Ursel Scheffler
Zeichnungen von Angela Weinhold
Loewe
Scheffler, Ursel: Lucy und die Vampire/Ursel Scheffler. 2. Au...
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Ursel Scheffler
Zeichnungen von Angela Weinhold
Loewe
Scheffler, Ursel: Lucy und die Vampire/Ursel Scheffler. 2. Aufl. - Bindlach: Loewe, 1991 ISBN 3-7855-2422-6
Inhalt Ankunft im Nebel .................................... Das seltsame Erbe ................................... Wartezeit ................................................. Neue Freunde .......................................... Die lästige Zahnspange ........................... Die Lehrzeit.............................................. Lucy verwandelt sich gern ...................... Die Vampire kommen ............................. Eine grausige Entdeckung ....................... Der Tanz der Vampire ............................. Bauchschmerzen ...................................... Der alte Dachboden ................................. Die Beisetzung ........................................ Eine überraschende Entdeckung .............. Ein Brief und ein Besuch .........................
ISBN 3-7855-2422-6 - 2. Auflage 1991 © 1991 by Loewes Verlag, Bindlach Umschlagzeichnung: Angela Weinhold Umschlagtypographie: Creativ GmbH Kolb, Leutenbach Satz: Teamsatz, Neudrossenfeld Gesamtherstellung: Offizin Andersen Nexö GmbH, Leipzig Printed in Germany
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Ankunft im Nebel Lucy und ihre Mutter sitzen in einem Eisenbahnabteil zweiter Klasse. Wie ganz gewöhnliche Passagiere. Lucy hat den Kopf in den schwarzen Umhang ihrer Mutter gelegt, der in der Fensterecke hängt. Sie schläft. Kein Wunder, daß sie müde ist. Sie haben eine sehr, sehr lange Reise hinter sich. Es ist kalt. Eisblumen überziehen die Fensterscheiben. Der Zug hält an einem Signalmast. Lucys Mutter haucht ein Loch in die Eisschicht. Jetzt kann sie die Bäume am Bahndamm sehen, die ihre knorrigen Äste blattlos gegen den bleigrauen Himmel recken. Da erklingt ein schriller Pfiff. Die altersschwache Lok fährt ruckartig an und schleppt ihre Wagen weiter ins schottische Hochland hinauf. Nebel zieht auf. Gegen elf Uhr hält der Zug mit quietschenden Bremsen am Bahnhof von Little Riddle am Griddle. Man kann das Bahnhofsschild im Dunst kaum erkennen. „Wir sind da, mein Kind!" ruft Lucys Mutter. Lucy schlüpft rasch in ihren dunklen Wollmantel. Die Mutter legt den schwarzen Umhang um und stellt den Kragen hoch. Sie trägt fast immer Schwarz, seit ihr Mann Nicolai nach einem Unfall an einer Blutvergiftung gestorben ist. 11
Dann holt sie den Koffer und die Reisetasche aus dem Gepäcknetz. Lucy nimmt ihr kleines rotes Köfferchen und einen Vogelkäfig, der mit einer dicken Decke verhängt ist. Es steigen nur wenige Leute aus. „Kann ich Ihnen helfen?" fragt ein freundlicher Mann. Seine vom Wetter zerzausten Haare und die kräftige Gesichtsfarbe verraten, daß er sich viel im Freien aufhält. Er greift nach Koffer und Tasche und verstaut sie auf einem Gepäckwagen, wo sich bereits ein bauchiger Postsack befindet. „Oh, danke", sagt Lucys Mutter. „Keine Ursache", brummt der Mann und schiebt den Wagen am Bahnsteig entlang bis zu dem bescheidenen grauen Stationsgebäude. Er mustert die beiden Damen unauffällig von der Seite. Die Neugierde plagt ihn. „Sie sind fremd hier, nicht wahr?" Fanny nickt. „Und Sie leben schon länger hier?" „Ich bin hier geboren und kenne Little Riddle am Griddle wie meine Hosentasche. Schon von Berufs wegen: Ich bin nämlich hier Postbote!" Der Mann lächelt stolz. „Wie gut, daß wir Sie getroffen haben", meint Lucys Mutter. „Vielleicht könnten Sie uns behilflich sein?" „Aber immer!" versichert der freundliche Briefträger und
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grinst so breit, daß man seine Zahnlücke sieht. „Mein Name ist übrigens Stamp." „Ich heiße Fanny Rankenstein, und das ist meine Tochter Lucy", sagt Lucys Mutter. „Wir haben eine lange Reise hinter uns und möchten als erstes zum Gasthof Fledermaus. Vielleicht könnten Sie uns den Weg zeigen?" „Klar, die Fledermaus' gehört meinem Freund Old Bat. Eine nette Kneipe. Mein Stammlokal. Liegt gleich neben der Post." „Ich dachte, es ist ein Hotel? Wir haben ein Zimmer bestellt", meint Fanny irritiert. Der Postbote schmunzelt: „Dann haben Sie praktisch das ganze Hotel reserviert. Die haben nämlich bloß ein Zimmer. - Werden Sie länger bleiben?" „Das kommt darauf an. Vielleicht für immer" antwortet Fanny Rankenstein. Sie zieht ein Telegramm aus der Reisetasche. „Wir sind die Erben von Frank N. Stone. Kannten Sie ihn? Er hat uns sein Haus hinterlassen." „Ooooh" sagt der Postbote erschrocken. „Mein herzliches Beileid!" Und dann hat er es plötzlich sehr eilig. „Dort ist schon die /Fledermaus'", murmelt er noch und zeigt in die Richtung, dann zieht er den Mantelkragen bis über beide Ohren und verschwindet so plötzlich im Nebel, wie er aufgetaucht ist.
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Das seltsame Erbe Nachdem Lucy und Fanny Rankenstein das kalte, ungemütliche Hotelzimmer bezogen haben, machen sie sich auf den Weg zum Rathaus. Der Nebel hat sich verzogen. Das Gebäude mit dem düsteren Holztor liegt im fahlen Licht der Wintersonne auf der anderen Seite des Dorrplatzes. Der Bürgermeister erwartet sie schon. Postbote Stamp hat offenbar nicht nur die Post, sondern auch die Nachricht von der Ankunft der Rankensteins ausgetragen. McRony studiert aufmerksam die Visitenkarte, die ihm die fremde Dame zwischen ihren spitzen, rotlackierten Fingernägeln vor die Nase hält.
„Soso. Sie sind also Fanny Rankenstein, die Cousine des Verstorbenen Frank N. Stone?" sagt der Bürgermeister und mustert die Besucherin interessiert. „So ist es", sagt Fanny Rankenstein. „Und das ist meine Tochter Lucy." 15
„Ein trauriger Anlaß, der Sie hierherführt" meint der Bürgermeister. „Zumal der Tod Ihres Vetters sehr rätselhart war. Wir können Ihnen nicht einmal sagen, wie und wo genau der Verblichene seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Sein Abschied ist so geheimnisvoll wie sein Auftauchen, damals vor 33 Jahren. Wir haben nur seine Schuhe gefunden - am Rande des Teufelsmoores. Und seinen Regenschirm. Sein Testament hatte er schon vor einigen Jahren hier verwahren lassen. Ein kluger Entschluß..." Der Bürgermeister räuspert sich. „Heißt das, daß er kein Grab hat? Keinen Sarg?" erkundigt sich Fanny bestürzt. „So ist es", entgegnet McRony. „Oh, das wußte ich nicht", murmelt Fanny Rankenstein, und es klingt ein wenig besorgt. „Nun, mit den Gräbern ist das so eine Sache. Manchen Leuten liegt daran und manchen weniger", stellt der Bürgermeister achselzuckend fest. „In unserer Familie legt man auf eine ordentliche Bestattung großen Wert", erklärt Fanny energisch. „Ein Sarg muß bequem sein. Der ist doch für immer", bemerkt Lucy. Fanny zieht die linke Augenbraue hoch und wirft ihrer Tochter einen überraschten Blick zu. Der Bürgermeister ist in Gedanken noch bei dem rätselharten Todesfall und überhört glücklicherweise
die seltsame Bemerkung Lucys. „Wie sollten wir ihn denn beerdigen?" erklärt er. „Wahrscheinlich liegt er auf dem Grunde des Moores, wie viele Unglückliche aus dieser Gegend ... Auf der Bank am Galgenbaum saß er oft. Er liebte die Natur. Vor allem bei Nacht. Er pflegte die Fledermäuse im alten Turm wie andere Leute ihre Brieftauben. Deshalb hat er wohl auch in seinem Testament bestimmt, daß Sie sein Landhaus nur erben, wenn Sie sich um diese Tiere besonders gut kümmern." „Das tun wir gerne!" ruft Lucy begeistert. „Ich mag Fledermäuse!" Der Bürgermeister blickt verwundert auf das etwa zehnjährige Mädchen, das er bisher gar nicht beachtet hat. Dann steht er auf, streicht über seinen rundlichen Bauch, den er seiner Vorliebe für italienische Teigwaren verdankt, und tritt ans Fenster. „Sehen Sie das Haus mit dem Turm neben der dunklen Eichengruppe auf dem Hügel? Das ist Rickety Hill Hall!" „Sieht sehr eindrucksvoll aus. Wenigstens aus der Ferne", findet Fanny. „Fast wie ein kleines Schloß." „Ein Schloß? Das war es einmal. Vor hundert Jahren, als die Erbauer des Anwesens, die Lords von Ness, noch eine der reichsten und angesehensten Familien der Gegend waren. Jetzt sieht es erbärmlich aus", knurrt McRony verächtlich. „Sie werden viel renovieren müssen, um überhaupt darin wohnen zu können.
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Schon der neunte Lord Ness, der das Haus vor Mr. S tone besaß, hat es ziemlich verkommen lassen. Lord Ness hatte nur noch seine Forschungsarbeit im Kopf." Eine Krähe fliegt draußen am Fenster vorbei und nimmt auf der gegenüberliegenden kahlen Blutbuche Platz. „Die Landschart gefallt mir", sagt Fanny. „Sie erinnert mich an zu Hause. Ich denke, wir bleiben!" „Sie sollten sich erst entscheiden, wenn Sie alles gesehen haben. Außerdem sind da noch einige andere merkwürdige Bedingungen in diesem seltsamen Testament enthalten, die ich mit Ihnen durchsprechen muß."
McRony zuckt bedauernd mit den Schultern und rügt hinzu: „Sie müssen das Erbe ja nicht antreten ..." Er blättert in dem Testament und verliest es Seite um Seite. Lucy gähnt. Sie versteht nur die Hälfte. Am seltsamsten findet sie, daß Onkel Frank in seinem Testament verlangt, daß Mama weder die Wäschekammer noch den Dachboden aufräumt und daß sie mit seinen Tomatensaftkonserven sparsam umgeht. „Und der alte Schrank in der Diele darf keinesfalls geöffnet oder gar verkauft werden", verkündet der Bürgermeister zum Schluß. Fanny hat aufmerksam zugehört. Sie ist mit all den schrulligen Nebenbedingungen einverstanden. Sehr zur Verwunderung von McRony. „Ein seltsamer alter Kauz, mein Vetter Frank", sagt sie, als sie unterschreibt. „Sie müssen wissen, daß wir uns zu Lebzeiten nie besonders gut verstanden haben. Er hat mich vor vielen Jahren durch einen Trick um mein großväterliches Erbe gebracht. Deshalb wundert es mich sehr, daß er mich überhaupt als Erbin eingesetzt hat." „Mr. Stone hatte offenbar keine anderen Verwandten", entgegnet der Bürgermeister. „Nachdem er nach Little Riddle am Griddle gekommen war, freundete er sich mit dem letzten Lord Ness an, einem Privatgelehrten. Vor vielen Jahren, als ich noch zur Schule ging, durften wir
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einmal mit unserem Klassenlehrer seine biologischen Sammlungen besichtigen. Schrecklich! Ausgestopfte Tiere, aufgespießte Schmetterlinge und eingelegte Würmer ..." Der Bürgermeister schüttelt sich angewidert, weil ihm schon die Erinnerung Unbehagen verursacht. Er ist Rosenzüchter und liebt das Helle, Schöne. „Und wie wurde mein Vetter Schloßbesitzer?" erkundigt sich Fanny gespannt. „Ganz einfach? Mr. Stone erwarb das Schloß von Lord Ness. Das war kurz bevor dieser von einem Tag auf den anderen verschwand." „Hatte Onkel Frank Freunde hier im Ort - ich meine, außer diesem komischen Lord?" will Lucy wissen. Der Bürgermeister zögert und räuspert sich nervös: „Mr. Stone lebte sehr zurückgezogen und hatte selten Besuch. Er liebte die Einsamkeit. Er hatte allerdings einige sonderbare Gewohnheiten und benahm sich anders als andere Leute. Manche im Dorf sagten, daß er, äh, nun ja..." „Sie meinen, daß er im Kopf nicht ganz richtig war?" hilft ihm Fanny weiter. „Wenn Sie es so ausdrücken wollen", murmelt McRony verlegen. „Das hat er von Opa! Der war auch ein bißchen komisch" ruft Lucy dazwischen.
