Berte Bratt
Marions glücklicher Entschluß
Die Welt, in der die 19jährige Britta lebt, strahlt eine wunderbare Heiterk...
87 downloads
455 Views
2MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Berte Bratt
Marions glücklicher Entschluß
Die Welt, in der die 19jährige Britta lebt, strahlt eine wunderbare Heiterkeit aus. Ein kluger und verständnisvoller Vater; die mütterliche Freundin Tante Edda; die geliebte Kusine Ellen; der Sommergast Bernadette mit der bezaubernden Lillepus - alle haben ihren Anteil daran. Ein Zufall führt die 17jährige Marion ins Haus. Wie es gelingt, das trotzige und einsame Mädchen, das in schlechte Gesellschaft und auf einen gefährlich abgründigen Weg geraten war, in dies fröhliche und ausgeglichene Leben hereinzuholen, das erzählt Berte Bratt mit einer Spannung, die bis zum letzten Augenblick die Leserin nicht losläßt, und mit viel Wärme und Klugheit, die zu Herzen gehen.
1983 by Franz Schneider Verlag GmbH & Co. KG München – Wien – Hollywood/Florida USA Titelfoto Dr. Jochen Müller, München ISBN 3505084301 Bestellnummer 8430 Alle Rechte der weiteren Verwertung liegen beim Verlag, der sie gern vermittelt.
1. Als ich noch zur Schule ging und deutsche Aufsätze schrieb, sagte meine Lehrerin immer: »Nicht daß deine Arbeiten schlecht sind, Britta, aber eines vergißt du stets: Jede Arbeit, auch wenn es nur ein kleiner Aufsatz ist, sollte eine Einleitung haben! Du springst kopfüber in dein Thema hinein, und vor lauter Eifer läßt du die einleitenden Worte weg!« Ich glaube, meine Lehrerin hatte recht. Denn jetzt, da ich mich hingesetzt habe, um alles zu erzählen, was ich im letzten Sommer erlebte, möchte ich gleich damit anfangen. Das geht aber nicht. Ich sehe ein, daß ich zuerst diese fatalen einleitenden Worte schreiben muß. Also: Ich bin neunzehn Jahre alt, das heißt beinahe zwanzig. Ich wohne mit meinem Vater auf einer Nordseeinsel, die »Seehundsrücken« heißt. Schon mit zehn Jahren habe ich meine Mutter verloren. Meine gute, liebe Omi wurde mir eine zweite Mutter, und als sie im letzten Winter ihre guten Augen für immer schloß, war es ein schwerer Schlag für uns beide – für Vati und mich. Von Omi habe ich alles gelernt, was ich kann – ich kenne mich im Kochen und in der Hausarbeit aus, und ich kann einigermaßen vernünftig mit dem Haushaltsgeld umgehen. Es war ein Segen, daß ich das alles gelernt hatte. Denn als wir Omi nicht mehr hatten, mußte ich plötzlich Hausfrau sein. Früher wohnten wir auch mit Tante Birgit zusammen. Sie ist Vatis Schwester. Seit einem Jahr unterrichtet sie an einer Schule in Kiel. Sie ist nämlich Lehrerin. Hier auf Seehundsrücken bin ich geboren, und hier habe ich immer gewohnt. Früher hatten wir oft das Gefühl, wir wohnten ein bißchen außerhalb der zivilisierten Welt. Das hat sich geändert. Als der Strom der Sommergäste immer größer wurde, bekamen wir einen feinen Badestrand mit Strandkörben und Wurstbuden und Eiswagen und solchen Sachen. Außerdem haben wir ein Kurhaus mit allem, was dazugehört. Unser Haus ist gemütlich, durchaus nicht elegant, aber nett und geräumig. Ganze acht Zimmer haben wir. Davon vermieten wir jedes Jahr zwei bis drei an Sommergäste. Alle Menschen hier vermieten im Sommer Zimmer.
Vati ist Kunstmaler. Vor drei Jahren war er in Paris, weil er ein Stipendium erhalten hatte. Ich begleitete ihn und führte ihm den Haushalt. In Paris lernte ich Pierre kennen, und an meinem achtzehnten Geburtstag haben wir uns verlobt. Pierre ist Verkehrsflieger. Seine Ausbildung hat er an der Fliegerschule in Bremen bekommen. Jetzt ist er Copilot und ist in Hamburg stationiert. Daß ich Pierre kennenlernte, ist das Allerschönste in meinem Leben. In Paris traf ich auch die Schriftstellerin Edda Callies. Ich nenne sie Tante Edda und habe sie ganz schrecklich lieb. Sie wohnt in Aachen, und zweimal hat sie den Sommer bei uns auf dem Seehundsrücken verbracht. Dann wäre nur noch Ellen zu erwähnen, meine dänische Cousine. Sie ist zehn Jahre älter als ich, aber trotzdem sind wir ganz dicke Freundinnen. Sie wohnte zwei Monate bei uns in Paris. Somit, glaube ich, habe ich das Wesentlichste erzählt. Und jetzt möchte ich von unserem letzten Sommer berichten. Von dem Sommer, als wir Marion kennenlernten. Bevor Marion kam, passierte so allerlei. Eigentlich fing alles an einem hellen Frühlingsabend an. Vati und ich hatten gegessen, ich hatte abgeräumt, und nun plauderten wir noch, wir beide. Wir sind gute Kameraden, können immer frei miteinander reden und verstehen uns wunderbar. »Na, Brittachen?« sagte Vati. »Du bist ein bißchen blaß um die Schnut. Geht es dir nicht gut?« »O doch, Paps. Ich denke an Omi. Sie fehlt mir furchtbar.« »Ja, meine Deern, das verstehe ich. Und wie, glaubst du, fehlt sie mir? Aber Britta, was würde Omi sagen, falls sie jetzt mit dir sprechen könnte? Weißt du das?« »Ja«, nickte ich. »Sie würde sagen: ›Köpfchen hoch, Britta!‹« »Eben! Und weiter: ›Denk an all das Schöne, das wir zusammen erlebt haben! Denk an das, was ich dich gelehrt habe! Ich mußte euch verlassen, ich war alt, ich hatte das Leben hinter mir. Aber du, Britta, du bist jung, du kannst jetzt meinen Platz einnehmen und meine Arbeit tun. Tu das, Britta, und sei glücklich, weil du jung bist und so viel Schönes vor dir hast!‹« »Ja, du hast recht, Paps. Das würde sie sagen. Und sie würde hinzufügen: ›Gott segne dich, mein Kind!‹« Wir schwiegen eine Weile. Endlich brach Vati das Schweigen: »Hör mal zu, Britta. Ich überlege etwas. Ich möchte dieses Jahr keine Sommergäste haben.
Es würde dir zuviel werden.« »Aber nein, Paps.« »Doch, mein Kind. Du solltest dich nur einmal sehen! Dein Gesichtchen ist klein und blaß geworden. Du hast sehr tapfer durchgehalten, als Omi krank war, und nachher – ja, du bist tüchtig, Britta, du schaffst deine Hausarbeit sehr gut. Aber wenn du mal ein bißchen Zeit übrig hast, sollst du faulenzen, Spaziergänge machen oder stricken oder mit deinen Katzen spielen oder…« Wie auf ein Stichwort ging die Tür auf. Meine Siamkatze Columbine war auf die Klinke gesprungen und kam jetzt herein. Sie blieb vor mir stehen und miaute. Ich wußte genau, was das bedeutete: Hole das Körbchen mit den Jungen und stelle es ins Wohnzimmer, dann brauche ich sie nicht einzeln reinzutragen. Columbines Wünsche sind bei uns Gesetz. Also ging ich in die Küche und holte den Rest der Familie. Es war Columbines dritter Wurf, wonnig wie alle kleinen Kätzchen, aber ganz und gar unsiamesisch. Hier auf dem Seehundsrücken gibt es keinen standesgemäßen Ehemann für Columbine; sie lebt in einem freien Verhältnis mit dem gescheckten Kater beim Bäcker. Columbine beschnüffelte ihre Kinder, leckte sie ein bißchen, vergewisserte sich, daß alles in Ordnung war, und sprang dann auf meinen Schoß. Columbine ist nach Siamesenart eine typische Einmannkatze. Gästen gegenüber ist sie zurückhaltend, zu Vati und Pierre freundlich, wirklich liebevoll nur zu mir. Bis dahin war sie nie auf einen anderen Schoß als meinen gesprungen. Sie verlangt, daß ich selbst ihr das Futter gebe und ihr das Körbchen zurechtmache. Ich streichelte ihr den Rücken und plauderte weiter mit Vati. »Aber Paps, wenn du nun mal wegfährst, wäre es eigentlich nett für mich, irgend jemanden im Haus zu haben!« »Erstens ist es gerade dies ›irgend jemand‹, das ich fürchte. Man weiß ja nie, was für Menschen man ins Haus kriegt. Zweitens hast du doch bewiesen, daß du allein sein kannst, Britta – muß ich dich daran erinnern? Drittens hast du Inken und ihre Eltern im Nachbarhaus und Freunde überall auf der Insel. Ich mag nicht daran denken, daß du für anspruchsvolle Sommergäste arbeitest. Gerade falls ich weg müßte! Man kann ja nie wissen. Dann säßest du mit deinen neunzehn Jahren und der ganzen Verantwortung und Arbeit da. Nein, Britta, wir streichen die Sommergäste dieses Jahr!« »Aber das Geld, Paps? Wie wollen wir es ohne das Geld schaffen? Denk an die Waschmaschine!«
»Dafür werde ich das Geld wohl zusammenpinseln können.« »Nun, ich weiß nicht so recht… Denk an alles, was wir letztes Jahr mit dem Sommergeld bezahlen konnten, Paps! Besäßen wir vielleicht den Fernseher ohne Sommergäste? Oder den hübschen Teppich im Wohnzimmer? Und das neue Dach auf dem Schuppen, Paps? Das alles haben wir doch mit unserem Sommergeld bezahlt.« »Das stimmt schon. Aber du weißt auch, daß ich die beiden letzten Jahre viel besser verdient habe – seit es den Leuten klargeworden ist, daß Benno Dieters Freskogemälde restaurieren und sogar neue malen kann, wenn Not am Mann ist!« Da hatte Vati recht. Damals in Frankreich hatte er zwei Kirchen restauriert. Seitdem hat er in Deutschland und Dänemark öfter ähnliche Aufträge bekommen. Selbstverständlich ist das sehr schön für ihn, doch für mich ist die Folge, daß ich meinen Paps manchmal wochenlang entbehren muß. Das mag ich nun gar nicht, Vati und ich haben uns so lieb, wie Vater und Tochter sich überhaupt liebhaben können, und sind es gewohnt, Gutes und Böses miteinander zu teilen. »Nun ja, Paps«, sagte ich und legte Columbine zurück ins Körbchen, »dann halten wir es so, wie du willst. Selbstverständlich wird es schön für mich sein, Ferien zu haben. Aber zunächst muß ich arbeiten.« »Was hast du denn vor?« »Das werde ich dir sagen. Wir sprachen gerade davon, was Omi jetzt zu mir sagen würde, falls sie mit mir sprechen könnte. Ich weiß noch etwas, was sie bestimmt sagte! Nämlich: ›Britta, räum doch das feine Geschirr in die Vitrine; es steht nun seit Weihnachten im Küchenschrank.‹« »Muß das jetzt sein?« »Ja, gerade jetzt. Du weißt doch, wie sie immer ihre chinesischen Tassen hütete.« »Na gut, mein Kind, dann tu es.« Ich ging in die Küche und wusch ab, dann holte ich die feinen Tassen, die nur zu Weihnachten und zu den Geburtstagen gebraucht wurden. Ganz vorsichtig stellte ich sie auf ein Tablett und trug sie in Omis Zimmer. Ich räumte sie in die Vitrine zu den anderen »guten Sachen« und blieb einen Augenblick davor stehen. Wie oft hatte ich als Kind so gestanden, und Omi hatte vorsichtig dies oder jenes herausgeholt und mir gezeigt: den kleinen geschnitzten Buddha, die rote Lackschale, den ziselierten Messingbecher – Dinge, die ihr Vater vor vielen, vielen Jahren aus China mitgebracht hatte.
Zum erstenmal machte ich selbst die Vitrine auf, zum erstenmal war ich es, die die Tassen auf ihren Platz stellte. In diesem Augenblick wurde mir bewußt, welchen Platz ich künftig ausfüllen mußte. Ja, zusammen mit dem Porzellan räumte ich auch etwas anderes weg: die letzten Reste meiner Kindheit, die Unbekümmertheit und die Sorglosigkeit. Von jetzt an hatte ich die Verantwortung eines erwachsenen Menschen. Jetzt hing es von mir allein ab, ob Vati richtig versorgt wurde, ob unser Heim gemütlich und gepflegt war, ob unser Geld vernünftig verwaltet wurde. Ich schloß die Vitrine. Ich schloß die Tür ab – hinter dem feinen Porzellan und hinter meiner eigenen Kindheit.
2. Vati war für ein paar Tage nach Bremen gefahren, und Columbine,
ihre Kätzchen und ich waren allein. Eigentlich nicht ganz allein,
denn abends kam meine Freundin Inken und übernachtete bei mir.
Vati war ruhiger, wenn er mich nicht mutterseelenallein wußte,
obgleich unsere Insel der friedlichste Ort auf der Welt ist. Inken und
ich sind von jeher die besten Freundinnen gewesen – seit wir in
unseren Kinderwagen saßen und unsere Mütter Erfahrungen über
Babykost und Windelqualitäten austauschten. Es war nett zu wissen,
daß Inken jeden Abend kam. Ich machte dann Feuer im Kamin und
kratzte irgendwas Gutes aus der Speisekammer zusammen, und wir
plauderten leise und vertraulich, wie schon oft. »Du, Britta«, sagte
Inken eines Abends, »ist es nun wirklich euer Ernst, diesen Sommer
keine Gäste zu nehmen?«
»Scheint so. Vati meint, es würde mir zuviel.«
»Schade«, sagte Inken. »Wieso?«
»Ja, weißt du, bei uns ist alles vergeben; die ersten Gäste kommen schon in wenigen Tagen. Heute bekamen wir einen Brief von einer Dame, die wir gern genommen hätten. Dann dachte ich, falls ihr es euch anders überlegt hättet…« »Warum möchtet ihr sie so gern haben? Kennt ihr sie?« »Nein, nur ihr Brief gefiel uns. Ich habe ihn mitgebracht. Bitte sehr, lies ihn doch!« Ich las. Inken hatte recht. Es war ein reizender Brief, ganz persönlich und freundlich geschrieben. Außerdem gefiel mir die Handschrift. Wenn man etliche hundert Briefe von Menschen gelesen hat, die ein Sommerquartier suchen, kriegt man Übung im Beurteilen von Handschriften. Es handelte sich um eine junge Frau, die ein Zimmer für sich und ihr vierjähriges Töchterchen suchte. Die Kleine hatte Bronchitis gehabt, und ihr hatte der Arzt Nordseeluft empfohlen. Ich sah nach der Unterschrift. Die Dame hieß Bernadette Grather, und der Brief kam aus Frankfurt. »Da es sich um einen längeren Aufenthalt handelt als sonst bei Sommergästen, ist es vielleicht besser, daß ich noch ein bißchen über uns erzähle«, schrieb Frau Grather. Sie wollte gern so bald wie möglich kommen und zwei bis drei Monate bleiben. Ihr Mann wäre einige Zeit beruflich im Ausland. Am liebsten käme sie in etwa
vierzehn Tagen. Dann könnte sie mit gutem Gewissen wegfahren. Sie sei fünfundzwanzig Jahre alt, ihr Mann Kameramann beim Film, und sie hätten nur das eine Kind. »Unsere kleine Elaine ist ein artiges Kind; lebhaft zwar, aber sie macht nicht mehr Unfug als andere normale Kinder. Ich lege ein Bild von ihr bei.« Das Foto zeigte ein süßes kleines Mädchen, das auf dem Rücken eines riesigen Bernhardinerhundes saß. »Weißt du was, Inken?« sagte ich. »Diese Gäste möchte ich auch gern haben.« »Hab ich mir gedacht«, erwiderte Inken. »Sprich doch mit Onkel Benno darüber! Jetzt muß ich aber in die Falle, Britta. Ich bin müde wie ein Kuli nach Überstunden!« »Verschwinde bloß. Ich komme gleich, werde nur ein bißchen Ordnung machen.« Inken gähnte herzhaft und ungeniert und machte sich aus dem Staube. Kein Wunder, daß sie müde war. Sie arbeitete als Büro- und Ladenhilfe. Der Montag ist immer ein anstrengender Tag für sie, und heute war Montag. Ich räumte Obsttellerchen und Limonadengläser weg und machte die Tür auf, damit Columbine ihren Abendspaziergang machen konnte. In dem Augenblick, als ich zurück ins Wohnzimmer kam, läutete das Telefon. Vati rief an. »Warst du schon im Bett, Brittachen?« »Nein, aber beinahe. Wie geht’s?« »Großartig. Ich rufe an, um dir zu erzählen, daß ich einen Riesenauftrag bekommen habe. Du darfst die Waschmaschine als gesichert betrachten.« »Oh, großartig! Und was für Wände wirst du jetzt beklecksen?« »Schäme dich! Du kannst dich auf etwas gefaßt machen, wenn ich nach Hause komme! Im Ernst, mein Herz: Ich werde das neue Rathaus in… in… ach wie hieß das Kaff doch gleich? Na, also irgendwo im Saarland auspinseln.« »Ich gratuliere, Paps. Wann fährst du?« »In zwei, drei Wochen. Ich komme also übermorgen nach Hause… ach nein, warte mal… könntest du deine Raubtiere bei Inken in Pension geben? Für einen Tag oder vielleicht zwei? Dann kommst du her und siehst die Waschmaschinen an, mit mir zusammen!« »Na, und ob ich das kann! Ich fahre morgen mit dem Vormittagsschiff ab.«
»Fein! Ich hole dich am Bahnhof ab. Ja, ich weiß schon, mit welchem Zug du dann Anschluß hast. Gehen wir morgen abend in das Goethetheater, Britta?« »Halt, halt Paps!« rief ich in den Hörer. »Du hast noch nicht das Honorar! Es ist dein Glück, daß ich komme und auf dich aufpasse. Furchtbar, daß ich dich nicht besser erzogen habe, du alter Verschwender!« »Von wegen Erziehung, du freches Gör! Ich werde dir…« »Nun hören wir auf, Paps. Telefonieren ist teuer!« »Du bist scheußlich vernünftig. Also gut – morgen mit dem Vormittagsschiff. Gute Nacht, Britta!« »Gute Nacht, Paps. Danke für deinen Anruf. Ich freue mich auf morgen!« Als ich den Hörer aufgelegt hatte, sah ich, daß ein Stück Papier von der Zugluft auf den Fußboden gefegt worden war: der Brief von Frau Grather. Ich setzte mich hin und las ihn noch einmal, jedoch langsamer und genauer. Ein Wort machte mich stutzig. »Ich glaube nicht, daß meine kleine Elaine gênante sein wird.« Das war doch eine komische Wendung! Warum schrieb sie nicht »lästig«? Und »gênant« französisch geschrieben, mit Accent circonflexe. Sie hieß Bernadette. Ein französischer Name. Jetzt studierte ich den Brief mit Adlerblicken. »Mein Mann ist Kameramann…« Das Wort »Mann« war ein wenig verschmiert; es sah aus, als hätte sie versehentlich ein r statt n geschrieben. Hätte sie beinahe »mari« geschrieben? Die Kleine hieß Elaine. Auch französisch. Wäre es wohl möglich, daß Frau Grather eine gebürtige Französin war? Französisch als Muttersprache hatte? So daß wir französisch miteinander reden könnten? Das war es ja, was ich immer vermißte. Ich wollte doch so gern lernen, die Sprache meines zukünftigen Mannes fließend zu sprechen! Als ich den Brief zum dritten Male gelesen hatte, war mein Entschluß gefaßt. Ich kramte Briefblock und Kugelschreiber heraus und schrieb Frau Bernadette Grather, daß sie bei uns ein Zimmer haben könnte. Es würde gut passen, wenn sie in drei Wochen käme. Frühstück könnte sie haben, und wie es sich mit den übrigen Mahlzeiten
arrangieren ließe, könnten wir noch besprechen. Ich hätte nichts dagegen, daß sie meine Küche benutze. Mit dem Preis hatte ich keine Schwierigkeiten. Ich wußte genau, was Omi immer für das Südzimmer mit Frühstück und Badbenutzung verlangt hatte. »Warte mal, Paps!« sagte ich am folgenden Nachmittag am Bahnhof in Bremen. »Ich muß schnell einen Brief einstecken!« »Pierre kann lachen«, sagte Vati. »Du bist wirklich eine fleißige Briefeschreiberin!« Ich korrigierte das Mißverständnis nicht. Selbstverständlich hatte mein leichtsinniger Vater doch Karten für das Theater besorgt. Und in meinem Zimmer in der Pension stand ein großer Karton Pralinen. O mein unmöglicher Paps! Am folgenden Tage kauften wir die Waschmaschine, und hätte ich meinen verschwenderischen Vater nicht sozusagen festgehalten, hätte er bestimmt auch einen Heimbügler gekauft. Jetzt beschränkte er sich auf einen elektrischen Trockenrasierer, und das gönnte ich ihm. Mir kaufte er einen todschicken und sündhaft teuren Pullover. Er erzählte begeistert von seinem neuen Auftrag, erwähnte aber mich, das Haus und die Katzen mit keinem Wort. Der Gedanke, daß ich wochenlang allein sein würde, war ihm anscheinend noch nicht gekommen. Komisch. Sonst dachte er doch immer zuerst an mich! Nun ja. Mein Vati ist Künstler, und mit Künstlern muß man eben Nachsicht haben. Außerdem ist er der liebste Mensch auf der Welt. Als wir zu unserer Pension zurückkamen, lag dort ein Bescheid für Vati. Er sagte nichts, wanderte aber zielbewußt in Richtung Telefon. Als er zurückkam, strahlten seine Augen. »Nun, Paps, war es was Nettes?« »Unbedingt. Aber ich muß noch zwei Tage hierbleiben. Dann ist es wohl besser, daß du dich nach Hause trollst und den Elektriker bestellst, damit unser Waschwunder so bald wie möglich aufgestellt wird.« »Wann kommst du denn, du unsolider Wandschmierer?« »Britta! Hüte deinen Mund, sonst…« »Unsinn, ich bin zu alt, um Haue zu kriegen. Also, wann kommst du?« »Mit dem Abendschiff Sonnabend, du Frechling. Ich möchte Beefsteak zum Abendessen. Reichlich, wenn ich bitten darf. Und nachher Obstsalat.«
»So, das möchtest du. Nun ja, ich werde mal sehen, was sich machen läßt – da du mir die Waschmaschine spendiert hast. Du bist trotz allem ganz sympathisch, Paps!« Zu Hause ging ich sofort ans Saubermachen. Das Haus sollte blitzen, wenn Frau Grather kam. Falls sie kam! Am folgenden Tag erhielt ich ein Telegramm: »Herzlichen Dank für Brief. Mit Bedingungen einverstanden. Ankunft achten Mai. Gruß Bernadette Grather.« Ja – nun würde sich zeigen, was Vati zu meiner eigenmächtigen Handlungsweise sagte! Ich putzte die Fenster des Südzimmers, bis sie vor Sauberkeit strahlten, bohnerte den Fußboden und suchte die hübscheste Bettwäsche aus. Dann fiel mir etwas ein: Mein altes Puppenhaus stand noch auf dem Boden. Das holte ich runter, machte es gründlich sauber und stellte es auf einen Hocker ins Fremdenzimmer. Plötzlich blieb ich stehen. Ich hatte gepfiffen! Ich ging rum und pfiff beim Arbeiten! Das war das erste Mal seit Omis Tod. Als mir das klar wurde, mußte ich plötzlich eine Träne wegwischen. Aber kurz danach pfiff ich wieder. Ich lief zum Kaufmann und holte Fleisch. Heute abend wollte ja Vati kommen, und er hatte reichlich Beefsteaks verlangt. Gut, gut, er sollte seine Steaks haben. Dann stand ich an diesem Frühlingsabend auf dem Kai und sah das Schiff immer näher kommen. Dort – ja, da stand Paps. Ich winkte und winkte. Wie schön, daß er nach Hause kam! Wenn ich auch die Kunst des Alleinseins beherrsche und sogar Gefallen daran finde, so ist es auf die Dauer doch netter, Gesellschaft zu haben. Ich war sehr froh, daß Frau Grather kommen würde. Heute abend wollte ich Vati beichten, daß ich hinter seinem Rücken gehandelt hatte. Vati drehte sich um – zu einer Dame, die neben ihm an der Reling stand. Als das Schiff näher kam, fing mein Herz an zu klopfen. Die Figur kannte ich doch – und den Mantel mit dem Nutriakragen – und vor allem kannte ich die Augen und das Lächeln… Ich winkte mit beiden Armen, ich schrie so laut, daß die Leute auf dem Kai sich umdrehten und lachten: »Tante Edda! Tante Edda!« Nicht Vati bekam die erste Umarmung, als sie über den Landungssteg kamen, sondern Tante Edda. »Britta, mein Mädchen, wie geht es dir?«
»Gut, Tante Edda, prima! Und du? Was in aller Welt willst du auf dem Seehundsrücken?« »Mit dir und deinem Vater Beefsteak essen.« »Und was noch?« Vati lachte. »Ja, was glaubst du?« Ich guckte ihm in sein verschmitztes Gesicht. »O Paps, du alter Schlauberger! Das war dein Telefonat! Deshalb hast du verschwiegen, daß ich allein sein müßte, wenn du ins Saarland fährst! Du hast Tante Edda als Kindermädchen für mich angestellt!« »Genau das.« »Paps, du hast ab und zu gute Einfälle. Komm, Tante Edda, ich habe mir Inkens Ponywagen geborgt – ich werde euch standesgemäß nach Hause fahren.« »Sie brauchen keine Angst zu haben, Frau Callies«, sagte Vati. »Das Pony kennt den Weg. Es geht trotz Brittas Fahrkünsten richtig.« »Du verdienst gar nicht, daß ich so lieb zu dir bin, Paps«, lachte ich. Dann fuhren wir nach Hause. »Warum in aller Welt hast du Frau Callies nicht das große Zimmer gegeben?« fragte Vati. Ich hatte in Windeseile das Ostzimmerchen gerichtet. »Paps, das kleine Zimmer ist sauber und alles in Ordnung. Wenn du, ohne einen Piep zu sagen, Gäste mitbringst, kannst du nicht erwarten, daß alles tipptopp ist.« »Ich schlafe sehr gern im kleinen Zimmer«, lächelte Tante Edda. »Ich liebe doch die Morgensonne!« Damit war diese Schwierigkeit überwunden. Noch ahnte Vati nicht, daß das große Zimmer für drei Monate vermietet war. Vorerst kam er auch nicht dazu, es zu ahnen. Jetzt beichten, da Tante Edda gekommen war? Bei Vati konnte man nie wissen… Als Tante Edda und ich allein waren, erzählte ich es ihr. »Ja«, sagte Tante Edda, »das wird aber viel Arbeit für dich, Kind. Dein Vater hat mich beschworen, drei Monate hierzubleiben, und ich habe meine Wohnung an zwei Studenten vermietet und meine Schreibmaschine mitgebracht. Ich habe die Absicht, mein neues Buch hier zu schreiben. Vielleicht kannst du mir Anregungen geben!« »Wunderbar, Tante Edda! Ich wünsche, du könntest drei Jahre bleiben, und nicht bloß drei Monate! Und jetzt steht es jedenfalls
bombenfest, daß ich nicht allein bin!« Ich ahnte noch nicht, wie wenig allein! »Tante Edda, so geht es nicht«, sagte ich. »Du bist hergekommen um zu dichten, nicht um zu waschen.« »Nennst du dies waschen?« fragte sie. Wir standen beide, die Hände in den Schürzentaschen, und starrten andächtig auf die neue Waschmaschine, in deren Innerem Vatis Hemden und Unterwäsche rotierten. Seine Reise war vorverlegt worden, und jetzt hieß es, seine Sachen so bald wie möglich in Ordnung zu bringen. »Nein, aber dichten nenne ich es schon gar nicht!« »Wie oft soll ich dir sagen, daß ich mich zwischendurch mit anderen Dingen beschäftigen muß, um Ideen zu kriegen?« fragte Tante Edda. »Ich kann nicht den ganzen Tag an der Schreibmaschine sitzen und mir die Fingerkuppen wundtippen.« »Na, also gut. Und du verlangst von mir, daß ich dir glauben soll, Abwaschen und Besorgungen und Tischdecken und Staubwischen wären notwendig, damit die Schwingen des Genius deine Stirn berühren?« »Du bist eine Quengelliese, Britta. Aber hör zu: Wenn ich dir hoch und heilig verspreche, mich zu Schreibmaschine und Dichtkunst zurückzuziehen, sobald mich die Inspiration überkommt…« »… und dort zu bleiben, solange sie anhält«, unterbrach ich. »Ja, wenn ich das also verspreche, willst du dann endlich mit deinem Quengeln aufhören? Ich liebe die Hausarbeit. Diese Freude kannst du mir doch gönnen!« »Wenn du bloß nicht von mir verlangst, daß ich krank werde, damit du dich als Krankenschwester betätigen darfst!« sagte ich. »Weißt du noch – unsere Bekanntschaft fing damit an, daß du mich wie ein Baby waschen mußtest.« »O ja. So, Britta, nun schalte deine Höllenmaschine aus, jetzt müssen wir den Schalter dort auf S stellen, das bedeutet Schleudern.« Mit der Betriebsanleitung in der Hand drehten wir am Schalter und stellten den Zeiger ein. Vatis Hemden wurden sauberer als je zuvor. »Willst du deinem Vater wirklich nicht erzählen, daß Frau Grather kommt?« fragte Tante Edda, als die Hemden aufgehängt waren und wir mit dem Essenkochen angefangen hatten. »Ich wollte es ja eigentlich«, sagte ich. »Aber du siehst, wie Vati ist: Er steckt bis über die Ohren in Kunstgeschichte und Reisevorbereitungen. Außerdem geht er gewöhnlich hoch, wenn ich
hinter seinem Rücken handle. Warum soll ich ihn beunruhigen? Du und ich, wir haben ihn schon einmal hinters Licht geführt, Tante Edda!« »Du hast es getan, du garstiges Kind! Ich mußte gute Miene zum bösen Spiel machen!« »Kannst du das nicht noch einmal tun, Tante Edda?« Sie lächelte. »O doch. Wenn es sich nicht um schlimmere Dinge handelt, als eine nette junge Dame und ein süßes kleines Kind als zahlende Gäste aufzunehmen, dann kann ich den Mund halten!« Es kam der Tag, an dem ich wieder den Ponywagen auslieh und Vati zum Schiff fuhr, mit Staffelei, Koffer und Malkasten. »Laßt es euch gutgehen, alle beide«, sagte Vati. »Schreib mir mindestens jeden zweiten Tag eine Karte, Britta, damit ich weiß, daß es dir gutgeht und daß du keinen Unfug machst.« »Danke, gleichfalls, Paps!« »Du schreckliches Kind«, murmelte Vati. »Frau Callies, können Sie nicht versuchen, meine freche Göre ein wenig zu erziehen?« »Mit Strenge oder mit Liebe?« lächelte Tante Edda. Vati kam nicht dazu, diese Frage zu beantworten, denn jetzt machten sich die Leute daran, den Landungssteg wegzuschaffen. Im letzten Augenblick lief Vati an Bord. Langsam legte das Schiff ab. Vati stand an der Reling, winkte und lächelte. »Frau Callies!« rief er, die Hände wie einen Trichter vor dem Mund. »Ja!?« schrie Tante Edda zurück. »Sie brauchen es doch nicht! Britta ist in Ordnung, so wie sie ist!« Vati lächelte übers ganze Gesicht und winkte mit einem großen, karierten Taschentuch. Dann drehte das Schiff, und wir konnten Vati nicht mehr sehen.
3. »Eines prophezeie ich dir, Britta«, sagte Tante Edda. »Falls diese Frau Grather keine ausgesprochene Tierfreundin ist, wird sie mit dem nächsten Schiff zurückfahren!« »Was hat meine arme Katze schon wieder ausgefressen?« erkundigte ich mich. »Ihre Jungen in mein Bett gelegt.« »Welche Ehre für dich!« Ich mußte lachen. »Du bist unmöglich«, seufzte Tante Edda. »Kann ich etwas für dich tun? Vielleicht den Tisch decken?« »O ja, wenn du so lieb sein würdest! Die Zeit ist mir davongerannt. Ich muß schnell zu Inken rüber und das Pony anspannen. Das Schiff wird in einer halben Stunde da sein!« »Lauf nur, ich decke schon.« »Und leg ein Stück Fisch auf Columbines Teller!« rief ich, zog einen Kamm durch die Haare, warf mir schnell den Lodenmantel um und machte mich davon. Ich stand am Landungssteg und hielt Ausschau. Es waren nicht viele Fahrgäste da. Die Saison hatte ja noch nicht richtig angefangen. Da war nur ein einziger Passagier mit einem Kind. Dieser einzige Passagier war weiblichen Geschlechts und sah aus wie eine Siebzehnjährige. Klein, schwarzhaarig und schlank war sie und lächelte. Ich hätte sie für eine Italienierin oder Südfranzösin gehalten. Ich ging hin zu ihr. »Verzeihung, Sie sind doch wohl nicht Frau Grather?« Ihr Gesicht war ein einziges Lächeln. »Doch, die bin ich. Aber Sie können unmöglich Fräulein Dieters sein?« »Doch, die bin ich!« Ich drückte eine schmale kleine Hand, und dann sagten wir gleichzeitig: »Ich hätte es mir nicht träumen lassen, daß Sie so jung sind!« Wir brachen in Lachen aus und waren von diesem Augenblick an Freundinnen. Später haben wir uns oft diese Szene in die Erinnerung zurückgerufen und mußten jedesmal wieder lachen. »Ich dachte, eine Pensionswirtin sei immer so ein bißchen ältlich und energisch und ein klein wenig furchterregend!« erklärte Frau Grather. »Und ich dachte, die Mutter eines vierjährigen Kindes sähe älter
aus als siebzehn!« sagte ich. »Oh, ich danke fürs Kompliment! Ich bin fünfundzwanzig!« Frau Grather lachte. »Elaine, nun sage der Tante hübsch guten Tag!« Dann geschah es, daß das Knäuelchen mir die Hand reichte, sehr manierlich einen Knicks machte, das Mündchen auftat und ganz deutlich sprach: »Bonjour, Madame!« »Was?« rief ich. Ich hätte die Kleine auf der Stelle umarmen können, ich, die ich Pierres Sprache liebe. »Bonjour, ma petite, je suis enchantée!« »Oh, Sie sprechen Französisch?« sagte Frau Grather! »Wie nett!« »Das habe ich mir ja gedacht, daß Sie Französin sind!« sagte ich. »Dann haben Sie verkehrt gedacht. Aber wir hatten gerade Besuch von meiner Großmutter. Sie ist Französin.« »Hast du auch eine Oma?« fragte das Knäuelchen. Da mußte ich einen Kloß im Hals runterschlucken. »Nein«, sagte ich. »Ich hatte eine sehr liebe Oma, aber sie ist tot. Komm, ma petite, du darfst in diesem kleinen Wagen fahren. Wird das nicht schön?« Schon stand die Kleine vor dem Pony und streichelte ihm das Maul. »Sie ist wirklich nicht ängstlich!« sagte ich. »Kein Wunder!« lächelte Frau Grather. »Mein Mann ist der ausgeprägteste Tiermensch, den ich kenne.« »Gott sei Dank«, sagte ich und erzählte von Columbines Ausflug in Tante Eddas Bett. »Kleinigkeit!« meinte Frau Grather. »Ich glaube kaum, daß ich staunen würde, falls ich eines Tages nach Hause käme und einen Wurf junge Löwen im Bett fände! Hörst du, Elaine, Tante Dieters hat eine Katze!« »Petit chat!« sagte das Knäuelchen. »Quatre petits chats«, erklärte ich. »Eine große und vier ganz kleine. Also fünf, wenn wir dich dazurechnen! Du bist ja eigentlich auch so eine kleine Muschi.« Frau Grather wollte etwas sagen, aber dann fragte Elaine, wie die Katzen hießen und wie das Pony hieß. Tante Edda erwartete uns mit einem reizenden Kaffeetisch. Frau Grather war hell begeistert von dem Zimmer, und die kleine Elaine jubelte über das Puppenhaus. »Sie sind wirklich rührend, Fräulein Dieters!« sagte Frau Grather. »Ich kenne wohl Zimmer mit fließendem Wasser und Zimmer
mit Bad und Zimmer mit Radio, aber von Zimmern mit Puppenhaus habe ich bisher nie gehört.« »Nein? Da sehen Sie, wie wir auf das Wohlergehen unserer Gäste bedacht sind!« sagte ich. »In zehn Minuten gibt es Kaffee. Ich muß nur schnell das Pony zum Nachbarn zurückbringen.« Kaum hatte ich das gesagt, erschien Inken, um das Pony zu holen. Mir war klar, daß dies nur ein fadenscheiniger Vorwand war, um sich die Gäste näher zu betrachten. Auch ihr gefiel Frau Grather auf den ersten Blick. Sie hatten kaum ein paar Worte gewechselt, da drehte sich Inken zu mir um und sagte halblaut auf dänisch – ja, denn Inkens Mutter ist Dänin, so wie meine es auch gewesen war - : »Hätte ich bloß gewußt, daß sie so reizend ist, hättest du sie nicht bekommen! Vielleicht kriegen wir später ein freies Zimmer, dann…« »Kommt nicht in die Tüte. Sie bleibt!« sagte ich. »Sie ist doch das entzückendste Menschenkind, das ich je getroffen habe. Was für ein sagenhaftes Glück habe ich gehabt!« Da kam der zweite Schock des Tages. Von dem Sessel, in dem Frau Grather saß, hörte ich ein leises Lachen, und dann sagte sie, in nicht ganz reinem, aber sehr deutlichem Dänisch: »Wissen Sie, ich glaube beinahe, daß ich es bin, die Glück hat!« Falls mein Gesicht genauso töricht war wie Inkens, müssen wir ein herrliches Gespann abgegeben haben, als wir dastanden und Frau Grather mit offenen Mündern und fragenden Augen anstarrten. »Sind Sie Dänin?« »Zum zweiten Male verkehrt, Fräulein Dieters! Ich bin keine Dänin, ich verstehe nur Dänisch, weil ich Norwegerin bin.« »Ach was! Und Ihr Mann?« »Auch Norweger.« »Und mein zukünftiger Mann ist Franzose!« »So, da sind wir soweit!« sagte Inken. »Jetzt kommt die Lobeshymne auf Pierre, die kann ich auswendig. Ich nehme also lieber meinen Lipizzanerhengst mit und verschwinde. Ja, ja, Kleine, du darfst morgen kommen und Prinz begrüßen. Möchtest du vielleicht auch auf seinem Rücken reiten?« Leider hatte Inken in der Eile dänisch gesprochen, aber eigentlich war das ein Glück. Hätte Elaine sie verstanden, wäre sie höchstwahrscheinlich vor Freude geplatzt, und es wäre unmöglich
gewesen, sie zum Schlafen zu bringen! Wir hatten ein wunderbares, nettes Kaffeestündchen. Tante Edda und Bernadette Grather fanden gleich Kontakt zueinander. Frau Grather hatte als junges Mädchen sogar ein paar von Tante Eddas Büchern in norwegischer Übersetzung gelesen. Wir plauderten, fragten und erzählten. Die Zeit verflog. Schließlich stand Tante Edda auf und fing an, den Tisch abzuräumen. Ich ließ Wasser ein fürs Abwaschen. Frau Grather fragte nicht, ob sie helfen sollte. Sie tat es ganz einfach. Sie nahm ein Geschirrtuch und fing an abzutrocknen, während sie mit mir weiterplauderte. Sie erzählte von ihrem Vater, der Zirkusartist gewesen und ein paar Tage nach ihrer Geburt abgestürzt war. Sie erzählte von ihren Sommerferien in Wallis und von ihrem Mann. Sie hatten sich zufällig in Wallis getroffen und nach wenigen Wochen verlobt. »Nun hat ihn seine Filmgesellschaft nach Griechenland geschickt«, seufzte sie. »Es ist ganz schrecklich, wie oft er uns verlassen muß! Früher bin ich immer mit ihm gefahren, aber seit Lillepus da ist…« »Lillepus?« wiederholte ich. Frau Grather lächelte. »Elaine, meine ich. Den Kosenamen haben wir aus unserer Muttersprache. Ja, ja, er bedeutet genau dasselbe wie auf dänisch ›kleine Muschi‹. Sonst sprechen wir vorläufig mit Lillepus kein Norwegisch. Zwei Sprachen sind genug für so ein kleines Köpfchen.« »Habe ich doch gesagt, daß sie eine kleine Muschi ist!« Die Tür ging auf. Tante Edda kam herein. »Frau Grather, ich glaube, Sie müssen sich um Ihre Tochter kümmern!« »Hat sie etwas zerschlagen oder die Hose naß gemacht?« Tante Edda lachte. »Weder – noch, aber sie hat energisch versucht, ihre Schürzentaschen mit Kätzchen vollzustopfen. Als ich protestierte, teilte sie mir mit, sie sollten im Puppenhaus wohnen.« »Ach, du liebe Zeit!« rief Frau Grather und warf das Geschirrtuch auf den Tisch. »Und dabei habe ich behauptet, das Gör mache keinen Unfug!« Sie verschwand wie der Blitz, und kurz darauf hörten wir, wie sie ihre tierliebe Tochter zu Bett brachte. Die Zeit, die nun folgte, war unbeschreiblich gemütlich. Wir waren so unbedingt auf derselben Wellenlänge, alle drei. Wir verstanden einander so gut und hatten immer nette und interessante Gespräche.
