geschuppte Klaue mit gekrümmten Fingern hervor. Die Klinge eines Dolches blitzte auf und näherte sich der Kehle eines auf einer Wiese liegenden Mannes. Gerade als die Klinge den Hals des Ohnmächtigen berührte, ging eine unauffällige Blume direkt neben seinem Kopf in Flammen auf. Die Blume verbrannte nicht, und das Feuer nahm ihre Konturen an. Es zerfaserte an den Rändern und bildete Ausläufer, die nach den Schreckensgestalten griffen. Andrew Millings wachte schreiend auf, und die Traumbilder verblassten.