KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
ERIC WEISER
LEBEN UND WERK GROSSE...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
ERIC WEISER
LEBEN UND WERK GROSSER FRAUEN
V E R L A G S E B A S T I A N LUX MURNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • ÖLTEN
MADAME CURIE
Ein fünfjähriges Mädchen läßt staunend und vorsichtig die kleinen Hände über die blitzenden physikalischen Apparate ihres Vaters gleiten. Ahnt das Kind schon unbewußt, wozu es berufen ist? Die 15jährige plant, nach Paris zu fahren und Physik zu studieren. Die 25jährige führt den Plan aus. Mit 35 erhält sie den Nobelpreis. Das kleine Mädchen hieß Marie Sklodowska. Die Welt kennt sie als Madame Curie, Entdeckerin des Radiums. Wo
ein
Wille ist...
Maries Vater ist Physiklehrer an einem Warschauer Gymnasium. Sein Gehalt reicht gerade dazu aus, seine vier Kinder zu ernähren, nicht dazu, sie alle studieren zu lassen. Aber für Marie gibt es keine unüberwindlichen Schwierigkeiten: Was sie will, führt sie aus. Damit ihre ältere Schwester Bronja in Paris Medizin studieren kann, nimmt Marie in Warschau eine Stellung als Erzieherin an. Erst wenn Bronja fertig studiert hat, wird sie selbst an die Reihe kommen. „Marie Sklodowska. Gute Referenzen. Fähig. Gesuchte Stellung: Hauslehrerin. Gehalt: Vierhundert Rubel jährlich und freie Station." So lautet ihre Kartothek-Karte in der Stellenvermittlung der Warschauer Stadtbehörde. „Madame Pierre Curie. Professor an der Sorbonne. Nobelpreis für Physik. Nobelpreis für Chemie und andere hohe Auszeichnungen" steht heute auf ihrer Kartothek-Karte in den wissenschaftlichen Bibliotheken der ganzen Welt. Jahre des Wartens vergehen. Aber eines Tages ist Bronja, die ältere Schwester, fertige Ärztin und in Paris verheiratet. Marie kommt an die Reihe, in Paris Physik und Chemie zu studieren. 25jährig beginnt sie, was andere mit 18 beginnen. Deshalb muß sie sich beeilen. Sie hat keine Zeit und kein Geld, um zu kochen und zu essen und um ihre Mansarde im Universitätsviertel Quartier Latin zu heizen. Sie nährt sich von Zwieback und Obst und arbeitet bis zur 2
Erschöpfung in eisiger Kälte. Mehr als einmal versagt ihr zarter Körper den Dienst, aber ihr Wille ist stärker. Sie besteht alle Prüfungen mit Auszeichnung; man beginnt, auf diebochbegabte Studentin aufmerksam zu werden und vertraut ihr selbständige Arbeiten an. So lernt sie Pierre Curie kennen, der trotz seiner Jugend schon ein anerkannter Physiker in der Weltstadt Paris ist. Zwischen den beiden jungen Menschen zündet ein Funke von Genie zu Genie. Sie beginnen, zusammen im Laboratorium zu arbeiten, und diese Arbeit ist so harmonisch, als wäre sie nur von
Marie Curie kurz vor ihrem Tode
einem Gehirn gelenkt. Trotzdem muß Pierre ein volles Jahr um Marie werben, bevor sie sich dazu entschließt, ihn zu heiraten, in Paris zu bleiben und auf die Rückkehr in ihre geliebte polnische Heimat und zu ihrem alten Vater verzichten. Kochtopf
und
Retorte
Maries Leben bleibt bis zum Rande mit Arbeit gefüllt — aber auch mit Glück. Mit der Genauigkeit des Wissenschaftlers kocht sie Makkaroni nach dem Kochbuch und verzeichnet ihre Erfolge und Fehlschläge in der Küche mit derselben Gewissenhaftigkeit, mit der sie im Laboratorium ihre Beobachtungen niederschreibt. Wenn die Makkaroni fertig sind, vertauscht sie den Herd mit dem Bunsenbrenner, die Pfanne mit der Retorte, das Kochbuch mit der Logarithmentafel. Kurz nach der Geburt ihrer ersten Tochter Irene beginnt Marie Curie ihre Doktorarbeit über die neuentdeckten lUran-Strahlen. Sie experimentiert mit verschiedenen Mineralien und gelangt zu der Überzeugung, daß diese Strahlen von neuen, noch nicht bekannten Elementen ausgehen müssen. Die Curies wissen in diesem Augenblick, daß sie an der Schwelle einer großen wissenschaftlichen Entdeckung stehen. Aber obwohl Pierre schon Professor an der Sorbonne ist, haben sie kein richtiges Laboratorium, keine Apparate, kein Geld. Sie arbeiten in einem verfallenen, ungeheizten Schup3
pen, ohne technische Hilfsmitel, mit kaum mehr als den bloßen Händen und dem unbeugsamen Willen, dieses Geheimnis der Natur zu lüften. Dennoch gelingt es ihnen bald, ein neues Element zu finden, das Marie zu Ehren ihrer polnischen Heimat Polonium nennt. In jenem Sommer des Jahres 1898 schreibt Marie nacheinander in ihr Tagebuch: „Ich nahm acht Pfund Obst und ebensoviel Streuzucker, ließ sie zehn Minuten kochen und strich dann die Mischung durch ein feines Sieb. Das ergab 14 Gläser sehr gutes, undurchsichtiges Gelee . . . " Einige Tage später: „Irene kriecht jetzt schon sehr gut auf allen Vieren. Sie sagt Gogli, gogli, go .. ." Drei Monate später: „Irene läuft — sie kriecht nicht mehr auf allen Vieren." Dann: „Wir glauben, daß die neue radioaktive Substanz ein neues Element enthält, das wir Radium zu nennen vorschlagen." Und schließlich: „Irene hat jetzt 15 Zähne!" Sie wählt
die
Armut
Aber fünf Jahre vergehen, bevor die Curies in schwerer körperlicher Arbeit aus acht Tonnen Uranerz das erste Gramm jenes neuen Elements gewonnen haben, bevor sie eines Abends staunend und ergriffen in ihrem Schuppen sitzen, der von nichts anderem erleuchtet ist, als von den schimmernden Strahlen, die von diesem Gramm ausgehen: den Strahlen des Radiums. Marie Curie hat erreicht, was sie erreichen wollte. Sie besitzt reines Radium, kann es der Welt zeigen., kann ihr beweisen, daß es existiert. Die Zweifler unter den Wissenschaftlern müssen sich überzeugen lassen. Aber dieses erste Gramm Radium stellt Marie und Pierre vor eine schwere Entscheidung. Sollen sie ihr Verfahren für sich behalten, patentieren lassen und daran reich werden? Oder sollen sie es bekanntgeben und damit für immer auf den materiellen Ertrag ihrer Entdeckung verzichten? Pierre schwankt. Er denkt an Irene und an sein Laboratorium. Aber Marie schüttelt den Kopf: „Das wäre gegen den Geist der Wissenschaft!" So werfen sie nach kaum fünf Minuten Überlegung ein Riesenvermögen weg, das sich ihnen in diesem energiegeladenen Stoffe darbietet — und bleiben arm.
4
1903 wird ihnen der Nobelpreis für Physik verliehen. Der Geldpreis bringt finanzielle Erleichterung: Sie können Apparate anschaffen — und Marie Curie, Entdeckerin des Radiums, von dem ein Gramm eine Viertelmillion Dollar kostet, kann sich den ersten „Luxus" ihres Lebens leisten: ein Badezimmer. Aber der Nobelpreis bringt den Curies auch den Ruhm, für den sie weder Sinn noch Zeit haben, Einladungen zu Empfängen und Vorträgen, Briefe, Besucher. Sie verkriechen sich vor der Welt, werden beide immer menschenscheuer, verachten alle ihnen zugedachten persönlichen Ehrungen. Als Pierre die Auszeichnung der Ehrenlegion angeboten wird, lehnt er mit den Worten ab: „Ich brauche keine Orden. Was ich brauche, ist ein Laboratorium." Denn die Nobelpreisträger arbeiten immer noch in ihrem Schuppen. Als Marie einmal bei einem Empfang von einer Dame gefragt wird: „Darf ich Sie dem König von Griechenland vorstellen?", antwortet sie, ohne aufzublicken: „Ich wüßte nicht, wozu das gut wäre." Die Dame war ihre Gastgeberin, die Frau des Präsidenten der französischen Republik. Bis zu ihrem Tode konnte Marie nicht begreifen, warum ein französischer Beamter entsetzt ablehnte, als sie 1914 bei Kriegsbeginn ihre zahllosen Goldmedaillen zum Einschmelzen abgeben wollte. Albert Einstein sagte von ihr: „Madame Curie ist von allen berühmten Lebewesen das einzige, das der Ruhm nicht bestechen konnte." Segen
oder
Fluch?
