Ein einzigartiges Abenteuer steht Lukas Kasha bevor, als er einem fahrenden Schausteller auf dem Marktplatz von Zara-Pe...
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Ein einzigartiges Abenteuer steht Lukas Kasha bevor, als er einem fahrenden Schausteller auf dem Marktplatz von Zara-Petra das einzige Silberstück zuwirft, das er besitzt. Sein Kopf wird mit harter Hand in einen Topf Wasser getaucht, und er erwacht in einem fernen Land, dessen König er alsbald wird. Dort findet er mannigfache Gelegenheit, die selbstherrlichen Pläne seines Großwesirs zu durchkreuzen, dem Verseschmied Kayim das Leben zu retten, kleine Schurken hinters Licht zu führen, bis an die Zähne bewaffnete Armeen zu versöhnen und einer stolzen Herrscherin das Lachen beizu bringen. Die Geschichte von Lukas Kasha, eines Eulenspiegels aus Tausendundeiner Nacht, ist ein bislang im deutschsprachigen Raum unentdecktes Meisterwerk von Lloyd Alexander.
Lloyd Alexander, Autor von Romanen für Jugendliche und Erwachsene, amerikanischer Übersetzer Sartres, Eluards, Valerys u. a. wurde 1924 in Philadelphia geboren. Nach dem 2. Weltkrieg studierte er in Paris, kehrte in die USA zurück und arbeitete zunächst als Cartoonist, Graphiker, Zeitschriftenredakteur. Seine Jugendbücher sind in fast alle Sprachen der Welt übersetzt und erhielten bedeutende Preise. »Lukas Kasha« z.B. wurde mit dem »Silbernen Griffel« ausgezeichnet. Eine Verfilmung ist in Vorbereitung.
Lloyd Alexander
LUKAS KASHA
ODER DER TRICK DES GAUKLERS
Aus dem Amerikanischen von Wolf Harranth
BOJE-VERLAG STUTTGART
Silberner Griffel
Nominated for the American Book Award
Der Titel der Originalausgabe lautet:
THE FIRST TWO LIVES OF LUKAS-KASHA
Erschienen bei E. P. Dutton. New York
© 1978 by Lloyd Alexander
Umschlag: Laszlo Kubinyi
Alle deutschsprachigen Rechte beim Boje-Verlag. Stuttgart
© 1983 für die deutsche Übersetzung: Boje-Verlag, Stuttgart
Scan by Brrazo 02/2005
Druck und Bindung: Wiener Verlag. Himberg bei Wien
Printed in Austria · ISBN 3 414 16700 X
Diese Ausgabe erscheint als Gemeinschaftsproduktion:
Für die Bundesrepublik Deutschland und die Schweiz: Boje-Verlag, Stuttgart.
Für Österreich und Südtirol: Verlag Jungbrunnen. Wien –München.
83 84 85 86 87 5 4 3 2 1
Allen jenen,
die sich vorstellen können,
daß alles wirklich geschah –
und allen jenen,
die halfen, es könnte geschehen.
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usammengerollt, unter einem Berg von Hobelspänen,
fühlte Lukas sich behaglich – nur der Stiefel des Zim
mermanns in seinen Rippen und die Stimme des
Zimmermanns in seinen Ohren störten. »Wach auf! Ich muß dir etwas sagen!« Lukas krabbelte aus den Hobelspänen und wischte sich den Schlaf und den Holzstaub aus den Augen. Dann glättete er seine Mütze, die ihm, zu einem Knäuel geballt, als Kopfpolster gedient hatte. Nicholas humpelte an die Werkbank und winkte dem Jungen, ihm zu folgen. »Mir ist etwas durch den Kopf gegangen«, eröffnete ihm Nicholas. »Tatsächlich?« rief Lukas. »Hoffentlich hat dein Hirn nicht darunter gelitten.« Der Zimmermann ignorierte diese Bemerkung, räusperte sich und begann erneut: »Ich habe mir überlegt, daß ich schließlich nicht jünger werde. Angenommen, ich sage zu dir: ich suche einen Lehrjungen. Einen flinken, kräftigen Jungen, dem ich mein Handwerk beibringen kann. Nach meinem Tod wäre er der
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neue Stadtzimmermann und könnte das Geschäft nach eigenem Gutdünken ausbauen.« »Du hast doch bereits einen Lehrjungen.« Lukas gähnte. »Warum weckst du mich, um mir das alles zu erzählen?« »Holzkopf! Muß ich es dir erst Nagel für Nagel in deinen Dummschädel hämmern? Du bist es, von dem ich rede.« Lukas platzte lauthals heraus: »Ich? Ich soll Sägespäne schnupfen? Ich soll meine Daumen flach und blau klopfen?« »Du Nichtsnutz! Ich will dir einen Gefallen tun, und du tust ganz so, als wolle ich dir die Pest an den Hals hetzen. Mit ehrlicher Arbeit…« »Hör auf! Hör auf! Kein Wort mehr von Arbeit!« Lukas blickte sich verschwörerisch um und wisperte dann: »Ich hab's noch keinem verraten – ich will nämlich nicht, daß es sich herumspricht –, aber ich trage ein schreckliches Leiden mit mir herum: Arbeit macht mich krank! Wenn ich dieses furchtbare Wort »Arbeit« auch nur höre, bekomme ich schon Krämpfe!« Er rollte mit den Augen und faßte sich an den Bauch. »Autsch! Gleich kommt es! Gleich hat es mich gepackt! Rasch, Nicholas! Das Gegenmittel! Eine Bratwurst! Am besten gleich zwei, zur Sicherheit!« »Hör auf, den Narren zu spielen! Ist das die Art, sich aufzuführen, wenn einem der rechte Weg ins Leben geboten wird?« »Höchstwahrscheinlich.« Lukas grinste. »Den Antrag hat man mir nämlich bisher noch nie gemacht. Also, wie wär's jetzt mit der Wurst?«
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»Nichts da«, sagte Nicholas. »Für dich gibt es keine Extrawürste mehr – so lange, bis du erkennst, daß alles bloß zu deinem eigenen Besten dient.« »Was bedeutet: es ist langweilig, tut weh oder schmeckt schlecht.« Der Zimmermann kramte in seiner Börse. »Wenn du essen willst, mußt du auch arbeiten.« Er fischte eine Silbermünze heraus und gab sie Lukas. »Das ist von nun an dein Wochenlohn. Mehr erhält ein Lehrjunge nirgends; die meisten bekommen sogar weniger.« »Sehr großzügig«, gab Lukas zu. »Unter allen guten Menschen bist du der beste, auch ohne Bratwurst. Aber, bedenke: meine Krankheit …« »Nimm es als Vorschuß«, sagte der Zimmermann, »und überlege dir die Sache noch einmal.« »Gern – sobald ich nichts Besseres zu tun habe!« Lukas ließ die Münze in die Tasche gleiten, stülpte sich die Mütze über den Kopf und entschwand auf die Straße, noch ehe sein Möchtegern-Lehrmeister ein weiteres Wort sagen konnte. Da gerade Markttag war, lief er zum Hauptplatz. Der alte Nicholas hatte ihn einen Nichtsnutz genannt. Immerhin verstand es Lukas, sich auf vielerlei Weise nützlich zu machen: Er war großherzig – denn er erzählte jedes aufge schnappte Gerücht in allen Einzelheiten weiter. Er war fleißig – denn er konnte in einer einzigen Nacht die Fratze des Bürgermeisters auf ein Dutzend Hauswände malen. Er war genügsam – denn er nahm sich bloß einmal im Jahr Urlaub, nämlich: für 365 Tage. Er lachte gern, sang gern und ging gern 9
auf den Händen – was er häufig tat. Er aß gern gut und viel – was ihm nur selten gelang. Er schlief gern – wann und wo immer es sich ergab, am liebsten jedoch in der Werkstatt des Zimmermanns, denn Nicholas war zwar ein Brummbär, hob ihm aber meist einen Teller mit Speiseresten auf. Und vor allem hatte es sich Lukas zur Pflicht gemacht, jederzeit über alles Bescheid zu wissen, was in Zara-Petra geschah. Als plötzlich ein seltsames Klingeln und Rattern an sein Ohr drang, das sogar das Geschrei der Gemüseverkäufer und Fischhändler übertönte, drängte sich Lukas geschmeidig durch die Menge bis zur Mitte des Platzes vor. Neben dem Stadtbrunnen hielt ein bunt bemalter, von einem Maultier gezogener Planwagen. Auf dem Maultier ritt ein Affe; seine haarigen Arme ragten aus einem karmesinroten Harlekinskittel, der über und über mit Glasperlen bestickt war. Der Affe schlug ein Tamburin, warf es in die Luft und fing es wieder auf. Dann sprang er auf die Beine, führte einige geschickte Tanzschritte vor und landete mit einem Salto auf dem Rücken des Maulesels. Lukas mußte über diese Possen so herzlich lachen und wurde von ihnen so gefangengenommen, daß er völlig übersah, wie sich die Plane des Wagens teilte und ein dürres Männchen mit einem Vogelgesicht und einem äußerst spärlichen Bärtchen hervortrat. Der Mann entriegelte die Rückwand des Wagens und klappte sie zu einer hölzernen Treppe auf. Dann warf er schwungvoll den schäbigen Mantel zurück, klatschte in die Hände, um die Aufmerksamkeit der Menge auf sich zu lenken, und stellte sich mit rauher Stimme dem Publikum vor: er sei der Große Battisto.
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»Was wird er wohl anzubieten haben?« fragte sich Lukas. »Haaröl? Ein Mittel gegen entzündete Zehen?« Der Affe hüpfte mittlerweile im Kreis herum und hielt dem Publikum das leere Tamburin entgegen. Die Leute waren aber zu gewitzigt, um für nicht gezeigte Wunder zu zahlen; Battistos Erscheinen allein rief keinen Anfall von Großherzigkeit hervor. Schon wandten sich die ersten Zuschauer ab und gingen ihrer Wege. »Es wäre schon ein Wunder, wenn es diesem Kerl gelänge, auch nur eine einzige Börse zu öffnen!« sagte sich Lukas. Nichtsdestoweniger wollte er sich die Gelegenheit zu einem Spaß nicht entgehen lassen. Und so stieß Lukas, als der Affe sich wieder näherte, den Bäckerjungen an, der an einer Pastete kaute, und sagte: »Los, gib dem armen Vieh etwas! Siehst du denn nicht, daß der Affe eine Mahlzeit dringender nötig hat als du?« »Du beginnst!« forderte ihn der Bäckerjunge heraus. »Laß zuerst dein eigenes Geld springen. Aber du hast wohl keines.« Der Affe schüttelte das Tamburin. Battisto war offenbar nicht bereit, ohne Vorkasse aufzutreten. Lukas zuckte die Schultern, kramte seine Silbermünze aus der Tasche und warf sie leichthin in das Tamburin. Dem Bäckerjungen traten die Augen aus dem Kopf – und genau das hatte Lukas beabsichtigt. Der Affe kicherte fröhlich, verbeugte sich bis auf den Boden und sprang mit einem Purzelbaum zum Wagen, wo er seinem Herrn die Münze übergab. Battisto musterte das Silberstück zweifelnd, biß hinein und warf plötzlich das Geld und das Tamburin in die Luft – wo beide spurlos verschwanden. Das Publikum zeigte sich mäßig beeindruckt. 11
Jetzt schnippte Battisto mit den Fingern; der Affe huschte hinter die Plane und zerrte einen großen, verbeulten Kochtopf hervor. Der Gaukler kippte den Topf, um zu beweisen, daß er leer war, und stellte ihn dann auf die Plattform des Wagens. Als wisse er selbst nicht, was er darin finden werde, griff er mit der Hand hinein und zupfte zunächst eine Reihe aneinandergebun dener Seidentücher heraus. Es folgte ein Strauß Papierblumen und zuletzt ein räudiges Huhn, das mißbilligend gackerte und flügelschlagend auf dem Kopf des Maulesels Zuflucht suchte. Der Applaus war spärlich. »Der Trick mit dem Huhn ist ganz gut«, sagte sich Lukas. »Der Rest war ein Kinderspiel.« Aus der Menge winkte ein Soldat mit der Muskete und rief: »He, Bartmännchen! Zeig uns endlich was Neues!« Battisto hob die Arme: »Vergebt mir, hochwürdige Freunde! Ich hätte gleich erkennen müssen, daß ihr keine armseligen Dorftölpel seid. Nein, euch darf ich nicht mit läppischen Kindereien abspeisen. Ihr verdient nicht weniger, als das Wunder aller Wunder zu sehen – ein Mirakel, so ungeheuer, daß es euer ganzes Leben verändern wird.« »Jetzt!« dachte Lukas. »Jetzt fängt er an, sein Haaröl anzupreisen!« Der Affe hatte mittlerweile einen Eimer vom Wagen geholt und an der Pferdetränke gefüllt. Er brachte ihn zu Battisto, der das Wasser ohne Umschweife in den Topf füllte. »Und nun muß einer von euch heraufkommen«, erklärte Battisto. »Wer wagt es? Aber ich warne euch: Er muß furchtlos jeder Gefahr ins Auge blicken können, bereit, das Unbekannte zu wagen. Stark muß er sein und schlagfertig obendrein…« 12
»He, das wäre was für unseren Lukas Kasha!« brüllte einer der Gaffer. »Ja! Er ist furchtlos!« rief ein anderer. »Ich habe selbst gesehen, wie er mit bloßen Händen über ein geröstetes Lamm herfiel.« Unter spöttischem Gelächter drängten die Zuschauer Lukas näher an den Wagen heran. Lukas ließ sich nicht zweimal bitten. Er sah nicht nur gern bei einer Vorstellung zu, er gab mit Vergnügen auch selbst eine. So verbeugte er sich also in geheuchelter Ehrerbietung, winkelte die Arme ab, als wolle er mit seinen Muskeln protzen, sprang auf die Hände und reckte die Fersen in die Luft. Die Menge pfiff, und der Bäckerjunge rief: »Gut so, Kasha! Zeig uns, wo du dein Hirn hast: in den Beinen!« Diese Bemerkung rief mehr Gelächter und weitere Spottrufe hervor. Lukas richtete sich auf, doch ehe er dem dummen Bäcker eine gehörige Frechheit ins Gesicht schleudern konnte, bedeutete ihm Battisto, die Treppe heraufzukommen. Da er nun schon das ganze Geld geopfert hatte, wollte Lukas auch sein Vergnügen haben. »Nichts für ungut«, flüsterte er Battisto zu, »aber wenn du am Ende deine Waren loswerden willst, mußt du der Schau mehr Pfiff geben. Sage mir, worauf es ankommt, und ich sorge dafür, daß die Leute dich für einen echten Zauberer halten.« Battisto betrachtete ihn prüfend. »Kommst du wirklich aus freien Stücken? Bist du bereit, dich voll und ganz in meine Hände zu geben?«
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Als Lukas nun dem Quacksalber gegenüberstand, fand er ihn größer, als er ihm zuvor erschienen war. Der Mann neigte den Kopf, seine Augen funkelten. Jetzt glich er nicht mehr einem Sperling, eher einem Habicht. Unsicher trat Lukas von einem Fuß auf den anderen. Aber die halbe Stadt hatte die Augen auf ihn gerichtet, also gab es kein Zurück. Er nickte. »Nun, worum geht es? Sägst du mich in zwei Teile? Läßt du mich in Rauch aufgehen?« »Neige dich über das Wasser«, befahl Battisto. »Tiefer!« forderte er, als Lukas sich bückte und in den Topf blickte. »Noch tiefer!« Plötzlich spürte Lukas eine knochige Hand im Nacken, und ehe er sich aufrichten oder wegducken konnte, stieß ihm Battisto den Kopf in das Gefäß. Salzwasser drang ihm in Nase und Mund. Er kämpfte wild, um seine berstenden Lungen mit Luft zu füllen, wollte sich aufrappeln, aber die Beine versagten ihm den Dienst. Mühsam öffnete er die vom Salzwasser brennenden Augen. Battisto war verschwunden.
verschwunden.
Die
ganze
Stadt
war
Lukas, mutterseelenallein unter einer blendenden Sonne, ertrank im Meer.
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ukas zappelte mit den Armen und strampelte mit den Beinen. Er war so damit beschäftigt, seine Haut zu retten, daß er keine Zeit fand, sich zu fragen, warum ihm Battisto so übel mitgespielt hatte. Die Strömung erfaßte ihn; er hatte Mühe, den Kopf über Wasser zu halten. Als er endlich in der Nähe eine Reihe von Klippen auftauchen sah, hielt er auf sie zu. Lukas war ein guter Schwimmer, und so konnte er sich zunächst gegen die Wellen behaupten. Ihr Anprall wurde aber immer stärker. Als er sich der Küste näherte, schäumte zwischen den Felsen die Brandung auf. Ein Strudel erfaßte ihn und beutelte ihn so gewaltig, daß er dachte, Battisto habe ihn bloß aus dem Meer geholt, um ihn in ein riesiges Butterfaß zu werfen. Lukas griff nach den Felsen, aber die Flut riß seine Hände fort, hob ihn wie ein Spielzeug, verstrickte ihn in endlose Tangfäden und schleuderte ihn dann mit dem Kopf voran gegen die Küste. Hustend und keuchend kroch Lukas über den Ufersand und streckte alle viere von sich. Als er wieder freier atmen konnte,
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setzte er sich auf, pflückte den Seetang aus dem Gesicht und lachte. »Umwerfend! Einmalig! Battisto, ich ziehe die Mütze vor dir!« Das hätte er gern getan – aber die Mütze war fort, wie beinahe alles, was er am Leib getragen hatte. Die Wellen hatten seinem Gewand übel zugesetzt. Die letzten Reste seiner Hosen hingen in Fetzen. Sein Hemd, das ohnedies bereits faden scheinig gewesen war, bedeckte kaum noch die Schultern. Er schüttelte bewundernd den Kopf. Einmal war ihm auf dem Jahrmarkt in der Stadt ein fahrender Hypnotiseur begegnet. Der brachte mit seinem alles bezwingenden Blick die arglosen Opfer zum Tanzen oder ließ sie wie Krähen krächzen. Battisto mußte ein wahrer Meister solcher Künste sein, denn die Täuschung hier schien vollkommen: Der Sand unter den Füßen fühlte sich rauh an; die sengende Sonne und das Meer wirkten zweifels ohne echt. Lukas hatte sogar zu zittern begonnen, und nur mit Mühe vermochte er seine Zähne am Klappern zu hindern. »Es reicht! Jetzt wecke mich wieder auf! Wenn du mich weiterträumen läßt, bekomme ich noch einen Schnupfen.« Er schloß die Augen und wartete eine Weile. Als er die Augen wieder öffnete, hockte er noch immer bibbernd am Strand. Jetzt schmerzten seine Rippen nicht mehr vom Lachen, sondern von den Schlägen und Püffen. »Mach rasch, du Schurke! Der Traum, in den du mich versetzt hast, fängt an, mir weh zu tun!« Nichts änderte sich: Felsbrocken, Klippen, brandende Gischt umgaben ihn. »Also gut«, sagte Lukas. »Wenn du es nicht tust, wecke ich mich selbst.« 16
Er zwickte sich kräftig in den Arm, einmal und noch einmal. Als das nichts nützte, boxte er sich auf die Ohren und riß sich an den Haaren, bis ihm Tränen in die Augen schössen. Mit wachsender Angst prügelte er sich so gnadenlos, wie es zuvor die Wellen getan hatten. Ja, die Schläge trafen und schmerzten. Es war kein Traum! Er war wirklich da, genau da, wohin es ihn jetzt verschlagen hatte! Er durfte nicht mehr damit rechnen, daß der Zauberer ihn zurückholen würde – oder konnte. Lukas rannte zum Wasser hinunter und brüllte Battistos Namen in den Himmel. Der Wind trug seine Stimme davon. Er schüttelte die geballte Faust und tobte und schrie sich heiser. Das Kreischen der Möwen blieb die einzige Antwort. Lukas fiel auf die Knie und scharrte wie verrückt im Sand, als könne er sich in die Wirklichkeit zurückgraben. Abwechselnd fluchte und bettelte er, befahl und flehte – alles vergebens. Zuletzt begrub er das Gesicht in den Fäusten. Der Klang von Hufschlägen ließ ihn aufblicken. Weiter unten, am Strand, galoppierte ein Schimmel auf ihn zu. Er sprang auf, warf die Arme in die Luft und rannte dem Pferd entgegen, um es aufzuhalten. Mit fliegender Mähne und feurigen Augen bäumte sich das Tier auf und schlug mit den Beinen aus. Lukas wich zurück und wandte sich an den Reiter. Es war ein Mädchen in groben Leinenhosen und einer weiten Hemdbluse. Er streckte die Hand aus, um nach dem Zügel zu fassen, sah dann aber, daß das Mädchen ohne Sattel und Zaumzeug ritt. »He, du!« rief Lukas ihm zu. »Sag mir doch: wo bin ich?«
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Einen Augenblick schien das Mädchen zu erstarren. Die Bernsteinaugen in dem sonnenverbrannten Gesicht blitzten; böse starrten sie ihm entgegen. Dann riß das Mädchen das Pferd zur Seite, schlug ihm mit bloßen Füßen gegen die Flanken und ritt davon. »Warte! So warte doch!« schrie Lukas ihnen nach, bis Pferd und Reiter außer Sichtweite waren. »Ach was, geh zum Teufel!« murrte er dann. »So eine kleine Hexe! Das ist ja ein herzliches Willkommen in – in – ich weiß nicht, wo.« Immerhin hatte ihn die Wut aus seiner Verzweiflung gerissen; und nun begann er zu überlegen, was er tun sollte. »Wenn ich landeinwärts gehe«, sagte er sich, »muß ich früher oder später auf Menschen stoßen. Eine Stadt ist eine Stadt; dort werde ich weitersehen.« Er kam nicht dazu, den Plan in die Tat umzusetzen: Ein Trupp Berittener sprengte auf ihn zu. Einige Reiter scherten aus, um das Mädchen zu verfolgen, die anderen zückten lange Krummschwerter. Lukas tat das einzig Vernünftige: Er ergriff die Flucht. Er keuchte die Felswand hinauf. Rauhe Steine schnitten ihn in die bloßen Füße, aber er eilte weiter und wandte sich dem äußersten Rand der Klippe zu, wohin ihm die Pferde nicht folgen konnten. Als er sich endlich umblickte, konnte er die Reiter nicht mehr sehen. Aber seine Erleichterung währte nicht lange. Der Trupp hatte auf der anderen Seite der Klippe einen bequemeren Aufstieg entdeckt. Schon erkannte Lukas zwischen den Fels zacken den weißen Turban des Anführers. Unter Lukas lag das Meer; wild schlug die Brandung gegen die Felsen. Er konnte weder vor noch zurück. Der enge Pfad 18
zwang die Reiter zum Absitzen; nun kamen sie zu Fuß zu ihm herauf. Fieberhaft blickte er sich nach einer Verteidigungs möglichkeit um. Seine einzige Chance bestand darin, im letzten Augenblick den Weg zu blockieren, den die Verfolger nehmen mußten. In der Erde steckten große Felsbrocken. Er packte einen und bot alle Kraft auf, um ihn aus der Verankerung zu lösen und in die Pforte zwischen den Felstürmen zu rollen. Lukas zog und zerrte und warf sich mit vollem Gewicht gegen den Block. Endlich begann er nachzugeben, aber die Finger glitten ab, und Lukas fiel auf den Rücken. Sein Kopf schlug mit solcher Wucht gegen eine Felskante, als habe ein Schmiedehammer den Amboß getroffen. Lukas seufzte beglückt und genoß den köstlichen Dämmer zustand zwischen dem Erwachen und dem ersten Augenauf schlag. Er drückte den Kopf tiefer in die Kissen und zog sich die Decke über die Schultern. Dann setzte er sich ruckartig auf. Sein Schädel schmerzte zum Zerspringen. Lukas fingerte nach der Beule auf seinem Hinterkopf. Battisto. Das Meer. Das Mädchen mit dem bösen Blick. Die Reiter… Aber jetzt lag er, soweit er feststellen konnte, auf weichen Teppichen und zwischen aufgetürmten Kissen. Man hatte ihn in ein weites Hemd gekleidet, in eine gestickte Weste, in Hosen. Ein Vorhang versperrte die Sicht. Lukas sprang auf und schob ihn zur Seite. Das Licht blendete ihn. Durch hohe Bogenfenster, zwischen glänzenden Säulen, fielen Sonnenbalken. In der langgestreckten Kammer drängten sich Männer in Brokatmänteln, deren Säume 19
bis auf den Boden reichten, und juwelengeschmückte Frauen in weiten roten, grünen und rosafarbenen Seidengewändern. Die andere Seite des Alkovens säumten Wachtposten in der Uniform seiner Verfolger. »Wenn man dem Augenschein trauen darf«, überlegte Lukas, »dann hat man mich also gefangen.« Plötzlich schmetterten Hörner los, Zymbeln wurden geschla gen, und das Getöse drang ihm mit solcher Wucht in die Ohren, daß er fürchtete, sein Kopf müsse zerspringen. Die Menge fiel auf die Knie und küßte, zu seiner großen Ver wunderung, zwischen den gespreizten Händen den Boden. Nur ein hochgewachsener, schwarzbärtiger Mann blieb, in gebührendem Abstand, stehen. Sein prächtiges Gewand und die stolze Haltung ließen auf hohe Würden schließen. »Gleich geht es mir an den Kragen!» stöhnte Lukas. Doch jetzt sank auch der Reichgeschmückte auf die Knie und beugte den Rücken, bis der Turban den Boden berührte. »Oh, Zierde der Zeiten!« rief er. »Möge jeder deiner Schritte vom Glück begleitet sein! Möge dein Schatten nie abnehmen! Oh, Herr der Welten! Oh, sprudelnder Quell aller Tugenden!« »Eines ist sicher«, dachte Lukas. »Wer immer der Kerl sein mag, in Zara-Petra ist er jedenfalls noch nie gewesen.« Der Würdenträger richtete sich auf und trat näher. »Wie dürfen wir dich nennen, Sammelbecken aller Vortrefflichkeit?« fragte er unterwürfig. »Mit welchem herrlichen Namen befiehlst du über deine Diener?« »Mit welchem Namen?« stotterte Lukas. »Nun, mit dem, den ich habe: Kasha.« 20
Der Höfling wandte sich um und breitete die Arme aus. »Seht her! Hier steht er!« verkündete er: »Kasha, der König von Abadan!«
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b die Leute hier mondsüchtig sind?« überlegte Lukas. »Kaum erfahre ich, wie dieser Ort heißt, behaupten sie schon, ich sei ihr König. Immerhin ist das ein besserer Empfang als der, den sie mir am Strand bereitet haben.« Das Gefühl, den Kopf noch immer zwischen den Schultern zu tragen, erleichterte ihn ungemein. Trotzdem war ihm nicht wohl in seiner Haut. Zum einen, weil er nicht einmal in seinen wildesten Träumen daran gedacht hätte, König von irgend etwas zu werden. Zum anderen, weil es – sofern diese Höflinge es ernst meinten, was Zweifel an ihrem Verstand erlaubte – möglicherweise einen zweiten König von Abadan gab, nämlich den richtigen, der jederzeit eintreffen konnte. »Und wenn der sieht, daß sich ein Fremder auf seinem Thron das Hinterteil wärmt…« Der Höfling richtete erneut das Wort an ihn: »Oh, mögest du ewig leben, mein König, Mittelpunkt des Weltalls! Ich bin Shugdad Mirza, der Oberste Minister und Großwesir, wenn es Majestät gefällt.«
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Der Wunsch, er möge ewig leben, gefiel Lukas allerdings. Shugdad selbst gefiel ihm weniger, obwohl der Mann in seiner golddurchwirkten Robe mit dem juwelenbesetzten Gürtel recht imponierend aussah und, wenn auch auf unangenehme Weise, äußerst zuvorkommend war. Shugdads Gesicht verschwand beinahe unter dem dichten Bart, und Lukas konnte beim besten Willen seine Züge nicht enträtseln – aber zu lächeln schien der Mann nicht gerade. Außerdem wirkte der Wesir feierlich-ernst und geschäftig, was Lukas vom ersten Augenblick an störte. Die sanfte, schmeichelnde Stimme gab ihm das Gefühl, als wolle sie ihm wie mit einem seidenen Taschentuch die Nase putzen. Je ausgiebiger Shugdad seine Ehrerbietung beteuerte, um so deutlicher fühlte Lukas, daß der Mann ein Schurke war und böse Absichten hatte. »Meine Anwesenheit mißfällt ihm«, dachte Lukas. »Aber warum? Er kennt mich ja gar nicht.« Mittlerweile hatten bis auf wenige Höflinge alle den Audienzraum verlassen. Jetzt stellte der Wesir ihm den ersten dieser Männer vor, einen breitschultrigen, spitzbärtigen Kerl mit einem gemeinen Gesicht. »Dies ist Nahdir Aga, der Kommandant deiner Wache«, erklärte der Wesir. »Er bittet dich um Vergebung.« »So?« sagte Lukas. »Wofür?« »Nahdir war der Anführer der Soldaten, die dich verfolgten«, erklärte Shugdad. »Ein höchst bedauerlicher Irrtum.« Obwohl er scheinbar demütig niederkniete, umspielte Nahdirs Mundwinkel ein schiefes Grinsen. Er wirkte, allen Beteuerun gen zum Trotz, keineswegs reumütig. 23
»Die Order wurde mißverstanden. Die Schuld liegt bei mir, mein König. Strafe mich nach deinem Belieben.« »Ich werde mir etwas ausdenken«, erwiderte Lukas. Er nahm sich vor, den Burschen im Auge zu behalten, wandte jedoch zunächst seine Aufmerksamkeit den anderen zu. Da gab es einen königlichen Oberhofmeister, einen Siegelbewahrer, einen Zeremonienmeister und ein Dutzend ähnlicher Würden träger. Schon nach den ersten dreien oder vieren gab es Lukas auf, sich alle zu merken. Ihre Namen waren so verrückt wie ihre Ämter. »Wiederhole sie dreimal rasch hintereinander«, überlegte Lukas, »und schon hast du einen Knoten in der Zunge.« Der letzte in der Runde war der Hofastrologe Locman. Er blinzelte heftig und schaute so betroffen drein, als hätte er sich soeben beim Nachzählen seiner Finger verrechnet. Locman war knochig, spindeldürr und vom Alter gebeugt. Sein ergrautes Haar kräuselte sich unter einer Lammfellmütze hervor. Die weiße Robe war mit einer Kette aus Holzperlen gegürtet und flatterte ihm um die Beine wie das Nachthemd eines alten Weibes. Nachdem er herangehumpelt war, um seine Ehrerbietung zu erweisen, richtete sich der Sterndeuter auf und strahlte Lukas an. »Mittelpunkt des Weltalls, es beglückt mich, sagen zu können, daß dein Erscheinen genau meinen Prophezeiungen entsprach.« »Als ich heute morgen aufstand«, erwiderte Lukas, »hatte ich alles mögliche im Sinn, nur eines nicht: der Mittelpunkt des
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Weltalls zu werden. Du willst im Ernst behaupten, du hättest das vorausgesehen?« »Alle meine Berechnungen ergaben den zweifelsfreien Beweis«, antwortete Locman. »Steht es denn nicht geschrieben: »Die Elster schilt den Raben, aber die Nachtigall singt für die Rose«?« »Wie war das? Das mußt du mir noch einmal erklären. Ach was, vergiß es. Sag mir lieber, ob deine Berechnungen auch ergaben, daß ich mir ein Loch in den Schädel schlagen würde.« »Was diesen bedauernswerten Zwischenfall betrifft, Herr aller Welten, tut mir leid, nein. Derlei war nicht eigentlich in meiner Prognose enthalten. Nahdir Aga hat nicht aus böser Absicht gehandelt. Das heißt, er hätte nicht aus böser Absicht gehandelt, hätte er schon vorher gewußt, wer du in Wirklichkeit bist. Er erfüllt seine Pflicht mit Hingabe. Sein Irrtum war, dich für einen Verbrecher und Ausreißer zu halten. Welch ein Glück, daß ich rechtzeitig zur Stelle war und uns alle vor schrecklichem Schaden bewahren konnte. Ich sage: ›Glück‹, Zierde aller Zeiten. Aber war es nicht vielmehr ein Zeichen der Vorsehung, das eintraf, wie es eintreffen mußte? Bei allem persönlichen Respekt darf ich mir noch einen Hinweis gestatten: Selbst wenn es Nahdir gelungen wäre, seinen vermeintlichen Auftrag zu erfüllen, hätte dieses Unglück meine Prophezeiungen bestätigt…« »Augenblick!« unterbrach ihn Lukas. »Soll das heißen, daß auf jeden Fall geschehen mußte, was vorbestimmt war, auch wenn du nicht zufällig daneben gestanden hättest?«
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»So ist es, mein König!« erwiderte Locman beglückt. »Du hast das innerste Wesen meiner Wissenschaft erkannt. In der Tat steht geschrieben …« »Darüber reden wir später.« Lukas entließ den Hofastrologen. Es gab Dringlicheres zu regeln. Er war nicht nur fast ertrunken und fast erstochen worden, er hatte nicht nur das Bewußtsein verloren und sich als Mittelpunkt des Weltalls wiedergefunden – er hatte überdies heute auch noch kein Frühstück gegessen. »Jetzt wollen wir einmal sehen, ob ich hier wirklich der König bin«, sagte er sich, ließ Shugdad rufen und befahl dem Großwesir, ein Mahl zu besorgen. »Dein Wunsch ist mir Befehl«, erklärte Shugdad mit einem Hauch von Mißbilligung. »Sage mir bloß, Mittelpunkt des Weltalls, wonach dein Magen verlangt.« »Ach was«, sagte Lukas, »bring einfach, was da ist.« Der Wesir klatschte in die Hände, und augenblicklich marschierte eine Prozession von Köchen, Soßenmeistern und Zuckerbäckern herein. Einer nach dem anderen bot Lukas in goldenen Töpfen und Schüsseln Köstlichkeiten an. Da türmte sich gewürztes Geflügel und duftender Reis, gegrillte Fleisch häppchen auf Spießen, Mandeln, Rosinen und Zuckerwerk in solchen Mengen, daß Lukas bei allem Heißhunger kaum mithalten konnte. Schließlich mußte er eine Pause einlegen, und er befahl erneut Locman zu sich. Sein Hunger war gestillt, nicht aber seine Neugierde, und er fühlte sich in der Gesellschaft des Hofastrologen wohler als in der des Großwesirs. »Locman«, sagte er und wählte seine Worte mit Bedacht, um nicht wie ein
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Vollidiot dazustehen. »Was ich wissen will, ist dies: wo bin ich eigentlich?« Locman blinzelte aus wässrigen Augen: »Nun ja, Mittelpunkt des Weltalls, du bist dort, wo du hingehörst – in deinem Königreich.« »Ja, das habe ich schon verstanden«, sagte Lukas. »Aber ich meine: hier, jetzt, in diesem Augenblick.« Der Sterndeuter wirkte noch verwirrter als zuvor. »Mein König, du befindest dich in deinem Palast, wo sonst solltest du sein?« »Der Ort. Die Stadt«, beharrte Lukas, obwohl er fürchten mußte, den Astrologen mit derlei Fragen nur noch mehr zu verwirren. »Du bist in der königlichen Hauptstadt Shirazan«, erwiderte Locman, »der makellosen Perle des Reiches …« »Das wollte ich wissen«, sagte Lukas. »Die Stadt heißt also Shirazan? Das Land Abadan? Und ich bin allen Ernstes hier König?« »Selbstverständlich«, bestätigte Locman. »Doch soll dir das nie die Seele trüben, Zierde aller Zeiten. Groß ist die Zahl jener, die bereit sind, mit dir die Last zu teilen. Ich, zum Beispiel, und alle Minister des Staates. Dein Volk ist treu und gehorsam …« »Das klingt nicht schlecht«, sagte Lukas. »Gewiß, Strom der Gnade«, fuhr Locman fort. »Du hast Gouverneure und Vizegouverneure, Beamte und Vizebeamte, Richter, Polizisten und Henker, die allesamt dafür sorgen.« Locman zögerte, dann schränkte er vorsichtig ein: »Allerdings ist da noch die Provinz Bishangar – ach, diese nördlichen 27
Stämme mit ihrem selbsternannten König waren schon immer Widersacher und Unruhestifter. Geh in den Basar, und du wirst es hören: »Begegne einem Bishangari, und du begegnest dem Teufel.« Manche Gelehrte meinen, die dünne Luft in den Bergen habe ihren Hirnen zugesetzt. Andere führen ihre Widerborstigkeit darauf zurück, daß die Bishangari ihren Frauen zuviel Befehlsgewalt einräumen. Wie auch immer, die Bishangari sind verrückte Wilde.« Das klang wenig ermutigend, und so bohrte Lukas weiter: »Also gut. Du hast behauptet, meine Ankunft sei vorausgesagt gewesen. Wie ist das möglich? Saß denn nicht bereits ein König von Abadan auf dem Thron?« »Der alte König starb vor zwanzig Tagen«, erwiderte Locman, »ohne einen Erben oder auch nur Angehörige von königlichem Geblüt zu hinterlassen. In einem solchen Fall, so will es das Gesetz und der Brauch, hat der Hofastrologe die heilige Verpflichtung, den Nachfolger zu ermitteln: wo er zu finden ist und woran man ihn erkennt. Ich konsultierte daher meine Bücher und Tabellen, beobachtete den Himmel, zog alle Lehren meiner Wissenschaft zu Rate und kam zum eindeutigen Schluß: der neue König von Abadan sitzt unter einem Feigen baum und wartet auf seine Entdeckung. Wir fanden ihn in der Tat. Jedoch hatte er von den Feigen genascht und war daran erstickt. Ich zeichnete meine Karten und Tabellen neu und entnahm ihnen: der wahre König steht im Osten des Landes auf einem Berggipfel. Auch ihn fanden wir, doch war er leider mittlerweile in eine Schlucht gefallen und hatte dabei das Leben ausgehaucht. Erneut begann ich zu rechnen und zu forschen, um zu erkennen: heute wird der König von Abadan aus dem Meer steigen – und das hast du auch getan.« 28
Locman, glücklich wie ein Kind, weil sich seine Prophe zeiung endlich erfüllt hatte, schien gar nicht erfahren zu wollen, woher Lukas gekommen war. Lukas wieder war froh, die Sache auf sich beruhen lassen zu können, und setzte seine Befragung fort: »Gut, Locman, nun zu dem – Mißverständnis mit Nahdir. Wie konnte er mich nur für einen Ausreißer halten?« »Er sah dich mit einer Sklavin aus Bishangar, die kurz zuvor ein Pferd gestohlen hatte und aus dem Palast geflüchtet war. Ich folgte Nahdir ans Ufer, um bei deiner Ankunft anwesend zu sein. Nahdir sah dich zuerst. Er hat vorschnell gehandelt, aber du mußt ihm zugestehen, König, daß du nicht gerade – nun, sagen wir: majestätisch gekleidet warst. Und so glaubte er eben, ehe ich ihn hindern konnte, daß du mit der jungen Sklavin im Bunde stehst – als ihr Liebster oder Komplize – oder daß du selbst ein Sklave bist.« »Wurde das Mädchen gefangen?« »Leider noch nicht«, erwiderte Locman. »Dabei war das Pferd ziemlich wertvoll.« Shugdad kam und bat den Mittelpunkt des Weltalls wortreich, auch andere Räume des Palastes mit seiner Anwesenheit zu beglücken. Lukas hatte sich bis zum Platzen vollgestopft und hätte ein Schläfchen vorgezogen; Locmans Bericht hatte ihn jedoch davon überzeugt, daß diese Leute nicht spaßten: In ihren Augen war er der König von Abadan, also mußte er auch seine Residenz kennenlernen. So brach er auf, Locman zur Rechten, Shugdad zur Linken, die Minister hinterdrein. Der Palast von Shirazan war unermeß lich groß, und seine Pracht war überwältigend: riesige Hallen
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mit schimmernden Mosaiken, Alabasterkuppeln, schattige Innenhöfe, blühende Gärten … Zuletzt konnte Lukas beim besten Willen nichts mehr aufnehmen. Die Beine gaben unter ihm nach, die Augenlider wurden schwer wie Blei; er gähnte unköniglich und erklärte, nun sei Schluß, obwohl Locman versicherte, er habe kaum die Hälfte des Palastes gesehen. Man geleitete ihn zu seinen Privatgemächern, die mindestens ebenso viele Zimmer und Flure hatten wie das Rathaus in ZaraPetra. Lukas entließ seine Minister und warf sich ohne Umschweife auf das königliche Bett. Endlich war er allein, und so erschöpft er auch war, mußte er doch von ganzem Herzen lachen. Jetzt endlich meinte er den Überraschungen des Tages bis auf den Grund geblickt zu haben. »Battisto, du Schurke! Jetzt ist mir klar, worauf du es abgesehen hattest. Du wolltest mir eine Gefälligkeit erweisen. Du würdest mir etwas Wunderbares zeigen, hast du gesagt, und du hast mich gewarnt: ich würde auch in Gefahr geraten. Und doch, was für ein Festtag war das! Ich danke dir! Du hast dich für meine Silbermünze mehr als erkenntlich gezeigt. Ach, wenn mich Nicholas jetzt sehen könnte! Oder«, fügte er hinzu, »wenn ich ihn jetzt sehen könnte.« Lukas, der nie ein Heim gehabt hatte, litt plötzlich unter Heimweh. Aber tapfer schluckte er den Kloß im Hals hinunter und gab sich den Rat, dieses gute Leben zu genießen, solange es währte. Damit rollte er sich auf die Seite und fiel in einen glorreichen Schlaf.
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uch am folgenden Tag war Lukas davon überzeugt,
daß Battisto alles nur zu seinem persönlichen
Vergnügen arrangiert hatte, und er befahl, durch seine
königliche Hauptstadt geführt zu werden. Locman hatte Shirazan eine »makellose Perle« genannt. Lukas hätte sie gerne bewundert, doch wurde ihm dazu keine Gelegenheit geboten – denn kaum hatte man ihn in feinste Gewänder gehüllt, ihm einen juwelenbestickten Turban auf den Kopf gestülpt, ihm einen Gürtel mit einem edelstein geschmückten Dolch um den Bauch gebunden und ihn in dieser Aufmachung in einen Innenhof geleitet, drängte man ihn, einen ringsum geschlossenen Tragsessel zu besteigen. Ein halbes Dutzend Sänftenträger stemmte ihn hoch und setzte sich durch das Palasttor in Marsch. Shugdad trabte auf einem Rappen voran; Locman, der den Zeitpunkt des Aufbruchs falsch berechnet hatte, mußte zurückbleiben. Das goldene Gitterwerk, das die Sänfte umgab, gestattete kaum einen Ausblick. Lukas wurde durch eine jubelnde Menge getragen, die sich vor ihrem unsichtbaren Herrscher in den Staub warf, und er 31
sagte sich, ebensogut hätte an seiner Stelle Battistos Affe in der Sänfte hocken können. Er vermochte bloß die Finger durch das Gitter zu stecken und seine Untertanen mit einer eher bescheidenen majestätischen Geste zu grüßen. Von der Stadt gewann er nur einen flüchtigen Eindruck: Türmchen, Kuppeln und Gebäude in allen Regenbogenfarben, massive Steinwälle mit hohen Wehrtürmen, großzügige Arkaden, ein wuchtiges Stadttor. Obwohl die Sonne schien, wirkten die Türme kalt und abweisend wie Eiszapfen. Das einzige Stadtviertel, das er anheimelnd unordentlich, laut und von unbeschreiblichem Gestank erfüllt fand, war der Basar. Dort herrschte ein solches Gedränge von feilschenden Händlern, Lastträgern, Bettlern, Maultieren und hochbepackten Kamelen, daß Nahdirs Soldaten den Weg mit dem Schwertknauf bahnen mußten. Lukas spitzte die Ohren, seine Augen begannen zu glänzen. Er rief den Trägern zu, anzuhalten und ihn aussteigen zu lassen. Der Befehl verhallte ungehört oder unbeachtet – und schon ging es zurück zum Palast, wo Lukas enttäuscht und verärgert eintraf. Gleich schleppte ihn die Dienerschar in die königlichen Bäder, wo er gebürstet, abgerubbelt und abwechselnd in Wannen mit eiskaltem oder brühheißem Wasser getaucht wurde; man puffte, schabte, knetete, salbte und parfümierte ihn und kleidete ihn in frische Gewänder. Noch nie zuvor war Lukas so verdächtig sauber gewesen, und immer noch lechzte er danach, den Basar aus der Nähe zu sehen. Der Großwesir erklärte jedoch, die Überlieferung verbiete es einem König von Abadan, außer in Kriegszeiten, seinen Fuß jenseits der Palastmauern auf den Boden zu setzen.