„Pssscht, Lucy!" zischt Fanny ärgerlich. „Laß Opa aus dem Spiel! Hier geht es um Onkel Frank!" „Ich wollte nur, daß Sie wissen, was die Leute so reden, ehe Sie sich für das Erbe entscheiden", entschuldigt sich McRony und mustert Fanny über den Rand seiner Halbbrille. Fanny nickt entschlossen: „Ich denke schon, daß wir es annehmen. Aber zuvor möchten wir uns das alte Gemäuer gern ansehen!" „Gut. Ich werde Sie persönlich nach Rickety Hill Hall bringen, damit Sie sich ein Urteil bilden können."
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Wenig später stehen Fanny und Lucy vor dem ehemaligen Landsitz derer von Ness. Er ist wirklich in einem erbärmlichen Zustand. Der Regen tropft durch das Dach. Die Mauern sind rissig. Die Fensterscheiben sind zum Teil zerbrochen. Überall ist es feucht, und die Tapeten lösen sich schon von den Wänden. Ein Paradies für Spinnen, Käfer und Kakerlaken! Der Keller ist feucht und voller Ratten. Doch das alles scheint Fanny und Lucy Rankenstein nicht abzuschrecken. Als der Bürgermeister sie schließlich in den Turm führt, wo die Fledermäuse kopfüber im Dachgebälk hängen, ruft Lucy sogar entzückt: „Sind die nicht niedlich? Mausi wird sich freuen, wenn sie hier neue Freunde findet."
Verwirrt schaut der Bürgermeister von Lucy zu Fanny und von Fanny wieder zu Lucy. „Wir sind sehr tierlieb", erklärt Fanny und lächelt freundlich. „In manchen Gegenden Europas sind diese nützlichen Tiere durch die Unvernunft der Menschen leider schon ausgestorben." „Mag sein", murmelt McRony und verläßt rasch den Turm. Er spendet zwar für den Tierschutzverein, aber Fledermäuse sind nicht sein Fall.
Wartezeit Nachdem sich Fanny und Lucy entschieden haben, das ungewöhnliche Erbe anzutreten, schmieden sie sogleich Pläne für den Wiederaufbau von Rickety Hill Hall. McRony empfiehlt ihnen zuverlässige Handwerker. McBrick, der Maurer, Woodstock, der Schreiner, und Molly Flash, der Elektriker, gehen den Rankensteins tatkräftig zur Hand. Malen und Tapetenkleben übernehmen Fanny und Lucy selbst. Während der Bauarbeiten wohnen Fanny und Lucy bei Old Bat im Dorfgasthof. Dort lernen sie nach und nach die meisten Dorfbewohner kennen. Die Stammgäste der Kneipe erzählen ihnen auch allerlei über den verstorbenen Verwandten. „Jaja, der verrückte Frank hat lange Jahre im Keller eine Druckerei gehabt und seltsame Schriften gedruckt", erzählt Jimmy Woodstock. „Ich weiß es, denn ich hab' einmal ein großes Regal für ihn gezimmert." Von einem Ziegenbock und einer schwarzen Katze mit glühenden Augen berichtet Molly Flash. Einige behaupten sogar, er habe mit dem Teufel einen Pakt geschlossen und der hätte ihn schließlich auch geholt. Old Bat ist überzeugt, der Verstorbene müsse so etwas wie ein Zauberer gewesen sein, denn man habe ihn früher des öfteren nachts mit 23
ausgebreitetem Regenmantel um den Turm fliegen sehen. „Ach, was die Leute so reden, wenn einer anders ist als sie", sagt Fanny leichthin und tut das Gerede der Leute als Schauermärchen ab, schon um Lucy nicht zu erschrecken. Aber die spitzt wißbegierig die Ohren und läßt sich keine Einzelheit entgehen. Sie mag Schauermärchen so gern wie andere Kinder Gummibärchen. Eines Abends erzählt Fanny ihrer Tochter, daß Onkel Frank schon immer gerne gedruckt hat und einmal sogar wegen eines Druckfehlers ins Kittchen gesteckt wurde. Sie erzählt Lucy allerdings nicht, daß es sich bei diesem Druckfehler um eine Null gehandelt hat, die er auf Falschgeldscheinen aus Versehen zuviel gedruckt hatte. Man soll schließlich über Tote nichts Schlechtes reden. Aber bald hören die Leute auf, den Rankensteins Schauriges von Frank N. Stone zu erzählen: Denn nichts ärgert einen Geschichtenerzähler mehr als ein Publikum, das bei Gruselgeschichten keine Gänsehaut bekommt...
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Neue Freunde Endlich ist es soweit: Rickety Hill Hall kann bezogen werden! Die Fenster sind verglast und die Türen abgedichtet, die Wände gestrichen oder mit Tapeten beklebt, und im Kamin prasselt ein gemütliches Feuer. So läßt es sich aushalten! Die Leute von Little Riddle am Griddle beobachten zunächst neugierig alles, was die neuen Bewohner des alten Hauses so treiben. Aber es passiert zu ihrem Bedauern nichts Ungewöhnliches, Unanständiges oder Aufregendes. Die Rankensteins scheinen ganz normale Leute zu sein. Ein wenig enttäuscht wenden sich die Little-Riddle-amGriddler wieder ihren Alltagsgeschäften zu. Nach den Ferien muß Lucy zur Schule. Die HumptyDumpty-High-School von Little Riddle am Griddle liegt am anderen Ende des Ortes. Doch Lucy macht der weite Weg nichts aus. Sie freut sich, daß sie endlich andere Kinder treffen wird. In ihrer neuen Klasse fühlt sie sich bald heimisch. Warum auch nicht - schließlich ist sie ein Kind wie jedes andere: Sie ist nicht ungewöhnlich hübsch, nicht außergewöhnlich groß, nicht überdurchschnittlich klug und nicht übermäßig vorlaut. Aber sie hat ein zauberhaftes 25
Lachen. Sie ist: vergnügt und macht gern Unsinn. Deshalb ist sie bei ihren Mitschülern bald beliebter als bei ihren Lehrern. Einige ihrer Klassenkameraden findet Lucy besonders nett: Alf, den Sohn des Apothekers, zum Beispiel, der eine bemerkenswerte Blutegelsammlung hat. Und Roxane, die Tochter des Postboten Stamp, die weiße Mäuse züchtet. Und Alice, die Tochter von Bürgermeister McRony, die besser Grimassen schneiden kann als ein Clown. Einmal, als sie nach dem Turnunterricht auf der Wiese hinter der Schule hocken, erzählen sie von zu Hause. Alice verrät, daß sie den Bürgermeister McRony daheim „Makkaroni" nennen, weil er so gerne Nudeln ißt, und daß ihr Vater sie einmal tüchtig verdroschen hat, als sie Seifenpulver in den Parmesankäse getan hatte. „Richtig geschäumt hat er!" erinnert sich Alice kichernd. Roxane schildert, wie sie einmal mit ihren weißen Mäusen die Freundinnen ihrer Mutter auf Tisch und Sofa gescheucht hat. Alf berichtet von seinen Blutegeln, mit deren Hilfe er gerne furchtsame Leute erschreckt, und daß er „Alf der Elfte" genannt wird, weil er der elfte in der Familie ist, der den schrecklichen Namen Alfons trägt. 26
Lucy erzählt von Mausi, die sie von ihrer Heimat Transsilvanien im Vogelkäfig bis nach Little Riddle am Griddle geschleppt hat: „Ich mag sie sehr. Und ich bin froh, daß sie jetzt in unserem Haus frei herumfliegen kann! Leider schläft sie tagsüber und wird nur nachts munter." „Genau wie mein Hamster Humphrey", sagt Willi, der Sohn des Maurers. „Mausi? Ist das nicht ein komischer Name für einen Vogel?" fragt Alice. Da erklärt Lucy, daß Mausi eigentlich eine „Fledermaus!" ist. „Na ja. Nicht unbedingt mein Fall", meint Alice. „Aber immer noch besser als Blutegel!"
Die lästige Zahnspange Eines Morgens im Mai kommt der Schulzahnarzt. Er heißt Dr. Acula und überprüft im Regierungsauftrag einmal jährlich die Zähne der Schulkinder. Nach eingehender Untersuchung stellt er fest, daß Lucy eine Zahnspange haben muß, genau wie Alf und Alice und viele andere Kinder der Humpty-Dumpty-High-School in Little Riddle am Griddle. Davon ist Lucy ganz und gar nicht begeistert. Als sie die Spange zum erstenmal in der Schule trägt, ist es, als ob sie das Sprechen neu lernen müßte. Sie lispelt und kommt sich ziemlich blöd vor. Glücklicherweise fällt das nicht weiter auf, denn den meisten ihrer Leidensgenossen geht es ähnlich. Aber das Schlimmste steht ihr noch bevor... „Maaamiii! Ich kann nicht schlafen!" ruft Lucy mitten in der Nacht. Sie ist aufgewacht, weil ihr Kiefer schmerzt. Die blöde Zahnspange drückt, und an den Druckstellen schmeckt sie Blut. Warum kommt die Mami nicht? „Huhuuu", heult Lucy und läuft ins Badezimmer. Sie nimmt die Spange heraus und sieht in den Spiegel. Da entdeckt sie in ihrem Mund am Oberkiefer zwei kleine weiße Höcker, die dort gar nicht hingehören.
Deshalb drückt die Klammer, und deshalb blutet das Zahnfleisch! Lucy ist nicht schreckhaft — aber diese neuen Zähne sind ihr unheimlich! „Maaamiiiiiii!" brüllt Lucy noch mal aus vollem Hals. Endlich kommt Fanny. „Maaamiii, sieh doch, da wachsen Zähne!" jammert Lucy. Aus ihrem Oberkiefer ragen jetzt deutlich sichtbar zwei spitze Eckzähne. Das Spiegelbild verschwimmt vor ihren Augen. „Mir wird schwindelig!" jammert Lucy. Auch das Spiegelbild der Mutter kann sie jetzt nicht mehr erkennen!
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„Eines Tages mußtest du es erfahren, mein Kind!" erklärt Fanny ernst. „Allerdings bist du mit deinen zehn Jahren sehr früh dran mit dem Zahnen, ich meine, mit dieser besonderen Art von Zahnen. Das ist nämlich so.. ." Sie sitzt auf dem Rand der Badewanne und hat den Arm um ihre Tochter gelegt. Weil sie dabei verlegen lacht, sieht Lucy, daß auch die Mutter zwei spitze Eckzähne hat, die sie noch nie an ihr bemerkt hat. „Diese Zähne sind ein altes Familienerbstück", beginnt Fanny. „Ich weiß nicht genau, wie ich es am besten erklären soll. Einer in unserer Familie war einmal ... Ah, wir stammen aus einem Land, in dem ..." „Sag bloß, wir sind Vampire?" ruft Lucy aufgeregt. „Aber - woher weißt du das?" „Aus dem Fernsehen. Wir Kinder leben ja schließlich nicht hinterm Mond", sagt Lucy großspurig. Auf einmal ist sie wieder ganz mutig. „Vampirfilme finde ich toll. Vampire auch. Bloß sollten Vampire keine Zahnspangen kriegen!" „Da hast du recht", seufzt Fanny betrübt. „Ich dachte nur, durch die Spange wird diese kleine ... äh, klitzekleine Besonderheit vielleicht weniger auffallen." „Wenn wir schon etwas Besonderes haben, warum sollen wir nicht stolz darauf sein?" entgegnet Lucy. „Also war mir gar nicht schwindelig, als ich mein Spiegelbild nicht mehr
sehen konnte und deines auch nicht - es ist, weil..." „Genau", bestätigt Fanny. „Es ist, weil wir, wenn wir vampirisch werden, einfach kein Spiegelbild mehr haben." Lucy springt aufgeregt in die Höhe. „Sag mal, kann ich jetzt fliegen?" „Zeitweise", sagt Fanny zögernd. „Wir haben im Laufe der Jahrhunderte unsere Eigenschaften etwas verändert. Wir gehören zu der Art der gutmütigen Halbvampire, die tagsüber wie normale Menschen leben und aussehen. Bloß nachts ..." „Jippiii!" jubelt Lucy begeistert und hört gar nicht mehr zu. „Fliegen! Ich will fliegen! Komm, laß es uns gleich probieren." „Nimm erst eine kleine Stärkung", sagt Fanny. Sie holt eine der zahlreichen kraftspendenden Tomatensaftflaschen, die ihnen Onkel Frank vererbt hat. Lucy trinkt einen kräftigen Schluck und fühlt sich seltsam leicht. „Auf dein Wohl, lieber Vetter!" sagt Fanny und prostet dem Ölbild von Frank N. Stone zu, das neben dem Schrank hängt. „Huii, er hat geblinzelt!" behauptet Lucy. „Lucy, ich glaub', du hast einen Schluck zuviel erwischt", ruft Fanny und droht scherzhaft mit dem Finger.