Die Curies haben an ihren eigenen, mit Brandnarben bedeckten Händen gesehen, daß das Radium Gewebe zerstört. Als die Ärzte beginnen, mit Radium gegen den Erbfeind der Menschheit, den Krebs, vorzugehen, läßt Pierre die ersten Versuche an seinem Körper ausführen. Die Heilwirkung des Radiums ist für die Curies die Krönung ihres Werkes. Aber sie wissen, daß sie der Menschheit eine Waffe von unabsehbarer Macht in die Hand gegeben haben. Eine Waffe gegen die Krankheit, und eine Waffe der Zerstörung. „Man könnte sich vorstellen", sagte Pierre Curie 1903 in »einer Nobelpreisvorlesung, „daß das Radium in verbrecherischen Hän5
den sehr gefährlich werden könnte, und man könnte sich fragen, ob es für die Menschheit gut ist, die Geheimnisse der Natur zu kennen, ob sie reif ist, daraus Nutzen zu ziehen oder ob ihr diese Erkenntnis zum Schaden gereichen wird. Ich gehöre wie Nobel zu denen, die glauben, daß die Menschheit aus den neuen Entdeckungen mehr Gutes als Schlechtes schöpfen wird." Ein gütiges Schicksal ersparte es Pierre und Marie, den Tag zu erleben, da die erste aus ihrem Lebenswerk weiterentwickelte Atombombe viele Tausende von Menschenleben vernichtete. Allein... 1906. Marie Curie ist 39 Jahre alt, und sie ist glücklich. Sie liebt ihren Mann über alles, sie liebt ihre beiden Töchter, Irene und Eva, sie liebt ihre Arbeit und das Gramm Radium, das sie, die moderne Alchimistin, aus dem Nichts hervorgezaubert hat. Diese glückliche, lebenslustige Frau kommt eines Abends nach Hause und findet ihr Leben zerstört, vernichtet. Pierre Curie ist tot, überfahren. Marie wird über Nacht zu einer alten Frau. Sie vergräbt sich in die Arbeit, schließt sich im Laboratorium ein, hält mit tonloser Stimme ihre Antrittsvorlesung als Pierres Nachfolgerin auf dem Lehrstuhl der Pariser Universität. Marie Curie hatte drei große Lieben: Polen, Pierre und die Physik. Auf Polen mußte sie um Pierres und der Physik willen verzichten. Pierre ist ihr genommen. Die Physik ist ihr geblieben. In
den
Lazaretten
des
Krieges
1914. Wie eine Vision sieht Marie Curie den Strom von Verwundeten vor sich, der sich in die Lazarette ergießen wird. Wie eine Vision sieht sie ihre große Aufgabe: Um die Kugeln und Schrapnells aus dem Körper zu entfernen, muß man sie s e h e n können. Noch gibt es nur wenig Röntgenapparate, wenig Menschen, die mit ihnen umzugehen verstehen. Marie trennt sich von ihren Töchtern, von ihrer Arbeit und beginnt, in den Lazaretten Röntgenzimmer einzurichten und die wenigen Privatautos, die man ihr zur Verfügung stellt, in Röntgen-Krankenwagen umzuwandeln. Sie selbst fährt fast täglich mit einem solchen fahrbaren Laboratorium an die Front und hilft, wo zu helfen ist. So rettet sie über einer Million verwundeter Soldaten das Leben. 6
1918 kehrt sie an die Sorbonne zurück und nimmt ihre Arbeit dort wieder auf, wo sie sie vor vier Jahren liegen gelassen hatte. Noch immer arbeitet sie mit jenem kostbaren Gramm Radium, das sie mit Pierre zusammen in jahrelanger Arbeit isoliert hat. Noch immer ist die Entdeckerin des Radiums nicht in der Lage, ein zweites Gramm zu kaufen., das sie dringend braucht. Noch immer ist sie zu stolz, darum zu bitten. Aber eines Tages überreicht ihr der Präsident der Vereinigten Staaten, Harding, das ersehnte Gramm Radium als Geschenk der Frauen Amerikas. Opfer ihres Berufes . . . Inzwischen hat sie zum zweiten Male den Nobelpreis erhalten, diesmal für Chemie. Der Preis fällt ihr zu für die 1910 gelungene Reindarstellung des Elementes Radium aus acht Tonnen böhmischen Uranerzes. Marie Curie war die erste und einzige Frau, der der Nobelpreis für Physik verliehen wurde, der erste und einzige Mensch, der den Nobelpreis in zwei verschiedenen Fächern erhielt. Aber sie bleibt nicht die einzige Nobelpreisträgerin für Chemie. Die zweite ist im Jahre 1935 ihre ältere Tochter, ihre Schülerin und Assistentin Irene, zusammen mit ihrem Mann, dem Atomphysiker Frederic Joliot-Curie. Das Wunder Marie und Pierre hat sich wiederholt. Das Leben ist weitergegangen. Die nächste Generation ist an der Arbeit. Marie erlebt den Nobelpreis ihrer Tochter nicht mehr. Sie erkrankt kurz vorher an einer neuartigen, geheimnisvollen Blutzersetzung. Das Radium tötet seine Entdeckerin, aber es überlebt sie und macht sie unsterblich — unsterblich auch dadurch, daß die Wissenschaft der Maßeinheit der radioaktiven Strahlung den Namen der großen Forscherin gibt und diese Einheit das „Curie" nennt. Mit 67 Jahren stirbt Marie Curie, Frontkämpferin der Wissenschaft, gefallen im Diensts der Menschheit.
*
* *
7
HELEN KELLER
„Die Bäume standen bewegungslos wie marmorne Statuen. Der Duft der Fichtennadeln erfüllte die Luft. Die Sonnenstrahlen glitten über die Bäume, ließen die Zweige glitzern wie Diamanten und fielen in Kaskaden herunter, wenn wir sie berührten. So strahlend war das Lichte daß es sogar die Finsternis durchdrang, die meine Augen verschleiert." Die Frau, die diese Worte schrieb, ist seit ihrer frühesten Kindheit blind und taub. Ein
Mann
und
ein
Kind
Die Gehirnentzündung, die im Jahre 1882 ein neunzehn Monate altes Kind in einer kleinen amerikanischen Stadt des Augenlichts und des Gehörs beraubt, ist der Beginn einer Geschichte, die bis zum heutigen Tage die Welt jedesmal aufhorchen läßt, wenn sie j erzählt wird. Die kleine Helen Keller wächst wie ein junges Tier auf, unerzogen, unerziehbar, denn wie soll man sich mit einem Wesen verständigen, das weder sieht noch hört? Aber als sie sechs Jahre alt wird, fährt ihr Vater mit ihr nach Washington, zu dem Manne, den die Welt als den Erfinder des Telefons kennt, der aber außerdem auf dem Gebiete der Erziehung der Taubstummen bahnbrechend gewesen ist: Alexander Graham Bell. Dieser Mann „unterhält" sich auf seine Weise mit dem Kinde. Er — und nur er — kann sehen, daß er ein außergewöhnlich intelligentes Geschöpf vor sich hat. Zwanzig Jahre später schreibt Helen Keller selbst mit der Schreibmaschine ihre Lebensgeschichte mit der Widmung: „Alexander Graham Bell, der die Taubstummen sprechen gelehrt und es dem hörenden Ohr ermöglicht hat, die menschliche Stimme vom Atlantischen Ozean bis zu den Rocky Mountains zu hören s widme ich die Geschichte meines Lebens."
8
Licht in der F i n s t e r n i s Dr. Bell empfiehlt zur Betreuung des Mädchens eine junge, im Umgang mit blinden und taubstummen Kindern ausgebildete und erfahrene Pflegerin^ Anne Sullivan. Ein paar Jahre später ist sie mit Helen Keller weltberühmt. Zuerst aber beginnt ein Ringen des Geistes, der Liebe, der Zuversicht und der Willenskraft, das über jede menschliche Vorstellung hinausgeht: Helen muß die menschliche Sprache verHelen Keller nach stehen, lesen und schreiben lernen.Nun, Verleihung der Doktorwürde die Taubstummen erlernen bekanntlich eine Zeichensprache — aber sie können die Zeichen sehen. Blinde erlernen Blindenschrift — aber sie hören, was man ihnen erklärt. Helen aber — blind und taubstumm — muß die Zeichen fühlen. „Puppe" und „Kuchen" sind die ersten Worte, die sie mechanisch erlernt. Aber erst — oder schon einige Wochen später —, als an einem heißen Tage ein kühlender Wasserstrahl über ihre Hand läuft und sie selbst, von allein, die Zeichen für W-A-S-S-E-R macht, weiß Anne Sullivan, daß sie den ersten Sieg errungen hat: Das blinde, taubstumme Kind hat die menschliche Sprache begriffen. Von ran an geht Helens Geist mit überraschender Schnelligkeit vorwärts: In wenigen Monaten lernt sie Tausende von englischen Wörtern verstehen und durch Zeichen ausdrücken. Sie nimmt in diesen Monaten eine Welt in sich auf, zu der normale Kinder Jahre brauchen. Sie lernt schreiben und Blindenschrift lesen. Die Briefe, die sie mit zwölf Jahren schreibt, verblüffen durch die Klarheit der Handschrift und die Reife des Ausdrucks. Schon finden sich eingestreute lateinische, griechische und französische Wörter. „Ich bin n i c h t
m e h r s t u m m"
Wie die Flut, die den Damm durchbrochen hat, kennt ihre Lernbegierde keine Grenzen mehr. Nichts erscheint ihr unmöglich. Als die Zehnjährige hört, daß ein taubstummes Kind in Norwegen sprechen zu lernen versucht, ruht sie nicht eher, als bis man ihr Sprechstunden gibt. 9
Bekanntlich sind Taubstumme nur deshalb stumm, weil sie nicht hören. Jedoch erkannte man eines Tages, daß Taubstumme die Mundbewegungen, Zungen- und Zahnstellung des Sprechenden nachahmen und auf diese Weise einigermaßen verständlich sprechen lernen können. Aber Helen Keller ist auch blind; sie muß alle diese schwierigen Bewegungen, die sie nachahmen soll, mit der Hand e r f ü h l e n . Nach ein paar Unterrichtsstunden spricht sie den ersten zusammenhängenden Satz: „Ich bin nicht mehr stumm", und einige Jahre später hält sie ihren ersten öffentlichen Vortrag. Heute spricht sie nicht nur Englisch, sondern auch Französisch und etwas Italienisch, Spanisch und Deutsch. Das Sprechen öffnet ihr die höhere Schule und die Universität. Im Wettbewerb mit normalen jungen Menschen besteht die das Abiturium mit einer lobenden Erwähnung in Englisch und das akademische Abschluß- und Doktorexamen mit der Auszeichnung „cum laude", mit besonderem Lob. Sie
„hört"
Caruso...
