Fibi Abdel Missih Saleb
Meine Begegnung mit Christus
Meine Begegnung mit Christus Von Fibi Abdel Missih Saleeb vormal...
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Fibi Abdel Missih Saleb
Meine Begegnung mit Christus
Meine Begegnung mit Christus Von Fibi Abdel Missih Saleeb vormals Nahed Mahmoud Metwalli
Aus dem Arabischen ins Englische übersetzt von Gamal Scharoubim, aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Marie Elisabeth Seriki
Einige Namen von Personen, die in diese Geschichte verwickelt sind, sind entweder weggelassen oder geändert worden.
2. Auflage 1999 © Miriam-Verlag • D-79798 Jestetten ISBN 3-87449-257-5
Inhaltsverzeichnis
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erklärung der Verfasserin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ich war . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Meine Begegnung mit dem Herrn 3. Die Vision . . . . . . . . . . . . . 4. Das wunderbare Werk Gottes . . . 5. Meine Wanderung mit dem Kreuz 6. Gesucht und gejagt . . . . . . . . 7. Der Auszug aus Ägypten . . . . .
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Zum Lobpreis Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung Die Autorin wurde als Muslime geboren. Sie führte ein typisches traditionelles islamisches Leben, war geprägt von frommer Verpflichtung zum Islam und einem tief sitzenden Mißtrauen gegenüber dem Christentum und den Christen, die sie als Polytheisten ansah, weil sie an drei „Götter“ glauben, nämlich den Vater, den Sohn und den Heiligen Geist. Als der Herr ihr brennendes Verlangen, Ihn kennenzulernen, sah, offenbarte Er sich ihr in einer Vision. Diese Erfahrung brachte sie dazu, an Christus zu glauben und Ihn als ihren Erlöser zu verkündigen. In diesem Buch beschreibt sie ihre Erfahrungen mit unserem Herrn Jesus Christus, die Ereignisse, die sich daraus ergaben, und erreicht den Höhepunkt in der Flucht aus ihrem Heimatland Ägypten, gerade dem Land, das Christus beherbergte, als Er als Kind vor Herodes fliehen mußte. Die Einzelheiten, die die Verfasserin beschreibt, sind wahrheitsgetreu. Sie sind kein Produkt der Phantasie oder der Verschönerung. Wir haben sie hier in ihrer Gesamtheit übersetzt. Die einzigen Ausnahmen sind einige Namen von Personen, die wir – aus Sorge um ihre Sicherheit – mit Billigung der Autorin entweder weggelassen oder geändert haben. Es ist weder unsere Absicht, durch das Veröffentlichen dieser Erinnerungen eine Religion mit der anderen zu vergleichen, noch ist es unser Ziel, dumme und unfruchtbare Diskussionen anzufachen, mit denen man nichts erreicht als Ärgernis zu erregen. Wir wollen in diesem Buch den Leser auf die wahren Geschehnisse einer Frau aufmerksam machen, die gegen das Christentum eingestellt war und auf wunderbare Weise dazu gelangte, Christus anzubeten. Dies alles geschah ohne menschliches Zutun. Es bleibt dem Leser überlassen, sich sein eigenes Urteil zu bilden oder seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Wir bitten den Herrn, daß diese Erinnerungen Segen in das Leben derer bringen mögen, die sie lesen, und sie mit Dank und Freude erfüllen mögen. Möge Er uns alle zu der einen Wahrheit führen und zum ewigen Leben.
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Erklärung der Verfasserin Im Namen des Vaters Und des Sohnes Und des Heiligen Geistes, Ein Gott. Amen. Gepriesen sei der Herr, unser Gott, der mir als einem Menschen, der Ihn früher verfolgte, die Gnade erwies, den Glauben zu verkündigen, den ich vorher abgelehnt hatte. Ehre sei Gott, dem Vater, und unserem Erlöser Jesus Christus, dem, der uns in Drangsal tröstet; dem, der seine demütige Dienerin zu einer Quelle des Trostes für Sie (den Leser dieser Zeilen) werden läßt, nicht auf Grund meiner Rechtschaffenheit, sondern durch die Gnade Gottes, die Er mir Ihretwegen erwiesen hat. Loben und preisen Sie immer den Herrn und denken Sie an mich. Erinnern Sie sich daran, wie mächtig und wunderbar Er in mir gewirkt hat, und machen Sie sich bewußt, daß ich nicht durch Menschen bekehrt worden bin. Ich habe den Glauben von unserem Herrn Jesus Christus selbst empfangen. Ihm sei Ehre jetzt und allezeit. Amen. Ich schreibe dieses Zeugnis in der heiligen Gegenwart Gottes. Er weiß, daß ich nicht lüge. Ich lege ein wahres Zeugnis darüber ab, wie wunderbar Gott in mir gewirkt hat. Wenn es darum ging, Deinen Namen, Herr, zu beleidigen, war meine Zunge schnell und arrogant, doch Du hast sie bezähmt. Von jetzt an bin ich Dir ergeben, und ich will Dich der Welt verkündigen. Dein Wille geschehe, nicht mein Wille. Mein Herr, ich gehöre Dir ganz. Dies ist genug für mich, und mehr erbitte ich nicht. Mein geliebter Herr, erlaube nicht, daß ich irgend etwas gegen Deinen Willen tue. Laß Deine Liebe, die in mir wohnt, mich führen. „Ich kannte Dich vom Hörensagen, doch jetzt haben meine Augen Dich geschaut.“ (Ijob 42,5) Nahed
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1. Ich war . . . Ich war Nahed Mahmoud Metwalli, Dekanin der Studenten am Helmeyyet-el-Zaitoun-Mädchengymnasium, der größten Schule dieser Art in Kairo, Ägypten. Die Schule hatte etwa 4.000 Schülerinnen. Das war eine so stattliche Anzahl, daß die Schule in zwei Schichten geführt werden mußte, eine Vormittagsschicht und eine Nachmittagsschicht. Meine Zuständigkeit als Studentendekanin umfaßte beide Schichten. Daß ich schon mit diesem jungen Alter, und trotzdem ich erst selbst gerade das Examen gemacht hatte, so schnell in diese Position gehoben wurde, hatte zweierlei Gründe: Der eine war: Gott hat mich mit einer starken Persönlichkeit begabt, mit Intelligenz, Selbstvertrauen, und der Fähigkeit, meine Aufgaben selbständig zu erfüllen. Der andere Grund: Ich war fähig, meine Aufgaben in kürzester Zeit zu bewältigen, ohne mich darauf zu verlassen, daß andere mir alles beibringen müßten. Es genügte mir, anderen beim Ausführen einer bestimmten Aufgabe nur zuzusehen, um das Wesentliche daran zu begreifen. In der Tat wurde ich 10 Jahre früher als üblicherweise in diese Stellung befördert. Hinzu noch erlernte ich den Aufgabenbereich von zwei anderen stellvertretenden Schulleitern, die für die beiden wichtigsten Ressorts an der Schule zuständig waren, nämlich die geheime Kodierung der Namen der Schülerinnen und die Vorbereitung und den Druck der Prüfungspapiere. Beide Aufgaben erforderten absolute Vertraulichkeit bei der Ausführung. Nun geschah es, daß von den beiden Schulleiter-Vertretern die eine mit 60 Jahren in Pension ging und der andere eine Anstellung in einem anderen arabischen Land suchte. Ich übernahm kurzerhand ihre Aufgaben und somit die Kontrolle über alle wichtigen Verwaltungsbereiche an der Schule. Schnell begann ich, mich wie die Königin der Schule zu fühlen. Ich hatte völlige Autorität und Kontrolle über alles, was durch meine Hände ging, so daß sogar die Schulleiterin sich mit mir anfreundete und sich mit mir über jede Entscheidung beriet, die sie traf. Ich wurde sehr mächtig und einflußreich und war gefürchtet. Alle und alles sah ich als mir unterordnet an. 6
Mein Ehrgeiz war schier grenzenlos. Ich bat die Verwaltung, mir auch noch die organisatorische Überwachung des Sonder-Unterrichts für die Schüler mit Lernschwierigkeiten zu übertragen, und man tat es. So wurde ich verantwortlich für das Einsammeln von monatlich etwa 12 bis 15 Tausend ägyptische Pfund Schulgeld von diesem Unterricht. Was ich hierfür und für die Tätigkeiten der Vorbereitung und des Drucks der Prüfungsbogen erhielt, war dreimal soviel wie mein sonstiges Gehalt. Da war aber auch noch etwas anderes, das dazu beitrug, daß ich so unbehindert in diese Positionen befördert wurde, und zwar die einflußreiche Position von Mitgliedern meiner Familie, die hohen Ämter, die sie im Regierungsapparat innehatten. Ein Schwager von mir war der Erste Stellvertretende Sekretär für die Bezirksregierungen. Er war gleichzeitig der Elternvertreter an unserer Schule, da meine beiden Nichten sie besuchten. Mein Bruder war Manager von Job Qualifications (Bewertung und Beschreibung) für das Zentrale Management und Verwaltungssystem. Ein anderer Schwager war hochrangiger Luftwaffenpilot und arbeitete in der Verwaltung des Präsidentenpalastes. Meine Schwester war Leiterin für Öffentlichkeitsarbeit, zuständig für den Schulbezirk von Heliopolis, und ihr Mann ein hoher Beamter im Zentralen Staatlichen Informationsdienst (Central Intelligence Agency). Das familiäre Milieu einerseits, dazu eine starke Persönlichkeit, die Gabe der Redegewandtheit und Schlagfertigkeit, und überzeugende Logik in jedweder Diskussion – so wurde ich hochmütig und eingebildet und entwickelte mich zu einem akuten Fall von Eitelkeit. Dies jedenfalls war die Fassade, die die Leute sahen. Drinnen sah es ganz anders aus. Dort gab es einen empfindsamen, liebevollen Menschen, der Gott liebte. – Ja, Herr, ich liebte Dich von ganzem Herzen und fürchtete Dich. Jedoch, ich fühlte mich weit weg von Dir. – Ich hatte Gott stets gesucht, aber dennoch gab es da immer diese Barriere zwischen Ihm und mir. Sie zu überwinden, fand ich keinen Weg. Ich betete viel und las oft im Koran. Obwohl ich Gott so sehr liebte, fehlte doch irgend etwas. Daß ich die Christen haßte, tat ich nur deshalb, weil sie nicht den Gott liebten, den ich liebte. Sie beteten Ihn nicht so an wie ich. Sie waren im Irrtum, von Gott Abgeirrte, und deswegen mußte ich sie
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hassen. Und wirklich, ich war sehr schöpferisch, wenn es darum ging, sie zu demütigen, zu verletzen, und ihnen Schwierigkeiten zu bereiten, nicht etwa, weil ich böse war, sondern weil sie nicht den Gott liebten, den ich liebte und anbetete. Doch etwas gab es, das mich verwirrte. Ich hatte nicht den inneren Frieden, den sie hatten und nach dem ich mich sehnte. Ich war weitaus wohlhabender als sie, trug teure modische Kleider, und es mangelte mir an nichts. Doch es gab so eine ruhige Sicherheit in ihnen. Ich konnte Christen an ihrem Augenausdruck erkennen, jenem Ausdruck tiefen zuversichtlichen Vertrauens und Friedens. „Warum? Ich muß sie provozieren“, dachte ich, „damit sie diesen inneren Frieden verlieren, der sich mir entzieht.“ Eines Tages kam ein Priester in mein Büro. Als er in seinem schwarzen Gewand an meiner Tür erschien, durchfuhr mich ein starker Schauder. Ich behielt meine Fassung und dachte: „Der ist mir in die Hände gefallen.“ Ich beachtete ihn überhaupt nicht. Er kam herein, trat vor bis an meinen Schreibtisch, und stand da und schaute mich an. Ich tat so, als ob ich völlig in einige wichtige Papiere vertieft wäre, die da vor mir lagen. Schließlich sprach er mich ruhig an: „Sind Sie Frau Nahed Metwalli?“ Ich hob meinen Kopf und sah ihn direkt an. Als unsere Blicke sich trafen, fühlte ich mich unsicher. Er war ruhig, gefaßt und gesammelt. Ich antwortete ihm verächtlich: „Ja.“ Er übergab mir ein Gesuch, seine Tochter von ihrer Schule in Oberägypten an das Helmeyyet-el-Zaitoun-Gymnasium zu versetzen, und brachte sein Gesuch gleichzeitig mit ruhiger Stimme auch noch mündlich vor. Ich unterbrach ihn mit erhobener Stimme: „Von Oberägypten nach Helmeyyet-el-Zaitoun in einem Zug? Wieso?“ Höflich antwortete er: „Aus Gründen höherer Gewalt.“ Und er fügte schnell hinzu: „Hier ist eine Bescheinigung, daß ich meinen Wohnsitz im Schulgebiet habe. Und dies sind die Versetzungsbescheinigungen für ihre Schwestern für die Public School und die Junior High School im selben Bezirk.“ Ich prüfte die Papiere und suchte, irgendeinen Fehler zu entdecken, der eine Verweigerung seines Gesuches rechtfertigen würde. Aber es gab keinen. Ich sah ihn an, und er stand da und schaute mich so rätsel-
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haft an. Er war voller Frieden und Zuversicht, freundlich und höflich. Ich versuchte, ihn zu provozieren, indem ich sagte: „Wir verlangen eine Spende für die Schule.“ Seine Antwort: „Das geht in Ordnung.“ Ich entgegnete scharf: „Wir verlangen Einrichtungsgegenstände im Wert von 100 Pfund!“ Er sagte zustimmend: „Abgemacht.“ Dann fügte er gelassen hinzu: „Aber bitte befürworten Sie die Versetzung sofort, denn ich will es durch einen Freund, der in Kürze abfährt, an die Schulbezirksbehörde in Oberägypten schicken. Ich gehe dann gleich und kaufe, was Sie verlangt haben.“ Obwohl seine Tochter zu dieser Versetzung berechtigt war und obwohl ich versuchte, ihn zu reizen in der Annahme, daß er meine Forderung ablehnen würde, war er ziemlich liebenswürdig. Bissig und scharf erwiderte ich: „Ich will, daß Sie meine Forderung erst erfüllen!“ In seiner ruhigen Art antwortete er: „Vertrauen Sie mir, und glauben Sie mir doch.“ Ich konnte seinem Blick nicht widerstehen und unterschrieb die Versetzungspapiere. Dann bat ich ihn, sich zu setzen, und nahm die Papiere mit, um sie mit dem offiziellen Siegel zu versehen, etwas, das ich noch nie vorher getan hatte. Irgendwie berührte mich seine Art, und ein seltsames Gefühl überkam mich. Ich empfand Bewunderung für ihn und wollte mich entschuldigen. Ich wollte ihm sagen: „Wir brauchen keine Spende; entschuldigen Sie mein Benehmen.“ Aber ich bekam kein Wort heraus. Der Eindruck verstärkte sich noch, als er in weniger als einer Stunde mit einer Bestellung im Wert von 120 ägyptischen Pfund zurückkam und mich freundlich informierte, ich könne jederzeit jemanden schicken, um zu veranlassen, daß der Schreibtisch geliefert werden solle. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich, wie mich so etwas wie ein Schuldgefühl überkam. Er dankte mir, wir verabschiedeten uns mit Handschlag, und er ging seiner Wege. Er hatte keine Ahnung, wie sehr ich bis ins Innerste aufgewühlt war. Ich fühlte mich elend und schlecht. Eine Frage ließ mich nicht los: „Was hat dieser Mann in sich? Wie kann er sich so freundlich und taktvoll verhalten?“ Er hatte, was mir fehlte und wonach ich mich sehnte: Frieden. Ich war bemüht, den Vorfall zu vergessen, doch von Zeit zu Zeit
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erinnerte ich mich wieder daran, wie er mich angeschaut hatte, mit seinen tiefgründigen Augen voller Frieden. Trotzig suchte ich, die ganze Episode hinter mir zu lassen. Ich kehrte zurück zu meinem früheren Verhalten, und war fortan noch unnachgiebiger als zuvor. Während des Schuljahres 1986/87 wurde durch ministerielle Verordnung eine christliche Direktorin für unsere Schule ernannt. Das war ein Schock für mich. Wie konnte ich eine christliche Vorgesetzte akzeptieren? Wie nur? Das konnte ich unmöglich ertragen! Ich mußte alle Anstrengungen machen, sie dahin zu bringen, die Schule von sich aus wieder zu verlassen . . . Das erste war, daß ich sie nicht beachtete und so tat, als ob sie überhaupt nicht existierte. Ich wollte, daß sie sich mir gegenüber hilflos fühlte. Sie kannte sich nicht gut in den örtlichen Verordnungen aus, die den Schulbetrieb regelten, während ich diese auswendig kannte. Jedesmal, wenn sie etwas vorschlug, machte ich das klein und lächerlich. Ich wartete geradezu auf jeden Fehler, den sie sich vielleicht zuschulden kommen ließ, und nutzte jede Gelegenheit, sie meine Nichtachtung fühlen zu lassen. Schließlich bekam ich eine einmalige Gelegenheit: Die Mehrzahl der Schülerinnen in dem naturwissenschaftlichen Zweig der zehnten Klasse waren Christen. Als ein Projekt machten sie eine Wandzeitung, in der sie einige Verse aus der Bibel zitierten. Eine muslimische Lehrerin erzählte mir davon. Ich ging daraufhin unverzüglich in die Klasse und riß die Zeitung von der Wand. Dies war die Gelegenheit, auf die ich gewartet hatte. Ich schrieb einen streng geheimen Brief an den Oberschulrat des Schulbezirks OstKairo und beschuldigte darin die Direktorin, die Schülerinnen zu solch einer hassenswerten Tat ermutigt zu haben. Ich wollte zu verstehen geben, daß die Direktorin religiöse Konflikte in der Schule hervorrief. Nicht einmal bis zum nächsten Morgen konnte ich warten, um den Brief auf dem Postweg zu schicken. Eilends ließ ich ihn deshalb durch einen Boten per Hand zustellen. Am nächsten Tag kam ich sehr früh zur Schule, um das Resultat meiner Tat genauestens zu erleben. Der Oberschulrat schickte eine „Verschleierte“, d. h. eine strenggläubige Muslime, die den Schleier bei
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ihrer täglichen Arbeit trägt und beim Durchführen ihrer Untersuchung keine Nachsicht mit dem Christentum und den Christen haben würde. Sie begann die Untersuchung mit den vier Schülerinnen, die für die Wandzeitung verantwortlich waren, und befragte jede von ihnen einzeln in einer getrennten Sitzung. Alle vier kamen eingeschüchtert, zermürbt und weinend aus dem Untersuchungszimmer. Jede Schülerin wurde eine ganze Stunde lang verhört. Dann war die Religionslehrerin an der Reihe. Ihr Verhör dauerte noch länger als das der Schülerinnen. Als sie aus dem Zimmer kam, hatte sie rot verweinte Augen. Was die Klassenlehrerin betraf, eine ganz anständige und freundliche Frau, die ebenfalls Christin war, und Mathematiklehrerin, so schaute sie mich mit Tränen in den Augen, fast flehentlich an. Sie sagte: „Dachten Sie wirklich, ich wäre so unvernünftig, die Mädchen anzustiften, das zu tun?“ Ich vermochte ihr nicht zu antworten. Schließlich kam die Direktorin an die Reihe. Ich hörte sie lautstark rufen: „Nein. Nein. Das ist unmöglich. Diese Anschuldigung weise ich zurück! Ich weigere mich, auf diese Behauptung zu antworten oder überhaupt in dieser Vernehmung noch zu antworten. So eine Untersuchung erkenne ich nicht an. Ich gehe zum Staatssekretär für Erziehung!“ Dann verließ sie verärgert die Schule. Die Welle von Panik und Furcht, die über die Christen an der Schule hereinbrach, war unbeschreiblich. Ich war sehr stolz auf mich. Und fortan verfolgte ich jeden, und nichts konnte mich davon abhalten. Ich verordnete, daß den christlichen Schülerinnen das Tragen von Kreuzen verboten sei. Ja, ich wurde den Christen gegenüber so feindselig, daß ich keinem von ihnen eine Bitte erfüllte, sogar wenn es sich um ein legitimes Recht handelte. Alle begannen, mich mehr und mehr zu fürchten und sogar zu meiden. Doch das war mir noch nicht genug. Ich beschloß, der Direktorin einen verhängnisvollen Schlag zu versetzen. Dazu wollte ich mit ihr allein sein, und so wartete ich darauf, daß sich die geeignete Gelegenheit bot. Ab und zu beobachtete ich sie: Wann kam sie zur Schule? Wann verließ sie die Schule? – Sie war eine Frühaufsteherin. Meine Pläne hatte ich auf meine Beobachtungen gegründet: Mit ihr allein
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sein konnte ich nur, sobald sie frühmorgens zur Schule kam, bevor sonst irgend jemand da war. Eines Morgens also ging ich sehr früh zur Schule. Ein paar Minuten später kam sie ebenfalls an und ging direkt in ihr Büro, das gleich neben meinem lag. Sogleich begab ich mich in ihr Büro, die Bosheit stand mir im Gesicht geschrieben. Als sie mich ansah, wurde sie offensichtlich besorgt und alarmiert. Das stachelte mich noch mehr an, und ich sagte in scharfem Ton zu ihr: „Was tun Sie eigentlich hier? Ich kann es nicht ausstehen, mit Ihnen zusammen an dieser Schule zu sein. Ich will nicht, daß Sie hier bleiben. Verschwinden Sie von hier!“ Sie glaubte, nicht richtig zu hören. Verblüfft schaute sie mich an und sagte: „Was sagen Sie? Haben Sie den Verstand verloren?“ Ich entgegnete: „Ich soll verrückt sein? Sie sind verrückt. Wir beide werden nie zusammen an ein und demselben Ort sein. Verschwinden Sie von hier!“ Ich bemerkte, daß sie versuchte, mir aus dem Weg zu gehen, daher erhob ich schnell meine Hand, als wollte ich sie schlagen, und sagte: „Wenn Sie hier bleiben, bringe ich Sie um!“ Plötzlich rannte sie schreiend hinaus und rief um Hilfe. Ich aber ging ganz schnell in mein Büro und saß ruhig da, als ob nichts passiert wäre, während sie schrie: „Hilfe! Nahed will mich schlagen und umbringen.“ Einige Lehrer eilten zusammen. Sie fanden mich in meinem Büro, gelassen und lächelnd. Dann sah ich die Direktorin mitleidig an und sagte: „Wovon reden Sie? Niemand wird Ihnen glauben. Warum werfen Sie mir so etwas Dummes vor?“ Sie verließ verärgert die Schule und ging geradewegs zum Büro des stellvertretenden Staatssekretärs für Erziehung. Der stellvertretende Staatssekretär schickte noch am selben Tag jemanden, um mich zu befragen und die Angelegenheit zu untersuchen. Dieser war ein Moslem, und als ich bestritt, was die Direktorin über mich gesagt hatte, glaubte er mir ohne Zögern, besonders auch, da es eine ganze Reihe Freiwillige gab, die falsch aussagten und behaupteten, daß sie zu der fraglichen Zeit mit mir in meinem Büro gewesen wären. Außerdem sagten sie darüber hinaus aus, daß mich die Direktorin haßte, und daß sie die Geschichte erfunden hätte, um mich loszuwerden und mich durch eine christliche Lehrerin zu ersetzen. Das Thema
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wurde sofort zu einer Angelegenheit religiösen Konfliktes, und das wirkte zu meinen Gunsten. Nach diesem Vorfall konnte die Direktorin nicht länger an der Schule bleiben. Sie bat um ihre Versetzung, und ihrem Gesuch wurde stattgegeben. Sie verließ die Schule und kam nicht mehr zurück. Nach diesem Sieg wurde ich gegenüber den Christen an der Schule noch arroganter und grausamer. Die Furcht vor mir traf sie im Herzen, und ich wurde die eigentliche Königin der Schule. Ich beherrschte alles. Niemand konnte mir etwas abschlagen. Nichts geschah in der Schule, was nicht von mir gebilligt war, selbst dann, wenn es nicht einmal in meinen Zuständigkeitsbereich fiel. Niemand konnte mir im Wege stehen, geschweige denn mit mir streiten. Und wenn es vorkam, daß ich eine Schülerin ein Kreuz tragen sah, hatte ich keine Skrupel, es ihr vom Hals zu nehmen und auf den Boden zu werfen. Dies war Nahed Mahmoud Metwalli. So war sie.
2. Meine Begegnung mit dem Herrn Ich wäre früher nie auf den Gedanken gekommen, daß Gott mich diesen höchsten Grad an Eingebildetheit und Arroganz erreichen ließ, weil Er andere Pläne mit mir hatte. Daß Er mich bitten würde, dies alles aufzugeben. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß Er mich mit all diesen Fähigkeiten, dieser Intelligenz und Macht ausgestattet hatte, weil Er mich für eine andere Aufgabe vorbereitete. Nein, nie hätte ich gedacht, daß Er mir eine starke Persönlichkeit, Redegewandtheit und die Fähigkeit, überzeugend und logisch zu argumentieren, gegeben hatte, weil Er einen anderen Zweck für diese Gaben im Sinn hatte. Ich pflegte mit einem anmaßenden Ausdruck durch die Schule zu gehen, so als ob ich alle und jeden herausfordern würde. Niemand wagte, mir in die Quere zu kommen. Die Schule war mein Herrschaftsbereich. Ich war die unumstrittene Herrscherin über die Schule. Doch trotz all dem war ich von Kummer geplagt. In meinem Innern gab es ein Gefühl der Leere. Ich liebte Gott von ganzem Herzen, doch ich war so weit von Ihm weg. Es gab eine Barriere zwischen Gott und mir. – Könnten das meine Sünden sein?