Eines Tages fragte Bernadette plötzlich: »Sag mal, Britta, seit wann duzen wir uns eigentlich?« »Was? Wir beide? Tun wir das? Ja, tatsächlich! Nein, weißt du, das merke ich gar nicht! Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht!« »Ich auch nicht. In Norwegen duzen sich alle jungen Menschen. Es ist mir ganz natürlich und selbstverständlich.« »Mir auch. Denn genauso ist es ja hier auf der Insel.« Nach weiteren zwei Tagen sagte sie »Tante Edda«, und Tante Edda sagte »Bernadette«. Damit war das Familienleben vollkommen. »Wenn ich es mir überlege«, meinte Bernadette, »dann war es doch meine Absicht, mittags auswärts zu essen.« »So?« fragte ich. »Das Essen hier im Hause gefällt dir also nicht mehr?« »O doch, recht passabel! Aber Britta, du hast ganz einfach für vier Personen gekocht und gedeckt, und ›Bitte, es ist angerichtet!‹ gesagt, und wir haben im voraus überhaupt nichts verabredet!« »Pfeif drauf«, sagte ich. »Ich werde eben einen Blick ins Haushaltsbuch werfen, und dann darfst du so viel zahlen, daß ich keinen Verlust habe. Einverstanden?« »Prima!« sagte Bernadette. Von Vati kamen schnelle, kurze, kleine Grüße. »Die Arbeit ist ungeheuer interessant, ich schufte zwölf Stunden am Tag. Wahrscheinlich werde ich ein paar Wochen mehr brauchen, als ich dachte, aber das ist ja kein Unglück, solange du deine geliebte Tante Edda da hast. Diesmal weiß ich, daß sie gekommen ist und daß du mir nicht denselben Streich spielst wie damals in Paris mit Ellen, du Ruppsack!« Ja, damals hatte ich Vati nicht erzählt, daß ich allein war. Er war in Südfrankreich, und Cousine Ellen sollte mich besuchen. Doch die Ärmste bekam Diphtherie und mußte ins Krankenhaus statt in den Pariser Zug. Alles ging gut, und Vati konnte ungestört seine Kirche in Südfrankreich restaurieren. Als er später den Zusammenhang erfuhr, wußte er nicht, ob er wütend oder dankbar sein sollte. Gottlob entschied er sich für das letztere, und ich bekam eine Riesenumarmung und eine Dankesrede sowie den väterlichen Segen zu meiner Verlobung mit Pierre. O ja, mein Paps war froh, weil er wußte, daß ich nicht allein war. Wie wenig allein ich war, das hätte er bloß wissen sollen! Nun ja, ich wollte es ihm im nächsten Brief erzählen oder vielleicht erst in ein
paar Wochen. Es ist so eine Sache, hinter dem Rücken des Vaters zu handeln, noch dazu direkt gegen seine Wünsche. Mein einziger Trost war, daß ich entschieden zu alt war, um den Po voll zu kriegen. Bernadette war zur Post gegangen. Tante Edda hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen, um »eine Idee, die plötzlich vom Himmel runtergeplumpst war, aufs Papier zu kritzeln« – dies sagte die begnadete Dichterin wörtlich. Wahrscheinlich kritzelte sie mit dem Bleistift, denn ich hörte ihre Schreibmaschine nicht. Plötzlich war es ganz still im Haus. Lillepus schlief, ebenso die Katzenfamilie, und zum erstenmal seit mehreren Wochen saß ich ganz allein vor dem Kamin, ganz allein in einem vollkommen ruhigen Wohnzimmer. Ich holte Schreibblock und Kugelschreiber und fing einen Brief an Pierre an. Bald war ich ganz vertieft und merkte gar nicht, wie lange ich so saß. Ein Klopfen brachte mich zur Wirklichkeit zurück. Ich legte den Block weg und stand auf. Aber bevor ich noch durch den Flur gekommen war, ging die Haustür auf – hier auf dem Lande nehmen wir es mit dem Abschließen nicht so genau –, und da stand eine wohlbekannte Gestalt. »Ellen!« rief ich und streckte beide Hände aus. Und dann hatte ich schon ihre Arme um mich. »Britta, Brittachen, armes Mädchen, eben hör ich, daß Onkel Benno im Saarland ist. Liebes Kind, warum hast du mir nicht geschrieben? Ich habe auf der Stelle meinen Urlaubstermin umlegen können. Du sollst doch nicht allein sitzen. Ich kann vier Wochen bei dir bleiben.« Ich kam nicht zum Antworten. Denn jetzt geschahen drei Dinge genau gleichzeitig. Hinter Ellen tauchte Bernadette auf: »Du, Britta, der Kaufmann hatte gerade Frischfleisch, ich habe für morgen Gehacktes besorgt…« Hinter mir erklang Tante Eddas Stimme: »Britta, ich habe das Teewasser aufgesetzt, es ist ja…« Und über unseren Köpfen: »Maman! Mutti! Ich muß mal!«
4. Mein lieber Paps! Heut sollst du endlich einen richtigen Brief haben. Ich habe Dich in der letzten Zeit vernachlässigt. Nun werde ich Dir sagen, warum. Wenn Du denkst, daß Tante Edda und ich allein hier rumsitzen und Trübsal blasen, dann irrst Du Dich! Weißt Du, wer plötzlich aufgetaucht ist? Ellen! Sie dachte, ich säße allein, hat ihren Sommerurlaub vorverlegt und stand plötzlich da mit der Nachricht, sie könne mir vier Wochen Gesellschaft leisten. Natürlich bin ich begeistert. Tante Edda und Ellen trafen sich doch bei uns im letzten Sommer, weißt Du, und haben sich als alte Freunde begrüßt. Dies ist aber nicht alles. Ich konnte Inken, ich meine ihren Eltern, aus einer Klemme helfen. Sie mußten einen Sommergast unterbringen, für den sie kein Zimmer mehr hatten. Ja doch, Paps, ich weiß, Du dachtest, es würde mir zuviel werden, Gäste zu haben, und ich wollte es ja eigentlich auch nicht, aber alles ist ganz anders gekommen. Ich habe so viel Hilfe im Haushalt, daß es eine Wonne ist! Und unser Sommergast – es sind übrigens zwei oder jedenfalls anderthalb – hilft am allerbesten. Es ist eine ganz reizende junge Dame – gebürtige Norwegerin – mit einem vierjährigen Töchterchen. Wir vier Frauenspersonen, oder sagen wir fünf, haben es einfach prima zusammen. Im großen und ganzen haben wir denselben Geschmack und dieselben Meinungen. Wir mögen einander und respektieren einander. Alles ist so schön, wie es schöner nicht mehr sein kann. Die Kleine – Elaine heißt sie –, Du wirst hingerissen sein. Ich sehe Dich schon vor mir, wie Du nach Skizzenbuch und Stift greifst, wenn sie mit den Katzen spielt oder auf Inkens Pony reitet. Ich habe Frau Grather – so heißt die Mutter des Wunderkindes – angefleht, so lange wie möglich hierzubleiben. Ich möchte so gern, daß Du sie kennenlernst. Unser Haus ist also voll, wie Du merkst. Bernadette Grather mit Kind hat das große Zimmer, Tante Edda das kleine. Ellen hat meines gekriegt, und ich bin nach unten gezogen und schlafe in Omis Zimmer. Deins haben wir noch nicht in Gebrauch genommen! Du sollst es auch behalten. Das einzige, womit ich jetzt rechne, ist, daß Pierre irgendwann kommt; er kann im Atelier schlafen. Sei nun bloß nicht ängstlich, es ist mir wirklich nicht zuviel, Ehrenwort! Mit den Schlafzimmern
habe ich überhaupt nichts zu tun, jeder macht das eigene Zimmer sauber und räumt dort auf. In der Küche wechseln wir uns ab und amüsieren uns dabei köstlich. Nur einmal kam es beinahe zu einer Katastrophe. Bernadette hatte einen norwegischen Eintopf, »Hammel in Kohl«, gekocht. Tante Edda hatte uns zum Kaffee Aachener Printen vorgesetzt. Am folgenden Tag kochte ich die französische Zwiebelsuppe, die ich mir bei Pierres Mutter abgeguckt habe. Dann war Ellen an der Reihe und sollte etwas typisch Dänisches machen. Ich saß schon da und leckte mir den Mund bei dem Gedanken an dänische Butterbrote oder Kopenhagener Hefegebäck, und weißt Du, was das Biest uns vorsetzte? Biersuppe! Es hat nicht viel gefehlt, und sie hätte die Terrine an den Kopf gekriegt. Armes Mädchen, sie tat mir beinahe leid. Sie erklärte nachher, sie hätte eigentlich Kopenhagener backen wollen; aber sie hat einen überanstrengten, schmerzenden rechten Arm und schaffte das Kneten und Ausrollen nicht. Da machten wir es anders. Wir schickten Elaine zu Inken zum Ponyreiten, und dann schritten wir zu viert in die Küche und buken Kopenhagener! Ellen saß auf einem Stuhl und kommandierte; wir drei schufteten. Du ahnst nicht, was für einen Spaß das gemacht hat. Wir brauchten furchtbar viel Zeit, denn der Teig soll viermal gehen, jedesmal eine Viertelstunde. Aber dafür wurde das Resultat so prachtvoll, daß wir Ellen die Biersuppe verziehen! Übrigens hat sie mir anvertraut, daß ich, falls ich ihr ein einziges Mal Birnen mit Speck und Bohnen vorsetze, die Schüssel an den Kopf kriege. Wir hatten es einmal im letzten Sommer – behauptet sie –, und damals tat sie gebildet und aß es ohne Proteste. Aber nach unserer offenen Biersuppen-Kritik fand sie, daß sie sich künftig die Bildung schenken könnte. »Welch ein Glück!« seufzte Bernadette, als ich verkündete, es würde hier im Haus nie Birnen, mit Bohnen und Speck zusammengekocht, geben. »Ich habe von dieser norddeutschen Spezialität gehört und davor gezittert, daß ich es vorgesetzt bekäme!« Als ich dann Tante Edda versprochen hatte, nie Schokoladensuppe mit Mehlklößen zu kochen, waren alle glücklich und zufrieden. Wenn ich also sage, daß wir denselben Geschmack haben, stimmt es nicht ganz. Die eine mag Biersuppe, die andere mag Bohnen und Speck – eines steht aber fest: Wir alle mögen einander! Und wie wir uns mögen! Wann kommst Du nach Hause, Paps? Nach Hause zu Deinem
fröhlichen und unruhigen und proppenvollen Heim? Wir brauchen ein Mannsbild im Haus. Das einzige männliche Wesen, das wir hier haben, ist ein Sohn von Columbine. Mir ist das Unwahrscheinliche gelungen, für drei Kätzchen tierfreundliche Abnehmer zu finden. Das vierte haben wir vorläufig behalten. Ich habe aber den Verdacht, daß Lillepus – Elaine also – verlangen wird, es nach Hause mitzukriegen. Sie hat aus unbegreiflichen Gründen das Tier Anton genannt und erbarmungslos vier Puppen aus ihrem Puppenwagen rausgeschmissen, damit Anton dort schlafen kann. Paps – jetzt werde ich für einen Augenblick ganz ernst: Weißt Du noch, daß Du mir einmal rietest, ich solle daran denken, was Omi mir gesagt hätte, falls sie mich sehen könnte? Sie hätte gesagt: »Kopf hoch, Britta!« – Verstehst Du, Paps, das ist es, wozu mir diese lieben Menschen verhelfen: den Kopf hochzuhalten! Ich denke mehrmals jeden Tag an Omi, ich entbehre sie schrecklich; aber diese lieben, fröhlichen Menschen bringen so viel Leben und Freude mit sich, daß es unmöglich ist, immer zu trauern. Und ich habe durchaus nicht das Gefühl, daß ich damit Omis Andenken kränke. Und weißt Du, Paps – dies ist etwas, worüber ich nur mit Dir sprechen kann: Wenn ich nun in Omis Bett schlafe, von ihren alten Möbeln und Sachen umgeben, dann ist sie mir irgendwie so nahe, viel näher als bisher. Ich erinnere mich an soviel und denke an so viele Dinge – wie sie mir immer half, wie geduldig sie mit mir war, wieviel sie mich gelehrt hat – weniger durch Worte als durch das gute Beispiel. Und – wie oft hat sie mich vor dem väterlichen Zorn gerettet! Du warst manchmal schrecklich wütend, Paps, das kannst Du nicht leugnen, und alle Kinderpsychologen würden über Deine Erziehungsmethoden die Hände über dem Kopf zusammenschlagen. Nebenbei gesagt, liebe ich Dich trotzdem sehr, denn im Grunde bist Du ein Prachtkerl und mein bester Freund. Neben Pierre, selbstverständlich. Aber zurück zu Omi: Sie milderte und glättete, sie sprach ruhig und ernst mit mir, wenn ich meine Schandtaten vollbracht hatte – leider gab es viele –, und dann kochte sie Deine Lieblingsgerichte zu Mittag, und wenn Du satt und zufrieden und strahlender Laune warst, dann erzählte sie, wie zufällig und nebenbei: »Ach, Benno, weißt Du, Deine DunhillPfeife ist leider entzwei! Ja, leider, es war unser Brittachen, die das Pech hatte. Sie war selbst ganz untröstlich, die Kleine!« – Dann tat es Dir leid um das liebe kleine Brittachen, das eigentlich übers Knie gehört hätte, weil sie die Dunhill-Pfeife als Friedenspfeife geklaut hatte, zum Indianerspielen! Nein, es ist wohl besser, daß ich aufhöre,
bevor ich noch mehr von meinen Jugendsünden beichte! Aber was ich sagen wollte, war also dies: Wenn ich jetzt hier in Omis Zimmer sitze und an sie denke und an Dich, dann steht es so leuchtend klar vor mir, welche wunderbare Kindheit Ihr mir geschenkt habt, obwohl ich das Unglück hatte, Mutti so früh zu verlieren. Du und Omi, Ihr habt mir das Beste gegeben, was ein Mensch haben kann: schöne, glückliche Kindheitserinnerungen, ein Elternhaus in vollkommener Harmonie. Glaubst Du nicht, Paps, daß das einem Menschen Kraft fürs ganze Leben gibt? Ich segne Omis Andenken, und ich bin unsagbar glücklich, weil ich Dich habe, Du mein guter, lieber Paps. Kommst du bald? Mein ganzer Hausstand grüßt! Eine herzliche Umarmung von Deiner Britta P. S. Ich saß und las das Geschriebene durch, da kam Lillepus. »Was machst du, Tante Britta?« – »Ich schreibe meinem Vati, daß er bald nach Hause kommen soll.« – »Und was Schönes mitbringen!« sagte Lillepus sehr bestimmt. Ich schließe mich ihren Wünschen an. Meine liebe Deern! Dank, innigen Dank für Deinen langen Brief. Selbstverständlich müßte ich jetzt wütend sein, erstens weil Du direkt gegen meinen Wunsch Sommergäste aufgenommen hast, und zweitens weil Du damals meine liebste und teuerste Pfeife zerdeppert hast! Das zweite Verbrechen ist aber verjährt, und am ersten ist wahrscheinlich Frau Callies mitschuldig, so habe ich da nicht viel zu sagen. Ich bin also nicht wütend, im Gegenteil. Ich sehne mich schrecklich zurück nach der Insel und nach meinem Mädelchen. Deswegen arbeite ich noch intensiver als bisher, damit ich so bald wie möglich nach Hause fahren kann. Ich hoffe, in etwa acht Tagen fertig zu sein, so daß ich zum nächsten Wochenende zu Euch kann. Ihr könnt Euch also darauf vorbereiten, am Sonnabend, dem 25. den roten Teppich auszurollen, die weißgekleideten, blumenstreuenden Jungfrauen zu mobilisieren, Presse und Fernsehen zu benachrichtigen und das fette Kalb zu schlachten. Ich danke Dir für das, was Du über Deine Kindheit und Dein Elternhaus schreibst, mein Kind. Es war das Schönste, das du mir sagen konntest. Erinnere mich daran, daß ich Dir dafür eine Extraumarmung schuldig bin (Und Haue für die Dunhill-Pfeife!) Grüße Deinen Weiberladen. In einem Naschladen habe ich zwei Disney-Figuren aus Marzipan entdeckt. Glaubst Du, daß die kleine Elaine das als »was Schönes« anerkennt?
Innige, liebe Grüße von Deinem Vati. Ein paar Zeilen von Vatis Brief las ich den anderen vor. Plötzlich lächelte Bernadette, ein großes Lächeln. »Kinder, wollen wir das machen?« »Was machen?« »Den roten Teppich ausrollen und blumenstreuende Jungfrauen mobilisieren und so weiter! Ich werde Presse und Fernsehen vertreten – ich stelle mich mit meiner Filmkamera in Positur, mit einem Schild ›Deutsches Fernsehen‹…« »Du spinnst wohl!« sagte ich. »Woher nehme ich den roten Teppich und die Jungfrauen?« »Es gibt kilometerweise rotes Kreppapier im Laden! Dann ziehen wir Lillepus ein weißes Kleid an und geben ihr ein Körbchen voll Gänseblümchen in die Hand. Vielleicht können wir auch die kleine Schwester von Inken ausleihen! Doch, dein Vater soll genau den Empfang kriegen, den er sich gewünscht hat!« »Und was ist mit dem fetten Kalb?« fragte Tante Edda. »Dies Problem ist das kleinste!« versicherte ich. »Wenn Vati ein fettes Kalb sagt, meint er ein mageres Rind! Das heißt ein Rinderfilet, das außen dunkelbraun ist und innen bluttriefend!« »O Kinder, ja, und dann backen wir Kopenhagener!« »Und als Nachtisch machen wir eine Apfeltorte; das ist Vatis Lieblingsdessert!« »Ein Chor, Mädchen! Und wir müssen ein Willkommenslied dichten!« Da schmunzelte Tante Edda. »Das muß ich wohl übernehmen, es bleibt mir nichts anderes übrig. Habt ihr vergessen, daß ich von Beruf Dichterin bin?« Sie kniff die Augen zusammen und guckte sich um in der fröhlichen Runde. »Wißt ihr was? Ab und zu habe ich das Gefühl, in einer Internatsschulklasse für Vierzehnjährige gelandet zu sein! Und dies will eine würdige verheiratete Dame sein, eine vertrauenerweckende Buchhalterin und eine erwachsene, verlobte junge Dame!« »Und eine ältere, lebenserfahrene, grauhaarige Schriftstellerin, Tante Edda. Manchmal bist du wahrhaftig die jüngste der ganzen Bande!« Wir amüsierten uns herrlich, während wir diese kindischen Vorbereitungen zu Vatis Ankunft machten. »Weißt du, wie mein Mann so was nennt?« sagte Bernadette. Sie
malte ein großes Schild mit »Willkommen« in verschnörkelten Buchstaben. »So was wie dies? Unseren Spaß mit Vati?« »Ja, eben das. Er nennt es einen ›Lebensüberschuß‹. So viel Fröhlichkeit, daß man etwas von seiner eigenen Freude anderen abgeben muß, sie zu anderen hinüberfließen lassen muß. – Weißt du«, sagte sie nachdenklich, und betrachtete kritisch ein besonders elegant geschwungenes »M«, »man sagt immer, Kinder sollen in Harmonie aufwachsen, in Frieden, man soll versuchen, ihnen Wertvolles fürs Leben mitzugeben. Dabei vergißt man so leicht eines: die Freude! Sie sollen in Fröhlichkeit aufwachsen! Sie sollen von fröhlichen Menschen umgeben sein, sie sollen selbst lernen, fröhlich zu sein! Mit der Freude kommt alles andere von selbst: Güte, Menschenliebe, der Wunsch zu helfen, der Wunsch – ja, der Wunsch, andere Menschen in die eigene Freude mit einzuschließen!« »Du drückst es sehr gut aus«, sagte ich. »Ist das deine eigene Lebensphilosphie?« »Nein, als Lebensphilosophie stammt sie von meinem Mann, aber in praxi habe ich es von meiner eigenen Familie. Was sie mir sonst gegeben hat, weiß ich nicht. Aber die Freude wurde mir in die Wiege gelegt, nicht von irgendeinem Engel, sondern von einer großen, fröhlichen Familie!« Nachher dachte ich über das nach, was Bernadette gesagt hatte. Ich dachte auch daran, was ich selbst Paps über meine glückliche Kindheit geschrieben hatte. Diese Gedanken schwirrten noch in meinem Kopf herum, als wir uns abends vor den Fernsehapparat setzten, um das Regionalprogramm mit den Nachrichten von Norddeutschland zu sehen. Stapellauf in Kiel, lebhafter Grenzverkehr in Puttgarden, Besuch von einem politischen »hohen Tier« in Bremen. Ich horchte mit einem halben Ohr darauf und sah mit einem halben Auge hin, anderthalb Augen hatte ich auf den Pulli gerichtet, den ich Pierre strickte. »Die Hamburger Polizei hat eine Bande Jugendlicher verhaftet, vier Jungen und zwei Mädchen, alle im Alter zwischen siebzehn und einundzwanzig. Auf ihrem bedrückend langen Sündenregister stehen Autodiebstähle, Zerstören von Automaten, Straßenlaternen und Parkanlagen sowie Einbrüche in Zeitungs- und Andenkenkioske.« Ich ließ die Strickarbeit sinken. Jetzt sah ich mit beiden Augen auf den Bildschirm.
Nur ein paar Sekunden zeigten sie eine Aufnahme von der Bande, die ins Polizeipräsidium abgeführt wurde. Zwei Mädchen, ein blondes und ein schwarzhaariges, bildeten zusammen mit einem Polizisten die Nachhut. Das eine Mädchen hatte ein sehr schmales Gesicht und halblange, glatte schwarze Haare – und einen Pulli genau wie der, den Vati mir in Bremen gekauft hatte. »O je!« murmelte Tante Edda. »Die armen Eltern«, sagte Ellen. »Wie ist so was bloß möglich?« fragte Bernadette. »Vielleicht sind sie milieugeschädigt«, meinte ich. »Durchaus nicht immer!« sagte Ellen. »Weißt du, neulich gab es einen ähnlichen Fall in Dänemark, und das Erschütternde war, daß alle Mitglieder der Jugendbande aus sogenannten guten Kreisen kamen. Aus geordneten Verhältnissen, wie man sagt. Wer so was begreifen kann!« »Geordnete Verhältnisse«, wiederholte Bernadette langsam. »Ja, wenn ein Mann eine gute Stellung hat und genug verdient, wenn er seinen Kindern anständige Kleidung und zweckmäßiges Essen und eine Schulausbildung verschafft, wenn er seine Steuern zahlt und kein Trinker ist, dann meint man, sein Kind komme aus geordneten Verhältnissen. Die Frage ist bloß, hat dieser Mann – ich meine, haben die Eltern auch etwas für die Seele des Kindes getan? Haben sie sich genug um das Kind gekümmert, haben sie ihm alle seine Fragen beantwortet, Verständnis für seine kleinen Interessen gezeigt? Haben sie versucht, sich in das Gedankenleben ihres Kindes hineinzuversetzen?« »Viele bestimmt nicht«, sagte ich. »Aber wenn auch nicht, die einfachsten Moralbegriffe kriegt ein Kind doch durch die Schule und auch durch – nun, durch die sogenannten geordneten Verhältnisse im Elternhaus mit.« »Sie kriegen es mit, ja«, sagte Tante Edda. »Aber machen sie es mit? Wie leicht kann der junge Mensch durch ein Erlebnis in Widerstand gegen die Moralbegriffe geraten! Ein lebhaftes Kind ist voll Wißbegier und Unternehmungslust, ein junger Mensch hat oft überschüssige Kraft in sich. Wenn er dann nicht gelernt hat, in welche Bahnen diese Kraft geleitet werden soll, dann – ja dann geht es vielleicht wie mit einem Fluß, der plötzlich zu viel Wasser führt: Er überschwemmt das Land und richtet Unheil an. Wäre aber das Wasser rechtzeitig in die richtige Bahn gelenkt worden, so wäre seine gewaltige Kraft ein Segen geworden und hätte Nutzen gebracht statt Schaden.«
»Und dann«, sagte Ellen, »die vielen berufstätigen Mütter! Ja, ich weiß, daß viele Mütter mitverdienen müssen, aber wenn es irgend geht, sollte eine Mutter doch bei den Kindern bleiben.« Bernadette nickte. »Genau das sagt mein Mann auch. Im ersten Jahr meiner Ehe habe ich ab und zu meinen Beruf ausgeübt, aber seit Lillepus da ist…« »Was für einen Beruf hattest du eigentlich?« fragte ich. Bernadette lächelte. »Ich werde es euch anvertrauen, wenn ihr mir hoch und heilig versprecht, es keinem Menschen zu verraten!« »War es denn so schlimm? Warst du etwa Bardame in einem berüchtigten Nachtklub?« fragte Ellen. »Oder Striptease-Girl?« schlug ich vor. Bernadette lachte hell auf. »Ja, mindestens! Nein, Kinder, ich war Hausschneiderin.« »Hausschnei…? Aber warum in aller Welt soll das ein Geheimnis bleiben?« »Verstehst du das nicht?« schmunzelte Tante Edda. »Wenn das morgen beim Kaufmann erwähnt wird, haben wir vor dem Mittagessen schon dreißig Frauen hier, die mit Modezeitungen, Stoffen und flehenden Bitten ankämen!« »Einunddreißig«, sagte ich. »Ich habe den allerschönsten Mantel von Omi geerbt und weiß keinen Menschen, der ihn umarbeiten kann.« »Na, dann her damit!« sagte Bernadette. Ich ließ es mir nicht zweimal sagen. Fünf Minuten später stand Bernadette mit dem Maßband in der Hand bereit, Ellen wühlte im Nähkasten nach dem Trennmesser, und wir hatten die Probleme der Halbstarken vergessen. Vorläufig…
5.
Vati war da. Ein bißchen müde, ein bißchen abgespannt; ich entdeckte sogar ein paar neue graue Haare an seinen Schläfen. Aber er war strahlend glücklich, wieder daheim zu sein. »Nanu, bist du allein!« fragte er auf dem Kai nach der ersten Begrüßung. »Wo ist dein ganzer Frauenverein?« »Zu Hause. Sie schlachten das fette Kalb«, sagte ich. »Außerdem meinten sie, es wäre am schönsten für uns beide, wenn ich allein dich abholte.« »Eigentlich haben sie ja recht«, sagte Vati. »Na, du schlimmes Gör, du hast also doch das Haus mit Menschen gefüllt…« »Fängst du gleich zu schimpfen an, alter Brummbär?« »Gar nicht. Ich bin sehr gespannt auf deine Menagerie. Wo ist der Ponywagen?« »Zu Haue, in Jans Wagenschuppen. Ich dachte, das bißchen könnten wir wohl tragen.« »Was bist du bloß für ein Dummkopf! Zuerst verlangst du allerlei Mitbringsel von mir. Außerdem solltest du wissen, daß ich andauernd neue Hemden und Strümpfe kaufe…« »Weil du vergißt, deine Sachen zur Wäscherei zu geben.« »Wer sprach hier vom Schimpfen? He, Fiedchen! Laß mich mal den Koffer oben auf deine Kisten schmeißen, du kriegst nachher auch einen Fünfziger.« »Gehn Sie bloß, Herr Dieters«, grinste Fiedchen vom Kaufmann. »Ich bring Ihnen das Ding schon ins Haus!« Ich hing an Vatis Arm. Rechts und links grüßten die Leute. »Na, Benno, endlich wieder im Land?« – »Sieh mal, unser Maler ist wieder da!« – »Ach, Herr Dieters, Sie waren aber lange weg!« – »Na, Benno, alter Ausreißer? Nun kann man doch endlich mal wieder eine anständige Skatrunde zuammenkriegen!« Ja, Vati ist beliebt. Überall hat er Freunde. Ich hatte tatsächlich Herzklopfen. Wenn zu Hause nur alles richtig klappte! Unsere Dekorationen waren wunderbar. Der rote Papierteppich von der Haustür durch den Vorgarten bis zum Straßenrand wirkte sehr feierlich. Tante Eddas Lied war zweistimmig eingeübt – wir hatten Inken als Stütze heranziehen müssen, denn sie war in der Schule immer der Trost des Gesanglehrers gewesen. Wenn bloß die beiden Kleinen ihre Aufgabe
schafften! Inkens Schwesterchen und unsere Lillepus hatten drei Tage geübt. Die kleine Merve war sieben; sie verstand wohl die Wichtigkeit ihrer Aufgabe. Bei Lillepus waren wir weniger sicher. Aber wir hatten ihr feierlich versprochen, wenn sie alles richtig machte und die Blumen hübsch streute, würden wir nachher ihr Körbchen mit lauter Bananen füllen, und die dürfte sie ganz allein essen. Da Bananen ihre große Leidenschaft sind, bestand also die Hoffnung, daß sie sich Mühe gab. Wir hatten allerdings nicht damit gerechnet, daß sämtliche Nachbarn und eine Menge Sommergäste vor lauter Neugier stehenbleiben würden, als sie die Aufmachung vor dem Haus sahen. Als wir ankamen, gebeugt unter dem Gewicht der väterlichen MalUtensilien, standen mindestens dreißig Menschen vor unserem Haus. Es wurde gelacht, gegrüßt, gerufen: »Unser großer Maler, der Benno Dieters, dreimal hoch!« Bernadette hockte neben den Kleinen, und als Vati einen Fuß auf das rote Kreppapier setzte, gab sie ihnen einen Schubs, und siehe da, es ging großartig! Daß die Kleinste der weißgekleideten Jungfrauen vor lauter Eifer ihr Körbchen umdrehte, so daß die Gänseblümchen wie ein Häufchen dalagen, war kein Unglück. Die Jungfrauen trippelten vor Vati; sie waren zum Fressen süß in ihren weißen wippenden Röckchen, Bernadettes Filmkamera mit »Deutsches Fernsehen« auf einem Pappschild schnurrte. Ich war wie der Blitz auf meinem Platz im »Chor«, und als Vati, verwirrt und lachend und eigentlich auch ein bißchen gerührt, zur Tür kam, stimmten wir einigermaßen gleichzeitig an: »Nun ist der Maler da! Und jeder Insulaner ist nun froh, weil hier du bist. Hurra, hurra, hurra!« Und so weiter! Es war die Melodie »Ein Jäger aus Kurpfalz«, und so kam, was kommen mußte: Die Leute auf der Straße sangen mit, allerdings ohne Tante Eddas Text, nur mit »Da-da, tra-la«. Und dann erschien von links eine Nachbarin mit zwei Weinflaschen und einem Korb voller Gläser, auch von rechts tauchten Inkens Eltern mit einer ähnlichen Ausrüstung auf. Ich merkte, daß ich als Sängerin entbehrlich war, und lief in den Keller. Wir hatten doch auch ein paar Flaschen als eiserne Ration, wie Paps immer sagt. Und eins, zwei, drei, war der Vorgarten voller Menschen – der »rote Teppich« war nach wenigen Minuten in roten Fetzchen über den ganzen Garten verstreut. Es wurde gelacht, gesungen, angestoßen, auf die Schultern geklopft, und Vati stand mitten im
Gewühl, zerzaust, reisemüde und strahlend glücklich! »Ihr seid mir eine Bande!« seufzte Vati. Unsere improvisierte Gesellschaft war zu Ende. Lillepus hatte noch mal märchenhafte Mengen Bananen in Aussicht, falls sie all die roten Papierfetzen aus dem Garten zusammenklaubte. Wir waren an dem festlich gedeckten Tisch zur Ruhe gekommen, und das »fette Kalb« war schon halb verzehrt. »Wem, in aller Welt, ist diese verrückte Idee gekommen?« fragte Paps. »Mir«, sagte Bernadette schuldbewußt. Vati hob sein Glas und lächelte Bernadette zu. »Sie sind ein Mädchen nach meinem Geschmack!« lachte er. »Ich liebe Menschen, die solchen Unsinn machen können! Prost, Frau Bernadette! Ja, denken Sie bloß nicht, daß ich es mir nehmen lasse, einen so hübschen Namen zu gebrauchen. Außerdem sind Sie ja so klein und jung – ich könnte glatt Ihr Vater sein!« »Sei froh, daß du es nicht bist!« sagte ich. »Bernadette ist so klein und fein und zierlich, sie wäre zusammengebrochen unter deinen Erziehungsmethoden!« »So, du Göre! Und du selbst? Bist du vielleicht zusammengebrochen?« »Nein, aber ich bin ein robuster Typ, und das ist mein Glück. Sag mal, willst du nun endlich deinen Koffer auspacken? Ich platze vor Neugier!« »Findest du eigentlich, daß du Geschenke verdient hast? Nun, ich bin ja fromm und nachgiebig – liebe Tochter, du hast gehustet? – Also wollen wir mal sehen. Nein, nein, bleiben Sie doch hier… Alle! Ellen, hol die Kleine aus dem Garten… So, da bist du ja, Lillepus, bitte sehr!« Bernadette drückte die mütterlichen Augen zu, als ihr Kind, das nie Süßigkeiten bekam, plötzlich mit einer Marzipanfigur in jeder Hand dastand. Oh, was kam alles zum Vorschein! Es war leicht zu merken, daß keine vernünftige Tochter dabeigewesen war, als Vati eingekauft hatte. Reizende Unterwäsche, einen schicken Bademantel… Da bekam Ellen ein Paar Handschuhe, da wurde Tante Edda eine entzückende Abendtasche überreicht – und dann kam ein lustiges, buntes Halstuch für Bernadette. »Für mich?« fragte sie erstaunt. »Aber Herr Dieters, das ist zuviel. Sie kennen mich kaum, und dann bringen Sie…« »Das mit dem Kennen werden wir schnell nachholen«, lächelte
Vati. »Und Gerechtigkeit muß sein, Sie sollen doch nicht mit leeren Händen dastehen. So, das wäre es wohl. – Ach ja, richtig, noch was…« Aus dem anderen Koffer kam eine große Schachtel Pralinen zum Vorschein. »So, dies ist für die ganze Familie. Damit wäre alles geschafft – außer meiner schmutzigen Wäsche!« »Die pack lieber nicht hier aus, Paps!« bat ich. »Komm, gib mir den Koffer, ich bringe den ganzen Segen in den Keller!« »Paps«, sagte ich ein paar Tage später. »Du bist verliebt!« Vati ließ den Pinsel sinken. Er guckte mich entsetzt an. »Was bin ich?« »Verliebt. Restlos. Übrigens hast du guten Geschmack.« »Würdest du dich nicht ein bißchen deutlicher ausdrücken?« »Ist das nötig? Bist du nicht jeden Tag mit einer Dame unterwegs? Habe ich nicht selbst gesehen, daß du besagte Dame auf dem Schoß gehabt hast, daß du dich von ihr umarmen ließest?« Vati lachte hell auf. »Du Quasselliese! Ja, du hast recht, natürlich bin ich verliebt. Ich überlege mir sehr, Lillepus zu klauen und hier zu behalten!« »Bist du mir böse, weil ich also doch Sommergäste aufgenommen habe?« »Wütend. Was willst du übrigens hier, außer mich stören und Blödsinn reden?« »Dir deinen Vormittagskaffee bringen. Wir essen heut etwas später.« »So, das tun wir. Und warum, wenn ich fragen darf?« »Weil Bernadette mit Lillepus zum Arzt gegangen ist.« Vati guckte mich wieder an, diesmal noch entsetzter. »Die Kleine ist doch nicht krank?« »O Paps, ich möchte eigentlich wissen, ob du dir auch meinetwegen solche Sorgen machtest, als ich vier Jahre alt war!« »Als du vier warst, holde Tochter, hattest du meine Nerven schon derart zerstört, daß ich nicht mehr fähig war, mir Sorgen zu machen! Also, was ist mit Lillepus?« »Nichts, Gott sei Dank. Aber sie ist doch hergekommen, weil sie im Winter Bronchitis hatte, und Bernadette wollte sie jetzt untersuchen lassen. Trink nun deinen Kaffee, du alter Wandschmierer… Aua! Ich sage es Pierre, daß du mich mißhandelst!« »Und ich warne ihn, dich zu heiraten. Er ahnt nicht, was ihm
blüht. Wann kommt er übrigens? Wir haben ihn so lange nicht gesehen.« »Zum Wochenende! Es ist an der Zeit.« »Finde ich auch. Ich dachte, er wäre Pfingsten gekommen?« »Das hatte ich auch gehofft! Aber eine abscheuliche geistesschwache Reisegesellschaft dachte ganz anders. Sie ließ sich per Charterflugzeug nach Ägypten bringen, mit Pierre am Steuerknüppel.« »Ja, richtig, das hast du mir geschrieben. Na, dann schlachte noch ein fettes Kalb und sieh zu, wie du ihn unterbringst in deinem überfüllten Hotel!« »Hier im Atelier, habe ich doch gesagt.« »Na, meinetwegen. Ich bin wie immer fromm und fügsam. Und nun verschwinde. Dein alter geplagter Vater muß Geld für das tägliche Brot verdienen.« »Nur zu, Paps! Denk auch an den täglichen Kuchen!« Ich ging zurück in die Küche, wo Ellen beim Kartoffelschälen war. »Du leichtsinniges Mädchen, du hast ja keine Schürze um!« »Ja, ich weiß, ich kann sie so schlecht binden. Hilfst du mir?« »Hör, Ellen, du mußt etwas mit dem Arm unternehmen. So geht es doch nicht.« »Ach, es wird schon besser, wenn ich eine Zeitlang die blöde Buchungsmaschine nicht bedienen muß. Es ist direkt eine Wohltat, Kartoffeln zu schälen und Gemüse zu putzen!« »Aber daß du keine Schürze zubinden und keinen Reißverschluß im Rücken selbst zuziehen kannst…« »Es wird bestimmt bald besser.« »Wo ist Tante Edda?« »An ihrer Schreibmaschine. Sie trägt bei zu den literarischen Kunstschätzen deines Vaterlandes. Was willst du eigentlich hier?« »So, das fragst du auch! Ich will eine Ambrosia-Torte backen, wenn du es unbedingt wissen willst. Es ist der Lieblingskuchen meines Herzallerliebsten.« Ich holte die Backzutaten und die Waage und fing an, die Eier zu schlagen. »Du, Britta. Ich denke an etwas.« »Nicht möglich!« »Doch. Ich denke an dich und deine Zukunft.« »Ja, und?« »Weißt du, was ich an deiner Stelle täte?«
»Pierre heiraten.« »Natürlich. Aber außerdem würde ich versuchen, mir irgendeine Ausbildung zu verschaffen.« »Ich habe Kochen und Kinderpflege gelernt – und die französische Sprache!« »Ja, Britta, und das ist großartig. Aber gesetzt… gesetzt den Fall, daß Pierre etwas zustoßen sollte. Bei seinem Beruf…« »Ellen, bitte, bitte! Sprich nicht meine geheimsten, furchtbarsten Gedanken aus!« »Ich will dir doch keine Angst einjagen, Britta. Ich meine nur, daß jede Frau, auch wenn ihr Mann Schuster oder Bankbeamter und kein Flieger ist, einen Beruf erlernen sollte. Man weiß nie, was die Zukunft einem bringen wird, Britta. Und was tätest du bloß, wenn du eines Tages allein dasäßest?« »O Gott, daran wage ich gar nicht zu denken. Ich würde vor Verzweiflung sterben.« »Das tut man nicht, Britta. Das sagt sich so leicht, aber man tut es nicht. Man muß schon weiterleben.« »Du hast wohl recht. Ich würde wahrscheinlich zu Vati zurückfahren. Und mit Paps ist es auch so ein Problem. Wer in aller Welt soll sich um ihn kümmern, wenn ich heirate? Jetzt, da Omi nicht mehr bei uns ist?« Ellen schwieg eine Weile. Dann fragte sie: »Wo werdet ihr eigentlich wohnen?« »Vorläufig in Hamburg, nehme ich an. Aber ich habe schon darüber nachgedacht, ob ich vielleicht hierbleiben könnte. Du weißt, Pierre ist ja dauernd unterwegs; er könnte meiner Ansicht nach genausogut auf dem Seehundsrücken wohnen wie in Hamburg. Wenn wir oben zwei Zimmer für uns einrichteten und…« »Nun ja, vielleicht ginge das. Dann könntest du also für deine beiden Mannsbilder sorgen.« »Eben das meine ich. Aber mit dem Beruf, Ellen, ja, da hast du recht! Weißt du, wenn wir nicht so isoliert wohnten, hätte ich bestimmt schon längst eine Handelsschule besucht. Aber von einer Insel aus ist das nicht so einfach. Ich habe schon daran gedacht, ob ich vielleicht das Versäumte nachholen könnte, falls wir in Hamburg wohnen. Damit ich also eine Ausbildung als Reserve hätte.« »Reserve – genau das meine ich. Nun, es ist deine Sache, ich dachte nur…« »Du bist lieb, daß du dich um meine Zukunft sorgst, Ellen. Es
wird schon gehen. Und ich bete, daß Pierre und ich zusammenleben werden, bis wir neunzig sind.« »Wenn du neunzig bist, ist er schon fünfundneunzig!« »Ach so, ja richtig. – Ellen, mach mal den Schrank für mich auf; ich habe ganz mehlige Hände!« Ellen drehte sich halb um, hob schnell den rechten Arm und schrie laut auf. Im selben Augenblick kam Vati zur Tür herein. »Was ist, Ellen? Hast du dich geschnitten?« »Nein – o nein, es ist nichts… Ich habe nur eine unvorsichtige Bewegung gemacht. Es ist mein blöder Arm.« »Was ist eigentlich mit deinem Arm?« Ellen wiederholte ihre Geschichte mit der schweren Buchungsmaschine. Vati nahm ihren Arm, versuchte ganz vorsichtig eine kleine Drehbewegung im Schultergelenk, und Ellen stöhnte. »Liebe Nichte«, sagte Vati, »um vier hat der Arzt wieder Sprechstunde. Um vier befindest du dich schon in seinem Wartezimmer. Bist du denn verrückt, Mädchen? Ich kenne diese Geschichten, habe selbst einmal was Ähnliches gehabt. Wie heißt es nur gleich… myalgische Versteifung oder so.« »Aber Onkel Benno, ich kann doch hier nicht krank werden, hier wo…« »Ach nee, was du nicht sagst. So, das kannst du nicht? Du bist es schon, Verehrteste! Du meinst vielleicht, du wirst schneller gesund, wenn du nicht zum Arzt gehst? Was für eine Weiberlogik! Also, um vier bist du beim Arzt, sonst kriegst du um vier Uhr fünf den Hintern voll!« Ellen mußte trotz allem lachen. »Onkel Benno, du bist furchtbar. Ich begreife nicht, wieso du mein Lieblingsonkel bist. Gut, ich gehe.« Jetzt kamen Bernadette und Lillepus, beide hochbeglückt. Lillepus über ein neues Kopftuch, Bernadette über das Resultat der ärztlichen Untersuchung. Die Kleine hatte sich prächtig erholt, hatte schön zugenommen, und in den Bronchien war überhaupt nichts zu hören. Weniger entzückt war Ellen, als sie spätnachmittags vom Arzt kam. Vier fragende Augenpaare waren auf sie gerichtet. »Krankgeschrieben für sechs Wochen vorläufig. Ich soll Bindegewebsmassagen und Packungen haben.« »Fein, das kannst du alles hier im Kurhaus bekommen.« »Ach nein, ich muß doch nach Hause.« »Wo du allein wohnst und keine Hilfe hast, du Schaf? Hier hast du Hilfe und liebevolle Pflege und die Masseusen und die Packungen
drei Minuten vom Haus.« »Aber meine Krankenkasse…?« »Der Kasse ist es doch schnurzegal, ob eine deutsche oder eine dänische Masseuse das Geld kriegt! Bleib hier und rede keinen Unsinn. Wozu hast du eigentlich eine Familie?« »Aber sechs Wochen…« »Wären es auch sechs Monate, wir würden es schon mit dir aushalten. Kopf hoch, Mädchen, unsere Masseuse wird dich schon wieder hinkriegen; sie hat Finger wie zehn Eisenkrallen!« Vati legte den Arm um Ellen. Sie lächelte mit zitternden Mundwinkeln. »Du bist furchtbar lieb, Onkel Benno!« »Bitte, gib es mir schriftlich. Ich möchte es gern bei Gelegenheit meiner Tochter zeigen, wenn sie anderer Auffassung ist. So, und wer von den Damen macht uns nun eine Tasse Tee?« Lillepus saß auf Vatis Knie und wurde mit Bananenbroten gefüttert. Bernadette nähte an einem kleinen niedlichen rosa Etwas. Ich strickte, und Tante Edda warf gerade einen Blick in die Zeitung. »So«, sagte sie. »Jetzt haben sie ihr Urteil gekriegt.« »Wer denn?« »Ach, diese Jugendlichen, von denen man im Fernsehen erzählte. Die Mädchen und ein Junge sind mit einer Verwarnung davongekommen, die beiden Ältesten haben Gefängnisstrafen und ein Junge hat Jugendstrafe gekriegt.« »Also auch eine Art Gefängnis?« fragte Ellen. »Wohl eher eine Art Erziehungsheim. Wie tun die jungen Menschen mir leid!« »Ich denke vor allem an die beiden Mädchen«, sagte ich. »Schön und gut, daß sie mit einer Verwarnung davongekommen sind, aber was geschieht nun weiter mit ihnen? Paps, was würdest du mit mir tun, wenn ich vor Gericht gewesen wäre und eine Verwarnung bekommen hätte?« »Britta, was für ein schrecklicher Gedanke? Weißt du, dann würde ich ausnahmsweise nicht hochgehen. Im Gegenteil, ich würde mich wohl eher hinsetzen und nachdenken, und dann würde ich mir selbst sagen: Benno Dieters, alter Idiot, was hast du für Fehler gemacht? Was bist du für ein Vater, der nicht verhindern konnte, daß deine Tochter so geworden ist? Etwas hast du falsch gemacht, und sieh nur zu, daß du ab jetzt, ab sofort, alles dransetzt, deinem armen Mädel zu helfen und einen anständigen Menschen aus ihm zu machen.« Das Gespräch ging leise weiter; wir kamen von dem Thema nicht
los. Vati und Bernadette hatten selbst Kinder, Tante Edda beschäftigte sich viel mit Jugendproblemen, Ellen und ich saßen und hörten zu. »Jedenfalls«, sagte Tante Edda zuletzt, »jedenfalls kann ich mir keine schönere Aufgabe denken, als einem solchen Mädchen zu helfen. Oder es zu versuchen. Eine leichte Aufgabe wäre es wahrlich nicht.« Es kam eine kleine Pause. Ich sah die anderen an, diesen Kreis von lieben, guten Menschen, die mir alle nahestanden. »Kinder, wie haben wir es gut!« sagte ich. »Keine Probleme, keine Sorgen und so ganz unter uns!« »Woran denkst du?« fragte Vati. »Ach, erstens, daß du keine Tochter hast, die irgendwo von der Polizei aufgelesen wird, zweitens denke ich an… ja zum Beispiel an Inken und ihre Eltern, die das Haus voller Gäste haben, und wir sind so schön allein für uns!« Ein schallendes, vierstimmiges Lachen war die Antwort. Plötzlich wurde mir klar, was ich gesagt hatte, und die Röte schoß mir ins Gesicht. »Oh, ihr seid abscheulich! Ihr wißt genau, was ich meine! Ihr seid doch keine Gäste! Wir gehören doch alle zusammen!« Sie lachten weiter, die Biester. Zuletzt sagte Bernadette: »Weißt du, Britta, eigentlich war dies das Schönste, was du mir sagen konntest! Daß Tante Edda und Ellen hierhergehören, das sehe ich ein, aber daß du Lillepus und mich mitrechnest!« »Ich habe gar nicht gerechnet! Es plumpste mir so raus.« »Eben! Das war gerade das Schöne. Daß du hier ein volles Haus hast und dabei das Gefühl, daß wir zusammengehören und unter uns sind. Ich segne den Tag, an dem dein Brief kam! Es war am 15. April, ich weiß es genau…« Vati drehte sich jäh um. »Was sagen Sie da? Am 15. April?« O je, o Schreck! »So, du lügenhafte Tochter! Das ist also die Wahrheit! Hinter meinem Rücken – schon wieder! Da sitzest du mit unschuldigen Guckäugelein und schwörst darauf, daß wir keine Sommergäste kriegen, und schuftest wie ein Kuli, um deinen alten, nichtsahnenden
Vater aus dem Hause zu kriegen… Du kannst deinem Schöpfer dafür danken, daß die Gäste sich als solche Gäste entpuppten! Ja, wenn ich nicht wüßte, daß hier alle protestieren würden, dann möchte ich dich am liebsten…« »Nein, das möchten Sie nicht«, sagte Tante Edda ruhig. »Ich war nämlich Mitwisserin, dann müßten Sie mich auch…« »Ich gebe auf!« seufzte Vati. »Was man auch macht, man wird immer von euch Frauenspersonen hinters Licht geführt.« »Vati, wenn ich dich nicht hinters Licht geführt hätte, wer säße dann jetzt auf deinem Schoß? Niemand!« »Schrecklicher Gedanke!« sagte Vati. »Gut, dann muß ich dir wohl zum siebenhundertvierundneunzigsten Male verzeihen!« »O Schreck!« rief Bernadette. »Ich habe euch doch versprochen, heute abend Schweizer Fondue zu machen. Ist jemand willig und bereit, Lillepus ins Bett zu bringen? Dann eile ich in die Küche.« »O ja, gern!« riefen Tante Edda und ich gleichzeitig. Aber Lillepus, die von dem Lachen und Rufen wach geworden war, schmiegte sich enger an Vati. »Onkel Benno soll!« sagte sie sehr bestimmt. Vati stand auf, er wuchs, er schwoll vor Stolz. »Na also! Dann komm, Lillepus, wir beide werden schon das Heiabettchen finden!« Er hob sie mit einem gewohnten Griff auf die Schultern, und Lillepus hielt sich an seinen Haaren fest. Siegesbewußt trug Vati sie nach oben. Daß Lillepus an diesem Abend kunstgerecht gewaschen wurde, bezweifle ich sehr. Aber daß sie ihren Gutenachtkuß bekam, dafür lege ich meine Hand ins Feuer!
