Cover Charles Higson
MEIN HÖLLENTAG MIT MR.KITCHEN Roman Aus dem Englischen Von Ulrich Hoffmann
Gescannt vom Orcslayer...
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Cover Charles Higson
MEIN HÖLLENTAG MIT MR.KITCHEN Roman Aus dem Englischen Von Ulrich Hoffmann
Gescannt vom Orcslayer (April 2002)
Wilhelm Heyne Verlag München Backcover »Ich mußte mich etwas zusammenreißen und nett zu dem Mann sein. Immerhin hatte ich schon den letzten Typ umgebracht, der meinen Wagen kaufen wollte...« Stellen Sie sich vor, Sie wollen ihren Wagen verkaufen. Einen alten Saab, nichts Besonderes. Doch der Mann, der ihn haben will, heißt Mr. Kitchen, und bevor Sie richtig wissen, wie Ihnen geschieht, haben Sie einen handfesten Streit. Und dann ist Mr. Kitchen plötzlich tot. Dumm gelaufen! Stellen Sie sich nun vor, Sie versuchen verzweifelt, die Leiche loszuwerden - gar nicht so einfach, wenn Ihre Familie mit Ihnen Geburtstag feiern will, ein Magazin eine Home-Story über Sie plant und eine Horde wütender Punks Ihnen auf den Fersen ist. So weit - so gut: Und wenn Sie sich jetzt auch noch eine hysterische Exfreundin und Drogen, ein wenig Sex und jede Menge Action vorstellen können, dann sind Sie bereit. Bereit für Ihren eigenen Höllentag mit Mr. Kitchen...
HEYNE ALLGEMEINE REIHE Nr. 01 / 10646 Die Originalausgabe GETTING RID OF MR. KITCHEN erschien 1996 bei Little, Brown and Company, England 2. Auflage Copyright © 1996 by Charles Higson Copyright © 1999 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Denmark 1999 Umschlagillustration: The Image Bank/Juan Silva Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling Druck und Bindung: Norhaven , Viborg ISBN 3-453-13719-1 http: / /www.heyne.de
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Das Buch Der Held des Romans, ein äußerst erfolgreicher und ziemlich eingebildeter Londoner Yuppie, möchte sein Auto verkaufen. Doch bereits mit dem ersten Interessenten, einem gewissen Mr. Kitchen, gerät er in Streit. Der Grund ist nichtig, Mr. Kitchen ist lediglich ein notorischer Besserwisser, und unser Held hat noch nicht ausgeschlafen. Und plötzlich ist Mr. Kitchen tot. Was tun mit der Leiche? In aller Eile packt der Erzähler die Überreste von Mr. Kitchen in den Kofferraum des Autos, das er verkaufen möchte. Das erweist sich als unpraktisch, denn nun muß er den anderen Interessenten erklären, weshalb der Kofferraum des Saab nicht zu öffnen ist. Zu allem Überfluß hat unser Yuppie-Held heute auch noch Geburtstag, seine Familie hat sich zur Feier angesagt, und eine Journalistin möchte ein Interview mit ihm führen. In seiner Bedrängnis kommt es ihm natürlich gar nicht gelegen, daß ihn die schwangere Ex-Freundin bittet, sie dringend ins Krankenhaus zu fahren, weil sie bereits Wehen hat. Aber was soll er machen? Witzig, schnell, ein bißchen schräg und ziemlich böse - ein Roman für alle, die Hitchcocks Film »Immer Arger mit Harry« lieben!
Der Autor Charles Higson war Sänger in einer Rockband, Tapezierer, Drehbuchautor, Produzent und Schauspieler. Für das englische Fernsehen schreibt er Comedy-Serien. »Mein Höllentag mit Mr. Kitchen« ist sein vierter Roman.
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1. Kapitel Diese ganzen Wettervorhersagefrösche sind Lügner. Was soll der Mist? Ich mein, wieviel Sinn hat eine Vorhersage, die im besten Fall fünfzig Prozent Trefferchance hergibt? Das ist keine Vorhersage, das ist ein Ratespiel. Eine Lüge! Diese Typen stehen da und plappern von Hochdruckfronten, von Isobar und Kältegefühl, und ob es in Spanien regnet; als wenn mich interessiert, ob es im gottverdammten Spanien regnet, und sie zeigen uns kleine Bilder von Wolken - aus denen es wirklich regnet - und Satellitenbilder und Radarbilder, und es sind alles bloß Lügen, Lügen, Lügen. Ist Ihnen aufgefallen, daß die jetzt schon dazu übergegangen sind, uns zu erzählen, wie das Wetter heute war? »Und heute war wieder ein sonniger Tag.« Ich weiß, gottverdammt noch mal, wie das Wetter heute war. Und, Herr im Himmel, selbst da liegen sie manchmal falsch. Wetterfrösche sind falsche Propheten. Ihre Aufgabe gleicht der von Kassandra - mit umgekehrten Vorzeichen. Kassandra, Sie erinnern sich vielleicht, war die alt griechische Seherin, die verflucht war, immer die Wahrheit vorherzusagen, aber niemals ernstgenommen zu werden. Der Fluch unserer Wetterfrösche besteht darin, niemals die Wahrheit vorherzusagen, aber immer ernstgenommen zu werden. Verflucht sind allerdings eher wir als sie. Sie sollten verbannt werden, sie sollten erschossen werden, sie sollten vom Blitz erschlagen und vom Regen ersäuft werden. Ich sage all das, weil sie letzte Nacht behauptet haben, heute würde es regnen. »Gewitterwolken, Stürme, schwerer Regen, hüten Sie Ihren Regenmantel, bleiben Sie im Haus ... « Natürlich erwartete ich heute morgen einen düsteren Himmel, sprang aus dem Bett und zog lassig die große Dachfensterjalousie beiseite, nur um von einer intensiven Lichtexplosion niedergestreckt zu werden, die mein Hirn verbrannte. Es war wunderschön, ein gottverflucht wunderschöner Tag. Der Himmel zeigte ein klares, kräftiges Blau, hier und da verziert mit hochfliegend blassen weißen Wolken. Mittelmeerhimmel. Ich muß gestehen, ich quietschte leise, als ich von dieser fremden Sonne für einen Augenblick geblendet wurde; sie brannte herunter, schien auf mich herab, spiegelte sich in Glas und Metall, dick und schwer und flüssig. Also hatten mich diese Arschlöcher wieder angelogen, diese hinterhältigen Schweine von der Wetterstation, und nun stand ich da, ohne etwas zu sehen, ich fluchte, war verbrannt, Nadeln stachen in meinen Kopf, ich war ausgetrocknet und schlecht gelaunt. Ich wartete, bis der Schmerz nachließ und meine Augäpfel sich beruhigt hatten, dann schaute ich auf die Uhr; es war Viertel vor elf, was mir komplett auf den Sack ging, weil ich vorgehabt hatte, richtig auszuschlafen. Aber die Scheißsonne hatte mich geweckt. Wäre ich gewarnt worden, hätte ich meine Blackout-Maske tragen können, meine Augenbinde. Verstehen Sie, schuld an der ganzen Sache hat bloß der Wetterbericht. Ich fing den Tag auf dem falschen Fuß an, angepißt und abgenervt. Wenn die nicht wieder mal alles vermasselt hätten, wäre nichts von all dem passiert. Also, ich erzähle Ihnen das jetzt - das, was mir passiert ist. Ich weiß nicht, ob die Geschichte eine Moral hat, nicht mal, was sie soll, aber sie ist nun mal passiert, ich kann es auch nicht ändern. Ich reckte und streckte mich, meine Wirbelsäule knatterte heftig, dann zog ich mir eine beutelige Shorts und eine grüne Weste an. Jetzt war ich bereit, der Welt ins Ge sicht zu spucken. Ach, wenigstens war es nicht ganz so
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beschissen, im Morgengrauen aufzustehen, wenn sich das Wetter draußen Mühe gab. Ich stiefelte von meiner Schlafgalerie runter und machte mich an den Kaffee. Während die Kaffeemaschine ihre Arbeit verrichtete, blinzelte ich in meinen Spion, um zu klären, was der Tag mir bieten konnte. Mein Kurzzeitgedächtnis ist nicht, wie es sein könnte (mein Langzeitgedächtnis ist nicht besser), und ich muß dauernd meine zahlreichen Organizer, Charts, Tagebücher, Filofaxes und rumfliegenden Zettel updaten; die einzig vernünftigen Speicheralternativen zu der ausgebrannten Festplatte in meinem Kopf. Es war Wochenende, und ich hätte es nicht schlecht gefunden, rauszufahren und irgendwo mit einem kalten Huhn und einer Flasche Tequila am Strand zu sitzen, aber vor mir lag ein vollgeplanter Tag. Ein paar Leute hatten sich angesagt, um den Wagen anzugucken, und irgendeine Tussi vom Observer wollte am Nachmittag reinstratzen, um mich für »A Room of my Own« abzufeiern. Was hieß, daß ich auch noch saubermachen durfte. Aber das war ja erst am Nachmittag, also konnte es warten. Außerdem stand da: »GEBURTSTAGSESSEN«. Ich bin sicher, das Mistding beherbergte auch Informationen darüber, um wessen Geburtstag es sich handelte und wo das Essen stattfinden sollte, aber ich konnte mich ums Verrecken nicht daran erinnern, wie an diese Details heranzukommen war. Also entschied ich mich dafür, die Sache zu vergessen. Wenn es wichtig war, würde mich irgend jemand anrufen. Ich kippte ein kleines bißchen Jamesons in meinen Kaffee und schaltete die Glotze ein, um den Rest der samstäglichen Kindercartoons zu sehen; worüber ich die Hoffnung hegte, daß vielleicht Taz Mania laufen würde. Für ungefähr eine halbe Sekunde grübelte ich darüber nach, ob ich losgehen und vom Bäcker Croissants holen sollte, entschied mich aber, den Scheiß zu lassen. Statt dessen durchwühlte ich die Kleiderschränke nach irgendwas Passendem. Ich fand eine Tüte Mikrowellen-Popcorn, schüttelte es in die Maschine und ließ es vor sich hinexplodieren, dieweil ich die Zeitungen reinholte. Davon lag ein ganzer Stapel im Flur, Sun, Mirror, Guardian und Telegraph. Die seriösen Zeitungen las ich wegen des Klatsches, des Feuilletons, der Künste und was weiß ich sonst noch, und die Boulevardzeitungen wegen der News. Es stehen viel zuviele Nachrichten in den großen Zeitungen, die primitiveren Ausgaben fassen das alles in knackigen Headlines zusammen wie: »Deutsche raus« oder so. Ich meine, seien wir doch mal ehrlich, es passiert einfach zuviel in der Welt. Das kann man nicht alles aufnehmen, darauf kann man auch nicht reagieren. Eine vernünftige Nachrichtensendung die Woche auf BBC, das war' in Ordnung. Die könnten vorher auch mal klären, welches die wirklichen Nachrichten sind und wer bloß rumlärmt. Wer liest denn schon die Zeitung von letzter Woche? Oder letztem Jahr? Selbst Zeitungen von gestern haben dieses traurige, unwichtige Feeling an sich. Nein, eigentlich ist nichts davon wirklich wichtig. Ich schaute mir die Titelseite des Telegraph an; noch mehr Afrikaner starben. Sie hatten damit angefangen, sich gegenseitig umzubringen, und dann hatte sich auch noch die Natur eingemischt, und jetzt war die Kacke natürlich wieder mal am Dampfen. Diesmal war's Cholera. Herrje, wenn man den Namen des Staates änderte, konnte das aus jeder gottverfluchten Zeitung der letzten 25 Jahre stammen. Jedes Jahr krepieren Millionen Menschen an irgendeiner neuen Apokalypse, und irgendwie ändert sie nie was. Nächstes Jahr sind neue Millionen da, die an diesem oder jenem verrecken Hunger, Aids, Krieg oder was weiß ich. Und sie vermehren sich, sie vermehren sich und vermehren
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sich. Nicht nur in Afrika, ich hab' nichts gegen die, ich finde bloß, daß all das völlig unwichtig ist. In Berlin ist die Mauer gefallen, die Apartheid hat abgedankt, die Araber und die Israelis gehen einander immer noch an die Gurgeln, die Iren haben irgendwelche Leute weggebombt, rechtsextrem-gottes fürchtige-verrückt-wie-Schoko-mit-Nuß-Militärs haben auch irgend jemand plattgemacht. Rußland und Jugoslawien haben sich in allerlei Kleinstaaten aufgespalten, die sich eh keiner merken kann und für die sich auch niemand interessiert, die Russen versuchen, ihre Nachbarn wegzubomben, die Irakfis stellen dasselbe mit den Kurden an ... BoomBoomBoom-Bäng, die Japse sind bereit, die Weltherrschaft an sich zu reißen, die Japse fallen auf die Fresse, die Krauts sind bereit, die Weltherrschaft an sich zu reißen, die Chinesen sind bereit, die Weltherrschaft an sich zu reißen, die Koreaner sind bereit, die Welt in die Luft zu jagen, Amerika hat ein Crack-Problem, England hat, solange sich irgend jemand zurückerinnern kann, bei keinem wichtigen Sportwettbewerb auf der ganzen Welt irgend etwas gewonnen, und bla bla bla. Das ist einfach alles egal. Es gibt zuviel Nachrichten, zuviel Gelaber, und je mehr man sieht, je mehr man liest, je mehr man zuhört, desto weniger weiß man, und am Ende kommt man zu dem Schluß, daß keiner irgendwas weiß und sich nichts ändert. Wie auch immer, ich las gerade irgendeinen Quatsch in der Sun darüber, wie ein Popstar mit der falschen Frau erwischt worden war, als es summte. Also drückte ich auf den Knopf der Gegensprechanlage und fragte, wer da sei. »Hi, hier ist Mister Kitchen«, sagte eine Männerstimme, vom Lautsprecher auf dünn und schrill gestimmt. »Wegen des Wagens.« »Sie sind zu früh dran.« »Von der Bahn hat's nicht so lang gedauert, wie ich dachte.« Ich überlegte, ob es besser wäre, ihm zu sagen, daß er sich verpissen solle, aber andererseits konnte ich die Sache auch hinter mich bringen. Dann mußte ich mich wenigstens später nicht drum kümmern. Deswegen ging ich runter und machte die Haustür auf. Er war dünn, vielleicht meine Größe, mein Alter, mit kleinen, runden, blauen Sonnenbrillengläsern, irgendwo einem Sechziger-Jahre-ModeHaarschnitt und überhaupt einem ganz ungesunden Aussehen. An seinen Füßen lächerlich große schwarze Boots, viel zu schwer für London, und über dem Arm trug er einen sorgsam gefalteten grauen Regenmantel. »Hi«, sagte er. »Ich hab' mir die Kiste schon angeschaut. Ich denke doch, es ist der da.« Er zeigte auf meinen Saab, der vor der Tür stand. >>Ja.<< »Sieht gut aus, finde ich.« Ungefragt kam er herein. »Ich schreib' Ihnen einen Scheck aus.« »Und mehr wollen Sie nicht wissen?« »Was denn?« fragte er, und ich durfte ihm hinterhergucken, wie er in seinen Riesenstiefeln die Treppe raufdonnerte. Schulterzuckend machte ich die Tür zu und ging hinterher. Ich konnte den Mann nicht einordnen. Kein Akzent. Entweder war er ein Proll, der sich hochgearbeitet hatte, oder ein bemitleidenswerter Mittelkläßler, der wie ein waschechter Volksvertreter klingen wollte. Ich glaube, man nennt das Estuary English. Dieses sprachliche und stilistische Niemandsland, in dem der prollige CockneySchrauber nicht ganz so plebejisch auftritt und der eingebildete Mittelständler nicht so privilegiert erscheint. Soziales Esperanto.
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Ich schätze, die Leute erwarten auch von mir, daß ich so rede. Damit ich dazugehöre. Schließlich bin ich ein junger Londoner Stadtmensch, ein Nouveau entrepreneur. Aber ein Mann hat auch seinen Stolz. Man kann nicht sein Leben im Dunkeln umherkriechen und dann auf einen anständigen Nachruf hoffen. Verstehen Sie jetzt, daß meine Laune noch schlechter wurde? Allein wie dieses Sackgesicht sprach, machte mich schon wütend. Als ich am oberen Ende der Treppe ankam, legte er in der Wohnung gerade seinen Regenmantel über die Rückenlehne eines meiner Stühle. Er lächelte mich an. »Nachher regnet's noch«, sagte er selbstbewußt. »Haben sie im Wetterbericht gesagt. Zieht von der Nordsee her, scheint's. Der Wind hat gedreht. Jetzt kommt er aus Sibirien.« »Sibirien?« sagte ich. »Das ist aber interessant.« »Ja, sicher«, meinte er, sah sich um und nickte mit dem Kopf. »Nur ein Zimmer, oder?« fragte er dümmlich. Das hatte ich mir ausgedacht, bevor ich eingezogen war; ich hatte den Großteil des oberen Stockwerks entfernen lassen, so daß jetzt nur noch eine kleine Plattform für mein Bett übriggeblieben war, direkt gegenüber den großen Atelierfenstern, die jetzt die Dachschräge durchbrachen. Auch Trennwände waren abgetragen worden, so daß Küche, Eßzimmer, Wohnzimmer, Büro oder wie auch immer man die ganzen Teile nennen wollte, alles eins waren, nur durch halbhohe Balustraden und bewegliche Paravents getrennt. Die einzigen anderen Räume waren ein kleines Bad und ein Gästeschlafzimmer. »Ich hätte ja Sorge, daß das alles zusammenkracht«, sagte Mister Kitchen und glotzte in das Licht, das durchs Dachfenster hereinfiel. »Ein Haufen ausgesprochen teurer Bauarbeiter und Architekten hat dafür gesorgt, daß das nun wirklich ganz sicher nicht passieren kann«, sagte ich. »Wird's hier im Winter nicht kalt?« »Ich bin irgendwann auf die brillante Idee gekommen, mir eine Heizung einbauen zu lassen.« »Ist aber teuer.« »Eigentlich nicht. Bestens isoliert und doppelt verglast. Möglicherweise energiesparender als jedes andere Haus in der Straße.« »Ja, aber trotzdem . . . « Er wandte sich mir wieder zu und grinste. »Sie können es sich offensichtlich leisten, oder?« »Mister Kitchen«, sagte ich und grinste zurück, »so gern ich den ganzen Tag hier stehen und mich über Ihre amüsanten Einsichten beömmeln würde, ich habe zu tun. Ich glaube, Sie wollten mir einen Scheck ausschreiben.« »Warum verkaufen Sie den Saab eigentlich so billig?« fragte er und zog die Augenbrauen hoch, um durchtrieben und gerissen auszusehen. Es mißlang ihm. »Stimmt irgendwas nicht mit dem Wagen?« »Mir war nicht klar, daß ich ihn billig hergebe.« »Sehr beliebter Wagen, das alte Neunhundert-Modell. Im Augenblick einer der angesagtesten Wagen. Die SaabFans mögen das neue Modell nicht, sie finden, es sieht nicht wie ein Saab aus ... eher wie ein BMW. Ich dachte, vielleicht schnappt ihn mir jemand weg. Ehrlich gesagt, deswegen war ich so früh.« Dabei tippte er sich seitlich gegen die Nase und zwinkerte kumpelhaft. »Der frühe Vogel fängt den Wurm. Wie man so sagt.«
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»Ja, das sagt man, nicht wahr, Mister Kitchen?« »Vielleicht sollte ich doch mal einen Blick unter die Motorhaube werfen. Nur für den Fall, daß Sie mich übers Ohr hauen wollen.« »Hören Sie«, erklärte ich und versuchte immerhin noch, meine Ungeduld zu verbergen, »ich hole am Montag meinen neuen Wagen ab. Diesen hier wollte ich ei gentlich schon lange verkaufen, habe aber immer nur rumgetrödelt, und deswegen muß es jetzt schnell gehen. Okay? Sonst steckt überhaupt nichts dahinter. Wenn Sie nicht wollen, auch in Ordnung. Es kommen noch jede Menge andere Leute, die ebenfalls ... « »Hey, hey, hey. Immer mit der Ruhe. Ich hab' nicht gesagt, daß ich nicht will. Beruhigen Sie sich, mein Freund. Ich will bloß sichergehen.« »Mister Kitchen«, sagte ich, »vielleicht darf ich Sie an ein geradezu philosophisches Sprichwort erinnern: >Dem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.<« »Das ist mir durchaus bekannt. Ich denke aber auch an: >Hute dich vor Fremden, die Geschenke bringen.<« »Wie wär's mit: >Schreiben Sie mir einen Scheck oder verpissen Sie sich und hören Sie auf, meine Zeit zu stehlen?<« konterte ich. »Sie sind ganz schön unhöflich, finden Sie nicht auch?« fragte Mister Kitchen. »Das beantwortet meine Frage aber nicht«, entgegnete ich und hielt ihm einen Kugelschreiber hin. Bin ich unhöflich? Ich hab' keine Ahnung. Manchmal kommt mir das Leben einfach zu kurz vor. Ganz sicher habe ich irgendwas an mir, was die Leute aufregt. Ich se he gut aus, ich bin schlank, zuversichtlich, kann mich gut ausdrücken, bin gut erzogen, habe Geld und volles Haar, und um alle diese Dinge beneidet mich der durchschnittliche Engländer. Außerdem habe ich eine Macke - nämlich den Drang, immer das Gegenteil von dem zu vertreten, was jemand sagt, mit dem ich spreche. Und so eklig aufzuwachen hatte auch nicht viel geholfen. An diesem Morgen fühlte ich mich ganz besonders garstig. »Ihr seid doch alle gleich«, sagte Kitchen, nahm eine meiner Stahllampen zur Hand und betrachtete sie stirnrunzelnd. »Ihr Privatschul-Absolventen. Ihr schämt euch nie, oder? Ihr wißt gar nicht, daß ihr andere beleidigt.« »Jetzt geht's aber los«, sagte ich. »Im Bus redet ihr viel zu laut, und in Restaurants auch, ganz egal, daß jeder euch hören kann. Sie haben ja keine Ahnung, wie das klingt. Ihr seid unhöflich zu den Kellnern und Verkäufern, ihr seid arrogant und : .. « »Das ist ja wirklich absolut faszinierend, Mister Kitchen. « »Verstehen Sie mich nicht falsch«, meinte er. »Ich rege mich nicht auf. Ich stelle das einfach nur fest.« »Na, das beruhigt mich ja«, sagte ich. »Wo haben Sie diese Lampe her?« fragte er stirnrunzelnd. »Diese ganzen Sachen ... Dieses teure Zeug, das Leute wie Sie besitzen. Wo haben Sie das her? Gibt es ir gendwo in Knightsbridge, oder was weiß ich wo, einen Laden, der solches Zeug an Leute mit mehr Geld als Verstand verkauft?« »Gibt es tatsächlich«, entgegnete ich. »Und einen weiteren in Chelsea, einen dritten in Covent Garden. Ganz abgesehen von Glasgow, New York, Mailand ... « »Ich wette, das kostet Sie ein Vermögen.« »Es hat mich gar nichts gekostet, Mister Kitchen. Ich habe es selbst gemacht.«
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Er nahm ein Eisenteil in die Hand, das etwa einszwanzig hoch war, mit drei Spitzen, wie ein mittelalterliches Folterinstrument. Ich hatte es in meiner Gothic-Phase ge macht, vielleicht vor zwei oder drei Jahren, als ich mit Downern und Heroin experimentiert hatte. »Und was soll das dann bitte sein?« fragte er. »Ein Kerzenständer«, erklärte ich. »Lehnt sich an ein katalonisches Design aus dem 16. Jahrhundert an. Repräsentiert den zwischen den beiden Dieben gekreuzigten Christus.« »Für wieviel verkaufen Sie so was?« »Dieses spezielle Stück, der Leveller, ist zwar nicht mehr im Handel, aber er hat irgend etwas um die sechshundert Pfund gekostet.« »Große Scheiße! Leichtverdientes Geld, was?« sagte er und zwinkerte mir wieder zu, dieses Mal vermeintlich vertraulich. Ich glaube wirklich, er war davon überzeugt, freundlich zu wirken. »Ich könnte mit so etwas ja nicht leben«, meinte er und dann stellte er den Kerzenhalter wieder hin. »Ich bezweifle auch, daß Sie je die Chance dazu bekommen werden, Mister Kitchen.« Er versuchte, mich niederzustarren. »Sie schlafen da oben, oder?« Er schaute hinauf zu meiner Galerie. »Haben Sie keine Angst, runterzufallen?« »Mister Kitchen?« fragte ich. »Haben Sie den Verstand verloren?« »Sehen Sie«, sagte er und machte mit einer Hand eine Geste, als klopfe er an eine Tür. »Da war es wieder - Sie glauben, Sie können so etwas zu mir sagen. Sie glauben, Sie haben das gottgegebene Recht, Menschen zu mißbrauchen. Sie glauben, Sie sind mir überlegen, nicht wahr? Aber ich sage Ihnen was, mein Freund, unter dieser aufgeblasenen, überteuerten Aufmachung sind Sie verwundbar, Sie sind weich, und irgendwann einmal wird Ihnen jemand entgegentreten und sagen: >Nein! Nein, mein Freund, so geht das nicht, nein.<« »Mister Kitchen, ich scheine irgend etwas nicht mitbekommen zu haben. Bitte korrigieren Sie mich, wenn ich das falsch sehe. Aber dies ist mein Heim, meine Woh nung. Sie sind uneingeladen hergekommen, und Sie führen sich auf wie einer der höchstpeinlichen Teilnehmer an Through the Keyhole. Sie beleidigen mich, Sie beleidigen meine Arbeit ... und aus irgendeinem Grund wollen Sie mir beibringen, daß ich mich unmöglich verhalte. Anscheinend habe ich irgend etwas nicht mitbekommen!« »Sehen Sie, Sie verstehen es nicht.« »Wogegen genau wehren Sie sich, Mister Kitchen? Ist es meine Stimme? Haben Sie ein Problem damit, wie ich spreche?« »Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich es nicht so meine«, sagte er und lächelte. »Es ist nichts Persönliches. Man muß Ihnen das bloß mal sagen. Es ist zu Ihrem eigenen Besten. Ich stelle das einfach nur fest.« »Dann lassen Sie mich auch mal was feststellen, Mister Kitchen. Lassen Sie mich ein paar Dinge feststellen ... Nichts Persönliches, nur zu Ihrem eigenen Besten. Ihr Haarschnitt ist lächerlich, Ihr Aufzug ist lächerlich, Ihr Akzent ist lächerlich. Ihr gesamtes Auftreten ist ekelerregend. Sie sind ein selbstgerechter, langweiliger Idiot. Aufgeblasen. Und es heißt nicht >Fremde mit Geschenken<, es heißt ... « Weiter kam ich nicht, weil Mister Kitchen mich schlug. Genau genommen schlug er mir auf die Nase. Es tat nicht sonderlich weh, dazu hatte ich mir viel zu viele korrodie rende Drogen da durchgejagt. Viel Festes ist nicht mehr Übriggeblieben, und die meisten Nervenenden sind schon stillgelegt. Aber
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meine Nase kann immer noch bluten - bluten kann sie eigentlich am besten -, und das tat sie auch. Ich schmeckte das Blut hinten an meinem Gaumen und spürte es auf meine Oberlippe tropfen. »Leute wie Sie!« rief Mister Kitchen wütend. »Sie glauben, sie sind die Herrscher der gottverdammten Welt, was? Aber ich sage Ihnen was, mein Freund, das Briti sche Empire gibt es nicht mehr. Die Aristokratie ist am Ende. Alles wird anders. Ihre Tage sind gezählt.« Ich schlug zurück. Das schien der einzige Weg zu sein, diesen Blödmann zum Schweigen zu bringen. Das Überraschte ihn offensichtlich. Ich traf, ich erwischte ihn am Auge, und schlug ihm die Sonnenbrille aus dem Gesicht. Er gluckste irgendwas wie »Ay« und wackelte ein bißchen. »Ich bin doch kein Adeliger, du Schwachkopf«, sagte ich. »Ich bin ein ganz normaler Mittelständler, der auch Überhaupt keine Lust hat, so zu tun, als wäre er was an deres. Also, wollen Sie jetzt den beschissenen Saab kaufen oder nicht?« Er sprang mich an, packte mich am Hals, warf mich rücklings auf mein langes Sofa. Sein rechtes Auge, das ich getroffen hatte, tränte und zuckte. »Ich bin wertvoller, als Sie es je sein werden!« schrie er. »Das hab' ich auch nie in Frage gestellt«, entgegnete ich und stieß ihm einen Finger in sein heiles Auge, woraufhin er mich losließ. »Ich bin kein guter Mensch«, sagte ich. »Aber ich bin ein glücklicher Mensch. Im Gegensatz zu Ihnen. Woher diese Bitterkeit? Beruhigen Sie sich. Vergnügen Sie sich.« »Sagen Sie mir nicht, was ich zu tun und zu lassen habe«, sagte er mit zitternder Stimme. »Leute wie Sie haben mir mein ganzes Leben gesagt, was ich zu tun und zu lassen habe.« »Das überrascht mich nicht«, entgegnete ich. Daraufhin griff er nach einer Weinflasche, die bei dem Hin und Her umgefallen war, und schwang sie drohend. Ich schaute mich nach etwas um, um mich zu verteidigen, und sah den Leveller. Mittlerweile hatte ich genug. Der ganze Mist langweilte mich gründlich, und ich wollte bloß, daß es vorbei war, aber der Mann war nicht aufzuhalten. Wenn ich jetzt nicht durchgriff, würde die Geschichte wirklich richtig lästig werden. Schon sah ich endlose staubige Stunden vor mir, die ich mit ihm auf Polizeiwachen und bei Rechtsanwälten verbrachte, um meine Position zu erklären. Deshalb hob ich, als er mit der Flasche auf mich zukam, den Kerzenständer und stieß zu. Die Spitze paßte genau zwischen seine Rippen. Er riß Augen und Mund auf; irgendwie sah er aus wie Frankie Howerd. »Es sind Griechen«, sagte ich. Er starrte mich an. »Hä?« » >Hüte dich vor Griechen, die Geschenke bringen.( Offensichtlich ein Hinweis auf das trojanische Pferd . . . « Aber er hörte nicht zu. Er ließ die Flasche fallen, taumelte ein paar Schritte zurück, sackte zu Boden und zappelte ganz schnell mit den Füßen, als trete er die Pedale eines winzigen unsichtbaren Fahrrads. Dann lag er still da. Ich setzte mich aufs Sofa und überlegte, was ich jetzt machen sollte. Nachdenken war angesagt, weil mir langsam dämmerte, daß es vielleicht doch keine wirklich gu te Idee gewesen war, ihn umzubringen. Ich meine, Ihnen ist doch klar, daß ich keine andere Wahl hatte? Bloß ergaben sich daraus nun Konsequenzen, die ich vielleicht doch etwas sorgfältiger hätte in Erwägung ziehen sollen. Immerhin bestand durchaus eine wenn auch geringe Wahrscheinlichkeit, daß ich, wenn ich nicht so früh wach geworden wäre und mich über die Wetterfrösche geärgert hätte, in der Lage gewesen wäre, anders zu reagieren.
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Aber jetzt mußte ich ruhig und rational und mit klarem Kopf nachdenken, also war das erste, was zu tun war, ein großes Glas Whisky zu trinken und eine dicke Line Koks zu sniffen, was hieß, das Zeug irgendwie durch meine blutige, matschige Nase zu zwingen, die dank Mister Kitchens Schlag immer noch vor sich hin blutete. Ein paar Tropfen waren sogar auf dem Sofa gelandet. Ich zog meine Weste aus und wischte mir damit das Gesicht sauber, dann ging ich ins Bad, unterwegs schluckte ich den Whisky. Im Bad ließ ich kaltes Wasser ins Waschbecken und steckte mein Gesicht hinein. Lange Zeit, bis es allmählich taub wurde. Dann atmete ich durch die Nase ein. Kaltes Wasser, Rotz und Blut glitschten durch meinen Hals. Es tat weh, aber es schien zu funktionieren. Ich setzte mich auf den Badewannenrand, trank Whisky und wartete, daß alles trocknete und verheilte. Nach einer Weile fühlte ich mich angemessen losgelöst und ging rauf auf die Galerie, um ein bißchen Koks zu hacken. Es war, als snifte ich in einen Totenkopf; das Zeug schien gleich in meinem Hirn zu landen. Zur Sicherheit rauchte ich noch einen großen Joint, um mich wieder zu beruhigen. Schließlich lag ich auf meinem Bett, entspannt, gelassen und klar, und dachte nach. Ganz offensichtlich bestand eine der Möglichkeiten darin, die Polizei anzurufen. Dann
und
wann
hatte
ich
schon
mal
mit
den
Gesetzeshütern
zu
tun
gehabt
...
Geschwindigkeitsüberschreitungen, irgendso eine Drogensache, und dann die Schlägerei in dem Nachtclub, aber ich hatte es immer geschafft, daß sie den Mund hielten. Ein gottverflucht teurer Anwalt und der beste PR-Mann in ganz London hatten das hingekriegt. Aber jemand umzubringen war eine andere Sache. Ich will jetzt nicht angeben, aber Sie sollten wissen, daß ich kurz davor stand, einigermaßen berühmt und ausgesprochen reich zu werden. Meine rechte Hand, Crispin Butler, handelte gerade jetzt in Japan einen Vertrag aus, der mich ganz nach oben katapultieren würde, und eine Geschichte wie diese konnte den ganzen Deal in den Arsch gehen lassen. Crispin hätte ich jetzt gern hier gehabt. Er erledigte meinen ganzen Papierkram, die ganzen Fieseleien, die komplizierten Verhandlungen. Ich tauchte dann und wann auf, gab ein bißchen an, und beeindruckte den Klienten, aber er machte die Verträge, er war der Diplomat, er kümmerte sich um den Feinschliff. Er behielt stets einen kühlen Kopf und hätte gewußt, was jetzt zu tun war. Ich dagegen fühlte mich völlig aufgelöst. Also, die Polizei kam jedenfalls nicht in Frage. Und die Alternative? Sie bestand darin, die Leiche irgendwo hinzuwerfen. Deutlich besserer Plan. Wie zur Hölle sollten sie den Mord je mit mir in Verbindung bringen, wenn - falls! - sie die Leiche je fanden? Ich meine, der Kerl war ein Idiot, er mußte jede Menge Feinde haben, die nur die besten Gründe anführen konnten, ihn umzulegen. Ich brauchte bloß ein bißchen Zeit, um meine Spuren zu verwischen. Ja, die offensichtliche Lösung bestand darin, die Leiche einfach loszuwerden und die Mordwaffe zu zerstoren. Den Kerzenständer konnte ich in dem kleinen Brenn ofen in meinem Atelier einschmelzen. Und die Leiche? Ich wußte genau, wohin damit, draußen in Lincolnshire. Ich grinste. Einfacher konnte es gar nicht sein. Mittlerweile war es Viertel nach elf. Die Frau vom Observer hatte sich für fünf angesagt, also blieben mir fast sechs Stunden. Zwei, um die Stadt zu verlassen, zwei, um die Leiche loszuwerden, zwei, um zurückzukommen, und dann war Zeit für die Fotoproduktion. Das war ein gutes Alibi, falls ich je eins brauchen würde, gelassen und entspannt daheim fotografiert zu werden.
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Ja. Gut. Ich zog mir eine frische Weste an, dann ging ich runter und holte ein sauberes Laken aus dem Trockenschrank. Ich breitete alte Zeitungen und schwarze Mülltüten auf dem Laken aus und schubste Mister Kitchen drauf, wobei ich den Kerzenhalter, der immerhin noch in seiner Brust stak, als Griff benutzte. Als er da lag, wo ich ihn haben wollte, versuchte ich, die Spitze herauszuziehen. Das stellte sich als unerwartet schwierig heraus, und es bedurfte einiger Minuten Geschnaufe und Geschimpfe, bevor das dumme Ding schließlich rausfluppte - und das Blut gleich hinterher schwappte. Erfreulicherweise blieb alles auf den Plastiktüten und den Zeitungen, und es gelang mir, ihn hübsch einzuwickeln und das Paket mit einem Strick zuzuknoten. Trotzdem sah die ganze Sache immer noch ein bißchen zu leichenförmig aus. Ich lebe zwar in einem relativ ruhigen Teil von St. John's Wood, und mir sind noch niemals neugierige Nachbarn aufgefallen, aber wenn irgend jemand mich dabei beobachtete, wie ich etwas, das offensichtlich eine Leiche war, raus zu meinem Wagen trug, würden vielleicht doch Augenbrauen hochgezogen werden. Also rollte ich ihn in einen meiner Teppiche, einen abgelatschten und verblaßten Persianer, der vielleicht sogar was wert war, aber im Augenblick war mir das echt egal. Ich ging raus zum Saab und machte den Kofferraum auf, dann rannte ich wieder hoch und hievte mir Mister Kitchen auf die Schulter. Es war nicht ganz einfach, ihn die Treppe hinunterzukriegen. Einmal rutschte ich weg und knallte gegen das Geländer, aber am Schluß landete er dann doch im Kofferraum, und ich hatte bloß ein paar Schrammen an den Fingern. Ich arbeite andauernd mit großen Holzstücken und schweren Metallblöcken, also bin ich, glaube ich, einigermaßen stark, aber Kitchen in den Saab zu schleppen, hat te mich ganz schön angeschlagen. Ich knallte den Kofferraumdeckel zu und setzte mich für ein paar Minuten auf den Bürgersteig. Schwitzend und keuchend. Als ich wieder zu Atem gekommen war, schloß ich die Wohnungstür ab, stieg in den Wagen und fuhr los. Wie gesagt, ich kannte draußen in Lincolnshire die ideale Stelle, um eine Leiche loszuwerden, nur ungefähr zwei Stunden dorthin, wenn ich Bleifuß fuhr. Aber ich war noch nicht mal aus Kilburn raus, als der Wagen zu stottern begann. Erst da schaute ich auf die Benzinanzeige und erkannte mein Problem. Leer. Ich ließ den Wagen an den Straßenrand rollen und verfluchte mich als dummen Narren, dann stieg ich aus. Kurz vorher war ich an einer Tankstelle vorbeigefahren, also holte ich meinen kleinen Reservekanister aus dem Kofferraum und marschierte los.
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2. Kapitel Ein paar dreckige Obdachlose hingen vor der Tanke rum. Einer von ihnen latschte auf mich zu, ein großer, dünner Typ mit einer Riesennase und Haaren, die eine unangenehme Kreuzung aus Mohikaner, weißem Rasta und Mädchen ergaben. Er trug riesige Boots, eine Army-Hose und ein langes Shirt, über das er einen sehr engen mottenzerfressenen Sweater gequetscht hatte. »Haste `n bißchen Kleingeld, Alter?« jammerte er mich an, hoffnungslos elend, mit beinahe schmerzhaft theatralischer Jammerstimme. »Nein«, sagte ich, lächelte freundlich und ging weiter in Richtung Kasse. »Komm, Mann«, sagte er. »Du kannst es dir leisten.« »Nein«, sagte ich. »Wieso nich?« »Hau ab«, erklärte ich. »Reiches Schwein«, sagte der Bettler. Ich lächelte wieder und ging hinein, um dem desinteressierten Kassierer von meinem Wagen zu erzählen, dann ging ich raus und betankte meinen Reservekanister. Unter dem Dach war die Luft schwer und heiß, voller Benzindämpfe, dreckig und versmogt. Die Autos, die auf der Kilburn High Road vorbeirasten, wirbelten Staub auf, der in der Luft hängenblieb. An jedem anderen Tag hätte mir das Spaß gemacht, ich hätte mich gefühlt wie in LA, oder in Athen, oder was weiß ich wo, aber heute war das bloß etwas, das mich nervte. Ich zahlte für das Benzin, und als ich die Tanke wieder verließ, versuchte der zweite Obdachlose, mir Geld aus dem Kreuz zu leiern. Er war kleiner als der erste, breit und pockennarbig, und sein Haarschnitt war nichts anderes als große Scheiße. Er verfügte über einen schottischen Akzent, und er trug eine dreckige, glänzende Jeans und ein kariertes Holzfällerhemd. Natürlich wollte ich auch ihm kein Geld geben. »Warum nicht?« fragte er. »Warum sollte ich?« entgegnete ich. »Weil du Geld hast und ich nicht.« »Aber wenn ich jedem Penner, der danach fragt, Geld gebe, bin ich bald so einer wie du und habe auch kein Geld.« »Dann wären wir gleich, häh? Geht es darum nicht in der Demokratie?« Ich verließ die Tankstelle, er latschte hinter mir her zur Straße. »Nein«, sagte ich. »Darum geht es nicht in der Demokratie, nicht einmal im Sozialismus. Ziel ist nicht, daß wir alle als Bettler enden, sondern als Könige. Keine zweite Klasse, bloß erste. Du kommst hoch zu mir, ich komme nicht runter zu dir. Kapiert?« »Na, dann gib mir doch was von deinem Geld, und ich bin schon unterwegs nach oben«, sagte er und sah dabei aus wie jemand, der glaubte, richtig klug zu sein. »Und ich wäre auf dem Weg nach unten«, erwiderte ich. »Dann treffen wir uns in der Mitte, was?« »Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht.« »Und warum nicht, häh?« »Weil ich, ganz ehrlich gesagt, überhaupt nicht an Gleichheit glaube.« »Aber du hast doch gerade gesagt ... « »Das war bloß eine kleine Lehrstunde in Sozialismus für dich. Ich persönlich bin Anhänger des Darwinismus. Das bedeutet Uberleben der Stärksten und der ganze Kram.«
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»Mann, Alter, gib uns ein paar Pennies.« »Besser kannst du's nicht?« Er zuckte mit den Schultern. »Du bist der schlechteste Bettler, dem ich je begegnet bin«, sagte ich. »Kündige bloß nicht deinen Job!« »He, du kannst es dir doch leisten.« »Ich erzähl dir jetzt mal was vom Betteln«, deklamierte ich. »Betteln funktioniert nur, wenn es eine Wahlmöglichkeit gibt. Ich habe die Wahl. Ich muß die Möglichkeit haben, mich zu entscheiden, ob ich dir Geld gebe oder nicht. Es ist keine Verpflichtung, es gibt da keinen Automatismus. Sobald es zur Verpflichtung wird, ist es kein Betteln, es ist bloß eine Form von Steuer, so eine Art privater Sozialhilfe. Du bist dann kein Bettler mehr, sondern bloß noch einer dieser Almosenempfänger. Entweder hältst du dich an diese Regeln, oder du hörst auf damit.« »Du bist ein gottverdammtes Faschistenschwein, Alter.« »Wenn man es recht betrachtet, möglicherweise schon. Aber als solches muß ich mir nun wirklich keine Gedanken darüber machen, nett zu Menschen wie dir zu sein.« An dieser Stelle gab er auf, weil er an der Bushaltestelle eine Schlange mit Leuten entdeckt hatte, die er nerven konnte. Wenige Minuten später erreichte ich den Saab und kippte das Benzin in den Tank. Ich stieg ein, wendete und fuhr zurück zur Tankstelle. Als ich dort ankam, war Bettler Nummer zwei zu seinem Kumpel zurückgekehrt. Sie schnallten sofort, wer in dem Wagen saß, brüllten zu mir rüber, und als ich ausstieg, kamen sie angelatscht. »Also, gibst du uns jetzt Geld oder was?« fragte der Große. »Verpiß dich«, sagte ich. »Ich hab's schon deinem Freund erklärt.« »Sag mir nicht, ich soll mich verpissen.« Er schubste mich gegen den Wagen und hielt mir einen Finger vors Gesicht. »Ich mag dich nicht«, sagte er. »Ich auch nicht«, sagte der andere und gesellte sich zu ihm. »Das scheint allen so zu gehen«, meinte ich. »Also, gibst du uns jetzt 'n bißchen Kleingeld, häh?« fragte der Dicke. Die beiden schubsten mich den Wagen entlang, immer abwechselnd. Der Kassierer guckte zu, hatte aber nicht vor, mir zu Hilfe zu eilen, genausowenig wie der Durch schnittsbürger, der an der anderen Säule seinen Wagen betankte. »Die Zeiten ändern sich«, sagte der Große. »Ich weiß«, sagte ich. »Wenn die Scheißrevolution kommt, steh ich als erster an der Wand. Aber ich sag dir was - ein paar Demos gegen Autobahnen und in einem Karton zu schlafen ist noch lange keine Revolution.« Mit diesen Worten kickte ich ihm mein Knie in die Eier. Weil er so groß war, konnte ich nicht viel ausrichten. Ich kriegte mein Bein nicht hoch genug, ihn zu verkrüppeln, aber immerhin ließ er mich los. Er taumelte rückwärts, und der Dicke packte ihn und zerrte ihn davon. »Komm, Rhubarb«, knurrte er. »Vergiß den Wichser.« Ich sah ihnen nach. Der in dem Holzfällerhemd sagte etwas, und der Große lachte. Sie schauten zu mir zurück, dann streckte der Holzfäller den Arm
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hoch und wedelte triumphierend mit meinem Portemonnaie durch die Luft, gleichzeitig liefen sie in verschiedene Richtungen davon. Ich hinterher, aber der Holzfäller rannte quer über die Straße, und ich steckte vor einem Lastzug fest. Als ich die Straße überqueren konnte, war er verschwunden. Ich fluchte und ging zurück zur Tankstelle. Das war keine gute Entwicklung. Ich setzte mich in den Wagen. Mit dem Benzin aus dem Kanister konnte ich vielleicht dreißig Meilen hinter mich bringen, vielleicht vierzig, wenn ich vorsichtig fuhr, was bedeutete, daß ich höchstens einen Radius von zwanzig Meilen hatte. Außerdem mußte ich meine Scheck- und sonstigen Karten gestohlen melden. Und die Zeit verging. Was für eine dampfende Scheiße. Vielleicht konnte ich ein bißchen Geld aus meinen Klamotten und Einmachgläsern und Schubladen zu Hause zusammenkratzen. Sonst mußte ich mir jemand einfallen lassen, der mir was leihen konnte ... Ich dachte noch darüber nach, als ein Wagen mich hinterrücks anhupte; ich mußte wegfahren. Also, besser erst mal nach Hause, und dann wieder los. Um zehn vor zwölf war ich zurück. Das dauerte alles zu lange. Erstmal erledigte ich die Anrufe, um das Plastik in meinem Portemonnaie zu canceln, dann machte ich mich daran, Geld zu finden. Wenn Sie mir auch nur ein biß chen ähnlich sind, haben Sie sicherlich auch das Gefühl, daß bei Ihnen zu Hause jede Menge Kohle rumliegt; wenn Sie nur danach suchten, fänden Sie ein kleines Vermögen. Aber ich drehte alles um und entdeckte bloß sechsundsechzig Pence. Zwanzig Pence in einem Jackett, sechsunddreißig Pence in Ein- und Zwei-Pennystucken in einer Dose in der Küche, zehn Pence unten in einer Schreibtischschublade. Also mußte ich schnorren gehen, betteln, wie diese armseligen Deppen an der Tankstelle. Ich zog mir noch `ne Line Koks rein, saß da und dachte nach. Wer wohnte in der Nähe? Egal, wie lange ich nachdachte, egal, aus welcher Richtung ich nachdachte, es gab nur eine Antwort. Carrie. Daran war nichts zu rütteln. Wenn ich nicht Stunden damit verschwenden wollte, durch die Stadt zu furzen, mußte ich es bei Carrie versuchen. Ich sollte Ihnen vielleicht besser mal sagen, daß wir beinahe geheiratet hätten. Vor zwei Jahren, vielleicht ist es auch länger her. Sie wissen ja, wie es um mein Ge dächtnis steht. Alles war vorbereitet, eine große weiße Hochzeit mit Pfaffe und Champagner und dem ganzen Gedöns, und dann verkündete sie, sie sei schwanger. Ich meine, was sollte ich denn machen? Sowas kann man einem Mann doch nicht einfach so sagen. Das hat die ganze Sache viel komplexer aussehen lassen. Heiraten ist das eine, aber Babies ... Na ja, das wurde alles ein bißchen zu wirklich. Also bin ich abgehauen. Was hatte ich denn für eine Wahl? Na schön, ich will damit nicht angeben, verstehen Sie, ich komme immer noch ein bißchen ins Schwitzen, wenn ich darüber nachdenke. Ich schätze, das ist nicht gerade üblich, oder? Abzuhauen, meine ich. Aber, wissen Sie, es wäre viel fieser von mir gewesen, zu bleiben. Zu bleiben, ihr ein bißchen Hoffnung zu machen, dem armen Kind ein bißchen Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft vorzugaukeln, und dann abzuhauen. Ich habe versucht, ihr das alles zu erklären, aber damals war sie ein bißchen hysterisch und hatte es nicht richtig verstanden. Vielleicht hat sie es irgendwo tief drinnen doch verstanden, aber das ist nicht
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dasselbe wie es zu akzeptieren, nicht wahr? Gibt es nicht irgendso einen Country-Song: »I've forgiven but I can't forget?« Teufel, davon gibt's wahrscheinlich 'ne Million. Es ging ihr gut. Sie hat das Kind gekriegt, kein Problem. Wenig später hatte sie auch einen neuen Freund, einen Modefotografen. Zumindest war er das mal, ich glaube, er hat mit der Mode aufgehört, weil er immer weg mußte, und hat versucht, Arbeit in der Nähe zu finden. Also war sie jetzt glücklich. Natürlich hatte ich sie nach Jacks Geburt getroffen. Ich gab ihr auch Geld, ihn großzuziehen. Sie war immer ganz zivilisiert mit mir, aber wann immer wir uns trafen, konnte ich da irgendwas in ihrem Gesicht sehen, irgend etwas Ungesagtes. Wie ein riesiges Neonschild, das hinter ihren Augen an- und ausging. Irgendeine wichtige Nachricht, die ich bloß nicht lesen konnte. Also versuchte ich, sie so selten wie möglich zu sehen, nur für den Fall, daß die Nachricht irgendwie unangenehm wäre. Verstehen Sie, von all den Leuten, die ich in London kannte, war sie diejenige, von der ich mir am allerwenigsten Geld leihen wollte, aber Notlagen erfordern Notlösungen. Carrie, ich bin schon unterwegs. Mir fiel auf, daß meine Hände bluteten, von den Schlägen auf Mister Kitchen und von den Schrammen, die ich mir zugezogen hatte, als ich ihn die Treppe runtergetra gen hatte. Ich wusch sie sauber und klebte mir so gut ich konnte ein paar Pflaster drauf. Bloß ein paar Kratzer, Schnitte und Narben mehr in der Sammlung. Da ich sehr oft mit meinen Händen arbeite, verletze ich mich auch oft an den Händen, und nach einer Weile merkt man das gar nicht mehr. Ich schaute auf die Uhr. Viertel nach zwölf. War ich vielleicht zu schnell? Sollte ich einfach bis heute abend warten? Bis es dunkel war? Alles aus dem Weg schaffen? Mich ordentlich vorbereiten? Nein. Wenn ich auch nur einen Moment innehielt, würde ich zusammenbrechen, das wußte ich. Das einzige, woran ich denke konnte, war Mister Kitchen in mei nem Kofferraum, wie er langsam in der Hitze vor sich hinkochte. Es war, als könnte ich ihn schon riechen, und bis ich ihn los war, würde ich mich nicht entspannen können. Ich ging runter, raus auf die Straße, und der Schweiß auf meiner Haut vereiste. Jemand schlich um den Wagen herum, schaute durch die Fenster. Bleib ganz ruhig, sagte ich mir. Nichts verraten. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte ich und gab meiner Stimme einen festen und selbstbewußten Klang. »Oh, tut mir leid. Ja. Hallo«, sagte der Mann und richtete sich auf. Ein runder Mann mittleren Alters mit dünnem Haar, er trug einen blauen Anzug. »Ist das Ihr Wagen?« »Ja«, sagte ich. Nonchalant. Lässig. Verzweifelt. »Doug Fish«, sagte er und gab mir die Hand. Ich muß verständnislos geguckt haben. »Doug Fish«, wiederholte er. »Ich hab' gestern wegen des Wagens angerufen. Der Brumm-brumm. Ihr Saab.« Er schaute mich irritiert an. »Sie haben ihn doch noch nicht verkauft, oder?« »Nein«, sagte ich automatisch. Ich war viel zu erleichtert, vernünftig nachzudenken, und ich hätte mich sofort in den Arsch beißen können. Wenn ich gelogen und ja gesagt hätte, wäre ich den Kerl los gewesen. Scheiße. »Heiß, was?« sagte Doug und tat, als wischte er sich Schweiß von den Augenbrauen. »Aber später wird es kalt werden. Sie sagen, es soll sogar regnen.«
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»Kommt aus Sibirien«, entgegnete ich. Doug nickte und fuhr mit der Hand bewundernd über den Lack des Saab. »In gutem Zustand, oder?« Dem Akzent nach kam er aus den Midlands, und er war irritierend gut gelaunt. Er kniete sich nieder und untersuchte die Reifen. »Kann ich mal probefahren?« Ich muß mich benehmen. Ich hatte schon den letzten Typen umgelegt, der den Wagen hatte kaufen wollen und durfte mich nicht auch noch mit diesem streiten, sonst könnte selbst die Polizei hier vielleicht einen Trend wittern. »Das paßt mir jetzt eigentlich gar nicht, Doug. Es kommen noch andere Leute, die ihn sich ansehen wollen. Dann möchte ich hier sein ... Könnten Sie vielleicht morgen noch mal wiederkommen?« Er zog eine Schnute und saugte an seiner Unterlippe. »Dann ist er vielleicht verkauft«, sagte er. »Ach, ist auch nicht so wichtig.« Er klatschte in die Hände. »Aber den Motor kann ich sicher mal sehen?« »Natürlich.« Ich öffnete ihm die Motorhaube, und er schaute hinein. Sein aufgesetzt nachdenklicher Gesichtsausdruck, und wie er ziellos an ein paar Kabeln zupfte und mit einem Stift da und dort auf Metall klopfte, verriet mir, daß er keine Ahnung von Autos hatte. »Sieht alles gut aus«, sagte er, dann schaute er ins Wageninnere. »Ganz schön geräumig, was?« meinte er, setzte sich auf den Fahrersitz und fuhr mit den Händen rund um das Steuer. »Wie sieht's mit dem Kofferraum aus?« »Viel Platz.« »Darf ich mal gucken? In meinem Beruf ist das wichtig, ich habe oft viel Gepäck bei mir.« »Er ist zu.« »Sie haben doch die Schlüssel, oder?« Er lachte. »Nein, ich meine, er klemmt.« »Klemmt?« Er ging zum Kofferraum und versuchte, ihn mit den Fingerspitzen zu öffnen. »Das ist nicht gut, oder?« »Heute nachmittag kommt jemand, der das in Ordnung bringt. Wie gesagt, wenn Sie vielleicht morgen noch mal vorbeischauen . . . « »Sie wollen doch nichts vor mir verbergen?« »Wie bitte?« »Im Kofferraum?« »Was denn?« »Rost, oder Beulen . . . « Ich lachte. »Nein, nein, nein ... Es ist nur ... manchmal klemmt das Schloß eben, aber das laß ich ja jetzt in Ordnung bringen. Keine große Sache.« Doug dachte darüber nach. »Ich sag' Ihnen, was ich mache«, sagte er. »Ich schau' mir heute noch ein paar andere Autos an, und vielleicht finde ich ja eins, das mir gefällt. Wenn nicht, komme ich vielleicht heute abend noch mal vorbei. Wenn Sie ihn inzwischen verkaufen, dann habe ich halt Pech gehabt, was?« »Prima. Okay, Doug. War nett, Sie kennenzulernen.« Ich schüttelte ihm die Hand, dann wartete ich, bis er in seinen Wagen gestiegen war. Er winkte mir zu und fuhr davon. Ich sah ihm nach, bis er das Ende der Straße erreicht hatte, dann sprang ich in den Saab und fuhr in die entgegengesetzte Richtung. Richtung Chalk Farm, Richtung Carrie. Carrie wohnte in einer Sackgasse, in einem netten zweistöckigen Reihenhaus mit efeubewachsenen Mauern. Ich parkte davor, zum ersten Mal direkt davor, und ich betrachtete das als gutes Omen.
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Die Frau, die mir die Tür aufmachte, erkannte ich kaum. Sie war fett, aufgeblasen. Ihr Gesicht glänzte schweißig in der Hitze. Selbst ich erkannte, warum. Sie war hochschwanger. Das hatte ich nicht gewußt. Teufel, wie lange hatte ich sie nicht gesehen?« »Carrie«, sagte ich. »Wie geht's dir?« »Was willst du hier?« fragte sie kühl. »Ich lüg' dich nicht an«, log ich. »Ich dachte, ich komm mal vorbei und . . . « - ich guckte auf ihren Bauch und zog die Augenbrauen hoch - »... und schau mal, wie ihr miteinander klarkommt ... Das muß ja jetzt jederzeit soweit sein. Wann ist es soweit?« »Vor sechs Tagen hätte es kommen sollen.« »Ach so ... Vor sechs Tagen . . . « »Was willst du wirklich?« fragte sie. »Ich muß mir Geld leihen. « »Vergiß es«, sagte sie. »Nein, nein, nein«, erwiderte ich, stellte einen Fuß in die Tür und drücke sie vorsichtig auf. »Nicht viel, bloß einen Zehner, um den Tag zu überstehen. Sie haben mir das Portemonnaie geklaut.« Carrie begann zu weinen. »Was ist?« fragte ich. »Was habe ich getan? Was ist los?« »Nichts ... Bloß das hier.« Sie hielt ihren Bauch. »Ich bin so weinerlich. Tony ist bei einem Shooting in Aserbaidschan, und ich werde verrückt hier ohne ihn. Ich dachte, als ich dich sah, dachte ich . . . Du wußtest noch nicht mal, daß ich schwanger bin, oder?« »Nein.« Sie sah aus, als würde sie gleich zu Boden krümeln, also nahm in ihren Kopf und zog ihn an meine Brust, er fühlte sich heiß und feucht an. »Ist ja gut, komm schon, Carrie.« Vorsichtig schob ich sie zurück ins Haus und zog die Tür hinter mir zu. »Ist ja gut ... Blödes Timing. Tut mir leid. Ich gehe wieder.« Plötzlich packte sie meinen Unterarm. »Nein. Nein. Bleib, jetzt wo du schon da bist. Bleib.« Wir gingen ins Wohnzimmer, so eine neutraditionell erweiterte Geschichte, aber im Vergleich zu meiner Bude war es immer noch klein und vollgeproft. Carrie war In nendesignerin, zumindest bevor sie Kinder bekommen hatte, also sah alles tadellos aus, mit rausgebrochenen Wänden und ShakerMöbeln, bloß das in Plastikfarben leuchtende Kinderspielzeug verdarb den Eindruck. Auch eines meiner Objekte stand herum, ein niedriger Eisentisch, den ich ihr mal verehrt hatte. Auf einem Tablett darauf lag ein halbf ertiges Puzzle. Carrie hatte immer gern gepuzzelt. »Wo ist Jack?« fragte ich. »Mum geht mit ihm spazieren. Er hat mich wahnsinnig gemacht ... Sie hat mich auch wahnsinnig gemacht. Sie ist seit zwei Wochen hier ... Es ist überfällig. Zuerst dachte ich, ich komme schon alleine klar. Ich dachte, ich bin stark genug. Teufel, ich bin stark, aber meine Hormone sind völlig durcheinander . . . Ich bin . . . bloß . . . « Und dann fing sie wieder an zu weinen. »Wie geht's Jack?« fragte ich. »Kann er schon gehen? Wie alt ist er jetzt? Anderthalb? Zwei?« »Er ist vier.« »Vier? Echt? Na ja, du kennst ja mein schlechtes Gedächtnis.« »Du hast gar keines«, sagte Carrie bitter. »Wie bitte?«
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»Du kannst dich an die Dinge erinnern, an die du dich erinnern willst«, sagte sie. »Du kannst dir Wegabkürzungen in London merken und Cricket-Ergebnisse und jedes gottverfluchte Mitglied der verdammten glorreichen Sieben ... Bloß die wichtigen Sachen vergißt du, die Namen deiner Freunde und die Geburtstage deiner Familienmitglieder.« »Horst Buchholz und Brad Dexter«, sagte ich. »Wie bitte?« »Das sind die beiden, die keiner weiß. Ich meine, alle wissen, daß Steve McQueen und Yul Brynner und James Coburn mitspielte, aber . . . « »HALT DEN MUND!« Carrie heulte jetzt richtig. Ich nahm sie in die Arme und schaukelte sie sanft hin und her, über ihren Kopf hinweg schaute ich nach Puzzleteilen, die sich unterbringen ließen. »Und ... Aserbaidschan?« fragte ich. »Für ein Nachrichtenmagazin. Eine Zeitung . 0.? »Ein ModeShooting für Elle. Wintermäntel. Er sollte längst zurück sein, aber sie haben schlechtes Wetter. Nicht kalt genug. Im Wetterbericht haben sie gesagt, zu dieser Jahreszeit . . . « »Ich dachte, Tony hätte diesen Ghtzerkram aufgegeben«, warf ich ein. »Er hat's versucht, aber das Geld hat nicht gereicht. Ich hab' keine Arbeit gekriegt. Er mußte einfach weitermachen. Gott, es ist alles ein gottverdammter Alptraum. Wir sind pleite.« »Du hättest mich fragen sollen.« »Tony will das nicht. Ich will es auch nicht. Ich meine, Geld für Jack ist die eine Sache . . . « Ich sah verstohlen auf die Uhr. Zwanzig vor eins. Anderthalb Stunden hin, anderthalb Stunden zurück. Großer Gott, wenn ich so weitermache, konnte ich ihn auch gleich auf dem Friedhof in Watford verbuddeln. Das letzte, was ich jetzt brauchen konnte, war in Carries familienpolitische Probleme hineingezogen zu werden. »Was ist das für ein Puzzle?« fragte ich. »Was für ein Bild gibt das?« »Es ist so eine Sherlock-Holmes-Sache«, sagte Carrie und ließ mich los. »Da gehört ein Buch dazu.« Sie setzte sich hin und putzte sich die Nase. »Man muß das Puzzle zusammensetzen, dann muß man den Krimi mit Hinweisen aus dem Bild lösen.« »Klingt kompliziert.« »Mhm. « Stille breitete sich aus. »Hör mal«, sagte ich nach ein paar Wochen. »Ich geh jetzt besser.« »Ich hab' solche Scheißangst«, sagte Carrie leise. »Was? Ich mein', warum?« »Letztes Mal war es einfach, na ja, nicht einfach, es war das gottverflucht Grausamste, was ich je in meinem Leben geschafft habe, aber wenigstens wußte ich vorher nicht, was mir bevorstand.« »Wovon redest du?« fragte ich und schaute wieder auf meine Uhr, deren Sekundenzeiger gnadenlos rundherum tickte. »Es reißt dich in Stücke«, sagte Carrie. »Es reißt dir die Eingeweide raus. Es dauert ewig. Es ist das Schlimmste, was du dir vorstellen kannst.« »Und was ist mit dem Wunder der Geburt?« fragte ich.
