Wülf ang Schmale (Hrsg.)
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MannBi lde r Ein Lese- und Quellenbuch zur historischen Männerforschung
BERLIN VERLAG
Arno Spitz GmbH
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme MannBilder
:
ein Lese- und Quellenbuch zur historischen
Männerforschung / Wolfgang Schmale (Hrsg.l. Berlin : Berlin Verl. A. Spitz, 1998 (Innovationen; Bd. 4) ISBN 3-87061-698-9
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© 1998 BERLIN VERLAG Arno Spitz GmbH Pacelliallee 5
•
14195 Berlin
Inhalt
Einleitung: Gmder StIldies, Mäunergeschichte, Kärpergeschichte (\Volfgang Schmale)
7
"Lasse uns doch eine Religion stiften, ich und Du... ". Männliche Umwelt und weibliche Religiosität in der Frühen Neuzeit
35
(Anette Välker-Rasor) Schmähschriften ruHer Männem. Ein Blick auf den Kampfstil eines frühneuzeitlichen Juristen (Ralf-Peter Fuchs)
57
Friedrich August von Sachsen als Herrscher, Mann und Mythos. Ein Versuch über den Beinamen ,der Starke' (Katrin Keller) Die Karriere von Sodomiten in Paris während des
18. Jahrhunderts 113
(Angela Taeger) "Der Soldat, der Soldat ist der erste Mann volkstümlichen Soldatenliedem
79
im Staat...." MälUlerbilder in
1855 -1875 (Silke Gättsch)
131
"Ans Gemächt gegriffen": Zur Archäologie eines mälUruchen Umgangs
mit der Hexe (Gudmn Gersmaun)
155
Das Dritte Geschlecht und die Namenlose Liebe. Homosexuelle im München der Jahrhundertwende (Stephau Heiß)
183
Geregelte Identität. Mä1l1ruchkeitsko11zepte und Partnerschaft im Spielfilm der DDR (Stefan Zahlman11)
221
AutorIn11enverzeichnis
267
Wolfgang Schmale
Einleitung:
Gellder Studies, Männergeschichte, Körpergeschichte 1. Männergescbichte und Geschlechtergeschichte in Deutschland Hat die Alä1l1le'l,eschichte in der deutschen
Geschichtswissenschaft - Ge
schichtswissenschaft,als Disziplin und Zunft - einen sicheren Platz?! Nein. Das hat vielerlei Gründe; dabei zieht das eine das andere nach sich. Die
melis stIldies,
ob mit oder ohne historische Fragestellung, sind bekanntermaßen keine Erfin dung deutscher \Vissenschaftsdisziplinen, sie müssen erst noch integriert, mög licherweise erst noch verstanden werden. Ihre Notll'Clldigkeit, um nicht zu sagen
Legitimität, gehört noch nicht ZW11 aUge/Heim1l Wissensgut. Diese Situation ähnelt jener der Frauen- und Frauengeschichtsforschung vor 20/25 Jallfen. Aus die ser Forschwlg hat sich seit gerawller Zeit die GesclJlecbte'l,escbicbte entwickelt Diese Fortentwicklung könnte als Anzeichen von Dynamik und Vitalität einer Disziplin angesehen werden, aber dahinter verbirgt sich immer noch ein Grunddilemma historischen Erkenntnisstrebens heute, nicht nur in den deutschsprachigen Humanwissenschaften, nämlich den Ansatz der Geschlech tergeschichte als grundlegendes Interpretanlent, als essentielles Element histo rischen Verstehelis anzuerkennen und anzuwenden. Der Mlinnergeschichte geht es nicht anders, zumal sie sich derzeit in Gestalt einer Paarbildung mit der Frauengeschichte entwickelt, und schon deshalb mit altbekannten Hemnuussen umzugehen hat. Historische MfuUlerforschung in Deutschland hat im Augenblick vier Aufga ben zu bewältigen: - sie muß sich
im
Kontext der etablierten Geschlechtergeschichte und !nl
Blick auf die Frauengeschichtsforschung defilueren;
1 Für kritische Lektüre, die sich in der vorliegenden Fassung der Einleitung luederge schlagen hat, danke ich (i.n alphabetischer Reihenfolge): Wolfgang Burgdorf, Stefan Ehrenpreis, TIlOmas Fröschl, Stephan Heiß, Katriu Keller, Anette Völker-Rasor. Martiu Dinges hat nUr die Einleitung zu einem denUlächst erscheinenden Band zur Verfügung gestellt.; vgl. demuächst (1998): Dinges, Martin (Hg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit .im Spätnlluelalter und Flüher Neuzeit.
Wolfgang Schmale
8
- sie muß konkrete Fgrs.chungsarbeit leisten und lUlfegen, d.h. Quellen neu erschließen und möglichst viele Fallstudien auf den Weg bringen; - sie sollte eine 111eorie der Männergeschichte entwickeln; - sie sollte den Nachweis der RelevlUlz der historischen Mätulerforschung für die Analyse gegenwärtiger Problemstellungen erbringen. Die bisherigen nicht allzu zahlreichen deutschsprachigen Studien aus dem Bereich der MätUlergeschichte nehmen vorerst Fragestellungen und Konzepte der Frauellforschung auf.2 Das ergibt sich aus dem Vorsprung der Frauenfor schung. die deshalb nicht nur eine Vorreiter-, sondern auch eine Vorbildrolle übenllmmt bzw. übemelunen muß. Das ergibt sich zugleich aus einem - meta phorisch gesprochen
-
cross dressillg sowohl im Bereich der gegenwartsbezoge
nen wie der historischen Gender Studies: Wer Frauengeschichte betreibt, findet sclUlell den Weg zur MätUlergeschichte und wllgekehrt; wer sich (sehr allge mein ausgedrückt) mit Frauenfragen in Wlseren oder anderen zeitgenössischen Gesellschaften befaßt, findet sclUlell eine Brücke zu den men's studies wld unlgekehrt. Das klUUl oft eine gewisse jcl/Jillistiscbell/Jaskll!illistiscbc Ausschließ lichkeit mit Blick auf die denkbare BehlUldlung vieler lUlderer Fragestellungen beinhalten, so daß der imaginäre Graben zwischen Gcscbicbtc und Gcschlecbtc1J!,e
scbicbte nicht überbrückt wird. DelUlOch sind die Distanzen in der Gescluchts .wissenschaft heute lucht so groß, wie in der geschlechterorientierten Gesell schaftskritik. Frauen und MätUler die sich mit den spezifischen kulturellen und .•
sozialen Geschlechts- und Geschlechterrollen auseinlUldersetzen, werden, weil sie aus tradierten Geschlechterrollen ausgebrochen sind, von "den Anderen" mit dem klischeehaften Image von FCI/Jillisl/JIIS und Masklf!illisl/Jlfs ausgestattet; sie werden letztlich zu einem (Jueer-Geschlecht der Frauen- und MälUlerbe wegten verrührt, für das kein Platz im wlbewegten Gesellschaftskörper ist. Der Begriff Masklllillisl/Jlfs ist eigentlich anders assoziiert, d.h. er verweist auf Macho-Mät1l1lichkeit, soll hier aber, wie es eüuge Männerforscher vorgeschla gen haben, als mlU1l1bezogener Parallelbegriff zu Femüusmus verwendet wer den; jedenfalls sind die sonst gängigen Bezeiclu1Ungen, die im Grunde nicht
2 Jüngste Publikationen in Deutschland u.a.: BauSteineMänner (Hg.), Kritische Män
nerforschung. Neue Ansätze in der Geschlechtertheorie, Berlin/Hamburg 1996 (Argument Sonderband 246). Kühne, TIlOmas (Hg.), Mäunergeschichte - Geschlech tergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne, Frankfurt 1996 (Geschichte und Geschlechter; 14). Erhart, Walter/Henmaun, Britta (Hg.), Wann ist der Mann ein Maun? Zur Geschichte der Männlichkeit, Stuttgart 1997. Desweiteren: Frevert, Ute, Männergeschichte oder die Suche nach dem "ersten" Geschlecht, in: Manfred Hettling u.a. (Hg.), Was ist Gesellschaftsgesch..ichte?, München 1991, S. 31-43; dies., "Maun und Weib, und Weib und Mann". Geschlechter-Differenzen in der Moder ne,München 1995; Eifert, Christiane et al. (Hg.), Was sind Frauen? Was sind MäW1er? Geschlechterkonstruktion im historischen Wande� Frankfurt 1996.
GClIder Studios, Männergeschichte, Körpergeschichte
9
weniger mißverständlich auf jellJillistischc lI1ä11!teljorschcr hinauslaufen, auch nicht besser. Die Schwierigkeiten in der Rezeption der Frauen- und Männerforschwlg wld in der Rezeption der "Leute, die so etwas tun", rührt daher, daß Frauen- und Männerforschwlg"gegenwartsorientiert oder geschichtlich oder beides, nicht nur Y.erändecwlgen bewirken will, sondern gewissennaßen durch ihr schieres Vorhandensein Verändecwlgen provoziert. Wie aber steht es mit der Männergeschichtsforschung? Entsteht daraus, daß beispielsweise Lehrstühle von Frauen- in Geschlechtergeschichte umgewidmet wurden, eine ,Gleichberücksichtigung' der Männergeschichte
im Verhältnis
zur
Frauengeschichte? Die Umwidmungen gehen dem Ist-Zustand ein Stück vor aus, außerdem rührt die Gleichberücksichtigung der MfuUlergeschichte an die feministischen Wurzehl der Gesdllechtergeschichte. Ist die Mäll11ct;geschichte eigentlich eine Männergeschichte? Männergeschichte ist dann, weml man herausfindet, wann der Mann ein Mann ist, so könnte man die Intention des von Walter Erhart und Britta Herrnlatln herausgegebenen SatlUllelbatldes beschreiben. In diesem Sinn ist Männergeschidlte Geschichte der MfuUllidlkeit(en). Dalünter steckt wesentlich mehr, als es zunächst den Anschein haben mag. Die meisten Beiträge des Bandes von Erhart/HerrnlatUl setzen sidl ausführlich nüt femuüstischen Positionen zur Rolle von MfuUlern Ul der Geschidlte auseinatlder. Es geht dabei nach wie vor
wn
die explizite oder
zWllindest implizite Prällüsse der akademischen Gesdüchtswissenschaft des
19.
Jaluhwlderts, daß das, was der wissenschaftlichen Beschäftigung nüt Ge sdüchte würdig sei, von Mful1lern vollzogene Geschichte sei.3 Gerne hat sich jene Geschichtssdueibung mit der Geschichte "großer MfuUler" befaßt, aber z.T. geschalI dies in einem Zustand der Irreflexion mangels eUles bewußten geschlechtergeschichtlichen Blicks auf die Geschichte, der eine entspredlende kritische Würdigung der eigenen gesellschaftlichen Umgebung vorausgesetzt hätte. Der "kleine MatUl" war in der führenden, d.h. universitären Historiogra plüe ebensowelüg der historischen Betracht1Ulg wert wie die Mehrzalu der Frauen. Der wirkliche Gegensatz besteht deshalb nicht zwischen einer mful nerorientierten/ mämierdominierten Gesdüchtsschreibung hier und der Frau engeschichtsschreibung dort, sondern zwischen der Fortgeltung vieler Para meter der Wissenschaft des
19. Jahrhunderts einerseits und der Etablierung
antluopologischer, alltagsgesdüchtlicher und anderer Ansätze, Ul der die "gros sen MfuUler"
im
SUl1le einer vorrangig geschichtstreibenden Kraft beinalle wie
von selbst versdnvinden oder in ihrer ungroßen Mfuuuichkeit neu entdeckt
3 Bru:bara Stollberg-Rilinger bemerkt, dall es im 18./ 19. J ahrhundert durchaus schon eine Geschlechtergeschichte gab, daß ihr sozialer Ort im 19. Jalu:hundert aber oft bei
Außenseitern der etablierten universitären Geschichtswissenschaft auszumachen ist. S. dies., Väter der Frauengeschichte? Das Geschlecht als histOliographische Kategorie im 18. und 19. Jallrhundert, in: HZ 262 (1996), S. 39-71, hier besonders Abs. III.
10
Wolfgallg Schmale
werden. Im Kontext des geschlechtergeschichtlichen Panulleters bleibt die Alltagsgeschichte des MatUleS überwiegend noch zu schreiben, zumal 99% der Männer nicht zur wissenschaftlich konstruierten Gruppe der "großen MätUler" zählen konnten. Unabhängig von der Frage, inwieweit der
IUl
die (universitäre) Historiogra
plue des 19. JallChunderts erhobene Vorwurf trifft, sie habe vorwiegend eine Geschichte "großer MätUler" konstruiert oder zunundest gemeint, läßt sich dazu etwas atlders als bei Martin Dinges feststellen, daß es sich bei der "Geseluchte großer MätUler" nicht zwangsläufig
um
Männergeseluchte hatl
delt4, sondern höchstens um einen Teilaspekt, nämlich die Monopolisierung von \Vissensellaften jeder Art durch MätUler, rückgebwlden atl eine entspre chende Geschlechtertheorie, also
001
eine in einer bestitlUllten historischen
Phase spezifisch mätuiliche Verhaltensweise, einen spezifischen Ausdruck von Mätuilichkeit.5 In der Tat erweist Siell z.zt. "Männlichkeit" als ertragreicher Ansatz, und es ist zuzugestehen, daß zuerst eimual Ausprägungen von Mämilichkeiten in der Geschichte erforscht werden müssen, bevor mit Berechtigung gesagt werden kaml, es werde Mällner- bzw. Geschlechtergeseluchtsforschung betrieben. Der Katalog der z.Zt. erforschten Ausprägungen von Mällnlichkeiten ähnelt in Teilen dem der Erforschung von Ausprägungen von Weiblichkeiten. Vom Gefühlsleben über Träume bis hin zu Muskelkraft, Macht und Gewalt findet sich alles, weml allch noch wlsystematisch und nut vielen weißen Flecken.6 Die
4
Zu Martin Dinges vgL vorläufig: Dinges, Martin, Mäunergeschlchte als Geschlechter geschichte. Einleitung zur Sektion Mänuergeschichte als Geschlechtergeschlchte? (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit); Sektion unter der Leinlllg von Martin Dinges rull 20. September 1996 auf dem 41. Deutschen Historikertag in München, in: ebd., Skriptenheft II, S. 15 unten und 16 oben. 5 Dieser Aspekt von Mämilichkeit, der nicht zwangsläufig unter dem Label Mämilich keit bellandelt wird, ist inzwischen besser erforscht - aus frauengeschichtlicher Per spektive. Vgl. u.n.: Hausen, Karin/ Nowotny, Helga (Hg.), Wie mätnilich ist die Wis senschaft? Frmkfurt 1986; Schaeffer-Hegel, Barbara/Watson-Frmke, Barbara (Hg.), Mäuner Mythos Wissenschaft. Gl1l1ldbgentexte zur felniuistischen Wissenschaftskri tik, PfaffellWeiler 1989 (Feministische TIleorie und Kritik; 1); Harzig, Christime, Mätniliche Wissenschaft gegen den Strich gebürstet. Historische Frauenforschung in den USA, in: Beate Fieseler u.a (Hg.), Frauengeschlchte: gesucht - gefunden? .., Köln u.a. 1991, S. 128-145; Osietzki, Maria, Männlichkeit, Naturwissellschaft und Weib lichkeit. Wege der Frauenforschung Zu "Gender aud Science", iti: Beate Fieseier u.a. (Hg.), Frauengeschlchte: gesucht - gefundell? .., Köln U.3. 1991, S. 112-127; Buß mann, Hadunlod/Hof, Renate (Hg.), Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kul. turwissellschaften, Stuttgart 1995. 6 Außer den bereits genatlllten Sarmuelbänden siehe weiters (Titel chronologisch ge ordnet; sie versteheli sich nur als exemplarische Hinweise): Bmd, Harry (Hg.), The Making of Masculinities. The New Mell's Studies, London 1987; Knibiehler, Yvonne,
Gmder Stndies, Männergeschichte, Körpergeschichte
11
Ergebnisse wirbeln die Skala der im allgemeinen als typisdl weiblich bzw. als typisch männlich eradlteten Eigenschaften und Verhaltensweisen gründlich durcheinander. Die neue Skala, die dabei entsteht, entspricht auch nicht einfach jener Skala, auf der MälUllichkeiten von feminin über feminin/maskulin und maskulin bis maskulin/maskulin mit vielen Zwischenstufen eingeordnet wer den (für Weiblichkeiten gibt es die entsprechende Skala), weil sich die sexua-
Les peres aussi ont une histoire, Paris 1987 (dt: 1996); Brittan, Arthur, Masculirtity and Power, Oxford 1989; Völger, Gisela/v. Welck, Katrin (Hg.), Mäunerbande, Män nerbünde. Zur Rolle des Mannes im KultUIvergleich, 2 Bde., Köln 1990; Dinges, Martill, ,Weiblichkeit' in ,Mäunlichkeitsritualen'? Zu weiblichen Taktiken inl Ehren handel in Paris im 18. Jh., in: Francia 18/2 (1991), S. 71-98; Hall, Lesley A., Hidden Anxieties: Male Sexuality, 1890-1950, CaUlbridge 1991; Rohlje, Uwe, Autoerotik und Gesundheit. Untersuchungen zur gesellschaftlichen Entstehung und Funktion der Masturbationsbekämpfung inl 18. Jahrhundert, Münster-New York 1991; Roper, Mi chael/Tosh, Jolnl (Hg.), Manful AssertiollS: Masculinities in BritaUl sirlce 1800, Lon dou u.a. 1991; Corbiu, Alall- (Hg.), Die sexuelle Gewalt irl der Geschichte, Berliu 1992; Lütkehaus, Ludger, ,,0 Wollust, 0 Hölle". Die Onanie - Stationen einer Inqui sition, Frankfurt 1992; Badirlter, Elisabeth, XY. Die Identität des Mannes [frz. 1992J, München 1993; Gilnlore, David D., Mythos Mall1l. Wie Männer gemacht werden, Rollen, Rituale, Leitbilder [eng!. 1990J, München 1993; Guttandirl, Friedhelm, Das paradoxe Schicksal der Ehre. ZtlJll Wandel der adeligen Ehre und zur Bedeutung von Duell und Ehre für den monarchischen Zentralstaat, 0.0. 1993 (Schriften zur Kul tursoziologie; 13); Meinander, Henrik, Towards a Bourgeois Mallhood. Boy's Physical -Education irl Nordic Secondary ScllOols 1880-1940, Helsirlki 1994 (Commentationes Scientiarium SocialitlJll; 47); Roper, Lyndal, Oedipus aud the Devil. Witchcraft, Se xuality and Religion in Early Modem Europe, London 1994 (dt Ausg. Frankfurt 1995; darirl: Blut und Latze, Mäunlichkeit ill der Stadt der Flühen Neuzeit, 109-126); Stiibig, Heinz, Bildung, Militär und Gesellschaft irl Deutschland. Studien 'zur Ent wicklung irn 19. Jh., Köln 1994 (Studien und Dokumentation zur deutschen Bil dungsgeschichte; 54); Dinges, Martin, Soldatenkörper irl der Frohen Neuzeit. Erfall rungen mit einem unzureichend geschützten, fonnierten und verletzten Körper in Selbstzeugnissen, in: Richard van Dül.men (Hg.), Körper-Geschichten..., S. 71-98, Frankfurt 1996; Kuchta, David, The Making of the Self-Made Man: Class, CIOthirlg. and English Masculirtity, 1688-1832, irl: V. de Grazia/E. Furlough (Hg.), The Sex of ThirlgS. Gender and COllSumption irl Historical Perspective, Berkeley u.a. 1996, 54 78; Langewiesche, Dieter (Hg.), Militärgeschichte Heute, Göttingen 1996 (=Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, Heft 4); Wunder, Heide, Wie wird man ein Mann? Befunde am Begimt der Neuzeit (15.-17. Jaluhundert), irl: C. Eifert u.a. (Hg.), Was sind Frauen? Was sind Mä1ll1er? .., Frankfurt 1996, 122-155. Cohen, Jeffrey Je rorue/\Vheeler, Bonnie (Hg.), Becoming Male irl the Middle Ages, New York 1997 (Inhaltsübersicht und Eirlleitung sirld abrufbar unter: http://www.gwu.edu/ -humsci/bcom/irltro.htrn.
12
WolfglUlg Schmale
lierte7 Typisierung in die Grundelemente jCmitlill und
mt/skI/lift
in Frage stellen
läßt bzw. in Frage gestellt werden muß. Daß Mäl1nlichkeiten sich ebenso wie Weiblichkeiten endgültigen Determi ruerungen und Nomuerungen entziehen, erscheint lucht unbedingt überra schend. Die Umsetzung der hierzu erbrachten ·historischen Nachweise führt jedoch auf grundlegend veränderte MlUlllBilder. Ähnlich wie es bei genauem Hinschauen keine eindeutig determuuerte und nomuerte Arbeits-, Aufgaben und Rollenteilwlg zwischen Männem und Frauen gegeben hat8 wld gibt, äh neln sich Männlichkeiten und Weiblichkeiten ggf. bis hin zur Austauschbar keit. 9 Sie können sich m dieser Weise zur selben Zeit
im
selben kulturellen,
sozialen und/oder Identitätsraum ähneln, häufig gibt es jedoch eme chronolo gische, (kultur-)räumlidle und/oder soziale Divergenz. Die Erkennuus jedoch, daß es Ul jeder, auch historischen, Gesellschaft immer gleichzeitig Männlich keitefl und WeiblichkeitCII gibt, erfahrt noch nicht die Beachtung, die sie ver · dient. Diese Erkenntnis ist Ul den Geschlechterdiskussionen seit dem Spätmit telalterIO bis heute gegenwärtig, hat aber die Dominanz eines gegenteiligen Diskurses Ul der gelehrten Welt der (sog.) Elitenll, der Männer und Frauen als Männer wld Frauen nomüert, lücht verhuldem können. Die DonunlUlz eUles solchen Diskurses Ul der gelehrten Welt (gründlichere Forschungen
illl
den
Quellen könnten aber die verbreitete fulllalul1e, daß dieser Diskurs domimUlt gewesen sei, in Frage stellen) ist nidIt einfach übertragbar auf das, was Gesell schaften als Ganzes oder die verschiedenen sozialen Gruppen lünsichtlich der Determinierung wld NOl1l1ierung von MlUln und Frau gedacht und praktiziert haben. Die vergleicheflde Geschlechterforschwlg, die erst jetzt an Gewicht ge-
"Sexualiert" wird als Begriff gewisseunallen zwischen geschlechtlich nicht-deter miniert und sexuali.ri.ert benötigt S. dazu näheres in dem Abschnitt zum körperge schichtlichen tum der Geschlechtergeschichte. B S. Mitterauer, Michael, Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und Geschlechten:ollen in ländlichen Gesellschaften, in: J. Martin/R. Zoepfell (Hg.), Aufgaben, Rollen und Räume von Frau und Mann, 2. TIbde., S. 819-914, Freiburg/MÜllchen 1989 (Ver öffend. des Instituts für Historische Anthropologie; 5/2). Weiters: Hausen, Karin (Hg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Er werbschancen von Männem und Frauen, Göttingen 1993. 9 Ohne bis zur "Austauschbarkeit" zu gehen, deutet dies Trepp in der Vertauschung mäunlicher und. weiblicher Klischees an: Trepp, Alllle-Charlott, Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwi schen 1770 und 1840, Göttingen 1995 (Veröffend. d. Max-Planck-Instituts für Ge schichte; 123). 10 Ich begrenze meine Überlegungen auf die Zeit seit dem Spätmittelalter, da der All spmch des Buches nicht überdehnt werden soll. 11 Der Begriff "gelelute Welt der Eliten" velweist auf Unterscheidungen, die in der Forschung zwischen Literalität, Illiteralität, Oralität und Semi-Oralität getroffen wer den. 7
Gmder St/dies, Männergeschichte, Körpergeschichte winnt, geht
im
allgemeinen der Konstruktion zweier Geschlechter
13
in der Ge
schichte nach. Für eine Dekonstruktion der Zweigeschlechtertheorien (s.u.) läßt sie sich kaum vereinnalullen.12
2. Männergeschichte und Psychohistorie Der Katalog untersuchter Ausprägungen von Mäll1llichkeiten ergibt sich aus Studien, die selten weiter als ins 19./18. Jaluhundert zurückgehen. Der einzige Bereich der Männerforschung, in dem bisher,eine langfristige Perspektive von der Antike bis heute verfolgt wurde, ist die Geschichte der Schwulen und der männlichen Homosexualität(en). Dies ist kein Zufall, da die men's studies zentral� Impulse aus der Auseinandersetzung mit der Stellung, der Rolle und den sO�lopolitischen Problemen der Schwulen als soziale Minderheit erhalten haben. Nicht, daß diese Perspektive lückenlos erforscht wäre; die Geschichte der Schwulen (1n Europa) erschöpft sich vor allem in Untersuchungen zu den großen städtischen Zentren in Italien, zu Amsterdam, Paris und London usw., die Geschichte der intellektuellen, literarischen, ikonographischen (bildende Künste) und dogmatischen (Religion/Kirche; Recht/Gesetzgebung) Auseinan-
12 Aus der jüngeren Literatur (ohne Wiederholung der in den anderen Anm. genannten einschlägigen Arbeiten; chronologisch geordnet): lllich, Ivan, Genus. Zu einer histo rischen Kritik der Gleichheit [1982], München, 2. Aufl., 1995; Ostner, nona (Hg.), Soziologie der Geschlechterverhältnisse, München 1987; Roper, Lyndal, ,The Com mon Man', ,The C011l11lon Good', ,Colllmon Women': Gender and Meaning in the Gelman Reformation C011l11lune, in: Social Hist0l1 12, 1987, 1-21; Döllillg, hene, Der Mensch Ulld sein Weib. Frauen- und Mäunerbilder. Geschichtliche Ursplünge und Perspektiven, Berlin 1991 (richtet sich weniger an wissenschaftliches Lesepubli kum); Prokop, Ulrike, Die illusion vom großen Paar, Bd.1, Frankfurt 1991; Honeg ger, Claudia, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen Ulld das Weib, Frankfurt 1991; 21992; Habermas, Rebekka, Frauen Ulld Männer im Kampf um Leib, Ökonomie und Recht. Zur Beziehung der Geschlechter im Frank furt der Frühen Nenzeit, in: R. v. Dühnen (Hg.), Dynamik der Tradition, S. 109-136, Frankfurt 1992; Haupt, Heinz-Gerhard, Männliche und weibliche BelUfskarrieren im deutschen Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jh.: ZUlll Verhältnis von Klasse und Geschlecht, in: Geschichte und Gesellschaft 18 (1992), Heft 2, 143-160; Wun der, Heide, "Er ist die Sonn', sie ist der Mond". Frauen in der Flühen Neuzeit, Mün chen 1992; Schissler, Hanna (Hg.), Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel, Frankfurt 1993; Völker-Rasor, Auette, Bilderpaare - Paarbilder, Die Ehe in Autobio graphien des 16. Jahrhunderts, Freiburg 1993 (Reilte Historiae; 2); Glei.'iller, Ulrike, "Das Mensch" und "der Kerl". Die KonstlUktion von Geschlecht in Unzuchtsver fallIen der frühen Neuzeit (1700-1760), Frankfurt 1994 (Reille Geschichte und Ge schlechter; 8); Eifert, Christiane et al. (Hg.), Was sind Frauen? Was sind Männer? Ge schlechterkonstmktion im historischen Wandel, Frankfurt 1996.
Wolfgang Schmale
14
dersetzung mit homose>.."uellen Praktiken und Homosexualität ist recht gut aufgearbeitet, aber nicht lückenlos.13 Aber wie stand es
mit
dem "gemeinen
MalUl" der Frühen Neuzeit? Und gewiß wird bezüglich des 19. und zumindest des frühen
20. Jaluhunderts mehr über schwule Literaten, Künstler, Theater
leute, Wissenschaftler etc. gewußt als über den "kleinen Mann", was in beiden Fällen auch aus einem Quellenproblem resultiert.14 Oft fehlt es noch
iUl
einer
hinreichenden geographischen und sozialen Differenzierung. Im übrigen sind jedoch Forschungen zur Geschichte der Männlichkeit vor
1800 eher rar, mall
ehe Studie, die in frauengeschichtlicher Perspektive geschrieben wurde, aber viel über Männer aussagt, wäre im Kontext einer (in Zukunft) verdichteten Männergeschichtsforschung emeut zu prüfen.15 Not täte es an historischen Studien zur Psychologie des Mannes/der Männer, eine Überlegung, deren praktische Umsetzung auf große Schwierigkeiten stößt, weil sich die Psychohi storie, auch dalUl, weml sie mit anderen als geschlechtergeschichtlichen The-
(in chronologischer Erscheinungsfolge und ohne Wertung) u.a.: Stambolian,G./Marks, E. (Hg.), Homosexualities and French Uterature, Itha
13 S. aus der neuen Literatur
ca/London 1979; Lever, M., Les buchers de Sodome, Paris 1985; Kowalski, GudlUn von, Homosexualität in der DDR. Ein historischer Abriss, Marburg: Ver!. Arbeiter bewegung und Gesellschaftswiss., 1987 (Schriftenreihe der Studiengesellschaft für Sozialgeschichte und Arbeiterbewegung; 66); Chapman, Rowena/Rutherford, Jo nathan (Hg.), Male Order. Unwrapping Masculinity, London
1988; Gerard, Kent/
Hekma, Gert (Hg.), The Pursuit of Sodomy: Male Homosexuality in Renaissance alld Enlighterunent Europe, New York 1989; BoswelI,John, Christianity, Sodal Toleran ce, aud Homosexuality: Gay People in Western Europe from the Beginnhtg of the Christian Era to the Fourteenth CentulY, Ch.icago
1990; Derks, Paul, Die Schande
der heiligen Päderastie. Homosexualität und Öffeutlichkeit in der deutschen Literatur 1750-1850, Berlin 1990; Dubennan, Martill u.a. (Hg.), Hidden from History: Reclai ming the Gay and Lesbian Past, New York 1990; Sommer, Volker, Wider die Natur? Homosexualität und Evolution, München 1990; Limpricht, Comelia (Hg.), "Ver führte" Männel: das Leben der Körner Homosexuellen im Dritten Reich, Köhl 1991; Femandez, Dorninique, Der Raub des Gauymed. Eine Kulturgeschichte der Homo sexualität, Freiburg 1992; Hutter, Jörg, Die gesellschaftliche Kontrolle des homose xuellen Begehrens. Medizinische DefInitionen und juristische Sanktionen im 19. Jahrhundert, Frankfurt.
1992; Lautmatlll, Rüdiger/Taeger, Angela (Hg.), Mämlerliebe
inl alten Deutschland. Sozialgeschichtliehe Abhandlungen, Berlin 1992; Stemweiler, Andreas, Die Lust der Götter. HOlllosexualität in der italienischen Kunst. Von Do natello zu Caravaggio, Berlin 1993; Geuter, Ulfried, Homosexualität in der deutschen Jugendbewegung. Jugendfreundschaft und Sexualität im Diskurs von Jugendbewe gung, Psychoatlalyse und Jugendpsychologie des 20. Jh., Frankfurt JOrnl, Same Sex Union in Preruodem Europe, New York 1994.
1994; BoswelI,
14 Vgl. hierzu auch die Beiträge von Angeh Taeger und Stephan Heiß in diesenI Band. 1 5 Dies würde gelten beispielsweise für: Koch, Elisabeth, Maior dignitas est in sexu virili. Das weibliche Geschlecht im Nonuellsystem des COlllmUlle SOllderoefte; 57).
16. Jh., Frankfurt 1991 (lus
15
Gellder Studies, Mällllergeschichte, Körpergeschichte iuen befaßt ist, rasch den Vorwurf der Phantasterei zuzieht.
Ein
konzeptionel
les und methodisches Instrumentarium ist hier erst in der Entwicklwlg begrif fen, andererseits bemühen gerade Nicht-HistorikerInnen wie HudsonlJacot geOle biographisches Quellenmaterial und schreiben damit ganz nebenbei ein Stück Psychohistorie - über dessen Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit heftig ge stritten werden kann.16 Die nicht zuletzt von quellenkritischen Bedenken getragene Zurückhaltung vieler HistorikerItUlen ist verständlich, aber ein Buch wie das geUalUlte von Hudson/Jacot zeigt, daß möglicherweise der Psychohistorie eine kritische Schlüsselrolle zukommt/zukommen wird 17: Das Autorenpaar argwllentiert in dem Sinne historisch, als es versucht, für Ergebnisse aus psychologisch empirischen Studien der Gegenwart zusätzliche empirische Befunde vorrangig in historischem biographjschem Material zu fmden. Ginge diese Methode auf, würde die Diskussion wu
sex versus ,gellder aus den Angeln gehoben, weil ten
denziell bewiesen werden soll, daß Männlichkeit/Weiblichkeit in nicht unbe deutendem Maß biologisch begründet ist und nur zu einem allderen Teil, des sen Ausmaß noch nicht feststünde, einem gesellschaftlich-kulturellen Kon strukt entspringt. Es gälte dalUl nicbt der Satz "MalUl ist nicht Mallll, sondern MalUl wird zum MalUl gemacbt', sondern eben "Mallll ist MatUl". Der Ansatz von Hudson/Jacot ist trotz aller Kritik ernstzunelUllenl 8, weil bei ihnen die tendenzielle Ableitwlg des kulturellen männlichen Geschlechts aus dem biolo gischen männlichen Geschlecht nicht phallozentrisch erfolgt; es ist bei diesem Autorenpaar nicht der Phallus, der den Mann zum Mann macht, sondern es sind dies u.a. Ergebnisse der Hirn-/Gehirnforschung, die
mit
Ergebnissen aus
empirischen psychologischen Tests, Befragungen usf. sowie historischen Be funden (vernleintliche Befunde vielleicht?) verbunden werden. Der Halld lungsspielraum des Mannes, auf die eine oder eben auf die andere Art MatUl zu sein, reduziert sich dadurch, und damit reduziert sich auch der Argumentati onsspielraum der Gender Studies. Es fällt nicht schwer, die Studie von Hud son/Jacot, vor allem die formulierte Hypothese von den tllJO
Il1ittdsl9, zu kritisie Imd
ren: sie bewegt sich im Schnittmengenraum verschiedener Human-
Naturwissenschaften, ein Bewegungsfeld, das von vielen AutorInnen der Gen-
16 Hudson, Liam/Jncot, Bemndine, Wie Männer denken. Intellekt, Intimität und eroti
sche Phantasie, Frankfurt 1993. 17 VgI. auch Lyndal Roper (wie A1l1Il. 6), Einleitung, bes. S. 14, sowie Hinweise auf weitere psychohistorische Studien zu Mm:tin Luther oder Ludwig XIII., S. 257, Anm. 29. Hingewiesen sei generell auch auf das "Forum Psychohistorie", 1993 ff. (fü bingen, edition diskord). 18 Kühne (wie Anm. 2), Einleitung, bietet keine Auseinandersetzung mit diesen An sätzelL 19 Zur Gegenposition, die Hudson/Jaeot selber diskutieren, vgl. u.a. Benderly, B. L., nie Myth ofTwo Miuds. Whnt Gender Menns wd Doesn't Meau, New York 1987.
Wolfgrulg Schmale
16
der Studies wegen seiner gefalIrvollen Untiefen verständlichenveise gemieden wird. Transdisziplinäre Ansätze kölUlel1 im Grunde nur von interdisziplinären Arbeitsgruppen ausgeführt werden. Mit rulderen Worten: Ansatz und HypotlIe
sen wie bei Hudson/Jacot, die drullit weder die ersten noch die einzigen sind,
sind noch nicht ausdiskutiert, Anlaß zur Zurückhaltung in der Diskussion besteht nicht20 - und sollte nicht bestehen, weil das Feld in der Öffentlichkeit z.Zt. von pseudowissenschaftlichen Büchern oder Magazinartikeln bestellt wird
und eine kritische Durchdringung der im Aufbau befindlichen n�llen Stereoty pen mit jedem Tag schwieriger macht.
-Die Erforschung von Männlichkeiten als Kern von Mät1nergeschichtsfor SChWlg ist notwendig, aber es hruldelt sich nur um einen möglichen, nicht den
einzig möglichen Ansatz. Zu sehr ordnet er sich in die etablierten Kategorien der inzwischen klassischen Gender Studies ein. Nicht inUller wird bei der Er fotschwlg von Mämilichkeiten der Feminismusfalle ausgewichen, das heißt, es
wird ungewollt oder gewollt die Rehabilitation von Männern gegenüber der feministischen Kritik betrieben, soweit es nicht um mehr oder minder schuld bewußte Eingeständnisse geht, daß Männer sich ändern müssen.21 Eine Reille historischer VorruUlallmen feministischer Mällnerbetrachtung, die zu den In itialzündern der Männerforschwlg gehört, sind in der Tat kritikwürdig, die
Frage ist aber, welches Konzept die treffendere Kritik ernlöglicht. Das l<;on zept von Mälllilichkeit benötigt das Konzept von Weiblidlkeit, geht von zwei
biologischen (sex) und zwei kulturellen Geschlechtern (gender) 'aus, wenngleich beide nicht scharf zu trellne� sind. Es besteht in der Regel Übereinstimmung, daß der PI!!illus nicht genuin, schon gar nicht naturgegeben, das kulturelle Geschlecht von Männern festlegt, sondern daß der in bestimmten historischen Epochen als genuin bzw. als natürlich erachtete ZUSallUllenhrulg zwischen männlichem
sex
wld mä1l1ilidlem
matisch, sozial etc. Die
gettdcr konstruiert wird: philosophisdl, dog
Grundidee, daß
das
kulturelle Geschlecht eine
,,natürliche" Folge des biologischen sei, läßt sich (unabhängig von der relativ jungen Begrifflidlkeit biologisches versus kulturelles Geschlecht) sehr weit zurückverfolgen, jedenfalls in tlleoretischen, religiös-dogmatischen, philosophi schen, juristischen und ggf. medizinischen Texten, um nur einige Gattungen zu nennt;n. Das heißt aber nidIt zwangsläufig, daß diese Texte literater Eliten die
Mehrheitsmeinung repräsentieren oder inuner bestimmt haben. Daß Menschen,
der Überwiegende Teil einer Gesellschaft, auch überzeugt waren, sie müßten
ihr Leben nach solchen religiösen oder weltlichen Dogmen einrichten, daß sie
20 Aus der deutschen Diskussion vgl. u.a. Carrier, Martin/Mittelstraß, Jürgen, Geist, GehlOl, Verhalten. Das Leib-Seele-Problem uud die Philosophie der Psychologie, Beclin 1989. 2 1 Meiner (also subjektiven) Lektüre nach erliegt der Sammelband von Erhart/ Hewllaun in Teilen der Versuchung, Männer zu rehabilitieren. Auch Kühne scheint nicht frei von dieser Intention (ebd., S. 9).
GetJder StIldies, Mät1nergeschichte, Körpergeschichte
17
diese Dogmen interiorisierten und praktizierten, damit systematisch konfron tiert und infiltriert wurden, läßt sich nicht bruchlos weit in die Vergangenheit zurückverfolgen. Für unsere zeitgenössische Gesellschaft liegt diese einschlägi ge Phase im späten
19. und wesentlichen Teilen des 20. Jahrhunderts, nach
einer intensiven tlleoretischen Vorbereitung llll 18. und frühen 1 9. Jahrhwldert. Für die Frühe Neuzeit, je nach kulturellem Raum seit dem 1 4./ 15. Jahrhundert (Oberitalien), lassen sich hlllgegen ausgesprochen androgyne Konzepte in den Theorien wie auch III der Lebenspraxis nachweisen. Die Geschlechterge schichte, soweit sie bei der Untersuchung von Weiblichkeit und MälUllichkeit verharrt, beruht gleichfalls auf einer Zweigeschlechtertheorie, wellllgleich III elllem anderen Smne als dem der Aufklärung. DlUnit ist beispielsweise die Frühe Neuzeit nur fragmentarisch III den Griff zu bekommen. Existiert eine für die historische Forsd1Ung praktikable Alternative? Ellle durchaus spal1l1en de Möglichkeit wäre sicherlich, den Ansatz von Hudson/Jacot aufzugreifen, d.h. deren HypotlIesen nach Mallgabe der professionellen Quellenkritik lUll historischen Material zu untersuchen. Dies kann nur lllterdiszipllllär m Zu slU11lnenarbeit
geistes-
wld
naturwissenschaftlicher
HumlUlwissenschaften
geschehen, denn es bleibt ja auch zu klären, ob die Ergebnisse empirischer Untersuchwlgen beispielsweise über Unterschiede zwischen dem Hirn von Frauen und Männem ohne weiteres auf frühere historische Epochen angewen det werden kÖIU1en. Die Frage mag sinnlos erschelllen, da ellle affirmative Antwort festzustehen schelllt, aber nicht zuletzt hat auch der biologische, ana tomische, ,genetische' (etc.) Blick auf den Menschen ellle eigene Konstrukti onsgeschichte, m deren kritischer Erkenntnis die schellIbar so eindeutige Spra che empirischer Forschwlgsergebnisse zu brechen ist.22 Wenden wir uns von Hudson/Jacot einem anderen Ansatz zu.
3. Männergeschichte und feministische Theorie JUditll Butler hat mit iluen Büchem über das "Unbehagen der Geschlechter" und über die "Diskursiven Grenzen des Geschlechts" ellle fruchtbare Debatte ausgelöst.23 Butler macht zunächst darauf aufmerksam, daß mit der Unter-
22
Zum Bewußtsein in den Naturwissenschaften des 18./19. Jalu:hunde11s von der "Geschlchtlichkeit des Natulwissens" s. Engelhardt, Dietrich von, Historisches Be wußtsein in der Naturwissenschaft von der Aufklä1Ung bis zum Positivismus, Frei burg/München 1979 (Orbis Academicus, Sonderbd. 4). 23 Butler, Juditll, Gender Trouble: Feminism aud the Subversion of Identity, London 1990 (dt. Ausg.: Das Unbehagen der G.eschlechter, Frankfurt 1991); dies., KÖlper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Bemn 1995 (N ew York 1993: Bodies iliat m atter).
Wolfgm1g Selullale
18 scheidung zwischen
sex und gender noch
nicht allzuviel gewonnen ist. Auch das
sogenannte biologische Geschlecht ist ein Konstrukt, mit dem der Körper
normiert wird. Sie führt uns auf eine gmlZ grundlegende Frage zurück, nämlich
inwieweit die ,Dinge' außerhalb WIseres Bewußtseins, außerhalb der Ideen (klassisch gesprochen), die wir uns davon machen, existieren. Elisabeth B adin
ter liußerte, gestützt auf m1dlropologische Forschungen zur Altsteinzeit, die
Vermutung, daß in einer urgeschichtlichen Phase der Menschheit Frauen und
Männer sich über den generierenden Zweck des Geschlechtsverkehrs nicht im
klaren waren. Sie hatten Geschlechtsverkehr, aber sie brachten die Reprodukti
on nicht zwruigsläufig drunit in Verbindwlg.z4 Nelmlen wir an, es habe tatsäch
lich eine Phase in der Menschheitsgeschichte gegeben, in der "die Männer sich die Reproduktion der Gattung als eine Art Partbe/logcnese vorgestellt wId ihren Gefährtitu1en damit die ungeheure Macht zuerkmmt haben, Leben zu schaf fen"z5, dam1 ist siel1er, daß es in dieser Phase keinen Begriff vom biologischen,
vielleidt t aber vom kulturellen Geschlecht gab. (penis und Spenna begründe ten kein Patriarchat - das ist der ZusrunmenhruIg, in dem Badinter die ge
nrulllte Überiegung rulstellt.) Mrul könnte auch auf die Geschieltte von Adam
und Eva verweisen. Hätten sie nicht den Apfel vom B aum der Erkemll:.Ilis
gegessen, hätten sie zwar auch zus ammen Kinder gezeugt, weil das die göttli
che Bestimmung des Menschen war, aber sie hätten dies ohne ein Bewußtsein
von biologischem Geschlecht getm1. Mit dem Verzehr des Apfels begUUlt lt.
Genesis die Bewußtseins- und Kulturgeschichte der Menschheit. Dies vennit teIn die Inhalte der Erzählungen, die in der Bibel unmittelbar rulsdlließen.
Bewußtsein ist kein außerzeitliches, sondem ein eminent historisches Phäno
men. Bewußtsein ist eine zeitlich fortlaufende Konstruktion von Gedächtnis, in der im Lauf der Zeiten weniger verlorengeht als neu hinzukommt. Ist das
biologische Geschlecht eitUlIal als Konstrukt im Gedächtnis verankert, bleibt e s da. Außerhalb d e s historischen Bewußtseins und der bewußten Kulturge schichte gibt es it1 gewissem SitUl kein Geschlecht. Deshalb ist auch das sog.
biologische Geschlecht eine "kulturelle Norm, die die Materialisierung von
Körpem regiert", wie Buder26 es formuliert. Der Budersche Ansatz wirkt viel leicht weniger verwirrend, weml die irreführende wId von Butler attackierte
Gegenüberstellung von
weil sie suggeriert,
sex wld gmder aufgegeben wird, irreführend deshalb, sex sei keine kulturelle Konstmktion. Der gedankenspieleri
sche Rückgriff auf die Bibel bzw. bei Badinter auf eine Whgeschichdiche Phase kam1 verdeutlichen, daß auch das biologische Geschlecht ein kulturelles
Geschlecht ist. Wir kölUlen hittter j enen Augenblick der Geschichte, der it1 der
24
Badinter, Elisabeth, Ich bin Du. Auf dem Weg in die androgyne Gesellschaft, Mün chen 1994 (frz. Erstausg. 1986), hier S. 45f. 25 Badinter (wie Alll.ll 23), 46. 26 Buder, KÖlper von Gewicht, 22, olllle Rekurs an dieser S telle auf die biblischen Geschichte oder Badllter.
Gmder Stlldies, Männergeschichte, Körpergeschichte
19
Bibel metaphorisch als Verlust der Unschuld bzw. als BegUUl von Bewußtheit und Gedächtnis gekelUlzeichnet ist, nicht zurück. Dies Dilemma greift Butler auf, wenn sie darauf verweist, daß ,Natur' keine ,passive Oberfläche' darstellt, auf die ,Kultur einwirkt'. Sie schreibt weiter: "Falls das soziale Geschlecht27 die soziale Kons truktion des biologischen Geschlechts ist wld falls es zu diesem »biologischen Geschlecht« außer auf dem Wege seiner Konstruktion keinen Zugang gibt, dann sieht es nicht nur so aus, daß das biologische Geschlecht vom sozialen absorbiert wird, sondem daß das »biologische Geschlecht« zu so etwas wie einer Fiktion, vielleicht auch einer Phantasie wird, die rückwirkend an einem vorsprachlichen Ort angelegt wird, zu dem es keinen u11.l1littelbaren
Zugang gib t. "28
Als Konzept ist der Butlersehe Ansatz dem von Hudson/Jacot diametral entgegengesetzt. Während die letzteren beiden eine tendenzielle Einheit von biologischem und kulturellem Geschlecht herstellen wld damit in gewisser Weise in die Menschheitsgeschichte als wl\veigerlich einschreiben, s tellt Butler hingegen zwar auch eine .Art Einheit zwischen den beiden Geschlechtstypen her, indem sie die Bipolarität aufhebt und Geschlecht grundsätzlich als Kon s truktion begreift, aber für sie liegt in dieser Analyse die Möglichkeit begriffen, zukünftig die Grenzen, die die Kons truktion bedeutet, zu überschreiten und die kulturellen Festlegwlgen auszumanövrieren. Ihr weiterzielender Gedanke dabei ist ein Mehr an Demokratisiecwlg der Gesellschaft, für die es einer Fun damentalkritik des "heterosexuellen Imperativs " bedarf. Butler argumentiert prinzipiell gegen das Einschreiben von (geschlechtlichen) Unweigerlichkeiten in die Menschheitsgeschichte. Existieren die ,Dinge', also auch unser Körper, jenseits unserer Ideen, die wir uns davon machen? Gibt es das "absolute Draußen", um mit Lacan zu spre chen, auf den sich Juditll Butler wiederllOlt stützt? Die Erfassung der Welt ist zugleich immer Interpretation. Beides erfolgt in Gestalt von Sprache. "Kaml Sprache", so Butler, "einfach auf Materialität referieren, oder ist die Sprache gerade auch die Bedingung, unter der Materialität auftritt?"29 Um diese Frage beantworten zu kömlen, müssen wir uns zuerst die "Sprache" in der Ge schichte anschauen. Sprache sind nicht nur gesprochene oder geschriebene ,Texte', sondem auch Gestik und Symbolik, Ikonographie und Musik, Archi tektur, Gestaltung von Materie. Die Sprache über den menschlichen Körper ist eine solche umfassende Sprache, in deren Kontext sich Geschlechterdetenlli nationen herausgebildet haben oder konterkariert wurden. Aus geschichtswis senschaftlicher Sicht erscheint es mir sinnvoller, von dieser Sprache auszuge-
27
B u der
velwendet hier "soziales Geschlecht" im SUllle
VOll
kulnuellem Geschlecht,
täumt aber eUl, daß es sich dabei um eUle "ungute Austauschbarkeit" haudele (Kör per von Gewicht, 26).
28 Ebd., S. 26. 29 Buder, Körper VOll Gewicht, S. 55.
20
Wolfgang Schmale
hen, statt von der Vorannallme einer Fundamentalunterscheidung in
sex
und
gel/der. Es scheint mir sinnvoller, vom menschlichen Körper als Objekt dieser Sprache auszugehen, als von den Geschlechtem. Die Folge davon ist eine ziemliche Verwirrung, weil ,imperative' Determinie rungen schwerer nachweisbar sind. Die Vorannallll1e von zweimalzwei Ge schlechtstypen (sex/gender; weiblch/mihllllich) hat bisher das historische Ar beiten im Bereich der Geschlechtergeschichte zwar maßgeblich vereinfacht, aber sie kaml nach der Kritik einerseits durch Hudson/Jacot und �U1dererseits durch Buder -die Namen stehen hier nur für viele -nicht weiterhin unbefragt übemommen werden.30 Die Verwirrung, die durch eine Analyse der Sprache über den Körper entsteht, beruht darauf, daß sich dabei keine strikten Ent wicklungslinien durch die Menschheitsgeschichte hindurch zeichnen lassen und die Sicherheit, die die zweimalzwei-Vonulllallll1e gewährte, verloren geht. Ein Kulturvergleich kall11 all dieser Stelle nicht -geleistet werden, ich beschränke mich auf den europäischen Raum seit dem Spiitmittelalter.
4. Argumente für einen körpergeschichtlichen turJl der Ge s chlechtergeschichte
,Körper' taucht in allen möglichen Sinnzusml1menhängell auf.3 1 Es kall11 sich um einen nicht-geschiechdich determinierten Körper handeln, zugleich um einen essentiell nicht-geschlechdichen, der aber weiblich oder männlich mate rialisiert werden kall11. Geschlechdich und nicht-geschlechdich determinierte Körper bestehen zur selben Zeit nebeneinalider - für viele Jahrhunderte. ,Orte', deren Matrix zu der einen Zeit in einem gesdl1echdich detemunierten mämwchen oder weiblichen Köq1er bestmld, erhalten zu einer anderen Zeit einen gesdl1echdich wldefinierten Körper als Matrix. Ein solches Beispiel findet sich in der okzidentalen Stadtarchitektur. Während die Architektur Adlens im klassischen griechischen Zeitalter den Grundallllallll1en der Zeit über die Beschaffenheit je des weiblichen und männlichen Körpers folgte, also einen geschlechdich (gender) determinierten Körper zugrundelegte, berullte die ,Kreislaufarchitektur' des 17./18. JallChunderts in der Folge von Harveys Beschreibung des Blut- und Herzkreislaufes, die vemlehrt auf die Stadtardu tektur als Prinzip übertragen wurde, auf der Matrix eines 1ucht-geschlechdich
30 Zur Kritik am Sex-gender-Konzept vgl. auch Gatens, Moira, ImaginalY Bodies. 31
Ethics, Power alld Corporeality, London 1996. Die Körperforschuug ist außerordentlich breit angelegt, jene zur Geschichte des 1l1enschlichen Körpers holt rapide auf. Eine Resü1l1ee dieser Literatur ist hier nicht beabsichtigt.
Gmder StIldies, Männergeschidlte, Körpergeschichte
21
determinierten Körpets.32 Dahinter verbirgt sich eine interessante Verlagerung: der nicht-geschlechtlich detemlinierte Körper wird zur stadtarchitektonischen Matrix und zur Matrix des Individualismusprinzips in einer Zeit, in der sich das sogenannte Zweigeschlechtmodell definitiv herauszubilden beginnt und dessen bipolare Grundstruktur auf immer mehr Sinnbereiche übertragen wird. So erhält in dieser Zeit auch ,die Natur' (pfhUlzen z.B.) eine Deutung nach dem bipolaren Geschlechtsmuster.33 Zumeist existieren die Vorstellung vom nicht geschlechtlich determinierten und vom geschlechtlich detemlinierten Körper zur gleichen Zeit, ihr topischer Ort verlagert sich jedoch. Diese Beobachtung ist deshalb von Gewicht, weil zumindest in Europa die Interpretation von Welt
-
IVelt meint hier gewissermaßen alles, was der sinnli
chen und intellektuellen Erfassung durch den Menschen zugänglich ist - mit Hilfe von Körperbildern bewerkstelligt wird. .Anders formuliert: die Welt wird durch den menschlichen Körper hindurch verstanden. Deshalb ist es eminent wichtig, geschlechtlich determinierte Körperbilder immer im Zusammenhang nlit nicht-geschledltlich detem1inierten Körperbildern wie dem mystischen Körper zu untersuchen.34 Die Welterfassung durch den menschlichen Körper hindurch krullI offen sidltbar geschehen, oft bedeutet das Körperbild aber eine verborgene Matrix, die sich erst abzeichnet, wenn man sich auf einen sehr hohen Berg begibt, nach unten schaut, und gleich einer Luftaufnalmle aus dem Flugzeug, allmälllich
lUl
der Erdoberfläche unter der Haut liegende Konturen
3 2 S. die entsprechenden Kapitel bei Seuuett, llichard, Fleisch und Stein. Der KÖlper
und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Berlin 1995; zu Griechenland s. auch Vemaut, Jean-Pierre, Der maskierte Dionysos. Stadtplanung und Geschlechterrollen in der griechischen Antike [1965-1986], Berlin 1996 (Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliodlek; 55). 33 Schiebinger, Londa, Anl Busen der Natur. Erkelmtnis und Geschlecht in den AnHin gen der Wissenschaft, Stuttgart 1995. 34 Ohne zwangsläufig derselben Meinung zu sein, halte ich die Arbeiten von C. Bynum rur außerordentlich anregend; vgl. zuletzt: BynUID, Caroline, Warum das ganze Thea ter mit dem Körper? Die Sicht eUler Mediävistitl, m: Historische Anduopologie 4 (1996), S. 1-33; zuvor. dies. [c. Walker Bynum], TIle ReSUlyection of the Body UI Western Christianity, 200-1336, New York 1995. Böhme, Gemot/Böhnle, Hartmut, Feuer, Wasser, Erde, Luft Eine Kulturgeschichte der Elemente, München 1996, be handeln sehr ausruhrlich KÖlpervorstellung und KÖlpermetapher im Mittelalter und in der Flühen Neuzeit Zwei "Klassiker": Kantorowicz, EOlst, Die zwei KÖlper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters [1957], München, 2. Auf!. 1994; StlUve, Tilnlan, Die Entwicklung der organologischen Staatsauffassung im Mittelalter, Stuttgart 1978. Außerordentlich anregend: Schremer, Klaus/Sclnutzler, Norbert (Hg.), Gepeinigt, begehrt, vergesseu. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der flühen Neuzeit, München 1992. Nützlich: Simek, Rudolf, Erde uud Kosmos ml Mittelalter. Das Weltbild vor Kolumbus, München 1992.
22
Wolfgang Schmale
bemerkt, die bei geringerer Distanz nicht zu entdecken sind. Diese Erfahrung gilt beispielsweise für den großen Komplex von Körper, Ehre und Strafen, wenn der Blick von den im Vordergrund stehenden Körperstrafen zu den subtileren Beziehungen wld gegenseitigen Durchdringungen dieser drei Teilsy steme gewendet wird. In der jüngeren Geschidlte Europas vom 13./14. Jahrhundert bis heute läßt sich feststellen, daß die nicht-geschlechtlidl detenninierte Metapher vom my stischen Körper in vielen Bereichen von geschlechtlich deternunierten, von sexualierten Körperbildern abgelös t wird. Das Bild vom mystischen Körper, angewendet auf die politische Gemeinschaft im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, ist von einem bestimmten Zeitpwlkt an nicht mehr verwendbar, weil es nicht mehr verstanden wird. An seine Stelle rückt (in diesen topischen Ort rückt ein) eine bewußt mämIDche Körpenlletapher oder eine bewußt weibliche. Die sexualierte Körpennetapher gewinnt seit dem sogenannten Absolutismus an Boden wld erlebt iluen Höhepunkt in der ersten Hälfte des 20. Jaluhun derts. Sehr gut läßt sidl dies an der Belegung der Weimarer Republik mit einer erotisierten, ja sexualiJierten weiblichen Körpermetapher im Gegensatz zur Belegung des "Dritten Reiches" in der nationalsozialis tischen Doktrin mit einer phallisch-mänlIDchen Körpernletapher aufweisen35, man kann sich aber ebenso
Le Peu La Republique/,Marianlle' als geeignete Metapher für die
den Streit in der Hochphas e der Französischen Revolution um ple/Herkules oder
republikanische Gesellschaft vornehmen.36
Gehen wir einmal von diesen politischen Körpermetaphern als Fixpwlkten in den Zeiten aus. Die politische Körpeonetapher als Ausgangspwlkt ist nicht willkürlich gewälllt: sie bezieht sich auf das Ganze politisch-sozialer Gemein s chaften und trifft eine Aussage über das Ganze, über die Menschen und ilue ideellen wie materiellen Institutionen, über die sie sich organisieren. Die Um setzung des Verstänruusses vom weiblichen und männlichen Körper in die Stadtarchitektur des klassischen Athens erfolgte aud} nicht direkt, sondem über den "Umweg" über die politische Verfassung der Gesellschaft. Die politi sche Ausprägung der Gesellschaft reflektierte das Körperverstänruus, beide trafen sich in der Stadtarchitektur wieder. Die politische Körpemletapher im Spätnuttelalter und in der frühen Früh neuzeit ist sakral wld mystisch, auch kosmologisch, ausgerichtet, sie ist (in der Regel) nicht se}'.'ualiert. Idl nenne dies, unter oben besagter Ausklammerung
35 S. Luuich, Frederick A., La Loi du Pere vs. Le Desu de la Mere. Zur Mäunerphan tasie der Weimarer Republik, in: Erhart/HerrruaUll (wie Antu. 2), 249-266. Zum Na
tionalsozialismus ausfiilu:licher als Luuich: TIleweieit, Klaus, Mäunelphantasien, Bd.1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte; ßd. 2: Mällllerkölper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors, MÜllehen (dtv-Ausg.) 1995. 36 Vgl. g1Undsätzlich Herding, Klaus/Reichardt, Rolf, Die Bildpublizistik der Französi schen Revolution, Frankfurt 1989.
Gmder Studies, Männergeschichte, Körpergeschichte
23
der Antike und des älteren Mittelalters, die erste Pbase. Die politische Körper metapher der späten Frühneuzeit wird allmälilich sexualiert, aber es sind eine weibliche und männliche Köq:>enlletapher nebeneinander möglich. Nebenein ander heißt, daß sie sich zur gleichen Zeit auf verschiedene politische Gemein schaften beziehen, die weibliche Metapher vorzugsweise auf die frühneuzeitli chen Republiken und die Städte, die mäl11iliche vorzugsweise auf die großen Monarchien. In Frankreich beispielsweise rückt der König, in Sachsen der Kurfürst (August der Starke) in den topischen Ort der Körpenlletapher ein, die auf diese Weise nicht nur männlich sexualiert, sondem mät11ilich sexuali.riert wird (bei König/Kurfürst wird nutgedacht: Hof und Mätresse, Potenzbeweise durch die VielzalLl unehelicher Kinder). Nebeneinander kann aber auch heißen, daß, wie in der Französischen Revolution, beide sexualierten Metaphem das selbe Objekt, die republik:Ulisch organisierte Gesellschaft bezeichnen können. Ich nenne dies die �/leite Pbase. Im weiteren Verlauf der Neuzeit erscheint die politische Köq:>emletapher grundsätzlich se}""Ualiert, ein Nebeneinander beider sexualierter Metaphem in bezug auf dasselbe Objekt erscheint immer weluger möglich. Zusätzlich zur Sexualierung geschieht auch eine Sexuali.rierung. die sich in der Epoche der Vorrevolution und der Französischen Revolution abzu zeichnen beginnt.37 Ich nenne dies die dn"tte Pbase. Diese Beobachtung bezieht sich auf den jeweils die Kommunil,ation beherrschenden Diskurs, kat111 folglich nicht absolut gesetzt werden. Die Phase der Sexualierung der KÖq:>enlletapher bettet sich zwischen die frühere der mystisch-sakral-kosmologischen und die spätere der sexuali.rierten Metapher. Eine Einorrulwlg der Gegenwart scheint nUr schwierig zu sein: politische Körpermetaphem spielen im politischen Dis kurs im Vergleich zu früheren J allrhunderten kaum mehr eine Rolle - was sich in die Beobachtungen Paul Virilios und anderer über den Verlust von Körper lichkeit im Kontext der l11edientecluuschen Entwicklung einpaßt.38 Anderer seits spielt in der Ikonograplue der Medien der �lackte) Köq:>er eine hervorra gende Rolle, weil in vielen Bereichen unsere Aufmerksamkeit dem Körper gilt. Diese Nacktheit ist aber lucht die der Körper in den Medien des 1 6. wld 17. Jahrhunderts, es ist eine androgyne, sogar ,körperlos' alllllutende Nackdleit, weil sie TrägenIJ einer Werbebotschaft oder Anmache, aber nicht sie selbst ist. Es geht um ein anderes Körperverständnis, dessen Konturen noch nicht zu Ende gezeicllllet sind, das allerdings noch Rückerulllerungen an die 1920er/ 1930er Jallre in sich trägt. Im wesentlichen handelt es sich um ein sehr deutlich .•
37 38
S. Hunt, LYIl1l (Hg.), Eroticism and the Body Politic, Baltimore/London 1991. Virilio, Paul, Die Eroberung des Körpers. Vom Übennenschen zum überreizten Menschen (1993), Frankfurt 1996. Der frz. Titel lautet "L'art du moteur", allerdings bedeutet das Buch in der Tat einen Beitrag zur Philosophie des Körpers. Im Engli schen wird durch das geläufige "body politic" weiterhin an die Kötpeolletapher erin nert.
Wolfgang Schmale
24
individualisiertes Köperverständnis, in dem
10
Millionen Körper eben
10
Mil
lionen Körper sind und nicht z.B. ein "Nationalkörper".
Der obigen Rede vom Bild eines nicht-geschlechtlich deteollinierten Körpers kÖllllte entgegengehalten werden, daß es sich dabei implizit immer um das
männliche Geschlecht handelt im SitUle eines Basisbildes, eitles Maßstabes vom
Menschen. Dieses Argument gehört in den Kontext der kritisierten und zu kritisierenden Vorannahme einer Basispolarität von
sex und gmder. In der Phase
I der nicht-geschlechtlich determinierten (politischen) Körpernletapher lassen
sich in der Gesellschaft nur beditlgt fest definierte Geschlechtergrenzen kon s tatieren.39 Dies gilt nicht für den Diskurs der tlleologischen Dogmatik, der ein
Minderheitendiskurs war. Gewiß verfügten die theologischen Schreiber über eine gewisse Autorität, die ihnen illre Stellung und noch mehr die Machtmittel der Kirchen verliehen, aber ihr Einfluß auf die Menschen wird überschätzt.
5. Grenzziehungen zwischen den Geschlechtern Um
1424
führte Bernardino von Siena einen erbitterten Kampf gegen die sog.
Sodomiten. Am
9.
April
1424
steckte er auf der Piazza der Stadt einen großen
Haufen körpersprachlicher Materie (Kleidung, Kosmetika, Perücken u.a.) in
Brand. Bernardino geißelte das nach seiner Einschätzung weibliche Outfit
vieler junger, sehr junger Männer, die sich oft mit Zustinullwlg ihrer Eltern s o herausgeputzt vor älteren MälUlem prostituierten und, wie er vennutete, auch penetrieren ließen. Die itl dieser Zeit eingerichteten Gerichtskommissionen
haben hinreichend QuellelUllaterial hinterlassen. Was Bernardino im Licht seitler dogmatischen Überzeugwlgen beschrieb, betraf in wenigen Jahrzehnten Zehntausende von MälUlern, davon einige Tausend, die "sodomitischer" Prak
tiken beschuldigt wurden. Die Geschichte ist gut bekannt und spielt in Studien
zur Geschichte der männlichen Homosexualität eine wichtige Rolle.40 Der Begriff der Homosexualität, beka1ll1termallen eine Begriffsbildung des späten 19. Jallrhunderts, suggeriert, übertragen auf das 15. Jallrhundert, die Existenz einer homoseJ..'Uellen Identität. Dahinter steht die Frage, ob die als homoseJ..'Uell bezeichnete Identität auch des entsprechenden Begriffs bedarf bzw. ob sie außerhalb eitles entsprechenden Begriffs existiert. "Sodomie" als zeitgenössi scher Begriff bezeichnete kaum eine Identität, sondern einen Straftatbestand
BJ.1lUW, 1996 (wie Anw. 33) spricht beherzt von einer "Kakophonie der Diskurse" und den polYIDOl"pheu VOl"stellungen und Bildelll. 40 Vgl. Rocke, Michael J., Sodowites in Fifteenth-Ceutury Tuscany: The Views of Ber llarditlO of Sieua, in: Gerard/Hekma (Hg.) (wie Arun.13), 7-3.1. Neuerdings: Rocke, Michael, Forbidden Frieudships. HOlllosexuality and Male Culture in Renaissance Florence, New York/Oxford 1996. 39
Gmder StIldies, MätUlergeschichte, Körpergeschichte
25
bzw. eine Sünde. Die Begriffsfindung Homosex1ICllität setzte die Akzeptanz einer festgefügten, stereotypisierten Verbindwlg von sex-gmder voraus, aus der sich die so bezeichnete Homosexualität ausgrenzen ließ. Wenn diese Verbindung sex-gmder einer kulturgeschichtlichen Konstruktion von Geschlecht entspringt, muß umgekehrt überlegt werden, ob diese Ende des 19. Jahrhunderts sedimen tierte Konstruktion schon im 15./ 16. Jahrhundert erreicht war oder nicht Qokal, regional, räumlich übergreifend?). Das tosluUlische Material verweist zu gleich auf eine bisexuelle Identität und vor allem eine Art Nornuerungsverwei gerung von Geschlecht in der städtischen Gesellschaft der Toskana (die Aus führungen von Angela Taeger scheinen ähnliches für Paris im späten 18. Jahr hundert zu bestätigen). So könnte natürlich auch das Fehlen eines Begriffs interpretiert werden, der im 15. Jahrhundert eine homosexuelle Identität sum miert hätte. Lassen wir die Wertungen und Schlußfolgerungen Bernardinos weg und unterstellen wir, daß er zwar parteiisch, aber geschult beobachtet hat. Dann kleideten sich (oder wurden gekleidet) viele junge Männer mit körper sprachlichen Attributen, die Leute wie Bernardino als "weibisch", da an einem Mann ludlt angebracht, bezeichneten. Die städtische Gesellschaft tolerierte dieses Outfit lucht nur, sondern war Mitbeteiligte an dieser Verhaltensweise. Dies berechtigt zu der Annaluue, daß es sich luer um eine soziale Nornue rungsverweigerung handelt. Diese Normiecwlgsverweigecwlg findet sich auch in der Renaissance-Literatur, mit der sich die jüngere Pornograplueforschung beschäftigt"l, sie findet sich in der sakralen und weltlich werdenden KWlst.42 Weitere Beobachtungen wären hinzuzufügen: die überraschend weit verbreite ten Geschidlten und Darstellungen vom "schwangeren Mann", die ggf. auch anders interpretiert werden kölUlen als bei Roberto Zapperi43, Gesduchten über eine (seltene) "Geschlechtsulllwandlwlg" von Mädchen in JWlgen (nur in diese Richtung, nicht umgekehrt), das weitverbreitete cross dressing, das weluger ein Spaß war denn eine politisdle Körperbotschaft bedeutete, die gleichfalls auf einer NornIierungsverweigerung beruhte, z.B. der Verweigerung sexualier ter redltlicher Nornlen.44 Das sind zugegebenennaßen Streubeobachtungen, die im geographischen und soziopolitischen Raum ebenso wie in der Zeit zu systematischen Luuen
41 S. Hunt, LY1l1l (Hg.), Die Erfindung der Pornographie. Obszönität und die Ursplünge der Moderne, Frankfurt 1994. 42 Ausführlich dazu Sternweiler, Lust der Götter (wie An1ll. 13); viel Material in ver schiedenen Beiträgen in: Schreiner, Klaus/Schnitzler, Norbert (Hg.) (wie A1l1l1. 34). 43 Zapperi, Roberto, L'hOl1l1l1e enceint, Paris 1983; Dt.: Geschichten vom schwangeren Ma1l1l. Mä1l1ler, Frauen und die Macht, München 1 984, 21994. 44 u.a.: Dekker, Rudolf/Van de Pol, Lotte, Frauen in Männerkleidern. Weibliche Trans vestiten und ilrre Geschichte, Berlin 1 990. Das Tauschen der Kleider spielt auch in Volksaufständen eine wichtige Rolle und wurde in der diesbezüglichen Forschung der letzten 25 Jaltre wiederholt behandelt.
26
Wolfgang Schmale
ausgezogen werden müßten. Die erfolgte und deshalb nicht übergehbare Eta blierung der Kategorien von sex und gmder in der Geschlechtergeschichte er fordert zugleich, die entsprechenden Sondierungen jeweils explizit für Frauen und explizit für Mätlller vorzunelllllen und zu vergleichen. Hier besteht ein gewaltiger Forschungsbedarf: Die am Beispiel der toskaniscben Städte des 1 5 . Jahrhunderts angesprochene Nonnierungsverweigerung, die als pomographisch bezeielUlete Literatur und die MännerQlOsen)mode erscheinen bis zu einem gewissen Grad phallozentrisch. Die entsprechende - nicht allel - bildende Kunst ist entweder phallozentrisch oder bedient sich phallischer Symbole wie der Armbrustpfeile in den Sebastian-Darstellungen oder betont erotisch die Rückansichten von Männem. Dient dann die Normierungsvenveigerung der Etablierung männlicher Macht mit Hilfe der Zurschaustellung des Zeugungs glieds in der Hoselllllode, in der Literatur und bildenden Kunst sowie mit Hilfe der ,Sakralisierung' metaphorischer Ejakulationen z.B. in den "Kolonisierungs geschichten"45 und ,wirklicher' Ejakulationen in der pornographischen Text und Bildsprache? Wird dazu noch das Bild vom schwangeren Matul gewoben, um nunmehr auell den Matul wenigstens symbolisch zur Parthenogenese zu befähigen? Dahinter steht in der Renaissance-Epoche zunächst ein Aufstand gegen die verbreitete theologische Verachtung der Leiblichkeit/Körperlichkeit von Frau en und Männem. Das ist gut wltersucht. Die Aufwertung des Körpers gilt für den weiblichen wie den mätullichen, beide werden sichtbar erotisiert, die Schönheitsideale sind für beide Körper gemäß der Renaissance-Theorie der körperlichen Schönheit ebellllläßig, wn nicht zu sagen androgyn (vgl. gleiche Körpergröße, fast gleicher Körperbau, Einfließen weiblicher Körperattribute in den männliellet1 Körper und umgekehrt, usf., Dürer, Da Vinci...)46 Jedenfalls ist auf weite Strecken eine eindeutige Normierung und Determinierung von Attri buten als spezifisch weiblich bzw. spezifisch männliell nicht zu beweisen. Auch die Geschlechtsorgane werden erst im 18. Jahrhundert endgültig (?) se}.."\laliert. Laqueur hat das bis dalun herrschende Modell das Eingeschlechtmodell ge nannt.47 Die Tatsache, daß die weiblichen Geschlechtsorgane als llaell Innen gerichteter Penis repräsentiert wurden, dient sich zunächst der Interpretation
45 S. jüngst Schülting, Sabine, Wilde Frauen, Fremde Welten. Kolonisie1Ungsgeschlch ten aus Amerika, Reinbek 1 997. Dort einschlägige weiterführende Literaturhlnweise. Ursula (Bearb.), Androgyn: Sd111sucht nach Vollkon111lenheit [Ausstellungs katalog], Berlin 1986; Orchard, Karin, AmIähemngen der Geschlechter. Androgynie in der Kunst des Cinquecento, Münster 1992; TIle Body Imaged. The Human Fornl and Visual Culture since the Renaissance, Carnbridge 1993; Eco, Umberto, Arte e bellezza llell'estetica medievale, Mailand 1994. 47 Laqueur, TIlOmas, Making Sex. Body (lud Gellder from the Greeks to Freud, Halyard College 1990; Dt. Ausg.: Auf den Leib geschrieben. Die Inszeniemng' der Ge schlechter von der Antike bis Freud, FrankfUlt 1992. 46 Priuz,
Gmder St"dies, MfuUlergeschidlte, Körpergeschichte
27
an, daß das männliche Geschlecht zum absoluten Maßstab erhoben war. Die Vorstellung war aber umfassender lUlgelegt: zur gleidlen Zeit herrschte die AnnalUlle vor, daß es zur Zeugung eines Kindes nicht nur eines männlichen, sondem auch eines weiblidlen Samens bedürfe, dessen Vorhandensein nach gewiesen wurde; es herrschte die Annalulle, daß zur erfolgreichen Zeugung Frau und MillUl einen Orgasmus haben müßten, wobei der Orgasmus beim MillUl mit der Ejakulation gleichgesetzt wurde. Auch die gfulgigen Prinzipien der Humoralpathologie reduzierten eher die Untersdleidung von Frau und MillUl als daß sie sie förderten. Bei der bisher teilweise erfolgten Abarbeitung des Katalogs zu Mful1llichkeiten in der Forschung wird oft genug deutlich, daß nicht nur in der ersten, sondem auch in der zweiten Phase keine eindeutig detemlinierten geschlechtsspezifischen Grenzen existierten. Britta HermlillUls Lektüre der Briefe Heinrich von Kleists ("Auf der Suche nadl dem sicheren Geschlecht. Mful1llichkeit um 1800 und die Briefe Heinrich von I
ein faszinierendes Musterbeispiel.4 8
Eine dichte Sammlwlg aller vorhandenen Körpemlerkmale und Körperzei chen und ihre Verteilung auf den weiblichen und männlichen Körper in der Zeit um 1 500 führt m.B. zu der Hypothese, daß die seit dem 18. Jaluhundert
vertraute Denkfigur, Geschledlt zuerst und vor allem körperlich-biologisch zu
detemünieren und anschließend kulturell zu nornüeren, um 1500 so nicht möglich, sozial nicht sedimentiert gewesen ist. Die spätere "Ordnung der Ge schlechter" ist eben später und Hißt sich nicht vorverlegen, selbst weml es illl Quellen zur Überlegenheit des Mannes/Unterlegenheit der Frau um 1500
nicht mangelt. Was daraus zu folgern ist, wäre vielleicht, daß die Deteolluüe rung des kulturellen Geschlechts der des biologischen vorausgeht, aber gewis sernlaßen unvollkonUllen, rudullent1ir bleibt, bis sich die geballte Synergie von Aufklärungsphilosophen und -medizulern/-illlatomen in eUler fundilluentalen, veoueultlich natürlichen, Seh"Ualisierung der Körper entlädt. Warunl gesdüeht das? Nicht, weil der dogmatische Satz "maior diguitas est Ul sexu virili" endgültig zum alles beherrschenden Dogma erhoben worden wäre, sondern weil sich eUle ,neue' Denk- und Vorstellungs figur sukzessive breit gemacht hatte. Es hillldeit sich um die Denk- und Vorstellungs figur der Grenze. ,Grenze' löst bis zu einem gewissen Grad ,Körper' als Denk- und Vorstellwlgsfigur, mit 'der die Welt entsdl1üsselt wird, ab bzw. wlterwirft sie sich. Die Körpervorstellung der ersten Phase (ausgehendes Mittelalter, frühe Früll11euzeit) war überwiegend geschlechtlich tücht deteolluüert, es gab keUle feste Grenze, die unverrückbar und unmißverständlich die Sprache über den Körper Ul normiert weiblich wld normiert männlich getrennt hätte. ,Grenze' bezeidl11et Ul derselben Zeit die
48 111 Eruart/Hernuaul1
(wie Anw. 2), 212-234.
Wolfgang Schmale
28
Ausdehnung von Rechtsgeltungs- und Herrschaftsbereichen bzw. von Privatei
gentum, selten j edoch bezeichnet ,Grenze' ,abgezirkelte' Identitäten.49 Der uns
heute allgegenwärtige übertragene Begriffsgebrauchso von ,Grenze' befindet sich erst im Entstehen. Der mystisch-s akral-kosmologische Körper dieser er
sten Phase ist ein Körper ohne Grenzen, zu dessen Begreifbarmachung es der
körperlichen Materialisierung von Erde, Mensch, Kosmos und Gott/Olristus bedarf. Analog sucht man mehr oder weniger erfolglos nach der eindeutigen Abgrenzung von Identitäten, seien sie kultureller, geschlechtlicher oder z.B.
,nationaler' Natur. Diese Abgrenzungen sind im Entstehen begriffen, ihr Ent stehen ist in den Quellen nachweisbar, aber sie sind mitrlichten abgeschlossen.
Beispielsweise waren ,nationale' Stereotypen und Vorurteile weit verbreitet,
und diese werden heute von der Nations-/Nationalismus forschwlg in die Vor
geschichte der Nationenwerdungen eingegliedert5 1, aber sie beruhen auf ver
gleichsweise wenigen Bausteinen, die vielfach kombiniert wld ausge tauscht werden können. Sie sind also nicht citrdetltig normiert und determiniert. Ebenso steht es
mit
dem Thema kultureller Identität. Es gibt fraglos Unterscheidungs
kriterien zwischen deutsch-italienisch-französisch-nordisch usw. im Sinne kul tureller Bezeichnungen, aber keine eindeutigen Grenzen. Komplexe Identitä ten, Mehrfachidentitäten und -loyalitiiten sind die Regel, bis sich das Blatt im 1 8 . / 1 9. Jahrhwldert zu wenden beginnt.
Weml ich die Hypothese aufgestellt habe, daß das Körperbild der ersten
Phase geschlechtlich überwiegend nicht determiniert und nomuert ist, daß eine
eindeutige biologische Geschlechtsdetemliluerung und -nomuerung noch fehlt, dann begründet sie sich maßgeblich auch
im Fehlen einer ausgefonllten
Denk
wld Vorstellwlgs figur von ,Grenze'. Diese wird benötigt, um den Menschen fundamental nach weiblich/männlich zu detenllinieren, abzugrenzen, denn
genau das bedeutet j a die geschlechtliche Detenlliluecwlg (vgl. Butler). Auf diesen Zusill11111ellhang zwischen Entwicklung der Denk- und Vorstellungsfi gur " Grenze" und der Sel.."ualierung eiller zuvor nicht eindeutig geschlechtlich determiluerten Körpervorstellung muß mit Nachdruck hillgewiesen werden.
Um es "in der Sprache von JUditll Butler zu fonllulieren: in der ersten Phase
gibt es höchs tens rudimentäre diskursive Grenzen des Geschlechts, wobei
Diskurs für nuch aus Sprache, Ikonographie, Arclutektur, Körpergestik wld
49 Vgl.
Zur Entwicklung des Grenze-Begriffs und der Grenze-Vorstellung: Schmale, Wolfgang/Stauber, Reinhard (Hg.), Mensch und Grenze in der Flühen Neuzeit, Ber lill 1997, hier bes. die Einleitung ders., uud den Beitrag von Schu.lale, Grenze in der deutschen und französischen Flühneuzeit. 50 S. dazu die interdisziplinäre Bibliographie von Elke Seifarth, in: Schu.lale/Stauber (wie Alwl. 48). 51 Schulze, Winfried, Die Entstehung des nationalen Vomrteils. Zur Kultur der Walu nelUllullg fremder Nationen in der europäischen Flühen Neuzeit, iJl: SclUllale/ Stauber (wie AIll11. 48).
Gellder StlJdies, Männergeschichte, Körpergeschichte
29
Körpersymbolik (s.o.) besteht. Die Diskussion um matriarchale bzw. patriar chale Strukturen früher Gesellschaften wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht seit der späteren Frühneuzeit und drum im 19. Jahrhwldert die Denk wld Vorstellungsfigur von ,Grenze' geradezu perfekt in den Kem unserer Denk- und Vorstellungswelt integriert worden wäre. Von daller bleibt es au ßerordentlich mühevoll, frühe Gesellschaften nicht als matriarchalisch/ patriarchalisch zu denken. Wir sind gewohnt, die ständisch-feudale Gesellschaft, die zeitgenössische Gesellschaft der erstcII Phasc, als von vielfachen Grenzen durchzogen anzuse hen. Der Begriff der Grenze ist hierbei aber kein Quellenbegriff, kein Begriff der Zeit, sondem ein Metabegriff der Geschichte als Wissenschaft. Die ständi sche Gesellschaft hat andere Kategorien bemüht, bemühen müssen, um sich selbst zu beschreiben, weil es eine vollkommen ausgefomlte Denk- wld Vor stellwigsfigur der Grenze noch nicht gab. Die ständische Gesellschaft hat sich selbst als Grulzes als Körper begriffen. Sie hat sich dabei nicht als sexualierten Körper bezeichnet. Die Be[,'ihigung von Gesellschaften, sich als Körper zu beschreiben, geht in der zweiten Phase zurück, in der die Denk- und Vorstel lungsfigur "Körper" sexualiert, in ein mfulllliches und ein weibliches Ge schlecht gesplittet wird. Dies [,1llt im übrigen zusanmlen mit der Verwendung des Begriffs "Klasse" seit dem ausgehenden 17. Jallrhundert, ein Begriff, der sehr viel mehr als der Stfuldebegriff gesellschaftliche Gruppen voneinrulder abgrenzt. In vieler Hinsicht läßt auch die Durchlässigkeit zwischen den Gesell schaftsgruppen nach, die im 16. Jahrhundert oft noch in überraschender Weise gegeben ist. Die politische Vorstellungswelt des Absolutismus trägt weiter zu Grenzziehungen bei. Daß die Obrigkeiten eine repressive Reglementierung der Körper ihrer Untertrulen für nötig erachten, zieht sich sicherlich wie ein roter Faden durch die Zeiten seit dem 13./14. Jaluhundert. Im 17./18. JallrllUndert nimmt diese vielfältige Repression einen immer deutlicher geschlechtsspezifi schen Charakter an und unterstützt die Grenzziehung zwischen den Ge schlechtem. Die Grenzziehung zwischen den Geschlechtem nUlmlt den Cha rakter eUler Geschlechtskonstruktion an. Die in der i}vcitm Phase vollzogene SexutLlierwlg des Körpers, der die Sexuali sierung nachfolgte, ist bis zur Gegenwart noch nicht grundlegend revidiert worden. Fel11uus l11uS und Maskulitus111l1s (s.o.) sind lI.U. nicht geeignet, eUle solche Revision, we1UI sie gewünscht wird, herbeizuführen, aber u.U. eine notwendige Stufe auf dem Weg dorthul.
6. S chluß: Folgen für die Männergeschichte Welche Folgerungen ergeben sich für die Mfumergeschichte? Die kritisierte Prfulusse sex versus gel1der bleibt weiterhul eine frudübare Arbeitsprfulusse. Sie zwingt Ul gewisser Weise dazu, beliebige Quellen auf Mfumlichkeit hUI zu
30
Wolfgaug Schmale
untersuchen. Wird diese Prämisse für eine FWldillllentalkritik wie die Judidl Buders offengehalten, stellt sich sehr bald heraus, daß es historische Phasen gab (z.B. die hier eingesetzte
erste Phase),
die sich
lIicht mit
der Unterscheidung
von sex wld gmder begreifen lassen. Geschlechtergeschichte wird hier notwen dig zur Körpergeschichte in einem umfassenden historischen Kontext, zu dem die Entwicklung von Denk- wld Vors tellwlgs figuren gehört, die der Konstruk tion von Geschlecht vorgelagert sind. Der gängige Rückgriff auf dogmatische, medizinische, autobiographische und andere Schriftgattungen reicht nicht aus, sondem muß um eine Archäologie der basalen Denk- und Vorstellungsfiguren wie ,Grenze' erweitert werden. Tendenziell wird eine auf diesen Überlegwlgen aufbauende
Mäunergeschichte
die
Gi!schlechtergeschichte
modifizieren
-
ebenso, wie es eine darauf aufbauende Frauengeschichte killUl . Eckpfeiler einer 111eorie der Männergeschichte wären demzufolge: - die Erforschung von MälUllichkeiten gemäß einer umfassenden historisch methodischen Systematik - der körpergeschichdiche
tllm
- die Modifizierwlg der Geschlechtergeschichte - die De-Sexualierung Wlseres Gesellschaftsverständnisses. Die Relevilllz der historischen Mäunerforschung (Mäunergeschichte) für die Analyse der Gegenwart besteht in der Verlmüpfung dieser vier Punkte, da eine De-Se)."Ualierung des Gesellschaftsvers tändnisses als Ziel ohne den skizzierten historischen Ansatz zum Scheitem verurteilt ist. De-Sexualiecwlg geht über die sonst üblicherweise benillulten Gegenwartsrelevanzen der Männergeschichts forschung hinaus. Ohne Einschränkung zwar ist beispielsweise Martin Dinges zuzugeben, daß Mfulllergeschichtsforschung "für das Verständnis modemer Rollenkonstitutionen sowie
einer Infragestellung derzeitiger Mällllerrollen
entscheidende Aufschlüsse erbringen" kall11.52 Dies ist notwendig, klingt aber immer noch sehr aufklärerisch nach ,allgemeiner Verbesserung des Milll11eS', was wiederum zuwenig ist. Die Beiträge dieses Buches sind chronologisch angeordnet. In sich greifen sie die eine oder die illldere der in dieser Einleitung skizzierten Perspektiven auf.
KötpefJf,eschichtfic/;
akzentuiert sind die Untersuchwlgen von
(mful11liche Schmähschriften im frühen 17. (DDR-Film),
J aluhundert)
wld
Ra!fPeter Fllchs
5tifall Zahbnallll
MiillllefJf,eschichte allsftmim"stischer Sicht schreiben AlIette Vö/ker-Rasor Glldrllll
(weibliche Religiosität im mätmlichen Umfeld der Frühen NeuzeiD und
52
Dinges, Martin, Mäullergeschichte als Geschlechte�geschichte. Einleitung zur Sektion Mällnergeschichte als Geschlechtergeschichte? (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit); Sektion unter der Leitung VOll Mm:tiu Dinges am 20. September 1996 auf dem 41. Deutschen Historikertag in München, in: ebd., Skriptenheft II, S. 15.
Gmder StIldies, Männerges chichte, Körpergeschichte Gersl/1C11111
(der männliche Umgang mit dem Thema Hexenverfolgung im
und 20. Jahrhundert), die Studien von
31
19.
AltgelC/ TC/eger und StepbC/11 Hdß gehen 18. Jahrhunderts bzw. im München der
bOfJl0SeXlleUe11 Mä1l11licbkeitm im Paris des KCJtnlJ KeUcr untersucht am Beispiel August des Star ken 1l'fä111JlichkeitsC/flsprägll1tge!l des absolutistischen Herrschers, also eines soge
Jahrhundertwende nach,
natUlten "großen Mannes" und die Zuweisung einer bestinUllten Männlichkeit innerhalb der Rezeptions- und Forschungsgeschichte nach dem Tode Augusts.
Silke GälIsch untersucht aus der Sicht der Volkskunde die Konstruktion einer soldC/liscbm Mä1l11lichkeit in und durch volkstümliche Lieder des 19. Jallrhwlderts. Es sind somit betont: die körpergeschichtliche und die feministische Perspekti ve, die Perspektive der Geschichte von Männlichkeiten sowie die Perspektive der Geschichte von männlicher/männlichen Homosexualität/Homose:l..'u alitä
ten.
Datllit verbunden sind \Vissenschafts-, Forschungs- und Rezeptionsge
schichte sowie die Diskussion weiterer theoretischer Modelle wie etwa dem Michel Foucaults zur Bio-Macht oder Wittgens teins Sprachspiel. Da es an ediertem Quellenmaterial zur Männergeschichte mangelt, wurden in der Mehr zall1 der Beiträge solche Quellen, die im Beitrag eine zentrale Verwendung gefunden haben, jeweils als QuellenanluUlg ediert. Bei Anette Völker-Rasor sind ausführliche Quellenzitate in den Text aufgenommen und am Ende durch einen Anhang der
im
Text besprochenen ilwnographischen Dokumente er
gänzt. Da sich Filme (Beitrag Zahlmann) im gedruckten Medium kawll als QuellenanluUlg reproduzieren lassen, wurden die für die Analyse bedeutsmuen Drehbuchtexte in der Darstellung selbst aus führlich zitiert und die einscll1ägi gen DDR-Filme im All1Ul11g systematisch dokumentiert. Der Band soll mit seiner breiten chronologischen und breiten perspektivischen Aluage sowie den textuelIen und ikonographischen Quellen nicht zuletzt auch ein Hilfsmittel für alle die sein, die sich des Themas Männergeschichte in der akademischen Lehre annehmen wollen und dafür eine Art
kry book suchen.
Postscriptum: Wie das Buch entstand Für die Universitäten gilt unverändert das Prinzip "Forschung und Lehre". Für manchen klingt das mittlerweile abgegriffen, für manche soll dies nur die Ver nacluässigung der Lehre decken. Mit anderen Worten: es kommt darauf an, was daraus gemacht wird. Der vorliegende Gemeinschaftsb and geht auf ein Experiment zum Thema "Forschung und Lehre/Lehre und Forschung" zurück. Ich hatte im SonUller semester
1995
an der Universität München ein Seminar zu dem Thema "Das
soziokulturelle Geschlecht von Frauen und MällneOl in der westeuropäischen Geschichte der Neuzeit" durchgeführt. Das Seminar umfaßte die drei The-
32
Wolfgang Schmale
menblöcke Frauengeschichte, MälUlergeschichte, ,androgyne Geschichte' so wie, zeitlich in der Mitte, eine Phase, in der zusätzlich zur wöchentlichen Se minarsitzung ein Vortrag gehört und diskutiert wurde. Es gab eine abgestinuute Entsprechung zwischen den Vortrags themen und den Themen der Seminarsit zungen in dieser mittleren Phase. Die Vorträge wurden von Anette Völker Rasor (Weibliche Religiosität), Gudrun GerSmatUl (I
chen und erotischen Hexe), Angela Taeger (Homosexuelle im Paris des 18.
J ahrhwlderts) und Sill,e Göttsch (MälUllichkeitsbilder in Soldatenliedem des 1 9. Jahrhunderts) gehalten. Alle Seminarsitzungen sowie die Vortragsveran
staltungen wurden von den Studierenden moderiert, nicht als Einzelkämpfer, sondem als Arbeitsgruppen. Die Durchführung der Veranstaltung wurde von der Fachschaft Gesduchte der Ludwig-Maxinulians-Uluversität ideell, materiell und finanziell unterstützt, desgleichen gilt mein Dank der datualigen Frauenbeauftragten der Uluversität, Frau Hadumod BußmatUl, und der Frauenbeauftragten der Pllllosophischen Fakultät 9, Frau Claudia Zey, die zwei Vorträge aus den Mitteln der Frauenbe
auftragten fimulzierten wld die Gesamtveranstaltung nuttrugen. Die Vorträge vermittelten kein Handbuchwissen, sondem theoretische An s ätze und Ergebnisse laufender Forschungen. Sie waren gewollt das, was heute matldUllal kritisch nUt einem gewissen Unterton als "speziell" tituliert wird. Die Veratlstaltung von Gas tvorträgen bedeutet ein durchaus traditionelles Mittel, Lehre wld Forschung während der Vorleswlgszeit zusammenzuführen, ohne daß die Mitgliedschaft in einer forschenden Arbeitsgruppe atl einem Lehrstuhl erforderlich wäre. Zu Gas tvorträgen, die sehr "speziell" auf laufende Forschungen eingehen, geht der allgemeinen Erfallrung auch al1 sehr großen Universitäten wie München nur lUn, wer "muß". Hinsichtlich des Ziels, Lehre wld Forschwlg auf diese Weise zu verbinden, ist der Effekt gleich Null. Selbst redend ergeben sich atldere Effekte, die hier aber nicht Thema sind. Die sehr
weitgehende Vemetzung von Seminar und Vorträgen im Sonuuer 1995 erzielte
jedoch den erhofften Effekt.s3 Dazu gehört allerdings auch, daß sich Dozen tIlUlen selbst sehr zurücknehmen. Das Experiment ist insoweit gelungen, als der Nachweis geführt wurde, daß eine partnerorientierte Didaktik eine tatsäch liche Verknüpfung von Lehre und Forschung im gatlZ ,normalen' Lehrbetrieb (also jenseits bzw. vor Obersenunar, Forschullgskolloquium usw.) ermöglicht, die Motivation von Studierenden und Lehrenden überdurchsduuttlich fördert und keine Einbuße an wissenschaftlichem Niveau zur Folge hat;
im Gegenteil.
Die hohe Motivation aller Beteiligten rührte nicht zuletzt aus dem Umstand, daß das historisch behandelte Thema zugleich ein lebensweltlich relevantes
53
Vgl. Mader, Erlc-O., "Gender-Studies" in München: Erotische Hexen und Homose xuelle, in: Histerls1llUS & Politiku1ll. Zeitschrift der Historiker und Politologen, hrsg. von den Fachschaften Geschichte und Politik der Ludwig-Maxinlllians-Universität München, NI. 2-1995, S. 42-43.
Gmder StlldieJ, Männergeschichte, Körpergeschichte
33
Thema darstellt. An diese Bemerkungen ließe sich allerlei anschließen, was in die aktuelle Studienrefoffildiskussion hineinpassen würde, aber dies ist nicht Thema des hier vorzustellenden Gemeinschaftsbuches. Auch die weiteren Beiträge dieses Bandes von Katrin Keller, Ralf-Peter Fuchs, Stephan Heiß wld Stefan Zahlmal1n sind aufgrwld analoger Situationen von Lehre zu dem anfänglichen Quartett hinzugekommen.
Imd Forschung
Anette Välker-Rasor
"Lasse uns doch eine Religion stiften, ich und Du •.. " Männliche Umwelt und weibliche Religiosität in der Frühen Neuzeit
Einleitung
Von weiblicher Religiosität in der Frühen Neuzeit sollen die folgenden Aus führungen handehl, und doch stammt das hierfür leitende Zitat nicht aus der entsprechenden Zeit zwischen etwa 1500 wld 1800. Formuliert wurde die Aufforderung, gemeinsam eine Religion zu gründen, viehnehr irgendwann zwischen 1804 und 1806 in einem Brief der Bettine von Amim, geb. Brentano (1785-1859), an die Karoline von Günderrode (1780-1806). Und publiziert wiederum wurde die Stelle erst 1840 im Raluuen ihres Briefromans "Die Gün derrode".! Die Bettine also, das "enfant terrible" der deutschen Romantik, war gerade etwa 20 Jalue alt (Abb. 1), als sie in einem der Briefe, die manclunal täg lich innerhalb Frankfurts zwischen den FreunditUlen gewechselt wurden, schrieb: "... ich begreifs nicht, alle Menschen sind anders, als wie es so leicht wär zu sein; sie hängen an dem, was sie nicht achten sollten, und verachten das, an dem sie hän gen sollten. Ach, ich hab eine SelUlsucht, rein zu sein von diesen Fehlem. Ins Bad steigetl und mich abwaschen von allen Verkehrtbeiten. Die ganze Welt kOlllJllt mir vor wie verrückt, und ich schußbartele inlmer so mit, und doch ist mir eine Stinlme, die mich besser belehrt. - Lasse uns doch eine Religion stiften, ich und Du, und lasse uns einstweilen Priester und Laie darin sein, ganz im stille.tl, und stre.tlg danach lebetl und ilue Gesetze entwickeln, wie sich ein junger Königssohn entwickelt, der einst der größte Herrscher sollt werden der ganzen Welt." Ein Stückehen weiter erhält das Kind denn auch seinen Nanle.tl: "... alleweil fällt mir ein, unsre Religion muß die Schwebe-Religion heißen, das sag ich Dir morgell."2
1
Bettine von Aruim, Die Giinderrode. Mit einem Essay von Christa Wolf, Frankfurt 1983. 2 Bettine von Amim, Die Günderrode, 3.a.0. S. 181/ 182.
Anette Völker-Rasor
36
Ein durchaus ambitionierter Plan wird uns hier vorgestellt, für germanistische wie theologische Forschung nach wie vor ein harter Brocken.3 Hier dagegen möge er einmal lediglich als Gedankenspielerei einer j\U1gen Frau zu BegUUl des 1 9. Jaluhunderts gelesen werden. Auffallend ist bereits an den ersten Wor
ten zu dieser Idealreligion, daß die traditionelle Ordnung des Übereinander durch eine neue Ordnung des Nebeneinander ersetzt wird: Priester und Laie zugleich sollen die beiden ersten Anhängerinnen der Schwebe-Religion sein, gleidlzeitig regierend wie sich fügend. Und aus dieser alle Hierarchie negie renden Ordnung erwächst ein umfassender Madüanspruch. Auch der weitere Entwurf ist von vorwiegend sozial orientierten Wunschvorstellungen geprägt. Die drei Grundregeln der neuen Religion lauten: man soll handehl, dabei einem uUleren Gesetz folgen und dadurch sich selbst verwirklichen. Nadl diesen drei Stichworten lassen sich die folgenden Aus führungen organisieren - die, da die Forschung hier gerade erst anhebt, freilich nicht mehr bieten können als erste Überlegungen zur Frage der weiblichen Religiosität im männlichen Umfeld der Frühen Neuzeit, bezogen hier auf das Christentum und speziell den mitteleu ropäischen Rawu.