Das Wunder ist vollbracht. Zwei Frauen haben die unüberwindbar erseheinenden Mängel des Körpers überwunden. Die eine ist Helen Keller, die andere ist Anne Sullivan. Ein halbes Jahrhundert leben die beiden Frauen zusammen in unzertrennlicher Schicksalsgemeinschaft, bis das eintritt, was Helen mehr gefürchtet hat, als den eigenen Tod: „Wenn sie jemals von mir geht", schrieb sie einmal über ihre Lehrerin und Lebensgefährtin, „so wäre ich erst wirklich blind und taub." Aber auch Anne Sullivans Tod, so tief er sie trifft, kann den unerschütterlichen Lebenswillen dieser Frau nicht brechen. Anne bleibt unersetzlich, aber eine junge Schottin, Polly Thomson, wird Helen Kellers helfendes Auge und Ohr — soweit sie eine solche Hilfe braucht. Denn ihre Welt ist erstaunlich vollständig. Sie kann eine weiße von einer farbigen Blüte unterscheiden, denn die weiße ist für ihre hellseherischen Hände um den Bruchteil eines Millimeters -dünner. Sie erfühlt an den Schultern eines Mannes., daß er Matrose ist, an den Händen einer Frau, daß sie Geige spielt. Sie «betritt zum
10
ersten Male einen Raum und sagt: „Was für eine hübsche Bibliothek" —, denn sie hat die Bücher gerochen. Sie liest sich — in Blindenschrift — buchstäblich die „Finger wund". Sie schreibt ihre zahlreichen Briefe in gewöhnlicher Handschrift, ihre Bücher und Artikel zuerst mit der Blinden-Schreibmaschine, dann in gewöhnlicher Maschinenschrift. Sie „hört" nicht nur, was Polly Thomson mit der Zeichensprache in ihre Hand buchstabiert, sondern kann auch — so unglaublich das klingen mag — gewöhnliche menschliche Sprache verstehen, indem sie die Finger auf die Lippen, die Nase und die Kehle des Sprechenden legt. Die Bewegung der Lautgebung, die Vibration, ist für sie verständlich. Diese Vibration des Tones verschafft ihr — der Tauben — eine der größten Freuden ihres Lebens: „ M u s i k und Gesang. Sie geht regelmäßig zu Konzerten, und nur ein einziges Mal — als die akustischen Ingenieure für ein Toscanini-Konzert alle Vibrationsquellen beseitigt hatten, „hörte" sie gar nichts. Eine hölzerne Plattform unter ihren Füßen schaffte Abhilfe. Sie hörte den großen italienischen Tenor Caruso mit den Fingern auf seinen Lippen. Rußlands gefeierter Bühnensänger Schaljapin sang für sie die „Wolgaschiffer" und hielt sie dabei so eng umfaßt, daß sie jede vibrierende Welle seiner mächtigen Stimme wahrnehmen konnte. Der begnadete polnische Geiger Jascha Heifetz spielte für sie, während ihre Hand leicht auf seinem Instrument ruhte. Ihr stärkstes musikalisches Erlebnis bleibt die Neunte Symphonie, für sie „das Symbol von Beethovens großartigem und beispielgebendem Triumph über die Taubheit". Das alles erscheint unfaßbar, und wir würden es nicht glauben können, hätten es nicht Tausende von Menschen gesehen. Aber nichts kann Helen Keller so zornig machen, als wenn jemand von ihrem „sechsten Sinn" spricht. Sie — und nur sie — weiß, daß alles, was sie vollbracht hat und vollbringt, das Werk der wenigen Sinne ist, die ihr geblieben sind. „Mein Leben war glücklich", schreibt die Siebzigjährige, „weil ich wunderbare Freunde und viel interessante Arbeit hatte. Ich denke selten an meine Grenzen, und sie machen mich niemals traurig. Vielleicht kommt manchmal ein Hauch von Sehnsucht, aber es bleibt 11
ein Hauch, wie ein leiser Wind für die Blume. Der Wind verweht, und die Blume ist zufrieden." Eine
für
alle
Man würde sich nicht wundern, wenn die harte, schrittweise Eroberung der Welt ein. solches Leben ganz erfüllen würde. Aber das ist in Helen Kellers Leben nur ein Teil, nur ein Mittel zum Zweck gewesen. Ihr wahrer Lebensinhalt war und ist die Aufgabe, das Los ihrer Leidensgenossen, der Blinden und Taubstummen, zu verbessern. Als Helen Keller jung war, gab es in Amerika so gut wie keine Fürsorge für Körperbehinderte. Sie ist es, die in ihrem Staat Massachusetts die Bildung einer Blin Jenkommission durchsetzt, der sie selbst angehört. Wenige Jahre spater gibt es dreißig solche Kommissionen in den USA. Sie ist es, die zuerst die amerikanische Öffentlichkeit darauf aufmerksam macht, daß der Erblindung von Neugeborenen vorgebeugt werden kann. Sie ist es, die allein volle zwei Millionen Dollar für die „Helen-Keller-Blindenstiftung" sammelt. Sie ist es, die vor allem durch ihre bloße Existenz, durch ihr Beispiel, durch das vollbrachte Wunder den lebendigen Beweis dafür erbringt, daß der Geist und der Wille stärker sind als der Körper, daß kein Blinder, Taubstummer oder Gelähmter darauf verzichten muß, seinen Platz in der menschlichen Gesellschaft einnehmen. Die Urkunden zu den Ehrendoktorwürden, die man ihr in Amerika und Europa verleiht, weisen gerade auf die überragende Bedeutung dieses ihres Beispieles hin. Helen Keller ist sich sehr wohl der Wirkung bewußt, die ihre Person auf alle diejenigen ausübt, die mit dem Augenlicht oder dem Gehör auch den Glauben an das Leben zu verlieren drohen. Sie bereist Europa und den Fernen Osten, um zu den Blinden und Taubstummen zu sprechen, und während des zweiten Weltkriegs ist sie ein täglicher Gast in den Lazaretten gewesen. Als ein junger, schwer verwundeter Soldat sie fragt, was ihr die Kraft zum Weiterleben gegeben habe, antwortet sie ohne Zögern: „Die Bibel, Poesie und Philosophie." Und auf seine zweite Frage: „Was tun Sie, wenn Gott Sie zu verlassen scheint?" erwiderte sie mit der Überzeugung des Herzens. „Das ist noch nie geschehen!" 12
FLORENCE NIGHTIJMGALE
„ziyie !~^abij mit het U^am/pe „Miß Nightingale! Kraftbrühe für Nummer 2017 . . .", „Miß Nightingale! Laken für die fünfte Baracke .. .", „Miß Nightingale! Im Operationsraum gibt es keine Watte m e h r . . . " , „Miß Nightingale! Seife . . . " Die immer Tätige blickt von ihrer Arbeit auf und unterschreibt. Unterschreibt Anweisungen auf Kraftbrühe, Laken, Watte, Seife und tausend andere seltene und kostbare Dinge, die im Krankenhaus gebraucht werden. Aber es bleibt nicht beim Unterschreiben. Ein wenig später nimmt sie ihre Öllampe und geht durch die nächtlichen Lazarettbaraeken, um zu sehen, ob Nummer 2017 seine Kraftbrühe auch wirklich bekommen hat, ob die Watte im Operationssaal angekommen oder vielleicht draußen im türkischen Bazar verkauft worden ist. Die „Lady mit der Lampe", wie die Soldaten sie nennen, geht durch die Baracken des Militärlazaretts von Skutari, an Hunderten von Kranken, Verwundeten, Sterbenden vorbei. Für den einen hat sie ein gutes Wort, für den anderen ein gutes Lächeln. Ihre medizinischen und krankenpfiagerischem Kenntnisse sind groß. „Wir küssen ihren Schatten, wenn er auf unsere Betten fällt", schreibt einer dieser Soldaten nach Hause — den Schatten der Dame mit der Lampe, der barmherzigen Samariterin, den Schatten Florence Nightingales. Wir schreiben 1854, das erste Jahr des Krimkrieges. „Gott s p r a c h zu m i r . . . " Heute, hundert Jahre später, tragen Tausende von Frauen und Mädchen in England, Frankreich und Amerika den Namen Florence. Sie wissen nicht, daß sie nach Florence Nightingale so heißen, die 1820 — während einer Italienreise ihrer Eltern — in Florenz geboren und nach der Stadt benannt wurde. Ihre Kindheit und Jugend war die der Töchter reicher Londoner Familien des 19. Jahrhunderts: geräumige Häuser und Gärten mit Ponys, Hunden und Katzen, die sie liebte und betreute, wie 6ie später „ihre Soldaten" 13
liebte und betreute. Dann die Londoner „Season" mit Tanz, Flirt und schönen Kleidern. Florence wurde bewundert — denn sie war ebenso schön wie klug und hatte die für ein so junges Mädchen seltene Gabe, Menschen anzuziehen und zu fesseln. Aber sie selbst ist bei diesem Leben nicht glücklich. Die Sechzehnjährige schreibt in ihr Tagebuch: „Am 7. Februar 1837 6prach Gott zu mir und berief mich, ihm zu dienen." — Sachlich, ohne Überschwang, wie ein-e andere vielleicht schreiben mag, sie habe den und jenen auf dem Markt getroffen. Bald darauf beginnt sie, Gott auf ihre Weise zu dienen. Sie geht in die baufälligen Häuser der Weber — der Weber von 1840, der Weber Gerhart Hauptmanns — und pflegt die Kranken. Sie bringt ihnen Essen, Medizin, Bettzeug, Verbandstoff. Und plötzlich begreift sie, zu welchem Dienst Gott sie berufen bat: Krankenpflege ist Frauenarbeit; Krankenpflege ist i h r e Arbeit. Aber zu jener Zeit war es in England für ein junges Mädchen aus guter Familie schlechthin undenkbar, Krankenpflegerin zu werden. Das galt nicht als „ladylike'\ nicht als damenhaft. Krankenhäuser und Krankenschwestern wurden in der „vornehmen" Gesellschaft kaum einmal genannt, man dachte nicht gern an Leid und Not. Dennoch beginnt Florence, sich für diesen Beruf vorzubereiten. Heimlich studiert sie nachts medizinische Werke, Handbücher der Krankenpflege, Berichte aus Berliner und Pariser Krankenhäusern. Mit diesem Studium legt sie den Grundstein zu jenem unermeßlich reichhaltigen Wissen, das sie später zur führenden europäischen Sachverständigen für das öffentliche Gesundheitswesen machen sollte. Sie
hat
gewählt...