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»Wenn das so ist«, erwiderte Lukas, »erlasse ich sofort ein neues Gesetz: Der König von Abadan geht wann immer, wohin immer – und wie immer es ihm gefällt.« »Mittelpunkt des Weltalls«, erwiderte Shugdad, »Gesetze lassen sich mühelos ändern, nicht aber Überlieferungen. Zu bestimmten Anlässen schickt es sich gerade noch, daß du, sofern du dies wünschst, mit angemessenem Gefolge zu Pferd ausreitest. Der Kommandant der Wache wird dir dabei unter tänigst zu Diensten sein.« »Ich muß also entweder Nahdirs liebenswerte Gesellschaft hinnehmen oder mich wie ein Papagei im Käfig herumtragen lassen«, murrte Lukas. Da ihm keine andere Möglichkeit einfiel, diese lächerliche Beschränkung aufzuheben, hielt er sich einstweilen auf andere Weise schadlos: Da er sich indessen an den Schock der Sauberkeit gewöhnt hatte, sprang er ins Wasser der königlichen Bäder und schwamm und planschte dort nach Herzenslust herum. Die Hof Schneider statteten ihn mit immer neuen und immer erleseneren Gewändern aus. Lukas, der nie mehr als eine Hose besessen hatte und dessen kärgliche Unterkleidung stets im Zustand der Auflösung gewesen war, wechselte jetzt die Garderobe, sooft es ihm in den Sinn kam. Er, der sich nie hatte satt essen können, stopfte sich mit Süßspeisen und Kuchen voll und schlürfte die parfümierte Limonade, die ihm die Palast köche reichten. »König sein ist gefährlich!« sagte er sich. »Wenn das so weitergeht, verliere ich vor lauter Schlemmerei noch den Appetit.«
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Wurde ihm das Schwimmen, Schmausen und Anmessen neuer Gewänder langweilig, ging er in den königlichen Gärten spazieren. Aber schon nach kurzer Zeit raubte ihm dort der Duft der Rosen und des Jasmins den Atem. »Dieser Ort könnte zur Belebung ein wenig Unkraut vertragen«, brummte er. »Und ein Pfau ist zwar sehr schön, aber ein Papagei wäre mir lieber; dann hätte ich wenigstens einen vernünftigen Gesprächspartner.« Shugdad war ein unermüdlicher und stets dienstbereiter Höfling, aber je seltener Lukas ihn sah, um so wohler fühlte er sich: Die Anwesenheit des Wesirs machte ihn frösteln. Nahdir, der Kommandant der Wache, war noch schlimmer: ein dummer, brutaler Kerl, fand Lukas. Mehr als einmal mußte Lukas mit ansehen, wie der Mann die Reitgerte zog, um einen seiner Hauptleute auszupeitschen. Locman war gutmütig und ein netter Gesellschafter, sprach aber selten von etwas anderem als von seinen Sterndeutungen. »Alle Zeichen stehen gut, Mittelpunkt des Weltalls!« strahlte Locman eines Morgens, als er wieder einmal vor Lukas die Karte mit dem Tageshoroskop ausbreitete. »Sämtliche Gestirne sind, wo sie hingehören. Sieh nur, welche wunderbare Symmetrie und Ausgewogenheit! Hier ziehen die Sterne ihre gewaltigen Bahnen! Die Konstellation entspricht allen Erwartungen! Ich habe es geahnt, ich habe es gewußt, ich habe es mit bewundernswerter Exaktheit vorausgesehen! Gestatte mir, deine Aufmerksamkeit auf diesen faszinierenden Kometen zu lenken.« Voll Eifer bückte sich der Sterndeuter über seine Tabellen; Lukas hingegen dachte an etwas anderes: »Das flüchtende Mädchen, damals am Strand…«
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»Ach, sprechen wir davon?« Locman blinzelte. »Vergib mir, ich muß den Faden deiner erleuchteten Bemerkungen verloren haben. Ich dachte, unser Gesprächsthema seien die Kometen.« »Es ist mir nur so eingefallen«, sagte Lukas, obwohl ihn die Erinnerung an das Mädchen plagte, wie ein Holzsplitter im Finger: unerheblich, aber stets spürbar. »Ich wollte bloß wissen, ob man sie schon erwischt hat.« Locman zupfte an seinem Bart, als könne er sich so besser von dem Kometen losreißen und sich irdischen Angelegenheiten zuwenden. »Ach ja, das Mädchen… Doch, mein König, ich erinnere mich, sie wurde gefangen.« »Ich würde sie gern sehen«, sagte Lukas leichthin. »Kannst du das veranlassen?« »Ganz, wie der König befiehlt. Die Oberaufseherin der Sklavinnen wird den Befehl erhalten, dieses Individuum vor dein Angesicht zu führen.« Lukas hatte die Aufseherin als eine Frauensperson von beachtlichem Übergewicht in Erinnerung, die sich ständig kandierte Rosenblätter in den Mund stopfte. »Das Weib ist mir zu dick für eine Privataudienz«, erklärte er. »Ich möchte mit dem Mädchen allein sein.« »So soll es geschehen«, sagte Locman zögernd. »Du solltest allerdings wissen, daß es nicht ganz der Etikette entspricht, einer Bishangari-Sklavin eine Audienz unter vier Augen zu gewähren. Andererseits stünde es dir durchaus zu, das Mädchen zu deinem persönlichen Eigentum zu erklären.« »Ich möchte sie nicht geschenkt haben«, sagte Lukas, »ich möchte bloß mit ihr reden.«
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Mit der Beteuerung, alles zu veranlassen, zog sich der Stern deuter zurück. Der Tag verstrich, und Lukas dachte schon, Locman habe über seiner Berechnung der Planetenbahnen den Auftrag verges sen. Am nächsten Nachmittag stieß jedoch der Oberhofmeister das Mädchen in den Saal und erklärte mit unverhüllter Mißbilligung: »Wie der König befahl, bringe ich hier dieses Subjekt, das sich Nur-Jehan nennt.« Statt sich wie alle anderen Untertanen auf den Boden zu werfen, blieb Nur-Jehan mit erhobenem Kopf stehen und betrachtete Lukas, als sei er ein auf eine Nadel gespießtes Insekt, nicht ein König auf seinem Thron. In ihrem ärmellosen Kleid, das um die Mitte mit einem Tuch gebunden war, wirkte sie dünn, beinahe zerbrechlich. Ihr lohfarbenes Haar hing tief in die hohe, sonnengebräunte und sommersprossige Stirn. Das Gesicht war unansehnlich – bis auf die ungewöhnlichen katzen gelben Augen, die ihn unverwandt anfunkelten; unter ihrem Blick fühlte Lukas sich äußerst unbehaglich. Da sie trotzig schwieg, suchte er nach einem Vorwand, das Gespräch zu eröffnen, und fragte, wie lange sie schon eine Sklavin sei. »Ich bin keine Sklavin«, erwiderte sie steif. »Verzeihung! Man hat mir gesagt, du seist eine.« »Bin ich es deshalb? Sagt man denn nicht auch zu dir: »Mittelpunkt des Weltalls«?« Das Mädchen starrte ihn immer noch an. Lukas mußte zugeben, daß Nur-Jehan es mühelos geschafft hatte, ihn zu beleidigen.
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Sicherheitshalber beschloß er, das Thema zu wechseln, und begann erneut: »Vor einiger Zeit, am Strand… Du wirst dich vielleicht nicht mehr erinnern …« »Ich erinnere mich sehr wohl.« Nur-Jehans Tonfall ließ keinen Zweifel, daß ihr die Erinnerung nicht behagte. »Zugegeben, wir hatten beide unsere Probleme. Das war übrigens ein prächtiges Pferd, das du gestohlen hast.« »Ich habe Rakush nicht gestohlen. Wir sind keine Pferdediebe wie die Abadanis. Rakush gehört mir. jetzt wird er allein nach Bishangar zurückkehren. Ich mußte ihn ziehen lassen, als ich erkannte, daß man mich erneut festnehmen würde. Sonst hätte er bis zuletzt um mich gekämpft – wie schon beim erstenmal, als man uns in den Bergen überrumpelte.« Lukas grinste ihr zu: »Du bist also eine Wegelagerin! Man sagt mir, alle Bishangaris seien Straßenräuber.« »Das sind wir. In den Augen der Abadanis.« »Im Ernst«, sagte Lukas, »kommst du aus einem Dorf? Was hast du dort gemacht, ehe man dich gefangennahm? Immerhin: du kannst gut reiten.« »Das können wir alle. Wünscht der König mehr über Bishangar zu erfahren? Das bezweifle ich. Die Sklaven aufseherin ist erbost darüber, daß ich ohne sie hierhergebracht wurde. Dafür werde ich mit Prügeln zahlen müssen. Ein schlechter Tausch dafür, daß der König mir nichts von Bedeutung zu sagen hat.« »Ich werde dafür sorgen, daß man dich nicht mißhandelt. Ich dachte doch nur, ich könnte dir meine Hilfe anbieten.«
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»Der König will uns helfen? Dann soll er befehlen, man möge aufhören, uns zu töten.« »Ich weiß nicht gerade viel über Abadan und Bishangar«, räumte Lukas ein. »Ich bin eben noch nicht lange genug König. Was ich meinte, war: ich möchte dir hier helfen. Hier, im Palast.« »Dann laß mich in meine Kammer zurückbringen.« Lukas erkannte, daß alle seine guten Absichten nichts fruch teten. Dieses Mädchen war rüde, übellaunig und undankbar; obendrein behielt es mühelos die Oberhand. »Es ist dir wohl bewußt«, sagte er, »daß ein Wort von mir genügt: »Dem König bequemt es, eine gewisse Bishangari zu seinem Privatbesitz zu erklärend« »Ja, das ist das Vorrecht des Königs«, räumte Nur-Jehan ein. »Aber ich kann dem König versichern, daß er diesen Wunsch bald bereuen würde.« Und weil sie nach dieser Feststellung beharrlich schwieg, ließ Lukas schließlich den Oberhofmeister kommen und erklärte die Audienz für beendet. Seine einzige Genugtuung bestand darin, das Mädchen nie wiedersehen zu müssen. Aber der Stachel der Begegnung schmerzte. Es mußte doch Wege geben, davon war Lukas überzeugt, dieses aufsässige Wesen dazu zu bringen, ihn gebührend zu beachten. »Ob alle in ihrem Land so sind wie sie?« überlegte er. »In diesem Fall werde ich mir die Reise verkneifen.« Als Shugdad mit Papieren erschien, die vom König unterschrieben Und gesiegelt werden mußten, verlangte Lukas mehr über die Bishangaris zu erfahren. 38
Der Großwesir wiederholte im wesentlichen, was schon Locman gesagt hatte, und fügte bloß hinzu, diese Menschen seien halsstarrig, überheblich und nicht zu zähmen. »Stimmt«, knurrte Lukas. »Das habe ich gemerkt.« »Ihr sogenannter König«, fuhr der Wesir fort, »ist ein Kerl namens Ardashir. Er ist nichts weiter als der Anführer einer Räuberbande, ein Dorn im Fleisch Abadans. Aber ein Dorn, den man ausreißen wird. Es trifft sich gut, Zierde der Zeiten, daß du die Frage aufgeworfen hast. Um so rascher wirst du den Tag herbeiführen, an dem du sie ausrottest bis zum letzten Mann, Weiber und Kinder gleich dazu.« »Augenblick! Wer spricht hier von Ausrotten?« Er schauderte, als er begriff, mit welcher Leichtigkeit Shugdad von der Vernichtung einer ganzen Provinz sprach. »Das wäre ja Wahnsinn! Laß diesen Ardashir seiner Wege gehen, mag er ein Straßenräuber sein oder nicht. Mein Gefühl sagt mir, daß wir die Angreifer sind, nicht die Bishangaris.« »Sie müssen ein für allemal unterworfen werden«, beharrte der Wesir. »Dann endlich wirst du die Berge von Ramayan besitzen.« »Ach, es geht also um Berge?« erwiderte Lukas. »Und ich soll sie besitzen. Wozu? Soll ich sie mit der Schippe abtragen und nach Abadan bringen lassen?« Der Großwesir lächelte nachsichtig. »Der König kennt wohl die näheren Umstände nicht: Die Bishangaris treten ihren Reichtum mit Füßen; sie verstehen nicht, daraus Gewinn zu ziehen. Ihre Berge strotzen von Gold, Silber und Edelsteinen! Nur ein schlechter Herrscher überläßt solche Schätze einem Haufen Wilder und ihren Bergziegen …« 39
»So ist das also!« unterbrach ihn Lukas. »Dich stört nicht, daß Ardashir ein Räuber ist, dir mißfällt sein Reichtum. Ich hätte das gleich kapieren müssen; deine Augen beginnen nämlich immer voll Habgier zu glitzern, sobald du von Geld sprichst – ist dir das eigentlich bewußt? Nein, es tut mir leid, dich zu enttäuschen, aber fürs Blutvergießen bin ich nicht zu haben. Hin und wieder eine kleine Gaunerei, bei der keiner ernsthaft Schaden nimmt, darüber läßt sich reden; aber Mord und Totschlag kommen nicht in Frage.« »Gestatte einem ergebenen Diener den Hinweis, daß es deine heilige Pflicht ist, das Wohl des Reiches zu mehren. Doch mußt du dich darum nicht selbst bekümmern. Ich und dein Kriegsrat werden alles veranlassen. Du mußt nicht einmal den Oberbefehl im Feld übernehmen – außer, wenn du dies ausdrücklich wünschst, wovon ich jedoch dringend abrate.« »Und ob ich das Kommando übernehmen werde!« rief Lukas. »Und zwar auf der Stelle. Ich befehle dir, Großwesir, sofort mit diesem Unsinn aufzuhören.« »Der König«, versetzte Shugdad, »wird seine Pflichten erfüllen.« »Und der Großwesir ebenfalls! Du wirst tun, was ich befohlen habe.« Shugdad schien nahe daran, sich zu widersetzen, verneigte sich aber statt dessen, murmelte einen seiner Ergebenheits sprüche und zog sich zurück. Lukas spürte deutlich, daß Shugdad seine Anweisungen nicht befolgen würde. »Dieser Bursche tut zwar wie Samt und Seide«, knurrte er, »aber darunter hält er ein Rasiermesser verborgen.«
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So ungern er es zugab: er hatte plötzlich Angst! Lange überlegte er. Dann schlug er sich mit der Hand gegen die Stirn. »Ich Dummkopf! Ich vergesse immer noch, daß ich König bin! Natürlich! Nichts leichter als das!« Er ließ Locman holen. Es dauerte eine Weile, bis der Sterndeuter erschien. Lukas hatte eigentlich vorgehabt, sich in den königlichen Bädern zu vergnügen, und nicht erwartet, daß Staatsangelegenheiten ihm den Spaß verderben würden. Daher kam er gleich zur Sache, als der Astrologe endlich in den Saal humpelte. Erregt auf und ab schreitend, eröffnete er dem Alten, daß er Shugdad mißtraue, daß zwischen ihm und dem Großwesir Mißstimmigkeit herrsche, und er erklärte rundheraus: »Ich möchte den Kerl feuern. Wie stelle ich das an?« Locman überlegte kurz. »Ganz einfach«, sagte er dann. »An glühenden Kohlen sollte es in der Küche nicht mangeln.« »Feuern will ich ihn – nicht anzünden!« rief Lukas. »Rausschmeißen! Davonjagen!« »Das ist allerdings eine andere Sache.« Locman zog die Stirn in Falten. »Zierde der Zeiten, das läßt sich nicht machen.« »Was soll das heißen?« explodierte Lukas. »Wo ich her komme, zieht man den Bäckerjungen an den Ohren, wenn er vergißt, das Brot aus dem Ofen zu holen. Jede Küchenmagd muß für eine zerbrochene Tasse büßen.« »Wir halten es hierzulande nicht anders«, bestätigte Locman. »Aber nur, wenn es das niedere Volk betrifft. Einen Wesir hingegen kann man nicht davonjagen.« »Wird er mir also bis in alle Ewigkeit im Nacken sitzen?«
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»Keineswegs«, sagte Locman. »Man kann ihn zwar nicht entlassen – das wäre eine undenkbare, nie dagewesene Entwürdigung –, man kann ihn aber in allen Ehren köpfen. Edelmänner von seinem Rang werden nach herrschender Sitte enthauptet, vorzugsweise mit einem goldenen Schwert. Shugdad wäre der erste, der das billigen würde.« Lukas setzte sich. »Was? Zum Teufel schicken darf ich ihn nicht, umbringen schon?« »Ins Jenseits »Jederzeit.«
befördern«,
korrigierte
Locman
sanft.
Lukas verstummte; das mußte er erst verdauen. Schließlich seufzte er: »Also gut, dann werde ich mir eben etwas anderes einfallen lassen.« Er berichtete Locman, wie es zu dem Zerwürfnis mit dem Wesir gekommen war, und bat den Sterndeuter um seine Meinung. »Wer wie ich das Universum erforscht«, erwiderte Locman, »die Himmel und die ungeheuren Wege der Vorsehung, die dann geschrieben stehen, hält wenig von solchen irdischen Belangen; sie sind bloß flüchtige Schatten.« »Ach ja«, seufzte Lukas, »ich dachte, daß du derlei sagen würdest.« »Wenn ich mich nun aber schon den niederen Dingen zuwenden soll, die hier im Palast geschehen«, fuhr Locman fort, »kann ich dir eines versichern: es wird bloß viel geredet. Pläne werden geschmiedet und wieder verworfen. Der entscheidende Krieg gegen König Ardashir wird schon seit langem ausgeheckt; das war zu Lebzeiten deines Vorgängers nicht anders. Die
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Ratgeber und Offiziere fassen Beschlüsse und heben sie wieder auf, sie einigen sich und beginnen von neuem zu zanken …« »Laß sie nur streiten!« sagte Lukas. »Aber ich? Was soll ich unternehmen?« »Was ein König üblicherweise unternimmt«, antwortete der Sterndeuter. »Nichts. Überhaupt nichts.«
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ie immer, wenn man ihm einen guten Rat gab, tat Lukas das Gegenteil. Am folgenden Morgen stand er – zu seiner Überraschung und jener der königlichen Kammerdiener –bereits am späten Vormittag auf. Ursprünglich hatte er gedacht, den Tag in den Bädern zu beginnen, dann ein wenig mit den gezähmten Falken zu spielen und sich zuletzt dem vertrackten Problem zuzuwenden, was er sich zum Essen wünschen solle. Nun aber begab er sich schnurstracks an den einzigen Ort, den er bis jetzt gemieden hatte: in die Hohe Ratskammer. Hier wurden nur die bedeutendsten Staatsangelegenheiten verhandelt. Folgerichtig erwarteten die königlichen Minister nicht, daß er jemals den Fuß über die Schwelle setzen werde. Shugdad hingegen war selbstverständlich anwesend. Lukas hatte voll Schadenfreude damit gerechnet, seinen Wesir vor Wut platzen zu sehen, doch hieß ihn dieser mit allen Anzeichen der Freude und Dankbarkeit willkommen: »Zierde der Zeiten, beglücke deine Diener mit den schimmernden Perlen deiner
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Weisheit! Erhelle die Schatten unseres Unwissens! Wir hängen an deinen Lippen; wir harren deiner Worte!« Ein wenig verwirrt durch diesen herzlichen Empfang untersagte Lukas dem Rat, weiterhin eine Invasion Bishangars vorzubereiten. Er forderte alle auf, mit König Ardashir einen Pakt zu schließen und um die Schätze zu handeln, statt sie im Sturm zu nehmen. Während er sprach, merkte er, daß einige Ratgeber hinter vorgehaltener Hand miteinander flüsterten und ihm dann zulächelten; andere freilich unterdrückten mühsam ein Gähnen. Als Lukas geendet hatte, stellte ihm Shugdad mit ausge suchter Höflichkeit eine Anzahl von Fragen über die Form des Vertrages, die Berücksichtigung gewisser Gesetze, die allge meinen Handelsbeziehungen und den gegenwärtigen Zustand der Königlichen Schatzkammer. Lukas errötete, und weil er nicht zugeben wollte, daß ihm die Fragen des Wesirs völlig unverständlich waren, gab er stotternd die nächstbeste Antwort, die ihm in den Sinn kam. Daraufhin dankte ihm Shugdad überschwenglich für die lehrreichen Ausführungen, beschwor ihn, wiederzukommen, wann immer es ihm beliebe, um den Rat mit seiner Weisheit zu erleuchten – und drängte ihn unter vieler. Bücklingen aus dem Saal. »Zum Teufel mit Shugdad!« schäumte Lukas, nachdem er in seine Gemächer zurückgekehrt war. »Dieser verfluchte seidenweiche Heuchler hat mich zum Idioten gemacht!« Er unterbrach sich: »Noch schlimmer, ich selbst habe mich zum Idioten gemacht.«
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Zutiefst getroffen, mußte er sich mit der schmerzlichen Tatsache abfinden, daß ein König, der seine Tage mit Gelagen und Badespäßen vertat, Seifenblasen aus der Wasserpfeife pustete und stets nur seinem Vergnügen nachging, kaum auf ernsthafte Beachtung hoffen durfte. Sobald es über die Entscheidung hinausging, welche Farbe heute sein Turban haben solle, hatte der Mittelpunkt des Weltalls nicht mehr zu bestimmen als ein königlicher Teppichausroller. »Wahrscheinlich sogar weniger«, mußte Lukas zugeben. »Nun gut. Es gibt viele Arten, eine Katze zu häuten; und wie man einen Großwesir häutet, finde ich auch noch heraus.« Locman hatte Streit und Zwietracht unter den Ratgebern vorausgesagt. Nun gut! Lukas würde dafür sorgen, daß diese Prophezeiung eintraf! In Zara-Petra hatte er mühelos gelernt, was er fürs Leben brauchte, ohne sich deshalb den Kopf mit Büchern zu beschweren. Das Schulhaus war ihm stets verdächtig gewesen: ein Ort der Gefahr für Leben, Leib und Hirn. Aber nun ließ sich Lukas vom Königlichen Archivar einen dicken Wälzer nach dem anderen herbeischaffen und verbrachte Tage und Nächte mit dem Studium der Gesetze, der Vergangenheit, der Geographie und der Rechenkunst. Harte Denkarbeit gehörte zu den schlechten Gewohnheiten, die Lukas bislang mit Erfolg gemieden hatte. »Aber was sein muß, muß sein«, seufzte er. »Schlimmer als ein Hexenschuß ist das Lernen sicher auch nicht.« Das Studium setzte aber nicht nur seinem Kopf zu, es brachte ihn auch um die gewohnten Vergnügungen.
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»König sein ist eine Plage!« stöhnte Lukas. »Kaum zu glauben, was man alles wissen muß, um ein Reich zu regieren!« Noch mehr bestürzte ihn die Erkenntnis, daß er seinen Wissensrückstand nicht innerhalb weniger Tage aufholen konnte. Daher tat er einstweilen das, was er ohnedies beherrschte: Verwirrung stiften und Leute ärgern. Von den Ministern forderte er Berichte und Finanzvorlagen. Gab man sie ihm, befand er, sie seien zu ausführlich, wies sie zurück und befahl, sie umzuschreiben. Die neue Fassung lehnte er wieder mit der Begründung ab, sie sei nicht ausführlich genug. »Der Stadtschreiber von Zara-Petra wäre gewiß stolz auf mich!« sagte sich Lukas zufrieden. Die Kriegsvorbereitungen gingen daher zwar mit jedem Tag schleppender voran, doch gab es für Lukas Augenblicke, in denen seine Hoffnung sank. Eines Nachmittags fühlte er sich so bedrückt, daß er den Hofastrologen fragte, ob er denn überhaupt keine optimistischen Prophezeiungen auf Lager hätte. »Oh, doch, Sonne der Erleuchteten«, erwiderte Locman. »Alle Zeichen deuten darauf hin, daß du dich einer langen, ruhmreichen und triumphalen Regentschaft erfreuen wirst.« »Sehr gut«, sagte Lukas, »ich kann nur hoffen, es stimmt.« »Es muß stimmen«, antwortete Locman. »Diese Prophe zeiung gilt für jeden König von Abadan. Wenn sie nicht eintrifft, liegt die Schuld am König und nicht an seinem Horoskop.« Lukas dankte Locman für diese ermutigenden Worte und entließ ihn.
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Immerhin häuften sich bis zum Ende der Woche die Beweise, daß seine Störversuche prächtige Folgen zeigten: Der Königliche Schreiber verlor die Geduld und warf dem Hof richter ein Tintenfaß an den Kopf. Der Kriegsminister hieß den Kommandanten der Palastwache einen Esel; und die gesamte Ratsversammlung lag sich heftiger in den Haaren denn je. Gleichzeitig brachten ihm seine Studien aber noch andere Aufschlüsse. Zu seiner größten Bestürzung erkannte Lukas, daß auch geringste Vergehen mit schrecklichen Strafen geahndet wurden: Das Abhacken der Hände und Ausstechen der Augen galt noch als vergleichsweise milde. Ihn schauderte bei dem Gedanken, womit er in Abadan für die Streiche büßen müßte, die er in Zara-Petra begangen hatte. Bei der nächsten Unterredung mit Locman pochte Lukas mit dem Finger auf das dickleibige Gesetzbuch und sagte: »Sieh dir das einmal an! Was hier steht, mag zwar als Recht gelten, aber mit Gerechtigkeit hat es nichts zu tun.« »Mittelpunkt des Weltalls!« protestierte Locman. »Diese Gesetze wurden von den aufrechtesten und ehrenwertesten Richtern des Landes geschaffen. Von tugendhaften Gelehrten mit einwandfreiem Charakter …« »Da liegt ja der Hund begraben!« rief Lukas. »Sie brauchen die Gesetze nicht, die sie erlassen haben; sie bekommen sie nie zu spüren. Ein Häufchen ehrenwerter Leute, keine Frage – aber die weniger ehrenwerten sind weit in der Überzahl. Nein, dieser ganze Gesetzesmist muß geändert werden.« »Wenn dies dein königlicher Wille ist«, sagte der Sterndeuter, »wird der Oberste Gerichtshof mit Freude deinem Befehl gehorchen, neue Richtlinien ausarbeiten und die Entwürfe 48
unverzüglich vorlegen – in, sagen wir, etwa fünf oder sechs Jahren.« »Und was geschieht in der Zwischenzeit?« rief Lukas. »Ach was, ich werde mich selbst um die Sache kümmern.« Er schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Ist es denn nicht schlimm genug, daß ich mich mit dem Hohen Rat und den Bishangaris herumschlagen muß? Und jetzt auch noch das! Was ist bloß aus meinen Mußestunden geworden?« Er sehnte sich nach dem Tag, an dem er sich wieder ernsthaft dem Vergnügen widmen konnte. Mehr als einen gelegentlichen Spaziergang in den Gärten durfte er sich bis dahin nicht gönnen. Einmal schlenderte er bei solcher Gelegenheit durch dichtes Buschwerk, drang weiter vor, als er bisher gewagt hatte, und genoß es, sich davongestohlen zu haben. Plötzlich hielt er an. Jenseits einer niedrigen Mauer lag, von einem Eisengitter umgeben, ein Innenhof. In einer Ecke saß Nur-Jehan auf einer Bank. Lukas eilte ans Gitter und rief ihr einen Gruß zu. Als sie ihn erblickte, erschrak Nur-Jehan und sprang auf: »Was hast du hier zu suchen? Deinetwegen bin ich bereits ausgepeitscht worden; soll ich deinetwegen auch den Kopf verlieren?« »Sind dies denn nicht die Königlichen Gärten?« erwiderte Lukas. »Wenn einer das Recht hat, sich hier aufzuhalten, dann…« »Du befindest dich im Bereich der Frauengemächer. Dort ist nicht einmal dem König der Zutritt gestattet. Du dürftest demnach gar nicht hier sein.«
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»Ich bin es aber«, sagte Lukas. »Und da es einmal so ist, will ich dir etwas erzählen; es wird dich interessieren.« »Was kann ein König von Abadan mir schon zu sagen haben? Seine Sorgen sind nicht die meinen.« »Erstens«, sagte Lukas, »sollst du nicht zu mir reden, als sei ich Luft für dich. Zweitens bin ich gar nicht wirklich der König von Abadan. Zugegeben, in gewisser Weise schon, aber ich bin nicht, wer ich bin; das glaubst bloß du. Manchmal weiß ich nicht einmal mehr, ob ich überhaupt ich selbst bin. Das heißt, ich weiß es natürlich, aber nach all den seltsamen Dingen, die mir zugestoßen sind…« »Bisher waren die Könige von Abadan entweder Schlächter, Tyrannen oder kindische Greise. Bereicherst du die Auswahl jetzt um einen Narren?« »Ich bin tatsächlich ein Narr, daß ich mit dir rede, obwohl du mir nicht einmal zuhörst«, fuhr Lukas sie an. »Du solltest wissen, daß ich mich bemühe, deinen Kopf zu retten; deinen, den von Ardashir und die Köpfe aller Bishangaris.« Nur-Jehan hatte sich bereits zum Gehen gewandt. Jetzt blieb sie ruckartig stehen. »Was weißt du über König Ardashir?« »Shugdad hält ihn für einen Straßenräuber – was mir beweist, daß Ardashir vielmehr ein ordentlicher Mensch ist. Aber darum geht es nicht.« Da es ihm endlich gelungen war, wenn schon nicht ihre Zuneigung, so doch ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, berichtete er ihr von dem Durcheinander, das er im Hohen Rat angestiftet hatte, und fügte stolz hinzu: »Einige Minister stehen bereits auf meiner Seite. Shugdad kann nicht mehr alles allein bestimmen.« 50
»Und warum ergreift der König die Partei seines Feindes?« »Wie soll ich wissen, ob er tatsächlich mein Feind ist, wenn ich nie versucht habe, ihn zum Freund zu gewinnen? Und überhaupt ist die ganze Sache sinnlos! Am Ende bringen beide Seiten einander um. Denke also bloß nicht, du seist die einzige, die sich um die Bishangaris sorgt! Erst wenn der König eingreift, geschieht etwas; das macht den Unterschied!« »Dann sollte der König auch in meinem Fall eingreifen und mich freilassen oder mir ein Schwert geben, damit ich mich selbst befreien kann.« »Wie kann man nur so blutrünstig sein! Hoffentlich hat Ardashir mehr Verstand als du. Begreifst du denn nicht? Diese Dummköpfe planen ein Massaker! Und ich bin nicht sicher, ob ich das verhindern oder auch nur hinreichend lange hinauszögern kann. Ich weiß ja nicht einmal, wie lange ich hierbleiben soll. Aber wenn Shugdad seinen Krieg bekommt, möchte ich überall in der Welt, nur nicht in Bishangar zu Hause sein. Glaubst du im Ernst, du könntest einfach fliehen und deinen König warnen? Wie edel! Aber allein kommst du nicht weit. Und wenn Ardashir nur ein Körnchen Verstand hat, weiß er von selbst, daß eine Invasion bevorsteht, und muß sich das nicht erst von einer Dorfschönheit sagen lassen.« »Ich will ihn nicht warnen. Ich will bei meinem Volk sein.« »Wie ehrenwert«, sagte Lukas. »Du wirst als ehrenwerte Leiche enden. Verrückt genug, Kopf und Kragen zu riskieren, bist du ja. Aber dazu gebe ich mich nicht her. Nein, der einzige Dienst, den ich dir erweisen kann, ist, dich hierzubehalten. Zu deinem eigenen Besten.« Und zu sich selbst ergänzte er: »Wo habe ich das bloß schon gehört…?« 51
»Der König wünscht also nicht, meinen Hals zu riskieren«, spottete Nur-Jehan. »Und doch scheint er mit Freuden bereit, den eigenen hinzuhalten.« Lukas mußte lachen: »Ach, damit Shugdad hineinbeißen kann? Oder Nahdir?« »Du bist wirklich ein Narr«, erwiderte Nur-Jehan zornig, »und gewiß kein König. Wie lange wird sich der Wesir deine Dummheiten bieten lassen? Du glaubst, einige Ratgeber auf deiner Seite zu haben? Gehst du auch nur einen Schritt zu weit, fallen sie von dir ab. Du wirst sehen, wie sie sich an Shugdad klammern, wie sie um ihren Kopf zittern, aus Angst, vom König sei keine Sicherheit zu erwarten. Du bemühst dich vergeblich. Wenn du trotzdem weitermachen willst, sei auf der Hut! Man wird dich auf eine Kraftprobe stellen, und dann mußt du dem Gegner deine Macht beweisen, noch ehe du sie dir selbst bewiesen hast.« Aus dem Palast wurde nach Nur-Jehan gerufen. Sie verstummte, winkte ihm, sich zu entfernen, und eilte durch die Wandelgänge davon. Lukas wartete so lange wie möglich. Nur-Jehan kam jedoch nicht zurück. Am anderen Morgen war Lukas wieder zur Stelle. Nur-Jehan ließ sich nicht blicken. Er konnte nur kurz bleiben, denn heute war Gerichtstag. Wie bei allen wichtigen Anlässen rechnete niemand mit seiner königlichen Anwesenheit, doch da er noch immer an den neuen Gesetzen schrieb, wollte er unbedingt der Verhandlung beiwohnen, um zu erfahren, wie in Abadan Recht gesprochen wurde. 52
Lukas eilte in den Gerichtssaal. Dort herrschte bereits reges Treiben. Shugdad, umgeben von Schreibern und Sekretären, übte das Richteramt aus. Die Hände auf den Rücken gebunden, kniete der Angeklagte in der Mitte des Raumes. Der Kerl war ein dürrleibiger Galgenvogel mit einer Adlernase; seine Kleidung bestand aus mehreren Schichten von Lumpen, die – dafür hatte Lukas einen erfahrenen Blick – schon von mehreren Vorgängern getragen worden waren. Der Schädel des Mannes war rasiert und so blank wie seine nackten Fußsohlen. Dafür trug er einen riesigen schwarzen Schnurrbart, der wohl üblicherweise nadelscharf nach oben gezwirbelt war. Aber die Schönheit und Eitelkeit des Mannes hatten gleichermaßen gelitten, denn nun hingen die Bartenden zerfranst und traurig herab. Lukas wurde von den Hofbeamten mit der üblichen Fußbodenküsserei empfangen; auch der Wesir erwies ihm zähneknirschend seine Reverenz. Lukas nahm Platz und erbat Auskunft über den soeben verhandelten Fall. »Der Schurke hier heißt Kayim, Herr der Welten«, erläuterte der Königliche Sekretär. »Er ist ein Gaukler, Verseschmied, Dieb, Taschenspieler und Vagabund.« »Alles zugleich?« warf Lukas ein. »Und was hat er verbrochen: einen Diebstahl oder ein schlechtes Gedicht?« Kayim warf flink ein: »Wer nach Silber trachtet,
wird zu Recht verachtet.
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Und kaum besser gilt,
wer Melonen stiehlt.
Doch strafe man nicht unbedingt
den Schelm, dem bloß ein Reim mißlingt.«
Für diesen Zwischenruf bekam er von der Wache einen Hieb auf den Kopf. »Kunstverächter!« knurrte Kayim, wofür er noch eins übergezogen bekam. Der Großwesir wandte sich an Lukas: »Er ist der größte Strolch im ganzen Basar. Ein ehrloser Lump, ein Wurm, ein Nichts.« »Wenn er bloß ein Nichts ist«, meinte Lukas, »warum gibt man sich dann mit ihm ab?« »Er ist des offenen Verrats an seinem König angeklagt!« erklärte Shugdad. »Dann hat er diesen offenen Verrat aber geschickt versteckt; ich jedenfalls habe nichts davon bemerkt.« »Seine Verbrechen«, sagte Shugdad, »richteten sich nicht nur gegen den König, sondern auch gegen den Großwesir und sämtliche Minister.« Der Hofsekretär bekräftigte diese Feststellung und verlas mit lauter Stimme von einem Pergament die Anklage: Ein gewisser Kayim, aufgegriffen dank der Wachsamkeit des Kommandanten Nahdir, habe, vorsätzlich und im Vollbesitz seiner Sinne, im Basar von Shirazan ein Gedicht rezitiert. »Ein Gedicht?« rief Lukas. »Ja, wer andere zwingt, ein Gedicht zu lesen, mag Strafe verdienen. Aber soll denn auch verboten sein, eines aufzusagen?« 54
»Das besagte Gedicht verleumdet und beschmutzt die Offiziere des königlichen Hofes«, las der Sekretär weiter, »ganz besonders Shugdad Mirza und den Mittelpunkt des Weltalls.« Shugdad winkte dem Sekretär zu schweigen. »Es handelt sich um nichts Geringeres als Hochverrat. Der Fall liegt klar; wozu sollte der König seine kostbare Zeit mit Rechtsprechung verschwenden …« »Man hat mich so oft beleidigt«, sagte Lukas, »daß ich gern wüßte, ob dem Kerl etwas Neues eingefallen ist.« Ohne auf den Protest des Wesirs zu achten, befahl er dem Gefangenen, sich zu erheben und die Verse zu wiederholen. »Laß mich nachdenken!« Kayim kratzte seinen kahlge schorenen Schädel. »Es war vor allem eine Beleidigung – mit einer Prise übler Nachrede und, um dem Ganzen Würze zu geben, kräftig mit Schmähungen durchsetzt. Da dies wahrscheinlich mein letztes öffentliches Auftreten ist, liegt mir daran, mein Werk fehlerlos wiederzugeben.« Er räusperte sich und begann, ein miserabel gereimtes, aber überaus komisches Gedicht über einen vom Pech verfolgten Fischer vorzutragen. Zweimal versuchte dieser, einen Fisch zu fangen, aber jedesmal schnappte ihm ein Hai die Beute vor der Nase weg. Als der Mann zuletzt wenigstens eine winzige Elritze auf den Haken bekam, bemühte er sich, sie auf die Größe eines Herings zu zerren und einem dümmlichen Fischhändler aufzuschwatzen. Das war alles blühender Unsinn, aber so lebendig geschildert, daß Lukas lachte, bis ihm die Tränen über die Backen liefen. Er lachte auch noch, als er längst begriffen hatte: die Elritze war er,
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der neue König von Abadan; der Fischhändler stand für die Minister und der Hai für den Großwesir. »Ich bitte dich, Shugdad! Was ist nur in dich gefahren? Zum ersten Mal habe ich in diesem Palast richtig Spaß gehabt! Gebt dem Mann einen Beutel mit Geld und laßt ihn laufen!« Jetzt erst sah Lukas, wie haßerfüllt Shugdad dreinblickte. Kayims Spottgedicht hatte ihn an einer empfindlichen Stelle getroffen: der Gauner deutete unverhohlen an, daß die beiden vorausgesagten Könige nicht zufällig ums Leben gekommen waren. »Der König wird diesen Schurken zum Tode verurteilen«, erklärte Shugdad mit Bestimmtheit. »Zunächst wird man ihm die Zunge ausreißen, dann schafft man ihn zum Palasttor und spießt ihn dort auf. Das Urteil ist bereits geschrieben.« »Dann laß es umschreiben«, sagte Lukas. »Ich wußte gar nicht, daß du eine so dünne Haut hast, Shugdad. Willst du jeden umbringen, der sich über dich lustig macht? Dann mußt du das halbe Königreich ausrotten. Nein, der Mann wird nicht bestraft.« »Die Gnade ist ein Juwel in der Hand des Königs – wenn er vergibt, was ihm angetan wurde«, erwiderte Shugdad. »Sie ist jedoch Schmutz am Saum seines Mantels, wenn er es zuläßt, daß die Ehre seiner Minister befleckt wird.« Die meisten Ratgeber begleiteten die Worte des Wesirs mit beifälligem Murmeln; auch einige, die Lukas für königstreu gehalten hatte. Er erinnerte sich an Nur-Jehans Warnung: Wenn er jetzt zu weit ging, riskierte er Kopf und Kragen. Shugdad hatte sich demonstrativ zu einer Kraftprobe entschlossen. Hob Lukas das Urteil auf, würden sich die Minister geschlossen 56
gegen ihn wenden: Kein vernünftiger König verschwendet auch nur einen Gedanken auf einen Schurken, einen vorlauten Reimeschmied. »Vernehmt das Urteil des Königs!« erklärte entschlossen. »Setzt Kayim frei; laßt ihn ungeschoren.«
Lukas
Niemand sprach. Die Mienen der Ratsmitglieder blieben undurchdringlich. Lukas wußte nicht, wie viele Minister nun von ihm abgefallen waren und sich auf die Seite des Wesirs geschlagen hatten. Schon löste die Wache Kayims Fesseln, und der Mann fiel vor Lukas auf die Knie. Sein Gesicht war bleich, sein Schnurrbart zuckte. »Oh, König«, flüsterte er verzweifelt, »was hast du angerichtet!« »Mir scheint«, sagte Lukas, »daß ich deinen Kopf gerettet habe.« »Gerettet? Für wie lange? Dein Wesir trachtet nach meiner Zunge und meinem Leben. Was er nicht hier und jetzt bekommt, holt er eben später. Noch ehe ich den Basar erreiche, bin ich ein toter Mann.« »Ich verstehe.« Lukas seufzte und zuckte mit den Schultern. »Bin ich tatsächlich zu weit gegangen? Dann will ich auch den Rest des Weges gehen.« Er musterte die sauren Gesichter seiner Ratsherren und verkündete: »Hört den König! Von heute an ist der Reimeschmied Kayim mein erster Diener. Sein Platz ist in den Gemächern des Königs; er steht unter dem Schutz des Königs; und er ist keinem anderen als dem König Gehorsam schuldig.« Damit verließ er den Gerichtssaal und winkte Kayim, ihm zu folgen. »Und jetzt sage mir eins«, forderte er ihn auf, als man 57
die beiden in die Residenz geleitete. »Bist du wirklich ein so großer Schurke, wie man von dir behauptet?« »Aber ja!« erwiderte Kayim fröhlich. »Ich bin sogar ein noch viel größerer, als deine Leute vermuten.« »Ausgezeichnet!« sagte Lukas. »Endlich treffe ich hier jemanden, dem ich trauen kann.«
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h, du Oase der Barmherzigkeit in der Wüste der Ver
zweiflung!« rief Kayim, als er seine neue Heimstatt
sah. »Oh, du Feigenbaum des Überflusses im
Dornenreich des Mangels! Oh, du leuchtender Stern der…« »Hör auf!« warnte Lukas. »Hör auf, mir etwas vorzumachen. Deinetwegen bin ich heute aus allen Wolken gefallen – aber dafür habe ich auch seit langem zum ersten Mal wieder gelacht. Dein Gedicht ist köstlich! Du bist vielleicht ein Schelm, aber nur ein mutiger Schelm wagt solche Reime!« Kayim antwortete: »Wie gut wär's, sie auf dein Betreiben statt aufzusagen aufzuschreiben. Doch kann man sie geschrieben sehn, wird man mir gleich den Hals umdrehn. Im Ernst, wäre das Gedicht nicht so lustig geworden, hätte ich es ohnehin für mich behalten. Ich bin nämlich, mein Wort darauf, im allgemeinen ein ausgemachter Feigling. Ja, die Feigheit ist eine Tugend, die ich nur aufs beste empfehlen kann, vor allem den Großen und Mächtigen. Die Feigheit ist die
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klügere Schwester der Weisheit. Ach, mein König, wären bloß alle so feige wie ich: wie schön wäre es dann auf der Welt!« Lukas mußte lachen. »Endlich ein vernünftiger Mensch! Der erste, den ich hier treffe. Die anderen? Ein Tigerweib aus Bishangar, das nach einem Schwert schreit, um sich mit Gewalt aus dem Palast zu säbeln. Ein Hofastrologe, der rettungslos in seine Kometen und Horoskope verstrickt ist. Und was Shugdad betrifft… Stimmt es eigentlich, daß er sich die beiden anderen Thronbewerber rechtzeitig vom Hals geschafft hat?« »Ach, Wahrheit und Wahrheit sind zweierlei«, seufzte Ka yim. »In meinen Gedichten kann ich behaupten, ein Pferd galop piere wie der Wind. Ich habe zwar noch nie den Wind galop pieren sehen – und trotzdem stimmt es. Wer weiß schon über Shugdad Bescheid? Geredet wird allerlei. Im Basar sagt man, er habe die beiden umbringen lassen. Zutrauen würde ich es ihm.« »Ich auch«, bekräftigte Lukas. »Und ich fühle mich nicht besonders wohl bei dem Gedanken.« »Ob König, ob Verseschmied,
seien wir ehrlich:
sie leben wohl beide
gefährlich, beschwerlich«,
reimte Kayim, warf sich aufs Sofa und lagerte die Beine hoch. »Also müssen wir uns nach der Decke strecken. Doch ehe ich's vergesse: hülle doch, da ich nun dein Diener bin, den Mantel des Edelmuts um meine armseligen Schultern und sorge dafür, daß ich standesgemäße Gewänder bekomme! Ja, wie gesagt: Haben wir auch beide nichts zu lachen,
das Beste ist's,
das Beste draus zu machen.«
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»Dir, Kayim, wird das bestimmt gelingen«, sagte Lukas. Und er hatte sich nicht geirrt. Innerhalb einer Woche brachte Kayim den ganzen Palast durcheinander. Er beschwatzte die Köche, ihm besondere Köstlichkeiten zuzubereiten; er quälte die Schneider mit immer neuen Änderungswünschen; er steckte seine Nase einfach in alles. Genießerisch studierte er Locmans Tabellen und bestritt sämtliche Vorhersagen. Perfekt äffte er Nahdirs Stimme und Tonfall nach und duckte sich dann so geschickt, daß der Gekränkte nur in die leere Luft traf. Seinem Todfeind Shugdad ging Kayim allerdings mit Bedacht aus dem Weg. Er war klug genug, den Bogen nicht zu überspannen. Wenn Lukas ihn brauchte, war der Verseschmied nie zur Hand. Tauchte er auf, dann nur, um seinen Schnurrbart zu zwirbeln, mit dem königlichen Dolch in den Zähnen zu stochern oder sich den glattrasierten Schädel zu ölen, bis er glänzte. Kam Lukas müde von einer Sitzung des Hohen Rates oder aus den Gewölben des Archivs, fand er Kayim noch immer beim Frühstück, hingestreckt zwischen Kissen, umgeben von Orangen- und Melonenschalen. »So arg wie du habe ja nicht einmal ich es je getrieben!« schalt Lukas. »Da zermartere ich mir das Hirn mit Gesetzen und Verordnungen, statt die Verrechte des Königs zu genießen! Wenn es sich hier einer gutgehen lassen dürfte, müßte eigentlich ich das sein.« Dennoch war Kayim mit seinen haarsträubenden Geschichten und seinem wilden Unfug der einzige, der Lukas zum Lachen brachte. Und nur ihm, Kayim, verriet er, wie er nach Abadan gekommen war. Der Reimeschmied zeigte sich kaum überrascht. Da habe er schon seltsamere Geschichten gehörte, behauptete er. »Man 61
erzählte sie sich jedenfalls, ob sie nun stimmen oder nicht. Prinzen werden Bettler, Bettler Prinzen – du hättest es schlechter treffen können! Dieser Battisto hat immerhin einen König aus dir gemacht und nicht einen Straßenfeger oder Kameltreiber, was ebensogut möglich gewesen wäre.« »Manchmal frage ich mich, ob es ihn überhaupt gibt«, rätselte Lukas. »Und wenn ich schon immer hier gewesen wäre? Wenn ich von Zara-Petra nur geträumt hätte? Oder träume ich von Abadan?« »Du vielleicht«, sagte Kayim, »Ich nicht. Der dumme Scherz, den sich Shugdad mit mir erlauben wollte, war von bestechender Wirklichkeit. Aber wozu sollte ich mir darüber den Kopf zerbrechen? Sobald wieder jemand vom Aufspießen redet, verschwinde ich durch den Geheimgang, und dann könnt ihr mich suchen.« »Welchen Geheimgang meinst du?« »Den Tunnel unter der Palastmauer, was sonst?« »Du Dummkopf!« fuhr Lukas ihn an. »Warum hast du mir nicht schon früher gesagt, daß es hier einen Geheimgang gibt?« »Weiß ich denn, daß du das nicht weißt? Es ist doch dein Palast, oder etwa nicht?« Und Kayim berichtete: Eines Morgens sei ihm eine Aprikose aus der Hand gefallen und in einen Winkel gerollt. Beim Aufheben der Frucht habe er zufällig eine bestimmte Fliese berührt. Er zeigte sie Lukas. »Siehst du? Sie hat ein besonderes Muster. Und jetzt drücke einmal drauf!« Lukas tat es – und schon öffnete sich vor ihnen eine schmale Pforte in der Wand. 62
»Hast du dich schon einmal hineingewagt und den Palast verlassen?« »Drei- oder viermal. Denkst du denn, ich hätte Lust, für alle Ewigkeit hierzubleiben?« Lukas wollte auf der Stelle in den Geheimgang schlüpfen, um zum Basar zu eilen und seine Gerüche und Geräusche zu genießen – doch Kayim hielt ihn zurück: »Der König in vollem Putz? Was für ein überraschender Anblick wird das im Basar von Shirazan sein!« »Gut, dann rufe den Schneider! Er soll mir ein paar Fetzen zusammennähen.« »Nicht nötig!« Kayim zerrte unter dem Diwan ein Bündel hervor. »Hier. Das wird genügen.« »Das hattest du bereits versteckt?« Kayim blinzelte ihn an. »Ich dachte bloß, daß du eines Tages Lust zu einem kleinen Spaziergang bekommen könntest.« Während sich beide hastig umzogen, rief Lukas durch die Tür seinem Leibwächter Osman zu, er wolle für die nächste Zeit von niemandem und unter keinen Umständen gestört werden. »Komm jetzt!« sagte Lukas. »Wir müssen zurück sein, ehe man mich vermißt.« Kayim übernahm die Führung. Gebückt schlichen sie durch den niederen, unbeleuchteten Gang. Lukas tastete sich an feuchtkalten Mauern entlang. Immer heftiger verlangten seine Lungen nach frischer Luft. Endlich sah er in der Ferne einen schwachen Lichtschimmer. Kayim eilte voran und öffnete mit einem kleinen Metallhaken das Schloß einer eisernen Seiten pforte, die sich knarrend öffnete. 63
Geblendet vom Licht der späten Nachmittagssonne, fand sich Lukas in einem Hain von Bäumen und Sträuchern. Sie durch querten ihn, erreichten ein winkeliges Gäßchen, bogen um die Ecke – und standen auf dem Basar von Shirazan. Lukas drängte sich glücklich durch die Menge. Er schüttelte alle Gedanken an Shugdad, Ratssitzungen und neue Gesetze ab. Am liebsten wollte er alles auf einmal sehen. Kayim hingegen suchte zunächst die »Karawanserei von Sonne und Mond«. Dort kannte er einen Mann namens Saalab. Der führte Händler und Reisende in abgelegene Städte und würde Lukas mit den neuesten Gerüchten versorgen. »Was du im Palast zu hören bekommst«, sagte Kayim, »haben der Wesir und deine Minister vorher mit Palmwedeln und Parfümfläschchen bearbeitet. Saalabs Sprache duftet vielleicht ein wenig nach Kamelen, aber du kannst jedes Wort glauben. Er weiß ja nicht, daß du der König bist – also weshalb sollte er lügen?« Lukas ließ sich überreden, zögerte aber schon beim ersten Früchtestand, an dem sie vorbeikamen und wo ihn ein Korb mit reifen Feigen lockte. »Hier gibt es nichts ohne Bezahlung!« mahnte Kayim. »Deine Taschen sind leer, also mußt du verzichten. Es sei denn, du stiftest mich zum Diebstahl an; dann klaue ich dir eine Handvoll.« »Nicht nötig«, sagte Lukas. »Ich werde dem Händler das Geld schicken. Aber erst will ich meinen Spaß haben – damit ich nicht ganz aus der Übung komme.« Er trat an den Stand. Statt jedoch Feigen zu verlangen, musterte er umständlich sämtliche anderen Früchte. Schließlich 64
sagte er: »Wir hätten gerne zwei Orangen, vorausgesetzt, sie sind reif.« »Reif genug für einen Strolch wie dich«, erwiderte der Händler, legte die Orangen auf den Tisch und hielt die Hand auf, um die Bezahlung entgegenzunehmen. »Einen Augenblick!« sagte Lukas. »Ich habe es mir anders überlegt. Die Feigen dort sind eher nach meinem Geschmack. Gib mir ein Säckchen davon. Und versuche bitte nicht, angefaulte darunterzumogeln.« Mit der Versicherung, weder er noch sein Vater noch sein Großvater hätten jemals schlechte Feigen verkauft – was ihn, wie Lukas bemerkte, nicht davon abhielt, etliche verdorbene Früchte mit einzupacken –, füllte der Mann ein Säckchen. Lukas nahm es und schickte sich an, weiterzugehen. Da riß es ihm der Händler aus der Hand: »He!« rief er. »Halt! Räuber meiner bescheidenen Einkünfte! Schorfiges Kamel im Zelt des Wohlstands! Wo bleibt mein Geld? Gib erst das Geld her!« Lukas bedachte ihn mit einem erstaunten, aber geduldigen Blick. »Wie das, Meister? Welch seltsame Rede führst du da? Da ich die Orangen nicht wollte, tauschte ich sie gegen die Feigen.« »Das stimmt«, räumte der Händler ein. »Aber glaubst du, mein Hirn sei so zerrüttet wie deines? Du hast die Orangen nicht bezahlt!« »Natürlich nicht«, sagte Lukas. »Oho! Das gibst du also zu!«
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»Aus gutem Grund«, sagte Lukas mit gespieltem Erstaunen. »Ich habe sie ja gar nicht genommen.« »Wie?« rief der Händler. »Du hast sie nicht genommen?« »Sieh doch selbst!« erwiderte Lukas. »Hier liegen sie, eine neben der anderen. Und jetzt rücke endlich die Feigen heraus, sonst bin ich gezwungen, dir die Gesetzeshüter an den Hals zu setzen, weil du versucht hast, ein armes, unschuldiges Waisen kind schamlos zu betrügen.« Der Händler starrte von den Feigen auf die Orangen, von den Orangen auf die Feigen, kratzte sich am Kopf und zählte an den Fingern nach. »So warte doch! Etwas an der Sache stimmt nicht.« »Wieso denn?« Lukas tat ganz verwundert. »Du hast deine Orangen, ich habe meine Feigen.« Dem verdutzten Händler wurde allmählich klar, daß er auf dem besten Weg war, Ware und Geld zu verlieren. »Du Gedankenverdreher!« schrie er. »Du Feigendieb!« Er packte eine lange Stange und stürmte hinter dem Laden tisch hervor. Lukas war so vom Mißlingen seines Streiches überrascht, daß er vergaß, sich vorzusehen. Der Händler schlug wild auf ihn ein und brüllte, was die Lungen hergaben. Kayim versuchte, Lukas zu befreien, aber mittlerweile drängten sich so viele Gaffer um die beiden Streithähne, daß der Verseschmied von seinem glücklosen Freund getrennt wurde. Ein Stockhieb traf Lukas; seine Nase begann zu bluten. Kayim war in der Menge untergetaucht. Der Händler schrie nach dem Kadi. Es fehlt nicht mehr viel, dachte Lukas, und der König von Abadan landet in einem seiner Gefängnisse! 66
Da erspähte er eine Lücke in der Menge und entwischte. Kayim war nirgends zu sehen, er hatte sich also bereits aus dem Staub gemacht. Geduckt und in größter Hast rannte Lukas aus dem Basar, bis er dem tobenden Händler entronnen war. Keuchend setzte er sich auf einen Mauervorsprung. Die Lust auf Feigen war ihm vergangen. Jetzt mußte er erst einmal seine blutende Nase verarzten. »Ein prächtiger Anblick! Hast du diesen Gesichtserker gekauft oder geschenkt bekommen?« Ein beleibter, kurzbeiniger Fremder, dessen Gewand noch schäbiger war als das seine, blickte Lukas an. Auf seinem spärlich behaarten Kopf saß eine spitze Fellmütze; von seiner Schulter hing ein Schlauch aus Ziegenhaut, mit einem Messing hähnchen am unteren Ende. Das Gesicht des Mannes war breit und lederhäutig, sein Bart so rauh wie der Wassersack, den er trug. Er grinste gutmütig und füllte einen Becher. Lukas hätte am liebsten den ganzen Wassersack leergetrunken, so ausge dorrt war seine Kehle; doch nach der schmerzlichen Erfahrung, die er soeben gemacht hatte, zögerte er, weiteres Mißverständnis auf sich zu laden. »Rundheraus gesagt«, erklärte Lukas, »ich habe kein Geld.« »Habe ich Geld verlangt?« fragte der Wasserverkäufer. »Du machst den Eindruck, als hättest du einen schlimmen Tag hinter dir. Er kann allerdings nicht schlimmer sein als der meine. Ich habe kaum einen Tropfen verkauft, und der Wassersack drückt immer schwerer auf meine Schultern. Trinke nur! Aber glaube ja nicht, daß ich mir die Freigiebigkeit zur Gewohnheit mache.«
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Während er so jammerte, füllte der Wasserverkäufer den Becher nach. »Ich werde dir den Dank nicht schuldig bleiben«, sagte Lukas, »das verspreche ich. König Kasha selbst könnte keinen fürstlicheren Durst haben als ich.« »König Kasha? Der könnte jederzeit von mir Wasser bekommen, so wahr ich Namash heiße.« »Ich werde es ihm bestellen, wenn ich ihn das nächste Mal treffe«, sagte Lukas. »Du schätzt ihn also?« »Und ob!« rief Namash. »Und ich bin nicht der einzige. So mancher hier im Basar von Shirazan ist ihm wohlgesinnt. Nach allem, was man hört, ist er einer von der guten Sorte – für einen König. Möge ihm ein langes Leben beschieden sein!« »Ich könnte dir nicht inniger zustimmen!« sagte Lukas, bedankte sich und ging Kayim suchen. Zum Glück erblickte er ihn bald am Ende der Straße, die aus dem Basar führte. Kayim lief ihm entgegen, und sobald er sich vergewissert hatte, daß der Stolz des Königs mehr gelitten hatte als sein Körper, lachte er und schüttelte den Kopf: »Der Prügel der Gerechtigkeit hat die Nase des Frevels getroffen! Komm, wir verschieben unser Treffen mit Saalab auf morgen. Es ist spät geworden; für heute hast du Unheil genug gestiftet.« »Ich verstehe nicht, wie der Trick mißlingen konnte«, brummte Lukas. »In Zara-Petra verfehlte er nie seine Wirkung.« »Vielleicht hat dein Talent darunter gelitten, daß du König wurdest«, sagte Kayim. »Hoffentlich nicht! Es gibt bei uns nämlich viele Gauner, in den Palästen wie außerhalb, aber du bist einer mit Herz, und die sind selten geworden.« 68
»Namash muß einen dicken Beutel mit Goldstücken bekommen«, bestimmte Lukas, während sie durch die einbrechende Dämmerung zurückeilten. »Ich möchte aber nicht, daß er erfährt, von wem er stammt.« »Kein schlechter Lohn für einen Schluck Wasser«, lobte Kayim. »Wenn alle Kunden so großzügig wären,
würd' ich mich nicht mehr vom Dichten ernähren
und krönte meinen Lebenswandel
statt dessen mit dem Wasserhandel.«
»Namash gab mir nicht nur Wasser«, sagte Lukas und berichtete Kayim über den Verlauf des Gesprächs. Sie hatten das Gehölz an der Außenseite der Palastmauer erreicht. Kayim bückte sich, um ein Steinchen aus dem Schuh zu schütteln. In diesem Augenblick schwirrte etwas durch die Luft. Lukas zuckte zurück und schrie auf. Der Dolch verfehlte ihn nur knapp und blieb in einem Baumstamm stecken.
