Memoiren von Günter Althoff
Günter Althoff geboren 20. September 1920 - gestorben 30. Mai 1999 Schauspieler Diplom-Hand...
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Memoiren von Günter Althoff
Günter Althoff geboren 20. September 1920 - gestorben 30. Mai 1999 Schauspieler Diplom-Handelslehrer Psychoanalytiker 2 mal verheiratet Vater von 4 Kindern
Mein Vater hat jahrelang an seinen Jugenderinnerungen gearbeitet. Gedacht waren sie für ein Buch, in dem Texte je von einem jüdischen, einem evangelischen und einem katholischen Deutschen zur Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Zu dieser gemeinsamen Veröffentlichung ist es leider nie gekommen. Mein Vater war für den katholischen Teil zuständig. Ich hoffe, es ist in seinem Sinne, wenn er auf diesem Weg posthum publiziert wird.
Florian Althoff Ich wurde am 19. Oktober 1961 in München geboren. Aufgewachsen bin ich in Planegg. 1992 bin ich nach Köln gezogen. Von Beruf bin ich Erzieher und arbeite in der Jugendwohngemeinschaft Spitze, einem kleinen Heim zur Erziehungshilfe, mit acht Jugendlichen und drei Kolleginnen. Ich wohne mit meinem Freund zusammen, mit dem ich seit über neun Jahren eine glückliche Beziehung führe, und unseren Katzen Lisa und Mona.
Memoiren von Günter Althoff
1 Vor mir liegen die beiden Lebensberichte Klaus Manns. Er schreibt, daß er dieses Unternehmen wage, "keineswegs weil ich gerade die Geschichte meiner Kindheit so auffallend interessant finde, sondern einzig und allein, weil die Geschichte einer Kindheit mir erzählenswert vorkommt, deren erste acht Jahre vor Ausbruch des Weltkrieges lagen, so daß die Revolution uns zwölfjährig, die Inflation sechzehn- und siebzehnjährig fand." Meine Kindheit begann am Ende des ersten Weltkrieges, meine Jugend zu Beginn der Nazizeit und meine Mannesjahre zu Beginn des zweiten Weltkrieges. So will ich versuchen, eine Kindheit und Jugend zu beschreiben, die sich am Rande der bösen Zeiten bewegte, durch die der Jugendliche jedoch gezwungen wurde, sich auseinanderzusetzen, zu widerstehen, doch auch gleichzeitig zu liebäugeln; sich später zum verabscheuten und früh als sinnlos-verbrecherisch erkannten Kriege freiwillig zu melden. Welche Kräfte wirkten da mit- und gegeneinander. Ich muß an Erinnerungen zweier bedeutender Männer meiner Generation denken, Richard von Weizsäcker und Helmut Schmidt. Die Jugend des einen war durch das Elternhaus verhängnisvoll mit der Nazizeit verknotet, die des anderen spielte sich ganz am Rande des Weltgeschehens ab. Meine lag irgendwo dazwischen. Mein Vater, der Zentrumspolitiker Dr. Hugo Althoff war bedeutend genug, um vor 1933 Wut und Haß der Nazis auf sich zu ziehen. Doch nach dem Sturz der Regierung der freien Stadt Danzig, der er angehörte, ließen sie ihn weitgehend in Ruhe, jedenfalls bis 1944. So wichtig war er ihnen auch wieder nicht. Dennoch war er wieder zu bekannt, als daß meine Jugend nicht dadurch stigmatisiert worden wäre. Als Sohn eines System-Zeit-Politikers beäugte man mich argwöhnisch, und meine Bekehrung zum begeisterten Hitlerjungen hätte man schon gerne gesehen.
Mein Bemühen um eine genaue Darstellung wird erschwert, weil ich über keine Dokumente mehr verfüge. Alles ist durch die Umstände der Umsiedlung und durch Bomben verlorengegangen. Selbst mein Abiturzeugnis ist nicht mehr auffindbar. Das einzige persönliche Dokument blieb ein Danziger Pass von 1935 mit dem Foto eines vierzehnjährigen Jungen mit dicker Brille, Knollennase und struppigem Haar, dem man weiß Gott nicht ansehen konnte, daß er mal als Schauspieler an einer Kleinstadtbühne durchaus anziehend gewirkt haben muß. Doch ist eine Familienchronik erhalten, 1916 vom Vater der Mutter begonnen und von dieser fortgeführt. Die soll mir helfen, die Bilder, die mein Gedächtnis über 60 Jahre hinweg gespeichert hat, einigermaßen genau zeitlich einzuordnen.
2 Ich wurde am 20. September 1920 in Marienburg geboren, einer Kleinstadt von etwa 25.000 Einwohnern am Fuße der imposanten Burg der deutschen Ordensritter gelegen, die der Stadt ihren Namen gegeben hat. Marienburg gehörte zu Westpreußen. Mein Vater war dort Stadtbaurat und zweiter Bürgermeister. Etwa zwei Monate vor meiner Geburt, am 11. Juli fand dort die Volksabstimmung darüber statt, ob diese Provinz zu Deutschland oder zu Polen gehören sollte.
Die Stimmung der damaligen Zeit schildert meine Mutter in der Familienchronik: "Ein Heereszug von geborenen Ost- und Westpreußen, verschlagen in alle Teile des deutschen Vaterlandes, kam zu Schiff, per Bahn nach Marienburg, um von dort zu ihren Geburtsorten weiter befördert zu werden, damit sie am Tage der Abstimmung durch ihren Stimmzettel bekunden, daß diese großen fruchtbaren Provinzen deutsch gewesen und geblieben sind. Der Osten ist von je her ein gastfreundliches Land, aber die Gastfreundschaft jener Tage war unbeschreiblich. Man war wirklich ein einig Volk von Brüdern. Bis tief in die Nacht saßen wir Kollegenfrauen bei unseren Männern im Rathaus, um die Abstimmungsergebnisse der Städte, Dörfer und Ortschaften aufzunehmen. Als am Schluß der überwältigende Sieg der deutschen Stimmen bekanntgeworden war, zog ein endloser Menschenzug singend, vor Freude weinend, jauchzend durch die schöne Juni-Nacht zum Denkmal des Bürgermeisters Blume, Zeuge des Deutschtums aus längst vergangener Zeit. Oberbürgermeister Pawelcik, sonst nicht gerade ein begnadeter Redner, hielt dort spontan eine aus tiefstem Herzen kommende und darum zu Herzen gehende zündende Ansprache, voll des Dankes, daß das Resultat der Abstimmung die Ostprovinzen vor der Abtretung an Polen gerettet hat." Teile Westpreußens und Posens waren ohne Abstimmung an Polen gekommen und bildeten einen Teil des sogenannten Korridors, der Zentralpolen mit der Ostsee verband. Ostpreußen und Westpreußen waren Grenzland zwischen polnisch sprechendem Slawentum und preußisch orientiertem Deutschtum. Es wechselte in den letzten Jahrhunderten immer wieder den Besitzer, gehörte lange Zeit zu Großpolen, dann wurde Polen wieder geteilt, es kam zu Preußen, dann wurde es wieder polnisch, nach der letzten polnischen Teilung, durch die 1795 Polen von der Landkarte verschwand, wieder preußisch, um dann 1871 mit Ostpreußen zum östlichen 'Vorposten' des
deutschen Reiches gegen die Slawen zu werden. Grenzland war auch die Stadt Danzig mit ihrem Umland, der Ort, wo die Fäden meines und meiner Brüder Herkommen zusammenlaufen, obwohl nur ein Bruder - wohl eher zufällig - dort geboren ist. Ich weiß nicht, ob etwas dran ist an der von manchen Psychoanalytikern behaupteten 'Pränatalen Prägung', die besagt, daß schon das Embryo Signale aus der Umgebung, vor allem aber Gefühle und Stimmungen der Mutter in sich aufnimmt und dadurch der Mensch zeitlebens geprägt werde. Jedenfalls war unser Deutschtum an Sprache und Brauchtum gebunden und war gegen die slawisch sprechenden Völker, das heißt gegen Polen, Litauen und Russen zu verteidigen. Rassische Vorstellungen waren uns fremd. Da standen andere Vorurteile im Vordergrund, so konnte man deutsche Ordnung gegen die 'polnische Wirtschaft' ausspielen. Meine Mutter hatte eindeutig slawische Züge, betonte, etwas hochgezogene Backenknochen, eine flache Nase und ein etwas breitflächiges Gesicht. Der Operettentext 'Am schönsten aber ist die Polin' stimmt mit der Wirklichkeit durchaus überein. Davon kann sich jeder überzeugen, der heute in die alten Ostgebiete reist und die hübschen blonden helläugigen polnischen Mädchen und jungen Frauen anschaut. Die vielleicht wichtigste Prägung meines Lebens ist die katholische. Der Vater meiner Mutter stammt aus Ostpreußen, und zwar aus dem Bezirk Ermland, das mit der Teilung Polens 1772 an Preußen gefallen war. Ermland gehörte zum Bistum Braunsberg und bildete mit diesem eine katholische Enklave. Ostpreußen war einst durch die Pest fast völlig entvölkert worden. Es waren die brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige, die das Land mit Emigranten aus Ländern neu besiedelten, die wegen ihrer Religion in der Heimat verfolgt worden waren. Meistens waren es katholische Länder, die ihre nicht katholischen Bürger zur Auswanderung zwangen. So waren die Katholiken in Ostpreußen in der Minderheit. Die Mehrheit der Bevölkerung waren Protestanten verschiedener Spielarten, wie Calvinisten, Hugenotten oder Mennoniten. Ähnlich war es auch in Westpreußen, das ja noch länger unter polnischer Herrschaft gestanden hat. Eine Landschaft Westpreußens hieß Danziger Nehrung, eine seinerzeit durch den großen Kurfürsten trockengelegte Sumpflandschaft in der Weichselniederung. Sie war für ihre guten Böden und reichen Bauern bekannt. Eine Großtante meiner Mutter, also meine Urgroßtante, heiratete einen dieser reichen Bauern namens Halbe. Der Ehe entstammt Max Halbe, ein ehemals bekannter Schriftsteller des Naturalismus, der heute fast vergessen ist. Er ist der Verfasser eines Ende des vorigen Jahrhunderts vielgespielten Dramas 'Jugend'. Da diese Familie katholisch war, im Gegensatz zu den übrigen deutschen Bauern dort, nahm sie eine Sonderstellung ein. Katholische Männer waren häufig gezwungen, sich um der Religion willen Frauen aus dem polnisch sprechenden Teil der Bevölkerung zu suchen. Es ging dabei hin und her. Halbes Großmutter, mit dem deutschen Mädchennamen Rompf, sprach polnisch ebensogut wie deutsch, fühlte deutsch und hatte gleicherweise polnische wie deutsche Verwandte. Diasporakatholizismus, teilweise slawischen Ursprungs und Grenzlanddeutschtum wurden so die Grundgefühle einer Kindheit und Jugend. Auf ihre Bedeutung will ich später zu sprechen kommen. Meine beiden Elternteile stammen aus bäuerlichem Milieu. Der Vater meiner Mutter hat beschrieben, wie schwer es damals war, ein Bauer zu sein: die vielen Notzeiten durch Kriege oder Preisverfall, die mühsamen Neuanfänge, die Zähigkeit sich wieder hochzuarbeiten, das einfache kümmerliche Leben in der Enge der Dörfer und kleinen Städte jenes Grenzlandes. Meinem Großvater gelang es, sich daraus zu befreien und ins Bürgertum aufzusteigen. Davon berichtet er in der Familienchronik nicht ohne Stolz. Wegen der Armut der Eltern konnte er nur die Dorfschule besuchen. Mit sechzehn jedoch entschloß er sich, Lehrer zu werden, bestand 1869 die Aufnahmeprüfung ins Lehrerseminar und bildete sich später an der Kunstschule Breslau und an der Kunstakademie Königsberg zum Zeichenlehrer für höhere Schulen aus. Er schreibt stolz: 'Hiermit war ich gewissermaßen in eine andere Sphäre gerückt'. Er wurde dann Zeichenlehrer am städtischen
Gymnasium zu St. Petri und Pauli in Danzig.
3 Meine Mutter wurde nach 10-jähriger Ehe geboren, als beide Eltern schon um die vierzig waren. Im Sommer wohnten die Großeltern in der Röpergasse, nahe der Kuhbrücke direkt an der Mottlau mit Blick auf den Danziger Hafen und die Speicherinsel, im Sommer auf der Westerplatte, jener damals grünen Halbinsel am Fuße der Weichsel, die nach dem ersten Weltkrieg eine polnische Enklave im Freistaat Danzig wurde und mit bewundernswerter Tapferkeit von den Polen gegen eine Übermacht zu See und zu Lande verteidigt worden ist. In Erinnerung daran haben die Polen, die sonst alle deutschsprachigen Namen ins Polnische transponierten, den Namen 'Westerplatte' beibehalten.
Später zogen die Großeltern nach Danzig-Langfuhr ins Jeschkental, nicht weit entfernt vom Jeschkentaler Wald, der in mehreren Romanen von Günter Grass eine so bedeutende Rolle spielt, daß wohl dessen Eltern in der Nähe der Großeltern gewohnt haben müssen. Die Schullaufbahn meiner Mutter endete wenig rühmlich als Absolventin einer Haushaltslehrerinnen-Schule, damals scherzhaft 'Klopsakademie' genannt. Für ihre drei Söhne war das vorteilhaft. Sie erwartete auch von ihnen keine Spitzenleistungen - Hauptsache wir wurden versetzt. Auf einem Ball der katholischen Studentenverbindung Pruthenia lernte sie den Studenten an der Technischen Hochschule Hugo Althoff kennen. Er war bei dieser Verbindung Fuchsmajor. Ich besitze noch ein Bild von ihm in voller Wichs mit nach oben gezwirbeltem Schnurrbart. Was heute unglaublich komisch wirkt, muß damals beträchtlichen Eindruck gemacht haben.
Mein Vater stammt aus Westfalen. Er wurde in Ostbevern geboren, einem Dorf in der Nähe des Wallfahrtsortes Telgte. Auch an diesem Ort spielt eine Erzählung von Günter Grass, das 'Treffen in Telgte' und es gelingt ihm hier, durch Personen der Handlung eine Verbindung zu seiner Heimatstadt herzustellen. Vater war das siebte von zehn Kindern eines Ehepaares, welches am Ort eine Wirtschaft mit kleiner Landwirtschaft betrieb. Mein Großvater hieß noch Schulze-Althoff, war nachgeborener Sohn eines Schulzen, also eines nicht-lehenspflichtigen freien Bauern. Die Geschwister meines Vaters blieben im Wesentlichen im Umfeld ihres Geburtsortes. Die zahlreichen Schwestern heirateten in Bauernhöfe weit unter dem Niveau des großelterlichen Schulzenhofes, vorwiegend jedoch in Wirtschaften ein. Nur eine Tante bekam eine Ausbildung zur Volksschullehrerin, mußte jedoch dafür auf die elterliche Mitgift verzichten. Meine Mutter schreibt darüber: 'Westfalen der Vor- und Nachkriegsjahre des ersten Weltkrieges war noch eigentümlich streng und in gewisser Weise
rückständig und eng. Die katholische Lehrerin führte ein sehr zurückgezogenes Leben inmitten aller Weltlichkeit. Sie mußte sich schon in der Jugend würdig anziehen. Ein frei getragener Hals z.B. war eine Ungehörigkeit. Vielerlei Verkrampftheiten der älter werdenden Lehrerin, viel Altjüngferlichkeit und ungesunde Prüderie, haben ihren Ursprung in dem zu engen Gesichtskreis und der zu kleinlichen Lebensform, in der sich niemand ungebrochen entfalten konnte. Immerhin war sie die einzige von Vaters Schwestern, die 1945 mir, dem heimatvertriebenen Neffen, Vater von zwei Kindern, der noch nichts beruflich vorweisen konnte, einen alten, ursprünglich klassizistischen, dann auf Wiener Barock umgestalteten Sekretär überließ, der mich dann mein ganzes Leben begleitet hat. Einige andere Tanten sind mir damals wie eine Galerie bösartiger, über die Maßen häßlicher, geiziger Hexen in Erinnerung. Ich war froh, von dort wieder nach Bayern zurück zu fliehen, obwohl das flache Land auch heute noch eine heimatliche Anziehung auf mich ausübt. Es war der Ortspfarrer, dem der damals zwölfjährige Hugo, aufgeweckter Schüler der Ostbeverner Volksschule auffiel. Er verschaffte ihm ein Stipendium zum Besuch des Warendorfer Gymnasiums. Dank seines Gedächtnisses und seiner Kreativität konnte er zwei Klassen überspringen. Mit welchen Mitteln er dann studiert hat, ist mir unbekannt. Hier könnten die Eltern und ältere Geschwister geholfen haben. Jedenfalls studierte er Ingenieurswissenschaft in Dresden und die letzten Semester dann in Danzig. In Dresden promovierte er 1920 zum Dr. ing.
Bei besagtem Ball lernte er meine Mutter kennen. Beide verlobten sich 1910 und heirateten 1912. Kirchlich getraut wurden sie in der Herz-Jesu Kirche in Danzig-Langfuhr. Die Trauung wurde vollzogen durch den gemeinsamen Freund Walter Wienke, der wohl damals Kaplan gewesen sein dürfte.
Pfarrer Wienke ist später zu fragwürdigen literarischen Ehren gekommen. In dem berühmten Roman von Günter Grass 'Die Blechtrommel' taucht seine Person immer wieder auf. Grass hat den Namen nur um den Buchstaben h zu Wiehnke erweitert. Er war auch, wie Grass berichtete, nur mittelgroß und außerordentlich rundlich. Grass beschreibt ihn als bigotten wusseligen Geistlichen. Ich habe ihn als ungemein netten, herzlichen, im Grunde auch einfachen, dabei hochintelligenten Menschen kennengelernt. Ich sagte zu ihm Onkel Pfarrer und du. Ich war als Kind öfter in seinem gemütlichen Pfarrhaus. Er hatte ein gutes Gespür für Kinder und beantwortete meine kindlichen Fragen immer sachlich und ruhig. Die Südfront seines Hauses war mit echtem Wein bewachsen. Die Trauben wurden sogar reif und ich durfte mir so viele abpflücken als ich essen konnte.
Er spielte, wie mein Vater, gerne Skat. Ein Spiel, ausgetragen im Zoppoter Parkhotel, Parkhotel Zoppot gegenüber dem Spielcasino, dauerte von abends acht bis zum frühen Morgen des übernächsten Tages. Onkel Pfarrer unterbrach das Spiel nur für die Messe. Er fuhr dann morgens mit dem Vorortzug zum neun Kilometer entfernten Bahnhof Langfuhr, las in der ganz nahe gelegenen Herz-Jesu Kirche die Fünf-Uhr Messe, war kurz nach sechs schon wieder zurück und man spielte noch 20 Stunden bis zum nächsten Morgen. Meine Mutter war sehr beunruhigt, weil sie sich nicht vorstellen konnte, daß vernünftige Männer 30 Stunden hintereinander Skat spielen könnten.
4 Mein Bruder Klaus wurde 1914, Bruder Wolfgang 1917 und ich, wie gesagt, 1920 wenige Wochen nach der Volksabstimmung in Marienburg geboren.
Mein Vater war Teilnehmer des ersten Weltkrieges, zum Schluß als Ordonnanzoffizier. Da er bei seinem vierjährigen Fronteinsatz niemals verwundet worden war, galt er schon als 'kugelfest'. In den letzten Tagen des Krieges wurde er jedoch schwer verwundet. Ein Querschläger riß ihm den Nasenrücken weg und zerstörte das rechte Auge. In dreizehn plastisch-chirurgischen Operationen wurde sein Gesicht wieder einigermaßen hergerichtet. Diese Arbeit muß eine ärztliche Pioniertat gewesen sein, denn der ausführende Arzt, Professor Lexner, hat sie in einem Lehrbuch ausführlich beschrieben.
Zwischen den Operationen muß Vaters Gesicht damals sehr verwüstet ausgesehen haben. Jedenfalls fürchtete meine Mutter bei meiner Zeugung, sie könnte sich 'versehen' haben. Das Gesicht, das sie erschauern ließ, habe sich bei ihr so tief in die Seele eingeprägt, daß auf dem Gesicht des gezeugten
Kindes die gleiche Verwüstung sich darstellen könne. So nahe stand noch das Magische dem mythisch-katholischen Denken! In dieser Verwundung liegt wohl auch der Keim dafür, daß die Ehe meiner Eltern nicht sehr glücklich wurde. Mutter war sehr ästhetisch, durchaus Dame und gnädige Frau, genoß sehr die Anrede "Frau Doktor" und später "Frau Senator". Doch eine Bemerkung in ihrer Aufzeichnung, 'Begleiterscheinungen der großen Verletzung störender Art mußten hingenommen und ertragen werden', wie auch die Vorstellung, sich versehen zu haben, deuten auf ihre ästhetische Kränkung hin. Mein Vater hingegen mußte sich wohl beweisen, daß seine Anziehungskraft ungebrochen geblieben war. Sie war es tatsächlich. So kam es schrittweise zur seelischen Entfremdung, während bis 1945 der äußere Rahmen erhalten blieb. Meine Mutter war nicht eigentlich schön, jedoch schlank und gepflegt. Durch die Erziehung ihrer ältlichen, ruhebedürftigen und überfürsorglichen Eltern war sie völlig unsportlich und ängstlich geworden. Vor allem hatte sie Höhenangst, die sich auf mich übertrug und die ich nie ganz verloren habe. Mit dem Rechnen soll es bedenklich gehapert haben. Doch hatte sie Humor und konnte hinreißend erzählen. Nicht nur ich war überzeugt, einen Film selbst gesehen zu haben, dessen Inhalt sie vorher erzählt hatte. Ohne selbst Musik auszuüben - am Klavier reichte es gerade zur Begleitung von Weihnachtsliedern - war sie gleichermaßen an Musik und Literatur interessiert. Sie nahm mich schon sehr früh in Theater und Konzert mit und konnte mit ihren Söhnen leidenschaftlich über Bücher diskutieren. Rilke, Hesse, aber auch Bergengruen, Gertrud Bäumer, später dann Reinhold Schneider, Pieper, Guardini waren unsere gemeinsame Lektüre. Besonders wichtig war uns Ernst Wiechert. Seine schwerblütigen, ostpreußischen Romane, wegen ihrer überladenen Metaphorik heute kaum noch erträglich, waren zwar apolitisch, ließen aber ein Heimatgefühl spüren, mit dem wir uns identifizieren konnten, weil es sich so ganz vom 'Blut und Boden'-Mythos der Nazis unterschied. Seine berühmten, durchaus politisch gemeinten und von den Herrschenden auch so verstandenen Vorträge an der Münchner Universität waren in Vervielfältigungen über ganz Deutschland verbreitet. Wir lasen sie als Gruß von einem besseren Deutschland in dunkler Zeit. Ich bin durch Bücher sowohl in die bürgerliche als auch in die katholische Literatur hineingewachsen. Doch störte Mutter auch kein Karl May und selbst Tom Shark - der große Detektiv, bereits für zehn Pfennig zu kaufen - wurde geduldet.