1. Das Handeln
"Aber ein Gesetz in unserer Religion muß ich Dir hier gleich zur Beurteilung vor schlagen, und zwar ein erstes Gl"Undgesetz. Nämlich: Der Mensch soll immer die größte Handlung tun und nie eine andre, und da will ich Dir gleich zuvorkoll1ll1en und sagen, daß jede Handlung eine größte sein kann und so1l."4 So steht es bei der Bettitle geschrieben. Das Handehl, insbesondere das große, d.h. das politisch-gesellschaftlich bedeutsame Handehl, ist in der für das 1 9. Jahrhwldert geltenden Aufstellwlg Zur bürgerlichen RollenverteiIwlg durchaus nidlt auf der Seite der Frau eingetragen, sondern auf der des Mannes. Wo sie jedoch
itn Nanlen der Religion das Handehl der Frau eUlfordert, stellt sich die
Bettitle ob bewußt oder unbewußt in eUle lange Tradition. Daß Frauen
itn Namen der Religion aktiv wurden, das zeigt sich zu BegUUl
der Frühen Neuzeit bereits während der Refonnatiollswirren. 5 Frauen be-
3
Stellvertretend hier nur die jüngste Arbeit: Hildegund Keul, Menschwerden durch Beliihmng. Bettina Brentauo-Alllim als Wegbereiteriu für eine Feministische Theo logie (Würzburger Studien Zur Fundamentaltheologie Bd. 16), Frankfurt/Berlin/Bem 1993. 4 Bettine von Amim, Die Günderrode, a.a.O. S. 182/183. 5 Nur einige einschlägige Arbeiten: Angelika Nowicki-Patuschka, Frauen in der Refor mation. Untersuchungen zum Verhalten von Frauen in den Reichsstädten Augsburg
37
Weibliche Religiositiit im männlichen Umfeld
schränkten sich nicht nur darauf, an männerdominierten refoffiIatorischen Veranstaltungen wie Gottesdiensten, Predigten und Lesungen teilzunehmen. Sie
demonstrierten
vielmehr
ihre
religiöse
Überzeugung
durch
Ehe
schließungen mit evangelischen Geis tlidlen und Gelehrten, sie verließen als NOlll1en die Klöster oder wirkten als Verwandte auf den Klosteraustritt von NOlll1en hin. Und sie konnten im Dienste des neuen Glaubens auch richtig handgreiflich werden, wie die Skizze des Lucas Cranadl von zeigt. (Abb.
2)
1 537 deutlich
Wo sie umgekehrt nicht für die Reformation waren, da vertei
digten sie als Laiinnen in Wort und Schrift den alten Glauben oder als Nonnen unter Einsatz ilues Lebens die Klöster. Festzuhalten ist jedoch, daß Frauen trotz all ihres Einsatzes zunächst nichts gewannen. Im Hinblick auf die Geschlechterrollen lassen sich gesellschaftliche Umwälzungen fast in1l11er in ein einfadles Schema bringen: In einer , Zeit der Unruhe öffnen Menschen illCe Handlungsspielräwlle - Frauen solidarisieren sich im Interesse der Sache mit Männeffi - beide Geschlechter wirken an einer Umwälzung mit - die Situation beruhigt sich wieder wld verlangt nach Stabili sierung - unter neuen Bedingungen wird die bekannteste und älteste, die patri archale Ordnung zuerst wiederhergestellt - und für Frauen wird damit der kurzfristig erweiterte Handlungsspielraum wieder verengt, bis zur nädlsten sich bietenden Gelegenheit.. . Was speziell die RefoffiIation anbelangt, so konnte sich hier über eine neue Vorstellung von der Ehe die Norm der allein auf Haus und FortpflatlZWlg verwiesenen Frau durchsetzen.6 Der domestizierten, d.h. der im Haus eingeschlossenen Frau wurde nur ein Schlupfloch offengelassen, das mit der Aufschrift "Religion". Für Männer wie Frauen hatte ja die Refor mation die Veffilittlungsinstanzen ausgeräunlt und einen Ulll1uttelbaren Bezug zwischen Mensch und Gott herges tellt. Dacüberhi.naus aber hatte sie der Frau nut besonderem Hinweis auf illre Rolle als christliche Erzieherin die Bibel atl die Hatld gegeben. Wo sich so Religiosität latlgfristig als einzige Befreiungsmöglichkeit für Frau en abzeichnete, ist jedoch zu bemerken, daß noch, bis etwa zur Mitte des
17.
und Nümberg zur refomlatorischen Bewe!,T\lug zwischen 1517 und 1 537 (FolUm Frauengeschichte Bd. 2), Pfaffenweiler 1990; Marion Kobelt-Groch, Aufsässige Töchter Gottes. Frauen im Bauernkrieg und in den Täuferbewegungen (Geschichte und Geschlechter Bd. 4), Frankfurt 1 993; Siegrid Westphal, Frau und lutherische Konfessionalisienlllg. Eine Untersuchung zum Fürstentum Pfalz-Neuburg 1542-1614 (Europäische Hochschulschrllten Reihe III, Bd. 594), Frankfurt 1994. Zu weiblicher Aktivität auf katholischer Seite: Anne Conrad, Zwischen Kloster und Welt Ursulinen und Jesuitinnen in der katholischen Refomlbewegung des 16./ 17. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz. Abteilung Religionsgeschichte Bd. 142), Mainz 1 991. 6 AneUe Völker-Rasor, Bildelpaare - Paarbilder. Die Ehe in Autobiographien des 16. Jahrhunderts (Rombach Wissenschaft, Reme Historiae Bd. 2), Freiburg 1993.
38
Anette Völker-Rasor
Jahrhunderts, die Religion einen Raum für beide Geschlechter bot und umge kehrt noch die Frömmigkeit geschlechtsunspezifisch im Sinne von Ehrlichkeit wld Tüchtigkeit als chrisdiche Lebenspraxis schlechthin galt.7 Ab etwa der Mitte des 1 8. Jaluhunderts wurde dann unter dem fro1111uen Verhalten statt einem allgemeinen ein speziell religiöses verstanden, welches der Frau zugeord net wld dem tüchtigen des Mannes gegenübergestellt wurde. Entsprechend entwickelte sich bis zum 1 9. Jaluhundert die Religion zur Sphäre der Frau, der die Politik als Sphäre des Mannes gegenüberstand - mit Ausnall111e der kleinen Gruppe der Männer, die sich die Religion zum Beruf erkoren hatten, was wie derum Frauen nicht möglich war. Die Zeit des Wandels selbst jedoch, die Zeit des späten 17. und frühen 18. Jaluhunderts, gerät bei dem Aufzeigen solcher Entwicklwlgslinie noch nicht in den Blick. Um an dieser Stelle einen kurzen Blick auf die Forschung zu werfen: Nach dem zunächst der Frage der weiblichen Religiosität in der Frühen Neuzeit endang beispiellIafter Einzelbiographien nachgegangen wurdeB, können jetzt vermehrt die Strukturen derselben betrachtet werden. Entgegen der Außenper spektive einer Entwicklungslinie also, wie sie oben aufgezeigt wurde, folgt so etwa Patricia Crawford in ihrer Arbeit9 einer Innenperspektive. Sie untersucht anhand so wlterschiedlicher Quellen wie Briefen, Tagebüchem, Autobiogra pillen und Leichenpredigten die religiösen Praktiken von Frauen im England des 1 6. und 17. Jahrhunderts. Dabei stehen die Arbeiten jüngeren DatunlS der schon langen Forschungstradition eines Bereichs weiblicher Religiosität ge genüber, der mit dem Phänomen "Hexerei/Hexenverfolgung" verbwlden ist.lO Die Erforschwlg der nicht-sanktionierten weiblichen Religiosität dagegen hebt
7
Heide Wunder, Von der "fmmkheit" zur Frö1ll1lgli keit Ein Beitrag zur Genese bür gerlicher Weiblichkeit (15.-17. Jahrhundert), in: Ursula Becher/Jöm Rüsen (Hrsg.), Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Gmnd problemen der Frauenforschung, Frankfurt 1988, S. 174-188; Rebekka Habemlas, Weibliche Religiosität - oder: Von der Fragilität bürgerlicher Identitäten, in: Klaus Tenfelde/Hans-Ulcich Wehler (Hrsg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göt tingen 1994, S. 126-148. Hierzu teilweise im Widerspruch: Elisja Schulte van Kessel, Jungfrauen und Mütter zwischen Hirnrnel und Erde, in: Arlette Farge/Natalie Zemon Davis (Hrsg.), Ge schichte der Frauen Bd. 3: Frühe Neuzeit, Frankfurt/New Yom 1994, S. 151-188. B Barbara Becker-Cantarino, Der lange Weg zur Mündigkeit Frauen und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800, München 1989, S. 67-147. Vgl. auch die in Fußnote 15 angegebenen Aufsätze von Rich3rd Critchfield und Jeannine Blackwell. 9 Patricia Crawford, Wornen and Religion in Englaud 1500-1720, London 1993. 10 Zur Hexenforschung und entsprechenden Literaturangaben sei auf den Beitrag von Gudrun Gersrnann zum vorliegenden Band verwiesen.
39
Weibliche Religiosität im männlichen Umfeld
mit ihnen gerade erst an. 11 Hierbei sind freilich Entwicklungsunterschiede fes tzustellen, weml es schon
1986
earol Walker Bynum und iluen Kollegen
nicht mehr d arum ging, sich mit der religiösen Erfahrung von Frauen zu befas sen, sondem vielmehr das Verhältnis religiöser Symbole allgemein zur Katego rie "Geschlecht" zu untersuchen.12 \Vas nun aber die in der deutschen For schwlg laufenden Arbeiten zu weiblicher Religiosität lUlbelangt, so konzentriert sich das Interesse stark auf die Zeit des
1 7./18. Jahrhunderts,
auf die auch im
folgenden am ausfülulichsten eingegangen werden soll.
2. Das Innere Heiligtum "Ein Schwur ist wohl eine Verpflichtung, eUle Gelobung, das Zeitliche
ans
Geistige,
ans Unsterbliche zu setZen - da hab ich's gefunden, was ich mehl, was der innerste Kern unserer schwebenden Religion sem müßt. - Em jeder muß ein inneres Heilig tum
haben, dem er schwärt, und ... sich als Opfer in ihm unsterblich machen - denn
Unsterblichkeit muß das Ziel sem, nicht der Hillimel, den mag ich denken, wie ich will, so macht er mir Langeweile, und seine Herrlichkeit und Genuß lockt mich nicht, deIm die wird man satt, aber Aufopferung und Not, die wird man nicht müde."13
So steht es bei der Bettine geschrieben. Das Handehl kann Äußerungs foml eines sozialen Protests sein, als welche wir etwa während der Reformationszeit das Handehl von Frauen zusammen mit Männem im Bauemkrieg ansehen müssen. Das Handeln, wie es hier gefordert wird jedoch, setzt die Existenz eines inneren Heiligtums voraus, einer Idee, die einem heilig ist. Mit dem Bei spiel, welches sie gibt - der Geschichte zweier Ahnen, die im Dreißigjällrigen Krieg fielen, der eine mit der Falme um den Leib niederges tochen, der andere die Fal111e und den darin befindlichen brüderlichen Leiclmam bedeckend eben falls getötet - mit dem Beispiel, welches sie gibt also, verweist uns die Bettine zeitlich auf das
17. Jallrhundert.
Damit verweist sie bewußt oder unbewußt auf
gerade jenes Jallthundert, in dem nach dem Dreißigjährigen Krieg einerseits die Verbindung von Religion und Politik in! Zeichen einer sich steigemden Intole ranz inlmer enger wurde und in dem andererseits die Bedeutung der Religion
11 So wurden hn Juni 1995 auf der von der Evangelischen Akademie Baden für den "Arbeitskreis Geschlechtergeschichte m der Fliihen Neuzeit" veranstalteten Tagung "Frauen, Religion und Gesellschaft m der Frühen Neuzeit" eine ganze Reihe gerade laufender oder eben abgeschlossener Arbeiten vorgestellt. 1 2 Carol Walker Bynum/Stevan Harrell/Paula Richman (Hrsg.), Gender and Religion: On the Complexity of SymboIs, Boston
1986.
13 Bettine von Amim, Die Günderrode, a.a.O. S. 200/201.
40
Anette Völker-Rasor
für den Einzelnen Wld die Einzehle vor solcher Veräußerlicllwlg durch zu nehmende Verinnerlichung zu retten versucht wurde. In genau die gleiclle RichtWlg, die Assoziation einer bestimmten Zeit wld damit der für sie charakteristischen Fonn von Religiosität, mag übrigens auch die Bene1U1Ung der neuen Religion als "Schwebe-Religion" weisen. Die ver schiedensten Deutungen wurden für diesen rätselhaften Namen durchpro biert,l4 Doch nimmt man ihn einmal gmlz wörtlich, so ergibt sich als eine Mög lichkeit: Die Religion selbst bleibt in der Schwebe. Dafür allerdings werden ihre Grundsätze erstaunlich genau festgelegt. Die mldere Möglichkeit, die sich ergibt: Diejenigen, die die Religion leben, geraten in die Schwebe. Und in die Schwebe gerät man, wenn man abhebt vom Boden im TmlZ, in der eksta tischen Bewegung, in Trance. Damit sind genau die Fonnen gemeinschaftli chen religiösen Erlebens bezeielUlet, die im 1 7. und 18. J aluhundert in einzel nen religiösen Gruppen abseits orthodoxer Fonnen zunehmend praktiziert wurden. Frauen spielten in solchen ZusmlUllenschlüssen im Dienste einer neuen Fröllillugkeit eine besondere Rolle, sie waren die ersten Trägerinnen eines neuen "imleren Heiligtums". -
Für diese Zeit relativ gut wltersucht sind die Rolle von Frauen wld die Fornlen ihrer Religiosität im ZusanUllenhmlg der Pietismus-Forschung.15 Es ist bekatUlt, daß an den PrivatversanmllWlgen, die der Begründer des deuts ellen Pietismus, Philipp Jacob Spener (1635-1705), ab 1670 in Frankfurt veranstaltete, von An fmlg an auell Frauen teilnal11Uen. WetUl sich illre Rolle luer auch zunächst aufs Zuhören beschränkte, so wirkten sie in der Folge bei der Umsetzwlg doch nUt ml den Zielen dieser neuen protestantischen FrönUlugkeitsbewegung: d.h. sie wirkten nut an Hausandachten, Bibelstunden wld Kateelusmusvernuttlung, die dem Streben nach christlicher Vollkommenheit, tätiger Verwirklichwlg des ChristentWlls wld danut steter Erneuerung der Kirche dienten. Angeknüpft wurde luerbei an das während der Refonnation entwickelte Idealbild der Frau, welches sich gmlZ am Vorbild der unbezalllt im Hause arbeitenden und inl christlichen Sinne tätigen Ehefrau des protestantischen Geistlichen oder Ge leluten orientiert hatte. Entsprechend galt den Pietisten die Frau als besonders fromm, ihr religiöses Sprechen wurde genauso geschätzt wie illr orgmlisatori sches Können.
14 Diskutiert bei Hildegund Keul, Menschwerden durch Belüluung, a.a.O. S. 247. 15 Richard Critchfield, Prophetin, Führerin, Organisatorin: Zur Rolle der Frau im Pietis mus, in: Barbara Becker-Cantariuo (Hrsg.), Die Frau
VOll
der Reformation zur Ro
1987, S. 1 12-137; Jeannine Blackwell, Hel'Zensgespräche mit Gott Be ke1l1ltWsse deutscher Pietisti1l1len im 17. und 18. J aluhundert, in: Gisela Brinker Gabler (Hrsg.), Deutsche Literatur von Frauen Bd. 1, S. 265-289.
mantik, B01l1l
Neuerdings: Ulrike Witt, Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des hallischen Pietismus (=Hallesche Forschungen Bd. 2), Tübingen 1995.
Weibliche Religiosität im männlichen Umfeld
41
Für die frühe Zeit des Pietismus noch sind Frau und Mann darstellbar wie auf dem Ehepaarbild des Heinrich Roos von ca.
1650
(Abb. 3): nebeneinander
auf dem Anker der Hoffnung knie end, aufblickend zu Kelch und Hostie, den Zeichen für Christus und die ErIÖSWlg. Die Stimmung des Bildes ist von einem andächtigen Emst, von einer Mischung aus Ergebenheit und Hoffnung ge prägt.
Nach solcher Ö ffnung eines neuen Handlungsspielraumes dauerte es freilich
nicht lange, bis das schon erläuterte einfache Schema wieder in Kraft trat. War etwa für Nikolaus Ludwig Graff v. Zinzendorf muthe
(1700-1756)
(1700-1760)
seine Frau Erd
die wichtigste Gehilfin und vielleicht der geheinIe Kopf
beim Aufbau der pietistischen Gemeinde in Hermhut, so wurden nach Zin
zendorfs Tod Führungsansprüche von Frauen wieder sorgsam beschnitten. 1 6
Wie zuvor schon bei der Betrachtwlg der Refonllation war jedoch in das Haus, welches damit die Frau in umso engerer \Veise wieder umschloß, ein neues Schlupfloch eingebaut worden, eines mit der Aufschrift "Sebstbesinnung". Bis heute fortwirkendes auffälligstes Merkmal des Pietismus nämlich war ein über aus strenger Umgang mit dem eigenen Ich, eine ständige unerbittliche Selbstbe fragung auf das eigene Denken, Beten und Handehl
hin. Festgehalten wurde
diese Innenschau in Briefen, Tagebüchem und Autobiographien, die der heuti gen Geschichtsforschwlg ein reiches Quellenmaterial bieten. Wie Jeannine Blackwell fes tgestellt hat, sind j edoch den Geschlechtem je wlterschiedliche Fonnen des Sprecllens wie Schreibens vorbehalten: Mfulller predigen, Frauen beten, und Männer bekennen ihren Glauben, während Frauen Alltägliches mit Mys tischem verbinden. 17 Kennzeichnend für die Religiosität vieler Frauen, die solchen Gruppen mit dem Streben nach Verinnerlichung des Glaubens angeschlossen waren - Pieti s ten oder Philadelphisten in Deutschland, Quäker oder MetllOdisten in Eng land, Quietisten oder Jansenisten im katllOlischen Frankreich oder schließlich Labadisten in Holland - ke1l1lzeichnend für die Religiosität dieser Frauen war der zunehmende Hang Zunl Mystischen, zu Visionen und Prophezeiungen. In der Forschung versucht man heute, Erklärungen für dieses Phänomen zu fin den; der von Frauen oftmals bekannte Selbstentzug von Schlaf und Nallrung habe zu physischer Schwäche, heftigen Träumen wld trance artigen Zustfulden führen können.18 Solche Erklärungsversuche scheinen jedoch ähnlich falsch anzusetzen wie etwa die Bemühungen, das Aufbäumen und ScllCeien der Hy-
16
Vgl. die in Fußnote 15 angegebenen Aufsätze von Richard Critchfield und Jeannine Blackwell sowie zu Zinzendorf speziell: Haus Schneider, Nikolaus Ludwig von Zin zendorf, in: Martin Greschat (Hrsg.), Orthodoxie uud Pietismus, Stuttgart u.a. 1993 , S 347 372 17 Jeannine Blackwell, Herzensgespräche mit Gott, a.a.O. S. 267 f. 18 So z. B. bei Patricia Crawford, Women aud Religion in England 1500-1720, a.a.O. S. 92 f., 106 f. .
-
.
Auette Völker-Rasor
42
sterikerulllen des 1 9. Jahrhwlderts medizinisch herzuleiten. Weiterführender dagegen erscheint die Frage nach der Fwtktion solcher aus dem Ral1l11en fal lenden Verhaltensweisen. Tatsache ist, daß die von Gott herkommenden Reden der ja als besonders fronllI geltenden Frauen gehört wurden. Tatsache ist freilich auch, daß jenes Gehör immer auch die Gefahr des Mißtrauens und der Verfolgung barg. Wenn sie es geschickt anstellten jedoch, k01111ten Frauen auf diese Weise auf eine Stufe mit den predigenden, d.h. über das Wort herrschen den Mätlllern gelangen. Für die Zeit des fortgeschrittenen Pietismus wird der Hang zur Mystik auf einem leider nur schlecht erhaltenen Bild von 1 730 deutlich (Abb. 4), welches den Herrnhuter Chor der ledigen Frauen mit der Zinzendorfschen Kreuzes theologie zu einer unheimlichen Szene verbindet: Entzücken steht den züdlti gen Wesen ins Gesicht geschrieben, die den schönen Toten umschweben. Und bei Zinzendorf auch kann für das folgende angeschlossen werden: Als er 1 736 wegen verdädltiger Praktiken seiner Herrnhuter Gemeinde des Landes verwiesen wurde, begab er sich in die Wetterau zu einer Gruppe radikaler Pietistenl9, die er sechs Jallre zuvor erstmals besudlt hatte. Deren in Ekstase vorgebrachten Prophezeiungen lehnte er zwar ab, doch in den 40er Jahren sollte seine eigene Gemeinde in gmlz ähnliche Wallungen geraten. Die Rede ist von der "Gemeinschaft der waluen Inspiration", die 1 714 in der Grafschaft Ysenburg gegründet wurde und deren Mitglieder 1841 nach Amerika auswan derten. Heute lebt diese religiöse Gruppe als "Aulana Society" noch ganz nach der Art des 1 9. Jahrhunderts im Staate Iowa, der voll Stolz überall Reklanle für sein "Historical Lmldmark" macht und Ströme von Touristen auf die fünf Dör fer hetzt. Historisch untersucht wird die Gruppe denn auch vorwiegend von amerikanischer Seite aus.20 Über ihre Almen, die Inspirierten, gibt es von deut scher Seite nicht vergleichbar viele Arbeiten.21 Ein besonderes Interesse ver19
Glundlegend zum radikalen Pietismus: Hans Schneider, Der radikale Pietismus in der ueueren Forschung, in: Brecht, Martin u. a. (Hrsg.), Pietismus und Neuzeit. Ein JallI buch zur Geschichte des Neueren Protestantismus, Göttingen
1974 ff., Band 8, 1982,
S. 15-42 und Band 9, 1983, S. 117-151. Neuerdings: lrina Moruow, Der radikale Pietismus. Einige Überlegungen zu den "linken" Außenseitern einer sozial-religiösen Erweckungsbewegung in der ersten Hälfte des
18.
Jahrl1Underts, in: Frühneuzeit-Info,
schung der Frühen Neuzeit, Jg.
20 Nur
3, 1 992,
H.
2,
S.
hrsg. v. 29-39.
Institut für die Elfor
als Eckpunkte des Forschungsspektmms: Diane Barthel, AnIma. From Pietist Sect to American Community, Lillcohl 1984; Philip E. Webber, Kolonie-Deutsch. Life and Language in Anlana, Ames 1993.
21 Wegweisend: Matthias Benad, Ekstatische Religiosität und gesellschaftliche Wirklich keit. Eine Untersuchung zu den Motiven der Inspirationselweckung unter den sepa ratistischen Pietisten in der Wetterau 1714/ 15, in: Brecht, Martin u. a. (Hrsg.), Pie tismus und Neuzeit. Ein Jaltrbuch zur Geschichte des Neueren Protestantismus Göttingen
1974 ff., Band 8, 1982, S. 1 19-161.
43
Weibliche Religiosität im männlichen Umfeld
dienen die Inspirierten hier aufgrund ihres sozialen Profils. Werden sonst eher
höhere Schichten von der Pietismus-Forschung erfaßt, so handelt es sich hier um kleine Leute - Sattler-, Taschetilllacher-, Strumpfweberfamilien -, denen
der Graf von Büdingen den Zuzug in sein Gebiet erlaubte w1d von denen er
sich in einer wirtschaftlich desolaten Situation Aufschwung erhoffte. In der ersten Generation waren es fünf Männer und drei Frauen, die als soge nannte "Werkzeuge" hervortraten, d.h. durch die Gott zur Gemeinde sprach.
Oft wurden ihre Worte mitgeschrieben und gleich oder später zur Erinnerung
gedruckt So gibt es im Büdinger Schloßardliv eine große Smllmlung von In spirierten-Literatur aus dem 18. und 19. Jallfhundert. 22 Und hierin findet sich auch ein wllfangreicher Bm1d mit den Reden einer der drei Frauen der ersten
Generation, der Ursula Meyerin, die W1S
im Vorwort als ledige Strwllpfweberin
aus der Schweiz vorgestellt wird.23 Ganze
154 Inspirationen sind
auf 380 Seiten
von einer Frau überliefert, die wir m1ders als die meisten uns bekannt gewor denen Pietistinnen dem Kleinbürgertum zuzurechnen haben. Was nW1 hatte sie den Büdingem "Anno
zu
1715. 1.
s agen?
Roneburg den
16.
Merz. In der gewöhnlichen Abend-Betstunde ge
schahe diese allererste Bezeugung des Geistes des Herm durch das Werkzeug Vrsula Meyerin: Ich lache aller Anfechtungen, die auf eine Jesum liebende Seele 10ßstüDllen: dann sie währen nur eine kurze Zeit, und bleibet ihr illUle l r ihr Jesus übrig, wa1l11 sie schon alles lässet, was im Himmel und auf Erden ist. Es wird alles weichen müssen, und die Liebe ihre Heylaudes wird bleiben. Solten sie auch alle geistliche Kräften verlassen, und soIten sie von aussen ganz amI werden, so kan sie doch ihr Jesus nicht lassen: datm Er hat sie in seine Hände gezeiclUlet.
01
so wird dallU das das wohl bleiben, was
Er als einen Siegel-Ring an seiner Hand trägetl Wer will dem Starken seinen Raub nelU11en? Wer will sich erkühnen, in sein Hauß zu brechen, und eine Seele zu neh men, die ihre Glaubens-Augen auf Ihn gerichtet hat, und die nichts suchet, als Ihn um sein selbst willen lieb zu haben, die keine Gaben von ihm verlanget, sondem nur nach seiner Liebe seufzet, welches zwar das grässeste ist, und doch aber auch das ist, das eine Seele ohne Gefahr verlangen darf: detUl alles wird aufhöretl, aber den Herrn Jesum lieb haben, wird ewig bleiben."24
Neuerdings: Vif-Michael Schneider, Propheten der Goethezeit. Sprache, Literatur, und Wirkung der Inspirierten (palaestra Bd.
297), Göttingen 1995.
22 Für eine Einführung in die "SaJ.llID!ung Mörschel" und deren Benutzung sei an dieser Stelle dem Büdinger Schloß archivar, Herrn Dr. Decker, freundlich gedankt. 23 Büdinger Schloßarchiv, Saumliung Mörschel Reihe I, Band 66 c. 24 Ebd. S. 7.
44
Anette Völker-Rasor
Und in diesem Stil geht es Seite um Seite weiter und weiter. Die Liebe als wesentlicher Gehalt der Botschaft erinnert spontan an die Äußerungen der Mystikerinnen des
14.
JaluhwIderts. Wenn man es genau bedenkt, setzt der
Text mit einem Paukenschlag ein: "Ich lache aller Anfechtungen... " - in diesen ersten Worten schlägt sich eine entrückte, fast schon jenseitig anmutende Un abhängigkeit nieder, deren ebenso extremen Gegenpart druUl die direkte Lie besbeziehung zu Gott bildet. Sie könnte amI und sogar geisteskrrulk werden, nichts und niemruld kÖ1Ulte sie von dieser Gottesliebe abbringen. Dabei scheint ilu umgekehrt die Liebe Gottes durchaus nicht gewiß zu s ein, denn sie sagt lediglich, daß sie nach seiner Liebe seufzt. So bleibt es letztlich die einseitige, die von ilu auf Gott gerichtete Liebe, der die übennenschliche Kraft der Ewig keit zukommt. Eine soldIe Intensität des Gefühls, gleich zu Beginn assoziativ gebunden an den Eindruck der Unrulfechtbarkeit, der auf diesem \Vege ge WOlUlenen Stärke also, muß auf die Zuhörenden werbend und ennutigend wirken. Sie sind von keiner Vennittlungsinstrulz abhängig, auch nicht von ei nem sich ihnen zuwendenden Gott, alles religiöse Gefühl kruUl allein aus der eigenen Liebesbereitschaft gespeist werden. Nachdem dies einmal so verkündet ist, folgt sogleich die zweite Lektion zum Thema "Liebe":
,,2. Roneburg des 17. Merz. In der Abend-Betstunde geschahe dUl andere zeugnill des Geistes durch Ursula Meyerin: Womit körnlen wir unsern getreuen Seelen-Hirten melu ehren, als Waml wir Ihru ge horsanl sind? dann Ullgehorsam ist Zauberey-Sünde. Wer da sagt, er liebe Jesum, und ist Ihru nicht gehorsam, der ist ein Lügner. Der Gehorsam und Liebe sind mit einan der so verbunden, daß keines ohne das andere seyn kau: wer liebet, der ist gehorsam; wer nicht gellOrsam ist, der liebet nicht Ein Weib kan nicht zu ihrem MaIDl sagen: ich liebe Dichl we1lll sie ihm nicht gerne will untelworffen seyn und gehorsamen. Al so auch eine Seele, die da saget, sie liebe ihren Heyland, muß ihren Willen ganz unter seinen biegen, wann es ihr SChOll sauer wird, wann sie schon bittere Thränen dalüber vergiesset; es hilfft nichts dalvor, wer die Liebe des Bräutigams geniessen will, muß unter Dm den ganzen Willen biegen und brechen, so oft Er etwas will, das Ihru zuwi der ist; sie wird auch keine Ruhe haben eine Seele, die sich nicht beständig beuget unter seinen Liebeswillen 25 ...
Ohne in diesem Zusrunmenhrulg weitere Quellenarbeit betrieben zu haben, darf der Text gewiß nicht überinterpretiert werden. Doch auffällig ist, daß gleich
zu
Beginn
der Passage
die
merkwürdige
\Vortzusammensetzung
"Zauberey-Sünde" begegnet. Die Liebe, die als irrationale Kraft unbeherrscht völlig aus der Richtung schlagen kruUl, wird in dieser Botschaft sogleich ge bunden an den Gehorsam. Das Werkzeug verwallrt sich davor, einem undiszi-
25 Ebd. S. 11.
45
Weibliche Religiosität im miinnlichen Umfeld
plinierten wId damit der Obrigkeit ungefälligen Verhalten das Wort zu reden. Daß es gerade als weibliches Werkzeug in dieser Beziehung Vorsicht walten lassen will, darauf deutet die Verbindung von Zauberei und Sünde hin; denn außer einem geistlichen ist damit ein weltliches Vergehen genannt, welches
WI
ter dieser BezeichnwIg gerade der Frau als immer potentiellen Hexe zur Last gelegt werden kÖlmte. Die hier sprechende Frau jedoch verbindet mit der Religions fonn, die sie propagiert, das Ideal der totalen Selbstverleugnung. Zuhilfe nimmt sie dafür die alte biblische Vorstellung vom gleichen hierarchi schen Verhältnis zwischen Kirche und Gott wie zwischen Frau und Mann. Mit mehr als klösterlicher Strenge soll der eigene Wille im Dienste der Liebe gebo gen wId gebrochen werden. Und um weiterhin keine Unsicherheit über die weltliche Bedeutung illrer Lehre aufkonmlen zu lassen, heißt es etwas später:
"Also soll sich auch ein Weib unter ihren Mann biegen, und alles thun, damit sie sei ne Liebe bewahre: delUl das Weib ist nichts olrue den M31lU, und der M3llll nichts ohne das Weib, sondern sie sind Eines in Chtisto. Werden sie nun hier eines in Ihnle, und lassen sich von welU Oberllaupt regieren, und in die wahre, wesentliche, reine Liebe fühten, so werden sie grosse Kräften erl311gen zur Ueberwindung aller Mühse ligkeiten dieses Lebens, und wird ihnen die Last sehr leicht werden, die ihnen sonst, W3ll1l sie einzem bleiben, und sich nicht mit Christo vereinigen, seht schwer wird, und darunter sie m311che lbränen vergiessen müssen. Ja, sie werden erl311gen das, W311.1lU sie bitten werden, und zu keiner Zeit ungesegllet aufstehen oder niedergeheiL lllIe Kinder werden auch des Seegens theilliaftig werden, und werden wachsen und zunehruen in allem guten: und sie werden ihte Freude 3n ihnen haben, wann sie sol che werden grünen sehen wie die Oelzweige, ja zu seiner Zeit Früchte von ihnen se hen werden.«26 Das traditionelle Verhältnis zwischen den Geschlechtem bleibt unangetastet, j a wird noch in besonderer Weise befestigt. D a tun sich Widersprüche auf. Die Ursula Meyerin erhebt ihre Stinune und beanspmcht in gleicher Weise Gehör wie der predigende Malm, wällrend sie noch im Moment der vollzogenen Gleichordnung die Unterordnung der Frau unter den Mann als einzig recht bezeicllllet. Gleichzeitig existieren Mann und Frau in illrer Vorstellung allein als Verheiratete wld sich Vennehrende, während sie, die Ursula Meyerin, doch gerade den Stalld des ledigen Menschen verkörpert. Zu verstehen sind solche Ungereimtlleiten nur als Strategie. Eine Frau, die sich entgegen aller Ordnung derart exponiert, muß sich
um
illrer existentiellen Sicherlleit willen jedes Ver
dachtes entheben, die OrruIwIg generell in Frage s tellen zu wollen. Das ge schieht am wirkungsvollsten, indem sie die seit der Refomlation zentrale Ord nungs- und Disziplinierungseinheit, die patriarchal orgalusierte Ehe, beschwört.
26
Ebd. S. 1 1.
46
Anette Völker-Rnsor
Um hier innezuhnlten: So, wie er einem heute und den Inspirierten dnmrus ent gegentritt, stnmmt der Text von Ursuln Meyerin erst
66
1781.
Gedruckt ruso wurden die Worte der
Jahre, 1l1lchdem sie gesprochen worden wnren. Auch
weml dies, wie es im Vorwort heißt, nach Vorlagen geschnh, so ist doch mit Übeenrbeitung, d.h. ebenfills mit Anwendung von Stentegie zu rechnen: Nur in dieser Mischung aus Anspruch und Beschwichtigwlg mag die Botschaft der Ursuln Meyerin lange erimlerbnr wld dnml neu verbreitbar gewesen sein. Dns Beispiel kmn rul dieser Stelle verlassen werden, jedoch nicht ohne so viel festzuhruten: Wo Fenuen religiös nktiv wurden, da verließen sie mit ihrem Aktiv-Werden bereits den ilUlen gesteckten Rahmen, was ilUlen auch einzig via Religion nur möglich . war. Mit diesem Schritt aber begnügten sie sich bereits und forderten nicht etwa inl Namen der Religion eine generelle Abschaffung der Grenzen um sie herum. Was sie freilich entwickelten, waren spezielle Techniken, auf dem neu besdlrittenen schmnlen Pfad zu wandeln. Zu über winden nämlich hatten sie nicht nur Zusnmmen mit den Gleichgeso111lenen die rute Ordnung bisheriger kirchlicher Praxis, sondem innerhrub der Gruppe zus ätzlich die zwischen den Geschlechtern bestehende Ordnung. Welm sich manche Frauen dabei bewußt für ein lediges Leben entschieden, dann knm dies dem merkwürdigen Phänomen einer Absage rul jedwede Bindung und Ord nung inl Rahmen einer dodl gernde Bindung und Ordnung bedeutenden Gruppe gleich. Dieses Phänomen verliert rul Merkwürdigkeit, we111l es rus Ü berlebensstrategie verstrulden wird. Die Entwicklung solcher Verhrutens- und Lebensweisen zum Zwecke reli giösen Hnndelns - aber auch umgekehrt die Fonnen religiösen Hnndelns Zunl Zwecke bestimmter Verhaltens- und Lebensweisenl - gilt es zu eruieren, weml nach weiblicher oder auch männlicher Religiosität gefragt wird. Sie abgelöst von der Verwirklichung, zu der es inuner nur im historisch-soziruen Kontext kommen kruUl, zu betrachten, hieße sonst, sich lrulge mit einer fruchtlosen Diskussion wn die Definiton von "Geschlecht" aufzuhnlten. Eine von sich aus weibliche Religiosität aber gibt es wohl ebensowenig wie eine von sich aus mämiliche. Zu einer spezifisch weiblichen Religiosität krum es inmler erst rulge sichts der Bedingungen kommen, unter denen Fenuen religiös nktiv werden indem sie entweder gesellschnftlichen Rollenzuschreibungen
mit mrem Ver
lUllten entsprechen, oder indem sie Strategien ersitmen, mit deren Hilfe sie nus
dem engen Korsett genau dieser Rollen olme die Gefnhr ·der Bestrafung nus brechen kÖlmen. In neueren Darstellwlgen zu frühneuzeitlidler Religiosität je denfnlls ergeben sich in dieser Richtung noch Lücken,21
27 Wolfgaug Beutin, Religiosität Neuzeit, in: Peter Dinzelbacher (Hrsg.), Europäische Mentalitätsgeschichte. Hauptthemen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1993, S. 137153; Richard van Dülrnen, Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit, Bd. 3: Religion, Magie, Aufklärung, 16.-18. Jahrhundert, München 1994.
Weibliche Religiosität im männlichen Umfeld
47
3. Die Selbstverwirklichung "Nicht wahr, das soll auch ein Hauptprinzip der schwebenden Religion sein, daß wir keine Bildung gestatten - das heißt, kein augebildet Wesen, jeder soll neugierig sein auf sich selber und soll sich zutage fördem wie aus der Tiefe ein Stück Erz oder ein Quell, die ganze Bildung soll darauf ausgehen, daß wir den Geist ans Ucht hervorlas sen. Mir deucht, mit den fünf SirUlen, die uns Gott gegeben hat, kÖ1l1lten wir alles erreichen, ohne dem Witz durch Bildung zu nahe zu korruuen. Gebildete Menschen sind die witzloseste Erscheinung wlter der Sonue.,,2 8
So steht es bei der Bettine geschrieben. Hödlst elegant wendet sie hier zum Vorteil, was im Laufe des 1 9. Jahrhunderts Frauen mit zunehmender Hartnäk kigkeit als größten Nachteil bekämpfen werden, den Ausschluß von Bildung und Wissenschaft. Auf Anbieb will es uns vielleicht nicht einleuchten, was die bewußte Ablehnung von Bildung mit der Gründung der neuen Religion zu tun haben mag. Doch tatsächlidl konkurrieren ab dem Zeitalter der Aufklärung zwei Systeme miteinander: Männer haben sich mit der Entwicklung der Wis senschaften eine neue, aussdiließlich dem eigenen Geschlecht vorbehaltene Möglichkeit der Weltdeutung eröffnet, während Frauen auf die traditionelle Möglichkeit, die Religion, verpflichtet werden. Daß die Bettine sich bewußt für die Religion und gegen die Wissenschaften ausspricht, und daß sie sich dabei auf den festen Boden des eigenen Selbst stellt, könnte bedeuten, daß sie die für die neue Weltdeutung nun wieder nötige Veollittlung, will heißen Abhängig keit, ablehnt. Und gerade solche auszuschalten hat die Phase des "uUleren Heiligtums" Ul den vorausgegangenen zwei JahrhwIderten j a angestrebt - mit dem besonderen Vorteil für Frauen, sich der Eigenschaften und Fähigkeiten iluer selbst besonnen zu haben. Im 19. Jaluhundert wird die klare Trennung der Geschlechterräume zu ei nem bestimmenden Merkmal der entstehenden Bürgerlichkeit.29 Dabei werden der Frau N atur und Religion, dem MaWl Kultur wld Politik zugeordnet. Wie es mit der Verinnerlichung der Religion Zu ihrer Intimisierung, Familiarisiecwlg und letztlich Feminisierung kam, läßt sich bei Rebekka Habeollas nachlesen.3o
28 Bettine von Amim, Die Günderrode, a.a.O. S. 205/206. 29 Nach wie vor glUndlegend: l<arin Hausen, Die PolarisielUng der Geschlechtscharak tere. Eine Spiegelung der Dissoziation von Etwerbs- und Familienleben, in: Conze, Wemer (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas, Stuttgart 1976, S. 363-393. 30 Hierzu s. den in Fußnote 7 angegebenen Aufsatz von Rebekka Habennas sowie: Hugh Mc Leod, Weibliche Frörruuigkeit - männlicher Unglaube? Religion und Kir
che iru bürgerlichen 19. Jalu:hundert, in: Ute Frevert (Hrsg.), BürgerirUlen und Bür ger, Göttingen 1988, S. 134-156.
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Anette Völker-Rasor
I-Iier audl wird beschrieben, wie Frauen aus diesem wieder einmal enger ge wordenen Haus aufgrund eines gewissen religiösen Selbstbewußtseins den Weg in religiöse Frauenvereine und Diakonissenverbindwlgen fanden. Zu weibli cher Religiosität zählte aufgrund der sie umgebenden Bedingungen anders als zu männlicher inmler die Phantasie, innerhalb des Definierten doch wieder neue Möglichkeiten der SelbstverwirklidlUng zu fmden. Indem die Bettine sich gegen die Bildung wendet, bekennt sie sich zu einer nUlUllehr über JallChun derte gepflegten wld bewährten Tradition. Wenn eine Spekulation erlaubt ist: Sie würde sich heute waluscheinlich auf die Seite derjenigen Feministitulen stellen, denen an einer Betonung der Geschlechterdifferenz wieder stärker gelegen ist.3! Zwanzig JallCe alt war die Bettine, als sie ihrer Freundin Karoline den Plan von der Schwebe-Religion vorstellteY Als sie den Briefroman "Die Günderro de" herausbrachte aber, da war sie bereits 55 JallCe alt. Die Ehe mit Adlinl von Anlinl, die Geburt ihrer vier Sölme, der Tod ihres Mannes wld ilires Lieblings solUles, der Tod des illC so wichtigen Goethe audl, das alles hatte sich in der Zwischenzeit ereignet. In dem gleichen Jallr, als sie in Berlin den Briefwechsel für die Veröffentlichung vorbereitete, 1 839, da gab inl weit entfemten Wien eine ganz andere Frau ein Bild in Auftrag. (Abb. 5) Die Erzherzogin Sophie von Österreich, eine geborene Prinzessin von Bayem, ließ sich von dem Maler Peter Fendi ein WeilUlachtsgeschenk für ihren Gatten Franz Carl anfertigen. Auf seine besondere Freude muß sie gehofft haben, indem sie sich mit illCen
Kindem beim Abendgebet darstellen ließ. Wüßte man es nicht besser, so wür de man auf dem Aquarell statt eines adeligen ein bürgerliches Interieur erken nen, das Kruzifix auf einer KonUllode inl WolUlzinuner, umgeben von religiö sen Bildem wie dekorativer Landschaftsmalerei. Soeben haben die Kinder noch gespielt, während die Mutter auf dem Sessel, eine Näherei in den Händen, sie beaufsichtigte. Nun wird, bevor der Vater von seinen Geschäften in Handel oder Politik nach Hause zurückkehrt, bereits das Abendgebet verrichtet. Was dieses Bild zeigt? Daß die bürgerliche Erwartung an die Frau im
19.
Jaluhundert in bezug auf die Religion schichtenunabhängig eine die gesamte Gesellschaft durduiringende war. Daß man für frühere JallCe, als sie noch kleine Kinder hatte, genausogut die Bettine in diesem Bild sehen kÖIUlte. Daß das Spektrum weiblicher Religiosität nicht weit genug angesetzt werden krum und weniger vielleicht unter den klassischen Gesichtspunkten "Konfession"
31 Auseinaudersetzung mit dem in entgegengesetzter Richtung argumentierenden femi
nistischen Dekonstruktivismus bei: Ha1l1la Schissler, Soziale Ungerechtigkeit und hi storisches Wissen. Der Beitrag der Geschlechtergeschichte, in: Hauna Schissler (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel (Geschichte nnd Ge schlechter Bd. 3), Frankfurt 1983, S. 14. 32 Zu den folgenden biographischen Details: Ingeborg Drewitz, Bettine von Arnim. Romantik - Revolution - Utopie. Eine Biographie, Düsseldorf 1984.
Weibliche Religiosität im männlichen Umfeld
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oder "Schicht" zu betrachten ist als vielmehr unter solchen wie "Alter", "Familienstand", "Rahmenbedingungen" usw. Der Briefwechsel der Bettine mit der Karoline und damit die Idee von der Religionsgriindung kamen zu einer Zeit an die Öffentlichkeit, da aus dem übersp31mten Mädchen eine reife Frau geworden war, die zW1ehmend politische Aktivität zeigte: 1837 hatte sie sich für die Göttinger Professoren eingesetzt, und
1 843 sollte sie mit iluem
"Königs buch" lautstark Kritik 311 den sozialen Mißständen in und um Berlin üben. So wie sie war, hatte sie sich selbst verwirklicht, indem sie einer inneren Stitrulle gefolgt und gemäß dieser tätig geworden war - auf die Befolgw1g der inhaltlichen Prinzipien iluer Schwebe-Religion konnte sie sich durchaus prüfen lassen! Das enge Zusat1ill1enspiel zwischen Politik, Religion und Geschlecht scheint hier auf. Eine nur als Religionsgeschichte verbrämte männerorientierte Kirchengeschichte macht dies nicht sichtbar, hier hilft nur eine um die Katego rie "Geschlecht" bereicherte neue historische Forschw1g zur Religiosität.33
S chluß Die Reaktion der Günderrode auf die Religionsstiftungsabsichten iluer Freun din, wie sie W1S im gleichn31lligen Briefromatl erhalten ist, best311d vomel1ll1li ch in einer gewissen Ratlosigkeit, was sie wohl deren Bruder Clemens Brentano berichten könne:
"Ich darf ihm nicht sagen, daß Du ein Religionsstifter bist und die ganze Menschheit auf Dich genommen hast und willst sie lassen von der Luft leben und bildungslos da hertappen und willst nichts Gekochtes mehr essen, von lauter rohen Mohrrüben und Zwiebel leben und die Bratspieße alle zum Teufel werfen und Dir das gauze Taunus gebirg zur Gesellschaft bitten und daß Deine Religion schweben solle und daß Du in dem Gärtner einen adeligen Herrn entdeckt hast, das da1f ich ilnn doch alles nicht sageIL Was soll ich ilnn denn sagen? - Da helf mir doch einmal ein billchen drauf."34 Die beiden jW1gen Frauen mögen hier mit iluem Problem unter sich gelassen werden. Es sei auch nicht mehr d311ach gefragt, ob die Bettine sich von der Karoline tatsächlich unverstanden fühlen mußte oder ob in diesen Zeilen eine gute Portion Selbstironie der älteren, edierenden wld überarbeitenden Autorin steckt. Deren Entwurf der Schwebe-Religion wurde hier nur aufgenommen als ein Amalgam verschiedenster zeitlicher w1d auch konfessioneller Positionen.
33 Unter welcher Vielzahl von Aspekten Religionsgeschichte betrieben werden k31ll1, zeigen: Jim Obelkevich/Lyndal Roper/Raphael SaulUel (Hrsg.), Disciplines of Faith. Studies in Religion, Politics aud Patriarchy, London 1987. 34 Betrine von Amim, Die GÜllderrode, a.a.O. S. 207/20/3.
50
Anette Völker-Rasor
Wo nämlich im vorangegangenen vielfach auf der Basis protes tantischer Ent wicklungen verallgemeinert wurde, da war es doch die Gedankenspielerei der katholischen Bettine von Arnim, die den Weg dahin balUlte. Neben den ver s chiedenen Komponenten besteht ein die Zeiten übergreifender allgemeiner Grundzug weiblicher Religiosität in dem immer neu untemommenen, aber je verschieden gestalteten Versuch, die Ordnung des Übereinander durch eine Ord.l1WIg des Nebeneinander zu ersetzen. DmIIit sind jedoch nur die metllo dischen Anregungen bezeichnet, die sich für die vorliegenden Ausführungen aus dem Bettine-Zitat ergaben: nämlich die Traditionen, Mutationen und Inno vationen in ein und derselben Äußerung aufzudecken. "Lasse uns doch eine Religion stiften... " - Aufmerks amkeit aber kmlll diese Stelle heute auch aus einem ganz anderen Grund erwecken. Für frühere wie derzeitige Vorstellungen klingt auf Anhieb ein bißchen verrückt, was sich bei näherem Hinsehen doch s tändig ereignet. Neue Glaubensformen werden ei nem mittlerweile an der Haustür und auf der Straße mit der gleichen Penetranz angeboten wie Staubsauger wid Wischlappen. Dabei unterscheiden sich die singsangartig vorgebrachten Gottesworte einer Uriella von "Fiat Lux" wahr scheinlich gar nicht so sehr von den Prohezeiwigen einer Ursula Meyerin. NWl stellen die weißgewandeten Jünger der Sektenführerin aus dem Schwarzwald vielleicht keine große Gefahr dar; genügend midere Gruppen jedoch twl sich vermehrt durch individuellen Freiheitsentzug, kriminelle Wirtschafts eingriffe und terroris tische Aktivitäten hervor. Es wäre eUllllal eitter Überlegwlg wert, ob das Aufkonllllen solcher religiöser Bewegungen eigentlich spezielle Jalu hWldertwende-ErscheulUngen sUld. Zu der Zeit, da diese Ausführungen erarbeitet wurden, bot dankenswerter weise eitte große deutsche Tageszeitung ihren Lesern eitte AufkläfWlgsserie unter dem Titel "Der Kanlpf um die Seelen". In eUlem der eitlleitenden Artikel jedoch s tmld zu lesen: "Das Geschäft mit der Seele floriert. Mehrere Milliarden Mark werden j ährlich itt Deutschland mit okkulten oder pseudoreligiösen Dienstleistungen umgesetzt. Körpertllerapien, Esoterik-Pyranuden wld Wün schelruten sUld "itt" - vor allem bei Frauen."35 Sollte der Vergleich nut den Staubsaugern und Wischlappen also gar nicht so verkehrt gewesen seuI? Späte stens ml dieser Stelle wird offenbar, welcher Platz einer Darstellwlg weiblicher Religiosität Ul einem Bmid zukommt, der männergeschichtliche Beiträge in sich vereuugt. Erst wenn TIlemen, die traditionell eittem der beiden Geschlechter zugeord net sittd, für dieses eUle Geschlecht huIlänglich erschlossen wurden, zeigt sich, daß dieselben Themen für die Seite des anderen Geschlechts noch Leerstellen markieren. So wurden etwa itt der deutschen Geschichtsschreibwlg Studien zur
35 Süddeutsche Zeitung Ne. 99, 29. 4. - 1. 5. 1995, S. 9.
Weibliche Religiosität im mfuUllichen Umfeld
51
Sexualität seit Mitte der 80er Jahre zuerst von der Frauengeschichte betrieben,
bevor sie seit Beginn der 90er Jahre auch von der Mällnergeschichte hervorge bracht werden. Dabei wurde das Thema nicht nur zuerst auf der Seite des
Geschlechts aufgegriffen, dem es traditionell zugeordnet ist; eine weitere Be
sonderheit besteht vielmehr darin, daß zuerst jeweils auffaJlige, meist randstful
dige und kriminalisierte Aspekte des Themas bearbeitet werden - Prostitution
von der Frauengeschichte36, Homosexualität von der MfuUlergeschichte.J7 Ganz
ähnlich verhält es sidl nun mit der Frage der Religiosität. In der Frauenge
schichte wurde sie zunächst im Rahmen der HexenforsdlUng mitbeleuchtet,
bevor seit einiger Zeit eine eigene Forschung zu den nicht-s anktionierten Er scheinungs fomlen hervortritt. Die MfuUlergeschichte dagegen hat bislang das Thema insgesamt noch nicht für sich entdeckt, weder seine auffalligen noch
seine gewölmlichen Aspekte betreffend. Um auf den aktuellen Bezug zurückzukonUllen: Vielleicht müssen nicht alle
Themen in schöner Parallelität von Frauen- wie Männergeschichte bearbeitet werden. Vielleicht reicht es bereits, zu erkelUlen, daß jedes von der Frauenge
schichte behandelte Thema eigentlich ein Thema der Geschlechtergeschichte, also auch der Mfulnergeschichte, darstellt und nicht an irgendetwas Weibliches
gebunden ist. Der Religiosität wld Frömmigkeit aber scheint, da noch inmler
einem Weiblichen zugeordnet, nach wie vor zu sehr das Signmn des Guten, Unpolitischen und UngeHihrlichen anzuhängen, als daß eine sich politisch ver
s tehende Geschidltswissensdlaft dem nachgehen würde. Tatsächlich aber beschert WIS eben jenes Verständnis von Religiosität heute bereits staatenüber greifende und unkontrollierbare Vemetzwlgen völlig neuen Zuschnitts. Und diese werden, wo sich die Geschichtswissenschaft heute noch mit dem Euro
pagedanken, der Nationalismusfrage wld ähnlich gut sichtbaren Problemstel
lungen der Gegenwart befaßt, doch künftig zur De fInition und Erforschung völlig neuer Einheiten auffordem. Für die geschichtswissenschaftliche Arbeit sollte das jetzt bereits zweierlei bedeuten: ZWll einen sollte die gesellschaftliche
Bedeutung religiösen Sektierertums in der Geschichte stärker herausgearbeitet
werden. Zum anderen sollten die religiösen Dispositionen der auf neue Lehren
ansprechenden Menschen genauer erforscht werden. Auf diese aber wirkt außer allen anderen sozialen Bedingmtgen auch die des Geschlechts.
36 Ausführliche
Überblicke über die Forschung
der 80er Jahre: Ute Frevert, Bewegung
und Disziplin in der Frauengeschichtsschreibung, in: Geschichte und Gesellschaft 14, 1988, S. 240-264; Gisela Bock, Geschichte, Frauengeschichte, Geschlechtergeschich te,
in: Geschichte und Gesellschaft 14, 1988, S. 364-391.
37 Zur Erforschung der Homosexualität und entsprechenden Literaturangaben sei auf die Einleitung von Wolfgang Schmale und die Beiträge von Allgela Taeger sowie Ste phau Heiß zum vorliegenden Band verwiesen.
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Anette Völker-Rasor
Abbildungsanhang
Abb. '1: Unbekannt, Bettine von Amim als junge Frau, in: Clu:.ista Bürger/Birgit Die fenbach (Hrsg.), Bettina von Amim. Ein Lesebuch, Stuttgart 1987, S. 56
Weibliche Religiosität im mfuuilichen Umfeld
53
Abb. 2: Lucas Cranach, um 1537, Skizze zu einem reformatorischen Flugblatt, in: Bar bam Becker-Cantarino, Der lange Weg zur Mündigkeit. Frauen und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800, München 1989, S. 78.
54
Anette Völker-Ras ar
Abb. 3: Johanu Heinrich Roos, um 1650, Selbstbildnis mit seiner Frau, in: Klaus Gall witz (Hrsg.), Städels Sammlung im Städel. Gemälde, Frankfurt/M. 1991, S. 29.
Weibliche Religiosität im männlichen Umfeld
55
Abb. 4: UnbekalUlt, "Der Jungfembund" von 1730, in: Hans Schneider, Nikolaus Lud wig von Zinzeudorf (wie Aum. 16), S. 353.
56
Atlette Völker-Rasor
Abb. 5: Peter Fendi, Das Abendgebet, 1839, in: Das Aquarell 1400-1950, hrsg. der Kunst München, München 1973, S. 1 62.
v.
Haus
Ralf-Peter Fuchs
S chmähschriften unter Männem. Ein Blick auf den Kampf stil eines frühneuzeitlichen Juristen Man konuut an ilUlen einfach nicht vorbei, wenn man versucht, charakteristi sche friihneuzeitliche Temperamente aufzuführen: Der von den Juristen errun gene gesellschaftliche Platz war fest, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten waren äußerst gefragt. In Verbindung mit den friilUllOdemen Rationalisierungsprozes sen in Verwaltung und Rechtspflege ist ihrem Berufsstand eine tragende Rolle zugeschrieben worden. Das Konzept einer Befriedung nach uUlen, das die Staatsoberhäupter sich auf ihre Fallllen schrieben, wurde wesentlich über die Verlagerung von Konflikten Ul jene Foren angestrebt, Ul denen sie als Lizen tiaten und Doktoren der Rechte die entscheidenden Akteure waren. Juristen so scheint es - waren hochgradig funktional im SitUle eUles geordneten Gan zen. Nicht nur Ul der Rechtssprechung, sondem auch als Interessenvertreter von Streitparteien waren sie allgemeitlen moralischen Leitmustem verpflichtet: dem christlichen Handehl, der Förderung von "Salus Publica" und Gerechtig keit.! Ihre Ausbildung sowie Diensteide, letztlich auch die obligatorischen, von Fall zu Fall zu leistenden Eide, keUle Prozesse zu verschleppen, hatten den Zweck, darauf hinzuwirken, daß die Befolgung dieser Nomlen zunwldest weit gehend sicher gestellt würde. Daß man Juristen andererseits zuweilen als "böse Christen" beschullpfte und ihr Ruf in der Bevölkerung keineswegs der allerbeste war2, hängt offensichtlich mit zwei grundlegenden DUlgen ZUS allUllen. Zum eUlen hatte man es als pro zessierende Partei mUller auch mit den juristischen Tricks der Gegenseite zu tun. Es ergibt sich aus dem Streitkontext, daß man uu allgemeinen eher dazu geneigt war, diese als Frechheiten oder Wulkelzüge anzusehen, deml als Re sultate von Geschicklicllkeit und fachlichem Wissen. Aber auch die Frage, ob der eigene Anwalt mit der erforderlichen Energie und Effektivität zu Werke
!
Zur Juristis tenethik iu der Frühen Neuzeit siehe
Erich Döhrillg. Geschichte der deut
schen Rechtspflege seit 1500. Berliu 1953; zur Anwaltsethlk iusbes. S. 156 ff. Siehe ebenso: Michael Stollei.r. Grundzüge der Beamtenethlk (1550 - 1650), in: Rnmall SchIlIIr
2
(Hg.): Die Rolle der Juristen bei der Entstehung des modemen Staates. Berlitl 1986, S. 273 - 302. Einschlägige Hinweise auf Negativbilder in: PrallZ Hcillcmamr. Der Richter und die Rechtsgelehrten. Justiz in flüheren Zeiten. Düsseldorf/Köill 1969 (Neudr. d Ausg.
Leipzig 1900), S. 73 ff.
Ralf-Peter Fuchs
58
schritt, war ein besonderes Problem angesichts der nicht unbeträchtlichen Entlohnungen, die er für seine Dienstleistungen einforderte. Die Gefahr, in ein langwieriges, kostenaufhäufendes Verfahren zu geraten, wurde im zeitgenössi schen Schrifttum immer wieder drastisch illustriert. Die an den Bettelstab ge brachte Partei, von Jost fullman im Kontrast zum wohlgekleideten Rechtsver treter, dem Prokuratoren, bildlich dargestellt, war ein verbreiteter Topos. Ein Verfahrensgang durch die Appellationsinstillizen beinhaltete in der Tat für die Prozellparteien letztlich ein nur schwer kalkulierbares Risiko, was die Zeit- und Geldfrage anging. 3 Mit der At1vertrauung der eigenen Sache gab millI weitge hend die Zügel aus der HillId, um sie anwaltlicher Professionalität anheimzu s tellen - was illigesichts nur scll\ver zu durchschauender gerichtlicher Vorgän ge, bei denen eine für viele Menschen unverständliche Fachsprache regierte, schnell Argwohn hervorrufen konnte. Juristen übten somit unbestreitbar eine besondere Macht aus. MillI nall111 sie entsprechenderweise in der frühneuzeitlichen Gesellschaft als besonderen Menschenschlag Wallf. Obwohl illf Beruf ein reiner Männerberuf war, scheinen maskuline Rollenkonzepte dabei jedoch kaum in das äußerliche Berufsbild eingeflossen zu sein. fuldererseits brachten die besonderen Waffen, die sie zur Erreichung ihrer Ziele einsetzten, und nicht zuletzt illfe darauf basierenden Erfolge ganz offensichtlich andere Männlichkeitstypen in Bedrängnis. Dies verdeutlichen zall1reiche Ehrenhändel, die sie vor den Gerichten auf der Basis von Beleidigungsklagen austrugen. In vielen gerichtlichen Aktenbeständen, befinden sich Ehrverletzungsverfallfen, sogellilllllte Injurienprozesse, die über Konfrontationen mit Nichtjuristen konkurrierende Rollenbilder vermitteln: Darin, daß - dies ergibt ein Überblick über Reichskanlluergerichtsprozesse aus dem westfälischen Raum4 - vor allem ful\välte und Notare immer wieder Op fer körperlicher j\ngriffe wurden, schwingt einerseits Zälllleknirschen und Ohnmacht gegenüber illren bewillirten Metlloden mit. fuidererseits k01ll1llt darin zum Ausdruck, daß man sie für eher unBillig llielt, auf dem Terrain der gewaltsrunen AuseuIillldersetzwlg zu bestehen und sie gerade llier auf dem falschen Fuß zu erwischen glaubte. Auf eUle relativ weitgehende Verbreitwlg dieser Einschätzung deutet hin, daß ihnen das Schicksal, etwa bei der Zustel-
3 Siehe GUII/er GI/diall: Appellation
-
Ein neues Rechtsinstitut bringt neue Probleme, in: im Spätmittel
1f7oijgal/g Sellert (Hg.): Rechtsbehelfe, Beweis und Stellung des Richters
alter. Köln; Wien 1985, S. 1 8. Gudian sieht dieses Problem allerdings für das 16. JahrhWldert weitgellend abgemildert, da Appellationsbeschränkungen über fest gelegte Streitwerte erlassen wurden. Siehe ebd. S. 8. 4 Hier basierend auf den Reichskammergerichts[=RKG]-Bestäudell des Staatsarcl!ivs Münster [=StA Ms]. Siehe dazu meine 1996 von der Bochumer Fakultät für Ge schichtswissenschaft angenollllell ne Dissertation: R-P. FI/chs: Um Ehre und Recht: Westfalische Injurienprozesse. Eine Studie auf der Basis VOll Reichskammergerichts akten. Bochum 1996. -
Schmähschriften unter Männem
59
lung von gerichtlichen Schreiben verprügelt zu werden, recht häufig blühte . 5 Insbesondere Adelige neigten dazu, ihnen gegenüber ihren Machthabitus her auszukehren, und waren oftmals nicht bereit, gerichtliche Niederlagen, zuge fügt durch Vertreter dieser Spezies, ungestraft hinzunehmen. Prozesse aus dem späten
16.
und dem frühen
17. Jaluhundert geben
Hinweise auf Auflauerungen
wld anschließende Bedrängungen bis hin zu Brutalitäten.G Auch die Ohrfeige als auf die Signalisierung von Rangwlterschieden abzielende Beleidigungsform
kam hier zum Einsatz . 7
D avon, daß Juristen die ihnen eigentümlichen Wege zum Erfolg - in solchen Zusammenhängen von ihren Gegnern als verschlagen, hinterlistig und un männlich apostrophiert - jedoch keineswegs als minderwertig einstuften, zeugt die Tatsache, daß sie selbst sehr oft als Kläger Prozesse initiierten und durch fochten. Gerade über die Injurienverfahren, an denen sie als Parteien beteiligt waren, läßt sich zuweilen das Bewußtsein,
im
Besitz einer eigenen Juristenehre
zu sein, genauer umreißen. Etwa eine gewissenhafte Ausführung von Pflichten, die fleißige Absolvierung des Studiums sowie die im Alltag eingebrachten und bewiesenen eigenen Fähigkeiten wurden hier tllematisiert. Der Frage, inwieweit und auf welche Weise in dieses berufs spezifische Ehr bewußtsein auch die Kategorie M�innlichkeit einfloß, soll im folgenden anhand eines Beispiels nachgegangen werden: Bei der seit
1608
geführten Auseinan
dersetzung des Juristen Dr. Bemhardt Fuchs und der Familie Leiffart aus Min den mit dem hannoverischen Bürgemleister Erich Reiche und dessen Sohn Johann Reiche handelt es sich
um
ein Verfaluen, in dem es um schriftliche
SchmiillUngen ging.8 Im allgemeinen, wie auch hier, entzündeten sich solcherlei Auseinandersetzungen oft im Zuge von Prozessen
mit völlig fUlderen Streitge
genständen. Aus Vorwürfen wuedlicher und unwahrer Behauptungen bis hin zwn Stigmatisierungsversuch als übler Charakter konnte sich eine, einmal in Gang gesetzt, nur scll\ver aufzuhaltende Dynamik entfalten, die dadurch ge ke1UlZeiclUlet war, daß eine beleidigende Prozeßschrift mit einer gewissen Zwangsläufigkeit die andere hervorrief. Die Gerichte, vor denen diese gegen seitigen SclUlliillUngen inszeniert wurden, scheinen dabei immer wieder förm lich überrollt worden zu sein. Zwar beinhalteten viele Gericlltsordnungen Möglichkeiten zur Disziplinierung von Parteien und Anwälten, die die Grenzen einer adäquaten Prozeßführwlg überschritten. In konkreten Fällen waren je doch Hinweise auf die angeblichen vorherigen Schmähwlgen des jeweiligen
5 Siehe etwa StA Ms, RKG K 597 (Körperlicher Angriff auf den Notaren Konstantin
l
60
Ralf-Peter Fuchs
Gegners zu berücksichtigen. Die Anerkennung eines Retorsionsrechtes
im
Injurienverfahren, d.h. eines Rechtes auf Erwiderung von zugefügten Beleidi gungen durch eigene injuriöse Äußerungen, wirkte sich hier erschwerend aus. So scheint der hier vorgestellte Fall in vielerlei Hinsicht typische Züge zu tragen. Zunächst ist jedoch auf den Hintergrund des Rechtsstreites, der bis zum Reichskatlmlergericht führte, einzugehen:
1. Männer - Weibliche Ehre - Familienehre Die Ausgatlgssituation bildete eine Erbschaftsstreitigkeit, die aus dem letzten Willen des verstorbenen braunschweigischen Kanzlers, Dr. jur. ]Ohat1Jl Reiche, Vetter des Erich Reiche, erwachsen war. Im Testatuent war Erich Reiches Solm ]Ohat1Jl die Möglichkeit in Aussicht gestellt worden, als Universalerbe eingesetzt zu werden. Hieran waren jedoch bestinmlte Bedingungen geknüpft worden. Um der Fanwe seiner zum Zeitpunkt der TestaJ.11entsabfassung be reits verstorbenen Ehefrau einen Anteil atl seinem Vemlögen zu sichem9, hatte der Erblasser verfügt, daß Erich Reiches Sohn die Tochter seiner Base heiraten sollte. Zusanmlen mit dieser Tochter, Atma Leiffart, sollte er die "habe und guiter besitzen wld genießen".lO Auch die Möglichkeit, daß Atma vor der Ehe sterben sollte, war bedacht worden: Atmas Schwester Wobbell war als "Ersatzheiratskandidatin" vorgesehen. Für den Fall ihres Todes war die Erbbe rechtigung für den Sohn des hatU10verischen Bürgernleisters schließlich an die Bedingung gekoppelt worden, eine Frau mit Natllen Leveken von der Hoya zu heiraten. Der fraglos in bester Absicht unternommene Versuch des Kanzlers ]ohatm Reiche, die beiden Fanwen mit seinen testanlentarischen Vorkehrungen über sein Leben hinaus atleulatlder zu binden, sollte auf der gatlZen LUlle scheitern. Grund war eUl Vorfall, der die Beziehungen der beiden Heiratsparteien unwie derbringlich zerstörte: At111a Leiffart wurde, wie es ihre eigene Fanlliie später ausdrückte, von dem Sohn eUles der braunschweigischen Räte, einem "studen ten, Gebhardt Strube geheißen, [ . .] zu falle gebracht und vityrt".12 Die Gegen seite brachte zudem vor, daß sie "von demselben eUl kUldt zur weltt getra-' .
9
Zunächst war Johann Reiches Ehefrau selbst als Uuiversalerbin vorgesehen gewesen. Fuchs erklärte die Erbschaftsregelung später damit, sie sei eine Dankbarkeitsbezeu gung Johanll Reiches für seine Frau gewesen, mit der Zusammell er sich das Vennö gen vom Munde abgespart habe. Ebd., foL 46 ff.
10 Ebd., fol. 15. 1 1 Im Text auch des öfteren: "Wobbich" (abgeleitet VOll Walburga). 1 2 Ebd., fol. 53.
61
Schmähschriften unter MätUlem
gen"13 hatte. Die Fanlllie Leiffart hatte zwar einen Prozeß - vielleicht wegen Vergewaltigung - gegen Strube initiiertl4, diesen jedoch fallen gelassen, nach dem es gelungen war, Anna an einen lippischen AmtmatUI zu verheiraten. Gegenüber Vater und Sohn Reiche bestatld man nun darauf, eine Verbindung mit full1as Schwester Wobbe zu arrangieren. Die beiden Hatll10veraner wand
ten sich jedoch statt dessen der dritten Frau im Spiel, Leveken von der Hoya, zu und versuchten
1 608
vor dem Rat zu Hildesheim, der Heimatstadt des
Erblassers, ein Gerichtsurteil zu envirken, das JOhatul Reiche, den Salm des Erich Reiche, sämtlicher Heiratsverpflichtungen gegenüber \Vobbe enthob, il1111 aber dennoch die Erbschaft zugestand. Im Verlauf dieser Verhatldlungen, die geprägt waren durch pikatlte Diskurse um die weibliche Ehre der fu111a Leiffart wld letztlich auch die Ehre der gatl zen Fanlilie, gerieten als Parteienvertreter nun zwei Juristen aneUlatlder, von denen der eUle, Bemhardt Fuchs, nicht nur reul berufliches Interesse mit brachte. Fuchs hatte während des Rechtsstreites UI die Fatllllie Leiffart eUlge heiratet.1 5 Auf der anderen Seite wurden die Prozeflschriften von Vater und Solm Reiche durch einen gewissen Dr. Bünting abgefaßt. Dieser sollte als ver meintlicher "rettlllin fuhrer"16 besonders aufs Korn genommen werden. So statlden sich im Endeffekt zwei Gruppen gegenüber, deren Speerspitzen je weils durch die Advokaten gebildet wurden. Bünting und seUle Klienten wiesen zwar darauf hUI, daß die Erörterwlg der Schwängerung der full1a Leiffart UI ihren Prozeßschreiben unumgänglich ge wesen war und daß es "die hohiste unvemleidliche notturft also erfurdert ge habt"17 habe, darauf eUlzugehen.1 8 In eUler später vorgelegten Klagschrift der Partei Fuchs/Leiffart wurde jedoch vorgebracht, full1a sei beleidigend als "eule huren wld bubull1e" schriftlich gescholten worden, "der weder Elb noch Rheul ein solches abwesdlen"19 könne. Der Konflikt war zudem noch schärfer her vorgetreten, nachdem Wobbe Leiffart, full1as Schwester,
atn
PfmgstsOlll1tag
1 608 UI MUlden atl Schwuldsucht gestorben war. Bünting wld die Reiches, mit
13 Ebd., fol. 15. 1 4 Ebd., fol. 54. Auch au anderer Stelle spracheu die Velwalldten vou einem "ehrbaren Fall" der Auna Leiffart, so daß viele andere Leute Mitleid gehabt hätteu. Ebd., fol. 40. Zuvor war wiederum davon die Rede gewesen, AUlla habe sich danach, "weilen sie von illrer mutter und schwesteru wegen begangenen excess verlallen gewesen", in die Grafschaft Hoya begeben. Ebd., fol. 37.
15 Fuchs hatte die Witwe des Mindener Kauzlers, Johaun Becker, Dorothea Leiffart, 16
geheiratet. Ebd., fol. Ebd., fol. 42.
17 Ebd., fol.
18 Bereits
41.
16.
zuvor. ful dieseu Dingen sei "lllit s tilschweigen nicht vorbeigaugen werden
kOlmen". Ebd., fol.
19 Ebd., fol. 38.
14.
Ihlf-Peter Fuchs
62
dem Vorwurf konfrontiert, als Verursacher "unaufhörlicher traurigkeitt"20 illl ihrem Tod mit verillItwortlich zu sein, hatten sich offensichtlich in zynischer Weise darüber ausgelassen, daß Wobbe noch am abend vor ihrem Tod mit Fuchs und dessen Schwager einen Lammskopf verspeist hatte.2 1 Um so mehr Sall sich Fuchs verillllaßt, mit Vehemenz als Verteidiger der Ehre einer Ver storbenen aufzutreten, die er als eine "von natur
[...]
holtselige, freuwdige,
schone, Gottsehlige und tugendsame junckfraw [... ], so da reichen und armen lieb undt allllgenelllll gewesen"22 sei, beschrieb. Versucht 111illl, die Aufgabe, vor die sich der Advokat angesichts des für seine Verwillldten gefühlsbewe genden, aufwühlenden Streites gestellt sehen mußte, näher zu umreißen, s o ergibt sich die Rolle des Waluers der Ehre einer ganzen Fanülie. Auch das durch die Schriftwechsel entstillIdene Leid der Mutter von .fullla Leiffart, die als alleinstehende Witwe in den Prozeß gegangen war, wurde im Prozeß her vorgehoben.23 DlUlüt wurde wiederum auf die lUlbedingte Notwendigkeit, ihr als Frau Hilfe zu leis ten, illIgespielt. Fuchs war zwar lücht der einzige Milllll innerhalb der Leiffartschen Partei, der ilu hier die gebotene Handreichung in der AuseinillIdersetzwIg leisten kOllllte.24 Gegen jenen Widersacher, der nüt
besonderen Mi tteln agiert hatte, erschien er jedoch nüt seinem Rüstzeug als der geeignete Retter in der Not.
2. Das Schmähschreiben In seinem Schreiben, das Benlllardt Fuchs anl 23. Oktober
1608
beim Ibt zu
Hildesheim einreichte, knöpfte er sich den Fanlilienerzfeind, den - wie er es selbst nannte "schriffts teller" Bünting, den "hochbegabten doctor, darfur er geme wol illlgesehen s ein", vor. Unter dem Titel "Nottreuglichs suchen wId rechtmessige bitt mitt angehengter wolgegrundter reftItation deren ex adverso jungs t uberreichter unbestendiger und in recht ubill gegrundter venneindter wideriegtUlgh"25 (siehe .fulllang) ließ er es - mit der Bezugnall1lle auf ein zuvor
20 Die behandelnden Ärzte hätten diagnostiziert, daß Wobbes Schwi.ndsucht aus dieser Traurigkeit erwachsen war. Keinerlei Medikamente hätten ihr helfen können. Ebd.,
fol. 68.
2 1 Näheres wird nicht deutlich: Behauptet wurde, daß Büntillg und seine Klienten in
wen Schmähschriften darum "viel versehens gemacht" hätten. Ebd., fol 69.
22 Ebd., fol. 62. 23 "Allerlmud hÖllische und spöttische stiche" hätten der Witwe Leiffart "schwerers
hertzleid" zugefügt. Ebd., fol. 42.
24 Neben Fuchs und der Witwe Anna Leiffart prozessierten deren Sohn, Johann Lei.f
fart, und später auch der Ehemarm ihrer Tochter Anna, Johann Alemann, gfl. Lippi scher Amtmann, sowie ein weiterer Schwiegersohn, Ludolf von Andertell. 25 Ebd., fol. 2 1 31. -
Schmähschriften unter Mäl1nem
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von der Partei Reiche eingelegtes Schriftstück - wie ein reguläres Prozeß schreiben aussehen. Obwohl technische Verfahrenshinweise und andere rein rechtliche Gesichtspunkte in der Tat nicht fehlen, war dies aber eher eine Tar nung. Wie aus dem Schreiben selbst hervorgeht, war man übereingekommen, die Akten zu versenden und den Rat auswärtiger Rechtsfakultäten abzuwar ten. 26 Von daher ist durchaus davon auszugehen, daß die Schrift zu dem Hauptzweck verfaßt worden war, es dem Gegner in einer Prozeßpause für die erlittenen Wunden heimzuzahlen und ihn vor Gericht bloßzustellen. Dennoch sollen die ersten Worte des Textes offensichtlich demonstrative Kühle und Gelassenheit suggerieren. Die zuvor eingebrachten Argumente Büntings werden zunächst geradezu euphemisierend als Einbildungen und lalllue Zoten27 charakterisiert. Ebenso wird bekundet, daß man es eigentlich nicht als wert erachtet habe, sich mit den gegnerischen Ehrabscll1leidem (calunlluanten) weiter einzulassen, um sich letztlich doch anders zu entschei den. Diese zur Schau getragene Lässigkeit wird mit der Erklärung verbunden, daB eine wirkliche Beleidigung der Familie Leiffart angesichts der tiefen mora lischen Kluft zwischen den Parteien eigentlich lucht möglich sei. Wohl auch im Rückblick auf den Prozeßanlaß werden konträre Sippschaften gezeichnet. Die Gegner werden dabei als eine unehrenhafte, verleumderische Spezies charakte risiert. Die Assoziation nlit Dreck wird im lateuuschen beigefügt; betont wird, daß man sich eher zurückhalten sollte, nut solcherlei Unrat zu fechten (ne videamur CUlU stercore decertare). 2 8 Um dem Advokaten BüntUlg jeglichen Zweifel daran zu nehmen, hier vielleicht ausgenommen zu seul, wird auch eUl Hieb auf seule eigene fanllIiäre Herkunft erteilt: Die Kunst zu schmähen oder besser: die diesbezügliche Bosheit (vel potius malitianl), habe er zweifellos aus der Mutterbrust eUlgesogen.29 Im Überblick findet man Begründungen und Rechtfertigungen für solcherlei verächtliche Beschuupfungen mehrfach mitgeteilt. Dem Rat zu Hildesheinl als Adressaten werden die rechtlichen Kategorien vermittelt, die sie als legitime, retorsive Zurwehrsetzungen erscheinen lassen sollen. Mit den zuvor von der Gegenseite Ul den Prozeß eingebrachten Schriftstücken sei eUl schmähliches "lUlzäpffen"30 erfolgt. Diese werden daller als ehrverletzliche "auffzoge"31 und - juristisch bedeutender - "scl11l1eheschrifften" bzw. "scl11l1ehekarten"32 ver-
26 Ebd., fol. 2l. 27 So ist wohl die Bemerkung "witt alleruandtt sOUllms und lalllen soten" zu verstehen. 28 29 30 31 32
Ebd., fol. 2l. Ebd. Ebd. Ebd., fol. 21. Ebd., fol. 23. Ebd. _ Der Begriff der Schmähkarte ist auch im Kontext bildlicher Schmähungen im 15. und 16. JahrlIundert nachweisbar. Gemeint waren Briefe, auf denen säumige
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ortet. Darüber, daß das Abfassen solcher Schriften grundsätzlich streng verbo ten war, bestand einhellige Meinung. Verschiedene Reichsabschiede untennau erten den Straftatbestand, wobei diese gesetzgeberischen Maßnahmen sich allerdings vornehmlich gegen Schriften im Rahmen konfessioneller Auseinan dersetzungen, insbesondere auch Schmähwlgen der Obrigkeiten gewandt hat tenY Der Vorwurf an Bünting, er habe die Beleidigungen seinen Schreiben "eingeflickt", beschreibt die Anfertigungstechnik dieser Art von Schriftstücken offenbar recht treffend. Auch der Text des Bernhardt Fuchs wirkt wie eine Durchwebung der prozeßrelevallten rechtlichen Argumente mit bissigen, auf die gegnerischen Personen abzielenden Bemerkwlgen. Kaum eine Gelegenheit, sie als Ehrabschneider und Kalumnianten zu benennen, wird ausgelassen. Ihre Bosheiten werden als Selbstendarvungen gedeutet; allesamt werden sie in einen Gegensatz zu den ehrliebenden Menschen, die Mideid mit "Atmen Leiffarts unfall" gehabt haben, gebracht. Mit ihren Schmähungen hätten sie lediglich ihre "selbst eigene wunden" heilen wollen. Mit Blick auf ilir Inneres würden sie "soliehe flecken und maculas darinnen finden, damit dieser unverhoffter fall je im wenigsten nicht zuvergleichen" sei. Konkret an Vater wld Sohn Reiche gerichtet ist die selbstsichere Aufforderung, die beiden streitenden Fanlilien einem Vergleich zu unterziehen. Dabei würde man "leichdich spuren kalmen, ob dieser oder jenne fanIilia daedurch ein brandtmall ubir sich gezogen" hätte.34 Die Stiche, die Fuchs gegen seinen Kollegen austeilte, waren wiederunl zum Großteil auf dessen berufliche Qualifikationen gemünzt. Der bekundeten Vennutung. daß dieser "nichts sonderlich studiret" habe, als "nur die leute mit lwnpen bossen [= possen] auff die lange bal111 zu führen", einer AnSpielWlg auf Prozeßverschleppung, wurde später der höhnische Rat beigefügt, Bünting solle "ein wenig besser auff seine alten tage [mit] hindansetzung voriger au dacterischer thwnbdristicheitt peacticirn lernen". Daran, daß De. Fuchs seinen Gegner De. Bünting für einen hirnlosen Gesellen35 mit einem "verwireeten kopf"36 hielt, ließ er keinen Zweifel. Vor diesem Hintergrund konnte er daller ausgiebig vom Stilmittel der Ironie Gebrauch machen, indem er immer wieder
Schuldner aus dem Adel Illit ehrverletzlichen Abbildungen dargestellt waren. Siehe hierzu: 0110 Hllpp: Scheltbriefe und Schaudbilder, ein Rechtsbehelf aus dem 15. u. 16. )h. München/Regensburg 1930 33 Hinzuweisen ist vor allem auf die Reichspolizeiordnullg VOll 1548, siehe: Neue und vollständigere SaIllIlull ng ... [hrsg. v. H. C Sellckellbe'liJ. OSllabrück 1967 (Neudr. d. Ausg. 1747), Bd. 1, 111. 2, S. 604, ebenso die Reichsabschiede von 1524: ebd., Bd. 1, Th. 2, S. 258; von 1529, ebd., Bd. 1, Th. 2, S. 294 t:; von 1530, ebd. Bd. 1, Th. 2, S. 314; und von 1541, ebd., Bd. 1, Th. 2, S. 436. 34 Ebd., fol 22. 35 Ebd., fo1. 22. 36 Ebd., fol 21 f.
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von den TollkülUlheiten des "M[eisters] Sonderwitz"37, des "viris doctis & dis cretis"38, seinen "audacterischen" Eskapaden, sprach. "Dieser gutter man"39, war für Bemhardt Fuchs ein "thrasonischer" Held. Gerade mit der mehrfachen Herbeizitierung des 111raso, der literarischen Gestalt eines Aufschneiders, der vorgab, ein kühner Soldat zu sein, in Wirklichkeit aber ein Feigling war4O, evo zierte er Vorstellungen von Maskulinität, ließ seinen Gegner als Verkörperung des puren Gegenteils hervortreten und machte im gleichen Zuge auf seine eigene Kampfkraft aufmerksam. Bemhardt Fuchs stellte sich dem Feind, indem er seine Gewißheit darüber zum Ausdruck brachte, daß gegen einen "scherffbißigen hundt ein knuttel gewachßen ist".41 Die gegnerisd1en Angriffe, die es zu parieren galt, wurden häufig anhand von Bildem und Begriffen aus der Welt des Zweikampfes Ulll sdlfieben, allerdings nie, ohne die gegnerischen Schlagversuche der Lächer lichkeit preiszugeben. Die "lalunen quinten" Büntings vermitteh1 die Vorstel lung von einem angesichts eigener Überlegenheit maßlos überforderten Kontrapart. Die halbherzigen Versuche dieses unwürdigen Geguers, listige Fechtstäße42 anzusetzen, konnten einen gewitzten Meister nicht in1 geringsten geHihrden. Nachdem Bünting allzu "weitlich vom leder geruekt"43 hatte, war es jene�n ein leichtes, solcherlei Ungestümigkeiten mit gelassener Bravour zu begegnen. Zwangsläufig mußte all dies dazu führen, daß der Kalunllliant einen "bloßen" nach dem anderen schlug44, also ins Leere traf. Der Leser kOllllte sicher sein, daß dieser "streitballfer helt"45 einem erfal1renen Duellanten nichts an.haben kOllllte, neigte er doch sogar dazu, seine "beste waffen" aus den Hän den zu geben und gute Gelegenheiten zur Attacke verstreichen zu lassen, weil
37 Ebd., fol. 22. 38 Ebd., fol. 30. 39 Ebd., fo1. 27.
"TIIXasones" sind nach dem Zedler-Lexikoll "Kerle, [... ] so ein groß Maul aber wenig hertz haben". Siehe Grosses Vollständiges Universal- Lexikon Aller Wissenschaften und Künste ... Verlag Johann Heinrich Zedler. Bd. 1 ff., Graz 1961. (Nachdr. d. Ausg. Halle/Leipzig 1732 ff) Hier Bd. 43, Sp. 1772. 41 StA Ms, RKG R 377, fo1. 23. 42 Die Quinte bezeichnete eine Stoßart inl Fechten, die auf eine Täuschung hinauslief, der Finte vergleichbar. Siehe J. Grimm/ Irr. Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854 ff, Bd 13, Sp. 2373 f. 43 StA Ms, RKG R 377, fo1. 28. Der Ausdmck "vom Leder rucken", auch: "vom Leder ziehen", ist von der ledernen Schwertscheide herzuleiten, aus der die Schlagwaffe ge zogen wurde. Siehe Grimm (wie Anm 42), Bd. 6, Sp. 490. 44 StA Ms, RKG R 377, fol. 29. Zum Idiom "einen bloßen schlagen" (etwa: einen Fehl schlag tun) siehe Grimm (wie Anm 42), Bd. 2, Sp. 147 f. 45 StA Ms, RKG R 377, fo1. 26. 40
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er im Grunde ängstlich war, "das ehr mit seinem selbs teigenen schwertt mocht getroffen werden".46 Der Bilderreigeu findet seinen Höhepunkt in der Zitierung eines Kampfes, der in einem zu jener Zeit im niederdeutschen Raum häufig gelesenen Buch auftaucht: Die Fabel "Speculum Vitae Aulicae", eine den Zeitbedürfnissen wId -problemen des 1 6. Jahrhwlderts angepaßte Version des "Rei.neke Fuchs", war mit ihrer Kritik an einer unnützen, nichtsdestoweniger gefräßigen Kaiserhofge sellschaft vor allem in protestantischen Kreisen bekannt.47 Seit 1567 wurden lateinische Übersetzungen von diesem Tierepos publiziert, das mit Blick auf die Zensurbehörden auch in abgemilderten Versionen kursierte.48 An eine lateinischsprachige Ausgabe scheint auch Bemhardt Fuchs gedacht zu haben, als er auf das in der Fabel beschriebene Duell zwischen Fuchs und Bär ver wies. Offenbar in eigener Person zuvor als "alberner fuchs"49 bezeichnet, nalllll er die Tierrolle selbstbewußt an wld setzte Bünting dem plumpen, ungelenken Bären gleich, der, vom König beauftragt, Reineke Fuchs notfalls mit Gewalt vor Gericht zu zitieren, letztlich vor dessen Schläue kapitulieren wId als geprü gelter Verlierer das Feld räU11len muß. Büntings Rolle als "ursus" wurde mit den entsprechenden Attributierungen versehen: dick (crassus), träge (rigidus),
dunll11 (stupidus). 50 Bemhardt Fuchs beließ es jedoch nicht bei diesem einen Tiervergleich und gab einen weiteren Eindruck von seiner Lektüre über das Einbringen von Aesopischen Charakteren: Bünting mit dem streitsüchtigen Wolf zu vergleichen, der das Wasser trübt5\ unI dies dem Schaf anzukreiden und danut einen Grund vorzutäuschen, unI es zu versdwngen, war nallelie gend. Diese Fabel zielte exakt auf jene Personen, die "nut Lug und Trug die Unschuld geme unterdrücken vor Gericht"52, war also den Verleumdem zuge-
46
Ebd.
47 Siehe Hllber/lls Mmke: Ars vitae aulicae oder descriptio mundi perversi? GlUndzüge einer Wirkungsgeschichte des Erzählthemas von Reineke Fuchs, in: Niederdeutsches
Jb 98/99 (1975/76), S. 94 - 136. Zur Intel:pretation im Zuge der reformatorischen Auseinandersetzungen siehe ebenso ders.: Populäre "Gelelll:tendichtung" im Dienste der reformatorischen Lehre. Zu SUUldeutung und Rezeption der Rostocker Überlie felUug des "Reineke Fuchs", in:
Jall Goo.rsmsjTil710t0 SodlJlall (Hg.): Reynaert - Rey
nard - Reynke. Studien zu einem mittelalterlichen Tierepos. Köm; Wien 1980, S. 249 - 281.
48 Siehe die Erläuterungen in: Reineke Fuchs. Mit eUlem Nachwort v. Christiall SchifJler. Hildesheinl; New York 1977, insbes. S. 368*.
49 StA Ms, RKG R 377, fol. 29. 50 S!
Ebd., fo1. 22, fo1. 29, fo1. 30. Ebenso taucht das Adjektiv "ulsulsus" (fade) auf. Ge meint kÖllIlte vielleicht auch "insultus" in Anspielung auf dessen Verhöhnung sein. Ebd., fo1. 22.
52 Aesopische Fabem, zusammeugest. u. ins Deutsche übertragen v. AI/gl/st Hallsrath. Urtext und Übertragung. München 1944, S. 6 1 ff.
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dacht. Andere Tierbilder, wie der dumme Esel53 oder die lichtscheue Nachteu le54 erscheinen mehr beiläufig. Hier liegen, wie beim Vogel, den man am Ge sang erkennpS, Metaphern vor, die sehr verbreitet waren.
Schließlich entspringen andere idiomatische Vers atzstücke einer nicht einmal
über das gewöhnliche Maß hinausschießenden juristischen Rhetorik. Daß sich jemand, der nur Ausflüchte vorzubringen weiß, sich überlegen muß, wie er diese "am besten zu marckte bringen soll"56, scheint einer gängigen anwaltli chen Erfaluung und Praxis zu zu entsprechen, auch wenn dies hier mit gutem Grund ausschließlich dem Gegner vorgehalten wurde. Daß man seine Rech nung nie "ohne den wirdt mache"57, anderenfalls vielleicht
in Gefalu laufe,
"einen gutten viltz"58 zu bekommen, war eine zumeist mit einer gewissen
Schadenfreude verbundene Enuahnung im Nachtrag an eine solche bereits eingetretene Misere. Daß Advokaten zuweilen dazu neigten, ihre Klienten mit nebulösen Versprechwlgen bei der Stange zu halten, kam in der Wendung zum Ausdruck, Bünting möge nur Vater und Sohn Reiche "einen blawen dunst fur die augen zu seinem furtlleil maluen".59 Über lateinische Sprudle wurden ähn liche Lebensweisheiten eingebracht. In direkter Entsprechung zum Knüppel, der gegen jeden scharfbissigen Hund gewachsen ist, wird des zu entdeckenden Keils gedacht, der jenen Knoten, der einem gerade Probleme bereitet, letztlich aufzuspalten vernlag (quod malo llodo malus tandem inveniendus sit cuneus).60
3. Deutungsansatz: Juristenphantasien als Männlichkeits phantasien? Zu einem Kampf vor Gericht, in dem es nicht nur darauf ankam, sein "stichbladt"6 1 zu gegebener Zeit auszuspielen, sondern auch, seine Streitkunst gebührend zu demonstrieren, gehörte offensichtlich eine Menge an Phantasie. Vor dem geis tigen Auge der urteilenden Richter wurden zalureiche Bilder inszeniert, um die rechtliche Argumentation auszuschmücken und die Texte
53 StA Ms, RKG R 377, fol. 25. 54 Ebd., fol. 26. 55 Ebd., fol. 22. 56
Ebd., fol. 23.
57 Ebd., fol. 28. 58 Ebd. "Einen Filz bekommen" war in etwa gleichbedeutend Illit "einen Verweis be kOIllWen". Grimm (wie Anw. 42), Bd. 3, Sp. 1632 ff. 59 StA Ms, RKG R 377, fol. 25. In bezug auf die Juristen siehe Beispiele für die Rede wendung auch bei Grimm (wie Anm. 42), Bd. 2, Sp. 1562. 60 StA Ms, RKG R 377, fol. 22.
61
Ebd., fol. 26.
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lesenswert zu machen. Daß bei Bemhardt Fuchs eine persönliche wld familiäre Betroffenheit vorlag, verstärkte diese Bemühungen und lenkte sie in eine be sondere Richtung: Der Gegner sollte angesichts der Schärfe wie der Zielge nauigkeit der ausgeteilten Hiebe und Stiche leiden und Unterlegenheit spüren. Wie eine ständige Projektion wirkt es dabei, daB Fuchs nicht müde wurde, seinen Kontrahenten als "pfantastenkopff" 62 zu bezeichnen. Das wohl von Bünting eingebrachte Spiel einer gegenseitigen Stichelei anhand der Fanlilien namen aufgreifend, baute Fuchs ill1l als einen Charalcter auf, der sich "seiner art nach" in seinen Schreiben "gar bWldt"63 hervorgetan hatte. Auf eine Ge wohnheit, sich seinen Träumen h.inzugeben64 und diese auch noch vor Gericht verbreiten zu wollen, wurde permanent angespielt. Büntings Einreden wurden fast vollständig in den Bereich der "pfantastischen" Einbildungen und Imagi nationen verlegt.65 Die Präsentation eigener Vorstellungskraft wurde demgegenüber als eine den speziellen Erfordemissen juristischer Kampffertigkeit entsprechende Gewitzt heit verkauft. Auch wenn Bemhardt Fuchs selbst auf literarische Metaphem zurückgriff, wies er doch Bünting den Part eines sich als "hochbegabter schrifftsteller"66 fehleinschätzenden Maulhelden zu. Eigene Träume im Hin blick auf schriftstellerisches Heldentum schimmem dabei zwischen den Zeilen hindurch: Der in den Schriften imaginierte Dr. Bünting trug sicherlich viele Züge des Dr. Fuchs. In einem Beruf, in dem es vomehmlich darauf ankanl, Texte zu konzipieren, um mit diesen Überzeugungs arbeit zu leisten, lag der Wunsch, Anerke1l11wlg wld vielleicht Ruhm über derartige Fähigkeiten zu erwerben, nicht fem. Aber auch die Erke1l11t:nis, daß dabei die Grenze zur Lächerlichkeit schnell überschritten sein konnte, wird aus den höluuschen Kommentierungen deutlich. Insofem war Fuchs zweifellos auch bemüht, sich selbst Zügel anzulegen. Es bricht jedoch inuner wieder durch, daß er es für ein Gebot der Stunde hielt, in entschlos sener Heftigkeit für seine Verwandtschaft zu agieren und mer auf eine ganz besondere Art und \Veise seinen Malm zu stehen. Welche Männlichkeitsbilder stecken nun aber konkret in den Äußecwlgen der Schriften? Legt man den Bezug auf Körperlichkeit als ein mögliches Krite rium all, stellt man fest, daß hier der Diskurs über weibliche Körper vollkom men überwiegt. Von der Brust und der Milch einer JuristelUllutter bis zum befleckten, angeblich lucht mehr zu reitugenden Leib der fuma Leiffart werden Körpervorstellungen als Negativbilder ausgetauscht, wobei mall umgekehrt neben der Tugendhaftigkeit der eigenen Venvandten auch deren Schönheit
62 Ebd., fo1. 25. 63 Ebd., fo1. 21. 64 Ebd., fol. 25; ebd, fol 27. 65 Ebd., fo1. 24; ebd, fol. 30. 66 Ebd, fo1. 25. .
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hervorhebt, wie im Fall der verschmähten und aus Gram verstorbenen Ersatz heiratskandidatin Wobbe Leiffart. Der Oou besteht in diesem Spiel offensicht lich darin, daß männliche Ehre über den Angriff auf die weibliche Ehre und Se}"'Ualität stets mit berührt wird. Der Familienkorpus wird als Ganzheit ge dacht. Der dem Streit immanente soziale Sinn bes teht darin, daß der Angriff auf den weiblichen Teil jeweils von der männlichen Seite gerächt wird. Diese Regehl wurden um so schärfer nachvollzogen, als die Schmähungen vor dem Hintergrund eines gescheiterten Eheprojektes erfolgt waren. Daß die gegenseitige AtUläherung zweier Heiratsparteien eine heikle Atlgelegenheit war und ein NichtzustandekOllUllen der Bande oftmals ein irreparables Zerwürfnis nach sich zog, liegt wohl in der archaischen Bedeutung der Verheiratung als Gabentausch zwischen zwei Parteien begründet. Das Bedürfnis nach Rezipro zität, das in der Ethnologie hervorgehobene Prinzip der Herstellung eitles vollkommenen Ausgleichs zwischen beiden Seiten67, unterwarf die Parteien einem ständigen gegenseitigen Vergleich und machte es nach dem Platzen der Heirat notwendig, den Ruf der eigenen Fanlilie von Schaden frei zu halten. Diese Pflicht oblag insbesondere den Männern jener Partei, die die Heirats kandidatin eingebracht hatte und die Auswirkungen auf künftige Eheprojekte zu berücksichtigen hatte. Es ist bemerkenswert, daß ein eingeheiratetes Fanlili enmitglied wie der Jurist Fuchs ein hohes Maß an Sensibilität für die Ehrver letzungen aufbrachte und bereit war, seine maskuline Rolle mit emotionalem Einsatz auszufi.illen. Neben dieser eigenartigen Vernüschung und Durchdringung männlicher und weiblicher Empfindlichkeiten im RalUllen des Fanlilienkorpus lassen sich Mällnlichkeitsvorstellungen auf einer weiteren Ebene, hier der Selbstinszelüe rung, dechiffrieren. So wurden Gewaltvorstellungen präsentiert, dies allerdings zumeist in gebändigter, kultivierter FODU. Fuchs versuchte nicht, sich als draufgängerischer Wüterich, sondern eher als gelassen parierender Duellant zu verkaufen. Nun manifestieren sich Fechtküllste ohnehin eher in einer Zurück nalUlle des Körpers bzw. in der ständigen Bereitschaft, ihn nach jedem ausge führten Stoß augenblicklich dem Aktionsradius des Gegners zu entziehen. August Nitschke hat die tiefgreifende Wandlung der Kanlpfformen s eit der Mitte des
1 6. JallrilUnderts
untersucht und die unbeweglichen, hoch aufgerich
teten Körper aus mittelalterlichen Tumierszenen den geschmeidigen, gelenken Bewegungen der degenführenden Kämpfer gegenüberges tellt. 6 8 Zweifellos
67 Hierzu, basierend auE der Anthropologie von Uvi-Strauss wld Marcel Mauss: Michael
OppitZ: Notwendige Beziehungen. Abriß der sttukturalen Anthropologie. 2. Auf!. Frankfurt/M. 1993, insbes. S. 99 Ef.
68 Augu.rt Nitschke: Die Skepsis des Historikers und zu wenig beachtete Raum- und Zeitvorstellungen, in: Saeculwn 26 (1985), S. 105 ff. Ebenso: Ders.: Bewegungen in Mittelalter und Renaissance. Kämpfe, Spiele, Tänze, Zeremoniell und Umgangsfor men. DüsseldorE 1987, S. 46 ff.