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inter ihnen glitt eine Gestalt aus dem Schatten. Lukas konnte das Gesicht des Angreifers nicht erkennen; im Augenblick war er auch nicht besonders erpicht darauf. In stiller Übereinkunft ergriffen die beiden die Flucht. Sie stürzten durch die Seitenpforte, Kayim warf sie zu, sperrte ab, und schon hasteten sie zurück in die königlichen Gemächer. Auch hier, wieder in Sicherheit, konnte sich Kayim nicht beruhigen. Er schritt auf und ab, runzelte die Stirn und boxte sich in die flache Hand. So aufgebracht war er, daß er vergaß, seinen Schnurrbart zu zwirbeln. »Nie hätte ich gedacht, daß meine Kritiker so weit gehen würden!« knurrte er. »Daß sich ein fahrender Versemacher mit seinen Reimen nicht nur Freunde schafft, ist sein Geschäfts risiko. Aber dafür gleich ein Messer zwischen die Rippen zu kriegen? Nein, das geht zu weit! Dieser Dolch galt nicht meinen Reimen. Da steckt Shugdad dahinter! Er hat geschworen, sich meine Zunge zu holen, da nimmt er den Kopf gleich dazu.« »Ja, es muß wohl Shugdad gewesen sein«, sagte Lukas, der beim Gedanken an den Dolch im Baum noch immer zitterte. »Aber war dieses Messer nur für dich bestimmt? Jedenfalls hat 70
man dich beobachtet. Jemand muß wissen, daß du den Geheimgang entdeckt hast.« »Richtig. Aber woher wußte dieser Jemand, daß du mich begleiten würdest?« »Vielleicht war es bloß ein unglücklicher Zufall – oder ein glücklicher: Zwei Fliegen auf einen Streich. Shugdad will dich umlegen; aber vergiß nicht die Geschichte vom Hai und der Elritze: Viel lieber noch hätte er mich aus dem Weg.« »Der Gedanke ist mir zwar persönlich zuwider«, sagte Kayim, »aber es wäre doch klüger gewesen, du hättest mich diesem Miststück damals ausgeliefert.« »Weil das Töten angeblich zu meinen Pflichten gehört?« erwiderte Lukas. »Zum Teufel damit! Diese Bishangari meint, ich tauge nicht zum König. Sie hat recht. Shugdad tut, was er will, und ich kann ihn nicht daran hindern. Nein, du bist überall sicherer als in Shirazan.« »Du willst mich zur Flucht überreden? Und dich soll ich zurücklassen? Ich verdanke dir doch mein gutes Leben und einen Packen feiner Kleider – beides Seltenheiten in meinem Beruf. Ich bin zwar feige, zugegeben, aber nicht undankbar.« »Dann fliehen wir eben gemeinsam aus diesem Hornissen nest«, schlug Lukas vor. »Ich weiß zwar nicht, wie man ein Königreich regiert, aber ich weiß dafür, wann es Zeit ist, sich aus dem Staub zu machen: jetzt. Damit rechnet Shugdad nämlich bestimmt nicht.« »Einverstanden«, sagte Kayim. »Und doch schmerzt es mich. Der König von Abadan schleicht davon, wie…«
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»Nein. Er schleicht nicht. Er geht mit erhobenem Kopf. Das Spiel ist aus. Ich schäme mich nicht, das einzugestehen. Ich wäre ein Narr, gäbe ich Shugdad Gelegenheit zu einem zweiten Mordversuch.« »Gut«, sagte Kayim, »dann nichts wie los!« »Noch nicht. Diese Bishangari hat mich gebeten, ihr zur Flucht zu verhelfen. Wir nehmen sie mit.« Kayim griff sich an den Kopf. »Leuchte der Vernunft, läßt du das Öl deines Verstandes in den Staub der Torheit rinnen? An Shugdad denkst du! Jetzt denke gefälligst auch daran, daß diese Bishangari mit Vergnügen den Plan des Wesirs vollenden würde.« »Mag sein. Trotzdem gehe ich nicht, ehe Nur-Jehan befreit ist.« Kayim seufzte. »Nun gut. Warte hier, ich will sehen, was sich machen läßt.« Und ohne ein weiteres Wort lief er davon. Eines blieb Lukas noch zu tun. Er befahl seinem Leibwächter Osman, den Astrologen zu holen. Die Lumpen, die Lukas noch immer trug, verbarg er einstweilen unter einem weiten Mantel. Als Locman kam, gab Lukas ihm Anweisung, dem Wasser verkäufer heimlich eine Börse voll Gold in die Hand zu spielen. »Es soll sogleich geschehen«, sagte Locman. »Darf ich fragen, wofür er die Belohnung erhält?« »Nein. Es genügt, daß du dich darum kümmerst. Aber eines kannst du mir noch sagen, Locman. Steht zufällig etwas Beunruhigendes in deinen Horoskopen?«
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»Nicht das geringste! Im Gegenteil, alle Zeichen deuten auf Frieden, Glück und völlige Ruhe.« »Völlige Ruhe? Das beunruhigt mich.« Lukas bedankte sich bei Locman und entließ ihn – nicht ohne Bedauern. Obgleich seine Voraussagen nichts taugten, war der Sterndeuter harmlos und gutmütig. »Was man von Battisto nicht behaupten könnte«, sagte sich Lukas. »Ich dachte, er wolle mir einen Gefallen tun. Ein schöner Ausflug? Eine schöne Bescherung! Ich glaube fast, die ganze Geschichte ist ihm aus den Händen geglitten. Vielleicht kann er gar nicht mehr in die Sache eingreifen. Oder läßt er mich absichtlich zappeln? Ist das meine Schuld? Habe ich mich ihm gegenüber etwa falsch verhalten?« Lukas fand keine einleuchtende Antwort. Er mußte sich jetzt zwingen, geduldig zu warten. Als jedoch die Stunden vergingen, wuchs seine Unruhe. Was Kayim wohl im Schild führte? Vielleicht war er bereits gefangen, vielleicht sogar tot, und NurJehan ebenfalls. Lukas überlegte, wie lange er noch warten durfte. Wenn Kayim und das Mädchen nicht bald kamen, mußte er es wagen, die beiden suchen zu gehen. Endlich klopfte es an die Tür. Lukas sprang auf. Es kam aber nicht Kayim, sondern Osman, der Leibwächter. »Mittelpunkt des Weltalls, ich bringe dir eine Botschaft des Großwesirs.« »Bestelle Shugdad, daß der König ihn jetzt nicht empfängt.« Lukas sprach mit erzwungener Ruhe und schalt sich insgeheim, Osman nicht rechtzeitig fortgeschickt zu haben. Selbst wenn Kayim Erfolg haben sollte, galt es noch, das Mädchen vor den wachsamen Augen des Leibwächters hereinzuschmuggeln. 73
Daher ergänzte Lukas hastig: »Geh aber selbst zum Wesir, Osman. Sage ihm, ich lasse ihn später rufen. Und weil es ohnedies bereits spät geworden ist, brauchst du gar nicht erst zurückzukommen. Geh schlafen, Osman.« »Mein König«, antwortete der Leibwächter, »vergib mir! Ich folge doch bloß dem Befehl, wenn ich…« »Also, dann gehorche!« unterbrach ihn Lukas ungeduldig. »Ich sagte dir…« Das Wort erstarb ihm auf den Lippen. Osman hatte zögernd aus seinem Gürteltuch eine Bogensehne gezogen. Schlagartig erkannte Lukas, wofür sie bestimmt war – aber da sprang Osman schon auf ihn zu und schlang sie ihm mit einer einzigen raschen Bewegung um den Hals. Noch ehe Lukas Zeit fand, einen Schrei auszustoßen, schnitt ihn die Schnur in die Kehle. Er riß und zerrte daran, er versuchte, sich mit Fußtritten und Boxhieben freizukämpfen, aber Osman war größer und stärker als er und zog die Schlinge unerbittlich enger. Lukas traten die Augen aus den Höhlen; er fühlte seine Kräfte schwinden. Nur Osmans Griff hielt ihn noch aufrecht. Lichter barsten in seinem Kopf. Er sah seltsame Bilder: NurJehan, begleitet von einer fremden Frau. Das Mädchen hob die Arme und ließ sie niedersausen, als schwänge sie eine Axt. Osman grunzte; die Bogensehne erschlaffte. Lukas stürzte nieder und entglitt dem taumelnden Leib wächter. »Die Sehne!« rief Nur-Jehan. »Nimm sie! Rasch!«
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Verwirrt starrte Lukas das Mädchen an. Voll Ungeduld griff Nur-Jehan selbst zu. Mit einer Kraft, die Lukas ihr nie zugetraut hätte, zwang sie Osmans Arme auf den Rücken, stieß ihm ein Knie zwischen die Rippen und fesselte ihn hastig an den Handgelenken; dann löste sie seine Schärpe und knebelte ihn damit. Noch verwirrter war Lukas, als er sah, wie die Begleiterin des Mädchens sich das Kleid vom Leib riß, den Schleier vom Gesicht zog und die Haarpracht abnahm: Schweißüberströmt, mit zitterndem Schnurrbart, grinste ihn Kayim an. »Hier ist deine Bishangari«, sagte er, während Nur-jehan die Tür verriegelte. »Es hat länger gedauert, als ich dachte. Aber wie ich sehe, hast du einstweilen Gesellschaft bekommen. Ich bedauere, dir Unannehmlichkeiten bereitet zu haben. Wir wären längst zurück, hätte nicht die Königliche Sklavenaufseherin so lange zum Einnicken gebraucht. Sie leidet unter schrecklicher Schlaflosigkeit! Ich mußte eine Ewigkeit warten, bis ich ihre Kleider stehlen konnte. Sie wird recht böse sein, wenn sie erwacht und ihr schönstes Seidenkleid fehlt. Hast du gewußt, daß sie eine Perücke trägt? Mein Glück, zugegeben. Der Rest war einfach. Wer beachtet schon eine Hofdame, die ein Sklavenmädchen vor sich herstößt? So spazierten wir, mir nichts, dir nichts, aus den Frauengemächern. Was inzwischen hier vorgefallen ist, läßt sich unschwer erraten.« Nur-Jehan machte ihrem Ärger Luft. »Dieser Gedichtmensch ist ein Narr! Hätte man ihn entdeckt, wären wir beide auf der Stelle umgebracht worden. Wozu schleppt er mich her? Was ist das für ein Plan, von dem er unentwegt redete? Ich will nichts damit zu tun haben.«
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»Du hast eine Menge damit zu tun«, erwiderte Lukas. »Kayim und ich könnten längst über alle Berge sein. Aber wolltest du nicht befreit werden? Nun, ich denke, diesen Gefallen kann ich dir jetzt erweisen.« »Befreit werden? Ja. Aber nicht in eine Falle geraten!« rief das Mädchen zornig. »Gleich wird der ganze Palast herein stürmen, und nichts läßt sich mehr gegen eure Dummheit unter nehmen. Habt ihr wenigstens Waffen? Ich will mein Leben teuer verkaufen.« »Meines steht überhaupt nicht zum Verkauf«, sagte Lukas. »Hüte dich, es mit der Palastwache, mit Shugdad und den anderen aufzunehmen.« »Ich bin eine Bishangari. Wenn ich mit dem Rücken zur Wand stehe…« »Wenn du mit dem Rücken zur Wand stehst«, unterbrach sie Lukas, »gehst du am besten auch durch.« Er zeigte Nur-Jehan den geheimen Ausgang. »Wir nehmen dich mit. Es ist deine einzige Chance – außer, du ziehst es vor, hierzubleiben und heldenmütig mit Sofakissen um dich zu werfen.« Nur-Jehan biß sich auf die Lippen. Stumm nickte sie. Lukas griff nach seinem Dolch, kniete sich neben Osman nieder und setzte ihm das Messer an die Kehle. »Jetzt höre mir einmal gut zu, Osman. Ich nehme dir den Knebel ab. Aber: auch nur ein Wispern, und – nun, du verstehst schon.« Osman nickte. Als er wieder sprechen konnte, flüsterte er: »Nimm mir das Leben, Mittelpunkt des Weltalls, aber ich schwöre, ich tat nur, was Shugdad befahl.« 76
»Davon bin ich überzeugt«, erwiderte Lukas. »Aber seit wann ist Shugdad König von Abadan?« »Sobald dein Tod bekannt geworden wäre, hätte er sich unter dem Jubel der Minister zum König ernannt.« »Wußte Locman von diesem Plan?« »Nein. Man hat ihn und den Stand der Sterne nicht gebraucht. Die Sache wurde zwischen dem Wesir und Nahdir Aga, dem Anführer der Wache, ausgehandelt.« »Eines verrate mir«, warf Kayim ein. »Ich frage nur so aus Neugierde – weil es mich interessiert, zu erfahren, von wem ich umgebracht werden sollte: Wer hatte sich bei der Palastmauer versteckt?« »Nahdir Aga. Als er erfuhr, daß du und der König im Basar seien, dachte er, am besten käme keiner von euch lebend zurück.« Lukas setzte ihm den Dolch fester an die Kehle. »Wird der Geheimgang noch immer beobachtet? Die Wahrheit, Osman!« »Nein, es gibt keinen Grund mehr, ihn zu bewachen. Nahdirs Anschlag mißlang zwar, aber Shugdad hatte auch damit gerechnet. Er befahl mir, den König zu erdrosseln, sollte er in seine Gemächer zurückkehren.« »Ja«, knurrte Kayim, »und mich dazu.« »Nein«, erwiderte Osman. »Den Diener des Königs sollte ich lebend abliefern. Shugdad hatte ja geschworen, ihn auf einen Pfahl zu spießen.«
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Kayim schluckte und wischte sich über die Stirn. »Der Wesir hält sein Wort. Gehen wir, Zierde der Zeiten, bevor er sein Versprechen einlöst.« Während Lukas Osman erneut knebelte, band Kayim ihn an den Beinen und vergewisserte sich, daß die Fesseln hielten. Nur-Jehan blickte Lukas mißbilligend an. »Hat der König die Absicht, diesen Verräter am Leben zu lassen?« »Richtig! Die Absicht hat er!« »Warum? Ist deine Hand zu schwach?« Nur-Jehans Augen blitzten. »Dann gib mir den Dolch!« Ehe Nur-Jehan zugreifen konnte, ließ Lukas ihn in die Falten seines Mantels gleiten. »Laß das. Wir gewinnen nichts, wenn wir Osman töten. Außerdem bin ich nicht nachtragend. Nicht einmal gegen heißblütige Bishangaris.« Kayim winkte ihnen aufgeregt zu, endlich den Geheimgang zu betreten. Osman hatte nicht gelogen. Die Pforte war unbewacht, und sie erreichten sicher den Hain. Die Sonne war aufgegangen, und Kayim drängte zur Eile. Lukas zögerte und blickte sich noch einmal um. Die Kuppeln und Türme des Palastes von Shirazan schimmerten golden und rot. Im frühen Morgenlicht wirkten sie leicht wie Spinnweben. »Da ließ mich also Battisto eine Zeitlang wie ein König leben!« murmelte Lukas, während er den beiden anderen nacheilte. »Das Dumme daran war bloß, daß ich zuletzt hoffte, ein guter König zu werden.«
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ukas erwartete, Kayim werde geradewegs zum Basar von Shirazan eilen, wo sie in dem Gewirr von Läden, Gewölben und Hinterhöfen untertauchen konnten. Statt dessen lenkte der Verseschmied seine Schritte in die Gegenrichtung und führte seine beiden Gefährten durch stille, verlassene Straßen zu einem kaum benützten Stadttor. Ohne die schlummernden Wachsoldaten zu wecken, kletterten die drei durch ein Schlupfloch in der Mauer ins Freie. Weiter ging es, erst über Ödland, dann am Fluß entlang, der sich zwischen grünen Hügeln schlängelte. Schließlich erreichten sie ein enges Tal. Hier hielt Kayim an. »Wo wird man uns zunächst vermuten? Im Basar«, wandte sich Kayim an Lukas und beantwortete damit dessen unausgesprochene Frage. »Wenn es sein muß, stellt Shugdad jede Bude, jedes Haus auf den Kopf. Wir werden ihm ein Schnippchen schlagen. Dazu muß ich allerdings noch einmal in den Basar. Dieser Fluß wird in einer Röhre unter der Stadtmauer durchgeleitet. Ich habe den Weg bei Bedarf schon oft benutzt. Sobald ich die Lage ausgekundschaftet habe, komme ich zurück. Vorher muß ich freilich ein trauriges Opfer bringen: Der Schnurrbart muß weg! Dieses zottelige Anhängsel könnte mich 79
sonst verraten. Oh, wie schmerzt es mich, dich hingehen zu sehen, Freude meines Herzens, Schmuckstück meiner Ober lippe, treuer Gefährte meiner Nase! Und doch soll besser mein Bärtchen fallen als der ganze Kopf… Natürlich hat keiner daran gedacht, ein Rasiermesser mitzunehmen.« Lukas reichte ihm den Dolch. Kayim betrachtete das Spiegel bild seines Gesichts im Wasser und begann, unter herzbewegen den Klagen an seiner Manneszier herumzusäbeln. Nach einiger Zeit war der Schnurrbart mehr oder weniger verschwunden. Nur vereinzelte Stoppelhaare sträubten sich hartnäckig in alle Richtungen. Ohne Bart wirkte Kayim noch grobschlächtiger, war aber, wie Lukas zugeben mußte, kaum wiederzuerkennen. Kayim gab Lukas den Dolch zurück. »Er ist unsere einzige Waffe, und du brauchst sie vielleicht. Ich will sehen, was ich an Neuigkeiten und Eßbarem beschaffen kann. Man soll uns nicht mit leerem Magen durch diese öde Gegend jagen.« Kayim brach in Richtung Shirazan auf. Lukas setzte sich zu Nur-Jehan, die sich in einiger Entfernung am Ufer ausgestreckt hatte. »Ich weiß zwar nicht, was er plant, aber jedenfalls hat er etwas ausgeheckt.« »Ich glaube nicht, daß wir ihn wiedersehen!« Zornig fügte sie hinzu: »Das Wort eines Abadani ist flüchtig wie der Wind.« »Auch Kayim ist dir von Herzen zugetan«, spottete Lukas. »Er traut dir genausowenig über den Weg wie du ihm.« »Er kann sich seine Sorge sparen«, murrte Nur-Jehan. »Und du ebenfalls. Ich schlage mich auch ohne euch nach Bishangar 80
durch. Hättest du mich ziehen lassen, als ich darum bat, müßte ich jetzt nicht um meine Sicherheit bangen. Nun werden überall Soldaten sein.« »Shugdad ist hinter mir her, nicht hinter dir. Er wird seine Zeit nicht damit verschwenden, eine wilde Bergziege zu fangen. Er ist auf reichere Beute aus: er will ganz Bishangar, nicht irgendeine Sklavin. Und weißt du, warum? Du wirst es kaum glauben, aber ich kann dir verraten, was hinter der Sache steckt: Gold, Silber, Edelsteine…« »Will mich der König über Bishangar belehren? Das ist kein Geheimnis. In unseren Bergen weiß jedes Kind, wo die Erzadern laufen und wo man kostbare Steine finden kann.« »Nach Shugdads Worten«, warf Lukas scheinbar abfällig ein, »ahnen die Bishangaris nicht, auf welchen Schätzen sie wandeln.« »Ein Esel blickt in den Spiegel, und was sieht er? Einen Neunmalklugen aus Abadan. Im Ernst: Hältst du uns wirklich für so dumm?« »Wenn ihr tatsächlich über solche Schätze verfügt, warum läßt sie dann dein König Ardashir nicht heben? Warum treibt er nicht Handel damit? Das fordert doch der gesunde Menschen verstand. Bishangar könnte das reichste Land der Erde werden.« »Du bist über unsere Geschichte schlecht unterrichtet«, sagte Nur-Jehan. »Falls du sie überhaupt kennst.« »Die Bücher in den Königlichen Archiven …« » … wurden alle von Abadanis geschrieben.« »Dann sage mir, wie du es siehst.«
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»Weiß der König, daß Bishangar einmal ein glückliches, blühendes Reich war?« fragte Nur-Jehan. »Vor langer Zeit, unter König Nerimans Herrschaft, tauschten wir unsere Erze und Steine gegen Korn und Lebensmittel aus Abadan. Denn unser Land strotzt zwar von Gold und Silber, doch mangelt es ihm an noch Kostbarerem: an Wasser. Die Bergbäche waren dünne Rinnsale; die Ebenen lagen trocken; nur wenig gedieh hier, während Abadan in Fülle erntete. Beide Reiche blühten und lebten in Frieden. König Neriman errichtete in der Ebene von Bishangar, am Zugang zu den Ber gen, die herrliche Stadt Jannat al-Khuld. Ja, damals war Jannat so mächtig wie Shirazan, übertraf es jedoch an Schönheit. König Neriman starb, und seine Tochter Tamina folgte ihm nach; denn anders als bei den Abadanis ist es bei uns Brauch, Frauen wie Männer auf dem Thron zu ehren. Zu dieser Zeit beschloß Afrasyab, der Herrscher von Abadan, das Herz voll Gier und Neid, sich maßlos zu bereichern. Er verkündete, Bishangar habe fortan für alle von Abadan bezogenen Waren die doppelte Menge an Gold und Silber zu entrichten. Zuerst protestierte Königin Tamina, fügte sich aber dann, um ihr Volk nicht zu gefährden. Wieder verdoppelte Afrasyab die Preise, wieder stimmte Königin Tamina, wenn auch widerwillig, zu. Die Gier des Königs wurde aber dadurch bloß weiter angestachelt. Bald verlangte er dreifache, dann vierfache Preise. Endlich widersetzte sich Königin Tamina seinen Forderungen. Zwar gingen die Erzvorkommen keineswegs zur Neige, und Tamina wußte, daß ein in vernünftigen Grenzen gehaltener Abbau nicht schaden könne, aber Afrasyabs Habgier zu stillen, hätte bedeutet, das Land mit einer Vielzahl von Gruben, 82
Schächten und Schmelzhütten zu überziehen; und die Bishan garis wären dazu verdammt gewesen, als Sklaven der Abadanis zu leben. Auch Taminas Volk erkannte diese Gefahr und stand seiner Königin mit ganzem Herzen und voller Kraft zur Seite. Afrasyab sandte sein Heer nach Bishangar, um uns seinen Willen aufzuzwingen. Die Bishangaris kämpften tapfer. Viele gaben ihr Leben hin, so auch Königin Tamina. Und doch fiel Jannat an Abadan. Afrasyab plünderte die Stadt und erklärte ganz Bishangar zu seiner Provinz. Leere Worte. Nur dem Namen nach ist Bishangar an Abadan gefallen. In Wahrheit zog sich mein Volk, geführt vom Sohn der Königin, in die Berge des Ramayan zurück, wo jeder Felsen für uns zur Festung wurde. So ist es bis heute geblieben.« »Und was ist mit König Ardashir?« fragte Lukas. »Ich wollte mit ihm eine Übereinkunft treffen. Warum versucht Shugdad das nicht auch? Bestimmt ließe sich ein Weg finden.« »Shugdad würde keinem Vertrag zustimmen; zu sehr fürchtet er Ardashir. Er ist unser größter König seit Neriman, obwohl sein Reich nur noch aus rauhen Bergen besteht und seine Armee aus einer Schar von Männern, die von den Abadanis Straßen räuber genannt werden. Unser König sehnt sich nach Frieden; wenn er kämpft, dann nur zur Selbstverteidigung. Aber auch Ardashir versteht es, Pläne zu schmieden. Es bedarf nur einiger Vorbereitung, und unsere Reiter könnten jederzeit Jannat zurückerobern. Shugdad weiß das, und weil er Ardashir fürchtet, schreckte er bislang vor einem Einmarsch zurück. Jetzt muß er weiter vorstoßen, denn Ardashirs Streitmacht ist kampfbereit. Der Hohe Rat zögert die Entscheidung nur deshalb hinaus, weil man Angst hat, gegen einen König anzutreten, der größer ist als jeder Herrscher von Abadan.« 83
»Größer als König Kasha jedenfalls«, warf Lukas lachend ein. »Shugdad fürchtet sich also vor dem Kampf mit Ardashir und will ihn trotzdem wagen. Das hat man mir verschwiegen.« »Sagt denn jemals ein Minister seinem König die Wahrheit? Wollten die Könige von Abadan sie überhaupt erfahren?« »Jedenfalls hätte der Hohe Rat den Krieg beschlossen, ohne sich um mich oder meinesgleichen zu kümmern«, fuhr Lukas fort. »Nach all dem, was du mir sagst, habe ich einen Narren aus mir gemacht. Nichts, was ich tat, konnte auch nur das Geringste ändern. Ebensogut hätte ich mir die Zeit damit vertreiben können, Drachen steigen zu lassen. Da glaubte ich Dummkopf im Ernst, ein Königreich zu regieren – und was hat es mir eingebracht? Einen Strick um den Hals.« »Ich habe dich gewarnt; doch du wolltest nicht hören.« »Das stimmt«, gab Lukas widerwillig zu. »Ach, zum Teufel damit! Ich bin eben nicht zum König geschaffen. Für mich wird es das beste sein, mich irgendwo zu verkriechen und zu hoffen, daß Shugdad mich nicht findet. Aber wo? Jedenfalls nicht in Bishangar. Willst du immer noch dorthin zurück? Dann bist du der größere Narr von uns beiden.« »Du redest und redest und hast keine Ahnung«, sagte NurJehan. »Was das betrifft, bist du ein echter Abadani geworden. Ich gehe nach Bishangar und habe dafür meine Gründe.« »Dann nenne sie mir!« Als Nur-Jehan von König Ardashir berichtet hatte, schien sie offener und vertrauensvoller, als Lukas sie je erlebt hatte. Nun wandte sie ihre Augen wieder ab und wirkte verschlossen wie zuvor. »Ich kann dir meine Gründe nicht nennen.«
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»Das heißt: du willst nicht«, widersprach Lukas. »Wenn sie von Bedeutung sind, sollte ich sie besser kennen.« »Von Bedeutung sind sie nur für mich«, sagte Nur-Jehan. »Dir können sie nichts bedeuten.« »Das wird sich ja zeigen.« Nur-Jehan blieb ihm die Antwort schuldig. Zornig rupfte Lukas Grashalme aus. Dieses Mädchen mit dem knochigen Gesicht und den Katzenaugen hatte ein bemerkenswertes Geschick, ihn zu beleidigen. »Also schön, dann behältst du dein kleines Geheimnis eben für dich. Ich kann mir schon denken, worum es geht: um irgendeinen Dorfburschen, einen Ziegenhüter oder dergleichen.« Ihre Wangen bekamen plötzlich Farbe. Lukas mußte lächeln. Tatsächlich! Das Mädchen errötete – soweit dies ihre dunkle, wettergebräunte Haut zuließ. »Du irrst!« widersprach sie heftig. »Dann verstehe ich dich nicht.« »Du brauchst mich auch nicht zu verstehen.« Nur-Jehan stand auf und ging ein Stück flußabwärts. Lukas blieb am Ufer sitzen. Von nun an schwiegen beide. So traf Kayim sie an. »Aha!« rief er fröhlich. »Ich merke, ihr seid einander nähergekommen.« Lukas sprang auf, ebenso ungeduldig, die Neuigkeiten zu hören, wie erleichtert, Kayim gesund und munter zurück zu wissen. Der Verseschmied zog eine Grimasse. »Die Lage könnte schlimmer sein – oder auch besser, ganz, wie man es nimmt. Shugdad hat sich nicht zum König ausrufen lassen, jedenfalls
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bisher nicht. Keine Rede davon, daß du vermißt wirst. Aber warte nur ein Weilchen, und die geschwätzigen Elstern flattern aus dem Nest des Schweigens. Sobald der erste Palastdiener das Geheimnis ausplaudert, wird der Basar von Gerüchten schwirren. Für den Augenblick mag Shugdad es vorziehen, zu schweigen, aber lang wird er die Nachricht nicht zurückhalten können.« »Das ist gut«, sagte Lukas. »Nein, das ist schlecht. Nahdirs Männer durchkämmen die Stadt. Was erklärt, warum ich so lange brauchte, um zurück zukommen. Sie vermeiden jedes Aufsehen, aber sie haben ein wachsames Auge auf alles, was sich bewegt.« Lukas schüttelte den Kopf. »Das ist schlecht.« »Nein, das ist gut. Denn es beweist, daß man uns noch immer in Shirazan vermutet. Bis Shugdad seinen Irrtum erkennt, sind wir über alle Berge. Das beste wäre, wir könnten uns einer gro ßen Karawane anschließen. Dort bleiben wir drei unter so vielen Reisenden am ehesten unentdeckt. Mein Freund Saalab, der Karawanenführer, nimmt uns bestimmt mit, ohne viel zu fragen. Deshalb ging ich zur ›Karawanserei von Sonne und Mond‹ …« »Das also war dein Plan! Sehr gut.« »Nein, sehr schlecht! Die Karawane ist bereits unterwegs. Saalab ist im Morgengrauen nach Turan aufgebrochen. Wir sind zu spät gekommen. Die nächste Karawane zieht erst in einigen Wochen los.« »Das ist schlecht.« »Diesmal hast du recht«, sagte Kayim, »das ist sehr schlecht.« 86
»Dann stecken wir also hier fest«, seufzte Lukas. »Hätten wir uns doch gleich an Saalab gewandt! Dann wären wir jetzt auf und davon. Am meisten schmerzt mich, daß wir die Karawane so knapp verfehlt haben.« »Ich glaube nicht, daß wir sie noch einholen.« Kayim zupfte an den Stoppeln, die einmal sein Bart gewesen waren. »Saalabs Vorsprang ist beträchtlich. Aber wir sollten es trotzdem versuchen. Er folgt dem Pfad am Fluß Hazra entlang. Wenn wir dasselbe tun und uns beeilen …« »Wenn wir dasselbe tun«, unterbrach Nur-Jehan, die hinzu getreten war, »nimmt uns Nahdir gefangen. Glaubst du denn, er kämmt nur den Basar durch? Seine Truppen werden das ganze Land durchsuchen. Dein Vorschlag taugt nichts. Ja, es heißt zu Recht: ›Wenn die Abadanis ein Loch graben, fallen sie selbst hinein‹.« Kayim blieb ihr die Antwort nicht schuldig. »Es heißt aber auch: ›Sieht ein Bishangari einen Spaten, fragt er sich gleich, wo er den Sattel auflegen soll‹.« »Du weißt wirklich an allem etwas auszusetzen«, sagte Lukas vorwurfsvoll. »Hast denn du einen besseren Vorschlag? Wir sollen uns also nicht der Karawane anschließen …« »Das habe ich nicht behauptet. Was die Karawane betrifft, hat der Abadani recht. Wir können sie mühelos erreichen, wenn wir einen anderen Weg einschlagen. Die Karawane folgt dem Hazra, wir aber ziehen querfeldein und durch die Berge. Über den Paß Thaniyyat al-Ukab erreichen wir kurz vor Turan das Ostufer des Flusses.« »Wie? Ich soll mir in den Felsen das Genick brechen?« rief Kayim. »Ich bin doch keine Bergziege aus Bishangar!« 87
»Das stimmt«, versetzte Nur-Jehan. »Selbst dazu fehlt es dir.« »Hört auf, euch zu zanken«, sagte Lukas. »Bist du sicher, daß dieser Thaniyyat al-Irgendwas uns ans Ziel führt? Werden Nahdirs Männer nicht auch die Berge durchkämmen?« »Und wenn schon«, antwortete Nur-Jehan. »Wir sind flinker als sie. Und das Gebirge bietet uns besseren Schutz als das Flachland. Ich hätte für meine Flucht keinen anderen Weg gewählt.« »Also gut«, gab Lukas nach. Obwohl es ihn immer noch kränkte, daß Nur-Jehan ihr dummes Geheimnis so hartnäckig bewahrte, fügte er mürrisch hinzu: »Bist du bereit, uns zu führen?« »Bist du bereit, einer Bishangari zu folgen?« Lukas nickte. Kayim griff in seine Gewänder und brachte mehrere Schnüre mit gedörrten Feigen, einige vertrocknete Früchte und einen Wasserbeutel aus Leder zum Vorschein. »Mit Nahdirs Soldaten auf den Fersen konnte ich leider nicht mehr beschaffen.« Er seufzte ergeben. »Also gut, ich komme mit. Über Felsen klimmen! Als fahrender Verseschmied würde ich lieber dichten als klimmen. Aber wenn es sein muß … Wären meine Sprüche Flüche oder meine Flüche Sprüche, entstünde draus mit Leichtigkeit das größte Kunstwerk unsrer Zeit.«
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ur-Jehan schritt zügig aus und legte ein solches Tempo vor, daß ihre beiden Gefährten kaum mithalten konnten. »Sie gibt bloß an!« flüsterte Lukas Kayim zu. »Nur Geduld, bald wird sie müde.« Nur-Jehan ließ aber nicht locker. Lukas fiel es immer schwerer, seine bleiernen Beine zu bewegen. Bald hatte er Blasen an den Füßen und mußte in reuiger Bewunderung zugestehen, daß das Mädchen kraftvoller und entschlossener war, als er gedacht hatte. Sie hielten nach Süden, durchwateten den Hazra und begannen dann den Aufstieg in die Berge. Die Hänge waren dicht bewaldet, aber weder Bäume noch Sträucher hielten das Mädchen zurück. Nur-Jehan hatte ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten und um den Kopf gewunden, damit es sich nicht in den tief hängenden Zweigen verfangen konnte. Sie kletterte leichtfüßig über scharfe Klippen, warf den Kopf zurück und hielt die Augen offen. Die kühle Höhenluft schien sie verwandelt zu haben.