»Das Wunder besteht darin, daß es Überlebende gibt . . . « Sie lachte wieder. »Hör mal«, sagte ich und klopfte ihr aufs Knie. »Ich leih mir bei jemand anderem Geld.« Sie schaute mich an.
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»Ich hab's, ehrlich gesagt, ein bißchen eilig«, sagte ich. »Ich weiß, du glaubst mir nichts*. « Ich mußte ganz ruhig bleiben, bloß für den Fall, daß jemand sie verhören würde ... Nein, er hat sich überhaupt nicht eigenartig benommen, er war genauso ein Arschloch wie sonst immer ... Ja, scheiß drauf, sie würde mir nicht trauen, wenn ich nicht nett zu ihr war. Ich mußte brüsk sein. Brutal. »Na ja, viel Glück, Schatz«, sagte ich und löste meinen Arm aus ihrem Klammergriff. Ich stand auf, sie griff nach mir und fiel zu Boden. Ich half ihr wieder aufs Sofa, sie keuchte und stöhnte wie jemand, der in einem Radiohörspiel umgebracht wird. Ich sah sie genauer an, etwas Nasses lief ihre Beine hinunter. »O Gott«, jammerte sie. »Es geht los . . . «
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3. Kapitel Ja, ein Leben wird brutal dem Ende zugeführt, ein anderes erreicht die Welt. Oh, große Scheiße. »Ich ruf den Krankenwagen«, sagte ich. »Den Krankenwagen?« Carrie kniete auf dem Boden, umklammerte ihren gewölbten Bauch und hechelte wie ein Hund. »Macht man das nicht so?« fragte ich. »Daß man jetzt einen Krankenwagen ruft?« »Nicht, wenn du einen gottverdammten Wagen hast.« »O nein, Carrie. Carrie, ehrlich, ich kann nicht . . . « »Willst du, daß ich es hier auf dem Fußboden kriege?« kreischte sie, dann begann sie zu wimmern und fing wieder an zu hecheln. »Bist du ganz sicher, daß es kommt?« fragte ich. »Daß es nicht bloß falscher Alarm ist?« Carrie stöhnte und schrie gleichzeitig. Ich schaute auf meine Uhr. Es war wirklich ganz und gar nicht mein Tag. »Schon gut, schon gut . . . «, sagte ich. »Ich bring dich rüber zum Royal Free, aber das war's dann.« Carrie sah mich an und nickte, sie brachte kein Wort heraus. »Hausschlüssel«, sagte ich. Sie zeigte auf den Tisch. »Und nimm meine Tasche«, sagte sie und deutete auf eine Reisetasche neben der Tür. Es dauerte Jahre, zum Wagen zu kommen. Carrie konnte vornübergebeugt immer nur einen kleinen Schritt nach dem anderen machen, sie hielt ihren Bauch, als hät te sie Angst, daß das Baby wie ein Alien aus ihr herausplatzen würde. Bei jeder Bewegung stöhnte sie und rang die ganze Zeit nach Luft wie jemand, der gerade aufgetaucht war, nachdem er den Kanal durchschwommen hatte. Ich legte einen Arm um sie, schob sie vorwärts und murmelte unsinnige Ermutigungen, obwohl ich im Grunde bloß laut und kraftvoll sagen wollte: »Jetzt mach schon hin, verstanden?« Irgendwann hatten wir es geschafft. Ich schnallte sie auf dem Beifahrersitz an, den Sicherheitsgurt ober- und unterhalb des riesenhaften Bauches. Dann fuhr ich wie ein Wilder Richtung Haverstock Hill, beinahe wünschte ich mir, daß die Bullen mich anhielten, damit ich ihnen erzählen konnte: »Sie kriegt ein Kind.« Mit Tatü Tata und Blaulicht würden sie uns begleiten! Aber ist das nicht immer so? Wenn man wirklich einmal wegen überhöhter Geschwindigkeit angehalten werden will, passiert das nicht. Immerhin half es gegen meine Anspannung, wie bei einer Verfolgungsjagd dahinzubrettern, quietschend die Kolonnen zu wechseln, bei Rot über die Ampeln zu fah ren, viel zu schnell - aber wie schnell ich auch fuhr, keiner kümmerte sich darum. Ich parkte irgendwie irgendwo, schweißte Carrie aus dem Wagen und verfrachtete sie durch die Türen ins Krankenhaus hinein. Dort rief ich dem Portier zu, eine Liege oder einen Rollstuhl herzuschaffen. Er nickte bloß und latschte davon. »Sie kippt gleich um! « rief ich ihm nach, aber er kummerte sich nicht um mich. Überhaupt schien eigentlich niemand, der hier arbeitete, zu begreifen, daß es sich um einen Notfall handelte. Wahrscheinlich hatten sie dauernd mit solchem Mist zu tun - hysterische Paare, die glaubten, ihr Baby würde in wenigen Sekunden auf den Boden knallen. Konnte das passieren? Teufel, woher sollte
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ich das wissen. Diese ganze Geschichte war mir äußerst rätselhaft. In Filmen sah es immer so aus, als brauchte man bloß etwas Heißwasser für die Frau und einen Haufen Zigaretten für den Mann. Nach einer Weile kam der Pförtner mit einem Rollstuhl zurück. Er pellte Carrie von der Säule, an die sie sich geklammert hatte, und dann rollte er sie davon, hinein in die Tiefen des Krankenhauses. Ich dackelte nebenher. Weil ich gar keine Wahl hatte; Carrie hielt meinen Arm mit stählernem Griff umklammert. Schließlich und endlich erreichten wir einen kleinen fensterlosen Raum mit einem einzelnen Bett darin. Irgendwelche Sachen standen herum und warteten auf ih ren Einsatz. Der Pförtner und ich hievten Carrie auf das Bett, ein kompliziertes Teil mit metallenen Schienen und Hebeln und Zugfedern. Ich muß sagen, aus professioneller Sicht gefiel mir das. Ich fragte mich, ob ich mal darüber nachdenken sollte, Möbel rauszubringen, die auf Krankenhaus-Design basierten: ein Entbindungsbett, einen Rollstuhl, einen Operationstisch ... Der Pförtner murmelte irgendwas und schlurfte davon. Wir waren allein. »Okay, Schatz«, sagte ich. »Es ist alles in Ordnung. Du bist in guten Händen. Ich geh' dann jetzt mal wieder, ja ...« Sie versenkte ihre Klauen noch tiefer in mein Fleisch und starrte mich finster an. Ich versuchte nicht einmal, mich loszumachen. Ich glaube auch nicht, daß es mir ge lungen wäre, ihren unnatürlichen, übermenschlichen Griff zu brechen, wenn ich es versucht hätte. »Carrie, wirklich, ich.** « Sie reagierte mit einem tiefen, tierischen Knurren, definitiv kein menschliches Geräusch, und krallte sich auch mit der anderen Hand an mir fest. Dabei starrte sie mich mit einem wilden, großäugigen Blick an, der mir Angst machte. »Carrie ... «, bettelte ich, aber es half nichts, sie war schon zu weit weg. Wie bei diesen halluzinogenen Drogen weilte sie auf einem anderen Planeten. Nach einer Weile kam eine schwarze Hebamme mit einer Brille wie Michael Caine und einer Aura von »Was soll der Unfug?« zusammen mit einer jungen Krankenschwester herein. »Schauen wir uns das mal an«, sagte die Hebamme und zog Carries Hose herunter. Sie fummelte ein paar Sekunden herum, dann änderte sich ihre Aura abrupt. »Herrje, meine Liebe«, sagte sie. »Jetzt geht es aber los.« »Das Baby kommt?« »Das Baby ist schon halb draußen«, sagte sie, und die Atmosphäre im Zimmer schlug vollständig um. Die Krankenschwester flitzte hierhin und dahin und schaltete irgendwelche Sachen an, und die Hebamme lief davon, kam aber einen Augenblick später schon mit ungefähr .. hundert anderen Leuten wieder zurück; Arzten, Krankenschwestern, Anästhesisten, HebammenAzubinnen, Zuschauern; fehlte bloß eine Servierdame, die uns Tee brachte. Augenblicke später war Carrie eingefettet und mit einem Haufen Strapse, Gürtel, Kabel und Leitungen gefesselt worden - ein Fest für Bondage-Fans. Derweil ver suchte irgendein geduldiger Buchhalter, ihr die Feinheiten zu entlocken. Carrie wiederholte immer wieder das Wort »Betäubung«, mit zusammengebissenen Zähnen, bis ihr die Hebamme erklärte, daß es dafür zu spät wäre. Worauf Carrie zu heulen begann. »Was soll das heißen, es ist zu spät?« schrie sie. »Gebt mir eine Spritze!«
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»Schon gut, schon gut«, sagte die Hebamme und tätschelte ihr die Stirn. »Gebt mir irgendwas! Irgendwas!« Die Hebamme gab ihr eine fiese schwarze Gasmaske, und Carrie drückte sie sich aufs Gesicht und atmete tief ein. Dabei lockerte sie für einen winzigen Augenblick ihren Griff. Ich versuchte, mich davonzumachen, aber schnell wie ein Tiger packte sie wieder zu und riß mich von den Beinen. Ich kippte aufs Bett, und sie versenkte ihre Zähne in meinen Unterarm. Ich schrie, aber es kümmerte sich niemand um mich, außer der Hebamme, die mich mütterlich anlächelte. Langsam dämmerte mir, daß Carries unglaubliches Benehmen keineswegs ungewöhnlich war. Glücklicherweise blutete ich nicht, aber ihre Zähne hatten sich schon tief in meine Haut gedrückt. Ich schaute hoch und auf die Uhr ... Zwanzig nach zwei. Bloß noch zweieinhalb Stunden, bis die Leute vom Observer kamen. Oh, Scheiße, Mister Kitchen mußte warten. Ich meine, immerhin gab es wirklich kein besseres Alibi. »Wo waren Sie am Tag des Mordes?« » Im Royal Free Hospital, Hampstead, bei einer Geburt, Mylord.« »Ich bleibe, Carrie«, sagte ich und versuchte männlich und fürsorglich zugleich zu klingen, wie einer dieser TVArzte. Sie lächelte mich schwach an, dann richtete sie sich halb auf, weil eine Schmerzwelle sie durchzuckte, und schlug mir dabei ins Gesicht. Immerhin bedeutete das, daß sie mich losließ. Ich taumelte rückwärts durch das Zimmer und stolperte über ihre Reisetasche. Da hatte ich eine Idee. Ich wühlte in der Tasche und suchte nach ihrem Portemonnaie. Das nützte nichts, in unserer Eile hatte sie es vergessen. Ich verfluchte mich, daß ich nicht früher daran gedacht und Geld gestohlen hatte, als Carrie zuhause abgelenkt war. Derweil beratschlagten die Leute am Fuße des Bettes irgend etwas. Irgend etwas lief offensichtlich nicht nach Plan. Zwei von ihnen wurden losgeschickt. Die anderen unterhielten sich leise und dringlich im Arztejargon. Carrie lag stramm im Bett, sie schwitzte und knurrte. »Wir haben hier ein kleines Problem, Schatz«, sagte die Hebamme. »O Gott. O Gott ... «, jammerte Carrie. »O Scheiße.« »Es wird alles gut, meine Liebe.« Die Hebamme strahlte und begab sich dann wieder zu den anderen, die Carrie zwischen die Beine glotzten. Jetzt kam ein neuer Arzt herein, ein junger Asiate, der diesen stets müden, irgendwie zerknitterten Ausdruck zur Schau trug, den alle Krankenhausärzte an sich zu ha ben scheinen. Ich nahm mal an, das hier war der Oberarzt. Er lächelte Carrie beiläufig an und stellte ein paar Fragen, während er ihr schon unters Kleid ging. »Das Baby will nicht rauskommen«, sagte er. »Ich dachte, es wäre schon halb draußen«, sagte ich. »Ist es«, sagte er. »Aber jetzt scheint es nicht weiterkommen zu wollen. Es hat einen sehr großen Kopf. Dummerweise ist es schon zu weit draußen für einen Kaiserschnitt, also müssen wir ihm ein bißchen helfen, okay?« Carrie brüllte irgendwas und packte mich an den Eiern.
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Ich schaute sie an. Sie war eine völlig andere Person und schien keine Ahnung zu haben, was sie da tat. Tränen traten mir in die Augen. Ich versuchte, ihre Finger aufzubiegen, aber sie klammerte sich immer fester an mich. »DU SCHWEIN!« brüllte sie mich plötzlich an. Ein Wortstrom ergoß sich aus ihrem Mund. »O großer Gott, du Schwein, ich hab's dir nie gesagt, ich hab' alles für mich behalten, Scheiße, alle Engländer sind Schweine. Ich hab' dir nie gesagt, was für ein Arsch du bist. Du rückgratloser selbstsüchtiger Schwanz. Mein Leben war im Arsch deinetwegen. Du, du nimmst nie etwas wichtiger, als was dir gefällt, aber ich bin fast krepiert, als ich Jack bekam, und du hast uns erst nach zwei Wochen besucht, und dann warst du betrunken und so zugekokst, daß du bloß wow gesagt und gekichert hast. Du hast ja überhaupt keine Ahnung ... Ich hasse dich so, du hast mein Leben ruiniert, und jetzt ist Tony weg, das Schwein. Warum verlassen mich bloß alle?« Ich konnte nichts sagen. Ich konnte nicht atmen. Aber wenigstens verstand ich jetzt die Worte hinter ihren Augen, die in der leuchtenden Neonschrift. Sie blinkten, sie gingen an und aus, und ich konnte sie deutlich lesen ... »DU« und »SCHWEIN«, an und aus, an und aus, an und aus ... Wie der Name einer miesen Kaschemme in einer der schlimmsten Ecken der Stadt. Ein Club, in dem es nur ein Mitglied gab: mich. Ich war Türsteher, Manager, Barkeeper und Kloputzer zugleich. Carrie redete weiter, ihre Stimme war jetzt heiser, sie flüsterte beinahe. »Als du weg warst, lag ich im Bett, und hab' mir Überlegt, wie ich dich umbringe - au - Gott, ich hab' das schon einmal erlebt, und diesmal bist du da, und es ist nicht mal dein beschissenes Kind. Wenn es ginge, wenn es irgendwie ginge, solltest du den Schmerz haben. All meinen Schmerz, großer Gott im Himmel, Scheiße. Ich bin der König im Affenstall ... O großer Gott, drei plus drei ist sechs, drei plus vier ist sieben, tief atmen, jetzt aber wenigstens bist du aus meinem Leben verschwunden, und ich habe Jack und Tony und dieses hier, wenn es jemals rauskommt. KOMM JETZT RAUS DU KLEINES DRECKSTÜCK! « Mit diesen Worten ließ sie mich los und schlug auf die junge Krankenschwester ein, die ihr gerade irgendein Gerät auf den Bauch hielt. Im folgenden Durcheinander packte ich die Maske und amtete eine Lunge voll Gas und Luft ein, bis mein Kopf nichts mehr spürte von dem grausamen Schmerz in meinem Unterleib. Dann sank ich auf die Knie und kotzte in einen Eimer. Trotzdem kümmerte sich keiner um mich. Der Anästhesist hatte sich damit beschäftigt, mit einer riesigen Spritze in Carries Unterleib zu pieksen, und der Oberarzt packte jetzt eine große Schere. Ich stemmte mich hoch und beobachtete, wie er zwischen Carries Beine trat und sich an die Arbeit machte. Mir wurde klar, daß er sie aufschnitt, schnipp, schnipp, schnipp, mit der Schere. Irgendwie hatte ich mir nie vorgestellt, daß eine Geburt so ablaufen würde; eine unselige und wahllose Mischung höchster
und
niederster
Techniken.
Eine
ekelerregende
Kreuzung
aus
Schlachthof
und
Forschungslabor. All diese schicken Monitore und blitzenden Geräte, das ganze teure Zeug, und der Arzt schnitt sie mit einer gottverdammten Scheißschere auf. Meine Hinrichtung Mister Kitchens war deutlich zügiger, sauberer und effizienter ausgefallen. Mir wurde klar, daß es viel einfacher war, jemandem das Licht auszublasen, als ihn auf die Welt zu bringen.
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Ich dachte daran, was ich über Geburten gelesen oder in Filmen und im Fernsehen gesehen hatte, ich dachte an all die Bemerkungen in Geschichtsbüchern, die Statisti ken, diese Verweise, daß jemand »im Kindbett gestorben« war, worüber ich noch nie richtig nachgedacht hatte; ich hatte mir einfach bloß kranke junge Mädchen vorgestellt, die noch nicht bereit dafür gewesen waren, aber jetzt war mir klar geworden, daß der menschliche Körper einfach nicht dafür gemacht war, Kinder zu bekommen. Das nächste Mal, wenn irgendein gottesfürchtiger Idiot versuchen sollte, mich zu überzeugen und die Wunder der Natur zu preisen ... Sie wissen schon: »Wie könnte es all diese perfekten Dinge geben, wenn es keinen Gott gibt?« Dann würde ich kontern mit: »Wenn Sie glauben, daß es eine perfekte Welt ist, waren Sie ganz sicher noch nie bei einer Geburt dabei, Mann! Ein Zweijähriger könnte sich etwas Vernünftigeres ausdenken - was weiß ich, einen beschissenen Storch, einen Stachelbeerbusch oder irgendwas. Es muß einfach eine bessere Möglichkeit geben als diesen ekelhaften Zirkus mit Sägezähnen und nacktem Grauen . . . « Der Oberarzt war jetzt mit Schneiden fertig und legte die blutige Schere in eine Metallschale. Eine Schwester reichte ihm etwas, das aussah wie ein Abflußreiniger an einem langen Rohr. »Wir versuchen es mit der Saugglocke«, sagte er und schob den Reiniger zwischen Carries Beine. Mein Gott, er versuchte, es rauszusaugen! Mit einigen Schwierigkeiten befestigte er den Sauger am Kopf des Babies, dann stellte er die Saugfunktion an und begann zu ziehen. Nichts passierte. Ein paar Minuten lang passierte nichts. Dann begannen sie wieder beunruhigt zu reden. Carrie war inzwischen ein jammerndes Bündel, sie plapperte unzusam menhängenden Unfug und weinte die ganze Zeit, während eine Krankenschwester ihr das Gesicht trockentupfte. Als nächstes ließ sich der Arzt eine Art Riesenlöffel geben, ungefähr sechzig Zentimeter lang, wie ein gigantischer Eislöffel, oder zumindest wie der stählerne Zwilling von einem. Er fettete das Ding ein und ließ es in Carrie hineinglitschen. Dann holte er sich noch so ein Teil und schob es an der anderen Seite hinein, bevor er die beiden Hälften zusammendrückte und damit eine Art Zange in ihr formte um den Babykopf herum. Leise sagte er etwas zu jemandem neben ihm und packte den Griff so fest, daß seine Knöchel weiß wurden. Er begann zu ziehen, zuerst vorsichtig, dann kräftiger und kräftiger; die Anspannung stand in seinem Gesicht, es wurde dunkel, und Schweiß perlte. Er stemmte ein Knie gegen das Ende des Bettes, er zog immer fester, seine Arme zitterten, die Muskeln waren deutlich zu sehen. »Großer Gott, Mann«, sagte ich. »Sie reißen ihm ja den Kopf ab. « Die Hebamme bedachte mich wieder mit einem ihrer kleinen Lächeln und schob mich ein Stück weiter weg. Alle anderen standen einfach nur da und beobachteten, wie der Arzt jetzt mit aller Kraft zog. Niemandem schien das merkwürdig vorzukommen, also mußte ich davon ausgehen, daß er wußte, was er tat, aber wenn das Baby mit einem Giraffenhals zur Welt käme, hätte mich das überhaupt nicht überrascht. Der Arzt legte eine kurze Pause ein, und die Krankenschwester tupfte ihm die Stirn trocken. »Alles in Ordnung«, sagte er. »Fast geschafft.« Die ganze Geschichte, von dem Augenblick an, wo wir im Krankenhaus angekommen waren, erwies sich als ein absolut erstklassiger Alptraum. Einer dieser Alpträume, in dem die Leute merkwürdige,
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schreckliche Sachen tun und dabei höflich lächeln, wobei man sich selbst aus irgendeiner geheimen Zeremonie ausgeschlossen fühlt. Als der Arzt wieder anfing zu ziehen, schlich ich mich näher heran. Zwischen den Löffelenden klemmte ein roter, matschiger Klumpen, wie ein feuchter Knödel. »Was zur Scheiße ist das?« fragte ich, und schon als ich es sagte, wurde mir klar, daß das der Kopf des Babies war. Ich sah zu, wie er ganz rausglitschte, gefolgt von ei nem weißen, schleimigen, sackartigen Dings, wahrscheinlich dem Körper. Und danach kam noch aller mögliche Schleim und Glibber. Augenblicke später war die Nabelschnur durchgeschnitten und abgeklemmt und das Baby von der Hebamme hochgenommen worden. Sie steckte ihm einen Schlauch in den Hals und schaltete ihn an. Ich konnte es hören. Tief drinnen in den Lungen des Kindes zischelte es saugend wie ein Strohhalm im Milchshake. Jetzt war plötzlich alles ruhig und friedlich. Der Doktor saß zwischen Carries Beinen und nähte in aller Seelenruhe mit einer großen Nadel und einem Faden. Die Krankenschwester machte den Schweinkram weg. Das war wirklich das absolut Bizarrste, was ich je gesehen hatte. Sie wogen das Kind, wickelten es in ein Laken und gaben es Carrie, die dumpf auf dem Bett lag, schweißnaß, erschöpft und benommen. Sie betrachtete das eklige kleine Biest, als hätte sie keine Ahnung, was das sein sollte, und machte auch keine Anstalten, es festzuhalten. Irgendwann nahm ich es hoch und schaute es mir an. Sein Kopf war von dem Saugnapf langgezogen und von den Eislöffeln an beiden Seiten eingedellt worden. Es sah überhaupt nicht menschlich aus. Obwohl ich gesehen hatte, wie es zur Welt gekommen war, konnte ich nicht wirklich glauben, daß dieses Wesen in Carrie gesteckt hatte. »Na also«, sagte der Arzt und legte Nadel und Faden beiseite. »Gute Arbeit, wenn ich das sagen darf. Beinahe unsichtbar.« Krankenschwester und Hebamme inspizierten die Naht und nickten bestätigend. »Da wird sie kaum die Stiche sehen können.« Der Arzt schüttelte mir die Hand. »Ich nehme an, Sie haben bereits entdeckt, daß es ein junge ist. Gratuliere«, sagte er und ward nicht mehr gesehen. Bald waren wir wieder allein. Ich hielt das Baby, Carrie weinte leise vor sich hin. Ich betrachtete den Mund des Kleinen, der auf und zu ging, seine kleinen Finger, die herumtasteten und das Laken umklammerten, und einen winzigen Augenblick öffnete es die blauesten Augen, die ich je gesehen hatte. Dann kam die Hebamme zurück und gab das Baby ganz sanft Carrie. Diesmal nahm sie es. Ich ließ die beiden allein und kehrte zu meinen Aufgaben zurück.
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4. Kapitel Es war vier Uhr durch, als ich das Krankenhaus verließ, und ich fühlte mich etwas eigenartig; heiß und trocken und kaputt. Ich stieg in den Saab, fuhr Richtung Belsize Park und wußte nicht recht, wie es weitergehen sollte. Das eigenartige Zwischenspiel im Kreißsaal hatte mich aus der Bahn geworfen. Es juckte mich überall, und ich fühlte mich, als hätte mir jemand Rollsplitt ins Gehirn gekippt. Das schlimmste aber war, daß ich fünf Stunden, nachdem ich ihn zu Tode gespießt hatte, Mr. Kitchen immer noch nicht los war. Er verweste immer noch in meinem Kofferraum, und ich war immer noch pleite. Ich hatte keine Möglichkeit, aus London rauszukommen. Das ärgerte mich. Das würde jeden ärgern. Ich meine, ist das fair? Daß mir dieser ganze Scheiß an einem einzigen Tag passierte? Man sollte sich nicht mit solchen Problemen rumschlagen müssen. Manchmal hat man einfach das Gefühl, daß es doch ganz nett wäre, wenn einen das Schicksal mal in Ruhe ließe, oder die Sterne, oder Gott, oder was weiß ich wer, damit man die Möglichkeit hätte, einfach mal seinen Kram geregelt zu kriegen. Alles, was ich von der Welt will, ist ein vernünftiges Heim, ausreichend warmes Essen, harte Drogen, weiche Frauen, ein netter Wagen, jede Menge Elektronik, ein paar anständige Anzüge, zwei, drei Urlaube im Jahr irgendwo im Warmen und ... Na ja, Sie wissen schon. War das etwa zuviel verlangt? Nein. War es nicht. Aber hatte ich die Möglichkeit, meine bescheidene Existenz ungestört fortzuführen? Nein. Hatte ich nicht. Anstatt in Frieden gelassen zu werden, wurde ich verarscht, ich taumelte ziellos umher, ich wurde herumgewirbelt wie eine dreckige Socke in der Waschmaschine. Womit hatte ich das verdient? Jemand schnitt mich, und ich drückte auf die Hupe, brüllte ihn an und führte mich auf wie eine bekackte Küchenschabe. Ich brauchte was zu trinken. Ein kaltes Bier und 'nen Whisky. Carrie hatte es nie gefallen, daß ich trank. Ich halte da gern die Balance, so ein leises Besäuseltsein auf niedrigem Level, damit man nur dann und wann auffüllen muß, aber bei Carrie war ich ins Tiefe geraten. Am Ende hatte ich mehr und mehr getrunken. Ich schätze, ich war vielleicht sogar kurz davor gewesen, Alkoholiker zu werden. Und es hatte nicht geholfen, das Bier, der Wein, der Sprit. Ich war einfach immer deprimierter geworden. Aber was meinen Sie, habe ich mehr getrunken, weil ich deprimiert war, oder war ich deprimiert, weil ich mehr getrunken habe? Als ich ging, hat sich das natürlich alles geändert. Ich hatte nicht länger das Verlangen, mich besinnungslos zu saufen. Ich kriegte mich wieder auf die Reihe. Wurde trocken. Ich hatte es jetzt unter Kontrolle, kein Problem, eine hübsche kleine halbe Flasche Whisky am Tag und vielleicht sieben oder acht Flaschen Becks. Teufel, ich war fast schon Abstinenzler. Ich hielt an einer Ampel, und ein goldfarbener Mini mit getönten Scheiben und allerlei Zierleisten stoppte neben mir. Im Innern des Wagens lief so laut ein Jungle Track, daß die Kiste ein einziger Lautsprecher zu sein schien. Die Vibrationen übertrugen sich sogar auf den Saab und brachten meine Zähne zum Vibrieren. Ich schloß die Augen und ließ mich von der Musik erfüllen. Ah, Gnade. Das war ein Summen und eine Hitze, das war ein warmes Bad für meine durchgeknallten Nervenenden. Der Sound war physisch, magisch. Er erschütterte
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mich, und die Dinge rutschten wieder dahin, wo sie hingehörten. Als es grün wurde, raste der Mini so schnell davon, daß ich keine Chance hatte, dranzubleiben. Ich hörte das Donnern des Basses die Straße entlang verschwinden, bis es mit den anderen Straßengeräuschen verschmolz. Musik. Das war die Antwort. Traurige Musik, elende Musik, romantische, sich im Selbstmitleid suhlende Musik. Ich brauchte den Blues, Country and Western, Hei matlieder, Edith Piaf. Ich brauchte jammernde Saxophone und flüsternde Streicher. Wenn ein Mann ganz unten ist, ist nichts besser geeignet als verzweifelte Musik, seine Laune zu bessern. Ich klickte die Blende in meinem Kassettenrecorder und knallte eine Kassette hinein. Eine elektrische Slide-Guitar krachte und jaulte und Elmore James jammerte: »The sun is shining ... « Er machte eine Pause. Die Gitarre holte einmal Luft und raste dann wie ein Stahlhammer herab ... »Although it's raining in my heart ... « Seine Stimme war hart und hoch und heiser, sie heulte wie seine Gitarre. » The sun is shining ... Although it's raining in my heart ...« Die Musik durchflutete mich, bis ich das weiße Licht der Klarheit erblickte und sich - PING - ein winziges Stückchen meines verschlafenen Gedächtnisses zurückmeldete. Mir fiel der Flachmann im Handschuhfach ein. Ich holte ihn raus und schraubte ihn im Fahren auf. Dann goß ich mir das schöne goldene Brennen in den Hals und grinste. »You know I love you, baybeeyaaaaarh!« Ich bekam eine Gänsehaut davon, wie das Wort zu einem Schmerzensschrei wurde . . . »And I don't, I don't know the reason why. « Der Whiskydampf stieg aus meiner Nase, und das weiße Licht blies durch mein Hirn, ich bekam wieder gute Laune und sang mit. So schlimm standen die Dinge gar nicht. Ich erinnerte mich an immer mehr. Zum Beispiel daran, daß ich nicht an Schicksal glaubte, oder an die Sterne, oder an Gott. Ich glaubte an überhaupt nichts von diesem Höhlenmenschen-Mummenschanz, nicht an Zeus, nicht an Isis, Shiva oder Beelzebub. An nichts davon, nicht mal an Glück. Glück oder Pech. Das konnte man alles in einen Sack stopfen und ertränken, mir war's egal. Jeden Abend betete ich. Ich bat Gott, mir die Gnade zu verleihen, nicht an ihn zu glauben. Ich glaubte nicht an Verschwörungstheorien, Kristalle, Hasenpfoten oder St. Christopher. Die Bibel, der Koran, das Tibetische Totenbuch, das Necronomicon, die Wetter vorhersage, das war alles bloß Doppelverglasung. Vergebliche Versuche, die Kälte abzuhalten. Wollen Sie wissen, was ich glaube? Ich glaube, daß Dinge einfach passieren. Und daher war es verdammt närrisch von mir, mich in Selbstmitleid und Wut über das Pech einer gemeinen und ungerechten Welt zu suhlen. Diese Sachen waren einfach passiert, und ich konnte mit ihnen umgehen. Lee Harvey Oswald hatte JFK erschossen, ich hatte Mister Kitchen umgelegt, und jetzt war es an mir, das Ding hinzukriegen. Yup. Und ich konnte es hinkriegen. Ich konnte damit umgehen. Ich brauchte bloß erst mal was zu trinken. Ich leerte den Flachmann, doch das hinterließ irgendwie ein hohles Gefühl in mir. Keine spirituelle Leere, verstehen Sie, kein hungriges Suchen der Seele, eher ein hungriges Suchen des Bauches. Immerhin hatte ich nichts gegessen seit dem Popcorn zum Frühstück.
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Selbst in meinen besten Zeiten esse ich nicht viel. Jemand hat mir mal gesagt, man kann essen oder trinken, aber wenn man mal versucht, beides zu machen, ist man am Arsch. Man schwillt an, man wird zu einem auf blasbaren Elvis. Normalerweise also hole ich mir meine Ernährung aus der Flasche, aber ob der Herausforderungen und Verwirrungen, denen ich heute ausgesetzt worden war, brauchte ich Extrastoff. Ich brauchte jetzt doch die Annehmlichkeiten richtigen Essens ... I had a dream, I had a dream one rainy night ... I was walking with my baby, and the sun was shining bright.« Am Straßenrand entdeckte ich einen italienischen Laden, der sich zum Sandwich-Shop gemausert hatte, und hielt an. Drinnen war es kühl und dunkel, und allein der Geruch des Essens machte mich schwach und schwindlig. Dicke Salamis hingen an der Decke, es gab regalweise Gläser und Dosen, Flaschen und Brote, diese riesigen Orangen und große gelbe Plastiktüten mit Trockenkeksen und eine große Glastheke mit Käse und öligen Oliven und kaltem Fleisch und Salat und . .. Na ja, Sie wissen bestimmt, wie's beim Italiener aussieht. Ich wartete ab, daß die Leute vor mir bedient wurden, und schließlich wandte sich der Italiener mir zu. Er war um die Vierzig, hatte dichtes schwarzes Haar und einen leidenden Blick. »Tomate mit Brie, bitte«, sagte ich. »Auf einer Ciabatta ...« »Brie ist alle. Tut mir leid.« »Dann nehme ich Salami und Frischkäse.« »Salami und Frischkäse?« »Bitte.« Er fing an, das Ding hinter seinem Tresen herzustellen, mit den eleganten, effizienten Bewegungen von jemandem, der den ganzen Tag nichts anderes machte als Sandwiches. »Wollen Sie Tomate und Gurke?« fragte er. »Was? Haben Sie auch keine Salami?« »Nein . . . Wollen Sie sie dazu? Es ist sehr schwer. « »Ach so, okay, Tomate ja, aber keine Gurke. Kann ich nicht leiden. « »Sie müssen's aber leichter machen. Das hilft der Verdauung, verstehen Sie?« »Wirklich?« »Ich verstehe ein bißchen vom Essen, wie es funktioniert. Das ist eine Wissenschaft, verstehen Sie? Die Kombination. Welches Essen mit welchem. Also, ich zum Bei spiel, wenn ich in ein Meeting wollte, würde ich dieses Sandwich nicht essen, es ist zu schwer. Ich würde ein bißchen Mineralwasser trinken, eine Banane essen, ein bißchen Salat, grünen Salat, verstehen Sie? Etwas Leichtes.« »Hören Sie«, sagte ich. »Ich will keinen Unterricht, ich will ein gottverdammtes Sandwich. Ich habe Riesenhunger.« Er zuckte mit den Schultern und machte weiter, schnitt das Brot entzwei, dann wickelte er es in Papier, bevor er es am Schluß in eine kleine Tüte stopfte. »Es ist ja Ihr Problem«, sagte er und gab es mir. »ja«, sagte ich. »Zwei Pfund achtzig«, sagte er. »Oh, Scheiße«, sagte ich und gab ihm die Tüte zurück. »Ich hab' kein Geld.« Er sah mich an. Ich fühlte mich heiß und müde. »Niemand anderes wird dieses Sandwich essen«, sagte er. »Nicht heute. jetzt muß ich es wegwerfen.«
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»Tut mir leid«, sagte ich, und er schaute mich einfach weiter an. »Gehen Sie raus aus meinem Laden, okay?« sagte er nach einer Weile, und das tat ich auch. Draußen keulte mir das Licht an den Kopf, und ich kniff die Augen zu, als ich in den Wagen kroch. Blitze in den Augen, Schmerz im Kopf. Was war bloß mit den Leuten los? Warum regen sich alle so übers Essen auf? Früher hat man einfach gegessen, und das war's. Frühstück, Mittagessen, Abendessen. Es sen. Man ißt, um zu leben. Es ist wie Atmen, es ist eine natürliche Sache. Aber heutzutage ist Essen nicht mehr einfach Essen. Es sind Mineralien und Vitamine und Kalorien und gesättigte Fette und ungesättigte Fette und mehrfach ungesättigte Fette. Es sind Kohlenhydrate und E-Werte und Kalorien und Ballaststoffe. Es ist Yin und gottverdammtes Yang. Essen ist heutzutage Medizin. Es bedeutet nicht mehr einfach kauen, schlucken, scheißen. Zum Gemüsemann zu gehen ist, als ob man in die Apotheke geht. Wie lange wird es noch dauern, bis wir uns unser Essen verschreiben lassen? Restaurants sind dann wie Krankenhäuser, .. mit Arzten als Köchen und Krankenschwestern als Kellnerinnen. »Operationstisch für vier Personen, Sir?« Teufel, man ist hungrig, man ißt. Reicht es nicht, daß die Menschheit Millionen von Jahren existiert, indem sie Fleisch ißt, Früchte, Fisch, Obst, Milch, Butter, Käse, Eier ... Essen halt. Das ist alles. Bloß gottverfluchtes Essen. Aber dann kommen die Wissenschaftler und die GesundheitsFreaks und die Weisen und die Kochbuchautoren und die Panikmacher und die elenden Grünen, und jetzt glauben wir alle, daß wir es so viel besser verstehen, aber das tun wir nicht; je mehr man weiß, desto weniger weiß man, und am Ende gibt's ein Problem: Alle glauben zu wissen, was sie tun ... Weil ich nichts zu Essen hatte, begleiteten mich diese Gedanken, bis ich heimkam. Als ich einparkte, schaute ich auf die Uhr am Armaturenbrett: 16.35. Mir blieben noch fünfundzwanzig Minuten, alles für die Leute vom Observer vorzubereiten. Ich machte so gut ich konnte sauber und verbarg alle Spuren von Drinks und Drogen. Stauraum war immer schon ein kleines Problem gewesen. Ich hatte die Wohnung so designed, daß sie aussah wie aus einem Film. Das machte sich gut, aber es gab kei ne verdammten Schränke. Alles war sehr elegant und minimalistisch und japanisch ... wenn es einfach so dastand, wenn alles an seinem Platz war, aber als ich versuchte, darin zu leben, wurde mir klar, daß ich ein paar entscheidende Irrtümer begangen hatte. Nur ein asketischer Mönch konnte den mangelnden Stauraum wirklich genießen. Man mußte als normaler Mensch nur einen einzigen Tag hier leben, und die Bude sah aus wie nach einem Wirbelsturm. Am Ende benutzte ich das Gästezimmer als Abstellkammer. Während also der Großteil der Wohnung makellos und ordentlich aussah, wie direkt aus einem Inneneinrichtungs-Magazin, war das Gästezimmer das Verlies des Höllenpfuhls. Es war eine stinkende, verrottende, ekelhafte Schlangenhöhle voller Müll, hoch vollgestapelt, reingeworfen, hin- und hergestoßen, jeden Augenblick konnte alles zusammenbrechen und jeden, der dort herumstand, auffressen. Das was das dunkle, geheimnisvolle Herz der Wohnung. Und jetzt vergrößerte ich das Durcheinander noch, indem ich alles dazu warf, was nicht gesehen werden sollte. Ich war fast fertig, als es klingelte. Ich betete, daß sie es nicht waren, weil ich mich noch nicht umgezogen und gewaschen hatte. Sie waren es nicht. Doug Fish war es.
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»Doug«, sagte ich durch die Sprechanlage. »Was wollen Sie?« »Wegen des Wagens.« »Ist verkauft«, sagte ich, zur Abwechslung dachte ich mal nach vor dem Reden. »Nein«, sagte er. »Da will jemand den Wagen knacken.« Ich rannte runter, drei Stufen auf einmal, und nach einer halben Sekunde tauchte ich wieder ins Sonnenlicht. Doug stand da mit einem uniformierten Mechaniker vom AA, der das Schloß am Kofferraum des Saabs untersuchte. »Ich bin grad' mal mit Alan vorbeigekommen«, sagte Doug, und der AA-Typ streckte mir die Hand hin. Ich schüttelte sie. Doug gab mir auch die Hand. »Wir haben uns einen anderen Wagen angeguckt«, sagte er, »Alan und ich, und dann hab' ich Alan gesagt: >Warum schauen wir nicht mal, ob der Saab noch zu haben ist?< Und gerade als wir um die Ecke biegen, sehen wir zwei Kids mit einem Schraubenzieher, die versuchen, ihn zu knacken. War doch ganz gut, daß wir gerade gekommen sind, oder?« »Wo sind die beiden?« fragte ich und sah mich auf der Straße um. »Oh, die sind abgehauen, als sie uns gesehen haben.« »Ist nicht viel passiert«, sagte Alan. »Sie haben den Lack `n bißchen verkratzt. Ihr Radio haben sie drinnen gelassen. Hinter dem waren sie wahrscheinlich her.« »Hab' ich vergessen«, sagte ich und schloß die Fahrertür auf. »Ich war in Eile.« »Was ist mit dem Kofferraum?« fragte Doug. »Klemmt immer noch, tut mir leid.« Ich hebelte die Blende vor dem Radio los und steckte sie in die Tasche. »Der Typ, der das Schloß heil machen soll, war noch nicht da.« »Trotzdem haben Sie ihn verkauft, echt?« Doug schüttelte den Kopf. »Mit `nem klemmenden Kofferraum ... Und jetzt ein Kratzer.« Er runzelte die Stirn. »Vielleicht müssen Sie ein bißchen runtergehen, oder?« »Ja, vielleicht.« »Für wieviel haben Sie ihn verkauft? Vielleicht kann ich ein besseres Angebot machen.« »Abgemacht ist abgemacht, tut mir leid«, sagte ich. »So ist das im Leben, nicht wahr? Sind Sie ganz sicher, daß Sie nicht wollen, daß Alan Ihnen den Kofferraum aufmacht? Er kennt sich echt gut aus mit Autos.« »Nein, ehrlich, Doug. Ist schon okay. Der Typ, dem ich ihn verkauft habe, schien das nicht so wichtig zu finden.« »Jetzt bin ich neugierig. Was ist denn in dem Kofferraum?« »Bloß ein paar Golfschläger.« »Na, egal. Hören Sie, wenn es doch nicht klappt, rufen Sie mich an, ja?« »Aber sicher, Doug. « Schließlich verpißten sich Doug und Alan, und ich hatte ein Problem mehr. Konnte ich es riskieren, Mister Kitchen im Wagen liegenzulassen? Was, wenn die Diebe wiederkamen? Was, wenn Doug mit Alan wiederkam und den Kofferraum aufmachte? Was, wenn ... Ich weiß, ich wurde paranoid, aber wäre Ihnen das nicht auch so gegangen? Wenn Sie eine Leiche im Wagen liegen haben? Und nachdem mein Tag bisher so gelaufen war? Ich sah mich um, niemand zu sehen, dann öffnete ich den Kofferraum und zerrte Mister Kitchen raus, der immer noch in den Teppich eingewickelt war.
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Es war ja schon anstrengend gewesen, ihn die Treppe runterzuschleppen, aber es war noch anstrengender, ihn wieder raufzuschleppen. Als ich ihn endlich in der Woh nung hatte, war ich fertig, und außerdem dreckig von dem Staub, der aus dem Teppich gerieselt und auf meiner schweißigen Haut festgeklebt war. Und jetzt mußte ich ihn irgendwo verstecken. Ich konnte ihn nicht in das Gästezimmer packen, selbst wenn ich gewollt hätte, es sei denn, ich würde ihn von innen gegen die Tür lehnen und riskieren, daß er rausfiel, sobald jemand die Tür aufmachte. Nein, irgendwo anders. Ich schaute mich um, und dann sah ich Big Charlie. Ich gebe meinen Designer-Stücken immer Namen, wenn ich an ihnen arbeite, und Big Charlie war ein später abgelehnter Prototyp für eine große freistehende Licht Einheit. Little Charlie stellte die kleinere Version dar, die tatsächlich produziert wurde, weil sie ein bißchen praktischer schien. Big Charlie war im Grunde eine sich verjüngende, insgesamt gut zwei Meter hohe Röhre aus gebürstetem Stahl, deren Ende schräg abgeschnitten war, wie bei einem alten Kohlenkasten. Das Ding leuchtete nach oben, und kleinere Löcher in den Seitenwänden ließen ebenfalls Licht heraus. Das Objekt war viel zu groß für die Wohnung, aber ich hatte es erstmal stehenlassen, weil ich mich nicht hatte entscheiden können, was ich damit anstellen sollte. Na ja, nun konnte ich das Teil endlich mal brauchen. Als Sarg auf Zeit. Ich kippte das Rohr um und riß die Beleuchtungsanlage heraus, dann rollte ich den Teppich aus. Mister Kitchen hatte in das Laken geleckt. Es war an einigen Stellen dunkelrot und feucht. Sein Körper war immer noch warm. Bei der Hitze wunderte mich das nicht. Ich zerrte ihn auf den Plastiktüten über den Teppich und wuchtete ihn in Big Charlie rein. Es war ein bißchen eng, aber ich konnte ihn reinquetschen. Das Rohr stand auf einem soliden Fuß, also konnte er am anderen Ende nicht rausrutschen, als ich das Ding wieder aufstellte und vor die Wand schob. Abgesehen von dem ganzen Dreck war ich jetzt auch noch blutverschmiert, also rannte ich ins Badezimmer, riß mir die Klamotten vom Leib, schmiß sie in die Waschkis te und duschte. Als ich mich hinterher abtrocknete, schaute ich auf die Uhr. Fast fünf. Ich rannte die Treppe zu meinem Schlafbereich hoch und zog mich an. Fünf Minuten später, als es wieder klingelte, war ich bereit; cool und elegant in einem cremefarbenen Leinenanzug mit grauem Hemd und einem neuen Paar brauner Segelschuhe. Ich fand, daß ich angemessen lässig und entspannt aussah, und das beruhigte mich. Alles lief bestens. Als ich die Treppe von der Galerie wieder hinunterging, entdeckte ich den Teppich mitten auf dem Boden, mit Flecken von Kitchens Blut. Schnell stellte ich noch ein Tischchen darauf und ging dann zur Tür. Sie waren zu fünft. Die erste, die etwas sagte, war eine niedliche, schwarzgekleidete Frau mit kurzem, rotem Haar, die sich als Nikki vorstellte. Ich hatte ein paarmal mit ihr telefoniert, und sie sah genauso aus, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Sie machte mich mit den anderen bekannt. Einem Fotografen, seinen zwei Assistenten und einer Maskenbildnerin.
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Der Fotograf war ein großer Wikinger namens Dieter. Er war tiefbraun, verfügte über eine Mähne goldenen Haars, trug Shorts und ein weißes T-Shirt. Sein Akzent war dem meinen nicht unähnlich. Die Namen seiner beiden Assistenten, eines gequält dreinschauenden Jungen und eines australischen Mädchens, vergaß ich sofort, genauso wie den Namen der Maskenbildnerin. Wir ließen die beiden Assistenten Dieters Flugzeugkoffer hereintragen, und ich bot etwas zu trinken an. Dieter bat um ein Mineralwasser, und die Maskenbildnerin wollte Tee, aber glücklicherweise war Nikki bereit, mir bei einem Bier Gesellschaft zu leisten, was mich freute, weil ich nicht gern allein trinke. Während ich die Getränke holte, sah Dieter sich um und nickte. Besonders bewunderte er das Licht, das durch die großen Fenster im Dach hereinfiel, und außerdem wußte er schnell, was er fotografieren wollte. »Okay«, sagte Nikki und trank ihr Becks aus der Flasche. »Wir sehen einfach, wie es läuft, schätze ich. Sollte nicht allzu schwierig sein.« Die beiden Assistenten waren damit beschäftigt, Kameras und Stative, Lampen und Gott weiß was noch alles auszupacken, während Dieter mit seinem Belichtungsmesser umherstreifte. Ich kippte mir das Bier rein, als würde %es mir das Leben retten, und dann sprach ich kurz mit der Maskenbildnerin darüber, was sie wollte. Sie war bloß da, um irgendwelche Flecken auf der Haut wegzumachen und mich in dem ganzen Licht einigermaßen normal aussehen zu lassen. Also setzte ich mich auf einen meiner Kuchenstühle, während sie um mich herumwirbelte. Nikki hatte derweil ihre Riesentasche geöffnet und einen winzigen Recorder herausgeholt. Sie fummelte ein Weilchen daran herum, dann stellte sie ihn neben mich. »Okay«, sagte sie. »Wie lange wohnen Sie schon hier?« »Vielleicht zwei Jahre, oder drei ... Ich weiß nicht genau. Ich kann das für Sie nachschlagen, aber Daten und Zeiten und solche Sachen sind nicht meine starke Seite.« »Ich schreib einfach zwei Jahre.« Sie lächelte mich an. »Es ist eigentlich auch nicht wichtig, oder?« »Nicht wirklich. « Ich erzählte ihr noch ein paar Details, und sie machte Notizen auf einen kleinen Block. Denjenigen unter ihnen, die die Rubrik »A Room of My Own« nicht kennen, wer de ich das kurz erklären. Die Rubrik gibt's im Observer in unregelmäßigen Abständen schon seit ewigen Zeiten; sie besteht aus einem großen Foto von dem Zimmer von irgend jemand.. wobei dieser irgend jemand stolz in der Mitte sitzt. Und dann packen sie jedes wichtige oder sentimentale Teil, das zur Hand ist, mit rein. Ich schätze, die Idee dahinter besteht darin, daß dieses Zimmer und die Sachen, die darin herumstehen, den Mann - oder die Frau -, die vorgestellt werden, erklären. Ich weiß nicht, ob das stimmt, aber es war eine verdammt gute Publicity, und ich hatte vor, jede Menge meiner eigenen Objekte gut zu plazieren. »Und Sie sind fünfunddreißig, oder?« fragte Nikki und kritzelte auf ihren Block. »Fast sechsunddreißig«, sagte ich. »Nächste Woche habe ich Geburtstag. »Na, dann schon mal im voraus herzlichen Glückwunsch.« Nikki lachte. »Dann schreib ich besser sechsunddreißig ...« Ich schaute zu, wie Dieter das lange Sofa besser ins Licht rückte. Die Bluttropfen darauf schienen von innen heraus zu leuchten, aber natürlich fielen sie ihm nicht auf, oder wenn doch, waren sie ihm egal.
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Auch die Flekken auf dem Teppich, die deutlich zu sehen waren, weil Bill oder Ben den Tisch weggetragen hatten, bemerkte niemand. »Okay«, sagte Nikki. »Und Sie sind ... Was sind Sie? Bildhauer? Möbelbauer? Designer? Wie bezeichnen Sie sich selbst?« »Ich bin das alles«, sagte ich. »Was soll ich schreiben?« Ich zuckte mit den Schultern. »Was steht in Ihrem Paß?« fragte Nikki. »Student«, sagte ich. »Es ist ein alter Paß.« »Wo waren Sie auf dem College?« »Cambridge, ungefähr fünf Minuten lang. Wir mochten einander nicht sehr.« »Und danach haben Sie angefangen, Möbel zu bauen?« »Irgendwann. Nach dem üblichen närrischen und ziellosen Umherwandern junger Menschen, den Fluchten, dem Verstecken vor der Gnadenlosigkeit der wirklichen Welt. Ich habe Tischlern und das Arbeiten mit Metall im Kibbuz gelernt. « »Wollten Sie das schon immer machen?« »Nun, das ist ganz witzig ... Ich weiß noch, als Kind, da waren wir mal in Urlaub in Frankreich ... Dad nahm uns mit in ein Museum nach Rouen. Le Secq des Tournel les. Ein Typ namens Henry Rene d'Allemagne hat da alle möglichen Eisenarbeiten aus der ganzen Welt gesammelt. Ich schätze, die meisten Kinder hätten sich zu Tode gelangweilt.« »O Gott, ja, wie langweilig«, meinte Nikki. »Aber es ist nicht langweilig«, sagte ich. »Das ist es ja. Zu arbeiten, Dinge zu produzieren. Das interessiert niemanden mehr, in der Industrie nicht, die Ingenieure nicht, aber trotzdem sind das faszinierende und wichtige Sachen.« Ich konnte die Jalousien hinter ihren Augen heruntergehen sehen, aber ich hörte nicht auf. Der Tod des Handwerks war ein Steckenpferd von mir. »In Le Secq des Tournelles habe ich mich infiziert«, sagte ich. »Ich wollte wissen, wie diese Dinger gemacht werden. Wer sie gemacht hat. Dort gab es eine ganze Welt aus Metall. Es waren so schöne Sachen. Fein ziselierte islamische Gegenstände, schwere mittelalterliche Rüstungen, Kühlergrills, Türgriffe, Messer, Türen. Metall, Eisen, Stahl ... Man kann darauf herumhämmern und es einschmelzen und es in Formen gießen und biegen und schneiden und hineinschlagen. Man kann kleine Schmuckstückchen daraus machen oder gigantische Schiffe. Nach diesem Urlaub habe ich, glaube ich, nicht viel daran gedacht, bis ich in Israel war. Im Kibbuz dort gab es diesen alten Mann, Haim, der hatte einen kleinen Ofen, und er hat Sachen geschmiedet, und da hat irgendwas geklickt, und ich war süchtig . . . « »Und als Sie dann zurückkehrten nach England haben Sie angefangen, damit Ihren Lebensunterhalt zu verdienen?« »Ja. Zuerst habe ich Einzelstücke gemacht. Den Leuten schienen sie zu gefallen, also fertigte ich größere Sachen. Einbau-Einrichtungen würde man das wahrscheinlich nennen, und dann sind richtige Einrichtungsserien daraus geworden - Läden, Büros, Apartments.« »Sie haben Regale angebracht und sowas?« »Einfach alles ... Türen, Möbel, Kamine, komplette Installationen ... Alles Maßarbeit. Aber auch um die anderen Sachen hab' ich mich gekümmert. Die Teile, die Objekte, mir fällt kein besseres Wort ein ...«
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»Wie das da drüben ...?« Nikki zeigte hinüber zu Dieter, der den Kerzenleuchter neben das Sofa stellte. »Ja«, sagte ich mit trockenem Hals. »So was in der Art.« Würde er das Blut an der Spitze bemerken? Vielleicht sah es aus wie geschmolzenes Wachs ... Ich konnte nichts tun. Die Maskenbildnerin malte mich an, und Nikki stellte mir blöde Fragen. Ich mußte dasitzen und hilflos zusehen, wie die Beweisstücke meines Verbrechens für ein hübsches Shooting arrangiert wurden. »Was genau ist das?« fragte Nikki. »Ein Kerzenhalter.« »Sieht aus wie eine Waffe.« »Ja, tut er wirklich. Vielleicht sollte ich ihn doch wieder ins Programm nehmen.« »Wie meinen Sie das?« »Letzte Weihnachten - ist Ihnen das nicht aufgefallen? - da hatten wir das Jahr der Kerze. Dieses Jahr wird es noch mehr davon geben. Sie sind das absolute Trend geschenk geworden; Kerzen, Kerzenhalter, Kerzenleuchter, sogar richtige Lüster. Es gibt sie einfach überall. Ich schätze, das liegt daran, daß sie heutzutage im Grunde völlig nutzlos sind, also sind sie das ideale Geschenk . . . « Ich plapperte vor mich hin, der Wortwasserfall verbarg meine Angst. »Ist das ihre Hauptbeschäftigung, mittlerweile?« fragte Nikki. »Kerzenhalter und sowas machen?« »Ich habe drei Hauptlinien. Die Inneneinrichtungen, die Einzelstücke, die ausgestellt werden . . . « »In Galerien?« »Ja, könnte man so sagen. Auf dem Kontinent nennt man sie immer noch Galerien. Im Grunde sind das bloß teure Läden. Und dann sind da meine Serienprodukte; billigeres Zeug, Massenherstellung. Na ja, nicht Massen ... und auch nicht billig, nicht wirklich. Aber Sie wissen, was ich meine?« »Wie der Stuhl mit der T-Lehne?« >ja, Stühle, Tische . . . und auch kleinere Dinge . . . Lampen, Wohnzimmereinrichtungen, Küchensachen ... « »Eine Freundin von mir hat einen Ihrer Kaffeekocher, um den habe ich sie immer beneidet«, sagte Nikki. »Ich kann Ihnen einen zum Einkaufspreis besorgen, wenn Sie ganz nett zu mir sind«, sagte ich, und sie schaute mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. An jedem anderen Tag hätte ich versucht, sie flachzulegen. Seit ich Carrie losgeworden war, hatte ich mir jede Menge völlig bedeutungsloser, aber ganz unterhaltsamer Nummern reingezogen, eine Abfolge hohlköpfiger Mösen, die nicht mal klug genug waren, mir die Tür in meine gierige Fresse zu schlagen. Mit der niedlichen Nikki in die Kiste zu springen war eine nette Vorstellung. Aber heute hatte ich andere Dinge im Kopf. »Entschuldigung«, sagte ich, weil ich ihr nicht zugehört hatte. »Sie haben den Empfangsraum für TV-TV gemacht, oder?« »Ja, und ihren Sitzungsaal.« »Fantastisch.« »Vielen Dank. Aber ehrlich gesagt, mit solchen Sachen gebe ich mich nicht so oft ab, das ist ja richtig Arbeit. Ich konzentriere mich mittlerweile auf ein oder vielleicht zwei große Inneneinrichtungen im Jahr. Im Augenblick laufen die Dinge gut für mich. Mit meinen eigenen Läden . . . « »Wieviel haben Sie jetzt?«
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»Sieben, aber ich stehe kurz vor dem Abschluß eines Deals mit irgendwelchen Japsen, und dann geht's richtig los. Wir reden hier über die Weltherrschaft.« »Sie stehen in dem Ruf, daß es nicht ganz einfach sei, mit Ihnen zu arbeiten?« »Wirklich?« »Ja, Sie sind unglaublich patzig zu Ihren Kunden.« »Ich bin bloß ehrlich, meine Liebe. Ich kann Schwachköpfe nicht ausstehen. Ich finde, bei Geschäften spart das jede Menge Zeit. Und ich habe den Eindruck, daß wirklich ernsthafte Leute mich dafür auch respektieren.« »Ja, ich hab' auch schon gehört, daß Ihre Klienten mittlerweile sogar beleidigt sind, wenn Sie nicht patzig sind. Man ist halt jemand, wenn man von Ihnen beleidigt wurde ...« »Bestimmt. Aber was hat das mit >A Room of My Own< zu tun?« »Tut mir leid, eigentlich nichts«, lachte sie. »Also, was für Objekte wollen Sie auf dem Bild haben?« »Das muß drauf«, sagte Dieter und schlug mit der Hand gegen Big Charlie. »Irres Teil. Was ist das?« »Das ist nicht wichtig. Das schmeiß ich sowieso raus ... Und es ist zu schwer, wir können es kaum bewegen ...« »Mann, das wird irre auf dem Bild aussehen.« Er pfiff die Assistenten heran, die das Teil über den Boden schoben. Die ganze Zeit erwartete ich, daß Dieter irgend et was sagte wie: »Das Ding wiegt 'ne Tonne. Was haben Sie da drin? Eine Leiche?« Ich war zu zittrig, noch länger sitzen zu bleiben, also fragte ich die Maskenbildernin, ob sie zufrieden wäre, und ging dann mit Nikki durchs Zimmer, nahm Sachen zur Hand und erklärte, was es mit denen auf sich hatte. Ich achtete darauf, so viel Zeug wie möglich in das Bild zu knallen, um von den belastenden Teilen abzulenken. Also bewegten wir Stühle, Schilder, Bilder, Skulptu ren ... jeden überflüssigen Dreck, jedes Artefakt und Urlaubssouvenir in der Wohnung. Aber das reichte , trotzdem nicht. Mir waren die sichtbaren Uberreste meines Kampfes mit Mister Kitchen nur allzu bewußt. »Das gefällt mir«, sagte Nikki und zeigte auf ein Stahlblech, das an der Wand hing. »Kann man das abnehmen?« »Klar.« In den Stahl war ein Gedicht gefräst. »Wie haben Sie das gemacht?« fragte Nikki und fuhr mit dem Finger die Worte nach. »Mit einem Laser«, sagte ich. »Ein Freund von mir braucht das Blech für die Herstellung feinmechanischer Werkzeuge. Er hat mir das Ding vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt.« »Was ist das für ein Gedicht?« »Es ist von Stephen Crane«, sagte ich. Nikki verstand nicht. »Er hat The Red Badge of Courage geschrieben.« Sie hatte immer noch keine Ahnung. »Es ist aus einem Stück namens >The Black Riders<.« Nikki las laut vor. »In der Wüste sah ich ein Wesen, nackt, ein Tier, das, kniend auf dem Boden, sein Herz in seinen Händen hielt und davon aß. Ich fragte: >Ist das gut, mein Freund?< >Es ist bitter, bitter<, antwortete er; >aber ich mag es,
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weil es bitter ist, und weil es mein Herz ist.<« Sie lächelte. »Nettes kleines Ding ... Dieter, kriegen wir das drauf?« »Klar.« Dieter beauftragte die Assistenten, das Stahlblech herzuholen und setzte mich auf das Sofa. Da saß ich dann, der Herrscher über alles, was mir gehörte. Der König in seinem Schloß, der Hund in seiner Hütte, der Narr in seiner eigenen Scheiße. Und während der Wikinger herumtanzte, mit seinem Belichtungsmesser spielte, irgend etwas von hier nach dort stellte, durch seine Kamera schaute und die Schärfe einstellte, auf das kleine Treppchen stieg, das er mitgebracht hatte, wieder herunterkletterte, sein Stativ höher und niedriger schraubte, konnte ich immer bloß an Carries KrimiPuzzle denken. Das hier würde ein gutes Bild für die Ohrensessel-Schnüffler werden, nicht wahr? Der Mörder sitzt da, umgeben von den Werkzeugen seines blutigen Verbrechens. Ja, Leute, die Hinweise sind alle da, ihr müßt sie nur finden. Die Pflaster auf den Knöcheln des Mörders. Sind sie vielleicht Beweis für den Kampf mit dem Opfer? Und was ist mit diesem großen Stück zerbrochener Flasche, das der Killer beim Aufräumen übersehen hatte und das jetzt glitzernd unter einem niedrigen Tischchen liegt? Und dann die Sonnenbrille auf einem Couchtisch? Gehört sie dem Opfer, hat es sie im Kampf verloren? Oh, und diese roten Flecken auf dem Sofa, könnte das vielleicht Blut sein? Und ist da nicht noch mehr Blut auf dem Teppich? Und was ist mit diesem garstig aussehenden Kerzenhalter neben dem Sofa? Gibt's da nicht vielleicht noch mehr Blut verschmiert auf der Spitze? Könnte das vielleicht sogar die Mordwaffe sein? Und hat's mit dem dunklen Ding in dem hohen Metallzylinder auf sich? Man kann es durch die Löcher hindurch gerade noch sehen ... Könnte das die Leiche des Opfers sein? Nicht gut genug versteckt? Mein Gott! Das ist es! Es ist der Tote, die Leiche, Beweisstück A: Mister Kitchen. Ja, meine Damen und Herren, der Mörder war zu arrogant, zu frech, er hat gehofft, die Polizei mit diesem Foto hereinzulegen, aber Inspektor Dom war zu clever für ihn ... »Und Cheese«, sagte Dieter, und ich grinste wie der Idiot, der ich war.