Mutter und Söhne lasen Nächte durch 'Vom Winde verweht'. Im Rahmen einer bürgerlich-
katholischen Welt war meine Mutter spontan, herzlich, mit etwas Alkohol sogar ausgelassen, eine vorzügliche Gastgeberin, mit unseren zwei Dienstmädchen jeder gesellschaftlichen Verpflichtung gewachsen. Mein Vater hätte in seiner Stellung keine bessere Partnerin finden können. Auf ihre drei Jungens war sie sehr stolz. Deren Freunde und später Freundinnen waren bei uns immer herzlich willkommen. Sie ließ uns Vieles durchgehen, wenn es ihrer Vorstellung vom Leben, was Jungens an Streichen zuzugestehen war, entsprach. Dazu gehörte auch, leider, der Alkohol. Mein Vater, als ehemaliger Corpsstudent war der Ansicht, daß ein werdender Mann auch was vertragen müsse. Meine Mutter meinte wohl dasselbe. Selbst eine von mir vollgekotzte Nachttischschublade erschütterte sie nicht. Voraussetzung, mit am Tisch sitzen zu dürfen wenn Gäste kamen, waren erstklassige Tischmanieren. Da wir das einsahen, ließen wir uns ihren Drill klaglos gefallen. Ich war als jüngster wohl am stärksten ihr Produkt. Als ich so drei Jahre alt war, soll ich, wenn mich jemand nach meinem Namen fragte, 'mein Süßer' geantwortet haben. Später war ich so etwas wie ihr Page, konnte den Damen die Hand küssen und Konversation machen. Sie erzog uns mit Blicken, ohne je das Problematische dieser Erziehung zu hinterfragen. Da wir jedoch sonst sehr viel Freiheit hatten, nicht übermäßig mit Schulproblemen geplagt wurden, nahmen wir drei das alles gerne in Kauf. War es doch mit vielen Annehmlichkeiten verbunden. Sie wollte am Seelenleben ihrer Söhne teilhaben, hat mit mir entsprechende Seelenstündchen abgehalten, entweder vorm Schlafengehen oder bei Spaziergängen von Zoppot nach Glettkau und zurück am Ostseestrand entlang. Als ich dann älter wurde, wußte ich meine Mitteilungen wohl zu dosieren und ihren Erwartungen anzupassen, so daß sie schließlich, wie wohl die meisten Mütter, nur die Illusion hatte, ihre Söhne wirklich zu kennen. Die andere, bedenkliche Seite ihres Wesens, will ich durch zwei Träume illustrieren, die ich entweder in der gleichen Nacht, oder in kurzem Abstand träumte, als ich etwa vierzigjährig in meiner Lehranalyse meine Probleme, die sehr viel mit ihr zu tun hatten, durcharbeiten konnte: Ich liege in einem Gitterbettchen, bin ein kleines Kind. Das Zimmer ist hell, rechts von mir an der Querwand steht noch ein Bett, ebenso an der Wand gegenüber. An der Wand zu meinen Füßen steht ein Kleiderschrank. Links davon ist eine Tür. Durch die Tür kommt eine weiße Frau. Ich presse die Augen zu, wage keine Bewegung, bin starr vor Angst. Die weiße Frau beugt sich über mich: nur nicht rühren, ich schlafe ja fest; dann geht sie zu den anderen Betten und beugt sich auch über diese und verläßt schließlich den Raum. Ich habe das Zimmer damals meiner Mutter beschrieben, es aufgezeichnet. Sie sagte: "Ja, mein Jungchen, das war das Kinderzimmer in Marienburg." Ich hatte keinen Zweifel, daß die geträumte Frau meine Mutter war. Ein Alptraum, in dem ich auf dem Weg der Regression meine Mutter als das erlebte, was sie auch sein konnte: streng und unnahbar. Als ich zweieinhalb Jahre alt war, wurde mein Vater Stadtbaurat in Frankfurt/Oder. Hier wurde mein Bruder Wolfgang, achtjährig, von einer Straßenbahn überfahren.
Ihm mußte das rechte Bein unterhalb des Knies abgenommen werden. Ich habe das Bild noch deutlich vor Augen, wie meine Mutter ins Wohnzimmer kam und auf dem Sofa weinend zusammenbrach. Von nun an war ihre ganze Fürsorge und Liebe auf meinen Bruder gerichtet. Hier ist der andere Traum, den ich meiner Mutter nicht erzählte: Ich bin etwa fünf Jahre alt, säge mir das Bein unterm Knie ab und bringe es der Mutter dar. Hinter Mutters heiterer und lebendiger Oberfläche verbarg sich Strenge, ja Härte. Mein ältester Bruder Klaus stotterte. Die Mutter führte es auf eine Krankheit zurück, andere eher auf eine ungeduldige Erziehung, die auch bei dem kleinen Buben vor Schlägen nicht Halt machte. Ich war vielleicht zehn oder elf Jahre alt, als ich mit zwei Spielkameraden, beides Söhne von Hausmeistern
in der Nachbarschaft, einen Pfirsichbaum mit reifen Früchten plünderte. Als die Eigentümerin herbeilief, konnten meine flinken, barfüßigen Freunde fliehen, ich aber wurde erkannt. Gewiß war es schwer, in unserem Klima einen Pfirsichbaum hochzuziehen. Meine Mutter hat mich jedoch nicht nur ungeheuerlich mit einem Stock verprügelt, sondern mir eine Zukunft als Verbrecher vorausgesagt. Schluchzend entfloh ich in den Garten unter einen großen Strauch und aß unter Tränen die Pfirsiche auf, die ich wohlweislich dort versteckt hatte. Sie konnte einen durch Schweigen wochenlang zermürben, bis man zu Kreuze kroch. Wenn ich ihre Normen überschritt, war sie schnell bei der Hand von Verbrechen und Verbrechern zu reden. Als ich kaum eine Stunde nach ihrem Tode an ihr Bett trat, war nichts mehr da von rosiger Lieblichkeit, sondern da war ein herbes, ja strenges, dafür aber klares Gesicht. Ein Gesicht, bei dem man wußte, woran man war. Während ich mich nicht erinnern kann, als Kind auf Mutters Schoß gesessen zu haben, ist es eine der schönsten Kindheitserinnerungen, wie ich auf dem Schoß des Vaters sitze und wir zweistimmig alle möglichen Volkslieder singen. Einfach nur so. Ich habe zwei oder dreimal eine richtige Tracht Prügel von ihm bezogen, wohl immer dann, wenn ich mal wieder fürchterlich gelogen hatte. Die Exekution tat dem Hintern weh, nicht jedoch der Seele; denn erstens war auch mir einsichtig, daß hier etwas geschah, was ich selbst verschuldet hatte, zweitens war damit ein Vorgang abgeschlossen, aus dem ich selbst nicht mehr herausgefunden hätte, und drittens merkte ich meinem Vater an, daß er die für notwendig erachtete Maßnahme selbst verabscheute und froh war, nun wieder normal, das heißt herzlich mit uns umgehen zu können. Als ich mit dreizehn so schwierig wurde, daß meine Mutter meinte, nur noch ein strenges Internat könne mich auf den Weg der Tugend zurückbringen, antwortete ihr mein Vater, beide hätten ihre Kinder nicht in die Welt gesetzt, um sie von anderen erziehen zu lassen. Das müßten sie schon selber schaffen. Er hatte es natürlich auch einfacher, denn sein Amt ließ ihm wenig freie Zeit. Vater war Pragmatiker, hochintelligent, konnte Homers Gesänge seitenlang griechisch auswendig zitieren, aber er war nicht eigentlich geistig und schon gar nicht intellektuell. Wenn er eine Kunstausstellung eröffnen sollte, gab er offen zu, von Kunst wenig zu verstehen und übergab das Wort einem Fachmann. Ich erinnere mich, wie er ein Flugzeug auf den Namen 'Ikarus' zu taufen hatte: Dabei glänzte er mit Kenntnissen griechischer Mythologie, um am Schluß den beeindruckten Zuhörern tröstend zu versichern, er habe das alles auch erst am Vortage dem Konversationslexikon entnommen. Das Gerücht, daß er als reifer Mann noch die Riesenwelle am Reck beherrscht habe, kann ich nicht bestätigen. Er war ein guter Redner und machte sehr nette Gelegenheitsgedichte. Mit einer Damenrede in Versform beeindruckten später noch seine inzwischen erwachsenen Söhne. Er war meiner Mutter nicht treu, verwöhnte sie jedoch mit liebevoll ausgesuchten Geschenken. Das Urvertrauen, das mich in den schwersten Krisen meines Lebens nie ganz verlassen hat, verdanke ich sicher auch der liebevoll sentimentalen Zuwendung, die die Mutter ihrem 'Süßen' zukommen ließ, bis der Bruder durch die Amputation ihm diese Position streitig machte. Aber sicher nicht weniger meinem lebensklugen verläßlichen Vater. Die geistigen und künstlerischen Interessen hat jedoch meine Mutter sehr früh in mir und meinen Brüdern erweckt und gefördert.
5 Zum Katholizismus, dieser wichtigen Wurzel meines Seins, hatten wir ein ganz unverkrampftes Verhältnis. Viele Autoren berichten, wie sehr sie unter dem Druck von Glauben und Kirche gelitten hätten, vor allem dann, wenn sie in einer Klosterschule aufwachsen mußten. Lediglich Bruder Klaus hat ein oder zwei Jahre in der berühmten Klosterschule Ettal verbracht. Er war davon begeistert, kam die spartanische Unterbringung doch seiner strengen Glaubens- und Lebensauffassung entgegen. Ich habe mich als Kind und Jugendlicher im Katholizismus zuhause gefühlt. Die Familie besuchte sonntags meistens die Elf-Uhr-Messe, die man auch Faulenzer-Messe nannte. Alle vier Wochen ging ich zur Beichte und zur heiligen Kommunion. Im Bett sprach ich das angstnehmende Abendgebet. Zur ersten heiligen Kommunion ging ich mit acht oder neun Jahren, vorbereitet durch langweiligen Unterricht in der Zoppoter Marienkirche. Wir Buben machten dabei viel Unfug. Von der Kommunionsfeier selbst ist mir wenig in Erinnerung geblieben, um so mehr von der Blinddarmoperation am Tage danach. Das Zimmer im Krankenhaus war ein Blumenmeer. Auch ein Teil meiner Kommunionsgeschenke war mitgekommen. In den paar Tagen fühlte ich mich wie ein König. Mutti war mein liebster Besuch. Sie konnte herrlich erzählen und so herumalbern, daß ich vor Lachen Narbenschmerzen bekam und sie das Zimmer verlassen mußte. Professor van der Reis, der chirurgische Chefarzt des Danziger Krankenhauses hatte mich selbst operiert. Er war ein freundlicher Mann, mittelgroß, jedoch drahtig, blond und blauäugig. Seine Frau war plattfüßig, ziemlich fett, hatte vorstehende Backenknochen und eine fleischige Krummnase. Sie sah also so aus wie Julius Streichers Hetzblatt 'Der Stürmer' eine typische Jüdin zu karikieren pflegte. Frau van der Reis war jedoch rein arisch, der Professor entstammte hingegen einem alten holländischen Judengeschlecht. Beide sind rechtzeitig nach Brasilien ausgewandert.
Daß van der Reis Jude war, wußten manche, es interessierte niemanden. Jüdische Ärzte hatten überhaupt unser größtes Vertrauen. Als Baby erkrankte ich an einer Lungenentzündung schwer. Man hatte mich schon aufgegeben, als der Hausarzt meiner Großeltern Dr. Abraham auf den Gedanken kam, es mit Cognac zu versuchen, worauf ich prompt gesundete. Dieses frühe Erlebnis soll nach Familiensage meine Vorliebe für alkoholische Getränke begründet haben, die in Wahrheit auf der problematischen Vorstellung der Eltern beruhte, daß ein Mann etwas vertragen müsse. Kurz nach der Kommunion wurde ich auch gefirmt. Der Zeitpunkt der Firmung hängt davon ab, wann der Bischof die betreffende Pfarrei besucht und so kommt es immer wieder vor, daß eine 75jährige Oma, die bisher noch zur Firmung keine Gelegenheit hatte, neben einem neunjährigen Jungen zu stehen kommt. Der Maler Janosch hat in einer Talkshow Scham und Widerwillen geschildert, dem Vertreter der
ohnehin bedrückenden übermächtigen Kirche die Hand küssen zu müssen. Davon habe ich nichts empfunden. Die ganze Volksschulklasse der katholischen Schule marschierte geschlossen zur Kirche. Es bildeten sich zwei Reihen von überwiegend jungen Leuten und Kindern, die vom Altar bis zum Kirchenvorplatz reichten. Der Klassenlehrer übernahm die Rolle des Firmpaten, der jedem Firmling kurz die Hand auf die Schulter zu legen hatte. Während auf dem Vorplatz einige Firmlinge noch miteinander rauften, kam der Bischof auch zu mir. Handauflegung, Salbung, Herabflehung des heiligen Geistes dauerten vielleicht eine Minute. Der Kuß des Bischofsringes war eine harmlose Formalität oder weniger harmlos ein Ritus, ein heiliger Brauch wie das Hinknien, das Kreuzzeichen machen, das Abnehmen der Kopfbedeckung im Kirchenraum. Ähnlich verhielt es sich mit Beichte und Kommunion. Natürlich gab es da Probleme: Was soll ein zehnjähriger mit der Frage des Beichtspiegels anfangen 'Habe ich Unkeusches gedacht?' oder 'Habe ich mich unkeusch selbst berührt?'. Hier und durch andere Dinge, auf die ich später zurückkomme, wurden einer bedenklichen Verklemmung Vorschub geleistet, eine Stigmatisierung vollzogen, die so leicht nicht überwunden werden konnte. Andererseits war es für ein Kind, das immer etwas ausgefressen hatte, immer zu Notlügen gezwungen war, sehr vorteilhaft, die ganze Angelegenheit mit drei 'Vater unser' und drei 'Gegrüßet seist du Maria' hinter sich zu bringen und damit vergessen zu können. Wenn ich zur heiligen Kommunion schritt, vorm Altar niederkniete, vom Priester die Oblate auf die Zunge gelegt bekam, dann waren das Momente, wo ich mich ganz heilig fühlte. Und da sich bei mir schon als Kind Gefühle im körperlichen Ausdruck widerspiegelten, habe ich in solchen Momenten wohl tatsächlich sehr verinnerlicht ausgesehen. Theater hat im religiösen Ritus seinen Ursprung. Die besondere Eigenart eines Mythos besteht nach Wilhelm Wundt darin, daß die angenommenen Objekte ganz und gar durch die eigene Natur des wahrnehmenden Subjekts bestimmt werden. Hier zeigt sich für mich besonders die Eigenart des in unserer Familie gelebten Katholizismus. Das war schon bei den Großeltern so. Als mein Großvater seinen ersten Schlaganfall bekommen und recht und schlecht überwunden hatte, sagte er zu seiner Frau: "Mariechen, wenn ich wieder einmal umfallen sollte, warte bitte eine Stunde bis du den Arzt rufst." So geschah es. Als dann Dr. Abraham eintraf, war mein Großvater tot. Das war 1928. Ein Fall 'unterlassener Hilfeleistung'? Von der Gesellschaft wie von der katholischen Morallehre sicher verworfen, aber eben selbstverständlich. Meine Großmutter, von deren Redlichkeit die Familienanekdote behauptet, sie würde sogar beichten, daß sie sich beim Patience legen selbst beschummelt hatte, hat dies wahrscheinlich nicht gebeichtet. Ihr Gott war damit einverstanden. Für mich, den verwöhnten, aber nicht ungefährdeten Jüngsten, war Gott eigentlich immer wirklich der liebe Gott. Wenn ich Angst hatte, betete ich zu ihm, vor allem wenn ich Angst hatte, daß einige krumme Sachen aufkommen könnten, erschien er mir als verläßlicher Helfer, dem ich durchaus dankte, wenn man mich nicht erwischt hatte. Insofern habe ich mich damals eigentlich von einem Mafioso kaum unterschieden. Der Vers in Gottfried von Straßburgs 'Tristan und Isolde': 'Im stillen Herzen hoffte sie getrost auf Gottes Courtoisie' paßt am besten auf mein religiöses Selbstverständnis. Ganz anders verhielt es sich bei meinem ältesten Bruder. Sein Gott war sicher auch gütig, aber nur bei strenger Befolgung seiner Gebote. Dem Ernsten gab ein strenger und ernster Gott Antwort. Klaus beschäftigte sich engagiert mit religiösen Themen. Er las z.B. mit großer Anteilnahme das Buch 'Der Staat Gottes' eines spanischen Priesters und 'Opus Dei' Mannes. War er ein Fanatiker? Sicher nicht. Gott oder wohl besser Christus gab ihm die Antwort, die seinem Wesen entsprach. Sein Christus hieß ihn 1945 als Stabsarzt mit seinem Hauptverbandsplatz in russische Gefangenschaft zu gehen und als Lagerarzt mutig für seine Mitgefangenen einzutreten, dafür
zweimal ins Bergwerk geschickt zu werden, ohne daran zu zerbrechen. 1951 wurde er aus der Gefangenschaft entlassen. Er hatte vor dem Krieg ein Mädchen aus Glandorf geheiratet, einem Ort ganz in der Nähe von Ostbevern, dem Geburtsort meines Vaters und später nicht weit davon seine Arztpraxis eröffnet. Die große Bewunderung für ihn wich mit der Zeit einem steigenden Befremden, als seine Religiosität sich immer mehr in Richtung einer eifernden, moralisierenden Enge entwickelte. Aus meinem Helden wurde ein eifriges, frommes, gehorsames Mitglied seiner Pfarrgemeinde und es hat mir wehgetan, als bei seinem Leichenbegängnis nur dieses gewürdigt und mit keinem Wort seines wahrhaft christlichen Opferganges als russischer Lagerarzt gedacht wurde. Wenn ich also mit einer gewissen Dankbarkeit an Familie und Kirche, jene beiden tragenden Säulen meiner Kindheit und Jugend zurückdenke, so soll doch nicht eine negative Prägung vergessen werden, die mir und wahrscheinlich auch meinen Brüdern zu schaffen machte: die Tabuisierung der Sexualität. Penis und Vulva waren ungekannte Gebiete. Es gab kein Verbot, das Tabu war vielmehr vollkommen in sich geschlossen. Ein diffuses Gebot der Reinheit durchdrang alles Sein, so daß man gar nicht auf den Gedanken kam, darüber zu sprechen. Meine Mutter hatte irgendwann, wir waren alle längst erwachsen, geäußert, wie unerfreulich es wäre, wenn der Mann 'wie ein Tier über einen kommt'. Ich habe die Äußerung meinem Vater viel später wiedergegeben, er war damals schon über 60 Jahre alt. Er war sehr erstaunt, konnte es nicht glauben, berichtete vielmehr über wunderbare gemeinsame Liebesnächte. Ich bin mir auch sicher, daß mein Vater ein guter, einfühlsamer Liebhaber gewesen ist. Es hat sich wohl um die spätere Abwertung eines Vorgangs gehandelt, durch den die Ehe so belastet worden war. Alle drei Brüder hatten ihren ersten Sexualverkehr mit den Frauen, die sie geheiratet haben, wobei die Reihenfolge wohl verschieden gewesen sein dürfte. Die späten Auswirkungen unserer asexuellen Erziehung war für jeden verschieden, haben aber jeden von uns über längere Zeit geprägt.
6 1927 wurde mein Vater Stadtbaurat in Breslau. Wir wohnten dort in einer großen Etagenwohnung. Unter uns lebte eine jüdische Familie, mit deren etwa gleichaltrigem Sohn ich manchmal spielte. Eines Tages nahm er mich in die elterliche Wohnung mit, wo gerade ein jüdisches Fest gefeiert wurde. Auf einem Stuhl an der Wand sitzend betrachtete ich mit großen Augen, was sich dort abspielte: Die Gebete und Gesänge des würdigen Vaters, der ein Käppchen auf dem Kopf trug und in ein dunkles Gewand gehüllt war. Das Kerzenlicht, das wir nur zu Weihnachten kannten, die ganze heilig-fromme Atmosphäre hat sich mir tief eingeprägt. Rathaus Breslau Eine Begegnung ganz anderer Art schildert meine Mutter in ihrer Chronik so: 'Anschließend an große Manöver in Schlesien kam Generalfeldmarschall von Hindenburg auch nach Breslau. Im Fürstensaal des wunderschönen Rathauses fand eine Feierstunde statt. Anschließend wurde ihm der Magistrat mit seinen Damen vorgestellt. Als er Hugo auf seine Verwundung hin ansprach und auch für mich einige freundliche Worte fand, war ich von seiner Erscheinung tief angerührt. Es wird mir ein unvergeßlicher Augenblick sein.
Doch schon im Dezember 1928, ich war gerade acht Jahre alt geworden, wurde mein Vater als Senator für das Bau- und Wirtschaftswesen in die Regierung des Freistaates Danzig berufen. Diese steile berufliche Karriere innerhalb von knapp zehn Jahren verdankt mein Vater neben seiner Tüchtigkeit gerade seinem katholischen Glauben und der damit verbundenen selbstverständlichen Zugehörigkeit zur Zentrumspartei. Sie war eine politische Kraft, ohne die weder in Deutschland, noch in Danzig eine parlamentarische Mehrheit zustandekommen konnte. In Danzig wurde sie immerhin regelmäßig von 15% der Bevölkerung gewählt und ihre Vertreter haben bis zum Beginn der Machtübernahme jedem Danziger Senat angehört. Als Vater den Posten antrat, regierte in Danzig eine Mitte-Links-Koalition aus Sozialdemokraten, Sozialliberalen und Zentrum.
7 Meine Eltern zogen nach Zoppot, dem Weltbad, das nur zwölf Kilometer von der Stadt Danzig entfernt lag. Sie kauften ein Haus in der Delbrückallee, einer ruhigen Villenstraße in der Oberstadt. Es lag unterhalb des Straßenniveaus, hatte einen Vorgarten und einen großen Garten hinter dem Haus mit Obstbäumen und Sträuchern. Wolfgang und ich bewohnten ein Zimmer nach vorne, mit Ausgang zu einem Balkon, der über die ganze Breite des Hauses ging. Nebenan schlief meine Mutter, die einen sehr leichten Schlaf hatte. Wenn wir reichlich verspätet nachts nach Hause kamen und fruchtlosen Diskussionen aus dem Weg gehen wollten, kletterten wir geräuschlos den Kirschbaum hinauf, der neben dem Balkon stand und sprangen zu diesem hinüber. Das schaffte auch Wolfgang mit der Beinprothese. Bruder Klaus hatte als Ältester sein eigenes Zimmer hinten heraus. Vater hatte oben ebenfalls ein ziemlich geräumiges Schlafzimmer, angrenzend an das meiner Mutter. Unten befand sich das Biedermeierzimmer mit Mutters Sekretär und daneben, durch eine große Schiebetür verbunden, das Herrenzimmer mit Schreibtisch, Ledergarnitur und leicht barockisiertem Bücherschrank. Das Eßzimmer lag unter dem Schlafzimmer des Vaters und erwies sich als ein bißchen zu klein für die gesellschaftlichen Verpflichtungen eines Senators. Am Tisch hatten maximal zwölf Personen Platz, was bedeutete, daß fast alle vierzehn Tage ein Essen stattfinden mußte. Unter dem Dach war noch ein Fremdenzimmer und ein Zimmer für unsere beiden Dienstmädchen. Trotz der acht Zimmer wirkte das Haus keineswegs groß oder herrschaftlich.
8 Nach dem Weltkrieg war Danzig zu einer freien Stadt unter der Schirmherrschaft des Völkerbundes bestimmt worden. Diese Staatsform war für die Stadt jedoch nicht neu, sondern herrschte die längste Zeit ihrer Geschichte vor. Im neunten Jahrhundert von den slawischen Pomorzen gegründet, war Danzig im dreizehnten Jahrhundert mit 10.000 Einwohnern schon fast eine Großstadt. Die Herzöge Pommerellens holten Menschen aus dem Westen, und zwar vorwiegend aus deutschen Landen, zum Aufbau von Wirtschaft und Hafen. Zur Christianisierung wurden sowohl deutsche Zisterzienser als auch polnische Dominikaner ins Land gerufen. Der deutsche Ritterorden, vom slawischen Herzog von Masuvien zur Christianisierung Ostpreußens, in dem die heidnischen Pruzzen lebten, gerufen, kämpfte zeitweilig mit den Polen gegen Brandenburg. Während die Eroberung der Stadt durch Brandenburg 1271 von den nun schon überwiegend deutschsprachigen Einwohnern begrüßt wurde, bedeutete die Rückeroberung durch den deutschen Orden eher den Beginn einer Schreckensherrschaft. Doch der Stadt gelang es, dem Ritterorden allerlei Privilegien abzuringen und erlebte nun eine Blütezeit. Vor allem nachdem sie 1361 der Hanse beitrat und bald deren bedeutendstes Mitglied im Ostseeraum wurde. 1410 ist Danzig endlich den militärisch organisierten Ritterorden los und verbindet sich mit Polen, dessen König Jagiello es die Treue schwört. Seitdem schwebt über den zwei Kreuzen des Wappen. Danziger Wappens die polnische Krone.