6. Es ist unbeschreiblich schön, auf einer Landungsbrücke zu stehen und zu sehen, wie das Schiff immer näher kommt, das einem eine gute Freundin, eine liebe Tante oder einen geliebten Vater bringt. Aber diese Vorfreude wird klein und blaß im Vergleich mit den Gefühlen, die einen erfüllen, wenn das Schiff den Menschen an Bord hat, der einem das ganze Leben bedeutet. Oft hatte ich schon hier gestanden und die Minuten und Sekunden gezählt, bis ich Pierres Arme um mich fühlte. Diesmal klopfte mein Herz ganz besonders stark. Ich hatte Pierre so furchtbar lange nicht gesehen! Da – da stand er an der Reling. Schlank, dunkelhaarig und braunäugig in seiner hübschen Fliegeruniform. Wie lieb ich ihn hatte! Ich glaube, ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel: »Möge es immer so bleiben, möge mein Herz immer vor Glück klopfen, wenn ich ihn sehe! Mögen die Jahre und die Gewohnheit und der Alltag das nie ändern!« Er kam als erster über den Landungssteg, und dann folgte eine Minute ohne Worte. Die waren überflüssig. Ein unsanfter Schubs von einem dicken Mann, der mit zwei Koffern beladen war, brachte uns in die Wirklichkeit zurück. »Ja, gehen wir dann, Pierre?« »Eine Sekunde, mein Mädelchen. Ich wollte nur…« Er sah sich um, ging ein paar Schritte zurück, reichte einem jungen Mädchen die Hand und sagte ein paar Worte. Dann kam er zurück zu mir, und wir machten uns auf den Heimweg. »Was war das für ein Mädchen?« fragte ich. Pierre lachte und drückte meinen Arm fester an sich. »Oh, eine meiner Geliebten, natürlich. Wer sonst?« »Antworte vernünftig, du Scheusal.« »Du liebe Zeit, denkst du, ich bin hergekommen, um vernünftig zu reden? Na, im Ernst, es war ein Mädchen, das wir unterwegs aufgefischt haben.« »Welche ›wir‹?« »Mein Kollege Walter und ich – ach so, das weißt du ja nicht, also Walter fuhr mich mit seinem Wagen zum Schiff, und unterwegs stand so ein vereinsamtes kleines Ding mit einem Campingbeutel neben sich und streckte einen nassen Daumen in die Höhe. Es
regnete nämlich… Das tut es übrigens hier auch.« »Was du nicht alles merkst! Und weiter?« »Ja, die Schöne wollte also auch mit dem Schiff nach dem Seehundsrücken. Da haben wir an Bord ein paar Worte gewechselt, und ich lud sie zu einer Limonade ein, die sie übrigens nicht trank.« »Weil sie vergiftet war – die Limonade, meine ich?« »Nein, weil die Ärmste Halsschmerzen hatte.« »So, und das war alles?« »Ja, das war alles. Richtig, sie fragte mich nach einem Hotel, und ich erklärte ihr den Weg. Punktum. So, das wären meine aufregenden Reiseerlebnisse, du neugierige Liese. Nun erzähle von euch. Das heißt, ich meine, von dir. Bist du gesund, und liebst du mich noch?« »Genausoviel, wie du mich.« »Nun, dann bin ich beruhigt. Und wann heiraten wir?« »O Pierre, am liebsten gleich. Aber…« »Aber? Das Wort mag ich nicht!« »Ich auch nicht. Aber du weißt doch. Ich mache mir Sorgen um Paps. Wer soll auf ihn aufpassen, wenn ich nicht da bin?« So kam unser Gespräch auf uns und unsere Probleme, und wir dachten nicht mehr an das Mädchen mit dem Daumen und den Halsschmerzen. »Wir haben einen neuen Paragraphen in unsere Hausordnung eingeführt«, teilte Tante Edda feierlich mit. Wir saßen beim Abendessen, das eine Mischung aus dänischer, Schweizer und Aachener Kochkunst darstellte. »Hausordnung? Haben wir eine?« fragte Vati. »O ja, eine Art Hausordnung, allerdings außerordentlich dehnbar, aber wie gesagt, wir haben heute einen ganz festen Paragraphen eingeführt.« »Und wer ist ›wir‹?« »Ellen, Bernadette und ich.« »Na«, sagte Vati, »dann haben Britta und ich ja nicht viel zu sagen.« »Eben! Also, die neue Bestimmung lautet: ›Wer im Haus Besuch vom Ehemann, Bräutigam oder einem werdenden solchen hat, ist für die Dauer des Besuches von jeglicher Hausarbeit befreit.‹« »Oh, wie himmlisch!« rief ich. »Hoffentlich kann ich mich revanchieren! Du mußt zusehen, daß dein Mann uns besucht, Bernadette! Aber wird es nicht zuviel für euch? Ellen kann ihren rechten Arm nicht gebrauchen.« »O doch, das kann ich. Ich soll es sogar. Ich darf ihn nicht steifer
werden lassen!« »Aber ich denke an Kochen und Abwaschen und Staubsaugen und Lillipus hüten und füttern.« »Letzteres tu ich«, sagte Vati mit der ganzen Autorität des Hausherrn. »Es regnet nicht mehr«, sagte Pierre nach dem Essen. »Machen wir eine kleine Dünenwanderung, Britta?« »Fein! Ich komme!« Behutsam hob ich Columbine von meinem Schoß und brachte sie zu ihrem Sohn Anton, der schon im Körbchen schlief. »Bleibt nicht die halbe Nacht weg«, sagte Bernadette. »Wir haben Nougat-Eis im Kühlschrank. Von Ellen persönlich gemacht.« »Dänisches Nougat-Eis? Herrlich! Nein, wir bleiben nicht allzu lange.« Die Luft war schön weich und frisch nach dem Regen. Langsam wanderten wir an Jans Wiese entlang, dann den Pfad hinunter, durch die Dünen zu dem langen, breiten Strand. Ein Karnickelchen hopste wie ein Schatten über den Weg; weit weg schrie ein Seevogel. Sonst war es still um uns. Wir sprachen leise, sprachen, was jedes verliebte Paar seit der Schöpfung der Welt gesprochen hat. Über unsere Liebe und unsere Zukunft. »Eins versprichst du mir!« sagte Pierre bestimmt. »Wenn es nun so wird, daß wir Weihnachten heiraten, dann legst du mir nächstes Weihnachten eine kleine Lillepus unter den Christbaum.« »So!« seufzte ich. »Ach, Pierre! Vati läßt sich den lieben langen Tag um Lillepus’ Fingerchen drehen, und jetzt fängst du auch an!« »Sei du bloß froh, daß deine Rivalin nicht älter ist!« lachte Pierre. »Im Ernst, das Kind ist doch zum Fressen!« »Ist sie auch!« gab ich zu. »Na gut, Pierre, ich werde mal sehen, was ich für dich tun kann. Gehen wir zurück? Eben ist ein Regentropfen auf meine Nase gefallen!« Bevor Pierre damit fertig war, diesen Regentropfen auf seine eigene Art abzuwischen, regnete es richtig. Wir machten lange Beine und waren nach wenigen Minuten zurück im Dorf. »Ach, du liebe Zeit, da ist sie schon wieder!« sagte Pierre plötzlich. Es war das Mädchen vom Schiff. Es ging ein Stück vor uns, langsam, und schleppte den kecken Campingbeutel müde mit sich. Sie war ganz durchnäßt, ihre langen, glatten Haare hingen traurig auf den schmalen Rücken herab. »Armes Hascherl«, sagte Pierre. »Vielleicht hat sie gar keine
Bleibe gefunden.« Nun besann ich mich darauf, was Pierre unten am Schiff gesagt hatte: Sie suchte nach einem Hotel, und sie hatte Halsschmerzen und konnte nicht schlucken. »Pierre, das Mädchen ist krank, und sie hat ganz bestimmt kein Zimmer gekriegt. Das Hotel ist überfüllt, ganz besonders jetzt am Wochenende. Komm, Pierre, wir müssen etwas für das arme Wesen tun!« Wir liefen schnell hinter ihr her und holten sie ein. »Na, haben Sie kein Zimmer bekommen?« fragte Pierre. Sie drehte langsam den Kopf, sah uns an mit ein paar dunklen Augen. Der Blick war so seltsam glasig. Jetzt schüttelte sie den Kopf. »Kommen Sie«, sagte ich. »Wir wollen sehen, was wir für Sie tun können.« Sie öffnete den Mund, wollte etwas sagen, dann fiel sie plötzlich zusammen. Hätte Pierre sie nicht aufgefangen, wäre sie lang hingeschlagen. »Sie hat ja Fieber«, sagte Pierre. »Ihre Hände glühen. Nimm den Beutel, Britta.« Er trug sie auf seinen Armen nach Hause, ich trottelte mit dem Beutel hinterher. Mein Herz war bis zum Rande voll Mitleid. Das Mädchen hatte so unsagbar einsam ausgesehen, so elend, so hilflos, ein einziges Häufchen Unglück. Ich mußte an mich denken, damals als ich in Paris mutterseelenallein und fieberkrank war, damals als Tante Edda plötzlich kam und alles in ihre guten, mütterlichen Hände nahm, mich gesundpflegte und bei mir blieb, solange ich sie brauchte. Zu Hause brauchten wir nicht viel zu sagen. Wenn ein einsames Mädchen auf der Straße in Ohnmacht fällt, wenn es offensichtlich krank ist, dann sind nicht viele Worte nötig. Dann heißt es handeln. »Sie muß ins Bett«, sagte Vati. »Aber wo?« »Ich nehme sie zu mir«, entgegnete ich. »Ach, Bernadette, sei so lieb und bezieh die Couch in meinem Zimmer! Nimm mein Oberbett, ich hole mir nachher ein anderes.« Bernadette lief zum Wäscheschrank. Pierre hatte die Fremde im Wohnzimmer aufs Sofa gelegt. Sie war nun bei Bewußtsein, aber vollkommen apathisch. Ein paarmal versuchte sie, etwas zu sagen, brachte aber nur ein unverständliches Flüstern hervor. Ich zog ihr Schuhe und Strümpfe aus. Ihre Füße waren eiskalt. Ellen lief in die Küche und machte eine Wärmflasche zurecht. Ich deckte sie mit einem Plaid zu.
»Nur ein paar Minuten«, sagte ich. »Dann kommst du ins Bett.« Eine halbe Stunde später lag das Mädchen warm gebettet auf der Couch in meinem Zimmer. Es hatte einen Schlafanzug von mir an, eine Wärmflasche an den Füßen; auf das Oberbett hatte ich noch eine Decke gelegt. Trotzdem zitterte der Körper wie vor Kälte. »Wir müssen ihr die Temperatur messen«, sagte Tante Edda. Ich knöpfte die Pyjamajacke auf und steckte ihr das Thermometer in die Achselhöhle. Sie ließ alles geschehen; sie war vollkommen erschöpft und uns hilflos ausgeliefert. Dann las ich die Temperatur ab und reichte das Thermometer wortlos Tante Edda: 39,5. Tante Edda nickte stumm, ging leise aus dem Zimmer und zum Telefon. Ich saß still da und betrachtete das Mädchen. Die Haare hatte ich ihm mit einem Frottiertuch getrocknet und aus dem Gesicht gekämmt. Wo hatte ich dieses Mädchen nur schon einmal gesehen? Etwas an ihm kam mir bekannt vor. Doch woher und von wann? Die Fremde machte die Augen auf, sah mich an. Ich ging zu ihr. »Möchtest du etwas? Kannst du es mir zuflüstern?« Ihre Lippen bewegten sich. »Danke.« Es war das erste Wort, das ich von ihr hörte. »Nichts zu danken. Kann ich dir was bringen? Möchtest du etwas trinken?« »Ja«, flüsterte sie. Ich gab ihr lauwarmen Tee löffelweise. Sie konnte nur winzige Mengen schlucken. »Wie heißt du?« fragte ich. »Ich bin Britta Dieters.« Wieder bewegte sie die Lippen und flüsterte, kaum hörbar: »Marion«. Unser Arzt ist Vatis Freund und Skatbruder, und für mich war er seit eh und je »Onkel Doktor«. Er hat mich heil durch eine Reihe Kinderkrankheiten gelotst, mir ein Loch im Kopf geklammert, meine … zigmal aufgeschlagenen Knie verbunden, hat geschimpft und getröstet, je nachdem, und mir manchmal ein Bonbon zugesteckt, wenn ich brav war und nicht geweint hatte. Jetzt horchte er mit dem Stethoskop an Marions Brust, während ich sie stützte. Dann guckte Onkel Doktor ihr in den Hals, und sie durfte wieder zurück ins Bett sinken. Ich deckte sie zu, und sie blickte den Arzt fragend an. »Ja, Mädchen, Sie haben eine tüchtige Angina und müssen ein paar Tage hübsch im Bett bleiben. Nicht so entsetzte Augen machen;
hier im Hause werden Sie anständig gepflegt, nicht, Britta?« Ich nickte eifrig. »Bei uns auf dem Seehundsrücken ist es nämlich nicht üblich, fieberkranke Patienten vor die Tür zu setzen. So, jetzt verschreiben wir Ihnen was Schönes. Sie machen die Augen zu und schlafen sich gesund. Morgen sieht alles besser aus, nicht, Britta?« Wieder nickte ich. Dann ging ich mit Onkel Doktor rüber ins Wohnzimmer. »Ist das aber ein armes Dingchen«, sagte Onkel Doktor. »Na, erst mal das Rezept. Wie heißt das Mädchen eigentlich?« »Marion«, sagte ich. »Das dürfte nicht ganz ausreichen. Kannst du nicht ausfindig machen, wie sie weiter heißt, wo sie wohnt, ob sie in einer Krankenkasse ist und wenn ja, in welcher?« Ich ging wieder ins Schlafzimmer. Marion lag still mit geschlossenen Augen da. Dort stand ihr Campingbeutel, darin hatte sie wohl ihren Ausweis. Ich schnüffele nicht gern in fremden Taschen herum. Aber die Ärmste zu wecken – das brachte ich erst recht nicht fertig. Ich steckte die Hand in den Beutel. Zuerst bekam ich etwas Molliges, Gestricktes zu fassen. Ich zog es heraus, um weiter zu suchen. Dann stutzte ich. Was ich in der Hand hielt, war ein Pullover. Ein Pullover, haargenau wie mein eigener feiner, teurer Bremer Pullover. Der Groschen fiel bei mir. Ich warf noch einen Blick auf Marion. Jetzt wußte ich, wo und wann ich sie gesehen hatte. In einer Seitentasche lag der Ausweis. Marion Seising, geboren 22.02.48, in Berlin. Wohnhaft in Hamburg. Ich schrieb alles schnell ab, auch die genaue Adresse. »Das mit der Krankenkasse wissen wir also noch nicht«, murmelte Onkel Doktor. »Na gut, dann stelle ich eben ein Privatrezept aus, so teuer ist das Medikament auch nicht. So, Benno, und jetzt, da ich nun hier bin und keine weiteren Krankenbesuche habe, kannst du deine Zigarrenkiste aufmachen. Vielleicht hast du auch eine Flasche zur Hand?« Vati glaubte, im Atelier alles Passende zu haben. Die beiden zogen sich dorthin zurück. Pierre lief zur Apotheke, und wir anderen holten endlich das Nougat-Eis aus dem Kühlschrank. »Ich muß euch was erzählen«, sagte ich. »Noch mehr?« fragte Ellen. »Eigentlich haben wir heute genug.« »Das alles war nur der Anfang«, sagte ich. »Das dicke Ende kommt erst.« »Was meinst du damit?«
»Ich weiß, wer Marion ist.« »Ja, und?« Ich drehte mich zu Tante Edda um. »Tante Edda, ich möchte dich an das erinnern, was du vor ein paar Tagen sagtest. Ich weiß es noch wörtlich. Wir sprachen von den jugendlichen Verbrechern, und du sagtest: ›Ich könnte mir nichts Schöneres denken, als einem solchen jungen Menschen zu helfen!‹« Niemand antwortete. Drei Augenpaare waren auf mich gerichtet. »Ja«, nickte ich. »Jetzt haben wir Gelegenheit dazu. Marion war es, die wir im Fernsehen sahen.«
7. Die Uhr schlug zwölf. Keiner von uns dachte ans Schlafengehen. Ich hatte wieder zu Marion reingeguckt und ihr die Medizin gegeben. Onkel Doktor war längst nach Hause gefahren. Vati und Pierre saßen nun auch bei uns, und unser Gespräch drehte sich immer um die Frage: Was machen wir mit dem Mädchen? Als wir Vati von meiner Entdeckung erzählten, sagte er: »Das Mädchen ist von zu Hause ausgerissen. Eines müssen wir tun, und zwar sofort: die Eltern benachrichtigen.« Schon stand er auf und wollte zum Telefon. »Paps«, sagte ich. »Sage den Eltern, sie sollen sich keine Sorgen machen. Solange Marion krank ist, bleibt sie hier.« Vati streichelte mir übers Haar. »Gut, meine Deern. Ganz meine Meinung. Hoffentlich haben die Leute ein Telefon.« Das hatten sie. Vati nahm den Apparat mit ins Schlafzimmer. Nach einer Weile kam er zurück. »Ja, es stimmt. Sie ist ausgerissen. Ihre Eltern sind übrigens tot. Sie wohnt bei einem Onkel. Mit ihm habe ich gesprochen. Er kommt übermorgen her. Zuerst wollte er schon morgen reisen. Aber das habe ich ihm ausgeredet. Marion ist viel zu schwach für eine große Abrechnung. Nun, er schien einige Sorgen hinter sich zu haben. Ich sollte meine Tochter grüßen und ihr sehr herzlich danken, daß sie sich so liebevoll um Marion kümmert.« Die Tochter kassierte das Lob mit gebotener Bescheidenheit. »Der Onkel fiel wohl aus allen Wolken?« »Ja, es dauerte einige Zeit, bis er alles begriff. Als ich meinen Namen nannte, fragte er mich, ob er mit dem Kunstmaler Dieters spräche. Da seht ihr, wie berühmt ich bin. Als ich sagte, er mache sich gewiß Sorgen um seine Tochter, unterbrach er mich und fragte, ob ich nicht seine Nichte meinte. Ich antwortete, ich spräche von Marion. Als er hörte, sie sei in Sicherheit, schien er erleichtert, aber er hatte keine Ahnung, warum und wieso sie ausgerechnet nach dem Seehundsrücken gefahren sei.« »Ich auch nicht«, sagte ich. »Ich kann es mir schon denken«, warf Ellen ein. »Mit den Tagesausflügen vom Seehundsrücken nach Dänemark wird ja in
allen Reisebüros Reklame gemacht. Vielleicht hoffte sie, auf diese Weise leicht und unauffällig über die Grenze zu gelangen. Wenn es also so ist, daß sie sich vor dem Onkel verstecken wollte…« »Das erfahren wir vielleicht später«, meinte Bernadette. Tante Edda sagte langsam und sinnend: »Was geht wohl in einem solchen Köpfchen vor? Wie hat sie sich die Zukunft gedacht? Ob sie in Panik losgerannt ist? Und warum nicht zu irgendeinem Freund oder einer Freundin? Ihre Bekannten sind bestimmt gerissen genug, um ihr zu einem Versteck zu verhelfen. Oder hat sie gar keine Freunde, auf die sie sich wirklich verlassen kann?« »Ich glaube«, sagte Pierre, und plötzlich sprach er französisch, wie er es oft tut, wenn er ganz intensiv nachdenkt, »ich glaube, das alles kann mit einem Satz ausgedrückt werden: Die Kleine ist einsam. Ganz fürchterlich einsam.« Ich hatte mir dieses Wochenende mit Pierre ganz anders vorgestellt. Wenn mir jemand im voraus gesagt hätte, ich sollte den Sonntag mit der Pflege einer kleinen Verbrecherin verbringen, hätte ich es für unmöglich gehalten. Kleine Verbrecherin – ja war sie das wirklich? Was hatte sie dazu getrieben, sich diesem Halbstarkenkreis anzuschließen? War das einsame kleine Wesen, das dort auf Omis Couch lag, ein schlechter Mensch? Als ich sehr spät in der Nacht zu ihr hineinkam, schlief sie. Ich blieb stehen und sah sie an. Ja, sie war ein Bild der Einsamkeit, der unglücklichen Verschlossenheit. Drei Worte waren über ihre Lippen gekommen: »Danke« und »Marion«. Und einmal ein geflüstertes »Ja«. Ich fing an, mich lautlos auszuziehen. Als ich in den Schlafanzug schlüpfte, rührte sie sich. Sie machte die Augen auf und sah mich an. »Na, Marion, fühlst du dich besser?« »Ich… ich wollte… ich muß…« Ich verstand. »Komm, ich zeige es dir. Nur eben über den Korridor. Hier, zieh meinen Bademantel an.« Ich wartete vor der Toilette und legte den Arm um sie, als sie zurückkam. »Stütze dich auf mich. Frierst du noch?« »Nein. Mir ist es so warm.«
»Ja, das kenne ich. Du hast Fieber. Warte mal, ich werde dir das Kissen aufschütteln. So, da hätten wir es. Dann husch ins Bettchen – und schön zudecken. Liegst du gut?« »O ja. Ja – danke.« »Das Gefühl kenne ich, kann ich dir sagen. Mir ging es einmal genauso mies! Ich war sogar mutterseelenallein dabei. Bis meine Tante Edda kam und mich pflegte. Von ihr habe ich es gelernt.« »Hast du eine so nette Tante?« »Und ob ich das habe. Du hast sie übrigens gesehen – vorhin im Wohnzimmer.« »Ich dachte, sie sei deine Mutter.« »Nein, sie ist meine Tante. Nicht einmal meine richtige Tante, ich nenne sie nur so. Aber ich habe sie ganz schrecklich lieb. Nein, ich habe keine Mutter, Marion.« Marion richtete die Augen auf mich, und in diesem Augenblick sah ich, was für hübsche Augen sie eigentlich hatte. Groß, dunkel – und mit einem Ausdruck – ja, Pierre hätte gesagt, mit einem Ausdruck der Einsamkeit. »Ich auch nicht«, flüsterte Marion. Sie machte die Augen zu und schwieg. Ich drückte ihre Hand und sagte leise: »Gute Nacht, gute Besserung.« Sie sagte nichts, aber ihre schmale, fieberheiße Hand beantwortete den Händedruck. Schon am nächsten Tag ging es ihr viel besser. Das Fieber war gesunken, und sie konnte den Haferschleim mit Sahne trinken, den Tante Edda ihr zubereitet hatte. »Ich muß dich jetzt etwas allein lassen, Marion«, sagte ich, als ich sie gewaschen und ihr das Bett gemacht hatte. »Soll ich dir etwas zu lesen bringen? Oder magst du nicht?« »Ach… ich weiß nicht… ja, doch, bitte, irgendwas.« Ich hatte den Eindruck, es wäre ihr vollkommen gleichgültig und ich könnte ihr Shakespeares Sämtliche Werke, ein Kinderbuch oder das Telefonbuch bringen. Ich wählte eine vierte Möglichkeit: Aus Vatis Bücherschrank holte ich von ganz unten Jules Vernes »Geheimnisvolle Insel« hervor. »Kennst du dies, Marion? Nicht? Das ist ja fein. Es ist schrecklich spannend!« Bei dem Wort »spannend« streckte sie die Hand nach dem Buch aus. Nachmittags kam der Onkel Doktor wieder und war sehr
zufrieden mit der Patientin. »Ich glaube, ich schicke künftig meine Patientinnen in Brittas Privatklinik«, schmunzelte er. »Das geht ja großartig, kleine Dame. Bald sind wir wieder schön senkrecht auf den Beinen.« »Kann ich morgen…«, begann Marion. »Ja, gewiß. Morgen können Sie vielleicht ein Stück weiches Brot essen. Das wollten Sie doch fragen? Sie bleiben nun mindestens vier oder fünf Tage im Bett. Mit einer solchen Angina ist nämlich nicht zu spaßen. Und wann Sie dann ein bißchen an die Luft dürfen, na, das werden wir sehen. Nur weiter so, meine Deern, bis jetzt geht es glänzend! Ich gucke morgen wieder rein!« Marion machte große Augen; sie biß sich auf die Lippe und sah recht bedrückt aus. Kein Wunder! Doch am Abend wollte ich ihr in aller Ruhe erzählen, daß wir Bescheid wüßten und daß der Onkel morgen käme. Jetzt aber überließ ich sie – aus Eigennutz – ihrem Buch. Ich wollte ein ungestörtes Stündchen mit Pierre haben. Wir verkrochen uns ins Atelier. Es gab ja so viel zu besprechen, zu fragen und zu erzählen. »Was macht ihr mit Marion?« fragte Pierre. »Ja«, sagte ich. »Was machen wir mit Marion? Weißt du, was ich am liebsten möchte?« »Ja, ma petite, das weiß ich ganz genau, weil ich dich kenne. Du möchtest sie hierbehalten.« »Du kennst mich also gut. Kannst du verstehen, daß ich das möchte?« »Und ob!« »Gut, daß du es verstehst. Ich verstehe es nämlich selbst nicht!« »Dann kann ich es dir erklären. Du hast es gut, Britta. Du bist glücklich, du hast diese reizenden Menschen um dich, du hast deinen einmaligen Vater…« »Und ich habe dich!« ergänzte ich. »Ja, du bist, kurz gesagt, glücklich. Du hast ein harmonisches Heim, du bist selbst ein harmonischer Mensch…« »Was bin ich? Ich denke, ich bin Vatis Nervensäge und…« »Warst du mal, als Kind; das glaube ich schon. Jetzt bist du erwachsen und so ausgeglichen, wie man es von einem neunzehnjährigen Mädchen verlangen kann. Es ist doch sonnenklar, daß du, die du aus dem vollen schöpfen kannst, diesem kleinen einsamen Ding etwas von deinem Glück abgeben möchtest. Sie soll
auch glücklich werden; es stört dich, daß es überhaupt disharmonische Menschen auf der Welt gibt!« Da mußte ich lachen. »Du hast wohl recht, Pierre. Jedenfalls möchte ich versuchen, Marion zu helfen. Wenn ich es nur könnte! Und wenn ich wüßte, wie Vati sich dazu stellt – und die anderen. Ich kann doch Tante Edda und Bernadette und Ellen nicht zumuten…« Pierre lächelte. »Sprich mit ihnen«, sagte er. »Wetten, daß Marion als siebentes Familienmitglied aufgenommen ist, wenn ich das nächste Mal komme?« »Aber Pierre, so überstürzt kann man doch nicht…« »Ich kenne euch!« sagte Pierre mit Überzeugung und küßte mich. Als ich Pierre abends zum Schiff gebracht hatte, ging ich wieder zu Marion. Sie lag auf dem Rücken, hellwach, und starrte geradeaus ins Leere. »Nun, Marion? Wie geht’s? Hast du Spaß an dem Buch?« »An dem Buch? O ja. Ja, gewiß. Es ist schrecklich spannend.« »Sind sie schon auf der Insel gelandet?« »Ja, sie haben schon Feuer gemacht, mit den beiden Uhrgläsern. Prima, wie sie das schaffen.« »Durstig, Marion? Tee oder Apfelsinensaft?« »Ach, das ist egal. Mach dir keine Mühe.« Ich ging in die Küche. Da war Tante Edda. »Wie geht’s deiner Patientin?« »Spricht ein bißchen und sieht aus, als denke sie an ganz was anderes.« »Ich möchte sie eigentlich gern begrüßen. Geht das, glaubst du?« »Wunderbar. Tante Edda. Es ist verflixt schwer, unbefangen mit ihr zu reden, wenn man weiß… Und außerdem muß sie ja erfahren, daß ihr Onkel morgen kommt.« »Gerade das brauchen wir ihr doch erst morgen früh zu sagen. Wir dürfen ihre Nachtruhe nicht stören. Das arme Ding hat bestimmt auch ohnedies genug Probleme. Gut, ich gehe mit dir.« Marion richtete die Augen groß auf Tante Edda, sagte aber nichts. »Ja, siehst du, hier kommt ein Eindringling«, sagte Tante Edda, ging hin zum Bett und reichte Marion die Hand. »Ich bin Brittas Tante Edda. Sonst heiße ich Callies. Ich war neugierig; ich wollte doch auch unsere Patientin begrüßen! Britta sagt, daß es dir schon
viel, viel besser geht.« »Ja«, antwortete Marion. Dann schwieg sie wieder. »Darf ich fünf Minuten hierbleiben?« »O ja, bitte«, sagte Marion. Ich reichte ihr die Teetasse. Als sie sie nahm, schwappte der Tee über. Ohne ein Wort nahm Tante Edda die Tasse und hielt sie, während Marion trank. »Was macht die Temperatur heute?« fragte Tante Edda. »38,3.« »Fein! Wir werden dich bestimmt schnell gesundkriegen.« Marion antwortete nicht. Sie sah Tante Edda schweigend an, drehte den Kopf und starrte auf das Tapetenmuster. »Hat Britta dir eigentlich erzählt, wo du dich befindest?« erkundigte sich Tante Edda. »Oder liegst du nichtsahnend hier? Paß mal auf, ich schildere dir, welche Bande hier im Haus wohnt. Wir sind nämlich eine ganz komische, zusammengewürfelte Familie.« Dann erzählte sie lächelnd und in einem ganz alltäglichen Ton über uns, gab mit wenigen treffenden Worten eine kleine Charakteristik von jedem. Marion hörte aufmerksam zu. Es trat eine kleine Pause ein. Marion sah aus, als ob sie mit sich kämpfte. Tante Edda kam zu Hilfe. »Marion, wollen wir wetten, daß ich weiß, woran du denkst?« »Das wissen Sie nicht.« »Doch, genau. Du denkst darüber nach, ob du jetzt etwas über dich erzählen sollst. Das brauchst du aber nicht, denn wir wissen Bescheid.« Eine Angst schoß in Marions Augen. Sie richtete einen fragenden Blick auf Tante Edda. »Was wissen Sie?« Tante Eddas Stimme war vollkommen ruhig und nüchtern und genauso laut oder wenig laut wie immer: »Daß du mit einer Verwarnung davongekommen bist, Gott sei Dank. Noch einen Schluck Tee?« Marions Lippen zitterten. »Ja, und dann wissen wir, daß du von zu Hause ausgerückt bist. Mach doch kein so entsetztes Gesicht, Kind. Sei lieber froh, daß wir es wissen, dann brauchst du es nicht selbst zu sagen. Übrigens weiß dein Onkel, wo du dich befindest, und ist froh, daß du in Sicherheit bist. Na, war das nicht gut zu erfahren?« Es vergingen ein paar Augenblicke, bevor Marion sprach. Schließlich fragte sie mit ganz leiser Stimme: »Schicken Sie mich nach Hause?« Tante Edda lächelte. »Du drückst dich aber komisch aus. Du bist doch kein Paket, das man verschicken kann! Zuerst wollen wir dich gesundpflegen. Später
sprechen wir ein bißchen zusammen. Vielleicht können wir dir mit einem guten Rat helfen. Weißt du, ein Haus mit so vielen erfinderischen Köpfen – einer von uns wird bestimmt auf eine gute Idee kommen.« Wieder eine Pause. Dann fragte Marion: »Warum machen Sie das?« »Was machen wir?« »Mir helfen.« »Menschenskind, deine Fragen werden immer komischer. Was tätest du, wenn ein krankes Mädchen vor deinen Augen zusammensackte, hohes Fieber und keine Bleibe hätte? Na, also! Und außerdem: In diesem Haus sind wir Überraschungen gewohnt, und wir sind so viele Frauenspersonen, daß eine mehr oder weniger überhaupt nichts ausmacht.« »Aber wenn Sie Bescheid wissen…« »Dann meinst du, hätten wir dich wieder rausschmeißen sollen und sagen: ›Du hast Dummheiten gemacht, deswegen wollen wir dir nicht helfen.‹ Sei doch ein bißchen logisch, Marion. Natürlich hast du Dummheiten gemacht, das haben wir alle. Du hast dir nur die Art deiner Dummheiten ein bißchen unglücklich gewählt. Es ist ein Vorrecht der Jugend, Dummheiten zu machen, aber man sollte bei solchen bleiben, die einen nicht mit der Polizei in Konflikt bringen. Na, du bist ja heil davongekommen, zum Glück! Wenn du in ein paar Tagen wieder auf den Beinen bist, werden wir dir vielleicht helfen, ein paar andere Streiche auszutüfteln, die nicht ganz so gefährlich sind – mehr privater Natur sozusagen. So, mein Kind, meine fünf Minuten sind längst überschritten, jetzt verschwinde ich. Schlaf gut, und Kopf hoch, das Leben ist lang, und du hast den größten Teil noch vor dir. Gute Nacht, Kleines!« Marion preßte die Lippen zusammen. Sie konnte nicht antworten. Aber Tante Eddas Augen verrieten mir etwas über den Händedruck, den Marion ihr gab.
8.