Doch um ihrer inneren Berufung wirklich folgen zu können, muß Florence einen Strich unter ihr ganzes (bisheriges Leben ziehen und alle Brücken hinter sich abbrechen. Das bedeutet nicht nur die innere und äußere Trennung von Eltern und Schwestern, bei denen ihre Absichten Entrüstung und Entsetzen auslösen. Es bedeutet auch den endgültigen Verzicht auf den Mann, den sie liebt: Richard Monckton Milnes, der volle sieben Jahre geduldig um sie geworben hat, aber nun ein Ja oder Nein verlangt. Florence sagt nein — und verzichtet für immer auf Liebe und Ehe. Sie hat gewählt: den Weg 14
der Arbeit, der Selbstverleugnung, der Aufopferung. An Stelle des Mannes, den sie verloren hat, findet sie Freunde fürs Leben: Sidney Herbert, der bald darauf Kriegsminister werden sollte, und seine Frau. Durch sie gelangt sie in einen Kreis fortschrittlicher und einflußreicher Menschen, die ihren Plänen lebhaftes Interesse entgegenbringen. Unter ihnen sind die Dichterin Elisabeth Barreth-Browning, die Schriftstellerin Florence Nightingale Mary-Ann Evans, die die Welt unter die Samariterin von Skutari dem Namen George Eliot kennt, und der spätere Ministerpräsident der Königin Viktoria., Lord Palmerston. 1849 tut Florence Nightingale den entscheidenden Schritt und geht zur Ausbildung ins deutsche Diakonissenhaus Kaiserswerth. Hier findet sie das, was sie sich unter der hohen Aufgabe der Krankenpflege vorstellt, zur Wirklichkeit geworden. „Niemals habe ich eine so edle Atmosphäre, eine so reine Hingabe gesehen", schreibt sie an die Herberts. Nach ihrer Rückkehr übernimmt sie die Leitung eines kleinen Londoner Frauen-Krankenhauses. Die Reformen, die sie einführt, sind für England revolutionär: Warmwasserleitungen, Klingeln, Speiseaufzüge —, um den Schwestern unnötige Lauferei treppauftreppab zu ersparen. „Sauberkeit, Ordnung und Organisation", pflegt sie zu sagen, „sind mindestens ebenso wichtig wie nächtelang am Bett eines Sterbenden zu sitzen — allerdings weniger romantisch". Zum erstenmal offenbart sich ihr eiserner Wille und ihr organisatorisches Genie. Die
Hölle
von
Skutari
Aber für Florence Nightingale ist das alles nur Vorbereitung für den großen Kampf: Sie will ihre Landsleute dazu zwingen, ihre rückständigen Krankenhäuser von Grund auf zu reformieren und die Krankenpflege als würdigen Frauenberuf anzuerkennen. Tief verwurzelte Vorurteile weichen oft erst einer nationalen Kata15
6trophe, und eine solche Katastrophe kommt ihr zu Hilfe: der Krimkrieg. England führt, zusammen mit Frankreich und der Türkei, Krieg gegen Rußland. Bald erfüllt die siegreiche Schlacht bei Alma das Land mit Stolz und Jubel. Und erst nach und nach sickert durch, wie es hinter der Front aussieht: In einem improvisierten Lazarett in Skutari sterben die verwundeten und kranken Soldaten zu Tausenden —, weil es an der richtigen Pflege mangelt. Ganz England wird von einem Sturm der Entrüstung erfaßt, und in diesem Augenblick tut Sidney Herbert, der inzwischen Kriegsminister geworden ist, einen revolutionären Schritt: Er schickt Florence Nightingale nach Skutari. Ihre Stunde ist gekommen. Mit einer Gruppe von 38 sorgsam ausgewählten, ausgebildeten Krankenschwestern kommt sie Anfang November 1854 in Skutari an. Was sie vorfindet, spottet jeder Beschreibung: alte, baufällige Baracken, ohne Kanalisation, feucht, unsagbar schmutzig und voller Ungeziefer. Es fehlt an Betten, Bettzeug, Wäsche, Verbandstoff, Chloroform, Morphium, Medikamenten. Operationen werden ohne Schmerzbetäubung auf nackten Holztischen ausgeführt, bei Mondlicht, weil es keine Beleuchtung gibt. Lebensmittel sind so gut wie nicht vorhanden, und das, was da ist, kann nicht gekocht werden, denn es gibt keine Küche, kein Geschirr. Vor allem aber, es gibt nicht genug Ärzte und Krankenpfleger. Und in dieser Hölle liegen und sterben Tausende britischer Soldaten. Verwundete liegen neben den Opfern der fürchterlichen Epidemien, die unter den Truppen wüten: Cholera, Typhus, Ruhr. Allein die Toten zu begraben, ist eine fast unerfüllbare Aufgabe. Florence Nightingale beginnt den Augiasstall auszumisten. Wie es ihr gelingt, bleibt ein Rätsel für die bewundernde Welt. Sie schafft nicht nur Sauberkeit und Ordnung und rettet allein durch diese hygienischen Maßnahmen Hunderte von Menschenleben. Es gelingt ihr auch, aus dem Nichts heraus Lebensmittel, Wäsche und Medikamente zu besorgen, und damit entwaffnet sie alle Behörden und den feindseligen Widerstand der Chefärzte, die sich nicht damit abfinden können, daß man eine Frau in ihre Männerwelt geschickt hat. Bei dieser übermenschlichen Arbeit pflegt sie noch viele schwere 16
Fälle selbst, und wenn ein neuer Krankentransport ankommt, kniet sie stundenlang neben den Baiiren, verbindet, hilft, lindert . . . Ansteckungsgefahr existiert nicht für sie. Aber während eines Inspektionsbesuches im Feldlazarett von Balaklava hält der erschöpfte Körper dem Ansturm der Krankheit nicht länger stand: Krimfieber. Wochenlang schwebt sie zwischen Leben und Tod. Als die Soldaten in Skutari davon hören, „wenden sie sich in ihren Betten zur Wand und weinen", schreibt ein Sergeant nach Hause. Kaum genesen, ein Schatten ihrer selbst, mit kurzgeschorenen Haaren, kehrt sie nach Skutari zurück und arbeitet weiter. Sie richtet für die Soldaten Leseräume und Unterrichtskurse ein. Königin Viktoria erläßt auf ihren Vorschlag Anordnungen, um das Los der Truppen zu verbessern. Im März 1856 wird Florence Nightingale mit umfassenden Vollmachten für das Gesundheitswesen der gesamten Armee ausgestattet. Sie ist 36 Jahre alt und hat ihr erstes Ziel erreicht. Sechs Wochen später wird Frieden geschlossen. Körperlich und seelisch erschöpft, fährt sie unerkannt in ihr Land zurück, das seiner großen Tochter einen triumphalen Empfang bereiten wollte. Ihr Werk
lebt fort
Sie hatte gesiegt. Sie hatte bewiesen, was sie beweisen wollte. Krankenpflege wurde und blieb ein anerkannter und würdiger Frauenberuf. In der Armee, in den Ministerien und in den Krankenhäusern begann ein frischer Wind zu wehen. Sie erholte sich niemals ganz von jenen schweren Jahren in der Hölle von Skutari und blieb kränklich, oft lange Zeit bettlägerig. Aber sie arbeitete weiter: Sie gründete Schwesternschulen, schrieb Bücher über Krankenpflege und blieb — obwohl sie nur selten ihr stilles Londoner Haus verließ, — als Berater der Regierung sozusagen Minister des Gesundheitswesens. Könige und Präsidenten aus ganz Europa kamen sie besuchen, um ihren Rat zu hören. Nach und nach erstreckte sich ihr Einfluß auch auf andere Zweige der Verwaltung, und sie wurde immer mehr zur Beraterin in allen Fragen des sozialen Fortschritts der britischen Politik. Vor der Geschichte gilt Florence Nightingale neben Henry Dunant als die geistige Mutter dessen, was heute die Weltorganisation des Roten Kreuzes ist. Ihr Werk lebt in tausend Einzelheiten 17
fort. 1947 wurde im britischen Kriegsministerium festgestellt, daß nur eine einzige Abteilung über ein wirklich gutes Kostenberechnungssystem verfügte. Es stammte von Florence Nightingale. Eine Kleinigkeit — aber ein Beweis dafür, was ein einziger Mensch vermag, wenn er sich ein großes Ziel gesteckt hat und es unbeirrbar verfolgt. BERTHA VON SUTTNER
Nobels
Traum
„Ich möchte einen Stoff oder eine Maschine schaffen, von so fürchterlicher, massenhaft verheerender Wirkung, daß dadurch Kriege überhaupt unmöglich werden." Diese Worte, denen die Geschichte auf so tragische Weise Unrecht geben sollte, spricht im Jahre 1876 ein älterer, eleganter Herr zu einer schönen Frau, mit der er im Wagen durch den Pariser Waldpark, das Bois de Boulogne, fährt. Ein geistvolles Gespräch, eine kühne Vorstellung .. . Der ältere Herr ist Dr. Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits. Die schöne Frau ist Gräfin Kinsky, die spätere Baronin Bertha von Suttner, die erste und einzige Trägerin des Friedens-Nobelpreises, der ihr 1905 verliehen wurde. Glück