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rechnete sich Fuchs auch in seinen Imaginationen eher diesem "modeOIen" Kämpfertypus zu, dem es nicht darauf rulkam, um jeden Preis von einer mög lichst hohen Position aus seine wuchtigen Scltläge auszuteilen, sondem viel mehr bereit zu sein, Bulke Positionswechsel zu vollziehen und dabei zu gege bener Zeit seule Stiche anzusetzen. Bedeutet dies bereits eUle beträchtliche Tral1s formierung von Maskulinität zu eUler an der Effektivität orientierten, sich vom körperlichen Rollenideal lösen den Vorstellung, so läßt sich dies letztlich auch für die dritte Ebene des Dis kurses
um
das ffitellektuelle Vernlögen der beiden Juris ten-Kämpfer fes dlalten.
Die Auseulill1dersetzung um Fähigkeit, Potenz beruft sich hier auf eine Streit kultur, die sich über literarisch-wissenschaftliche Vorbilder definiert. Humruu
stische Ideale dringen im Bestreben durch, eigene Beles enheit itn Kräftemessen
in die Waagscllale zu werfen. Das Operieren mit metaphorischen Bildungsele menten, die mrul aus Büchern gew01Ulen hat, dient dazu, berufliches Können und geistige Flexibilität gleicheOllaßen hervorzuheben. Ebenso kruUI man den Versuch herausspüren, den Kontrallenten danut zu überfordem und ilUl
schwuldlig zu schreiben. Dabei ist auffallend, in welchem Ausmaß die Körper der Kämpfenden mutieren. Mit Leichtigkeit werden sie zu tierischen Fabelwe sen gemacht, um Ul der Kontrastierung von Fuchs und Bär als zweier unter scluedlicher MätUlertypen einem k01lkurrierenden Vergleich wlterzogen zu werden. Liegt hier ein Wruldel des MätUllichkeitsbildes vor? Zunächst erscheint es woltl sUUlvoll, von eUlem in sich differenzierten Ideal zu sprechen, das bereits Ul der Frühen Neuzeit breiter gefacllerte schichten- und berufs spezifische Ausprägungen hatte. Beull wltersuchten Schmähschreiben hruldelt es sich gleicllS ill11 um eUle historische Momentaufnahme. Es wäre noch zu klären, welchen Bereichen hier mehr oder weniger Repräsentativität zukonullt. Den noch bleibt fes tzuhalten, daß die Erfassung von Mätuilichkeit eUler Reille von Variablen ReclUlung zu tragen hat und dal3, nut Blick auf frululiäre Kontexte, oftmals auch der Aspekt der weiblichen Ehre nut einbezogen werden muß. Daß zudem die Suche nach Quellen zu geschlechtergeschichdichen Fragestel lungen keUlen Beschrätlkungen unterliegen darf, sollte das luer exemplarisch vorgestellte Schriftstück ebenso zeigen. Die auf den ers ten Blick eher spröde anmutende Quellengattung der SclUllähschreiben von Juristen harrt noch der ultensiveren systematischen Auswertung. EUle von mehreren Möglichkeiten des Zugangs scheint in der "gender-history" zu bestehen.
4. Epilog: Ein Injurienprozeß endet im Nichts Mag die Schrift von Bemhardt Fuchs eUlerseits Züge eUler Spiegelfechterei tragen, so darf man die verletzende Wirkwlg solcher schriftlichen Sclmlähun gen lucht wlterschätzen. Nur ein kurzer Überblick über die Folgen soll ab-
Schmähschriften unter Männem
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schließend gegeben werden: Das Schreiben wurde am 11. Oktober 1609 beim Reichskammergericht zu Speyer als Beweismittel eingereicht. Daran gekoppelt war eine Injurienklage von Erich und Johal11l Reiche, nachdem Bünt.ing angeb lich zuvor vergebens versucht hatte, seinerseits eine Injurienklage vor dem Hildesheimer R.'lt anzustrengen.69 Unter Hinweis auf das Gerede der Leute in Hildesheim, Hannover, Minden "und dero örter herumb" baten die Kläger darum, Fuchs et consortes zum öffentlichen Widerruf der Schmähwlgen und zur Erlegung einer Entschädigung von 4000 Reichstaler anzuhalten.70 Nach einigen Monaten, am 1 1 . Juni 1 610, reichte die Partei Fuchs/Leiffart ihrerseits eine "articulirte reconventions clagh injuriarum" ein.71 Hingewiesen wurde auf "allerhandt schmehaffte ehrenverletzliche schrifften"72 der Gegen seite. Diese Klagschrift wurde mit einer emeuten Schuldzuweisung am Tod der Wobbe Leiffart verbwlden, "uber welchen todt Gott der Herr alß ein richter dero wittiben und vatter der weysen die urtlleill an gennem [= jenem] tagh woll wirdt willen anzustellen, derowegen man dieserseits alles bill dahin midt gedult verschmerzen muß".73 In Verdoppelwlg der SW11Iue der Gegner wurde der Schaden durch die erlittenen Injurien auf 8000 Reichstaler geschätzt. Diese 8000 Reichstaler wurden auch als Geldentschädigung eingefordert, allerdings mit dem Zusatz, daß die Kläger um ihrer Ehre willen eigentlich "sembtlich nicht die gantze welt nehmen wollen".74 Beide Parteien sollten noch über Jalue den Prozeß zu Speyer mit der Einga be von Schriften vorantreiben. Am 6. Oktober 1618 wurden als noch lebende Prozeßteilnelmler aufgeführt: Dr. Bemhardt Fuchs, Ludolf von Anderten, Johann Alemann und auf der anderen Seite Erich wld Johann Reiclle. Die Witwe Leiffart war kurz zuvor gestorben. Noch in den 1620er Jaluen lief das Verfaluen. Ob Bemhardt Fuchs 1 623, dem letzten Jalu, für das der Rechts streit noch nachweisbar ist, noch lebte, ist unwaluscheinlich, da in diesem Jallr eine Prokuratorenvollmacht ausgestellt wurde, und er nicht zu den Mitwlter zeiclmem gehörte. Ein Endurteil scheint nicht seitens des Reichskanmlerge richts gefällt worden zu sein. Danut reiht sich der Prozeß in die weitaus. über wiegende Zalu der dort geführten Rechtsstreitigkeiten ein. Insbesondere inl Hinblick auf die Scluuähschriftenproblematik Hißt sich nachhalten, daß die Verurteilwlg wld Bestrafung einer Prozeßpartei wenig SUUl machte, da Ul der Regel beide Seiten gegenseitige Beleidigungen über ilue Schriften verbreitet hatten. Das RKG beließ den Beteiligten die Möglichkeit, weiterhul von Zeit zu Zeit Prozeßschreiben eUlzureicllen. Das endgültige Auslaufen solcher Verfall-
69 StA Ms, RKG R 377, fol. 33. 70 Ebd., fol. 19. 71 Ebd., fol. 33 ff. 72 Ebd., fol. 36. 73 Ebd., fol. 42. 74 Ebd., fo1. 43.
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ren scheint letztlich jeweils mit dem Tod der Schlüsselpersonen zusammenzu hängen.
Quellenanhang Bemhardt Fllchs: "Nottre/glichs sl/chell IIfld recht/Hessige bitt /Hit! mrgehe!rgter JllolgegrlllJdter reflltatioll derell ex adverso jll!rgst IIberreichter lI1/bestmdiger !/Ild ifl recht IIbiU gegrtllldter vermeifldter wider/egll!rgh " (1608) StA Ms, RKG R 377, fo1.
21 - 31.<)
Emveste, wolachtbare, weise wld fursichtige großgonstige hem, Ob woll die wittibe Leiffart daßelbig, was Erich Reich den 1 8. Julii jWlgsthin venlleindter weise untenll scheul einer bestendigen und in Recht ergrundten widerlegung durch seinen Schrifftenfaßem D. Bünting, der den seuler art nach sich gar bundt auffs newe mit allerhruItt somniis und lanlen sotenb) herfurge dhan, so da zugleich mit schmehaffter rulzäpffen, welch gar artig kunst ehr drul vel potius malitiam cum lacte nutricis auß seuler mutter brus ten wlgezweiffelt wirtt eUlgesogen haben, vemuscht, der länge nach auff vorige mruur sich ver nehmen laßen, kerns weges der wurdigkeit erachtet, sich weiters nut diesen calunU1ianten (ne viderunur cum s tercore decertare) eUlzulaßen, ehe wld be vohr die acta gebetenenllaßen verscluckt und darauff eUle rechtllleßige beleh rung erngehohlet wurde, so ist jhedoch endlich fur eine notturfft erachtet, wie m rul zeitt und weil darzu erreichen k01U1en, darauff sunU11arie und kurtzlich zu handlen. Und daß furs erste, weil mrul dieser seits (Gott lob) wol so glaubwurdige
alß
Erich Reicll und D. Büntingk, auch mher drul nut hundert personen darzuthun und zuerweisen, demnach es eben zu MUlden anno eh im freien marckte gewe sen, das D. Bemhartt Fuchs und JOhrul Leiffarts auff Sonnabendt fur Pfingsten bei guter tagzeitt zu Minden eingeritten, auch alda mit ihrer (welichs gieichfalß, da je nottik zuerweisen stunde) respective schwestem und schwegeruU1en denselben abendt ubir tisch gesessen, auch dieselbe zUllblich zufrieden gefun den, wie sie drul auch daneben speise zue sich genommen, biß sie den morgen zeitlich früe schwächer geworden, und endlich durch ilue kranckheitt, weilen sie ptisic) laborirt, datzue diese calumnianten die vomembste urs ach gegeben,
a) Das Schriftstück wird hier leicht gekürzt wiedergegeben. Auf sprachliche Erläuterun gen wurde verzichtet, sofern oben im Text darauf eingegangen wurde. b) "Soten" = Zoten. c) Gemeint ist offensichtlich PhtiLise, das medizinische Fachwort für Lungentuberkulo se.
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Schmähschriften unter Männem
welichs zue seiner zeitt sich femer außfundig machen soll, nach Gottes willen von dieser welt abgeschieden ist. AIß soll dieser D. Bünting, der dan, wie es scheinet, nichts sonderlich studi ret, nur die leute mit lumpen bossend) auff die hUlge bahn zu fhuren, und mit allerlllllltt kaien außpfluchten, prout apparet ex actis, quae notorium inducunt, hemuber zuleiten, ob er es schon in den verwirreten kopff nicht bringen kon nen, sich eines anderen besonnen, und den s achen beßer nachgefraget haben, ehe und bevor ehr deßwegen erliebende leute so gar sclunehelich angegrieffen haben solte, weilen ehr ja in allenn so gar rein wie dml solieher artt, alß wan er niemaIß instar lupi das waßer truebe gemacht hette, geme, davur das contrari um nicht am tage wil m1gesehen sein, auch sich einer soliehen geschicklicheitt auß eigenen thrasonischenn rulun 31unaßen darff,
aill Will1 er kaum in
der weltt
seinsgleichen antreffen kondte, ins tar craßi rigidi atque insulsi illius ursi cuius in Speculo Vitae Aulica fit mentio, da doch der vogel an gesange gar wol be kmltt. Eß soll sich aber (geliebter Gott) eine solich hochtrabende furwitzigkeitt zu illrer selbß belohnung zue gelegener zeitt wol femer 311 tagk geben, und wirdt dieserseits zwar weinig geachtet, waß M. Sonderwitz ilun selbß pro singulari arrogantia gerne zugeschrieben sehen mochte, sed exitus acta probabit etc!) Daß aber diese zumhall verstarrete calumnianten ihr voriges liedlein wider umb m1 die bal111 bringen und nach wie vor Annen Leiffarts unfall, darubir alle erliebende, so die personen gekentt, ein hertzlichs mitleiden getragen, herfur ziehen thun, ist zwar weinig zu verwundern, sinte mal diese malevoli obtrecta toresf) dabevohr ebe1Ulleßig mit solich und dergleichen schm1dpflastem ihre selbst eigene wWlden geme helen wollen, so aber nunmehr immedicabilia, w1d da sie sich, so woll der furwitziger schrifftsteller Bünting alß auch Erich Reich recht spiegeln werden und ihren eignen bosen&> eroffnen, werden sie soliehe flecken und maculas darinnen finden, drunit dieser unverhoffter fall je im we nigsten nicht zuvergleichen, und da es zur collation sollte gezogen werden, wurdt mm1 leichtlieh spuren konnen, ob diese oder je1U1e f31uilia dardurch ein br311dtmall ubir sich gezogen. Ist auch bei soliehe und dergleichen ill1zepffen leichtlieh abtzunehmen, das dieser hirnloser gesell niehmalß bei wehrender handlung gewißen, wie er seine kaie außfluchtt illU besten zu marckte bringen soll, dabei das gleichwoll eine sonderliche geschicklichkeitt (si aliis placet), deren dieser Thrasonischer teurer heltt, alß seine vermeinte sache gar stadlich ausgeflmret, sich geme ru11111en muchte zu colligim.
d) = Possen. e) Hinweis auf die Aktenversendung, deren Resultat, das Urteil, zuversichtlich erwartet wird. f) Gerneint sind mißgünstige PersonelL g) ::: Busen.
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Ralf-Peter Fuchs
Es will sich auch alle wege hiemit nicht thun laßen, was calunuuanten zu bementelw1g ihrer ehrenverletzlichen auffzoge jhedertzeitt setzen thun, scrip serUi1t s altem quod causa desideravirl'), und sollen sie freiwißen, quod malo nodo malus tandem inveniendus sit cuneus, alldieweil ' jegen einen scherffbißi gen hundt ein knuttell gewachßen ist. EH soll auch dieser Doctor noster daßelbig, was ehr seinen schmehekarten eingeflickt, quod certandwll fuisset argumentis et dictis non maledictis, ein welug besser auff seine alten tage lundansetzung voriger audacterischer dmmb dristicheitt practicim lemen und die laluuen quinten Ui1der wulffespeltz nwuuher uber ortt s tellen, das man dieserseits nicht gesetzt, es sei dan durch den jegendleill mehr dan zehe11lualill verursacht worden, Uild das ein solches modum retorsi01us billig geschehen konnen, weisen die acta fur, und an sich selbsten gnugsanb aus, dalun man sich referim dmet [... ] Zu dem weiß dieser ruhmfluchtiger [I] gesell sich je wol zuerinnem, das er fur diesem sein Thras01usch meisters tucke, die defensionalesil, damit ehr lange zeit schwanger gangen, unzuleßiger weise ad acta schon geschoben, darauß dan gnugsamb zuersehen, das in denselben, uneracht sie nunmher lucht zuzulaßen, nicht gesetzt, das lucht der gebuhr apud acta schon bereits gnugsamb lunder trieben sein solle, derowegen es hochlich zu verwundern, das dieser hochbe gabter doctor, darfur er geme wol angesehen sein, so gar unbes01men und gantz unverschembter audacterischer weise sich seins vomeluuens ruluuen darff, da doch weuuger dan luchts dalunder, und nur eU1 par lauter maulge wesch, und da er etwas sonderlichs furzubrulgen, soll ihm zu gelegener zeitt wol nutzlich seu1 [...] Was auch der schriffts teller von der alUuentation gesetzt, ist eUl solichs zur genuege dabevohr beantwortet, wirdt auch unv01mhoten erachtet, sich deßwe gen nut den ungesteumen jegendleil femers eUlzulailen, weil man deswegen E[uer] Em[vest] und Achtb[aren] decret fur sich hatt, das Ul puncto alUuenta ti01uS gleicheit soll gehalten werden venllog deren darubir außgebrachten rechtsbelehrung. Bei den und dan furs ander etc. begibt sich hinwiderunlb nicht eUle geringe absurditet und zumhall pfantastische imagiIlation, alH solt dieserseitz obitum VirgiIus Pie defunctae gestritten werden, ob Erich Reichen solm die nUimlher abverstorbene person zu ehelichen oder lucht? Da doch j egendleil, wofem noch einige vemunfft vorhanden, auß denen die serseitz dabevohr eUlgewandten handlUilgen satsamb abzUileluuen, daß die ultentio ab hac parte dallin gerichtet, waß gestaltt (geliebts Gott) dargedl1l11 und nIit gewißen grundich enviesen werden soll, das Erich Reich Uild deßen solm
h) Hinweis auf die Beteuemng der Partei Reiche, sie hätten der Sache wegen auf die Schändung der Anna Leiffad eingehen müssen. i) Defensionales = Autwortschreiben auf Klagschrift.
Schmähschriften unter Mluulem
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sich Reichischer verlaßenschafft gantz und gahr verlustig gemacht, dabei man auch atUloch verharren dmet, da je aus den actis so bei lebzeiten der junckfraw s elig sich begeben und zugetragen kein anders abzunehmen, zugeschweigen, das man nUll allererst, weill dieselbe dlOdts verfahren, von heirhat hatldeln solle, welichs wol non nisi ab homine stultissimo et omnis rationis experte, ins tar stupidi asini, alß mag pro imaginatione solita auffgefaßet sein, weil es ein gar leppisch atlgeben und vielen vorigen krunll11en soten nicht ungleich.
Eß wirdt auch das mors omnia solvitk) wie sich (ob Gott will) auspundig) ma
chen soll, alhie den stich nicht halten, weil davon principalis controversia nicht,
sondem auff viel ein atlders gerichtt, gleichmeßige treume und pfatltaseien ereugen sich bei den §. Zudem sein sie dieser wegen, dadurch dieser hochbegabten schrifftsteller Erich Reichen auf einen solchen fall die gantze haereditet geme zueignen wölle und das sonst keiner daratl seinen scherffsinnig verstand nach intereßirt sein soll, dabei datl abzunehmen, das ein solicher pfantastenkopff den andem, so da sich auff den buchstablichen inhalt des testatllents referim dmn, beimessen darff, alß mußten sie nicht bei sinnen sein, gatltZ und gar nicht bei illll selber, sich auch fast aller erbarkeitt getrost, damit ehr nun s einen principalnm) einen blawen dunst fur die augen zu seinem furtheil malllen muge, datl je außtruck lich der tenor testamenti mit sich bringen dmtt, das nicht allein Erieh Reich und der seiniger auff einen solchen fall, sondern auch der fraw Cantzlärischen sehligen nehester verwatldten, so allda natubhafft gemacht, der erbschafft fehig gemacht sein sollen. Nun ist aber sub j udice vis"), ob matl gedachte Reichen, weil sie ein solichs ipso jure & facto verwirckt, welichs zu seiner zeitt soll dargethatl werden, dar tzu gestatten muße oder nicht? Deswegen der scribent den Windelsteinischen kopff dar uber so hartt nicht zu brechen dorffen, und ist dies eben der haubtts treit, der sich mit keinen andem winckelzogen will bementein laIJen etc. Man dmtt auch dieser seits vor bekatltt a1111ehmell, das sich jegendleill hinwi derumb, da matl sonsten eine geraume zeitt hinder dem berge gehalten und den nacht eulen gleich das liecht geschewet, wegen der hierath, so matl bedacht mit Leveken von der Hoya zu tre ffen, atl den tag gegeben, daruber matl gleichwoll sich so hartt jegendleils selbst meinung nach nicht zubekunllllem, sintemal einem jeden solches frei wld bevohr stehet, nur allein, das man mit
k) Hinweis auf das Rechtsprinzip, demzufolge Rechtsstreitigkeiteu nach dem Tod beteiligter Personen aufgehoben werden können. 1) = ausfindig.
m) = Mandant, Klient. 11) Rhetorisches Moment Die Entscheidung wird hier voll und ganz dem Urteil des Richters überlassen.
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Ralf-Feter Fuchs
diesem gutten hem nicht einig, das sie hinfuro sich der erbschafft de j ure undemehmen muegen, außerhalb deren aber ist ihnen freien nicht verbotten. Eß must auch ja dieser furwitziger schrifftsteller, der fur einen sonderlichen man woll angesehen sein, seiner selbst eingedenck sein und sein beste waffen, damit ehr sich gar stattlich in allen schmiede carten behelffen kOlUlen, so er plotzlich aus den henden nicht geben, damit sie andern, so sie zue gelegener zeitt durch die praedicamenta treiben muchten, so schlechter weise nicht zu theile wurden. Eß weiß ja dieser streitballCer helt sich gar woll zu eritUlem, wofem ihm die memori nicht gar erkaltet, das sein bestes s tichbladt dieses bei wehrender handlung gewesen, welichs ihm nicht vorgehalten worden, hatt aber biß hiehe ro itlstar muti keitl wortleitl daruff andtwortten konnen, ungezweifelt, weil ehr sich beforchtet, das ehr mit seinem selbsteigenen schwertt mocht getroffen werden, das kein heirath zutreffen noch einzugehen sei, aldieweil Anna Leif farts illUloch im leben, welichs ehr dilll seitler artt nach lautt und itihaltt des tes taments hatt zuvertretten wißen, alß ist auch keine venlludlwlgh, das dieser gutter man so gillltz und gar seines intentz nWUllehr soll verlustig gehen wol len, eß wehre dilll, das es außerhalh dero erbschafft soll und must gemeitlt seitl, wurde sonsten von idennan wie nicht unbillig daruber außgelacht werden, das ehr so gar willickelmutigk sein und so gar leichtlich auß semem furdleil sich begeben solte, welichs dall durchauß fur ein Thmsonisch stucklem zu achten wehre. MillI muß aber dero zeitt erwarten, weliche da ungezweivelt viel geben wirdt, weilen fur dießmal noch weitlig davon nachzusagen, dilllli t ehr aber seitler gewollheitt nach ihme nicht treumen laße, alH solt man dieserseits an sachen zu viell tImen und eitlen solichen außbulldt von gelärten leuten gantz und gar olm eitlig dartzue gegebene ursache verhöhnen wollen, alß woll millI zuvorderst diesen guten herrn, strewete schmehecarten gewiesen haben, welches dilll in den ubiraus s tadlichen defensionalibus (ne quid hic dicilll1uS de fanloso libel IoD») gillitz herlieh zu einem sonderlichen fundament wiederhohlet werden [...] Was sonsten wegen verscllickung der acten llineitlgeflickt, ist damuff fur die sem gnugsamb gehillidelt, darauß, wie millI dillilit verfallren, ob es untenll hüdem oder sonsten geschehen, sich gllUgsillllb offenballCet und da llicht nö tigk soll gewesen seitl, nach dieser leute irrigen walm die llinc inde ergilligene wechsellschrifften zugleich nlit zuverscllicken, hetten E[uer] Em [vest] und Achtb [aren] wie nach deren meitlUng den sachen zuviell gedlall, welichs kaum gleublich [...] Das aber dieser stupidus & itlsulsus ursus, es habe der albeme fuchs (der je doch ohn wlzitnblichen rhumb zuenllelden eitlem solichen sitnpliciß [itno] und
0) = ScIl1llähscluift.
Schmähschriften unter Männern
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s otio ignarop) gantz woll gewachßen) sich ad oblationem libelliq) nicht einlaßen, vielweiniger auff die kaien defensionales auß mißtrawen seines
rechtens
andtwortten wollen, welichs jedoch de jure nicht geschehen konnen, vennog deren daruber eingehohleter urtlleil, ist mit vorigem pfa1ltastischem einbilden gar woll zuvergleichen, wol man derowegen geliebter kurtz dieses viris doctis & discretis zu urtlleilen anheimbgestellet wld inlllitteist huic urso rigido altum
silentium imponirt haben etc. Wan nun ein solichs vorgangen,
alß dan wiI man mit Erich Reichen wld de
ßen adhaerenten den hauptpunct derges talt zutreiben willen, das jegentlleil re ipsa spuren soll, was gestalt man das genus actionis auff eine viel beßere fonnb ziehen und richten werde
alß die kale vermeinte defensionales, damber man
ein unnotig plaudergewesch gemacht, zu werck gerichtet worden.
Was ferners diese calumnianten wegen der gulden ketten und sonsten ver meind1ich angeben wollen, acht man keiner veranttwortung wurdigk, sintemalil diese gesellen venllog rechtens widerUlllb beibringen sollen und mußen, waß aus der erbschafft vor und nach genolmlffien und unnutzlich verschwendet worden, aber davon zu seiner zeitt etc. Welichs alles nochmalIIß zu E[uer] Ernvest und Achtb [aren] weiser, recht meßiger erkandtnus wolle gestaltt haben, damber das adeliche miItrichterlich anlbtt abernlalil auffs fleißigst & omni meliori modo implorirendt. Vorbehalttlich ferner rechtlicher notturfft
p) sodo ignaro (gemeint ist ein unwissender Geselle, Zeitgenosse). q) Gemeint ist die Vorbringung einer Klagschrift (Klaglibell) vor Gericht.
Katrin Keller
Friedrich August von Sachsen als Herrscher, Mann und Mythos. Ein Versuch über den Beinamen ,der Starke' Er sei ein "frischer Herr", "der wenig achttete und in seiner jugend schon zeig te, das er von leibe, gliederen und constitution stark wehren wierde, von ge miette giettig, freigiebig, nichts anders, als was eine ehrliebente sehl notwendig tuhn sohlte, liebte, geschickt alle exercitia zu lemen; hiengegen wohlte er sich zum studiren nicht appliciren, sagend, er wierd nichts als einmahl den degen zu
seinen fortkohmen bedierffen, derohalben ihm in der zarten jugent schon das soltalltenwessen eingepflanzet wallr. "1 Der da so munter von sich schreibt, ist ein noch nicht einundzwanzigjähriger Prinz aus dem Hause Wettin namens Friedrich, der sich nach Kavalierstour und ersten militärischen Abenteuem gerade von einer Pockenerkrankung erholt und die dabei offensichtlich auf kommende Langeweile damit zu bekämpfen sucht, daß er einen autobiogra phisch geprägten höfischen Roman zu schreiben beginnt, der freilich über die ersten zehn Seiten nie hinausgelangen sollte. Zu diesem Zeitpunkt scluen wirk lich das "soltalltenwesen" die einzige Lebensperspektive des 1 670 Geborenen, denn sein zwei Jallre älterer Bruder Johann Georg stand als Nachfolger des seit
1 680 als Kurfürst Joha111l
Georg IH. in Sachsen regierenden Vaters fest, Fried
rich konnte sich höcllstens vage Hoffnungen auf eine Nachfolge luer oder in Dänemark und Norwegen machen, wo er als Sohn einer kÖluglichen Prinzessin erbberechtigt war. Nur reichlich drei Jallre später j edoch, der muntere Schreiber ist noch lucht
ganz 24 Jalue alt, hat Christiane Eberhardine von Bayreudl geehelicht und befindet sich gerade am Kaiserhof, stirbt nach nur reichlich zwei Jaluen Regie rung der ältere Bruder an den Pocken, nut denen er sich bei seiner weluge Wochen vorher gestorbenen Mätresse Magdalena Sybilla von Neitschütz ange steckt hatte. Die über Jalue dauemde "Affäre Neitschütz" hatte inl übrigen die
europäische Hofgesellschaft der Zeit einigermaßen in Atem gehalten, soll luer jedoch lucht eingehender behandelt werden. So ist der frische Herr Friedrich also nilt 24 Jaluen Kurfürst Friedrich August 1. von Sachsen, wird nilt
27 Jall
ren kadlOlisch und König in Polen, wo er sich auf Wunsch der Polen August (I1.) nennt und ist heute jedem s ächsischen Schulkind und jedem Dresden Besucher als August der Starke beka1Ult.
1 Zitiert nach Paul Haake, Die Jugenderinnerungell König Augusts des Starken, in; Historische Vierteljahresschrift NF
3 (1900), S. 397.
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Katrin Keller
Nun sind Beinamen an sich für deutsche Kaiser, Könige und Landesherren nichts ungewölUlliches, auch im Hause Wettin fmden sich verschiedene Bei spiele für erlauchte, s treitbare oder fette Herzöge und Kurfürsten.2 Eigentlich ist dies jedoch eine für das Mittelalter bzw. die Historiographie über dasselbe charakteristisches Phänomen. Für die frühe Neuzeit könnte man zwar auch noch den "blauen Kurfürsten" Max
11. Emanuel oder Friedrich den Großen
anführen, aber insgesamt s tellen Beinanlen eine AusnalUlle dar; und August der Starke ist - soweit ich sehen kann - der einzige fcülUleuzeitliche Fürst, den Geschichtsschreiber des
19. Jh. mit einem "körperlichen" Beinamen versehen
haben 3, der noch dazu solche Popularität gewann, daß der eigentliche Name des Trägers auch in der historischen Forschung fast in Vergessenheit geriet. Hinter diesem Beinanlen scheint also mehr zu stecken, als die Attributiecungs wut älterer landesgeschichtlicher Arbeiten, denn die Mehrzald der "Gerech ten", "Großen" wld ,,\Veisen" ist doch mittlerweile dieses Nanlenszusatzes verlustig gegangen. Die Frage, der hier nachzugehen sein wird, ist also die nach der "Stärke" Augusts des Starken. Als Historikerin sollte man dabei wold zuerst nach dem politischen Hinter grund eines solchen Beinamens fragen - war Friedrich August ein "starker" Landesherr? Dies wäre in verschiedenener Hinsicht unbedingt zu bejallen, wlzweifelhaft wld trotz allen Widerstands der sächsischen Stände hat er als s ächsischer Kurfürst in seinen Erblanden wesentliche Schritte zu einer Moder nisiecung von Staat wld Wirtschaft im absolutistischen Sinne getan, die aller dings unter seinem Nachfolger nidlt aufgegriffen wld weitergeführt worden sind. Mit dem Erwerb der polnischen Krone hat er Kursachsen wieder in die europäische Politik eingebracht und ist so nur als erster deutscher Fürst einem Trend gefolgt, der sich - wold als Reaktion auf die in der zweiten Hälfte des
17. Jh. dominierenden Kons tellationen von Reichs- wld europäischer Politik4 -
2 Vgl. Hubert Ennisch, Die geschichtlichen Beinamen der Wettiner, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte [=NASG) 1 7 (1896), S. 1-32. 3 Bislang ältester Beleg für den selbstverständlicheu Gebrauch des Beinamens ist das Werk von Friedrich Cramer, Denkwürdigkeiten der Gräfin Marie Aurora Königs marck, 2 Bde., Leipzig 1836; Vgl. auch die Auflistung im Anhang von Reinhard Lebe, War Karl der Kahle wirklich kahl? Historische Beinamen und was dahinter steckt, Stuttgart 1984, S. 135 ff. 4 Nach jahrzehntelanger Dominanz der französisch-habsburgischen Auseinanderset zungen, der schwedischen Dominanz im Ostseeraulll und der endgültigen Sicherung des Reiches vor den Türken scheint es so, als ob sich Hannover, Bayern, Sachsen, Brandenburg, später evtl. auch noch Hessen-Kassel lnit dem Schritt aus dem Reichs verband über einen Zuwachs an herrscherlicher gloire und magnificence durch einen Königstitel hinaus auch dauerndes politisches Gewicht verschaffen wollten. Die Ein sicht in die Grenzen politischer Relevanz eines bloßen Reichstellitoriums kOllIlte al lerdings nur in Brandenburg und in gewissem Siml in Hannover in dauemaften Machtzuwachs politisch-militärischer Art umgesetzt werden.
81
August ,der Starke'
auch in anderen deutschen Mittelstaaten beobachten läßt. Die damit verbunde ne Konversion des LandesherOl im "Mutterland der RefoOllation" ebenso wie der Geldbedarf für den Erwerb wld die (militärische) Verteidigung der Krone hatten allerdings auch innenpolitische Probleme im Kurfürstentum zur Folge. die nicht unterschätzt werden sollten. Immerhin gelang es August vor allem in der 1 720er Jallren, sowohl in Kursachsen wie in Polen seine Macht als absoluti stischer Herrscher soweit zu fes tigen, daß in einem nächsten Schritt deren endgültige Konsolidierung möglich gewesen wäre.5 Schließlich sei wenigstens noch kurz darauf hingewiesen, daß während seiner Regierungszeit der bereits seitJallfzehnten schwelende Konflikt mit der aufsteigenden Mittelmacht Bran denburg-Preußen zuerst in Form eines Zollkrieges eskalierte, die Ablösung Kursadlsens als traditionell dominierendes Territorium
im
nördlichen Reichs
teil durch Preußen jedoch noch keineswegs entschieden wurde. OIll1e dies hier nun weiter ausführen zu wollen, scheint doch klar, daß hinter dem Beinamen durchaus die Auffassung von August als "starkem" Herrscher stehen könnte. Dies ist jedoch nidlt der Fall. Wie ein Blick auf die historiogra phische Tradition des 1 9. Jh., aus der wie schon gesagt der BeUlanle stammt, belegt, wird Friedrich August ganz Ull Gegenteil als politischer Abenteurer abgetan, der seul Land durch die Verbuldung mit Polen wld seule persönliche Verschwendungssucht wirtschaftlich und finanziell zugrunde gerichtet habe. Vor allem bei Heinrich von Treitschke wird man sogar unterschwellige Empö rung darüber finden, daß August es gewagt habe, sich der historischen Mission des Hauses Hohenzollem entgegenzustellen.6 In politischer Hlllsicht domi nierte also Ul der Gesdüchtssdlfeibwlg lange Zeit - Auswirkwlgen sUld bis heute zu bemerken - eher das Bild des schwachen oder sogar des dU11le l11 n August. Die Stärke, die man
im
1 9. Jh. aus eUler älteren Tradition heraus für
den Beinamen bemühte, war vielmellf wohl tatsächlich eUl Rückgriff auf die Körperlichkeit des sächsischen Kurfürsten, der im folgenden etwas genauer nachgegangen werden soll. Abgesehen davon, daß Friedrich August sich dem Zug der Zeit entspre chend auf einer Vielzahl höfischer und Herrscherporträts, meist vom säch sisch-pohüschen Hofinaler Louis de Silvestre s tanunend, darstellen ließ, besit zen wir auch euüge Beschreibwlgen von Zeitgenossen und Zeitgenossull1en, die eUl recht plastisches Bild seuler Person zeichnen. Als erste äußerte sich
5 Vgl. dazu Kar! Czok, August der Starke und Kursachsen, Leipzig 1987, auch Sieg fried Hoyer, Wie absolut war August? in: August der Starke und seine Zeit (= Saxo ma. Schriftenreihe des Vereins für sächsische Landesgeschichte 1), Dresden 1995, S. 48-53. 6 Dazu Katrin Keller, Landesgeschichte zwischen Wissenschaft und Politik. August der Starke als sächsisches "Nationalsymbol", in: Konrad Jarausch/Matthias Middell (Hg.), Nach dem Erdbeben. (Re-)Konstruktion ostdeutscher Geschichte und Geschichts wissenschaft, Leipzig 1994, S. 199 f.
Katrin Keller
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Liselotte von der Pfalz dazu, bei der der risaufenthalte
1 687
wld
1 688
Prinz während seiner beiden Pa
häufig zu Gast war. Sie meldete nach einem
seiner ersten Besuche in Versailles an Sophie von Braunschweig-HatulOver: "Ich katl noch nichts recht von selbigen printzen sagen, er ist nicht hübsch von gesicht, aber doch woll geschaffen undt hat all gutte minen, scheint auch, daß er mehr vivacitet hatt,
alß sein herr bruder, undt ist nicht so melatlcolisch,
allein er spricht noch gar wenig ... "7 Später ergänzte sie, er hätte eine "artige
taille", aber einen zu großen Mund.8 Herr von Loen, der August später in Dresden mehrfach Sall, beschrieb ilUl für das Jallr
1723
folgendermaßen: "Matl
katUl sagen, daß die Natur diesen Fürsten zu einem König gemacht, wld daß diejenigen Unrecht hatten, die ilun diese Würde so latlg verweigert haben. Der Bau seines Leibes ist stark, untersetzt und wohlgewachsen. Alle Gliedmassen atl demselben haben eine abgemessene Verhältnis. [!l Die Züge seines Gesichts formiren eine solche Bildung, die mit eUUllal etwas grosses und erhabenes ausdruckt. Matl findet daritUlen nichts als mfuUlliche Zeichen: eUlen grossen MWld, starke Lefzen wld AugenbrawIen P), eine hohe Stime und breite Kien backen. Nur die Augen mischen in ihr lebhaftes Feuer einen Blick, der huld reich wld frewldlich ist."9 Der König befatld sich zu diesem Zeitpunkt sozusa gen in der Blüte seiner Jallre, er wog bei einer Körpergröße von etwa fast
100
1,76
m
KilograIlUll. Den realistischsten Eindruck von seiner Gestalt und sei
nem Gesicht vennittelt inl übrigen wohl die dank einiger glücklicher Zufälle überlieferte Krönwigsfigurine der Dresdner KWlstsatlUlllungen, deren Kopf nach einer
1704 in Dresden
abgenommenen Maske Friedrich Augusts gestaltet
wurde. Allerditlgs hatte der Kurfürst-König als Loen ihn beschrieb und später zu nelunend mit Kratlkheit zu kämpfen; er litt atl Diabetes wld die zu dieser Zeit noch nicht bekatUlte Kratlkheit kostete
ihn 1727 fast das Leben, als an einer
schon latlge verletzten Zehe der Brand ausbrach. Diese Kratlkheit und ihre
(vorläufige) Heilung durch eUle beherzte Amputation erregte viel Aufmerk sanlkeit bei den Zeitgenossen, und auch Friedrich 11. von Preußen, der
1 728 Ul
Dresden weilte und der hier als letzter mit einer Beschreibung zitiert werden soll, nalUll noch auf sie bezug: "Der König von Polen ist mittelgroß. Er hat sehr starke Augenbrauen und eine etwas aufgestülpte Nase. Er geht recht gut, trotz seines Beines. Er ist geistvoll, sehr höflich gegen jedemlatUl wld hat viel Lebensart. Er sclUlarrt etwas beinI Sprechen und ist nicht leicht zu verstehen, da er viele ZälUle verloren hat. Trotzdem sieht er gesund aus und ist körperlich
7
Eduard Bodemruw (Hg.), Aus den Briefen der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orleans an die Kurfürstin Sophie von Hruwover, Bd. 1, Halwover-Leipzig 1 89 1, S. 85 (19.07.1687); vgl. auch Quellenanhang.
B Ebenda, S. 283 (4.4. 1697)
9 Johruw Michael von Loen, Abbildung des Königs in Pohlen im Jahr 1723, in: del'S., Gesammelte kleine Schriften, T. 2, Frankfurt-Leipzig 1751, S. 187; s. Quellenanhang.
August ,der Starke'
83
gewandt, das heißt, er sticht nach dem Ring, tanzt und tut andere Dinge wie ein junger Mann. "10 Mit dieser stattlichen Körperlichkeit verband sich nun eine tatsächlich be merkenswerte Körperkraft, die von den Zeitgenossen bewundert oder zumin dest konstatiert wurde, und die Ende des 1 8. Jh. bereits sprichwörtlich gewor den war - Augus ts wohl berühmtester Sohn, der Marechal de Saxe, sprach schon 1 724 von "une force plus que naturelle"l 1 Ohne hierbei die bis heute in Sachsen kursierenden Anekdoten über Kraftleistungen Augusts bemühen zu wollen, kalUl etwa Liselotte von der Pfalz als Zeugin dienen, die 1 697 dazu bemerkte: "Wir haben den churfürsten von Saxsen zwey jahr lang hir gehabt, kene also seine stärcke woll, allein es ist wunderlich, daß mall davon in den zeittungen spricht. Man könte nicht so viel von printz de Conti sagen; den ob er zwar länger von person, alß der churfürst ist, ist er doch gar schwach. "12
Schon ein Jahr vorher hatte sie konstatiert: "Der Cllurfürst von Saxsen ist noch jung genung, umb braff starck zu sein; der Keyßer hatt kein unrecht, den teller, so er gerolt, undt den becher, so er entzwey getruckt, in die kunstkatnmer zu tllUn, deml eine solche stärcke ist etwaß rares."13 Diese Stärke fand inl übrigen schon zu seinen Lebzeiten Aufmerksatnkeit nicht allein in Hofkreisen, sondeOl wird auch in Volksliedern zitiert:
"Doch der Sachse hat verdrungen Den windig französisch Quark, Und sich auf den Thron geschwungen, Augustus, prächtig und stark, Weil er hat mehr Geld in Händen, Als der Franze kunut aufwenden."14
10
Gustav Berthold Volz (Hg.), Friedrich der Große und Wilhelmine von Baireuth, Bd. 1: Jugendbriefe 1728-1740, Leipzig 1 924, S. 63. 11 Carl Vitzthum von Eckstädt, Maurice, comte de Saxe et Marie-Josephe de Sa.'Ce, Dauphine de France. Lettres et documellts iuedits, Leipzig-Paris-London 1867, S. 269; vgl. auch Gottlieb Benedict Schirach, Leben Augusts des Zweyten, Königs von Pohlen, in: ders., Biographie der Deutschen, T. 5, Halle 1773, S. 213, 215: "Die Stärke Augusts des Zweyten wurde ein Sprichwort... Die ungewöhnliche, und im ganzen Jahrl1Uuderte einzige Stärke seines Cörpers verdient gleichwohl eine Erwäh uung. Er erwarb sich dadurch in allen ritterlichen Uebungen die unbeschreiblichste Bewunderung." 12 Willlelm Ludwig Holland (Hg.), Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orleans. Briefe aus den Jahren 1676 bis 1722, Bd. 1, S. 95; vgl. auch Quellenanhang. 1 3 Bodemallll (wie AlUll. 7), Bd. 1 , S. 258. 14 Augustus Rex Poloniae (1697), in: Franz Wilhelm von Ditfurth, Die historischen Volkslieder der Zeit von 1648 bis 1871, Bd. 1: 1648-1756, ND Hildesheim 1965, S. 211 ff.
84
Katrin Keller
Dabei scheint August an der Publizität dieser körperlichen Qualitäten nicht ganz wlbeteiligt gewesen zu sein, indem er zumindest in seinen jungen Jahren inlmer gem bereit war, seine Kraft zu demonstrieren, wie etwa 1(;92 in Berlin oder später in Wien. Auch daß er noch 1 7 1 1 vor Zeugen ein Hufeisen mit bloßen Händen zerbrach und dies mit einer Beglaubigung seiner Kunstkanmler
einverleiben ließ l s, kann wohl inl Sinne männlicher Imagepflege vecstanden werden. Dem höfischen Ideal vom vollkommenen Kavalier allerdings entsprach das zwar weniger, statt Kraft war hier danach wohl mehr tänzerische Gewandheit gefragt. Hier dürften eher noch Vorstellungen vom ritterlichen Kämpfer eine Rolle gespielt haben, wie sie August als junger Mann auch in seinem Memoi renfragment thematisierte.16 Spätere Biographen haben schließlich dieses spie lerisch-protzende Kräftemessen, das Augus t in seinen jungen Jaluen so gem vorführte, mit dem Auftreten eines Preisboxers verglichen, daß ihm schließlich auch eine diesen vergleichbare Sympathie der Bevölkerung eingetragen habeP Die Aufnalune der Körperkraft Augusts in Volkslied und Sprichwort deutet wohl auch tatsächlich eine auf diese Weise erlangte gewisse Volkstümlichkeit an. Die vom Prinzen selbst zufrieden betonte Geschicklichkeit in den ver schiedenen ritterlichen Exercitien, die ilUll schon 1 686 in Gottorf das Wohl wollen seines Onkels, des Königs von Dänemark, eintrug, spielte dabei eben falls eine Rolle. Auch später gehörten Ringrennen und Tierkämpfe - er soll eumlal itn Schloßhof zu Dresden ein anstümlendes Wildschwem mit dem Degen getötet haben - zu den festen Bestandteilen all s euler prunkvollen Fest ulszenierungen, bei denen er auch oft genug selbst die Hauptpreise erringen konnte.IB Der "frische Herr" Friedrich war zudem auch bis Ul die ersten Jalue als Kur fürst lilliein m seulen Feldzügen, die ml übrigen militärisch eher desaströs endeten, als Fechter von großem persönlichen Mut bis zur Tollkülumeit be kalmt und zudem zu mallcherlei nicht ungefiihrlichen Scherzen aufgelegt. Bei der Belagecwlg von MaitlZ 1 690 etwa kostete ilUl der Vecsuch, mit eUler dop-
15 Abbildung etwa in: Euch Haenel, August der Starke. Kunst uud Kultur des Barock, Dresden 1933, S. 132 f. 16 Vgl. bei Haake, Jugenderinnecungen, S. 398. 17 Comelius Gurlitt, August der Starke. Ein Fürsteulebell aus der Zeit des deutschen Barocks, Dresden 1924, Bd. 1, S. 93 f.; Wemer Schlegel, August der Starke, Kurfürst von Sachsen, König VOll Polen, Berlin 1938, S. 22 (August sei ein ausgezeiclweter Massenpsychologe gewesen!); Augusts Neigung Zunl "Volk", seine "Güte" gegenüber den Untertanen konstatieren Schirach, S. 257, 269 und oft; Liselotte in Bodemann (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 147 (23.9.1692). 1 8 Karl Czok, Am Hofe Augusts des Starken, Leipzig 1989, S. 91 ff.; zur Ausbildung vgl. Katrin Keller (Hg.), "Mein Herr befindet sich gottlob gesund und wohl ... " Zwei sächsische Prinzen auf Reisen, Leipzig 1994.
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August ,der Starke'
pelt geladenen Büchse über den Malll z u schießen, einen halben Daumen, wld Sophie von HatUlOver berichtete
1694, daß
es die erste Amtshandlwlg des zum
s ächsischen Generalmajor eOlatl1lten und mit August befreundeten Grafen Königsmarck gewesen sei, eine extra dazu erbaute hölzeOle Festwlg, "welge der Courfürst attaquirt hatt [zu verteidigen], undt haben einatlder mit rhon eier chargirt. Konismarck hatt noch ein blauw aug tharvon, were wol gar einäugig tharvon worden, hätte
ihn das ei recht ins aug getroffen. Solge Kinderpossen
sollen viel vorgehen; er [August] soll aber SWlsten ein recht gutter Herr sein
"19
Neben stattlicher Erscheinung und körperlicher Stärke, gepaart mit atlderen mä1l1ilichen Tugenden wie Mut, aber auch Trinkfestigkeit20 und Freigiebigkeit, war es wohl sdiließlich ein dritter Aspekt - und dieser vielleicht nodl vor den atlderen - der die Nachwelt dem MatUl August den Beinatllen "der Starke" beilegen ließ: seine Beziehung zu Frauen. SdlOn Liselotte hatte festgestellt, "We1l1l die datllen hir [in Versailles] dießes Churfürsten perfection undt stercke
gewust hetten, würden sie ihm greülich nadlgeloffen sein . . . "21 und bemerkte
1695
wenig beeindruckt "Ich habe . allezeit in acht genohl11en, daß alle die
männer; [welche] allezeit gegen die coquettereyen, affectereyen undt sdmuncke reden, doch, sobaldt die ein solch weib sehen, darvon verliebt werden; wundert mich also gar lucht, daß der Churfürs t von Saxsen endtlich in das freüllen Königsmarck verliebt geworden ist." 22 Aurora von KÖlugsmarck sollte jedoch nur die erste in einer längeren Liste von mehr oder weniger lange anItierenden Mätressen sein, die durch kurzfristige Abenteuer mit Tänzeritmen, Sängeritmen und Hofdatnet1 zu ergänzen wäre. Späterllin zieh Liselotte den Kurfürs t-Kölug der "Brutalität" wegen der Zalll seiner Liebsdlaften, Sophie von Hat1l1over warf il1111 vor, er hätte eine solche Zalll von Mätressen, daß die KÖlugsmarckin "wol könte doiene tllarvon sein" und Willlelmine von Bayreuth sollte später sogar von einem Serail in Dresden sprechen, aus dem
354
natürliche Nach
konl1uen des KÖIUgS hervorgegangen seien.23 Belegbar sind allerdings heute,
19 Eduard Bodemaun (Hg.), Briefe der Kurfürstin Sophie von Hannover au die Raugrä fInnen und Raugrafen zu Pfalz ( Publikationen aus den Kgl. Preußischen Staatsar chiven 37), Leipzig 1888, S. 1 17. 20 Siehe dazu nur Paul Haake, La Societe des antisorbres, in: NASG 21 (1900), S. 241254. 21 Bodemann (wie Anm. 7), Bd. 1, S. 283. 22 Bodemrum (wie Anm 7), Bd. 1, S. 216. 23 Bodemrum (wie Anm 7), Bd. 2, S. 102 (8.3.1705); Bodemaun, Sophie-Raugräftnnen, S. 155 (22.02.1697); Georg Schuath (Hg.), Briefwechsel der Kurfürstin Sophie von Hannover mit dem preußischen Königshause, Beclill-Leipzig 1927, S. 171 (an Sophie Dorothea von Preußen 20.07. 1709); Wilhelmine von Bayreuth, eine preußische Kö nigstochter. GI311Z und Elend run Hofe des Soldatellkönigs in den Memoiren der Wilhehnine von Bayreuth, übers. von Atl1lette Kolb, neu hrsg. von Ingeborg Weber=
.
.
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Katrin Keller
das soll hier doch Erwähnung finden, "nur" acht außerehelich gezeugte Kinder aus den Beziehungen mit der Gräfin Körugslllarck, der Fürstin Lubomirska, zu Henriette Renard, Fatillla Spiegel und der Gräfin Cosel. Was von den zitierten ZeitgenossuUlen negativ kommentiert wird, ist aber offensichdich keuleswegs die Einrichtung der Mätresse en titre als Bestandteil des höfischen Systems oder die eheliche Untreue eUles regierenden Fürsten an sich, sondern eher der "Mißbrauch" den der s ächsische Kurfürst damit trieb, also vor allem die Zahl der Frauen, mit denen er sich zum Teil gleichzeitig umgab, sowie das kolportierte Ausmaß galanten höfischen Lebens Ul Dresden bzw. Warschau. Sophie von Hannover verglich dabei 1 696 den sächsischen eUUllal mit dem bayrischen Hof und meulte: "Es scheint, daß alle die galanteri vonUll Francöschen hoff bey die Herrn Courfürsten allein hatt platzs gefunden ... "24 Ergänzen ließe sich dies durch pikiert-bewundernde Kommentare männ licher Besucher des Dresdner und Warschauer Hofes; so sendete etwa der sechzehnjährige Friedrich von Preußen seuIer Schwester 1 728 Ull ersten Brief eUlen StanUlIbaum der "anerkannten Bastarde des Königs" und seuI Vater bemerkte gegenüber dem Fürsten von Anhalt-Dessau wenige Tage später, der König sei ein braver Herr, die Frauen seien hier wie überall Huren "aber in Dresden ist offendich pemuttieret. nut den vomelunste kan man laut von fuxen [ficher] rehden als luer von exerciren. "25 Daneben vermerkten die Zeitgenossen und -genossinnen allerditlgs ebenso, daß der "Held der Liebe" sich auch in einem weiteren SU111e als höchst galant itn Umgang mit der höfischen DanIenwelt erwies. D azu gehörte die zwar
höchst distanzierte und selbstverständlich dem politischen Kalkül wItergeord nete, aber dessen ungeachtet respektvolle Beziehung zu seiner Ehefrau und seUIer Mutter ebenso wie die durdlaus bemerkenswerte Sorge des KÖIUgs um abgelegte Mätressen und deren Kinder. Seul Sohn Moritz bezeiclmete ilm als "le plus fin et le plus dissimuh: de tous les hOlllllles", und die höchst ulteres s ante Charakteristik des KÖ1Ugs, die seUl jallrzehntelal1ger Vertrauter und Mini s ter J acob Heulrich von Flemnung huIterlassen hat, überliefert: ,,11 est civil et obligeant autant qu'un particulier le peut etre et rien ne surpasse sa politesse
Kellemlann, Frankfurt aM. 1990, S. 106 f. - G. Piltz (August der Starke. Träume uud Taten eiues deutschen Fürsten, 3. Aufl. Berliu 1989, S. 1 65) berichtet von einer Pre digt iu der Dresdner Sophienk.irche 1707 gegen den Ehebruch Augusts mit verheira teten Frauen. 24 Bodemann, Sophie-Raugräfinnell, S. 149 (14.12. 1 696); ähulich auch Schirach, S. 243 f.: August habe es auch iu der Galanterie Ludwig XIV. gleich getan. 25 Volz, Friedrich der Große und Wilhelmine, S. 63; Die Briefe König Friedrich Wil hehus I. an den Fürsten Leopold zu Allhalt-Dessau 1704-1740, bearb. von O. Kraus ke (= Acta Borussica, Ergänzungsband), Berliu 1905, S. 392 (13.02. 1728).
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envers les Dames. 11 ne pouvoit souffrir autrefois les equivoques, quand il etoit en compagnie des Dames. "26 Für August selbst war die Beziehung zu Frauen ganz offensichtlich von gro ßer Bedeutung; schon seine stichwortartigen Aufzeichnungen zur Kavalierstour aus dem Jahr 1 690 (er plante damals neben dem schon zitierten Roman offen sichtlich auch Memoiren), verzeichnen nallezu an jeder Reisestation "intrigen" oder "avanturen" mit mehr oder weniger gen au benannten Damen.27 Auch
Flemming hielt fest: "entre les plaisirs son espe ce favorite a ete l'amour . .. "28 Bezüglich der Kavalierstour muß jedoch generell davon ausgegangen werden, daß sie als Bildungsinstitution für den jungen Mann von Stand auch in Hin blick auf galante Abenteuer fungierte, so daß August mit seinen Aventuren keineswegs die Ausnalmle gewesen sein dürfte. Zudem sollte man sich wohl unter diesen Abenteuern keineswegs immer handfeste körperliche Beziehwlgen vorstellen, zumal der Kurfürst sich selbst später noch gegenüber Flemming als nicht der Kühnste in Liebesdingen bezeichnete. Und trotz der VielzalIl mehr oder weniger lange dauernder Beziehungen und diverser sonstiger "avanturen" in späteren Jaluen katm man angesichts seiner weitgespatmten Aktivitäten als s ächsischer Latldesfürst und pohlischer KÖllig wohl kaum behaupten, daß ihn s eine Aktivitäten als Liebhaber gänzlich absorbiert hätten. Bei aller Ablehnung des über mehrere Jaluzehnte zweifellos "amourösen" Lebensstils Augusts spricht jedoch auch aus den matlChmal vemichtenden Briefen Liselottes trotz allem eine gewisse Sympathie; Sophie Charlotte von Bratldenburg schrieb 1 694: "Ich fürchte sehr für den armen Kurfürs ten von Sachsen; er liegt im Sterben. Er ist so ausschweifend, daß er wolIl daran zu grunde gehen muß." und ilue Mutter bemerkte 1 71 3 trocken: "Ich begreife die Frömmigkeit des Schwedenkönigs nicht, der von Gott erleuchtet zu sein glaubt und durch seine Launen soviele Menschen umbringt. Der KÖllig von Polen bringt durch all seine Mätressen welligstens niemanden zu Tode, aber manchen Leben."29 Aus solchen Äußerungen spricht eine gewisse Nachsicht der
ZWll
Zeitgenossilmen mit August als Matlll wld Standesgenossen, deren Hinter grwld wolIl - will matl nicht nur darauf rekurrieren, daß auch die hochgebore nen Briefschreiberinnen der von Liselotte selbst vernlUteten weiblichen Be wunderwlg seiner "Stärke" verfallen seill köllllten - im oben schon ange sprochenen Ideal des Kavaliers und danlit auch inl höfischen System atl sich zu suchen seill dürften. Eill gewisses Maß an Galanterie gegenüber den Damen der höfischen Gesellschaft, atl Beherrschung ritterlicher Exercitien und bon
26 Zitiert nach Paul Haake, August der Starke im Urteil seiner Zeit und der Nachwdt,
Berlin 1922, S. 23. Die Charakteristik Moritz' bei Vitzthum von Eckstädt, Maurice comte de Saxe, S. 269. 27 Keller, Mein Herr befindet sich gottlob gesund und wohl, S. 388 f. 28 Zitiert nach Haake, August im Urteil seiner Zeit, S. 20. 29 Schuath, Sophie, S. 14 (7.12.1694); S. 262 (1.04.1 713).
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Katrin Keller
gout in bezug auf Kunst und Literatur wurden von jedem Kavalier erwartet Friedrich August verfügte über all dies in weit überdurchschnittlichen Maße. Sophie von Hannover ließ sich sogar dazu hinreißen,
ihn als "chevalier s ans
peur et s ans reproche"30 zu bezeichnen. Die Damen des Hofes wiederum, deren relativ weitgehende Freiheit in gesellschaftlicher Hinsicht schon mehr fach konstatiert wurde31, aber bislang wohl noch kaum adäquate Darstellung erfalHen hat, waren mit dem Phänomen der Staats ehe wld der Miitresse ebenso vertraut wie mit dem des heimlich-öffentlichen Liebhabers; die relative sexuelle Freizügigkeit der aris tokratischen Gesellschaft des absolutistischen Zeitalters macht dies bis heute zum beliebten Gegenstand mehr oder weniger seriöser Sittengeschichten. Allerdings waren diese Affairell höfischen NOffilen unter worfen, die sich in den Anweisungen für junge Adlige auf Reisen ebenso er kennen lassen wie in der folgenden Bemerkwlg des schon zitierten Ministers
F1emming: "Le Roy aime les femmes, il est vrai, et qui ne les aimeroit I Mais le
Roy les aime pour se deIasser du faix des affaires et nullement d'un amour romanesque ... "32 Beherrschwlg, conduite und Umgangsf0l111en waren also anch in der Beziehung zur Maitresse gefordert. Aufschlußreich sind in diesem Zusanmlenhang auch Bemerkungen über die AfHire von Augusts iUterem Bruder Johrum Georg mit dem Fräulein von Neit schütz, die immer wieder zu Aufsehen erregenden Aktionen des jungen Für sten führte; kurz vor seinem Tod ging er gar mit dem Degen auf seine GemalI
lin los, die die Überschreibung des Gutes Pilhlitz an die Maitresse kritisiert
hatte.33 Diese durch illre Unbeherrschtlleit gekennzeichnete Beziehung war den Zeitgenossen derart suspekt, daß nach dem Tod der Neitschützin zWlächst
30
Bodemalln, Sophie-Raugräfinnell, S. 129 (26. 12/5.01. 1696).
31 So bei Elias (Die höfische Gesellschaft, 5. Autl. Fraukfurt a.M. 1990, S. 292, 361) konstatiert; die im von August Buck herausgegebenen monumentalen Werk "Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jh." enthaltene Sektion "Die Frau in der hö fischen Kultur" etwa geht jedoch nur auf die Frau als Literatin und auf deren Erzie hung ein, aber nicht auf die Rolle von Frauen bei Hofe im allgemeinen, selbst das Phänomen der Mätresse scheint nicht wirklich bearbeitet zu sein. - Vgl. ähnlich zu letzt R. Baader, Heroinen der Literatur. Die französische Salonkultur im 17. Jh., in: Bettina Baumgärtel/Silvia Neystel"S, Die Galerie der Starken Frauen. Die Heidin in der französischen und italienischen Kunst des 17. Jh., DüsseIdorf 1995, S. 34-50. Interessante Impressionen liefert allerdings die Biographie Liselottes von Dirk vall der Cruysse, "Madrune sein ist ein ellendes Handwerck". Liselotte von der Pfalz eine deutsche Prinzessin anl Hof des So1l1lenkönigs, München-Zürich 1995, bes. S. 233 ff. 32 Zit. nach Kar! von Weber, Moritz Graf von Sachsen, Marschall von Frankreich, Leipzig 1863, S. 4. - Zur Kavalierstour vgi. Katriu Keller, Zwischen Zeremoniell und "desbauche". Die adlige Kavalierstour um 1700, in: Wolfgallg Schmale/Reinhard Stauber (Hg.), Mensch und Grenze in der Frühen Neuzeit, Berlin 1997, S. 259-282. 33 Vgl. Bodemanll 1, S. 194 (30.05.1694), S. 177 (8.02. 1693), S. 149 (11.05.1692).
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ein Prozeß wegen Zauberei gegen ihre Mutter angestrengt wurde. Diesen scll1ug Friedrich August zwar recht bald nieder, er verdeutlicht jedoch, wie "unnomlal" eine solch leidenschaftliche Affäre der höfischen Gesellschaft wirkte. Für das Bild Augusts bei Zeitgenossen und Zeitgenossinnen dürfte es also nicht unwesentlich gewesen sein, daß seine Galanterie niemals gegen den bon gout verstieß, daß "politesse" auch bei der Auswall1 und der Abdankwlg der Maitressen ein entscheidender Pwlkt blieb. In diesem Umfeld scheint es allerdings doch notwendig, die offensichtlich bereits zu seinen Lebzeiten thematisierte Ausnal11nestellwlg Augusts den Star ken als Liebhaber noch etwas nilller zu betrachten. Die oben zitierten Äuße rungen der beiden Brandenburger über den sächsischen Hof ließen sich etwa aus diversen Gesandtenberichten ergänzen, und selbst die ansonsten woll1 keiner allzu ausschweifenden Phantasie zu zeihende Sophie von Hat1110Ver etwa schrieb 1 699 offensichtlich mit einem gewissen Prickeln: "Der Marckgraf von Bareit hatt seine hochzeit mit die schöne Princesin von Weissenfeit ce lebrirt, war den abent von der hochzeit so druncken, daß matl ihn zu bette drug, und einschliff, der König [von Polen] aber 4 stundt tllamach brachte ihm die braut, die I. M. zeit genung hatten, vor ihn zu preparihren, wan die braut nut ehns were gewessen. "34 War August der Starke jedoch wirklich das allzeit bereite Potenzwunder, als das il111 offensichtlich schon die Zeitgenossen ansahen ? Für die Beatltwortung dieser Frage bietet sich wiederum ein Hinweis Flen11nings aus dessen bereits zitierter Charakteristik atl, der festllielt, daß August atl der Liebe, obwoll1 sie ill111 sehr wichtig gewesen sei, lue soviel Vergnügen gefunden hätte, "qu'il a bien voulu le faire accroire aux autres d'y trouver, de sorte qu'il a aime avec eclat [Hervorhebung K.K.]. .. "35 Man darf also vielnlehr vermuten, daß es dem Kurfürst-König offensichtlich in11ner aue" darum gegangen sein dürfte, ein Bild von sich als Mal111 zu vemutteln, das nut seiner Auffasswlg von sich als Herr scher zusanlmenpaßte.36 Mit Festen, Bauten, Sa111nl1wlgen, Gemälden etc. versuchte er in sehr erfolgreicher Weise, seine herrscherlichen Potenzen, ein Bild von sich als Herrscher zu vemlitteln, sowohl innerhalb von Sachsen und
34 BodemaUll, Sophie-RaugräflUllen, S. 198 (5.1 1.1699). Zur Wukung der Phantasie vgl. auch die Geschichte des sog. Cosel-Guldens (Hinweis dazu Heinz Fengler/Gerhard Gierow/Willy Unger, Lexikon Numismatik, 3. Aufl., Berlin 1976, S. 76). 35 Zitiert nach Haake, August .im Ulteil seiner Zeit, S. 20. 36 Vgl. dazu auch die Äußemng Sophies von Hannover BodemaUll, Sophie Raugräfinuen, S. 131 (3.02.1696» : "Er [August) vautirt sich von alle weiber, ich dencke, er wirdt auch sagen, er habe meine tochter chamilrt." - Vgl. auch die Ein schätzung der Memoiren des Benvenuto Celliui bei Peter Burke, Städtische Kultur in Italien zwischen Hochrenaissance und Barock, Berl.in 1986, S. 26.
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Polen wie im (mittel-)europäischen Kontext. Zu diesem Bild37 gehörten neben Herrschertugenden wie Justitia, Prudentia und Fortitudo notwendigerweise .. auch Eigenschaften des "honnete Homme". Die briefliche Außenlllg der Kur fürstin Sophie über die kurfürstlichen Höfe in Dresden und München, die August sozusagen als Mann (galilllt) wld Herrscher (durch den Bezug zu Lud wig XlV.) würdigt, hätte also, sollte sie illlll zu Ohren gekommen sein, wohl genau seinen Intentionen entsprochen. Am klarsten faßbar wird die Verbindung von Männlichkeit und Herrschertu
gend im von August vielfach bemühten Bild des "Hercules Saxonicus". Schon Stephan Skalweit hat darauf verwiesen, daß etwa seit der Mitte des
1 7. Jh.
der
ideale Herrscher auch als Heros stilisiert wurde im Sinne eines "kämpferischen Gegenbild[es] der bloßen Würde herrscherlichen Seins "38. Damit seien auch Züge wie Tatkraft, Selbs tentfaltung, kriegerischer Rulllll ins Herrscherbild eingegilllgen. Diese "heroischen" Züge des absolutistischen Fürsten39 filllden dabei ihre Widerspiegelwlg auch in mytllOlogisierenden Darstellungen des Fürsten und seiner Familie, in denen man in die Rolle illltiker Helden und Heroen schlüpfte. Am treffendsten symbolisierte diese neuen Züge des Herr scherbildes wohl die Gestalt des Hercules, der schon seit dem
15. Jh.
nördlich
wie südlich der Alpen inliner wieder als exemplum des guten Prinzen bemüht wurde. Neben den Habsburgem waren die albertinischen Wettiner eines der ersten deutschen Fürstenhäuser, das diese Herrschersymbolik schon im in bildlichen Darstellungen nutzte; im
1 7. Jh. waren es
16.
Jh.
dilllll verschiedene Fest
inszeniecwlgen Johann Georgs H. und unter Johann Georg IH., dem Vater Augusts, der umfilllgreiche Skulpturenschmuck des Großen Gartens in Dres den, in denen Herkules und seine zwölf Taten symbolträchtige Aufnalll11e filllden.40 Keiner der Wettiner hat diese mytllische Heroenges talt jedoch häufi ger wld umfassender eingesetzt, als August der Starke, wie Jerzy Banach vor einigen Jallren mit seinem Inventar der (bildlichen) D arstellungen des Kur fürst-Königs als Hercules Saxonicus eindrucksvoll vorgeführt hat. Auf Medail len, in Festdekorationen, Wandbildem und dekorativer Goldsclmuedekwlst
37 Heinz Duchhardt, Das protestantische Herrscherbild des 17. J1I. im Reich, in: Kourad
Repgen (Hg.), Das Herrscherbild im 17. Jh. (::: Schriftenreille der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 1 9), Münster 1991, S. 33 f.
38 Stephall Skalweit, Das
Herrscherbild des 17. Jh., in: Walter Hubatsch (Hg.), Absolu
tismus (::: Wege der Forschung 314), Darmstadt 1988, S. 256; vgL auch Marie-Claude
Callova-Greell, La Politique-spectade au grand siede: les rapports frallco-anglais (::: Biblio 17), Paris-Seatt!e-Tübingen 1993, S. 13.
Kroll, Von der Heerführerin zur Leidensheldin. Die Domestiziecung der Femme forte, in: Galerie der starken Frauen,
39 Weibliche Ergänzung war die Amazone, vgl. R. S. 34-50, dort auch S. 112 ff., 128 ff Q
Jerzy Banach, Kurfürst - Halbgott - König. August der Starke als Hercules Saxo nicus, in: Jb. der Staat!. Kunstsammlungen Dresden 19 (1987), S. 39 f., 50.
August ,der Starke'
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ließ e r sich zum Teil in porträthafter Darstellung als Herkules im Kampf gegen das Böse zeigen bzw. fanden ilUl die ilull Huldigenden adäquat dargestellt. Symbolträchtigste und eindrucksvollste Abbildung dieses heroischen Ideals in Sachsen ist bis heute der den Wallpavillon des Dresdner Zwingers und damit dessen Theatrum Heroicum krönende Herkules, der die von Adas übemom mene Weltkugel trägt - August-Herkules unter der Last des kursächsischen wld königlich-polnischen Regiments, dazu auch zeitweise die von Reichsvikari at und Reichsmarschallamt auf seinen Schultern tragend.41 Hier dürfte nun ganz eindeutig werden, daß August der Starke nicht allein bewußt seine heroi sche Selbststilisierung betrieb, sondern daß er dazu auch gerade die Gestalt wählte (auch Jupiter und Apollo spielten j a im mydlOlogischen Progranull der Herrschersymbolik eine bedeutende Rolle), die ihm sozusagen auf den Leib geschrieben war. Konsequenz dieser gelungenen Selbststilisierung war es allerdings, daß Au gust sich auch im wachsenden Alter und zunehmend von Krankheit gezeicllllet inuner noch veranlaßt Sall, rul ritterlich-höfischen Wettkämpfen teilzunellll1en, und seine körperlichen Probleme so gut wie möglich zu überspielen, obwohl illll1 dies wohl keineswegs inlll1er leicht gefallen sein dürfte. Neben der bereits erwällllten Beschreibung Friedrichs H. belegen dies auch Äußerungen von dessen Schwester Willielmine, seines Vaters und von Gesruldten ruu sächsi schen Hofe.42 Und auch die Folgen seiner wechselnden Liebesbeziehungen hatte er sozusagen schon zu Lebzeiten zu tragen: Der Hofklatsch, gewöllllt, über seine Mätressen und sonstigen Abenteuer zu mutmaßen, k01111te August den Starken run Ende seines Lebens sowenig als Liebhaber im Rullestruld se hen, daß er ilun eine Liaison mit seiner Lieblingstochter, der Gräfin Orczelska andichtete. August der Starke wurde schon seinen Zeitgenossen zum Inbegriff des galrulten Königs mit all seinen Vorzügen und Nachteilen, worrul die zu mindest in einigen Fällen gezielte Inszenierung seiner Liebschaften43 nicht geringen Anteil hatte.
41 Ebellda, S. 46. 42 Paul Haake, August der Starke, Kmprinz Friedrich August Ulld Premieoninister Graf Flenuning im Jalu:e 1727, in: NASG 49 (1928), S. 37 ff.; Hans Beschomer, Augusts des Starken Leiden und Sterben, in: NASG 58 (1937), S. 48-84; Weber-Kellemlrum, Wilhehuine, S. 1 15.
43 Dies ganZ im Silllle David Gilmores, Mythos Mann. Wie Männer gemacht werden, München 1993, S. 206: "Um in den meisten Gesellschaften ein Mrum zu sein, muß man Frauen schwäugem, Abhängige vor Gefalu:en schützen und die gesamte Familie und Verwandtschaft versorgen. Vielleicht können wir also ... doch von einem ,allgegenwärtigen' Mann sprechen, tur den diese Verhaltenskriterien gelten, von dem ,Erzeuger-Beschützer-Vers arger'. "
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Ausmaß wld Folgen seiner dem pathetischen Lebenstil44 des Barock folgen den Selbstinszenierung als Herrscher und Mann waren allerdings schon für die auf August folgende Generation an den deutschen Höfen nicht unproblema tisch. D afür nur zwei Anhaltspunkte: Der in Leipzig und Berlin tätige Publizist David FaIlmann brachte bereits wenige Monate nach Augusts Tod am 1. Fe bruar 1 733 eine recht umfangliche Biographie des Fürsten unter dem Titel "Das gIorwürdigste Leben wld Thaten Friedrich Augusti des Großen ... " zum Druck. Das ganz gewiß im Sinne lobpreisend-unterwürfiger Hofhistoriographie gemeinte Werk hatte großen Erfolg, brachte dem Verfasser jedoch eine Ver haftung ein, er durfte das Gefangnis in Leipzig erst verlassen, als er sich zur Revokation und Bearbeitung des Werkes bequemte. In der schon im folgenden JallC erschienenen zweiten Auflage lassen dann die Streichungen erkennen, was dem neuen s ächsischen Hof anstößig erschienen war - neben den militant protestantischen Äußerungen von Augusts eins tigem Reiseprediger Paul Anton wld dem Bekenntniswechsel vor der polnischen Königswalll sind das die in der ersten Auflage ganz unschuldig erwähnten Auftritte der Gräfin Cosel bei höfi schen Festen sowie die natürlichen Kinder Augusts des Starken.45 Da schon vor dem Tode Augusts verschiedene Besucher des Dresdner Hofes immer wieder die Spannungen zwischen dem Kurprinzen und seuler habsburgischen Gemaluul emerseits sowie dem König und seinen natürlichen SölUlen wld Töchtern andererseits erwälUlt hatten46, klllUl dieser fürstliche Eingriff kaum verwundern. Noch strikter ging man 1 734 gegen das kurz zuvor Ul französischer Sprache erschienene Werk "La Saxe galllllte" des Freiherrn von Pölhutz vor, das bis heute unverändert als eUle der Hauptquellen zum Liebesleben Augusts gilt. Im Jwu dieses JallCes teilte der s ächsische Kurfürst Friedrich August H., zu diesem Zeitpunkt vorrangig mit nlllitärischen Auseinandersetzungen um die pohusche Krone befaI3t, der Leipziger BücherkonUlussion als oberster Zensurbehörde in Kursachsen nut, daß dieses "mit vielen Unwallrheiten llllgefüllte französische Scriptum ... , so in Holland Ul Druck gekommen, dem Vernehmen nach atliezo in Leipzig nachgedrucket, wld so gar in die teutsche Sprache übersezet" wor den sein solle. Dessen Druck wld Verbreitung seien strikt zu wlterbinden. Die Bücherkonmussion verpflichtete daraufllin alle Leipziger Buclllländler unter schriftlich auf dieses Verbot.47 Das - selbstverständlich scllOn kurz darauf
44 Rohert Mandrou, Der europäische Barock: Pathetische Mentalität und soziale Um wälzung, in: Claudia Honegger (Hg.), Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aueignuug historischer Prozesse, Frankfurt a. M. 1977, S. 383. 45 Ludwig Lindenberg, Leben und Schriften David Faßmanns (1683-1744) mit besonde rer Berücksichtigung seiner Totengespräche, Diss. Becliu 1937, S. 50 ff. 46 Vgl. Haake, August der Starke, der KUll'riuz und F1emming, S. 39. 47 Stadtarchiv Leipzig, Tit. XLVI (Feud.) Nr. 180: Acta, das Scriptum berr., betitelt: La Saxe galante, Anno 1734 und 1735, BI. 7-10.
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unterlaufene - Verbot dieses Machwerkes ist in mehrerer Hinsicht interessant. Zum einen deutet es in die gleiche Richtung wie die Verhaftung Faßmanns; der s ächsische Kurfürst versuchte, das früher wohl anstößige, nun aber immer weniger zum entstehenden Bild des aufgeklärten Herrschers passende Liebes leben seines Vaters zumindest aus der offiziellen Erinnerung zu verbannen. Während August der Starke gegen schon zu seinen Lebzeiten verfaßte höfische Romane, die ihn als Helden der Liebe stilisierten, offenbar keine Einwände hatte48, sondem sie eher gut geheißen haben dürfte, war sein Sohn an derarti gen Schriften keineswegs interessiert, sondem bemühte sich in einem gewan delten zeitlichen Kontext mit deren Verbot wn die Wallrung der Ehre des Hauses. Zwn anderen (darauf kann hier nur hingewiesen werden) scheint die Verknüpfung von Übersetzung und Verbot der Pöllnitzschen Chroniclue scan daleuse von Interesse. Mochte eine Publikation erfundener und tatsächlicher atilletischer wld erotischer Abenteuer in der Sprache des Hofes und der Gebil deten gerade noch angehen, so war mit der fürs Volk zugänglichen Überset zung offensichtlich eine weitere Grenze überschritten.49 Winckelmann jedoch, um die Mitte des 1 8. Jh. selbst einige Zeit in Dresden lebend, sollte die Regierungszeit des "großen August" als den glücklichen ZeitpwIkt bezeichnen, "in welchem die Künste als eine fremde Kolonie in Sachsen eingeführt worden" sind. TIlOmas von Fritsch und Benedikt Schiracll bezeichneten
ihn als großen Fürsten, dessen Regierung Sachsen wesentlich
geprägt habe, und noch Herder betrachtete es als einen Verlust, "daß ein Fürst von so seltenen Vorzügen, die Friedrich Augus t körperlich und geistig besaß, durch die polnischen Verwirrungen wld Kriege gehindert war, für Deutscllland allein zu leben".50 Ungeachtet der zitierten Bemühungen um ein "reinigendes Gedächtnis" an Leben und Regierung Augusts des Starken lebte inl 1 8. Jh. sein Bild sowohl als das eines bedeutenden Herrschers weiter, als auch die Erinne rung an ihn als Liebhaber - noch lange saß die sagenumwobene Gräfin Cosel als Gefangene auf Burg Stolpen, und auch Goetlle berichtet in "Dichtung und
48 Bsp. Menantes (Chr. Friedr. Hunold), Der europäischen Höfe Liebes- und Heldenge schichte ... , Hamburg 1718: dieser Schlüsselromau, der wohl der durch Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel verfaßten "Octavia", in der August ebenfalls auf taucht, folgen wollte, verknüpft die Geschichte des Prinzen Gustavus alias Friedrich August von Sachsen mit verschiedenen mehr oder weniger bekannten Skandalen der europäischen Höfe, u.a. der Geschichte seines Bmders Johann Georg, des Grafen Königsmarck sowie Ludwigs XIV. 49 Vgl dazu etwa Lynn Hunt, Einleitung, in: dies. (Hg.), Die Erfindung der Pomogra phie. Obszönität und die Ursprünge der Modeme, Frankfurt a. M. 1994, S. 10 f. 50 Nach Haenel, S. 17; Schirach, S. 212; die Äußemngen des sächsischen Refonnpoliti kers TIlOmas von Fritsch 1763 in: Horst Schlechte, Die Staatsrefooll in Kursachsen 1762/63. Quellen zum kursächsischen Retablissement nach dem Siebenjährigen Kriege, Berlin 1958, S. 539 f.
Katrin Keller
94
Wahrheit", wie er als Student in Leipzig einen sächsischen Offizier bewog "zu einer offenen Erzählung der kurz vorher bestandenen Hofverhältnisse, welche ganz märchenhaft zu sein schienen. Ich hörte von der körperlichen Stärke Augusts H., den vielen Kindem desselben und seinem ungeheueren Aufwand ... " sowie von seiner Verwwlderung über so viel "unsinnigen Genuß des Glücks"5 1 Und wie schon Jacob Burckhardt beobachtet hat, wurden und wer den den Mächtigen gem Sagen und Anekdoten angedichtet, in denen sich ihre Eigenschaften wie die Wunschvorstellungen der Nachgeborenen widerspie geln52, so daß wir wohl davon ausgehen können, daß August zwar vielleicht weniger als realer Herrscher, aber mit Sicherheit als der galante König im histo rischen Gedächtnis breiterer Schichten weiterlebte, zu dem ihn Neigung wld gezielte Stilisierung gemacht hatten. In den dreißiger Jaluen des vorigen Jaluhunderts trifft man dann jedoch re lativ übergangslos auf völlig neue Züge - August tritt, nWilllehr
mit
dem viel
s agenden Beinamen der Starke versehen, als Inbegriff des lasterhaften, ver schwendungssüchtigen wld despotischen Fürsten auf. Zuerst scheint dieser Beiname von Friedrich Cramer in seiner heute fast vergessenen Darstellung des Lebens der Aurora von Königsmarck, Augusts erster prominenter Mätres se, benutzt worden zu sein, der zugleich die ganze Verachtung eines morali schen Jaluhwlderts über den lüstemen und politisch unfähigen Kurfürst-König ausgoß.53 Von diesem Zeitpunkt des (Wieder-)Eintritts Friedrich Augusts in die Geschichtsschreibung des
19. Jh.
nallffien zwei Traditionslinien ihren Anfang:
Einerseits wurde August insbesondere durch Leopold von Rankes "Zwölf Bücher preußischer Geschichte" dem historisch-politischen Vergessen entris sen, dem er nach den verheerenden Niederlagen Sachsens
1763
und
1815
und
durch den Aufstieg Preußens anheim gefallen war. Während Ranke sich jedoch um Gerechtigkeit des historischen Urteils zumindest bemühte54, griffen die Vertreter der kleindeutschen Schule später auf illll vor allem als Folie zurück, vor der sich das disziplinierte Wirken der preußischen Zeit- und Amtsgenossen im Sinne der historischen Sendwlg des Hauses Hohenzollem gut darstellen ließ. Der Verlust Sachsens an politischem Gewicht inl
18.
Jh. wurde damit
ebenso zur gerechten Konsequenz der Unmoral seiner Fürsten wie die Ver-
51 Johann Wolfgang Goelhe, Werke, Bd. 13: Dichtung und Warheit, Berlin 1967, S. 333. 52 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1978, S. 227, 235, 246. 53 Friedrich Cramer, Fliedrich August der Starke, in: ders. Denkwürdigkeiten der Gräfin Königsmarck, Bd. 1, S. 343-398. 54
"Was er angriff, dazu hatte er Geschick, und intmer mußte er etwas Neues vorhaben, sei es den Bau eines Palastes oder die AnordnUllg einer geräuschvollen Festlichkeit, einen Liebeshandel oder eine politische Intrige. Er stürzte sich nur immer von einer aufregenden Beschäftigung zur andem, von genuß zu Genuß, ohne auf Pflicht oder Anstand Rücksicht zu nehnlen. Er gefiel sich in einem Gellllsch von Kraft und Sit tenlosigkeit." Zit. nach Haake, August im Urteil seiner Zeit, S. 95 f.
August ,der Starke'
95
drängung Kursachsens aus dem nationalen Traditionsspektnull der Geschichts schreibung.55 Auf den Punkt bringt diese Position die Einschätzung Augusts durch Theodor Flathe, Lehrer an der sächsischen Fürstenschule zu Meißen, die dieser in seiner "Sächsischen Geschichte" formuliert: "Die maßlose Selbstsucht des Landesfürsten, der gleichgiltig gegen Wohl und Wehe seiner Unterthanen keine höhere Triebfeder kannte als die Befriedigung seiner suullichen Begier den, die systematische Auslaugung des Landes, der Marasmus, dem die Formen der Verfassung verfielen, die Verderbtheit des Hoflebens, die stumpfe Selbst vergessel11leit und knechtische Bewunderung, mit der das Volk zu dem Glanz und der Ueppigkeit des Hofes emporsall, das Erlöschen alles Gemeingeistes wld nationalen SitUles Ul allen Schichten der Bevölkerung würden diesen Zeit raum zu dem unerfreulichsten der ganzen sächsischen Geschichte machen, weml er nicht durch die Kläglichkeit des darauf folgenden noch überboten würde. "56 Andererseits, und dies ist in unserem Zusammenhang wohl von größerem Interesse, wird August der Starke zum gem bemühten Beispiel der bürgerli chen Kultur- und Sittengeschichtsschreibung sowie populärer Literatur des 1 9. und 20. Jh. Dabei ist zunächst daran zu erinnern, daß Ul der Kunst- und Kul turgeschichte des 1 9. Jh. lange eine vehemente Ablehnung alles Barocken itl der bildenden und darstellenden Kunst itlsgesamt zu konstatieren war, die sich itl Dresden beispielsweise anl denkmalpflegerischen Umgang mit dem Zwinger zeigte. Erst das ausgehende 1 9. Jh. brachte eine neue Sicht auf die Kunst des 17. und 1 8. Jh., die datUl später Ul der Barock-Diskussion der zwanziger und dreißiger Jallre Wlseres Jaluhunderts gipfeln sollte, und die sich nur vor dem Hitltergrund der schrittweisen Entwicklung bürgerlichen Selbstverständnisses itll 1 9. Jh. verstehen läßt. August der Starke als Inbegriff des barocken Fürsten hatte also von Kunstgeschichte wie politischer Geschichtsschreibung des ange sprochenen Zeitraums per se kaum Wohlwollen, geschweige deml Verständnis zu erwarten. Die eben angesprochene Entwicklung bürgerlichen Selbstverständnisses be itilialtete jedoch nicht alleul eUle zunächst strikte und polemische Abgrenzung gegenüber politischen wie kulturellen Traditionen des absolutistischen Fürsten staates, sondem selbstverständlich auch die Konstituierung und Propagiecung eitles bürgerlichen Noollengefüges. Aus unserer Sicht ist dabei in erster Lune das Verständnis von Märuilidlkeit von Interesse, allerdulgs liegen dazu bislatlg noch kaum fundierte Studien vor. Die vorhatldenen deuten daraufllin, daß sich
55 Vgl. Keller, Landesgeschichte; Johaunes Kalisch, Zur Polenpolitik Augusts des Star ken. Refonnversuche in Polen am Ausgang des 1 7. Jh., Diss. Ms. Leipzig 1957, BI. VII ff.; XXIV ff. dort auch zur entsprechend negativen Darstellung Augusts in der polnischen Historiographie.
56 Kar! Böttiger/Theodor Flathe, Geschichte des Kurstaates und Königreiches Sachsen, Bd.2, 2.Aufl., Gotha 1869, S. 371 f.
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Katrin Keller
nun immer deutlicher ein soldatisch dominierter Grundzug des von sozialer Bindung "befreiten" männlichen Geschlechtscharakters ausprägte, die Substanz von "Männlichkeit" am Geschlechtsakt festgemacht wurde.57 Die "Wieder entdeckwIg" Augusts in diesem Kontext kann nach dem oben Gesagten wenig überraschen, immerhin ist doch der direkte zeitliche K01Ulex von "Bei namenverleihung" und Wandel im Verständnis von Männlichkeit frappierend. August wld sein für das bürgerliche Zeitalter befremdlicher Umgang mit Kör perlichkeit gestatteten es Historikern vom Schlage eines Vehse, Biedermatui oder Fuchs ebenso wie dem Romancier Kraszewski58, ihn in mehr oder weni ger freundlicher Weise als stellvertretend für seine Zeit und als Gegenbild bürgerlicher Sittlichkeit zu stilisieren. Sie folgten Augusts Zeitgenossen und ZeitgenossuU1en ulsofern, als sie meist unkritisch wld mit emem gewissen wohligen Schauer seuie "Laster und Ausschweifungen" darstellten, neue lillIZU fügten und ilU1I gewissenllaßen jede Unsittlichkeit zutrauten. Ein gutes Beispiel dafür ist eine Stelle aus auf etwas obskurem Wege überlie ferten Briefen des Grafen Königsmarck an die spätere Herzogin von Alilden. Diese wurden 1 848 zuerst im Anhang von Wilhelm Friedrich Pahllblads ro manhafter Darstellung "Aurora von Königsmarck Wid illre Verwandten. Zeit bilder aus dem 1 7. und 18. Jh. "59 gedruckt. In einem der ersten der kaum da tierbaren Briefe berichtet Königsmarck von Orgien des Herzogs von Richmond wld eUles Herzogs Friedrich, Ul denen auch Sodomie eUle Rolle gespielt habe. Einige Zeilen später wird druU1 auch Friedrich von Sachsen, also August der Starke, envähnt. Zwischen beiden wird ml Brief selbst keine Ver bUldung hergestellt und die fehlende Datierung etc. lassen wohl auch kaum
57 Ute Frevert, "Maun und Weib, und Weib und Maun" Geschlechter-Differenzen in der Modeme, München 1995, S. 30 ff.; Daniel A McMillan, " ... die höchste und hei
ligste Pflicht". Das Männlichkeitsideal der deutschen Tumbewegung 181 1-1871, in: Thomas Kühne (Hg.), MäUllergeschichte-Geschlechtergeschichte. Männlichkeit inl Wandel der Modeme (= Geschichte und Geschlechter 14), Frankfurt a.M.-New Yo:rk 1996, S. 90 ff. 58 Karl Eduard Vehse, Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation, Abt. 5: Sachsen, Bd. 4 und 5, Hamburg 1854; Kar! Biedemlann, Deutschland inl 18. Jh., Bd 2: Deutschlands geistige, sittliche und gesellige Zustände inl 18. Jh., 2. Auf!. Leipzig 1888, S. 82 ff.; Josef Kraszewski, Am Hofe Augusts des Starken, 3 Bde., Wien 1893; Eduard Fuchs , Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Ge genwart, Bd. 3: Die galante Zeit, München 1910; Georg Stemhausen, Geschichte der Deutschen Kultur, Leipzig 1904, S. 486 ff.; Johaunes Schere/Paul Burg, Deutsche Kultur- und Sittengeschichte, Berlill 1930, S. 290 ff., 358 ff. 59 Dt. Leipzig 1848, don S. 256: "TI faut que je racollte une vilaiue histoire que le Duc de Richmont a voulu executer. TI se trouvait en Debauche avec le Duc Fridcic avec des garces; la debauche les mena si loiu qu' apres qu'ils eurent fait toute sorte de debauche le duc de R. voulut forcer les mies a se faire foire d' un grand dogue d'Allemague, vous melltendes bien I C'est un peu pousser loin la debauche ... . "
August ,der Starke'
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eine klare Identifizierung aus dem Text zu. Palmblad selbst merkt denn auch bei der ersten Person nur vorsichtig "von Sachsen?" an. Nun soll hier keine "Ehrenrettwlg" für August den Starken versucht werden, seine Beteiligung ist tatsächlich keineswegs ausgeschlossen. Interessant scheint allerdings, daß die gleiche Stelle schon bei Vehse 1 854 ohne jede Infragestellung der Identifizie rung zitiert wird, später mit schöner Regelmäßigkeit in Darstellungen zu Au gust dem Starken auftaucht und noch 1 993 in der "Süddeutschen Zeitung" fröhliche Urständ feierte.6o Hatte schon der Hofklatsch Augusts Aktivitäten gem durch Vermutungen und wlter Umständen wohl eigene erotische Phantasien der Kolporteure "er gänzt", so fungierte seine Person j etzt offenbar als Focus erotischer Phantasien von Verfasser und Publikum derartiger Sittengeschichten. Im Gegensatz zu manch zeitgenössischem Roman des 1 9. Jh. war dabei weniger die eingehende Beschreibung einzelner Begebenheiten von Bedeutung, sondem wohl mehr die "unendliche" Potenz Augusts, die sich in seinem Beinamen widerspiegelt, und wohl auch das dalunter - ob zu recht oder zu unrecht, sei dahin gestellt - ver mutete galante Klima am Hofe. Die sich an die Person Augusts knüpfenden Phantasien sind damit vielleicht am Ende gar nicht allzu sehr unterschieden von denen, die schon seine Zeitgenossen wld Zeitgenossinnen kultivierten. Zwei scheinbare zeitgenössische Kronzeugen wurden (und werden I) denn mich gem herangezogen: Bis heute wird "La Saxe galante" des Fremerm von Pölliutz als ebenso als authentisch aufgefaßt, wie die Äußerungen Wllhelmines von Bayreuth über den Dresdner Serail und die Zalli der Kinder Augusts. Die erste Schrift entstand dabei als Literarisierung von Hofklatsch, die vielleicht als Loblied auf August als Helden der Liebe, vielleicht aber auch nur mit Blick aufs Publikum und zur Verbesserung der desolaten Pölliutzschen Finanzlage verfaßt wurde. WillleImine wiederum dürfte in der angesprochenen Textstelle wohl eher auf die Vorbehalte ihres pronunenten Bruders und das Image Au gusts Rücksicht genommen haben, als auf die Realität, Dresden hat sie (zumin dest zu Lebzeiten Augusts) tue gesehen.61 Das Neue am Bild Augusts in der Kultur- und Sittengeschichte des vorigen Jaluhunderts liegt vor allem darin, daß seine Person lucht mehr wie von den Zeitgenossen als Matul
Imd Herrscher
und danut in mehrfacher Hinsicht
im
relevanten Normensystem verortet und sozusagen in einem sozialen Kontext gesehen wurde, sondem nuttlerweile nur noch der scheinbar hyperpotente Liebhaber als Verkörperung von Mätuilichkeit Widerspiegelung fand. Hätte dies allein vielleicht von den Geschlechtsgenossen noch neidvoll-anerkennend
60 Vehse, Geschichte der deutschen Höfe, Bd. 4, S. 221, Paul Burg, Die schöne Gräfin
Königsmarck. Ein bewegtes Frauenleben um die Wende des 17. Jh., Braunschweig [1 920], S. 428, Piltz, August der Starke, S. 28, Süddeutsche Zeitung, Magazin Ne. 47 vom 26. 1 1.1993, S. 11.
61 Vgl. dazu etwa Schlegel, S. 8 ff.
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Kat:rin Keller
respektiert werden können, so mußten Augusts inszenierte Körperlichkeit wie sein Auftreten als Liebhaber in einem Zeitalter, das die völlige Disziplinierung des Körpers und zumindest bei Männem dessen Unsichtbarmachung wlter diversen Schichten von Kleidwlg forderte, um jeden Anschein seJ..'Uellen Po tenzgebarens zu vemleiden, geradezu exhibitionistisch erscheinen.62 Mag also das männliche Publikum der Sitten- wld Kulturgeschichte sich vielleicht bei zurückgezogener Lektüre noch wohlwollend amüsiert oder gar neidvoll ge blickt haben auf Mätressen, Kraftproben und sonstige "avanturen"; eine öf fentliche wld allgemeine Verdanlmwlg war dem Lüstling sicher. Und nicht genug mit der Zalli der August zugeschriebenen Liebschaften, sein Verhalten in der Affäre eose1 machte ihn auch in anderer Hinsicht zwn gem benutzten "Feindbild" moralischer Geister. Die auch in Sittengeschichten mit Emphase vorgetragenen Darstellwlgen zur "niederen" SteIlwlg wld "w1\vürdigen" Be handlwlg von Frauen in der Vergangenheit:63, die dem Nachweis des in der Gegenwart endlich erreichten "zivilisatorischen Gipfels" im Sinne gerechter wld vemünftiger, weil biologisch vorgesehener Gesclliechtertrennung dienten, nahmen sich seiner Gestalt ebenso gem an. Andererseits war August wiederum als Kunstliebhaber und -kenner, der (zumindest nacll Meinung der Verfasser obengenannter Darstellwlgen) sich neben erotischen Abenteuem allenfalls noch mit der Inszenierung von Festen, dem Erwerb von Kunstgegenständen und dem Bau von Schlössem befaßte, wohl in gewissem Sinne auch ein
62 Susanne Bräudli, " ... die Männer sollten schöner geputzt sein als die Weiber". Zur KonstlUktion bürgerlicher Männlichkeit
im
19. Jh., in: Kühne (Hg.), Mätmerge
schichte-Geschlechtergeschichte (wie Anm. 57), S. 113 f.; V. Rittner, Handlung, Le benswelt und Subjektivierung, in: Dietmar Kanlperl ders. (Hg.), Zur Geschichte des KÖlpers, München-Wien 1976, S. 51. 6 3 So bspw. Fuchs, Sittengeschichte, S. 89, 97: "Das Wesen der Galanterie ist, daß die Frau als GenußinstlU1llent und damit als lebende Verkörperung der sinnlichen Wol lust den Thron bestiegen hat. Als PersonifizielUng der Wollust wird sie angebetet und wird ihr Weihrauch gestreut. Die Huldigung vor ihrem Geist, ihrer Phantasie wld ihrer Seele geschieht nur insofern, als dadurch der Konsum ihrer sinnlichen Rei ze gesteigert und varüert wird. ... ein Zeitalter der Frau kann niemals eine wirkliche Erhöhung der Frau darstellen, sondern hat im Gegenteil illre tiefste menschliche Er
niedrigung zur Voraussetzung. Ein derartiger Kult, wie er im 18. Jh. tnit der Frau ge trieben wurde, ließ sich überhaupt nur auf dieser Basis aufbauen. Und dem entspre chen auch die tatsächlichen Verhältnisse. Mann und Frau standen
im
Zeitalter des
Absolutismus nicht ebenbürtig nebeneinander, denn darin besteht die einzige wirkli che Erhöhung der Frau. Die Frau hatte keinerlei wirkliche und garantierte Rechte; die politische Herrschaft des Mannes und seine Willkür gegenüber der Frau waren im gegenteil völlig unbeschrätIkt ..." - Vgl. dazu Frevert, Mann und Weib, S. 40 f. und
Barbara Stollberg-Rilinger, Väter der Frauengeschichte? Das Geschlecht als histori sche Kategorie im 18. und 19. Jh., in: HZ 262 (1996) 1, S. 53 ff.
August ,der Starke'
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Wunschbild des in täglichen Geschäften und Zwängen gebundenen Bürgers.64 So verknüpften sich in seiner Person einmal mehr Schreck- und Wunschbild. Die daraus resultierende literarisch-voyeuristische Attraktivität dürfte schließlich wohl auch der Umstand erhöht haben, daß es sich bei ihm nicht um eine erfundene, sondern immerhin - trotz aller Stilisierung des Bildes - noch mit realen Zügen versehene Person aus den sogenannten höchsten Kreisen handelte. Ähnlichkeiten zur Darstellung etwa Marie Antoinettes im 19. Jh. drängen sich auf. Weml nach einem offenbar recht zweideutigen Film über August ein Historiker 1921 konstatierte: "Gekrönte Häupter in Unterhosen zu sehen oder noch besser dann, wenn sie auch diese abgelegt haben, bereitet heute Millionen ein ,königliches' Vergnügen"65, so könnte er wohl zWllind est einen Teil des Problems treffend beschrieben haben. Romantischere Geister mögen August weniger aus diesen literarischen Quellen in Erilll1erung behalten haben, als vielmehr über Gedächtnisorte, unter denen allerdings Dresden lange eine geringere Rolle spielte. Wichtig waren vielmehr Stolpen, wo sich im vorigen Jaluhwldert einer regelrechter Cosel-Kult entwickelte.66 Das für August den Starken ganz sicher wenig sclmleichelliafte Kapitel der Inhaftierung seiner ehemaligen Mätresse wird das Bild seiner Per son zumindest inl regionalen Kontext danut nicht wenig beeinflußt haben. Dazu kam noch Quedlinburg, und zwar über die Person der Aurora von Kö nigsmarck. Über diese und illre Fanlllie sowie die Amire der Herzogin von Aluden erschienen in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg lucht nur etliche, meist romanhafte Darstellungen, sondem in der Gruft des Quedlinburger Danlenstiftes, wo sie ja dank Augusts Unterstützwlg Pröbstin geworden war, zeigte man bis ins erste Drittel des 1 9. Jh. bereitwillig, danach nur noch selten, ihren munlifizierten Leichnam, dem man seine ehemalige Schöluleit noch lange angesehen haben soll.67 Die beiden so umrissenen Überlieferungsstränge zur Person Augusts des Starken in der Zeit bis ZWll Ersten Weltkrieg hatten zur Folge, daß sich sein Bild auch in der seriös gemeinten Gescluchtsscllreibung inll1e1 r mehr verzerrte. Erste Ansätze seiner Neubewertung blieben schwierig. Dabei spielte Person und Werk des Berliner Historikers Paul Haake eine wichtige Rolle, der wolu in der Zeit zwischen 1 900 und 1 940 als bester Kenner der preußischen und säch sischen Quellen zur Zeit Augusts des Starken gelten kann, wld an dessen
64 Ebenda, S. 150 ff. 6S Zitiert nach Paul Haake, August der Starke im Urteil der Gegenwart, Berlin 1929, S. 50. 66 Vgl. Franz Lubojatzky, Stolpeu und seine Gefangene, die Gräfin Cosel, in: Das gol dene
Buch vom
Vaterlande, Bd. 1, Löbau 1860, S. 47 ff.; Gabriele Hoffm3illl, COll
stantia VOll Cosel und August der Starke. Die Geschichte einer Mätresse, 4. Auf!. Bergisch Gladbach 1994, S. 517. 67 Vgl. etwa Burg, Die schöne Gräfin KÖlligsmarck, S. 391 ff.