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5. Kapitel Die Zeitungsleute waren weg, und ich versuchte, das Zittern abzuschütteln. Alle Systeme runterfahren und neu starten. Ich holte meinen Rest Koks raus, um mich ein bißchen frisch zu machen. Die Vorräte wurden langsam knapp. Ich hackte die Reste und schob sie zu zwei fetten Lines zusammen. Die saugte ich mir rein und machte dann noch ein Bier auf, kippte mir das kalte Fizzelzeug in den Hals. Anschließend legte ich Lester Bowie auf, zundete mir eine Marlboro Light an und dachte über meine Möglichkeiten nach. Es war kurz vor sieben. Ich hatte eine Leiche und eine Mordwaffe, die ich loswerden mußte, und immer noch kein Geld. Morgen würden die Banken geschlossen ha ben, vor Montag hatte ich keine Chance. Ersatzkarten zu kriegen. Entweder mußte ich mir Geld leihen, oder bis dahin durchhalten. Selbst wenn ich mir was lieh, würde es noch eine Weile dauern, bis ich die Stadt verlassen konnte. Ich würde durch die Dunkelheit torkeln und wahrscheinlich auffallen. Außerdem hatte ich keine Drogen mehr, Hirnnahrung. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin kein Süchtiger, aber in Zeiten wie diesen brauchte ich alle Freunde, die zur Verfügung standen, und Puder und Pillen sind manchmal die besten Freunde, die ein Mann haben kann; sie antworten nicht, sie stellen keine Fragen, und man schuldet ihnen keine Gefälligkeiten. Ich fand die Situation verdammt anstrengend, und insofern war eine verdammt gute Medizin durchaus angemessen. Meine Nachladung würde mich durch die nächsten paar Stunden bringen, aber wenn ich dann nicht neuen Stoff hatte, konnten sich in mein Leben Probleme ein schleichen. Als allererstes mußte ich jetzt den Kerzenständer entsorgen, und danach hatte ich vor, mich um zwei Dinge zu kümmern: 1) Drogen besorgen, die mir halfen, London zu verlassen. 2) Durch die Clubs ziehen, bis ich jemanden traf, dem ich ein bißchen Geld aus dem Kreuz leiern konnte. Dann brauchte ich nur noch die Nacht durchzuhalten und mich morgen früh in alter Frische Mister Kitchens Problemen anzunehmen. Na gut, das war immerhin so eine Art Plan, nicht wahr? Es gab eine Reihenfolge und sowas. Man konnte mir jedenfalls nicht vorwerfen, den Stier nicht bei den Hörnern zu packen. Den Kerzenhalter loszuwerden war einfach; wie gesagt, in meinem Atelier in Battersea gab es einen Hochofen, in dem das Ding ohne Schwierigkeiten schmelzen würde. Adrian, mein Dealer, wohnte nicht weit von dort, in Vauxhall, also konnte ich hinterher noch zu ihm fahren. Sehen Sie? Es war vernünftig. Die ganze Sache war logisch durchdacht. Daran erkennt man einen guten Plan. Ich wählte Adrians Nummer und hörte mir seine Anrufbeantworter-Ansage an. »Hallo, Sie haben bei Adrian Weeks angerufen. Leider kann im Augenblick niemand ans Telefon gehen, aber wenn Sie Ihren Namen und Ihre Nummer hinterlassen, rufe ich umgehend zurück.« Das mußte nicht unbedingt bedeuten, daß Adrian nicht da war. Er ließ den Anrufbeantworter immer rangehen, um die Anrufe zu screenen. Nach dem Piepton sprach ich also langsam und deutlich und erwartete im Grunde, daß er den Hörer abnahm. Tatsächlich war ich mit meiner Nachricht noch nicht weit gekommen, als er sich meldete. »Hallo?«
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»Hallo, Adrian. Ist es okay, wenn ich vorbeikomme?« »Yep. Ich bis neun da. Oder wenn du mir sagst, was du willst, können wir uns auch später treffen.« »Nein, ich komm und hol's mir gleich. Oh, und ... Adrian?« »Yep?« »Ich hab' kein Geld. Mir hat so'n Arsch den Geldbeutel geklaut. Ist es okay, wenn ich's dir schulde?« »Yep. Klar. Kein Problem.« »Ich bin in ungefähr einer Stunde da«, sagte ich, und Adrian legte auf. Mir ist ja klar, was Sie jetzt denken: Wenn ich einen Haufen Drogen auf Kredit kriegen kann, warum konnte ich mir dann nicht auch Asche von Adrian borgen? Na ja, man kann Drogen auf Kredit kriegen, wenn man eine gute Beziehung zum Verkäufer hat, aber es wäre einfach nicht gut angekommen, mir von ihm Geld zu leihen. Da geht's auch um Etikette. Es gibt einen strikten Code. Wenn man seinen Dealer verarscht, ist es aus. Dann kann man sich einen neuen suchen. Ich war entspannt und hatte das Gefühl, die Lage wieder unter Kontrolle zu haben. In Ruhe trank ich das Bier aus und rauchte still meine Zigarette. Die wilden Bleeps und Quietscher von Lesters Trompete glätteten die Knitterfalten meiner Psyche. Schließlich klappte ich die Augen zu und wurde eins mit der Musik. Piano und Baß stanzten eine Rhythmusfigur, immer wieder, immer im Kreis, Saxophon und Trompete dudelten darauf herum, rätselhaft und fernöstlich in irgendeiner Moll-Tonart; plötzlich blies Lesters Trompete eine Fanfare, und aus dem Chaos des unzusammenhängenden Jazzimprovisierens versammelten sie sich zu einer Melodie, laut und rauh und freudig. Let the good Limes roll! Lester nahm die Noten links und rechts der Partitur, er verschmierte, verstopfte, stotterte; ein verrückter Mix aus Jazz, 'ner Blechbläserkapelle aus New Orleans und Rock 'n' Roll. Ich sprang auf und tanzte, und als die Vocals einsetzten, sang ich mit ... »Come an Baby let the good times roll ...<< Genau, so würde es gehen. Let'em roll and roll. Ich tanzte rüber zu meinem Trockenschrank und holte noch ein Laken heraus, dann wippte ich zurück zu dem Kerzenständer und packte ihn ein, schließlich sicherte ich das Bündel mit Klebeband. Ich suchte mir noch ein paar Kassetten für die Reise zusammen und ging runter zum Saab. Der Leveller paßte nicht in den Kofferraum, also legte ich ihn hinten in den Wagen, die Spitze ragte nach vorn zwischen die Vordersitze. Ich stieg ein, drückte die Blende ins Radio und fuhr los. In der Annahme, daß der Wochenendverkehr kein wirkliches Problem darstellen würde, entschied ich mich, direkt gen Süden zu fahren und nicht durch die kleinen Nebenstraßen zu geistern, wie ich das normalerweise getan hätte. Manchmal wollte man einfach klarstellen: »Ich wohne in London, also sollte ich doch verdammt nochmal auch durchfahren können.« Bald aber entdeckte ich, daß die Straßen voll waren mit Samstagnachtverkehr: junge Leute unterwegs nach irgendwo, sie rotteten in ihren glänzenden Angeberschusseln vor sich hin, alte Leute auf dem Weg heim, sie verrotteten in ihren alten Gurkenkisten. Aber ich blieb gelassen. Ich fuhr mit heruntergekurbeltem Fenster, Ellenbogen rausgehängt, Rachmaninow donnerte aus den Lautsprechern. Auf der Edgware Road war Stau, und als ich den Hyde Park erreichte, wurde es noch langsamer. Dann stand ich mitten im Verkehr auf der Park Lane. Links Hupen, rechts Hupen, Mitte Hupen, die
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Wagen drängten von der einen Spur in die andere, die großen Schlitten zischten und dampften. Ich versuchte, mich davon nicht anstecken zu lassen. Die Wirkung der letzten Koks-Lines hallte in mir noch nach, und obwohl mein Kopf heiß war und meine Handflächen sich trocken anfühlten und juckten, hatte ich mir vorgenommen, locker zu bleiben. Mit den Fingern auf die Wagentüren trippelnd summte ich die Klaviermedodie mit. Ein Wagen voller Arschlöcher hielt neben meinem. Vier davon, alle voll drauf, eine Proll-Nacht im Golf Turbo. Der Fahrer drückte auf die Hupe und jagte einem äl teren Paar im Wagen vor ihnen Angst ein, woraufhin sie auf die Bremse traten. »Ich glaube nicht, daß das was bringt«, sagte ich zu dem jungen auf dem Beifahrersitz, dessen Fenster ebenfalls heruntergekurbelt war. Er guckte zu mir rüber, Mund halb offen, Augen halb blind. »Was hast du gesagt, Alter?« »Ich hab' bloß gesagt, das scheint nichts zu bringen. Bevor der Junge noch was sagen konnte, ging's weiter, wir fuhren los. Eine Minute später standen alle wieder. Ich hörte jemanden rufen und sah mich um, der Golf setzte sich auf den Platz neben mir. »Oi, Wichser«, sagte der junge auf dem Beifahrersitz, und seine Freunde lachten. Ich ignorierte ihn. »Oi, ey, du Depp, bist du taub?« Ich schaute den sabbernden Idioten an und lächelte. Nur damit er wußte, daß ich nichts gegen ihn hatte, damit er wußte, daß er mich nicht drankriegen konnte. »Was glotzt du so, du Scheißblödmann?« fragte er. Ah, der intellektuelle Bodensatz des Britischen Empire. Das Rückgrat der Nation, der bullig-aggressive Vertreter der Arbeiterklasse, der Kämpfer in seinem Wagen, der König der Unterschicht. Unverändert durch Gelerntes, unerreicht vom Wortschatz, das Produkt von Millionen von Jahren Evolution. Abkömmling von Newton, Milton, Bacon und Darwin. Ja, der Schmutz wird sich erheben. Neben mir hockten die Stärksten und waren bereit, zu überleben. Mich anzubrüllen und dann zu fragen, wieso ich guckte. Was für eine beeindruckend dämliche Logik! Aber ich machte mir nicht die Mühe, ihn darauf hinzuweisen, ich hatte zu gute Laune und wollte sie mir von ihm nicht verderben lassen. »Sonst jederzeit gern hätte ich mich mit Ihnen auf einen frechen Wortwechsel eingelassen«, sagte ich. »Sie sind ganz offensichtlich ein sehr interessanter junger Mann. Aber heute bin ich nicht in der Stimmung. Also machen sie sich nicht die Mühe, mich durcheinanderbringen zu wollen, okay?« »Arschiger Blödmann«, sagte er, und wieder lachten seine Freunde, als wäre das das Lustigte, was sie den ganzen Tag über zu hören bekommen hatten. Oh, die einfache Freude, dämlich zu sein! »Wenn du versuchst, mich zu ärgern«, sagte ich, öffnete meine Tür und stieg aus, »wirst du damit keinen Erfolg haben.« Ich riß seine Tür auf und zog ihn an den Haaren zur Seite heraus. Dann hielt ich seinen Kopf fest und knallte ihm die Tür in die Fresse. »Ich werde mich nicht aufregen«, sagte ich. »Ich bleibe ganz ruhig, ruhig, ruhig.« Damit stieg ich wieder in den Saab und setzte vor in eine Lücke, die der Verkehr eröffnet hatte. Der Golf versuchte, mir zu folgen, aber sie blieben stecken, und ich verlor sie aus den Augen. Es amüsiert mich, das Proletariat zu verletzen. Diese Typen sind immer so überrascht, daß ein Mann, der anständig reden kann, kämpft wie ein Schwein. So viele von ihnen machen den Fehler,
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anzunehmen, daß der Akzent einen Hinweis auf das Potential an Brutalität bietet. Auf meiner mickrigen Durchschnittspenne hat man mich Boxen, Rugby und Draufhauen gelehrt. Eine deutlich bessere Einführung in die Welt des Schmerzes (sowohl Aushalten als auch Erzeugen von) als die Etepetete-Sportarten, die an den Schulen in der Innenstadt unterrichtet wurden - Fußball, Schwänzen und einarmiger Bandit. Ich will damit nicht sagen, daß es mir großes Vergnügen bereitet hatte, dem Jungen den Kopf in die Tür zu klemmen; das mußte bloß einfach mal getan werden, verstehen Sie? Glücklicherweise verlief der Rest meiner Reise nach Battersea ereignislos. Mein Atelier befindet sich in einer vierzig Jahre alten einstigen Kugellager-Fabrik am Flußufer, aus der niemals Luxuswohnungen gemacht werden. Das Ganze ist ein quadratisches rotes Ziegelgebäude mit metallgerahmten Fenstern und steht auf einem kleinen Grundstück inmitten anderer toter Industrieanlagen zwischen der Battersea Bridge und der Albert Bridge an der Südseite des Flusses. Sonst gab es hier kaum etwas: eine alte Bushalle, die man zu einer Kart-Bahn umgebaut hatte, eine Handvoll kleiner Häuser, einen Zeitungsladen und das Empire Tandoori, ein trauriges kleines indisches Restaurant, in dem nie jemand zu Gast zu sein schien. Ich parkte vor dem Haus, auf dem holprigen Asphaltparkplatz, und holte den Kerzenständer aus dem Wagen. Hastig schleppte ich ihn rüber zum Eingang, schloß die Türen auf und ging hinein. Dann kletterte ich die lange Treppe hinauf. Mir gehörte das gesamte Obergeschoß; unter mir befanden sich diverse andere Künstlerateliers, eine billige Klamottenklitsche und irgendwelche Typen mit Zim mern voller Computer, die irgendwas machten, das ich nie verstand. Bei den Computer-Jungs war mal eingebrochen worden, also war die Bude jetzt gut gesichert. Gitter vor allen tief ergelegenen Fenstern und ein Haufen komplizierter Schlösser an der großen Eisentüre vorne, außerdem eine nagelneue Alarmanlage und einen Wachhund im Garten. Das war ein Rottweiler, ein Hund des Teufels, groß und gemein und häßlich. Er bellte Tag und Nacht unaufhorlich. Irgendein alter Sack fütterte ihn und führte ihn aus, aber sonst traute sich niemand in seine Nähe. Er wohnte in einem Bunker in der Betonhöhle unter der alten Feuerleiter, die an der Seite des Gebäudes hinaufführte. Das Gesetz schrieb uns vor, daß wir die Feuerleiter nicht abreißen durften, also hatten die Computer-Jungs eine Betonhöhle gebaut und den Teufelshund da reingesetzt. Gott weiß, was wir tun könnten, wenn je Feuer ausbräche; das würde bedeuten, die Eisentreppe hinunter in die vollgeschissene Falle an ihrem Ende laufen zu müssen. Ich nahm an, die meisten Leute würden lieber bei lebendigem Leibe verbrennen, als sich von dem schwarzen Monster dort unten in Stücke reißen zu lassen. Während ich die Steinstufen mit dem Leveller auf der Schulter hinaufschlurfte, konnte ich draußen den Hund bellen hören, aber je höher ich stieg, desto leiser wurde er. Es gab nur drei Stockwerke in dem Haus, aber jedes war etwa doppelt so hoch wie ein normales Stockwerk. Es war heiß und muffig und still hier drinnen, und als ich oben ankam, war ich schweißnaß. Überraschenderweise war unsere Tür nicht abgeschlossen, obwohl eigentlich niemand hätte da sein sollen. Ich habe sechs Leute dort arbeiten, ich mache da meine Einzelstücke und Prototypen, aber im Augenblick sollten sie alle in meiner anderen Werkstatt in der Nähe von Leeds sein, in der die Massenware produziert wird. Die Jungs in Leeds waren in Verzug, und meine Londoner waren hochgefahren, um auszuhelfen.
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Wer also war hier? Wer trieb sich am Samstagabend in meinem Atelier herum? Ich öffnete die Tür und ging hinein. Terry war's. Terry ist eine lesbische Schottin, einigermaßen ansehnlich auf ihre kurzhaarige, kräftige Ringe-durchdie-NaseArt. Sie war die einzige Frau, die für mich arbeitete, und es paßte mir gut, daß sie Lesbe war. Aus Erfahrung wußte ich, daß heterosexuelle Frauen, die um mich herumwieselten, nur eine ständige unerwünschte Ablenkung bedeuteten. Ich vertat die Hälfte meiner Zeit damit, zu versuchen, sie zu vögeln. Und wenn ich arbeite, arbeite ich verdammt hart. Manchmal tagelang, ohne zu schlafen. Da kann ich nichts brauchen, was mich stört. Ich bin konzentriert und effektiv, und, ehrlich gesagt, auch verdammt gut bei meiner Arbeit. Ich muß die Intensität der Konzentration und den Arbeitswillen aufrechterhalten, deswegen muß ich mich, wenn ich nicht arbeite, so gut wie nur irgend mög-lich entspannen. Ich muß das Band löschen, die Sicherungen rausfliegen lassen und alles ausblenden. Na ja. Tut mir leid. Tut mir leid, wenn das wie eine Rechtfertigung klingt, aber ich wollte das mal klarstellen. Ich schätze, tief drinnen bin ich einfach wie alle anderen. Ich will gemocht werden. Terry ist vielleicht vierundzwanzig, schätze ich. Bei der Arbeit trägt sie Overalls und feste Stiefel, und zu Hause trägt sie bestimmt etwas noch männlicheres. »Oh, hi«, sagte sie, als ich reinkam. »Ich hab' dich heute nicht erwartet. »Was machst du hier?« fragte ich. »Ich dachte, du warst mit den anderen oben in Leeds?« »Nein, ich hab's dir doch gesagt - hast du das vergessen? Ich bin heute hergekommen, um ein paar Sachen zu machen. Meine eigenen Sachen. Herrje, dein Gedächtnis ist ein schwarzes Loch.« Im Gegenzug für den lächerlichen Lohn, den ich ihr zahlte, konnte Terry über Raum und Equipment in ihrer Freizeit frei verfügen. Sie hatte in Slade Bildhauerei stu diert und wollte sich in dieser Richtung weiterentwickeln. Meist fabrizierte sie riesige, grausame, streitbare Objekte und begann, sich einen Namen zu erarbeiten. Es würde nicht mehr lange dauern, bis ich sie verlor, was eine Schande war, weil ich sie gut brauchen konnte. »An was arbeitest du?« fragte ich, weil ich nichts entdecken konnte. »Genaugenommen warte ich nur auf eine Lieferung. Ich hab' zu Hause damit angefangen, aber jetzt reicht der Platz nicht mehr aus. Ich hab' dich gefragt, ob ich es hier für ein Weilchen unterstellen kann ...« »ja, klar. Wie groß ist es denn?« fragte ich. »Ungefähr zweivierzig hoch, aber ich stell's ins Lager.« »ja, prima.« »In Leeds ist alles unter Kontrolle. Morgen früh bin ich wieder dort, aber, ehrlich gesagt, brauchen die mich gar nicht wirklich.« »Mir egal, solange wir die Deadline halten.« Das Atelier war klasse, schön groß und hell, ganz weiß gestrichen. Es hatte einen Betonboden und jede Menge Metallstützen. Die Decke war hoch, Oberlichter führten über die gesamte Länge, und es gab Hunderte von kleinen metallgerahmten Fenstern an einer Seitenwand. Das Atelier war in drei Bereiche unterteilt: das Lager, den Werkraum, in dem ich zahlreiche Maschinen untergebracht hatte eine Drehbank, Sägen, Bohrer und solches Zeug -, und der Ofen. Der Ofen war ein kleines IndustrieModell und stammte aus einer Eisengießerei in Sheffield, die dichtgemacht hatte. Man konnte
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kleinere Objekte gießen und Metall erhitzen, um es zu schmieden. Die meisten Schmiedearbeiten Übernahm Old Mick. Mick war über siebzig und gelernter Schmied - damals, als es diesen Beruf noch gab. Mit Eisen und Stahl vollbrachte er Wunder, und ich bemühte mich, daß er so viele meiner Leute wie möglich ausbildete, bevor er ins Gras biß. Obwohl wir den Ofen nie kalt werden ließen, mußte man ihn hochregeln, damit man Eisen darin schmelzen konnte. Mein Plan bestand darin, jetzt die Temperatur aufzudrehen und dann, nachdem ich bei Adrian gewesen war, zurückzukehren und den Leveller hineinzuwerfen. Also packte ich den Kerzenständer auf einen Haufen anderes Metallzeugs, drehte allerlei Regler am Ofen und überließ das Ding sich selbst. Als ich durch den Werkraum zurückging, öffnete Terry gerade die Ladeklappe. Die war schon dagewesen, als ich das Atelier gekauft hatte, und hatte sich als unschätz bar erwiesen, weil sie über eine elektrische Seilwinde verfügte, um schwere Dinge hochzuziehen. »Brauchst du Hilfe?« fragte ich. »Wenn's dir nichts ausmacht?« sagte Terry. »Du könntest die Winde bedienen, dann geh ich runter und schau da nach dem Rechten?« »Klar.« Ich ging rüber und sah hinaus. Dort unten standen ein Transit-Van und zwei monströse LesbenBullen in Kampfanzügen. Sie hievten eine große, häßliche Konstruktion aus dem Van. Ich drückte auf den Abwärts-Knopf und sah zu, wie der große Eisenhaken an seinem Stahlseil unten auf den Hof sank. Als er dort ankam, war Terry auch schon da und half ihren beiden Freundinnen, die Skulptur in Position zu bringen. Dann brachte sie den Haken an und winkte mir. Ich drückte auf den Knopf, und langsam wanderte die Skulptur himmelwärts. Als das Ding hoch genug war, schaltete ich die Winde aus und ließ das Objekt in der Luft hängen. Jetzt mußte ich nur noch die kurze Metall-Plattform ausfahren, um das Teil darauf abzusenken, aber das war nicht einfach. Der Mechanismus der Plattform war halb verrostet und mußte dringend erneuert werden. Er quietschte und stöhnte, als ich das Ding rausschob, und ich fügte dem ohrenquälenden metallischen Concerto mein eigenes Grunzen und Keuchen hinzu. Schließlich war das Ding aber draußen, und ich ließ die Skulptur gerade darauf runter, als Terry wieder auftauchte. »Großer Gott, die Scheißplattform wird immer schlimmer«, sagte ich. »Ich hab' mir fast das Kreuz gebrochen.« »Ich weiß«, sagte Terry und holte einen Rollwagen. »Sie funktioniert nicht mehr so gut, seit die Winde damals abgerutscht ist und Barrys Marmorplatten drauf ge kracht sind. Ich glaube, sie ist verbogen. Das wird furchtbar, das Ding wieder gerade zu kriegen.« »Kannst du gleich Montag morgen zu Coleridge and Porter gehen? Ob sie jemand vorbeischicken können?« »Okay.« Wir schoben den Wagen unter die Skulptur und rollten das Ding ins Atelier hinein. »Was ist es diesmal?« fragte ich. »Das ist ein Teil meiner Disney-Serie«, sagte Terry stolz, »Wer ist das?« »Sieht du das nicht?« Sie strahlte mich an. Ich trat zurück und schaute mir das Ding an.
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Es bestand in der Hauptsache aus Holz und verrostetem Eisen und sah aus wie ein sehr strenger Gargoyle aus dem >Glöckner von Notre Dame<. Zwei lange Dinger standen von seinem Kopf ab, es hätten Ohren oder Hörner sein können, schwer zu sagen. Es verfügte über riesige, gnadenlos starrende Glasaugen und Zähne, die wie Säbel aussahen. Ich nahm an, es sei ein Tier, das auf seinen Hinterpfoten saß. »Ist das Goofy?« fragte ich. »Nicht schlecht«, meinte Terry. »Pluto.« Jetzt, wo sie es gesagt hatte, sah ich die Ahnlichkeit, obwohl es ein gräßlicher, tollwütiger Pluto war, nicht der treue Wuffi der Disney-Cartoons. »Sehr hübsch«, sagte ich. »Ich bin noch nicht fertig«, sagte Terry. »Ich werde einen Motor einbauen. Es wird klappern und klacken und ekelhafen Rauch ausstoßen.« »Hattest du mal einen Hund?« »Eigentlich ist es eher ein Kommentar zu Disney als ein Objekt für Hundeliebhaber.« »Wenn du meinst«, sagte ich. »Du wirst auf deine alten Tage doch nicht reaktionär, oder?« fragte sie. »Ich war schon immer reaktionär, meine Liebe.« Terrys großartige Freundinnen tauchten auf, in dieser ungewöhnlichen Umgebung wirkten sie plötzlich scheu und unsicher. »Will jemand 'n Bier?« fragte ich, und sie sagten alle ja. Ich schickte Terry zum Kühlschrank in der kleinen Kirche, die Flaschen holen. »Schöner Abend«, meinte ich, und eine der kahlrasierten Busenfreundinnen murmelte etwas. »Wie bitte?« fragte ich. »Es hätte heute regnen sollen«, sagte sie. Damit war das Gespräch zu Ende, wir schwiegen, und ich fragte mich, ob ich vielleicht versuchen sollte, mir von Terry was zu leihen. Aber schon wieder hatte ich ein Pro blem mit der Etikette. Es war einfach nicht gut, sich von Angestellten Geld zu leihen. Insbesondere nicht vor ihren Freunden. Aber es war auch egal, ich würde ganz bestimmt noch jemand treffen, jemand, der sogar Spaß daran haben würde, mir Geld zu leihen. »Weißt du, wo der Offner ist?« fragte Terry und kam mit einem Arm voll Flaschen aus der Küche. »Jemand hat ihn irgendwo hingepackt.« »Keine Ahnung«, sagte ich. »Aber ich hab' einen an meinem Messer. « An meinem Schlüsselring hing ein Schweizer Taschenmesser. Ich holte es raus, klappte den Öffner raus und reichte ihn Terry. Sie hebelte die Deckel von zwei Flaschen, gab mir eine, dann reichte sie den Öffner und die verbleibenden zwei Flaschen an eine ihrer Freundinnen weiter. Sie kamen mit ihren Bieren ebenfalls klar, und wir tranken ein Weilchen schweigend, betrachteten Terrys PlutoSkulptur und beobachteten, wie die Abendsonne durch die kleinen Fenster stürzte und den Boden in einen Swimmingpool aus Lichtreflexen verwandelte. Terrys Kumpel entspannten sich und begannen darüber zu diskutieren, was sie noch vorhatten. Ich hörte nicht richtig zu, aber irgendwie ging es darum, sich in ei ner Bar in der Old Compton Street zu treffen und dann weiterzusehen.
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Na ja, ich hatte nicht vor, den ganzen Abend hier zu stehen und ihrem faszinierenden Geschnatter zuzuhören, ich hatte noch viel vor. Mit zwei Schlucken machte ich mein Bier alle und stellte die Flasche auf den Boden. »Ja«, sagte ich. »Für mich ist leider noch kein Feierabend.« Damit verabschiedete ich mich und brach auf gen Vauxhall.
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6. Kapitel Ich brauchte nur ein paar Minuten, um rüber zu Adrian zu fahren. Abgesehen von ein oder zwei bösen Stellen scheinen die Straßen in Süd-London immer viel ruhiger als anderswo zu sein. Adrian wohnte in einer stillen, eleganten Ecke mit lauter hochgewachsenen viktorianischen Häusern, ganz in der Nähe des Ovals. Ich hatte ein paar Freundschaftsspiele mit ihm dort gesehen: faule Nachmittage mit Kühltaschen-Bier und Marihuana. Er lebte allein. Ohne Frau und Freundin. Ich hatte ihn überhaupt noch nie mit einem Partner gesehen, sei er männlich oder weiblich. Wenn er über ein Sexualleben verfügte, war es ein absolutes Geheimnis. Ganz bestimmt gehörte er zu den Leuten, die man sich niemals entkleidet vorstellen konnte. Jedenfalls war er nicht sehr korperbetont. Er umarmte niemanden, küßte keinen, trug immer Anzug und Schlips und wirkte ausgesprochen zurückhaltend. Zwar gab er sich stets freundlich und höflich, wirkte dabei aber irgendwie allein und entfernt. Er war jemand, mit dem man über Kricket redete, oder über das Angeln, oder Möbel oder Politik, aber über nichts Personliches, nichts Intimes. Niemals Sex. Als hätte er sich ausgeschlossen von der Welt, als hätte er eines Tages beschlossen, daß sie mit ihm nichts zu tun haben sollte. Natürlich konnte ich mich irren. Vielleicht hatte er ein kleines Geheimnis, führte ein Leben, in dem Prostituierte, Klospiele und rituelle Unterwerfung eine Rolle spielten. Aber ich bezweifelte das. Ich parkte und klingelte. Adrian öffnete lächelnd und bat mich herein. Er war ein Mittelständler, schämte sich dessen nicht und sah aus wie ein Architekt oder Arzt. .. Sein Haar dünnte aus, die Überreste trug er sehr kurz geschnitten, dazu eine große runde Brille. Seine Eulenaugen hatten mit Sicherheit das eine oder andere beobachtet, aber man sah es ihnen nicht an. Offiziell war er Finanzberater, und tatsächlich hatte er das eine oder andere mit der City zu tun. Vor ein paar Jahren hatte er sogar mal ein paar Fonds für mich inve stiert, die sich gut entwickelten. Aber das war bloß das Deckmäntelchen für sein wirkliches Geschäft als >Drogenbaron<. Ich hatte keine Ahnung, wie er sein Geld wusch, aber er hatte noch nie Schwierigkeiten mit dem Gesetz gehabt. Meine Zahlungen an ihn - für >Finanzberatungen< - waren von der Steuer absetzbar, seine Einkünfte meldete er ganz offiziell, und alles lief bestens, vielen Dank. Okay, irgendwo weiter unten in der Hackordnung gab es Drogenverrückte mit Uzis und Macheten, Drive-by-shootings, Kidnappings und Anschläge, aber bei Adrian zu Hause war alles außerordentlich zivilisiert. Es wirkte elegant und geschmackssicher, auf eine männliche Art formell, eine Mixtur aus antiken und modernen Möbeln, darunter auch einige meiner eigenen Produkte, die er dann und wann in Zahlung genommen hatte. An allen seinen Wänden hingen gerahmte Bilder - Drucke, Gemälde, Zeichnungen -, einige groß, einige klein, und auf allen ging es um dasselbe Thema: die Hölle. Beim Eintreten entdeckte ich einen 'Neuzugang, ein .. großes schwergerahmtes Ölgemälde im Flur. Ein dusteres Bild aus dem neunzehnten Jahrhundert, erhellt nur von leuchtend orangefarbenen Feuerflecken. Darauf zu sehen waren nackte Sünder, in erster Linie ausgesprochen kurvige junge Frauen, die von fetten, schwitzenden Dämonen in ein Flammenmeer gescheucht wurden. »Eine erfreuliche Begrüßung für deine Besucher«, sagte ich.
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»Ganz schöner Kitsch, was?« meinte Adrian und öffnete die Tür zum Wohnzimmer. »Woanders konnte ich es nicht hinhängen. Mir gehen langsam die Wände aus.« »Hast du schon mal darüber nachgedacht, ob es vielleicht nett wäre, ein Bild mit was anderem drauf zu kaufen?« fragte ich. »Man braucht doch ein Hobby«, sagte Adrian, ging hinüber zu seinem antiken Sekretär und zog eine der Schubladen heraus. »Man braucht eine Entschuldigung, um zu sammeln«, fuhr er fort, dieweil ich in der Mitte des polierten Parkettbodens stand und mir mit dem Armel den Schweiß vom Gesicht wischte. »Ein Thema. Ab einem gewissen Punkt ist es egal, was man sammelt. Einige meiner Bilder sind ein kleines Vermögen wert, aber das ist bloß einangenehmer Nebeneffekt. Es könnten auch Spielzeugautos
sein,
Zigaretten-Sammelkarten,
Comics,
Streichholzschachteln,
Waffen,
Impressionisten. Dinge sind doch bloß deshalb wertvoll, weil Leute sie besitzen wollen.« Er bot mir ein paar hübsche Lines Koks auf einem kleinen Spiegel an, und ich sniefte sie eifrig. Während ich seine Bilder bewunderte, die auf der teuren gestreiften Tapete herumhingen, tat er es mir nach. »Das ist ein Männerding«, sagte er. »Männer sammeln gern. Sie sind Sammler und Jäger.« »Wie hast du eigentlich angefangen?« fragte ich, drückte meinen Rücken durch und spürte das Summen in meiner Wirbelsäule. »Vor ein paar Jahren habe ich mit Japanern Geschäfte gemacht, und am Ende hatte ich ein paar einigermaßen wertvolle Drucke mit Emma-Hoo als Richter der Toten. Na ja, und dann ist es gewachsen.« »Emma wer?« »Der japanische Höllenfürst ... « »Hat jede Kultur eine Hölle?« fragte ich und betrachtete einen kleinen und sehr grausigen persischen Druck marodierender Dämonen. »Alle
Religionen
beschäftigen
sich
mit
der
Zukunft«,
sagte
Adrian.
»Das
ist
ihr
Hauptverkaufsargument. Sie bieten alle irgendeine Form von Leben nach dem Tod an. Üblicherweise ein Königreich der Toten, irgendwen, der einen dorthin bringt, und einen Haufen Regierungsbeamter, die sich um einen kümmern, wenn man da ist. Die Einzelheiten sind unterschiedlich, aber meist muß man eine Wüste durchqueren oder einen Fluß oder ein Meer, um dort anzulanden. Dann gibt es einen Eingang, den oftmals irgendein Monster bewacht. Und wenn man erstmal drinnen ist, richten sie über einen.« Ich schniefte, ein Klümpchen Coke rutschte mir durch den Hals. »Wie ist der Charhe?« fragte Adrian. »Zufrieden?« »Starker Tobak«, sagte ich. »Kommt aber gut. Ich nehm' fünf Gramm. Ich schätze, du hast nicht zufällig Sulfat, oder?« »Ich hab' Tonnen davon, warum?« »Hab' dies Wochenende was besonderes vor. « »Sei vorsichtig mit dem Scheiß, in deinem Alter.« »Ich bin nicht so alt wie du, Mann, vergiß das nicht.« »Bist du sicher, daß du Sulfat willst? Wie wär's mit was Angesagterem? Ich hab' Ice, Meth, E . . . « »Nein. Mit diesen modernen Drogen komme ich nicht klar. Tief in mir drinnen bin ich einfach altmodisch. Ich will das, was ich als Teenager schon hatte, gutes altes Sul fat. Also, weißt du, was
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echt klasse wäre? Ein bißchen Blues ... Aber soweit wird's wohl nicht kommen, oder?« »Seitdem haben wir uns ein wenig weiter entwickelt.« »Aber Sulfat hast du?« »Klar. Verkauf ich normalerweise an Typen, die es mit was anderem mischen wollen ... Vor allem, paß auf, kauf das Zeug nicht auf der Straße, du weißt nicht, was du kriegst.« »Ein Gramm reicht mir. Ich zahl' nächste Woche . . . « »Kein Sorge. Ich vertrau' dir. « Adrian verließ das Zimmer, und ich schaute mir wieder seine Bilder an. Mir fiel auf, daß die meisten davon bloß eine Entschuldigung dar waren, haufenweise hübsche nackte Frauen zu zeigen, denen man das Leben zur Hölle machte. Adrian kam mit einem kleinen, sorgfältig gefalteten Päckchen in der einen Hand und einigen ungerahmten Drucken in der anderen zurück. »Guck dir die mal an«, sagte er und breitete sie auf dem Tisch aus. Ich schaute mir die Bilder an, nahm das Päckchen und steckte es in meine Tasche. »Die hab' ich gerade gekriegt«, sagte Adrian. »Teuer. Aber man kann keine Höllen-Sammlung anlegen, ohne was von Dante zu haben. Das sind die echten Illustra tionen; Gustave Dore, Abzüge von den Originalplatten der originalen französischen 1861er-Ausgabe der Göttli-chen Komödie.« »Komödie?« »Na ja, ich nehme mal an, die Definition einer Komödie hat sich seit Dante ein bißchen verändert.« Adrian fuhr mit der Hand über die Drucke. »Hölle, Fegefeuer, Paradies, alles hier zu finden, jedes bürokratische Detail. Komplizierte Sache, die Hölle. Es gibt verschiedene Stockwerke und Ränge und kreisförmige Bereiche und Gott weiß was noch alles. Stell dir vor, die Zonengrenzen auf der UBahnkarte wären die neun Kreise der Hölle und alle Stationen wären verschiedene Sünden ... Verstehst du, jeder Sünder hat seinen klar zuzuweisenden Ort und eine eindeutig definierte Strafe. Eine sehr literarische Hölle. Schau mal, hier ist was für dich: Stolz.« Er zeigte mir eine endlose Reihe nackter Männer mittleren Alters, die mit großen Steinbrocken auf dem Rukken einen Abhang hinaufstiegen, wobei ihnen zwei dun kel gekleidete Personen zusahen, eine römisch gekleidet, die andere gemäß der italienischen Renaissance. Der Italiener sah schmallippig und hochnäsig aus. »Was sind das denn für Leuchten?« fragte ich. »Das ist Dante mit Virgil, seinem Führer durch das Inferno.« Ich schaute mir einen anderen Druck an; diesmal nervten Dante und sein Kumpel einen gutaussehenden, muskulösen Typen, der in einer Feuerkuhle herumstand. »Was ist denn da los?« fragte ich. »Der Typ im Feuer ist ein Ketzer.« »Sieht lustiger aus als Dante & Co.« »Daute sieht wirklich ein bißchen nörgelig aus, nicht wahr?« sagte Adrian. »Aber Sünden sind sowieso eine blöde Idee. Daß jemand darauf wartet, all den Spaß, den du gehabt hast, zu analysieren und dir dann eine reinzuwürgen . . . « Adrian goß zwei große Scotch ein, und wir ließen uns in komfortablen Sesseln nieder. »Gibt es immer einen Richter?« fragte ich. »Immer. Das ist etwas, das alle Höllen gemeinsam haben. Über deine Seele wird gerichtet, und dann heißt es Strafe oder Belohnung. Hölle oder Paradies. Wiederge burt als König oder als Wurm.« Er nahm die TV-Fernbedienung und drücke auf einen Knopf. »Ich will bloß schnell Nachrichten gucken«,
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sagte er, als auf dem Bildschirm nackte schwarze Körper erschienen, abgemagert und krank, die still an irgendeinem abgelegenen Ende am Arsch der Welt auf den Tod warteten. »Die armen Schweine«, sagte Adrian: »Ich hab' daran gedacht, was zu spenden.« »Und was soll das?« fragte ich. »Es sind doch Menschen«, sagte Adrian. »Na und?« fragte ich. Adrian lachte. »Du bist wirklich ein mitleidsloses Arschloch, oder?« »Willst du wissen, woran ich glaube, Adrian?« fragte ich dagegen. »Was ich von der menschlichen Rasse halte? Was ich von den zahllosen Horden blutig krepierender Bauernlümmel halte, die den Großteil der sogenannten Menschen ausmachen Ich kann da nur Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug zitieren ... Sie haben ihre Tickets gekauft, und sie wußten, daß sie in ein Flugzeug steigen. Laß sie runterkrachen. « Adrian lachte wieder. Er glaubte möglicherweise, daß ich Spaß machte. Dann wurde er plötzlich ernst und zeigte mit seinem Glas in Richtung des Bildschirms. »Das ist die wirkliche Hölle«, sagte er. »Nicht das hier.« Jetzt kreiste sein Glas durch den Raum, schloß die Bilder an den Wänden ein. »Das sind bloß billige Pornos.« »Wir kommen alle nach Afrika, wenn wir sterben, oder was?« fragte ich. »Weißt du«, sagte Adrian und schüttelte den Kopf. »Es gibt Sachen, bei denen sollte man nicht zu zynisch sein.« »Wie will denn Gott die Bösen unter denen bestrafen?« fragte ich, als eine Mutter ihr totes Baby umarmte. »Welche Strafe könnte schlimmer sein als das?« »Vielleicht kommen sie alle in den Himmel.« »Selbst die Sünder?« Adrian zuckte mit den Schultern. »Ich bin kein Himmels-Experte.« »Man sieht das«, sagte ich und zeigte auf den Bildschirm. »Man sieht das und kann an gar nichts mehr glauben. Außer vielleicht an Darwin. Wir sind Kompost. Kompost, auf dem unsere Kinder wachsen.« »Aber man muß doch was unternehmen«, sagte Adrian. »Es sind doch Menschen.« »Von denen es nicht unbedingt zu wenige gibt«, sagte ich. »Man sieht sie in Afrika wie die Fliegen sterben und glaubt, das war's, Abgang für die Afrikaner. Aber in den nächsten fünfundzwanzig Jahren soll sich die Einwohnerzahl Afrikas verdoppeln. Die Weltbevölkerung nimmt um vierundneunzig Millionen jährlich zu. Verreck im Wind. Wie hieß das Lied in Amerika? >We Are The World. < Teufel, das stimmt. Es gibt nicht genug Platz für irgendwas anderes. Kriege kratzen noch nicht mal an der Oberfläche. Zwei Prozent der Weltbevölkerung sind im Zweiten Weltkrieg ums Leben gekommen, aber nach bloß neun beschissenen Monaten Frieden war schon wieder alles wie vor dem Krieg. Die Roten Khmer haben zwölf Prozent aller Kambodschaner getötet, aber schon vier Jahre, nachdem die Amis in Vietnam einmarschiert sind und aufgeräumt haben, war die Bevölkerung höher als vor den Roten Khmer. Mittlerweile haben sie ungefähr vier Millionen Vorsprung.« »Ja, ja, ja«, sagte Adrian. »Aber du kannst dir doch nicht diese Bilder ansehen und dann mit Statistiken kommen...« »Dann schalt ab«, sagte ich. »Du bist ein böser Mensch«, erklärte Adrian. »Du wirst in die Hölle kommen, wenn du stirbst.« »Glaubst du an die Hölle?« fragte ich.
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Adrian sah mich an und lächelte. »Glaubst du an die Hölle?« »Sartre hat, wie jeder weiß, gesagt, die Hölle, das sind die anderen. Ich glaube, die Hölle, das ist man selbst.« »Du glaubst, du bist einfach alles«, meinte Adrian. »Du hast das größte Ego, das ich jemals gesehen habe.« »Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, sagte ich. »Glaubst du an die Hölle?« »Na ja, ein moderner Christ lehnt die Vorstellung der Hölle ab«, entgegnete Adrian und goß uns nach. »Inzwischen gilt die Vorstellung als inkompatibel damit, daß Gott ein Gott der Liebe ist - und nicht der durchtriebene Kerl aus dem Alten Testament.« »Lebwohl, o Weltenrichter«, sagte ich. »Ich sag' dir, was ein moderner Christ von seiner Hölle will. Zuallererst mal sollte sie keine Strafe sein, sondern bloß die Men schen bessern, sie soll die Sünder dazu bewegen, nützliche Mitglieder der Gesellschaft der Toten zu werden. Wahrscheinlich gibt's ein Fitnesscenter, Fernsehen, und die Möglichkeit, an der FeierabendUniversität einen Abschluß in Korbflechterei zu machen. Dann lassen sie die Toten vielleicht irgendwann auf die Erde zurückkehren, damit sie Sozialarbeit leisten.« »Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes«, sagte Adrian. »Das ist das moderne Konzept.** « »Aber glaubst du an den Scheiß?« fragte ich. »Ich weiß nicht«, sagte Adrian. »Ich bin nicht wie du, ich bin mir nicht bei allem sicher. Dann und wann gehe ich in die Kirche - Hochzeiten, Beerdigungen, Weihnach ten. Das Singen gef ällt mir . . . Ich meine, ich glaube an Gott, aber an was für einen Gott, das weiß ich nicht. Und was die Hölle angeht . . . « Der Wetterbericht begann. » . . . und heute war es wieder heiß und sonnig. In London und im Südosten stiegen die Temperaturen bis auf etwa dreißig Grad.« Ist das zu glauben! Niemand erwähnte die Tatsache, daß sie das Gegenteil vorhergesagt hatten. Niemand erwähnte, daß sie sich absolut vollständig geirrt hatten, bloß ein breites Grinsen und eine Tatsache. »Wie Sie auf dem Satellitenbild sehen können, ist die Situation auf dem Kontinent nicht so klar, es ist stürmisch und sehr feucht. Eine Regenfront bewegt sich über den Kanal nach Nordfrankreich, und wir haben schlechte Nachrichten für die Gartenfreunde unter Ihnen, es sieht so aus, als würde sie an uns vollständig vorbeiwandern. Heute nacht wird es warm und schwül sein, und morgen steht uns ein weiterer Höllentag bevor, heiß und trocken, vielleicht ein paar Wolken im Norden und.** « Weiter und weiter und weiter, die Nachrichten, die ständige Vermehrung der Zeitungen und Magazine, das unablässige Rauschen des Geplappers im Radio, die Ex perten, die Analytiker, die Vorhersager, die Autoren dikker Bücher über das Ende der Welt, über die Zukunft des Kapitalismus, über Zeit und Universum, und nichts davon hatte irgendeine Bedeutung. Das alles gab es nur, damit wir uns sicher fühlen, damit wir uns dem Gefühl hingeben konnten, daß wir wußten, was los war, daß man alles auf der Welt ordnungsgemäß beschriftet und in ein Glas abgefüllt hatte, damit wir es uns anschauen konnten und keine Angst haben mußten. Ja, wir konnten alle sorglos schlafen, abgesichert durch das Wissen, daß uns alle Fakten zur Verfügung standen, daß 'wir begriffen hatten ... das waren die Nachrichten und das Wetter, wir machen jetzt Schluß, guten Abend. »Ich sprenge besser noch den Rasen, bevor ich heute losgehe«, sagte Adrian. »Sonst vertrocknet er.«
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Er schaltete die Glotze aus und startete mit einer anderen Fernbedienung seinen CD-Player. Lärmende englische Rockmusik erfüllte das Zimmer. Adrian kannte sich aus mit moderner Musik, ich hatte damit vor ein paar Jahren aufgehört. Ich hatte mich zurückgezogen in die Welt der Re-Releases und Box-Sets, eine Welt, in der es ebenfalls schon mehr Musik gab, als man in einem ganzen Leben hören konnte. Die Geräusche, die aus Adrians Anlage kamen, waren nichtsdestotrotz irgendwie erfrischend. Die Musik war lebendig und voll jugendlicher Kraft. Ich nehme an, Adrian zog daraus Energie, er lud sich auf, bevor er aufbrach. Er würde erst nach Hause zurückkehren, wenn es hell wurde, dann war er damit fertig, seinen verschiedenen Klienten in Bars und Clubs der Hauptstadt zu Willen zu sein. Er stemmte sich aus seinem Sessel, sang leise das Lied mit, ging hinüber zu einem Regal, und nahm eine Vase hoch. »Bißchen Gras, um lockerer zu werden?« fragte er. »War' nicht schlecht«, sagte ich. Plötzlich wurde mir der Effekt des Kokses bewußt; mein Mund war trocken, meine Zähne tanzten, der Mund tat mir weh, weil ich meine Wange zerkaut hatte, meine Krankenkassenaugen arbeiteten ungenau. Adrian trug die Vase rüber zum Tisch und fischte einen Joint heraus. »Skunk«, sagte er. »Haut richtig rein.« Er holte ein Feuerzeug aus dem Gefäß und zündete den Joint an. Das Ende brannte und knisterte, bevor es nur noch glühte. Ich betrachtete die Vase; sie war alt und kaputt und sah griechisch aus, schwarze Männchen auf rotem Grund. »Ist die echt?« fragte ich. »Mhm«, machte Adrian und behielt den Rauch in den Lungen. Seufzend stieß er ihn aus. »Laß sie nicht runterfallen, okay? Eigentlich sollte sie im Museum stehen.« Er nahm sie mir weg, drehte sie langsam in seinen Händen und zeigte auf die verschiedenen Personen, die darauf abgebildet waren. »Das ist Hades, den kennst du natürlich, das sind seine Helfer, die drei Brüder Thanatos, Hypnos und Morpheus. Tod, Schlaf und Träume.« Er gab mir den Joint, und ich nahm einen langen Zug. Der Rauch war hell, brannte aber wie heißer Dampf. Knallte sofort rein. Manchmal entspannt einen Dope, manchmal macht es einen weich, manchmal muß man davon lachen, und manchmal kriegt man eine Gänsehaut. Oder Angst oder Paranoia überfallen einen augenblicklich. Das hier war ein Paranoia-Joint. Ich erstarrte. Ich konnte nichts sagen. Vorsichtig nahm ich ein Streichholzbriefchen vom Tisch und legte es ein paar Zentimeter nach rechts, dann schob ich es zurück. Ich faltete meine Hände zusammen, Eis umhüllte mein Rückgrat, mein Hirn summte. Ich konnte nichts sagen, ich konnte mich nicht bewegen, die Wände kamen näher. Ich schaute Adrian an, er saß einfach da, passiv, der Arsch grinste, guckte seine Vase an. Tod, Schlaf und Träume. Dann stellte er die Vase hin und nahm mir den Joint weg. Er wölbte seine Hand um das Ende und füllte sich die Lungen. Es schien ewig zu dauern, bis er den Joint vorsichtig in den Aschenbecher legte, oder hatte er das schon hundertmal gemacht? Es schien so unglaublich lange zu dauern. Die Musik war entsetzlich laut und zerfetzte mir die Trommelfelle. Adrian schaute mich an, und plötzlich wußte ich, daß er mich umbringen wollte. Ich mußte weg. Aber wie sollte ich das tun, wo ich mich doch nicht bewegen konnte?
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»Was ist los?« fragte Adrian. »Gänsehaut?« Ich nickte. Ich glaube jedenfalls, daß ich nickte. Jedenfalls hatte ich vor, zu nicken, aber ich konnte nicht sicher sein, ob es mir gelungen war. Er stellte die Musik ab. »Laß los«, sagte er, ohne mich anzusehen, und ich schloß die Augen. Ich stürzte ins Nichts, spiralte abwärts, mir war schlecht, mein Kopf drehte sich, ich war mitten in dem verrückten Orchester am Ende von »A Day in The Life« der Beatles, lauter und lauter, ding, ding, ding, unkontrollierbar, und dann, BANG, ließ ich los und schlug voll ein in den großen Akkord am Ende. Langsam ließ ich meinen Atem ausströmen, und das ganze Gift mit ihm. Ich öffnete die Augen und sah, wie Adrian eine Bierflasche aufhebelte. Er gab sie mir, und ich kippte mir das kalte Gesöff in den trockenen Hals. »Adrian?« fragte ich. »Wenn du eine Leiche loswerden wolltest, wie würdest du das machen?« »Eine Leiche?« Er setzte sich und nahm einen Zug. »Am besten verbrennen. Du brauchst ein Feuer, das heiß genug ist, alles zu verbrennen - Knochen, Zähne, alles. Wenn es keine Leiche gibt, kann man dir keinen Mord anhängen. Warum? Hast du jemanden umgebracht?« »Nein.« Ich nahm den Joint und inhalierte. »Hast du vor, jemanden umzubringen?« »Nein. Ich hab' bloß nachgedacht. Ich hab' neulich was im Fernsehen gesehen, da hat jemand versucht, eine Leiche loszuwerden. Da hab' ich mich gefragt, was ich in so einer Situation tun würde.« »Verbrennen. Was anderes bringt es nicht. Es sei denn, du hast Chemikalien, in denen sie sich auflöst. Wie gesagt, sie können dich wegen Mordes nicht verurteilen, wenn es keine Leiche gibt.« »Bist du sicher?« »Ziemlich sicher. Wenn dich nicht gerade Menschenmengen dabei gesehen haben, das ist ja klar, oder wenn du gefilmt worden bist, aber selbst dann kannst du mit einem guten Anwalt davonkommen.« Feuer. Natürlich. Warum hatte ich daran nicht gedacht? Ich hatte vorgehabt, den Kerzenständer einzuschmelzen, warum nicht auch gleich Mister Kitchen? »Das ist guter Skunk«, sagte ich. »Solange du nicht dagegen ankämpfst«, entgegnete Adrian.
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7. Kapitel Ich wollte nach dem Ofen sehen, bevor ich heimfuhr und Mister Kitchen holte. Wenn er schon heiß genug war, konnte ich den Kerzenständer reinwerfen und schon mal einschmelzen. Dann hatte ich wenigstens das erledigt. Der Wagen fuhr wie von selbst zurück zum Atelier. Ich drehte den Kassettenrecorder hoch und stopfte ein John-Lee-Hooker-Tape rein; die uralte Stimme brüllte mir süße Nichtigkeiten in meine klingelnden Ohren . .. I woke up early one morning, Mister Lucky was standing by my bed ... « Ich schwamm im Meer der Glückseligkeit, mein Hirn war chromverziert, ich hatte einen Song im Herzen und einen Plan im Kopf. Teufel, es war kein Wunder, daß Mu sik und Drogen bei jedem religiösen Festival seit der Erfindung Gottes zusammengehörten. »Mister Lucky was standig by my bed. Yes he was ... That's right. You know what he said? He said: >You were born for good luck. Bad luck can't do you no harm ... «< Morpheus, der Gott der Träume, hatte durch Adrian Weeks zu mir gesprochen. Er hatte mir den Weg gewiesen, er hatte die Lichter am Rande meiner Landebahn entzündet, er hatte mir das Werkzeug gegeben, er hatte mir erklärt, wie ich Mister Kitchen direkt in die Hölle befördern konnte, und er hatte meiner Seele einen Zungenkuß gegeben, hatte mir seinen heißen, süßen Atem in die Lungen gepumpt, hatte sein vibrierend elektrisches Blut in meine Venen geleitet. Ich kicherte. Happy days are here again, let the good times roll ..., und so weiter und so fort ... »Call me Mister Lucky, because bad luck can't do me no harm. Everything I touch, it turns to gold ...<< Der Himmel war schon fast dunkel und der Vollmond kämpfte mit den Straßenlaternen um die Vorherrschaft, als ich auf dem Asphalt vor dem Atelier hielt und aus dem Wagen tanzte. Meine Beine waren irgendwie taub, das Blut mußte aus meinem Kopf rausgelaufen sein; ich taumelte schwankend über den Parkplatz wie ein besoffener Penner. Kichernd schlug ich mir auf die Beine, um sie wiederzubeleben, dann ging ich rüber zu der großen Doppeltür, aber bevor ich meine Schlüssel herausholen konnte, fiel mir auf, daß sie bloß angelehnt war. Ich zog einen Türflügel auf und ging hinein. Im Treppenhaus war kein Licht, aber eine orangene Warnleuchte begann sich in meinem Kopf zu drehen. Wurden wir gerade ausgeraubt? Unter normalen Um ständen hätte mein Herz zweifellos angefangen schneller zu klopfen und meine Handflächen wären feucht geworden, aber heute passierte nichts außer der Lampe in meinem Kopf. Ich war losgelöst, war mir der Gefahr bewußt, aber nicht von ihr beeindruckt. Ich war ruhig, übermenschlich, unberührbar. Ich war dumm. Leise schlich ich die Treppe hinauf. Als ich nach oben kam, konnte ich Musik hören, und eine Erklärung poppte in meinem Kopf. Terry mußte immer noch bei der Arbeit sein. Das war blöd, aber nicht das Ende der Welt. Ich mußte ja ohnehin noch zurück nach St. John's Wood und wieder hierher; bis dahin war sie vielleicht weg. Mir fiel ein, daß ich genausogut reingehen und sie fragen könnte, wie lange sie noch da wäre, dann hatte ich nachher keine Scheiße an der Backe, also stieg ich die Treppe hoch. Die Tür zum Studio stand offen, aber von innen kam kein Licht. Na ja, kein Lampenlicht - bloß ein blaßes Flackern, nicht das Neonbrüllen, das ich erwartet hatte. Die Musik war tief und dröhnend, immer derselbe Trance-
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Herzschlag, wieder und wieder, nur ab und zu unwesentliche Veränderungen des Lärms. Drogenmusik. Ich drückte die Tür auf. Auf das, was ich sah, war ich nicht vorbereitet. Das Atelier wurde von großen weißen Kerzen erhellt, einige davon klebten auf den entsprechenden Stellen an Terrys Pluto-Statue, eine auf jeder erhobenen Pfote, eine auf seiner Nase und eine auf seinem Schwanz. Neben ihm stand der Kerzenleuchter, eine Kerze auf jeder der drei Spitzen. Terry mußte das Ding gefunden und ausgepackt habe. Und wo wir schon beim Auspacken sind - Klamotten lagen auf dem Boden, Terry selbst befand sich in der Mitte des Lichtscheins, mit ihren Freundinnen auf einem weißen Laken, pudelnackt und vertieft in das, was man Liebesspiele nennt. Natürlich halten alle Leser des Großen Buches Sexueller Männerphantasien die »Mädchen mit Mädchen«-Geschichte für ganz toll. Aber die Mädchen in der Phantasie sind keine wirklichen Lesben, es sind heiße Männerfresserinnen, tollwütige Heterosexuelle, die bloß mal Lust auf ein Experiment haben, bei dem ja normalerweise auch, wenn wir ehrlich sind, am Ende, zum Finale, noch ein Mann dazustößt. Echte Lesben sind da eine ganz andere Sache. Außerdem - echter Sex ist nicht schön anzusehen. Man braucht Profis, damit es nicht peinlich und lächerlich wirkt. Sex ist eine ziemlich steife und schmierige An gelegenheit, wenn man zuschaut. Der Spaß findet im Kopf statt. Ist Ihnen bei Pornofilmen jemals aufgefallen, daß da ein Typ zwei unfaßbare schöne Mädchen fickt, wie Sie sie höchstwahrscheinlich nie auch nur treffen werden - die drei ziehen die trickreichsten und abgefahrensten Stellungen durch -, aber um zu kommen, schließt er die Augen? Im letzten Augenblick schließt er immer die Augen ... Er muß an einen anderen Fick denken, an eine andere Frau, an eine andere Position, damit er kommen kann. Er beflugelt unsere Phantasie, und er stiehlt sich davon in seine eigene Phantasie, und in der haben die Leute die Augen geschlossen. Ein Traum in einem Traum. Aber was ich eigentlich zu sagen versuche ist, daß das bizarre Spektakel in meinem Atelier mich absolut überhaupt nicht anmachte. Nicht nur, daß Terrys Freundinnen feist und wenig graziös waren, es lag auch nicht an der Weiße ihrer Körper, der Absurdität ihrer Stellungen, der Muttermale und Quetschungen, der Piercing-Ringe an den ungewöhnlichsten Stellen. Ich meine, ich hab' schon eigenartiger aussehende Frauen als die gevögelt. Nein, es war einfach eine Privatsache. Es war nicht für mich gedacht. Ich weiß, es gibt Typen, die es anmacht, zu beobachten, aber das hat mir noch nie gefallen. Ich mag es, wenn eine Frau beobachtet wird und weiß, daß sie beobachtet wird, aber so tut, als wußte sie's nicht. Diese drei hatten sich das Atelier zu eigen gemacht. Ihr heiliger Kreis war mit Bierflaschen gezogen. Und ich war absolut ausgeschlossen. Das Ganze sah aus wie ein irrwitziger religiöser Ritus. Das Kerzenlicht spiegelte sich in Plutos kalten Augen, während seine Meßdienerinnen - seine kahlgeschorenen Jungfrauen, die Tempeldienerinnen - das Wetter nur mit Hilfe ihrer Körper vorhersagten; sie ermittelten die Isobarlinien mit Fingern und Zungen. Prognosen für morgen, kurzfristig, langfristig, für Europa und die ganze Welt. Plutos Mösenleckerinnen konnten alles vorhersagen. Ich zog die Tür zu und schlich die Treppe wieder hinunter.
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Eine Weile saß ich im Wagen, und es kam mir vor, als hätte ich nicht gesehen, was ich gesehen hatte, als wäre es nicht geschehen. Es war ein Blip, eine Vision, etwas, das ich nur noch halb bei Bewußtsein spätnachts im Fernsehen erwischt hatte. Eigentlich war irgendwie der ganze Tag so gewesen. Was hatte ich getan? Ich war aufgestanden, hatte gefrühstückt, hatte einen Typen umgebracht, der meinen Wagen hatte kaufen wollen, war von zwei obdachlosen Schwachköpfen beklaut worden, hatte meiner Exfreundin geholfen, ein Alien zur Welt zu bringen, hatte mich für den Observer fotografieren lassen und hatte ein paar Drogen gekauft. Ich glaube, ich hatte das gar nicht schlecht gemacht. Schwächere Männer wären vielleicht zusammengebrochen, hätten dem Druck nicht standgehalten, aber ich, ich war damit fertiggeworden; mit allem, was sich mir in den Weg gestellt hatte, war ich schließlich klargekommen. Ich hatte mich wie ein Gentleman benommen. Wie ein Engländer. Ich war ruhig und rational geblieben. Leute wie ich hatten das britische Empire aufgebaut, sie waren hinausgezogen in eine fremde Welt, zu fremden Menschen - und hatten dabei immer saubere Unterwäsche angehabt und höflich gelächelt. Sie hatten das Herz der Dunkelheit durchdrungen und sich stets benommen, als stünden sie gerade bei einem Dorffest vor dem örtlichen Pub. Wir waren um die Welt gezogen, die Hände in weißen Flanellhosentaschen, und wir hatten den dummen Schafhirten, den hosenlosen Heiden und den buntbemalten Medizinmännern gezeigt, wozu gute Manieren, Kaltblütigkeit und ein funktionierendes Gewehr gut waren. Wir hatten Männer vor die Offnungen unserer Kanonen gebunden und ihre Bäuche ins Jenseits expediert; wir haben sie verkauft und gekauft und geschlagen und verbrannt, wir haben die Chinesen mit Opium versorgt, wir haben den Indianern die Pocken verpaßt, und immer haben wir ihnen die Hand gereicht, haben den Damen die Türen aufgehalten und niemals mit vollem Mund geredet. Und das finde ich doch sehr wichtig. Es ist gut, Rückgrat zu beweisen und klar und eindeutig zu sprechen. Heutzutage ist England eine schäbige Ecke der Welt, bloß noch Kordsamt und amerikanische Bierpisse. Genaugenommen, seien wir ehrlich, ist das kompletter Blödsinn - daß die steiflippigen Gentlemen die bösen Wilden unterworfen hätten. Das Empire wurde nicht von Krocketspielern in weißem Flanell errichtet, sondern von Skinheads und Hooligans, von kanonenkugelköpfigen Deppen, rotgesichtigen Säufertrotteln und schwergewichtigen Farmarbeitern, fetten Cockneys und Psychos aus Geordie, von der ignoranten Masse der brutalen Arbeiterklasse. Die Schwachköpfe, denen wir zusehen, wie sie besoffen ein fremdes Einkaufszentrum zerstören, waren dieselben Schwachköpfe, die die Hottentotten über das Schlachtfeld auf sich zustürmen sahen. Die Boots, die im Stadtpark die Gesichter asiatischer Kids zertreten, sind dieselben Boots, die durch Afrika und Indien trampelten und durch jedes andere Land, in dem es etwas zu stehlen gab. Ich verfluchte Adrian. Sein Gras hatte mich philosophisch werden lassen. Und nachzudenken ist nicht das, wofür das englische Gehirn am besten ausgestattet ist. Poesie und Philosophie fühlen sich nicht wohl bei uns Angelsachsen. Wir mögen Ziegel und Bier und Pasteten. Auch Beton. Aber der Skunk hatte mein Hirn losgetreten, es wanderte von Gedanke zu Gedanke, bis ich auf diesem gottverlassenen Industriegebiet vom Empire träumte, umgeben von Scheußlichkeiten und Sinnlosigkeiten. England war zusammengeschrumpft auf die Größe einer städtischen Müllkippe. Es hatte seine Statur verloren. Man reichte mir ein Gewehr und eine mit Blut gemalte Karte! Jetzt war es Zeit, etwas zu unternehmen.