Prokurist Seising war ein Mann zwischen fünfzig und sechzig Jahren. Daß er bei seiner Ankunft nicht gerade zum Lachen aufgelegt war, fanden wir begreiflich. Aber sein Gesicht sah so aus, als ob er die Lachmuskeln überhaupt wenig gebrauchte. Er und Vati wechselten die üblichen Höflichkeiten, dann zogen sie sich zurück. »Sie nehmen doch eine Tasse Kaffee, Herr Seising? Britta, du bringst uns vielleicht…« »Aber sicher, Paps!« Ich hatte es kommen sehen und hielt alles in der Küche bereit. Nach wenigen Minuten brachte ich das Tablett hinüber ins Atelier. »Danke, meine Deern. Ja, Herr Seising, dies ist also meine Tochter Britta, die Marion pflegt. Sie verstehen sich schon recht gut, glaube ich.« »Gewiß, prima! Marion ist auch eine sehr nette, folgsame Patientin.« »Haben Sie etwas dagegen, daß Britta hierbleibt, Herr Seising? Was Sie mir erzählen wollen, geht besonders meine Tochter an, denn sie ist es ja, die…« »Ja, bitte bleiben Sie, Fräulein Dieters«, sagte Seising. »Ihr Herr Vater hat mir gerade erzählt, daß Sie die unwahrscheinliche Liebenswürdigkeit haben, Marion hierzubehalten, solange sie krank ist.« »Ach, das ist doch selbstverständlich. Moment mal, ich hole auch für mich eine Tasse.« Ich blieb zwei Minuten weg, bat nur schnell Tante Edda, zu Marion reinzugucken. Dann setzte ich mich wieder zu Vati und Herrn Seising. Er fing an zu erzählen. Ich hörte intensiv zu. Alles, alles mußte ich mir merken, alles mußte ich wissen; nachher mußte ich mit Tante Edda darüber sprechen: Wir mußten dem Unglück auf den Grund kommen, den Hintergrund für Marions »Dummheiten« kennenlernen. Marion war das einzige Kind von Herrn Selsings jüngerem Bruder. Mit drei Jahren verlor sie die Mutter. Als sie acht war, starb ihr Vater an den Folgen eines Autounfalls. Marion kam zu dem Onkel, ihrem Vormund. Ganz verstört, verweint und untröstlich über den Tod ihres Vaters, zog sie in sein Haus. Alles war neu und fremd für sie:
Stadt, Schule, sogar Onkel und Tante. »Ich bitte Sie, überzeugt zu sein, daß meine Frau und ich uns unserer Pflichten bewußt waren«, sagte Herr Seising. »Wir waren es meinem Bruder schuldig, seinem Kind Werte fürs Leben zu vermitteln, Pflichtgefühl, Gehorsam, Ehrlichkeit, eine anständige Gesinnung. Wir haben wirklich keine Mühe gescheut! Das Kind bekam alles, was es brauchte: ein geordnetes Zuhause, eine gute Schulbildung, meine Frau sorgte, daß Marion gut zu essen bekam und tadellos gekleidet war. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie Marion auf diese… diese…« Vati half ihm aus der Verlegenheit. »In diese schlechte Gesellschaft kam, meinen Sie?« »In diese Bande! Wie in aller Welt gelangt ein guterzogenes Mädchen in eine solche Gesellschaft? Wir haben natürlich verlangt, daß sie abends rechtzeitig nach Hause kam. Durch einen Zufall entdeckte meine Frau, daß sie ins Bett ging – und dann, wenn alles still im Haus war, wieder aufstand und hinausschlich. Damals war sie fünfzehn!« Herr Seising machte eine Pause, räusperte sich und nahm die Zigarette, die Vati ihm anbot. Dann sprach er weiter, und was er jetzt erzählte, war einfach zum Weinen. Marion war bis dahin ein verschlossenes, schweigsames Mädchen gewesen. Nun wurde sie mit einemmal aufsässig und frech. Einmal hatte er sie verprügelt, danach wurde es noch schlimmer. Sie trieb sich in Jazzkellern herum; wenn sie eingesperrt wurde, rückte sie von zu Hause aus, kletterte spätabends aus dem Fenster und blieb bis zum Morgen weg. Eines Tages kam ein Brief aus der Schule. Marion wurde wegen Diebstahls weggeschickt. Sie kam in eine andere Schule; dort machte sie die Mittlere Reife. »Dann wollte sie ins Ausland. Das kam natürlich nicht in Frage. Wer schickt eine Sechzehnjährige allein ins Ausland? Wir schickten sie in eine Haushaltsschule. Das ist doch für jedes junge Mädchen notwendig.« Ich nickte. Nun hatten Onkel und Tante gehofft, sie seien über den Berg. Marion ging brav in ihre Schule und war wieder das stille, wortkarge Mädchen. Und dann kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel diese Geschichte mit der Polizei. »Für einen unbescholtenen Mann ist es kein Vergnügen, plötzlich zu erfahren, daß seine Pflegetochter an Diebstählen und sinnlosen Zerstörungen beteiligt ist«, sagte Herr Seising. »Für uns war es
bitter: für mich im Geschäft und für meine Frau zu Haus in der Nachbarschaft – alle haben hinter unserem Rücken die Köpfe zusammengesteckt. Es war schwer auszuhalten. Ich habe aus meiner eigenen Tasche den Schaden bezahlt, den Marion nachweislich verursacht hatte, und mit meinem guten Namen dafür gebürgt, daß dieser Unfug nun ein Ende haben würde. So kam sie glimpflich davon, und mir bleibt leider nur eines übrig: Ich habe mich mit einem Heim für schwererziehbare Mädchen in Verbindung gesetzt.« »Und als Marion das erfuhr, ist sie ausgerückt«, sagte Vati. Es trat eine Pause ein. Dann sagte Vati mit seiner guten, ruhigen Stimme, mit dieser Stimme, die ich liebe: »Herr Seising, das unergründliche Schicksal hat Marion zu uns verschlagen. Fürs erste muß sie hierbleiben. Der Arzt hat ihr strikt verboten, die nächsten Tage aufzustehen. Nun möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen: Wir wohnen auf einer friedlichen kleinen Insel. Wir haben keine Jazzkeller, keine Halbstarken. Hier im Haus sind wir eine fröhliche kleine Gesellschaft. Wie wäre es, wenn wir Marion – sagen wir für einen Monat – hierbehielten? Natürlich würden wir immer mit Ihnen in Kontakt bleiben. Das Mädchen braucht bestimmt eine neue Umgebung, und hier, glaube ich, wäre sie gut aufgehoben.« Herr Seising sah Vati ungläubig an, seine Augen waren voll Erstaunen. »Entschuldigen Sie eine Frage, Herr Dieters: Warum in aller Welt wollen Sie das auf sich nehmen?« Vati lächelte. »Ja, warum? Ich weiß es selber kaum!« »Ich weiß es, Vati«, rief ich. »Weil du der beste Vater auf der Welt bist und weil du gern was Gutes tun möchtest und weil Marion gerade… na, wie hast du eben gesagt? Richtig: weil sie eine neue Umgebung braucht! Und weil unser Haus so voll ist, daß es auf eine Person mehr oder weniger gar nicht ankommt und weil… und weil…« »… das Schicksal uns dieses Mädchen ins Haus geschickt hat«, ergänzte Vati. »Wenn Sie einverstanden sind, Herr Seising, kommen Sie mit ins Wohnzimmer. Ich möchte Sie gern mit dem Rest des Hausstandes bekannt machen.« Herr Seising stand auf. Immer noch hatte sein Gesicht diesen fragenden erstaunten Ausdruck. Unsicher, als suche er nach Worten, sagte er: »Sie sind ein sehr guter Mensch, Herr Dieters!« Vati lachte. »Von wegen! Nein, Herr Seising, aber ich bin Vater! Und ein
glücklicher Mensch. Sehen Sie, wenn Marion geholfen werden soll, dann nur von glücklichen Menschen. Von Menschen, die glücklicher sind als das Personal in einem Erziehungsheim!« Ich lief schnurstracks zu Marion. Ich wollte sie sprechen, bevor der Onkel bei ihr erschien. Ihr Gesicht war vollkommen verändert. Gestern hatte sie etwas mit uns gesprochen, heute früh sogar einmal gelächelt, ein scheues, kleines Lächeln. Jetzt war ihr Gesicht finster und verbissen. »Oh, du bist es«, sagte sie nur. »Ja, paß mal auf, Marion, ich komme schnell, um dir etwas zu erzählen.« »Brauchst du nicht. Ich weiß, daß er da ist. Tante Edda hat’s erzählt. Frau Callies, meine ich.« »Ach, das war es ja gar nicht. Ganz was Schönes will ich dir erzählen. Vati hat dich eingeladen, einen Monat hierzubleiben, und dein Onkel ist einverstanden!« »Eingeladen – Quatsch mit Soße! Die beiden Männer haben es so ausgemacht, daß ihr mich übernehmt und auf mich aufpaßt.« »Marion, du Schafskopf! Du bist eingeladen, hörst du! Nur wollte Vati es dir erst sagen, wenn er das Einverständnis deines Onkels hatte. Sonst hätte er dich nachher enttäuschen müssen. Oder« – ich sah Marion fragend an, jetzt fühlte ich mich unsicher – »oder möchtest du vielleicht gar nicht hierbleiben?« Marion drehte das Gesicht zur Wand. »Mir ist es schnurzpiepe, wo ich bin«, sagte sie. In diesem Augenblick hörte ich Schritte auf dem Korridor. Der Onkel trat ins Zimmer. Ich verdrückte mich, und da ich im Augenblick nichts anderes vorhatte, ging ich zu Vati und gab ihm die Riesenumarmung und die Bussis, die er wahrhaftig verdiente. »Jetzt setze ich mich gleich hin und heule«, sagte ich. Ich hatte Marion ihr Abendessen gebracht und kam ins Wohnzimmer zurück. »Bitte, hier ist ein Taschentuch«, sagte Tante Edda. »Aber bevor du anfängst, erklärst du uns vielleicht, warum?« »Wegen Marion«, seufzte ich. »Sie ist vollkommen verändert. Sagt kein Wort, sieht aus wie eine Gewitterwolke.« »So«, sagte Tante Edda. »Und wie, meinst du, sollte sie sonst aussehen?« »Fröhlich natürlich, weil sie bei uns ist und nicht bei dem gräßlich prächtigen Onkel!« »Britta, ich nahm an, daß du wenigstens ein Fünkchen Verstand hättest! Begreifst du denn überhaupt nichts? Hast du keine
Phantasie? Was, glaubst du, hat der Onkel ihr gesagt? Er hat ganz sicher alles zerstört, was wir aufgebaut hatten, oder sagen wir, das bißchen, was wir aufgebaut hatten.« »Sicher!« rief Bernadette. »Marion hat natürlich zu hören bekommen, daß sie sich nun anständig benehmen muß.« »Bei diesen so freundlichen Menschen, die das große Opfer bringen«, fuhr Ellen fort. »Und die Krankheit sei die Strafe des Himmels, weil sie ausgerückt war«, ergänzte ich. »Ja, so in dieser Richtung«, nickte Tante Edda. »Mit dem Resultat, daß das Mädchen nun daliegt und uns alle haßt. Aber eins sage ich euch« – Tante Eddas Stimme klang energisch –, »wir müssen zusehen, daß wir wieder Kontakt mit ihr kriegen, und zwar solange sie noch krank und schwach ist.« »Warum?« fragte ich. »Weil ein Mensch, der fiebert, der sich schwach und elend fühlt, nicht viel Widerstand aufbringen kann«, erklärte Tante Edda. »Marion steht in Opposition zu ihrem Onkel und nun leider, leider auch zu uns. Jetzt müssen wir ihr begreiflich machen, daß sie sich irrt, jetzt muß es ihr klarwerden, daß diese… diese Einladung von uns kein sentimentales Mitleid ist, sondern der ehrliche Wunsch, ihr zu helfen. Ein unsentimentaler Wunsch. Wie bringen wir ihr das bei?« »Ja, wer das wüßte!« seufzte ich. »Im Augenblick ist sie gewiß für jegliche Logik unempfänglich. Na, wie dem auch sei, ich muß wohl rein und ihr noch Tee einschenken.« »Schenk ihr lieber reinen Wein ein«, murmelte Vati, halb lächelnd, halb ärgerlich. Am folgenden Tag ging es Marion körperlich viel besser, seelisch aber war sie auf dem Tiefpunkt. Sie sprach nicht, sie las nicht, sie aß wenig. Es war zum Verzweifeln. »Hör, Britta«, sagte Tante Edda. »Hast du wirklich nicht damit gerechnet, daß es Schwierigkeiten geben würde, wenn wir dies auf uns nehmen?« »Doch, damit hatte ich natürlich gerechnet!« »Na, dann verlier doch bei der ersten Schwierigkeit nicht gleich den Mut! Noch dazu bei einer Schwierigkeit, die unbedingt kommen mußte. So, jetzt gehe ich rein zu unserem Sonnenstrahl. Kommst du mit?« »Meinetwegen!«
Marion antwortete auf Tante Eddas Frage, wie es ihr ginge, nur mit einem unverständlichen Gemurmel. »Hör, Marion«, sagte Tante Edda. »Du siehst so miesepetrig aus, daß es zum Heulen ist. Wenn du Kummer hast, dann raus damit! Wir wollen dir doch helfen, Mädchen!« Keine Antwort. »Hat dich jemand beleidigt? Ist jemand häßlich zu dir gewesen? Dann geschah es bestimmt ohne Absicht. Wir wollen doch nur dein Bestes, Kind.« Da platzte Marion heraus: »Weiß ich! Ihr wollt nur Gutes, ihr wollt das arme Mädchen bekehren, ihr wollt dem armen Onkel eine Zeitlang die Verantwortung abnehmen, und von mir erwartet ihr nun, daß ich mich schäme, daß ich dankbar bin und meine Sünden bereue. Aber ich schäme mich nicht, ich bin nicht dankbar, ich bereue nichts, und ihr könnt mir alle gestohlen bleiben, ihr mit eurem ewigen Lächeln und Mitleid! Es ist zum Kotzen!« Tante Edda stand vollkommen ruhig da. Als Marion schwieg, nickte sie. »Das tat aber gut, Marion, das einmal loszuwerden, nicht wahr? Eine richtige Erleichterung war es! Nun werde ich dir was sagen: Du wirst früher oder später auf dich selbst böse sein, wenn du daran denkst, was du gerade gesagt hast. Vielleicht wirst du es sogar bereuen. Das sollst du aber gar nicht! Wenn du verstehst, daß du dich geirrt hast, dann sei glücklich darüber. Du brauchst es nicht zu bereuen und sollst dir keine Selbstvorwürfe machen. Es mußte einmal raus! Übrigens möchte ich erwähnen, daß wir mit deinem Onkel überhaupt nichts verabredet haben, außer daß wir dich gern hierbehalten möchten, und wir ahnen nicht, was er dir gesagt hat. Doch was es auch gewesen sein mag, es geht auf seine eigene Rechnung, und keiner hier im Haus ist dafür verantwortlich! So, und nun laß dir von Britta die Haare kämmen. Du siehst aus wie eine Kreuzung zwischen einem Mop und Brigitte Bardot. Auf Wiedersehen, Brausekopf!« Marions Augen blieben an der Tür hängen, die sich leise hinter Tante Edda schloß. »Ist das aber eine komische Nudel«, sagte sie. Kein Zweifel, Tante Eddas lange Rede hatte Eindruck auf Marion gemacht. Nicht, daß sie sofort freundlich und sonnig wurde, beileibe nicht! Aber ihr Gesichtsausdruck änderte sich allmählich, die »Gewitterwolken« verzogen sich.
»Ich hätte nie gedacht, daß ich je glücklich sein würde, weil ein Mensch mich eine ›komische Nudel‹ nennt«, lachte Tante Edda, als ich Bericht erstattet hatte. »Das ist ja ein großartiger Anfang! Zuerst waren wir alle, ich mit eingeschlossen, zum Kotzen. Da ist die komische Nudel schon ein Riesenfortschritt!« »Ach, Kinder«, seufzte ich, »was haben wir – ich meine Vati und mich – uns da aufgehalst! Wenn bloß unsere Gemütlichkeit und unser nettes Familienleben dabei nicht flötengehen. War es wirklich richtig, daß wir das Problemkind hierbehielten?« »Weißt du, Britta«, sagte Tante Edda, und ihre Stimme war voll Wärme. »Auf deine Frage kann ich dir genau die richtige Antwort geben. Ich habe sie aus der Bibel.« »Und was sagt die Bibel?« Tante Edda zitierte langsam, jedes Wort betonend: »Denn wer da weiß Gutes zu tun und tut’s nicht, dem ist’s Sünde.« Wir schwiegen eine Weile. Dann nickte ich. »Ja. Omi sprach manchmal von Unterlassungssünden. Jetzt verstehe ich, was damit gemeint ist.« »Eigentlich«, sagte Bernadette langsam, »eigentlich ist das genau das gleiche wie der Wahlspruch meiner Familie in Wallis.« »Und der lautet?« »Wenn ich weiß, daß jemand leidet, und ich könnte helfen und tu es nicht, dann bin ich an dem Leiden schuld.« Wieder schwiegen wir. Zuletzt sagte Ellen: »Wie richtig ist das. Aber schaffst du es immer, danach zu leben?« »O nein, leider nein! Aber ich habe den Spruch ein bißchen vereinfacht und es mir damit leichter gemacht.« »Und wie ist dein Privatspruch?« »Sehr einfach: ›Sag nie nein, wenn es dir möglich ist, ja zu sagen.‹« »Also«, sagte Tante Edda, »also einigen wir uns darauf, es nicht zu bereuen, daß wir Marion aufgenommen haben?« »Ja, wir einigen uns!« sagte ich. »Unbedingt«, nickte Ellen. »Klar!« sagte Bernadette. Vati schwieg. Ich warf einen Blick auf ihn, aber er sah es nicht. Seine Augen waren auf Tante Edda gerichtet, mit einem Ausdruck, den ich nie bei ihm gesehen hatte.
9.
»Wo ist meine Tochter?« fragte Bernadette. Sie hatte das Schlafzimmer gemacht und kam gerade die Treppe herunter. »Sie geht mit meinem Vater und Tante Edda spazieren.« »Na, dann ist sie ja gut aufgehoben. Wenn sie ihre Wanderung bloß nicht in Richtung Eisbude legen!« »Keine Angst, Bernadette, Tante Edda ist dabei. Sie wird schon aufpassen.« »Und wo ist Ellen?« »Zur Massage. Weißt du, natürlich tut sie mir furchtbar leid mit ihrem Arm, aber wenn ich egoistisch denke, bin ich sogar froh darüber!« »Weil sie dann hierbleibt, meinst du?« »Klar! Ich bin ja ganz unglücklich bei dem Gedanken, daß du bald wegfährst. Von Vati will ich gar nicht reden.« »Na, mich würde er seelenruhig wegfahren lassen, wenn ich bloß Lillepus hierließe«, lächelte Bernadette. »Glaub aber nur nicht, daß ich gern wegfahre, Britta. Ich hab mich so gut eingelebt. Doch schließlich habe ich einen Mann, nach dem ich mich wahnsinnig sehne.« »Dann hol ihn her!« »Wenn sich das nur machen ließe. Nein, einer von uns muß recht bald nach Hause. Wegen Barry.« »Ach ja, euer Bernhardiner-Wunderhund.« »Barry ist ein Wunderhund. Er hat es ja gut bei unserer Wirtin. Sie liebt ihn abgöttisch. Aber sie hat im voraus gesagt, daß sie ihn nur bis zum 1. August behalten kann, danach fährt sie ins Ausland.« »Zum 1. August! Bernadette, das ist ja schon in vierzehn Tagen! Und alles wegen des Köters!« »Sei froh, daß mein Mann dich nicht hört! Köter! Barry ein Köter! Wenn Barry ein Köter ist, dann ist Columbine eine… eine…« »So, so! Beruhige dich.« »Außerdem fahre ich ja nicht nur wegen des sogenannten Köters. Mein Mann kommt auch um den 1. August herum zurück, nebenbei gesagt.« »Verflixt«, entfuhr es mir. »Komm und besuch uns im Winter!« schlug Bernadette vor. »Was macht übrigens deine Patientin?«
»Lauscht hingerissen amerikanischer Jazzmusik aus Ellens Kofferradio.« »Dann ist sie ja versorgt, und wir beide haben tatsächlich eine Ruhepause. Oder hast du anderes zu tun?« »Tausend Dinge! Aber ich lasse sie alle liegen, um mit dir ein halbes Stündchen zu faulenzen. Übrigens, es geht wirklich vorwärts mit Marion.« »Mit ihrem Hals oder ihrer Seele?« »Auf ihren Hals pfeife ich. Nein, mit der Seele! Heut hat sie sich ganz allein waschen können, und als ich helfen wollte, sagte sie: ›Bei dir piept’s wohl, du oller Döskopp?‹ Das nenne ich doch einen Fortschritt!« »Unbedingt! Ich gratuliere. Ach, da ist Ellen! Ob sie wohl die Post geholt hat?« Das hatte sie. Sie überreichte Bernadette einen dicken Brief mit griechischen Marken und mir einen mit ägyptischen. Pierre hat von seinem Schwiegervater strengen Befehl, seine Liebesbriefe in verschiedenen Ländern einzustecken, weil besagter Schwiegervater Marken sammelt. Bernadette machte den Brief vorsichtig auf und gab mir den Umschlag. »Hier, für deinen Vater!« Dann lasen wir beide. Ellen war direkt auf ihr Zimmer gegangen. Sie mußte sich nach der anstrengenden Massage immer eine Stunde ausruhen. Ich saß tief versunken über meinem Brief, als ich plötzlich merkte, daß Bernadette schnaufte und sich die Augen wischte. »Liebe Bernadette, was ist’s?« »Er… er… fährt nach Afrika!« »Dein Mann?« »Ja, mit einem Zoologen, einem Professor. Er hat Asbjörn als Kameramann für eine Forschungsreise engagiert. Er startet Mitte August.« »Ja, aber Bernadette, dann kannst du doch hierbleiben!« »Was denkst du! Ich muß so bald wie möglich nach Hause. Was meinst du, was ich zu tun habe! All seine Kleider müssen nachgesehen werden, er kommt selbst in einer Woche zurück und…« Mitten in der Aufregung und den Tränen kamen Vati, Tante Edda und Lillepus nach Hause. »Afrika?« fragte Vati. »Na, der kann lachen. Wir auch. Denn
jetzt bleiben Sie hier! Nicht wahr, Lillepus?« Er warf Lillepus hoch und fing sie wieder auf. Sie jauchzte vor Freude. »Aber ich will doch zu meinem Mann. Er bleibt ungefähr eine Woche zu Hause.« »Dann kommen Sie nachher zu uns zurück!« »Aber Barry!« »Barry? Ach ja, richtig, Barry, der Menschenretter! Den bringen Sie mit. Ich lade ihn ein, vorausgesetzt, daß er Brittas Katzenviecher nicht frißt.« »Das tut er bestimmt nicht, aber…« »Na also! Barry ist hiermit eingeladen. Und übrigens, Sie werden ja furchtbar viel zu tun haben, wenn Sie nach Hause kommen. Falls Sie Lillepus lieber hierlassen wollen…« Dieses fromme Angebot löste solche Lachsalven aus, daß Ellen vor lauter Neugier erschien. »Ich weiß nicht, was ihr habt!« rief sie, als wir sie in unsere Probleme eingeweiht hatten. »Das ist doch alles ganz einfach. Ihr habt einen Wagen, Bernadette? Also: Dein Mann kommt nach Frankfurt, stopft Hund und schmutzige Wäsche in den Wagen, fährt hierher, wir stecken die Wäsche in die Maschine, du genießt ein paar schöne Tage mit deinem Mann, er fliegt von Hamburg nach Afrika statt von Frankfurt nach Afrika und läßt den Wagen hier stehen.« »Au fein!« rief ich. »Ein Wagen ist gerade das, was uns fehlt!« »Ihr seid alle schrecklich lieb!« lächelte Bernadette mit feuchten Augen. »Ellens Vorschlag ist wirklich nicht schlecht, vorausgesetzt, daß ich auch meinen Mann…« »Also abgemacht«, sagte Vati. Und um die letzten Bedenken aus Bernadettes Gesicht zu verscheuchen, fügte er schnell hinzu: »Vergessen Sie nicht, welche Wohltat es für Lillepus ist, so lange wie möglich an der Nordsee zu bleiben! Sie hat sich prächtig erholt, zugegeben, aber heute hat sie bereits wieder gehustet!« »Was?« rief Bernadette. »Das tut sie doch schon lange nicht mehr! Vielleicht hätte ich ihr lieber die Wolljacke anziehen sollen!« Sie stand auf und guckte uns alle der Reihe nach an. »Ihr seid direkt rührend«, sagte sie. »Ich gehe gleich nach oben und schreibe meinem Mann!« »Vati«, sagte ich, als Bernadette weg war. »Sieh mir in die Augen!« »Bitte, ja?« »Hat Lillepus heute gehustet?«
»Natürlich hat sie.« »Hm«, sagte Tante Edda. »Vati!!!« »Na ja… es ist ja möglich… äh… vielleicht war es nur ein Räuspern!« Dann griff Vati nach Zeichenblock und Bleistift. Lillepus hatte sich mit Kater Anton in dem großen Sessel gemütlich niedergelassen, und es störte sie nicht, daß Vati die achtzehnte Zeichnung von ihr machte. »Nanu?« sagte ich, als ich zu Marion reinkam. Sie lag auf dem Rücken und starrte ins Leere. »Ich denke, du hörst Radio?« »Nee! Da fing ein mieses Gejaule an, das ich nicht mochte.« »Willst du was zum Lesen haben?« »Mag nicht.« »Schade! Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, ein Buch von Tante Edda zu lesen. Habe ich dir eigentlich erzählt, daß sie Schriftstellerin ist? Sie schreibt Mädchenbücher.« »Von braven und artigen Mädchen, die sich auf der letzten Seite verloben. Vielen Dank! Kenn ich!« Das konnte ja gut werden. Marion hatte anscheinend einen ihrer schwarzen Tage. »Du, paß mal auf! Eigentlich komme ich, um zu fragen, was du essen möchtest. Es gibt Restessen heute: einmal Spaghetti mit Tomatensauce, einmal aufgebratenen Fisch. Was ißt du lieber?« »Ist mir schnuppe.« »Dann sag jedenfalls, was dein Lieblingsessen ist.« »Warum soll ich das sagen?« »Warum nicht? Tante Eddas Lieblingsgericht ist Brathähnchen, Ellens Räucherlachs mit Rührei, Bernadettes Weinbergschnecken. So was muß man doch wissen, wenn man einen Haushalt führt! Also?« »Keine blasse Ahnung!« »Ach, Marion, das weiß man doch! Und wenn ich nun eines Tages Lust hätte, dir eine Extrafreude zu machen?« »Paß bloß auf, daß deine Engelsflügel nicht zu heftig wachsen! Die Spitzen könnten abbrechen!« Marion legte sich tiefer ins Bett und zog das Oberbett bis zur Nasenspitze hinauf. Ich bin schließlich die Tochter meines Vaters und kann auch wütend werden. Jetzt stieg mir das Blut in den Kopf. Ich riß das Oberbett so weit weg, daß ich Marions Gesicht sehen konnte, und
fauchte ihr entgegen: »Die Flügel schlage ich dir gleich um die Ohren, du alte Schnapsgurke! Du hast wohl heute Essig mit bittren Mandeln gefrühstückt? Wenn du keine ganz alltägliche Freundlichkeit verträgst, dann bitte schön! Ich werde mir schon Mühe geben und bei dir lernen, wie man sich ausdrückt! Wenn du so bleibst wie jetzt, dann hole ich meine Klamotten und schlafe auf dem Sofa im Wohnzimmer. Hier wird ja die Luft vergiftet von all der Galle, die du ausspuckst! Du kannst übrigens heute nachmittag aufstehen. Ich habe mit dem Arzt telefoniert. Das war vielleicht auch verkehrt von mir und gibt mir wohl einen Heiligenschein? Den schmeiße ich dir aber geradewegs in deine saure Fratze, daß du’s weißt!« Ich mußte aufhören, um Luft zu holen. Marion guckte mich an, ihre Augen waren kugelrund. »Ach, schau doch nicht so kariert aus der Wäsche, du Dussel!« rief ich. Marion guckte weiter. »Määänsch!« sagte sie, und ihre Stimme drückte unverhohlene Bewunderung aus. Da mußte ich lachen. Ich drehte mich jäh um, denn ich wollte den Eindruck meines Ausbruches nicht zerstören, und marschierte hinaus. Im Wohnzimmer sank ich erschöpft in einen Sessel. Tante Edda saß da. Eigentlich wollte ich ihr das Neueste von Marion berichten, aber sie hatte das Radio an und lauschte aufmerksam. Ich nahm die Programmzeitung. Es war ein Wagner-Konzert mit Fischer-Dieskau und Renata Tebaldi. Das war also das »miese Gejaule«. Ich stand leise auf und ging in die Küche, wo ich Bernadette vorfand. »Nanu, was machst du hier? Ich denke, du schreibst deinem Mann?« »Ist schon erledigt. Dein Vater riß mir den Brief aus der Hand und lief zur Post.« »Mit Lillepus auf den Schultern, nehme ich an.« Dann erzählte ich Bernadette von Marion. »Armes Mädchen«, sagte Bernadette. »Du hast gut reden, du siehst sie kaum. Ich bin es, die immer das Vergnügen hat.« »Gewiß, Britta. Aber ihr habt euch ja nur für einen Monat verpflichtet. Ein Viertel davon ist bald um.« Ich schwieg. Daran hatte ich nicht gedacht. Nur noch drei Wochen, dann sollten wir Marion allein in die böse Welt
hinausschicken. Zurück zu dem Onkel oder in ein Erziehungsheim. Gab es eine dritte Möglichkeit? »Na, Britta, du seufzt ja so abgrundtief!« »Uff, ja, ich weiß jetzt weder aus noch ein. Du hättest bloß eben das Gespräch zwischen Marion und mir hören sollen. Zu guter Letzt habe ich sie nach Strich und Faden ausgeschimpft.« »So? Was hast du ihr gesagt?« Ich wiederholte meinen Ausbruch einigermaßen wörtlich. Bernadette lachte hell auf. »Britta, Menschenskind, woher hast du solche Ausdrücke?« »Weiß nicht. Sie liegen wohl in der Luft. Ich meine, in der Sommerluft auf dem Seehundsrücken. Wahrscheinlich habe ich sie von jugendlichen Sommerfrischlern. Jedenfalls waren sie gerade da, als ich sie brauchte.« »Und wie hat Marion reagiert?« »Sie war sichtlich beeindruckt. Keine Spur böse jedenfalls.« »Wunderbar! Weißt du, Britta, ich finde es gut, daß sie überhaupt etwas sagt, daß sie nicht stumm wie eine Auster herumliegt. Kannst du eigentlich erwarten, daß sie nach wenigen Tagen ein nettes, ausgeglichenes Mädchen ist? So etwas geht langsam. Hauptsache, es geht überhaupt!« »Und du meinst, daß es geht?« »Bestimmt! Daß sie anfangs bitter und böse ist, das ist doch klar. Sie steht grundsätzlich in Opposition, vor allem zu ihrem Onkel, aber auch zu der ganzen Welt, und – ach, wie soll ich das erklären? – sie ist so machtlos, fühlt sich klein und häßlich, liegt im Bett und muß sich pflegen lassen. Wie soll sie sich behaupten? Britta, es wird bestimmt besser, wenn sie erst wieder gesund ist und sich irgendwie beschäftigen kann, wenn sie sozusagen als Familienmitglied in unseren Kreis hineinrutscht. Glaubst du nicht?« »Vielleicht. Wir werden die drei Wochen schon aushalten, die uns noch bevorstehen. Aber es ist etwas anderes.« Bernadette nickte. »Ich weiß. Du magst gar nicht daran denken, daß Marion zurück muß, und daß alles, was wir hier aufbauen oder aufzubauen versuchen, gleich wieder zerstört wird.« »Ja, Bernadette, so ist es. Sag, was tätest du an meiner Stelle?« Bernadette lächelte ein kleines, feines Lächeln. »Du kennst meinen Wahlspruch.« »Ja. ›Sage nie nein, wenn es möglich ist, ja zu sagen.‹« »Eben. Ich würde mir sehr überlegen, ob es nicht doch möglich
wäre, ja zu sagen.« »Ein Ja auf die Frage: ›Wollen wir Marion weiter behalten?‹ Aber es kommt schließlich nicht nur auf mich an!« »Britta, jetzt versuchst du, die Verantwortung von dir zu schieben. Du weißt nämlich sehr gut, daß es gerade auf dich ankommt. Dein Vater würde dich nie daran hindern, eine gute Tat zu tun.« »Nein. Du hast recht.« »So, Britta, jetzt müssen wir aber irgendwas Eßbares zu Mittag zusammenbasteln. Soll ich die Spaghetti auf italienisch zubereiten?« »Ja, bitte, wenn du so lieb sein willst!« Bernadette machte eine Dose Tomatenmark auf, und ich holte den Fischrest aus dem Kühlschrank. »Bernadette, glaubst du, daß dein Mann kommt?« »Ich hoffe es. O ja, ich glaube es schon.« »Sag mal, hast du ihm von Marion erzählt?« »Nein! Das heißt, ich habe ihm geschrieben, daß ein junges Mädchen hier zu Gast ist, weiter nichts.« »Ich wollte dich nämlich bitten…« »… daß ich weiter nichts erzähle«, ergänzte Bernadette. »Marion soll einen Menschen treffen, der sie als ein gewöhnliches Mädchen behandelt, ohne Mitleid und ohne etwas über ihre Vergangenheit zu wissen.« »Du verstehst mich aber verdammt gut, Bernadette.« »Britta! ›Verdammt‹ steht dir nicht! Du sprichst jetzt nicht mit Marion! Und außerdem verbitte ich mir alle Ausdrücke, die mein unschuldiges Kind aufschnappen könnte.« »Dein unschuldiges Kind ist nicht hier. Es befindet sich höchstwahrscheinlich im Atelier, und wenn Tante Edda nicht aufpaßt, darf es mit den Farbtuben spielen und kriegt unerlaubt Bonbons.« Bernadette lächelte. »Britta, eines mußt du unbedingt tun. Du mußt deinem Vater ein paar Enkelkinder verschaffen.« »So, fängst du auch schon an? Pierre hat von mir verlangt, ich sollte ihm nächstes Jahr auch eine Lillepus unter den Weihnachtsbaum legen.« »Fein! Wann heiratet ihr?« »Vielleicht zu Weihnachten. Kommt darauf an.« Dann glitt das Gespräch auf meine Probleme über, und für eine
Weile dachten wir nicht an Marion. Am gleichen Nachmittag ging ich zu ihr hinein und half ihr beim Anziehen. Sie hatte aus Hamburg einen Koffer voller Kleider bekommen. »Mensch, hast du aber hübsche Sachen!« sagte ich. »Das Twinset ist einfach Klasse! Ziehst du das an?« »Lieber den blau-weißen Pulli.« »Weißt du, daß ich genauso einen habe? Deswegen habe ich dich gleich erkannt.« »Erkannt? Wieso?« Aua, ich Schaf! Jetzt hatte ich mich verplappert. »Na, ich sah dich eben im Fernsehen – nur eine Sekunde übrigens –, damals als…« »Ach so. Mit der Polente.« »Eben. Also den blau-weißen. Ach, weißt du, ich ziehe meinen auch an, dann sehen wir wie Zwillinge aus!« »Ja, du möchtest mich bestimmt gern als Zwillingsschwester haben!« Wieder hatte Marions Stimme diesen bitter-höhnischen Klang. »Ach, Marion, hör doch auf!« bat ich. »Schlepp nicht immer deine… deine Vergangenheit mit dir rum! Das war ja alles, bevor wir dich kannten. Es geht uns nichts an! Das, was uns angeht, ist die Gegenwart. Vielleicht auch die Zukunft, aber die Vergangenheit bestimmt nicht. Geht es dich vielleicht etwas an, was für schreckliche Sachen ich in meiner Kindheit gemacht habe?« »Du? Schreckliche Sachen?« »Und ob! Mein Po tut mir noch weh, wenn ich daran denke, wie gründlich er manchmal versohlt wurde.« Marion starrte mich groß an. »Hast du Haue gekriegt?« »Das kann ich dir flüstern! Vati kann stinkwütend werden, sage ich dir! Aber ungerecht war er nie. Er hatte immer sehr gute Gründe für seine Wut. So, nun komm, kannst du deine Haare selber kämmen, oder soll ich dir helfen?« Marion zog langsam den Kamm durch ihre schwarze Mähne. »Aber wie war es hinterher, Britta, wenn du deine Prügel bekommen hattest? Warst du dann nicht stinkwütend?« »Eigentlich nicht. Ich habe mich ausgeheult, und die Sache hatte sich. Dann ging ich zu Vati, oder er kam zu mir, und einer von uns
sagte: ›Nun, vertragen wir uns wieder?‹ Und dann mußten wir immer lachen, und alles war wieder in Butter.« Marion legte den Kamm weg. Unsere Augen trafen sich im Spiegel. Ich weiß nicht, wieso und warum – ich bin wohl genauso spontan wie mein Paps –, plötzlich beugte ich mich vor, legte die Arme um Marions Hals und meine Wange an die ihre. »Was denkst du, Marion? Vertragen wir uns wieder?« Sie schwieg. Als ich wieder auf unser Doppelbild im Spiegel guckte, sah ich, daß Marion zwei dicke Tränen über die Wangen liefen. Die anderen saßen am Kaffeetisch, als wir hereinkamen. »Hallo, da haben wir ja unsere Patientin!« sagte Vati. »Entschuldige, daß ich nicht aufstehe, Marion, wie es sich gehört, wenn eine Dame das Zimmer betritt, aber wie du siehst, nimmt eine andere Dame mich in Anspruch!« »Ich möchte Kuchen!« erklärte die andere Dame auf Vatis Schoß. »Das möchten wir alle«, sagte Bernadette streng. »Nur hübsch warten, Lillepus.« »Hier, Marion«, sagte Tante Edda. »Weil du noch halb Patientin bist, kriegst du den feinen Sessel. Wie geht’s?« »Oh, gut.« »Laß dich anschauen«, sagte Vati. »Ich habe dich bis jetzt ja kaum gesehen. Ach, du Schreck, hier sitze ich und sage ›du‹ zu dir. Das ist so eine Angewohnheit von mir. Macht’s dir etwas aus, Marion?« »Aber nein, ich mag das gern. Ich bin erst siebzehn«, fügte sie hinzu. »Beneidenswert«, seufzte Ellen. »Sich vorzustellen, daß man wieder siebzehn wäre!« »Tu bloß nicht so«, lachte Vati. »Für mich bist du mit deinen neunundzwanzig genauso beneidenswert, Ellen!« »So, jetzt hört aber auf«, schaltete sich Tante Edda ein. »Was soll ich da sagen? Komm, Marion, du bist heute der Ehrengast, du kriegst zuerst. Apfeltorte mit Sahne, von Bernadette und mir gemeinsam gebacken!« »Oh, meine Lieblingsspeise!« rief Marion. Endlich, endlich, ENDLICH! Endlich ein spontaner Ausruf, endlich eine vergnügte, normale
Stimme! Gesegnete Apfeltorte, gesegnete Tante Edda und Bernadette! »Na, da siehst du, also hast du doch ein Lieblingsessen!« sagte ich. »Nimm nur tüchtig. Wenn Vati drauflosgelassen wird, bleibt nichts übrig.« »Ich muß doch für Lillepus sorgen«, verteidigte sich Vati. »Nein, das müssen Sie nicht, das besorgt die Rabenmutter«, lachte Bernadette und legte ein angemessenes kleines Stück auf Lillepus’ Teller. »Was macht dein Buch, Tante Edda?« fragte ich. »Ruht in der Schreibtischschublade«, sagte Tante Edda. »Ich habe mich festgefahren und komme nicht weiter.« »Ach nein! Kann das der begnadeten Dichterin passieren? Dürfen wir dir helfen? Sollen die beiden Liebenden sich streiten, und weißt du nicht worüber?« »Es gibt keine Liebenden, du Quatschkopf. Da ist ein siebzehnjähriges Mädchen.« »Hör, hör, Marion! Hier bist du anscheinend zuständig!« »Unterbrich nicht, Quasselliese!« rief Ellen. »Jetzt wollen wir das Problem hören!« »Ja, also, meine jungen Freundinnen, was macht ein siebzehnjähriges Mädchen, das plötzlich kein Geld mehr hat und ziemlich allein auf der Welt ist? Was macht sie, um sich eine Existenz aufzubauen? Was würdet ihr tun?« »Ich würde zu Onkel Benno und Britta fahren und um ein Bett und etwas Essen bitten«, sagte Ellen. »Vorschlag verworfen«, lächelte Tante Edda. »Meine Heldin hat keinen Onkel Benno, die Ärmste.« »Dann kann sie einem ja leid tun«, meinte Bernadette. »Na, ich würde die Nähmaschine herausholen und bekanntgeben, daß ich Näharbeiten annähme!« »Besser«, sagte Tante Edda. »Dazu gehört aber eine Sonderbegabung, die ich meiner Heldin nicht gegeben habe.« »Wie unbedacht von dir, Tante Edda. Ich würde entweder Arzthelferin oder Säuglingsschwester werden.« »Dazu gehört eine lange Lehrzeit mit wenig Gehalt, Britta. Wovon würdest du leben? Nun du, Marion. Du bist ja siebzehn. Kannst du dir die Situation vorstellen?« »Weiß nicht«, sagte Marion. »Vielleicht Hausarbeit – nein, lieber auf einem großen Gut, irgendwo mit Arbeit im Freien. Und vor
allem in einem Haus, in dem man auch Wohnung und Essen hätte.« »Endlich ein vernünftiges Wort!« rief Tante Edda. »Meine Heldin würde bestimmt auch ein Sparschwein anschaffen.« »Und das Gehalt sparen.« »Damit sie später etwas Richtiges lernen könnte.« Jetzt machten wir alle eifrig Vorschläge. Tante Edda mußte zuletzt zu Papier und Bleistift greifen, um unsere Ideen niederzuschreiben. Während wir durcheinanderriefen, ging die Tür auf, und Columbine kam herein. Ganz automatisch rückte ich ein Stückchen vom Tisch weg, denn ich erwartete natürlich, daß sie jetzt auf meinen Schoß springen würde. Columbine glitt lautlos und elegant über den Teppich. Sie strahlte die erhabene Ruhe und die vollkommene Harmonie der Katze aus. Vor Marions Sessel blieb sie stehen und beschnupperte Marions Füße. Dann hob sie ihren schönen Kopf, richtete die blauen Siamesenaugen auf Marion und sprang ihr mit einem leichten, selbstverständlichen Satz auf den Schoß. Marion sagte gerade etwas. Sie unterbrach ihre Worte nicht, sondern sprach fertig und streichelte Columbine über den Rücken – ganz unauffällig, ganz selbstverständlich. »Jetzt schlägt’s aber dreizehn!« rief ich. »Wieso?« fragte Ellen, aber Bernadette entdeckte den Grund. »Nein, sieh mal an! Columbine auf einem anderen Schoß als Brittas!« »Zum ersten Mal!« sagte ich. »Was in aller Welt hast du an dir, Marion? Warum geht Columbine zu dir?« »Ach so, die Katze. Das tun alle Katzen. Hunde auch.« »Dann liebst du wohl Tiere sehr?« »O ja, das tu ich.« »Hast du vielleicht selbst eine Katze zu Hause?« »Nein. Die Tante sagt immer, daß Katzen haaren und die Möbel zerkratzen. Und die Hunde machen mit ihren Pfoten die Teppiche schmutzig.« Es kam trocken, selbstverständlich, ohne Bitterkeit. Eine Tatsache wurde erzählt, ohne Kommentar. Aber während sie sprach, kraulte sie Columbine im Nacken, und Columbine schnurrte wie eine Kaffeemühle. Die anderen plauderten weiter. Ich blieb sitzen und sah Marion und die Katze an. Es war, als löste sich etwas in dem Mädchen. Ihre Muskeln entspannten sich, sie saß bequem zurückgelehnt im Sessel. Ihr Gesichtsausdruck wurde weicher, das Angespannte
verschwand, und ein Ausdruck des Friedens machte ihr schmales Gesichtchen hübscher denn je. Ellen war gerade dabei, Tante Edda zu erklären, die Heldin könnte nach Dänemark fahren und dort ganz bestimmt eine gut bezahlte Arbeit als Kindermädchen bekommen. Marion hörte zu und kraulte dabei immer noch die Katze. Vati hob Lillepus von seinem Schoß und setzte sie mir auf die Knie. Dann nahm er Tante Eddas Bleistift und Block, rückte ein bißchen in den Schatten und fing an zu zeichnen, wortlos, mit dem aufmerksamen, glücklichen Ausdruck, den er beim Arbeiten immer hat. Seine Augen gingen von Marion zum Papier und wieder zu Marion. Ich gab Lillepus ein unerlaubtes zweites Stück Kuchen, damit sie ruhig blieb. Ich sah Vati an, und ich sah Marion und Columbine an. Eines war mir jetzt klar: Soweit es an mir lag, sollte Marion in drei Wochen nicht weg, sondern vorerst hierbleiben. So lange, bis ihr Gesicht immer diesen Ausdruck hatte, bis das ganze Mädchen so ausgeglichen und so ruhig war wie in diesem Augenblick. Marion war der erste Mensch, dem Columbine solches Vertrauen geschenkt hatte. Ob Columbines tiefer, sicherer Tierinstinkt wohl mehr sah und ahnte als wir, als der Onkel Seising, als die Polizei? Eins wußte ich: Marion war kein schlechter Mensch. In diesem Augenblick vergab ich ihr alles, und ich dankte dem lieben Gott, daß er sie Pierre und mir an dem regnerischen Abend über den Weg hatte laufen lassen.