1 00
Katrin Keller
Schriften bis heute niemand vorbeikommt, der sich mit dem Fürs ten beschäfti gen will. Wichtig ist Haake dabei vor allem deshalb, weil man an seinen Schriften das Weiterwirken der aus kleindeutscher Schule wld Kulturge schichte rührenden Klischees ebenso wie der Moralität des 1 9. Jh. sehr gut festmachen kann, die il111 im Kontext einer
mit der sächischen Landesge
schichtsschreibung um die historische Rolle Augusts des Starken als Herrscher geführten Auseinandersetzwlg in immer tiefere Kontroversen führte. Bedeut sam war für diese Debatte besonders das 1 924 erschienene Werk des Dresdner KWlsthistorikers Comelius Gurlitt zu August dem Starken68, der als einer der ersten versuchte, dem sächsischen Fürsten über seine Bedeutwlg als Anreger künstlerischen Schaffens hinaus auch als Repräsentanten eines Zeitalters ge recht zu werden. In Abgrenzwlg dazu kanl Haake schließlich in seiner lange angekündigten Biographie zur Charakteristik der "seelisdle1l Struktur" des Kurfürst-Königs als "Sexualverbrecher".69 August sei ein von Genuß zu Ge nuß srumlender Irrwisch gewesen, der es nicht verstanden habe, staatschöpfe risch wirksam zu werden. Zwar sei seine Leistung als Protektor und Förderer materieller und geistiger Kultur anzuerkel111en, aber zugleich sei er als einer "der s tärksten Erotiker aller Zeiten" zu bezeichnen, den schon in seiner Jugend die Reise nach Frankreich verdorben habe.70 Der preußische Protestant Haake faßte danut noch eU111lal alle gängigen Klisdlees zur Person zusan111len. Ansätze eUler umfassenderen Revision des Bildes Augusts des Starken in der historischen Wissenschaft macht dann vor allem die wissenschaftlidie und publizistische Würdigung Augusts des Starken iIn Jubiläumsj allf 1 933 sichtbar. Charakteristisch war dabei der Versuch, eine historisch-politische Neugewich tung der Person nut der Revision allzu vehementer moralischer Verdan111IUng des Lebensstils zu verbinden. Dabei kam dem politischen Aspekt lucht nur inl historischen, sondem in eUlem ganz aktuell-tagespolitischen SU111e offensicht lich primäre Bedeutung zu: Die vor allem von sächsischen Historikern vorge tragenen \Vürdigungen des historischen \Virkens und der Person Augusts des Starken sUld ohne den Kontext der Debatte um die Frage "Preußisch-Ber wuscher oder Nationalstaat gleichrangiger Länder?" Ul den letzten Jallfen der WeiInarer Republik lucht verständlich. Die Ul Sachsen nach 1763 wohl latent vorhandenen und 1 8 1 5 und 1 866 verstärkten antipreußischen Ressentiments, iIn Zuge eUler allgemeulen ReichseiIugungs-Euphorie zwar verschüttet, aber lucht überwunden, gewannen nach dem nationalen Desaster von 1 9 1 8 wieder an Relevanz,71 Schon die mit Rezensionen und Polemiken ausgetragene KOll-
68
Wie Anm. 35; zu gleichzeitigen Neu3nsätzell in Polen vgl. Kalisch, Polenpolitik, BI. XXlX f
69 Paul Haake, August der Starke, Leipzig-Berliu 1 927, S. 201 f
70 Ebd., S. 17, 200 t1 7 1 Haake, August im Urteil der Gegenwart, S. 91
f;
Keller, Landesgeschichte, S. 202
f;
Sachsen gegen den Berliuer Zentralismus. Bericht über die Kundgebung fiihrender
August ,der Starke'
troverse
Wll
101
die August-Biographien von Gurlitt und Haake hatte gezeigt, daß
diesem Streit und umerhalb desselben wiederum August dem Starken als Re präsentanten eUles "goldenen Zeitalters" s ächsischer (wld deutscher?) Ge schichte vor dem preußischer Dominanz beträchtliche Bedeutllilg zugemessen wurde. Man könnte sagen, daß die sächsischen Landeshistoriker - und zwar vom konservativen Staatsarchivar bis zum eher lulken Studienrat - die sächsi sche Geschichte der vorfriderizianischen Zeit als Begründung s ächsischen Landes- wld Selbs tbewußtseuls neu entdeckten und August mit seiner Popula . rität als Gallionsfigur desselben nutzten. Leider gibt es bislang keulen Uber blick über Belege für die Volkstümlichkeit Augusts des Starken in der ersten Hälfte unseres Jaluhunderts; Indizien wie weitere literarische Verarbeitungen seines Lebens, die Plazierung eUler Zigarettenmarke unter seulem Namen wld die Publizität der beiden erwähnten großen biographischen Versuche sprechen jedoch ebenso dafür wie das Angebot von acht verschiedenen Porträtdarstel lungen des Königs aus der Meißner Porzellillmlanufaktur ull Jubiläumsjallr 1 933. Andererseits beklagten Historiker in den zWilllziger Jaluen die in den letzten Jallfzehnten sehr milligelhafte Pflege der Lillidesgeschichte in Sachsen; August lebe zwar Ul den verschiedensten Anekdoten im Volksmwld fort, wer de aber dabei oft mit seulem Sohn verwechselt. 72 Immerhin war diese Publizität neben umerwissenschaftlichen Entwicklungen der entscheidende AUSgrulgspWlkt auch für den Versuch, die moralische Ver urteilung des Malmes August zurückzunehmen - die mehr oder weniger gezielt betriebene Stilisierung Augusts zum s ächsischen Mythos war olme dies nicht zu machen. Schon Gurlitt hatte, übrigens Ul einem gesonderten Kapitel "Der Millm", versucht, etwa die Mätresse als zeittypisches Phänomen darzustellen73, Woldemar Lippert hatte
1 927 den Vergleich Augusts mit seinen Zeitgenossen
illigemallllt und bemerkt, " ... daß [dabei] zwar kein Idealbild eines Fürsten herausspringt, aber doch das eUles Millmes [sic I], der neben großen Felllem auch beachtenswerte gute Eigenschaften und Züge aufweist, die illll über den üblichen Fürstendurchschnitt seiner Zeit stellen."74 Und 1 933 konnte Artur Braballt fommlieren: ". .. es war in Wollen und künstlerischem Hochflug, Ul irdischer Leidenschaft und begeisterter Freude illl allem Schönen und trotz millichem Felllsclllag und Ul1l1eil das Leben eines immer schaffensfreudigen, sächsischer Beamten-, Kultur- und Wirtschaftsverbände am 29.4.1932 in Dresden, Dresden 1932. 72 Sächs. Staatszeitung 26.03.1927, S. 2; ArdlUr Brabant, August der Starke. Zum 200. Gedenktag seines Todes, in: Über Berg und Tal 56 (1933), S. 23; Rolf Naumann, Au gust der Starke als Herrscher, in: Wiss. Beilage des Dresdner Anzeigers 10 (1933) Nr. 5, S. 19 f.; Frie drich August der Starke 1670-1733 [Werbebroschüre der Meißner
POl"zellanmanufaktur 1933], Meißen 1933.
73 Gurlitt, Bd. 1, S. 94 ff., bes. S. 103 f. 74 Woldenlar Lippert, Rezension zu Paul Haake, August der Starke, in: HZ
S. 1 1 1.
137 (1927),
1 02
Kanin Keller
über die Nöte des Daseins sich erhebenden Herrschers einer Zeit, die in ihren Anschauungen der unsrigen fremd ist, die uns aber ein reiches Erbe hinterlas sen hat, das wir dankbar genießen sollen. "75 Zwar kOlUlte und wollte man sich von moralisierenden Worten über Augusts Verhältnis zu den Frauen noch nicht ganz trelUlen, aber der Blick war doch nicht mehr ganz verstellt von Staunen und Abscheu über "Körperkraft, ins Mythologische ges teigert, erotische Potenz, triebhaft geübt"76, die so lange das Einzige waren, was über August den Starken für erwähnenswert gehalten wur de. Vennutlich spielte die in den zwanziger Jahren unseres Jaluhunderts er kennbare Differenzierung des Bildes von Männlichkeit77 eine Rolle dabei, daß die s ächsische Historikerschaft dieser Generation nicht (mehr) staunte und auch nidlt entsetzt war, aber das Unbehagen beim Blick auf August und die Frauen blieb. In schöner Eintracht bemerkten die Herren Kötzschke, l
11. von Preußen entwickeln können. "78 Augus t war also nicht allein
stark genug, Frauen zu erringen und Liebe ill einem anderen Maße "als Kon vention und Moral, ehemals wie heute, billigen" (Haenel) zu leben. Dieser Aspekt der Unmoral wurde viehnehr dadurch entschärft, daß er zugleich auch s tark genug war, den starken Frauen zu widerstehen - ein Grundproblem nüinnlichen Selbstverständnisses angesichts fortschreitender weiblicher Eman zipation auf den Punkt gebracht. Über den eben dokumentierten Stand der Reflexion über Augusts Person ist die Geschichtswissenschaft iln übrigen bis heute nur gerillgfügig hillausge kommen. Die Arbeiten Kar! Czoks beschreiben August zwar keilleswegs mehr als wUlloralischen Lüstling, der seillen Leidenschaften willenlos und wlbedacht folgte, sondem bieten Ansätze, seiner Rolle als Herrscher geredlt zu werden. Biographische Skizzen aus der Feder Karllieillz Blaschkes jedoch kolportieren deutlicher moralische Vorbehalte, die ilUl schlielllich ill eitlem Konferenzbei trag 1 994 sogar zur zusammfassenden Fonnulierung "August der Starke - ein
75 Brabant, August der Starke, S. 27. So Haenel, S. 23. Frevert, Mann und Weib, S. 33 f. 78 Brabant, August der Starke, S. 23; Hellmut Kretzsclullar, August der Starke, in: Ge stalter deutscher Vergangenheit, Potsdam-Ber\iu 1937, S. 335; Rudolf Kötzschke, August der Starke. Lebensgallg und Stellung in der deutscheu Geschichte, in: Ver gangeIlheit und Gegeuwart 23 (1933) 2, S. 87; Haenel, S. 12. 76 77
August ,der Starke'
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wertloser Mensch." veranlaßten.19 Und auch die literarische Behandlwlg der Person im Stile der modemen Yellow Press ist heute (vor allem in den Jallten seit 1 990) keineswegs verschwunden, wie das wlsägliche Werk Hennann Schreibers "August der Starke" (1 995 4. Auflage) ebenso belegt wie die ver schiedenen, Histörchen kolportierenden Werke aus der in einem Tauchaer Verlag erscheinenden Reihe "Walire Geschichten". Immerhin kann das ruldauernde publizistische ,,\Veiterleben" Augusts, daß sich seit mehreren Jallten auch im Bereich kommerzieller Werbung feststellen läßt, als Zeichen dafür gedeutet werden, daß der "MytllOS August" weiterlebt, wobei bis heute seine "Zügellosigkeit", das scheinbare und/oder tatsächliche Ausleben von Kraft, Prunklust und Sexualität, und in gewissem Maße auch sein damit verbwldener Ruf als Connaisseur in bezug auf KWISt, Kleidung, Bauten, Frauen die Gründe der von ihm ausgehenden Faszination zu bilden scheint. An diesen Aspekten vor allem können wohl bis heute Männer wld Frauen ihre eigene Sehnsucht nach Durchbrechen von Konventionen und vielleicht sogar Selbstverwirklichwlg festmachen und August damit bewußt oder wlbewußt als Wunschbild rezipieren. August wurde offenbar schon zu seinen Lebzeiten nicht nur in engeren Hof kreisen als Held zalllreicher Geschichten über Kraft, Pracht wld Liebe Ziel und Mediwn der Phrultasien von Männem und Frauen. Dessen war er sich wolll sogar in einem gewissen Maße bewußt wld beförderte diese Mytlusierung durch gezielte Stilisierung seiner Person wld seiner spezit�llen "Begabungen". Das so entstandene Bild entwickelte jedoch ebenso schnell offensichtlich ein Eigenleben, das die reale Person mehr und mehr verdeckte. Bezeichnenderwei se taucht der Beiname Friedrich Augusts zuerst in den dreißiger Jallten des 19. Jh. auf, als ein neuer, nicht mehr sozial, sondern in erster Luue biologisch do muuerter Begriff von Mäll1ilichkeit rul Bedeutung gewrulll. Mrul griff drunit auf ein in Anekdoten, Liedern, aber auch literarischen Texten des 18. Jh. kolpor tiertes Bild des Fürsten zurück, ulterpretierte es jedoch politisch wie persötilich mit den Maßstäben eUler neuen Zeit. Die dadurch vorprogrrunmierten Mißver ständnisse waren im hier dargestellten Fall vielleicht deshalb besonders ekla trult, weil zur für das 19. Jh. exotischen körperlichen Selbstdarstellung Friedrich Augusts der politische Abstieg Kursachsens von einer europäischen Mittel macht zur gerade noch vor der vollständigen Annexion bewalltten Randexi stenz lunzutrat. An der Entstehwlg des Mytl10s "August der Starke" waren Frauen keules wegs nur als Geliebte beteiligt; die Briefe hochgestellter Damen etwa, die An ekdoten und Urteile aus eigener Anschauung oder sonstiger Mitteilwlg wieder-
79 Die entschärfte Fassung dieser Ausfühnlllgen findet sich unter dem Titel "Kritische Beiträge zu einer Biographie des Kurfürsten Friedrich August I. von Sachsen" in: August der Starke und seine Zeit (= Saxonia. Schriftenreilie des Vereins für sächsi sche Landesgeschichte 1), Dresden 1995, S. 7-13.
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weitergaben, waren mit Sicherheit wichtige Übermittlungsmedien. Dann blieb die Reflexion über August als historische Person und die Arbeit am My thos jedoch über 250 Jahre allein Männern überlassen; allerdings steht zu ver muten, daß auch artige Leserinnen sich schaudernd am Zerrbild des galanten um
Königs und seiner sündigen Mätressen erfreuten, so wie die Männer, die im 19. Jh. öffentlidl ein Schreckbild des frauenverachtenden Lüstlings zeichneten und ihn heimlich vielleicht als Vorbild des Kunstkenners wld vielseitigen Liebha bers s ahen. Das 20. Jh. dagegen arbeitete eindeutiger auf die Wiederentdeckung der historischen Person hin, konnte aber politische und moralisdle Grenzen des Blicks noch nicht völlig überwinden. August war somit in der Sicht des 1 8 . )h. noch Herrsdler und Mann, i n der d e s Jh. sucht ihn - bislang vergebens.
19. )h. fast nur nodl Mythos; das 20.
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Quellenanhang
1. Johann Michael von Loen, Gesammelte kleine Schriften, Teil 2, Frankfurt am Main-Leipzig 1751, S. 187-195: "Abbildung des Königs in Pohlen inl Jahr 1723" Man kann sagen, daß die Natur diesen Fürsten zu einem König gemacht, und daß diejenigen Unrecht hatten, die ihm diese Würde so lang verweigert haben. Der Bau seines Leibes ist s tark, wltersetzt und wohlgewachsen. Alle Gliedma ssen an demselben haben eine abgemessene [I] Verhältnis. Die Züge seines Gesichts fornuren eine solche Bildung. die mit ei1Ullal etwas grosses und erha benes ausdruckt. Man findet darinnen luchts als männliche Zeichen: einen grossell Mund, starke Lefzen und Augenbraunen [I], eine hohe Stirne und breite Kienbacken. Nur die Augen mischen in ihr lebhaftes Feuer einen Blick, der huldreich und freundlich ist. So hat die Natur diesen KÖlug gezeichnet. Die Beschaffenheit seines Ge müdls kommt damit vollkommen überein. Er hat ein ganz königliches Wesen. Er ist tapffer, großmüdug, I angenehm, gefällig, und der liebenswürdigs te Fürst von der Welt. Ich scheine hier dem König zu schmeicheln. Ich will nuch mit seinen Feh lern rechtfertigen. Er hat seine Religion verändert, er ist den \Vollüsten erge ben, er übertritt das sechste Gebot, ohne einmal Böses zu denken. Was kann man luer zu seinem Rulml anmerken, olme den Lastern das \Vort zu reden? Augus t hat gemeine Fehler, und ungemeine Tugenden. Er ist ein Mensch, aber dabey ein grosser König. Seine Felller sind Felller seines gleichen: sie haben nichts wildes, nichts grausames. August, s agt man, hat die Religion verändert 1 Ich würde es zugeben, wann ich gewiß wüste, daß er zuvor eine gehabt lüitte. Es ist bekatult, daß er von Jugend auf ein kleiner Freygeist war, der lucht mehr glaubte, als was viele WIS rer Fürstenkinder insgemein zu glauben pflegen: nemlich daß ein Gott im Hinullel sey, sie aber, als Fürsten auf Erden, dlUn könnten was sie wollten. August hatte denUlach, als er zu der rönuschen Kirche übergieng, eigendich noch keine Religion; man kll1Ul also nicht von ihm sagen, daß er die Seuuge verändert hätte; er nalml nur eine lI1l. \Vie eifrig aber er sich darumen erzeiget, lehret unter lI1ldern das Exempel nut seulem grossen Hund, dem er den Rosen Crll1lZ
um
den Hals hieng, da illll seul Beichtvater erimlerte, der Messe mit
beyzuwollllen. Wir I kömlten dergleichen Begebel111eiten noch verschiedene lI1lführen, um zu beweisen, daß die Herren CadlOlicken eben keUlen gar eifri gen Proselyten an Sr. Königl. Majestät gemacht haben.
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Daß August den \Vollüsten ergeben ist, solches hat er ebenfalls mit den mei s ten Grossen gemein. Er ist von einem srulguinischen Temperrullent; doch muß mruI dieses von ihm anmerken, dall er bey allen seinen Lustbarkeiten, wo ruIdre sich vergessen, sich selbsten nie vergisset. Er besitzt sich vollkonullen und zeiget in allem daß er König ist. Ich unterwinde mich nicht seine Liebeshändel zu rechtfertigen; dergleichen Ausschweiffungen lauffen deutlich wieder die Gesetze WIseres Glaubens, welcher auf ein keusches wId unschuldiges Leben dringet. \Ve1UI man aber bey einem Laster auch die Tugend loben könnte, so müste mrul s agen, daß August seine Liebhabereyen vortrefflich zu wehlen W1sse. Es sind Ausschweiffungen, sie mögen so schön seyn als sie wollen; dari1UIen aber ist der König zu loben, daß er nicht, wie es ehemals der Churfürst sein Bruder, wegen der Neitschin getilrul, seiner Gemahlin, der Königin übel be gegnet, ja daß er nicht einniahl derselben etwas von seiner Hochachtung und Ehrerbietung entziehet: August ist in der That großmütlug, und es mull ilUl jedesmal ein grausrulles Leiden kosten, so offt il111 eine neue Leidenschaft lun reisset, welche das I Opffer der vorhergehenden verlanget. Wort und Zus age mit den tlleuersten Versicherungen wId Eydschwüren gelten luer lucht länger, als die Neigungen des Königs. Er ist damUlen wie andre Menschen, welche etwas zukünftiges versprechen, das nicht in illrer Macht stehet, um einer ge genwärtigen Lust zu geluessen, die sie mit allzustarken Reitzungen überfällt. Die Schönen glauben dasjenige was sie wünschen, und werden betrogen: sie beklagen sich darüber mit Unrecht, weil sie in gleichen Fällen es ihren Liebha bem eben so machen. Wollten wir aufrichtig nUt einrulder IHUldeln, so müsten wir WIS von unsem zukünftigen NeigwIgen gar nichts versprechen, wie jener gewissenhaffte Liebhaber, dessen Braut deswegen wieder zurück gehen wollte, weil er sich weigerte zu schwören, daß er sie beständig lieben würde; druUl dieses, sprach er, wäre eine Sache, die mehr auf sie, als auf ill11 ruIkfulle. In der That: die Liebe Hisset sich zu nichts binden, sie beherrschet uns, auch wider unsem Willen. Mrul muß eine s tarke Seele haben, we1UI mruI Meister von iluen Reitzungen seyn will. Sie setzet die Könige aus ihrer Hoheit, sie macht die Helden zu Sclaven, und die Weisen zu Thoren. Hier siehet man das wahrhaffte Kleine in dem eingebildeten Grossen. Eva zeiget dem Adam die verbotene Frucht, und er lies sich verführen. Ich habe alle die berühmten LiebhabemUlen des Königs gesehen. Die erstere war die Gräfin Königsmarck, die Mutter des berüll11Iten Graf Moritzens VOll Sachsen: sie war im Jalu I 1 7 1 8 am Hof zu Dreßden: sie und die FürsWI von Teschen hatten beyde von der galruIten Welt,
in welcher sie eine kurze Zeit
ilue fuUlelUlilichkeiten hatten verehren sehen, iluen Absclued beko11U1Ien. MruI
Sall kaum mehr auf iluen Stimen noch die Spuren der Möglichkeit, daß sie auf dem Schauplatz dieses galruIten Hofs in einigen Auftritten die vomehmsten Spielem111en gewesen wären. Sie erschienen jetzo nur noch als zwey plllloso plusche Zuschauerinnen, denen die Höflichkeit, wegen des traurigen Verlusts
August ,der Starke'
ihrer vornlaligen Annehmlichkeiten, noch
mit
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ihrem Witz und ihrer starken
Vernunft zu schmeichlen suchte. Die Gräfin Cosel sahe ich als ein junger Stu dent in Halle, wo sie als eine vom Hof verwiesene Liebhaberin des Königs sich hinge flüchtet hatte: sie hielte sich daselbs t ganz verborgen in einer abgelegenen Strasse bey einem Bürger, unweit dem Ballhaus auf. Ich gieng fast täglich zu einem guten Freund, der gleich neben bey wohnte. Das Gerüchte breitete sich aus, daß sich daselbst eine fremde Schönheit aufluelte, die ganz geheim lebte. Das Studentenvolk ist vorwitzig. Ich salle sie etlichmalen mit gen Hinllnel aufgeschlagenen Augen in tiefen Gedanken hinter dem Fenster stehen; so bald sie aber gewallr wurde, daß man sie betrachtete, so trat sie erschrocken zurück. Ausser den Leuten, die ihr das Essen über die Strasse brachten, sah man lue mand, als einen wohlgekleideten Menschen bey ihr aus wld eingehen, den man für ihren Liebhaber hielte. Man ka1l11 keine I schönere und erhabnere Bildung sehen. Der Kunl11ler, der sie nagte, hatte illr Angesicht blaß und ihren Blick sell1lend gemacht: sie gehörte wlter die bräunlidlen Schönen, sie hatte grosse, schwarze, lebhaffte Augen, ein weisses Fell, einen schönen MWld und eine fein geschnitzte Nase. Ihre ganze Ges talt war eÜl1lell11lend, und zeigte etwas grosses und erhabenes. Es muß dem KÖIUg lucht leicht ge\vesen seyn, sich von ihren Fesseln loszu machen ...
I ...
Die Gräfin von Dänhof war diejeluge Heldin, weldler endlich die schöne Coselin weichen muste: Sie kam derselben weder an Schönheit noch an Ge müthsgaben bey. Die Gräfin von Dänhof hatte als eine Tochter des Croll11lar schalls, den stärks ten Anhang in Pohlen. Der Feldmarsdlall Flenlllung, den die herrschsüchtige Coselin gegen sich aufgebracht hatte, suchte sie zu s türzen, und die Gräfin von Dänhof darzu zu gebrauchen. Die Politic und des Königs natürlicher Wankelmudl mogte [I] also wohl den meisten Andleil an dieser Liebe haben. Die Gräfin von Dänhof hatte eine frische Farbe, ein munteres Aug wld eüI aufgeraumtes P] Wesen: I sie lachte und scheckerte gern, wie das rechte sächsische Wort lautet: Papogayen [I], Affen, Mohren, kurzweilige Leute und dergleichen waren illr Zeitvertreib. Viel Geist wld hohe Gedanken hatte
sie eben lucht. Dodl war sie sehr lUlgenehm, und hatte keinen Mangel an guten Einfällen. Sie liebte den KÖIUg sehr, und k01l1lte für Schrecken oll1lmächtig werden, wann sie sich nur vorstellte, ilm zu verlieren: sie machte ilml im übri gen keinen Verdruß, mengte sich in keine Staats-Geschäfte, und war weder herrschsüchtig noch eifersüchtig; sondern ihre ganze Neigung gieng dalun, um den KÖIUg zu vergnügen. Ihre eigne Schwester, die Littauisdle Feldherrin mus te sogar mit darzu behülfflich seyn. Diese beyde Schwestern waren inl11le r um den König. Die Littauische Feldherrin war klein und zart von Person, aber nicht übel gebildet: sie hatte Mudl für zehen Männer, und man sagt, daß sie ellllllalIl die Post von Warschau bis nach D anzig geritten sey. Sie flog, Wall1l sie zu Pferd sas.
l OS
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Das Glück der Dänhofin dauerte nicht so lang, als dasjenige ihrer Vorgänge rin. Die schöne Dieskau kam im Jahre 1 720 illl die Reihe der königlichen Buh lerinnen. Dieses Fräulein vereinigte j11 ihrer Gestalt alle Reitzungen und Schönheiten einer Sächsin; der prächtigste Bau des Leibes trug einen Kopf den millI nicht schöner malllen killlll. Die Augen blitzten von einem Feuer, das mehr Unschuld als Ueppigkeit zeigte; allein Geist und Lebhaftigkeit hatte sie ungleich I weniger, als ihre Vorgängerillllen, deswegen muste sie auch bald hemach der Fräulein von Osterhausen weichen, die zwar nicht so glänzend schön, aber dargegen ein so illlllehmliches, schmeiclllelldes Wesen hat, daß sie das Herz des Königs bis illl sein Ende dürfte behaupten, Willlll die Triebe der Buillerey sich nicht mit den zWlehmenden Jallren des Königs erschöpfen, und ihn in einer Sache kaltsinniger machen werden, darinnen er sonst ein so grosser Held, als grosser König ist. 2. Friedrich August von Sachsen in den Briefen Elisabeth
Charlottes von Orleans
Auswalll aus den beiden Briefeditionen: Edtlard Bodelna/l1l (Hrsg.), Aus den Briefen der Herzogin Elisabeth Charlotte von Orl!:illls illl die Kurfürstin Sophie von HatlllOver. Ein Beitrag zur Kultur geschichte des 17. und 1 B. Jallrhunderts, 2 Bde., HatlllOver 1 B91 Wilbebn Ltldwig Holfalld (Hrsg.), Elisabeth Chadotte, Herzogin von Orleans. Breife illl die Raugrafen wld Raugräfillllen zur Pfalz aus den JallCen 1 676 bis 1722, 6 Bde., Stuttgart 1 867-1881 23.09.1692 (Bodemilllll 1, 1 64) [...] Es wundert, daß printz Friderich von saxsen so wWlderlich undt baurisch geworden; wie Haxthausena) noch bey ihm war, war er nicht so; er hatt mir aber bekent, daß seines printzen humor ihm groß mühe kostete undt daß er ihn alß müste von die pagen undt laquayen abhalten, daß er geme bey ihnen were. Man sicht wenig mäl.ll1er, so sich von ihren weibem corigiren laßen, also glaube ich nicht, daß printz Fridriches zukünfftige gemahlinb) Ihro Liebden corigiren wirdt. [...]
a) Christian August von Haxthausen (1653-1696), Hofmeister des Prinzen und Jugend freund der Herzogin. b) Friedrich August ehelichte am 10.1.1693 Christiane Eberhardine von Brandenburg Bayreuth (1671-1727).
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24.04. 1695 (BodematUl 1, 215 f.) [. ..] Ich habe allezeit in acht genohmen, daß alle die mätUler, [welche] allezeit gegen die coquettereyen, affectereyen undt schminck reden, doch, sobaldt sie
ein solch weib sehen, darvon verliebt werden; wundert mich also gar nicht, daß
der Churfürst von Saxsen endtlich in das freüllen Königsmarckc) verliebt ge worden ist. [... ] 30.09. 1 696 (BodematUl 1, 257) [... ] Der Churfürst von Saxsen muß auff einmalll die lection: ,seit fruchtbar undt mehret euch' sehr observirt haben, daß alle datnen, so bey ihm liegen, so mitt dicken beüchen davon kommen.d) Weill er die Königsmärckin so mena girt, muß er sie woll lieb haben. [...] 1 6. 1 0. 1 696 (BodematUl 1 , 258) [...] Es were zu wünschen, daß die Churfürstin von saxsen, so j etzt regierendt ist, einen Churprintzen bekommen möge. Der Churfürst von Saxsen ist noch jung genung, umb braff starck zu sein; der Keyßer hatt kein unrecht, den teller, so er gerolt, undt den becher, so er entzwey getruckt, in die kunstkammer zu thun, denn eine solche s tärcke ist etwaß rares. Dießer CllUrfürst erspart viel, die Königmarckin nicht vor seine declarirte metres zu erkennen. [...] 4.04. 1 697 (Bodematl1l 1 , 283) [...] Wie Ihro Liebden [Friedrich August] hir waren, hatten sie eine artige taille, das gesicht aber war nicht allgenell1U, hatt gar einen großen mundt; er war schon sehr starck, er nalml ein groß lang undt schwer rohr undt hube es vom
aluu rohr mitt zwei finger von der erden auff, alß welUlS ein stecknadel
were; niematldt k01Ulte es ihm nachtllUn, nimbt mir also nicht wunder, daß er nun, da er mitt dem alter noch viel stärcker muß geworden sein, einen silbem teller rollen katUl We1lll die datnen hir dießes Churfürsten perfection und stercke gewust hetten, würden sie ihm greülich nachgeloffen sein. [... ] 9.08. 1 702 (Holland 1, 305) [...] Wen man woll undt content, tImt man woll, keinen atldem standt almzu
nehmen. Hette der gutte König in POhl dieße maxitue gefolgt, stöcke er nicht in dem unglück, worinen Ihro Majestät nun seitl; den man hatt hir zeitung beko11U1len, daß der König in Schweden mit 1 2000 matl deß Königs itl Pom armee
itn grundt gesclllagene)" so noch ei1l1nalll so starck war. Der König itl
c) Gräfin Maria Aurora von Königmarck (um 1668-1728). d) Im Oktober 1696 wurden erst der Kronprinz Friedrich
August (1696-1763), dann Graf Moritz von Sachsen (1696-1750), späterer Marschall von Frankreich, geboren. e) Gemeint sein dürfte die Schlacht bei Klissow im Juli, August wurde dort freilich keineswegs verwundet
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POhl solle verwundt undt dame ben verlohren sein, daß man nicht weiß, wo Ihro Majestät hinkommen sein. Were er hübsch Churfürst von Saxsen geblie ben, so were
ihm diß nicht widerfahren. Lenor sagt hierauff: ,Wens der geiß zu
woll ist, geht sie auff eyß und bricht ein bein'. [. . .] 8.03.1705 (Bodemalln 2, 102 f.)
[...] Der König in Poln wirdt bald ein serail lllachen können von allen seinen maitressen mitt ihren kindem. Wo ist aber die Königsmarckin mitt ihrem sohn hinkommen ? die sollte auch woll darbey sein. Mich deücht, daß ein polnischer graff ein doller heürath vor eine princes von Saxsen Weissenfels ist.
NWI
das
gifft in Saxsen gemein geworden, deücht mir, daß es gefährlich vor den König in Poln ist, einem edelmann seine schöne fraw f) genolmlen zu haben, mögte sich woll aluu König rechen. Es scheindt, der König in Poln denckt alm nichts
alß bmtaliteten; das hatt il1l11 mein gutter freündt Haxthausen nicht gelehrt. [...] 26.03.1705 (Bodemann 2, 103)
[... ] Man könnte bey dem König in Poln, Augustus, das sprichwordt verthre hen: ,Wo ein aß ist da sambIen sie die adler' undt sagen: ,Wo der adler ist da sambIen sie die rabenäßer", weillen er alle sein llletressen so wub sich hatt. [...] 3.10. 1 706 (Bodemann 2, 146) [... ] König Augustus ist woll unglücklich, aber hette er das gelt, das er mitt den llletressen ge freßen und ihnen geschenckt, almgewendt, eine gutte amlee zu unterhalten, konnte er sein landt und leütte gegen den König zu Schwedeng) verthädigen. [. . .] 2.12.1706 (Holland 1, 489) [...] Ich habe in meinem sin mein leben von nichts abscheülichers gehört,
alß
den frieden, so könig Augusts gemacht.h) Er muß voll undt doll geweßen sein, wie er die articlen eingangen ist; vor so ehrvergeßen hette ich ilm mein leben nicht gehalten. Ich schäme mich vor unßer nation, daß ein teütsche König so unehrlich ist. [...] 1 5.08. 1 709 (Bodemann 2, 222) [...] Die Saxsen haben woll recht, nicht gem zu sehen, daß illr Churfürst wi der nach Poln geht, derul das minirt sie vollendts, die aone leütte. Das wirdt
f)
Ul"Sula Catherina Gräfin Lubomirska, Mätresse Friedrich Augusts und Mutter des Chevalier de Saxe. g) Kar! XII. Von Schweden (1682-1718) hatte inl Zuge des Nordischen Kreiges im Sonuner Kursachsen besetzt. h) Gemeint ist der Frieden von Altraustädt vom 24.09. 1706, in dem August u.a. auf die pohusche Krone verzichten mußte.
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ein bitteres scheyden geweßen sein zwischen König Augustus undt die gräffm Cosse}i); die ist nun aber woll reich genung, [König Augus� wirdt nun woll eine neüe bekommen, so ihn auffs neüe ziehen wirdt. Es ist woll ein heBlich ellendt leben, das er führt. [...] 21.01.1718 (Holland 3, 176 f.) [...] Ich kann nicht sagen, wie sehr mich die Königin in Poln jamert.k) Dieße heüffige threnen konnen ihrem hernI sohn kein glück bringen. Ich weiß deß Königs in Poln prophezeyung nicht, alH daß sein geschlegt, seine linie, gantz aussterben solle, undt da ist groß aparal1tz zu; den ein herr, der sein leben so abscheülich desbeauchirt hatt, wie dießer, muß mehr im 50 jahr verschließen sein, alß ein ander in 70. Also, obgleich die Konigin sterben sollte, würde der König nicht viel erben mehr zu hoffen haben. [...] 10.12.1719 (Holland 4, 345) [...] Franckreich hatt den säxischen Churfürsten abscheülich geschadt. Mein gutter freündt Cplfistian] A[ugust] von Haxsthausen hatt mir es offt mitt thre nen geklagt, daß sein printz zu Paris so unbal1dig geworden, daß er nicht mehr mitt ihm zu recht kommen könne. So baldt junge kinder in die desbeauchen fahlen, ist illl1en kein laster zu viel, wo sie nicht in fallen, undt werden recht bes tialisch. [...] 1721 (Holland 6, 59) [...] Aber der König in Poln hatt bey seiner fraw mutter todt woll erwießen, daß er kein [gut] naturel hattI) undt nicht weiß, waß es ist. Alle leütte, so ahn nichts alß zeitverdreib gedencken, fragen nach nichts. Ich dancke eüch, mir die wirdtschafftm) geschickt zu haben. Wen er nur wirdtschafften hilte, würde ich ihn nicht zu alt dazu finden; denn ein könig, wie ein ander mensch, kann nicht allezeit serieux sein, muß woll nach seinen großen ein wenig divertiren; aber zur gallenterie fmdt ich ihn zu alt, konnte woll laßen, noch maitressen zu ha ben, den er ist nWI im mayen 51 jahr alt. [...]
i) Anna Constalltia von Cosel
(1680-1765)
"überlebte" als Mätresse jedoch Friedrich
Augusts Wiedereinsetzung als König in Polen in diesem JallC.
k) Als 1717 die Verlobung von Augusts einzigem legitimen Sohn mit einer kaiserlichen Prinzessin gesichert war, wurde dessen bereits 1712 vollzogener Übertritt zum Ka tholizismus bekannt gegegeben. Seine Mutter aber blieb bis zu ihrem Tod Lutherane rin und galt als "Betsäule Sachsens". 1) Man mutmaßte, daß August auch deshalb die Konversion seines Sohnes geheint gehalten habe, weil seine Mutter Anna Sophia (1647-1717) zeitlebens Protestantin und ein Beichtkind Philipp J acob Speners blieb. m) Veonutlich ist ein Stich oder eine Beschreibung einer Dresdner Festlichkeit gemeint, eventuell noch der glänzenden Hochzeitsfeierlichkeiten des Jahres 1719.
Angela Taeger
Die Karrieren von Sodomiten in Paris während des 18. Jahrhunderts "Qui erre contre la foi (...) ou qui fait sodomiterie, il doit etre brule. "1 Die sodomie2, die Homosexualität unter Miinnem, gehört in Frankreich wie an demorts traditionell zu den Kapitalverbrechen. Die fomlale NOffilen trans portierenden Quellen sehen bis zum Ende des 18. Jaluhunderts ohne Aus nalune die Todesstrafe, in der Regel durch Verbrell11en vor. Dies gilt für die Strafrechtsbestimmungen aus römischer Zeit ebenso wie für die kirchenrechtli chen, für die zalureichen und disparaten, nur regional verbindlichen Ur teilssammlungen, die coutumes, genauso wie für die wenigen Erlasse der zen tralen Gewalt und für Festlegungen, die praktische Juristen wld Kommentatoren des 16., 1 7. und 18. Jaluhunderts treffen. Die rigide Strafzu messung erfährt bis in die zweite Hälfte des 18. Jallrhunderts hinein zumeist die eine, stereotype Begründung, mann-männliche Sexualität sei Häresie, ein Verstoß gegen die göttliche Ordnung, die Vorsehung oder die moralische De temuniertlleit des Menschen.3 Vierter Januar 1 750. Paris, rue Montorgueil, Höhe rue St.Sauveur gegen 21.00 Uhr. Die Wache, geführt von Julien Danguisy llimmt zwei Männer fest. Es handelt sich um Bruno Lenoir, der, aus Douai stanunend, seit drei Jallfen in Paris lebt, und Jean Diot aus St.Antoine. Über Alter und Beruf der beiden Männer geben die Quellen unterschiedliche Auskünfte. Widersprücliliches liegt ebenso über den Anlaß wld die Umstände iluer Festnal1111e vor. Teile des Vollzugs, in den die beiden geraten, läßt das polizeiliche und jurisdiktionelle Schrifttum im Dunkehl.4 Eines ist sicher wld übereinstin1111end überliefert Am Montag den 6. Juli werden die beiden Männer auf der Place de Grt!ve 1
Coutumes de Beauvaisis 1285; cf. Claude Courouve, Les gens de la Manchette (17201750). Paris 1978, 12. VgI. zu diesem Beitrag ausführlich die Habilitationsschrift der Verfasserin "Intime Machtverhältnisse. Moralstrafrecht und administrative Kontrolle der Sexualität im ausgehenden A.1lcien Regime". Carl von Ossietzky Universität, Fachbereich 3, Oldenburg 1997. 2 Da "Sodomie" im deutschen Sprachraum verbreitet allein die Unzucht mit TIeren bezeichnet, wird im Folgenden ausschließlich der französische Begriff "sodomie" für gleichgeschlechtliche, insbesondere mann-männliche sexuelle Handlungen verwendet. 3 Christian Gury, L'homosexuel et la loi. Lausanne 1981, passim. S. auch Anhang 1. 4 Im Folgenden: Archives Nationales: Y 10132; X2A 906A; X2A 1 14; Archive de Ja Bastille/BibliodlC!que de I'Arsenal: Ms. 1 1.717.
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Angela Taeger
hingerichtet; mit ihnen gehen die Beweise ihrer Schuld in Flammen auf. Sieben Fuhren Kleinholz wld 200 Reisig- und Strohbündel bilden den Scheiterhaufen, auf dem LellOir und Diot, an Pfähle gebunden, wn 17.00 Uhr verbrannt wer den. Sie sind bereits tot. Man hat sie noch vor dem Eintreffen auf der Place de GC!!ve erdrosselt, gleichwohl vorgegeben, ihnen erst vor der wartenden Mensdlenmenge das Leben zu nehmen. Das Feuer erlischt, die Asche wird in alle Winde zerstreut. Das Hinrichtwlgsritual ist vollzogen. Allerdings vernussen versierte Beobachter einen konstitutiven Bes tandteil, denn luemand teilt den Zusdlauern den Gcwld für das Spektakel, das Urteil oder das Verbrechen mit, dessen Diot und Lenoir sich schuldig gemacht haben. Was passiert zwischen dem
4. Januar und
dem 6. Juli 1 750? - was wird BCWlO
Lenoir und Jean Diot zur Last gelegt? "Sodomie" ist im Inventar des Parlement verzeichnet. Das erstinstanzliche Gericht, das Chätelet, erkennt am 27. Mai 1 750 auf "sodomie" und entspricht mitlun der vom procureur general du roi erhobenen ö ffentlichen Klage. Diot und LellOir seien lebendig zu verbrelmen. Am 5. Jwli bestätigt das Appellationsgericht, die chanlbre crinunelle des Pariser
ParIement, die Tournelle, die Entscheidung des Chatelet nllt einem Vorbehalt. Es verlangt, die Verurteilten heimlich zu erdrosseln, bevor sie verbrannt wer den. Anlaß für die Anklageerhebung im Fall Diot/Lenoir sind die Aussagen Julien Danguisys, des Leiters der am Abend des
4. Januar
in Paris patrouillierenden
Wache. Ilml seien, so erklärt Oanguisy noch in derselben Nacht gegenüber dem Polizeikommissar, in der rue Montorgueil zwei Männer "in unanständiger und verwerflicher Haltung" aufgefallen. Einer der beiden sdlien betrwlken. Ein zufällig runzukonmlender Passant habe ill11 in der Interpretation des be obachteten Verhaltens insofern bestätigt, als er von Verbrechen zwischen den beiden Mätmern berichtete, die schriftlich luederzulegen, dem protokoll führenden Konunissar die Schicklichkeit verbietet. Also habe er, Danguisy, die beiden verhaftet wld dem KOllmlissar vorgeführt.
Bruno Lenoir, gleich
anschließend zu den Vorgätlgen in der rue Montorgueil vernommen, gibt an, den zweiten Verhafteten erst vor einer halben Stunde kennengelernt zu haben. Oiot habe ilm angesprochen, ilm gedrätlgt, mit ihm zu konunen, um sich schließlich, als er sich diesem Ansinnen widersetzte, auf offener Straße zu entkleiden - "et
a
comnlls sur lui des indecences". Darüber sei die Wache llin
zugeko11Unen. Weder habe er sich ausgezogen, noch sich in einer "unanstätl digen Haltung" befunden, erklärt demgegenüber Jean Diot ebenfalls in der Nacht des
4. Januars.
Vielmehr habe er Lenoir, den er auf einer Türschwelle in
der rue Montorgueil schlafend entdeckte, für der Hilfe bedürftig gehalten und sich wn ilm gekümmert. Nach fünf Tagen Haft werden Diot wld Lenoir im Gefä11gtlis ein zweites Mal vernonunen. Lenoir faßt seine noch anl Tatabend abgelegte Aussage nun präziser und gibt ihr, indem er eigene Beteiligung und Schuld einräumt, eine überraschende Wendung. Diot habe ilm in der rue
Sodomiten im Paris des 18.Jahrhunderts
115
MOlltorgueil zur "illfatllie", konkret ZWll Analverkehr aufgefordert. Er habe sich bereitgefunden, den aktiven Part zu übemehmen und Diot habe sich
seiner Kleider entledigt. Doch seien sie in ihrem Vorhaben
jäh
unterbrochen
worden durch das Auftauchen der Wache. Jeatl Diot, so teilt die Quelle lapidar mit, leugnet diesen Sachverhalt. In der Aussage eines Polizeioffiziers, ei.ner nur
mittelbar überlieferten Zeugenbeobachtwlg und zwei, zu partiell widersprüch
lichen Ergebnissen führenden Vemehmungen der,Angeklagten erschöpfen sich Ermittlungsstand und Beweislage im Fall Diot/Lenoir. Grundlage und Gründe
genug, um atll 27. Mai 1750 gegen die beiden MätUler das Todesurteil auszu
sprechen. Wir erfallCen von dieser erstinstatlzlichen Entscheidung nur aus den
Aufzeichnungen über die Wiederaufnallme des VerfallCens Diot/Lenoir in zweiter Ins tanz vor der Strafkatllmer des Parlement am 5. Juni 1750. Die Rich
ter der Toumelle würdigen alles vom Cllihelet beigebrachte Material. Darüber
hinaus untemelUllen sie eine neuerliche Befragung der Delinquenten, bevor sie
ilu Urteil fällen. Bruno LellOir - er ist seit fünf Monaten in Haft, er hat zwei völlig wlterschiedliche Berichte über den Tathergang gegebeil, ohne seine
Verurteilung abwenden zu können - verhält sich apathisch, scheint zemlürbt,
verwirrt: "n'en s ait rien", "ne sait ce qu'on veut lui dire" - mehr ist von ilUll
nicht zu erfallCen. Jeatl Diot hingegen atltwortet konzentriert. Er dementiert,
interpretiert für sich entlastend, was an Indizien gegen illll vorgebracht wird. Keiner der beiden katlll das Gericht von seiner Unschuld überzeugen. Das erstinst�U1zliche Urteil wird bestätigt wld atll 6. Juli vollstreckt.
Die ordentlichen Gerichte setzen um, was das gewolmte Recht gebietet; alle im 1 8 . Jahrhundert verfügbaren Nonnen zum Straf- und zum VerfallCensrecht bündeln sich in dem Vorgatlg Diot/Lenoir - allerdings nur noch dieses �ine Mal. WällCend des 1 8. JallChwlderts führen die ordentlichen Gerichte ganze neun Prozesse gegen Sodomiten. In nur fünf dieser Verfahren werden Todes
urteile verhätlgt, dabei in vier Fällen wegen erschwerender Tatumstätlde (Mord, Raub, Vergewaltigung... ). Einmal nur, gegen Diot und Lenoir, konullt das re pressive Satlktionssystem mit gatlZer Härte und in vollem Umfatlg zur Anwen dung.5 Faktisch bedeutungslos, wird es durch ein konkurrierendes rechts- wld
sexualpolitisches Konzept überlagert wld VOll spezifisch interessierten Rechts
anwendem systematisch wlterwatldert. Ein kurzer Nebensatz der großen straf
und verfallCensrechtlichen Neuordnwlg von 1 670; der OrdOnnatlCe criminelle6,
erklärt die Häresieverbrechen, und mit ilUlen die sodomie, zu einem cas royal.
Die ordOlUlatlCe unterstellt sie nicht, wie zu erwarten, den königlichen Gerich-
5
Archives Nationales: X2A 906A; vgl. Anhang 2; cf. Maurice Lever, Les buchers de
Sodome. Paris 1985, passim; Michel Rey, Justice et sodomie a Paris au XVIII' siede, in: Jacques Poumarede; Jeau-Pierre Royer (Hg.), Droit, histone et sexualite. Lilie 1987, 175; David A. Coward, Attitudes to Homosexuality in Eighteenth-centulY Frauce, in: Journal of Europeall Studies 10, 1980, 242f. 6 Artikel XI; vgl. Anhang 1 .
116
Angela Taeger
ten, sondem als Verletzung der öffentlichen Ordnwlg und Sicherheit - der Polizei. Beiläufig gerät die Todsünde der sodomie zu einer profanen Ord nWlgswidrigkeit; beiläufig nimmt die Ordonnance criminelle vorweg, was die Gesetzgeber 1791 selbstgeHillig als revolutionäre Errungenschaft feiern werden (s. Anhang
1).
Allerdings ändert Ludwig XIV. in seinem Refonllwerk explizit
nichts an den für sodomie üblichen Sanktionen, so daß die über Strafen an Leib und Leben befindenden Instanzen inl Prinzip auch weiterhin die für sodomie zuständigen bleiben. Der Erlaß eröffnet lediglich die Möglichkeit einer altemativen Beurteilung und Verfolgung von Sodomiten, gibt nur inlplizit einen konkurrierenden Auftrag, dem die gerade (1667) eingerichtete Pariser Polizei keineswegs beiläufig folgt: 1 749, inl Jallr vor der Hinrichtung Diots und Lenoirs, müssen sich 234 Männer, gleichgesdl1echtlidler Handlungen be zichtigt, vor der Pariser Polizei venUltworten. Die Zahl der polizeilich behan delten Fälle wächst stetig. Sie beträgt 1 784, im Jahr nach der letzten Verbren nung eines wlter anderem der sodomie Angeklagten, rund 700 und wird für den Zeitraum von 1700 bis 1780 auf 40.000 geschätzt. 7 Welchen Charakter, welches Ziel hat das Vorgehen der Polizei gegen Sodo nuten? Ist die polizeiliche Behandlung von sodonue als einer Ordnungswidrig keit nicht lediglidl ein versdl1eierndes Etikett für ein nur minder repressives Verfallfen, als es das Strafrecht vorsieht? Der erste Blick auf die Quellen scheint diese Annallme zu bestätigen: Im Ar chiv der Bastille finden sich Aufzeichnungen über Sodonuten, die aufgrund einer "lettre de cachet pour affaires de police" dort jahrzelUltelang einsitzen und nicht selten anschließend des Landes verwiesen oder in andere Haftan s talten geschickt werden.8 Schon der zweite Blick aber relativiert diesen Be fund, denn es fmden sich zum einen wlter den Daten aus der Bas tille, die von
1700
bis 1 789 lückenlos überliefert sind, bereits ab
1729
keine Sodomiten
betreffenden mehr und insgesanlt nur 45 Fälle, zum anderen aber, wlter einer anderen Registratur, mehrere tausend Akten über Männer, die die Polizei wegen sodomie verhaftet, jedoch lediglich verhört, um sie dann wieder auf freien Fuß zu setzen. 1 2. Dezember 1 740, nachmittags gegen drei Uhr in Paris auf dem Montmar tre. Ein Mann namens Fran<;ois taucht auf. Er ist Händler in einem Etablisse ment, das "La petite Lotterie" genatUlt wird; er wolUlt in der Rue Des Bou langers in der zweiten Etage zur Untermiete. Fran<;ois geht, die wenigen An wesenden eingehend mustemd, einige Male auf und ab. Schließlich nähert er sich einer mälUIDchen Person, deren Natlle unbekatlllt ist, nicht jedoch deren
7 8
Archive de la Basrille/Bibliotheque de l'Arsenal: Mss.
10.254 - 10.260.
Dazu u.a.: Bibliodleque Nationale: Nouvelles acquisitions f[atl�aises 189 1 sowie die Collection Clairatllbault 983 - 986.
Sodomiten im Paris des
1 17
18. Jahrhunderts
Neigung: ein "inffulle", der die Buttes Montmartre häufig besucht. Die beiden Männer verständigen sich kurz und gehen gemeinsam ins Gebüsch. Dort lassen sie sich nieder und masturbieren. Schließlich entfernen sie sich. Girard, ein polizeilicher Ermittler, der auf dem Montmartre seinen Dienst versieht, be obachtet die Szene .. Nachdem er die Identität von Fran<;:ois erkwldet und veri fiziert hat, führt er ill11 Inspektor Sim01Ulet vor. In dessen Anwesenheit kon frontiert er Fran<;:ois mit seinen Emlittlungen. Am
24.
Dezember legt Girard
ein Protokoll an über sein Vorgehen und die Beobachtungen Frans:ois betref fend - unsere Quelle. Es ist an Monsieur de Marville, Lieutellant de Police gerichtet. "Monsieur Fran<;:ois", am
29.
Dezember
1 740
erneut, dieses Mal an höchster
Stelle, bei de Marville selbst vorgeladen, bestreitet, daß das Memoire und die
inl Beisein von SinlolUlet vorgetragenen Ausführungen Girards die Situation auf dem Malltmartre am
12.
Dezember zutreffend wiedergeben. Marville ver
merkt dies auf dem Rand des Berichts von Girard. "J'ai signe la !iberte",
schließt er die Akte Fran<;:ois.9
Solche, ein nur erkennungs dienstliches Interesse der Polizei an Sodonliten belegende Quellen datieren aus dem ausgehenden
ersten beiden Dritteln des
18. Jahrhunderts.
17.
Jallrhwldert und den
Für die letzten
30 Jahre
des Be
trachtungszeitraums fehlt es an einer so geschlossenen Dokumentation über
das VerfallCen der Polizei mit sodomie. Allhand sporadischer, disparater Belege
läßt es sich rekonstruieren als eines, das nicht allein auf Sanktionen verzichtet, sondern
zunehmend
Verhöre. Aln
selbst
18. Januar 1781,
auf individuelle um
18.00
Fahndungen,
Verhaftungen,
Uhr untenlinUllt Inspektor Noel ge
meinsanl mit einem commissaire eine "Patrouille de pederastie". Die beiden s treifen quer durch Paris, von einem Viertel ins andere. Dabei greifen sie drei
Männer auf, "ayant commis de pederastie". Nachdem sie feststellen können, "qu'il n'y a
a notre connaissance aucune charge directe contre les trois particu
liers nous les avons fait relascer." Bis
4.30
Uhr anl Morgen setzen sie illCen
Beobachtungsgang fort - ohne weitere Vorkonullnisse.10 Das Interesse der Ordnungsmacht an Sodomiten also expandiert, das, deren Verhalten strafend zu unterbinden dagegen, tendiert gegen Null. Eine detail
liertere Allalyse des polizeilichen Vorgehens unterstreicht diesen Sachverhalt und emlöglicht genauere Auss agen zu den von der Polizei verfolgten Zielen. Vom ausgehenden
17. JallChundert bis
um
1840 leitet Monsieur Simonnet die
Falll1dwlg gegen Sodonliten. Dem Pariser Polizeichef, dem Lieutenant general de police, direkt unterstellt, wird er von diesem privat engagiert wld entlohnt,
9 Archive de la Bastille/Bibliotlteque de rArseual: Ms. 10.258. 10 Archives N atiollales: Y 13408.
Angela Taeger
1 18
aus Mittehl, die dem lieutenant unter der Hand aus dem königlichen Porte feuille zufließen. Simonnet beschäftigt eine Equipe von Spitzeln, die er selbst, vorzugsweise unter seiner Klientel, rekrutiert. Wie Simonnet nach der Anzahl der Fes tnahmen, werden sie nach der überführter Sodomiten bezahlt. Beide Seiten leisten also Akkordarbeit - die Spitzel nicht s elten als agents provo cateurs - und Sim01ll1et in nur wenigen Fällen mit dem notwendigen Haftbe fehl, der lettre de cachet, ausgestattet. l 1 Ziel ist nicht die Beseitigung devianter Sexualität, sondem die Endarvung, der aktenkundige Nachweis möglichst vieler Sodomiten. Der Nachfolger Simonnets, Monsieur Framboisier, verfolgt dasselbe Interesse, konsequenter allerdings, mit s eriöseren MedIoden und in abgesicherterer Position. Er steht als inspecteur auf der amtlichen Gehaltsliste der Pariser Polizei und leitet ein offiziöses "departement".12 Hier koordiniert Framboisier eine Art Rasterfahndung gegen die sodomie. Er sanunelt akribisch alle einschlägigen Daten, die s eine verdeckten Ermitder und die Kollegen aus lUlderen Ressorts und anderen Orten Frankreichs liefem, läßt Verdächtige über
Wochen hin beobachten, führt tagelang Verhöre. 13 Framboisier tut alles,
um
Informationen zu gewinnen über ein Phänomen, die sodomie, unternimmt jedoch nichts gegen Sodomiten.
1781
kontrolliert Monsieur NoH - wie ein
anderer Polizist die Straßenlatemen - nächtens die Treffpwlkte der Pariser Sodomiten. "Patrouille de pederastie" nellllt er seinen Dienst, dem er durch scllllittlich zweimal pro Woche, in der Regel, ohne die geringsten VOrkOn1l11nisse notieren zu müssen, im ursprünglichen WortsilllI nachgeht. Die Proto kolle über seine Untemehmwlgen lesen sich, als suche er während seiner nächtlichen Gänge gute Bekatll1te auf, versichere sich routinemäßig des Häuf leins der ihm Anvertrauten - die er im übrigen unbehelligt läßt. Je geringer das Engagement der Polizei, restriktiv gegen den Noollbruch sodomie vorzugehen, desto etablierter die Position ihrer Vertreter: Noel ist conseiller du roi und inspecteur, ordentlich beanlteter Polizeioffizier.
Seine Aktivitäten zu
re
cherchieren, ist so mühevoll, weil sie eingegangen sind in das Alltagsgeschäft der Pariser Polizei, nicht mehr geheim und gesondert dokwnentiert, sondem gemeinsam Ihit allen anderen polizeilichen Aktivitäten archiviert werden.14 Je geringer das Engagement der Polizei, desto etablierter die Position iluer Vertreter. Ist in dieser FomlUlierung nicht Urs ache und Wirkung vertauscht, gehen die Initiative der Polizei nicht in dem Maße zurück, wie der Apparat an
11 Michel Rey, Police et sodomie a Paris au XVIII- siede: du peche au desordre, in: Revue d'histoue modeme et contemporaine 29, 1 982, 1 1 4f.; Paolo Piasenza, Juges, lieutenauts de police et bourgeois a Paris aux XVII- et XVIII- siecles, in: Annales E.S.C. 45,5, 1990, 1 199ff.
12 Archive de la Bastille/Bibliotheque de l'Arsenal: Ms. 10.260. 1 3 Marc Chassaigne, La lieutenallce generale de police de Paris, Paris 1906, Neudruck
Genf 1975,
157ff.; Henri Buissoll, La police. Son histoire, Paris 1958, 85f.
14 Archives Nationales: Archives des commissaires au Chatelet.
Sodomiten im Paris des
1 19
18. Jahrhwlderts
Anerkennung und Pro@ gewinnt? Wie ist es zu erklären, daß das repressive Sexualstrafrecht sich in Frankreich als so wenig resistent und konkurrenzfähig erweist gegenüber der institutionell zunächst nur dürftig abgesicherten, permis siven Polizeipraxis? Seine Zeit ist vorbei, wäre mit Michel Foucault zu antworten: Seit dem
17.
Jaluhwldert, so Foucault, mutiere die nur konsumptive, Leben willkürlich vemichtende, vormoderne Macht allenthalben zur "Bio-Macht", zur "Lebens macht", "die das Leben in ihre Hand ninlmt, um es zu steigern und zu ver
vielfältigen. "15 Um das Leben in die Hand zu bekonilllen, seien einerseits Maßnalllnen und Institutionen notwendig, die jeden Körper optimal kondi tionieren und disziplinieren, andererseits "regulierende Kontrollen" der Ge samtbevölkerung. Die Sexualität nun bilde das "Scharnier" zwischen diesen beiden MachtteclllUken. Um sie funktiousgerecht zu gestalten, bedarf es genau er Kelilltnisse über die Se).."Ualität, ihre Variationsmöglichkeiten und deren Konsequenzen für Individuum und Bevölkerung. Mithin müssen Strategien und Abfragetecl111iken ersonnen werden, um einschlägige Informationen her vorzubringen. Überdies brauche es anstelle des Leben blind vernichtenden, überkonilllenen juridischen Systems "fortlaufende(r), regulierende(r) und kor rigierende(r) Mechanismen", reagible Nonnen statt starrer Gesetze. 16 Die Bio Macllt arbeite
mit
einer geschlossenen Kette beobachtender, nomlprozessie
render, normender, normierender, normalisierender Apparate; ihr Herzstück: die Polizei. 1 7 Foucault argumentiert unwiderstehlich logisch - für uns jedoch nicht in allen Punkten überzeugend historisch: Erstens erkel111en wir in dem von ihm beschriebenen, Wissen sammelnden, nur normalisierenden Verwaltungsapparat der Bio-Macht die Pariser Polizei, ihre systematische Beobachtung der Sodo nuten, illre Nonchalance im Umgang nut Sanktionen. Die Vereinnalllnwlg der Kontrolle über sexuelle Varianz durch die Zentralgewalt
1670
läßt sich zwei
tens ol111e große Mühe lesen als jener nach FoucauIt notwendige Zugriff der Bio-Macht auf das Schanuer zwischen Disziplinierung individuellen und Regu lierung kollektiven Lebens. Die Vennittlwlg zwischen diesen beiden lustorisch nachweisbaren Sachverhalten aber gelingt nut Hilfe Foucaults lucht. Wir finden
1 670 keinen Souverän, der zugunsten eines bio-mächtigen Diszipluuecungs und Regulierungssystems die juridischen Verurteilungsprozeduren suspendierte
15 Michel Foucault, Sexualität und
Wahrheit. Band 1: Der Wille zum Wissen. Frankfurt a.M. 1992, 163. 16 Foucault, Sexualität (wie Anm.15), 1 7 1 ff. 17 Michel Foucault, Übenvachen und Strafen: die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a.M. 1 992, 236, 276; ders., Die Macht und die Nonn, in: ders., Mikrophysik der Macht. Berlin 1 976, 1 1 6.
120
Angela Taeger
und flexibel agierende Institutionen sowie reagible Nornlen an ihre Stelle setzte. Ein Systemwechsel bleibt aus, das repressive Regelungswerk wUUlgetastet be stehen, neben einer zunehmend permissiven Rechtspraxis. Der Verzicht auf rigide Sanktionen aber ist nur ein Merkmal des polizeilichen Verfahrens mit der sodomie, die Rationalität ein weiteres und Verweis auf einen anderen System wechsel: Sind die Pariser Polizisten Agenten der Aufklärung? Einiges spricht dafür: Die aufklärerisdie Rechtstheorie tre1l1lt scharf zwischen Moral und Recht. So wenig wie ers tere durch letzteres durchzuse tzen, sei letzteres durch erstere begründbar. Die Bemessung von Strafen habe nidlt moralischen Grundsätzen zu folgen, sondern sei allein an der Effektivität auszurichten, unter den Aspekten Rationalität, also soziale Verträglichkeit, wld Humanität vorzwlehmen.18 Sodomiten hinzurichten, hieße indes, ein nur mit moralischer Autorität ausgestattetes, irrationales, unangemessenes Urteil zu fallen - über ein Segment eines Bereichs, der in der Tat von Moral, von individuell zu verantwortender Moral beherrscht wird, mithin für das Recht weitestgehend unzugänglich wld irrelevant zu sein hat. In dem Maße, wie die ordentliche gerichtlidie Beurteilung von sodomie einer polizeilich-administrativen Platz macht, erscheint das Verfaluen mit Sodomiten als humaner, angemessener. In dem Maße, wie weniger drakonische und variable Strafzwnessungen das ste reotype, in seiner Härte noch auf die unverzeiliche Sündhaftigkeit des Delikts venveisende Todesurteil verdrängen, erscheint die Bewältigung des Phänomens sodomie als rationaler. Einiges mehr spricht gt;gen die Annalmle, Aufklärer hätten Entscheidendes zur Entpönalisierung von sodomie und zur Rationalität des Urteils über sie beigetragen. So Montesquieus Einleitung seines Kapitels "Vom Verbrechen wider die Natur". "Gott verhüte, daß ich den Abscheu vernundern wollte, den man gegenüber einem Verbrechen empfindet, das die Religion, die Moral und die Politik in gleicher Weise verdammen. (...) Was ich darüber s agen werde, läßt iIml alle Schandflecken."19 Ausschließlich pragmatische Envägungen führt Montesquieu am Ende an, um sein Verlangen zu begründen, die strafrechtliche Verfolgung der sodomie zu suspendieren. Wie zallireichen seiner Zeitgenossen gebricht es ilml angesichts der gleichgesdllechtlichen Sexualität an aufkläreri sdlem EntllOusiasmus wld Eloquenz. Die Argumentation zugunsten einer EntkrinUnalisierung der sodomie leidet unter der eigenen moralischen Be fall gellileit. Mögen dieser Reserve auch tal{tische Envägungell in Hinblick auf die
18
Helmut Coing, Epochen der Rechtsgeschichte in Deutschland. München 1967, S.64ff.; Ulrich Eisenhardt, Deutsche Rechtsgeschichte. München 1984, S.160ff.; Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte. Bd.2: Neuzeit bis 1806. Karlsruhe 1966, S.418ff. 19 Charles de Montesquieu, De L'esprit des lois [1748], Paris 1949, livre XII, chapitre VI (5. Anhang 1).
Sodomiten im Paris des 18. Jahrhunderts
1 21
drohende Zensur zugrundeliegen, entscheidende Impulse auf die Rechtsan wendung im Sinne einer Rationalisierung und Entpönalisierung vemlag eine solche Stellungnahme kaum zu geben. Ebensowenig wie die Einlassungen der meisten Aufklärer zur umfassenderen Frage von Natur und Sexualität. Das Postulat des jungen Diderot, "tout ce qui est ne peut etre ni contre nature ni hors de nature" oder de Sades Gleichsetzung von Natur und Atlloral nehmen sich als provokante Marginalien aus im main stream aufgeklärten Denkens über Sexualität.2o Die muß in erster Linie produktiv, also heteroseJ.:uell und fort pflanzungsorientiert sein. Prononciert hedonis tisches sexuelles Verhalten, das die naturhaft-biologischen Atllagen der beiden Geschlechter mißbraucht oder übergeht, gerät in gefahrliche Nähe zur Entartung.21 Einiges spricht gegen die Atlllahme, Aufklärer hätten Entscheidendes zur Entpönalisierung von sodomie und zur Rationalität des Urteils über sie beigetragen, nicht zuletzt der Umstand, daß sie illre Forderung, Moral und Recht zu trennen, vortragen, als eine solche Trennung bereits vollzogen ist. Die Zentralgewalt nimmt sie 1670 vor, indem sie die Gefallrenabwägung im Fall von sodomie weltlichen Gerichten überträgt und die öffentliche Ordnung an Stelle von Moral oder Sittlichkeit zum ein schlägigen Rechtsgut erhebt. Die Zentralgewalt wirkt auf eine Rationalisierung hin - aber, initiiert sie auch die Entpönalisierung der sodomie, eine effektive, humane Handhabwlg des Strafrechts, kurz: eine Rechtspraxis, wie sie die polizeiliche Überlieferwlg aus dem 18. Jallrhwldert vielfach belegt? In der ordOllllance von 1670 tut sie dies nicht ausdrücklich. Wer drulll? - die Frage ist nach wie vor offen. Die Pariser Polizei ist zum Teil das Produkt einer königlichen Willens er klärwlg vom 15. März 1667. Diese verlangt die Einrichtung eines neuen Am tes, der Lieutenance generale de police de Paris. Sie unterstellt dem neuen Atntsträger den gesanlten Bereich der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in der Capitale. Eine Generalvollmacht, wie sich erweist - wie auch die Ausstat twlg mit richterlichen Kompetenzen.22 Ludwig XIV. zieht mit dieser Initiative Konsequenzen aus den Erfallrungen riut subversiven Eliten aus der Zeit der Fronde. Er begegnet auf diese Weise dem strukturellen Problem, auch im Justizwesen auf eine Beamtenschaft angewiesen zu sein, für die, durch Kauf und Vererbung ihrer Ämter abgesichert, die Loyalität dem Monarchen gegen über entbehrlich ist. Sie zu neutralisieren, ist die Aufgabe des Lieutenant gene ral de police de Paris. Er ist jederzeit absetzbar, mitlün existentiell abhängig von der Krone. Er empfängt seine Weisungen unnuttelbar vom König, krul1l
20 Jacob
Stockinger, Homosell."Uality and the French Enlightenment, in: George Stam bolian; Elaine Marks (Hg.), Homosexnalities alld French Literature. Ithaca, LOlldon 1 979, 161f( 2 1 So die Argumentation der beiden profiliertesten Kommentatoren des 1 8. JahrllUn derts: Jousse und Muyart de VougIans. 22 Edikt 15. März 1667 Bibliotheque Nationale: Ms.fr. 21573 fol. 271f.
122
Angela Taeger
also, vorbei an den etablierten Instanzen und Amtsträgem, mit besonderen Vollmachten ausgestattet werden.21 In der lieutenance entsteht ein die "persönliche Herrschaft" des Regenten sichemdes Ministerium, eine mit den Intendanten vergleichbare Hausmacht des Monarchen. Nicht zuletzt die zahllosen Konflikte zwischen dem Pariser Parlement und den neuen Polizeichefs belegen die Wirksamkeit der Lieu tenance auf dem ihr zugedachten Feld der umfassenden Kontrolle und der rationellen Verwaltung des städtischen Lebens.24 Aber die Polizei arbeitet nicht hUlge nur weiswlgsgemäß - und die königliche Protektion ist nur eine Quelle, aus der dieser schnell expandierende Apparat Selbstbewußtsein schöpft. Die zweite ist hausgemacht. Wie die beruflichen Biographien der meisten Iieutenants zeigen, eröffnet die ses Amt zügig Aufs tiegsmöglichkeiten in einträglichere Positionen. Die Um triebigen arrivieren schnell.25 Als besonders effektive Karrieristen erweisen sich diejenigen, die es verstehen, als Normalität ignoriertes Verhalten als Devianz zu definieren, die, wird sie hinreichend dramatisiert, die Notwendigkeit obrig keitlieller Intervention unabweisbar werden läßt. Die Polizei gewinnt an Profil, in dem Maße, wie sie sich eigene Betätigungs felder sellafft. Ein solelles wird im ausgehenden
17.
Jallfhundert sexuelle Varianz. Der die Ermitdungen gegen
Fran�ois führende Inspektor Simonnet leitet von
1700 bis 1740 die Sonders taf
fel "sodomie" der Pariser Polizei, eine Abteilwlg, die Marc Rene d'Argenson zu Beginn seiner Amtszeit als Lieutenant general de police,
1697-1718,
ins
Leben ruft. Eine der ersten AmtshandIwlgen d'Argensons besteht darin, den König über die s träflich geringe Aufmerksanlkeit zu unterrichten, die die or dentlichen Gerichte gegenüber Sodomiten walten ließen. "C'est ainsy que l a justice ordinaire autorise souvent l e s plus grands crinles, par une jurisprudence relasellee." Er fordert Mittel, diesen Mißs tillld zu beheben - "c'est ce (l ui m'oblige, aussi dilllS ces occasions, de recourir a l'autorite immediate du Roy, qui, seulle, fait trembler nos scelerats et sur qui les detours ingenieux ny le s�avoir faire de la chicilll1le ne peuvent rien" - und erhält sie.26 SUU01l1let ver fügt über eUlen großen Stab verdeckter Ermitder, königliche Sondervollmach ten gegen Sodomiten und Provokateure, die Sodomiten zu endarvenden Hillld lungen verleiten. Girard, uns aus dem Vorgang um Frilllc;:ois bekilll1lt, ist einer von ihnen. Er wird nach der Anzalll gelungener Festnallmen bezalllt, aus Mit teln, die d'Argenson direkt vom königlichen Hof zufließen.27
23 Chassaigne, lieutenance (wie ArUll. 13), 47ff.; Buisson, police (wie Arllll.13), 53ff.
24 Suzalllle Pillorget, Claude-Hemi Feydeau de Marville, lieutenant general de police de Paris 1740-1747. Paris 1978, 78. 25 Alan Williams , The Police of Paris, 1715-1789. Baton Rouge, London 1979, 302ff. 26 Rapports inedits du Lieuten3nt de Police Rene d'Argenson. Paris 1891, 60f. 27 Rapports (wie ArlIll.26), 311ff.
Sodomiten im Paris des
1 23
18. Jahrhunderts
Sexuelle Varianz wird zur Deviallz erklärt und durch ihre Vervielfachwlg zum sozialen Problem stilisiert. Die Polizei empfiehlt sich gleichzeitig als schnelle Eingreiftruppe in einer Sphäre der Subversion, die als solche zuvor weder erkannt, noch von Interesse war. Dabei agiert sie in der Regel in dem ihr
1 667 vorgegebenen rechtlichen Rahmen; sie wacht nur besonders intensiv über Sicherheit und Ordnung, wenn sie vermeintliche StöfWlgen derselben drama tisiert oder auch präventiv provoziert. Über eine geschickte Auslegung ihres rechtlichen Ral1ll1ens differenziert und variiert die Pariser Polizei ihre Aktionen und steigert deren Häufigkeit. Mehrere Hundert amtlich festgestellte Ab weichler pro Jallr weisen uns auf eine effektiv arbeitende Definitionsmacht hin und die Zeitgenossen auf ein soziales Problem ersten Ranges, das rational wld effektiv arbeitende Sachverständige erfordert. Die AufzeicIulUngen der Pariser Polizei über die Sodomiten vemutleln den Eindruck weitgehender Unbefangenheit der Betroffenen sowohl in der Reali sierung ihrer sexuellen Bedürfnisse, als auch in den Aussagen darüber. Die offene Straße ist ihr Ort, U1unißverständlich ihre SpracIle, welug mißtrauisch ihr Umgang nIit Fremden. LellOir erzählt ohne erkennbares Schuldbewußtsein spontml wohl die Wallrheit, mn Ende alles, was ihm suggeriert wird. Er ver steht nicht, wovon die Rede ist, was ilml zUln Vorwurf gemacht wird. Sexuelle Varianz erscheint aus der Perspektive der Sodomiten als NomlaIität, sodomie als ein Teil von illr. Erst nach zalllreichen Verhören und tagelanger Haft ver steht sich Jean Baron, ein
1750
verhafteter Sodonut, auf die iIun nallegebrachte
Fonllulierung, seine Neigung sei eine "Schwäche". 28 Die Pariser Polizei entläßt
iIm - olme Sanktionen. Sie hat, was sie braucht: einen weiteren aktenkundigen FalI von sodomie, einen weiteren Beleg für die Notwendigkeit ihres Vorgehens gegen eine noch sozial irrelevmlte Abweichung von einer noch sozial irrele vmlten, noch lucht emutlelten Nonu: der Heterosexualität. Darüber hinaus hat sie wertvolle Infonnationen erhalten, in der Regel solche über die Identität weiterer Sodomiten, illCen Status, ihre Treffpunkte - über das sexuelle Verhal ten des Befragten: wmm, durch wen, auf welche Weise ist er SodonIit gewor den, wie oft geht er dieser NeigUtlg nach, auf welche \Veise, wie bevorzugt, nut wem, wo, wie häufig wechselt er den Partner? Am
4.
Januar
1781
wird Jeml
Nicolas Prumeau, "soup<;:01me de pederastie" vernommen. Auch dieses Verhör zielt offensichtlich nicht darauf, den Arretierten zu überführen. Ihm werden keine bedrängenden Fragen gestellt, keine rhetorischen, keine, die Wider sprücIllichkeiten aufdecken sollen. Die Fragen emlUntern zu berichten: Ob er Vater U11d Mutter habe, wird er gefragt. Ob er M. ... keime? Ob er sich des Orts erinnere, an dem er am
14. Juli war (der Tag, an dem er in kompronuttier
ender Begleitung beobachtet wurde) - oder des Tags, als er den Jahnnarkt besuchte? Ob er dort Bekannte getroffen habe? Ob er M. LeRoy kenne (der
28
Archive de la Bastille/Bibliotheque de l'Arseual: Ms. 10.260.
124
Angela Taeger
Begleiter)? Ob ihm ein Tänzer ". aus der Comedie Italienne bekannt sei? Ob er im Cafe ... verkehre? Wo er M. LeRoy kennengelemt habe? Wen er zu seinen Freunden zähle? Welche Art von Beziehung er zu M. LeRoy pflege? - Er habe aus dessen umfangreicher Bibliothek oftmals Bücher entliehen. Ob er bestäti gen könne, daß M. LeRoy sich "d'une maniere sodomite" verhalte? - Ihm sei nichts aufgefallen. Ob er eine Vorstellung habe von dem "crime de sodomie" und es je begangen habe? - Praktische Erfahrungen fehlten ihm. Ob er sich knUlk fühle? - Es gehe ihm gut. Ob er wisse, was aus M . ... geworden sei? Gerüchte im Viertel besagten, man habe ihn eingesperrt, ohne daß ein Grund dafür bekannt sei. Ob er nicht jemanden kenne, der sich durch das "crime de
sodomie" beschmutzt habe? - Niemanden. Ob jemand einen Zweitsdllüssel zu
seinem Zimmer habe? - Nur er allein, antwortet Prumeau.29 1781 kann der das Verhör leitende commissaire dem Delinquenten ein Stichwort geben - "d'wle maniere sodornite" - und davon ausgehen, daß sein Gegenüber weiß, wovon die Rede ist, und reagieren wird. Das, obwohl der Vemommene doch leugnet, Sodomit zu sein. Die Frage spielt an auf eine mittlerweile verbreitete Kenntnis
um sexuelle Abweichung. Prumeau kann als \Vissender darauf eingehen, ohne zu riskieren, sich damit als Abweichler selbst zu belasten. Die Dramatisierung der sodomie durch die Polizei hat nicht nur die Entmytlusierung mann mfuurucher Sexualität befördert. Sie hat auch dazu beigetragen, daß ein popu lärer \Vissensbestand entsteht um die sodonue, die nun lucht mehr als bloße Variante, sonderu als Devianz gilt.·;o Das Polizeiarchiv füllt sich seit dem ausgehenden 17. Jallrhundert zügig mit empirischem Material über sexuelles Verhalten von MfuUlem - eine der ergie bigsten Quellen des Herrschaftswissens der sich formierenden Bio-Madlt um das Schanuer zwischen Diszipilluerung und Regulierung. Während des Unter suchwlgszeitraums geilllgt es offenbar noch lucht, die gewonnenen Infornla tionen über sexuelles Verhalten zu einem geschlossenen, konditionierenden Nornlensystem zu verdichten. Wissen wird während des 18. Jaluhunderts erst gesammelt, nodl nicht systematisch angewendet, so daß hin und wieder, wie im Fall Diot/Lenoir der Rückgriff auf die herkömmlichen, vonllodernen Macht tec1ullken notwendig wird, um die Herrschaft in der schwierigen Phase des Übergangs zu sichern. Die Auswertung und Interpretation der ernlittelten Daten zur Sexualität, das wissen wir, die wir das
19.
Jahrhundert wld große
Teile des 20. überschauen, erfolgt auf der Grundlage der von der Aufklärung lancierten Relevanzstruktur Natur - Wider-Natur. Dabei tritt der dem aufge klärten Denken über naturhafte Sexualität inhärente (oder unterstellte?) Aspekt demograpluscher Produktivität zUlück lunter einer Verbindung von Natur und
29 30
Archives Nationales: Y 13408. Devianz, die bereits mit Krankheit assozüert wird - cf. die Frage an Prumeau, ob er sich krank fühle -, eine gedankliche Verbindung, die im 1 9. Jahrhundert mit der Medikalisierung Zur Stereotype wird.
Sodomiten im Paris des 18. Jahrhunderts
125
Sexualität durch Verhaltens anforderungen, die lauten: beherrscht, zweckge bunden, nicht triebhaft. Notwendigerweisel - delUl, die Regulierung des Ge sellschaftskärpers setzt eine strenge Disziplinierung jedes seiner Mitglieder voraus, nichts anderes, als die subjektive Beherrschung des Triebs und die objektive Hemchaft über ihn. Widernatürliche Sexualität vollzieht sich hedon istisch, undiszipliniert, unkontrolliert und unkontrollierbar. Sie ist triebhaft, als solche eine elementare Gefall[ für den "ordre public", für einen geordneten, nonngerechten Vollzug jeglicher Lebensäußerung, für die Transparenz von Lebensgestaltung bis in das intimste Detail - für die Bio Macht Aus dem Wissen um triebhafte Sexualitäten werden Fonlleln für die Kon struktion der einen sozialen Sexualität entwickelt, die im 18. Jahrhundert unter dem Titel "Natur" zur unabweisbaren Nonn wird. Parallel und in der Folge geht es um die Anpassung sozialer Geschlechter an die soziale Sexualität.
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Quellenanhang 1. Definitionen und Strafen Si quelqu'un est soupcon11t! de bougrerie, la justice doit le prendre et l'envoyer a l'eveque; et s'il en est convaincu, on devait le beUler; et tous ses biens meu bles sont au baron. (Coutumes de Tourraine-Anjou ca. 1245.) De punis mescreant & herit Se aucuns est soupeconens de Bougrerie, la Jucise le doit prendre & envoier a l'Evesque, & se il en estoit provez, l'en le devroit ardoir, & tuit si mueble sunt au Baron, & en tele maniere doit l'en ouvrer d'ome 11l!rite, pourquoi il en soit provez, & tuit si mueble sunt au Baron ou au Prince. Et est ecrit en Decretales ou Titre de significations de paroles, au chapitre, super quibusdan, & costume s'i accorde. (Etablissements de St. Louis 1270.) Des meEaits Qui erre contre la foi, COlluue un mecreance, de laquelle il ne veut venir a voie de verite, ou qui fait sodomiterie, il doit etre brUle. (Coutumes de Beauvaisis 1 285.) Nos Baillifs, Senechaux, & Juges Presidiaux, connoltront privativement a nos autres Juges, & a ceux des seigneurs, des cas Royaux qui s ont, le Crime de leze Majeste en tous ses chefs, sacrilege avec effraction, Rebellions aux Mal1demens emanez de nous ou de nos officiers, la Police po ur le port des Annes, Assem blees illicites, seditions, emotions Populaires, force Publique, la fabrication, l'alteratio11, ou l'exposition de fausse Mon11oye, correction de 1105 Officiers, malversation par les co1111s11i es en leur charges, crimes d'Heresie, trouble public fait au service Divin, Rapt & enlevement de personlles par force, violence, & autres cas expliquez par 110S OrdOllllallCeS & Reglemel1s. (Ord01ll1allCe criminelle 1 670, Art. XI.) Du cri11le contre nature. A Dieu ne plaise que je veuille diminuer l'horreur que I'on a pour un crime que la religion, la morale et la Politiclue condamnellt tour a tour. Il faudrait le
proscrire quand il lle ferait que dOllller a U 11 sexe les faibles ses de l'autre, et preparer a une vieillesse infame par une jeunesse honteuse. Ce que j'en dirai lui laissera toutes ses fletrissures, et ne portera que contre la tyralllue qui peut abuser de I'horreur meme que 1'0n en doit avoir.
Sodomiten im Paris des 18. Jahrhunderts
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Comme la nature de ce crime est d'etre cache, il est souvent arrive que des legislateurs I'ont puni sur la deposition d'un enfant. C'etait ouvrir une porte bien large a la calomllie; "Jus tinien, dit Procope, publia une loi, contre ce cri me; il fit recllercher ceux qui en etaient coupables, non seulement depuis la loi, mais avant. La deposition d'un temoin, quelquefois d'W1 enfant, quelquefois d'W1 esclave, suffisait, surtout contre les riches et contre ceux qui etaient de la faction des verts." Il est singulier que, parmi nous, trois crimes: la magie, I'heresie et le crime contre nature, dont on pourrait prouver, du premier, qu'il n'existe pas; du se cond, qu'i! est susceptible d'une infinite de distinctions, interpretations, !imita tions; du troisieme, qu'i! est tres souvent obscur, aient ete tous trois punis de la peine du feu. Je dirai bien que le crime contre nature ne fera jamais dans une societe de grands progres, si le peuple ne s'y trouve porte d'ailleurs par (luelque coutume, comme chez les Grecs, Oll les jeunes gens faisaient tous leurs exercices nus; comme chez nous, Oll l'education domestique est hors d'usage; comme chez les Asiatiques, Oll des particuliers ont un grand nombre de femmes qu'i!s mepri sent, tandis que les autres n'en peuvent avoir. Que 1'0n ne prepare point ce crime, qu'on le proscrive par une police exacte, comme toutes les violations des mceurs, et 1'0n verra soudain la nature, ou dHendre ses droits, ou les re prendre. Douce, aimable, channante, elle a repandu les plaisirs d'une main liberale; et, en nous comblant de delices, elle nous prepare, par des enfants qui nous font, pour ainsi dire, renaitre, a des satisfactions plus grandes que ces dClices memes. (Charles de Montesquieu, De L'esprit des lois. Paris 1 748, livre XII, chapitre
VI.)
Vous allez enfin voir desparaitre cette foule de crimes imaginaires qui grossis sait les anciens recuei!s de nos lois. Vous n'y retrouverez pas ces grands crimes d'heresie, de lese-majeste divine, de sortilege et de magie, dont Ia poursuite vraiement sacrilege a si Iongtemps offense la Divinite, et pour lesquels, au nom du Ciel, tant de sang a souille a terre. (Code penal 1791, Präambel.) Toute personne qui aura conmüs un outrage public a la pudeur sera pwü d'un emprisonnement de trois mois a deux ans et d'une anlende de 500 NF a 4.500 NF.
Lorsque l'outrage public a la pudeur consistera en un acte contre nature avec un individu du meme sexe, la peine sera un emprisonnement de six mois a trois ans et W1e amende de 1.000 NF a 15.000 NF. (Code penal 1851, Art. 330.)
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2. Der Fall Bruno Lenoir und Jean Diot
L'an 1750 le 4 janvier 1 1 heures et demie du soir par devant nous Jacques Frans:ois Charpentier conseiller du Roi, commissaire au Chfltelet a Paris en notre hotel est comparu Julien Dmlguisy, Sergent du guet (...) lequel a dit que passant rue Montorgueil entre la rue St. Sauveur et la rue Beaurepaire il a vu deux particuliers en posture indecente et d'une maniere n!pn:hensible, l'un desquels lui a paru ivre. Il les a arn�tes tmlt sur ce qui lui a paru de leur in decence que sur la declaration que lui a faite Ull particulier passmlt, qui a dit les avoir vu commettre des crimes clue la bienseance ne permet point d'exprinler par ecrit; pour quoi il les a conduit par devallt nous, et a signe en notre minute. Par I'Wl des particuliers a ete dit qu'il se nomme BCWlO Lenoir, age de 20 ou 25 ans, gars:on cordonnier (...), qu'il ne conllait point l'autre particulier areete sinon cIu'il l'a rencontre il y a une demie heure, que ce particulier lui a demande s'il voulait venir avec lui et qu'aymlt refuse, le particulier lui a dHait sa culotte et a commis sur lui des indecences, et que la garde etallt survenue les a arretes et conduits par devant nous. Et a signe en notre minute. Par l'autre particulier, a ete dit qu'il se nomme Jeml Diot, age de 40 mlS, gars:on domestique chez la dame Marin, chaircuitiere rue de la fromagerie ( ..), qu'il ne connait point l'autre particulier arrete, que l'aymlt trouve sur le pas d'une porte endoffiu, il n'avait autre intention que de lui rendre service et n'etait point en posture indecente comme on lui reproche, et n'avait point ote sa culotte qumld on l'a arrete. Et iI declare ne savoir ecrire tU signer (. ..). (Arcluves Nationales Y 10132.) .
Bruno Lenoir, gars:on cordonnier age de 21 ans (...) a dec!are aujourd'hui 9 jmlVier 1750 que le 4 du present mois, passant a 9 heures du soir rue Montor gueil, il y a ete rencontre par un particulier a lui inco1UlU, et qu'il a su depuis s'appeler Jean Diot, ( ..) que ce Jeall Diot est venu l'accoster et lui a propose l'infmrue, qu'il l'a meme prie de le lui mettre par derriere, que pour cet effet Jean Diot a dHait sa culotte et que lui declarant le lui a flUS par derriere, sans cependmlt filur l'affaire, attendu qu'ils ont ete surpris par le guet qui les a ar retes et qui apres les avoir conduits par devmlt un commissaire les a antenes ii la prison au grmld Chatelet (...) Jean Diot ni le fait. (Archives des la Bastille, ms. 1 1717, f' 247.) .
Sr. Berthelot. Vu par la cour: le proces crinunel fait par le Prevot de Paris ou son lieutenant crinunel au Chatelet ii la requete du substitut du procureur general du Roi, demmldeur et accusateur, contre Bruno LellOir garS:0ll cordonruer et Jean Diot domestique, dHendeurs et accuses, prisonniers ii la Conciergerie du Palais, appelant de la sentance rendue sur le proces le 27 mai 1750 par laquelle ils
Sodomiten
im P aris
des 1 8. J ahrhunderts
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auraient ete declan:s dument atteints et convaincus du crime de sodomie men tionne au proces; pour reparation ils auraient ete condamnes a etre conduits dans un tombereau a la place de Greve, et la
y etre bnl1!!s vifs avec leur proces,
leurs cendres ensuite jetees au vent, leurs biens acquis et confisques au Roi ou
a qui il appartiendra, sur chacun d'eux prealablement pris la somme de 200
livres d'amende envers le Roi, au cas (lue confiscation n'ait pas lieu au profit de sa Majeste. Ouis et interroges en la Cour Bruno Lenoir et Jean Diot sur leur cause d'appel et cas a eux inposes. Tout considere. La Cour dit qu'il a ete bien juge par le lieutenant-criminel du Cha.telet, mal et sans grief appele par Bruno LellOir et Jean Diot, et les amendera. Et pour faire mettre le presellt arret a execution rellvoie Bruno Lenoir et Jean Diot prison niers par devant le lieutenant-criminel au Chätelet. Fait en Parlement le 5 juin 1750 Demaupeou Berthelot Arrete que Bruno Lenoir et Jeall Diot serOllt secn?:tement etrangles avant de s entir le feu. Demaupeou Berthelot (Archives Nationales X2B 1006.) Bruno LellOir apres semlent.
23 ans, cordo111lier.
S'il a passe dans la rue Montorgueil: n'en sait rien. S'il a dHait sa culotte: ne s ait ce clu'on veut lui dire. S'il a commis des indecences avec un autre particulier: n'en s ait rien. Jean Diot apres serment. 40 ans, gagne deniers. S'il a ete rue Montorgueil: oui. S'il a commis avec Lenoir des illdecences: non et ne le COlU1ait pas. S'il a dHait sa culotte: oui, pour lacher de l'eau. Si l'autre avait aussi sa culotte defaite: n'nen sait rien. Berthelot
(Archives Nationales
X2A 1 1 14.)
Silke Göttsch
"Der Soldat, der Soldat ist der erste Mann im Staat .... " Männerbilder in volkstümlichen Soldatenliedern 1855 - 1875
1.
Die Quelle: Soldatenlieder
"Wie wir es aushalten, den Krieg zu erklären", darüber hatte Konrad Köst!in
1991 unter dem Eindruck des Golfkrieges gehandelt und mit dem Hinweis auf die Vematürlichung des Krieges und die gesellschaftlichen Strategien seiner Veralltäglichwlg zwei mögliche Antworten angeboten.! Soldatenlieder haben ohne Zweifel ihren Platz in diesem Prozeß der Veralltäglichwlg und Vematür lichwlg. Man könnte fast meinen, daß Lieder schon immer den Krieg wld das Soldatsein begleiteten. Soldatenlied ist ein Terminus, der in der volkskundlichen Tradition weit zu rückgeht. Es gab nicht nur die einschlägigen Lieds ammlungen des 1 9. JalIrhWI derts, sondem bereits während des 1 . Weltl,rieges sah es die Volkskwlde als wichtiges Forschungs feld an, die kulturellen Äußerungen des Soldaten im Feld zu dokwllentieren. 1916 veröffentlichte der Begründer des Deutschen Volks liedarchives in Freiburg Jolm Meier den Aufsatz: "Das deutsche Soldatenlied im Felde".2 Allerdings fügen sich diese frühen Forschwlgen nalltlos in den Hurra-Patriotismus ein, der den Beginn des
1.
Weilliriegs begleitete. Spätere
Untersuchungen, vor allem die von Wolfgang Steinitz über die Volkslieder demokratischen Charakters, thematisieren andere Zusanlmenhänge, Widerstand gegen das Soldatsein, Kritik am feudalen System usw.3 Mein Interesse an diesen Liedem is t ein anderes. Soldatenlieder, so meine These, tllematisieren eine männliche Rolle, die - wie keine andere - viele Fa-
1
2 3
Konrad Köstlin, "Wie wir es aushalten, den Krieg zu erklären: oder vom doppelten Gesicht der Ungleichzeitigkeit, in: Michael Dauskardt und Helge Gemdt (Hg.), Der industrialisierte Mensch. Hagen 1993, S. 459 - 475. John Meier, Das deutsche Soldatenlied im Feld Stra11burg 1916 (=Tiübners Biblio thek 4). Wolfgaug Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jalrr hunderten, Bd. 1. Berlin 1955 und Bd 2. Berlin 1962. Für den größeren Zusammen hang vgl. den infomlativen Artikel von Hannjost Lixfeld, Soldatenlied, in: Ralf Wil hehn Brednich, Lutz Röhrich und Wolfgang Suppau (Hg.), Handbuch des Volksliedes. Bd. 1: Die Gattungen des Volksliedes, München 1973, S. 833 - 862.
Silke Göttsch
1 32
cetten von Männlichkeit in sich vereinigt.4 Del111 sie behandeln eine Le bensphase, die seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, also späte stens seit dem 19. Jallfhundert, für viele Mäl111er, vor allem aus den Unter schichten,
im
biographischen Kontext große Bedeutung hatte.5 Die Militärzeit
bedeutete in der Regel die erste größere räumliche Trennwlg von Zuhause. Das große Prestige, mit dem das Soldatsein verknüpft war, fand seinen dingli chen Ausdruck in der Erinnerungskultur: Reservistenbilder, Pfeifenköpfe, bemalte Bierdeckel und anderes erhielten in den späteren Wohnzimme01 einen Ehrenplatz.6 Wieweit Soldatenliederbücher auch zum kleinbürgerlichen Bü cherbesitz gehörten ist ungeklärt, aber die große Zalu der seit der Mitte des 1 9. Jallfhunderts überlieferten Solatenlieder gilllZ allgemein läßt ve011Uten, daß sie nicht nur in der Rekrutenzeit oder im Krieg gesungen wurden, sonde01 daß zu der in vielen Vereinen - wld nicht nur in den Kriegervereinen - gepflegten mämilichen Geselligkeit auch das Singen von Soldatetuiede01 gehörte.7 Die Vorworte dieser Liederbücher behaupten zwar allesrunt, daß die darin enthaltenen Texte bei Soldaten gesammelt worden seien, aber nicht nur ihr hUlalt, es sind ausscliließlich patriotische, militaristische Lieder, sonde01 auch illre Widmwlgen illl die dillualigen Feldherren machen sie ideologieverdächtig. Die darin propagierten Leitbilder spiegeln allzu eindeutig die Einstellungen der s taatstragenden Schichten wider, sie gehören deshalb eher in jenen Fundus von
4
Vgl. dazu die grundsätzlichen Überlegungen von Ute Frevert, Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit, in: Thomas Kühne (Hg.), Männergeschichte - Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Modeme. Frankfurt/New York 1996, S. 69 - 87 (=Reihe "Geschichte und Ge schlechter" Band 14). 5 Vgl. dazu Koruad Köstlin, Krieg als Reise, in: Margit Berwing und Koruad Köstlin (Hg.), Reisefieber. Begleitheft zur Ausstellung des Lehrstuhls für Volkskunde der Universität Regensburg. Regensburg 1984 (= Regensburger Schriften zur Volkskun de 2), S. 100 - 1 14. 6 Vgl. dazu z.B. Karl Hillenbrand, Das Reservistenbild, in: Volkskunst 3, 1980, S. 175 -
178.
7 In
der neuerer Zeit ist ein verstärktes Interesse an militärgeschichtlichen Themen festzustellen, dabei liegt der Schwell'unkt auf einer "Militärgeschichte von unten", also auf der Frage, wie der Krieg von den Soldaten wahrgenommen und verarbeitet wurde; vgl. dazu neben vielen anderen Arbeiten Wolfram Wette (Hg.), Der Krieg des kleinen Mannes: Eine Militärgeschichte von unte.tL München 1992, oder als Beispiel für die Analyse von Feldpostbriefen s. Klara Löffler, Aufgehoben: Soldatenbriefe aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Studie zur subjektiven Wirklichkeit des Krieges. Bam berg 1992 (= Regensburger Schriften zur Volkskunde 9). Bemd Ulrich hat dem Ein druck, daß die große Zahl derartiger Studien die Modernität dieser Fragestellung be lege, mit Hinweis auf ältere Arbeiten widersprochen, Bemd Ulrich, "Militär geschichte von unten". Anmerkungen zu ihren Ursprüngen, Quellen und Perspekti ven im 20. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, S. 473 - 503.
Männerbilder in volkstümlichen Soldatenliedem
1 33
Liedem, die in der Militärzeit als verordnete Lieder gesungen werden mußten, aber wie weit sie auch zum "freiwilligen" Repertoire der Soldaten bzw. derjeni gen, die Soldatenlieder s angen, gehörten, muß offen bleiben. Eine nähere Be schäftigung mit dem Genre zeigt, daß der Begriff "Soldatenlieder" sehr hetero gen ist, und wenn man darüber hinaus auch noch den Kontext in eine Definition einbeziehen will, wird eine begriffliche Klärung noch schwieriger. Im weitesten SUUl sollen darunter Lieder vers tanden werden, die von Soldaten handeln, ob sie auch immer von Soldaten gesungen werden, läßt sich historisch nicht mehr klären. Auch die
im Titel vorgenommene nähere Charakterisierung
"volkstümlich" ist mit Bedacht gewählt. Sie ist mehr als nur der Versuch, den problematischen Begriff "Volkslied" zu umgehen, vielmehr soll damit auf eUle andere Qualität der Lieder verwiesen werden. Das herangezogene Material entstammt nämlich nicht der obrigkeitlich verordneten Liedkultur, sondem gehört in das Spektrum der populären Heftchenliteratur. Unter dem Titel "Fliegende Blätter" sind un Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg 5 Bände archiviert, die die gesamte Produktion des Verlages KalIlbrocksche Wwe [Witwe] in Hamburg - nicht nur Soldatenlieder - für die Jalue 1855 - 1 874 umfassen.8 KalIlbrock war während des gesamten 1 9. Jaluhunderts eUler der größten Verlage für populäre Lieder, Bänkels anghefte und Heftchenliteratur m D eutsclIland.9 Die meistens 8 - 16 Seiten umfassenden Heftchen wurden über den Kolportagehandel, auf Jallmlärkten oder in kleinen Läden für wenig Geld vertrieben, und deshalb läßt sich nicht nur auf eUle große Verbreitung zurück s clIließen, sondeOl das Angebot mußte,
Wll
Absatz und Profit zu sichem, auch
marktgerecht, das heißt, TIlemen und Inhalte mußten auf Akzeptanz wld damit auf die Befindlichkeit der Käuferschicht abges timmt sein. Zudem hat diese SanUlllwlg noch einen weiteren Vorteil. Die Lieder sUld, da jaluweise unter Angabe der JalueszalIl gebunden, in ihrem Gebrauch datierbar. Selbstverständ lich miscllen sich m diesen Liedem verschiedene Traditionen, Lieder, die aus der Zeit der Befreiungskriege stammen, so das von Ludwig UlIland verfaßte "Ich hatte eUlen Kameraden" von 1 809, stehen neben patriotischen Liedern von 1 870/7Vo Sie eIltstatlUllen also ganz verschiedenen Zeiten.