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In der Wand hinter dem Schrank beginnt es zu rumoren. Oder kommt das Geräusch aus der dahinterliegenden Wäschekammer? Lucy lauscht, legt ihr Ohr an die Wand. Aber jetzt ist nichts mehr zu hören ... Ach was, das hat sie sich sicher bloß eingebildet. Das ist bestimmt bloß die Aufregung! Schließlich wird sie jetzt gleich zum erstenmal fliegen ...
„Trotzdem. Sicher ist sicher. Dieser hier schlingert nicht zu stark. Das hab' ich schon ausprobiert." Wenig später stehen Lucy und ihre Mutter auf der Balkonbrüstung. „Los, fliegen wir!" jauchzt Lucy und breitet die Arme aus. „Erst setzt du den Sturzhelm und die Schutzbrille auf. Gewisse Verkehrsregeln muß man auch als Vampir einhalten", ermahnt sie die Mutter. Als es zwölf schlägt, sitzt Lucy vor ihrer Mutter auf dem Besen wie auf einem Mofa. Fanny breitet ihren Umhang aus und stößt sich ab. Dann schweben die beiden geräuschlos in die Nacht hinaus. „Juhu-huhuu-uuh" juchzt Lucy vor Vergnügen, und es klingt wie der Ruf einer jungen Eule.
„Beim erstenmal nehmen wir lieber einen Besen", schlägt Fanny vor. „Da hast du was zum Festhalten." „Aber wir sind doch keine Hexen", protestiert Lucy.
Als Onkel Frank nach England kam, hat er in seinen Personalpapieren ein wenig „herumgefälscht". Er hat an seinem ursprünglichen Namen zwei Kleinigkeiten verändert. Welche???
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Die Lehrzeit Von dieser Nacht an hat Fanny Rankenstein alle Hände voll zu tun, ihre Tochter zu einem ordentlichen Halbvampir auszubilden. „Wir müssen uns vor allem unauffällig benehmen", mahnt Fanny nachdrücklich. „Du meinst: Wir dürfen keinen beißen?" erkundigt sich Lucy, die schließlich nicht auf den Kopf gefallen ist. „Genau. Sonst wird der Verdacht bei jedem Flohbiß, bei jedem Wespenstich, bei jeder rätselharten Schwellung, jeder Blutvergiftung auf uns fallen. Alle Leute werden uns fürchten und hassen. Wir müssen dann fliehen und ruhelos durch die Welt ziehen, so wie wir es nach Papas Tod jahrelang getan haben." „Das wäre schade. Mir gefällt es hier." Lucy runzelt die Stirn. „Warum sind die Menschen so gemein zu Vampiren?" „Das haben wir einigen unserer Verwandten zu verdanken, die einen sehr schlechten Ruf hatten. Offen gesagt haben sie sich manchmal nicht gerade anständig benommen. Wenn ich an meinen Vetter Archibald denke, der damals Notarzt beim Roten Kreuz in Solferino war..." „Was war mit ihm?" 35
„Er hat immer von den Blutkonserven genascht und sich dabei erwischen lassen." „Da können wir doch nichts dafür."
„Da wird nicht lange gefragt. Früher, im Mittelalter, wurden auch anständige Hexen verbrannt oder Leute, die gar keine Hexen waren." „Gemein. Hexen sind doch auch Menschen!" „Nun, man machte sie einfach für alles Schlechte verantwortlich, weil sie anders waren als andere Leute. Und wenn einer etwas Schlechtes getan hat oder im Gefängnis war, dann schaut man auch heute noch gleich die ganze Familie schief an. So sind die Leute nun mal." „Das ist gemein. Das würde ich nie tun", sagt Lucy empört. „Sag mal, was machen Halbvampire, wenn sie nachts Durst bekommen und nicht beißen dürfen?" erkundigt sich Lucy. „Dafür haben wir unsere Vorratsflaschen", sagt Fanny. „Sie stammen von Onkel Frank. Er hat noch einen ganzen Keller voll, voll solcher - äh - Konserven." „Onkel Frank war also auch ..." ' „Na klar", lächelt die Mutter. „Er stammt aus dem Familienzweig der Drucksauger. Da gab es viele berühmte Druckfehlerteufel. Frank hat nicht einmal davor zurückgeschreckt, mehrfach
seinen eigenen Namen zu ,verdrucken'. Und er log auch wie gedruckt, wenn es darauf ankam." „Frank N. Stone. Ach, jetzt klingelt's bei mir", sagt Lucy. „Dann heißt er eigentlich Frankenstein, wie unser transsilvanischer Urahn, der das tolle Labor mit den schwarzen Kröten und weißen Mäusen im Schloßkeller hatte?" Fanny nickt. Gewisse intime Details der Familiengeschichte kennt Lucy inzwischen. Das läßt sich nun mal nicht vermeiden. Schließlich ist sie ein aufgewecktes Mädchen. „Und warum heißen wir Rankenstein?" wundert sich Lucy. „Eine Labormaus hat ein Loch in die Geburtsurkunde deines Großvaters gebissen, genau da, wo das F stand. Nun, ich hoffe jedenfalls, daß Onkel Frank nicht auch solche Experimente gemacht hat wie unsere Vorfahren. Sonst gibt es für seinen rätselhaften Tod vielleicht eine ganz andere Erklärung", bemerkt Fanny nachdenklich. Lucy macht große Augen und flüstert erschrocken: „Du meinst - daß er nicht ins Moor gegangen ist?" „Schon möglich", murmelt Fanny. 37
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Lucy verwandelt sich gern Lucy fühlt sich wohl in Little Riddle am Griddle. Sie hat sich fabelhaft eingewöhnt. Auch in der Schule. Nur eines haßt sie wie die Pest: die Schuluniform. Alle müssen die gleichen blauen Klamotten anziehen und dazu weiße Blusen mit dämlichen grün-blau gestreiften Krawatten. Jeden Tag. Ist es da ein Wunder, daß sie sich immer gleich umzieht, sobald sie von der Schule nach Hause kommt? Lucy hatte schon immer großen Spaß am Verkleiden. Aber jetzt besonders. Sie verwandelt sich in eine Gräfin, eine Hexe, eine Prinzessin, eine Tänzerin, ein Gespenst oder
eine Blumenverkäuferin, je nach Lust und Laune. Manchmal ist sie auch ein wilder Bär oder ein heulender Wolf. Die Kleiderkiste, die sie in der Turmkammer gefunden hat, ist für sie wie eine Schatzkiste. So wirbelt jeden Tag eine andere Lucy durchs Haus. Schade nur, daß keiner mit ihr spielt. Die Klassenkameraden wohnen alle viel zu weit weg. Nachts, wenn Lucy zahnt, geistert sie gerne draußen herum. Wie alle Vampirkinder braucht sie nicht viel Schlaf, denn mit ihren Zähnen wachsen auch ihre Zauberkräfte. Ihr Lieblingsplatz ist der alte Burgturm mit seinen geheimnis-
vollen Kammern und Onkel Franks geliebten Fledermäusen. Kopfüber hängen sie an Deckenbalken und in Mauernischen. Lucy redet mit ihnen so selbstverständlich wie andere mit ihrem Kanarienvogel. Sie kann sie alle unterscheiden. Schließlich hat jede ein anderes Gesicht. Am liebsten mag sie natürlich Mausi, die sie manchmal auch liebevoll „Fledermaus!" nennt. Mausi ist sehr anhänglich. Sobald Lucy im Turm auftaucht, kommt Mausi angeflattert und hängt sich zärtlich an ihre Schulter. Mit irgend jemandem muß Lucy ja schließlich reden, wenn Mama nicht da ist. Und Mama ist nachts oft unterwegs, um Besorgungen zu machen. Mausi ist für Lucy rast wie eine Schwester. Manchmal gruselt sich Lucy ein bißchen, wenn sie allein ist. Sind da nicht zwei Augen, die sie aus dem Dunkel der Nacht beobachten? Und huscht da nicht von Zeit zu Zeit ein flügelschlagender Schatten ums Haus? „Das bildest du dir nur ein", sagt Fanny, wenn ihr Lucy am nächsten Morgen von ihren Beobachtungen erzählt. „Du hast viel zuviel Phantasie, mein Kind!" Einmal, als ihre Mutter wieder auf einem nächtlichen Ausflug ist, kann Lucy nicht schlafen. Draußen heult der Sturm ums Haus. Es blitzt und donnert. Lucy stopft sich die Bettzipfel um die Ohren, weil sie bei dem Krach nicht schlafen kann.
Aber als der nächste Blitz aufzuckt, sieht sie ein bleiches Gesicht am Fenster. Eine Gänsehaut kriecht über ihren Rücken. Aber seltsamerweise fürchtet sie sich nicht. „Komisch", denkt Lucy. „Irgendwie mag ich Gänsehaut."
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Als sich Lucys elfter Geburtstag nähert, hat sie nur einen Wunsch: Sie will ein tolles Fest feiern und alle Freunde aus der Schule dazu einladen. Sie sollen ganz, ganz lange dableiben und möglichst alle bei ihr übernachten. „Da gibt es nur ein klitzekleines Problem", überlegt Fanny, „wir beide dürfen nach Mitternacht den Mund nicht mehr aufmachen." „Wie soll ich da lachen?" fragt Lucy. „Ich kann unmöglich dauernd den Mund zulassen, wenn Alice Faxen macht!" „Ich muß deine Freunde eben unbedingt vor Mitternacht nach Hause bringen", bemerkt Fanny. „Das ist doch bloß der halbe Spaß", murrt Lucy enttäuscht. „Es geht aber nicht anders. Außerdem mögen es normale Eltern nicht gern, wenn Kinder nicht genug Schlaf bekommen." „Sie können ja den ganzen Nachmittag schlafen, damit sie abends munter sind. Oder... Ich hab’ eine Idee!“ ruft Lucy plötzlich. „Wir machen ein Kostümfest. Eine Vampir-
party. Alle sollen sich als Vampire verkleiden, dann fallen wir beide nicht auf." „Aber — die Zähne?" sagt Fanny. „Ich hab' in Barneys Supermarkt ganz billige Plastikzähne gesehen. Die können wir gleich in der Einladung mitschicken, dann haben alle Vampirzähne, und unsere echten wirken unecht." „Keine schlechte Idee! Du bist ein kluges Kind, Lucyschatz." Lucy beginnt sofort mit der Planung für ihr Fest. Sie überlegt, wen sie einladen soll, wie sie den Tisch deckt, was gespielt werden soll und was es an tollen, gruseligvampirischen Speisen und Getränken geben könnte. Am Wochenende entwirft sie die Einladungskarte:
Lucy packt in jeden Briefumschlag ein Plastikgebiß aus Barneys Supermarkt. Sie muß jetzt noch lachen, wenn sie daran denkt, wie dumm Barney geguckt hat, als sie alle seine Plastikzähne haben wollte! Und als sie ihm von ihrem Vampirfest erzählte, schüttelte er verständnislos den Kopf und murmelte: „Kinder, Kinder! Verrückte Idee! Das kommt bloß von diesen dusseligen Fernsehfilmen!"