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»Ja«, knurrte Kayim, als Lukas ihn darauf hinwies, »halb Katze, halb Geiß. Sie ist mein Ruin. Soll sie doch klettern! Ich suche mir eine Höhle und werde Einsiedler. Dort kann ich einige Jahre rasten.« Das Mädchen achtete nicht auf sein Gejammer. Ließen Lukas oder Kayim Zeichen der Müdigkeit erkennen, trieb sie die beiden mit spitzer Zunge an, bis sie sich aus schierem Verdruß beeilten. Stolperte Kayim über eine Wurzel und schwor, keinen Schritt mehr zu tun, brachte ihn das Mädchen mit rüden Worten wieder auf die Beine. Verächtlich forderte sie Lukas auf, mit ihr um die Wette einen gefährlichen Sprung über eine tiefe Kluft zu wagen. Zu seiner Überraschung nahm Lukas die Heraus forderung an. In vorgerückter Stunde begann er zu ahnen, daß es bloß Nur-Jehans Wille war, der sie vorantrieb. »So hätte ich meine Ratgeber behandeln müssen«, gestand er Kayim. »Ich hätte sie durch Reifen springen lassen sollen. Nur jehan ist zwar eine zähe, übellaunige, heißspornige Dorfhexe – aber ich schwöre dir, sie hätte besser regiert als ich.« Bei Einbruch der Dunkelheit genehmigte das Mädchen endlich eine Pause und gab widerwillig zu, daß sie weiter gekommen waren, als sie ursprünglich gedacht hatte. »Hast du das gehört?« rief Lukas überrascht. »Soll das ein Kompliment gewesen sein? Es hat beinahe so geklungen – und, sieh nur! Wunder über Wunder! Man könnte diese Grimasse fast ein Lächeln nennen! Nicht gerade ein herzliches, zugegeben, aber immerhin: ein Zucken in den Mundwinkeln. Oh, wie schade, schon ist es wieder weg!«
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Kayim hatte sich bereits unter einer überhängenden Felsplatte ausgestreckt; sein Stöhnen war in ein Schnarchen übergegangen. Das Mädchen hatte sich abgewendet, als Lukas sie hänselte. »Ich rate dem König, zu schlafen, so gut er kann«, sagte sie jetzt in ihrem üblichen Tonfall. »Selbst wenn er sein weiches Sofa und die Kissen missen muß.« »Ich weiß nicht, wie ich ohne sie auskommen werde«, rief Lukas in gespielter Bestürzung. »Daheim – dort, wo ich wirklich König bin! – schlief ich komfortabel in einem zugigen Flur, und ein Mehlsack war meine herrliche Daunendecke. Manchmal habe ich auch in einem Faß geschlafen; in einem leeren, natürlich. Mein Lieblingsbett war jedoch ein fürstlicher Haufen von Hobelspänen.« Als er Nur-Jehans Stirnrunzeln bemerkte, lachte er. »Ach, Mädchen, wofür hältst du mich denn? Für einen, der als Prinz geboren und aufgepäppelt wurde? Mein richtiger Name ist Lukas, und bevor ich aus dem Meer gekrabbelt kam, lebte ich in einer anderen Stadt – frage mich nicht, wo sie jetzt ist; ich weiß es selbst nicht. Ich hatte nicht einen löchrigen Heller. Doch, ja, ich hatte einmal ein Silberstück, aber das war rasch ausgegeben. Aber nichtsdestoweniger war ich ein Meister in meinem Fach.« »In welchem Fach?« »Ich war ein anerkannter Tunichtgut. Den muß es überall geben; er ist so wichtig wie der Dorftrottel oder der Trunken bold. Woher nähmen sonst die ehrenwerten Leute die Gewiß heit, ehrenwert zu sein? Unser Bürgermeister schwor, es werde ein böses Ende mit mir nehmen. Das war das einzige kluge Wort, das ich je von ihm gehört habe.«
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»Hast du nichts getan, dich um nichts gekümmert?« Das Mädchen blickte ihn mit großen Augen an. »Du machst dich über mich lustig.« »Über dich? Um Himmels willen, nein! Ohne einen gewissen Gauner namens Battisto wäre ich noch immer dort, und es ginge mir besser als jetzt.« Er erzählte ihr, was der Gaukler mit ihm angestellt hatte. Statt scharfzüngig zu antworten, wie er erwartet hatte, meinte NurJehan nachdenklich: »Dann bist du also wider Willen zu uns geschickt worden? Und dieser Battisto könnte dich jederzeit zurückholen? Es muß schlimm sein, so zu leben.« »Ich versuche, mich daran zu gewöhnen«, sagte Lukas. »Ja, es ist ein wenig beunruhigend, nicht zu wissen, ob er mich wieder holen kommt oder für alle Zeiten hier läßt. Doch, wer weiß, vielleicht hätte ich es schlimmer treffen können?« »Und trotzdem setzt du für Bishangar dein Leben aufs Spiel? Für ein Land, das dir nichts bedeuten kann?« »Ich wollte damit auch Abadan einen Dienst erweisen«, sagte Lukas. »Das war ein großer Fehler. Ich hätte alles laufen lassen sollen, wie es lief. Frag mich nicht, wie es dazu kam, daß ich mich auf die Gesetzbücher und die alten Aufzeichnungen einließ. Eines führt eben zum anderen, und schon klebte ich fest, wie eine Mücke auf dem Fliegenfänger. Hätte ich geahnt, wieviel Arbeit mich erwartete – ganz abgesehen davon, daß ich mit einer Schlinge um den Hals enden würde –, wie königlich hätte ich mich doch weiterhin amüsiert! Aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Und doch, glaube mir, ließe ich lieber Drachen steigen, als noch einmal zu regieren! So, und nun habe
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ich dich hoffentlich davon überzeugt, daß ich ein stolzer, glücklicher Nichtsnutz bin.« Nur-Jehan schwieg eine Weile. Dann sagte sie: »In unserem Dorf erzählen die weisen Frauen eine Geschichte, die geht so: Einst baten König Nerimans Ratgeber ihn, zu entscheiden, welcher von zwei Kriegern der mutigere sei. Beide hatten sich gleichermaßen durch Heldentaten verdient gemacht. Aber der eine hatte das Herz eines Löwen – stolz, tapfer und unbeirrt –, und das Herz des anderen war stets von Sorgen erfüllt; er war ängstlich wie eine Maus. – »Gewiß, mein König«, sagten die Ratgeber, »wirst du den ersten erwählen, denn er ist tapfer in seinem innersten Wesen; der andere hingegen muß sich zum Mut erst zwingen.« – »So ist es«, erkannte auch Neriman. »Und aus diesem Grund wähle ich den zweiten.« Schlafe jetzt, Lukas Kasha«, sagte Nur-Jehan. »Beim ersten Tageslicht müssen wir weiterziehen.« Ehe Lukas antworten konnte, war sie im Dunkel verschwun den. Erst später wurde ihm bewußt, daß Nur-Jehan ihn zum erstenmal bei seinem richtigen Namen genannt hatte. Zwei Tage lang zogen sie durch die Berge, nun in nördliche Richtung. Längst war Kayims Proviant verteilt und die Wasserflasche leergetrunken. Hätte Lukas die kleine Schar führen müssen, wären sie wohl verhungert, dessen war er sich sicher. Die einzigen Bäume, die ihn daheim interessiert hatten, waren jene, von denen reife Früchte baumelten und die zum Stehlen einluden. Dergleichen gab es hier aber nicht. Lukas konnte nicht einmal die Büsche oder Bäume voneinander unterscheiden, und Kayim war hilflos wie er. Doch Nur-Jehan 93
grub Wurzeln aus und pflückte die wenigen Beeren von unscheinbaren Stauden. »In Saalabs Karawane«, maulte Kayim, «könnten wir jetzt Shish-kebab verschlingen und müßten nicht diese widerlichen Wurzeln knabbern. Wer hätte je ihm zugetraut, daß Kayim dürre Stecken kaut? Einst schmatzte er gebrat'ne Tauben, jetzt frißt er knurrend saure Trauben. Sieh dir bloß diese Pilze an! Meinst du, Nur-Jehan will uns damit vergiften?« Ärger noch als der Hunger quälte sie der Durst. Dabei schien Nur-Jehan selbst die kleinste Quelle zu erahnen. Einmal, als sie sich durch ausgedörrtes Unterholz kämpften, hielt Nur-Jehan plötzlich an. Ihre Nasenflügel bebten; wortlos stürzte sie weiter, geradewegs auf eine Baumgruppe zu. Als Lukas sie eingeholt hatte, war sie bereits in einen von Felsen gesäumten kleinen Teich gesprungen. Ohne zu zögern, folgte er ihrem Beispiel. Das eiskalte Wasser nahm ihm den Atem. Noch vor wenigen Augenblicken hatte er sich wie geröstet und gebraten gefühlt, jetzt klapperte er mit den Zähnen, zitterte am ganzen Leib und beeilte sich, wieder auf festen Boden zu gelangen. Kayim war damit zufrieden, aus der hohlen Hand zu trinken und sich ein paar Tropfen über den sonnenverbrannten Kahlschädel zu träufeln. Nur-Jehan schien in besserer Laune, als Lukas sie bisher je gesehen hatte. Ihrem Vorschlag, hier zu rasten und bei Tagesanbruch erfrischt weiterzuziehen, stimmten sie eifrig zu.
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Nur-Jehan schlang die Arme um die Beine und blickte versonnen auf den Teich. Während Kayim seine blasenübersäten Füße im Wasser kühlte, streckte sich Lukas neben dem Mädchen aus. »Wärest du jetzt daheim«, sprach er sie vorsichtig an, »was würdest du dann tun? Weben? Den Boden fegen? Ziegen hüten?« »All das sind wichtige Tätigkeiten«, sagte sie, etwas verstimmt, fuhr aber dann, selbst neugierig geworden, fort: »Und du? Was tätest du jetzt in der Stadt, von der du mir erzählt hast?« »Laß mich einmal überlegen. Wahrscheinlich würde ich dem Bürgermeister einen Streich spielen, um ihn in Schwung zu halten. So wie damals, als ich einen ehrenhaften Menschen aus ihm machte – obwohl er mir dafür nie gedankt hat. Das kam so: Ich brachte einem Papagei bei, zu sagen: »Seid auf der Hut, Euer Ehren! Alles ist aufgeflogen!« Eines Abends setzte ich den Papagei im Haus des Bürgermeisters auf den Schornstein. Das erste, was der Mann bei Tagesanbruch hörte, war eine Stimme, die aus dem Kamin krächzte: »Alles ist aufgeflogen! Alles ist aufgeflogen!« Gleich sprang er aus dem Bett, rannte Hals über Kopf zum Rathaus und stopfte die Geldsäcke in die Truhe zurück, aus der er sie – nun, sagen wir, vorübergehend – ent nommen hatte. So fand man ihn auch, im Nachthemd im Rathaussaal …« Er unterbrach sich. Die Schultern des Mädchens zuckten, und er fragte sich bestürzt, womit er Nur-Jehan zum Weinen gebracht hatte. Dann erst sah er, daß sie von Lachen geschüttelt wurde. 95
»König von Abadan, du bist ein entsetzlicher Schlingel!« Lukas neigte bescheiden den Kopf und meinte: »Man tut, was man kann.« Am folgenden Tag, als sie sich den riesigen Steinblöcken des Gebirgspasses näherten, wurde Lukas endgültig klar, daß NurJehan mit Absicht gezankt und gescholten hatte. Ohne sie wären Kayim und er hilflos durch die Berge geirrt. »Oder die Aasgeier hätten uns zum Frühstück verspeist«, pflichtete der Reimeschmied ihm bei. »Ja, sie hat keinen schlechten Charakter – man muß sich nur an ihre Art gewöhnen. Doch das gleiche ließe sich auch von einer Wildkatze sagen.« Trotzdem spürte Lukas, daß sich der Knoten der Feindschaft zwischen den beiden gelockert, wenn auch noch nicht ganz gelöst hatte. Das Mädchen und Kayim überhäuften einander nach wie vor mit Beschimpfungen, aber sie grinsten jetzt dabei. Wirkte Nur-Jehan niedergeschlagen oder gab sie sich verschlossen, brachte Lukas sie mit der Schilderung seiner Streiche in Zara-Petra unweigerlich zum Lachen. Sie wiederum beschrieb ihm manchmal das Leben in Bishangar und pries die Berge und Täler, die sie innig liebte. »Das sind Maulwurfshügel, verglichen mit den Höhen von Bishangar!« sagte sie und wies in die Runde. »Auf dem Gipfel des Umm al-Raas ist man den Sternen nahe! Vielleicht unter scheiden wir uns deshalb von den Abadanis.« »Und doch«, sagte Lukas, »bezweifle ich, daß irgend jemand einen Abadani-Stern von einem Bishangari-Stern unterscheiden kann.«
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Lukas begriff, daß ihrer Freundschaft eine Grenze gesetzt war, die so starr und unüberwindbar schien wie der Umm alRaas selbst, während Nur-Jehans Begierde, in ihr Land heimzukehren, wuchs und wuchs, je mehr sie sich dem Tal das Hazra näherten. »Ich sagte dir bereits, es sei nicht wichtig für dich, es zu wissen«, wich sie aus, als er wieder einmal erfahren wollte, was sie so drängend bewegte. »Mehr noch: es ist zu deinem Besten, wenn du es nicht weißt.« Zur Mittagsstunde erreichten sie die Ufer des Hazra. Dort fanden sie einen breiten, von vielen Spuren gezeichneten Pfad. »Schaut!« rief Kayim. »Hier muß die Karawane gewesen sein. Wir haben sie wieder verfehlt. Sie ist vorbeigezogen, und wenn wir Pech haben, ist sie schon fast vor Turan.« Sie beschleunigten erneut ihr Tempo. Diesmal führte der ungeduldige Kayim. Nach einer knappen Stunde klatschte er plötzlich in die Hände und rief ihnen zu: »Ich sehe sie! Sie sind dabei, die Zelte aufzuschlagen. Kommt! Teppiche und Kissen erwarten uns, Limonade und Shish-kebab! Ein Wort von Saalab, und man wird uns – im wahrsten Sinn – königlich bewirten.«
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it wässrigem Mund trottete Kayim voran; Nur-jehan
und Lukas folgten ihm auf den Fersen. Als sie sich
der Karawane näherten, hörte Lukas Stimmengewirr
und sah Gruppen von Reisenden um die Feuerstellen versammelt. Kayim, der vorausgelaufen war, hielt plötzlich an und wandte sich um. Sein Gesicht war aschgrau. Nur-Jehan erschrak und eilte ihm entgegen. Nun erkannte auch Lukas, daß rauchende Gepäckhaufen waren, was er für Kochfeuer gehalten hatte. Ballen und Bündel waren aufgerissen, ihr Inhalt über die Ebene verstreut. Den Kamelen hatte man die Lasten entrissen. Die Pferde waren bis auf einige müde Klepper verschwunden. Die Menschen hockten im Staub oder liefen ziellos zwischen den Kleider- und Warenhaufen umher. Viele Reisende waren verwundet, und Nur-Jehan und Lukas bemühten sich nach besten Kräften um sie. Kayim, der nach dem Anführer der Karawane Ausschau gehalten hatte, kam wenig später zurück. »Saalab ist tot«, meldete er betrübt. »Ein Dutzend andere sind ebenfalls gefallen. Es war Shir Khan und seine Räuberbande. 98
Diese Schlächter! Noch vor einer Stunde wären wir mitten in den Überfall geraten. Und hätten wir uns bereits heute früh der Karawane angeschlossen…« Je deutlicher Kayim erkannte, wie knapp sie dem Unheil entgangen waren, um so aufgeregter wurde er; er zitterte, schüttelte den Kopf und murmelte unentwegt vor sich hin. Die Überlebenden, etwa hundert Reisende, hatten mittler weile zusammengerafft, was sie tragen konnten, und machten sich in einem traurigen Zug zu Fuß nach Turan auf. Die drei Flüchtlinge trotteten in der Schar mit, um den geringen Schutz zu nutzen, den ihnen die Ärmsten bieten konnten; auch hofften sie, hier unerkannt zu bleiben. Nur-Jehan hatte in den verstreuten Habseligkeiten einen zerrissenen Kaftan und einen Turban gefunden und war in dieser Verkleidung kaum von einem jungen Kameltreiber oder Pferdeknecht zu unterscheiden. »Bist du es wieder? Wirst du denn immer vom Pech verfolgt?« Als Lukas sich beim Klang der Stimme umwandte, erkannte er Namash, den Wasserverkäufer. Der untersetzte kleine Mann war offenbar ungeschoren davongekommen und schien ehrlich erfreut, Lukas wiederzutreffen. »Was plagte dich gleich, als wir einander zuletzt trafen?« überlegte Namash. »Ach ja, eine blutende Nase. Und jetzt Shir Khan! Als ob bei dir viel zu holen wäre! Du konntest ja in Shirazan nicht einmal einen Becher Wasser bezahlen. Wo hast du dann eigentlich das Geld für die Reise her? Und wie kommt es, daß ich dich erst jetzt in der Karawane entdecke?« »Was das Geld angeht…«, stotterte Lukas. »Meine Freunde…« 99
» … sind zwei als Händler verkleidete Prinzen? Mach mir nichts vor! Ihr habt euch heimlich zu uns geschmuggelt, so habt ihr das angestellt. Ach was, ich will es gar nicht wissen. Das ist eure Sache.« »Und wie gehen deine Geschäfte?« warf Lukas ein, um weiterer peinlicher Befragung zu entgehen. »Ein Wasserver käufer hat wohl in einer Karawane ein gutes Auskommen.« »Welchen Wasserverkäufer meinst du?« Namash kicherte und grinste übers ganze Gesicht. »Damit ist es vorbei. Ich will dir etwas verraten. Es wird dich freuen, und, wer weiß, vielleicht widerfährt dir einmal Ähnliches. Mir ist großer Reichtum in den Schoß gefallen! Einfach so! Mit einem Schnipsen der Finger. Und Shir Khan hat nichts davon erwischt! Wer denkt denn schon, daß ein armer Schlucker wie ich einen Beutel voll Goldstücke in seinem Wassersack trägt? Ach, sie haben mir ein paar Püffe und Schläge verpaßt, aber das war schon alles.« »Da bist du also jetzt ein reicher Mann«, sagte Lukas und lächelte insgeheim. »Und das verrätst du mir einfach so? Ich könnte doch auch ein Räuber sein.« Nainash mußte lauthals lachen. »Ich weiß, wie ein Räuber aussieht! Die feinen und die gemeinen, ich kenne die einen wie die anderen zur Genüge. Du hast vielleicht allen Grund, der Polizei aus dem Weg zu gehen, aber Räuber bist du keiner. Außerdem, irgendeinem muß ich es doch erzählen. Ich kann es noch immer nicht fassen! An jenem Tag warst du mein bester Kunde im Basar – jetzt kannst du dir denken, wie schlecht das Geschäft ging. Am Abend, ich wollte mir gerade einen Winkel zum Schlafen suchen, kommt plötzlich ein alter Mann auf mich zu und behauptet, er suche mich bereits stundenlang. Zuerst will 100
er unbedingt mein Horoskop stellen – als wollte ich im voraus wissen, welches Unglück mir als nächstes bevorsteht! Dann zückt er plötzlich einen Geldbeutel, drückt ihn mir in die Hand – und weg war er!« Dank dieser wundersamen Begegnung, erzählte Namash, wolle er nun ein Kaufmann werden und mit allerlei Waren handeln. Lukas, froh, daß Locman seinen Auftrag erfüllt hatte, wünschte ihm Glück und Erfolg. Mittlerweile war die Nacht angebrochen, und die traurige Karawane hatte zur Rast angehalten. Nur-Jehan und Kayim hockten sich zu Lukas und dem Wasserverkäufer. »Hier ist wenigstens ein Freund von König Kasha!« Lukas deutete auf Namash. »Ist er das? Wahrhaftig?« fragte Kayim. »Habe ich im Basar von Shirazan denn nicht auch andere Gerüchte gehört? Der König habe einen üblen Galgenstrick begnadigt, einen herum streunenden Reimeschmied. Statt ihn aufzuspießen, soll er ihn wie einen Prinzen behandelt haben.« »Wenn er das tat«, erwiderte Namash, »wird er seine Gründe gehabt haben.« »Oh, bestimmt!« rief Kayim. »Wie es der Zufall will, kenne ich den Fall genauer. Der Kerl ist in Wirklichkeit ein prächtiger Bursche und hat sein Glück aufrichtig verdient. Glaube mir, ich verehre König Kasha nicht weniger als du.« Der ehemalige Wasserverkäufer hatte nicht nur seinen Goldbeutel, sondern auch die meisten Vorräte gerettet. Nun teilte er sie mit Lukas und den beiden anderen und forderte sie auf, sich nicht zu zieren, denn bald werde er für die Reise nach Norden neue Einkäufe tätigen. 101
Noch ehe die drei jedoch der großzügigen Aufforderung Folge leisten konnten, verbreiteten sich in der Karawane wie ein Lauffeuer warnende Rufe. Ein Trupp von Berittenen galoppierte mit brennenden Fackeln mitten in das Lager. Die Männer saßen ab, bahnten sich mit Gewalt ihren Weg durch die schreckens starre Schar, packten den einen oder anderen und stießen ihn wieder zur Seite. Lukas drückte sich enger an Nur-Jehan: Der Offizier, der die Schar anführte, war Nahdir. Den Fragen der Soldaten entnahm Lukas, daß sie zwei gefährliche Verbrecher und eine Bishangari-Sklavin suchten. Er blickte sich nach einem Fluchtweg um, doch das Lager war umstellt. Plötzlich sprang Namash auf die Beine. »Drei Flüchtlinge?« rief er und lief auf Nahdir zu. »Ich kann dir sagen, wo sie sind.« Zutiefst betroffen von diesem Verrat, schickte Lukas sich an, die Flucht zu wagen, auch wenn wenig Hoffnung auf ihr Gelingen bestand. Der Wasserverkäufer warf sich vor dem Kommandanten der Wache auf den Boden und stieß hervor: »Ich weiß, wo du sie finden kannst!« Nahdir packte ihn an der Jacke, zerrte ihn hoch und schüttelte ihn erbarmungslos. »Sprich, du Wurm!« »Shir Khan! Shir Khan!« stammelte der Wasserverkäufer. »Er hat sie mitgenommen: zwei Männer und eine Bishangari. Ja, die Räuber haben sie gepackt. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen! Sie sind schon weit fort. Ihr Schicksal ist besiegelt. Die Bishangari wird man an der Ostgrenze verkaufen, und wenn die anderen beiden kein ausreichendes Lösegeld bringen, dann …« Namash fuhr sich mit der Handkante über die Kehle.
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»Dabei wäre das noch eine Erlösung für sie. Shir Khan, dieser Teufel! In seinen Klauen sind sie so gut wie tot.« Zur Bestärkung wies der Wasserverkäufer zurück nach Shirazan. Dorthin seien die Banditen mit ihren Gefangenen gegangen. Nahdir stieß Namash zur Seite. Ohne ein Wort des Dankes machte er kehrt und befahl, aufzusitzen. Als der Trupp aus dem Lager galoppierte, humpelte Namash zu Lukas und seinen Gefährten zurück. »Der Himmel vergebe meine Lügen!« sagte er lächelnd. »Aber jetzt, da ich reich bin, werde ich mich daran gewöhnen müssen, von Zeit zu Zeit die Unwahrheit zu sagen.« »Namash, wir danken dir!« rief Lukas. »Du hast viel gewagt! Warum nur?« »Sag nichts, erzähle nichts, ich will nichts wissen«, schnitt ihm Namash das Wort ab. »Kann ich denn beschwören, daß ihr die Gesuchten seid, nur weil ihr zu dritt kommt und eine Bishangari dabei ist? Ja, ich erkenne eine Bishangari sofort – so, wie ich einen Räuber erkenne. Ihr geht zwar in Lumpen – aber wenn das schon ein Verbrechen wäre, müßten wir alle ins Gefängnis. Und außerdem: ich weiß doch, daß du mir an jenem Tag Glück gebracht hast. Nein, kein Wort mehr über die Sache.« Da Namash fürchtete, Nahdir könnte zurückkehren, um ihn weiter auszufragen, beschloß er, das Lager unverzüglich zu verlassen. Lukas dankte ihm noch einmal und wünschte ihm Glück. Auch Nur-Jehan wäre am liebsten auf der Stelle aufgebrochen. Doch diesmal ließ sich Kayim nicht überreden. Er war sicher, daß sie die schlimmste Gefahr hinter sich hatten: 103
»Komme, was mag, noch ist es nicht Tag. Mich kann keiner erweichen, jetzt weiterzuschleichen. Nein, nicht einen Schritt, ich mach' nicht mehr mit!« Nur-Jehan fügte sich, und alle drei streckten sich Seite an Seite auf dem Boden aus. Beim ersten Tageslicht erwachte das Mädchen und drängte zum Aufbruch. Noch ehe die anderen im Lager sich regten, machten sich die drei auf den Weg nach Turan. Es war nicht mehr weit bis zur Stadt, und Nur-Jehan meinte, zu so früher Stunde kämen sie rascher und gefahrloser voran. Am späten Vormittag näherten sie sich bis auf Sichtweite den Wällen, die unter der gnadenlosen Sonne rösteten. Außerhalb der Stadtmauer waren Zelte aufgeschlagen; dazwischen drückten sich einzelne Buden. Unter einem gestreiften Vordach hockte ein Mann mit struppigem Bart und schiefem Gesicht. Neben ihm waren an einen Pfahl drei Pferde gebunden. Lukas wäre achtlos vorbeigegangen, doch Nur-Jehan blieb unvermittelt stehen. Lukas folgte ihrem Blick. Sie starrte das größte der drei Pferde an. »Dieser Abadani hat Rakush gestohlen.« »Bist du sicher?« begann Lukas. »Die armseligen Klepper…« »Soll ich mein eigenes Pferd nicht kennen? Der Abadani muß Rakush gefangen haben, nachdem ich ihn laufen ließ und nach Norden schickte. Er hat es dem Mann gewiß nicht leicht gemacht. Es ist Rakush! Ich will mein Pferd zurück!«
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»Ja, ja, natürlich«, versicherte ihr Lukas und zerrte sie vom Zelt des Pferdehändlers weg. »Laß Kayim und mich überlegen, wie wir…« »Was gibt es da zu überlegen?« brauste das Mädchen auf. »Wenn der Abadani mein Pferd nicht freiläßt, muß er sterben. Ihr beide nehmt ihn euch vor, ich kümmere mich um die Pferde. Während ihr ihn packt und festhaltet…« »Halt, halt!« rief Lukas. »So geht das nicht.« »Warum nicht? Du hast doch deinen Dolch. Das genügt.« »Nicht mit dem Dolch!« protestierte Lukas. »Nichts dergleichen!« Nur-Jehan überlegte einen Augenblick. »Du hast recht. Wir müssen eine andere Lösung finden. Sollen wir das Zelt anzünden?« »Auch kein Feuer!« rief Lukas. »Was ist denn in dich gefahren?« »Das verstehe ich nicht.« Nur-Jehan schüttelte den Kopf. »Wie willst du ihn dann überwältigen?« »Gar nicht«, sagte Lukas. »Wir überwältigen ihn überhaupt nicht.« »Ich will aber Rakush!« »Du bekommst ihn; mein Wort darauf. Und nun überlege doch erst einmal in aller Ruhe! Folgen wir deinem Rat, haben wir im Handumdrehen die ganze Stadt um die Ohren. Dann kommst du nicht zu deinem Pferd, sondern bestenfalls ums Leben.«
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Nur-Jehan richtete sich auf. »Rakush würde jederzeit für mich sein Leben aufs Spiel setzen. Ich bin zu Gleichem bereit. Ich fürchte mich nicht vor dem Tod.« »Ich schon«, bekannte Lukas. »Vor allem, wenn er sich vermeiden läßt. Es geht auch ohne Überfall, Brandstiftung und dergleichen. Wir könnten zum Beispiel den Dolch für das Pferd eintauschen. Die Waffe ist mehr wert, als der Kerl in einem Jahr verdient. Doch nein, auch das gefällt mir nicht! Geht er auf den Handel ein, hat er einen Dolch, und wir haben keinen… Wir müssen dem Mann eben Rakush vor der Nase wegschnappen.« Nur-Jehan starrte ihn voll Abscheu an. »Rakush stehlen? Wie unedel!« »Ja, und wie praktisch dazu!« sagte Lukas. »Außerdem ist es kein Diebstahl. Du nimmst bloß in aller Freundschaft zurück, was ohnedies dir gehört.« »Der Plan trägt uns keine Ehre ein.« »Das nicht«, bestätigte Lukas fröhlich. »Aber er trägt uns ein Pferd ein, und wenn alles gelingt, bekommen wir Rakush geschenkt, ohne daß uns ein Haar gekrümmt wird. Das ist für mich Ehrensache.«
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ukas forderte Nur-Jehan und Kayim auf, außer Sichtweite zu bleiben, und trat dem Pferdehändler entgegen, der, wie er mittlerweile erfahren hatte, Katir hieß. Sein prüfender Blick fiel auf den Schimmel: Er war zuschanden geritten und heruntergekommen. Auf den Flanken hatte er Striemen; die Mähne hing zerzaust und schmutzig herab. Der schöne Kopf und die stolze Haltung waren dennoch unverkennbar. Lukas schenkte seine Aufmerksamkeit aber nicht Rakush, sondern der ausgemergelten, schiefhüftigen Stute daneben. Er ging geradewegs auf sie zu, klopfte ihr den Hals und tat ganz begeistert und hingerissen. Katir saß mit gekreuzten Beinen auf einem Teppich und kaute an einem Hühnerknochen. Sobald er Lukas bemerkte, sprang der Pferdehändler auf die Beine. Er hatte einen mächtigen Brustkasten, und die rote Schärpe wand sich um einen Bauch von beachtlichen Ausmaßen. Lukas zuckte zusammen. Schlug sein Plan fehl, hatte er es mit einem bärenstarken, wild entschlossenen Kraftprotz zu tun – und nur ungern erinnerte er 107
sich an den Zwischenfall mit dem Händler im Basar von Shirazan. »He, Bettler!« rief Katir. »Scher dich weg von meinen Pferden!« »Ich störe sie ja nicht«, sagte Lukas. »Nein«, erwiderte der Pferdehändler, »du störst sie nicht, aber du kaufst sie auch nicht.« »Das wird sich noch zeigen. Vielleicht kaufe ich eines, oder alle, oder keines – je nachdem, wie sie mir gefallen. Aber vorher muß ich ein Wörtlein mit ihnen reden.« Lukas tat, als flüstere er der Stute etwas zu; dann hielt er sein Ohr lauschend an ihre Nüstern. Das Pferd wieherte. Lukas nickte lebhaft. »Ja, ja! Weiter! Bist du sicher? Sage mir das noch einmal, damit ich Gewißheit habe!« »Holla, was soll das bedeuten?« wollte Katir wissen. Er warf den Knochen weg und packte Lukas am Kragen. »Mit einem Pferd reden? Du hast wohl Stroh im Kopf! Verschwinde, bevor ich es dir mit Gewalt herausdresche.« »Oh, du edelmütiger Fürst der Pferdeveräußerer«, erwiderte Lukas gemessen, »sei vielmals bedankt! Deine prächtige Stute hat mir alles verraten, was ich wissen wollte.« »Hä?« grunzte Katir. »Das siebenjährige Juckfieber soll über mich kommen, und nur zwei Jahre sollen mir bleiben, mich zu kratzen, wenn diese Schindmähre auch nur ein Sterbens wörtchen sprechen kann.«
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»Du bist der Pferdesprache unkundig?« fragte Lukas scheinheilig. »Welch ein Jammer, du unglücklichster aller Reittier-Lieferanten! Sonst wärest du jetzt ein reicher Mann. So reich, wie ich es bald sein werde.« Katir blinzelte Lukas aus schmalen Augenschlitzen an. »Steckt Geld in der Sache? Der Bart soll mir ausfallen, wenn ich nicht meinen gerechten Anteil verlange.« »Geld? Schätze – haufenweise! Das hat mir deine Stute verraten. Ja, diese Geschöpfe wissen um manche Geheimnisse. Man braucht bloß die richtigen Fragen zu stellen und die Antworten recht zu deuten. Du zweifelst? Ich werde dich überzeugen. Bleib, ich bin gleich wieder zurück!« Lukas entwand sich dem Griff Katirs und ging wie suchend die Stadtmauer entlang, bis er um die nächste Ecke verschwand. Dort, außer Sichtweite, blieb er an die Steine gelehnt stehen und pfiff ein Lied, um sich die Zeit zu vertreiben. Als er annehmen konnte, jetzt habe der Pferdehändler lange genug gewartet, kehrte Lukas zurück, rannte an Katir vorbei und fiel vor der Stute auf die Knie. »Gepriesen seist du, klügstes aller Tiere!« rief er. »Möge dir ewig der bodenlose Futtersack meiner Dankbarkeit gewiß sein.« »Jetzt scherst du dich aber zum Teufel!« brüllte Katir und zerrte Lukas auf die Beine. »Willst du mir vielleicht gar einreden, du hättest in diesen wenigen Minuten einen Schatz gefunden!« »In der Tat! Hier ist der Beweis!« Und Lukas griff in sein Hemd und zog den königlichen Dolch heraus.
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Beim Anblick des kostbaren Stücks begannen Katirs Augen noch heller zu glänzen als die edelsteingeschmückte Waffe. Lukas fuhr fort: »Dein Pferd trug mir auf, der Stadtmauer eine Viertelmeile nach Osten zu folgen, dann acht Schritte nach links zu tun und unter dem zweiten weißen Stein Nachschau zu halten. Ich tat, wie befohlen – und habe dies hier gefunden. Nochmals Dank für deinen Freundesdienst! Nun gehe ich gern wieder meiner Wege.« »Das wirst du nicht tun!« brüllte der Händler, packte Lukas mit der einen Hand und streckte ihm die andere entgegen. »Her mit dem Messer! Mein Gaul hat dir gesagt, wo du es finden kannst, also gehört der Dolch mir.« Lukas zuckte mit den Schultern. »Wenn dir an dem Dingerchen so viel gelegen ist, magst du es haben.« Er warf Katir den Dolch zu. »Hier, nimm ihn, und wir scheiden als Freunde. Zu schade, daß du bereit bist, für eine solche Kleinig keit alles andere zu opfern! Denn wisse: deine Stute sagt, es gäbe noch mehr zu finden, und ihre beiden Freunde wüßten über weitaus wertvollere Schätze Bescheid. Doch, wie du sagst: es sind deine Pferde. Also sprich selbst mit ihnen. Vergiß aber nicht, sie voll Ehrerbietung zu behandeln – sonst verraten sie dir nichts.« »Brennesseln sollen dir aus der Nase wachsen!« entfuhr es Katir. »Du weißt ganz genau, daß ich kein Wort von dem verstehe, was sie sagen!« »Du findest den Trick schon noch heraus«, versicherte Lukas. »Einem so hochgelehrten Mann wie dir sollte es nicht schwerfallen, die Pferdesprache und ihre Grammatik und alles weitere zu lernen. Zugegeben, die Sache hat einen kleinen 110
Haken: sie reden im Dialekt. Das Pferd aus dem Norden spricht ganz anders als jenes aus dem Süden, und auch der Rotschimmel da hat seine eigene Weise. Darauf mußt du natürlich achten, denn wenn du die Tiere mißverstehst, gerätst du auf die falsche Bahn und stolperst erfolglos durch das ganze Land. Im übrigen ist die Sache kinderleicht. Natürlich könnte ich dich auch unterrichten; es würde wahrscheinlich kaum mehr als acht oder neun Jahre dauern.« »Damit ist mir nicht geholfen!« schrie der Pferdehändler. »Ich merke mir ja nicht einmal ein Schriftzeichen lange genug, um meinen eigenen Namen zu malen – und da willst du mich mit der Pferdesprache vollpacken?« »Ja, es ist wahrlich ein Jammer!« seufzte Lukas. »Da schleppst du eine Schatztruhe auf vier Beinen mit dir herum, und es fehlt dir bloß der Schlüssel. Ich bedaure dich zutiefst.« Lukas wandte sich zum Gehen, aber Katir hielt ihn zurück: »Warte! Wir sind noch nicht fertig miteinander.« »Ach, nein?« fragte Lukas. »Du kannst doch jetzt den prächtigen Dolch verkaufen. Was du dafür bekommst, und mag es noch so viel sein, ist zwar nur ein Almosen verglichen mit dem, was du hättest gewinnen können – doch solltest du nichtsdestoweniger zufrieden sein.« »Zufrieden? Ich? Mit diesem – diesem Nichts? Wenn ich das Hundertfache bekommen könnte? Hältst du mich denn für einen Narren? Nein, hör zu! Ich sage dir, was ich für dich tun will.« Die Augen des Pferdehändlers begannen gierig zu glänzen, und er senkte die Stimme. »Du verstehst diese Biester, äh? Also gut, du bleibst bei mir, begleitest mich und übersetzt mir alles, was sie sagen – wo man das Gold findet und so weiter. Wie du schon 111
gemerkt haben wirst, bin ich ein ehrlicher Mann, freigiebig und nie aufs eigene Wohl bedacht. Daher sollst du von allem, was uns diese Knochenbündel finden lassen, deinen gerechten Anteil haben. Mein Wort darauf!« Lukas schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich mit dir teilen? Es gibt noch mehr Pferde in Abadan. Nein, sei vielmals bedankt, aber ich unterhalte mich eben mit dem nächstbesten Pferd, das mir in den Weg kommt. Lebe wohl!« »Halt, halt!« rief Katir. »Wie willst du wissen, ob du nicht ausgerechnet auf einen dahergelaufenen, blöden Gaul triffst, der nicht einmal das Versteck einer Kupfermünze kennt?« »Das muß ich in Kauf nehmen«, räumte Lukas ein. »Aber wer sagt mir, daß du mich nicht betrügst, sobald du an all die Reichtümer herankommst? Schließlich hast du mir ja auch den schönen Dolch abgeluchst.« »Nimm ihn zurück!« stieß der Pferdehändler aus. »Hier! Da hast du ihn!« »Nein, ich kann ihn nicht annehmen«, wehrte Lukas ab. »Was dir gehört, gehört dir. Es bleibt, wie ich gesagt habe.« Als Katir erkannte, daß ihm die Reichtümer davonzu schwimmen drohten, ehe er nach ihnen haschen konnte, riß er sich den Turban vom Kopf, schleuderte ihn auf den Boden und trampelte auf ihm herum. »Mein letztes Angebot!« brüllte er. »Behalte deinen Dolch! Aber schnattere dafür ein wenig mit meinen Gäulen und sage mir, wo ich etwas finden kann.« »Ein schlechter Handel«, sagte Lukas und ließ sich zögernd von Katir den königlichen Dolch in die Hand drücken. »Aber 112
wer, du Goldenzüngiger, könnte deiner Überredungsgabe wider stehen?« Rakush noch immer nicht beachtend, wandte sich Lukas dem zweiten Pferd zu, flüsterte ihm etwas ins Ohr und lauschte mit allen Anzeichen gespannter Aufmerksamkeit: »Wie war das? Fünf Meilen nach Norden? Dann hundert Schritte nach rechts? Ein Baum, in dessen Rinde ein Kreis geschnitzt ist? Und dann unter den Wurzeln graben? Ja, ja, ich verstehe. Eine Truhe mit Goldbarren. Was, keine Smaragde? Nun, dann üben wir uns eben in Bescheidenheit.« Er wandte sich an Katir und wiederholte die Anweisungen. Der Pferdehändler nagte ungeduldig an seinem Daumen und wollte auf der Stelle losstürmen, doch Lukas hielt ihn zurück: »Laß uns zuvor hören, was das dritte Pferd zu berichten hat«, sagte er und wies auf Rakush. Eifrig flüsterte er dem Hengst ins Ohr und tat dann wieder so, als lausche er aufmerksam. »Oho! Das ist ja noch besser!« erklärte Lukas nach seinem lebhaften Gespräch mit Rakush. »Dieses Pferd weiß mehr als die beiden anderen. Und das ist verständlich, denn es behauptet, das Lieblingspferd des Königs gewesen zu sein. Es habe im Palast von Shirazan einen eigenen Stall besessen, fraß den Hafer aus goldenen Eimern und habe ein seidengeschmücktes Geschirr getragen. Es sagt auch«, ergänzte Lukas, »daß du es gestohlen hast.« »Es lügt!« rief Katir. »Aber, aber! Ich wiederhole doch nur, was das Tier sagt. Du seist in den königlichen Stallungen eingebrochen, hättest dich zu ihm geschlichen…«
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»Nein! Es ist frei in den Bergen herumgelaufen! Die anderen Pferde – also, ich gebe zu, die habe ich in meine Obhut genommen, noch ehe ihre Herren sich von ihnen getrennt hatten –, aber diesen Hengst nicht! Ich schwöre dir, den habe ich wirklich gefunden!« »Er ist anderer Meinung.« »Und wem willst du glauben?« rief Katir. »Einem Ehren mann oder einem herumstreunenden Pferd?« Er trat auf Rakush zu und drohte ihm mit geballter Faust. »Sag uns lieber die Wahrheit, du verlogenes Biest!« »Was soll das?« rügte ihn Lukas. »Die Hauptsache ist doch, daß der Hengst um verborgene Schätze weiß. Da ist eine Höhle, gefüllt mit Reichtümern…« »Glaube ihm kein einziges Wort!« erwiderte Katir erbost. »Er hat vorher gelogen, also lügt er auch jetzt. Er will mich bloß an der Nase herumführen. Treuloses Vieh! Heutzutage darf man nicht einmal einem Pferd etwas glauben!« »Ich fürchte, da hast du recht«, stimmte Lukas zu. »Am besten hörst du gar nicht auf ihn. Der Hengst würde dir doch nur Unsinn erzählen. Es gibt nichts Schlimmeres als ein Pferd, das lügt. Dagegen ist noch kein Mittel erfunden.« »Zum Teufel mit ihm!« rief der Pferdehändler. »Nicht ein Haferkorn will ich noch an dieses ungetreue Biest verschwen den! Nimm ihn mit, du sollst ihn haben! Und jetzt: aus dem Weg!« Ohne sich die Mühe zu machen, sein Zelt abzubrechen oder den Teppich einzurollen, sprang Katir auf den Rücken der Stute. Das zweite Pferd am Zügel, wandte er sich nach Norden, so
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schnell das lahmende Tier ihn trug, und bald war er in einer Staubwolke verschwunden. Lukas rief nach Nur-Jehan und Kayim. Rakush wieherte glücklich seiner Herrin entgegen, und sie schlang ihm die Arme um den Hals. Kayim schüttelte bewundernd den Kopf, als Lukas berichtete, wie er Katir übertölpelt hatte. »Als König hast du ziemlich versagt«, knurrte Kayim, »als Feigendieb warst du ein Stümper – aber als Roßtäuscher bist du unschlagbar. He, was ist mit dir? Bist du denn nicht stolz auf dich?« »Nein«, sagte Lukas verärgert. »Ich habe alles verdorben. Wie konnte ich nur so töricht sein! Diese Möglichkeit durch die Lappen gehen zu lassen!« »Worüber beklagst du dich?« fragte Kayim. »Du hast Rakush geschenkt bekommen. Du hast den Dolch behalten. Du hast Katir zum Narren gehalten und so weit fortgeschickt, daß wir ihn nie wiedersehen werden…« »Richtig«, sagte Lukas. »Aber ich habe vergessen, ihm auch einen Sattel abzuschwatzen.« »Du hast mehr erreicht, als mir gelungen wäre«, gab NurJehan, nicht ohne Überwindung, zu. »Dafür danke ich dir. Ich habe Rakush unversehrt wieder, und der Abadani wird bloß mit einem vergeblichen Ritt bestraft, ohne seine Gier befriedigen zu können. Es war nicht ganz ehrenhaft, aber vielleicht ist es manchmal ehrenhafter, klug zu sein als tapfer.« »Endlich! Endlich nimmst du Vernunft an!« rief Lukas. Das Mädchen blickte ihn jetzt mit wesentlich mehr Achtung an, und 115
er konnte es sich nicht verkneifen, ein wenig geschmeichelt zu sein. So lächelte er huldvoll und sagte: »Ich hoffe, du hast aus der Sache gelernt. Kümmere dich nun um Rakush. Kayim und ich werden inzwischen im Basar herausfinden, was für Neuigkeiten es gibt.« Er reichte ihr den Dolch. »Du wirst ihn zwar kaum brauchen, aber nimm ihn, für alle Fälle. Ich trage ihn besser nicht bei mir; hier laufen zu viele langfingrige Gesellen herum.« Während Nur-Jehan den weißen Hengst abrieb und ihm die Mähne kämmte, eilten Lukas und Kayim in den Basar von Turan. Die Stadt war kleiner und staubiger als Shirazan, hatte weder Kuppeln noch Türme aufzuweisen und bestand bloß aus einer Ansammlung niedriger Gebäude, die sich dicht aneinanderdrängten. Auch der Basar war kleiner, aber nicht weniger geschäftig. Kayim nützte seine Begabung, sich mit Händlern und Kameltreibern anzufreunden, und fand rasch heraus, daß sich die Ereignisse im Palast von Shirazan bisher noch nicht herumgesprochen hatten. Erleichtert kehrten die beiden zu Katirs verlassenem Zelt zurück, um dort neue Pläne zu schmieden. Lukas blickte sich suchend um. Nur-Jehan und das Pferd waren spurlos verschwunden. »Was ist geschehen? Sollten etwa Nahdirs Männer…? Unmöglich!« Er lief von einer Bude zur anderen und rief nach Nur-Jehan. In wachsender Sorge eilte er auf das Stadttor zu – vielleicht war ihnen das Mädchen in den Basar gefolgt. Kayim rief ihn zurück. »Spar dir die Mühe«, sagte er, und sein Gesicht verfinsterte sich. »Der Geschirrhändler dort drüben 116
sagt, ein junger Kerl im schmutzigen Kaftan sei auf einem Schimmel davongaloppiert, als wäre der Teufel selbst hinter ihnen her. Sie sind längst fort, Nur-Jehan, das Pferd – und dein Dolch. Wenn du mich fragst, ist es ganz gut so. Du wolltest ihr doch etwas beibringen! Nun, sie hat überraschend schnell gelernt.« »Verfluchte Hexe!« knurrte Lukas. »Lausige kleine Straßen räuberin! Hinterhältiges, heimtückisches Ziegenmädchen!« »Das hört sich gerade so an«, befand Kayim, »als seist du in sie verliebt.« »Noch schlimmer«, antwortete Lukas bitter. »Ich konnte sie gut leiden.«
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opf hoch!« ermunterte ihn Kayim. »Wenn zwei gute Freunde scheiden, müssen ihre Herzen leiden. Es bleibt dir ein Trost: du mußt einen neuen Streich aushecken. Deine Bishangan hat den Dolch gestohlen, den wir um ein hübsches Sümmchen hätten verkaufen können. Katirs Zelt stinkt zwar gewaltig nach Stallmist, aber immerhin haben wir ein Dach über dem Kopf. Fragt sich nur noch, wie wir Leib und Seele zusammenhalten werden. Die Ordnungshüter dürfen wir – in unserer Lage – nicht herausfordern. Also bleibt uns nur eines, so schmerzlich es auch sein mag: ehrliche Arbeit.« Kayim seufzte. »Ich sehe wirklich keinen anderen Weg. Turan ist nicht gerade der Mittelpunkt der Welt, aber mein Talent wird um so heller leuchten, wenn es nicht im Schatten zweitrangiger Konkurrenten steht.« Zuversichtlich schlenderte der Verseschmied durch das Stadttor. Lukas zottelte mit hangendem Kopf hinter ihm her, noch immer unfähig zu begreifen, daß Nur-Jehan seine Freund schaft verraten hatte. Nicht einmal der lärmende Basar vermochte ihn zu erheitern. Unvermittelt wurde er aus seinen düsteren Gedanken gerissen, als Kayim in der Mitte des Platzes
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Aufstellung nahm, in die Hände klatschte und durch die Zähne pfiff. Nachdem er so die Aufmerksamkeit einiger Müßiggänger auf sich gelenkt hatte, begann Kayim mit den Armen zu rudern und wie ein aufgebrachter Kameltreiber zu schreien – so laut und überzeugend, als ginge tatsächlich ein Kamel an seiner Seite. Diese Plänkeleien lockten weitere Passanten an. Kayim fuhr mit seinen Possen fort und beklagte sich lauthals über die Faulheit und üblen Launen seines Tieres. Schließlich steuerte einer der Zuschauer die Bemerkung bei, Kayim sei entweder ein Narr oder sein Kamel sei unbemerkt davongetrabt. »Was? Du kannst mein Kamel nicht sehen?« erwiderte Kayim, nachdem er seinem unsichtbaren Tier befohlen hatte, niederzuknien und sich ruhig zu verhalten. »Zu schade, mein Freund! Es ist nämlich ein außerordentlich wertvolles Tier aus dem Geblüt des berühmten Kamels von Hakim Luti.« Da sich nun bereits so viele Zuschauer versammelt hatten, daß es die Mühe lohnte, hockte sich Kayim auf den Boden und lud die Umstehenden ein, seinem Beispiel zu folgen, und begann: »Es war einmal ein berüchtigter Schalk namens Hakim Luti. Eines Tags blieb er im Basar vor dem Lader, eines Früchte händlers stehen, begann plötzlich mit einem Stock in die Luft zu schlagen und schrie dazu: »Du heimtückisches, habgieriges Biest! Muß ich denn stets ein Auge auf dich haben? Halt, Schurke! Daß dir doch sieben Höcker wachsen mögen – und in jedem soll dich das Zipperlein zwacken!« Dann bat Hakim den Händler um Vergebung dafür, daß das Kamel so viele Früchte verschlungen habe, und sagte: »Sieh dir 119
bloß dieses Diebsstück an! Schlingt es doch tatsächlich die wunderbaren Trauben hinunter! Als hätte es nicht bereits ein Dutzend deiner besten Aprikosen verspeist!«« »He! Warte!« warf einer der Zuschauer ein. »Du wirst doch nicht behaupten, daß der Früchtehändler diesen Unsinn glaubte? Wie sollte er ein Kamel sehen, wenn gar keines da war?« »Natürlich konnte er es nicht sehen«, stimmte Kayim ihm zu, »aber dann trat Hakim völlig zerknirscht an ihn heran, bat vielmals um Entschuldigung und bot sich an, den Schaden, den das Tier verursacht hatte, zu bezahlen. »Das ist nur recht und billig«, sagte Hakim. »Wer weiß, wie lange dieses Vieh sich bereits an deinen herrlichen Früchten gütlich getan hat. Wäre ich nicht im letzten Augenblick dazugekommen, hätte es dir womöglich deine ganzen Vorräte weggefressen. Nun, du kennst deine Waren besser als ich, rechne also zusammen, was fehlt, und sage mir, wieviel ich zu begleichen habe. Ich will dir den geforderten Preis zahlen, und es wird mir eine Lehre sein, in Zukunft besser auf mein Tier zu achten.« Der Händler sah weit und breit noch immer nichts von Hakims Kamel, aber hier war ein Dummkopf, der ihm das Geld geradezu aufdrängte. Da wäre er doch ein Narr gewesen, hätte er es nicht genommen. Je länger er nachdachte, um so verlockender schien das Geschäft. Also sagte er: »Nun, da wären zunächst die Trauben, dann die Aprikosen – aber das ist dir ja selbst aufgefallen. Jetzt laß mich einmal sehen. Wenn ich meine Waren betrachte, fällt mir auf, daß dein Kamel auch ein Büschel Datteln verschmaust hat.«
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»Ein ganzes Büschel?« staunte Hakim. »Gut, schreibe sie dazu.« »Des weiteren sechs reife Melonen«, fuhr der Händler fort. »Gleich sechs! Das Vieh muß sie mit einem Bissen verschlungen haben! Welch ein Appetit!« »Beachtlich!« stimmte der Händler zu. »Aber die unsicht baren Kamele sind die schlimmsten. Gierige Teufel sind das. Wenn man sie nicht daran hindert, fressen sie von früh bis spät und sind nicht zu zügeln. Das dürfte ihrer Natur entsprechen. Höre auf meinen Rat und verkaufe dein Kamel, so schnell du kannst, denn in der Zwischenzeit hat es schon wieder zehn Orangen verspeist.« »Was, auch Orangen?« jammerte Hakim. »Gleich wird es zerplatzen! Macht nichts, setze nur alles auf die Rechnung.« »Die fünf Granatäpfel auch?« fragte der Händler. »Nun, ich will aufrichtig sein: sie waren schon ein wenig runzelig; die will ich dir erlassen.« Mit großem Gehabe zählte der Händler die einzelnen Beträge an den Fingern ab und nannte zuletzt seine Forderung. »Das ist viel«, sagte Hakim. »Aber wenn du sagst, das alles habe mein Kamel gefressen, will ich nicht daran zweifeln.« Hakim tat so, als langte er in seinen Geldbeutel, begann aber plötzlich laut zu schreien, hüpfte auf einem Bein und heulte vor Schmerz. Der Händler starrte ihn an. »He, mein Freund, was soll denn das wieder bedeuten?« »Das fragst du noch?« rief Hakim. »Du hast es doch selbst gesehen! Dein Hund! Das elende Vieh! Er hat mich ins Bein gebissen!« 121
»Jetzt wird es mir aber zu bunt!« rief der Händler. »Hier ist weit und breit kein Hund!« »Versuche nicht, mich zum besten zu halten«, antwortete Hakim unter Stöhnen. »Ich werde doch noch wissen, was ein Hundebiß ist! Wie kannst du nur ein so gefährliches Tier frei herumlaufen lassen? Er ist eine Bedrohung für Leib und Leben.« »Hier ist kein Hund!« brüllte der Händler zurück. »Wo ist er denn? Wo? Zeig ihn mir doch!« »Hier ist er! Hier, vor deiner Nase hockt das gemeine Vieh!« erwiderte Hakim. »Da ist er, gleich neben meinem Kamel. Nein, mein Freund, das lasse ich mir nicht bieten. Dein Hund hat mich gebissen, und ich verlange Schmerzensgeld!« Hakim nannte eine Summe, die das Doppelte dessen betrug, was zuvor der Händler verlangt hatte. »Aber ich will ebenso großzügig sein wie du, und daher darfst du meine Schuld von deiner abziehen. Gib mir also bloß den Rest – aber gleich und bar auf die Hand!« »Kommt nicht in Frage!« erboste sich der Händler. »Glaubst du denn, ich zahle für den Biß eines unsichtbaren Hundes? Da kannst du lange warten!« »Du jedoch«, sagte Hakim ruhig, »du konntest nicht genug bekommen, als es darum ging, mir die unsichtbaren Früchte anzurechnen, die mein unsichtbares Kamel angeblich gefressen hat. Los, mein habgieriger Freund! Schließen wir unseren Handel ab, oder ich bringe dich vor den Kadi. Wie, meinst du, würde er deine Geschichte aufnehmen?«
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Zähneknirschend und alle Schurken der Welt verfluchend, rückte der Händler das Geld heraus. Und Hakim Luti ging seiner Wege und trieb fröhlich das unsichtbare Kamel vor sich her.« Die Geschichte war zu Ende. Kayim grinste erwartungsvoll in die Runde, und Lukas machte sich bereit, die Münzen einzusammeln, die man ihnen zuwerfen würde. Aber statt mit Geldstücken überschütteten die Zuhörer den Reimeschmied mit Vorwürfen: »Was soll dieser Unsinn?« rief einer. »Wie konnte dieser Hakim einen Hund sehen, der gar nicht da war? Angenommen, der Händler hätte nicht gezahlt und die beiden wären zum Kadi gegangen? Man hätte sie ausgelacht und davongejagt. Wieviel hat der Händler eigentlich ursprüng lich verlangt?« »Richtig!« fiel ein anderer ein. »Wir wollen wissen, wieviel die Trauben, die Orangen und die anderen Früchte gekostet haben.« »Wie heißt der Händler?« wollte ein dritter wissen. »Hier in Turan ist sein Laden jedenfalls nicht. Und von einem Hakim Luti habe ich auch noch nie gehört.« Die Menge zerstreute sich. Zu entmutigt, das Interesse der Leute noch einmal aufzustacheln, erklärte Kayim, für diesmal Schluß machen zu wollen. »Haarspalterei!« knurrte er. »Diese Läuseknacker haben einfach kein Gefühl für stilistische Feinheiten.« Mit leeren Taschen und leeren Mägen trotteten Lukas und der Reimeschmied zum Zelt des Pferdehändlers zurück.