10. »Vorschlag ausgezeichnet stop Ankunft mit Barry voraussichtlich 2. August stop grüße die Wunderfamilie stop Kuß Asbjörn.« So lautete das Telegramm, das Bernadette mir mit strahlenden Augen hinlegte. »Oh, wie freue ich mich!« rief ich. »Und was machen wir nun zu seiner Ankunft?« »Du erlaubst mir, eine Erdbeertorte zu backen, und fertig ist die Laube!« »Halt!« sagte Tante Edda. »Könnt ihr euch nicht ein bißchen mehr einfallen lassen? Etwas, woran wir alle teilnehmen, etwas…« »… woran auch Marion teilnehmen kann«, unterbrach ich. »Daran dachtest du doch, Tante Edda?« »Genau!« »Klar können wir das. Wenigstens ein Willkommensschild und ein paar Blumengirlanden müssen wir herzaubern. Ist dein Mann für solchen Unsinn zu haben, Bernadette?« »Bestimmt! Sonst hätte er es nicht ausgehalten, mit mir verheiratet zu sein!« lachte Bernadette. »Im Grunde ist er freilich sehr vernünftig und prächtig.« »Oh, ich kriege es mit der Angst!« »Brauchst du nicht. Er ist der liebste und beste Mann auf der Welt.« »Durchaus nicht! Da protestiere ich!« »Du kennst ihn ja nicht!« »Aber den besten Mann auf der Welt kenne ich, du Schaf. Er sitzt jetzt am Steuerknüppel einer Verkehrsmaschine irgendwo zwischen Hamburg und Rom. Der zweitbeste ist wahrscheinlich damit beschäftigt, deine Tochter mit verbotener Schokolade zu füttern. Dein Mann kriegt nur eine Bronzemedaille!« Wir hatten nicht gemerkt, daß die Tür aufging. Marion hatte die Post geholt. »Hallo, da bist du ja. Nun, wie fühlst du dich als gesunder Mensch? Noch ein bißchen wackelig auf den Beinen?« »Nein, es geht schon. Bitte, hier ist ein Brief für dich – und einer für Tan… ich meine, für Frau Callies.« Tante Edda lächelte. »Sag ruhig Tante Edda, mein Kind. Das machen all die jungen
Mädchen, die ich kenne.« Eine Röte schoß in Marions Gesicht. Sie sagte nichts, aber ihre Augen leuchteten. »Soll ich sonst noch etwas tun?« »Ich wüßte nicht. Willst du dich nicht eine halbe Stunde hinlegen?« »Ja, vielleicht. Wenn du nichts in unserem Zimmer zu tun hast?« »Gar nichts. Ich laufe eben schnell zum Kaufmann. Ich störe dich nicht, wenn du schlafen möchtest.« »Ja, das möchte ich eigentlich.« Sie ging. Ich hörte das leise Geräusch des Schlüssels, der in unserer Tür umgedreht wurde. Komisch. Sonst schlossen wir nie die Tür ab. Nun ja, meinetwegen. Ich machte mich auf den Weg. Aber kaum war ich am Gartentor, als ein paar Regentropfen fielen. Und ich hatte meine feine Bluse auf der Wäscheleine! Ich lief ums Haus zurück und holte die Bluse. Dann tat ich, wie ich es tausendmal getan hatte: Statt wieder ums Haus zu gehen, lief ich zu meinem Fenster. Das stand gewöhnlich offen, und ich konnte die Bluse hineinstecken. Die Gardinen waren vorgezogen. Ich wollte ganz leise sein, eben nur die Bluse aufs Fensterbrett legen. Lautlos schob ich die Gardine zur Seite. Was in aller Welt…? ’Marion stand am Waschbecken. Sie schien kochendheißes Wasser eingelassen zu haben, denn es dampfte. Und sie hielt einen Brief über den Dampf. Anscheinend hatte sie mich bemerkt; sie drehte sich jäh um und versteckte den Brief hinter dem Rücken. »Was machst du da? Du brauchst nicht zu spionieren!« »Ich wollte die Bluse durchs Fenster stecken, weil es regnet«, sagte ich. »Mach mal bitte die Tür auf, Marion. Du schläfst ja doch nicht. Ich muß etwas aus meiner Kommode holen.« Sie ging durchs Zimmer, und ich lief zurück ins Haus. Die Zimmertür war auf. Ich ging hinein und machte sie hinter mir zu. »Marion«, sagte ich. »Ja, was ist?« »Marion… ich… ich…« Tatsächlich. Ich fand keine Worte. Ich war nur tief unglücklich. Und so vollkommen ratlos, so bitter enttäuscht. Mit blassem, verkrampftem Gesicht stand Marion vor mir. »Marion, ich konnte nichts dafür. Ich dachte, du wärst im Bett. Ach, Marion, ich… ich bin so… ich bin so…« Plötzlich stürzten mir die Tränen aus den Augen.
Marion sagte nichts. Sie blieb regungslos stehen. Endlich fragte sie, leise: »Weinst du meinetwegen?« Ich fummelte nach dem Taschentuch, wischte mir die Augen, putzte die Nase. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Aber etwas mußte gesagt werden! Es war Marion, die zuerst sprach. »Na gut! Dann packe ich eben meine Sachen.« »Nein!« rief ich. »Nein, Marion. Bitte nicht! Bitte, bitte! Bleib doch, Marion! Sei mir nicht böse, daß ich anfing zu heulen. Ich war so unglücklich, weißt du.« »Du darfst nicht meinetwegen flennen!« »Wenn du wegfährst, heule ich erst recht! Ach, Marion, sprechen wir uns lieber aus, versuchen wir es. Ich gebe dir mein Ehrenwort, daß es unter uns bleibt.« »Du besprichst diese… diese Geschichte nicht mit… ja, mit Tante Edda oder deinem Vater?« »Diesmal nicht, Marion. Mein Ehrenwort.« »Na, gut. Es genügt ja, daß ein Mensch mich verachtet. Bitte, hier ist der Brief. Von meinem Onkel an deinen Vater.« Ich drehte den Brief in den Händen. »Marion, mußt du unbedingt wissen, was drin steht?« Sie stand vor mir, sie preßte ihre Hände zusammen; ihre Stimme war halb erstickt. »Ja! Ja, ich muß es wissen! Britta, verstehst du es denn nicht? Ich habe es so gut bei euch, ihr seid die liebsten und besten Menschen, die ich getroffen habe, ihr habt mich dazu gebracht, über meine Zukunft nachzudenken, ich will weg von… von all den… den Dummheiten… Ihr seid bereit, mir zu helfen – alles ist schöner denn je in meinem Leben. Und wenn nun der Onkel eine Menge über mich geschrieben hat – Britta, ich habe auch gestohlen, ja ich hab’s, aber hier nicht, hier würde ich es nie tun –, wenn er das nun deinem Vater erzählt hat, dann ist alles aus. Britta, du sagtest, ihr wüßtet Bescheid über mich, aber da ist so viel gewesen, und der Onkel, der denkt ganz anders als ihr. Er darf es nicht zerstören, er darf es nicht!« Marion konnte nicht weitersprechen. Sie weinte, weinte so, daß ihr schmächtiger Körper zitterte. Da wurde ich ganz ruhig. Ich ließ sie weinen, ich streichelte nur ihren Kopf und wartete, bis sie sich etwas beruhigt hatte. »Marion«, sagte ich leise, »sei nun ruhig, liebe Kleine! Ich werde dir was erzählen. Einmal, vor vielen Jahren, hatte ich in der Schule was
ausgefressen und bekam einen Brief mit nach Hause. Ich hatte eine furchtbare Angst. Du ahnst nicht, was für einen Nachmittag ich verbrachte. Ich wußte ganz sicher, daß ich Prügel bekommen würde und höchstwahrscheinlich auch Stubenarrest, und es war ausgerechnet der Tag vor einem Preisschwimmen, bei dem ich große Chancen hatte. Ja, es ging mir damals, wie es dir heute ging. Ich machte den Brief auf. Dann passierte mir aber was Komisches. Jetzt konnte ich ihn lesen – und ich tat es nicht! Ich habe mich furchtbar geschämt. Plötzlich hatte ich nur einen Wunsch, Vati alles zu beichten, meine Strafe hinzunehmen, wie hart sie auch ausfallen mochte. Ich hatte ein so schlechtes Gewissen wie nie in meinem Leben.« Marion horchte atemlos. »Und dann?« »Ja, dann lief ich rüber ins Atelier. Ich wollte einfach nicht die Zeit haben, noch einmal nachzudenken. Ich reichte Vati den Brief, und bevor er etwas sagen konnte, sagte ich: ›Paps, da ist ein Brief aus der Schule, und ich habe ihn aufgemacht, weil ich Angst hatte, aber ich habe ihn doch nicht gelesen, und ich weiß, daß ich Haue kriege. Tu es bitte schnell, damit wir es hinter uns haben, und ich werde nie mehr einen Brief aufmachen‹.« »Und als du deine Haue weg hattest?« fragte Marion leise. »Ich bekam sie ja gar nicht! Vati saß da mit dem Brief in der Hand und guckte von mir zum Brief und vom Brief zu mir. Dann wurde er ganz blaß und sagte: ›Britta, weißt du, was die Verletzung des Briefgeheimnisses bedeutet?‹ Dann fing ich an zu heulen, und Vati war ganz, ganz ruhig. Er setzte sich hin und erklärte mir, daß es ein Verbrechen sei. Einen Brief unerlaubt zu lesen sei eine Gemeinheit, einen aufzumachen sei ein Verbrechen, und er sei nie in seinem Leben so enttäuscht gewesen. Dann blieb er ganz still sitzen, er las den Brief nicht, er guckte mich nur an. Zuletzt nahm er meine Hand und sagte: ›Gut, Britta, du hast doch im letzten Augenblick deine Ehre gerettet. Du hättest den Brief wieder zukleben können und nichts zu erzählen brauchen‹. Ich sagte ihm dann, daß ich das nicht konnte. Ich mußte ihm alles erzählen, und ich schämte mich so schrecklich, so schrecklich. O, wie war ich unglücklich! Dann war Vati furchtbar lieb zu mir, er nahm mich in die Arme und sagte, ich sei doch im Grunde ein anständiges Mädchen, das er weiterhin sehr liebhabe.« »Aber als er den Brief gelesen hatte?« fragte Marion. Sie lauschte meiner Erzählung mit großen Augen. »Oh, mein Paps ist ein komischer Kauz!« lachte ich. »Vor lauter
Entsetzen über die Verletzung des Briefgeheimnisses vergaß er, den Brief zu lesen. Das tat er, nachdem wir uns versöhnt hatten. Dann allerdings sagte er, ich hätte doch die Haue verdient, aber jetzt sei es zu spät. Dann hielt er mir eine Strafpredigt, die es in sich hatte, schrieb der Lehrerin, daß er ernstlich mit mir geredet, und daß ich versprochen hätte, nie mehr naseweis zu sein – darum ging es nämlich –, und ich hatte das Vergnügen, den Brief am folgenden Tag zu überreichen. Nebenbei gesagt gewann ich am gleichen Nachmittag das Preisschwimmen.« Marion saß ganz still da. Sie weinte nicht mehr. Sie nahm den Brief und stand auf. »Ist dein Vater im Atelier?« »Ja.« »Dann gebe ich ihm den Brief.« »Marion, hör mal. Der Brief ist nicht aufgemacht. So weit kam es nicht. Nun bleibt dies hier unter uns. Kein Mensch soll es erfahren.« »Meinst du?« »Ja, bestimmt! Du sagst, dein Onkel darf nichts zerstören, aber du selbst darfst es auch nicht! Ich verstehe dich, weil ich dasselbe durchgemacht habe. Ich weiß, daß du deswegen kein schlechter Mensch bist. Komm, gib mir den Brief, ich gebe ihn Vati. Was auch darin steht, Marion, das wird gar keine Rolle spielen. Wir bilden uns unsere eigene Meinung über dich und lassen uns von keinen Onkels oder Tanten beeinflussen!« Marion öffnete die Lippen. Sie wollte etwas sagen, aber es kam kein Laut. Dann griff sie nach meiner Hand. »Britta«, flüsterte sie. »Hier, Paps, ein Brief. Von Marions Onkel.« »Ach so. Leg ihn da auf den Tisch. Ich habe jetzt keine Zeit.« »Bist du denn nicht neugierig?« »Doch, ob dieser gelbe Farbton der richtige ist. Guck mal her, Britta. Was habe ich da bei Lillepus’ Haaren verkehrt gemacht?« »Sie sind zu gelb. Es muß mehr Silberglanz rein. Wo ist denn dein Modell?« »Auf dem Klöchen. Ihre Äußerungen, als sie mich verließ, deuteten auf so was.« »Paps, ich bin furchtbar neugierig auf den Brief!« »Dann mach ihn auf und lies ihn mir vor!« Ich tat es.
»Sehr geehrter Herr Dieters! Für Ihren Brief danke ich Ihnen sehr herzlich. Es ist meiner Frau und mir eine große Erleichterung zu wissen, daß es Marion bei Ihnen gutgeht, und wir werden Ihnen und Ihrer Familie nie vergessen, was Sie für das Mädchen tun. Anbei einen Scheck über die vereinbarte Summe. Sollte Marions Aufenthalt bei Ihnen sich verlängern, bitte ich um Nachricht. Ich schicke dann wieder einen Scheck. Den anderen Scheck über fünfzig Mark bitte ich Sie, Marion zu überreichen. Sie wird ja Taschengeld brauchen. Ich bitte um eine Empfehlung an Ihr Fräulein Tochter und verbleibe mit vorzüglicher Hochachtung Ihr dankbarer Joachim Seising.« »Na, ist ja gut«, sagte Vati. »Leg den Scheck auf den Schreibtisch. Guck jetzt, Britta, da hast du dein Silber. Besser so?« »Viel besser. Du, Paps, darf ich Marion den Brief zeigen?« »Marion? Ja, meinetwegen. Er enthält ja nichts Besonderes!« »Gerade deswegen. Darf ich?« »Bitte, bitte. Nimm den Scheck mit, der für sie bestimmt ist. Was gibt es heute zu Mittag?« »Wenn es nach mir ginge, gäbe es Schnepfen und Sekt!« lachte ich. »Aber es ist Tante Eddas Küchentag, und ich meine etwas über Leber mit Kartoffelpüree gehört zu haben. Tschüs, Paps. Du bist ein feiner Kerl.« Ich tanzte aus dem Atelier, ich machte Ballettsprünge über den Korridor und schwebte in unser Zimmer. Da pfefferte ich den Brief so kraftvoll auf den Tisch, wie es kein alter Skatspieler hätte besser machen können. »So, du alter Angsthase, nun lies mal den furchtbaren Brief!« Marion las. Dann guckte sie mich an. Und dann lächelte sie. Ein großes, befreites Lächeln, das normale, glückliche Lächeln eines normalen, glücklichen Mädchens. Am gleichen Nachmittag saßen wir alle um den großen Tisch im Wohnzimmer und machten »Unsinn« zu Asbjörn Grathers Empfang. Wir bastelten Blumen aus buntem Papier, fabrizierten Schilder und amüsierten uns wie Kinder, die Christbaumschmuck machen. Ab und zu warf ich einen Blick auf Marion. Sie sprach wenig, aber ihre Augen leuchteten.
11.
»Da sind sie!« rief Ellen, die am Fenster stand. Wir rannten zur Tür. Ein grauer Volkswagen hielt vor dem Gartentor. Ich lief hin und machte auf. Ein großer, blonder Mann lenkte den Wagen durch das Tor und hinein auf unser Grundstück. Neben ihm saß Bernadette, strahlend, mit blanken Augen und roten Wangen. Hinten im Wagen erblickte ich Lillepus’ blonden Haarschopf und den größten Hundekopf, den ich je gesehen hatte. Wir hatten natürlich Bernadette und Lillepus allein zum Schiff gehen lassen. Das erste Wiedersehen sollten sie ungestört genießen. Lillepus war Feuer und Flamme. Sie erzählte mit voller Lautstärke, daß Vatis Auto auf dem großen Schiff gewesen sei, und sie habe an Bord gehen und neben Vati sitzen dürfen, als er vom Schiff fuhr, und Barry sei auch mit dem Schiff gekommen, und Barry solle gleich Onkel Benno begrüßen. Barry war aber anderer Meinung. Er sah uns alle an, ruhig abschätzend. Während wir der Reihe nach Bernadettes Mann willkommen hießen, ging Barry zielbewußt an Vati, an Tante Edda, Ellen und mir vorbei. Bei Marion hielt er an. Er setzte sich hin, guckte sie an und wedelte. Dann kam ein kleines, glückliches Winseln, und er legte den großen Kopf auf Marions ausgestreckte Hand. »Sie sind bestimmt Fräulein Blich«, sagte Asbjörn Grather und schüttelte Ellens Hand. »Was macht Ihr Arm?« »Das wissen Sie schon?« sagte Ellen. »Klar. Meine vorbildliche Frau hält mich immer auf dem laufenden.« Er ging weiter. Marion war die letzte in der Reihe. Asbjörn Grather blieb stehen; er drehte den Kopf und sah seine Frau fragend an. »Du hast mich wohl doch nicht auf dem laufenden gehalten, holdes Weib! Von dieser jungen Dame hast du gar nichts erzählt!« »Ach, Asbjörn, das habe ich doch, in dem letzten Brief!« »Ja, richtig, zwischen zwei deiner achtundvierzig Aufträge stand noch etwas über einen Sommergast. Also, mein Name ist Grather. Mit Barry haben Sie sich schon befreundet, sehe ich. Das will etwas heißen, Barry ist nämlich ein sehr reservierter Herr!« »Asbjörn, dies ist Marion Seising, und sie ist in puncto Tiere genau wie du! Die Tiere rennen ihr geradezu nach!« »Ist das aber schön, eine verwandte Seele zu treffen«, lächelte Asbjörn und drückte Marions Hand. »Also, Herr Dieters und Fräulein Britta, meinen Dank für alles, was Sie für meine Familie
getan haben und dafür, daß ich kommen durfte, werde ich nachher feierlichst in Worte fassen. Vorläufig muß ich den Wagen entladen.« »Eilt es so?« fragte ich. »Und ob es eilt! Meine Tochter rief schon, bevor das Schiff angelegt hatte, ob ich ihr ›was Schönes‹ mitgebracht hätte!« Dann trugen wir alle Koffer, Pakete und Kartons ins große Fremdenzimmer, und Asbjörn Grather lachte herzlich über unsere » Willkommens«-schilder und über die Blumengirlanden an den Türrahmen. Als die ganze Gesellschaft zum Kaffeetrinken ins Wohnzimmer kam, erhob sich Columbine in ihrem Sessel. Sie machte einen Buckel und fauchte. »Oh, die Katze!« rief Ellen. Marion ging ruhig hin und nahm Columbine auf den Arm. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl, und Barry legte sich neben sie. Marion sprach nicht. Sie streichelte abwechselnd die beiden Tiere und ließ Barry ruhig näher kommen. Sie nahm sich Zeit, streichelte und kraulte. Columbines Rückenhaare glätteten sich. Barry winselte leise. Marion setzte Columbine auf den Fußboden. Barry drehte den Kopf, guckte sich Columbine noch einmal an, und wedelte dann mit dem Schwanz. Columbine starrte fasziniert auf seinen buschigen Schwanz. Dann legte sie sich flach auf den Teppich und streckte ein spielerisches, samtweiches Pfötchen aus, bekam die Schwanzspitze zu fassen, und der Grundstein zu einer rührenden Freundschaft war schon gelegt… Mit dem frechen kleinen Kater Anton hatten wir überhaupt keine Schwierigkeiten. Anton war noch jung und lebte in seiner eigenen glücklichen Kinderwelt, jenseits von Gut und Böse. Anton akzeptierte noch mit Freuden jedes Lebewesen, ob es nun auf zwei oder auf vier Beinen ging. »Menschenskind«, sagte Asbjörn, als wir uns zu Tisch setzten. »Sie haben wohl Ihr Leben lang nur mit Tieren zu tun gehabt?« »Nein«, antwortete Marion. »Aber wie in aller Welt…?« fragte Asbjörn. »Ich weiß nicht. Ich… ich finde es nicht so komisch. Ich habe nie darüber nachgedacht. Es ist… ja es ist nur so.« »Ach, Marion«, sagte Bernadette. »Jetzt hast du das Herz meines Mannes für ewig gewonnen, ganz und gar.« »Nicht ganz«, sagte Asbjörn Grather. »Eine kleine Ecke habe ich noch für dich reserviert. Und ein kleines bißchen für Lillepus.« »Britta«, sagte Marion abends, als wir zu Bett gingen. »Ja?«
»Willst du mir eine ehrliche Antwort geben?« »Na klar.« »Weiß Herr Grather etwas über mich?« »Ja. Daß du Marion heißt, hier wohnst, schwarze Haare hast und ein phantastischer Tiermensch bist.« »Du weißt sehr gut, was ich meine.« »Ja, das weiß ich. Aber es stimmt, was ich sage. Er weiß überhaupt nichts von deiner Vergangenheit und wie du hergekommen bist.« »Sicher?« »Ganz sicher!« »Wie kannst du ganz sicher sein?« »Weil ich Bernadette gefragt habe.« »Und jetzt?« »Jetzt? Er wird weiterhin nichts erfahren. Marion, du kannst wirklich ganz beruhigt sein. Außer uns, die wir hier waren, als du kamst, weiß kein Mensch etwas und erfährt auch nichts. Das geht doch keinen Menschen etwas an.« »Tut’s auch nicht«, sagte Marion. Sie ging ins Bett, sagte gute Nacht und machte ihre Nachttischlampe aus. Im Schein der meinen sah ich, daß sie auf dem Rücken lag, die Hände unter dem Nacken. Die langen schwarzen Haare waren wie ein Fächer über das Kopfkissen gebreitet. Ich machte meine kleine Lampe ebenfalls aus. Dann lag ich da in der Dunkelheit und dachte an den schönen Tag, den wir hinter uns hatten. Ich dachte daran, daß wir morgen mit dem Auto zum Strand fahren konnten. Wir wollten einen großen Freßkorb mitnehmen und den ganzen Tag im Freien verbringen. Mit dem Baden ist das nämlich so eine Sache. Wir müssen durch das ganze Dorf laufen und dann noch ein Stück weiter an der Südseite der Insel entlang. Wir wohnen zwar nicht weit weg vom Wasser, aber auf unserer Seite ist das steile Kliff. Da hinein frißt sich das Meer, wenn es stürmt, immer tiefer, und bei Flut bleibt nur noch ein winziger, schmaler Strandstreifen unterhalb des Kliffs. Dort ist das Baden streng verboten. Aber jetzt hatten wir einen Wagen, und wenn Asbjörn Grather wieder weg mußte, konnte Bernadette fahren. Vati hatte versprochen, morgen keinen Strich zu malen, und Tante Edda, kein Wort zu schreiben. Das Wetter war zur Zeit prachtvoll, und das wollten wir ausnutzen.
Wie freute ich mich darauf! Wenn bloß – oh, wenn bloß Pierre dabeisein könnte! Nun ja, im September wollte er kommen, für vier Wochen! Dann hatte er Urlaub. Dann konnten wir auch in Ruhe planen. Wir mußten einen Ausweg finden, wir wollten ja so gern heiraten. Vielleicht war es doch möglich, daß wir vorerst hier mit Vati wohnten… September. Nur noch wenige Wochen, dann kam Pierre. Wie lange würden wohl die anderen bleiben? Tante Edda – nun, sie war ja unabhängig. Bernadette? Vielleicht bis Ende September? Ellen? Alles hing von ihrem Arm und ihren Behandlungen ab. Und Marion? Marion. Kleine Marion. Immer landeten meine Gedanken bei ihr. Ob sie sich wohl selbst so viele Gedanken über ihre Zukunft machte, wie ich es tat und wir alle übrigens? Marion, mit dieser merkwürdigen TierAnziehungskraft. Marion mit ihrer Schweigsamkeit. Ja, eigentlich hatte sie nur richtig gesprochen, wenn sie unglücklich oder böse war. Wenn es ihr gutging, schwieg sie. Ich ahnte noch nicht, welche Interessen sie hatte, ahnte nicht, ob sie bestimmte Pläne hatte, ob sie sich eine Vorstellung über ihre Zukunft machte. Wenn man bloß ihre Gefühle ans Tageslicht locken könnte! Der Schlaf wollte nicht kommen. Probleme anzupacken, wenn man eigentlich schlafen sollte, ist so ziemlich das dümmste, was man machen kann. Da hat Vati ein wunderbares Prinzip. Wenn Omi klagte, sie hätte vor lauter Gedanken nicht schlafen können, dann lachte Vati und sagte: »Abschalten, Muttchen! Wenn ich meinen Kopf auf das Kissen lege, schalte ich die ganze Gehirntätigkeit ab und schlafe ein.« Ich warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt des Weckers. Gleich zwölf. Ich drehte mich auf die rechte Seite, dann auf die linke. Durstig war ich auch. Im Kühlschrank stand noch ein Rest Apfelsinensaft. Ob ich rausschleichen konnte, ohne Marion zu wecken? Ich stand lautlos auf, schlüpfte in meinen Bademantel und die Pantoffeln. Wie still es im Haus war! Eigentlich schön. Ich ging ins Wohnzimmer, kuschelte mich in den großen Sessel und machte es mir mit dem Apfelsinensaft gemütlich. Ach richtig, im Schrank war bestimmt eine Keksrolle. Und dort lagen Tante Eddas Zigaretten. Ich fand es urgemütlich in dem stillen Zimmer, mit dem Saft und den Keksen und einer gemopsten Zigarette. Plötzlich fiel mir ein, daß ich Ellen nicht hatte kommen hören. Sie war in einem Konzert im Kurhaus gewesen. Vor zwei Tagen war
sie auch abends ausgegangen. Ellen sah zur Zeit so hübsch aus. Ihr helles Gesicht hatte einen warmen Farbton gekriegt, ihre blonden Haare saßen so gut. Sie war immer gepflegt gewesen, aber in der letzten Zeit noch sorgfältiger als sonst. Es fiel mir so allerlei ein, während ich große Rauchwolken blies. Wenn ich wirklich einmal rauche, tue ich es wie eine Schülerin, die ihre erste, unerlaubte Zigarette qualmt, sagt Ellen immer. Es schien Ellen gutzugehen. Sie ging zu ihren Packungen und ihrer Massage, blieb lange weg und hatte danach noch nicht einmal eine Ruhestunde nötig. »Ich lege mich immer eine Stunde auf die Kurhausterrasse«, hatte sie eines Tages gesagt. Zwölf Uhr. Du liebe Zeit, so lange dauerte doch kein Konzert! Wenn ihr bloß nichts zugestoßen war! Da – endlich! Ganz leise wurde die Haustür auf- und wieder zugemacht. Ob sie direkt nach oben gehen würde? Nein. Da kam sie schon. »Britta, Menschenskind, was tust du hier? Mitten in der Nacht? Ich sah Licht, da dachte ich…« »Ich trinke Orangensaft und rauche eine geklaute Zigarette«, sagte ich. »Dann klaue ich auch eine!« Ellens Augen waren groß und dunkler als sonst. Sie brachte eine kühle Frische mit sich, etwas vom Duft der Sommernacht. Diese salzige Luft, die Feuchtigkeit, vermischt mit einem Hauch Blumenduft aus all den kleinen Gärten. »Ellen, wo in aller Welt bist du gewesen?« »Im Konzert.« »Bis zwölf Uhr dreizehn?« »Du bist aber eine schreckliche kleine Moraltante, Britta. Nein, das Konzert dauerte bis halb zehn.« »Ja, und?« »Britta, kennst du die Geschichte von dem Mädchen, das sich zu Tode fragte?« »Nein, erzähl sie mir bitte! Also, Konzert, und dann?« »Und dann Essen im Hotel, und dann Spaziergang am Strand, du abscheuliches Mädchen, und dann – und dann…« Mir ging ein großes Licht auf, und ich lächelte von einem Ohr zum anderen. »Und einen Kuß vor dem Gartentor. O Ellen!! Du bist verliebt!« »Das entdeckst du erst jetzt?« sagte Ellen. »Wenn du für einen Groschen Beobachtungsgabe hättest, wäre es dir längst aufgefallen.« »Ellen, du altes Schaf, du weißt genau, daß meine ganze Beobachtungsfähigkeit von Marion beansprucht wird! Aber erzähl
doch, ich platze vor Neugier! Wo hast du ihn kennengelernt, wo wohnt er, wie heißt er, wie alt ist er, was macht er, wie…« »Halt, es genügt vorläufig. Kennengelernt im Kurhaus, auf der Terrasse. Wohnen tut er in Hamburg, er heißt Frank, ist fünfunddreißig und Rechtsanwalt. Genügt das vorerst?« »Wirst du ihn heiraten?« »Nur langsam! Wir kennen uns erst seit vierzehn Tagen!« »Ellen, ich bin entrüstet! Erst vierzehn Tage, und schon ein Kuß vor der Gartenpforte!« »Alte Heuchlerin«, lachte Ellen. »Ach, Britta, ich weiß noch nichts, weiß nicht, ob ich ihn vielleicht, vielleicht einmal heirate. Ich weiß nur, daß ich verliebt bin wie eine Siebzehnjährige und daß das Leben nie so schön war und daß ich dem lieben Gott auf den Knien für meine myalgischen Versteifungen danke!« »Warum ist nun der Held deiner Träume auf der Kurterrasse? Hat er auch Myalgien?« »Ja, aber im linken Arm! So, und nun habe ich genug erzählt. Und Britta – dies bleibt vorerst unter uns!« »Klar, Ellen! Es ist großartig von dir, daß du es mir erzählt hast. Ich freue mich ganz schrecklich!« »Ach ja, und noch etwas: Ich kann leider morgen nicht mitkommen zum Picknick.« »Was du nicht sagst! Wie erklären wir das den anderen?« »Das überlasse ich dir! Sage, daß du mir Stubenarrest gegeben hast oder daß ich morgen Doppelmassage habe oder daß meine Urgroßmutter aus Dänemark zu Besuch kommt!« »Oder daß du einen Hitzschlag erlitten hast«, schlug ich vor. »Gehst du jetzt endlich schlafen?« »Ja. Ich kippe den Aschenbecher aus – ach, geh nur, Britta, ich bin doch so wach, ich werde zuerst hier lüften. Das wird zu kalt für dich, so halbnackt, wie du hier herumsitzt.« »Na, dann gute Nacht. Aber du, Ellen – sag mal, wie kann man solche Myalgie-Geschichten im linken Arm kriegen?« »Wenn man Linkshänder ist, du Schaf. Gute Nacht!« Ich schlich in mein Zimmer zurück. Marion atmete tief und regelmäßig. Jetzt hatte ich erst recht etwas zu denken! Doch ich sagte streng zu mir selbst: »Britta, abschalten!« Ich zwang mich dazu, dem Alphabet nach die Namen berühmter Männer aufzuzählen. Aristoteles – Beethoven – Caesar – Delacroix… Und dann schlief ich ein mit dem Wort »Einstein« auf den Lippen.
12.
»Wie lösen wir ein mathematisches Problem?« erkundigte sich Asbjörn Grather am folgenden Morgen. »Mein Wagen faßt fünf Personen plus Lillepus. Hunde von Pferdegröße hat man nicht mitberechnet, als der Wagen gebaut wurde. Wir sind – ich muß schnell zählen: eins, zwei, drei, vier – Fräulein Blich kommt nicht mit – na, dann sind wir sechs plus Kind plus Hund. Es bleibt nur eines übrig: Du mußt fahren, Bernadette. Kennst du noch den Unterschied zwischen Gaspedal und Bremse? Ich laufe zu Fuß mit Barry, und irgend jemand muß die große Güte haben, unsere Tochter auf den Knien zu halten.« Niemand fand es der Mühe wert, die Frage nach diesem »Jemand« näher zu erörtern. Aber ausnahmsweise ließ Marion sich vernehmen: »Ich gehe furchtbar gern zu Fuß mit Barry. Dann können Sie fahren, Herr Grather.« »Du bist ein Engel, Marion!« rief Bernadette. »Zwar habe ich noch eine schwache Ahnung vom Unterschied zwischen Gaspedal und Bremse, aber der Wagen ist neu; ich habe ihn erst zweimal gefahren. Und nun ausgerechnet mit einer so teuren Last!« »Macht es Ihnen wirklich nichts aus?« fragte Asbjörn. »Bestimmt nicht! Auch wenn Sie einen Bus gehabt hätten, wäre ich lieber mit Barry gelaufen!« »Schön!« sagte Vati. »Dann treffen wir uns am Strand, Marion. Irgendwo in der Nähe der Eisbude.« »Fein!« rief ich. »Ganz nahe an der Eisbude. Hast du viel Geld bei dir?« »O ja. Genau abgezählt, um einen Strandkorb zu mieten.« »Einen? Wir brauchen drei!« »Und einen für Barry. Versorg nun endlich deine Katzenviecher, damit wir loskommen!« Ich stellte Milch und Futter in den Schuppen und machte die Tür zu. Durch das ausgesägte Katzenloch konnten meine Lieblinge dann rein- und rausschlüpfen. »Hoffentlich geht Barry mit Marion«, sagte Tante Edda. Da lächelte Marion. Ein sicheres, glückliches Lächeln. »Das tut er«, sagte sie. Sie nahm ihn nicht an die Leine, sie machte sich überhaupt keine
Mühe. Sie sagte nur einmal leise »Barry« und ging los. Barry blieb ihr auf den Fersen. Als wir starteten, sah ich Marion und Barry ein Stück vor uns. Sie ging beschwingt und frei, ihr Körper war schlank und elastisch. Sie war jung und schmal und der Hund neben ihr so groß, so mächtig, so überwältigend. »Wißt ihr was?« sagte Tante Edda. »Ich glaube, daß der wohlmeinende Onkel und die pflichtbewußte Tante viele Fehler gemacht haben. Aber eines haben sie gemacht, was kein Fehler, sondern schon eine Sünde ist. Sie haben Marion verwehrt, mit einem Tier zusammen aufzuwachsen!« »Sie haben recht, Frau Callies«, sagte Asbjörn. »Wissen Sie, ich bin auch bei einem Onkel und einer Tante groß geworden. Sie machten auch Fehler und machten aus mir einen eigensinnigen, verschlossenen Jungen. Nicht wahr, Bernadette? Aber eines erlaubte mir die Tante, und dafür werde ich ihr mein Leben lang dankbar sein. Ich durfte immer eine Katze haben. Ich habe mit meiner Tante darüber gesprochen, als ich sie das letztemal sah. Ich habe ihr gesagt, wie dankbar ich war. Dann lachte sie ein bißchen und…« »O ja, ich weiß!« unterbrach ihn Bernadette. »Sie sagte: ›Ach, du mit deinen Tieren, Asbjörn! Wenn du wüßtest, wie oft ich über deine Katzen verzweifelt war, wenn sie die Möbel zerkratzten und mit meinen Wollknäueln spielten. Ich habe es aber über mich ergehen lassen, weil ich es dir gönnte, mit Tieren aufzuwachsen‹.« »Richtig! So war es!« sagte Asbjörn. »Die gute Tante konnte mir auf die Nerven gehen, und einen richtigen Kontakt hatte ich leider nie mit ihr, obwohl sie wirklich ein sehr gutes Herz hat. Aber, Kontakt oder nicht: Daß sie mir meine Katze ließ, das vergesse ich ihr nie. Wenn bloß alle Eltern begriffen, wie wertvoll es für ein Kind ist, mit Tieren umgehen zu dürfen!« »Aber nicht alle Kinder sind Tierfreunde«, wandte Vati ein. »Um so wichtiger! Sie sollen es lernen! So selbstverständlich, wie sie laufen und sprechen und essen lernen! Jedes Kind hat die Fähigkeit und das Bedürfnis, andere Wesen liebzuhaben. Das Kind, das rechtzeitig lernt, zu einem Tier gut zu sein, wird später auch zu Menschen gut werden.« »Wißt ihr, was mein Mann zuallererst kaufte, als wir uns in Frankfurt niederließen?« schmunzelte Bernadette. »Barry«, sagte ich. »Nein, Barry kam als zweiter Einkauf. Das erste waren zwei
Jahreskarten für den Zoo!« »Sie sind also ein guter Mensch, nach Ihren eigenen Theorien, Herr Grather«, neckte ich. »Das ist er!« sagte Bernadette. Ihre Stimme war voll Wärme, und ich sah, daß sie den Blick ihres Mannes im Rückspiegel traf. Wir waren schon umgezogen und hatten uns in unseren Strandkörben gemütlich eingerichtet, als Marion kam. Barry keuchte in der Hitze. Marion hatte unterwegs alles Überflüssige ausgezogen und kam in Shorts und einem kleinen blusenähnlichen Etwas an. »Donnerwetter, ist das Mädchen hübsch!« sagte Vati. Seine Künstleraugen ruhten mit Wohlwollen auf Marions schlanker Gestalt. Es war ein wunderschöner Tag am Strand. Bernadette hatte ihre Filmkamera mit; sie und ihr Mann filmten abwechselnd. Lillepus ritt stolz auf Barrys Rücken, Bernadette machte am Ufer Handstand und Radschlagen. »Sie klettert wie ein Affe und springt wie ein Steinbock«, erklärte Asbjörn, als wir Beifall klatschten. »Kein Wunder! Ihr Vater war Zirkusartist, und meine Schwiegermutter ist Turnlehrerin.« Marion lief hin zu Bernadette. Sie fragte etwas, Bernadette erklärte, machte ihr eine Übung vor, Marion versuchte es eifrig und wißbegierig. »Guckt euch das an!« rief Tante Edda. »Ich sage ja, das Mädchen hat einen Kräfteüberschuß, den es irgendwie loswerden muß!« Marion war unermüdlich. Als sie so verschwitzt und glücklich dastand, erinnerte nichts mehr an das arme, kranke Wesen, das Pierre damals nach Hause getragen hatte. Es war kaum zu verstehen, daß es derselbe Mensch war. Sie machte kehrt und lief ins Wasser hinein. Kein zaghaftes Große-Zehe-Reinstippen – und dabei wußte ich, daß das Wasser so früh am Morgen abscheulich kalt war. Selbst mich kostet das Untertauchen dann Überwindung, und ich bin es doch wahrhaftig gewöhnt. »Das nenne ich Selbstdisziplin«, sagte Bernadette. Sie hatte nämlich den Test mit der großen Zehe gemacht und sich daraufhin schleunigst auf den sonnigen Strand zurückgezogen. Und noch etwas besaß Marion – ich entdeckte es kurz darauf. Wir schwammen um die Wette zum Badefloß. Das lag etwa hundert Meter entfernt. Ich gewann mit zwei Meter Vorsprung. Als Marion ihre Hand auf die Floßkante schlug, drehte sie sich zu mir um. Ihr warmes, nasses Gesicht hatte einen fröhlichen, offenen Ausdruck: »Prima, Britta! Toll, wie du schwimmen kannst!« Keine Spur von Neid. Sie war ein erstklassiger Verlierer. Wir
ließen uns eine Weile auf dem Rücken treiben, und ich dachte nach. Marion wurde mir immer rätselhafter. Dieser saubere Sportgeist, diese brennende Tierliebe! Wie ließ sich das alles mit ihrer Vergangenheit in Einklang bringen? Als wir an den Strand zurückkamen, hatten sich schon viele Badende eingefunden; eine ganze Schar stand um Barry und Lillepus. Die Sonne funkelte in unzähligen Fotolinsen. »Ach bitte, noch einmal! Setze dich wieder auf deinen Wauwau, Kleine! Laß ihn mal hin- und herlaufen.« So bat ein junger Mann mit Filmkamera. »Kann der Wauwau auch schwimmen, wenn du auf ihm reitest? Noch einmal, Kleines, dann kriegst du ein Eis!« »O Schreck!« rief Asbjörn. »Wenn das erst anfängt!« Er schnappte sich seine Tochter und brachte sie in Sicherheit. Aber Barry ging zu Marion, und gleich danach schwammen beide Seite an Seite in die kühle, grüne Nordsee hinaus. Wieder machten die Fotoapparate klick, und wieder surrten die Kameras. In ihrem Strandkorb saßen Bernadette und ihr Mann, in ein leises Gespräch vertieft. Lillepus schlief auf dem Schoß ihres Vaters. Diese Familienidylle durfte ich nicht stören. Also guckte ich mich nach Vati um. Spurlos verschwunden. Und Tante Edda? Nirgends zu sehen. Marion und Barry lagen auf dem Floß. Wie hatte sie es bloß geschafft, hundert Pfund lebenden Hund da hinaufzupraktizieren? Ich kam mir plötzlich einsam vor. Ach, Pierre! Warum war er nicht hier? Was für ein unnatürlicher Zustand ist so eine Verlobung! Ich sehnte mich so herzlich nach ihm. Und er? Jetzt hatte er seine feste Anstellung, ich besaß eine schöne Aussteuer. Nur die Wohnung fehlte, sonst könnten wir heiraten. Ich lag auf dem Rücken im Sand, hielt die Augen geschlossen, dachte nach und überlegte, bis mir der Kopf weh tat. Auf dem Seehundsrücken wohnen? Für Pierre sehr unpraktisch. Er war in Hamburg stationiert. Klar, daß er in der Nähe von Fuhlsbüttel wohnen mußte. Sollte ich dann zwischen Hamburg und dem Seehundsrücken hin und her pendeln und nie zur Ruhe kommen? Denn Vati würde nie seinen Wohnsitz wechseln, nie im Leben! Er war »ein Kind der Nordsee«, wie er immer sagte, und hing an unserem Haus und an unserer Insel. Also hieß es: Vati verlassen. Er mußte dann zusehen, daß er eine Haushälterin bekam. Tante Birgit würde ja bestimmt in Kiel bleiben. Augenblicklich war sie allerdings auf Mallorca. Ein Glück, daß sie diese Ferien nicht bei uns verbringen wollte, jetzt, wo das Haus bis
unter das Dach voll war! Ein Sturzregen kalter Nordsee weckte mich jäh aus meinen Grübeleien. Neben mir stand Marion und lachte, und auf der anderen Seite stand Barry und schüttelte schätzungsweise einen Hektoliter Seewasser aus seinem Pelz. »Oh, ihr beide, ihr seid mir ein Gespann! Barry, du Untier, ich kündige dir als Sommergast!« Barry wedelte begeistert und spritzte mir noch einen Liter Nordsee ins Gesicht. Marion kniete neben ihm und schlug ihre Arme um seinen Hals. Dann hob sie den Kopf, sah mir ins Gesicht und lachte. Marion lachte! Ein glucksendes, glückliches Lachen! In diesem Augenblick hätte ich Marion, Barry und die ganze restliche Welt umarmen können! »Ihr seid mir ein paar feine Kanarienvögel!« sagte ich, als Vati und Tante Edda langsam und gemächlich heranspaziert kamen. »Wir sind ganz ausgehungert. Wärt ihr jetzt nicht gekommen, hätten wir Barry gefressen!« »Britta, deine Ausdrücke!« fing Vati an. »Vati, dein Benehmen!« sagte ich. »Und deines, Tante Edda! Wo seid ihr gewesen?« »Ach, wir haben eben eine kleine Wanderung am Strand entlang gemacht.« »Klein ist gut! Nun, dann werdet ihr wohl auch Hunger haben. Kommt – Kaffee oder Kakao? Hier sind Butterbrote mit Wurst, hier sind Sardinenbrote. Nein, laß dieses Paket noch liegen, Bernadette. Da drin sind Käsebrote, die kommen zuletzt. Tante Edda, was möchtest du trinken?« »Kaffee, bitte.« Wir langten kräftig zu. Marion aß mit einem Appetit, wie ich ihn bei ihr nicht kannte. Auch Bernadette und Asbjörn hatten einen gesunden Hunger. Nach einer Weile fiel mein Blick auf Vati und Tante Edda. »Nanu, was ist denn mit euch? Ihr eßt ja überhaupt nichts!« »Nein, weißt du… äh… wir haben nämlich unterwegs ein bißchen gegessen. Wir hatten die Zeit vergessen und dann…« Vati stotterte wie ein Schuljunge. »Und dann duftete es so verführerisch aus dem kleinen Lokal, du weißt, neben der Andenkenbude«, half ihm Tante Edda. »Aha, so war das! Ihr habt euch mit Beefsteaks und Schlagsahne
vollgeschlagen.« »Gar nicht! Mit Schaschlik!« »Eins sage ich euch«, erwiderte ich. »Kinder zu erziehen ist ein Pappenstiel im Vergleich mit dem Problem, Väter zu erziehen! Und Tanten erst recht!« Ich guckte Tante Edda an und stutzte. Eine feine Röte färbte ihre Wangen und machte sie jung – und so hübsch! Nanu! dachte ich.