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Mittlerweile war es vollständig dunkel, ich ließ den Motor an und fuhr langsam zurück nach Norden. Es war kurz vor halb neun; mit etwas Glück hatte ich um Mitter nacht alle Beweisstücke verbrannt und konnte feiern gehen. Dann brauchte ich systematisch nur noch genug zu saufen und einzuwerfen, um im Bett zusammenzubrechen und diesen ganzen Tag aus meinem Gedächtnis zu streichen. Morgen früh würde ich beginnen, als wäre nichts geschehen. Genauso wie ich es letzte Nacht getan hatte, und in der Nacht davor, und in jeder anderen Nacht, an die ich mich erinnern konnte (oder eigentlich nicht erinnern konnte). Direkt vor meiner Wohnung fand ich einen Parkplatz und ließ den Wagen hineingleiten wie ein Eisläufer, wie eine gottverdammte Ballerina. Ich stieg aus dem Saab und betrachtete mir die Sache. Das war einfach unglaublich. So konnte man einen Wagen nicht einparken. Aber ich hatte es geschafft. Ich hatte alle Gesetze des Einparkens negiert. Kopfnickend ging ich rüber zur Haustür und Brabbelte nach meinen Schlüsseln, als jemand die Tür von innen öffnete; ich sprang einen Meter zurück. »Wo zum Teufel warst zu?« sagte eine ekelerregend bekannte Stimme. Mein Vater. »Großer Gott, Dad«, sagte ich. »Du hast mich zu Tode erschreckt.« »Es ist nicht schön, zu fluchen.« »Es ist auch nicht schön, Leuten hinter der Haustür aufzulauern.« »Weißt du, wie spät es ist?« »Ungefähr halb zehn. Warum?« »Warum? Warum? Deine Mutter und ich warten seit acht Uhr auf dich. « »Warum?« fragte ich. »Weil wir zum Essen verabredet sind.« »Warum, Dad, warum? Du mußt mir das erklären.« Meine Mutter erschien nun auch in der Haustür und strahlte mich ebenso breit wie schwach an. »Happy Birthday, mein Schatz«, sagte sie. »Was soll das heißen?« jammerte ich. »Ich hab' doch erst nächste Woche Geburtstag.« Mein Vater starrte mich routiniert düster an. »Du machst Witze«, sagte ich. Aber es konnte Gottverdammtnocheinmal wahr sein. Ich wußte nie, welches Datum wir hatten. Ich fand es schwierig genug, herauszukriegen, mit was für einem Wochentag ich mich abgeben mußte. »Doch, es stimmt«, sagte mein Vater. »Du hast heute Geburtstag. Vielleicht hast du es vergessen, aber ich könnte das niemals. Dieser schwarze Tag ist für immer in mein Hirn eingebrannt.« Das also hatte die Nachricht »GEBURTSTAGSESSEN« in meinem Terminkalender bedeutet. Mein Geburtstagsessen - das jährliche Zusammenkommen der Familie. »Was für ein Glück, daß deine Mutter immer noch den Schlüssel hat, weil sie letzte Ostern bei dir war«, sagte mein Vater. »Sonst hätten wir draußen auf dem Burgersteig warten müssen, wie ein paar Einbrecher.« »Warum zum Teufel sollten ausgerechnet Einbrecher draußen auf dem Bürgersteig warten?« fragte ich. »Die würden sich doch höchstwahrscheinlich in den Schatten verdrucken.«
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»Darum geht es doch gar nicht«, sagte mein Vater. »Es geht darum, daß wir seit anderthalb Stunden auf dich warten.« »Ja, nun bin ich ja da«, sagte ich. »Es tut mir leid, aber ich hab's einfach vergessen, okay? Ich dachte wirklich, es wäre erst nächste Woche. Ich hatte in letzter Zeit irre viel zu tun und hatte keine Ahnung, was für ein Tag ist. Ich bin ein bißchen durcheinander. Ich bin . . . « »Oh, spar dir den Unsinn«, sagte mein Vater, und dann gingen wir alle rein.
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8. Kapitel Mein Vater ist ein großer Mann mit drahtigem schwarzem Haar, von grauen Strähnen durchzogen; er kämmt es aus der Stirn, über seinen Ohren lockt es sich ein wenig. Ende der sechziger und Anfang der siebziger hatte er es lang getragen. Es gibt Fotos davon; er trägt einen Anzug und langes Haar, das fand er echt schick. Dazu schwere schwarze Hornbrillen, die hat er immer noch. Die Anzüge auf den Fotos haben breite Aufschläge, die Krawatten waren fett und grellbunt, aber mittlerweile bevorzugt er Anzüge im klassischen englischen Design und unauffällige Club-Schlipse. Heute abend trug er einen Dinner-Anzug mit einem gerüschten Hemd und Fliege. Er war mal in der Werbung, mittlerweile ist er Schriftsteller. Unter dem Pseudonym Robertson Carter hatte er eine ganze Reihe phänomenal erfolgreicher Bücher darüber ausgeworfen, wie man erfolgreich ist. Sie kennen dieses Zeug - Die zehn wichtigsten Managementregeln; Delegieren kann Spaß machen; Sei ein Arsch und werde Millionär und Scheiß auf die Schwachen. Im Grunde war er kein Schriftsteller, sondern eher ein Guru, ein Astrologe. Ein führender Wettervorsager in der neuen Religion des Geschäftemachens. Mutter tat gar nichts. Soweit ich wußte, hatte sie nie gearbeitet. Sie trieb sich bei allerhand armseligen Hilfsorganisationen herum, aber das war bloß eine soziale Auf gabe, keine Berufung. Sie trug ein einstmals elegantes und teures, aber mittlerweile etwas abgetragenes Abendkleid. Seit jeher haßte sie es, Geld auszugeben. Das mußte was damit zu tun haben, daß sie im Krieg aufgewachsen war. All ihre Weihnachtsgeschenke kaufte sie in Second Hand-Läden. Die alten Fotos meiner Mutter verunsicherten mich, weil sie darauf jung und schlank und hübsch und lebensfroh aussah. Im Grunde ziemlich sexy. In meiner Kindheit hatte ich immer nur als »meine Mutter« an sie gedacht, aber wenn ich diese Bilder betrachtete, konnte ich sehen, daß sie ein Mensch gewesen war. Ein junges Mädchen - wie die jungen Mädchen, mit denen ich mich vergnügte. Wo wir schon über junge Mädchen reden, in meiner Wohnung war auch eins. Ein Teenager-Mädchen mit langem blondem Haar, von dem ein Teil zu einem Rastazof auf einer Seite geflochten war, und oben drauf saß ein lappiger schwarzer Hut, wie ein wucherndes Barett. Das Mädchen trug enge schwarze Leggins, große schwarze Stiefel und ein sackartiges schwarzes Samt-Top. Es hatte ein blasses, einigermaßen hübsches Gesicht und einen silbernen Ring in der Nase. Auf dem Sofa sitzend las es ein japanisches Einrichtungs-Heft, das auf einem meiner Stapel gelegen hatte. Es sah kurz auf, als ich hereinkam, nickte und las weiter. »Das ist deine Kusine Gaia«, sagte Mutter. »Erinnerst du dich? Die Tochter von Onkel Graham. « »Gaia?« fragte ich. »Dill«, sagte mein Vater. »Ich heiße nicht mehr Jill«, sagte das Mädchen, ohne noch mal aufzuschauen. »Ich heiße Gaia. Ich habe meinen Namen geändert.« »Na, das sollte dann die Wale retten, oder?« meinte ich, und sie starrte mich an. Auf ihre gepiercte Zigeunerart war sie ganz niedlich. Jung und ungewaschen. Ich versuchte mich zu erinnern, ob es illegal war, mit einer Kusine ersten Grades zu schlafen. »Sie wohnt ein paar Tage bei uns«, sagte Mutter. »Sieht sich in London um. Im September fängt sie mit dem College an - North London University«, fügte sie stolz hinzu. »Wo essen wir denn?« fragte mein Vater. Sie können sich vorstellen, wie ich mich fühlte. Ich blendete alles aus und zog mich in ein dunkles Eckchen meines Hirns zurück, um nachzudenken. Während ich das tat, ließ ich meinen Körper
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weiterarbeiten. Die sichtbaren Lebenszeichen mußten aufrechterhalten werden. Ich ging rum, goß Drinks ein, teilte Nüsse aus, solche Sachen. Vater ließ sich aber nicht ablenken. »Ich habe gefragt, wo wir essen?« Dann fiel es mir ein. »Bei einem kleinen Inder«, sagte ich. »Nicht zu würzig, hoffe ich?« fragte meine Mutter. »Nein, Mum«, sagte ich. »Das ist einer von diesen Indern, die überhaupt keine Gewürze benutzen. « »4h, gut.« »Natürlich ist es würzig«, lachte ich. »Aber du mußt ja nichts Scharfes bestellen.« Mutter gab ein kleines enttäuschtes Geräusch von sich. »Wo ist das?« fragte mein Vater. »In der Nähe meines Ateliers. Nichts aufgeblasenes, verstehst du? Aber großartiges Essen. Das beste in ganz London. Den Laden kennen noch nicht viele Leute, aber langsam fängt er an zu brummen. Wir müssen jetzt hin, bevor es zu spät ist. « Dieser Appell an den Snobismus meines Vaters schien zu funktionieren, jedenfalls stellte er keine weiteren Fragen. Jetzt mußte ich es nur noch schaffen, Mister Kitchen aus Big Charlie raus und in den Kofferraum meines Saab rein zu kriegen. Aber ein Hirn lief auf Hochtouren, und kaum trat ein Problem auf, war es auch schon gelöst. »Gehen wir raus auf den Balkon«, sagte ich. »Es ist so ein schöner Abend. Wir können uns den Sonnenuntergang ansehen. « »Die Sonne ist schon vor Stunden untergegangen«, sagte Vater. »Dann können wir uns die gottverdammten Sterne anschauen«, sagte ich. »Es ist nicht schön, zu fluchen«, sagte mein Vater. »Fahr zur Hölle, Dad«, sagte ich. »Sehr lustig.« »Kommt schon«, sagte ich und führte meine zögernde kleine Herde die Treppe hinauf in meinen Schlafbereich. Als das Dach nach meinen Angaben neu gerichtet wurde, hatte ich einen Balkon hinzubauen lassen. Er war nicht sehr groß, vier Leute konnten aber einigermaßen bequem darauf sitzen. Manchmal frühstückte ich dort, oder ich saß abends hier, dröhnte mich zu und guckte den Flugzeugen hinterher. Ich schob die Glastüren auf und jagte meine Familie hinaus. Es war wirklich ein schöner Abend, warm und klar und vom Duft der Blumen erfüllt. Die Sterne zwinkerten, der fette Mond leuchtete; Sie wissen ja, wie das so ist. Wir schauten über ein paar Blumenrabatten und Bäume, aber auf dieser Höhe konzentriert man sich eigentlich immer auf den Himmel. »Ich hätte meinen Mantel anziehen sollen«, sagte Mutter. »Mir wird kalt werden.« »Es ist die wärmste Nacht des Jahres«, sagte ich, aber ich nehme an, Mutter war einfach damit groß geworden, niemals ohne Mantel rauszugehen. »Aber im Wetterbericht haben sie gesagt . . . « »Sie haben es sich anders überlegt . . . « »Oh.« »Ich geh' noch was zu trinken holen«, sagte ich. »Wir wollen nichts mehr trinken«, sagte Vater und schaute auf seine Angeber-Uhr. »Es wird spät. Wir sollten losfahren. « »Ich glaube, ich hab' noch Champagner im Kühlschrank«, sagte ich.
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»Dann können wir anstoßen oder so.« »Das wäre hübsch«, sagte Mutter. Vater seufzte. Ich ging wieder rein, schob die Tür zu und achtete darauf, daß das Schloß einrastete. Jetzt waren sie ausgesperrt, und ich konnte in aller Ruhe meine Arbeit erledigen. Ich kümmerte mich nicht weiter um meinen Vater, der gegen das Glas klopfte und irgendwas rief, ging runter und kippte Big Charlie um. Dann griff ich hinein und packte Mister Kitchen an den Füßen. Mit einigen Schwierigkeiten zerrte ich ihn über den Boden, aus dem Zimmer und die Treppe hinunter ins Erdgeschoß/ sein Kopf bollerte über die Stufen. Vorsichtig öffnete ich die Haustür und schaute mich um. Niemand war zu sehen, und ich war mittlerweile sowieso übermütig. Auf irgendeine eigenartige Weise fühl te ich mich geschützt, unsichtbar, es war mir eigentlich ziemlich egal, ob mich jemand sah. Ich zerrte ihn rüber zum Wagen und machte den Kofferraum auf. Es dauerte Jahre, ihn da reinzuschaufeln. Das Seil, mit dem ich das Laken verknotet hatte, verhakte sich am Schloß und löste sich ein wenig, aber zumindest war ich jetzt fertig. Ich knallte den Kofferraum zu und wischte mir den Schweiß aus dem Gesicht. Ich war von oben bis unten naßgeschwitzt, mein Hals war schmerzhaft trocken. Krampfhaft schluckte ich das bißchen Spucke, das ich zusammenbrachte, und stützte mich zitternd gegen den Wagen, als wäre mein Körper plötzlich zu schwach für das riesige, klopfende Herz. Da gab's nur eins; ich holte meine Zigaretten raus, zündete mir eine an und rauchte in aller Ruhe. Ruhe. Frieden. Hoffnung. Oh, süße Marlboro. Also, Mister Kitchen lag in meinem Kofferraum, der Ofen war angeschmissen und schmelzbereit. Los. Gerade wollte ich in den Wagen steigen und losfahren, als mir einfiel, daß meine Eltern und meine minderjährige Kusine auf dem Balkon gefangen waren. Ich trampelte die Zigarette aus und ging sie retten. »Wo zum Teufel warst du?« fragte mein Vater. »Und warum hast du hier abgesperrt?« »Hab' ich? Das muß passiert sein, als die Tür hinter mir zuglitt. Ich hab' versucht, Blubberwasser zu finden. Aber leider, nichts da.« »Vielleicht können wir dann jetzt gehen und was essen.« »Ja, gute Idee«, sagte ich. »Du hast `ne hübsche Wohnung«, erklärte Gaia auf dem Weg nach unten. »Danke«, sagte ich. »Heute ist sie für den Observer fotografiert worden. »Echt?« »Sie schreiben was über mich. Wo wohnst du?« »Bromley, aber wenn ich aufs College gehe, ziehe ich nach Camden. Den Sommer habe ich vor allem beim Stamm der Dongas verbracht.« »Sind das die Reisenden, die verhindern wollen, daß neue Straßen gebaut werden?« »Wir machen noch viel mehr. Wir versuchen, eine ganz neue Art des Lebens zu etablieren, eine neue Art der Weltsicht. Wir sind Heiden.« »Hut ab«, sagte ich. Mittlerweile waren wir unten und stiegen in den Wagen. Mutter war wie immer die letzte. Sie murmelte vor sich hin, daß sie abschließen wolle, und ich ließ sie. Die Mutterinstinkte waren immer noch stark. »Bist du sicher, daß wir kein Taxi nehmen sollten?« fragte mein Vater. »Du hast schließlich was getrunken.« »Ich kann schon fahren«, sagte ich.
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»Besser wär's jedenfalls, wenn du zum Essen nichts trinkst.« »Ich kenne meine Grenzen«, entgegnete ich. »Hier«, sagte Mutter. »Hab' ich fast vergessen. Das haben wir dir mitgebracht.« Sie gab mir eine Flasche teuren Wein. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.« »Danke, Mum.« Ich küßte sie. »Du trinkst heute abend nichts, wenn du fährst«, sagte Dad. »Bist du immer noch bei dem Thema, oder was?« »Wenn du Arger kriegst, erwarte nicht, daß ich dir helfe.« »Auf die Idee wäre ich nie gekommen.« Glücklicherweise konnte das Gespräch nicht weiter fortschreiten, weil ein Mann, der uns von der anderen Seite der Straße aus beobachtet hatte, rüberkam und uns unterbrach. »Entschuldigen Sie«, sagte er. Ich nickte. Obwohl er einen schicken Kordanzug trug und harmlos aussah, war ich abwehrbereit. In London trat niemand auf einen zu und sprach einen an, wenn er nicht a) verrückt b) ein Bettler c) ein Räuber d) ein Christ e) ein Polizist f) alles oben genannte war. »Ist das ihr Wagen?« fragte er. »Ja«, entgegnete ich und drückte Mutter auf den Beifahrersitz. »Tut mir leid, daß ich sie störe«, sagte der Mann. »Ich heiße Peter Kitchen, mein Bruder wollte sich heute morgen Ihren Wagen ansehen und ihn vielleicht kaufen.« »Ach ja?« fragte ich. »Er ist doch zu verkaufen?« »Yup. Den haben sich heute ein paar Leute angeguckt ...« »War mein Bruder ... ? Andrew heißt er. Andrew Kitchen . . . « »Nein«, sagte ich. Das schien mir das sicherste zu sein. Die Spur zu unterbrechen, bevor sie meine Tür erreichte. »Tja, tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.« Peter Kitchen lächelte und zwinkerte. Er schien ein netter Kerl zu sein, er sprach sanft, war ein bißchen schüchtern. Sein Auftauchen hatte eine meiner Fragen, die Leiche in meinem Kofferraum betreffend, geklärt. Der tote Kitchen war absoluter Durchschnitt gewesen. Unterer Mittelstand auf dem Weg abwärts, nicht umgekehrt. Das paßte. Peter redete immer noch weiter. Offensichtlich brauchte er das, aber ich hatte nicht zugehört; mir war aufgefallen, daß ein Stückchen des Lakens, in das ich sei nen Bruder gewickelt hatte, aus dem Kofferraum hing ...« »Es ist bloß, daß ich ... Er scheint verschwunden zu sein. Also - wir wollten heute abend ins Theater gehen, und er ist einfach verschwunden. Seine Freundin weiß nicht, wo er ist. Sie macht sich Sorgen. Ich ... Das letzte Mal, daß ihn jemand gesehen hat, war heute morgen, als er hierher kommen wollte, um diesen Wagen zu kaufen.« »Haben Sie mit der Polizei gesprochen?« >ja . . . Aber er gilt erst nach vierundzwanzig Stunden offiziell als vermißt.« Er lachte leise. »Sie haben gesagt, daß sie sich morgen, wenn er dann immer noch nicht da ist, das mal anschauen. Sie haben mich im Grunde nicht wirklich ernstgenommen. Das muß wirklich oft ... Ich meine, vielleicht wird er auch wieder auftauchen. Ich dachte bloß, ich frag' lieber mal.« »Klar«, sagte ich und öffnete die Wagentür, aber der Kitchen-frere war noch nicht fertig.
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»Seine Freundin wußte die Adresse nicht. Andy hatte sie bei sich. Sie wußte bloß noch den Straßennamen und was für ein Wagen es war . . . Also, wenn . . . « »Hören Sie«, sagte ich, »es tut mir leid, wenn Sie das unfreundlich finden, aber ich habe heute Geburtstag und will mit meinen Eltern Essen gehen.« »Tut mir leid. Ja, tut mir leid.« Er kramte in seiner Tasche herum und zog ein kleines zerknittertes Foto heraus. »Er war wirklich heute morgen nicht hier?« Er zeigte mir das Bild. Das sah tatsächlich nicht wie der Andy Kitchen aus, den ich umgelegt hatte, also fand ich nichts dabei, zu sagen, daß ich den nicht gesehen hatte. Ich stieg in den Wagen und fuhr um die Kurve; Peter ließ ich einfach stehen. Er guckte weiter das Foto seines Bruders an, als suchte er nach einem Geist. Als er uns nicht mehr sehen konnte, hielt ich an und sprang raus, wedelte mit der Weinflasche und rief: »Ich leg' die bloß in den Kofferraum!« Hastig stopfe ich das Laken zurück und warf die Flasche auf Andy Kitchen; dann stieg ich ein und ließ den Wagen wieder an. »Du verkaufst doch nicht dein wunderschönes Auto, oder?« fragte Mutter. »Leider doch«, sagte ich und fuhr an. »Kannst du es dir nicht mehr leisten?« Ich lachte. »Ich krieg' einen neuen.« »Einen neuen Saab?« fragte mein Vater. »Nein. Einen Typhoon. Direkt aus den Staaten. Knallroten GMC Typhoon Turbo. Das Ding sollte eigentlich schon Anfang der Woche hier sein, aber irgendwie hat sich das verzögert, jetzt kommt er wohl Montag.« »Was willst du denn mit einem amerikanischen Wagen?« fragte mein Vater. »Ein Saab ist viel besser, das sind sehr sichere Autos.« »Dad, es lohnt nicht, darüber zu reden, ich hab' den Typhoon gekauft. « »Du hättest diesen vorher verkaufen sollen. Es wird sehr teuer, zwei Wagen zu versichern.« »Ich versuche ja, ihn zu verkaufen. Aber ich kriege den Typhoon direkt vom Händler aus Amerika, also kann ich diesen nicht in Zahlung geben. Die Versicherung weiß, wie sowas ist.« Warum machte ich mir die Mühe? Warum versuchte ich, das zu erklären? »Hast du eine gute Versicherung? Es ist dumm, wenn man versucht, die reinzulegen.« »Ja, sie sind gut. Aber nicht billig.« »Ich könnte mal mit meiner Versicherung reden, wenn du willst.« »Dad. Die Sache ist gegessen.« Woher hatten Väter diese ganz spezielle Eigenart, einen sich wieder wie ein Kind fühlen zu lassen? Teufel, ich war fünfunddreißig . . . sechsunddreißig! Ich mußte ihm gegenüber überhaupt nichts rechtfertigen. »Ich fand immer, daß dieser Saab ein sehr guter Wagen für dich ist«, fuhr mein Vater nervtötend fort. »Mal davon abgesehen, daß es ein Turbo ist. Es sind sehr sichere Wagen.« »Ich will keinen sicheren Wagen«, sagte ich. »Ich will einen Typhoon. Ich will einen Typhoon, weil man ihn für unpraktisch hält, weil das Steuer auf der falschen Seite ist, weil er eine Einladung an Autodiebe darstellt und unglaublich viel Benzin verbraucht, okay?« »Jetzt bist du albern.« »Darum geht es doch, Dad. «
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»Ja. Sehr klug. Und wieviel wird dieser >Typhoon< dich kosten. « »Mehr als dein BMW.« »Bist du sicher, daß du dir das leisten kannst?« »Das Geld ist nicht wichtig.« »Geld ist immer wichtig, Junge.« »Was ich damit sagen will, ist - ich kann es mir leisten.« Dad grunzte. »Du wirst mir nie verzeihen können, daß ich mehr verdiene als du, oder?« fragte ich und betrachtete mir seine saure Reaktion im Rückspiegel. »Solange ich mich zurückerinnern kann, hast du mich damit genervt, daß ich mir einen >ordentlichen< Job suchen soll. Du hast mir gesagt, ich soll erwachsen werden und mein Leben nicht verschwenden. Und eines Tages wachst du auf, und mein Micky-Maus-Job bringt mehr Geld als deiner. Das findest du Scheiße, was? Weil du unrecht hattest.« »Dieses Gespräch werden wir in zehn Jahren wieder führen«, entgegnete er. »Erstmal mußt du Beständigkeit beweisen. Du mußt unter Beweis stellen, daß es nicht nur ein Strohfeuer ist. Wobei mir einfällt: Hast du eigentlich eine Rentenversicherung? Ich habe schon so viele Leute schnelles Geld machen sehen, und sie glaubten immer, das geht ewig so weiter.« »Laß uns das Thema wechseln«, sagte ich. »Ich hab' Geburtstag. Das bedeutet, du mußt nett zu mir sein.« Dad grunzte. Mum fing an, eine Geschichte von einem Wohltätigkeitsessen zu erzählen; es ging um jede Menge Leute, an die ich mich höchstwahrscheinlich hätte erinnern sollen. Letztlich war es einfach nur ein angenehmes weißes Rauschen, das es mir möglich machte, ein bißchen nachzudenken. Denken, denken, denken. Mein armes Hirn konnte langsam nicht mehr denken. Kitchens Bruder war zur Polizei gegangen. Morgen würden sie anfangen, nach ihm zu suchen. Er hatte sich auf dem Weg zu mir gemacht, und war nie wieder aufgetaucht. Na ja, es würde einfach genug sein, bei meiner Version zu bleiben, daß er bei mir angekommen war, wenn ich nur erst die Scheißleiche los war, die bestimmt auch schon anfing zu riechen. Also mußte es heute nacht sein. Ich mußte sie heute nacht noch loswerden. Vor der Dämmerung mußte er brennen. Asche zu Asche. Meine Gedankenkette wurde unterbrochen, als zwei Typen vor mir auf die Straße stiefelten. Ich wollte gerade abbremsen und um sie herumfahren, als ich sah, daß es die beiden Arschgeigen waren, die mich an der Tankstelle beklaut hatten. Ein Geschenk der Götter! Karma, Glück, Happy days are here again. Rache, kalt serviert mit Mayonnaise. Ich hätte mein Steuer küssen können, bloß hatte ich dafür keine Zeit. Der dicke Holzfäller stand vorn; er lachte, taumelte und wartete, daß der Verkehr seinetwegen anhielt. Gut, ich hatte Neuigkeiten für ihn. GEH NIEMALS AUF NUMMER SICHER. Ich trat das Gaspedal durch. Er sah mich zu spät, und versuchte zur Seite zu springen, aber ich kurvte ihm nach und traf ihn im Flug; es donnerte, und Mutter schrie. »Bist du verrückt geworden!« brüllte mein Vater. »Er ist mir vors Auto gelaufen«, sagte ich und beschleunigte weiter. »Du mußt anhalten! Du hast ihn überfahren!« »Dem geht's schon gut. Hab' ihn kaum berührt. In Zukunft wird er vorsichtiger sein.«
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»Ich verlange, daß du den Wagen anhältst! Vielleicht hast du ihn umgebracht.« Ich trat auf die Bremse, und wir flogen alle nach vorne. Ich drehte mich um. »Es war nicht meine Schuld«, sagte ich. »Er ist auf die Straße gelaufen, und ich konnte nicht mehr ausweichen.« »Du hast gezielt versucht, ihn zu erwischen.« »Die waren betrunken, das sind wahrscheinlich richtige Schlagertypen.« Ich schaute in den Rückspiegel. Rhubarb, der dürre Kumpel des Holzfällers, rannte auf uns zu; er winkte. »War halt Pech«, sagte ich. »Jetzt laß uns fahren, sonst gibt's nie was zu essen.« »Du bist ein gottverdammter Irrer«, sagte mein Vater. »Also wirklich, Dad«, meinte ich. »Es ist nicht schön, zu fluchen.« Ich legte den Gang ein, und wir kamen gerade rechtzeitig weg. »Dem geht's hoffnungsvoll gut«, sagte ich und fuhr mit Bleifuß. »Wieso sollte er hoffnungsvoll sein?« fragte Vater. »Bitte?« »Du hast das Wort >hoffnungsvoll< vollkommen falsch benutzt.« »Ich fand den Satz ziemlich eindeutig.« »>Hoffnungsvoll< hieße, daß er voller Hoffnung ist. Wenn du meinst, daß du hoffst, daß mit ihm alles in Ordnung ist, dann hättest du das auch sagen sollen.« »Das hab' ich doch gesagt.« »Nein. Du hast gesagt: >Dem geht's hoffnungsvoll gut<, was impliziert, daß mit ihm alles in Ordnung ist, und nicht nur, daß mit ihm alles in Ordnung sein wird.« »Das hast du nicht wirklich so aufgefaßt, oder? Ich bin sicher, du hast genau verstanden, was ich sagen wollte.« »Darum geht es nicht«, sagte Dad. »Es geht darum, daß du die englische Sprache vergewaltigt hast. Eine Sprache, von der ich zufälligerweise glaube, daß sie sehr schön und präzise ist. Es gibt Regeln. Du kannst mit Sprache nicht einfach machen, was du willst.« »Ja, tut mir leid, aber ich hab' immer gedacht, daß der Sinn von Sprache darin bestünde, einfacher zu verstehen zu sein.« »Das war ein gespaltener Infinitiv. Du meinst, einfach verstanden zu werden.« »Ich meine genau das, was ich sage.« »Aber es gibt Regeln. Die englische Sprache ist nicht bloß eine zufällige Ansammlung von Wörtern und Phrasen ...« Ich grinste. Aus Versehen war es mir gelungen, den alten Meckerer davon abzulenken, was gerade passiert war. Mutter war still schockiert. Und Gaia? Ich warf ei nen Blick zu ihr nach hinten, aber es unmöglich zu sagen, was sie von der ganzen Sache hielt. Ich jedenfalls war von einem warmen Glühen erfüllt. Ich hatte den Arsch erwischt. Dad rappelte immer noch über Grammatik und Semantik, als wir in Vauxhall ankamen, aber der Anblick des Ateliers und des schmierigen kleinen Inders ließen ihn verstummen. »Ist es das?« fragte er. »Sag jetzt nicht, daß deine Mutter und ich uns in Schale geworfen haben, um hier zu essen!« »Ich hab' nicht darum gebeten, daß ihr euch feinmacht«, sagte ich. »Es ist dein Geburtstag, da gehen wir immer irgendwo hin, wo es nett ist.« »Vertrau mir«, sagte ich. Ich parkte den Wagen, und wir gingen alle in das Restaurant hinein. Ich war nie zuvor drinnen gewesen, und es war wirklich ekelerregend. Ein billiges indisches Re staurant aus dem Lehrbuch.
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Rote Tapeten, Formica-Tische, Plastikblumen und grausame Bilder an den Wänden. Keine weiteren Gäste. Ein sehr kleiner Kellner kam auf uns zugelächelt. »Wir sind vier«, sagte ich, und er wies uns einen Tisch zu; dann schob er Stühle hin und her und schaffte es, daß das Hinsetzen doppelt so lange dauerte und doppelt so kompliziert war, wie es hätte dauern beziehungsweise sein müssen. »Sie wollen trinken?« fragte er, als wir endlich saßen. »Champagner«, sagte ich. Er grinste und ging davon. Ich persönlich mag indisches Essen, aber es war ganz offensichtlich, daß dieser Laden nicht zu den Spitzenkuchen gehörte. Ich bezweifelte, daß sie überhaupt irgendwelche Gäste hatten. Ende des Jahres würden sie pleite sein. Aber das war ja nicht mein Problem. Mein Problem war, Kitchen in den Ofen zu kriegen. Der Kellner kehrte mit einer Flasche deutschem Schaumwein zurück und füllte zeremoniell unsere Gläser. »Ja«, sagte ich, als er endlich verschwunden war. »Die Weinkarte ist nicht so besonders, aber für das Essen kommen die Leute von weit her.« »Es sieht nicht so aus, als käme irgendwer hierher«, sagte mein Vater. »Wahrscheinlich war es vorhin knallvoll«, entgegnete ich.
»Das bezweifle ich.«
»Ein Toast«, sagte ich. »Auf mich.« »Happy Birthday«, sagte meine Mutter. Dad murmelte irgendwas, Gaia zuckte mit den Schultern. Ich nahm einen Schluck des süßen, warmen Sekts und versuchte zu lächeln. Der Kellner brachte kleine fotokopierte Karten, aber ich schaute nicht mal auf meine. »Ich geh' bloß noch mal raus und seh' nach dem Wagen«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob ich ihn abgeschlossen habe.« »Du hast ihn abgeschlossen«, sagte meine Mutter. »Ich schau noch mal nach«, sagte ich. »Hier in der Gegend kann man nicht vorsichtig genug sein. Wenn der Kellner wiederkommt, bestellt mir einmal Zwiebel-Bhaji, Huhn Tikka Massala und ein Channa Massala, dazu Pilawreis und ein Nan. Oh, und ein einfaches Popadom, nein, zwei einfache Popadoms.« All das sagte ich schon im Gehen, unterwegs zum Ausgang. »Zwei Popadoms! « rief ich bereits in der Tür. Ich zog sie hinter mir zu und lief zurück zum Wagen, den ich absichtlich ein paar Meter vom Restaurant entfernt geparkt hatte, so daß sie nicht sehen konnten, wie ich davonfuhr. Ich sprang rein, jagte den Wagen um die Kurve und bremste quietschend vor meinem Atelier. Die Tür war abgeschlossen, das hieß also, das Terry nach Hause gegangen war. Ausgezeichnet. Ich konnte Kitchen mit dem Seilzug hochziehen, ihn ins Feuer werfen und zurück im Empire sein, bevor auch nur die Vorspeisen kamen. Aber lassen Sie mich eine kurze Pause einlegen, um Ihnen einen Witz zu erzählen. Frage: Wie bringt man Gott zum Lachen? Antwort: Erzähl ihm deine Pläne. Ich steckte die Hände in meine Tasche, und da fiel mir auf, daß ich meine Atelierschlüssel verloren hatte.
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9. Kapitel Na ja, ich habe ja schon gesagt, ein weniger standfester Mann wäre vielleicht von dieser Entwicklung der Lage der Dinge kalt erwischt worden; er hätte vielleicht das Handtuch geworfen, sich zur Ruhe gesetzt und zur Flasche gegriffen. Aber ich nicht. Ich nahm mir bloß die Zeit; das Pech zu verfluchen, das an meinen Fingern klebte, dann warf ich mein müdes und schmerzendes Hirn wieder an und brütete. Wann hatte ich meine Schlüssel zuletzt in Händen gehabt? Mutter hatte die Wohnung abgeschlossen. Vater hatte mich ins Haus gelassen. Das zweitemal, als ich ins Atelier gekommen war, war die Tür offen gewesen. Das erstemal hatte ich definitiv meine Schlüssel benutzt. Ich hatte sie Terry gegeben, damit sie mit dem Schweizermesser daran das Bier öffnen konnte. Gottverfluchte Höllenkacke. Ich hatte sie dagelassen, bestimmt. Bei Terry und den Bullenweibern. Das kommt davon, wenn man zu früh aufwacht. Mein Hirn war nicht bei der Sache gewesen. Ich rüttelte an den Türen, mehr um einen Frust auszudrücken, als um sie wirklich durch Magie aufzukriegen. Verzweifelt schaute ich am Gebäude hoch, aber natürlich waren alle Fenster zu. Nichts. Nichts. Nichts. Ich ging um die Ecke. Die einzige Möglichkeit, reinzukommen, abgesehen von der Vordertür, war die Feuertreppe. Es gab am oberen Ende der Eisentreppe eine Tür, die man aber nur von innen aufmachen konnte. Ich hätte die Treppe hinaufsteigen und eines der Fenster einschlagen können, aber dazu mußte ich an dem Höllenhund vorbei. Des nachts wurde er von der Kette gelassen und durchstreifte den kleinen Hof am Fuß der Leiter. Tja ... Vielleicht war er heute nicht hier. Vielleicht schlief er. Vielleicht konnte ich mich an ihm vorbeischleichen, die Treppe hinaufklettern, ein Fenster einschlagen, meine Hand hindurchstrecken und die Tür öffnen. Vielleicht ... Vielleicht auch nicht. Ich setzte den Wagen zurück gegen die Mauer, stieg auf die Motorhaube und dann aufs Dach. Von dort aus konnte ich über die Mauer schauen, und als ich meinen Kopf darüber hob, war ein bedrohliches Knurren zu hören. Ich schaute dem Höllenhund in die Augen. Schwarze, tote Augen, wie die eines Hais. Spielverderber. Dann hörte ich einen Automotor näherkommen und wandte mich um, bloß um einen zerschlagenen alten Van auf dem Platz halten zu sehen. Ich sprang vom Wagen und versuchte, unverdächtig auszusehen. Der Fahrer des Vans stellte den Motor ab, die Beifahrertür öffnete sich und jemand stieg aus. Freude über Freude, es war Rhubarb, der Bettlerkönig. Ein zweiter Mann stieg auf der Fahrerseite aus, ein kleiner dicker Typ mit einer großen Brille. Das gefiel mir gar nicht. Ich sah zu, wie Rhubarb auf mich zukam. Was hätte ich auch tun sollen? Er betrachtete die Front des Saab. Dort war eine kleine Delle zu sehen, und er zog die Augenbrauen hoch. »Unfall gehabt, was?« »Mir ist jemand vors Auto gelaufen«, sagte ich. »Konnte nicht mehr anhalten.«
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»Ach ja? So ist das passiert?« »Nein, genaugenommen nicht«, sagte ich. »Jetzt, wo du's sagst, f ällt's mir ein.« Ich konnte es nicht mehr ertragen, diesen Deppen vollzulügen. »Was in Wirklichkeit passiert ist, war, daß irgend so ein Idiot nicht genug Menschenverstand hatte, mir aus dem Weg zu gehen, als er mich kommen sah.« Rhubarb schlug mir in den Magen; ich sank am Wagen entlang zu Boden, atemlos und blind. »Du glaubst, du kannst einfach Leute überfahren, wie?« sagte er und trat mir in die Rippen. Der Schmerz raste durch meine Brust. Ich sah zu ihm hoch, er zog mein Portemonnaie aus seiner Tasche, holte die Sachen darin heraus und ließ sie auf mich heruntersegeln. »Wenn du dich wie ein Arsch aufführen willst«, sagte er, »solltest du keine Visitenkarten hinterlassen.« Eine meiner Geschäftskarten, auf denen die Adresse meines Ateliers stand, segelte herab und landete vor meiner Nase. Glücklicherweise - das hoffte ich jedenfalls - stand meine Privatadresse auf nichts in diesem Portemonnaie. »Kreditkarten«, sagte er. »Hast sie schon gesperrt, was?« Er trat mich wieder. »Und
jetzt
willst
du
mich
zusammenschlagen?«
fragte
ich.
»Das
ist
ja
ein
nettes
Geburtstagsgeschenk für mich.« »Du hättest Mike eben nicht überfahren sollen, hah?« »Sicher kannst du nachvollziehen, daß das bloß die Rache dafür war, mich auszurauben.« Der kleine Dicke kam jetzt hinterher; er stützte den Holzfäller, Mike, der offensichtlich nicht auf einem Bein laufen konnte. »Das war kein Raub«, sagte er mit trockener, heiserer Stimme. »Das war ein politisches Statement.« »Quatsch«, sagte ich. »Umverteilung der Geldmengen.« »Warum könnt ihr nicht einfach zugeben, daß ihr Banditen seid, und Schluß damit?« sagte ich, von dem Schlag immer noch zu fertig, mich zu bewegen. »Weil wir das nicht sind«, sagte Rhubarb und stütze den Holzfäller unter der anderen Schulter. »Alles, was wir tun, ist politisch motiviert.« Der Holzfäller zuckte zusammen. So wie es aussah, war sein Bein gebrochen. Das andere aber war noch in Ordnung, wie ich erfahren durfte, als Rhubarb und der kleine Dicke ihn zu mir rüberschleppten, ihn gemeinsam hochhoben und er begann, nach mir zu treten. »Deine Tage sind gezählt, du Arschkeks«, sagte Rhubarb. »Das ist die Zukunft. Der Stiefel des Volkes tritt dich aus der Welt.« »Das ist doch nicht die Zukunft, du Idiot«, konterte ich lachend. »Das ist bloß heute. Bloß wieder so ein Scheißtag.« Ich hörte auf zu reden, weil ich den Holzfäl lerstiefel in die Fresse bekam und meine Unterlippe platzte. »England wird von Grund auf erneuert, Bruder«, behauptete Rhubarb. »Jetzt haben neue Kräfte das Sagen. Ein neues Heidentum zieht herauf.« Ehrlich gesagt hatte ich die Schnauze voll. Es waren nicht die Tritte, es war diese SechstklässlerLektion, die ich nicht verdauen konnte. »Du glaubst wirklich, die Zeiten ändern sich?« fragte ich knurrend. »Du glaubst, die alten Regeln sind gekippt? Ihr glaubt, Joe Public ist Lord Snooty los? Du glaubst, dieses grüne schöne Land gehört den
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Popstars, Boxern, Komödianten? Dann denk besser noch mal nach, du dämlicher, widerwärtiger Kretin.« Mit diesen Worten stemmte ich mich mit aller Kraft hoch und ließ mich gegen das Trio fallen, wodurch alle drei auf den Asphalt kippten. Mike, der Holzfäller, jaulte, als sie ihn losließen, und ich verpaßte ihm einen zackigen Tritt gegen sein gebrochenes Bein. »Ihr glaubt diesen Quatsch«, sagte ich, schlug wild nach Rhubarb, als er aufstand, und erwischte ihn seitlich am Kopf, was ihm wahrscheinlich genauso weh tat wie mir. »Ihr habt den Köder geschluckt. Ihr habt den Haken bezahlt, habt die Angel gemietet und euch den Blinker in euren armseligen Arsch schieben lassen. Ihr glaubt, bloß weil ihr rumlaufen könnt wie Indianer und in Ladeneingängen pennen dürft, sei ein neues Utopia geboren.« Bevor ich noch etwas sagen konnte, packte mich der kleine Dicke wie ein Rugbyspieler, und wir krachten gegen den Wagen. Rhubarb kam auf mich zu, aber ich riß meinen Kopf zur Seite, so daß er mich ähnlich erwischte wie ich ihn zuvor. »Ein freies Land für den einfachen Mann!« brüllte ich und versuchte, den Dicken abzuwerfen. »Gottes Reich hier auf Erden!« Wir rutschten aus und stürzten zu Boden, ich mit dem Gesicht nach unten, was bedeutete, daß die Hände des Dicken unter uns allen lagen. Er ließ los, und ich rollte mich zur Seite. Rhubarb trat wieder nach mir, aber ich schaffte es, seinen Fuß zu packen und ihn in den Knöchel zu beißen. Er hopste fluchend davon, ich stand wieder auf. »Das Volk hat nicht gewonnen!« brüllte ich und rannte dem Dicken meinen gesenkten Kopf in den Bauch wie ein wilder Stier. »Das Volk hat einen Dreck gewonnen!« Er grunzte, als er gegen die Mauer knallte; wir trennten uns wieder. Jetzt stand ich im Mittelpunkt des Kreises der drei ladierten Männer. Mike versuchte, sich an einem meiner Türgriffe hochzuziehen, Rhubarb kuschelte mit seinem Bein, und der Dicke holte stöhnend Luft. »Jetzt hört mir mal zu«, sagte ich. »Das ist doch Quatsch. Den Aristokraten gehört vielleicht weniger von diesem Land als noch vor hundert Jahren, aber immer noch gehört ihnen mehr, als euch und mir jemals gehören wird.« Rhubarb und der Dicke stürzten sich auf mich, und wir gingen zu Boden. »Die zehn reichsten privaten Landbesitzer 1894 waren alles Aristokraten«, krächzte ich. »Earls und Dukes und Lords. Und die Top Ten von heute, das sind immer noch welche.« Wir klammerten uns viel zu sehr aneinander, um uns wirklich weh zu tun. Umherrollend krebsten wir umeinander, und in dem ganzen Wirrwarr mußten wir gegen Mike gerollt sein, weil er plötzlich vor Schmerz quietschte und auf uns drauf fiel. Diese Ablenkung erlaubte es mir, mich freizustrampeln. Ich legte bloß eine kurze Pause ein, um den Dicken gegen den Kopf zu treten, dann robbte ich davon. »Und diesen zehn Leuten gehört ein Sechzehntel Großbritanniens!« brüllte ich sie an, begeistert über meine Fähigkeit, mich unter Druck an Statistiken zu erin nern. »Ein Sechzehntel! Eine von sechzehn,Quadratmeilen Großbritanniens gehört diesen zehn Affenköpfen. Also erzählt mir doch nicht, daß das Volk gewonnen hat!«
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Rhubarb stürzte sich auf mich und riß mich wieder zu Boden. Es gelang ihm, sich auf meine Brust zu setzen und meinen Kopf auf den Boden zu knallen. »Warum hältst du nicht die Schnauze?« keifte er. »Weil es höchste Zeit ist, daß du die Wahrheit erfährst«, entgegnete ich, und warf ihn auf den Rücken, bevor er wußte, wie ihm geschah. Jetzt war ich damit dran, seinen Kopf auf den Boden zu donnern. »Nehmen wir doch diese Hitparade«, sagte ich. »Wer war 1894 die Nummer eins? Ich sag's dir, es war ein Typ namens Duke of Sutherland. Die Welt hat sich verändert seitdem, das gebe ich zu. Heutzutage stehen die Sutherlands nur noch auf Nummer sechs.« Der Dicke schlug mich von hinten, und ich kippte überrascht vornüber. Aber ich sprang auf, bevor sie mir noch etwas antun konnten, und die beiden jagten mich über den Vorhof wie kleine Kinder beim Kriegen. Ich brauchte einen Vorteil, sonst würden wir hier die ganze Nacht verbringen. »Wohingegen die Nummer zwei von 1894«, fuhr ich fort, »der Duke von Buccleuch, jetzt auf Nummer eins steht, Geld stinkt eben immer noch nicht. Großer Gott, hat sich der Status quo verändert. Buccleuch, Seafield, Athol, Sutherland, die waren schon vor hundert Jahren in den Top ten. Und sind immer noch drin. Und wenn ihr glaubt, daß Namen wie Farquharson, Westminster und der Duke of Northumberland nach Plebejer klingen, hey, dann habt ihr echt nicht mal Scheiße im Hirn.« Jetzt fiel mir doch noch ein Plan ein. Ich packte den Holzfäller, legte ihn um und schnappte mir sein gebrochenes Bein, bevor die anderen mich daran hindern konnten. Mike wurde weiß. »Zurück«, sagte ich und saß mit Mikes Bein im Schoß da. »Oder ich breche ihm das Bein ganz.« Sie blieben stehen - das war's; sie keuchten und fühlten sich dreckig. »Es dauert keine Minute«, sagte ich und atmete langsamer. »Also hört einfach zu.« Sie betrachteten mich mit blankem Haß. »Natürlich ist Buccleuch nicht der reichste Landbesitzer in Großbritannien per se«, erklärte ich. »Nein, er ist bloß der achtreichste. Die wichtigsten Grundbesitzer sind Institutionen. Und was gibt's noch für Institutionen? Die Tierschützer? Klassenkämpfer? Die Druiden von Stonehenge? Der Stamm der Dongas? Wißt ihr, das glaube ich nicht. Wie wär's mit dem Verteidigungsministerium, der Königsfamilie, der Universität Oxbridge und der gottverdammten Kirche? Ihr seid Idioten und solltet mal nachdenken. Es gibt euch gar nicht. Was diese Leute angeht, seid ihr nicht mal Kaninchenkacke. Hört euch das an ... Hört!« Wir schwiegen alle und lauschten. »Hört ihr den Lärm?« rief ich. »So klingt es, wenn ihr Pfeifen in den Wind pißt. Ihr könnt mich zusammenschlagen, ihr könnt mich beleidigen, ihr könnt mich aus rauben, aber versucht nie wieder, mir was von sozialen Veränderungen im Großbritannien des zwanzigsten Jahrhunderts zu erzählen, okay?« »Laß mich los«, wimmerte der Holzfäller. »Ihr hättet nicht herkommen sollen«, sagte ich. »Ihr hättet ihn besser ins Krankenhaus gebracht.« »Wir sind noch nicht fertig«, sagte Rhubarb. »Wir wissen, wo du wohnst. « »Du weißt nicht, wo ich wohne, du Penner. Du weißt, wo ich arbeite, was absolut nicht dasselbe ist.« »Das sagst du nur so«, behauptete Rhubarb.
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»Ich sag dir auch: Verpiß dich«, entgegnete ich. »Also, verpißt euch und laßt mich alleine.« Der Dicke schniefte, Rhubarb zuckte mit den Schultern, aber es war klar, daß wir alle genug hatten. Ich ließ Mike los, und sie halfen ihm hoch. Dann hinkten sie alle drei zurück zum Van. »Ich gebe zu, die Gesellschaft hat sich schon verändert!« rief ich ihnen nach. »Aber es ist mir wirklich total egal, so oder so, ob es nun abgetrennte Saloon Bars in den Pubs gibt oder nicht!« Sie fuhren davon in die Nacht, und ich tastete mein Gesicht und meinen Körper nach Schnitten und Schürfwunden ab. Allerorten fühlte ich mich empfindlich weich an, aber glücklicherweise schien das einzige bißchen Blut aus meinem Mund zu kommen. Ich betrachtete mich im Spiegelbild der Wagenfenster. Meine gespaltene Lippe sah aus wie eine geplatzte Bratwurst. Häßlich zwar, aber ich mußte noch nicht zwingend in die Notaufnahme. Intelligenterweise stellte ich die Fensterwaschanlage ein und spritzte mir ins Gesicht. Es piekste höllisch, wusch aber das meiste Blut und den Dreck ab. Mein weißer Anzug war hin, würde aber den Rest des Abends überstehen. Das Schlimmste war, daß ich bei dem Kampf einen Schuh verloren hatte. Ich suchte überall auf dem Platz und in der Umgebung, konnte aber keine Spur davon finden. Mir blieb nur eins: Ich öffnete den Kofferraum und wickelte Mister Kitchen soweit aus, daß ich an seine Beine ran kam. Er hatte aufgehört zu bluten, und das Laken klebte da und dort an ihm. Ganz kalt schien er immer noch nicht zu sein. Seine Füße waren ein bißchen angeschwollen, so daß es nicht ganz einfach war, ihm die Stiefel auszuziehen, aber ich fädelte die Schnürsenkel heraus, und schließlich schaffte ich es. Im Wagen zog ich sie mir an. Sie waren groß und schwer, Caterpillars mit Stahlkappen, und ich brauchte ewig, um die Schnürsenkel wieder durch all die Löcher zu fädeln. Natürlich paßten sie nicht zum Anzug, aber davon abgesehen waren sie in Ordnung. Meinen Übriggebliebenen Schuh warf ich in den Kofferraum und schloß ab. Ich brauchte dringend etwas, um den Schmerz zu lindern, also hackte ich ein paar Lines Coke auf meiner Motorhaube und russelte sie durch meine zerschlagene Nase. So erfrischt machte ich mich auf den Weg zurück zum Empire Tandoori und zu meiner wartenden Familie. Als ich dort wieder auftauchte, glotzten die drei mich an, als wäre ich eine Figur aus Der Tag der lebenden Toten. »Was ist passiert?« quakte Mutter. »Geht es dir gut?« »Alles bestens ... Hab' jemand dabei erwischt, wie er meinen Wagen knacken wollte. Glück, daß ich nachgeschaut habe, was?« »Ja, du siehst verdammt glücklich aus«, sagte Dad mit irritierendem Sarkasmus. »Na ja, hmm, er war nicht allzu begeistert, daß ich ihn unterbrechen wollte.« »Bist du verletzt?« fragte Mutter. »Du solltest ins Krankenhaus.« »Alles bestens, alles bestens. Sieht schlimmer aus, als es ist. War nur ein bißchen Geschubse. Wie ist das Essen?« Allerlei Schüsseln standen auf dem Tisch. Zerkochter Matsch schwamm in Fett. Es war kaum angerührt. »Sehr hübsch«, sagte Mutter lahm. »Dir schmeckt's, oder, Gaia?« fragte ich. Obwohl es nicht unbedingt so aussah, als wäre sie begeistert. »Ich kann das nicht wirklich essen«, sagte sie. »Ich bin Vegetarierin.«
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»Ein paar davon sind doch vegetarische Gerichte, oder?« sagte ich, setzte mich und häufte mir was auf den Teller. »Ja, aber ich weiß nicht, worin sie gekocht wurden. Ich esse normalerweise nicht auswärts, ich mache mir gern mein eigenes Essen. Nur dann kann ich wirklich sicher sein, was drin ist. Auf diese Weise kann ich Toxine und Additive und tierische Stoffe meiden.« »Wie du willst«, sagte ich. »Aber du verpaßt wirklich was.« »Ist dieser ganze Abend irgendein Witz auf Kosten deiner Mutter und mir?« fragte Vater. »Denn wenn das so ist, ist er sehr erfolgreich.« _ »Schmeckt's dir nicht?« »Das ist möglicherweise das ekelhafteste Essen, das ich je probiert habe. Gott allein weiß, wie lange das schon hinten rumstand und auf einen Gast gewartet hat.« »Ich finde es ziemlich gut«, sagte ich und würgte einen gehäuften Löffel Glibber herunter. »Es ist authentisch.« »Hah! Heißt das, wir kriegen jetzt auch noch alle die Ruhr?« »Komm, komm«, sagte Mutter. »Laß uns nicht streiten. Er hat Geburtstag.« »Darauf trinke ich«, sagte ich und schüttete was von der warmen deutschen Pisse hinunter. »Auf uns alle«, sagte ich. »Meine glückliche Familie. Jetzt können wir hoffnungsvoll den Rest unseres Mahls in Frieden genießen.« »Wie kann man etwas hoffnungsvoll genießen?« fragte Vater. »Oh, stimmt. Gespaltener Infinitiv. Hör mal, Vater, nur zu deiner Information, es gibt keinen vernünftigen Grund auf Erden, warum ein Infinitiv nicht so verwendet werden sollte. Es ist eine absolut sinnlose Regel, die sich ein paar gelangweilte viktorianische Akademiker an einem regnerischen Nachmittag ausgedacht haben müssen, als sie gerade nichts besseres zu tun hatten.« »Das stimmt«, sagte Gaia. »All diese Regeln, diese ganze Grammatik, all das hat die regierende Elite erfunden, um die normalen Menschen zu unterdrücken. Mir kommt es so vor, als ob das Englisch der Queen nur einem kleinen Club vorbehalten wäre, dem sich nur die Mächtigen anschließen können. Wie eine Geheimsprache. « »Also, deine Leute«, sagte Dad, »die Sozialisten, haben die Sprache schlimmer als alle anderen mißhandelt,
bloß
Jargon,
bloß
Wortgrütze,
mit
Vorsitzenden
und
rockwir
kenden
Sammlungsvorständen und diesem ganzen Blabla von Agendas und Workshops und dieser ganzen Propaganda. Wenn du schon von Geheimsprachen redest - das ist eine, mein Mädchen, diese Politsprache, das ist ein religiöser Code. Diese linksliberalen Vereinigungen sind heilige Schriften, das ist Kabbala.« »Und was ist mit deinen Büchern, Dad?« fragte ich. »Die sind doch genauso. Da steht genausoviel Jargon drin wie überall sonst. Lernt die Geheimsprache, und ihr werdet Erfolg haben; gib den Dingen Namen, um Macht über sie zu erlangen.« »Da hast du vielleicht sogar recht«, sagte Dad. »Aber das bedeutet doch nicht, daß es jedermann erlaubt sein sollte, pfuschiges
Englisch
zu
sprechen.
Das
ist
Teil
der
übergreifenden
Abwärtsbewegung, die unsere Gesellschaft zerstört. Wie die Bettler, die man überall auf den Straßen sieht ... « »Sie sind ein direktes Ergebnis der Regierungspolitik«, warf ich ein.
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»Ah, das ist ja spannend«, sagte Dad. »Hört meinen Sohn, den Kommunisten.« »Ihnen wird die Sozialhilfe gekürzt«, sagte Gaia. »Sie können sich keine Wohnung leisten, und es gibt keine Jobs.« »Dann sollten sie bei ihren Eltern bleiben.« »Viele von ihnen werden zu Hause mißbraucht«, sagte ich. »Sie können nicht bleiben. « »Aber auf den Straßen werden sie auch mißbraucht«, knurrte Dad. »Die meisten von Ihnen sind Stricher.« »Und was schlägst du vor?« fragte ich. »Tja, tut mir leid, aber so wie ich es sehe, ist es besser, von den eigenen Eltern mißbraucht zu werden als von vollkommen Fremden.« Ich lachte. »Du glaubst wirklich, Dad, daß all unsere Probleme gelöst werden, wenn alle bloß ordentlich englisch können?« »Das sehe ich auch so«, sagte Mutter. »Ich kann kein Wort mehr verstehen von dem, was sie im Fernsehen sagen ... Das liegt an dieser Hintergrundmusik, die sie im mer spielen. Die macht alles kaputt. Warum muß die so laut sein?« »Ein sehr sinnvoller Beitrag zu diesem Gespräch, Mutter«, sagte ich. »Sei nicht unhöflich zu deiner Mutter.« »Oh. Würde es dir besser gefallen, wenn ich sie völlig ignoriere, so wie du? Ist das höflicher?« »Bitte nicht streiten«, sagte Mutter. »Es ist immer dasselbe, wenn ihr zwei euch trefft. Ihr streitet die ganze Zeit.« »Wir streiten nicht, wir führen eine zivilisierte Diskussion«, sagte Vater. »Könnt ihr nicht über was Schönes diskutieren?« »Was denn?« fragte ich. »Na ja, während du draußen warst, hat Gaia uns von der Umwelt erzählt.« »Da möchte ich drauf wetten«, sagte ich. »Darüber soll man keine Witze machen«, ereiferte sich Gaia. »Die Umweltverschmutzung ist das wichtigste Problem der Menschheit.« »Oh, ich dachte, das hätten wir«, sagte Dad. »Ich habe es wirklich satt, dem Gejammer der sogenannten Umweltschützer zuzuhören. Ich meine, wußtest du, daß das ganze Lloyd-Fiasko von absurden Umweltklagen in Amerika ausgelöst wurde? Forderungen, die noch bis ins nächste Jahrhundert hineinreichen.« »Sie verdienen, was sie bekommen haben«, sagte Gaia. »Das waren doch gierige Idioten . . . « »Ah, du kannst über sie lachen, aber es trifft jeden. Warum ist es so schwierig, Geld von der Hausratversicherung zu bekommen, wenn bei einem eingebrochen wird? Warum bekommt man kaum noch eine Kfz-Versicherung, und wenn doch, ist sie so teuer? Ich sag dir warum, wegen der Grünen in Amerika.« »Worauf willst du hinaus, Dad?« frage ich. »Daß sie die Forderungen nicht hätten stellen sollen, oder daß man die Umwelt erst gar nicht hätte verschmutzen dürfen?« »Diese sogenannte Umweltverschmutzung reicht doch Jahrzehnte zurück«, sagte Dad. »Niemand hat das in Frage gestellt, bis diese gottverdammten Grünen aufkamen und von Mutter Erde und dem Erbe unserer Enkelkinder sabbelten.« »Wir haben nur einen Planeten«, erklärte Gaia. »Und was würdest du tun?« fragte Dad. »Autos ver-
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bieten? Alle Fabriken schließen? Alle Düngemittel vernichten? Uns zurück in die Höhlen jagen?« »Ja«, sagte Gaia, und ihre Augen leuchteten vor jugendlichem Bekennergeister. »Wenn das bedeutet, daß ich saubere Luft atmen und sauberes Essen zu mir nehmen kann und keine behinderten Kinder gebären muß. « »Mein Gott«, sagte Mutter. »Du hast doch kein behindertes Kind, Jill?« »Natürlich hat sie das nicht«, sagte Vater. »Die Lebenserwartung ist höher als je zuvor, die Leute sind gesünder, die Chance, ein behindertes Kind zu bekommen, ist niedriger als je zuvor ... « »Hast du Aspirin dabei?« fragte ich Mum. »Ich glaube schon, Schatz.« Sie wühlte in ihrer Tasche. »Versuch jetzt nicht, das Thema zu wechseln«, sagte mein Vater. »Ich hab' Kopfschmerzen«, sagte ich. Dad grunzte und holte seine Zigaretten heraus. Gaia warf ihm einen mißbilligenden Blick zu, aber er entschied sich dafür, sie zu ignorieren. »Mir bleibt nur zu sagen«, deklarierte er und zündete sich die Kippe an, »daß ich Gott dafür danke, daß du nur einmal im Jahr Geburtstag hast.« »Hör zu«, sagte ich. »Ich gebe zu, daß dieses Essen kein großer Erfolg war. Ehrlich gesagt glaube ich, daß sie einen neuen Koch haben, also, ich zahle, okay ... ? Genau genommen, das ist Quatsch, nein, ich hab' gar kein Geld dabei.« Mein Vater seufzte und holte Geld aus seinem Portemonnaie. »Hier«, sagte er und ließ genervt zwei Fünfzigpfundnoten auf den Tisch segeln. »Das sollte mehr als genug sein.« »Da«, sagte Mum. »Ich wußte, ich hab' welches.« Sie schob mir einen Streifen Tabletten rüber. Ich drückte zwei heraus und spülte sie mit einem Schluck Sekt hinunter. »Was haltet ihr von noch was zu trinken, bevor wir fahren?« fragte ich und rieb meine Hände aneinander. »Nein«, sagte Dad und stand auf. »Deine Mutter und ich möchten nach Hause.« »Ich bleib noch und feiere ein wenig«, sagte ich. »Es ist erst halb elf.« »Du kannst tun und lassen, was du willst«, sagte Vater. »Komm, Jill, wir rufen uns ein Taxi.« »Genaugenommen ...« Gaia schaute mich an. »Hast du was dagegen, wenn ich noch ein Weilchen bleibe?« Sie wandte sich an Dad. »Ich kann mir später ein Taxi rufen.« »Klar«, sagte ich. »Das wirst du nicht tun«, sagte mein Vater. »Es ist nicht sicher.« »Dann fahr' ich sie nach Hause«, sagte ich. Mein Vater dachte darüber nach, dann wurde ihm klar, daß er nur verlieren konnte. »Wie du willst«, sagte er. »Aber komm nicht zu spät. Ich hab' Graham versprochen, daß ich mich um dich kümmere.« »Sie ist in guten Händen«, sagte ich, und mein Vater starrte mich bloß an. »Gute Nacht«, sagte er. »Und Happy Birthday.« Ich küßte Mutter und brachte sie zur Tür. Als Dad bereits auf der Suche nach einem Taxi die Straße entlangging, bat ich Mutter um meinen Haustürschlüssel, und sie fischte ihn für mich aus ihrer Tasche. Ich küßte sie wieder und schickte sie hinter Dad her. Als ich zurückkam, war der kleine Kellner auch wieder aufgetaucht. »Sie wollen Süßes? Eiscreme?«
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»Bloß zwei Brandys und die Rechnung«, sagte ich und setzte mich zu Gaia. »Vielen Dank«, sagte sie. »Ich bin nicht aus dem Haus gewesen, seit ich nach London gekommen bin. Ich bin fast verrückt geworden ... Ich meine, deine Eltern sind sehr nett, aber du weißt schon ... « »Meinetwegen mußt du nicht höflich sein«, sagte ich. »Na ja, dein Dad ist ein bißchen rechtslastig, nicht wahr?« Ich lachte. »Bloß ein bißchen?« »Ich finde das gut, wie du ihm Paroli bietest.« »Versteh mich nicht falsch«, sagte ich. »Ich würde mich immer mit ihm streiten, ganz egal, was er sagt. Dafür sind Väter da.« Der Kellner brachte zwei Brandys in lächerlich riesigen Gläsern und zwei nachgemachte After Eights. Ich gab ihm einen der Geldscheine, die Dad hatte liegenlassen und sagte, er könne den Rest behalten. »Hier.« Ich schob meiner Kusine eines der Gläser ruber. »Du trinkst doch wenigstens?« »Ja.« Sie lächelte mich an. »Wenn ich es mir leisten kann.« Sie kippte den Brandy runter und schnitt eine Grimasse. Ich hätte auch eine geschnitten, aber mir fehlte die Kraft dazu. Es war wirklich nicht der beste Brandy der Welt. Mühsam versuchte ich mir vorzustellen, wie ihr Korper ohne Kleider aussah. Keine Chance. Ich konnte mich nicht konzentrieren. »Und was machen wir jetzt?« fragte sie. »Wir fahren in die Stadt«, sagte ich. »Und dann versuchen wir, eine Lesbe zu finden.« Sie schaute mich mit gerunzelter Stirn an, sagte aber nichts.