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Am folgenden Morgen gingen sie noch einmal in den Basar. Kayim erzählte nicht nur seine Geschichten, sondern jonglierte auch mit einem halben Dutzend Zeltnägeln. Lukas trug ebenfalls zur Vorführung bei. Er schlug Räder und Purzelbäume, tanzte auf den Händen und pfiff gleichzeitig durch die Zähne. Ein paar Münzen waren der ganze Lohn für alle Mühe; am nächsten Tag waren es noch weniger. »Ich glaube, wir sollten weiterziehen, mein Freund«, schlug Kayim schließlich vor. »In Shirazan haben mir Hakim Luti und sein unsichtbares Kamel stets Erfolg gebracht, ebenso meine Jonglierkünste. Aber hier, in Turan,
läuft rein gar nichts nach Plan.
Meine Kunst ist verschwendet,
das Gastspiel beendet.«
Sie packten die Habseligkeiten zusammen, die der Pferde händler zurückgelassen hatte, schulterten ihre Bündel und machten sich auf den Weg in die Nachbarstadt Hamaveran. Dort erbot sich Lukas, ein paar von den Geschichten zu erzählen, mit denen er Nur-Jehan zum Lachen gebracht hatte; aber der Erfolg übertraf kaum den von Hakim Luti und seinem Kamel. Mehrere Wochen ging das so. Sie waren beständig unterwegs, zogen von einer Stadt zur nächsten, immer in der vergeblichen Hoffnung, ihr Glück zu machen. In einem Dorf erwarben sie für ihre Vorstellung Jacken aus Schafsfell und ein Paar Stiefel; in einem anderen waren sie schon froh, eine dürftige Mahlzeit zu ergattern. Kayim hatte es aufgegeben, den Kopf zu scheren und eitel an seinem Schnurrbart zu zwirbeln, der wieder zu eindrucksvoller 124
Länge herangewachsen war. Er begann unter seiner Nase zu wuchern und vereinigte sich schließlich mit den anderen Barthaaren, bis sie das ganze Gesicht bedeckten und sich im Dickicht der ungepflegten Mähne verlor. Nicht nur Kayim war kaum wiederzuerkennen; auch Lukas hatte sich verändert. Um nicht seinen wahren Namen preis zugeben, nannte er sich jetzt »al-Ukash«. Das störte ihn anfangs, aber er gewöhnte sich daran und auch an sein neues Äußeres: Die Haut auf Wangen und Stirn war blasig, in Fetzen abgerissen und rauher nachgewachsen, zusätzlich geschwärzt von Staub und Schmutz. Die Augen waren vom scharfen Wind gerötet, das Gesicht sonnenverbrannter als das von Nur-Jehan. Lukas zweifelte daran, daß das Mädchen ihn wiedererkennen würde. In Khana-Kazra gab es Neuigkeiten zu hören: König Kasha, hieß es, sei tot; Shugdad habe sich zum Herrscher von Abadan ausrufen lassen. »Das war ja zu erwarten!« Lukas lachte trocken. »Ich bin also gestorben – ein seltsames Gefühl. Ob Shugdad das wirklich glaubt? Hoffentlich, dann stellt er uns nicht länger nach. Oder läßt er das Gerücht absichtlich verbreiten? Wie auch immer, für einen Toten entwickle ich einen bemerkenswerten Appetit.« Zu seiner Genugtuung nahm die Bevölkerung der Stadt die Nachricht ohne Begeisterung auf. Die allgemeine Verbitterung wuchs sogar, denn es hieß, alle waffenfähigen Männer müßten nun in die Königliche Armee eintreten. Wer sich widersetze, werde von Spürhunden des Königs aufgegriffen, in Fesseln gelegt und Strafkompanien zugeteilt. »Du solltest dir ein Hinkebein zulegen«, brummte Kayim. »Je stärker du hinkst, um so besser.« 125
»Nichts leichter als das«, sagte Lukas. »Ich bin ohnedies schon fußlahm. Und welches Leiden wählst du?« »Was hast du gesagt?« Kayim hielt seine Hand ans Ohr. »Ich bin nämlich schwerhörig, ich verstehe kein Wort!« Auf der Flucht vor den Offizieren des Königs wagten Lukas und Kayim es nicht, länger als einen Tag an ein und demselben Ort zu bleiben. So gerieten sie mit der Zeit immer weiter nach Westen, bis Kayim vorschlug, sie sollten sich entlang der Hügelkette von Harami nach Norden wenden, wo sie in den abgelegenen Städten von Nachstellungen eher verschont bleiben würden. »Geh, wohin du willst«, stimmte Lukas müde zu, »ein Ort ist wie der andere; es macht keinen Unterschied. Ob wir bleiben oder weiterziehen, so oder so ist alles sinnlos geworden.« »Nach dem, was du mir von Zara-Petra erzählt hast, hat dich derlei früher nie betrübt.« »Dort war es irgendwie anders«, fand Lukas. »Ich war ein Müßiggänger, weil ich einer sein wollte, nicht, weil ich einer sein mußte. Nichts, was ich tat, bekümmerte mich; jetzt bekümmert mich, daß ich nichts tun kann.« Am Ende der Woche erreichten sie Bayaz, ein Dorf, das im Schutz eines nahegelegenen Tals dahindämmerte. Die weißen Häuser mit ihren flachen Dächern waren von keiner Stadtmauer geschützt, und Kayim und er betraten den Ort, ohne befragt oder angehalten zu werden. Im Gegensatz zu den meisten anderen Städten deutete hier auch nichts darauf hin, daß Truppen ausgehoben wurden. Obwohl es schien, als könnten sie unbesorgt bleiben, bezweifelte Kayim, daß ihre Talente in dem schläfrigen, kleinen Basar Beachtung finden würden. Zu ihrer 126
Überraschung nahm man die beiden herzlich auf. Die Leute brüllten vor Lachen über Hakim Luti und sein Kamel, und Lukas mußte seine Erzählung vom Bürgermeister und dem sprechenden Papagei immer weiter ausschmücken, denn das begeisterte Publikum war unersättlich. Der Verseschmied hatte soeben seine Jonglierkünste vorge führt, als ein feingekleideter Diener auftauchte, sich ehrfürchtig verneigte und meldete, der Bürgermeister von Bayaz ersuche um die Ehre, von den Reisenden unterhalten zu werden. »Was willst du mehr?« kicherte Kayim. »Dieses Nest liegt zwar weitab vom Weg, aber die Leute haben Geschmack – das muß man ihnen lassen.« Der Diener führte sie über einen Hof und durch einen gepflegten Garten in einen hellen, kühlen Raum, in dem bequeme Kissen die weißgekalkten Wände säumten. »Ich habe einmal von reichen Leuten gehört, die einem begabten Geschichtenerzähler Goldstücke in den Mund füllten!« flüsterte Kayim. »Das dürfen wir hier zwar nicht erwarten, aber ich bin auch mit gebratenen Hühnern oder einer knusprigen Hammelkeule zufrieden.« Er brach seine Rede ab, denn eine hagere, weißgekleidete Gestalt war im Türrahmen erschienen. Lukas starrte den Mann mit aufgerissenen Augen an. Es war Locman. Lukas eilte dem Alten entgegen, der einige Male überrascht blinzelte, ehe er seine Besucher erkannte. »Locman, wie kommst du hierher? Es freut mich, dich gesund und munter zu finden! Bist du jetzt der Sterndeuter eines Bürgermeisters?«
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»Sterndeuter? Nicht unbedingt«, antwortete Locman. »Schon eher Bürgermeister – ich habe die Ehre, dieses Amt zu verwalten. Und als man mir sagte, zwei Fremde seien nach Bayaz gekommen, dachte ich – aber ich hätte nie gedacht – oh, vergib mir, Mittelpunkt des Weltalls! Vor Überraschung vergesse ich alle Förmlichkeit!« Der Sterndeuter ließ sich mühsam auf die Knie nieder und berührte, nicht ohne Ächzen, mit der Stirn den Boden. »Spar dir die Mühe!« rief Lukas und half Locman auf die Beine. »Ich bin nicht mehr König von Abadan. Das ist jetzt Shugdad. Du hast die Neuigkeit wohl noch nicht vernommen?« »Doch!« erwiderte Locman. »Wir erfahren hier alles in Bayaz, wenn auch vielleicht etwas später als anderswo. Aber wir nehmen uns die Freiheit, nur zu hören, was uns gefällt. Ja, ich kenne die Proklamation des Großwesirs. Aber für mich steht eines mit absoluter Sicherheit fest: der rechtmäßige König von Abadan bist nach wie vor du.«
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le schade, daß ich meine Bücher, Karten und Tabellen und alle anderen Aufzeichnungen im Palast von Shirazan zurücklassen mußte! Du könntest sonst mit eigenen Augen sehen, wie das Gesetz lautet, und erkennen, daß die Ansprüche des Wesirs nichts zu bedeuten haben. Es kann keinen neuen König geben, sofern nicht der alte sich des heimtückischen Verrats schuldig macht, stirbt oder die Vorsehung durch eindeutige Zeichen das Ende seiner Herrschaft herbeiführt. Da keine dieser Bedingungen auf dich zutrifft, bist und bleibst du König von Abadan.« »Dabei hat sich Shugdad so viel Mühe gegeben«, warf Lukas ein. »Vor allem, um die Bedingung zu erfüllen, der König müsse tot sein. Du weißt doch bestimmt, was in jener Nacht vorgefallen ist – damals, als ich dich bat, für mich einen Dienst zu besorgen. Erinnerst du dich?« »Selbstverständlich«, antwortete Locman. »Wie du befohlen hattest, überreichte ich einem Wasserhändler einen Beutel mit Goldstücken. Als ich in den Palast von Shirazan zurückkehrte, lief mir der Großwesir über den Weg – und es ist gewiß nicht übertrieben, wenn ich sage, er befand sich in äußerster 129
Erregung. Auf das Leben des Königs, rief er, sei ein Anschlag verübt worden. Ihn störte daran natürlich bloß, daß der Anschlag mißglückt war. Ich fand das Verhalten des Wesirs verachtens wert und unverzeihlich – und das habe ich ihm auch gesagt.« »Du hast es gewagt, meine Partei zu ergreifen? Da hatte ich also wenigstens einen Freund im Palast!« »Einen persönlichen Freund gewiß«, erwiderte Locman. »Aber einen schlechten Berater, der zu seiner Schande gestehen muß, das Ereignis nicht vorausgesehen zu haben. Keine meiner Beobachtungen ließ auch nur den geringsten Hinweis auf einen Meuchelmord zu. Hätte allerdings der Wesir den Anstand besessen, mich vor der Verschwörung zu konsultieren, hätte ich ihm gleich gesagt, daß sie fehlschlagen würde. Shugdad versuchte aber bloß, die Ordnung wiederherzustellen: Er befahl mir, sozusagen nachträglich vorauszusagen, alle Zeichen und Konstellationen hätten ihn zum König von Abadan berufen.« »Diese Mühe begreife ich nicht«, sagte Lukas. »Er hatte doch bereits Befehl gegeben, mich zu erdrosseln. Was konnte eine Prophezeiung daran ändern?« »Jeder Verbrecher sucht eine Rechtfertigung für seine Tat«, erwiderte der Sterndeuter. »Und je größer die Schuld, um so größer muß auch die Ausrede sein. Ich weigerte mich natürlich, eine falsche Prophezeiung zu verkünden. Mit den Sternen, so will es mir scheinen, darf man nicht leichtfertig umspringen. Shugdad drohte, mich aufzuspießen und mir bei lebendigem Leib die Haut abziehen zu lassen – der Mann kennt keinen Respekt. Also floh ich und rannte um mein Leben, alle irdischen Güter hinter mir zurücklassend. Als Hofastrologe hatte ich mich den erhabenen Sphären der Politik und hohen Staatsangele genheiten gewidmet. Nach meinem unfreiwilligen Abschied 130
beschloß ich, diesen Gesichtskreis einzuengen und meine Dienste auf etwas unmittelbarere Weise anzubieten.« »Mit einem Wort«, flüsterte Kayim Lukas zu, »er hat sich als Wahrsager versucht. Nun, der Mensch muß leben, und ein Wahrsager ist nicht weniger ehrenwert als ein Reimeschmied und Geschichtenerzähler.« Es war dämmrig geworden. Diener brachten Lampen und Schüsseln mit Speisen. Lukas und Kayim aßen mit Genuß; der Sterndeuter stocherte unschlüssig in seinem Teller herum. Locmans Robe aus weißer Wolle und seine Fellkappe waren frisch und neu, aber Lukas war nicht entgangen, daß die Augen des Sterndeuters Trauer verrieten. Die Falten auf Stirn und Wangen waren tiefer gefurcht; seine beinahe kindische Fröhlichkeit, die er einst gezeigt hatte, war verschwunden. Das betrübte Lukas, und er sagte: »Du hast dich offenbar wacker durchgeschlagen. Aber du scheinst doch – verzeih mir, Locman, es ist nicht böse gemeint – irgendwie verändert. Doch verändert habe ich mich wahrscheinlich auch.« »Es ging mir nicht schlecht«, antwortete Locman zögernd. »So dachte ich jedenfalls. Mit der Zeit führte mich der Weg nach Jabarsa, einem hübschen kleinen Dorf, wo man mich herzlich empfing, mir zu essen gab und auch sonst jeden Gefallen erwies. Ich war dort erst drei Tage, als Shir Khan und seine Horden uns überfielen. Sie fanden keine Beute, die des Mitnehmens wert gewesen wäre, also beschränkten sie sich aufs Sengen und Morden. Alle Dorfbewohner wurden hingerichtet. Ich war bloß verwundet, aber man hielt mich für tot und ließ mich liegen. Meine Verletzung war nicht weiter schlimm, ich konnte sie selbst versorgen. Den Leuten aus dem Dorf war freilich nicht 131
mehr zu helfen. Da saß ich nun in der Asche und fragte mich, warum andere zugrunde gehen mußten, während ich verschont blieb. Vielerlei Gründe kamen mir in den Sinn, aber bei näherer Betrachtung konnte mich keiner überzeugen. Ich machte mir heftige Vorwürfe, die Katastrophe nicht vorhergesehen und so das Leben der Unglücklichen gerettet zu haben. Aber wieder einmal hatte nichts in meinen Kalkulationen zu einer Warnung berechtigt. Ich versuchte, mein Versagen damit zu entschul digen, daß alle Bücher und Tabellen in Shirazan zurück geblieben waren. Da es mir an Mut fehlte, zu bleiben, aber auch am Willen, die Ruinen zu verlassen, nahm ich einen Stock zur Hand und begann neue Berechnungen in den Staub zu kritzeln. Sie sollten meinen künftigen Weg bestimmen. Mein ganzes Wissen und Können legte ich in diese Diagramme; tagelang brütete ich über den Zeichen. Aber kaum hatte ich das letzte in den Sand geritzt, kam plötzlich von den Bergen ein Sturmwind auf und fegte mit solcher Gewalt durch das Dorf, daß die Summe meiner Bemühungen in einem einzigen Augenblick zerstob. Ich hätte weinen können. Damals glaubte ich noch, die wahre Meisterschaft bestünde darin, die unvergleichliche Ordnung und Symmetrie der Sternenbahnen zu erkennen, alle Anzeichen maßvoll abzuwägen und das unabänderlich Vorausbestimmte daraus abzulesen. Und nun war die Bevölkerung von Jabarsa ohne erkennbaren Sinn hingeschlachtet worden – nur ich lebte! Und ein einziger Windstoß konnte meine Berechnungen zunichte machen … Da begann ich mich ernsthaft zu fragen, ob nicht in Wahrheit der Zufall die Welt regiert und sich um die Bahn der Gestirne 132
und die ganze Sterndeuterei herzlich wenig kümmert. Diese überraschende Einsicht gab mir Trost, und ich brach auf, ohne eine bestimmte Richtung einzuschlagen, und ging einfach drauflos, wie es sich ergab. So erreichte ich Bayaz und beschloß, mich hier noch einmal als Wahrsager und Kartenleger zu betätigen. Bislang hatte ich mir die größte Mühe gegeben, Horoskope zu berechnen und meine Voraussagen wissenschaftlich zu untermauern. Jetzt folgte ich einer anderen Methode. Ich kritzelte auf zahllose Papierschnitzel das nächstbeste Wort, das mir in den Sinn kam: Sprüche von höchster Weisheit folgten auf blühenden Unsinn. Zuletzt mischte ich die Papiere, bis sie in keiner erkennbaren Ordnung und Reihenfolge lagen. Selbst mir war ihr Inhalt völlig unverständlich. Ihre Bedeutung – falls sie überhaupt eine hatten – war bloß noch Sache der Auslegung. Mein erster Kunde, ein wohlhabender Händler von Kupfer waren, besuchte mich, um zu erfahren, wie er sich bei einem bestimmten Geschäftsabschluß verhalten solle. Ich hörte mir seine Frage an, streute die Papierschnitzel auf dem Boden aus, griff nach dem ersten, das mir in die Hand kam, und überreichte ihn dem Händler. Er las aufmerksam und rief dann: »Wunder über Wunder! Hier steht es schwarz auf weiß! Genau dies zu tun, hatte ich im Sinn!« Der Händler belohnte mich fürstlich und schied beglückt von mir. Anderentags kam er niedergeschmettert wieder. Wehkla gend schlug er sich auf die Brust: Er hatte beinahe sein ganzes Vermögen verloren. Zuerst dachte ich, er werde mich – je nach Veranlagung – mit Vorwürfen überhäufen oder mir vielleicht sogar das Genick brechen wollen, und ich bereitete mich schon auf beide 133
Möglichkeiten vor. Aber er jammerte bloß: »Klügster aller Weisen! Meister des unbestechlichen Wissens! Ach, hätte ich deinen Ratschlag doch besser studiert und klüger befolgt! Dann wäre ich heute der reichste Mann von Bayaz. Ich flehe dich an, Licht in der Dunkelheit, mir zu sagen, was ich nun tun soll!« Wieder nahm ich den nächstbesten Papierfetzen und drückte ihn dem Händler in die Hand. Er las, nickte eifrig und rief mit unverhohlener Befriedigung: »Merkwürdig! Unglaublich! Dies bestätigt alle meine Vermu tungen!« Er eilte davon, kam bald zurück und überhäufte mich – zu meinem größten Erstaunen – mit Goldstücken. Er hatte nämlich diesmal sein Geld nicht nur wiederbekommen, sondern darüber hinaus großen Gewinn gemacht. Dieser Vorfall ließ mich endgültig erkennen, daß die Welt tatsächlich ihre eigenen Wege geht, ohne sich um Vorhersagen zu kümmern – weder um die klugen noch um die dummen. Folglich gibt es auch keinen Plan oder Ratschluß, dem wir mit absoluter Zuversicht folgen können. Das einzig Gewisse ist Ungewißheit. Je mehr wir berechnen, um so größer ist die Möglichkeit, daß alles ganz anders kommt: auf den Kopf gestellt durch eine wunderliche Laune, eine Kleinigkeit, ein bedeutungsloses Detail. Und so hielt ich mich von nun an nur noch an meine Papierschnitzel. Bald hatte ich mehr Zulauf, als ich bewältigen konnte: es kamen Männer und Frauen, Junge und Alte, Arme und Reiche, Händler und Spekulanten, Liebhaber und Haßsüchtige, Ärzte und Richter. Obwohl die meisten bloß ihrer eigenen Laune folgten und nur taten, was sie ohnedies 134
beabsichtigt hatten, wurde ich reich und berühmt. Man pries meinen Verstand und meine Urteilsgabe und ernannte mich schließlich zum Bürgermeister von Bayaz. Die Leute sind mit mir äußerst zufrieden, und ich kann dir versichern, Mittelpunkt des Weltalls: ich bin vielleicht kein besserer Bürgermeister als meine Vorgänger, aber ein schlechterer bin ich auch nicht.« Später führten Locmans Diener Lukas und Kayim in einen Raum, in dem man zwei Lager aufgeschlagen hatte. Der Reime schmied ließ sich geradewegs in die Kissen fallen. Lukas ging, aller Müdigkeit zum Trotz, rastlos auf und ab. »Kayim«, sagte er schließlich, »es geht mir nicht mehr aus dem Kopf, seit Locman davon gesprochen hat: Stell dir vor – ich bin noch immer König von Abadan!« »Aber selbstverständlich!« antwortete Kayim gähnend. »Zumindest nach dem Buchstaben des Gesetzes. Wenn dir daran gelegen ist, nenne ich dich mit Freuden »Mittelpunkt des Weltalls« oder »Wunderbarer Kasha« oder was immer deine Eitelkeit befriedigt. Bloß hast du nichts davon. Ebensogut kannst du dich »König der Kamele« nennen; es ändert nichts.« »Möchtest du mein Großwesir werden?« »Aber freilich«, sagte Kayim und gähnte erneut. »Dann tragen wir eben beide großspurige Titel, die keinem etwas bedeuten.« »O doch«, sagte Lukas, »einem anderen König bedeuten sie etwas: Ardashir. Ich gehe nach Bishangar.«
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ayim setzte sich ruckartig auf und war plötzlich hellwach. »Nach Bishangar? Du hast den Verstand verloren! Es schadet nichts, wenn du dich für einen König hältst, aber wenn du auch wie ein König handeln willst, wird es gefährlich.« »Nur-Jehan sagte einmal, daß Ardashir Frieden wünscht. Nach allem, was ich gesehen und gehört habe, ist das auch der Wunsch der meisten Abadani. Sie werden daher zu mir stehen und nicht zu Shugdad. Kann ich mit Ardashir von Angesicht zu Angesicht sprechen, läßt sich vielleicht eine Lösung ohne Blutvergießen finden.« »Glaubst du das im Ernst?« erwiderte der Reimeschmied. »Dieser Straßenräuber würde bloß wie ein Krokodil nach dir schnappen – sofern du das Pech hast, ihm überhaupt zu begegnen.« »Das Wagnis nehme ich gern auf mich. Welches Leben steht uns denn bevor, wenn es nach Shugdads Willen geht? Früher dachte ich manchmal, Battisto holt mich vielleicht doch noch in meine alte Heimat zurück. Aber wer weiß schon, was in seinem
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Kopf vorgeht? Liegt ihm überhaupt an dem, was hier geschieht? Oder ist es für ihn bestenfalls ein Witz?« »Wenn es einer ist«, sagte Kayim, »halte ich nichts von seinem Sinn für Humor.« »Vielleicht ist Battisto nicht mehr in Zara-Petra«, fuhr Lukas fort. »Vielleicht ist ihm ein Unglück zugestoßen. Vielleicht ist er sogar tot. Ich sehe keinen Sinn in dem, was er mit mir angestellt hat. »Eine wunderliche Laune«, nannte es Locman. Aber ich will nicht länger von einem Ort zum anderen gehetzt werden; das ist kein Leben für mich. Sollte sich Battisto wirklich nur einen Spaß erlaubt haben, dann liegt es eben jetzt an mir, ihm Sinn zu geben.« »Der Spaß könnte sich gegen dich wenden, Freund.« »Ich kann dir nicht befehlen, mich weiterhin zu begleiten«, sagte Lukas. »Vielleicht ist es sogar besser, wenn du in Bayaz bleibst.« »Viel besser«, stimmte Kayim zu. »Aber was macht ein König ohne Großwesir?« Er seufzte. »Ich bin mit dir schon so weit gezogen, da können wir auch den Rest des Wegs gemeinsam gehen. Vom Reimeschmied zum Hofbeamten, das ist zwar ein Abstieg, aber immerhin: »Kayim, Großwesir von Abadan« – das hat zumindest einen gewissen Klang.« Damit zog er sich die Decke über die Ohren und schnarchte weiter. Lukas war zu unruhig, um schlafen zu können; er döste bloß vor sich hin. Gleich am Morgen weihte er Locman in sein Vorhaben ein.
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»Ich ziehe gern für dich ein Papierschnitzel aus meinem Hut«, sagte der Sterndeuter. »Vielleicht ist dir damit besser geholfen als mit den geringen Diensten, die ich dir früher leisten konnte.« »Du solltest dir keine Vorwürfe machen«, tröstete ihn Lukas. »Gemessen an dem, was du über mich wußtest, hast du alles getan. Ich habe dir nämlich im Palast nicht die ganze Wahrheit anvertraut.« »Welcher König tut das schon?« warf Kayim ein. »Und es ist weise obendrein, denn die Wahrheit macht die Dinge meist nur komplizierter. Ich ziehe deshalb Lügengeschichten vor.« »Mein unglücklicher König!« rief Locman bestürzt, nachdem Lukas ihm erzählt hatte, wie er nach Shirazan gekommen war und was er nun vorhatte. »Du bist weder das eine noch das andere, gehörst weder ganz hierher noch dorthin. Und was deine Pläne betrifft: Ja, Shugdad hat sich zum König ausrufen lassen, aber er weiß sehr gut, daß das Volk von Abadan ihm nicht gewogen ist. Er braucht daher einen Triumph, einen großen Sieg, der seine Herrschaft bestätigt. Bleibt ihm dieser Sieg verwehrt, gelingt es ihm nicht, Bishangar zu erobern, werden sich seine Untertanen gegen ihn erheben. In dieser Hinsicht stimme ich dir zu.« »Dann ist mein Plan doch ernstzunehmen?« fragte Lukas. »Aber nein«, widersprach Locman. »Kein Plan ist ernstzu nehmen. Habe ich dir denn das nicht bereits erklärt?« »Das hat er überhört«, spöttelte Kayim. »Eines seiner königlichen Vorrechte.« »Es ist nicht so schwer, Ardashir zu suchen«, fuhr Locman fort, »wie ihn zu finden. Der König der Bishangaris ist ein 138
schlauer Fuchs. Er huscht von Ort zu Ort, versteckt sich hier und taucht dort wieder auf – das ist seine Stärke. Shugdad wird versuchen, ihn zur offenen Schlacht zu zwingen, um ihn mit einer Übermacht niederzukämpfen. Aber wenn es schon Shugdad schwerfällt, ihn aufzuspüren, um wieviel schwerer wird es erst dir fallen!« »Ich will gar nicht ihn aufspüren«, sagte Lukas. »Ich will, daß er mich aufspürt.« Kayim schüttelte den Kopf. »Ist das dein Schlachtplan? Dann kann ich nur hoffen, daß der Plan nicht dich schlachtet – du weißt schon, was ich meine.« Sie blieben noch einen Tag in Bayaz. Locman schenkte ihnen zwei kräftige Ponys und nützte die Zeit, um Lebensmittel und Ausrüstung zu beschaffen. Lukas weigerte sich, Waffen mitzu nehmen; er ließ sich bloß ein kleines Messer geben. Sie nahmen Abschied von Locman und wandten sich nach Norden. Drei Tage später erreichten sie die Hügelkette an der Grenze zu Bishangar. Als sie sich am vierten Morgen einer Lichtung näherten, riß Lukas plötzlich sein Pferd am Zügel. Bisher waren sie keinen Reisenden begegnet; nun hockte unmittelbar vor ihnen eine Schar verwegen aussehender Männer um die Reste einer Feuerstelle. Die Pferde waren am Waldrand an Bäume gebunden und scharrten unruhig. »Sind das Shugdads Offiziere?« flüsterte Lukas. »Kaum!« wisperte Kayim zurück. »Diese Leute sehen eher so aus, als wären sie aus Shugdads Armee davongelaufen. Jeden falls verspüre ich wenig Lust auf einen Plausch mit ihnen.« »Ich auch nicht. Machen wir lieber einen Bogen um sie.«
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Die Männer hatten die beiden jedoch bereits kommen sehen, eilten herbei, packten die Ponys am Zügel und zerrten Lukas und Kayim auf die Lichtung, wo man sie aufforderte, sich zu den anderen an den Fleischtopf zu setzen. Lukas blieb keine andere Wahl, als vom Pferd zu steigen. Er riet Kayim, seinem Beispiel zu folgen, obwohl ihm die Art, in der ihre Gastgeber die Ponys betrachteten und das Gepäck befingerten, nicht gefiel. Mittlerweile war ein gedrungener Mann vor das Zelt gekommen. Er trug auf dem Hinterkopf eine Mütze aus Schafsfell. Die anderen wichen zurück. »He, Löwe der Welt!« rief ihm einer der Kerle keck zu. »Wir haben Gäste. Willst du sie nicht begrüßen?« »Man nennt mich al-Ukash« begann Lukas, als der Mann auf ihn zutrat. »Und dies ist Kayim, mein Weggenosse.« »Und wandernder Geschichtenerzähler«, ergänzte Kayim hastig. »Sehr freundlich und absolut harmlos.« »Du wirst uns später deine Geschichten erzählen.« Der Mann stank nach verbranntem Fleisch und gestocktem Blut. Dichter Bart bedeckte sein Narbengesicht. Nun wandte er sich an Lukas: »Und du, al-Ukash? Bist auch du freundlich? Ich glaube nicht. Du wolltest ohne Gruß an uns vorbeiziehen. Das ist nicht die Art eines Freundes.« Lukas grinste ihn an. »Im ganzen Land sind die Offiziere des Königs unterwegs und zwingen die Männer, zur Armee zu kommen. Wir dachten, ihr gehört zu ihnen, und da wir keine Lust haben, Soldaten zu werden …« »Wir auch nicht, al-Ukash. Ach, was sind das doch für Zeiten! Wir sind bloß fahrende Händler, einfache Leute, die
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kaufen und verkaufen, was ihnen in die Hände kommt. Führt ihr Waren mit? Zeigt her! Wir zahlen gut.« »Das hören wir gern!« meinte Lukas und machte sein freundlichstes Gesicht, obwohl ihm das Herz bis zum Hals klopfte. Gleich würden sie ausgeraubt werden; das stand fest. Unbewaffnet, wie sie waren, durften sie sich gegen die Räuber nicht auf einen Kampf einlassen. Der angebliche fahrende Händler kicherte, nickte mit dem Kopf und rieb sich die Hände. Plötzlich schoß sein Stiefel vor und traf Lukas mit voller Wucht am Knöchel. Lukas wurde von dem unerwarteten Angriff völlig überrascht. Er stöhnte vor Schmerz, verlor das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Noch ehe Kayim sich mit einem Racheschrei auf den Gegner stürzen konnte, hielt ihn Lukas zurück. »Nicht kämpfen!« zischte er ihm zu. »Sonst müssen wir sterben.« »Offiziere des Königs? Dreckige Kaufleute?« Der Mann lachte überheblich. »Ich bin Shir Khan, der »Löwe der Welt«!« »Ja, so nennt man dich.« Lukas kam wieder auf die Beine und bemühte sich, aufrecht zu stehen. »Aber ich kann es nicht glauben! Seit wann töten die Löwen denn Schafe? Ich dachte, das sei Sache der Schakale. Und dein glorreicher Sieg bei Jabarsa? Eine Heldentat, großer Löwe! Lehmhütten und wehrlose Greise! Und wurde nicht erst kürzlich vor Turan eine Karawane überfallen? Unbewaffnete Reisende, die in ihren Stiefeln zitterten! Ich fürchte, Shir Khan, du bist kein Löwe, sondern bestenfalls eine lahme Katze!«
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Shir Khan schlug ihm ins Gesicht. »Wie du jetzt vor mir stehst, al-Ukash, bist du bereits ein toter Mann. Ein ganzes Dutzend ist vor Turan gegen uns angetreten, und ich allein habe eigenhändig drei von ihnen niedergemacht!« Lukas ließ die Augen nicht von Shir Khan, der vor Wut außer sich war, so daß ihm jeden Augenblick der Schaum vor den Mund treten konnte. »Vergib mir, sollte ich deine Tapferkeit bezweifelt haben!« sagte Lukas rasch. »Die Beute hat dich für das Blutvergießen gewiß entschädigt. Was für ein herrlicher Rubin! Man sagte mir, er sei so groß wie ein Taubenei gewesen. Wieviel hast du eigentlich für ihn bekommen?« »Ein Rubin?« schrie Shir Khan. »Ich habe keinen Rubin verkauft.« »Du hast ihn also behalten? Und besitzt ihn noch?« Lukas wiegte den Kopf. »Einen Edelstein von solcher Größe? Gut, daß du deinen Männern trauen kannst, Shir Khan! Auch der ehrlichste Geselle könnte bei einem solchen Prachtstück in Versuchung geraten.« »Es gibt keinen Rubin! Das ist dummes Geschwätz!« Shir Khans Männer hatten sich unterdessen um ihren Anführer geschart. Als Lukas den Rubin erwähnte, begannen sie aufgeregt zu tuscheln. Schließlich ergriff ein dunkelhäutiger, grobknochiger Kerl, der zwei Dolche im Gewand trug, das Wort: »Wie kommt es, Löwe der Welt, daß wir nichts von diesem Rubin wissen?« Shir Khan fuhr herum. »Du wagst es, mich zu verhören wie einen Taschendieb aus dem Basar? Ich sage euch doch, es gab
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keinen Rubin in der Karawane! Sei auf der Hut, Mansouri! Ich hörte dich schon murren, als wir die Beute teilten.« »Und schlecht teilten!« versetzte Mansouri. »Wie schon zuvor, Shir Khan. Ich bin nicht der einzige, dem deine Auf teilung nicht gefällt.« »Willst du behaupten, ich hätte euch betrogen?« brüllte Shir Khan. »Heraus damit! Das mußt du mir ins Gesicht sagen!« »Ich hätte es nicht erwähnen dürfen.« Lukas täuschte Bedauern vor. »Eine lose Zunge macht aus einer Mücke einen Elefanten. Es war nur ein Gerücht, nicht mehr. Der Löwe der Welt erklärt, er habe den Rubin nicht für sich behalten; wer darf an seinen Worten zweifeln? Es besagt auch nichts, daß Nahdir Aga selbst bei Turan hinter euch her war, und er macht doch sonst nur Jagd auf große Fische. Aber das ist Nahdirs Sache, nicht eure.« »Shir Khan hat uns sein Wort gegeben«, knurrte Mansouri. »Wir glauben ihm aber erst, wenn er freiwillig seinen Anteil vor uns ausbreitet, damit wir uns mit eigenen Augen überzeugen können.« Einige Räuber widersprachen ihm, aber die meisten murmel ten zustimmend. »Ich soll mein Zelt durchsuchen lassen?« brüllte Shir Khan. »Meine Sachen durchwühlen? Eher lasse ich mich einen Lügner nennen!« Er stieß so schreckliche Flüche aus, daß Mansouri erbleichte: »Solche Worte schlucke ich von keinem. Nicht einmal vom Löwen der Welt!«
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»Du wirst sie schlucken«, brüllte Shir Khan. »Nimm sie und ersticke daran!« »Und du, Löwe, nimm das!« Mansouri riß einen seiner Dolche aus dem Gürtel und stieß ihn Shir Khan bis zum Heft in den Bauch. Einen Augenblick lang starrte der Räuberhauptmann auf den rasch wachsenden Blutfleck, der sein Hemd färbte. Dann zupfte er überrascht an der Klinge. Sein Kinn fiel herab, und er brach in die Knie. Einer seiner Getreuen stürzte sich auf Mansouri, aber schon kam ihm ein Kamerad zur Hilfe. Mansouri schüttelte den Angreifer ab, und zu zweit begannen sie, sich gegen die anderen zu verteidigen. Bald mußten sie vor dem Ansturm weichen und ergriffen die Flucht; die übrige Horde stürmte hinter ihnen her. Kayim lief zu den Pferden, um sie freizulassen. Indessen stürzte eine zerlumpte Gestalt aus dem Zelt und warf sich Lukas in den Weg. Der Junge reichte Lukas kaum bis zum Gürtel und wirkte völlig verwahrlost. Das lange Haar starrte von Schmutz; der Körper schien nur aus reichlich zerschundenen und verdreckten Knien und Ellbogen zu bestehen. »Was zum Teufel…?« rief Lukas überrascht. Der Balg grinste und starrte Lukas aus großen, kugelrunden Augen an. »Du glaubst, ich bin der Teufel? Nein, ich heiße Haki. Und ich habe gehört, daß du al-Ukash heißt. Das hast du aber gut gemacht! Dieser Shir Khan ist ein Scheusal. Er hat mich vor zwei Tagen in den Bergen gefangen und wollte mich als Sklave verkaufen. So ein Unsinn! Für Bishangaris zahlt man gegenwärtig keine guten Preise.« Lukas sah, daß dem Jungen die Hände auf dem Rücken zusammengebunden waren. Er zog sein Messer und löste die 144
Fesseln. Haki unterbrach seinen Redefluß und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. Mittlerweile war Kayim zurückgekehrt. Als er den Jungen sah, mußte er lachen. »Was haben wir denn da? Einen Räuberlehrling?« Lukas erzählte ihm, was Haki berichtet hatte. Kayim stöhnte. »Nicht schon wieder ein Bishangari!« rief er beschwörend. »Es reicht, wenn man uns einmal betrogen hat!« »Ich betrüge euch bestimmt nicht!« versicherte Haki. »Ihr seid doch meine Retter! Ich bin euch auf Treu und Glauben verbunden, mehr noch als meinen leiblichen Brüdern. Wenn ihr wollt, bleibe ich für immer bei euch.« »Es genügt, wenn du einfach »danke« sagst«, meinte Kayim. Lukas war zu Shir Khan getreten. Der Räuber lag im Gras, den Blick zur Maske gefroren. Lukas wandte sich ab. »Kayim, das war meine Schuld! Mir kommt es vor, als hätte ich ihn selbst getötet.« »Wenn wir uns nicht schleunigst aus dem Staub machen, geht es auch uns an den Kragen. Sobald die Schurken aufhören, einander zu jagen, gehen sie wieder auf uns los. Das lebende Lumpenbündel da soll allein nach Hause laufen. Der Junge ist alt genug, um für sich selbst zu sorgen.« »Warte!« Lukas maß Haki mit prüfendem Blick. »Du bist uns in Treu und Glauben verbunden? Heißt das, daß du uns auch nach Bishangar führen kannst?« »Gewiß, al-Ukash. Ich bringe euch, wohin ihr wollt. Nur wäre es nicht gerade klug von euch, nach Bishangar zu gehen.«
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»Wir haben unsere Gründe«, sagte Lukas. »Wichtige Gründe. Menschenleben stehen auf dem Spiel. Viele, höchstwahr scheinlich auch deines. Wir suchen König Ardashir.« Haki zog die Stirn in Falten. »Da muß es wirklich um große Dinge gehen, al-Ukash. Ich verstehe nichts von solchen Sachen, aber mein Bruder Yussuf ist gescheit. Ich werde euch in mein Dorf bringen.« »Kann Yussuf uns helfen?« »Ach, der ist jetzt nicht daheim, aber mein Bruder Ibrahim ist beinahe ebenso gescheit. Er ist zwar auch nicht da, doch mein Onkel Sahlik wird sich euch erkenntlich zeigen. Alle werden euch dankbar sein. Alle, außer meiner Mutter und meinem Vater, die sind nämlich tot. Kommt nur mit. Keiner wird euch etwas tun, wenn ich es verbiete.« Lukas bestieg sein Pony, Haki setzte sich hinter ihn. »Das sind keine guten Pferde. Ich hätte euch bessere beschafft. Es war dumm von deinem Freund, die Pferde der Räuber freizulassen. Er ist wohl nicht so schlau wie du. Tut dir noch der Knöchel weh? Wenn du willst, verbinde ich ihn. Spielst du Schach, alUkash? Mein Bruder Yussuf hat es mir beigebracht. Ich besorge ein Schachbrett und Figuren, wenn du das Spiel lernen willst. Habt ihr Käse mit? Meine Tante Mariam macht wunderbaren Käse. Wie alt bist du, al-Ukash? Stutzt sich dein Freund nie den Schnurrbart?« Kayim brummte: »Den Räubern, die uns so bedroht,
entkamen wir in knapper Not.