13. Es wurde eine sehr schöne Woche. Asbjörn Grather brachte einen Hauch der großen Welt in unseren Kreis. Er hatte ein paar Filme und einen kleinen Projektor mitgebracht und zeigte uns Aufnahmen von den Alpen und vom Wallis, wo er Bernadette kennengelernt hatte. Lillepus war der eifrigste Zuschauer. Sie kommentierte die Filme mit lauter Stimme. »Oh, c’est grand-Mère!« rief sie plötzlich, als eine Aufnahme von der ganzen Familie im Wallis erschien. Sonst sprach sie nie mehr Französisch, das hatte sie »erfolgreich vergessen«, wie Vati sagte. Bernadette hatte hier auf der Insel mehrere Filme gedreht und sie entwickeln lassen. Nun bekamen wir auch uns selbst zu sehen, und Rufe der Begeisterung, des Entsetzens und der Überraschung klangen durchs Zimmer. »Deine Familie sieht reizend aus, Bernadette«, sagte ich nach der Vorführung. »Die im Wallis, meine ich.« »Sie ist auch reizend, obwohl sie zur Zeit todbeleidigt ist«, lachte Bernadette. »Sie wollten ja Lillepus und mich im Wallis haben. Als ich dann schrieb, der Arzt hätte Lillepus Nordseeluft verordnet, haben sie sich über die deutschen Kinderärzte in einer Art geäußert, die ihnen einen dicken Beleidigungsprozeß einbringen würde, wenn der Ärztebund davon wüßte!« Marion betrachtete mit gerunzelter Stirn den Projektor. »Er hat ja acht Millimeter«, sagte sie. »Ich dachte, ein Berufskameramann filmt immer mit sechzehn Millimeter oder breiter.« »Du liebe Zeit! Sie denken doch nicht, daß ich diese Filme gedreht habe? Dann wäre ich ja ein schöner Kameramann! Das alles ist die Hausarbeit meiner Frau! Sie hat meine alte kleine Kamera geerbt und schießt munter damit drauflos. Sie filmt gegen das Licht und vergißt, den Abstand richtig einzustellen, sie verbraucht kilometerweise Film, der im Mülleimer landet. Aua! Laß meine Haare, du Biest!« Bernadette hielt seinen blonden Schopf fest. »So, nun raus mit der Wahrheit, ein bißchen dalli, bitte!« »Aua! Ja also: So war es anfangs, wollte ich sagen. Jetzt hat sie viel gelernt, das süße Ding. Nun laß endlich los, Bernadette!« Er wandte sich wieder an Marion. »Natürlich haben Sie recht. Wenn ich meine Fernsehfilme und
Naturfilme drehe, dann…« »Oh! Kommen Ihre Filme manchmal im Fernsehen?« »Ja, ab und zu. Bis jetzt am meisten Alpenfilme.« »Haben Sie vielleicht den Alpenfilm mit den aufblühenden Alpenrosen gemacht? Und mit einem Wurf spielender Hermelinjungen?« »Und ob!« riefen Asbjörn Grather und seine Frau gleichzeitig. »Und ob! Als die letzte Aufnahme von den Alpenrosen erledigt war, wissen Sie, was wir dann machten?« Wir sahen ihn fragend an. »Wir verlobten uns!« sagte Bernadette, und ihr Gesicht war ein einziges Lächeln. Die Tage rannten nur so dahin, und eines Morgens war der Abreisetag da. Bernadette fuhr ihren Mann zum Schiff und kam mit verdächtig roten Augen nach Hause. »Ist das ein Beruf!« seufzte sie. »Kaum freut man sich, ihn hierzuhaben, reist er schon wieder weg! Und immer im Flugzeug! Ich komme gar nicht aus der Angst heraus!« »Wem sagst du das!« flüsterte ich ihr zu. »Komm, Bernadette, halten wir gemeinsam die Daumen!« »Und beten, daß sich alle guten Mächte um das Flugzeug nach Kairo kümmern«, sagte Bernadette mit einem kleinen Lächeln. Denn auf Platz Nummer 18 im Flugzeug befand sich der Mensch, der für Bernadette alles auf der Welt bedeutete, und am Steuerknüppel einer, der in meinem Leben die gleiche Rolle spielte. Unser Leben kehrte in den Alltagsrhythmus zurück. Wir waren auf einander abgestimmt, kannten uns und mochten uns leiden. Das Leben ging weiter, und nicht einmal Marion bedeutete eine Sensation. Sie war wieder schweigsam, tat pünktlich ihre Arbeit. Sie wechselte sich mit uns anderen ab beim Abwaschen, bei den Besorgungen und beim Saubermachen. Bernadette saß oft an der Nähmaschine. Sie änderte meinen Mantel um und half Ellen mit einem Kleid. Es war inzwischen jedem klargeworden, daß Ellen »Interessen außerhalb des Hauses« hatte, wie Vati sich ausdrückte, und diese Interessen brachten es mit sich, daß sie sich um ihre Garderobe und überhaupt um ihr Aussehen sehr kümmerte. Bernadette runzelte die Stirn, tief versunken in ein anscheinend unlösbares Problem. »Das ist doch eine Schnapsidee von Ellen!« sagte sie, halb
ärgerlich, halb lächelnd. »Ich möchte bloß wissen, woher ich den Stoff für einen Volant um den ganzen Ausschnitt nehmen soll!« Marion war gerade beim Staubwischen. Sie legte den Lappen weg und ging zu Bernadette. »Nimm den Gürtel«, sagte sie. »Wenn du den auftrennst, ist er doch ziemlich breit. Dann kannst du schräge Streifen daraus schneiden. Den Gürtel kann sie entbehren, sie hat bestimmt genug Ledergürtel.« »Marion, du bist ein Genie!« rief Bernadette. »Nähst du deine Kleider auch selbst?« »Nee«, sagte Marion und nahm wieder den Staublappen zur Hand. »Versuch es doch mal! Ich fing mit zwölf Jahren an, mit Schnittmustern und Nähmaschine herumzuhantieren.« »Ich durfte die Nähmaschine nie benutzen«, sagte Marion kurz. »Und keinen Stoff zerschneiden«, fügte sie hinzu. »Hier darfst du bestimmt beides«, lächelte Bernadette. Zwei Tage später suchte ich verzweifelt meinen Fingerhut. Es ist ein sehr feiner Fingerhut, von Omi geerbt. Gold mit einer sehr schönen Ziselierarbeit. Vielleicht im Nähmaschinenkasten? Nein, da war er auch nicht. »Marion!« rief ich durch die Küchentür. »Hast du die Nähmaschine benutzt?« »Nein!« kam es kurz von der Abwaschecke. Ich suchte weiter – erfolglos. Am gleichen Nachmittag sagte Bernadette plötzlich: »Na, was machen die Nähkünste, Marion? Wird eine Bluse daraus?« Marion murmelte etwas. »Du schaffst es bestimmt«, sagte Bernadette ahnungslos. »Als du beim Friseur warst, Britta, hat Marion nämlich genäht, daß die Maschine glühte. Sie ist eine Näh-Naturbegabung!« Marion stand auf und ging aus dem Zimmer. Ich machte den Mund auf, um zu erzählen, aber dann fragte ich Bernadette nur, ob sie zufällig irgendwo meinen goldenen Fingerhut gesehen hätte. »Ach ja! Das hab ich ganz vergessen!« rief Bernadette. »Den rettete ich heut aus den Händen meiner unternehmungslustigen Tochter. Er liegt in dem Zinnschälchen auf dem Kaminsims.« Als ich dann mit Marion allein war, fragte ich sie: »Warum wolltest du nicht erzählen, daß du die Maschine benutzt hattest, Marion?« Keine Antwort.
»Du alter Trottel. Hier brauchst du doch nicht zu lügen! Warum tust du das?« »Weiß nicht. Alte Angewohnheit. Außerdem hättest du dann gedacht, ich hätte deinen blöden Fingerhut geklaut.« Da schossen mir die Tränen in die Augen. Ich legte den Arm um Marions Schultern. »Ach, laß mich in Ruhe mit deiner Bonbonsentimentalität!« fuhr Marion mich an. Ich ließ sie in Ruhe. Wie schwer war es doch, aus dem Mädchen schlau zu werden! Dann ging sie mit Barry zum Strand und kam froh und aufgekratzt nach Hause, war reizend und lieb in ihrer stillen Weise. Am Abend saß sie vor dem Fernsehapparat, gebannt von einem Boxkampf, bei dem es ziemlich hart zuging. »Daß du das magst!« »Es ist wahnsinnig spannend!« sagte Marion. Ich betrachtete sie aufmerksam. Ihr Blick klebte am Schirm. »Hast du schon in der Wirklichkeit Boxkämpfe gesehen?« »Und ob! Klasse, sag ich dir!« Plötzlich schwieg sie, ihr Gesicht wurde blaß. Sie starrte, starrte auf den Schirm. Es wurde gerade ein Ausschnitt von den gebannten Gesichtern des Publikums gezeigt. An dem Abend merkte ich, daß Marion lange wach lag. Sie sprach nicht, aber sie warf sich im Bett hin und her und atmete ganz anders als im Schlaf. »Ihr seid mir eine Bande netter Kameraden!« sagte ich am nächsten Abend, als wir vor dem Kamin saßen. Nur Marion fehlte. Sie machte mit Barry einen Abendspaziergang… »Wieso?« erklang es vierstimmig. »Wieso? Wenn die Probleme sich häufen und ich gute Ratschläge von älteren, erfahrenen Menschen brauche, dann sind alle weg! Ellen studiert Jura oder Herzangelegenheiten oder Myalgien oder was es ist, auf der Kurhausterrasse, Bernadette schreibt Briefe und ist nicht ansprechbar. Ihr beide« – ich sah Vati und Tante Edda vorwurfsvoll an – »ihr beide, ja, wo treibt ihr euch eigentlich den lieben langen Vormittag herum? Natürlich, wieder Strandwanderungen.« »Also blieb dir nur Lillepus«, sagte Bernadette. »Lillepus spielte mit den Kindern im Kinderheim. Du hattest sie selbst dort hingebracht, teure Freundin! Nee, mir blieb nur Marion, der Ursprung der Probleme.«
»Na, dann spuck jetzt aus«, sagte Vati. Es war zu spät. Der Gegenstand des Gesprächs kam gerade mit Barry zur Tür herein. »Höre, Britta«, sagte Inkens Mutter. Ich war auf einen Sprung rübergelaufen, um das elektrische Waffeleisen zu borgen: »Diese Marion ist doch ein tolles Mädchen!« »Wieso, Tante Kirsten?« »Nun, Jan hatte sie heute gesehen. Sie kletterte wie ein Affe vom Kliff runter und den alten Pfad hinauf. Sie muß doch die Warnschilder gesehen haben!« »Bist du ganz sicher, daß es Marion war?« fragte ich. »Na, klar! Jan kennt doch das Mädchen. Du mußt sie warnen, Britta. Ein Sturm noch, und wir haben einen neuen Erdrutsch. Erst vorige Woche bröckelte wieder eine ganze Ecke ab.« Tante Kirsten hatte allen Grund, dies zu erzählen. Oben auf dem Kliff stand ein großes, nicht zu übersehendes Schild: »Betreten streng verboten! Lebensgefahr!« Turmhoch schlagen hier die Wellen im Frühling und Herbst, wenn die Stürme von Westen über unsere Insel fegen. Sie haben das mühsam gepflanzte Dünengras aufgerissen und ganze Stücke Land weggeschwemmt. Im letzten Winter fraßen sich die Wellen an einer bestimmten Stelle in das Kliff hinein und bildeten eine Art Höhle, eine kleine, halb überdachte Bucht. Wir wissen mit Sicherheit, daß das Meer sich da tiefer hineinfressen wird, deshalb ist diese ganze Gegend tabu. Hier dürfen keine Boote anlegen, wie still und sonnig das Wetter auch sein mag, und kein Mensch darf den schmalen Strandstreifen betreten. Ich ging mit dem Waffeleisen nach Hause und überlegte. Was sollte ich tun? Marion warnen, natürlich! Aber sollte ich fragen, ob sie es gewesen sei? Oder sollte ich geradewegs sagen: »Ich hörte, du warst heut am Kliff?« Ich wählte die erste Möglichkeit. Ich fragte, ob sie es gewesen sei. »Nein«, sagte Marion. Ich schluckte. Dann versuchte ich, ganz natürlich zu sprechen. »Na, dann ist es ja gut. Denn weißt du, das ist direkt lebensgefährlich. Man kann ausrutschen und unter dem Sand begraben werden.« »Dann wärt ihr mich ja los«, sagte Marion. »Reg dich nicht künstlich auf! Ich kann selbst auf mich aufpassen!« Als sie noch zweimal gelogen hatte – es handelte sich um winzige Kleinigkeiten, um reine Lächerlichkeiten –, fing ich langsam
an, einen Plan zu schmieden. Sie mußte lernen zuzugeben, wenn sie etwas ausgefressen hatte. Sie mußte es lernen, die möglichen Vorwürfe einzustecken! Doch wie sollte ich ihr das beibringen? Ich bezweifelte sehr, daß eine Moralpredigt etwas nützte. Also blieb mir nur eins: das Beispiel! Ich mußte selbst etwas ausfressen, und Marion mußte dabeisein. Im voraus würde ich Vati ins Bild setzen. Er müßte mir helfen. Er mußte fragen: »Seid ihr es gewesen?« Dann wollte ich gleich ja sagen, und Vati mußte uns eine Strafpredigt halten, daß wir die Engel singen hörten. Wenn er es für angebracht hielt, dürfte er mir sogar eine Ohrfeige geben, bloß nicht allzu hart. Aber was in aller Welt sollte ich bloß anstellen? Der Zufall kam mir zu Hilfe. Marion und ich waren allein zu Hause. Wir hängten im Garten Wäsche auf. Von der anderen Seite des Gartenzaunes rief jemand: »He, Britta! Auf der Sandbank neben der Hallig liegen drei Seehunde!« »Was du nicht sagst, Fietje! Kann man sie gut sehen?« »Mit einem Fernglas, ja! Sie sind ganz jung! Du siehst sie vom Kliff, wenn du direkt neben dem Warnschild stehst!« »Fein, Fietje! Wir laufen gleich. Komm, Marion, wir pfeffern den Wäschekorb in die Küche. Warte mal, ich hole das Fernrohr!« Ja, das Fernrohr, das war’s, was ich brauchte. Dumm, daß ich Vati nicht im voraus informieren konnte! Aber ich wollte es gleich tun, wenn er nach Hause kam, und dann mußte er ein Donnerwetter über unsere Köpfe loslassen. Das würde ihm ohnehin nicht schwerfallen. Das Fernrohr ist nämlich sein teuerster und liebster Besitz, den niemand anrühren darf. Es ist ein langer Apparat zum Ausziehen. Ein Stativ gehört dazu; das schleppt Vati immer mit, damit ihm das gute Stück nicht aus der Hand fällt. Nur nicht an den Strand mitnehmen! Es könnten ja Sandkörner in den feinen Mechanismus geraten. Das Fernrohr ist das Heiligtum des Hauses, und ich denke lieber nicht an das eine Mal, als ich es trotz strengem Verbot heruntergeholt und mit nach draußen genommen hatte, natürlich um anderen Kindern gegenüber anzugeben. Über die für mich sehr schmerzlichen Folgen breite ich lieber den Schleier des Vergessens. »Wenn Vati das ahnte, ginge er in die Luft«, sagte ich, als ich das teure Ding vom Wandbord holte. »Daß du bloß keinen Piep sagst, Marion. Sonst fliegen wir beide raus!« »Habt ihr denn kein anderes Fernglas?« fragte Marion. »I wo, nur
so ein lächerliches kleines Ding. Mit diesem hier kannst du dem Mann im Mond in seine Hohlzähne gucken. Nun schnell los, sei kein Spielverderber. Du möchtest doch die jungen Seehunde sehen?« »Klar!« sagte Marion. Ich wickelte ein Tuch um das Heiligtum, und wir liefen los. Der Pfad von unserem Haus zum Kliff ist schmal, und wir gingen im Gänsemarsch. Wir konnten nicht miteinander sprechen, und ich hatte Gelegenheit, den weiteren Plan zu überlegen. Also schnell einen Blick auf die lieben Tiere, dann zurück, das Fernrohr aufs Bord, dann Vati erwischen und ihm blitzschnell den Plan erzählen. Und um eine sanfte Ohrfeige bitten. Die Ohrfeige gehörte dazu. Marion sollte sehen, daß man die Folgen seiner Untaten mit Anstand hinnehmen kann. Ich hatte beinahe nicht übertrieben. Ob der Mann im Mond Hohlzähne hat, weiß ich allerdings nicht, aber wenn, dann müßte man sie mit Vatis Fernrohr entdecken können. Die kleinen Seehunde sahen wir sehr gut. Da standen auch andere Leute. Ein paar von ihnen baten uns, ob sie einmal durch unser Glas gucken dürften. Marion stand vor mir, und ich stützte das Rohr auf ihre Schulter. Nachher machten wir es umgekehrt. Sie war begeistert. Die einzigen Seehunde, die sie bis jetzt gesehen hatte, waren die aus dem Zoo Hagenbeck. Wir wanderten hochbeglückt nach Hause, und ich hoffte nur, daß Vati noch nicht da war. Diese Hoffnung erfüllte sich. Kein Mensch war im Haus. Vati war bestimmt am Strand mit Staffelei, Malerkasten und Tante Edda – sie ging in der letzten Zeit sehr oft mit ihm. Lillepus war höchstwahrscheinlich wieder auf dem Spielplatz des Kinderheimes. Bernadette war froh darüber. »Sie soll lernen, mit anderen Kindern zu spielen. Sie darf nicht immer die erste Geige spielen und von Eltern und Onkeln und Tanten verhätschelt werden.« So sprach die unbegreiflich vernünftige Mutter. Wo besagte Mutter war, ahnten wir nicht, dafür wußten wir genau, wo und in welcher Gesellschaft Ellen sich befand. Die Bahn war also frei, und das Fernrohr kam auf seinen Platz. Nun bloß Vati erwischen! Ach, das würde ich schon schaffen. Ich bat Marion, die restliche Wäsche aufzuhängen. Ich wollte Vati entgegenlaufen. Aber, oje – gerade in dem Augenblick, als wir beide zur Tür gingen, wurde sie von außen geöffnet, und da standen Vati und Tante Edda. Mein sonst so sonniger Paps sah nach Gewitterstimmung aus. »Halt, ihr beide! Könnt ihr mir folgendes erklären: Irgendein Sommergast erzählte mir von zwei Mädchen, die
oben auf dem Kliff mit einem Fernrohr standen. Ich kann kaum glauben, daß du mein Fernrohr mit zum windigen Kliff geschleppt hast, Britta, und schließlich gibt es auch andere Inselbewohner mit Fernrohr. Aber trotzdem: Wart ihr es?« Oh, oh, solch einen Magendruck und solches Herzklopfen hatte ich seit meinem zwölften Lebensjahr nicht gehabt. Ich schluckte. »Ja, Paps«, sagte ich. »Wir waren es!« Klatsch! hatte ich die Ohrfeige weg. Und was für eine! Dann folgte die Standpauke. Ich ließ alles über mich ergehen. Doch die Tränen kullerten nur so aus den Augen, die Ohrfeige hatte scheußlich weh getan. Vati machte eine kurze Atempause, dann drehte er sich zu Marion um. »Und du, Marion? Wußtest du nicht auch, daß es strengstens verboten ist, mit dem teuren Fernrohr rumzuhantieren?« Marion stand da wie ein kleines Mädchen mit schlechtem Gewissen. Dann hob sie den Kopf und sagte leise: »Doch, Herr Dieters. Ich wußte es.« »So, du wußtest es, und du hast trotzdem mitgemacht! Ihr seid ja ein paar entzückende Täubchen! Zwei große, erwachsene Mädchen, die sich wie unartige Rangen benehmen! Kaum ist man aus dem Haus, treibt ihr Unfug und hintergeht mich. Weiß der Kuckuck, was ihr sonst noch ausgefressen habt. Ihr denkt wohl, der alte Narr kommt doch nicht dahinter!« Tante Edda legte ihre Hand auf Vatis Arm und sagte ein paar Worte, ganz leise. Dann brummte Vati zum Abschluß noch einmal ausgesprochen unfreundlich und verschwand. Er knallte die Ateliertür hinter sich zu, daß das Haus in allen Fugen erzitterte. Da standen wir. Ich wischte mir die Tränen ab. »Tja«, sagte ich. »Das war ja ein Erdbeben.« Tante Edda warf mir einen unergründlichen Blick zu. Ihr Gesicht war ernst, aber in den Augenwinkeln leuchtete ein ganz kleines Lächeln. Marion machte sich aus dem Staube. Sie trug den Wäschekorb hinaus und fing wortlos an, die Wäsche aufzuhängen. »Britta«, sagte Tante Edda. »Nun möchte ich eigentlich ein bißchen mit deinem Vater sprechen. Aber vielleicht ist es besser, du tust es selbst.« Ich ließ ein paar Minuten vergehen, dann ging ich ins Atelier. »Was willst du schon wieder?« fauchte mich Vati an. Ich ging zu ihm hin, legte meinen Arm um seine Schultern. »Ich muß dir was sagen, Paps.« »Hoffentlich eine Entschuldigung?« »Das auch, wenn du sie von mir verlangst. Aber zunächst etwas
anderes. Etwas Wichtiges.« »Na, dann schieß los«, brummte Vati. Er saß an seinem Schreibtisch und guckte mich nicht an. Ich stand hinter ihm und legte meinen Kopf auf den seinen. »Paps, ist es dir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, daß etwas dahinterstecken muß, wenn ich seit sieben Jahren zum erstenmal dein Fernrohr klaue?« Er wandte sich um und sah mich an. »Was willst du damit sagen?« Nun war er ruhiger. Ich blieb stehen, mit der Hand auf seiner Schulter, und erzählte ihm die ganze Geschichte. Es zuckte in seinen Mundwinkeln, er sah mich groß an – und dann brach er in schallendes Gelächter aus. »Ssst, Paps, nicht so laut! Marion darf es nicht hören!« »Britta, meine arme Deern! Tat die Ohrfeige sehr weh?« »Furchtbar, Paps. Hast du nicht gesehen, daß ich heulte?« »Ich dachte, das käme vom schlechten Gewissen!« »Du bist aber auch ein alter Heißsporn, Paps. Wer weiß, ob du Marion nicht auch eine geklebt hättest, wenn Tante Edda nicht…« Plötzlich schwieg ich. In diesem Augenblick wurde mir klar, was Tante Edda gesagt hatte. Ich hatte die Worte gehört, aber jetzt erst drangen sie in mein Bewußtsein: »Beruhige dich doch, Benno! Laß die Mädchen erst mal zu Wort kommen, Lieber!« Ich blieb mit offenem Mund stehen. Sie hatte Vati mit »du« angeredet! So war der Zusammenhang! Da lag der Hase im Pfeffer! »Brittachen, ich bitte dich tausendmal um Verzeihung. Aber wie konnte ich wissen…« »Daß man seine erwachsene und verlobte und bald verheiratete Tochter nicht schlagen darf, alter Brummbär? Na, schon gut, ich verzeihe dir. Unter der Bedingung, daß du mir hilfst und das Spiel zu Ende führst. Und zwar so gut und so überzeugend, daß Marion nichts merkt!« »Gut. Was soll ich tun?« »Genau was du getan hättest, wenn alles echt gewesen wäre.« »Zu Befehl, du ausgekochte Range. Ja ja, ihr Frauensleute fangt schon früh mit eurem Ränkespiel an!« Ich legte meine Wange an die seine. Dabei dachte ich an meine merkwürdige Entdeckung. Tante Edda hatte zu meinem Vater »du«
und »Benno« und »Lieber« gesagt. Plötzlich überkam mich ein ganz komisches Gefühl. Als ob Vati der junge Mensch und ich der ältere, vernünftige, mütterliche wäre. Eine Zärtlichkeit stieg in mir auf, ein großes, leuchtendes Glück. »Mein lieber Paps«, flüsterte ich, gab ihm einen schnellen Kuß und verschwand. Marion kam gerade mit dem leeren Wäschekorb herein. Ich ging zu ihr hin. »Du, es tut mir leid, daß ich dir diese Strafpredigt verschafft habe. Bitte, sei mir nicht böse, Marion!« »In Ordnung«, sagte Marion. »Schlimmer für dich. Die Ohrfeige wirst du wohl noch ein paar Tage spüren!« »Jaaa«, gab ich zu und rieb meine hochrote Backe. »Aber weißt du, Paps hat sich schon wieder beruhigt.« »Warst du bei ihm?« »Ja. Alles ist wieder in Butter, Marion.« Da hörte ich die Ateliertür. Vati kam. Er ging zu Marion, legte seinen Arm um ihre Schultern. »Na, Marion? Vertragen wir uns wieder?« Marion guckte ihn an. Ihre Lippen zitterten. Vati öffnete seine Arme, und Marion verbarg ihr Gesicht an seiner Brust.
14. »Was ist mit deinem Vater los?« fragte Bernadette am nächsten Morgen. »Das Telefon klingelte schon um acht, und gleich darauf verschwand er wie ein geölter Blitz!« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Paps tut immer das, was man nicht erwartet. Was habt ihr heute vor?« »Ich möchte zum Strand. Kommt ihr mit?« »Gern«, sagte Marion. »Ich nicht«, antwortete ich. »Das heißt, vielleicht später. Jetzt habe ich etwas zu besorgen, und ich möchte gern, daß Tante Edda mitkommt.« »So, das möchtest du?« sagte Tante Edda. »Gut, ich komme. Und Ellen?« »Mit der brauchen wir zur Zeit nicht zu rechnen! Sie erscheint irgendwann, und falls sie Hunger haben sollte, weiß sie genau, wo die Speisekammer ist!« So trennten sich unsere Wege. Bernadette setzte Lillepus neben sich ins Auto. Hinten saßen Marion und Barry, und Marions Gesicht war ruhig, ausgeglichen und glücklich. »Britta«, sagte Tante Edda, als wir die sonnige Dorf Straße entlanggingen, »du bist ein feiner Kerl und ein gerissenes Frauenzimmer. Das mit dem Fernrohr war wirklich eine gute Idee.« »So, Vati hat gepetzt?« »Erstens das, und zweitens hatte ich gleich einen Verdacht.« »So sahst du auch aus! So, hier muß ich hin, Tante Edda.« »Zum Gärtner?« »Ja.« Ich kaufte ein paar hübsche Rosen, und wir gingen weiter. »Heute ist Mutters Geburtstag, Tante Edda.« »Ich weiß es, Kind.« Sie wußte es! Also hatte Vati es ihr erzählt. Als wir auf den Friedhof kamen, merkte ich, daß Vati schon gestern da gewesen war, denn es stand ein schöner Strauß auf dem Grab. Ich machte ein bißchen Ordnung, zupfte Unkraut aus und stellte meine Rosen neben Vatis Strauß. Dann blieb ich stehen, meine Augen ruhten auf der weißen Marmortafel. »Ich glaube, deine Mutter war ein reizender Mensch«, sagte Tante Edda leise. »Das war sie, Tante Edda. Es war furchtbar, als sie starb. Ich dachte, ich würde nie in meinem Leben
mehr glücklich werden. Aber die Zeit verging, Vati und Omi waren unsagbar lieb zu mir, und Vati und ich hatten ja einander. So lernten wir beide allmählich wieder zu lächeln, wieder fröhlich zu sein, und jetzt – ja, jetzt haben wir sogar gelernt, glücklich zu sein!« Tante Edda nickte. »Wem sagst du das, Kind? Wie glaubst du, ist es mir ergangen, als ich mit dreiundzwanzig meinen Mann verlor? Aber das Leben geht weiter, der Alltag kommt mit seinen Ansprüchen, man muß arbeiten, man trifft neue Menschen – und eines Tages hat man das Lachen wieder erlernt. Das Glück von damals ist eine schöne, teure Erinnerung geworden – und bleibt es.« Ich nahm die Gießkanne, holte Wasser und goß die Blumen auf den drei Gräbern: Muttis, Omis und Brüderchens. »Ja, Tante Edda, gehen wir?« Tante Edda warf noch einen Blick auf Muttis Grab. Dann gingen wir. Vor dem Friedhof ist eine hübsche kleine Anlage mit Blumenbeeten und ein paar Bänken. Wir setzten uns. Ich sah Tante Edda ein wenig von der Seite an. Wie blank waren ihre Augen, wie jung ihr Gesicht! »Du, Tante Edda?« »Ja?« »Ich habe eine Idee für dich. Eine Idee, die du bestimmt mal in einem Mädchenbuch verwenden kannst.« »So, meinst du?« »Ja, paß mal auf: Ich denke mir eine Heldin von – ja, vielleicht so an die Zwanzig. Ihre Mutter ist tot, und sie hat einen sehr netten Vater.« »Bis jetzt kommt mir der Stoff bekannt vor«, lächelte Tante Edda. »Warte doch. Also sie liebt ihren Vater sehr und er sie. Eines Tages sieht sie aber, daß der Vater auch andere Interessen hat. Kurz und gut, er hat eine Frau liebgewonnen. Und der arme Vater, nun weiß er gar nicht, was er machen soll. Die Frau, die er liebt, weiß es auch nicht. Wie wird die Tochter reagieren, wenn der Vater erzählt, daß er wieder heiraten möchte? Deshalb überlegen sich die beiden immer: Wann sagen wir es ihr, wie sagen wir es? Wird sie es wohl als eine Art Betrug gegenüber der toten Mutter empfinden?« »Ja, Britta, und wie empfindet es nun deine Heldin?« Tante Edda sprach ganz leise. »Oh, sie ist sehr vernünftig. Oder vielmehr, sie ist sehr glücklich. Sie gönnt dem Vater alles Gute, und außerdem weiß sie ja, daß sie selbst einmal heiraten wird, und wer sollte sich dann um den Vater
kümmern? Aber das ist nicht das wichtigste. Sie kennt nämlich diese Frau, die der Vater liebgewonnen hat, sie kennt sie und hat sie ganz schrecklich lieb.« Ich legte meine Hand auf Tante Eddas. Dann trafen sich unsere Blicke. »Kleine Britta«, sagte Tante Edda leise. »Du hast mich sehr, sehr glücklich gemacht.« »Siehst du, Tante Edda, dies wollte ich dir sagen, heute – und hier. Ich spreche für mich, und ich spreche für meine tote Mutter. Auch sie hat Vati geliebt, und sie würde ihm von Herzen gönnen, daß er noch einmal glücklich wird.« Wir blieben eine Weile sitzen, plauderten leise miteinander und waren beide glücklich, daß es nun ausgesprochen war. »Aber eins, Tante Edda«, sagte ich. »Ich werde dich bestimmt nie Mutti nennen können! Du bist als Tante Edda in meinem Herzen fest verankert!« »Ist nicht schlimm«, lächelte Tante Edda. »Wenn du mir bloß versprichst, daß deine Kinder mich Oma nennen werden!« »Ach, guck, da geht Vati!« sagte ich. Wir betraten gerade unsere Straße. »Paps!« rief ich laut. »Vati, warte doch!« Er drehte sich um, winkte mit der linken Hand. Im rechten Arm hielt er ein großes, viereckiges Paket. Jetzt kam er auf uns zu. »Guten Morgen, Kinder! Kommt schnell, ich habe euch etwas zu erzählen!« Sein Gesicht strahlte. Selten hatte ich meinen Vater so überglücklich gesehen. »Wir haben auch etwas zu erzählen, Benno«, sagte Tante Edda. »Britta hat uns ihren töchterlichen Segen gegeben.« »Was? Na, das ist ja großartig. Aber kommt erst schnell nach Hause, ich werde euch was zeigen – etwas, das ihr euch nicht habt träumen lassen!« O mein Paps, mein unmöglicher Paps! Bestimmt hatte er irgendein Bild unter dem Arm, eines, das ihn restlos begeisterte, so sehr, daß ihm sogar die Einwilligung seiner Tochter zu seiner Heirat nebensächlich war. Im Sturmschritt lief er nach Hause. Tante Edda und ich lächelten uns zu und folgten so schnell wir konnten. Zu Hause wurde das Paket auf den Eßtisch gelegt. Mit leichten, behutsamen Händen entfernte Vati das Papier, zwei Pappdeckel und zuletzt eine Stoffhülle. Eine Platte aus altem, schwarzem Holz kam
zum Vorschein. Vati hielt beinahe den Atem an, als er die Platte vorsichtig aufhob und zur Seite legte. Dann folgte noch eine Platte, und plötzlich lag ein dreigeteiltes Bild vor uns, ein Bild in matten, zarten Farben – oder vielmehr drei Bilder, drei Tafeln, mit Scharnieren aneinander befestigt. »Das ist ja ein ganz altes Triptychon«, sagte Tante Edda. Das Wort Triptychon brachte mich zum Hochspringen. »Paps!« rief ich. »Ist es das aus der Kirche? Das verschwundene? Ist es die ›Dreieinigkeit‹?« Paps stand ganz andächtig vor dem alten Kunstwerk. »Ja, Britta. Das ist es. Seit einhundertsieben Jahren hat es kein Auge mehr gesehen – bis heute.« Am Mittagstisch erzählte Vati die Geschichte. »Vor einhundertsieben Jahren«, fing er an, »hatte der Seehundsrücken die furchtbarste Sturmflut, die man hier je erlebt hat. Das Wasser stieg so hoch, daß die Kirche bedroht war. Als es über die Schwelle flutete, kam der alte Pastor in einem Boot, sprang in die Kirche und rettete die paar Kostbarkeiten: das Kirchensilber, das Meßgewand und – das Triptychon. Er brachte die Sachen in Sicherheit, dann beteiligte er sich an den Rettungsarbeiten. In seinem Boot ruderte er Kinder und alte Leute zu dem einzigen sicheren Hof auf der Insel, dem Hügelhof. Ja, ganz recht, derselbe, der noch da auf dem Hügel liegt. Zusammen mit dem Hügelhofbauer kämpfte er sich zum Deich und zu den anderen Männern der Insel. Sie arbeiteten wie die Wilden, um das Wasser einzudämmen. In der Nacht aber wuchs der Sturm, das Wasser durchbrach den Deich. Sechs Menschen kamen ums Leben, unter ihnen die beiden – der Pastor und der Hügelhofbauer. Ja, das war die größte Flutkatastrophe, von der man hier gehört hat. In der Nacht hatte der blanke Hans viele Menschenleben auf dem Gewissen.« »Was bedeutet eigentlich ›der blanke Hans‹?« fragte Bernadette. Ich erklärte ihr, daß es die Nordsee sei, die von den Küstenbewohnern so benannt wird. Vati erzählte weiter und war dabei so eifrig, daß er beinahe nicht zum Essen kam: »Nachher hat man auf dem Hügelhof das Silber und das Meßgewand gefunden und zur Kirche zurückgebracht. Das Triptychon aber war weg. Nach wochenlangem, vergeblichem Suchen kam man zu dem Resultat, daß es von der Flut mitgenommen
worden sei.« »Herr Dieters, was bedeutet eigentlich ›Triptychon‹«, fragte Marion. Es war Bernadette, die antwortete, und Vati konnte endlich einen Bissen in den Mund stecken. »Das ist ein dreigeteiltes Bild, Marion. Wir haben es ja gerade gesehen. Drei Bilder, die an Scharnieren zusammenhängen und also zusammengelegt werden können. Drei Bilder, die zusammen ein Ganzes bilden.« »Wie hier die Dreieinigkeit«, ergänzte ich. Vati schob den Teller weg und erzählte weiter, erzählte, was er von seinem Großvater gehört hatte, von diesem herrlichen alten Triptychon aus dem Mittelalter, das von einem unbekannten Künstler gemalt worden war: »Als unsere Kirche vor ungefähr hundertfünfzig Jahren gebaut wurde, schenkte ihr der damalige Hügelhofbauer das Triptychon, das schon seit Generationen ein Familienbesitz gewesen war.« Ich kannte ja die Geschichte. Ich war nur so wahnsinnig gespannt auf den zweiten Teil. Wieso war das schöne, kostbare Stück plötzlich aufgetaucht? Der Hügelhofbauer war dabei, sein Haus umzubauen. Heute nun hatten die Leute angefangen, eine Ecke vom Dachboden abzureißen. Dann war einer der Arbeiter mit einem flachen, verstaubten Paket in den Händen erschienen. Drinnen in der Wand hatte es gelegen. Oder vielmehr gestanden. In ein Tuch gehüllt. Hinrich, der Bauer, hatte große Augen gemacht, als er behutsam das Tuch entfernt und den Inhalt gesehen hatte. Dann war er zum Telefon gelaufen und hatte den Pastor und Vati angerufen. In Windeseile waren die Gemeinderatsmitglieder geholt worden. Andächtig und tief bewegt hatten sie sich das Kunstwerk angesehen und einstimmig Vati gebeten, das Triptychon zu reinigen und die notwendige Restauration auszuführen. Hinrich hatte sich gleich um die Versicherung gekümmert. Feuer, Diebstahl, Wasserschaden - aber wie hoch sollte es versichert werden? Das war eine schwierige Frage. Denn das Werk konnte überhaupt nicht ersetzt werden. Was würde einem eine Geldsumme nützen, wenn das herrliche Triptychon einem Feuer zum Opfer fiele! Man hatte sich auf hunderttausend Mark geeinigt. »Es ist aber alles nur Blödsinn«, sagte Vati. »Das Triptychon ist einfach unersetzlich.