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Eines Tages stellte ich mir die Frage: „Wenn ich heute sterben würde, was aus meinem Leben hätte ich Gott dann vorzuweisen außer Sünden?“ Nein. Ich mußte etwas für die Ewigkeit tun. Ich war wohlhabend und sollte daher nach Saudi-Arabien fahren und die Pflicht einer „Al-Amrah“-Pilgerreise erfüllen. Die Vorbereitungen für die Pilgerreise gingen erstaunlich glatt vonstatten. Mit der vorgeschriebenen Kleidung bereitete ich mich für das Ritual vor. Ich erreichte Djidda mit dem Flugzeug eine Stunde nach Mitternacht. Von dort nahm ich einen Zug nach Mekka. Trotz der Anstrengungen der Reise konnte ich nicht bis zum Morgen warten, um mit den Ritualen zu beginnen. Ich ging geradewegs zur Kaaba, ganz davon begeistert, Gott nahe zu sein, die Barriere zwischen Ihm und mir zu überwinden. Ich stand im Gebet da und sagte Gott, wie sehr ich Ihn liebte. Jedoch, ich blieb immer noch so weit entfernt von Ihm. „Ziehe mich näher zu Dir“, betete ich, „laß mich Dich fühlen. Berühre mich. Vielleicht versucht Satan, meine Gefühle für Dich zu betäuben.“ Ich umkreiste immer wieder die Kaaba in der Hoffnung, daß etwas mich bewegen würde. Aber umsonst. Nach zehn Tagen kehrte ich zurück nach Ägypten, noch unruhiger als vorher. Es wurde mir klar, daß es irgendetwas geben mußte, was falsch war. Vielleicht lag es an mir. Ich sollte nicht in meiner Suche nachlassen; ich sollte zuallererst versuchen, Gott zu gefallen, sollte Ihn suchen und den Weg, der mich zu Ihm führt. Immer wieder beschäftigte mich die Frage: „Ist es denkbar, daß Gott uns geschaffen hat und uns dann auf diese schreckliche Art und Weise erprobt? Nein. Damit stimmt etwas nicht. Eines Tages muß ich Ihn doch kennenlernen. Macht es einen Sinn, daß Gott so grausam ist? Nein. Das ist nicht einleuchtend. Gott hat diese Welt für uns geschaffen, damit wir uns an ihr erfreuen. Er hat uns die Herrschaft über alles, was darin ist, gegeben. Das bedeutet, daß Er uns liebt.“ Ich blieb verwirrt. Ich suchte, doch ich suchte vergeblich. Die Leere in mir quälte mich. Mein Fernsein von Gott quälte mich noch mehr. Ich versuchte, all dies zu verdrängen, mit meinem Leben einfach weiterzumachen und es zu genießen, zu leben mit dem, was Gott mir gegeben hatte. Doch obwohl sich äußerlich alles gut für mich entwickelte, war ich weiterhin unglücklich. 14
1963 hatte ich mein Studium abgeschlossen, hatte jetzt eine beneidenswerte Stellung, einen guten Ruf beim Schulamt, ein hohes Einkommen, lang etablierte Ansprüche auf weitere Beförderung, ExtraEinkünfte aus Nebentätigkeiten, und drei Kinder (einen Sohn und zwei Töchter), die ihrerseits ausgezeichnete Studenten waren, und die ebenso erfolgreich im Leben standen. Außerdem hatte ich mein eigenes Appartement, wenn ich es auch noch nie benutzt hatte, seitdem ich es gemietet hatte, und mein eigenes Auto. (Der Übersetzer ins Englische: In Ägypten gilt es als besondere Errungenschaft, ein Appartement zu haben. Es ist nicht ungewöhnlich, daß verlobte Paare wegen Wohnungsnot vier oder fünf Jahre warten müssen, bevor sie heiraten können. Ebenso wird ein Auto als Statussymbol und Luxus angesehen.) Und seit 1983 bin ich geschieden. Eines Tages stellte meine Tochter mir die Frage: „Mutter, kann ich einen Christen heiraten?“ Ich explodierte und schrie sie an: „Nein, natürlich nicht! Das ist ja unmöglich! Wenn du den Gedanken noch einmal äußerst, bringe ich dich eigenhändig um!“ Sie fügte hinzu: „Er ist Ingenieur, aus einer guten, bekannten Familie, und seine ganze Familie fährt in die USA. Ich werde mit ihm reisen, wir werden dort heiraten, und niemand in Ägypten außer dir wird etwas davon wissen.“ Ich schrie wieder: „Bist du verrückt geworden? Wie kannst du eine Muslime sein und einen Christen heiraten? Das ist Sünde!“ Ich forderte sie auf, mir zu versprechen, nichts ohne mein Wissen in der Heiratsangelegenheit zu unternehmen. Der liebe Gott hat mich und ebenso meine Tochter mit einer großen Gabe gesegnet: Immer wenn wir einer schwierigen Situation gegenüberstehen und Ihn um Seine Führung bitten, antwortet Er uns mittels einer Vision. Also riet ich meiner Tochter doch Gott zu bitten ihr mitzuteilen ob es möglich sei, diesen jungen Mann zu heiraten, und mir dann ehrlich zu sagen, was Gottes Ratschluß für sie war. Am nächsten Morgen erzählte mir meine Tochter ihre Vision. Sie sagte: „Ich sah mich eine Straße entlang gehen, entlang einem Gewässer. Als ich das Ende der Straße erreichte, gab es eine Kreuzung. Ich wußte nicht, in welche Richtung ich gehen sollte. Da sah ich drei verschleierte Mädchen, die zu mir sagten: ,Komm mit uns.‘
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Aber ich fühlte mich nicht wohl dabei, mit ihnen zu gehen. Dann sah ich ein hübsches junges Mädchen in einem grünen Kleid, das mit vielen weißen Kreuzen gesprenkelt war. Sie nahm mich bei der Hand, und ich war glücklich, mit ihr zu gehen.“ Als sie ihre Geschichte erzählt hatte, konnte ich nicht verstehen, was diese Vision bedeutete. Meine Reaktion war deshalb deutlich: „Du hast nur Halluzinationen, weil du in diesen jungen Mann verliebt bist und ihn heiraten willst. Ich werde dir diese Heirat nicht verzeihen, und zwing mich nicht, andere Mittel bei dir anzuwenden!“ Ich verbot ihr, sich weiter mit ihm zu treffen oder gar den Gedanken zu haben, ihn zu heiraten. Sie versprach mir, es nicht zu tun, und damit war die Angelegenheit erledigt. Es geschah nun, daß zwischen der Schulsekretärin, die Muslime war, und mir eine Unstimmigkeit aufkam. Ich verlangte ihre Versetzung und daß sie durch eine andere Sekretärin ersetzt würde, die ehrlich ist. Der Direktor für Verwaltung und Finanzen besuchte mich und versprach mir, die Sekretärin zu versetzen und sie durch eine zu ersetzen, die ehrlich, fleißig, aktiv und umgänglich sei. Aber es gab einen Haken dabei: Sie war Christin. Unverhohlen brachte ich meine Abneigung dagegen zum Ausdruck, eine Christin als Schulsekretärin zu haben, denn ich würde täglich mit ihr zu tun haben. Schließlich gab ich nach, nachdem er mich überzeugt hatte, daß Ehrlichkeit die wichtigste Charaktereigenschaft einer Sekretärin ist und diese Forderung von ihr erfüllt würde, und er noch hinzufügte, daß er ihr mehr vertraute als sich selbst. Die neue Sekretärin, Samiah mit Namen, kam, um sich bei der Direktorin zu melden. Ich saß im Büro der Direktorin, um einen ersten Blick auf sie werfen zu können. Ich war eingenommen von der Art, wie sie mich ansah – mich mehr als alle anderen – und mich höflich grüßte. Dennoch grüßte ich sie unwillkürlich mit einem mißbilligenden Lächeln, was sie jedoch nicht aus der Fassung brachte. Natürlich bemerkte ich, daß sie ein großes Lederkreuz trug, und dachte darüber nach. „Oh! Sie ist neu an der Schule, und sie hat keine Ahnung, wer ich bin und was ich will. Jemand wird es ihr sagen müssen“, dachte ich. „Sie wird sich zweifellos nach meinen Anordnungen richten.“
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Am nächsten Tag bat ich sie, in mein Büro zu kommen. Sie kam. Ich gab ihr einen Wink, sich zu setzen. Sie setzte sich. Nun war ich es, die sie fast durchweg erstaunt anstarrte. Sie war völlig anders als wie ich es gewohnt war. Sie war stark und mutig, und dennoch sehr freundlich, sie war überzeugt, selbstsicher, nicht beunruhigt durch mein Anstarren. „Sie hat, was mir fehlt und was ich suche“, dachte ich. Zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich klein. Obwohl sie dreißig Jahre alt war und ich fünfundvierzig, fühlte ich mich als die Jüngere. Ich begann, mit ihr durchzusprechen, wie sich unser Arbeitsverhältnis gestalten sollte. Zu meiner Verwunderung wollte sie mir meine Arbeit sehr erleichtern und war bereit, den größten Teil der Arbeitslast zu übernehmen. Sie ließ mich fühlen, daß sie mich gern mochte. Aber, warum sollte sie sich um mich kümmern? Sicher hatten all die Christen an der Schule sie schon davor gewarnt, was sie von mir zu erwarten hatte! Ich bewunderte sie, und ich fing an, sie zu mögen. Sie hatte eine andere Art zu sprechen, eine sanfte Stimme, war taktvoll und höflich. Sie war völlig anders als ich. Ihre Augen hatten diesen tiefgründigen sicheren Ausdruck, ruhig und voller Frieden. Mir fiel auf, daß sie das große Lederkreuz immer noch trug, aber ich wagte mit keinem Wort, dies anzusprechen. Sie stand über mir. Obwohl ich die Königin war, stand sie doch noch höher als ich. So wie die Dinge sich entwickelten, mochte ich Samiah, und es entwickelte sich ein freundschaftliches Verhältnis zwischen uns. Aber ich wollte sie auf die Probe stellen, um herauszufinden, was hinter der Fassade vor sich ging. Und so begann ich Gründe vorzutäuschen, um sie in mein Büro zu rufen. Es war an einem Tag im Oktober 1987, als wir stundenlang miteinander plauderten, ohne daß es uns langweilig wurde. Da fragte ich sie: „Glaubst du an Gott, Samiah?“ Bejahend antwortete sie: „Es gibt keinen Gott außer Gott.“ Ich traute meinen Ohren nicht, so verblüfft und schockiert war ich. Verwundert fragte ich zurück: „Christen glauben an einen Gott?“ Sie antwortete ganz sicher und überzeugt: „Ja. Ein Gott, Amen.“ Ich sagte zu ihr: „Wie ich das verstehe, glaubt ihr, daß Christus Gott ist – und auch die Jungfrau Maria.“ Sie antwortete sehr bestimmt: „Das wäre Polytheismus. Wir sind keine Polytheisten. Wir glauben an
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einen Gott.“ Dann fügte sie ruhig hinzu: „Die Jungfrau Maria ist die Mutter Christi, aber sie ist kein Gott.“ Mir war, als wäre eine große Pyramide mit einem Mal über mir zusammengebrochen. Das Christentum glaubt an einen Gott! So hatte ich das Christentum nicht verstanden. In meiner Unwissenheit war ich unfair ihnen gegenüber gewesen. Trotzdem ich mich schrecklich fühlte und mich schämte, war ich begierig, mehr von ihr zu hören. Gleichwohl erinnerte ich mich an alles, was ich den Christen angetan hatte, welche Freveltaten ich begangen hatte. Jetzt wollte ich mehr wissen und sagte zu ihr: „Erzähle mir mehr über den christlichen Glauben.“ Als sie begann, mir über den christlichen Glauben zu erzählen, bemerkte ich einen Duft von brennendem Weihrauch. Sehr seltsam! So einen Duft hatte ich noch nie gerochen. Ich fühlte mich wie ohnmächtig, war nicht sicher, ob ich träumte oder ob es Wirklichkeit war. Bemüht, gesammelt zu erscheinen, hörte ich ihr aufmerksam zu, als sie sagte: „Die Jungfrau Maria wuchs als Waise auf und wurde in einer streng religiösen Umgebung im Tempel erzogen, bis sie zwölf Jahre alt war. Dann wurde sie mit einem älteren Mann verlobt, der – der Tradition gemäß – für sie sorgen sollte. Noch bevor sie verheiratet waren, gebar sie Jesus Christus.“ Hier unterbrach ich sie und sagte: „Ja. Das ist wahr. Das wird auch im Koran erwähnt.“ Ich konnte die Unterhaltung nicht fortsetzen. Müde, schwach und ausgelaugt schloß ich das Thema an diesem Punkt ab. Sie verließ mein Büro und ging weg, ohne zu wissen, was in mir vorging. Dabei hatte sie ein Feuer in mir entfacht, das ich nicht zu ersticken vermochte. Ich begann, mich zu fragen: „Wo ist Christus?“ Das bloße Erwähnen Seines Namens rief wunderbare Gefühle in mir hervor, wie ich es nie erlebt hatte. Es war Trost und Wohlbehagen in Seinem Namen. Ich liebte Ihn bereits, wußte aber nicht genug über Ihn. Ein brennendes Verlangen entstand, Ihn besser, ja sehr gut kennenzulernen. Samiah übte eine solche Anziehungskraft aus, daß ich immer schon auf den nächsten Morgen wartete, um zur Schule zu gehen und mit ihr zusammen zu sein. Vom ersten Tag an, da wir uns trafen, hatte sie mich spüren lassen, daß sie mich mochte. Das war offensichtlich durch die Art, wie sie mit mir trotz all der Warnungen von seiten der
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Christen an der Schule umging. Es mußte ihr ein starker Wunsch sein, sich mit mir anzufreunden. Doch von Zeit zu Zeit hatte ich auch böse Gedanken. Dann wollte ich ihre Integrität auf die Probe stellen. Zum Beispiel übergab ich ihr eintausend ägyptische Pfund Schulgeld, um es zur Post zu bringen, und fügte absichtlich zehn Pfund mehr hinzu. Ich versicherte ihr, ich hätte das Geld eigenhändig und sorgfältig gezählt und es müßte richtig gezählt sein. Kurze Zeit später kam sie zurück mit den überzähligen zehn Pfund in der Hand und sagte: „Es waren zehn Pfund zuviel.“ Bei verschiedenen Gelegenheiten prüfte ich ihre Redlichkeit, und jedesmal bestätigte sie ihr zuverlässiges und ehrbares Wesen. Dann griff ich zu einer anderen Methode, nämlich sie zu ärgern durch die Art, wie ich über sie sprach, oder dadurch, daß ich sie als Person klein machte. Sie ging immer stark daraus hervor, verlor nie ihre Ruhe, verlor nie ihren Frieden, und lächelte immer. Als ob sie wußte, worum es ging. Die Zeit verging. Es war mir nicht möglich, das Thema „Christus“ aus meinem Kopf zu bekommen, oder auch nur aufzuhören, darüber nachzudenken. Von Zeit zu Zeit bat ich Samiah, mir von Christus und seiner Lehre zu erzählen. Jedesmal, wenn sie über dieses Thema sprach, war jener Duft von brennendem Weihrauch da. Die Verbindung zwischen dem Duft und dem Thema war mir verdächtig: Könnte es sein, daß Samiah etwas in ihrer Tasche versteckte und es bei diesem Thema losließ als unterstützende Maßnahme, um damit meine Überzeugung zu manipulieren? Fortan beobachtete ich sie, wenn sie sprach. Als ich dann den Verdacht hegte, es könne eine Verbindung geben zwischen dem Duft und dem Ort, an dem wir uns unterhielten, begann ich, den Ort des Treffens anderswohin in der Schule zu verlegen. Bisweilen war es der Balkon der Schule, andere Male war es der Garten. Zu meiner Verwunderung war der Duft stets mit da. Es war einfach Gottes Eigenart, ihre Aussagen zu dem Thema zu bekräftigen. Meine Verstörtheit war groß. Und ich wußte nicht, wo ich stand. Wo lag die Wahrheit? Ich liebte Gott von ganzem Herzen und mit meinem ganzen Wesen, und dennoch fühlte ich sehr stark, daß ich mich weit
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weg von Ihm befand. Und zu wissen, Ihm nicht nahe zu sein, war schmerzlich. Diese innere Leere verfolgte mich. Es gab da eine Barriere zwischen Gott und mir. Alles, was ich wollte, war, diese zu überwinden und Ihm nahe zu sein. Ich liebte Ihn. Aber ich fürchtete Ihn auch. Denn sehr wohl war mir klar, daß der Tag kommen würde, wann ich im Gericht vor Ihm stehen müßte. Doch ich sah nichts in meinem Leben, als nur Sünden. Nein, ich mußte die Wahrheit herausfinden, ganz gleich um welchen Preis. Am 25. November 1987 kam Samiah später als gewöhnlich in mein Büro. Ich schickte jemanden, um sie zu bitten, zu mir zu kommen. Ein paar Minuten später tauchte sie auf, fröhlich, glücklich und heiter. Nachdenklich fragte ich sie: „Was macht dich so glücklich?“ – „Heute ist der erste Tag im Advent, d. h. in der Fastenzeit vor Weihnachten“, antwortete sie. Ich gab hämisch zurück: „Erkennt das Christentum denn Fasten als eine einzuhaltende Verpflichtung an? Fastet ihr wirklich, oder eßt und trinkt ihr einfach und nennt es Fasten?“ Sie bestand mit großer Festigkeit darauf: „Ja, wir fasten. Es ist ein richtiges Fasten! Wir können für lange auf Essen und Trinken verzichten, aber es ist jedem überlassen, das Fasten seiner eigenen Durchhaltefähigkeit anzupassen. Wir verzichten auch auf andere Dinge, z. B. Vergnügungen, damit wir während des heiligen Fastens auch ein heiliges Leben führen.“ Nach dem, was ich von ihr hörte, gab es nichts, worüber man sich lustig machen konnte. Ich starrte sie schweigend an. Dabei bemerkte ich, daß irgend etwas hinter ihrem Lederkreuz funkelte. Ich fragte: „Was ist das?“ – „Das ist eine Ikone der Jungfrau Maria“, antwortete sie. Laut denkend sagte ich: „Gab es zu der Zeit Fotografen oder Maler, die ihr Bildnis festgehalten haben? Wie kann man sicher sein, ob das Bild der Wahrheit entspricht oder nicht? Oh, wie dumm und einfältig doch diese Christen sind! Ich könnte schwören, das Bild ist nur ein Produkt der Phantasie irgendeines Künstlers, der es gemalt hat und es dann als ein Portrait der Jungfrau Maria verbreitet hat. Und alle Christen sind auf ihn hereingefallen.“ Kaum hatte ich meine Gedanken zuende gesprochen, als der Glanz verschwand und ich ein helles Licht vor mir sah und den Duft von
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brennendem Weihrauch wahrnahm, gar stark, wie wenn da eine Rauchsäule gewesen wäre. Durch dies hindurch sah ich eine wunderschöne Dame von heller, sehr heller Hautfarbe mit freundlichen Gesichtszügen vor mir stehen. Sie war in ein himmlisches Gewand gekleidet, und ihre Hände waren nach unten zu mir her ausgestreckt. Sie sah mich an. Ich murmelte unwillkürlich: „Die Jungfrau Maria!“, so als ob ich mich in Trance befunden hätte. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Aber ich hatte sie gesehen, und dann verschwand sie auch sofort. Als ich meine Fassung wieder erlangte, waren Samiahs Augen voller Tränen, und meine ebenfalls. Ich entdeckte, daß ich die Dumme war und sie die Wahrheit hatte. Und zum ersten Mal in meinem Leben fühlte ich mich vernichtet. Ich fühlte mich, als ob ich nichts als ein Strohhalm wäre, der vom Wind umhergetrieben wird. Was sollte ich tun? O Gott, so hilf mir doch . . . Nach der Schule ging ich nach Hause zurück. Ich sah meine drei großen Kinder an und dachte nach: Was würden sie sagen, wenn sie erfuhren, daß ich Christ würde! Und was würde die Reaktion ihres Vaters sein, der General-Manager im Dienst der Al-Az-har (der weltberühmten islamischen Universität) war? Wir waren zwar seit 1983 geschieden, doch im Interesse der Familie und um des äußeren Eindrucks willen, hatten wir uns geeinigt, zusammen mit den Kindern in einem Haus zu wohnen, so als ob wir noch verheiratet wären, obwohl wir de facto völlig getrennt lebten. Ich stellte mir meine Familie vor und all die hohen Posten, die sie innehatten. Mein Schritt würde Schande über sie alle bringen. Und was war mit mir selber und der hohen Stellung, die ich nach all den durchstandenen Kämpfen erreicht hatte? Würde ich das alles zunichte machen? Ich war verwirrt. Und würde meine Familie mich in Ruhe lassen? Nein! Wenn sie Mitleid für mich empfanden, würden sie mich wahrscheinlich in ein Irrenhaus stecken. Doch es wäre ebenso möglich, daß einer von ihnen eifrig werden und mich umbringen würde. Das Gesetz würde ihn nicht bestrafen, da er in der Tat das „Riddah-Gesetz“ (Gesetz gegen den Abfall vom Glauben) anwenden würde. (Der Übersetzer ins Englische: Das Gesetz über den Abfall vom Glauben ermahnt alle Gläubigen, eine Person, die sich vom Islam abwendet und zu einer
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anderen Religion konvertiert, zu töten. Jenen, die diese Pflicht erledigen, wird das Paradies dafür versprochen. Die anderen, die diese Pflicht nicht beachten, werden selbst als vom Glauben Abgefallene betrachtet und sind somit selbst diesem Gesetz unterworfen, d. h. ihr Blut steht frei zur Verfügung für sämtliche „Paradies-Sucher“.) Ich fand eine Lösung: Gott hatte mich als Muslime geschaffen, da ich in eine Moslemfamilie hineingeboren war. Diese Tatsache ist ja keine verwerfliche. Und so beschloß ich, nicht mehr über diese Angelegenheit nachzudenken. Und außerdem würde ich jetzt alles zerstören, was ich in vielen Jahren durch meine eigenen Anstrengungen aufgebaut hatte. Alles, was ich zu tun hatte – und das mußte ich tun – , war Samiah davon abzuhalten, in mein Büro zu kommen, außer zur Erledigung offizieller, geschäftlicher Angelegenheiten. Ich unterwarf mich dem, was ich war und wer ich war, und entschied mich, mehr zu beten, damit Gott mich in Seine Wahrheit führen möge. Ich sollte außerdem den Koran noch häufiger rezitieren, dachte ich, und mir keine freie Zeit lassen, weiter über diese Dinge nachzudenken. Am nächsten Tag nahm ich meinen „Mous-haf“ (den Koran in gedruckter Form) und blätterte darin. Es kam so, daß Gott mich zu dem Kapitel über Maria (Surat Mar-yam) führte, wo es hieß: „Erwähne (bedenke) auch in dem Buch (die Geschichte von) Maryam (Maria). Als sie sich einst von ihrer Familie nach einem Ort zurückzog, der im Osten lag, und sich verschleierte, da sandten wir ihr unseren Engel (den Erzengel Gabriel) in der Gestalt eines schöngebildeten Mannes. Sie sagte: ,Ich nehme, aus Furcht vor dir, zu dem Allbarmherzigen meine Zuflucht; wenn auch du ihn fürchtest, dann nähere dich mir nicht.‘ Er erwiderte: ,Ich bin von deinem Herrn gesandt, dir einen Sohn zu geben.‘ Sie aber antwortete: ,Wie kann ich einen Sohn bekommen, da mich kein Mann berührt hat und ich auch keine Dirne bin?‘ Er erwiderte: ,Es wird dennoch so sein; denn dein Herr spricht: Das ist mir ein Leichtes. Wir machen ihn (diesen Sohn) zu einem Wunderzeichen für die Menschen, und er sei ein Beweis unserer Barmherzigkeit. Die Sache ist fest beschlossen.‘ So empfing sie den Sohn, und sie zog sich (in ihrer Schwangerschaft) mit ihm an einen entlegenen Ort zurück. Und eines Tages befielen sie
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die Wehen der Geburt am Stamm einer Palme, da sagte sie: ,O wäre ich doch längst gestorben und ganz vergessen!‘ Da rief eine Stimme unter ihr: ,Sei nicht betrübt, schon hat dein Herr zu deinen Füßen ein Bächlein fließen lassen, und schüttle nur an dem Stamme des Palmbaumes, und es werden genug reife Datteln auf dich herabfallen. Iß und trink und erheitere dein Auge (beruhige dich). Und wenn du einen Menschen triffst, der dich vielleicht wegen des Kindes befragt, dann sage: ,Ich habe dem Allbarmherzigen ein Fasten gelobt, und ich werde daher heute mit niemandem sprechen.‘ Sie kam nun mit dem Kind in ihren Armen zu ihrem Volke, welches sagte: ,O Mar-yam (Maria), du hast eine sonderbare Tat begangen! O Schwester Aarons, dein Vater war wahrlich kein schlechter Mann, und auch deine Mutter war keine Dirne.‘ Da zeigte sie auf das Kind hin, damit es rede, worauf die Leute sagten: ,Wie, sollen wir mit einem Kind in der Wiege reden?‘ Das Kind (Jesus) aber sagte: ,Wahrlich, ich bin der Diener Allahs, er gab mir die Schrift und bestimmte mich zum Propheten. Er gab mir seinen Segen, wo ich auch sei, und er befahl mir, das Gebet zu verrichten und Almosen zu geben, solange ich lebe, und liebevoll gegen meine Mutter zu sein. Er machte keinen elenden Hochmütigen aus mir. Friede kam über den Tag meiner Geburt und werde dem Tage meines Todes und dem Tag, an welchem ich wieder zum Leben auferweckt werde, zuteil‘ “ (Sure 19,16–33). Ich war völlig verwirrt und fühlte mich verloren. Wo lag die Wahrheit? Ich wurde noch unsicherer, aber auch entschlossener als vorher, die Wahrheit zu suchen. Die Unruhe, die in mir tobte, konnte jetzt nicht mehr zum Schweigen gebracht oder ignoriert werden. Ich begann, mir Fragen zu stellen: Warum hat Mar-yam (Maria) im Koran eine so hohe Stellung, wenn diese Frau die Mutter eines normalsterblichen Menschen war? Warum wurde Christus auf diese wunderbare Weise, die gegen alle Natur geht, geboren, wenn er einfach ein Mensch war oder ein Prophet? Warum wählte Gott ihn aus und verlieh ihm seine eigene Macht: Macht, die Toten zu erwecken, die Kranken zu heilen, den Blinden ihr Augenlicht wiederzugeben, die Leprakranken zu reinigen? Wiederum erwähnt Sahih al-Bu-khari über Christus, daß „die Stunde nicht kommen wird, bis daß Christus Jissa (Jesus), der Sohn der Mar-
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yam, zu euch herabsteigt und euch nach Recht und Gerechtigkeit regiert“. Und wo war er jetzt? 2.000 Jahre lang lebendig im Himmel bis seine Stunde kommt? Nein, ein gewöhnlicher Mensch kann dies nicht sein. Er ist weitaus größer als sie. Aber, wer ist er? (Der Übersetzer ins Englische: Ein Hadith ist ein Ausspruch von Mohammed, von dem die Moslems glauben, daß er der letzte von Gott in die Welt gesandte Prophet ist. Die Hadith-Aussprüche werden von Moslems als ebenso wichtig wie der Koran angesehen, und man glaubt von ihnen, daß sie die durch Mohammeds Mund gesprochenen Worte Gottes sind. Sahih al-Bu-khari, ebenso wie Sahih Moslem, werden als die maßgeblichsten, echtesten und am genauesten erforschten Quellen der Hadith angesehen. Sie werden von Moslems gleich an zweiter Stelle nach dem Koran verehrt.) Ich konnte meine Erregung nicht unterdrücken. In aufgewühlter Unruhe war ich hin und her geworfen zwischen starken und frustrierenden Gefühlen darüber, daß es eine Barriere zwischen mir und Gott gab, die mich auf den falschen Weg zwang, und andererseits meiner unglaublich hartnäckigen Entschlossenheit, die Wahrheit zu finden. Lange und bedrückende Tage vergingen mit dem Jahr 1987, das Jahr 1988 brach an. Die Kopten in Ägypten begannen, das Fest der Geburt Christi zu feiern. Wieder fragte ich mich: „Geburtsfeier? Wessen Geburtsfest ist das? Die Geburt Christi? Wer ist denn Christus?“ Der 7. Januar ist ein Feiertag für alle Christen an der Schule. An jenem Tag kam ich traurig und besorgt von der Schule nach Hause. Es war sehr kalt. Im Schlafzimmer, das ich mit meinen beiden Töchtern teilte, fand ich keinen Schlaf. Während alle schliefen, war ich ängstlich und unruhig. In mir fand eine Debatte statt. Nein, ich mußte ehrlich mit mir selbst sein. Warum fürchtete ich mich so sehr? Sollte ich nicht Gott mehr fürchten als irgend jemand sonst? Wie konnte ich behaupten, daß ich Gott mehr liebte als mich selbst, wenn ich die Wahrheit nicht wissen wollte? War Gott nicht fähig, mich zu beschützen und zu verteidigen? Ich wandte mich in aller Aufrichtigkeit an Gott und rief Ihn an, als ob Er vor mir stünde, und sagte: „O Herr, Du weißt, wie sehr ich Dich liebe und wie ich Dich verehre. Alles, was ich möchte, ist, ohne Sünden vor Dich zu treten. Bitte, Gott, zeig mir die Wahrheit. Wie kann ich zu Dir gelangen?“
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Ganz verinnerlicht sprach ich weiter: „Was habe ich denn falsch gemacht? Ich bin in eine Moslemfamilie hineingeboren worden. Machst Du mich dafür verantwortlich? Ich fürchte mich so sehr. Nein, bitte, Herr, ich flehe Dich an, Du hast mich seit meiner Kindheit wunderbar gesegnet. Jedesmal, wenn ich Dich in einer Angelegenheit um Rat gebeten habe, hast Du mir Antwort durch eine Vision gegeben. Verweigere mir diese große Gabe jetzt nicht! Bitte, Gott, wenn das Christentum der Weg zu Dir ist, zeige mir ein Kreuz; wenn aber der Islam der Weg ist, gib mir ein Zeichen dafür. Ich will tun, was Du mir sagst. Du bist der einzig Wichtige für mich. Ich werde niemanden fürchten. Laß sie tun, was sie mir antun wollen. Am Ende bist Du doch das Wichtigste. Meine zeitliche Stellung ist mir gleichgültig, nur meine Stellung bei Dir ist mir wichtig. Meine Kinder sind nicht gleich wichtig, Du kommst zuerst. Sorge Du für sie. Wenn sie mich töten, verkürzen sie eben meinen Weg zu Dir.“ Noch nie war ich so aufrichtig gewesen wie in jener Nacht. Noch nie habe ich mich Gott so nahe gefühlt wie in jener Nacht. Es schien mir, als säße ich vor Ihm und redete mit Ihm. Bisweilen weinte ich, bisweilen flehte ich Ihn an, dann wieder machte ich Ihm Vorwürfe. In diesem Zustand blieb ich wach bis 3 Uhr morgens. Ich fühlte mich müde und erschöpft. Mein Kopf drehte sich. Ich stellte den Wecker neben mich, um sicher zu sein, daß er mich um 6 Uhr früh aufwecken würde. Endlich streckte ich mich auf meinem Bett aus, schloß die Augen, fühlte mich schwindlig, aber schlief nicht ein.