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10. Kapitel Als wir aufbrechen wollten, fühlte ich mich plötzlich ganz zerschlagen. Wund, angespannt, verletzt, zerfetzt, todmüde wie ein alter Mann. Zerschmettert. Außerdem war mir schwindelig, meine Ohren klingelten, und ich bekam einen Tunnelblick. »Entschuldigst du mich einen Augenblick?« bat ich Gaia. »Ich muß mich mal eben übergeben.« Ich taumelte durchs Restaurant und durch eine Tür mit der Aufschrift »Toiletten«. Es gab zwei kleine Räume dahinter, die von einem dunklen Flur abgingen. Ich ging in den, auf dem eine fettige Metallplatte einen Mann im Soldatenaufzug der Quality-Street-Schokolade zeigte. Die Toilette stank nach Reinigungsmittel; ein brennender, stechender und ekelerregender süßer chemischer Geruch, der mich vollends in den Bereich der Ubelkeit beförderte. Vor der Schüssel kniend kotzte ich eine volle Ladung in das blaue Wasser. Eine brandheiße Mixtur aus Jodwasserstoffsäure und unverdautem indischem Essen, ge mischt mit Bier und billigem deutschen Sekt schoß aus mir heraus wie aus einem Feuerwehrschlauch. Ein großer Schwall, und dann war es vorbei. Mit leerem Bauch wusch ich mich am Waschbecken sauber. Das kalte Wasser in meinem Gesicht jagte das Leben eksta tisch in mich zurück. Ich schloß die Augen und seufzte vergnügt. Dann tupfte ich mit einem angefeuchteten Papiertuch auf meinem Anzug herum, und nach ein paar kurzen Minuten fühlte ich mich wieder einigermaßen respektabel. Allerdings war ich nach dem Kotzen noch schwächer als zuvor. Ich kippte ein kleines Häufchen Sulfat oben auf den Plastik-Wasserbehälter - nur eine Kleinigkeit, um meinen Durchhänger abzuservieren und mich aus Battersea her auszukatapultieren - und saugte mir das Zeug mit Dads Fünfziger rein. Morgen würde ich Kopfschmerzen haben, aber in schlimmen Zeiten sind schlimme Mittel angesagt. Ich hatte seit ein paar Jahren keinen Speed genommen, und der schmutzige Geschmack erschien mir angenehm nostalgisch. Ich schniefte und schluckte und schniefte, dann rieb ich mir noch ein bißchen kaltes Wasser in die Augen und ging raus zu meiner kleinen Kusine. Sie saß da, blond und sanft und warm und mit Schmuck behängt. Am liebsten hätte ich sie ausgezogen und es gleich hier auf dem Tisch gemacht, während der kleine indische Kellner geduldig daneben stand und mit einem alles überdauernden Lächeln auf seinem dunklen Tisch darauf wartete, den Dreck wegzuwischen. »Alles in Ordnung?« fragte sie mit dem besorgten Gesicht eines Kindes. »Mir ging's nie besser«, sagte ich. »Du siehst grün aus.« »Vielleicht bin ich irgendwie krank«, sagte ich. »Komm, wir suchen uns ein Taxi.« Wir gingen runter zur Battersea Bridge Road und warteten. Am Straßenrand stand eine große Werbetafel für einen glitzernden deutschen Monsterwagen, dahinter viel Weiß, und natürlich zog Gaia einen großen Filzer aus ihrer Tasche, kletterte auf eine niedrige Mauer und begann, in das Weiß zu kritzeln. Ihr Gesicht war kindlich-konzentriert, und sie sah aus wie ein böses Schulmädchen. Ich las, was sie geschrieben hatte: »Geh los und tu etwas sinnlos Schönes.« »Wunderbar«, sagte ich. »Aber hängt das nicht doch sehr von deiner Vorstellung von Schönheit ab?« »Schönheit ist Schönheit«, sagte sie und sprang von der Mauer. »Ach ja?« fragte ich. »Ich finde Städte schön, ich finde Autobahnen schön, ich finde Autos schön, ich finde Waffen schön ... Letzteres sind ganz exquisite kleine Dinger, hast du je eine in der Hand
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gehabt? Ich finde medizinische Fotos von Operationen und Seuchen schön, ich finde Kylie Minogue schön ... « »Kylie Minogue? Du machst Witze.« »Und Pillen, diese zweifarbigen Pillen.« »Aber die Natur ist so viel besser«, sagte Gaia. »Eine Landschaft, ist die nicht schön?« »Ja, aber sie ist nicht natürlich. Unsere hübschen englischen Landschaften sind das Produkt von Tausenden von Jahren menschlichen Managements.« »Aber es war ausbalanciert, die Menschen haben in Harmonie mit der Natur gelebt. Dahin wollen wir zurückkehren, die Dongas, der Regenbogen-Stamm. Wir versuchen, die Wahrnehmung der Menschen zu verändern. Diese Gesellschaft hat Millionen von Menschen in diesem Land nichts zu bieten.« »Aber andererseits gibt's da Millionen von Leuten in diesem Land, die glauben, daß ihr bloß ein Haufen dreckiger Hippie-Störenfriede seid . . . « »Wir haben keine Feinde«, sagte sie mit der frommen Begeisterung einer eifrigen Teenagerin. »Nur verwirrte Freunde. Ja? Wir glauben an die Gemeinschaft, nicht an Kommunismus. Es gab da diese Leute zur Zeit Cromwells, die Digger. . . « »Gerrard Winstanley«, sagte ich. »Hat eine alternative Gesellschaft in St. George's Hill in Surrey gegründet.« »Hat an das Prinzip geglaubt, daß Land niemandem gehören dürfe. AgrarKommunismus.« »Ja, wieso weißt du das?« »Ich glaube, daß man wissen sollte, worüber man redet ...« Leider konnte ich das nicht weiter ausführen, weil ein schwarzes Taxi vor uns hielt und wir reinstiegen; der Fahrer war froh, mit Kundschaft zurück in die Stadt zu können. Wir kreuzten den Fluß und fuhren durch die dunklen Straßen Chelseas. London war voller Leute, das Wetter sorgte für eine kontinentale Vierundzwanzig-Stunden Atmosphäre. Alle Cafes hatten Tische auf die Burgersteige gestellt, die Bars warfen ihr Licht hinaus in die Nacht, und überall gab's junge Leute, so viele junge Leute, die tranken und aßen, die lachten und glücklich waren. So wenig Probleme. Die Stadt lag in einem sanften, wohligen Schein. Als ich aufwuchs, gab es jede Menge Typen, .. die Arger machten. Mods und Rocker, Skinheads, Teds gegen Punks, wieder Mods, wieder Skinheads ... Überall Gewalt, Jugendgangs, Betrunkene und Häßliche, die sich streiten wollten. Heutzutage kam mir alles nur vor wie eine lange, glückselige Party. »Niemand macht mehr irgendwas«, sagte ich und schaute zum Fenster hinaus. »Niemand macht mehr was. Sie wollen alle bloß noch Fernsehmoderator werden.« »Die Menschen tun Sachen«, sagte Gaia. »Manche Menschen kümmern sich. Ich habe meinen ganzen Sommer mit Leuten verbracht, die sich wirklich bemühen . . . « »Sie graben Löcher und bauen Baumhäuser«, sagte ich. »Darum geht es doch nicht. Ein Land muß produzieren. Großbritannien war einst die größte Exportnation der Welt, wir haben Sachen produziert, die die Welt haben wollte. Brücken, Boote, Möbel, Maschinen, Klamotten. Wir haben sie hergestellt, die Welt hat sie gekauft. Dies war einst eine Nation der mahlenden Mühlen, der qualmenden Fabriken, der produktiven Minen, der Gießereien, und in den Häfen konnte man quer über die
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Schiffsdecks von einem Ende zum andern marschieren. Das hat Britannien groß gemacht. Jetzt haben wir nichts mehr. Die Fabriken und Lagerhäuser wurden zu Luxuswohnungen, die Minen zu Museen umfunktioniert; wir importieren alles. Aber das interessiert niemanden. Niemand interessiert sich für die Industrie, für das Handwerk, das ist nicht angesagt. Wir sind einfach ein großes Nichts geworden. Darüber müßten wir wütend sein, dafür mußten wir kämpfen. Nicht für die Wiederkehr christlicher Werte, nicht für die Wunder der Wildnis, sondern ein Ziel zu haben, ein Produkt zu erschaffen, das andere brauchen. Und es ist überlebensnotwendig, daß wir etwas dafür tun. Ich tue etwas dafür. Auf meine ganz eigene, unwichtige Art und Weise versuche ich es wenigstens. Ich mache Dinge, nützliche Dinge. Manche zugegebenermaßen nützlicher als andere. Ich mache Tische und Stühle, Betten, Türen. Ich mache Sachen, die die Leute brauchen und die die Leute wollen. Ich schließe gerade einen Vertrag mit den Japsen und kehre damit den nationalen Trend um. Normalerweise verkaufen die uns etwas. Wenn ein Idiot wie ich das schon schaffen kann ... Dieses Land aber - alles ganz toll, ganz viel Spaß, doch nichts dahinter. Wir machen nur noch Waffengeschäfte. Das ist der letzte verbliebene Industriezweig. Wir werden aufrechterhalten von den Verkäufen der Raketen und Panzer und Minen und Folterwerkzeuge an die krieg ü hrenden Nationen der Welt. Nimm uns das weg - was haben wir dann noch? Wir werden verblassen. Schlag einen Atlas auf, und es wird bloß noch Meer dort sein, wo einst die Britischen Inseln waren, und die Leute werden sich am Kopf kratzen und sagen: >England ...? Ja, ich kann mich daran erinnern ... Haben die nicht Beatrix-PotterGeschirrtücher gemacht und diese hübschen Naturdokumentationen? Ich habe mich schon oft gefragt, was mit dem Land passiert ist.< Wir werden nie wieder ein Empire haben«, sagte ich und schaute Gaia an. »Und?« »Wir sind weich und selbstmitleidig geworden.« »Das ist doch besser, als um die Welt zu ziehen, Menschen zu versklaven und ihre natürlichen Ressourcen auszubeuten«, erklärte Gaia ernsthaft. »Vielleicht«, sagte ich. »Aber früher oder später wird ein Haufen brutaler Fremder zu uns rüberkommen und uns Übernehmen.« »Ach, wirklich? Das ist doch fremdenfeindlich. Wir sollten an der Welteinheit arbeiten, jeder hilft jedem.« Ich grunzte. Es war das Grunzen meines Vaters. Wofür ich mich schämte, aber ich war aufgeregt, und konnte nicht aufhören. »Das ist nicht lustig«, sagte Gaia. »O doch, das ist es«, sagte ich. »Du klingst wie eines dieser Flugblätter, die man vor der U-Bahn in die Hand gedrückt bekommt und in den nächsten Mülleimer wirft. Gegen Fuchsjagden; McDonald's ist das Ende der Welt; Frieden in Bosnien; öffne dein Herz unseren Freunden, den Eskimos.« »Aber das sind doch alles gute Ziele«, sagte Gaia. »Du solltest dich nicht über mich erheben, bloß weil ich jünger bin als du. Hattest du nie Ideale?« »Hunderte«, sagte ich. »Aber ein bißchen Bargeld heilt einen schnell davon.« »Du mußt wieder in Kontakt mit deiner spirituellen Seite gelangen. « »Was?« »Du hast den Kontakt zu dir verloren, zu unserem Planeten. Wir sind alle Teil der Natur, alle Teile desselben ...«
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»Möge die Macht mit dir sein«, sagte ich, auf den Film >Krieg der Sterne< anspielend. »Wie auch immer du es nennen willst.« »Ehrlich gesagt, nenne ich es blödsinnig, Gaia. « »Tja, da irrst du dich«, schnappte sie. »Du bist so pseudozynisch, du tust so, als wußtest du alles, obwohl du bloß Angst hast.« »Weißt du, was dein Problem ist?« sagte ich. »Du kannst dir nicht vorstellen, daß jemand der anders denkt als du es auch wirklich so meint. Du glaubst, die einzigen Ideale, die man haben kann, sind hübsche linksliberale Laß-uns-alle-Freunde-sein-Geldist-der-Teufel-Ideale. Was du nicht begreifst, ist, daß jemand mit genau derselben Passion genauso inbrünstig und genauso überzeugt und ehrlich das genaue Gegenteil vertritt.« Mittlerweile übernahm das Speed mein Gerede. Das Zeug war stark, und ich war angeschlagen, ich laberte nur noch, der Mund war trocken und wund von der Kotze. Gaia andererseits schmollte kindisch. »Na ja, Hitler hatte auch solche Ansichten, oder?« fragte sie. »Ja«, sagte ich. »Allerdings glaubte der an alles mögliche. Er war Vegetarier und ein Unmensch und liebte die Natur. Ich schätze, er stand auch auf Kristalle und Astrolo gie. Verstehst du? Ideale können auch für den Arsch sein. Sie sind nicht notwendigerweise eine gute Sache, nicht per se. Wenn du anfängt, an etwas zu glauben, fängst du auch an, den Glauben an dich zu verlieren. Dann kann alles passieren. Die besten Grundsätze können danebengehen; lebensbejahende, tierliebe und garantiert handgestrickte Typen schicken dann Nagelbomben an die Töchter von Wissenschaftlern, die Ratten einsetzen, um ein Heilmittel gegen Krebs zu finden. Christen verbrennen Juden, Juden verbrennen Moslems, Moslems verbrennen Christen . . . « »Das ist doch genau das, was ich sage«, entgegnete Gaia. »Man sollte auf diese Etiketten verzichten, diese Trennungen, diese falschen Mauern zwischen den Men schen. Wir sind alle gleich. Wir sind alle Teil derselben Energie. Wir sind alle Kinder einer Mutter, der Erdmutter. Gaia.« »Und wir sind auch alle Kinder eines Vaters«, sagte ich. »Darwin. Die Schwachen wird man immer zertrampeln, die Dummen werden immer am Arsch sein, die Reichen werden immer gewinnen.« »Wovon redest du?« fragte Gaia. »Von Darwin. Ich rede von Darwin. Ich rede von der riesigen kosmischen Dampfwalze, die Darwin & Co. gebaut haben.« » Überleben der Stärksten?« fragte sie. »So ungefähr.« »Aber das ist doch ein altmodisches Konzept«, sagte sie. »Niemand glaubt mehr an dieses Faschistenzeug.« »Sagt man das noch - >Faschist« »Ist ja egal, was für Worte ich benutze. Die Hauptsache ist, daß all diese Darwin-Sachen nicht mehr funktionieren.« »Nicht mehr funktionieren? Was soll das heißen, es funktioniert nicht? Was redest du denn da? Sag mir auch nur eine historische Begebenheit, bei der ein Haufen ignoranter Idioten nicht von einer überlegenen Gesellschaft ausradiert worden ist: Hab' ich was verpaßt, oder treiben sich die Neandertaler immer noch in den Straßen herum? Leiten sie multinational Gesellschaften und erfinden bemannte Raumflieger?«
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»Du redest, als wäre das eine gute Sache?« sagte Gaia. »Den Planeten zu zerstören. Wir könnten so viel von den anderen Gesellschaften lernen, von den Indianern im Re genwald, von den Aborigines in Australien. Hast du jemals Traumpfade von Bruce Chatwin gelesen?« »Hast du jemals eine Geschichte der Welt gelesen?« konterte ich. »Hast du jemals die Financial Times gelesen? Da steht alles drin. Darwin, gottverdammter Darwin! Er zähl mir doch nicht diesen Quatsch von wegen den Kontakt mit Mutter Erde zu verlieren, den Kontakt mit unserer Seele zu verlieren, mit der Welt des Geistes. Wir haben inzwischen schließlich Nintendo und kinogroße Wohnzimmerlautsprecher und ABS. Wir haben Mikrochips, wir haben Darwin. Du kannst ja deine Kristalle reiben, Erdfrau, aber die Bombe fällt trotzdem. Ja, der Yankee kommt, und an seinem Hut steckt eine Marke, auf der steht: >Darwin, Überleben der Stärksten.< Was ist denn in Afrika passiert? Was ist denn in Indien passiert? Was ist denn in Amerika passiert? Unser Zauber war stärker, wir hatten die stärkere Medizin, wir hatten Darwin und die Pocken und Feuerwasser. Warum haben sie das nicht vorausgesehen? Die Schamanen? Warum haben sie es nicht im Sausen des Windes gehört? Warum hat die Erde es ihnen nicht gesungen? Warum hat keiner von ihnen es geweissagt? Es bringt doch nichts, wenn man mit den Wölfen tanzen, aber keine Kugel stoppen kann. Warum hat keiner von ihnen Darwin auf seinem eisernen Pferd über den Horizont reiten sehen mit seinem Sechsschussigen in der Hand? Ja, ich kann Johnny Apache weinen hören: >Wir brauchen all das nicht, weißer Mann. Wir brauchen deine schlechte Medizin nicht, weil wir mit den Toten reden können.< Teufel, du kannst mit den Toten reden, ja, Alter? Dann klär doch mal, was sie zu sagen haben, denn bald wirst du ihnen Gesellschaft leisten. Ich hab' Strom, ich habe Stoned-washed-Baumwolle für den richtigen Look, ich hab' billige Baumwolle, auf Masse produziert von gesichtslosen Sklaven in Webereien in Hackney, in Bradford, in Nordkorea und Südkorea, in China, in Indien und auf den Philippinen. Erzähl den Sklaven doch von Gaia, erzähl ihnen von dem Wunder der Natur, erzähle ihnen von trantrischem Yoga und ganzheitlicher Medizin, von Akupunktur und Aromatherapie. Du hast Anita Roddick, und ich hab' den großen starken Arnie mit seiner Pumgun. ZUR HÖLLE, WAS WILLST DU DENN MACHEN? Willst du die Welt mit Shampoo und Gesichtsreinigungsmitteln retten? Erzähl mir doch nicht diesen Quatsch von geistiger Führung. Erzähl mir doch nicht diesen Mist über Traumpfade, Schönheit und Zeit zum Träumen. Wozu ist es gut, eine Echse auf eine Höhlenwand zu malen, wenn der weiße Mann mit Bulldozern, Kränen und Panzern kommt? Das alles haben Darwin & Co. erschaffen. Ihr Firmenname steht drauf. Sollen sie doch träumen, sollen sie sich doch bewußtlos trinken, denn hier kommt Darwin auf dem weißen Pferd, hier kommt die Zukunft, hier kommt das Fernsehen - und wer braucht schon Telepathie, wenn es gottverdammte Telefone gibt?« »Aber die alten Weisheiten sind stärker«, sagte Gaia und versuchte, den Schmerz in ihrer Stimme unter Kontrolle zu halten. »Die alte Magie kehrt zurück. Die amerikanischen Ureinwohner kommen wieder an die Macht.« »Ja, sie sind gerettet. Aber was hat sie gerettet? Was hat den echten Niggern Nordamerikas die Kraft wiedergegeben? Was hat die Cherokee, die Sioux und das Yel low Feed gerettet? Was hat Sitting Bull und Geronimo und Crazy Horse gerettet? Der Geist des Hundes, Hoochie-Coochie? Waren es die Geister ihrer Ahnen? War es der große Himmelsbüffel? Du meine Scheiße! Nein, es war Bingo. Bingo, Bingo und nochmals Bingo! Die lizenzierten Spielhallen in den Reservaten. Bingo für alle! Gro-
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ßer Gott, Geld heilt die Schande der Gesellschaft schneller als Gebete, Mädchen. Geld wird unsere Probleme mit Verbrechen, Hungersnöten, Pestilenz und kranken Geistern schneller klären als alles andere. Der gute alte Gott Moolah. Bete bloß, daß er mit ausgebeulten Taschen und einem Grinsen im Gesicht auftaucht. Ja! Gib ihnen Bingo, und ihre Welt ist gerettet. Ihr mystisches Gebet heißt: >Housey-housey! < Dann wird alles wieder gut. Und welche Firma baut die Bingo-Hallen? Welcher Name steht auf all diesen kleinen tanzenden Kugeln? Darwin & Co. Ja, irgendwann haben sie den Fortschritt begriffen, und der hieß Bingo!« »Glaubst du das wirklich?« fragte Gaia, die Stimme ganz gepreßt vor unterdrückten Emotionen. »Woran glaubst du? Woran?« »Ich glaube an Bier«, sagte ich. »Ich glaube an Bier und Aspirin. Ich glaube an Beton.« Wir kamen in der Old Compton Street an und stiegen aus dem Taxi. Der Fahrer versuchte, sich über die Fünfzigpfundnote, die ich ihm anbot, zu beschweren, aber schnell wurde ihm klar, daß ich niemand war, mit dem man sich anlegen sollte, und grummelnd akzeptierte er sie. Ich steckte das Wechselgeld ein, gab ihm Trinkgeld, und er fuhr davon. Soho war voller denn je, eine laute, unruhige Masse von hippigem Jungvolk. »Dann glaubst du, die Weißen haben recht, oder was?« fragte Gaia wütend und stand kämpferisch vor mir auf dem Bürgersteig. »Die Reinheit der Rasse ... Das gottgegebene Recht der Engländer, die Welt zu regieren?« »Scheiße, nein«, sagte ich. »Ich meine, das ist uns doch oft genug passiert, Darwin hat sich echt ins Zeug gelegt; zum Beispiel, als er uns mit Cäsar kam - und wir noch nackt wie die Idioten rumrannten, in Lehmhütten hau.. sten und uns die Arsche blau anmalten. Also heißen wir die Neuen willkommen, wer auch immer sie sein mögen und wann auch immer sie kommen. Es ist höchste Zeit, daß junges Blut in uns strömt, es ist höchste Zeit, daß wir wieder aufgerüttelt werden. Denn was hat uns Engländer immer gerettet? Ich sag' es dir. Es gibt im Grunde keine Engländer. Das hat uns gerettet. Teufel, Darwin ist uns mit den Römern gekommen, den Sachsen, den Wikingern, den Normannen ... Und wenn wir ehrlich sind, würde man in diesem beschisse nen Land nichts Vernünftiges zu essen bekommen, wenn es nicht die Inder gäbe, die Chinesen, die Thais, die Juden und überhaupt diese ganzen Arschlöcher, die mit ihren Töpfen und Pfannen vor unserer Tür standen. Jeder von ihnen hat uns ein oder zwei Sachen beigebracht, jeder besser bewaffnete, besser ausgerüstete, besser organisierte und überhaupt uns überlegene Eindringling; sie alle haben uns gelehrt, daß nichts einen schneller fertigmacht als rassische Reinheit. Wenn ich die Wahl habe zwischen Zentralheizung und mir den Arsch blau anzumalen, stimme ich jederzeit für Orgien, Wein und hinterher Kotzen. Das ist Darwin, das ist Fortschritt. Das ist die Zukunft. Ich scheiß doch drauf, mich wieder mit der Natur zu vereinen, ich scheiß auf keltischen Mystizismus, ich scheiß auf die Kirche am Sonntag, ich interessiere mich nicht für Juju, Magie, Voodoo oder irgendeinen anderen Budenzauber ... Ich will bloß irgendwo sterben und in Frieden verschwinden dürfen.« Jetzt hatte ich genug fabuliert und klappte den Mund zu. Das war nicht wirklich fair der armen Gaia gegenüber. Sie stand da, starrte die Straße hinunter und haßte mich. »'tschuldigung, haste `n bißchen Kleingeld, Alter?« sagte eine Stimme neben mir, ich ignorierte sie.
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»Ich glaube, ich möchte heim«, sagte Gaia leise. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Du bist gemein«, sagte sie. »Ja, bin ich vielleicht.« »Du bist genau wie dein Vater.« »Wieder richtig«, sagte ich. »Das ist das Tragische daran, wenn man älter wird. Es wird einem klar, daß man sich langsam in seinen eigenen Vater verwandelt - den Mann, den man als Teenager hängen, hacken und vierteilen wollte. Wenn man sein Alter erreicht, wird einem klar, daß er nicht Unrecht hatte. Und man ist geschlagen mit rotzigen, undankbaren Teenagern, die . . . « »Vielen Dank.« »Ich meine doch nicht dich.« »Nicht?« »JETZT REG DICH NICHT AUF, KLAR?« brüllte ich. »Du bist jung. Hab' Spaß!« »Das kann ich nicht, wenn andere Leute Hungers sterben, betteln, obdachlos sind, an Aids erkranken . . . « »Oh, große Scheiße.« »Ich geh' zurück zu deinen Eltern«, sagte sie und lief die Straße entlang Richtung Cambridge Circus.
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11. Kapitel Ich rannte die Old Compton Street hinter Gaia her, ich rief ihren Namen, aber sie lief immer schneller, und ich mußte mich beeilen. Schließlich erwischte ich sie an der Charing Cross Road und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie schüttelte sie ab. »Ich bring dich hin«, sagte ich. »Lieber nicht.« »Dann nimm wenigstens ein bißchen Geld für ein Taxi«, sagte ich und hielt ihr eine Zwanigpfundnote hin. Sie betrachtete sie ein paar Sekunden, bevor sie danach schnappte. »Es tut mir leid«, sagte ich. »Hör mal. Ich fahr' dich, ich hab' versprochen ... « »Ich will deine Hilfe nicht.« »Hör doch mal zu. Es ist nicht so wichtig. Ich war genauso wie du, als ich jünger war. Ich hab' auch an etwas geglaubt. Ich hab' auch gedacht: >Warum können nicht alle einfach nett zueinander sein?<« »Ja«, sagte sie stur. »Und jetzt denkst du: >Warum können nicht alle einfach glücklich sein?<« »Genau«, sagte ich. »Denn früher oder später wird dir klar, daß all das hier ... Es ist nicht deine Schuld . . . « Jemand packte mich am Ellbogen und sagte: »Entschuldigen Sie.« Ich drehte mich um und schlug ihm so kräftig ich konnte in die Fresse. Als ich mich nach Gaia umsah, war sie verschwunden. Ich schaute die Straße auf und ab, aber sie war nirgends zu entdecken. Sie mußte weggelaufen sein, auf einen Bus gesprungen oder irgend sowas. Ich schaute nach, wen ich geschlagen hatte, und entdeckte einen erstaunten Studenten, Spanier oder Italiener, der auf dem Bürgersteig saß und sich an seiner London-Karte festklammerte. Er war umgeben von einem überraschten Grüppchen seiner Freunde, die niedliche bunte Rucksäcke und Benetton-Klamotten trugen. Sie guckten mich an, als sei ich ein gefährlicher Verrückter, also ging ich einfach davon und zurück in die Old Compton Street. Scheiß drauf, wenigstens hatten sie jetzt was, womit sie ihre Postkarten vollkritzeln konnten. Diese ganze Rumlauf erei hatte mir nicht wirklich was gebracht. Mein Magen rebellierte, und die Übelkeit und der Tunnelblick kehrten schlagartig zurück. Ich zwang mich, weiterzugehen, jeder Schritt eine Willensanstrengung. Die Menschenmenge wieselte um mich herum, grotesk und dumpf brummend wie in einen Traum. Alles kam mir vor wie ein psychedelischer Karneval in einem schlechten Film. Ich blieb stehen. Ich konnte nicht mehr. Ich konnte keinen Schritt mehr gehen. Gleich lag ich auf diesem flirrenden Bürgersteig. Ich sah mich erfroren, die Leute liefen rings um mich herum, ich war ein weiteres ausgebranntes Kind der City, genau wie die anderen. Ich würde auf die Knie sinken, in einen Hauseingang kriechen und dort für immer bleiben; die Leute würden mir zehn Pence hinwerfen, ab und zu würde mir jemand was zu essen geben. Vagabunden würden nach mir schauen und ihr Special Brew mit mir teilen. Man würde mir meine Schuhe stehlen. Besoffene würden auf mich pissen. Tauben wurden mich zuscheißen. Ladenbesitzer würden mich davonprügeln. Aber ich würde dort bleiben und irgendwann vergessen, wer ich gewesen war, wie ich dort hingekommen war, was das alles sollte. Dann, eines kalten Winters, würde man mich tot auffinden, sie würden mich davontragen, und das war's dann. Ich sah mich nach einer Lösung um. Und dann entdeckte ich sie. Ich war erhört worden! Meine Kirche - ein Sex-Shop, und im Fenster ein verblassendes Schild mit
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der Aufschrift: POPPERS VERKAUF. Daneben blinkte im lila Neonlicht: SEX SEX SEX. Und in rot: LIVE SHOW. Was für eine Zusammenstellung. Was für eine Kombination. Ich taumelte hinein, kämpfte mich durch die Schlangenumarmungen der Plastikstreifen, die in der Tür hingen. Drinnen war es hell. Auf den Regalen standen riesige glänzende Plastikdildos und Vibratoren, Auf blas-Puppen mit unfaßbar klaffenden Mündern, eingeschweißte Ma gazine mit Aufklebern über dem Unzeigbaren. Und dann eine Reihe kleiner brauner Flaschen. Ich nahm eine und las die Aufschrift: »KIX, stabilisiertes Amylnitrat, gut lüften, leicht entflammbar.« Großartig. Tod oder Rettung. Als ich für das Amyl zahlte, entdeckte ich die kleine dunkle Treppe zum LIVE SHOW-Bereich. Genau das, was ich brauchte. Oben las ein Mann in einem Sessel eine Zeitung, hinter ihm erstreckte sich eine Reihe von Kabinen. Ich ging in eine hinein und schloß die Tür. Perfekt, mein ganz privater Beichtstuhl. Hastig holte ich mein Zeug raus, mischte mir Coke und Speed, sniefte und warf dann eine Münze in den Schlitz. Das Fenster öffnete sich. Ich schraubte das Pop pers auf, schob mir die Flasche ins linke Nasenloch, hielt das rechte zu und inhalierte. Das Ganze erwischte mich voll, knallte mich fast vom Stuhl. Mein Kopf schwoll an, mein Hirn dehnte sich aus, es preßte meine Augäpfel vorn aus meinem Schädel. Mei ne Lippen bleckten sich vor den zusammengebissenen Zähnen zu einem breiten, dummen Grinsen. BANG BANG BANG. Wie ein Erdbeben. Ich raste durch den Tunnel. Nur raus. Raus aus allem. Ich war zugleich da und nicht da, war grunzender Beobachter meines widerwärtigen Seins. Der kranke Amyldunst wirbelte durch mich durch. Ich schaute mir die Frau an, und sie blickte so ungefähr in meine Richtung. Sie trug einen Strumpfgürtel und rote hochhackige Schuhe, war dünn, hatte einen dicken Arsch und schwarze Augen. Blaue Venen unter ihrer weißen Affenhaut. In ihrem kleinen Kasten gab es einen elektrischen Ventilator, einen Holzstuhl und ein kleines Bett mit einem falschen Tigerfell darauf. Sie stand da und posierte, tanz te manchmal ein paar Schritte, rieb sich dann und wann die Nippel, drehte sich um und winkte mir mit ihrem Hintern zu. Meine Augen waren kaputt; es war, als schaute ich mir einen alten, flackernden Film an. Alles entfernte sich von mir. Und dann passierten drei Dinge gleichzeitig: Das Fenster ging wieder zu, ich schniefte, und etwas knackte in meiner linken Wange. Es konnten die Drogen sein, die meinen Schädel zersetzten, es konnte meine Müdigkeit sein, ein eingeklemmter Nerv in der Wange, ein paralysierter Muskel, aber was auch immer es war, die ganze Gesichtsseite erstarrte. Sie war taub, dahinter verbarg sich ein ferner Schmerz, ein Schmerz, von dem ich spürte, das er wachsen, daß er meinen Kopf einhüllen würde. Ich rieb mir die Wange, versuchte sie ins Leben zurückzumassieren, aber etwas klemmte. Ich brauchte etwas Stärkeres. Also verließ ich meine angenehm verschwitzte kleine Höhle und ging raus; das Licht blendete mich, ich blinzelte. Der Mann in dem Sessel schaute zu. »Für zwanzig Eier kriegen Sie 'ne Privatvorführung. « »Wie ist die?« fragte ich. Ich sprach aus dem Mundwinkel, unscharf wie ein Betrunkener oder jemand.. der vom Zahnarzt kam. Der Mann im Sessel zuckte mit den Schultern. »Ist Ihr Geld.«
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»Zwanzig Eier?« krächzte ich. Er nickte. Ich wühlte in meiner Tasche nach Geld und gab ihm zwei Zehner, die letzten beiden Scheine. Der Mann ging zu einer Tür und machte sie auf. »Leah? Du bist dran.« Er hielt mir die Tür auf und winkte mich in den Kasten. Leah hatte sich einen Morgenmantel übergeworfen und drückte eine Kippe aus, als ich reinkam. Sie machte die Tür zu. Ich setzte mich auf ihren Stuhl. Sie zog den Morgenmantel aus. »Und?« fragte sie. »Schlag mich«, sagte ich. »Sowas mache ich nicht«, sagte sie mit walisischem Akzent. »Was soll das heißen, sowas machst du nicht? Du tanzt nackt und tust vor Fremden so, als ob du masturbierst, um Himmels willen. « »Das ist Tanz. Aber solche Sachen mache ich nicht.« Sie wollte den Morgenmantel wieder anziehen. »Wenn du SM willst, geh' zu den Profis. In jeder Telefonzelle stehen welche.« »Ich will kein SM. Ich will, daß du mich ins Gesicht schlägst. « »Also, das ist zumindest M, selbst wenn es kein S ist.« »Ich hab' mir einen Nerv in der Wange geklemmt«, sagte ich. »Das macht mich wahnsinnig. Möglicherweise kriegst du das Ding wieder hin, allein schaffe ich es nicht. « »Meinst du das ernst?« »Absolut.« »Du willst das nicht aus Spaß?« »Was macht denn das für einen Unterschied? Hau mir einfach eine rein. « »Wo?« »Hier. Genau hier.« Ich deutete auf meine Wange und schloß die Augen. Dann schlug sie mich. Na ja, sie tupfte mich. Ein niedlicher kleiner Damenschlag, kaum mehr als eine Liebkosung. »Nicht so«, sagte ich. »Hau mir eine rein. Richtig doll, so daß ich ...« Den Rest des Satzes brachte ich nicht mehr zustande, plötzlich knallte ich rücklings an die dünne Wand. Mein Kopf zuckte, und einen Augenblick wurde mir schwarz vor Augen. Ich merkte, wie ich die Tapete runter zu Boden rutschte. Das Stechen in meiner Wange verriet mir, daß ihr Schlag die Sache wieder in Ordnung gebracht hatte. »Wie war das?« fragte sie. Bevor ich etwas sagen konnte, wurde die Tür wieder aufgerissen, und der zuvor gelangweilte Mann kam mit so etwas wie einem Gummiknüppel hereingestürmt. »Was ist los?« fragte er. »Alles in Ordnung«, sagte Leah. »Er hatte einen geklemmten Nerv. « »Einen geklemmten was?« »Nerv«, sagte ich und rieb mir meine schmerzende Wange. Der Mann starrte mich mit routiniertem Mitleid an. »Hau bloß ab hier«, sagte er. Dann fragte er Leah: »Alles in Ordnung?« »Mir geht's gut, ehrlich.« »Könnten Sie mir hochhelfen?« bat ich. »Ich fühl' mich etwas schwach.« Der Mann rührte sich nicht, also zog Leah mich auf die Füße. »Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte ich. »Hau ab«, knurrte der Mann, und ich machte, daß ich fortkam.
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12. Kapitel Die Old Comptom Street hat sich zum schwulen Herzen der Hauptstadt entwickelt. Wo es einstmals eine bunte Mischung von Sexfallen und unnützen kleinen TouriSchuppen gab - Restaurants, Delis und kuriose alte Shops -, finden sich jetzt teure Klamottenläden und glänzende neue Bars und Cafes im kontinentalen Stil. Oh, und die Leute sehen so gut aus! Jungs mit Beatnik-Bärten, Mädchen ohne Haare, aber mit Kappen und Hüten, und ganz in schwarz. Schultertaschen, Flaschenbier und Kaffeebecher ... Um es mal mit den Worten Julius Caesars zu sagen, als dieser eingeladen wurde, mit den Barbaren zu dinieren: »Scena mea non est.« Ich wußte bloß, daß Terry und ihre Freundinnen vorgehabt hatten, auf einen Drink hierherzukommen. Es war nicht sonderlich aussichtsreich, sie zu finden, aber etwas anderes war mir nicht geblieben. Ich fing an der Kreuzung zur Charing Cross Road an, arbeitete mich die Straße entlang und guckte in jede Kneipe, auch in den Nebenstraßen. Es gab jede nur erdenkliche moderne Form von Bar-Design, von pseudo-künstlerischem Nouveau über modernistisch, post-modernistisch, industriell, ethnisch bis zu US-Trash. Es gab sogar einen Laden, der komplett mit meinen eigenen Stahltischen und -stuhlen ausgestattet war. Ich bahnte mir meinen Weg durch jede Menge glasäugiger Trinker, scannte die Tische draußen und drinnen, suchte zwischen den allzu ähnlichen Gesichtern nach Terry. Auf halbem Weg hatte ich Glück, zumindest halbwegs Glück, oder halbwegs Unglück, oder einfach Pech, ganz wie man das sehen will. In einem weiß gekachelten, hell erleuchteten, peinlich nach Leseratten aussehenden Laden entdeckte ich Terrys lesbische Sturmkämpferinnen aus dem Atelier. Ich wurmte mich zwischen den eng gestellten Tischen durch und begrüßte sie. Sie grüßten höflich genug zurück, und ich fragte, ob Terry bei ihnen sei. »Nein«, sagte die eine. »Du hast sie grade verpaßt.« »Sie ist zu einer Party«, sagte die andere. »Wißt ihr, ob ich meine Schlüssel im Atelier vergessen habe?« fragte ich schwächlich. »Da hing ein Flaschenöffner am Schlüsselring . . . « »O ja. Du hast sie vergessen, oder?« sagte die eine. »Ich glaube, Terry hat sie mitgenommen.« »Ich dachte, sie wollte sie da lassen«, sagte die andere und nahm einen Schluck aus ihrer belgischen Bierflasche. »Sie an irgendeinen Haken hängen oder so.« »Das hat sie gesagt, aber ich weiß nicht, ob sie es getan hat«, sagte die eine. »Ich glaube, sie hat es sich anders Überlegt.« »Aber sie waren auf jeden Fall da?« fragte ich. »Ja. Ja. Sie hat versucht, dich anzurufen.« »Wo ist denn die Party?« fragte ich. »In der Nähe?« »Nee. Oben in Highgate. « »Wir wollten nicht hin«, sagte die eine. »Klang echt affig, irgend - n Architekt oder so. Ich schätze, Terry wollte ein paar Aufträge aufreißen.« »Wo in Highgate?« fragte ich. »Wißt ihr die Adresse?« »Nee«, sagte die andere. »Irgendwas mit Park«, sagte die eine. »Fitz? Fitzrovia? Fitzroy ... Irgend sowas.« »Ja, irgend sowas«, sagte die andere. Das entwickelte sich ja zu einer wunderbaren Nacht. Im Grunde blieben mir fünf Optionen. I) Ich konnte heimfahren und die ganze Sache vergessen. Mich schlafen legen, mich erholen. Bis morgen.
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II) Ich konnte versuchen, mir Geld für Benzin zusammenzuschnorren und die Stadt zu verlassen. III) Ich konnte nach Highgate fahren. Vielleicht fand ich die Party. IV) Ich konnte zu Terrys Wohnung fahren und dort darauf warten, daß sie heimkam. V) Ich konnte zum Atelier fahren und versuchen, über die Feuerleiter einzubrechen. Alle diese Möglichkeiten bargen Nachteile. Die erste Möglichkeit, bei der ich nach Hause fuhr, war sehr reizvoll, aber ich wußte, daß die Polizei mir eher früher als später einen Besuch abstatten würde. Natürlich wäre es möglich, einfach nicht aufzumachen, aber es war trotzdem riskant, Mister Kitchen im Kofferraum liegenzulassen. Ich wußte, daß ich mich ohnehin nicht wirklich entspannen konnte, bis ich ihn los war oder zumindest irgendwo versteckt hatte. Die »Stadt verlassen«-Möglichkeit war ebenfalls reizvoll und genauso riskant. Ich wußte nicht, wie weit ich noch fahren konnte, bevor ich ohnmächtig wurde oder durchdrehte. Eine lange Fahrt konnte ich nur riskieren, nachdem ich ein bißchen geschlafen hatte, was mich wieder zu Möglichkeit I zurückbrachte. Außerdem war mir nur noch eine Handvoll Wechselgeld geblieben - nach dem Taxi, dem Geld für Gaia und dem Hin und Her im Sex-Shop. Was war ich nur für ein Blödmann; ich hatte Geld gehabt, aber Gaias junger Körper hatte mich abgelenkt. Also Möglichkeit III. Das Problem damit, die Party zu finden, bestand darin, daß ich sie vielleicht nicht fand, und selbst wenn ich sie fand und Terry immer noch dort war, hatte sie möglicherweise weder meinen noch ihren eigenen Schlüssel zum Atelier bei sich. Die Möglichkeit, zu Terrys Wohnung zu gehen, war in Ordnung, aber zu statisch, zu passiv. Ich mußte irgendwas tun, sonst würde ich auseinanderfallen, und außerdem blieb sie vielleicht die ganze Nacht weg, oder sie traf sogar jemand und kam das ganze Wochenende nicht heim. Die Probleme der fünften Möglichkeit, eines Einbruchs, habe ich bereits erörtert. Sich dem Teufel selbst zu stellen, mußte die letzte Wahl sein. Meine einzige Chance bestand daher in Möglichkeit III - die Party finden. Wenn das nicht klappte, konnte ich immer noch auf Möglichkeit IV ausweichen und vor Terrys Wohnung Quartier beziehen. Demzufolge - auf nach Highgate. Dafür brauchte ich meinen Wagen. Ich wollte nicht die halbe Nacht in einem Taxi herumfahren und nach einer Party suchen. Also zum Teufel mit der Etikette, ich mußte meinen Stolz runterschlucken und betteln. »Hör mal«, sagte ich zu der einen. »Die Schlüssel zu meiner Wohnung waren an diesem Schlüsselbund . . . « »Na toll.« »Genau, toll. Deshalb muß ich Terry finden, aber ich bin total pleite, mein ganzes Geld ist zu Hause. Ihr könntet mir nicht zufällig was leihen, oder? Ich geb's Terry am Montag zurück.« »Ich hab' ein bißchen«, sagte die andere, und ich hätte sie am liebsten geküßt, aber ich glaube nicht, daß ihr oder mir das gut bekommen wäre. »Reichen fünf?« fragte sie und zog einen Schein raus. »Wir wollen noch weiter feiern, und ... »Das ist sehr nett von dir«, sagte ich. »Fünf sind prima.« Ich bedankte mich ausufernd bei ihnen und ging wieder raus. Mit dem Kleingeld in meiner Tasche hatte ich knapp über sechs Eier, wahrscheinlich nicht genug für ein schwarzes Taxi, aber vielleicht genug für ein Minicab. Dem öffentlichen Nahverkehr konnte ich mich, so wie es mir ging, definitiv nicht anvertrauen. Um die Wahrheit
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zu sagen, dem öffentlichen Nahverkehr vertraue ich mich nie an. Dann und wann, im Notfall, muß ich U-Bahn fahren, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, wann ich das letzte Mal in einen Bus gestiegen bin. Ich erinnerte mich an einen Minicab-Stand in der Greek Street, und natürlich hing da ein Haufen Schwarzer, vor allem Afrikaner, auf dem Bürgersteig rum, die mit jungen Club-Hoppern, die auf der Suche nach neuen tänzerischen Herausforderungen waren, und mit jungen Studenten, die nach einer Nacht in der Stadt nach Hause zurück wollten, die Fahrpreise aushandelten. Ich ging hin und suchte mir den Chef, einen geschäftigen kleinen Nigerianer mit lauter Stimme. »Du willst Taxi?« fragte er. »Ja«, sagte ich. »Ich hab' sechs Pfund und will nach Battersea. « »Wo in Battersea?« »Bloß auf die andere Seite der Brücke . . . « Er dachte ein Weilchen darüber nach, dann grinste er. »Okay, mein Freund. Sechs Pfund.« Dann wandte er sich um und brüllte einen fetten Weißen an, der von den an deren ein wenig entfernt stand und Kaffee aus einem Plastikbecher soff. »Passagier für dich, Graham!« Er betonte das »H« in Graham, es klang wie »Gray-Ham.«. Der Dicke trank seinen Becher leer, zerknüllte ihn, warf ihn in eine Mülltonne und kam dann zu uns herüber; er ging langsam und vorsichtig, auf seinem Gesicht lag Ekel, als wäre er an sich zu gut für all das hier. Ohne ein Wort stieg er in seinen Wagen, einen großen alten Ford Granada, und schnallte sich an. Der Unterhändler stopfte mich hinten rein und erklärte Graham, was wir vereinbart hatten. Graham zuckte mit den Schultern und ließ den Motor an. Der Sirup Sound von Melody Radio erfüllte den Wagen. Ich sagte ihm den Straßennamen, und wir fuhren los. Der Wagen stank nach Lufterfrischer, war aber sauber und verfügte über den angenehmen Komfort einer Automatik. Zuerst kümmerte ich mich nicht weiter um unse ren Weg; ich war in Gedanken versunken, mein eifriges Hirn raste immer im Kreis und versuchte, den Tag zu entwirren. Erst als wir halb über die Westminster Bridge fuhren, wurde mir klar, wo wir waren. »Wo fahren wir lang?« fragte ich. »South Bank. Da ist kein Stau, Mann.« »Oh. Okay.« Graham schien das für den Startschuß zu einem Gespräch zu halten. »Was meinen Sie zu Charlie und Di, hah?« fragte er mit hoher, strangulierter Stimme. »Wie finden Sie das?« »Ich hab' darüber überhaupt noch nicht nachgedacht«, sagte ich und hoffte, die Unterhaltung zu unterbinden, bevor sie losging. »Er ist doch ein Trottel, oder? Ich meine, Di, das ist doch eine richtig Nette, oder?« »Sie ist eine Fotze«, sagte ich. »Was ist sie?« »Eine Fotze«, sagte ich in der Hoffnung, ihm das Maul zu stopfen. »Also stehen Sie auf Charlies Seite, oder was?« »Charlie ist ein Schwanz.« »Sie mögen keinen von beiden? Sie finden, wir sollten uns ihrer entledigen? Aber was ist dann mit den Touristen? Ich wäre meinen Job los. « »Ich hab' doch gesagt, die beiden sind mir egal. So oder so interessieren sie mich nicht.« »Sie haben gerade gesagt, daß Princess Di eine Fotze ist.«
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»Ich will Ihnen mal was erklären, Graham«, sagte ich höflich. »Es gibt bloß zwei Arten von Menschen auf der Welt - Fotzen und Schwänze. Die Fotzen sind die Ekli gen, die Schwänze die Dummen. Fotzen und Schwänze, das war's. Sie glauben vielleicht, daß es noch andere gibt, aber ich sage Ihnen, das stimmt nicht. Jetzt fragen Sie sich vielleicht, wie man rauskriegt, wer was ist, aber das ist einfach. Sie halten es vielleicht für schwierig, sie glauben vielleicht, jemand zu kennen, der keins von beidem ist und Sie sagen sich: >Großer Gott, ich weiß gar nicht ... ist der Typ eine Fotze oder ein Schwanz? Vielleicht ist er was ganz anderes.< SIE PASSEN NICHT AUF! Es gibt nichts anderes. Wenn Sie wissen wollen, wer was ist, stellen Sie sich einfach eine einfache Frage. Ist es eine Fotze? Wenn die Antwort nein ist, dann ist es ein Schwanz. Sehen Sie? Ganz einfach. Lady Diana - Fotze. Prinz Charles Schwanz.« »Und was sind Sie dann?« fragte er. »Wenn Sie so verdammt klug sind?« »Ich hab' noch nicht raus, ob ich ein tragischer Held bin, ein Comic-Gangster oder bloß einer dieser geborenen Narren, der immer seine Hose verliert.« »Was reden Sie da?« »Möglicherweise bin ich ein Schwanz, Graham, genau wie Sie.« Ich sah, daß er mich im Rückspiegel betrachtete. »Wollen Sie mich verarschen?« fragte er. »Absolut nicht«, sagte ich. »Ich unterhalte mich bloß nett.« »Denn wenn Sie versuchen, mich zu verarschen . . . « »Ich verarsche Sie nicht. Es war ein Scherz, in Ordnung?« Ich habe keine Ahnung, ob er durch unseren kleinen Streit abgelenkt war oder ob er einfach nur schlecht fuhr, aber an der - zugegebenermaßen verwirrenden - Kreu zung mehrerer großer Straßen und Einbahnstraßen an der Vauxhall Bridge landete er in der Wandworth Road statt in Nine Elms and Battersea Park Road. »Wo fahren wir lang?« fragte ich. »Ich will nach Battersea, nicht Clapham Common.« Graham sah seinen Fehler ein, fluchte und bog zackig nach rechts in eine Nebenstraße ein. »Hier kommen wir nicht durch«, sagte ich. »Da landen wir hinter der Eisenbahn. Sie müssen weiter runterfahren.« »Ja, ja, in Ordnung«, sagte er. »Ich weiß, wo ich langfahre.« Er bog noch ein paarmal falsch ab und schaffte es weder, uns in die Battersea Park Road zu manövrieren, noch zur Wandsworth Road zu kommen. Wir fuhren eine Stra ße voller Reihenhäuser mit Auffahrten und Vorgärten entlang. »Hier rechts«, sagte ich. »Hier?« »ja.« Er bog von der Straße ab in irgend jemandes Auffahrt. »Hier?« fragte er. »Sehr lustig«, sagte ich. »Sie haben gesagt >rechts<.« »Ich hab' gemeint, wo die nächste Straße nach rechts abgeht, alles klar?« »Ach, haben Sie?« »Ich wollte bloß helfen.« »Raus aus meinem Taxi.« »Was?« »RAUS AUS MEINEM GOTTVERDAMMTEN TAXI.« »Oh, nun regen Sie sich mal wieder ab.« Überraschend schnell sprang er aus dem Wagen, riß meine Tür auf und zerrte mich hinaus. Er
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zitterte vor Wut, und zur Abwechslung sagte oder tat ich mal gar nichts. Ich stand einfach nur da und sah das fette Arschloch wegfahren. Benommen setzte ich mich an den Straßenrand und stützte meinen Kopf in meine Hände. Ich hätte geweint, aber meine Augen waren vertrocknet, also starrte ich bloß auf Mister Kitchens CaterpillarBoots. Ich verfluchte dieses Arschloch, ich verfluchte dieses tote Arschloch mit aller Macht, weil er mir das antat. Wenn der sich nicht in meinen Kerzenhalter gestürzt hätte, wäre all das nicht geschehen. Aber es war wenig sinnvoll, dazusitzen und sich leid zu tun. Ich mußte vorwärts, vorwärts in die niemals endende Nacht. Vorwärts wohin? Zum Feuer, zum Fegefeuer! Ich kickstartete mich mit einem Sprühstoß Amyl, dann marschierte ich die Straße entlang wie eine Maschine, ein unkontrollierbar ausgerasteter Roboter; mein Kopf poch te, und all die Wunden und Beulen meines Körpers jubilierten. Ungefähr eine Viertelstunde später hatte ich die Battersea Park Road erreicht und lief sie entlang. Ich hielt Ausschau nach schwarzen Taxis oder einem Bus, nach überhaupt irgendwas, aber es war einfach eine dieser Nächte. Nichts zu sehen. Ich hätte genausogut durch eine gottverdammte Geisterstadt marschieren können. Auf halbem Wege hielt ich an und lehnte mich zur Erholung gegen einen Lampenmast. Ich war verdorrt, es kam mir vor, als hätte ich alle Flüssigkeit verloren. Die Lampe war nicht in Ordnung, sie ging an und aus; ich drehte beinahe durch und kam mir vor, als würde ich in einem dieser SechzigerJahre-Spionagefilme gefoltert. Als ich mich umschaute, humpelte ein Krüppel auf seinen Krücken auf mich zu. Er trug einen langen Mantel, einen Hut mit breiter Krempe und eine schmutzige Au genklappe. Er kam näher, dann blieb er stehen und starrte mich an. »Was willst du, du Arsch?« brüllte ich. »Bißchen Kleingeld? Laß mich in Ruhe, laß mich bloß in Ruhe. Was wollen bloß alle von mir?« Er schüttelte den Kopf und kam näher. »Geht es Ihnen gut?« fragte er mit sanfter Stimme. »Da!« rief ich und warf mit ein paar Münzen nach ihm. »Trink dich doch tot.« »Ich bettle nicht«, sagte er, doch ich packte ihn an den Aufschlägen seines dreckigen Jacketts und schüttelte ihn durch. »Warum nicht? Warum zum Teufel nicht? Was ist mit dir los? Warum bettelst du nicht?« »Ich hab' alles, was ich brauche.« »Du arroganter Arsch«, sagte ich und schlug nach ihm, aber ich strauchelte am Bordsteinrand, verdrehte mir den Fuß und verlor das Gleichgewicht. Schmerz durchzuckte mein Bein, ich stürzte auf die Straße, griff nach meinem Knöchel und rollte stöhnend und fluchend im Rinnstein umher. Mühsam versuchte ich mich aufzurichten, aber vor Schmerz ging das nicht. Der Penner half mir und zerrte mich zurück auf den Bürgersteig. Ich humpelte ein paar Schritte, hopste, stolperte und fiel wieder hin. Wieder half der Penner mir auf, und das war der .. Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte - er hatte es nicht anders gewollt. Ich riß ihm die Krücken weg und stieß ihn zur Seite. Er protestierte nicht, er sagte gar nichts, er setzte sich bloß hin und sah mir mit seinem einen tiefliegenden, dunklen Auge nach, wie ich die Straße entlang davonhinkte.
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Ich schätze, viel beschissener kann ein Mann sich nicht mehr verhalten, viel tiefer kann man nicht sinken, als einem Krüppel die Krücken zu stehlen, aber seine gottver dammte Hilfsbereitschaft war mir echt 'auf den Sack gegangen. Letztendlich marschierte ich mit diesen Krücken bis zum Atelier. Am Ende, als ich um den Park rumging, fuhren ein paar Taxen an mir vorbei, aber das war's dann nicht mehr wert, sie würden mich bloß annerven, weil ich nur um die Ecke wollte. Als ich wieder bei meinem Wagen war, schlug es halb eins, und ich war bloß noch eine leere Hülle. Von den vielen Schlägen, die ich eingesteckt hatte, schmerzte mein Körper überall. Meine Augen schmerzten, mein Bein schmerzte, meine Zähne schmerzten, mein Bauch tat weh, meine Füße taten weh, meine Lungen schmerzten, mein Blut war bloß flüssiger Schmerz in meinen Venen. Ich war komplett fertig, ein kranker Hund. Sehnsüchtig betrachtete ich die alte Fabrik - Erlösung, aber eine Erlösung, die mir versagt blieb. Drinnen stand der Ofen, der ohne die Schlüssel nutzlos für mich war. Herausfordernd, höhnend ... Ich stieg in den Wagen, ließ den Motor an, schloß die Augen und schlief ein. Ich weiß nicht, was ich träumte, falls ich überhaupt etwas träumte, aber ich wachte auf, als mein Kopf vornüber kippte und auf das Steuer knallte, wodurch die Hupe hupte. So fühlte es sich also an, von den Toten aufzuerstehen, so fühlte es sich an, einer dieser verrückten fleischfressenden Zombies in einem Horrorfilm zu sein. Kein Wunder, daß die immer so schlecht gelaunt waren. Ich holte meinen Stadtplan raus und blätterte darin, bis ich den Fitzroy Park in Highgate gefunden hatte. Die Straße drumrum war nicht lang; es sollte nicht allzu schwierig sein, dort eine Party zu finden. Aber die Aufgabe, einen Gang einzulegen und den Wagen zu fahren, schien mich zu überwältigen. Es kam mir so vor, als wollte ich auf den Everest steigen, als wollte ich die Ställe des Augias ausmisten oder drei Schalen Vollkornmüsli essen. Manche Leute mit Hirnschäden - die Herzanfälle haben und nicht mehr länger richtig funktionieren können ihr Leben besser ertragen, wenn sie Musik hören. So lange der Soundtrack läuft, kommen sie klar, die Musik denkt für sie, sie können sich anziehen und essen und ihren Kram klarkriegen; aber wenn die Musik aufhört, huren sie auch auf, gestrandet, ans Ufer gespült. Ich brauchte dringend Musik-Therapie, also öffnete ich das Handschuhfach und wühlte in den Tapes herum, bis ich fand, was ich brauchte - Wagner. Damit konnte ich mir noch einmal Feuer unterm Arsch machen. Ich stopfte den letzten Akt der Götterdämmerung rein und drehte die Lautstärke hoch. Schon besser. Benimm dich wie ein Gott, Mann. Erzwing dein eigenes Schicksal. Töte Mister Kitchen und verbrenne seine Leiche auf dem Scheiterhaufen, verbrenn den Arsch, verbrenn Walhall. Und so fuhr ich - gestärkt vom Trauermarsch zu Siegfrieds Tod - gen Norden.