Ich würde Tränen heulen, wenn wir eines Tages daständen ohne Triptychon und mit hunderttausend lächerlichen Mark in der Hand!« Genau diese Worte standen zwei Tage später in unserer Lokalzeitung. Dann schrieben ein paar Hamburger Zeitungen darüber, ein Journalist kam und ein Fotograf einer großen Illustrierten, und schließlich erschienen auch die Fernsehleute. Vati mußte ein Interview geben, der Pastor wurde ausgefragt und der Hügelhofbauer erst recht. Das Triptychon wurde in Vatis Atelier fotografiert, und als der Journalist beim Verlassen des Hauses über Lillepus stolperte, machte er schnell noch eine Aufnahme von unserem Haus, mit Lillepus als Extradekoration. Dann saßen wir beim Fernsehen und sahen alles im Regionalprogramm. Wir kamen uns vor wie Weltberühmtheiten. Es dauerte drei ganze Tage, bevor wir zu dem kamen, was eigentlich längst fällig war: Vati und Tante Edda zu gratulieren und eine Flasche Sekt zu trinken. Vati hatte den ganzen Tag gearbeitet, so glücklich und konzentriert, wie ich ihn bisher kaum gesehen hatte. Wir Erwachsenen durften ins Atelier, aber für Barry, die Katzen und Lillepus war es jetzt verboten. »Wenn Barry mit dem Schwanz oder Lillepus mit einem süßen Marmeladefingerchen an eine Kleckserei von Benno Dieters kommen sollten, ist es nicht so schlimm«, sagte Paps mit einer bisher unbekannten und sehr erstaunlichen Bescheidenheit. »Aber sollte etwas mit dem Triptychon passieren, wäre es eine Katastrophe!« Jetzt saß er da, müde und glücklich, ließ sich gratulieren, hielt den Arm um Tante Eddas Schultern und erzählte, sie würden im Herbst in aller Stille heiraten. In ein paar Wochen würde Tante Edda nach Aachen fahren, ihre Wohnung kündigen und alles Notwendige erledigen. »Vati«, sagte ich, »vor drei Jahren sagtest du mir, ich dürfte meine Verlobung erst an meinem achtzehnten Geburtstag bekanntgeben. Und nun sage ich dir, an meinem zwanzigsten heirate ich!« »Tu das, Britta«, sagte Vati. Er hob sein Glas. Mein lieber, temperamentvoller, herzensguter Paps strahlte vor Glück. »Prost, Kinder! Prost, Ellen! Prost, Marion!« Marion nahm auch ihr Glas.
»Prost, Tante Edda! Prost, Herr Dieters!« »Ach, Quatsch«, sagte Vati. »Ich heiße Onkel Benno, Marion!« Es wurde getrunken, es wurde gelächelt, es wurde gefragt und erzählt. Meine Augen fielen auf Ellen. Plötzlich hatte ich das Gefühl, daß wir recht bald noch eine Flasche Sekt brauchen würden.
15. Bernadette hatte uns für zwei Tage verlassen. Ihr Mann hatte sie telegrafisch gebeten, ihm in Bremen etwas zu besorgen. Großzügig versprachen wir, uns um Lillepus zu kümmern. Ich wollte in Bernadettes Bett schlafen und zusehen, daß Lillepus nicht mit Anton ins Bettchen ging. »Barry«, sagte Bernadette. »Britta paßt auf Lillepus auf. Sei lieb zu Britta!… Ach, Britta, setz dich auf mein Bett!« Ich tat es. »Barry, Britta darf in Frauchens Bett schlafen. Verstehst du, Barry? Britta ist lieb, sehr lieb. – Streichle ihn, Britta!« Ich streichelte das schöne, dichte Fell. Barry wedelte mit dem Schwanz und rieb seinen Kopf an meiner Hand. »So«, sagte Bernadette. »Jetzt ist alles in Ordnung. Sonst könntest du riskieren, daß Barry mit allen Mitteln mein Bett verteidigt! Das passierte einmal, als ein junges Mädchen Babysitter bei uns war. Sie durfte Lillepus nicht anfassen und sich nicht auf die Couch im Wohnzimmer legen! Sie durfte nur zum Telefon und uns anrufen!« »Nimmst du den Wagen?« fragte ich. »Ach nein, ich kenne Bremen zuwenig, und der Verkehr ist dort sehr lebhaft. Nein, ich fahre mit der Bahn und bin morgen abend wieder zurück. Schick mein Kind zum Kinderheim, dann seid ihr es den ganzen Vormittag los und müßt ihm hinterdrein nur ein paar Pfund Nordseesand abwaschen. Laßt es euch gutgehen und klaut mir nicht den Wagen! Ach richtig, das könnt ihr ja nicht, niemand von euch kann fahren!« »Doch«, lachte ich. »Marion kann es! Sie hat mir anvertraut, daß sie an ihrem achtzehnten Geburtstag den Führerschein machen wird.« »Na, soweit ist es ja noch nicht. Kommst du mit zum Schiff?« »Muß ich wohl, anstandshalber!« Wir wollten Lillepus mitnehmen und auf dem KinderheimSpielplatz abgeben, aber da erschien Vati. »Darf ich mir Lillepus nicht ausleihen? Ich muß schnell rüber nach Florida und bin bald zurück!« »Versprechen Sie, Lillepus kein Eis und keine Bonbons zu
kaufen?« »Wenn es sein muß, ja.« »Nun ja, dann gut«, lachte Bernadette. Florida ist unsere Nachbarinsel. Wie sie zu diesem Namen gekommen ist, weiß ich nicht. Wahrscheinlich so wie ein Strand auf Sylt Abessinien und ein Badeort an der Ostsee Kalifornien heißt. Florida ist im Sommer immer überlaufen. Da gibt es viel feinere Geschäfte als bei uns, außerdem eine Bank, eine Apotheke, einen Uhrmacher und einen Juwelier. Gerade in diesen Tagen wimmelte es dort von Menschen. Eine große Segelregatta sollte stattfinden. Lillepus bekam das gute Kleid an, ihre Löckchen wurden gebürstet. Sie sah zum Fressen aus, als sie glückstrahlend zur Motorbootbrücke wanderte, ihr Händchen in Onkel Bennos. Zwischen uns und Florida verkehren regelmäßig Motorboote. »Marion«, sagte ich. »Heute könntest du eigentlich zeigen, was du in der Haushaltsschule gelernt hast. Traust du dir zu, das Mittagessen zu kochen?« »Ich kann es ja versuchen.« »Fein! Vati und Bernadette sind weg, Tante Edda und ich sind nicht kritisch, und Ellen ist so verliebt, daß sie nicht merkt, was sie ißt. Dann kann ich endlich meinem armen, vernachlässigten Pierre schreiben. Ich habe so viel zu erzählen, daß es ein ganzer Roman wird!« »Weil du etwas vom Roman sagst«, meinte Tante Edda. »Mir ist es tatsächlich so, als könnte ich heut ein Kapitel schreiben!« »Dann verschwindet nur«, lächelte Marion. »Ich werde mein Bestes tun! Kartoffelpuffer kann ich jedenfalls machen!« Ich schloß mich in unser Zimmer ein und schrieb und schrieb. Was hatte ich alles zu erzählen und mit Pierre zu besprechen! Wohl hatte ich ihm telegrafiert, daß wir zu Weihnachten heiraten könnten, aber damit war es nicht getan. Wohnung, Möbel, Hochzeit, alles wollte geplant sein. Und dann mußte ich selbstverständlich die ganze Geschichte mit dem Triptychon in allen Einzelheiten berichten. In Tante Eddas Zimmer tickte die Schreibmaschine, unten wurde abgewaschen, aufgeräumt und gekocht. Es herrschte ein glücklicher, konzentrierter Fleiß im Haus. Die Stunden flogen nur so dahin. Marion rief uns zu Tisch. Ihre Kartoffelpuffer waren tadellos. Dann kehrten wir zurück zu Roman, Brief und Küche, bis ein lautes Hallo uns verkündete, daß Paps und seine Begleiterin zurück waren. Vati schleppte ein Paket mit, das buchstäblich größer war als
Lillepus. Die junge Dame war über und über schmutzig und bekleckert, hatte Schokolade um den Mund und eine unbeschreibliche Frisur. Sie war vollkommen aus dem Häuschen vor Glück. »Tante Britta, sieh doch – sieh, was Onkel Benno mir gekauft hat!« Bindfaden, Packpapier und Wellpappe wurden aufgerissen und in der Gegend verstreut. Ein blitzblankes, knallrotes Tretauto kam zum Vorschein. »Paps«, sagte ich, »du bist ganz einfach verrückt.« »Ich gebe Britta recht, Benno«, lächelte Tante Edda. »Ja, aber Kinder!« entschuldigte sich Vati. »So ein Tretauto ist doch etwas Wunderbares für ein Kind, und es muß es besitzen, solange es noch jung genug dafür ist!« Manchmal ist mein Paps von überwältigender Logik! Wie es uns an diesem Abend gelang, Lillepus ins Bett zu kriegen, ist mir schleierhaft. Erst als Tante Edda ihr versprochen hatte, das Auto vor das Gitterbettchen zu stellen, einen Bindfaden ans Steuer zu binden und das andere Ende an Lillepus’ Handgelenk zu befestigen, glückte es uns. Als ich gegen elf Uhr ins Bett ging, schlief sie tief und fest. Barry lag neben dem Auto. Er blickte mich an, wedelte mit seinem buschigen Schwanz und legte den großen, schönen Kopf auf die mächtigen Vorderpfoten. Kurz danach schlief das ganze Haus. Am folgenden Morgen brachte ich Lillepus zum Spielplatz und steckte meinen Brief an Pierre ein. Fröhlich pfeifend ging ich nach Hause. Wie war ich glücklich! Alles kam jetzt ins Lot – alles klappte. Alles bis auf eines: Marion. Was machen wir bloß mit Marion? Acht Wochen war sie jetzt bei uns. Sie war ein nettes, liebes Mädchen geworden – aber ich wurde das Gefühl nicht los, daß sie immer noch etwas mit sich herumschleppte. Sie war oft schweigsam und sah bedrückt aus. Von ihrer Zukunft sprach sie nicht. Aber sie konnte ja nicht ewig auf dem Seehundsrücken bleiben und mußte früher oder später etwas beginnen. Sie ins Ungewisse zurückzuschicken, das brachten wir auch nicht fertig. Wenn sie bloß von sich aus spräche – den Anfang machte! Manchmal hatte ich das Gefühl, sie wartete darauf, daß etwas passieren sollte. Für uns war natürlich die Geschichte mit dem Triptychon sehr aufregend, aber Marion brauchte wohl Aufregungen
anderer Art. Für einen Menschen, der an allerlei Nervenkitzel gewöhnt war, verlief unser Inseldasein bestimmt eintönig. Von diesen und ähnlichen Gedanken erfüllt kam ich nach Hause. Marion bügelte, Ellen war wie gewöhnlich im Kurhaus oder in dessen unmittelbarer Nähe, und Vati hatte sich für ein paar Stunden von der Arbeit losgerissen und machte eine Strandwanderung mit Tante Edda. Marion war ein aufgewecktes Mädchen und sehr praktisch veranlagt. Es konnte doch nicht schwierig sein, einen passenden Beruf für sie zu finden. Gut, wenn sie nicht darüber sprach, dann mußte ich eben das Thema anschneiden. Die Mittagszeit nahte. Ich fing an, den Tisch zu decken. Da kam Ellen. »Ellen, du bist gestiefelt und gespornt, lauf doch schnell rüber und hol Lillepus! Wir essen gleich!« »Zu Befehl!« lächelte sie, machte kehrt und ging los. Wenige Minuten später kam sie zurück. »Onkel Benno wird Lillepus wohl abgeholt haben. Das junge Mädchen dort sagte mir, Lillepus sei von ihrem Onkel abgeholt worden.« »Was?« fragte ich. »Das ist doch komisch! Nun, Paps ist eben unberechenbar. Hoffentlich sind sie bald hier.« Nach einem kurzen Weilchen kamen Vati und Tante Edda. »Vati – hast du Lillepus nicht abgeholt?« »Ich? Nein. Wieso?« »Um alles in der Welt – was ist dann…« Wir sahen einander entsetzt an. »Sie behaupteten im Kinderheim, Lillepus sei von ihrem Onkel abgeholt worden. Wir dachten, du hättest…« Vati wurde kreidebleich. Und plötzlich war er, mein unpraktischer, unsystematischer Paps, derjenige, der klug und umsichtig organisierte. »Ellen, du gehst ins Dorf, Richtung Kurhaus und weiter zur Motorbootbrücke. Frag alle Menschen, die du siehst. Was trägt Lillepus heut?« »Ihr rotes Kleidchen.« »Du, Edda, gehst Richtung Dampfschiffskai. Du liebe Zeit!« Vati guckte auf die Uhr: »Das Schiff fährt in einer Viertelstunde!« »Onkel Benno, komm! Ich kann Auto fahren!« rief Marion. Schon hatte sie den Autoschlüssel vom Haken im Flur geholt. »Wir fahren zur Gendarmerie und weiter zum Schiff. Britta, du nimmst
Barry mit, gehst zum Kindergarten, fragst, wann Lillepus geholt wurde und wie der Mann aussah. Dann muß Barry suchen. Edda, du gehst vom Kai aus in Richtung Badestrand. Wer Lillepus findet, rennt sofort nach Hause und hißt die Flagge. Die sieht man von weit her. Komm, Marion!« Schon waren die beiden im Auto. Ich zeigte den anderen schnell, wo die Flagge lag. Gebe Gott, daß wir sie recht bald brauchten! »Barry, such Lillepus! Such Lillepus!« Barry lief vor mir, Richtung Kinderheim. Da bekam ich das junge Mädchen zu fassen. Nein, sie wußte nicht, wie der Mann aussah. Aber Lillepus hatte gerufen: »Onkel – Onkel.« Ja, wie war es nun gleich? Konnte es »Pierre« geheißen haben? Das Mädchen hatte gefragt, ob er Lillepus holen sollte, und er hatte geantwortet, ja, Herr Dieters hätte ihn geschickt. Onkel Pierre! Wie kam Lillepus auf Onkel Pierre? Sie hatte Pierre wochenlang nicht gesehen. Vielleicht trug der Fremde irgendeine Uniform, vielleicht hatte das sie irregeführt? – Sie hatte ihr Händchen in die Hand des Fremden gesteckt und war fröhlich losgewandert. »Barry! Such Lillepus, such, such!« Barry schnüffelte, schnüffelte, blieb stehen, machte kehrt und rannte um das große Haus, zum Pfad auf der Rückseite. Ich lief ihm nach, so schnell mich meine Füße trugen. Der Pfad führt geradewegs in die Dünen. Jetzt schnüffelte Barry im hohen Dünengras herum. Ich folgte. Da – eine kleine Vertiefung im Sand, als ob jemand dort gesessen hätte! Barry schnüffelte weiter, suchte, schnappte etwas und ließ es gleich fallen. Ich nahm es. Es war ein winziges Papierstückchen, so ein Papier, worin die Zuckerwürfel in den Lokalen eingewickelt sind. Ich wollte es schon wegwerfen, überlegte es mir dann anders. »Strandcafe Florida« stand darauf. Ich steckte es in die Tasche. »Such, Barry – such!« Ich hörte Schritte, eilige Schritte hinter mir. Es war Vati. »Marion – ist mit dem Gendarm – zum Schiff gefahren«, keuchte Vati. »Es wird nicht losfahren – ehe es untersucht ist. Paß auf, Barry hat eine Spur!« Ja, Barry lief weiter, machte einen großen Bogen, immer im hohen Gras. Er hielt wieder. Noch eine Vertiefung und noch ein Würfelzuckerpapier. Jetzt hörten wir Barry winseln. Zielbewußt ging er geradewegs hinein in das dichte, steife Dünengras. Dort zerrte er
an etwas, winselte wieder. Etwas Rotes kam zum Vorschein. Lillepus! Unsere Lillepus! Sie lag da und schlief, schlief tief und fest. Sie atmete regelmäßig, ihre Wangen waren gesund und rosig. Unsere Lillepus! Vati nahm sie in die Arme, setzte sich einen Augenblick hin. Ich wischte ihm den Schweiß von der Stirn. Dann guckte ich ihn an und wischte auch seine Augen. »Britta«, flüsterte Vati. »O Britta, diese letzte Stunde, die war die schrecklichste meines Lebens!« »Vati, wollen wir sie nicht zur Sicherheit lieber zum Arzt bringen?« »Selbstverständlich, mein Mädchen. Ich bringe sie hin, und du läufst nach Hause und hißt die Flagge.« Wir gingen schnell, ohne zu sprechen. Barry trottete vor uns her. Ich beobachtete den Hund. Verfolgte er noch eine Fährte? Suchte er wohl den unbekannten Mann? Diesen merkwürdigen Menschen, der das Kind entführt hatte, es tief im dichten Dünengras versteckt und dort gelassen hatte? Vatis Gedanken gingen anscheinend ähnliche Wege wie meine. Plötzlich drehte er sich um und sah mich mit großen Augen an. »Britta! Hör mal! Ob dies nur… Ist es denkbar, daß jemand das Kind entfernt hat, um uns alle aus dem Haus zu jagen? Damit er… Um Himmels willen! Britta – das Triptychon!« Ich streckte die Arme aus. »Paps, folge Barry! Gib mir Lillepus, ich bringe sie zum Arzt!« Ohne Worte legte mir Vati Lillepus in die Arme. Barry verließ den Pfad, überquerte eine Wiese, als wolle er eine Abkürzung nach unserem Hause einschlagen. Vati folgte ihm. Ich war nur ein kurzes Stück gegangen, da tauchte Tante Edda vor mir auf. »Britta! Ach, da ist sie ja! Gott sei Dank, o Gott sei Dank! Man sagte mir, man hätte einen Mann mit einem Kind in dieser Richtung…« »Tante Edda, bring Lillepus zum Arzt. Ich kann dir nichts erklären, ich muß laufen. Hier – dies habe ich neben Lillepus gefunden.« Ich steckte ihr die Zuckerpapiere in die Hand. »Ich komme nach, Tante Edda. Lauf schnell!« Sie fragte nicht. Zum zweitenmal wurde Lillepus von liebevollen Armen übernommen, und ich rannte – rannte schneller als jemals in meinem Leben, rannte Vati und Barry nach.
Weit vorn sah ich den Hund. Jetzt blieb er stehen, schnüffelte, sah aus, als dächte er nach. Dann machte er kehrt und lief schnell und zielbewußt in eine bestimmte Richtung. Geradewegs zum Kliff. Ich hatte Vati eingeholt, und wir rannten hinter Barry her, bis es uns schwarz vor den Augen wurde. »Tante Edda ist mit Lillepus zum Arzt«, keuchte ich. Vati nickte nur, und wir rannten weiter. Jetzt waren wir am Warnschild. Vor unseren Füßen fiel das Kliff steil nach unten. Es war Flut, und der Sandstreifen auf dem verbotenen Teil der Küste war höchstens zwei Meter breit. Barry lief, die Nase dicht am Boden, zu den Resten des schmalen Pfades, der sich früher einmal hier steil im Zickzack nach unten geschlängelt hatte. Jetzt war ein großes Loch auf halbem Wege. Da hatte es einen Erdrutsch gegeben. »Britta!« keuchte Vati. »Britta, die Höhle!« Vati warf sich flach auf den Bauch und kroch bis zum äußersten Rand des Kliffs. Von dort konnte man eben noch die Einbuchtung, den Anfang der halb überdeckten Höhle sehen. »Da ist doch… Du liebe Zeit! Britta! Bleib hier! Rühr dich nicht!« Barry war schon fast unten auf dem gefährlichen Pfad. Vati lief ihm nach. Wie sollte er das schaffen! Ich wußte genau, wie groß die Lücke war und wie leicht es hier zu einem Rutsch kommen konnte. Barry bewegte sich mit unglaublicher Wendigkeit und Sicherheit. Hatten seine berühmten Vorfahren sich so in den Alpen bewegt, hatten sie steile, schneebedeckte Hänge so bewältigt, wie Barry jetzt unser gefährliches Kliff bewältigte? Ich hielt mich an der Stange des Warnschildes fest und sah Vati nach. Da legte er sich auf den Rücken, ließ sich langsam hinuntergleiten, stützte sich auf Fersen und Ellenbogen. Für eine Sekunde ließ ich den Blick von Vati. Ich streckte mich nach vorne, so weit ich konnte, und jetzt sah ich, was Vati vorhin gesehen hatte: Aus der kleinen Bucht, da, wo das Wasser sich eingefressen hatte, guckte der Bug eines kleinen, flachen Motorboots heraus! Jetzt war Barry unten, auf dem schmalen, unebenen Strandstreifen. Ich befestigte die Hundeleine, die ich noch in der Hand hatte, am Pfahl des Warnschildes, und hielt mich fest. Nun konnte ich noch
einen Meter weiter. Dann schrie ich. Ich schrie so verzweifelt wie nie in meinem Leben! Wie aus der steilen Kliffwand geschossen sprang ein Mann hervor. In seinen Armen hielt er ein flaches Paket, ein flaches Etwas, in eine Jacke gehüllt. Es hatte genau die Größe des Triptychons. Der Mann sprang ins Wasser, watete zur Bucht, gegen das Boot hin. Ich höre ein brüllendes »Halt« von Vati. Schon hatte der Fremde die freie Hand auf dem Boot, da sprang ihn der riesengroße Barry an. Er packte ihn am Arm, der Mann schrie auf, drehte sich um und ließ das Paket fallen. Ach! Ach! Dies alles mit ansehen zu müssen, ohne einen Finger rühren zu können! Ich hielt mich krampfhaft an der Hundeleine fest, sah, wie Barry den Mann losließ, wie er mit den Zähnen einen Zipfel der Jacke zu fassen kriegte. Sie löste sich von dem, was sie schützen sollte. Barry ging tiefer ins Wasser, aber da war Vati heran. Aus dem seichten Wasser hob er – das Triptychon. Über die See flitzte ein kleines Motorboot und trug einen gemeinen, widerlichen, gewissenlosen Verbrecher in die Freiheit… Barry schüttelte sich gründlich wie nach einem erfrischenden Bad. Er hatte seine Pflicht erfüllt, so wie viele andere Barrys vor ihm ihre Pflichten bei Schnee und Sturm in den Alpen erfüllt hatten. Der Mann im Boot interessierte ihn nicht mehr. Anscheinend interessierte er Paps ebensowenig. Denn der hatte sich auf einen Stein gesetzt und öffnete vorsichtig die Flügel des Triptychons. Lange blieb er sitzen, sah es sich aufmerksam an und merkte anscheinend nicht, wie das Motorengeräusch immer schwächer wurde. Von dem Mann an Bord wußten wir nur, daß er einen Hundebiß am linken Arm hatte, daß er Pierre irgendwie ähnlich und ein Verbrecher sein mußte. Vati ging am Strand entlang, winkte mir zu und machte ein Zeichen. Ich verstand. Er ging jetzt bis zum anderen Warnschild. Dort war ein Zaun. Und auf dessen anderer Seite konnte er auf einem sicheren Pfad nach oben kommen. Ich löste die Hundeleine, brachte mich selbst in Sicherheit und lief durch die Dünen Vati entgegen. Einen Augenblick standen wir einander wortlos gegenüber. Dann streckte ich die Arme aus.
»Komm, Vati. Gib mir das Triptychon. Du mußt zum Arzt, zu Lillepus.« »Ja, Britta.« »Wo ist die Jacke, in der das Bild lag?« »Ach die… die ist längst weg.« »Aber Paps, das wäre doch ein Anhaltspunkt für die Polizei gewesen!« »I wo. Es war meine eigene Hausjacke, die der Dieb im Atelier geklaut hatte. Laß sie untergehen! Diesen Verlust kann ich schon verschmerzen!« Resolut knöpfte ich meinen Rock auf. Schließlich trug ich Shorts darunter. Vati half mir, den Rock um das Triptychon zu wickeln, und endlich konnte ich nach Hause gehen. Das knirschende Geräusch der Leine, als ich die Flagge hißte, klang mir wie himmlische Musik in den Ohren. Ich ging zum Telefon, rief die Gendarmerie an und teilte mit, das Kind sei gefunden, der Verbrecher leider entkommen. Natürlich erzählte ich auch von dem Triptychon. Dann setzte ich mich in einen Sessel, und Barry kam zu mir. Ich streichelte seinen schönen Kopf und sah ihm in die klugen, treuherzigen Augen. »O Barry«, flüsterte ich, »was kann ich bloß für dich tun, Barry? Du unser Bester, unser guter, guter Hund! Was kann ich bloß für dich tun?« Oh, natürlich konnte ich etwas für Barry tun!!! Unser Mittagessen stand noch im Kochtopf auf dem kalten Herd. Es sollte Kalbsfrikassee geben. Ich schüttete den ganzen Inhalt des Kochtopfes in eine Schüssel und stellte sie Barry hin. Im Laufe der nächsten Stunde kamen Ellen und Marion zurück, etwas später auch Vati und Tante Edda mit Lillepus. Die Kleine schlief fest in Vatis Armen. Er sah unsere blassen, fragenden Gesichter an und lächelte. Ein glückliches Lächeln in einem vollkommen erschöpften Gesicht. »Sie ist unverletzt, Kinder. Höchstwahrscheinlich wird sie vierundzwanzig Stunden schlafen. Bring sie zu Bett, Britta. Nichts mit Waschen und so, laß sie schlafen! Nur das Nötigste ausziehen und sie hinpacken.« »Muß nicht jemand bei ihr bleiben?« »Ich glaube nicht. Nun ja, laß Barry bei ihr. Dann hat sie keine
Angst, falls sie aufwachen sollte.« Ich trug sie nach oben, und es gelang mir, ihr die Sandalen und den Overall auszuziehen, ohne daß sie aufwachte. Ich wagte es auch, die Händchen vorsichtig zu waschen. Gleich darauf lag sie in ihrem Gitterbett, und Barry pflanzte sich daneben. Keine zehn wilden Pferde hätten ihn jetzt von Lillepus wegzerren können. Ich kam wieder nach unten. Tante Edda wirtschaftete in der Küche herum. »Wo ist das Mittagessen?« fragte sie. »In Barrys Bauch«, sagte ich. »Aber die Kartoffeln sind noch da.« Es gab Spiegeleier und Bratkartoffeln, und nie hat uns eine Mahlzeit besser geschmeckt – glaube ich. Während wir aßen, kam der Gendarm. Vati und ich erzählten genau, was wir erlebt hatten. Leider konnten wir keine Beschreibung von dem Mann geben. Wir wußten nur, daß er mittelgroß, dunkel und schlank war, weiter nichts. »Ich würde aber annehmen, daß er braune Augen hat«, fügte Vati hinzu. »Denn Lillepus hatte ihn mit meinem Schwiegersohn verwechselt, und der ist braunäugig.« Marion machte eine Bewegung. Ich sah sie an. Sie sagte aber nichts. Das Boot sei weiß gewesen. Mehr wußten wir nicht. Wir hatten ja nur Augen für das Triptychon gehabt. Der Gendarm verabschiedete sich, und wir fragten einander: »Wie und was sagen wir Bernadette? Und wann?« »Sofort«, erklärte Vati. »Sie muß auf jedes Wort achten, das das Kind von sich gibt. Alles aufschreiben. Vielleicht kann man aus irgendwas Schlüsse ziehen. Etwas, was einem helfen kann, diesen Teufel, dieses Schwein zu erwischen. O Schreck! Wir haben etwas vergessen!« Vati rannte dem Gendarm nach. »He, halt, halt! Der Kerl hat einen Hundebiß im linken Arm! Hoffentlich einen recht tiefen!« fügte er inbrünstig hinzu. Wir wollten Einzelheiten über den Besuch beim Arzt wissen, aber Vati winkte ab: »Kinder, ich bin offengestanden augenblicklich vollkommen fertig. Wenn Bernadette kommt, werden wir ja doch alles erzählen. Wartet bitte solange!« »Du sollst dich jetzt hinlegen, Benno«, sagte Tante Edda sanft und bestimmt. Ich lächelte. Es war noch so neu und so sonderbar, daß Vati und Tante Edda sich duzten. »Aber Bernadette…?« wandte Vati ein. »Ich muß doch…«
»Nein, mein Lieber!« sagte Tante Edda mit ihrer warmen Stimme. »Du hast für heut genug getan. Mit Bernadette spreche ich.« Als Bernadette kam, stand ihr Wagen auf dem Kai. »Nanu«, sagte sie, »habt ihr ihn hergeschoben?« »Nein«, sagte ich. »Barry hat ihn hergezogen. Bitte Platz nehmen, gnä’ Frau. Fahr dich selbst nach Hause!« »Ja, aber wer hat ihn hergefahren?« »Das ist ein Geheimnis.« »Ach, ihr seid mir eine komische Bande«, sagte Bernadette und setzte sich ans Steuer. »Was macht meine Tochter?« »Sie schläft«, sagte ich. »Jetzt schon? Dann hat sie wohl einen anstrengenden Vormittag hinter sich! Ist sie brav und artig gewesen?« »Vorbildlich. Paß auf das Steuer auf, sprich nicht beim Fahren«, sagte ich streng. Es war Marion, die den Wagen hingefahren hatte und zu Fuß zurückgegangen war. Ich hatte dann auf Bernadette gewartet, den Autoschlüssel in der Hand. Vatis Vorschlag. »Wir dürfen nicht riskieren, daß hundert verschiedene Menschen sich auf Bernadette stürzen und fragen, ob das Kind gefunden ist«, hatte Vati gesagt. »Marion, es ist verboten, was ich von dir verlange, aber trotzdem: Fahr Britta zum Schiff. Wir halten dir die Daumen, daß unser guter Gendarm dich nicht nach dem Führerschein fragt!« Das also hat Marion jedenfalls aus ihrer bunten Vergangenheit mitgebracht, dachte ich, daß irgend jemand ihr gesetzwidrig das Autofahren beigebracht hat! Alles klappte programmgemäß, und Bernadette kam fröhlich und nichtsahnend nach Hause. »Na«, sagte Tante Edda, »alle Aufträge erledigt?« »Klar. Außerdem hatte ich Zeit, euch etwas zu kaufen. Bitte sehr!« Eine Riesentüte Schokolade und Marzipan wurde uns vor die Nase gehalten. »Ich komme gleich«, sagte Bernadette. »Ich möchte nur nach meinem schlafenden Goldschatz gucken!« Tante Edda stand auf. »Ich gehe mit dir nach oben, Bernadette«, sagte sie.
16.
Schneeweiß im Gesicht kam Bernadette wieder nach unten. Sie war ruhig und gefaßt, aber ihr Gesichtsausdruck – nun, den werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Sie ging zu Vati. »Bitte, erzählen Sie«, sagte sie leise. Auch ihre Stimme war ganz verändert. »Wir müssen darüber sprechen. Wir dürfen nicht warten.« Vati erzählte, wie er und Marion zur Gendarmerie gefahren waren und Marion dann den Gendarmen zum Schiff gebracht hatte. Da war Vati der Gedanke ans Kliff und an diesen öden, leeren Strandstreifen gekommen. Es war gerade Flut, also konnte ein Boot höchstwahrscheinlich hineinfahren, ohne daß ein Mensch es sehen würde. »Daß der Mann schleunigst versuchen würde, unser Inselchen zu verlassen, war ja klar«, sagte Vati. Dann erzählte er weiter, wie er Barry und mich getroffen hatte, und ich berichtete von den beiden Stellen im Dünengras, und von dem Zuckerpapier. Tante Edda erzählte, daß sie beim Arzt sofort drangekommen war: »Er hat Lillepus abgehorcht und festgestellt, daß Herz und Atmung völlig normal sind. Lillepus ist halb aufgewacht, hat ein bißchen gewimmert und weiterschlafen wollen. ›Sie muß ein Schlafmittel bekommen haben‹, hat der Arzt gesagt. Dann sind mir die Würfelzuckerpapiere eingefallen. Er wollte gerade den Apotheker in Florida anrufen, da kam Benno.« »Ich habe daraufhin das Telefongespräch selbst übernommen; der Apotheker ist ja mein Skatbruder«, fuhr Vati fort. »Er erinnerte sich an den Kunden, der nach einem Schlafmittel gefragt hatte. ›Ich erinnere mich sogar gut daran, denn ich dachte zuerst, es sei dein Schwiegersohn, Benno‹, sagte er zu mir. ›Er wirkte nervös, und ich gab ihm das leichteste Schlafmittel, das ich in der Apotheke hatte, und auch nur eine winzige Menge. Es waren Tropfen, und ich habe ihm erklärt, man sollte fünf Tropfen auf einen Zuckerwürfel träufeln.‹ Dann nahm der Doktor den Hörer und ließ sich genau erklären, um welches Mittel es sich handelte. Er konnte mich und Tante Edda trösten. Wenn Lillepus auch eine ganze Menge gekriegt hätte, wäre es nicht lebensgefährlich gewesen. ›Wir geben dem kleinen Fräulein ein Brechmittel, und dann dürft ihr sie mit nach Hause nehmen‹, sagte er. Ein Brechmittel ist zwar kein Vergnügen, aber eine Magenspülung in der Klinik wäre schlimmer. Lillepus bekam das
Mittel, und dann hatte Tante Edda eine halbe Stunde mit Beckenhalten und Trösten zu tun. Vollkommen erschöpft schlief das Kind zuletzt in meinen Armen ein. Der Arzt kommt heute abend vorbei.« »Wenn Barry nicht gewesen wäre!« sagte ich. »Ja, wenn Barry nicht gewesen wäre«, wiederholte Vati. »Wie glücklich wir waren, als wir Lillepus fanden, das brauche ich wohl nicht zu erzählen. Eines aber war merkwürdig: Barry suchte weiter. Als Britta und ich endlich auf dem Rückweg waren, kam mir plötzlich der Gedanke, daß Lillepus’ Entführung vielleicht nur ein Ablenkungsversuch gewesen war und uns vom Haus weglocken sollte, daß es sich also nicht um einen Kindsentführer im übelsten Sinn handelte, und der Verbrecher es vielleicht auf etwas ganz anderes abgesehen hatte.« »Dann hast du gerufen: ›Um Himmels willen, das Triptychon!‹« sagte ich. »Er hat es ja leicht gehabt«, bemerkte Ellen. »Der Schlüssel lag natürlich unter der Fußmatte – wie immer. Und in allen Zeitungen stand, daß das Triptychon sich hier im Hause befand.« »Aber was in aller Welt wollte er damit anfangen?« fragte Bernadette. »Vielleicht wollte er… Warte mal!« Vati sprang auf und lief ins Atelier. Kurz danach kam er mit einem Zeitungsausschnitt zurück. Er las es uns vor: Vor einigen Jahren wurde ein herrliches Kunstwerk aus der kleinen Kirche in Volkach in der Nähe von Würzburg gestohlen, die »Madonna im Rosenkranz« von Riemenschneider. Damals hatte eine große Illustrierte den Verbrechern hunderttausend Mark angeboten, wenn sie die Madonna zurückbrächten, und versprochen, die Polizei nicht zu benachrichtigen. Dadurch war es gelungen, das Kunstwerk zurückzuerhalten, und die hunderttausend Mark wurden an eine bestimmte Stelle gebracht. Tante Edda nickte. »An diese Geschichte habe ich auch gedacht«, sagte sie. »So wird es gewesen sein. Du warst gestern in Florida, Benno. Dort sind zur Zeit sehr viele Menschen. Jemand hat dich da mit deiner heißgeliebten Lillepus gesehen und…« »Oh!« rief Vati. »Ich Idiot! Jetzt habe ich den ganzen Zusammenhang! Also, ich war doch im Geschäft bei Dorry…« Ich erklärte schnell den anderen: »Dorry ist eine alte Bekannte hier vom Seehundsrücken, mit einem Kaufmann drüben verheiratet. Sie haben einen Laden mit
Hausrat, Spielsachen und Papierwaren.« »Eben! Dort entdeckten wir dieses Tretauto im Fenster, und ich ging hinein. Dorry fing natürlich von dem Triptychon an. Sie hatte alles im Fernsehen gesehen. Britta, du weißt ja, wie Dorry ist: Sie stellt immer tausend Fragen.« »Die mein gutgläubiger Paps offen und ungehemmt beantwortet«, sagte ich. »Du hast natürlich alles erzählt, Paps! Das das Triptychon nicht zu ersetzen ist, und daß es für hunderttausend Mark versichert wurde.« »Ja. Ich habe ihr sogar mit den Händen gezeigt, wie klein es ist – als sie sich nämlich darüber wunderte, daß so ein ›Altarbild‹, wie sie es nannte, in eine Wand hineingesteckt worden war. Übrigens – das hat man ja auch im Fernsehen gezeigt!« »Hat denn jemand dieses Gespräch angehört, Paps?« »Das ist es ja eben! Hinter meinem Rücken stand ein Mann und wühlte in den Ansichtskarten! Dorry wollte ihn schon bedienen, da sagte er nein, er könne warten, er möchte sich in aller Ruhe die Karten zusammensuchen. Na, dann hat Dorry mit Lillepus geplaudert, und Sie wissen, Frau Bernadette, Ihre Tochter ist genauso offenherzig wie ich. Sie erzählte von dem Spielplatz und was die anderen Kinder sagen würden, und Dorry sagte etwas über Verwöhnung und so. Und ich – warte mal, was habe ich eigentlich gesagt? Ja, natürlich, ich sagte, die kleine Dame sei meine große Liebe auf dieser Welt, für sie könnte ich meinen letzten Groschen ausgeben. Ach, Kinder, ihr kennt mich doch, ihr wißt, was für Unsinn ich zusammenrede, wenn ich in Stimmung bin. Und in Lillepus’ Gesellschaft muß man ja in Stimmung kommen. Unser kleiner Schatz!« Das letzte kam mit einer leisen Stimme, voll Zärtlichkeit. »Übrigens«, fügte Vati hinzu, »wenn ich wegen des Triptychons einen Erpresserbrief gekriegt hätte… Na gut, ich hätte die Presse, alle reichen Menschen, die ich kenne, jeden Einwohner vom Seehundsrücken um Beiträge gebeten. Aber, Frau Bernadette, eins sollen Sie wissen: Wäre es um Lillepus gegangen, hätte ich mein Haus verkauft, ich hätte dem Verbrecher das Triptychon in die Hände gelegt, ich hätte die Bank geknackt, ich hätte… ich hätte…« Es folgte eine Pause. Dann sagte Bernadette, und ihre Stimme klang heiser: »Es ist mir klar, daß es sich um das Triptychon handelte, und daß Lillepus’ Entführung nur ein Vorwand war; der Verbrecher hat sie ja auch im Dünengras zurückgelassen und ist dann zum Haus
gegangen, als er meinte, es sei leer. Aber trotzdem! Trotzdem! Ohne Barry hätte es Stunden dauern können, bevor Lillepus gefunden worden wäre! Was hätte ihr nicht alles passieren können! Der Verbrecher hat eine Reihe von Menschen in eine höllische Angst versetzt, in die furchtbarste Angst, die es gibt, die Angst um ein Kind, und er hat diese Angst ausgenutzt. Wie kann ein Mensch – wie kann bloß ein Mensch so was tun – ein Mensch, der selbst eine Mutter und einen Vater hat oder gehabt hat, ein Mensch, der vielleicht Kinder hat… Wie kann bloß so ein Gedanke in einem menschlichen Gehirn entstehen?« »Der Verbrecher hatte außerdem ein unwahrscheinliches Glück«, sagte Ellen. »Weil er anscheinend Pierre ähnlich sieht, deinem guten Pierre, Britta, und Lillepus deshalb zu ihm lief und ihn laut Onkel nannte!« »Er hat sicherlich gedacht, Lillepus sei deine Tochter, Benno«, sagte Tante Edda. »Er hat doch gesagt, Herr Dieters habe ihn gebeten, Lillepus abzuholen!« »Aber wie kriegt man den Kerl zu fassen?« rief Vati. »Wieviel Millionen Männer gibt es in Deutschland, die dunkelhaarig, schlank und braunäugig sind? Dabei wissen wir nicht einmal sicher, ob er braune Augen hat.« »Und er muß, er muß gefaßt werden!« sagte Bernadette leidenschaftlich. »Nicht auszudenken, daß andere dasselbe erleben sollten! Wenn so ein Mensch wüßte, welche Not und welches Leid er verursacht! Oh, wenn ich geahnt hätte – wenn ich hier gewesen wäre…« Plötzlich brach Bernadette in ein wildes Schluchzen aus. Wir ließen sie eine Weile weinen. Dann strich Tante Edda ihr übers Haar. »So, Bernadettchen! Nun geh rauf und sieh dir dein gesundes, schlafendes Kind an und danke dem lieben Gott, daß du es bei dir hast.« »Ach, Tante Edda, auf meinen Knien werde ich Gott danken!« Sie stand auf. Ellen auch. »Einen Augenblick, Bernadette! Warte eine Sekunde!« Sie lief in den Flur und kam mit einem kleinen lederbezogenen Kasten zurück. »Paß mal auf. Das hier hab ich mir heut von meinem… äh… Bekannten geborgt. Es ist ein kleines Tonbandgerät mit Batterie. Ich dachte, es wäre wichtig, alles festzuhalten, was Lillepus sagt. Ihr wißt, wir sprachen davon, bevor Bernadette kam.« »Prima, Ellen! Ausgezeichnet!« lobte Vati.
Ellen, die das Gerät bedienen konnte, ging mit Bernadette nach oben. Wir sprachen leise weiter. Ein mittelgroßer, dunkelhaariger Mann mit einem kleinen weißen, schnellen Motorboot. Wie viele weiße Motorboote, wie viele mittelgroße schlanke Männer waren augenblicklich drüben auf Florida? Und wenn auch die Polizei einen verdächtigte, wenn er auch Lillepus gegenübergestellt würde – wer konnte sich auf die Aussage eines vierjährigen Kindes verlassen? Sie hatte den Mann ja für Pierre gehalten. Konnte sie sich nicht wieder irren? Klar! Bernadette und Ellen kamen zurück. »Hat sie was erzählt?« Wir fragten vierstimmig. »Nicht viel. Wartet, wir hören uns das Band an.« Wir schwiegen und horchten. »Schläfst du nicht, mein Schatz?« »Habe Durst«, kam Lillepus’ Stimme. »Hier, mein Kind, trink Wasser. So, vorsichtig, Mutti hält das Glas.« »Der Onkel hatte Saft in einer sooo kleinen Puppenflasche«, sagte Lillepus. »Und dann hatte er einen großen Ball. Wo ist der Ball?« Wir lauschten weiter. Nach dem, was Lillepus sagte, war es anzunehmen, daß der »Onkel« sie mit dem Ball gelockt hatte, daß sie im Gras gesessen und er Saft auf Zuckerstücke geträufelt hatte. »Was war das für ein Onkel?« fragte Bernadettes Stimme. »Zuerst war es Onkel Pierre, und dann war es nicht Onkel Pierre«, sagte Lillepus. Dann verlangte sie mit schläfriger Stimme mehr Wasser. »Nun schlaf, Liebling«, sagte Bernadette. »Barry paßt auf dich auf. Schlaf schön, dann wird alles gut.« Nun kam undeutliches Murmeln von Lillepus. Ich konnte die Worte nicht verstehen. Aber Marion war hochgesprungen. Sie lief zum Tonbandgerät. Anscheinend kannte sie den Typ, denn sie stellte mit sicheren Händen einen Hebel anders, dann wieder zurück, dann drehte sie an einer Schraube, und jetzt wurden die letzten Worte lauter wiederholt. »Schlaf schön, dann wird alles gut.« Dann Lillepus, und jetzt verstand auch ich die undeutlichen Worte: »Schlaf schön, dann wird alles dicke Nußschokolade!« Ellen stellte das Gerät ab. »Ja, das war es.« »Was in aller Welt meinte sie mit…?« Die Tür klappte. Marion hatte das Zimmer verlassen.