3. Die Vision Da plötzlich geschah es: Ich sah mich in ein langes Gewand gekleidet, das bis zum Boden reichte. Es war von grauer Farbe, mit Silber durchwirkt, und hatte lange Ärmel. Um meine Taille war ein breiter Gürtel geschlungen in derselben Farbe wie das Kleid. Mein Kopf war mit einem Schal bedeckt, ebenfalls in der Farbe des Kleides. Das Kleid gefiel mir gut, und ich fragte mich andauernd, wann ich dieses wunderschöne Kleid bekommen hatte. Ich hatte es noch nie vorher
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gesehen, und ich hatte überhaupt noch nie in meinem Leben etwas dergleichen gesehen. Was für ein Wunder! Ich schaute an mir herunter und bemerkte, daß ich barfuß war, aber das war mir egal. Ich sagte mir: Das Kleid ist lang und reicht bis zum Boden, so sind meine Füße sowieso bedeckt. Als meine Augen den Boden erblickten – welch eine Überraschung bot sich mir da. Was für eine wunderschöne Farbe! Tiefgrün – so eine schöne Farbe hatte ich noch nie gesehen und auch noch nie so ein weiches Material gefühlt. Ich ertastete es immer wieder mit meinen Füßen, um zu fühlen, was es wohl war: Weiches Gras? Teppich? Nein, Seide. Ich erhob meinen Kopf und nun sah ich etwas so Wunderbares, daß man es mit Worten gar nicht beschreiben kann. Es war wie eins der Schlösser, die wir uns in der Phantasie ausmalen. Nein, es war noch viel phantastischer, es war etwas, das keine Phantasie sich vorstellen kann: ein sehr großes Bauwerk, mit hohen Säulen, so hoch, daß die Augen ihre Kapitelle nicht erblicken konnten, und die Säulen waren mit glänzender Seide bespannt, die schöne Lichtreflexe verursachte. Der Ort war mit Weihrauch erfüllt. Ich kannte diesen Duft, er war dem ähnlich, den ich mit Samiah verband, aber noch viel angenehmer. Dann war mir, als ob eine Brise frischer, kühler Luft über mich wehte, es war ein herrlich angenehmes Gefühl. Es schien, als ob Vögel ihre Schwingen über meinem Kopf bewegten. Ich sah sie nicht, aber ich meinte sie zu spüren. Von Frieden, Glück und Wohlbehagen durchflutet, schlenderte ich in dem Ort umher und schaute mir alles an. Dann stand ich auf einmal vor einem erhabenen und gewaltigen Thron. Niemand saß darauf. Dahinter war eine Kuppel, die wie die Kuppel einer Kirche aussah. Ich schlenderte weiter umher, den Ort genießend, bis ich einige ältere Leute in einer gebogenen Reihe stehen sah, wie um jemanden bei einem Empfang zu ehren. Sie hatten weiße Kleider an, ganz besonders weiße, und waren mit weißen Kopfbedeckungen bedeckt, die etwas Glänzendes enthielten. Ihre Bärte waren lang und weiß, und sie standen da und flüsterten miteinander, als ob sie irgend etwas besprächen. Ich begab mich nahe an sie heran, weil ich gerne verstehen wollte, was sie sagten, jedoch konnte ich nichts verstehen. So verließ ich sie und ging weiter umher und erfreute mich an der
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Umgebung. Meine Augen konnten nicht den ganzen Ort erfassen, geschweige denn seine Grenzen erblicken. Plötzlich erschien jemand. Ich weiß nicht, wie oder woher er kam. Ich sah, wie die alten Männer vor ihm auf die Knie fielen, als er auf den großen Thron zuging. Seine Schritte gingen nicht über den Boden. Er ging, als ob er auf einer Wolke getragen würde, oder wie ein Schatten, bis er den Thron erreicht hatte und darauf Platz nahm. Wie wundervoll! Ich merkte nun, daß ich ihm folgte, und zwar wie von selbst. Ich folgte ihm und kniete zu seinen Füßen nieder. Ein seltsames Gefühl überkam mich, eine Mischung aus Freude, Furcht, Glück und Frieden, und ich spürte ein starkes Zittern durch meinen Körper gehen, wie bei einem elektrischen Schock. Ich vermochte es nicht, meinen Körper zu beherrschen, sondern zitterte völlig unkontrolliert. Ich fragte mich: „Was ist das für ein seltsames Gefühl? Und wer ist der, vor dem ich mit all diesen alten Männern knie? Ich muß meinen Kopf erheben und ihn anschauen, damit ich weiß, wer er ist.“ Ich nahm also all meine Kraft zusammen und schaute ihn an. – Oh Herr! Was sah ich! Ich kann es nicht beschreiben. Ich kann keine passenden Worte finden, um ihn zu beschreiben: Was für ein leuchtendes Gesicht, und für eine kristallene Hautfarbe! Welche Schönheit! Doch sah er müde, erschöpft und traurig aus. Er trug ein hellfarbenes Gewand, hatte einen karmesinroten Schal über seiner linken Schulter, und sein goldenes Haar fiel wellig auf seine Schultern herab wie Samt. Warum all diese Traurigkeit! Seine Augen geschlossen, seine Hände auf seinen Knien liegend, sein Haupt gesenkt, und dennoch wollte man nicht aufhören, ihn anzuschauen. Es schien, als suche er etwas und sei nicht recht glücklich und zufrieden. Ja mehr noch, irgend etwas machte ihm Kummer. Wieder fragte ich mich, wer dieser große Mann wohl sei. War er ein König? Ich hatte noch nie einen so schönen König gesehen. Wer konnte diesen großen Mann aus der Fassung bringen? Ich starrte auf sein hell scheinendes Antlitz und seinen Hals, der wie eine Säule aus reinem Kristall schien. Mein Blick ging wieder auf sein leuchtendes Gesicht und die sehr helle Haut. Und je mehr ich ihn anschaute, um so mehr wurde ich von ihm angezogen, und um so mehr und mehr wollte ich über ihn wissen, wollte wissen, wer er ist. 27
Da plötzlich öffnete er seine Augen und sah mich an. Ich konnte seinem Blick nicht standhalten und fiel auf mein Gesicht. Oh mein Gott, was sah ich! Was für Augen! Es war mir, als würde ich sterben oder ohnmächtig werden von dem, was ich sah. Seine Augen waren groß und mächtige Strahlen entströmten ihnen, gleich Sonnenstrahlen. In der Iris seiner Augen hätte der ganze Erdball Platz gefunden. Ihre Farbe war ein reines Blau, blau wie der klare Himmel, oder wie reines Wasser mit einer Spur von grün. Was waren das für Strahlen, die da auf mich fielen und meinen Körper wie elektrischer Strom durchfluteten? Nicht für einen einzigen Augenblick konnte ich ihn betrachten. Aber ich wollte ihn kennenlernen, ich liebte ihn und wollte ihn anschauen. Also nahm ich all meine Kraft zusammen, ihn wenigstens noch ein einziges Mal zu schauen. Ja, ich erhob meinen Kopf und schaute ihn an. Oh, welches Wunder! Er blickte geradewegs auf mich. Und sein Antlitz, es kam nun näher mit einem Ausdruck, der voll Liebe, freundlich und sanft war. Er fragte mich mit ruhiger Stimme, fast flehentlich: „Ist es vorbei, Nahed?“ Ich fiel auf mein Gesicht. So viel Liebe, Freundlichkeit und Sanftmut – das überstieg meine Kräfte. Ich werde nie die passenden Worte finden für das, was ich erlebt habe. „Wer bin ich schon“, dachte ich, „daß dieser große Mann so flehentlich mit mir spricht? Er ist freundlicher und herzlicher als eine liebevolle Mutter. Und dieser große Mann kennt und nennt mich mit meinem Namen. Er kennt mich wohl gut; aber was meint er mit seiner Frage: ,Ist es vorbei?‘ Ich begreife es nicht. Soll ich ihn fragen? Nein. Diesen Mann fragt man nicht. Ihm gehorcht man nur.“ Während diese Gedanken mir durch den Sinn rasten, mußte ich ihm doch Antwort geben. Ich antwortete, während ich versuchte, mich zu fassen: „Ja, es ist vorbei. Es ist vorbei.“ Begierig geworden, ihn kennenzulernen, nahm ich meine Kraft zusammen, um ihn noch einmal anzuschauen, und brachte es auch wirklich fertig, meinen Kopf hochzuheben und ihn zu betrachten. Ja, da war er und kam mir entgegen, und mit derselben Liebe, Güte und Sanftmut fragte er mich ein zweites Mal geradezu flehentlich: „Bist du sicher, Nahed?“ Die Strahlen seiner Augen durchdrangen mich, als ob er Macht hatte, das in den Tiefen meiner Seele Verborgene zu schauen,
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und zum zweiten Mal fiel ich ihm vor die Füße. Noch nie in meinem Leben ist mir solche Liebe, Sanftmut und Freundlichkeit begegnet. „Und das alles für mich!“ dachte ich. „Wer bin ich denn, daß er mir all diese Aufmerksamkeit schenkt?“ Und dann fragte ich mich wieder: „Sicher worüber?“ Ich verstand nicht, was er meinte, aber ich mußte ihm gehorchen. Ich wagte nicht, ihn zu fragen, was er meinte, und so antwortete ich, ohne meinen Kopf zu erheben: „Ja, ich bin sicher.“ Ich liebte ihn, denn ich fühlte seine unvergleichliche Liebe. Noch ein drittes Mal nahm ich meine Kraft zusammen und hob meinen Kopf, um ihn zu betrachten – trotz der Furcht, die mich erfaßt hatte, und trotz der Tatsache, daß mein Körper so stark und unkontrolliert zitterte. Doch durchflutet von Wohlbehagen und Trost, Frieden und Glück, blickte ich auf ihn. Und welch Wunder! Er kam noch näher heran, und mit demselben Blick und derselben ruhigen Stimme fragte er mich abermals: „Muß ich mir hierüber keine Sorgen mehr machen?“ Und wie vorher antwortete ich: „Nein. Mach Dir keine Sorgen mehr. Mach Dir keine Sorgen mehr über mich.“ Hierauf sagte er nun: „Schau Mich an.“ Ich entgegnete: „Ich kann nicht.“ Beruhigend sagte er: „Fürchte dich nicht. Schau Mich an.“ Als ich die Worte „Fürchte dich nicht“ hörte, wich meine Furcht augenblicklich. Ich hob meinen Kopf und schaute in sein schönes Angesicht. Es gibt keine Worte, um seine Schönheit zu beschreiben. Ich bemerkte, daß die Strahlen, die von seinen Augen ausgingen, erträglich wurden; seine Augen, sie waren gleichsam Licht. Mein Gott, was ist das alles! Liebe, Sanftmut, Milde, Güte, Reinheit, Unschuld. Es ist mir nicht möglich, zu beschreiben, was ich sah. Einige Augenblicke vergingen. Immer noch betrachtete ich ihn, und je mehr ich dies tat, desto mehr mochte ich ihn. Da fragte er mich sanft: „Was siehst du?“ Ich hatte das Gefühl, als ob er mich prüfen wollte. Ich schwieg eine Weile, während ich nachdachte, dann sagte ich: „Ich sehe ein Kind.“ Seine Traurigkeit verschwand, aber er lächelte nicht. Darauf sah ich, wie Tränen aus seinen Augen hervorquollen und über sein Gesicht strömten. Es wurde ein Fluß von Tränen, der sich auf seine Kleider ergoß. Ich weinte mit ihm, ich weinte unaufhörlich. Mein Körper zitterte heftig – obwohl ich mich innerlich glücklich fühlte, weil
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ich die richtige Antwort gegeben hatte und er zufrieden mit mir war. Noch einige Augenblicke vergingen, dann fühlte ich meinen Körper auf das Bett fallen, und ich wachte auf. Als ich meine Augen öffnete, war ich völlig verwirrt. „Wo bin ich?“ dachte ich. „Wo ist er? Wo ist das Gewand, das ich anhatte?“ Einige Zeit verging, und ich fühlte mich, wie wenn ich mein Gedächtnis verloren hätte. Ich wollte zurück. „Hilf mir, o Gott, mein Fremdsein in dieser Welt, die so fern ist von Dir, zu ertragen. Ich liebe Dich mit jeder Faser meines Seins. Ich Hebe Dich aus tiefstem Herzen. Du hast mich fühlen lassen, daß Du mich mit einer solchen Liebe liebst, wie ich sie nie vorher in meinem ganzen Leben erfahren habe.“ Die Strahlen seiner Augen haben mich geschmolzen und eine andere Legierung aus mir gemacht. Ich kann mich gut an sein flehentliches Bitten entsinnen, während seine strahlenden Augen bei jeder Bewegung seines Hauptes Lichtkreise malten. Seine ruhige, freundliche Stimme klingt mir noch in den Ohren. Das ist überwältigend. Es ist jenseits jedweden Fassungvermögens oder jedweder Vorstellungskraft. Und er hat so eine wundervolle Wesensharmonie. Trotz seiner Sanftmut, Freundlichkeit und Liebe ist er doch so mächtig. Es ist so phantastisch, daß ich nicht einmal den Versuch wage, ihn näher zu beschreiben. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, weckte ich meine Tochter. Der Eindruck der Vision war so ausgeprägt, daß ich dachte, sie hätte sie ebenfalls geschaut. Gespannt fragte ich sie: „Hast du gesehen, wer mit mir gesprochen hat?“ Mit einem Ausdruck der Verwunderung sagte sie leise: „Beruhige dich, Mutter. Wer hat mit dir gesprochen?“ Ich beschrieb ihr, was ich gesehen hatte. „Das ist ein Engel“, sagte sie. „Es muß ein Engel sein.“ Ihre Antwort stellte mich nicht zufrieden. Nein, ich kannte ihn sehr wohl. Ich wußte, wer er war, und ich wußte auch, was er mit seinen Worten meinte. Dann ging ich ins Zimmer meines Sohnes und wiederholte, was ich soeben seiner Schwester erzählt hatte, und stellte ihm dieselbe Frage. Er schien genauso verwirrt. Da er mich noch nie so gesehen hatte, meinte er ebenfalls: „Beruhige dich, Mutter. Das muß ein Engel sein. Die Beschreibung paßt auf einen Engel.“ Aber nein. Ich wußte, wer er war, und konnte es doch selbst nicht wahrhaben.
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Nach einer Weile wachte mein Mann durch den Klang meiner Stimme auf. Ich fragte auch ihn. Er sagte: „Es könnte möglicherweise Joseph, der Zaddik, sein. Der wird genauso beschrieben.“ Nein. Er war nicht Joseph, der Zaddik. Ich wußte, wer er war, aber die Wucht der Überraschung war so stark, daß ich eine Bestätigung suchte. Ich eilte zur Schule, wobei ich mehr das Gefühl hatte, zu fliegen, und zwar in einer anderen Welt. Was ich geschaut und erlebt hatte, würde für jeden überwältigend sein. Ich ging zu Samiah und fragte sie voll konzentriert, auf wen diese Beschreibung passen würde. Als ich dann begann, ihr all das zu erzählen, was sich zugetragen hatte, verlor ich die Kontrolle über mich und fing an zu weinen. Ich zitterte so stark, während ich ihr die Vision erzählte, daß es war, als würde ich sie noch einmal erleben. Mir war, als sähe ich ihn wieder, als hörte ich erneut seine freundliche, sanfte Stimme in meinen Ohren. Als ich meine Geschichte beendet hatte, schien Samiah verwirrt und erstaunt. Sie öffnete ihre Tasche und zeigte mir einige Bilder. Ich griff das Bild des geliebten Christus aus ihnen heraus und sagte zu ihr: „Das ist sein Bild, aber Er sieht noch viel herrlicher aus.“ Ich wartete erst gar nicht auf Samiahs Antwort. Dem Ausdruck auf ihrem Gesicht zu schließen, wußte ich, daß Er es war. Sie sagte: „Ich werde den Priester darüber befragen, und dann werde ich dir Bescheid geben.“ Auf dem Weg in mein Büro kam mir ein anderer christlicher Lehrer, Moufeed, in den Sinn. Er war ein Naturwissenschaftslehrer an der Schule und war mir in den letzten zwei Jahren ein guter, loyaler und treuer Kamerad gewesen, stets gut zu mir, und dies trotz allem, was ich gegen die Christen an der Schule veranstaltete. Er war sehr nachsichtig mit mir, ungeachtet meiner verbalen Beschimpfungen und Angriffe auch gegen ihn, und trotz meines schlechten und ungehörigen Verhaltens gegenüber den Christen allgemein. Ja, im Gegenteil, selbst meine schlechten Taten hatte er immer mit Wohlwollen und guten Taten vergolten. Es war mir nie möglich, ihn seines Friedens und seiner Ruhe zu berauben. Als ich mein Büro betrat, saß er da und blätterte gerade die Tageszeitung durch. Da er mich sah, fragte er forschend: „Was ist denn mit dir los?“ Ich ließ mich auf meinen Stuhl fallen. Dann erzählte ich ihm von der Vision, die sich zugetragen hatte. Er
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bat mich, alles detailgenau wiederzugeben. Mein Inneres war immer noch aufgewühlt; ich hatte mich nicht unter Kontrolle und weinte. Er hörte verwundert zu, und wie ich ihm alles erzählt hatte, was ich gesehen hatte, sagte er: „Entschuldige, aber kannst du das noch einmal wiederholen, was du mir gerade erzählt hast?“ Ich erzählte die ganze Vision noch einmal von vorne. Und ein zweites Mal bat er mich, alles zu wiederholen. Nachdem ich es noch einmal erzählt hatte, erhob er seinen Kopf und sagte: „Danke, Herr!“ Dann wandte er sich mir zu und sagte: „Möchtest du wirklich wissen, wer es ist?“ – „Ja natürlich, aber sicher“, gab ich zurück. Sehr ruhig sagte er: „Es war Jesus.“ Obwohl ich es eigentlich wußte und dessen schon sicher war, brach ich völlig zusammen und war ganz in Tränen und Zittern aufgelöst. Moufeed versuchte mir zu helfen, meine Fassung wiederzuerlangen. Als nichts half, ließ er mich in meinem Zimmer allein und schloß die Tür hinter sich. Er kam jedoch von Zeit zu Zeit und schaute nach mir. Dann, nachdem ich mich endlich beruhigt hatte, kam er herein und setzte sich neben mich. Während ich über das Geschehene nachdachte, sah ich ihn an und sagte: „Wer bin ich, daß ich Christus sehe? Und wer bin ich, daß Christus auf diese Weise mit mir spricht? Er sprach so flehentlich zu mir, mit sanfter, leiser Stimme und ganz ruhig. Was meint Er, wenn Er sagt: ,Ist es vorbei, Nahed?‘ Mir ist zumute, wie wenn ich den Verstand verlöre. All diese Liebe und Freundlichkeit für mich! Es war nicht, als ob ich in meinem Zimmer auf meinem Bett gelegen hätte. Ich war irgendwoanders, an einem Ort, den ich überhaupt nicht beschreiben kann. Es gibt keine passenden Worte, um zu beschreiben, was ich geschaut habe.“ Moufeed antwortete: „Es ist wahr, daß wir Gottes Geschenke und Gaben nicht verdienen. Aber Er gibt uns nicht nach unseren Taten. Er beschenkt uns aus der Fülle Seiner Herrlichkeit.“ Ich sagte: „Ich schäme mich so für meine Sünden. Sie sind wie ein Berg auf meinen Schultern. Und trotzdem ,belohnt‘ Er mich mit all dieser Liebe?“ Moufeed erklärte mit friedvoller, ruhiger Stimme: „Er liebt die Sünder. Und wenn sie Buße tun und umkehren, sagt Er zu ihnen: ,Ich werde alle eure Sünden tilgen und mich nicht mehr daran erinnern.‘ Das ist unser gütiger Herr Jesus Christus.“ 32
Ich fragte Moufeed: „Was muß ich jetzt tun?“ Moufeed beruhigte mich und sagte: „Nichts. Warte einfach. Er wird Sein Werk mit dir vollenden. Er wird vollenden, was Er angefangen hat, und Er wird dich führen. Sei du nur ruhig, und versuche, normal zu sein.“ Dann ließ er mich allein. Tage vergingen, und ich sah nichts anderes als Seine strahlenden Augen. Ich hörte nichts anderes als Seine freundliche Stimme. – Oh wie groß ist Deine Liebe zu uns Sündern! Eines Tages wandte ich mich an Gott und sagte: „Liebster Herr, ich schäme mich vor mir selber. Warum überschüttest Du mich mit all diesen Segnungen und mit so viel Gnade? Durch die Last meiner Sünden kann ich meinen Kopf nicht erheben. Führe mich, mein Herr, in meiner Reue und in meinem Verlangen, Dich kennenzulernen. Stütze mich in meiner Schwachheit und hilf mir. Doch, wer bin ich, daß ich es verdiene, Dich zu sehen und Dir nahe zu sein?“ Ich erhielt zur Antwort: „Du hast einen Auftrag.“ Wunderbar. Ich konnte nicht glauben, was ich hörte, aber die Antwort kam noch einmal: „Du hast einen Auftrag.“ Ich rief: „Ich, mein Herr?“ Und zum dritten Mal hörte ich: „Du hast einen Auftrag. Beruhige dich und sei zuversichtlich. Übereile nichts und bring nichts durcheinander.“ Ich wurde mit Frieden und Ruhe erfüllt und sagte darauf: „Mein Gott, ich gehöre Dir ganz. Dein Wille geschehe, nicht der meine. Gebrauche mich wie Du willst. Ich will nichts als in Deiner Nähe sein, schon von dem Augenblick an, als ich erkannte, wie sehr Du mich liebst. Ich möchte Dich so sehr lieben wie Du mich liebst. Was für eine Ehre, was für eine Auserwählung und welche Freude ist es, Dir zu dienen, Herr! Hilf mir, Herr, und stärke mich, damit ich Deinem Willen entspreche. Regiere Du in meinem Herzen. Ich will immer Dein sein, bis ans Ende. Bitte laß mich Dir treu bleiben bis zu meinem letzten Atemzug.“ Und so war Nahed nach ihrer Begegnung mit dem Herrn der Herrlichkeit. Die ganze Welt ist nichts. Die ganze Welt ist nicht soviel wert wie eine einzige von Seinen Tränen. Wenn ich bei Ihm bin, brauche ich nichts. In Ihm ist Liebe, Friede und Sicherheit. Da ist die Fülle. Ja, die ganze Fülle.
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4. Das wunderbare Werk Gottes Einige Tage vergingen, angespannt und mühsam. Mit jedem Tag wurde ich begieriger, mehr über Gott zu wissen, Ihn besser kennenzulernen und zu erfahren, was es mit dem Christentum auf sich hat. Ich wollte die Bibel lesen, zur Kirche gehen, um die Messe zu besuchen, und mich gerne mit einem Priester unterhalten. Aber wie? Sicherlich würde kaum ein Priester ein Treffen mit mir haben wollen. Ich war ja damals ein Quälgeist für alle Christen, die im Rahmen der täglichen Schularbeit mit mir in Berührung kamen. Aber nun war ich ja selber Christ. Ich ging wieder zu Samiah und sagte ihr, daß ich gerne einen Priester treffen und mich mit ihm unterhalten wollte, auch daß ich gerne eine Bibel zum Lesen haben würde. Samiah sagte, daß sie dem Priester schon von mir erzählt hätte, und daß er mich gerne treffen möchte, vorher aber etwas Zeit brauche, um sich auf das Treffen vorzubereiten. „Was die Bibel betrifft“, dachte Samiah nach, „wo könntest du sie lesen? In der Schule, wo in deinem Büro doch immer Betrieb ist? Oder zu Hause, wo deine Kinder und dein Mann sind?“ Da erinnerte ich mich an das Appartement, das ich hatte, und erwiderte: „In meinem Appartement!“ Jetzt verstand ich plötzlich, warum ich dieses Appartement gepachtet hatte, obwohl ich es eigentlich nie brauchte und auch nicht ahnen konnte, daß ich es jemals brauchen würde. Vor meinem inneren Auge ließ ich die Dinge Revue passieren, die dazu geführt hatten, daß ich dieses Appartement gepachtet hatte: Mein Vater, der den Rang eines Generals in der Polizeihierarchie innehatte, besaß ein großes Appartement in dem Offiziers-Komplex in Abbaseyyah (einem Stadtviertel am Rande von Kairo). Als er starb, entschieden wir uns, es zu verkaufen. Mein Anteil dieses Erbes betrug 7.000 ägyptische Pfund, die ich dann verwendete, um dieses Appartement zu pachten, gegen die Einwände meiner Kinder. Am Ende setzte ich mich durch, doch das Appartement blieb leer, obwohl ich es nach und nach mit allem Notwendigen eingerichtet hatte, so wie es die Umstände erlaubten. Eines Tages, als ich auf meinem Weg zur Schule eine Straße überquerte, war ich so in Gedanken versunken, daß ich nicht auf den
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Verkehr achtete und fast von einem Auto überfahren worden wäre. Ich war wieder fasziniert gewesen von den zwei strahlenden Augen, der ruhigen, friedvollen Stimme, mit der Christus in der Vision zu mir gesprochen hatte, und vor allem von dem Gedanken an die Aufgabe, die ich in meinem Leben noch erfüllen sollte. Auf einmal empfand ich, daß mir jemand gebot zu sagen: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.“ Die Aufforderung schien mir so laut, daß ich mich umdrehte, um zu sehen, ob andere Leute um mich herum das auch gehört hätten. Doch dafür gab es keine Anzeichen. Zitternd erreichte ich die Schule. Ich erzählte Samiah, was passiert war, und bekreuzigte mich dabei auf die Art, wie die Christen das allgemein tun. Samiah fragte mich: „Wer hat dir denn das beigebracht?“ Ich antwortete: „Irgend jemand hat mir gesagt, ich solle es sagen, gleich nachdem das Auto mich fast überfahren hätte.“ Samiah meinte: „Dann laß es uns auch vollständig sagen: Ein Gott. Amen.“ Darauf erklärte sie mir die Bedeutung des Kreuzzeichens: „Gott kam vom Himmel zur Erde herab in Gestalt seines eingeborenen Sohnes, der uns aus der Dunkelheit befreit und ins Licht geführt hat.“ Nach einem Moment des Schweigens fügte sie hinzu: „Immer wenn du beunruhigt bist oder Angst hast, und immer, wenn du morgens aufwachst oder bevor du abends zu Bett gehst, wiederhole, was Gott dich heute gelehrt hat. Er beschenkt dich entsprechend der Sehnsucht deines Herzens. Aber paß auf, daß dich niemand dabei sieht.“ Wie glücklich bin ich, und wie wunderbar sind Deine Werke, Herr. Deine Liebe zu erfahren ist ein überaus großes Privileg. Du selbst unterrichtest mich. Danke, Herr! Selbst wenn ich den Rest meines Lebens vor Dir kniend zubringen würde, wäre es mir nicht möglich, Dir auch nur eine Kleinigkeit zu vergelten. Du schenkst so reichlich! – Als ich in mein Büro kam, saß Moufeed da und las wie gewöhnlich die Zeitung. Ich grüßte ihn mit den Worten: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes“, und bekreuzigte mich so, wie der Herr es mich gelehrt hatte. Moufeed lächelte und sagte: „Habe ich dir nicht gesagt, der Herr wird dich leiten und lehren? – Danke, Herr! – Danke dem Herrn immer. Jetzt habe ich ein zuversichtliches Gefühl, was dich betrifft. Du bist in guten Händen, in den Händen unseres geliebten Gottes.“ 35
Ich setzte mich und wollte mir eine Zigarette anzünden – ich war Kettenraucherin – , doch noch bevor ich sie angezündet hatte, sagte Moufeed in seiner taktvollen Art zu mir: „Du brauchst das eigentlich jetzt nicht mehr.“ Ich warf daraufhin die ganze Packung Zigaretten in den Papierkorb und gelobte, nicht mehr zu rauchen. Der Herr half mir, und ich habe von da an wirklich nie mehr geraucht. Es verging eine ganze Zeit, in der ich einfach voller Glück war. Der Herr umgab mich mit Liebe, Segen und Führung, die mein Fassungsvermögen und meine Vorstellungskraft weit überstiegen. Mein Gott, ich liebte Dich, doch ich war fern von Dir. Ich kannte den Weg nicht, und eine Barriere war zwischen Dir und mir. Jetzt, da ich Dich gefunden habe, und jetzt, da ich Dich kenne, wohne für immer in meinem Herzen. Mach mich Dir zu eigen. Ich fürchtete Dich, bis zu dem Tag, als ich Dir begegnete. Heute liebe ich Dich und sehne mich danach, bei Dir zu sein, wenn meine Tage in dieser Welt zuende gehen. Die wahre Freude wird darin bestehen, bei Dir zu sein. – Ich hatte schon lange unter hohem Blutdruck gelitten, oft hatte ich Werte von 200/110. Eines Nachts lag ich in meinem Bett und redete mit Gott. Ich bat ihn, mich zu heilen. Auf einmal hatte ich das Gefühl, als ob jemand mein Gesicht berührte. Als ich das Licht anknipste, war niemand da. Dann schlief ich ein, und diese Nacht schlief ich so tief wie noch nie. – Gelobt sei Gott, der mein Leben mit Frieden und Ruhe erfüllt hat! Ein anderes Mal nachts sah ich folgendes: Ich stand in einem mit Teppich ausgelegten Raum. Darin war ein großes, tiefes Wasserbecken. Zu meiner Überraschung hatte ich nur meinen Hausmantel an und war barfuß. Ich hatte das Gefühl, ich müsse in einer Kirche sein; doch wie konnte ich so gekleidet in einer Kirche sein? Und das Becken, ein solches hatte ich noch nie gesehen. Jemand öffnete die Tür des Raumes, aber ich schämte mich zu sehr, ihn anzusehen. Ich schloß meinen Mantel fester um mich und schaute zu Boden. Der da hereinkam, ging auf mich zu und salbte, mir gegenüberstehend, meinen Körper mit Öl. Ich stand schweigend da und erhob keinen Einspruch. Dann verließ der nämliche den Raum, und ich folgte ihm. Etwa 10 bis 12 Priester in schwarzen Gewändern waren da, von denen einige brennende Kerzen in ihren Händen hielten
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und wunderbare Weisen sangen, die ich nicht verstehen konnte. Ich ging nach vorne, und sie folgten mir wie in einer Prozession durch einen langen Gang. Am Ende des Ganges gingen wir zwei Stufen hinauf und dann um etwas herum, das aussah wie ein Tisch, der mit einem schönen weißen Tuch bedeckt war. Dann gingen wir denselben Weg zurück, bis wir aus der Kirche herauskamen. Als ich aufwachte, dachte ich über das, was ich erlebt hatte, nach und wußte nichts damit anzufangen. Es war noch nie, daß ich nur so bekleidet in eine Kirche ging. Und was hatten alle diese Markierungen auf meinem Körper zu bedeuten? Sie fühlten sich ölig an. Ich eilte in die Schule, um Samiah zu bitten, mir das zu erklären. Sie wirkte hocherfreut und fragte mich jubelnd: „Bist du in das Becken hineingestiegen?“ Ich sagte: „Nein, warum?“ Sie sagte: „Das ist ein Taufbecken. Du mußt nur noch dorthin gehen und dich taufen lassen.“ Dann begann sie, mir das Sakrament der Taufe zu erklären, seine Wichtigkeit, und daß der Christ nur durch diesen Ritus die sakramentale Taufgnade empfängt. Welch eine Erwählung, Deine Liebe erfahren zu dürfen, o Herr! Du hast mir den Weg gezeigt. Du hast mir Schutz und Zuflucht gewährt. Du hast mich durch Deine Führung geleitet, als ob ich das einzige Gut wäre, um das Du Dich kümmern wollest. Du hast mich mit Deiner Liebe umgeben, als ob ich der einzige Gegenstand Deiner Liebe wäre. Wie ein Hirte hast Du mich gehütet, und so, als ob ich das einzige Schaf da draußen wäre. Ich danke Dir, o Du barmherziger Gott. – Samiah versprach, die Angelegenheit mit dem Priester zu besprechen und einen Gesprächstermin für mich bei ihm zu besorgen. Ich ging in mein Büro, wo Moufeed schon auf mich wartete. Er warf nur einen kurzen Blick auf mich, lächelte und sagte mit seiner ruhigen, heiteren Stimme: „Sag’ mir schnell, warum bist du so glücklich?“ Ich setzte mich zu ihm und erzählte ihm die ganze Geschichte. Er saß bei mir und lobte und dankte Gott. Als ich meinen Bericht beendet hatte, erhob er seine Augen, schaute mich an und sagte: „Danke, Herr! Ich weiß, Du bist derselbe gestern, heute, und in alle Ewigkeit. Dir sei ewiglich Ehre und Dank! – Der Herr hat dich auserwählt, eine Zeugin für Seinen Namen zu sein. Ich vertraue unserem allmächtigen Gott, daß Er dich
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retten und schützen wird, und daß Er Sein Werk in dir vollenden wird. Danke Ihm immer, und preise Ihn.“ Als ich zur Nachuntersuchung bei meinem Hausarzt war, fragte dieser, ob ich Kopfschmerzen oder sonst irgendwelche Schmerzen hätte, und ob ich im Bett geblieben sei, wie er mir befohlen hatte. Meine Antwort war ein klares: „Nein.“ Nachdenklich meinte er dazu: „Möchten Sie gerne sterben?“ – „Nein“, sagte ich, „aber warum machen Sie nicht mit der Untersuchung weiter?“ Er aber fand keine Spur mehr von hohem Blutdruck. Sein erster Gedanke war, daß etwas mit seinem Meßgerät nicht in Ordnung sei. Er holte ein zweites heraus, doch die Ergebnisse waren dieselben. Nun starrte er mich an und wußte nicht, was er sagen sollte. Ja, Gott, der Allmächtige, hatte mich durch Seine heilige Berührung geheilt. Mehr brauchte ich nicht. Einige Tage vergingen. Ich fühlte mich sehr glücklich und sonnte mich in der Fürsorge meines Erlösers. Welch lohnende Gesellschaft! Dennoch hatte ich ein ungebrochen großes Verlangen, mehr über Jesus Christus und die Bibel zu erfahren. Eines Tages kam Samiah zu mir und sagte, der Priester wäre jetzt soweit, mich zu empfangen. „Wird das in der Kirche sein?“ rief ich. „Nein“, sagte sie, „es wird bei uns zu Hause sein. Mein Vater ist krank, und der Priester kommt uns besuchen, um mit ihm zu beten. Du wirst uns auch besuchen und ihn bei der Gelegenheit treffen.“ Ich fragte, wann das sein würde. Sie sagte: „Morgen, am Sonntag, nach der Messe.“ Ich war hocherfreut. Morgen würde ich endlich den Pater treffen. Sicher, ich war schon ein paar Priestern begegnet, aber die Begegnung morgen würde eine völlig andere sein. Durch Gottes Gnade war ich ein neuer Mensch geworden. Am Vorabend jenes Tages ging ich früh zu Bett. In der Nacht sah ich, wie jemand mich in ein Kloster mitten in der Wüste einlud. Nichts als Sand war ringsumher. Das Kloster hatte ein riesiges Tor, mit drei Kuppeln oben auf dem Tor. Die mittlere Kuppel war größer als die beiden seitlichen und hatte ein Kreuz auf der Spitze. Als wir uns dem Tor näherten, öffnete ein Mann in einem schwarzen Gewand die Tür. Der Mann trug eine Kopfbedeckung, die mit mehreren kleinen Kreuzen geschmückt war. Hinter dem Tor war eine lange, enge, mit Bäumen