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13. Kapitel Hiayoho! Hiayoho! Gesicht geradeaus. Halb steif, Zähne zusammengebissen, Augen hervorquellend, versuchte ich, den Schmerz in meinem Fuß zu ignorieren, im linken Fuß, dem Gaspedalfuß. Augen auf die Straße. Hand ans Steuer. Konzentrieren. Rot heißt Anhalten, grün heißt Fahren. Ich wünschte mir bloß, daß nicht alles aussähe und sich anfühlte wie ein gottverdammtes Videospiel; nur ein Fehler, und auf meiner zerborstenen Windschutzscheibe stünde GAMS OVER. Ah! Die Pferde wiehern. Angelockt vom Licht, vom Feuer und vom Lachen? Auch ich will dorthin, das glorreiche Strahlen hat mein Herz erreicht. Ich werde es um armen, werde für immer eins sein mit ihm, in heiligem Drängen, für immer eins! Hiayoho! Oh, die Krauts, diese bombastischen, todessehnsüchtigen Romantiker. Liebestod. Der Tod aus Liebe. Wir gehen, wenn es sein muß, mit einem Knall - wie Butch und Sundance, Thelma und Louise, Tristan und Isolde ... Ich zischte in meinem großen schwarzen Saab durch die Stadt und durch die Nacht, mein turbogetriebener Kampfwagen, mein Kriegspferd, Grane. Ah! Ihr wiehert! Ich war Brunhilde, die Siegfried seinem Schicksal zuführte. Ich war Wotan, Hagen und Alberich und alle Zwerge und Riesen noch dazu. Bloß daß Wagner immer wieder abglitt in die Themen aus Krieg der Sterne, und plötzlich steuerte ich den Millenium Falken und erwartete jeden Augenblick, daß die Straßenlaternen verschmierten und Streifen bildeten und dieses sexy Hyperspace-Ding aufführten, wo sie sich ausbreiteten und in der Unendlichkeit verloren - und POW! würde ich in einer anderen Dimension landen. Verlaß mich nicht, mein Körper. Laß meine Seele in der Not nicht allein. Ich kann es, ich kann es, ich kann es, ich weiß, daß ich kann, ich weiß, daß ich kann, ich weiß, daß ich kann. Ein delikates Gleichgewicht auf Messers Schneide, ich raste nackt auf der Klinge talwärts und versuchte, mit meinen Eiern zu bremsen, und all das nur, weil der liebe Mister Kitchen nicht in seinen dummen Kopf kriegen konnte, daß es wirklich egal ist, wie man redet, daß die Arbeiterklasse die Mittelschicht mit Sicherheit nicht so beneidet wie die Mittelschicht sich selbst beneidet. Schon gut, ich gebe zu, ich hab' meine Fehler, aber gottverdammt noch mal, niemand ist perfekt. Teufel auch. Manchmal kann man eine Leiche einfach nicht loswerden. Das Dumme an der ganzen Geschichte war, daß ich sowas schon mal erlebt hatte. Zumindest die Tatsache, mit einer Leiche im Kofferraum durch die Gegend zu fah ren, war mir nicht fremd. Ich meine, ich möchte jetzt nicht, daß Sie glauben, das wäre eine Angewohnheit von mir, aber Erfahrung hatte ich durchaus damit. Das war fünf Jahre her, vielleicht auch sechs. Egal, ist ja egal wie lange. Damals hatte Carrie noch Inneneinrichtungen gemacht, und ich war noch mit ihr gegangen. Sie hatte einen großen Auftrag in Lincolnshire. Wissen Sie noch, Lincolnshire? Dort hatte ich vor vielen Stunden hingewollt. Und warum? Ich sag' Ihnen, warum ... Aber ich will nicht vorgreifen. Also, Carrie war in Lincolnshire und kümmerte sich um irgendein Landhaus, das ein Werbefritze gekauft hatte. Sie wohnte in dem Haus, während sie daran arbeitete, beaufsichtigte ihre Leute und beschmutzte sich die Hande mit Farbe und Tapetenkleister. Mitte des Sommers fuhr ich hoch und blieb ein paar
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Wochen bei ihr. Ich glaube, ich war davon ausgegangen, selber auch irgendwas zu machen, aber dazu bin ich nie gekommen. Das Haus selber war ganz schön beeindruckend, aber die Gegend an sich kam mir nackt, öd und leer vor. Ich würde Lincolnshire nicht unbedingt für einen SightseeingUrlaub empfehlen, und ich kenne mich dort aus. Tagsüber, während Carrie arbeitete, schaute ich mich um; ich fuhr über Land und versuchte, mich zu verirren. Bald schon raste ich rum wie ein Ureinwohner. Damals hatte ich einen Range Rover, mit dem ich Materialien und fertige Objekte hin und her kariolte und auf diesen Landstraßen war der Wagen gerade richtig; ich konnte um die Kurven und über die Hecken gucken. Eines Tages entdeckte ich mitten im Nirgendwo ein unglaublich abgezäuntes Gebiet mit großen gelbschwarzen Schildern voller Totenköpfe und gekreuzten Kno chen; Gefahr, Gift, jedes schlimme Bild, das man sich vorstellen konnte; die Leute sollten draußen bleiben. Ich fuhr hin und her, um vielleicht sehen zu können, was sich dahinter verbarg, aber es gab keinen Einblick. Es gab nur ein großes Stahltor, doch das war mit einer Kette gesichert, abgeschlossen, mit Stacheldraht verschnürt und mit Zacken obendrauf. Natürlich machte mich das nur noch neugieriger, und ich beschloß, daß ich da reingehen und rausfinden mußte, was hier los war. Am nächsten Tag kehrte ich mit Werkzeug zurück, Drahtschneidern und Zangen und so was. Ich fand eine nette abgelegene Ecke und begann, ein Loch in den Zaun zu schneiden. Dann knipste ich noch ein bißchen weiter, zog mein Türchen auf und kroch hinein. Drinnen war nichts. Nur grauer, trockener Boden, befleckt mit ein paar dürren braunen Gräsern, die ums Uberleben kämpften. Es sah aus, als wäre seit Jahren niemand mehr hier gewesen. Ich latschte eine halbe Stunde rum, bevor ich eine verbrannte, planierte Stelle fand, auf der wahrscheinlich mal Gebäude gestanden hatten; es war unmöglich zu sagen, was für welche. Vielleicht eine kleine Fabrik oder ein Lagerhaus. In der Nähe eine Müllhalde, ein Haufen alter rostiger Fässer, in denen offensichtlich mal irgendwelche Chemikalien gewesen waren. Noch ein Stück weiter wuchs überhaupt nichts mehr, der Boden war schwarz mit unregelmäßigen gelben Streifen, und ich wußte, daß ich mich dem Herzen dieses elenden und verseuchten Ortes näherte. Es stank unglaublich. Ein schwefliger, elektrischer Geruch verbrannte meine Schleimhäute. Ich hielt mir Mund und Nase mit der Hand zu und zwang mich weiter, bis ich das Zentrum erreicht hatte. Dort war ein See mit einer orangefarbenen Masse darin; ein paar spülmittelgrüne Flecken und ölige Regenbögen schwammen darauf. Die Oberfläche war fast voll ständig mit dichtem, ockerfarbenem Schaumgeschmiere und irgendeiner Art Wackelpudding bedeckt, klebrig und eklig. Manchmal stiegen Blasen an die Oberfläche, zerplatzten langsam wie in Zeitlupe und setzten faulige Gase frei. Es ist schwer, die Atmosphäre dort zu beschreiben - die Einsamkeit, das tote Land, der grausame See, der unglaubliche Gestank. Ich war fasziniert und abgestoßen zugleich. Es war ein Blick in die Hölle -die Hölle auf Erden. Vielleicht hatten sie versucht, hier sauber zu machen. Sie hatten es versucht und waren gescheitert, und sie - wer auch immer »sie« waren - hatten am Ende einfach aufgegeben, hatten das Gelände abgesperrt in der vergeblichen Hoffnung, daß die Natur sich mit der Zeit durchsetzen und das Gift abbauen würde.
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Als ich davonfuhr, war mir schlecht und schwindlig, ich hatte das Gefühl, Fieber zu haben. Ich sorgte mich, daß der Gestank mir irgend etwas angetan haben könnte und hatte es eilig, zurück zu Carrie zu kommen, also fuhr ich vielleicht zu schnell; mit Sicherheit fuhr ich unberechenbar wie ein Betrunkener, ich sah doppelt, mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Ich kannte die Straßen, und hoch im Auto zu sitzen gab mir ein falsches Gefühl von Sicherheit. Zwar konnte ich gut sehen, daß keine anderen Wagen kamen, aber alles, was tiefer lag, blieb mir verborgen. So war das also, und dann fuhr ich zu schnell um eine Kurve, eierte betrunken und fuhr einen Hund an. Einen Labrador. Ich sah ihn zu spät. Ein großer, dicker, alter gelber Sack. Er versuchte noch beiseite zu springen, aber ich erwischte ihn mit dem Kotflügel. Ich hielt am Straßenrand und sprang aus dem Wagen. Der Labrador schien nicht verletzt, er lag bloß auf der Straße und bewegte sich nicht mehr. Ehrlich gesagt bin ich ein Tierfreund, und am liebsten mag ich Hunde. Als Kind habe ich einen gehabt, einen Labrador, fast so einen wie diesen, bloß war es ein Rüde. Bevor wir nach London zogen. Ich verband viele glückliche Erinnerungen mit ihm, wie wir durchs Land gestrichen waren. Als er Krebs bekam und eingeschläfert werden mußte, verzweifelte ich fast. Ich hatte mir immer einen neuen gewünscht, aber es ist nicht fair, in London Hunde zu halten. Nicht fair für die Hunde natürlich. Sie können sich also vorstellen, wie ich mich fühlte, als ich vor diesem leblosen Bündel stand. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Ich ging die Straße auf und ab und hielt Ausschau nach jemand, der vielleicht kam und helfen konnte. Und dann sah ich ihn. Den Hundebesitzer. Der Junge war vielleicht zwölf. Er kam die Straße entlang, pfiff und rief nach seinem Hund. Er trug Gummistiefel, Jeans und eine schmutzige alte Leinenjacke, und er hatte helles blondes Haar. Ich wußte, daß ich es nicht ertragen konnte. Ich war ein Feigling und ein Narr und das größte Dreckschwein der Welt, aber ich konnte diesem Jungen nicht sagen, was ich seinem Hund angetan hatte. Also drehte ich mich um und rannte zum Wagen, machte den Kofferraum auf, packte den Hund und legte ihn rein. Dann wendete ich und fuhr so schnell es ging davon. Dabei zitterte ich vor Angst und weinte beinahe; aber um keinen Preis wollte ich zurückfahren. Ich raste weiter. Ich wußte, was ich zu tun hatte, ich mußte in die nachstgroßere Stadt fahren, zu einem Tierarzt, mußte erklären, was geschehen war, mußte natürlich den Jungen verschweigen und irgend etwas erfinden. Ungefähr zwanzig Minuten entfernt war eine Stadt, in der ich gute Chancen gehabt hätte, aber während ich fuhr, dachte ich nach, und während ich nachdachte, schwitzte ich, und während ich schwitzte, wurde mir eiskalt. Mir war immer noch schlecht und schwindlig, und vielleicht hätte ich in so einem Moment nicht riskieren sollen, nachzudenken, aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich hatte mich nie in meinem Leben so schuldig und widerlich gefühlt. Ich wollte wirklich, wirklich nicht, daß irgend jemand erfuhr, was für ein Dreckschwein ich war, aber ich mußte irgendwas tun, oder? Zehn Minuten später fuhr ich an dem Zaun vorbei und hielt an. Ich fand das Loch, das ich in den Zaun geschnitten hatte, dann trug ich den Hund aus dem Wagen und schubste ihn durch das Loch auf das Ödland.
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Ich erinnerte mich daran, bei der Müllhalde eine alte Schubkarre gesehen zu haben und lief los, sie zu holen. Sie war noch einigermaßen in Ordnung und machte es mir wesentlich leichter, den Hund zu transportieren. Als ich den Rand des Sees erreichte, wurde mir trotzdem schlecht; ich wäre beinahe umgekippt und war kaum noch in der Lage, einen dummen Fuß vor den anderen zu setzen. Hier würde niemand jemals den Hund finden. Niemals würde jemand in diesem See schwimmen, niemals würde ihn jemand ablassen oder durchwühlen. Außer dem konnte nicht einmal ich ahnen, was für zersetzender Dreck da drin herumschwamm, aber ich hatte das sichere Gefühl, daß der Hund sich in wenigen Augenblicken auflösen würde, und dann wäre alles in Ordnung, weil niemand jemals erfahren konnte, was ich getan hatte. Ich keuchte und stöhnte und schluckte Galle; mühsam kippte ich die Schubkarre um, und der Hund rollte an das Ufer auf das Blubberzeug zu. Aber auf halbem Weg blieb er an einem Betonbrocken hängen, blieb einfach liegen. Ich hielt nach etwas Ausschau, um ihn weiterzuschieben, und die ganze Zeit verfluchte ich mich, weil ich ein rückgratloser Feigling war. Schließlich fand ich eine lange, verrostete Metallstange, aber als ich versuchte, sie aufzuheben, verließen mich die Lebensgeister, und mir wurde schwarz vor Augen. Ich war im Delirium, weder wach noch schlafend, und ich fühlte mich verwirrt und verängstigt. Plötzlich war ich überzeugt davon, daß ich der Junge war, daß ich über diese Landstraße gelaufen war und daß mein Hund totgefahren worden war. Getötet worden war von einem Dämon, von einem schrecklichen, gnadenlosen Feind. Es war so unfair, und ich war doch bloß ein Junge. Ich saß am Wegesrand, und Tränen brannten in meinem Gesicht, die ganze Ungerechtigkeit der Welt traf mich, der ganze Schmerz, dem Kinder ausgesetzt sind. Ich wollte sterben, ich wollte am Straßenrand sitzen, bis ich einschlief und niemals wieder aufwachen würde ... Gott allein weiß, wie lange ich dalag oder wie lange ich dort noch gelegen hätte, wenn der Hund mich nicht wiederbelebt hätte. Ich kam zu Bewußtsein, weil er mein Gesicht leckte und mir leise ins Ohr bellte. Nachdem mir wieder klar geworden war, wo ich mich befand und was los war, bedankte ich mich bei der Hundin - es war nämlich eine - und streichelte ihre weichen Ohren. Möglicherweise hatte sie mir das Leben gerettet. Der bloße Anblick ihres glücklichen Gesichts genügte schon, daß es mir wieder besser ging. Ich versuchte aufzustehen, war aber zu schwach, also saß ich einfach da, umarmte die Hündin und kam wieder zu Kräften. Ich hatte sie also nicht umgebracht. Alles war in Ordnung. Die Hündin war bloß ohnmächtig geworden. Dieser Gedanke verlieh mir die Kraft, aufzustehen, dann be gann ich zu gehen. Ich rief nach der Hündin, und sie versuchte mir zu folgen, aber ihre Hinterbeine waren nutzlos, sie lagen einfach am Boden. Es sah aus, als wäre ihr Rückgrat gebrochen. Sie versuchte, die Beine über den Boden zu ziehen, und ich sah eine lange Spur, wo sie sich vom Rand des vergifteten Sees bis zu mir geschleppt hatte. Ich ging zu der Hündin zurück und versuchte, sie aufzuheben, aber ich war zu schwach, und sie wimmerte vor Schmerz. Es gelang mir auch nicht, sie wieder in die Schubkarre zu legen, ich wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer. Ich hielt sie am Hals und weinte in ihren Pelz. »Ich komme wieder«, sagte ich. »Wenn ich stärker bin. Ich komme wieder, deinetwegen. Mach dir keine Sorgen . . . Ich komme wieder.« Sie bellte, sie bellte immer weiter.
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Schließlich ging ich zum Wagen. Hinter mir konnte ich ihr Heulen leiser werden hören. Ich sah nicht zurück, und als ich den Zaun erreichte, war sie still. Ich stieg in den Range Rover, stellte die Klimaanlage auf volle Kraft und fuhr so vorsichtig ich konnte davon. Den ganzen Heimweg über suchten mich PhantomDamone heim, dunkle Schatten im Spiegel, Polizisten, Jungs mit blondem Haar, formlose Monster ... Ich wollte wirklich wiederkommen, wirklich, aber ich war drei Tage lang krank, hatte Fieber und kotzte, ich konnte das Bett nicht verlassen. Carrie hatte einen Arzt holen wollen, aber ich hatte Angst und habe es ihr ausgeredet. Ich habe ihr gesagt, das sei bloß die Grippe. Irgendwann ging es mir gut genug, daß ich zurückkehren konnte. Ich fand die Hündin dort, wo ich sie verlassen hatte, ausgestreckt, als schliefe sie. Ich legte sie in die Schubkarre und fuhr sie wieder zum See, und diesmal fiel sie hinein. Ich sah zu, wie sie langsam unter die Oberfläche sank, die sich um sie herum schloß, blubbernd und zischend. Nach ein paar Sekunden lag der See wieder still und glatt da, als wäre nie etwas geschehen. Irgendwo fand ich einen verdorrten Busch, riß ihn aus und verwischte damit die drei Spuren. Meine, die des Hundes und die der Schubkarre. Dann ging ich zurück bis zum Zaun, wischte und wischte im Gehen. Als ich dort war, verschloß ich das Loch und schob Grünzeug davor. Ich fand die ganze Angelegenheit immer noch grauenhaft, aber ich hoffte, sobald ich dieses Höllenloch erstmal hinter mir hatte, würde ich mich überzeugen können, daß alles bloß ein grauenhafter Traum gewesen war. Tatsächlich hatte ich bis heute nacht kaum noch daran gedacht. Aber sehen Sie, die Sache ist die, daß ich wegen des Jungen und des Hundes ein schlechteres Gewissen habe als wegen Mister Kitchen, und wenn ich heute morgen einen vollen Tank gehabt hätte, wäre ich dorthin gefahren, hätte diesen Schwachkopf verschwinden lassen und wäre jetzt schon längst wieder zu Hause. Ich wäre zivilisiert mit meinen Eltern essen gegangen. Ich hätte mich benommen, ich wäre nett zu Gaia gewesen, und jetzt hätte ich ihren nackten Körper auf meinen Schenkeln reiten lassen können, statt meinen schwarzen Saab ins Nirgendwo zu fahren, mein Körper geschunden und mein Hirn am Rande eines MASSIVEN KURZSCHLUSSES. Ich nahm einen Schluck Whisky aus dem Flachmann. Wagner hörte auf, mich zu begleiten. Ohne Musik fuhr ich durch Kentish Town und dann hoch nach Highgate.
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14. Kapitel In den Fitzroy Park zu fahren war, als verließe man London und käme in ein kleines, reiches Dörfchen auf dem Lande. Es war eine schmale, abgelegene Straße, die sich an der Seite des Highgate Hill oberhalb von Hampstead Heath hinzog; mit großen Bäumen und grünen Gärten und jeder Menge teurer Häuser. Ich konnte mir nicht vorstellen, wieviel Geld man brauchte, um hier zu leben; jedes Haus war beeindruckend und individuell designed in jedem nur möglichen Stil: Dreißiger-Jahre-Villen, modernistische Sechziger-Bunker, postmoderne Lego-Häuser aus den Achtzigern. Es gab Sicherheitstore, affige Autos, hohe Mauern, und es schien im Ganzen so was wie eine kleinere, weniger vulgäre englische Ausgabe von Beverly Hills zu sein. Ich öffnete mein Fenster und fuhr hin und her; dann und wann hielt ich an und betrachtete mir Häuser, die infrage kamen. Jedes von ihnen paßte zu der Lesbenbe schreibung einer angeberischen Architekten-Bude, aber nirgends gab es Anzeichen. einer Party. Also wanderte ich die Straße entlang und beglotzte mir die Häuser, bis mich plötzlich eine lederummantelte Figur auf einem gigantischen japanischen Superbike überraschte. Die große Honda dröhnte um die Ecke und donnerte im letzten Augenblick an mir vorbei - aber erst nachdem ich erschrocken am Steuer gekurbelt und den Saab von der Straße gerissen hatte, so daß er durch ein paar Büsche hindurch in irgend jemandes Garten landete. Ich blieb stehen, halb in einem Blumenbeet, halb auf dem Rasen. Ein Scheinwerfer ging an, der Garten war sofort taghell erleuchtet. Mir meine Krücken schnappend stemmte ich mich aus dem Wagen, um den Schaden zu begutachten. Abgesehen von den Pflanzen war alles in Ordnung, keine neuen Dellen am Wagen. »Sie Arschloch!« Ich sah mich um. Ein dicker Mann mit einem Gewehr kam aus einer Schiebetür. Während ich stehenblieb und auf ihn wartete, betrachtete ich das Haus erstmal genau er. Eine erstaunliche Konstruktion aus Glas und Beton, eckig und brutal modern. »Sie Arschloch!« brüllte der Mann wieder. »Sie parken auf meinen Hortensien!« Als er näher kam, sah ich, daß er das aufgedunsene rote Gesicht eines Trinkers hatte, und eine dicke, fette Nase dazu. Sein graues Haar war ungekämmt, er trug Jeans und ein buntes kurzärmeliges Hemd, das sich anstrengen mußte, seinen Bierbauch festzuhalten. Wahrscheinlich war er um die Sechzig. »Was machen Sie da?« fragte er mit verwaschener Stimme. »Was gibt's? Was ist los?« »Ich hab' leider die Kontrolle verloren«, sagte ich. »Ha, ha!« lachte er theatralisch. »Die Kontrolle verloren?« »über meinen Wagen«, erklärte ich. »Ich weiß nicht, wer Sie sind«, sagte er, packte mich mit einer Hand am Aufschlag und zog mich dicht an seinen Bierkopf heran. Alkoholdunst umgab ihn, sein Blick war wäßrig und unscharf. »Ich weiß nicht, wer Sie sind ... Was machen Sie hier?« Seine Stimme war laut, aber kultiviert. »Oh, Sie kennen mich nicht«, sagte ich geduldig. »Ich war auf der Suche nach einer Party.« »Aha.« Er ließ mich los, setzte sich schwer auf meine Motorhaube, guckte himmelwärts und atmete tief durch die Nase. »Was für ein schöner Abend«, sagte er.
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»Ja«, sagte ich und stützte mich auf meine Krücken. Er holte ein Päckchen Camel heraus, zog sich eine und bot mir eine an. Ich nahm sie, und er gab mir mit einem silbernen Feuerzeug Feuer. »Sie haben den Wetterbericht wieder mal vergeigt«, sagte er und stieß eine Wolke blauen Rauches aus. »Das machen sie doch immer.« »Arschlöcher«, sagte er. »Scheiß drauf. Scheiß ihnen auf den Arsch.« Dann packte er mich am Hals, schob seinen Arm unter den meinen und drückte meinen Kopf an seine Brust. »Du bist einer von uns«, sagte er. »Willst du was trinken?« »Klar, warum nicht?« »MARGARET! « blökte er, seine Stimme hallte durch die laue Nachtluft, und augenblicklich kam eine sehr dünne Frau aus dem Haus. Sie ging langsam und vor sichtig, als könnte jeder Schritt ihr zartes Körpergerüst zerbersten lassen. »Margaret, bring uns eine Flasche«, sagte mein Gastgeber. »Da steht ein Mann in unseren Büschen, der was trinken will. « Margaret drehte sich um und verschwand wieder im Haus. »Also, Johnny«, sagte der große Mann, »du hast die Kontrolle verloren?« »Ist das ein Luftgewehr?« fragte ich. Er rülpste und nickte. »Damit verjage ich die Katzen vom Rasen. Scheißkatzen. Es gibt soviel Katzen hier in der Gegend, Katzen, Katzen, Katzen, ich hasse sie. Ha! Hast du geglaubt, John Wayne macht Jagd auf dich? Hast du, Johnny? Hast du? Ha!« Er zeigte mit einem nikotinfarbenen Finger auf mein Gesicht und fixierte mich mit seinen kiesigen, eiweißfarbenen Augen. »Ich weiß, wer du bist«, sagte er. »Ich kenne dich.« »Echt?« »Du bist Raffles, der Katzendieb, du bist der Einbrecher Gentleman Jim, du bist die Blumenfee, die mir das Unkraut aus den Beeten zaubert, du bist Mister Thunderbolt, der Blitz aus heiterem Himmel. Warum bist du heute nacht zu mir gekommen, Wee Willie Winky? Wer hat dich geschickt?« »Niemand hat mich geschickt, es war einfach Pech.« »Sowas gibt's nicht, Alter.« Mit diesen Worten stieß er mich zu Boden und drückte mir den Gewehrlauf ins Auge. Das tat weh. »Siehst du, jetzt guckst du in den Lauf meines Gewehrs«, sagte er. »Du siehst in die Zukunft. Du denkst, was kann das Ding schon anrichten? Aber aus dieser Ent fernung, Johnny-Boy, fetzt dir die Kugel das Auge raus - dein böses Auge -, und möglicherweise, möglicherweise flutscht sie sogar bis in dein Hirn. Und du denkst: >So ein Pech.< Aber ich sag' dir was, Raffles, es gibt Glück, und es gibt Pech. Und das ist beides dasselbe. Man kann kein bad luck haben, denn wenn es bad wäre, wäre es kein luck. Man kann bloß Glück haben. Wenn die Dinge schlecht stehen, dann ist es einfach Dreck. Aber siehst du, Johnny, siehst du, du kannst nichts dagegen machen. Das ist es, worum es geht ... Kennst du Patience, das Spiel?« »Mit den Karten?« fragte ich. »Die man alleine auslegt?« »Ganz genau. Also, ein guter Patience-Spieler wird immer besser dastehen als ein schlechter Spieler, ein unerfahrener Spieler. Ein guter Spieler kennt die Tricks, er kennt die Regeln. Wenn er vor einer Wahl steht, entscheidet er sich richtig, aber wenn die Karten auf eine bestimmte Art und Weise
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liegen, kann nicht mal der beste Patience-Spieler der Welt das Spiel zu Ende bringen. Das ist Glück. Und bei Patience geht's nur um eine Sache, nämlich alle Karten loszuwerden. Aber wenn die Karten schlecht liegen, wird ein guter Spieler nicht besser abschneiden als ein schlechter Spieler. Daran kann man nichts ändern. Man kann bloß mogeln. Aber was sollte das? Man bemogelt sich doch selbst ... Oder die Karten, und es sind doch bloß blöde Karten. Also, worauf ich hinaus will, ist .. . Worauf ich raus will, ist - mach Musik! Du suchst eine Party, dann feiern wir eine beschissene Party. Los, tanzen wir!« Er zerrte mich auf die Füße, ich rieb mir mein Auge, kletterte in den Wagen und ließ den Motor an. Eigentlich dachte ich daran, abzuhauen, über den Rasen, und dann davonzufahren, aber ein silberner BMW blockierte die Ausfahrt, also überlegte ich es mir anders und stopfte statt dessen dem Radio das erste Tape in die Fresse, das ich in die Hände bekam, dann drehte ich lauter. John Lee Hookers zerkratzte Stimme wurde auf den Rasen gekotzt. »Ah«, sagte der dicke Betrunkene und grinste. »Mister Hooker, der singende Rentner. Geht Mittelständlern voll an die Eier.« Plötzlich materialisierte sich Margaret neben uns, auf einem Tablett trug sie eine Flasche Champagner und Gläser. Der Mann zuckte zusammen und zitterte. »Teufel auch, Frau«, sagte er. »Du machst mir Angst.« Sie entgegnete nichts, sie fing bloß an, Champagner in die Gläser zu gießen, mit derselben langsamen, zerbrechlichen Würde, mit der sie alles tat. Ganz offensichtlich war sie einmal sehr schön gewesen, aber Kippen und Alkohol hatten das Thema erledigt. »Laß mich das machen«, sagte der Mann ungeduldig und nahm ihr die Flasche aus den zitternden Händen. »Das ist Johnny«, sagte er und gab mir ein Glas. »Ich heiße nicht Johnny«, sagte ich. »Als ob das Margaret interessieren würde«, sagte er. »Als ob das überhaupt irgend jemand interessieren würde. Als ob es wichtig wäre ... Ich sag dir, wer du bist. Ich sag's dir. Du bist Mister Lucky, weil das Pech dir nichts anhaben kann. Auf dich, Johnny Luck! « Wir tranken. »Was für eine tolle Party! « brüllte er, breitete die Arme aus und schlug dabei mit der Champagnerflasche Margaret voll gegen die Schläfe. Geräuschlos kippte sie hintenüber ins Blumenbett und lag still da. »Gott, tut mir leid, Margaret«, sagte er. »Wieder mal die Rückhand.« Jetzt grinste er und stieß mir mit der Flasche in den Bauch. »Ich sag' dir was«, sagte er. »Laß uns Tennis spielen.« »Ist mit ihr alles in Ordnung?« »Ich glaub' schon. Komm doch... Tennis. « »Hören Sie, irgendwann muß ich den Wagen hier wegfahren . . . « »Wir feiern eine gottverdammte Party, du kannst jetzt nicht weg.« »Ich hab' noch was vor . . . «, sagte ich lahm. »Du bist ein dunkles Pferd, Johnny, dunkel. Du hast ein dunkles Geheimnis . . . « »Ich hab' bloß die Kontrolle verloren.« »Geht das schon wieder los? Teufel auch, Johnny, keiner von uns hat überhaupt Kontrolle, und jetzt komm um Himmels willen mit und laß uns Tennis spielen.«
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Er latschte quer über seinen Rasen und grölte was von Tennis. Ich trank meinen Champagner aus und betrachtete sehnsüchtig den BMW, der meinen Fluchtweg blockierte, dann nahm ich zögernd meine Krücken und folgte ihm. Hinter dem Haus befand sich im oberen Teil eines leicht abfallenden Rasengrundstücks ein Tennisplatz. Der große Mann schaltete das Flutlicht ein. »Ich zieh mich bloß um und hol die Sachen«, sagte er und verschwand in einem kleinen Pavillon. Was für ein Mist. Ich marschierte auf den Court und wartete auf ihn. Sekunden später kam er wieder aus dem Pavillon heraus, splitternackt, abgesehen von brandneuen, weißglänzenden Tennisschuhen. »Es ist 'ne warme Nacht«, sagte er. »Schau dir diesen Körper an, er verwest.« Er warf mir einen Schläger zu. Ich legte eine Krücke hin, stützte mich auf die andere und machte mich bereit. »So enden wir alle, Johnny!« brüllte er mich an. »Hangendes, gelbes, totes Fleisch. Nackt kommen wir, nackt gehen wir . . . « Er selber hatte keinen Schläger, statt dessen versuchte er, den Ball mit der leeren Flasche zu treffen. Der Ball sprang zur Seite davon. Beim zweiten Versuch flog der Ball gleich ganz aus dem Court, aber beim dritten gelang es ihm, über das Netz zu spielen. Ich knallte ihn zurück, er verfehlte ihn. »Sorry«, sagte er und holte den Ball. »Ich bin ein bißchen betrunken. Und weißt du, warum? Weißt du, warum ich dieses schäbige, gottverdammte Zerrbild von ei nem Mann bin? Weißt du, warum ich mich zu Tode saufe?« Er knallte den Ball mit seiner Flasche zu mir ruber, ich ließ ihn zurücksausen, und als er versuchte, meinen Schlag zu erwidern, flog ihm die Flasche aus der Hand. Aber der Schlag hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht, ich kippte auf den harten Boden des Tennisplatzes. »Weißt du, was los ist, Johnny? Was los ist ...? Weißt du das? Nichts ist los. Ich hab' keine Entschuldigung. Es ist bloß, daß die Welt so voll von beschissenen Arschlöchern ist. Schau mal ... « Er kam rüber auf meine Seite, zog mich hoch und führte mich zum Ende des Courts, von wo aus man zwischen Bäumen hindurch über London schauen konnte. »An manchen Abenden komm' ich hier raus«, sagte er. »Und dann sehe ich das, und alles, was ich sehen kann, sind Arschlöcher. Arschlöcher, soweit das Auge sehen kann. Reihenweise Arschlöcher, Arschloch über Arschloch ... Und dann krieg' ich Angst, ich hab' Angst, zurück ins Haus zu gehen, weil ich weiß, daß es voll von ihnen sein wird, ich werde über sie steigen müssen, ich werde in ihnen ersaufen. Ich werde vor lauter Arschlöchern nicht durch den Flur gehen können. Die Welt ist voller Arschlöcher, Johnny. Wenn ich am Abend als letztes in den Spiegel sehe, was sehe ich dann? Ein Arschloch grinst mich an, es zwinkert mit seinem einen knittrigen Auge, einem Auge wie eine frische Schußwunde. Ja ... « Er wandte sich um und starrte mich an. »Deine Augen - eins, zwei. Bäng. Bang.« Er formte mit einer Hand eine Pistole und schoß zweimal auf mich, genau zwischen die Augen. »Ich kenne die Menschen, Johnny«, sagte er. »Ich sehe sie mit meinem dritten Auge, meinem magischen Arschloch. Du bist zu mir gekommen. Ich weiß, wer du bist. Du bist der Allesfresser Ed Gein, du bist der Tod, Johnny. Der kalte Johnny Death ist zu mir gekommen. Mein Name steht in deinem großen schwarzen Buch. >Roger Bigelow, deine Zeit ist abgelaufen. Roger Bigelow<, wirst du sagen, >ich habe dir gebracht, was dir bevorsteht, deine Westentaschen-Apokalypse, das Spiel ist aus.< Du riechst nach Tod, süß und klebrig. Ich würde mich nicht wundern, wenn dein ganzes Auto
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schon voller Leichen läge. Zeig mir deine Leichen! Johnny ist hier! Ich kenn' mich mit sowas aus, verstehst du. Ich hab' mein Auge, das Auge in der Pyramide, das zwinkernde Arschloch des Schicksals. Komm schon, schauen wir in deinen Kofferraum!« »Ich muß gehen, Roger. « »Wir müssen alle gehen. Aber nicht, bevor ich gesehen habe, was in deinem Kofferraum ist.« »In meinem Kofferraum ist nichts.« »Ach, komm schon, jeder hat was im Kofferraum. Los, schauen wir mal nach.« Bevor ich ihn aufhalten konnte, war er schon wieder losmarschiert, quer über den Tennisplatz, rund ums Haus in den Vorgarten. Ich brauchte eine Weile, wieder auf meine Krücken zu kommen und ihm zu folgen, und als ich bei ihm war versuchte er, den Kofferraum des Saab mit bloßen Händen aufzureißen. »Mach ihn auf«, sagte er. »Nein.« »Mach ihn auf, du Arschloch ...« Er trat mit seinem Tennisschuh zu, seine labberigen Hoden fuhren Achterbahn in ihrem schlaffen Sackzuhause. »Mach den Kofferraum auf und laß mich deine Sammlung sehen. Ich will sehen, was für arme Arschgesichter du da drin hast.« Das letzte, was ich brauchen konnte war, daß er das Schloß kaputtmachte. Also öffnete ich. Außerdem hatte ich das Gefühl, daß es keinen großen Unterschied ma chen würde. Er war zu weit hinüber, um zu begreifen, was wirklich da drin lag; wir beide waren weit entfernt von der Wirklichkeit. »Ta-daa!« machte Roger, klappte den Deckel auf, und da lag Mister Kitchen, eingewickelt in sein dreckiges Laken. Genaugenommen war er nur noch halb eingewickelt, nachdem ich ihm die Stiefel ausgezogen hatte, und dann war es ja noch ganz schön hin und her gegangen. »Ha, ha!« rief Roger. »Los, schießen wir ihm in den Arsch! Das ist das einzige, was man mit einer Leiche im Kofferraum machen kann. Mehr lohnt sich nicht. Schießen wir ihm in den Arsch! « Er holte sein Luftgewehr, das er fallengelassen hatte, und ging wieder zum Kofferraum. Sorgfältig zielte er auf Kitchen und drückte ab. Es knallte und eine Bleikugel klatschte in eine von Kitchens Arschbacken. »Volltreffer!« Roger boxte begeistert in die Luft. »Los, schießen wir ihm noch mal in den Arsch, nein, warte. Warte mal . . . Ich brauche meinen Hut. « Er taumelte über den Rasen zum Haus. Ich stieg in den Wagen und ließ den Motor an. Die Hinterräder drehten auf dem losen Erdreich durch, dann fanden sie aber doch noch Halt, und ich jagte über den Rasen. Plötzlich stand Roger wieder vor mir und wedelte mit dem Gewehr. Jetzt trug er einen riesigen Stetson, an dem eine silberne Sheriff-Marke hing. Entweder überfuhr ich ihn, oder ich hielt an. Ich hielt an. »Ha, ha!« brüllte er. »Höchste Zeit, jemand in den Arsch zu schießen. Ich hab' den Hut erst heute abend gefunden ... Beim Frühjahrsputz. Jetzt mach den Koffer raum auf, der Sheriff ist in der Stadt und will in Koffer schießen.« Ich machte den Kofferraum auf. Er lud nach und schoß dem armen alten Kitchen noch mal in die Hinterbacken.
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»Laß dich von den Arschlöchern nicht fertigmachen«, sagte Roger. Plötzlich griff er sich an die Brust und rief: »Oh, großer Gott! « Dann kippte er seitlich in ein Beet voll Rittersporn. Ich ging zu ihm rüber. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Alles in Ordnung?« »Nein. Ehrlich gesagt glaube ich, ich hatte grade 'nen Herzinfarkt.« Ich kniete mich neben ihn. Er sah schon fast tot aus. »Die Party, Roger«, sagte ich. »Die Party, auf die ich wollte ... Irgend jemand in Fitzroy Park feiert eine große Party, ein Architekt, weißt du wo?« »Nebenan«, krächzte Roger. »Haben mich nicht eingeladen. Letztes Jahr gab's Arger.« Er hatte offensichtlich Schwierigkeiten, zu sprechen, aber er hörte auch nicht auf. »Durch den Zaun hab' ich gesehen, wie sie ... Ich wette, sie haben sich wegen des Wetters Sorgen gemacht. Sie wollten draußen feiern ... Und der Wetterbericht ... erst haben sie gesagt, es regnet, dann haben sie gesagt, doch nicht ... Soll's doch regnen, meinetwegen.« Ich stand auf. »Wir sind gleich, du und ich«, keuchte er. »Roger«, sagte ich. »Du mußt noch eines für mich tun.« »Was?« fragte er. »Wo sind deine Wagenschlüssel, Roger? Die Schlüssel zu dem BMW.« »Drinnen, in der Küche, sie hängen an einem Haken neben der Tür ... Nimmst du meinen Wagen?« »Nein ...« »Nimm lieber mich.« »Nein.« »Der Schlüssel für mein Boot hängt auch da. Wir hatten segeln gehen können, du und ich. Weißt du was? Weißt du, was ich bin? Nichts. Ein riesiges gottverdamm tes Nichts. Ich wußte, daß du heute abend kommst. Ich hab' auf dich gewartet. Erlöse mich, Johnny, laß mich gehen ...« Ich ließ ihn liegen und ging ins Haus. Drinnen herrschte Chaos. Die Bude war kaputt, sie war systematisch hingerichtet worden: die großen Gemälde an den Wänden waren zerfetzt, die teuren Leder garnituren waren zerschlitzt, Bücher lagen herum, Glasregale waren zersplittert. Der Unrat knirschte unter meinen Sohlen, als ich über den polierten Parkettboden tappte. Die Küche befand sich an der Seite. Auch sie war zerstört, alles Zerbrechliche war zerbrochen, alles Verbiegbare verbogen, und in verschmierten Ketchup-Buchstaben stand auf einer weißen Mauer: »Happy Birthday. « Ich würde niemals erfahren, was heute nacht hier Iosgewesen war. Wer Roger Bigelow war, wie seine Geschichte lautete. Er war bloß ein Irrer mehr, mit dem ich es zu tun hatte. Erstaunlicherweise hingen die Schlüssel tatsächlich dort, sorgsam an ihrem Haken. Ich nahm sie runter und ging wieder raus. Den ganzen Weg über den Rasen bis zum Wagen konnte ich Roger hören. »Es ist bloß Gerede, Johnny, es bedeutet nichts. Sie sagen dir irgendwas, sie reden darüber, und dann kommt es anders, und darüber reden sie auch ... Alles bloß Arschlöcher ... Wenn es schneit statt stürmt, wenn Tag und Nacht abwechseln, wenn die gesamte Ökonomie der westlichen Welt zusammenbricht und die Schwerkraft aussetzt, das ist alles egal, sie bringen es einfach in den Nachrichten und reden darüber und analysieren es und zeigen uns, daß es unausweichlich war und sagen uns, was es für Folgen hat, wie es morgen sein wird, und alles ist gut in der Welt ... Aber in
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deinem schwarzen Buch, Johnny, da steht die Wahrheit. Das ist keine Vorhersage, das ist keine Analyse ... Das ist die Wahrheit ... Erlöse mich, Johnny«, weinte er. »Nimm mich mit!« »Kann ich nicht«, sagte ich. »In meinem Kofferraum ist kein Platz mehr.« Ich schloß den BMW auf und fuhr ihn aus dem vorderen Teil der Einfahrt. Dann ging ich zurück zum Saab. Als ich über den Rasen fuhr, an Roger vorbei, lag er im mer noch im Blumenbeet. Ich konnte nicht erkennen, ob er sich noch rührte oder nicht. Ich fuhr davon, und alles war wieder normal. Bloß eine ganz normale Samstagnacht, und wiedermal daddelte ich diese abartige Straße auf der Suche nach einer Party entlang. Die nächste Einfahrt tauchte auf. Es gab einen gekiesten Parkbereich, auf dem ein Haufen teurer Wagen stand, und vier Leute mit Weinflaschen in Händen klingelten gerade an der Eingangstür. Ich war da. Einer der Gäste drückte auf die Klingel, und augenblicklich wurde die Tür geöffnet, und sie wurden von einem großen Mann mit einem Glas in der Hand begrüßt. Das Summen der Stimmen und das Bumsen der Tanzmusik platschte hinaus in die schwere Nachtluft, dann gingen die Neuankömmlinge hinein, die Tür klappte zu, und es wurde wieder still. Das Haus war eines der älteren in der Straße, ein schönes, klassisches Bauwerk im Stil der Zwanzigerjahre, groß und elegant, geschmackssicher. Ich mußte nur noch reinkommen. Ich stieg aus dem Wagen und entschied mich, frech zu sein. Wobei ich hoffte, daß es eine große Party war und der Gastgeber nicht unbedingt selbst an die Tür ging. Und selbst dann hatte ich gute Chancen, mich hineinzubluffen. Aus Erfahrung wußte ich, daß genug Selbstbewußtsein Zugang zu fast jeder Party verschaffte. Als ich den Wagen abschloß, fiel mir die Flasche Wein ein, die meine Mutter mir gegeben hatte, und ich wußte, daß manche Dinge einfach einen Sinn haben. Schicksal. Ich öffnete den Kofferraum. Die Flasche war unter Mr. Kitchen gerollt, und ich mußte ihn verschieben, um ranzukommen. Dabei vermied ich es peinlichst, seinen zer schossenen Arsch zu betrachten. Dann knallte ich den Kofferraum zu und kruckte mühsam zur Haustür.
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15. Kapitel Als ich gerade klingeln wollte, entdeckte ich ein Tor neben dem Haus, das in den Garten dahinter führte. Ich schaute durch die Gitterstäbe und sah Lichter und ein paar Leute, die umhergingen. Das war besser als ein Frontalangriff. Ich öffnete das Tor und ging am Haus entlang, das nach hinten zu kein Ende zu nehmen schien. Offensichtlich war jede Menge angebaut worden. Auch der Garten war riesig, verschachtelt, mit vielen großen Bäumen und Büschen. Ein Garten, in dem man sich verlaufen konnte. Ein paar Fackeln steckten da und dort im Boden, außerdem brannten Kerzen in bunten gläsernen Haltern. Auf einer kleinen Terrasse stand ein Grill, aber der schien in seinen letzten Zügen zu liegen. Ein paar Betrunkene kümmerten sich um ein paar Würstchen. Entweder ein spätes Abendessen oder ein frühes Frühstück. Ich begrüßte ein paar Fremde mit »Hi«, gab einem schwarzgekleideten Mädchen, das für die Drinks hier draußen zuständig zu sein schien, meine Flasche und tat mein bestes, mich unter die Leute zu mischen. Allerdings kam es mir vor, als schauten mich einige ein bißchen eigenartig an. Ich verbuchte das als Paranoia. Es war einfach einer von diesen Tagen. Einer von diesen Tagen, an denen jeder etwas gegen einen zu haben scheint, einer von diesen Tagen, von denen man hinterher weiß, daß man am besten im Bett geblieben wäre und Fernsehen geguckt hätte. Natürlich hatte mein Drogenkonsum in der »O scheiße, alle glotzen mich an«-Abteilung nicht geholfen, und ich war immer noch ein bißchen zittrig von dem Skunk, den Adrian Weeks mir verpaßt hatte, und von dem Zwischenfall bei Roger Bigelow. Ein Weilchen lief ich rum, um zu klären, ob das die richtige Party sein konnte, und schaute mir die anderen Gäste an. Die meisten von ihnen waren ungefähr so alt wie ich, einige jünger, ein oder zwei älter. Das war eine künstlerische, medial angehauchte Menschenmasse, und ich glaubte, möglicherweise am richtigen Ort zu sein. Die Gesichter im Garten hatte ich bald angeschaut. Keines von ihnen gehörte Terry, also ging ich rein. Ich marschierte durch den großen, modern gehaltenen Wintergarten. Er war mit rustikalem Terrakotta gefliest und begrünt mit großen tropischen Pflanzen und beeindruckenden Kakteen. Drinnen war die Party noch in allen Zimmern und mit den üblichen Cliquen in vollem Gange. Natürlich gab es einen Tanzsaal, wo die energiegeladenen / extrovertierten /drogensüchtigen /ich-wünschteich-wäre-immer-noch sechzehn-Typen im Takt der hipsten Dance-Sounds - gemischt mit nostalgischen Seventies-Disco-Klassikern - umherhopsten. Dann war da die Küche, voll mit Leuten, die sich kannten, die laut miteinander redeten und soffen, ein ruhiges Zimmer voller Leute, die ernsthafter miteinander redeten, und der Drogen-Raum, wo Leute Dope rauchten und kicherten. Dann die Flure, die Leute auf der Treppe, das Zimmer oben, in dem sich nur zwei Leute aufhielten, von denen einer weinte ... Und so weiter. Ein großes, belebtes Haus, komplett inneneingerichtet. Auf Krücken brauchte ich zwanzig Minuten, um zwei vollständige - aber ergebnislose - Runden zu drehen. Als ich das drittemal die breite Treppe herunterkam, liefen meine Innereien Amok. Mein ganzer Körper begann zu zittern. Ich klammerte mich an dem schweren Holzgeländer fest und schloß die Augen. Kalte, fettige Schweißperlen traten auf meine Stirn und liefen meine Nase hinunter. Mein Hirn hämmerte. Mein Bauch gurgelte und grummelte vulkanisch, und Schmerz verband mein Arschloch
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mit meinem Magen - nur einen kurzen Augenblick noch, dann würde ich die Kontrolle verlieren und es würde schrecklich enden. Ich krampfte meinen Arsch zusammen und schleppte mich Stufe um schmerzvolle Stufe die Treppe wieder rauf. Wie ein tausend Jahre alter Mann kroch ich ins Bad. Ich wußte, daß es leer war, weil ich gerade hineingeschaut hatte. Die Krücken halfen ein wenig, weil ich mich auf sie stützen und das Gewicht von meinem Unterkörper nehmen konnte, aber ich brauchte unfaßbar lange. Irgendwie schaffte ich es dann aber doch. Ich ging rein, schloß hinter mir ab und lehnte mich ein paar Sekunden gegen die Tür, bevor ich mit steifen Beinen zur Toilette humpelte. Schließlich war ich da. Ich ließ meine Hose und Unterhose runter und setzte mich hin. Eigentlich ist es immer so, wenn ich scheißen muß. Ich nahm an, daß das nicht normal war, aber irgendwie hatte ich mich mehr oder weniger daran gewöhnt. Ich versuchte mich zu lockern. Doch zunächst war da der Stein. Der harte, brennende Klumpen, der schon seit Jahren am Ausgang wartete. Er wurde von dem Druck dahinter wie ein Champagnerkor ken ins Freie getrieben. Langsam, langsam kam er heraus, begleitet von einem grummelnden Dröhnen ... Und dann - POW! - schoß er heraus, und WHOOSH kam der Rest hinterher. Das war knapp gewesen. Was ich in der Schüssel sah, war der übliche Ekelmix, ein grünes Spinatpüree mit krustigen Blutkrumen und himbeerrot leuchtenden Verzie rungsstreifen, das ganze in matschigen Glibber gehüllt. Irgendwann würde ich mal zum Arzt gehen müssen, würde ihm gestehen müssen, von was für Giften ich mich ernährte, aber ich fürchtete mich davor, ich fürchtete, daß er mir sagen würde, daß das einzige, was mich am Leben hielt, mich langsam umbrachte. Meine Innereien verrotteten und zerfielen. Ich löste mich auf. Ich saß lange da, mein Anus öffnete und schloß sich, er schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land. Dann: blubb, blubb, gurgel, whoosh - die zweite Wel le. Und die dritte. Ich beugte mich vor, zitterte und keuchte, bis es vorbei war. Langsam wurde mir wieder warm. Das Leben kehrte in meine Extremitäten zurück. Das Summen in mei nem Kopf verschwand und ließ nur ein dumpfes Brummen zurück. Es war vorbei. Jetzt brauchte ich ein Bier. Ich machte sauber, so gut ich konnte, versprühte eine ozonschädigende Menge Lufterfrischer, um den Stallgestank zu übertünchen, und ging raus. Entschlossen steppte ich die Treppe runter und kämpfte mich durch die Quatschköpfe in der Küche zu dem riesigen amerikanischen Kühlschrank. » . . . also, ich hab' ihn neulich gesehen, er arbeitet jetzt in der Presse von A & M.« »... nein, Emmerdale ist richtig gut. Ich hab' wie ein verrückter Brookside geguckt, aber Emmerdale ist irre . . . « ». . . ich glaube nicht, daß es einen richtigen Zeitpunkt gibt, Kinder zu bekommen, aber du weißt ja, bald sind wir zu alt, und dann . . . « »... ja, tut mir leid, aber ich fand Die Rote Laterne echt scheißlangweilig ... «
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Ich erreichte den Kühlschrank und riß ihn mit der Begeisterung eines Sterbenden auf, der die ErsteHilfe-Kiste gefunden hat. O Gott im Himmel, es gibt auf einer Party keinen schöneren Anblick als einen Haufen kalter Bierdosen in einem Kühlschrank. Ich befreite ein Paar der silbern-weißen Dosen japanischen Asahi-Biers mit dem feinen blauen Samurai, steckte sie in meine Jackett-Taschen und kämpfte mich wieder hinaus. Gleich darauf saß ich auf einem Korbflecht-Sofa im Wintergarten, riß eine der Dosen auf und goß mir einen schönen kalten Schwall in den Bauch. Vergessen Sie Wordworths Gedichte, Chopins Sonaten, Margot Fonteyn als sterbenden Schwan, Turners Landschaften, Kaviar, Champagner, Seidenstrümpfe ... Der absolute Hammer ist ein kaltes Bier in einer warmen Nacht. Ich schloß meine Augen und seufzte. »Hallo du.« Ich öffnete meine Augen. Adrian. »Was machst du denn hier?« fragte ich. »Tony und Cleo sind Kunden von mir. Sagen wir mal, ich kümmere mich ums Catering. « Adrian setzte sich neben mich aufs Sofa und bot mir einen Zug von seinem Joint an. Ich betrachtete das Ding mißtrauisch. »Der ist okay«, sagte er. »Guter alter roter Libanese.« Ich inhalierte eine Lunge voll und flog lässig dahin. »Du siehst echt scheiße aus«, sagte Adrian. »Was ist dir passiert?« »Was ist mir nicht passiert?« hielt ich dagegen. Und dann fiel der Groschen. »Oh, großer Gott«, sagte ich und klatschte mir die flache Hand vor die Stirn. »Deswegen schauen mich die Leute so komisch an, seit ich hergekommen bin.« Ich grinste Adrian an und gab ihm meine Dose. »Was für eine Erleichterung.« »Und, was ist los?« »War einfach ein Scheißtag. Bin ein bißchen rumgestoßen worden.« »Willst du wieder besser draufkommen? Vielleicht in E oder so? Oder wie wär's mit `nem Downer?« »Nein, nein, nein. Ich bin immer noch auf dem Zeug, das du mir vorhin verpaßt hast. Hat mich total aufgedreht.« Ich prostete ihm mit einer neuen Dose zu. »Auf die Chemie. « »Vergiß bloß nie, daß es so viel nimmt, wie es gibt. Je fröhlicher du heute bist, desto übler bist du morgen drauf. Wie bei Dorian Gray. Du zahlst für jedes Glück. Glaub mir, ich weiß Bescheid.« »Ich hab' da eine Theorie«, sagte ich. »Vielleicht gibt es irgendwo ein großes Buch, wo drin steht, wann man wo ist, jeder Orgasmus, der einem erlaubt ist, und wenn man die aufgebraucht hat, dann ist man dran. Mann, man kann sich zu Tode vögeln.« »Es gibt eine chinesische Geschichte . . . «, begann Adri an. »Wie immer«, unterbrach ich, und Adrian lächelte. »>Die hundertundzehn Pillen< «, fuhr er fort. »Von einem Typen namens Jin Ping Mei. Es geht um einen reichen Freigeist, einen Händler, der Drogen und Gewürze verkaufte. Er hieß Hsi-men und lebte dekadent und glücklich mit seinen zahlreichen Frauen. Eines Tages trifft er einen alten Mönch, der ihm hundertzehn Potenzpillen verkauft. Damit hat er stundenlang einen Steifen und kann immer und immer wieder kommen. Aber es hat einen Haken.« »Wie immer«, sagte ich.
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»Genau. In jeder Mondphase darf er nur eine Pille nehmen, jedenfalls soll er das. Aber nach der ersten Pille ist er voll drauf und schmeißt sie sich mit beiden Händen ein. Männer, Frauen, Kinder, seine Ehegattinnen, die Prostituierten der Stadt, niemand ist sicher vor Hsi-mens unf aßbarer Sexgeilheit. Aber weil er immer mehr und mehr Pillen nimmt, beginnen sie ihn zu zerstören. Am Ende spritzt er Blut und Luft, seine Eier schwellen zu Fußbällen an, sein Arsch hängt, und eine seiner Frauen, die nicht weiß, was mit ihm los ist, gibt ihm die dreifache Dosis Pillen, damit es ihm besser gehen möge, und, naja ...« »Er vögelt sich zu Tode«, sagte ich. »Yup. Nicht mal Selbermachen ist umsonst. Und die Chemie, die bringt dich noch schneller als alles andere UM.« »Gut zu hören - von einem der erfolgreichsten Handler Londons.« »Teufel, nichts ist gesünder als Scheinheiligkeit«, sagte Adrian. »Und wo kann ich den Mönch mit den hundertzehn Pillen finden?« fragte ich. »Tja, wer auch immer das ultimative Aphrodisiakum entdeckt, dürfte ein reicher Mann werden«, sagte Adrian. »Aber das meiste von dem Zeug heute ist schlimmer als diese Mönchspillen. Nimm mal eine der ältesten der Menschheit bekannten Drogen, Cantharis vesicatoria. « »Was ist denn das?« »Fabricus, De Geer«, sagte Adrian. »Spanische Fliege.« »Funktioniert das?« »Ha! Ich würd's nicht empfehlen. Das ist ein hübscher kleiner grüner Käfer, er lebt in Südfrankreich und in Spanien. Wenn man ihn berührt, verspritzt er ein gelbes Gift, das böse Blasen auf der Haut verursacht. Traditionell sammelt man die Viecher in der Dämmerung, wenn sie noch schläfrig sind, tötet sie in kochendem Essig und zermantscht sie. Daraus entsteht die Droge, ein Puder. Schluck das Zeug, und es reizt Nieren und Blase, was zu einer erhöhten Sensitivität im Genitalbereich führt. Ein Aphrosidiakum also. Wenn es juckt, mußt du dich kratzen, es macht dich verrückt. Der Marquis de Sade soll das Zeug benutzt haben, um seine Sexlust zu steigern. Nicht gut. Schlecht für die Nieren. Und wenn du zuviel nimmst, dann bist du tot - nachdem du zuvor viel Freude an Unterleibskrampf en, brennenden Schmerzen in Mund und Hals, an Blut kotzen, Dunnschiß und Blutpissen hattest. « »Das Gefühl kenn' ich.« »Es ist das perfekte Abbild unserer Beziehung zur Welt des Amüsements und der chemischen Stimulation.« »Und wo krieg' ich das Zeug?« fragte ich. Adrian lachte. »Willst' mit rauskommen?« fragte er und stand auf. »Ich bin mit Leuten hier.« »Klar.« Ich stemmte mich hoch und folgte ihm hinaus. Weiter hinten im Garten saßen einige Leute auf Küchenstühlen um eine Fackel herum. Adrian stellte mich ein paar von ihnen vor - ich hörte nicht mal ihre Namen - und wir setzten uns. Die Nacht war immer noch warm, der Himmel klar. Durch die Bäume hindurch konnte man den dicken, fetten Mond sehen. »Vollmond«, sagte eine Japanerin. Sie war klein, hatte sehr dunkle Augen und ein perfektes rundes Gesicht, phantastisches Make-up. Schwarz war das dominante Thema ihres Looks, von ihrem glänzend schwarzen Haar über das kurze schwarze Kleid bis zu den schwarz schimmernden Lederstiefeln. »Werwolfmond«, sagte sie ohne jeden japanischen Akzent. »Glauben Sie an Werwölfe?« »Nein«, sagte ich. »Und Sie?«
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»Nein.« Helles Lachen. Sie redete wie das OberklasseProdukt eines englischen Internats, aber sie befleißigte sich dabei dieser altmodischen, unglaublich präzisen und fingerabspreizenden Sprechweise, die heutzutage nur noch Ausländer hinbekommen. »Und Geister?« fragte ich. »Japaner glauben doch an Geister ... Sie sind Japanerin?« »Ich glaube schon. Ich habe an so vielen Orten gelebt, daß ich nicht mehr weiß, was ich bin. Aber ich weiß, daß ich nicht an Geister glaube ... Und was bin ich dann?« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich finde das traurig«, sagte eine Frau, die auf meiner anderen Seite saß und uns zugehört hatte. Sie war klein und füllig, trug ein rotes Samtkleid und einen gewollt lu stigen kleinen Hut mit einer winzigen Glocke oben drauf. »Was hat Hamlet noch gesagt?« redete sie weiter. »>Zwischen Himmel und Erde gibt es mehr, als deine Weisheit dich träumen läßt, Horatio<. Ich finde, die Menschen sollten an Geister glauben.« »Warum?« fragte ich. »Dann könnten sie ja auch an den Weihnachtsmann glauben, an die Wettervorhersage, an jungfrauliche Geburt und die Erfolge unserer Ökono-mie. « »Oh, ich glaube auch an all diese Sachen«, kicherte sie. »Absolut ... und an Feen am Ende des Gartens.« »Wahrscheinlich steht auch eine Reihe Teddys neben Ihrem Bett, oder?« fragte ich, und sie lachte wieder. »Sechs Teddys - Jasper, Benji und Fluff, Arnold, BearBear und Louis. Außerdem Dolly, Horsey und Wongle. Wongle ist eine Ente, zumindest war er mal eine. Inzwischen ist er nur noch ein dreckiges Stück Stoff.« »Glauben Sie an Gott?« fragte die Japanerin sie. »Natürlich tu' ich das. Ich glaube, das tut eigentlich jeder. Ich meine, das ist doch ... sonst wäre es doch schrecklich, oder? Ich meine, schauen Sie sich doch den Mond an, die Sterne ... « Wir schauten, und während wir schauten, zog ein roter Schatten über den Mond. Ich weiß nicht, was das war - eine Wolke, Luftverschmutzung, ein Lichtreflex, aber wir wurden ganz still, als hätte man uns etwas Wichtiges gezeigt. »Götterdämmerung«, sagte ich. »Was ist das?« fragte Glöckchen. »Oper von Wagner. Der letzte Teil des Rings. Das Ende der Götter. Brunhilde entfacht den Scheiterhaufen für ihren betrogenen Geliebten, und die Flammen schlagen bis in den Himmel. Das letzte Bild zeigt das rote Glühen am Horizont, während das Feuer Walhalla zerstört. « »Dabei haben die Deutschen das alles den Wikingern geklaut«, mischte sich Adrian ein. »Es basiert auf nordischen Mythen, die Wagner bloß verändert hat, um sie seiner eigenen These anzupassen. Der ursprüngliche Mythos der Zerstörung Asgards, des Wikinger-Himmels, ist viel lustiger, ehrlich gesagt. Der letzte Kampf, das Aufeinandertreffen von Himmel und Hölle.« »Die Hölle ist Adrians Spezialgebiet«, sagte ich.