B
Fliegende Blätter. 5 Bände Hamburg Vgl. Leander Petzoldt, Bänkelsang, in: Handbuch des Volksliedes, wie Anm. 4, S. 251, außerdem Leander Petzoldt, Bänkelsang. Vom historischen Bänkelsang zum literarischen Chanson. Stuttgart 1974, S. 32 - 39 und Rudolf Schenda, Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770 - 1910. Frank furt/Main 1970. 10 Besonders danken möchte ich meUlen damaligen studentischen Hilfskräften ht Frei burg Sabhte Allweier, Jörg Giray und Ursula Lhtkhorst für ihre gewissenltafte und fröhliche Mithilfe bei der Erhebung der Texte. Ihr Engagement und ihr Interesse wa ren für mich selu anregend.
9
Silke Göttsch
1 34
Da die untersuchten Lieder in einem begrenzten Zeitraum veröffentlicht wurden, scheint es zulässig, sie in dieser konkreten zeitlichen Dimension auf ihren Aussagewert über mentale Strukturen und kulturelle Kons trukte zu be fragen.
Mit dem schleswig-holsteinischen Krieg von
1 864/66 und dem
deutsch-französischen Krieg von 1 870/71 haben außer dem Erleben der Re krutenzeit auch reale Kriegserfallfungen auf die Inhalte der Lieder bzw. ihre Rezeption einwirken können. Ausgewml1t aus dem umfassenden Repertoire der Verlagsproduktion wld hier unter dem Terminus "Soldatetweder" zusammen gefaßt wurden solche Lieder, die im weitesten Sinne über das Soldatsein han deln. Ob sie nur von Soldaten und nur in der Rekrutell- bzw. Kriegszeit gesun gen wurden oder ob der weibliche Blick auf den Soldaten beschrieben wird, war für die Auswall1 irrelevant, da eine derartige Unterscheidung weder sinn voll noch überhaupt praktikabel erscheint Natürlich ist mir klar, daß aus volkskundlicher Sicht meine Quellen nur halbe Wallfheiten sind. Deml es fell1en zwei wichtige Aspekte, die sich auch inl nachhinein nicht oder nur mit sehr viel Mühe rekonstruieren lassell. Zum einen ist es schwierig, die Melodie der Lieder zu rekons truieren. Was allerdings für eine wnfassende Interpretation wichtig wäre, weil Melodie und Rhythmus auch Infonllationen über den 1t111alt tragen, d.h. Melodien können Aussagen verstär ken oder konterkarieren. Zum zweiten lassen die Liedtexte keine Rückscll1üsse über die PerfOnllanZ zu, also darüber, wer diese Lieder, wo,
mit welchem
Ver
ständnis und mit wem gemeinsam gesungen hat. Auch darüber ließe sich na türlich mehr erhellen als aus einer bloßen Textinterpretation.
2. Fallbeispiele Zwei Liedtexte, die völlig unterschiedlichen Gattungen angehören, sollen am BegUm der Interpretation stehen. Beide sind mehrfach gedruckt worden, was für ihre Popularität spricht. Das erste wurde 1 86 1 veröffentlicht wld heißt "Des Kriegers Abschied", ein Titel, der so oder in Variation häufig verwendet wurde, auch für andere Lieder. Das Genre "Soldatenabschied" war nicht erst seit dem 1 9. Jallrhundert bekannt.
"Leb' wohl, meine süße Marie, beschütze den lächeln den Knaben,
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sieh mein Liebchen
0
sieh, die hinl111-
1ischen Englein haben ihm in die Wangen gegraben zwei Grübchen,
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siehe Marie,
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siehe Marie.
Leb' woll1, meine süße Marie, Gott schützt j a die braven Soldaten, zur Ehre und Ruhm führt er sie, zu Siegen und herrlichen Thaten; wir, die
um
Männerbilder in volkstümlichen Soldatenliedem
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den Lorbeer wir rathen, wir schmücken dich süße Marie, dich süße Marie. Leb' wohl, meine süße Marie, wld werd' ich im Schlachtsturm begraben: dann hann dich nicht mein, erzieh }um Kriegerstand meinen Knaben, lieb soll er sein Vaterland haben, so wie idl dich liebe, Marie, dich liebe Marie. Leb' wohl, meine süße Marie, gedenke auch mein in der Feme; denn deiner vergesse ich nie, dir leuchten zwei himmlische Steme, wie schaute im Kampfe die geme, des Knaben Aeuglein Marie, die Aeuglein Marie. Leb' wohl, meine süße Marie, ich nehm das Geflecht deiner Locken; ich legs auf die Brust mir, o sieh, mir selbst bleibt das Auge nicht trocken, sei mudug, sei unerschrocken; leb' wohl, meine dIeure Marie, meine dIeure Marie. " 11 Das zweite Lied i s t eine Parodie auf eines der wohl bekanntesten nationalisti schen Soldatenlieder "Die Wacht am Rhein... ", das mit der Zeile: "Es braus't
ein Ruf wie DOlU1erlIall", beginnt. 1z Die Parodie heißt "Der Dienst an der Leyer". Die luer zitierte Fassung erschien
1872, also
im Jahr nach Beendigung
des deutsch-französischen Krieges.
"Es tönet nicht wie der Donnerhall, wie Schwertgeklirr wld Wogenprall, es ächzt ein schriller Todesklang die Leyer wld der heis're Sang: (:"Dort draußen
11 12
"Des Kriegers Abschied" (1861), in: Fliegende Blätter Bd. 2, Nr. 29,3. Der Text stammt von dem Kaufmann Max Schneckenburger 1840 und wurde 1854 von Kar! WilheIm, Musikdirektor in Krefeld, vertont. Seine größte Popularität er reichte das Lied im Krieg 1870/71. Wilhelm erhielt 1870 von der Kaiserin Augusta die Goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft und nach dem Krieg von der deutschen Regiemng eine jährliche Dotation von 3000 Mark. Böhme schreibt, es wurde "das Kriegs- und Stumilied der Deutschen und bleibt Nationalgesang zur Fei er aller vaterländischen Gedenktage". Besonders beliebt war das Lied in den Mäuner gesangsvereinen. Vgl. dazu Volksthüniliche Lieder der Deutschen im 18. und 19. JalwlUndert. Nach Wort und Weise aus alten Dmcken und Handschriften zusam mengebracht, mit kritisch-historischen Anmerkungen versehen und herausgegeben von Franz Magnus Böhme. Leipzig 1895, S. 3f.
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Silke Göttsch
über'm deutschen Rhein, da blieb mein Glück, da ruht mein Bein. Für's deut sche Vaterland ist dieser Stand.":) In aller Ohren tönt es schrill, doch Niemand naht, der helfen will; der Invalid mit einem Bein, mag hWlgrig sich und heiser schrein. Dort ... Er blickt wohl an der Häuserbau, ob l11ideidsvoll man niederschau, und sin get hungemd, Frost durchbebt, was er für Leiden hat erlebt. Dort ... "Für's Vaterland, wie man so sagt, hab ich mein Leben oft gewagt; hab oft gekämpft und oft gesiegt, doch Ruhm stillt mir den Hunger nicht." Dort. .. "Zerstöret durch der Menschen Tück, verronnen ist mein Lebensglück, mein Weib, mein Kind, es hungert, friert, für immer bin ich ruillirt. Dort ... Das Lied verhallet in den Wind; es harrt der Invalid, sein Kind vergeblich auf den BettellolUl; s till sinnend krockt er datUl davon. Dort draußen über'm deut schen Rhein, da blieb mein Glück, da ruht mein Bein. Für's deutsche Vaterland
is t dieser Stand. " 13
So verschieden beide Lieder sein mägen, auf der einen Seite das sentimentale, gefühlsschwangere Abschiedslied, auf der anderen Seite die bissig-böse, welUl auch unfreiwillig komische Parodie, so stehen sie doch beide für ganz zentrale Thematiken, die als typisch für Soldatenlieder, nicht nur für die Zeit von 1 860 bis 1 874, gelten kÖIUlen. Die Parodie gehärt in den großen Komplex der Sol datenklagen, in denen die Leiden des Soldatseins, zu denen auch die Invalidi tät1 4 gehärte, beschrieben werden und die in der Liedüberlieferung eine lange Tradition hat. Der Abschied gehärt zu den Grunderfallrungen des Soldatenlebens, nicht nur in Kriegs-, sondem auch in Friedenszeiten. Denn auch für die Rekruten bedeutete die Militärzeit die erste längere Trennung von der bisherigen UlUlut telbaren Umwelt. Die Thematisierung des Abschiedes des in den Krieg ziehen den Soldaten von Frau und Kindem reflektiert das Geschlechterverhäluus und das Leitbild der bürgerlichen Familie und läßt sich so, über die konkrete Situa tion des Abschiedes hinaus, auch daraufllin befragen. Ein weiterer Aspekt, der in den zitierten Liedem lucht aufschien, der aber als ErgänzUilg kurz angespro-
13 "Der Dienst an der Leyer" (1872), in: Fliegende Blätter Bd. 5, Nr. 41,5. 14 Das Thema der Kriegsktüppel als literarisches Motiv ist bereits bearbeitet,
Achim Höher, Die Invaliden. Die vergessene Geschichte der Kriegskriippel in der europäi scheu Literatur bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart/Weimar 1995.
137
Männerbilder in volkstümlichen Soldatenliedem
ehen werden soll, berührt das Verhiütn.is Soldatenkameradschaft - Männer frewldschaft. Beim weiteren Vorgehen wird die Frage nach der Gattung vemachlässigt, es geht allgemeiner darwn, welche Vorstellwlgen von Männlichkeit
mit
dem
Soldatenleben in den von der Aussage her sehr wlterschiedlichen Liedem konnotiert wurden. 15 Rekrut, Soldat, Kmneradschaft sind die drei Leitbegriffe, ml
denen sich die Interpretation orientieren wi�d.
3. Männerbilder im Soldatenlied Mit dem Motiv des "Rekruten", also des in der Regel unverheirateten, ;wlgen Mannes, der im Frieden zur militärischen Ausbildung kasemiert wurde, und mit dem des Soldaten, also desjenigen, der in den Krieg ziehen mußte, verbin den sich sehr unterschiedliche Entwürfe von Männlichkeit. Der Offizier kommt in den Liedem übrigens fast nie vor, nur einmal wird der General Radetzky als Vorbild besungen, weil er nie Soldaten geschunden habe. Das Verhiütnis Offizier - gemeiner Soldat wird nur in Liedem über Deserteure gelegentlich angesprochen. Die ausgeprägte Hierarchie innerhalb des Militärs, die differente soldatische Männerbilder konstituierte, wird gar nich t thematisiert.
3.1.
Der junge Rekrut
"Ich war ein Bursch', kaum
18 J alue
alt, und liebte die Soldaten vor jedem
andem Stand ... ", so beginnt ein Lied, das nicht etwa die Freuden, sondem die Leiden des Soldatendasems schildert, es endet
mit den Worten: "Ich war ein
tapfrer Krieger, smlg mmlch' Soldatenlied, war ein verweg'ner Sieger, jetzt bin ich Invalid... D'rum radle ich Euch Allen, und folget meinem RadI, welUl die
Trompeten schallen, wünscht nicht: Wär ich Soldat". 1 6
Trotz solcher drastischen Wamungen vor den Konsequenzen des Soldatseins entwerfen fast alle Lieder das Szenario eines fröhlichen Rekrutenleben. Die
1 5 Eine ganz ähnliche Untersuchung hat Karen Hagemann für die Zeit der Befreiungs
kriege vorgenommen, dabei stützt sie sich auf die patriotische Lyrik jener Zeit Es ist
nicht wahrscheinlich, daß die von ihr untersuchten Gedichte von Ernst Moritz
Amdt, Friedrich Ludwig Jahn u.a. bei den gemeinen Soldaten bekannt waren, auch WeIW
man von einer gewissen Alphabetisie1Ung und Semi-Literarisie1Ung breiter Schichten ausgeht. Karen Hagemanll, "Heran, heran, zu Sieg oder Todi" Entwürfe patriotischer wehdlafter Männlichkeit in der Zeit der Befreiungskriege, in: Thomas Kühne (Hg.), Männergeschichte - Geschlechtergeschichte (wie Anm. 4), S. 51 - 68. 16 " Soldatenlied" (1872), in: Fliegende Blätter, Bd. 5, NI:. 44,3.
Silke Göttsch
138
Requisiten wld Versatzstücke, über die diese Bilder assozüert werden, wieder holen sich stereotyp. Das Lied "Der kleine Rekrut" zählt sie alle auf: 1. Ge wehr,
2.
Säbel,
3.
Pferd, 4. Courage und Mut, 5. Schnurrbart, 6. TsdlakO. Da
mit sind jene gesellschaftlich hoch bewerteten Statussymbole, die das Ansehen des Militärs in der Öffentlichkeit ausmachten, aufgezählt. Es ist aber nidlt gesellschaftliche Reputation schlechtlun, die die Lieder dem Rekruten verhei ßen, sondem sie wird letztlich reduziert auf das Geschlechterverhältnis,17 "Und die schmucke Caroline, mit der breiten Crinoline,
mit dem Hut nUt
breitem Bande, mit dem bunten Polkabande, denn ihr Herzchen nicht von Stroh, brennt von Lieb ganz lichterloh; für den schlanken Militair, der da koemmt aus Preußen her, denn ach - die Hamburger Jungen - haben lucht ihr Herz bezwungen, für sie ist es hart wie Stein, es läßt nur Soldaten ein. "18 Die beschriebene Vorliebe für das Militär zall1te sich angeblich auch ganz handfest aus, deml die jWlgen Frauen, meistens Dienstmädchen, so heißt es in den Lie dem, scluckten den Soldaten Lebensmittelpakete bzw. teilten ihren LolUl nut ilUlen. Wenn man die reale Lebenssituation der Rekruten bedenkt, wie sie in LebenserinneCW1gen beschrieben wird19, dann ist angesichts von Hunger und Geldmangel verständlich, warum die Lieder lucht Abs traktes wie Ehre und Reputation tllematisieren, sondem materielle Vorteile. Soldatetwebe wurde in den 1 850er Jallfen übermütig und ungebunden darge stellt, nach dem Motto: "Heute Jettchen, morgen Bettchen, inmler neu, Das ist Soldatentreu".2o Das änderte sich allerdings im Laufe der 1 860er Jallfe. Unter dem Eindruck der Kriege wurde die Treue des Soldaten für seine Geliebte verknüpft mit der Soldatentugend "Treue für das Vaterland". "Ich mußte fort und murrte nicht, ich keml ja meine Kriegerpflicht; (: ich zog getreu der FalUle nach, ob fast mein liebend Herze brach. :) ... Und kehr' ich einst zu dir zurück, dann lächelt neu der Liebe Glück, (: und denk in Liebe nur fortan an deinen treuen Kriegersmann. :)"21 Hier ergeben sich erste Überschneidwlgen mit dem Bild: Soldat und Krieg. Rekrut und Ehematul waren zwei Rollen, die weder in der Realität noch in der Fiktion der Lieder miteinander vereinbar schienen. Verfügten die Rekruten in jener Zeit kaum über die ökonomischen Mittel, eine Ehe einzugehen, so
17
Vgl. "Der kleine Rekrut" (1867), in: Fliegende Blätter, Bd. 3, Nr. 99,1. "Sehnsucht der Hamburger Mädchen nach dem Einmarsch der Bundestruppen" (1861). Besungen von E. Hansen. Hamb. Volksdichter (Eigenthum von Friedrich Werber.), iu: Fliegende Blätter, Bd. 2, Nr. 4,1. 19 Vgl. dazu die Lebenserinnerungen von Franz Rehbein, auf die später noch einzuge hen sein wird. 20 "Ausmarsch der Hamburger Garnison ins Lager bei Oldenburg und der Abschied von der Geliebten". Von Adolph Peist (1857), iu: Fliegende Blätter, Bd. 1, Nr. 278,1. 21 " Die Feldwache". Von W. Hauff. Mit Ergänzungsversen von eh. Hansen. (1866), in: Fliegende Blätter, Bd. 3, Nr. 2,2. 18
Männerbilder in volkstümlichen Soldatenliedern
begründen die Lieder dies nicht
1 39
mit dem materiellen ZWlU1g, sondern verwei
sen allein auf das wlstete Leben. "Allein so lang' Soldat ich bin, macht sich das
Ding wohl kaum, man zieht bald da, bald dorten hin, hat nirgends festen Raum; dCWll dämpf' ich jetzo meine Glut und denk bei mir; ist's nun so gut".22 Ganz dem Ideal bürgerlicher Lebens fühcwlg entsprechend folgt die Ehe auf die Rekrutenzeit. Die entworfene Idylle, in der die Hausfrau illrem MatUI gehorcht, kontrastiert die Erfahrungen des Rekrutenlebens.23 "Mag wohl ein Leben sein so süß, wie Milch und Zuckerband, we1UI matl sein Liebchen hat gewiß im heil'gen Ehestand, we1Ul treu es seine Pflichten tlmt und fein pariert, delUl das ist gut."Z4 Wie "Milch und Zuckerbatld", oder wie im Schlaraffenlatld, also ohne materielle Nöte, verspricht die Ehe die Erfüllung kleinbürgerlicher Selm süchte. Wenn man das in den Liedern präsentierte Rekrutenleben resümiert, datlll entsteht der folgende Eindruck: Ein Rekrut hat ein sorgloses, wlgebundenes Leben. Scllllurrbart, Unifornl, Waffen und der Umgatlg mit Pferden konstituie ren seine Mämilichkeit, die Auftritte
mit Trompeten und Musik in der Öffent
lichkeit geben illm die Gelegenheit, dieses in Szene zu setzen. Solclle Habitua lisierung garantiert ihm die Zuneigung junger Frauen, eine spätere glückliche Ehe ist gewiß.
Wie wenig solche Entwürfe der Überprüfung atl der sozialen Wirklichkeit statldhalten, katlll matl autobiographischen Schildecwlgen entnehmen. Warum also war gerade dieser Entwurf in den Liedern so populär, oder atldersherum gefragt: Wie korrespondierte er zu den AIItagserfallrungen der Rekruten? In ihnen wird die Welt der militärischen Repräsentation, die öffendiche Selbstdar stellung dlematisiert. Reiten, der Umgang mit Pferden, die Ausstaffierung mit Waffen, dies alles waren oberschichdiche Statussymbole. Die Teilhabe atl ihnen gaben den Rekruten zumindest nach außen einen respektablen Habitus. Ge messen anl Status, den sie außerhalb des Militärs hatten, erfuhren die vor der Rekrutenzeit als Knechte, Arbeiter, Handwerksgesellen dienenden jungen Mätlller eine gewichtige Aufwertwlg. Dort waren sie nicht in das System öf fentlicher Repräsentation eingebunden, sie partizipierten nicht anl gesellschaft lichen Ansehen illrer Fabrikherren, Gutsbesitzer oder Hatldwerksmeister, son dern s tatlden in der Hierarchie, auch nach außen sichtbar, gatlZ unten. Rekruten werden, so suggerieren es jedenfalls die Lieder, ausschließlich über ihr äußeres Erscheinungsbild wallCgenommen, illCe materielle Lage, ilir außer militärischer Status treten demgegenüber zurück.
22 "Heiradisgedanke
eines Jägers. Gedicht von Jäger Eichenberg, vom 3. HamlOver sehen Jäger-Bataillon" (1864), in: Fliegende Blätter, Bd. 2, Nr. 175,1. 23 Interessant ist, daß bei der Darstellung des Geschlechterverhältnisses implizit auf die Erfahrung der hierarchischen Struktur des Militärs verwiesen wird. 24 Wie Anm. 20.
Silke Göttsch
1 40 3.2.
Der Soldat
Als typisches Genre des Soldatenliedes, d.h. des in den Krieg ziehenden Sol daten, hat sich schon
in der Zeit der Söldnerheere das Abschiedslied herausge
bildet, das eine der Grunderfahrungen des Soldatens eins thematisiert. Bei Schweizer Söldnem wurde bereits im
1 7.
Jahrhundert, so Johannes Hofer in
seiner "Dissertatio medica de nostalgia oder Heimwehe" von 1 688, eine
Krankheit diagnostiziert, die man HeinIweh nannte, wId über deren Ursache
und Verlauf in der Folgezeit viel diskutiert wurde25• Allerdings nahm man damals in Deutschland kaum Notiz von diesem Phänomen. Auch im 1 9. Jalu hundert gehörte HeinIweh kawn in den Kanon soldatischer Tugenden. Heim
weh war bürgerliches Privileg und wurde in vielen sentinlentalen Liedem jener Zeit formuliert. Während darin heinutliche Requisiten wie Berge, Täler und Auen beschworen werden26, kelillt das soldatische Abschiedslied solche lokalen wld regionalen Verortungen nicht, sondem besingt den Abschied von den Angehörigen, besonders von der Frau, den Kindem oder seltener den Eltem. Die Teilnaluue am Krieg wird nicht als von außen herangetragener Zwang
dargestellt, sondem als uillere Verpflichtung. Allerdulgs s tehen nicht Vaterland,
Ehre oder andere abstrakte Werte im Vordergrund, sondem die Verteidigung der Familie, des eigenen Haushaltes. Typisch für diese Lieder sind folgende Zeilen: "Höret, ilu Brüder, die Trompete, sie schallt, höret, ilir Brüder, die
Muskete, sie knallt, es gilt zu kämpfen für den heimischen Heerd, ...Es gilt jetzt
zu kämpfen für Weib und für Kind, drum alle Herzen auch einig sich sind, zum Rhein, zum Rhein, zum wilden Schlachtgetos' Gemlaniens Sölllle sollst fmden du Franzos', es rufet die Ehre ... Wer fmdet den Tode beinl wilden Waf
fentanz, del1111 Sclllllücke die Stime, der grüne Lorbeerkranz; zu kämpfen, zu streiten für HeimatlI und Heerd, das ist es, was jeder Deutsche begehrt. . ".27 .
Abstrakte \Verte wie Vaterland und Ehre werden zurückgebunden an das
bürgerlich-patriarchalische Leitbild des Familienvaters, der als Schützer von Heim und Herd in den Krieg zieht. Die bevorstehende Trel111ung bietet ein Raster an, um die Liebe zwischen Mrulll und Frau beschreibbar zu machen und zu sentimentalisieren. Die Rückkoppelung an die private Lebenswelt emIög-
25 Vgl.
dazu !na-Maria Greverus, Der territoriale Mensch. Ein literaturanthropologi scher Versuch zum Heinlatphänomen. Frankfurt/Main 1972, S. 1 12. S. dazu auch neuerdings Christian Scluuid-Cadalbert, Heimweh oder Hein1Ill3cht. Zur Geschichte einer einst tödlichen Schweizer Krankheit, in: Schweizerisches Archiv für Volkskun de 89, 1993, S. 69 - 85. 26 Vgl. dazu Hermann Bausinger, Heinlat in einer offenen Gesellschaft. Begriffsge schichte als Problemgeschichte, in: Heimat. Analysen, Themen, Perspektiven. Bonn 1 990, S. 79f. 27 "Neues deutsches I<:riegerlied". Verfaßt von Georg Küper. (Eigenthum von A HeUl richs). (1870), m: Fliegende Blätter, Bd. 4, Nr. 112,4.
Männerbilder in volkstümlichen Soldatenliedem
141
licht es, den Krieg als eine gerechte und gerechtfertigte Sache erscheinen zu lassen. Durch den Krieg geforderte Verhaltensmuster wie Aggression u.ä. wer den durch den Rückgriff auf die Familie legitimiert und überhöht. Die Ins tru mentalisierung der Rolle "Familienvater" und der damit verbundenen Verant wortlichkeiten dienten der Motivation für den Kriegseinsatz. Heimweh, hier Kriegers Heimweh, findet stets in der Familie ihren Bezugspunkt. "Fem von dir steh' ich hier einsam auf der Wacht, denk' zurück an das Glück, was ich bei dir vollbracht. In der Fem' denk' ich gem an die höchste Lust, Seligkeit, Her zensfreud', ruht' ich an deiner Brust. .. Warst mein Glück, denke dein hier im fremden Land, sollt' ich sterben, vergiß nicht mein, wir steh'n in Gottes Hand."28 Die ständige Rückbindung an Fanlllie, der stete Verweis auf die mämlliche Rolle als Beschützer wld Emährer der Fanlllie zeigt, wie zentral das Leitbild des Familienvaters das Bild des Soldaten konstituierte. Dafür sind zwei Gründe denkbar: Entweder vertraute man dem patriotischen Wertekanon Vaterland, Ehre als Motivation für die Kriegsbereitschaft nicht ausreichend und versuch te, ihn durch den Rekurs auf die Familie als wltlIitteibaren Bezugsort aufzu werten, oder, wld das wäre die zweite Möglichkeit sollte die im Lied beschwo .•
rene Allgegenwart der Fanlilie wld die danIit eingeforderte Verantwortlichkeit quasi als ideologisches Rüstzeug gegen die Gefährdungen durch den Krieg wie Todesangst, Desertieren, unkontrollierte Aggression etc. wirken. Auf jeden Fall erlIielt das Modell der bürgerlichen Fmllilie durch solche Aufladungen einen ideologischen Bedeutungszuwachs und konnte gerade bei proletarischen wld kleinbürgerlichen SclIichten zu einer Verfestigung bürgerlicher Fmuilienkon zepte beitragen.
Weiter lassen sich diese Ü berlegungen führen, weml mml jene Lieder mit
einbezieht, die die Rückkehr aus dem Krieg oder den Kriegstod zum Inhalt haben. Neben den Liedem, die den Sieg über Frankreich feiem, finden sich viele, wie das anfmlgs zitierte Lied "Der Dienst ml der Leyer", die über die Schrecken des Krieges berichten. Der Invalide, der unfähig zur Lohnarbeit als Bettler den Unterhalt für Frau und Kinder suchen muß, ist ebenso ein Topos, wie der heimkehrende Soldat, der nur noch das Grab seiner Frau vorfindet, der also, wenn man es
anI
Fanlllienpatilos der Soldatenabschiedslieder mißt, ver
geblich im Krieg war. Am Endes eines Liedes heißt es über einen Soldaten, der aus dem Krieg heimkehrt und dessen Geliebte inzwischen gestorben ist "Darauf ging er
(111)
ein Kloster, legte Wehr und Waffen ab, und wohl hinter
Kirchhofs Mauer fmld der Krieger b ald sein Grab"29, oder in einem anderen Lied: "Stumm steht er mit entblößtem Haupt - des Glückes, ach, so schnell
28
"Kriegers Heimweh". Mdorue des Mahd-Walzers. (Eigenthum des Verfassers Gott lieb Suuncius). (1866), in: Fliegende Blätter Bd. 3, Nr. 32,1. 29 Ohne Titd �,Iu des Gartens dunkler Laube... ) . (1868), in: Fliegende Blätter, Bd. 3, Nr. 180,2. "
142
Silke Göttsch
beraubt. Was Lieb und Treue hier verband, trennt rasch des Todes kalte Hand. Der anne, brave Landwehnnannl nichts giebt es, was
ihn trösten kann; deml
dort, das dunkle Kämmerlein schließt seine Welt, sein Alles ein. "30 Auch diese
Beispiele, die vom Soldatenelend handeln, zeigen, wie s tark das Leitbild Fami lie das Bild vom Soldaten überformt. Der Invalide ist nicht mehr in der Lage, s eine Familie zu emähren und auch der heimkehrende Soldat, der keine Fami lie mehr vorfindet, hat alles verloren, d.h. seine Anknüpfungspunkte für ein Leben nach dem Krieg. Die große Zalu der Lieder, die vom Elend des Soldatenlebens handeln, legen zumindest aus heutiger Sicht die VemlUtung nalle, daß die konkrete Kriegser fallUlllg und illre Auswirkung auf den privaten Lebensbereich zu einer antimi litaristischen oder doch zWllindest skeptischen Haltung gegenüber dem Krieg führte. Ganz im Gegenteil entstanden nach dem deutsch-französischen Krieg allerorten Kriegervereine, wld das zweite deutsche Kaiserreich war von einer stark militaris tischen Grundhaltung bestimmt, der sich auch die Unterschichten nicht entzogen. Untersuchungen, wie die von Thomas Rohkrämer belegen sogar, daß es gerade die Arbeiter und das Kleinbürgertum waren, die den Krie gervereinen in großer Zalu beitraten.31 Soldatenlieder geben Hinweise darauf, wie der scheinbare Widerspruch aufzulösen ist.
4.
Soldatenbilder: Glanz und Elend
Dafür ist es notwendig, die vom Rekruten entworfenen Bilder wiederum in die Ü berlegungen einzubeziehen. Der Rekrut steht für den Glanz des Soldate1ue bens, er s teht für die Zeiten des Friedens, als unverheirateter MalU1 führt er ein ungebundenes, frölUiches Soldate1Ueben. Seine über Herkunft wld Beruf defi nierte soziale Stellung ist durch die Zugehörigkeit zum Militär wenigstens temporär außer Kraft gesetzt. Der Rekrut ist eillgebwldell in das militärische Zeremoniell wld p artizipiert während dieser Zeit in seiner Selbstdarstellung all den Insignien oberschichtlicher Kultur (Musik, Waffen, Unifonll etc). Das Rekruterueben ist eine typische Phase im Leben männlicher Jugendlicher, ist Übergallgsstadium zum Erwachsensein. Die angedeutete Rückkehr in die her kömniliche Lebenswelt wld das in den Liedem immer wieder imaginierte kleinbürgerliche Falllilienidyll verweisen auf den Integrationscharakter, der diesem Lebensabschnitts zugemessen wird.
30 U.
Taebel, "Des Landwehnnatills Heimkehr. Nach einer wahren Begebenheit. (1869), in: Fliegende Blätter, Bd. 4, Nr. 29,1. 3 1 Thomas Rohkrämer, Der Militarismus der "kleinen Leute". Die Kriegervereine in1 Deutschen Kaiserreich 1871 - 1914. München 1990, S. 275.
Männerbilder in volkstümlichen Soldatenliedem
1 43
Dagegen wird der Soldat, und er steht für das Elend, fast ausschließlich als Ehemann und Familienvater beschrieben. Er zieht in den Krieg, um Familie wId Heim zu schützen. Selten wird eine glückliche Heimkehr tatsächlich be schrieben, sondem meistens als Trost- und Hoffnungsphantasien während der Kriegszeit. Sicher verweisen die starke Präsenz von Tod und Invalidität und die fehlende Siegesbegeisterung in den Liedem auf Kriegsmüdigkeit und auf reale Alltagserfallrungen, die im Krieg gesammelt wurden. Trotzdem wird das geswIgene Elend nicht in eine pazifistische Haltung verkehrt, und es werden auch nicht die Vertreter des Staates für das erfaluene Elend verantwortlidl gemacht. Die Folgen des Krieges werden als Schicksal individualisiert, als privates Un glück dargestellt und so sentimentalisiert. Die Schilderungen erregen beim Leser oder Zuhörer Mitleid und Rührung. Einsichten in Mechanismen von Kriegen sind nicht intendiert, sondem es findet eine Entpolitisierung des Krie ges statt. Deshalb eignet sich das Bild des Familienvaters so vorzüglidl,
wn
dem Soldaten sein Profil zu geben. Die Anbindung an den Schutz von Familie wId Heim wId die Gleichsetzung mit Vaterland legitimiert den Krieg und appelliert an das Selbstbild des patriarchalischen Familienvaters. Weil der Zwang, in den Krieg zu ziehen, ZWll individuellen Anliegen umgedeutet wird, ist es möglich, auch die Folgen des Krieges als privates, individuelles Unglück zu beschreiben. Damit wird nicht die Rolle des Soldaten schlechthin in Frage gestellt, sondem immer wieder neu und individuell definiert. So läßt sich auch das Bild des lustigen Rekrutenlebens, olUle den Zusam11lenhrulg zum Krieg herzustellen, aufrechterhalten, und es verwundert nicht, daß sehr sdUlell nach
1 871 wieder die fröhlichen Lieder eines rulgeblich so sorglosen Soldatenlebens gedruckt und wohl auch gesungen wurden.
5.
Männerfreundschaft - oder: der gute Kamerad
Die These, daß die Lieder als Veollittlungsins tanz von MännlichkeitsbildeOl fungierten, läßt rul einem weiteren, für WIser Thema wichtigen Aspekt verdeut lichen, der Soldatenkruneradschaft als Metapher für Männerfreundschaft.32 In den Befreiungskriegen, 1 809, hatte Ludwig Uhlruld das Lied geschrieben, das bis in unser Jaluhundert hinein die Idee soldatisdler Krulleradschaft trrulspor tiede wId das auch vom Verlag Kahlbrocksche Wwe 1868 in sein Repertoire aufgenollUllen wurde.
32
Für den Zweiten Weltkrieg vgl dazu TIlOmas Kühne, K:ulleradschaft - "das Beste im Leben des Mawles". Die deutschen Soldaten des ZWeiteIl Weltkriegs in erfahrungs und geschlechtergeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 22, 1996, S. 504 - 529. .
144
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"Der gute Kmnerad Ich hatt' einen Kameraden, einen bessem find'st du lUt. Die Tco111111el schlug ZWll Streite er ging au meiller Seite in gleichem Schritt und Tritt. Eine Kugel kmn geflogen, gilt's nur oder
gilt es dir? ihn hat sie weggerissen, er liegt mir vor den Füßen, als wär's ein Stück von nur.
Will mir die Hmld nicht reichen, dieweil ich eben lad. Kann dir die Hmld lucht geben, bleib du
im ew'gem Leben mein guter Kmnerad."JJ
Die gemeillSmne Erfahrung des Krieges als Grenzsituation bieten Beschrei bungsmuster für die Beziehungen zwischen Mä1lnem
an,
wie sie im außermili
tärischen Leben lucht verfügbar sind und die durch das Erleben der Ausnall mesituation ,Krieg' eine starke Intensität erlmlgen. Die Treue bis in den Tod, Sinnbild soldatischer Tugend, prägt auch das Verständlus von Kameradschaft, die mit Freundschaft gleichgesetzt wird. Dmlut kann der Männerfreundschaft eine Qualität zugewiesen werden, wie sie für andere soziale Beziehungen lucht formulierbar ist. Daß solche Freundschaft nicht nur bis in den Tod, sondem auch in das Leben nach dem Krieg reicht, versteht sich von s elbst. So heißt es in einem Lied "Der treue Kamerad" von
1 872:
"Uns nährt ein Brot, WIS labt ein Trmlk, im jetzt geeinten Kriegers tmld, und so GefallC, wohl Tod, die nallt, bin ich dein treuer Kmnerad...
Ich zähl' auf dichl so deinen Stmld geändert du wld dein Gewmld, nur·dieses Wort, nur dieses Wort, was Tröstung hat von Dir: ich bleib dein Kmnerad".34 Die Kameradschaft wird zum Inbegriff der
im
Krieg gelebten Sozial beziehung
stilisiert wld komplementiert dmnit das Bezugssystem ,Fmllilie'. So wird das unnuttelbare Erleben des Krieges - Gefechte, Hunger etc. - in zweifacher
33 34
"Der gute Kamerad" (1869), in: Fliegende Blätter, Bd. 3, Nr. 199,2. "Der treue Kamerad" (1868), in: Fliegende Blätter, Bd. 5, Nr. 106,2.
Mällnerbilder in volkstümlichen Soldatenliedem
1 45
Weise mit Sinn füllt, wobei die Kameradschaft ganz konkret und situativ prä sent ist. Die mit ihr eingeforderte VenUltwortung und uUlere BUldwlg smd Rüstzeug gegen Todesangst und das Grauen des Krieges, wie sie m zahlreichen Kriegstagebüchem niedergeschrieben wurden.35 Diese kurzen Andeutungen mögen genügen, um auf die Bedeutung des pro pagierten Ideals der Soldatenkameradschaft hUlZuweisen und zu zeigen, wie eng der Zusammenhang zum Leitbild der Männerfreundschaft ist. Die Solda tenlieder fomlUlieren dieses Verständnis wld tragen damit zu iluer Verfesti gung bei. Die Erfahrungen des Krieges und ilue Umsetzung im Medium Lied bilden eine wichtige Vermittlungsmstanz für bürgerliche Werte, wie es die Frewldschaft seit dem 18. Jaluhundert war.
6. Soldatsein als Realität - Biographisches Im Vorangegangenen war viel von Bildem, Ü berhöhungen, Werten u.a. die Rede, die m den Soldatenliedem gespiegelt werden. Diese Ebene soll mit einer anderen Wirklichkeit konfrontiert werden, um den ideologischen Gehalt der Lieder noch deutlicher akzentuieren zu können. Biographische Zeugnisse, die die Rekrutenzeit in der 2. Hälfte des 1 9. Jahrhunderts aus der Sicht des gemei nen Soldaten beschreiben, sUld bisher noch nicht systematisch ausgewertet worden.36 Der schleswig-holsteinische Landarbeiter Franz Rehbem, der 1 909 als Sozialdemokrat auf Veranlassung Paul Göhres seme Lebenserillnerungen niederschrieb37, beschäftigte sich Ul seuler Biographie ausführlich mit seuler dreijällrigen Rekrutenzeit, die er Ul der zweiten Hälfte der 1 880er Jalue Ul Metz Ul Elsaß-Lotluingen zubrachte. Aus der EritUlerung beschreibt er seine Erwartungen an die Rekrutenzeit so: "Nun, ich hatte es nicht ungem gehört, daß ich Soldat werden mußte - wenig
stens hatte ich das Kommißleben dann doch durchgemacht und "konnte mit reden", wenn sich andere darüber unterhielten. Dümmer würde ich sicher nicht danach werden, werul ich drei Jallfe ml bunten Rock abriß. Auch war es eine Abwechselung in dem ewigen Einerlei der ländlichen Arbeit, die ich nun schon jallfelang verrichtete, und schließlich: man wird auf dem platten Lande immer für etwas voller angesehen, werul man Soldat war. Also: memethal benl"38
Kriegstagebüchem 1 870/71 ist geplant. Einige Bemerkungen dazu finden sich bei Rohkrämer (wie Anm 31), S. 141 - 170. Frallz Rehbein, Das Leben eines Laudarbeiters. Hamburg 4. Auf!. 1990 (Erstausgabe 1909). 38 Rehbein (wie Anm 37), S. 168. 3S Eine Auswertung von 36 37
.
.
146
Silke Göttsch
Die hier beschriebene, wenn auch verhaltene Vorfreude Rehbeins, auch des gesellschaftlichen Prestigegewinns der Rekrutenzeit, wird allerdings schnell zunichte gemacht. Brutaler Drill, Prügel, SchiklUle und Hunger waren die all täglichen Erfaluungen, die
mit
der Soldatenzeit verbunden waren. Weder
Tschako, noch Säbel, noch Umzüge durch die Stadt
mit Musikbegleitung be
schreibt Rehbein, die Unifoollen waren Lumpen, und die fröhlichen Beziehun gen zu Frauen erschöpften sich in gelegentlichen Bordellbesuchen. Die dlUllit verbwldene Ausbildung einer Untertanenmentalität ist Rehbein aus der Sicht des Sozialdemokraten 20 Jalue später überdeutlich: "NiemlUld sollte mehr kommen und von dem verfeinerten Ehrgefühl des deutschen Soldaten spre chen. Eine größere Lüge habe ich nie kennen gelemt. Im Gegenteil, das natür liche Ehrgefühl des MlU11les wird durch eine derartige unwürdige Behandlung pllU11l1äßig abgestumpft und ertötet. Tagtäglich ausgehunzt wld ausgeludert, und dazu noch wehrlos den rohesten MißhlUldlungen ausgesetzt! Wollte man wHer solchen Umständen wirklich Ehrgefühl beweisen, so bliebe nichts lUlde res übrig, als solchen Schinder von Vorgesetzten kurzerhand über den Haufen zu s techen und - so schnell wie möglich Selbstmord zu verüben. Aber die Abstumpfung ist so groß, daß sie zu einer derartigen Verzweiflwlgstat gar nicht mehr ausreicht. So läßt man sich delul schweigend und grollend zu einem willenlosen Maschinenteil dressieren".39 Entsprechend resignativ fällt auch das Fazit Rehbeins nach Ablauf der drei Jalue aus: "Als aoner Teufel war ich eingetreten, als aoner Teufel kehrte ich zurück. Meine paar Taler Lohn, die ich einst mitllalml, hatte ich längst ver braucht. Doch ich war um etliche emste Erfallrungell reicher geworden, ich Sall die Welt mit lUlderen Augen lUl und wußte nun, daß all die schönen Solda tengeschichten der Literatur nichts weiter sind wie Märchen, gemacht, um einen Pseudopatriotismus zu hegen und zu pflegen, der das nüchteme klare Denken der unteren Volksklassen unUlebeln soll. Wie ein Hohn auf die nackte Wirklichkeit erschienen mir nw} sdlOn längst Lobpreisungen des Militarismus, wie ich sie so häufig in Büchem wld Zeitungen gelesen. Das einzige Gute, was ich mir beim Militär angeeignet, war ein billchen körperliche GewlUIdtlleit. Aber mit welchen Opfem und Mitteln hatte mlUl mir die beigebraditl Welche entwürdigende Behandlung hatte ich derentwegen ertragen müssenl Doch über das alles wußte ich nun Bescheid. Und den wollte ich mir walulich merken, mein Leben llUlg... Wer wie ich als Habenichts drei Jallre in der Schwadron Dienst getlUl wld sich noch ein gesundes Gefühl für Menschenwürde bewallr te, der verzichtet für immer darauf, den Militarismus in irgendeiner Foml zu verherrlichen. Mindestens die Hälfte unseres glUlzen militärischen Drills war überflüssig gewesen. "40
39 40
Rehbein (wie Anm. 37), S. 191. Rdlbein (wie Awn. 37), S. 208 - 209.
1 47
Männerbilder in volkstümlichen Soldatenliedem
Nun ist natürlich der Biographie Rehbeins mit der nötigen Quellenkritik zu begegnen, schließlich schrieb er seine Lebenserinnerungen 1909 als sozialde mokratisches Lehrstück nieder. Aber es sind nicht nur seine \Vertungen, son dem vor allem seine genauen Beobachtungen, die einen Eindruck von der Rekrutenwirklichkeit vermitteln. Gegen das biographische Erinnem steht die dinglich- biographische Überlieferung, in der die Rekrutenzeit eine große und /
o ffensichtlich sehr positiv besetzte Rolle spielt. Dabei muß millI nur illl die Reservistenbilder (zu dieser Zeit waren das in der Regel Lithographien, auf denen reitende Soldaten dargestellt waren, einen Kopf konnte der Soldat durch Hinterlegung mit einem Photo individuell gestalten) denken, die eigenen Haushalt einen prominenten Platz einnaluuen, und
illl
im
späteren
die bemalten
Bierdeckel und Pfeifenköpfe, gilllZ ähnlich denen der Burschenschafter, ich hatte ja bereits darauf hingewiesen. Auch die Kriegervereine, die nach dem deutsch-frilllZösischen Krieg ihre Blütezeit erlebten, vorwiegend eine kleinbür gerlidIe Klientel hatten und
mit ihrer reaktionär-patriotischen
Begeis terung für
alles Militärische die Rekruten- und die Soldatenzeit glorifizierten, lassen für das ausgehende 19. JallChundert eher die Vorstellung unkritischer und wleillge schränkter Begeisterung für das Militär vermuten.
7.
Vorsichtiges Fazit
Lieder sind natürlich für die Frage nach der Venuittlung von Werten und At titüden und deren Einfluß auf mentale Strukturen eine schwierige Quelle. Deml sie sind streng genommen nur aus illCem kommunikativen Kontext her aus zu deuten, der heute nicht mehr zu erschließen ist. Wir müssen von den gedruckten Texten ausgehen, über die PerfoC1uilllz wissen wir nur wenig. Aber die Kontextualisierung der Lieder, illCe Einbindung in das Spillll1ungsverhältnis von WWlschbildem wld Wirklichkeit läßt Auss agen darüber zu, welche Be dürfnisse in illllen gespiegelt werden. Rekruten- wld Soldatenlieder beziehen sich unmittelbar auf Erfallrungen von Mätll1em ulI1erllalb und außerhalb der militärischen Welt. Die Lieder fonnulie ren gefühls besetzte WallUlehmungsmuster des Soldatseins UI Kriegs- und Frie denszeiten vor und helfen so, die erlebte Wirklichkeit zu überhöhen. Die Re krutenlieder betonen den für die Adoleszenzphase so wichtigen Prestige gewinn, sie spielen mit den Statussymbolen der Offizierswelt und geben sie für s oldatisches Gemeulgut aus, sie suggerieren eine Idee vom sozialen Aufstieg, der s eine Erfüllung im kleinbürgerlichen Eheglück findet. Genauso wie die zalillosen zeitgleichen Bilderbögen, die das Thema "Lebensaltersstufen" illu strieren, verfestigen sie die Ideologie von der "erfolgreichen Biographie". Die Rekrutenlieder fungieren als Medium der Popularisierung. Die Lieder über den Soldaten im Krieg thematisieren die Filluilie als gesell schaftliches Leitbild, der Soldat ist UI der Regel zugleich Ehemann und Vater.
Silke Göttsch
1 48
Die Teilnahme am Krieg wird nicht an abstrakte patriotische Werte wie Ehre, Vaterland usw. gebunden, sondern an ganz konkrete, alltagsbezogene Erfall rungszusammenhänge, an die Familie, die Ehefrau, die Kinder, die Eltern, an das Zuhause. Dadurch erfahrt die Familie, die eheliche Liebe und die väterli che Fürsorge eine Aufwertung, die der Verfestigung bürgerlicher Familieni deale dient. Um den Krieg als gerechte Sache zu legitimieren, wird dem Solda ten eine über soziale Beziehungen konstituierte Heimat vor Augen geführt, keine Bilder, die an landschaftliche Klischees anknüpfen oder gar an so diffuse Werte wie Vaterland und Ehre. Sie ist damit nicht mehr nur der Ort der Re produktion, sondern sie wird zur "Heimat" stilisiert, die von Feinden bedroht ist und die es zu verteidigen gilt. Die Familie als patriarchalisch-bürgerliches Ideal wird durch die Verknüphlllg
mit patriotischen und soldatischen Werten
wie Vaterland, Pflichtgefühl, Treue usw. zum Suulkons trukt für den Krieg. In ganz ähnlicher Weise fungiert die MätUlerfreundschaft, die vor dem Hinter grund gememsam erlittener (Lebens-) Gefahr des Krieges formulierbar wird. Auf die stabilisierende FUllktion wurde hingewiesen. Der Krieg mit semen Erfallrungen von Trennung und GefallCen macht Ge fühlswerte wie Liebe auf neue Weise fonnulierbar, nicht un SUUle eines ab strakten Gefühls, sondeOl verditlglicht Ul ganz konkreten Erfallrungszusam menhätlgen, die Ul den Liedern wiederum durch emotionale Werte aufgeladen und besetzt werden. Die Verlagerung der Kriegsmotivation Ul die private Le benswelt und die damit eUlhergehende Sentimentalisierung Ul der Darstellwlg verhuldeOl, daß die mit dem Krieg verbundenen Erfallrungen in eUle antimili taristische Haltung umgesetzt wurden. Das aus dem Krieg potentiell resultie rende Elend, die Zerstörung der Familie, der Verlust der materiellen Existenz und der körp�rlichen Unversehrtheit als kollektiver Kriegserfallrung wird Ul uldividuelles und damit anrührendes Schicksal umgefonnt. Sentimentalisierun gen, wie sie in den LiedeOl vorgenommen werden, reduzieren kollektive Erfall rungen auf uldividuelle Schicksale und machen so das Erleben des Krieges und seuler Folgen aushalt- und nachvollziehbar, bieten Muster der Verarbeitung und lassen Fragen nach Zusat11ß1enhängen und Verantwortlichkeit nicht auf kommen. Die Verknüpfung von soldatischer Tugend und vaterlätldischer Ge sUUlung mit LeitbildeOl der bürgerlichen Gesellschaft wie Familie und Freund schaft wirkt sUUlstiftend wld hannonisiert die Anforderungen von Außen- und Innenwelt, von Staat und Familie. Zugleich ist es so möglich, den Soldaten als positives und prestigebesetztes Männerideal über den Krieg hinaus beizube halten. Sicher hat Ute Frevert recht, wenn sie schreibt, daß die Anfang des 1 9. JallChunderts Ul Preußen eUlgeführte allgemeule Wehrp flicht das traditionelle MätUlerbild revolutionierte41, aber wirklich durchgeschlagen ist diese Militari sierung des Mannes erst mit den Kriegen m der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
41 Ute FreveIt (wie AUIll.
4), S. 81.
Männerbilder in volkstümlichen Soldatenliedern
1 49
hunderts und besonders dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71. Dazu trugen wlter anderem die neuen Medien bei, wie z.B. die Heftchen
mit Solda
tenliedern, die eine breite Popularisierung ernlöglichten, und die nun auch im kleinbürgerlichen Umfeld entstehenden Vereine als institutionalisierter Ort männlicher Geselligkeit. Die Lieder übernehmen dabei entlastende Funktionen. Sie emlögIichen auch nach den Erlebnissen der Rekrutenzeit und des Krieges eine Glorifizierung des Soldatseim, wie sie in den kleinbürgerlich geprägten Kriegervereinen abgefeiert
wird. In der gemeinschafts- und identitäts s tiftenden Atmosphäre der Vereine aber nicht nur hier - wurden diese Lieder gesungen wld tradiert.
Silke Göttsch
1 50
Quellenanhang: Textbeispiele Der kleine Rekrut Wer will unter die Soldaten, Der muß haben ein Gewehr, Der muß haben ein Gewehr, und muß es mit Pulver laden Und mit einer Kugel schwer. Büblein, wirst du ein Rekrut, Merke dir das Liedlein gut, Hopp, hopp, hopp, Hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf im Galopp. Inuller munter, immer mWlter, hopp, hopp, hopp, Pferdchen lauf
im
Galopp.
Einen Säbel an der Seite, (: Zieret ja den KriegersmatUl, :) Datuit,weml er ziehet zum Streite, Schießen und auch fechten katUl. Büblein, wirst du ein Rekrut. .. Einen Gaul zum Galoppieren, (: Und von Silber auch zwei SpOO1 :) Zawll und Zügel zum Regieren, Weml er Sprünge macht im ZOO1. Büblein .... Doch vor aliem muß Courage (: Haben jeder, jeder Held, :) Sonst erreicht ilUl die Blatllage, Zieht er olUle sie ins Feld. Büblein wirst du .... Mutllig muß das Herze schlagen, (: Weml auch die Kanone kracht, :) Frisch und kühn das Leben wagen, Weml er gehet hin zur Schlacht. Büblein... Einen Schnurrbart unter Nasen (: Und ein Tschako auf dem Kopf :) Sonst weml die Trompeten blasen, Ist er nur ein a01Ier Tropf. Büblein... Weml Trompeten lustig schallen, (: Manches Mädchen konullt in Glutll, :) DelUl die Mädchen sind vor allen Den Soldaten imlig gut. Büblein... KiliUl und mutllig in der Liebe, (: Wie
im Feld,
ist der Soldat; :) Ihn umschleichen zarte Triebe, Weml sich nur ein Mädchen nallt. Büblein...
Männerbilder in volkstümlichen Soldatenliedem
151
Wenn die schmucken Waffen blinken, (: Manches Mädchen Herze lacht, :) Wenn die Stem' zum Schlafen winken, Noch mlUlch Herz voll Sehnsucht wacht. Büblein... Liebesblicke, Liebesthränen (: Den Soldaten eigen sind, :) und der Mädchen HerzenstlIüre findet er gar sehr geschwind. Büblein ... (Fliegende Blätter, Bd. 5, Nr.
44,3, 1 867)
Des Landwehrmanns Heimkehr. (Nach einer waluen Begebenheit) Fort mußt er ziehn, wer weiß wie weit, der Landwehnuann, in Kampf und Streit; sein treues Weib, sein einz'ges Glück, ließ er dalleim betrübt zurück. Er kämpft, in mancher heißen Schlacht, doch ihrer hat er stets gedacht; Nach blut'ger Arbeit, Abends spät, schloß er sie s till in sein Gebet. Heut zog der Feind mit WUtll henUl, und wacker stritt der Landwehnuann, 'ne Kugel, daß sich Gott erbann, zerschmettert ihm den rechten AmI. Aus man cher Wunde blutet er und f.'illt und ruft: "Ich kann nicht mehrI" Zu Grabe sinkt der wunde Leib, "Gott schütze dich mein annes Weib!" Man brachte ilUl unter Schmerz und Qual halbtodt in's Krankenhospital, und lange trübe Zeit verstrich, eh' ilUlI der Todesengel wich. Doch die N atur siegt und er lebt! zum Dank er froh den Blick erhebt. Nall1u ill1U das Schicksal gleich den
Ann, schlägt doch sein Herz noch treu und warnl.
Zur Heimath lenkt er seinen Schritt, da muß j a alles, was er litt, mit der ErilUle ruug vergelUl, dort giebts ein frohes WiederselUl. Bald sieht er das geliebte Thal, sein Dörflein still im SOlUlens trall1, es grüßt ilUl jeder Baum und Strauch, es weht ihn an wie Gottes Hauch. Weit hinter ihm liegt Nacht und Graus, wie malt er's sich so lieblich aus: sein treues Weib, wie's ilUl begrüßt und ihm die bleiche Wange küßt. 0 Freudel Wonne! Seligkeit! wie wird die Brust so frei so weit! so zieht ins Herz, so und rein, die ganze Gotteswelt hinein.
klar
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Silke Göttsch
Und rascher lenkt er seinen Schritt, hinunter in des Dorfes Mitt', dort, dort das freundliche Asyl! - der frohe Wandrer steht am Ziel. Jetzt klopft er leis' ans Fensterlein und horcht - sie muß darinnen sein; - doch alles stumm; - ist alles still - mein Gottl was das bedeuten will? Ihm wird so weh, er weiß nicht wie; er eilt zur Thür wld öffnet sie. Ins Stüb chen friedlich still wId klein, tritt er voll banger Ahnung ein. Dort auf dem Tisch ein Bibelbuch, ein Cruzifix Wld - Leichentuch. Er keImt's am buntge s tickten Sawn, er steht wId starrt wId adullet kaum. Von seiner Stim IDmt kalter Schweiß, heiß brennt die Wunde, glühend heiß. 0, Hoffnwlg, heil'ges Morgenrothl erstarrtl verstummt todt, ewig todt! Zum FriedllOf schleicht er still hinab, hart an der Thür ein frisches Grab, da ruht sein Weib im dunklen Schoß der Erde, unter grünem Moos. Stumm steht er mit entblößtem Haupt - des Glückes, ach, so sclmell beraubt. Was Lieb wId Treue hier verband, trellllt rasch des Todes kalte Hand. Der amIe, brave Landwehrmruml nichts giebt es, was ilm trösten krum; de1l11 dort, das dunkle Kämmerlein schließt seine Welt, sein Alles ein. U. Taebe! (Fliegende Blätter, BruId 4, Nr. 29,1, 1 869) Neues deutsches Kriegerlied.
Verfaßt von Georg Küper. (EigendlWlI von A. Heinrichs.) Auf Brüder! es gehet zum blutigen Streit, es maclIe sich Jeder zum Kampfe bereit der Feind, der Külme, er dIDIgt in's VaterlruId, will rauben und brennen mit frevelnder Hruld. Es rufet die Ehre, es rufet die Pflicht, wId DeutschlruIds Sölme verzagen noch nicht! wir halten zusammen, von Nord bis zum Süd laut soll es erschallen unser Schlachtenled. Es gehet ZWlI blutigen, heiligen Krullpf, bald werden wir stehen inI Pulver dampf, der Frrulke verheeret frech WIser Flur, und blutige Saaten folgt seiner Spur. Es rufet die Ehre ... Höret, illf Brüder, die Trompete, sie schallt, höret, ihr Brüder, die Muskete, sie knallt, es gilt zu kämpfen für den heimischen Heerd, drum ziehen wir kühn und mutlug das Schwert, es rufet die ...
Männerbilder in volkstümlichen Soldatenliedern
1 53
Es gilt jetzt zu kämpfen für Weib und für Kind, drum alle Herzen auch einig sich sind, zwn Rhein, zum Rhein, zum wilden Schlachtgetos' Gernlaniens Söh ne sollst finden du Franzos', es rufet die Ehre ... Horcht auf! laut unser Schlachtenruf erschallt, und Deutschland's Falme in den Lüften wallt; wir bieten dir Franke mutlug die Brust, und kämpfen als Deut sche mit Lieb wld nut Lust, es rufet die ... Lebt wohl, ihr Lieben, es ruft das Vaterland, drum greifet mutlug zum Schwerte die Hand, es folget der Falme, der Jüngling, der Mann, es folget mutlIig wer Waffen führen kann, es rufet die ... Leb wohl, du Geliebte, ich scheide von dir, doch bleibet mein treues Herz stets luer, und kehr' ich nicht wieder, so weine nur lucht, ich fiel ja für Vaterland, Freiheit und Licht, es rufet die Ehre ... Wer findet den Tode beim wilden \Vaffentanz, dem schmücket die Stirne, der grüne Lorbeerkranz; zu kämpfen, zu streiten für Heimath und Heerd, das ist es, was jeder Deutsche begehrt, es rufet die ... (Fliegende Blätter, Band 4, Nr. 1 12,1, 1 869)
Der treue Kamerad Es giebt kein \Vort, was reiner klingt, kein \Vort, was mehr zum Herzen dringt, ja keins was höhernI WertlI mir hat als dies: Du bist mein Kamerad. Du trägst, wie ich, dasselbe Kleid, wir schwörten beide einen Eid. Im Kleid, im Eid, in Pflicht und That, in Allem bist du mein Kamerad. Uns nährt ein Brot, uns labt ein Trank, im jetzt geeinten Kriegerstand, wId so Gefallf, wohl Tod dir nallt, bin ich dein treuer Kamerad. Und sollte einst an deiner Seit' für's tlIeure Vaterland! im Streit mich fordern auch die blut'ge Saat, dann zähle ich auf dich Kamerad. Ich zähl' auf dich! so deinen Stand geändert du wId dein Gewand, nur dieses Wort, nur dieses Wort, was Tröstung hat von dir: ich bleib dein Kamerad. (Fliegende Blätter, Band 4, Nr. 106,2, 1 869)
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Silke Göttsch
Soldatenlied Ich war ein jWlger Bursche, kaum 18 Jahre alt, und liebte die Soldaten vor jedem andem Stand. Trallalala, vor jedem andem Stand. Ich stand bei Stuml und Regen, bei kalter finst'rer Nacht, bei Blitz, bei Don nerschlägen ganz einsalu auf der Wacht. Trallalala, ganz einsanI
x.
In Ketten und in Ballden hab' ich gesessen fest; wld dennoch überstalIden hab' ich den schwer'n Arres t. Trallalala, hab' ich den schwer'n Arrest. Eins t lag ich mal auf Latten, bei Wasser und bei Brod, mein Leib war wie ein Schatten, d'rum wünscht' ich mir den Tod. Trallalala, d'rum wünscht x. Ich war ein tapfrer Krieger, sang malIch' Soldatenlied, war ein verweg'ner Sieger, jetzt bin ich Invalid. Trallalala, jetzt bin ich Invalid. Ich geh jetzt vor den Thüren, muß betteln, ich arm' Mann; doch timt es Kei nem rühmen, wer t1in1mt sich meiner an. Trallalala, wer nimmt x. D'rum ratIle ich Euch Allen, und folget meinen RatII, wenn die Trompeten schallen, wünscht nicht: Wär ich Soldat. Trallalala, wünscht nicht x. (Fliegende Blätter, Balld 5, Nr. 44,3, 1 8 72)
Alle im Verlag Kahlbrocksche Wwe, Hanlburg.
Gudml1 Gersmann
Ans Gemächt gegriffen. Zur Archäologie eines männlichen Umgangs mit der Hexe 1. Vorgeplänkel Am
1 9. April des Jahres 1 705, einem Samstag, findet im westfälischen Wester
holt eine Gerichtssitzuug statt. Wegen "zauberey" steht an diesem Tag eine Frau namens Anna Spiekemlatln vor dem Richter Satlder. Der Verdacht gegen sie wiegt schwer. Wenn es s timmt, was matl im Dorf munkelt, datlll hat sie ihrem N achbam "seine manligkeit" gatIZ und gar weggehext. So behauptet der betroffene JOhatlll Krrunpe jedenfalls gegenüber der Obrigkeit, wld der Zu statld seines "mänlichen gemächts" wird das Gericht in den folgenden Mona ten tatsächlich wieder und wieder besdläftigen. Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Verfahren gegen Anna Spieker mann kaunI von den vielen atlderen, seit dem Ende des 1 6. Jahrhunderts auch in der Rhein-Ruhr-Lippe-Region geführten Prozessen, abgesehen davon, daß es zu einem ZeitpwIkt beginnt, als Hexenverfolgungen eigentlich bereits der Vergangenheit atIgehören. In der näheren Umgebung gibt es nur eine einzige Stadt, wo 110ch später als
in Westerholt veulleintliche Hexen verfolgt werden:
1738 s terben Agnes OlmatIS und Helene Curtens im bergischen Gerresheim wlter der HatId des Scharfrichters, weil sie "teuffelische unzucht" betrieben haben sollen.! KOßllllt dem Prozeß bloß die gewiß fragwürdige Qualität eines letzten Aus läufers des Hexenwalllls im Vest Recklinghausen zu? Weit gefehlt. Bei genaue rem Hinsehen entpuppt sich der oben skizzierte Fall als außerordentlich kom plexe Verkettung von Emotionen und Interessen, die spatlllende Aufschlüsse über die Wal1Ulehmung des männlichen Körpers in der Frühen Neuzeit liefert und gerade in geschlechtergeschichtlicher Perspektive eine Analyse lohnt. Der Prozeß gegen Anna Spiekermatlll gewatln seine Dynanük und Viel schichtigkeit aus der Verknüpfung mehrerer Ebenen. Einerseits Teil einer seit latlgem schwelenden Auseinatldersetzung zwischen den Eingesessenen der
1 Zu den Gerresheimer Prozessen vgl. als erste größere Darstellung Clemens-Peter Böskell: Hexenprozeß. Gerreshei11l 1737/38: Die letzte Hexenverbrennung im Rheinl31ld. Düsseldorf 1996, S. 82.
1 56
Gudrun Gersmann
Freiheit und dem Herm von Westerholt wn die Ausübung der Gerichtsbar keit:2, spiegelte er andererseits elementare alltägliche Spannungen wider, ja ließ im Zuge der Verhandlungen immer stärker erkennen, worum es in dem Streit um ein verletztes "mällliches gemächt" wirklich ging, um Sexualität und Ge walt nämlich, um die Unversehrtheit des männlichen Körpers wld die Herr schaft der Frau, um gekränkte Eitelkeit und kollektive Rachegelüste. Diente die Bezichtigung der Anna SpiekemIillUl als kompensatorisches Mittel, unI tiefgrei fende Kastrationsängste zu beschwichtigen? Mußte die Hexe hier nicht eUUlIal mehr als Projektionsfläche für spezifische Männerphantasien herhalten? Solche Fragen sollen im ersten Teil des Beitrages exemplarisch untersucht werden, während im zweiten Teil der Aspekt der Rezeption ins Zentrwn der Aufmerk satllkeit rückt. Fast ist das Nachleben des SpiekermillUl-Prozesses intereSSillIter als das Verfaluen selbst: Während die meisten Opfer des "Hexenwall11s" kaum mehr nill1lentlich zu identifizieren sind, erfreut sich Anna SpiekermillUl fast 300 Jallre nach ihrem Tod beträchtlicher Berühmtheit. Unter dem Nillllen "Hexenänneken" gilt sie in Westerholt als LokalheIdin. Hatte die Entdeckwlg der originalen Prozeßakten im Archiv von Schloß Westerholt schon in den frühen 1 920er Jallren eine Flut von heimatgeschichtlichen Publikationen her vorgerufen, so erinnert die Lokalpresse seitIler in regelmäßigen Abständen illl das "Hexenänneken". R.'ldiosendwlgen und Theaterauffühmngen sorgen dafür, daß der Prozeß gegen Anna SpiekemlillUl nicht in Vergessenheit gerät. Farben prächtig ausgeschmückte Anekdoten über ihr Schicksal haben Konjunktur. Aus der Mä11fllichkeits-Diebitt von einst ist ein Tugendidol geworden: Sie sei, so das gängige Bild, eine "bildllübsch(e)" junge Frau mit leuchtenden roten Haaren gewesen, die einst alle MätUler, selbst den Grafen von Westerholt, in ihren BillUI gezogen habe, oll11e je vom Pfad der Tugend abzuweichen. Von einem verschmähten Bewerber sei sie als "Hexe" denunziert und auf der Westerholter Wettenviese verbrannt worden, erst nach der HinriChtwlg habe millI illre Un schuld erka1Ult und illr zu Ehren jene SülUlekappelle errichtet, die heute noch im Schloßpark stehe.3 Obwohl solche trivialen Erzählungen Fakten und Fiktion bunt durcheinan derwürfeln, liefern sie illldererseits spannende Bausteine für eine Geschichte der Rezeption des HexentIlemas, da sie geradezu modellhaft dokumentieren, wie sich die öffentliche Wallrnelunwlg der Anna SpiekeollillUl verätldert hat.
2
Zu den politischen Implikationen des SpiekemlatUl-Prozesses vgl. Gudlun Gers Die Hexe als Heimatheidin. Die Hexenverfolgwlgen der Frühen Neuzeit im Visier der Heimathistoriker. In: WestHilische Forschungen 45, 1995, S. 102 - 133, hier bes. S. 123f. So wird die Geschichte des "Hexenännekens" zusammengefaßt in dem Band Keille Geschichte ohne FraIlCII. Eine Auswahl von Materialien zur Geschichte von Frauen in Gelsenkirchen, zusrunrnengestellt von der Frauellgeschichtswerkstatt atl der VHS in Gelsenkirchen 1989/90, S. 214. IDatl11:
3
Archäologie eines mälUilichen Umgangs mit der Hexe
1 57
Zu Lebzeiten als Inkamation der "bösen Frau" schlechthin stigmatisiert, ist sie posthum zum Symbol fraulicher Reinheit und Tugend befördert worden. Die Wandlung des "Hexenännekens" von der männemlordenden Hexe zur Hei matheroine kann nachträglich relativ präzise datiert werden. Daß ihre "Heiligsprechung" keinen Zufall darstellte, sondem vielmehr das Resultat eines zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg vollzogenen Prozesses der Aneig nlUlg der "historischen Hexe" bildete, der seinerseits nur aktuelle Umbruche der Geschlechterbeziehungen reflektierte, sei schließlich in der Auseinander setzung mit der Heimatgeschichtsschreibung der 1920er wld 1 930er Jahre gezeigt.4
2. Die Geschichte Die Geschichte der Anna Spiekemul1l11 ist keineswegs einfach gestrickt. Wegen illrer Ungereimtheiten treibt sie denjenigen, der sie erforschen will, schier zur Verzweiflung. Die Gerichtsprotokolle präsentieren dem Historiker wlzählige Varianten ein und derselben Episode. Eine Lüge löst die illldere ab. Da spricht zunächst der Bezichtiger inl Tone der Entrüstung desjenigen, der einen schwe ren, nicht wieder gutzumachenden Schaden an Leib und Ehre erlitten hat. Da beharrt die Angeklagte demgegenüber auf illrer eigener Unschuldsversion, die sich freilich in dem Maße verändert, wie Druck auf sie ausgeübt wird. Da mi schen sich schließlich die Zeugen ins Spiel, die ihrerseits zur Verwirrung bei tragen. Angesichts der in den einzelnen Berichten auftauchenden Widerspruche wä re es ein ziemlich bedenkliches Unterfilllgen, die Wahrheit hinter den Aussagen der Betroffenen aufdecken zu wollen. Immerhin läßt sich wenigstens in groben Umrissen ein Szenaro rekonstruieren: Der Streit, der Anna S. letztlich auf den Scheiterhaufen bringen sollte, war, darin stimmten alle vor Gericht agierenden Personen überein, in der Osterwoche des Jahres 1705 entbrilll11t, als die Magd dem alten Vater Krillllpe eines Abends "heimgeleuchtet" und in dessen Haus zufällig seinen Sohn Johilll11, einen Schneider, angetroffen hatte. Die weiteren Geschehnisse sind illlhand der verworrenen Schilderungen der beiden Kontra-
4
Zur Entwicklung der Heimatgeschichtsschreibung im heutigen Ruhrgebiet vgl. u.a. die Studie von Birgit Beese, Liebeskranke Stiftsdamen und sächsische Jungfrauen Die Rezeption Essener Äbtissinnen des Mittelalters in der Geschichts- und Heimat forschung. ln: Bea Lundt (Hg.): Vergessene Frauen an der Ruhr. Von Herrscherinnen und Hörigen, Hausfrauen und Hexen 800 - 1800. Köln 1992, S. 273 - 322. Zur Re zeption speziell des Hexenthemas existiert bisher uur wenig Literatur. Vgl. für Lemgo Jürgen Scheffler: "Lemgo, das Hexemlest". Folkloristik, NS-VeI1llarktung und lokale Geschichtsdarstellwlg. In: ]alubuch für Volkskunde, N.F. 12 (1989), S. 112 - 132.
Gudrun Gersmaun
1 58
henten nicht mit letzter Sicherheit zu klären. Glaubt man dem Bericht des JohatUl Krampe, datUl hatte sich Anna SpiekenuatUl rasch mit ihm auf ein allerdings unerwartet eskalierendes - Schäferstündchen eingelassen. Der Dar s tellung der Angeklagten zufolge waren ihr Kratupes Zärtlichkeiten aber von vomherein aufgezwungen worden. Gegen ihren Willen, betonte sie vor Ge richt, sei Kratupe zudringlich geworden, habe sie "gekußet", aufs Bett gewor fen w1d gefragt, ob er "nach ihr kommen" solle, um gemeinsam "was kurtzweil" zu haben. Im Eifer des Gerangels war es schließlich zu jenem folgenschweren Vorfall gekonUl1en, der den Kem des späteren Hexereivorwurfs ausmachte. In heftiger Gegenwehr hatte die Spiekermatu1 dem Kratnpe "oben uber die bux" gestri ehens und
"mit ihrer hatIdt" dabei so kräftig at1 sein "gemächt gegriffen"6, daß
der Galan für eine gatlZe Weile außer Gefecht gesetzt war. Seit dem bewußten Tag hatte er sich, wie er in den \Vochen darauf inuner wieder klagte, "ad gene rat1dwu impotentem gemecht" gefühlt und die Spiekenllatu1 deshalb der Ob rigkeit denwlZiert. Den Beweis seiner Behauptw1gen trat KranIpe im Mai
1705
dem Wester
holter Gericht gegenüber mit ebenso plastischen wie mitleiderregenden Scllli decwIgen at1. Obwohl er das "membrum virile" noch besitze, sei selbiges "gantz entkraftet", "gleich wie ein ausgetrucknetes s tuckle fleisch".7 Ein "Klwupendocktor" in1 Märkischen habe inzwischen seinen
Urin
untersucllt
und ill111 gute Ratschläge zur Heilung erteilt, dessen ungeachtet dauerten seine Qualen jedoch fort, seine MälUilichkeit sei erbämliich geschrumpft und hänge "ohne krafft" wie ein "thotes glidt" herab,s Zur Überprüfung seiner Angaben konsultierte das Westerholter Gericht zwei SacllVerständige, Medicus Sander und Chirurgus Schultz, die nach ausführli cher Besichtigung des Corpus delicti an1
30.
Mai
1 705
ihre Beobachtwlgen in
einem in lateinischer Sprache abgefaßten Text niederlegten. Ihr Gutachten bestätigte Kran1pes Darstellung, indem es ausdrücklich die merkwürdigen Veränderungen seines "manligs glidt(s)" hervorhob. "Testicul., virga virilis et scrotum" seien weit über die natürliche "color" hinaus "blundt und blau" verfärbt, lautete die Diagnose der mit dem mälllilichen Körper vertrauten Experten, die den Vorwurf, Am1a SpiekennatUl habe Kran1pe sein "mänlichs gemäcllt" hinweggehext, partiell abschwächten: In "substat1tia" seien seine Gesclliechtsteile durchaus noch vorhat1den, welU1gleich sie deutlich Schaden genommen hätten.9
5 Die Prozeßakten sind mit Genelnuig1l1lg des Grafen von Westeruolt einsehbar. Gräflich Westeruolter Archiv 201, BI. 21ff. 6 Ebd., BI. 3b. 7 Ebd., BI. 7b. B Ebd., BI. 66b. 9 Ebd., BI. 103.
Archäologie eines männlichen Umgangs mit der Hexe
1 59
3. Das Erlaubte und das Verbotene Es
fällt
im
nachhinein
schwer,
den
auf der
Basis
eines
begrenzten
medizinischen Wissens formulierten Befund angemessen zu bewerten. Hat das energische Zufassen der SpiekenuatUl wirklich die von Sander wld ScllUItz attestierten Konsequenzen gezeitigt oder übertrieb Krampe die ihm zugefügten Verletzungen, wu von einer bereits seit längerem bestehenden Geschlechts kratlkheit abzulenken? Was atl jenem Frühlingsabend in der Freiheit Wester holt auch passiert sein mag, vor dem Hintergrund der datuals herrschenden Körper- und Sexualauffassung verwundert es nicht, daß der geschädigte MatUl das Handeln der widerspenstigen Frau gleich mit Hexerei und Hexenkünsten
assozüerte. In modemer, durch ein Jahrhwldert der Psychoatlalyse geprägter Temunologie würde matl wohl von einer auf die Hexe projizierten Kastratiolls furcht sprechen, tatsächlich spricht vieles dafür, daß Kranlpe bewußt oder unbewußt in Kenntnis des Hexellmusters handelte, das populäre Werke wie der 1487 gedruckte Hexellbalnlner mit suggestiven Wendungen in den Köpfen des Publikums veratlkert hatten.10 Die Hexe tauchte hier 1n Gestalt einer raffi luerten 1I1iil111/ichkeits-Diebitl auf, die stets danach trachtete, männliche Zeu gungskraft zu hemmen. Heinrich Institoris, Hauptverfasser des gelehrten Kompendiums, wlterbreitete seinen (männlichen) Lesem eine nallezu apoka lyptische und beunruhigende Vision. Die Hexen verhinderten nicht allein die "Erektion des Gliedes", sie seien auch beschlagen in der Kunst, die "Sanlen wege" derart zu "versperren", daß der Samen gar nicht zu den "Gefäßen der Zeugwlg" gelange . ll Gipfelte die Perhorreszierung der mfuUlemlOrdenen Hexe im
camln in
Mallcfls Malifi
der absurden Vorstellung, matlche Frauen luelten gleich "zwatlzig bis
dreißig Glieder auf einmal" in Vogelnestem oder Schrfulken eingeschlossen, räwute Institoris andererseits ein, daß die Schadellszauberinnen kraft teufli scher Hilfe Verhexungen häufig bloß vorgaukelten. Von einer "wallten Weg nalUlle des Gliedes" kölUle keine Rede sein, doch wirke sich die Täuschwlg
lucht nunder gravierend aus .12 Das Bild der Hexe als Zerstörerin männlicher Stärke und Zeugungsfälugkeit besaß ohnehin einen festen Platz in den kollektiven Vorstellungswelten der Zeitgenossen, und der Angriff gegen das "Gemächt" des Johatl11 Krampe tat ein übriges, um Anna SpiekenuatUl zur Hexe werden zu lassen. Denn datlut
10 Vgl.
dazu Ingrid Alu:endt-Schulte: Weise Frauen - böse Weiber. Die Geschichte der Hexen in der Frühen Neuzeit. Freiburg/Basel/Wien 1994, S. 61f. 11 Jakob Sprenger/Heinrich Institoris: Der Hexenhammer. (Nachdmck der ersten deutschen, 1906 erschienenen Übersetzung des Hexenhammers), München 1991, Zweiter Teil, S. 76. 12 Ebd., S. 78.
Gudrun Gersmann
1 60
hatte sie einen mit symbolischer Bedeutung beladenen Akt vollzogen: "lst der männliche Griff an die Brüste und die weiblichen Genitalien das Signum der Herrschaft des Mannes über die Frau, so gilt umgekehrt das gleiche für den Griff der Frau an den Penis", konstatiert Hans-Peter Duerr in seiner großan gelegten Studie über werten
Obszöllität Imd Gewalt
und s tützt mit seiner bemerkens
Materialsammlwlg den aus der Aktenlektüre gewonnenen Eindruck,
daß Anna Spiekermanns Verhalten von seiten ihrer Umwelt nur als wlerhörte Regelbrechung und Rebellion verstanden werden konnte, die ausweichlich machte, selbst wenn es sich te.u
.
unI
Sanktionen
WI
einen Akt der Notwehr handel-
Der Griff einer Frau an die Genitalien eines MatUleS s cheint bis in die Mo deme hinein in jedem Fall als Teil einer Ausnalunesituation definiert gewesen zu sein. Von Vergewaltigungsopfem als letzte verzweifelte Maßnaimle atlge wendet, war er Prostituierten und leichtfertigen Frauen vorbehalten, die potentiellen Klienten schon auf der Straße in den Hosenlatz zu langen pflegten. Anständige Frauen hatten sich - zumindest dem offiziellen Sittenkodex nach sogar beim ehelichen Beischlaf zu hüten, dem Matlll atl die "Schellen" zu ge hen. Sicher werden wlter dem enthemmenden Einfluß des Alkohols in macher Schenke derbe Späße zwischen den Anwesenden auf der Tagesordnung ge statlden haben, in deren Verlauf sich die Rollen verkehrten und die weiblichen Gäste beherzt nach der empfindlichsten Stelle illres mätllllichen Zechkumpa nen packten, aber die Strafe folgte oft ulllllittelbar auf den Fuß. Ursul Grimmin Zunl Beispiel, eine Nümberger Wirtin, wurde im Jallre
1595
an den Pratlger
gestellt und mit Ruten gestrichen, nachdem sie einigen MätUlem "die Schrun herausgezogen", sich selbst entblößt und die Worte "Huy fotz, friss den Matlll" ausgestoßen hatte.14 In der scharfen Reaktion der Obrigkeit dürfte die Furcht vor dem "bösen Weib", die sich u.a. ja auch in der frühneuzeitlichen Kunst widerspiegelte, ihren prägnatltes ten Niederschlag gefunden haben,l5 Die unverfrorene Annä herung atl die mälllilichen Geschlechtsteile, die sich Frauen wie Ursul Grim min herausnallll1en, wurde als inakzeptable Grenzüberschreitung empfunden,
weil sie an Urinstinkte wld -ängste appellierte. Die betroffenen MätUler mögen danlit eine fast abergläubische Furcht vor der 1nbesitznalmle von Körper und Leben verknüpft haben, wie sie stellvertretend für seine Geschlechtsgenossen
13 Hans
Peter Duen: Obszönität und Gewalt. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Frankfurt a. M. 1993, S. 354f. 14 Ebd., S. 359. 15 Zur Wahrnehmung der renitenten, aufmüpfigen Frau in der Frühen Neuzeit vgl. Claudia Ulbrich: Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im flühneuzeit lichen Deutschland, in: Richard van Dülmen (Hg.): Arbeit, Frömmigkeit und Eigen sinn. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt/Main 1990, S. 1 3 42. Auch Ulbrich verweist auf das Problem der Wahrung der Ehre im Dorf, S. 40f. -
161
Archäologie eines männlichen Umgangs mit der Hexe
der Autor des 1 893 erschienenen Romans
Gy"ccocrqy fornlUlierte,
wenn e r dies
bezügliche Taten als eine Fonn der Versklavung, der Verschlingung von Leib und Seele, interpretierte.16 Daß solche Vorstellungen nicht nur zu Begi.nn des
1 8. Jaluhunderts deutlicht
im
Verstörung und Entsetzen in der Männerwelt auslösten, ver
übrigen der überzeitliche Erfolg des Motivs der "männerfressen
den Frau", das sich wie ein roter Faden durch die Geschichte zieht. Im Prozeß gegen Marie-Antoulette tauchte es ebenso auf wie UI den Vamp- wld
Fell/me
Fatale-Darstellungen des 20. Jaluhunderts. Nichts kennzeichnet die Zählebig keit alter Tabus schließlich besser als die Tatsache, daß die (absichtliche) Be rührung der Genitalien emes Mannes noch im Großbritannien der 1 950er Jallre mit fünfmal so hohen Strafen geahndet wurde wie der Griff zwischen die Bei ne emer Frau.17 Mit ihrer Aggressivität verwundete Anna Spiekernlill111 mehr als nur das "gemächt" ihres Nachbarn Krampe. Über seinen Körper huums hatte sie seme männliche Ehre so tief verletzt, daß es dem Geschädigten mit dem obrigkeitli chen EUlschreiten gegen die "Hexe" nicht getilll war. Um sich für die erlittene Demütigung und den "Gesichtsverlust" zu rächen, tron1111elte Krillnpe kurz nach dem Vorfail ul seulem Haus die "jung gesellen" der Freiheit Westerholt ZUS ill11111en, die der Magd, gilllZ UI seinem SU111e, eUlen gehörigen Denkzettel verpaßen sollten. Die von ihm aufgehetzten MälUler lauerten ihr folgenden Abende auf, unI sie
mit
illl
eUlem der
Stockschlägen zur Räson zu brulgen.18 Die
Westerholter "jWlg gesellen" erledigten ihre Aufgabe mit außergewöhnlicher Brutalität: MillI habe sie "dergestalt mit schlagen und prügeln tractirt, das illl ihrem leib nichts heiles" mehr gewesen sei und sie beinahe "tllOet geschlagen" worden wäre, wenn nicht eUI Geistlicher zu ihren Gunsten interveniert hätte, erzählte Anna SpiekennalUl später ihren Richtern. Es hatte nicht lilllge gedau ert, bis die Lektion ilue Wirkung zeigte, denn aus "groster illlgst" vor weiteren Repressionen bekill111te Amla Spiekermann nun ul aller Öffentlichkeit, was millI von ilu hören wollte, daß sie nämlich mit einer Zaubersalbe dem Krampe seme "milllligkeit" hUlweggehext habe.19 Die von Krillnpe illlgezettelte Aktion gibt dem heutigen Betrachter allerlei Rätsel auf: Warum mußten sich gleich zellll oder zwanzig Männer, UI der Hauptsache Knechte, gegen eine eUlZige, körperlich schwache Frau zusrun menroUen,
WH
Krrunpes Demütigung zu rächen? Gerade die zalllenmäßige
Stärke der von Krillllpe mobilisierte Unterstützungs truppe läßt vennuten, daß hier nicht nur allgememe dörfliche Disziplinierungsbestrebungen gegenüber emer "Abweiclllerin" zum Tragen kamen, sondern vielmehr der Geschlechter-
16
Duerr: Obszönität und Gewalt, S. 361. Ebd. 18 Grätlich Westerllolter Archiv, 201, BL 2b. 19 Ebd. 17
Gudrun Gersmann
1 62
kampf in einer ungewöhnlichen VarüU1te ausgetragen wurde. Männliche Solida rität verwies die renitente Frau in ihre Schranken. Anna Spiekermann, die den Z0111 der Männer auf diese Art schon vor ihrer Gefangennahme sclunerzlich hatte erfahren müssen, konnte das Gericht nicht von ihrer Unschuld überzeugen. Nachdem sie unter der "peinlichen Frage" ein Geständnis abgelegt hatte, wurde sie am
7. Januar 1706
wegen "zauberey und
dadurch an Menschen und Vieh verübten Schadens" zum Tod durch das Schwert verurteilt20, aufgrund der politischen Dimensionen dieses Prozesses konnte die Hinrichtung jedoch erst am
31. Juli des Jahres 1706
erfolgen. Damit
war vorerst ein Schlußstrich unter den Streit zwischen Johat11l Krampe und Anna Spiekemlat111, der so hohe Wellen geschlagen hatte, gezogen. Das Leben inl Dorf ging weiter.
4.
Das zweite Leben der Anna Spiekermann
Nach ihrem schrecklichen Tod geriet Anna Spiekennat111 in Vergessenheit. Über
200 Jahre
rullten die papierenen Zeugnisse des Westerholter Hexenpro
zesses unatlgetastet im Archiv, bis sie von einem fleißigen Heinlathistoriker gesichtet und in volkstümlicher Manier aufbereitet wurden. Dessen Bemühun gen erreichten inl Sommer
1924
1 924
ihren vorläufigen Höhepunkt:
Am 22.
Juli
wurde auf dem zur Freilichtbühne verwandelten Wirtschaftshof von
Schloß Berge bei Gelsenkirchen ein dramatischer Einakter uraufgeführt, den die lokale Presse wlter dem Titel "Hexenät111eken" angekündigt hatte. Das Stück strunmte aus der Feder des atn Buerschen Jungengyn111asium tätigen Oberlehrers Willleim Schnutt. Man werde "der unschuldigen fu111a Spieker mat11lS aus Buer-Sutum, genatlnt Hexenfu11leken, peynlich HaIßgericht in Sa chen Zauberey, Hexerey, Giftmord, ihre Folterung, Hinrichtung und Verbren nung" sehen, versprach das eigens zur Prenuere gedruckte Werbeplakat in bemühter Anlehnung atl frühneuzeitliclle Gerichtsprotokolle, deml in den Prozeßakten selbst hatte fu111a Spiekermat111 nie als "Hexenfu111eken" figu riert.21 Es waren Laien, die sich in zeitgenössischen Kostümen vor der (nach gebauten) Kulisse des Westerholter Freiheitstores als Schauspieler versuchten, Vorstatldsmitglieder des Buerschen Heimatvereins wld Schüler des örtlichen Gyn111asiums. Über matlgelnde ReSOnatlZ konnten sich Autor und Akteure nicht beklagen: Mehr als
20 21
2000
Besucher meldete eine Zeitung atu nächsten
Ebd., BI. 107. Das Werbeplakat liegt im Stadtarchiv Gelseukirchen, Hauptgruppe 27, Untergruppe 6, Nr. 3 - Heimatverein, Einladungen, Zeitungsausschnitte, Anzeigen 1908 - 1925.
Archäologie eines männlichen Umgangs mit der Hexe
1 63
Tag.22 Mit Genugtuung registrierte die Heimatzeitschrift Das Vest, in wie her vorragendem Maße das Drama "der Weclnmg geschiclltlichen Heimatsin11S " gedient habe.23 Nicht alle Rezensenten teilten freilich soviel Begeisterung. Den "Massen zulauf" dürfe man wohl kawn als "Wertmesser" und Qualitätszeugnis be trachten, monierte der Kritiker der BllcrscbclI Volkszeitllll,g am 25. Juli 1 92424: "Würde man eine derartige Erscheinung immer und in jedem Fall konsequent zum Beweis des Guten und Gehaltvollen anführen wollen, dann wäre letzten Endes jeder Ringkanlpf eine Großtat". Auch sonst fand die Aufführung wenig Gnade vor seinen Augen. Den geistigen Vater des "Hexenännekens" verspot tete er als "Verfasser einiger poetischer Versuche", die eher für den Hausge brauch denn für die Drucklegung geeignet seien, die Schauspieler verurteilte er pauschaul als Dilettanten und "schlecht gedrillte" Puppen. Das gesanlte "HexenätUleken" mute wie "ein oberflächliches Rede- und Antwortspiel" an, das auf billige Effekte ziele: "Die abflauende Spannung wurde mit Daumen schrauben wld spanischen Stiefeln wieder wachgepreßt und am Schluß des Spieles durch die allseitig gehegte Erwartung, mall würde so etwas wie eine Enthauptwlg mit darauf folgender VerbrelUlung auf offener Bühne bieten, noclunals mächtig hochgeschraubt."25 Ein Verriß also, keine Frage. Ungeachtet solcher bissigen Kommentare erwies sich das Drama in den fol genden Jallten als Publikumsmagnet. 1 932 sogar in Fonu eines Puppenspiels dargeboten26, lieferte das 60jährige Jubiläum des Katholischen Gesellenvereins zu Westerholt im Sommer 1 933 enteut Gelegenheit zur Präsentation des "HexenätUlekens". Die für den 27. August geplante Vorstellung, die neben einer Gewerbeausstellung und einem Handwerkerzug einen der Höhepunkte des Festprogranuues bildete, wurde über Wochen hinweg sorgfältig vorberei tet. Die Mitglieder des Katholischen Gesellenvereins setzten ihren Ehrgeiz darin, aus dem von der Gemeinde und Zeche Westerholt gestifteten Material Bühne und Zuschauertribünen selbst herzurichten. Anl Ende sollen ca. fünf bis sechshundert Sitzplätze und 6000 (I) Stehplätze zur Verfügung gestanden haben,21 In Westerholt, Buer, Pols um und Herten lief der Vorverkauf auf
22
Walter Haneklaus: Hexenänneken, ein vestisches Frauenschicksal, in: Vestischer Kalender 59 (1988), S. 173 - 176. 23 Das Vest, Nummer 7 (Oktober 1924). 24 Buersche Zeitung vom 25. Juli 1924, ohne Verfasserangabe. 25 Ebd. 26 Heinrich Errueling: Heimatkunde und Geschichte in den Arbeiten von Professor Schmitt. Ein Beitrag zuw hundertjährigen Bestehen des Vereins für Orts- und Hei matkunde Buer, in: Beiträge Zur Stadtgeschichte 15 (1989), S. 5 - 51, hier S. 18. 27 Dieser Zeitungsausschnitt stanunt aus der Saruullullg Heillz Weners, Leiter des HeimallUuseums Westerholt, dem ich für die Möglichkeit einer Einsichtnahme herz lich danke.
1 64
Gudrun Gersmaun
Hochtouren: 0,80 Reichsmark kostete der erste Platz, 0,50 Reichsmark der zweite, "Erwerbslose" zahlten "gegen Vorzeigung der UnterstützwIgskarte auf allen Plätzen die Hälfte". In den Tagen nach der Aufführung sparte die lokale Presse nicht mit Lob. Den vor allem aus dem nördlichen Vest nach Westerholt Angereisten seien ergreifende Szenen der alten Heimatgeschichte präsentiert worden, schwärmte der Autor eines schon am 29. August erschienenen Berichts. Alle seien "vollauf auf ihre Kosten" gekommen, und wenn die Darstellerin des "Hexenällllekens" in den Massenszenen ein wenig untergegangen sei, so habe sie den Part der "leidgewohnten, aber alles verzeihenden Dulderin" doch "echt wId glaubwür dig" verkörpert.28 Eine positive Bilanz des UnteOlehmens zog auch WillIelm Schmitt in der Vestischell Zeitschnji: VieOllal habe man das Stück "mit großer Anteilnalulle der Bevölkerung" gespielt, dies gebe zu hoffen, daß der Verein "gemeinsam mit nationalsozialistischen Organisationen" in Zukunft weiterhin erfolgreich "für Heimat wId Volkstum" wirken werde.29 Als "Hexenänneken" genoß die Magd Anna SpiekeOllat11l zu diesem Zeitpunkt nWI eine posdlUme Berühmtheit, von der sie zu Lebzeiten nur geträumt hätte, sie war zu einer Art Säulenheiligen der Heimatgeschichte geworden.
5.
Der Biograph und sein Opfer: "HexenäI!.nekens" Ent deckung
Die VenvatIdlung der .At11la Spiekermatlll in ein (ftktives) "Hexenät11leken" prägte eine Phase der Beschäftigung mit dem "Hexenwalln", die matl als folk loristischen Umgatlg mit diesem Kapitel der Heimatgeschichte bezeicllllen könnte. Vor dem Hintergmnd des in den Geschichtsvereinen der Ruhr-Lippe Region seit den 1880er und 1890er Jaluen erwachten Interesses atl der Epoche der brennenden Scheiterhaufen zeigt der Rückblick auf Scllllutts Besclläftigwlg mit dem Stoff geradezu exemplarisch, wie sich innerhalb einer bestimmten Geschichtskultur allmälilich eine WahOlelullwlg der "Hexe" herauskristalli sierte, die in der Stilisierung der einst realen Opfer zu KWIstgeschöpfen gip felte. Die menschlich atIrührenden Venvicklungen des SpiekeOllatlll-Falles hatten den 1879 zu Vreden im Müns terlatId geborenen und seit dem Frühjalu des Jalues 1908 als Oberlehrer am Buerschen Jungengymnasium tätigen Schnutt in ihren Batlll gezogen30, seitdem ihm die staubigen Prozeßakten im Gräflich
28
Bericht vom 29. August 1933, ebenfalls aus der Sammlung Wener. Vestische Zeitschrift 41 (1934), S. 224. 30 Zu Schmitts Biographie vgl. Ermeling: Heimatkunde und Geschichte in den Arbeiten von Professor Schmitt, S. 174 f. 29
Archäologie eines männlichen Umgangs mit der Hexe
165
Westerholter Archiv in die Hände geraten waren. Zum ersten Mal öffentlich sprach der bald nach Antritt seiner Stelle im Buerschen Verein für Orts- und Heinlatkunde engagierte Lehrer zum Jaluesende 1 9 1 1 über die verbrarulte Hexe fuUla SpiekermalUl. Daß seine Darbietung von einer "überaus zalurei chen Zuhörerschaft" "sehr beifällig aufgenommen" worden sei, konstatierte die örtliche Presse gleich alll nächsten Tag. In anschaulicher Weise habe der Referent die "Tragödie eines unglückseligen Weibes" aus "verstaubten Prozeß akten" allS Licht gebracht, hieß es in einem auf den 12. Dezember datierten Zeitungsartikel.3i Nachdem Schmitt in den letzten Apriltagen des Jalues 1 9 1 4 aluäßlich einer Hauptversammlung des Vereins einen weiteren Vortrag über sein "Hexenänneken" gehalten hatte32, versclnvalld fuUla SpiekermalUl jedoch erst eUUllal wieder Ul der Versenkung. Unter dem Eindruck der sich überstür zenden politischen Ereignisse muHte die Erforschung heimischer Frühneuzeit geschichte zurücktreten, der Krieg beanspruchte die volle Aufmerksamkeit der Heinladus toriker. Die Hexen waren datillt jedoch nur zeitweilig aus dem Blickfeld verschwwl den. Gleich nach Kriegsende erlebten sie Ul Buer wie andemorts eine zweite RenaisSallCe, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, nämlich Ull Kontext einer modischen Begeisterung für dunkle und mydusche Themen, für aber gläubische Vorstellungen, übersinnliche Mächte, alte Beschwörungsformeln, Werwölfe33 wld gemlalusche Gotdleiten.34 Rückten Spukgeschichten, Hexen sagen35 wld Berichte über eUlstige Zaubereiallldagen36 Ul den 20er Jaluen zum Standardrepertoire der Heullat- und Gescluchtsblätter auf, so wuchs auch der Ruhm des "HexenfuUlekens", das bis dalun im wesentlichen dem engeren Kreis der Vereinsmitglieder bekannt gewesen war. Nach 1 9 1 8 veröffentlichte SclmUtt
31
Ebd. 32 Vestische Zeitschrift 24 (1914), S. 128. 33 Auch die Werwolf-Thematik hat Schmitt diverse Male atlgerissen, so in einem Beitrag für Das Vest vom März 1922. 34 Vestische Zeitschrift 28 (1919), S. 91. Als Beispiel für das starke Interesse am volks tümlichen Aberglauben ist ein kleiner Bericht von Wilhelm Mintrop zu elwähnen: Aberglauben und Hexenglauben unserer Vorfaluen, in: Heimatblätter 2 (1920), S. 36 - 38. 35 Stellvertretend für eine Fülle ähnlicher Miszellen vgl. den Artikel: Wie die Frau eines Ritters wegen Zauberei bestraft wurde, in: Use laiwe häime. Heimatblätter für die ehemalige Herrschaft Volmarstein 7 (1925), S. 53. 36 Aus den zahlreichen Beiträgen zu diesem Schwelpunkt seien zur Veratlschaulichung des Spektrums nur einige Titel zitiert. Die Autoren der entsprechenden Texte lassen sich heute nachträglich oft nicht mehr ermittehl. Die Wasselprobe, in: Heimatblätter 5 (1921), S. 147f. Teufel, Geister und Hexen im Sprichwort, in: Heimatblätter 10 (1920), S. 248, Hollenlöcher und Hexenplätze im Sauerlatld, in: Heimatblätter 10 (1920), S. 249; Wilhelm BrepoW: Vom heimlichen Westfalen. Sein zweites Gesicht, in: Die Heimat 1 1 (1924), S. 316 - 319.
1 66
Gudrun Gersmalln
fast in j edem Jahr einen in der Regel populär aufgemachten Beitrag über den SpiekemIilllll-Prozeß, ob wlter der Überschrift "Über Sagen und Aberglaube aus WIserer vestischen und westfälischen Heimat"37, ob in Gestalt einer histori schen Erzählung38 oder schließlich als Drehbuch einer Theateraufführung.39
6. Von Hexen und fen1mes fatales Worin beruhte die Faszination des "Hexenätlllekens"? Warum krun \Vilhelm Schnutt inllller wieder auf die Verurteilung und Verbrennung des Westerholter Prozeßopfers zurück? Welche Qualitäten machten sein rührseliges Stück zum Bes tseller? Jede Rekonstruktion von Rezeptionsvorgängen läuft zwar Gefahr, vorschnell einseitige Rezeptionslituen herauszupräparieren und dem Zufall System zu unterstellen. Dennoch liegt es nalle, zwischen der illlhaltenden Fas zUlation des Stoffes in den 1 920er Jaluen und der zeitgleich geführten Diskus sion um eUle veränderte DefUlition der Geschlechterrollen eUlen Zus illnmen hilllg herzustellen. Neu war an Schmitts Hexenännekendarstellung vor allem die explizite Ver zalulUng von Hexereianklage wld weiblicher Opferrolle, detUl als Venuch tungszug gegen die Frauen hatten die Heimathistoriker an der Ruhr die He xenverfolgungen bis dalun tue Ulterpretiert, und das, obwohl bereits der MalIeus MalIeficarum40 die Hexereiproblematik auf die
zallberi1l11ell
zuscllllitt,
obwohl die Akten Ul den meisten Fällen eine eindeutige Diagnose lieferten und obwohl Jules Micllelets eulflußreiches, inl Geiste romantischer Geschichtsauf fassung geschriebenes Buch über
La Jorciere schon 1 863 in die deutsche Spra
che übersetzt worden war. BlUld gegenüber der Tatsache, daß der "Hexen walm" weit mehr Frauen als Mällller vor Gericht gebracht hatte, hatten die Heunatlustoriker bis UIS 20. JallrllUndert hUlein geschlechtsneutrale Formulie rungen verwendet, weml sie von den Leidtragenden der frülllleuzeitlichen Prozeßwellen berichteten. In den diesbezüglichen Artikeln wld Beiträgen wur de stets pauschal von den unglücklicllen "Opfer(n) des traurigen Aberglau bens"41 oder gar schlicht wld eUlfach von betroffenen "Personen"42 gespro-
37 38
Vestische Heimat 3 /4 (1918), S. 3ff. Wilhelm Sclunitt: Der unschuldigen Anna Spiekeuuauus aus Buer-Sutum, gen. He xenäuneken peynlich Halsgericht in Sachen der Zauberey, Hexerei und Giftmischerei sowie ilire Hinrichtung und Verbrenuung, in: Das Vest, Nr. 8/9 (Oktober/Novem ber 1921), S. 1 14 - 140. 39 Vgl. die Ankündigung in der Broschüre "Festwoche im Grünen". Buer, 15. bis 22. Juni 1924. Buer 1924, S. 59. 40 Vgl. dazu die Amuerkungen von Ahrelldt-Schulte: Weise Frauen - böse Weiber, S. 7ff. 41 Rheinisch-Westfälische Zeitung vom 6. April 1 888.