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gesäumte Straße. Am Ende der Straße stand eine neue Kirche, mit einer alten dahinter. Wir betraten die alte Kirche. Es waren Grabstätten von Heiligen darin, die aussahen, als ob sie nur schliefen. Als ich am Morgen aufwachte, war ich in heiterer Stimmung. Ich vermutete, der Pater müßte das Kloster kennen, und daß, wenn ich es ihm beschriebe, er von meiner Aufrichtigkeit überzeugt sein und sich gelöster mit mir fühlen würde. Ich ging etwas früher zu Samiah, um vor dem Pater dazusein. Wir warteten dann gemeinsam auf ihn bis er kam. Nach der ersten Begrüßung, bei der ich seine Hand küßte, saß ich ihm gegenüber und erzählte ihm kurz all die Visionen, die ich gehabt hatte. Ich konnte meine Rührung nicht verbergen, als ich ihm von meiner Begegnung mit Christus berichtete, von Seiner Art zu sprechen, Seiner Liebe, Seiner Freundlichkeit und Seiner Sanftmut. Es war, als ob ich die Vision noch einmal erlebte. Ich berichtete ihm auch von all den Erlebnissen, die ich danach gehabt hatte. Der Pater hörte aufmerksam zu. Als ich mit der Beschreibung des Wüstenklosters fertig war, meinte er: „Diese Beschreibung paßt auf das Baramoskloster. Ich lade Sie zu einem Besuch dahin ein. Möchten Sie gerne mit mir kommen, wenn ich dorthin fahre?“ Eifrig antwortete ich: „Ja, natürlich. Ich würde sehr gerne einen Besuch dort machen.“ Der Pater sagte: „Ich werde nächsten Dienstag früh hinfahren und Donnerstag abend zurückkommen. Wir fahren um 5 Uhr früh ab. Am besten treffen wir uns alle vor meinem Haus.“ Ich dachte an mein Appartement, das nur fünf Minuten zu Fuß von seiner Wohnung entfernt war, in derselben Straße. Plötzlich verstand ich, warum ich so darauf bestanden hatte, ein eigenes Appartement zu haben, und dazu noch in dieser Gegend. Das war Gottes Fügung. Der Pater fing dann an, mir das Geheimnis der göttlichen Inkarnation zu erklären, und die Gründe, warum das so sein mußte. Ich sagte: „Das brauchen Sie mir nicht alles zu erklären. Das habe ich alles mit meinen eigenen Augen geschaut. Ich habe den Menschen und ebenso den Gott in Ihm geschaut. Ich habe gesehen, was kein Mund beschreiben kann. Ach, wenn doch alle Menschen erfahren könnten, wie sehr Er uns liebt! Ich wünschte, ich könnte Worte finden, um zu beschreiben, was ich geschaut habe.“ 39
Das Treffen mit dem Pater dauerte fünf Stunden, von 2 Uhr nachmittags bis 7 Uhr abends. Die Zeit verging so schnell. Wir waren alle glücklich in der Gegenwart unseres geliebten Herrn, der mitten unter uns war, und wir trennten uns in der Hoffnung, uns den darauffolgenden Dienstag um 5 Uhr früh wiederzutreffen. Auf meinem Heimweg überlegte ich immer wieder: „Wie soll ich bloß drei ganze Tage wegbleiben? Was soll ich sagen, wenn eins meiner Kinder mich fragt: ,Wohin fährst du, Mama?‘ “ Es wurde mir jetzt sehr klar, daß es an der Zeit war, am Montag in mein eigenes Appartement umzuziehen, damit ich am nächsten Morgen für den Ausflug mit dem Pater ins Kloster bereit sein würde. Aber, wie sollte ich meinen Kindern das beibringen? In einigen Tagen würde mein Sohn gerade sein Schlußexamen an der Fakultät für Ingenieurwissenschaften an der Ein-Shams-Universität ablegen. Ich war ihm das ganze akademische Jahr hindurch entgegengekommen, hatte ihm keine Bitte abgeschlagen. Innerlich aufgewühlt überlegte ich: Würde ich die Trennung von meinen Kindern aushalten können? Mein Sohn war jetzt 23; er war der älteste. Meine ältere Tochter war 22, und die jüngere war 20. Es wäre das erste Mal, daß ich getrennt von ihnen leben würde. Obwohl ihr Vater und ich 1983 geschieden wurden, lebten wir doch um der Kinder willen im selben Haus. Ich war damals nicht imstande gewesen, sie zu verlassen. Würde ich es jetzt können? Würden sie mich in Frieden gehen lassen? Ich bat Gott um seine Hilfe. Ich würde die Sache mit ihnen besprechen und am Tag danach in mein Appartement umzuziehen. Während ihr Vater sich etwas im Fernsehen anschaute, ergriff ich die Gelegenheit, um mit ihnen zu sprechen, und sagte ihnen ganz ruhig: „Übrigens, ich ziehe morgen in mein Appartement.“ Ich wartete auf ihre Reaktion, doch zu meiner Überraschung blieben sie alle stumm. Keiner von ihnen sagte ein Wort, während sie mich unverwandt anstarrten. Ich fügte schnell hinzu: „Ich hoffe nicht, daß ich euch gegenüber irgendwie rücksichtlos bin.“ Dann zog ich mich in mein Zimmer zurück und begann, meine Sachen zu packen, ohne ihnen die Gelegenheit zu geben, weiter über die Sache zu diskutieren, damit ich nicht schwach werden, ihren Argumenten nachgeben und dann einen Rückzieher ma-
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chen würde. Ich fühlte mich glücklich und Gott dankbar. Am nächsten Morgen ging ich früh zur Schule. Am Ende des Tages bat ich zwei Schularbeiter, mit einem kleinen Lastwagen zu kommen, um mir beim Umzug zu helfen, und sie taten es. Es war erstaunlich! Ich fühlte mich so glücklich und erleichtert, wie eine Braut, die in ihr neues Heim einzieht. Ja, ich war eine Braut. „Ich werde mit meinem geliebten Gott allein zuhause sein“, dachte ich. „Seine Liebe ist stärker als jede andere Liebe oder jedes andere Gefühl. Alle zuhause waren mit meinem Entschluß einverstanden. Ich weiß, das war Dein Werk. Und wenn das Appartement auch klein ist, ist es für mich so groß wie ein Palast. Ich kann nicht beschreiben, wie sehr ich mich nach Dir sehne, Herr. Wenn wir erst einmal erfahren haben, wie sehr Du uns liebst, dann lieben wir Dich, weil Du uns zuerst geliebt hast. Ich brauche nichts mehr als Dich. Mein Herz gehört ganz Dir. Ich lobe Dich, ich preise Dich, und ich danke Dir, denn Du hast mich dahin gebracht, Dich zu kennen und zu lieben.“ Die Nacht verbrachte ich damit, das Appartement zu säubern und die Möbel zu arrangieren. Beim Morgengrauen eilte ich zu meiner Verabredung. Der Pater wartete schon auf mich. Wir fuhren los zur Kairo-Alexandria-Wüstenstraße. Beim Kloster angekommen erkannte ich die Umgebung, die ich in der Vision gesehen hatte. Alles war genauso wie in der Vision: das eiserne Tor, der lange, mit Bäumen gesäumte Weg, die neue Kirche, und die alte Kirche. Dort, in der alten Kirche, wohnten wir der Messe bei. Es war die erste Messe, die ich jemals in meinem Leben miterlebte. Ich verstand nicht viel, doch ich hatte ein Gefühl dafür, was die Worte bedeuteten. Ich wünschte mir, ich wüßte, was da gesagt wurde und was es bedeutete. Ein Mönch gab mir ein Buch, um den Gebeten darin folgen zu können. Es war das „Et-Xologion“ (das Buch, das die Texte der St.Basilius-Messe und der St.-Gregor-Messe sowie die Gesänge und Lieder zu den beiden Messen enthält). Ich sollte mir eine Kopie besorgen, dachte ich. Ich fühlte mich dem Herrn gegenüber so dankbar, der meine Bedürfnisse kannte und mir gab, ohne daß ich darum bat. Während der Messe bemerkte ich den Geruch von Blut. Der ganze Raum war erfüllt davon. Ich hielt mir die Nase zu und drehte mich
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um, um zu sehen, woher der Geruch kam. Der Pater bemerkte meine Reaktion und fragte mich, was los sei. Ich sagte ihm, daß es stark nach Blut rieche und daß ich nicht wüßte, woher der Geruch komme. Der Pater lächelte und sagte, er würde mir nach der Messe alles erklären. Gegen Ende der Messe sah ich, wie alle zu dem Priester gingen und einem jeden etwas in den Mund gegeben wurde, außer mir. Ich fragte den Pater: „Was geschieht da? Ich verstehe das nicht. Ich will auch haben, was die anderen bekommen.“ Der Pater sagte: „Ich werde dir das alles erklären: In der Messe feiern wir das Gedächtnis des Todes und der Auferstehung Christi. Das Brot ist der Leib Christi, und der Wein und das Wasser sind Sein Blut. Gott liebt dich so sehr, daß er deine Sinne gebraucht, um dich mit diesen Tatsachen bekanntzumachen.“ Ich antwortete: „Ich glaube, daß das Sein kostbarer Leib und Sein Blut ist. Ich habe ja den Geruch von Blut bemerkt. Dank Dir, mein Gott. Jetzt möchte ich auch in dieser Form Kommunion haben.“ – „Nein“, sagte der Pater, „du mußt erst getauft werden.“ Ich fragte: „Was hindert mich daran, jetzt getauft zu werden?“ – „Das ist nicht so einfach“, entgegnete er. „Du mußt dir gut darüber im klaren sein.“ Nun, ich muß wohl Geduld haben, dachte ich. Der Pater gab mir eine Bibel und ein Agpiah (ein Gebetbuch) und lehrte mich, wie man betet. Ich kaufte mir ein Tonband und ein Buch über die Messe, damit ich es auswendig lernen und jedes Wort in der Messe mit dem Herzen mitvollziehen konnte. Als ich von dem Ausflug nach Hause kam, war ich froh, daß die Barriere zwischen mir und der Kirche überwunden war. Es war gerade Ende des Schuljahres. Was für eine Gelegenheit! Jetzt würde ich jeden Tag zur Kirche gehen und beten können, und in der Bibel zuerst das Neue Testament lesen, wie der Pater mir empfohlen hatte. Den Stil, in dem die Evangelien, die frohe Botschaft, geschrieben sind, fand ich einfach, folgerichtig und unkompliziert. Es nahm das Herz gleich ein. Es wurde mir nie langweilig, darin zu lesen. Und ich wußte jetzt um die Wichtigkeit des Taufsakramentes. Am Ende der Messe hatten alle teil an dem Leib und Blut Jesu Christi, außer mir. Ich mußte also getauft werden. – Herr, hilf Du mir! Ich besuchte regelmäßig meine Kinder und erkundigte mich beson-
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ders bei meinem Sohn nach seinen Prüfungen. Dabei kam ich auch auf das Thema des nicht abgeschlossenen Faches aus dem letzten Jahr zu sprechen. Mein Sohn machte mir den Eindruck, daß er mit seinen Leistungen in den Prüfungen nicht zufrieden war. Das war ein Schock für mich. Ein Gefühl von Schuld und Reue überkam mich. Ich meinte, ich hätte vielleicht doch mit meinem Auszug aus der Familienwohnung warten sollen bis mein Sohn sein Examen hinter sich hatte. Ich suchte den Pater auf und erzählte ihm, was passiert war. Er versuchte, mich zu beruhigen, und lud mich ein, das nämliche Kloster ein zweites Mal zu besuchen, dieses Mal mit seiner Tochter und einer ihrer Freundinnen. Ich nahm die Einladung an und stimmte einem bestimmten Tag und Treffpunkt zu. Der Pater schlug vor, wir sollten das Abendgebet in einer Höhle beten, die St. Kyrollus (der heilige Cyrillus, Papst der koptischen Kirche von 1959–1971) als seine Zelle benutzt hatte. Wir kamen mit ihm. Es war eine sehr kleine Höhle. Wir gingen hinein, um zu beten, während der Mönch draußen wartete. Ich bat Gott unter Tränen, daß Er meinem Sohn bei seinen Prüfungen helfen möge. Jedesmal wenn ich die Augen des heiligen Kyrollus in einer Ikone von ihm betrachtete, dachte ich, ich sähe, wie sie sich bewegten. Ich vermutete aber, es sei die Wirkung der Tränen in meinen Augen. Es war ein heller, klarer Tag, und die Sonne stand uns im Rücken. Plötzlich fühlte ich, daß jemand hinter uns stand. Er umarmte uns drei (die Tochter, ihre Freundin und mich) und verdeckte dabei die Sonnenstrahlen. Ich konnte spüren, wie sein durchdringender Blick mich durchbohrte, worauf ich der Tochter des Paters zuflüsterte, daß wir gehen sollten. Als wir die Höhle verließen, schaute ich umher, sah jedoch niemanden. Seltsam! Und doch war mir klar, es mußte Papst Kyrollus gewesen sein. Er ist ein großer Heiliger. Man sagte mir, daß Gott ihn oft gebraucht, um Wunder zu tun. Doch ich war voll Furcht und bat den Pater, wir sollten nach Hause zurückfahren. Wir verließen das Kloster am nächsten Morgen. Ich kehrte zurück in mein Appartement, immer noch in den Gedanken vertieft, daß der Geist des Heiligen Kyrollus seine Arme um mich gelegt hatte. Was für eine Macht! Ich war noch immer ganz davon ergriffen.
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Über das alles dachte ich nach bis ich einschlief. Im Traume dann sah ich mich in meinem Büro in der Schule. Mein Sohn, der mir wie ein Schuljunge vorkam, kam mit strahlendem Gesicht herein. Er lief mir entgegen und sagte: „Mama, ich bin getauft worden.“ Ich fragte ihn mit Freudentränen in den Augen: „Wie? Das ist ja unglaublich!“ Er wiederholte es noch einmal und sagte: „Das ist der Segen deiner Gebete.“ Ich war in Tränen aufgelöst, und er wiederholte es immer wieder. Dann wachte ich mit Tränen in den Augen auf, als ob es in Wirklichkeit wäre, was mir träumte. Jedoch war ich skeptisch darüber, ich schrieb das alles den Nachwirkungen des Vortages zu und versuchte, das Ganze beiseitezuschieben. Ich begann, den Pater zu drängen, mich zu taufen. Doch jedesmal war seine Antwort: „Du mußt Geduld haben.“ Eines Tages schlug der Pater vor, ich solle das Katharinenkloster auf dem Sinai besuchen. Ich stimmte zu und machte die Reise dorthin in Begleitung einer wunderbar frommen Frau, die gut im christlichen Glauben unterrichtet war. Ich nahm mir viel Zeit beim Besuch des Klosters und des Berges Mose. Ich sah den Busch (wo der Engel Gottes Mose in einer Feuerflamme erschienen war). Wir saßen auf den Felsen und dachten über die Werke Gottes nach. Die Frage der Taufe und wer sie an mir vollziehen würde, ging mir jedoch nicht aus dem Sinn. Ich war in Gedanken versunken, als ich meine Gefährtin plötzlich rufen hörte: „Pater Boutros (Pater Peter)!“ Ich fragte sie: „Wer ist Pater Boutros?“ Ein Charter-Bus mit einer Touristengruppe kam gerade an. Meine Gefährtin eilte hin, um Pater Boutros zu begrüßen, und ich folgte ihr und begrüßte ihn ebenfalls. Dann fragte ich sie noch einmal, wer das sei. „Kennst du ihn nicht?“ antwortete sie. „Jeder kennt ihn!“ Später erzählte sie mir mehr von ihm: welche Gnaden der Herr ihm verliehen hatte und daß er jeden Samstag Gruppentreffen abhalte. Wir nahmen uns vor, einmal zusammen einem solchen Treffen beizuwohnen. Es war wohl Gottes Vorsehung, daß gerade dieser Mensch wie zufällig in meiner Nachbarschaft wohnte. Dank sei unserem lieben und stets gütigen Herrn! Als wir von dem St.-Katharinen-Ausflug wieder nach Hause kamen, war ich voller Hoffnung, daß ich bald getauft würde und daß ich
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dann berechtigt sein würde, die heilige Kommunion in der Gestalt des Leibes und Blutes Jesu Christi zu empfangen. Ich entschloß mich, herauszufinden, wie der Pater dazu stand. Würde er mich taufen, oder noch immer nicht? Während ich auf dem Weg zu ihm die Straße entlangging, dachte ich über eine Glaubensfrage nach. Ich fragte Gott, ob er mich wohl als Christgläubige annehmen würde, falls ich augenblicklich sterben sollte. „Gott, Du weißt, wie sehnlich ich getauft werden möchte, aber ich kann doch nichts dazu tun. Herr, ich weiß, wie wichtig das Sakrament der Taufe ist, und Du weißt, was ich für Anstrengungen mache, um es zu bekommen. Bitte hilf doch, daß mir mein Wunsch erfüllt wird.“ Im Vorbeigehen bemerkte ich plötzlich eine alte Dame, die sich mit einer Hand auf einen Stock stützte und in der anderen eine Tasche mit Tomaten trug. Die Tomaten hatten durch ihre besondere Größe und ihre außergewöhnlich rote Farbe meine Aufmerksamkeit erregt. Die Frau hielt mich an und fragte: „Ist die Messe zuende?“ Ich fragte zurück: „Messe! Welche Messe?“ – „Die in der Marienkirche“, antwortete sie. Ich sagte: „Das weiß ich nicht.“ Sie entgegnete: „Kommen Sie nicht von da?“ Ich wieder: „Nein. Wie wollen Sie denn wissen, ob ich in einer Kirche war?“ Sie sagte: „Sind Sie denn keine Christin?“ Ich antwortete: „Und was ist mit meinem Kopftuch?“ (Das Kopftuch war nämlich das muslimische Kopftuch, wie es die muslimischen Frauen tragen.) Sie behauptete ganz sicher: „Sie sind trotzdem Christin!“ Nachdenklich geworden, ob jemand sie mir bewußt in den Weg gestellt hatte, um herauszufinden, ob ich Christ geworden war oder nicht, fragte ich sie: „Wer hat Ihnen gesagt, daß ich Christin bin?“ Sie zeigte zum Himmel und sagte: „Er.“ Dann fügte sie hinzu: „ Ich bin auch Christin, wie Sie.“ Sie zeigte auf ihr rechtes Handgelenk und drehte es herum, so daß ich ein großes blaues Kreuz erkennen konnte, das auf ihren Arm tätowiert war. Da fühlte ich Trost und Frieden und wußte, wer sie geschickt hatte, um mich zu trösten. – Danke, Herr! Als ich nun weitergehen wollte, brach sie in Tränen aus. Auf die Frage, warum sie weine, gab sie zur Antwort: „Die Zeiten sind hart, und das Leben ist schwer, und die Herzen der Menschen sind sehr hart geworden.“ Ich gab ihr etwas Kleingeld. Doch nachdem ich zwei
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Schritte weitergegangen war, machte ich mir Vorwürfe, weil ich mich einer Frau, die mir ein guter Bote gewesen war, so geizig erwiesen hatte. Ich nahm einen größeren Geldbetrag heraus, um ihn ihr zu geben. Doch als ich mich umdrehte, war sie nicht mehr da. Ich schaute suchend umher und wollte ihr nachlaufen, aber sie war spurlos verschwunden. Da wußte ich, daß Gott sie geschickt hatte, um mich zu trösten. – Mein König und mein Herr, wie prompt Du doch antwortest! O wie groß ist Deine Liebe! Ich wünschte, alle wüßten es, wie unermeßlich Deine Liebe zu uns ist, denn wenn sie es wüßten, gäbe es keinen traurigen Menschen mehr weit und breit auf dieser Erde. – Ich setzte meinen Weg zum Haus des Paters fort. Noch fester entschlossen in meinem Wunsch, getauft zu werden und eine richtige Christin zu sein, saß ich vor dem Pater und fragte ihn: „Werden Sie mich taufen, oder nicht?“ Er gab mir zur Antwort: „Frag mich nicht immer wieder danach. Es wird noch ein Jahr dauern, bevor wir das tun können.“ Konnte der Pater garantieren, daß ich noch ein ganzes Jahr leben würde? Oder auch nur eine Stunde? Nein. Ich mußte einen anderen Weg finden, dieses Sakrament zu bekommen. Meine Freundin! Wir hatten ausgemacht, zusammen zu dem Treffen bei Pater Boutros zu gehen, und so gingen wir hin, sehr früh schon und saßen in der dritten Reihe von vorne. Das Thema seiner Predigt war „Reue und Umkehr zu Gott“. Es war eine wundervolle Predigt. Seine Worte waren eindringlich und forderten das Gewissen heraus. Ich entschloß mich, regelmäßig zu den Treffen zu gehen. Nach der Zusammenkunft gingen wir noch zu Pater Boutros, und meine Freundin erzählte ihm, daß ich „von der anderen Herde“ sei. Er begrüßte mich sehr freundlich, und ich werde nie den Ausdruck in seinen Augen und das Lächeln vergessen, mit dem er mich ansah. Bei einem weiteren Treffen begegnete ich einer meiner Kolleginnen von der Schule und beobachtete, wie sie mit der Sekretärin des Paters sprach. Die Überraschung dabei war, daß Pater Boutros’ Sekretärin die letzten fünf Jahre Schülerin an unserer Schule war. Ich hatte mich einmal sehr gemein zu ihr benommen, einfach nur weil sie Christin war. Mich in der Kirche wiederzutreffen, geschah zu ihrer größten Verwunderung. Nie hätte sie sich vorstellen können, mich in einer Kirche
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zu treffen. Aber, das war eben der Wille des Allmächtigen. Sie gab uns einen Termin für ein Gespräch mit dem Pater am darauffolgenden Mittwoch nach der Messe. Der Mittwoch kam, und wir gingen ins Pfarrhaus, wo der Pater sein Büro im zweiten Stock hatte. Meine Freundin ging voran, und ich folgte ihr. Da stand ich auf einmal vor einem Raum, der ein Schild an der Tür hatte, das besagte, daß dies die Taufkapelle sei. Ich stand davor und fragte Gott, wann ich in diesen Raum hineingehen würde. Die Tür wurde geöffnet, und zwei Erwachsene kamen heraus, die ein kleines Mädchen trugen, das gerade getauft worden war. Ich schaute in den Raum hinein und erkannte zu meiner Überraschung, daß er genauso aussah wie der Raum, den ich in der Vision geschaut hatte. Da überkam mich ein Gefühl des Trostes und des Friedens, und ich wußte in meinem Herzen, daß dies der Raum war, in dem ich getauft werden würde. – Dank sei Dir, o Herr, der Du mich immer tröstest. Ich eilte hinter meiner Freundin her ins Büro des Paters. Ihm erzählte ich die Vision, die ich geschaut hatte, während er sehr aufmerksam zuhörte. Er freute sich, daß ich gekommen war, und gab mir einen Termin für Ende Juni (es war anno 1988), an dem ich wieder zu ihm kommen sollte. Ich traf mich noch öfters mit Pater Boutros und fand in ihm, was mir gefehlt hatte: Anteilnahme, Mitleid und väterliche Freundlichkeit vereint mit einer starken und entschiedenen Persönlichkeit. In seiner Gegenwart fühlte ich mich wie ein Kind, und das war es, was ich wollte. Die Sommmerferien gingen ihrem Ende entgegen. Die Lehrer kamen zurück, um das nächste Schuljahr vorzubereiten. „O Herr“, betete ich, „hilf mir, ganz wie gewöhnlich meine Arbeit zu tun.“ Aber wie konnte ich? Ich hatte mich total verändert. Wo war meine laute Stimme geblieben? Sie hallte gewöhnlich durch das Verwaltungsgebäude, entweder laut lachend oder in der Auseinandersetzung mit anderen. Außerdem hatte ich wie verrückt geraucht. Ich schämte mich jetzt für mein früheres Erscheinungsbild: das dick aufgetragene Make-up, die penetranten Parfums und die verschwenderische Kleidung. Jetzt machte es mir nichts mehr aus, ob ich es hatte
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oder nicht. Jetzt zog ich sogar eher das Bescheidene und das Einfache vor. Ich war nicht mehr, der ich einmal war. Alle in meiner Umgebung bemerkten das und wunderten sich, was mit mir passiert war! Ich liebte alle, stand ihnen allen ohne Unterschied zu Diensten. Am liebsten hätte ich jeden in den Arm genommen – der Deinen Namen trägt, mein Herr. Mein Herz ist mit Deiner Liebe erleuchtet worden. „Ich muß alle die um Vergebung bitten“, dachte ich, „die ich früher beleidigt habe. Herr, hilf mir. Du hast wirklich mein ganzes Leben in Deine Hände genommen. Am liebsten würde ich meine Arbeit aufgeben. Ich werde nie mehr dieselbe sein wie früher. Ich bin völlig Dein. Alle Christen an der Schule haben die Veränderung bemerkt. Sie haben mich in der Kirche gesehen. Es ist wirklich eine Überraschung für alle. Doch was den Menschen unmöglich erscheint, das ist möglich bei Dir, Herr.“ Eines Tages erschien mein Sohn bei mir im Büro. Er strahlte vor Stolz übers ganze Gesicht. Als er mich sah, eilte er auf mich zu und rief: „Mutter, ich hab’s geschafft. Ich hab das Examen bestanden!“ Fast traute ich meinen Ohren nicht, und mir kamen vor Glück die Tränen. Doch ich konnte es mir nicht verkneifen zu fragen: „Aber wie? Du hattest doch gar kein gutes Gefühl bezüglich deiner Leistungen in dem einen Fach.“ Er küßte meine Hand und sagte: „Das ist der Segen deiner Gebete.“ Ich erinnerte mich an die Vision, in der ich sein glückliches Gesicht gesehen hatte. – Ich danke Dir, Herr, der Du die Menschen so lieb hast! Die Zeit verging. Ich besuchte regelmäßig die Treffen bei Pater Boutros sowie täglich die heilige Messe. Ich spürte selbst, daß ich schnell im Glauben wuchs und daß ich immer stärker danach verlangte, getauft zu werden. Jedesmal, wenn ich Pater Boutros traf, trug ich ihm meine Bitte wieder vor: „Ich möchte getauft werden.“ Bei meiner Verabredung mit Pater Boutros am Mittwoch, den 23. November 1988 gab es die hocherfreuliche Überraschung für mich. Er fragte mich mit ruhiger Stimme: „Bist du bereit zur Taufe?“ Ich antwortete eifrig: „Ja, natürlich.“ Mit einem Lächeln eröffnete er mir: „Nächsten Mittwoch, am 30. November (1988), werde ich dich während der Messe taufen.“ Dann nahm er ein Blatt Papier von seinem
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Schreibtisch und schrieb darauf: „Satan wird gegen dich kämpfen. Zur Stärkung deines Widerstandes lies regelmäßig die Bibel und bete beständig.“ Ich nahm das Blatt Papier mit, und während ich mich auf den Weg machte, sagte er noch: „Sprich mit niemandem darüber, außer mit deiner Kollegin. Sie wird deine ,Ishbine‘ (d. h. Patin) sein.“ Ich war sehr beharrlich und standhaft in meinem Gebet zu dem Allmächtigen. „Mein liebster Herr“, betete ich, „bitte laß den Feind der Gnade nicht meine Taufe stören oder verhindern. Bitte gewähre mir diesen Wunsch, auch wenn es mein letzter sein sollte. Das ist genug für mich. Ich werde mit Dir sterben, und ich werde mit Dir auferstehen in der Taufe. Ich verspreche, daß ich mein ganzes Leben lang Dein sein will, mit jeder Faser meines Seins. Ich verspreche, Dir meine Seele zu weihen. Ich will immer bei Dir sein, mit Dir sein und für Dich da sein.“ Die Tage zogen sich mühsam hin bis zum Morgengrauen des 30. November 1988. Ich verließ das Haus um 6 Uhr früh, beinahe fliegend. Ein paar Minuten später war ich bei der Kirche, und meine Patin war auch schon da. Was für ein großartiger und schöner sonniger Morgen. Dies war mein eigentlicher Geburtstag. Wir gingen nach oben in Pater Boutros’ Büro und warteten auf ihn. Alles um mich herum sah glücklich aus, als ob es vor Freude schreien wollte. Wir hörten Schritte die Treppe heraufkommen; und wirklich, es war Pater Boutros. Er strahlte übers ganze Gesicht. Ich werde sein Gesicht nie vergessen. Zur Begrüßung schüttelte er uns die Hände. Er blickte mich an voll Liebe, Güte und Glückseligkeit. Dann gingen wir in die Taufkapelle, und alle drei schauten wir nach Westen und sagten uns von Satan los. Dann wendeten wir uns nach Osten, und ich erklärte meinen Glauben an meinen Herrn, Gott und Erlöser Jesus Christus. Der Pater ging dann hinaus, während ich mein Taufkleid anzog und in das Taufbecken stieg. Es war ein wunderbares Gefühl, als das Wasser meinen Körper berührte. Es war etwas Besonderes. So hatte ich mich noch nie gefühlt. Ich wünschte, ich könnte es beschreiben. Es war, wie wenn elektrischer Strom durch meinen Körper ging, und ich fühlte einen Frieden, wie ich ihn noch nie verspürt hatte außer damals, als ich zu Füßen unseres geliebten Gottes kniete. Ja, es war genauso wie damals zu seinen Füßen. Ich wünschte, ich hätte eine lange Zeit so verbleiben dürfen. 49
Der Pater kam herein und fragte mich, ob ich irgendeinen bestimmten Taufnamen haben wolle. Ich sagte: „Nein. Suchen Sie einen für mich aus.“ Er sagte: „Gott sucht einen Namen für dich aus“, und fragte dann: „Was meinst du zu ,Phoebe‘?“ Ich sagte: „Phoebe. In Ordnung.“ Er legte seine Hand auf meinen Kopf und sprach: „Ich taufe dich, Phoebe, im Namen des Vaters . . . “ Er drückte mit der Hand auf meinen Kopf, und ich ging unter Wasser. Untergetaucht, öffnete ich meine Augen. Ich war wie in einer großen erleuchteten Kristallkugel und hörte einige wunderbare Stimmen. Es sah so schön aus, daß ich wünschte, ich hätte länger unter Wasser bleiben können. Ich kam wieder hoch, atmete tief ein, und der Pater drückte wieder auf meinen Kopf, während er sagte: „. . . und des Sohnes . . . “ Ich ging wieder unter Wasser: dieselbe Umgebung, dieselben Stimmen. Ich versuchte, länger zu bleiben, dann kam ich hoch. Um beim dritten Mal noch länger unter Wasser aushalten zu können, atmete ich noch tiefer ein, und der Pater drückte wieder auf meinen Kopf, während er sagte: „. . . und des Heiligen Geistes.“ Was sich meinen Augen darbot und die Stimmen, die ich vernahm, versuchte ich einzufangen, bis ich nicht mehr länger unten bleiben konnte. Wieder aufgetaucht, sagte der Pater zu mir: „Bitte den Herrn, dir die Gabe des Heiligen Geistes zu schenken.“ Ich stand in dem Taufbecken und betete: „O liebster, gütiger und sanftmütiger Gott, gewähre mir Deinen Heiligen Geist, so wie Du auch Deine reinen, heiligen Jünger und verehrten Apostel damit ausgerüstet hast. Gewähre mir Deinen Frieden, so wie Du ihn ihnen gewährt hast.“ – Ich fühlte die Berührung des Herrn. – „Herr, ich bringe Dir mich selbst zum Opfer dar. Alles, was ich habe, ist Dein. Ich gelobe, Dir mich selbst zu weihen. Ich gebe Dir hiermit mein Leben und meine Tage auf Erden. Was nützen sie mir, wenn ich nicht Dir gehöre?“ Dann salbte der Pater mein Gesicht und meine Handflächen mit dem „Myron-Öl“ (das sakramentale Öl, das zur Salbung der Getauften benutzt wird; in der orthodoxen Kirche wird es unter besonderem Gebet zubereitet, wobei eine neue Portion Öl dem noch vorhandenen alten Öl zugemischt wird, so daß sein Ursprung sich zu den Ölen zurückführen läßt, die für die Einbalsamierung von Christus nach seiner Kreuzigung
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benutzt worden waren). Anschließend ging er hinaus, während ich mich wieder ankleidete. Es war ein überwältigendes Gefühl. Ja, mein Herr, jetzt erfasse und verstehe ich aus eigener Erfahrung, was Taufe bedeutet. Es ist ein Geheimnis, das sich der Beschreibung entzieht. Wer bin ich jetzt? Ein völlig anderer Mensch, der mit Dir gestorben ist, mit Dir auferstanden ist, durch Dich und für Dich. Ein Jahr ist vergangen, seitdem ich anfing, an Dich zu glauben. Aber heute ist ein völlig anderer Tag. Und jetzt, nachdem ich in der Heiligen Schrift oftmals gelesen habe, hat jedes Wort eine neue Tiefe erhalten! Heute lebe ich Deine ewigen Worte, ich berühre sie, ich fühle sie. Gestern verstand ich sie nur. Wie herrlich bist Du, o Herr! Wenn doch alle dies wüßten! „Kostet und sehet, wie gütig der Herr ist.“ Ich fühlte, wie die Stimme des geliebten Herrn zu mir sagte: „Jetzt kannst du offen reden.“ Was für eine Erlaubnis! Mir war, als ob ich die Ketten zerbrochen hatte, die mich vorher gefesselt hielten. Nichts konnte mir was anhaben, selbst wenn man mich tötete. Ich würde nur bei Dir sein, und wenn ich Dich nur habe, brauche ich sonst nichts. Ich werde von Dir reden und reden und nicht aufhören zu reden, überall, jederzeit und bei jeder Gelegenheit. Ich trat aus dem Taufraum, dem Raum, in dem ich wirklich wiedergeboren wurde, und ging in die Kirche, um an der Kommunionfeier teilzunehmen. Was für ein wunderbarer Tag. Nach diesem Augenblick hatte ich mich immer gesehnt. Ich fühlte mich wie eine Braut an ihrem Hochzeitstag, und in einer großen Prozession. Ich konnte niemand sehen, doch ich vermochte ihre Schritte und ihren fröhlichen Gesang zu hören; meine Füße waren nicht mehr auf dem Boden, ich ging auf Wolken, ich flog. Nun stand ich vor dem Pater, um die heilige Kommunion zu empfangen. Es war ein wunderschöner Traum gewesen, und nun wurde er Wirklichkeit: Ich empfing das Sakrament der Kommunion. Welch ein Wunder, es fühlte sich wie ein Stück Fleisch in meinem Mund an! Was sollte ich tun? Ich mußte es schlucken, und so tat ich es. Dann empfing ich das kostbare Blut. Welcher Mund verdient dies Privileg, daß Du in uns bist. Du be-
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schenkst uns aus der Fülle Deiner Herrlichkeit. Mein Herr, wohne in mir, auf daß Du meine Dunkelheit verdrängst mit Deinem wunderbaren Licht. Überwinde meine Schwachheit, o Herr, und vergib mir meine Sünden. Erhalte mich in Deinem Glauben bis zu meinem letzten Atemzug. Ich danke Dir, der Du mein steinernes Herz verwandelt hast, verwandelt in eines, in welchem Du nun wohnst. Dies ist das geheimnisvolle Werk des Herrn. Seine Versprechungen sind wahr denen, die Ihn von ganzem Herzen lieben.