»Ragna Rök«, warf die Japanerin ein. »Ja«, sagte Adrian. »Das endgültige Schicksal, das Ende der Götter. Ragna Rök, die mit der Zeit zu Ragna Rokkr korrumpiert wurde, und die Götterdämmerung.« »Mach weiter«, sagte ich. »Erzähl uns die ganze ekelerregende Geschichte.« »Es war unausweichlich«, sagte Adrian. »Die Götter hatten gesündigt, hatten die Vereinbarungen gebrochen, hatten gelogen und gestohlen. Sie wußten, wie es enden würde. Auf eine ganz
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eigenartige Weise ereignet sich die Geschichte in der Vergangenheit und in der Zukunft gleichzeitig. Schwer zu sagen, ob es eine Prophezeiung oder Vergangenheit war, weil die ganze Sache mit Schicksal zusammenhängt; keiner der Beteiligten hatte die Wahl, anders zu handeln. Es fängt alles damit an, daß Loki - das nordische .. Aquivalent des Teufels, des bösen Gottes, des Schlimmsten - aus Asgard rausgeschmissen wird, weil er für den Tod von Baldur verantwortlich ist - des guten Lichtgottes. Naja, daraufhin hat er die Schnauze voll, also tut er sich zusammen mit den Feinden der Götter. In einem Wald im Osten gebiert eine Riesin ein Rudel Wölfe, die Nachfahren Fenrirs, des großen Wolfes. Einer aus dieser monströsen Brut jagt die Sonne, und jedes Jahr kommt er näher und näher, bis er sie eines Tages erreichen kann, und dann wird er sie fressen, und die Sonne wird blutrot werden und sterben. Winter wird die Welt einhüllen, sinnlose Kriege werden überall ausbrechen, wie beim Ladenschluß in Middlesbrough, Bruder gegen Bruder, Vater gegen Kind, so in der Art, und die Welt wird langsam in den Abgrund des Nichts versinken. Aus dem Westen kommt dann ein Schiff, bemannt mit einer Geister-Crew, am Steuer der Riese Hyr, und es wird fahren auf den Wellen, die der Schwanz der Schlange Midgard aufpeitscht. Aus dem Norden wird ein anderes Schiff kommen, dessen Besatzung sind die Bewohner der Unterwelt, der Kapitän ist Loki, Fenrir an seiner Seite. Flammen züngeln ihm aus Augen und Nase, sein Oberkiefer berührt den Himmel, sein Unterkiefer schürft auf der Erde, Blut tropft ihm von den Fängen. Aus dem Süden kommen die Feuerriesen, angeführt von Surt. Sie brennen alles auf ihrem Weg nieder, und wenn sie die Regenbogenbrücke erreichen, die den Him mel mit der Erde verbindet, wird sie zerspringen und zusammenbrechen. Die Götter treffen ihre Feinde vor Walhalla, auf Vigrids Feld, und dort findet dann die letzte Schlacht statt. Und damit beenden wir die Wettervorhersage für morgen. In Kürze: ewiger Winter, lodernde Feuer, Stürme, Zerstörung. Im Osten Monsterwölfe. Im Süden Feuerriesen. Im Osten und Norden Geisterschiffe, Schlangen und noch mehr Riesen. Die Sonne wird von einem Wolf gefressen ... Und noch eine Information für die Dame, die angerufen hat, um uns mitzuteilen, sie habe gehört, daß ein Hurrikan auf uns zukäme - machen Sie sich keine Sorgen, das ist nicht der Fall.« »Und was ist dann mit den Göttern passiert?« fragte ich und nahm einen Zug von einem herumgehenden Joint. »Einer nach dem anderen fiel«, sagte Adrian. »Ihr Kö-nig Odin zuerst, Fenrir fraß ihn einfach auf. Dann tötete Thor die Schlange Midgard, wurde dabei aber tödlich vergiftet und stürzte zu Boden. Heimdal und Loki killten einander auf ähnliche Weise. Tyr traf auf Garm, den teuflischen Höllenhund, und sie machten einander ebenfalls nieder. Gegenseitige Umlegerei eben. Die Sterne fallen vom Himmel. Surt setzt die ganze Erde in Brand und zerstört alles. Ein Großbrand ... Der brennende Himmel aus der Götterdämmerung. Dann treten die Flüsse und Seen über die Ufer und löschen die Feuer, wobei sie aber alles unter Wasser setzen.«
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»Die sind echt gut, diese alten Geschichten«, sagte GI öckchenhut. »Lustig, woran die Leute geglaubt haben. « »Ich dachte, du glaubst auch an dieses ganze Zeug«, sagte ich. »Oh, nein. Ich glaube eher auf eine moderne Art. Ich schätze, ich bin im Grunde Christin, obwohl das ja ein bißchen untrendy ist.« »Findest du nicht, daß die Bibel voll ist mit solchen Geschichten? Zum Beispiel Noahs Arche?« »Aber es ist doch schön, daran zu glauben.« »Schön, daran zu glauben? An Lügen zu glauben? Erklär mir mal, wie du das machst. Erzähl mir von dieser gottverdammten Flut, vierzig Tage und vierzig Nächte, und die ganzen Tiere, er hat die ganzen Tiere mitgenommen, immer zwei, nicht wahr? Der alte Noah! Und was ist mit den verdammten Fischen? Und den Walen? Und den Ottern? Und den Fröschen? Und den Krabben und den Muscheln ...? Sind die ersoffen? Sind die Fische ersoffen? Nein. Und wieso haben die bei der ganzen Sache so gut abgeschnitten? Erklär mir das doch mal.« »Also, ich finde, es ist eine schöne Geschichte, und Kinder mögen sie. Wie die vom Weihnachtsmann und der guten Fee. Es ist doch einfach schön, daß es sowas gibt, nicht wahr? Es ist schön, so zu tun, als gäbe es sie. Aber an Geister glaube ich wirklich. Ich hab' mal einen gesehen. Ich stand in diesem Haus, und ich wußte das damals noch nicht, aber später habe ich's herausbekommen, daß dort ein junges Mädchen herumspukte, das . . . « »Bitte, hör auf«, sagte ich. »Es gibt nur eins, was schlimmer ist als den Geistergeschichten von Leuten zuzuhören, und das ist, wenn sie anfangen, ihre Träume zu erzählen. « »Oh, aber Träume sind doch wichtig, und . . . « »Gott steh mir bei«, sagte ich. »Du bist ein alter Zyniker, oder? Ich meine, sag doch mal, bist du wirklich sicher, daß es das war, wenn du stirbst? Glaubst du nicht, daß es da noch mehr geben muß? Es muß doch einfach was geben. Glaubst du nicht an die Seele? An ein Leben nach dem Tod? Und wenn du an ein Leben nach dem Tod glaubst, dann mußt du wohl auch an Geister glauben, oder? Siehst du - alles klar. Wissenschaftlich erwiesen. Ich meine, du mußt doch einfach glauben, daß unsere Seelen ewig leben, sonst . . . « »Bitte, hör auf«, sagte ich. »Bitte. Du machst mich wahnsinnig. Ich weiß nicht mehr, was ich tun würde, wenn ich daran glaube.« »Was?« »Ich funktioniere dann nicht mehr.« »Was?« »Ich funktioniere nicht mehr. Ich funktioniere nicht mehr. Ich funktioniere nicht mehr. In meinem Kopf summt es. Vielleicht will meine Seele fliehen. Was meinst du? Will die Ewigkeit vielleicht irgendwo verbringen, wo es netter ist. Erzähl mir doch davon. Erzähl mir von der gottverdammten unsterblichen Seele. Erzähl mir von Gott und all seinen Engeln und Erzengeln. Erzähl mir von Jesus Christus. Erzähl mir von den Propheten und den Königen, von Matthew, Mark, Luke und John. Erzähl mir von der Offenbarung und der Genesis. Erzähl mir von meiner unsterblichen Seele. Ich will es wissen. Erzähl mir vom Himmel und der Hölle und dem Leben nach dem Tod. Los, sag mir - wenn ich als sabbernder, hirngeschädigter, inkontinenter Pensionär krepiere, komme ich dann sowieso in den Himmel? Verbringe ich dann die Ewigkeit damit, mich naß zu machen und über Witze zu lachen, die niemand erzählt hat? Wer bin ich? Als was werde ich ewig leben? Denn, gib es doch zu, wir verändern uns. Wir verändern uns jeden Tag. Alles, was passiert,
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verändert uns. Ich bin nicht derjenige, der ich war, als ich zwei war. Ich hab' die Fotos gesehen. Der Junge ist tot. Der Junge, der ich mit fünf war, ist tot, der Mann, der ich gestern war, ist tot. Der Fötus in der Gebärmutter ist abgetrieben. Ich bin millionenmal gestorben. Kommen wir alle in den Himmel? Sag's mir, weil ich es wissen will.« »Es gibt überhaupt keinen Grund, sich jetzt so aufzuregen.« »Warum?« Ich lachte. »Großer Gott, wir reden darüber, was zum Teufel eigentlich los ist. Darüber reden wir. Soll ich mich nicht aufregen über meine unsterbliche Seele? Ihr wäßrigen New-Age-Jünger glaubt an gar nichts mehr richtig. Als nächstes erzählst du mir noch, daß du nicht wirklich daran glaubst, daß Gott ein netter alter Mann mit einem weißen Bart ist, sondern mehr, naja, so eine Art kosmische Kraft.« »Weißt du denn eine bessere Alternative?« »Ja, allerdings. Schau mal ... Was ist das?« »Eine Zigarette. « »Genauer!« »Mmmmm 060« »Eine brennende Zigarette ... Und was ist das?« »Eine leere Bierdose.« »Halbleer ... Und was mach ich jetzt?« »Du schmeißt die Zigarette in die Bierdose ... Ist das so eine Art Zaubertrick?« »Nein, im Gegenteil. Ich mache das Versteckte sichtbar. Ich erkläre den Trick ... Also, was ist jetzt mit der Zigarette passiert?« »Sie ist ausgegangen, nehme ich an.« »Ja. Genau.« Ich goß das Bier aus der Dose und schüttelte sie. Die nasse Kippe schlabberte darin herum. »Hör dir das an, eine tote Kippe platscht in einer leeren Dose herum.« »Ich kapier's nicht«, sagte sie. »Was soll das?« »Ich hab' nicht die geringste Ahnung«, sagte ich. »Ich wollte einfach bloß meine Kippe ausmachen.« Die Japanerin lachte. »Du bist interessant, weißt du«, sagte der lustige Hut. »Ich würde gern mal mit dir reden, wenn du nicht betrunken bist. « »Nein, würdest du nicht«, sagte ich. »Ich bin schlimmer, wenn ich nüchtern bin. « Glücklicherweise wurde meine Quälerin abgelenkt, weil jemand aus der Gruppe ihr eine Frage stellte und sie ins Gespräch zog.
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»Ich nehm' dich auch betrunken«, sagte die Japanerin. .. »übrigens - ich heiße Miko. « Wir schüttelten einander die Hände, und ich wollte mich gerade vorstellen, als ich einen kahlgeschorenen Kopf im Wintergarten verschwinden sah. Einen kahlgeschorenen Kopf und eine schwarze Lederjacke. »Entschuldigst du mich mal?« sagte ich und stand auf. »Ich hab' grad' jemand gesehen, den ich kenne.«
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16. Kapitel Ich hätte nicht so schnell von meinem Stuhl aufspringen sollen, und ganz sicher hätte ich nicht versuchen sollen, mit Krücken zu rennen. Ich war dazu nicht in der Lage, mein System brach sofort zusammen. Vergeblich versuchte ich die Tatsache zu ignorieren, daß mein Hirn begonnen hatte, in meinem Schädel zu rotieren; ich ratterte durch den Wintergarten, mein Blick feld veränderte sich wie das Bild eines kaputten Fernsehers. Trotzdem bemühte ich mich, den kahlen Kopf im Auge zu behalten und glaubte, ihn in der Küche verschwinden zu sehen. Also marschierte ich hinein, aber dann rutschte eine Matte unter einer meiner Krücken weg, und ich ging zu Boden und schlug mir die Stirn auf den Fliesen an ... Ich schätze, ich war einen Augenblick weggetreten. Jedenfalls war mir schlecht und schwindlig, als ich wieder zu mir kam, und ich war nicht sicher, wo ich war, und auch nicht mehr was zum Teufel ich eigentlich vorhatte. Glücklicherweise hatte niemand mich stürzen sehen, also mußte ich mich wenigstens nicht der gutgemeinten Hilfe erwehren. Ich rappelte mich auf und hinkte aus dem Wintergarten hinaus, dumpf war mir bewußt, daß ich aus irgendeinem Grunde in die Küche wollte. Dort plätteten das helle Licht und die brutale Farbgebung des Dekors einfach alles. Plötzlich kam ich mir vor wie in einem Cartoon, eingekeilt von verrückten Loony-Tunes-Figuren, die immer nur yibber-yibber-yibber-yibberty-yibber machten, ihre Augen quollen aus ihren Schädeln, sie hatten Gummimünder und Hände, die sich in Werkzeuge verwandelten ... Verrückte, eilfertige Musik klingelte und blipte im Hintergrund, und alle Stimmen stammten von Mel Blanc. Ich stand einfach da, konnte weder vorwärts noch rückwärts gehen und keuchte Luft in meine zittrigen Lungen. Ich schaute von Gesicht zu Gesicht; es gab da einen Mann, der zu schnell sprach, eine Frau mit einer Stimme wie ein Nebelhorn und einen Typen mittleren Alters in einer Ecke, der sich immer wieder in einen Frosch verwandelte und fragte: »Und was sagst du dazu, was sagst du dazu?« Verwirrt schloß ich meine Augen, aber kleine bunte Männchen rannten hinter meinen Augenlidern hin und her, und sie schlugen einander mit Holzhämmern. Ich öffnete meine Augen und sah, daß die Flaschen und Dosen auf dem Tisch zum Leben erwacht waren und umhertanzten und sangen, als wollten sie sich für einen Werbespot andienen. Dann gesellten sich auch noch Brot und Käse dazu. Das brauchte ich so nötig wie ein Loch im Kopf, steppendes Essen. Ich mußte hier raus. Die Blödmänner schubsten mich noch, als ich zurückging und dann stieß ich gegen Terry. »Bring mich hier weg«, murmelte ich. »Große Kacke«, sagte sie und lachte. »Wie siehst du denn aus?« »Bitte, Terry ... ich geh' auf dem Zahnfleisch.« »Du gehst auf Krücken, Mann!« »Ich sterbe.« »Wir sterben alle, Darling.« »Aber manche schneller als andere ... «
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Dann hatte sie aber doch Mitleid mit mir und half mir in den Ruheraum. Der war mit diskreten Tischlampen gedämpft beleuchtet und voller Buchregale und schwerer alter Möbel. Eine eigene CDAnlage spielte etwas, das klang wie Arvo Part, und ein paar Leute mit schiefen Hundegesichtern lagen in den Schatten und murmelten einander an. Ich sank auf ein verblaßt grünes Chesterfield-Sofa und versuchte, mein Gehirn in den Griff zu bekommen. Terry setzte sich neben mich, schüttelte den Kopf und grinste. »Bist du zusammengeschlagen worden oder so?« fragte sie. »Oder so«, entgegnete ich. »Hast du meine Schlüssel?« »Nee«, sagte sie. »Scheiße«, sagte ich. »Ich hab' sie im Studio gelassen ... Ich wußte nicht ... « »Schon gut«, sagte ich und atmete seufzend aus. »Ist nicht deine Schuld. « »Du bist doch nicht etwa meinetwegen hergekommen, oder?« »Leider schon.« »Na, da hast du aber Glück gehabt.« »Ja, klar. Großes Glück. Du hast die Schlüssel nicht.« »Nein, was ich meine, ist, daß das hier gar nicht die Party ist, auf die ich wollte. Die ist weiter die Straße runter, war aber scheiße, bloß hab' ich da diese Type kennengelernt, und sie wollte noch hierher, also ... Du solltest sie sehen, lange blonde Haare und Tattoos, und Titten zum Sterben. Ich glaub' nicht, daß ich lang bleibe. Wenn ich alles richtig mache, geh' ich mit zu ihr. Schätze, ich krieg `n Fick.« »Hast du deine Schlüssel mit?« »Fürs Atelier? Nee.« »Scheiße.« »Also, ich hab' die für drinnen, den Alarm und die Feuertür und so, aber nicht die für die großen Außentüren. Die sind mir zu schwer, sie immer rumzuschleppen ...« »Na, das ist doch ein Anfang. Kann ich sie mir leihen, oder?« »Wieso nicht?« sagte sie und holte ihre Schlüssel raus. »Ich weiß zwar nicht, was du mit denen willst, ohne den Außenschlüssel.« Sie löste ein paar Schlüssel von ihrem Schlüsselring und gab sie mir. »Wieso mußt du eigentlich so dringend da ein? Wenn du bis morgen wartest, kann ich dich reinlassen . . . « »An dem Schlüsselring sind meine Hausschlüssel. Ohne die kann ich nicht nach Hause.« »Na, klasse.« Sie steckte ihren Schlüsselring zurück in ihre Tasche. »Hör mal, ich würd ja nach Hause fahren und dir die anderen Schlüssel holen, aber ... du solltest die Type sehen, Mann, sie ist einfach echt geil.« »Terry . . . « Sie spürte sofort, daß ich sie um einen großen Gefallen bitten wollte und richtete sich auf. »Hey, Mann, ich hoffe, du findest was zum poofen.« »Terry . . . Ich fahre. Nimm mich mit zu dir . . . « Ich sah sie bettelnd an, aber sie blieb hart. »Terry, bitte. Ich geb' dir eine Gehaltserhöhung. Ich.** « »Tut mir leid. « »Nimm sie doch mit. Ich fahr' euch auch hinterher, wohin immer ihr wollt .. . « Sie lachte. »Ist zu spät. Es ist zu spät.« »Es ist nie zu spät«, sagte ich, aber sie ging schon. »Terry . . . « Sie war weg.
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Ich hielt meinen Kopf mit meinen Händen und drückte aus jedem Auge eine große, schmerzvolle Träne. Dabei fiel mir auf, daß jemand vor mir stand. »Aha! Da bist du ja ... « Es war die Frau mit dem albernen Hut. »Ich hab' mich schon gefragt, wo du steckst.« Ich versuchte, mir eine witzige Entgegnung auszudenken, die so beeindruckend geistreich war, daß sie mir ein für allemal vom Hals blieb. »Verpiß dich«, sagte ich. Sie schüttelte den Kopf und schob die Unterlippe vor. Ich stemmte mich hoch auf meine Krücken und versuchte zu fliehen, doch sie folgte mir in den Garten. »Ich weiß, daß du es nicht wirklich so meinst«, sagte sie. »Du spielst doch bloß den Bär mit Kopfweh ...« Ich blieb stehen und drehte mich zu ihr um. »Bitte, bitte, verpiß dich, sonst reiß ich dir deinen dummen kleinen Kopf ab und kick ihn rüber aufs Nachbargrundstück.« »Du
mußt
nicht
so
männlich
rüberkommen.
Du
mußt
dich
nicht
zurückziehen
auf
Gewaltandrohungen, kapiert?« »Sei doch nicht so gottverdammt verständnisvoll. Ich will gar nicht verstanden werden, ich will bloß, daß man mich allein läßt. « Ich ging weiter über den Rasen, dorthin, wo Adrian immer noch mit Miko und den anderen saß. Auf den Krücken war ich überraschend schnell, und Glockenhut mußte sich anstrengen, mit mir mitzuhalten. »Wer bist du?« fragte sie. »Ja, wer bin ich?« »Ich weiß, daß du einer von Adrians Drogen-Freunden bist, aber wer bist du? Ich bin sicher, daß ich dich irgendwoher kenne. « »Ich bin ein Versehrter.« »Das sehe ich.« Ich blieb stehen. »Wenn du's genau wissen willst, bin ich eine wandelnde Wunde. Eine offene Wunde. Ich bin Kopfschmerzen, ein schlimmer Traum, der nichts bedeu tet, aber nach dem man sich den ganzen Tag ängstlich und komisch fühlt. Ich bin die gelbe Lampe im Pissoir, ich bin die kleinen schwarzen Blutgerinnsel in deiner Spucke, ich bin das Blau einer Erfrierung und das Grün des Schimmels. Ich bin eine mondlose Nacht, ein vegetarisches Restaurant. Ich bin die Limericks von Edward Lear, bei denen die letzte Zeile genauso lautet wie die erste. Ich bin Verwirrung, ich bin Nackenschmerzen. Ich bin eine Operette von Gilbert und Sullivan, ich bin ein Film von Norman Wisdom. Ich bin Jerry Lewis, Robin Williams, Basil Brush und eine fiese Jazzkapelle, die >Hello Dolly< spielt. Ich bin Rollsplitt, ich bin der Club der schlechten Dichter, ich bin Frank Sinatra im Duett mit Bono. Ich bin die Innenseite deiner Wange, wenn du reinbeißt, ich bin deine Zunge, wenn du sie dir verbrennst, ich bin dein Zeh, wenn du ihn stößt. Ich bin dieser ekelhafte Brandgestank in Intercity-Zügen. Kurz und gut, Madam, ich bin ein Idiot.« Damit wandte ich mich ab und krückte weiter. Es war nur noch ein Stuhl frei, und ich war eher da als Glockenhut, die daraufhin am Rande herumlungerte wie ein Kind auf einer Erwachsenenparty. Adrian hielt mit einem seiner Lieblingsthemen hof: »Und wissen Sie was? In dieser Stadt sterben doppelt soviele Leute an Methadon wie an Heroin. Heroin ist nicht so schlimm, es ist bloß dämonisiert worden. Wenn Aspirin verboten wäre, würden Tausende jedes Jahr daran sterben, sie würden
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Straßenaspirin kaufen, bei dem man sich der Dosierung und der Reinheit niemals sicher sein könnte ... « Ich hörte nicht mehr zu. Ich war am Ende, erschöpft, fertig, ausgewrungen. Miko gab mir eine Whiskyflasche, und ich trank einen großen Schluck. »Du fällst auseinander«, sagte sie mit ihrer tollen Stimme. »Bin ich schon«, entgegnete ich. »Nervt Henrietta dich?« »Henrietta?« »Die mit dem Hut.« »Sie ist bestimmt eine Heilige«, sagte ich. »Sie rettet gern Menschen«, sagte Miko, nahm die Flasche wieder und trank. »Wenn du nicht vorsichtig bist, macht sie dich zu einem ihrer Lieblinge.« »Ich will gar nicht gerettet werden.« »Wer will das schon?« Ich konzentrierte mich wieder auf Adrian. Das war nicht schwierig, seine kräftige, selbstbewußte Stimme ertränkte fast alle anderen Gespräche. »... alle Drogen sind natürlich. Natürlich sind sie natürlich. Letztlich ist alles natürlich. Woher sonst, wenn nicht aus der Natur, kriegen wir denn die Inhaltsstoffe? Und unsere Drogen existieren in einer Form, die aus dem originalen Pflanzensaft extrahiert wurde . . . « Was sollte ich tun? Was nur? Es war jetzt mitten in der gottverdammten Nacht, und ich war hier am Ende der Welt gestrandet, hier im Fegefeuer. Mit jedem Schritt nä her zum Finale war ich zehn Schritte zurückgeworfen worden. Ich finde Terrys Freundinnen - keine Terry. Ich finde Terry - kein Schlüssel. Nur die Schlüssel für drinnen. Nützlich, aber nicht wirklich nützlich. Ein Schritt näher, zehn Schritte wieder weg. Eine Herausforderung, die mich verhöhnte. Es war wie ein brutaler, blutiger Test, ein obskures Verfahren. » . . . kein Mensch weiß mehr, wo Drogen herkommen, nicht mal mehr, wie sie wirken. Nehmen wir doch mal Aspirin. Wie funktioniert denn Aspirin? Wir wissen bloß noch, daß man ein Aspirin nimmt und daß dann die Kopfschmerzen weggehen. Alle nehmen es - es ist einfach da, nicht wahr? In Packungen. Aber wer weiß schon, wie es funktioniert?« »Schau dir die Sterne an«, sagte Miko, und ich sah auf. »Was ist mit ihnen?« fragte ich. »Ich weiß nicht, manchmal wird mir ganz kalt davon.« Sie streckte den Arm aus und hielt meine Hand. Die ihre fühlte sich nicht kalt an. Sie war warm und weich. Sie er füllte meinen Körper mit Wärme. Einfach nur jemanden zu halten, gehalten zu werden, heilte mich wieder, filterte die Batteriesäure aus meinem Blut, löste die Verkrustungen in meinen Venen. Die Wärme suppte auch in den angeschlagenen Schlabberkram, der mein Hirn war. Ruhe. Klarheit. Ich konnte wieder anfangen zu denken. Gib nicht auf. Mach Pläne. Du kannst es schaffen. Okay, ich war schon halb da, aber noch nicht näher dran. Wenn, wenn nicht, wenn ich nicht vielleicht über die Feuertreppe hineinkam. Aber vorher mußte ich an dem Höllenhund vorbei. » . . . Wer weiß schon noch, daß die Rinde des Weidenbaums Salicyl enthält, mit dem schon seit Jahrhunderten Kopfschmerzen, Fieber und Verbrennungen behandelt werden?«
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Ich schaute von den Sternen wieder herunter, schaute hinüber zu Miko, deren Gesicht immer noch himmelwärts gewandt war. Dann schaute auch sie herunter, sah mich an. Wir sagten nichts, starrten einander einfach blöde an. Ich wußte nichts über sie, und sie wußte nichts über mich, außer daß wir möglicherweise beide auf irgendwelchen Drogen waren; es war spät, und wir hatten eine Flasche geteilt. Sie lächelte mich an, dann ließ sie meine Hand los. Ich rieb meine wunden Augen und schaute an unserer kleinen Gruppe vorbei durch den Garten, wo jemand herumlief. Ein Mann ganz allein. Er sah betrunken aus. Ziellos taumelte er vor sich hin. »... Aspirin; Acetylsalicylsaure. Eine der wunderbarsten Drogen der Welt. Unterdrückt die Produktion von Prostaglandin, das zur körpereigenen Abwehr gehört und im Gewebe produziert wird, wenn eine Krankheit droht ... Wenn du das los wirst, fühlst du dich besser. Voila. Und was ist ein Schlafmittel? Wieso machen die einen müde ...?« Hey, das war eine Idee, oder? In Filmen funktionierte sowas immer, man stopfte Schlafmittel in ein Stück Fleisch und warf es dem Hund hin ... Nein, das war zu sehr wie in einem James-Bond-Film. Es mußte auch einfacher gehen. Wenn Terry mich nur zu ihrer Wohnung fahren würde, dann könnte ich ihre Schlüssel nehmen und ... Aber Terry fuhr ja nicht nach Hause. Sie wollte mit zu dieser blonden Nutte ... Aber dann brauchte sie ja die Schlüssel zu ihrer Wohnung gar nicht, oder? Also konnte sie mir die geben. Ja. Ich konnte zu ihrer Wohnung fahren, mir aufschließen, ihren Atelierschlüssel holen und dann Terry morgen alle ihre Schlüssel zurückgeben. Natürlich. Terrys Wohnungsschlüssel leihen. Was für ein Idiot ich wieder gewesen war. »Danke«, sagte ich zu Miko. »Wofür?« »Dafür, daß du mich ins Leben zurückgeholt hast.« Ich stand auf. »Was macht denn der da?« fragte Henriette, und ich schaute wieder durch den Garten zu dem Betrunkenen. Bloß war's kein Betrunkener, es war Mister Kitchen, der weiß wie ein Geist und ohne Schuhe herumtaumelte. Wenn sich da nicht diese ganzen Stimulanzien in meiner Blutbahn herumgetrieben hätten, mir wäre wahrscheinlich das Herz stehengeblieben. Zuerst dachte ich, daß es eine Wahnvorstellung sei. Ein Mr. Kitchen des Geistes, der aus meinem hitzegeschädigten Hirn stammte. Aber die anderen hatten ihn offensichtlich auch gesehen, also mußte es ihn wirklich geben. »Ich geh mal nachschauen, ob ihm was fehlt«, sagte ich. »Kennst du ihn?« »Ich glaube nicht. Er sieht ein bißchen einsam aus.« Ich krückte über den Rasen zu ihm hin. Als ich ihn erreichte, schaute er mich mit glasigen, verständnislosen Augen an. Er war nicht bei sich. Es gab nur eine Erklärung: Ich hatte das Arsch gar nicht umgebracht. Aber wie war er aus dem Kofferraum entkommen? Das würde ich später klären müssen; zuerst mal mußte ich irgendwas mit ihm anstellen. Ich schaute mir sein Hemd an und das hübsche kleine Loch mit dem getrockneten Blut drumherum. Auf keinen Fall durfte ich ihn zum Haus gehen lassen. Ich stützte mich also auf eine Krücke, ließ die andere von meinem Ellbogen herunterhängen und legte einen Arm um ihn. »Alles in Ordnung, Alter?« fragte ich. Er sagte nichts. Teufel, vielleicht war er ein echter Zombie. Aber dann murmelte er vor sich hin. »Was?«
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»Ich bin wegen des Wagens hier«, sagte er mit leiser, heiserer Stimme. »Hier entlang«, sagte ich und führte ihn durch den Garten in die Dunkelheit, weg von den Fackeln zwischen die Bäume; ich zog ihn immer weiter mit. Was sollte ich bloß mit ihm anfangen? Vielleicht konnte ich ihn einfach hier lassen. Aber dann würde er irgendwann wieder zu Verstand kommen und sich erinnern. Sich erinnern, was ich ihm angetan hatte, und dann wäre ich wieder da, wo ich angefangen hatte und stand vor einem schmierigen öffentlichen Gericht. Nein, ich mußte ihn zurück in den Wagen kriegen. Also umrundete ich den Rasen in Richtung Vorderseite des Hauses. Einer von uns führte den anderen in die Hölle. Ich wußte nur nicht, wer wen, und es war mir eigentlich auch egal. »Wieviel Kilometer hat er denn drauf?« fragte er. »Kaum gefahren«, sagte ich und schob Zweige aus dem Weg. »Bloß ein bißchen in der Stadt.« »Das Leder in gutem Zustand?« »Aber sicher.« »Und das Sonnendach?« »Yep. Elektrisch. Elektrische Fensterheber, Klimaanlage ...« »Kann ich mal probefahren?« Wir erreichten eine kleine Lichtung. Irgend etwas wurde dort gebaut, ein häßlicher Betonbau, vom Haus wegen der Bäume nicht zu sehen. Es gab Ziegel und Be tonplatten, ein paar Säcke unter einer Plane, Werkzeuge lagen herum. Eine Hacke, ein Spaten, eine Schubkarre. »Warum haben Sie mich hierhergebracht?« fragte Kitchen. »Schnauze«, sagte ich. »Wo sind wir hier?« »Schnauze, klar?« Er löste sich aus meiner Umarmung und starrte mich wild an. Dann plötzlich zeichnete sich Begreifen auf seinem Gesicht ab. »Sie!« schrie er und stürzte sich auf mich. »Nicht schon wieder«, sagte ich.
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17. Kapitel »Du Arsch«, kreischte Kitchen. »Ich bring dich um, du gottverdammter arroganter Arsch! « Ich versuchte, mich zu wehren, aber mein schlimmer Knöchel gab nach; ich kippte zur Seite und stürzte unangenehm auf einen Ziegelhaufen. Kitchen sprang mich an und packte mich am Hals. »Du völlig verrückter Arsch. Ich bring dich um, bis du ...« KLONK. Ich erwischte ihn mit einem Ziegel seitlich am Kopf, und er rollte von mir runter. »Au contraire«, sagte ich und kam auf die Knie. »Wenn wir schon übers Umbringen reden, ich habfrüher damit angefangen. Und jetzt werde ich nicht damit aufhören. Wollen mal sehen . . . « Ich sah mich nach einer besseren Waffe um. »Wie soll ich dich umbringen? Was gibt's denn für Möglichkeiten ...?« Aber bevor ich etwas Gutes fand, stürzte sich Kitchen schon wieder auf mich, in jeder Hand einen Ziegel. Ich schaffte es, aufzustehen und ihn umzustoßen, bevor er mich treffen konnte, und wir glitschten über die Schräge und gegen einen Baum. »Ich verbrenn' dich auf meinem Scheiterhaufen«, sagte ich und boxte ihm in den Bauch. »Ich erstech' dich, ich reiß dir das Fleisch von den Knochen, ich vergifte dich, du Doofmann, ich ersäufe dich, ich zerquetsche dich.* . « Er schlug mir mit einem der Ziegel auf den Kopf, und ich ging wieder zu Boden. Aber ich blieb nicht am Boden; ich ignorierte den Schmerz in meinem Knöchel, zwang mich hoch und traf ihn am Kinn. Diesmal gingen wir zusammen runter. »Ich reiß dir das Herz raus und schieb's dir in den Arsch!« brüllte ich. »Ich erstick' dich mit deiner eigenen Haut, ich schneid' dich in feine Streifen, ich zerschmettere dich, zerdrück' dich und vergrab' dich bei lebendigem Leibe, ich häng' dich auf und reiß' noch höchstpersönlich an deinen Beinen.« Wieder erwischte er mich mit einem Ziegel, und ich hielt mir die Nase. Dann robbte ich auf dem Rücken davon, wobei ich mich so gut ich konnte mit den Armen schützte. »Ich freß dich auf«, keuchte ich, lag auf dem Betonboden des Gebäudes und hielt mir den Knöchel. »Ich laß dich verbluten, ich werd' dich vierteilen, du kommst auf den Elektrischen Stuhl, ich werd' dich infizieren ... mit Aids, Krebs und TBC.« Kitchen kletterte auf einen Stapel großer Steinplatten und sprang auf mich herunter. Ich rollte mich zur Seite, und er landete im Dreck, krümmte sich ... Eine kurze Pause, aber er hatte die Steine aus dem Gleichgewicht gebracht, als er raufgeklettert war, und zu spät erst sah ich, daß der Stapel umkippte. Hastig versuchte ich, mich davonzumachen, war aber nicht schnell genug ... Knirschend krachte der Haufen auf meinen schlimmen Fuß herunter. Schreiend vor Schmerz versuchte ich verzweifelt, mein Bein herauszuziehen, aber es war gefangen, zerquetscht unter den Platten. Ich packte einen Spaten, versuchte, sie herunterzuhebeln ... und sah mich dann gerade noch rechtzeitig um. Kitchen stürmte mit dem Pickel auf mich. Der spontane Angstanfall reichte aus, mir die Kraft zu geben, meinen Fuß freizuzerren und mich zur Seite zu werfen. Der Pickel schlug Funken, als er auf die Steine niederknallte.
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Ich umklammerte immer noch den Spaten und hopste wie ein Wilder in Richtung der Bäume. Hinter mir spürte ich Kitchen, duckte mich instinktiv und stürzte zu Boden. Die Spitze des Pickels krachte in einen Baum und steckte fest. Kitchen zerrte daran herum, hebelte das Ding auf und ab, grunzte. Er wandte mir den Rücken zu. Ich zielte mit dem Spaten auf seinen Kopf und schwang ihn hoch und herunter, aber er bewegte sich, und deshalb bekam er die Seite des Spatenblattes in die Halsbeuge wie das Schwert eines Scharfrichters; es klemmte fest. Er ließ den Pickel los und wedelte mit den Händen, tanzte und plapperte unzusammenhängend wie ein Drehorgelaffe. Ich hielt mich fest, er zog mich mit sich. Mit aller Kraft den Spatenstiel umklammernd versuchte ich, ihn daran zu hindern, aus dem Wald auf den Rasen zu entkommen. Ich hielt mich fest und versuchte, diesen wahnsinnigen Untoten zu stoppen. Schon dachte ich, er würde niemals aufhören. Er hopste überall herum, brach durch die Bäume, stieß gegen Steine, wedelte mit Armen und Beinen. Eines muß ich dem Arschloch lassen, er hatte jede Menge Lebensenergie - aber langsam verließ sie ihn, und er sank zu Boden und lag schließlich still da. Ich setzte mich neben ihn auf einen Haufen trockener Blätter und verrottendes Holz, stemmte meinen guten Fuß gegen seinen Kopf und zog den Spaten raus. Das war nicht einfach, das kann ich Ihnen sagen. Nach einer Ewigkeit, die ich in die eine Richtung und dann in die andere zog, löste er sich schließlich quietschend, und ich warf ihn weg. Kein Blut; es war wirklich so, als hätte ich gegen einen Zombie gekämpft. Ich saß eine Weile da und starrte ihn an. Das war heute schon das zweitemal, daß ich ihn umgebracht hatte. »Und jetzt bleib' auch tot, du Arsch«, sagte ich. Halb beneidete ich ihn; er lag da so friedlich ohne eine Sorge auf der Welt, dieweil meine Probleme schlimmer und schlimmer wurden. Ich war schon richtig verzweifelt. Mein weißer Anzug war noch mitgenommener. Mein Gesicht noch zerschrammter. Mein Fuß tat echt richtig weh. Wenn ich nicht Kitchens Stahlkappenboots ange habt hätte, wäre es noch schlimmer gewesen, aber trotzdem konnte ich spüren, daß er böse gebrochen war. Ich konnte die Zehen nicht bewegen ... Teufel, warum schönreden? Ich hatte schlicht und ergreifend einen Stiefel voll Matsch, wollte es aber nicht riskieren, ihn auszuziehen und nachzusehen. Ich wollte es nicht wissen. Außerdem würde ich den Stiefel nie wieder anbekommen. Der war vermutlich alles, was meinen Fuß noch zusammenhielt. Ich schnürte die Schuhsenkel so fest es ging und suchte meine Krücken. Als ich dann auf meinem guten Bein stand, fiel mir wieder ein, daß ich ja Terry finden und ihr ihre Schlüssel abnehmen wollte. So schnell ich konnte, was überhaupt nicht schnell war, tappte ich durch den Wald zum Haus, den gebrochenen Fuß nach hinten weggestreckt. Ich kam seitlich vom Haus aus den Bäumen, in der Nähe des kleinen Tores, durch das ich zuvor hereingekommen war, und ging um das Haus herum in den Gar ten; er war leer. Adrian und die anderen waren gegangen, keiner kümmerte sich mehr um das Barbecue, die Kohlen wurden langsam
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kalt. Ich hüpfte ins Haus und entdeckte, daß die ganze Party sich langsam auflöste. Verzweifelt durchsuchte ich Zimmer um Zimmer; die Leute schauten mich noch eigenartiger an als zuvor, aber ich konnte Terry nirgends finden. Schließlich ging ich zur Eingangstür, nur um zu sehen, wie sie und ein blondes Mädchen auf die riesige lila Honda stiegen, die mich zuvor von der Straße gejagt hatte. Das Motorradgirl trug eine Lederrüstung und setzte sich gerade einen silbernen Helm auf die langen blonden Locken. Wie ein zertretenes Insekt krabbelte ich die Einfahrt entlang und rief Terrys Namen, aber sie hörte mich nicht, oder sie wollte mich nicht hören. Ergeben sah ich zu, wie sie in die Nacht davonrohrten. »Oh, du Scheißer!« brüllte ich Kitchen und mich selber und Terry und die Welt und überhaupt alle an; dann sah ich meinen Wagen, der Kofferraum stand offen. Ich ging rüber, um mir das anzuschauen, und entdeckte, daß sich das Laken im Schloß verfangen hatte. Das erklärte, wie Kitchen herausgekommen war; das Laken mußte verhindert haben, daß das Schloß richtig einrastete, nachdem ich die Weinflasche herausgeholt hatte. Ich fummelte das Laken ab, nahm es an mich und warf den Kofferraum zu. Ich konnte nicht riskieren, dabei gesehen zu werden, wie ich Kitchen wieder hineinstopfte, also würde er mich auf dem Beifahrersitz begleiten müssen. Als ich in den Wald zurückkehrte, lag Kitchen erfreulicherweise immer noch da, wo ich ihn hatte liegenlassen. In meinem Zustand konnte ich ihn nicht zum Wagen schleppen, deswegen war wieder einmal Schubkarrenzeit. Wenn Sie mal herausfinden wollen, wie es um Ihre Kraft und Geschicklichkeit bestellt ist, empfehle ich die folgende Ubung: Hieven Sie einen Toten in eine Schub karre, karriolen Sie ihn im Dunkeln durch einen dichten Wald und benutzen Sie dabei nur ein Bein. Es kam mir vor, als würde ich Stunden brauchen. Zuerst mußte ich die Schubkarre auf die Seite kippen, dann mußte ich Kitchen hineinrollen, dann mußte ich auf der harten Erde kniend den ganzen Mist wieder gerade hinstellen. Ständig rutschte mir die Schubkarre weg, oder Kitchen rollte heraus, oder ich bekam sie überhaupt gar nicht hoch. Aber ich versuchte es immer wieder, bis es schließlich klappte. Dann langte ich, auf einem Bein stehend, nach den Griffen, stieß die Schubkarre von mir weg und ließ sie los. Ich hopste vorwärts, hob die Griffe wieder, stieß sie wieder weg. Es dauerte ewig, zweimal kippte die Schubkarre noch um, aber schließlich erreichte ich den Rand des Waldes und den Beginn des Weges. Ich ließ die Karre einen Augenblick stehen und ging nachschauen, ob die Luft rein war. Und wer kam wohl aus dem Haus, wenn nicht Henrietta mit dem Glockenhut. Ich versuchte, mich im Dunkeln zu verstecken, aber sie hatte mich bereits gesehen. »Aha«, sagte sie, kam auf mich zu und wedelte mit einem Finger. »Mir ist gerade wieder eingefallen, wer du bist.« »Ach ja?« »Ich wußte, daß ich dich kenne. Du bist mal mit Carrie gegangen, oder?« Ich nickte. »Schuldig«, sagte ich. »Hab' ich's mir doch gedacht. Du warst auch bei der Geburt dabei, nicht wahr?« »Woher weißt du das denn? Hast du sie gesehen?« »Ich war heute abend im Royal Free. «
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»Du hast sie gesehen? Wie geht's ihr? Wie geht es dem Baby?« »Es geht beiden gut. Sie sind erschöpft, es tut weh, aber es geht ihnen gut. Ich konnte es gar nicht glauben, als ich ihn gesehen habe. Ich konnte nicht glauben, daß er in ihr gewesen war, daß er da gewachsen und jetzt am Leben ist, ein neuer Mensch. Das muß total irre für dich gewesen sein, dabei zu sein, zuzuschauen, wie er auf die Welt kommt. Geboren zu werden, was für ein Wahnsinn!« Ich grinste. »Es wird also alles gut?« »Ja. Gott allein weiß, was passiert wäre, wenn du nicht bei ihr vorbeigeschaut hättest.« »Wer weiß? Vielleicht hat sie auch erst deshalb vor Schreck das Baby gekriegt.« »Ich glaube, es sollte so sein. Du solltest dabei sein. Das war der Ausgleich für das, was du ihr angetan hast. « »Wenn es bloß so einfach wäre«, sagte ich. Sie kam näher und sah mir in die Augen. »In deinem Fall«, sagte sie, »glaube ich das auch nicht.« Daraufhin wandte sie sich ab und ging davon in Richtung Parkplatz, über die Einfahrt und die Straße hinunter; das Glöckchen an ihrem kleinen Hut klimperte bei jedem Schritt. Jetzt war die Luft rein, also tappte ich weiter, und als ich um die Hausecke kam, traf ich Miko. »Teufel«, sagte sie, »du siehst ja noch schlimmer aus als vorhin. Was ist bloß mit dir los?« »Ich bin von den Krücken gefallen.« »Du Armer.« Sie küßte mich leicht auf die Lippen, und es war, als explodierte etwas in meinem Kopf. Alle meine Sinne erwachten wieder zum Leben; mein Mund war wie elektrisiert von ihrem Geschmack, meine Nase betrunken von ihrem Parfüm; ich konnte jedes Geräusch im Haus hören, die Musik, die Stimmen; ich konnte verstehen, was die Leute sagten, als wäre das Wachs aus meinen Ohren geflogen. Meine Haut glühte und kribbelte, jeder Schnitt und jeder blaue Fleck schmerzte, die gebrochenen Knochen und der Matsch meines Fußes schmerzten, aber all das war ein schöner Schmerz, das Leben hatte mich wieder. »Wer bist du?« fragte ich. »Wen interessiert das?« fragte sie und küßt mich erneut. Ich versuchte, ihr den Mund aus dem Gesicht zu saugen, ich klammerte mich an ihrer Zunge fest wie eine Echse, die eine Schlange frißt, und sie saugte ebenso. Un sere Münder wurden ein riesiger Eimer voller Aale, ein Zusammenstoß von Zähnen, Zungen und heißem Atem. Ich legte eine Hand auf eine ihrer kleinen Brüste und spürte den harten Nippel unter dem Schwarz ihres Kleides. Dann ließ ich meine Hand hinuntergleiten und hob ihren Rocksaum und tastete nach der Wärme unter ihrem Slip. Sie fummelte ihrerseits an meinen Sachen herum, ihre Hand gar nicht ladylike an meinem Reißverschluß. Einen Augenblick später war mein Schwanz im Freien und ihr Slip beiseite geschoben. Ich stand immer noch auf einem Bein, stützte mich auf meine Krücken, drückte ihren Rücken gegen die Mauer, glitt in sie hinein, und sie stöhnte. Sie hatte die Augen weit aufgerissen, ihr ernster Blick eine wilde Mischung aus Faszination, Wut, Angst, Schmerz und Freude, oder eigentlich aus gar nichts davon. Das war Sex. Leben. Lange konnte ich diese Stellung nicht beibehalten, und bald glitten wir in einem schmutzigen Knäuel zu Boden, immer noch eng miteinander verbunden.
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Schließlich löste sie sich von mir, packte mich am Hemd und zerrte mich zwischen die Bäume. Auf meinen kranken Beinen hüpfte ich so schnell wie möglich hinterher. Im Dämmerlicht des Waldes zog sie ihren Slip aus und legte sich auf den Rücken, ihre Haut weiß im Mondlicht, ihr Schamhaar pechschwarz, ihre Augen leuchtend. Sie zog mich auf sich und schob ihre Knie über meine Schultern, öffnete sich, preßte ihren kleinen Körper tief in das warme Laub. Ich konnte die Schubkarre sehen, nur ein paar Meter weit weg, Kitchens Beine hingen über den Rand, und als ich wieder in sie hineinglitt, betete ich, daß sie ihn nicht entdeckte. Keine Ahnung, wie lange wir in diesem Wald rummachten. Wenn ich schlappzumachen drohte, warf ich einen Blick auf Mr. Kitchen und begab mich mit wiederent flammter Wut an die Arbeit. Es brachte mich beinahe um. Sie zuckte und wand sich und packte meine Arme mit eisernem Griff, sie quietschte und keuchte und saugte Luft durch zusammengebissene Zähne, aber sie kam nicht. Ich auch nicht. Ich versuchte es, ich starrte die Schubkarre an, ich schloß meine Augen und stellte mir vor, daß Gaia unter mir läge, aber es half nichts, ich war am Arsch. Beide versuchten wir auf jede bekannte Art und Weise den anderen zu stimulieren, mit Fingern, Zähnen, Zungen ... aber es sollte nicht sein. Am Ende ließen wir uns erschöpft und kaputt Seite an Seite niedersinken. Sie zündete sich eine Zigarette an und schaute dem Rauch nach, der durch die Zweige zu den Sternen hinaufzog. Nach einem Weilchen stand Miko auf und zog ihren Slip an. Sie kämmte sich das Haar mit den Fingern, klopfte sich ab, und schon sah sie wieder makellos aus. »Ich geh' besser zurück«, sagte sie dann, kniete sich hin und küßte mich auf den Mund. »Goodbye, viel Glück und schöne Träume«, flüsterte sie. Ich sagte nichts, ich hörte bloß, wie sie ging, hörte Zweige knacken und Blätter rascheln. Mir blieb ein halbharter Schwanz und der Schmerz. In mir steckte ein aufgestauter Orgasmus, ich fühlte mich wie ein Opfer der Spanischen Fliege; je mehr ich kratzte, desto mehr juckte es, und ich war zu ausgelaugt, um irgend etwas zu tun. Ausgelaugt, aber am Leben. Im Gegensatz zu Kitchen. Ich krabbelte zu ihm rüber und biß in eins seiner Bei ne. Ich hasse diesen Mann. Weiter passierte mir nichts auf dem Weg zum Wagen, Gott sei Dank. Ich schob die Schubkarre zur Beifahrertür, kippte Kitchen rein und schnallte ihn gerade an, als jemand seine Hand auf meine Schulter legte. Ich muß einen Meter weit gesprungen sein. »Schon in Ordnung.« Es war Adrian. »Großer Gott, mach das nicht noch mal«, sagte ich. Adrian betrachtete Kitchen. »Der sieht ja noch schlechter aus als du«, sagte er. »Adrian«, sagte ich. »Ich sitz' tief in der Scheiße.« »Ist er tot?« »Nein ... Ja. Zumindest hoffe ich das, gottverdammt noch mal. Was soll ich jetzt machen?« »Genau das, was ich dir vorhin schon gesagt habe. Laß ihn verschwinden. Laß ihn so verschwinden, daß niemand ihn jemals finden kann.« »Das versuche ich doch schon den ganzen Tag. Ich hab' probiert, ihn zum Ofen im Atelier zu bringen. « »Gute Idee.«
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»Adrian ...« Ich hielt mich an seinem Arm fest. »Du steckst das ganz gut weg.« »Es ist nicht meine Aufgabe, zu richten. Ich bin neutral. Ich persönlich habe keine moralische Position.« »Aber ... « »Jeder von uns muß dann und wann etwas Schreckliches tun.« Ich schaute ihn an. »Ich hab' mal einen Mann in Reno erschossen«, sagte er. »Nur um zu sehen, wie er stirbt.« Er lächelte. »Johnny Cash«, sagte ich. »Ja. Bloß war das nicht Reno, es war Deutschland, und es war ein Messer, keine Pistole, und es gab auch irgendeinen Grund, obwohl ich nicht mehr weiß, was für einen. Ich war damals ein Junkie, ich kehrte gerade zurück ins Leben. Und seitdem, naja, du siehst ja nur den netten Teil dessen, was ich mache. Aber es ist ein Geschäft, ein schlimmes Geschäft, und Geschäft ist Geschäft, wenn du weißt, was ich meine.« »Hast du irgendwelche Downer? Schlafpillen?« »Dabei?« »Ja.« »Ich hab' den ganzen Wagen voll mit Stoff. Ich hab' Librium, Mogadon, Barbiton, Phenobarbitone, Diazepam, Temazepam ... Wofür brauchst du das?« »Ich brauch' was, um einen Hund lahmzulegen.« »Ich frag' lieber nicht, warum.« Adrian ging rüber zu einem der anderen Wagen, einem dunkelblauen Volvo Kombi mit einem >Baby an Bord<-Aufkleber auf dem Rückfenster - er hatte mir ein mal erzählt, daß die Polizei Volvos niemals anhält -, während ich auf meine Seite des Saabs hoppelte und einstieg. Ich riß einen dünnen Streifen von dem Laken ab, als Adrian mit einer Handvoll Pillen zurückkehrte. »Die könnten helfen«, sagte er. »Diazepam. Sollte einen Hund zum Träumen bringen, aber du brauchst `ne Handvoll.« »Danke«, sagte ich und steckte sie in meine Tasche. »Und wo du schon da bist, könntest du bitte damit meinen Fuß ans Gaspedal binden?« Ich gab ihm den Lakenstreifen. Er tat, um was ich ihn gebeten hatte, dann schob er mir noch ein Päckchen Pillen zu. »Hier«, sagte er. »Die sind für dich. Bloß ein paar DF118er, die sollten gegen deinen Schmerz helfen. Du könntest eigentlich Morphium vertragen, aber bei dem ganzen anderen Dreck, der in dir rumschwimmt, würde ich dir nicht dazu raten.« »Danke, Adrian«, sagte ich. »Ich werd' das nicht vergessen.« »Ich auch nicht. Ich bin sicher, eines Tages wirst du auch was für mich tun können. Ich würde dich ja selbst fahren, aber wenn wir dann angehalten werden . . . « »Du hast schon mehr als genug getan.« »Eines Tages wird man mich erwischen«, sagte er. »Aber nicht heute nacht.« »Du bist unsterblich, Adrian.« »Alles nur Show. Zieh dir einen ordentlichen Anzug an und einen Schlips, und die Leute glauben, du hast alles im Griff. Aber ich weiß, das hält nicht ewig. Da mach' ich mir nichts vor. Früher oder später wird man mich erwischen, oder ermorden, oder einfach bloß zusammenschlagen. Das ist in meinem Job unausweichlich. Aber ich spare. Ich lege neunzig Prozent dessen, was ich verdiene, für später zurück. Lege es dort hin, wo man es nicht finden kann, und wenn sie
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mich einsperren, dann weiß ich, daß jetzt Schluß ist, dann sitz' ich meine Zeit ab, bis ich freikomme, und kann mir dann holen, was mir gehört.« »Und wenn du umgebracht wirst?« »Hoffen wir doch einfach, daß ich geschnappt werde, bevor ich umgebracht werde, okay?« »Wo wir schon von Geschnapptwerden reden«, sagte ich, »jetzt sollte ich besser los.« »Paß auf dich auf und vergiß nicht - nichts ist ewig. Glück ist eine Illusion, genieß das Leben, solange du dazu in der Lage bist, und wenn deine Zeit um ist, bete, daß du das voller Anstand akzeptieren kannst ... Das stand letzte Weihnachten in meinem Glückskeks.« Ich zog die Tür zu, ließ den Motor an, drückte meinen zerschmetterten Fuß aufs Gaspedal, schrie auf und fuhr los.
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18. Kapitel Ich weiß nicht, ob Adrians Pillen überhaupt halfen - ich weiß nicht, wie schlimm der Schmerz in meinem Bein ohne sie gewesen wäre -, ich weiß bloß, daß die Fahrt aus Highgate nach St. John's Wood, mit einem zerschmetternden Fuß, festgebunden am Gaspedal, die schlimmste vorstellbare Form von Schmerz war. Ich fuhr sabbernd, zitternd und stöhnend. Ich konnte nicht einmal Musik hören, das tat meinen Ohren zu weh. Die Sache hatte nur ein Gutes: der Schmerz trug dazu bei, daß ich aufmerksam blieb - ehrlich gesagt, er hielt mich wach. Ich fuhr langsam und blieb soweit wie möglich im Zweiten, weil Schalten natürlich das schmerzhafteste überhaupt war. Zu langsam konnte ich aber auch nicht fahren, sonst würden sie mich anhalten. Mit zehn Kilometern die Stunde mitten in der Nacht durch die Stadt zu tuckern, ist ganz zweifellos die Taktik eines Besoffenen. Außerdem waren da natürlich die Ampeln und Kreuzungen, an denen ich anhalten und wieder losfahren, mußte, also brauchte ich meinen Fuß öfter, als ich ertragen konnte, und als ich um den Parliament Hill rum, durch den Belsize Park und nach St. John's Wood gefahren war, fühlte ich mich am Ende; ein rohes klappriges, schmerzendes, radioaktives Monster. Mein Körper kam mir so vor, als bestünde er nur noch aus beschädigten Nervenenden; das einzige, was ihn zusammenhielt, war der Schmerz. Doch war es eine Erlösung, heimzufahren, und diese Erlösung verlieh mir neue Stärke. Keine Zeit zum Selbstmitleid, bring es jetzt zu Ende. Ich parkte den Wagen vor meiner Haustür und knotete meinen Fuß vom Gaspedal los. Mr. Kitchen ließ ich dort, wo er war, und ging rein, um alles zu holen, was ich für einen Einbruch in mein eigenes Atelier brauchte. Auf Krücken die Treppe hochzugehen, verbrauchte all meine neue Energie, aber ich schaffte es. Jetzt konnte mich nichts mehr aufhalten. Ich ruhte mich ein Weilchen auf dem Stuhl hinter der Tür aus, der kalte Schweiß lief an mir herunter, mein Hals war trocken, meine Augen wund, mein Herz hopste und bockte wie ein Stier beim Rodeo. Schließlich zwang ich mich wieder hoch und krückte eilig ins Bad. Dort ließ ich kaltes Wasser ins Waschbecken und steckte mein Gesicht hinein. Ich hielt es unter Wasser, solange ich konnte, dann hob ich den Kopf, ließ das Wasser ab und füllte das Waschbecken erneut. Diesmal mit heißem Wasser. Mit Hilfe eines Flanellhandtuchs säuberte ich meine Wunden, und nach einem Weilchen ging ich fast schon wieder als ansehnlich durch. Ich trank ein Glas Wasser und spürte die geschmeidige Kälte durch mich hindurch kriechen. Ich kämmte mir das Haar aus dem Gesicht und betrachtete mich im Spiegel. Nicht schlecht. Das war das Gesicht eines Mannes mit Zukunft. Das war das Gesicht eines Mannes, der siegen würde. Das war das Gesicht eines Mannes, der Drogen brauchte. Ein hübscher Sulfat/Kokain-Mix war schnell gemischt. Ich wußte nicht, ob ich noch irgendwelche Reserven hatte, die ich anzapfen konnte, aber wenn noch et was in mir war, was ich verbrennen konnte, hatte ich vor, es zu verbrennen. Ich sniefte die Lines, so gut ich konnte - schwächlich in die Fresse. Es fiel fast so viel wieder raus, wie reinging, und plötzlich begann meine Nase schrecklich zu jucken. Das letzte, was ich jetzt wollte, war zu niesen, das würde meinen ganzen Körper zerspringen lassen, also massierte ich meine Nase und drückte den Nasenrücken und rieb mir die Augen, aber es wurde bloß schlimmer und
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schlimmer. Am Ende entschied ich, daß ich es riskieren mußte; wenn ich meine wertvollen Drogen dabei rausrotzte, konnte ich immer noch nachfüllen. Alles war besser als diese schreckliche Spannung. Ich lehnte mich zurück und wartete auf das Niesen. Und wartete. Und wartete. Und es kam nicht. Ich konnte nicht niesen, mein Körper hatte vergessen, wie. Die Explosion geisterte nur durch mich hindurch, störte mich auf, eine Spanische Fliege für die Nase. »Komm schon, komm schon, nies, du Arsch!«' Ich starrte meine rote, zuckende Nase im Spiegel an, aber es war offensichtlich, daß nichts passieren würde, also verließ ich am Ende das Bad und machte mit meinen Vorbereitungen weiter. Erstens der Hund. Ich hatte die Schlafpillen von Adrian; jetzt brauchte ich nur noch ein dickes, saftiges Steak, um sie darin zu verstecken. Also ging ich in die Vorratskammer, aber die war leer. Oder, genauer gesagt, ich ging zum Kühlschrank, und der war leer. Kein Steak jedenfalls. Bloß Bier und Milch und belgische Schokolade und ein Eiersandwich von Marks and Spencer, immer noch eingewickelt. Na, egal. Hunde aßen doch auch Sandwiches, oder? Soweit ich wußte, fraßen Hunde eigentlich alles. Dieses spezielle Sandwich war ungefähr eine Woche überfällig, aber wie gesagt, Hunde stellen sich nicht an. Ich öffnete die Verpackung und zuckte vor dem Gestank zurück. Durch den Mund atmend pulte ich die oberste Lage Brot ab und drückte die Pillen in das verrottete Ei, dann setzte ich das Sandwich wieder zusammen, wickelte es in Klarsichtfolie und steckte es in eine Schultertasche. Damit war der Höllenhund erledigt; jetzt ging es um die Tür an der Feuertreppe. Terry hatte mir die Schlüssel zu dem Vorhängeschloß gegeben, aber ich würde immer noch ein Fenster einschlagen müssen, um an das Vorhängeschloß heranzukommen. Unter dem Spülbecken stand mein Werkzeugsack, aus dem holte ich jetzt einen Kuhfuß, ein paar Schraubenzieher und einen großen Hammer. Ich dachte, es sei am besten, auf alles vorbereitet zu sein. Halb ausgerüstet loszumarschieren, war nicht sinnvoll. Das hatten mich die Abenteuer des Tages gelehrt. Nachdem ich die Werkzeuge in die Tasche zu dem Schlaf-Sandwich gesteckt hatte, war ich bereit. Jetzt mußte ich nur noch meinen verendeten Anzug ausziehen und in frische Sachen schlüpfen - bloß meine juckende Nase machte mich wahnsinnig. Ich mußte irgend etwas dagegen tun. Also marschierte ich zurück ins Bad und riß ein paar Blatt Toilettenpapier ab. Dann putzte ich mir die Nase ... und ihre Innereien landeten direkt in meinem Taschen.. tuch. Die Überreste der Nasenscheidewand schluppten mit Blut und Schleim durch mein linkes Nasenloch, gefolgt von ein paar fetten Klumpen Membran und Gewebe. Ich betrachtete die graue Schweinerei aus schleimigen Fleischfetzen in dem Toilettenpapier, und mir wurde kotzschlecht. Plötzlich überlief mich eine eisige Gänsehaut. Ich warf den ganzen Dreck ins Klo und kotzte obendrauf. Damit war also meine Nase erleuchtet. Was jetzt? Mit Nasenbluten kroch ich aus dem Bad zurück ins Wohnzimmer, und tatsächlich habe ich an diesem Punkt am ernsthaftesten darüber nachgedacht, aufzugeben.
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Ich dachte: Scheiß drauf, ich konnte ja auch einfach hier auf dem Boden liegen und auf den Morgen warten, darauf warten, daß sie kamen und mich mitnahmen, mich in die tiefsten Verliese sperrten, auf daß ich nie wieder das Tageslicht sähe. Oh, sollten sie mich doch vierzigmal lebenslänglich wegschließen, nichts konnte schlimmer sein als das hier. Ich rollte mich zusammen und wimmerte ein Weilchen ... aber was tat ich da eigentlich? Teufel, wissen Sie, man kann sich ja auch eine neue Nase kaufen, eine hubsche aus Silber, die einen nie im Stich läßt, man kann den zerschmetterten Fuß wieder hinkriegen, man kann die Schnitte und blauen Flecke heilen, man kann sich einen Haufen neuer Anzüge kaufen, in jedem Stil und jeder Farbe. Du kannst die Sache durchziehen, du kannst Kitchen loswerden. Ich spürte meinen Schwanz; er war warm und halb hart, immer noch steckte der aufgestaute Orgasmus drin, den er bei Miko nicht hatte wegspritzen können. Ich drückte und rieb das Ding, und dabei fiel mir auf, daß das rote Lämpchen meines Anrufbeantworters blinkte. Teufel, ich konnte Gesellschaft gebrauchen, selbst wenn es bloß alte, tote Stimmen auf einer Maschine waren. An der Schnur riß ich das Gerät vom Tisch und zerrte es über den Boden zu mir her. Ich drückte auf Play. Es kamen die üblichen zwei oder drei Piepse, die bedeuteten, daß Leute angerufen und keine Nachricht hinterlassen hatten, und dann hörte ich eine bekannte Stimme. Crispin, meine rechte Hand. Wie ich schon gesagt hatte, war er in Japan und verhandelte mit einem trendigen und beängstigend teuren Laden in Tokio, der einen Haufen meiner Sachen ins _Programm nehmen wollte. Er klang betrunken. ». . . Hey, hör mal, mach den Schampus auf, Alter, Scheiße, hey, ich weiß, es muß mitten in der gottverdammten Nacht bei dir drüben sein, aber ich mußte es dir einfach sagen. Ich bin seit Stunden in irgendwelchen verdammten Um-die-Uhr-Meetings. Wenn diese Leute ein Meeting machen, dann machen sie ein Meeting. Aber hör mal, hör mal, sie wollen nicht nur alles haben, was sie haben wollten. Sie wollen die Bestellung auch noch vergrößern und - in ihren Worten - ihre >Beziehung zu dir umfassender gestalten<. Weißt du, was das heißt? Du hast es geschafft, Alter. Nippon liegt dir zu Füßen ... Hör mal, ich leg jetzt auf, aber ruf mich an, ja?« Oh, große Mutter Gottes. Ich stand wirklich direkt vor der schönsten Zeit meines Lebens ... Inmitten der Dunkelheit gibt es ein Licht. Inmitten der Strafe gibt es ... Pie-iep. » . . . Hallo? Hier ist dein Vater. « Die
meisten
Leute
haben
Respekt
vor
einem
Anrufbeantworter..
sie
hinterlassen
zusammengestotterte Nichtigkeiten, aber mein Vater war anders: »Nun, ich hoffe, du bist stolz auf dich. Vielen Dank für den wunderbaren Abend. Deine Cousine Jill ist gerade in einem schrecklichen Zustand zurückgekehrt. Allein in einem Taxi, darf ich hinzufügen, obwohl du uns versprochen hast, daß du dich um sie kümmerst. Wirklich, herzlichen Dank, ich bin froh zu wissen, daß du so zuverlässig bist wie immer. Sie hat mir gesagt, daß ihr beide irgendwie gestritten habt, und dann hast du auch noch einen Streit mit einem völlig Fremden angefangen, woraufhin sie sich Gott sei Dank vernünftigerweise entschieden hat, dich zu verlassen. Großartig, wenigstens ist dein Benehmen konsistent.