Der 13. Mai ist da! Eine wilde Horde stürmt den kleinen Hügel nach Rickety Hill Hall herauf. Alf, Ralf, Roxane, Alice, Willi und noch sieben weitere wilde, vampirzahnige Wesen. Zusammen sind sie dreizehn. Das ist Lucys Glückszahl. Lucy steht an der Haustür und wartet gespannt. Schaurig-schön sehen sie aus! So schaurig, daß selbst die Eulen und Fledermäuse erschrocken blinzeln, die normalerweise tagsüber kein Auge aufmachen. „Toll seht ihr aus!" ruft Lucy begeistert. „Es dauert noch ein wenig, bis das Essen fertig ist! Wollt ihr euch vorher in Rickety Hill Hall ein wenig umsehen? In einem richtigen Vampirschloß? Wir haben alles ein bißchen vampirig hergerichtet. Glühbirnen rausgedreht. Geister angeheuert. Spinnweben und Fledermäuse aufgehängt. Wollt ihr mal sehen? Ihr fürchtet euch doch nicht?" „Nöö! Wir wollen uns gruseln!" rufen alle. Auch die, die ein bißchen Angst haben. „Es kann gar nicht schaurig genug sein", behauptet Alf der Elfte. „Vampire kennen keine Angst!" sagt Alice großspurig.
Lucy führt ihre Freunde in den Keller. Hinter einem Regal mit alten Einmachgläsern beginnt ein unterirdischer Gang. Er ist feucht und finster. Wasser tropft von der Decke. Spinnweben streichen über die Gesichter. Ein paar zusätzliche Bindfäden hat Lucy auch aufgehängt. Bei einem Vampirfest ist Schummeln erlaubt. Im Schein der Taschenlampen suchen sich die Kinder ihren Weg und gelangen schließlich in ein Gewölbe. Eine Tür mit Eisenbändern und einem gewaltigen alten Schloß versperrt den Durchgang. „Hier geht es zum Kerker. Der ist unten im Turm", erklärt Lucy und kramt einen riesigen Schlüssel aus der Tasche. „Hier wurden früher Gefangene eingeschlossen. Manche für den schrecklichen Rest ihres Lebens." „Laß uns rasch weitergehen", murmelt Roxane und wickelt sich fester in ihre Jacke. „Helft mir mal", bittet Lucy. „Der Schlüssel läßt sich kaum im Schloß drehen." „Es ist total verrostet. Müßte mal geölt werden", brummt Alf und dreht mit aller Kraft den Schlüssel herum. Quietschend öffnet sich die Tür. „Was - was ist das?" ruft Alice erschrocken. „Knochen", sagt Alf der Elfte mit Grabesstimme und geht zügig weiter.
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Die Vampire kommen
Langsam folgen ihm die anderen. Doch plötzlich hält Alf an. In einer Nische steht eine geheimnisvolle Inschrift an der Wand. Alf hält die flackernde Kerze in die Höhe. Willi runzelt mit der Taschenlampe. Ein Windzug geht durch den Raum. Die Kerze erlischt. Alf versucht vergeblich, ein Streichholz anzureiben. „Mach du mal, ich hab' feuchte Hände!" sagt er zu Alice. Alice ist geschickter. Jetzt brennt die Kerze wieder. Aber dadurch erhellt sich der Inhalt der rätselharten Inschrift auch nicht:
„Was mag das bloß bedeuten?" rätselt Roxane. „Drolmov? Ist das Russisch?" fragt Alice. „Es geht um etwas Geiles für einen Typ namens Bred", vermutet Willi. „Oder etwas, das ein Herr Smit mit zwei komischen 47
Vornamen für einen Herrn Grednit aufgeschrieben hat?" rät Alice. „Autsch!" ruft sie. „Paß doch auf. Alf! Jetzt hast du mir Kerzenwachs auf die Hände getropft!" „Ist ja auch 'ne heiße Sache!" witzelt Willi. „Was das bedeutet, kriegen wir bestimmt nicht so schnell heraus", sagt Lucy. „Es gibt übrigens noch mehr rätselhafte Inschriften im Haus." „Los, wir wollen weiter", drängt Roxane. Sie fröstelt. Bereitwillig folgen alle und sind froh, als sie endlich die Treppe erreichen, die in den Turm hinaufrührt. „Er heißt Fledermausturm" erklärt Lucy. Unnötigerweise. Denn da hört man schon einige der Nachttiere aufgeschreckt davonflattern. Die meisten hängen allerdings noch träge in den Ecken und an den Dachbalken, wie Tabakblätter, die zum Trocknen gebündelt sind. „Huch!" quietscht Willi erschrocken, als eine Fledermaus im Gleitflug über seinen Kopf zum Fenster hinaussegelt. „Psst!" flüstert Lucy. „Fledermäuse haben sehr empfindliche Ohren. Und wenn sie erschrecken und sich in euren Haaren festklammem, ist das nicht zum Lachen!" „Ganz so schaurig habe ich es mir nicht vorgestellt", wispert Alice. „Sind sie wirklich Blutsauger?" erkundigt sich Willi. „Ach was, das sind doch keine echten Vampire wie wir. Sieht man das nicht? Wenn sie aufwachen, sind sie 48
bestimmt hungrig. Wir werden sie füttern, damit sie nachher nicht zum Fressen ins Haus kommen, wenn wir feiern!" erklärt Lucy und schüttet zwei Tüten Fledermausfutter in eine Schüssel, die wie ein Totenkopf aussieht. „Am Ende plündern sie sonst unser Büffet!" Endlich verlassen die Plastikzahn-Vampire den schaurigen Turm. Aber es soll noch schlimmer kommen.
Geheimschriftspezialisten, die kopfstehen, können diesen Spruch von links entziffern. Andere kluge Leute finden die Lösung im Laufe der Geschichte. Wie heißt sie?
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Lucy führt ihre Gäste die schmale Wendeltreppe hinunter. Durch eine kleine Mauerpforte erreichen sie den dunklen Garten. Blaß hängt der Mond über dem Schloß, die Bäume werfen lange Schatten. „Ein hübsches Gartenhaus", sagt Alice, als sie an einem kleinen Steinhaus mit zwei Marmorsäulen vorbeikommen. „Das ist die Familiengruft der Herren von Ness", erläutert Lucy. „Wird aber seit langem nicht mehr benutzt." Alice sagt eine Weile nichts mehr und läuft immer schneller. Lauert da nicht ein Schatten hinter dem Steinbrunnen? Ein warmer Luftzug streift Lucys Gesicht. Jetzt hat auch Alice den Schatten entdeckt. Sie bleibt stehen und hält Lucy am Arm fest: „Da! Hast du das gesehen?" „Nein, war was?" Lucy tut erstaunt. Diese Überraschung war nicht eingeplant. Noch weiß sie selbst nicht, was sie von diesem komischen Phantom halten soll, das immer wieder unvermutet auftaucht und verschwindet. Sie hat das Gefühl, daß Mama mehr weiß. Aber warum sagt sie nichts? Alle atmen auf, als sie endlich wieder das Wohnhaus
erreichen, mit seinen Lichtern, seiner Wärme und Geborgenheit. Im Hausflur duftet es schon verlockend nach dem „Satansbraten", der sich am Spieß dreht. Ein altes Familiengeheimrezept. Als die Kinder an dem alten Eichenschrank in der Diele vorbeikommen, bleibt Willi plötzlich stehen. „Habt ihr das gehört?" fragt er. Jetzt hören auch die anderen ein leises Wimmern. „Ein Stöhnen! Es kommt aus dem Schrank", ruft Alf und rüttelt an der Tür. Aber der Schrank ist verschlossen. „Hast du keinen Schlüssel?" erkundigt sich Ann, die bisher recht schweigsam gewesen ist. „Nein" sagt Lucy. „Außerdem kommt das Wimmern nicht aus dem Schrank, sondern aus dem Raum dahinter. Das ist die alte Wäschekammer. Wir dürfen nicht hinein. Onkel Frank hat es verboten." „Aber wenn einer um Hilfe ruft? Dann muß man helfen" sagt Alice beherzt. „Da kann einer sagen, was er will!" „Wir müssen erst den richtigen Schlüssel finden" murmelt Lucy und kramt im Schlüsselkasten. „Das muß er sein!" sagt Alice und steckt den Schlüssel ins Schloß. Das Wimmern verstummt, als sich die Tür knarrend öffnet.
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Eine grausige Entdeckung
„Da! Es kam aus der Ecke!" ruft Alice aufgeregt. Hinter einem Stapel vergilbter Laken erkennt man die Umrisse einer Gestalt. Jetzt ist selbst Lucy ein wenig erschrocken. „Ich sehe nach", sagt Alf großspurig und räumt einen umgefallenen Stuhl weg, der im Weg liegt. „Ich komme mit", sagt Robert und tappt hinter ihm durch den Staub. Gemeinsam reißen sie die obersten Laken weg. „Hilfe!" ruft Willi und starrt in die Ecke. Alices Blick erstarrt ebenfalls. Sie streckt den Zeigefinger vor und flüstert entsetzt: „Iiiih! Eine Leiche!" „Das ist keine Leiche. Das ist bloß ein Skelett. An einer Leiche ist noch Fleisch dran", bemerkt Lucy sachlich. Roxane bewundert Lucy, weil sie bei dem Anblick des Knochenmannes so cool bleibt. Ein Windstoß schlägt die Tür zu und bringt den Knochenmann in Schwung. Seine Einzelteile klappern. Willi reißt die Tür wieder auf. Alice und Roxane rennen hinaus. Schreiend wollen die anderen Vampire hinterherlaufen. „Bleibt doch hier! Was kann er uns schon tun? Er ist doch mausetot!" ruft Lucy. „Lucy hat recht", sagt Alf. „Wir bleiben." Doch das entsetzte Geschrei von Roxane und Alice holt Fanny Rankenstein aus der Küche herbei, wo sie 53
gerade die Hexensoße für den Satansbraten abgeschmeckt hat. „Was ist denn hier los?" ruft sie erschrocken. „Aber Lucy, du weißt doch, wir sollten nicht in die Wäschekammer ..." „Es hat jemand um Hilfe gerufen!" erklärt Alf. „Er hat um Hilfe gerufen!" Lucy deutet auf das Gerippe. „Blödsinn!" sagt Fanny, als sie das Skelett entdeckt. „Das ist bestimmt nicht echt. Die Knochen sind aus Kunststoff. Es ist ein Modell. So in der Art, wie man es im Biologieunterricht benutzt. Oder wie es in den Studierstuben von Ärzten und Medizinstudenten herumsteht. Man braucht es, um die Namen der Knochen zu lernen. Es gibt noch mehr so altes Zeug hier im Haus. Ausgestopfte Vögel und solchen Kram. Der alte Lord Ness war ein Forscher und Sammler. Biologe, glaube ich." Lucy faßt das Gerippe neugierig an und läßt die Knochenbeine klappern. Die anderen stehen mit weit aufgerissenen Augen daneben und bewundern ihren Mut. Fühlen sich gar nicht wie Plastik an, findet Lucy. Ob die Mutter schwindelt? Am Ringfinger der linken Hand, halb hinter einem Lakenzipfel versteckt, entdeckt sie einen Siegelring mit einem Wappen. Es sieht wie ein Drache aus. Seltsam. Irgendwo hat sie dieses Wappen schon gesehen.
Ob es Onkel Franks Wappen ist? Ob das Gerippe am Ende Onkel Frank ...? Sie kriegt richtig Herzklopfen und beschließt, der Sache später alleine nachzugehen, um die anderen nicht noch mehr zu erschrecken. „Ich glaube, ich kriege Hunger", sagt Lucy. „Wir sollten zum Essen gehen." „Los, kommt!" sagt Alice und schneidet eine ihrer berühmten Grimassen. „Richtig appetitanregend ist das hier!" „Gute Idee", findet auch Roxane. „Ich weiß nicht, ich finde diese Party unheimlich schrill, echt!" sagt Alf voller Anerkennung und macht keine Anstalten, die Kammer schon zu verlassen. Er geht um eine der Ecken des verwinkelten Turmraumes herum. Dort entdeckt er Regale mit Büchern und verstaubten Gläsern. In einer Mauernische steht ein Globus und daneben ein Mäusegerippe. Oder ist es eine Ratte? Alles ist mit Spinnweben überzogen. An der Wand hängen Landkarten, Bilder von Dinosauriern und Flugechsen. „Ich vermute, das ist nicht von unserem Onkel Frank, sondern noch ein Teil der Sammlung des alten Lord Ness", bemerkt Fanny entschuldigend.