Dann, nach einigen Kriegswirren zwischen Polen, Preußen und dem Ritterorden, wird Danzig 1457 endgültig, das heißt für 300 Jahre, eine unabhängige Stadtrepublik innerhalb des polnischen Königreiches. Während der Reformation und Gegenreformation (cuius regio, eius religio) gelang es ihr, beim polnischen König die Religionsfreiheit durchzusetzen. Mit der dritten polnischen Teilung hörte die zeitweilige Großmacht Polen auf zu existieren, und Danzig wurde 1793 durch Preußen erobert. Damit war es aus mit den Vorzügen einer Stadtrepublik und seiner Bürger. Viele Intellektuelle, wie zum Beispiel Johanna Schopenhauer mit Sohn Arthur und auch Kaufleute verließen fast fluchtartig die Stadt. Danzig blieb nun ein Teil dieses Staates, mit dem kurzen Zwischenspiel von 1807 bis 1813, als Napoleon es unter dem Jubel der Bevölkerung befreite und es wieder zur Stadtrepublik erhob. Danach jedoch wurde Danzig nun als Hauptstadt Westpreußens eine ganz normale Stadt in diesem Staat. Seine Bedeutung ging sehr zurück und erst nach der Reichsgründung 1871 wurde die Stadt erneut ein wirtschaftlich bedeutender Handelsplatz, ohne aber je wieder die alte Größe zu erreichen. War es bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts dem Danziger Bürger mehr oder weniger gleich gewesen, unter welcher Oberherrschaft er seine Privilegien, wie Ständeherrschaft, freie Religionsausübung, freien Handel, deutsche Sprache und Kultur genießen konnte, so wurde auch hier mit dem seit der französischen Revolution sich ausbreitendem Nationalismus ein neuer Mythos geboren. Die Danziger assimilierten sich mit den Jahrzehnten, und so wurde nun die Neuerrichtung der freien Stadt von allen Bewohnern außer den im Staatsgebiet wohnenden 8.000 Polen als Trennung vom deutschen Reich empfunden. Daß es überhaupt zu dieser Lösung kam, verdankt die
Stadt den divergierenden Interessen Frankreichs und Englands. Ersteres wollte den Polen den freien Zugang zum Meer verschaffen, also es Polen zuschlagen, letzteres war an einem politischen Wirtschaftsstützpunkt an der Weichselmündung interessiert. So wurde dann der Kompromiß gefunden: Es wurde im Ausland von polnischen Konsulaten vertreten und gehörte zum polnischen Zollgebiet. Somit konnte man ins Reich nur mit gültigem Danziger Paß reisen und wurde durch den polnischen Zoll kontrolliert. Die Polen übten auch eine gewisse Kontrolle über den Hafen aus. Auch die Eisenbahn blieb polnisch. Hier lohnt es sich wieder einmal meine Mutter zu zitieren: 'Die Polen hatten es nie aufgegeben,
Danzig in ihren Besitz zu bekommen. Sie versuchten ihre Machtbefugnisse, sei es auf kulturellem, sei es auf wirtschaftlichem Gebiet stets zu erweitern. Es ist ihnen damals nicht gelungen. Das polnische Abitur wurde nicht anerkannt, galt nicht als Zulassung zur Danziger technische Hochschule. Es gelang ihnen auch nicht, das Theater in ihren Besitz zu bekommen oder Einfluß auf den Spielplan zu gewinnen. Das Deutschtum wurde in Danzig aufs Höchste gepflegt. Kongresse wurden nach Danzig gelegt, deutsche Künstler, Gastspiele, Konzerte kamen in den Freistaat und das Reich unterstützte diese Bemühungen. Jeder Danziger sorgte in seinem Bekannten- und Freundeskreis dafür, so viele Menschen als möglich zu Ferien in den Freistaat einzuladen.' Das Nationalgefühl der Polen war zu jener Zeit, nach einem Vierteljahrtausend völliger Unterdrückung, wohl noch stärker entwickelt, als das deutsche. Hatten die Danziger 1919, damals noch als Teil Deutschlands, mit 41% links (Sozialdemokraten und Kommunisten), und nur zu 37% rechts (Deutschnationale und nationale Splitterparteien), gewählt, so war es bei der ersten Wahl zum Danziger Volkstag umgekehrt. Die Rechte gewann fast 50%, die Linke nur ungefähr 33%. Das Zentrum mit seinen 15% spielte, wie übrigens auch im deutschen Reichstag, bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme stets die Kraft, ohne die man keine Regierung bilden konnte. So gehörten dem Danziger Senat immer Mitglieder des Zentrums an. Selbst bei den Volkstagswahlen 1933, bei denen die Nazis bereits fast 60% der Stimmen bekamen und damit das ganze rechte Parteispektrum aufgesogen hatten, blieb das Zentrum mit über 10% immer noch die drittstärkste Partei. Doch da war mein Vater schon aus der Regierung ausgeschieden. Praktisch hatten die Nazis bei der Volkstagswahl am 28. Mai 1933 die Regierung übernommen. Der neue Senatspräsident war Hermann Rauschning. Dem Senat gehörten damals noch drei Zentrumssenatoren an, von denen einer ursprünglich Wierschinski-Keiser, dann nur noch Wiers-Keiser und schließlich, als er - von einem Gespräch mit dem Führer tief beeindruckt - zur NSDAP übertrat, nur noch Keiser hieß. So einfach trennte man sich damals von der slawischen Herkunft. Der Parteiwechsel kostete ihn die Freundschaft vieler seiner Glaubens- und Parteifreunde, lediglich meine Mutter hatte da Schwierigkeiten. Er war nämlich ein 'schöner Mann', und einem schönen Mann konnte meine
Mutter vieles verzeihen.
9 1928 war Dr. Heinrich Sahm Senatspräsident, ein sehr fähiger konservativ denkender, aber parteiungebundener Mann, der die Danziger Privilegien mit großer Zähigkeit gegen die polnischen Herrschaftsansprüche verteidigte. Da es sehr oft um Fragen der Wirtschaftsbeziehungen ging, hatte mein Vater sehr viel mit Polen und auch dem Völkerbund, wo Dr. Sahm selbst jedoch die wichtigste Rolle zukam, zu verhandeln. Ich war damals noch ein kleiner Junge und so will ich es meiner Mutter überlassen, aus ihrer Sicht unser Leben in der Zeit zwischen 1928 und 1933 zu beschreiben. 'Es lebte sich in Danzig billig gegenüber den Preisen, die im Reich üblich waren.
Das polnische Hinterland brachte seine Erzeugnisse auf die Wochenmärkte. Danzig hatte seine eigene Währung, begründet auf holländischer Goldwährung. Die allgemeine Inflation der Nachkriegsjahre war in Danzig ein Jahr früher beendet. Die Gehälter der deutschen Beamten, sowie der Pensionäre waren höher als im Reich und im Gegensatz zu ihm, durften Danziger Devisen sparen.' Dieses Recht, Devisen zu besitzen, das auch die Naziregierung nicht ändern konnte, erleichterte es wenigstens den wohlhabenderen Juden, sich vorm Anschluß ins Ausland in Sicherheit zu bringen. Doch nun wieder meine Mutter: 'Als oberste internationale Behörde hatte der Freistaat Danzig einen hohen Kommissar. Zu unserer Zeit war es der Italiener Graf Gravina. Seine Vorgänger waren Engländer, Schweden, sein Nachfolger ein Schweizer. Ebenfalls ein Schweizer, Dr. Enzinger, war damals Hafenkommissar. Beide hatten den Freistaat beim Völkerbund in Genf zu vertreten und waren bei Streitfällen zwischen Polen und Danzigern höchste Instanz. Fast das gesamte Ausland war durch Konsulate vertreten, es war ein internationales Gesellschaftsleben, dessen Mittelpunkt das Haus Gravina war. Graf Gravina, Enkelsohn der Cosima Wagner, und seine Gattin, geborene Prinzessin Belina, waren die idealsten Gastgeber. Über das konventionelle hinaus waren wir uns freundschaftlich näher gekommen. Auch wir hatten vielerlei gesellschaftliche Verpflichtungen in und außerhalb des Hauses zu erfüllen. All dieses war interessant, vergnüglich und anstrengend. Es machte mir Freude mitzutun, gut angezogen auf Festlichkeiten zu gehen und daheim eine schöne Gastlichkeit pflegen zu können. Neben dem dienstlichen Kreis fanden wir liebe Freunde, mit denen wir viele und anregende Abende zusammengesessen haben. Mein Mann war beruflich sehr erfüllt und zufrieden. Seine dienstlichen Aufträge führten ihn nach Genf, nach Rom an dieser Reise, die mir unvergessen ist, durfte ich teilnehmen - und ins sonstige Ausland. Unser Haus, fünfzehn Minuten von der See gelegen, sah viele liebe Menschen als Feriengäste. Die Jungen fanden Freuden an und in der See. Die Schule blieb eine zu überstehende, aber nicht geliebte Pflicht. Ihre Freunde und Freundinnen waren unsere Gäste, und an allen Veranstaltungen, Vorträgen, Konzerten, Theater und den Waldfestspielen konnten sie teilnehmen.
10 Wenn die Schule eine, wie meine Mutter meint: 'zu überstehende Pflicht' war, so kann das für meine Brüder gelten. Ich hingegen habe die Schule gehaßt. Sie hat mir einen Großteil meiner Kindheit vergällt. Schon der erste Versuch, mich mit fünfeinhalb Jahren einzuschulen, ist kläglich gescheitert. Man hat mich unter einer Bank hervorgeholt, unter der ich daumenlutschend saß und darüber klagte, daß es hier zu laut sei. An die Volksschule in Breslau habe ich nur alptraumartige Erinnerungen. Ich, auf der letzten Bank, vorne eine strenge, ja sadistische Lehrerin, deren pädagogisches Ideal es gewesen sein muß, vor Unterrichtsbeginn sich einen Jungen der Klasse herauszuholen, wahrscheinlich einen aus der ärmeren Bevölkerung, und ihn unbarmherzig mit dem Lineal zu versohlen.
In Zoppot kam ich nur für ein halbes Jahr in die dritte Klasse zu dem ganz netten Lehrer Reis, der uns bessere Schüler in einer Förderklasse auf die Oberschule vorbereitete. Mit neuneinhalb Jahren trat ich in das Zoppoter Realgymnasium über. Ich habe mich meiner schlechten Schulleistungen eigentlich immer etwas geschämt und begreife sie in dem Augenblick, an dem ich dieses niederschreibe, zum ersten Mal. Ohnedies mehr Träumer und Phantast, dazu stark kurzsichtig und auch nervös, dennoch in der Volksschule einer der Klassenbesten, müssen die Anforderungen in der Oberschule als eine niemals zu bewältigende Überforderung über den Neuneinhalbjährigen hereingebrochen sein. Mal da mal dort kam ich nicht mit, schaffte die Hausaufgaben nicht, mußte lügen, ich hätte sie zuhause vergessen. So darf ich unterstellen, daß dem viel zu früh eingeschulten Gymnasiasten einfach der Unterbau gefehlt hat, auf dem sich eine einigermaßen erfolgreiche Schülerkarriere hätte aufbauen lassen. Wir drei Brüder waren wohl alle Spätentwickler. Bei mir kam noch hinzu, daß man erst beim Eintritt in die Volksschule meine schon damals starke Kurzsichtigkeit bemerkte. Ich muß also als Kind nie etwas genau gesehen, mir vielmehr eine Welt geschaffen haben, in der ich mich durchaus wohl fühlte, die jedoch eher aus Gebilden der Phantasie bestand. So habe ich bis heute Probleme etwas zu finden und Realität genau wahrzunehmen, während es mir damals wie heute leicht fällt, aus der Wirklichkeit in die Phantasie überzuwechseln und mich dort zu erholen. Psychoanalytische Kollegen werden vielleicht fragen, wo denn da das 'wahre' und das 'falsche Selbst' zu finden sei. Jedenfalls hat die Phantasie mir in allen späteren Berufen, sei es als Schauspieler, Lehrer oder Psychoanalytiker geholfen. Sie steht mir jedoch im Wege, wenn es darum geht, streng wissenschaftlich zu abstrahieren, also Theorien zu entwickeln und darzustellen. Meine psychologischen Gutachten geraten mir eher zu Novellen, was schon Urvater Sigmund Freud 'eigentümlich' berührt hat. Auch seine Krankengeschichten seien 'wie Novellen zu lesen', wofür er die 'Natur des Gegenstandes' verantwortlich machte (Ges. Werke Bd. 1 S.227). Bruder Wolfgang, drei Klassen über mir, war auch keine große Leuchte, hatte aber eine technischmathematische Begabung, die mir bis heute völlig abgeht. Dennoch konnte ich mich bis zur Obertertia durchquälen, wo es mich dann endlich erwischte. Mit einem Haufen 'mangelhaft' nahmen mich meine in diesem Falle unvernünftigen Eltern von der Schule und schickten mich in eine Presse zu einem Fräulein Herrmann, bei der ich mit Leidensgenossen von morgens bis abends büffeln mußte. Dann schulten sie mich nach einem halben Jahr in die nächsthöhere, also meine alte Klasse, nun Untersekunda wieder ein.
Diese Roßkur hat Gott sei Dank nicht geholfen. Ich blieb nun endgültig sitzen und hatte somit die Möglichkeit, in Ruhe ein bißchen aufzuholen. In dieser Zeit glänzte ich schon in den Fächern Deutsch und Geschichte, die mich wirklich interessierten, war ein guter Sportler und musikalisch. Das zählte bei den Nazis einigermaßen.
11 Doch noch bin ich ja gerade erst in Zoppot angekommen, im Haus mit dem schönen Garten, und dabei, mich zurechtzufinden. Eingeschlossen von der Danziger Bucht mit den breiten feinsandigen Stränden und einem uns unendlich erscheinenden leicht hügeligen Laubwald, war Zoppot nicht nur ein berühmtes Weltbad, sondern eigentlich ein riesiger Spiel- und Tummelplatz für Kinder und Jugendliche. Die Entfernung von uns zum Wald betrug etwa hundert Meter.
Mit meinem ersten Freund Goldberg, den Vornamen habe ich vergessen - er wohnte gleich um die Ecke in der Schäferstraße - spielte ich Trapper und Indianer, wobei wir uns kämpfend vom Rand eines Hügels in eine Kiesgrube hinunterstürzten, dreißig Meter den weichen Sand herunterrollten und anschließend in dem kleinen Grundwassersee badeten. Ein Anziehungspunkt war der Schidlitzkegel, ein Hügel, der in Bayern wahrscheinlich nicht einmal als Idiotenhügel akzeptiert worden wäre, jedoch als einziges einigermaßen geeignetes Gelände von uns Kindern zum Schlittenund Skifahren genutzt wurde. An ihn grenzte oberhalb ein Jungwald aus etwa vier bis fünf Meter hohen Buchen, mit einem Hochstand, den wir beide als unseren Stammsitz betrachteten. Von dort konnte man den Wipfel einer jungen Buche erfassen und sich dann von einem Wipfel zum anderen schwingen. Das war spannend und nicht ganz ungefährlich. Tatsächlich ist Freund Goldberg einmal abgestürzt, wobei er sich eine Gehirnerschütterung und einen Armbruch zuzog. Ich mußte ihn damals, durch sein wirres Sprechen verängstigt, nach Hause bringen. Die erschreckte Mutter vergaß ganz, mich als Mitschuldigen zu schelten. Auf einer Lichtung stand ein großes Zelt, in dem reges Leben herrschte. Schnell zogen wir alle Heringe heraus, und bis die verblüfften Jungen sich aus dem zusammengebrochenen Zelt befreien konnten, hatten wir schon einen guten Vorsprung und erreichten noch gerade zur rechten Zeit unseren Hochsitz. Die anderen konnten zwar nicht herauf, doch wir auch nicht hinunter. Da die Belagerer nicht aufgaben, aber es langsam dunkel wurde, mußten wir wohl oder übel in Friedensverhandlungen eintreten. Das Ergebnis war mein Versprechen, der Gruppe beizutreten. Da das Signum auf dem Wimpel ein Malteserkreuz darstellte, wird es sich wohl um eine Gruppe des 'Jungdeutschen Ordens' gehandelt haben, einer antidemokratischen, nationalistischen, sozialromantischen Bewegung. Meine Mitgliedschaft war kurz. An einem der nächsten
Wochenenden nahm ich an einem Sportfest teil, muß im Laufen und Springen in meiner Altersklasse gesiegt haben; jedenfalls stand mein Name in der folgenden Woche im Sportteil der Olivaer Zeitung. So müssen meine Eltern davon erfahren haben. Mein Vater setzte sich eines Abends an mein Bett und redete mir die Sache wieder aus. Die politische Richtung hat ihm wohl gar nicht gepaßt. Die Freundschaft mit Goldberg ging 1933 zu Ende. Seine Eltern erklärten mir nicht ohne Verlegenheit, daß sie als überzeugte Nationalsozialisten auf den Verkehr ihres Sohnes mit dem Sohn eines Gegners dieser Bewegung keinen Wert legten. Andere Erinnerung, Inseln im Meer des Vergessens: erste Liebe mit zwölf. Ursel hieß sie, Tochter eines mit den Eltern befreundeten Zahnarztes. Wir beide so schüchtern, daß die Eltern uns nach der Messe aufforderten, uns doch wenigstens mal die Hand zu geben. Die Liebe dauerte bis zur Tanzstunde. Eine recht verklemmte Geschichte, über welche meine Kinder heute nur lachen würden, die ich dennoch nicht vermissen möchte. Verklemmte Erotik auch mit Nachbarskindern, hilflose Ersatzhandlungen in unaufgeklärter Vorpubertät. Eigentümliche Freundschaft mit einem Nachbarssohn, schon Student, der mir gelegentlich bei Hausaufgaben half. Er forderte mich öfters zum Spazierengehen auf. Im Wald wollte er dann immer mit mir raufen. Ich habe gerne mitgemacht, mich jedoch im Stillen darüber gewundert, was ein Erwachsener daran finden könnte, mit mir Ringkämpfe zu führen. Hatte ich doch von dem, worauf es ihm angekommen sein mag, keine Vorstellung, geschweige denn ein Beziehung dazu. Homosexuelle Kinderverführung? Nicht daß ich wüßte. 1939 hat er sich erschossen. Übertreibt meine Erinnerung, wie unwissend ich in allen sexuellen Dingen damals gewesen bin? Meine Mutter hat sie mir viele Jahre später indirekt bestätigt. Wir hatten sie gebeten, einige Stunden auf unseren damals vierjährigen Jüngsten aufzupassen. Als dieser nackt, den Penis stolz in der Hand, im Zimmer herumhüpfte und psch-psch machte, reagierte meine Mutter verstört. Schließlich forderte sie ihn auf, den Pimmel wieder loszulassen. Dem verblüfft sie anstarrenden Kind erklärte sie, da kämen sonst kleine Würmer heraus. Das Elternhaus schenkte uns Geborgenheit und Anregung. Ich durfte früh bei Gesellschaften dabeisein, mich gelegentlich auch als Page nützlich machen, ich lernte interessante Leute kennen, den Völkerbundskommissar Graf Gravina, den Bischof O'Rourke, einen feinen, sensiblen humorvollen Mann. Einmal waren die beiden zusammen eingeladen. Beide beherrschten sie acht Sprachen wie ihre Muttersprache und wechselten im Gespräch von einer zur anderen. Natürlich war auch viel von Politik die Rede. Ich erinnere mich an ein Gespräch, in dem Vater mir die Danziger Regierungsform erklärte. Irgendwoher hatte ich gehört, daß im Danziger Volkstag nur alte Männer säßen. Vaters Einwurf, der Jüngste sei immerhin erst 32 Jahre alt, hat den Zwölfjährigen kaum überzeugt. Was ich nicht wußte: auch in Danzig war die Volksvertretung längst entmachtet. Die Mitte-Links-Regierung unter Sahm war indessen einer Mitte-Rechts-Regierung gewichen, die, wie im Reich, mit Notverordnungen regierte. Zudem war sie eine Minderheitsregierung, abhängig von der von Hitler befohlenen Toleranz der Naziabgeordneten. Präsident Sahm, den mein Vater sehr schätzte, wurde von Führer der Deutschnationalen Partei Ziehm abgelöst. Er und Vater haben sich nicht sonderlich geschätzt. Vater hatte wohl gehofft, Vize-Präsident zu werden, doch zog Ziehm ihm den Juristen, der nun schon Wierz-Kaiser und bald darauf nur noch Kaiser hieß, vor. Von Ziehm jedoch stammt die einzige mir zugängliche Beschreibung der dienstlichen Persönlichkeit meines Vaters. In seinen Erinnerungen beschreibt er ihn als tüchtigen, ehrgeizigen Beamten und hervorragenden Redner, der auch komplizierte Sachverhalte verständlich darzustellen wußte.
Weitere kleine Erinnerungsfetzen: Dicke Schlagzeilen im Danziger Vorposten, der Zeitung der Nazis: 'Schulgeldfreiheit für Senatorensöhne'. Anscheinend hatten meine Eltern, wie andere Bürger auch, von dem Recht Gebrauch gemacht, für den dritten Sohn kein Schulgeld zu zahlen. Eines Abends fanden wir drei nagelneue Fahrräder im Keller stehen. Am nächsten Tag Plakate auf allen Litfaßsäulen 'Gulden bleibt Gulden' - die bei Abwertungen übliche Beschwichtigung. Bescheidene Ausnutzung von Insiderwissen über die bevorstehende Guldenabwertung.
12 Mai 1933 übernahmen die Nazis unter Rauschning als Präsident die Regierung. Rauschning, der später ein scharfer Gegner Hitlers war, wurde bald von Greiser abgelöst. Doch der eigentliche Machthaber war nun Gauleiter Albert Forster, der von Berlin seine Befehle erhielt. Kurz nach meinem Gastspiel beim 'Jungdeutschen Orden' trat ich in den katholischen Jugendbund für höhere Schüler 'Neudeutschland' ein. Auch dieser Bund war am Bild des deutschen Ritterordens orientiert. Seine Mitglieder wurden als Jungknappen aufgenommen, wenn sie Fuß gefaßt hatten zum Knappen befördert, dann Jungritter und schließlich - da waren sie meist schon Gruppenführer - mit dem Wimpel statt des Schwertes zum Ritter geschlagen. Die vier Gruppen des Freistaates waren zu einem Gau zusammengefaßt, der von einem Gaugrafen geleitet wurde. Gaugraf war zur Zeit meines Eintritts ein Mitschüler von Klaus. Ich glaube er hieß Walter Olbricht. Bundesführer war der Jesuitenpater Esch, eine von uns allen verehrte Persönlichkeit. Ich vermute, daß er von seinen Ordensoberen schon den Auftrag hatte, Nachwuchs für den Orden zu rekrutieren. Wieso wäre ich sonst mit etwa vierzehn Jahren entschlossen gewesen, später entweder Schauspieler oder Jesuit zu werden? Er hat jedoch nie in diesem Sinne agitiert. Es muß allein an seiner Ausstrahlung gelegen haben. Daß der erste Wunsch bald überwog, hing sicher auch damit zusammen, daß es mich doch arg zu den Mädchen hinzog. Ich war zwölf, als wir unter seiner Leitung drei- oder viertägige Exerzitien erlebten. Vom Inhalt habe ich nichts in Erinnerung, wohl aber die feierliche Stimmung, die innere Sammlung durch das Redeverbot, die lockere, auch humorvolle und so gar nicht frömmelnde Gestaltung durch Esch. Dies alles war ein stigmatisierendes Erlebnis, das wahrscheinlich noch heute im Unbewußten fortwirkt, mein magisch kindliches Fühlen ins Mythische beförderte, dorthin, wo Identifikation auch ein geistiger Akt ist. So wurde mir Katholizismus zur bewußt gelebten Daseinsform. Innerhalb dieser Daseinsform bildeten wir eine Elite, eben einen Ritterorden, aufgerufen zur Verteidigung des Glaubens. Innerhalb dieser Gemeinschaft hatten Mädchen nicht einmal in Gedanken Platz. Das weibliche Ideal war die unbefleckte Jungfrau Maria. So setzte sich die von der Familie vorgeformte Leugnung der Sexualität fort. Der Trieb wurde abgespalten, führte ein nicht kontrollierbares Eigenleben, sündig und faszinierend zugleich. Ich fischte aus der zweiten Reihe des elterlichen Bücherschrankes Waldemar Bonsels Roman 'Blut' heraus. Der schwüle Inhalt erregte mich. Genaue Informationen gab er jedoch auch nicht her. Die Nazis wollten die Neudeutschen um 1935 verbieten, mußten das Verbot jedoch auf Intervention des hohen Kommissars wieder zurücknehmen. An hohen Festtagen, vor allem an Fronleichnam, trafen sich die katholischen Jugendverbände zu eindrucksvollen Kundgebungen vor dem Dom zu Oliva.