5. Meine Wanderung mit dem Kreuz Wie schön und wunderbar ist doch das Leben mit Gott. Es verging eine ganze Zeit, während der ich Führung und Liebe von Pater Boutros erhielt. Ich ging regelmäßig in die Kirche und empfing jeden Tag die heilige Kommunion. Meine Arbeit fing an, sich wie eine schwere Last anzufühlen, und ich begann es als Mühe zu empfinden, in meinem Verhalten so wie früher zu erscheinen. Wie konnte ich auch? Wie konnte ich verbergen, was in mir vorging? Alle fingen an, mich zu fragen: „Was ist los mit dir? Du hast dich verändert!“ Es ist wahr, wie kann ich verbergen, daß Du, Herr, jetzt in mir lebst mit Deinem wunderbaren Licht! Du hast mich verändert. Mein Aussehen hat sich verändert. Meine Stimme hat sich verändert, und sogar mein Charakter hat sich verändert. Mein Verstand und mein Herz gehören Dir. Hilf mir, mein Gott, bis zum Ende des Schuljahres Haltung zu bewahren! 1988, das Jahr meiner Neugeburt, ging zuende; 1989 begann seinen Lauf. Ich feierte den Beginn des neuen Jahres in der Kirche. Und am Weihnachtstag, dem 7. Januar 1989, stand ich in der Kirche – in Deiner Gegenwart, Herr, um Dich zu loben und zu preisen. Es war ungefähr ein Jahr her, da ich Dich in jener ersten Vision geschaut hatte. Ich vermißte diese Vision und wünschte, mir würde noch einmal eine geschenkt. Als ich die Augen schloß und sagte: „Herr, erbarme Dich“, sah ich Dich vor mir, an ein Kreuz genagelt, mit einer Dornenkrone, die Deine Stirn so verletzte, daß das Blut floß und Dein Gesicht bedeckte;
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sogar Dein Haar und Dein Bart waren blutig. Ich konnte den Schmerz an Deinem Angesichte ablesen. Die Blutgefäße schienen zu platzen vor all dem Schmerz. All dies stand mir plötzlich vor Augen. Mein Herz verkrampfte sich selbst vor Schmerz. Fast hätte ich einen lauten Schrei ausgestoßen. Ich öffnete die Augen, doch Dein Bild war immer noch da. All diese Schmerzen, die Du um unseretwillen gelitten hast, habe ich mit eigenen Augen geschaut, und was ich geschaut habe, kann niemand beschreiben, geschweige denn ertragen. Das hast Du alles für uns erlitten! Am nächsten Morgen ging ich zu Pater Boutros und erzählte ihm, was ich erlebt hatte. An dem Gesichtsausdruck, mit dem er mich ansah, erkannte ich, was die Vision zu bedeuten hatte. Wie ein liebevoller Vater erklärte er mir: „Christus möchte, daß du weißt, wie Er für dich gelitten hat.“ Ich begriff, daß auch ich für Ihn leiden sollte. Ich sollte das Kreuz tragen. „Aber hilf mir, Gott“, betete ich, „stärke mich, und hilf meiner Schwachheit.“ Während meines ganzen Lebens hatte es kein Jahr gegeben, in welchem ich nicht irgendeine schwere Krankheit oder Operation durchgemacht oder einen Unfall gehabt hatte. Jedesmal befand ich mich am Rande des Todes, doch Gott rettete mich schließlich immer auf irgendeine Art, die dann wie ein Wunder erschien. 1988 verging ohne ein einziges solches Vorkommnis – und auf meinen Knien sage ich Dir Dank, Herr, für Deine Aufmerksamkeit und Fürsorge. Und doch sagt mir Deine Stimme, daß all diese Prüfungen nicht dazu da waren, um mich zu strafen oder zu quälen, sondern um mich vorzubereiten und mich Geduld zu lehren und im Ertragen von Schmerzen zu üben. Ich dachte an das, was der Apostel Paulus gesagt hat: „Denn Gott hat euch die Gnade erwiesen, daß ihr nicht nur auf Christus vertrauen, sondern auch für ihn leiden dürft“ (Phil 1,29). Ich lernte dadurch, wie vorausschauend, liebevoll und barmherzig Du bist. Du wolltest mich einfach für die Zukunft vorbereiten. Ich war eine verheiratete Frau und Mutter von drei Kindern. Mein Leben drehte sich um meine Familie. Meine Arbeit und die Schule waren mein Reich. Dort hatte ich mich selbst zur Königin gekrönt. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß ich etwas anderes noch
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lieber haben könnte als das. Doch jetzt sage ich: „Es gibt nichts auf der Welt, das ich mit den Tränen gleichsetzen kann, die Du für mich vergossen hast. Die Geduld und Langmut, mit der Du an mir gearbeitet hast, zeugt für Deine Allmacht und Deine unvergleichliche Größe.“ Ich war von 1964 bis 1983 verheiratet. Nie hätte ich gedacht, daß meine Ehe auf so schlichte Art und Weise enden würde, und daß ich diejenige sein würde, die die Scheidung beantragt. Doch das war in Gottes Plan. Es ergab sich, daß ich im April 1980 eine starke Blutung hatte und in die Klinik der El-Shams-Universität eingeliefert wurde, wo meine Schwester arbeitete. Dort stellte sich heraus, daß die Ursache der Blutung Eierstock-Krebs war. Ich mußte mich also einer Unterleibsoperation unterziehen, und man verabreichte mir hohe Dosierungen von Beruhigungs- und Schmerzmitteln, um die Schmerzen unter Kontrolle zu halten. Dann fiel ich in ein Koma und hatte das Gefühl, in einen tiefen, dunklen Abgrund zu fallen. Man brachte mich auf die Intensivstation, und bat meinen Mann, eine Telefonnummer zu hinterlassen, wo man ihn im Notfall erreichen konnte. Am zweiten Morgen wachte ich auf, als der Arzt an der Stelle der Operation in meinen Leib drückte. Schließlich gab ich einen schwachen Laut von mir. Meine Angehörigen, die sich um mich versammelt hatten, seufzten vor Erleichterung. Sie hatten mich schon aufgegeben und sich auf das Schlimmste vorbereitet. Ich schaute mich um und suchte meinen Mann, doch er war nirgendwo zu sehen. Ich schickte jemand, um ihn zu suchen, aber er war nicht zu finden. Wie sich später herausstellte, war er zur Arbeit gegangen, um die Niedergeschlagenheit über meinen Zustand abzuschütteln. Er fürchtete sich davor, die schlechte Nachricht als erster zu bekommen. Das konnte ich an seinem Gesicht ablesen, als er hereinkam. Doch seine Abwesenheit empfand ich schlimmer als die Operation selbst. Ich konnte nicht verstehen, wie er zur Arbeit gehen konnte, wo er doch wußte, daß ich zwischen Leben und Tod schwebte, und daß er sich nicht einmal nach meinem Befinden erkundigt hatte, bevor er ins Büro ging. Meine Gefühle wurden aufs tiefste verletzt. Ich entschloß mich, nicht länger seine Frau zu sein, und 1983 wur-
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den wir dann geschieden – wie durch ein Wunder. (Anmerkung des Übersetzers ins Englische: Wenn sie noch mit ihrem Mann verheiratet gewesen wäre, hätte sie wahrscheinlich nie Handlungsfreiheit oder die Freiheit der Religionsausübung gehabt. Darüber hinaus wäre es ihr niemals möglich gewesen, das Land zu verlassen. Nach islamischem Gesetz muß eine Frau die Erlaubnis ihres Mannes haben, um einen Reisepaß zu bekommen oder länger als drei Tage ohne die Begleitung einer Anstandsdame zu verreisen.) Etwas anderes, woran ich mich erinnere, ist, wie ich einmal neben meinem Sohn herging. Er war groß und sah gut aus. Ich sah ihn an, und eine Sehnsucht nach vergangenen Tagen kam in mir auf. Er war mein Ältester. Wir gingen gerade auf dem Bürgersteig, als plötzlich ein Teenager auf einem Fahrrad auf uns zukam; er versuchte, einem Auto auszuweichen, und prallte dabei so gegen meine Schulter, daß ich das Gleichgewicht verlor, und mir beim Fallen das Fußgelenk verdrehte. Mein Sohn begleitete mich ins Krankenhaus. Knochen waren nicht gebrochen, doch ich hatte innere Blutungen von gezerrten Muskeln und Sehnen. Ich ging zum Haus meines Bruders und blieb erstmal dort. Seine Frau ist eine wunderbare Frau. Es waren zwei sehr schmerzensreiche Tage. Aber es gab noch einen anderen Schmerz: Ich konnte nicht die Kirche besuchen, und ich konnte nicht die Bibel lesen, die mein tägliches Brot geworden war. „Wie kann ich auch meine Hand an den Pflug legen und dabei zurückschauen!“ dachte ich. Und dann betete ich in jener Nacht, daß Du, Herr, mich heilen möchtest. Meine Schwägerin weckte mich spät am nächsten Morgen und meinte im Spaß: „Was ist denn das für eine Schlaferei!“ Ich sah nach meinem Fuß, er war geheilt, und ich konnte darauf stehen. Das war gar nicht einmal überraschend. Ich hatte im Namen Jesu Christi um Heilung gebeten, und in Seinem Namen werden alle Bitten erfüllt. Ehre sei Gott, dem Vater unseres Herrn Jesus Christus! Meine Kinder kamen mich besuchen, und mein Sohn war ungehalten, als er mich auf meinen Füßen gehen sah, entgegen der Anordnung des Arztes, der mir befohlen hatte, 10 Tage still im Bett zu bleiben. Doch ich protestierte und sagte: „Ich gehe zurück in mein Appartement.“
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Alle waren dagegen, aber ich ging trotzdem hin. Als ich mich zum Duschen fertig machte, bemerkte ich ein kleines Kreuzzeichen an der Stelle, wo ich die innere Blutung gehabt hatte. Nun lernte ich und verstand, daß diejenigen, die ihre Hand an den Pflug gelegt haben, nie zurückschauen sollen. – Vergib mir, Herr. Ich liebe Dich mehr als alles andere. Ich gehöre Dir ganz und will nur Dir gehören. – Das Kreuzzeichen blieb noch drei Wochen lang, bis der Fuß völlig geheilt war; dann verschwand es. Das Schuljahr ging seinem Ende entgegen. Es war die Zeit der Abschlußprüfungen. Ich versuchte immer noch, so normal wie möglich zu erscheinen. „Ich sollte diese Arbeit aufgeben“, dachte ich. „Aber hilf mir, Herr. Alle schauen mich so seltsam an.“ Sie waren neugierig wegen der großen Veränderung, die sie an mir bemerkten. Sogar die Direktorin, die eine sehr gute Freundin von mir gewesen war, distanzierte sich zunehmend von mir. Alles war anders geworden, total anders. Eines Tages kam die Sozialarbeiterin der Schule zu mir in mein Büro, weil sie dachte, ich hätte vielleicht ein psychisches Problem. Sie fragte mich immer wieder: „Was ist los mit dir? Man hört deine Stimme heutzutage gar nicht mehr! Wo ist die Nahed geblieben, die wir kannten?“ Ich wollte ihr sagen, daß die Nahed, die sie kannte, tot war, und daß die Nahed, die sie jetzt vor sich hatte, eine Tochter Christi war. Aber ich antwortete nur: „Ich kenne Gott jetzt viel besser, und das hat mich verändert. Was vorbei ist, ist vorbei. Ich möchte eben ein neues Leben leben.“ Natürlich kam meine Antwort nicht gut bei ihr an. Sie bohrte weiter: „Hast du irgendwelchen Kummer? Gibt es ein Problem? Dann können wir zusammen darüber nachdenken.“ Ich antwortete: „Muß mein Ruhigsein ein Hinweis dafür sein, daß ich ein Problem habe oder mich nicht wohlfühle?“ Mit einem Ausdruck des Unglaubens sagte sie: „Nein. Du strahlst und scheinst bei bester Gesundheit zu sein. Aber irgend etwas hat dich völlig verändert.“ Ich sagte: „Das ist nett, daß du mich so beschreibst. Sei beruhigt, es gibt keine Probleme, es gibt nichts, was mich stört, und ich bin dankbar, daß du so besorgt um mich bist.“ Niemand wird verstehen, was mit mir geschehen ist, außer denen, die Deine wunderbare Liebe erfahren!
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Die Tage zogen sich behäbig und mühselig hin. Dann wurden endlich, Gott sei Dank, die Schulen für die Sommerferien geschlossen. Ich plante, überall meine Freunde zu besuchen, einige morgens und andere abends. Meine christlichen Freunde begannen, mich in meinem Appartement zu besuchen. Wir hatten so schöne Zeiten miteinander mit Singen von christlichen Liedern, Bibelstudium und Beten. Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, daß ich vielleicht überwacht wurde. Doch jemand überwachte jede Bewegung, die ich machte: wann ich ausging, wann ich zurückkam, und wer mich besuchte. Es war mein Vermieter. Er fing an, meine Besucher zu beleidigen. Zu mir sagte er: „Ich weiß sehr gut, wer Sie sind. Oft kommen Leute Ihrer Art und fragen nach Ihnen.“ Ich fand, es sei besser, aus diesem Appartement auszuziehen. Aber wie und wohin? Es war nicht leicht. Ich versuchte, nicht darüber nachzudenken und statt dessen mein Leben in Christus zu genießen. (Anmerkung des Übersetzers ins Englische: Ein Haus zu finden, ist [wie vorher schon erwähnt] sehr schwierig in Ägypten, und es kann 4–5 Jahre dauern, bis man eine Wohnung findet.) Am Samstag, dem 10. Juni 1989 fuhr ich mit einigen Freunden ins St.-Pischoi-Kloster. Einige der Patres im Kloster fragten mich, ob ich bereit wäre, einen Bericht über meine Begegnung mit Christus und was der Herr Wunderbares an mir getan hat, auf Tonband zu sprechen, als ein Zeugnis. Um es urkundlich zu machen, baten sie mich, auch meinen Namen anzugeben und die Namen all derer zu erwähnen, die Gott um meinetwillen benutzt hatte. Ich stimmte zu. Alle versicherten mir, daß das Tonband sehr vertraulich behandelt würde und das Kloster nie verlassen würde. Die Sommerferien gingen zuende. Die Schule fing wieder an. Vom ersten Moment an, als ich die Schule betrat, fühlte ich so einen starken Druck auf mir, daß ich kaum atmen konnte. Ich hatte gar kein gutes Gefühl. Ein paar Minuten später begegneten mir Sarkasmus und verachtende Blicke von Seiten meiner Kollegen. Ich fühlte mich wie erschlagen. Wie konnten sie es wagen! Früher wagten sie nicht einmal, vor meinem Büro herumzustehen. Und jetzt durchbohrten sie mich mit ihren bösen Blicken! Einige von ihnen zielten auf mich mit Ausdrücken
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wie: „Sie hat diese und die kommende Welt verloren. Bis an den Tag des Gerichts soll sie verflucht sein. Es ist eine Barmherzigkeit, sie zu töten.“ Ich beschloß, selbst herauszufinden, warum sie sich so verhielten, und ging deshalb zu einer der stellvertretenden Direktorinnen, einer Muslime, und fragte sie, was das Ganze solle. Als sie mich sah, wandte sie ärgerlich ihr Gesicht von mir ab. „Was ist los?“ fragte ich sie. „Warum empfängst du mich denn so?“ Spöttisch gab sie zurück: „Was ist los? Weißt du nicht, was los ist?!“ – „Glaub mir, ich weiß es nicht“, versicherte ich. Sie entgegnete: „Das glaube ich dir nicht. Schwör mir, daß du es nicht weißt.“ Ich sagte: „Ich schwöre nicht und mißbrauche den Namen Gottes nicht.“ Daraufhin sagte sie: „O, du kennst Gott?“ Ich sagte: „Sicher. Ich kenne Gott. Es gibt keinen Gott außer Gott.“ Da schrie sie mir ins Gesicht: „Sag’s weiter. Sag’s zuende!“ Ich tat so, als ob ich nicht verstände, was sie meinte, und sagte ärgerlich: „Sind wir auf diesem Niveau gelandet? Das tut mir leid. Darauf kann ich verzichten.“ Ich ging zurück in mein Büro. Jetzt wurde mir alles völlig klar. Aber wie hatten sie es erfahren? Es war zum Verrückt werden! Wenig später kam eine christliche Kollegin zu mir ins Büro und berichtete mir, daß ein Tonband von mir herumgehe, auf dem ich meinen vollen Namen, Samiahs Namen, Moufeeds Namen und die anderer erwähne. Das Band gehe überall herum und befinde sich in den Händen von Christen wie Moslems gleichermaßen. Das ist es, weshalb jeder es weiß! Wie konnte sich das Band so schnell so weit verbreiten, wo ich es doch erst vor knapp drei Wochen, ja vor genau 21 Tagen aufgenommen hatte? Wo war derjenige, der mir versprochen hatte, daß das Band sehr vertraulich behandelt würde? Fast geriet ich aus dem Gleichgewicht. Wie war es in die Hände der Moslems gekommen? Ich war dem Zusammenbruch nahe. Was sollte ich jetzt tun? Ich konnte keinen Augenblick länger an der Schule bleiben. Eiligst begab ich mich zurück in meine Wohnung. Ich fühlte mich tief verwundet und war völlig ratlos. Schließlich warf ich mich in Deine heilenden Arme, Herr: „Was soll ich jetzt tun? Du weißt, daß sie mich in der Schule angreifen wollen. Ich kann ihre Blicke und ihre Beschimpfungen nicht
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ertragen. Stärke mich in meiner Schwachheit, Herr.“ Und Dein Rat war: „Kündige und wechsle deine Wohnung. Niemand wird es wagen, dich anzurühren oder anzugreifen.“ Danke, o mein geliebter Gott. Du führst mich immerdar. Meine Arbeit zu kündigen, ist kein Problem. Aber eine Wohnung? Nein, ich will nicht darüber nachdenken. Ich will Dir vertrauen, daß Du für mich sorgst. – Langsam beruhigte ich mich. Da erinnerte ich mich daran, daß selbigentags noch ein Treffen stattfinden sollte. Wenn ich dorthin ginge, so dachte ich, würde ich wahrscheinlich ein tröstendes Wort oder eine Botschaft von Gott bekommen. Und wirklich: Wie zufällig begegnete ich einer meiner Freundinnen, die mich einem ihrer Verwandten vorstellte, einem Ingenieur namens Ayad, einem guten Christen. Er fragte mich: „Geht es Ihnen gut in Ihrem Appartement?“ Da wußte ich, wer mich zu dem Treffen geleitet hatte. Es war mein lieber Herr. Ich erzählte ihm, daß ich lieber umziehen und unter Christen leben würde. Den Gedanken fand er gut, und er erzählte mir, er kenne zwei christliche Brüder, die Bauunternehmer seien und gerade ein neues Appartementgebäude fertiggestellt hätten; darin wäre ein kleines Appartement zur Anmietung frei. Er bat mich, ihm nur ein paar Tage Zeit zu geben, um herauszufinden, ob das Appartement auch wirklich noch zur Verfügung stehe. Am nächsten Morgen ging ich zur Schule und reichte meine Kündigung ein. Die Direktorin nahm sie erstaunlich schnell an. Ich brachte sie dann zur Schulbezirksverwaltung, wo sie vom Oberschulrat akzeptiert wurde. Noch am selben Tag wurde das Gesuch an den Senior Assistant Secretary weitergeleitet. Ich fühlte, wie die Macht des Herrn die Dinge in Gang brachte. „Dank sei Dir, o Herr“, sagte ich, und betete: „O Gott, laß mich meine Schwäche überwinden und stärke mich. Hilf mir, daß ich keine Angst mehr vor ihnen habe. Mach, daß sie mich fürchten. Schließ ihre Münder, mach ihre Augen blind, so daß sie mich nicht sehen können. Hilf mir, ihnen durch Deine Macht und mit Deiner Hilfe standzuhalten bis zur endgültigen Annahme der Kündigung durch das Schulamt.“ Schon am nächsten Tag rief mich Ayad an, um mir mitzuteilen, daß die zwei Bauunternehmer zustimmten und ich die Penthouse-Wohnung
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in ihrem neuen Gebäude haben könne. Er hatte einen Termin für uns ausgemacht, an dem wir uns das Appartement zusammen ansehen könnten. Ich war begeistert. Wir schauten es uns an. Es war noch nicht ganz fertig, aber es würde schön werden. Sie versprachen, es in weniger als einem Monat bereit zu haben. Als ich herumschaute, bemerkte ich, daß sich die Marienkirche genau gegenüber befand. Ich schloß meine Augen zu einem kurzen Gebet, doch dabei empfand ich, als ob zwei Leute mich von oben hinunter auf die Straße werfen wollten. Schnell öffnete ich meine Augen, aber es war niemand da. Was für ein Schrecken! Was war bloß mit mir geschehen? War das eine Gegenreaktion auf die Begeisterung? Ich unterdrückte meine Gefühle und ging nach Hause. Aber ich entschied mich, noch einmal zu dem neuen Appartement zu gehen unter dem Vorwand, nachzuschauen, wie die Arbeit weiterging. Und wieder überkam mich dasselbe Gefühl, nur noch ausgeprägter, so daß ich fast einen Schrei ausstieß. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, aber auf meinem Heimweg betete ich zu Dir, Gott: „Ich verstehe dieses Gefühl nicht! Was soll das bedeuten?“ Ich entschloß mich, die Sache Pater Boutros zu erzählen und hoffentlich durch ihn eine Antwort zu bekommen. Und so begab ich mich zur Kirche, um Pater Boutros aufzusuchen. Wo war er? Niemand wußte es. Ich bekam widersprüchliche Antworten: Er hat Ferien, er ist krank, er ist . . . , er ist . . . Mir wurde klar, daß die Sache ernster war, als man mich wissen lassen wollte. Einen Augenblick später kam einer der Schammas (bedeutet soviel wie „Diener“, ein ursprünglich hebräisches Wort für Laien, die bei Arbeiten und Diensten in der Kirche und im Gottesdienst helfen, in etwa dem englischen Wort Deacon – das heißt Diakon – gleichzusetzen) der Kirche herein, und ich bekam die schockierende Nachricht. Pater Boutros war vor zwei Tagen vom Staatssicherheitsdienst verhaftet worden. Ich weinte bitterlich. Er war mir stets ein liebevoller Vater. Bei ihm fand ich Antwort auf alle meine Fragen. Ich konnte meinen Kummer bei ihm abladen und in seine rechtschaffenen Hände legen. Ich liebte in ihm Christus, der in ihm wohnte, im Grunde seines Herzens und in seiner Seele.