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„Ziemlich verstaubt!" findet Alice und bläst ein Staubwölkchen von der Regalkante. „Tja, bis in den Turm sind wir mit unserem Staubsauger noch nicht vorgedrungen", bedauert Fanny. „So ist es viel schöner" sagt Alf. „Hurra, hier gibt's auch eingelegte Blutegel!" Er zeigt begeistert auf eines der staubigen Einmachgläser, die alle „wissenschaftlichen" Inhalt haben. „Schenk' ich dir", sagt Fanny großherzig zu Alf und wendet sich dann mit einem Seufzer wieder den anderen zu, die immer noch mit etwas Scheu neben dem Skelett stehen. Um ihnen die Angst zu nehmen, reagiert sie sachlich: „An diesem Knochenmann kann man übrigens ziemlich viel lernen", bemerkt sie.
Fanny hat Medizin und Alchimie studiert und kennt sich nicht nur mit Blut, sondern auch mit Knochen gut aus! „Wißt ihr zum Beispiel, wie viele Beine der Mensch hat?" Die Kinder sehen sich fragend an. „Babyleicht" antwortet Alice gekränkt. „Denken Sie, wir können nicht bis zwei zählen?" „Falsch geraten! Mehr, viel mehr!" behauptet Fanny und lacht verschmitzt. „Es sind über hundert. Da ist zum Beispiel das Nasenbein, das Wadenbein, das Schienbein, das Jochbein, das Stirnbein, das Schlüsselbein, das Brustbein ..." „Und das Steißbein!" ergänzt Jochen. „Das hab' ich mir vor vier Monaten gebrochen, als ich im Bad auf den nassen Kacheln ausgeglitscht bin." „Das Eisbein!" ruft Joe, der Sohn von Molly Flash. „Das gibt es bloß bei Schweinen", behauptet Alf. „Bei uns gibt es das jeden Sonntag", kontert Joe. „Aber Elfenbein gibt's nur bei Elefanten", sagt Alice. „Und das Hosenbein ist nicht aus Knochen", ergänzt Willi. „Und wer weiß, wo sich diese Knochen in unserem Körper befinden?" fragt Fanny. Durch Fannys „Biologieunterricht" haben die Kinder plötzlich die Scheu vor dem Gerippe verloren. Nachdem sie noch eine ganze Menge „Beine" ausfindig gemacht haben, sagt Willi: „Jetzt möchte’ ich lieber Teufelsbraten, statt weiterraten!“
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„Und ich hab' vampirischen Durst!" gesteht Roxane. „Na, dann kommt! Aber schnell!" ruft Fanny und scheucht die Schar aus der aufregenden Kammer hinaus. Johlend stürmen sie das Büffet. Als alle anderen nur noch Augen für die leckeren Speisen haben, geht Lucy noch einmal zurück in die Wäschekammer. Der Gedanke an den Ring läßt sie nicht los. Sie bläst den Staub von der Knochenhand und entfernt das Schmuckstück. Als daraufhin das Gerippe mit einem leichten Ächzen in sich zusammenfällt, erschrickt sogar die unerschrockene Lucy. Auf dem Boden liegt nur noch ein Knochenhaufen. Lucy flieht aus dem unheimlichen Raum. Wohin mit dem Ring? Sie steckt ihn an den Mittelfinger. Er scheint zu schrumpfen, paßt wie angegossen, und Lucy fühlt sich plötzlich seltsam leicht. Fast schwebt sie durch den langen, dunklen Gang hinüber in das große Kaminzimmer, wo die anderen fröhlich schmausen.
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Der Tanz der Vampire „Kann ich von der Tomatensuppe haben?" fragt Alf. Alice McRony hält sich an Spaghetti und Tomatensoße und hat schon einen blutroten Mund. Sie liebt Nudeln genauso leidenschaftlich wie ihr Vater. Ralf und Roland, Rita und Roy füttern sich gegenseitig mit verbundenen Augen — mit roter Grütze! Sie sehen hinreißend aus. „Hilfe, mein Gebiß!" schreit Rita und reißt das Tuch von den Augen. Dann angelt sie ihre Vampirzähne aus der roten, glitschigen Masse. Fanny schenkt sich inzwischen aus einem Saftkrug ein rötliches Gebräu ein. „Was trinken Sie da?" erkundigt sich Willi. „Sangria*", antwortet Fanny. „Sangria? Das kenne ich aus dem Urlaub", sagt Roxane. „Was ist das?" erkundigt sich Alf der Elfte. „Rotwein mit viel Orangensaft. Es heißt so, weil es blutrot ist. ,Sangre' heißt nämlich ,Blut' auf Spanisch", erklärt ihm Roxane. Das weiß sie, weil sie in den Ferien oft bei ihren Großeltern in Spanien ist.
* Sangria heißt auf spanisch Aderlaß; es ist aber auch der Name für ein schmackhaftes Bowlengetränk!
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„Heute ist es Sangria ohne Rotwein, aber mit viel Blutorangensaft", sagt Fanny. „Echte Vampire mögen nämlich keinen Alkohol." „Ich weiß, was echte Vampire trinken", grinst der vorwitzige Willi. Alf säbelt am Satansbraten herum. „Magst du das Fleisch durchgebraten oder blutig?" fragt er Lucy. „Blutig", sagt Lucy. Aber es gibt nicht nur blutrote Sachen. Es gibt auch phosphorgrünen Glibberpudding, Geisterspießchen, Hexenkringel, Satansknödel, Lakritzemonster und Gummiteufel in sieben verschiedenen Neonfarben. Die Vampire fallen darüber her, als hätten sie sieben Wochen lang in einer staubigen Gruft gefastet. „Jetzt wollen wir spielen!" ruft Lucy schließlich. „Aber was?" fragt Willi. „Lauter tolle Vampirspiele", verspricht Lucy. Als erstes spielen sie Sarghüpfen. Da gewinnt Ralf. Er ist der Sportlichste. Beim Knochenweitwurf gewinnt Roxane. Sie hat den besten Schwung im Arm. Nicht umsonst ist sie der Spielführer der Basketballmannschaft. Beim Mumienverpacken gibt es Gekicher und Geschrei. Alf ist eines der Opfer, das mit Klopapier eingewickelt werden soll, und er ist schrecklich kitzlig. 62
Alice führt eine Luftschlangenbeschwörung vor, und Ralf zaubert ein bißchen. Dann wird die schönste Maske prämiert. Alle finden, daß Alf der Scheußlichste ist. Deshalb bekommt er als Preis einen Heulschlauch, der pfeifende Laute von sich gibt, wenn man ihn wie ein Lasso über dem Kopf herumwirbelt. Jetzt möchte Roxane einen Flamenco tanzen. Das hat sie in Spanien gelernt. Fanny holt ihre Gitarre und spielt ein temperamentvolles spanisches Lied. Es heißt „Wenn die Blutorangen blühen". Roxane klappert dazu vampirisch mit den Kastagnetten. Die Stimmung gerät auf den Höhepunkt, als Fanny auf ihrer Gitarre einen Hexen-Boogie spielt. Da wirbeln alle Vampire in wildem Tanz durcheinander. „Autsch! Mein Zeh!" jammert Alice. „Hättest du halt deinen Zeh nicht unter meinen Fuß geschoben!" knurrt Willi. Es folgen ein Schocker-Rock, eine heiße Lambada, und erst nach dem Walpurgisnacht-Blues kehrt endlich ein wenig Ruhe ein, weil den Vampiren langsam die Puste ausgeht. „Bin ich müüüüde!" gähnt Alf der Elfte um elf Uhr. „Wir sollten eine kleine Pause machen", schlägt Fanny vor. Draußen ist es kühl und dunkel geworden. Sie zündet die Kerzen an den Armleuchtern im Wohnzimmer an. 63
Im Kamin prasselt ein Feuer. Es ist einfach vampirischtierisch gemütlich. Die erschöpften Vampire lagern sich um den Kamin auf Matten und Kissen. Fanny holt ein altes Buch aus dem Regal und liest eine Vampirgeschichte vor. Nur gut, daß es noch nicht Mitternacht ist. Wegen ihres kleinen Zahnproblems wäre ihre Aussprache dann wesentlich undeutlicher. Sie liest und liest, und ehe sie sich's versieht, sind die kleinen Vampire samt und sonders eingeschlafen ...
Bauchschmerzen Lucys tolle Party ist am nächsten Tag in der Schule natürlich das Hauptgesprächsthema. Und je mehr Lucys Freunde davon erzählen, desto grauslicher und schauriger wird alles. So weiß man am Schluß gar nicht mehr, was wahr ist, was errunden ist oder was sie am Ende bloß geträumt haben. Lucy allerdings kann am nächsten Tag nicht in die Schule, weil sie Bauchschmerzen hat. Ob es daher kommt, weil sie soviel durcheinander gegessen hat? Oder war es die Aufregung? Fanny holt getrocknete Kamillenblüten und Fenchel aus dem Arzneischrank, um einen Tee zu kochen. „Was sind das für kleine weiße Pillen?" erkundigt sich Lucy und deutet auf eine Glasflasche mit einem Totenkopf, die ganz oben im Arzneischrank steht. „Das ist ein Präparat, das für Vampire äußerst gefährlich ist. Es darf nur im Notfall benutzt werden. Also nichts für Kinder. Deshalb schließe ich es auch weg", erklärt Fanny. Natürlich möchte Lucy wissen, was in der Flasche ist. Aber sie bekommt es nicht heraus. Lucy trinkt widerwillig den Kräutertee und verkriecht sich dann in ihr Bett. Versonnen betrachtet sie die Kringel, die die Sonne an die Wand zeichnet. Da fällt ihr wieder der 65
Ring ein. Auf dem Stein ist das gleiche komische Wappentier eingraviert, das auf dem Holzschild über dem Kamin hängt! Eine Art Drache. Wenn das Onkel Franks Wappen ist, dann ist es auch Onkel Franks Ring. Und dann ... Sie holt das Schmuckstück aus der Schublade und untersucht es genauer. Jetzt sieht sie, daß neben dem Drachenwappen ein winzig kleiner Verschluß ist. Ihren kleinen, geschickten Fingern gelingt es, diesen Verschluß zu öffnen. Der Siegelstein klappt auf wie der Springdeckel einer Miniaturuhr. Und in der kleinen Höhlung unter dem karminroten Stein befindet sich ein winziger Zettel. Leider kann Lucy nicht lesen, was darauf geschrieben steht. Dazu braucht sie eine Lupe. Und die ist in Mamas Schreibtisch. Barfuß tappt Lucy ins Arbeitszimmer ihrer Mutter und fahndet nach der Lupe. Unter dem Vergrößerungsglas werden die kleinen Tintenkrakel zu richtigen Buchstaben.