Später kam es zu Gegendemonstrationen der Hitlerjugend. Schon 1934 hatte Walter Olbricht bei einem Gauzeltlager halb scherzhaft ausprobiert, wie sich die Hakenkreuzbinde auf unserer grünen Kluft ausnehmen würde. Olbricht erzählte uns bei dieser Gelegenheit auch eine rührende Geschichte: Im Reich hätten Neudeutsche ein Zeltlager veranstaltet. Da hätte eine Autokolonne gehalten und Hitler sei ausgestiegen. Er habe sich erkundigt, um wen es sich handele, habe der Lagerkasse hundert Mark spendiert, den Jungens viel Spaß gewünscht und sei weitergefahren. In dieser wahrscheinlich erfundenen Geschichte verbirgt sich die wahnwitzige Hoffnung, vielleicht doch noch als Bund im dritten Reich zu überleben. Indessen hatte ich durchgesetzt, daß die Zoppoter Neudeutschen ihr Gruppenheim in einem geräumigen hellen Kellerraum unseres Hauses einrichten konnten. Ab 1934 war ich dann als Jungritter selbst Gruppenführer und 1936, also mit fünfzehn Jahren, wählte man mich, übrigens in einer Kampfabstimmung gegen den Führer der Gruppe der Stadt Danzig, zum Gaugrafen. Der damit notwendige Ritterschlag wurde in feierlicher Form vom Bischof O'Rourke im Olivaer Dom selbst vollzogen. O'Rourke ist kurz darauf nach Rom zurückberufen worden. Sein weicher Charakter war dem Druck der Nazis wohl nicht gewachsen. Als Gaugraf habe ich noch an einem Bundesthing in Osnabrück oder Paderborn teilgenommen, das von Pater Esch geleitet wurde. Es kann also nicht stimmen, daß die Neudeutschen schon 1933 verboten wurden, wie in Lexika behauptet wird. Dennoch war ich wohl der letzte amtierende Gaugraf. 1937 war die Auszehrung so weit fortgeschritten, daß wir uns sozusagen von selbst auflösten, ohne daß mir dazu ein besonderer Akt erinnerlich ist. 'Neudeutschland' unterschied sich sonst nicht von anderen Wandervögeln. Mir sind Wanderungen und Zeltlager in schöner Erinnerung. Auch bildeten sich kleine Wandergruppen von drei oder vier guten Freunden unter Führung eines älteren Schülers. Über das Wochenende durchstreiften wir das Danziger Hinterland, wobei mir die Wanderungen zum Ottominer See besonders in Erinnerung geblieben sind. Wir übernachteten dort in einer ganz primitiven Jugendherberge, die wir ohne Aufsicht eines Herbergsvaters in tadellosem Zustand vorfanden und hinterließen. Abends
sammelten wir mit der Taschenlampe Krebse unter den Steinen am Ufer und hatten so ein köstliches Festmahl.
Wie überhaupt der Osten sich durch eine ganz selbstverständliche Ordnung und Sicherheit auszeichnete. Ich war dreizehn Jahre alt, als ich mich mit dem Fahrrad zu einer Reise quer durch Ostpreußen aufmachte. Mein Ziel war Nidden, das schöne Fischerdorf in der Kurischen Nehrung hinter der litauischen Grenze. Nidden war damals bekannt durch Alfred Karraschs Roman 'Winke bunter Rathaus Orneta Wimpel'
und eine berühmte Ballade der ostpreußischen Dichterin Agnes Miegel, die auch bei uns trotz ihrer Sympathie für die Nazis hohes Ansehen genoß. Eine größere Rast machte ich in Wormditt, wo Verwandte meiner Mutter einen großen Bauernhof, fast ein Gut, mit einem ansehnlichen Herrenhaus bewohnten. Aber nicht nur dort, sondern überall, wo ich um Nachtquartier nachsuchte, wurde ich herzlich aufgenommen, bewirtet und mußte von mir und meinem Herkommen erzählen. Gäste waren in dem dünnbesiedelten Land eine schöne Abwechslung, und ich habe öfters in Betten als im Stroh geschlafen. Auf der Kurischen Nehrung reichte die Kasse zwar nur noch für Trockenbrot, doch fand ich dort Erdbeeren und Himbeeren in solcher Fülle, daß ich immer satt wurde. Als ich mich einmal vom Pflücken aufrichtete, stand wenige Meter vor mir ein riesiger Elch mit königlichem Geweih und beäugte mich interessiert. Ich erschrak doch ein wenig und hielt Ausschau nach einem Baum, auf den ich mich retten könnte. Doch der Elch wandte sich gleichgültig wieder ab und trollte gemächlich davon. Später kreuzte noch eine ganze Elchfamilie meinen Weg, und ich fuhr zufrieden wieder nach Zoppot zurück. Meine Eltern hatten sich keinen Augenblick Sorgen gemacht.
13 Als die Nazis die Herrschaft in Danzig antraten, saß ich in der Quarta des Zoppoter Realgymnasiums und zitterte wie stets um meine Versetzung nach Untertertia. Von meinen Schulfreunden gehörten einige meiner Neudeutschen Gruppe an, andere hatten nichts damit zu tun. Von den zwei Juden unserer Klasse war ich mit einem gut befreundet. Er war der Sohn des Zoppoter Rabbiners mit einem unaussprechlichen Namen, der nur wie die hebräische Schrift aus Konsonanten zu bestehen schien. Er war ein schmaler Junge mit einem sehr ausgeprägten rassigen Judengesicht, auf das die Worte des hohen Liedes paßten 'Sein Haupt ist Feingold, seine Locken rabenschwarz'. Ein anderer Freund hieß Wladislaw Drombowa von Schremowitz; einer der vielen meist katholischen Mitschüler ursprünglich polnischer und damit slawischer Herkunft, die z.B. auch Borowski, Teblowski, Derowski oder Tomaschewski heißen konnten. Später, nach dem Abitur, haben viele von ihnen das 'ski' aus ihrem Namen getilgt, so zu Germanen mutierend. Meine Einstellung zu Beginn der Pubertät war nicht ohne jede politische Ambivalenz. Mein ältester Bruder muß 1933 Abitur gemacht haben. Er besuchte als einziger von uns das humanistische Gymnasium, wo übrigens Dr. Stachnik, der Vorsitzende der Zentrumspartei und ein konservativer Priester, sein verehrter Religionslehrer war. Auch er eine Grass'sche Romanfigur. Vorher war Klaus wohl einige Wochen bei einer englischen Familie zu Gast gewesen und im Gegenzug besuchte uns eine hübsche rothaarige Engländerin, die auch zu mir sehr nett war, deren Namen ich aber vergessen habe. Als sie mich fragte, was ich mir zum Abschied wünschte, bat ich sie um ein Hitlerbild, was sie mir schenkte, ohne darüber verwundert zu sein. Vielleicht teilte sie die Vorliebe des englischen Thronfolgers Eduard für Hitler und die Nazis. So hing nun tatsächlich ein Hitlerbild, nicht sehr groß, aber auch nicht zu übersehen, hinter meinem Arbeitsstuhl. Was war in mir vorgegangen? Wollte ich gegenüber einer Ausländerin mich mit Deutschland und seinem Führer identifizieren, dem man ja damals eigentlich noch nichts besonders vorwerfen konnte? Schließlich war er korrekt demokratisch an die Macht gekommen und die Nazis hielten sich in Danzig sehr zurück. SA-Leute waren primitiv und laut, aber dafür konnte wohl der Führer nichts. Doch hat mich die Sache mit dem Führerbild nicht ganz losgelassen. Ich entwickelte eigentümliche Phantasien. Im Kino hatte ich den Film 'Hundert Tage' gesehen. Werner Krauss spielte Napoleon, der wieder in Frankreich gelandet war, um noch einmal die Macht an sich zu reißen, Gustav Gründgens den wendigen Fouché, der schon als Polizeiminister alle Wechselfälle der französischen Revolution überstanden hatte und nun dem Bourbonenkönig Louis Philipp diente, es jedoch verstand, sich mit beiden Rivalen gutzustellen. Hinter seinem Schreibtisch hing ein Bild, das auf der einen Seite Napoleon und auf der anderen Seite Louis Philipp darstellte und welches er je nach Übermacht des einen oder des anderen nur umzudrehen brauchte. Mich verfolgte der Gedanke, es mit meinem Hitlerbild ebenso zu machen. Doch war es sicher nicht wie bei Fouché ‚ Opportunismus, sondern eher Zeichen einer von mir selbst innerlich abgelehnten Ambivalenz. Ich blieb von der allgemeinen Begeisterung nicht unberührt. Mir ist kein Gegenstück zu Hitler eingefallen, und so wachte der 'Führer' bis zum Abitur über meine Hausaufgaben. Eine andere Erinnerung: Ich bin vierzehn und sitze in Danzig im Kino in einer Nachmittagsvorstellung. Der Raum ist so gut wie leer. Es läuft eine Wochenschau, man sieht eine nationalsozialistische Großkundgebung, wohl einen Parteitag. Die großen Aufmärsche, die Fanfarenzüge der Hitlerjugend - ich war nicht dabei, stand außerhalb. Ich erinnere mich genau, ich heulte Rotz und Wasser, weil ich nicht dabei sein wollte.
Die heutigen Schüler sind zu beneiden, daß ihr Schuljahr im Herbst und nicht im April beginnt. So bekommen sie das Zwischenzeugnis mit seinen drohenden Verheißungen erst zu Ostern und nicht schon, wie in meiner Schulzeit, zu Weihnachten. Nicht nur, daß ich mich damals jedesmal bei Ida, der unersetzbaren Stütze unseres Familienbetriebes, unterm Christbaum für verübte Missetaten des Vorjahres entschuldigen mußte, nicht nur, daß ich auf der Geige etwas vorzuspielen hatte. Seit dem neunten Lebensjahr hatte ich nämlich Geigenstunden bei Herrn Prinz, dem Konzertmeister des Danziger Staatstheaters, natürlich einem Juden, dem es leider nie gelang, mir ein anständiges Vibrato und eine lockere Bogenführung beizubringen. Nein, es galt auch noch die elterliche Mißstimmung zu überstehen, weil leider in jedem Jahr bis zur Untersekunda im Zeugnis 'Versetzung zweifelhaft' oder gar 'sehr zweifelhaft' angemerkt war. Da halfen auch die Einser in Deutsch, Geschichte, Musik und Turnen nicht viel. Gott sei Dank war mein Vater nicht nachtragend, und meine Mutter hielt aus eigener Erfahrung nicht all zuviel vom Schulwissen. Dennoch blieben natürlich kummervolle Mienen und ernsthafte Ermahnungen nicht aus.
14 1933 trug unser damaliger Klassenlehrer Oberstudienrat Klessing, genannt 'Der Rohe', weil er sich nicht entblödete, noch Quartaner gelegentlich zu verprügeln, das Parteiabzeichen. Er war meiner Erinnerung nach der einzige Lehrer, der meinen beiden jüdischen Mitschülern deutlich zu verstehen gab, daß sie dankbar sein müßten, noch in der Schule geduldet zu werden und der seiner antisemitischen Gesinnung auch in ihrer Anwesenheit freien Lauf ließ. Unser Französischlehrer, Studienrat Gall, erschien zu besonderen Anlässen von nun an in der Uniform eines SSSturmführers. Doch waren durchaus nicht alle Lehrer Nazis. Oberstudiendirektor Reinecke, mit Spitznamen 'Hundefutter', weil er sehr mager war, dürfte konservativ, aber sicher kein Nazi gewesen sein. Bei einer Sonnenwendfeier auf dem Schulhof 1933 stimmte er nur sehr zögernd zu, als ältere Schüler ihn baten, nach dem Deutschlandlied das Horst-Wessel-Lied anstimmen zu dürfen. Neben Klessing war ein Oberlehrer, dessen Namen ich vergessen habe, ein sehr unangenehmer Nazi. Er war Leiter des Schulorchesters, in dem ich bisher sogar die erste Geige schlecht und recht vertreten hatte. Er schloß mich 1934 aus, weil ich nicht bereit war, in die HJ einzutreten. Eine Maßnahme, die mich kränkte. Dann dachte ich, 'jetzt erst recht nicht'. Obwohl ich bald, außer den Juden, als einziger Schüler nicht der HJ angehörte, habe ich mich sonst von keinem Lehrer oder Mitschüler ausgegrenzt gefühlt. Ich war ein guter Leichtathlet, im Hundertmeterlauf immer Schulbester, darum bei Wettkämpfen sehr gefragt. Mit Studienrat Pischke, 'Papa Pi' genannt, unserem Lateinlehrer pflegte ich nach der Schule ein fast freundschaftliches Verhältnis. Wir hatten beide Spaß am Theaterspielen, gestalteten gemeinsam bunte Abende oder zogen mit Kasperltheater durch die katholischen Gemeindehäuser. Manchmal sagte er mir: "Schick mir bloß nicht deine Eltern in die Schule, damit ich ihnen nicht erzählen muß, was für ein Faulpelz du bist". Katholischen Religionsunterricht gab Kaplan Wiese, einer unserer Gemeindeseelsorger. Der Unterricht war stumpfsinnig auf das Lernen von Katechismussätzen ausgerichtet. Gott sei Dank hatte er zahlreiche andere Verpflichtungen, so daß sein Unterricht häufig ausfiel. Viele von uns wechselten dann freiwillig zum evangelischen Unterricht über. Diesen gab nämlich der allseits beliebte Studienrat Schröder, der stets in Joppe, Bridges-Hosen und Stiefeln herumlief und deswegen 'Frontgeist' geheißen wurde. Schröder gab einen Unterricht, der ganz auf die Probleme der damaligen Zeit und auf die Schüler selbst ausgerichtet war und sorgte in aller Stille dafür, das auch der strammste HJ-Führer das Denken und Mitfühlen nicht ganz verlernte. In der neuen Klasse änderte sich auch das Lehrerensemble. SS-Sturmführer Gall gab nun außer Französisch auch Deutsch. Da konnte ich glänzen und auch sachlich opponieren. Ich entsinne mich an eine Faust-Deutung, in der der gute Gall sich allzusehr auf das Streben des germanischen Menschen nach Vollendung beschränkte. Das paßte mir nicht, ich meldete mich zu einem ergänzenden Referat, in dem ich den Faust aus Goethes Leben zu interpretieren suchte. Wenn Englisch direkt auf die Deutschstunde folgte und wir keine rechte Lust dazu hatten, mußte ich bei Stundenbeginn durch eine provozierende Frage oder Feststellung zum Stoff der Deutschstunde Gall in eine Diskussion verwickeln. Er fiel fast immer darauf herein. Die Geschichte übernahm Oberstudienrat Thimm, von den Schülern 'Wotan' genannt, weil er im Weltkrieg ein Auge verloren hatte. Er war ein Nazi der ersten Stunde. Wir Schüler behaupteten, er wäre Blutordensträger, also ein Parteigenosse, der den Marsch zur Feldherrenhalle 1923 mitgemacht habe. Sicher ist, daß er Träger des goldenen Parteiabzeichens war. Er traute dem Führer eine geradezu magische Willenskraft zu. So behauptete er, dieser könne ein schwingendes Pendel allein durch seinen Willen an jeder Stelle zum Stillstand bringen. Daß so ein alter Kämpfer es nur zum Oberstudienrat gebracht hatte, ließ vermuten, daß er ein zu anständiger Kerl war, um Karriere zu machen. Das hat sich für mich auch bestätigt. Ich war für Auseinandersetzungen geschult durch die
politischen Gespräche in meinem Elternhaus und durch großes Interesse für Geschichte. Ich las damals viele geschichtliche Romane, aber auch die 'Kulturgeschichte der Neuzeit' von Friedell oder die 1936 erschienene 'Kritische Weltgeschichte' von Alphons Nobel. So war ich häufig in der Lage, dem Geschichtsbild der Nazis kritisch etwas entgegen zu setzen. Es kam zu teilweise lebhaften Auseinandersetzungen, manchmal auch zu barschen Zurechtweisungen, doch behielt ich auch bei ihm meine Eins in Geschichte. Das größte Problem war für mich Studienrat Bartsch, der bei uns Mathematik, Physik und zeitweise auch Chemie unterrichtete. Mein Schicksal lag sozusagen in seiner Hand und er hatte aus unerfindlichen Gründen etwas gegen die Althoffs. Er hatte schon meinen Bruder Wolfgang nicht gemocht und ihm Schwierigkeiten bereitet. Der war jedoch als zukünftiger Chirurg naturwissenschaftlich interessiert, während Herr Bartsch keine Schwierigkeiten hatte, mich als ziemlichen Ignoranten vorzuführen. Auf Obersekunda hatten wir einen erstklassigen Pädagogen in Mathematik, bei dem ich plötzlich fast alles verstand; Herr Bartsch war da weniger begnadet. Wie auch immer. Paul Bartsch stand zwischen mir und der Aussicht, durchs Abitur zu kommen. Als in Unterprima ein viertägiger Klassenausflug geplant wurde, der entlang der frischen Nehrung führen sollte, machte ich die Klasse mit meinem Plan bekannt, mich in dieser Zeit fast ausschließlich auf die Person Bartschs zu konzentrieren. Das wurde verstanden und gebilligt. Ich wich in diesen Tagen kaum von seiner Seite. Ich erfuhr viel von seinen, er noch mehr von meinen Ansichten. Er wagte es sogar, mir seine Abneigung gegen den Nationalsozialismus zu offenbaren. Nach diesen vier Tagen waren wir ein Herz und eine Seele. Nun kam ich nur dran, wenn ich mich ausnahmsweise meldete. Meine Arbeiten wurden unter dem Gesichtspunkt der Milde korrigiert. Seine Zuneigung hat sich in einer auch für ihn gefährlichen Situation bewährt, von der noch zu berichten sein wird. In der neuen Untersekunda lernte ich Hannes Ewald kennen. Wir saßen, nur durch einen Gang getrennt, nebeneinander und waren uns anfangs von Herzen zuwider. Sticheleien gingen hin und her; er war wohl der bessere Stichler; jedenfalls trieb er es soweit, daß ich in der Lateinstunde wutentbrannt meinen Stuhl ergriff und damit zum Gaudium der Klasse auf ihn losging. Studienrat Pischke, 'Papa Pi', erstarrte zur Salzsäule. Das war ihm offensichtlich noch nicht vorgekommen. Der Stuhl war schon auseinandergegangen, als er uns trennte. Beide bekamen wir einen Verweis und das Gebot, den Stuhl schnellstens zu reparieren. Über dieser Aufgabe wurden wir zu Freunden und waren fortan fast unzertrennlich. Er trat den Neudeutschen bei, denen übrigens indessen auch mein Bruder Wolfgang angehörte. Hannes kam aus einfachen Verhältnissen. Den Vater, der Kellner gewesen sein soll, habe ich möglicherweise nie kennengelernt. Die Mutter kam aus der Kaschubei, war rund, deftig und sehr herzlich. Wer sich ein Bild von ihrem Wesen machen will, findet es, wenn er das erste Kapitel der 'Blechtrommel' aufschlägt und dort der Großmutter Anna Bronski begegnet. Unsere Mütter waren für den jeweils anderen vorzügliche Ergänzungen. Hannes zog es zu meiner Mutter, mit der er sich über geistige Themen unterhalten konnte und die sich ein bißchen um seinen 'Schliff' bemühte. Mich zog es umgekehrt zur Mutter Ewald und zur urgemütlichen Atmosphäre in dieser Wohnung. Wir Freunde wurden uns als Gesprächspartner ungeheuer wichtig. Unsere Gespräche fanden nie ein Ende. Immer wieder begleiteten wir uns gegenseitig nach Hause, machten dort kehrt und gingen wieder zum anderen zurück, wobei wir alle Welträtsel besprachen. Uns einte besonders unsere Ablehnung der Nazi-Ideologie, worin wir uns nun in der Klasse gegenseitig stützen konnten. Die Freundschaft hat sich mit Unterbrechungen bis heute erhalten.
15 Zwischen mir und dem Abitur stand jedoch noch ein anderes schweres Hindernis. Ich war nicht in der HJ. Indessen hatten sich nämlich die Verhältnisse im Freistaat Danzig denen im Reich immer mehr angeglichen. Der Hohe Kommissar des Völkerbundes Gravina war durch den Schweizer Carl Burckhardt abgelöst worden, der neben vielen anderen auch ein Buch 'Meine Danziger Mission' geschrieben hat. Tatsächlich war er, nachdem Hitler aus dem Völkerbund ausgetreten war, machtlos und unfähig, die weitgehende Angleichung Danzigs an die Verhältnisse im Reich zu verhindern. Der ursprünglich freiwillige Arbeitsdienst wurde zur Pflicht, die HJ zur Staatsjugend. Schon längere Zeit waren viele junge Menschen, vor allem Abiturienten, ins Reich gegangen, um dort freiwillig den Wehrdienst abzuleisten. Die Reichsprogromnacht fand, wenn auch weniger brutal, auch in Danzig statt. In Zoppot merkte man nichts davon. Viele, ich hoffe die meisten, jedenfalls alle uns bekannten Juden verließen spätestens nun den Freistaat. So wurde es Pflicht, der Hitlerjugend anzugehören. Also nahm mich Herr Gall beiseite, um mir klipp und klar mitzuteilen, daß ich zum Abitur nicht zugelassen würde, wenn ich ihr nicht beiträte. Mir wurde angeboten, in der Rundfunkspielschar mitzumachen, weil sich meine rezitative Begabung herumgesprochen hatte und wohl auch, um mir den Eintritt zu versüßen. Ab dem vierzehnten Lebensjahr stand mein Berufswunsch nun endgültig fest: Ich werde Schauspieler und vielleicht auch Regisseur. Mit ausschlaggebend für diese Entscheidung war eine Aufführung von Shakespeares Hamlet am Preußischen Staatstheater, die ich mit meiner Mutter besuchte. Heute noch, nach fast sechzig Jahren steht mir diese großartige Inszenierung vor Augen. Gustav Gründgens in der Titelrolle: er steht am Bühnenrand und spricht das 'Sein oder nicht Sein'. Eigentlich flüstert er es nur, aber dank seiner genialen Sprechtechnik versteht es jeder in dem Riesenraum. Hilde Weissner als Königin, Walter Frank als Claudius, Käthe Gold als Ophelia, Aribert Wäscher als Polonius, Hans Brausewetter als Rosenkranz und so weiter und so weiter. Ein zweiter unvergeßlicher Eindruck war später dann das Gastspiel des deutschen Theaters mit der Hilpert-Inszenierung von Schillers Don Carlos in unserem vom Volksmund 'Kaffemühle' genannten Staatstheater, mit Albin Skoda in der Titelrolle, Ewald Balser als Posa und Theodor Loos als Philipp. Eifrig wühlte ich in den Bänden von 'Velhagen und Klasings Monatsheften', die meine Eltern wohl gleich nach der Hochzeit abonniert hatten - jedenfalls begannen die kompletten kostbar gebundenen Jahrgänge mit dem Jahr 1912. Hier suchte ich vor allem nach Schauspielkritiken, lernte auf diese Weise Inszenierungen von Reinhardt, Piscator, Fehling und anderen kennen. Nebenbei las ich dann auch noch Novellen von den vielen jüdischen Schriftstellern der Systemzeit und
verschaffte mir so literaturgeschichtliche Kenntnisse, die unserem zwar sympathischen, jedoch stramm nazistisch orientierten Studienrat Gall wohl nie begegnet sein dürften. Eine Kritik ist mir noch in Erinnerung geblieben, es war der Verriß eines Stückes von Klaus Mann, in dem außer dem Autor Erika Mann, Pamela Wedekind und ein 'mäßig begabter Schauspieler namens Gustav Gründgens', erwähnt waren. Das muß 1929 oder 1930 gewesen sein.