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Es nützte jetzt nichts; ich mußte für ihn beten: „Mein liebreicher und gütiger Herr, bitte hilf ihm, stärke ihn, und gib ihm jede Unterstützung. Ich weiß, daß er durch Deine Gnade stark ist. Hilf mir, Herr, diesen Schock zu überwinden, den Schock, ihn zu vermissen.“ Ich faßte mich erst ganz, nachdem ich erfuhr, daß Vater Boutros wieder freigelassen worden war. Er lebte jetzt in einem Kloster. Es war nun Zeit, in das neue Appartement umzuziehen. Je näher der Zeitpunkt kam, um so mehr fürchtete ich mich. Aber ich konnte jetzt keinen Rückzieher machen. So teilte ich meinem Vermieter mit, daß ich umziehen wolle, und fing an, meine Sachen zu packen. Inmitten dieses Durcheinanders rief mich Ayad an, er müsse mich dringend sprechen. Als wir uns trafen, erklärte er mir, die Wohnungseigentümer des neuen Appartements wollten mich sprechen. Als wir uns mit ihnen trafen, erhielt ich die niederschmetternde Mitteilung. Einer der beiden sagte: „Es tut mir leid, wir können Ihnen die Wohnung nicht vermieten.“ – „Warum nicht?“ fragte ich. Er sagte: „Als ich einem Freund von mir bei der Staatssicherheit erzählte, daß Sie in unsere Wohnung einziehen, sagte er: ,Laß die Finger davon, Nahed in irgendeiner Weise zu helfen. Sie hat ein Riesenproblem mit der Staatssicherheit, und wer ihr hilft, setzt sich selber der größten Gefahr aus.‘ “ Zutiefst schockiert, erinnerte ich mich wieder an das Gefühl, daß ich jedesmal hatte, wenn ich das Appartement aufsuchte. Doch mich vom letzten Stock des Hauses zu stürzen, schien mir noch das kleinere von den zwei Übeln für mich, d. h. diesem und den inneren Qualen, die ich durchmachte. Am Boden zerstört und ausgelaugt ging ich nach Hause zurück. Ich warf mich in die Arme Gottes: „Mein Herr, ich bin so tief verwundet, das ist mehr als ich verkraften kann. Herr, sende mir schnell Hilfe. Gib mir Kraft und hilf mir, dies durchzustehen.“ Da sprach die Stimme des Herrn zu mir: „Was geschehen ist, ist zu deinem Besten. Du wirst das später erkennen. Beruhige dich jetzt. Morgen wirst du die Lösung finden, wenn du das Kloster besuchst.“ Am nächsten Morgen fuhr ich zu den Klöstern im Natrun-Tal. Dort traf ich Samir, einen Ingenieur, ein guter, anständiger Christ, voll der
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Gnade Christi. Als er erfuhr, was mir passiert war, sagte er: „Ich habe ein Appartement für dich in Medinat Nasr (Stadt des Sieges). Es gehört meinem Vetter, und er möchte es verkaufen. Er hat schon eine Annonce in der Zeitung dafür aufgegeben. Dort gibt es keine Auflagen.“ Wir vereinbarten, wann wir uns wieder treffen wollten, um die Antwort des Besitzers zu erfahren. Ehre sei Dir, o Herr! Du bist immer derselbe, wie Du mich gelehrt hast. Immer wieder streckst Du Deine Hand aus, um meine Tränen abzuwischen und meine Wunden zu verbinden. Deine Fürsorge ist wunderbar. Nun ist mir klar, warum jedesmal, wenn ich das Dachappartement besucht habe, mich diese Angst überkam. Alle wußten, wohin ich ziehen wollte. Du hast meinen Umzug dorthin verhindert und hast es so gefügt, daß ich eine Adresse bekam, die niemand kennt. Wir setzten den Vertrag auf, unterschrieben, und ich erhielt die Schlüssel. Es war ein Ein-Zimmer-Appartement, in einer Genossenschaft, im zehnten Distrikt von Medinat Nasr, zu einem sehr vernünftigen Preis. Danke, mein lieber Herr, Du organisierst die Dinge immer so, wie es am besten für uns ist. Du hast selbst den Preis für das Appartement für mich arrangiert. Es befand sich weit weg in einer fast unbewohnten Gegend (was günstiger für meine Abgeschirmtheit war). Samir fing an, einige Reparaturen in der Wohnung zu machen; unter anderem installierte er einen Stromzähler, denn es hatte noch nie jemand darin gewohnt. Ich flehte Dich an, Herr, daß das Schulamt meine Kündigung annehmen möge, damit ich nicht jeden Tag vom Zehnten Bezirk nach Helmeyyet el-Zaitoun fahren müßte. Deine Antwort war: „Ende August (1989) wirst du bekommen, worum du gebeten hast.“ Nachdem Du mein Herz mit Deinem Frieden erfüllt hattest, entschloß ich mich, in das neue Appartement umzuziehen. Moufeed kam mit einem Lastwagen, begleitet von Samir und einem anderen Freund, um mir zu helfen. – O Herr, überschütte ihn mit Deinem Segen und bewahre ihn vor allem Übel. – Ich verließ Ein Schams (das Auge der Sonne) in Frieden, nachdem ich ungefähr fünfzehn Monate dort gelebt hatte.
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Am nächsten Morgen ging ich zum Schulamt. Als ich zu dem Bürovorsteher des ersten stellvertretenden Sekretärs kam, grüßte er mich: „Gratuliere, Nahed. Der Sekretär hat Ihre Kündigung angenommen.“ Es wäre mir früher nie in den Sinn gekommen, daß ich einmal selbst meine Kündigung einreichen würde und dabei noch hocherfreut sein, daß sie angenommen wird. – Ich will mich an Dir allein erfreuen! – Ich nahm den Bescheid mit, um ihn persönlich beim Ministerium für Erziehung abzuliefern. Mit Gottes Segen ging alles sehr schnell. Als ich dort fertig war, ging ich zur Schule, um Moufeed und Samiah Bescheid zu sagen. Zum letzten Mal saß ich in meinem Büro. Es war wirklich ein wunderschönes Büro, mit grünen Teppichen auf dem Boden, Fensterläden, die zum Teppich paßten, und zartweiß gestrichenen Wänden. Drei schöne große Schreibtische waren darin, einer für mich, einer für die stellvertretende Direktorin, die Muslime war und mich nicht mochte, und der dritte für die zwei Lehrer, die mir bei meiner Arbeit zu helfen hatten. Außerdem war in dem Büro noch ein Safe, in dem die Prüfungsunterlagen und Prüfungsaufgaben verwahrt wurden, und eine Druckmaschine für den Druck der Prüfungsaufgaben. Ich schaute mir das Büro zum letzten Mal an und erinnerte mich daran, wie eingebildet ich wegen mir und meiner Intelligenz gewesen war, wie ich gekämpft hatte, um möglichst wichtige Funktionen zu übernehmen, und was für unschmeichelhafte Taktiken ich angewendet hatte, um die höchste Autorität an der Schule zu werden. Wie naiv war ich doch gewesen. Jetzt verlasse ich alles, um Dir zu folgen, Herr. Alles andere ist so unwichtig geworden. Jetzt verstehe ich die Worte des Apostels Paulus und ihre tiefe Bedeutung. Heute erkläre ich, o geliebter Herr, daß, wenn wir Dich lieben und begreifen, wie sehr Du uns liebst, alle Dinge ihren Wert für uns verlieren, nicht so, daß sie nichts sind, aber so, daß Du alles für uns bist. Moufeed kam und saß neben mir wie gewöhnlich. Ich betrachtete ihn wie meinen Sohn. Ich sah ihn an und erinnerte mich an den Tag, als ich ihn fragte: „Wie hast du mich die ganze Zeit ertragen, Moufeed, trotz meiner scharfen Zunge und obwohl ich so rücksichtslos gegenüber den Gefühlen anderer war?“ Von Moufeed erhielt ich folgendes
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zur Antwort: „Vor zwei Jahren, als du wegen des Wandfrieses (der die Bibelzitate enthielt) das Untersuchungsverfahren gegen die vier christlichen Schülerinnen und die zwei Katechismus-Lehrerinnen beantragtest, habe ich unter Tränen zu Gott gebetet und Ihn gefragt: ,Herr, warum läßt Du es zu, daß diese Frau Deine Kinder demütigt und ihnen solche Angst einjagt?‘ Dann schlief ich ein. Ich sah mich durch einen Wald voller Bäume gehen, aber sie waren alle ausgedörrt und leblos, nur Stämme und Äste, aber keine Blätter. Die Erde hatte breite Risse von der Dürre – ein lebensfeindlicher Anblick, der sich mir bot. Doch dann war da auf einmal ein großer, schnell wachsender Baum mit vielen grünen Blättern. Seine Äste reichten bis in den Himmel. Ich stand vor dem Baum und bewunderte erstaunt seine Schönheit. Darauf zweigte aus diesem Baum ein anderer ab, er wuchs aus ihm schnell hervor und wurde erstaunlich rasch grün. Ich stand da und schaute die Bäume an und sagte zu mir selbst: ,Groß sind Deine Werke, unser Herr, aber ich verstehe nicht, was diese Bäume bedeuten sollen.‘ Da hörte ich eine laute Stimme, die zu mir sagte: ,Bleib bei Nahed und unterstütze sie. Morgen wirst du Gott in Nahed finden.‘ Ich wachte auf und war ziemlich verwirrt von dem, was ich gesehen hatte. War es überhaupt vorstellbar, daß Nahed ein fruchtbarer Baum werden würde und ich Gott dafür preisen würde? Doch dies war Gottes Führung; ich mußte gehorchen. Ich stand dir bei, half dir und schützte dich vor all den Angriffen und Unannehmlichkeiten, deren Ziel du warst, bis zu dem Tag, da du die christliche Direktorin angriffst. Ich dachte darüber nach und meinte, was ich gesehen hatte, müßte wohl eher von Satan gekommen sein, nicht von Gott. Sie ist ein Plagegeist, dachte ich. Als ich an jenem Tag nach Hause ging, weinte ich und bereute alle Hilfe und allen Schutz, die ich dir erwiesen hatte. In jener Nacht hatte ich eine seltsame Vision. Ich sah mich eine breite, saubere Straße entlanggehen. Es gab Lichter am Himmel. Ich hob meinen Kopf, um sie anzuschauen. Da sah ich ein großes erleuchtetes Kreuz, umgeben von glitzernden Sternen. Darauf erschien ein kleines erleuchtetes Kreuz, und auch dieses war von glitzernden Sternen umgeben. Ich murmelte: ,Herr, ich verstehe nicht, was das bedeuten soll, was ich da sehe.‘ Dann verschwand das große Kreuz und dein Gesicht
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erschien; und das kleine Kreuz verschwand, und das Gesicht deiner Tochter erschien an seiner Stelle. Ungläubig sagte ich laut: ,Kann das sein? Nahed ein Kreuz am Himmel? Und ihre Tochter auch? Nein. Das ist unglaublich.‘ Das Bild wiederholte sich dreimal vor meinen Augen, dein Gesicht, dann das Kreuz, das Gesicht deiner Tochter, dann das Kreuz. Beim dritten Mal sagte ich: ,Herr, ich weiß, daß Dir alles möglich ist!‘ Als ich aufwachte, war ich sicher, daß du zum Glauben eingeladen worden warst. Ich dankte Gott für Seine großen Taten an dir und deiner Tochter und wartete auf den Tag, bis er endlich kam. Dann lobte ich den Herrn, und ich werde Ihn immer loben. Ich hielt all das, was ich in meinem Herzen sah, über zwei Jahre im Schweigen, bis Gott vollbrachte, was er mir offenbarte.“ Ich sah Moufeed an. Er ist mir ein lieber Sohn geworden. Ich erinnerte mich auch an den Tag, da ich Dich, Gott, in der Vision geschaut hatte und Moufeed davon erzählte. Ich erinnerte mich an all die Geschehnisse der vergangenen zwei Jahre, da Du mein Leben mit Deinem Licht durchflutet hast. Die Tage sind so schnell vergangen mit allem, was sie brachten. Ich war vor die Wahl gestellt. Ich danke Dir, Herr, daß Du mich Dich wählen ließest, und für die Kraft, die Du mir bis ans Ende gegeben hast. Meine teure Samiah kam und umarmte mich. Für mich ist sie sowohl Tochter wie auch Mutter. Das ist ein wunderbares Gefühl, das ich nie zuvor erlebt habe. Ich liebe sie sehr. Ich liebe sie in Deinem Namen. Ich fragte sie: „Wie kommt es, daß du keine Angst vor mir hattest wie die anderen? Was hat dich mir gegenüber so stark und selbstsicher gemacht? Ja, trotz aller Warnungen, die du von den Christen an der Schule über mich gehört hattest, warst du unbekümmert. Wo hast du diesen Mut hergenommen?“ Samiah sah mich zärtlich an und sagte: „Als ich das Rundschreiben mit der Nachricht meiner Versetzung an das Helmeyyet-el-ZaitounGymnasium erhielt, war das ein Schock für mich. ,Wie werde ich mit Nahed zusammenarbeiten können‘, dachte ich, ,dieser religiös intoleranten stellvertretenden Direktorin, die keinerlei Skrupel hat, wenn es darum geht, Christen zu beleidigen. Und die Direktorin, diese ist genauso intolerant gegenüber den Christen!‘ 65
Ich wandte mich an Gott, betete zu ihm und flehte Ihn an, mich in dieser Schule zu beschützen und mir beizustehen. Nach dem Gebet ging ich zu Bett. Im Traum sah ich mich auf einer Erhebung stehen, die wie Marmor aussah. Sie war sehr sauber, obwohl drumherum alles dreckig war. Aber der Schmutz berührte mich nicht, weil ich höher stand. Neben mir war ein Wasserhahn und ein kleines weißes Becken, sehr sauber. Papst Kyrollus kam vorbei. Er ist ein Heiliger, ich hatte ihn sehr gern und besuchte ihn oft, bevor er starb. Er sagte zu mir: ,Wasch dir die Hände, Samiah.‘ Ich sagte: ,Meine Hände sind sauber.‘ Doch er wiederholte die Worte, die er gesagt hatte. Ich wusch meine Hände dreimal. Denn jedesmal, wenn ich meine Hände gewaschen hatte und mich ihm zuwandte, wiederholte er abermals, was er gesagt hatte, und ich ging und wusch meine Hände wieder, bis ich es dreimal getan hatte. Dann ergriff er mich beim Arm und sagte: ,Geh zur Helmeyyet-el-Zaitoun-Schule. Du hast einen besonderen Auftrag dort.‘ Als ich aufwachte, überlegte ich: Ich bin eine Sekretärin. Das ist meine Arbeit. Vielleicht aber gibt es noch eine andere Aufgabe für mich, die ich erst später erfahre. Nachdem ich dich getroffen hatte und angefangen hatte, über Jesus Christus mit dir zu sprechen, wurde mir klar, daß du die besondere Aufgabe warst, die mich an die Schule gebracht hatte. Ich hatte dich lieb trotz allem, was ich über dich hörte, und trotz all dem, was du in meiner Gegenwart tatest (mit anderen Christen). Ich fühlte, daß es ein starkes Band zwischen uns gab. Jetzt weiß ich, warum ich dich so liebhatte. Gibt es ein Band, das stärker ist als die Liebe Jesu Christi?“ Dann umarmte sie mich noch einmal und sagte: „Du bist meine Tochter. Durch mich bist du ein zweites Mal geboren. Ich bin gesegnet, dies mit meinen eigenen Augen zu sehen, und zu wissen, daß Gott mich als ein Instrument zur Rettung eines Menschen wie dich gebraucht hat.“ „Wie unergründlich sind Seine Entscheidungen, und wie unerforschlich Seine Wege! Denn wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist Sein Ratgeber gewesen?“ (Röm 11,33–34) O Herr, mit wielanger Hand hast Du alle diese Dinge für mich vor-
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bereitet. Mit welcher Geduld! Ich weiß, Du bist von Herzen gütig, barmherzig und langmütig. Nun, dachte ich, will ich alle Schlüssel, die ich habe, der Direktorin übergeben. Ich werde nie wieder in mein Büro zurückgehen. Ich bereue nichts und vermisse nichts außer den guten Zeiten, die ich mit Samiah und Moufeed verbracht habe. Ich werde niemals vergessen, daß ich meine liebevolle, zärtliche Mutter, die Jungfrau Maria, in meinem Zimmer geschaut habe, und den Weihrauchduft, der sich mit dem Erwähnen ihres Namens verband. Dies war der Ort, wo meine Wiedergeburt begann, aber ich weiß auch, daß Du, Gott, immer bei mir sein wirst, wohin ich auch gehe. Warum auch nicht? Besonders jetzt, da ich Dich doch zum unumstrittenen König meines Herzens gekrönt habe. Ja, ungeteilt, mit keinem anderen Teilhaber. Du weißt, wie aufrichtig ich bin, und das ist alles, was für mich zählt. Ich kann wohl nicht sagen, daß ich alles verkauft habe, um Dir zu folgen. Behauptete ich das, würde ich mir selbst unverdiente Ehre zuschreiben. Doch Tatsache ist, daß Du an meine Tür geklopft hast, und ich Deine Stimme gehört habe, und Du mir geholfen hast, die Tür für Dich zu öffnen. Du bist in mein Haus gekommen und hast mit mir gespeist und wurdest alles für mich, in meinen Gedanken, in meinem Verstand und im Herzen. Du nahmst Dich meiner an. Bei jedem Schritt hast Du entschieden und Du hast alles durchdacht. Das ist die Wahrheit. Für den, der sich unserem geliebten Herrn in aller Einfalt ergibt, wird der Herr das Auge sein, mit dem er sieht, das Ohr, mit dem er hört, und der Mund, mit dem er spricht. O mein Herr, ich wünschte, alle wüßten, was ich fühle. Ich möchte es herausrufen und über Dich sprechen, jederzeit und überall. Nun werde ich alle Zeit haben, genau das zu tun. Wie huldreich der Herr doch ist! Ich muß der Welt verkünden, was ich fühle. Es ist jenseits von Begriffsvermögen und Vorstellungskraft. Ich wünschte, ich könnte die richtigen Worte finden, um meine Empfindungen auszudrücken. Hilf mir, Herr, o hilf mir! Ich verließ die Schule und kam nach zehn Tagen noch einmal zurück, um die Formalitäten des Ausscheidens aus dem Dienst abzuschließen.
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Herr, ich weiß, Du bist Deinen Versprechen immer treu. Am 26. August 1989 zog ich um, von meinem alten Appartement in Ein Schams in das neue in Nasr City. Meine Kündigung war am 27. August 1989 wirksam geworden, genau so wie Du mir versprochen hattest. Danke. Mein Appartement lag also im zehnten Bezirk von Nasr City. Es war eine ruhige Gegend, dünn besiedelt, ja, mit vielfach leerstehenden Häusern. Niemand würde mich hier beobachten. Niemand wußte, wer ich war. Ich hatte nicht viel mit den Nachbarn zu tun, und keiner von ihnen kannte mich. Ich fing wieder an, mich innerhalb der Kirche zu betätigen, und verkündete überall, was unser geliebter Gott an mir getan hat, in Klöstern, in den Häusern von Freunden, so wie sich die Gelegenheiten ergaben. Am 9. September 1989 ging ich zur Schule, um die Prozedur des Ausscheidens aus dem Dienst des Schulamtes zu erledigen. Dies würde das letzte Mal sein, daß ich die Schule betrat. Ich hatte wahnsinniges Herzklopfen, doch ich war sicher, daß Du, Gott, mit mir warst und vor mir hergingst, um meinen Weg zu beleuchten. Ich ging zum Büro der Direktorin, um das „Ausscheiden aus dem zu unterschreiben. Als ich eingetreten war, schloß sie die Tür, rief eine der muslimischen stellvertretenden Direktorinnen herbei und beauftragte einen der Studentensprecher, draußen vor der Tür stehenzubleiben und dafür zu sorgen, daß niemand in das Zimmer kam. Dann sagte sie mit einem Unheil verheißenden Ausdruck in ihrem Gesicht zu mir: „Bevor ich Ihre Freigabe unterschreibe, möchte ich von Ihnen wissen: Ist es wahr, was ich über Sie gehört habe?“ Ich antwortete ihr ganz ruhig: „Und was ist es, worüber Sie die Wahrheit wissen möchten?“ Sie fragte: „Sind Sie jetzt Christin geworden?“ Darauf ich zu ihr: „Warum fragen Sie nicht den, der Ihnen hierüber erzählt hat?“ Die Stellvertretende erhob ihre Stimme und sagte: „Wir wollen keine Ausrede. Wir wollen eine klare Antwort!“ Da erhob ich meine Stimme, und zwar noch lauter als sie, und sagte: „Ich bin 47 Jahre alt, bestens ausgebildet, und habe ein Staatsexamen in Erziehungwissenschaften. Ich erlaube niemandem, sich in mein Leben einzumischen!“ Verdutzt aber reagierte ich, als die Stellvertretende auf mich zueilte,
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mich beim Arm ergriff und sagte: „Du bist meine Schwester im Islam, und der Islam lehrt: ,Diejenigen, die ein Unrecht sehen, müssen es beseitigen‘, und ich werde dich beseitigen mit aller zur Verfügung stehenden Macht.“ Ich betete zum Herrn und bat ihn: „O Herr, sieh auf mich und hilf mir. Komm schnell und halte mich aufrecht.“ Dann sah ich sie ruhig und gefaßt an und sagte: „Wer hat dir gesagt, daß du das sagen sollst?“ Die Direktorin kam nun schnell herbei und versuchte die Lage zu entschärfen, indem sie sagte: „Haben Sie nicht bekundet, daß Sie an einer Vergleichsstudie von Islam und Christentum arbeiten, und daß Sie überzeugt wurden, daß das Christentum der wahre Glaube sei?“ Entschieden antwortete ich: „Nein, das habe ich nicht gesagt.“ Dann faßte sie nach: „Haben Sie nicht gesagt, daß die Jungfrau Maria Ihnen gesagt hätte, Sie sollten aufhören, die Christen zu verfolgen?“ Wieder antwortete ich mit voller Überzeugung: „Nein, das habe ich so nicht gesagt.“ Aber ich war nicht sicher, ob ich durch diese Antwort nicht vielleicht doch Christus verleugnete, und so fügte ich hinzu: „Ich habe gesagt, daß ich eine Vision gehabt habe“, und ich erzählte ihr, was ich gesehen hatte, und beschrieb Ihn (Christus) nach dieser Vision: „Hellhäutig, mit schönem goldenen Haar, das Ihm auf die Schultern fiel, und mit Augen so blau wie das Wasser des Meeres. Er sprach zu mir, und ich habe Ihm ein Versprechen gegeben. Ich habe die Absicht, mich an dieses Versprechen zu halten.“ Die Direktorin fragte: „Und wer ist es?“ Ich sagte: „Der Engel Gottes.“ Gleichzeitig schrien beide los: „Jetzt sind wir sicher. Wie du redest, ist aufrührerisch. Deine Antworten lassen keinen Zweifel mehr. Du verdienst es nicht, zu leben, und erst recht nicht, eine Pension von der Regierung zu bekommen. Das wird dich teuer zu stehen kommen!“ An diesem Punkt schrie ich die Direktorin mit einer erstaunlichen Kraft an: „Unterschreiben Sie dieses Formular! Unterschreiben Sie!“ Ich sah zu, wie die Direktorin stumm an ihrem Schreibtisch saß und das Freistellungsformular unterschrieb so schnell sie konnte. Dann gab sie mir das Dokument, ich nahm es an mich und eilte damit zur Tür. Aber man hatte eine Bank hinter die Tür geschoben, um mich am Weggehen
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zu hindern. Ich warf sie auf den Boden, und ehrlich gesagt weiß ich nicht, woher ich die Kraft nahm. Dann eilte ich zum Haupteingangstor, während die Direktorin und die Stellvertretende Direktorin hinter mir herrannten und versuchten, mich einzuholen – doch es gelang ihnen nicht. In einem Zustand höchster Erregung und mehr schwankend als aufrecht kam ich hinaus auf die Straße. Wie war ich bloß da herausgekommen? Ich konnte es selbst nicht glauben, was geschehen war und wieso. Auf der Straße weinte ich bitterlich, während mir noch alles vor Augen war, was sich gerade abgespielt hatte. Ich erhob mein Herz zum Herrn: Vergib mir, Herr. Du weißt, daß ich schwach bin. Ich bitte Dich, Herr, hilf meiner Schwachheit auf, stärke mich, und vergib mir! Danach begab ich mich zur Kirche. In der Kirche fühlte ich mich in Gottes beruhigender Nähe. Auch einige Freunde traf ich dort; diese erzählten mir, daß jemand zur Kirche gekommen sei und nach mir gefragt hätte. Die Art, wie er sprach, nämlich autoritär, ließ sie vermuten, daß er ein Nicht-Christ sei. Im übrigen warte er drinnen auf mich. Aber ich weigerte mich, ihn zu treffen, und ging statt dessen schnell in meine Wohnung. Zu sehr schmerzte noch, daß ich von der Direktorin und ihrer Stellvertreterin angegriffen worden war. Ich konnte vorerst nicht noch zusätzliche Verletzungen verkraften. In den Armen des Herrn fühlte ich mich geborgen, ich fragte Ihn: „Was soll ich tun?“ Seine Antwort, die mir ins Herz kam, lautete: „Du mußt sofort weg von hier!“ Mein Herz verkrampfte sich vor Schmerz. Ich war doch erst kaum zwei Wochen hier in meiner neuen Wohnung. Wo sollte ich hingehen? Alle hatten mich abgelehnt. Alle hatten sich von mir distanziert. Alle hatten Angst, mit mir in Verbindung gebracht zu werden. Am nächsten Tag ging ich nach draußen und rief Moufeed an. Er ist stark durch Gottes Gnade, dachte ich. Er wird mir sicher wie immer zu Hilfe kommen. Doch dann erfuhr ich die schockierende Mitteilung, die mich von Kopf bis Fuß erschütterte. Moufeed war verhaftet worden und saß jetzt im Gefängnis. – Moufeed im Gefängnis? Warum? Was hat er denn Schlimmes verbrochen, daß er im Gefängnis ist? Herr, erbarme Dich! Ich weiß ganz genau, daß er Dein Sohn ist und daß Du ihn mehr
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liebst als ich ihn lieben kann. Mein Herz ist von Schmerz zerrissen. Er ist meinetwegen im Gefängnis. Nein, es ist Dein Wille. Dein Wille geschehe, nicht der meine. Du hast alles in Deinen Händen. – Ich ging zurück in meine Wohnung, doch Gottes Stimme drängte mich immer weiter, sie schnell zu verlassen und wegzugehen. Während ich mich noch in diesem Dilemma befand, kam meine Tochter. Sie berichtete mir, daß die Polizei gestern in ihrer Wohnung gewesen sei: „Sie haben nach dir gefragt. Wir haben ihnen gesagt, wir wüßten nichts über dich und würden deine neue Adresse nicht kennen. Sie gingen zur Schule, und die Direktorin sagte ihnen, daß du vor zwei Tagen aus dem Dienst entlassen worden seist, und daß niemand wüßte, wo du bist oder wo du wohnst.“ Ja, Herr, Deine Fürsorge und Obhut umgeben mich. Ich fühle, wie Dein starker Arm mich hält. Die Polizei ging erst zwei Tage nach meiner Befreiung vom Dienst zur Schule, und nachdem ich nach Nasr City umgezogen bin, und niemand weiß, wo ich bin. Jetzt verstehe ich, warum Du mir sagtest, das sei zu meinem Besten, als ich das Appartement in Zaitoun (Vorstadt von Kairo) verlor. Ja, alle in der Schule wußten, daß ich nach Zaitoun ziehen wollte, aber es war der Plan des Allmächtigen, mich zu beschützen. Das ist die Wahrheit. Ich hab’ es selbst erfahren. Wer sein Leben mit aufrichtigem Herzen in Deine Hände legt, für den wirst Du das Leben planen und alles wohl ordnen. Preis und Ehre sei Dir ewiglich! Deine Weisheit übersteigt jedes menschliche Verständnis. Dann erinnerte ich mich an den Vers, den Pater Boutros mir aufgeschrieben hatte und den er mir aufgetragen hatte, auswendig zu lernen und immer vor Augen zu halten: „Wer vermag, daß sein Wort in Erfüllung geht, wenn es ihm nicht vom Herrn gegeben ist?“ Nachdem ich sehr genau auf Gottes Stimme gehört hatte, entschloß ich mich, nach Alexandria zu gehen. Doch zuerst mußte ich die Pensionsformalitäten beim Ministerium für Erziehung erledigen. Ich verließ das Haus, um dorthin zu gehen, doch ich hatte gar kein gutes Gefühl, bis ich dort ankam. Die Gefühle ignorierend, zitierte ich die Psalmverse: „O Herr, komm mir zu Hilfe; Herr, eile mir zu helfen!“ Alles ging unerwartet schnell. Gottes liebevolle Hände lenkten alles.