und
Verzicht
Zu dieser Zeit ist Bertha Kinsky schon dreiunddreißig Jahre alt. Sie hat fast die Hälfte ihres Lebens hinter sieh — aber wie leer und unbedeutend waren diese Jahre, verglichen mit dem, was ihrer harrt! Die Jugend einer Wiener Aristokratin, oberflächlich und uninteressiert an allem, was sich außerhalb ihres kleinen, erlesenen Kreises abspielt. Gesangsstunden, Sprechunterricht, Tanz, Flirt. Zwei wenig ernste Verlobungsepisoden, die eine mit einem viel älteren, reichen Manne, die andere mit dem jungen Prinzen Wittgenstein, dessen plötzlicher Tod bald vergessen ist. Der preußisch-österreichische Krieg von 1866 und der preußischfranzösische von 1870/71 lassen dieses junge Mädchen unberührt. 18
„Ich hörte davon, wie man erfährt, daß irgendwo in der Ferne Überschwemmungen oder Brände ausgebrochen seien", schreibt sie später mit der ihr eigenen Offenheit und Selbstkritik. Erst an die Dreißigjährige stellt das Leben zum ersten Male seine Ansprüche. Ihre Mutter, die schon vor Berthas Geburt Witwe geworden war, hat nicht mehr die Mittel, um ihrer Tochter eine „standesgemäße" Lebensweise zu bieten. Bertha wird Erzieherin der vier Bertha Suttner, Töchter des Barons von Suttner und die Stimme des Friedens lernt in diesem Hause den Mann kennen, mit dem sie in inniger Liebe und glücklicher Ehe ihr Leben verbringen wird. Aber dieses Glück fällt ihr nicht in den Schoß. Sie ist sich völlig darüber klar, daß die Eltern des Herrn von Suttner niemals der Heirat ihres jüngsten Sohnes mit der um sieben Jahre älteren, mittellosen Gräfin zustimmen werden. Nach drei Jahren heimlicher Pläne entsdiließt sie sidi zum Verzicht und verläßt das Haus, in dem sie so glücklich gewesen ist. Das
Schicksalsjahr
„Sehr reicher, hochgebildeter älterer Herr in Paris sudit spradienkundige Dame, gleichfalls gesetzten Alters, als Sekretärin und zur Beaufsichtigung seines Haushaltes." Bertha Kinsky meldet sich auf dieses Inserat und erhält einen Brief von dem sdtwedischen Chemiker Alfred Nobel, dessen Namen damals noch kaum jemand kennt. Er läßt sie nach Paris kommen. Der einsame, geniale Erfinder, den sie in ihrem Tagebuch als „traurigen und spöttischen Menschenverächter, mißtrauisch und scheu" schildert, faßt eine tiefe Zuneigung zu der jungen Frau. Aber ihr Schicksal ist nicht Alfred Nobel. Ihr Schicksal bleibt Artur Gunnacar von Suttner. Eine Woche nadi ihrer Flucht nach Paris, noch ehe sie ihre Stellung bei Nobel wirklidi angetreten hat, fährt sie zu ihm nach Wien zurück, um ihn — allen Widerständen der Familie zum Trotz — zu heiraten. 19
Das Schicksalsjahr 1876 ist für sie der Beginn eines Vierteljahrhunderts glücklichen Zusammenlebens und fruchtbarer gemeinsamer Arbeit mit Artur von Suttner und einer zwanzigjährigen Freundschaft mit Alfred Nobel, der immer wieder bestimmenden Einfluß auf ihr Leben nehmen sollte. Die
Waffen
nieder!
Artur von Suttner ist Romanschriftsteller, und auch Bertha beginnt zu schreiben. Ihr erstes größeres Buch, „Das Maschinenzeitalter", ist ein gesellschaftskritischer Roman, den sie unter dem Pseudonym „Jemand" erscheinen läßt; denn sie weiß, daß — zu jener Zeit — ein ernstes Buch kaum ernst genommen werden kann, wenn es von einer Frau geschrieben ist. Um so größeres Vergnügen macht es ihr, wenn sie leidenschaftliche Auseinandersetzungen über ihr Buch oder Mutmaßungen über seinen Verfasser anhören kann, und als sie eines Tages in einem literarischen Kreis den Wunsch äußert, dieses Buch auch einmal zu lesen, erhält sie zur Antwort: „Das ist nichts für Damen." Zu jener Zeit hört sie zum erstenmal, daß es in London eine Friedensgesellschaft gibt, mit Zweigstellen in Berlin, unter Professor Virchow, in Stuttgart, in Italien und Skandinavien. Nur dieses Anstoßes bedurfte es, um die Saat, die Nobel vor elf Jahren mit seinen Worten gesät hatte, zum Reifen zu bringen. Um der Friedensbewegung zu helfen, schreibt Bertha von Suttner ihren berühmten Friedensroman „Die Waffen nieder!" Bei der Arbeit, beim Quellenstudium, beim Schreiben der Geschichte einer jungen Frau, deren Schicksal von den Kriegen ihrer Zeit tragisch gestaltet wird, wird ihr ihre Berufung immer klarer. „Mein Abscheu vor dem Kriege wuchs bis zur schmerzlichsten Heftigkeit heran", schreibt sie später. „Die Leiden meiner Heldin wurden von mir mitgelitten." Die Verleger haben Angst, in dieser waffenklirrenden Zeit, in der das Militärische alles ander überschattet, ein so offen geschriebenes Buch herauszugeben. Aber als es schließlich einer wagt, hat er es nicht zu bereuen: dreißig Auflagen mit Hunderttausenden von Exemplaren in deutscher Sprache allein, Übersetzungen in über ein Dutzend andere Sprachen — ein Welterfolg! 20
Geburt
des
Nobelpreises
Mit dem aufrüttelnden Werk „Die Waffen nieder" hat sich Bertha von Suttner der Sache des Friedens „nicht nur mit der Feder, sondern mit der ganzen Person verschrieben", wie sie selbst sagt. Sie gründet die österreichische Friedensgesellschaft, spielt von nun an eine führende Rolle in der wachsenden internationalen Friedensbewegung, schreibt Artikelserien, hält Kongreßreden und wird Vize-Vorsitzende des Berner ständigen Friedensbüros. Erst 1892 trifft sie wieder mit Alfred Nobel zusammen. Er bleibt der Friedensbewegung gegenüber skeptisch und träumt noch immer von der Waffe, die den Krieg unmöglich machen soll. „Meine Fabriken", sagt er bei dieser Begegnung in der Schweiz, „werden vielleicht dem Krieg noch früher ein Ende bereiten als Ihre Kongresse. An dem Tag, da zwei Armeekorps sich gegenseitig in einer Sekunde vernichten können, werden wohl alle zivilisierten Nationen zurückschaudern und ihre Truppen verabschieden." Das war ein halbes Jahrhundert vor Hiroshima. Aber Nobel mag damals schon an seinen eigenen Worten gezweifelt haben, denn er setzte hinzu: „Überzeugen Sie mich — dann werde ich etwas Großes für Ihre Bewegung tun!" Bertha von Suttner überzeugte ihn. Einige Wochen später schreibt er ihr zum erstenmal über seine Idee, einen Friedenspreis zu stiften. Allerdings will er ihn zunächst nur dreißig Jahre lang verteilen lassen, denn — so schreibt Nobel — „wenn das System in dreißig Jahren nicht geändert ist, so muß die Menschheit unweigerlich und endgültig in die Barbarei zurückfallen." Nobel stirbt — so einsam, wie er gelebt hat — am 10. Dezember 1896. Sein Testament lenkt die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf die Friedensbewegung. Fünf Jahre später, im ersten Jahre unseres Jahrhunderts, wird der Nobelpreis zum erstenmal verteilt. 1905 wird der Friedens-Nobelpreis Bertha von Suttner verliehen, der Frau, die Alfred Nobel davon überzeugen konnte, daß das Dynamit allein der Menschheit den Frieden nicht bescheren kann. Die
Stimme
wird
gehört
Inzwischen hat die Friedensbewegung ihre ersten politischen Erfolge zu verzeichnen. Als 1893 Gewitterwolken zwischen Frank21
reich und Italien aufziehen, weil ein italienischer Arbeiter seine Hose an einem französischen Brunnen gewaschen und damit eine Schlägerei verursacht hatte, schreibt Bertha von Suttner in ihr Tagebuch: „So werden die Geschichtsschreiber neben dem Krieg der Weißen und Roten Rose (dem dreißigjährigen Bürgerkrieg in England im 15. Jahrhundert) auch noch den Krieg der schmutzigen Hose in ihre Annalen eintragen müssen." Aber schon gibt es in beidenLändern führende Persönlichkeiten, die der Friedensbewegung nahestehen und mit ihren zur Besonnenheit mahnenden Stimmen das Schlimmste noch einmal verhüten. Im August 1898 erläßt der Zar seinen berühmten Friedensaufruf an alle Nationen —, nachdem er kurz vorher „Die Waffen nieder!" gelesen hatte. Und ein Jahr später wird der Haager Internationale Schiedsgerichtshof gegründet, der in künftigen zwischenstaatlichen Streitfällen vermitteln soll, um blutige Auseinandersetzungen zu verhüten. Eine