Archäologie eines männlichen Umgangs mit der Hexe
1 67
ehen, womit ein Grundcharakteristikum des historischen Phänomens Hexen verfolgung ganz und gar wlerwähnt blieb. Erst in Schmitts Generation trat die entscheidende Akzentverschiebung ein, entdeckten Hexenforscher wie er doch jetzt mit Gewalt und
um
jeden Preis die
,Frau in der Hexe'. Waren geschlechterspezifische Aspekte zuvor ausgeblendet worden, geschah nun das genaue Gegenteil. Verräterisch genug scheint Sclmutts Wortwahl. Anna Spiekennru111 verwandelte sich unter seiner Feder in "unser Aelllleken", eine vertraulich geduzte Heidin aus einer gehein111isvollen vonnodemen Welt: "Hexenänneken stmnmt von Spiekennru111s Hof in Sutwn ... Kreuze und Heiligenbilder in der Lruldschaft sind wie geheinuusvolle Ge
schichtsrunen. Um den lrulgges treckten, niedrigen Kotten schlingt sich der
Emscherbruch, Wölfe heulten in den Wäldem ... luer lachtest Du dereinst als Kind, HexenID111eken".43
Daß Schmitt die notwendige Dis trulz zu seinem Forschungsobjekt verloren hatte, daß ill11 inl Grund lucht die "ecllte" A.t111a SpiekernIru111 fesselte, sondern die Figur, die er sich in seiner mIDullichen Phantasie erschaffen hatte, wird
gerade da evident, wo er deutlich von der Beschreibung der Prozeßakten ab
wich. Differenzen zwischen seiner Version und dem quellelllnäßig bezeugten Wissen treten insbesondere bei der Darstellwlg der äußeren Vorzüge der Pro tag01ustin zutage. Wie eingangs gescllildert, gilt "HexenIDIneken" bis heute als Inbegriff der klassischen Beaute, in die Heimatliteratur ist sie als jWlge, attrak
tive, aber zugleich tugendhafte Frau eingegrulgen. Die Repräsentantin idealer Weiblichkeit wird mrul in den Gerichtsprotokollen allerdings vergebens suchen. Den vorhruldenen spärlichen A.tlgaben zufolge hatte Anna Spiekermru111 ein zu hartes Leben geführt, um die später rul ihr gerühmte Schönheit wld Grazie bewaluen zu können, grulZ abgesehen davon, daß ihre äußerliche Erscheinung in den Quellen rul keiner einzigen Stelle erwäll11t wurde. Zu Sutum im Kirch spiel Buer als "unechtes", d.h. uneheliches Kind eines Soldaten geboren, hatte sie einen Dietz Brockmrul aus Sutwn geheiratet und ein früh verstorbenes Kind geboren.« Nach dem Tod mres Mru111es hatte sie bei mrer Truüe, der Rheidtschen, Zuflucht gefunden und da1ll1 ein paar Jalue lrulg auf verschiede nen Westerholter Höfen als Dienstmagd gearbeitet, ehe sie von Johrum Krmn pe als Hexe denunziert wurde. Zum Zeitpunkt des Prozesses war sie 35 oder
36 Jalue alt, nach dmnaligen Maßstäben also bereits eine alte, verbrauchte Frau, die durch schwere körperliche Arbeit gezeicll11et gewesen sein wird.
42 Vgl.
etwa J ohallnes Karsch: Das Stift ReIlinghausen in den letzten Jahrzehnten des 16. Jaltrhundert5. Ein lokalgeschichtliches Zeitbild. In: Beiträge zur Geschichte VOll Stadt und Stift Essen 13 (1889), S. 4 35, hier S. 26; Otto Seemann: Über einige He xenprozesse im Stift Essen. In: Beiträge zur Geschichte von Stadt und Stift Essen 10 (1886), S. 1 1 1 - 131, hier S. 1 15. 43 Schwitt: Der unschuldigen Allna Spiekemlaulls, S. 114. « Ebd. -
1 68
Gudrun Gersmann
Die von Schmitt erdichtete körperliche Attraktivität des "bildhübschen Bau emweibes"45 korrespondierte in seiner Hexenällneken-Version allerdings mu sterhaft mit den itUlerlichen Qualitäten der zur "verfolgten Tugend" erhobenen HeIdin. Das Stück endete delUl auch bezeichnenderweise mit einer Hommage an weibliche Sittsamkeit. "Du Dulderin", "Du Märtyrerin der Reinheit", rie f die von Schmitt dramaturgisch geschickt zur Beschützerin der Anna Spieker mruUl aufgebaute Gräfin zu Wes terholt die GeüU1gene
a1146,
nachdem sie zuvor
schon mit aller Inbrunst für die Sache des "unschuldig Kind" plädiert hatte: "Wallfheit gilt nichts bei eurem Halsgericht/Das Laster muß zur I
ZlUll
ZlUll
Schreckens bild erhoben wurde,
- teils positiv, teils negativ bewerteten -
Leitthema der Presse auf Bubiköpfig, sportlich, fesch angezogen, war die "Neue Frau" - zumindest UI den Augen vieler Kommentatoren - bemfstätig, selbständig, sexuell freizügig und aggressiv. Die "neue Frau" entwickelte sich auch in den Ruhrgebietszeitungen der 20er Jallren zu eUlem joumalistischen Dauerbrenner. Eher selten waren Artikel den Belrulgen der Hausfrau lUld Mutter gewidmet. Blätter wie die Recklinghäuser
4S Ebd., S. 1 15. Wilhelm Schmitt: Hexenänneken, Ein westf.'i.lischer Hexenprozeß mit Benutzung der Gerichts-Akten in einem Einakter dargestellt. Buer 1924 , S. 63. 47 Ebd., S. 19. 48 Zur Diskrepanz zwischen Realität und Theorie der "Neuen Frau" vgl. die Anmer kungen von Ute Frevert: Frauen-Geschichte zwischen bürgerlicher Verbesserung und neuer Weiblichkeit, Frankfurt/Main 1986, bes. S. 146ff. Daneben auch Ute Ger hard: Unerhört. Die Geschichte der deutschen Frauenbewegung, Harnburg 1990, S. 359ff. Zur Thelllatisierullg der "Neuen Frau" in der Kunst liefert der von Barbara Eschenburg betreute Ausstellungskatalog "Der Kampf der Geschlechter. Der neue Mythos in der Kunst 1850 - 1930" sehr erhellende Beispiele. Köhl 1995. 46
Archäologie eines männlichen Umgangs
mit der Hexe
1 69
Zeitung überschlugen sich dagegen, dem Zeitgeist Genüge zu tun. "Bubikopf regiert", hieß es dort in einer Filmbesprechung 1925. "Schöne und berühmte Bubiköpfe" titelte ein Pressebeitrag vom Mai 1926, der von den Unabhängig keitsbestrebungen der modemen Frau handelte. "Hausarbeit ein Heilmittel für die Frau?" fragte 1 922 skeptisch das gleiche Blatt, in dem per Anzeige Koksla derinnen für Akkordarbeit gesucht wurden. "Die ersten Frauen als Geschwo rene beim Landgericht Bochum" würdigte ein Presseartikel von 1 923, und die Liste ließe sich beliebig fortführen. Hat Sclunitt die geme als
jetl11JJe fatale und
erotische Verführerin charakteri
sierte Neue Frau möglicherweise mit der unverfroreren Anna Spiekermann assozüert, die Scluuitt mit
ihm in den Prozeßakten präsentiert wurde? Ist die fuUlallIlle, daß
sei1le1lJ überaus
hanulosen "Hexenännekell" bewußt ein Gegenmo
dell zur "Neuen Frau" schaffen wollte, abwegig? Und hat er den für einen konservativen Zeitgenossen wie ill11 sicher dämonisch wirkenden Typus der Neuen Frau schließlich nicht mit der Apotheose der reinen, bezeichnenderwei se Zum Sterben verurteilten Hexe und Märtyrerin zu bezwingen versucht? So spekulativ diese Überlegungen auf den ersten Blick wirken, einige wesentliche Anhaltspunkte sprechen für ilue Sticllhaltigkeit. SpatUlender nämlich als das, was Schnütt über den SpiekeollatlIl-Prozeß bei vielen Gelegenheiten aus den Prozeßprotokollen referierte, war das, was er weitgehend verschwieg. So streifte er den eigendichen Kem- und Angelpunkt der Gescluchte, den Griff at1 das "mä1l1iliche gemächt" des Joha1l11 Krat11pe, nur in äußerst blumi ger, für seine Leser kaum nachvollziehbarer Form. Verschämt resünüerte er die Hexereivorwürfe gegen fuUla Spiekenllatl11 allenfalls mit den Worten, sie sei beschuldigt worden, illrem Bezichtiger ein "Orgat1 des Körpers fortgehext" zu haben.49 Zweifellos hat sich ScllIuitt, das sei ihm zugestat1den, nut der TIlema tisierung der ,pikat1ten' Einzellleiten des Falles sclnver getat1. Allerdings drängt sich durchaus der Eindruck einer medlOdischell wld gezieIten Zensurmaß llallIue auf. Die echte fuUla SpiekemuuUl war für ihre unerlaubte Attacke ge gen den Körper und die Ehre des männlichen Gegners mit einer Tracht Prügel bestraft worden. In der Bearbeitw1g des Heimatforscllers wurde illt regelwidri ges
Verhalten
dagegen
sowohl
verdrängt wie
radikal
umgedeutet.
"verkehrte Welt" hatte Schnütt nachträglich wieder gerade gerückt.
49
Schmitt, Hexenäuneken, S. 123.
Die
1 70 7.
Gudrun Gersmann
Das Bild der Hexe in der Heimatliteratur
Im Ralunen einer Rezeptionsgeschichte des Hexenthemas an der Ruhr gebührt Schm.itts - äußerst populären - Verfertigungen des Hexenänneken-Klischees ein besonderer Platz. In abgemildeterer FOIDl lassen sich ähnlich folkloristische Deutungen der ,Frau in der Hexe' allerdings vielfach in der Heimatliteratur entdecken.50 Eroberte sich das Hexenthema i.n den 1 920er wld frühen 30er Jahren einen festen Platz in den Bearbeitungen historisdler Stoffe, so besaßen die Autoren der einschlägigen Texte wie Wilhelm Schmitt ein unübersehbares Faible für die Veffiuschwlg von Fakten und Fiktion. Theodor Holländers im Vestischen Kalender von 1 923 veröffentlichte Erzählung "Eine verhexte Lieb schaft" beruhte beispielsweise auf einem aus Brauck überlieferten Hexenpro zeß.S! HermatUl Gerold bezog aus den im Recklinghäuser Stadtarchiv aufbe waluten Krinunalakten die Inspiration zur Abfassung einer "Skizze aus bewegter Zeit", die atl das Schicksal einer Frau natnens Trine Plwnpe erinner te. Gegenüber SdUlutts "Hexenänneken" besaß die erdichtete Trine Plumpe immerlun gewisse sinnliche Qualitäten, trat sie dem Leser doch "in illrem schwarzen Satntmieder nut den geschlitzten Puffärmeln" entgegen.52 Weiteres Ansdlauungsmaterial liefert ei.ne Essener Novelle, die wlter dem Titel "Die Zauberin Elisabetll. Die Gesduchte einer Liebe aus dem nUttelal terlichen Essen" den Prozeß gegen die im Mai 1580 inl Stift Essen wegen atlgeblicher Schadenszaubereinen festgenonUllene Elsbedl Kammans aufrollte. Ihr Autor Westerholt gestattete sich noch drastischere Abweichungen von der historischen Vorlage als Schnutt, dessen Anspruch auf Quellennähe er freilich lurgendwo im Text fOffilUlierte. Doch selbst die freie literarische Adaption des Stoffes ist aufschlußreich, weil sie die konsequen.teste Aneignung der Hexe unter den Prällussen eines konstruierten Weiblichkeitsideals illustriert. Der kärglichen - Quellenüberlieferung nach war die echte Angeklagte Else Kam mans, eine Mutter mehrerer Kinder, mit der Latldesverweisung belegt worden, mit einer Strafe also, die für den Rest ihres Lebens Isolation und soziales Elend bedeutet haben dürfte. Westerholt dagegen erhob das Opfer zur Gewinnerin: Seine Elsbedl, eine sdUllUcke und unschuldige junge Magd, die er als "in ihrer Kemenate" sitzend und "atl einem Spitzenkragen" häkelnd sdlllderte, besiegte alle Intrigatlten, die ihr Lebensglück hatten vereiteln und sie auf den Scheiter-
Wenige Beiträge waren auch den männlichen Opfem gewidmet. Der bekannteste männliche "Hexer" blieb der Wittener Amdt BottelmaJlll, dem noch ein im "Wittener Tageblatt" vom 28. Januar 1922 abgedrucktes Gedicht huldigte. �,Der letzte Hexenprozeß in Witten" von L. Walll). 51 Vestischer Kalender 1923, S. 52. 52 Hermann Gerold: Die Tochter der Hexe. Eine Skizze aus bewegter Zeit, in: Vesti scher Kalender 1928, S. 85 - 88, h.ier S. 55. 50
Archäologie eines männlichen Umgangs mit der Hexe
haufen bringen wollen.
Am
Ende winkte ihr die Heirat
171
mit ihrem geliebten
Studenten, während dessen Mutter, die zänkische Hylla, dem Wahnsinn anheim fiel.53
8.
Schlußbemerkung: Popularitätsverlust und Wieder belebung
Als Kunstgeschöpf, das einem - in erster Linie männlichen - Publikum als Projektionsfläche dienen konnte, war die zum "Hexenänneken" gewordene Anna Spiekemlann in den 20er Jahren zur allseits bekannten Heimadleroine aufges tiegen. Als populäre Symbolfigur verlor sie im nächsten J ahrzehnt jedoch spürbar an Attraktivität. Die weitere posdlUme "Karriere" der Anna Spieker11latUl kat11l zwar nur noch schlaglichtartig beleuchtet werden, aber einige mar katlte EntwickIwlgen seien doch umrissen. Aufschlußreich war es zunächst, daß Schmitts Begeisterung für "unser
Än
neken" seit den späten 1 920er Jahren merklich abflaute. In einem 1 931 publi zierten Aufsatz über das Alte Volkstum in Buer widmete er dem Westerholter Opfer erstaunlich nichtss agende Zeilen. "In Westerholt wurde noch 1 706 eine fullla Spiekemlatuls aus Sutum als Hexe enthauptet und datlll verbratlllt", bemerkte er lakonisch kurz, "frommer Glaube und teuflischer Wallll" hätten eben "zu allen Zeiten illre Schwingen rauschen lassen".54 Wie er, kehrte auch die "Vestische Zeitschrift", in der in der Vergangenheit so oft vom "Hexen ämleken" die Rede gewesen war, in den 30er Jahren allenfalls sporadisch zum Fall SpiekemlatUl zurück. Das allmähliche Verschwinden des "Hexen1uU1ekens" aus der Heimaditera tur55 dürfte einerseits mit der Übersättigung von Publikum w1d Heimatforscher zu erklären sein. Doch es steht zu vemlUten, daß die Verabschiedung des "HexenfuUlekens" noch mit atlderen Gründen zusan1menhing, dem1 es waren Zeiten angebrochen, in denen das tugendhafte, hausbackene "HexenälU1eken" als Repräsentatltin einer idealisierten Vergat1genheit den aktuellen Rezeptions-
Westerholt: Die Zauberin Elisabedl. Die Geschichte einer Liebe aus dem mittelalter lichen Essen, in: Stadtarchiv Essen, Nachlaß LelUlhäuser, K.1rton 5. Lehnhäuser selbst hatte ebenfalls ein Faible für die literarische Aufbereitung historischer Ereig nisse. Im weiteren Zusammenhang mit dem Hexenthema vgL ders.: Meister Hans, in: Heinlatblätter 3 (1921), S. 82. 54 Vestische Zeitschrift 39 (1931), S. 173. 55 Als Anton Lehnhäuser in der "Essener Volks zeitung" 1935 im Rahmen eines Be richts über "Burgeu und Schlösser im Ruhrgebiet und am Niederrueiu" den He xenänneken-Fall noch einmal aufgriff, geschah dies in distanzierter Form und nicht mehr unter den alten Vorzeichen vertrauensvoller Aunäherung. S. 35ff. 53
1 72
Gudrun Gersmann
bedürfnissen nicht mehr genügte.
In
den 30er Jahren lag das
Thema
"Hexenwalm" nach wie vor zwar im Trend, die Forschungs- und Darstellungs schwerpunkte allerdings hatten sich verlagert. Die ,germanischen' Aspekte des Hexendlemas rückten nun immer s tärker in das Zentrum' allgemeinen Interes ses. Die Frage, ob die "Heiligen Berge bei Marl" eine "germanische Kultstätte" gewesen seien, wurde von vestischen Zeitwlgslesem ebenso emsthaft diskutiert wie das Projekt einer Wanderung zu "vorgeschichdichen Stätten", nämlich dem "gemlanische(n) Wohnhaus am Hexenstrang".56 Statt Vorträgen über den "Hexenwall1l" zu lauschen, hörte man jetzt Referate über die Bedeutwlg der Extemsteine und die altgemlanische Kultur im allgemeinen.57 Auch die lang währende Debatte um die Schuld der religiösen und weltlichen Obrigkeiten am "Hexenwalm" wurde flugs revitalisiert: Verlieh der eine Zeitwlgsautor seinem Erstaunen darüber Ausdruck, daß es den Zauberglauben, ein "orientalisches Kind" mit "babylonisch-israelitischer" "Blutmischullg", überhaupt ins früh neuzeitliche Stift Essen verschlagen habe58, führte die "National-Zeitwlg" die Eskalation der Verfolgungen auf den Einfluß des ,fremden' römischen Rechts zurück, das, wie die Artikelüberschrift in großen Lettem verkündete, "Altes deutsches Recht gebeugt" habe.59 Es dauerte nicht lange, bis der Prozeß, den Barbara Schier treffend als "politische Zurichtwlg eines kulturwissenschaftli ehen Themas" charakterisiert hat, s einen Eingang auch in die Heimatblätter fand. Nach den Heimatforschem waren es dann die inl Rallmen des Hi111mler sehen Hexen-SS-Sonderkommandos tätigen Rechercheure, die in den Archiven des Ruhrgebiets Hexenakten wälzten.GO Die ideologische VereinnalmlUng der Hexenproblematik mit all ihren Impli kationen dürfte mit einen Grund dafür gebildet haben, daß nach
1 945 erst
einmal eine Rezeptionspause eintrat. Aus den SOer Jallren und frühen 60er Jahren sind kaum einschlägige Beiträge zu bibliographieren, sieht man von kleineren ZeitungsartikehlG1 und Stadtteilgeschichten ab, die von Zeit zu Zeit
56
Sammlung von Zeitungsausschnitten zu damals aktuellen TIlemen im Stadtarchiv Recklinghausell, Nachlaß Alldieck, Ne. 26. 57 Vestische Zeitschrift 41 (1934), S. 223. SB Borbecker Zeitung vom 10. Februar 1920. 59 National-Zeitung vom 21. März 1939. 60 Barbara Schier: Hexenwalm und Hexenverfolgullg. Rezeption und politische Zu richtung eines kultulwissenschaftlichen TIlemas im Dritten Reich, in: Bayerisches Jalubuch für Volkskunde 1990, S. 43 - 1 15, speziell zum Sonderkommando Hexen, auf das an dieser Stelle nicht näher eingegaugen werden soll, S. 84ff. 6 1 Vgl. etwa den Artikel über die Wasselproben des Stifts Essen in den "Werdener Nachrichten" vom 1 9. August 1 955; den ungezeichnetell Bericht "Auf dem He xentanzplatz trafen sie sich mit dem Teufel" in der Neuen Ruhr-Zeitung vom 13. Septenlber 1953 oder auch Frauz Feldens: Der Pranger in Essen. Strafvollstrek-
Archäologie eines männlichen Umgangs mit der Hexe
1 73
die EritUlerung an die Hexen und Hexenprozesse des 1 6. und 1 7. Jahrhwlderts auffrischten. Der Berichterstattung der lokalen Presse nach zu urteilen, erlebte der Mythos des "Hexenännekens" nach einer Phase des Vergessens ab den 60er Jallfen jedoch eine Renaissance. Im September 1 964 etwa veranstaltete der Buersche Heitllatverein eitle Exkursion zum Spiekel111anns-Hof in Sutwn, um dort eitl Wegkreuz zu besichtigen, das angeblich von jener reuevollen Burgherritl ge spendet worden war, deren Mann den "Justizmord" an Anna Spiekermann geduldet hatte.62 Nach der Verlesung der alten Gerichtsakten konnte die histo rische Neugier der Teilnehmer jedoch nicht mit den lukullischen Offerten der Bauemfamilie Spieke1111ann konkurrieren, die es sich nicht hatte nelUllen las sen, "die zallireichen Gäste zu eitlem echt vestischen Schinkenessen einzula den". So sei aus der "Tagung ein itl jeder Beziehwlg echtes heimatliches Er lebnis" geworden, schrieb die Buersche Zeitung.63 Eitl JallrzelUlt später, anl
28.
Oktober 1 974, wurde eitl "Infoollationsgmlg" zur Gedächtniskapelle im Lit111e fant durchgeführt, der die "denkmalspflegerische Erhaltung der historischen Architektur" itl den Mittelpunkt cückte.64 Die Zeichen der Zeit hatten sich geändert: "Hexenännekens " Schicksal kmn nun nur noch anl Rande zur Spra che, erst recht verweht aber waren die Spuren jener Anna Spiekeollann, die dem JohatUl Kratnpe ernst itl Notwehr "atlS gemächt gegriffen" hatte.
kung am Schaudpfahl, in: Die Heimatstadt Essen. Jahrbuch 1962/63, hier vor allem S. 132ff. 62 Buersche Zeitung vom 21. September 1964. 63 Ebd.; über die Besichtigung des Spiekennaun-Hofes berichtete auch die Westdeut sche Allgemeine Zeitung vom 21. September 1964. 64 Ruhr-Nachrichten vom 28. Oktober 1974.
174
Gudrun Gersmilllll
Quellenanhang Jakob Spmtger/Hei11nch Ittstitons: Der Hexe/thammer (t"al/ells maleflcamm) [1487]. Alls dem Lateiltischm iibertragC1l tI1ld eütgeleitet V011 ].1l?":R. Schmidt, Ber/i11 1906. 2. Teil Die verschiedmm Artel1 tI11d Wirkll1lgm der Hexerei 1I11d lvie solche lvieder behobeIl II/erdm kömlell. Kapitel 6, S.
75 - 78:
"Über die Art, wie sie die Zeugungskraft zu hemmen
pflegen" Über die Art aber, wie sie die Zeugungskraft zu hemmen pflegen, sowohl bei Menschen, als auch bei Tieren, auch bei beiden Geschlechtern, killlll der Leser aus dem, was oben in der Frage gesagt ist, ob die Dämonen durch die Hexen die Sinne der Menschen zu Liebe oder Haß wandeln kÖl111en, unterrichtet s ein, wo nach Lösung der Argumente eine spezielle Erklärung gegeben wird über die Art, wie sie mit Zulassung Gottes die Zeugungskraft zu hemmen imstilllde seien. Hier ist jedoch zu bemerken, daß eine solche Hinderung von innen und außen bewirkt wird; innerlich aber geschieht sie durch jene zweifach:
erstens,
wenn sie direkt die Erektion des Gliedes, die zur Befruchtung nötig ist unter .•
drücken; und das möge nicht unmöglich erscheinen, da sie ja auch sonst die natürliche Bewegung in einem Gliede hindern können.
Zu/eitells,
wenn sie die
Sendung der Geister zu den Gliedern, in denen die bewegende Kraft ist, ver hindern, indem sie gleichs illll die Samenwege versperren, daß er nicht zu den GeHillen der Zeugung gelangt, oder nicht ausgeschieden oder ausgeschickt wird. Äußerlich bewirken sie bisweilen Hinderung durch Zauberbilder oder durch den Genuß von Kräutern, auch durch äußere Mittel, wie Testikeln der Hähne. Doch ist nicht zu meinen, daß ein Mann durch die Kraft solcher Dinge impotent würde; sondern durch die geheime Kraft der Dämonen, die derartige Hexen täuschen, können sie durch solche dilllll die Zeugungskraft behexen, daß nämlich der Milllll der Frau nicht beiwohnen und die Frau nicht empfilll gen killlll. Und der Grund ist, weil Gott hei diesem Akte, durch den die erste Sünde verbreitet wird, mehr zuHißt, als bei den illlderen Handlungen der Menschen; so ist es auch mit den Schlilllgen, die mehr auf Beschwörungen hören als illIde re Tiere. Daher ist auch öfters von
uns
und illlderen Inquisitoren gefunden
worden, daß sie durch Schlilllgen oder eine Schlilllgenhaut dergleichen Hinde rungen bewirkt haben. So hatte ein gefilllgener Hexer ges tillIden, daß er durch Hexerei viele Jallte hindurch sowohl Menschen wie Tiere, die ein bestimmtes Haus bewohnten, unfruchtbar gemacht hätte. daß ein gewisser Hexer, mit Namen
Stad/ill, in
Nider erwähnt
außerdem a.a.o.,
der Diözese Lausanne gefillIgen
worden sei, der auch eingestillId, daß er in einem bestimmten Hause, wo ein Milllll mit seinem Weibe wohnte, durch seine Hexenkünste nach und nach sieben Kinder im Mutterleibe getötet habe, so daß das Weib viele Jallte Früh-
Archäologie eines mfuUllichen Umgangs mit der Hexe
175
geburten hatte. Äluiliches tat er i n demselben Hause allen trächtigen Schafen und Rindem, von denen keines in den Jahren ein lebendes Junges brachte; wld als der Hexer gefragt wurde, wie er solches bewirkt habe oder wesmaßen er Angeklagter sein kÖIUlte, erklärte er die Tat
mit
den Worten: "Idl habe unter
die Schwelle des Hauseinganges eine Sdllallge gelegt, und we1Ul diese entfemt wird, werden auch die BewolUle r wieder fruchtbar werden", 1Uld wie er vor ausgesagt, so geschali es. DelUl wenn auch die SchhUlge nicht wieder gefunden ward, da sie in Staub verwandelt war, so trug man doch die Erde alle weg, und in demselben Jalue ward die Frau und ebenso alle Tiere wieder fruchtbar. Eine andere Geschichte trug sich in Reidlshofen vor wenigen wld zwar kaum vier Jaluen zu. Dort war eine sehr berüchtigte Hexe, die durch bloße Berührung und zu jeder Stlllide zu hexen und Frühgeburt zu bewirken wußte. Als dort die Frau eines Großen schwanger geworden war und zu ihrer Pflege eine Hebanulle zu sich genommen hatte und von derselben gewamt worden war, aus dem Schlosse zu gehen, und daß sie sich besonders vor der Unterre dung und dem Umgange mit der vorerwähnten Hexe hüten sollte, so ging sie doch nach einigen Wochen, uneingedenk jener \Vamung, aus dem Schlosse, um einige Frauen in einer Gesellschaft zu besuchen. Als sie dort eine Weile gesessen, kam die Hexe dazu und berührte die Herrin, wie
um
sie zu begrüßen,
über dem Bauche mit beiden Hfulden. Plötzlich bemerkte sie, daß sich das Kind in sdullerzhafter Weise bewegte. Als sie erschreckt darüber nach Hause zurückkehrte und die Sache der HebanUlle erzählte, rief diese: "Wehe, nun hast du dein Kind verloreni" Und wie sie es vorausgesagt, so zeigte es sich bei der Geburt. Deml sie tat keine eigentliche Frühgeburt, sondem gebar allmählich, b ald Stücke des Kopfes, b ald die Hfulde und Füße. Gewiß eine harte Züchti gung nach Gottes Zulassung, zu seiner Strafe, nämlich des Gatten, der solche Hexen strafen wld die dem Schäpfer angetane Schmach rächen sollte. - Es war auch in der Stadt Merßburg der Diözese Konstanz ein Jüngling so behext wor den, daß er keinen Beischlaf mit den Frauen, eine einzige ausgenommen, aus üben konnte. In vieler Menschen Gegenwart erzählte er auch, daß sehr oft, we1Ul er dieselbe ablenken und andere Lfulder aufsuchen und fliehen wollte, sie sich zur Nachtzeit erhob und im sdUlellsten Laufe, wie im Fluge, bald über den Boden, bald durch die Luft, zurückzukehren pflegte.
Kapitel
7,
S.
78 - 87:
" Über die Art, wie sie die männlichen Glieder wegzuhe
xen pflegen" Aber auch darüber, daß sie die männlichen Glieder wegzuhexen pflegen, nicht zwar, daß sie wirklich die Leiber der Menschen derselben berauben, sondem sie nur durch Zauberkunst verhüllen, wie oben in der betreffenden Fragen festgestellt ist, wollen wir einige GeschelUlisse berichten.
1 76
Gudrun Gersmann
In der Stadt Regensburg nämlich hing sich ein Jüngling an ein Mädchen; und als er es im Stiche lassen wollte, verlor er sein Männliches, natürlich durch Gaukelkunst, so daß er nichts sehen und fassen konnte als den glatten Körper, worüber er beängstigt ward. Nun ging er einst in ein Gewölbe um Wein zu kaufen: hier blieb er eine Weile, als ein Weib hinzukam, dem er den Grund seiner Traurigkeit entdeckte und alles erzählte, auch illC zeigte, daß es so mit seinem Leibe stände. Die verschmitzte Alte fragte, ob er keine im Verdacht
hätte; und er nannte jene und erzählte ausführlich die Geschichte. Jene erwi derte: "Es ist nötig, daß du
mit Gewalt, wo Freundlichkeit dir nicht hilft, sie
zwingst, dir die Gesundheit wieder zu geben." Und der Jüngling beobachtete
im Dunkeln den Weg, den die Hexe zu gehen pflegte; und als er sie Sall, bat er sie, ilu11 die Geswldheit wieder zu verlernen. Als jene s agte, sei sie wlschuldig und wisse von nichts, stürzte er sich auf sie, würgte sie mit seinem Handtuche und schrie: "Welm du mir meine Gesundheit nicht wieder gibst, stirbst du von meiner Hand." Da s agte sie, da sie nicht schreien k01mte, und illr Gesicht schon anschwoll und blau wurde: "Laß mich los, datUI will ich dich heilen. " Und als der Jüngling den Knoten oder die Schlinge gelockert hatte und sie nicht mehr würgte, berührte die Hexe ihn mit der HatId zwischen den Schen kehl oder dem Schambeine und sprach: "Nun hast du, was du wünschest." Und, wie der Jüngling später erzählte, fühlte er deutlich, bevor er durch Sehen wld Befühlen sich vergewisserte, daß ilu11 das Glied durch die bloße Berüh rung der Hexe wiedergegeben war. Äluiliches pflegte ein Pater, ehrwürdig von Watldel, wld berühmt wegen sei nes Wissens in seinem Orden, aus dem Sprengel von Speyer zu erzählen: "An einem Tage," s agte er, "als ich die Beichte abnall1l1, kanl ein Jüngling, und während der Beichte klagte er laut, daß er das Mätuiliche verloren habe. Ich wunderte mich und wollte seinen Worten nicht olme weiteres glauben, denn "Leichten Herzens ist, wer leicht glaubt", sagte der Weise. Aber ich überzeugte mich durch meine Augen, indem ich nichts S all, als der Jüngling die Kleider abtat und die Stelle zeigte. Daller fragte ich, ganz bei mir und mit vollem Ver stande, ob er keine
im
Verdacht hätte, die ill11 so behext hätte, worauf der
Jüngling erwiderte, er habe eine
im Verdachte, die sei
aber abwesend wld woh
ne in Worms. "Dann rate ich dir, so schnell als möglich zu ilu Zu gehen; und suche sie durch Versprechungen und freundliche Worte nach Kräften zu er weichen". Das tat er auch. Denn nach wenigen Tagen kehrte er zurück und datlkte mir; erzählte auch, er sei gesundet und habe alles wieder; und ich glaubte seinen Worten; vergewisserte mich jedoch von neuem durch meine Augen". Doch auch hier ist einiges zu bemerken, um leichter einzusehen, was oben über denselben Stoff gesagt ist.
Erstem, daß man
auf keine Weise glauben krul11,
solche Glieder würden von den KörpeOl gerissen oder getrennt; sondeOl durch Gaukelkünste werden sie von den Dätllonen verborgen, so daß sie weder gese hen noch gefühlt werden kömlen; und zwar gibt es dafür Autoritäten wld
1 77
Archäologie eines männlichen Umgangs mit der Hexe
Gründe, mag es auch schon fes tgestellt sein, da "Gaukelei
im
Alex()1lder de Ales II.
s agt:
eigentlichen Sinne ist jene Täuschung seitens des Dämons, die
ihren Grund nicht in der Veränderung der Sache, sonderu in dem \Vahmeh menden hat, der getäuscht wird, sei es bezüglich der inneren, sei es bezüglich der äußeren SUUle". Betreffs dieser \Vorte ist jedoch zu bemerken, daß hier zwei äußere SUUle getäuscht werden, nämlich Gesicht und Gefühl, Phantasie, Vorstellung, Meulwlg und Gedächtnis; mag auch, wie oben gesagt ist, l1/as
S. Tho
nur vier annelullen, weil er Phantasie und Vorstellung als eUles gelten läßt,
wld mit Recht; deml nur eUl geritlger Unterschied ist zwischen der Funktion der Phantasie wld der Vorstellungskraft. S. Thomas I,
79.
Diese SUUle werden gewandelt, wld nicht die äußeren alleul, wenn nichts verborgen wird oder geoffenbart wird, im Wachen oder Schlafen: Ull Wachen, weml eme Sache anders erscheult als sie an sich ist; wie weml man jemanden das Roß samt dem Reiter verschlingen sieht, oder daß eUl Mensch Ul eUl Tier verwandelt ist, oder man selbst eUl Tier sei und mit Tieren Laufen zu müssen meule: dann nämlich werden die äußeren SUUle getäuscht und zwar durch die inneren gefangen, weil durch die Macht der Dätnonen sie SUl1lesgestalten, (wie es das Gedächtnis ist, nicht der Verstand, wo j a die Verstandesges talten aufbe walut werden, zudem das Gedächtnis, welches die SUl1lesges talten aufbewalut, auch itu hulteren Teile des Hauptes semen Sitz hat) hervorgeführt werden durdl die Macht des Dämons,
mit gelegentlicher Zulassung Gottes, nadl dem
allgemeinen Sinne der Vors tellung. Und so stark werden sie eUlgeprägt, daß, wie der betreffende Mensch sich notwendigerweise durch den heftigen Akt, wodurch der Dämon aus dem Gedächtnisse die Gestalt eines Pferdes oder eines (anderen) Tieres herausführt, ein Pferd oder eUl (anderes) Tier einbildet, er so notwendigerweise auch glaubt, er sehe durch die äußeren Augen nur ein solches Tier, welches doch Ul Waluheit kein wirkliches Tier ist; sondem es scheint nur so durch Vermittlung jener Ges talten wld durch heftige Wirkung des Dämons. Es möge nicht wunderbar scheulen, daß die Dämonen dies kölulen, da auch eUle selbst mangelhafte Natur solches vemlag, wie sich an den Gehimkranken, Melancholikem, verrückten und Trunkenen zeigt, die nicht unterscheiden können: die Gehimkranken meulen, sie hätten Wunderdulge gesehen und sähen Bestien und furchtbare Erscheu1Ungen, wiUlrend sie Ul Wahrheit nichts sehen. S. oben in der Frage: ob die Hexen die Herzen der Menschen zu Liebe oder Haß wnwandeln kÖ1Ulen, wo mehreres angemerkt wird. Endlich ist auch der Grund an sich klar. Da nätlllich der Dämon über gewis se niedere Dinge elle gewisse Macht hat, ausgenommen nur die Seele, so katul e r auch an solchen DUlgen VerätIderungen vomeluuen, (weml Gott es gesche hen läßt;) so daß die Dmge atlders erscheulen als sie sUld; wld zwar gesdüeht dies, wie ich gesagt habe, durch Störung oder Täuschung des Sehorgatls, so daß emen helle Sache Dunkel erscheult; wie ja auch nach dem Weulen, wegen der atlgesanUllelten Feuchtigkeit, eUl Licht atlders erscheint als vorher. Oder es
1 78
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geschieht durch Einwirkwlg auf die Vors tellwlgskraft durch Verwamllwlg der Sinnesgestalten, wie gesagt ist; oder durch Bewegung verschiedener Säfte, so daß das feurig oder wässerig erscheint, was erdig oder trocken ist: so bewirken manche, daß alle Bewohner eines Hauses sich die Kleider endedigen und sich entblößen müssen, weil sie meinen, sie schwämmen
im Wasser.
Welm man aber weiter betreffs der vorerwähnten Art fragt, ob derartige TäuschWlgen gute wie schlechte Menschen ohne Unterschied treffen könnten, so wie andere körperliche Krankheiten von Hexen auch an Begnadeten verur s acht werden können, wie das weiter unten sich zeigen wird, so ist dabei mit Anlehnung an die Worte des
Cassialills coll. 2. Abbatis Sirmi zu
sagen IIßill. Alle
also, die so getäusdlt werden, müssen als mit Todsünden behaftet angesehen werden. Er sagt nämlich, wie aus den \Vorten des
AlltOllilis
sidl ergibt, der
Dämon kö1Ule durchaus nicht in die Seele oder den Leib jemandes eindringen, habe auch gar keine Macht, in eine Seele sich zu stürzen, wenn er sie nicht vorher allen heiligen Gedanken entfremdet und von geisdicher Betrachtung leer und bloß geillacht habe. Mit ilUll stinunt überein, was
Philo. 1 de COIIS. Ad BoiftilllJl sagt:
"Wir hatten dir
solche Waffen gegeben, daß sie dich mit unbezwinglichem Schutz hätten schützen müssen, wenn du sie nicht vorher weggeworfen hättest". Daller berichtet auch
CaSsial111S ibid. von zwei Heidenhexern, die, verschieden
an Bosheit, nach wld nach durch ihre Hexenkünste Dämonen nach der Zelle des H. Antonius schickten, danlit sie il1l1 durch mre Versuchungen daraus verjagten; de1UI sie waren voU Haß gegen den heiligen Matm, weil täglich eine Menge Volkes zu ilim strömte. Aber mochten auch die Dämonen ilm mit den spitzesten Stachehl der Gedanken treffen, so verscheuchte er sie doch immer dadurch, da er Stirn wld Brust mit dem Zeichen des Kreuzes schützte, und durch eifriges, unablässiges Beten. So kö1Ulen wir s agen, daß alle diejenigen, welche so von Dämonen gefoppt werden, abgesehen von sons tigen körperlichen Krankheiten, durchaus der il1newolmenden götdichen Gnade entbehren, daller es auch heißt
Tobias
VI:
"Die der Lust sich ergeben, über die gewumt der Teufel Macht." Es stinmlt damit auch, was oben, Ull ersten Teile des Werkes festges tellt ist, rn der Frage, ob die Hexen die Menschen in Tiergestalten verwatldeln? wo ern junges Mädchen nach iluer und aller MeulUng, so viele sie sallen, UI eUle Stute verwandelt war, ausgenommen S. Machanas, dessen SU1l1 der Teufel l1icht hatte täuschen können. Als sie zur Heilung ihm zugeführt ward, und er eU1 walues Weib und kerne Stute Sall, während im Gegenteil alle anderen riefen, sie er scheule ihnen als Stute, da befreite der Heilige durch seUle Gebete sie und auch die anderen von ihrer Täuschung, uldem er sagte, das sei mr zugestoßen, weil sie das Göttliche vernachlässigt und die Sakratuellte der heiligen Beichte und des heiligen Abendmalues nicht, wie es sich geziemt, besucht hätte. Daller hatte sie eUI Jüngling zur Unzucht verführen woUen, und we1UI sie auch aus Ehrbarkeit widerstanden, so hatte doch eUI jüdischer Zauberer, atl den sich der
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179
Jüngling mit der Bitte gewandt, das Mädchen z u behexen, sie durch die Macht des Dämons in eine Stute verwandelt. Alles in allem ist zu schließen, daß zwar auch die Guten an den Gütem des Glücks, Vennögen, zeitlichen Gütem, Ruf und Gesundheit des Körpers durch die Dämonen und ihre Diener geschädigt werden kölmen zu ihrem Verdienste und ihrer Prüfung , wie es an Job sich zeigte, der also von den Dämonen ge schädigt ward; daß sie ihnen aber, wie sie gegen ihren Willen zu keiner Sünde durch Hexenkünste gebracht oder vergewaltigt werden können - mögen sie auch von umen und von außen im Fleische versucht werden - keine derartigen phantastischen Täuschungen bereiten können, weder aktive noch passive: aktiv, wobei die Dämonen ihre SU111e zu täuschen hätten, wie bei anderen, die nicht in der Gnade leben; passiv, wobei sie ihnen durch Gaukelkunst die Glieder zu nehmen hätten. Dies beides hätte der Teufel niemals dem frommen Job antun können, besonders den passiven Schaden betreffs des Beischlafes; ihm, der so enthaltsam war, daß er sagen durfte: "Ich habe eUlen Bund gemacht mit mei nen Augen, daß ich an eme Jungfrau nicht eUlmal denke", geschweige denn an ein fremdes Weib, während doch der Teufel, wie bekannt, über die Sünder große Macht hat, nach den Worten des Evangelisten Luca.r. "Wenn ein s tarker gewappneter seulen Palast bewallft, so bleibt das Seule Ul Frieden". Aber wel111 jemand nach diesem betreffs der Täuschung am männlichen Gliede fragen sollte, ob der Dämon, wenn er eUle solche Täuschung emem Be gnadeten nicht passiv bereiten kann, es nicht aktiv könne, so daß nämlich der Begnadete an seulem Gesicht getäuscht würde; da er das angewachsene Glied sähe, während dagegen derjenige, der es für weggehext hielte, es nicht ange wachsen sähe, noch auch die anderen Umstehenden: so scheUlt das, wenn man es zugibt, gegen das Gesagte zu sein. Man kann sagen, daß da keUle solche Kraft Ul einem aktiven Schaden liegt als in einem passiven (aktiv verstanden nicht von dem, wer es aktiv bewirkt hat, sondem von dem, wer den Schaden von außen sieht; wie es an sich klar ist) daß deshalb der Begnadete, mag er den Schaden eUles anderen sehen können, und der Dämon hierin seine SU111e täu schen, er ihm doch nicht selbst eUlen solchen Schaden passiv zufügen katlll, daß er nämlich seules Gliedes beraubt würde, wie es im Gegenteil der Fall ist, falls er der Lust nicht dient, wie der Engel zu Tobias sagte: "Über die, welche der Begierde frönen, über die gewinnt der Teufel Macht". Was endlich von denjenigen Hexen zu halten sei, welche bisweilen solche Glieder Ul natnhafter Menge, zwatlzig bis dreißig Glieder auf eUlmal, in eUl Vogelnest oder eUlen Schrmk eUlschließen, wo sie sich wie lebende Glieder bewegen, Kömer und Futter nehmen, wie es von Vielen gesehen ist wld allge meul erzählt wird, so ist zu sagen, daß alles dies durch teuflische Hatldlung und Täuschung geschieht; denn also werden Ul der angegebenen Weise die Sit1ne der Sehenden getäuscht. es hat nämlich einer berichtet, daß, als er das Glied verloren und er sich zur Wiedererlatlgung seuler Gesundheit an eUle Hexe gewandt hatte, sie dem Kratlken befalll, auf eUlen Baum zu steigen und illlll
Gudrun GersmatUl
1 80
erlaubte, aus dem (dort befindlichen) Neste, in dem sehr viele Glieder lagen, sich eines zu nehmen. Als er ein großes nehmen wollte, sagte die Hexe: "Nein, ninun das nicht"; und fügte hinzu, es gehöre einem \Veltgeistlichen. Dies alles geschieht durchaus vennittels gauklerischer Täuschung durch die Dämonen auf die atlgegebenen Weisen, durch Störung des Sehorgatls, indem die Sinnesgestalten hinsichtlich der Vorstellungskraft gewatldelt werden. Es ist nicht nötig, zu behaupten daß die Dämonen in so atlgenonUllenen Gliedem sich zeigten, wie sie in atlgeno11U11enen Körpem aus Luft den Hexen und Men schen bisweilen erscheinen und mit ilUlen zu reden pflegen. Der Grund hier von ist, weil sie auf leichtere Weise solches tun kÖIUlen, nämlich durch eine örtliche innere Bewegung der SUUlesgestaltell aus dem AufbewallID1lgsort oder der Gedächtlliskraft nach der Vorstellung hin. Und welU1 jematld s agen wollte, daß sie es auf älUlliche Weise auch tun könnten, wenn sie der Behauptung nach Ul atlgeno11U11enen Körpem mit Hexen und anderen Menschen sprechen, daß sie nämlich solche Erscheinung durch Änderung der SUUlesgestalten nach der Vorstellungskraft bewirkten, so daß, wällfend die Menschen meulten, die Dä monen seien in atlgenommenen Körpern zugegen, es nur solche Verwatldlun gen der SUUlesgestalten in den uUleren Kräften wären: so ist zu s agen, wenn der Dämon nichts weiter zeigen wollte, als nur eine Darstellung eines mensch lichen Bildnisses, er datUl schlechterdings nicht nötig hätte, in einem atlge nommenen Körper zu erscheulen, da er das ja hinreichend durch die genatUlte Änderung bewirken kÖIUlte. Nun aber, da er mehr auszuführen hat, nämlich sprechen, essen und auf Unflätereien sitUlen, deshalb muß er auch selbst zuge gen seitl, indem er sich von außen wirklich itl atlgenommenen Körper dem Auge darbietet, weil nach dem Gelehrten die Kraft des Engels dort ist, wo er wirkt. In der Frage aber, wo gefragt wird, ob UI dem Falle, wo eitl Dämon durch sich, ohne Hexe, eitlem das Mfuuiliche nälUlle, datUl eitl Unterschied sei zwi schen der einen und der atlderen Weghe:l..'Ung, kat11l außer dem, was inl ersten Teil dieses Werkes
in der Frage erwähnt wird, ob die Hexen die mfuuilichen
Glieder weghexen kÖIUlen, gesagt werden, daß, weml der Dämon durch sich eitl Glied weghexe, er es datUl wahr und waluhaftig weghexte und wallr und wallfhaftig wieder atlsetzte, welUl er es zurück zu versetzen hätte; zweitens, wie nicht olUle Verletzung, so kömlte er es auch nicht olUle Schmerz weghexen; drittens, daß er solches nie täte, außer von eitlem guten Engel gezwwlgen, darum nfulilich, weil er ja eUI Werkzeug seines Vorteils wegzunelunen hätte, delUl er weiß mehr Hexereien atl diesem Akte (der Begattwlg) zu vollbringen als
an
den atlderen menschlichen Handlungen, wie auch Gott mehr zuläßt,
diese Hatldlungen zu behexen, als atldere menschliche Handlungen, wie oben festgestellt ist; und dies alles hat keinen Raum, weml er mit Zulassung Gottes, durch die Hexen hatldelt. Und weml gezweifelt wird, ob der Dfunon die Menschen und Kreaturen mehr durch sich zu schädigen sucht als durch die Hexen, so katUI gesagt wer-
Archäologie eines männlichen Umgangs mit der Hexe
181
den, daß e s hier gar keinen Vergleich gibt. Unendlich mehr sucht e r durch die Hexen zu schädigen, eimnal, weil er Gott durch Beanspruchung einer diesem geweihten Kreatur größere Schmach bereitet; zweitens, weil, wenn Gott mehr geschädigt wird, dem Teufel mehr Macht, die Menschen zu schädigen, zugelas sen wird; drittens um seines eigenen Vorteils halber, den er in der Vemichtullg der Seelen sucht.
Stephan R. Heiß
Das Dritte Geschlecht und die -Namenlose Liebe Homosexuelle im München der ]ahrhundertwende "Bei den Umiugen sind die ersten kindlichen sexuellen Regungen so, daß sie sich, wenn sie Männer sind, andern Männern gegenüber
als Weiber fühlen. Sie empfinden so etwas wie p assives Unterord nungsbedürfnis; sie sind schwärmerisch, lieben es, weibliche Hand arbeiten zu verrichten und sich weibisch zu kleiden, verkehren sehr gerne mit Frauen als mit Freundinnen und Geistern, die sie verste hen. Sie sind gewöhnlich (nicht immer) kleinlich Sentlliental, gerne frömmelnd, putzsüchtig und kokett, freuen sich an allem was glänzt, an Prunk und Luxus." (pord, Die sexuelle Frage , München
1917)
Das Leben der homose:!.."Uellen Männer und Frauen vor der nationalsozialisti schen Verfolgung in Deutschland ist bislang nur in einzelnen Aspekten er forscht worden. Ei.11zehle biographische, bzw. monographische Arbeiten haben sich allerdings zu regional, zeitlich oder dlematisch begrenzten Aspekten geäu ßert. Die Person August v. Platens oder das Wirken Dr. Magnus Hirschfelds, die Verwicklungen der Harden-Eulenburg-Moltke Prozesse!, die sexualpsycho logischen und s trafrechtlichen Veränderungen des 1 9. Jallfhunderts darf man zu diesen T11emen zählen. Im deutschsprachigen Raunl konnte vor allem Berlin als großstädtisches Zentrum und Lebenswelt von Minderheiten genauer als andere Städte rekonstruiert werden.z Über die Lebensfonnen und Sozialisati onsfonnen homosexueller Frauen und Männer im kaiserlichen Deutschland außerhalb Berlins weiß man jedoch nur wenig. Was rekonstruierbar ist, erschließt sich vor allem über Polizeiakten und Pro zeßberichte. Selten ergänzen private Quellen diese einseitigen, unter dem Ge sichtspunkt eines Vergehens nach dem Strafrecht angefertigten Dokwllente. So muß auch das Bild, das sich dabei ergibt, einseitig bleiben. Deml wohl nUf der kleinste Teil dieser Menschen lebte eigentlich kriminell oder in einem krimi-
1 Zum Fall Eulenburg vgl. Stümke/Fischer, Rosa Winkd; Taeger/Lautmann, Sittlich
2
keit und Politik; Steakley, Iconography of a Scandal, in: Dubernlan, Hidden from Hi story. Hier sei auf die Editionen der Verlags Rosa Winkel velwiesen, der etwa die Arbeiten Magnus Hirschfelds oder Karl Heinz Ulrichs neu herausgab.
1 84
Stephan R. Heiß
nellen Milieu. Nur die Kriminalisierung durch den § 1 75 des Strafgesetzbuches s tellte sie in dieses Umfeld und verhinderte weitgehend, daß andersgeartete Quellen und Zeugnisse über das Leben Homosexueller entstehen kOlU1ten. In Bayem lassen sich zumindest für die Residenzstadt München Spuren einer schwulen Subkultur rekonstruieren. Durch Gerichts- und Polizeiakten sind einige Schicksale überliefert worden, die eine Ahnung davon vermitteln, daß Homosexualität ein nicht unerhebliches Phänomen in München war. Am Bei spiel zweier Akten soll ein Rekonstruktionsversuch untemommen werden, um die Lebenswelt schwuler Männer um die Jahre 1 9 1 0 bis 1 9 1 4 zu zeigen.3 Die ZUSatlU11ensetzung der Akten zeigt Parallelen, die vemlUten lassen, daß Sitt lichkeitsprozesse gemäß § 1 75 nach einem gleichbleibenden Muster aufgebaut waren: der Anklageschrift liegen neben den Protokollen der Polizisten, die sich mit dem Tatbestand beschäftigen, umfatlgreiche Ennittlungen über das Privat leben der Beschuldigten bei. Da es nicht nur um einen einzelnen Täter, son dem um zwei oder mehrere ging, griffen die Nachforschungen weit aus, wn das Ausmaß der Verfehlung und der sittlichen Einstellung fes tzustellen. Letzte re war auch Ansatzpunkt einer ärztlichen Untersuchung, die den geistigen Zustatld des Beschuldigten zwn Gegenstand hatte. In diesen psychiatrischen Gutachten spiegelt sich die zeitgenössische medizinisch-psychologische Aus einandersetzung über die Ursache der Homosexualität: Kratlkheit, Erbatllage, oder selbst zu veratltwortende moralisch-sittliche Dekadenz des Patienten. Die Gutachten gaben in der Regel entscheidenden Anstoß zum AuSgatlg des Pro zesses. Matl trifft dabei auf Kommentare wie den des Juristen und Psychiaters August Forel, der bestehende Vorurteile bestätigte (vgl. das Eingatlgszitat) oder auf individuelle re und verständnisvollere Befunde, die dem einzehlen helfen mochten, noch eUU1lal glimpflich davon zu kommen.
1.
Medizinisches und Psychologisches
Seit 1 870 hatten die Forschwlgsarbeiten von Rudolf Krafft-Ebing, Albert Moll, Magl.1us Hirschfeld4 wld atlderen Medizulem wld Psychologen Homosexualität vor allem als Kratlkheit definiert, die man mit verschiedenen Therapien behan-
3 Für den genannten ZeitraUfil ist der Aktenbestand zum Thema Homosexualität in München ausonsten dÜlftig. Die beiden Bestände stellen in ihrer Vollständigkeit eine Ausnahme dar. Ausführlichere biographische oder gesellschaftsgeschichtliche Rekon struktionen sind für diesen Zeitraum in der Regei llur anhaud auderer Quellen neben den Strafakten möglich. 4 So z.B.: Rudolf Krafft-Ebing, Zur "conträren Sexualempfindung" in medizinisch forensischer Hinsicht, in: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und psychisch gerichtliche Medicin, 39. Jg. von 1882, S. 21 1-227; Moll, Die konträre Sexualempfin dung, Berlin 1897.
185
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende
deIn wollte - und dadurch auch gegen die Kriminalisierung der Homosexuali tät argumentiert. Die angeborene, wie auch die envorbene homosexuelle Ver anlagung seien als solche nicht aus freier moralischer \Villensentscheidung begangene Taten sondem als KnUlkheitsfonn zu betrachten und daher auch zu therapieren. Die Strafverfolgung allein wäre hingegen keine Lösung des Pro blems. Diese Entwicklung brachte vielen Männem einen Fluchtweg vor der gericht lichen Verfolgung. Die zu alUldende Handlung geschalI oftmals - so stellten viele Mediziner fes t - unter schwächenden Einflüssen (Alkohol, persönliche Probleme) wld war als Handlung eines kranken, nur bedingt selbstbes timmten Menschen zu verstehen. Diese medizinische Einschätzung schuf jedoch eine Pathologie der Homosexualität, die in den folgenden Jaluzehnten wlgemein stark das generelle Bild schwuler Männer prägen sollte. Mit der umstrittenen Definition als psychische Krankheit war für die Betrof fenen erst einmal ein Vorteil verbunden - wurden sie doch nicht mehr als frei bestimmte Menschen zu Straftätem eingestuft, sondem als Kranke, wobei es die Symptome der Krankheit zu wlterdrücken oder zu bekämpfen galt. Langfristig entstand durch diese Sichtweise erheblicher Schaden für die ge sellschaftliche Anerkennung der Gleichgeschlechtlichkeit als akzeptabler FOOll von Sexualität und der danlit verbundenen Lebensweise. Denn die Idee von einer Krallklleit inlplizierte auch die Furcht vor Ansteckung (Verführung) - so befürchtete man eben auch die Weitergabe des "Lasters" durch die Älteren an die vor allem bedrohten JugendlidIen. Da es sich um keine Krankheit handelte, stellte man zumeist auch keine " Besserung" fest, wonlit die Gefalu
um
so
größer erscheinen mußte. Zu dem Zeitpunkt, als Pllilipp von Eulenburg, Otto Bolullke und Angelo Knorr in die Mühlen der bayerischen Justiz gerieten, war das Phänomen von MfuUlem und Frauen, die das eigene Geschlecht liebten, seit einigen JalUZelUl ten zu einem stärker betrachteten Forschungsgegenstand der Medizin und der aufstrebenden Psychologie geworden.5 In München forschte zeitweilig der Mediziner und Ulliversitätsprofessor Kräpelill auf diesem Feld.6 Die Promotions arbeit des Arztes Rudolf Fleisdll11ann, die
1911
bei Prof.
Kräpelin in München vorgelegt wurde, beschäftigte sich mit "Beiträgen zur Lehre von der conträren Sexualempfindung". 7 Rudolf Fleisdll11arlll verwies darauf, daß es sidl um eine sehr junge Forschungsrichtung handle, und be schäftigte sich im folgenden mit grundlegenden Definitionen wld
5
mit der Be-
Zur sexualpathologischen Erforschung der Homosexualität bietet Helmut Blazek, Rosa Zeiten für Rosa Liebe - Zur Geschichte der Homosexualität, S. 104 ff., eine übersichtliche Einführung.
6 Kriipelin, E.: Die Abschaffung des Strafmaßes, Stuttgart 1880. 7 Rudolf Fleischmann, Beiträge zur Lehre von der conträren Sexualempfindung, Diss., München
1911
(Universitätsbibliothek München).
1 86
StepluUl R. Heiß
schreibung einzelner Fälle nach sozialen und individualpathologischen Aspek ten, der Klassifikation einzelner "Krankheitsbilder" und Theorien über Entste hens- und mit den Erscheulwlgsfomlen der "KnUlkheit". Seule Arbeit war nur eUle von vielen, die in den ersten zwei J ahrzelmten des 20. Jahrhunderts zu diesem Thema entstanden waren, zeigt aber den seinerzeitigen Forschungs stlUld. Neben den empirischen Resultaten der eigenen Beobachtungen vertraute er immer wieder älteren Forschungsarbeiten und übemalUll deren oft grob ver eUlfachende Urteile. So lehnte er sich an Molls Untersuchungen an, nach denen der soziale Stand der Homosexuellen der Herkunft nach zu über der Hälfte aus besseren Ständen sei, die eigene Entwicklwlg in der Regel jedoch
ZUlll
sozialen
Rückgang führe. Moll nannte die große Straffälligkeit und den Alkoholabusus als Gründe. Fleischmann verwarf den Ansatz Havelock-EIlis', der glaubte, daß sich die Invertierten im wesentlichen Ul zwei Klassen eUlteilen ließen, nämlich Hochbegabte wld Verbrecher. Letzteres entstand wohl dadurdl, daß das Sexu alverhalten in Strafanstalten in die Untersuchungen mit eUlbezogen worden waren.8 Er selbst hielt zUmllldest einen hohen Anteil von Hochintelligenten für erwiesen. Allgemein anerkannt sei allerdings, "daß die konträre Sexualempfin dung schon alleul - olme eUle andere psychische Erkrankung - als Geistes krankheit zu betrachten sei oder zumindest der Psychopadlie zuzurechnen sei, da sie doch sidler tiefe etllische Defekte und große Willensschwäche bedin ge."9 Die Fomlen der unter Homosexuellen vorkommenden Geisteskrankhei ten erkarulte er Ul der Hysterie, der Imbezillität, dem chronischen Alkoholis mus, sowie der Epilepsie durch sexuelle Ausschweifungen. Er schloß seule Arbeit mit der Ansidlt, daß der Homosexualität "keine Aus nalunestellwlg in der Reihe der übrigen sexuellen Anomalien gebührt und diese psydusche Abnormität keulem Individuum aus irgendwelchen Gründen ange boren ist." Vielmehr ist sie eine Folge der Entartung, die wlter anderem durch Lektüre, Alkohol, Verführung oder "exzessive Onatue" hervorgerufen wird. Somit legt seule Untersuchung nalle, daß illr Vorhatldenseul oder ihre Vemlei dung ganz in den Händen der Gesellschaft liegen muß - folglidl durch erzie herische und exekutive Maßnalunen kontrolliert werden könnte.lO Diese Ansicht sollte sich Iatlge erhalten - sie bestillUllte auch
ZUlll
großen
Teil die Bemühungen der Nationalsozialisten, Homose}"Llalität durch Arbeit abzuerziehen und "auszwllerzen". Zu Beginn des 20. Jallrhunderts wird der Einfluß dieser Theorien deudich, Well1l gerichtspsychologische Untersuchun gen auf den fanllliären, schulischen und sitdichen Hultergrund des Untersuch-
Ders., S. 7 f.; er zitiert: Havelock-Ellis/Symonds: Das konträre GeschlechtsgefüW, deutsch: Leipzig 1896. 9 Ders., S. 10. 10 Ders., S. 57. B
Homosexuelle im München der Jahrhwldertwende
1 87
ten ungewöhnlich hohes Augelmlerk legten, um daraus Ursachen für ein Ent stehen der Veranlagung durch die Umwelt des "Psychopathen" abzuleiten.ll
2. Krupp, Moltke und Eulenburg Erstmals war Homose:>..'Ualität als Phänomen wohl mit der aggressiven Presse politik Maximilian Hardens und den anschließenden Prozessen um den preu ssischen Diplomaten Philipp Prinz zu Eulenburg-Hertefeld und den Berliner Stadtkommandanten Kuno Graf Moltke in den Jaluen 1 907 wld 1 908 einer breiten Ö ffentlichkeit bekannt geworden. In den Jallren zuvor waren bereits etwa
20
hohe preussische Offiziere wegen Homosexualität von Kriegsgerich
ten verurteilt worden, mehrere hatten deshalb Selbstmord begangen.tZ Fried rich Heinrich Prinz von Preussen outete sich
1 906,
als er wegen seitler Veran
lagung einen Orden ablelmte. Der Berlmer Polizei lag eme Liste mit mehreren hundert Nanlen von Aristokraten vor, die als schwul bekamlt geworden war. Der Gruppe um Harden schien die politische Substanz bedroht zu sein - wld der Schlag gegen Eulenburg sollte die weitere Verbreitung der Homosexuellen s toppen,13 Die folgenden turbulenten Auseinandersetzungen in der Presse und vor Gericht zeigten, daß Homosexualität als Begriff vielen noch wenig sagte. So k0111lte etwa Moltkes frühere Frau aus seinem Umgang mit Eulenburg nichts erkennnen, da ihr Homosexualität als Phänomen unvertraut gewesen war. Lediglich in den Großstädten Europas, in denen sich bereits eine schwule Subkultur gebildet hatte, und wo auch Mitlderheiten deutlicher walugenom11len
wurden, war bereits zuvor ab und zu von eitlem " Überhandnelmlen der Mätl nerliebe" die Rede gewesen, wenn gleichgeschlechtliche Lebensweisen öffent lich sichtbar wurden.14
11 Eine ausführlichere Darstellung der seinerzeitigen forensischen Psychiatrie findet sich bei Blazek (1996), S. 124 ff. 12 Zitiert nach Steakley, Iconography of a Scaudal, in: Hidden from History, S. 238. 1 3 Ders., S. 240 ff.; ein auderer Aspekt war die Auseinandersetzung um außen- und itmenpolitische Ziele, bei der das Argument Homosexualität - wenn auch zutreffend - zur Ausschaltung der politischen Gegner benutzt wurde. Eulenburg wird zur Gruppe der Politiker gerechnet, die eine Annäherung an Frankreich befürworteten und dem deutschen Imperialismus kritisch gegenüberstauden.
14 Georg Hirth, Münchner Post, 1908: "Schlinlm war für alle, die darum wußten, das Überuaudnehmen der Männerliebe; schlimm war die unselige Verquickung der sexu ellen Männerfreundschaft mit politischen Machtallspcüchen; schlimm war und ist noch die BedrohufUlg der mälllilichen Jugend durch eine Perversiou, die nicht nur das Uebesglück der Einzelnen, sondern ganzer Fauillien auf das Empfindlichste stört."
1 88
Stephan R. Heiß
Da das abschließende Verfahren gegen Prinz Eulenburg vor dem Münchener Schwurgericht stattfand, kOlU1ten die Münchner die Ereignisse aus der ersten Reihe mitverfolgen. Eulenburg, der zuvor abgestritten hatte, sich nach
§175
RStGb schuldig gemacht zu haben, wurde durch die Aussagen des Münchner Milchmannes Georg Riedel wld des Stamberger Bauern wld Fischers Jakob Emst überführt, s eit
1 881
in sexuellen Beziehungen ges tanden zu haben, und
daher wegen Meineids angeklagt. Die Tatsache, daß es um Homosexualität ging, spielte wegen der Verjährung der fraglichen Taten nur mehr eine zusätzli che Rolle - in den Köpfen der Zuschauer, die den Prozeß in den täglichen Reportagen aller Zeitungen mitverfolgen konnten, jedoch eine dominierende. Auf die Prozesse folgten weitere Offenbarungen und ein Sturnl der Entrüstung in der Ö ffentlichkeit. Von der Justiz wurde die radikale Säuberung des Staates von homosexuellen Elementen gefordert. Prinz Eulenburg, bis dalun ein enger Vertrauter Wilhelms II., mußte sich auf sein Liebenberger Anwesen zurückzie hen, für die deutschen Homosexuellen sollte sich die politisch motivierte Het ze gegen illll allgemein sehr nachteilig auswirken. Das Interesse an dem Thema Homosexualität war auch
in
München seit der
Jallrhwldertwende gewachsen und scluug sich in der Presse und in vemlehrter Aufmerksanlkeit der Polizei lueder. Gleichzeitig trugen die Skandale auch zur Verstärkung der Klischees über das "Dritte Gescluecht" bei und nunderten auch eine gewisse Toleranz, die mit der medizinisch-psychologischen Erfor SChWlg und Begründung des Phänomens gefördert worden war. 15
3. Der Fall "Otto Bohmke" Die polizeiliche Enllittlungsakte aus dem Jahre
1908
betrifft das Vergehen des
Kaufmannnes und Kunsthändlers Otto Bohnuce 16 gegen den der Nacht vom
20.
auf den
21.
§175
RStGb. In
November begegnet Bolllllke auf dem Len-
Die Begriffe "Drittes Geschlecht, Uminge, Sodomiter, Homosexuelle, Päderasten, etc." führen immer wieder zu Verwirmng. Die einzelnen Begriffe entstanunen ver schiedenen zeitlichen und begrifflichen Kontexten und dürfen in ihrer ursprüngli chen Verwendung meist nicht mehr mit den heutigen Bedeutungen assoziiert werden (z.B.: Päderastie als allgemeine Bezeichnung für Homosexalität verengte seine Be deutung bis heute auf den Sex mit Minderjährigen). Hier sei nur kurz darauf hinge wiesen, daß die Bezeichnung als "Drittes Geschlecht" von Maguus Hirschfeld be vorzugt wurde, ohne auf die subtilen Unterscheidungen einzugehen, die zwischen verschiedenen Stufen und Fonnen der "sexuellen Inversion" gemacht wurden. All gemein weiter bekaUllt dürften wohl der strafrechtliche SaUllllelbegriff der "Sodomie" oder die Bezeichnung "Urninge" gewesen sein, der etwa von Karl Heinz Ulrichs verwendet wurde. 16 StA [=Staatsarchiv München] München MI 1876a. 15
Homosexuelle
im München der J allfhundertwende
1 89
bachplatz dem jungen KaUfmatUl Emil Krebs. Der Polizei ist diese Gegend als Treffpwlkt schwuler MätUler ebenso bekamIt, wie
auch
der I<arlsplatz
(Stachus) und die Bayerstraße bis Zunl HauptballllhofP Der vennögende Otto Bolllllke ist zu diesem Zeitputlkt fas t
52 Jalue
alt,
verheiratet utld wohnt in der Nymphenburger Straße, einer der guten Adressen Münchens. Er ist nicht vorbestraft und hat offenbar auch homosexuelle Kon tal,te bis dallin vemueden. Der Polizei gibt er zu Protokoll, daß er atl diesem Abend einen Freund , einen alten Maler, besuchte und anschließend seine Frau vom Theater abholen wollte. Auf einem Plakat an einer Litfaßs äule sieht er allerdings, daß die Veratls taltung bereits beendet ist utld er s eine Frau kaum mehr einholen kann und beschließt daraufhin, mit der Tra111bahn nach Hause zu faluen.
Am
Lenbachplatz wartet er auf eine Verbindung. Dort habe
junger Mann angesprochen.
ihn ein
Ein BekatUlter? Nein, wie sich nach einem Augenblick herausstellt Es ist der Privatsekretär Emil I
ihn küssen würde. I
zuerst ab, willigt dann aber ein, als Bolllllke den Vorschlag macht, gemeinSatll
in den kleinen Park a111 KÖlugsplatz, hinter der Glyptodlek zu gehen. Dort bietet Bohnlke dem I
im
Die Geschichte wäre lucht dokumentiert, wenn lucht auch die Polizis ten Guckenberger und Herb in der Anlage unterwegs gewesen wären. En1il !
17
Die polizeiliche Überwachung der Bahnhöfe zur generellen Verhiudemng von Pro stitution und Unsittlichkeit richtete sich zunehmend auch gegen Homosexuelle, als deren Vomandensein m der Öffentlichk �it stärker waltrgenonunen wurde. insbeson dere die Übelwachung und Zensur der Baltnhofsbuchhandlungen und Kioske durch eine eigene Zensurabteilung der Polizei nal1lll mlmer mehr auch schwule Publikatio nen als Unsittlichkeit walte und ging vor allem in den 20er Jahren energisch dagegen vor. h1 den Akten der Polizeidirektion (pol.Dir, BStA [=Bayerisches Staats ar chlvJ)bef11lden sich zaltlet11l1äßig zunehmende Vorgänge zur Bekämpfung der Unsitt lichkeit aus den Jaluen 1880-1935. Dabei handelt es sich zumeist um Zensurfälle von Schrift- und Photomaterial (Hauptsächlich "heterosexuelle" erotische Literatur und Photographie), die auch in der Tagespresse furen Widerltall fanden. Beim Vergleich mit Ermitdungsalcten aus der Zeit fällt auf, daß die Intensität der Velfolgung in bei den Bereichen zunahm. Der Eindmck scheint gerechtfertigt, daß das schärfere Vor gellen in Sittlichkeitsprozessen, das größere Interesse an Homosexuellen und die stärkere Verfolgung von "Schmutz- und Schundliteratur" parallel verlaufende Ent wicklungen hin zu einer verschärften öffentlichen Moral waren, die von emem gro ßenTeil der Presse unterstützt wurden.
190
Stephan R. Heiß
erkemlUngsdienstlich behandelt und verhört. Die Polizisten gaben an, die Ge scheluusse aus wenigen Schritten Entfernung, hinter Bäumen verborgen, beob achtet zu haben. In minutiösem Detail rekapitulierte Guckenberger in seinem Bericht den Ablauf der Begegnung zwischen den beiden Männern. Schließlich wird Anzeige erstattet, wegen "Vergehens wider die Sittlichkeit, verübt durch widernatürliche Unzucht in rechtlichem ZusammenluUlge mit je einem Vergehen wider die Sittlichkeit, verübt durch Ärgernis erregende un züchtige Handlungen." Geradezu bedauernd klingt die Feststellwlg Gucken bergers, "von den Beschuldigten wurden während ihrem Verweilen in den Anlagen Rasenflächen lucht betreten." Im ersten Schrecken gaben die beiden Beschuldigten alles zu. Erst später erklärte Bohmke, daß euuge Aussagen nicht zutreffen, vielmehr habe er sich etwa lediglich gebückt, um seulen Hut aufzu heben - nicht um das mfuUlliche Glied von Enul Krebs UI den Mund zu neh men. Es folgte der Gang durch die Justiz, die gerade in den Wochen nach dem Eulenburg-Prozeß vernlUtlich begierig war, Schwule zur Strecke zu bringen. Emil Krebs entzog sich dieser Prozedur durch die Flucht nach Italien, von wo er später nach Frankreich auswanderte. Schließlich wird das Verfahren gegen ilUl eingestellt, da man eine weitere Verfolgung für aussichtslos hält. Viele Zeitgenossen entgingen Ul diesen Jahren dem
§175
durch die Enugration
oder durch Urlaube in den romanischen Lfuldern, deren Strafrecht seit Napo leons Reform liberalisiert (geblieben) war. Otto Bohmke j edoch war durch Fanlllie wld Geschäfte gebunden und komIte nicht so leicht fliehen. Die Un tersuchungen Ul s eulem Fall begillUlen - wie in vielen Fällen dieser Art - mit eUler psychiatrischen Untersuchung. Es wurde Mai
1909,
bis der Lillldgerichts
arzt Dr. HermillUl s eulen Bericht fertiggestellt hatte. Das Ergebnis unterschied sich nur welug von dem vieler älUllicher Untersuchwlgen: Dem Angeklagten wurde attestiert, die fragliche Hillldlung in einem ZuStillld eUlgeschränkter ZuredulUngsflihigkeit begangen zu haben. Erei�usse, wie eine Gelurner schütterung BolUlIkes vor fast
30 J ahren
oder die Vermutung, er habe j ahrelang
an Bettnässen gelitten, ließen Dr. Hernlillul zu dem Schluß kommen, Bolunke leide an "ausgeprägter Hysterie". Für BolUlu;:e war dies das Beste, was ihm unter den Gegebeluleiten widerfahren konnte. Auch seule Verteidiger, die Anwälte von PillUlwitz und Geiss, betonten in ihrem Schriftsatz, daß bei iluer Mandillltschaft "eine krankhafte Verilluagung in der Weise vorliegt, daß er unter einem unwiderstehlichen ZWilllg" hillldle. Wäre er nicht leicht allwholisiert gewesen, so häUe er sich wolIl auch am
20.
November, wie schon seUI gilllzes Leben lilllg, gegen seinen Trieb gewehrt. Diese Argumentationskette wird sich noch ausführlicher auch
im
Fall Angela
Knarr wiederfinden. Die Anwälte hatten nut Sicherheit recht, weml sie das Gericht darauf hinwie s en, daß die Eröffnung eUles Hauptverfahrens Bolunkes Existenz zerstören würde - gleich, wie das Urteil ausfallen würde. Die öffentliche Erörterung ihrer sexuellen Vergehen hatte schon viele Mfu11ler um ihre bürgerliche Positi-
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende
191
o n gebracht. Im übrigen konzentrierten sich die Anwälte Bohmkes auf die Vorgänge im Park. Sie zielten darauf ab, die Aussagen des Polizisten zu ent kräften. Dieser hätte schließlich im unbeleuchteten Park aus seiner Deckwlg hinter einem Baum hervor gar nicht so viel sehen können. Entscheidend war dabei, was Bohmke mit seinem Partner gemacht hatte. Die Rechtsprechung verfolgte über Jahrzehnte nur den Analverkehr als päderasti sches Delikt nach § 175. In den neunziger Jaluen des 1 9. Jaluhunderts kam verschärfend der Oralverkehr hinzu, gegenseitige Onanie blieb jedoch noch bis in die zwanziger Jalue weitgehend straffrei.18 Bohmke sollte schließlich mit einem monatelangen Schrecken davonkom men. Am 3. Juni 1 908 stellte das Gericht in geheimer Sitzung das Verfaluen gegen ihn ein, da er sich damals "in einem Zustande krankhafter StÖCWlg der Geistestätigkeit" befunden habe, "der seine freie Willensbestimmwlg ausschloß (§51 RStGb)". Derart rücksichtsvoller Umgang mit dem Angeklagten war aller dings eher die Ausnallme. Weit eher wurden die "saftigen" Einzellleiten zu interessantem Stoff für die Tagespresse.
4.
Der Fall ,,Angelo Knorr"
Anders als in Bohnlkes Fall wurde gegen Angelo Knorr19 weitaus intensiver ermittelt, wobei sicherlich der Tatbestand einer Erpressung als auslösendes Moment wld Knorrs Umgang mit weitaus jüngeren Männem zu einem ver mehrten Interesse an seinem Umfeld beitrug. Am 27. Mai. 1 914 wurde der 32jällrige promovierte Chemiker Angelo Knorr vor dem kgl. Landgericht München I wegen eines Vergehens nach §175 ange klagt, das er fast ein Jallr zuvor begangen hatte. In der Zwischenzeit hatte sich die bayerische Justiz erheblich bemüht, um sich ein Bild von Angelo Knorrs Sexualleben zu machen. Nicht nur sein Privatleben wurde genau durchleuchtet, sondem auch die Lebensumstände seiner Freunde und Partner, soweit sie nanulaft wurden. Die Geschichte beginnt anl 9. Juni 1 91 3, als Knorr auf der Sonnenstraße an der Ecke zur Landwehrstraße den sechzehnjällrigen SclUleidergesellen Alois
Jiricek aus Österreich kenneluemt. Der 16jällrige war durch seine Kleidung weit offener Hemdkragen, abgerissene Hose, feluender Knopf am Hosen-
18
Diese Unterscheidung zwischen einzelnen Sexualpraktiken im Detail wird aus den Strafakten inlmer wieder deutlich. Auch wenn die Psychiatrie bereits stärker das Empfinden des Menschen untersuchte, als die Form der Tat, stellte die Frage, ob und wie denn der Samenerguß in welchen andem KÖlper vorgenommen wurde, noch in1Uler ein rechtsrelevantes Kriterium dar. 19 StA München, PolDir. 1823. '
Stephan R Heiß
1 92
schlitz und nackte Waden - für Eingeweihte als Stricher erkennbar.20 Einer von vielen, die um den Stachus und in der Bayerstraße ihr Auskommen suchen. Knorr lädt Jiricek zu einer Trambahnfahrt nach Großhesselohe ein. Sie essen in einem Aus flugslokal auf den Ludwigshähen und werden sich auch einig. Ir gendwo
im nallegelegenen Wald konl111t es
zu einem Beisanlluensein, das wohl
nicht sehr "erfolgreich" war: bei der Vemehmung gibt Jiricek zu, 75 Mark erhalten zu haben, doch sei nicht viel passiert, del111 "mein Hintem war halt schwierig". Jiricek erfährt einige Wochen nach der Begegnung von anderen Bekannten aus der Stricherszene, daß Knorr bei Erpressungsversuchen bereits reichlich bezahlt habe. Er meldet sich bei Knorr und erhält von Knorrs Anwalt auch tatsächlich Schweigegeld. Hätte nicht ein Gastwirt die ganze Geschichte mitge hört, als er sie später Freunden erzällIt, und Jiricek angezeigt, wäre wohl nicht viel mehr geschehen. So aber wird der Polizei die Person Angelo Knorrs be kannt und die Justizmaschinerie setzt sich in Gang. Knorr wird verhaftet, seine Woll11ung durchsucht, Bekannte und Freunde werden verhört, und sogar ehe malige Nachbam und Angestellte werden ausgehorcht. Es gelingt schließlich, die Beziehungen Kuorrs relativ umfangreich zu rekontruieren. Besonders aufschlußreich sind die Reaktionen jener "unbeteiligten Zuschau er", die sich aus den freiwilligen Auss agen und Zuschriften von ehemaligen Nachbarn und anonymen Vereinskameraden etc. ersehen lassen. So erschien Frau Klara SchwinghanU11e r in der Gendarmeriestation Feldkirehen und gab von sich aus zu Protokoll, daß sie von ihrer Freundin Anna HWldsdorfer Ein zelheiten über die Beziehung zwischen Dr. Knorr und dessen "Privatsekretär" Heinrich HabetswalIner erfahren habe und dalJ diese sogar selbst Beweismate rial besitze. Von den Emlitdungen wisse sie aus der Zeitung.21 Klara Schwing-
20
Die Münchner Neuesten Nachrichten vom 26. Juli 1911 zitieren aus einem Artikel des Jugendstaatsanwaltes Rupprecht in der "Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform" IUit dem Titel "Stcichjungentum". Darin geht der Autor ge nauer auf das Phänomen ein, das um die Jahrhundertwende erkannt wurde. Demzu folge beobachtete die Polizeidirektion München bereits seit 1909 eine ständige Zu nahme der männlichen Prostitution, ebenso eine Zunahme "groben Unfugs, be gangen durch auffälliges anstößiges Gebaren an öffentlichen Orten". Der Artikel schließt IUit der Fordernng, endlich auch Znhälter männlicher Prostituierter gesetz mäßig zu verfolgen.
21 Polizeiprotokoll vom
15.11. 1913:
"Die . ..in Feldkirchen wohllhafte Oberstabsveteri
närswitwe Klara Schwinghammer ... gab mir auf Befragen an, daß sie selbst nichts ge sehen habe und ihre anschaulichen Angaben nur von Erzälllungen der Ehefrau von Hundsd011'er ... , München hel1.ühren. Im Septenlber 1913 - Tag unbekannt - habe ihr die Hundsdorfer erzältlt, dall l(norr im Juli 1910 - Zeit unbekannt - mit dem Holzhändlersohn Heinrich Habetswallner von Linz, Österreich, welcher damals bei Knorr als Sekretär beschäftigt war, widematürliche Unzucht getrieben habe. Habets wallner sei damals Zinlmerherr bei der Hundsdorfer gewesen und dieser habe seiner-
Homosexuelle
im München der J ahrhunderhvende
1 93
hammer sorgte durch ihre Angaben dafür, daß sich die Ermittlungen noch ausweiteten und schließlich auch Max Dietz, ein ehemaliger Freund Knorrs wld Habetswallners Schwierigkeiten bekam - denn seine Briefe waren in die Hände der ehemaligen Nachbarin gekommen, wld fielen nun in die Hände der Polizei. Dietz war inzwischen Soldat und faßte eine Karriere als Unteroffizier
ins Auge. Trotz der entlastenden Auss agen seiner Mutter, die versuchte, ihm und Heinrich Habetswallner zu helfen, blieb der Polizei der Eindruck, daß sie
Wissen zurückhielt. Denn, so das Protokoll, "daß sie vom Verkehr des Knorr mit Habetswallner und mit ihrem Sohn Max Kenntnis hat, unterliegt keinem Zweifel. Dies wird durch die Frau HWldsdorfer bestätigt." Gegen Max Dietz wird daraufhin auch durch das Militärgericht weiter ermittelt. In der Darstel IWIg der Polizeiprotokolle wId der Zeugenaufnahmen erscheint die Beziehung Knorrs
mit
Dietz und Habetswallner wie die zwischen einem zahlenden KWI
den und zwei sich prostituierenden Jugendlichen. Hinterfragt man dies, so entsteht das Bild zweier unterschiedlich langer einvemehmlicher Beziehungen, die weitgehend privat oder im Ausland stattfinden und gegenüber Außenseitem als Geschäftsbeziehungen dargestellt werden mußten. So wurde aus Heinrich Habetswalhler eben ein Privatsekretär, der Knorr auch ins Ausland begleitete. Eine anonyme Pos tkarte denunzierte Angelo Knorr schließlich, in seiner Ei genschaft als Vereinsvorstand eines FußbaUclubs Sex
mit jüngeren Vereinsmit
gliedem gehabt zu haben. Nach intensiven N achforschungen mußte die Polizei allerdings die Haltlosigkeit der Denunziation feststellen. Liest man die Vemehmungsprotokolle dieser Fälle, kaml man leicht zu vor eiligen Schlüssen kon111len. Lemten sich homosexuelle Männer in München vor allem auf der Straße, oder gar nur auf dem Strich kennen? Waren sie, wie die Gutacllten der Ärzte und Psychiater aussagen, krank, beziehungsunfahig wld iluer Triebe nicht mächtig? Gestalteten sich die sozialen Kontakte der zeit der Hundsdolfer erzählt, daß er nicht mehr liegen könne und im Mter große Schmerzen habe. Zugleich teilte Habetswallller der Hundsdorfer mit, daß Kuorr mit
ilun widernatürliche Unzucht getrieben habe. Die HundsdOlfer ist dalm zu dem Prof.
Dr. Knopp in München gegangen und hat demselben die Sache erzählt. Prof. Knopp
soll dann den Habetswallner zu sich gemfen und im Josefinum in München operiert
haben. Dr. Knarr soll geschlechtlich krank gewesen sein. Habetswallner soll der HundsdOlfer auch erzählt haben, daß seine Anstellung als Sekretär bei Dr. Kuorr nur eine Scheinanstelluug sei. Seine Hauptarbeit bestand nur darin, daß er sich Kuorr zur widernatürlichen Unzucht hingeben mußte. Hierfür soll er
250
Mark bekommen.(...)
Dann soll Habetswalhler zu der Sekretärswitwe EIll1lla Dietz nach Starnberg ... ge k01lilllen sein als Zinmlerherr. Dieser Dietz soll Habetswallner auch verschiedenes von der Sache mit Knarr erzählt haben." EIll1lle Dietz und ihr Sohn werden in der Folge verhört. Die Anschuldigungen gegen Heinrich Habetswalhler kann Frau Dietz allerdings teilweise entkräften, deml bei der unangenehmen Operation habe es sich lediglich um eine Blinddarmoperation gehandelt. Allerdings führte wohl diese Anzei ge zu weitererer Nachsuche und Dietz.
ZUlll
Aufdecken der Beziehung zwischen Knorr und
1 94
Stephan R Heiß
MfuUler nur in einer dunklen, nächtlichen Subkultur, die im Verborgenen exi s tierte w1d mit ihren Gefahren durch Erpresser und Geschlechtskrankheiten den Einzelnen unweigerlich in Kriminalität und Dekadenz herunterziehen mußte? Anhand des Materials fällt es schwer, den Gegenbeweis anzuführen. Nur selten wurden homosexuelle Beziehungen zwischen Angehörigen der gleichen sozialen Schicht so öffentlich bekatUlt, wie die Skat1dalgeschidlten, die Eulenburg zu Fall oder Knorr in große Schwierigkeiten brachten. Die Wortwalll der Polizeiprotokolle, die den negativen Eindruck mn stärk sten trat1Sportieren, war zudem sicher nicht die der Befragten. Kaum wird Knorr gesagt haben, "Die Personen, mit denen ich verkehrt habe, waren alle grundverdorben und haben mich zum Geschlechtsverkehr at1gereizt und nicht ich sie", oder die Bezeichnung "Päderast" oder "Päderastengegend" in der abschätzigen FOOll gebraucht haben, wie sie in der Angeschuldigtenvemeh mung zu lesen ist.22 Die Anklageschrift vom 27. Mai 1914 faßt die Ergebnisse der VoremlittIun gen fast bedauemd zusmnmen: "Die Vocwltersuchung hat einen ausreid1enden Beweis für weitere, unter §175 RSTGB fallende, noch nicht verjährte w1d in1 deutschen Reich begangene päderastische Handlungen des Angeschuldigten nicht erbracht. Wolll aber ist durch sie erwiesen worden, daß Knorr in Betäti gw1g seiner homosexuellen VerlUllagung seit Jaluen gleichgesdllechtIichen Verkehr nlit jWlgen Burschen zwischen 1 6 und 1 8 Jahren gepflogen hat, wegen dessen er jedoch llicht strafredltlich verfolgt werden kann, da teils Verjähcw1g eingetreten ist, teils der Verkehr in Ländern stattfat1d, wo er nicht wlter Strafe gestellt ist. Diese Hat1d1ung (Knorr-Jiricek, S.H.) begründet gemäss §175 RSTGB ein Vergehen wider die Sittlichkeit durch widematürliche Unzucht." Das 41-Seitige Gutachten, in dem der kgl. Lat1dgerichtsarzt und Medizinalrat Dr. Hem1atUl dem Dr. Angelo Knorr im August 1914 vemlinderte geistige ZuredUlwlgsfähigkeit zum Tatzeitpunkt bescheüligt, fällt sicherlich in die bereits erwähnte Kategorie jener Gutachten, die dem Angeklagten eü1en Aus weg aus den Mühlen der Gerichtsbarkeit ermöglichten. Dr. Hern1atU1 war aber auch über den Forschungsstat1d in Sachen HomoseJ..'ualität auf dem laufenden. Er stellt in Knorrs Fanlliie patllOlogische Voraussetzw1gen fest, die er auf den Zustand seüles Patienten bezieht: Der Großvater litt an Tabes, dessen Frau vem1utlich 311 Gehimsypllliis, der Vater war "von Jugend auf ein eigentünlli eher Mensch", der veolludich - wie seü1e Frau audl - an "manisch-depressi-
22
VgI. dazu Manfred Hel"Zer: Seit den Zeiten Voltaires, in: Beruns drittes Geschlecht, Berlin 1991, S. 152, zur Verwendung verschiedener Bezeichnungen; das "dritte Ge schlecht" war gegenüber den sämtlich negativ belegten Bezeichnungen, die bis dahin zur Anwendung kamen, Hirschfelds Versuch zur Prägung eines p ositiven Namens für die Gmppe der Homosexuellen. Die Bezeichnungen ,,Homosexuelle" und "Invertierte" existierten dagegen eher als medizinische Temlini.
Homosexuelle im München der Jahrhwidertwende
195
vem Irresein" gelitten habe. Knorrs Mutter habe zudem noch Selbstmord wlter Opiumeinfluß begangen.
Der Arzt schilderte eingehend Knorrs Persönlichkeitsentwicklung - ausge
hend von den Feststellungen eines Sanatoriumsarztes, der Knorr bereits zuvor untersucht hatte. Dessen Ergebnis wiederum war, daß I<norr ein "ausge
sprochen angeborener Homosexueller" sei. D aher könne er seine Triebrich
tung nicht ändem, sondem sie höchstens beherrschen.
Zudem sei seine Homosexualität eine "Teilerscheinwigs fonn seiner schwe ren psychopathischen Konstitution", welche sich vor allem durch "krankhafte
periodische Schwankwigen des Seelenlebens" äußere. Danut gehen Bewußt
seinstörunsen einher, sowie Abschwächungen der nonnalen Willensimpulse . und das "UbernIächtigwerden eines sonst mühs ani luedergehaltenen Trieble
bens". Der Patient könne sich also lucht mehr erinnem, was ihm während einer bestimmten Phase geschehen sei. Der Arzt verglich diese Zustände mit den
Dämmerzuständen der Epileptiker oder der Quartalssäufer. Ihm erschien zu
dem besonders bemerkenswert, daß sich dieses Ausleben der Sexualität erst seit der Pubertät entwickelt hatte, während Knorr sie in seiner Jugend beherrscht
hatte, obwohl sie ihm bewußt waren.
Er kommt zu dem Schluß, daß Knorr seine Delikte "im Zustand krankhafter StÖCWIg der Geistestätigkeit" und somit ohne freien Willen ausführte. Danut
war Knorr nach
§51
RStGb vernunderte Schuldfahigkeit bescheilugt.
Allerdings wurde seitens der Außenstehenden, zu denen auch die Gutachter
re0111en müssen, in der Regel mit zweierlei Maß gemessen. Entsprechend dem
nonnalen gesellschaftlichen Kommwllkationsverhalten mußte der Ältere in der Regel der Verführer sein, der nach medizlluschen Gesichtspunkten zugleich "krank" war. Dem Jüngeren fiel die Rolle des Verführten zu, andernfalls die
des StrichjwIgen, der sellien KÖlIJer für Geld verkaufte und sonut vor allem
moralisch zu s trafen war. (Die gleiche Unterteilung findet sich in den Erfas sungsbögen der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Ab treibung, die ab
1 936
die Erfassung und Verfolgung der Homosexuellen ini
"Dritten Reich" steuerte.)21
Knorr hatte den Vorteil, vennögend und gesellschaftlich angesehen zu sein.
So konnte er sich Gutachten, Sanatorium und gute Verteidiger leisten.
Die lezten Zeilen des Gutachtens zeigen allerdings, wie sehr auch Knorr
durch das Verfaluen betroffen war. N ach abgeschlossener ärztlicher Untersu
chung auf dem Heiniweg erscheint er kurz darauf wieder lli der Klink und
bittet darum, sicher nach Hause begleitet zu werden. Auf dem Heiniweg war er
von einem Mann angesprochen worden. Angelo Knorr war inzwischen so weit, daß er darauflilli die Flucht ergriff - aus Angs t vor neuerlichen Enttäuschun
gen oder vor den Konsequenzen einer neuen polizeilichen Emiittlwig.
23
Vgl. dazu GÜllter Grau, Homosexualität in der NS-Zeit, Frankfurt
1993.
1 96
Stephan R Heiß
Seinem jugendlichen Erpresser Alois Jiricek wurde kurzer Prozeß gemacht. Unter Anklage wegen Päderastie und Arbeitslosigkeit, erhielt er vor dem Münchner Jugendgericht einen Monat Gefangnis und hatte die Kosten des Verfahrens zu übeOlehmen. Da ihm die Erpresswlg aufgrwld fehlender Bewei se nicht nachgewiesen werden konnte, wurde er nach Abbüßwlg dieser Strafe entlassen und nach Österreich abgeschoben. 5.
Die Presse
Bei einem Blick auf die Veröffentlichungen, die sich damals mit dem Phäno men der "Freunde", oder der "Freundlinge", "Einsamen", "Urninge", "Homo se1."Uellen", "sexuell Invertierten" - wie immer sie jeweils genannt wurden befaßten, wird der Eindruck der Voreingenommenheit bestätigt, der sich schon aus PolizeiprotokoIIen und ärtzlichen Gutachen ergibt. Im Jahr 1904 erschien in München die Broschüre "Die Knabenliebe in Mün chenl Sittenbild aus der Großstadt" von Willi Marchand, alias Wilhelm Crae mer.24 In einzelnen Kapiteln beschäftigte sich der Joumalist, der auch zu ande ren Themen Boulevardblätter und Broschüren mit sensationsheischenden Inhalten anbot, mit der Prostitution illH Karlsplatz, mit der dort häufig vor kommenden Erpressung, mit einzelnen Fällen und besonderen Erscheinungen, wie e twa den Dillllen-Imitatoren. Trotz der Vereinfachungen und VerzerOln gen in der Darstellung sind einige seiner Informationen aufschlußreich. Die Geschichte von zwei Männern, einem Schuster und einem Kramer, die jalue lilllg fast wlbemerkt eine Beziehung hatten, ohne jemals in Konflikt mit i1uer Umwelt zu kommen - bis ein Milchmädchen sie bei einer zärtlichen Umar mWlg im unverschlossenen Laden beobachtete, weist auf eine DWlkelziffer an wlbekilllllten schwulen Existenzen hin, die mit der "Unterwelt" am .Stachus kaum in Kontakt kamen. Ihre Existenz wurde nicht aktenkWldig und bleibt auch für WIS ein schwacher Hinweis auf die Umstände, in denen sich viele homosexuelle Männer und Frauen eingerichtet haben mochten. Crämer be richtete, daß die beiden allerdings aus ihrem Viertel fortziehen mußten und in einem illlderen Stadtteil ihre Geschäfte neu eröffneten. Neben Broschüren, wie der Craemers, erschienen in München auch einzelne schwule Publikationen. In einzelnen Buchhillldlungen und Zeitschriftenkiosken waren Zeitschriften, wie seit 1897 "Der Eigene", oder später auch "Die Insel" erhältlich, überregional vertriebene Monatszeitschriften, die in Berliner wld Leipziger Verlagen entstilllden. Als bedeutendste der schwulen Publikationen jener Jalue verdienen sie einige Anmerkwlgen. Adolf Brillld, Herausgeber der Zeitschrift "Der Eigene - Ein Blatt für männliche Kultur" vertrat die Idee von
24 Bayerische Staatsbibliothek,
Crim 455 k, siehe auch die Anlagen.
Homosexuelle
im München der Jahrhundertwende
1 97
der "Schaffenskraft des mamuuännlichen Eros". Wertvolle kulturelle Leistun gen und seiner Ansidlt nach die liebevollsten zwischemuenschlichen Bezie hungen entstünden durch diese Schaffenskraft. So wäre die Abschaffung des §175 seiner Ansicht nach auch "eine emste Lebensnotwendigkeit unseres gan zen Volkes". Zugleich forderte Brand den Zusanmlenschluß der Homosell."uel len wld gründete selbst die "Gemeinschaft der Eigenen", über deren Mitglie derzahl keine gen auen Infomutionen existieren. Mit der Verbreitwlg wichtiger politischer und kultureller Infomlationen trug er zum Erreichen seiner Zieler erheblich bei. "Die Insel - Das Magazin der Einsanlen", Zeitschrift aus dem Verlag Friedrich Radzuweit, erschien erst ab 1926, erreichte 1 930 eine Rekor dauflage von
150.000
Exemplaren. Aktphotographien und selUlsuchtvolie
Geschichten machten den Hauptallteil darin aus, daneben standen Kontaktan zeigen wld Werbung. Sie waren allerdings der polizeilichen Kontrolle unter worfen, stellte man sie doch auf die selbe Stufe wie jene als "Sduuutz- wld Schundliteratur" bezeichneten mondänen Blätter, die mit ZeidulUngen und vieldeutigen Texten als HerrenIektüre angeboten wurden.25 In den zwanziger Jahren sind auch mehrere Fälle bekannt, in denen einzelne Ausgaben der bei den Zeitschriften in Bayem eingezogen und illf Verkauf für bestinUl1te Strafpe rioden verboten wurde. Besonderes Augemuerk richtete die Polizei dabei auf die Kontaktinserate, die es ermöglichten, daß sich Mätmer aus verschiedenen Städten kelmenlemten. Da öffentliche Gelegenheiten dazu außerhalb der Großstädte selten waren, blieben oft die Zeitschriften als letzte Möglichkeit, wollte man nicht auf den Strich oder sein Glück angewiesen bleiben. Die Veröffentlichung von Kontaktanzeigen wurde auch für August Wilhelm FIeisdmlaI111 zum Problem. Als er in München den etwa vierseitigen "Seelen forscher" herausgab, wollte er vor allem die Lücke schließen, die entstanden war, als die Berliner Zeitschrift "Der Eigene" aus fmanziellen Schwierigkeiten einige Jallfe nicht erscheinen konnte. Ins Blickfeld einer größeren Öffentlichkeit rückte FIeisclUllaIUl, als der sozi aldemokratische "Vorwärts"
1902 behauptete, der Industrielle
Krupp vergnüge
sich auf Capri mit italienischen Miilmem. Das Gerücht weitete sich zu einem SkaIldal aus, der als Vorläufer der Moltke-Harden wld der EuIenburg-Affäre gelten kaIul. Bis zum Herbst 1904 sollte FIeischmaI111S Zeitschrift ersclleinen, als er des wegen Schwierigkeiten bekanI. Nicht die Angriffe auf die Presse oder die Kri tik :un Strafrecht gefahrdeten ihn, sondem die letzte Seite seiner Zeitschrift, auf der mutige Schwule über KleinaIlzeigen Kontakte suchten. Für die
25 Die Kontrolle des "unzüchtigen Schrifttums" wurde vor allem zu Beginn der 20er Jahre erlleblich verschärft. Unter der "ReichszentraIe zur Bekämpfung unzüchtiger Bilder, Schriften und Inserate" entstanden Landeszentralen gleichen Namens, deren Augenmerk sich vor allem auf die Bahnhofsbuchhandlungen richtete. (Akten der Pol.Dic München, Bayer. Staatalchiv München).