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Nun war das Einzige, was noch zu tun blieb, den Auszahlungsscheck über drei Monatsgehälter in Empfang zu nehmen. Es würde einige Zeit damit dauern, so daß ich in einer Woche wiederkommen sollte, um ein letztes zu erledigen. Ich mußte also nach Alexandria fahren, um eine Woche später wiederzukommen. Oder vielleicht würde ich meine Tochter schicken, den Scheck abzuholen? Ich ging zurück in meine Wohnung, um für die Reise zu packen. Nie wäre es mir eingefallen, daß dies das letzte Mal war, daß ich mein Appartement sehen würde. Alles, was ich hatte, hatte ich dafür ausgegeben, es zu kaufen und in Ordnung zu bringen, mit allen elektrischen Geräten. Es war einfach eingerichtet, aber trotzdem gemütlich – doch, Dein Wille geschehe, nicht der meine. Am nächsten Morgen um 6 Uhr kam eine Freundin vorbei, und wir fuhren los nach Alexandria. Auf dem Weg hielten wir beim St.Pischoi-Kloster an. Wir besuchten die Patres dort und auch den, der mir versprochen hatte, mein Tonband streng geheim zu halten. Ich sah ihn strafend an, damit er spürte, was er mir angetan hatte, und wo Moufeed jetzt war. Was wird jetzt mit Samiah geschehen? – Aber ich weiß, Herr, daß es Dein Wille war, und ich will mich da nicht einmischen. Ich habe Dir mein Leben übereignet und alles, was ich habe. Tu damit, was Du willst. Du bist mein gütiger Vater, und ich muß Dir alles überlassen, wenn ich es verdienen soll, Deinen Namen zu tragen. In Alexandria bewirteten uns einige Freunde und brachten mich dann zu einer Villa in Agami (ein am Meer gelegener Vorort von Alexandria). Es war ein sehr ruhiger Ort. Alle Feriengäste waren wieder nach Hause gefahren, und keiner außer mir war mehr da. Während meine Begleitung wieder zurückfuhr nach Kairo, blieb ich alleine dort. Ich bat von dort aus meine Tochter, zum Schulbezirk zu gehen und meinen Scheck abzuholen. Das war jetzt alles, was mir noch gehörte. Ich warf mich zu Füßen meines geliebten Herrn: Herr, ich leide. Ich trage eine schwere Last. Hilf mir. Ich lege meine Last zu Deinen Füßen. Nimm mich in Deine Arme, trockne mir die Tränen und das Blut von meinen Wunden. Ehre sei Dir, o Herr! In jedem Leiden gewährst Du uns Trost und Stärkung.
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Ich werde nie vergessen, was ich in jener ersten Nacht in Alexandria sah: Ich sah Dein geliebtes Antlitz, über das Blut herunterrann, während Du mich voller Mitleid ansahst – Du, der Du dies alles meinetwegen erlitten hast. Ich vergegenwärtigte mir Dein Leiden. Vergib mir, Herr! Ich muß doch wissen, wieviel Du für mich gelitten hast, und ich sollte bereit sein, auch für Dich zu leiden. Aber Du mußt mich stützen in meiner Schwachheit, mich stärken und mir helfen, damit ich bereit bin, Dein Kreuz zu tragen und Dir zu folgen. Langsam und schleppend vergingen die Tage bis zum Wochenende. Meine Tochter kam mit einigen Freunden. Sie erzählte mir, sie habe den Scheck abholen wollen, doch hätte der zuständige Angestellte ihn ihr nicht geben wollen und hätte gesagt, ich müßte ihn selbst abholen. Sie ging dann zu meiner Schwester, die Leiterin für Öffentlichkeitsarbeit bei der Verwaltung ist, und bat sie, den Scheck für mich abzuholen. Der zuständige Angestellte verweigerte ihr jedoch ebenso den Scheck „auf Geheiß des Generalbevollmächtigten der Verwaltung, weil Nahed von der Staatssicherheit gesucht wird.“ Es war nur wenig später, da ließ mir meine Schwester folgendes durch meine Tochter mitteilen – ich konnte wählen unter drei Alternativen: Erste Möglichkeit: Mit meinem Schwager (der Offizier im Staatssicherheitsdienst ist) und meinem anderen Schwager (der im Präsidentenpalast zur Fliegertruppe gehört) zur Hauptverwaltung der Staatssicherheit zu gehen. Meine Rolle dabei würde sein, eine Erklärung abzugeben, daß das Tonband gefälscht sei, daß ich mich unter dem Einfluß der Patres, die unter der Führung von Pater Boutros arbeiten, zur Lüge habe hinreißen lassen, und daß sie mich gelockt hätten, das Tonband aufzunehmen. Dann würde ich ein neues Tonband besprechen – mit meiner eigenen Stimme – , auf welchem ich den Inhalt des ersten Tonbandes widerlege. Dafür würde ich die Freisprechung erhalten und keine weiteren Folgen befürchten müssen. Zweite Möglichkeit: Sollte ich die erste Möglichkeit ablehnen, würde die Familie mich in ein Krankenhaus für Geisteskranke einliefern (als geistig unzurechnungsfähig erklären). Die ganze Familie würde die Gültigkeit dieser Behauptung bestätigen, und daß ich eigentlich
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schon von meiner Geburt an geistesgestört gewesen sei. Auf Grund ihrer hohen Positionen im Regierungsapparat würden sie keinerlei Glaubwürdigkeitsprobleme haben. Ich habe zwei Schwestern. Ein Schwager ist Erster Stellvertretender Sekretär für die Bezirksregierungen. Der andere Schwager ist Professor für Englisch an der Sprachenschule (Schule für Sprachen und Übersetzungen). Außerdem ist mein Bruder Manager beim Generalstab für Organisation und Verwaltung. Dies würden wahrscheinlich die Leute sein, die über meinen Geisteszustand befinden würden. Dritte Möglichkeit: Die Familie kann mich, wenn sie will, kidnappen, töten und beseitigen, ohne daß irgend jemand Nachforschungen in dieser Angelegenheit anstellt. Sie hätten schon eine Verlustanzeige bei den zuständigen Behörden aufgegeben und eine Suche nach mir veranlaßt. Ich würde also auch nicht ins Ausland fahren oder fliegen können, weil mein Foto an alle Grenzübergänge, einschließlich Flughäfen, ausgegeben worden sei. Ich dachte, meine Schwester könne das nicht ernst meinen. Ich beschloß, sie anzurufen, um es aus ihrem Mund zu hören. Ich rief sie an, aber ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Sie schwor mir hoch und heilig, daß sie die dritte Möglichkeit durchziehen würde, falls ich mich für keine der ersten beiden Optionen entscheiden würde. Und ihr Mann, der Offizier beim Staatssicherheitsapparat, versicherte mir, daß er mich binnen 48 Stunden verhaften lassen würde, und daß er mich zwingen würde zu tun, was er wolle. Wie können Herzen sich so schnell wandeln und so versteinert werden, daß Steine nicht so grausam sein können? Ich hatte das Gefühl, daß die ganze Welt enger als ein Nadelöhr wurde. Ich war so deprimiert, daß ich mir den Tod herbeiwünschte. Ich wollte am liebsten sterben. Als die Besitzer der Villa erfuhren, was bei mir vorging, wurden sie besorgt und baten mich aus Angst vor etwaigen Konsequenzen, woandershin zu ziehen.
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6. Gesucht und gejagt Doch Du schickst uns keine Prüfung und verläßt uns dann, Herr; gleichzeitig mit der Prüfung gibst Du uns auch einen Ausweg. Meine Tochter sagte: „Ingenieur Samir weiß es schon und ist auf dem Weg, uns in ein anderes Appartement in Ma’mourah (ein anderer FerienVorort von Alexandria) zu bringen. Das ist ebenfalls eine Wohnung in einer Ferienlage. Es wohnt sonst niemand in dem ganzen Gebäude. Da kannst du bleiben, und niemand wird wissen, daß du da bist.“ Samir kam und brachte mich dorthin. Die anderen fuhren zurück nach Kairo. Doch, alleine war ich nicht: Mein Herr leistete mir Gesellschaft. Er war für mich meine Familie und meine Verwandten. Seine Liebe und Zuwendung waren genug für mich. Drei Tage später wurde ich durch des Herrn Stimme aufgeweckt, die mich anwies, Samirs Appartement so schnell wie möglich zu verlassen. Ich war überrascht und rief zu Dir, Herr: „Warum? Wohin? Und warum wieder weggehen?“ Ein paar Stunden später rief meine Tochter mich an, um mir zu sagen, daß Samir von der „Staatssicherheit“ verhaftet worden sei, und daß ich sein Appartement so schnell wie möglich verlassen solle. Was sollte ich tun? Wohin sollte ich gehen? Gott gab mir den Ausweg: „Geh zum Kloster, dort wird dir weitergeholfen werden.“ So fuhr ich also wirklich zum Kloster. Einer der Patres freute sich sehr, als er mich sah, und sagte: „Ich hatte schon zu Gott gebetet, dich hierher kommen zu lassen“, und er fügte hinzu: „Als ein Freund von uns erfuhr, was dir passiert ist, gab er uns den Schlüssel zu seinem Appartement in einem Hochhaus im Zentrum von Alexandria, von dem man über das Meer schaut. Zur Zeit wohnt dort niemand, weil es nur während der Sommersaison benutzt wird. Er ist bereit, dich dort solange wohnen zu lassen, wie du willst.“ Oh mein Herr, ich lobe Dich. Ich danke Dir und preise Dich mit jedem Atemzug. Ich kann Dir für Deine Fürsorge nie genug danken. Selbst wenn ich bis zum letzten Augenblick meines Lebens vor dir knien würde, wäre es nicht genug. So bist Du, mein Herr, Du verwundest und Du heilst, Du zerschmetterst und Du erlöst.
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Gleichzeitig lud der Pater mich ein, zwei Tage bei seiner Familie in Kalioub (einer Stadt nördlich von Kairo in Niederägypten) zu verbringen. Von dort rief ich ein paar Mal meine Kinder an, um zu hören, wie es ihnen ging. Beim letzten Anruf bat mich meine jüngste Tochter, sie nicht mehr bei den Nachbarn anzurufen, weil es ihnen peinlich sei. Sie erklärte mir, ich solle sie bei meiner jüngeren Schwester zu Hause anrufen. Ich hatte ein seltsames Gefühl bei dieser Bitte meiner Tochter. Warum nur? Ihre Nachbarin war eine anständige Frau, und genauso anständig waren auch ihre Kinder. Jedesmal, wenn ich meine Kinder bei ihr am Telefon sprechen wollte, war sie ganz gefällig. Ich fragte meine Tochter: „Ist das ein Trick?“ Sie aber versicherte mir, daß es keine Tricks dabei gebe und daß ich übersensibel geworden sei. Also vereinbarte ich eine Zeit mit ihr, wann ich sie im Hause meiner Schwester antreffen würde. Zur gegebenen Zeit rief ich sie vom Haus des Paters an. Mir fiel auf, daß mein Sohn die Unterhaltung künstlich in die Länge zog und so tat, als wollte er ganz sicher sein, daß es mir gut ging. Auch meine Schwester bekundete eifrig ihre Hilfe. Dennoch gab es ein verstecktes Gefühl von Beklemmung, das mir Kummer machte. Das Telefonat war zuende, es hatte ungefähr 15 bis 20 Minuten gedauert. Gleich darauf hörte ich die Stimme des Herrn, die mir sagte, daß dies eine Falle sei: Sie haben dich reingelegt, sie haben dir aufgelauert und es geschafft, deine Telefonnummer zu erfahren, von wo du angerufen hast. Eine halbe Stunde später klingelte das Telefon, und jemand wollte den Namen und die Adresse des Telefonbesitzers wissen unter dem Vorwand, daß ein Päckchen für ihn aus dem Ausland angekommen sei, daß das Päckchen aber ohne Namen oder Adresse wäre, sondern nur mit einer Telefonnummer, die anzurufen sei. Sofort wurde mir klar, warum meine Tochter mich gebeten hatte, sie bei meiner Schwester anzurufen. Meinem Schwager, der am Präsidentenpalast arbeitete, war es ganz bestimmt möglich, die Telefonnummer des Paters herauszukriegen. O Herr, wie dumm sie doch sind! Sie konnten nicht einmal ein paar Stunden warten, um die Information, die sie wollten, auf dem
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normalen Weg herauszufinden. Jetzt wußte ich mit Bestimmtheit, daß ich fliehen mußte. Eilends verließ ich das Haus. Mein Herz war wie in Stücke zerrissen. Meine Schwester, mein Sohn und meine Tochter planten, mir einen Hinterhalt zu legen in Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit! Mein Sohn, der Sohn meines Lebens! Meine so liebe junge Tochter und meine Schwester! Ich verlor fast den Verstand. Unfaßbar, was geschehen war! Doch es steht geschrieben: „Brüder werden einander dem Tod ausliefern und Väter ihre Kinder, und die Kinder werden sich gegen ihre Eltern auflehnen und sie in den Tod schicken. Und ihr werdet um meines Namen willen von allen gehaßt werden; wer aber bis zum Ende standhaft bleibt, der wird gerettet“ (Mk 13,12–13). Mein Herr, auf Dich habe ich meine Hoffnung gesetzt. Hilf mir, diese Prüfungen und Leiden zu ertragen, bis daß ich bei Dir bin. Ich danke Dir, Herr. Du stärkst mich und hältst mich aufrecht. Immer stehst Du mir zur Seite. Ich danke Dir, Herr, denn Du verleihst mir solche Stärke, daß ich mich in den Prüfungen behaupten kann. Ich danke Dir, Herr, denn Du hast mich für würdig erachtet, in Deinem Namen zu leiden. Ich fuhr zum Kloster von Mar Mina, dem Wundertätigen (Mar ist ein syrisches Wort, das soviel wie Abba oder Vater bedeutet), um drei Tage dort zu verbringen – inkognito. Früh am Morgen stand ich auf, um zur Messe zu gehen und an der Kommunion teilzunehmen; die übrige Zeit verbrachte ich im Gebet. Hierbei faßte ich mich langsam wieder und begann, mich ruhig und wohl zu fühlen. Am vierten Tag kam zu meiner Überraschung der Bruder des Paters zu mir, um mich abzuholen. Ich fragte ihn: „Hat die Polizei deinen Namen und deine Adresse erfahren?“ Er sagte: „Nein. Bestimmt nicht. Die Polizei ist nicht gekommen. Mir scheint, aus Angst stellst du dir Dinge vor, wie sie gar nicht sind. Komm, laß uns fahren und etwas Zeit im Hause der Familie verbringen.“ Dennoch verursachten sein Verhalten und die Art, wie er sprach, ein Gefühl von Unbehagen in mir. Was sollte ich jetzt tun? Mir blieb keine Wahl. Ich sammelte meine Habseligkeiten. Doch während ich zum Auto ging, hörte ich die Stimme des Herrn in meinem
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Herzen: „Dieser Mann ist gekommen, um dich der Polizei auszuliefern.“ Ich bekam schreckliche Angst. – Gott, was soll ich tun? Soll ich mich weigern mitzukommen, und nach Alexandria fahren? Aber er kennt meine Adresse in Alexandria. – Ich war durcheinander. Während ich mit ihm im Auto fuhr, erhob ich mein Herz zu meinem geliebten Herrn: „Herr, ich möchte ihnen nicht in die Hände fallen. Sie sind wie erbarmungslose Tiere. Würdest Du mich ihnen überlassen?“ Deine Antwort kam zu mir: „Mach dir keine Sorgen! Ich werde dich zur rechten Zeit retten, auf daß alle meinen Namen erkennen und mich preisen.“ Ich sagte: „Herr, sieh nicht auf meine Schwachheit und vergib mir. Wenn Du mich wirklich retten willst, gib mir ein deutliches Zeichen. Ich fürchte mich so. Es regnet jetzt, und die Wolken lassen die Sonne nicht durchscheinen. Laß den Regen jetzt aufhören und die Wolken sich auflösen. Laß die Sonne scheinen!“ Noch im selben Moment hörte der Regen auf, die Wolken verschwanden, und die Sonne schien. – Ich danke Dir, Herr. Du hast mein Herz mit Deinem Frieden erfüllt. Es fiel mir auf, daß er (der Bruder des Paters) langsam mit etwa 60 bis 70 Stundenkilometern auf der Kairo-Alexandria-Wüstenstraße fuhr. Von Zeit zu Zeit schaute er in den Rückspiegel. Ich tat so, als ob ich nicht begriff, was vor sich ging, doch fragte ich ihn: „Warum fahren Sie so langsam?“ Er antwortete: „Der Wagen hat ein technisches Problem, und ich will lieber nicht zu schnell fahren, damit wir nicht auf der Straße steckenbleiben.“ Auf dem Weg hörte ich, wie die Stimme des Herrn zu mir sagte: „Haltet hier bei der Farm des St.-Pischoi-Klosters an, dann wirst du sehen, was ich tun werde.“ Ich bat ihn also, bei der Farm des St.Pischoi-Klosters anzuhalten. Anfänglich wollte er nicht. Aber als ich darauf bestand, erklärte er sich bereit anzuhalten, nur für ein paar Minuten. Dort gab es dann die Überraschung. Sie wußten alle, was im Haus des Paters passiert war, und alle waren verblüfft und fragten: „Wo warst du? Wußtest du schon, daß die Polizei das Haus des Paters nach Mitternacht durchsucht und alle verhaftet hat?“ Das war ein schwerer Schlag für mich, obwohl ich es in meinem Herzen geahnt
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hatte. Aber . . . ! Ich schaute den Bruder des Paters strafend an. Er sagte: „Verzeih mir. Ich bin schwach geworden, als ich sah, wie sie den alten Vater so brutal zusammengeschlagen haben.“ (In Ägypten ist es üblich, daß altgewordene Eltern mit im Haushalt ihrer Kinder leben.) Das Wort der Verzeihung gab ich ihm und bat Gott, daß Er ihm auch verzeihen möge, aber nun müßte er alleine fahren. Er sagte: „Nein – bitte! Du mußt mit mir kommen.“ Ich sagte ihm: „Denkst du, ich habe den Verstand verloren? Ich soll freiwillig zu ihnen gehen? Gestern (gleichnishaft gemeint) hat dein Bruder mich gebeten, ein Tonband mit meinem Zeugnis zu besprechen, meinen vollen Namen anzugeben und die Namen derer, die Gott bei seinem Werk an mir gebraucht hat. Er versprach mir, daß es nur ein Dokumentarbericht sei, der in der Klosterbücherei verwahrt werde und sehr vertraulich behandelt werden würde. Am nächsten Tag war das Band in ganz Ägypten zu haben. Und heute willst du mich überreden, daß ich mich selbst der Polizei stelle?“ Was für eine Qual! Ich fühlte jedes Bißchen der Bitterkeit. Mir war, als ob ich in Stücke gerissen würde. – Jetzt weiß ich, wie man sich fühlt, wenn man verraten wird. Vergib mir, Herr! Ich will niemanden richten. Wir alle sind schwach. Wenn wir nicht Deine Hilfe suchen, können wir gar nichts aushalten. Jetzt fühle ich das Ausmaß Deines Schmerzes und Deiner Qual, als Du von einem Deiner Jünger verraten wurdest. Danke, geliebter Herr, Du hast mich für wert erachtet, Anteil an Deiner Pein zu erhalten. – Was sollte ich jetzt tun? Die Mönche im Abba-Pischoi-Kloster standen im Kreis um mich herum. Einer von ihnen meinte: „Du mußt dich der Polizei stellen. Es hat doch keinen Sinn, dauernd auf der Flucht zu sein. Der Ring schließt sich langsam um dich, und es gibt keinen Ausweg.“ Ein anderer sagte: „Ich sah dich in einem Gesichte mit Blut im Nacken. Ich verstehe das so, daß du getötet wirst.“ Ein dritter sprach: „Möchtest du nicht ein Märtyrer um Christi willen sein? Und Christus selber ruft dich – sagt Er doch: ,Kommt zu mir, Gesegnete meines Vaters. Erbt das Reich, das euch vorbereitet ist von Anbeginn der Welt.‘ “ – Es war, als ob jeder von ihnen ein Messer in der Hand hielt und mich ohne Mitleid zerriß. Ich dachte nach: „Vielleicht haben sie recht. Vielleicht sollte ich mich
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stellen.“ Entschlossen, mich der Polizei zu stellen, öffnete ich meine Handtasche, leerte sie völlig aus und gab ihnen alles, was darin war. Aber erst noch wollte ich nach Alexandria fahren und meine Sachen abholen, damit die Polizei sie dort nicht finden und dem Gastgeber Ärger bereiten würde. Ich mußte auch meine Tochter ihrem Vater übergeben, damit sie verschont bliebe vor dem, was mich erwartete. Ich hatte keinen Zweifel darüber, was mich bei der Staatssicherheit erwartete. Doch ich war auch sicher, daß der, der bei den drei Jünglingen in dem heißen Feuerofen war, auch bei mir sein und mich retten würde. Warum sollte er nicht? Ich fühlte mich wie Seine verwöhnte Tochter. Ich ließ also den Bruder des Paters alleine wegfahren, während ich nach einer Möglichkeit Ausschau hielt, mit meiner Tochter zum Rasthaus zu gelangen (ein Rasthaus im Stil einer Oase ungefähr auf halbem Wege zwischen Kairo und Alexandria, auf der Wüstenstraße), um von dort aus eine Mitfahrgelegenheit nach Alexandria zu suchen. Und wirklich hielt ein Mann mit einem Lastwagen an und nahm uns bis zum Rasthaus mit. Dort warteten wir eine Stunde auf ein Taxi, das nach Alexandria fuhr. Als der Omnibus kam, bekamen wir Plätze nach Alexandria. Auf dem Weg erhob ich mein Herz zu Dir, Herr, und fragte Dich: „Ist das also das Ende? Ich muß mich der Staatssicherheit ausliefern? Du kennst sie doch. Du weißt, wie brutal sie sind. Ich bin schwach. Stärke mich in meiner Schwachheit, ich halte sonst ihre Folter nicht aus. Was ist deine Antwort, Herr, was soll ich tun?“ Die Antwort meines barmherzigen Herrn war: „Wenn ich wollte, daß du dich ergibst, hätte ich dich nicht wissen lassen, daß er kam, um dich ihnen auszuliefern. Und ich war es doch, der dich angewiesen hat, die Farm des St.-Pischoi-Klosters zu besuchen, damit du dort die Wahrheit erfährst, und um dir ein Zeichen zu geben, daß ich dich nicht in ihre Hände fallen lassen werde. Nein, ergib dich nicht. Fahr nach Alexandria und verstecke dich dort.“ Mein Herr, wie groß bist Du. Du bist der lebendige und barmherzige Gott. Du schenkst mir das Gefühl, die einzige auf der ganzen Erde zu sein, um die Du Dich kümmerst. Du gibst mir ein Gefühl, als ob ich der einzige Gegenstand Deiner Aufmerksamkeit und Fürsorge wäre.
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Wie groß ist Deine Liebe, o Herr. Ich liebe Dich, weil Du es in der Tat verdienst, geliebt zu werden, und weil Du mich zuerst geliebt hast. Laß mich Dich lieben, Dich kennen und Dir vertrauen. – Müde und erschöpft kam ich in Alexandria an. Aber der Friede des Herrn – der jede Fassungkraft übersteigt – erfüllte mein Herz und meine Seele. Ich mußte irgendeine andere Unterkunft suchen. Dieser Freund könnte ihnen meine Adresse angeben, und sie könnten kommen und mich verhaften. Aber jetzt war es schon spät geworden. Während ich noch darüber nachdachte, erhellte Sein Gesicht mir die Dunkelheit. Sogleich fühlte ich mich sicher und entschied, die Nacht dort zu verbringen und erst am nächsten Morgen eine andere Unterkunft zu suchen. Am nächsten Morgen führte mich der Herr zu einer guten christlichen Familie, die ein kleines möbliertes Appartement hatte. Wir mieteten es und zogen noch am selben Tag dort ein. Ich erzählte der Familie nicht, wer ich war, damit ich solange wie möglich in Frieden gelassen würde. Von hier aus rief ich meine Freunde in Kairo an. Einer von ihnen traute seinen Ohren nicht: „Bist du es wirklich, Nahed? Ich kann es gar nicht glauben. Wir haben gehört, die Staatssicherheit hätte dich verhaftet und umgebracht. Bleib wenigstens eine Woche da, wo du bist, und geh nicht aus, bis wir dich besuchen kommen und alles von dir erfahren.“ Ich versuchte, zu Hause zu bleiben und nicht auszugehen außer für ganz dringende Angelegenheiten. Eines Tages klingelte meine Vermieterin an der Tür. Als ich sie hereinließ, sagte sie zu mir: „Haben Sie schon von der Muslimfrau gehört, die Glauben an Jesus Christus gefunden hat und Christin geworden ist? Ihr Name ist Nahed.“ Während ich innerlich vor Angst zitterte, bejahte ich, von ihr gehört zu haben. Sie sagte freudestrahlend: „Wir haben das Tonband gekauft, das sie gemacht hat, und in dem sie ihr Zeugnis gibt und erzählt, wie sie Christus in einer Vision gesehen hat und wie er zu ihr gesprochen hat.“ Ich meinte: „Glaubt Ihr dies?“ Sie antwortete: „Aber sicher. Ganz bestimmt. Warum würde eine Dame wie sie, in ihrer Stellung und mit diesen Fähigkeiten, und aus so einer mächtigen Familie, sich solchem Risiko aussetzen, wenn es keine wahre Tatsache wäre, was sie sagt?“ 81
Ehre sei Dir, o Herr. Das ist genug für mich. Es ist genug für mich, daß Du mich erwählt hast, nicht aufgrund meiner Rechtschaffenheit, sondern um mich mit dem Reichtum Deiner Herrlichkeit maßlos zu überschütten. Ich danke Dir, und ich will Dir immer danken mit jedem Atemzug, und es wird immer noch zu wenig sein. – Ich begleitete sie zu ihrem Appartement und hörte mir das Tonband an. Es war, als hörte ich es zum ersten Mal. Ich erlebte jeden Moment davon wieder aufs neue. O wie überwältigend groß bist Du, mein Herr! Wie groß und wundervoll bist Du! Du bist das Beste im ganzen Universum. Ich finde nichts, was ich mit Dir vergleichen kann. Nachdem wir das Band angehört hatten, sagte sie zu mir: „Die Polizei weiß, daß sie (Nahed) in Alexandria ist, und sie wird gesucht.“ – Ich sollte Alexandria verlassen und anderswohin gehen, aber ich mußte warten bis jemand kam und mich an einen anderen Ort brachte. Zwei Tage später kam mich ein Freund besuchen, dem ich vertrauen konnte. Er traute seinen Augen nicht, als er mich sah. Dann erzählte er: „Wir haben gehört, daß du deine Kinder im Haus deiner Schwester angerufen hast. Das war mit Hilfe deiner Kinder geplant, um die Telefonnummer, von wo du dich befandest, durch das Staatssicherheitsnetz zu bekommen, damit man dann dein Versteck ausfindig machen konnte. So erfuhren sie den Namen und die Adresse des Telefonbesitzers. Die Polizei ging um Mitternacht dorthin, und die Wohnung wurde gründlich durchsucht. Als sie dich nicht fanden, verhafteten sie alle, die bei dieser Adresse lebten. Sie wurden brutal geschlagen und gefoltert. Unter diesem schrecklichen Druck des Schlagens und der Folter hatte der Mann fast keine andere Wahl mehr, als dich der Polizei auszuliefern. Er verabredete sich mit der Polizei, um zum Mar-MinaKloster zu fahren und dich ihnen zu überliefern. Begleitet wurde er von zwei ungekennzeichneten Autos der Staatssicherheit, die eurem Auto hinterherfuhren. Als du bei der Farm des St.-Pischoi-Klosters anhieltst, fuhren die Zivil-Streifen zum Rasthaus weiter. (Das Rasthaus im Oasenstil liegt an einem strategisch wichtigen Ort, sowohl um Reisenden zur Verfügung
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zu stehen, als auch um die Straße in allen Richtungen zu überwachen.) Die beiden Autos warteten dort bis sie sahen, wie sein Wagen auf die Autobahn herausfuhr. Sie dachten, du und deine Tochter wären noch bei ihm im Auto. Und so fuhren sie ihm hinterher bis sie die Außenbezirke von Kairo erreichten, was etwa eineinhalb Stunden Fahrzeit ist. Erst dann entdeckten sie, daß ihr nicht im Auto wart. Die Staatssicherheit errichtete sofort Straßensperren, um alle Autos anzuhalten, die nach Kairo hereinfuhren, und durchsuchte jeden einzelnen Wagen auf der Suche nach dir. Als sie dich nicht fanden, kehrten sie zur Farm des St.-Pischoi-Klosters zurück in der Hoffnung, dich noch dort zu finden. Als dies nicht gelang, verbreiteten sie das Gerücht, du wärest getötet worden, als du versuchtest, in die Wüste zu fliehen, und daß sie deinen Leichnam dort liegen gelassen hätten, wo du gestorben seist. Der Gefährte, der mit euch zusammen war, wird jetzt im Gefängnis gefoltert. Sie haben auch Samir, den Ingenieur, verhaftet, weil er dir geholfen hatte, ein Appartement zu bekommen. Noch eine andere Person, die in der Audiothek einer der Kirchen arbeitet, wurde verhaftet, weil man herausfand, daß er dein Tonband vervielfältigte. Ingenieur Rashad wurde verhaftet, weil deine Tochter in seinem Büro als Sekretärin gearbeitet hatte und er euch finanziell geholfen hatte. Sie wurden alle wegen des Verbrechens des Evangelisierens und der Verbreitung des Christentums angeklagt, dafür, daß sie dir geholfen hatten, dem Islam abzusagen und den christlichen Glauben anzunehmen – was als eine Diffamierung des Islams gesehen wird. Jetzt, wo ihnen klar ist, daß du ihnen durch die Finger geschlüpft bist, intensivieren sie die Suche nach dir in Alexandria und bei Straßensperren in den Vororten von Kairo und Alexandria.“ Ehre sei Dir, o Herr! Zum zweiten Mal wurde die Staatssicherheit mit Dummheit geblendet. Unser Auto wurde von zwei Staatssicherheitsautos 90 Kilometer weit verfolgt, ohne daß sie Eile hatten, mich zu verhaften. Als wir zur Farm fuhren, fuhren sie geradewegs zum Rasthaus. Und als der Wagen, in welchem ich mich befunden hatte, an ihnen vorbeifuhr, dachten sie, ich sei noch darin, und sie folgten ihm noch eineinhalb Stunden lang, bevor sie bemerkten, daß ich mich nicht
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mehr darin befand. Sie waren verblendet und konnten nicht sehen, daß ich nicht in dem Auto war. Während ich nach Alexandria flüchtete, hast Du sie mit Dummheit geschlagen. Sie durchsuchten die Autos, die nach Kairo einfuhren, und nicht die, die nach Alexandria einfuhren. Und als sie endlich ihren Fehler bemerkten, war ich schon umgezogen und hatte meine Adresse geändert; ein neuer Ort, den niemand sonst kannte. Alle diese Pläne, um mich zu retten! Was für ein perfekter Plan! Du hattest mir versprochen, ich würde ihnen nicht in die Hände fallen, und so ist es geschehen. Wie können sie mich kriegen, wenn ich unter Deinem Schutz stehe? Ich will mich bei Dir verstecken, und Du wirst mich mit Deinen Armen umgeben. Ja, Seine linke Hand ist unter meinem Kopf, und Seine rechte Hand umfängt mich. Ja, ich bin für Ihn da, und Er ist da für mich. Jetzt mußte ich Alexandria verlassen und nach Kairo fahren. Du hattest wieder alles für mich geplant. Eine Freundin gab mir die Einladung, bei ihr zu bleiben, in einem Appartementgebäude, das ihr gehört. Es war eine möblierte Wohnung. Ich packte meine Habseligkeiten zusammen, und wir machten uns mit dem Auto auf den Weg. Am Ausgang von Alexandria sahen wir die Straßensperren und die Staatssicherheitsbeamten, die alle Autos durchsuchten, die Alexandria verließen. Als wir zur Durchsuchung an der Reihe waren, winkte uns ein Offizier, wir sollten weiterfahren, ohne einen Blick in den Wagen zu werfen. Wie können sie uns anhalten, wenn Du vor uns hergehst und uns den Weg bahnst? Wir kamen in Kairo an und fuhren quer durch die Stadt nach Heliopolis. Das Gebäude, in dem wir wohnen sollten, lag in der Nähe der Nuzhah-Polizeistation. Dort kannten sie mich alle sehr gut. Ich sollte kein Fenster öffnen oder auf die Straße gehen, kein Geräusch machen oder die Tür öffnen, damit niemand wüßte, daß jemand das Appartement bewohnte. Alles, was sie wußten, war, daß es leer und geschlossen stand. Diese Richtlinien mußte ich befolgen, ich hatte keine andere Wahl.