Woche
vor
Serajewo
Am 10. Dezember 1902, auf den Tag sechs Jahre nach Nobel, stirbt Artur von Suttner. In seinem Testament beschwört er Bertha, weiter für die Sache des Friedens tätig zu sein. „Zwar habe ich dem übers Grab hinaus gegebenen Befehl gehorcht und weitergearbeitet", schreibt sie 1909 als Schlußwort zu ihren Lebenserinnerungen, „aber ich kann es nicht mehr Leben nennen, was meine Tage zwischen dem 10. Dezember 1902 und heute gefüllt h a t . . . " Ein gütiges Schicksal erspart Bertha von Suttner die große Enttäuschung und beendet ihr Leben am 21. Juni 1914 — eine Woche vor dem Attentat von Serajewo, das den ersten Weltkrieg heraufbeschwören sollte.
22
HENRIETTE SZOLD
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ii/^inbei
15000 H e i m a t l o s e Erbarmungslos brennt die Sonne auf die staubige Landstraße der judäischen Berge. Als der Wagen stehen bleibt, verschlagt der heiße Wüstenwind .den Insassen den Atem. Eine weißhaarige Frau steigt aus, schmächtig, aber kerzengerade und bückt sich zum Straßenrand, um ein« Blume zu pflücken. Als sie sich aufrichtet, kracht ein Schuß. Die arabische Kugel geht pfeifend knapp über die weißen Haare hinweg. Die alte Dame hebt den Kopf, nicht erschrocken, nur ein wenig erstaunt. Dann steigt sie wieder ein, und der Wagen fährt weiter. „Sie dürfen sich solchen Gefahren wirklich nicht aussetzen." Der diese Worte leise spricht, ist kein junger Mann — es ist der Rektor der Jerusalemer Universität. Trotzdem holt er sieh von der alten Dame einen milden Verweis: „Ich habe einem meiner Kinder diese seltene Wüstenblume versprochen —, und ich pflege meine Versprechen zu halten." „Einem meiner Kinder", sagte sie — Henriette Szold hatte fünfzehntausend. Fast alle diese Kinder sind heute schon junge Männer und Mädchen, Landarbeiter, Handwerker, Studenten und Soldaten in Israel. Damals kamen sie aus Hitlers Europa, die meisten aus Deutsehland, andere aus Polen, Ungarn, Rumänien, Österreich und der Tschechoslowakei. Die Schrecken ihrer frühesten Kindheit liegen weit hinter ihnen, aber sie wissen, daß es Henriette Szold war, die sie den Gaskammern abgelistet hat. Sie gedenken ihrer wie einer Mutter. Unbeirrbare Freiheitsliebe „Mir scheint, ich hätte nicht ein Leben, sondern mehrere verschiedene Leben gelebt", schreibt Henriette Szold kurz vor ihrem Tode. Als kleines Mädchen hatte sie das Begräbnis Abraham Lincolns, des amerikanischen Sklavenbefreiers, gesehen, und sie starb einige Monate vor dem Zusammenbruch des deutschen Diktators. 23
Vier Generationen, achtzehn amerikanische Präsidenten, fünf britische Könige zogen an diesem Leben vorbei. Sie war in Baltimore geboren und starb in Jerusalem. Deutsch war die erste Sprache ihrer Kindheit, Englisch die ihres Denkens und ihrer Arbeit, und im Alter sprach sie zu „ihren Kindern" Hebräisch. Ihr Vater, ein aus dem 'deutschsprachigen Teil Ungarns nach Amerika ausgewanderter Rabbiner, nannte seine erste Tochter nach Henriette Herz, deren Berliner Haus ein Treffpunkt der deutschen klassischen Kultur gewesen war. Sie wuchs mit der Bibel und Goethes Faust auf, mit Kochtopf und Nähnadel, mit vier kleinen Schwestern, die sie zu betreuen hatte, und mit Gesprächen über Religion, die deutschen Klassiker und das amerikanische Negerproblem. Szold hatte 1848 auf den Wiener Barrikaden gekämpft und war einer der wenigen Männer in den amerikanischen Südstaaten, die die Negersklaverei bekämpften und Lincoln unterstützten. Henriette erbte seine glühende und unbeirrbare Freiheitsliebe: „Ich hasse Despotismus, selbst wenn er Gutes tut", schreibt sie 1888. Und als ein halbes Jahrhundert später ihre Stunde kommt, kämpft sie gegen die Unmenschlichkeit auf ihre Weise — indem sie rettet, was zu retten ist: 15 000 Kinder. Das L e b e n b e g i n n t mit Siebzig Henriette Szold begann ihr eigentliches Lebenswerk erst mit 73. Bis dahin war sie nicht mehr gewesen als eine führende Persönlichkeit der Palästina-Bewegung. Aber zehn Jahre später kennt die Welt ihren Namen, und Präsident Roosevelt gratuliert ihr telegraphisch zum zehnjährigen Bestehen und dem vollbrachten Werk der von ihr gegründeten und geleiteten Organisation für die Kindereinwanderung nach Palästina. Alles, was dieser Gründung voranging, war nur Vorbereitung für dieses Werk, nur ein langer Weg, der schnurgerade zu ihm führte. Er beginnt, als sie in jungen Jahren nach den russischen Judenverfolgungen Flüchtlinge in Baltimore ankommen sieht. Für die Heimatlosen gründet sie die erste amerikanische Abendschule, damit sie Englisch und ein Handwerk lernen und ihr Brot verdienen können. Gleichzeitig beginnt sie, sich für Palästina zu interessieren. Aber viele Jahre des Lehrens und Lernens vergehen, bevor sie — 24
nach einer Reise ins Heilige Land — die amerikanische HadassahOrganisation gründet, der die Juden Palästinas ihre Krankenhäuser, ihre Schulen und vieles andere verdanken. Und sie geht „vorübergehend" nach Palästina, um es nie mehr zu verlassen. Die
Sintflut
Als das Schicksalsjahr 1933 die Welt in eine Schrecklähmung versetzt, begreift sie sofort: Das ist der Beginn einer Sintflut von Blut und Tränen. Aus dieser Sintflut müssen vor allem die Kinder gerettet werden. Unter Nichtachtung der eigenen Gefahr fährt sie zweimal nach Berlin, um die jüdischen Kinder zu holen, deren Eltern nicht mehr hinaus können oder noch nicht hinaus wollen. Viele dieser Eltern werden ihre Kinder niemals wiedersehen. Und dann beginnt der Kinderstrom nach Palästina: Zuerst kommen vierzig, dann sechzig, dann Hunderte, dann Tausende. Die Betten, in denen sie schlafen, die Kleider, die sie anziehen, hat Henriette Szold gekauft, mit dem Gelde, das sie selbst gesammelt hat; die Schulen, in die sie gehen, die Krankenhäuser, in denen sie gepflegt werden, die Siedlungen, in denen sie eine neue Heimat finden, hat sie gebaut und eingerichtet. Die beinahe Achtzigjährige leitet allein eine Riesenorganisation, trägt allein eine ungeheure Verantwortung. Und sie trägt sie mit ihrer ganzen Kraft. „Es handelt sich um Kinder — das ist kein Kinderspiel" — sagt sie ihren Mitarbeiterinnen immer wieder. Ob die Straßen in der Regenzeit fast unbefahrbar sind, ob während der arabischen Unruhen jede Reise ein Ritt über den Bodensee ist — kein einziger Kindertransport kommt an, ohne daß die alte Dame am Hafenquai steht, die Kinder in Empfang nimmt, sie in ihre neue Heimat bringt und ein paar Tage bei ihnen bleibt. „Ich habe nicht eher Ruhe, als bis sie warm und geborgen in ihren Betten liegen", schreibt sie an eine Freundin. Sie kennt jedes einzelne Kind. Nicht nur seine Kartothek-Karte. Sie kennt seine Herkunft, seine Vergangenheit, seine besonderen Probleme. Sie bespricht diese Probleme nicht nur mit den Erziehern, sondern auch mit den Kindern selbst. Sie arbeitet zwölf Stunden am Tag —, aber kein Kind klopft jemals vergeblich an ihre Tür. Und der menschlichen Probleme gibt es viele: Die einen kom25
men aus wohlgeordneten, bürgerlichen Haushalten und können sich nur schwer in das neue Leben auf dem Lande eingewöhnen. Die anderen haben jahrelang elternlos, verfolgt und gehetzt wie kleine Tiere in den Wäldern gelebt und können nicht begreifen, daß sie nicht stehlen dürfen und nicht bestohlen werden. Für Henriette Szold gibt es keine jugendlichen Verbrecher — nur kranke, durch Unmenschlichkeit entwurzelte Kinder, die durch Liebe geheilt werden können. Als eines ihrer Kinder an Typhus stirbt, findet ihr Gewissen keine Ruhe. „Ich muß über jeden einzelnen Krankheitsfall persönlich unterrichtet werden", schreibt sie an die Leiterin der Kinderkolonie, „ich sehe immer nur die Eltern dieses Jungen vor mir . . . " „K eine
Zeit
zu
verlieren..."