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Ich rufe bloß an, weil deine Mutter, Gott sei ihr gnädig, sich Sorgen um dich macht. Aus irgendeinem Grund interessiert es sie tatsächlich, ob es dir gut geht oder nicht. Alte Gewohnheit, schätze ich. Wenn du uns also die Freundlichkeit erweisen könntest, anzurufen, sobald du heimkehrst, egal wie spät es ist, wäre ich dir sehr dankbar. Meinetwegen kannst du in der Hölle verrotten, aber es gefällt mir gar nicht, wenn es deiner Mutter nicht gut geht, also, melde dich, ihretwegen. Gute Nacht.« Pieiep ... Inmitten des Lichtes gibt es Dunkel ... Pie-iep ... »Hallo, ich bin's noch mal. Es ist zwei Uhr nachts, und deine Mutter hat mich gerade aufgeweckt, um mir zu sagen, daß du noch nicht zurückgerufen hast. Sie will die Polizei anrufen. Ich habe keine Ahnung, wann du normalerweise nach Hause kommst, aber wenn du da bist, dann ruf bitte an, damit ich jetzt endlich schlafen kann! Vielen Dank. Pie-iep ... Ich tastete ihre Nummer ein, und als ich nach Breioder viermal Klingeln die Stimme meiner Mutter auf dem kleinen Lautsprecher hörte, nahm ich den Hörer ab und sagte »Hallo«. »Hallo?« Mutter klang dumm und quengelig. »Mutter«, sagte ich. »Ich bin's.« Meine Stimme war brüchig und heiser. »Oh, du bist zu Hause ... « »Ja, ich bin zu Hause. Du mußt dir keine Sorgen mehr machen.« »Dill hat gesagt, du hast dich mit ein paar Touristen geschlagen.« »Das war bloß ein Streit. Ist nichts passiert. Alles in Ordnung.« »Du klingst schrecklich.« »Ich bin müde ... Ich bin sehr müde.« »Beinahe hätte ich die Polizei gerufen.« »Um Himmels willen, Mutter, du brauchst doch nicht die Polizei zu rufen. In jeder anderen Nacht im Jahr weißt du nicht, wo ich stecke, warum hast du heute nacht das Gefühl, du mußtest . . . « »Aber Jilly hat gesagt, daß du dich sehr merkwürdig benommen ...« »Ich war bloß ein bißchen betrunken. Es ist immerhin mein Geburtstag . . . « »Ich weiß, Darling, und ich hab' mir schon Sorgen darüber gemacht, daß du fährst. Ich dachte, du hättest vielleicht einen Unfall gehabt oder ich weiß nicht was. Ich wollte die Krankenhäuser anrufen, aber dein Vater ... « »Schlaf einfach wieder, Mutter, und vergiß mich.« »Ich kann nicht, ich mache mir Sorgen, Darling. Ich weiß nicht, ob du richtig auf dich aufpaßt. Seit du mit Carrie auseinander bist, hattest du keine Freundin ... Ich weiß nicht, du hast so spitz ausgesehen.« »Spitz?« Ich lachte und hustete, was mich am ganzen Körper schmerzte, also hörte ich auf zu husten und stöhnte statt dessen. Dann hörte ich auf zu stöhnen. Ich hörte mit allem auf. Alles hörte auf, und während ich in ein schwindelerregendes Nichts versank, plapperte Mutter weiter, und ich ver lor den Faden. Als ich mich endlich wieder auf sie konzentrierte, fragte sie mich, ob ich genug Bewegung hatte . .. »Gestern gab es was auf Radio Four über die Gesundheit von Männer, wie wichtig Bewegung ist. Die meisten Männer halten sich ein Leben lang für unzerstörbar, aber sie sind es nicht. Weißt du, Frauen leben länger, um . . . « »Mum, es ist vier Uhr morgens. Ich bin müde, du bist müde. Meine Nase blutet, ich will bloß . . . «
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»Was soll das heißen, deine Nase blutet?« »Ich hab' Nasenbluten. « »Also hast du dich geschlagen?« »Ich bin gegen die Tür gelaufen.« »Hast du dich geschlagen?« »Ja. Ja, ich habe mich geschlagen, aber es geht mir gut, ich ... AAARGH! « Diesen Schrei verursachte die Tatsache, daß ich dummerweise auf die Idee gekommen war, aufzustehen; dabei rutschte ich weg, weil ich mein Gewicht auf meinen schlimmen Fuß verlagert hatte. »Was ist los? Was ist los?« »Es geht mir gut.« »Was ist los?« »Laß mich zum Teufel noch mal allein! Jesus, Maria und Josef . . . « Ich lag auf dem Rücken, hielt mir den Knöchel und versuchte, den Schmerz aus meinem Fuß rauszudrücken. »Was ist los? Du klingst schrecklich. Ich mach' mir Sorgen.« »Mum, bitte!« heulte ich. »Laß mich einfach in Ruhe. Ich kann mich um mich selber kümmern.« Mein Hals war mittlerweile so dehydriert, daß ich die Worte kaum her ausbekam, ich konnte meine ganze Kraft davonschwimmen spüren. »Es liegt an der Wettervorhersage«, flüsterte ich. »Es ist alles deren Schuld. Wenn die das nicht vermasselt hatten, wäre nichts davon passiert.« »Was? Was hast du gesagt? Was ist passiert?« »Es liegt an diesen verlogenen Schweinen, den Wetterleuten . . . « »Wer sind die Wetterleute?« »Sie versuchen, die Elemente zu kontrollieren, aber sie können bloß uns kontrollieren . . . « »Wer kontrolliert dich? Ich kann dich nicht richtig hören. Hast du eine Gehirnerschütterung? Was ist los? Wovon redest du?« »Von der Vorhersage.« »Der Wettervorhersage?« >>Ja.<< »Sie sagen, das gute Wetter wird anhalten. Für uns ist das schön, aber für die Bauern muß es schrecklich sein ...« »Scheiß auf die Bauern.« »Was?« Ich krächzte irgendwas zurück, aber der Schlaf überkam mich. Mum plapperte wieder, sie palaverte von Krankenhäusern und Unfällen und Notaufnahmen, und ich wollte bloß, daß sie aufhörte. »Ich hab' genug, Mum . . . Ich hab' wirklich genug . . . « Ich weiß nicht, ob sie das letzte hörte, ich weiß nicht einmal, ob ich wirklich etwas gesagt habe oder mir nur vor gestellt habe, etwas gesagt zu haben. In meinem Kopf hörte ich jede Mengen Sachen, meine eigene Stimme, Kirchenglocken, schwere Gitarrenakkorde, Adrian, wie er über Aspirin fabulierte, und meine Mutter, die immer wieder und immer wieder »Hallo?« sagte. Dann gelang es mir nicht mehr, das Telefon festzuhalten, und es fiel scheppernd zu Boden. Ich rollte rüber und versuchte, es wieder aufzuheben, aber ich konnte es nicht sehen, das Zimmer drehte sich und zuckte, es blitzte wie im Stroboskophcht ... Die Kakophonie in meinem Kopf dröhnte lauter und lauter, Mutters Quieken in der Leitung wurde von einer Flutwelle des Lärms ersäuft, alles, was man mir jemals gesagt hatte, jede Platte, die ich je gehört hatte, jeder Automotor, jedes Flugzeug, jeder bellende Hund ... lauter und lauter. Dann Stille ...
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Ich bin ein Einzelkind, ich bin in High Wycombe aufgewachsen, und als ich zehn war, sind wir nach Notting Hill gezogen. Da war's damals nicht besonders toll, aber billig. Mein Vater - ich habe keine Ahnung, ob er wußte, daß er da an was Gutem dran war. Jetzt gibt er damit an, daß das Haus, das er für Peanuts gekauft hat, über eine Million wert ist. Ich weiß nicht ... Also schätze ich, ich bin ein West-Londoner, ein klassischer weißer Junge aus Notting Hill. Bloß ohne Akzent, ohne den gekünstelt schwarzen Mein-Alter-ist-Stra ßenfeger-Slang der Mittelklasse-Weißen. Sie schickten mich auf ein Internat in Wiltshire, und ich saugte mich voll mit königlichem Englisch. Ich schätze, ich hätte beide Wege gehen können; ich hab' genug Zeit in WestLondon verbracht, ich hab' genug Zeit mit schnatternden Möchtegern-Niggern abgehangen, aber wie Sie inzwischen wissen, kann ich ganz schön stur sein. Ich gehe den Leuten gern auf die Nerven, ich tue gern, was ich nicht soll, und deshalb war mein Leben ein Scheißdreck. Mit meinem Akzent hatte ich von Anfang an nichts als Arger. Wir trugen eine hübsche Schul-Uniform; rote Blazer mit goldenem Besatz, graue Shorts, auch für Teenager, kleine graue Kappen auf unseren unschuldigen kleinen Köpfen, und später kreisrunde Strohhüte. Auf meine eigene kleine Art wußte ich also, wie es war, die verhaßte Uniform und die Abzeichen einer Minorität zu tragen. Aber seien wir doch einmal ehrlich, in Großbritannien ist jeder Mitglied einer Minderheit, wer also ist die Mehrheit? Die Mehrheit sind die anderen. Wohn in der falschen Gegend, geh in den falschen Pub, schneid den falschen Fahrer, und wir sind alle am Arsch. Wir sind alle Minderheiten. Aristo, Proll, Schwarzer, Jude, Linker, Stadtkind, Obdachloser, Blinder, Nordler, Südler, Cockney, Mann, Frau, Vegetarier, Wissenschaftler - immer sind die anderen in der Überzahl, wir leiden alle darunter, wir fühlen uns alle nicht willkommen. Jeder von uns weiß, wo sein Zuhause ist - und wo er lieber nicht hingeht. Mir haben sie schon »HAU AB, YUPPIESCHWEIN« auf die Haustür geschrieben, sie haben meinen Wagen x-mal abgeschleppt, sie haben mich auf der Straße angespuckt, zusammengeschlagen, gejagt und beleidigt, von Kindheit an. Oh, ja, ich kann euch schon scheißliberal jammern hören, ich könnte doch meine Leiden nicht mit denen der wirklich und wahrhaftig verfolgten Minderheiten ver gleichen. Was ist mit den Sklaven? Und was weiß ich schon vom Leid der Schwarzen ... Aber es ist doch so, daß die Geschichte der Sklaverei auch die Geschichte der Welt ist. Ich weiß noch, daß man uns in der Schule von irgendeinem römischen Herrscher erzählt hat, der seine neueste Sklavenlieferung begutachtete und verkündete, daß das keine Angles seien, sondern Angels. Das waren wir, die Engländer, weiße Männer, Sklaven. Ja, schön, das ist lange her, aber andererseits hat England den Sklavenhandel 1807 abgeschafft, und auch das ist lange her. Weiße haben Weiße versklavt, Schwarze haben Schwarze versklavt. Es waren schwarze Sklaven, die uns die Sklaven in Afrika verkauften. Und was ist mit der wirklichen Verfolgung Was ist mit dem Genozid? Die Mittelklasse war niemals organisierten Massenschlachtungen ausgesetzt. Oder doch - in Frankreich 1789, während der Schreckensherrschaft, in Rußland 1917 während der Roten Revolution; und was war mit der Kulturrevolution in China unter Mao Tse Tung? Was mit Kambodscha unter den Roten Khmer? Teufel, wenn deine Hände in Kambodscha nicht von der Arbeit zerfressen waren, dann hieß es Gute Nacht, Schätzchen, deswegen war das Land plötzlich voll mit Mittelklässlern, die behaupteten,
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Taxifahrer zu sein. Überall dort, unter all diesen Regimen, wurde die Mittelklasse systematisch ausgelöscht. Und das sind meine Brüder, jeder von ihnen, genauso sehr wie die Juden der Welt Brüder sind, und die Schwarzen, und die Arbeiter, und die Aristokraten - in deren Fall sogar wortwörtlich. Als mich die Stadtjungs wieder einmal gegen die Mauer knallten, mir die Bücher klauten, meine Kreissäge kaputtmachten, mich mit ihren dicken Stiefeln traten und mir in den Bauch boxten, verfluchte ich meine Eltern dafür.. nicht der Arbeiterklasse anzugehören, aber ich schätze, wie jeden anderen hat es auch mich am Ende stärker gemacht, stolzer auf das, was ich war. Ich meine, es gab eine Zeit, in der ich dachte, ich würde es meinen Eltern nie verzeihen, mich anständig aufwachsen zu lassen. Aber das habe ich hinter mir. Und jetzt trage ich teure Anzüge; ich rede laut in Restaurants; ich bin gemein zu prolligen Verkäufern; ich winke mir arrogant Taxis heran; ich bin auf Dinner-Par ties unhöflich und dominant; ich erhebe mich über die Idioten; ich beleidige Bettler; ich gehe Ski fahren ... Genauso wie ein Schwarzer mit schwerem jamaikanischem Patois-Akzent spricht und Rastalocken trägt, wie ein Jude seinen Homburg und die Locke und den schweren schwarzen Mantel trägt und in Synagogen hebräisch liest, wie der Demonstrant sein Stammesplakat trägt und auf Bäumen lebt, und ... Scheiße, wo war ich? Was habe ich gerade erzählt? Meine Kindheit. Meine Mum und mein Dad. Ich weiß noch, daß ich als Kind oft Fieber hatte. Ich kann mich sehr lebhaft an verschwitzte Halluzinationen und Visionen erinnern, klarer als an alles andere, was mir zugestoßen ist. Zigmal war mein Zimmer voll mit Leuten, sepiahäutigen Menschen, die nur wenig anhatten. Sie krabbelten auf allen Oberflächen herum, am Fußende meines Bettes, auf meiner Spielzeugkiste, auf der Kommode, auf der Garderobe, auf der Fensterbank, sie schnatterten und zappelten, und wie die Überlebenden eines Schiffsunglücks klammerte sie sich an die Wrackteile. Ein überlegenerer Geist als meiner hätte sie vielleicht für Geister gehalten oder für Phantome, vielleicht sogar für Dämonen; aber aus irgendeinem Grunde betrachtete ich sie als Fischer. Vielleicht Portugiesen. Ich sprach jedenfalls mit Sicherheit nicht ihre Sprache und hatte keine Ahnung, wovon sie redeten. Wieso Fischer? Es mußte an einer Geschichte liegen, die ich gehört hatte, oder an einer Fernsehsendung, die ich bloß halb verstanden hatte, aber sie waren nun mal Fischer, und insofern machten sie mir keine Angst. Andere Visionen taten das, Visionen des Nichts, eine allumfassende Schwarzheit, die am Boden trieb, die sich auflöste und wiedervereinigte wie Quecksilber, die wuchs und alles auffraß, bis sie kurz davorstand, das ganze Zimmer in sich aufzunehmen und mich dazu, und dann wehrte ich mich, ich krabbelte von dem Nichts weg, raus aus dem Zimmer, das ein Vakuum geworden war ... Aber mit so etwas konnte ich nie zu meinen Eltern gehen, was ich gewollt hätte, doch gab es ein Licht auf dem Flur zwischen meinem Schlafzimmer und ihrem, und in meinem Fieberwahn glaubte ich, daß an der Unterseite der Glühbirne eine Linie gezogen war, eine Linie, über die ich nicht hinübergehen konnte. Deshalb stand das Zimmer meiner Eltern mir nicht offen. In manchen Nächten saß ich stundenlang zusammengekauert im Flur, ich betrachtete die Lampe und wollte an ihr vorbeigehen, war dazu aber nicht in der Lage, und ich hatte zu große Angst zurückzugehen in mein Zimmer, wo das große Nichts auf mich wartete.
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Am Morgen konnte ich meiner Mutter nie von der Linie erzählen, weil ich wußte, daß es dumm war; wenn das Fieber vorbei war, wußte ich, daß es diese Linie nicht gab. Am Tag holte ich mir manchmal einen Stuhl, stellte mich drauf und betrachtete die Glühbirne. Natürlich gab es keine Linie. Aber in der Tiefe der Nacht, wenn das Fieber mich in seinen Klauen hatte und mein Pyjama schon steif war und nach Schweiß stank, wenn die Endlosigkeit mein Zimmer auffraß, war sie da. Die Linie, über die ich nicht gehen durfte. Also erzählte ich meiner Mutter nie davon, sie erfuhr es nie. Sie weiß es noch immer nicht. Seitdem habe ich oft versucht, diesen unglaublichen Fieberwahn wieder zu erlangen, die Kontrolle zu verlieren, Dinge zu sehen und zu fühlen, die ich normalerwei se nicht fühlen kann, die portugiesischen Fischer wieder zum Leben zu erwecken, und ich habe mich durchgearbeitet durch die übliche Teenager-Abfolge des Hirnmißbrauchs - Benylin, Acid, Alkohol, Lösungsmittel, Amylnitrat, was Sie wollen. Ich habe meinen heiligen Tempel damit verschmutzt, aber aus irgendeinem Grund konnte ich niemals dorthin zurückkehren, weder zu den Fischern noch zu dem Nichts. Mittlerweile passe ich auf mich auf, ich nehme kaum noch Drogen, jedenfalls keine, die mir das Hirn verbiegen, bloß ein paar Süßigkeiten, um mich am Leben zu erhalten, aber immer noch sehe ich stolz zurück auf meine abenteuerliche Jugend, ich erinne re mich freudig an einige dieser Wahnvorstellungen und frage mich, ob ... RRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRR... Was war das für ein Lärm? Teufel, was war los? Orientierungslosigkeit. Ich saß auf dem Flur, kauerte unter der Glühbirne, war wieder zehn Jahre alt. Ein wimmerndes, kotzendes Kind. Nein, war ich nicht. Sei nicht dumm. Wer sich umdreht oder lacht ... RRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRR... Was zur Hölle war los? Ich sah den Telefonhörer verlassen herumliegen, leise quoll Statik heraus. Komm schon, let the good times roll. Ich lag auf dem Boden, verschwitzt und verlassen. In meinem Mund ein fauliger Geschmack, eine Mischung aus Blut und Kotze. Und da war noch etwas ... Oh, ja. Genau. Ich atmete nicht mehr.
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19. Kapitel RRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRR... Scheiße. Ich krepierte. Ich tue gar nicht erst so, als wußte ich viel über die komplizierte Funktionsweise des menschlichen Körpers, aber ich weiß, daß es das war - wenn man aufhört zu atmen, dann ist die Zeit abgelaufen. Panik erfaßte mich. Ich hatte einen Kloß im Hals, er wuchs und quoll auf wie ein Gewehrlauf in einem BugsBunny-Cartoon, wenn jemand den Lauf verstopft und dann abdrückt. Ich schlug mir mit den Fäusten auf die Brust. Meine Lungen wollten explodieren, sie wollten aus meinem Körper platzen, über den Boden glitschen, die Fenster aufreißen und frische Luft schnappen. Meine Füße tanzten einen verrückten Fred Astair auf dem Parkett. Mein Kopf schwoll an wie ein Ballon ... Die Wirklichkeit wirbelte von mir weg, und das Zimmer zerbarst in die Atome, aus denen es bestand ... Komm schon, mach jetzt! Leben! Ich hustete, und ein Klumpen geronnenen Blutes und Kotze schoß mir aus dem Hals und klatschte seitlich gegen das Sofa. Sauerstoff erfüllte mich. Der folgende bren nende Schmerz in meinen Bronchien beeindruckte mich nicht mehr so sonderlich. Aber trotzdem vielen Dank. Ein kleines Häufchen Kotze trocknete auf dem Boden vor mir, und mehr davon fand sich auf der Vorderseite meines Hemdes. RRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRR... Außerdem hatte ich mich naß gemacht. Auf meiner Hose war ein dunkler, kalter, feuchter Fleck. Zitternd erhob ich mich, eine Marionette auf Krücken. Ich legte den Telefonhörer wieder auf die Gabel und wischte mir die Essensreste vom Hemd. Teufel, wenn ich nicht aufgewacht wäre, hätte ich vielleicht endgültig den Löffel weggeworfen, hier im dampfenden Schleim meiner Ausscheidungen. Ich versuchte mich an eine Zeit zu erinnern, in der ich wenigstens einen Rest Würde gehabt hatte, aber das schien unerreichbar fern zu sein. Tja, aber diesmal riß ich mich zusammen. Verdammt, wie lange war ich ohnmächtig gewesen? Ich schaute auf meine Uhr - vier Uhr dreißig. Der Himmel wurde bereits heller, ein paar Vögel in der Nähe fiepten nervig. Ich kroch ins Badezimmer, zog mich am Waschbecken hoch und begann mich zu waschen. RRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRR... Ich spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und drehte die Dusche an. Gerade wollte ich mich ausziehen, als mir klar wurde, daß das nervige Klingeln nicht in meinem Kopf stattfand, sondern von der Türklingel kam. Humpelnd erreichte ich das Wohnzimmerfenster, um zu erspähen, wer das war. Wenn es die Polizei war, wurde ich nicht öffnen, obwohl sie dann Mister Kitchen bestimmt schon in meinem Wagen gefunden hatten. Aber es war natürlich nicht die Polizei. Es waren meine beißgeliebten Eltern. Scheiße, mit denen mußte ich jetzt irgendwas machen. Wer wußte, was ihnen sonst noch alles an Hilfreichem einfiel? Ich kroch runter und öffnete die Tür. »Oh, mein Gott«, greinte Mutter. »Sieh dich nur an.« »Mir geht's gut.«
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»Ist dir klar, daß da jemand in deinem Wagen schläft?« fragte mein Vater. »Ja«, sagte ich. »Und glaubt ihr mir jetzt, daß es mir gut geht?« »Wer ist das?« »Geht wieder ins Bett. Was wollt ihr eigentlich hier?« »Ich dachte, dir wäre etwas Schreckliches zugestoßen«, sagte Mutter. »Wir haben eine Viertelstunde bei dir geklingelt«, sagte Dad. »Ich hab' geschlafen«, sagte ich. »Ich bin beim Telefonieren eingeschlafen. Tut mir leid. Mein Tag war sehr lang, und ... « »Du stinkst«, sagte mein Vater. »Wir bringen dich ins Krankenhaus«, sagte Mutter. »Vielleicht hast du eine Gehirnerschütterung. Du bist vielleicht . . . « »Ihr bringt mich nirgendwohin«, sagte ich. »Ihr geht jetzt heim ins Bett, und ich geh auch ins Bett.« »Deine Mutter glaubt, du steckst vielleicht in Schwierigkeiten«, sagte Dad. Ich lächelte. »Ich muß schlafen, das ist alles.« »Da ist doch irgendwas los.« »Bitte«, sagte ich. »Bitte . . . « Ich kniete mich hin und faltete meine Hände zum Gebet. »Bitte, geht wieder.« »Steh auf«, sagte mein Vater. »Du bist betrunken.« »Ich bitte euch«, sagte ich. »Laßt mich in Frieden.« »Oh, das ist lächerlich«, entgegnete mein Vater und ging rüber zum Saab. Mutter half mir auf die Beine. »Ich laß dich nicht allein«, sagte sie. »Ich könnte mir nicht ins Gesicht sehen, wenn ich jetzt heimfahre und dir dann etwas zustößt ... Hast du dich übergeben?« »Ich sehe schlechter aus, als es mir geht.« »Aber du benützt Krücken, und in deinem Gesicht sind diese Schrammen, und . . . « »Wer ist das?« fragte Dad und spähte in den Wagen. »Niemand«, sagte ich. »Ein Freund.« »Geht es ihm gut?« »Zur Hölle!« brüllte ich. »Mir geht es gut! Ihm geht es gut! Alles ist in Ordnung. Hab' mich nie besser gefühlt. « Das Geschreie mußte irgendwas in meiner Nase gelockert haben, weil ein frischer Blutstrom herausbrach und mir übers Gesicht lief. Ich preßte meinen Ärmel dagegen, um ihn zu stoppen. Dad betrachtete mich mit verstärktem Ekel. »Ging mir nie besser«, sagte ich. »Irgend etwas ist hier faul«, sagte er. »Du bist mir egal, aber wenn du in Schwierigkeiten steckst und es herauskommt, könnte es auch für mich Folgen haben. Ich werde nicht zögern, mit der Polizei zu kooperieren, ist dir das klar? Ich schreibe sehr erfolgreiche Ratgeber; wie würde es aussehen, wenn . ..« »Gut«, sagte ich. »Und was willst du jetzt von mir? Häh? « »Laß uns in die Notaufnahme fahren«, sagte Mum. »Okay«, sagte ich. »Ihr wartet hier. Ich hol' bloß ein paar Sachen, falls sie mich gleich dabehalten wollen.« Mum lächelte erleichtert. »Ich bin froh, daß du so verständig bist«, sagte sie. Ich ging wieder rein, schleppte mich keuchend die Treppe hinauf und holte die Schultertasche mit dem Werkzeug und dem Schlaf-Sandwich darin; dann zog ich mein größtes und schärfstes SabatierMesser aus der Kuchenschublade und ließ es ebenfalls hineinfallen. Nach dem Treppenabstieg war ich wieder bei meinen Eltern.
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»Also, dann mal los«, sagte ich und öffnete den Kofferraum. »Ich tu bloß meine Tasche hier rein ... Großer Gott!« »Was ist?« »Kommt, schaut euch das an.« Pflichtbewußt kamen sie und schauten. »Was sollen wir anschauen?« fragte mein Vater. »Schaut mal, wie groß der Kofferraum ist.« »Wenn das wieder einer deiner kindischen Witze . . . « »Man könnte zwei Leute da rein tun«, sagte ich. >ja, sehr lustig . . . « Ich holte das Messer aus der Tasche. »Einsteigen«, sagte ich. »Was?« »Steigt in den Kofferraum.« »Was redest du denn da?« »STEIGT IN DEN GOTTVERDAMMTEN KOFFERRAUM!« Ich schätze, ich machte ihnen Angst. »Vielleicht sollten wir es tun«, sagte Mum. »Ich steige da nicht ...« Ich legte das Messer an Dads Hals. »Steig ein, bitte, Dad. Ich muß etwas erledigen, und dabei dürft ihr mich nicht stören. Ich wollte nicht, daß es so abläuft, aber ich weiß nicht mehr weiter. Also steigt jetzt in den Kofferraum, dann ist es für uns alle viel einfacher.« Dad starrte mich lange an, dann stieg er langsam in den Kofferraum. Plötzlich sah er sehr alt aus, als wäre alles Leben gerade aus ihm entwichen. »Darling ... «, sagte Mum. »Hör mal, es tut mir leid«, sagte ich. »Ich kann's dir jetzt nicht erklären, aber glaub mir, es ist das beste, wenn ich euch in meinem Kofferraum einsperre.« »>Ein?< Wieso >ein« fragte Dad und half Mum herein. »Was?« »Du mußt nicht >ein< sagen. Was soll >ein< hier heißen? Du mußt uns nur in den Kofferraum sperren, nicht einsperren.« »Schnauze.« »Du hast mich dein Leben lang enttäuscht«, sagte er. »Ich weiß«, sagte ich und knallte den Deckel zu. »Was ist mit ihm los?« hörte ich meine Mutter fragen. »Wenn du mich fragst, er ist verrückt geworden«, sag te Dad, und ich riß den Kofferraumdeckel wieder auf. »Ich bin nicht verrückt«, sagte ich. »Ich hab' bloß einen schlechten Tag.« Damit knallte ich den Deckel wieder zu und stieg in den Wagen. Ich holte mir einen Joint aus dem Handschuhfach und zündete ihn an, dann saugte ich den Rauch zusammen mit kühler Nachtluft in meine Lungen, hielt ihn solange, wie ich konnte, und ließ ihn dann ausströmen. Und es war, als wäre ich schon tot, als wäre ich ein Geist und könnte durch Wände gehen und Dinge hören, die anderswo gesagt wurden. Als der Rauch mich ver ließ, begann ich zu schweben. Wir reden hier über eine außerkörperliche Erfahrung. Und ich hörte sie plappern, meine Eltern, sie quietschten wie Mäuse in meinem Kofferraum. Geburt, Windeln, Elternschule, Grundschule, weiterführende Schule, Masern, Windpocken, Mumps, mich in ihren Armen halten, meine Temperatur messen, meine Hand halten, mir das erste Paar
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Schuhe kaufen, so klein, meine Tränen trocknen, wenn ich hinfiel, meinen Hamster begraben, als er starb. All das, all das nun dafür. Quiek, quiek, quiek. Gute O-Levels, gute A-Levels ... Quiek, quiek, quiek. All das nun dafür. »Das reicht«, sagte ich. »Das reicht.« Ich ließ den Motor an und fuhr los. Langsam glitt ich die leere Straße entlang. Es war dunkel geworden, fette Wolken waren aus dem Nirgendwo gekommen und ballten sich am Himmel zusammen, sie töteten die rosige Dämmerung. Als ich um die Kurve fuhr, schaltete ich das Licht ein, und ein anderer Wagen kam direkt auf mich zu. Wir beide wichen aus, und ich sah ganz deutlich das Gesicht, das meine Scheinwerfer erhellten, die großen, erschrockenen Augen. Und er hatte mich auch erkannt. Es war Kitchens Bruder. Ohne jeden Zweifel. Ich trat mit meinem guten Fuß aufs Gaspedal und schaute in meinen Rückspiegel. Er hatte angehalten und wendete. Jetzt war ich mir sicher. Ohne mich um rote Ampeln zu kümmern fuhr ich so schnell davon, wie ich konnte. Ich raste Richtung Maida Vale, dann die St. John's Wood Road wieder hoch, am Lord's Cricket-Feld vorbei in die Prince Albert Road. Zweimal umkreiste ich den Park mit Höchstgeschwindigkeit, bevor ich sicher war, daß der verdammte Bruder mir nicht mehr an den Fersen klebte, dann fuhr ich den Portland Place runter zum West End. Ich weiß nicht, ob die ganzen Drogen, die ich genommen hatte, schließlich doch noch wirkten oder ob meine Schmerzmelder so überlastet waren, daß sie einfach den Geist aufgaben, jedenfalls wurde ich eingehüllt von einer warmen Taubheit, als hätte ich keinen Körper mehr. Ich war der Wagen, ich war damit verschmolzen, und ich war die Straße. Ich war direkt mit der Stadt selbst verbunden ... Ich war die Straßenlampen, die Gebäude, die Werbeplakate. Ich war London ... Herrgott, wenn ich nicht vorsichtig war, würde ich mich überall ausbreiten - Parminter Road, St. Johns Wood, London, England, Europa, die Welt, die Galaxy, das Sonnensystem, das Universum ... Alles würde ich sein. Ich mußte mich am Riemen reißen; wurde ich so groß, könnte ich dabei gleichzeitig so dünn werden, daß nicht viel von mir übrig bliebe. Ich entschied mich dafür, der Wagen zu sein. BRUMM. BRUMM. Jetzt, wo ich darüber nachdachte - vielleicht war es gar nicht Kitchens Bruder gewesen. Ich war mir überhaupt nicht mehr sicher. »Ich darf jetzt nicht durchdrehen«, sagte ich zu Kitchen. »Wir haben uns in die Haare gekriegt, was? Du und ich, heute. Oder? Hah? In die Haare! Also, wie wär's mit einer letzten Tour durch London, bevor du zu Asche wirst?« Kitchen entgegnete nichts, also ging ich davon aus, daß er keine Einwände hatte. »Schau dir das an«, sagte ich. »Wie groß es ist. Das ist eine Illusion, oder? Muß es einfach sein. London ist unmöglich. Es ist ein Traum ... Es kann gar nicht sein, daß eine Idee wie London funktioniert. Fast sieben Millionen Leute in einer Stadt. Eine Riesenstadt, tausendfünfhundert Quadratkilometer. Man könnte sich nicht hinsetzen und London einfach so erfinden, man würde
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schon an der Logistik verzweifeln. Meile um Meile Gullies, Tiefbau-Kabel, die U-Bahn, die Straßen, die Züge, die Busse. Die Leute, jeder vom anderen abhängig. All diese Leute, zusammengequetscht, das ganze System funktioniert wie eine Maschine. Man könnte wahnsinnig werden davon ... Die ganzen Galerien und Institutionen, die Orchester und Läden und Theater, die Clubs, Bars und Restaurants - Tausende und Abertausende von Restaurants. Was ist das für ein Ort? Es ist eine ganze Welt, es hat Hunderte von Jahren gedauert, London zu erschaffen, seit die Römer die Stadt an der schmalsten Stelle der Themse vierzig Jahre nach der Geburt Christi gegründet haben - ungefähr zu der Zeit, wo er gekreuzigt wurde. Londinium. Was ist seitdem daraus geworden? Einkassiert von Bankern, beherrscht von Leuten, die alle möglichen verschiedenen Sprachen sprechen, eine Mauer wurde drumrum gebaut, aber sie wurde größer und größer, breitete sich von der Altstadt aus, den Strand entlang nach Westminster, größer und gröber, wuchs über die Mauern, kleine Dörfer und Vororte wurden verschluckt, als London sich wie ein Pilz ausbreitete, schließlich, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert erst, kam ein bißchen Planung hinzu, als die öffentlichen Plätze und die großen öffentlichen Gebäude installiert wurden. Man hat die Stadt bombardiert und niedergebrannt und neu geplant und wieder neu geplant, tolle Gegenden wurden zu Slums, doch plötzlich lagen sie wieder im Trend, Hochhäuser wuchsen und zerfielen ... Docklands, die City, der Nat West Tower, das East End, Limehouse und Whitechappel, Wapping ... Manchmal vergißt man das, oder? Wenn man hier lebt. Man vergißt, was für ein Ort London ist, man vergißt, wie außergewöhnlich es ist, hier zu leben, daß man diese Sehenswürdigkeiten in der ganzen Welt kennt, Trafalgar Square, Buckingham Palace, die Houses of Parliament, die Albert Hall, St. Paul's, den Tower, Tower Bridge, Picadilly Circus. Und dann diese Geschichten. Es gibt Noel Coward und Sherlock Holmes, Jack the Ripper, Dick Whittington und Paul Raymond, Charles der Erste wurde in Guildhall geköpft, es gibt Oscar Wilde und Gladstone, Pitt den Alteren, Pitt den Jüngeren, Watt Tyler, Charles Dickens, Ally Pally, die BBC, Samuel Pepys, die Great Plague, die Sex Pistols, Dan Leno, scheiße, hör mir zu. Alles da, Mister Kitchen, alles auf deiner Rundfahrt, alle Statuen und blauen Plaketten, die goldbeschlagenen Straßen, die Fußballclubs, Tottenham, Arsenal, Millwall, Fulham, Chelsea, Crystal Palace, QPR, West Ham ... Schau, da ist Admiralty Arch, Charing Cross Station, da steht Nelson auf seiner Säule ... unmöglich, was? Aber alles ist hier, das West End, Oxford Street, Regent's Street, High Street Kensington, Knightsbridge, Chelsea ... Und die Parks, Hyde Park, St. James's Park, Regent's Park, Hampstead Heath, du könntest ein Leben hier leben, und doch nie alles sehen, nie alle Museen besuchen, alle Kunst-Galerien,. . . all die Kirchen und Tempel ... Die Muslime und die Juden und Hindus und Buddhisten und Atheisten und Agnostiker, und die Unglaubigen, die Gospel-Sänger, die Evangelisten, die Scientologen, die Russen, die Spanier, die Chinesen, die Inder, die Pakistanis, die Iren, die Griechen, die Türken, die WestInder, die Afrikaner, die Polizei, die Krankenhäuser, Krane und Bagger, Geburten und Todesfälle und Tragödien. Die Stadt schläft jetzt, aber sie schläft nicht, sie schläft nie, Lichter leuchten die ganze Nacht, Wagen fahren durch die Straßen, es spielt Musik, Menschen arbeiten, Telefone klingeln. Und wir ... Wir sitzen in meinem Wagen, ganz in der Mitte von all dem, das sich nur um uns dreht ...
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Was wäre, wenn ich das alles anhalten könnte? Wenn es still und dunkel und alle Bewegung enden würde? Es wäre, als könnte ich die Weltkugel anhalten, könnte den Planeten dazu bringen, sich nicht mehr zu drehen. Es wäre, als würde die Zeit anhalten. Shepherd's Bush, Chiswick, Richmond, Kingston, Clapham, Brixton, Deptford, Greenwich, Wollwich, New Cross, Hackney, Islington, Camden, Highgate ... Und was, wenn die Kiefer des Wolfes den Himmel und die Erde erreichen? Sie schließen sich an diesem Ort, von den Zähnen tropft Blut, der Blitzkrieg, alles fliegt in die Luft, die Silhouette von St. Paul's vor einem Flammenmeer, das Heulen der Sirenen, das Schreien von sieben Millionen Menschen, Hände auf Hupen, Abgase steigen wie Rauch in den Himmel. In einen schwarzen Himmel. Soho, Mayfair, Southwark. Das Embankment. Jetzt fahren wir nach Westen. Südlich vom Fluß? Kein Problem, Alter. Ich kann überall hin. Eine Stadt, die von ei nem Fluß geteilt wird, an seiner schmalsten Stelle zwar, aber er ist nicht schmal genug ... Wir näherten uns dem Ende, ratterten-Richtung Battersea, Richtung Brennofen. Kitchen sagte nicht viel, also stellte ich das Radio an ... »Nun, es ist eine warme, klare Nacht, und es sieht so aus, als würde uns dieses angenehme Wetter noch erhalten bleiben.« »Ihr habt doch keine Ahnung!« brüllte ich, knallte ein Tape rein und schaute hoch zum schwarzen Himmel. »Ihr glaubt alle, ihr wußtet, wovon ihr redet, aber ihr seid bloß kopflose Hühner. Ihr seid Phantome, ihr seid kaum geboren, da weht ihr schon mit dem Wind davon. Konfetti!« »They call me Mister Lucky, bad Juck can't do me no wrong ...« Eine Warnlampe leuchtete am Armaturenbrett auf. Ich schaute auf die Benzinanzeige. Leer. Leer. Nun, dann würden wir eben mit meiner Wut weiterfahren, mit dem Benzin in mir, mit Schmerz als Additiv. Mein Wille würde uns _fahren lassen. Los. Los. Los. Fuß runtertreten. Unverwundbar. Hoiotoyo! »Und los geht's, Kitchen. Das war's, Alter. Anfang, Mitte, Ende. Das Nichts umarmt eifrig die Ewigkeit.« Und als das Benzin absolut endgültig alle war, kam ich schlitternd vor meinem BunkerAtelier zum Stehen.
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20. Kapitel Ich stieg aus dem Wagen. Gedämpfte Schreie und Schläge tönten aus dem Kofferraum, aber die ignorierte ich. Ich nahm meine Schultertasche und ging rüber zum Haus, dann holte ich das Sandwich heraus. Ich warf es über die Mauer in das Revier des Höllenhundes und wartete . . . Es folgte eine grausame Stille; die Luft schien sich zu verfestigen, nicht mal irgendwelcher Müll flatterte über den Boden. Es war, als wäre es geschehen - die Welt hat te aufgehört, sich zu drehen; sie versuchte zwar noch, sich zu drehen, Dinge wollten geschehen, aber der Motor klemmte und überhitzte. Die Zeit war dabei, sich selbst zu verbrennen. Es war still; die dichte, stehende Luft blockte jedes Geräusch aus. Ich fühlte mich so, wie ich mich gefühlt hatte, als ich nach Luft rang, in dem Augenblick, wo ich geglaubt hatte, keine Sekunde länger mehr leben zu können, gefangen und isoliert in meinem Körper, ein fernes Summen in den Ohren, Druck hinter den Augenlidern, die am liebsten platzen wollten ... Ein Klatschen, dann noch eines. Große, schwere Regentropfen, angeschwollen und krank vor Fülle, gingen um mich herum nieder, wassergefüllte Kondome, die ein dummes Kind vom Dach warf. Klatsch, klatsch, klatsch. Einer traf mich ins Gesicht, warm und stechend. Ein paar weitere Tropfen folgten, dann kam der blendende Blitz, der ganze Himmel leuchtete hell, die umliegenden Hauser wurden von dem weißen Licht flachgedrückt, sie sahen aus, als wären sie bloß Teil einer riesigen Filmkulisse. Dann, zwanzig Sekunden später, das Röhren des Donners. Finden Sie es nicht auch ärgerlich, wenn in Filmen Sie wissen schon, in Horrorfilmen - der Donner und der Blitz gleichzeitig kommen? Das passiert nur, wenn das Gewitter direkt über einem ist, und auch dann nur ein oder zwei Blitze lang, bevor es weiter zieht. Tatsächlich sind die beiden immer getrennt, und irgendwie wirkt das stets noch beängstigender. Der verwirrende Blitz, und dann das lange, unsichere Warten auf den Donner, als wäre alles auseinandergerissen, nicht mehr synchronisiert. Und wenn der Donner kommt, kommt er im Dunkeln. Es knistert und zischt, und dann donnert dieser tieffliegende Baß durch die Luft. Es war eine ohrenbetäubende Explosion, das erste Donnern des Donners, es brach in diese schreckliche Stille hinein, und dann schüttelte es alles wieder frei. Die Welt begann, sich wieder zu drehen. Die Lautstärke wurde hochgefahren. Der Himmel riß auf, und der Regen stürzte als dichter, unnachgiebiger Wasserfall herunter. Er zischte und klatschte auf den Boden, und er riß den Smog mit sich, den ganzen Dreck, der in die heiße Luft aufgestiegen war, beißend satt; ein fauliger, trockener, giftiger Gestank. Nach Sekunden war ich durchweicht und taumelte umher wie ein Mann unter Wasser. Ich kämpfte mich zurück zum Wagen und suchte Unterschlupf, langsam sah ich den Minutenzeiger auf der Armaturenbrettuhr vorwärts kriechen. Ich wollte, daß es vorbei war. Der Regen nahm nicht ab, und als ich solange gewartet hatte, wie ich warten konnte, ohne wahnsinnig zu werden, ging ich wieder hinaus in den Sturm und zu der Mauer. Dort warf ich zuerst die Krücken hinüber und begann dann zu klettern, wobei ich versuchte, mich an den regennassen Ziegeln festzuhalten. Ich klammerte mich an sie, brach mir die Nägel ab, versuchte Halt mit meinem einen guten Fuß zu finden. Schließlich gelang es mir,
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mich mit beiden Händen oben an der Mauerkrone festzukrallen, und ich zog mich hoch, ich keuchte und grunzte, ich rang nach Luft, das Wasser lief mir übers Gesicht, es füllte meinen Mund und meine Nase, es ließ mich blind werden. Ich lag oben auf der Mauer und glotzte hinunter in den Hof. Der Scheinwerfer an der Seite des Gebäudes tauchte alles in ein harsches, schwefliges Gelb - die grauen Wände, die eiserne Feuertreppe, den herunterstürzenden Regen, den Betonboden voll mit vermodernden Haufen Hundescheiße. Da lagen meine Krücken, einen Meter auseinander, drei Meter vom Fuß der Mauer entfernt. Keine Spur vom Sandwich und dem Höllenhund. Ich betete zu Gott, daß er das Ding gefressen hatte, daß er sich schlafend zusammengerollt hatte, das er Schutz vor dem Regen gesucht hatte, daß er mich nicht bemerken würde, daß er lieber trocken blieb, als einen armen Schlucker wie mich zu jagen. Ich betete zu Gott. Weil ich ganz sicher wußte, daß es einen gab. Das Universum konnte nur dann so im Arsch sein, wenn irgend jemand dafür verantwortlich war, der glaubte zu wissen, was er tat, irgendein riesiger, nutzloser, fetter Bürokrat mit einem patentierten System. All das, was hätte funktionieren sollen, aber nicht funktionierte, waren der Beweis dafür, daß irgendein Arschgesicht an dem ganzen Mist herumpfuschte. Geburten, Rasierapparate, Sekundenkleber, die Vereinten Nationen, diese billigen Schraubenzieher, die aus Dosenblech gemacht zu sein scheinen und die sofort verbiegen, wenn man sie benutzt, deren Köpfe schon abgenudelt sind, bevor man sie auch nur auf eine Schraube ansetzt. Vielen Dank dafür, Gott. Und vielen Dank auch für Buchclubs, private Rentenversicherungen, Aromatherapie, Demokratie und die freie Liebe. Und am allermeisten Dank für diesen gottverfluchten Wachhund, der möglicherweise immer noch dasitzt und auf mich wartet. Aber ich hatte mich entschieden. Eilig ließ ich mich auf der anderen Seite der Mauer herunter, bevor ich Zeit hatte, es mir wieder auszureden. Das letzte Stückchen mußte ich springen, und weil ich versuchte, auf einem Bein zu landen, rutschte ich auf dem nassen Beton weg und streckte instinktiv mein anderes Bein aus, um mich abzustützen. Es knickte weg, der Schmerz knallte direkt in mein Rückgrat und in meinen Schädel. Weinend saß ich in einer Pfütze. Und dann hörte ich über das Rauschen des Regens hinweg ein Knurren. Ich hatte keine Zeit, aufzustehen und mir die Krücken zu holen; ich rappelte mich auf und begann, über den Hof zu laufen. Es waren vielleicht acht Meter bis zur Feu ertreppe, aber hopsend, rutschend und humpelnd kam ich nur verzweifelt langsam voran. Hinter mir hörte ich den Hund, seine Krallen ratschten über den Beton, sein Knurren wurde zu einem Grollen. Wäre nicht der gebrochene Fuß gewesen, hätte ich es vielleicht geschafft. Wer weiß? Aber im letzten Augenblick, nur noch Zentimeter von der Leiter entfernt, mach te ich einen Fehler. Ich sah mich um. Ich mußte einfach. Mein Rücken kribbelte, er war verspannt, er wartete darauf, daß der Hund sprang. Ich mußte wissen, wie nah er war. Ich mußte ihn kommen sehen. Und das tat ich. Gerade als ich mich umschaute, blitzte es. Ich sah diese große schwarze Form, groß wie eine Kuh, die auf mich zuflog, die schwarzen Augen glänzten, die Zähne waren weit auseinandergerissen und hellweiß. In meiner Angst rutschte ich in Hundescheiße aus und stürzte, gerade als der Hund mit der Kraft eines
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Autos gegen mich krachte. Ich fiel rückwärts, rückwärts und abwärts. Lag flach da. Mein Kopf wippte zurück und knallte auf den Boden. Ich spuckte und wurde gleichzeitig ohnmächtig. Nur einen Augenblick war ich weggetreten, und als ich wieder zu mir kam, rumpelte der Donner über den Himmel, und der Hund zerrte mich über den nassen Boden. Er hatte mich an der rechten Schulter gepackt und schüttelte mich wie eine Ratte. Ich schätze, ich habe geschrien - obwohl in meinem Blut soviel Adrenalin und soviele Chemikalien umherfluteten, daß ich mit Schmerz gar nicht mehr viel am Hut hatte -, jedenfalls lenkte der Lärm den Hund ab. Er ließ meine Schulter los. Ich dachte, jetzt wäre ich frei, aber bevor ich aufstehen konnte, fuhr sein Riesenkopf auf seinen breiten Schultern herum und er grub seine Zähne in mein Gesicht. Ich hörte auf zu atmen, ich glaubte, mein Herz hätte den Dienst eingestellt, aber ich war immer noch am Leben. Das Maul des Hundes umklammerte mich wie eine Sauerstoffmaske, seine Zähne gruben sich in meine beiden Wangen. Ich schaute ihm direkt in seinen Hals und erstarrte, und der Hund erstarrte ebenfalls. Er stand einfach da und hielt mich im Maul. Er wirkte ruhig und geduldig, wie ein Hund, der mit einem Stock im Maul darauf wartete, daß sein Herrchen ihn ihm wegnahm. Es lag keine Wut in seinem Verhalten, keine Angriffslust. Er war cool und kontrolliert. Er keuchte, sein fauliger Atem heiß in meinem Gesicht, seine Zunge zuckte rhythmisch auf und ab, er leckte mich, er bedeckte mein blutendes Gesicht mit Sabber. Ich konnte seine Zähne über die Knochen schrammen spüren und begann zu zittern. Ich wußte, daß ich kurz davor war, wieder ohnmächtig zu werden, und diesmal würde ich vielleicht nicht wieder aufwachen. Mühsam hob ich meine Hände und versuchte, die Kiefer auseinanderzubiegen, doch der Hund knurrte eine Warnung und biß fester zu. Ich hörte auf. Es war sowieso sinnlos; ich hätte genausogut versuchen können, die Kiefer eines steinernen Löwen auseinanderzubiegen. Wieder knurrte er leise. Ich konnte den Laut tief aus seinem Innern kommen hören. So konnte ich es nicht enden lassen, ich wollte nicht zwischen den Kiefern irgendeines dämlichen Tiers verenden. Also ignorierte ich das Knurren, hob wieder meine Hände und tastete über seinen Kopf, bis ich die beiden Augen gefunden hatte. Dann nahm ich all meine Kraft zusammen und drückte seine Augen so tief rein, wie es ging. Der Hund grunzte und kläffte und zuckte mit dem Kopf, er riß das Maul auf und schleuderte mich zur Seite. Ich hatte den Hund nicht verletzt, aber es hatte gereicht, damit er mich losließ. Ich krabbelte in Richtung Leiter, rutschte durch die Hundescheiße am Boden, die ganze Zeit erwartete ich, seine heißen Zähne in meinem Nacken zu spüren, aber ich schaffte es. Ich erreichte die unterste Stufe und zog mich hoch auf die Leiter. Dann schaute ich zurück. Der Hund war mir nicht gefolgt; er spielte mit irgend etwas, etwas Fleischigem, Lappigem. Ich hob meine Hand dahin, wo meine Nase hätte sein sollen, und mir wurde klar, daß der Hund sie abgerissen hatte. Er kaute jetzt daran herum, warf sie hierhin und dorthin, seine Zähne klackten schlabbrig aufeinander. Mühsam krabbelte ich die Feuerleiter hoch, bis ganz nach oben, und versuchte, nicht an den schrecklichen Anblick des Hundes zu denken, der gelassen meine Nase fraß.
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Am oberen Ende der Leiter war die Tür, und ein Blitz zeigte mir plötzlich mein Spiegelbild im Fenster. Ich würgte und fuhr zurück. Meine Oberlippe und der Groß teil meiner Nase waren verschwunden. Bewußtlosigkeit und Übelkeit schlugen über mir zusammen, aber ich kämpfte. Vergiß es einfach. Du mußt bloß Kitchen loswerden. Ich schien nicht so stark zu bluten, wie ich erwartet hätte, aber trotzdem verlor ich zuviel Blut. Ich nahm meine Schultertasche ab, dann zog ich mein mitgenommenes, dreckiges Leinenjackett aus, schlüpfte aus meinem ohnehin zerrissenem Hemd und wickelte es mir ums Gesicht. Das erinnerte mich daran, daß der Hund mich in die Schulter gebissen hatte, und ich sah mir das an. Er hatte ein großes Stück Fleisch herausgerissen, aber auch das blutete nicht so sehr. Glücklicherweise konnte ich den Arm immer noch benutzen, obwohl ich fühlte, wie er steif wurde. Also weiter. Ich holte den Hammer aus der Schultertasche und schlug das Fenster ein. Die Alarmanlage ging los. Ein langes, monotones Heulen drang durch die zischende Nachtluft. Ich mußte das Ding ausschalten, bevor die Lämpchen in der lokalen Polizeiwache aufleuchteten. Mach schon. Mach schon. Ich holte Terrys Schlüssel raus und fand den, den ich brauchte, dann streckte ich meine Hand durch das zerschlagene Fenster und tastete nach dem Vorhängeschloß. Mach schon. Ich fand das Vorhängeschloß und zitterte den Schlüssel hinein. Einen Augenblick später klickte es auf, und ich löste die Kette von dem Riegel an der Tür. Komm schon. Los. Ich zog den Riegel in meine Richtung, und die Tür sprang auf. Ich war drin. Weitermachen. Das erste, was ich jetzt tun mußte, war, die Alarmanlage am Fuß der Treppe auszuschalten. Also ging ich runter, taumelnd und schwankend. Auf halbem Wege rutschte ich und stürzte; ich rollte die halbe Treppe hinunter, mein Kopf dengelte über die Betonstufen. Den Rest des Weges kroch ich. Unten am Boden schaffte ich es irgendwie, wieder aufzustehen und die Alarmanlage mit Terrys Schlüssel zu öffnen. 1-2-8-0 Ich drückte die Nummern in der Reihenfolge ein. Gnädige Stille. Aber war ich schnell genug gewesen? Die Polizei konnte durchaus schon mit Sirenen und Blinklichtern hierher unterwegs sein. Nur nicht daran denken. Ich lehnte mich gegen die Mauer. Wasser und Blut tropfte auf den Steinboden. Dieser gottverfluchte Scheißhund. Ich hoffte, daß mein Gesicht ihn vergiftet hatte. Jetzt mußte ich die Treppe wieder hoch. Nicht dran denken. Stufe um Stufe. Ich klammerte mich am Geländer fest und zog mich hoch. Eine Stufe, nächste Stufe. Hoch. Hoch. Hoch, bis ich wieder oben war. Ja, ich konnte es schaffen. Gesichtslos, blutleer, zerschlagen, ich konnte es trotzdem schaffen. Jetzt konnte mich nichts mehr aufhalten.
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Ich schloß die Tür zum Atelier auf und ging hinein. Der Ofen lief auf voller Kraft, röhrte und klickerte, sein rotes Leuchten erhellte die hohen Wände. Es blitzte, und ich sah Pluto im weißen Licht, seine großen Augen lebten. Das jüngste Gericht. Welch albernes Schicksal. Und diese ganze großartige Show drehte sich irgendwie um mich. Der finale Fehler der Wettervorhersage. Ich schaltete das Licht ein - da waren meine Schlüssel, sie hingen an einem Nagel an der Tür. Ich packte sie, taumelte rüber zum Lastenaufzug, kurbelte die Tür hoch und schaltete den Motor ein. Jetzt ging alles schnell, ich war zu Hause, in meiner Welt. Ein begabter Profi. Hastig drückte ich den Abwärts-Knopf. Langsam rollte das Stahlseil heraus, der Haken senkte sich zum Parkplatz. Als er unten war, ließ ich ihn weitersurren, bis die ganze Länge abgerollt war, dann drückte ich auf den Stop-Knopf und bereitete mich auf den nächsten Schritt vor. Die großen Doppeltüren, müssen Sie wissen, konnten nur von außen geöffnet werden. Das war mir klär geworden, als ich äm Fuß der Treppe geständen hätte. Also blieb mir nur eines übrig. Ich zog mir ein paar schwere Arbeitshandschuhe än, lehnte mich raus und packte das Seil, dann schwang ich mich in die regennasse Nacht. Mit den wenigen funktionierenden Teilen meines Körpers klammerte ich mich än das Kabel und glitschte herunter. Das Kabel war näß vom Regen und meine Handschuhe begännen zu rutschen, also ging es ruckartig abwärts. Die letzten Meter fiel ich, aber irgendwie schaffte ich es, auf meinem guten Bein zu landen und über den Parkplatz zu meinem Wägen zu hopsen. Ich weiß nicht, aus welchen Energiespeichern ich mich speiste - ich war ein Roboter, ein gottverdammtes kopfloses Huhn. Ich öffnete die Beifahrertür. Kitchens Augen ständen offen; er war kreidebleich, bestimmt hätte er kein Blut mehr im Körper. Wie eine Wachspuppe. Unwirklich. Der Schnitt in seiner Halsbeuge kläffte weit, war aber eigenartigerweise nicht ekelhaft. Ich packte das Ende des Seils, wickelte es ihm um den Hals und hakte es ein, dann löste ich seinen Sicherheitsgurt. Hopsend bewegte ich mich zu der Doppeltür und schloß sie auf, dann krabbelte ich Stufe um schmerzvolle Stufe die drei Stockwerke zum Atelier wieder hoch. Ein Besen lehnte än der Wand, und ich benutzte ihn als provisorische Krücke, um wieder rüber zu der Winde zu gelängen. Dort ließ ich den Motor än und schaute zu, wie Kitchen äm Hals langsam aus dem Wägen gezogen wurde, über den Asphalt und dann hoch in die Luft; er hing da wie eine Leiche am Galgen. »Ich hab's dir gesagt«, knurrte ich. »Ich hab' dir gesagt, ich würde dich hängen. Ich würde dich kaputtmachen. Wink London noch ein letztes Mal zu, von hier oben ist es ein hübscher Blick.« Endlich war er oben und schwang vor mir. Ich versuchte, die eiserne Plattform rauszuschieben, um ihn darauf hinunterzulassen, aber es war vergebens; ich konnte sie keinen Millimeter bewegen. Also versuchte ich, ihn mit dem Besen hereinzuziehen. Beim drittenmal erwischte ich ihn und zog ihn rüber zur Offnung; es gelang mir, meine Arme um ihn zu schlingen. Und dann passierte etwas. Er zuckte zusammen. Große Scheiße. Lieber Gott. War es möglich, daß dieses Sackgesicht immer noch lebte und bis zum Ende gegen mich kämpfte? Das war wirklich ein hartnäckiger Drecksack. Er war erstochen, zusammengeschlagen und mit einem Spaten fast geköpft worden. Er war erstickt, gebissen, in den Arsch geschossen und aufgehängt worden - und er lebte immer noch.
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Oder war es einfach bloß ein Muskelreflex? Ich hatte keine Zeit, das rauszufinden, denn mit dem Zucken seines Körpers kam ich aus dem Gleichgewicht, mein schlimmes Bein gab nach, und ich kippte aus der Luke. Glücklicherweise konnte ich mich an ihm festhalten, und so hingen wir beide fünfzehn Meter über dem Boden. Ich hing an Kitchens Hals. Jetzt schnitt das Seil sehr eng ein, es preßte sich in den Spatenschnitt. Ich versuchte, uns zurückzuschwingen und strampelte verzweifelt herum, aber es gelang mir bloß, den Halt zu verlieren und an seinem Körper herunterzurutschen. Tiefer und tiefer rutschend klammerte ich mich an seine regennassen Klamotten, bis ich an seinen bestrumpften Füßen hing. Wie lange würde es dauern, bis das Seil ihm den Kopf abriß? Ich erinnerte mich an Carries Baby, an den Arzt, der es mit aller Kraft am Kopf herausgezerrt hatte. Jeden Augenblick konnte die Polizei erscheinen und mich in dieser doch etwas belastenden Situation finden. Ich brüllte und zwang mich zu einem letzten verzweifel ten Versuch, an ihm wieder hochzuklettern. Mein letztes bißchen Kraft explodierte wie bei einem Gewichtheber, der ein unmögliches Gewicht reißt ... Und ich schaffte es. Ich krallte mich in seine Hosenbeine, seine Jacke, und schließlich erreicht ich das Seil an seinem Hals. Ich wußte, woher meine Kraft jetzt kam. Mein Ego. Kraftvoller als Blut. Dasselbe Ego, das Kitchen noch am Leben gehalten hatte, als er schon längst hätte tot sein sollen. Jetzt mußte ich es nur noch bis zum Arm der Winde schaffen, und dann rüber zum Haus. Ich streckte die Hand aus, und Kitchen zuckte wieder; sein Körper krampfte sich zusammen und drehte sich, und ich rutschte. Meine Finger suchten nach Halt, und schließlich hakten sie in etwas fest. Ich schaute auf, um zu sehen, was das war. Es war die Innentasche seines Jacketts. Die wur de gleich reißen, ich mußte einen besseren Halt finden. Aber als ich mich gerade darauf vorbereitete, den Griff zu wechseln, sah ich etwas aus der Tasche ragen. Ein Portemonnaie. Nein. Nein, das konnte gar nicht sein. Doch nicht ein Portemonnaie! Hatte dieses Schwein mir die ganze Zeit verschwiegen, daß es Geld bei sich trug? Das ich so nötig gehabt hätte! Nein. War wirklich Geld in diesem Portemonnaie? War dieses ganze grausame Hin und Her für nichts und wieder nichts gewesen? Unter anderen Umständen hätte ich vielleicht gelacht. Ich wußte, daß ich das Portemonnaie vergessen und mich darauf konzentrieren sollte, einen besseren Halt zu finden, aber jetzt brauchte ich einfach Klarheit. Langsam riß die Tasche ab, mehr und mehr von dem Portemonnaie war zu sehen. Ich ließ mit einer Hand los und griff danach, dann gab die Tasche völlig den Geist auf, und ich rutschte wieder bis zu seinen Füßen. Wenn er Schuhe angehabt hätte, wäre es mir vielleicht gelungen, einen Halt zu finden. Aber er trug keine Schuhe, nicht wahr? Ich trug sie.
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Scheiße. Das einzige, wonach ich greifen konnte, waren seine Socken, doch die rutschten langsam, langsam von seinen Füßen. Ich fiel mit dem Regen. Mein Leben wollte vor meinen Augen vorbeiziehen, aber weil mein Gedächtnis nicht das beste ist, war das Ergebnis ziemlich dürftig. Vor allem portugiesische Fischer und Mikos blasser Körper tauchten im Mondlicht vor mir auf. Wenn das ein Film gewesen wäre, hätte ich mein Geld zurückverlangt. Mir wurde klar, daß ich immer noch das Portemonnaie festhielt, und im Fallen öffnete sich es. Ein Bundel Geldscheine flog heraus und umschwirrte mich. Das nächste, was ich weiß, war, daß ich tiefer stürzte, mit den Füßen voran. Mein Körper wurde zusammengestaucht, zusammengefaltet. Ich wurde kleiner, wie eine Cartoon-Figur, und zerkrümelte am Boden. Irgendwo in der Ferne hörte ich eine Polizeisirene, sie kam näher und näher, und ich konnte auch meine Eltern im Kofferraum hören, wie sie schrien und klopften. Jetzt war auch mein gutes Bein zerschmettert, und ich schätze, mein Rückgrat war ebenfalls hinüber, weil ich keinen Muskel mehr bewegen konnte. Ich fühlte mich völlig schmerzfrei. Wie ein Kind in einem warmen, weichen Bett. Der Hund hatte irgendwas mit den Nerven in meinem Gesicht angestellt, denn ich konnte meine Augen nicht mehr schließen, also lag ich einfach da und schaute in den schwarzen Himmel. Der Regen fiel auf mich nieder, ein paar Geldscheine flatterten herab, und Mr. Kitchen schwang an seinem Galgen. Es knirschte - und dann sah ich ihn tiefer sacken. Mir wurde klar, daß er auf mich fallen würde, wenn sein Kopf abriß. Er würde wie ein Blitz auf mich herniedergehen und mich ins Jenseits befördern. Nach all dem, was mir zugestoßen war, hatte ich nicht vor, mich von einer Leiche töten zu lassen. Ich mußte hier weg, weg aus der Aufschlagzone. Immer noch war ein kleines bißchen Leben in mir, und ich befahl jedem noch funktionierendem Teil meines Körpers, sich zu bewegen, mich rücklings über den nassen Boden zu schieben. Wie eine Schlange, die von einem Auto überfahren worden war, glitt und schlurfte ich voran, Millimeter um Millimeter, meine vollgeregneten Augen fixierten das Ding über mir. Hätte jemand zugesehen, hätte er möglicherweise keinerlei Bewegung ausmachen können, aber ich bewegte mich, ich schob mich mit den Haaren auf meinem Rücken weiter, mit dem Zucken meiner Haut ... Was für ein Tag. Was für ein herrlicher Tag. Und daß alles hier endete, jetzt, und dazu der Regen, der nicht mal vorhergesagt worden war, das pißte mich an. Ich krabbel te, ich wartete, ich konnte meine Augen nicht zumachen und die Strafe, die über mir hing, ausblenden, ich krabbelte, ich schleimte, ich bewegte mich, ohne mich zu bewegen, ich war am Leben, ohne am Leben zu sein, ich trieb in einem Meer aus Geräuschen - dem Bellen des Höllenhundes, dem Heulen der Polizeisirenen, dem Krachen des Donners, dem Geschrei meiner Eltern, dem Quietschen der Winde, dem Prasseln des Regens, für immer und immer, unveränderbar, bis in alle Ewigkeit, bis die Hölle zufriert, immerfort, immerfort, und gottverdammt immerfort ...
AMEN
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