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7. Der Auszug aus Ägypten Schwerfällig und schleppend vergingen die Tage. Ich war unter äußerster Anspannung. Manchmal waren wir hungrig, sehr hungrig sogar, aber wir durften die Wohnung nicht verlassen. Ich durfte ja nicht den Mantel der Verborgenheit verletzen, der uns bedeckte. So mußte ich bis zum Abend warten, um jemanden zu finden, der uns etwas zu essen brachte. Manchmal mußte diese Freundin verreisen, und dann hatten wir zwei Tage nichts zu essen. Man konnte nichts tun außer sich in Geduld zu üben. Vierzig Tage vergingen auf diese Weise. Vielleicht hatte ich gesündigt, dachte ich, und Gott bestrafte mich auf diese Weise – „wen der Herr liebt, den züchtigt er“? Ich betete: „O Herr, vergib mir, wenn ich gesündigt habe, ganz gleich ob es bewußt oder unbewußt war. Wielange soll ich so leiden? Ich fühle mich wie eine Gefangene hier. Ein Freund hat versprochen, uns zwei Pässe zu besorgen, damit wir das Land verlassen können, aber er hat es wohl nicht zuwege gebracht. Herr, ich halte das so nicht mehr länger aus.“ Da sprach Deine liebe Stimme zu meinem Herzen: „Du hast nicht verstanden, was ich dir von Anfang an gesagt habe: Schau nur auf mich. Als du sagtest: ,Ich habe Angst‘, sagte ich: ,Hab keine Angst. Schau nur auf mich.‘ Obwohl ich dich mehrmals aus der Gefahr errettet habe, hast du immer noch Angst, und du suchst immer noch Hilfe bei Sterblichen. Steh auf und geh aus, dann werde ich dafür sorgen, daß du einen Reisepaß bekommst, mit deinem neuen Namen. Es wird durch denselben geschehen, der es dir einmal versprochen hat, der aber, als dein Tonband so weit verbreitet wurde und die Lage außer Kontrolle geriet, ängstlich wurde und sich von dir zurückzog. Ich werde ihm den inneren Frieden geben, diese Aufgabe zu erfüllen. Fürchte dich nicht! Mein Friede wird dein Herz erfüllen.“ – „O vergib mir, Herr“, bat ich. „Ich bin schwach. Überwinde meine Schwachheit und stärke mich.“ Am nächsten Morgen ging ich unter dem Schutz und mit der Vorsorge des Herrn hinaus auf die Straße. Und wie ich den besagten Freund anrief, sagte dieser: „Ich habe gerade gestern über Sie nachgedacht.
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Meine Familie und ich unterhielten uns über Sie und Ihre Lage, und nachdem wir darüber gebetet haben, haben wir uns gemeinsam entschieden, daß ich Ihnen zwei Personalausweise und Pässe für Sie und Ihre Tochter besorgen sollte. Bringen Sie mir doch bitte einige Paßbilder für Sie beide. Versucht, euer Aussehen auf den Fotos zu verändern. Tun Sie das bitte so schnell Sie können.“ Ich hätte vor Freude Luftsprünge machen können, als ich das hörte. Augerechnet gestern entschieden sie sich, uns zwei neue Personalausweise zu besorgen, genau zu der Zeit, als Du, Herr, zu mir gesprochen hast. (Anmerkung des Übersetzers ins Englische: Ein Personalausweis enthält praktisch alle wichtigen Informationen über eine Person, einschließlich Religionszugehörigkeit, Beruf, Wahlbezirk, Geburtsdatum, Alter, Geburtsort, Gewicht, Größe, usw., sowie auch ein Paßbild.) Du hast ihnen gesagt, daß sie es tun sollen, und so geschieht es. Wie könnte es auch anders sein, wo Du doch immer Deine Versprechen hältst! – Ich kniete zu Deinen Füßen, um Dir zu danken, und Deine Stimme sprach zu meinem Herzen: „Ich werde ihn mit Frieden erfüllen, und er wird die Pässe für dich und deine Tochter bekommen.“ Ich fuhr hin zu dem Mann. Er wohnte in einer kleinen Stadt ungefähr 100 Kilometer außerhalb von Kairo. Er hieß mich willkommen, und ich konnte wahre christliche Liebe in ihm erkennen. Er war nicht scheinheilig oder heuchlerisch. Ich gab ihm die Bilder, und er versprach mir, die Personalausweise innerhalb von nur zwei Tagen zu besorgen. Ich fuhr nach Kairo zurück. – Wieso ist plötzlich alles anders?, wunderte ich mich. Ich gehe offen durch die Straßen von Kairo und Heliopolis. Ich nehme öffentliche Transportmittel. Ich habe keine Angst mehr. Der Friede des Herrn erfüllt mein Herz. – Ich konnte es kaum erwarten und zählte die Stunden und Minuten, bis ich die neuen Personalausweise in Händen halten würde. Wir fuhren wieder in die Kleinstadt, wo der Mann wohnte. Er hatte sein Versprechen gehalten und übergab uns die beiden Personalausweise. Wieso auch nicht, wenn der Herr es angeordnet hatte! Ich dankte dem Herrn und war überrascht, als der Freund fragte: „Plant Ihr ins Ausland zu fahren, oder wollt Ihr nur einfach anfangen, Euch mit den neuen Identitäten wieder frei zu bewegen?“ Ich sagte: „Nein, ich denke daran,
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ins Ausland zu gehen. Aber Gottes Wille geschehe, nicht meiner. Wieso fragen Sie?“ Er antwortete: „Ich wäre bereit, Ihnen und Ihrer Tochter Reisepässe zu besorgen, aber aus einer anderen Stadt. Was meinen Sie dazu?“ Ich darauf: „In Ordnung. Natürlich.“ Er sagte: „Geben Sie mir zehn Tage, all die notwendigen Papiere fertig zu machen.“ Ich dankte dem Mann. Auf dem Rückweg erhob ich mein Herz zu Dir, Herr, um Dir zu danken, niemandem sonst. Ich werde Dir immer danken, solange ich lebe. Du bist deinen Versprechen stets treu. Du hältst alles in Deinen Händen, und wenn ich Dich habe, brauche ich sonst nichts. Wenn doch alle wüßten, wie Du das Leben derer verwaltest und ordnest, die sich Deinen Händen überlassen! So einfach und so schnell ging es; Du hast alle mit Deinem Frieden erfüllt. Von einem Augenblick zum andern hat sich derselbe Mensch gewandelt, der vorher Angst hatte und sich von mir distanzierte, und bot mir an, die Personalausweise zu besorgen, und geht sogar soweit, mir anzubieten, die Pässe zu besorgen. O Herr der ewigen Herrlichkeit! Segne diesen Mann mit Deinem reichen Segen, schütze ihn und halte ihn fest im Glauben, ihn und sein ganzes Haus. Dein heiliger Name werde gepriesen, jetzt und immerdar. Ich danke Dir, Herr, ich lobe Dich, ich knie vor Dir bis zum letzten Augenblick meines Lebens! – Ich kehrte nach Hause zurück und entschloß mich, wieder nach Alexandria zu fahren. Wir brauchten kein Privatauto. Wir entschieden uns, den Omnibus zu nehmen. – Dein Angesicht, o Herr, ist mir vor Augen und erleuchtet meinen Weg. Führe Du mich, Herr. Ich will hinter Dir hergehen, mit Jubel und Frieden, glücklich und sicher. Wir fuhren nach Alexandria, zurück in das Appartement an dem ruhigen Ort, von wo man den Blick auf die Meeresküste hat. Es war Dezember, das Wetter war kalt, und fast niemand war in der Gegend. Aber Du warst immer bei mir, Herr; Du wohntest in meinem Herzen und in meiner Seele. Ich liebe Dich, Herr. Mehr als zehn Tage vergingen. Die Pässe mußten jetzt fertig sein. Wir fuhren wieder zu dem lieben Freund, der sie uns besorgen wollte. Die Papiere waren in der Tat fertig, mit amtlichem Siegel darauf und von zwei Zeugen unterschrieben, wie das Gesetz es verlangte. Dann
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fuhren wir in eine andere Stadt und erhielten die Pässe. Sie wurden erstaunlich schnell ausgestellt. Wir erhielten sie noch am selben Tag. Ja, Herr, Du bist der, der gibt und lenkt. Es gibt eigentlich keinen Grund, sich zu wundern. Es ist Dein wunderbares Werk. Wie könnte es auch anders sein, wo Du doch wunderbar bist? Gepriesen sei Dein Name! Mit den neuen Personalausweisen und den neuen Reisepässen fuhren wir nach Alexandria zurück. Aber es gab noch ein Problem: Wie sollten wir Visa für andere Länder bekommen? Und für welches Land sollten wir ein Visum beantragen? Da fiel mir ein, daß an einem der 50 Tage, die wir in Kairo und Heliopolis verbrachten, mein guter Herr mich dahin geführt hatte, eine bestimmte Kirche zu besuchen, wo ich dann den Priester der Kirche traf. Ich hatte mich damals mit ihm unterhalten und war überrascht, als er sagte: „Du solltest dich der Staatssicherheit stellen. Es gibt keinen Ausweg, und es hat keinen Sinn, immer nur auf der Flucht zu sein. Es sind schon so viele Leute, die jetzt deinetwegen im Gefängnis sind.“ Ganz ruhig gab ich ihm zurück: „Das ist Gottes Wille. Ich habe damit nichts zu tun.“ Er sprach weiter: „Vergiß nicht, daß sie sehr frustriert sind, weil sie es bis jetzt nicht geschafft haben, dich zu verhaften. Dafür aber verhaften sie jeden, der dich gekannt hat, ja sogar jeden, der eine von deinen Kassetten besitzt. Es muß doch nicht sein, daß diesen Leuten noch mehr Leid zugefügt wird.“ Ich antwortete ihm: „Gott hat mir versprochen, ich würde ihnen niemals in die Hände fallen, und ich hätte eine andere Aufgabe zu erfüllen. Er hat mir gesagt: ,Fürchte dich nicht. Ich werde alles arrangieren.‘ “ Er lächelte, als ob ich Unsinn geredet hätte, und sagte: „Ich glaube, je schneller du dich ergibst, um so besser ist es für dich.“ Ich gab ihm zu bedenken: „Wenn ich mich ergebe und sie anfangen, mich zu schlagen und zu foltern, werde ich vielleicht schwach werden und ihnen die Namen von all denen, die mir finanziell geholfen und die mir ihre Häuser geöffnet haben, verraten.“ Sehr bestimmt sagte er jetzt: „Erwähne bloß keinen von diesen Namen! Es ist allgemein bekannt, daß du eine hohe Position, ein gutes Gehalt und einen Wagen hattest. Du kannst doch sagen, du hättest deine Ersparnisse von deinem Gehalt und das Geld vom Verkauf des Autos verwendet.“ 88
Hierauf sagte ich: „Gott hat mir versichert, daß ich einen neuen Personalausweis sowie einen neuen Reisepaß mit einem neuen Namen bekommen würde, und daß er alles für mich und meine Tochter arrangieren wird, so daß wir ins Ausland gehen können.“ Nun antwortete er: „Wenn du das schaffen kannst, dann kann ich dir ein Einreisevisum für ein europäisches Land besorgen.“ Wir schüttelten uns die Hände, und ich ging meines Weges. Ein Wort war mir im Sinn geblieben, nämlich daß er mir ein Einreisevisum für ein europäisches Land besorgen kann. Ich erinnerte mich jetzt wieder an diese Unterhaltung und rief ihn sogleich an. Er war selbst am Apparat und gab mir einen Termin, wann ich ihm die Pässe bringen sollte. O mein Herr, Himmel und Erde werden vergehen, aber nicht ein einziges Jota Deines Wortes wird vergehen. Ich bekenne Dich, ich verkündige Dich, ich weiß aus erster Hand um die Wahrhaftigkeit Deiner Versprechen. Ich danke Dir, Herr, daß Du mich dazu gebracht hast, Dich zu kennen, Dich zu lieben und mein ganzes Vertrauen auf Dich zu setzen. Ich wünschte, ich hätte Dich schon früher gekannt, doch Du wählst immer die richtige Zeit. Am nächsten Tag fuhren wir zurück nach Kairo. Wir fuhren mit dem Omnibus. Phantastisch! Wie wunderbar! An den Straßensperren wurden nur Privatautos kontrolliert, jedoch keine Busse. Man nahm wohl nicht an, ich hätte den Mut, mit einem Bus zu fahren. Sie dachten, ich hätte immer noch Angst und flüchtete von einem Ort zum anderen in Autos, oder vielleicht in Kofferräumen von Autos. Aber, sie kennen halt Dich nicht, mein Herr. Sie haben keine Ahnung, was das Wort „Wenn Gott mit uns ist, wer kann wider uns sein?“ wirklich bedeutet. Sie haben keinen Sinn für die tiefe Bedeutung dieses Wortes. Durch Deine Gnade habe ich sie kennengelernt, selbst erlebt und erfahren. So laut ich kann, möchte ich ausrufen: „Kostet und sehet, wie gut der Herr ist!“ Mitten in Kairo und bei hellem Tageslicht ging ich zur Kirche, übergab dem Priester die Reisepässe, und mußte noch am selben Tag nach Alexandria zurückfahren. Ich mußte mit einem Sammeltaxi fahren. Diese Sammeltaxis warten an der Taxi-Haltestelle, bis sie ge-
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nügend Passagiere zusammen haben, und fahren dann los. „Es macht nichts“, dachte ich, „mein Herr ist mit mir.“ Meine Tochter und ich saßen auf den Vordersitzen neben dem Fahrer. Irgendwo entlang des Weges wurde das Taxi an einer Straßensperre zur Kontrolle angehalten. Der Offizier steckte seinen Kopf in den hinteren Teil des Wagens, aber uns sah er gar nicht an. Er sah uns nicht! Er gab dem Fahrer einen Wink, und wir fuhren los. – Ehre sei meinem Herrn und Gott, welcher der Erlöser und die Hoffnung der ganzen Menschheit ist! 1989 ging zu Ende, und 1990 begann. Ich suchte Gottes Gegenwart und dankte Ihm. Die Geschehnisse des Jahres 1989 zogen erinnernd vor meinen Augen vorüber – ja, was war das für ein Jahr gewesen! Soviel ist geschehen, und Deine rechte Hand hat mich stets beschattet, beschützt und gerettet. Gepriesen sei Dein heiliger Name! Was nützen mir meine Tage auf Erden, wenn sie nicht mit Dir und für Dich sind? Ich sehne mich danach, Dich zu schauen. Wann wird meine Ausbürgerung auf Erden enden? Ich bin eine Fremde auf dieser Welt. Herr, nimm mich zu Dir. O Herr, der Du für mich sorgst wie eine Mutter für ihren Säugling. Wo soll ich das Geld für die Flugtickets hernehmen? Wie soll ich durch die Zollkontrolle kommen, wenn mein Suchbild im ganzen Land verteilt ist? Ja, ich habe einen neuen Namen, aber mein Bild! Und doch weiß ich, daß das, was für mich unmöglich ist, bei Dir möglich ist. Du bist meine Hoffnung. Ich lade meine Last zu Deinen Füßen ab, und ich werde nie die geschriebenen Worte vergessen. Als ich so betete, kam Deine liebe Stimme wieder zu meinem Herzen und sprach: „Fürchte dich nicht. Schau nur auf Mich!“ Ich fühlte Trost und Frieden. Du erfüllst mir immer Herz und Seele mit Frieden. In jener Nacht sah ich Dich mir die Flugtickets geben. Als ich aufwachte, richtete ich meinen Blick auf Dich, dankte Dir, lobte Dich und pries Dich, und bat Dich um Vergebung für meine Schwachheit. Ich denke mit meinem begrenzten menschlichen Verstand; vergib mir, Herr. Die Tage vergingen. Wir gingen, um unsere Pässe mit den Visa abzuholen. Dazu fuhren wir mit dem Omnibus nach Kairo. Die Staatssicherheit suchte mich immer noch, doch niemand sah mich. Ich erhielt
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die Pässe mit den bewilligten Einreisevisa. Dann sagte der Pater: „Ich habe 3.000 ägyptische Pfund für dich; sie sind von dem Priester einer anderen Kirche, der dich schon gesucht hat, weil er weiß, daß du das Geld brauchen wirst. Er hat euch auch 1.000 Dollar für Reisespesen besorgt.“ Ich sagte: „Die 3.000 ägyptischen Pfund nehme ich nicht an, denn das ist das Geld für die Flugscheine. Ich habe in einer Vision gesehen, wie mein Vater im Himmel mir die Flugscheine übergibt. Würden Sie die Tickets bitte kaufen und mir dann geben?“ Er stimmte zu. Ich dankte ihm, und wir fuhren nach Alexandria zurück. Wieder mußten wir ein Sammeltaxi nehmen. Bei den Straßensperren wiederholte sich das schon Erlebte: sie suchten uns, aber sie sahen uns nicht. – Dank Dir, mein gütiger Herr. Du hast mein Herz mit Frieden erfüllt und mir geholfen, die Furcht hinauszuwerfen. Bevor wir Alexandria erreichten, bekam ich Sehnsucht nach einer meiner Freundinnen. Sie ist eine gute Christin, der der Herr das Herz erleuchtet hat. Sie nahm mich auf, öffnete mir ihr Herz und Haus, als andere sich von mir distanzierten; sie stand mir bei und beherbergte mich für mehr als einen Monat; sie überschüttete mich mit Liebe, so daß ich gleichzeitig das Gefühl hatte, als sei sie meine Mutter und ich ihre Mutter. Ihr Mann war wie mein Bruder und ihre Kinder wie meine Kinder. O Herr, segne sie mit Deinem reichen Segen. Behüte und beschütze sie. Segne ihren Mann und ihre Kinder. – Ich fragte Dich, Herr: „Soll ich sie besuchen?“ und Du sagtest: „Geh! Fürchte dich nicht.“ So ging ich zu ihr. Als sie mich sah, umarmte sie mich mit all ihrer Liebe und Freundlichkeit, und wir fühlten beide, daß wir uns in Deinem heiligen und gelobten großen Namen gegenseitig lieben. Ich verbrachte eine Stunde bei ihr. Die Zeit verging so schnell. Dann sagte ihr Bruder plötzlich zu mir: „Was meinst du, warum fliegst du nicht von woanders ab statt vom Kairoer Flughafen? Nimm doch besser ein anderes Verkehrsmittel irgendwoanders hin, und dann flieg von dort aus. Fahr nicht auf direktem Weg zu deinem Zielort.“ Ich fand die Idee gut und vernünftig und fühlte, daß es eine Botschaft von Dir, Herr, war. Jetzt verstand ich, warum ich so ein Gefühl der Sehnsucht hatte, sie zu sehen, und warum du mir sagtest, ich solle sie
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besuchen und keine Angst haben. Es war, um mich zu leiten, wie ich reisen sollte. Wie groß bist Du, o Herr, und wie wunderbar bist Du. Ich liebe Dich. Mein Herz und meine Seele verkündigen Deine Liebe. Mein Geist und mein Verstand sind fasziniert von Dir. Wenn doch nur allen Deine Fürsorglichkeit bekannt wäre, die unser Verstehen und unsere Vorstellungskraft weit übersteigt! Keine Phantasie kann Dich erreichen – Dich, der Du die Vögel in der Luft und die Fische im Meer und sogar die Würmer in der Erde ernährst, ohne darum gebeten zu werden. Wieviel mehr dann die Menschen, die ihre Tage und ihr ganzes Leben in Deine Hände legen und Dich verkünden. Herr, Du gibst mir immer das Gefühl, daß Du mir all Deine Aufmerksamkeit schenkst. Ich komme mir vor, als wäre ich Deine einzige und verwöhnte Tochter, die Du mit Liebe, Güte und Aufmerksamkeit überschüttest. Ehre sei Deinem herrlichen Namen! Als wir in Alexandria ankamen, klangen mir die Worte des Bruders meiner Freundin noch in den Ohren. Ich kniete nieder und dankte Dir, mein lieber Herr, und fragte Dich, ob das eine Botschaft von Dir sei, und ob das der Weg ist, den wir nehmen sollten. Ich lobe Dich, ich preise Dich, und ich knie vor Dir bis zu meinem letzten Atemzug. Zwei Tage später rief mich der Pater an und sagte: „Kommt morgen. Bringt euer ganzes Gepäck mit. Ich habe eure Reservierungen hier.“ Bei ihm angekommen, war ich überrascht, als er sagte: „Mir war da ein Flüstern in meinen Ohren, daß ihr den Flughafen Kairo meiden solltet. Fliegt von einem anderen Flughafen ab, wenn irgend möglich. Wir werden die Reise nach Plan machen. Ihr werdet nicht direkt in euer Gastland fahren, sondern erst woandershin, und dann von dort in euer Gastland.“ In dem Moment wurde mir erst richtig klar, daß es Deine Stimme war. Du bist mir näher, als ich selbst mir bin, denn ich bin in Dir und ein Teil von Dir. Sind wir nicht alle Glieder am Leib Christi? Herr, wie genieße ich Deine Gesellschaft. Du kümmerst Dich um unser Wohlsein und leitest uns in allen Angelegenheiten. Ich nahm die Flugscheine aus Deinen heiligen Händen entgegen. Nachdem wir gebetet hatten, sagten wir dem Pater Lebewohl. Auch Kairo sagten wir Lebewohl. Ich glaube
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nicht, daß ich es jemals wiedersehen werde. Wie sehr habe ich mein Land geliebt, und wie gerne wollte ich unter meinem Volke bleiben. Doch Dein Wille geschehe, und nicht meiner. Sooft die Schlinge sich enger um mich zog, habe ich zu Dir gebetet: „O Herr, so wie Du Dein Volk Israel aus dem Land Ägypten geführt hast, so führe auch mich und meine Tochter heraus.“ Am nächsten Sonntag mußte ich nun mit dem Zug zur vorgesehenen ersten Station fahren. Wir erreichten die Stadt unseres Abflugsortes. Wir blieben ein paar Tage dort. Die Zeit verging schnell. Ich verharrte im Gebet und sprach wie Moses: „Herr, wenn es Deinen Augen hier nicht beliebt, dann laß uns von hier fortgehen.“ Du antwortetest mir: „Fürchte dich nicht! Ich beschütze deine Schritte.“ Da sagte ich zu Dir: „Herr, führe Du mich auf dem Weg und tröste mich.“ Wir fuhren zum Flughafen. Wir waren pünktlich dort. Mit meiner Tochter zusammen betrat ich das Paßbüro. Dort wäre ich fast umgekippt. Vergib mir, Herr, es war ein sehr kritischer Augenblick. Auf dem Schreibtisch des Paßbeamten (ein Staatssicherheitsbeamter, kein Zivilist) sah ich mein Bild. Der Beamte nahm meinen Paß und den Flugschein, untersuchte den Paß einen Augenblick lang und fragte mich, warum ich verreise. Fast zitternd antwortete ich: „Aus medizinischen Gründen. Ich habe Verwandte dort und werde bei ihnen wohnen.“ Er stempelte meinen Paß und ließ mich passieren. Meine Tochter ging hinter mir her und kam auch gut durch. Wir gingen zur Abflughalle. Ich konnte es nicht glauben . . . Doch dann: Eine Minute später rief man mich im Lautsprecher aus und forderte mich auf, meinen Paß noch einmal zur Kontrolle zu bringen. Das Klopfen meines Herzens war lauter als alle anderen Geräusche um mich herum. Ich saß und konnte nicht aufstehen. Ich rief meinen Herrn an: „Du hast mir versprochen, ich würde ihnen nicht in die Hände fallen, und ich vertraue Deinem Versprechen.“ Die Stimme des Herrn aber sprach zu mir: „Fürchte dich nicht! Du wirst in Frieden reisen.“ Eine Minute später kam der Beamte ganz ruhig zurück und gab mir den Paß. Er sagte kein einziges Wort. Ehre sei Deiner Allmacht! Als ausgerufen wurde, daß wir einsteigen können, liefen meine Toch-
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ter und ich los – und ließen dabei unser Gepäck stehen. Das Wichtigste für uns war, aus dem Flughafen herauszukommen. Wir saßen auf unseren Sitzen und holten tief Luft. Aber noch bevor wir ausatmen konnten, wurde unser Name schon wieder ausgerufen. Ich hatte einen totalen Zusammenbruch und war nicht imstande aufzustehen oder auch nur ein Wort zu sprechen. Meine Tochter ging, um zu sehen, was los war: Wir hatten unser Gepäck vergessen. Sie brachte es mit. Einige Augenblicke vergingen, dann flogen wir ab und entfernten uns weiter und weiter und weiter.
Zum Lobpreis Gottes Ich schreibe dies vor Gottes Angesicht, und Du, Herr, weißt, wie wahr jedes Wort ist, das ich geschrieben habe. Ich danke Dir, mein geliebter Herr, Du stärktest mich und gabst mir Deine Unterstützung, um dieses Werk zu vollenden. Du machtest mich zu Deiner Zeugin. Mein Herr, Du bist der lebendige Gott. Du bist es! Du bist gestern, heute und in Ewigkeit. Du bist der Weg, die Wahrheit und das Leben. Ich verkündige Dich, Herr, Deine Versprechen sind treu und wahr. Ich glaube und bezeuge es Dir, Herr, Himmel und Erde werden vergehen, doch nicht ein Buchstabe Deines heiligen Wortes. Ich glaube und bezeuge, daß jedes Wort in Deiner Heiligen Schrift wahr und richtig ist. Ich selbst habe es erfahren dürfen. Mein Herr, ich habe dies alles niedergeschrieben, da Du mich darum batest. Doch vergib mir, Herr, ich fürchtete, daß, wenn ich alles schriebe, was ich mit Dir erlebt habe, man denken könnte, es sei übertrieben. Herr, segne diese Niederschrift, damit sie Segen bringe denen, die sie lesen oder hören. O mein Herr, der Du mein Herz von Stein verwandelt hast, rühr aller Menschen Herzen an, auf daß sie Dich kennenlernen, Dich lieben und ihr Leben in Deine Hände legen mögen. Du liebtest alle ja zuerst. Jetzt bin ich froh im Leiden und glücklich, wenn ich leide um Deines Namens willen. Ich habe die Worte des Apostels Paulus erfaßt: „Denn wer kann uns trennen von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst
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oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?“ Wie geschrieben steht: Um Deinetwillen werden wir bedrängt den ganzen Tag, man behandelt uns wie Schafe, die zur Schlachtbank getrieben werden. Nein, eigentlich sind wir die Triumphierenden, wir triumphieren durch den, der uns geliebt hat (Röm 8,35–37).
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