„Maaamiii!" ruft Lucy und rennt mit ihren nackten Füßen den langen, kalten Gang entlang in die Küche, wo Fanny einen Fiebertee braut. „Bist du des Teufels, Lucy! Rennst hier halbnackt herum! Ich denke, du liegst im Bett und hast Fieber und Bauchschmerzen!" „Mami, wer ist Lonix?" „Keine Ahnung. Warum willst du das wissen?" „Ihm gehört das - ich meine, er ist das Gerippe in der Wäschekammer! Und es fehlt ihm ein Knochen. Wir müssen es finden, das Dings, das Elfenbein oder wie es heißt. Wie sieht es eigentlich aus?" „Was redest du für dummes Zeug, Kind!" „Lies doch bloß mal diesen Zettel", drängt Lucy. „Ich hab' meine Brille nicht da!" knurrt Fanny ungehalten. „Wir müssen ihn in den Sarg legen! Unbedingt!" drängelt Lucy. „In welchen Sarg? Du hast wirklich Fieber, Kind! Du phantasierst!" ruft Fanny erschrocken und faßt besorgt an Lucys Stirn. „Sonst geistert er herum, der Lonix. So lies doch endlich", fleht Lucy. Während Fanny nach ihrer Brille fahndet, erklärt Lucy, wie sie den Siegelring am Skelett fand und daß der Zettel im Ring versteckt war! 68
„Sehr seltsam", murmelt Fanny nachdenklich. „In diesem Haus ist auch wirklich nichts, wie es sein soll. Es spukt und heult und jammert!" Sie trommelt nervös mit ihren langen roten Fingernägeln auf der Tischkante herum und starrt aus dem Fenster. Sie macht eine seltsame Handbewegung, als wollte sie jemand vom Fenster verscheuchen. „War was?" fragt Lucy. „Eine von diesen lästigen Tauben, die immer ihren Dreck hinterlassen" schwindelt Fanny. Sie wirft ihrer Tochter einen prüfenden Blick zu und fährt nachdenklich fort: „Irgendwie habe ich das Gefühl, Onkel Frank liegt doch nicht auf dem Boden des Moores — und auch sonst geht vieles nicht mit rechten Dingen zu!" Dann studiert Fanny den Zettel mit Brille und Lupe. Erst als sie den Text selbst gelesen hat, ist sie wirklich überzeugt: Hier bittet jemand aus dem Jenseits um Hilfe! Aber wer, zum Teufel, ist oder war dieser Lonix? „Was machen wir jetzt, Mami?" erkundigt sich Lucy besorgt. „Ich weiß auch nicht recht", murmelt Fanny. „Ob Onkel Frank wirklich den Knochen von diesem komischen Lonix geklaut hat?" „Keine Ahnung. Zuzutrauen ist ihm alles. Aber wir sollten das fehlende Ellenbein suchen und danach die kompletten Knochen von Lonix in den Marmorsarg legen, 69
wenn er es unbedingt so haben will", entgegnet Fanny und seufzt. „Dann hat die arme Seele Ruh. - Und jetzt wird erst mal geschlafen!" In der Nacht steigt Lucys Fieber. Sie beginnt tatsächlich zu phantasieren. Fanny ist mit ihrer Kräuterweisheit am Ende. Die Tees helfen nicht. In ihrer Verzweiflung ruft Fanny mitten in der Nacht den Arzt. Es ist Dr. Acula. Er ist nicht nur Zahnarzt! Er ist neben vielem anderen auch der einzige Arzt im Ort. Er verspricht vorbeizukommen. Lucy schläft immer noch, als der Doktor endlich kommt. Fanny schildert ihm kurz, was vorgefallen ist. „Erst hatte Lucy Bauchschmerzen und Fieber. Und dann lief sie auch noch barfuß über die kalten Fliesen. Sie war sehr aufgeregt..." Weshalb sie aufgeregt war, verschweigt Fanny. Aber Dr. Acula scheint einiges zu ahnen. Die Krankheit scheint ihm vertraut zu sein. Er lächelt nachsichtig. Er untersucht Lucy, so gut er kann. Sie läßt sich im Halbschlaf abhorchen und abklopfen. Dr. Acula legt nach der Untersuchung sein Hörrohr wieder in die Tasche. Er räuspert sich und sieht Fanny vielsagend an. Was weiß Dr. Acula? grübelt Fanny und errötet. Was will er von ihr?
In diesem Augenblick öffnet Lucy ein wenig die fieberglänzenden Augen. „Da ist er! Der Flugdrache! Mama, Hilfe!" schreit sie. „Er schleicht um die Gruft!" „Fieberträume. Das Kind ist sehr erregt und phantasiert!" flüstert Dr. Acula Fanny zu. „Lösen Sie dieses Pulver in einem Glas Limonade auf, und geben Sie ihr den Trank. Ich werde so lange draußen warten, bis sie sich beruhigt hat." Fanny zögert einen Augenblick. Dann streicht sie Lucy besänftigend über die Stirn und gibt ihr den Beruhigungstrank. Wenige Minuten später schläft Lucy entspannt ein. Fanny schleicht sich auf Zehenspitzen hinaus und begibt sich mit Dr. Acula ins Kaminzimmer. „Wenn Lucy aufwacht, sollten Sie ihr ihren Wunsch erfüllen - auch wenn er sonderbar ist," sagt der Arzt. „Welchen Wunsch?"
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Da lächelt Dr. Acula. Fanny sieht seine spitzen Eckzähne aufblitzen und weiß plötzlich, warum er ihr so sympathisch ist. „Sie sind — Sie sind einer von uns?" stottert sie verwirrt. Acula nickt.
„Sie wissen mehr, als Sie sagen!" „Ich kannte Lord Ness, und ich kannte Frank. Beide waren von ihren Forschungen besessen. Beiden ist ihre Besessenheit zum Verhängnis geworden." „Wie meinen Sie das?" „Sie dachten an nichts anderes als an ihre Drachen. Lord Ness forschte vor allem über Seedrachen. Alle Welt kennt das geheimnisvolle Ungeheuer von Loch Ness. Lord Ness war fasziniert davon. Er widmete ihm sein Leben. Aber er hat das Ungeheuer meines Wissens nie zu Gesicht bekommen, sosehr er sich auch bemühte. Er verschwand übrigens auf mysteriöse Weise. Niemand weiß, was geschah. Seine Leiche wurde nie gefunden" sagt Acula leise. „Aber Frank? Wie starb Frank? Weshalb hinterließ er uns das Schloß? Was hat er hier getrieben? Er ist mir ein Rätsel! Warum hat er sich überhaupt in diesem Nest niedergelassen?" „Ihr Vetter Frank hat im Rahmen seiner Fledermausforschung schon vor sehr langer Zeit die Adresse von Lord 72
Ness in der Fachzeitschrift, Dracula'* entdeckt. Es entwickelte sich ein reger wissenschaftlicher Briefwechsel zwischen den beiden. Dann besuchte Frank den Lord eines Tages zum Fachsimpeln in Little Riddle am Griddle - und blieb für immer. Hier gibt es geradezu ideale Bedingungen für Miniaturflugdrachen." „Sie meinen, äh - Fledermäuse?" „Genau! Und das wurde ihm zum Verhängnis." „Könnten Sie mir das genauer erklären?" bittet Fanny. Der Doktor zögert. Dann sagt er: „Ich lernte Frank kennen, als er einmal schreckliche Zahnschmerzen hatte. Ich erkannte sofort sein Zahnproblem. Wir kamen ins Gespräch, und irgendwann gestand er mir, daß er kein Blut mehr mochte. Die modernen Blutsorten bekamen ihm nicht. Zuviel künstliche Zusätze. Medikamente, Kunstdünger, Pestizide, die ganze Umweltverschmutzung, das alles wirkt sich auch gefährlich auf die Reinheit des Blutes aus. Selbst Blutkonserven hielt er für verseucht und ungesund. Frank stieg um auf biologisch-dynamischen Tomatensaft. Das schwächte ihn allerdings ziemlich. Schließlich wollte ersieh verändern. Seine ganze Persönlichkeit. Er wollte so werden wie die Wesen, denen er sein ganzes Leben gewidmet hatte – die Wesen, die er *Zu deutsch: kleiner Drache.
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am meisten liebte ..." Dr. Acula sieht auf seine schmalen, blassen Hände und schweigt. „Eine... eine Fledermaus?" stammelt Fanny erschüttert. Dr. Acula nickt. „Dazu brauchte er zwei Arbeitsgänge. Einmal die Verwandlung und dann die Schrumpfung. Beides gelang ihm zeitweise. Ich begegnete ihm mehrfach in der Nacht. Er machte Übungsflüge im Moor. Einmal verlor er dabei die Schuhe. Einmal vergaß er den Schirm. Er muß zum Schluß etwas zerstreut gewesen sein. Beim allerletzten Mal muß er irgend etwas Wichtiges falsch gemacht haben. Er verschwand jedenfalls ganz." Fanny hört fassungslos zu. Es ist einfach unglaublich, was Dr. Acula da erzählt. „Er war eben doch ein echter Frankenstein ...", murmelt Fanny. „Ich habe mich öfter nachts in der Gegend von Rikkety Hill Hall aufgehalten und habe ihn beobachtet", fährt Acula fort. „Weil es mich interessierte. Sie und die kleine Lucy habe ich übrigens auch von Zeit zu Zeit besucht..." „Soso. Bespitzelt haben Sie uns. Warum haben Sie sich nicht offiziell hierhergewagt?" fragt Fanny etwas ungehalten. „Nun", entgegnet Acula verlegen. „Ich konnte ja nicht wissen, ob Sie wirklich vampirisch sind. Bei der zahnärtzlichen Untersuchung Lucys konnte ich nichts feststellen. Aber nach Lucys Geburtstagsfeier war ich
meiner Sache ziemlich sicher. Ich konnte mir nur nicht erklären, woher auf einmal die vielen anderen Vampire kamen..." „Das soll unser kleines Geheimnis bleiben", sagt Fanny und lächelt spitzbübisch. Während Lucy dank Dr. Aculas wirksamer Medizin sanft der Gesundheit entgegenschlummert, entdecken Fanny und Dr. Acula weitere interessante Gemeinsamkeiten. „Vielleicht kennen Sie auch einen gewissen Lonix?" erkundigt sich Fanny schließlich. „Lonix? Nie gehört!" Da erzählt Fanny von dem Knochenfund in der Wäschekammer. Aber der Doktor erinnert sich an keinen Patienten dieses Namens und sagt: „Er muß vor meiner Zeit gelebt haben." Anschließend trinken sie zusammen Tee. Fanny serviert dazu ein paar von den knusprigen Hexenkringeln, die vom Geburtstag übriggeblieben sind. Aber der ominöse Mr. Lonix läßt dem Doktor keine Ruhe. „Lonix. Lonix, Lonix ...", murmelt er. „Warum kommt mir der Name so bekannt vor?" Fanny geht schließlich an ihren Schreibtisch und holt die geheimnisvolle Botschaft, die Lucy in dem Siegelring fand. 75
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„Hier", meint sie und reicht Acula das winzige Zettelchen und eine Lupe, „vielleicht können Sie damit etwas anfangen!" Acula untersucht das Schriftstück; für einige Augenblicke ist es ganz still im Zimmer. Nur die Uhr tickt. Nachdenklich legt Acula die Lupe beiseite und greift nach einem Hexenkringel. Plötzlich lacht er hell auf, wirft den Keks in die Luft und zeigt auf die Keksdose. Es ist ein wertvolles altes Familienerbstück der Frankensteins, das mit kostbarer Malerei versehen ist. Auf dem Deckel sind deutlich ein Datum und die Signatur des Künstlers zu erkennen. „Ich verstehe gar nicht, was an der Dose so komisch ist", sagt Fanny ärgerlich. „Das Datum!" Acula strahlt wie ein kleiner Junge. „Sehen Sie? Es ist in römischen Zahlen geschrieben: V.IX.MDCX!" „Ja - 5. September 1610" sagt Fanny. „Was gibt es da zu lachen?" „Eigentlich gar nichts", gibt Acula zu. „Aber ich weiß jetzt, wer Ihr geheimnisvoller Lonix ist. Die Keksdose hat mich darauf gebracht." Fanny mustert ihren Gast wie einen Geisteskranken.
„Ich bin gespannt wie ein Regenschirm", sagt sie und schlägt die Beine übereinander. „Kein anderer als der verblichene Lord Oliver Ness der Neunte!" „Und wie wollen Sie das beweisen?" „Keksdosenmäßig. Es handelt sich bei Lonix um keinen Vornamen oder Familiennamen, sondern um einzelne Buchstaben. Genau gesagt um ein Monogramm: Anfangsbuchstaben von Vor- und Familiennamen. Dazu eine römische Zahl - wie auf der Keksdose! L. 0. N. und die römische IX." Dr. Acula lächelt triumphierend. „L. 0. N. IX- tatsächlich!" ruft Fanny verblüfft. „Lord Oliver Ness der Neunte!"