Diese Interessen und eine angenehme Baritonstimme machten mich zu einem recht brauchbaren Mitglied der Rundfunkspielschar. Freund Hannes Ewald nahm ich mit, obwohl er weder musikalisch noch rezitatorisch etwas vorzuweisen hatte, was er jedoch geschickt kaschieren konnte. Daß ich als Mitglied dieser Rundfunkspielschar eigentlich ein Propagandainstrument der Nazis bediente, hat mich damals wohl nicht mehr gestört. Ich konnte vorm Mikrophon deklamieren und singen, außerdem konnte ich mein Taschengeld durch kleine Reportagen aufbessern. Anläßlich einer Staatsjagd für das konsularische Corps interviewte ich sogar den Senatspräsidenten Greiser, der nicht schlecht gestaunt hätte, wenn er gewußt hätte, wer ihn da ausfragt. Einmal hatten wir die sogenannte deutsche Trauung des HJ-Gebietsführers und Oberschulrats Schramm im Danziger Rathaus zusammen mit der weiblichen Rundfunkspielschar künstlerisch zu umrahmen. Es ging alles furchtbar blut- und bodenmäßig und zackig zu. Die Leiterin der weiblichen Spielschar, ein nettes Mädchen, das beim BDM (Bund deutscher Mädel) schon einen höheren Rang einnahm, gestand mir vertraulich, unter dem Eindruck dieser Trauung hätte sie beschlossen, sich später doch kirchlich trauen zu lassen. Einmal hatten wir eine Sendung zu 'Führers Geburtstag' zu gestalten. Die Einstudierung übernahm der Rundfunkintendant persönlich. Wie üblich fiel mir die Rolle als Sprecher zu. Ich kann mich noch heute an die Regieanweisung des Intendanten erinnern: "Stellen Sie sich vor, Sie gehen auf einer Straße und dann um eine Ecke und ganz plötzlich steht der Führer vor Ihnen." Dann hatte ich ein Gedicht zu sprechen, dessen erste Strophe so lautete: 'Mich traf dein fordernd Anruf eben als ich an mir verzweifeln wollt Was alles hast du mir gegeben Nimm mich doch ganz in deine Huld'
Ich finde, dieser Vers, wohl besser als ein Gebet aufzufassen, gibt mehr Aufschluß über den nationalsozialistischen Mythos als manches dicke Buch zu diesem Thema. Hitler, der persönliche Erlöser. Die Bedeutung dieses Textes war mir damals durchaus bewußt. Ich habe ihn dennoch, wahrscheinlich recht pathetisch, wie damals Mode, deklamiert. War ich ja doch nur ein Schauspieler, der sich den Text nicht aussuchen konnte, den er zu sprechen hatte. Einmal sind wir auch mit beiden Spielscharen zu einem Treffen nach Berlin gefahren. Ich bekam so Baldur von Schirach, den Reichsjugendführer und auch den Reichspropagandaminister Josef Goebbels zu sehen. Das war wenig wichtig. Wichtig war, daß einer unserer begabtesten und engagiertesten Spielscharmitglieder zu seinem Kummer nicht mitdurfte. Wegen einer spinalen Kinderlähmung war er leicht gehbehindert. Das genügte; ein 'Krüppel' wurde nicht vorgezeigt. Das wichtigste persönliche Erlebnis dieser Reise war freilich, daß mich ein hübsches BDM-Mädchen mit den Worten: "Du da, mit dem Kußmund!" anmachte, wie man heute sagen würde. Ich war immer noch zu blöde, darauf einzugehen, doch immerhin schien ich für Mädchen interessant zu werden. Meine Abneigung gegen den Nationalsozialismus änderte sich nicht. Doch blieb man weiterhin Deutscher und als solcher empfand man weiterhin den Versailler Vertrag als Schande und die Trennung Danzigs vom Reich als Unrecht. Auch wenn wir gegen die Polen, die als Erntearbeiter, als Eisenbahnpersonal, Wochenmarktbelieferer, auch als Zoppoter Kurgäste mit uns in Berührung kamen, keinerlei persönliche Antipathien entwickelten. Für das gespaltene Bewußtsein auch derer, die in Opposition zum Nationalsozialismus standen, mag eine Familiendebatte stehen, die sich entspann, als das Saarland 1935 'Heim ins Reich' geholt wurde, wie es im Naziton hieß, sich also über neunzig Prozent der Bevölkerung für den Anschluß an Deutschland entschieden hatten. Wir als Danziger mit dem gleichen Trennungsschicksal behaftet, freuten uns mit den Saarländern. Alle Straßen, auch die in Zoppot waren reich beflaggt. Nach langem Hin und Her kauften wir uns eine Hakenkreuzfahne im Format eines kleineren
Handtuches und befestigten diese an unserem Balkon. Es war das einzige mal, daß wir je geflaggt haben. Was schwebte eigentlich meinem Vater und seinen Freunden als Zukunftsvision vor, wenn die Naziherrschaft einmal überwunden sein würde? Zu unseren engsten Freunden gehörte das Ehepaar Prill. Hilde Prill, von meiner Mutter liebevoll 'die kleine Frau' genannt und von Bruder Wolfgang und mir pagenhaft verehrt; Felix Prill, Regierungsrat in der Finanzverwaltung und damals als bekennender Katholik und Zentrumsmann ohne Aufstiegschancen. Es muß so um 1940 gewesen sein, als Felix mir auf einem Spaziergang versicherte, daß für ihn und seine Freunde so eine 'Quatschbude' wie ein Parlament nicht mehr in Frage käme. Die Parteien hätten sich als unbrauchbar erwiesen, eine staatliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Was ihm und seinen Freunden vorschwebte, war die Wiedererrichtung des vorrevolutionären Ständestaates im Sinne der päpstlichen Enzykliken 'Rerum novarum' und 'Quadragesimo anno'. Wie hieß doch ein damals noch geläufiger Abzählvers: 'Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann'. Felix Prill beendete seine Nachkriegskarriere als deutscher Botschafter in Irland.
16 So kam mein Abitur näher. Der Leiter unserer Schule war damals Oberstudiendirektor Dr. Gohlke, ein Nazi, aber auch wohl eher ein schwacher denn ein schlechter Charakter. Wenn alle Schüler sich zur vorgeschriebenen montäglichen Morgenfeier versammelten, pflegte er die deutschen Märchen im Sinne nationalsozialistischer Ideologie zu interpretieren, was nicht nur mir erheblich auf die Nerven ging. Doch schien er mir persönlich nicht ohne Wohlwollen zu begegnen. Einige Monate vor der Abiturprüfung wirkte ich bei einem künstlerisch gestaltetem Elternabend mit. Es handelte sich um die melodramatische Fassung von Gottfried Bürgers Riesenballade 'Lenore', mit Liszts musikalischer Untermalung. Ich donnerte den Text, während unser Musiklehrer, Herr Paetsch, meine Darbietungen am Klavier begleitete. Lehrerschaft und Publikum waren von unserer Vorführung sichtlich angetan. Dr. Gohlke nahm mich anschließend bei Seite und machte mir folgende Eröffnung: Er kenne nun meine Fähigkeiten, wisse von meiner einseitigen Begabung für die Geisteswissenschaften und um meine Schwäche in den Naturwissenschaften. Ich sollte also zusehen, mich im Jahresfortgang hier so gut wie möglich zu behaupten. Er verspreche mir, daß ich in keinem naturwissenschaftlichen Fach mündlich geprüft würde. Es sollte jedoch ganz anders kommen. In Physik, Chemie und Biologie hatte ich es mit gütiger Unterstützung von Herrn Bartsch auf ein knappes 'genügend' gebracht. In der schriftlichen Mathematikprüfung gelang es mir immerhin, eine Aufgabe zu lösen, was ein 'mangelhaft' bedeutete, mit dem ich gerechnet hatte. Welcher Teufel jedoch ritt mich, in meinem Deutschaufsatz mit dem Thema: 'Der Dichter als Führer durch das Leben' Gohlkes Märchendeutungen fast zu veräppeln, und als Beispiel für Leute, die nicht nur Verse machen, sondern mit dreißig schon aus ihrem Leben berichten, ausgerechnet den Reichsjugendführer Baldur von Schirach aufs Korn zu nehmen und dessen Verse, vor allem aber seine bereits erschienene Autobiographie durch den Kakao zu ziehen. Wollte ich zu diesem Anlaß meine unverändert oppositionelle Gesinnung bekennen? Am wahrscheinlichsten bleibt jugendliche Wichtigtuerei und Verkennung des Ernstes der Lage. Hannes und ich hatten außerdem die Frechheit, als einzige bei der mündlichen Prüfung in Zivil und nicht in HJ-Uniform aufzutreten. Diese Prüfung begann nun tragikomisch. Hannes Ewald und ich hatten uns schon um halb neun vorm Zeichensaal verabredet, wo die Prüfung eröffnet werden sollte, um nur nicht zu spät zu kommen. Beide hatten wir jedoch übersehen, daß der offizielle Teil schon um acht Uhr begonnen hatte. Ich erschrak, als mir mein Irrtum klar wurde, klopfte an die Tür des Zeichensaales, hörte drinnen ein zackiges 'Achtung' und als ich eintrat, sah ich vor mir den Schulrat und Obergebietsführer Schramm und die Klasse in strammer Haltung mit zum deutschen Gruß erhobenem Arm mich begrüßen. Herr Schramm lief rot an und konnte nur noch ein 'Raus !' ächzen, währen meine Klassenkameraden sich ein Grinsen nicht verkneifen konnten. Die zackige Begrüßung hatte dem angesagten Kultursenator Boek gegolten. Als ich wieder draußen stand, kam Freund Hannes gemächlich die Treppe hochspaziert. Ich sagte zu ihm: "Wenn du etwas Interessantes erleben willst, brauchst du nur anzuklopfen und 'reinzugehen." Dann freilich hörte jeder Spaß auf. Schramm nahm mich anschließend beiseite, behauptete, ich hätte diese Sache bewußt inszeniert, um ihn und die HJ lächerlich zu machen, zitierte einige Sätze aus meinem Aufsatz, die er sich gut gemerkt hatte und entließ mich mit den Worten: "Nun, wir sehen uns ja noch." Und so war es dann auch. Außer in meinem Wahlfach Deutsch wurde ich entgegen
Gohlkes Versprechungen in Biologie, Physik und Chemie, Unterrichtsfächern des Herrn Schramm, mündlich geprüft. Unglückseligerweise habe ich ihn dann noch einmal provoziert. Als ich auf die Frage, zu welchem Thema ich in Deutsch sprechen wollte sagte: "George", rief er empört und höhnisch: "Was soll das, über diesen Schauspieler zu reden?!" Er mußte sich belehren lassen, daß es sich um den ihm wohl unbekannten Dichter Stefan George handelte. Herr Schramm war bei jeder Prüfung dabei. Das Lehrerkollegium, ob Nazi oder nicht Nazi, war mit einer mich heute noch dankbar stimmenden Geschlossenheit bemüht, mir zu helfen. Dennoch war es nicht schwer, mich 'reinzulegen. Nach einer mißlungenen Prüfung in Chemie nahm der Lehrer mich beiseite und sagte mir: "Lernen sie vier Basen auswendig. Ich werde beantragen, Sie nochmals zu prüfen und Sie dann nichts anderes fragen." Dazu kam es nicht mehr. Ich konnte mir leicht ausrechnen, daß ich durchgefallen war. Aber wieder kam es anders. Bei der Abschlußkonferenz erhob sich mein Klassenlehrer Paul Bartsch und machte dem Schulrat im Namen aller Kollegen den Vorwurf, er habe mich nicht objektiv, sondern beeinflußt geprüft. Damit war ich doch durchgekommen. Für meinen Aufsatz, von Schramm als 'mangelhaft' bewertet, kämpfte Frontgeist Schröder so lange, bis man ihn zur Note 'gut' angehoben hatte. Vier Jahre später habe ich ihn, nun etwas gereifter, noch einmal lesen können; eine bessere Note als 'gut' hat er gewiß nicht verdient. Noch eine Erinnerung erscheint mir wichtig, als Beweis dafür, wie junge Menschen auch damals gegen eine ihnen unsinnig erscheinende Bestimmung protestieren konnten, selbst wenn sie mit der dahinter stehenden Weltanschauung einverstanden waren. Bisher war es üblich gewesen, daß die Abiturienten nach bestandener Prüfung sich mit einer speziellen Mütze schmückten, die den Studentenmützen nachempfunden war. Das wurde für unseren Jahrgang kurzfristig verboten. Waren doch die Burschenschaften längst aufgelöst und die Studenten im NS-Studentenbund zwangsorganisiert worden. Wir wußten uns zu helfen und gleichzeitig zu protestieren. Jeder Abiturient und auch Klassenleiter Bartsch besorgte sich einen Homburg, volkstümlich auch Koks genannt und so zogen wir durch Zoppots Straßen und auf den Abiturientenball im Zoppoter CasinoHotel. Dort trafen dann meine Eltern mit Dr. Gohlke zusammen, der sich mit seinen Verdiensten um mich bei der Abiturprüfung brüstete. Meine Eltern lächelten milde, sie wußten ja Bescheid. Vielleicht hat er sich immerhin neutral verhalten.
Das Grand Hotel in Zoppot, ehemals Casino-Hotel.
Fünf Jahre nach dem Kriege habe ich ihn wieder aufgespürt, er war an einem Gymnasium als Studienrat untergekommen. Mein Abiturzeugnis war untergegangen und ich bat ihn um eine eidesstattliche Erklärung in dieser Sache. Er schickte sie mir postwendend zu. Er hatte mich keineswegs vergessen, das war aus dem unterwürfigen Ton seines Begleitbriefes zu ersehen. Ich
müßte doch wissen, daß er nie ein wirklicher Nazi gewesen sei, und so weiter. Ich habe mich für ihn geschämt und den Brief weggeworfen.
17 So bin ich mit meinen Erinnerungen im Monat April des Jahres 1939 angelangt. Bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges sind es nur noch fünf Monate. Die Jugendzeit ist zuende. Sie wurde von drei Mythen geprägt. Mythen nenne ich sie deswegen, weil sie in Traditionen verwurzelt sind, die aus der tiefen Vergangenheit kommen. Man könnte auch von Archetypen sprechen. Ich meine die Familie, das Deutschtum und den Katholizismus. Die Familie war längst brüchig geworden. Wir alle kannten die Bruchstellen und verleugneten sie so gut es ging. Mutter schaffte es, für Söhne, Schwiegertöchter und Enkelkinder über diesen Bruchstellen ein Familienglück zu inszenieren, so überzeugend, daß man es fast für die Wahrheit halten konnte. Meine kurzfristig und kurzsichtig geschlossene Ehe ist sechzehn Jahre später zerbrochen. Ich litt weniger unter den Anlässen, die dazu führten, als am Zerbrechen dieses Mythos, für dessen Weiterbestehen ich zu Opfern bereit gewesen wäre. Daß dies nicht ging, schaffte mir Schuldgefühle, die rational gesehen, geradezu widersinnig waren und nur durch die Trauer um die Zerstörung der Familie als Mythos erklärbar sind. Das Deutsche nenne ich meinen väterlichen Archetypus. Sein Entstehen habe ich darzustellen versucht. Das hatte viel mit Sprache, Kultur und Geist zu tun und gar nichts mit Rasse oder Religion. Ohne Juden und deren geistigen Beitrag zur Kultur ist Deutschland nicht mehr das Deutschland meiner Väter. Nationalismus und Rassismus hat es zerstört. Es kann sich keine Ergriffenheit mehr einstellen, wenn ich an Deutschland denke. Anders verhält es sich mit dem Katholizismus. Er vertritt in meiner Erinnerung das Mütterliche; dort fand ich Trost in Angst und Vergebung, wo ich Unrecht tat, und nicht gleich Prügel oder Mißachtung. Schwierigkeiten hatte ich mit der jungfräulichen Mutter Gottes. Sexualität ist Sünde, Verlust der Reinheit, aber so hat meine wirkliche Mutter ja auch gedacht. Die Magna Mater, die vielbusige Artemis, die Mutter-Gottheit verkümmerte schon im Altertum zur keuschen Jungfrau, so auch in mir, bis ich mich befreite. Als ich mir eingestehen mußte, daß ich vom Credo der Messe so gut wie keinen Vers mehr glauben konnte, habe ich Mutter Kirche verlassen. Ich bin ihr entwachsen. Sie irrte in zu vielem. Doch bleibt mir mit eurem esoterischen Geschwafel vom Leibe, in dem ihr den Glauben der Väter aufzulösen versucht. Ich denke mit Liebe zurück und wenn ich manchmal Angst habe, mache ich heimlich ihre magischen Zeichen, die so schön beruhigen.
18 Ich mußte nun erst einmal in den Danziger Arbeitsdienst, der sich vom Reichsarbeitsdienst in nichts unterschied. Obwohl wegen guter körperlicher Konstitution dem Dienst und den Wehrübungen gut gewachsen, erschien mir die Sache zu stumpfsinnig. Unsere Arbeitstätigkeit bestand vor allem darin, Birken anzuzapfen und aus ihnen das Harz zu sammeln. Also simulierte ich eine Blasenentzündung und ein uns bekannter Urologe bestätigte freundlich den Befund, nicht ohne darauf hinzuweisen, daß möglicherweise mit Rentenansprüchen gerechnet werden müßte. So konnte ich mich im Juni 1939 als Student der Germanistik an der Technischen Hochschule DanzigLangfuhr inskribieren. Indessen hatte mich jedoch meine Vergangenheit auf etwas unheimliche, ja bedrohliche Weise eingeholt. Als Student gehörte man praktisch automatisch dem 'Nationalsozialistischen Studentenbund' an. Damit endete natürlich meine Mitgliedschaft bei der Hitlerjugend.
Also ging ich zur Gebietsführung, um mich ordnungsgemäß abzumelden. Dort wurde mir mitgeteilt, daß ich nie der HJ angehört hätte. Mein Hinweis auf die Mitgliedschaft bei der Rundfunkspielschar wurde einfach nicht zur Kenntnis genommen. Ich brauche mich nicht zu bemühen, ich sei nie in der HJ gewesen und damit Schluß der Debatte. Zum ersten Mal spürte ich den kalten Hauch der Diktatur, die bestimmt, was wahr ist und was nicht. Die Nazis hatten mich ins Visier genommen, Obergebietsführer Schramm mich keineswegs vergessen. Die Zeit der frechen Aufsätze war vorbei. Lag es vielleicht auch daran, daß ich mich, wie die meisten Kommilitonen auch, schon einen Monat später freiwillig zur deutschen Wehrmacht meldete? Sicher kaum, denn daß die Wehrmacht ein relativ sicherer Hort gegen Verfolgungen der geheimen Staatspolizei war, kann ich damals noch nicht gewußt haben. Danzig gehörte zu Deutschland, so dachten wir alle, gleich welcher Partei. Der Mythos des Vaterlandes steckte tief in uns, für sein Vaterland hatte man zu kämpfen, ohne Rücksicht darauf, welche Regierung gerade herrschte. Die tiefste Demütigung, die der Versailler Vertrag dem deutschen Volk als Gesamtheit zugefügt hatte, war die Abtretung Westpreußens, Posens und großer Teile Oberschlesiens an Polen. Das haben alle so empfunden. Daß es zum Krieg kommen würde, war eigentlich seit der Aufkündigung des Deutsch-Englischen Flottenabkommens und des Deutsch-Polnischen Nicht-Angriffs-Paktes vom 27. April 1939 jedem klar, der nur einigermaßen politisch denken konnte. So erschien die Aufstellung eines Danziger Regiments Juli 1939 als konsequent und keiner wunderte sich eigentlich darüber. Auch war die Annäherung zwischen Deutschland und Rußland von dem Augenblick an durchsichtig, als Hitler aufhörte, auf den Bolschewismus zu schimpfen. Als es dann, unser Regiment lag schon
abmarschbereit im Jeschkentaler Wald, zum Deutsch-Russischen Freundschaftsvertrag kam, waren die Würfel gefallen. Damals sangen wir nach der Melodie eines Schlagers von Paul Lincke: 'Ham Se' schon ein Hitlerbild, ham Se' schon ein Hitlerbild, nein, nein ich hab noch keins, Molotow besorgt mir eins'.
19 Wer sich das Soldatsein im zweiten Weltkrieg mit seinen zahlreichen Feldzügen vorstellt, wird vielleicht denken, die Soldaten, die wie ich von Anfang bis Ende an allen Fronten mitgemacht haben, diese 'Frontschweine' hätten nur selten Urlaub bei den Ihrigen verbringen können. Auf mich, wie auch wohl auf die meisten trifft das nicht zu. Zwischen den Feldzügen in Polen, Frankreich, auf dem Balkan waren ausreichend große Zwischenräume, die man in der Heimat verbrachte, wenn nicht gerade eine Neuorientierung nötig wurde, wie die Umrüstung unserer Einheit von einem Infanterie-Regiment in ein Panzergrenadier-Regiment. Hierzu wurde man auf einen Truppenübungsplatz verlegt wie Großborn oder Munsterlager, zwei gleichermaßen trostlose Stätten. Daß ich auch während des endlos langen Rußland-Feldzuges viel Zeit zuhause verbringen konnte, verdanke ich den drei Verwundungen, jeweils im Herbst der Jahre 1941, 1942 und 1943. So entging ich den russischen Wintern und schließlich auch dem Untergang der sechsten Armee bei Stalingrad. Wenn ich aber, ob auf Urlaub oder Genesung, zuhause war, konnte ich den Krieg fast vergessen. Mit allen seinen Vororten war Danzig bis Ende 1944 eine Oase des Friedens. Nie wurde dort ein feindliches Flugzeug gesichtet, nie gab es Alarm. Im Sommer 1944 standen in unserem Garten drei Wiegen mit den Erstgeborenen der drei Brüder, deren Frauen aus Berlin und Westfalen dort sichere Zuflucht vor den Bomben gefunden hatten. Man badete, segelte, flanierte, ging in Bars oder in das Spielcasino, wie im tiefsten Frieden. Der große Gemüsegarten, die Ostsee mit ihrem Fischreichtum schufen ausreichende Zukost zu den immer schmäler werdenden Rationen. Wenn ich später als junger Lehrer von den Schülern aufgefordert wurde, doch mal etwas aus dem Krieg zu erzählen, was in den fünfziger Jahren gar nicht so selten der Fall war, gab ich meistens Abenteuer zum Besten, in denen ich eine unfreiwillig komische Rolle gespielt hatte, und daran gab es anfangs des Krieges keinen Mangel. Unser Hauptfeldwebel, der Spieß der Kompanie hieß Karl Schöwe. Er hatte mich ungeheuer 'auf der Latte'. Was nicht unverständlich ist, denn ich war das Gegenteil eines strammen Soldaten. Mein Bemühen, nichts falsch zu machen, führte nur zu vermehrten Fehlleistungen. So trat ich zum Gaudium der Kameraden gelegentlich ohne Stahlhelm, einmal auch ohne Gewehr zum Appell an, worauf Schöwe rot anlief und mich vor der Front schliff. "Hinlegen", "Sprung auf marsch marsch", robben und andere entwürdigende Übungen waren an der Tagesordnung. Wenn die Kameraden dann ihre Sympathie zu mir zu deutlich zeigten, konnte es passieren, daß der erboste Spieß die ganze Kompanie schliff. Was Schöwe außerdem von den meisten Menschen unterschied, war eine auffallend große gurkenförmige Nase. Als 1941 vor Beginn des Frankreichfeldzugs unsere Kompanie ins hübsche Weindorf Dienheim bei Oppenheim verlegt wurde, wurden die ersten Beförderungen ausgesprochen. Alle Kameraden, die mit mir angefangen hatten, wurden Gefreite, nur ein Pferdebetreuer, der kaum lesen konnte und ich wurden zu Oberschützen befördert, dem niedrigsten aller denkbaren Dienstgrade. Eine Schändlichkeit, die ich dem Spieß verdankte, als Zeugnis meiner militärischen Qualitäten. Ich rächte mich mit meinen Mitteln. Ich hatte einen bunten Abend für das Batallion und die Bevölkerung zu organisieren, wobei ich die Conference übernahm; dazu war ich nämlich nicht zu dumm. Dabei erzählte ich einen Witz über einen Spieß und nach dem Lacher fügte ich beiläufig hinzu, "er hieß übrigens Gurken-Karl." Nach einem Augenblick des Schweigens brach das ganze Batallion in tobendes Gelächter aus. Der Mann hatte seinen Spitznamen weg. Selbst der Oberst von Groddeck, unser Regimentskommandeur, befahl seinem Adjutanten: "Schicken sie mir doch mal den Hauptfeldwebel, wie heißt er doch schnell, na ja, den Gurken-Karl, vorbei."