Diese Frau, die in ihrer Jugend einmal gesagt hatte: „Ich möchte einmal viele Kinder halben . ..", hat nie geheiratet. Vielleicht war e3 der ihr vorgezeichnete Weg, der in ihrem Leben für nichts anderes Platz ließ; vielleicht ist sie, weil das persönliche Erlebnis der Mutterschaft an ihr vorübergegangen war, die Mutter von 15 000 Kindern geworden. Sie wurde 84 — aber nie eine Greisin. Der ständige Umgang mit Kindern und jungen Menschen, die Notwendigkeit, mit ihnen zu denken und zu fühlen, die immer größer werdenden Ansprüche ihrer Aufgabe erhielten sie körperlich und geistig jung. „So alt ich bin", schreibt sie mit 74, „habe ich nicht zu wachsen aufgehört. Mein Verstand ist sehr begrenzt, aber meine innere Welt wird immer weiter und reicher." Als einmal einer ihrer Mitarbeiter, ein Mann mittleren Alters, nach einer besonders langen abendlichen Konferenz mit allen Zeichen der Erschöpfung nach Hause gegangen äst, sagt die 80jährige kopfschüttelnd zu den anderen: „Ich hätte den armen Alten nicht so lange hier behalten sollen" — und setzt sich selbst wohlgemut an ihren Schreibtisch, um noch drei Stunden emsig zu arbeiten. Nichts geht ihr schnell genug, wenn es sich um ihre Kinder handelt. Als die Unruhen auf dhrem Höhepunkt sind und jedes Auto auf der Landstraße beschossen wird, lehnt sie es ab, sich den langsameren, aber sicheren Wagenkolonnen anzuschließen: „In meinem Alter habe ich keine Zeit zu verlieren . . . " 26
Der Tod kam zu f r ü h . . . Dennoch kam der Tod noch zu früh. Es war Henriette Szold nicht vergönnt, zwei Ereignisse zu erleben, die die letzte Erfüllung ihres langen Lebens gewesen wären: Das Ende des furchtbaren Krieges und die Gründung des Staates Isral. Heut«, viele Jahre nach ihrem Tode, kommen immer noch einsame Rinder nach Israel, Kinder aus Iran, Irak, Marokko, Tunis, Bulgarien, Rumänien. Wenn sie am ersten Abend in der neuen Heimat müde, allein und traurig in das ungewohnte Bett gehen, steht nicht mehr die gütige alte Dame neben ihnen, die ihnen mit einer guten Hand über die Haare streicht, wie es zu Hause ihre Mutter getan haben mag. Aber eine der jungen Pflegerinnen wird sich vielleicht an ihre Betten setzen und ihnen vor dem Einschlafen eine Geschichte erzählen, eine schöne Geschichte von damals, als sie selbst hier ankam, und einen Menschen fand, der sich ihrer annahm und den sie nie mehr vergessen kann: Henriette Szold — die Mutter Israels. ESTELLE BEENADOTTE
Ein König weint „UNO Jerusalem ruft Stockholm — Hallo, Hallo! UNO Jerusalem ruft Stockholm — Hallo, Hallo! Estelle schonend vorbereiten — Bernadotte ermordet — Hallo, Hallo! UNO Jerusalem ruft Stockholm — Bernadotte ermordet " Immer wieder, mit unbarmherziger Eintönigkeit, wiederholt die ferne Stimme die Schreckensbotschaft. Der 13jährige Junge, der vor dem Radio steht, hört sie wie gelähmt, wie hypnotisiert. Dann läuft er in den Garten und fällt seiner Mutter weinend um den Hals . .. Frau Estelle Bernadotte weiß sofort, was geschehen ist. Sie bleibt gefaßt, beruhigt das schluchzende Kind, holt ihren älteren Sohn aus der Schule und verständigt die Familie ihres Mannes, vor allem seinen Onkel: König Gustav von Schweden. Der alte König weint, als er die Trauerbotschaft hört. Schweden, die Vereinten Nationen, 27
die Welt haben mit dem Grafen Folke Bernadotte einen großen Mann verloren, einen wahren Apostel des Friedens und der Nächstenliebe. Millionen trauern mit Estelle Bernadotte. Ein
Luftballon
Die Mörderkugel, die am 17. September 1948 in der heiligen Stadt Jerusalem Folke Bernadotte ins Herz traf, konnte Estelle nicht alles nehmen: Der 44jährigen bleiben ihre beiden Söhne und die Erinnerung an zwei Jahrzehnte glücklichster Gemeinschaft und Zus ammen arbeit. Zwei Jahrzehnte seit jenem Tage in Beaulieu an der französischen Riviera. König Gustav hatte bei seinem alljährlichen Tennisturnier den zweiten Preis davongetragen und feierte ihn mit einem kleinen Bankett. Sein Neffe Folke sitzt neben einer jungen Amerikanerin, Estelle Romaine Manville. Ein Luftballon segelt lustig vorbei, fliegt gegen eine Sektflasche und zerplatzt zwischen ihnen mit lautem Knall. Eine erregende Sekunde, dann lacht alles; jemand sagt, das bedeute eine baldige Heirat. Vierzehn Tage später sind Estelle und Folke verlobt. Als ein amerikanischer Reporter bemerkt: „Alle Achtung — schnelle Arbeit!", erwidert Graf Bernadotte: „Man muß sich auch beeilen, wenn man das beste Mädel der Vereinigten Staaten bekommen will." Zehn Jahre vergehen voll ungetrübten Glücks. Gemeinsame Reisen in die USA, wo der Graf offizielle Aufträge auszuführen hat. Er ist Vize-Präsident des schwedischen Roten Kreuzes, und Estelle ist seine Mitarbeiterin und Sekretärin. Beide sind begeisterte Pfadfinder und machen mit ihren beiden kleinen Söhnen Ausflüge zu Fuß oder mit dem Fahrrad, das sie dem Auto bei weitem vorziehen, gehen mit ihnen im Sommer schwimmen, im Winter Schlittschuhlaufen. Zehn Jahre ungetrübten Glücks, denen — wie bei Millionen anderen — der Krieg ein Ende bereitet. Schweden bleibt neutral, und Graf Bernadotte kennt nur noch eine einzige Aufgabe: den Kriegsgefangenen zu helfen. Meine
Nummer
stand
nicht
darauf...