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Als Acula sich schließlich lange nach Mitternacht verabschiedet, sagt er: „Vielleicht seilten Sie nach dem Ellenbein, das der gute Lord vermißt, mal auf dem Dachboden suchen. Da hielt sich Frank oft zum Experimentieren auf!" Dr. Acula zeigt auf seinen Unterarm, wo das Ellenbein ist. Dann deutet er mit den Armen eine Flugbewegung an: „Vielleicht hat Frank den Ellenknochen verwenden wollen, um eine Flügelverstärkung für einen Fledermausflügel zu konstruieren?" „Das wäre allerdings denkbar", überlegt Fanny, und sie ist
froh, daß sie ihren geisterkundigen Gast in ihre Probleme eingeweiht hat. „Eine geniale Idee." Sie begleitet Dr. Acula an das Tor. Dann geht sie zurück und sieht nach Lucy. Die schläft friedlich. Erschöpft legt sich Fanny auf das Sofa neben Lucys Bett und schläft in der nächsten Sekunde ein.
Der alte Dachboden Am nächsten Tag ist Lucy gesund und munter, als sei nichts gewesen. „Ich hab' vielleicht komisch geträumt", sagt sie und reibt sich die Augen. „Ich auch", schwindelt Fanny. „Und denk dir, ich glaube, ich weiß, wem der vermißte Knochen gehört und wo wir ihn suchen müssen!" „Erzähl", drängt Lucy. „Vermutlich gehört er Lord Ness!" Sie erklärt ihrer Tochter, was sie herausgefunden hat. „L. 0. N. IX? Lord Oliver Ness IX? Mann, Mami, das ist ja irre! Wie kommst du darauf?" Fanny zuckt mit den Schultern. „Ah - durch die Keksdose!" sagt sie zögernd. Sie hält es für klüger, mit Rücksicht auf Lucys angegriffene Gesundheit den nächtlichen Besucher zunächst nicht zu erwähnen. „Auch der Ring muß Lord Oliver gehört haben", überlegt Fanny weiter. „Er hat eine Echse als Wappen." „Du meinst einen Drachen?" verbessert sie Lucy. „Drachen und Echsen, das ist die gleiche Familie. Es gibt Flugdrachen und Seedrachen. Die Lords von Ness haben von alters her einen Seedrachen im Wappen." „Und was ist mit dem Ellenbein?" will Lucy wissen. 79
„Onkel Frank hat es vermutlich - geborgt, um daraus Schwingenknochen für seine /Flugdrachen' zu basteln", erklärt Fanny den Diebstahl ihres Vetters. „Flugdrachen? Was für Flugdrachen? Hat er Drachen steigen lassen?" „Nein", sagt Fanny lachend, „so nannte er seine Fledermäuse." „Finde ich hübsch. Ich werde Mausi erzählen, daß sie ein Flugdrache ist." „Das weiß sie vermutlich längst", meint Fanny und schmunzelt. Lucy läßt nicht locker. „Mami, ich finde, wir müssen einfach unbedingt diesen ellenbeinigen Knochen finden, damit der arme Lord seine Ruhe findet!" „Na gut", seufzt Fanny. „Dann zieh rasch deine alten Hosen und Turnschuhe an. Wir wollen auf dem Dachboden mit unserer Suche anfangen." Wenig später klettern die beiden über altes Gerumpel zum Dachboden hinauf. „Vorsichtig, die Bretter in der Treppe sind zum Teil lose", warnt Fanny. Als sie oben auf dem alten Speicher ankommen, reißt Lucy die Augen so weit auf wie eine Nachteule. „Mann, ist das toll", sagt sie und sieht sich staunend um. Der Dachboden ist das reinste Gruselkabinett. 80
Überall stehen und hängen ausgestopfte Tiere. Vor allem Vögel. Aber auch Füchse, Maulwürfe und ein Wolf mit leuchtenden Glasaugen. „Das muß ich unbedingt Alf zeigen!" ruft Lucy begeistert. „Kommt nicht in Frage!" sagt Fanny. „Was soll der bloß von uns denken! Die Leute reden schon genug dummes Zeug über Onkel Frank!" Auf einem Eichenklotz sitzt eine ausgestopfte Fledermaus. „Mami, sieh doch! Sie sieht fast lebendig aus. Sie hat genauso hübsche große Augen wie Mausi!" ruft Lucy begeistert. Fanny entdeckt auf dem Tisch ein Buch, das mit allerlei geheimnisvollen Zahlen und Sprüchen beschrieben ist. „Ich ahne Schreckliches", murmelt Fanny. Sie studiert stumm die Seiten, zwischen denen eine Eulenfeder als Lesezeichen steckt. „Ich kann es nicht fassen", stellt sie fest. „Er ist verrückt. Vielmehr — er war verrückt." „Onkel Frank?" vergewissert sich Lucy. Die Mutter nickt. „Was hat er denn gemacht?" will Lucy wissen. „Er hat tatsächlich die Schrumpfungsformel angewendet und sie mit einer Verwandlungsformel verbunden. Und dann ..."
„Hat er sich kleiner gezaubert? Kleingeschrumpft? Wie aufregend!" sagt Lucy. „So was hab' ich mal in einem Fernsehfilm gesehen." „Weißt du, er wollte unbedingt eine Fledermaus werden! So sehr hat er diese Tiere geliebt. Sieh mal, hier steht am Rand: Kein Blut mehr! Nur noch Freiheit! Frank und frei. Frank wird frei! Die Freiheit der Fledermäuse!" „Dann ist er gar nicht gestorben, sondern fortgeflogen?" erkundigt sich Lucy hoffnungsvoll. „Wohl kaum", sagt Fanny. „Denn in die Verwandlungsformel hat sich leider ein Druckfehler eingeschlichen! Hier steht 3 Graswurzeln, und es muß heißen: 3 Glas Wurzeln. Wenn Onkel Frank nur drei Graswurzeln in den Zaubertrank getan hat, dann ist er garantiert beim ersten Flugversuch abgestürzt. Flugunfälle gibt es leider in unserer Familie häufig. Deshalb bestehe ich auch darauf, daß du immer einen Besen benützt und dich festgurtest!" „Mach, ich doch, Mama. Aber warum meinst du, daß er wegen der Wurzeln abgestürzt ist? Das versteh' ich nicht." „Graswurzeln sind viel zu schwach. Aber Karotten, die geben Kraft! Das weiß schließlich jeder Hase." „Der arme Onkel Frank. Wie schrecklich" sagt Lucy voller Mitleid. Fanny sieht sich weiter um. Endlich entdeckt sie das, wonach sie eigentlich suchen: den schmerzlich vermißten
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Knochen. Er liegt auf der Werkbank. Gleich neben der elektrischen Säge. „Glücklicherweise hat er ihn noch nicht zerstückelt", murmelt Fanny. „Bist du sicher, daß es das Ellenbein ist?" Lucy ist noch nicht ganz überzeugt. „Mit Knochen kenne ich mich aus!" versichert Fanny. „Heute abend, wenn wir wieder Vampire sind, werden wir Lord Ness mit seinen sämtlichen Knochen wunschgemäß beerdigen!"
Die Beisetzung „Mami, wir können gehen. Meine Zähne sind gewachsen!" ruft Lucy um Mitternacht. „Meine auch", sagt Fanny. „Fliegen wir oder laufen wir?" „Wir laufen, das paßt besser zu einer Beerdigung", findet Fanny. Kurz darauf tragen sie in feierlichem Zug den Pappkarton mit den vollzähligen Knochen des Lords zur Familiengruft. Mausi ist auch dabei. Sie hängt an Lucys Schulter. Fanny trägt eine Fackel. Sie finden den leeren Steinsarg sofort. Er steht gleich rechts neben dem Eingang. „Teufel, das ist ein echter Marmorsarg" staunt Fanny. „Verdammt schwerer Deckel. Ein Alptraum für einen Vampir! Wenn man den jede Nacht hochstemmen muß ..." „Aber Lord Ness ist doch gar kein Vampir", bemerkt Lucy. „Da hast du völlig recht, mein Kind!" murmelt Fanny. „Ich bin schon ganz durcheinander. Wenn er erst mal drin ist, kommt er nicht mehr raus, und wir haben unsere Ruhe." Gemeinsam versuchen Fanny und Lucy, den Deckel zu verschieben.
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„Mannomann!" stöhnt Fanny. „Kannst- du noch ein bißchen fester drücken, Lucy? Ja, gut so! Gleich haben wir es geschafft!" Mit vereinter Kraft schieben sie schließlich den schweren Marmordeckel Stück um Stück zur Seite und legen die vollzähligen sterblichen Überreste des Lords hinein. „Da liegt ein Brief im Sarg!" ruft Lucy plötzlich. „Er ist versiegelt!" „Tatsächlich", sagt Fanny. Sie bläst den Staub von dem Brief und löst das Siegel. Dann entfaltet sie gespannt das vergilbte Papier. Im Licht des Mondes, das durch das kleine vergitterte Fenster der Gruft fällt, entziffert sie die Botschaft:
„In welcher Schüssel?" grübelt Fanny und runzelt die Stirn. „Mami, da ist doch dieser Steinbrunnen auf dem Schloßhof! Auf dem steht so eine komische Figur!" ruft Lucy. „Komische Figur? Das ist die Glücksgöttin Fortuna, mein Kind!" „Na und? Jedenfalls hat sie so eine Schüssel in der Hand, aus der das Wasser fließt!" „Ja, jetzt erinnere ich mich", sagt Fanny nachdenklich. „Ich habe das immer für ein Füllhorn gehalten." , „Ist doch egal, wie es heißt. Hauptsache, der Schlüssel ist drin. Wir werden dann schon herausfinden, wozu er gut ist! Komm, laß uns schnell nachsehen, ob es stimmt! Vielleicht ist ja schon einer vor uns dagewesen." Lucy zieht ihre Mutter eilig mit sich fort. „Ich weiß nicht recht. Mach dir keine allzu großen Hoffnungen, Lucy. Geheimnisvolle Schätze aus dem Jenseits werden in solchen Botschaften oft versprochen, damit man den ruhelosen Geistern ihren letzten Willen erfüllt", wendet Fanny ein. „Es könnte aber immerhin sein, daß ein Schlüssel dort versteckt ist und daß er uns zu einem Schatz führt", beharrt Lucy. „Ich finde es einfach unheimlich aufregend, nach verborgenen Schätzen zu suchen. Also, suchen wir?" 87
„Na, dann komm schon", sagt Fanny, die nicht an einen Erfolg dieser Suchaktion glaubt. Als sie durch den Park laufen, fegt ein Schatten über die Wiese. Er verschwindet zwischen den Bäumen hinter dem Steinbrunnen. „Hast du das gesehen?" wispert Lucy aufgeregt. „Da war so etwas wie ein großer Flugdrache. Er ist hinter dem Brunnen in den Büschen verschwunden." „Keine Angst", beruhigt sie Fanny. „Das war nur der Wind, der die Zweige der Trauerweide bewegt hat." Lucy ist nicht zu bremsen. Geschickt wie ein Eichhörnchen klettert sie auf den Brunnen. Die „Schale" läuft unten spitz zu. Fast wie eine Eistüte. Dort wo einst Wasser über den Rand der Schale plätscherte, wächst Moos. Längst hat der Wind die Schale mit Staub und Sand gefüllt. Tastend greift Lucys Hand über den Rand. Sie fühlt nur Matsch und Dreck. Aber sie läßt sich nicht entmutigen und räumt die ganze Schale leer. „Mist!" schimpft sie, weil dabei die Fingernägel abbrechen. Und dann spürt sie etwas Hartes! „Juhu!" jubelt sie und hält triumphierend einen Schlüssel in die Höhe. Er ist ziemlich groß und rostig. „Laß sehen", sagt Fanny überrascht. Sie betrachtet ihn im Schein der Fackel. „Es muß auch ein großes, altes Schloß dazugehören" murmelt sie, als sie zum Haus zurückgehen. 88
Eine überraschende Entdeckung Als sie die Eingangshalle betreten, ruft Lucy: „Mensch, Mami, der Dielenschrank hat so ein altes Schloß!" „Den sollen wir allerdings nicht öffnen", grübelt Fanny. „Aber vielleicht sollten wir doch?" Sie wiegt den schweren Schlüssel in der Hand und geht dann auf den Dielenschrank zu. Kein Seufzen und Stöhnen ist mehr zu hören. Der neunte Lord Ness ist schließlich erlöst! „Ich glaube, unser Lonix hat wirklich seine Ruhe gefunden", sagt Fanny und steckt vorsichtig den Schlüssel ins Schloß der Schranktür. Die läßt sich überraschend leicht öffnen. „Geld!" ruft Lucy überwältigt. „Alles voll Geld!" Auch Fanny ist sprachlos. Sie starrt zunächst regungslos in die Schrankfächer, in denen sich Geldscheinbündel stapeln. Dann greift sie kurzerhand in die Geldbündel hinein und holt ein Päckchen heraus. Sie blättert die Scheine prüfend durch und flucht: „Verdammter Mistkerl. Falschgeld! Das ist wieder typisch Onkel Frank! Und er hat schon wieder eine Null zuviel gedruckt! Ein hoffnungsloser Fall!" „Dann ist das Geld nichts wert?" fragt Lucy enttäuscht. Ihre Mutter schüttelt den Kopf. „Keinen Pfifferling. Wir können den Kamin damit heizen." 90
„Und was ist das hier?" fragt Lucy und zeigt auf eine Zeichnung an der Innentür. Fanny setzt ihre Brille auf und studiert die Inschrift genau. Sie ist mit einem scharfen Gegenstand eingeritzt und nur mit Mühe zu entziffern.