Nach dem Einsatz in Elsaß-Lothringen bekam ich das EK 2 und das Sturmabzeichen verliehen und wurde rückwirkend zum gleichen Zeitpunkt wie zum Oberschützen zum Gefreiten befördert. Später, nun schon Unteroffizier, traf ich im Zoppoter Kurcafé den alten Hauptmann Stiefvater, der indessen zu einem wohlverdienten Heimatposten abkommandiert worden war. Wir freuten uns, uns zu sehen, und er hat mir gestanden, daß er sich den Vorwurf mache, damals auf seinen Hauptfeldwebel gehört zu haben. Hier ist ein Wort vonnöten, über das indessen unmodern, ja fast anrüchig klingende Wort 'Kameradschaft'. Die Soldaten einer Einheit hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Ohne diesen Zusammenhalt gab es kein inneres und kein äußeres Überleben. Gegen die eigentlich entwürdigenden Befehle eines Schöwe gab es kein Mittel; man war wie ein Sklave dem schikanösen Druck des Unteroffiziercorps ausgeliefert. Einmal war es mir möglich, gegen einen besonders üblen Exzeß doch etwas zu unternehmen. Wir waren vor dem Balkankrieg in Bulgarien stationiert. Mein Gruppenführer Gast, ein ebenso mutiger
wie primitiver Typ, hatte abends gesoffen und ich hatte vergessen ihn zu wecken. Noch halb betrunken kam er angestürzt, rief mich heraus und schliff mich auf die typisch entwürdigende Weise. Mich allein hetzte er kreuz und quer über den Hof. Da bemerkte ich zwei bulgarische Soldaten, die über den Zaun hinweg diesem Schauspiel zuschauten. Auch Kameraden hatten sie bemerkt und wurden so zu Zeugen. Ich muckste nicht auf und ließ Gast sich austoben. Doch anschließend ging ich zum Kompaniechef, dem fähigen und auch menschlich anständigen Oberleutnant Schulz und erstattete dienstliche Anzeige gegen Unteroffizier Gast wegen 'Herabwürdigung des Ansehens der deutschen Wehrmacht'. Trotz Drohungen des gesamten Unteroffiziercorps, man würde mich fertigmachen, hielt ich meine Anzeige so lange aufrecht, bis Gast sich vor der ganzen Kompanie bei mir entschuldigt hatte. Man hat mit mir solche Mätzchen nie mehr versucht. Offiziell wurden diese Schikanen als Mittel der Erziehung zur im Kriege notwendigen Anpassung an die Befehle und zum Ertragen von Strapazen gepriesen. Die Rechtfertigung des übrigens genauso zusammenstehenden Unteroffizierscorps hieß, wir haben dasselbe durchmachen müssen, und es hat uns auch nicht geschadet. So galt es für die Mannschaft, genauso stur zu reagieren. In meiner Kompanie war eine große Anzahl der Rekruten Studenten. Wenn wir auf dem Kasernenhof in Danzig-Langfuhr bis zur Erschöpfung geschliffen worden waren, begannen wir die polnische Nationalhymne auf Deutsch zu singen 'Noch ist Polen nicht verloren'. Dagegen war nun Schöwe wieder machtlos. Im Kriegseinsatz - das Wort 'im Felde' oder gar 'auf dem Felde der Ehre' fand sich nur in Reden oder auf Todesanzeigen wurde der Zusammenhalt Voraussetzung fürs Überleben schlechthin. Einer für alle, alle für einen hieß, wer sich verteidigte, verteidigte die anderen mit und umgekehrt. Wer verwundet liegen blieb wurde herausgeholt, und wenn Kameraden dabei zu Tode kamen. Stets hing das eigene Leben von der Bereitschaft der anderen ab, ihr Leben dafür einzusetzen. Man hat sich später darüber lustig gemacht, daß Bauarbeiter, Studienräte, Patres, Universitätsprofessoren, Leute, die sich in ihrer Lebensform inzwischen weit voneinander entfernt hatten, bei solchen 'Kameradschaftstreffen' mit Kriegskameraden sich aufführten, als wären sie noch immer Soldaten: gröhlten, weinten, sich besoffen, sozusagen auf die archaische Urform der Gruppe regredierten. Ich habe das zwar nie mitgemacht, meine Kameraden waren ja auch tot oder in russischer Gefangenschaft, aber verstanden habe ich es schon. War man doch im Kriege oft wochenlang in der Lage von Teilnehmern einer alpinen Seilschaft, die in schweres Wetter gekommen ist. Da kann keiner ohne den anderen überleben und die Rettung aller hängt von jedem einzelnen ab. Dazu kommt hier wie dort die Nähe des Todes, die ein gesteigertes Lebensgefühl, vielleicht gefördert durch andauernde Adrenalin-Ausschüttung hervorruft, welches im bürgerlichen Leben nie oder nur ganz selten vorkommt. Dies darzustellen heißt jedoch keineswegs, es wie Ernst Jünger zu verherrlichen. Denn natürlich war dennoch jeder froh, wenn er den berühmten 'Heimatschuß' abbekam. War da doch das Grauen, die Angst, der Dreck, die Hoffnungslosigkeit und am Ende dann nur noch der Wunsch, das sinnlose Morden zu überleben. Das alles gilt so ausgeprägt jedoch nur für den Rußlandfeldzug. In Polen und Frankreich dauerte der Einsatz jeweils nur etwa drei Wochen. Im Balkanfeldzug hatten wir so gut wie keine Feindberührung.
20 Anfang September 1939 überschritt unser Regiment die polnische Grenze und beteiligte sich an der Einnahme des polnischen Hafens Gdingen.
Der Widerstand war nicht übermäßig groß, so daß wir bald in die Stadt eindringen konnten. Im ganzen Polenkrieg war ich nie mehr als zehn Kilometer Luftlinie vom Elternhaus entfernt. Am Tag nach der Einnahme wurde unsere Kompanie zur Bewachung von Zivilisten abkommandiert. Die SS oder wer auch immer hatte alle Männer der Stadt auf einen Platz getrieben, auch Kranke, Hilflose, Alte und Gebrechliche. So standen etwa dreitausend Männer eng zusammengedrängt und wir hatten sie einen ganzen Tag lang zu bewachen. Sie bekamen weder etwas zu essen noch zu trinken. Wir Soldaten bewachten also keine Gefangenen, sondern wehrlose Männer, die keinem von uns etwas getan hatten. Ich nehme heute an, daß sie ohne ihre Familien nach Zentralpolen weggeschafft oder genauer verschleppt worden sind. So waren wir Handlanger eines Systems geworden, wir mußten ohne Rücksicht auf Kriegsrecht und Konventionen wehrlose Menschen bis zur Verschleppung bewachen und wurden so gleich bei Kriegsbeginn Teil einer perfekt funktionierenden Maschinerie zur Menschenvernichtung. Ich werde im Laufe meines Berichts auf weitere Erlebnisse dieser Art zurückkommen. Die deutsche Wehrmacht hatte mit Beginn des Polenfeldzugs die eigene Soldatenehre aufgegeben und sich zum Vollstreckungsorgan eines unmenschlichen Systems mißbrauchen lassen. Weniger vielleicht wie die anderen Organisationen des Nazisystems, aber dennoch oft genug. Dies alles war mir damals nicht so voll bewußt. Doch obwohl ich gerade erst neunzehn Jahre geworden war, graute mir vor diesem System. Wenige Tage später schritt Hitler die Front der Truppen ab. Ich stand im ersten Glied. Der Abstand zu Hitler betrug für wenige Sekunden nur etwa ein bis zwei Meter. Sein Anblick hat mich nicht sonderlich beeindruckt. Mich beschäftigte vielmehr der Gedanke, daß ich ihn hätte töten können. Handgranaten hatten wir alle, kein Vorgesetzter hat uns vorher nach irgendwelchen Waffen durchsucht. Granate abziehen, auf ihn zuspringen, trotz Schüssen an ihm festgeklammert bleiben, mit ihm zerfetzt werden. Das wäre der Weg gewesen, den Tyrannen zu beseitigen. Ich war zu jung und hing am Leben. Was wäre bei nationalsozialistischer Sippenhaftung auch aus meiner Familie geworden. Lag es an meinem Hang zur Dramatik? Verfolgt hat mich der Gedanke während des ganzen Krieges und darüber hinaus. Ich war kein Held, wohl später ein brauchbarer, erfahrener Soldat, ein Held nur in der Phantasie und später auf der Bühne. Als wir dann später als Sieger, nun mit Beifall, vielleicht auch mit Jubel begrüßt, in Danzig einmarschierten, stand auch mein Vater am Straßenrand. Nachdem sich der Verband aufgelöst hatte und ich mit ihm nun endlich nach Hause fahren konnte, fragte er mich doch tatsächlich, warum ich noch kein Eisernes Kreuz verliehen bekommen hätte. Dies nach bestenfalls zehn Tagen Einsatz! Ich habe ihm diese vaterländische Frage ziemlich übel genommen.
Am 19. September zog Hitler mit großem Pomp und vom Volke mit Jubel begrüßt in Danzig ein. Er fuhr die festlich geschmückte Langgasse entlang auf den Langen Markt zu, den man getrost als einen der architektonisch schönsten Plätze der Welt bezeichnen kann. Ich stand in Zivil an der Straße und schaute dem Schauspiel zu. Warum Göring, damals preußischer Ministerpräsident und Kommandeur der Luftwaffe, zu Fuß dicht an mir vorbeigegangen ist, ist mir bis heute schleierhaft. Doch ich kann schwören, er war wenige Meter von mir entfernt und ich sah sein Gesicht, und das Gesicht war geschminkt. Göring war ja eine der schillerndsten Figuren der Naziführungsclique. Er war dick, genußsüchtig, manchmal schien er gutmütig, spielte den Jovialen und war oft extrem grausam. Er war prädestiniertes Objekt des Witzes, der einzigen Waffe des Volks gegen die Unterdrücker. Zwei Kostproben: Beim Brand des deutschen Reichstages stürzt ein Adjutant zu ihm ins Zimmer und ruft: "Herr Ministerpräsident, der Reichstag brennt!" Görings Antwort: "Was, jetzt schon?" Er hatte die Schauspielerin Emmy Sonnemann geheiratet. Einige Zeit später kam die Tochter zur Welt, sie hieß Edda, für der Volksmund die Abkürzung von 'Emmy dankt dem Adjutanten'. Im Deutsch-Russischen Vertrag waren die baltischen Staaten dem Einflußbereich Sowjet-Rußlands zugesprochen worden. Ab November begann nun der Exodus der Balten-Deutschen aus ihren angestammten Gebieten Lifland, Estland und Kurland, der ehemaligen Provinz des russischen Reiches, wo sie als kulturelle und wirtschaftliche Oberschicht riesige Herrensitze bewirtschafteten und im Dienst der Zaren zu hohen Ämtern aufgestiegen waren. Nun wurden sie 'heim ins Reich' geholt, das heißt, sie wurden dort angesiedelt, wo man vorher die Polen vertrieben hatte. Bei uns in Zoppot wurde über einige Monate ein Pfarrersehepaar mit zwei erwachsenen Töchtern einquartiert. Lebensmittel waren damals schon rationiert und so bestaunten wir fast ehrfürchtig ihre mitgebrachten Vorräte. Am meisten beeindruckte ein kistengroßer Quader durch Salz haltbar gemachter Butter, der mindestens fünfzig Kilogramm gewogen haben muß. Dazu kamen große Mengen Honig. Marmelade war nicht dabei, so etwas aßen nicht die Herrschaften, sondern nur das Gesinde. Es waren hochgebildete Leute mit vornehmer Zurückhaltung und erstklassigen Manieren, so daß selbst meine Mutter beeindruckt war. Die eine Tochter war Bildhauerin, die andere Pianistin. Bruder Klaus, der damals gerade sein Studium als Arzt beendete, und ich führten die Töchter aus und zeigten ihnen das Zoppoter Nachtleben. Unvergeßlich bleibt mir der Abend, bevor ich wieder einrücken mußte. Ich lag im verdunkelten Biedermeierzimmer auf dem Sofa. Vom Herrenzimmer klang gedämpft die Unterhaltung herüber und die Pianistin spielte nur für mich sicher zwei Stunden lang ihren Lieblingskomponisten Alexander Skriabin. Noch einmal konnte ich für einige Zeit meine stumpfsinnige Soldatenexistenz und den bevorstehenden Kriegseinsatz vergessen.
Seitdem ich die Uniform tragen mußte, steckte im Stiefelschaft die Reclamausgabe von Burckhardts 'Kultur der Renaissance in Italien' und half mir, immer wieder für kurze Zeit in andere Sphären zu entfliehen, wenn der Stumpfsinn um mich herum unerträglich wurde.
21 Unser Einsatz im Frankreichfeldzug führte uns nach Elsaß-Lothringen und in die Vogesen. Dort hatten Stukas und Geschütze ganze Dörfer zerbombt, wohl um das Aufmarschgebiet der Franzosen zu zerstören. Einige Tage waren die Kämpfe hart. Uns gegenüber standen Soldaten einer polnischen Einheit, die sich den Franzosen angeschlossen hatte. Sie waren anscheinend stärker motiviert als die Franzosen und sie verteidigten jede Handbreit Boden. Auch unsere Kompanie hatte mehrere Tote und zahlreiche Verwundete. Kameraden haben mir erzählt, selbst Verwundete hätten weiter gekämpft und man habe sie dann mit der Pistole erschießen müssen. Da ich dies im Gegensatz zu späteren Erlebnissen nur gehört, nicht aber selbst beobachtet habe, erwähne ich es unter diesem Vorbehalt. Sonst würde ich eher unterstellen, daß der Krieg mit Frankreich schon noch nach den Richtlinien des Genfer Abkommens von 1929 geführt worden ist. Dieses Abkommen regelt die Behandlung von Verwundeten und Kranken im Felde, sowie der Kriegsgefangenen. Auch Deutschland hat es unterschrieben. Das Abkommen verbot die Tötung, Verstümmelung, Folterung, Geiselnahme, Beeinträchtigung der persönlichen Würde und regelte die Bergung von Verwundeten und Kranken. Franzosen waren ja noch Menschen der arischen Rasse! Im Osten waren es dagegen die minderwertigen Slawen, deren Schicksal als Heloten der arischen Herrenrasse von Anfang an beschlossen war. Der Balkanfeldzug führte uns zuerst nach Rumänien, welches sich unter dem Diktator Antonescu 1941 militärisch den Deutschen angeschlossen hatte. In Siebenbürgen machten wir in einem Dorf auf längere Zeit Quartier. Ich habe nie mehr eine Dorfgemeinschaft mit einer so gewachsenen, das ganze Leben durchdringenden Kultur erlebt. Tatsächlich konnte man in den Stuben der säuberlich verputzten, durch Mauern verbundenen Häuser vom Fußboden essen. Zwischen den Pflastersteinen der Innenhöfe fand man nicht das kleinste Unkraut. Auf dem Tanzboden saßen die Mädchen untergehakt an der Wand und nahmen nach dem Tanz diese Ordnung wieder auf. Die verheirateten Frauen und Mütter tanzten nicht, jedenfalls solange wir dabei waren, sondern schauten lediglich zu. Zwischen einem Mädchen und mir entspann sich eine kleine Liebesbeziehung. Freilich war es unmöglich, mit ihm ohne Beaufsichtigung zusammenzutreffen. Am Abschiedstage jedoch beging Lieschens Bruder das Wagnis, sie auf seinem Motorrad für eine Stunde zu meinem Quartier zu entführen. So konnten wir uns zum Abschied nun doch einmal küssen und ein bißchen miteinander schmusen. Ich habe sie nie wieder gesehen, doch sollte mich noch ein Gruß erreichen. Während des Balkankrieges hatten wir keine wirkliche Feindberührung, wir mußten nicht einmal die Feldmütze mit dem Stahlhelm vertauschen. Mir sind jedoch zwei Vorfälle unauslöschlich in Erinnerung geblieben: Wir hatten in einer bulgarischen Stadt Quartier bezogen, und ich wurde eines Tages als Beisitzer zu einer Kriegsgerichtsverhandlung abkommandiert. Es handelte sich um einen Unteroffizier, der einen Fahrzeugreifen an einen Bulgaren verkauft hatte, um vom Erlös einen Kameradschaftsabend für seine Kompanie zu finanzieren. Der als Verteidiger fungierende Leutnant machte seine Sache routiniert wie einer, der schon weiß, wie es ausgeht. Als wir Richter uns zur Beratung zurückzogen, schlug der Vorsitzende eine Zuchthausstrafe von acht Jahren vor. Ich fand das viel zu hoch. Schließlich war ich ja als Vertreter der niederen Chargen abgeordnet worden. Ich wies darauf hin, daß der Angeklagte nicht für sich, sondern für seine Kameraden diese zugegeben strafbare Handlung begangen habe. Der Kriegsrichter war verblüfft, anscheinend war ihm Widerspruch dieser Art noch nicht untergekommen. Als er mich auch gütlich nicht umstimmen konnte, meinte er verärgert: "Der bekommt seine acht Jahre. Wenn Sie nicht zustimmen, werde ich einen anderen Termin mit einem anderen Beisitzer festsetzen." Ich stimmte, die Aussichtslosigkeit meines Widerstandes begreifend, dann eben doch zu. Hätte ich den Widerstand fortgesetzt, wäre der Mann trotzdem wie vom Richter festgelegt bestraft worden. Aber ich wäre nicht mitschuldig geworden.
Als ich wieder bei meiner Kompanie eintraf, muß ich sehr blaß ausgesehen haben. Jedenfalls bot der Spieß, mein Gurken-Karl, mir gleich einen Schnaps an und zeigte volles Verständnis für meine Erschütterung. Wie mir erginge es jedem, der so etwas zum ersten mal erlebe. Ich bin nicht sicher, ob es auf dem Vormarsch, oder schon bei der Rückführung war, daß wir eine mehrtägige Rast in einem Zeltlager machten. Irgendwie hatte ich mitbekommen, daß nicht weit von unserem Rastplatz eine alte orthodoxe Kirche stehe, deren Vorhalle mit Fresken aus der byzantinischen Zeit geschmückt sei. Ich machte mich auf den Weg, suchte den Popen auf, der mich sehr freundlich begrüßte und mir mit spürbarem Stolz die Fresken erklärte, die er vorher mit Milch bestrichen hatte, wodurch die Farben deutlicher heraustraten. Die Fresken, die Vorhalle, die stille Umgebung, der fromme Pope, dieses friedliche Bild bewegte mich tief. Irgendwie kam über mich so etwas wie eine fromme Zuversicht. Als ich dann zum Lager zurückkehrte, erfuhr ich, daß der oberste Bischhof der serbischen Kirche in einem Sonderzelt von SS bewacht seinem Abtransport nach Deutschland entgegensah. Das friedliche Bild war eine Illusion gewesen. Der Kriegsgreuel war überall. Vor ihm gab es kein Entrinnen. Ich war tief verzweifelt und wohl aus dem Bedürfnis, von all dem nichts mehr zu wissen, setzte ich eine Schnapsflasche an und trank sie mit wenigen Zügen leer. Dann bin ich umgefallen. Kameraden riefen den Batallionsarzt, der jedoch auch ziemlich betrunken gewesen sein soll. Irgendwann kam ich wieder zu mir, der Exzeß hatte mir nicht geschadet. Das war 1941, ich war zwanzig Jahre alt.