17. Es folgten zwei stille Tage, an denen wenig gesprochen wurde. Jeder ging seiner Arbeit nach, Bernadette ließ Lillepus nicht aus den Augen. Vati arbeitete an dem Triptychon und blieb Stunden um Stunden im Atelier. Marion war schweigsam. Urplötzlich konnte sie weggehen ohne ein Wort zu sagen. Sie blieb meist lange weg, kam müde und blaß zurück, und auf mein Fragen sagte sie nur: »Ich war am Strand.« Weiter nichts. In meinem Kopf schwirrten schreckliche Gedanken herum. Ich hatte es keinem Menschen gesagt, ich wagte es kaum zu denken. Aber ich mußte! Ich mußte, mußte! Bei einem solchen Verbrechen durfte ich keine Möglichkeit außer acht lassen. Man mußte mit allem rechnen, auch dem Unwahrscheinlichsten. Losgerissene Sätze aus Gesprächen, winzige Beobachtungen, einzelne Wörter, eine auffallende Schweigsamkeit, kleine Begebenheiten – alles verflocht sich in meinem Kopf. Aus dem Wirrwarr bildete sich ein Muster. Marion. Marion, die in schlechte Gesellschaft geraten war. Wie kommt ein Mädchen in schlechte Gesellschaft? Wie kommt es, daß es Sachen mitmacht, die es zuletzt vors Gericht bringen? Welche Macht bringt ein Mädchen dazu, alles mitzumachen? Liebe. Nichts als Liebe. Wenn Marion nun blind verliebt gewesen war, und zwar in einen Mann, der sie auf seine krummen Pfade mitlockte? Wenn dieser Mann eine furchtbare Macht über sie hatte? Wenn er verhaftet wurde, Marion allein blieb? Wenn sie ihre ganze Zukunft auf ihre Liebe aufgebaut hatte? Was würde sie tun? Warten. Warten, bis er wieder frei war. Sie hatte eines Abends vor dem Fernsehapparat gesessen und sich einen Boxkampf angesehen. Plötzlich war sie leichenblaß geworden und hatte auf den Ausschnitt der Publikumsgesichter gestarrt. Hatte sie den Mann entdeckt? War er es? War er aus dem Gefängnis entlassen? Hatte sie sich mit ihm in Verbindung gesetzt? Wie konnte der Mann wissen, daß der Strandstreifen unterhalb vom Kliff immer öde und menschenleer war? Daß kein Auge ihn sehen würde, wenn er dicht an der Kliffwand entlang schlich? Daß dort eine kleine verborgene Bucht war, in der man ein Boot
verstecken konnte? Wie in aller Welt konnte er so gut im Bilde sein? Jan hatte Marion am Kliff herumklettern sehen. Als ich sie danach fragte, hatte sie es geleugnet. Aber Jan kannte sie doch, und er hatte gute Augen. Er war hundertprozentig sicher, daß es Marion gewesen war. Was hatte Marion dort zu suchen? Was wollte sie auskundschaften? Warum hatte sie kein Wort gesagt? Kein einziges Wort, als wir alle über Lillepus’ Entführung sprachen, fragten, erzählten? Ja – aber Marion hatte doch an der Suche teilgenommen! Nein – halt! Sie hatte gesagt, sie könnte Auto fahren: Sie hatte die Suchaktion Richtung Schiff gelenkt, hatte den Gendarm dorthin gebracht, während Lillepus in die entgegengesetzte Richtung geschafft wurde. Woher konnte der Mann wissen, daß er nur bei Hochwasser dicht ans Kliff gelangen und ein kleines Boot in die Bucht legen konnte? Alles paßte. Alle Einzelheiten fügten sich ineinander wie die Steine eines Mosaiks. Aber – Marions »gute« Augenblicke, Marions Hilfsbereitschaft, ihre Kameradschaft? Und ihre große Tierliebe? Bewies das alles nicht, daß sie ein guter Mensch war? Auf der einen Seite mein Mosaik, logisch und lückenlos aufgebaut. Auf der anderen Seite die kurzen Augenblicke, in denen Marion lieb und nett gewesen war. Die Tierliebe? Es gab Beispiele genug, daß große Verbrecher einen heißgeliebten Hund hatten. Der Mensch ist nun eben ein kompliziertes Gemisch aus guten und bösen Teilen. Warum übernahm Marion es immer, die Post zu holen? Wir ahnten nicht, wie viele Briefe sie selbst bekam. Wer weiß, vielleicht hatte sie sich schon am Kliff mit dem Mann getroffen, vielleicht hatte sie ihm damals die Höhle gezeigt, vielleicht, vielleicht… Mein Herz war schwer. Denn etwas war mir klar: Ich mußte Vati alles erzählen, alles erklären, und – wir mußten es der Polizei sagen. Marion mußte »vor die Wölfe« geworfen werden. Wir mußten es tun, wenn unsere Herzen dabei auch bluteten. Ich würde mir gemein, verräterisch, bodenlos schäbig vorkommen. Aber ich mußte es tun. Es war Nacht. Ich hatte schlecht geschlafen, war öfters aufgeschreckt. Jetzt dämmerte der Tag, das erste schwache Morgenlicht drängte zum
Fenster herein. Ich warf einen Blick auf Marions Bett und stutzte. Mit weit offenen Augen lag sie da. Und – da sah ich, wie sie schnell mit dem Zipfel des Bettuchs über ihre Augen wischte. Ich stand auf und ging zu ihr rüber, setzte mich auf ihre Bettkante. »Marion«, flüsterte ich. »Marion, kannst du nicht sprechen?« Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind doch Freunde, Marion.« »Gerade deswegen«, flüsterte sie. »Aber Marion, du mußt dich aussprechen. Du erstickst, wenn du alles allein mit dir herumschleppst. Sprich mit irgend jemandem, mit Vati, mit Tante Edda!« »Ich kann es nicht. Ihr seid alle zu gut zu mir.« »Mit wem könntest du denn sprechen? Mit einem fremden Menschen?« »Vielleicht. Vielleicht mit einem Juristen. Ich weiß nicht.« »Hör, Marion! Ellens Freund ist Rechtsanwalt. Wie wäre es, wenn du versuchtest, dich Ellen anzuvertrauen? Sie ist ein furchtbar netter Kerl, und sie ist nüchtern und praktisch veranlagt.« Wieder wischte Marion sich die Augen. Ich streichelte ihre Wange. »Wenn ich dir bloß helfen könnte, Marion!« Ihr Weinen wurde stärker. Nun flüsterte sie etwas, ich mußte hinhorchen, um es zu verstehen. »Hätte ich bloß eine Mutter gehabt!« Da schlug ich die Arme um sie. Ich vergaß meinen bösen Verdacht, ich vergaß, daß ich mit Vati sprechen wollte, daß wir die Polizei auf diese schreckliche Möglichkeit aufmerksam machen mußten. Ich wußte nur eins: Da weinte ein mutterloses, elternloses, tief unglückliches Mädchen sich aus in den Armen eines anderen mutterlosen Mädchens. In diesen Minuten wurden Marion und ich Freundinnen fürs Leben. Als Ellen sich am folgenden Tag aufmachte, um auszugehen, ging Marion zu ihr hin. Sie wechselten ein paar Worte, Ellen nickte eifrig, und drehte sich zu uns um. »Marion und ich haben etwas zu tun. Vielleicht kommen wir gar nicht zu Mittag. Dafür bringen wir heute abend einen Gast mit, falls wir dürfen?« »Ihr dürft!« Sie verschwanden, und ich machte mich ans Putzen. Mir war plötzlich viel, viel leichter ums Herz. Rechtsanwalt Frank Liethbach war ein großer, blonder Mann,
keine Illustriertenschönheit, aber mit zwei klugen Augen in einem offenen, netten Gesicht. Ellen strahlte, als sie ihn uns vorstellte. Man merkte deutlich, daß sie ihm viel über uns erzählt hatte, denn er schien uns alle zu kennen. Wir saßen bei einem späten Nachmittagskaffee, als sie kamen. Ich beeilte mich, noch eine Kanne aufzubrühen und etwas mehr von dem Napfkuchen aufzuschneiden. »Wo ist eigentlich Marion?« fragte Bernadette. »In meinem Zimmer in der Pension«, sagte Frank Liethbach. »Hoffentlich schläft sie.« »Sie hat uns gebeichtet, daß sie seit achtundvierzig Stunden beinahe nicht geschlafen hat«, erklärte Ellen. »Als wir sie verließen, war sie todmüde, erschöpft vom Erzählen.« »Sie hat also erzählt?« »Ja, Britta. Sie hat erzählt. Und jetzt werde ich euch berichten. Sie hat mir ausdrücklich ihre Erlaubnis gegeben.« »Ich kann bloß nicht verstehen, warum sie nicht mit uns…«, begann Bernadette. »Verstehen Sie das nicht?« fragte Frank Liethbach. »Wissen Sie, Marion brauchte jemanden, der – ja, was soll ich sagen –, der ganz nüchtern zuhören konnte, der weder Sympathie noch Antipathie empfand.« »Und der sich außerdem mit den Gesetzen auskennt«, ergänzte Ellen. »Wißt ihr, ich bin diejenige hier im Haus, mit der Marion eigentlich am wenigsten zu tun gehabt hat. Gerade deswegen konnte ich jetzt helfen. Und jetzt bitte ich euch zuzuhören. Ich habe viel zu erzählen und möchte nicht unterbrochen werden.« Bernadette ging zum Fenster und vergewisserte sich, daß Lillepus und Inkens kleine Schwester Merve in aller Ruhe und Eintracht mit dem Tretauto im Garten spielten. Dann setzte sie sich hin. Alle Augen waren auf Ellen gerichtet. Sie lehnte sich einen Augenblick im Sessel zurück und schloß die Augen. Dann richtete sie sich wieder auf und begann zu sprechen: »Es war einmal ein kleines Mädchen, das Marion hieß. Sie war Waise und wohnte bei einem sehr prächtigen Onkel und einer sehr prächtigen Tante. In diesem Haus ging alles nach der Uhr, alles wie am Schnürchen. Die kleine Marion war ein aufgewecktes, lebhaftes Kind mit viel Phantasie und einem unbezähmbaren Unternehmungsgeist. Leider verstanden der Onkel und die Tante wenig von Kindern. Marions Phantasien nannten sie Lügen und bestraften sie dafür. Wenn Marion etwas unternehmen wollte, wurde
es verhindert. Sie hatte geschickte Finger, sie wollte nähen. ›Daß du mir die Nähmaschine nicht anrührst!‹ sagte die Tante. Sie wollte in der Küche helfen. ›Kinder haben nichts in der Küche zu suchen. Das Kochen besorge ich!‹ sagte die Tante. So war es immer. Das Kind lernte schließlich, lieber nicht zu fragen. Sie fing an, hinter dem Rücken der Pflegeeltern zu handeln, und sie machte tolle Sachen. Unter ihren Schulfreundinnen wurde ihr Mut sprichwörtlich. Niemand wagte beim Schwimmen solche Kopfsprünge wie Marion, niemand war beim Turnunterricht so waghalsig. Und niemand machte so verwegene Streiche wie sie. Sie stahl Süßigkeiten zu Hause; es war ihr ein Nervenkitzel, sie fand es wunderbar, wenn es klappte. Auf diese Weise suchte sie einen Ausgleich für das, was ihr vorenthalten wurde. Der Schritt von den Süßigkeiten bis zur Geldbörse war nicht weit, bald stahl sie Groschen aus der Handtasche ihrer Tante, anfangs aus Sport, später entdeckte sie, daß es eine spannende Art war, zu Geld zu kommen. Einmal wurde sie ertappt und bekam fürchterliche Schläge. Das machte sie noch trotziger und waghalsiger. In ihrem Herzen gab es einen sehr weichen Punkt: Sie liebte Tiere. Sie besuchte dauernd jene Schulfreundinnen, die einen Hund oder eine Katze hatten. Sie stahl Geld für Eintrittskarten in den Zoo. Ab und zu ging sie auch mit den Pflegeeltern hin, im Sonntagsputz und unter tausend Ermahnungen: ›Mach dich nicht schmutzig!‹ – ›Vorsicht mit dem feinen Kleid!‹ Und dann wurde sie mitgeschleppt durch den Zoo, weitergeschleppt, sobald sie vor einem Gehege stehenblieb. Wenn es ihr gelungen war, den Blick eines Tieres zu fangen, Kontakt zwischen sich und dem schönen Geschöpf zu bekommen – zerrte eine Hand sie weiter. Die kleine Marion war unsagbar einsam und – unsagbar trotzig. Ihr Haß den Pflegeeltern gegenüber erstreckte sich bald auf alle Erwachsenen. Jetzt machte es ihr Spaß, ›krumme Dinge zu drehen‹, es machte ihr Spaß, die Erwachsenen zu ärgern, ihnen Schaden zuzufügen. Sie hatte eine Lehrerin, die eine Bekannte der Tante war und mit dieser sozusagen zusammenarbeitete. Aus der Tasche dieser Lehrerin stahl sie einen Fünfzigmarkschein. Sie wurde ertappt und flog aus der Schule. Marion war nun in ein Stadium gekommen, das gefährlicher war als alles andere: das Stadium der Gleichgültigkeit. Wie oft hat sie auch hier gesagt: ›Es ist mir piepe!‹ – ›Es ist mir schnuppe!‹ – ›Es ist mir schnurzegal.‹ Dinge, deretwegen sie sich eigentlich hätte
schämen müssen, brachten nur ein kaltes, spöttisches Lächeln auf ihr Gesicht. Sie wurde von einer Freundin in einen Jazzkeller mitgenommen. Das war etwas für Marion! Die heißen Rhythmen, die laute Musik, das ungehemmte Tanzen! Sie lernte Jungen kennen, Jungen, die sie zu Boxkämpfen mitnahmen, zu Pferderennen, zu allem, was spannend war. Sie war sechzehn Jahre alt, und sie verliebte sich in einen der Jungen. Die ganze Zärtlichkeit, die sie einmal ihren Eltern entgegengebracht hatte, die sie so gern einem Tier geschenkt hätte, die schenkte sie nun diesem Jungen. Er war der Anführer einer kleinen Bande, die allerlei ausfraß. Sie machten Lärm auf der Straße, sie fuhren wie die Wilden auf ihren Mopeds, sie waren frech und laut, wohin sie kamen. Marion ließ sich mitreißen. Ohne daß es ihr selbst klarwurde, überschritt sie mit den anderen Jugendlichen die Grenze zwischen Unfug und Verbrechen. Die Spannung fraß sie förmlich auf. Sie war, wie gesagt, aufgeweckt, sie war sehr brauchbar in dieser Bande. Gewöhnlich mußte sie ›Schmiere stehen‹, während die Jungen ein Ding drehten. Sie wußten: Auf die ›Nudel‹ konnten sie sich verlassen. Ja, ›Nudel‹ wurde ihr Spitzname, so wie er – ihr Held – ›Kokos‹ genannt wurde. Aber der Kokos war nicht auf Treue eingestellt. Er bekam andere Interessen, das heißt, er interessierte sich stark für Marions blonde Freundin, und Marion selbst war nur noch als waghalsiges und kluges Bandenmitglied zu gebrauchen. Arme kleine Marion! Eine unglückliche Liebe ist immer schrecklich, am schrecklichsten aber, wenn man sie zum erstenmal erlebt, und wenn man nichts auf der Welt hat, außer diesem einen Menschen, dem man sein ganzes Herz geschenkt hat. Dann wurde Marion noch waghalsiger, alles machte sie mit, nur um Kokos zu imponieren, um ihm klarzumachen, daß sie ihm unentbehrlich war. Die Bande wurde endlich gefaßt, und wir sahen es mit unseren eigenen Augen im Fernsehen: Die vier Jungen und die zwei Mädchen wurden ins Polizeipräsidium geführt. Marion kam mit einer Verwarnung davon. Kokos, der schon einundzwanzig war, erhielt zwei Monate Gefängnis. Wie Marion zu uns kam, wißt ihr. Wie es ihr zumute war, werdet ihr jetzt verstehen. Noch war sie verliebt in diesen Kokos. Sie wollte auf ihn warten, denn in der letzten Zeit war er wieder freundlicher zu ihr gewesen.
Solange sie verschlossen und hart blieb, war es nicht so schwer. Aber – sie lernte uns kennen, sie sah, wie glücklich wir waren, sie lernte das Familienleben kennen, und sie wurde bei uns aufgenommen, wurde ohne Mißtrauen aufgenommen, wurde gepflegt, wurde selbst ein Familienmitglied in unserer komisch zusammengewürfelten Hausgemeinschaft. Ja sie gewann uns lieb. Und nun focht sie tagtäglich einen Kampf in sich aus. Einen Kampf zwischen zwei Welten – der unseren und der von Kokos.« Ellen schwieg einen Augenblick und zündete sich eine Zigarette an. Da wagte ich, sie zu unterbrechen: »Du hast nicht erzählt, wieso sie ausgerechnet nach dem Seehundsrücken kam.« »Ja, richtig! Als sie ausgerissen war, fuhr sie mit dem ersten Auto los, das anhielt. Dann war dies Auto am Ziel, und sie winkte wieder. Da kam der Wagen mit Pierre und seinem Freund. Als Pierre sagte: ›Sie dürfen gern mitfahren, aber wir fahren nicht weit, nur zum Schiff nach dem Seehundsrücken‹, kam ihr der Gedanke: Das wäre vielleicht das Richtige. Wer sollte sie auf einer kleinen Nordseeinsel suchen? Außerdem hatte sie so ein Gefühl, als könnte man von hier nach Dänemark gelangen. Sie wollte ja irgendein Schlupfloch suchen und auf Kokos warten. Irgendwo hatte sie sich eine gehörige Erkältung geholt, und aus der Erkältung wurde eine Angina – den Rest kennt ihr. Dann sah sie kürzlich die Übertragung von einem Boxkampf. Nun habt ihr richtig geraten. Auf dem Publikumsbild sah sie Kokos. Er war wieder draußen, und er war in Hamburg. Es war ja eine Übertragung aus Hamburg. Jetzt hatte Marion es schwerer denn je. Sie kannte Kokos’ Schlupflöcher und seine Angewohnheiten, so daß sie ihn finden konnte, wenn sie wollte. Andererseits hing sie an uns. Ja… wie soll ich es sagen? Ihr schlechtes Ich hing an ihm – das gute an uns. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß eine Menschenseele nie ganz schwarz oder ganz weiß ist. Immer gibt es eine Grenzzone, eine graue Grenzzone, und sie ist bei den meisten Menschen sehr groß. Dann kam der schreckliche Tag. Marion war genauso entsetzt und verzweifelt wie wir. Als sie erfuhr, Lillepus hatte den Fremden ›Onkel Pierre‹ genannt, kam ihr der furchtbare Verdacht, daß es Kokos gewesen sein könnte. Wenn jemand von seiner Ähnlichkeit mit Pierre wußte, war sie es! Wißt ihr noch, wie schweigsam Marion dabeisaß, als wir den
ganzen Vorgang zu rekonstruieren versuchten? Ihr Verdacht, ihr verzweifelter Verdacht, wurde immer stärker. Dabei stand es brennend klar in ihrem Gedächtnis, was Kokos bei früheren Gelegenheiten ein paarmal gesagt hatte: ›Nee, Kinder, man sollte den ganz großen Wurf ein einziges Mal machen, nicht diesen lächerlichen Kleinkram hier! Einmal sollte man ein ganz tolles Ding drehen und so viel Piepen kassieren, daß man fürs Leben versorgt ist! Nix wie Kröten einstecken und dann mit dem ersten Flugzeug in die Ferne, auf Nimmerwiedersehen!‹« Ellen schwieg, und nun sprach Frank Liethbach. »Als Marion dies alles erzählt hatte, ging der Mittagsgong. Sie wollte nicht essen, sie bat, sich auf die Couch legen zu dürfen. Ellen und ich gingen zum Essen nach unten und blieben etwa eine Stunde weg. Als wir zurückkamen, fanden wir sozusagen eine neue Marion. Sie war ruhiger, wirkte irgendwie – ja wie soll ich es sagen – gelöst, entspannt, aber weiß im Gesicht und fürchterlich müde. Vor ihr auf dem Tisch stand mein Tonbandgerät. Marion bat uns, es mitzunehmen und euch das Band vorzuspielen. Sie hatte es in der Zwischenzeit besprochen. Sie hatte keine Sekunde geschlafen, aber jetzt wollte sie es tun, jetzt könne sie es, behauptete sie. Gut, hier ist das Tonbandgerät, wir haben das Band selbst noch nicht abgespielt. Wollen wir es zusammen hören?« Frank stellte das Gerät an. Atemlos, nach vorn gebeugt, angespannt horchend, saßen wir da. Dann sprach Marion zu uns.
18. »Ich heiße Marion Elisabeth Seising und bin am 22. Februar 1948 in Berlin geboren. Ich habe eine Mitteilung zu machen. Herr Rechtsanwalt Liethbach hat mir erklärt, daß es strafbar ist, Tatsachen zu verschweigen, die zur Klärung eines Verbrechens beitragen können. Was ich jetzt erzähle, soll die Polizei in Hamburg erfahren. Wenn ich zwei ganze Tage gewartet habe, liegt es daran, daß es sich um einen Bekannten von mir handelt. Ich finde es gräßlich, einen ehemaligen Kameraden zu verpetzen. Aber nach diesen zwei Tagen bin ich doch zu der Überzeugung gekommen, daß es meine Pflicht ist zu sprechen. Mein Name ist der Polizei bekannt. Die – nun ja also, die Bande, der ich bis vor vier Monaten angehörte, ist ebenfalls der Polizei bekannt. Der Anführer wurde von uns Kokos genannt. Die Polizei kennt seinen richtigen Namen. Was ich zu erzählen habe, handelt von dem Verbrechen auf der Nordseeinsel Seehundsrücken. Ein Kind, Elaine Grather, vier Jahre alt, wurde entführt und im Dünengras versteckt, und während alle auf der Suche waren, wurde in dem Haus, das Kunstmaler Benno Dieters gehört, eingebrochen und ein wertvolles altes Triptychon gestohlen. Wie das Kunstwerk doch gerettet und das Kind gefunden wurde, ist der Polizei bekannt. Als ich die Beschreibung des Täters hörte, kam mir der Verdacht, es könnte Kokos sein. Das Kind hatte ihn mit einem anderen verwechselt. Diesen anderen kenne ich auch. Die äußere Ähnlichkeit ist mir früher schon aufgefallen. Ich wußte außerdem, daß Kokos aus dem Gefängnis entlassen war, und ich habe ihn oft genug sagen hören, daß man doch einmal ein ganz ›großes Ding‹ drehen sollte. Ich wußte auch, daß Kokos sich gut mit Motorbooten auskennt und daß es ihm eine Kleinigkeit sein würde, sich ein schnelles Boot irgendwie zu ›organisieren‹. Mein Verdacht war also sehr groß, und ich werde jetzt erzählen, wie ich ganz sicher wurde. Als die kleine Elaine von dem fremden Onkel erzählt hatte und die Mutter ihr nachher gute Nacht sagte, mit den Worten ›Schlaf nun, dann wird alles wieder gut‹, antwortete sie wörtlich: ›Ja, dann wird alles dicke Nußschokolade‹.« Jetzt räusperte sich Marion; wir hörten, daß sie schluckte, dann kam die Stimme wieder. Sie klang jetzt angestrengt und etwas heiser. »In dem Augenblick war ich sicher. Wie oft habe ich den Ausdruck
gehört! Es war Kokos’ typische Redensart! Immer, wenn er uns ausgemalt hatte, wie großartig etwas sein würde, sagte er zum Schluß: ›Dann wird alles dicke Nußschokolade‹. Natürlich hat er das dem Kind auch gesagt, und – die Kleine wiederholte es. Jetzt weiß ich, daß Kokos erst die Kleine entführte und dann das Bild stahl. Jetzt weiß ich, daß die Polizei, wenn sie ihn verhaftet, am linken Arm einen Hundebiß finden wird. Da hat ihn der Bernhardiner Barry gebissen, als er mit dem Bild entkommen wollte. Ich weiß, daß er es war, der das Gespräch im Spielzeuggeschäft in Florida mit anhörte, daß er in der Apotheke ein Schlafmittel kaufte, daß er im Strandpavillon Kaffee trank und die Zuckerstücke einsteckte. Ich bin überzeugt, daß der Apotheker und die Ladeninhaberin ihn wiedererkennen würden, vielleicht sogar das Personal im Strandpavillon. Ich habe jetzt meine Pflicht getan. Ich erkläre mich damit einverstanden, daß Herr Rechtsanwalt Liethbach der Polizei in Hamburg dieses Band überläßt.« Marion schwieg. Nur das Surren des Gerätes war zu hören. Frank Liethbach streckte den Arm aus, um es abzustellen. Doch da erklang Marions Stimme wieder. »Was ich bis jetzt gesagt habe, ist für die Polizei. Bitte, schneidet das Band hier ab oder löscht das, was jetzt kommt. Es ist nur für euch, für dich, lieber Onkel Benno, für dich, gute, liebe Tante Edda, für dich Bernadette, für dich Ellen, die du mir heute so wunderbar geholfen hast, und für dich, Britta – meine liebe, liebe Britta, du, die du mir am nächsten stehst von euch allen.« Jetzt sprach Marion schnell, die Worte purzelten manchmal ein bißchen übereinander. Es war, als hätte sie sehr viel zu sagen und sehr wenig Zeit. »Meine Lieben, ich war so froh, als ich das Tonbandgerät hier stehen sah, ja, ich kenne es, Kokos hatte einmal genauso eins. Ich war froh, als Ellen und Herr Liethbach hinuntergingen zum Essen, denn es war viel leichter für mich, dieses furchtbare Geständnis ganz ohne Zeugen zu machen. Noch, glaube ich, ist ein Stück Band übrig, und unten werden sie wohl noch nicht mit dem Essen fertig sein. Dann kann ich euch das sagen, was ich nie sagen könnte, wenn ihr mich ansähet. Ihr wißt nicht, was es mich gekostet hat, Kokos zu verpfeifen. Ich fühle mich bodenlos gemein, ich bin ein Verräter, ich weiß es. Aber wenn ich es nun nicht getan hätte? Dann wäre ich euch gegenüber zum Verräter geworden, ich hätte einen Verbrecher geschützt, einen Verbrecher, der euch, meine Lieben, Lieben,
schaden wollte. Die letzten Tage waren furchtbar, ich konnte mit niemandem sprechen. Grade weil ich euch so liebhabe, konnte ich es nicht. Was ich auch wählte, beides würde mich zum Verräter machen. Ich habe mich zuletzt für euch entschieden. Nicht weil es meine Pflicht ist, alles zu erzählen, nicht weil es strafbar ist, wertvolle Hinweise zu verschweigen – nein, ich habe es getan, weil ich die Stunde miterlebte, als Lillepus weg war und wir das Schlimmste fürchteten. Und weil ich die ganze Geschichte mit dem Triptychon miterlebt habe und verstehe, was für ein Verbrechen es war, es zu stehlen. Euch zuliebe habe ich es getan – und allen Müttern zuliebe, die kleine Kinder haben, um die sie bangen. Dir zuliebe habe ich es getan, Bernadette. Ihr wißt jetzt alles über mich. Und nun werde ich versuchen, alles, was ihr für mich getan habt, wettzumachen. Ich werde euch das Problem nehmen, das bestimmt schwer auf euch lastet: Was machen wir mit Marion? Gar nichts sollt ihr machen. Denn hiermit… O verdammt noch mal, jetzt heule ich. Entschuldigt bitte, ich muß schnell sprechen. Also, ich danke euch, danke euch so innig, wie ich es kann. Ihr habt mich gerettet, ihr habt mir gezeigt, wie glücklich man werden kann, wenn man… Nein, ich kann nicht mehr. Meine Lieben, ich fahre jetzt mit dem nächsten Schiff ab. Macht euch keine Sorgen um mich; ich gehe zurück zum Onkel in Hamburg, ich lasse von mir hören. Ich habe Geld genug bei mir, und gelegentlich bist du, Britta, so lieb, mir meine Sachen nachzuschicken. – Jetzt kommen sie, ich muß aufhören. Danke! Danke!« Das Tonband war zu Ende. Wir sahen einander an, entsetzt, ratlos. Vati sprang auf. »Kinder, das ist ja furchtbar! Das arme Mädchen, wir müssen sie zurückholen. Wie spät ist es?« »Zu spät, Herr Dieters«, sagte Frank Liethbach. »Marion wird das Schiff um sechzehn Uhr genommen haben. Dazu hatte sie reichlich Zeit. Und wenn nicht, jedenfalls das Achtzehn-Uhr-Schiff.« »Ich rufe ihren Onkel in Hamburg an! Er soll sie zurückschicken!« Tante Edda legte ihre Hand auf seinen Arm. »Warte einen Augenblick, Benno. Wenn sie erst um achtzehn Uhr gefahren ist, ist sie noch an Bord. Gibt es irgendeine Funkverbindung mit dem Schiff?« »Das glaube ich bestimmt. Frau Bernadette, kommen Sie, fahren Sie mich zur Post, ich muß telegrafieren!« Bernadette sprang auf. Frank nahm Ellens Hand. »Ellen, wollen wir nicht sicherheitshalber
nachsehen, ob sie noch im Hotel ist? Laufen wir doch rüber!« Ellen stand auf, und die beiden verschwanden. Bernadette rief von der Tür: »Britta, bringst du bitte Lillepus ins Bett?« Dann waren sie weg, Tante Edda und ich saßen allein da. Wir sprachen nicht. Wir kannten einander so gut, daß Worte überflüssig waren. Ich putzte mir die Nase und wischte ein paar Tränen weg. Marion, kleine, einsame Marion. Was hatte Pierre gesagt, damals, als Marion zu uns kam? »Ich glaube, die Kleine ist einsam. Fürchterlich einsam.« Ich hatte Pierre geschrieben, hatte ihm die ganze Geschichte erzählt. Zum Wochenende wollte er kommen – ja, übermorgen nachmittag. Pierre! Wenn er sie abfangen konnte! War er heute in Hamburg? Es war Donnerstag, ja, heute früh war er dort! – Besser gleich anrufen. Wenn Pierre da war, müßte er zum Bahnhof und versuchen… Ich rannte zum Telefon. Im gleichen Augenblick kam Lillepus, schmutzig und hungrig und rief nach Mutti. »Ich kümmere mich um Lillepus, Britta«, sagte Tante Edda und zog mit ihr los. Ich hatte den Hörer schon in der Hand, dann ging die Tür hinter mir auf. Ohne mich umzudrehen, sagte ich: »Moment, Tante Edda, ich komme gleich. Ich versuche nur, ob ich Pierre erwische!« Da klang eine Stimme hinter mir: »Das dürfte nicht schwer sein, Britta. Du schaffst es ohne Telefon.« Ich drehte mich so schnell um, daß ich beinahe den Telefonapparat mitgezerrt hätte. Da stand Pierre. Sein rechter Arm war ausgestreckt zum Grüßen. Sein linker lag um die Schultern von Marion. »Erzählt wird nachher«, sagte Pierre. »Zuerst müssen wir was Warmes trinken, und Marion muß sich umziehen. Sie läuft ja in einem kleinen Sommerfähnchen durch die Gegend, und draußen ist es kühl. Außerdem haben wir zwei Stunden in den Dünen gesessen, und ich habe mir den Mund fusselig geredet. Naß war es auch.« Ich lief in die Küche und setzte den Teekessel auf. »Darf ich euch beide umarmen, bevor ihr ans Umziehen geht?« fragte ich dann. »Na gut, aber schnell!« Ich begann mit Marion. Sie bekam eine Riesenumarmung, und anschließend schob ich sie in unser Zimmer mit dem Bescheid, sie solle ihren warmen Pulli und trockene Strümpfe anziehen.
Dann folgten fünf Minuten, die keinen Menschen angehen. Die gehörten nur Pierre und mir. Nach weiteren zehn Minuten saßen wir am Teetisch. Da hörten wir draußen das Auto: Vati und Bernadette kamen zurück. Von oben erschien Tante Edda, und kurz danach waren auch Ellen und Frank Liethbach da. Marion bekam eine Umarmung nach der anderen, sie wurde geküßt und gestreichelt. Zuletzt erschienen Barry und Columbine und zeigten durch Lecken, Wedeln, Auf-den-Schoß-Springen und Schnurren, wie glücklich sie waren. »Also!« sagte Vati. »Nun bitte alles im Zusammenhang! Wieso bist du plötzlich hier, verehrter Schwiegersohn?« »Weil Nebel in Kopenhagen ist. Ich sollte für einen Kollegen einspringen und nach Kopenhagen fliegen. Daraus wurde aber nichts. Doch ich hatte es schon so organisiert, daß ich morgen frei habe. Ich wollte als Überraschung hier eintreffen – und dank dem herrlichen Nebel konnte ich also schon heute los. Ich kam um halb vier, und wen sehe ich auf der Landungsbrücke? Unsere Marion – ohne Gepäck, in Richtung Schiff! Gut, ich habe sie am Arm gepackt, und als sie sich losreißen wollte, kam mir ein Verdacht. Dann – nun ja, die Einzelheiten erzähle ich später! Jedenfalls habe ich sie zurückgeschleppt, und dann wanderten wir in die Dünen; Marion hat mir alles erzählt, was sie euch auch erzählt hat. Sie bekam fürchterliche Schimpfe. So was Dämliches, euch verlassen zu wollen – so ein prämiierter Super Schafskopf!« »Man muß sagen, du hast ganz gut Deutsch gelernt«, brummte Vati trocken. »Ja, aber stimmt das vielleicht nicht?« »Natürlich stimmt es. Vorläufig bleibst du hier, Marion, verstanden? Du brauchst uns dringender denn je, und wir brauchen dich, ist das dir klar?« »Ihr… ihr braucht mich?« »Ja!« rief ich. »Ich brauche dich, ich vor allem! Du bist ein Prachtmädel, Marion. Außerdem bist du meine beste Freundin und…« »Ich – bin ich…« »Das bist du! Seit – na, wenn du es genau wissen willst: Seit heute früh um vier Uhr.« »Was habt ihr um vier Uhr vorgehabt?« fragte Vati. »Ein Geheimnis!« lachte ich. »Also, du bleibst hier, und wenn du noch
einmal versuchst durchzubrennen, dann setzt es was? Nicht wahr, Paps?« »Und ob! Mit dem Kochlöffel!« »Aber Britta, wenn du heiratest, dann…« Bernadette stand auf. Sie ging zu Marion. »Endlich kann unsereiner zu Wort kommen. Liebe Marion, möchtest du mit mir nach Frankfurt kommen? Willst du vorläufig bei uns als Kindermädchen und Haustochter arbeiten, und dann helfen wir dir, deine Zukunft zu planen? Vielleicht kannst du in Frankfurt eine Schule besuchen oder in eine Lehre kommen?« Marion sah Bernadette ins Gesicht. Es zuckte um ihren Mund, und die Stimme war heiser, als sie ganz leise antwortete: »Ja, Bernadette. Furchtbar, furchtbar gern!« »Und jetzt«, sagte Tante Edda, »jetzt soll unsere Marion ins Heiabettchen. Wie viele Stunden hast du seit vorgestern geschlafen?« »Beinahe keine«, sagte Marion. Ihr Gesicht war grau vor Müdigkeit. Ich brachte sie ins Zimmer, ich half ihr beim Ausziehen, ich packte das Oberbett um sie. »Es ist beinahe wie an meinem ersten Abend hier«, flüsterte Marion. »Ich danke dir, Britta. Für alles.« Marion machte die Augen zu. Ihr Gesicht glättete sich, sie lag entspannt, gelöst, auf dem Rücken. Ihre Hand beantwortete meinen Händedruck. Gleich darauf schlief sie.
19. Frankfurt, 15. Oktober Liebste Britta! Nun weiß ich nicht, womit ich anfangen soll, ich habe so viel zu erzählen! Das Wichtigste zuerst: Ich habe einen Hund! Einen süßen, kleinen Hund, der mir allein gehört! Er war herrenlos, und ich habe ihn für fünf Mark im Hundeasyl gekauft. Seine Rasse ist zweifelhaft, sein Stammbaum ist ein Gestrüpp, und er ist herzallerliebst! Foto anbei. Sehen wir nicht glücklich aus, wir beide? Mein Goldschatz heißt Flockie und ist ein Mädchen. Barry kümmert sich um ihre Erziehung, und Lillepus sitzt in der Klemme. Sie weiß nicht, wen sie lieber hat, meine Flockie oder ihren eigenen Anton. (Bist Du froh, daß du den Kater los bist, jetzt, wo es mit Columbine wieder soweit ist?) Ich gratuliere Euch zur Wohnung! Ihr werdet also Weihnachten im eigenen Heim feiern. Oder bleibt Ihr auf dem Seehundsrücken und feiert mit Deinen Eltern? (Das darf ich doch sagen? Es ist so kompliziert, immer »Dein Vater und Tante Edda« zu schreiben.) Ach, Britta, ich habe es so schön hier, nie war ich so glücklich und zufrieden! Ich denke jeden Tag an Euch, an unser Familienleben letzten Sommer, an all das, was Ihr für mich getan habt. Von Ellen bekam ich neulich einen Brief. Sie erzählt, daß sie kurz nach Weihnachten heiratet. Du liebe Zeit, wir kommen aus dem Hochzeitsgeschenke-Kaufen gar nicht raus! Onkel Joachim hat mir übrigens etwas Geld lockergemacht, ich besitze ja etwas von meinen Eltern. Außerdem will Bernadette mir unbedingt hier etwas zahlen für die paar Besorgungen, die ich mache, und die paar Kinderhöschen, die ich wasche. Der gute Onkel ist anscheinend ungeheuer erleichtert, weil ich vorläufig sicher untergebracht bin. Nun ja, ich fange an zu begreifen, daß er es mit mir nicht leicht gehabt hat. Aber warum haben sie mich so dämlich behandelt? Doch zurück zu Ellens Brief. Sie erzählt etwas, was Dich auch interessieren wird, ja Euch alle. Frank Liethbach hat das ganze Gerichtsverfahren gegen Kokos mit angehört. Unsere oder vielmehr Eure Theorie war vollkommen richtig. Es war Kokos, der in Dorrys Laden gewesen war. Dort kam ihm die Idee für das ganz dolle Ding. Er steckte die Zuckerstücke vom Strandcafe ein. Er war in der Apotheke. Und er glaubte immer, Lillepus wäre die Tochter von Onkel Benno. Es wurde auch geklärt,
wieso er plötzlich auf Florida aufkreuzte. Er hatte das kleine Boot organisiert, und als er von der großen Regatta las, kam ihm der Gedanke, da müßte man doch etwas drehen können, dort, wo so viele reiche Leute beisammen waren. Das Boot hatte er; es war leicht hinzukommen und in dem Menschengewühl unterzutauchen. Nachdem er das Gespräch zwischen Dorry und Onkel Benno belauscht hatte, machte er eine Erkundigungsfahrt um den Seehundsrücken und entdeckte – durch ein gestohlenes Fernglas, nebenbei gesagt – den öden Strandstreifen, die Höhle und die Warnschilder. Damit war sein Plan gefaßt. Wenn Barry nicht gewesen wäre!! Wenn Lillepus aufgewacht und zum Kliff gelaufen wäre! Ich bin ja selbst einmal da gewesen. O ja, jetzt fällt mir das auch ein: Ich habe es geleugnet, aber natürlich war ich es. Warum ich es tat? Ach, Britta, das ist so schwer zu erklären. Wenn man jahrelang immer nur das gesucht hat, was verboten war, wenn man so lange auf der Jagd nach »spannenden« Dingen war… weißt Du, ich mußte etwas erleben, mußte etwas tun, was gefährlich war, mußte etwas riskieren – ja, es war dumm, es war blöde, und ich werde nie mehr solchen Unsinn machen! Nun, ich wollte Dir dies alles erzählen. Sonst versuche ich, die ganze schreckliche Geschichte zu vergessen, das heißt, das kann ich ja nie, aber ich versuche, nicht mehr daran zu denken. Nur eins, bevor ich dieses Thema für immer verlasse: Meine Liebe zu Kokos ist tot, vollkommen und endgültig. Was ich jetzt empfinde, ist – ja, ich glaube, es ist Mitleid. Mitleid mit einem Menschen, dem man nicht mehr helfen kann. Oder kann man? Glaubst Du an Wunder? So, Britta, und nun zurück zu uns, zu mir und dem Allerschönsten, zu der Neuigkeit, die ich bis zuletzt aufgehoben habe: Ich habe meinen Beruf gefunden. Den Beruf, für den ich geboren bin. Asbjörn hat mir geholfen. Ich komme am 1. April in die Lehre. Als – rate doch mal! TIERWÄRTERIN! Weißt Du, daß das ein richtiges Handwerk ist, mit Lehrzeit und Prüfung und allem? Also, ich fange hier in dem schönen Zoo (in dem wir, nebenbei gesagt, jeden Sonntag verbringen) als Lehrling an. Ich freue mich, freue mich, freue mich! Ach, Britta, wenn ich mir vorstelle, nicht immer den Abstand und die Glaswand oder die Gitterstäbe zwischen dem Tier und mir zu haben – die Tiere zu pflegen und zu füttern und bei ihnen sauberzumachen, mit ihnen zu plaudern, ihre Freundschaft zu gewinnen – o Britta, ich freue mich!
Ich muß aufhören. Lillepus soll vom Kindergarten geholt werden, und Flockie muß raus. Grüß Deinen Pierre, grüß Deine Eltern und Columbine. Liebste Britta? Wenn Du wüßtest, wie ich die Angina segne, die mich damals zu Euch brachte! Tausend liebe Grüße Deine Marion