Aber das Bürschchen da, möchte ich meinen,
ist ja ein Plappermaul auf Kinderbeinen!
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Wenn er so frißt, wie er redet,
der Tor, steht uns der Hungertod auch noch bevor.«
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ls sie in den folgenden Tagen durch das Hügelland ritten, den Bergen des Ramayan zu, zeigte sich, daß Kayim mit seiner Prophezeiung recht behalten hatte. »Wie macht er das nur?« jammerte er. »Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der mühelos gleichzeitig ißt und redet. Wir könnten ein Vermögen damit verdienen, diesen kleinen Teufel im Basar auszustellen.« Obwohl Haki tatsächlich nur zu plappern aufhörte, wenn er schlief, erkannte Lukas bald, wie wichtig es war, ihm zuzuhören. Zwar mußte er die Berichte über Hakis zahllose Onkel, Tanten und Neffen über sich ergehen lassen, erfuhr aber auch, daß Haki nur einer von Dutzenden Bishangaris war, die sich nach Abadan gewagt hatten, um möglichst viele Neuig keiten aufzuschnappen. Haki wußte mehr über Shugdads Pläne, als Lukas auf eigene Faust herausgebracht hätte: Soldaten waren ausgehoben worden; die Armee befand sich in Jannat al-Khuld; Shugdad höchstpersönlich hatte dort sein Hauptquartier aufge schlagen; der Feldzug nach Bishangar stand unmittelbar bevor.
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»Mach dir keine Sorgen, al-Ukash«, beruhigte ihn Haki, »es ist nicht mehr weit zu meinem Dorf. Bald wirst du unsere Ziegen sehen. Magst du Ziegen, al-Ukash? Ich mag sie mehr als Schafe. Warum spricht dein Freund immer vor sich hin? Er scheint sich in den Bergen nicht wohl zu fühlen. Und warum nennt er sich einen Reimeschmied? Seine Reime sind nicht besonders gut. Hast du eigentlich einen Beruf? Kannst du auch lesen? Meine Tante Mariam hat es mir beigebracht. Sie wird bestimmt ein Fest für uns geben. Was sind denn deine Lieblingsspeisen?« Trotz seines unbeschwerten Geplappers konnte Haki manchmal ernst werden; dann verdunkelten sich seine Augen. Obwohl Haki zu seinen Wohltätern stets zuvorkommend war, hegte Lukas den Verdacht, daß der Junge nicht alles preisgab, was er wußte. »Das will ich hoffen«, sagte Kayim, als Lukas ihn darauf aufmerksam machte. »Mir reicht, was er über seine Ziegen, seine Verwandten und seinen Bruder Yussuf erzählt – oder meinst du, er will uns in eine Falle locken?« »Das kaum. Ich weiß nicht, was er uns verheimlicht. Wir müssen eben den Dingen ihren Lauf lassen.« Damit war die Sache für ihn abgetan. Eines stand allerdings fest: Ohne Hakis Hilfe wären sie nie so weit gekommen. Lukas hatte die Gewalt des Gebirges unterschätzt. Allein wären er und Kayim im Ramayan verloren gewesen. Anfänglich hatte er sich zwischen den Felsmassen wie ein Zwerg gefühlt, aber bald begann er die Landschaft zu lieben. Die wolkenbekränzten Höhenzüge zeigten sich in immer neuer Gestalt: wie riesige Schiffsleiber, dann wieder wie hohe geborstene Treppen, Wälle und Wachttürme. Dunkle Wälder 149
brachen sich wie Brandungswogen an den Felsmauern, flossen in enge Täler und verebbten dort zwischen Geröll und Steinhalden. Die Nächte waren beinahe so hell wie die Tage. »Wir sind den Sternen sehr nahe!« hatte Nur-Jehan einmal gesagt. Damals hatte er gelacht; er wollte nicht glauben, daß es zwischen den Sternen von Abadan und Bishangar einen Unterschied gab. Aber Nur-Jehan hatte recht gehabt. Jetzt verstand er, warum sie heimkehren wollte. Gern hätte er Haki gefragt, ob er das Mädchen kannte, ließ es aber bleiben; er wollte nicht an NurJehan denken… Drei Tage waren sie nun durch das Gebirge nach Osten gezogen; Haki lief meist zu Fuß durch die engen Hohlwege vor. Am frühen Vormittag des vierten Tages kletterte er plötzlich auf einen Felsvorsprung, wies nach unten, winkte Lukas aufgeregt zu und rannte dann, wie gehetzt, weiter. Lukas ließ sein Pony traben. An einen Hang geschmiegt, duckten sich mehrere einfache Häuser, umgeben von spärlichem Weideland. Haki hatte bereits eine der Hütten erreicht. Aus allen Richtungen eilten ihm die Dorfbewohner entgegen. Kayim begann sie an den Fingern abzuzählen: »Der große Bursche mit dem roten Bart ist offenbar Onkel Sahlik, das Weib mit dem Kopftuch ist Tante Mariam. Die schwarze Ziege heißt Taji, die andere Raji. Und hier kommen Hakis Neffen.« Der Junge hatte nicht übertrieben, als er seinen Wohltätern einen freundlichen Empfang versprach. Seine Verwandten – fast das ganze Dorf – überboten einander, duftendes Schmorfleisch und Töpfe mit Honig herbeizuschleppen, und den Trank in den Krügen hatte Onkel Sahlik selbst gebraut. Haki hatte seltsamer weise verschwiegen, daß Sahlik der Bürgermeister des Dorfes 150
war, zudem Vorsitzender des Ältestenrates, also ein Mann von größerer Autorität, als Haki Lukas vermuten ließ. Nachdem das Fest zu Ende war, zog Sahlik Lukas zur Seite, um allein mit ihm zu sprechen. Der Junge hatte offenbar alles berichtet, was er wußte. Sahlik genügte das jedoch nicht. Mit großer Höflichkeit, aber ebenso großer Gerissenheit begann er Lukas auszufragen. Sahlik war breitschultrig, kräftig und gewandt wie alle Bergbewohner; er wirkte gutmütig und hatte ein offenes Gesicht, das sich aber doch – so meinte Lukas – von Zeit zu Zeit verdüsterte. Um sein Vertrauen zu gewinnen, beschloß Lukas, ihm die ganze Wahrheit zu erzählen und sich und seine Absicht zu erkennen zu geben. Als Sahlik vernahm, sein Gast sei angeblich der König von Abadan, runzelte er die Stirn, betrachtete Lukas eingehend und hüllte sich dann in Schweigen. Endlich sagte er: »Du bittest mich um Hilfe. Ich kann sie dir aus eigenem Entschluß weder geben noch verwehren. Eine so wichtige Entscheidung müssen wir gemeinsam treffen. Ich werde den Rat einberufen.« Lukas nickte. Er konnte Sahliks Zurückhaltung begreifen. Es beunruhigte ihn allerdings, daß man ihm untersagte, an der Versammlung teilzunehmen, und seinen Einspruch entschieden ablehnte. Lukas und Kayim durften sich jedoch ungehindert im Dorf bewegen. Zu ihrer Überraschung wurde ihnen überall Tür und Tor geöffnet; die Dorfbewohner begrüßten sie zuvor kommend und herzlich. Lukas erkannte bald, daß große Förm lichkeit nicht ihre Art war. Sie gaben sich in allem höflich und gastfreundlich, einfach und unumwunden.
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»Ich beginne mich zu fragen, ob dein Mädchen überhaupt eine Bishangari war«, überlegte Kayim. »So wie diese Leute hat sie sich jedenfalls nicht verhalten. Und doch beschließen Sahlik und seine Freunde vielleicht soeben, uns bei lebendem Leib die Haut abzuziehen – aber bestimmt mit größter Herzlichkeit.« Lukas bemühte sich, diesen Gedanken gar nicht erst aufkommen zu lassen, und zog es vor, dem Teppichweber und dem Goldschmied des Dorfs bei der Arbeit zuzusehen. Nicht einmal die Prachtstücke im Palast von Shirazan konnten sich mit den Teppichen und dem Hausrat der Bishangaris messen. NurJehan hatte von wertvollen Steinen erzählt; aber Lukas hatte nicht erwartet, daß man sie so zahlreich und mit solcher Gelassenheit in Ringen und Broschen, Halsketten und Ohrringen trug. Einige Kinder hatten einen Kreis in den Staub gezogen und zielten mit Murmeln danach. Plötzlich traten Kayim die Augen aus den Höhlen, und er stieß Lukas in die Rippen: »Das sind keine Glaskugeln, mein Freund! Die Leute tragen wahre Schätze am Leib und tun so, als kostete das Zeug nichts.« »Es kann sie das Leben kosten«, antwortete Lukas bitter. »Shugdad wird ihnen glatt die Kehlen durchschneiden, um ein Säckchen mit solchen Murmeln zu ergattern.« Es gab nur wenige junge Männer und Frauen im Dorf, aber viele Kinder in Hakis Alter scharten sich um die Fremden. Kayim, der keinem Publikum widerstehen konnte, hockte sich auf eine Türschwelle und gab einige seiner erfolgreichsten Geschichten zum besten. Seine Zuhörer lachten herzlich über das unsichtbare Kamel und klatschten begeistert.
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»Diese Bishangaris!« strahlte Kayim. »Wie verständnisvoll! Dieser feine Geschmack, diese rasche Auffassungsgabe!« Hatte Kayim eine Geschichte beendet, dankten die Leute, indem sie selbst eine erzählten. Der Reimeschmied mußte zugeben, daß er bei diesem Tausch profitierte. »Ihre Dorfgeschichten sind hervorragend! Ich muß sie mir merken. Natürlich gehören sie noch ausgeschmückt und verfeinert – diesen Kindern fehlt schließlich meine unbezahlbare Erfahrung –, aber ich bliebe gern, um weiter zuzuhören.« Dazu kam es nicht. Lukas wurde zu Sahliks Haus gerufen. »Wenn sie uns schon nicht helfen wollen«, sagte Kayim, als sie durch das Dorf liefen, »sollen sie uns wenigstens zu EhrenBishangaris ernennen.« Die Männer und Frauen des Rates erwarteten sie im größten Raum des Hauses, wo sie um einen niederen Tisch versammelt waren. Lukas konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten und wartete stumm auf die Mitteilung, die man ihm machen würde. »Du nennst dich König von Abadan«, begann Sahlik. »Bis zu uns ist die Nachricht gedrungen, daß Shugdad regiert und Kasha tot ist. Und doch behauptest du, der rechtmäßige König zu sein. Weder kannst du es beweisen noch können wir es bestreiten. Ich sage dir offen, daß einige von uns dir nicht glauben. Dennoch können wir die Möglichkeit nicht ausschließen, daß du uns die Wahrheit sagst. Da diese Möglichkeit besteht, haben wir uns geeinigt, das Wagnis einzugehen. Stimmt, was du sagst, haben wir alles zu gewinnen: unser Land und unser Leben. Stimmt es nicht, verlieren wir nur, was wir ohnedies verlieren würden. Du aber, al-Ukash – oder Kasha, König von Abadan –, mußt eines 153
wissen: Solltest du nicht ehrlich und offen zu uns gewesen sein, wird sich das eines Tages herausstellen, und diesen Tag würdest du nicht überleben. Wir können nicht alle deine Forderungen erfüllen. Unsere Dienste können nur darin bestehen, dich dorthin zu bringen, wo man weiter über dich entscheiden wird. Für diese Reise stellen wir alles bereit, was du brauchst.« »Und wohin geht sie?« wollte Lukas wissen. »Es steht dir nicht zu, das zu erfahren. Du batest um unser Vertrauen, nun vertraue du unserem Urteil. Es ist besser für alle Beteiligten, wenn du deinen Bestimmungsort nicht kennst. Haki wird euch führen. Mehr können wir nicht tun, doch auch nicht weniger. Ziehe in Frieden! Mögen deine Schritte vom Glück begleitet sein!« Lukas dankte; Sahlik erhob sich und geleitete sie aus dem Raum. Auf dem Hof standen zwei Pferde; sie waren bereits gesattelt und mit Vorräten beladen. Auf dem dritten Pferd saß Haki und grinste über das ganze Gesicht. »Ich werde dich an dein Ziel bringen, al-Ukash. Hast du gedacht, ich würde nicht bei euch bleiben? Ich bin ein sehr guter Führer. Bist du wirklich ein König? Du siehst gar nicht aus wie ein König. Warum hast du deinen Namen geändert? Ich werde dich trotzdem al-Ukash nennen. Das gefällt mir besser. Gibt es auch Ziegen im Palast von Shirazan? Beeile dich, al-Ukash, alle warten, uns zu verabschieden. Kennst du schon meinen Vetter Hamid?« Kayim rollte mit den Augen. »Ich hoffe, Sahlik weiß, was er tut. Schlimm genug, daß wir uns einem Kind anvertrauen müssen… 154
Aber diese Plapperei
dröhnt mir noch das Hirn entzwei.
Hör' ich Hakis stetes Schwätzen,
lern' ich erst die Stille schätzen.«
Haki hatte eine lose Zunge und war bereit, über alles unter der Sonne zu reden – nur nicht darüber, wohin die Reise führte. Lukas versuchte gar nicht erst, ihn auszuhorchen; er wußte, daß es sinnlos war. Seiner Schätzung nach zogen sie durch den Ramayan ostwärts, auf Jannat zu. Da Shugdad diese Stadt zu seinem Hauptquartier gemacht hatte, war anzunehmen, daß König Ardashir sich mit seinen Truppen im Bergland aufhielt, das die Stadt überragte. Während der nächsten beiden Tage zeigte sich jedoch weder Shugdads Heer noch einer seiner Stoßtrupps. Auch Bishangaris ließen sich nicht blicken. Haki meinte, sie zögen es wahrscheinlich vor, außer Sichtweite zu bleiben. Das stimmte Kayim nur noch bedenklicher. »Der Gedanke mißfällt mir«, murrte er. »Hinter jedem dieser Felsen können also zornige Bishangaris lauern. Sie sehen uns, wir sehen sie nicht. Angenommen, sie finden an uns etwas auszusetzen. Angenommen, sie stürmen auf uns los. Dann muß unser plappersüchtiger Freund schneller reden können als je zuvor.« Da sie es nicht wagten, eine Feuerstelle zu errichten, aßen sie ihre Mahlzeiten kalt und in Hast: einen dicken Brei aus dunkelbraunem Mehl und Streifen von getrocknetem Fleisch, die Kayim voll Mißtrauen beäugte. »Wenn das ist, wofür ich es halte«, stöhnte er, »werde ich bald von Fels zu Fels springen und »mäh-mäh-mäh!« rufen. Als 155
erster meckernder Verseschmied von Abadan! Allerdings würde ich mich damit kaum von manchen meiner Konkurrenten unterscheiden.« Nach Sonnenuntergang machten sie Halt. Zwei schliefen, einer wachte. Lukas hatte die letzte Wache übernommen. Im Morgengrauen hörte er leise Geräusche. Etwas bewegte sich hinter den Felsen! War da nicht das gedämpfte Wiehern eines Pferdes? Vorsichtig wagte sich Lukas einige Schritte aus seinem Versteck. Nichts war zu sehen. Die Berge hatten seinen Ohren einen Streich gespielt. Die Geräusche, so meinte er jetzt, waren aus einiger Entfernung gekommen. Er seufzte erleichtert auf, froh, seine erschöpften Freunde nicht wecken zu müssen. Dann zwängte er sich durch einen Felsspalt ein Stück weiter vorwärts – und erschrak: Eine Schar von Männern hockte bei ihren Pferden. Es waren keine Bishangaris, sondern Abadanis, ein berittener Spähtrupp von Shugdads Heer. Eilig zog Lukas sich zurück – und rannte geradewegs einem Soldaten in die Arme. Der Mann packte ihn, zwang ihn zu Boden und rief nach seinen Kameraden. Sofort fiel die ganze Meute über Lukas her und zerrte ihn aus dem Versteck. Man nahm ihm das Messer aus dem Gürtel, riß ihn an den Haaren und zwang ihn, seinen Widersachern in die Augen zu blicken. »Ein guter Fang!« rief einer. »Ein Ziegenbock aus Bishangar. Der Tag fängt gut an! Achtet auf alles, was hinter euren Rücken geschieht. Vielleicht hält sich die ganze Herde hier verborgen.« »Das ist kein Bishangari«, sagte der Soldat, dem Lukas in die Hände gefallen war. »Obwohl er dreckig genug wäre, einer zu sein.« 156
»Ich habe meine Kompanie verloren!« gab Lukas vor. »Ich fiel zurück und versuche nun schon die ganze Zeit, sie einzuholen.« Der kräftige Mann blinzelte ihn mißtrauisch an. »Wo ist deine Rüstung? Dein Schwert?« »Fort. Alles ging verloren, als ich in eine Felsspalte stürzte.« »Du lügst. In dieser Gegend gibt es keine andere Kompanie als uns. Du bist ein Deserteur, nichts weiter.« »Schneide ihm die Kehle durch, und dann ziehen wir weiter!« drängte einer der Soldaten. »Wenn es hier Bishangaris gibt, will ich so wenig mit ihnen zu tun haben wie sie mit uns.« »Das ist kein Deserteur«, befand ein anderer, der die Abzeichen eines Unteroffiziers trug. »Meint ihr denn, ein Deser teur würde sich in diese verlassene Felsenwüste zurückziehen? Wahrscheinlich ist er ein Spion.« »Dann schneiden wir ihm fürs Spionieren die Kehle durch.« Der Offizier spuckte aus. »Deine Großmutter war eine hinkende Hyäne. Er ist ein Lügner, aber du bist ein Dummkopf. Wir bringen ihn nach Jannat. Gibt es einen besseren Grund, umzukehren? Wer es im Köpfchen hat, sitzt sich nicht den Hintern wund. Auf die Pferde! Versteht ihr jetzt, warum ich es zum Offizier gebracht habe, während ihr bis zum bitteren Ende Pferdeställe ausmisten werdet?«
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ie Soldaten gehorchten. Lukas wurde gefesselt, hinter einem der Reiter aufs Pferd gebunden, und die Gruppe setzte sich langsam in Trab. Der Weg führte sie auf einem schmalen Pfad talwärts, von Kayim und Haki fort. Glück im Unglück, dachte Lukas, die Freunde waren in Sicher heit. Einmal hoffte Lukas, Kayim und der Junge würden versuchen, ihn zu befreien; dann wieder hoffte er, sie würden nicht so leichtsinnig sein. In Gedanken schmiedete er kühne Fluchtpläne, aber sie waren nicht zu verwirklichen. Zuletzt ließ er den Kopf hängen und versuchte nicht einmal mehr, sich auszumalen, was ihm nun bevorstand. Hingegen waren die Soldaten bei bester Laune. Sie lachten und scherzten und schenkten Lukas nicht mehr Aufmerksamkeit als einer lästigen Fliege. Die Aussicht auf ein Dach über dem Kopf und ein heißes Mahl spornte sie an. Sie hielten kaum Rast, und so galoppierten sie kurz vor Sonnenaufgang bereits durch die Tore von Jannat al-Khuld. Nur-Jehan hatte behauptet, Jannat sei einmal mächtiger und schöner gewesen als Shirazan. Was Lukas jetzt sah – geborstene Mauern und eingestürzte Türme – ließ schwerlich ahnen, wie 158
die Stadt einmal ausgesehen hatte. Aus den breiten Straßen, in denen sich Packtiere und Soldaten drängten, hatte man die Pflastersteine gerissen. Wo ehemals der weiträumige Basar gewesen sein mußte, standen nun Zelte. Lanzenreiter hatten ihre Waffen an die rußgeschwärzten Wände gelehnt und lungerten auf ihren Gepäckstücken, dösten oder spielten. Zuletzt hielt die Patrouille unter einem bröckelnden Tor bogen, der in einen mit Unkraut überwucherten Hof führte. Lukas wurde aus dem Sattel gezerrt, durch die Einfahrt gestoßen und durch einen Bogengang geschleppt, der das Gebäude entlangführte und früher einen Garten umschlossen hatte. Jetzt türmte sich hier bloß Abfall. Wider Erwarten hatten die Soldaten alle Mühe, Lukas loszu werden. Die Sendboten, die eilig das Haus betraten und verließen, scherten sich nicht um die Patrouille. Die Beamten und Schreiber steckten die Nasen in ihre Bücher und würdigten die Eindringlinge keines Blickes. Als eine Gruppe von Offizieren vorbeigeschlendert kam, nahm sich der Anführer der Gruppe ein Herz, stellte sich in den Weg, salutierte und meldete stolz, man habe im Ramayan einen Spion gefangen. Zur Antwort wurde er mit Flüchen überhäuft, und man befahl ihm, sich bei seiner Kompanie zu melden. Aber dann stutzte einer der Offiziere und trat näher. Plötzlich sah sich Lukas von Angesicht zu Angesicht Nahdir gegenüber. Der Wachkommandant starrte ihn eine Zeitlang an und packte den Anführer an der Uniformjacke. »Wo habt ihr diesen Hund gefunden? Wurde er bereits verhört? Was sagt er aus?«
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Der Mann begann einen Bericht zu stammeln, doch Lukas unterbrach ihn und wandte sich geradewegs an seinen Todfeind. »Du kennst mich gut genug, Nahdir Aga.« Nahdir schlug ihm ins Gesicht. »Dieser Verbrecher wird überall gesucht. Er hat den König verraten!« Zur Patrouille gewandt, sagte er: »Ihr habt richtig gehandelt. Wartet im Hof! Ihr bekommt eine Belohnung.« Lukas, der von dem Schlag ganz benommen war, wurde von zwei Wachsoldaten gepackt, über eine Treppe gezerrt und in einen leerstehenden Raum geworfen. Kaum war die Tür hinter ihm verriegelt, begann Lukas nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau zu halten. Das Fenster führte zum Hof, aber ein Eisengitter verwehrte jeden Durchschlupf. Da er noch immer gefesselt war, konnte Lukas nicht einmal versuchen, an den Stäben zu rütteln. Im Dämmerlicht erkannte Lukas, daß offenbar unter dem Fenster ein schmales Mauerband um das ganze Haus lief. Sollte es ihm gelingen, diesen Vorsprung zu erreichen, konnte er sich bis zur nächsten Ecke vortasten und dort auf die Straße springen. Er konnte aber nichts unternehmen, solange seine Hände gebunden waren, also ließ er sich auf den Teppichstapel fallen und begann an den Schnüren zu zerren, mit denen man ihn gefesselt hatte. Bald mußte er jedoch diese Tätigkeit unterbrechen. Der Riegel knarrte, die Tür ging auf, und ein Wachsoldat trat ein. Er stellte eine Öllampe auf den Boden und zog sich zurück, als sich aus den Schatten des Flurs eine Gestalt löste. Es war Shugdad. In voller Kriegsausrüstung trat er in die Kammer. Sein goldener Brustpanzer hob sich leuchtend vom 160
purpurfarbenen Mantel ab. Um den Helm hatte Shugdad einen Turban gewunden. An der Seite hing in der juwelen geschmückten Scheide das Schwert. Shugdad trug den Bart jetzt kurz, und sein Gesicht wirkte, als sei es aus Eisen. Lukas mußte zugeben, daß er beim Anblick seines ehemaligen Großwesirs in Angst und Schrecken geraten war. Dieser Mann hatte tatsächlich die Haltung eines Königs! Lukas starrte ihn an, erschrocken und hingerissen zugleich. Im ersten Augenblick war er von dieser Machtfülle so überwältigt, daß er sich auf ein Wort hin widerspruchslos erhoben hätte. Aber der Augenblick verstrich. Lukas zwang sich, Shugdad in die Augen zu blicken, und sagte mit möglichst fester Stimme: »Ist es denn Brauch, Shugdad Mirza, in voller Rüstung vor seinem König zu erscheinen?« »Wärest du der König«, erwiderte Shugdad, »würde dir selbst als Gefangenem und in Fesseln alle Ehre zuteil. Aber du bist kein König, bist nie einer gewesen.« »Oho, Shugdad«, protestierte Lukas, »warst nicht du der erste, der mich als Mittelpunkt des Weltalls pries? Meine Ankunft war vorhergesagt, prophezeit…« » … das Gestammel eines närrischen Sterndeuters. Ein wahrer König kennt das Wesen der Macht. Er weiß sie zu ergreifen und wie ein Schwert zu führen. Du hast mit ihr getändelt wie ein Kind mit seinen Spielsachen. Zuletzt entglitt sie ganz deinen Fingern. Nein, du hast dich unwürdig gezeigt, Macht auszuüben.« »Und du, Shugdad, hältst dich ihrer würdig? Ich kannte einmal eine Sklavin, eine Bishangari. Sie gäbe einen besseren Herrscher ab als jeder von uns beiden. In einem pflichte ich dir 161
allerdings bei: Ich wurde durch bloßen Zufall König und habe nie geglaubt, es auf Dauer zu bleiben. Dennoch bezweifle ich, daß du dem Volk besser dienst als ich.« »Dem Volk dienen?« Shugdad blickte ihn ärgerlich an. »Das Volk dient dem König! So hat es zu sein! Du wolltest durch Schwäche regieren, statt durch Stärke. Ich wäre pflichtvergessen gewesen, hätte ich das zugelassen. König Kasha! Ich habe dich im ersten Augenblick durchschaut: Du bist ein Narr und ein Schwächling! Warum hast du mich nicht umgebracht, als es noch in deiner Gewalt stand? Ich an deiner Stelle hätte nicht gezögert.« »Du zögerst nie«, antwortete Lukas. »Du hast mich ja sogar bereits für tot erklärt. Das beweist deine Ungeduld.« »Du bist schlecht unterrichtet!« entgegnete Shugdad. »Ich habe deinem Tod bloß vorgegriffen. Ein feiner Unterschied, der mittlerweile ohne Bedeutung ist, denn du wirst wirklich bald ein toter Mann sein.« »Geh, Shugdad!« sagte Lukas müde. »Du magst mich töten, aber du sollst mich nicht zu Tode langweilen.« »Ich kam, um dir die letzte Wahl zu lassen: einen leichten Tod – oder einen schrecklichen.« Lukas versuchte zu lächeln. »Etwas Besseres hast du mir nicht zu bieten?« »Du wirst deine Unverschämtheit bedauern, sobald du Nahdir in die Hände fällst.« »Dann bist du also gekommen, mir einen Dienst zu erweisen? Aus reiner Herzensgüte sozusagen?«
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»Ich brauche ein Dokument von dir«, stellte Shugdad fest. »Von dir, mit eigener Hand verfaßt. Ein Dokument, in dem du erklärst, daß du das Königreich verraten wolltest, dich mit König Ardashir verschworen hast und dir zuletzt in Scham und Reue das Leben nahmst.« »Bist du verrückt geworden? Der Glaube, König zu sein, ist dir offenbar zu Kopf gestiegen! Erwartest du im Ernst, daß ich einen solchen Unsinn schreibe? Nimm einen Fetzen Papier und stelle die Fälschung selbst her! Das entspricht ganz deinem Charakter und erfüllt den gleichen Zweck – vorausgesetzt, du findest einen Narren, der dumm genug ist, solchen Worten zu glauben.« »Das Schriftstück ist nicht unbedingt erforderlich«, erwiderte Shugdad. »Doch hätte ich vorgezogen, es als Beweisstück für das Königliche Archiv zu erhalten. Eine reine Formsache. In jedem Fall wird dein Verrat offenbar, sobald man deine Leiche in Bishangar findet.« »Sie wird nichts beweisen. Jeder, der über gesunden Menschenverstand verfügt, wird die Wahrheit ahnen.« »Der König gebietet den Menschen wie der Wahrheit. Wer nicht glaubt, nimmt doch hin. Das Ergebnis bleibt dasselbe.« »Noch gibt es Zeugen, die mich rechtfertigen werden.« »Locman? Wir wissen, daß er in Bayaz ist, und werden uns um ihn kümmern. Der wandernde Sprücheklopfer? Wo immer er sich versteckt, sein Leben ist verwirkt. Und wer glaubt schon einem stammelnden Greis oder einem berüchtigten Dieb und Lügner? Die Soldaten, die dich aufgegriffen haben, sind bereits hingerichtet. Sollte man sich jemals an König Kasha erinnern, dann höchstens, um seine Niedertracht zu verfluchen.« 163
»Nein«, widersprach Lukas. »Früher oder später wird man dich mehr verfluchen als mich.« »Auf meinem Marsch nach Jannat kam ich durch eine gewisse Stadt«, erklärte Shugdad. »Im Basar stand ein Pferd gesattelt, bereit für den Tag, an dem König Kasha von den Toten zurückkehren würde. Ich ließ dem Tier die Kehle durch schneiden und den Kadaver auf dem Stadttor aufspießen. So wird es jedem in Abadan ergehen, der trügerische Hoffnungen nährt.« »Wie willst du weiterhin herrschen, wenn dir schon ein Pferd Angst einjagt? Wirst du nun alle Kamele und Maultiere schlachten?« Lukas warf den Kopf zurück und brach in Gelächter aus. »Ich kann es fast nicht glauben! Du erbärmlicher Wurm! Du zitterst ja vor mir! Ich habe dir mehr Ehre erwiesen, als dir zukommt. Vorhin, bei deinem Eintritt, hielt ich dich tatsächlich für einen König. Ein schlechter, aber immerhin: ein König. Du kannst dich rüsten und schmücken, soviel du willst; ich erkenne immer deutlicher, daß du mit all deinen Verschwörungen und Dokumenten lächerlicher bist als ein erbärmlicher Dorfschreiber, nicht ehrenhafter als der Barbier von Zara-Petra. Der versteht das Aderlassen besser als du. Ist es nicht toll? Auch wenn ich sterben muß, wirst du nicht aufhören, vor mir zu zittern.« Shugdad erstarrte. Sein Gesicht war kreidebleich geworden. Lukas fürchtete schon, er werde jetzt das Schwert ziehen und ihn augenblicklich niederstrecken. Aber Shugdad faßte sich wieder und wandte sich zur Tür. Auf der Schwelle blieb er noch einmal stehen und sagte leise: »Eines kannst du mir glauben: dein Tod wird schrecklich und qualvoll sein.«
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as war das erste wahre Wort, das ich von Shugdad gehört habe«, stöhnte Lukas und rappelte sich auf. »Oh, Battisto, du hast mir einen meisterhaften Streich gespielt!« Seine Niedergeschlagenheit wich nackter Wut. Er taumelte zum Fenster und brüllte durch das Gitter: »Kannst du mich hören, du klappriger alter Schurke, wo immer du dich herumtreibst?« Er warf sich mit den Schultern gegen das Gitter. »Geht immer noch alles nach deinem Plan? Und hältst du dich für besonders witzig? Ach, soll dich doch der Teufel holen – falls er das nicht ohnedies bereits getan hat!« Der Wutanfall hatte ihm schmerzende Knochen eingebracht, aber dafür fühlte sich Lukas nun etwas besser, und er machte sich wieder daran, seine Fesseln zu lösen. Immer hatte er voll Stolz behauptet, jeden Knoten entwirren zu können, doch jetzt waren seine Finger gefühllos und schwach. Trotzdem gab er nicht auf; wenn er sich schon nicht befreien konnte, so schlug er wenigstens die Zeit tot. Erst als es draußen vor der Tür wieder Bewegung gab, horchte er auf. Die Wache ließ zwei Diener eintreten. Der eine brachte eine Schüssel mit Essen, der andere einen Wasserkrug. 165
»Herzlich willkommen!« gab sich Lukas betont gelassen, obwohl es mit seiner Tapferkeit nicht mehr weit her war. »Was immer König Shugdad im Sinn hat, verhungern läßt er mich jedenfalls nicht. Habt ihr die Güte, meine Fesseln zu lösen, oder wollt ihr mich freundlicherweise füttern?« Der eine Diener setzte den Krug ab und trat näher. Zwischen dem fleckigen Tuch, das er um den Kopf gebunden hatte, und der hoch übers Kinn gezogenen Halsbinde erspähte Lukas die Zwillingsäste eines prächtigen Schnurrbarts! Da hätte Lukas am liebsten einen Freudenschrei ausgestoßen. »Kein lautes Wort!« warnte Kayim. »Ich habe der Wache weisgemacht, wir müßten dir das Henkersmahl bringen. Und wie das bei Soldaten so üblich ist, hat der Dummkopf es ohne Widerrede geglaubt. Wir können aber leider nicht bleiben. Der Laffe sah zwei von uns kommen, und weil er wohl bis drei zählen kann, dürfen auch nur zwei die Kammer wieder verlassen!« »Wo ist Haki? Ist er in Sicherheit?« »Gesund und munter und in der Küche«, bemerkte Kayim. Während er Lukas die Fesseln löste, kniete der andere Diener plötzlich nieder und küßte den Boden. Kayims Gefährte war Namash, der Wasserverkäufer! »Was soll das?« stammelte Lukas überrascht. »Was machst du da? Steh doch auf, Freund! Wie kommst du überhaupt…?« »Mittelpunkt des Weltalls!« unterbrach Namash. »Kayim hat mir alles verraten. Du bist der wahre König von Abadan! Konnte ich das auch nur ahnen? Zierde der Zeiten, ich muß gestehen, du gäbest einen erstklassigen Bettler ab.«
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»Haki und ich folgten der Patrouille«, erklärte Kayim. »Wir schlichen uns in die Küche. Weil alle in höchster Aufregung sind, um Shugdad nur ja nach Kräften zu dienen, dachte ich, daß zwei Diener mehr nicht auffallen würden – und so sind wir auf unseren Freund gestoßen.« »Wie, Namash, du bist jetzt Koch und hast den Beruf als fahrender Händler an den Nagel gehängt?« »Koch bin ich bloß obendrein«, antwortete Namash. »Im allgemeinen handle ich mit Teppichen, Tüchern und Lamm fellen. Seit dem Tag, an dem du mir den Beutel mit Goldstücken überreichen ließest – ja, auch das weiß ich schon –, hatte ich stets Glück. Dieses Haus gehört mir, ich habe es bar bezahlt. Es ist das schönste Haus in ganz Jannat – oder war es einmal, in besseren Zeiten. Warum sonst hätte Shugdad es zu seinem Hauptquartier gemacht? Aber was kümmert uns das? Zu allererst müssen wir dich fortschaffen.« Vom Fenster her ertönte ein leiser Pfiff. Lukas fuhr herum und sah eine Gestalt, die sich wie eine riesige Fledermaus an das Gitter gekrallt hatte – Haki! »Sei unbesorgt, al-Ukash!« flüsterte er. »Es war zwar nicht besonders klug von dir, dich von den Abadanis fangen zu lassen, aber nun sind wir erneut beisammen, und bald hast du deine Freiheit wieder.« »Du Balg!« rief Kayim. »Habe ich dir nicht gesagt, du sollst in der Küche bleiben und dort auf uns warten? Aber wenn du schon einmal da bist, kannst du uns gleich sagen, wie fest dieses Gitter ist.« »Sehr fest. Die Stäbe geben kein bißchen nach.«
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»Wir müssen eine Säge beschaffen«, überlegte Kayim, »oder eine Feile. Dann könnten wir versuchen …« »Das wäre sinnlos«, fiel ihm Namash ins Wort. »Es dauert viel zu lang. Und der Lärm würde uns im Handumdrehen die Wache an den Hals hetzen.« »Du hast recht.« Kayim seufzte. »Und wenn ich hierbleibe und al-Ukash – vielmehr, der König – in meine Kleider schlüpft, den Wasserkrug packt und…« »Nein«, widersprach Lukas. »Keiner von euch nimmt meinen Platz ein. Wenn Shugdad dich an meiner Stelle findet, bringt er dich um.« »Das will er ohnehin schon seit langem«, sagte Kayim. »Ich gebe zwar zu, daß ich ihm diesen Herzenswunsch nicht gerade mit Freude erfülle – aber wie die Dinge liegen, bekommt er einen von uns auf jeden Fall. Außer…« Er klatschte in die Hände. »Außer du stirbst vorher von selbst! Ich meine: Shugdad müßte dich für eine mausetote Leiche halten.« Lukas schüttelte den Kopf. »Das können wir ihm nie weismachen.« »Doch«, beharrte Kayim. »Haki beschafft uns aus der Apotheke einen Schlaftrunk, der so echt wirkt, daß man dich für tot hält. Namash erklärt sich bereit, dich zu begraben – was er natürlich nicht tut –, und auf diese Weise schmuggeln wir dich heraus, wecken dich wieder auf, und alles ist in bester Ordnung.« »Unsinn!« rief Lukas. »Der Plan gelingt nie. So leicht läßt sich Shugdad nicht narren. Wir liefern ihm einen Scheintoten, und er macht aus uns echte Leichen.«
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»Der König hat recht«, sagte Namash. »Mit diesem Plan geraten wir vom Regen in die Traufe.« »Er ist dumm, wirklich sehr dumm…« tadelte Haki. »Hört auf!« protestierte Kayim. »Ich versuche doch bloß, einen Ausweg zu finden, irgendeinen Ausweg. Und dabei ist mir eben das Märchen von der Prinzessin mit dem Schlaftrunk eingefallen. Ich habe es oft erzählt, aber ich gebe zu, die Geschichte klingt nur gut, wenn man sie nicht zu genau nimmt. Es stimmt, damit wäre uns nicht geholfen.« Kayim verstummte, denn der Wachsoldat löste den Riegel, steckte den Kopf zur Tür herein und befahl den vermeintlichen Dienern zu verschwinden und sich in der Küche zu melden. »Wir kommen zurück, sobald wir können«, flüsterte Kayim und band Lukas die Fesseln so um die Handgelenke, daß er sich mit einem Ruck befreien konnte. Haki war bereits verschwunden. Kayim eilte Namash nach. Da er seine Freunde nahe wußte, faßte Lukas wieder Mut; aber noch immer sah er keine Möglichkeit zur Flucht. Er schloß die Augen und versuchte zu schlafen, döste aber bloß vor sich hin. Als erneut der Riegel klapperte, war Lukas sofort hellwach. Diesmal trat nicht Kayim ein, sondern Nahdir. Lukas bemühte sich, seine Angst nicht zu zeigen, aber jetzt wurde ihm bewußt, was sie zuvor nicht bedacht hatten und was jeden Plan vereiteln mußte: Shugdad handelte nach seinem Ermessen, nicht nach ihren Wünschen. »Steh auf!« befahl der Wachkommandant. »Du wirst jetzt in den Ramayan gebracht.«
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»Meinst du denn, ich gehe zu meinem eigenen Begräbnis?« Ohne den Blick von Nahdir zu wenden, schüttelte Lukas die Fesseln ab. Ein beißender Geruch drang ihm in die Nase. Ich stinke vor Angst! dachte Lukas; dennoch starrte er Nahdir herausfordernd an. »Ehe ich auch nur einen Schritt mache, gehst du zum Teufel. Wenn du mich in Bishangar haben willst, mußt du mich hintragen.« Auf Nahdir. Gesicht zeigten sich rote Flecken. Aber noch vermochte er sich zurückzuhalten. Seine Finger zuckten, doch die Hand griff nicht zum Schwert. »Rufe doch die Wache«, forderte Lukas ihn auf. »Sie besorgt für dich, was du nicht wagst.« Der Geruch war intensiver geworden; schon würgte er in der Kehle. Das war aber nicht bloß Einbildung, denn auch Nahdir begann zu schnüffeln… Die Tür flog auf, und die Wache stürmte herein: »Feuer! Nahdir Aga, das Haus steht in Flammen!« Kaum hatte der Soldat die Warnung ausgestoßen, stürzte er zu Boden wie ein gefällter Baum: Kayim hatte ihm mit voller Wucht einen eisernen Kochtopf auf den Schädel geknallt. Haki drängte sich an dem Bewußtlosen vorbei in die Kammer. Nahdir schenkte dem Vorfall kaum einen Blick. Statt sich den Eindringlingen zuzuwenden, riß er das Schwert aus der Scheide und stürmte auf Lukas zu. Während der Wachkommandant zum Schlag ausholte, sprang Lukas zur Seite. Er packte die brennende Öllampe und schleuderte sie Nahdir ins Gesicht. Nahdir brüllte auf und faßte sich an die Augen. Sein Bart stand bereits in hellen Flammen,
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und schon hatte das heiße Öl auch seinen Umhang und den Turban entzündet. »Fort! Auf die Straße!« schrie Kayim. Er taumelte gegen die Wand, als Nahdir, verrückt vor Schmerz, an ihm vorbeistürzte. Von Haki und Kayim gefolgt, eilte Lukas aus der Kammer. Der Wachkommandant hatte mittlerweile den Fuß der Treppe erreicht und rannte flammensprühend mitten in eine Gruppe von Offizieren und Soldaten. Lukas meinte, aus dem Obergeschoß Shugdads Stimme zu hören, aber die Befehle des Wesirs verhallten ungehört im allgemeinen Durcheinander. Die Menge drängte in den Hof. Lukas entdeckte Namash, der ihnen heftig zuwinkte. Sie folgten ihm über eine Holztreppe in einen Lagerraum im Keller. Dort stand der Rauch in so dichten Schwaden, daß Lukas kaum etwas wahrnehmen konnte – und was er sah, wollte er nicht glauben: Statt die Flammen zu löschen, nährte sie der Wasserverkäufer mit allem brennbaren Hausrat, den er erlangen konnte. »Fort!« rief Namash. »Die Tür dort führt ins Freie!« Lukas wollte ihn von den Flammen wegzerren, aber Namash machte sich los: »Geht schon! Rasch! Oder ich habe mein Haus vergeblich angezündet. « »Du hast dein eigenes Haus in Brand gesteckt? Namash –!« »Nicht schelten, König von Abadan! Alles, was ich besitze, hast du mir gegeben. Jetzt gebe ich es dir eben zurück.« Er drängte Lukas hinter Kayim und Haki durch die niedere Tür auf die Straße. Das Feuer hatte Neugierige, Soldaten und allerlei Volk zu Shugdads Hauptquartier gelockt. Die drei Flüchtlinge bahnten sich den Weg durch die Menge, so rasch sie konnten, ohne die 171
Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Lukas konnte noch immer nicht fassen, daß Namash sein Haus und all sein Hab und Gut geopfert hatte. »Der Mann hat sich ruiniert, um mich zu retten, und ich habe mich nicht einmal bei ihm bedankt!« »Es wäre auch kaum die rechte Zeit dafür gewesen«, antwortete Kayim. »Ein prächtiger Mensch, dieser Namash! Der kommt schon durch, so oder so.« Da sie keine Ponys mehr hatten, überlegte Lukas, ob sie es wagen durften, Pferde aus den Ställen der Armee zu stehlen. »Das wird nicht leicht sein«, warnte Kayim. »Haki und ich haben überall Patrouillen und Straßensperren gesehen. Auch wissen wir nicht, ob Shugdad dem Feuer entkommen ist. Bei seinem Teufelsglück wäre das gar nicht besonders verwunder lich.« »Wie auch immer«, sagte Lukas, »in Jannat können wir nicht bleiben. Vielleicht kennt Haki einen Weg.« Er blieb unver mittelt stehen. »Wo ist denn der Junge?« Noch vor wenigen Augenblicken war er neben ihnen gegangen, jetzt war er spurlos verschwunden. »Er kann nicht weit sein. Komm, wir müssen ihn suchen!« Kaum hatte Lukas sich umgewandt, drängte sich ein Bettler an ihn heran, ein großer, gebückter Mann, ganz in Lumpen gehüllt. Er faßte Lukas am Hemd und winselte um ein Almosen. Vergeblich versuchte Lukas, ihm zu erklären, daß sie selbst kein einziges Geldstück besaßen; der Bettler drängte bloß dichter heran und wurde noch unverschämter. »Seid mildtätig, ihr Herren! Meint ihr denn, ich sei ein Schmarotzer aus dem Basar? Nein, man hat mich um Hab und Gut betrogen …«
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Der Redeschwall verebbte. Der Mann reckte Lukas sein aufgedunsenes, stoppelbärtiges Gesicht entgegen, blinzelte überrascht und murmelte: »Irgendwo habe ich dich schon einmal gesehen! Und ich vergesse weder ein Pferde- noch ein Menschengesicht…« Lukas erkannte Katir beinahe im gleichen Augenblick wie der Pferdehändler ihn. »Du!« brüllte Katir. »Du! Dieb! Räuber!« Mit wilden Schmä hungen und Flüchen stürzte er sich auf Lukas. Kayim packte ihn am Kragen, versuchte ihn wegzuzerren, und schon balgten die drei heftig miteinander. Katirs Geschrei und Gezeter hatte die Aufmerksamkeit einer Militärstreife erregt, die herbeieilte, um nach dem Rechten zu sehen. »Festnehmen! Einsperren!« brüllte Katir. »Er hat mit meinen Pferden geredet und mich belogen!« Die Soldaten lachten. »Sprechende Pferde? Das ist etwas Neues. Wir sollten wohl eher dich festnehmen, denn entweder bist du betrunken oder verrückt.« »Sie haben mit ihm geredet!« beharrte Katir. »Sie haben ihm verraten, wo der Schatz liegt. Ich konnte sie nicht verstehen, weil jedes eine andere Sprache hat. Aber der Schurke da kennt sie alle. Der Hengst, dieser räudige Schwatzkopf, wollte ihm einreden, er habe einst im Palast gelebt. Das hat er aber gelogen! Dafür wußte die Stute, wo der Dolch versteckt war.« Während Katir weiterjammerte, blickte der Leiter der Streife seine Männer vielsagend an und klopfte sich mit dem Finger gegen die Stirn. Schließlich sagte er zu Katir: »Also die Pferde sprechen, was? Und die Kamele können lesen und schreiben. 173
Weiß ich, weiß ich; erst gestern hat mir eines geschrieben. Der Brief stand auf seinen Fußsohlen, und wenn du jetzt mitkommst, lesen wir ihn dir vor…« »Nein, nein, wartet!« rief Katir. »Ich bin noch nicht zu Ende…« »Mag sein«, fiel ihm der Polizist ins Wort, »aber uns reicht es!« Er packte den protestierenden Katir und versetzte ihm einen kräftigen Fußtritt. »Und nun zu diesen beiden«, sagte er dann mit einem Blick auf Lukas und Kayim. »Sie tragen keine Uniform. Also sind sie entweder Deserteure oder sie wollen sich der Einberufung entziehen. Das finden wir schon heraus. Ins Gefängnis mit ihnen!«
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ukas klopfte das Herz bis zum Hals. Er schielte zu Kayim hinüber, der offenbar auch auf eine Flucht möglichkeit sann. Einstweilen maulten die Soldaten über den Befehl des Anführers. Die einen störte der lange Weg zum Armeegefängnis, das am entgegengesetzten Ende der Stadt lag; die anderen meinten, man solle die beiden Verdächtigen kurzerhand umbringen. Der Anführer kratzte sich unschlüssig am Kinn. »Nun ja, dann müßten wir auch keinen Bericht schreiben, und am Ergebnis ändert sich nichts; auf Lanzenspitzen gespießt werden die beiden so oder so. Andererseits: warum sollten wir sie mit einem raschen Tod belohnen? Damit sie alle Scherereien ein für allemal hinter sich haben, während wir nach wie vor bis zum Hals im Dreck stecken? Es wäre die reinste Vergeudung, denn im Kampf gegen die Teufel aus Bishangar brauchen wir jeden Mann, auch diese beiden Lumpenkerle. Nein, ich weiß schon, was wir machen – und wenn ihr alle das Maul haltet, haben wir keinen Schaden dabei: Hauptmann Dakkahs Kompanie rückt heute noch in den Ramayan ein. Er ist froh um jeden Mann, den er bekommen kann, und wird keine Frage stellen. Bringt ihm die beiden, liefert sie Dakkah aus – und wir sind eine Sorge los.« 175
Kayim war bei diesen Worten sehr unruhig geworden. Lukas nahm das als Zeichen, daß sein Freund auf der Stelle einen Fluchtversuch wagen wollte, und schüttelte den Kopf. Das rauhe Gelächter, mit dem die Streife die Entscheidung ihres Anführers gebilligt hatte, gab ihm allerdings zu denken. Hauptmann Dakkahs Kompanie genoß offenbar keinen guten Ruf in der Truppe. Als die Streife aufbrach, gelang es Lukas, Kayim zuzuflüstern: »Haki ist gerissen; er kann für sich selbst sorgen. Ich kann mir gut vorstellen, daß er bereits heimlich hinter uns herläuft.« »Das glaube ich auch«, stimmte Kayim zu. »Einer wie er landet immer auf den Beinen. Ja, er wird sich schon durch schlagen. Ich gebe es nur ungern zu, aber der kleine Schurke fehlt mir.« »Und wir kommen auf dem sichersten Weg aus Jannat heraus«, überlegte Lukas weiter. »Wo wird uns Shugdad zu allerletzt suchen? In seiner eigenen Armee. Zwei gemeine Soldaten… Nicht sehr erfreulich, aber praktisch.« »Gemein oder fein, das ist mir gleich«, brummte Kayim. »Aber daß ich Soldat werden soll, wurmt mich. Vom Kriegshandwerk habe ich nie viel gehalten. Offen gesagt, ich erzähle lieber von Schlachten, als sie selber zu schlagen: Im blutigen Kampf werden Helden geboren, als Verseschmied hab ich dabei nichts verloren. Ich schildere bloß all die Taten der Toren: so hat jeder den Ruhm – und ich bleib' ungeschoren.«