22 Juli 1941 drang unsere Panzerdivision, die zur sechsten Armee gehörte, in die Ukraine ein. Der Rußlandfeldzug hatte begonnen. In der Chronik meiner Mutter steht, daß ich einmal aus dem Rußlandfeldzug tief verstört heimgekommen sei. Ich habe es verwundert gelesen und konnte es mir eigentlich nicht so recht vorstellen. Gewiß, die ersten Monate des Rußlandfeldzuges ließen die bisherigen Feldzüge als harmlose Spaziergänge verblassen. Aber sollte ich wirklich davon mehr beeindruckt gewesen sein als andere? Wahrscheinlich hatte meine Mutter mal wieder sentimental übertrieben, dachte ich. Um so verblüffter war ich, Jahrzehnte später die gleiche Feststellung noch einmal zu vernehmen. Ein Onkel mütterlicherseits ist vor einigen Jahren hochbetagt gestorben und ich hatte seinem noch hochbetagteren Bruder kondoliert. In seinem Dankschreiben erwähnte er als für ihn wichtige Erinnerung, wie verstört ich einmal als Urlauber aus Rußland heimgekommen sei. Es mußte also wohl doch stimmen. Und langsam sind dann wieder Bilder aufgetaucht, die ich halb oder ganz verdrängt hatte. Was ich gesehen und erlebt habe in den Monaten meines ersten Einsatzes, soll hier bezeugt werden, und keiner, der dabei war, soll behaupten, er hätte gleiches oder ähnliches nicht erlebt. Obwohl die sechste Armee, dank ihrer überwältigenden technischen Überlegenheit, relativ zügig vorankam, verteidigten die Russen sich mit dem Mut der Verzweiflung. So waren die Kämpfe hart und verlustreich. Hatte uns die Bevölkerung der Ukraine anfangs freundlich begrüßt, manch einer uns einen Hinweis oder eine Warnung gegeben, so änderte sich deren Haltung bald entscheidend, als die Verbände der SS und der Goldfasanen, wie wir die braunen Mordbuben nannten, hinter uns getreu dem Befehl Hitlers unter den minderwertigen Slawen aufräumten. Bald bildeten sich überall hinter der Front Gebiete, die von Partisanen beherrscht wurden. Das machte uns schwer zu schaffen. Einer meiner Danziger Kommilitonen hieß Jensen. Als wir uns damals zum Wehrdienst gemeldet hatten, war er bereits als im Reich ausgebildeter Unteroffizier zu uns gestoßen. Er war ein blonder und blauäugiger Hüne, ein guter Freund des Kompaniechefs, auch als Leutnant stets zu allen möglichen Späßen aufgelegt, einer von denen, die eigentlich jeder gerne mochte. Außerdienstlich duzten wir uns. So erzählte er mir eines Tages, wie er ein Partisanennest ausfindig gemacht hatte, von dem Erlebnis noch gezeichnet. Einen Partisanen hatte man gefangengenommen. Als dieser beim Verhör, das ein ebenfalls gefangener Politruk, also ein politischer Offizier der Russen dolmetschte, verbissen schwieg, erbot sich der Russe, die Wahrheit aus ihm herauszuprügeln. Jensen erzählte mir nun, durchaus mit bedrückter, ja angeekelter Stimme, wie jener Politruk nun dem Gefangenen systematisch mit einem Prügel Knochen um Knochen kaputtschlug. Zwischen den Folterungen steckte er ihm dann eine Zigarette in den Mund und versicherte ihm, er würde ja sofort aufhören, wenn der Partisan den Aufenthalt seiner Kameraden, die man ja auch ohne ihn schließlich finden würde, verriete. Angeekelt hatte Jensen dem Folterer gedroht, ihn zu erschießen, wenn sich herausstellen sollte, daß der Gefolterte wirklich nichts wußte. Schließlich war dann doch das Ziel erreicht: Der Partisan verriet seine Kameraden und schon halb tot bekam er von Jensen den 'Gnadenschuß'. Wahrscheinlich hat das Geständnis einigen von uns das Leben gerettet. Jensen wirkte bedrückt über das Mittel, das er dazu hatte anwenden müssen. Er deutete an, daß die Erinnerung an diesen Vorgang ihn nicht so schnell verlassen würde, zweifelte jedoch nicht einen Augenblick daran, richtig gehandelt zu haben. Die Genfer Konvention von 1929 war ihm, wie mir auch, unbekannt oder galt nicht mehr für einen deutschen Offizier. Einmal kampierten wir für mehrere Tage einige Kilometer hinter der Front, um wieder neue Kräfte zu sammeln. Da hörte ich von weitem Gewehrsalven. Ich schaute mich um und sah in einer Entfernung von ein paar hundert Metern einen ausgehobenen Graben, davor aufgereihte Menschen, die kurz darauf von einer Maschinengewehrsalve getroffen rückwärts in den Graben stürzten. Mir
graute. Ein Offizier kam an mir vorbei und sagte: "Sehen Sie besser nicht hin, das geht uns nichts an." Waren es Partisanen, waren es Juden? Ich habe es nie erfahren. Zu welcher Einheit gehörten die Todesschützen? Ein andermal mußten wir uns vor einem Gegenangriff ein paar hundert Meter zurückziehen, wobei wir einige Verwundete nicht mehr bergen konnten. Als dies der Batallionskommandeur erfuhr, befahl er sofort einen massierten Gegenangriff. Wir kamen zu spät. Die Kameraden waren tot. Einigen von ihnen hatte man die Geschlechtsteile abgeschnitten. Nein, das war kein Krieg mehr, dieser größte Feldzug seitdem es Kriege gibt, es gab auf beiden Seiten keine ritterliche Behandlung des Gegners. Es war schlichtweg grauenhaft. Wie konnte ich mich vor diesem Wahnsinn wenigstens etwas in Sicherheit bringen? Ich kam auf die Idee, mich schriftlich um Abstellung zu einer Propagandakompanie zu bewerben. Wir hatten deren Tätigkeit schon beobachtet und bei ihren Filmaufnahmen selbst mitgewirkt. So hatten wir ein ukrainisches Dorf zweimal erobert, einmal mühsam Haus für Haus, das zweite Mal für die Kamera eindrucksvoll forsch. Mein Gesuch wurde abgelehnt, ich sei im Einsatz und darum im Augenblick nicht entbehrlich. Daß ich, wenn man mich genommen hätte, zur Waffen-SS gehören würde, hatte ich nicht bedacht. Und so habe ich meine Seele nicht noch mehr verkauft und brauchte eine in die Achselhöhle tätowierte Blutgruppe nicht später herausoperieren zu lassen. Die Erlösung kam dann durch eine Verwundung. Es war indessen Herbst geworden. Auf Panzern sitzend hatten wir uns den feindlichen Stellungen genähert und sprangen erst ab, als die russischen Panzer schon einige hundert Meter vor uns auszumachen waren. Der Gefreite Voß und ich hatten Befehl, als vorgeschobene Spitze dem Feind entgegenzugehen. Voß und ich waren Freunde, was auch damit zu tun hatte, daß wir beide darstellende Künstler werden wollten. Er Sänger und ich Schauspieler. Im Augenblick aber waren wir zu einem Himmelfahrtskommando eingeteilt. Während wir langsam vorwärts schritten, fingen von beiden Seiten mit bellendem Getöse die Panzer und Panzerabwehrgeschütze mit Leuchtmunition auf einander loszuballern. Ich weiß noch genau, wie ich von dem Schauspiel so fasziniert war, daß ich keinerlei Angst verspürte, vielmehr Voß begeistert auf den Anblick aufmerksam machte. Plötzlich ging ein Schuß scharf an meinem Ohr vorbei. Mir gegenüber lag ein Russe, durch das hohe Getreide verborgen, wie ich vermutete etwa zehn Meter entfernt. Ich nahm im Getreide volle Deckung. Da konnte mir nichts passieren, da jedes Geschoß durch die dicht stehenden Halme nach oben abgeleitet wird. Dann legte ich mich auf den Rücken, zog eine Handgranate ab und warf sie in die Richtung, wo ich den Russen vermutete. Ich hörte die Explosion und richtete mich vorsichtig auf. Der Schuß traf eine Ader am Hals und blieb, wie sich später herausstellte, zwei Zentimeter neben der Wirbelsäule stecken. Während ich mit dem linken Daumen die Ader abzudrücken suchte, robbte ich solange rückwärts, bis ich hinter der Lafette eines Panzerabwehrgeschützes von einem Sanitäter vorläufig versorgt werden konnte. In der Etappe wurde ich auf einen Lafettenwagen gelegt und zum Hauptverbandsplatz gefahren. Vor der Abfahrt tauchte plötzlich Gurken-Karl neben mir auf und fragte mich, und deswegen habe ich hier nur die Umstände geschildert, ob ich lieber Unteroffizier werden, oder das Eiserne Kreuz erster Klasse erhalten wollte. Ich Idiot wählte den Unteroffizier. Ich bekenne mich dazu, lächerlich zu wirken, aber eigentlich ärgert es mich heute noch, nicht das EK 1 gewählt zu haben. Ein Gefreiter mit EK 1, das war schon was. Ich habe es dann nie mehr bekommen. Dazu waren meine Einsätze - nun freilich Gott sei Dank - zu kurz. Wie durch ein Wunder hatte das Geschoß die Lunge nicht verletzt. Ich kam in ein Lazarett in Kiew, lag dort im fünften oder sechsten Stock, hörte die russischen Fliegerbomben auf die Stadt niedergehen und atmete auf, wenn nach kurzer Zeit deutsche Jagdflugzeuge die Bomber vertrieben. Der überbeschäftigte Stabsarzt fragte immer wieder, wohl wegen des vermuteten Lungenschusses, ob ich noch Blut spucke und meine Versicherung, ich hätte
noch nie welches gespuckt, hatte er zwei Minuten später schon wieder vergessen. Da ich wochenlang den Kopf nicht heben konnte, wuchs das Haar mir über die Schultern und der Bart bis auf die Brust. Für meine starke Brille, die abhandengekommen war, wurden mir zwei schwächere organisiert, die ich nun übereinandertrug. Als ich dann endlich auf dem Weg zum Heimatlazarett in Lemberg Station machte, standen Soldaten um mein Bett herum und fanden es bedenklich, einen so alten Mann noch in den Krieg zu schicken. Ein Friseur brachte dann mein zwanzigjähriges Gesicht wieder zum Vorschein. Irgendwann kam ich genesen zum Ersatzbatallion nach Danzig-Langfuhr zurück. Meine erste Begegnung dort war ein Kamerad aus meiner Gruppe, der mich ansah, als wäre ihm ein Geist erschienen. "Mensch, ich denke du bist tot!" Tatsächlich hatte er selbst mich auf dem Hauptverbandsplatz ohne Besinnung angetroffen und vom Stabsarzt die Auskunft bekommen, ich hätte keine Überlebenschance. Glück gehabt. Ihm hatte man einen Hoden weggeschossen, doch die sexuellen Funktionen seien nicht gestört, das habe er schon im Zuge auf der Heimfahrt ausprobieren können, versicherte er verschmitzt. Bei der Postverteilung wurde mir ein Paket ausgehändigt. Nach vielen Monaten hatte mich ein Gruß von Lieschen aus Siebenbürgen erreicht. Mit dem Bild eines blonden Mädchens mit zwei Zöpfen, dessen Aussehen ich indessen völlig vergessen hatte, und einem selbstgebackenen Kuchen, der nun freilich knochenhart und somit ungenießbar geworden war. Mit meiner Entscheidung zum Unteroffizier hatte ich fast automatisch den Weg in die Offizierslaufbahn beschritten. Das bedeutete aber auch, für längere Zeit nicht an die Front zu müssen. Bis zum Frühsommer 1942 war ich überwiegend in Zoppot und kam dann nach PotsdamEiche auf die Offiziersschule. Schon vorher war ich öfters dienstlich in Berlin gewesen und hatte die damals noch unzerstörte Großstadt genossen. Mein Bruder Wolfgang studierte dort Medizin und wurde später Assistenzarzt am Ostberliner Hedwigskrankenhaus. Wegen seiner Amputation war er natürlich dienstuntauglich. Er und Freund Hannes Ewald, der wegen einer Lungengeschichte ebenfalls nicht eingezogen worden war, hatten sich der katholischen Studentengemeinde angeschlossen, die von dem später inhaftierten Pfarrer Schmidt geleitet wurde, einem würdigen Nachfolger des berühmten Studentenpfarrers Carl Sonnenschein. Ich kann nicht beurteilen, ob es sich hier um eine wirkliche Widerstandsgruppe gehandelt hat, doch stand diese Gruppe durch ihre religiöse Orientierung eindeutig dem Nationalsozialismus kritisch und ablehnend gegenüber. Die Verweigerung, sich gleichschalten zu lassen, wurde von den Nazis bereits als nationales Verbrechen angesehen.
23 Auf der Offiziersschule Potsdam-Eiche gab es nun die schöne Möglichkeit, viele Wochenenden in Berlin zu verbringen. Auf einem Vormittagsbummel sprachen Hannes und ich zwei Mädchen an. In eines dieser Mädchen verliebte ich mich sofort unwiderruflich. Das lag vor allem daran, daß sie meiner Lieblingsschauspielerin Luise Ullrich ähnlich sah. In der Titelrolle der Knuth HamsunVerfilmung 'Viktoria' hatte sie mich schon begeistert; hingerissen jedoch war ich von ihr in dem Film 'Regine'. Sie spielte darin ein einfaches Mädchen, in das sich ein Angehöriger höherer Kreise verliebt, und das sich nun rührend bemüht, sich ihm durch Aneignung von Wissen anzugleichen. Von ihrem Liebhaber und späteren Ehemann jedoch erfuhr sie, daß gerade ihre unverbildete Natürlichkeit das war, was er so an ihr liebte. Auch diese Konstellation war unserer Beziehung nicht ganz unähnlich. Der Reiz dieser Schauspielerin lag in einem zarten Eros, der jedoch gleichzeitig so abgehoben war, daß es der Phantasie gar nicht möglich wurde, sie sich als Objekt sexueller Begierde vorzustellen. Sie wirkte gleichermaßen sicher und schutzbedürftig, war somit ideales Übertragungsobjekt für einen verklemmten jungen Menschen, der verehren und beschützen wollte, sich jedoch eine wirkliche sexuelle Partnerschaft noch gar nicht richtig vorstellen konnte und ihr deshalb natürlich auch nicht gewachsen war. Das junge Mädchen, das ich kennengelernt hatte, war jedoch nur äußerlich jener Frauentypus. In Wirklichkeit war sie dem flapsig flotten, im Inneren dank neudeutscher Erziehung immer noch unsicheren Fähnrich an Erfahrung weit überlegen. Ich erinnere mich noch eines Gespräches, in dem mein Vater mich umzustimmen suchte. Er meinte, statt eines Mädchens aus so einfachen Verhältnissen hätte ich wohl doch Anspruch auf eine ostpreußische Gutsbesitzerstochter, so jedenfalls stelle er sich meine gesellschaftliche Zukunft vor. Wegen des zu erwartenden Kindes jedenfalls bräuchte ich nicht zu heiraten. Er wäre bereit, bis ich selbst dazu in der Lage sei, die Alimente zu übernehmen. Ich habe sein Angebot zurückgewiesen. Auf seine etwas abschätzige Bemerkung "Na, die Hochzeit werde ich wohl auch bezahlen müssen", schlug ich ihm einen Besuch des Zoppoter Spielcasinos vor.
Er verlor 800 Mark und ich gewann 2000. Dieses Problem war jedenfalls gelöst. Als wir am ersten Mai 1943 heirateten, war Hannes Ewald Trauzeuge und der Studentenpfarrer Schmidt vollzog die Trauung. Es handelte sich um eine Kriegsheirat, getragen wohl auch von der Vorstellung, draußen an der Front jemanden zu haben, zu dem man mit intensiven Gefühlen hindenken konnte. Meiner sehr jungen Frau gelang es, sich durch Liebenswürdigkeit auch bei meiner skeptischen Familie beliebt zu machen. Sie war zudem lernbegierig und bemüht, ihre einfache Bildung mit dem anzureichern, was bürgerliche Familien als unverzichtbar ansahen.
Verliebtsein macht unfähig, das Objekt der Begierde real wahrzunehmen. Verliebtsein ist deshalb die 'schönste Neurose der Welt'. Oft gelingt es dem Bedürfnis, ideale Vorstellungen gegen alle Realität zu verteidigen, bis diese so unübersehbar wird, daß man schließlich doch gezwungen ist, die rosarote Brille endlich abzusetzen. Doch wer sich an einer Stelle weigert, wirklich hinzuschauen, dessen Blickwinkel droht überhaupt enger zu werden, was den eigenen Reifungsprozeß lange verzögern kann. Bei mir bedurfte es der Lehranalyse um als Vierzigjähriger das pubertäre idealisierte Wunschdenken zu überwinden und Beziehungen so wahrzunehmen, wie sie nun einmal sind. Daß dabei auch gleich mein Kinderglaube mit unterging, war wohl nicht zu vermeiden. Doch bevor es zur Heirat kam, war noch eine schwere Aufgabe zu bewältigen. Meine Liebe zu Ursula, der Tochter des befreundeten Zahnarztehepaares, hatte die Tanzstundenzeit nicht überdauert. Sie war an Anämie eingegangen. Welche Anstrengungen, auch nur einmal ein Küßchen zu ergattern, wehe der Hand, die es wagte, sich von der Hüfte auch nur ein bißchen abwärts oder aufwärts zu bewegen. Es gab nicht mal einen Abschied. Wovon auch. Mein Vater, der bei seiner Zwangspensionierung erst fünfzig Jahre alt war und ohne Aufgabe nicht leben konnte, hatte sich an einem Kunsthandwerksgeschäft beteiligt, das von seiner damaligen Geliebten und späteren Lebensgefährtin betrieben wurde. Dort hatte ich noch als Pennäler das Mädchen kennengelernt, von dem es nun hieß, Abschied zu nehmen. Simone war die Tochter eines jüdischen Apothekers aus Insterburg. Wohl weil sie Halbjüdin war, ist ihr der Zugang zur höheren Schule verwehrt geblieben. So verdiente sie sich ihren Unterhalt als Bürokraft. Sie hatte mich - das altertümliche, vielleicht abgedroschene Wort sei hier gebraucht - von Herzen geliebt. Von meinem Vater hatte ich gelernt, wie man Frauen verwöhnt, zum Beispiel indem man ihnen ungesagte Wünsche von den Augen abliest. Auch mir machte das Spaß. Daß sie Halbjüdin war, hat sie mir später, ich war schon Soldat, gestanden, tief besorgt über die Wirkung, die dieses Geständnis auf mich haben könnte. Meine Reaktion war etwa so: "Ach du Ärmste, das muß schwer für dich sein. Aber was hat das mit uns zu tun." Die freie Liebe war in bürgerlichen Kreisen damals gar nicht so einfach zu praktizieren. Simone bewohnte ein Zimmer beim Oberregierungsrat Schulz in unserer Nähe. Selbst ein Krankenbesuch wurde genauestens überwacht. Wenn die Eltern mal verreist waren, schmuggelte ich sie in mein Zimmer, am Morgen wurde dann das Mädchen - Ida hatte indessen geheiratet, das neue hieß Viktoria - mit Schokolade zur Schweigsamkeit bestochen. Oder wir schmusten bei ihrer Freundin auf deren Zimmer. Diese stammte aus Simones Heimat, wußte über sie Bescheid, was sie, obwohl als BDM-Führerin sonst glühende Verehrerin Hitlers, nicht hinderte, weiter der Freundin die Treue zu halten. Während wir miteinander schmusten, schaute sie brav und geduldig aus dem Fenster. Simone erlaubte und erwiderte alle Zärtlichkeit, die im Rahmen bürgerlicher Sexualvorstellungen dieser Zeit möglich waren. Nur den Liebesakt selbst ließ sie nicht zu, obwohl ich merken durfte, wie gerne sie sich mir hingegeben hätte. Sie hoffte nämlich, wenn sie ihre Unberührtheit bewahrte, einmal 'Ehrenarierin' werden zu können. Ich glaube nicht, daß diese Vorstellung überhaupt einen Sinn hatte. Göring soll einmal über den nichtarischen Fliegergeneral Milch geäußert haben: 'Wer Jude ist, bestimme ich!' Aber 'Ehrenarier', das hat es nie gegeben. Sie jedoch klammerte sich an diese Vorstellung. Weder zur einen noch zur anderen Gruppe gehörend, erlebte sie ihren jüdischen Teil, wie die Nazis es taten, als minderwertig. Welch verfluchtes System, das ein junges Mädchen in solch einen selbstzerstörerischen Konflikt stößt! Mit ihr also saß ich an einem Spätherbstabend auf einer Bank an der Spitze des Zoppoter Seestegs und brachte ihr schonend bei, daß ich nun eine andere liebe und im Frühjahr heiraten würde.
Sie nahm es schweren Herzens hin, meinte nur zaghaft, ich bräuchte sie deswegen doch nicht ganz aufzugeben, sie wäre auch bereit, die zweite Rolle in meinem Leben zu spielen. Ich erzählte diese Äußerung später meinem Vater, worauf er sinngemäß sagte: "Es scheint eben doch zu stimmen, wenn man die Juden vorne rauswirft, kommen sie hinten wieder rein." Diese Äußerung war, auf Simone bezogen, eine Gemeinheit und ich schäme mich sehr, sie damals nicht zurückgewiesen zu haben. Aber antisemitisch war sie nicht. Sie stimmte nämlich. Wir hatten selbst ja mehrfach erlebt, wie Juden, die vor den polnischen Pogromen im Osten nach Westen ausgewichen waren, mit Warenkörben auf dem Rücken vor unserer Haustür erschienen und mit unglaublicher, jede Würde außer Acht lassender Zähigkeit versuchten, uns ihre Ware zu verkaufen. Was konnten abfällige Bemerkungen ihnen schon antun. Den Christen gegenüber konnte ein Angehöriger des auserwählten Volkes Gottes durch keine Herabsetzung, ja selbst durch Mißhandlung seine Würde nicht verlieren. Übrigens lösten diese chassidischen Ostjuden schon durch ihr wirklich fremdartiges Aussehen Unbehagen und für ein Kind auch Angst aus. Religiöser Fanatismus ist mir wesensfremd. Ich habe ihn als Kind nicht kennengelernt und stehe ihm voller Mißtrauen gegenüber. Ideologische Zwänge, die das freie Denken und Leben einschränken oder gar verbieten, finde ich abstoßend. Ob das jüdische Orthodoxie, islamischer Fundamentalismus, Opus Dei oder pseudoreligiöser Sozialismus bzw. Faschismus sind. Alle diese Denkungsweisen sind mir gleichermaßen fremd. In dem schönen Buch 'weiter leben, eine Jugend' von Ruth Klüger wird die Jüdin, die in Amerika ein Kolleg besucht, von einer Kommilitonin gefragt, welcher Nationalität sie denn sei. 'Ihr gab ich die einzig mögliche Antwort: Ich sei Jüdin, in Österreich geboren. Dann sei ich eigentlich Österreicherin, konstatierte sie, mein Glaube hätte nichts mit meiner Staatsangehörigkeit zu tun'. Und später dann: 'So denken wir nicht in den Vereinigten Staaten. Bei uns sind Kirche und Staat getrennt'. Diese Feststellungen mußten der Verfasserin, die deutsche KZ's mehr zufällig als schicksalhaft überlebt hatte, absurd erscheinen. Ich hätte damals, 1942, genauso naiv antworten können. Es gab für mich Katholiken, Protestanten und Juden. Natürlich waren das alles Deutsche, jedenfalls wenn deutsch ihre Muttersprache war. Wir Danziger waren ja auch keine Deutschen, jedenfalls nicht bis zum Anschluß. In Danzig waren 3,6 Prozent der Bevölkerung jüdischen Glaubens. Das waren ungefähr 15.000 Menschen. Mehr als die Hälfte aller Danziger Ärzte und mehr als 90 Prozent aller Rechtsanwälte jedoch waren Juden. War das eine jüdische Verschwörung? Hievte ein Jude den anderen in seinen Beruf, obwohl er sich dabei einen Konkurrenten herangezogen hätte? Es waren und sind die analytischen Fähigkeiten, die dieses Volk auszeichnen und es zu Berufen in den Naturwissenschaften, dem Rechtswesen und der Philosophie befähigen. Es wird gesagt, das läge daran, daß jüdische Kinder schon mit drei Jahren lesen lernten, mit dem einzigen Ziel, das Deuten der Thora einzuüben. Daraus wäre über die Jahrhunderte eine genetische Prägung entstanden. Der Jude Freud war kein Zufall, genausowenig wie der Jude Einstein und der Jude Marx. Es kommt nicht darauf an, ob sie alle letzten Endes mit ihren Theorien Recht hatten, sicher ist, daß sie damit die Welt verändert haben. Man zähle die Nobelpreisträger jüdischer Herkunft und
setze sie in ein Verhältnis zur jüdischen Weltpopulation. Das Problem Ruth Klügers in ihrem Gespräch mit der amerikanischen Kommilitonin, hat Freud 1926, schon damals rassistischem und nationalistischem Druck ausgesetzt, etwa so formuliert: "Meine Sprache ist deutsch, meine Kultur, meine Erziehung sind deutsch, ich hielt mich geistig für einen Deutschen, bis ich das Anwachsen des Antisemitismus in Deutschland und Deutschösterreich bemerkte. Seit dem ziehe ich es vor, mich einen Juden zu nennen." Wenn wir Analytiker die Frage stellen: "Gibt es eine jüdische Psychoanalyse?" tun wir genau das, wessen Freud seine Verfolger anklagt. Wir stellen ihn und seine Wissenschaft, ohne es zu merken, in eine jüdische Ecke, die es eigentlich nur in den Köpfen dumpf atavistischer Rassisten geben sollte. Interessant und tragisch, daß die Zionisten sich hier mit den arischen Rassisten treffen. Auch sie gehen von einer jüdischen Rasse aus, die sich von anderen grundsätzlich unterscheidet. Nein, Freud war Deutscher, genauer Deutschösterreicher, die Psychoanalyse ist eine Schöpfung deutschen Geistes, erdacht von einem Deutschen jüdischer Herkunft. Sie wurzelt tief im deutschen Geistesleben des 19. Jahrhunderts, ohne das sie wahrscheinlich nie entstanden wäre. Sie ist wie viele wissenschaftliche Erkenntnisse vergangener Zeiten eine Synthese deutscher Gründlichkeit und jüdischer Geistesschärfe. Diese Synthese hat Deutschland an die Weltspitze in fast allen Wissenschaften, einschließlich der Philosophie gestellt. Das ist nun vorbei, 'Ihr Blut komme über uns und unsere Kinder'. Die Weltgeltung deutschen Geistes ist verspielt, nach Expertenmeinung wird die deutsche Wissenschaft in eine unbedeutende zweistellige Position absinken, während deutsche Juden und deren Nachkommen die amerikanischen Wissenschaften an die Weltspitze befördern halfen. Mir jedenfalls hatte der Jude Dr. Abraham als Säugling das Leben gerettet, der Jude von der Reis den entzündeten Blinddarm entfernt, unsere jüdischen Nachbarn in Breslau dem Achtjährigen einen unvergeßlichen Eindruck über das Feiern eines jüdischen Festes vermittelt, mein Spielgefährte in den ersten Klassen des Gymnasiums war der Sohn des Rabbiners, der obwohl er ein wunderbares Judengesicht hatte, natürlich auch Deutscher war, solange man ihn ließ.