„Was soll denn das nun wieder bedeuten?" überlegt Fanny. „Ein Ding drehen?" fragt Lucy. „Das Ding drehen", grübelt Fanny. „Ich weiß es!" ruft Lucy aufgeregt. „Das Ding, das man drehen muß, ist das Wappen. Und ich weiß, wo das Familienwappen ist: über dem Kamin im Wohnzimmer!" Und schon flitzt sie ins Kaminzimmer. Tatsächlich gelingt es Lucy nach einigem Probieren, einen Mechanismus am Familienwappen über dem Kamin 91
zu entriegeln. Das Wappen öffnet sich wie ein kleiner Schrank. „Oh", ruft Lucy überrascht. „Mami, sieh doch! Der schöne Schmuck!" „Tatsächlich!" staunt Fanny. Sie ist genauso hingerissen wie ihre Tochter, als sie sieht, was sich in Lord Olivers ungewöhnlichem Wandtresor befindet. „Aber das dürfen wir nicht einfach behalten..." Lucy läßt sich von der Bemerkung ihrer Mutter nicht beirren und kramt weiter in dem Versteck. Plötzlich gibt sie einen leisen Schrei von sich: „Hier ist ja noch ein Brief!" Aufgeregt öffnet sie den Umschlag; Fanny schaut ihr über die Schulter, und Lucy liest vor: 92
„Allmählich mag ich diesen Lonix ganz gut leiden", sagt Fanny. „Demnach gehört der Schmuck eindeutig uns. Das muß sogar Bürgermeister McRony anerkennen. Gleich morgen werde ich ihm das Testament vorlegen!" „Sind wir jetzt reich?" fragt Lucy neugierig. „Ein bißchen", antwortet Fanny und läßt die blitzenden Juwelen langsam durch ihre schmalen Hände gleiten. Am nächsten Tag klingelt das Telefon. Es ist Alice. Sie ist ganz aufgeregt. „Bist du schon wieder gesund genug für eine aufregende Nachricht?" erkundigt sie sich. „Aber immer", versichert Lucy. „Ich hab' die Inschrift aus dem unterirdischen Gang entziffert. Es hat mir einfach keine Ruhe gelassen." „Das ist ja toll! Wie hast du das gemacht?" 93
„Man muß die Buchstaben nur von hinten nach vorne lesen. Ich Hornochse. Daß ich da nicht gleich darauf gekommen bin!" Gerade als Lucy fragen will, wie denn die Inschrift im Klartext lautet, erklingt ein schriller Schrei in der Telefonmuschel. „Alice? Alice? Hörst du mich noch?" ruft Lucy erschrocken. Es war doch hoffentlich nichts Schlimmes passiert? „Das war Alf, dieses Ferkel", ruft Alice ärgerlich. „Er hat mir einen Regenwurm über den Telefonhörer gehängt!" Dann bricht die Verbindung ab. „Mist", murmelt Lucy. Sie ist viel zu neugierig, um darauf zu warten, bis Alice wieder anruft. Sie sucht eilig eine Taschenlampe, läuft zum Fledermausturm hinüber und steigt in den Keller hinunter. Wenig später leuchtet sie mit der Taschenlampe den Spruch ab.
Das hätte sie früher wissen sollen! „Der Brief liegt in der Gruft im Steinsarg vom Lord!" Also noch einer der geheimnisvollen Hinweise des ehemaligen Schloßbesitzers. Und jetzt machte alles einen Sinn ...
Als Lucy in der Dämmerung ihre geliebten Fledermäuse füttert, stellt sie fest, daß Mausi verschwunden ist! Das ist noch nie passiert! Sie wartet sonst immer an der Treppe, fliegt ihr entgegen und hängt sich an ihre Schulter! Hoffentlich ist ihrem Liebling nichts passiert! „Mausi! Mausi!" ruft Lucy. 95
Aber die geliebte Fledermaus taucht nicht auf. Die anderen Fledermäuse tuscheln und rascheln. Sie machen sich alleine über das leckere Futter her. Als Lucy über den Hof zum Haus zurückgeht, entdeckt sie Mausi, die übermütig über ihren Kopf schwirrt, ein Looping dreht und dann zum Dachboden hinauffliegt. Sie verschwindet dort in einer der Dachluken. „He! Mausi! Was suchst du denn da oben?" ruft Lucy überrascht. „Na warte! Ich werde es schon herausfinden!" Schon rennt sie die alten knarrenden Treppen zum Dachboden hinauf. Sie klettert über das Gerumpel und landet schließlich in der Dachkammer. Alles ist so, wie sie es vom Vortag in Erinnerung hat. Nur der Knochen neben der Säge ist natürlich verschwunden. Aber wo ist Mausi? Als sich Lucys Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, entdeckt sie die Fledermaus bei den ausgestopften Tieren. Sie hängt kopfüber an einem Dachsparren und schaukelt über der ausgestopften Fledermaus hin und her. Sie stupst sie zärtlich an, reibt sich an ihr, die beiden schnäbeln, wie zwei Vögel, und - jetzt sieht es tatsächlich so aus, als gäbe sie ihr einen Kuß! Und dann - Lucy traut ihren Augen nicht - bewegt sich die ausgestopfte Fledermaus und erwacht wie ein verwunschener Prinz aus der Erstarrung! Der Fleder-
mäuserich rollt mit den Augen, schüttelt die Flügel, streicht Mausi mit den Fiederflügeln zärtlich über das Gesicht. Dann flattern die beiden zum Dachfenster und fliegen Seite an Seite in den blauen Nachthimmel hinaus. Lucy stürzt fast die Treppe hinunter, so eilig hat sie es, weil sie Fanny unbedingt sofort erzählen muß, was geschehen ist. Doch dann geht sie plötzlich langsamer. Sie wird unendlich traurig. Sie begreift, daß Mausi sie wegen dieser
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Fledermaus für immer verlassen hat! So etwas wie Eifersucht steigt in ihr auf. Und ein Gemisch von Wut und Traurigkeit. „Was ist denn los, mein Mädchen?" sagt Fanny überrascht, als Lucy mit Tränen in den Augen in die Küche kommt. Lucy erzählt stockend, was passiert ist...
Ein Brief und ein Besuch Am Tag vor den Herbstferien kommt ein Brief in einem tabakbraunen Umschlag. „Nanu, wer schreibt uns denn?" fragt Fanny verwundert. „Es ist nur eine Drucksache", antwortet Lucy und öffnet das Kuvert. Eine braune Karte fällt heraus. Es ist eine Anzeige. Sie enthält die knappen, aber inhaltsschweren Worte:
„Von Frank", sagt Fanny fassungslos. „Das ist ja allerhand. Jetzt hat er seinen Namen schon wieder geändert!" Lucy liest die Karte mehrmals und murmelt immer wieder traurig vor sich hin: „Mausi, meine Mausi!" 99
„Heute nachmittag bekommen wir Besuch", sagt Fanny beim Mittagessen. „Das wird dich ein wenig aufheitern, mein Schatz." „Wer kommt denn?" „Das ist eine Überraschung. Jemand, den du schon eine ganze Weile kennst. Jemand, der ein bißchen daran schuld ist, daß alles so gekommen ist. Jemand, der sehr nett ist." „Darf ich raten?" fragt Lucy. „Na klar. Nur zu", sagt Fanny. „Mann oder Frau?" „Mann" sagt Fanny nach einem winzigen Zögern. „Ist es Mr. Stamp?" „Nein. Mit dem hat zwar alles angefangen, damals am Bahnhof von Little Riddle am Griddle. Aber er ist es nicht." „Old Bat?" „Wird schon wärmer." „McRony?" „Falsch geraten!" In diesem Augenblick hört man Schritte in der Halle. „Hallo, komme ich zu früh?" fragt eine Stimme, die Lucy bekannt, aber nicht vertraut vorkommt. Im ersten Augenblick erschrickt sie sogar, als sie den Besitzer der Stimme erkennt: Es ist - Dr. Acula! Er hat einen großen Strauß mit Lilien und Silberdisteln
in der linken Hand und einen großen Karton in der rechten. „Herzlichen Dank für die Einladung", sagt er und überreicht Fanny die Blumen. Dann wendet er sich an Lucy. „Guten Tag, Lucy! Wir kennen uns ja. Aber ich denke, ich kenne dich besser als du mich." Lucy weiß nicht, was sie antworten soll. Was hat diese Geheimnistuerei zu bedeuten? „Ihr werdet euch bestimmt gut verstehen," bemerkt Fanny. „Franz, würdest du bitte das Kaminfeuer anzünden? Wir wollen uns einen ganz gemütlichen Nachmittag machen und viel erzählen!" Franz? Wieso sagt die Mutter zu diesem Dr. Acula Franz? grübelt Lucy. „Sag mal, kennt ihr euch näher?" fragt sie ihre Mutter, während Franz Acula mit Schwefelhölzern, Blasebalg, Qualm und Rauch das Kaminfeuer entfacht. „Nun ja, wir haben uns in letzter Zeit hin und wieder bei unseren nächtlichen Ausflügen im Moor getroffen. Wir haben auch sonst einige gemeinsame Interessen. Und sogar einige gemeinsame entfernte Verwandte haben wir entdeckt." „Ist er... Ich meine, ist er auch ein Halbvampir?" Fanny nickt und sagt: „Ich glaube, das ist der Grund, warum wir uns so gut verstehen."
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„Eigentlich mag ich keine Zahnärzte", murmelt Lucy. „Das ist nur sein Nebenberuf. Er kann noch viel mehr. Wenn man ihn näher kennt, ist Franz wirklich ein netter Kerl." „... wenn er einem keine Zahnspange verpaßt", knurrt Lucy. Fanny lacht und sagt: „Manchmal hat auch eine Zahnspange ihre guten Seiten. Wir haben dadurch doch allerhand aufregende Dinge erlebt und sehen jetzt manches klarer. Oder nicht?" „Das Feuer brennt!" sagt Frank Acula und reibt sich die Hände. Eine Weile sitzen die drei plaudernd am Feuer. Dann läuft Fanny in die Küche, weil der Wecker am Herd geklingelt hat. „Das Essen ist fertig", ruft sie vergnügt. Sie setzen sich an den Eßtisch aus Eichenholz. „Was ich schon die ganze Zeit fragen wollte" sagt Fanny. „Was ist eigentlich in dem großen Karton, den du mitgebracht hast? Ist der für mich?" „Nein, für Lucy. Oh, Verzeihung! Da habe ich doch glatt das Wichtigste vergessen!" ruft Frank und springt auf. Er holt den Karton und öffnet den Deckel. Dann hebt er einen Drahtkäfig heraus, der mit einem grauen Tuch verhängt ist. Mit stolzem Lächeln gibt der Gast sein 102
Geheimnis preis: „Es ist - eine Fledermaus für Lucy!" Da fällt ihm Lucy vor Freude um den Hals. Sie schnuppert. Er riecht ein bißchen nach Feuer, Qualm, Rauch und Schwefel. Zum Teufel! Ich glaube, ich mag ihn, denkt Lucy.
Die Autorin Ursel Scheffler stammt aus Nürnberg. Sie studierte Literatur in München und lebt jetzt mit ihrer Familie in Hamburg. Seit 1975 veröffentlicht sie erfolgreiche Kinderbücher, die bereits in 15 Sprachen übersetzt sind. Gern schreibt sie Krimis, Abenteuer- und Phantasiegeschichten.