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Nach zügigem Marsch durch die Stadt erreichten sie bald die Tore von Jannat. Wie Lukas gehofft hatte, ließ man sie nach einem scherzhaften und rauhen Wortwechsel zwischen der Torwache und den Soldaten ohne weiteres passieren. Nun ging es, vorbei an Einheiten, die entlang der Nordmauer lagerten, bis an einen Platz, an dem eine Kompanie von einigen hundert Soldaten soeben ihre Zelte abbaute und die Packesel belud. Ein bärenstarker Riesenkerl in einem schmutzverkrusteten Uniformmantel nahm Lukas und Kayim in Gewahrsam. Er hieß Hassan und war offenbar ebenso froh, die beiden zu über nehmen, wie die Militärstreife froh war, sie wieder loszuwerden. Hassan kramte in einem Gepäckhaufen herum, zog zwei Schwerter ohne Scheide und zwei zerbeulte Schilde heraus und warf sie Lukas und Kayim zu. Lukas hatte erwartet, vor Hauptmann Dakkah gebracht zu werden. Als er danach fragte, antwortete jedoch Hassan bloß mit herzhaftem Lachen. »Dakkah kam schon beim ersten Angriff im Ramayan ums Leben. Wir haben das bloß nicht gemeldet, um weiterhin seine Ration zu beziehen. Du wirst schon noch merken, wie knapp es bei uns mit der Verpflegung steht. Was habt ihr beiden eigentlich ausgefressen? Ach was, du mußt es mir nicht verraten. Hier kümmert sich jeder um seine eigenen Angelegen heiten.« Als er sah, wie Lukas verständnislos die Stirn runzelte, blinzelte Hassan ihm ungläubig zu. »Ja wißt ihr das denn nicht? Hat es euch keiner gesagt?« Hassan schlug die Hände zusammen und prustete erneut los. »Ihr armen, bedauernswerten Lumpenkerle! Dakkahs Kompa 177
nie? Die Kompanie der toten Männer! Wir sind eine Straf kompanie. Spähtrupps, Sturmangriffe – wo es eben nach Meinung des Kommandanten die dickste Luft gibt. Wir sind die Lanzenspitze der Armee, und wenn sie bricht, weint man uns keine Träne nach. Aber, Kopf hoch! Bei uns geht es euch immer noch besser als vor dem Kriegsgericht; dort endet doch jeder als Leiche. Wir haben es oft genug gesehen: Kaum muß einer zweimal niesen, wird er schon ins Jenseits befördert. Oho, meinte da unser oberster Heerführer, das ist doch die reinste Körperverschwendung! Warum die eigenen Leute umbringen, wenn das die Bishangaris viel besser besorgen? Und so hat er die Strafkompanie eingerichtet. Was immer du ausgefressen hast, hier findest du deinesgleichen: Deserteure, Befehls verweigerer – alle jene, die den König Kasha mochten und dumm genug waren, das laut zu sagen.« Lukas wollte wissen, ob Hassan der Offizier der Kompanie sei; aber der grinste bloß und schüttelte den Kopf: »Ich? Nein, das ist ein Amt, das keiner haben will. Der Kerl dort an der Marschspitze, das ist unser Hauptmann. Du wirst ihn bald genug kennenlernen. Ein guter Mann, aber ein Verrückter. Anderer seits: verrückt sind wir, genau genommen, hier alle.« Ein Hornsignal ertönte und schnitt schrill in die Nachtkälte. Der Zug formierte sich und marschierte los. Hassan befahl Lukas und Kayim, sich einzuordnen, und eilte weiter, um einigen Nachzüglern mit Fußtritten auf die Beine zu helfen. Das rasche Tempo hielt an, bis sie Jannat weit hinter sich gelassen hatten. Dann zwangen Steine und Geröll zu etwas langsamerer Gangart. Von Anfang an hatte Kayim gejammert und geklagt. Auch Lukas hatte Mühe, mit der Kompanie Schritt zu halten. 178
»Der Kriegsminister hat sich offenbar für die Armee besondere Schwerter ausgedacht«, sagte Lukas. »Je länger man sie trägt, um so schwerer werden sie. Hätte ich das bloß gewußt, als ich noch im Palast war! Gleich hätte ich dagegen ein Gesetz erlassen.« Auf ein Zeichen von Haki warteten sie vergeblich. »Er weiß aber bestimmt, wo wir sind«, redete sich Lukas ein. »Wahr scheinlich zottelt er außer Sichtweite hinter uns her und platzt vor Schadenfreude. Sobald die Kompanie in den Bergen ist, machen wir uns jedenfalls aus dem Staub.« »Je früher, um so besser«, bestätigte Kayim grimmig. »Die Blasen an meinen Fußsohlen sind nämlich schon groß genug, um von allein zu marschieren.« Lukas nutzte die Zeit, um sich mit den Soldaten der Truppe anzufreunden. Den sicheren Tod vor Augen, lachten und scherzten die Männer lauthals. Kayim fand das gar nicht lustig. »Hassan hat recht: es sind lauter Verrückte. Ihnen ist alles zuzutrauen – sogar, daß sie im Notfall kämpfen!« Haki gab noch immer kein Lebenszeichen. Allmählich begann Lukas, sich ernsthaft Sorgen zu machen. »Sollte ich mich getäuscht haben, und er ist irgendwo zurückgeblieben und hat unsere Spur verloren? Dann müssen wir uns auf eigene Faust durchschlagen.« »Das wäre schlimm«, sagte Kayim. »Denn Shugdad greift bestimmt bald an. Und die Bishangaris werden nicht untätig die Daumen drehen. Dann kommt das Fett ins Feuer. Selbst wenn du Ardashir findest, wäre es zu spät.« Lukas blieb ihm die Antwort schuldig; er wollte sich nicht eingestehen, daß Kayim wahrscheinlich recht hatte. 179
Die Kompanie hielt an. Die Männer machten sich nicht erst die Mühe, Wachtposten aufzustellen, sondern begannen gleich, die Kochfeuer zu errichten. Die Bishangaris hatten die Truppe wahrscheinlich ohnedies bereits ausgemacht, da lohnte es sich nicht, für unnütze Maßnahmen eine warme Mahlzeit aufs Spiel zu setzen. Lukas war ein Mann aufgefallen, der abseits saß und sich eine Schafsfellweste über den Rücken geworfen hatte. Bald erkannte Lukas, daß die Arme des Mannes nicht von einem Schatten muster, sondern von zahllosen Narben und Striemen gezeichnet waren. Konnte er der Hauptmann sein? Hassans Worte fielen ihm wieder ein, und neugierig trat er näher, um zu erfahren, wer bereit war, diesen verlorenen Haufen anzuführen. Der Mann blies in die glühende Asche. Als er den Kopf hob, prallte Lukas zurück, und seine Hand zuckte zum Schwert. Obwohl das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt und von frischen Striemen gezeichnet war, hatte Lukas den Mann augenblicklich erkannt! Wie sollte er auch jemals den Diener vergessen, der im Palast von Shirazan versucht hatte, ihn zu erdrosseln? Osman vernahm den unterdrückten Schrei, starrte Lukas einen Augenblick lang verblüfft an – und sprang auf die Beine. Zu spät! Lukas konnte ihm nicht mehr entrinnen. Also beschloß er, sich nach Kräften zu wehren, und zog das Schwert. Zu seiner Überraschung unternahm Osman keinen Versuch, ebenfalls die Klinge zu ziehen. Vielmehr trat er Lukas bis vor die Spitze seines Schwertes entgegen. »Ein Wort, Osman, und – ich schwöre, dir widerfährt, was dir schon im Palast gebührt hätte.« 180
»Ja, es hätte mir gebührt«, erwiderte Osman leise. »Gebrauche deine Waffe, König von Abadan; das ist der einzige Dienst, um den ich dich bitte. Ich habe dich einmal verraten, ich will es nicht ein zweites Mal tun.« Obwohl Osman nur leise gesprochen hatte, ließ Lukas, unsicher geworden und ungewiß über die wahre Absicht des Mannes, das Schwert sinken. Kayim näherte sich. Als er den ehemaligen Leibwächter erblickte, brüllte er ihn an: »Verräter! Mörder! Was suchst du hier unter Menschen, die nicht deinesgleichen sind? Der gemeinste Schurke ist dir an Ehrenhaftigkeit überlegen. Schlimm genug, daß wir in den Bergen herumklettern müssen. Nun wird dieses Pack auch noch von einem räudigen Hund angeführt!« Osman stand unbewegt. »Sag, was du willst. Aber höre mich zuerst an.« »Laß ihn erzählen!« wandte sich Lukas an Kayim. Er gebot Osman, ihm zum Rand des Lagers zu folgen, wo man sie nicht belauschen konnte. »Ich will nichts hören«, murrte Kayim. »Ich will bloß wissen, warum Shugdad dich nicht gleich nach dem fehlgeschlagenen Attentat um einen Kopf kürzer gemacht hat.« »Um nichts Geringeres bat ich ihn«, erwiderte Osman. »Als ich erkannte, daß es Shugdad in Wahrheit bloß um persönliche Macht ging und nicht um das Wohl des Landes, wollte ich sterben. Ich hatte den wahren König verraten. Der Tod wäre mir eine Gnade gewesen, und deshalb ließ Shugdad mich leben. Nahdir peitschte mich aus, und als sein Arm erlahmte, löste Shugdad selbst ihn ab. Schließlich wurde ich verurteilt, in 181
Dakkahs Truppe zu dienen. Wir gingen nach Jannat, und als Dakkah fiel, trat ich freiwillig seine Nachfolge an.« »Und hast trotz allem Glück gehabt«, sagte Lukas. »Du hättest schon ein dutzendmal getötet werden können.« Osman blickte ihm offen in die Augen. »Oh, mein König, du hast mich nicht verstanden. Ich wollte doch sterben! Mein Unglück ist, daß ich immer noch lebe. Ich habe Spähtrupps geleitet, den Kampf von Mann zu Mann gesucht, das Schwert fortgeschleudert und mich unbewaffnet dem Gegner gestellt. Aber mein Leben ist verflucht, denn ich kann es nicht verlieren.« Osman zog ein Messer aus der Scheide und hielt es Lukas entgegen. »König von Abadan, gib mir meine Ehre wieder! Stoß zu, wie du es längst hättest tun sollen!« »Du handelst nicht aus Ehrgefühl, sondern aus Eitelkeit«, erwiderte Lukas. »Oder aus Selbstmitleid. Das eine ist so schlimm wie das andere. Ich verlange nicht deinen Tod. Ich verlange, daß du am Leben bleibst, und ich verlange auch, daß du den Mund hältst. Für deine Männer bin ich al-Ukash, nicht der König von Abadan.« »Gib dich ihnen doch zu erkennen!« rief Osman. »Ich stehe für meine Leute ein. Wenn sie hören, daß König Kasha lebt, folgen sie dir bis ans Ziel.« »Wüßte ich doch bloß, wo das liegt«, sagte Lukas. »Aber ich kenne es nicht.« Er zögerte einen Augenblick und sprach dann – ohne auf Kayims mißbilligendes Kopfschütteln zu achten – offen zu Osman, ohne von seinem Plan auch nur das Geringste zurückzuhalten. 182
»Die Zeit ist gegen dich«, überlegte Osman, als Lukas geendet hatte. »Doch sehe ich keine andere Hoffnung. Jedenfalls bist du bei uns in größerer Sicherheit als allein im Ramayan. Laß diese Kompanie von nun an deine Leibwache sein.« »Vor allem«, sagte Kayim, »müssen wir uns von den Truppen der Bishangaris so weit wie möglich fernhalten.« Osman schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Wir müssen sie aufspüren und aus ihren Verstecken locken. Selbst wenn das bedeutet, daß sie uns angreifen.« »Was?« rief Kayim. »Wir sollen dem Löwen den Kopf ins Maul stecken?« »Uns bleibt keine andere Wahl«, seufzte Lukas und fügte traurig hinzu: »Wir können nur hoffen, daß der Löwe nicht allzu fest zubeißt.« Osman hielt Wort und gab nicht zu erkennen, daß Lukas mehr als ein gewöhnlicher Soldat war. Lukas hingegen zweifelte immer heftiger daran, daß es gelingen würde, Ardashirs Truppen aus ihrem Versteck zu locken. Zwei Tage zog die Kompanie immer tiefer in die Berge, den Höhen des Umm alRaas entgegen. Wiederholt kamen sie durch Dörfer, fanden sie aber jedesmal verlassen. Unterdessen war auch die Hauptstreitmacht von Shugdads Armee in den Ramayan eingedrungen. Aus den Staubwolken, die aus den Tälern aufstiegen, schloß Lukas, daß die Vorhut ihnen bereits bedrohlich nahe war. Er konnte aber nicht mehr tun, als Osman zu drängen, so rasch wie möglich weiter zumarschieren.
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Die Kompanie hatte am Rande einer steinübersäten Lichtung Rast gemacht. Als das Hornsignal zum Aufbruch ertönte und die Männer in Reih und Glied fielen, schrien sie plötzlich über rascht auf: Schlagartig war es hinter den Felsblöcken lebendig geworden. Schußbereite Bogenschützen sprangen hervor. Aus dem Unter holz rückte eine Schar Berittener mit gezückten Schwertern. Die Kompanie wich zurück. Kayim wollte Lukas hinter einen schützenden Felsblock zerren, aber Lukas riß sich los und rannte geradewegs dem feindlichen Anführer entgegen, dessen Streit roß unerschrocken vorpreschte. Das Gesicht des Reiters war durch ein im Wind flatterndes Tuch verhüllt. Plötzlich richtete er sich im Steigbügel auf und riß es heftig an den Zügeln, daß der weiße Hengst in den Hinterbeinen einknickte. »Nur-Jehan!« rief Lukas. »Nur-Jehan!«
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ur-Jehan schlug ihren Umhang zurück, zog ein silbernes Horn aus dem Gürtel und blies ein schrilles Signal. Die Reiter zügelten ihre Pferde. Lukas sah, daß auf den Bergponys auch Frauen saßen. Sie waren ebenso wie die Männer gekleidet. In den Reihen der Bogenschützen erkannte er halbwüchsige Jungen und Mädchen, deren Waffen denen der Erwachsenen glichen. Rakush stampfte und schnaubte, als Nur-Jehan aus dem Sattel sprang. Sie kam einen Schritt auf Lukas zu. »Ein guter Treffpunkt, König von Abadan.« »Ein guter Treffpunkt, nicht wahr?« erwiderte Lukas. »Es fehlte nicht viel, und wir wären von dir und deinen Freunden in Stücke gehauen worden. Ich hätte mir ja denken können, daß du es bist, die diesen wilden Haufen anführt. Nun stecke doch endlich das Schwert weg und befiehl diesen Kindern, ihre Waffen zu senken, ehe jemand zu Schaden kommt!« Nur-Jehan setzte zu einer Antwort an, aber Lukas ließ sie nicht zu Wort kommen: »Eines noch: Wo ist mein Dolch? Zumindest den hättest du mir lassen können, als du dich heimlich aus dem Staub gemacht hast. Ich dachte, wir seien 185
Freunde gewesen. All dein Geschwätz von Ehre und Anstand! Nun, eine schäbige Kostprobe davon hast du uns ja gegeben.« Nur-Jehans Augen blitzten, und ihre Wangen waren gerötet. »Der König von Abadan spricht, ohne zu begreifen, daß ich nicht anders handeln konnte!« Mittlerweile hatten sich auch Kayim und hinter ihm Osman genähert. Als der Reimeschmied Nur-Jehan vor sich sah, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen: »Da zappeln wir seit Tagen durch die Gegend, ohne eine einzige Bishangari zu treffen, und die erste, die uns über den Weg läuft …« Osman, der Nur-Jehan unverwandt angestarrt hatte, erkannte sie endlich. »Das Sklavenmädchen!« »Ich war keine Sklavin und bin auch jetzt keine«, erklärte Nur-Jehan stolz. Sie wandte sich an Lukas. »Ich wußte, daß sich der König im Ramayan aufhält. Ich wußte aber nicht, daß er Seite an Seite mit seinem Mörder zieht.« »Das laß meine Sorge sein«, erwiderte Lukas. »Sage mir lieber, wo ich Ardashir finden kann. Ich will mit ihm über den Frieden verhandeln. Weißt du, wo Ardashir ist? Kannst du mich zu ihm bringen?« »Das ist nicht möglich«, sagte Nur-Jehan knapp. »Weshalb nicht?« rief Lukas zornig. »Versuche nicht, mich zu täuschen! Einer von euch muß doch wissen, wo er steckt. Damit, daß du durch die Gegend brüllst, auf einem Pferd reitest und dein Schwert schwingst, ist nichts getan.« »Damit ist nichts getan«, bestätigte Nur-Jehan. »Folge mir!«
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»Dann komme ich aber mit«, wandte Kayim ein. »Ich bin jetzt Großwesir, und ich will wissen, was vorgeht.« Das Mädchen nickte. »Meinetwegen. Aber deine Gefährten sind Abadanis, noch dazu Soldaten. Sie können wir nicht schützen, und mit ihnen ziehen wollen wir auch nicht.« »Du läßt dir selbst kaum eine Wahl«, erwiderte Lukas. »Ja, sie sind Abadanis, das heißt, sie sind meine Untertanen. Ich bin für sie verantwortlich, und ich kann nicht zulassen, daß ihnen Leid geschieht.« »Darüber hast du nicht zu bestimmen. Ihr seid in unser Land eingedrungen.« »Ich halte ein Blutbad nicht für sehr gastfreundlich.« »Wir sind nicht gastfreundlich zu unseren Feinden.« Lukas wandte sich an Osman. »Ich glaube, nun solltest du deinen Leuten verraten, wer ich bin und welche Absicht mich leitet. Wenn sie bereit sind, meinem Befehl zu folgen, laß sie schwören, keinem Bishangari auch nur ein Haar zu krümmen. Mache ihnen klar, daß ich mit meinem eigenen Leben dafür einzustehen habe.« Und zu Nur-Jehan sagte er: »Auch deine Leute müssen nun erfahren, warum ich hier bin. Teilen sie meine Absicht, müssen auch sie versprechen, meine Männer unbehelligt zu lassen.« Das Mädchen überlegte kurz, wandte sich dann ab und ging zu den Reitern zurück, die absaßen und sich um Nur-Jehan versammelten. Auf ihr Zeichen schlössen sich die Bogenschüt zen, noch immer mit schußbereiten Waffen, den Reitern an. Indessen war Osman zur Kompanie zurückgekehrt. Lukas konnte nicht hören, was er den Soldaten zurief; er sah nur, daß 187
sie sich um ihren Hauptmann scharten, und wartete voll innerer Unruhe. Dann riefen die Soldaten immer wieder seinen Namen, und Osman kam gelaufen und legte Lukas das Schwert zu Füßen. Auch Nur-Jehan hatte ihre Unterredung beendet und kehrte zu Lukas zurück. Die Bishangaris senkten bereits die Bogen und Klingen. »Wir stimmen einem Waffenstillstand zu«, sagte Nur-Jehan. »Er betrifft aber nur deine Kompanie.« Sie reichte ihm die Hand, und Lukas ergriff sie. »Vergiß, was ich vorhin gesagt habe«, bat er. »Ich dachte, wir würden einan der nie wieder begegnen. Manchmal habe ich mir freilich ein Wiedersehen ausgemalt – wenn auch nicht einen Überfall aus dem Hinterhalt.« »Du hast dir nichts vorzuwerfen. Es gibt vieles, was du nicht weißt. Nun aber sollst du alles erfahren.« Kayim und Osman waren inzwischen zu den beiden getreten. »Es stimmt«, sagte Lukas, »daß Kayim mein Großwesir wurde, und da dieser Haufen nun meine Armee ist, ernenne ich Osman zu ihrem Oberbefehlshaber.« Nur-Jehan führte sie auf einem engen Felsenpfad zu einer Lichtung, wo Packtiere und Ersatzpferde auf der mageren Weide grasten. Lukas stieß einen erstaunten Ruf aus: Auf einem Gepäckstapel saß Haki und grinste über das ganze Gesicht. »Es ist schön, dich wiederzusehen, al-Ukash, und auch den Großwesir Kayim. Wer ist der große Abadani an deiner Seite? Ach ja, der Hauptmann der Strafkompanie. Sehr gut! Jetzt sind wir alle wieder glücklich und friedlich vereint.«
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Lukas schlug ihm auf die Schulter. »Ich wußte, daß du früher oder später auftauchen würdest, aber bei den Reitern der Bishangaris hätte ich dich nicht vermutet.« »Du kleiner Schurke!« begrüßte ihn auch Kayim. »Wie ist es dir geglückt, uns zu finden?« »Ich hatte euch gar nicht verloren«, sagte Haki. »Ich folgte euch die ganze Zeit. Als ich dich bei den Abadanis sah, hielt ich es für das beste, vorauszueilen und meine Freunde zu dir zu führen. Du hast ohnedies den richtigen Weg gefunden; ich hätte dich nicht besser führen können. Jetzt ist alles gut! Mein Onkel Sahlik wird froh sein, zu erfahren, daß al-Ukash uns nicht belogen hat. Anderenfalls hätte es nämlich für dich wie uns schlimme Folgen gegeben.« Wie zur Bestätigung zog Haki ein langes Messer aus dem Stiefel. Lukas mußte lachen. »Ich verstehe, was du meinst. Und du hättest tatsächlich diese Waffe gegen mich gerichtet, wäre ich nicht der König von Abadan?« »… Aber wo denkst du hin, al-Ukash?« protestierte Haki. »Niemals! Nie könnte ich so meinem Wohltäter begegnen. Nein, ich hätte eben einen anderen gefunden, der dich tötet. Ja, das ist meine Waffe! Ich bin nämlich jetzt ein Soldat der Bishangaris. In mein Dorf kann ich nicht zurück, also bleibe ich weiterhin bei euch. Ich muß für die Pferde sorgen und bin sehr beschäftigt, wir werden aber trotzdem oft füreinander Zeit finden. Mein Bruder Yussuf wird auf mich stolz sein. Habe ich dir eigentlich schon von meinem Bruder Yussuf erzählt?« »Hör auf! Hör auf!« rief Kayim und stopfte sich die Finger in die Ohren. »Es ist schön, dich wiederzusehen, aber noch schöner wäre es, wenn du zwischendurch den Mund halten 189
könntest. Sonst gehen dir am Ende die Worte aus, ehe du erwachsen wirst.« Nur-Jehan forderte sie auf, Platz zu nehmen. »Sobald unsere Unterredung beendet ist, soll Osman mit seinen Männern sprechen. Zuvor hört mich an und bedenkt, was ich euch zu sagen habe.« Sie zögerte kurz und blickte dann Lukas offen an. »Ich kann dich nicht zu König Ardashir bringen. Er ist tot. Schon vor vielen Jahren ist er im Kampf gefallen.« Lukas riß überrascht die Augen auf. Auch Kayim und Osman fehlten die Worte. Nur-Jehan nickte ihnen zu und richtete den Blick wieder auf Lukas. »Wir schützen dieses Geheimnis mit unseren Leben. Denn unser Leben hängt tatsächlich von ihm ab. Ich habe dir von König Neriman erzählt, und ich habe dir gesagt, daß Ardashir ihm ebenbürtig war. Die Abadanis fürchteten ihn wie keinen anderen Feind. Hätten sie also von seinem Tod erfahren, wäre ihr König – nun, da es nicht länger galt, dem großen Ardashir gegenüberzutreten – ohne Zögern in die Schlacht gezogen. Ardashir ist tot. Aber für alle Welt lebt er weiter, denn wir haben unter den Abadanis das Gerücht verbreitet, er könne jederzeit überall in Bishangar sein: im Norden wie im Süden, in den Bergen von Umm al-Raas wie in den Hügeln vor Jannat. Weil sie ihn aber nicht fanden, ihm nicht von Angesicht zu Angesicht entgegentreten konnten, begannen die Könige von Abadan Ardashir um so mehr zu fürchten. Wie sollten sie sich erklären, daß er einmal hier vermutet wurde, dann dort? Wie war es möglich, daß man ihn nie zu Gesicht bekam? Stand es am Ende in seiner Gewalt, sich unsichtbar zu machen? Dies und 190
noch mehr redeten sich die Könige von Abadan ein. Kein Bishangari hätte ihnen Schlimmeres einflüstern können – sie schufen sich den Feind in ihren eigenen Hirnen: Sie stellten sich Ardashir grausam, durchtrieben und unnachgiebig vor und erkannten nicht, daß sie ihn bloß zum Spiegel ihrer selbst gemacht hatten. Alles hielten sie für möglich, nur eines nicht: daß es jemals zwischen unseren Königreichen Frieden geben könnte.« Lukas atmete tief auf und schüttelte verwundert den Kopf. »Welch eine List! Aber wenn euch nicht König Ardashir führt, wer dann? Wer ist dieser Außergewöhnliche, dem es gelingt, Bishangar zusammenzuhalten, es zu regieren? Wer das vermag, muß selbst Ardashir an Größe übertreffen. Ihn und keinen anderen suche ich! Kannst du mich zu ihm bringen?« »Du willst zu ihm?« Ein leises Lächeln spielte um die Lippen des Mädchens. »Du mußt zu ihr. König Ardashir war mein Vater. Ich bin Nur-Jehan, die Königin von Bishangar.«
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ein Vater starb, als ich noch beinahe ein Kind war«, erzählte Nur-Jehan. »Nun lag es an mir, seiner Tochter, fortzuführen, was er mir an Wissen und Erfahrung mitgegeben hatte, aber auch als Königin eigenständig zu handeln, das Kommando im Feld zu führen und mein Volk weise zu regieren. Ich befahl, seinen Tod geheimzuhalten, denn ich ahnte, welcher Schrecken über uns hereinbrechen würde, sobald die Nachricht von seinem Ableben Abadan erreichte. Von Dorf zu Dorf eilte ich, um mich zu vergewissern, daß jeder in Bishangar wußte, was auf dem Spiel stand. Ich schwor, meinem Volk zu dienen, mein Volk schwor, das Geheimnis zu wahren – und keiner hat sein Wort gebrochen. Erkennst du nun, Lukas Kasha, was ich dir nicht zu sagen wagte? Ich mache dir keinen Vorwurf daraus, daß du schlecht von mir gedacht hast. Meinst du, es fiel mir immer leicht?« Lukas senkte den Kopf. »Ich habe nicht mit bösen Worten über dich gespart.« Dann lachte er ihr zu: »Aber schon auf dem Weg nach Turan wurde mir klar, daß du besser als ich ein
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Königreich regieren könntest. So habe ich immerhin in einem recht behalten.« »Du gestehst dir weniger zu, als dir gebührt«, erwiderte NurJehan. »Du hast mir geholfen, ohne zu wissen, wer ich bin. Ohne Dank und ohne zu ahnen, wie tief ich in deiner Schuld stand. Du hast mich befreit – denen, die mich nach meiner Gefangennahme retten wollten, war dies nicht gelungen. Nicht einmal dem unerschrockensten und klügsten Fährtensucher im ganzen Königreich.« »Das bin ich!« fiel ihr Haki ins Wort. Er saß mit gekreuzten Beinen und hatte bemerkenswert lange geschwiegen. »Du hast mir die Arbeit abgenommen, al-Ukash. Und wären nicht diese Banditen gekommen, hätte ich die Königin auch allein gefunden.« »Davon bin ich überzeugt«, sagte Lukas. »Wie schade, daß du nicht bis Shirazan gekommen bist; du hättest bestimmt die Palastmauern in Grund und Boden geplappert.« Nur-Jehan befahl ihren Truppen, sich mit der Kompanie der Abadanis zu vereinigen und gemeinsam den Weg zum Umm alRaas anzutreten. Lukas bekam ein Pferd und ritt mit Nur-Jehan an der Spitze des Zuges. »Was für einen herrlichen Streich hast du mir gespielt!« sagte er zu ihr. »Du hast mich in jeder Hinsicht übertroffen. Damals, als du in Turan mit bloßen Händen Rakush befreien wolltest, dachte ich, dir müßte man noch vieles beibringen. Heute weiß ich, wie dumm das war.« »Keineswegs, Lukas Kasha! Meinst du denn, ich hätte nichts von dir gelernt? Ohne deine Hilfe wäre mir die Flucht nach Bishangar nie geglückt. 193
Wenn ich Nahrung und Unterkunft brauchte – mehr noch für Rakush als für mich –, traf ich in Abadan immer wieder auf freundliche Menschen. Meist ahnten sie gleich, daß ich eine Bishangari bin, aber das hielt sie nicht ab. Andere freilich behandelten mich schlecht. Wie gern hätte ich da den Dolch gezogen, um meine Ehre zu retten – aber stets fiel mir recht zeitig deine Mahnung ein, und ich hörte dich wieder sagen: »Die größte Ehre ist es, am Leben zu bleiben.« So hielt ich meine Zunge und mein Temperament im Zaum. Ich bettelte im Basar um Almosen. Ich striegelte die Pferde und fegte die Ställe. Keine Arbeit war mir zu gering. Oh, ich gestehe, mein Stolz war gekränkt. Aber du hättest gesagt: »Das ist ein falscher Stolz, und ihn abzulegen ist kein Verlust.« Und ich reiste leichter ohne diese Last. Ja, Lukas Kasha, du hast mich vieles gelehrt, mehr als du weißt.« Nur-Jehan wurde von der Ankunft eines Kuriers unter brochen. Die Botschaft, die er brachte, trieb die Schar zu größerer Eile an: Die hohen Offiziere und der Kriegsrat der Bishangaris erwarteten sie bereits in der Festung auf den Höhen des Umm al-Raas. Den ganzen Tag führte die Königin von Bishangar ihre Truppen höher hinauf in die Berge. Da Lukas Osman zum Oberbefehlshaber befördert hatte, ernannte er nun Hassan zum Hauptmann seiner Kompanie. Zunächst zogen beide Gruppen friedlich hintereinander her. Als der Weg aber immer beschwer licher wurde, begannen hier wie dort Hitzköpfe zu murren. Schon fürchtete Lukas, der Waffenstillstand könnte gebrochen werden. Und wirklich gerieten bei der nächsten Rast ein Abadani und ein Bishangar so heftig in Streit, daß sie die Messer zogen. 194
Die beiden wurden überwältigt und entwaffnet. Sie beschimpften einander noch immer, als man sie vor Lukas und Nur-Jehan brachte. Der Abadani war einer von Hassans besten Männern, und obwohl niemand mit Gewißheit sagen konnte, wer begonnen hatte, forderte Hassan die Bestrafung des Bishangaris: »Er hat uns dreckige Kamele genannt! Alle haben es gehört.« »Und uns?« erwiderte zornig der Offizier der Bishangaris. »Uns nannten sie stinkende Ziegen!« Nur-Jehans Augen blitzten. »Man hat euch befohlen, Frieden zu halten. Ihr habt euch beide ungehorsam gezeigt…« Lukas unterbrach sie, nahm sie zur Seite und flüsterte ihr zu: »Überlege gut, Königin von Bishangar! Urteile mit Bedacht, sonst gibt es noch mehr Unheil.« »Das Urteil steht fest«, erwiderte Nur-Jehan. »Dein Offizier deckt einen Mann, der uns in schlechten Ruf bringen wollte. Das kann ich nicht hinnehmen. Der Soldat muß bestraft werden, ehe das Beispiel Schule macht.« »Dein Soldat hat sich auch nicht besser verhalten«, sagte Lukas. »Dann sollen beide die Peitsche spüren.« »Das hätte Schlimmeres zur Folge als zwei wundgeschlagene Rücken«, mahnte Lukas. »Verhänge diese Strafe, und unsere beiden Kompanien geraten einander über kurz oder lang an die Kehle. Warst du auch so jähzornig, als du noch Ställe ausmisten mußtest? Laß dir einen Vorschlag machen, Königin von Bishangar …«
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Als Nur-Jehan hörte, was Lukas ihr zuflüsterte, zögerte sie zuerst, nickte aber dann zustimmend und wandte sich zuletzt den beiden Sündenböcken und ihren Offizieren zu. »Der König von Abadan und ich sind in dieser Anklage übereingekommen. Ihr meint also, einer den anderen beschimpft zu haben. Wollt ihr das ernsthaft behaupten? Das Kamel ist stark, geduldig und ausdauernd; da sollte es eine Beschimpfung sein, ein Kamel genannt zu werden? Die Ziege ist gewandt und mutig, und ohne sie gäbe es weder Milch noch Käse. Ehre wird ihr erwiesen und dankbare Anerkennung. Wir befinden daher, daß ihr euch keineswegs beschimpft habt. Im Gegenteil: ihr habt einander die höchsten Komplimente gesagt.« »Und was die Bezeichnungen schmutzig und stinkend betrifft«, ergänzte Lukas lächelnd, »stellt euch doch einmal in den Windschatten und betrachtet einander. Dann merkt ihr gleich, wie recht ihr damit hattet.« »Da ihr einander also gerühmt habt«, sagte Nur-Jehan, »ist dies ein Anlaß der Freude, nicht zur Bestrafung. So erkläre ich feierlich: Von nun an sollen sich die Bishangaris voll Stolz Bergziegen der Königin nennen – und die Abadanis Königliche Kamele.« »Und bei nächster Gelegenheit«, ergänzte Lukas, »sollten wir uns alle gründlich waschen.« Von diesem Tag an brachte jeder Zwischenfall die beiden Kompanien nicht länger gegeneinander auf, sondern trug zur Versöhnung bei. Ein rauher Scherz, der noch vor kurzem die Messer zum Blitzen gebracht hätte, löste jetzt schallendes Gelächter aus. Je
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mehr die Männer einander hänselten, um so fester wuchs ihre Freundschaft. »Ich habe noch immer viel von dir zu lernen«, räumte NurJehan ein. »Nur zu!« erwiderte Lukas. »Mit Geduld und Hingabe bist du dann eines Tages ein ebenso großer Strolch wie ich.« Der Umm al-Raas überragte alle anderen Berge in Bishangar. Als sie endlich seinen Gipfel erreicht hatten, führte Nur-Jehan die Truppen zu der größten Höhle, die Lukas je gesehen hatte. Meilenweit erstreckten sich ihre zahllosen Hallen, Gänge und Kammern in den Berg. Manche hatte die Natur gebildet, andere hatte man aus dem nackten Felsen geschlagen. Viele Wände waren über und über mit Edelsteinen bedeckt; und selbst im trüben Flackern einer Öllampe erstrahlten sie so hell, daß Lukas geblendet die Augen abwenden mußte. »Darauf also hat Shugdad es abgesehen!« sagte er und verzog verächtlich das Gesicht. »Was für ein Narr er doch ist! Er hungert nach Schätzen, weil sie selten und somit kostbar sind. Hier liegen die Schätze zuhauf, also geht ihr Wert verloren. Die Kinder in Sahliks Dorf sind klüger als Shugdad: In einem Land, das von Edelsteinen strotzt, ist es am klügsten, mit ihnen im Sand zu spielen.« »Du hast recht«, sagte Kayim und seufzte. »Nie hätte ich geglaubt, eines Tages mit eigenen Augen die Reichtümer zu erblicken, die ich sonst nur aus den Märchen kenne. Und jetzt, wo mir das endlich gelungen ist, habe ich keine Lust mehr, ein reicher Mann zu werden: Von Juwelen zu erzählen,
bringt mir Freude und Genuß,
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Edelsteinen nachzuweinen,
schafft nur Reue und Verdruß.«
Die hohen Offiziere der Bishangaris hatten sich bereits in einem der großen Säle versammelt, als die Königin mit ihrer Begleitung eintraf. Fackeln erhellten den Raum, ein Diwan stand bereit, Landkarten waren auf dem Boden ausgebreitet. Lukas fiel auf, daß zu Nur-Jehans Oberstem Kriegsrat auch einige Frauen gehörten; sie waren nicht besser als gewöhnliche Soldaten gekleidet. Die Königin wurde von Zurak empfangen, einem vielerfahrenen Graubart mit ausgeprägten Zügen. Zurak war Ardashirs engster Gefährte gewesen. Haki war es gelungen, mitzukommen. Als er einen Jungen von knapp fünfzehn Jahren im Raum entdeckte, lief er mit einem Freudenschrei auf ihn zu und umarmte ihn herzlich. Dann bat er Lukas, zu kommen und sagte: »Al-Ukash, dies ist mein Bruder Yussuf!« Der Jüngling hatte die gleichen grauen Augen wie sein Bruder, war aber glücklicherweise weniger gesprächig. Er dankte Lukas für Hakis Rettung. Dann wurde sein Gesicht wieder ernst, und er beugte sich erneut über die Landkarten. »Was soll das?« raunte Lukas Nur-Jehan zu. »Gehören auch Kinder zu deinem Kriegsrat?« »Diesmal bist du es, der zu hastig spricht«, antwortete sie. »Yussuf ist einer meiner besten Offiziere.« Alles versammelte sich nun um die Karten. Nur Haki mußte, obwohl er heftig dagegen protestierte, zu seinem Platz bei den Pferden zurück. 198
Nur-Jehan gab einen kurzen, aber umfassenden Bericht, stellte Lukas vor und erklärte, in welcher Absicht er gekommen sei. Dann schilderte Lukas die Ereignisse in Jannat. »Vieles war uns bereits bekannt«, sagte eine Frau, deren schwarzes Haar ähnlich dem der Königin zu einem Zopf geflochten und um das Haupt gebunden war. »Wir haben auch erfahren, daß der König von Abadan in Jannat gefangengehalten war.« »Was ist aus Nahdir Aga geworden?« wollte Lukas wissen. »Wir verließen das Haus von Namash, als das Feuer ausbrach. Ich weiß nicht, was danach geschah.« »Nahdir ist tot. Für ihn wurde kein Nachfolger bestimmt. Shugdad Mirza hat den Oberbefehl übernommen. Er befindet sich mit dem größten Teil seiner Streitmacht kaum einen Tages marsch von hier.« »Ihr werdet es doch nicht zum Kampf kommen lassen?« rief Lukas. »Euer einziger Vorteil liegt in der raschen Beweglich keit. Zieht eure Kompanien zurück, sonst müßt ihr, fürchte ich, mit hohen Verlusten rechnen.« Nur-Jehan und Yussuf hatten über einer der Karten gebrütet. Jetzt richtete sich die Königin auf und sagte mit tonloser Stimme: »Wir müssen mit viel Schlimmerem rechnen als mit hohen Verlusten. Unsere Dorfbewohner haben ihre Siedlungen aufgegeben und sind in die Täler rund um den Umm al-Raas geflohen. Aber auch dort finden sie kaum Zuflucht. Sie sind schutzlos wie wir. Shugdad hat uns besiegt.«
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ukas musterte die grimmigen Gesichter der Ratsmitglieder und wandte sich dann an Nur-Jehan: »Wie kannst du behaupten, besiegt zu sein? Bisher haben deine Leute ja noch nicht einmal versucht, Shugdad aufzuhalten.« Nur-Jehan gab darauf keine Antwort, aber Yussuf winkte Lukas näher an die Karte heran. Yussufs graue Augen waren kalt und voll Bitterkeit, als er mit der Spitze seines Dolches die Linien nachzog, mit denen die Karte bedeckt war: »Dem König von Abadan ist wohl nicht bekannt, welche Aufstellung Shugdads Armee genommen hat. Hier, von Jannat al-Khuld…« »Ich kenne Shugdads Pläne nicht«, unterbrach ihn Lukas. »Aber ich will einfach nicht glauben, daß er euch kampflos besiegt hat.« »Yussuf versucht dir zu erklären«, warf Nur-Jehan ein, »daß eine Schlacht nichts am Ergebnis ändern würde. Damit hat er leider recht. Unsere große, unsere einzige Stärke besteht darin, überraschend zuzuschlagen – einmal hier, gleich darauf dort –, um uns sofort wieder zurückzuziehen. Shugdad aber will uns zur offenen Schlacht zwingen, und da wir ihm rein zahlenmäßig 200
unterlegen sind, müssen wir den Kampf verlieren. Darauf beruht Shugdads Plan.« »Dann geht eben nicht darauf ein!« erwiderte Lukas. »Kämpft weiter wie bisher.« Nur-Jehan schüttelte den Kopf. »So einfach geht das nicht. Shugdad ist mit einer großen Streitmacht in den Ramayan eingerückt. Sie erstreckt sich von Jannat bis zum Umm al-Raas. Bald hat er die Hochebene am Fuß des Berges erreicht. Dort wird er uns zur Schlacht herausfordern. Stellen wir uns zum Kampf, müssen wir es dort tun.« Lukas runzelte die Stirn. »Und wenn ihr es nicht tut…?« » … dann wird Shugdad ganz Bishangar mit seinen Soldaten überrennen. Ob er den Umm al-Raas gleich einnimmt oder vorerst bloß belagert, ändert nichts daran, daß Bishangar in zwei Teile geschnitten wird. Unsere Reiterei und unsere beschei denen Fußtruppen können ihn daran nicht hindern. Was vermag schon eine Stechmücke? Ihr Biß schmerzt ein wenig, aber man wischt sie mit dem Handrücken fort.« »So schätzen wir also die Lage ein«, sagte Yussuf. »Und der König von Abadan würde auch von seinen eigenen Offizieren oder seinem Wesir keine andere Darstellung hören.« »Ich bin zum Reimeschmied geboren, am Schlachtfeld hab ich nichts verloren«, ging Kayim auf den Wink ein. »Ich merke bloß, daß ihr vom Krieg sprecht, wie von einer Schachpartie: Ihr zeichnet Linien in die Karten und redet von Angriff und Verteidigung. Sollten wir uns nicht besser fragen, was wir tatsächlich tun können?«
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»Wir werden vor allem eines tun, mein Abadani«, antwortete der graubärtige Zurak rauh, »wir werden hingehen und sterben. Unsere einzige Wahl ist, noch in dieser Stunde gegen Shugdads Armee vorzurücken und ohne Rücksicht auf Verluste mit allen unseren Kräften auf sie einzuschlagen, um möglichst viele Gegner zu töten. Meine Kompanien, das verspreche ich, werden dabei ihren Mann stehen.« Nur-Jehan blieb stumm, aber Yussuf nickte, und auch die anderen Offiziere der Bishangaris stimmten Zurak zu. »Halt!« rief Lukas. »Ihr sprecht davon, euer eigenes Leben zu opfern. Und das der Abadanis?« Yussuf wandte sich ihm mit einem kalten Lächeln zu. »Der König scheint nicht zu wissen, worin das Wesen des Kriegs besteht: darin, den Feind zu vernichten. Ich versichere dir, daß die Abadanis in großer Zahl sterben werden.« »Sie sind meine Untertanen!« entgegnete Lukas. »Und ihr wollt sie umbringen. Dafür bin ich nicht hierhergekommen. Ich möchte die Menschen leben, nicht sterben sehen.« »Und wie willst du das erreichen?« fragte eine der Frauen ärgerlich. »Auf welcher Seite stehst du, König?« »Er denkt nur an seine Abadanis«, entfuhr es Zurak. »Das hat er selbst zugegeben. Er hat in diesem Kriegsrat nichts zu suchen.« »Ja, seid ihr denn bloß darauf aus, einander umzubringen?« rief Lukas. »Immer redet ihr nur davon, euer Leben hinzugeben. Welcher Edelmut! Welches Heldentum! Immer wieder bekomme ich das zu hören. Man könnte beinahe glauben, ihr findet Gefallen daran. Wollt ihr denn wirklich Krieg? Könnt ihr an nichts anderes mehr denken?« 202
»Der Krieg, mein Freund«, brummte Kayim, »dürfte das einzige sein, wofür im Hirn eines Schlachtenplaners Platz ist; ganz gleich, auf welcher Seite er zufällig steht.« »Der König von Abadan hat offenbar einen Ausweg gefun den, der meiner Aufmerksamkeit entging.« Yussuf verneigte sich spöttisch in geheuchelter Ehrfurcht. »Gewährt uns der König die Gnade der Erleuchtung?« »Mein lieber Yussuf«, erwiderte Lukas, »ich zweifle nicht an der Verläßlichkeit deiner Karten und deiner Vorhersagen. Mein Hofastrologe würde sie noch besser verstehen als ich. Am wenigsten zweifle ich an eurem Mut. Es gibt aber Zeiten, in denen Tapferkeit allein nichts einbringt. Euch fehlt, was meiner Art viel eher entspricht. Anders gesagt – wo ich herkomme, gibt es ein Sprichwort, das lautet: »Man darf die Kuh nicht schlachten, wenn man ihre Milch trinken will«.« Zurak schnaubte zornig. »Wir sprechen vom Sterben, und der König von Abadan redet von Kühen.« »Du hast mich vieles gelehrt«, sagte Nur-Jehan zu Lukas. »Willst du mir nun auch beibringen, wie man sein Leben verliert?« »Ich will dir beibringen, wie man es behält – oder das zumindest versucht«, erwiderte Lukas. »Mit den Königlichen Kamelen allein ist das aber nicht getan. Gebt mir eure Bergziegen dazu.« »Der König wollte soeben Kühe melken«, sagte Zurak. »Versteht er denn auch etwas von Kamelen und Ziegen?« »Ich spreche von meiner eigenen Kompanie und der Truppe der Königin«, erklärte Lukas. »Wenn wir sofort aufbrechen, können wir Shugdad begegnen, ehe er die Hochebene erreicht.« 203
»Mit dieser kleinen Schar schlägst du keine Armee in die Flucht«, warf Yussuf ein. »Ich kenne Shugdad«, antwortete Lukas. »Zumindest hoffe ich, ihn zu kennen. Nein, ich erwarte nicht, seine Armee in die Flucht zu schlagen, obwohl ich es versuchen werde. Aber es gibt einen Weg, ihm selbst, diesem Shugdad, das Laufen zu lehren und bei dieser Gelegenheit seiner Armee zu beweisen, daß ich noch lebe. Ich will dem Stier das rote Tuch zeigen.« »Erst Kühe, dann Kamele und Ziegen«, grollte Zurak, »und jetzt ein Stier. Du sprichst in Rätseln.« »Dann will ich es anders sagen«, erwiderte Lukas. »Ich biete Shugdad den einzigen Köder an, nach dem er bedenkenlos schnappt: Kasha, den König von Abadan.« Das Hochland von Umm al-Raas war in Terrassen abgestuft. Lukas hatte es zunächst für eine glatte und flache Ebene gehalten. Als er aber jetzt vom Fuß des Berges zur felsigen Paßhöhe ritt, erkannte er, daß der Boden an manchen Stellen mit riesigen Steinplatten bedeckt war, die halb in der Erde steckten. Hier gab es kaum noch Bäume; nur einige Reihen armseliger Buchen zogen sich in weitem Bogen hin. Lukas befahl Hassans Kompanie und der Truppe der Bishangaris, in ihrem Schutz Aufstellung zu nehmen, während er sein Pferd bis an den äußersten Rand des Wäldchens traben ließ. Rakush stampfte unruhig und hielt den Kopf dicht über den Boden. Nur-Jehan hatte darauf bestanden, daß Lukas ihr Lieblingspferd nahm: »Rakush wird dir willig gehorchen«, hatte sie gesagt. »Er ist mir so teuer wie mein eigenes Leben. So teuer wie der Mann, der ihn reitet.« 204
Haki, zum ersten Mal sprachlos geworden, hatte daraufhin den Hengst unverzüglich gesattelt. Das Versteck der beiden Kompanien war gut gewählt. Auch Kayim wartete hinter den Bäumen; er hatte darauf bestanden, mitzukommen, wenngleich er mittlerweile wohl von Minute zu Minute herzhafter jammerte. Osman und Hassan führten die Abadanis an; Haki, sein Bruder Yussuf und Zurak hielten sich an Nur-Jehans Seite – wie Lukas annahm, nicht nur, um die Königin zu schützen, sondern vor allem, weil sie den Abadanis und ihm selbst noch immer nicht ganz trauten. Der Kriegsrat der Königin hatte den Plan zunächst abgelehnt. Erst nach langem Zögern fand Lukas Zustimmung. Zuletzt räumte sogar Zurak ein, daß das Wagnis gelingen könne. Auch beschwor der Rat die Königin, in den sicheren Höhlen zu bleiben, und diesmal war Lukas der gleichen Meinung – aber natürlich hatte Nur-Jehan doch wieder ihren Kopf durchgesetzt. Und nun war Lukas hier und wartete, den Blick unverwandt zu den Felsklippen gerichtet. Die Sonne zeichnete flirrende Muster auf den Waldboden. Obwohl das Laubwerk gegen die Hitze schützte, war Lukas in Schweiß gebadet; seine Beine schmerzten. Spähtrupps hatten berichtet, daß Shugdad und seine Vorhut nur noch eine knappe Wegstunde entfernt waren. Wo blieben sie nur? Je länger er wartete, um so mehr fürchtete Lukas, Shugdad könnte angehalten oder im letzten Augenblick eine andere Marschroute gewählt haben. Schon wollte Lukas absteigen, um sich zu Fuß weiterzuwagen, da zuckte er zurück, und der Atem stockte ihm: Unvermittelt war die Vorhut am Rand der Ebene aufgetaucht. An der Spitze, von seinen Offizieren begleitet, ritt Shugdad auf 205
einem goldenen Hengst. Die Flanken des Pferdes und der Brustpanzer des Wesirs glänzten in der Sonne. Shugdad riß am Zügel, hielt den Hengst an und musterte sorgfältig das steinige Gelände ringsum. Lukas erstarrte im Sattel: Shugdad wies nicht nach Umm al-Raas, sondern zu den Bäumen hinüber. Zutiefst erschrocken erriet Lukas die Absicht des Großwesirs, zunächst die Hauptstreitmacht heranzuführen und den Wald zu besetzen. Schon wendeten ein Hauptmann und ein Fahnenträger ihre Rosse und ritten durch den Engpaß zurück. Lukas durfte nicht länger zögern. Er stieß Rakush die Fersen in die Flanken und klammerte sich mit aller Kraft fest, als der Hengst aus den Buchen preschte und geradewegs auf den Großwesir zugaloppierte. Shugdads Pferd bäumte sich auf. Die Offiziere stießen einen Ruf der Überraschung aus; einer zog beim Anblick des einsamen Reiters, der sich ihnen wie im Sturmwind näherte, sogar das Schwert. Lukas riß Rakush erst herum, als er sicher war, daß der Großwesir ihn deutlich genug sehen konnte. Und Shugdad erkannte ihn augenblicklich. Lukas sah, wie das bärtige Gesicht sich vor Wut verzerrte; er hörte ihn auf brüllen. Jede Vorsicht in den Wind schlagend, riß der Großwesir sein Schwert aus der Scheide und nahm die Verfolgung auf. Als Lukas den Waldrand beinahe erreicht hatte, wendete er Rakush abermals. Der Großwesir, der seinen Offizieren bereits weit vorausgeeilt war, sollte ihn in voller Größe sehen. Shugdad nahm auch diese Herausforderung an und zwang sein Pferd zu noch rascherem Lauf. Lukas ging eiligst hinter den Bäumen in Deckung, und Shugdad hetzte ihm nach.