Diese Aufgabe ist eine Tradition der Familie Bernadotte, die auf den Beginn des vorigen Jahrhunderts zurückgeht/Damals wur28
den schwedische (Kriegsgefangene von einem Marschall Napoleons gut behandelt. Er hieß Jean Baptiste Jules Bernadotte und war bei den Schweden so beliebt, daß sie ihn zu ihrem Kronprinzen wählten. Er wurde 1818 König Charles XIV. von Schweden und Norwegen. 125 Jahre später erwirkt sein Nachkomme Folke Bernadotte den Austausch kranker und verwundeter Gefangener zwischen Deutschland und England und rettet damit Tausenden Estelle Bernadotte das Leben. Bald darauf bestimmt er die in der Tracht der Pfadfinder Verantwortlichen in Deutschland dazu, 15 000 Menschen — Dänen, Norweger und Frauen aus ganz Europa — aus den Konzentrationslagern freizulassen. „Eine Frau muß eine Heldin sein., um die Frau eines Helden zu sein", sagt ein altes Sprichwort. Estelle zittert um ihren Mann, wenn er im Flugzeug Europa überquert, jenes Europa, das nur noch ein einziges Schlachtfeld ist. Sie zittert um ihn, aber sie bittet ihn niemals, zuhause zu bleiben —; denn sie kennt seine Antwort: „Mein Leben ist nur eines — die Menschenleben, die es zu retten gilt, zählen nach Tausenden." Wenn er um Haaresbreite einem Geschoß oder einer Bombe entgeht, zuckt er nur die Achseln: „Meine Nummer stand eben nicht darauf." Er erzählt ihr nur von seiner Arbeit, von den Menschen, die gerettet werden konnten. In welcher Gefahr er geschwebt hat, erfährt sie nur aus den Zeitungen. Einmal, als er gerade in Berlin ist und in der schwedischen Gesandtschaft wohnt, hört Estelle im Radio, daß alle vier Gesandtschaftsgebäude bei einem schweren alliierten Luftangriff zerstört wurden. Bange Stunden vergehen, bevor sie weiß, daß er am Leben ist: Er hatte den ganzen Tag in den Ämtern der Reichshauptstadt verhandelt. Eskommtanders Als der Krieg zu Ende ist und die Welt aufatmet, glaubt Estelle — wie Millionen anderer Frauen — ihren Mann wieder zu haben, 29
das alte Leben wieder beginnen zu können: gemeinsame Arbeit, Ausflüge, Radfahren, Schlittschuhlaufen . . . Es kommt anders. Im Mai 1948 ruft die UNO Graf Bernadotte geht als UNO-Vermittler zwischen Arabern und Juden nach Palästina, und schon nach ein paar Wochen gelingt es ihm, im Heiligen Lande die Kanonen zum Schweigen zu bringen. Estelle besucht ihn im Sommer auf Rhodos. Als sie wieder ins Flugzeug steigt, ruft er ihr nach: „Auf Wiedersehen im Herbst!", Es ist das letzte Mal, daß sie seine Stimme gehört h a t . . . Wie immer verachtet Bernadotte die Gefahr. Die Drohungen der Terroristen — „Schweden gehört Euch, Jerusalem uns!" — können ihn nicht dazu bestimmen, sich von einer bewaffneten Truppe begleiten zu lassen. Seine einzige Waffe bleibt die weifte Fahne der Parlamentäre. In Jerusalem, wo die Waffenruhe immer wieder gebrochen wird, lehnt er es ab, einen lUmweg um die Gefahrenzone zu machen: „Ich muß dieselben Gefahren auf mich nehmen, wie meine Mitarbeiter." Eine verirrte Kugel trifft seinen Wagen, aber nicht ihn selbst. Noch einmal stand seine Nummer nicht darauf . . . Wenige Minuten später trifft ihn die wohlgezielte Kugel eines Fanatikers ins Herz. Ein
lebendiges Denkmal
Die Frau des Mannes., der im Dienste des Friedens gefallen ist, gibt der Welt ein ergreifendes Beispiel der Würde und Menschlichkeit: Sie dankt der israelischen Regierung in einer von jeder Bitterkeit freien Botschaft für dhr Beileidstelegramm; sie findet einige Jahre später würdevolle Dankesworte, als bei Jerusalem ein Wald zum Andenken Bernadottes gepflanzt und ihr eine Gedenkurkunde übersandt wird; sie verzichtet auf jeden Schadenersatzanspruch gegenüber der Israelregierung, die in einer offiziellen Mitteilung an die Vereinten Nationen ihrer Bewunderung für Gräfin Bernadottes edelmütige Haltung Ausdruck verleiht. Wenige Stunden, nachdem sie vom Tode ihres Mannes erfahren hat, telefoniert sie mit seinem Nachfolger, Dr. Ralph Bunche, und ermutigt ihn, das Friedenswerk fortzusetzen. Ihr Schmerz veranlaßt sie nicht dazu, sich von der Welt zurückzuziehen und ihr ihre tätige Mitarbeit zu versagen. Ein Jahr nach dem Tode ihres Mannes wird sie Leiterin der schwedischen Pfad30
finderinnen; aber sie lehnt es ab, die Präsidentschaft des schwedischen Roten Kreuzes zu übernehmen, das Amt, das ihr Schwiegervater vierzig Jahre lang und das zuletzt ihr Mann bekleidet ha"tte. Sie will etwas leisten, aber nicht um ihres Mannes willen berufen -erden. Aus demselben Grunde zögert sie, als die UNO sie zusammen mit dem Vize-Präsidenten des Internationalen Gerichtshofs Jose Gustavo Guerrero, und dem hohen burmesischen Richter Aung Khine — in ihren Kriegsgefangenenausschuß wählt. „Mit einem Mann als seine Frau zusammenzuarbeiten", sa»t sie zum UNO-Generalsekretär Trygve Lie, „ist etwas ganz anderes, als sein Erbe anzutreten." Aber Trygve Lie gelingt es, sie davon zu überzeugen, daß sie wegen ihrer eigenen Fähigkeiten und Erfahrung berufen worden ist; daß eine Aufgabe der Menschlichkeit ihrer harrt, der sie sich nicht entziehen kann: Fast zwei Millionen deutscher, Hunderttausende von italienischen und japanischen Gefangenen und Deportierten des zweiten Weltkrieges sind immer noch verschollen. Ihre Familien wissen nicht, ob sie leben oder gestorben sind, ob sie nicht zurückkehren können oder es nicht wollen, wo sie sind oder begraben liegen. Der UNO-Ausschuß ist ihre letzte Hoffnung. So setzt Gräfin Estelle Bernadotte die Tradition fort, die vor anderthalb Jahrhunderten ein Marschall Napoleons begründet hatte. Ihre Aufgabe? Mühsame Kleinarbeit, das Sortieren spärlicher Angaben; Briefe, Berichte, unermüdliche Nachforschungen, die leider nur zu selten zum Erfolge führen. Und dennoch: Seit der Ausschuß arbeitet, sind schon ein paar tausend Menschen, darunter 1 500 Deutsche, aus dem Nichts zurückgeholt worden. Mit jedem einzelnen setzt Estelle Bernadotte ihrem Gatten und sich selber ein lebendiges Denkmal. Unischlaggestaltung: Karlheiaiz Dobsky Fotos: Ullstein-Bilderdienst. Bild auf Umschlagseite 2: Marie Curie im Laboratorium L u x - L e s e b o g e n 2 0 4 (Geschichte) — H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte - Bestellungen (vierteljährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt — Verlag Sebastian Lux, Murnau, Oberbayern, Seidl-Park. — Druck: Buchdruckerei Auer, Donauwörth 31
IN JEDES HAUS GEHÖRT DIESES WERK das ist das überzeugende Urteil von Presse und Rundfunk über die große, spannend gesdirtebene Weltgeschichte „Bild der Jahrhunderte" des Mündtner Historikers Otto Zierer. Von ungeheurer Dramatik sind die Bände dieses neuartigen, erregenden Geschichtswerkes erfüllt. Hier sind nicht, wie in Lehrbüdiern alter Art, die historischen Ereignisse mit trockener Sachlichkeit aneinandergereiht : die Vergangenheit wird vor dem Auge des Lesers in kulturgeschichtlichen Bildern zu neuem Leben errueckt. Menschen wie Du und ich schreiten über die wechselnde Bühne der Geschichte und lassen den Ablauf der Jahrhunderte, das Schauspiel uom Schicksal der Menschheit, ergriffen miterleben. Zterers „Bild der Jahrhunderte" Ist ein Werk für die Menschen unserer Zeit, für die Erwachsenen ruie für die Jugend. DER
KAUF
LEICHT
G E M A C H T . . .
„Schüler, deren Eltern das .Bild der Jahrhunderte' zu Hause haben, sind die besten Geschichtskenner in meinen Klassen", schreibt ein bekannter Erzieher. Der Verlag hat die Beschaffung der Bücherreihe leicht gemacht. Um jeder Familie den Kauf dieses prächtig ausgestatteten Standardwerkes zu ermöglichen, werden günstige Zahlungserleichterungen eingeräumt. Das „Bild der Jahrhunderte" kann auf Wunsch bei sofortiger Lieferung ohne Anzahlung gegen folgende Monatsraten erworben werden: DM 9.90 für die RotleinenAusgabe, DM 13,75 für die Lux-Luxus-Ausgabe. Das WeTk besteht aus zwanzig Doppelbänden, dem Band 41/44 und dem Historischen Lexikon; es umfaßt rund 8000 Seiten. 189 ausgewählte Kunsidrucktafeln, 500 Lexikonbilder und 124 historische Karten ergänzen den Text. Jeder Band enihält Anmerkungen, ausführliche Begriffserktärungen und Zeittafeln. SCHREIBEN
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