24 Doch zurück zur Offiziersschule Potsdam-Eiche. Ich war auch objektiv gesehen für die Offizierstätigkeit nicht sonderlich geeignet und wahrscheinlich wäre es doch klüger gewesen, das EK 1 anzunehmen. Amüsant war jedoch, daß, wenn die Herren Ausbildungsoffiziere einen Gast empfingen, von dem anzunehmen war, daß er nicht nur über Soldatenwitze lachen würde, der Offiziersanwärter Althoff neben ihn plaziert wurde, mit dem Auftrag, eine etwas gehobene Konversation zu führen. Das scheine ich also gekonnt zu haben als erstes Semester. Der aktive Offiziersstand, so weit ich ihn kennenzulernen die doch zweifelhafte Ehre hatte, glänzte nicht durch Bildung, Geist und Witz, es waren vielmehr überwiegend Betonköpfe mit Schmalspurgehirnen. Mein Ausbilder, ein Leutnant, war eine recht sympathische Ausnahme. Er übertrug mir die kulturelle Betreuung unserer Gruppe. So konnte ich einen Staatsopernbesuch zum 'Freischütz' organisieren, der einhellig Zustimmung fand. Schwieriger war es dann schon, Verständnis für Orffs 'Carmina Burana' zu erwecken, die damals unter Tietjens Regie an der Berliner Staatsoper uraufgeführt worden waren. Die Aufforderung meines Leutnants, diese Musik und deren neue Form den Kameraden zu erläutern, brachte mich schon arg ins Schwitzen. Weit weniger erfolgreich war ich, wenn es darum ging, eine Truppe anhand der Landkarte von X nach Y zu führen. Für diese, für einen Offizier doch sehr wichtige Fähigkeit war mein Realitätssinn nicht weit genug entwickelt. So stand meine Beförderung zum Leutnant auf des Messers Schneide, es drohte der wenig schmeichelhafte Abgang als Oberfähnrich. Erst Oberschütze, dann Oberfähnrich, das gefiel mir nicht. Ich schlug darum meinem Leutnant vor, seinen Urlaub nach dem Lehrgang bei mir zuhause im herrlich friedlichen Zoppot zu verbringen. Er sagte begeistert zu. Wir haben uns in diesen vierzehn Tagen zuhause gut verstanden. Doch bevor es soweit war, mußte ich mich einer Befragung stellen. Man wollte wissen, ob ich bereit sei, meine Offiziersehre mit der Waffe zu verteidigen, also Satisfaktion zu geben. Im tausendjährigen Reich war es immer noch in Offizierskreisen üblich, sich für seine Ehre zu schlagen, also den Beleidiger zum Kampf mit der Waffe aufzufordern. War der Beleidiger jedoch Metzger oder gar nur Arbeiter, war er nicht satisfaktionsfähig und seine Beleidigung nicht ehrenrührig. Satisfaktionsfähig waren ausschließlich Menschen des gleichen Standes, also Offiziere oder Akademiker; und das nannte sich Volksgemeinschaft! Ich habe mich dazu nicht bereit erklärt, sondern diesen Brauch als mit meinem katholischen Glauben nicht vereinbar abgelehnt. Zum Abschluß der Ausbildung stand noch eine erneute Vereidigung bevor. Sie fand im Berliner Sportpalast statt.
Anwesend waren etwa tausend Offiziere. Zuerst erschien Reichmarschall Hermann Göring und gab uns die Anweisung, den Führer mit dem ihm gewohnten Sieg-Heil-Jubel zu begrüßen. Also keine stramme Meldung, wie beim Militär üblich. Soweit war ich dann doch mit meinem Soldatenstand identifiziert, diesen befohlenen Jubel als unsoldatisch abzulehnen. Da ich Hitler ohnedies verabscheute, beschloß ich, den Zirkus nicht mitzumachen. Der Führer betrat den Sportpalast, der befohlene Jubel brandete auf und steigerte sich zu allgemeinem Sieg-Heil-Geschrei. Plötzlich merkte ich, daß ich ebenfalls laut mitbrüllte, hörte mir selbst mit Entsetzen zu und stellte dann schleunigst den Zustand der Selbstkontrolle wieder her. Meine Identität hatte sich vorübergehend in der Massenhysterie aufgelöst. Das Hordentier in mir hatte das kritische Denkvermögen ausgeschaltet. Von der Rede Hitlers war nur wenig zu verstehen. Sie interessierte mich auch nicht. Ich war vollauf beschäftigt, mein eigenes Erlebnis zu verdauen. Beim Ersatzbatallion merkte ich dann, wie wenig ich in den Kreis der Offiziere hineinpaßte. Das albern-zackige Gehabe im Kasino konnte ich nur ertragen, in dem ich es durch saloppe Schnoddrigkeit konterkarierte. Damit ging ich dem Ersatzbatallionsführer, einem älteren Etappenhengst, auf die Nerven. Er war zudem ein überzeugter Nazi und selbst wenn er mit meinem Namen nicht den des Vaters verbunden hat, so war wohl aus meinen Reden meine politische Einstellung nicht ganz zu überhören. Schließlich eröffnete er mir eines Tages, er wünsche mich nicht mehr um sich zu haben und ich sei hiermit nach Stalingrad, wo unser Regiment eingesetzt war, strafversetzt. Trotz des Schreckens konnte ich noch entgegnen, eine Versetzung an die Front sei für mich keine Strafe, sondern ein Ehre. Er, verlegen: "Selbstverständlich, so habe ich es ja auch gemeint", um mich dann freilich mit der Empfehlung zu verabschieden, entweder mit dem Ritterkreuz oder gar nicht zurückzukommen. Den Gefallen habe ich ihm nicht getan. Mit der berühmten JU 52 eingeflogen, kam ich am 20. September 1942, meinem 22. Geburtstag, bei meiner alten Kompanie an, konnte dort die Meldung meines alten Gurkenkarls entgegennehmen und versuchte am nächsten Tag, zu meiner Einheit vorzugehen.
Ich habe es nicht geschafft. Ein bereits manövrierunfähig geschossener russischer Panzer belegte mich mit Maschinengewehrfeuer, durchschoß den rechten Ellenbogen und hätte mich wahrscheinlich durchsiebt, wenn nicht ein deutscher Panzer dazwischen gekommen wäre und den MG-Schützen zur Aufgabe gezwungen hätte. Ich durfte dann auf unseren Panzer aufsteigen, wobei der Russe, der mich eben noch durchsieben wollte, mir ganz freundlich half. Einen Tag später hatte ich schon ein kleines Eckchen neben einem aufgebahrten Verwundeten in einem Fieseler Storch erwischt und entwich aus dem Kampfgebiet.
Auf Umwegen über Bukarest kam ich in die Heimat zurück. Meine Kompanie ist mit der 6. Armee bei Stalingrad untergegangen. Ich habe keinen meiner Truppe je wiedergesehen.
25 Für das, worum es mir geht, ist es bedeutungslos, was sich im einzelnen abspielte. Die in Stalingrad untergegangene 60. Panzerdivision erhielt sozusagen posthum die Bezeichnung 'Division Feldherrnhalle'. Man hatte offensichtlich die Stirn, den sinnlosen Opfergang Tausender mit dem Aufmarsch der Nazis unter Hitler und Ludendorff im November 1923 zu vergleichen. Das war mir zu viel und es gelang mir, mich zu einer anderen Division versetzen zu lassen. Meine neue Einheit war das 3. Panzergrenadier-Regiment, und das Ersatzbatallion hatte die Bezeichnung 120 und war in Jena stationiert. Da ich bis zum nächsten Einsatz eigentlich nichts zu tun hatte, nahm ich als Gast an den Sitzungen des Theaterseminars der Jenaer Universität teil. Die Leitung hatte ein Professor zu Nedden. Man diskutierte über die Werke Henrik Ibsens und hatte gerade sein Drama 'Brand' vor. Ein Schauspiel, in dem ein Pfarrer gegen die Orthodoxie seiner Kirche das reine Christentum verteidigt. Der Assistent fällte folgendes Urteil: Ein Drama, in dem ein Pfarrer die Hauptrolle spiele, hätte im neuen Deutschland nichts zu suchen. Meine schüchterne Frage: "Warum denn nicht?" blieb unbeantwortet. Einmal rüstete das ganze Seminar zu einer Fahrt in eine andere Stadt, um dort eine Aufführung von Werner Egk's 'Peer Gynt' auszupfeifen. Warum es nicht in ihr nationalsozialistisches Gedankengut paßte, ist mir schleierhaft. Immerhin war Egk bis 1940 Dirigent der Berliner Staatsoper. Ich bin dann lieber dieser radikalen Veranstaltung ferngeblieben. Bald ging es wieder an die russische Front, soweit ich mich erinnere in die Nähe von Smolensk.
Neulich las ich im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung 'daß nach Stalingrad nicht nur die
Lehnstuhlstrategen, sondern auch die Soldaten im Osten, denen nur zu häufig bewußt war, daß der Krieg nicht mehr zu gewinnen sei, ihren sicheren Tod als Opfer für Führer und Vaterland verstanden und akzeptierten.' Und das wäre wissenschaftlich dokumentiert. Eigenartig, daß ich davon so gar nichts bemerkt hatte. Die Generalsclique war zum großen Teil Hitler völlig ergeben. Bedeutete doch für sie ein verlorener Krieg den gesellschaftlichen Untergang. Nicht vergessen sei, daß auch von Generälen und anderen hohen Offizieren der Aufstand des 20. Juli ausging. Weiter unten jedoch hatte man die Nase längst voll. Nach dem Prinzip 'Angriff ist die beste Verteidigung' kämpften alle ums nackte Überleben. Dazu kam noch die wohl allgemein verbreitete Angst, in russische Gefangenschaft zu geraten; und so wahnsinnig das ganze auch war, in der Verteidigung war mehr Sinn als im Angriff, denn man verteidigte nicht nur sich, sondern auch, wenn auch noch weit vorgeschoben, die Heimat. Das ist allgemein bekannt und gipfelte am Schluß in der Hoffnung, der Vormarsch der amerikanischen und englischen Truppen würde deutsche Gebiete vor dem Einmarsch der Russen bewahren. Die Fahrt zur Truppe war lang. Die Lokomotive schob immer einen leeren Güterwagen vor sich her, der in die Luft flog, wenn der Zug auf eine Mine lief. Indessen waren ganze Landesteile in der Hand gut ausgerüsteter Partisanen, die den deutschen Truppen nicht weniger zu schaffen machten als die feindlichen Soldaten selbst. So wußte man nie genau, ob wir gerade den Feind umzingelt hatten oder er uns. Im Landser-Jargon: "wer kesselt wen". Als wir beim Divisionsgefechtsstand angekommen waren, begrüßte der Divisionskommandeur die etwa zehn angetretenen jungen Leutnants mit den Worten: "Na, meine Herren, hat es sich in der Heimat auch schon herumgesprochen, daß wir den Krieg verlieren?" Um dann einige, darunter auch mich, anzuschnauzen, ich hätte mich nicht nach Vorschrift zur Stelle gemeldet. Die kriegstauglichen Jahrgänge waren damals schon so weit dezimiert, daß in meinem Zug nun schon Männer über vierzig im Einsatz waren. Wenn ein Offizier bisher vor seinem Zug hergegangen war, so war es nun notwendig, hinter den Soldaten herzumarschieren und die um ihr Leben bangenden Familienväter, die einen geradezu anflehten, sie doch zurückzulassen, zum Angriff voranzutreiben. Bei uns galt folgende Statistik: der normale Soldat starb durchschnittlich bei der fünften, der Offizier bei der dritten Verwundung. Die Statistik hatte längst den Glauben an irgendein vorherbestimmtes Schicksal ersetzt und tut es für mich heute noch. Oder wie anders soll ich verstehen, daß von meiner Abiturklasse mehr als die Hälfte im Krieg gefallen sind? War ich irgendwo von irgendwem dazu bestimmt zu überleben, die anderen aber nicht? Ich kann und will es mir nicht vorstellen. Ein bißchen konnte man die statistische Wahrscheinlichkeitsrechnung dadurch beeinflussen, daß man als erfahrenes Frontschwein sich der jeweiligen Situation besser anpaßte und dadurch eine etwas größere Chance hatte als der unerfahrene, gerade erst an der Front eingesetzte, womöglich auch noch ältere Soldat. Ich gehörte jedenfalls zu den Glücklichen, die auch die dritte Verwundung überlebt haben. Wir waren gerade für wenige Stunden aus der vordersten Linie herausgezogen worden und als Essensnachschub gab es etwas, was wir alle wochenlang nicht mehr gesehen hatten: frisches Schwarzbrot und Marmelade und das noch in jeder Menge. Ich verzehrte gierig ein Brot nach dem anderen, bis mein Bursche - tatsächlich hatte auch damals noch jeder Leutnant einen Burschen, der sich um ihn persönlich zu kümmern hatte - sagte: "Na, Herr Leutnant, wenn das einen Bauchschuß gibt." Bei der Vorstellung verließ mich der Appetit. Zufällig, was sonst, hatte ich Glück im Unglück und mir tatsächlich eine Reserve angefressen. Wenige Stunden später traf mich ein Querschläger, durchschlug die linke Wange, den Gaumen und blieb wenige Millimeter unter dem rechten Auge stecken. Erst mehrere Wochen später habe ich dann eine in dünne Scheiben geschnittene Semmel, jede liebevoll mit Butter bestrichen, zwischen den Zähnen durchschieben können - einer der schönsten Genüsse meines Lebens! Zu dieser Zeit war das Geschoß zwar bereits herausoperiert, doch das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verschwollen und ich war gezwungen, den Eiter, der mir ständig aus dem Mund tropfte, mit einer kleinen Schüssel aufzufangen. Einen Zentimeter höher und der Sohn hätte die gleiche Entstellung wie der Vater. Ein eigentümlicher Gedanke.
Ich war damals in dem in den Weinbergen liegenden kleinen Kloster Himmelspforten bei netten Nonnen untergebracht. Ein Fußweg führte in das barocke Würzburg mit seinen herrlichen Bauten und kulturellen Angeboten. Als die Schwellung zurückgegangen war und die Kinnlade wieder bewegt werden konnte, durfte ich nach Hause, wo mich die Eltern, meine junge Frau und unser Sohn erwarteten. Doch auch hier bekam ich sozusagen am eigenen Leibe die Folge nationalsozialistischer Indoktrination zu spüren.
Es war im Januar 1944, als ich an mir eigentümliche Veränderungen feststellte. Meine Haut fühlte sich überall taub an, ich verlor Haare und mein Gang wurde sehr unsicher. Ich suchte unseren Hausarzt auf. Der hieß mich, mit geschlossenen Augen den rechten Arm zu kreisen und dann mit dem Zeigefinger meine Nasenspitze zu berühren. Der Zeigefinger landete überall, nur nicht auf der Nasenspitze. Auch gelang es mir nicht, mich auf einem Strich Fuß vor Fuß vorwärts zu bewegen. Wo hatte ich diese Übungen schon einmal beobachtet? Noch während der Untersuchung fiel es mir ein. Im Dezember hatte ich den Wolfgang-Liebeneiner-Film 'Ich klage an' gesehen. Gut gemacht, mit Heidemarie Hatheyer, Paul Hartmann und Matthias Wiemann, der einen Arzt spielte, in den Hauptrollen. Wiemann hatte mit der Frau die gleichen Versuche angestellt und multiple Sklerose diagnostiziert. Als die Krankheit sich dann verschlimmerte, gab er ihr auf Verlangen die Todesspritze, wofür ihn das Gericht freisprach. Er hatte das Kinopublikum auf seiner Seite, welches nicht merkte, daß die Nazipropaganda durch den Film geschickt versuchte, die Bevölkerung für den Gedanken der Euthanasie zu gewinnen. Ich hatte also multiple Sklerose. Als der Arzt, der mich sofort in das Nervenlazarett in Elbing überwies, mir beim Abschied sagte: "Aber multiple Sklerose haben sie nicht", wuchs meine Gewißheit. Und tatsächlich war ich, wie ich später feststellte, mit diesem Befund eingewiesen worden. Nach der Rückenmarkpunktion sagte der leitende Stabsarzt: "Ich gebe ihnen mein Offiziersehrenwort, daß sie nicht an multipler Sklerose, sondern an einer schweren, aber heilbaren Polyneuritis erkrankt sind." Auf das Ehrenwort eines Offiziers verließ man sich damals immer noch ganz blind. So dachte ich und auch alle anderen. Nach einem viertel Jahr hatte ich die Krankheit überwunden und wurde, heimat-diensttauglich, wenn auch noch mit offenem Gaumen, zum Ersatzbatallion in Jena einberufen. Hier erlebte ich voller Verzweiflung das verunglückte Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944. Wenige Tage später
mußte die ganze Garnison antreten. Ein General hielt eine Ansprache, die von begeisterter Unterwerfung vor Hitler nur so triefte und nahm uns einen erneuten Eid auf den Führer ab. Ab sofort hatte der Soldat mit dem deutschen Gruß zu grüßen. Das Heer war damit endgültig zu einer Parteiorganisation verkommen. Ich konnte für den Masochismus der meisten Generäle nur noch Verachtung aufbringen.
26 Wenige Tage später schrieb mir meine Mutter, daß mein Vater von der SS festgenommen und in das Konzentrationslager Stutthof überführt worden sei. Ganz ungeschoren war meine Familie schon vorher nicht mehr geblieben. Ich war gerade im Urlaub, als eines morgens zwei brutal aussehende SS-Männer in schweren Ledermänteln in unser Haus eindrangen und es durchsuchten. Sie zeigten keinen Durchsuchungsbefehl vor. Wir haben auch nicht danach gefragt; daß hier Recht oder Rechtmäßigkeit keine Rolle spielten, war nur allzu deutlich spürbar. Meine Offiziersuniform, in die ich schnell geschlüpft war, beeindruckte sie überhaupt nicht. Kaum waren sie, offensichtlich ergebnislos, abgezogen, riefen wir alle Bekannten an, Nazis waren ohnedies nicht darunter, um sie auf den zu erwartenden Besuch vorzubereiten. Man hatte meinen Vater und einige andere gezwungen, hinter dem Fahrzeug, das für ihren Abtransport gedacht war, herzulaufen. So ging mein Vater nun als Gefangener durch die Straßen seiner Stadt. Es war aber so, daß sehr viele Danziger Bürger sein markantes Gesicht mit dem Läppchen über dem rechten Auge noch nicht vergessen hatten. Und was als Schande gedacht war, drohte sich gegen die Schergen zu richten. So wurden die Gefangenen schnell wieder ins Auto verladen. Am nächsten Tag meldete ich mich beim Batallionskommandeur, nahm Haltung an und sagte mit vor Empörung etwas wankender Stimme, daß mein Vater ins KZ gekommen wäre und es deutschen Soldaten nicht zugemutet werden könnte, von einem Offizier befehligt zu werden, dessen Vater im KZ sei. Ich wolle ihm deshalb mein Portepee zurückgeben. Der Major sprang auf, versuchte mich zu beruhigen und von meinem Plan abzubringen. Er schlug vor, sich sofort schriftlich an den Danziger Gauleiter zu wenden, um die Gründe für die Festnahme meines Vaters zu erfahren und ihn darüber zu informieren, daß beide Söhne Offiziere seien. So viel ich weiß, verhielt sich mein Bruder Klaus, der damals an der Nordfront einen Hauptverbandsplatz betreute, ähnlich. Tatsächlich wurde mein Vater etwa sechs Wochen später wieder entlassen. Ob wegen unserer Intervention oder aus anderen Einsichten, bleibt ungeklärt. Mein Vater hatte während seiner Dienstzeit mit dem Leipziger Oberbürgermeister Goerdeler, einem der Hauptverschwörer des 20. Juli, berufliche Kontakte. Vermutlich hat das als hysterische Überreaktion der Sicherheitspolizei zu seiner Festnahme geführt. Also auch hier keine Heldentaten zu vermelden. Vater hat über seinen KZ-Aufenthalt nie gesprochen. Das war ihm wohl auch unter Androhung schwerster Repressalien verboten worden. Warum hat er jedoch nach dem Untergang des Naziregimes nichts erzählt? Warum habe ich ihn nicht darüber befragt? Mein Vater ist nach dem Einmarsch der Russen und Polen in Danzig noch einige Monate in Zoppot verblieben. Man hat ihn aus unserem Haus geworfen und ihm mein kleines Zimmer zugewiesen. Sonst hat man ihn verschont. Er muß aber Grauenhaftes mitangesehen haben. Auch darüber nur vage Andeutungen. Schließlich wurde er mit ehemaligen Kommunisten nach Berlin abgeschoben.
27 Indessen hatte ich eine kleine Wohnung in Jena organisieren können und holte Frau und Kind zu mir. Anfang 1945 wurden wir auch dort ausgebombt und ich schaffte die Meinen nach Reit im Winkl, wo sie bei Freunden meiner Mutter Unterschlupf finden konnten. Auf der Fahrt dorthin wurde unser Zug von Tieffliegern beschossen. Meine hochschwangere Frau und ich mit dem Söhnchen auf dem Arm rannten um unser Leben, bis wir hinter einem Erdhügel Deckung fanden. Ich mußte gleich wieder zurück, denn ich war indessen in ein Speziallazarett für plastische Chirurgie bei Potsdam verlegt worden. Leitender Arzt: Generalarzt Professor Schuchardt, ehemals Assistent von Professor Lexner, der nach dem ersten Weltkrieg das Gesicht meines Vaters geflickt hatte. Die Patienten, eine Ansammlung von Gesichtern, wie sie ein Horrorfilm nicht grausiger hätte malen können. In unserem Zimmer lag auch ein Hauptmann, der sich als nationalsozialistischer Führungsoffizier zu erkennen gab. Befragt, was er tun würde, wenn Deutschland nach dem verlorenen Krieg besetzt sei, meinte er, er würde sich dann in ein KZ als Verfolgter einweisen lassen, dort ein kleines Zimmer mit einem Blumentopf auf dem Fensterbrett bewohnen und auf die Befreier warten. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß selbst dieser Mann nicht in der Lage war, sich ein KZ anders als in dieser pervers idyllischen Form vorzustellen. Die Russen standen schon an der Oder, als wir aufgefordert wurden, das Zuchthaus in Brandenburg zu besichtigen. Der Leiter des Zuchthauses zeigte uns stolz den Raum mit den Haken, an denen man die Verschwörer des 20. Juli aufgehängt hatte und zwar 'so behutsam', daß sie noch einige Zeit Todesqualen ertragen mußten. Wir wurden dann durch die Werkhallen geführt, wo die Gefangenen weiter für die Rüstung arbeiteten. Ich hielt nach dem Pfarrer Schmidt, der uns getraut hatte und von dem ich wußte, daß er dort inhaftiert war, Ausschau, konnte ihn jedoch nicht entdecken. Ende April teilte mir Professor Schuchard mit, er müsse mich als geheilt entlassen. Man suche Offiziere als Führer für Volkssturmeinheiten. Der Volkssturm war ein letztes Aufgebot alter Männer und halbwüchsiger Jungen, die man notdürftig bewaffnet an die Front gegen die Russen schicken wollte, die Berlin bereits erobert hatten. Ein sicheres Todeskommando. Ich meinte, wir beide wüßten doch, daß der Krieg in wenigen Tagen zu Ende sei und ob das einen Sinn habe, seine so mühevolle und so meisterhaft gelungene Arbeit sinnlos wieder zerstören zu lassen. Das sah er Gott sei Dank ein und wenige Tage später konnte ich mich bei der Organisation der Flucht des ganzen Lazaretts nützlich machen. Wir gelangten nach Schleswig-Holstein, wo wir großräumig interniert wurden. Eine wichtige Beschäftigung der Offiziere bestand darin, aus ihren Kriegsauszeichnungen das Hakenkreuz herauszukratzen. Ich habe meine bescheidenen Orden ins Meer versenkt. Ende Juli wurde ich aus der Gefangenschaft entlassen und fuhr in einem Güterzug Richtung Oberbayern. Eines Abends erreichten wir den Würzburger Bahnhof. Es sollte erst am nächsten Morgen weitergehen. Ich ging in die Stadt, die nur noch aus Brandruinen bestand. Bildete ich es mir ein, oder lag über allem noch der Geruch von verbranntem Fleisch? Ich ging zum Waggon zurück, legte mich auf meinen Strohsack und heulte vor mich hin. Es war zu Ende.
Ende...
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