Stepha.n R. Heiß
1 98
Münchner Behörden war die Atlzeige des Realschullehrers Heinrich Molenaar wohl nur der Auslöser, um dieses s törende Element zu beseitigen. Wie Mo lenaar an ein Exemplar des "Seelenforschers" kam, ist nicht klar, wurde er doch ansonsten nur an AbOllllenten verteilt, die Fleischmatlll persönlich be katUlt oder von zwei Vertrauensleuten empfohlen worden waren. Fleiscluuatl11 wurde zu
200
Mark Geldstrafe, bzw. 40 Tagen Haft verurteilt.
Fleiscluuatl11 naluu den Prozeß zum Atllaß, in einer Sonderausgabe des "Seelenforschers" darüber zu berichten. In seinen Artikeln vertrat er in einfacher Sprache einen sehr kämpferischen Atlsatz zur Abschaffung des diskriminierenden Strafrechts und wies auf Pro bleme, wie das szene typische Erpresserunwesen und die unwürdige Existenz vieler versteckt lebender Schwuler hin.
Bereits 1 899 hatte ihn ein Müncllller Gericht wegen eines Vergehens nach § 1 75 zu einer fünfmonatigen Gefängnisstrafe und dreijährigem Verlust der bürgerlicllen Ehremechte verurteilt. Doch statt illll dadurch zukünftig von weiteren Aktivitäten abzuhalten, brachte dies Fleisclullatlll wohl dazu, sich künftig engagierter für die homosexuelle Befreiung mit einer Reihe von Kampfschriften einzusetzen. In "Die Wahrheit über Eulenburg", einer kleinen Broschüre aus dem Jalue
1 908
trat er der sich verbreitenden Meinwlg entgegen, Homosexualität müsse
durch schärfere rechtliche Maßnaluuen beseitigt werden. Seine Forderung nach einem Gesetz, das "wirklich die Jugend schützt und die Erwachsenen nicht behelligt" fand jedoch keine Beachtung. Seine Fordecwlgen klingen sehr mo dern, WetUl er schrieb:
"Geschlechtsreife, erwachsene Personen müssen selbst wissen, was sie tun oder las sen sollen, das geht den Staat absolut nichts an. Mißbrauch der Amtsgewalt, oder sonstige Nötigung ist zu bestrafen, das verlangen alle anständigen Leute. Aber nicht bloß im Mäuuel'vel'kelu:; wir wollen auch den Fabrikanten bestraft wissen, der seine Arbeiterirmell mißbraucht." In Not geratene Schwule hatten im München der Prinzregentenzeit nicht viele Möglichkeiten, Hilfe oder Aussprache zu finden. August Wilhelm Fleiscluuatln war um die Jallrhundertwende einer der wenigen, vielleicht der einzige offizi elle Atllaufpunkt der Stadt. So erfuhr er von vielen Erpressungen, die eine der größten Gefaluen für Mätlller darstellten, die sich nach Kontakten zu Gleich gesulllten umsmen. Seule Informationen verarbeitete Fleiscll111allll Broschüre "Der
1902 zu der §175 und die mätl11liche Prostitution Ul München wld Berlul".
"Leider sind oft die Herren aus der besten Gesellschaft auf die Straßenbe katllltschaften angewiesen, weil ihnen der § 1 75 verbietet, ihre Lieblinge Ul atlstätldigen Zirkeln zu suchen", s tellte er fest und begründet damit schon, warum man inllller wieder auf die Stricherszene s tößt, wellll matl sich mit dem Thema Homosexualität besclläftigt.
Homosexuelle
im München der Jahrhundertwende
1 99
Doch selbst wenn Polizei wId Gerichte Erpressungen auch drakonisch ver folgten, war doch immer auch die bürgerliche StellwIg des Erpressten gefahr det. Die Ehefrau, Vorgesetzte, Geschäftspartner und Nachbam reagierten in der Regel ohne Verständnis. Die Polizeiprotokolle neigten allerdings zur Vereinfachung des Sachverhalts, wie die Pressepublikationen wld Broschüren wiederum das Sensationelle be sonders betonten. Nicht ganz so einfach, nicht ganz so düster muß alles gewesen sein. Für die bayerische Polizei und Rechtsprechung war seit der Übemal1111e preußischen Strafredlts in den 1 870em in der Folge der Reichsgründung Homosexualität wieder strafbares Delikt.26 In der Strafverfolgung gestaltete sich dies jedoch differenzierter. Erst die beischlafahnliche Handlung war strafbar, was die rechtliche Verfolgung erschwerte, da es sich in der Regel
W11
einvemel1111liche
Handlungen gehandelt haben dürfte, von denen die Polizei somit gar nicht erst erfuhr. Eine aktive Verfolgung der Homosexualität sollte in Bayem erst in den 20er JallCen unter der reaktionären Regierung von Kahr begilU1en.
6. Beziehungen, Kontakte, Treffpunkte Aus den Strafakten kOlUlte man vordergründig den Eindruck erhalten, daß sich Beziehungen vor allem auf fUlanzieller Basis ergaben. Erst bei genauerem Hinsehen erkennt millI die - meist auch eher verborgenen Beziehungen wId Kontakte, die der Polizei nicht ohne weiteres offenbar wurden. Schon die Briefe von Max Dietz
illl
Angelo Knorr offenbaren ein Verhältnis eher freund
schaftlicher, denn geschäftlicher Art.27 Allerdings machte die polizeiliche Kontrolle das Entstehen solcher freund schaftlicher Kontakte denkbar schwer. Ein öffentliches Forum dazu wurde nicht geduldet. Hatte schon FleischmillUls Zeitschrift "Der Seelenforsdler" Beschlagnalullen erdulden müssen, als Kontaktilllzeigen bemerkt wurden, in denen unauffallig nach freundschaftlichen Kontakten gesucht wurde, so ver s tärkte sich diese staatlich Kontrolle nach dem Ersten Weltkrieg mit der
Ein
richtung der Reichszentrale zur Bekämpfung von Schmutz und Schundliteratur noch erheblich. Überregionale Zeitschriften wie "Die Insel" oder "Der Eige-
26
27
Der §175 in der Fassung von 1871: "Die widematürliche Unzucht, welche zwischen Personen mälUilichen Geschlechts oder von Menschen mit Tieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte er kannt werden." Siehe Anhang.
200
Stephan R. Heiß
ne" wurden vor allem wegen der "unzüchtigen" Titelseiten wId Kontaktanzei gen mehrfach beschlagnahmt und mit lokalen Vertriebsverboten belegt. Der Journalist Craemer schilderte andere Kontakte, die Wll die Jaluhundert wende allgemein bekannt gewesen sein sollen: "Denn speziell die Homosexu ellen zeigen eine Liebe zum Milit1ir, die geradezu unheimlich ist", gemeint sind die Beziehungen zwischen den mehrjährig-wehrpflichtigen Soldaten und schwulen Männem, welche auch Magnus Hirschfeld beschrieben hatte.28 Der ehemalige Standort der Leibregimentskaseme anl Hofgarten zog 1903 viele Männer an, die zum Dienstschluß einen jungen FreWld fanden, der "ihnen um ein paar Pfennige und ein warnles Abendbrot gern zu Gefallen war." ('W. Crä mer) Ein früher Vorfall aus dem Hofbräuhaus unterstützt die Annal111le, daß diese Kontakte häufig vorkamen. Der Staatsanwalt Alexander Schulz aus Duisburg wurde 1898 verhaftet, nachdem er "gezielt durch die Bierhallen ging" und schließlich im Hofbräullaus den Soldaten FnUlz Haug anspricht, dem er auch auf die Toilette folgte. Die anderen Gäste hatten die Kontaktaufnal111len und das Verhalten des wlgleichen Paares verdächtig gefunden wld dem Wirt ge meldet. Nachdem man sie aus der Toilette geholt hatte, wurden sie von dem herbeigeholten Gendarm festgenonunen. Der vernlerkte in seinem Protokoll drum auch: "Übrigens konmle derlei im Hofbräuhaus fast jede Woche vorl" Die Neue Freie Volkszeitung Nr. 249 vom 2. 1 1 .1898, die darüber berichtete, mokierte sich vor allem darüber, wie gering die Geldstrafe gegen den Staatsrul walt ausgefallen sei - ein anderer wäre sicherlich strenger bestraft worden. Glaubt man den Polizeiberichten, so fanden die Kontakte zwischen schwu len Mätmern vor allem auf dem Strich statt. Ein älterer, wolilllabender MruuI bezall1te denmach in der Regel einen jWIgen MruUl für Sex, oder verführte il111 gar erst dazu. In den beiden Ermittlungsakten werden Treffpwllite erwälmt, die bis in die 70er Jalue existierten. Genauere Erwälumngen vieler inoffizieller Kontaktplätze findet mrul in den Polizeiakten der 20er Jahre, als die Observati on der homosexuellen Szene unter den konservativen Regierungen Bayerns ab 1920 drastisch verschärft wurde. Der eine Treffpunkt für solche Kontakte war " Münchens Alexrulderplatz": der Stachus, und die ruiliegenden VerbindWlgsstraßen bis hin zum Lenbach platz wld zum Hauptbalmhof. Offenbar wickelten auch Frauen in der Nälle älmliche Geschäfte ab, da die Gegend in der Müllerstraße zum Sendlinger Tor zu jener Zeit als Straßenstrich bekrumt war. Im selben Maße mißtrauisch, wie 28
Magnus Hirschfeld: Berlins drittes Geschlecht, Berlill 1904, Neudruck Berlin 1991, S. 90 f.: "Eine besondere Belücksichtigung verdienen unter den Berliner Umingslo kalen die "Soldatenkueipen", welche, meist in der Nähe von Kasernen gelegen, in den Stunden vom Feierabend bis zum Zapfenstreich am besuchtesten sind." Für Mün chen ist UI11 die Jahrhundertwellde der Hofgarten als Treffpunkt von Soldaten und Homosexuellen bekannt geworden.
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende
201
sie diese Orte überwachte, beobachtete die Obrigkeit die Vorgänge in Parks und auf den öffentlichen Bedürfnisanstalten. Diese entwickelten sich immer dann, wenn andere - normalere - Treffpunkte geschlossen oder verboten wur den, zu Plätzen, an denen eine schwule Kontaktaufnahme relativ offen möglich war. So war die Bedürfnisanstalt an der Maximilianstraße der Sittenpolizei bereits seit langem als homosexueller Treffpunkt bekannt, als ab 1 9 1 9 vermehrt Anzeigen über Wandanschriften eingingen. Eine genauere Untersuchung brachte zutage, daß "Kontaktanzeigen" auch an den Wänden der meisten ande ren Anstalten zu finden waren. Die nächtliche polizeiliche Überwachung der Parkanlagen Münchens wurde durch Anzeigen gegen Voyeure veranlaßt und macht deutlich, daß der Schutz der Dunkelheit 1n Parkanlagen damals minde stens ebensosehr von jungen heterosexuellen Liebespaaren genutzt wurde m�U1gels anderer Möglichkeiten, ungestört unter sich zu sein. Die Nomlalisie cung außerehelicher Beziehungen in der einen Gruppe führte dazu, daß Parks sich langfristig fast nur noch als homosexuelle "Treffpunkte" erhalten haben. Ausflugsziele wie die Isarauen bei Großhesselohe und Wolfratshausen wur den zeitweise durch die Nacktkulturbewegung genutzt und entwickelten sich auch zu einem Anziehungspunkt für homosexuelle Männer und Frauen.29 Über Lokale, Hotels und Restaurants, an denen sich vor allem Männer tra fen, ist mehr bekannt, als diese unter der Anltszeit des Generalstaatskommis sars v. KallC gezielt beobachtet und geschlossen wurden. Die Pension "Olympia" in der Schommerstraße und das Fremdenheim "Oberpollinger" in der Neuhauserstraße wurden 1 920 unter dem Vorwurf der Kuppelei insbeson dere von Männem geschlossen.3o Genauso erging es den Lokalen: Das Cafe Zentner und das Restaurant "Kühbogen" wurden geschlossen, sobald die "Anballllung von Kontakten" zwischen Mätlllern und anschließende sexuelle Betätigung nachgewiesen werden konnten. Das "Cafe Stephanie" in der Amali enstraße, als zeitweiliger Treffpunkt der Schwabinger Boheme bekannt gewor den, wurde in einem autobiographischen Romml von Leonhard Frmlk als Treffputlkt schwuler Boheme zum Schauplatz einer Begegnutlg zwischen zwei Männem gemacht.31 Craemer nennt 1 904 ein "Cafe Alfred" run Isartorplatz und das Gastllaus "Zum polakischen Hof" im Bahnhofsviertel als bekannte Lokale.32 Generell muß man allerdings annehmen, daß sich die meisten Kontakte weitgehend im privaten Rall111en abspielten. Die Reisen Knorrs nach Italien 29
Zeitzeugenaussagen in eigenem Bestand.
30 HStA München, Mlun
66546;
So begründet der Staatskollllslli sar von München die
Schlieflung des Fremdenheims Obel1Jollinger: "Seit Jahren steht das F.O. in der Neuhauserstr. 30!II hier in dem Ruf eines Absteigequartiers für Liebspaare, Dirnen, Zuhältern, Päderasten, Strichjungen und Glückspielern."
3 1 Leonhard Frank: Links wo das Herz ist, Münche1l 1952; dort S.
32
W. Marchillld (Crämer), S.
13.
15 f., S. 3 1 f.
Stephan R. Heiß
202
und in die Schweiz, wo schwuler Sex straffrei war, nehmen in der Ernuttlung gegen Knorr keinen geringen Rawu ein. Für Männer, wie Friedrich I
Bereits 1902 hatte August FleiscluuillUl eine Aufklärungsbroschüre zur mälUlli chen Prostitution in München unter dem Pseudonym Heinrich .A. verfaßt.34 Ihr Aussagewert ist recht gering, lediglich eituge Passagen geben Hinweise auf den Stellenwert, den Straßetlkontakte itl München gehabt haben mocllten und erklärt so die Verkettung der Umställde, die das Erpresserunwesen so unver hälttusmäßig ausufern ließ: "Leider sitld oft Herren aus der besten Gesellschaft auf SraßenbekillUltschaften illlgewiesen, weil ihnen der §175 verbietet, ihre Lieblinge in al1ställdigen Zirke111 zu suchen. (...) Sobald der beilll stillldete §175 ...verschwunden ist, so hat der illlställdige Freundlitlg, als der illlStälldige Jüng33 Münchner Neueste Nachrichten vom 28.7. 19 1 1 ; HStA München, Mum 66545 (Sittenpol 1909-19 15).
34 A W. Fleisclmla1l1l, Der §175 und die Märuiliche Prostitution in München und Ber
!in, München
1902 (3. Auflage).
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende
203
ling keinen Grund mehr, sich nur auf der Straße zu treffen, da ka1ll1 man sich, wie es die Nornlalen thun, in Konzerten oder Bierhallen finden, ohne Angst zu haben, beschimpft und belästigt zu werden. Die Freundlinge können dann in ihren Wohnungen verkehren und der öffentliche Skandal, der jetzt zu den täglichen Ereignissen gehört, fällt da1ll1 hinweg." München war - wie viele Zeitzeugen aussagten - vor dem Ersten Weltkrieg eher eine beschauliche Stadt. Die homosexuelle Szene, wenn auch auf dreitau send bis sechstausend MämIer geschätzt, existierte darin zumeist im verborge nen und fast ohne jene politischen Anstrengungen, die von Berlin und Leipzig aus versuchten, eine Verbindung Gleichgesinnter zu bilden um das eigene Image, vor allem aber das Strafrecht zu ändern. Es ist symptomatisch, wie sehr das Thema die Münclmer Gemüter erregte, We1ll1 es denn einmal diskutiert wurde. Schicksale, wie das Angelo !<JIOrrs, der aus der ärztlichen Behandlwlg ins Ausland verzog, sind seltene Zeugnisse für die persönlichen Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung eines Mannes mit seiner gleichgeschlechtliclIen Sexualität in einer Zeit, in der es dafür keine positiven Lebenskonzepte gab, und für die Reaktionen der "nonllalen" Umge bung. So endet auch Crruller/Marchand sein "Sittenbild aus der Großstadt" mit dem politisch korrekten traurigen Ende eines Homosexuellen: Saale III liegt ganz hinten in der Ecke ein blasser junger Mann. Gläsern blicken seine Augen zur Decke, als suche er von oben Hilfe vom Allerhöchsten, den er sonst nie in seinem Leben gekannt! Er weiß es ja - er ist ein verlorener Mann! Seine Tafel zeigt es: "Mastdarrnkrebs". (.. .) Ein schreckliches Schicksal! Lebendig verfaulend liegt der Bursche da und sinnt und denkt nach über sein Leben. Vor seinen Augen steht der Versucher, der ihm Gold und Geld geboten in der Noth, um an seinem jugend frischen Körper die ekle Lust zu stillen! Und drulll, dawl erduldete er alles, und als es einmal geschehen, - da geschal! es öfters, geschal! es inlillerl (. .) Er weiß jetzt, daß heute Nacht seine Qual das Ende finden wird, die bebenden Lippen murnleln ein Gebet und einen Fluch zugleich, - einen Fluch dem Verführer für alle Ewigkeit! - "35 "Im
.
7.
Bibliographie
Quellen: Bayer. StA: Pol.Dir 1876a (Bohmke), 1 823 (I<JlOrr), 7322 (Zensur, Schmutz verlage), 7983 (Bedürfnisruuagen, Parks, et.a\.) Bayerische Staatsbibliotllek, Crim 455k (Craemer) HStA München, Mlnn 66546
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35 W.
Stephan R. Heiß
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1981 1 988
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende
205
Quellenanhang
Abh. 1 I<arlsl'latz im J ahr 1926. Dei· MünclUler l<arlsplatz (Stachus) war einer der verkehrsreichsten Plätze der Stadt. Als Mittelpuukt der Achse zwischen HauptbalUl hof und MaxUIllliallsalllagen (LelUlbachplatz) war er ein bekalUlter schwuler Treft� punkt. Photo: Stadtarchiv München.
206
Stephan
R. Heiß
Erscheint am 1. und 15. jeden Monats. ' Freis . pro Vierteljahr M. 1,50. Einzelnummer 25 Fr
__ i Berlin-Wi l h 8 I m s h agen� :IL .-..:._�N.::.:o:.: __
= Oß ==h. _�lVI = i::: t.t:..: .w +? am 1. April
:
Inhalts -Ve rze"chn's 1 J
: ,
Adol� Brand's Verlag.
1896. .,,"*" . ;
1. •
Adoll O r a.d:
.Dieses BIntl",
..Eio;eacD-Wort....
.D.1' Ideal der Selb.u"cht-.
6.
�.
+:., I.
RadaU aouc:
... A d o l ! B r a n d :
.FrUhlitlg'loLk-d".
.Die Geuuc-,
H lt i D t i c h V o t't D a u : .FrDhrot-,
i.
.....:. l=. Jahrgang.
_
.:.:"*"
J. Sa:c.aot:
S. E II g' u i c J a c o b i:
A U. I .i g- C D .
G>� D i e s e s B l a t t �
ist e- i g e n e n Leuten .gewidme-t. solchen Leuten . . die J.'.Jt ihre Eigenheit stolz sind und dieselbp, um jeden Preis
einen Ort der Ruhe. auf dem sie .\ehnlichgesinnte finden
behaupten wollen!
sh:hen und mit denen sie \veitern-andeln können.
werden. die den Flug ihrer Gedanken zu dc:uteri \'er·
. Jenen Einsamen. die die breite Herdenstra{se ver· IJ.ssen haben und allein oder
Ihnen, den Eigenen. die aUe 5<:hranken stürzen,
mit FreundeD. die stillen
alle Fesseln zersprengen. keine Ge\\-alt über sich dulden
Pfade ihrer Sehnsucht wandeln ! . Jenen Wei:icn. die von ihren Bergen mit , Gleich
keiner Norm sich fügen,
denen ihr� :elbs�hcCTlichkeit
über aUes geht ! Die sich um $0 :löheren \Vert geben.
mut auf da3 kindische Treiben der }Iasse hinabblicken je freier sie sich bethätigen. je l;oUkommener sie und efOporzuklimmen trachten zu den höchsten Felsen- ; ausleben können!
höhen deio Gedankeru. unbekümmert wn die im Thale Zurückg'ebliebenen.
die ihrem \Vage'mut
nicht lblgen
konnt�n !
..
Jen�n une scbrockenen Bah brechern lner neuen � � � . I\.ulfur. die rue mude \"erden und mmmer zuruck:5chiluen ! 'Jenen star�en IndividuilliLälen. die des Lebens \Vert nach e i gn e m Mal�tab messen und sich eine \Velt nach i h r e m Sinn �si.U.Lten_
neue
I
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I !
(hnen. den Künstlern. den Himmd�"türmern. den
Freien. den Vornehmen.
�eborc!nen Souveränen
Schä.tze ihr eigt:n nennen.
,� �!orgcn und Abend !
ab die Für,aen aller Völker
Ihnen. den Sonnensöhnen. entbiete. ich meinen Grufs ! Ihnen widme ich dies schlil:ote Bliltt.
Adolf Brand.
--E4 .Fr ü hli ngs l i e d , *--
achende Frühlings.Sonne. Senke hernieder "a:;;-"' In uns're Herzen Wonnige Lieder!
g
elen
dirser schönen Erde. die. ob sie �Ieich arm sind. ,lj!r,;fsere
Ihnen bi,t:te ich hier eine Stätte des Kampfes und I
� .! �
L",chende Frühlings·Sonne. Du ;;ollst uns bring-en t Nach wilden Kampfes �ot Grofies Gelingen !
stch
Lachende Frühliogi·Sonne. Dränge von hinnen. Tmuernder WlOtet tilge Gramvolles Rinnen !
Leuchte mit Jugendkr.lt In uns're Herzen. Befrei' uns aUli \VinterhaCt Von Nöten unu Schmerzen !
End'ge die Tyrannei, Sprenge die Band., Dass wir von Fesseln frei Durcbschreite" die Lande I
Lachende Frühlings.Sonne, Dein leuchtender ::>chein End'ge des Lebens :
ltudoLt •••••
Abb. 2 "Der Eigene", Nr. 1, Jg. I, 1896. Quelle: Schwules Museum Berlin, Archiv.
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende
Abb. 3 "Der Eigene.
207
Ein Blatt für männliche Kultur", Nr. 7, Jg. X, 1 924, "Aktstudie";
Quelle: Schwules Museum Berlin, Archiv.
208
Stephall
R. HeiB
August Fleischmann.
ALL. 4 A.W. Fleisclullauu, einer der wenigeu Lekaunten Müuclmer HOlllosexuellen, die um die J ahrhundertwellde offen über ihre Veraulaguug sprachen. Quelle: Fleisch maun, August: Die Überbevälkenlllgsfrage und das Dritte Geschlecht, München 1 902
209
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende Statistiken zum §175
Nach R Klare, "Homosexualität und Strafrecht", Hamburg 1937, S.144-145, entnommen aus: Stühmke/Fischer: Rosa Winkel, Rosa Listen, S. 502 f., An hang Nr. 21. Tabelle 1: Vergehen gegen § 175 81GB. In den Jahren 1882-1933 (1. Tell) Davon Jahr
rrelg� Rechukriiftig iferochen Abgeurteilte erf.-Eininsge.wnt stellung
,,��s�!!:?
Verurteilte Darunter
Ins-
gesamt
weibL
Jugendliche insges.
390 341
60 72
329
6
75
1883
269
2
55
1884
436
91
2
1885
89
345 391
-
85 90
65 71
373
3
418
1
64 106
1882
Vorbestraft
linder
2
65
6
1
44
5
weibL
-
Aw-
56
3
90
6
1
80 94
10 4
1
93
5
88
\3
-
1886
480 438
1887
489
1888
44 1
88
353
3
103
1889
84
367
2
100
1890
451 496
84
412
1
\ 13
-
125
1
1891
542
95
446
1
140
1
113
9
1
-
-
129
8
1
147 156 152
11 14 13
172
12
1892
567
107
459
2
113
1893 1894
629
524
-
1895
605
120
532 484
2 3
116
669
105 134
3
1896
672
134
536
-
154 127 1 12
-
1897
·679
1 16
563
1
153
1
187
11
1898
111
2
120 103
1
173 179
18
120
533 491 535
18
1899 1900
645 639 655
1901
750
129
621
2
115 140
1
184 198
19
147
3
-
3
-
19
1902
364 393
757
144
613
1
150
-
230
15
1903
332 389
721
120
600
-
157
-
204
13
1904
348 376
724
152
570
3
135
1
220
25
1905
379 381
760
155
605
I
148
-
224
25
1906
351 382
733
110
623
I
1�3
-
223
22
771
159
612
I
132
-
240
22
796
136
658
I
157
-
232
39
677
-
148
-
281
24
16
-
278
36
1 60
-
259
27
1907 1908 1909
404 367
282 399 510
346
856
177
1910
560 331
891
158
732
-
1911
526 542
868
1 60
708
-
i
• Die e..te Zahl sind die FlUe der ewiderna1l1rlicheo Uozuchbo zwiocbeo Minnern. Die zweite Zahl sind die FiIIe der «widernatürlichen Uozuchbo zwischen Mensch uud ner.
I
Iri ,
Stephan R. Heiß
210
Tabelle 1: Vergehen gegen § 175 SIGB. In den Jahren
1882-1933
Davon
Jahr
Rechtskräftig Abgeurteilte insgesamt
1912 1913 1914 1915 1916 1917 1918 1919 1920 192 1 1922 1923 1924 1925 1 926 1927 1928 1929 1930 193 1 1932 1933
603 322 512 341 490 263 233 120 278 120 131 70 157 3 1 10 10 237 39 485 86 588 7 503 3 850 12 1226 111 1226 \35 911 1 18 73 1 202 786 223 732 221 618 193 721 204 778 213
925
I"relgesprochen Verf.-Einstellung
(2. Tell)
Verurteilte Darunter
Ins-
Jugendliche
Vor-
Aus-
insges.
weib!.
bestraft
länder
1 58
-
302
51
282
33
v��sS:re
gesamt
1 64
761
2
158
-
weib!.
853
155
698
-
753
122
631
-
136
-
235
27
353
59
294
4
99
-
102
21
121
-
103
20
398
79
318
-
201
35
166
2
71
-
48
13
160
41
118
-
56
-
35
7
120
27
89
-
30
-
29
5
276
76
197
1
52
-
44
7
571
144
425
2
84
I
73
12
595
95
499
-
86
-
102
10
534
88
445
2
75
2
97
8
862
165
696
2
103
-
178
10
1337
225
1 107
1
1 17
-:
292
11
1261
218
1040
1
143
-
285
16
1029
172
848
2
109
-
281
13
933
159
804
-
1 19
-
270
12
1009
191
837
2
130
-
324
9
953
170
804
1
1 17
-
275
9
811
168
665
-
89
-
255
10
925
150
801
1
1 14
-
292
8
991
157
853
2
104
-
319
12
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende
21 1
Tabelle 4: Vergehen gegen § 175 StGB in den Jahren 1887-1933 1 500
1000
�-
o�________+-____�____�____�______+-������ /�____�--+
1887
--
1890
1 895
1900
1905
1910
1915
Vergehen gegen § 175 StOB insgesamt
- - - - - - Widernatürliche Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts
. . . . . . Widernatürliche Unzucht zwischen Menschen und Tieren (Bestialität)
1925
1930
1933
Stephan R. Heiß
212
Der Fall 1(11orr 1. Briefe von Max Dietz Bei Knarr werden mehrere Briefe von Max Dietz sichergestellt, die A uf schluß über ihre Beziehung geben. Quelle: StA München Pol.Dir. 1823. München, den
22. August 1913
Lieber Freundf Als ich Dich das letztemal sah wollte ich am liebsten aus der StraßenbalUl stei gen und Dich begrüßen. Da ich jedoch weiß, daß es Dir leider nicht recht ist, mußte ich bleiben, so schwer es mir fiel, denn ich höre heute noch die \Vorte, welch Du angesichts WIserer meinerseits unfreiwilligen Begegnung im Haupt balUlhof machtest: "Das ist mir denn doch zu dunUlI." Lieber Angelof Ärger kruUI die Liebe eines Liebespaares nicht sein, wie ich Dich erst jetzt nachdem Du mir wmallbar geworden bist, liebe. Wie froh war ich, als ich Dich seinerzeit in der Pettenbeckstraße traf wId Du mir einige Worte schenktest. Glaube mir, daß ich heute Wll vieles gescheiter bin, leider sehe ich erst jetzt ein, was ich getan habe. Blos sehen wenn ich Dich krum, drum bin ich momen tan zufrieden, ich habe nicht die Courage, mit Dir zu sprechen, falls ich Dich eimnal grulZ alleine treffen sollte. München,
1
September
1913
Lieber Freundf Vielleicht interessiert es Dich doch ein wenig, daß ich
atn
23.
Oktober einrük
ken muß, deshalb teile ich es Dir mit. Es wird Dir ja wurscht sein, aber viel leicht doch nicht wId es würde meine größte Freude sein, weml Du mir ver sprechen würdest, daß ich mich Dir einmal in Uniform vorstellen dürfte. Oktober
8 Uhr früh zum 1.
23.
Telegraph. Bat. "Funker". Lege Dir den Befehl bei.
Sendest ihn mir wieder im Couvert. Mit herzlichem Gruß Max (Adresse) Es geht mir nicht zum besten, aber bis zum Oktober werde ich es noch aus halten. Mitte des Monats wird unser Geschäftslokal nach der Neuhausers traße verlegt. An
10.
ds. muß ich eine Geschäftszyklonette faluen, leider ohne Ge
haltserhöhung, da ich fast nur aus Gnade bis zum Einrücken dortsein katU1.
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende
213
5 . September 1 9 1 3 Lieber Angelol Deinen lieben Brief habe ich mit herzlichem Dank erhalten. Anbei sende ich denselben wieder zurück. Nun bin ich also doch nicht mehr nach Italien gekommen und komme auch nicht mehr dorthin, obwohl es mein sehnlichster Wunsch ist. Vielleicht be konmle ich einmal das Fahrgeld, dann werde ich Venezia wieder besuchen. Ich habe selbst vor, beim Militär zu bleiben, denn dann bin ich schon im 1. Jallr nach dem Manöver Unteroffizier und habe dann ein feines Leben. Da ich jedoch ge111e dazu d.h. inl ersten Jallr eine eigene Unifornl etc. mächte, bleibt eine Frage die ich nicht beantworten krum offenl
---
?
Denke vielleicht eitmlal
daranl Wen möglich melde ich mich nach Südwestafrika. An Weihnachten darf ich Dich hoffentlich sehen wld sprechen
=
8-10 Tage Urlaub.
Herzlichsten Gruß auf Wiedersehen Max Dietz
2. Polizeiprotokolle/Urteil Jiricek/Knorr
Alois Jiricek wird alll 8. September 1 9 13 lIacb eimr Allzeige gegm ibn vO'lf,ifübtt !md gibt {fl Protokoll, Init Allgelo Kl10rr Sex gebabt {fl babell. Bereits 4 Wocbm später wird er vemrteilt. QueUe: StA MÜ1Jcbell Po/.Dir. 1 823. Strafsache gegen Alois , Jiricek, geb. rull 15. Februar 1 897, Schneidergehilfe wegen widernatürlicher Unzucht - Urteil vom l 1 .0ktober 1 9 1 3 des Jugendge richts München.
C...)
Der Angeklagte ist sohin überführt, dass er mit einer MruUlsperson wi
dematürliche Unzucht getrieben hat. Der Angeklagte, der geistig und körper lich gut veranlagt ist, gibt zu, dass er sich der gerichtlichen Strafbarkeit seiner Hruldlung bewusst war. Mit Rücksicht hierauf und auf sein vorgerücktes Alter
0) gewann das
Gericht die Überzeugung. dass er bei Begehwlg der Tat die zur
Erkenntnis illrer Strafbarkeit eforderliche Einsicht besaß. Der Angeklagte war Sohitl eitles Vergehens der widernatürlichen Unzucht nach
§§
175, 57 RSTGB
zu verurteilen. Zu Gunsten des Angeklagten sprachen seine Jugend, seine bisherige Straflo sigkeit, sein offenes Geständnis und der Umstruld, dass er vermutlich durch ungeeignete Gesellschaft auf Abwege geraten ist. Als straferschwerend wür digte das Gericht die grobe Unsittlichkeit wld die Verwerflichtkeit seines Ver haltens. Aus diesen Gründen erschien eine Strafe von einem Monat Gefängnis als schuldangemessen.
C ) •..
214
Stephan R. Heiß
Bei dm Unterlagen Kl10m lIJllrde allch ei1l IetZfer ErpresJllltgJbriifJiriceks Jiche'l!,JteUt: (Ohne Datum) Euer Wohlgeboren. Verzeihen Sie Herr Doktor Knorr, daß ich Sie belästige. Schauen Sie ich bin in ein Mißverständnis geraten. Der Hans Oswald hat die Sache angezeigt und ich habe gestem auf die Polizei gehen müssen habe aber noch nichts gesagt und bin I1Ulen Herr Doktor sehr dankbar wenn sie die Güte haben und mir helfen. Ich bitte sie mit Zittem der Grund mir zu helfen und ich flehe sie an daß sie und ich nicht ins Unglück laufen. Ich hole mir die .Antwort und sind sie so gut und geben sie mir 25 Mark und 50 PfelUlig daß ich nach Wien faluen kann und Herr Doktor Sie kennen mich nicht und ich kenne sie nicht. Ich bitte sie noclUllals erweisen sie mir die Bitte die ich gegen sie Herr Doktor habe und sie kennen mich nicht mehr und ich kenne den Herm Doktor nicht. Bitte nochmals mir meinen einzigen Wunsch zu erfüllen denn sie schaden mir und ich schade Ihnen Herr Doktor. Bitte erfüllen Sie mein letztes Schreiben und meinen letzten WWlsch den ich ha be....um 2 Uhr hole ich mir Antwort die mir Herr Doktor aus Güte hinterlassen würde. Mit Gruß, Jiricek Alois
3. Angelo Knorr, ärztliches Gutachten Die A11klageerheb1l1tg gegm Allgelo KJlorr verzögert Jich durch StJl,atorilltnJafgimthalte Imd UlIterJllchmtgelt biJ il1 deli Mai 19 14. ZlviJchmzeitlich bqilldet er .rich auch ill Ul1terJfl ChUltgJhqft. Atn 14. Mai wird IVlOm eigem AflJJage ij' dCII AllJchllldigflftge1J protokol liert. Quelle: ????? , (...) Ich bin meiner ganzen Naturanlage homosexuell und habe keine Neigung für das weibliche Geschlecht. Zu einem Coitus mit einer Frauensperson bin ich nicht im Stande. 1. Auf VorhaltwJg der .Angaben des Schneiders Alois Jiricek vor dem Jugend gericht am 1 1.10.13: Ich gebe zu, mit Jiricek homosexuellen Verkehr gehabt zu haben; in welcher Weise dieser stattgefunden hat, darüber mache ich keine näheren Angaben. Auf die Frage, ob dieser Verkelu ein solcher war, der unter den §175 fällt: Ich will dies weder bestreiten noch zugeben, noch überhaupt mich äußem. Die gleich Erklärung gebe ich jetzt schon bezüglich aller Perso nen ab, mit denen ich sexuelle Beziehungen gehabt habe. Im übrigen erkläre ich die .Angaben des Jiricek, insbesondere über den vor ausgegangenen Alkoholgenuss als durchaus unwalu. Dies hat er erfunden, um sich in möglichst günstiges Licht zu stellen. Insbesondere bestreite ich, den Jiricek verführt zu haben. Jiricek ist einer der schlimmsten Strichjungen, dem man es schon von weitem ansieht wld den ich nicht zu verführen brauchte. ,
215
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende
Auf die Frage, in welcher Weis e die Annäherung zwischen dem Angeschul digten und anderen päderastisch veranlagten Menschen zustande gekommen ist: Was ein Päderast ist, weiss unsereiner sofort instinktiv. Dazu kommt allerdings auch, dass speziell die Strichjungen gewisse Gebär den haben, durch die sie einen auf sich aufmerksam machen. So z.B. Entblö ssen der Arme und der Brust, so wie Jiricek, der ein offenes Hemd
trug. (. .) .
2. Auf Vorhalten
gegen
mit Kragen
der Angabe des Zeugen Max Dietz in dem Untersuchungs akt
ihn wegen widematürl. Unzucht... : Die Angaben des Dietz sind inl all
gemeinen richtig. Insbes . gebe ich zu, mit ihm nach Italien gefahren zu s ein
wld mit ihm dort geschlechtlich verkehrt zu haben, wobei ich wiederum über die Art des Geschlechtsverkehrs keine Angaben mache. (. . .)
Auch Vorhalt der Angaben der Zeugin Hundsdorfer: Ich gebe zu, mit Ha
3.
betswallner in Italien geschlechtlch verkehrt zu haben. So viel ich weiß, war dies in Mailand. ( . .) Wer von uns beiden den Verkehr zuerst angefangen hat, .
weiss ich nicht mehr. Es beruht dies auf Gegenseitigkeit. Jedenfalls bestreite
ich, ihn verführt zu haben. (.. ) Unrichtig ist, dass ich ihn als Sekretär engagiert hätte. Richtig ist aber, dass er auf meine Kosten mit mir gereist ist. .
Ich bestreite entschieden, mich an jWlge unerfallrene Leute herangemacht wld sie überredet zu heben, mit mir nach Italien zu fahren. Die Personen, mit denen ich verkehrt habe waren alle grundverdorben und haben mich ZWll Geschlechtsverkehr angereizt und nicht ich sie.
(...)
Ich selbst stelle keinen Antrag, mich auf meinen Geisteszustand zu untersu
chen, sondem überlasse in dieser Richtwlg alles meinem Verteidiger. (... )
"
[111 Allgllst 1 9 14 wird scbließlicb eill äf':(flicbes GI/tacbten a1lgifCrtigt, das IV/OfT venni1lder te ScJlIIldJäbigkeit bescbeilligt. Dan11 wird al(/ ei" 11icbt erbaltel1es Sallatonumsglltacbe11 vom Mai 19 14 ZlIriickgnJfel1 1I11d iltiert: ,,1.
Herr K. ist, wie die ganze Entwicklung und Betätigung seines Se:!..'Uallebens
zeigt, ein ausgesprochen angeborener Homosexueller. Er ist nicht imstande, seine Triebrichtung zu beherrschen, sondem er könnte sie höchstens beherr schen.
2.
Herr. K. ist nicht nur homosexuell, sondem die Invertierung seines Se
xualtriebes ist eine Teilerscheinung seiner schweren psychopathischen Konsti tution. Diese ist, wie die Betrachtung seiner Abstamung unzweifelhaft ergibt, erblich begründet und hauptsächlich charakterisiert durch krankhafte periodi sche Schwankungen des Seelenlebens.
3.
Diese anfallsweise auftretenden Zus tände gehen einher mit einer Störung
resp. Umllebelung des Bewusstseins, einer Abschwächwlg der normalen Wil lellinlpulse bei gleichzeitigem Uebennächtigwerden eines sonst mühsam nie-
Stephan
216
R.
Heiß
dergehaltenen Trieblebens und einem weitgehendem Erinnerungsdefekt. Diese Anfalle haben die innigsten Beziehungen zu den sogenannten Dämmerzustän den der Epileptiker, sowie zu den bekannten Attacken der sog. Quartalss äufer wId zu dem krankhaften Wandertriebe. Wie beim Dipsomanen der Trinkex zess, so steht in den Fällen wie dem des Herr K. die Befriedigung der ho mos>"llellen Libido im Mittelpunkte des dämmerhaften Trieblebens. (...)
Ich s tehe deshalb nicht an, meiner Überzeugung dalun Ausdruck zu geben,
dass Herr K. seine homosexuellen Delikte in einem Zusand krankhafter Stö CWIg der Geistestätigkeit ausführte, auf die die Kriterien des
§51
StGBs zutref
fen."
Aflfdieses Gfltacbtm bitl verlaltgt das Gcn'cbt Cil1 /licitcres Gutacbtc11 über das Zfltreffell dcr vCf'l/Jitldcrtetl Scbuldfobigkeit, das uflter der Direktiofl /JOfl E. Kräpeli11 ifl MÜIICbcll a1tgifcr tigt Illird. Dieses scbliiflt sicb dCI11 Erstg1ltacbter an: "Was nun die Frage anbelangt, ob sich K. zur Zeit der ihm zur Last gelegten Straftat in einem Zustande krankhafter Störung der Geistestätigkeit befand, durch den seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war, so lässt sich nach seinen Schilderungen die Annahme nicht von der Hand weisen, dass er sich damals in einem der genatUlten Erregungszustände befatId, der durch das Gebaren des Jiricek zu einer solchen Höhe gesteigert wurde, dass Zweifel darüber bestehen müssen, ob er zur Zeit der Straftat sich noch in einem Zu statIde befand, der
ihm die freie Willensbestimmung ermöglichte. Wir kommen ihm um eine
zu folgendem Schluß: Die Untersuchung ergab, dass es sich bei
willenschwache, psychopathische Persönlichkeit handelt, die in Folge ihrer psychopathischen Eigenschaften zu einem nonllalen sexuellen Verkehr unHi lug, sich homosexuell betätigte. Ausserdem ließ sich feststellen, dass
K.
atl
periodisch auftretenden gemütlichen Erregungszuständen nut Einengung des Bewußtseins leidet, die seine Ges atlltpsyche so hochgradig beeinflussen, dass es zweifelllaft erscheinen muß, ob er noch inl StatIde ist, eine freie Willensbe s timmung auszuüben. Zur Zeit der ihm jetzt zur Last gelegten Straftat lag offenbar ein solcher ZustatId vor."
Aflgiihrlicb lvird die Ul1abä11derlicbkcit /J11d Altgeborellbeit dcr HOl11osexualitätformflIiert: " ... beobachtete dabei auch, dass
K.
stundenlatIg sich in der Nähe von Strassen
arbeitem herumtrieb, die mit entblösster Brust oder nackten Annen arbeiteten. WelUI er in solchen Erregungszuständen war, sorgte sie (seine Frau; S.H.) schliesslich selbst mit dafür, dass er sich nach Italien begab. Oft riet sie K. schon zu, seinen WolUlsitz nach Italien zu verlegen, da sie über zeugt war, dass er in seinen Erregungszuständen keinen eigenen Willen habe und deshalb fürchten musste, dass er noch mit dem deutschen Strafgesetz in Conflikt konune. "
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende
217
III seil1C1lt Lebmsfm1envälJllt ersexlJeUe Spiele alt seiller SchlJfe, dein 1I1.axgylnl1asilJln: "Sehr bald kam nun auch die Verführung durch einen dieser Mitschüler zum gemeinsamen Onanieren, wobei ein oder zwei Male völlige Entkleidung und innige Körperberührungen zustande kamen - aber keine Beischlafshandlwlgen. Einen grossen Eindruck machte auf mich das Geballren eines Lehrers der nächst wlteren Klasse, von dem es hiess, dass er "mit Jungen gehe". In der Tat Sall man ihn oft mit Knaben seiner Klasse, die er untergefasst hielt, nach Hause gehen. (. ..) Ich war mit BegUUl der 8. Klasse, also wohl 1 7 J allre alt, in das Ludwigs gymnasium übergetreten. Dort war ein ganz kleines Kabinett, wo die Schüler ganz dicht gedrängt standen, wenn dort etwas demonstriert wurde. Da kam ich einmal auf diese Weise - ich glaube wirklich zuerst unabsichtlich - mit dem Gesäß eines meiner Mitschüler in Berührung, bekam sofort eine heftige Erek tion, der andere bemerkte es und lachte mich mit ein paar Freunden nach der Stunde fürchterlich aus. Die Scham brachte mich zum Nachdenken - ich fand bei meinem Vater Krafft-Ebings Psychopathia, die mich vorher absolut nicht interessiert hatte, jetzt mir aber völlige Klarheit verschafftel Von dieser Zeit begitmt mein Kampf mit meiner Veranlagung."
Seill Kalnpfftihrt sOJvei4 daß er ilJl1JJer llJieder verstleht, 1llit Frallel1 Be:<jeh1l1tgell Zfl begill lte1l. Eilte seiller Fre1l1uJi1l11e11 wird er später heiratell. ZIJ1lJ Zeitptllikt der Verbqfitlltg silld sie verlobt. Seille Verlobte akzeptiert seim Verallfa,gtf1lg !/Ild versllcht, ihl/I seilt Lebell Zfl ereichtem: "Die gute Freundschaft datierte von dem Tage, wo ich ihr in einer Aussprache meine unglückselige Verruuagung gestruld. Von da ab habe ich an ihr eine Wall re Freundin und Helferin gefunden, die mich auch vor vielem Schlinl1llen bewahrt hat, viel rulderes zu verhilldem suchte und die mir das Schwerste zu überstehen half. Heute ist sie, die sich rul meinem perversen 0) Gefühlsleben nicht stösst, sondeOl mich noch als Menschen liebbehalten hat, meine Braut. (.. .) Ich war von jeher sexuell sehr leicht erregbar. In der Studentenzeit bildete sich das bei mir heraus, worunter ich heute besonders leide, nämlich die Vor liebe für den jungen Menschen in Arbeitskleidem, besser gesagt, in zerlumpten Kleidem. Wolu machen auf mich andere Kleidungen, wie Kellnerhosen oder Lederhosen, wie sie die Radler tragen, einen sexuellen Eindruck, doch lrulge nicht in dem Masse, wie aber ein junger Bursch von kräftiger Gestalt, der recht abgerissen daller konUllt. Insbesondere regt mich heftig auf, weml infolge eines Risses die Haut irgendwo sichtbar wird, z.B. am Oberschenkel oder im Spalt. Derartiges wissen, wie ich glaube, auch die männlichen Prostituierten und machen, um ihre Opfer rulZulocken, sich solche Risse absichtlich. Weit offenes Hemd, entblösste Amle von Arbeitern regen mich ebenso auf, das geht so weit,
218
Stephan R. Heiß
dass ich selbst in ruhigen Zeiten an jungen Strassenarbeitern, die z.B. am As phaltkessel arbeiten, kaum vorbeikomme, sondern unwillkürlich eine Zeitlang stehen bleibe. Bin ich in Gesellschaft, so verliere ich in solchen Filllen voll kommen den Gesprächsfaden. Dagegen bin ich ganz unempfindlich gegen Militär, auch Sportkleidung, wenn sie noch so luftig ist, wirkt nicht besonders auf mich ein; den Besuch von Badeanstalten und den Anblick völlig nackter Menschen habe ich möglichst vermieden, glaube aber, dass auch dies nicht so aufreizend mich packen würde, wie der oben geschilderte Anblick. ( ..) Da lemte ich in Italien gelegentlich einer Reise zum ersten Mal den homose xuellen Verkehr völlig kennen. Ich glaubte dadurch, dass ich ab und zu nach Italien fuhr und mir Erleichterung verschaffte, wenn Qual und Drang zu groß .
würden, vemleiden zu können, in Deutschland Unannehmlichkeiten zu be kommen. Ich rechnete nicht, dass ich meiner nicht mehr sicher war. Aber das, was ich als Anfälle bezeichne, diese Aufregungszustände, sind heute so, dass ich vielfach nicht mehr in der Lage bin, sie zu beherrschen. (.. ) Die Anfälle sind sehr variabel in illter Intensität, wie in illrer Häufigkeit. Sie sind s tärker geworden als sie früher waren, gar oft lassen sie sich auch heute noch in illter Wirkung bewältigen, als Hilfsmittel dient in den letzten Jallren auch kaltes Wasser neben meinen bisherigen. Auch die äußeren Umstände machen gar viel aus - in einer ruhigen Umgebung bin auch ich selber ruhiger. Ärger und Ver druss dagegen, wie jede starke Gemütsbewegung (auch freudiger Natur) ver schlinlluert die Sache. (...) Ich leide dann oft an Schlaflosigkeit oder wilden .
sexuellen Träumen. Im Verkehr bin ich dann grantig, ich soll oft WIZUS3111menhängend reden, den Gedanken ganz verlieren, sehr reizbar sein."
Der /mterstlchmde Arz! et)!,ä/IZ! die Beschreib/mg dllrch eitle markallte Eigellbeobachtllllg, die Kllom lIero!iche Zerriittullg i!( diesem Zeitpllnkt der UlIterstlch,l1lgell zeigt: "Am Tag nach seiner Entlassung erschien K vorn1ittags bei dem Unterzeich neten in der Klinik und ersuchte ilw um seinen Schutz. Er war g311Z verstört
und ängstlich, zeigte gerötetes Gesicht w1d schwitzte stark. In abgerissener ... Weise erzäll1te er, dass ilw1 wieder ein Individuum über den \Veg gelaufen sei, das ilW1 Anträge machte. Durch die unerwartet schnelle Entlassung aus der Klinik sei er in gehobener Stimmung gewesen w1d habe morgens einen Gang in die Stadt gemacht. Im Hofbräuhaus habe er einkehren wollen, zunächs t aber das dortige Pissoir aufgesucht. Dort habe ihm ein junger Mensch sein erigiertes Glied entgegengehalten und ihm durch Gesten zu verstehen gegeben, dass er sich ihm 311biete. Dadurch sei er in Erregung geraten, habe dem Menschen aber durch die Flucht zu entkonllllen gesucht. Dieser sei ill111 jedoch gefolgt und sogar ilWI nach in die Strassenballll eingestiegen. Er habe sich nicht mehr 311ders zu helfen gewußt, als ilw1 ein Geldgeschenk zu machen und in auf eine 311dere Zeit zu vertrösten, worauf jener von ihm abgelassen habe. Durch diesen
Homosexuelle im München der Jahrhundertwende
219
Vorgang sei e r jedoch so in Erregung geraten, dass e r sich vor sich selbst nicht mehr sicher fühle und deshalb schnurs tracks in die Klinik gefaluen. Er bat den Unterzeichneten
ihn bis zu einer Autodroschke zu begleiten, damit er sicher
nach Hause komme und ihm zur weiteren Sicherung den Auftrag zu geben, zu Hause zu bleiben und einen telefonischen Anruf abzuwarten. "
4. Das Lila Lied
Cabaretsollg der Zlvall�ger]abre, derill der Sc/llvulmszem air "Hit" beliebtgClvordm Ivar. Text: Kurt ScblJlabacb; Musik: Miscba Spoliallsky - Il1Iter dein PsefldOf!y1J1 Amo Bi!!illg. Q/Jelle: Ute Le1lJperjBerlit! Cabaret SollgS, Decca 452 60 1 -2. Was will man nur? Ist das Kultur, daß jeder Mensch verpönt ist, der klug und gut, jedoch mit Blut, von eigner Art durchströmt ist, daß gerade die Kategorie vor dem Gesetz verbannt ist, die
im
Gefühl bei Lust und Spiel und in der Art verwandt ist?
Und dennoch sind die meisten s tolz, daß sie von andenn Holzi Wir sind nun einmal anders als die andem, die nur im Gleichschritt der Moral geliebt, neugierig erst durch die tausend Wunder wandem, und für die's doch nur das B anale gibt. Wir aber wissen nicht, wie das Gefühl ist, denn wir sind andrer Welten Kind; wir lieben nur die lila Nacht, die schwül ist, weil wir anders als die andem sind. Wozu die Qual, uns die Moral der andem aufzudrängen? Wir, hört geschwind, sind genau wie wir sind, selbst wollte man uns hängen. Wer aber denkt, daß man uns hängt, den müsste man beweinen, doch bald gebt acht, es wird über Nacht auch WIsre S01U1e scheinen. Dann haben wir das gleiche Recht erstritten, wir leiden nicht mehr, sondem sind gelitten. Wir sind l1WI eiIU1lal anders ...
Stefan Zahlmann
Geregelte Identität. Männlichkeitskonzepte und Partnerschaft im Spielfihn der DDR Welches Verhältnis von männlicher Identität und part:nerschaftlichem Verhal ten ist in einer Gesellschaft legitim, die sich offiziell von aldlergebrachten, bürgerlich geprägten Kategorien sozialer Differenzierung losgesagt hat, gleich zeitig jedoch noch inImer in der Tradition einer patriarehai strukturierten Kul tur steht? Unter dieser Leitfrage wird ein Spielfilm aus der DDR analysiert, in dem verschiedene Regehl partnerschafdichen Umg�Ulgs ruu Beispiel des männ lichen Verhaltens in der Ehe kritisch hinterfragt werden: Die Hruldlung VOll Heiner Carows Bis d41 der Tod euch scheidet (1 97 9) 1 schildert die Probleme in der Partnerschaft eines Bauarbeiters und einer Verkäuferin.2 Durch die spezielle Form der Inszenierung, die zahlreiche, für die Identitäts konstituierung relevrulte Faktoren in der Darstellung des Körpers verdichtet, zeigt der ausgewählte DEFA-Spielfiltu3 seine stilistische Eingebundenheit in die mediale Kultur der ausgehenden 70er Jalue. Dieser Zeitraum stellte für die Gegenwartskunst der DDR jedoch auch inhaldich eine Übergangsphase dar: Zunehmend wurden die bis dahin vor allem kollektivistisch akzentuierten Gesellschaftsbilder der vorhergehenden Jahrzehnte durch differenziertere Wirklichkeitsdarstellungen ersetzt. Zugleich erfolgte eine kritische AuseitIrul dersetzung mit den kulturellen Leitbegriffen aus der Gründungszeit der DDR, denen anfrulgs vorsichtig, drum itnmer selbstbewußter, andere Kategorien zur Seite gestellt wurden: So trat im Spielfilm neben die seit der Nachkriegszeit
1
Eine J ahreszahl hinter einem Film ke.l1l1zeichnet das Jahr der Erstauffülu:ung. Wenn mehrere Zahlen aufgeführt werden, handelt es sich um einen Film, der in der DDR für einen bestinlmten Zeitraum verboten war: Die erste Zahl ke.l1l1zeiclmet das Pro duktionsjahr, die zweite das Aufführungsjahr.
2 Heiner Carow (1920- 1 997) zählte zu den profiliertesten Regisseuren der DDR und genoß auch im westlichen Ausland großes Ansehen. Nach einer kurzen Phase als Dokumentarfilmer arbeitete er seit den ausgehenden 50er Jahren
für
die DEFA als
Regisseur von Spielfilmen. Zu seinen bekawltesten Filmen zählen neben der in die
3
sem Beitrag vorgestellten Arbeit: Sie 110m/tm ihll A11Iigo (1959), Die Leget/de tJOlI POlll 1l1/d POI/Io (1973), So viele Träill1/e (1986), Die R"ssCII k011l11lCII (1968/ 87), COl1lillg Ollt (1989). Die DEFA ( Deutsche Film AG, nach 1952 umgewandelt in einen VEB) war der =
staatliche Großbetrieb der DDR zur Herstellung von KinofIlmen (teilweise auch für
Femsehproduktionen) und wurde 1946 geglÜlldet Vgl. zur Geschichte der DEFA:
Do.r :r!JJeite Lebm der Fil11lstodt BobeLrberg. DEFA-Spielfi111le 1946-1992, hg. VOll Filmmu seUIll Potsdam, Berlin 1994.
222
Ste fan Zahlmann
Frauen zugeschriebene "Gleichberechtigung" die Verdeutlichung der Heraus forderungen, die "Individualität" oder "Selbstverwirklichung" für beide Ge
schlechter bedeuteten. Auch das Beispiel
Bis daß... zeigt eine Verbindung dieser
Begriffe mit dem "sozialen Körper"4 der dargestellten Figuren.
\Venn eine filmische Auseinandersetzung mit Körperkonzepten analysiert
werden soll, hat sowohl die Wahl der Bezugsgröße "Körper" als auch die spe
zifische Qualität der historischen Quelle "Spielfilm" Konsequenzen für das methodische Vorgehen und die Relevanz der Ergebnisse. Das folgende Kapitel dient deshalb der Herausarbeitung meines tlleoretischen Ansatzes: In einem ersten Schritt wird hierzu die Konstituierung männlicher Identität auf der Basis
der dekonstruktivistischen Theorie des sozialen Körpers vorgestellt. Um dieses
Konzept für die Untersuchung audiovisueller Quellen praktikabel werden zu lassen, erfolgt anschließend seine sprach- und medientlleoretische Erweiterung.
Mit der methodischen Vorgehensweis e�r.Eilme....ni chLllL.-ers.t1;; [ Linie als
autonome Meisterwerke eines Künstlers verstanden werden, sOlldem als kultu
reller Umgang mit kollektiven Gedächtnisinhalten, soll eine pragmatische Fil
mallalyse als geschichtswisseilschaftlich anllerkennenswerte Form der Verg�uI gellheitszuwendung vorgestellt werden.5
4 Der Begriff "sozialer Körper" kennzeichnet in Anlehnung
an die amerikanischen Gel/der Sttldies die Gesamtheit der gesellschaftlichen Zuschreibungen an einen Men schen, die aufgruud der Intel"pl"etation kÖl"perlicher Merkmale (vor allem Geschlecht, A lter, Etlnuzität) el"folgen. 5 Diesel" Beitrag befaßt sich nut einem Fihn des Regissems Heiner Caww. Und we1l1l jeder seiner Fihne auch viel von dem enthält, was HeUler Caww als Mensch aus zeichnete, sind dieses Fihne des "Regisseul"s" Heiner Carow: Fihne, die von Sellier "Regisseur-Funktion" in der DEF A beeiuflußt sUld - und daulit von einem gesell schaftlich-ulstitutionellen Bedingungszusammenhang der Fihnarbeit in einem totalitä l"en Regime. Es handelt sich bei seinen Fihnen um (inl Foucaultschen Silllle) "Fort Schreibungen" von öffentlichen Gedanken und Themen. Diese Fortschreibungen wal"en den gesellschaftlichen Regehl des Umgangs lnit ihrem Stoff velpllichtet Es ist das besondere Verdienst Carows, sich VOl" alleni "schwierigen" Themen zugewandt zu haben, deren besondere gesellschaftliche Bdsauz viele andere Künstler ab schreckten. Carow brachte diese virulenten hillalte des kollektiven Bewußtseins durch seine Arbeit auf eUle Lhlle, IUntel" die del" politische Diskurs der DDR weit zu lückblieb. Es geht mir in diesem Beitrag jedoch nicht um "die" Intention Cawws, sondern um die Vel"deutlichung des produktionstechnischen Umgangs mit der Ein gebundelilleit eines Themas in die audiovisuelle und politische Kultur der DEFA: Um Cawws Spiel mit delI Spielregehl der Kultul"funktionäl"e. Und UI1l den Frekaum, den el" hierdurch für seine Zuschauer euuorderte.
Geregelte Identität
1.
1.1.
223
Männlicher Körper und männliche Identität im Spielfilm Der soziale Körper
Unter den tlleoretischen Positionen, die sich mit der körperlichen Identität des
Menschen auseinandersetzen, zählt der Ansatz Juditll Butlers zu den umstrit
tensten.6 Ihre zentrale These ist, daß nicht nur das soziale Geschlec:llt (g�1Jdei'),
sondern auch das biologlsCIie-Geschlechr
(sex), also seine körperliche
GD.:!11!!la:
ge-, _diskursiv konstruierdst: 7- Obwohl· sie damit strenggenommen konstruktivi stisdle KOllzepte ledigHch \veiterenhvickelt und ihre tlleoretischen Implikatio
nen radikalisiert hatte, gab ihr Standpunkt Anlaß zu einer Reihe
von
Mißverständnissen: So geriet Juditll Butler in den Verdacht, die physische Rea
lität des Menschen leugnen zu wollen.B Ihr geht es jedodl keinesfalls darum, den Körper als nicht-wirklichen Bestandteil menschlicher Identität zu entblö
ßen, sondern vielmehr um die Verdeutlichung, weldles die Bedingungen seiner
spezifischen - individuell wie auch kollektiv - wahrgenommenen körperlichen Wirklichkeit sind. Danut bemüht sidl Butler also vor allem um eine Neude
finition (resignijici1ti011) körperlicher Realität durch eine Kritik an aktuellen Vor stellwlgen von Leiblichkeit (zu denen sie eben auch die Annallme einer Natür lichkeit der Zweigeschlechtlichkeit zählt).9 Es geht Butler also um eine I
"Geschlecht", was man über das Geschlecht weiß. Denn das Wissen über
einen Sachy_erhfllt steuert seine Wallrnehmung und
I�atioii.
Da Butler
verdeutlicht, daß dieser Vorg�lg auch für andere Bereiche der körperlichen
6 Judith Butler (1991):
Das Ullbebagell der Geschlechter, Frankfurt/Main;
dies. (1993): Der
Streit um Differenz: Fenlluisnms und Postlllodeme in der Gegenwart, hg. zus. mit S. Benhabib, D. Comell, N. Frasel� dies. (1995): Klitper /JOII Gewicht, Berlill.
7 Der Unterscheidung von
.rex und gel/der kommt in der feministischen Theorie eine große Bedeutung zu: Ersteres meint die physische Disposition, letzteres die damit verbundenen Konzepte mällllcli her und weiblicher Identität. Hinter dieser binären
Konstellation verbirgt sich eine Haltung, die von Michel Foaucault dahingehend cha rakterisiert wird, die menschliche Frage "nach dem, was wir sind,
an
den Sex zu
richten." Sex wird zur "Matrix" des gesamten Lebens: "Der Sex: Gmnd für alles." (S. 98f.) Gegen die Konstruktion der Ursächlichkeit des Sexes setzt er die These, daß die "Sexualität ein Effekt mit SUUlwert" (S. 1 76) sei, also eUI rationales Konzept; Mi
B
chel Foucault (1977): Der 1f7i1le ::;I/ni Wir.rm. SeX/ra/itlit IIlId lf7ahrheit 1, Frankfurt/Mahl. Vgl. Barbara Duden (1993): Die Frall ohlle UI/terleib: Zu fudith Blltler.r ElltklltpCf7/11g. Eill
Zcitdoklll7JCllt, in: Fettlluistische Studien 1 1, Heft 2, S. 24-33, hiel� S. 28f. Braucht die .fol7lil/i.rtische lf7i.r.rCII.rchqft eim Kategoric"?, UI:
9 Vgl. Käthe Trettin (1994):
,.•
11lerasa Wobbe/ Gesa Lindelllaun (Hg.): "Denkachsen". Zur theoretischen und stitutionellen Rede von Geschlecht, Frankfu.rt/Main 1994, S. 208-234, hier: S. 214.
UI
224
Stefan
Zahlmann
Identität des Menschen gilt, etwa seiner etlmischen Zugehörigkeit (race1<) , fügt
sie dem bisherigen feminis tischen Schema der Zweigeschlechtlichkeit als zen traler Achse gesellschaftlicher Machtverteilung andere körperliche Dimensio
nen hinzu.11 Sie selbst spricht angesichts der erweiterten geschlechterwissen schaftlichen Perspektive vielfach allgemein nur noch von "Körper".
"Biologisch" ist an einem kulturell so hochbesetzten Bereich wie dem
menschlichen Körper nach dekonstruktivistischer Lesart nichts. Und auch
gerade das, was gemeinhin als "biologischer Unterschied" gilt, d.h. die geno
und phänotypische Unterscheidbarkeit von mälUrnchem und weiblichem Ge schlecht, ist abhängig von dem Wissen über den Körper. Dieses wird nach
Butler durch diskursive Strukturen konstruiert und perpetuiert. Es ist jedoch keinesfalls so, daß ein Diskurs, d.h. eine übenuenschliche Macht "machtet" und dadurch einen physischen Körper
erzeugt.
Der Diskurs etabliert nach Butler
vielmehr eine Matrix, durch die der "reale Körper" erst identifizierbar und zum Objekt klassifizierender wld nomuerender Vorschriften - also zum sozialen
Körper - wird. 1 2
Kann der Butlersehe Ansatz für eine historische Untersuchung von Spiel
filmen genutzt werden? Mit Einschränkungen: Butler betont die diskursive
Interdependenz von physischem Substrat und seiner sozialen Aktivierung als "Körper". Danlit setzt sie Körperkonzepte in eine Beziehung zu den vielfälti
gen, genuin "unkörperlichen" Prozessen, die jedoch oftmals den Körper be treffen (etwa politische Maßnahmen oder gesellschaftliche Rollenvorstellun
gen). Und sie verdeutlicht an vielen Beispielen die unmittelbaren Kon
sequenzen, die ein derartiger offizieller Umgang mit "Körper" auf der indivi duellen Ebene haben krum. Doch der Butlersche Ansatz bleibt wlvollständig:
Ihm fehlt ein tlleoretisches
10 Vgl. Butler (1995)
Gefüge, durch das die Instrulzen "Körper",
an zahlreichen Stellen, vor allem bei ihrer Verknüpfung von drag und race in ihrer Analyse des Films Paris 1s Burning: S. 181ff 11 Es gibt auch für Butler einen realen, "reinen" Körper (vgl. Butler (1995), S. 33). Dieser ist jedoch nicht abgelöst von dem ihn definierenden Diskurs zugänglich oder nur um den Preis seiner sozialen Bedeutungslosigkeit: KonstlUieIt ist nach But ler nänilich nicht der physische KÖlper selbst, sondem allein der Bereich mensch licher Identität, der als "physischer KÖlper" wahrgenommen, klassifiziert, interpre tiel1: etc. wird und damit so:;jal als "Kölper" wirksam ist. So ist auch die heutige "Offensichtlichkeit" des Vorhandenseins von zwei Geschlechtern allein als eine Ak tivielUng bestimmter physischer Aspekte des menschlichen Körpers durch soziale Praktiken zu verstehen. Würde die Bedeutsamkeit dieser Aspekte einmal entfallen, wären zwar die sozialen Geschlechter deStlUiert, nach wie vor würden Menschen je doch über eine körperliche Ausstattung verfügen, die ihre sexuelle Reproduktion er möglicht. Diese "Geschlechter" wären dallll sozial jedoch genauso (ir)relevant wie es zum gegenwärtigen Zeitpunkt andere körperliche Merkmale sind, etwa die Schuhgrö ße oder die Augenfarbe. 12 Vgl. Butler (1995), S. 28.
225
Geregelte Identität
"Diskurs", "Macht" und "Kultur" bzw. vergleichbare Größen so zueinander in Beziehung gesetzt werden können, daß sie wissenschaftlich operationalisierbar werden. Dies kann der Tatsache angelastet werden, daß Butler die alltägliche Praxis des konkreten individuellen und kollektiven Umgangs mit dem Körper durch Menschen in ihren Ansatz nicht miteinbezieht: Ihr totalisierender Dis kursbegriff ignoriert die Tatsache, daß die Praxis der Geschlechtszuschreibung "ein interpretierender und re-interpretierender Umgang mit Zeichen und Sym bolen ist ... eine Praxis von Personen, die im Kontext des Selbst- und Weltver ständnisses ausgeübt wird."\3 Mißverständlich ist auch der kons truktivistische Körperbegriff selbst: Butler sagt "Körper" und begreift ihn in seiner (wissenschaftlichen, politischen, äs tlletischen etc.) Konstruiertheit als etwas Soziales. Damit setzt sie jedoch den hierbei zugrundeliegenden Bereich des Wissens über Körper (und des daraus resultierenden Umgangs) rhetorisch mit seinem ontischen Bezugspunkt gleich. 14 Zudem wird ein damit zusammenhängender Aspekt der Butlersehen Konzeption (die AnnalIme, daß die Materialität des Körpers auf die s tete Wie derholung der ilUl konstituierenden Praktiken angewiesen ist) 15 aufgrund ihrer stereotypen diskursiven Letztbegrundung in seiner Organisation und Dynamik nicht faßbarY Ich stimnle Butlers These einer Konstruktivität des Körpers zu, bemühe mich jedoch darum, sie in einer Fonn vorzubringen, die sie empirisch wnsetz bar werden Hißt. Gegenstand meiner Untersuchung sind nüinnliche Identitäts konzepte in Spielfilmen, also eine Fonn des kulturellen Umgrulgs mit sozialen Körpem. Sie werden durch die Aktionen der Schauspieler entwickelt wld er scheinen in den dargestellten Charaktere gleichsam "verkörpert". Tatsächlich hruldelt es sich bei filmischen Körperkonzepten jedoch nicht um die physische Realität der Schauspieler selbst, als vielmehr um eine durch ihre Leistung er folgte Aktualisierung außel'filmischen Wissens über Körper (vgl. Kapitel
1 .3.).
In den Filmen, die sich in kritischer Weise mit der Bedeutung von Körperkon zepten auseinandersetzen, erfolgt in der Regel eine Verdeutlichwlg der den sozialen Körper kons tituierenden Faktoren. Spielfilme zeigen angesichts ihrer
13 Trettin (1994), S. 229f. 14 Die FOlIDulielUng Luhmauns, das Wort Mensch sei kein Mensch, kaun in diesem Zusal11ll1enhang auch auf den KÖlper angewendet werden. Vgl. Niklas Luhmaull (1988):
lT7ie irt BeWIfßtseifl PfI KOl1lnJllllikatiofl beteiligt?,
in: H. U. Gumbrecht/KL. P feu
fer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt/Main 1988, S. 884-905, hier: S. 901.
1 5 Vgl. Butler (1995), S. 32; an dieser Stelle ihres Textes
am
Beispiel des "biologischen
Geschlechts".
16 Die Notwendigkeit eines dynamischen Körperbegriffs betont auch Gabriele Klein und schlägt eine Betonung seines relationalen Charalners vor. Vgl. Gabriele Klein (1996): AI/f der SI/che I/pch
Vollkol1ll1lenheit. Ge.rcblechtemtopiel/ il1l Tt11/!i,j Berlill, S.
8.
226
Stefan ZahlmatUl
fomlalen und inhaltlichen Grenzen hierbei jedoch notwendige Beschränkun gen: Ihr hemletisches Szenarium billigt nur bestll1U11ten Faktoren Einfluß auf Körperkonzepte zu. Auch aufgrund dieser inhaltlichen Vereinfachwlgen (denn durch sie werden gerade die situativ bedeutsam scheinenden Einflüsse betont) können Filme als bedeutende Quellen für kollektiv vorhandenes Wissen über
Körper definiert werden (s. Kapitel
1.3.).
Wenn in diesem Beitrag eine konstruktivistische Perspektive eingenommen wird, bedeutet dies vor dem Hintergrwld der obigen Kritik an Butler, daß ein theoretisches System ausgearbeitet werden muß, durch das Individuen als Ur heber wld Adressaten der sie bestimmenden sozialen Praktiken erkelUlbar werden. Der soziale Körper ist als theoretische Größe zwar der Punkt nach dem sich mein theoretischer Ans atz ausrichtet,
im
Zentrum meiner Analyse
s teht jedoch eine besondere Fonu seiner gesellschaftlichen Kritik: die filmische Reflexion seiner Konstituierung.
1 .2.
Körperliche Identität als Spiel
Das Wissen über den Körper und der Umgatlg mit diesem in Konfliktsituatio� nen sind die Aspekte, unter denen
Bis daß...
untersucht wird. Zwei Implika
tiOllen dieser theoretischen Ausgatlgsposition müssen j edoch zuvor geklärt werden: Zum einen die Art und Weise, in der dieses Wissen vemuttelt wird; zum atlderen die Beantwortung der Frage, weshalb auf ein derartiges kollekti ves Wissen in einem Film überhaupt rekurriert wird. Diese Implikationen, das
Wie und WarJ/I/J von Wissensvenruttlung und
filmi
schen Bezug auf gemeinsatne Wissensinhalte, sind Gegenstand einer theoreti schen Position, die zunächs t nicht wUluttelbar in einem Zusat1U11enhang nut einer Fihllatlalyse zu stehen scheint. Die Rede ist VOll der Sprachphilosophie Ludwig Wittgens teins. Ihr zentraler Begriff ist der des
Spracbspie/s.17
Hierbei
handelt es sich wn eine Beschreibungsmetapher für das Funktionieren kom plexer Lebensfomlen.18 Sprachspiele sind Grundelemente menschlicher Kom-
17
Der Begriff "Sprachspiel" und damit zusammenhängende Ausdlücke �,Regel", "Spielregel") erscheinen bei Wittgellstein an vielen Stellen seiner "Philosophische(n) Untersuchungen". Meinem Beitrag liegt zugrunde: Werkausgabe Band I (fractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914-1916. Philosophische Untersuchungen), Frankfurt/Main1995 1O. Vgl. zur Sprachphilosophie Wittgensteins, besonders dem Komplex "Sprachspiel und Spielregeln": Wilhelut Vossenkuhl (1995): lJldll;jg IT>'illgetl steill, München, S. 252-230; Hans Schenk (1995): Sche11la.rpie/e. Ober Sche11laillterprelaliolletl I/Ild Illterprelatioll.rkollslmkle, Frankfurt/Main, S. 222-255; Georg Wolf (1997): Wie l1/all Killder .rpielerisch iIl blillde11l Regelbifölgetl ablichlet. Spl'i1chlehf�/1 bei lf7itIgC/l.rteitl, in: Meinert A. Meyer/Andrea Kumetz: Bildungsgangdidaktik, Opladen (erscheint 1997). 1 8 Wittgensteiu spricht in diesem Zusannllenhang von "Analogie" (§ 83) oder "Ver gleichsobjekt". "Das Wort ,Spracltrpief soll hier hervorheben, daB das Sprechen der
Geregelte Identität
227
munikation. Wir alle spielen sie: Ob wir uns bei einer Begrüßwlg höflich nach dem Befinden des anderen erkundigen oder im Restaurant eine Bestellung aufgeben. Wir spielen Sprachspiele, weil wir in bestimmten Situationen kom munizieren müssen oder wollen. Gleichgültig ob ärztliche Diagnose oder nachbarliches Tratschen: Stets laufen Sprachspiele dabei nach bestimmten
Regeln
ab, die die Adäquatheit des Sprachspiels hinsichtlich der Konullunikati
onssituation garantieren.19 Denn Sprachspiele sind - anders als der alltags sprachliche Begriff des Spiels zunächst nahelegt - nicht nur zweckorientiert, sie haben auch ein definiertes Ziel. Wittgenstein nemlt dieses den IWitz2° des Spiels: Alle am Spiel beteiligten Personen haben eine mehr oder weniger klar umrissene Idee davon, was ihnen eine Teilnahme an einem Sprachspiel bringt. Je s tärker die KonilllUnikationssituation standardisiert ist, desto eindeutiger sind dabei die Rollen der Spieler und der Witz des Spieles definiert. 2 1 Die Butlersehe These von der Kons truktivität der körperlichen Identität er hält durch eine Verbindung mit der Sprachtlleorie Wittgensteins ein höheres Maß an Praktikabilität.22 Buder geht es um die Verdeutlichung der "konstru ierenden" Wirkwlg von Wissensinhalten: Nur das ist sozial wirksanI, was durch den sozialen Umgang als bedeutsam gekelillzeichnet wird. Das Spielkonzept Wittgensteins ist ein Modell, das Regehl sozialer Gepflogenheiten erkennbar werden läßt. Auch die möglichen Bedeutungen, die ein Wissensinhalt stituativ oder pemlanent durch seine soziale Aktivierung erhält, lassen sich durch dieses Modell in einen gemeinsamen Kontext rücken. In Sprachspielen laufen also auch die Prozesse der Kennzeichnung und Interpretation dessen ab, was in dekonstruktivistischer Lesart als sozialer Körper bezeichnet werden kann. Hierbei kömlen Sprachspiele sowohl inhaltlich als auch hinsichtlich rures for malen Ablaufs konstitutiv wirken: Ihnen können diejenigen Aussagen zugeord net werden, die hinsichtlich der Selbstwallrnehmung des Körpers getroffen
Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform." (§ 23) [Hervoiliebung im Original]. 19 Regeln werden benutzt wie "WeJ:,,,veiser" (§ 85), die Orientielung im All tag elDlögli chen. Man befolgt sie, weil man es gelernt hat (§ 198) und weil man elwarten darf, daß sie einen guten Zweck erfüllen (§ 87). 20 "Regehl" oder "Spielregehl" erfüllen ilue Funktion im Hinblick auf den lP'itz eines Spiels (§ 62). (Der Witz des Schachspiels besteht etwa darin, den König des Gegners matt zu setzen; § 316). 21 Als Paradebeispiel kanu hier das Sp rachspiel "Gerichtsverhandlung" augeführt wer den: Es gibt Kläger und Angeklagte, die unI den "Witz" streiten, ilu Recht zu be kommen. Unausgesprochen ist durch die Walu dieses Sprachspiels vereinbart wor den, sich denl Urteil einer dritten Partei, vertreten durch den Richter, zu beugen. Dieses Einverständnis ist zudem Teil eines Verhaltenskodexes, bei dem Prinzipien wie "WallIheitsfindung", "Achtung des Gerichts" etc. eine Bedeuttlllg haben. 22 Dieses wurde bereits von Kädle Trett.itl in iluer Kritik an Judiili Buder verdeudicht. Vgl. Arun. 9.
Stefau Zahlmaun
228
werden; also Sätze von der Art: "Ich weiß, daß ich ein Mann bin.". Eine solche Aussage ist abhängig von einer subjektiv erfaßten Zugehörigkeit zum mätUili chen Geschlecht. 23 Die Konstituierung und Stabilisierung männlicher Identität erfolgt jedoch in hohem Ausmaß unbewußt (und auch oftmals unfreiwillig). Damit ist nicht nur der "geschlechtsspezifische" Inhalt einer Aussage relevant: Auch ein Bestand von Aussagen ist denkbar, welche nur von Männem gemacht werden, inhaltlich jedoch keinen direkten Bezug auf ihren ontologischen Status als Personen eines bestinmlten Geschlechts aufweisen müssen. Ihre Exklusivi tät, d.h. ilue alleinige Verwendwlg durch Männer wld die durch bes timmte Regehl organisierte Art illrer Anwendung kennzeichnet die Zugehörigkeit des Sprechers zum männlichen Geschlecht. Ebenso können jedoch auch be s timmte Aussagen als "männeruntypisch" gelten. Doch nicht nur das inhaltlich vemuttelte Wissen über den Körper oder be s timmte "männerspezifische" Aussagen dienen der Konstituierwlg von Kon zepten männlicher Körperlichkeit. Denn auch der regelhafte Ablauf eines Sprachspiels in einer bestimmten Kommunikationssituation und die luerbei zu beobachtenden luchtsprachlichen Verhaltensweisen sind wesentliche Merkmale einer Inszeluerung von MätUuichkeit.24 Meine These ist, das es ein Repertoire derartiger Spielzüge gibt, auf die Männer in bestimmten Situationen zurück greifen kÖtUlen, in anderen jedoch lucht. Danut gehe ich von einer geschlechts spezifischen Spielpraxis aus. Um Butler wld Wittgenstein in einer Formel zu s ammenzubringen: Die Bedeutung des sozialen Körpers liegt in der Art seines Gebrauchs durch die Menschen.25 Aus der Vielzalli fihluscher Sprachspiele interessieren lluch diejenigen, in de nen Körperkonzepte Zum einen auf der inhaltlichen Ebene wirksam sind (also verhandelt werden), zum anderen das Kommwllkationsverhalten durch eine geschlechtsspezifische Spielpraxis beeinflußt wird: In einem solchen Fall erhält der Witz des Spiels (die (Re-)Konstruktion eines sozialen Körpers) in den von den Spielern angewendeten Regeln des Sprachspiels einen nonverbalen Sub text.26 Obwolll auch für Wittgenstein ein Sprachspiel mehr ist als ein Spiel nut
23 Mit Einschränkungen: Travestives Sprechen macht es auch Frauell möglich, eine
�
24
solche Aussage zu treffen.
In
solchen Fällen verhalten sich Männer analog zu ihrem sozial vorformulierten
"genderscript". Vgl. zu diesem Begriff Gitta Mühlen Achs
(1993): Wie [(PIZ Imd H1I11d.
Die KJjrpersprache der Gcschlecbter, München,
25 In Anlehnung
:m
S. 85. den Kernsatz der Wittgensteinschen Sprachphilosophie. "Die Be
deutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache."
(§ 43).
26 Dieser Vorgang muß den Spielern nicht selbst bewußt sein. "Spieler" sind in fihni
sehen Körperspielen nicht die Schauspieler als konkrete Persönlichkeiten, sondern die durch ihre Leistung erzeugten Figuren der Handlung.
Geregelte Identität
229
Worten27, nenne ich diese Sprachspiele aufgrwld ihrer doppelten Abhängigkeit von Körperkonzepten im folgenden
Körperspiele.28
Derartige Körperspiele können vor allem in den Situationen beobachtet wer den, in denen etablierte Körperkonzepte problematisch geworden sind. Damit einhergehende Konflikte markieren potentielle Bruchlinien in der gesellschaft lichen Akzeptanz sozialer Körper: So müssen sich während eines Körperspiels in einer Konfliktsituation die bestehenden Regeln der Konstituierung männli cher Identität - ebenso wie vermeintlich "männliche" Inhalte - als weiterhin legitim erweisen. In einer solchen Spielphase können jedoch auch neue Regehl und Inhalte eingeführt werden. Die Folge: Das bisherige Körperkonzept wird in einem bestimmten Ausmaß vom Individuum reflexiv erfaHt, kallll beibehal ten oder modifiziert werden. Die besondere Qualität des Begriffs Körperspiel liegt vor allem darin be grundet, viele mit dem menschlichen Körper verbundene soziale Konzepte als konkrete Manifes tation dialogischer Prozesse erfassen zu können. Dalllit soll dem abstrakten Begriff des sozialen Körpers eine empirisch zugängliche Posi tion voralIgestellt werden. Der "Körper" gilt zwar weiterhin als konstruierte Größe, wird jedoch nicht als bloßes Produkt der über ihn konullwllzierenden Gesellschaft begriffen: Durch "män11liche"/"weibliche" Regeln I1ißt ihn das Körperspiel auch als ein symbolisches Verhalldlungsmedium für individuell und kollektiv bedeutsallle Bewußtseinsinhalte erkennbar werden, die nicht wllltlit elbar mit einem Körperkonzept assoziiert werden müssen. Und während ein Begriff wie "Geschlechterrolle" bereits bei einem Konzept von Körper lichkeit ansetzt, zielt das "Körperspiel" auf die Beobachtung, wie soziale Kör perkonzepte in historischer Perspektive definiert, gesellschaftlich etabliert oder auch ausgetauscht werden. 1 .3. Körperspiele im Spielfilm Eine Untersuchwlg des kulturellen Umgallgs mit Körperspielen in historischer Perspektive ist an das Vorhandenseins einer Quelle gebunden, die ihre sprach lichen und lllchtsprachlichen Spielzüge bewahrt. Für diese Untersuchwlg wur de das Medium Spielfihll ausgewählt. Will man den Untersuchungs ergebnissen ein möglichst hohes Maß an Plausibilität zusprechen, muß mall allgesichts des
27 "Das Wort ,Sprachspiel' soll ... hervorheben, daß das Sprechen der Sprache eiu Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform. - Und eine Sprache vorstellen heillt, sich
(§ 23) . Vgl. If7ittgellsteill, Reinbek bei Halllburg, S. 1 1 8.
eiue Lebensfonn vorstellen."
Adolf Wuchterl/Adolf Hübner (1979):
28 Eiue derartige Eiugrenzung von Sprachspielen ist nach Wittgensteiu legitim (§ 54,
71). "Sprechen" wird iu diesem Zus ammenhang als die Gesamtheit der verbalen und
nonverbalen Interaktions111öglichkeiten defllIiert, die Menschen zu iluer Verständi gung benötigen.
230
Stefan Zahlmann
artifiziellen Charakters dieser Quelle zuvor ihre Wirkungsprinzipien und ihre Rahmenbedingungen verdeutlichen. Um was es handelt es sich deshalb, wenn jetzt und im folgenden von "Spielfilm" die Rede ist? Eine nalleliegende Antwort ist: um Unterhaltung. Der despektierliche Beigesdmlack dieses Begriffs steht zwar scheinbar im Wider spruch zu dem mindestens ebenso häufig mit Fihll assoziierten Begriff des "Kunstwerks", bietet j edoch mit seinem dleoretischen Profil bessere Ansatz punkte für eine inhalts orientierte Analyse von Spielfilmen: So verweist der Aspekt der Unterhaltsanlkeit von Filmen ZWll einen auf die konkrete Rezepti onssituation des Zuschauers, der mit einer individuellen Erwartungshaltung die Fihllhandlung verfolgt; zum anderen auf die produktions- wld rezeptionstech nischen Bedingungen, die mit der Befriedigung dieser Erwartungshaltung ein hergehen. Die Erwartungshaltung des Zuschauers, sich durch einen Fihll in einer be stinullten Fornl "unterhalten" zu fühlen, ist nicht in erster Linie an das intel lektuelle oder künstlerische Niveau von Spielfilmen gebwlden. Unterhaltung inl Spielfilm funktioniert durch eine spezielle Eigenschaft des Medium: Spiel filme erzeugen eine bestinmlte FOOll von fIktionaler Realität, die der Zuschau er als von der ihm zugänglichen ("realen") Realität verschieden wahrninull t.29 Der Reiz dieser Unterhaltungssituation liegt darin begründet, daß es dem Zu schauer möglich ist, die Grenzen zwischen der "realen" und der "fiktionalen" Realität mental zu überschreiten.3D "Unterhaltsanl" ist nach dieser Definition nicht allein ein Film, der leichten HWllor bietet, ebenso kann auch das indivi duelle (Mit-)Empfinden von Angst, Schmerz, Wut und Trauer während eines Filmes die Erwartung eines Zuschauers nach Unterhaltwlg befriedigen.31 Soll die fIktionale Realität eines Fihus Unterhaltung ermöglichen, dann muß sie darüber hinaus in einem bestinunten Ausmaß realis tisch sein. Hierunter wird nicht allein ein möglichst logischer Plot und eine nachvollziehbare Orga nisation der in ihm situierten Körperspiele verstanden. Realistisch ist ein Film
29 Vgl. Niklas LuluuatUl (1996): Die Rea/itlit der Massellmedim, Opladen, S. 99. 3D Ebd. 31 Ute Daniel hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß der Film eine Nachfolgeinstitution des Theaters darstellt Dieses hatte in früheren Jahrhunderten das Bedürfnis des Publikums nach "Schau- und Hörlust" (Daniel) befliedigt. Eine Kontinuität von Theater und Film unterstellt auch Niklas Luhmrum, da sich der Film einer besonderen Form des Sehens bedient, die er als Produkt einer auf die Bühnen darstellung aufbauenden kulturellen Evolution ansieht. Vgl. Luluna1l1l (1996), S. 102; Ute Daniel (1996): Hoftheater. Zur Ge.rchichte des Theaters Iflld der Hi!fe im 18. Iflld 19. Jahr hllfldert.r, Stuttgart, S. 1 1. Zn einer gegenteiligen Auffassnng (keine Kontinnitäten zwi schen Theater und Film) vgl. z.B. Paul Virilio (1996): Die Erobenfllg des Kiipers. Vom Obef'I7Jel/.rchen :r:!/IJJ ilberreiifC/l Mefl.rchC/l, Frankfurt/Main, S. 9-30 �,Der Medienkolll plex'').
Geregelte Identität
23 1
vor allem dadurch, daß er "in hohem Maß auf Wissen Bezug ... [nimmt], das bei den Zuschauem bereits vorhanden ist."32 Körperspiele eines Filmes müssen deshalb jedoch nicht die Komplexität tatsächlicher aUtagsweltlicher Interakti onssituationen kopieren: Es genügt, wenn in ihnen bedeutsame kollektive Ge dächtnisinhalte zitiert werden und ihr Ablauf in der filmischen Darstellwlg den diesbezüglichen sozialen Regeln illrer "Erinnerung" folgt, um dem Zuschauer ein N achvollziehen der Handlung und eine Identifikation zu enuöglichen.33 Filmische Körperspiele sind insofem "realistisch", als daß in il111en außerftl misch wirksame soziale Gepflogenheiten und Regeln in einer potentiell allge meinverständlichen Foml aufgegriffen werden. Wichtig ist in diesem Zusan1111enhang die Feststellung, daß Spielfilme del11 Publikum eine "glaubwürdige, aber nicht konsenspflichtige Welt"34 vorstellen: Ablehnung, Zustin1111Ung oder die Walll eines neutralen Standpunktes stehen dem Zuschauer damit als Bewertungsentscheidwlgen frei. Dies gilt auch für Spielfilme aus der DDR. Vielfach wird unterstellt, daß hier Spielfilme vor allem Propaganda gewesen seien, eine politisch inszenierte Scheinwelt.35 Es handelt sich jedoch bei jedem KinofJlm um eine Ware, die freiwillig konsumiert wird. Und auch im Sozialismus unterlagen Waren den Gesetzen des Marktes. Die DDR zeigte neben eigenen Produktionen ein umfangreiches Angebot ausländi scher Kinofilme; meist aus sozialistischen Ländem, aber auch aus Westeuropa und den USA.36 Die DEFA mußte den Spagat vollbringen, die Bedürfnisse ihres Publikwll nach Unterhaltung zu befriedigen wld gleichzeitig den offizi ellen Auftrag zu erfüllen, der von politischer Seite an illre Produkte gestellt
32 Lulnnann (1996), S. 108. 33 Die Identifikation, besonders das Wiederfinden eigener Wünsche, Ängste und Freu den, ist ein entscheidendes KriteriuUl für die Untedlaltsamkeit von Filmen. Vgl. Luhmaun (1996), S. 1 12. Miriam Bratu Hansen verdeutlicht in ihrer Analyse filnu scher Gewaltdarstellungen, daß es Frauen und Mäunem hlerbei gleichennaßen mög lich ist, sich mit Protagowsten zu identifIZieren, die weht dem eigenen Geschlecht angehören. VgI. Mirianl Bratu Hansen (1995): GCI'JoltwohmehnJ/fIIg IIl1d jenJi/Jistirche Filmtheorie: Bel!iamill, Krocaller tmd der /Jette "GeJlJolt-FroliCIifilm", in: Frauen und Film (56/57), S. 25-38, luer: 26f. 34 VgI. LuhmaWl (1996), S. 1 12. 35 VgI. Horst Schäfer/Dieter Baacke (1994): LebeIl wie im Killo. JlIgClldkttltllr IIlId Film, Frankfurt/Main, S. 217ff. 36 Eine vollständige Auflistung der jemals in der SBZ/DDR aufgeführten Spiel- und DokUlllentarfwne findet sich in den vom KadlOlischen Institut für Medienforschung e.v. (Köill) und von der Katholischen Filmkoflllul ssion für Deutschland (B01lll) her ausgegebenen Nachschlagewerken: Filme ill der DDR 1945-86. Kriti.rche NotizeIl all.r 42 KiIJf!iohrell, Köhl/Bo1lll; Filme ill der DDR 1987-90. Kriti.rche NotizeIl OIlS 4 Killojahmt, Köill/Bo1lll.
232
Stefml Zahlmann
wurde.37 Der Propaganda-Vorwurf, den man ml DEFA�Filme richtet, muß deshalb präzisiert werden: Eine Manipulation von Informationen erfolgte we niger durch offensichtlich falsche Auss agen als durch Reglementierungen in der Stoffauswahl und der Darstellwlgsforul. Zus ammenfassung und Grundvers tändnis Konzepte über körperliche Realität und ihre soziale Funktion, d.h. "soziale Körper", sind abhängig von dem kollektiven Wissen der Gemeinschaft, in der ein Mensch lebt. Definiert werden derartige Körperkonzepte in konkreten Interaktionssituationen, die hier Körperspiele genmul t werden. Dem Historiker sind in Spielfilmen zaillreiche Körperspiele zugänglich. Bei diesen handelt es sich nicht um "reale" Interaktionssituationen, sondem
um
di� k.tinstIiche Re
produktion außerfilmischer Wirklichkeit, also um eine Form audiovisueller Körperkultur. Die in Körperspielen vorgestellte Auseinmldersetzung
mit defi
luerten und für die Filmhandlung relevmIten Größen richten sich dmlut nur scheinbar an die fiktionalen Figuren der Handlung, in Wirklichkeit jedoch an den Zuschauer. Der Film ist durch diese Eigenschaft selbst ein abstraktes Sprachspiel zwischen Produzent3 8 und Rezipient. Ein Historiker sollte sich beim Betrachten eines Films deshalb nicht die Frage stellen, wie realistisch ein Film die zeitgenössische Wirklichkeit wiedergibt, sondem wie in ilUll nut "Wirklichkeit" umgegangen wird.39 Das Material seiner lustoriographischen Untersuchung sind die luerzu entwickelten filmischen Konventionen. Im Zen trum dieses Beitrags stehen ausgewählte Körperspiele des Films
euch scheidet (1979).
Bis dqß der Tod
Die Analyse der Konventionen, die in ihnen die außerfilnu
sehe Wirklichkeit männlicher Körper reproduzieren, erfolgt vor dem Hinter grund von mehr als
250
der Produktionen nach
ausgewerteten DEFA-Filmen (mit dem Schwerpwlkt
1960).
Da eine Untersuchwlg von "Beziehwlgs "
Körperspielen erfolgt, rucken die mit der Kategorie "geschlechtlicher Identi tät" verbundenen Formen des zwischenmenschlichen Umgmlgs in den Vorder grund.
37 Die
starke staatliche Einflußnahme, die viele Entwicklungsmöglichkeiten des ost deutschen Filius abschnitt und hoffilUngsvolle Karrieren oft jäh zerstörte, diente in direkt auch als produktiver Faktor für die Entwicklung der Filille: Die strengen Grenzen des Nicht-Zeigbaren, Nicht-Denkbaren und Nicht-Sagbaren forderten zu
Grenzgäugen auf. Die enichteten staatlichen Hürden k01l1lten damit Zwar nicht übelwunden, wohl aber unterlaufen werden.
38 "Produzent" meint in diesem ZusanUllellhaug die Gesallltlleit der Personen, die auf die inhaltliche und formale Erscheinung eines Films Einfluß haben.
39 Vgl zum Umgang des Historikers mit Fi.lm die ullterschledliche.tl Positionen, die .im .
SallUllelbaud Rainer Rodlers vorgestellt werden: Rainer Rotller (Hg.):
Geschichte. Der Historiker im Killo, Berlin 1991.
Bilder schreibC/1
Geregelte Identität
233
2. Analyse: Männliche Identität im DEFA-Spielfilm
Methodisches V01J!,ehm Meine Untersuchung von Spielfilmen konzentriert sich auf Körperspiele, d.h. Sprachspiele durch die männliche soziale Körper definiert werden und die selbst durch sozi,ale Körperkonzepte in einer bestimmten Form regelhaft orga nisiert sind. Das methodische Vorgehen ist mit der Rekonstruktion der Regeln und regelhaft auftretenden Inhalte von Körperspielen im wesentlichen prag matisch orientiert. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß von mir herausgearbeitete körperorientierte Regeln oder Inhalte in jedem Fall intentio
nal in dem Film angelegt sind.40
Einen Spielfihu definiere ich als
Makroseq/JettZ von
Sprachspielen: Er verbin
det hierzu in einer bestimmten Weise verschiedene Szenen miteinander. Diese Szenen sind ihrerseits wieder sequentiell strukturiert, ihre Handlung kann als Abfolge von Spielzügen gedeutet werden. Die Zugfolge der Szenen nenne ich Mikroseq/Jcl1:{: Ein Körperspiel bes teht aus (wenigstens) einer Mikrosequenz.41 In einem ersten Schritt s telle ich die Makrosequenz (die Filmhandlung) der beiden zu untersuchenden Filme vergleichbaren Makrosequenzen gegenüber. Durch dieses Vorgehen charakterisiere ich die Position der anschließend analy sierten Körperspiele innerhalb der Themenprogression "Eheprobleme" in DEFA-Filmen, In einem zweiten Schritt werden ausgewählte Körperspiele unter dem Gesichtspunkt der in ihnen vorges tellten Irilialte und Regehl zum Thema "männlicher Körper" untersucht. Bei der Charaktelisierung der Makro sequenz angesprochene Darstellungsprinzipien werden in diesem Zusammen hang präzisert. Angesichts der Kürze des Beitrags handelt es sich bisweilen um eine über blicks artige Zusammenfassung genereller Darstellungsprinzipien. Die in diesem Zusammenhang formulierten Thesen dienen der Pointierung einzehler Ten denzen. Mir geht es in diesem Zusanuuenhang vor allem um die Überprüfung,
40 Wenll ein Film in historischer Perspektive einen signifikanten Unterschied zu ande
ren Filmen seiner Zeit aufweist, liegt der Schluß nahe, es könnte sich um das Produkt bewußt vorgenonUllener Bearbeitungen handeln, Der Nachweis emer derartigen Ein
flußnahme oder ihre mögliche Intention ist nicht Ziel meiner Arbeit. Meine Quelle ist das Filnmlaterial selbst. Und allem in der Verdeutlichung von Tendenzen oder Unterschieden in der fWllischen Darstellung sehe ich meine Aufgabe, Ich begreife einen Film zwar als das Produkt verschiedener Personen, Aber in der Tatsache seiner Herstellung und Auffiiluung sehe ich bloß den Versuch eines möglichst allgemein verständlichen Umgangs mit kollektiven Gedächtnisillhaltell: Ein Film zielt als Ware anf ein Massenpublikum und orientiert sich an den vorausgesetzten Bedü1.fillssen des Zuschauers (vgL Kapitel 1.3),
41 Körperspiele, die durch Rückblenden o,ä, unterbrochenen sind, können mehrere Miki:osequenzen enthalten,
234
Stefan Zahlmaun
wie praktikabel der entwickelte theoretische Ansatz für eUle Untersuchung historischer Quellen ist.42
Fallstudie Bis daß der Tod euch scheidet (1979; Kino BRD 1 979), P: DEFA, Gruppe ,Babels berg'; R: Heil1er Carow; B: Günther Rücker; K.: Jürgell Brauer; M: Peter Gotthardt; S: Evelyn Carow; D: Katrill Saß (Sollja), Martin Seifert Oens), Renate Krößner (Ti1l0, Angelica Domröse Oens' Schwe� ster), Peter Zimmennann (ConllY). Die Handlung:
}ms Imd Solt/a ba/mi gebeiratet. Die allsgelasselle Sti!11/JJlJltg der Hocbzeit{/iJier IJJeicbt scboll bald dem Ehealltag: Ims arbeitet als BaI/arbeiter al!f eitler Großbaustelle für Plattmbr1tJ SiedltJltgm, Solt/a verso1J!,t i!' Hallse dm gel11eillsal1te11 Sohll. Die Ehe gerät til eitle sch/lJere Krise, als SOft/a sicb bemJlich i!fr Facharbeiterill II!eiterqllal!ji�ett, oblle ibrem MCl111J davoll etwas i!' sagm. Bereits i!"Jor kall1 es i!l'ischm beidett i!1 Streitigkeite1t, da JettS sich eilte "richtige" Familie mit klar de/illiertell Al(jiabm lIJüllschte: Wähtr!1ld er Cl1!! der Ballstelle das Geldfür dm UlIterbalt der Familie verdime (Kötperspiel 1), solle Solt/as All/gabe darill beste/mi, i!1 Hause dem KilJd eill stabiles UlJ(le/d :(J' siehen!. Demgegmiiber stebt Solt/as Bedürjitis, sicb durcb eille Rückkehr ill ibml alteIl Ben!! (sie Il'ar Verkäl!feri1t ill eiller KauJballe), eiTl bestimf/Jtes Mqß Cl11 Se/bställdigkeit Zu sicben! IIIld :(Jlsätzlicbes Geld :(]I verdiellelJ. So absolviert sie beimlicb eiTle Fortbildllltg mit der Hqffilll1lg, dqß }ms sich über ibre QIlClltfikatioll fnut Jmd Verstäl1dms für ibr ben!Jlicbes EltgagellleJJt Zeigt. Für ibfl brichtjedocb Bille Welt :(JISal1/l1/eJJ: Er begilll1t :(JI tril1km u1ld scblägt SOft/a. Aucb als sie beimlicb arbeitet ulld sicb en!mt li/lI eillB AflsJpracbe mit ibm/1 1l'Ia1l1J bemiibt, emicbt SOft/a keim LöSllltg der Situation (Kötperspiel 2). Verscbärft lIird der Kmiflikt, als }ells durcb seil1e Meistetpri!filllgfällt. Bertglicb Imdprivat all seiTlell Rollmvorste!ftlltgC1l gescbei tert, geliltgt es }ms lliebt mehr, sieh aus eigmer Krt;ift :(JI he!fi!1l. Es kOlJ1l11t i!(r Katastropbe: Als SOft/a verseheT/flieh eifIC Flasche mit SalZfäflre zerschlägt, füllt ihn :(J!JaUig aml/esellde Mutter dC11 Rest il1 eim Mimrabl'asscrjlasche. 111 dem U:7issC11, dqß ibr Ma/111 diese Flasche ClIIstrillkC11 wird, gebt SOft/a :(Jlr Arbeit. Als }ms lIacb ei1Jem sei1ler Sa/!Jie/age seillell Nacbdtlrst stillm Ili!!, schluckt er tatsächlich ab11ll1!gslos die Sätln hi111l11ter. SchllJerverlet:{J überlebt er, ohm :(JI IJ!issm, dqß SOft/a seillC1l Ulifall verschrl!det bat. Atif der Hochzeit dller Fretl1Jdill (Kö"tperspiel 3) gestebt sie }C11S ibn Tat vor dm versal1JIJJeltm Gäste/I. Stflll1l11 seim Stitntnbäl1der 1/Ierdm "och afljlaltge Zeit verlet:{J seil1 - stellt sicb }ms vor seille Frau, 111/1 sie vor dm ReaktiOfICll der alldenll iTl Scbutz Zu mlJl1Jell.