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Nun sollten nach dem Plan Nur-Jehans und Hassans Gruppen hinter dem Großwesir aufschließen, die einen, um ihm den Rückzug abzuschneiden, die anderen, um die Vorhut am Weiterrücken zu hindern. Gelang es auf diese Weise, den Großwesir gefangenzunehmen, würden die Bishangaris ohne Blutvergießen wertvolle Zeit gewinnen; denn Lukas hatte die Absicht, alles auf eine Karte zu setzen: Er hoffte, daß die Armee von Abadan nicht dem Verräter Shugdad gehorchen würde, sondern ihrem wahren König Kasha. Aber als sich seine Leute nicht blicken ließen, mußte Lukas entsetzt erkennen, daß er selbst den Plan vereitelt hatte: Er hatte nicht dicht beim Versteck der Truppe, sondern weitab davon den Wald erreicht. Statt seiner Rettung entgegenzureiten, entfernte er sich nun immer weiter von ihr. Verzweifelt versuchte er, Rakush herumzureißen, doch da scheute der Hengst vor einer Gruppe von Baumstämmen, die im Weg lagen, bäumte sich auf, und Lukas stürzte aus dem Sattel. Sein Fuß blieb im Steigbügel hängen. Erst als Rakush erkannte, daß er seinen Reiter hinter sich herschleifte, blieb er sofort stehen. Shugdad war indessen in den Wald vorgedrungen. Er stieß einen triumphierenden Schrei aus, als er den halb betäubten Lukas erblickte, der vergeblich versuchte, sich aus seiner hilflosen Lage zu befreien. Der Wesir sprang vom Pferd. Mit blitzendem Schwert stürzte er Lukas entgegen. In diesem Augenblick brach ein Reiter durch das Unterholz. Lukas, noch kaum auf den Beinen, konnte ihn nicht erkennen. Er sah nur eine schemenhafte Gestalt, die vom Pferd sprang und auf ihn und den Wesir zurannte. Schon holte Shugdad zum Schlag aus. Als er jedoch hinter seinem Rücken einen Schrei 207
hörte, riß es ihn herum, er schwang seine Waffe dem neuen Angreifer entgegen und schlug ihm mit einem wuchtigen Hieb das Schwert aus der Hand. »Osman!« brüllte Lukas erschrocken und wollte seinem Gefährten zur Hilfe eilen, aber Osman rief ihm zu: »Reite los, König von Abadan! Die Armee hat die Ebene erreicht. Gib dich ihr zu erkennen! Rasch! Noch ist es nicht zu spät!« Osmans Aufforderung traf Lukas wie ein Faustschlag, und ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, sprang er auf den Rücken des Pferdes und galoppierte dem Waldrand zu. Schon drängte die Vorhut der Abadanis durch die enge Felsenpforte. Lukas eilte den Soldaten entgegen; da vernahm er hinter sich neuerlich Huf schlage. Als er Rakush herumriß, kam ihm aber nicht der Großwesir entgegen, sondern Osman. Sein Gesicht war blutüberströmt. Er überholte Lukas in vollem Lauf und rief ihm zu, ihm zu folgen. Osman hielt erst knapp vor den ersten Reihen der Abadanis. Nur einige wichen zurück; die anderen zogen die Schwerter und hoben die Lanzen. Unerschrocken rief Osman ihnen entgegen, daß seine Stimme von den Felswänden widerhallte: »König Kasha lebt! Der wahre König lebt!« Er langte hinter sich in den Sattel, packte einen Gegenstand und schwenkte ihn hoch über dem Kopf. Daraufhin brach unter den Abadanis ein Stimmen gewirr aus und schwoll an. »Wollt ihr König Kasha folgen?« brüllte Osman. Er schleuderte den Gegenstand in ihre Mitte. »Oder gehorcht ihr lieber diesem abgehackten Schädel?«
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Jetzt erst erkannte Lukas, was Osman zuvor an den Haaren gehalten und über dem Kopf geschwungen hatte. Er wandte angewidert den Blick ab; sein Magen verkrampfte sich. Laute Stimmen riefen seinen Namen.
Nur-Jehan ritt ihm entgegen; Kayim war an ihrer Seite.
Es dauerte eine Weile, bis Lukas begriff, was geschehen war.
»Gewonnen?« flüsterte er. »Ja, ich glaube, wir haben
gewonnen.«
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uf König Kashas Befehl zog sich die Armee von Abadan nach Jannat zurück, wo sie Nahrung und Ausrüstung für die Heimreise erhalten sollte. Königin Nur-Jehan beorderte ihre Truppe ebenfalls zurück und ließ sie jenseits des Umm al-Raas lagern. Der Krieg war beendet, noch ehe er begonnen hatte; aber auf Lukas wartete neue Arbeit. Zwei Tage lang war Nur-Jehan ständig von ihren Offizieren und Ratgebern umzingelt. Auch ihn überhäufte man derart mit Dokumenten, Anordnungen und Staatspapieren, daß er kaum Zeit zum Essen und Schlafen fand. »Wenn du mein Großwesir bleiben willst«, warnte Lukas Kayim, »mußt du auch wie ein Wesir arbeiten.« »Reicht es denn nicht, daß wir einen Krieg gewonnen haben?« murrte Kayim. »Dafür könnte man uns wenigstens einen freien Tag geben! Noch mehr Briefe unterschreiben? Nein, das lasse ich jetzt bleiben! Meine Finger brauchen Ruh, meine Augen fallen zu.«
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Die Bishangaris schickten sich an, in ihre verlassenen Dörfer zurückzukehren. Neben Sahlik und Mariam tauchten Hakis Verwandte in so großer Zahl auf, daß Lukas den Eindruck hatte, sie machten die halbe Bevölkerung von Bishangar aus. Der Junge plapperte sich heiser, weil er immer wieder die Helden taten seines Wohltäters preisen mußte. Osman wurde in Mariams Obhut übergeben. Sie sollte ihn gesundpflegen, denn sie verstand von der Heilkunst mehr als jeder Bader in Abadan. »Du hast mir das Leben gerettet, Osman«, dankte ihm Lukas beim Abschied. »Und nicht nur mir.« »Und du, König von Abadan, hast mir das meine zurück gegeben.« Lukas ließ dafür Sorge tragen, daß Osman auf einer Trag bahre nach Shirazan zurückgebracht wurde. Die Königlichen Kamele und die Bergziegen der Königin sollten Lukas und Kayim zum Palast eskortieren. Zuvor aber mußte der Friedensvertrag unterzeichnet werden. Bis an die Schultern mit Dokumenten beladen, die der Siegel beider Königreiche bedurften, machte sich Lukas auf den Weg zu Nur-Jehans Ratskammer. Dort warteten die Offiziere beider Länder bereits darauf, zu erfahren, wen der König zu Botschaftern ernennen würde. »Ich lasse zwei Würdenträger aus Shirazan kommen«, sagte Lukas zu Nur-Jehan. »Und ich dachte, Zurak und Yussuf könnten Bishangar in meinem Palast vertreten. Auch Haki soll mitkommen und seinem Bruder helfen …« Lukas unterbrach sich. »Was soll das ganze? Der Krieg ist vorbei! Wir sollten endlich feiern! Wir sollten lachen und tanzen, statt wie ausgestopfte Eulen dazuhocken.« 211
»Noch geht es um wichtige Dinge«, schränkte Nur-Jehan ein. »Sie müssen erledigt werden.« »Das werden sie auch – früher oder später«, sagte Lukas. »Ich frage mich ja bloß, warum wir immer nur Zeit für die Arbeit haben sollen und nie für uns selbst. Nein, genug ist genug! Zum Teufel mit dem Zeug!« Und er ließ den Berg von Pergamenten durch die Luft flattern. »Hinaus! Hinaus mit euch allen!« rief er den Offizieren zu. Erschrocken ergriffen sie im Hagel der herumflatternden Staatspapiere die Flucht. Die Königin von Bishangar gab zwar vor, energisch zu widersprechen – aber Lukas sah, daß sie hinter vorgehaltener Hand lachte. »Habe ich nicht recht?« fragte Lukas. »Darf denn nicht einmal ein König tun und lassen, was er will?« »Er am allerwenigsten«, erwiderte Nur-Jehan und seufzte. Lukas nickte betrübt. »Ich fürchte, das stimmt. Also gut. Ich habe dir beigebracht, wie man ein Strolch wird; jetzt mußt eben du mir beibringen, wie man ein König wird. In meiner ersten Amtszeit habe ich mich ja nicht besonders geschickt angestellt. Nun läßt sich aber die zweite kaum besser an.« Nur-Jehan widersprach ihm: »Du hast bereits erreicht, was noch keinem König von Abadan gelang – und das ohne Blut vergießen.« »Und was ist mit Shugdads Blut? Ich wollte ihn gefangen nehmen, nicht töten.« »Wiegt denn der Preis eines einzigen Menschenlebens so schwer?« 212
»Ich frage mich«, sagte Lukas, »ob nicht vielleicht schon ein einziges Opfer zuviel ist. Und wie viele Menschen sind bereits in all der Zeit geopfert worden – und wie viele werden es noch sein? Wer weiß denn, was geschieht, wenn es uns beide nicht mehr gibt? Du lebst in einer gefährlichen Welt. Ach ja, jetzt ist es ja auch die meine. Ich habe ganz den Gedanken aufgegeben, daß Battisto mich einmal in meine Heimat zurückholen wird. Dabei sehne ich mich noch immer nach ihr. Dem Bäckerjungen eine Torte abzuluchsen oder den Bürgermeister zur Weißglut zu bringen, das ist nicht so schwierig, wie ein Königreich zu regieren … Da mir aber keine Wahl bleibt, mache ich eben das Beste daraus. Ich will versuchen, ein richtiger König zu werden – aber ich glaube nicht, daß ich viel Spaß daran haben werde.« Nur-Jehan zog aus den Falten ihres Gewandes den edelsteingeschmückten Dolch und überreichte ihn Lukas. »Hier, nimm ihn. Er gehört dir. Ich hätte ihn längst zurückgeben sollen.« »Du hast ihn nicht auf der Flucht verkauft?« fragte Lukas überrascht. »Du hättest dafür viel Geld bekommen!« Er grinste. »Das Stallausmisten wäre dir jedenfalls erspart geblieben.« »Da der Dolch dir gehört«, sagte Nur-Jehan, »konnte ich ihn nicht aus der Hand geben. Nimm ihn, ehe wir uns trennen, König von Abadan.« »Wir? Uns trennen?« erwiderte Lukas erschrocken. »Ja, warum denn? Warum legen wir nicht einfach unsere beiden Königreiche zusammen? Dann könnten wir sie auch gemeinsam regieren!«
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»Ich werde das reiflich erwägen«, sagte Nur-Jehan. »Aber wahrscheinlich bin ich in meinen Entscheidungen so wenig frei wie du.« »Dann komm wenigstens nach Shirazan«, drängte Lukas. »Zu einem Staatsbesuch.« Nur-Jehan lächelte. »Wenn ich komme, dann aus Freund schaft, nicht als Königin von Bishangar, das verspreche ich dir. Lebe wohl! Ziehe in Frieden!« Mit fürstlichem Gefolge erreichte Lukas in zwei Tagen Jannat al-Khuld. In Kayims Begleitung ritt er geradewegs zum Haus von Namash. Sein Herz sank bei dem Anblick, der sich ihm bot. Das Feuer hatte schlimmer gewütet, als er gedacht hatte: Die Mauern waren geschwärzt und geborsten; Schutthalden bedeckten den Hof. Eine einsame Gestalt bewegte sich zwischen den Trümmern. Als der Mann Lukas erblickte, eilte er ihm entgegen, warf sich vor ihm auf die Knie und rief: »Mittelpunkt des Weltalls! Möge dein Schatten nie schwinden! Vergib mir! Sei gnädig! Ich ahnte doch nicht, wer du bist.« Lukas blickte ihn überrascht an. »Katir! Was führt dich hierher?« Der Pferdehändler preßte die Stirn in den Staub. »Trachte mir nicht nach dem Leben! Ach, wäre mir doch meine verfluchte Zunge ausgefallen, als ich dich einen Schwindler nannte! Verzeih mir, mein König!« »Ich muß dich um Verzeihung bitten«, sagte Lukas. »Ich habe dir ein Pferd abgeluchst. Es war zwar nicht deines, und ich tat es für einen guten Zweck, aber nichtsdestoweniger habe ich dich beschwindelt und stehe in deiner Schuld.«
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»Mittelpunkt des Weltalls!« erwiderte Katir. »Du schuldest mir nichts.« »Oh, doch, vor allem, weil ich dir soviel Unsinn eingeredet habe. Kein Wunder, daß du auf mich wütend wurdest. Ein Pferd, das einen Schatz finden kann!« »Dafür wollte ich dir schon bei unserer letzten Begegnung danken«, erwiderte Katir. »Das Pferd hat tatsächlich einen Schatz gefunden, wenn auch einen kleineren, als du versprochen hattest. Ich folgte deinen Anweisungen und kam schließlich zu einem Baum, in dessen Rinde ein Kreis geschnitzt war. Unter seinen Wurzeln fand ich dann einen Krug mit Goldstücken. Aber keine Goldbarren! Keine Säcke mit Diamanten, wie das verlogene Biest behauptet hat! Außerdem rannten beide Pferde davon, während ich grub, und ich blieb mutterseelenallein zurück.« »Es hätte schlimmer kommen können«, warf Kayim ein. »Immerhin wurdest du mit einem Schlag ein reicher Mann.« »In drei Tagen war alles wieder dahin«, jammerte Katir. »Beim Wein, beim Glücksspiel, bei Gelagen. Dieses Roß hat uns beide betrogen, mein König. Aber ein ehrliches Pferd ist eben schwer zu finden.« »Katir«, sagte Lukas, »du glaubst doch nicht immer noch, daß ich mit den Pferden sprechen kann?« »Mehr denn je! Du bist der König, und der König kann alles.« »Ach, mein Freund«, seufzte Lukas, »wenn du nur wüßtest…«
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Indessen war aus einem behelfsmäßigen Zelt im Hof Namash herbeigekommen und drängte sich durch die Menge, die das Gefolge des Königs umringte. Lukas begrüßte ihn erfreut und drückte ihm die Hand. »Dein Haus ist zerstört, aber du sollst ein besseres bekommen. Mein Wort darauf!« »Es kann kein besseres geben«, widersprach Namash. »Du befindest dich in der ersten Karawanserei von Jannat al-Khuld, ja, von ganz Abadan!« »Als wandernder Geschichtenerzähler mußte ich schon mit manchem bescheidenen Quartier vorliebnehmen«, sagte Kayim. »Aber wenn diese Ruine eine Karawanserei sein soll, ist es in meiner Abwesenheit mit dem Gewerbe steil bergab gegangen.« »Achte nicht auf die Ruinen, sondern auf das, was bald aus ihnen werden wird«, erwiderte Namash. »In der Tat: die schönste Karawanserei! Nach dem Brand begann ich, die Trümmer wegzuräumen. Das kostete viel Schweiß und Plage. Aber welch ein Glück war es doch, daß das Haus niederbrannte! Nie hätte ich sonst den Schatz gefunden!« »Einen Schatz? Auch du?« rief Lukas. »Was war es? Gold? Edelsteine?« »Was brauche ich Gold und Edelsteine? Dies hier ist tausendmal kostbarer.« Namash führte Lukas über den Hof und erzählte: »Ich begann im Keller zu graben und bin dabei auf dies hier gestoßen.« »Was? Ein Loch?« brummte Kayim. »Ich wußte nicht, daß man mit Löchern reich werden kann.« Lukas spähte in die Grube. »Wasser! Du hast Wasser gefunden!«
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»Ja! Und es gehört zur größten unterirdischen Wasserader, die ich je gesehen habe«, sagte Namash. »Denn hier ist nicht die einzige Quelle. Ich habe am anderen Ende des Hofes eine zweite entdeckt, und dort werde ich einen Brunnen errichten. Den größten und schönsten von ganz Jannat. Sobald das getan ist, wird jeder Reisende im ganzen Land in meine Karawanserei kommen wollen. Katir versteht etwas von Pferden; er soll sich um die Tiere kümmern. Aber ich verstehe etwas von Wasser, und ich sage dir, hier haben wir keinen Mangel. Diese Wasserader dürfte sich unter der ganzen Stadt hinziehen. Man braucht sie bloß anzuzapfen. Wenn wir Gräben ziehen und Röhren legen, können wir das Land ringsum in einen blühenden Garten verwandeln. Jannat wird auferstehen, prächtiger als je zuvor! König von Abadan, du hast mich zum zweitenmal reich gemacht.« »Dein größter Reichtum ist dein gutes Herz«, sagte Lukas. »Und das hast du von jeher gehabt.« Aus Jannat al-Khuld ritten sie weiter nach Bayaz, wo ihnen die halbe Stadt entgegeneilte und Locman sie voll Freude begrüßte. »Von den meisten Ereignissen bin ich bereits unterrichtet«, sagte der Sterndeuter. »Nicht durch meine Berechnungen, sondern auf eine weitaus verläßlichere Weise: durch Sendboten. Wie in aller Welt hätte ich auch jemals deine Heldentaten vorhersagen können, mein großer König?« Locman lud zu einem Fest und trug eigenhändig die Speisen auf. Er wirkte geschäftig und viel zuversichtlicher als bei ihrer letzten Begegnung. Als Lukas ihn jedoch aufforderte, in den Palast zurückzukehren, schüttelte der alte Mann den Kopf. Vergib mir, mein König, aber ich bleibe lieber, wo ich bin. Ich 217
habe es endgültig aufgegeben, Prophezeiungen anzustellen. Ich könnte dir keine Hilfe sein.« »Ich brauche keine Prophezeiungen«, erwiderte Lukas, »sondern einen erfahrenen, klugen Ratgeber « »Deine eigene Erfahrung ist dein bester Ratgeber. Über den zukünftigen Lauf der Welt weiß ich nicht mehr als ein neugeborenes Kind. Es gibt keinen Plan, der nicht irgendwann von der vorgesehenen Bahn abweichen, keine Entwicklung, die sich nicht vor unseren Augen ändern könnte.« »Da magst du recht haben«, stimmte Lukas ihm zu. »Wie hätte ich voraussehen können, wohin ein einziger Schluck Wasser führen würde? Oder der Umstand, daß wir die Karawane nach Turan versäumten. Osman wollte mich töten und rettete mir schließlich das Leben. Vielleicht gibt es wirklich keinen vorbestimmten Plan – und doch greift das eine sinnvoll ins andere…« Am nächsten Morgen, nachdem sie sich ein letztesmal von Locman verabschiedet hatten, sagte Lukas zu Kayim: »Ich glaube, jetzt bin ich bereit, heimzukehren.« Kayim runzelte die Stirn. »In diese seltsame Stadt, von der du mir erzählt hast? Es steht nicht in deiner Macht, sie zu finden!« »Das weiß ich«, sagte Lukas. »Nein, ich habe an Shirazan gedacht. Ja, mein Großwesir, kehren wir heim.«
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ukas saß mit gekreuzten Beinen auf dem Felsen. Das Meer unter ihm glänzte so hell wie der Himmel. Kayim stand etwas abseits und warf Kieselsteine in die Wellen. Bis zu diesem Tag hatte Lukas kaum Zeit gefunden, auch nur die Nase aus dem Palast von Shirazan zu stecken. Am Morgen seiner Ankunft hatte er die Höflinge in größte Verwirrung gestürzt, weil er sich weigerte, die goldene Sänfte zu besteigen. Er ging, was kein König vor ihm getan hatte, zu Fuß durch die Stadt zum Palast. Und er sorgte von allem Anfang an für noch größere Verwirrung und Bestürzung: Er bestand darauf, daß alle Minister an den Ratssitzungen teilnahmen. Mit Kayims Hilfe verfaßte er eine Reihe von Aufrufen, die nicht nur alle Maßnahmen ersetzten, die Shugdad getroffen hatte, sondern auch alle die dummen Gesetze, die er selbst während seiner ersten Regentschaft erlassen hatte. Zurak und Yussuf waren als Botschafter Bishangars an den Hof gekommen. Haki, dessen Aufgabe es sein sollte, seinen Bruder zu unterstützen, war immer und überall im Palast anzutreffen, nur dann nicht, wenn man ihn brauchte. Lediglich Nur-Jehan ließ nichts von sich hören. 219
An diesem Nachmittag war Lukas plötzlich traurig und müde geworden. »Komm, Großwesir«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß die Welt in Stücke geht, wenn wir beide für eine Weile verschwinden.« Kayim stimmte freudig zu: »Eine Stunde der Rast?
Und ob mir das paßt!
Der König und sein Großwesir
verdrücken sich ganz still von hier.«
»Das wird ein Spaß!« rief Haki, der heimlich an der Tür gelauscht hatte. »Ich lasse gleich nach einem Korb mit Früchten senden. Du wirst aber jemanden brauchen, der ihn trägt. Ich komme mit!« »Besorge lieber, was dir dein Bruder aufgetragen hat«, sagte Lukas. »Gehe deinen Geschäften nach und überlasse das Nichts tun den Erwachsenen! Benimm dich ordentlich, dann gehen wir morgen zu dritt aus.« Sie ließen die Pferde satteln und ritten zu den Felsklippen. Wie Kinder lachten und scherzten sie und kletterten die Felsen empor. Nach einiger Zeit wurde Lukas aber wieder ernst. Er setzte sich auf einen Stein und blickte nachdenklich auf die Wellen. »Eines betrübt mich«, meinte er schließlich zu Kayim. »Ich nahm mir fest vor, mein Bestes zu geben. Nun, fürchte ich, habe ich wieder alles falsch gemacht.«
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»Die viele Arbeit hat wohl dein Hirn verwirrt!« widersprach der Großwesir. »Noch nie gab es einen solchen König von Abadan! Bedenke, was du alles geleistet hast!« »Gerade das meine ich ja. Früher hat sich der König kaum je um etwas gekümmert. Er rief bestenfalls einen Krieg aus und behinderte im übrigen bloß die Arbeit. Heute aber hängt jede Kleinigkeit vom König ab.« »Von wem sonst?« sagte Kayim. »Deine Untertanen waren nie glücklicher.« »Ja, aber was ich für sie leiste, sollten sie selbst für sich leisten. Der beste König von Abadan bin ich erst, wenn das Volk mich nicht mehr braucht.« »Oho, jetzt verstehe ich!« Kayim blinzelte ihm zu. »Denn wenn das Volk sich wieder um die eigenen Angelegenheiten kümmert, kann der König von Abadan endlich seinem Privat vergnügen nachgehen!« Lukas lächelte ihm zu. »Ich würde mich darüber nicht beklagen. Es wird noch eine Weile dauern, bis sich die Menschen an den Gedanken gewöhnen, aber er wird ihnen gefallen – und mir auch. Ist das nicht seltsam? Als es mich hierher verschlug, hätte ich nie gedacht, daß ich es eines Tages satt haben könnte, wie ein König zu leben.« Er wies auf den weißen Sandstrand zu ihren Füßen. »Weißt du eigentlich, daß ich damals hier an Land gespült wurde? Genau an dieser Stelle! Und hier, auf diesem Felsen, haben mich Nahdir und seine Soldaten gefangengenommen.« Lukas stand auf und trat vorsichtig an den Steilabfall heran. »Ja, hier war es. Ich frage mich, wie alles gekommen wäre, hätte nicht Locman Nahdir daran gehindert, mich zu töten. Oder wenn 221
ich dort draußen schwimmen…?«
ertrunken
wäre,
statt
ans
Ufer
zu
Er unterbrach sich und kniff die Augen zu. Etwas blitzte, weit hinten am Strand, weiß und hell in der Sonne. Wenig später sah er es deutlich: den Sand, der von den Hufen stäubte; die hochaufgerichtete Gestalt im Sattel … »Nur-Jehan!« rief Lukas und schwenkte die Arme. Jetzt hatte auch sie ihn entdeckt und trieb Rakush zum Galopp an. Nur-Jehan kam näher, rascher und immer rascher. Schon konnte Lukas ihr Gesicht erkennen: Sie lächelte und rief ihm etwas zu. Er lief ihr entgegen, taumelte und stolperte über die Steine. Ein Felsblock stand ihm im Weg – eben jener, den er vor langer Zeit mit letzter Kraft aus seiner Verankerung gerissen hatte. Als Lukas hinaufsprang, begann der Stein unter seinen Füßen nachzugeben und zu kippen. Lukas warf die Arme hoch und versuchte, sich zu retten. Kayim eilte mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. Nur-Jehan sprang vom Pferd und rannte zum Fuß der Klippe … Lukas stürzte kopfüber ins Meer. Er riß den Kopf aus dem Wasser, um Mund und Nase freizubekommen. Battisto betrachtete ihn eingehend, mit dem Anflug eines Lächelns. Lukas keuchte und blickte sich erschrocken um. Er stand auf dem Karren – mitten auf dem Marktplatz von Zara-Petra. Alles war wieder wie zuvor. Die Zeiger der Turmuhr waren kaum weitergewandert. Der Bäckerjunge hatte soeben den
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letzten Bissen seiner Pastete geschluckt und wischte sich die Krümel vom Kinn. »Battisto, was hast du mir angetan?« Der Alte schien überrascht. »Mein Freund, ich habe bloß deinen Kopf für einige Augenblicke in einen Wassertopf getaucht.« »Nein! Da war Abadan – das Meer – die Klippen. Kayim, Nur-Jehan …« Der Gaukler schüttelte das Haupt. »Ich weiß nicht, wovon du sprichst.« »Bring mich zurück! Du mußt mich zurückbringen!« Lukas versuchte, die Schüssel zu packen, aber Battisto hatte sie schon ergriffen, kippte sie und ließ den Inhalt auf das Pflaster spritzen. »Siehst du? Wasser aus eurer Pferdetränke – nicht mehr.« Indessen hatten die Zuschauer begonnen, zu pfeifen und ungeduldig in die Hände zu klatschen. Sie forderten Lukas auf, vom Karren zu springen, damit der Gaukler seine Vorstellung fortsetzen konnte. Battisto hob die Arme. »Freunde!« rief er. »Freunde! Habt doch Geduld! Ich habe soeben eine Probe meiner größten Kunst gegeben. Dieser hübsche junge Mann wird euch dies gewiß bestätigen. Und nun frage ich euch: Wer will der nächste sein? Kommt nur, kommt nur herauf!« »Was?« rief der Bäckerjunge. »Mehr kannst du nicht, als uns die Nase ins Wasser zu drücken?«
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Die Umstehenden pflichteten ihm bei. Aus der Menge erklangen Pfiffe und unzufriedene Rufe. Schon segelte ein Ei durch die Luft, verfehlte Battistos Kopf nur knapp und zerplatzte an der Karrenwand. Die Menge johlte und klatschte um so lauter, als einige stadtbekannte Taugenichtse begannen, von den Marktständen Kohlköpfe zu plündern und sie dem Gaukler entgegen zuschleudern. Der Affe sprang auf den Rücken des Maultiers. Der Wagen fuhr ruckartig an. Battisto schob den Wassertopf unter die Plane und versetzte Lukas einen Stoß, der ihn unsanft auf dem Pflaster landen ließ. »Warte!« brüllte Lukas, als der Karren davonratterte. Er wollte ihm nachlaufen, aber als er sich durch die Menge kämpfte, wurde er von den Zuschauern umringt. Einer packte ihn am Arm. »Du Schlingel! Was soll denn der Unsinn?« »Laß mich!« tobte Lukas und versuchte verzweifelt, sich loszureißen. »Er muß mich in den Palast zurückschicken!« »In den Palast?« rief der Bäckerjunge. »In welchen Palast? Hältst du dich jetzt für einen König? Das ist das Allerbeste! König Kasha!« »König Kasha?« wiederholte einer der Umstehenden und brach in Gelächter aus. Die anderen fielen ein, verneigten sich spöttisch und stießen und pufften ihn von einem zum anderen. Als es Lukas endlich gelang, ihnen zu entkommen, war der Karren längst verschwunden.
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»König Kasha! König Kasha!« gellten ihm die Schreie in den Ohren, während er den Marktplatz verließ und blindlings davonstürmte. Als er wieder zu Besinnung kam, erkannte er, daß er vor dem Laden des Zimmermanns stand. Noch immer schwirrte ihm der Kopf. Er zögerte. Dann öffnete er die Tür. Der alte Nicholas hobelte soeben ein Brett glatt. Er blickte auf. »So bald schon zurück? Jetzt behaupte bloß noch, du hättest keine Gelegenheit zu einem Streich gefunden!« Als er jedoch sah, wie verstört Lukas dreinblickte, ließ er den Hobel fallen und humpelte auf den Nichtsnutz zu. »Ja, Junge, was ist denn in dich gefahren?« Er führte Lukas zum Tisch und drückte ihn auf die Bank. »Nun, heraus mit der Sprache! Was hast du ausgefressen? Ich kann mir schon denken, daß es nichts Gutes ist. Wo bist du gewesen?« Lukas schüttelte verständnislos den Kopf. »Fort. Weit, weit fort, Nicholas.« Der Zimmermann lachte, aber nicht unfreundlich. »Wie weit bist du denn gekommen? Bis ans andere Ende der Stadt? Nun sage doch etwas, mein Junge! Jemand muß dir einen bösen Streich gespielt haben. Du bist so ungewöhnlich still.« »Ich war fort«, wiederholte Lukas. »Weit fort – und lang. Lang …« »Ach, das ist es also! Du willst etwas Eßbares aus mir herauslocken. Nun gut, es tut mir leid, daß ich dir vorhin das
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Frühstück gestrichen hab'. Ich merke schon, daß du Hunger hast.« Als Lukas aber auch das Essen zurückwies, machte sich der Zimmermann ernsthafte Sorgen. Er hockte sich neben den Jungen auf die Bank und musterte ihn bekümmert. »Es ist wahr!« sagte Lukas. »Ich bin wirklich fort gewesen. Aber ich weiß nicht einmal, wo das Land liegt – falls es sich überhaupt finden läßt…« Er beschrieb dem Zimmermann nach besten Kräften, wie Battisto ihn verzaubert hatte. »Jetzt ist mir alles klar!« Nicholas nickte erleichtert. »Du bist in einem Hauseingang eingeschlafen und hast die Geschichte geträumt.« »Nein«, widersprach Lukas. »Es war kein Traum. Es kann kein Traum gewesen sein. Alles war so – wirklich! Nur-Jehan. Kayim. Haki. Nein, es gibt sie. Es muß sie geben!« »Kayim? Nur-Jehan? Ich kenne hier keinen, der so heißt«, sagte Nicholas. »Komm, Lukas, sprich dich aus! Erzähle mir alles, was du auf dem Herzen hast.« Es dämmerte bereits, als Lukas seinen Bericht beendete. Lange noch saßen er und Nicholas schweigend in der Werkstatt, während die Schatten rings um sie wuchsen. Dann stand der Zimmermann mühsam auf und zündete die Lampe an. »Ich muß noch meine Arbeit fertig machen. Aber du wirst müde sein. Los, ins Bett mit dir! Nein, nicht auf die Hobelspäne. Du kannst im Hinterzimmer schlafen. Wenn du willst, gehört es von nun an dir.
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Heute morgen habe ich dich gefragt, ob du mein Lehrjunge werden möchtest. Jetzt frage ich dich noch einmal.« »Heute morgen«, antwortete Lukas, »hätte ich glattweg abgelehnt. Ich war mit meinem Los zufrieden; ich gab nichts darauf, jetzt hat alles für mich eine neue Bedeutung. Battisto hat ein Wunder versprochen – und er hat es an mir vollbracht.« »Was das betrifft, muß ich dir zustimmen. Ich kenne dich nun lang genug, mein Junge. Was immer dieser Gaukler mit dir angestellt oder nicht angestellt hat, du bist nicht mehr derselbe wie zuvor. Um so besser, wenn du mich fragst. Dann ziehst du also morgen hier ein und beginnst zu arbeiten.« »Nicholas, ich sage noch immer nein. Es tut mir leid, du wirst mir sehr fehlen, aber ich kann nicht bleiben.« »So ein Unsinn! Und ich dachte schon, die Wassertaufe hätte ein wenig Verstand in deinen Kopf gebracht.« »Das hat sie auch«, antwortete Lukas. »Aber ich kann nicht hierbleiben, das fühle ich. Hier werde ich stets als der größte Nichtsnutz der Stadt gelten, ganz gleich, wie ich mich anstelle. Battisto hat gesagt, er werde mein Leben ändern, und das hat er getan. Ob zum Guten oder Bösen, wird sich erst zeigen.« »Jetzt sage bloß noch, daß du diesem Scharlatan und seinem dressierten Affen nachjagen willst.« Lukas schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß ich ihn jemals wiedersehen werde. Aber das macht nichts. Ich habe mich daran gewöhnt, in Abadan zu leben; jetzt werde ich mich eben daran gewöhnen, wieder daheim zu sein.«
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»Du wirst dir dein Brot verdienen müssen«, mahnte Nicholas. »Dort – wo immer das sein mag – warst du ein König. Hier, bei uns, herrscht keine große Nachfrage nach Königen.« Lukas lachte. »Ich will schon zufrieden sein, König meiner selbst zu werden. Kayim war bloß ein wandernder Reime schmied und Märchenerzähler, aber irgendwie hat er es doch immer wieder geschafft, durchzukommen. Ich habe zwar kein Talent dazu, Reime aus dem Handgelenk zu schütteln, aber die eine oder andere Geschichte könnte ich wohl erzählen.« »Ein Geschichtenerzähler willst du werden?« grollte der Zimmermann. »Und fortgehen? Deine Freunde verlieren?« »Nicht verlieren, finden will ich sie«, sagte Lukas. »Menschen gibt es überall, und überall sind sie gleich. Irgendwo lebt auch hier eine Nur-Jehan. Und ein Kayim. Und leider wohl auch ein Shugdad und ein Nahdir. Aber wo sie sind, wo ich sie finden kann, weiß ich erst, wenn ich ihnen begegne.« Die Stadt lag noch in tiefem Schlaf, als Lukas vom Zimmermann Abschied nahm. Er brach auf, überquerte die Brücke, wandte sich der großen Landstraße zu, erreichte sie, folgte ihr und schritt kräftig aus. Bei Tagesanbruch erreichte er die ersten Häuser eines Dorfes. Er ging weiter, bis er zu einem Rasthaus kam. Der Wirt hatte soeben erst die Läden geöffnet. Der Tag versprach schön zu werden. Schon saßen die ersten Reisenden an einem Tisch im Hof. Als sie Lukas vor dem Tor stehen sahen, winkten sie ihm zu und luden ihn ein, sich zu ihnen zu setzen.
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»Nimm Platz«, sagten sie. »Du siehst aus wie einer, der von weither kommt.« »Das bin ich auch«, antwortete Lukas. »Von weiter her als jemals jemand zuvor.« »Wenn das so ist, weißt du bestimmt viel zu erzählen. Laß hören, was du zu bieten hast! Gib uns eine Geschichte mit auf den Weg. Wir wollen es dir gern vergelten. Du sollst zu essen und zu trinken haben, vielleicht auch ein Geldstück oder zwei.« »Eine Geschichte?« sagte Lukas, und sein Gesicht erhellte sich. »Mehr als eine, wenn sie euch gefällt.« Und er begann zu erzählen: »Es war einmal, im Königreich von Abadan…«
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