42 Eine differenziertere Analyse des DEFA-Fihnbestallds elfolgt in meiner Dissertation zum TIlema Konfliktkulnlr im Spielfilm der BRD und DDR seit den 60er Jahren. Diesbezügliche Kritik und Anregungen WillkOlIUllell: [email protected]
Geregelte Identität
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2. 1. Makrosequenz: Filmische Darstellung von Ehekonflikten Die Handlung wirkt für westdeutsche Zuschauer mit langjmlfigem Training durch Autorenfilme und mittemächtliche Femsehspiele wie die eines durch schnittlichen "Problemfilms". Für die Öffentlichkeit der DDR des Jahres 1 979 bedeutete sie jedoch eine Sensation: Denn der in Bis daß... gezeigte fwnische Umgang mit Eheproblemen eröffnete durch seine inhaltliche Entwicklung und damit einhergehenden fonnalen Besonderheiten eine neue Dimension in der medialen Reflexion von Eheproblemen. Die Ausgangssituation ist konventionell: Der Wunsch Sonjas, als Frau ebenso wie ihr Mann arbeiten zu dürfen, ist ein traditionelles Filmthema der DEFA. Nallezu seit der ersten Stunde der Babelsberger FWllproduktion, also noch in der SBZ, wurden die im Krieg den Frauen übertragenen Kompetenzen im Arbeitsalltag auf die Darstellung des Frauenalltags im Frieden übertragen (Freies Lalld (1 946), Ir;getldIIJO ill Berlill (1946» . Und auch als in den 50er und 60er Jall ren die Bemühungen zum Aufbau des Sozialismus stärker als je zuvor forciert wurden, war der Anspruch auf Berufstätigkeit von Frauen ein Standardtllema (Jullges Gel1lüse (1956), lVleim Frau macbt Musik (1958), Das siebmte Jabr (1969» . Historisch also keinesfalls ein neuartiges Phänomen, wurde in dieser Zeit der mit ihm verbundene Impuls für die gesellschaftliche Entwicklung in einer Reihe von Spielfilmen ideologisch präzisiert. Im zeitgenössischen Tonfall for muliert: Der Wunsch nach Berufstätigkeit entspringt dem Bedürfnis der Frau, sich in der sozialistischen Arbeit selbst zu verwirklichen.43 Der Schwerpunkt lag in diesem Zusammenhang in der Verdeutlichung der gleichwertigen Qualifikation von Frauen und der besonderen Qualität einer "weiblichen" (überlegten, hochmotivierten) Herangehensweise an die alltägli chen Probleme der Arbeitswelt (Spur der SteilJO (1966/90), Der geteilte Himl1lel (1964) Koda (1965/90). Während in den 50er und 60er J allfen die berufstätige Frau überwiegend als Symbol gesellschaftlicher Modemisierung vorgestellt wurde, zeigten die Fihne der 70er Jallre ihr Bild in erheblich individualisierter Fonn: Der Wechsel vom dramaturgischen Stilmittel "Frau" zum (zufiillig auch) weiblichen arbeitenden Menschen führt im Bereich der Berufsdarstellungen zu einer stärkeren Integration der Frauenarbeit in einen privaten Rall1nen. Das Verhältnis zu Mful1lerIl spiegelt die Verfulderungen im Frauenbild wider: Sind die Stoffe der vorhergenden Jallfzehnte vorwiegend durch Kompetenzkon flikte und die Neudefl11ition mä1l1uicher Rollenvorstellungen im Arbeitsalltag gekennzeichnet, werden in den Spielfilmen der 70er stärker die Konsequenzen
43 Und auch noch iu Der Dritte (1972) fOl11lUliert die Protagonistiu Margit über ihre Wahrnehmung des Zusanuuenhangs von Arbeit und Identität ironisch: "Ich arbeite und denke und fühle iu Übereiustiunnung mit den sozialistischen Bedingungen der natmwisseuschaftlich-teclUlischen Revolution."
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für die private Situation verhandelt. Die Parole in diesem Zusruumenhang hieß: Der Struld der gesellschaftlichen Entwicklung und die neuen Formen der Ar beit bedingen neue Fonnen des gesellschaftlichen Zus�unmenlebens: "Die Ehe haben die Sozialisten [zwar] nicht erfunden"44, jedoch eine Anpassung rul die veränderten historischen Zustände angestrebt.45 Sowohl für Männer als auch für Frauen galt es hierbei, einen Kompromiß zwischen den beruflichen und privaten Pflichten zu fInden [LebeIl ,nit Ulve (1974), Ul1verbesserliche Barbara
(1977)]. Die inhaltliche Brisanz von Bis daß.. . liegt also vor allem in dem Offenlegen von individuellen Problemen, die in einem Wirtschaftssystem wie der DDR, das in hohem Ausmaß auf die Berufstätigkeit von Frauen rulgewiesen war, offIziell schon gelöst waren. Legitim war eine ernstgemeinte fIlmische Diskus sion von privaten Ehekonflikten aufgrund einer Berufstätigkeit des weiblichen oder männlichen Ehepartners in der Regel nur drum, wenn sie in einem gesell schaftlich außergewöhnlichen Kontext auftraten - und eine politisch korrekte Lösung gefunden wurde. Hierbei korrespondierte die dargestellte "Modernität" der Lebensweise meist mit einem zukunftsorientierten Beruf.46 Bei den in Bis daß. . auftretenden Charakteren h:Uldelt es sich jedoch um einen Bauarbeiter und eine Verkäuferin. Carow/Rücker situieren den Konflikt also mitten im gesellschaftlichen Zentrwn des "Arbeiter- und Bauernstaates" und machen ihn drunit - obschon er an Einzelpersonen dargestellt wird - potentiell generali sierbar. Eine weitere Sensation bedeutete die Freizügigkeit in der visuellen Darstel lung von Körperlichkeit wld der physischen Präsenz beider Darsteller in Lie besszenen: Nach Angaben des Drehbuchautors Güntller Rücker "durchdrun.
44 Wörtliches Zitat aus Ho.rte.rs (1976). 4S
Die Ehe repräseutierte eiu soziales Modell aus der Zeit des Bürgertums, das iu ho hem Ausmaß die Rolle der Frau auf die heiuusche Sphäre beschränkte. Durch die Veränderungen im Sozialismus stand das Geschlechtelyerhältlus iu der Ehe offiziell auf eiuer anderen, "gleichberechtigten" DeflnitiollSbasis. Auch die einleitenden Sät zen von
Bis daß .., ein VOll einer .
Standesbeamtin bei der Hochzeit von Sonja und Jens
vorgelesenes Ehegelöbnis, betont die Bedingungen der Ehe in der sozialistischen Ge 46
sellschaft, in deren Mittelpunkt der Mensch stehe. Der Ehekonflikt bei Lebm mit UIJ1e (1974) wird etwa zwischen einem Genetiker und einer Dolmetscheriu ausgetragen; bei
Ullverhes.rerliche BarbaJl1
(1 977) ist die Protagoni
stin eine ehemals dem Reisekader der DDR-Nationahnallnschaft angehörende Spit zensportlerin, die sich zum Ausgleich für die ihr gewährten Vergünstigungen jetzt in der "Produktion" (d.h. in diesem Fall in einem Industriebetrieb) engagiert. Liebeserklä·
mng 011
G.r.
(1971) spielt im Arbeitsbereich einer Computerspezialistin und propa
giert dezidiert die Anpassung der privaten Situation all die bemflichen Anforderun gelL
Geregelte Identität
237
gen von tiefer, kreatürlicher, vitaler Erotik"47 entwickelt Bis daß... durch die Inszenierung körperlicher Erscheinungsweise einen ästhetischen Subtext, der die inhaltlichen Abschnitte der Filmhandlung miteinander verbindet. 2.2. Mikrosequenzen: Männliche Identität in filmischen Körperspielen Körperspiel 1: Gegenüber seinem Freund und Arbeitskollegen Conny äußert sich Jens einige Zeit nach seiner Hochzeit (er ist bereits Vater) über seine Vorstellungen von Mälllllichkeit. Das Gespräch findet während einer Arbeitspause statt. Beide Mämier sitzen auf dem Dadl eines Rohbaus. Jens: "Jetzt erst bin ich ein Mensch geworden, kannst mir glanben. Wenn ich sehe wie dn lebst, COllllY, - nee. Unsere Fischzüge beim Schwoof, ja - war schön. Aber das isses nicht! (sauft:) Hör auf mit meiner Schwester." Conny (resigniert): "Was weißt du schon." Jens: "Wie soll ich iluem Malm ins Gesicht sehen, wenn ich weiß, was los ist. Nimm dir ein Mädchen, was zu dir pallt Brauchst doch bloß zu 1I1uchen (lacht). Das ist ein scheiß Leben: Inl1ller verstecken und heiuilich und lügen. Ein Mann braucht eine Frau und ein Kind, für die er sorgtl Er braucht Verantwortung. Verstehst du, Lieben muß der Mensch. (Er legt kameradschaftlich den
Ami
U1l1
Conny). Versuch's. Als
Freund. Ein neuer Mensch. Du wirst s tauuen, glaub mir. (Und bekräftigend zu sich selbst:) Ein neuer Mensch."
a) Inhaltliche Charakterisierung des Körperspiels Im Zentrum dieses Körperspiels steht die Verdeutlichung, daß ein Mrulll die Sorge und Verantwortung für seine Frau und seine Familie braucht. Vor allem in der Tatsache, daß hierzu eine gesrunte Szene der Fihnhruldlung verwendet wurde, krullI der besondere Stellenwert dieser Secluenz für die Filmhruldlung gesehen werden. Deml bis in die Zeit der 60er Jallre wurde in Körperspielen, die sich in vergleichbarer Weise mit dem Verhältnis zwischen Mällllern und Frauen auseinandersetzten, dieser Gedrulice noch so selbstverständlich vertre ten, daß er nicht eigens betont werden mußte [Papas lle1le Fmlllditl (1961), Viel geliebtes Stemchm (1 962)48]. Erfolgte die explizite Thematisierung dieses Mfulll lichkeitskonzepts, dailll vor dem Hintergrund seiner ausdrücklichen Legitimie-
47 Der Autor Günther Rücker in einer brieflichen Stellungnahme zur Drehbuchfassung von 1976. [Akte Hauptvenvaltung - Film "Bis daß der Tod euch scheidet"(=AZ 24461»).
48 Beides DEFA-Produktionen, die sowohl iru Kino als auch im Femsehell liefell.
Stefan Zahlmann
238
rung (Reise ills Ebebett (1966» . Die Sorgfaltspflicht des Mat11les für seine Frau wld seine Familie sowie ihre positive Wirkung für alle Beteiligten setzte als fllmisches Standarddlema beim Zuschauer die Kenntuis bestimmter Regeln des zwischenmenschlichen Umgangs voraus: Eine Unterordnung weiblicher An spruche unter die des Mannes, die Vorbildfunktion des Ehemannes/Vaters für die Familie und die Weitergabe des Wissens um die Gültigkeit der familiären Position des Mannes an die Kinder. Nur in wenigen DEFA-Produktionen der 60er Jallfe wurde eine emstge meinte Kritik an diesen Regeln fommliert [Lots IJ7db (1964)] - die meisten dieser Filme standen jedoch unter einem Aufführungsverbot oder durften erst gar nicht fertiggestellt werden Uab'l',aIJg 45 (1966/90)]. Erfolgte im Ralunen einer Konfliktepisode eine Infragestellung bestehender Geschlechterverhältnis se, dann um den Preis einer nachträglichen Legitimation des patriarchalen status quo. In der Regel entzündeten sich Geschlechterkonflikte jedoch nicht unmit telbar am propagierten Stellenwert männlicher Identitätskonzepte, sondem resultierten aus der Tatsache, daß die auf die männliche Position ausgerichteten gesellschaftlichen Regeln nicht eingehalten wurden: Etwa durch zeitweiliges bewußtes "Fehlverhalten" (Emanzipationswünsche der Frau; jugendliche Re bellion gegen das Elternhaus oder gesellschaftliche Normen [Beratt 11111 die Ecke (1965/90), Die GlatzkopJbaltde (1963)] oder durch unverschuldete Unkenntnis [Ve'l',qßt tl1ir 1l1eim Traudei "icb! (1957)].49 Nachdem jedoch seit den 70er JallCen in vielen Filmen altemative Ehekon zepte und Männerbilder vorgestellt wurden [Der lH.alJ/l, der 1/ach der 0111a katl1 (1972), Hut ab, IvelJlJ dfl kiißt (1971), Ul1verbesseracbe Barbara (1977), Lebm tl1i! UlVe (1974)], ist für den Zuschauer der Standpunkt von Jens nicht mehr selbstver ständlich, sondem hinterfragbar geworden. Seine Diskussion in Bis daß... benö tigt deshalb nicht nur seine "Erinnerung" durch eine explizite Neuformulie fUng, sondem auch die Wiederholung der mit ihm verbwldenen Konsequenzen für beide Ehepartner. Für Jens bedeutet dies vor allem eine Veränderung sei nes Selbstwertes: Er meint, ein "neuer Mensch" geworden zu sein. Damit verbindet sich eine weitere inhaltliche Besonderheit dieses Körperspiels: Das Conny gegenüber vertretene Männlichkeitskonzept läßt allein eine Ausrichtung seines Persönlichkeitsbildes auf die private Sphäre erkennen, eine Verbindung
49 Auch innerhalb eiues "oppositionellen" Milieus (etwa Jugendbanden) wurden die Spielregeln der etablierten Gesellschaft kopiert: Jungen hatten "ihre" Mädchen, die sie gegen andere Männer verteidigten - und daraus Ansplüche auf Zeichen ihrer Zu gdlöligkeit ableiteten [Berlifl
11171
die Ecke (1965/90)].
Anders als bei diesen noch ver
gleichsweise romantischen Partnerschaftskonzepten wurde in
(1963) ein
Die GlatzkopJballde
sehr abstoßender männlicher Umgang rnit Franen dargestellt: Frauen wa
ren blondierte "Zähne", "Schranunen" oder "Pullover", die nachts von den Männeul (den "steilen Hirschen") "gesägt" wurden.
239
Geregelte Identität
zu seinem Arbeitsverhalten erfolgt an dieser Stelle nicht.50 Die in diesem Film dargestellte "Privadleit" des Verhältnisses zwischen Mann und Frau, d.h. die Betonung ihres Lebensstils in der nicht-beruflichen Sphäre ihres Alltags ist eine spezielle Qualität im DEFA-Gegenwarts fIlm der 70er Jahre.51 Die Produktio nen des vorhergehenden Jahrzehnts zeigten infolge der starken Betonung der gleichwertigen beruflichen Qualifikation von Frauen vor allem Darstellungen von Beziehungen, die beide Partner in ihrer Arbeitsumgebwlg vorstellten wld in diesem Zusan1lllenhang auch die Auswirkungen verdeutlichten, die ihre Einbindung in das Arbeitskollektiv für ihre Ehe bedeuteten. Bisweilen erfolgte hierbei eine Verbindung der beruflichen und privaten Anfordecwlgen in einem Ausmaß, das nur als "totalitär" bezeichnet werden kann [Lot!' IPeib 1 965)],51 Es ist jedoch geradezu ein Charakteristikum von Bis daß .., daß die Kollegen von Jens und auch sein Brigadier sich aus dem Konflikt selbst heraushalten. Dieser Bruch mit der fIlmischen Konvention wird auch durch den knappen Einwurf von Conny nicht überspielt, der in dem Körperspiel die einzige inhaldiche Relativierung von Jens' Standpunkt darstellt. .
b) Formale Charakterisierung des Körperspiels Jens sieht in der Abwendung von seiner lockeren Einstellung zu Partnerschaf ten in der Vergangenheit und seiner Bereitschaft, als Mann Verantwortung für seine Frau zu übemehmen, eine besondere Qualität seiner Ehe mit Sonja. Außergewöhnlich an diesem Statement ist vor allem der Platz, der illlll in die sem Körperspiel eingeräumt wird: Seine Haltung wird in einem Monolog vor gestellt, der von Jens unaufgefordert begonnen wird und anl Ende der Sequenz unwidersprochen stehenbleibt. Angesichts der sich im späteren Handlungsver lauf als fatal erweisenden Konsequenz b edeutet dies einen Bruch mit der D ar- I stellungstradition inhaltlich "falscher" Positionen: Bemüht um die eindeutige \
50
Im Zentrum seines Interesses (auch bei anderen Gesprächen wäluend der Arbeit) steht seine Liebe zu Sonja. Danut widerspricht seine Darstellung der "klassischen" Ikonographie des sozialistischen Arbeiters, dessen Werktätigkeit und Eingebunden heit in das Kollektiv (lucht allein in den 60er Jahren) den entscheidenden Einfluß für seine Persänlichkeitsentwicklung eimleluuen (So1l1Iet1.rllcher (1958/72); Loopillg (1975). Als Bauarbeiter von Plattenbauten ist er sogar ein typischer Vertreter der Berufe, die in klassischer Weise den Aufbau des Sozialismus - und danut gesellschaftliche Mo dernität - repräsentieren (Verliebt tl1/d vorbestraft, 1963). 5 1 Erika Richter betont in diesem Zusammenhang den Begritf des Alltags als "wesentliches Element parteilicher und volksverbulldener Kunst", in: Erika Richter (1976): Alltag tmd Geschichte ill DEFA-Gegelllwrt.rfilmell der sieb:;jgerJahre, Berlin. 52 Die Protagonistin von ut.r Weib (1965) muß ilue Ehesituation und ilue Entscheidun gen vor Kollegen in einer offiziellen Sitzung rechtfertigen G,Also morgen hast du Scheidungstemrin und keiner von uns weiß was. Wir leben alle so allllungslos im Kollektiv dahin und du läßt dich einfach scheiden?'').
Stefan Zahlmann
240
Kellllzeichnung der intendierten Aussage griffen DEFA-Regisseure 110ch bis in die 80er Jahre hierzu regelmäßig auf ein Diskussionsmuster zurück, das die zu kritisierende Haltung mit entkräftenden Gegenargumenten konfrontierte. In solchen Fiillen zeigten die Vertreter des "legitimen" Stillldpunkts aufgrund ihrer beruflichen Position oder ihrer Lebensführung ein Persönlichkeitsprofil, das durch seine moralische und ethische Lauterkeit die nicht-konforme Mei nWlg von vomeherein desavouierte.53 Der artifizielle Charakter derartiger Sequenzen zeigte sich vor allem in den dezidiert entwickelten ideologiekonformen Standpunkten, die oftmals in einer vom alltäglichen SprecllVerhalten stark abweichenden Foml vorgestellt werden. Dieses Körperspiel bietet jedoch durch ihre Walll der Situation (ein beiläufiges Gespräch während einer Arbeitspause) wld die umgangssprachliche Diktion eines höheres Maß an Realitätsnähe. Obwohl in diesem Körperspiel keine Gegenposition formuliert wird, fehlt auch in Bis daß... nicht die Autoritätsper son, die Jens auf den richtigen Weg zurückführen könnte: Der an DEFA Konfliktdarstellungen geschulte Zuschauer identifiziert die (in diesem Körper spiel jedoch nicht auftretende) Figur des jovialen Brigadeleiters als möglichen Referenzpunkt moralischer OrientieCllllg.54 Doch der Leiter von Jens' Baubri gade übemimmt keine Vorbildfunktion: Weder in dieser Sequenz noch zu einem anderen Zeitpunkt der Filmhandlwlg übt er illl seinem Untergebenen
53 Aus
dem Bestand der in diesem Zusammenhang als "klassisch" zu bezeichnenden
Vorbildfiguren seien zumindest zwei genannt: Der "Antifaschist" und der "Aktivist".
Je nach historischer Situienlllg der FilrnhandlUllg kämpft(e) der "Antifaschist" im Spaltakusbund und/oder bei den Interbrigaden im spanischen Bürgerkrieg und/oder als Widerstandskämpfer gegen die Nazis und/oder als Soldat in den Reilien der Ro ten Armee. Und/oder er hatte einen männlichen Velwandten, der dies tat. Je mehr "Unds" eine derartige Biographie aufwies, muso erfolgreicher funktionierte in den Filmen die Argumentation dieser Fignr. Der "Aktivist" ist in deu zeitgenössischen Filmstoffen die Nachkriegsvariante dieser Fignr, oft Ulit antifaschistischem Hinter grund. Der "Aktivist" ist politisch stark engagiert und richtet sein Leben nach den Erfordernissen des betrieblichen Kollektivs aus. Während der "Antifaschist" durch die militärische Akzentuierung des Kampfes gegen den Faschismus vor allem Män nem vorbehalten ist (Ausnahmen: Partisanumell, Ehefrauen von Antifaschisten [All
froll:&sischell Komil/ell (1963)] köllIlen auch Frauen "Aktivist" (1981), So viele Trällme (1984)]. Der "Aktivist" "kämpft" durch
sein
[Stlll/de der Töcbter
die Verrichtullg seiner Arbeit natürlich auch: Im zeitgenössischell Jargon für die Sicherung der "Enullgenschaften des Sozialismus" und gegen die Anfeindungen des "Klassen feindes".
54 Infolge des hohen Stellellwertes,
der Arbeit für die Entwicklullg eUler sozialistischen Persönlichkeit Ul der medialen Öffentlichkeit beigemessen wurde, zeichnetell sich Brigadiere uu DEFA-Film durch Einsatz ulld Verantwortlichkeit für Mitglieder ilirer Arbeitsbrigaden aus
spielJosef(1974)].
[Verliebt 1II1d Vorbe.rtrqft (1963), Sp"r der Steil/e (1965/90), ZlIm Bei
Geregelte Identität
241
deutliche Kritik. Selbst als Jens einmal zu spät zur Arbeit kommt, betrunken ist und auf Plattenbauten schimpfp5, zeigt er - wie auch die übrigen Kollegen Mitleid und Hilfsbereitschaft.56 Die Bedeutsamkeit dieses Körperspiels liegt damit vor allem in seinen Auslassungen begründet: Es wird nicht nur auf die Entwicklung einer Gegenposition verzichtet, sondem auch personell kein kritisches Milieu bereitges tellt. Damit verfügt der Film über einen dramaturgischen Freiraum, der es bei der Darstellung des Jens em1öglicht, einen Umgang mit individuellen Zielvorstel lungen und weiblichen Rollenvorstellungen zu zeigen, der die akzeptierten Regeln eines offiziell auf Gleichberechtigung aufbauenden Geschlechterver hältnisses ignoriert: Dem1 während dieses Körperspiel noch eine wanuherzige Fonn der Fonuulierung von Jens' Ansprüchen zeigt, sind seine Versuche illrer Durchsetzung durch eine unverhältnismäßige Brutalität gekennzeichnet. Körperspiel 2 Jens w1d Sonja in ihrer Wohnung. Sonja möchte nochmals mit illrem Mann über ihren Wunsch nach Berufstätigkeit sprechen. Zuvor hatte ihr ehemaliger Chef mit Jens eine Unterredung. Sonja bemüht sich um eine hanuonische Atmosphäre. Sie hat sich schick ;U1gezogen und den Tisch liebevoll gedeckt. Doch ihr Mann sitzt teilnahmslos da, mit hängenden Schultem, abgewendet. Sonja (sanf0: "Ich weill, Jem. Du hast Heimlichkeiten schon inuner gehaßt Ja, ich weiß. Aber was blieb mir denn anderes übrig. Es war nicht sehr schön vor mir. Aber ich kann nicht so leben. Sieh mich doch nicht so an." Jens (zynisch): ,,;Wissen Sie eigentlich wie Ihre Frau unter Illllen leidet?
In
aller Of
fenheit: Sie wissen nicht wie Ihre Frau sich nach Arbeit selllltl Mit Ill.1len redet sie ja
55
Zuspätkol1l.1llen, Tmnkenheit und Herabwürdigung: Angesichts des hohen Stellen wertes der Arbeit und des Prestigeprojekts "Plattenbau" eiue dreifache "Todsünde": In den 60er J aluen genügte schon übeauäBiger AIkoholgenuß zur Kennzeiclmung asozialen Verhaltens - und zu "disziplinierellden" Mißgeschicken der Protagonisten.
(IWo der Zt� /licbt lallge bält; 1 960). Weml in DEFA-Fihnen ein nicht-konsens tauglicher Standpunkt kurzfristig unwidersprochen stehenbleiben konnte [Die E/ltscbeidll1� de.r Dr. Abm/ldt (1960), Acb, du Frob/icne (1962)), daml um den Preis einer späteren, jedoch umso radikaleren Kennzeiclmung seiner "UnrechtmäBigkeit".
Inl
Extremfall durch
den Tod des dargestellten Charakters: So bei der el1lsthaften Diskussion des Themas "Republikflucht"
[Die Flucbt (1977)].
56 Seine Aufmuntemngen (au auderer Stelle: "KOl1l.1l1t der Bemf in Ordnung, kommt die Ehe in Ordnung und alles flutscht wiederi'') zitieren die oben angesprochene Pra
xis, bei der Lösung von Problemen vor allem die berufliche Sphäre als ausschlagge
bend zu kenllzeiclmell. Ihre Wirkungslosigkeit im Fall von Jens kann als filmische Kritik dieser Haltung gesellen werden.
242
Stefan
ZaWmaun
auch nicht so offen wie lnit uns. Alle Kolleginnen sehen ja wie sie sich quält Alle wissen das. Alle wissen das.' - Belogen! Belogen hast du mich! (schreit:) WOlnit lügst du noch?" S011ja: "Aber wie kalmst du delUl atmehmen, daß es mir wie deiner Schwester gehen kömlte? Sie und ich. Du und ihr Mann - das hat doch gar nichts miteinander ge mein!" Jens: (weinerlich) "Mit der hast du über uns geredet. Ausgerechnet mit der! (schreit) Mit wem deun noch? Du machst mich in aller Ö ffentlichkeit zu einer kOlnischen Fi gur!" Sonja: "Was schreist du mich denu so an?" Jens: "Warst du lucht bei deinem ehef?" Sonja: "Läßt du nuch delUl arbeiten, ja? Du ja! Du dmfst alles! Du darfst konuneo, gehen, Geld verdienen, Bier trinken! Watum du? WatUm ich lucht?" Jens: "Weil meine Arbeit Arbeit istl" Sonja: "Ach, und meine?" Jens: "Ausgezogen all der Kasse sitzeI!. Schenkel zeigen. Kittel bis zum Nabel. Rosa Unterwäsche zeigen. Soviel Fleisch wie möglich! (Sonja nickt ironisch: "Ja, ja".) Sags, wenu's nicht so ist Das geilt sich gegenseitig an. Das stinkt nach Schweiß und Of ferten. Und das alles für die paar Kröten!" Sonja (schreit): "Dn irrst dich, mein Lieber! Und der RuherauIll wird umgebaut zum Puff? Für sieben-fünfzig die Viertelstunde kanus te kommen. Für drei-fünfzig anfas sen. Und für zwei-fünfzig, da zeigen wiis. (Sie reißt sich die Bluse auf und zeigt Jens ilu:e nackten Blüste) Was meinst du, was da an Kundschaft kOlnultl" Jens: "Hör anf, Mensch!" Sonja: "Ich hör auf, wanns nur paßt. Und jetzt
fang ich erst an."
(Er gibt ilu: eine Ohrfeige, sie schlägt ZUlÜCk). Sonja: "Schlag doch. Was anderes kannst du doch gar lucht mehr." Jens: "LÜgeIl!"
243
Geregelte Identität
Er reißt das Tischtuch vom Tisch. Das Geschirr zerspringt klirrend. Sonja stopft sich die Bluse in den Rock. Das "Bleib hier! Du sollst hierbleibeni" von Jens ignorierend verläßt sie den Raum und schHigt mit einem lauten Knall die Tür hinter sich zu. a) Inhaltliche Charakterisiemng des Körperspiels Wmuend beim kollegialen Gespräch mit seinem Freund Conny die Position von Jens noch keine negative Zeichnung aufweist, wird sie durch dieses Kör perspiel ins Zentmm einer Kontroverse gerückt. Der Streit des Ehepaars ent zündet sich an Jens' Kritik von Sonjas Verhaltens. Für den Ehemann ist es durch zwei Momente charal,terisiert: Treulosigkeit im emotionalen wld sexu ellen Bereich. Ein inl ersten Körperspiel beiläufig erwähnter Sachverhalt (das sexuelle Verhältnis von Conny mit der verheirateten Schwester von Jens) wird hier erneut aufgegriffen und radikalisiert: Deren Untreue wird von Jens gleich setzt mit einem falschen weiblichen Rollenverhalten. Als Sonja arbeiten will und damit seiner individuellen Vorstellwlg über die Rolle der Frau in der Fa milie ebenfalls widerspricht - koppelt sich für ihn diese vermeintliche Treulo sigkeit mit seiner Vorstellung von sexueller Untreue. Am Beispiel des lIilialts "Untreue" wird in dieser Sequenz die Einstellwlg von Jens zu verschiedenen Regeln erkennbar, die sowohl die Beziehung zwi schen Männern und Frauen als auch die zwischen Männem selbst betreffen. Im ersten Körperspiel bittet er seinen Kollegen freundlich, das sexuelle Ver hältnis mit seiner Schwester zu beenden. In dieser Szene wird sie, als der Ge genpart, aufgmnd ihrer intimen Beziehung scharf vemrteilt. Die im Umgang mit außerehelicher Sexualität gültigen Regeln lassen bei Jens eine traditionsge bundene, geschlechtsspezifische Differenziemug seines Spielverhaltens und seiner Bewertungsmaßstäbe deutlich werden: Im Gespräch mit Conny zeigt er Nachsicht gegenüber dem "Opfer" Mann, vor Sonja foonuliert er Kritik an die Adresse der "Täterin" Frau,51 Die Aspekte der Schuldhaftigkeit untreuer Frau en und der Verführbarkeit von Männem finden in diesem Körperspiel eine
57 Die
freie FOllil, in der Jens' Schwester ihre Sexualität auslebt, ist ein Irwalt von
daß ., .
Bis
der ausdlücklich aus der filmischen I
schon das laszive Verhalten der P aula in Heiner Carows
(1973),
Die LcgC1/de VOfl Paul /md Paula
dargestellt übrigeus von derselben Schaupielerill (Allgelica Donuöse)J: Nur
Jens, der sich im Verlauf des Films immer stärker zur Außenseitedigur entwickelt,
veturteilt ihr Verhalten. Sein Schwager jedoch zeigt Verständuis
für
seine Frau und
empfmdet die Art und Weise des ehelichen Zusammenlebens als nicht belastend. Ca row/Rücker billigen damit Frauen ein Recht zu, das Mäunem selbstverständlich zu
[DOll Jual/ - KGrl-Liehkllecht-Str. 78 (1980), Seilellspl1mg (1980), Glück illl Hillterhalts (1980)]. Frauen zeigten "legitinle" Untreue ansonsten nur in Verzweif lungssituationen oder unwissentlich [Hälfte des LchC/l.r (1985), MaIlII gegC1l Mallll (1976)]. erkannt wurde
244
Stefan Zahlmann
Ergänzung durch den sexuellen Besitzanspruch des Mannes, der bis in die 80er Jahre ebenfalls ein inhaltlicher Topos vieler DEFA-Fihlle ist. Erst durch Sonjas Hinweis, daß Jens "alles" dürfe und sie nicht, erfolgt ein Aufbrechen der auf Jens konzentrierten inhaltlichen Perspektive: Der An spruch des Mannes wird jedoch nur dieses einzige Mal explizit kritisiert. Umso stärker zeigen sich die Schwächen seines Standpunktes in der Argumentations führung, die Jens selbst wiUIlt: Seine Ansicht über die partnerschaftliehe Ver läßlichkeit seiner Frau und die Sexualisierung von Sonjas Arbeitsbereich offen baren die inhaltliche Gehaltlosigkeit seines StlUldpunkts: Jens wirft seiner Frau vor, sie stehe im Begriff etwas zu tun (Ehebruch), um damit das, was sie getan hat (berufliche Weiterqualiflkation) und was sie nodl tun möchte (Tätigkeit in ihrem alten Beruf) zu verleumden. b) Formale Charakterisierung des Körperspiels Mit dem selbstbewußten Anspruch Sonjas arbeiten zu wollen und ihrer Bereit schaft, dies wiederholt mit ihrem Mann zu diskutierten, steht Jens unter Zug zwang. Für die DEFA-Produktionen der 70er Jallre ist es keinesfalls unge wöhnlich, daß Frauen in Konfrontationssituationen die Initiative übemehmen, um ihre Wunschvorstellungen zu verwirklichen oder für sie als unerträglich empfundene Situationen zu beenden. In einigen sehr lebensnallen Gegenwarts fllmen wird jedoch verdeutlicht, daß mit dem Recht auf Emanzipation und mit der Wallmehmung dieses Rechts keinesfalls auch eine Akzeptanz dieses Ver haltens durch Männer verbunden war.58 Auch die von Jens gewälIlten Kon fliktlösungsmechanismen zielen durch ihre Brutalität und Unangemessenheit eher auf eine Wiederherstellung seiner Kontrolle über Sonja als auf einen Kompronuß nut seiner Frau. Beachtenswert ist hierbei vor allem, daß er Sonjas Verhalten bei der Suche nach einer Lösung kritisiert. Spieltlleoretisch erfolgt in diesem Moment ein \Vechsel der Dimensionen: Mit der Betonung ihres Kon fliktverhaltells wird die Praxis der Regelanwendung zu einem konfliktversdlär fenden Inhalt des Körperspiels. Der Stein des Anstoßes: Mit dem Arbeitgeber von Sonja ist eine intervenierende Partei aufgetreten. Im Unterschied zu den meisten Problemdarstellungen vieler DEFA-Filme war die Atmosphäre des Ehekonflikts zuvor weitgehend "privat" geblieben: Es fehlten betriebliche
58 In Der Dritte (1972) liebt Margit einen Kollegen. Sie will ilUl zuhause besuchen: "Ich
gehe zu ilml hin und sage: Ich will dich haben. Alles an dir paßt mir." Er ist jedoch nicht da und sie findet zu einem zweiten Anlauf nicht den Mut "Wenn mir ein Mann gefällt, wenn ich den brauche Zum Leben, wenn ich ihn haben will, dann mache ich mich aller Wahrscheinlichkeit nach inlIDer noch lächerlich, wenn ich ilml das sage. ... Ganz wie zu Großmutters Zeiten muß ich brav dasitzen und auf ein gnädiges Schick sal harren ... daß ich benlerkt werde, daß er mich begehrenswert findet. Auszeichnen kann ich mich i.n seinen Augen nur durch stille Zurückhaltung, striktes Abwarten i.n Sachen Liebe."
Geregelte Identität
245
Konflik:tkommissonen [wie in Lots 1J7eib (1965)] oder die Hinzuziehung anderer offizieller Stellen.59 Erst nachdem die Situation hoffnungslos verfahren ist, protestiert sie nicht, als ihr Chef mit ihrem Mann sprechen will. Den Wortlaut der Unterredung hört der Zuschauer jedoch allein in iluer ironischen Wieder holung durch Jens. Der Konflikt bleibt in seiner filmischen Darstellung damit weiterhin auf das Ehepaar konzentriert. Jens empfindet die Tatsache, daß andere Personen Kem1tnis von iluen Pro blemen haben, als Abwertung seiner Stellenwertes als Ehemann. Im weiteren Verlauf nimmt das Gespräch eine aggressive Fornl an, die mit körperlicher Gewalt endet.60 Sonja ordnet sich dem physisch überlegenen Jens jedoch kei nesfalls unter, sondern schlägt zurück. Hinsichtlich der in vergleichbaren Kör perspielen erkennbaren Regeln bietet das obige Beispiel damit eine filmische Neudefinition der in Geschlechterkonflikten möglichen Verhaltensmuster: Nicht nur, daß Sonja von sich aus das Gespräch mit ihrem Mann sucht wld als erste das Wort ergreift, sie kopiert zudem seine sexuell fixierte Argumentati onsweise. Die Konsequenz ihres "männlichen" Interaktionsverhalten ist, daß Jens sowohl argumentativ als auch rhetorisch das Spiel verloren hat. Seine Ohrfeige kaml im Wittgensteinschen Sinne als bewußter Regelverstoß gewertet werden, um doch noch den Witz des Körperspiels (das Machtverhältnis in der Beziehung zu seinen Gunsten umzukehren) zu erreichen. Doch auch diesen Spielzug beherrscht S011ja. Dieses Körperspiel endet für beide Ehepartner mit einem Patt. Körperspiel 3: Tilli, die Freundin von Sonja, hat geheiratet und feiert in ihrer WOhllWlg. Der Brigadier von Jens und eine Menge gemeinsamer Freunde sind anwesend. Sonja uns Jens sitzen nebeneinander und schauen mit versteinerter Miene dem ausgelassenen Treiben zu. Tilli und eine Freundin unterhalten sich über ein Ratgeberbuch zu Ehefragen, das die Braut zur Hochzeit erhalten hat. Sonja, der das gleiche Buch zu iluer Hochzeit geschenkt wurde, mischt sich in das Gespräch ein.
59 In
den 60er J ahreIl war eine Zuhilfenahme- staatlicher Stellen keinesfalls ungewöhn
lich. In
60
Septel1Jber/iebe
(1961) vel-ständigt die Protagonistin sogar die Staatssicherheit,
um ihrem Freulld zu "helfen".
Die von Carow/Rücker vorgestellte, extreme Radikalität des Konflikts ist ein Novum
in der Darstellungstradition der DEFA. Ein zwischen albernem Helumgetolle und lebensgefahrlicher Situation oszilliere!ldes KÖlperspiel ist in
Verliebt lind vorbestt"4t
(1963) die Jagd eines Mannes nach einer juugen Kollegin, die ihn vor 3llderen Kolle
gen lächerlich gemacht hatte, quer durch eineIl Rohbau, bis beide vor einer ullgesi cherten Türöffnung stehenbleibe!l. Die Bedrohlichkeit dieser Situation wird durch die völlige WOltlosigkeit des gesamten Körperspiels noch gesteigelt
246
Stefan Zahlmann
Sonja: Mir hat's nicht geholfen. Jens hat's nicht geholfen. Spar's dir. Brigadier. Was habt ihr euch zu beklagen? Du hast dich qualifiziert und er wird die Plüfung nacWlOlen. Denkst du, wir lassen so was schleifen? Ihr habt eine schöne Wolmung, die KoWen stinmlen, das Kind ist gesund. Alle sind gut zu euch. Wer ist Schuld, Welm Ulal was schiefgeht? Sonja: Ihr sucht immer Schuldigel Wie's gekollllUen ist, will ich wissenl Er hat's gut gewollt Ich hab's gut gewollt. Alle haben's gut gewollt. Alles hab ich nach Vorschrift gemacht. Immer in diesem Buch nachgelesenI Und doch ist alles danebengegangen. Und doch hab ich ihm das Gift zu saufen gegebenl Tilli: Die spumt doch. Die ist doch blau.
Sonja: Warum hab ich ilm das Gift denn trinken lassen, weim alle nur das Beste wollten? Tilli (reillt Sonja vom Stuhl hoch und zerrt sie in Richtung Tür): Wellll du blau bist, dalUl kotz dich aufm Klo aus. Sonja (steht witten iJu Raulll, die Giisten werden ruhig): Du weillt, daß ich es war. Ich hab ihn das Gift trinken lassenl Tilli (leise): Was machst du bloß? Was machst du denn, Sonja? Was machst du? Sonja (Init kalter Stimme direkt an Jens): Ich hab's dich trinken lassen. Ich hab ge wußt, was drin war und hab's dich trutken lassen. Tilli (laut zu delI Gästen): Ach laß doch die Zicke, wellll sie nüchteOl ist, hat sie alles wieder vergessen! Wer trinkt delm noch was?
Sonja: Ich hätt es ilull in die Flasche gegossenl So hab ich ilm gehaßt! Tilli: Du Angeberin. Du Großmaul, du.
Einzelne Gäste wollen sich auf Sonja stürzen. Jens tritt dazwischen. Der Briga dier bemüht sich, die Stimmung zu entkrampfen: "Na kommt, Polonaisei" Die Hochzeitsgesellschaft tanzt nach draußen und feiert auf der Straße weiter. Sonja beginnt langsanI damit, in der verlassenen Wohnung die benutzten Glä ser wegzuräumen. Unbeholfen hilft ihr Jens. Er steht hinter ihr. Sie spricht von il1111 abgewendet in den leeren Raum.
Geregelte Identität
247
Sonja: "Wenn du die Wohnung haben willst, ich kawI wieder zu Mutter ziehen. Der Junge bleibt bei mir. Er braucht die Mutter. Wir gehen zur Polizei. NachlIer. Um sie ben wird da aufgemacht. Ist ja gleich so weit. Wir gehen bestimmt."
Sie bricht in Tränen aus. Jens läßt ein Glas, das er gerade hält, fallen und wischt ihr die Tränen vom Gesicht. Er streichelt sie unbeholfen. Der Zuschauer hört die Stimme der Standesbeamtin mit den Worten des Ehegelöbnisses aus dem Filmanfang: "Verehrtes Paar. Im Leben eines jeden Menschen gibt es viele Höhepunkte. Ein ganz besonderer Höhepunkt in iluem Leben ... " a) Inhaltliche Charakterisierung des Körperspiels Dieses Körperspiel markiert den Höhepunkt der HandlwIg. Verschiedene, bereits im Verlauf des Films vorgestellte inhaldiche Aspekte werden emeut aufgegriffen. Ihre Verbindung erfolgt vor einem besonderen Hintergrund: Diese Sequenz zitiert die Hochzeitsfeier von Sonja und Jens, die am Anfang von Bis daß... gezeigt wurde. Alle Hauptfiguren der Szene hatten - genau wie der Zuschauer - Einblick in die Entwicklung dieser Ehe. Der inhaldiche Schwerpunkt dieses Körperspiels ist auch nicht die Hochzeit Tillis (die Vorge schichte ihrer Beziehung bliebt dem Zuschauer verborgen, der Bräutiganl ist im Film nur kurz zu sehen), sondem der Umgang mit dem Wissen um die Situation von Jens und Sonja. Hierbei können vier Bereiche des dargestellten Wissens unterschieden werden: a) das Wissen um die Anforderwlgen, die die Ehe an die Ehepartner stellt; b) Sonjas Kenntnis von der mit Säure gefüllten Wasserflasche; c) Jens' Einsicht in den Hintergrund seines Unfalls. Neu hinzu tritt: d) der Umgang der Öffentlichkeit mit Wissen W1I die Situation des Ehe paars. Einen Großteil des Wissens über die Aufgaben beider Partner in einer Ehe hat Sonja einem Eheratgeber entnommen. Bezeichnenderweise wurde er auch im Fall von Tillis Hochzeit nicht dem Mann, sondem der Frau geschenkt. Aufgrwld der in dieser Sequenz deutlich fonllulierten Kritik an der Praxis, ein solches Buch zur Lösung konkreter Probleme heranzuziehen, können unter dem Gesichtspunkt des "sozialen Körpers" die inhaltlichen Implikationen dieses Vorgangs genauer bestimmt werden: Man kann von einer (zumindest in diesem Film) entwickelten und kritisierten sozialen Gepflogenheit sprechen, die geschlechts spezifisch auf Frauen ausgerichtet ist und ihnen die Aufgabe überträgt, für eine Partnerschaft notwendige Verhaltensweisen zu erlemen und zu befolgen. Daß in Bis daß... niemals eine Szene gezeigt wird, in der Jens den Eheratgeber zur Hand l1in1mt, ist nur ein weiterer Beleg für die Ablehnung des mit dieser Figur verbwldenen "m1ilUilichen" Verhaltens, ein traditionelles Rol lenbild (s. Körperspiel 1) unkritisch zu übemehmen und trotz offensichtlicher Fragwürdigkeit beizubehalten. Hierbei kann der Eheratgeber im Wittgensteul-
248
Stefau Zahlmann
sehen Sinn als "Regelverzeichnis"6 1 bezeichnet werden, durch das aus der Vielzahl möglicher Umgangsweisen die für eine Ehe als angemessen wld not wendig scheinenden fixiert werden. Es handelt sich zudem um eine ritualisierte Form der Weitergabe von Wissen, die sich zu einem bestimmten Zeitpwlkt an eine definierte Zielgruppe richtet: Frauen erhalten den Ratgeber zur Hochzeit geschenkt und erweisen sich durch die Anwendung der aufgeführten Regeln wld die Kenntnis der mit ihnen verbundenen Inhalte als Angehöriger eines besonderen Personellkreises: Sie sind "Ehefrauen".62 Bis d41. . . setzt sich kri tisch mit Ratgeberlektüre, d.h. mit schriftlich fIXierten Wissensinhalten und Bewertungsvorgaben auseinander. Die Weitergabe von Wissen ist j edoch szeni scher Bestandteil bein alle jedes Spielftlms: Wird ein Charakter mit einer neuen, komplexen Situation konfrontiert, erfolgt die Bereitstellung und Veollittlwlg des hierfür notwendigen Wissen meist durch Handlungen oder Gespräche von Vorbildftguren (Familienangehörige, erfaluene Kollegen
[Loopit{g 1 975)].
Und
auch dem Zuschauer werden durch dieses Vorgehen die für das Verständnis der Handlwlg notwendigen Hintergrwldinfoffilationen geliefert. In bleibt der Zuschauer j edoch über die
im
Bis d41. . .
Ratgeber aufgelisteten Inhalte und
Vorschriften im Unklaren - bis auf eine Ausnahme, die vor allem unter dem GesichtspUllkt der Konstmktivität männlicher Körperkollzepte wichtig ist: Als Sonja ein weiteres Kind von Jens erwartet, entni1lU11t sie iluem Ratgeber, daß ihr Mann ein für Alkoholiker typisches Verhalten zeigt. Ebenfalls ftndet sie in diesem Buch den Hinweis, daß sein Speolla hierdurch geschädigt sei. Da sie aus diesem Grund glaubt, daß ilu Kind mit großer Wahrscheinlichkeit behin dert zur Welt kommt, läßt sie es abtreiben. Sonja identifiziert allein aufgrund des illr zugänglichen Ratgeber-Wissens mit ihrem Mann den "sozialen Körper" eines Alkoholikers und mit dem noch ungeborenen Kind den eines behinder ten Menschen. Radikaler läßt sich eine konstruktivistische WirkUllg von Wissen auf die Wal1DlehmUllg körperlicher Realität wohl kaum verdeutlichen. Und das Leitmotiv des Films, das nicht die Wissensinhalte selbst, sondern den Umgang mit diesen als entscheidend vorstellt, entwickelt durch Sonjas Beispiel an dieser Stelle eine Gegenposition zur konfliktrelevanten Haltung von Jens. Weiterentwickelt wird diese Position durch Sonjas Fahrlässigkeit, die zum Unfall ihres Mannes führte. Sie gibt vor der Hochzeitsge sellschaft zu, von der Säure in der Flasche gewußt zu haben. Es war ilu schon zuvor klar, daß dies als Tötungs absicht gewertet werden kruU1: Bereits kurz nach dem Unfall wollte sie
6 1 Die Funktion eines Regelverzeichuisses [§ 54; au anderer Stelle "Tabelle" (§ 53)] ist im Fall von Sonja nicht nur darin zu sehen, daß er Regehl endlält, die sie befolgt: In diesem Sprachspiel ist es zugleich ein Werkzeug ihrer Argumentation. Eine doppelte Funktion des Regelverzeichnisses , die Wittgenstein selbst anführt (§ 53). 62 Datuit kann auf den Eheratgeber zugleich der "Kallo11"-Begriff Assmanns allgewen
det werden. Vgl. Jan Ass1l1ann (1992): Das kffltffrelle Gedächllli.r. Schrift, Eril1llenlllg Imd po/iti.rche !dmtiflit illfrilhel1 Hochkffltffrell, München, S. 103-125.
249
Geregelte Identitlit
sich bei der Polizei selbst anzeigen, woran sie jedoch von Tilli gehindert wurde. Doch mit dem fehlenden Hinweis an Jens (spieltheoretisch die Unterlassung eines notwendigen Spielzuges) verbindet Sonja nicht die Frage nach der Schuld, sondern danach, "wie's gekommen ist". Die einzelnen Regeln, die beide Partner zur Durchsetzung ihrer Identitätskonzepte angewendet haben, und ihre situative Anwendung werden damit zum eigentlichen "Witz" der Körperspiele, in denen vordergründig die Themen "Emanzipationswunsch" und "männliche Rollenvorstellungen" verhandelt wurden. Bis daß.. bietet danut den Sonderfall eines SpieifilillS mit kriminalistischem Inhalt, der das Verbre chen durch die Betonung seiner Ablaufprinzipien entpersonalisiert und relati viert. In diesem Körperspiel erfährt Jens von Sonja, daß sie ihn hätte sterben las sen. Er selber hat immer noch verletzte Stimmbänder wld drückt seine Emp findungen in dieser Sequenz deshalb allein nonverbal aus. In einem Brief an Sonja hatte er ihr kurz zuvor seine immer noch vorhandene Liebe nutgeteilt und die Hoffnung auf eine weitere Fortsetzung ihrer Ehe. Ihr beiderseitiges Verhalten scIuen ihm ein maßgeblicher Faktor für die Eskalation des Konflikts gewesen zu sein. Als er jetzt die Kenntnis des Hintergrunds seines Unfalls erhält, bietet ihm die Inschutznalll11e Sonjas vor den Gästen der Hochzeit eine Möglichkeit der Wiedergutmachung. Auch ihr Angebot, · sich der Polizei zu s tellen, wird von illl11 überspielt. Dieses Körperspiel ist inhaltlich ein konven tionelles "Aussprache"-Spiel, in dem sich die Beteiligten ihre Situation darle gen. Zwei Konsequenzen sind in dem Fall der in Bis daß . vorgestellten Ehe denkbar: Ihre Fortsetzung oder eine Scheidung (zusätzlich zur Strafverfol gung). Der Verzicht der Gegenseite auf Sanktionen wird als notwendiges Ver halten vorausgesetzt, sofern als Witz des Spiels das weitere Zusammenleben bestinmlt worden ist. DEFA-Filme, mit iluer Scheu vor der Darstellung diffe renzierter Konflikte, sind voll von wuealistischen Sequenzen, die entweder im privaten oder im institutionellen Rall1l1en eine rasche und gütliche Euugung der zerstrittenen Parteien herbeiführen [Schat�tlcher (1979)]. Sonja llingegen bietet Jens durch ihre vorgeschlagene Anzeige bei der Polizei die naheliegende Möglichkeit einer dadurch erleichterten Tre1l1lwlg. Jedoch nur aus Verzweif lung: In vorhergegangenen Sequenzen von Bis daß... erscheUlI: ihr eUle Schei dung keinesfalls ein geeignetes Mittel der Konfliktlösung zu seul. AucIl das Ul eUlem tllematisch äl11llichen Film vorgestellte Bemühen der Frau, durch das Verüben eUler Straftat den Ehemann endlich zur Scheidung zu bewegen [Lots Weib (1 965)], wird in dieser Sequenz nut Sonjas Verhalten inhaltlich lucht ver bunden. Dieses Körperspiel verzichtet damit auf eine Verdeutlichwlg der zu erwartenden Konsequenzen: Alleul das Zitat des Ehegelöblusses deutet an, daß es sich um einen zweiten Versuch der beiden handeln kÖ1l11te, miteulander glücklich zu werden. Die gutgemeulten Hlll\veise des Brigadiers markieren in diesem Spiel den BereicIl des öffentlichen Wissen Wll die Ehe von Sonja und Jens, die nach .
..
250
Stefan Zahlmann
außen hin intakt scheint. Zugleich werden in dieser Sequenz durch seine Beto nung ihrer Wohnsituation die sozialen Körper der Ehepartner mit einen gesell schaftskritischen Akzent verbunden: Unmittelbar nach dem im zweiten Kör perspiel dargestellten Streit erhalten Sonja und jens eine neue Wohnung. Bei ihrem Einzug betonte der Brigadier erstmalig die positive Wirkung der neuen Wohnsituation. Die fatale Entwicklung der Ehe im weiteren Verlauf der Handlung läßt jedoch keinen Zweifel daran, daß ein entscheidendes Kriterium in der Entwicklwlg einer "sozialistischen Persönlichkeit" überschätzt wird: Denn im Beispiel der dargestellten Ehe hat das "Sein" der Protagonisten in der (offiziell als vorbildlich und modem geltenden) Neubauwohnung das "Bewußtsein" von Sonja und jens keinesfalls positiv bestimmt.63 b) Formale Charakterisierung des Körperspiels Diese Hochzeitsfeier wirkt nicht nur aufgrund ähnlicher inhaltlicher Elemente (Eheratgeber, gleiche personelle Besetzung) wie eine Neuauflage der Hochzeit von jens und Sonja. Auch die Worte der Standesbeamtin, die bei der "ersten" Hochzeit dieses Paares am Anfang des Filmes standen, dann bei Tillis Hochzeit zu hören waren und jetzt an seinem Ende emeut, binden die Versöhnung von jens und Sonja fomlal in den Kontext "Hochzeit" ein. Dieses Körperspiel, obschon auf der Hochzeitsfeier von Tilli situiert, fmdet trotz lUlwesender Gäste eigentlich nur zwischen Sonja wld iluem Mann statt. In Abhängigkeit von seiner inhaltlichen Entwicklwlg ist es in zwei Spielphasen teilbar: Dem Ge ständnis von Sonj a folgt die Reaktion ihres Malmes. In der ersten Phase ist jedoch zunächst ein "Aussetzen" beider Ehepartner zu beobachten. Während rings um sie herum "Hochzeitsfeier" gespielt wird, sitzen beide unbeteiligt und stumm am Rand. Als Sonja dann mit ihrem Geständnis begitult, macht sie einen Zug nach dem anderen: Von dem Kommentieren des Eheratgebers über die Schilderung der Beweggründe ihrer Tat bis hin zum Angebot, mit jens zur Polizei zu gehen. Hierbei bricht sie mit allen Regehl, die in der Situation nor malerweise verlangt würden: Tilly bemüht sich, ihr Verhalten zu ignorieren und das Spiel "Feier" fortzusetzen. Um Sonja zu schützen, verweist sie zudem mehrfach auf ihre lUlgebliche Trunkenheit: Einen Zustand, der die Außerkraft-
63
Eill inhaltlicher Seitenhieb des Filius, den jeder au das Loblieb auf die "sozialistische Errungenschaft" der Plattenbauweise gewöhnte DDR-Bürger - in das die DEFA kräftig eillstimru.te - erkaunt haben dürfte. Die Wohnsituation und die Neubausied lungen werden in zahlreichen Filinen der DEFA (vor allem der 60er Jabre) positiv akzentuiert und mit der gesellschaftlichen Entwicklung inl Sozialismus verbunden
[Verliebt IlIId vorbestrqft (1963), lI/sei der SchJlläl/e (t 983) starke Kritik (keine Garagen) am Berlil/ IIIJI die Ecke (1965/ 90)]. Auch Heiner Carow velwelldete in seinem Filin PPltI IlIId Pmtlp (1973), dessen Partnerschaftsdar stellung ein positives Pendant zu Bi.r dpß .. darstellt, das Motiv der WolUlsituationen
Vorzeigeprojekt Karl-Marx-Allee auch in
"Altbau"/"Neubau" als haudlungsrelevaut.
Geregelte Identität
251
setzung bestehender Regeln in bestimmten Ausmaß entschuldigt und damit sowohl ihr Verhalten als auch ihre Aussagen relativiert. Die Folge ist der "Ausschluß" von Sonja aus dem Spiel "Feier" und seine Wiederaufnalllne (olme das zurückbleibende Ehepaar) vor der Tür. Das zentrale inhaltliche Moment, das Ges tändnis Sonjas, steht unter fonna len Gesichtspunkten in der DEFA-Tradition der fihllischen Darstellwlgen von "Stellungllalllnen". Bei diesen Situationen handelt es sich um die vielen Ost deutschen bekallllte Fonn der öffentlichen Diskussion von Unstinlllg li keiten (vor Kollegen, Klassenkameraden, auf Parteivers lUllmlungen). Ein ideologi sches Relikt aus der Zeit des Stalinismus, diente es in vielen lebensweltlichen Bereichen der perversen Praktik, eine Selbstbezichtigung des "Angeklagten" als Resultat s einer einsichtigen Haltung vorzustellen. Doch in
Bis daß..
.
wird weder
Sonja noch ihrem MlUlIl der Prozeß gemacht: Zum einen unterbrechen inhalt lich wId fonllal die häufigen Einwürfe Tillis das Sprachspiel "Stellungnaluue" s tändig.
ZWll anderen fragt Sonja auch selbst nach den Umständen der Tat -
und verweigert so das notwendige Schuldeingeständnis. Ein übriges tut die
informelle Atmosphäre: Stellwlgnalllllen wurden quasi-offiziell gefordert, ihr Ablauf folgte einer gleichs lUll bürokratischen Regie. Vor angetrwIkenen und tanzenden Gästen auf einer Feier kawI ihre Darstellung nicht funktionieren. Man muß es dem Regisseur Heiner Carow und dem Drehbuchautor Günther Rücker hoch anrechnen, dieses Ritual inhaltlich nur zu imitieren und fOffiIal mehrfach zu brechen64: Eine DenwIziation einer der beiden Figuren unter bleibt hierdurch.65 Die Bedeutung dieses Körperspiels wird durch die formale Gestaltung auf eine andere Ebene verlagert. Verbal erfolgt durch Sonja eine Identifikation des Täters, die Diagnose des TatlIerglUIgs und seines Beweggrundes (also eine "Stellungllallllle"). Durch ihre und Jens' nonverbale Interaktion werden diese
64 Trotz der Schwierigkeiten bei der Realisation des Projekts (die erste Drehbuchfas sung entstand bereits 1976 und mußte mehrfach geändert werden; Heiner Carow wurde für Jahre kein weiterer Gegenwartsstoff angeboten) wurde diese in allen Drehbuchfassullgen vorliegende Szene nicht durch eine politisch opportune Dar stellung (mit eindeutiger Sclmldzuweiswlg) ersetzt (Reiner Carow in einem persönli chen Gespräch am 3.6. 1 996). Ikan/J (1 976) kritisiert Carow die Praxis der Stellungnahmen (ein kleiner Junge soll sich wegen einer Lappalie rechtfertigen und ka11n vor lauter Schluchzen gar
65 Auch in
nicht sprechen, seine Lehrerin übernimmt das Reden für ill1l).
In Comill!, Ollt
(1989)
inszeniert der gleiche Regisseur ebenfalls ein interessantes Körperspid: Der Lduer Philipp KlaDllatl1l soll sich wegen "gewisser Vorkomnl1lisse" (gemeint ist auch seine homosexuelle Lebensweise) vor der I
252
Stefan ZahlmalUl
Aussagen jedoch gleichsam überschrieben. Körpersprachlich läßt sich diese
Sequenz als Konfliktevaluation bezeichnen: Nachdem Sonj a die Eskalation der
Konfliktentwicklung ausgesprochen hat, zeigt Jens durch sein Dazwischentre
ten in dem Moment, als die Gäste gegen sie vorgehen wollen, seine Liebe für seine Frau. Dem Zuschauer ist es möglich, diese Form der Dars tellung als
Ausdruck einer durch den Konflikt veränderten Einstellwlg des Mannes zu lesen, als körperlichen Nachvollzug seiner in einer vorhergehenden Sequenz in
Form eines Briefes gehaltenen Aussage. Seine Reaktion s tellte die zweite Phase des Körperspiels da: Sonja hatte gezogen, Jens erwidert.
Die Geschichte dieses Ehepaars ist mit diesem Körperspiel beendet, es er
folgt ein Schnitt zur Hochzeitsgesellschaft, die auf der Straße feiert. Auch
formal ist diese Sequenz nun zu dem geworden, was sie offiziell war: Die
Hochzeitsfeier von Tilli und ihrem Mann.
3. Ergebnisdiskussion: Körperspiel und sozialer Körper Bis daß der Tod euch scheidet zeigte
die Definition wld Kritik eines männlichen
Identitätskonzepts vor der Folie weiblicher Emallzipationsbemühungen, indem vom Standpwlkt jedes Partners die Tragfähigkeit seiner inhaltlichen Bereiche
und seine Legitimität abgesteckt wurden. Mir ging es in diesem Zus ammen
IUUlg darum, auch die hierbei filmisch vorgestellte Fonu seiner Verhandlung als kons tituierenden Bes tandteil "männlicher" kennzeichnen.
oder "weiblicher" Identität zu
Im ersten Körperspiel wird Jens' Selbstbild mit einem Männlichkeitskonzept
verbunden, das den MatUl in einer aktiven Rolle als Versorger seiner Familie
zeigt. Der sympadusche Aspekt der Liebe, auf der dieses Geschlechterverhält
nis gründen soll, läßt vor dem Hintergt.und einer noch jWlgen Beziehung die sen für die 70er Jallfe konservativen Anspruch romantisch und diskussions würdig erscheinen. Doch der Versuch, die dmlut verbundenen Forderungen gegenüber seiner Frau durchzusetzen, führt ZWll Streit zwischen den Ehepart
nem. Das zweite Körperspiel offenbart die inhaltlichen Implikationen des von
Jens vertretenen Identitätsbildes: Nur seine Art der Arbeit sei Arbeit, Sonjas
Tätigkeit hingegen weise nur Merkmale der Untreue auf. Die Sel>.'Uaiisierung des Verhaltens s einer Frau ermöglicht Jens, die in einer derartigen Diskussion durchaus möglichen Themen der finanziellen Besserstellwlg der Familie durch
Doppelerwerb oder s einer generellen Unterstützung des Vorhabens s einer Frau auszulassen und Sonja vorzuverurteilen. Die völlige Eskalation der Gesprächs
situation, bei der die akzeptierten Regeln des partnerschaftlichen Miteinmlders
außer Kraft gesetzt werden, hat weitreichende Konsequenzen für die weitere Filmhandlung: WällCend das erste Körperspiel das von J ens fonllulierte Mäml lichkeitskonzept noch unkritisiert stehenließ, wirken dessen inhaltliche Impli
kationen in dieser Sequenz bereits illegitim. Besonders durch eine danut ver-
Geregelte Identität
253
bundene Darstellung miinnlicher Gewalt erhält die Figur des Jens unter for malen Gesichtspunkten die filmischen Konturen einer typischen Außenseiter persönlichkeit. DEFA-Filme hatten für den Umgang mit solchen Charakteren eine charakteristische Verfahrensweise entwickelt: (Um-)Erzielmng der Figur oder ihre Eliminierung [Die El1tscbeidfll1g des Dr. Abre!ldt (1960), Das Rabaflkell kabarett (1961), Die Flllcht (1977)]. Der spätere "Unfall" von Jens steht ganz in dieser Darstellungstradition. Das zweite Körperspiel weist jedoch noch eine Besonderheit auf: Sonja präsentiert sich durch ihre Art der Argumentation und ihren aktiven Körpereinsatz als ebenso "männlich" wie ihr Mann. Die von Judith Butler formulierte These, den sozialen Körper als nicht ontologisch definiert zu verstehen, wird durch dieses Beispiel einer "nicht-stofflich" ge . bundenen Produktion der Identitätsbestimmung gestützt. Doch auch die Gegenreaktion Sonjas, die durch die Besitzanprüche Jens' provoziert wurde, und die als konkrete Umsetzung iluer Vorstellung vom sozialen Körper einer Ehefrau bestinunt werden kaml, erhält eine Beschrän kung. Durch die Handlung als Pendant zur Definition der Legitimität mämID eher Identitätskonzepte erkennbar, endet das Recht Sonjas auf Selbstverwirkli chung anl Körper des Partners. Visuell durch die provozierende Selbst entblößung Sonjas inl zweiten Körperspiel und die Verletzung des Malmes repräsentiert, wird "Körper" in diesem Zusanmlenhallg als Umschreibung für den sozial releval1ten Bereich eines Selbstbildes lesbar. Dalnit richtet sich der Säureunfall nicht gegen Jens als Mann oder das von ill111 aufgrund seiner Selbstwallmelm1Ung vertretene M1imIDchkeitsbild, sondem gegen seinen Um gatlg mit diesem Körperkonzept. Die Gegenüberstellung von Konzepten mämIDcher und weiblicher Identität zeigte in den untersuchten Körperspielen die Abhängigkeit iluer Inhalte von der Art ihrer "Formulierung": Bedeutsalnkeit erhielten die mit einer Ge schlechterrolle verbundenen Sitmallgebote erst durch ilue soziale Aktivierung. Hierbei zu beobachtende Regeln entschieden aufgrund iluer (Un-) Angemessenheit itl hohem Ausmaß über die Akzeptanz dieser Inhalte. Die besondere Bedeutung, die Bis dcifL innerhalb des offziellen Geschlechterdis kurses der DDR einnit1Ullt, kall11 vor allem darin gesehen werden, daß itl die sem Zusammenhang keine mustergültige Ideallösung für Rollenkonflikte vor gestellt wird.66 Carow/Rücker plädieren in Bis daß... durch die Komplexität der dargestellten Situationen gegen eine unkritische Übernaluhe kollektiv gültiger Vorstellungen gesellschaftlichen ZusalumenlebellS. Gefordert wird die Ent wicklwlg adäquater Verhaltensweisen. Referenzpunkt dieser Regehl ist hierbei 66 Ein durchaus denkbares "Frau-zu-Frau"-Gespräch zwischen
Tilli und Sonia unter bleibt ebenso wie eine Reflexion auf den Konflikt durch einen der Beteiligten (mit einer - etwa in einem Monolog, einem Brief oder einem Off-Kommentar vorgestell ten - "eindeutigen", resümierenden Stellungnahme [Dergeteilte Hi",,,,el (1964)].
Stefan Zahlmann
254
zwar das Individuum und seine Bedürfnisse, ihre Entwicklung hat jedoch im sozialen Miteinander zu erfolgen.
Allsblick: Die in diesem Beitrag vorgenommene Analyse einzehler Körperspiele eines DEFA-Spielfihns rekonstruierte in der medialen Öffentlichkeit der DDR legi time Positionen der Darstellung von männlicher Identität und Partnerschaft. "Legitim" wird in diesem Fall vers tillIden als "inhaltlich thematisierbar", " filmisch darstellbar" und "für das Publikum interess ant"; Zwar wurde die Fertigstellung von Bis &(/1... behindert, ein Verbot erfolgte jedoch nicht. Und der Film zählt zu den größten Publikums erfolgen der DDR-Filmgeschichte. Die DEFA-Produktionen des folgellden .Jahrzehnts setzten die Fonnulierung weiblicher EmanzipationsillIsprüche fort. Ähnlich wie in der Fallstudie richtete sich die Stoßrichtung dieser Bemühungen nicht in ersten Linie abgrenzend gegen "die" Männer (als Instanzen gesells chaftlicher Repressionen), sondem akzentuierte die individuelle Ausfonllulierung weiblicher Selbstbilder illrer
[Solo Stlll!!y (1 980), So viele Trätl1!1e (1 986), Die Be1l1l ruhigm;g (1985), Das Fahrrad (1 982)]. Auch Filmkomödien, bis dalun meist ein alltäglichen Konsequenzen
Bollwerk konventioneller Geschlechterverhäll:1u sse, steckten die Pfosten zur Markierung männlicher und weiblicher Identitätskonzepte mutig in unbekann tes Terrain [Ete tmd Ali (1 985), ZIIJoi schräge Vögel (1 989)]. Unter dem Gesichtspunkt des männlichen Körpers und der nUt ihm verbun denen sozialen Zuschreibungen verdient ein Film besondere Beachtung: Der
1989
ebenfalls von Heiner Carow fertiggestellte Film
COIJ1i1;g Ollt s cluldert
den
Selbsterkenntnisprozeß eines jWlgen homosexuellen Lehrers . Ähnlich wie in
daß.. .
Bis
die nUt einer heteroseAllellen Partnerschaft verbundenen gegenseitigen
Ansprüche auf Selbstbestimmung wld Anerkennung, wird in jenem Film der Inhalt "Homosexualität" vor dem Hintergrund der nut ihm verbundenen Re geln des sozialen Umgangs verhandelt. Genau wie bei den zusätzlich in diesem FWll gezeigten, "geschlechtsindifferenten" Problemen verweigert sich der FWll einer Bewertung dieser Regeln. Erheblich konsequenter als noch
Bis daß...
betont er statt dessen die Notwendigkeit einer Verwirklichung individueller Glücksvorstellungen. Beim Publikum fand wenige DEFA-Produktionen zuvor.67
COlJiiJ;g Ollt
Zustimmung wie nur
67 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung betonte wellige Tage nach der Uraufführung des Filmes seine symbolische Funktion: Er hätte das Coming out einer ganzen Gesell schaft markiert, ihren Protest gegen eiue als unerträglich empfundene Lebensweise (FAZ vom 1.12. 1989).
COl!lillg Ollt hatte
1989, dem Tag des Mauerfalls.
seine Premiere
am
Abend des 9. November
Geregel te IJen titiit
255
ALb. 1: Bis dall der Tod euch scheidet (Bilrl: DEFA-Pathenheuuer, Bundes�rchiv). Illu stration zu Körpersl'iel 1 und 2.
256
Stefan Zahlmann
Abb. 2: Bis daß der Tod euch scheidet (Bild: DEFA-Pathenheilller, Bundesarchiv). Illu stration zu Körperspiel l und 2.
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Geregelte Identität
259
Don Juan, Karl-Liebknecht-Straße 78 (1 980)
P: DEFA, Gruppe ,Babelsberg'; R/B: Siegfried Kühn; K: Claus Neumann; M: Karl-Ernst Sasse; S: Helga Krause; D: Himar Thate (\Vischnewsky), Hehllut Straßburger, Ewa Szykulska (Vera), Beata Tyszkiewicz, Himar Baumann, (KronenthaI), Trude Beclullatul (Wirtin). (PRO] Der Dritte (1972) P: DEFA; R: Egon Günther; B: Günther Rücker, Egon Günther, nach der Erzählung "Unter den Bäumen regnet es zweimal" von Eherhard Panitz; K: Erich Gusko; M: Kar!-Ernst Sasse; S: Rita Hiller; D: Jutta HoffmatUl (Margit), Barbara Dittus (Lucie), Rolf Ludwig (Hrdlitschka), Arnun Mueller-Stahl (Blinder), Peter KölulCke (BaclUl1atul). (PRO] Die Entscheidung des Dr. Aluendt (1960)
P: DEFA; R: Frank Vogel; B: Hasso Grahner, Frank Vogel; K: Walter Fehdmer; M: Gemard Wohlgemuth; S: Friedel Welsandt; D: Johallnes Arpe (Dr. Ahrend), Rudolf Ulrich (Martin I
P: DEFA, Gruppe JOhatlllisthal'; R: Peter Kallane; B: Waltraud Meienreis, Henry Schneider, Peter Kahane; K: Andreas Käfer; M: Rainer BälUll; S: Sahine Schmager; D: Järg Schüttauf (Ete), Thomas Putensen (Ali), Datliela Hof&nalln (Marita), Hilmar Eichhorn (Mal1ni), Karin Gregorek (Frau vom WolUlungs amt), Otto Heidemanll (Budak), Heinz Hupfer (Erwin). (PRO] Das Fahrrad (1982) P: DEFA, Gruppe ,Babelsberg'; R: Evelyn SclUludt; B: Ernst Wenig; K: Rolatld Dressel; M: Peter Rabellalt; S: Sabine Schmager; D: Heidemarie Sclll1eider (SuSatUle), ROmatl Kallunski (TIlOmas), Anke Friedrich Oenny), Hihllar Bau matUl (Riemer), Walter Lendrich (Versicherungskassierer), Birgit Edellharter (Kindergärtnerin). (PRO] Die Flucht (1 977) P: DEFA, Gruppe ,Roter I
260
Stefan Zahlmru111
Freies Land (1946)
P: DEFA; R: Milo Habich; B: Milo Habich, Kurt Hahne; K: Otto Baecker; M: Werner Eisbreuner; S: Margarete Steinborn; D: Ursula Voss (Frau Jernscheit), Fritz Wagner (Neubauer Jernscheit), Herbert Wilk (Bürgermeister Siebold), Hans Sternberg (Altbauer Strunk), Aribert Grimmer (Altbauer Melzig), Peter Marx (Neubauer Schulzke). [BAF] Der ge teile Himmel (1964) P: DEFA, Gruppe ,Heinrich Greif'; R: Konrad Wolf; B: Christa Wolf, Konrad Wolf, WilIi Brückner, Kurt Barthel, nach dem gleichnamigen Roman von Chri sta Wolf; K: Werner Bergmal111; M: Hans-Dieter HosaIIa; S: Helga Krause; D: Eberhard Esche (Manfred Herrfurth), Renate Blume (Rita Seidel), Hilmar Thate (Ernst Wendland), Hans Hardt-Hardtloff (Rolf Meternagel), Martin Flörcllinger (Herr Herrfurtll), Erika Pelikowsky (Frau Herrfurtll). [BAF] Glück im Hinterhaus (1980)
P: DEFA, Gruppe ,Berlin', R: Herrmaun Zschoche; B: Ulrich Plenzdorf, nach dem Romrul "BuridrulS Esel" von Günter de Bryn; K: Günter Jaeudle; M: Günther Fischer; S: Monika Schindler; D: Dieter Mann (l(arl Erp), Jutta Wa chowiak (Elisabeth Erp), Ute Luboscll (Fräulein Brüder), Peter Brause (Haßler), Gerry Wolff (Mrultek), Kiidle Reichel (Frau Wolf). [BAF] Hälfte des Lebens (1985) P: DEFA, Gruppe JOhru111isthaI'; R: Henllrulll Zschoche; B: Christa Kozik, Henllrul1l Zschoche; K: Günter Jaeudle; M: Georg Katzer; S: Monika Schind ler; D: Ulrich Mühe (Friedrich Höderlill), Jell1lY Gröllmrul1l (Suzette Gontard), Michael Gwisdek Oakob Gontard), Swetlana Schönfeld (Maria Rätzer), Peter Mario Grau (Isaac von SillcIair), Christine Gloger (Hölderlins Mutter). [PRO] Hostess (1976)
P: DEFA, Gruppe ,JohrumisdlaI'; R/B: Rolf Römer; K: Siegfried Mogel; M: Franz Bartsch, Rainer Böhm, Gündler Fischer; S: Monika Schindler; D: Alllle kathrill Bürger Oette), Jürgen Heinrich Oohannes), Roswidla Marks (ConllY), Bemd Stichler (Geerd), Mrulfred Karge (Rober0, Angela Brunner (Christa), Rolf Römer (peter). [PRO] Hut ab, wenn du küßt (1971) P: DEFA, Gruppe Johrul1lisdlaI'; R/B: Rolf LOSrulSky; K: Wolfgrulg Braumru111; M: Klaus Hugo, Hartmut König; S: Chrita Helwig; D: Angelika Waller (petra), AIexrulder Lang (Fred), Rolf Römer Ouan), Günter Junghruls (Horst), Günter Grabbert (Onkel Valeraz), Peter Borgelt (Oskar). [PRO]
Geregelte Identität
261
Ikarus (1975) P: DEFA, Gruppe ,Babels berg'; R: Heiller Carow; B: Klaus Schlesinger, Heiner Carow; K: Jürgen Brauer; M: Peter Gotthardt; S: Evelyn Carow; D: Peter Welz (Mathias), Karin Gregorek (Mutter), Peter Aust (Vater), Henuatl11 Beyer (Onkel Jochen), Heidemarie Wenzel (Fd. Sandke), Günter Junghans (p olizist), Ralf Hoppe (Brigadier). [BAF] Insel der Schwäne (1983) P: DEFA, Gruppe ,Johatuüsthal'; R: HernuatUI Zschosche; B: Ulrich Plenz dorf, HermIatl11 Zschosche, nach dem gleicll11atlligen RomatI von Benno Plu dra; K: Günter Jaeuthe; M: Peter Gotthardt; S: Erika Lemphul; D: Axel Bunke (Stefan), Mathias Müller (Hubert), Sven Martinek (Windjacke), Britt Baumatl11 (Rita), Kerstin Reiseck (Anja). [BAF] Irgendwo in Berlin (1 946) P: DEFA; PD: Georg Kiaup; R/B: Gerhardt Latllprecht; K: Wemer Krien; M: Erich Einegg; S: Lena Neumatl11; D: Harry Hindenüth (Herr Iller) , ClIades Knetschke (Soll11 Gustav), HatIS Trinkaus (\Villi), Siegfried Utrecht (Kapitän), HatIS Leibelt (Eckmatl11), Paul Bildt (Birke), Fritz Rasp (Waldemar). [BAF] Jahrgang 45 (1966/1990) P: DEFA, Gruppe ,Roter Kreis'; PD: Dorothea Hildebrandt; R: Jürgen Bött cher; B: Klaus Poche, Jürgen Böttcher; K: Roland Gräf; M: Henry PureeIl; S: Helga Gentz; D: Ralf Römer (Al fred), Monika Hildebrandt (Lisa), Paul Eich baum (Mogul), Holger Malllieh (Hans), Renate Reinecke (Rita). [BAF] Junges Gemüse (1956) P: DEFA; R: Günter Reiseh; B: Günther Rücker, Kurt Bortfeld; K: Horst E, BratIdt; M: Peter Fischer; S: Lena NeU111atl11; D: Herbert Richter (Amatl11), Angela Brull11er (Gritt), Christoph Engel (HatIS), Paul HeidematUI (Hoppedietz), Rudi SchiematUI (Nickel). [BAF] Karla (1 965/1 990) P: DEFA, Gruppe ,Berlin'; PD: Gert Golde; R: HernllatUl Zschoche; B: Ulrich Plenzdorf, HermlatUl Zschoche; K: Günter Ost; M: Kad-Emst Sasse; S: Bri gitte l
262
Stefrul Zahlmal1l1
(Rudl), Dieter Mru111 (Dr. Hunger), Rolf Hoppe, Friedo Solter (prof. Holz mru111). [PRO] Die Legende von Paul und Paula (1973) P: DEFA, Gruppe ,Babelsberg'; PD: Erich Albrecht; R: Heiner Carow; B: Ulrich Plenzdorf, Heiner Carow; K: Jürgen Brauer; M: Peter Gotdlardt; S: Evelyn Carow; D: Angelica Domröse (paula), Winfried Glatzeder (paul), Hei demarie Wenzel (pauls Frau), Fred Delmare (Reifen-Saft), Rolf Ludwig (professor), Dieter Richter-Reinick (ein Freund), Frrulk Sche1lk (Kollege Schmidt), Peter Gotdlardt (ein Musiker), Jürgen Frohriep (der blonde Martin). [PRO] Liebeserklärung an G .T. (1971) P: DEFA, Gruppe ,]Ohru111isdlal'; R: Horst Seemru111; B: Helfried Schreiter, Horst Seemru111 ; K: Helmut Bergmann; M: Klaus Hugo; S: Bärbel Weigel; D: Ewa Krzyzewska (Gisa Tonius), Jürgen Frohriep (Wemer Tonius), Herwart Grosse (prof. Ebert), Traudl Kulikowsky (Anette Haferkom), Holger Malilich (Bemd Silibener). [PRO] Looping (1975) P: DEFA, Gruppe ,Berlin'; R: Kurt Tetzlaff; B: Mmlfred Freitag, Joachim Nesder, Kurt Tetzlaff, nach der gleicl111rulligen Erzählung von Joachim Plöt ner; K: Dedef Tetzke; M: Peter Rabenalt, S: Bärbel Weigel; D: Hruls-Gerd S01111enburg (Lodlar "Biene" Schweudt), Dieter Frrulke (Stefrul Burger), Marina Krogull (Kadlfin, "Lottchen"), Erwin Gescho1111eck (Bienes Vater), Günter Schubert, Norbert Christian (Willi Schlaatz). [PRO] Lots Weib (1965) P: DEFA, Gruppe ,Roter Kreis'; R: Egon Gündler, B: Egon Gündler, Helga Schütz; K: Otto Merz; M: Karl-Emst Sasse; S: Christa Stritt; D: Marita Böl1111e (Katrin Lot), Gündler Simon (Richard Lot), Klaus Piontek (paul LeIl1llru111), Gerry Wolff (Max Braun), Rolf Römer (Lehrer Hempel), Else Grube-Deister (Lehrerin Jungllickel). [PRO] Der Mann, der nach der Oma kam (1 972) P: DEFA; R/B: Rolruld Oel1111e; K: Wolfgang Braumrul1l; M: Gerd Natschinski; S: Hildegard Conrad-Nöller; D: Winfried Glatzeder (Erwin Graffunda), Rolf Herricht (Günter Piesold), Marita Böhme (Gudruu Piesold), Katrin Martin (Gaby), Rolf Kuhlbach (Dru111Y), Herbert Köfer (Herr Kotscl1111rul1l), Ilse Voigt (Oma Piesold). [PRO]
Geregelte Identität
263
Mann gegen Mann (1976) P: DEFA, Gruppe ,Berlin'; R/B: Kurt Maetzig; K: Erich Gusko; M: Gerhard Wohlgemuth; S: Ursula Rudzki; D: Regimantas Adomaitis (Robert Niemann), I<arin Schröder (Anna), Klaus-Peter Thiele (Eduard Tomten), Michael Gwis dek (Michael Mmlf). [BAF] Meine Frau macht Musik (1958) P: DEFA; PD: Wemer Dau; R/B: Hillls Heinrich; K: Eugen Klagemal1n; M: Gerd Natschinski; S: Friedel Welsandt; D: Lore Fristsch (Gerda Wagner), Günter Simon (Gustl Wagner), Maly Delschaft (Susi Rettig), Alice Prill (Eva Rettig), Evelyn Künneke (Daisy), Alexander Hegartll (pabiani). [PRO] Papas neue Freundin (1961) P: DEFA; R: Georg Leopold; B: Hermann Rodigast, Georg Leopold; K: Walter Fehdmer; M: Walter Ulfig; S: Ursula Zweig; D: Peter Herden (pranz Bach), Helga Raumer (Margarete Bach, seine Frau), Claus Jurichs (Klaus Bach), Birgit Neubert (Sabille Bach), Eberhard Schaletzky (fäve Bach), Angelica Domröse (Irene Sauer). [PRO] Das Rabaukenkabarett (1961) P: DEFA; R/B: Wemer W. Wallroth; K: Günter Ost; M: Conny Odd; S: Ursula Rudzki; D: Horst Jonischkan (\Volfgilllg), Albert Hetterle (Herold, Direktor), Wemer Schulz-Wittan (Intematsleiter Dölz), Jutta Hoffmann (Karin), Peter Sindermann (Detlef), Emst-Georg Schwill (Mäcki). [PRO] Reise ins Ehebett (1966) P: DEFA, Gruppe ,JOhilllllistllal'; R: Joachim Hasler; B: Maurycy JilllOwski, Joachim Hasler, Claus Hilllllllel; K: Joachim Hasler, Hans Jürgen Reinecke; M: Gerd N atschinski; S: Hildegard Tegener; D: Eva-Maria Hagen (Marylou), Allna Prucnal (Eva), Klaus Jurichs (BootS111ill111) , Frank Schöbe! (Moses), Güntller Simon (l
264
Stefan Zahlmann
Geißler (Edith) , Uwe Zerbe (Wolfgallg), Tobias Zander (Danilo [Kind]), Atlette Voss (Sandra [Kind]), Renate Reillicke (Helene), Karin Beewen (Frau Müller), Ursula Braun (Irene). [BAF] Septemberliebe (1961) P: DEFA; R; Kurt Maetzig; B: Herbert Otto; K: Joachim Hasler; M: Helmut Nier; S: Lena Neumann; D: Doris Abeßer (Frrulka), Ulrich Thein (Dr. HrulS Schrrunm), Atlllekathrin Bürger (Hrumelore), HrulS Lucke (Oberleutnant Un ger), Kurt DUllkelmatl1l (Vater Hübendlal). [BAF] Das siebente Jahr (1969)
P: DEFA, Gruppe ,Berlin'; R/B: Frank Vogel; K: Roland Gräf; M: Peter Ra benalt; S: Helga Krause; D: Jessy Rameik (Dr. Barbara Heim), Wolfgrulg I
P: DEFA; R; Konrad Wolf; B: Karl Georg Egel, Paul Wiells; K: Wemer Berg malm; M: Joachim Werzlau; S: Christa Wemicke; D: Ulrich Gemler (Lutz), GünIDer Simon (Franz Beier), Viktor Awdjuschko (Sergej Mehlikow), Erwin Geschonneck Oupp König), Wladimir Emeljallow (Oberst Fedossjew), Willi Schrade (Gündler Holleck), Erich Frrulz (Weihrauch), Brigitte Krause (Beta Matusche), Horst Kube (Wenzel). [PRO] Spur der Steine (1966) P: DEFA, Gruppe ,Heinrich Greif'; R: Frrulk Beyer; B: Karl Georg Egel, Frrulk Beyer, nach einem Romrul von Erik Neutsch; K: Günter Marczinkowsky; M: Wolfrrun Heicking; S: Hildegard Conrad-Nöller; D: Mrulfred Krug (Halmes Ba1la), Kystyna Stypulkowska (Kati Klee), Eberhard Esche (Wemer Horrath), Johrumes Wiecke (Hemlann Jrulsen), Walter Richter-Reinick (Richard Trut mrum), Halls-Peter Minetti (Heinz Bleibtreu). [PRO] Die Stunde der Töchter (1981) P: DEFA, Gruppe ,Berlin'; R/B: Erwin Strrulka; K: Peter Brand; M: Karl-Emst Sasse; S: Evelyn Carow; D: Dietrich Mechow (Richard Roth), Ursula Karusseit (Ruth), Dorit Gäbler (Eva), Karin Düwel (Gerda), Petra Blossey (Nru11lY). . [BAF]
Geregelte Identität
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Unverbesserliche Barbara (1977) P: DEFA, Gruppe ,Babelsberg'; R/B: Lodlar Warneke; K: Jürgen Lenz; M: Andrzej Korzynski; S: Erika LemphuI; D: Cox Habbema (Barbara), Peter Aust (Herbert), Herdla Thiele (Schwiegennutter), Werner Godemann (perdinand), Eberhard Esche (Ekki). [PRO] Vergeßt mir meine Traudel nicht (1 957) P: DEFA; R: Kurt Maetzig, B: Kuba (d.i. Kurt Bardlel), Kurt Maetzig; D: Eva Maria Hagen (fraudel Gerber), Horst Kube (Hannes Wunderlich), Gündler Haack (Wolfgang Auer), Erna Sellmer (prau Palotta), Gündler Sunon (VP Kommissar). [PRO] Verliebt und vorbestraft (1963) P: DEFA, Gruppe ,60'; R: Erwin Stranka; B: Martha Ludwig, HeulZ Kahlau; K: Erich Gusko; M: Georg Katzer; S: Lena NeunuUln, Bärbel Weigel; D: Doris Abeßer (Hannelore), Hors t Jonischkan (Hatme), Herbert Köfer Gacko), Erhard Köster (pauI), Siegfried Kilian (Richard), Günter JunghatlS (Ali). [PRO] Vielgeliebtes Sternchen (1962) P: DEFA; R: Rudi Kurz; B: Hennann Rodigast; K: Hartwig Strobel; M: Walter Ulfig; S: Thea Richter; D: Angelica Domröse (Irene Bach), Claus Jurichs (Klaus Bach), Helga Raumer (Margaredle Bach), Peter Herden (pranz Bach), Friedrich Richter (prof. Kömer). [PRO] Wo der Zug nicht lange hält (1 960) P: DEFA, Gruppe ,Heinrich Greif; R: Joachim Hasler; B: Joachull Hasler, Horst Beseler; K: Joachim Hasler, Helmut Grewald; M: Andre Asriel; S: Hilde gard Tegener; D: Helga Piur (Karin), Stefatl Lisewsksi (Gerhard), Erich Franz (pranz), Horst Kube (Boxer), Hans-Peter MUletti (der Neue), Gerry Wolff (l<:olllmissar). [PRO] Zwei schräge Vögel (1989) P: DEFA, Gruppe Johatullsdlal'; PD: Uwe Kraft; R: · Erwin Stratlka; B: Diethardt Schneider, Erwin Stranka; K: Helmut Bergmann; M: Tanuis Kallatle, Karl-Emst Sasse, Petty-Coats; S: Eva-Maria Schumatl1l; D: Götz Sdmbert (pratlk Lettau), Matiliias Wien (l
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Stefan Zahlmallll
Peter Reinecke (Bruno), Petra Hillze Oulia), MOllika Woytowicz (Ute), Eva Maria Hagen (Erna), Fred Delmare (Alois). [PRO]
AutorInnenverzeichnis RoIfPeter Fllchs: Dr. phiI.; Jg. 1956, über mehrere Jahre Museumsarbeit in Wit ten, seit 1996 Mitarbeiter am Institut für Neuere Geschichte �U1 der Ludwig Maximilians-Universität München. Promotion 1996 an der Ruhr-Universität Bochum über Ehrkonflikte (Injurienprozesse) in der Frühen Neuzeit. Mehrere Veröffentlichungen zu den Themenbereichen Schulgeschichte und Historische Kriminologie, insbesondere zu Hexenprozessen, sowie zur Höchsten Gerichts barkeit im Alten Reich, u.a. "Hexerei und Zauberei vor dem Reichskammerge richt. Nichtigkeiten und Injurien. Wetzlar
1994." Arbeitet
zur Zeit im Rahmen
einer DFG-Forschergruppe über Zeugenverhöre als Quelle des sozialen Wis sens in der Frühen Neuzeit. Glldnm Gerstndfl11: Dr. phil.; Jahrgang
1960,
wissenschaftliche
AssistC11till
am
Institut für Neuere Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universitlit München. Studium der Philosophie, Romanistik, Geschichte und Germruüstik in Bochum, Genf und Paris.
1991 Promotion mit einer Studie über Buchhandel und Zensur 1982/83 Stipendiatin des Deutschen Historischen Instituts, Paris; 1987 Stipendiatin der Maison des Sciences de I'Ho1111l1e , Paris; 1993-96 Stipendiatin des Lise-Meitner-Habilitationsprogramms. 1997: Preis des Gleinl hauses in Halberstadt für die Erforschung der Kulturgeschichte des 18. Jh. und Wissenschaftsliteratur. 1984-87 Tätigkeit in einem Forschungsprojekt der DFG zum Thema "Zensur wld Buchhandel im Ancien Regime" ; 1988-1990 wissen schaftliche Mitarbeiterin run LehrstuW Neuere Geschichte I in Bochwl1, 19911 993 wissenschaftliche Assistentin i n Bochum. Wichtigste Publikationen: Im im Ancien Regime.
Schatten der Bastille. Die Welt der Schriftsteller, Buchhändler und Kolporteure am Vorabend der Französischen Revolution, Stuttgart Stuttgart
1 993
1 990
1993; Frrulkreich 1800, 1815-1 830, Stuttgart 1850-1870, Stuttgart 1 997 �lfSg.
�lfSg. zusam. mit H. Kohle); Fratlkreich
�1fSg. zusrun. nüt H. Kohle); Fratlkreich
zusam. nüt H. Kohle). Forschungsschwerpunkte: Französische Geselüchte des 18. wld 1 9. Jaluhunderts; Geschichte der Hexenverfolgung im Fürstbistum Münster; Neue Medien und Geschichtswissenschaft.
Stephdfl R Heiß:
M..A.; Jg.
1965,
Studium der Neueren Geselüchte, Anglistik,
Staatswissenschaften in München; Mitarbeiter in historischen Ausstellungspro jekten, Forschungen zur Geselüchte der Schwulen in München wld Bayern bis
1969.
Publikationen: "Weltkriegssoldaten aus der Isarvorstadt" in: Bokovoy/
Meining: Versagte Heimat, München
1994; .A.
Knoll/S. Heiss: "Aufkreischend
entfloh das junge Ding", in: München von hinten, Berlin
Katrill Keller.
Dr. phiI.; Jg.
1962.
Seit
1987
LehrstuW Regionalgeschichte/Sächsische
1995.
Wissenschaftl. Mitarbeiterin am
Lruldesgeschichte der Universität
Leipzig. Forschungen derzeit zur Stadtgeselüchte des
1 7.
und
18. Jh.
sowie zur
höfisch-adligen Kultur des Absolutismus. Neuere Veröffentl.: Hrsg., "Mein Herr befindet Siell gottlob gesund und wohl". Zwei sächsische Prinzen auf Rei sen, Leipzig
1 994;
Hrsg., Feste und Feiern. Zum Wruldel städtischer Festkultur
268
AutorInnenverzeichnis
in Leipzig, Leipzig 1 994; Hrsg. zus. mit H.-D. Schmid, Vom Kult zur Kulisse. Das Völkerschlachtdenkmal als
Gegenstand der Geschichtskultur, Leipzig
1 995.
Silke Göttscb:
Prof. Dr. phil.; Jg. 1 952, Studium der Volkskunde, Geschichte
und Nordistik an der Universität Kiel, 1 980 Promotion, 1 989 Habilitation, 1 99 1 Professur für Volkskunde
an
der Universität Freiburg, seit 1 995 Profes
sur für Volkskunde an der Universität Kiel. Forschungsschwerpunkte: Ge schlechterforschung, historische Volkskultur, Regionalkultur, bürgerliche Kul tur um 1900.
Wo(jgallg Scbmale:
Dr. phil. habil.; Jg. 1 956. Privatdozent am Ins titut für
Neuere Geschichte der Ludwig-Maxim.ilians-Universität München, zuvor u.a. Dozent (Maitre de conft:rences) an der Universität Tours/Frankreich. Heraus geber der Buchreillen "Innovationen. Bibliothek zur neueren und neuesten Geschichte" im Berlin-Verlag Amo Spitz GmbH; "Herausforderungen. Histo risch-politische Analysen" im Verlag Dr. Winkler, Bochum. Schwerpunkte: Geschichte Frankreichs, deutsch-französische Komparatistik, europäische Ge schichte, Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Rechts, Körpergeschichte.
A1Jgela Taeger.
Dr. phil. habil.; Privatdozentin
lUn
His torischen Seminar der
earl von Ossietzky Universität Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: FrlUlzö sische Sozialgeschichte des
1 8 . und 1 9. Jallrhunderts; FlUlliliengeschichte;
Geschichte der Sexualität.
Altette Völker-Rasor.
Dr.
phil.; Jg.
1 962. Studium der Geschichte
und
Gemlanistik in Freiburg. Bis 1 995 \'{lissenschaftl. Mitarbeiterin in Freiburg bei Emst SChulitl und
in
München bei Winfried Schulze. Seit 1 996 freiberuflich
tätig im Museumswesen und Erwachsenenbildung. Neuere Veröffentl.: Bilder paare - Paarbilder. Die Ehe in Autobiographien des 16. Jh., Freiburg 1 993; ver schiedene Aufsätze zu Themen der Frauen- und Geschlechtergeschichte.
Stif01I Zahbn01w:
M.A.; Jg. 1 968, Studiwll der Neuen wld Mittleren Ge
schichte sowie Pädagogik in Münster. Kollegiat am interdisziplitlären Graduier tenkolleg "Konflikte
im
Kontext sozialer und kultureller Diversität" (Münster).
Aktuelles Projekt: Dissertation zwn Verhältnis von Körper und Konfliktkultur
in
Spielfilmen der BRD und DDR seit den 1 960er Jahren. Veröffentlichungen
zur Geschichte der Werbung, Geschlechtergeschichte, Geschichte nationaler Symbole,
Filmwirtschaft
Islam/Türkei).
und
Filmpolitik,
Migrantellkultur
(Schwerpwlkt: