Olaf Jandura · Thorsten Quandt · Jens Vogelgesang (Hrsg.) Methoden der Journalismusforschung
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Olaf Jandura · Thorsten Quandt · Jens Vogelgesang (Hrsg.) Methoden der Journalismusforschung
Olaf Jandura · Thorsten Quandt Jens Vogelgesang (Hrsg.)
Methoden der Journalismusforschung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Barbara Emig-Roller | Eva Brechtel-Wahl VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16975-0
Inhalt Vorwort ..................................................................................................................................9 I.
Entdeckung und Planung ..........................................................................................13 Armin Scholl Der unauflösbare Zusammenhang von Fragestellung, Theorie und Methode. Die reflexive Bedeutung der Methodologie (nicht nur) in der Journalismusforschung ...... 15 Martin Löffelholz und Liane Rothenberger Felder der Journalismusforschung ................................................................................ 33 Michael Brüggemann Journalistik als Kulturanalyse. Redaktionskulturen als Schlüssel zur Erforschung journalistischer Praxis .................................................................................................. 47 Klaus Meier Journalismusforschung als interaktive Innovationsforschung. Eine Methodologie für Wissenstransfer ....................................................................................................... 67 Jürgen Wilke Autobiographien als Mittel der Journalismusforschung. Quellenkritische und methodologische Überlegungen ................................................................................... 83
II. Untersuchungsdesigns und Stichprobenbildung ...................................................107 Wiebke Loosen und Armin Scholl Validierung oder Ergänzung? Zur Praxis von Methodenkombinationen in der Journalismusforschung ............................................................................................... 109 Bernd Blöbaum, Sophie Bonk, Anne Karthaus und Annika Kutscha Journalismus in veränderten Medienkontexten. Mehrmethodendesign zur Erfassung von Wandel ............................................................................................... 123 Ines Engelmann Journalistische Selektionskriterien und Selektionsentscheidungen. Methodische Implikationen für die Anwendung einer Wert-Erwartungstheorie ............................. 141
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Inhalt Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch Methodische Designs zur Messung subjektiver Einflüsse auf Nachrichtenentscheidungen von Journalisten ............................................................ 155 Sven Engesser und Benjamin Krämer Die Rückfangmethode. Ein Verfahren zur Ermittlung unzugänglicher Grundgesamtheiten in der Journalismusforschung ..................................................... 171 Olaf Jandura Fehler durch Nichtmessen in der Journalismusforschung .......................................... 189
III. Untersuchungsinstrumente......................................................................................203 Patrick Rössler, Jan Kersten und Jana Bomhoff Fotonachrichtenfaktoren als Instrument zur Untersuchung journalistischer Selektionsentscheidungen .......................................................................................... 205 Claudia Riesmeyer Das Leitfadeninterview. Königsweg der qualitativen Journalismusforschung? ......... 223 Michaela Maier, Karin Stengel, Georg Ruhrmann, Joachim Marschall, Arne Freya Zillich und Roland Göbbel Synchronisierung von Erhebungsinstrumenten zur Erfassung des dynamischen Nachrichtenprozesses am Beispiel der Krisenkommunikation .................................. 237 IV. Datenerhebung .........................................................................................................257 Maja Malik Repräsentativität als Herausforderung für Journalistenbefragungen in Deutschland ................................................................................................................ 259 Thorsten Quandt Journalisten unter Beobachtung. Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen der Beobachtung als Methode der Journalismusforschung .............................................. 277 Jens Vogelgesang und Michael Scharkow Messung der Publikumsagenda mittels Nutzungsstatistiken von Suchmaschinenanfragen ............................................................................................. 299
Inhalt
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V. Datenauswertung ......................................................................................................315 Thomas Hanitzsch Die Modellierung hierarchischer Datenstrukturen in der Kommunikationsund Medienwissenschaft. Ein Vergleich von OLS-Regression und Mehrebenenanalyse an einem Beispiel aus der Journalismusforschung .................... 317 Maja Malik und Volker Gehrau Stabilität und Dynamik im Journalismus. Zum Gewinn von Kohortenanalysen für die Journalismusforschung. .................................................................................. 335 Steffen Kolb und Daniel Beck Vergleichbarkeit in der (international) vergleichenden Journalismusforschung auf der Basis von Sekundäranalysen .......................................................................... 351 Autorinnen und Autoren.....................................................................................................367 Register ..............................................................................................................................371
Vorwort Die Journalismusforschung hat maßgeblich zur Etablierung empirischer Forschungsmethoden in der Kommunikationswissenschaft beigetragen. Das sozialwissenschaftliche Fachverständnis entwickelte sich in der Journalistik vor allem im Zuge des vermehrten Einsatzes von Befragungs- und Beobachtungsverfahren in der Forschungspraxis. Eine Vielzahl von Studien belegt, welchem enormen Wandel die journalistische Profession seit Jahren unterliegt: Journalisten müssen nicht nur häufiger sondern auch immer schneller entscheiden, was berichtenswert ist und was nicht. Ihr Arbeitsalltag wird zunehmend geprägt vom ökonomischen Druck, der auf den Redaktionen lastet. Angesichts dieses enormen Wandels des Untersuchungsgegenstands stellen sich neben vielen theoretischen auch zahlreiche methodische Fragen, die – seien es Operationalisierungen, Erhebungsverfahren oder Auswertungstechniken – allesamt die Validität und Reliabilität der Forschungsergebnisse beeinflussen. Das zentrale Anliegen der Autoren in diesem Sammelband ist es, eine methodologische und methodische Bestandsaufnahme gegenwärtiger Journalismusforschung vorzunehmen. Der Sammelband setzt sich zum einen aus den Beiträgen der gemeinsamen Tagung der Fachgruppen „Journalistik & Journalismusforschung“ und „Methoden der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft“ der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) im Frühjahr 2009 zusammen. Zum anderen haben die Herausgeber einzelne Autoren eingeladen, inhaltlich ergänzende Beiträge für den Sammelband zu verfassen. In diesen Beiträgen nehmen sich die Autoren spezieller Themen an, die auf der Tagung unberücksichtigt geblieben, aber für eine methodische Bestandsaufnahme unverzichtbar sind. Die Gliederung des Sammelbands folgt der Logik des Forschungsprozesses von der Entdeckung und Planung bis zur Datenauswertung. Das erste mit dem Titel „Entdeckung und Planung“ überschriebene Kapitel umfasst mehrere Beiträge zur Forschungsprogrammatik der Journalismusforschung. In diesen Beiträgen geht es um Grundsatzfragen der Disziplin: Auf welche Theorieprogramme berufen sich Journalismusforscher? Welchen wissenschaftstheoretischen Programmen fühlen sie sich verpflichtet? Mit welchen Methoden erheben Journalismusforscher ihre Daten? Armin Scholl leitet den Sammelband mit einem methodologischen Beitrag ein: Seine Eingangsprämisse lautet, dass Fragestellung, Theorie und Methode einen unauflösbaren Zusammenhang bilden. Ausgehend von dieser Prämisse rekonstruiert er den Forschungsprozess mit speziellem Blick auf die Operationalisierbarkeit von Journalismustheorien. Martin Löffelholz und Liane Rothenberger bilanzieren mittels einer Literatursynopse und einer Inhaltsanalyse internationaler Fachzeitschriften, welche theoretischen und vor allem methodischen Entscheidungen aktuell die Journalismusforschung prägen. Michael Brüggemann plädiert in seinem Beitrag für eine kulturanalytisch begründete Journalistik. Begriffstheoretischer Dreh- und Angelpunkt seines Plädoyers ist das Konzept der Redaktionskultur, welche mit verschiedenen qualitativen Verfahren erfasst wird. Ebenfalls forschungsprogrammatischer Natur ist der Beitrag von Klaus Meier. Im Zentrum des Beitrags steht die Skizze einer Methodologie des Wissenstransfers zwischen Journalismusforschung und Redaktionen. Jürgen Wilke beschreibt in seinem Beitrag, wie sich Autobiographien von Journalisten für die Journalismusforschung nutzbar machen las-
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Vorwort
sen und diskutiert aus methodologischer und quellenkritischer Perspektive das Potenzial und die Grenzen dieser Vorgehensweise. In den Beiträgen des zweiten Kapitels geht es um spezielle methodische Fragen, die sich in der Journalismusforschung beim Entwurf von Untersuchungs- und Stichprobenanlagen stellen: Welchen Nutzen hat die Kombination von mehreren Forschungsmethoden für die Journalismusforschung? Was sind typische Operationalisierungsentscheidungen bei der Untersuchung journalistischer Selektionsentscheidungen? Welche Kosten und welchen Nutzen versprechen neuartige Stichprobenverfahren? Wie wirken sich unvollständige Untersuchungsanlagen auf die Validität empirischer Studien der Journalismusforschung aus? Wiebke Loosen und Armin Scholl erörtern in ihrem Beitrag das Potential von Methodenkombinationen für die Journalismusforschung und beschreiben in diesem Zuge fallstudienartig Beispiele der Methodenkombination aus der Forschungspraxis. Bernd Blöbaum, Sophie Bonk, Anne Karthaus und Annika Kutscha stellen das Mehrmethodendesign eines Längsschnittprojekts zur Erfassung des Wandels im Journalismus seit 1990 vor. Dieses Mehrmethodendesign verspricht eine ganzheitliche Forschungsperspektive zur Erfassung des journalistischen Wandels. Ines Engelmann stellt in ihrem Beitrag verschiedene Operationalisierungsvarianten vor, um Elemente von Selektions- und Entscheidungsprozessen auf der journalistischen Mikroebene zu erfassen. Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch zeichnen in ihrem Beitrag nach, mittels welcher Forschungsdesigns und auf Basis welcher Operationalisierungsentscheidungen bislang subjektive Einflüsse auf die Nachrichtenentscheidungen von Journalisten untersucht worden sind. Sven Engesser und Benjamin Krämer führen die aus der Biologie stammende Rückfangmethode in die Journalismusforschung ein und veranschaulichen anhand einer Beispielstudie zum partizipativen Journalismus, wie diese innovative Stichprobentechnik forschungspraktisch nutzbar gemacht werden kann. Am Ende des zweiten Kapitels diskutiert Olaf Jandura anhand einer Fehlertypologie die Frage, wie sich Abdeckungs-, Stichprobenfehler und Nonresponse auf die Validität empirischer Studien der Journalismusforschung auswirken. Im dritten Kapitel sind unter der Überschrift „Untersuchungsinstrumente“ drei Beiträge versammelt, in denen die Autoren die Konstruktionspraxis von Erhebungsinstrumenten exemplarisch vorstellen: Mit welchen Untersuchungsinstrumenten kann visuelle Kommunikation valide und reliabel untersucht werden? Welchen Stellenwert haben qualitative Verfahren der Datenerhebung in der Journalismusforschung? Wie funktioniert die Kalibrierung von Untersuchungsinstrumenten in Mehrmethodenstudien? Patrick Rössler, Jan Kersten und Jana Bomhoff stellen in ihrem Beitrag das Konstrukt des Fotonachrichtenfaktors als theoretische Weiterentwicklung der Nachrichtenwerttheorie vor und präsentieren erste Ergebnisse einer qualitativen Pilotstudie. Das Mehrmethodendesign der Pilotstudie sieht eine Feldbeobachtung in der Bildredaktion der Zeitschrift „stern“ sowie die Durchführung von Leitfadeninterviews vor. Claudia Riesmeyer diskutiert anhand von Fallbeispielen die Vorzüge und Grenzen von Leitfadeninterviews für die qualitative Journalismusforschung. Michaela Maier, Karin Stengel, Georg Ruhrmann, Joachim Marschall, Arne Freya Zillich und Roland Göbbel zeigen in ihrem Beitrag auf, wie im Rahmen eines Mehrmethodendesigns unterschiedliche Erhebungsinstrumente inhaltlich synchronisiert werden können. Unter der Überschrift „Datenerhebung“ sind im vierten Kapitel drei Beiträge versammelt, in denen die Eigenheiten der Erhebungslogiken von Befragungen und Beobachtungen beschrieben und diskutiert werden: Wie realistisch ist weiterhin der Anspruch auf repräsentative Journalistenstichproben? Welchen Stellenwert hatte die Beobachtung bislang als
Vorwort
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Methode und was versprechen automatisierte Beobachtungsverfahren für die Journalismusforschung der Zukunft? Maja Malik beschreibt und erörtert die aktuellen Herausforderungen, die sich bei der Durchführung repräsentativer Journalismusbefragungen in Deutschland stellen. Thorsten Quandt sondiert in seinem Beitrag am Beispiel einer teilstandardisierten Redaktionsbeobachtung die Möglichkeiten und Grenzen der Beobachtung als Erhebungsmethode. Jens Vogelgesang und Michael Scharkow stellen in ihrem Beitrag vor, auf welche Art und Weise die Statistiken von Suchmaschinenanfragen für die Ermittlung der Publikumsagenda nutzbar gemacht werden können. Das mit der Überschrift „Datenauswertung“ betitelte fünfte und letzte Kapitel thematisiert spezielle Herausforderungen für die Journalismusforschung bei der statistischen Auswertung: Welche Verfahren sind dafür geeignet, aus hierarchischen Theoriegebäuden stammende Hypothesen statistisch zu modellieren? Was können Längsschnittanalysen für die Journalismusforschung leisten? Wie ist mit Sekundärdaten umzugehen, wenn die Arbeit von Journalisten international vergleichend untersucht werden soll? Anhand ausgewählter Daten der „Worlds of Journalism“-Studie erklärt Thomas Hanitzsch in seinem Beitrag die Modellierung hierarchischer Datenstrukturen mithilfe von Mehrebenenanalysen. Maja Malik und Volker Gehrau veranschaulichen anhand der Daten der JouriD-Studie den Wert von Kohortenanalysen für die Journalismusforschung. Steffen Kolb und Daniel Beck beschreiben und erörtern sowohl das Potential als auch die Schwierigkeiten der Nutzung von sekundäranalytischen Daten in der international vergleichenden Journalismusforschung. Obwohl viele der Sammelbandbeiträge aus der alltäglichen Forschungspraxis stammen und es in den meisten Fällen den Autoren ursprünglich nicht darum ging, mittels ihrer Forschungsprojekte einen methodologischen oder methodischen Beitrag zu leisten, sind wir dennoch der Ansicht, dass mit dem Sammelband die wesentlichen methodischen Herausforderungen für die Journalismusforschung angesprochen und Lösungswege aufgezeigt werden. Wir hoffen, dass der Sammelband den methodologischen und methodischen Diskurs in der Journalismusforschung nicht nur dokumentiert, sondern diesen ebenso befördert. Wie bereits eingangs erwähnt, ging der Entstehung dieses Sammelbands eine gemeinsame DGPuK-Fachgruppentagung im Jahr 2009 voraus. An dieser Stelle sei deshalb noch einmal ganz herzlich dem ehemaligen Intendanten des Deutschlandradio Kultur, Ernst Elitz, dafür gedankt, dass die Tagung im Rundfunkgebäude in Berlin-Schöneberg stattfinden konnte. Das besondere Organisationsgeschick von Laura Leithold trug dann vor Ort maßgeblich zum Gelingen der Veranstaltung bei. Unser spezieller Dank gilt David Maurer, Agatha Pohl, Nora Riecker und Michael Wendt für ihre Unterstützung bei der Erstellung der Druckfassung des Sammelbands. Olaf Jandura, Thorsten Quandt und Jens Vogelgesang München und Hohenheim, April 2011
I.
Entdeckung und Planung
Der unauflösbare Zusammenhang von Fragestellung, Theorie und Methode. Die reflexive Bedeutung der Methodologie (nicht nur) in der Journalismusforschung Armin Scholl
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Das Problem der Empiriefähigkeit von (Journalismus-) Theorien
Die Journalismusforschung hat innerhalb der Kommunikationswissenschaft ein theoretisches Spezifikum: Sie ist gekennzeichnet durch einen überdurchschnittlich hohen Rückgriff auf Gesellschaftstheorien. Um nur einige zu nennen: Theorie sozialer Systeme, Chaostheorie, Strukturationstheorie, Kritische Theorie (inklusive polit-ökonomischer Ansatz und Diskurstheorie) und Cultural Studies (vgl. diverse Beiträge in Löffelholz 2004 und in Altmeppen, Hanitzsch & Schlüter 2007 sowie Baum 1994; Brosda 2008; Herman & Chomsky 2002). Genau diese Theorien gelten aber gemeinhin in Bezug auf ihre empirische Umsetzbarkeit als problematisch, vor allem, wenn man als Grundlage die kritisch-rationalistische Wissenschaftstheorie mit ihrer Modellierung des Verhältnisses von Theorie und Empirie heranzieht (vgl. aus ähnlicher Perspektive für die Medienwirkungsforschung Halff 1998): Probleme gibt es vor allem hinsichtlich der adäquaten Erhebungsmethode oder der Möglichkeit zur deduktiven Ableitung von Hypothesen. Problematisiert werden diese Gesellschaftstheorien aber auch, wenn und insofern sie eine eigene Erkenntnistheorie oder Aussagenlogik einführen, die als Herausforderung des kritisch-rationalen Wissenschaftsverständnisses bzw. der analytischen Wissenschaftstheorie eingeschätzt werden. Schnell entsteht dann ein Dissens, was überhaupt als Theorie akzeptiert werden kann. Der Positivismusstreit in den 1960er Jahren ist ein Beispiel dafür, denn von Seiten der kritischen Rationalisten wurde die Kritische Theorie als Ideologie verstanden und deshalb abgelehnt. Von dieser wissenschaftlichen Exkommunikation ist allerdings nicht nur die Kritische Theorie betroffen, sondern auch die Systemtheorie (vgl. Esser 1999, 49 ff., 56 ff.). Was als Theorie im kritisch-rationalen Sinn gelten kann, wird auch in der jüngeren Journalismusforschung diskutiert. Insbesondere bei Gesellschaftstheorien wird die Theoriefähigkeit aus dieser Perspektive zumindest bezweifelt, weil oder wenn sie nur als Taxonomien oder komplexe Begriffssysteme ohne prognostischen Gehalt angesehen werden (vgl. Kepplinger 2004, 87 ff., 92 sowie Löffelholz 2004, 19 ff.). Es gibt nun unterschiedliche Strategien, mit Gesellschaftstheorien umzugehen. Man kann die nicht empiriefähigen Theorien aus dem Kanon wissenschaftlicher Theoriefähigkeit streichen oder sie zumindest ignorieren. Es genügt dann, nur die im kritisch-rationalistischen Sinn empiriefähigen Theorien zu operationalisieren bzw. verschiedene Operationalisierungsversuche zu diskutieren (vgl. die Beiträge in Matthes et al. 2008). Damit entledigt man sich allerdings auch der möglichen zusätzlichen Erkenntnisleistungen, die solche Gesellschaftstheorien erbringen, was in der Journalistik und Journalismusforschung
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Armin Scholl
zur theoretischen Verarmung oder doch zumindest zu einer drastischen Reduktion des theoretischen Pluralismus führen könnte. Eine weitere Strategie besteht darin, in mühsamer Arbeit die (noch) nicht theoriefähige Gesellschaftstheorie in eine „richtige“ Theorie zu übersetzen. Ein Beispiel dafür ist Hartmut Essers Rekonstruktion der Handlungstheorie von Alfred Schütz in eine RationalChoice-Theorie (vgl. Esser 1991) oder der Kommunikationstheorie Luhmanns in eine handlungstheoretische Kommunikationstheorie (vgl. Esser 1999, 493-542). Bei solchen Übersetzungen besteht allerdings die Gefahr eines enormen Informationsverlusts. Außerdem werden zentrale logische Grundlagen (hier: handlungstheoretisch-sinnverstehende reflexive oder selbstreferenzielle Logik) nomologisiert.1 Eine interessante Variante dieser beiden Strategien findet sich im Rahmen der Konstruktivismusdebatte (vgl. Bentele & Rühl 1993): Hier lehnt Lutz Erbring (1993, 60 f.) den Konstruktivismus als Erkenntnistheorie ab, akzeptiert aber gleichzeitig konstruktivistische Hypothesen auf der substanzwissenschaftlichen Objektebene (etwa in Form der Nachrichtenkonstruktion). Der Clou dieser Argumentation besteht in der Separierung der Ebenen: Kommunikation (in) der Wissenschaft und Kommunikation als Objektbereich. Genau diese Möglichkeit des Ebenenwechsels wird aber etwa in der Systemtheorie bestritten, was zur Einführung und Akzeptanz selbstreferenzieller formal-theoretischer Kalküle führt (vgl. Luhmann 1984, 9 ff., 19). Eine dritte Strategie besteht darin, die betreffende Gesellschaftstheorie anzuerkennen (inklusive ihres logischen „Überbaus“) und mit ihr – im Rückgriff auf Mehrebenenanalyse, Analyse latenter Konstrukte oder Strukturgleichungsmodelle – empirische Forschung zu betreiben. Dabei taucht allerdings oft der Vorwurf auf, dass Theorie und Empirie (bzw. Methode) inkompatibel seien, dass es (auch logische) Brüche zwischen theoretischen Behauptungen und empirischen Ergebnissen gäbe (vgl. Löffelholz 2004, 52; Hanitzsch, Altmeppen & Schlüter 2007, 9). Solche eher pauschalen Vorwürfe einer bestimmten Gesellschaftstheorie gegenüber (hier: die Systemtheorie betreffend) übersehen allerdings, dass zum einen alle Gesellschaftstheorien eine größere Kluft zwischen Theorie und Empirie aufweisen als beispielsweise Theorien mittlerer Reichweite; zum anderen ignorieren sie die Versuche der betreffenden Forschungsrichtung, genau diese Kluft zu verringern oder zu überspringen.2 Das Verhältnis von Theorie und Empirie ist also im Fall von Gesellschaftstheorien alles andere als trivial, und alle Lösungsmöglichkeiten haben Vorteile und Nachteile. Angesichts der hohen Relevanz von Gesellschaftstheorien lohnt sich aber ein Weiterarbeiten an der Überbrückung der Kluft zwischen Theorie und Empirie – eine Schließung der Kluft ist prinzipiell unmöglich, besteht diese doch bei jeglicher Theorie, nur dass sie bei Theorien mittlerer Reichweite bedeutend kleiner ist. Es mag auch eine Folge der Anwendung kritisch-rationalistischer Wissenschaftstheorie sein, dass bestimmten Theorietypen Rationali-
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Ein besonderes Problem besteht in der reflexiven Aussagenlogik sämtlicher oben aufgeführter Gesellschaftsund Kulturtheorien, die darauf bestehen, dass sie als Gegenstand in sich selbst wieder vorkommen. Dies bereitet dem eher linearen Verständnis von Theoriebildung im Besonderen und vom Forschungsprozess im Allgemeinen, wie es für den Kritischen Rationalismus typisch ist, die größten Schwierigkeiten. Das Problem des Verhältnisses von Theorie und Empirie bei Universaltheorien wird noch schwieriger, wenn man sich nicht auf ein Verständnis von Empirie einigen kann. So versteht Luhmann seine Systemtheorie keineswegs als „reine Artistik“ (Luhmann 1984, 13), sondern als, bei aller Abstraktion, empirisch gehaltvolle Theorie.
Der unauflösbare Zusammenhang von Fragestellung, Theorie und Methode
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tät zugeschrieben wird und anderen nicht.3 Wenn nur Theorien rational sind, die empirisch überprüfbar sind, dann handelt es sich entweder um eine Tautologie oder um eine logische Verkürzung, denn die Aufgabe empirischer Forschung besteht ja gerade darin, eine Theorie zu operationalisieren, weil sie selbst nie direkt beobachtbar ist. Bei Gesellschaftstheorien ist nur der Weg etwas länger. Daraus die (logische!) Legitimation für ihre Exklusion als nicht wissenschaftsfähig abzuleiten (Strategie 1), kann man durchaus als Selbstwiderspruch interpretieren.4 Aber auch die Uminterpretation der Gesellschaftstheorien in empirisch passfähige Theorien (Strategie 2) ist bei allen Bemühungen zumindest teilweise unbefriedigend, weil die logischen Eigenheiten dieser Theorien (Selbstreferenzialität, Reflexivität, Kontextualität usw.) ebenfalls forschungspraktische Implikationen haben können, sodass die Nichtberücksichtigung dieser Eigenlogiken das Potenzial der betreffenden Gesellschaftstheorien nicht ausschöpft oder die betreffende Gesellschaftstheorie gar in ihrem Sinn verfehlt.5 Hinzu kommt eine weitere Besonderheit der Journalismusforschung: der Praxisbezug. Die Fragestellungen der Journalismusforschung sind nur teilweise wissenschaftsimmanent, zu einem erheblichen Teil entstammen sie der journalistischen Praxis selbst, und die Journalismusforschung hat zumindest über weite Teile auch den Anspruch, praxisrelevante Probleme aufzugreifen und die Ergebnisse der Forschung in die Praxis wieder zurückzuspielen (vgl. instruktiv Hohlfeld 2003).6 Entdeckungs- und Verwertungszusammenhang der Forschung spielen hier möglicherweise eine größere (oder problematischere) Rolle als in vielen anderen Forschungsfeldern innerhalb der Kommunikationswissenschaft. Die in der Abbildung zusammengestellten Zusammenhänge zeigen die multiplen Kontingenzen zwischen Fragestellung, Theorie, Methode und Empirie auf. Die Pfeile sind nicht als kausale Zusammenhänge oder Instruktionen zu verstehen, sondern als Irritationen oder Anregungen, die kontingente Entscheidungen erfordern oder gar erzwingen: Die Journalismusforschung kann Anregungen für ihre Fragestellungen aus der journalistischen Praxis aufnehmen oder aus dem eigenen Theoriereservoir. Aus den Fragestellungen ergibt sich wiederum die Wahl der (geeigneten) Theorie; dieses Verhältnis ist also zumindest teilweise zirkulär. Dasselbe Prinzip der wechselseitigen Bedingtheit hier zwischen Theorie und Methode kommt bei der Wahl der Methoden und bei der Erzeugung empirischer Ergebnisse hier zwischen Theorie und Methode zum Tragen. Allerdings hängen die mögli3
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Um Missverständnisse zu vermeiden: Popper selbst gesteht der Soziologie und soziologischen Theorien einen autonomen Status durchaus zu. Er fordert also keinesfalls eine psychologische Reduktion soziologischer Theorien oder einen theoretischen Individualismus. Allerdings müssen dann auch diese soziologischen Theorien kritisch-rationalen und deduktiv-nomologischen Kriterien folgen und dürfen keinen „methodologischen Kollektivismus“ betreiben. Das bedeutet, dass das Funktionieren von Institutionen und Gesellschaften auf individuelle Handlungen und Entscheidungen kausal zurückgeführt wird (vgl. Popper 1945; 1995, 337 ff., 348 f.). Damit werden dann doch wieder viele Gesellschaftstheorien aus dem Kanon rationaler Theorien ausgeschlossen. Dies wirft natürlich die Folgefrage auf, wo die Grenze zwischen empiriefähigen und nicht empiriefähigen Theorien gezogen wird oder ob die Grenzen überhaupt sinnvoll sind. Letztlich ist die Grenzziehung eine Entscheidung innerhalb der Scientific Community, also eine Beobachtung zweiter Ordnung. Übrigens wurde auch in der Rezeptionsforschung eine Theorie entwickelt, der eine neue, andere Logik inhärent ist: das dynamisch-transaktionale Modell der Medienwirkungsforschung. Die Logik der Transaktion als oszillierende Kausalität ist keineswegs einfach zu operationalisieren, erzeugt also ebenfalls eine enorme Herausforderung für die empirische Überprüfbarkeit (vgl. die Beiträge in Wünsch, Früh & Gehrau 2008). Es gibt zumindest geharnischte Kritik an allzu abgehobener Theoriebildung (hier: an der systemtheoretischen Journalismusforschung), wenn dieser Praxisbezug vermeintlich nicht mehr besteht (vgl. Haller 2004).
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Armin Scholl
chen empirischen Ergebnisse auch direkt mit dem theoretischen Rahmen zirkulär zusammen, denn bestimmte Theorien legen bestimmte Ergebnisinterpretationen nahe, und bestimmte empirische Ergebnisse haben bestimmte Folgen für oder implizieren bestimmte Herausforderungen an die jeweilige gewählte Theorie. Die Beschreibung eines linearen Forschungsprozesses aus den gängigen Lehrbüchern ist aus dieser Perspektive irreführend oder verkürzend. Sie gilt zudem sowieso nicht universell, weil etwa in der qualitativen Forschung die beschriebenen Zirkularitäten immer schon berücksichtigt sind (vgl. Krotz 2005, 167). Abbildung:
Zusammenhang zwischen Fragestellung, Theorie, Methode, Empirie
Journalistische Praxis Entdeckungszusammenhang Fragestellung der Journalismusforschung Begründungszusammenhang Theorie(n) der Journalismusforschung
Methode(n) der Journalismusforschung
Empirie der Journalismusforschung Verwertungszusammenhang Journalistische Praxis
Der unauflösbare Zusammenhang von Fragestellung, Theorie und Methode 2
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Definition des Forschungsgegenstands: Grundgesamtheit und Stichprobe
Bereits bei der Bestimmung des Forschungsgegenstands bietet sich in der Journalismusforschung genug Anschauungsmaterial, wieso Fragestellung, Theorie und Methoden bzw. empirische Forschung in einem unauflösbaren zirkulären Verhältnis zueinander stehen: Was beobachten wir eigentlich, wenn wir Journalismus als Handlung von Akteuren, als Berichterstattung oder als Prozesse in der Redaktion beobachten? Die Definitionsfrage ist viel tiefgründiger, als es bloße Nominaldefinitionen vermuten lassen. Das Wie der Grenzziehung dessen, was Journalismus ist, hängt direkt mit der theoretischen Herangehensweise zusammen, aber auch mit methodischen Entscheidungen zur Stichprobenziehung (vgl. die Diskussion in Scholl & Weischenberg 1998, 305 ff.; Malik 2005; Weischenberg, Malik & Scholl 2006, 29 ff.). Die stark an Professionalisierungskriterien orientierte Definition des Journalismus wurde kritisch diskutiert, aber, systemtheoretisch argumentierend, erweitert auch auf nichtprofessionelle Formen des Journalismus (vgl. Neuberger 2009, 61 ff.), weil diese nichtprofessionellen Formen funktionale Äquivalente zum professionell strukturierten Journalismus ermöglichen (vgl. Neuberger, Nuernbergk & Rischke 2009). Innerhalb systemtheoretischer Argumentation ließe sich dann darüber streiten, ob nicht-professionelle, aber funktional äquivalente Formen des Journalismus diesen überhaupt auf Dauer strukturell etablieren können (evolutionäre und professionelle Perspektive) und ob es sich tatsächlich um funktionale Äquivalente handelt (funktionale bzw. leistungsbezogene Perspektive). Der methodische Aspekt besteht darin, empirisch beobachtbare Grenzen zu definieren und zu operationalisieren, um Befragungen oder Beobachtungen von Journalisten oder Inhaltsanalysen von (journalistischen) Medienangeboten durchführen zu können.7 Aus einer anderen Theorieperspektive, der Cultural Studies etwa, spielt die Grenzziehung eine untergeordnete oder gar keine Rolle mehr. Die Extremposition wird dabei von John Hartley eingenommen, der Journalismus an keinerlei Grenzkriterium mehr festmacht, also das Phänomen zeitlich wie sozial und sachlich universalisiert: „Everybody is a journalist“ oder „Journalism is a human right“ (Hartley 2008). Scheinbar weniger radikal, aber in der Konsequenz ebenfalls die Grenzen außer Kraft setzend, ist die Vorstellung, dass sich Journalismus erst über die Rezeption als solcher definiere, sodass die Rezipienten quasi aus allen öffentlichen Kommunikationsangeboten Journalismus machen können (vgl. Klaus & Lünenborg 2000, 207). Ohne an dieser Stelle ausführlich in die Diskussion über die Vorteile und Nachteile der verschiedenen Perspektiven einzusteigen8, dürfte angesichts der Vielfalt von Theorien der autokonstitutive Zusammenhang von Fragestellung, Theorie (inklusive Konstitution des Forschungsgegenstands, also Definition der Grundgesamtheit) und Methode (hier: Stichprobenziehung) deutlich geworden sein. Die bisherigen Ausführungen zur Definitionsproblematik und ihren methodischen Konsequenzen sind eher auf Befragungen (und gegebenenfalls auf Beobachtungen) zuge7
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Man kann die spezifische Grenzziehung, etwa wie sie in der Studie „Journalismus in Deutschland“ gezogen wurde, selbstverständlich als nicht adäquat in Bezug auf den Forschungsgegenstand kritisieren (vgl. Pöttker 2008, 2), sollte dann aber das prinzipielle Problem nicht ignorieren, dass irgendeine Grenzziehung unvermeidbar ist. Auch die Alternativvorschläge müssen sinnvolle bzw. funktionale Kriterien benennen können und können nicht grenzenlos vorgehen (vgl. Löffelholz et al. 2003 am Beispiel von Online-Journalisten). Zur Kritik an den Positionen der Cultural Studies vgl. Weischenberg (2007); zur Übersicht verschiedener Journalismusdefinitionen und deren Konsequenzen vgl. Scholl (2010).
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schnitten, also kommunikatororientiert. Die Problematik lässt sich aber auch auf die Erforschung von Medieninhalten ausweiten. Dazu zählen etwa die Programmstrukturanalysen im Rahmen der kontinuierlichen Fernsehprogrammforschung, mit deren Hilfe der Anteil an Meinungsbildungs-, Bildungs- und Beratungsinhalten ermittelt werden soll (vgl. statt Vieler Weiß & Trebbe 1994; Trebbe & Maurer 2007). Auch dieser Forschungszweig beschäftigt sich mit Journalismus, mit der Absteckung des Gegenstandsbereichs, nur dass hier von redaktionellen Sendungen oder speziell im Fernsehen von Fernsehpublizistik statt von Journalismus die Rede ist: Die Grenzproblematik ist dieselbe: theoretische Bestimmung der Grundgesamtheit und daraus folgende empirische Bestimmung der Stichprobe. In beiden Forschungsbereichen, Kommunikatorforschung wie Medieninhaltsforschung, ist die Definitionsfrage nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine praktische Angelegenheit, denn es gab und gibt intensive Debatten um die Grenzziehung des Journalismus sowohl in der journalistischen Praxis (hier: zwischen dem „Netzwerk Recherche“ und dem „Deutschen Journalisten-Verband“) als auch in der Medienpolitik (etwa bei der Lizensierung von TV-Vollprogrammen). Während sich der DJV für eine weite, inklusive Definition ausspricht, um auch PR-Praktiker, die journalistische oder journalismusähnliche Tätigkeiten ausüben, einzubeziehen (vgl. Deutscher Journalisten-Verband 2008, 3, 6), argumentiert das Netzwerk Recherche (2006) dagegen kategorisch mit einer engen und exklusiven Definition: „Journalisten machen keine PR“ (Medienkodex, Ziffer 5). Dass in der Journalismusforschung die Frage nach der Definition des Forschungsgegenstands (der Grundgesamtheit) und die daraus folgende Anschlussfrage nach der (theoriegeleiteten) Stichprobenziehung oft keine Rolle spielt, hat möglicherweise damit zu tun, dass in diesen Fällen kein Anspruch auf Repräsentativität besteht. Die Vorgehensweise ist dann dadurch gekennzeichnet, dass Segmente des Journalismus ausgewählt werden, die unstrittig zum Journalismus gehören (Zeitungsjournalisten, Nachrichtensendungen usw.). Neben diesem methodischen Pragmatismus ist aber auch ein theoretischer Dezisionismus für diese Form empirischer Forschung typisch, denn die Abgrenzung des Gegenstands lässt sich nicht mehr theoretisch begründen, sondern allenfalls durch die Fragestellung selbst (vgl. etwa die Vorgehensweise in der Studie „Media and Democracy“, Donsbach & Patterson 2003). In diesem Fall ist also der zirkuläre Zusammenhang zwischen Fragestellung, Theorie und Methode aufgelöst; die methodische Flexibilität geht auf Kosten der theoretischen Kohärenz, weil offen bleiben muss, wie relevant der gewählte Ausschnitt des Journalismus für die Gesellschaft ist. Probleme ergeben sich bei dieser Vorgehensweise erst dann, wenn die Differenz von Zentrum (Kern des Journalismus) und Peripherie (Rand des Journalismus) nicht eindeutig bestimmbar ist bzw. sich wandelt (durch funktionale Äquivalente). Auch die Stichprobenziehung selbst birgt theoretische Probleme: Sollen Journalisten (bei Befragungen) oder Redaktionen (bei Befragungen und Beobachtungen) nach der Größe der Redaktion (gemessen als Anzahl journalistischen Personals) ausgewählt werden (vgl. Malik 2005)? Oder nach der publizistischen Reichweite des von dieser Redaktion produzierten Medienorgans (operationalisiert durch eine publizistische Stichprobe, vgl. Schulz 1968; 1972; Möhring et al. 2005)? Oder nach dem publizistischen Gewicht des betreffenden Medienorgans, gemessen als Differenz zwischen von allen Medien viel zitierten Meinungsführermedien und den weniger relevanten, weil nicht zitierten Medien (vgl. Reinemann 2003)? Die erste Möglichkeit ist am leichtesten umzusetzen, insbesondere für Befragungen, reproduziert aber gesellschaftlich-publizistische Relevanz eher indirekt. Die zweite Vorgehensweise der publizistischen Stichprobe ist insbesondere für Inhaltsanalysen geeig-
Der unauflösbare Zusammenhang von Fragestellung, Theorie und Methode
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net, ist aber bis jetzt noch nicht für alle Mediengattungen nach einheitlichem Maß entwickelt worden, sondern nur für Zeitungen und ist rein publikumsorientiert. Die dritte Vorgehensweise ist am umständlichsten, will man sie stärker ausdifferenzieren, denn sie erfordert eine vorgelagerte Untersuchung der wechselseitigen Zitationshäufigkeit, aber sie qualifiziert publizistische Bedeutung oder publizistisches Image eines Medienorgans und ist somit für eine gewichtete Stichprobenziehung bei prinzipiell allen Methoden geeignet. 3
Erhebungsmethoden
Ein weiteres Problem, das den Zusammenhang zwischen Fragestellung, Theorie und Methode kennzeichnet, ist der Einsatz der Erhebungsmethode: Dürfen beispielsweise makroanalytisch argumentierende Systemtheoretiker mikroanalytische, also individuelle, Befragungen durchführen, oder passt das nicht zusammen? Dürfen Untersuchungen, die auf der Kritischen Theorie basieren, standardisierte Methoden verwenden? Ist eher die Inhaltsanalyse oder die Beobachtung9 einer überindividuellen Makrotheorie angemessen? Soll überhaupt die Theorie „bestimmen“, welche Methoden eingesetzt werden? 3.1 Beobachtungen von Redaktionen Als besonders kompatibel mit Gesellschaftstheorien (hier: mit der Systemtheorie) gilt die Redaktionsbeobachtung, da sie (vermeintlich) nicht beim Individuum, sondern beim organisierten Journalismus ansetzt. Diese Perspektive geht auf Manfred Rühl zurück, der mit seiner Redaktionsbeobachtung bereits Ende der 1960er Jahre die empirische Vorgehensweise mit der Adaption von Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme verknüpfte. Auch mehrere Folgestudien verbanden systemtheoretische (oder kybernetische) Fragestellungen mit der Methode der Beobachtung (vgl. Altmeppen, Donges & Engels 2002, 107 f.). Allerdings kann man hier genauso gut akteurstheoretisch oder handlungstheoretisch argumentieren, denn die Beobachtungen finden in der Regel am Akteur (Journalist) bzw. an konkreten Handlungen des Akteurs (des Journalisten) statt. Es hängt offenbar vom „Auflösungsgrad“ der Beobachtung ab, ob sie sich mehr auf die Organisation als Ganzes oder auf ihre Untereinheiten (Ressorts, Abteilungen, Redaktionskonferenzen usw.) bezieht oder auf einzelne Redakteure und deren Handlungen, aus welcher theoretischen Perspektive sie erfolgt. Theorie und Methode sind jedenfalls in dieser Allgemeinheit kontingent, also weder willkürlich wählbar noch in einer strikten Verbindung zueinander stehend. Dass die Beobachtung im Redaktionskontext ansetzt, liegt nahe, da sich Redaktionen in räumlichen Umgebungen beobachten lassen. Die nicht-redaktionelle, im Sinn von räumlich nicht zentralisierte, Arbeit von freien Journalisten ist dagegen nur so beobachtbar, dass ein Beobachter den räumlich flexiblen Journalisten begleitet. Damit ergibt sich das praktische Problem, ob der/die Beobachter stationär (in der Redaktion) eingesetzt wird/werden, 9
In den folgenden Ausführungen werden Beobachtung, Befragung und Inhalts-/Textanalyse als Basismethoden der Datenerhebung betrachtet, die vielfältig kombiniert und variiert werden können. Folglich sind alle qualitativen Methoden (inklusive der Hermeneutik als eine Variante der Textanalyse) sowie alle komplexen Untersuchungsanlagen (wie etwa ethnografische Methoden, Experiment, Mehrmethoden-Designs) immer mit gemeint.
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Armin Scholl
sodass vor allem Handlungen, die räumlich gebunden stattfinden, beobachtet werden, also teilweise unabhängig von den sie ausführenden Personen (Journalisten), oder ob der/die Beobachter flexibel eingesetzt wird/werden, also Journalisten, die den Raum verlassen (etwa zu Recherchezwecken), begleitet werden, sodass die Beobachtung strikt an der Person ausgerichtet ist. Es gibt keine prinzipielle Präferenz für eine der beiden Vorgehensweisen, sondern diese hängt von der Fragestellung und eventuell von der theoretischen Perspektive ab. Konsequent einen Journalisten beobachtend zu begleiten, könnte eher handlungstheoretisch motiviert sein, wohingegen die vom einzelnen Journalisten teilweise abgekoppelte Beobachtung eher auf eine systemtheoretisch motivierte Fragestellung hindeutet (vgl. Scholl 2004, 41). In der Journalismusforschung ist die Beobachtung journalistischer Handlungen im redaktionellen Kontext fast immer teilnehmend, meist offen, selten dagegen, wenngleich denkbar, verdeckt. Verdecken lässt sich die Beobachtung nur in Form einer (fingierten) Praktikumsrolle des Beobachters. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: Der Beobachter entwickelt eine intensivere Beziehung zum Beobachtungsfeld, als es mit den herkömmlichen Methoden der empirischen Sozialforschung möglich oder notwendig wäre. Damit kommt diese Form der Beobachtung einem ethnografischen Untersuchungsdesign nahe, zumindest wenn sich der Beobachtungszeitraum über mehrere Tage erstreckt. Dadurch entsteht die Folgeproblematik, dass das auf diese Weise erwünschte Tiefenverständnis vom Forschungsgegenstand und vom Forschungsfeld mit einem Nähe-Distanz-Dilemma einhergeht. Es kommt zu Interaktionen der Beobachter mit den beobachteten Journalisten, bei denen die Beobachter ihre passive Beobachterrolle zumindest partiell einschränken müssen. Man kann dieser Rollenaufweichung forschungspraktisch begegnen, indem die Beobachter ihre Erfahrungen austauschen, sich selbst durch Supervision beim Beobachten beobachten lassen, indem das Beobachtungsinstrument standardisiert wird, um den subjektiven Spielraum einzuengen, und durch die Gewährleistung und Stärkung reflektierender Beobachtungen, etwa durch ein zusätzliches Tagebuch, in dem offen protokolliert wird, welche Auffälligkeiten beobachtet wurden. Auf diese Weise soll der Beobachter Distanz zum Forschungsgegenstand gewinnen (vgl. Altmeppen, Donges & Engels 2002, 120 f.). Die prinzipielle Problematik, dass die Wirklichkeit des Forschungsgegenstandes und die Wirklichkeit des Forschungskontakts interferieren (vgl. Merten 2005, 108 f., 113 f.), lässt sich allerdings nicht beheben. Wie bei einer Befragung, aber wahrscheinlich noch mehr und intensiver, „stört“ die Beobachtung den praktischen Betrieb.10 Die Einheit der Beobachtung variiert in den verschiedenen Studien. Sie kann in subindividuelle Partikel zerlegt werden, die bei der Auswertung netzwerkanalytisch miteinander verknüpft werden (vgl. Quandt 2005, 162 ff., 176 ff.), in berufsbezogene kleinste Einheiten („Arbeitschritte“), die dann wieder zu größeren Einheiten („Arbeitsvorgänge“) zusammengefasst werden (vgl. Altmeppen, Donges & Engels 2002, 115) bis hin zu „ganzheitlicheren“ oder komplexeren Einheiten, bei dem nicht mehr auf individuelle Handlungen oder Akteure rekurriert wird, sondern beim Beobachten direkt ganze Sinneinheiten (interpretativ) zusammengefasst werden (vgl. Rühl 1969, 20 ff., 190 ff.). 10
Dass der Feldzugang einfach war und der Beobachtungsvorgang selbst als wenig störend von den beobachteten Journalisten empfunden wurde (vgl. Altmeppen, Donges & Engels 2002, 118 f.), dürfte der guten Vorbereitung sowie günstiger Bedingungen geschuldet gewesen sein; über die tatsächlichen Wechselwirkungen zwischen Beobachter und Beobachteten lassen sich dadurch keine Schlussfolgerungen ziehen, sondern nur über die Kooperationsbereitschaft.
Der unauflösbare Zusammenhang von Fragestellung, Theorie und Methode
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3.2 Befragungen von Journalisten Wenn durch die Ausführungen zur Beobachtung bereits deutlich geworden ist, dass die Methode der Beobachtung zum einen keinen empirisch privilegierten Zugang zu makroanalytischen (gesellschaftlichen) Fragestellungen ermöglicht, weil auch die Beobachtung an der einzelnen Person (hier: am Journalisten) und deren Handlungen ansetzt, so dürfte es im Umkehrschluss plausibel erscheinen, dass die Methode der Befragung, die ebenfalls notwendig an der Person ansetzt, nicht prinzipiell ungeeignet ist für systemtheoretische oder andere gesellschaftstheoretische Fragestellungen. Dieser Umkehrschluss lässt sich damit begründen, dass prinzipiell keine Methode der empirischen Sozialforschung die Beobachtung von Gesellschaft zulässt, weil Gesellschaft keine empirische „Adresse“ hat. Folglich ergeben sich gesellschaftstheoretische „Beobachtungen“ immer aus methodologisch individualistisch gewonnenen empirischen Ergebnissen (zur ausführlichen Begründung vgl. Scholl & Weischenberg 1998, 51 ff.).11 Allerdings lässt sich streiten, zu welchen Themenbereichen man Journalisten befragen soll, wenn man gesellschaftstheoretische und nicht beispielsweise motivationstheoretische Erkenntnisinteressen hat. Hier gerät insbesondere das häufig erforschte Rollenselbstverständnis von Journalisten ins Visier, weil es angeblich nur eine individuelle Selbstauskunft (möglicherweise sogar ein ideologisierender Selbstbetrug) sei. Mit dieser Kritik ist der Kritiker jedoch bereits in die ontologische Falle getappt, die es gesellschaftstheoretisch zu vermeiden gilt, will man gemäßigt oder radikal konstruktivistisch keinem simplen Realismus das Wort reden. Wenn man Individuen zu ihrer individuellen Einstellung oder Selbstbeschreibung fragt, kann man die Antworten selbstverständlich individualtheoretisch als individuelle Einstellungen interpretieren. Man kann sie aber auch als gesellschaftlichen Niederschlag ansehen, der sich in Individuen manifestiert bzw. an individuellen Äußerungen überhaupt erst sichtbar oder beobachtbar wird. Gerade die Ergebnisse zu den Rollenselbstverständnissen rekonstruieren, wenn man sie statistisch aggregiert (etwa mit Hilfe von Faktorenanalysen), Berichterstattungsmuster, aggregierte journalistische Konzepte, die im Journalismusberuf überindividuell gültig sind. Wären individuell abgerufene Einstellungen oder Selbstbeschreibungen ontologisch dem Individuum zugehörig, also als rein individuelle Daten konzipiert, würde man Gesellschaftstheorie schon exkommunizieren, wenn sie als möglicher Erklärungsansatz noch gar nicht im Spiel wäre. Die bisherige Argumentation versucht zu begründen, warum am Individuum ansetzende Empirie sowohl individualtheoretisch als auch gesellschaftstheoretisch eingebunden und interpretiert werden kann. Dreht man den Blickwinkel von den empirischen Methoden zu den Gesellschaftstheorien, steht es jedem Gesellschaftstheoretiker offen, sich darüber Gedanken zu machen, welche empirische Umsetzung am besten geeignet ist, um im Rahmen der betreffenden Gesellschaftstheorie zu forschen. So lassen sich soziale Phänomene durch die Technik des ‚zirkulären Fragens’ (vgl. Pfeffer 2004) besonders gut rekonstruieren. Die11
Wenn die Überbrückung vom methodologischen Individualismus zum gesellschaftstheoretischen Holismus im Bereich der „erklärenden Soziologie“ eine gängige Strategie ist (vgl. Esser 1999, 27 ff., 91 ff.), um das Verhältnis von ‚Makrotheorie’ und ‚Mikromethodik’ zu beschreiben, dann dürfte dies auch für eine „reflexive“ Sozialwissenschaft gelten, wie sie von Handlungstheorien bis zu Systemtheorien propagiert wird. In der betreffenden Diskussion gehen dann meist mehrere Dimensionen durcheinander: Da ist die Rede von vermeintlichen integrativen Theorien (ganz so, als gäbe es desintegrierte oder desintegrierende Theorien), von empirischen Leerstellen speziell der Systemtheorie (ganz so, als gäbe es Theorien mit einem direkten Empirielink) usw. (vgl. statt Vieler Raabe 2004, 110 ff.).
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se aus der systemischen Therapie übertragene offene Form der Befragung setzt sowohl auf der Inhaltsebene als auch auf der Beziehungsebene (zwischen Interviewer und Befragtem) an. Auf der Inhaltsebene werden vor allem Fragen zum Handlungssystem statt zum Individuum als Einzelperson gestellt, indem die Handlungen einer Person mit denen anderer Personen in Beziehung gesetzt werden, sodass Beziehungsmuster und Handlungsverläufe sowie deren Interpretationen durch die befragte Person selbst rekonstruiert werden können. Auf der Beziehungsebene nimmt der/die Interviewer/in die Haltung ein, dass die Befragung selbst ein Interaktionssystem erzeugt, bei dem Fragen und Antworten als (legitime) Interventionen angesehen werden. Dadurch ist die Beziehung nicht durch starre Regeln, sondern durch deren Reflexivwerden gekennzeichnet. Allerdings macht diese Fragetechnik nur explizit, was in Befragungen aus konstruktivistischer Perspektive sowieso inhärent und zumindest für offene Befragungsformen generell typisch ist: die Beobachtung von Beobachtungen (hier methodisch in Form von spezifischen Befragungstechniken). Befragungen sind Aufforderungen an den Befragten, sich selbst (in Relation zu Sachverhalten, Ereignissen, Merkmalen usw.) zu beobachten. Letztlich wird hier in erster Linie der konstruktivistischen Erkenntnistheorie Rechnung getragen, nicht jedoch eine Besonderheit dieser Befragungstechnik (im Unterschied zu allen anderen Verfahren, Formen und Varianten der Befragung) charakterisiert. Ähnlich ist die Argumentation in Bezug auf Gruppendiskussionen, die von Vertretern der Frankfurter Schule als besonders gut geeignet für die empirische Forschung aus der Perspektive der Kritischen Theorie angesehen wurde (vgl. Dröge 2006). Heute wird das Verfahren der Gruppendiskussion in der angewandten Markt- und Meinungsforschung wie selbstverständlich benutzt und kann deshalb nicht mehr als typische Methode der kritischen Sozialforschung gelten (vgl. Diekmann 1995, 445). An allen Varianten der Methode der Befragung wird deutlich, dass sie nicht auf einen bestimmten wissenschaftlichen Kontext verpflichtet werden können, sondern dass ihr Einsatz variabel und kontingent ist. Bei allen Bemühungen um die Entwicklung von für Gesellschaftstheorien adäquaten Verfahren dürfte angesichts dieser Kontextungebundenheit die gesellschaftliche Perspektive eher in der Interpretation der durch sie gewonnenen Ergebnisse herzustellen sein als durch die Methode der Datenerhebung selbst. 3.3 Inhalts-/Textanalysen der journalistischen Berichterstattung Bei der Methode der Inhaltsanalyse ist es insgesamt schwierig, sie der Journalismusforschung zuzuordnen, geht es doch in erster Linie um die Untersuchung des Medienproduktes, etwa der journalistischen Berichterstattung. Da Inhaltsanalysen aber auch mit Inferenzansprüchen operieren (vgl. Früh 2004, 25; Merten 1995, 59), lassen sich Rückschlüsse zu den Entstehungsbedingungen der Berichterstattung zumindest tentativ inhaltsanalytisch ermitteln. Mit einem weiten Verständnis ließen sich so große Teile der Medieninhaltsforschung (vgl. Bonfadelli 2002; Maurer & Reinemann 2006) in die Journalismusforschung eingemeinden (statt beide voneinander zu differenzieren). Hilfreich für die Eingrenzung, welche Inhaltsanalyse eher der Journalismusforschung oder eher der Medieninhaltsforschung zuzuordnen sind, ist das Mehrebenenmodell des Journalismus von Weischenberg. Medieninhalte werden dort als Leistungen des Journalismus für andere gesellschaftliche Funktionssysteme modelliert (vgl. Weischenberg 2004, 69
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ff.). Mit dieser Perspektive könnte man in erster Linie die Nachrichtenauswahlforschung (vgl. beispielhaft Ruhrmann et al. 2003), die Erforschung zur Qualität der Berichterstattung oder zum Benchmarking (vgl. beispielhaft Haller 2003 sowie weitere Beiträge in Bucher & Altmeppen 2003), die Nachrichten-Bias-Forschung (vgl. beispielhaft Kepplinger 1985) oder Input-Output-Analysen zum Verhältnis von Public Relations und Journalismus (vgl. beispielhaft Schweda & Opherden 1995) oder die Erforschung des Beitrags der journalistischen Berichterstattung zum öffentlichen Diskurs (vgl. beispielhaft Gerhards, Neidhardt & Rucht 1998) zur (erweiterten) Journalismusforschung hinzuzählen, ohne dass diese Auflistung auch nur annähernd einen Anspruch auf Vollständigkeit hätte. In all diesen Ansätzen wird von der Aggregation einzelner Beiträge (Artikel, Sendungsbeiträge, Websites usw.) auf „die“ Berichterstattung geschlossen. Auch hier treffen wir also wieder auf die Inferenzproblematik der individualistischen Methodologie, denn die Inhaltsanalyse ist genauso wenig wie Beobachtung und Befragung eine per se holistische oder gesellschaftsaffine Methode. Wiebke Loosen zeigt in einem Beitrag zur konstruktivistischen Methodologie, wie die Einbettung der Methode der Inhaltsanalyse in eine gesellschaftstheoretische Interpretation dazu beiträgt, die für die Inhaltsanalyse gewünschten Inferenzen (hier: auf den Journalismus, also auf den „Kommunikator“) abzustützen. Vom Prinzip her unterscheiden sich dabei standardisierte und offene Verfahren genauso wenig wie explorative und konfirmatorische Vorgehensweisen, auch wenn Loosen bestimmte Verfahren aus konstruktivistischer Perspektive deutlich kritisiert, wie die so genannte Objektive Hermeneutik (vgl. Loosen 2004, 110 ff.). Während Wiebke Loosen die Konstruktivität der Inhalts- und Textanalyse hervorhebt, beschäftigen sich Thorsten Quandt und Christoph Tapper (2002, 128) mit dem in der Kommunikationswissenschaft typischen Autologieproblem, wonach Kommunikation (hier: in der Form von Dialogformen etwa im Interview oder im Talk) in der Kommunikation (hier: in der massenmedialen Darstellung) vorkommt. Mit solchen Verfahren werden textanalytisch die Journalisten als Akteure sichtbar beim Interviewen, im Talk, in Expertengesprächen, in Streitgesprächen usw. (vgl. Quandt & Tapper 2002, 144 f.). Hier steht die für Gesellschaftstheorien prominente Reflexivitätslogik im Mittelpunkt. Allerdings scheint mir die herkömmliche Inhaltsanalyse von den Autoren zu Unrecht für ihre „monologische“ Vorgehensweise kritisiert zu werden. Zum einen geht selbst in der standardisierten Inhaltsanalyse aus konstruktivistischer Perspektive der Forscher oder Codierer eine „Interaktion“ mit dem Text ein; zum anderen ist die Analyse von Dialogen innerhalb der Massenmedien selbst wieder „monologisch“ insofern, als die wissenschaftliche Textanalyse nicht an die Interpretationen der Praxis (Journalisten oder Mediennutzer) zurückgebunden wird (etwa durch eine ergänzende Befragung). Die Ausführungen zur Akteursgebundenheit dialogorientierter Textanalysen sind gesellschaftstheoretisch besonders interessant, weil die Akteure methodisch als empirische Adressen oder in der Netzwerkterminologie als „Knotenpunkte“ (Quandt & Tapper 2002, 142) und nicht als ontologische Gegebenheiten konzipiert werden.
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Armin Scholl Auswertungsmethoden
Auch in Bezug auf die Auswertungsmethoden ist das Verhältnis zwischen Fragestellung, Theorie und Methode alles andere als trivial. So hat Frank Marcinkowksi gefordert, dass empirische Forschung im Rahmen der Systemtheorie auch stärker auf nicht-lineare und nicht-kausale Auswertungsverfahren zurückgreifen müsse, um dynamische und durch Wechselwirkung gekennzeichnete Zusammenhänge angemessen modellieren zu können (vgl. Marcinkowski & Bruns 2004, 500 f.). Man kann hier an chaostheoretische FuzzyLogik denken (vgl. Brown 1995; Erdmann & Fritsch 1989; Rusch 2004, 175), an Simulationsstudien (vgl. Kron 2002), an informationstheoretisch begründete Verfahren (vgl. Frank & Maksimova 2004), an Netzwerkanalyse (vgl. Ohlemacher 2004; Barnett & Houston 2005; Adam 2008) oder an Auswertungstechniken mit neuronalen Netzen (vgl. Weber 2001), nur haben einige dieser Verfahren noch keine weite Verbreitung in unserem Fach gefunden. Speziell in der quantitativ-standardisierten Forschung dominieren lineare Auswertungsverfahren, wenngleich mittlerweile auf hohem Niveau mit vielfachen Möglichkeiten (vgl. Hanitzsch in diesem Band; Kepplinger & Zerback 2008). In der Regel behelfen sich quantitative Journalismusforscher, indem sie zwar mit linearen statistischen Verfahren arbeiten, aber durch die Interpretation der Ergebnisse die Logik der Reflexivität quasi wieder einschleusen. Empirische Journalismusstudien, die mit einer auf Reflexivität aufbauenden Logik arbeiten, sich also an Systemtheorie, Strukturationstheorie, Kritischer Theorie oder Cultural Studies orientieren, beziehen Auswertungstechniken und Auswertungsinterpretationen nur indirekt oder lose aufeinander, sodass die Ergebnisinterpretationen relativ frei über den Daten selbst schweben, also einen vergleichsweise geringen Kopplungsgrad zwischen Theorie und Auswertung aufweisen. Im besten Fall werden aus der betreffenden Gesellschaftstheorie einzelne Hypothesen in Form von linearen Zusammenhangsvermutungen deduktiv abgeleitet, die dann mit linearen statistischen Verfahren angemessen überprüft werden. Perspektivisch genügt diese Vorgehensweise allerdings nicht (vgl. Marcinkowski & Bruns 2004, 501). Man muss in irgendeiner Form, früher oder später, die diesen Gesellschaftstheorien inhärente eigene Logik in der Auswertung selbst mit abbilden. Es gibt etwa eine mathematische Systemtheorie (vgl. Locher 1996), die aber aufgrund ihres naturwissenschaftlichen Zugriffs (noch) nicht mit den sozialwissenschaftlichen Fragestellungen und Datenerhebungsmethoden kompatibel ist und mathematisch den anwendungsorientierten Sozialforscher überfordern dürfte. Während in den statistischen Auswertungsmethoden also derjenige noch weitgehend Neuland betritt, der für reflexive Gesellschaftstheorien geeignete Verfahren sucht, gibt es im Bereich der qualitativen Auswertungsmethoden Bestrebungen, diese mit theoretischen (zum Beispiel systemtheoretischen) Überlegungen zusammenzubringen. So haben die Soziologen Armin Nassehi und Irmhild Saake seit einigen Jahren die Hermeneutik für diesen Zweck entdeckt (vgl. Nassehi & Saake 2002 sowie diverse Beiträge in Berg & Gumbrecht 1997).12 Prinzipiell sind die qualitativen Verfahren näher an den theorielogischen Überlegungen zur Reflexivität als die quantitativen Verfahren, sodass der Schluss nahe liegt, dass die mit dem allgemeinen Sinn- und Reflexivitätskriterium operierenden Gesellschaftstheo12
Bei der qualitativen Inhaltsanalyse oder bei der Hermeneutik lässt sich kaum unterscheiden, ob sie als Methoden der Datenerhebung oder der Datenauswertung anzusehen sind, weil sie beides in sich vereinigen. Dass sie hier im Abschnitt zu den Methoden der Datenauswertung behandelt werden, hat also keinen systematischen Grund.
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rien scheinbar besser zu qualitativen Methoden passen würden als Ansätze der erklärenden Soziologie, die auf dem spezifischen Kausalitätskriterium basieren (vgl. Esser 1999). Ähnlich wie bei den Methoden der Datenerhebung gilt jedoch auch hier, dass Gesellschaftstheorien einen universalistischen Anspruch13 haben und deshalb keine Methode ausschließen können und dürfen. 5
Fazit
Das Ziel dieses Beitrags bestand darin, den Prozess empirischer Forschung für die Frage der Operationalisierbarkeit von Journalismustheorien zu rekonstruieren als nicht nur aufeinander aufbauende Schritte von der Fragestellung über die Hypothesenbildung und die methodische Umsetzung bis zur Durchführung der Untersuchung und Auswertung der empirisch gewonnenen Daten, sondern als die wechselseitigen Rückbeziehungen all dieser Komponenten. Dabei kann auch der Begründungszusammenhang empirischer Forschung nicht kategorisch vom Entdeckungs- und Verwertungszusammenhang separiert werden, weil und sofern der Forschungsprozess selbst sozialer Natur ist. Gerade im Journalismus und in der Journalismusforschung haben wir das besondere Problem der möglicherweise nur scheinbaren Inkompatibilität zwischen dem Forschungsgegenstand, also der Praxis selbst, und dem Forscher bzw. der Wissenschaft. Diese Inkompatibilität rührt daher, dass Wissenschaftler aus der Perspektive der Journalisten oftmals die falschen Fragen stellen. Darunter hat insbesondere die Methode der Befragung zu leiden, denn hier werden die Forschungsfragen kommunikativ, also als Fragebogenfragen, gestellt. Für die Inhaltsanalyse benötigt der Forscher die Kooperation der Journalisten nicht. In der Beobachtung ist zwar die grundsätzliche Kooperationsbereitschaft erforderlich, aber die methodische Durchführung ist dann wieder alleinige wissenschaftliche Angelegenheit. Allerdings stören Redaktionsbeobachtungen den Redaktionsablauf, sodass es auch hier zu Konflikten kommen kann. Und selbst bei Inhaltsanalysen erkennt man spätestens an den Reaktionen der Journalisten auf die publizierten Ergebnisse, ob die Ergebnisse in der Praxis als gegenstandsadäquat angesehen werden oder nicht. Eine strikt wissenschaftliche Position, wonach es für die Wissenschaft irrelevant sei, ob der Forschungsgegenstand, sprich: die Journalisten, mit der Analyse durch die Wissenschaft einverstanden sei, lässt sich in der Journalismusforschung auf die Dauer nicht durchhalten. Denn der Forschungsgegenstand entwickelt sich spätestens im Verwertungszusammenhang wissenschaftlicher Ergebnisse zum Diskurssubjekt oder Diskussionspartner. Die sehr journalismuskritische Forschung in den 1970er Jahren hinterließ im Journalismus verbrannte Erde, sodass es noch heute schwierig ist, Akzeptanz für die Teilnahme an Befragungen von Journalisten zu gewinnen. Dies soll kein Plädoyer für unkritische Forschung sein, sondern nur die Problematik aufzeigen, dass das Forschungsobjekt eben nicht nur ein passives, externalisierbares, statisches Objekt ist, sondern dass eine Interaktion entsteht, die 13
Der universalistische Anspruch wird gern verwechselt mit einem Alleinvertretungsanspruch. Gemeint ist aber nur, dass Gesellschaftstheorien alles Gesellschaftliche thematisieren, nicht dass sie dies alternativlos zu tun beanspruchen. Deshalb ist es auch nur begrenzt Erfolg versprechend, verschiedene Gesellschaftstheorien „integrieren“ zu wollen. Man sollte sie eher „gegeneinander“ in ihrer Erklärungskraft ausprobieren und sie als wechselseitige Irritation begreifen. Nicht eine zu suchende (vermeintlich integrative) Einheitsperspektive wäre dann ein erstrebenswertes Ziel theoretischer Bemühungen, sondern die Proliferation von theoretischem Pluralismus (der in den Sozialwissenschaften de facto auch existiert).
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Rückwirkungen auf wissenschaftliche Fragestellungen, den Einsatz von Methoden (oder spezifischen Verfahren) und auf die Analyse und Interpretation von wissenschaftlichen Untersuchungen hat. Für die Journalismusforschung ist ein zweites „Problem“ typisch: der häufige Rückgriff auf Gesellschaftstheorien, welche gemeinhin als nicht oder schwer empirisch operationalisierbar gelten. Den Beitrag durchzieht deshalb das Bestreben aufzuzeigen, dass empirische Operationalisierbarkeit einer Theorie keine Gegebenheit ist, sondern eine wissenschaftlich zu lösende Aufgabe. Wer Theorien danach sortiert, ob sie empiriefähig sind oder nicht, nutzt zum einen das Potenzial der solchermaßen exkommunizierten, vermeintlich empirieunfähigen Theorien nicht und macht es sich zum anderen zu leicht, die Empiriefähigkeit gar nicht erst auszutesten. Insbesondere ein Argument sollte in diesem Beitrag dekonstruiert werden: die scheinbar unüberwindliche Kluft zwischen methodologischem Individualismus und theoretischem Holismus. Da alle Methoden am individuellen Fall ansetzen und alle Theorien (auch solche mittlerer Reichweite oder solche, die sich theoretisch an Akteuren orientieren) gesellschaftliche Implikationen haben oder gesellschaftliche Erklärungen anstreben, geht es in jeder empirischen Forschung darum, angemessene Aggregierungsregeln zu entwickeln. In der Regel werden diese aus der Perspektive der Methoden gedacht (Stichprobeninferenzen, Typenbildungen usw.). Es ist aber auch möglich, von der Gesellschaftstheorie her sich die Ergebnisse zu erschließen, die methodisch bedingt vom Einzelfall ausgehen, wenn man diesen Einzelfallbezug nicht ontologisch überfrachtet. Wer Journalisten befragt, ihre Handlungen beobachtet oder einzelne Artikel textlich analysiert, muss dies nicht aus der Theorieperspektive der journalistischen Persönlichkeit begründen. Im individuellen Fall können gesellschaftliche „Ablagerungen“ entdeckt werden der Journalist sagt in der Befragung nicht nur etwas über sein individuelles Rollenselbstverständnis aus, sondern gibt (indirekt?) auch Auskunft über seine berufliche Sozialisation und seinen gesellschaftlichen Hintergrund. Mit einer konstruktivistischen Epistemologie sind der methodische Zugriff (auf den Einzelfall) und die theoretische Interpretation (als Gesellschaftsphänomen) leicht zu begründen, weil sie Methode und Theorie nicht ontologisch miteinander verklammert, sondern als kontingentes Beobachtungskonstrukt ansieht. Für die Journalismusforschung könnte diese Perspektive die ein oder andere falsche Konfrontation beenden, und die Theoriedebatte könnte in eine neue Qualität münden. Literaturverzeichnis Adam, S. (2008): Medieninhalte aus der Netzwerkperspektive. Neue Erkenntnisse durch die Kombination von Inhalts- und Netzwerkanalyse. In: Publizistik, 53(2), 180-199. Altmeppen, K.-D., Donges, P. & Engels, K. (2002): Journalistisches Handeln genauer beobachtet. Zur Quantifizierung qualitativer Merkmale in der teilnehmenden Beobachtung. In: M. Karmasin & M. Höhn (Hrsg.): Die Zukunft der empirischen Sozialforschung. Graz: Nausner & Nausner, 105126. Altmeppen, K.-D., Hanitzsch, T. & Schlüter, C. (Hrsg.) (2007): Journalismustheorie: Next Generation: Soziologische Grundlegung und theoretische Innovation. Wiesbaden: VS Verlag. Barnett, G. A. & Houston, R. (2005) (Hrsg.): Advances in Self-organizing Systems. Cresskill: Hampton Press.
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Der unauflösbare Zusammenhang von Fragestellung, Theorie und Methode
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Felder der Journalismusforschung Martin Löffelholz und Liane Rothenberger
1
Differenzierung und Dynamik der Journalismusforschung
Von der Organisation der Nachrichtenproduktion zur journalistisch konstruierten ‚Medienrealität‘, von politischen Rahmenbedingungen zur Wahlberichterstattung, von journalistischen Texten zur Rezeption journalistischer Angebote: Die Felder der Journalismusforschung sind ausgesprochen heterogen und hochgradig differenziert, wie zum Beispiel Siegfried Weischenbergs (2002, 2004) mehrbändiger und über 1.000 Seiten umfassender Überblick zur Journalistik demonstriert. Manche dieser thematischen Bereiche lassen sich entsprechend klassischer Taxonomien der Kommunikationswissenschaft gut systematisieren und ordnen, so etwa der Fernseh-, Radio-, Print- und Online-Journalismus als medial differenzierte Felder der Journalismusforschung. Andere Forschungsbereiche hingegen stehen stärker im Kontrast zueinander oder verweisen – wie beispielsweise die Themen Medienökonomie und journalistische Ethik oder journalistische Rollenselbstbilder und mediale Arbeitsrealität – auf Paradoxien des Gegenstandsbereichs (vgl. Loosen et al. 2008, 17-18). Zudem verändern sich mit dem Wandel des Journalismus auch die Felder der Journalismusforschung, wie Manfred Rühl (1980, 42) am Beispiel medialer Wandlungsprozesse der 1960er Jahren gezeigt hat, als das Fernsehen zum Massenmedium wurde. Heute gilt die Journalismusforschung als „one of the fastest growing areas within the larger discipline of communication research and media studies“ (Wahl-Jorgensen & Hanitzsch 2009, xi). Wie lassen sich angesichts dieser Differenzierung, Heterogenität, Widersprüchlichkeit und Dynamik der Journalismusforschung die alten und neuen Felder der Journalismusforschung identifizieren und systematisieren? Die Herausgeber des „Handbook of Journalism Studies“ unterscheiden dazu vier Phasen der Journalismusforschung: „While the field came out of normative research by German scholars on the role of the press in society, it gained prominence with the empirical turn, particularly significant in the United States, was enriched by a subsequent sociological turn, particularly among Anglo-American scholars, and has now, with the global-comparative turn, expanded its scope to reflect the realities of a globalized world“ (Wahl-Jorgensen & Hanitzsch 2009, 4). Während die ersten drei dieser vier Phasen in der Literatur vergleichsweise gut dokumentiert sind, steckt die globalvergleichende Journalismusforschung offenkundig noch in ihren Anfängen. Es erscheint keineswegs ausgemacht, dass die Globalisierung der Medienkommunikation das axiale Prinzip künftiger Journalismusforschung darstellt, wenngleich die weitere Europäisierung, Internationalisierung und Globalisierung medialer Kommunikation im Journalismus und in seiner wissenschaftlichen Analyse Spuren hinterlassen wird (vgl. Löffelholz & Weaver 2008). In dem vorliegenden Beitrag beschreiben wir dementsprechend sowohl die wichtigsten traditionellen Felder der Journalismusforschung als auch neuere Entwicklungen, die einen O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Martin Löffelholz und Liane Rothenberger
vorsichtigen Ausblick auf zukünftige Forschungsfelder gestatten. Neben einer Literatursynopse stützen wir uns dabei auf eine Inhaltsanalyse relevanter Fachzeitschriften, mit deren Hilfe wir aktuelle thematische Trends der Journalismusforschung identifiziert haben. Dabei interessiert uns nicht nur, ob sich die von Wahl-Jorgensen und Hanitzsch (2009) identifizierte „global-komparative Wende“ bereits in den einschlägigen Zeitschriften des Fachs niedergeschlagen hat. Umfassender geht es darum zu klären, welche Themen, Theorien und Methoden in der kontemporären Erforschung des Journalismus im Zentrum stehen – und welche Konsequenzen sich daraus für künftige Forschungsanstrengungen ableiten lassen. 2
Personenorientierung und Systemparadigma
In der Journalismusforschung gibt es, wie Johannes Raabe meint, „drei größere Forschungstraditionen. Die eine beginnt mit der Beobachtung von Journalisten und ihrem Verhalten und versucht über personenbezogene Merkmale die Spezifika journalistischen Handelns zu ermitteln und zu erklären. Im Zentrum ihres Forschungsinteresses stehen die Journalisten selbst, sowie ihre Merkmale und Einstellungen“ (Raabe 2005, 10). Diese Forschungstradition fasst Raabe unter dem Begriff des „Personenparadigmas“ zusammen. Ihm gegenüber stehe das „Systemparadigma“: Damit verbundene Forschung versuche, „Journalismus gerade nicht über die beteiligten Individuen, sondern als einen eigenständigen und eigenlogischen sozialen Zusammenhang zu identifizieren und über die Analyse von dessen Funktionen und Strukturen Aufschluss über die Wirklichkeit des Journalismus zu gewinnen“ (Raabe 2005, 10). Hier werde Journalismus vor allem auf der Makroebene im Sinne von Niklas Luhmanns funktional-struktureller Systemtheorie betrachtet. Als dritte Forschungstradition nennt Raabe „aus der Kritik an den Einseitigkeiten der Sichtweisen beider Forschungstraditionen in den vergangenen Jahren verschiedene integrative Konzepte der Journalismustheorie […], die Journalismus als einen sozialen Zusammenhang in der modernen Gesellschaft zu fassen versuchen und zugleich die journalistisch Handelnden in ihre Theorievorstellung integrieren möchten.“ (Raabe 2005, 11) Raabe konzipiert Journalisten dabei als „soziale Akteure“ (Raabe 2005, 12) und beschreibt damit die Möglichkeit „einer theoretisch begründeten, gleichwohl empirisch ausgerichteten Journalismusforschung jenseits des Personen- und des Systemparadigmas“ (Raabe 2005, 216). Anstatt von Paradigmen sprechen Klaus-Dieter Altmeppen und Martin Löffelholz von „unterschiedlichen Leitbildern“ (Altmeppen & Löffelholz 1998, 414) in der Journalismusforschung; diese habe sich von einer individuumzentrierten zu einer systemischen Beschreibung gewandelt. „Die normativ-ontologische Publizistikwissenschaft konzentrierte sich auf journalistische Persönlichkeiten als ‚geistige Gestalter‘ von Medienangeboten. In materialistisch ausgerichteten Studien stand der Journalismus als Produktionsbetrieb von (Informations-)Waren im Zentrum der Analyse. Organisationssoziologisch und systemtheoretisch inspirierte Ansätze schließlich beschäftigten sich vornehmlich mit Rollenaspekten und redaktionellen Entscheidungsprozessen“ (Altmeppen & Löffelholz 1998, 414). In Anlehnung an diese Überlegungen werden im Folgenden die beiden zentralen Strömungen der Journalismusforschung dargestellt: Sowohl die normativ-deskriptive als auch die empirisch-soziologische Forschungstradition haben vielfältige inhaltliche Impulse gegeben und die Relevanz bestimmter journalismusbezogener Forschungsfelder nachhaltig geprägt.
Felder der Journalismusforschung 3
35
Renaissance der „journalistischen Persönlichkeit“
Die Anfänge der modernen Journalismusforschung können auf die Mitte des 19. Jahrhunderts datiert werden, parallel zur Professionalisierung des Journalismus als Beruf (vgl. Löffelholz 2003, 29). Subjektiv-beschreibende, normative Beschäftigungen mit Zeitungen finden sich zwar schon in Kaspar Stielers „Zeitungs Lust und Nutz“, das 1695 erschien, oder in Joachim von Schwarzkopfs „Ueber Zeitungen (und ihre Wirkung)“, das 1795 publiziert wurde. Die Autoren geben allerdings in erster Linie Ratschläge, wie welches Publikum Zeitungen am besten rezipieren und wie Journalisten berichten sollten. Eine historischdeskriptive, in ihrer Tiefenschärfe beeindruckende Beschreibung der „Geschichte des deutschen Journalismus“ legte Robert Eduard Prutz 1845 vor – und damit den Ausgangspunkt eines modernen Journalismusverständnisses. Mit der Gründung der ersten zeitungswissenschaftlichen Institute in Deutschland am Beginn des 20. Jahrhunderts begann die Verwissenschaftlichung der Journalismusforschung. Gleichwohl verharrte diese zunächst, wie Manfred Rühl herausarbeitete, weitgehend in einer individualistischen, normativen und praktizistischen Perspektive: „Geschichts- und Geschichtenschreibung über große Journalisten und die ideengeschichtliche Behandlung zentraler journalistischer Themen haben der alten Zeitungs- und Publizistikwissenschaft lange den Blick verstellt für soziale, politische, ökonomische und andere gesellschaftliche Veränderungen sowie für deren Einwirkung auf Journalismus. Damit ist auf jenen Ansatz verwiesen, der über viele Jahre hinweg weite Bereiche der Journalismusforschung repräsentierte: der Praktizismus.“ (Rühl 1980, 13) Praktizistisch orientierte Studien stützten sich vor allem auf die Analyse von Memoiren und anderen Ego-Dokumenten, in der journalistische Praktiker das journalistische Schaffen aus eigener Sicht, häufig anekdotenhaft und unter Verzicht auf empirische Erkenntnisse beschreiben. Während der Diktatur der Nationalsozialisten in Deutschland lief jegliche Journalismusforschung auf Propaganda und faschistische Politisierung hinaus (vgl. Löffelholz 2003, 30). Das personenzentrierte, praktizistisch orientierte Verständnis des Journalismus – beispielsweise die Begabungsideologie Emil Dovifats – fügte sich in diese propagandistische Ideologie problemlos ein. International war die Journalismusforschung zwar keineswegs so stark ideologisch aufgeladen wie im faschistischen Deutschland. Auch in den USA und anderen Ländern dominierte zunächst jedoch eine anwendungsorientierte Sicht, die der Journalismusforschung gleichwohl keinen leichten Start bescherte. Journalisten begegneten ihren Erforschern oft mit Skepsis oder gar Unverständnis. So qualifizierten Praktiker in den USA die damalige Journalismusforschung als „Mickey Mouse studies“ ab (vgl. Zelizer 2004, 20). Obgleich die Hoch-Zeit der normativ-individualistischen Journalismusforschung sicher vorbei ist, erlebt die entsprechende Forschungstradition gelegentlich eine Renaissance. Bis in die heutige Zeit beschäftigen sich immer wieder Forscher mit der „journalistischen Persönlichkeit“ (vgl. z.B. Duchkowitsch et al. 2009). Die verengte Betrachtung von Journalismus allein aus der Sicht journalistischer Subjekte kritisierte insbesondere der deutsche Kommunikationswissenschaftler Manfred Rühl bereits in den 1960er Jahren. Mit seiner 1969 publizierten Dissertation über „Die Zeitungsredaktion als organisiertes soziales System“ begann die Journalismusforschung in Deutschland ihren langsamen, aber stetigen Übergang von einer Vermutungs- und Behauptungswissenschaft zur Beschreibungs- und Erklärungswissenschaft (vgl. Löffelholz 2003, 30).
36 4
Martin Löffelholz und Liane Rothenberger Dominanz des analytischen Empirismus
Eine empirische „Enquête über das Zeitungswesen“ forderte Max Weber schon auf dem ersten Deutschen Soziologentag im Jahr 1910 in Frankfurt am Main. Umgesetzt wurde sein Vorschlag allerdings nicht. Erst in den 1970er Jahren führte ein US-Forschungsteam um John Johnstone die weltweit erste repräsentative Journalistenstudie durch (vgl. Weaver & Löffelholz 2008, 4). Die rezeptionsorientierte Journalismusforschung begann hingegen deutlich früher. Der gebürtige Wiener Paul Felix Lazarsfeld wertete 1932 in der ersten groß angelegten Hörerbefragung im deutschsprachigen Raum, der so genannten RAVAG-Studie, rund 36.000 Fragebögen aus (vgl. Meyen & Löblich 2006, 199-201). Die Wende zu einer empirisch-soziologischen Journalismusforschung begann also in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA und ist verbunden mit Namen wie Paul Lazarsfeld, Harold Dwight Lasswell oder Carl Hovland. Deren Arbeiten konzentrierten sich jedoch auf die Rezeption journalistischer Aussagen. Allein Lasswell beschäftigte sich auch mit den Medienaussagen selbst. Abgesehen von wenigen Einzelstudien – wie etwa Leo Rostens (1937) Buch über Washingtoner Korrespondenten – entstanden die ersten empirischen Untersuchungen, in denen die Entstehung von Medienaussagen in den Fokus rückte, erst nach dem zweiten Weltkrieg (vgl. Weaver & Löffelholz 2008, 4-5; Zelizer 2004, 1519). Zu den zentralen Feldern der damaligen Journalismusforschung gehörten die Gatekeeper-Forschung (vgl. u.a. White 1950), die Nachrichtenwerttheorie (vgl. u.a. Galtung/Ruge 1965) sowie der Agenda-Setting-Ansatz (vgl. u.a. McCombs & Shaw 1972). Elisabeth Noelle-Neumann – in den USA geschult – machte mit der Gründung des Instituts für Demoskopie in Allensbach einen ersten Schritt in Richtung empirischer Rezipientenforschung in Deutschland. Parallel dazu nahm die Zahl empirisch ausgerichteter Untersuchungen des Journalismus und seiner Akteure ebenfalls nach und nach zu, so dass Manfred Rühl die 1960er Jahre bereits als „primär empirisch orientierte Journalismusforschung“ beschrieb, die ihre „Denkanleihen bei den Sozialwissenschaften“ fand (Rühl 1980, 14). Methodisch traten insbesondere Befragung und Inhaltsanalyse in den Mittelpunkt; systematische Beobachtungen waren selten. Die schnell wachsende Zahl empirischer Untersuchungen führte bald zu einer großen Vielfalt an Befunden – und zu dem Vorwurf einer kaum miteinander verbundenen Datenflut basierend auf voneinander losgelösten Einzelarbeiten. Es überwogen „projektorientierte Untersuchungen, die journalistische Probleme faktenanalytisch durch empirische Messbarkeit zu prüfen suchen. […] Da in der gegenwärtigen Journalismusforschung Begriffs- und Theoriebildung meist marginal behandelt werden, kommt auch die kritische Gegenüberstellung verschiedener begrifflicher und theoretischer Ansätze zu kurz“ (Rühl 1980, 434). Kurz nach der Zulassung privater Rundfunkanbieter in Deutschland, also ab Mitte der 1980er Jahre, starteten erste Studien zur Kommerzialisierung des Journalismus. Parallel entstanden Arbeiten, in denen die Konsequenzen der wachsenden Technisierung journalistischer Arbeit und der Konvergenz von Rundfunk und computervermittelten Medienangeboten ausgelotet wurden (vgl. Weischenberg, Altmeppen & Löffelholz 1994). Es standen dabei nicht allein die journalistischen Individuen im Mittelpunkt (vgl. Weischenberg, Löffelholz & Scholl 1998; Schönbach, Stürzebecher & Schneider 1994), auch Entscheidungsprogramme, Organisationsroutinen und systemische Verflechtungen rückten zunehmend in den Aufmerksamkeitsfokus der Journalismusforschung (vgl. z.B. Blöbaum 1994).
Felder der Journalismusforschung
37
In den 1990er Jahren intensivierte sich darüber hinaus im deutschen Sprachraum der theoretische Diskurs. Heute werden die Felder der Journalismusforschung über eine Vielfalt theoretischer Konzepte erschlossen, die ihrerseits wiederum unterschiedliche theoretische Ansätze subsumieren. Normativ-individualistische Vorstellungen gehören dabei weiter zur Palette; allein die materialistische Medientheorie und damit verbundene Studien zum Journalismus sind seit dem Ende des autoritären Sozialismus sowjetischer Prägung im Keller der Geschichte angekommen (vgl. Löffelholz 2003, 33). Analytischer Empirismus, handlungstheoretische Ansätze und funktionalistische Systemtheorien dominierten – und dominieren – bislang diesen Diskurs und prägen damit die Auswahl als relevant erachteter Felder der Journalismusforschung. Es fehlen freilich bis heute „Methoden und Techniken […], die an […] makroperspektivischen Problemstellungen orientiert sind. Soweit auf die gängigen Methoden und Techniken der empirischen Sozialforschung (Befragung, Inhaltsanalyse, teilnehmende Beobachtung etc.) zurückgegriffen wird, sind die Grenzen des forschungstechnischen Leistungsvermögens unübersehbar“ (Rühl 1980, 17). Die empirische Journalismusforschung konzentriert sich deshalb auf die Analyse der Mikro- oder Mesoebene, so dass zum Beispiel akteursorientierte Untersuchungen, in denen im Hinblick auf unterschiedliche Fragestellungen Merkmale und Einstellungen von Journalisten erhoben werden (vgl. z.B. Weischenberg, Malik & Scholl 2006), auch in Zukunft sicherlich eine wichtige Rolle spielen werden. Dass der analytische Empirismus das weiterhin dominierende Konzept der Journalismusforschung darstellt, zeigt sich freilich nicht nur in der großen Zahl von Journalistenbefragungen, sondern – im Hinblick auf die verwendete theoretische Basis – auch bei Studien, die sich auf Ansätze mittlerer Reichweite stützen, diese prüfen und weiterentwickeln. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang beispielsweise Untersuchungen im Umfeld des Framing-Ansatzes (vgl. z.B. Scheufele 2003). 5
Internationalisierung und Transdisziplinarität
In Zukunft werden diese – auf traditionellen Konzepten zur Analyse des Journalismus beruhenden – Annäherungen ergänzt und pluralisiert durch sozial-integrative Ansätze sowie kulturwissenschaftlich fundierte Überlegungen aus dem Umfeld der so genannten Cultural Studies (vgl. Löffelholz 2000; Raabe 2005, 76-95). So fordert Margreth Lünenborg in diesem Kontext eine Überwindung der Kommunikatorzentrierung der Journalismusforschung. Die „Exklusion des Publikums“ (Lünenborg 2005, 20) sei zu beenden, Medientexte seien als kulturelle Produkte zu betrachten (vgl. Lünenborg 2005, 14), nicht nur der klassische Nachrichtenjournalismus, sondern auch der Mode-, Boulevard- und Reisejournalismus sowie narrative Formen seien stärker in der Forschung zu berücksichtigen (vgl. Lünenborg 2005, 13). Im aktuellen Diskurs der Journalismusforschung finden sich demgegenüber nach wie vor insbesondere Fragestellungen, Forschungsfelder und theoretische Ansätze, deren Wurzeln teilweise Jahrzehnte zurückreichen, die aber dennoch als innovativ und zukunftsfähig einzuschätzen sind. Ein herausragendes Beispiel für diesen Trend einer innovativen Weiterentwicklung ‚alter‘ Forschungsfelder der Journalismusforschung stellt die groß angelegte „Worlds of Journalism“-Studie dar. Ausgehend von den bisherigen Repräsentativbefragungen von Journalisten in einzelnen Ländern, deren Befunde kaum oder nur eingeschränkt miteinander vergleichbar sind (vgl. Weaver 1998), entwickelte Thomas Hanitzsch, Initiator
38
Martin Löffelholz und Liane Rothenberger
der „Worlds of Journalism“-Studie, das Forschungsdesign einer komparativen Journalistenforschung, welches darauf angelegt ist, den ‚Western Bias‘ zu überwinden (vgl. Hanitzsch 2009, 422). Es ist Hanitzsch zuzustimmen, dass der Versuch, auf diese Weise tiefenschärfer die Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Journalismuskulturen weltweit zu verstehen, „has become one of the most fascinating sub-domains in the field of journalism studies, and researchers in this area increasingly adopt a comparative perspective“ (Hanitzsch 2009, 413). Generell bereichern international und interkulturell vergleichende Studien zunehmend unser Wissen über die Funktionen, Strukturen, Produkte und Akteure des Journalismus. Für manche Wissenschaftler stellt die Internationalisierung der Journalismusforschung gar eine neue Forschungsrichtung dar. Gründe dafür liegen nach Wahl-Jorgensen und Hanitzsch vor allem in der Globalisierung und in verbesserten technischen Möglichkeiten der Kommunikation und Kollaboration: „Journalism researchers are finding more and more opportunities to meet with colleagues from afar, made possible by the end of the cold war and increasing globalization. New communication technologies have triggered the rise of institutionalized global networks of scientists, while it has become much easier to acquire funding for international studies. As journalism itself is an increasingly global phenomenon, its study is becoming an international and collaborative endeavor“ (Wahl-Jorgensen & Hanitzsch 2009, 6). Allerdings liegt der Fokus der weitaus meisten Untersuchungen nach wie vor auf der Erforschung des Journalismus westlicher Industriestaaten. Afrika, Lateinamerika und Asien erheben gleichwohl zunehmend ihre Stimmen und setzen nach und nach Gegengewichte zur bislang dominierenden „Verwestlichung“ (Wasserman & de Beer 2009) der Journalismusforschung. Notwendig ist eine tatsächlich global ausgerichtete Erforschung aktueller Medienkommunikation, die nationale, kulturelle und fachbezogene Grenzen transzendiert und überwindet (vgl. Weaver & Löffelholz 2008, 8). Fachbezogene Grenzen zu überwinden, gehört nach Auffassung von Barbie Zelizer zu den zentralen Desiderata – und Zukunftsaufgaben – der Journalismusforschung: „The contemporary study of journalism has divided journalism scholars not only from each other but also from other parts of the academy. Within it are deep pockets separating groups of people who share concerns for the past, present, and future of journalism but lack a shared conversational platform for their concerns. They include journalism educators, journalism scholars in communication and media studies departments, writing teachers interested in the texts of journalism, technology scholars involved in information transfer“ (Zelizer 2004, 3). Im Umkehrschluss können neue Felder der Journalismusforschung durch eine stärkere Zusammenarbeit mit Vertretern aus Soziologie, Psychologie, Linguistik, Literaturwissenschaft, Politikwissenschaft, Geschichtswissenschaft oder Kulturwissenschaften entwickelt werden. 6
Hauptgebiete der Journalismusforschung
Wenn Vergangenheit und Gegenwart wesentlich dafür verantwortlich sind, mit welchen Feldern die Journalismusforschung zukünftig konfrontiert wird, lohnt es sich, das aktuelle Spektrum von Forschungsthemen genauer zu betrachten. Als Indikator für den Status quo einer Disziplin und als Grundlage zur Identifikation aktueller Theorien, Methoden und Themen der Forschung dient oftmals der systematische Blick in maßgebliche Fachzeit-
Felder der Journalismusforschung
39
schriften. Um entsprechende Forschungsfelder zu bestimmen, haben wir die jeweils kompletten Jahrgänge (2008) von insgesamt sieben Fachzeitschriften analysiert, die entweder als besonders relevante Publikationsorte der Journalismusforschung gelten oder eine in der westlichen Welt bislang eher marginalisierte Journalismusforschung repräsentieren. In die Analyse einbezogen haben wir dementsprechend die folgenden Fachzeitschriften: „Journalism Studies“, „Journalism & Mass Communication Quarterly“, „Journalism – Theory, Practice and Criticism“, „Journalism and Communication Monographs“, „Brazilian Journalism Research“, „Ecquid Novi: African Journalism Studies“ sowie „Pacific Journalism Review“ (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Analysierte Fachzeitschriften Fachjournal
Verlag/Herausgeber
Frequenz (p.a.)
Journalism Studies
Routledge
6
Journalism & Mass Communication Quarterly
Association for Education in Journalism & Mass Communication
4
Journalism – Theory, Practice and Criticism
Sage
6
Journalism & Communication Monographs
Association for Education in Journalism & Mass Communication
4
Brazilian Journalism Research
Brazilian Journalism Researchers Association
2
Ecquid Novi: African Journalism Studies
(seit 2008) University of Wisconsin Press et al.
2
Pacific Journalism Review
Auckland University of Technology
2
Der Titel von Zeitschriften verweist auf ihr Selbstverständnis. Deshalb wählten wir nur Journale aus, in denen die Worte „Journalism“ oder „Journalismus“ im Titel vorkommen. Deutsche Fachzeitschriften mussten daher ausgeschlossen werden. Nicht berücksichtigt wurden zudem Zeitschriften, die sich weniger der Forschung als der journalistischen Praxis zuwenden. Alle sieben einbezogenen Fachzeitschriften wenden ein peer-review-Verfahren an und erscheinen mit zwei bis sechs Ausgaben jährlich. Das Sample bestand aus insgesamt 182 wissenschaftlichen Beiträgen, die im Jahr 2008 in den genannten Fachzeitschriften publiziert wurden (vgl. Tabelle 2).1
1
Die Codierung wurde von mehreren Codierern durchgeführt (Interkoderreliabilitätskoeffizient r = .91).
40
Martin Löffelholz und Liane Rothenberger
Tabelle 2: Sample Fachjournal
Zahl der Artikel
Prozente
Journalism Studies
56
30,8
Journalism & Mass Communication Quarterly
33
18,1
Journalism – Theory, Practice and Criticism
33
18,1
Pacific Journalism Review
22
12,1
Brazilian Journalism Research
20
11,0
Ecquid Novi
10
5,5
8
4,4
182
100,0
Journalism & Communication Monographs Gesamt
Tabelle 3: Hauptgebiete der Journalismusforschung (Mehrfachnennungen waren möglich, in Prozent) Fachjournal
Kommunikatorforschung
Medieninhaltsforschung
Medienforschung
Rezeptionsforschung
Journalism & Mass Communication Quarterly
36,4
57,6
3,0
45,5
Journalism Studies
64,3
60,7
19,6
8,9
Journalism – Theory, Practice and Criticism
72,7
54,5
0,0
15,2
Journalism & Communication Monographs
87,5
50,0
12,5
12,5
Ecquid Novi
90,0
30,0
10,0
10,0
Brazilian Journalism Research
70,0
70,0
10,0
5,0
Pacific Journalism Review
72,7
59,1
4,5
0,0
Felder der Journalismusforschung
41
Zunächst interessierte uns die Frage, welchen kommunikationswissenschaftlichen Hauptforschungsgebieten die jeweiligen Beiträge zugeordnet werden können. Das Ergebnis überrascht nicht: Die meisten Artikel zählen zur Kommunikator- sowie zur Medieninhaltsforschung (vgl. Tabelle 3). Mit Abstand folgen die Rezeptions- sowie die Medienforschung, die offenkundig als eigenständige Forschungsbereiche gesehen werden, welche neben der Journalismusforschung stehen. Dieser Befund bestätigt insofern die Einschätzung von Lünenborg (2005, 20-45), dass die Journalismusforschung Themen, die das Publikum einbeziehen, weitgehend ausblendet. 7
Dominierende Ansätze und Methoden der Journalismusforschung
Im Hinblick auf die Frage, welchen theoretischen Ansätzen die untersuchten Artikel verpflichtet sind2, bestätigte sich die Erwartung, dass die Journalismusforschung weltweit in erster Linie dem „analytischen Empirismus“ zuzuordnen ist. Rund die Hälfte aller Artikel konnte diesem Journalismuskonzept zugerechnet werden. Hervorzuheben sind dabei die relativ großen Anteile von Beiträgen, die sich auf den Agenda-Setting-Ansatz (10,4%) oder auf Theorien der Nachrichtenselektion (Gatekeeping, News Bias, Nachrichtenwerttheorie, etc.) stützen (9,3%). Diese Theorien mittlerer Reichweite haben wir dem „analytischen Empirismus“ zugeordnet (vgl. Tabelle 4). Tabelle 4: Theoretische Grundlagen der Journalismusforschung Theoretischer Fokus
Prozent
Analytischer Empirismus
78
42,8
Cultural Studies
48
26,4
Normativer Individualismus
12
6,6
(Kritische) Handlungstheorien
8
4,4
Legitimistischer Empirismus
5
2,7
Integrative Sozialtheorien
1
0,5
Materialistische Medientheorie
1
0,5
Funktionalistische Systemtheorien
0
0,0
29
15,9
182
100,0
Keine theoretischen Grundlagen Gesamt
2
Häufigkeit
Das Codebuch orientierte sich an den von Löffelholz (2003) identifizierten Journalismuskonzepten. Zudem erfasst wurden Subbereiche wie z.B. der Agenda-Setting-Ansatz. War keine Zuordnung zu einem der acht Konzepte möglich, konnte in einem String der verwendete Ansatz bzw. das Nicht-Vorhandensein einer theoretischen Grundlage eingetragen werden.
42
Martin Löffelholz und Liane Rothenberger
In immerhin einem Drittel der Beiträge bilden die – international bereits seit den 1960er Jahren diskutierten – Cultural Studies den theoretischen Hintergrund. Besonders häufig publizieren dabei Ecquid Novi und Journalism Studies Artikel, die sich auf Überlegungen aus dem Umfeld der Cultural Studies stützen. Neben den Cultural Studies und dem analytischen Empirismus erreichen lediglich Arbeiten, die sich auf den normativen Individualismus oder handlungstheoretische Vorstellungen stützen, noch nennenswerte Prozentpunkte, während die materialistische Medientheorie oder integrative Sozialtheorien gerade mal in jeweils einem Artikel als theoretische Basis verwendet werden. Auch die im deutschen Sprachraum seit Jahrzehnten intensiv debattierten funktionalistischen Systemtheorien spielen in der internationalen Journalismusforschung nach diesen Ergebnissen keine Rolle. Neben den theoretischen Ansätzen interessierte uns die Frage, welche Methodologie und Methoden die Journalismusforschung derzeit prägen. Immerhin nahezu drei Viertel aller untersuchten Beiträge zur Journalismusforschung (72%) beruhen auf einer empirischen Studie; die übrigen Artikel rücken demgegenüber theoretische Fragen in den Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund der Forderung nach einer stärker komparativen Journalismusforschung ist interessant, dass in immerhin schon mehr als jedem zehnten der untersuchten Artikel (19,1% aller empirischen Studien) ein ländervergleichendes Untersuchungsdesign eingesetzt wurde. Als Forschungsmethode3 dominieren eindeutig Inhaltsanalysen (in 61,8% der Beiträge); mit deutlichem Abstand folgen Leitfadeninterviews (22,9%) und schriftliche Befragungen (11,5%). Standardisierte mündliche (Telefon-)Befragungen, Beobachtungen, (Labor-)Experimente und Online-Befragungen wurden demgegenüber nur in wenigen Untersuchungen eingesetzt. Das vielfach propagierte Mehrmethoden-Design ist in der Journalismusforschung bisher keineswegs charakteristisch; allerdings finden sich entsprechende trianguläre Verfahren in immerhin 19 Prozent der Beiträge (zehn kombinieren Inhaltsanalyse mit Leitfadeninterviews, fünf Studien verbinden Beobachtungen mit Leitfadeninterviews). Untersuchungen, die sich auf Theorien mittlerer Reichweite und das damit verbundene Journalismuskonzept des analytischen Empirismus stützen, setzen vornehmlich Inhaltsanalysen und Leitfadeninterviews ein. Beiträge aus dem Umfeld der Cultural Studies sowie der Handlungstheorien verwenden tendenziell eher Leitfadeninterviews sowie gelegentlich Beobachtungen. 8
Aktuelle Forschungsfelder der Journalismusforschung
Rund drei Viertel aller untersuchten Beiträge zur Journalismusforschung stellen einen bestimmten Medienbereich in den Mittelpunkt.4 Frappierenderweise stehen dabei nach wie vor Bezüge zu den ältesten Massenmedien – den Zeitungen – im Vordergrund (47,8%). Gleichzeitig zeigen die Befunde allerdings, dass der Online-Journalismus als Gegenstand wissenschaftlicher Forschung deutlich auf dem Vormarsch ist. Denn schon an zweiter Stelle folgen, mit etwa einem Fünftel aller analysierten Artikel, Bezüge zum Internet (20,9%). 3
4
Hier waren wieder Mehrfachnennungen möglich. Abzüglich der 51 Artikel, die keine Methode nannten, ergibt sich für diese Fragestellung eine neue Grundgesamtheit von n = 131 Artikeln, auf die sich die folgenden Prozentangaben beziehen. Keinen expliziten Territorialbezug wiesen 22,5 Prozent aller untersuchten Artikel auf. Mehrfachnennungen waren möglich.
Felder der Journalismusforschung
43
Das übertrifft sogar die Zahl der Beiträge, die sich auf fernsehjournalistische Aspekte beziehen (17,6%). Mit dem Journalismus bei Zeitschriften und Radiosendern setzt sich demgegenüber nur jeweils etwa ein Zehntel aller untersuchten Artikel auseinander (Zeitschrift: 8,8%; Radio 9,3%). Ein geringer Prozentsatz der Artikel (2,7%) befasst sich mit Nachrichtenagenturen. Ein Großteil der Studien, in denen der Online-Journalismus eine Rolle spielt, beschäftigt sich mit der Relevanz und den Inhalten von Weblogs, während Social-MediaApplikationen (z.B. Flickr, Youtube, Last.fm, Facebook, StudiVZ) bislang nur in wenigen Artikeln Gegenstand der Analyse waren. Weitere Einzelstudien analysierten u.a. Regierungswebseiten, Content-Management-Systeme oder Online-Nachrichtenangebote von sozialen Bewegungen. Die Erforschung von Web-Inhalten, die von klassischen journalistischen Instanzen produziert wurden, übertraf deutlich Untersuchungen, die sich auf den so genannten user-generated content bezogen. Immerhin gut ein Viertel aller untersuchten Online-Artikel (26,3%) rückt jedoch Aspekte des user-generated content in den Fokus der Untersuchung – ein Indikator für den Relevanzgewinn dieses Forschungsfeldes. Nicht überraschend ist es, dass Zeitschriften wie Ecquid Novi, Brazilian Journalism Research und Pacific Journalism Review hauptsächlich Artikel aufnehmen, in denen Studien und Befunde mit Bezug zu den jeweiligen Weltregionen präsentiert werden. Behandelt wurden beispielsweise Themen wie die Rolle der Medien in der Phase der Postapartheid, die Australian Federal Press Gallery oder die Berichterstattung über den Wahlkampf der Maori-Partei. In allen Fachzeitschriften zeigt sich gleichwohl eine Dominanz westlicher Länder als Ausgangspunkt und Gegenstand der Journalismusforschung, wobei die USA in immerhin 27,5 Prozent aller analysierten Artikel als Bezugsland genannt werden (Großbritannien: 7,7%; Israel: 3,3%; Frankreich: 3,3%; Deutschland: 2,2%). Die meisten Arbeiten zur Journalismusforschung (83%) beschäftigen sich nicht nur mit Aspekten, die genuin journalismusbezogen sind, sondern schaffen zudem unterschiedlichste thematische Anschlüsse. An erster Stelle stehen dabei Bezüge zu politischen Fragestellungen, gefolgt von Untersuchungen, die Verbindungen zu technologischen Aspekten schaffen. Insgesamt zeigen die Befunde, dass die Journalismusforschung – trotz des vergleichsweise hohen Anteils von Politikthemen – eine außerordentlich große Bandbreite von Themen aufweist. Zu den weiteren Anschlussbereichen gehören vor allem Werbung, Geschichte, Öffentlichkeitsarbeit, Wirtschaft und Unterhaltung (vgl. Tabelle 5). Konkret untersucht werden vor allem strukturelle Aspekte des Journalismus (in knapp einem Fünftel aller untersuchten Artikel), Ethik, Normen und Werte im Journalismus (15,9%), journalistische Qualitätsstandards (14,8%) und Aspekte der Interkulturalität oder Internationalität (11%). Erstaunlicherweise beschäftigt sich nur ein verhältnismäßig geringer Teil der untersuchten Artikel (6%) dezidiert mit den journalistischen Akteuren, also etwa mit Fragen der Professionalisierung. Auch die journalistische Sprache wurde in nur wenigen Studien untersucht (3,3%). Die thematische Palette ist gleichwohl außerordentlich groß: das Verschwinden des Watchdog Journalism in Argentinien, Journalisten als Beichtväter, Data Mining und Content-Management Systeme, Embedded Journalism, Terrorismus-Berichterstattung, die Berichterstattung der britischen Presse über das EU-Beitrittsgesuch der Türkei oder Foucaults Relevanz für die Journalismusforschung. Weitere Themen waren u.a. Umweltjournalismus, Auslandsberichterstattung, die Zukunft der Zeitung, Gratismagazine, Nachrufe und Todesanzeigen, rechtliche Aspekte des Journalismus, Gender-Aspekte oder die Darstellung verschiedener sozialer Schichten in den Medien.
44
Martin Löffelholz und Liane Rothenberger
Tabelle 5: Anschlussbereiche der Journalismusforschung Anschlussbereich
Prozent
Politik
65
35,7
Technologie
23
12,6
Werbung
17
9,3
Geschichte
13
7,1
Öffentlichkeitsarbeit
10
5,5
Wirtschaft
8
4,4
Unterhaltung
8
4,4
Sonstige (u.a. Kultur, Justiz, Militär, Religion, Wissenschaft)
7
3,5
31
17,0
182
100,0
Kein Anschlussbereich Gesamt
9
Häufigkeit
Fazit und Ausblick
Die Journalismusforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem differenzierten und dynamischen Bereich der Kommunikationswissenschaft entwickelt. Der vielfältige theoretische Diskurs schlägt sich bislang allerdings kaum in der Forschung nieder. Nach wie vor dominieren Studien, die dem empirisch-analytischen Denken verpflichtet sind und sich auf die Entwicklung und Prüfung von Theorien mittlerer Reichweite konzentrieren. International kommt darüber hinaus schon heute Arbeiten eine größere Relevanz zu, die sich auf Überlegungen aus dem Umfeld der Cultural Studies stützen. Empirische Studien im Kontext systemtheoretischer und sozialintegrativer theoretischer Ansätze sind demgegenüber ein deutliches Desiderat der Journalismusforschung. Die Journalismusforschung wendet sich einer ausgesprochen großen Palette von Forschungsfeldern zu. Neben ‚alten‘ Fragestellungen, die diesen Teilbereich der Kommunikationswissenschaft seit ihren Anfängen begleiten, gibt es eine Vielzahl innovativer Themen, die in der Regel unmittelbar mit dem gesellschaftlichen und medialen Wandel einhergehen. So widmet sich die Journalismusforschung auf der einen Seite weiterhin Themen, die auf klassische Massenmedien bezogen sind. Andererseits ist beispielsweise die OnlineKommunikation dezidiert und umfangreich Gegenstand entsprechender Forschungsaktivitäten. Zu erwarten ist, dass in Zukunft sowohl die thematische Vielfalt erhalten bleibt als auch die Balance zwischen alten und neuen Feldern der Journalismusforschung.
Felder der Journalismusforschung
45
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Journalistik als Kulturanalyse. Redaktionskulturen als Schlüssel zur Erforschung journalistischer Praxis Michael Brüggemann
1
Einleitung
Die kulturtheoretische Perspektive gewinnt seit einigen Jahren in den Sozialwissenschaften an Bedeutung (Reckwitz 2008). Auch die Kommunikations- und Medienwissenschaft hat sich davon anstecken lassen wie die Thematisierung von Journalismuskulturen (Hanitzsch 2007a), Nachrichtenkulturen (Esser 2008) und Medienkulturen (Hepp 2002) zeigt. Dieser Beitrag diskutiert, was es konzeptionell und methodisch bedeutet, wenn man Journalismus als Kultur analysieren will. Die kulturanalytische Perspektive lenkt den Blick auf die Deutungsmuster, auf die sich Journalisten beziehen, um ihrem Handeln Sinn zu verleihen. Es geht also um ein besseres Verständnis davon, warum Journalisten so handeln wie sie handeln – eine Kernfrage der Journalismusforschung. Wenn es nun um das Verhältnis der Konzepte Kultur und Journalismus geht, dann kommt den Journalisten zunächst als Kulturvermittler eine Schlüsselstellung in der Gesellschaft zu: „As sense-making practice of modernity, journalism is the most important textual system in the world” (Hartley 1996, 32). Journalismus produziert aber nicht nur Kultur. Journalismus ist auch eine kulturell geprägte Tätigkeit, die man im Rahmen ihres kulturellen Umfeldes analysieren kann. Schließlich lässt sich Journalismus auch selbst als Kultur untersuchen: In der Art, wie Journalismus betrieben wird, artikulieren sich journalistische Produktionskulturen. In der Hinwendung der Journalistik zum Thema Kultur lassen sich zwei Ansätze unterscheiden, die sich auf Journalismus als kulturell geprägte Tätigkeit und auf die Produktionskulturen des Journalismus beziehen. Zum einen geht es um eine kulturelle Kontextualisierung von Journalismus. Zum anderen werden die Kulturen des Journalismus selbst zum zentralen Gegenstand der Forschung: ‚Doing journalism’ (vgl. Wintsch 2006; Raabe 2007) kann selbst als kulturelle Praxis analysiert werden. Weil die Redaktionen die zentralen Schaltstellen bei der Produktion journalistischer Inhalte sind, sind die Kulturen des Journalismus analytisch am besten als Redaktionskulturen zu erfassen, so die zentrale konzeptionelle These dieses Beitrags. Im Mittelpunkt steht dann die Frage, wie Redaktionskulturen empirisch erforscht werden können. Die Argumentation geht in drei Schritten vor. 1.
Kulturanalyse als Forschungsperspektive: In dem Maße wie ‚Kultur’ als teilweise unreflektierter Begriff in den Forschungsalltag eingeflossen ist, verbinden sich damit auch die unterschiedlichsten Konzepte. Daher ist zunächst der Kulturbegriff zu klären. Kultur wird hier als die Summe der Deutungsmuster verstanden, auf die Menschen in ihrem Denken, Sprechen und Handeln Bezug nehmen. Damit ist Kultur nicht nur ein Forschungsgegenstand, sondern impliziert auch eine bestimmte Forschungsperspekti-
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2.
3.
2
Michael Brüggemann ve, die verstehen will, welche Deutungen sich in sozialen Praktiken und Diskursen äußern. Methodisch stellt sich somit die Frage, wie kulturelle Deutungsmuster zu erforschen sind. Kulturanalyse als Perspektive auf Journalismus: Dann ist konzeptionell zu klären, wo die Kulturen des Journalismus zu verorten sind. In Abgrenzung zu anderen kulturorientierten Konzepten, die sich mit Journalismus beschäftigen, schlägt dieser Beitrag vor, Kultur auch da zu verorten, wo die zentralen journalistischen Entscheidungen getroffen werden: in den Redaktionen. Zur Erforschung von Redaktionskulturen wird dann ein Zugang entwickelt, der einerseits kulturtheoretisch inspiriert aber methodisch auch sozialwissenschaftlich fundiert ist, was zuweilen als Gegensatz konstruiert wird. Kulturanalyse als Forschungsdesign: Abschließend wird ein konkretes Design vorgestellt, das im Rahmen eines weiter gesteckten Forschungskontexts1 Redaktionskulturen im Hinblick auf die Produktion von Europaberichterstattung empirisch untersucht. Am konkreten Beispiel werden verschiedene innovative und bewährte Instrumente einer kulturorientierten Redaktionsforschung vorgestellt. Kulturanalyse als Forschungsperspektive
Zunächst ist angesichts der Vieldeutigkeit des Begriffs Kultur im Folgenden zu klären, was Kultur als Konzept bedeutet und welche methodischen Implikationen dieses Konzept für die empirische Forschung hat. In Anlehnung an die Cultural Studies setzt dieser Text an einem relativ breiten Kulturbegriff an. Demnach ist Kultur nicht mehr nur die Summe der Artefakte, die der Mensch schafft – etwa im Gegensatz zum Naturbegriff. Kultur ist ebenfalls nicht wertend als Zivilisation im Gegensatz zur Barbarei zu sehen (vgl. Hepp 2008a, 115-118). Kultur ist nach dem Diktum des britischen Kulturtheoretikers Raymond Williams die Gesamtheit einer Lebensweise („a whole way of life“). Dieser weite anthropologische Kulturbegriff wirft allerdings die Frage auf, ob damit nicht alles Kultur ist. Dann wäre das Konzept allerdings analytisch unbrauchbar. Erkenntnisfördernd erweist sich das Konzept Kultur, wenn Kulturanalyse als Perspektive begriffen wird, die gesellschaftliche Phänomene im Hinblick auf ihre kulturelle Dimension untersucht. In der Tat kann dann auch jeder Bereich menschlichen Zusammenlebens im Hinblick auf seine kulturelle Dimension analysiert werden. Die Kulturanalyse beschäftigt sich dann mit der Sinn-Dimension sozialen Handelns, wie Stuart Hall deutlich macht: „Human beings are meaning-making, interpretive beings. Social action is meaningful [...] because of the many and variable systems of meanings which human beings deploy to define what things mean [...]. These systems or codes of meaning give significance to our actions. They al1
Es handelt sich um ein von der DFG gefördertes Forschungsprojekt zur Transnationalisierung von Öffentlichkeiten in Europa, das am SFB „Staatlichkeit im Wandel“ an der Universität Bremen und der Jacobs University angesiedelt ist. Unter der Leitung von Andreas Hepp waren auch Katharina Kleinen-von Königslöw, Swantje Lingenberg und Johanna Möller an der Ausarbeitung der hier vorgestellten Forschungsinstrumente beteiligt (Ergebnisse des Projekts sind u.a. publiziert in Wessler et al. 2008; Brüggemann et al. 2009; Brüggemann & Kleinen-v. Königslöw 2009; Hepp et al. 2009). Ich danke Andreas Hepp, Stefanie Trümper, Johannes Raabe und den Herausgebern dieses Bandes für hilfreiche Literaturhinweise und konstruktives Feedback.
Journalistik als Kulturanalyse
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low us to interpret meaningfully the actions of others. Taken together, they constitute our ‘cultures’“ (Hall 1997).
Ganz ähnlich wird Kultur in der International Encyclopedia of Communication beschrieben als „web of meaning in which social life is suspended“ (Cobley 2008). Man darf sich nun Kultur aber nicht als einen Forschungsgegenstand vorstellen, der jenseits des Handelns ‚objektiv‘ existiert und den der Kulturforscher in ein Reagenzglas stecken kann. Kultur artikuliert sich im Denken der Menschen, in dem, was sie sagen, und ganz allgemein in ihrem sozialen Handeln. Erst durch Kommunikation und Handeln wird subjektive Sinngebung zu einem ‘objektiven’ sozialen Faktum: „[...] meanings are both subjectively valid and at the same time objectively present in the world – in our actions, institutions, rituals and practices” (Hall 1997, 217). Traditionell wird Kultur dabei als territorial auf die gesellschaftliche Einheit Nationalstaat bezogen, als homogen und als stabile Größe gedacht. Ein Kulturbegriff, der der aktuellen wissenschaftlichen Debatte entspricht (vgl. Cobley 2008; ausführlich in Hepp 2004), – bei allen Unterschieden, die hier nicht diskutiert werden können – geht darum von kulturellen Mustern aus, die territoriale Grenzen überschreiten, sich vielfältig überlappen und sich im Laufe der Zeit verändern. Dennoch bleibt der alte Kulturbegriff im neuen aufgehoben: Denn nach wie vor gibt es territorial vorkommende kulturelle Muster und diese sind auch noch relativ stabil. Es gibt also eine relative Stabilität von Kulturen, aber auch kulturellen Wandel. Veränderungen von kollektiven Deutungsmustern finden aber nicht schubartig, sondern graduell statt, weshalb es zu einem „cultural lag“ (William F. Ogburn 1922; zit. n. Scheuch 2003) zum Beispiel dann kommen kann, wenn technische Innovationen plötzliche Veränderungen menschlichen Handelns ermöglichen. Von den neuen Möglichkeiten wird dann in einer Weise Gebrauch gemacht, die den alten kulturell umsäumten Gewohnheiten entspricht. Kulturen sind außerdem lokal verankert, können sich aber auch raumübergreifend überlappen. Lokale oder nationale „Verdichtungen“ von Kultur können weiterhin bestehen. Kulturen werden aber heute in starkem Maße durch Medien vermittelt (daher die Rede von „Medienkulturen“, Hepp 2008a). Und mediale Kommunikation überschreitet dank digitaler Technologie und globaler Kommunikationsnetze mühelos territoriale Grenzen. So kommt es auf einem Territorium zu vielfältigen Überlappungen von Deutungsangeboten. Die Kultur eines Territoriums (zum Beispiel die „deutsche Kultur“) wird darum heute immer hybrid sein. Sie ist ein Kompositum verschiedener kultureller Einflüsse. Andere Einheiten als die Nation können damit zum Träger von Kultur werden: Es mag ethnisch, religiös, beruflich (z.B. Journalismus) oder auch mit bestimmten Freizeit-Aktivitäten (z.B. Bloggen) und den dazugehörigen Gruppen verknüpfte Kulturen geben. In Bezug auf den Journalismus kann es eine universale Journalismuskultur geben, eine Kultur des deutschen Journalismus oder eben Redaktionskulturen, die gleichzeitig Eigenheiten der jeweiligen Medienorganisation, des nationalen Journalismus und übergreifende Gemeinsamkeiten teilen. Um nun das abstrakte Konzept Kultur empirisch dingfest zu machen, ist es hilfreich, analytisch zwischen vier verschiedenen Ebenen der Artikulation kultureller Deutungsmuster zu unterscheiden. Diese Ebenen lassen sich aus der Geschichte der Kulturtheorien ableiten, in der sich zunächst einmal drei Strömungen identifizieren lassen, die mentalistische Schule, die Kultur im Denken verortet, die diskurstheoretische, die Kultur in Texten sucht, und die praxeologische Strömung (vgl. Raabe 2008), die Kultur im Handeln verkörpert sieht (Hepp 2008b). Für die empirische Untersuchung von Kultur ergeben sich folglich die
50
Michael Brüggemann
Gegenstände „patterns of thinking“, „patterns of discourses“ und „patterns of doing“ (ebd.). Kultur lässt sich darüber hinaus auch über die aus dem ‚Doing’ resultierenden Artefakte analysieren (vgl. in Bezug auf Journalismuskulturen Hanitzsch 2007a). Darum wird hier eine Unterscheidung von vier Ebenen vorgeschlagen, an denen Kulturanalyse ansetzen kann. Kultur artikuliert sich (1) im Denken, und in (2) Diskursen, (3) Praktiken und (4) Artefakten. Damit ist Kultur als das Gesamt der Deutungsmuster, die sich auf verschiedenen (nur analytisch trennbaren) Ebenen artikulieren, bestimmt. Kulturanalyse ist eine Perspektive der Wissenschaft, die diese Deutungsmuster beziehungsweise ihre Artikulation im Denken und in Diskursen, Praktiken und Artefakten untersucht. Kulturen sind als häufig medial vermitteltes, vorläufiges, aber dennoch relativ stabiles Produkt kontinuierlicher sozialer Deutungsprozesse zu denken, das lokal verwurzelt ist, aber territoriale Grenzen überschreiten kann. Das Ziel der Rekonstruktion von Deutungsmustern hat nun Folgen für die Anlage empirischer Forschung. Designs zur Erforschung der Kulturen des Journalismus können dabei auf das Instrumentarium der Ethnographie zurückgreifen, die nicht nur fremde Kulturen erforscht, sondern längst auch Phänomene der eigenen Gesellschaft in den Blick nimmt. In der Tradition der Ethnomethodologie (Garfinkel 1984 [1967]) wird gerade das, was wir als selbstverständlich und unmittelbar verstehbar halten, problematisiert. In dieser Vorgehensweise liegt gleichzeitig das kritische Potential eines kulturerforschenden Ansatzes: Scheinbar natürliche Ordnungen erweisen sich als sozial konstruiert. Aus der Herausforderung der Rekonstruktion sozialer Deutungsmuster ergeben sich drei miteinander verknüpfte Folgerungen für Kulturforschung, die im Folgenden entwickelt werden: Erstens wird eine solche Forschung einen verstehenden, interpretierenden Ansatz verfolgen, da es eben um die Erforschung von Deutungsmustern geht. Zweitens wird sie sie sich einer Triangulation von verschiedenen Erhebungsverfahren bedienen, weil kulturelle Phänomene auf verschiedenen Ebenen messbar werden, die analytisch trennbar sind, aber in einem Zusammenhang stehen, den wir als Kultur bezeichnen. Drittens will sie Deutungsmuster identifizieren und verfolgt daher einen komparativen Fallstudienansatz. 1.
Verstehender/interpretativer Ansatz: Auch kulturerforschende Sozialwissenschaft will Gesellschaft erklären. Was sie nun von anderen Ansätzen unterscheidet ist gerade das ‚Wie’ der Erklärung. Kulturforschung rekonstruiert „kollektive Wissensordnungen, Deutungsschemata und symbolische Codes“ (Reckwitz 2008). Diese Sinnstrukturen erklären, warum Menschen so und nicht anders handeln. Hier wird also Soziologie im Verständnis von Max Weber (1988 [1922]) betrieben, der sie definiert als „eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.“ Die Untersuchung von Kultur ist „keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen suchte, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht“ (Geertz 1995 [1973]). Ihre Methode und ihr unmittelbares Ziel ist eine Interpretation sozialen Handelns in einem bestimmten Kontext: Sie notiert nicht nur Phänomene (‚dünne Beschreibung’), sondern identifiziert auch die Bedeutungen, die ihnen zugeschrieben werden (‚dichte Beschreibung’). Kulturanalyse ist dabei gleich doppelt interpretativ: Sie deutet Deutungen, indem sie wissenschaftliche Interpretationen der Situationsdeutungen der untersuchten Akteure vornimmt (vgl. ebd.).
Journalistik als Kulturanalyse 2.
3.
51
Triangulation: Kulturanalyse wird nur dann ihr Objekt hinlänglich fassen, wenn mehrere der oben genannten Ebenen der Artikulation von Kultur erfasst werden, da der Blick auf nur eine Artikulationsebene von Kultur nur zu enge Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand eröffnet, um ein dichte Beschreibung kultureller Deutungsmuster zu ermöglichen. Die Ebene des Denkens ist dem direkten Zugriff des Forschenden vollständig entzogen. Denkmuster lassen sich nur indirekt über die anderen Analyse-Ebenen rekonstruieren. Bei der Analyse von Diskursen ist die wissenschaftliche Erkenntnis ebenfalls begrenzt: In Interviews (aber auch in allen anderen SprechSituationen) werden Befragte nicht alles preisgeben, was sie denken. Darüber hinaus gibt es „stummes Wissen“ (Kalthoff 2006) oder „practical consciousness“ (Giddens 1986 [1984], 375). Akteure beziehen sich demnach in ihrem Handeln häufig auf Wissensbestände, die in ihren beruflichen Routinen sedimentiert sind, die sie diskursiv aber nicht abrufen können. Dieses Wissen ist allenfalls über die Beobachtung ihrer Handlungen erschließbar. Beobachtung von Praktiken allein, ebenso wie die ausschließliche Analyse von Artefakten (in Bezug auf Journalismus also zum Beispiel eine Inhaltsanalyse publizistischer Produkte) haben ebenfalls ein begrenztes heuristisches Potential, wenn sie nicht durch eine Befragung der Akteure ergänzt werden: Denn es gilt, die Bedeutungen zu erschließen, die die Handelnden selbst ihren Praktiken zuschreiben und mit ihren Artefakten verbinden. Nur eine Triangulation verschiedener Erhebungsmethoden kann eine ganzheitliche Rekonstruktion von kulturellen Deutungsmustern leisten. Die Ethnographie kombiniert darum klassischerweise drei Forschungsmethoden: (teilnehmende) Beobachtung, Interviews und Dokumentenanalyse (vgl. Kalthoff 2006). Wie viele und welche Methoden miteinander kombiniert werden sollten, wird selbstverständlich von der jeweiligen Forschungsfrage abhängen. Die zwei grundlegenden Methoden sind dabei das ethnographische Interview (in der Kommunikationswissenschaft eher als Experteninterview bezeichnet) und die Beobachtung: „Der Informantenethnograph betrachtet die Teilnehmer […] als Experten, die ihm Auskunft über ihre Praktiken geben sowie über diejenigen Mittel und Verfahren, mit denen sie ihre Sache zum Laufen bringen“ (ebd.). Der „prozedurale Ethnograph“ bediene sich dagegen der (mehr oder weniger teilnehmenden) Beobachtung im Zuge eines Feldaufenthalts (ebd.). Götz Bachmann and Andreas Wittel (2006) fordern, mindestens diese beiden Methoden, Interviews und Beobachtung, miteinander zu kombinieren. Komparativer Fallstudienansatz: Neben einem interpretativen Ansatz und der Methodentriangulation zeichnet ein drittes Merkmal kulturorientierte Forschung aus. Es geht ihr darum Deutungsmuster (‚patterns’) zu identifizieren: „Using the term patterns tries to express the idea that a cultural analysis should not analyze just the single thinking, discourse or doing, but should typify, based on an analysis of different single phenomena, the typical ‘way’ of thinking, discourse or doing in a certain cultural context” (Hepp 2008b).
Die zu identifizierenden typischen Muster lassen sich wissenschaftlich nicht intuitiv, sondern nur durch einen Vergleich verschiedener Fälle erschließen. Daher sollten Forschungsprojekte über eine ethnologische Einzelfallstudie hinausgehen und sich das heuristische Potential eines komparativen Vorgehens erschließen. Einzelfallstudien liegt demgegenüber zuweilen ein impliziter Vergleich zugrunde, nämlich der zwischen den Erwartungen des
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Michael Brüggemann
Ethnographen und den Eigenschaften des jeweiligen Untersuchungsobjekts. Dies ist zumindest dann problematisch, wenn diese Erwartungen nicht offengelegt werden. Auch eine kulturorientierte Forschung sollte also komparativ angelegt sein, wobei es nicht zwingend ein international angelegter Vergleich sein muss. Kulturorientierte Forschung zeichnet sich dann durch eine bestimmte Anlage des Vergleichs aus. Aufgrund ihres verstehenden, holistischen Ansatzes wird ein „case-oriented design“ im Gegensatz zu einem „variable-oriented design“ verfolgt (Ragin 1987). Während letzteres den gewählten Vergleichsfall als Addition von Variablen mit bestimmten Ausprägungen sieht, versteht der fallorientierte Vergleich seine Fälle als komplexe Konstellationen in einem historischen Kontext, die man nicht in unabhängige und abhängige Variablen disaggregieren kann. Es liegt auf der Hand, dass die Erforschung von komplex miteinander verwobenen kulturellen Deutungsmustern ein fallorientiertes Design nahelegt. Mit der Forderung nach einem vergleichenden Ansatz ist allerdings in einem anderen Punkt ein Zurückstecken hinter den klassischen Anspruch ethnographischer Forschung erforderlich. Eng verknüpft mit dem klassischen Ansatz ist die Praxis eines langen Aufenthalts im Forschungsfeld. Der lange Feldaufenthalt ist schwerer zu realisieren, wenn mehrere Fälle zu untersuchen und zu vergleichen sind. Dadurch verliert die Studie an Tiefe, denn das Verständnis des Untersuchungsobjekts wird natürlich verbessert durch einen längeren Feldaufenthalt. Andererseits wird der Blick auf das Besondere am Einzelfall gerade durch das Fremdsein im Feld ermöglicht, das mit zunehmender Nähe zum Untersuchungsobjekt verloren geht: Die Annahme, dass der Forscher beliebig zwischen Teilnehmerrolle und Beobachterrolle wechseln könnte, ist illusorisch, – weshalb Journalisten gerade als Insider nicht die besseren Kommunikationswissenschaftler sind. Die Dinge, die sie als selbstverständlich annehmen oder gar nicht mehr wahrnehmen, offenbaren sich allenfalls dem Blick des fremden Beobachters. Wenn es im Folgenden um das konkrete Beispiel journalistischer Redaktionen geht: Diese erlauben den Feldzugang, wenn überhaupt, dann häufig nur für kurze Zeit. Ein monatelanger oder jahrelanger ethnologischer Forschungsaufenthalt in Redaktionen verschiedener Medientypen und Länder ist im heutigen Forschungsbetrieb ohnehin kaum möglich, aber auch nicht unbedingt nötig. Ein komparatives Forschungsdesign kann diesen Mangel kompensieren, wenn verschiedene Erhebungsmethoden auf angemessene Weise kombiniert werden. So entstehen, wenn man so will, „ethnographische Miniaturen“ (Bachmann & Wittel 2006). Das Erfordernis des langen Feldaufenthaltes wird dabei zurückgestellt, ohne die oben herausgearbeiteten Prinzipien der kulturforschenden Herangehensweise zu opfern. Wie lange ein Feldaufenthalt mindestens sein muss, ist wiederum abhängig von der Forschungsfrage, deren Beantwortung eine bestimmte Tiefe des Verständnisses des untersuchten Falls erfordert. Vollständig verstehen wird der Ethnograph sein Forschungsobjekt ohnehin nicht: „Die Untersuchung von Kultur ist ihrem Wesen nach unvollständig“ (Geertz 1995 [1973]). 3
Kulturanalyse als Perspektive auf Journalismus
In den Forschungsdesigns der Journalismusforschung spielt Kultur in zweierlei Hinsicht eine Rolle: Erstens wird Kultur als Kontext zur Erklärung von Journalismus herangezogen.
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Zweitens werden die Praktiken des Journalismus als kulturelle Praktiken zum Gegenstand der Untersuchung. Die erste Perspektive ist die einer kulturellen Kontextualisierung des Journalismus: Kultur als Kontext des Journalismus taucht in Mehrebenenmodellen vor, die verschiedene Einflussfaktoren auf Journalismus identifizieren, z.B. auf der Ebene der Individuen, der Organisationen und der Gesellschaft im Allgemeinen (vgl. den kompakten Überblick in Hanitzsch 2009). Dabei wird häufig eher implizit auf Kultur Bezug genommen, wenn es etwa um Normen und Ideologien oder die Gesellschaftssphäre schlechthin geht. Dahinter steckt die Erkenntnis, dass wir Journalismus nicht als System im luftleeren Raum analysieren können, sondern dass er in verschiedene Kontexte eingebettet ist. Zwei Fallstricke sind diesen Modellen inhärent: Ihnen liegt zum Teil (ebenfalls eher implizit) ein inzwischen überholtes Verständnis von einer homogenen, stabilen, national begrenzten Kultur zugrunde, die Unterschiede zwischen ebenfalls national gedachten Journalismen erklärt. Wie oben diskutiert, geht Kultur einerseits über nationale Grenzen hinaus und kann andererseits auch ganz anders verortet sein, wenn Kultur organisationsbezogen analysiert wird, oder mit bestimmten Lebenslagen assoziiert wird. Der zweite Fallstrick besteht darin, Kultur als unabhängige Variable in einem kausalen Modell zu behandeln, was dem Konzept Kultur nicht gerecht wird: „[…] Kultur [ist] keine Instanz, der gesellschaftliche Ereignisse, Verhaltensweisen, Institutionen oder Prozesse kausal zugeordnet werden könnten. Sie ist ein Kontext, ein Rahmen, indem sie verständlich – nämlich dicht – beschreibbar sind“ (Geertz 1995 [1973]). Kultur als Kontext passt demnach zwar nicht in ein kausales Design mit klar getrennten unabhängigen und abhängigen Variablen. Sie trägt aber durchaus dazu bei, den Journalismus als gesellschaftliches Phänomen zu verstehen. In diese Richtung gehen Ansätze, die Journalismus als Teil der allgemeinen Populärkultur gesehen. Nachrichtenjournalismus ist dann nur ein Diskurs, der in enger Nachbarschaft zu fiktionalen Genres und anderer medial vermittelter Kommunikation besteht und nicht analysiert werden kann, ohne die Beziehungen zum Publikum stärker zu berücksichtigen (vgl. Klaus & Lünenburg 2000; Lünenborg 2005). Das Besondere einer so gewendeten Journalistik ist dann, dass sie die Beziehungen des Journalismus zu Publikum, Fiktionalität, anderen populärkulturellen Angeboten untersucht. Kulturelle Kontextualisierung muss dabei keineswegs politische Fragen ausgrenzen und primär oder exklusiv den populärkulturellen Kontext des Journalismus würdigen. Barbara Pfetsch (2003) hat mit dem Konzept der politischen Kommunikationskultur die Interaktionen zwischen politischen Sprechern und Journalisten mit in den Blick genommen. Andreas Hepp und Hartmut Wessler (2009) öffnen mit dem Konzept der politischen Diskurskultur die Perspektive noch weiter und integrieren auch die Regulation und die Aneignung politischer Kommunikation in ihr kulturtheoretisches Konzept politischer Kommunikation. Die zweite Perspektive einer kulturorientierten Journalismusforschung legt den Schwerpunkt nicht auf eine Erweiterung des Forschungsfelds, sondern auf ein vertieftes Verständnis dessen, was Journalisten tun, wenn sie Journalismus betreiben. Journalismuskulturen sind dann Gegenstand der Forschung. Orientiert am oben entwickelten Kulturkonzept müssten sich auch Journalismuskulturen auf den verschiedenen Ebenen der Artikulation von Kultur analysieren lassen, um schließlich zu einer verstehenden Rekonstruktion journalistischer Praktiken zu kommen. Im Kern geht es darum, die empirische Analysen
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des Journalismus wieder näher an den Gegenstand heranzubringen, so die Forderung von Johannes Raabe (2007). Die nun folgenden konzeptionellen und methodischen Vorschläge zielen genau in diese Richtung. Die Überlegung startet mit der Annahme, dass sich in der journalistischen Tätigkeit Kultur als Produktionskultur analysieren lässt. In diesem Sinne analysierte Keith Negus (1997) die Musikindustrie in Großbritannien und den USA und identifizierte unterschiedliche „cultures of production“. Dieser Gedanke wird im Folgenden auf die Analyse von Journalismus übertragen und methodisch gewendet. Es geht bei dem hier zu entwickelnden Konzept der Redaktionskulturen um ein Werkzeug, die Kulturen des Journalismus analytisch zu fassen. Der Plural dieses Worts verdeutlicht schon, dass hier nicht mehr das Verständnis einer homogenen und stabil gedachten Kultur vorliegt. Bei der Analyse von Journalismuskulturen im Plural geht es um die Unterschiede zwischen verschiedenen Journalismen, gleichsam aber auch um die Frage, ob es so etwas wie einen gemeinsamen Kern einer universellen professionellen journalistischen Kultur gibt (Hanitzsch 2007b; vgl. Esser 2004; Mancini 2007). Thomas Hanitzsch (2007a, 35) definiert Journalismuskulturen dabei ähnlich dem hier herausgearbeiteten Kulturverständnis als „a particular set of ideas and practices by which journalists, consciously and unconsciously, legitimate their role in society and render their work meaningful for themselves and others”. Nun stellt sich die Frage, auf welcher Analyseebene journalistische Kulturen zu verorten sind. Mein Vorschlag ist, Journalismuskultur analytisch zunächst einmal da zu verorten, wo journalistische Inhalte produziert werden und die wichtigsten Entscheidungen darüber fallen, was wie veröffentlicht wird: in der Redaktion. Hier ist der soziale Interaktionsraum, in dem journalistische Praxis stattfindet und rekonstruiert werden kann. Redaktionskulturen bezeichnen die Kultur von Organisationen, die ihrerseits aber entgrenzt sind zu weiter gefassten kulturellen Kontexten des Journalismus. Die Redaktion wird dabei nicht als das konkrete Redaktionsbüro, sondern als der unmittelbar relevante Handlungszusammenhang begriffen, in dem journalistische Inhalte hervorgebracht werden (vgl. Rühl 1969; Rühl 1980). Diese Unterscheidung ist gerade für Redaktionen wichtig, die sich lokal eben nicht in einem großen Raum oder auch nur im selben Gebäude befinden. Redaktionskultur versteht sich nun als integratives Konzept, das die verschiedenen Artikulationsebenen der Kultur journalistischer Produktion zusammenbringt. Redaktionskulturen sind definiert als die Gesamtheit der Deutungsmuster, die sich im Denken und in Diskursen, Praktiken und den journalistischen Produkten einer Redaktion äußern. Das Plädoyer für einen Blick in die Redaktionen ist nun nicht neu. Auf die Bedeutung der Redaktion für den Journalismus hat schon Karl Bücher 1917 hingewiesen. Die Redakteure „passen die[se] Beiträge aber auch in Ausmaß, Form und Inhalt der allgemeinen Tendenz der Zeitung an“ (zit.n. Löffelholz 2000, 37). Mit der ‚Tendenz der Zeitung’ ist nun nicht einfach nur politische Bias gemeint, die auf einem Rechts-Links-Schema einzutragen wäre. Es kann vielerlei ‚Missionen’ geben, die Redaktionen verfolgen, zum Beispiel die, ausführlich über das Weltgeschehen oder die Entwicklung der EU zu berichten. Eine solche ‚Mission’ lässt sich nun als Ausdruck einer bestimmten Redaktionskultur interpretieren. Schon die ersten Studien in der Tradition der Gatekeeper-Forschung haben die Redaktion als Kontext entdeckt, der die Arbeitsweise des einzelnen Journalisten prägt. So stellte Warren Breed schon 1955 fest: „every newspaper has a policy, admitted or not” (327). Der
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journalistische Nachwuchs lerne auf informellem Wege in der Redaktion durch „Osmose”, was von ihm erwartet wird. Gerade auch die deutsche Forschung hat die Bedeutung der Redaktion als Forschungsgegenstand früh erkannt und kontinuierlich Redaktionsforschung betrieben (vgl. die Pionierleistung von Manfred Rühl (1969), oder auch die neueren Studien von Klaus-Dieter Altmeppen (1999) und Thorsten Quandt (2005), um nur sehr selektiv einige wenige Meilensteine zu nennen). Redaktionskultur ist nun nicht gleichzusetzen mit den Einflüssen der Organisation auf den journalistischen Output als eine Variable, die anderen Variablen gegenüberzustellen ist. Redaktionskultur erweist sich als die für eine konkrete Medienorganisation spezifische Überlappung von Deutungsmustern aus verschiedenen Kontexten (z.B. die des Verlag, des Mediensystems, der politischen Diskurskultur im jeweiligen Land). Die spezifische Konstellation verschiedener Einflüsse prägt die jeweilige Redaktionskultur. Im Sinne der Trägheit von Kulturen, ist die Tradition, wie etwas in einer bestimmten Redaktion ‚schon immer’ getan wurde, vermutlich der stärkste Faktor, der bestimmt, wie etwas getan werden wird oder wie die Redaktion auf von außen herangetragene Herausforderungen reagiert (vgl. das Konzept der „path dependence“, Pierson 2000). Redaktionskultur ist also die für die jeweilige Redaktion spezifische Mischung von äußeren Einflüssen, die sich zum einen in einer bestimmten Form, wie hier Journalismus gemacht wird, verfestigen und zum anderen in bestimmten redaktionellen Strukturen. Hier schließt das Konzept an die Theorie der Strukturation von Antony Giddens an, indem es eine enge rekursive Beziehung zwischen Handlung und Struktur annimmt (vgl. Giddens 1984, und in Bezug auf Redaktionen, in systemtheoretischer Terminologie Altmeppen 2004). Es gibt also keinen Gegensatz zwischen Kultur und Strukturen in einer Redaktion. Vielmehr sind strukturbildende Entscheidungen, wie die Entsendung eines Auslandskorrespondenten, Ausdruck von Redaktionskultur. Umgekehrt prägt das traditionelle Vorhandensein von vielen Auslandskorrespondenten auch die Kultur einer Redaktion, deren Redakteure dann eine umfassende Auslandsberichterstattung als nicht weiter hinterfragte Selbstverständlichkeit ansehen. Denkbar sind natürlich Brüche da, wo der Verlag ökonomisch motivierte Strukturentscheidungen trifft, zum Beispiel die Auflösung einer Außenredaktion, die dann mit der etablierten Redaktionskultur kollidieren, was sich zum Beispiel in Protesten seitens der Redakteure äußern kann. Methodisch orientiert sich die Erforschung von Redaktionskulturen an den drei Prinzipien einer kulturorientierten sozialwissenschaftlichen Forschung, die oben entwickelt wurden: Sie verfolgt einen verstehenden Ansatz, erhebt triangulativ Daten und folgt einem komparativen Fallstudiendesign. Redaktionskulturforschung verfolgt einen verstehenden Ansatz, der im oben definierten Sinne ein ‚verstehendes Erklären’ des Journalismus liefern soll. Kulturorientierte Journalistik analysiert dann nicht nur die formalen Strukturen von Redaktionen im Sinne der Rollenaufteilung und der Zeit, die Journalisten mit dieser oder jener Tätigkeit verbringen. Über eine streng standardisierte und ausschließlich quantifizierende Rekonstruktion von Journalismus müsste Redaktionskulturforschung hinausgehen. Redaktionskultur beschreibt nicht nur, was Journalisten tun, sondern auch, wie sie es tun, warum sie es tun und warum sie es so tun, wie sie es tun. Diese Fragen lassen sich nur durch eine hinreichend sensible, qualitative Datenerhebung und Auswertung beantworten. Ein (etwas zugespitztes) Beispiel für einen verstehenden an der journalistischen Praxis orientierten Ansatz gibt Dani Wintsch (2006, 131): „Interessiert man sich für journalistische Entscheidungskriterien genügt es
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nicht, die Redaktoren zu befragen und als Antwort ‚Aktualität’ zu erhalten. Aus ethnomethodologischer Sicht muss vielmehr untersucht werden, wie die Journalisten den aktuellen Bezug ihres Berichts im und durch alltagspraktisches Handeln hervorbringen“. Dieser offene, qualitative Ansatz schließt keineswegs aus, dass eine konkrete Forschungsfrage verfolgt wird. Auch wenn am Anfang einer ethnographischen Studie zunächst einmal nach Clifford Geertz die staunende Frage stehen mag ‚what the hell is going on here?’, so darf (und sollte aus meiner Sicht) das Verstehen-Wollen auch auf ein bestimmtes Forschungsziel hin gerichtet werden, das eine vorher identifizierte Forschungslücke füllt und komplementär zu anderen stärker standardisierten Designs angelegt ist. Redaktionskulturen artikulieren sich auf verschiedenen Ebenen, die nur durch eine Triangulation verschiedener Erhebungsmethoden erfasst werden können. Redaktionskultur kann sich explizit in ‚mission statements’ und ‚Redaktionsstatuten’ manifestieren, aber primär wird sie unausgesprochen darin liegen, wie man die Dinge in der jeweiligen Organisation tut. Diesen Aspekt betont Joann Keyton (2008, 25) als zentrales Merkmal von Organisationskultur: „Values that are shared inevitably become transformed into assumptions, taken-for-granted beliefs that are so deeply entrenched that organizational members no longer discuss them“. Neben expliziten Äußerungen müssen also gerade auch die unreflektierten Praktiken der Journalisten Gegenstand der Analyse werden. In Redaktionen bieten sich somit einerseits leitfadengestützte Experteninterviews an, die bewusste Weltdeutungen der Journalisten erfragen, explizite redaktionelle Vorgaben ermitteln können und die allgemeinen Strukturen rekonstruieren. Darüber hinaus können teilnehmende Beobachtungen das erkunden, was den Journalisten selbst nicht unbedingt bewusst aber Teil ihrer täglichen Arbeit ist und in ihren Praktiken deutlich wird. Als drittes Element können vorhandene Dokumente wie Redaktionsstatute analysiert werden. Eine weitere ebenfalls auf der Ebene der Artefakte angesiedelte Datenquelle sind natürlich die Medieninhalte. Sie sind das Ergebnis der journalistischen Produktion, an ihnen lassen sich die Interviewaussagen der Journalisten validieren. Darum würde eine umfassende Redaktionskulturanalyse auch die Inhalte mit untersuchen und geht dabei über die klassischen Grenzen der Redaktionsforschung hinaus. Es ist aber selbstverständlich, dass nicht in jedem Forschungsdesign eine Analyse auf allen genannten Ebenen möglich oder auch im Hinblick auf die Beantwortung der jeweils zugrunde liegende Fragestellung notwendig sein wird. Es gilt aber zumindest mehr als eine Ebene zu untersuchen, um die oben genannten Schwächen der einzelnen Datenerhebungsmethoden ausgleichen zu können. Demnach sind von den Erhebungsmethoden Beobachtung, Befragung, Dokumentanalyse mindestens zwei miteinander zu kombinieren. Standardisierte ländervergleichende Journalistenbefragungen und andere auf einer Methode basierende Designs haben natürlich ihre Berechtigung, nur dass damit journalistische Kultur nicht umfassend erforschbar ist, da insbesondere Befragungsdaten nur auf den explizierbaren und von den Journalisten bereitwillig kommunizierten Teil journalistischer Deutungsmuster zugreifen können. Je stärker standardisiert die Befragung und je geschlossener die Fragen sind, desto größer ist auch die Gefahr, dass die Deutungsmuster der Journalisten gar nicht zu Wort kommen können. Schließlich sollte Redaktionskulturforschung über die ethnographische Beschreibung eines Einzelfalls hinausgehen. Das Konzept Redaktionskultur legt sich auf die Redaktion als Fall fest, der vergleichend untersucht wird, um typische kulturelle Muster der Produktion journalistischer Aussagen identifizieren zu können. Dabei lässt sich ein Vergleich zwi-
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schen verschiedenen Organen anstellen (z.B. FAZ und SZ), zwischen verschiedenen Medientypen (z.B. TV-Nachrichten vs. Online-Nachrichtensites) und schließlich zwischen Medien in unterschiedlichen Ländern, so dass typische Muster pro Organ, pro Medientyp und schließlich auch pro Land identifiziert werden können. Ob beziehungsweise bis zu welchem Grad es nationale Journalismuskulturen gibt, ist dann eine offene empirische Frage, die sich erst als Ergebnis der Forschung beantworten lässt.2 Ein solcher Mehrebenenvergleich von Redaktionskulturen erfordert ein großes Sample an zu untersuchenden Redaktionen. Dieses ist jedenfalls dann erforderlich, wenn nationale Gemeinsamkeiten von Charakteristika einzelner Mediengattungen und von den Eigenschaften einzelner Redaktionen systematisch unterschieden werden sollen. Mit dieser konzeptionellen und methodischen Entscheidung wird die Meso-Ebene als das allseits gesuchte ‚missing link’ zwischen Mikro- und Makro-Ansätzen in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses gestellt. Damit vermeidet der Ansatz zwei Fallstricke. Der klassische Fehler in der Tradition der personenzentrierten Journalisten-Forschung besteht darin, Journalisten als isolierte Individuen zu betrachten, die nach eigenem Gusto entscheiden, was in die Zeitung kommt. Demgegenüber wird die Redaktion als der unmittelbare Arbeitszusammenhang in den Blick genommen, der seinerseits verschiedene Kontextfaktoren politischer, wirtschaftlicher und kultureller Natur reflektiert. Der andere Fallstrick ist eine voreilige Aggregation von Daten auf nationaler Ebene, eine Praxis, die bei international vergleichenden standardisierten Befragungen vorkommt. Aggregiert werden Individualdaten dann auf nationaler Ebene, so dass nationale Journalismuskulturen mit gewissen transnationalen Gemeinsamkeiten das notwendige Ergebnis eines solchen Vorgehens sind. Möglicherweise sind sie aber auch nur ein Artefakt des Forschungsdesigns. Bei qualitativen Einzelfallstudien einzelner Medien ergibt sich ein anderes Problem der voreiligen Projektion auf die Makro-Ebene der Nation. Geertz (1995 [1973]) nennt diesen Fehler das „Jonesville-ist-die-USA“-Modell, bei dem ein typisches Kleinstadtleben als typisch USamerikanisch missinterpretiert wird. Ähnlich geht es den Forschern, die die Redaktion der New York Times als repräsentativ für den amerikanischen Journalismus sehen und nicht als einen herausragenden Fall, der gerade durch seine Einzigartigkeit und seine besondere Führungsrolle im amerikanischen Journalismus interessant wird. Das Konzept der Redaktionskulturen hilft hier ab, indem es journalistische Kulturen zunächst auf der Ebene der Redaktionen lokalisiert und dann erst in einem weiteren Vergleichsschritt medientypspezifische, nationale oder universale Gemeinsamkeiten identifiziert. Ziel des vorgeschlagenen Ansatzes ist es, mit dem Andocken an ethnographische Methoden eine größere Tiefe des Verständnisses zu erreichen, als dies mit standardisierten Methoden der Fall ist, und gleichzeitig mit dem komparativen und von expliziten Forschungsfragen geleitetem Design abzusichern, dass eine Verallgemeinerungs- und Anschlussfähigkeit der Ergebnisse gegeben ist. Der teilnehmende Aufenthalt im Forschungsfeld wird dabei aus pragmatischen und theoretischen Erwägungen heraus verkürzt. Ein komplexes Forschungsdesign kann diesen Mangel kompensieren, wenn verschiedene Erhebungsmethoden auf angemessene Weise kombiniert werden. Wie ein solches Design empi2
Einzelfallstudien können allerdings dann von den Vorteilen eines komparativen Ansatzes profitieren, wenn sie entweder komparativ zu anderen bereits existierenden Fallstudien angelegt sind (externer Vergleichsmaßstab) oder innerhalb der Fallstudie vergleichen können (interner Vergleichsmaßstab), wenn zum Beispiel ein Konflikt zwischen unterschiedlichen Arbeitskulturen innerhalb einer Redaktion vorliegt und diese verglichen werden können.
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risch aussehen kann, wird im Folgenden am Beispiel eines konkreten Forschungsprojekts erläutert, das Redaktionskulturen im Rahmen eines weiter gesteckten Forschungsprogramms untersucht. 4
Kulturanalyse als Forschungsdesign
Bisher wurde Kultur als eine Forschungsperspektive entwickelt, die den dem menschlichen Handeln zugrunde liegenden kollektiven Deutungsmuster auf die Schliche kommen will und dabei einen verschiedene Erhebungsmethoden kombinierenden, verstehenden, komparativen Fallstudienansatz verfolgt. Zur Erforschung des Journalismus aus kulturtheoretischer Perspektive wurde das Konzept der Redaktionskulturen vorgeschlagen, das dabei helfen soll, unterschiedliche Muster journalistischer Produktion in verschiedenen Redaktionen zu beschreiben und zu erklären. Wie dies ganz konkret geschehen kann, wird nun am Beispiel eines Forschungsdesigns diskutiert. Zunächst folgt ein kurzer Gesamtüberblick über das Forschungsprojekt. Dies kombiniert klassische Methoden kommunikationswissenschaftlicher Forschung wie Durchführung von leitfadengestützten Experteninterviews mit weniger etablierten Instrumenten, die im Folgenden genauer diskutiert werden. Der Hintergrund ist ein Forschungsprojekt zur Transnationalisierung von nationalen Öffentlichkeiten in Europa. Die Europäisierung von nationalen Öffentlichkeiten wurde als ein Wandlungsprozess modelliert, der auf verschiedenen Dimensionen abläuft. Dabei unterscheiden sich unter anderem die vertikale Dimension mit zunehmenden Bezügen zu EUInstitutionen und die horizontale Dimension mit zunehmenden Bezügen zu anderen europäischen Ländern. In der ersten Forschungsphase haben quantitative und qualitative Inhaltsanalysen verschiedene Muster von Europäisierung in unterschiedlichen Zeitungen identifiziert, die über die Jahre relativ stabil geblieben sind (Brüggemann & Kleinen-v. Königslöw 2009; Wessler et al. 2008). Der Hintergrund könnte gerade in der oben bereits diskutierten Trägheit von Kulturen liegen. Die Ergebnisse der Inhaltsanalysen lassen sich kulturell sowohl auf der Makro-Ebene politischer Diskurskulturen (vgl. Hepp & Wessler 2009) als auch auf der Meso-Ebene unterschiedlicher Redaktionskulturen kontextualisieren. Wie oben argumentiert, schlägt dieser Aufsatz vor, kulturelle Muster journalistischer Produktion zunächst auf der Ebene der redaktionellen Arbeit zu verorten. Die forschungsleitende Frage lautet dann: Wie prägen unterschiedliche Redaktionskulturen die Europa- und Auslandsberichterstattung von Tageszeitungen in verschiedenen europäischen Ländern? In sechs Untersuchungsländern (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Polen, Dänemark, Österreich) wurden im Rahmen unserer Studien zwei führende Qualitäts- und jeweils eine Boulevard- und Regionalzeitung untersucht. Die Untersuchung von Redaktionskulturen vollzog sich nun in zwei Studien mit unterschiedlicher Methodologie, von denen die eine das gesamte Sample abdeckt, dafür aber Redaktionskultur nur ausschnittsweise erfasst, indem sie an ausgewählten „EuropaArtikeln“3 rekonstruiert, wie und warum sie in die Zeitung kamen (im Folgenden ‚TriggerStudie’ genannt). Die zweite Studie (‚Redaktionsstudie’) erfasst Redaktionskultur umfas3
Als „Europa-Artikel“ werden hier sowohl Artikel bezeichnet, die zur vertikalen Dimension von Europäisierung gehören, indem sie die EU, ihre Policies und Institutionen thematisieren, als auch Artikel, die der horizontalen Verknüpfung dienen, indem sie über andere europäische Länder berichten oder Sprecher aus diesen zu Wort kommen lassen (vgl. Brüggemann et al. 2009).
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sender, indem sie in zwölf Redaktionen verschiedene Interviewformen und Redaktionsbeobachtung miteinander verknüpft hat. Ein Team von sechs Länderexperten hat die Interviews und Redaktionsbesuche zeitgleich im Oktober und November 2008 durchgeführt, so dass eine länderübergreifende Vergleichbarkeit des Redaktionsgeschehens sichergestellt war. Dem ging die Erstellung eines detaillierten Forschungsplans mit Leitfäden für alle Interviews und Vorlagen für die Dokumentation von Beobachtungen sowie eine ausführliche Schulung aller Beteiligten voraus. 4.1 Die Triggerstudie Für diese Studie wurde eine Methode zur Rekonstruktion der ‚Biographien’ ausgewählter Artikel entwickelt. In einer zeitlich parallel in allen Zeitungen verlaufenden Untersuchung wurden über zwei Wochen pro Zeitung je vier prominent platzierte Artikel über die EU und vier Artikel über das europäische Ausland ausgewählt, um die ‚Biographien’ von insgesamt 200 ‚Europa-Artikeln’ zu rekonstruieren. Die forschungsleitende Frage dabei lautete: Wie kommt ‚Europa’ in die Zeitung? Was gab konkret den Anstoß (‚Trigger’) zu einem Artikel, wie entstand er und wie gelangte er an seinen Platz in der jeweiligen Zeitung? Das Ziel dabei war, typische Verlaufsmuster der Entstehung von Europaberichterstattung anhand konkreter Artikelbiographien zu identifizieren und Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Redaktionskulturen herauszuarbeiten. Im Mittelpunkt stand die genaue Untersuchung zentraler Praktiken der Journalisten von der Entwicklung einer Artikelidee bis zur Veröffentlichung. Dabei wird gleichermaßen gefragt, welche äußeren Anlässe Artikel ‚getriggert’, also unmittelbar ausgelöst haben, welche zugeschriebenen Merkmale den Artikel veröffentlichungswürdig machen (Nachrichtenwerte), welche Quellen bei der Recherche eine Rolle gespielt haben, wie die Redaktion das ursprüngliche Manuskript weiter verarbeitet hat und wie der Artikel letztlich seinen Platz in der Zeitung bekommen hat. Ausgehend vom konkreten Artikel wurde dann allgemein gefragt, ob diese Vorgehensweise typisch für die jeweilige Redaktion sei und ob andere Medien darüber anders berichtet haben. Die Fragen zum konkreten Artikel führten also zu einer allgemeineren Diskussion über die Redaktionskultur der jeweiligen Zeitung im Vergleich zu ihren Mitbewerbern. Somit lässt sich die „Artikelbiographie-Methode“ einerseits von der alten Idee von David M. White (1950) inspirieren, der ebenfalls seinen Mr. Gates nach den Gründen für die Auswahl und Aussortierung von Artikeln befragte. Hier geht es nun aber nicht nur um die Selektion, sondern um Konstruktion von Nachrichten, die zudem in einem redaktionellen und gesellschaftlichen Kontext verortet werden. Für die Analyse ausgewählt wurden prominent platzierte, längere Artikel, die mit einem Autornamen oder Autorkürzel versehen waren: Darunter sollten wenn möglich nicht nur Berichte und Hintergrundstücke, sondern auch Interviews und Kommentare sein. Dann wurde jeweils der Autor des Artikels identifiziert und telefonisch kurz nach Erscheinen des jeweiligen Artikels interviewt. Über die Website der Zeitung oder über einen Anruf in der Redaktion konnte die E-Mailadresse oder die Telefonnummer des Autors des jeweiligen Artikels ermittelt werden. Häufig wurden, da es um EU-Artikel und Auslandsberichterstattung ging, letztlich verschiedene Korrespondenten der Zeitungen gefragt, die als HalbAußenstehende sogar noch besser in der Lage waren, über die Besonderheiten ihrer Heimatredaktion zu reflektieren: Je stärker das Korrespondentenbüro aber eine eigenständige
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Einheit war (zum Beispiel bei der WAZ komplett ‚outgesourced’), desto weniger konnten die Korrespondenten kompetent über ihre Heimatredaktion Auskunft geben. Das Interview fand eine bis drei Wochen nach dem Erscheinen des Artikels statt, so dass sich die Journalisten an die in Frage stehenden Artikel und Abläufe erinnern konnten. Für das Interview, das auf etwa 30 Minuten ausgelegt war, wurde ein Fragebogen mit offenen und geschlossenen Fragen entwickelt, der Raum auch für offene Zusatzfragen bot. Das Interview wurde digital aufgezeichnet. Auf Basis der Aufzeichnung wurde unmittelbar danach ein Antwortprotokoll verfasst, das in Stichworten und kurzen wörtlichen Zitaten den Verlauf des Interviews wiedergab. Befürchtungen und Zweifel, ob man die Artikelautoren identifizieren und ans Telefon bekommen kann, ob sie sich erinnern und bereit sind, zum Beispiel über Recherchemethoden Auskunft zu geben, haben sich als unbegründet erwiesen. Für fast alle ausgewählten Artikel konnten Interviews geführt werden und die Journalisten hatten keine Mühe, sich an den konkreten Artikel zu erinnern. Nur bei der britischen Regionalpresse scheiterte die Artikelbiographie-Methode an der Tatsache, dass verschiedene größere britische Regionalzeitungen im betreffenden Zeitraum keinen einzigen Artikel veröffentlichten, in dem die EU oder andere europäische Länder eine Rolle gespielt hätten – was an sich auch schon ein aussagekräftiges Ergebnis über die Redaktionskultur der britischen Regionalpresse ist. Bei der BILD Zeitung ergab sich das Problem, dass keiner der relevanten Artikel mit Namen oder Kürzel gekennzeichnet war. Der dazu befragte BILD-Redakteur erklärte, dass Artikel bei der BILD in der Regel nicht einem Autor, sondern dem Produktionsprozess zuzuschreiben sind, – auch dies ein interessanter Einblick in die Arbeitskultur der BILD Zeitung. So wurde mit moderatem Aufwand ein breites Sample an Redaktionen erreicht und deren Produktionspraxis konnte beispielhaft für das Thema EU und Auslandsberichterstattung rekonstruiert werden. Die Stärke des Instruments ist die Aufhängung am konkreten Artikel. Es werden also nicht allgemeine Statements von den Redakteuren abgerufen, wie in vielen standardisierten Journalistenbefragungen üblich, sondern es wurde eine strukturierte Reflektion über einen konkreten nicht weit zurückliegenden Arbeitsprozess eingefordert. Der Vorteil dieser Form der Befragung ist somit ihre Rückbindung an die Praxis durch den konkreten Artikel. So werden hier verschiedene Ebenen von Redaktionskultur, die Diskurse der Journalisten, ihre Praktiken und schließlich ihre Artefakte, die ausgewählten Artikel, nachträglich in einen Dialog gebracht, der tatsächlich den Anspruch haben kann, ein Stück Produktionskultur des Journalismus transparent zu machen. Dennoch kann die Triggerstudie, da sie ausschließlich auf Telefoninterviews beruht, Redaktionskultur nicht umfassend erfassen. Daher wurde sie ergänzt durch eine zweite Studie, die mehr in die Tiefe geht, aber auch erheblich mehr Ressourcen beansprucht hat und dabei nur weniger Redaktionen abdecken konnte. 4.2 Die Redaktionsstudie Die Redaktionsstudie erfasst Redaktionskultur in größerer Tiefe, indem sie Interviewformen und Beobachtung miteinander verbindet, so dass tatsächlich „ethnographische Miniaturen“ (Bachmann & Wittel 2006) entstanden. Wenn möglich sollten die Forscher jeweils fünf Tage in einer Qualitäts- und Boulevardzeitung verbringen. Die Redaktionsstudie ergänzte die Trigger-Forschung auch in dem Sinne, dass nun die Aufmerksamkeit auf den
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Prozessen in der Redaktion lag, während die erste Studie primär die Sicht des schreibenden Journalisten wiedergab, der häufig als Korrespondent in einem anderen Land war. Im Vorfeld ging es darum, einen Kontaktredakteur zu identifizieren, der für die Platzierung von ‚Europa-Artikeln’ in der jeweiligen Redaktion eine maßgebliche Rolle spielte. Dieser war dann Gesprächspartner für das erste Interview vor Ort. Es handelt sich dabei um ein leitfadengestütztes, halbstandardisiertes Experteninterview: der Redakteur wurde im Hinblick auf seine Expertise zur Genese der Europaberichterstattung der jeweiligen Zeitung befragt. Die Interviewleitfäden sicherten eine Orientierung an den Forschungsfragen des Projekts und eine Vergleichbarkeit der Vorgehensweise ab. Wenn möglich sollte dann vor Ort noch ein Interview mit der Redaktionsleitung und einem weiteren für Ausland/EU zuständigen Redakteur vereinbart werden. Die etablierte Methode des leitfadengestützten Experteninterviews wurde um die weniger verbreitete Methode der egozentrierten Netzwerkkarte ergänzt, die als innovatives Element im Folgenden näher beschrieben wird. Als Teil der geführten Interviews sollten die Redakteure eine Karte ihres professionellen Netzwerks zeichnen. In der Mitte steht der befragte Journalist, der seine beruflich wichtigen Interaktionspartner in ein Modell aus konzentrischen Kreisen eintragen sollte und dabei mit Pfeilen einzeichnet, ob diese Personen eher ihn kontaktieren oder ob es sich um Ansprechpartner handelt, die er selbst regelmäßig kontaktiert. Dabei ging es nicht um die Namen der Ansprechpartner, sondern um deren berufliche Verortung: Diplomaten, Kollegen in Brüssel, Mitarbeiter im Kanzleramt, etc. Hier wurde eine Methode für die Journalistik fruchtbar gemacht, die im kommunikationswissenschaftlichen Kontext bisher vor allem im Zusammenhang mit den persönlichen und kommunikativen Netzwerken von Migranten zur Anwendung kam (erstmals publiziert in Hepp 2007, als Methode reflektiert in Scheibelhofer 2006). Entscheidend war für den Forschungsprozess, dass das Zeichnen der Karten die Redakteure in fast allen Fällen dazu brachte, konkret über ihr Netzwerk zu reflektieren. Die Netzwerkkarte funktioniert also nicht nur als Modell der professionellen Beziehungen aus Sicht des Akteurs, sondern auch als Anstoß für einen Kommunikationsprozess, der durch die Frage nach dem professionellen Netzwerk nicht unbedingt in Gang gekommen wäre. Die Redaktionsbeobachtung begleitete einen oder abwechselnd zwei Redakteure über den gesamten Arbeitstag und schloss nach Möglichkeit auch den Besuch von Redaktionskonferenzen ein. In den Konferenzen, so die Annahme, wird in besonderem Maße Redaktionskultur ausgehandelt. Teilnehmend waren die Beobachtungen nur insofern, als das – sofern die Situation dies zuließ – Fragen gestellt werden durften, um einordnen zu können, zu welchem Zweck der Redakteur zum Beispiel gerade im Internet recherchiert oder telefoniert. Ein offenes, detailliertes Beobachtungsprotokoll hielt jede einzelne sinnvoll abgrenzbare Einzelhandlung fest (z.B. ein Telefonat, das Abrufen der E-Mails usw.) und setzte sie in den jeweiligen Kontext (z.B. ein Telefonat, um die Information XY für den Artikel zum Thema YZ zu überprüfen). Die Redaktionsstudie erlaubte durch die Kombination verschiedener Methoden, den kulturellen Mustern journalistischer Bedeutungsproduktion umfassend auf die Spur zu kommen. Die größte Herausforderung dieser Studie war der Zugang zum Feld: Nicht bei allen Zeitungen durften wir über das Führen von Interviews hinausgehen. Problematisch erwies sich der Zugang zur britischen Boulevardpresse, aber auch z.B. die FAZ und die BILD verweigerten einen längeren Redaktionsaufenthalt. Dennoch kann auch die Kombination mehrerer Interviews mit einem Redaktionsrundgang einen deutlich tieferen Einblick
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vermitteln, als dies zum Beispiel bei den Telefoninterviews der Triggerstudie der Fall war. Die Journalisten erwiesen sich dabei, war einmal der Zugang hergestellt, als außerordentlich offen und kooperationsbereit. Als letztes wichtiges und zuweilen in der Kommunikationswissenschaft vernachlässigtes Tool ethnographischer Provenienz sind die Medien- und Forschungstagebücher zu nennen, die die beteiligten Forscher während ihres Feldaufenthalts führten. Teil dieses Aufenthalts sollte auch die intensive Nutzung nicht nur der untersuchten Medien, sondern auch andere Quellen aktueller Berichterstattung sein. Andernfalls wäre das Redaktionsgeschehen kaum zu verstehen gewesen, da es sich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch darum dreht, was in den anderen wichtigen Medien gerade diskutiert wurde. Darüber hinaus ging es darum, die eigene Rolle im Forschungsprozess zu reflektieren und die gesammelten Daten auf diese Weise zu kontextualisieren: Wenn beispielsweise ein Interview auf Grund eines Konflikts zwischen Forscher und Befragtem eine unkonstruktive Wendung genommen hat, dann sollte diese Meta-Information auch bei der späteren Auswertung des Interviewtextes noch zur Verfügung stehen. Forschungstagebücher erweisen sich somit als wichtiges Dokumentations- und Kontextualisierungsinstrument, dass eine sinnvolle Auswertung der Daten methodisch absichert. Alle gesammelten Daten wurden einer computergestützten (Atlas-TI) qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen, wobei die Kategorien deduktiv aus dem zugrundeliegenden Forschungsinteresse und induktiv durch mehrfache Auseinandersetzung mit dem gesammelten Material in einem kollektiven Diskussionsprozess der beteiligten Forscherinnen und Forscher entwickelt wurden. Entlang dieses Kategoriensystems wurden dann die verschiedenen Textsorten (Transkripte der verschiedenen Interviews, Beobachtungsprotokolle, Medientagebücher) ausgewertet und konnten sich so wechselseitig validieren und ergänzen. Der Vergleich zwischen verschiedenen Redaktionen erlaubt es, Ähnlichkeiten von Redaktionskulturen zu identifizieren, einschließlich national begrenzter und grenzüberschreitender Muster journalistischer Produktionskulturen. Kultur hat sich somit nicht nur als ein zunehmend beliebtes Schlagwort erwiesen, sondern auch als Forschungsperspektive, die methodisch die Journalismusforschung inspirieren kann. Dabei erweisen sich konzeptionell die Cultural Studies und methodologisch die Ethnographie als fruchtbare Anknüpfungspunkte, die die Journalismusforschung wieder näher an die journalistische Praxis heranbringen, ohne dabei die Standards sozialwissenschaftlicher Forschung aufgeben zu müssen. Das Konzept der Redaktionskulturen erweist sich als nützlich für die Verortung und empirische Erforschung der Kulturen des Journalismus. Dabei wurden etablierte und innovative Forschungsinstrumente kombiniert, um journalistisches Handeln und Denken zu rekonstruieren und zu verstehen. Abschließend sei ein Problem der Forschungspraxis aufgeworfen, das mit dem Erfolg ethnographischer Methoden in der Journalistik zu tun hat: Es handelt sich um die drohende ‚Überfischung’ ihrer ethnographischen Jagdgründe: Wenn zu viele Forschende immer die gleichen Journalisten besuchen, beobachten und dabei auch noch die immer gleichen Fragen stellen, wird die Methode immer öfter am Zugang zu den Journalisten scheitern. Vor dem Zugang zum Feld sollte die Überlegung stehen: Ist dieses Experteninterview nicht schon vielfach geführt worden? Was ist der Sinn meiner teilnehmenden Beobachtung? Und: Bin ich gut darauf vorbereitet? Auch für qualitative Forschung gilt also: Forschung sollte kumulativ und innovativ sein. Gerade für die Exploration unbekannter Welten und neuer Fragestellungen eignet sich die kulturerforschende Perspektive.
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Journalismusforschung als interaktive Innovationsforschung. Eine Methodologie für Wissenstransfer Klaus Meier
1
Einleitung
Der Wissenstransfer von kommunikationswissenschaftlicher Forschung zur Medienpraxis wurde in den letzten Jahren immer wieder in Veröffentlichungen (vgl. z.B. Corner 2001; Hohlfeld 2003; Wyss 2006; Rager & Werner 2008) und auf Tagungen1 thematisiert. Meist schlägt man sich mit der Frage herum, ob Forschung überhaupt für den Wissenstransfer zuständig sein sollte und es deshalb zu ihren Aufgaben gehört bzw. gehören darf, unmittelbar zur Qualitätsverbesserung des Journalismus beizutragen – oder ob Transfer und journalistische Qualität nicht ausschließlich Aufgaben der Medienpraxis sind und sich deshalb Forschung distanziert zurücklehnen kann, ja muss. Definiert man Transfer indes als eine Aufgabe nicht nur der Medienpraxis sondern auch der Forschung, dann ist es unumgänglich, dies methodologisch zu durchdringen. Die Journalismusforschung hat zwar auf dem Gebiet der Grundlagenforschung enormes geleistet (vgl. u.a. Hömberg 2006, 210-217; Löffelholz & Weaver 2008; WahlJorgensen & Hanitzsch 2009), ist aber auf dem Gebiet der Anwendungsorientierung und des Transfers methodologisch kaum entwickelt. Angewandte Kommunikationswissenschaft findet sich bislang nahezu ausschließlich in Aus- und Fortbildung, Publikumsforschung und Politikberatung (Saxer 2006, 345-351). Vor diesem Hintergrund arbeitet dieser Beitrag an einer systematischen und reflektierten Methodologie für Wissenstransfer zwischen Journalismusforschung und journalistischen Redaktionen und versteht sich als ein konzeptioneller Entwurf mit ersten testenden Fallstudien.2 2
Transfer: ein alternatives Forschungsparadigma
Der Wissenstransfer von Forschung zu Redaktionen und Journalisten scheitert häufig daran, dass empirische Erkenntnisse von akademischen Forschern unabhängig von der späteren Verwendung gewonnen werden – und dann von der journalistischen Praxis irgendwie genutzt werden sollen. Die Kluft zwischen Forschung und Praxis ist kaum überwindbar, wenn Wissen erst nach Abschluss des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses in die Praxis eingeschleust werden soll. Der Ansatz einer interaktiven Innovationsforschung geht den 1
2
Vgl. z.B. die Tagung „Journalism Research in the Public Interest“ der „Journalism Studies Sections“ der ECREA, der SGKM und der DGPuK, unterstützt von den Journalism Studies Divisions der ICA und der IAMCR vom 19. bis zum 21. November 2009 in Zürich/Winterthur. Für wertvolle Hinweise zu diesem Beitrag danke ich Jan Lublinski, Friederike Herrmann, Max Ruppert, Julius Reimer und Vinzenz Wyss.
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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umgekehrten Weg: Der Transfer – also die Anschluss- und Kooperationsmöglichkeiten zwischen Forschung und Medienorganisation – wird im Forschungsprozess konzipiert und reflektiert, und zwar von der Fragestellung bis zur Umsetzung und Evaluation redaktioneller Innovationen. Interaktive sozialwissenschaftliche Ansätze haben in anderen Fächern lange Traditionen; sie gehen auf erste Entwürfe in den 1940er Jahren zurück (Lewin 1946; Bargal 2006) und sind unter Begriffen wie Handlungsforschung, Praxisforschung oder Aktionsforschung („action research“) bekannt geworden. Sie haben sich schon frühzeitig von einer Sozialforschung abgegrenzt, welche fordert, die soziale Realität dürfe durch den Forschungsprozess nicht verändert werden. Diese Forschungsperspektive ist nach wie vor für die Kommunikationswissenschaft bestimmend: Forscher untersuchen ihre Forschungsgegenstände als Objekte – also z.B. die Journalisten – und sie nehmen ihre Daten aus den Redaktionen mit, um Aufsätze und Bücher zu schreiben, die als Zielgruppe die Scientific Community haben (Corner 2001). Dagegen werden in der interaktiven Forschung die Daten an die „Beforschten“ zurückgegeben und die Forschungstätigkeit in die Alltagspraxis der „Beforschten“ eingebunden, um diese in einem gemeinsamen Lernprozess zu verändern (vgl. Kromrey 2006, 539). Frühe Beispiele dafür gibt es in der sozialen Arbeit und der Schulpädagogik. Anknüpfungspunkte haben sich in der Managementlehre unter Begriffen wie zum Beispiel „Survey-Feedback-Ansatz“ (Schreyögg 1998, 508-510) oder „action research“ (Eden & Huxham 1996) entwickelt – oder in der Entwicklungsarbeit, der Gesundheitsforschung oder der Medienpädagogik. Die interaktive Sozialforschung hat sich zu einem umfassenden und differenzierten Forschungsfeld mit vielen unterschiedlichen Ansätzen und Zielen entwickelt (vgl. für den deutschsprachigen Raum Wagner 1997; für den anglo-amerikanischen Raum Hearn et al. 2009, 11-14). In der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft finden sich seit 30 Jahren Bezüge zu solchen Forschungsansätzen. Claus Eurich (1980, 91) z.B. sieht in seiner Habilitationsschrift Chancen darin, durch den „Einsatz integrativer Verfahren im Bereich der Kommunikationsforschung“ die „Keimfreiheit der Forscher-Objekt-Beziehung zu durchbrechen und damit insbesondere eine stärkere Beteiligung und Prozess-Reflexion der ‚Forschungsobjekte‘ zu erreichen“. Eurich ging es indes nicht um Journalismusforschung, sondern um die „kommunikativen Bedürfnisse des Publikums und deren Befriedigung“ (ebd.), also um alternative Rezeptionsformen. Er schlug deshalb Handlungsforschung als wissenschaftliche Begleitung von Kabelfernsehpilotprojekten vor – mit kommunikativen und partizipativen Effekten (Eurich 1980, 312-327). Einen ähnlichen Ansatz verfolgte etwa zur gleichen Zeit Hans Heinz Fabris (1982) mit dem Projekt „Arbeiter machen Fernsehen“, das er als Aktionsforscher initiierte und begleitete – auch im Hinblick auf „künftiges lokales Kabelfernsehen“ (ebd., 276). Interaktive Forschungsentwürfe gibt es heute z.B. in der Fachgruppe Participatory Communication Research (PCR) der International Association for Media and Communication Research (IAMCR), die ausdrücklich „participatory action research“ in die Forschungstätigkeit einschließt (vgl. www.iamcr.org). Vor allem bei Einsatz, Nutzung und Evaluation neuer Medien wie Internet und mobiler Kommunikation gibt es inzwischen eine Fülle von Studien, die unter der Maxime einer „participatory action research“ durchgeführt werden (Hearn et al. 2009). Auch bei Training- und Coaching-Programmen für Journalisten in Entwicklungsländern wird mit einer interaktiven Methodologie gearbeitet – wie bei-
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spielsweise beim Programm „Science Journalism Cooperative“ (SjCOOP) der World Federation of Science Journalists (WFSJ) (El-Awady & Lublinksi 2007) oder dem Projekt „Media in International Cooperation“ der Zürcher Hochschule Winterthur, bei dem Inhaltsanalysen mit Qualitätsmessungen Journalistenweiterbildungen vor- und nachbereiten (Spurk 2007). Dieser Beitrag entwirft ein Konzept für die Nutzung interaktiver Forschungsansätze für die Journalismusforschung – abseits von Medienpädagogik, Medienrezeption oder der Journalistenaus- und -weiterbildung. Anhand von Beispielen aus der Redaktionsforschung werden Potentiale aufgezeigt, aber auch Probleme diskutiert, die einer fruchtbaren Umsetzung im Wege stehen können. Wir nennen diesen Ansatz „interaktive Innovationsforschung“ – aus zwei Gründen: y
y
Interaktive Forschung: Die Forscher sehen die Journalisten nicht als Objekte, die einseitig erforscht werden, sondern sie lassen die Journalisten am Forschungsprozess teilhaben. Wissenschaftlich reflektierte Aktionen sind als Veränderungen sozialer Realität Teil des Forschungsprozesses. Innovationsforschung: Ziel ist es, zum Verständnis von Implementierungsprozessen redaktioneller Innovationen beizutragen. Wissenschaftlicher und praktischer Hintergrund ist dabei die Frage, wie Journalisten und Redaktionen auf den massiven Veränderungsdruck reagieren können, der aufgrund der sich rasch wandelnden Medienmärkte, -techniken und -produkte auf dem Journalismus lastet. Theorien und empirische Erkenntnisse der Journalismusforschung sollen als externe Impulse den Redaktionen helfen, journalistische Qualität in einem veränderten Umfeld zu halten oder sogar zu verbessern. Die Relevanz der mit diesem Forschungskonzept aufgegriffenen Fragestellungen ist aber nicht nur von den Bedürfnissen der Praxis her, sondern auch wissenschaftsimmanent – also mit Wissenszuwachs – begründet. Redaktioneller Wandel kann mit einer interaktiven Methodologie besser analysiert werden als mit distanzierten Befragungen und Beobachtungen, weil sich Redaktionen – zum Beispiel in Workshops – stärker öffnen und die Forscher mehr teilhaben lassen, wenn sie einen eigenen Erkenntnisgewinn sehen und aus dem Transfer profitieren. Zudem können die Praktiken und Probleme von Innovationsprozessen besser verstanden werden, wenn die Forscher die einzelnen Schritte mitdenken und mitreflektieren. Impulse, Ideen und Konzepte, die im Elfenbeinturm Wissenschaft schlummern, können in der Medienpraxis getestet und verbessert oder verworfen werden.
Zu den wenigen Beispielen für angewandte Journalismusforschung gehören die Transferprojekte der Dortmunder Forschergruppe um Günter Rager, die Journalismusforschung „als eine Art Forschungs- und Entwicklungsabteilung für die redaktionelle Praxis“ versteht (Rager & Rinsdorf 2002, 44). Ihr geht es in erster Linie darum, empirische Erkenntnisse aus der Publikumsforschung in die journalistische Praxis zu transferieren (Rager & Werner 2008). Auch der Schweizer Forscher Vinzenz Wyss (2006, 280 f.) hat im Rahmen eines interaktiven Transferprojekts der Publikums- und Qualitätsforschung die Notwendigkeit einer Transferforschung und damit einer „wissenschaftssoziologische[n] Reflexion des eigenen Tuns“ beschrieben – nicht zuletzt um künftige Transferleistungen zu optimieren. Hier setzen die in diesem Beitrag vorgestellten Projekte einer interaktiven Journalismusforschung an: Der Transfer wird im Forschungsprozess konzipiert und reflektiert. Das
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ist eine Wende um 180 Grad: Beim klassischen Wissenschaft-Praxis-Transfer werden zunächst empirische Erkenntnisse unabhängig von der späteren Verwendung gewonnen. Sie stehen dann den Redaktionen allenfalls als Bericht zur Verfügung oder werden in einem Vortrag präsentiert, wobei die eigentlich zu leistende Umsetzungsarbeit auf der Strecke bleibt (Rager & Werner 2008, 706-708). Problematisch ist dabei, dass die beiden Welten Wissenschaft und Praxis „verschiedenartige Grundorientierungen auf[weisen], die durch das Gegensatzpaar ‚handlungsentlastet‘ und ‚handlungsbelastet‘ beschrieben werden können“ (Hohlfeld 2006, 2; vgl. auch Hohlfeld 2003, 143-170). Die Wissenschaft ist im Mainstream-Verständnis „a priori befreit von jeglichem Handlungs- und Verwertbarkeitsdruck“ (Hohlfeld 2006, 2). Ein Transfer der großen Mengen an Wissensbeständen in die Bedarfslage der Medienpraxis ist ungemein schwierig, weil die beiden Welten durch eine große Kluft getrennt bleiben. Der Anspruch der interaktiven Forschung besteht dagegen darin, dass ein dialogischer Forschungsprozess die Kluft zwischen den zwei Welten bewusst thematisiert und fallweise zu überwinden versucht (vgl. Abbildung 1). Beim klassischen Transfer-Ansatz werden empirische Erkenntnisse unabhängig von ihrer späteren Verwendung gewonnen und die eigentlich zu leistende Umsetzungsarbeit bleibt alleine Aufgabe der Redaktion; Forschung ist handlungsentlastet und stellt die Forschungsergebnisse allenfalls als Bericht oder Vortrag zur Verfügung. Bei der interaktiven Forschung ist Wissenstransfer im Projekt eingeplant; die Kluft zwischen Forschung und Medienpraxis wird fallweise zu überwinden versucht. Zunächst geben Theorien und empirische Erkenntnisse der Journalismusforschung Impulse für redaktionellen Wandel. Forscher und „Beforschte“ stehen dann in einem interaktiven Lernprozess. Die empirischen Erkenntnisse resultieren aus einer dialogischen Veränderung sozialer Realität. Bedingung der interaktiven Forschung ist aber ein alternatives Forschungsparadigma: Der Forscher muss sich von Anfang an auf eine gewisse Handlungsbelastung und -verantwortung einlassen. Abbildung 1:
Der Unterschied zwischen klassischem Wissenschaft-Praxis-Transfer und interaktiver Forschung
Wissenschaft-Praxis-Transfer
Forschung
Empirische Erkenntnisse
handlungsentlastet
Journalistische Redaktion handlungsbelastet
Wiss. Theorie empirische Erkenntnisse
Interaktive Forschung
Forscher (gruppe) Empirische Erkenntnisse
Redaktionsmitglieder
Journalismusforschung als interaktive Innovationsforschung 3
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Grundlagen interaktiver Innovationsforschung
Es gibt im Detail kein einheitliches Konzept einer interaktiven Sozialforschung – nicht einmal im deutschsprachigen Raum und nicht einmal unter dem Etikett „Aktionsforschung“: „Die Aktionsforschung – als einheitliches methodologisches Alternativmodell zur empirischen Sozialforschung – bzw. die Aktionsforscher – als geschlossene, einmütige und solidarische scientific community – hat es in Deutschland zu keiner Zeit gegeben, selbst nicht zu Beginn der frühen Entwicklungsversuche“ (Wagner 1997, 261). Wir gründen unsere Methodologie auf die ersten Ansätze des „action research“ von Kurt Lewin (1946; Bargal 2006), auf bestimmte Stränge der Weiterentwicklung im deutschsprachigen Raum (u.a. Moser 1995, 2001; Kromrey 2006, 538-546) sowie auf aktuelle Beispiele im Bereich neuer Medien (Hearn et al. 2009) – und kombinieren dies mit methodologischen Ansätzen und Erkenntnissen der Innovationsforschung (Rogers 2003) und der Evaluationsforschung (Patton 2008). Daraus leiten wir folgende zentrale Grundsätze ab: y y
y
y
Zur Erforschung sozialer Probleme gehören Lösungsmöglichkeiten und deren praktische Umsetzung. Kurt Lewin (1946, 35): „Research that produces nothing but books will not suffice.“ Dialog als Forschungsstrategie: Während bei der traditionellen empirischen Sozialforschung – in Anlehnung an die Naturwissenschaft – der Forscher versucht, mittels geeigneter Instrumente Wissen zu gewinnen und die „Beforschten“ als reine Objekte gesehen werden, ermöglicht in der Aktionsforschung erst der Dialog zwischen Forscher und „Beforschten“ einen Erkenntnisgewinn. Der Forscher bringt sich als Person in die Subjekt-Subjekt-Relation eines gemeinsamen Lernprozesses ein. Die dabei gewonnenen Ergebnisse sind „soziale Wahrheit“ – begriffen nicht als etwas Statisches, sondern als etwas Dynamisches, sich ständig Wandelndes. Oberflächlich betrachtet könnte es sich bei der Aktionsforschung um klassische Feldexperimente handeln, wie sie z.B. in der Sozialpsychologie oder der Medienwirkungsforschung eingesetzt werden (vgl. Brosius & Koschel 2003, 209-251). Unterschiede sind jedoch, dass die „Beforschten“ nicht wie Objekte („Versuchspersonen“) behandelt werden, sondern aufgeklärte Partner im Forschungsprojekt sind – und sozialer Wandel zu den Forschungszielen gehört. Zudem können aus Sicht der Wissenschaft durch den dialogischen Prozess empirische Erkenntnisse besser validiert werden – zum Beispiel durch die unterschiedlichen Perspektiven auf den Untersuchungsgegenstand, was als „Triangulation“ bezeichnet wird (vgl. Flick 2004, 12). Zyklischer Forschungsprozess: Die Forschung durchläuft mehrere Zyklen, die als Lernprozess anlegt sind. Forschung und Aktion wechseln sich ab – z.B.: Informationssammlung Ö Diskurs/Planung Ö Handeln Ö Informationssammlung/Evaluation Ö Diskurs/Planung Ö Handeln usw. Schon Kurt Lewin (1946, 38) sprach von einem „circle of planning, action, and fact-finding about the results of the action“. Als Gütekriterien interaktiver Innovationsforschung werden genannt: Transparenz, Adäquatheit (z.B. kommunikative Validierung durch „member check“), Intersubjektivität, Personal Factor, Indikatoren des Veränderungsprozesses, Anschlussfähigkeit (vgl. Abschnitt 3.3).
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Zwischen den ersten methodologischen Entwürfen der Handlungs- oder Aktionsforschung in Deutschland in den 70er Jahren (u.a. Moser 1978) und deren Überarbeitung in den 90er Jahren hat sich ein Perspektivenwechsel vollzogen (Moser 1995, 8-17; Moser 2001, 315318): Wissenschaftstheoretisch hat man sich von der Kritischen Theorie mit ihren emanzipatorischen Zielsetzungen gelöst und baut nun auf aktuelle wissenschaftliche Programmatiken wie Systemtheorie und Konstruktivismus. Die grundsätzliche Differenz zwischen Wissenschafts- und Praxissystem wird nunmehr anerkannt, der naive Anspruch, über Systemgrenzen hinweg Veränderungsprozesse einleiten zu können, fallen gelassen. Vielmehr sollen nun Anschluss- und Kooperationsmöglichkeiten gefunden und genutzt werden: Die Impulse durch die Wissenschaft sollen der Praxis helfen, Lösungen zu finden und zu evaluieren – „die eigene Praxis mit fremden Augen zu sehen“ (Moser 1995, 14; vgl. auch Moser 2001, 319-320). Methodisch bedient sich die Aktionsforschung nun bei der zwischenzeitlich entwickelten qualitativen Sozialforschung (vgl. z.B. Lamnek 1995) und plädiert für eine Triangulation, also zum Beispiel einer Daten- und Methoden-Triangulation qualitativer und quantitativer Forschung (vgl. Flick 2004, 67-85). Für die Journalismusforschung erscheinen besonders folgende Methoden fruchtbar: Dokumentanalyse, Beobachtung, schriftliche und mündliche Befragung, aber auch bislang in der Journalismusforschung weniger eingesetzte Methoden wie Gruppendiskussion oder Rollen- und Planspiel (vgl. Moser 1995, 124-172). Der methodologische Ansatz der Aktionsforschung wurde für die vorliegenden Projekte um Aspekte der angewandten Evaluationsforschung erweitert (vgl. u.a. Patton 2008). Dies schärft den Blick auf die Gütekriterien des zyklischen Vorgehens, denn im Kern folgen Aktion und Evaluation aufeinander (vgl. Abbildung 2): Der zyklische Forschungsprozess startet mit einer Informationssammlung, diskutiert und reflektiert die Problemstellung, um dann die Innovation zu planen und einzuführen. Der Kreis schließt sich mit einer Evaluation und einer Diskussion und Reflexion der Evaluationsergebnisse, die wiederum in Planung und Einführung einer Verbesserung der Innovation münden – gemäß dem Evaluationsforscher Michael Quinn Patton (2008, 40): „Useful evaluation supports action.“ Da es nicht um beliebige interaktive Forschungsprojekte ging, sondern um Innovationsprozesse, waren Studien zur Diffusion von Innovationen bei der Entwicklung der Methodologie hilfreich. Rogers (2003, 279-285) unterscheidet die Betroffenen aufgrund ihrer Innovationsorientierung in Innovators, Early Adopters, Early Majority, Late Majority und Laggards. Es reicht demnach nicht aus, dass sich eine kleine Gruppe von Innovatoren für neue Ideen und deren Umsetzung begeistert, sondern in Projekt- und Planungsgruppen sollten auch Skeptiker aufgenommen werden.
Journalismusforschung als interaktive Innovationsforschung Abbildung 2:
4
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Der zyklische Forschungsprozess
Journalismusforschung als interaktive Innovationsforschung: Beispiele, Probleme, Gütekriterien
4.1 Fallstudien Weil keine Erfahrungen mit diesem methodologischen Ansatz in der Journalismusforschung vorliegen, wurden erst einmal einzelne Bausteine im Rahmen von drei Fallstudien der Redaktionsforschung getestet. Methodologisches Ziel der explorativen Projekte war in erster Linie, die in der interaktiven Sozialforschung, der Evaluations- und der Innovationsforschung genannten Gütekriterien zu testen und für die Journalismusforschung zu übertragen bzw. weiterzuentwickeln sowie auftretende Probleme und Lösungsmöglichkeiten auszuloten, um eine Basis für künftige Forschungsprojekte legen zu können. Inhaltlich ging es bei den Fallstudien um Innovationen der Redaktionsorganisation – also im Kern um die Frage, wie die redaktionellen Strukturen den geänderten Rahmenbedingungen des Journalismus angepasst werden können und dabei die journalistische Qualität und die Arbeitsbedingungen der Redakteurinnen und Redakteure verbessert oder zumindest auf bisherigem Niveau erhalten werden können (vgl. Meier 2002; Meier 2006; Meier 2007a, 159-171; Meier 2007b). Von März 2004 bis Mai 2006 lief eine Studie in der Redaktion der Austria Presse Agentur (APA) in Wien. Ausgangspunkt und soziales Problem war die Feststellung von Redaktionsleitung und Forscher, dass bestimmte redaktionelle Strukturen die journalistische Qualität behindern. Ziel des Forschungsprojekts war es, neue Newsroom-Strukturen zu entwickeln, umzusetzen und zu evaluieren. Im Forschungsprozess wechselten sich Forschung und Aktion ab (vgl. Tabelle 1). Dabei ist nicht nur die tatsächliche Umsetzung der neuen Redaktionsstruktur als Aktion einzuschätzen, sondern auch die Diskussion von For-
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Klaus Meier
schungsergebnissen mit den Redakteurinnen und Redakteuren – das so genannte „member check“ – und die dabei entwickelten Handlungskonzepte. Die Ergebnisse der beiden empirischen Forschungswellen und deren journalistikwissenschaftliche theoretische Basis wurden bereits veröffentlicht (vgl. Meier 2007b), allerdings konnte die dialogische und zyklische Methodologie bislang noch nicht in einer wissenschaftlichen Publikation eingeordnet, reflektiert und weiterentwickelt werden. Tabelle 1: Forschungsprozess am Beispiel der APA-Studie (vgl. Meier 2007b) Zeit
Phase im Zyklus
Methoden
Typ
3/2004
Informationssammlung
Redaktionsbeobachtung, Dokumentanalyse
Forschung
3/2004
Diskurs/Planung
Workshops mit Redaktionsleitung und Redaktion Ziel: Ideen für neue redaktionelle Strukturen und eine neue Redaktionsarchitektur entwickeln
Aktion
9/2004 bis 2/2005
Informationssammlung
mündliche Interviews und schriftliche Befragung aller Redakteure (erste Welle)
Forschung
2/2005
Diskurs/Planung
Workshops mit Redaktionsleitung und Redaktion Ziel: Ergebnisse der Forschung validieren („member check“); auf deren Grundlage die Ideen für neue redaktionelle Strukturen konkretisieren
Aktion
8/2005
Innovationseinführung
Umzug der Redaktion, Einführung der neuen Strukturen
Aktion
10/2005 bis 4/2006
Informationssammlung
mündliche Interviews und schriftliche Befragung aller Redakteure (zweite Welle)
Forschung
5/2006
Diskurs/Planung
Workshops mit Redaktionsleitung und Redaktion
Aktion
Ziel: Ergebnisse der Forschung validieren („member check“); auf deren Grundlage die Ideen für eine erneute Verbesserung der redaktionellen Strukturen entwickeln
Journalismusforschung als interaktive Innovationsforschung
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Von Dezember 2006 bis Januar 2007 wurde eine interaktive Innovationsforschung in der Online-Redaktion des Bayerischen Rundfunks in München initiiert. Ausgangspunkt war hier die Herausforderung der crossmedialen Vernetzung der Online-Redaktion mit Hörfunk und Fernsehen. Die Studie wurde nach zwei Schritten vorerst abgebrochen (vgl. Tabelle 2): Da es aus organisationsinternen Gründen nicht zur Umsetzung der Newsdesk-Idee kam, war die Fortsetzung nicht sinnvoll. Das Projekt erwies sich dennoch als methodologisch ergiebig, weil erstmals auch Plan- und Rollenspiele eingesetzt werden konnten. Tabelle 2: Forschungsprozess am Beispiel der BR-online-Studie Zeit
Phase im Zyklus
Methoden
Typ
12/2006
Informationssammlung
Redaktionsbeobachtung, Interviews mit Redaktionsleitung und Projektmanagern, Dokumentanalyse
Forschung
1/2007
Diskurs/Planung
zweitägiges Rollen- und Planspiel mit ca. zwölf Redakteuren Ziel: Entwicklung und Erprobung von Konzepten für ein crossmediales Newsdesk
Aktion
Abbruch Seit Juli 2006 läuft eine Studie in der Redaktion der Schweizerischen Depeschenagentur (SDA) in Bern. Projektziel und methodisches Vorgehen sind ähnlich wie bei der APAStudie – mit dem Unterschied, dass die redaktionellen Innovationen im bestehenden Redaktionsraum und nicht in einem neuen Gebäude umgesetzt werden sollen. Das Projekt ist noch nicht abgeschlossen: Der nächste geplante Schritt ist die Einführung der neuen redaktionellen Struktur (vgl. Tabelle 3).
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Klaus Meier
Tabelle 3: Forschungsprozess am Beispiel der SDA-Studie Zeit
Phase im Zyklus
Methoden
Typ
7/2006
Informationssammlung
Redaktionsbeobachtung, Dokumentanalyse, Interview mit Chefredaktion
Forschung
1/2007
Diskurs/Planung
Workshops mit dem Redaktionskader Ziel: Ideen für neue redaktionelle Strukturen entwickeln
Aktion
10 bis 11/2007
Informationssammlung
Schriftliche Befragung aller Redakteure (erste Welle)
Forschung
3/2008
Diskurs/Planung
Workshops mit der Redaktion Ziel: Ergebnisse der Forschung validieren („member check“); auf deren Grundlage die Ideen für neue redaktionelle Strukturen konkretisieren
Aktion
(geplant)
Innovationseinführung
Einführung der neuen Strukturen
Aktion
(geplant)
Informationssammlung
Schriftliche Befragung aller Redakteure (zweite Welle)
Forschung
(geplant)
Diskurs/Planung
Workshops mit der Redaktion
Aktion
Ziel: Ergebnisse der Forschung validieren („member check“); auf deren Grundlage die Ideen für eine erneute Verbesserung der redaktionellen Strukturen entwickeln
4.2 Kernproblem Schnittstelle Das Kernproblem angewandter Journalismusforschung ist die Schnittstellenproblematik. Denn Wissen ist in der modernen Gesellschaft institutionell konditioniert (Corner 2001, 6): Es wäre naiv zu glauben, dass Forscher und Redakteure aus ihren jeweiligen Wissensstrukturen so einfach ausbrechen könnten. Sowohl das Wissenschaftssystem Journalistik als auch das Praxissystem Redaktion müssen sich also aufeinander einlassen und einen gegenseitigen Respekt vor der anderen Realitätserkundungsweise und Intention erarbeiten und reflektieren, ohne das eigene System verlassen zu können:
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Der Forscher muss dazu bereit sein, wissenschaftliche Erkenntnisse (vgl. hier z.B. Meier 2002) als Beratungsleistung und Impuls zur Verfügung zu stellen und sich als Person am Lernprozess der zyklischen Forschung zu beteiligen. Die traditionelle Redaktionsforschung hat dieses beratende und impulsgebende Vorgehen explizit abgelehnt (vgl. Rühl 1970, 164 f.). Ausnahme ist Stephan Ruß-Mohl (1998, 289), der die Journalistik sogar als Konkurrenz zu Unternehmensberatungen sieht, wobei er allerdings offen lässt, ob die – wie er es nennt – „diskrete Beratungsleistung“ sozialwissenschaftlich-methodisch vorgehen sollte. Redaktionsleitung und weitgehend auch die Redakteure müssen die Beratung und den fremden Blick auf ihre Organisation wünschen – und nicht die Legitimierung bereits feststehender Ziele durch die Reputation eines begleitenden Forschungsprojekts. Man muss offen sein für die Ideen, welche der Forscher mitbringt. Dabei ist klar, dass beide Seiten nur zusammenfinden, wenn gleich zu Beginn Problemlage und Lösungsmöglichkeiten ähnlich eingeschätzt werden (Beispiel: Einführung eines Newsdesks oder von crossmedialen Prozessen und Strukturen). Die Details werden allerdings in einem Lernprozess aller Beteiligten erst entwickelt (das konkrete Newsdesk-Konzept). Der Impuls für das Projekt als Ganzes kommt in der Regel aus der Medienpraxis, kann aber auch aus der Wissenschaft angestoßen werden. Zielvorgaben werden gemeinsam von Chefredaktion und Forscher erarbeitet – im Idealfall zusammen mit einer Projektgruppe aus dem Kreis der Redakteure.
Kann interaktive Innovationsforschung auch scheitern? Zunächst kommt sie gar nicht zustande, wenn die genannten Rahmenbedingungen nicht gegeben sind. Diese Rahmenbedingungen können mit einer Art Forschungsvertrag, in dem auch die unten genannten Gütekriterien aufgenommen werden können, „garantiert“ werden. Ein solcher Vertrag wurde in den vorliegenden Fallstudien zweimal schriftlich und einmal mündlich geschlossen. Dennoch können die Innovationsprojekte zum Teil scheitern, wenn das Projektziel in der Organisation im Laufe der Zeit nicht weiter verfolgt wird wie in den Fällen zwei und drei oben. Hier zeigt sich ein Problem interaktiver Redaktionsforschung: Wenn der Einführungszeitpunkt redaktioneller Innovation nicht beispielsweise durch den Umzug in ein anderes Gebäude vorgegeben ist, können im Projektverlauf andere Organisationsziele und Veränderungsbedarfe in anderen Bereichen der Organisation die ursprünglichen Ziele überlagern – die Innovationseinführung wird hinausgezögert oder gestoppt. Aber auch wenn das ursprüngliche Ziel am Ende nicht mehr verfolgt wird, ist das Projekt nicht komplett gescheitert: Der Lernprozess ist durch erste empirische Schritte in Gang gekommen; Praxis und Forschung haben gleichermaßen Erkenntnisgewinn, auch wenn die soziale Realität nicht in dem Maße verändert wurde, wie es sich alle beteiligten Seiten vorgenommen hatten. 4.3 Gütekriterien Beim Einsatz einzelner Forschungsinstrumente (Datenerhebung z.B. durch Befragungen) müssen die Gütekriterien dieser empirischen Methoden gelten (Validität und Reliabilität; vgl. Lewin 1946, 42) – für das Projekt als Ganzes sind allerdings darüber hinaus gehende Gütekriterien heranzuziehen. Die Gütekriterien der Datenerhebung unterscheiden sich also von denen der Untersuchungsanlage – dies ist m.E. in der Literatur zur Aktionsforschung
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Klaus Meier
nicht ausreichend reflektiert, weil sich die Aktionsforschung als Gegenentwurf zur empirischen Sozialforschung sieht und deshalb deren Gütekriterien von vornherein ausschließt oder zumindest skeptisch beurteilt. Nach den Erfahrungen mit den genannten Projekten lassen sich folgende Gütekriterien für die Untersuchungsanlage interaktiver Innovationsforschung spezifizieren (vgl. als Grundlage Moser 1995; Patton 2008; Rogers 2003). Ausgangspunkt ist, dass die Gütekriterien eines zyklischen und dialogischen Forschungsprozesses nicht zwingend messtechnisch zu verstehen sind, also nicht nur über Quantitäten, sondern auch qualitativ bestimmt werden. y
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Transparenz: Die Offenlegung der Funktionen, Ziele und Methoden ist das wichtigste Gütekriterium. Der Forschungsprozess muss für alle Beteiligten nachvollziehbar sein. Dies ist schon alleine deshalb so wichtig, weil der Forscher seine distanzierte Beobachterposition aufgibt, wenn er sich auf eine gewisse Handlungsbelastung und verantwortung einlässt. Zur Transparenz gehört in den vorliegenden Fällen, dass alle Redakteure von Anfang an wissen, dass der Forscher in Zusammenarbeit mit der Chefredaktion agiert, sie aber darauf vertrauen, dass er sich nicht instrumentalisieren lässt (vgl. Abschnitt 3.2). Es darf bei der Redaktionsleitung keine „hidden agenda“ geben (Wyss 2006, 278) und Ergebnisse dürfen nicht ausschließlich der Chefredaktion als „Geheimwissen“ zur Verfügung stehen, sondern müssen im Laufe des Forschungsprozesses allen Redakteuren zugänglich sein. Schon bei den Zielvorgaben und vor allem bei der Konzeption einzelner Forschungsinstrumente sollte eine Arbeitsgruppe von Redakteuren mitarbeiten – z.B. bei der Formulierung eines Fragebogens. Mitunter wurde beklagt, einige Fragen seinen „tendenziös“ formuliert. Dem kann mit möglichst großer Transparenz begegnet werden sowie mit den weiter unten genannten Kriterien der Adäquatheit und Intersubjektivität. Die Antworten der Journalisten in mündlichen und schriftlichen Befragungen werden dagegen nicht transparent, sondern anonymisiert verwendet und ausgewertet. Adäquatheit: Ein Forschungsinstrument wird in der interaktiven Sozialforschung auch mit dem so genannten „member check“ validiert: Die Beteiligung an der Konstruktion der Instrumente und die „Rückgabe der Daten“ an die „Beforschten“ sollen gewährleisten, dass sich diese in den Resultaten wieder finden. Die Workshops mit der Redaktionsleitung, den Ressortleitern, den Projektgruppen sowie mit allen Redakteuren waren zentrale Elemente im Forschungsprozess: Die Ergebnisse der Befragungen und Beobachtungen wurden präsentiert und diskutiert. Daraus haben sich nach den Worten eines Redaktionsleiters „wichtige Indikatoren für allfällige Anpassungen des Projektes und Hilfestellungen für die Einführung und Umsetzung“ ergeben. Intersubjektivität: Der Diskurs mit der Gruppe kommt auch bei der Interpretation der Daten zum Einsatz. So soll erreicht werden, dass ein Forschungsergebnis nicht nur aus der subjektiven Perspektive des einzelnen Forschers Bestand hat, sondern das Datenmaterial intersubjektiv nachvollziehbar transformiert wird. In den Workshops wurde deshalb häufig die Frage gestellt: „Hier sehen Sie Ihre Antworten. Ich kann mir diese Verteilung nicht erklären. Warum haben die meisten das Item A angeklickt und nicht B oder C? Was bedeutet das für unser Projekt?“ Personal Factor: Es trägt zur Qualität und Intensität des Projekts bei, wenn Menschen gefunden werden, die an den Ergebnissen der Forschung interessiert sind und die Er-
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gebnisse nutzen wollen („intended users“; Patton 2008, 59-95). Wie bei allen Innovations- und Veränderungsprozessen (Rogers 2003, 267-299) wird es immer Befürworter und Skeptiker geben. Es ist wichtig, „intended users“ auch unter denjenigen zu finden, die Nachteile befürchten, um deren Befürchtungen in das Projekt einbeziehen zu können. Indikatoren des Veränderungsprozesses: Interaktive Sozialforschung enthält immer eine Veränderungstheorie („Theory of Change“), d.h. z.B. eine Theorie über den Prozess der Veränderung einer Organisation. Es ist wichtig, messbare Indikatoren festzulegen, mit denen man die Veränderung beobachten und evaluieren will. Bei der APAStudie waren dies beispielsweise Wahrnehmungen und Einschätzungen der Redakteure zur journalistischen Qualität (z.B. Schnelligkeit der Redaktion, Umsetzung komplexer Themen im Team), aber auch zu Arbeitszufriedenheit und Arbeitsdruck. Mit mehr Forschungsaufwand hätte man als Indikatoren auch die journalistischen Produkte inhaltsanalytisch im Zeitverlauf vergleichen oder die Kunden der APA befragen können. Anschlussfähigkeit: Die Ergebnisse des Forschungsprozesses sollten im Praxissystem – also nicht nur in der untersuchten Redaktion, sondern auch in anderen Redaktionen – und im Wissenschaftssystem anschlussfähig sein. Das heißt, sie müssen vor allem publiziert werden – und dürfen nicht in „diskreter Beratungsleistung“ enden. Fazit und Entwicklungspotentiale
Interaktive Innovationsforschung ist nur eine Möglichkeit angewandter Journalismusforschung – Qualitäts- in Verbindung mit Publikumsforschung eine andere (Wyss 2006). Wyss ist ebenfalls von einem interaktiven Forschungsprozess ausgegangen, bezog die Interaktion zwischen „Forscher und Klienten“ jedoch auf die gemeinsame Problem- und Fragestellung sowie auf die Ausarbeitung der Methode – und nicht auf die Umsetzung der Ergebnisse in innovative redaktionelle Strukturen, Arbeitsweisen oder journalistische Erzählformen. Es handelte sich insofern also um ein dialogisches, aber kein zyklisches Vorgehen. Die Weiterentwicklung der hier vorgestellten Methodologie liegt in der Aktion des Forschers durch gemeinsames Erarbeiten von Handlungsoptionen, die gezielte Veränderung der redaktionellen Praxis und das deshalb nötige dialogische und zyklische Vorgehen als Lernprozess. Die Schnittstellenproblematik zwischen Wissenschafts- und Praxissystem wird anders angegangen. Generell können wir allerdings nach wie vor einen Mangel an Transferforschung in der Journalistik feststellen: Wir sind erst am Anfang, testen anhand von begrenzten projektbezogenen Fragestellungen (Wyss 2006, 281). Die Nähe bzw. Distanz zum Forschungsgegenstand bleibt ein Spannungsfeld angewandter Forschung (vgl. Saxer 2000), mit dem der Forscher mit Hilfe methodologischer Planung und Reflexion besser zurecht kommen sollte. Es gilt, „ein Reflexionsvermögen bezüglich der Chancen und Fährnisse des gewünschten Transfers aufzubauen“ (Wyss 2006, 280). Entwicklungsmöglichkeiten dieses Ansatzes liegen z.B. in anwendungsorientierten Abschlussarbeiten der Journalistik (auf Masterniveau; auch Weiterbildungsmaster), in denen Studierende Innovationskonzepte in Kooperation mit Redaktionen entwerfen, diese im sozialen Feld exemplarisch umsetzen und evaluieren. Die interaktive Innovationsforschung ist für die Redaktions- bzw. Organisationsforschung im Sinne einer Organisationsberatung
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Klaus Meier
besonders geeignet. Sie muss aber nicht darauf beschränkt bleiben (vgl. Meier 2007a, 256258). Denkbar sind z.B. auch das forschungsbegleitete Entwickeln, Implementieren und Evaluieren neuer journalistischer Formen (Darstellungsformen und Erzählweisen), Formate (z.B. crossmediale oder partizipative Formate) und Konzepte (z.B. Experimente mit „Public Journalism“ auch in Deutschland). Dabei wäre zu überlegen, wie Publikums- und Nutzungsforschung (Rager & Werner 2008; Wyss 2006) in den zyklischen Forschungsprozess integriert werden können. Einige explorative Diplomarbeiten auf Basis dieses Ansatzes liegen bereits vor, zum Beispiel eine Kooperation mit sueddeutsche.de zur Entwicklung des neuen MünchenPortals im Internet (Röder 2009), die Konzeption eines Qualitätssicherungsmodells für eine Redaktion (Miorin 2008) oder die Analyse des Change-Management-Prozesses der Deutschen Presse-Agentur beim Umzug von Hamburg nach Berlin (Elmer 2010). Journalismus wird sich wandeln, sich zum Teil sogar neu erfinden. Die Absolventinnen und Absolventen der Journalistik werden daran mitarbeiten. Innovationsfähigkeit, Pioniergeist und der Wille zum Experimentieren sind zu einem wesentlichen Aspekt journalistischer Kompetenz geworden (Meier 2009). Dass dies nicht beliebig vor sich geht, sondern systematisch und reflektiert mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden und auf Basis journalistischer Tradition in einer offenen Gesellschaft – dazu soll der hier diskutierte Ansatz beitragen. Literaturverzeichnis Bargal, D. (2006): Personal and intellectual influences leading to Lewin’s paradigm of action research. Towards the 60th anniversary of Lewin’s ‘Action research and minority problems’ (1946). In: Action Research, 4(4), 367-388. Brosius, H. & Koschel, F.(2003): Methoden der empirischen Kommunikationsforschung. Eine Einführung (2. Auflage). Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Corner, J. (2001): Towards the Really Useful Media Researcher? In: Nordicom Review, 22(1), 3-10. Eden, C. & Huxham, C. (1996): Action Research for Management Research. In: British Journal of Management, 7(1), 75-86. El-Awady, N. & Lublinski, J. (2007): Using the Outcome Mapping framework: How to build a reporters’ network. In: Forum Media and Development (Hrsg.): Measuring Change. Planning, Monitoring and Evaluation in Media and Development Cooperation. Bonn: CAMECO, 31-38. Elmer, C. (2010): Motiviert durch den Wandel. Erhebung von Commitment und Arbeitszufriedenheit in den Redaktionen der Deutschen Presse-Agentur dpa im Prozess der Neustrukturierung hin zu einem integrierten Newsroom (unveröffentlichte Diplomarbeit, TU Dortmund). Dortmund. Eurich, C. (1980): Kommunikative Partizipation und partizipative Kommunikationsforschung. Frankfurt a. M.: Rita G. Fischer. Fabris, H. (1982): Aktionsforscher – Advokaten in eigener Sache? In: Psychologie und Gesellschaftskritik, 6(1), 64-73. Erneut abgedruckt in: R. Renger (2002): Angewandte Kommunikationswissenschaft. Problemfelder, Fragestellungen, Theorie. München: Reinhard Fischer, 271-278. Fabris, H. (2002): Angewandte Kommunikationswissenschaft. Zwischen Transfer, Intervention und Transformation. In: R. Renger (2002): Angewandte Kommunikationswissenschaft. Problemfelder, Fragestellungen, Theorie. München: Reinhard Fischer, 17-24. Flick, U. (2004): Triangulation. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag. Hearn, G., Tacchi, J., Foth, M. & Lennie, J. (Hrsg.) (2009): Action Research and New Media. Concepts, Methods and Cases. Cresskill: Hampton Press.
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Klaus Meier
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Autobiographien als Mittel der Journalismusforschung. Quellenkritische und methodologische Überlegungen Jürgen Wilke
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Einordnung und Fragestellung
Die Journalismusforschung bedient sich üblicherweise der teilnehmenden Beobachtung, der Befragung oder des Experiments, um zu wissenschaftlich validen (und verallgemeinerbaren) Aussagen zu gelangen. Dabei werden jeweils neue Daten erhoben. Das setzt freilich zugängliche Untersuchungspersonen voraus, die gezielt angesprochen werden. Selbstverständlich können auch Inhaltsanalysen angestellt und diagnostisch auf die ihnen voraus liegenden, in der Person des Journalisten liegenden Ursachen interpretiert werden. Nicht ausgeschlossen ist die Frage, ob es daneben auch andere Mittel und Quellen der Erkenntnisgewinnung für die Journalismusforschung gibt. Lassen sich solche auch auf „unkonventionelle“ Weise erzielen? Als Beispiel kann man an die Belletristik denken und danach fragen, welches Bild Romane und literarische Bestseller von Journalisten entwerfen und wie diese vor dem Hintergrund von empirischen Befunden der Kommunikationsforschung zu deuten sind. Diese Frage ist schon wiederholt verfolgt worden, in der älteren Zeitungswissenschaft von Karl d’ Ester (1941) und später in zwei Untersuchungen von Cecilia von Studnitz (1983) und von Evelyn Engesser (2005). Ich möchte hier jetzt den Blick richten auf eine Quelle, die bislang für die Journalismusforschung noch kaum genutzt worden ist: nämlich journalistische Autobiographien, d.h. Werke, in denen Journalisten ihr Leben, ihren Werdegang, ihre Arbeit – also ihren Beruf beschreiben. Solche Autobiographien gibt es in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, und sie reichen bis in die jüngste Gegenwart. Ziel des Beitrags soll es sein, diese Quelle für die Journalismusforschung zu erschließen. Und daran sollen quellenkritische und methodologische Überlegungen angeschlossen werden. 2
Die Autobiographie als (literarische) Gattung
Die Autobiographie ist eine spezifische Textform, ja eine literarische Gattung. Als sozusagen klassischen Prototyp wird häufig Johann Wolfgang von Goethes „Dichtung und Wahrheit“ genannt. Aber die Tradition der Autobiographie reicht bis in die Antike zurück. Doch bedeutet dies nicht, dass sie eine „zeitlose“, jederzeit gleichermaßen vorhandene und übliche oder mögliche Gattung der Literatur gewesen ist. Ihre Entwicklung ist vielmehr eng mit der Herausbildung des neuzeitlichen Individuums verknüpft. Die Autobiographie ist ein Gegenstand der Literaturwissenschaft, diese beschäftigt sich mit ihrer Definition, den Gattungseigenschaften, ihrer Geschichte und Interpretation.
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Angelehnt an den Begriff selbst, gilt die Autobiographie als „die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)“ (Misch 1989, 38). Neben dieser etymologischen Ableitung findet man recht normative Definitionen der Autobiographie, etwa indem diese gebunden wird an „das Werden der Persönlichkeit, die Totalität des Individuums“ (Aichinger 1977, 803). Insbesondere wird der Begriff von benachbarten Bezeichnungen bzw. (scheinbaren) Synonymen abgegrenzt, beispielsweise von Memoiren. „Memoiren“, so kann man lesen, „stellen nicht die individuelle Lebensgeschichte in den Mittelpunkt (sie beinhalten vielmehr Gedanken, Erinnerungen und Beobachtungen meist einer Figur des öffentlichen Lebens und ihrer Zeit, Begegnungen mit anderen Persönlichkeiten, der von ihr mitgestalteten Politik etc.)“ (Wagner-Egelhaaf 2005, 6). Inhaltlich legen Memoiren „die Betonung mehr auf den gesellschaftlichen statt auf den individuellen Aspekt“ (Holdenried 2000, 21). Und hinsichtlich der Form heißt es „dass der Autor keinen schriftstellerischen Ehrgeiz hat – oder wenigstens keinen zu haben vorgibt“ (Misch 1989, 40). Sozialtheoretisch argumentiert Bernd Neumann: „Der Memoirenschreiber vernachlässigt also generell die Geschichte seiner Individualität zugunsten der seiner Zeit. Nicht sein Werden und Erleben stellt er dar, sondern sein Handeln als sozialer Rollenträger und die Einschätzung, die dies durch die anderen erfährt […]. Memoiren sind unlösbar an das Tragen sozialer Rollen geknüpft.“ (Neumann 1970, 12)
Diese definitorischen Reflexionen könnten es nahe legen, gerade bei Journalisten nicht von Autobiographien, sondern von „Memoiren“ zu sprechen, zumindest soweit es um ihre Rolle geht. Ich halte jedoch an dem ersteren Begriff hier fest, weil er etymologisch zutreffend ist und die normativen Implikationen mir für die Bestimmung des Gegenstandes nicht zwingend erscheinen. 3
Die Grundgesamtheit
Will man sich mit journalistischen Autobiographien beschäftigen, so ist es zunächst notwendig, die Grundgesamtheit zu ermitteln. Das ist nicht ganz einfach und auch mit einem Anspruch auf Vollständigkeit nur schwer erreichbar. Dies auch deshalb, weil offen ist, was mit „journalistisch“ gemeint ist. Dieser Beruf ist bekanntlich ungefestigt, seine Grenzen verschwimmen, weil sich jeder im Prinzip Journalist nennen kann, der etwas schreibt oder für die mediale Verbreitung produziert. Nicht selten ist eine journalistische Tätigkeit nur eine vorübergehende Durchgangsstation (gewesen), beispielsweise für Politiker (v. Eckardt, Heuss, Frankenfeld). Eine derartige „Offenheit“ ist zu konzedieren, wenn man versucht, eine Bibliographie journalistischer Autobiographien zusammenzustellen. Der Corpus an Werken, den ich bisher zusammengetragen habe und der im Anhang dokumentiert ist, umfasst mehr als hundert Werke. Die Suche wurde breit angelegt. Zahlreiche ältere Autobiographien sind bereits bei Sperlich (1975) verzeichnet. Der früheste bisher ermittelte Titel stammt aus dem Jahr 1855. Es handelt sich um Karl Heinrich Brüggemanns Schrift „Meine Leitung der Kölnischen Zeitung und die Krisen der preußischen
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Politik von 1846-1855“ [1].1 Die jüngsten Beispiele erschienen 2008 und 2009 ([5]: Dombrowski, Gerig; [6]: Pragal). Es gibt zahlreiche Grenzfälle hinsichtlich der Aufnahme in den bibliographischen Corpus. Marion Gräfin Dönhoff, die einstige Chefredakteurin und Herausgeberin der Wochenzeitung Die Zeit, hat mehrere autobiographische Bücher verfasst („Namen die keiner mehr kennt“, „Meine Kindheit“). In ihnen schildert sie ihren Lebensweg bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, also bevor sie dann Journalistin wurde. Aus diesem Grund werden diese Titel nicht unter die journalistischen Autobiographien aufgenommen. Auch die Autobiographie Joachim Fests „Ich nicht“ (2006) schildert so gut wie ausschließlich Kindheit und Jugend (im Dritten Reich). Lediglich „wenige Vorgriffe“, wie es in der Überschrift des letzten Kapitels heißt, sind auf die spätere journalistische Tätigkeit (beim RIAS Berlin) gerichtet. Dadurch wird das Buch aber noch nicht zu einer journalistischen Autobiographie. In nicht wenigen (zumal älteren) Fällen haben die Autoren lediglich eine Zeit lang als freie Mitarbeiter für die Presse gearbeitet. Andere waren eher in der Zeitschriftenpublizistik als im Tagesjournalismus tätig. Diese Fälle sollen in der vorliegenden Bibliographie in der Regel ebenfalls nicht berücksichtigt werden, es sei denn sie enthalten für unsere Fragestellung hinreichend substantielle Aussagen. Dergleichen gilt auch für Bücher, die einen autobiographischen Charakter versprechen, aber doch keine sind. Band IX der Gesammelten Werke von Egon Erwin Kisch erschien 1983 unter dem Titel „Mein Leben für die Zeitung“. Der Band versammelt journalistische Texte des Verfassers aus den Jahren 1926-1947, darunter einen von 1928 mit dem zitierten Titel. Peter Scholl-Latour hat sein Buch „Zwischen den Fronten“ (2007) mit „Erlebte Zeitgeschichte“ untertitelt, vermerkt im Vorwort aber ausdrücklich: „Dabei handelt es sich mitnichten um eine Biographie, deren Niederschrift ich mir erst antun werde, wenn mein Gesundheitszustand mich zur benediktinischen Tugend der ‚stabilitas loci’ verurteilt“ (Scholl-Latour 2007, 7). Ausgeschlossen werden schließlich noch zwei weitere Gattungen. Die eine kann man eher als „professionelle Medienanalysen“ bezeichnen (vgl. Wilke 2008). Es handelt sich um Bücher, in denen sich Journalisten mit dem Zustand der Medien und mit ihrem eigenen Beruf befassen. Darin gehen zwar eigene Erfahrungen mit ein, doch haben solche Werke im Grunde keine autobiographische Intention. Die andere Gattung erfüllt eher eine Beratungsfunktion, auch wenn darin autobiographische Elemente enthalten sind (z.B. Petra Gerster „Reifeprüfung. Die Frau von 50 Jahren“). Anders verfahren wird mit Titeln, die zwar nicht unbedingt mit autobiographischer Intention geschrieben wurden, die aber doch (zumindest zeitlich begrenzte) journalistische Erfahrungen schildern. Ein exemplarisches Beispiel hierfür ist Günter Wallraffs „Der Aufmacher“ (1977), ein Insider-Bericht aus der BILD-Zeitungs-Redaktion, in die der Autor „undercover“ eingetreten war [5]. 4
Phasengliederung
Man kann die journalistischen Autobiographien (nach bibliographischem Modus) chronologisch nach Erscheinungsjahren verzeichnen. Sinnvoller scheint es jedoch, diese nach Phasen zu ordnen. Denn sie schildern journalistische Lebenswege und Erfahrungen aus 1
Der Anhang des Beitrags enthält eine nach Epochen gegliederte und durchnummerierte Bibliographie journalistischer Autobiographien. Die Zahlen in den eckigen Klammern bezeichnen die jeweilige Epoche.
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Jürgen Wilke
verschiedenen Epochen der deutschen Geschichte. Die jüngere deutsche Geschichte hat den Journalismus hierzulande tief greifend geprägt. Dabei hat eine Reihe von Journalisten, von denen Autobiographien vorliegen, nacheinander in mehreren Epochen in diesem Beruf gearbeitet: Friedrich Stampfer, von 1916-1933 Chefredakteur des sozialdemokratischen Vorwärts, war Journalist im Kaiserreich und in der Weimarer Republik (und danach im Exil) [2,3]. Theodor Heuß wurde 1912 Chefredakteur der Neckar Zeitung. Zunächst Mitarbeiter der Wochenzeitschrift Die Hilfe, wurde er später deren Chefredakteur, 1936 aber zur Aufgabe gezwungen [2,3]. 1945 war Heuss einer der Lizenzträger der Rhein-Neckar Zeitung (seine Erinnerungen reichen aber nur bis 1933). Karl Korn übte den journalistischen Beruf im Dritten Reich (Berliner Tageblatt) und in der Bundesrepublik Deutschland aus (Frankfurter Allgemeine Zeitung) [4]. Der Journalist Josef Hofmann war Journalist in drei Phasen, bei der Kölnischen Volkszeitung bis zu deren Verbot 1941, bei der Kölnischen Zeitung (1941-1945) und nach dem Krieg bei den Aachener Nachrichten und der Aachener Volkszeitung [3,4]. Die Erinnerungen dieser Journalisten können also zwei, ja drei Phasen der deutschen (Journalismus-)Geschichte zugeordnet werden. Nimmt man eine solche Mehrfachzuordnung vor, so ergibt sich folgende Verteilung: Tabelle:
Verteilung der journalistischen Autobiographien nach Epochen
Epoche
Anzahl
1.
Vor-/Nachmärz (1819-1870)
4
2.
Deutsches Kaiserreich (1871-1918)
29
3.
Weimarer Republik (1918-1933)
27
4.
Drittes Reich (1933-1945)
19
5.
Bundesrepublik Deutschland (inklusive Westzonen) (1945-
42
6.
DDR (inklusive SBZ) (1945-1990)
19
Die Zahl der journalistischen Autobiographien hat in jüngerer Zeit zugenommen. Vor 1871 handelt es sich nur um vier Titel. Doch schon für das Kaiserreich konnten 29 Titel mit Lebenserinnerungen ermittelt werden. Die meisten Lebensbeschreibungen, nämlich 42, erstrecken sich auf die Bundesrepublik Deutschland, 19 auf das Dritte Reich und 27 auf die Weimarer Republik. Bisher 18 Autobiographien schildern journalistische Erfahrungen in der DDR bzw. in der dortigen Journalistenausbildung. Das Schreiben von Autobiographien ist durch die natürliche menschliche Lebensspanne begrenzt. Sie haben das Erreichen eines bestimmten Alters zur Voraussetzung, was „Frühwerke“ nicht unbedingt ausschließt. Die Phase der Autobiographien aus dem Kaiserreich endete in den 1960er Jahren, sieht man von Nachlasspublikationen ab. Autobiographien aus der Weimarer Republik erschienen bis in die 1990er Jahre, solche aus dem Dritten Reich auch noch nach der Jahrtausendwende. Unabgeschlossen ist selbstverständlich die Folge journalistischer Autobiographien in der Bundesrepublik Deutschland. Aber auch für die DDR dürften vermutlich noch weitere Titel zu erwarten sein.
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Hauptmerkmale
Die ermittelten journalistischen Autobiographien lassen sich nach mehreren Merkmalen näher charakterisieren. Es handelt sich überwiegend um Autobiographien von Männern, was ein Reflex auf die männliche Dominanz in diesem Beruf ist. Während Autobiographien von Journalistinnen aus dem Kaiserreich und der Weimarer Republik noch nicht vorhanden sind, liegen solche zum Dritten Reich vor ([4]: Margret Boveri, Helene Rahms, Elisabeth Noelle-Neumann; die beiden Erstgenannten haben auch über ihre journalistische Tätigkeit nach 1945 berichtet [5]). Selbst noch in jüngerer Zeit gibt es nur vereinzelt Autobiographien von Journalistinnen (Carola Stern [5]). Mehrere auf eigenem Miterleben beruhende Zeitzeugenberichte geben Auskunft über die Anfangsjahre des Journalismus in Deutschland nach 1945 ([5]: Hans Habe, Egon Carlebach, Ernst Langendorf & Georg Wulfius). Überwiegend haben bisher Pressejournalisten Autobiographien verfasst. Das hat mehrere Gründe: allein weil die Presse älter ist als andere Massenmedien, vielleicht aber auch, weil in dieser das Schreiben üblich ist und die berufliche Basisqualifikation darstellt. Allerdings sind in den letzten drei Jahrzehnten Autobiographien auch von Radio- und zumal von Fernsehjournalisten erschienen. Die Übergänge zwischen diesen Medien waren lange Zeit ohnehin fließend [5]: Zeitungsjournalisten gingen zum Fernsehen (Günter Gaus, Erich Helmensdorfer, Wolf von Lojewski), auch Journalisten, die zunächst für das Radio arbeiteten, wechselten zum Fernsehen (Peter von Zahn, Thilo Koch) oder traten dort zumindest in bestimmten Sendungen auf (Marcel Reich-Ranicki, Hellmut Karasek). Gut ein Viertel der Autobiographien aus der Zeit der Bundesrepublik Deutschland stammt von Fernsehjournalisten. Mehr als Zeitungsjournalisten, die hinter ihr Medium zurück treten, besitzen Fernsehjournalisten ein öffentliches Gesicht. Sie sind der Bevölkerung vom Bildschirm her bekannt, was das Interesse an ihnen auch für Buchverlage motivieren dürfte. Im Übrigen liegen mehrere Autobiographien von Journalisten vor, die (auch) als Auslandsjournalisten und Korrespondenten gearbeitet haben ([2]: Fritz Max Cahén, Hans von Hülsen; Karl Silex [4,5]; Peter von Zahn [5]). Sogar von einer zeitweiligen Tätigkeit in Nachrichtenagenturen kann berichtet werden (Wolff‘sches Telegraphisches Büro: Hans von Hülsen [2], Edgar Stern-Rubarth [2,3]; Transocean: Werner von Lojewski [5]). Auffällig ist, dass die bisher vorliegenden Autobiographien von Journalisten der DDR sich mehrheitlich auf das Fernsehen beziehen. Generell gibt es hier zwei Arten [6]: Eher affirmative, systemkonforme (Karl Eduard von Schnitzler, Harri Czepuck) oder eher kritische, die von den Schwierigkeiten berichten, denen man in diesem Beruf dort begegnete – sie stammen von „Abweichlern“, die das Land verließen, oder späteren Westkorrespondenten (Rudolf Reinhardt, Peter Pragal, Uwe Gerig). Aufs Ganze gesehen wurde die Mehrzahl der Autobiographien von politischen Journalisten geschrieben. Beträchtlich ist aber der hohe Anteil der Autobiographien von Kulturund Feuilletonjournalisten, einem Typ also, der in der Journalismusforschung insgesamt weniger untersucht worden ist. Unter den Verfassern findet man insbesondere Literaturkritiker ([5]: Marcel Reich-Ranicki, Hellmut Karasek, Fritz J. Raddatz), Theaterkritiker (Paul Lindau [2], Hanns von Gumppenberg, Hermann Sinsheimer [2], Georg Hensel [5]) und Musikkritiker (Hans Heinz Stuckenschmidt [3,4], Joachim Kaiser [5]). Diese Journalisten haben – wie es scheint – besonders viel erlebt und standen in Kontakt mit interessanten Persönlichkeiten. Sie betätig(t)en sich ohnehin auch als literarische Autoren, wodurch sie mit der Autobiographie als Gattung vertraut (gewesen) sein dürften.
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Es kann unterstellt werden, dass die Journalisten ihre Autobiographien selbst verfasst haben. Ein Sonderfall ist diejenige von Margret Boveri [4]. Sie ist in Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Uwe Johnson entstanden, von diesem bearbeitet und herausgegeben worden. Streckenweise ist sie in einem Interviewstil gehalten. Den letzten Teil des Buches hat Johnson sogar allein geschrieben. 6
Typen von Autobiographien
In der Literaturwissenschaft gibt es verschiedene Typologien von Autobiographien oder autobiographischen Texten, die meist jedoch nicht trennscharf zu fassen sind (Schwab 1981). So wird beispielsweise zwischen der eigentlichen Selbstbiographie, Memoiren, Erinnerungen, Bekenntnissen und dem autobiographischen Roman unterschieden. Unterscheidungskriterien sind der Primat des Narrativen oder des Reflexiv-Essayistischen. Bei einem Blick auf die journalistischen Autobiographien ist vor allem zwischen Partial- und Gesamtbiographien zu unterscheiden. Dieser Unterschied hat eine doppelte Bedeutung. Manche der Autoren haben nur zeitweise im Journalismus gearbeitet, so dass diese Tätigkeit nur einen Teil ihres Lebens – und auch ihrer Autobiographie – ausmacht. Manchmal beschränkte sich die journalistische Tätigkeit nur auf wenige Jahre. Danach versuchten sie als freie Schriftsteller zu leben, schrieben Belletristik ([2]: Otto Flake, Frank Thiess) oder übten andere Berufe aus, beispielsweise als Theaterleiter (Carl Hagemann [2]). Solche Fälle waren früher jedenfalls häufiger. Aber Beispiele für die Ausübung politischer Funktionen (Theodor Heuss [2,3], Günter Gaus [5]), für schriftstellerische (Hans Habe [3]) oder wissenschaftliche (Elisabeth Noelle-Neumann [4]) Betätigung finden sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst seitdem gibt es vermehrt Autobiographien von Autoren, für die der Journalismus Lebensberuf war. Das wird man als einen Indikator der Professionalisierung deuten können. Es gibt Autobiographien im eigentlichen Sinne, also Werke, die auch Kindheit und Jugendzeit darstellen und das Werden der Person in der Auseinandersetzung mit seiner Umwelt beschreiben. Den anderen Pol bilden Bücher, die sich weitgehend auf die Erinnerungen an die journalistische Arbeit beschränken und das sonstige Leben und Denken eher ausblenden. Zwischen diesen beiden Polen liegen Autobiographien in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen. Der Bezeichnung „autobiographischer Roman“ findet sich zweimal (Norbert Jacques [3], Walter Kolbenhoff [5]). 7
Quellenwert und Quellenkritik
Das Quellenproblem der (journalistischen) Autobiographien ergibt sich aus der Subjektivität der Darstellungsperspektive. Die literaturwissenschaftliche Theorie sieht darin geradezu das Konstituens dieser Gattung. Obwohl es sich nicht um eine fiktionale Gattung handelt, sind fiktionale Elemente nicht auszuschließen. Literaturwissenschaftler sprechen sogar von einer „Autorfiktion“. Diese dürfte unterschiedlich ausgeprägt sein, bei Dichtern oder Schriftstellern vermutlich eher als bei Journalisten. Dennoch stellt sich auch bei den letzteren die Frage der „Wahrheit“ und Authentizität. Als historische Quelle sind Autobiographien jedenfalls – wenn auch nur bedingt – tauglich, wenn man sie im Hinblick auf objektiv
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gesicherte Fakten auswerten will. Für manche Fakten mag es nur sie und keine andere Quelle geben, beispielsweise dafür, wie im Dritten Reich in der Redaktion des Berliner Tageblatts gearbeitet wurde. Margret Boveri und Karl Korn haben darüber geschrieben [4]. Aber ihre Aussagen müssen kritisch betrachtet und bewertet werden. Sie können nämlich nicht zuletzt der Selbstrechtfertigung dienen. Dass Autobiographien Legitimationscharakter haben (können), ist nicht nur bei autobiographischen Zeugnissen aus dem Dritten Reich zu beachten, sondern auch bei jenen, die bisher von ehemaligen Journalisten und Programmmachern der DDR verfasst wurden. Mehr als nach 1945 sind nach 1989 Bücher publiziert worden, die im Nachhinein absichtlich oder subkutan zur Rechtfertigung oder Beschönigung der (Medien-)Verhältnisse in der DDR beitragen (wollen). Dies dürfte auch einem Legitimationsdruck nach 1989 geschuldet sein. So problematisch eine Verobjektivierung autobiographischer Quellen ist, so unzweifelhaft instruktiv können sie sein für die Rekonstruktion subjektiver Intentionen, Wahrnehmungen und Einschätzungen. Beschränken sich die Autobiographien auf eine mehr oder weniger anekdotische Selbstdarstellung oder machen sie so etwas von der journalistischen Identität erfahrbar? 8
Methodologische Herangehensweise
Will man journalistische Autobiographien als Quelle der Journalismusforschung nutzen, so bedarf es einer methodischen Herangehensweise. Diese ist abhängig von der Fragestellung. Eine systematische Auswertung erfordert eine Strukturierung. Für diese bieten sich m. E. übergreifende Modelle der Journalismusforschung an, und zwar Wolfgang Donsbachs Sphärenmodell oder Siegfried Weischenbergs Zwiebelmodell. Donsbach (1987) trennt vier Einflusssphären, und zwar Subjektsphäre, Professionssphäre, Institutionssphäre und Gesellschaftssphäre. Jeder dieser Sphären sind mehrere Einflussfaktoren zugeordnet: Der Subjektsphäre z.B. Berufsmotive, Aufgabenverständnis und Publikumsbild, der Professionssphäre Berufsnormen, ethische Prinzipien und Kollegenorientierung, der Institutionssphäre die innere Pressefreiheit, Arbeitszufriedenheit und technische Strukturen sowie der Gesellschaftssphäre die Pressefreiheit, das politische System und die öffentliche Meinung. Im Prinzip sehr ähnlich trennt Weischenberg (1992) in seinem Zwiebelmodell (zwischen Mediensystem-Ebene (Normenkontext), Medien-Institutionen (Strukturkontext), Medienaussagen (Funktionskontext) und Medienakteuren (Rollenkontext). Obwohl wir es mit einer begrenzten Fallzahl zu tun haben, sind quantitative Auswertungen grundsätzlich möglich. Allerdings steht diesen die Inhomogenität der Quelle entgegen. Denn die Autobiographien folgen nicht durchweg demselben darstellerischen Schema, das zwangsläufig Angaben, gar vollständige, zu allen uns interessierenden Aspekten von Sphären- bzw. Zwiebelmodell enthält. Schließlich beanspruchen die Autobiographien keine wissenschaftliche Systematik. Das Spektrum der Darstellung ist vielmehr individuell unterschiedlich. Dies dürfte eine Quantifizierung durch Fallzahlen erschweren. Eine Belegführung wird vielmehr nach hermeneutischem Modus durch Exzerption charakteristischer Aussagen und Textpassagen vor sich gehen. Dabei können Zitate gewissermaßen als Antworten auf gestellte Fragen präsentiert werden. Auch ein Vorgehen nach dem Analyseleitfaden, wie Engesser (2005) ihn für literarische Bestseller entwickelt hat, ist denkbar.
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Welche Aussagen journalistische Autobiografien zu den Elementen von Sphären- oder Zwiebelmodell machen, das soll im Folgenden noch exemplarisch illustriert werden. Erschöpfend kann dies aus Platzgründen hier nicht geschehen. Einzelnen Dimensionen werden Zitatbelege zugeordnet, die gewissermaßen als Antworten auf einschlägige Fragen fungieren können. Generell zeigt sich, dass sich nicht für alle Dimensionen Aussagen in den Autobiographien finden lassen. Sie sind ja nicht zur Erfüllung einer wissenschaftlichen Systematik entstanden. Andererseits erwähnen die Autobiographien Aspekte, die in den Modellen nicht explizit genannt werden. 9
Exemplarische Auswertung
9.1 Subjektsphäre Man kann schon vorweg vermuten, dass Autobiographien vor allem Aussagen zur Subjektsphäre der Journalisten enthalten, also zur Herkunft, den Berufsmotiven und dem Aufgabenverständnis. Das hängt allerdings von der von den Verfassern jeweils gewählten „Tiefendimension“ ab. Herkunft und familiäres Umfeld Über ihre Herkunft berichten Journalisten in ihren Autobiographien allenfalls, wenn ihre Darstellung sich auch auf Kindheit und Jugend erstreckt. Das ist nicht immer der Fall. Die Fälle, in denen dies jedoch geschieht, deuten darauf hin, dass Journalisten eher der höheren Gesellschaftsschicht und gebildeten Kreisen entstammen. Das gilt beispielsweise für Margret Boveri [4], Henry R. Cassirer [3,4,5], Elisabeth Noelle-Neumann, Helene Rahms [4], Karl Silex [3,4,5] und viele andere. Karl Korn (1975, 10) war Sohn eines Lehrers und rechnete sich daher (nach britischem Sprachgebrauch) der „lower middle class“ zu. Er widmete einen beträchtlichen Teil seiner Autobiographie der Schilderung der sozio-ökonomischen Umgebung, in der er aufwuchs. Anders war dies im Kaiserreich in der Parteipresse der SPD gewesen. Deren Redakteure waren – wie Friedrich Stampfer (1957, 208) berichtet – zuvor in der Regel Arbeiter gewesen. Herkunft aus diesem Milieu war dann in der DDR hilfreich und gehörte zu einem „‘astreinen‘ Lebenslauf“ (Czepuck 1999, 197). Felix von Eckhardt (1967, 15), der sich in den 1920er Jahren seine Sporen als Journalist verdiente und in der Bundesrepublik Chef des Bundespresseamts wurde, wollte Journalist werden wie sein Vater und zeitweilig auch sein Großvater. „[G]erade wenn man sich der Politik oder dem politischen Journalismus verschreibt“, so konstatierte er, „ist die Herkunft selten ohne Bedeutung“ (ebd.). Auch über das familiäre Umfeld der Journalisten und Journalistinnen erfahren wir aus den Autobiographien nicht viel. Margret Boveri berichtet beispielsweise von einer schwierigen Beziehung zu ihrer (amerikanischen) Mutter [4]. Carola Stern teilt einiges Familiäre mit [5], und Hanns Joachim Friedrichs (1994, 228 ff) ist fast der einzige, der auch aus dem privaten Leben von der Trennung von seiner amerikanischen Frau und einer neuen langjährigen Liebesbeziehung spricht. Wechselnde Frauenbekanntschaften sind Hans Habe erwähnenswert [5]. Davon handelt jedoch mehr seine Autobiographie als Romancier, während
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derart Privates in den Erinnerungen an die journalistischen Gründerjahre nach 1949 ausgespart bleibt. Berufsmotive und Aufgabenverständnis Die Autobiographien bieten zahlreiche Belege für die Berufsmotive deutscher Journalisten und das ihnen eigene politisch-aktive Rollenverständnis. Bereits das erste, bisher ermittelte Werk dieser Art macht dies deutlich. Karl Heinrich Brüggemann (1855, 14) übernahm im Juli 1845 die Redaktion der Kölnischen Zeitung und begann seine Tätigkeit mit der „Veröffentlichung eines förmlichen [politischen] Antrittsprogrammes“. Wie er dieses umzusetzen versuchte, hat er dann rückblickend beschrieben. Josef Hofmann [3,4,5], der journalistisch vier Epochen des 20. Jahrhunderts begleitete (1916-1947), beschrieb seine Berufsmotive wie folgt: „Mein heimlicher Wunsch war es seit langem gewesen, politisch tätig zu werden >…@ entschloß ich mich nach mancherlei Überlegungen, nach meiner Rückkehr [aus dem Ersten Weltkrieg] Journalist zu werden und als solcher in politische Auseinandersetzungen einzugreifen.“ (Hofmann 1977, 18)
Laut Karl Silex wollte die ganze „Journalistengeneration, mit der ich angetreten bin, >…@ Politik machen“ (1968, 9) [3,4,5]. Dieser Wille sei „untrennbar mit unserer journalistischen Existenz verknüpft“ (ebd.) gewesen. Bei anderen Journalisten klingt noch stärker ein Macht- und Wirkungswille durch: „Die Presse zog mich aber mit ihrer schwarz-weißen Magie mehr und mehr an. Sie schien mir namentlich in den Berliner Spitzenleistungen in der Tat Ausdruck einer Großmacht, wie man sie gelegentlich auch nannte, und ich stellte mir vor, wie reizvoll es doch sei, wenn eigene Gedanken in solchen Druckerzeugnissen hunderttausendfach vervielfältigt verbreitet wurden und vielleicht sogar Wirkung erzielten.“ (Frankenfeld 1973, 30)
Die Beteiligung am Wiederaufbau in Deutschland war nach 1945 die Absicht vieler Journalisten, so auch des durch Radio und Fernsehen bekannt gewordenen Thilo Koch (der übrigens als einer der wenigen für seine Berufswahl auch die Suche nach einer „materiellen Lebensbasis“ [1985, 44] nannte) [5]: „Da ich mich jedoch nicht für geeignet hielt, direkt in die politische Arbeit zu gehen, Politiker zu werden, wollte ich als Schriftsteller das mir Mögliche beitragen.“ (Koch 1985, 34)
Dass die Absicht, Politik mit anderen Mitteln zu machen, Journalisten selbst über die Systemunterschiede hinweg verbindet, das lässt sich durch Karl-Eduard von Schnitzler belegen, den Moderator des berüchtigten Fernsehmagazins „Der schwarze Kanal“ in der DDR [6]. Er wollte sich aber zugleich von westlichen Journalisten absetzen: „Ich bin kein Lohnschreiber >…@. Für uns Sozialisten ist Journalismus gleichermaßen Profession wie Konfession, Beruf wie Bekenntnis, also Berufung. Mehr noch: Im Grunde fühle ich mich als Politiker, der den Beruf des Publizisten ausübt. Parteiarbeiter also, dem Skandale und Sensationshascherei fremd sind >…@.“ (von Schnitzler 1995, 151)
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Wie sehr die Chancen und Privilegien des Journalistenberufs dem Ichgefühl schmeicheln können, dokumentierte u.a. Peter von Zahn in seiner Autobiographie mit folgender Bemerkung [5]: „Ich will nicht leugnen, daß Ehrgeiz und Eitelkeit meine beruflichen Entscheidungen stark beeinflussten. Ich wollte von vielen gehört werden, um auf die wenigen einzuwirken, auf die es ankam.“ (von Zahn 1991, 379)
Gelegentlich zeigt sich das Bedürfnis, schon früh eine schicksalshafte Berufung walten zu sehen, geradezu ein Legenden-Motiv. Bereits als kleines Kind will die spätere WDRRedakteurin Carola Stern (2002, 189) ihrer Großmutter erklärt haben: „Oma, wenn ich groß bin, dann predige ich im Radio für dich“. Hanns Joachim Friedrichs (1994, 269), der Tagesschau-Moderator, war überzeugt, dass ein Journalist unabhängig und unbestechlich arbeiten müsse. „Wer sein Handwerk versteht, braucht kein Parteibuch“ (ebd.). Das hatte Friedrichs schon von Charles Wheeler, seinem Lehrmeister bei der BBC, eingeimpft bekommen: „daß ein seriöser Journalist ‚Distanz zum Gegenstand seiner Betrachtung‘ hält; daß er sich ‚nicht gemein‘ macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache‘ >…@ (ebd., 70). Vertreter einer solchen Auffassung finden sich freilich auch früher. Fritz Max Cahén (1963, 115), im Ersten Weltkrieg Korrespondent des Berliner Tageblatts in Kopenhagen, war überzeugt, „daß, um fruchtbaren politischen Journalismus betreiben zu können, der Korrespondent über ein beträchtliches Maß an Unabhängigkeit verfügen müsse“. Die Entscheidung für den Journalistenberuf war, wie man in den Autobiographien lesen kann, auch eine solche gegen einen anderen Beruf oder eine andere Zukunftsperspektive. Karl Heinrich Brüggemann (1855, 11) ging 1845 zur Kölnischen Zeitung, weil „sich die Aussichten auf eine ersprießliche Universitätslaufbahn in Preußen seit 1840 nicht gebessert hatten“. Vor einer ähnlichen Situation stand Jahrzehnte später Gustav Mayer aufgrund seiner jüdischen Abstammung [2]. Erst nach zehn Jahren, in denen er als Auslandskorrespondent für die Frankfurter Zeitung arbeitete, konnte er diese Funktion zugunsten einer Lehrtätigkeit aufgeben. Auch Immanuel Birnbaum entsagte der Universität: „Ich war noch nicht 25 Jahre alt, meine Professoren rieten mir zu einer akademischen Laufbahn, aber die Verführung, in Bremen Chefredakteur zu werden >…@ war groß, und ich gab ihr nach.“ (Birnbaum 1974, 90)
Karl Korn wäre lieber in den höheren Schuldienst gegangen [4]. Margret Boveri wollte anfänglich Architektin werden [4]. Freilich gab es auch Fälle, in denen der Journalismus eine Notlösung oder einen Umweg darstellte. Frank Thiess (1956, 376) sah sich zum Schriftsteller berufen und arbeitete als Journalist widerwillig, lediglich vorübergehend und des Geldverdienens wegen. Selbst wenn die Autoren ursprünglich dem Journalismus ferne Berufswünsche besaßen, laden sie doch zu einer symbolischen (Selbst-)Deutung ein. Günter Gaus strebte 1940 „eine Militärkarriere“ an [5], Carola Stern schwebte Tänzerin als Traumberuf vor [5]. Dass sie nach dem Krieg zunächst in der DDR Karriere gemacht und Spionage für die amerikanische CIA betrieben hatte, erschien ihr dann selbst wie „traumtänzerisch zwischen den Lagern“ (Stern 2001, 60). Selbstzweifel begleiteten sie auf ihrem weiteren Lebensweg, so dass ihr „Ärzte und Therapeuten [rieten] ein neues Berufsziel anzusteuern“ (ebd., 194).
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Aus der Berufsmotivation folgen das journalistische Aufgaben- und Rollenverständnis, das die Autobiographien an zahlreichen Stellen formulieren. Schon Friedrich Stampfer (1957, 31) ging es im Kaiserreich darum, aufzudecken, die Wahrheit herauszufinden, für Werte und Ideale einzutreten. Axel Eggebrecht (1981, 116), der in der Weimarer Republik bei der „Weltbühne“ arbeitete, bezeichnete sich als „Rebell gegen die herrschende Ordnung“ und bekannte: „Ich kam nicht in die Versuchung, mich mit der Umwelt auszusöhnen, die ich hatte verändern wollen“ (ebd., 238). Etwas vorsichtiger und facettenreicher hat sich Immanuel Birnbaum geäußert: „Im Rückspiegel des Blicks in die Vergangenheit sehe ich mich also nur als beobachtenden Begleiter des Flusses politischen Geschehens, allenfalls als Deuter und Werber für die handelnden Politiker, gelegentlich auch einmal als ihren kritischen Kontrolleur.“ (Birnbaum 1974, 336)
Dass sich in Deutschland ein ganzheitlicher Journalismus herausbildete, in dem sich verschiedene Funktionen und Rollenelemente miteinander verbinden ließen, dafür findet man auch in den Autobiographien Bestätigung. Dazu sei Karl Silex (1968, 85) zitiert: „Zu den Aufgaben der politischen Redakteure, die die Nachrichten redigierten und mit Überschriften versahen, gehörte es auch, die Meldungen, wenn nötig, durch kurze Kommentare zu erläutern“. Nach dem Bekenntnis von Carola Stern (2004, 350) fand sie im Meinungsjournalismus erst die Erfüllung ihres Ehrgeizes: „brannte ich darauf, zu kommentieren“. Subjektive Werte und politische Einstellungen Subjektive Werte und Einstellungen sind schon in den bisher angeführten Zitaten sichtbar geworden. Ein beträchtlicher Teil der politischen Journalisten, von denen Autobiographien vorliegen, standen der politischen Linken nahe. Friedrich Stampfer [3], Immanuel Birnbaum [3], Henry R. Cassirer [3,4,5], Carola Stern [5], Günter Gaus [5], Walter Fischer [3,4] und Wolf von Lojewski [5] waren Mitglieder der SPD: Gleiches gilt in Bezug auf die Kommunistische Partei in der Weimarer Republik für Axel Eggebrecht [3,4]. Walter Fischer [3,4] engagierte sich seinerzeit in der von der SPD abgespaltenen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD): Emil Carlebach, einer der Gründungsherausgeber der Frankfurter Rundschau, gehörte nach 1945 wieder der KPD an. In der DDR war Parteimitgliedschaft für eine journalistische Karriere Pflicht: Karl-Eduard von Schnitzler, Harry Czepuck und Erich Selbmann traten selbstverständlich der SED bei [6]. Eggebrecht (1981, 204) verließ die KPD, blieb aber ein „streitbarer LINKER“. Günter Gaus und Carola Stern traten später wieder aus der SPD aus [5]. Gaus (2006, 276) hat sich – etwas paradox – als „linken Konservativen“ bezeichnet, ähnlich wie der FAZHerausgeber Karl Korn (1975, 121) („Oppositionsgeist linker Neigungen mit erzkonservativer Grundprägung“). Eher einen Ausnahmefall unter den Selbstbiographen stellt Josef Hofmann dar, seit 1929 Redakteur der Kölnischen Volkszeitung und nach 1945 Mitbegründer der rheinischen CDU [3,4,5]. Ob Parteizugehörigkeit mit dem Journalistenberuf zu vereinbaren ist, darüber zeigen sich die Journalisten – ihren Autobiographien zufolge – uneinig. Neben Fürsprechern (vgl. Müller-Meiningen 1989) gibt es auch (in größerer Zahl) diejenigen, die Vorbehalte dagegen äußern oder die sich in ihrer eigenen Lebensführung letztlich dagegen entschieden.
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Publikumsbild Über das Publikumsbild der Journalisten bieten die Autobiographien relativ wenig Aufschluss. Doch gerade nach dem Dritten Reich sahen die jungen Journalisten in der Bevölkerung einen großen Aufklärungsbedarf. Peter von Zahn (1994, 15) glaubte als AmerikaKorrespondent bei den Radiohörern mit „tief sitzenden Vorurteilen >…@ rechnen“ zu müssen, ja ihm erschien dieser Hörer als „ein schwieriger Geselle“ (ebd., 17). „Er [der Journalist, J.W.] mußte den Deutschen beibringen, sich selbst zu verstehen. Sie waren ein halbes Jahrhundert lang darüber getäuscht worden oder hatten sich selbst getäuscht in der Rolle, die sie in der Welt spielten. Sie wußten nicht, warum sie als ewige Spielverderber galten. Dem Journalisten oblag es damals, sie darüber aufzuklären und ihnen voranzugehen beim Analysieren der Vergangenheit.“ (Zahn 1991, 258)
Herbert Riehl-Heyse (2000, 48) erklärte es im Rückblick auf die Nachkriegszeit für „fast unglaublich, mit wie wenig Informationen der Mensch glaubt[e], gut informiert zu sein >…@“. 9.2 Professionssphäre Ausbildung Die journalistischen Autobiographien unterrichten häufig darüber, welche Ausbildung die Verfasser/innen durchlaufen haben. Viele von ihnen hatten in der Weimarer Republik und im Dritten Reich ein akademisches Studium absolviert und zum Teil auch den Doktortitel erworben ([4]:Margret Boveri, Karl Korn, Elisabeth Noelle-Neumann; Karl Silex [3,4,5]). Jürgen Petersen schildert seine Erlebnisse in der neu geschaffenen NS-Reichspresseschule [4]. Ihr konnte sich Karl Korn offenbar entziehen [4]. Die Nachkriegsjournalisten berichten ebenfalls von ihrem Studium, haben es aber nicht alle abgeschlossen, weil sich auch ohne dieses Berufschancen eröffneten. Mehrere gingen durch ein Volontariat. In der Deutschen Allgemeinen Zeitung war nach der Darstellung von Karl Silex (1968, 85) in den 1920er Jahren jedoch so gut wie keiner jemals Volontär gewesen, auch er selbst nicht. Er hatte eine „berufsfremde Mannschaft“ (ebd.) um sich. Es fehlt nicht an Hinweisen darauf, dass der Journalismus früher für einen Begabungsberuf gehalten wurde und man glaubte, erst durch die Praxis zum richtigen Journalisten zu werden: „Das journalistische Handwerkszeug lernt man am besten an den Pannen“ – so Karl Silex (1968, 85). Der offene Berufszugangs nach 1949 konnte Herbert Riehl-Heyse (2000, 51) schreiben lassen, er sei „mehr durch Zufall doch Journalist geworden“. Gert von Paczensky (2003, 200), Leiter des umstrittenen TV-Magazins Panorama, sah die Ausbildung bei Nachrichtenagentur und Zeitungen für sich und seinesgleichen als hilfreich an, um Recherchieren zu lernen; und Hanns Joachim Friedrichs (1994, 16, 70) erfuhr Ähnliches beim Berliner Telegraf und bei der BBC.
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Informationsbeschaffung Über die Wege der Informationsbeschaffung geben die Autobiographien in unterschiedlichem Maße Auskunft. Fritz Max Cahén hat beispielsweise die Bedeutung der neutralen Länder für die Nachrichtenbeschaffung im Ersten Weltkrieg betont [2]. Auch im Dritten Reich beschritt man diesen Weg. Josef Hofmann beschreibt, wie man sich bei der Kölnischen Zeitung zu behelfen suchte [3,4,5]: „[…] werteten wir die französischen und englischen Zeitungen zu Berichten aus, die wir als Eigenberichte aus Paris oder London frisierten, indem wir uns sagten, daß wir ja nur mit einer Verzögerung von wenigen Tagen dasselbe wie ein Berichterstatter in Paris oder London täten, nämlich die dortige Presse auszuwerten. Eine weitere Quelle erschlossen wir uns im Rundfunk.“ (Hofmann 1977, 87)
Auch aus späterer Zeit wird über die Informationsbeschaffung durch Nutzung anderer Zeitungen und Medien berichtet. Dagegen ist von Recherchestrategien, insbesondere investigativen, wenig die Rede. Sie waren früher unüblich. Gängig war die Kontaktpflege zu Politikern und anderen Informanten (s.u.). Kollegenorientierung Die Zeitungslektüre der Journalisten weist zugleich auf die Kollegenorientierung, die nach den empirischen Befunden im Journalismus groß ist (Reinemann 2003). Das ist aber nichts Neues, sie ist seit langem schon üblich. Überraschend war für Josef Hofmann, als er in die Kölner Redaktion wechselte, „die Fülle der Zeitungen, die gelesen werden konnten und gelesen werden mussten, sei es um allseits orientiert zu bleiben und um die Konkurrenz zu beobachten, sei es, um zu erfahren, wo mit einem Leitartikel oder einer Glosse einzuhaken war.“ (Hofmann 1977, 52)
Die Journalisten berichten in den Autobiographien vielfach über ihre persönlichen Kontakte zu Kollegen, Intellektuellen und Politikern, mit denen sie Umgang hatten. Dieser war häufig informeller Art. Man traf sich in Cafés, Bars und Restaurants: „Wertvolle Informationen“, so berichtet Alfred Frankenfeld (1973, 72), „bezog ich >…@ in einer Gruppe von Wirtschaftsjournalisten, einem geschlossenen Kreis, der >…@ allwöchentlich am Donnerstag im ‚Bürgerhaus‘ [in Hamburg] >…@ zu einer Teestunde vereinigt war“. Selbst unter dem NaziRegime gab es dergleichen. „Informationen anderer Art“, so Silex, „warf ein wöchentlicher Mittagstisch in der ‚Feuerzange‘ ab, einem Weinrestaurant im Zeitungsviertel. >…@ Hier wurde über Interna aus dem Propagandaministerium und aus der Partei, wie sie mir als Außenstehendem sonst kaum zugänglich waren, auf das freimütigste gesprochen.“ (Silex 1968, 183)
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9.3 Institutionssphäre Innere Pressefreiheit Abhängig von den jeweiligen (Zeit-)Umständen und den individuellen Bedingungen war die innere Pressefreiheit, d.h. die Möglichkeit, selbständig und frei von verlegerischen oder anderen internen Eingriffen als Journalist zu arbeiten. Hermann Cardauns hat Anfang des 20. Jahrhunderts sein Verhältnis zu dem Verleger Julius Bachem „wohl als ideal“ bezeichnet (Cardauns 1912, 102). Er schilderte auch ein kollegiales Arbeitsklima. Dieses scheint auch im Dritten Reich bestanden zu haben, wo der äußere Druck das Zusammengehörigkeitsgefühl der Redaktion festigte, ja sie geradezu zur „Schicksalsgemeinschaft“ (Silex 1968, 122) machte. Wurde der Redaktion ein politischer Verlagsdirektor vor die Nase gesetzt, wie es beim Berliner Tageblatt geschah, so konnte von innerer Pressefreiheit keine Rede mehr sein. Das Problem aktualisierte sich in der privatwirtschaftlichen Presse der Bundesrepublik dann wieder in den fünfziger Jahren. Alfred Frankenfeld (1973, 168) sprach von „[u]nserem ständigen Kampf um mehr Pressefreiheit, namentlich auch im inneren Verhältnis zwischen Eigentümern eines Blattes und den Redakteuren“. Für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk gibt es unterschiedliche Aussagen. Laut Carola Stern (2004, 341) war Klaus von Bismarck, der seinerzeitige Intendant des WDR, ein toleranter, liberaler Geist: „So weit wie irgend möglich, ließ er uns gewähren“. Das hinderte die Redakteure aber nicht daran, mehr Mitwirkung und mehr Mitbestimmung zu fordern. Demgegenüber haben sich andere TV-Journalisten über negative Konsequenzen des Parteieneinflusses auf die Stellenbesetzung und innere Rundfunkfreiheit beklagt (vgl. Helmensdorfer 1979). Arbeitsbedingungen und Arbeitszufriedenheit Journalisten haben einen anstrengenden Beruf, wie aus den Autobiographien immer wieder hervorgeht. Dabei haben sich die Arbeitsbedingungen im Laufe der Zeit verändert und werden jeweils von den Eigenschaften des Mediums bestimmt. Hermann Cardauns hat schon für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg die Fülle der Tätigkeiten im Redaktionsalltag beschrieben und über die ständigen Störungen geklagt. Zumal auf die Minute zu arbeiten, darin sah er einen leidigen Zwang (Cardauns 1912, 97): „Bald Stunden der tiefen Entmutigung, bald hoher Genugtuung – das ist Menschenschicksal und vollends Schicksal des Journalisten in wildbewegter Zeit“ (ebd., 110). Ähnliche Aussagen sind auch für andere Journalisten charakteristisch: „[H]abituelle Hast, Unrast, der Zeitdruck >...@, zwingen einen bis zu einem gewissen Grade zur Flüchtigkeit oder zu gewissen Tricks“ (Müller-Meiningen 1989, 145). Aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg werden auch einschneidende technische Probleme und materielle Mängel überliefert: „Papierknappheit beschränkte den journalistischen Spielraum“ (Silex 1968, 280; vgl. auch Carlebach 1985, 132). Hinzu kam die Einflussnahme durch die alliierten Presseoffiziere. Wie ein Journalist durch ein Medium geradezu konditioniert werden kann, hat Günter Wallraff eindrücklich beschrieben, infolge seiner mehrmonatigen getarnten Mitgliedschaft in der Redaktion der BILD-Zeitung, wo er fragwürdige journalistische Praktiken kennen lernte [5]:
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„Ich fange an, mir selbst fremd zu werden. >…@ Ich ertappe mich dabei, dass ich nicht mehr in der Lage bin, Freunden ernsthaft zuzuhören. Steckt ja doch keine Geschichte drin. Alles wird unmittelbar sortiert nach dem Gesichtspunkt der Verwendbarkeit. Für Bild“ (Wallraff 1977, 211).
Trotz der hohen Arbeitsbelastung zeigen Journalisten häufig eine große Arbeitszufriedenheit. Belege gibt es dafür in den journalistischen Autobiographien zahlreiche: Immanuel Birnbaum (1974, 343) bekannte im Rückblick: „Ich habe meinen Beruf als Zeitungsmann so sehr geliebt, daß er mir eigentlich nie als Mühe und Arbeit erschien“. Carola Stern (2004, 13) hat von ihren „glücklichsten Berufsjahren im WDR“ gesprochen, gleichwohl aber über die Großbetrieblichkeit des Senders, in dem sie nur ein „Rädchen“ war, geklagt (ebd., 340). Wolf von Lojewski (2001, 302) bekannte, vierzig Jahre „in diesem schönsten und interessantesten aller Berufe“ gearbeitet zu haben: „Und immer hat es Spaß gemacht“ (ebd.). Etwas vorsichtiger hört es sich bei Herbert Riehl-Heyse (2000, 52) an: „Bereut habe ich später, soweit ich mich erinnere, die Wahl meines Berufs eher selten“. Diese positiven Bekundungen bedeuten jedoch nicht, dass keine Erfahrungen gemacht wurden, die die Arbeitszufriedenheit beeinträchtigten. Dafür konnten unterschiedliche Ursachen ausschlaggebend sein. Im Dritten Reich vor allem die politischen Umstände und deren Folgen für die journalistische Arbeit. „[U]nlustig“, so Karl Silex (1968, 128) „wurden die Nachrichten redigiert“. Margret Boveri (1982, 233) verehrte zwar Paul Scheffer, den Chefredakteur des Berliner Tageblatts, hatte aber auch zu lernen, „mit Leuten zusammen arbeiten zu müssen, die ich zum Teil nicht mochte, die zum Teil mich ablehnten. Eifersüchte, Rivalitäten, Intrigen. Die Möglichkeiten von Gruppenbildungen“. Das machte die Journalistin „manchmal kreuzunglücklich“ (ebd., 243). Wenn die Journalisten in späteren Jahrzehnten in ihrem Beruf unzufrieden waren, so aus anderen Gründen. Manche klagen über unzureichende Bezahlung und allzu große Sparsamkeit ihrer Arbeitgeber. Andere haderten mit den Arbeitsbedingungen. Günter Gaus (2006, 167) wechselte von Hamburg in die Bonner Redaktion des Spiegel „immer auf der Suche nach einem halbwegs erträglichen Arbeitsplatz im damaligen deutschen Nachrichtenmagazin“. Carola Stern (2001, 249) enttäuschten schließlich die Arbeitsverhältnisse im öffentlich-rechtlichen Rundfunk: „Meine Berufswelt, in der ich einst so glücklich war, ist mir fremd geworden“. Vor allem bei Erich Helmensdorfer, dem TV-Journalist, der seine Autobiographie mit dem Titel „Meine Anstaltsjahre“ versah, mündeten die eigenen Erfahrungen in eine harsche Kritik des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. „Das Fernsehen gehört den Parteien“ (Helmensdorfer 1979, 106). Den Einfluss der Politiker, Parteien und Gremien auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben auch andere Journalisten kritisiert, z.B. Dagobert Lindlau[5]. Hanns Joachim Friedrichs konnte dem jedoch nicht beipflichten: „In Häusern, die nicht von unten bis oben in die Abhängigkeit einer einzigen Partei geraten sind, haben sie [Parteibuchkarrieren] nur selten die Wirkung, die sich die Fernsteurer davon versprechen.“ (Friedrichs 1994, 268)
9.4 Gesellschaftssphäre Einige der Journalisten betten die Lebenserinnerungen in ihren Autobiographien in den zeitgeschichtlichen Gesellschaftskontext ein, andere hingegen beschränken sich auf ihre
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Professionssphäre. Zu den ersteren gehören z.B. die Werke von Karl Korn (1975) und Margret Boveri (1977). Diese Autoren vermitteln auch etwas vom Zeitgeist und dem Meinungsklima, in dem sie aufgewachsen sind, gelebt und gearbeitet haben. Pressefreiheit Es überrascht kaum, dass in den journalistischen Autobiographien die Pressefreiheit häufig ein Thema ist. Denn sie stellt die entscheidende Existenzgrundlage für einen eigenständigen Journalismus dar. Schon in der ersten, hier erwähnten Autobiographie Brüggemanns von 1855 geht es großenteils um die Pressefreiheit [1]. Auch später hing sie von den politischen Umständen ab. Im Ersten Weltkrieg wurde sie eingeschränkt und vor allem dann unter der nationalsozialistischen Herrschaft. Wie das geschah und welche Folgen das hatte, ist in allen Autobiographien aus dem Dritten Reich Gegenstand der Darstellung. Der Staat reagierte auf Verfehlungen mit seinen Machtmitteln: Elisabeth Noelle erhielt eine Rüge und die Kündigung bei der Wochenzeitung Das Reich wegen eines Artikels über Roosevelts Frau (Noelle-Neumann 2006, 102, 105), Helene Rahms (1997, 98) bekam ein kurzzeitiges Schreibverbot. Karl Korn (1975, 311-313) erhielt wegen einer Kunstkritik zwei Jahre Berufsverbot und wurde zum Kriegsdienst eingezogen. Die betreffenden Autobiographien machen zahlreiche Aussagen über die Bedingungen, unter denen man als Journalist in der nationalsozialistischen Diktatur arbeiten musste. Alle Verfasser/innen nehmen in Anspruch, so weit wie möglich Distanz gewahrt und die „Kunst des Zwischen-den-Zeilen-Schreibens ausgenutzt“ (Frankenfeld 1973, 95) zu haben. Helene Rahms (1997, 34) übernahm diesen Ausdruck sogar als Titel für ihre Autobiographie und betonte den „Ehrgeiz der Redakteure >…@, die Grenzen des Erlaubten so weit wie möglich zu ziehen“. Hofmann (1977, 108) hat von einem „Dechiffriergitter“ gesprochen, mit dem man den Lesern möglichst viele hintergründige Informationen zu vermitteln suchte. Dazu gehörten beispielsweise die amtliche Quellenangabe und der Gebrauch von Anführungszeichen: „Mit solchen Feinheiten mußte damals eine Redaktion arbeiten, die eingeklemmt war in dem Dreieck ihres Willens nach Objektivität, ihres Wunsches, die Zeitung am Leben zu halten und den strengen Anweisungen des Propagandaministeriums.“ (ebd., 110)
Wie andere Chefredakteure auch, versuchte Karl Silex (196, 121) nach eigenen Worten „unsere Zeitungen vor der Gleichschaltung der nationalsozialistischen Parteipresse zu bewahren“. Exemplarisch lässt sich dafür ferner ein Zitat von Margret Boveri anführen: „Es ist nicht möglich, auf das Ganze, was hier geschieht, eine verändernde Wirkung auszuüben. Es ist aber wohl möglich, in dem begrenzten Bereich, in dem man lebt und arbeitet, in einer Gegenhaltung, sich seinem Gewissen entsprechend zu verhalten.“ (Boveri 1982, 292 f.)
Mit den Werken von Henry L. Cassirer (1992) und Walter Fischer (2005) liegen auch Autobiographien von Journalisten vor, die sich nur durch Flucht und Emigration der Gefahr für Leib und Leben entziehen konnten. Die Pressefreiheit ist jedoch nicht nur ein Thema in den Autobiographien aus dem Dritten Reich. Wie es darum in der SBZ/DDR bestellt war, darüber ist einiges von Rudolf Reinhardt (bis 1958 in der DDR) und Peter Pragal (Westkorrespondent) zu erfahren [6].
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Doch auch in der Bundesrepublik Deutschland gab es Konflikte um die Pressefreiheit. Der SZ-Redakteur Ernst Müller-Meiningen jr. sah Ende der 1980er Jahre einen „Ausverkauf der Pressefreiheit“ drohen: „Aber auch in freiheitlich organisierten Ländern wird die Pressefreiheit immer mehr eingeengt im Zeichen fortschreitender Rationalisierung und Automatisierung mit dem Endergebnis unerbittlicher Konzentration.“ (Müller-Meiningen 1989, 155)
Selbst die „neuen Medien“ forcierten seiner Ansicht nach diesen Prozess. Das Internet kannte er freilich noch nicht. Soziale Beziehungen Für die sozialen Beziehungen von Journalisten zu Politikern, Regierung und Kollegen wurden schon Belege angeführt. Welche Grenzen es dafür gibt oder welche Gefahren darin liegen (können), hat Wolf von Lojewski mit folgenden Worten umschrieben: „Für eine wahre Freundschaft sind die Interessen zu unterschiedlich, Wer sich als Journalist zu stark für einen der Akteure oder eine Sache engagiert, wird am Ende nur Assistent der Politiker bleiben.“ (Lojewski 2001, 214)
Image Nicht neu scheint auch zu sein, dass Journalisten in Deutschland ein nur geringes gesellschaftliches Ansehen genießen (Donsbach et al. 2009). Ihr Image ist schlecht. Anzeichen dafür sind schon früher vorhanden, auch aus der Nachkriegszeit. Herbert Riehl-Heyse (2000, 50) hat von einer „windigen Profession“ gesprochen. Und Wolf von Lojewski (2001, 71) erzählt, dass „Onkel und Tanten, die früher noch gehofft hatten, ich könnte ein brauchbarer Landwirt oder gar Beamter werden >…@ mit einem gewissen Mitleid auf mich zu schauen [begannen]. Denn Journalist war damals durchaus kein Traumberuf“. 10 Ausblick Journalistische Autobiographien bilden eine Quelle der Journalismusforschung vor allem retrospektiv, also in eine Zeit hinein, in der die sozialwissenschaftlichen Methoden noch nicht angewandt wurden bzw. nicht mehr greifen. Insofern geht es hier um einen Beitrag zur Journalismusgeschichte, ja zur journalistischen Berufsgeschichte. Auch gewinnt man aus den Autobiographien etwas für die Mediengeschichte, d.h. für die Geschichte der Medien, in denen die betreffenden Journalisten gearbeitet haben. Autobiographien sind keine im statistischen Sinne „repräsentative“ Quelle. Verfasst haben solche Werke nämlich weniger „Durchschnittsjournalisten“ als herausragende Vertreter dieses Berufs und solche mit einer abwechslungsreichen, umtriebigen Lebensführung. Trotz dieses Sachverhalts und des jeweils kritisch zu würdigenden wissenschaftlichen Werts besitzen die Autobiographien einen beträchtlichen Quellenwert und eine bisher nicht ausgeschöpfte Aussagekraft. Damit können auch Befunde der repräsentativen modernen Journalismusforschung verglichen und überprüft werden.
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Literaturverzeichnis Aichinger, I. (1977): Selbstbiographie. In: W. Kohlschmidt & W. Mohr (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Berlin [u.a.]: de Gruyter, 801-819. Aichinger, I. (1998): Probleme der Autobiographie als Sprachkunstwerk. In: G. Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung (2. und erw. Auflage). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 170-199. D’Ester, K. (1941): Die Presse und ihre Leute im Spiegel der Dichtung. Eine Ernte aus drei Jahrhunderten. Würzburg: Triltsch. Donsbach, W. (1987): Journalismusforschung in der Bundesrepublik: Offene Fragen trotz ‚Forschungsboom’. In: J. Wilke (Hrsg.): Zwischenbilanz der Journalistenausbildung. Konstanz: Oelschläger, 105-142. Donsbach, W., Rentsch, M., Schlielicke, A.-M. & Degen, S. (2009): Entzauberung eines Berufs. Was die Deutschen vom Journalismus erwarten und wie sie enttäuscht werden. Konstanz: UVK. Engesser, E. (2005): Journalismus in Fiktion und Wirklichkeit. Ein Vergleich des Journalistenbildes in literarischen Bestsellern mit Befunden der empirischen Kommunikationsforschung. Köln: Halem. Holdenried, M. (2000): Autobiographie. Stuttgart: Reclam. Langenbucher, W.R. (2009): Reporter in eigener Sache. Lektüregänge in journalistischen Autobiografien. In: W. Duchkowitsch, F. Hausjell, H. Pöttker & B. Semrad (Hrsg.): Journalistische Persönlichkeit. Fall und Aufstieg eines Phänomens. Köln: Halem. Misch, G. (1998): Begriff und Ursprung der Autobiographie (1907/1949). In: G. Niggl (Hrsg.): Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung (2. und erw. Auflage). Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 33-54. Neumann, B. (1970): Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie. Frankfurt am Main: Athenäum. Reinemann, C. (2003): Medienmacher als Mediennutzer. Kommunikations- und Einflussstrukturen im politischen Journalismus der Gegenwart. Köln, Weimar, Wien: Böhlau. Scholl-Latour, P. (2007): Zwischen den Fronten. Erlebte Zeitgeschichte. Berlin: Propyläen. Schwab, S. (1981): Autobiographik und Lebenserfahrung. Versuch einer Typologie deutschsprachiger autobiographischer Schriften zwischen 1965 und 1975. Würzburg: Königshausen & Neumann. Sperlich, W. (1975): Der Beruf des Journalisten und Redakteurs im Spiegel von Autobiographien und Memoiren (unveröffentlichte Magisterarbeit, Ludwig Maximilians Universität München). München. von Studnitz, C. (1983): Kritik des Journalisten. Ein Berufsbild in Fiktion und Realität. München [u.a.]: Saur. Wagner-Egelhaaf, M. (2005): Autobiographie (2. aktualisierte und erw. Auflage). Stuttgart, Weimar: Metzler. Weischenberg, S. (1992): Journalistik. Theorie und Praxis aktueller Medienkommunikation. Opladen: Westdeutscher Verlag Wilke, J. (2008): Über den Tag hinaus. Journalisten als Buchautoren. In: Communicatio Socialis, 41(2), 171-191.
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Anhang: Bibliographie journalistischer Autobiographien (nach Epochen gegliedert) [1] Vor-/Nachmärz (19. Jh.) Karl Heinrich Brüggemann (1855): Meine Leitung der Kölnischen Zeitung und die Krisen der preußischen Politik von 1846-1855. Leipzig. Karl Biedermann (1886): Mein Leben und ein Stück Zeitgeschichte. Breslau. Ludwig Karl Adolf Pietsch (1893/94): Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens (2 Bände, Neuausg.). Berlin. Adam Trabert (1912): Historisch-literarische Erinnerungen. Kempten, München.
[2] Deutsches Kaiserreich (1871-1918) Karl Biedermann (1886): Mein Leben und ein Stück Zeitgeschichte. Breslau. Ludwig Karl Adolf Pietsch (1893/94): Wie ich Schriftsteller geworden bin. Der wunderliche Roman meines Lebens (2 Bände). Berlin. Julius von Eckardt (1910): Lebenserinnerungen (2 Bände). Leipzig. Hermann Cardauns (1912): Aus dem Leben eines deutschen Redakteurs. Köln. Julius Bachem (1913): Erinnerungen eines alten Publizisten und Politikers. Köln. Walther Schulte vom Brühl (1918): Sechs Jahrzehnte. Erinnerungen. Stuttgart. Paul Lindau (1916): Nur Erinnerungen (2 Bände, 5. u. 6. Auflage 1919). Stuttgart, Berlin. Erwin Rosen (1922): Allen Gewalten zum Trotz. Lebenskämpfe, Niederlagen, Arbeitssiege eines deutschen Schreibersmannes (12. Auflage). Stuttgart. Adolf Damaschke (1925): Aus meinem Leben (neue durchgearb. Auflage Berlin 1928). Leipzig, Zürich. Hanns von Gumppenberg: Lebenserinnerungen. Aus dem Nachlass des Dichters. Berlin, Zürich 1929. Fedor von Zobeltitz (1934): Ich hab so gern gelebt. Die Lebenserinnerungen. Berlin. Rudolf Presber (1935): Ich gehe durch mein Haus. Erinnerungen. Stuttgart, Berlin. Theodor Wolff (1936): Der Marsch durch zwei Jahrzehnte. Amsterdam. Hermann Sinsheimer (1953): Gelebt im Paradies. Erinnerungen und Begegnungen. München. Hans von Hülsen (1947): Zwillingsseele. Denkwürdigkeiten aus einem Leben zwischen Kunst und Politik (2 Bände). München. Eugen Kalkschmidt (1947): Vom Memelland bis München. Erinnerungen. Hamburg. Carl Hagemann (1948): Bühne und Welt. Erlebnisse und Betrachtungen eines Theaterleiters. Wiesbaden. Gustav Mayer (1949): Erinnerungen. Vom Journalisten zum Historiker der deutschen Arbeiterbewegung (Reprint Hildesheim [u.a.] 1993). Zürich, München. Bernard Guttmann (1950): Schattenriss einer Generation. 1888-1919. Stuttgart. August Heinrich Kober (1956): Einst in Berlin. Rhapsodie 14. Nach dem Todes des Verfassers hrsg. u. bearb, v. Richard Kirn (Gütersloh 1959). Hamburg. Friedrich Stampfer (1957): Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben. Köln. Richard Katz (1958): Gruß aus der Hängematte. Heitere Erinnerungen (2. Auflage). RüschlikonZürich. Otto Flake (1960): Es wird Abend. Bericht aus einem langen Leben. Gütersloh. Franz Jung (1961): Der Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit (Sonderausgabe Hamburg o.J.). Neuwied, Berlin 1961. Fritz Max Cahén (1963): Der Weg nach Versailles. Erinnerungen 1912-1919. Schicksalsepoche einer Generation. Boppard am Rhein. Frank Thiess (1963): Verbrannte Erde. Wien. Hamburg. Theodor Heuss (1963): Erinnerungen 1905-1933 (Tb. Frankfurt am Main 1965). Tübingen.
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Edgar Stern-Rubarth (1964): …aus zuverlässiger Quelle verlautet. Ein Leben für Politik und Presse. Stuttgart. Egmont Zechlin (1993): Erlebtes und Erforschtes 1896-1919. Göttingen, Zürich.
[3] Weimarer Republik (1918-1933) Alfred Kerr (1928): Es sei wie es wolle, Es war doch so schön! Berlin. Kurt von Stutterheim (1938): Zwischen den Zeiten. Erinnerungen. Berlin. Hans von Hülsen (1947): Zwillingsseele. Denkwürdigkeiten aus einem Leben zwischen Kunst und Politik (2 Bände). München. Paul Fechter (1949): An der Wende der Zeit. Menschen und Begegnungen. Gütersloh. Bernard Guttmann (1950): Schattenriss einer Generation. 1888-1919. Stuttgart. Norbert Jacques (1950): Mit Lust gelebt. Roman meines Lebens (St. Ingbert 2004). Hamburg. Hermann Sinsheimer (1953): Gelebt im Paradies. Erinnerungen und Begegnungen. München. Friedrich Stampfer (1957): Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben. Köln. Richard Katz (1958): Gruß aus der Hängematte. Heitere Erinnerungen (2. Auflage). RüschlikonZürich. Ernst Niekisch (1958): Gewagtes Leben. Köln, Berlin. Max Brod (1960): Streitbares Leben. Autobiographie. München. Ludwig Marcuse (1960): Mein Zwanzigstes Jahrhundert. Auf dem Weg zu einer Autobiographie. München. Franz Jung (1961): Der Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit (Sonderausgabe Hamburg o.J.). Neuwied, Berlin. Theodor Heuss (1965): Erinnerungen 1905-1933 (Tübingen 1963). Tb. Frankfurt am Main 1965. Edgar Stern-Rubarth (1964): …aus zuverlässiger Quelle verlautet. Ein Leben für Politik und Presse. Stuttgart. Felix von Eckardt (1967): Ein unordentliches Leben. Lebenserinnerungen. Düsseldorf, Wien. Karl Silex (1968): Mit Kommentar. Lebensbericht eines Journalisten. Frankfurt am Main. Alfred Frankenfeld (1973): Zum Sehen geboren. Ein Leben für Presse und Parlament. Hamburg. Immanuel Birnbaum (1974): Achtzig Jahre dabei gewesen. Erinnerungen eines Journalisten. München. Axel Eggebrecht (1975): Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche (Tb. 1981). Reinbek bei Hamburg. Josef Hofmann (1977): Journalist in Republik, Diktatur und Besatzungszeit. Erinnerungen 19161947. Mainz. Hans Heinz Stuckenschmidt (1979): Zum Hören geboren. Ein Leben mit der Musik unserer Zeit. München. Walter Dirks (1983): Der singende Stotterer. Autobiographische Texte. München. Hans Habe (1986): Ich stelle mich. Meine Lebensgeschichte. München, Berlin. Henry R. Cassirer (1992): Und alles kam anders… Ein Journalist erinnert sich. Konstanz. Theodor Wolff (1992): Erlebnisse, Erinnerungen, Gedanken im südfranzösischen Exil. Bearb. v. Margit Bröhan. Boppard am Rhein. Walter Fischer (2005): Ein Journalist gegen Hitler. Erinnerungen. Berlin.
[4] Drittes Reich (1933-1945) Felix von Eckardt (1967): Ein unordentliches Leben. Lebenserinnerungen. Düsseldorf, Wien. Karl Silex (1968): Mit Kommentar. Lebensbericht eines Journalisten. Frankfurt am Main. Alfred Frankenfeld (1973): Zum Sehen geboren. Ein Leben für Presse und Parlament. Hamburg. Immanuel Birnbaum (1974): Achtzig Jahre dabei gewesen. Erinnerungen eines Journalisten. München.
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Karl Korn (1975): Lange Lehrzeit. Ein deutsches Leben (Tb. München 1979). Frankfurt am Main. Hans-Georg v. Studnitz (1975): Seitensprünge. Erlebnisse und Begegnungen. Stuttgart. Axel Eggebrecht (1975): Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche (Tb. 1981). Reinbek bei Hamburg. Margret Boveri (1977): Verzweigungen. Eine Autobiographie. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Uwe Johnson (Tb-Ausgaben München 1982, Frankfurt 1996). München. Josef Hofmann (1977): Journalist in Republik, Diktatur und Besatzungszeit. Erinnerungen 19161947. Mainz. Fritz Sänger (1978): Verborgene Fäden. Erinnerungen und Bemerkungen eines Journalisten. Bonn. Hans Heinz Stuckenschmidt (1979): Zum Hören geboren. Ein Leben mit der Musik unserer Zeit. München. Klaus Mehnert (1981): Ein Deutscher in der Welt. Erinnerungen 1906-1981. Stuttgart. Jürgen Petersen (1981): Journalist im Dritten Reich. In: Frankfurter Hefte, 36(3), 41-49 & 36(4), 4148. Werner von Lojewski (1985): Tausend Jahre – durch meine Brille. Ein Journalistenleben im Dritten Reich. Freiburg im Breisgau. Eich Pfeiffer-Belli (1986): Junge Jahre im alten Frankfurt und eines langen Lebens Reise. Wiesbaden, München. Henry R. Cassirer (1992): Und alles kam anders… Ein Journalist erinnert sich. Konstanz. Helene Rahms (1997): Zwischen den Zeilen. Mein Leben als Journalistin im Dritten Reich. Bern [u.a.]. Walter Fischer (2005): Ein Journalist gegen Hitler. Erinnerungen. Berlin. Elisabeth Noelle-Neumann (2006): Die Erinnerungen. München.
[5] Bundesrepublik Deutschland (inklusive Westzonen) (1945-2009) Felix von Eckardt (1967): Ein unordentliches Leben. Lebenserinnerungen. Düsseldorf, Wien. Karl Silex (1968): Mit Kommentar. Lebensbericht eines Journalisten. Frankfurt am Main. Robert Lembke (1971): Das muß mir passieren. Erlebtes und Erdachtes (Tb. 1972). München. Alfred Frankenfeld (1973): Zum Sehen geboren. Ein Leben für Presse und Parlament. Hamburg. Immanuel Birnbaum (1974): Achtzig Jahre dabei gewesen. Erinnerungen eines Journalisten. München. Hans-Georg v. Studnitz (1975): Seitensprünge. Erlebnisse und Begegnungen. Stuttgart. Hans Habe (1977): Im Jahre Null. Rev. u. erw. Ausgabe München. Josef Hofmann (1977): Journalist in Republik, Diktatur und Besatzungszeit. Erinnerungen 19161947. Mainz. Günter Wallraff (1977): Der Aufmacher. Der Mann, der bei BILD Hans Esser war. Köln. Fritz Sänger (1979): Verborgene Fäden. Erinnerungen und Bemerkungen eines Journalisten. Bonn. Erich Helmensdorfer (1979): Meine Anstaltsjahre. Freud und Leid im Fernsehen. Percha. Klaus Mehnert (1981): Ein Deutscher in der Welt. Erinnerungen 1906-1981. Stuttgart. Walter Kolbenhoff (1984): Schellingstraße 48. Erfahrungen aus Deutschland (Neuaufl. München 2008). Frankfurt am Main. Thilo Koch (1985): Meine Berliner Jahre. Erinnerungen an den Rundfunk der Nachkriegszeit. Berlin. Egon Carlebach (1985): Zensur ohne Schere. Die Gründerjahre der „Frankfurter Rundschau“ 1945/47. Frankfurt. Ernst Langendorf/Georg Wulfius (1985): In München fing’s an. Presse – Parteien – Rundfunk. München. Hans Habe (1986): Ich stelle mich. Meine Lebensgeschichte. München, Berlin. Eich Pfeiffer-Belli (1986): Junge Jahre im alten Frankfurt und eines langen Lebens Reise. Wiesbaden; München.
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Ernst Müller-Meiningen jr. (1989): Orden, Spießer, Pfeffersäcke. Ein liberaler Streiter erinnert sich. Zürich. Alfred Joachim Fischer (1991): In der Nähe der Ereignisse. Als jüdischer Journalist in diesem Jahrhundert. Berlin. Peter von Zahn (1991): Stimme der ersten Stunde. Erinnerungen 1913-1951. Stuttgart. Peter von Zahn (1994): Reporter der Windrose. Erinnerungen 1951-1964. Stuttgart. Henry R. Cassirer (1992): Und alles kam anders… Ein Journalist erinnert sich. Konstanz. Harry Pross (1993): Memoiren eines Inländers. 1923-1993. München. Hanns Joachim Friedrich (1994): Journalistenleben. München. Georg Hensel (1994): Glück gehabt. Szenen aus einem Leben (Tb. 1995). Frankfurt am Main, Leipzig. Herbert Suhr (1996): Schreib das auf, Herbert! 40 Jahre beim „Stern“. Hamburg. Herbert Riehl-Heyse (1998): Ach, du mein Vaterland. Gemischte Erinnerungen an 50 Jahre Bundesrepublik (Tb. 2000). München. Helene Rahms (1999): Die Clique. Journalistenleben in der Nachkriegszeit. Bern [u.a.]. Marcel Reich-Ranicki (1999): Mein Leben. München. Carola Stern (2001): Doppelleben (Tb.-Ausgaben Reinbek 2001 und 2004). Köln. Wolf v. Lojewski (2001): Live dabei. Erinnerungen eines Journalisten (Tb. 2003). BergischGladbach. Gert v. Paczensky (2003): Journalist mit Appetit. Köln. Fritz J. Raddatz (2003): Unruhestifter. Erinnerungen (Tb. Berlin 2005). München. Günter Gaus (2004): Widersprüche. Erinnerungen eines linken Konservativen. Berlin. Hellmut Karasek (2004): Auf der Flucht. Erinnerungen (Tb. 2006). Berlin. Rudi Michel (2004): Deutschland ist Weltmeister! Meine Erinnerungen an das Wunder von Bern 1954. München. Dagobert Lindlau (2006): Reporter. Eine Art Beruf. München. Botho Kirsch (2007): Ein Fass Honig und ein Löffel Gift. Kalter Krieg auf kurzer Welle. Norderstedt. Ralph Giordano (2007): Erinnerungen eines Davongekommenen. Die Autobiographie (Tb. 2008). Köln. Kerstin Dombrowski (2008): Titten, Tiere, Tränen, Tote. Eine Boulevardjournalistin auf der Jagd. Reinbek bei Hamburg. Henriette Kaiser/Joachim Kaiser (2008): ich bin der letzte Mohikaner. Berlin. Uwe Gerig (2009): Die Stasi nannte mich Reporter. Journalist in Ost+West. Eine merkwürdige Karriere im geteilten Deutschland. Norderstedt.
[6] DDR (inklusive SBZ) (1945-1990) Brigitte Klump: Das rote Kloster. Eine deutsche Erziehung. Produktion der Macht-Elite in der DDR. Hamburg 1978. Rudolf Reinhardt: Zeitungen und Zeiten. Journalist im Berlin der Nachkriegszeit. Köln 1988. Ralf Bachmann: Ich bin der Herr. Und wer bist du? Ein deutsches Journalistenleben. Berlin 1995. Gerhard Dengler: Zwei Leben in einem. Berlin (Ost) 1989. Günter Herlt: Sendeschluß. Ein Insider des DDR-Fernsehens berichtet. Berlin 1995. Karl-Eduard von Schnitzler: Meine Schlösser oder Wie ich mein Vaterland fand. Hamburg 1995. Heinz Florian Oertel: Höchste Zeit. Erinnerungen. Berlin 1997. Tb.-Ausgabe 1999. Erich Selbmann: DFF Adlershof. Wege übers Fernsehland. Zur Geschichte des DDR-Fernsehens. Berlin 1998. Harri Czepuck: Meine Wendezeiten. Erinnerungen, Erwägungen, Erwartungen. Berlin 1999. Karl-Heinz Gerstsner: Sachlich, kritisch, optimistisch. Eine sonntägliche Lebensbetrachtung. Berlin 1999. Klaus Ulrich Huhn: Spurt durchs Leben. Berlin 2003.
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Hans-Joachim Wolfram: 30 Jahre Außenseiter Spitzenreiter. Dessau 2003. Klaus Feldmann: Das waren die Nachrichten. Erinnerungen. Berlin 2006. Manfred Meier: Ein Leben in Deutschland. Erfahrungen in zwei Diktaturen. Wien 2006. Peter Pragal: Der geduldete Klassenfeind. Als West-Korrespondent in der DDR. Berlin 2008. Uwe Gerig: Die Stasi nannte mich Reporter. Journalist in Ost+West. Eine merkwürdige Karriere im geteilten Deutschland. Norderstedt 2009. Klaus Huhn: Nebenzeuge in Sachen ND. Berlin 2009. Hans-Dieter Schütt : Glücklich beschädigt. Republikflucht nach dem Ende der DDR. Berlin 2009.
II. Untersuchungsdesigns und Stichprobenbildung
Validierung oder Ergänzung? Zur Praxis von Methodenkombinationen in der Journalismusforschung Wiebke Loosen und Armin Scholl
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Einleitung und Problemstellung
Methodenkombinationen stehen auf der Liste der Qualitätsempfehlungen für die empirische Forschung ganz oben und gelten als Königsweg der Datenerhebung. Sie sollen instrumentenspezifische Verzerrungen ausgleichen, Perspektiven ergänzen und vertiefen sowie eine verlässlichere Überprüfung von Theorien bzw. Hypothesen sichern (vgl. Kromrey 2002, 524). In der qualitativ orientierten Forschung ist in diesem Zusammenhang auch die Rede von ‚Triangulation’ – einer Kombination von Methoden entweder innerhalb der qualitativen Methoden oder zwischen qualitativen und quantitativen Methoden (vgl. Flick 2008, 2003). Methodologisch sind Methodenkombinationen aber kaum reflektiert. Die dabei mitlaufenden Vorstellungen und Konzepte von Methodenkomplementarität sind kaum einmal Gegenstand der Diskussion, und nur selten wird das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Komplementarität und zunehmender Komplexität gegeneinander abgewogen. Es gerät also leicht aus dem Blick, dass der Einsatz mehrerer Methoden auch Schwierigkeiten bereitet: Dazu gehören der erhöhte Forschungsaufwand und die gesteigerten Kompetenzanforderungen, die sich vervielfältigen bei der Erhebung der Daten wie bei der Auswertung. Methodenkombinationen bieten also nicht nur Vorteile, sondern sie erzeugen auch Folgeprobleme. Auch in den meisten einschlägigen Methodeneinführungen werden die einzelnen Methoden unabhängig voneinander abgehandelt oder Mehrmethodendesigns nur sehr peripher thematisiert (vgl. Schnell, Hill & Esser 2005; Bortz & Döring 2006; Atteslander 2003; Brosius & Koschel 2001; Diekmann 2000). Eine Ausnahme stellen die „Foundations of Multimethod Research“ der Soziologen John Brewer und Albert Hunter (2008) dar, die von vier Basismethoden empirischer Forschung, „fieldwork, surveys, experiments and nonreactive studies“ (ebd., 1) ausgehen, die sich unterschiedlich und in allen Phasen des Forschungsprozesses kombinieren lassen. Die Verwendung einer einzigen Methode oder eines einzigen Instruments scheint der Komplexität kommunikationswissenschaftlicher Theorien und der komplexen Untersuchungsgegenstände der Kommunikationswissenschaft vielfach nicht gerecht zu werden. So stehen beispielsweise auch bestimmte Forschungsbereiche für die Bevorzugung bestimmter Methodenkombinationen. In der Kommunikatorforschung werden vielfach Beobachtungen mit Befragungen kombiniert, in der Mediennutzungs- und Rezeptionsforschung etwa Umfragedaten mit Inhaltsanalysedaten. Diese Vorgehensweise trägt dem Umstand Rechnung, dass jede Methode die Perspektive spezifiziert und vereinseitigt: Mit der Befragung von Personen sind nur Selbstauskünfte und referiertes Verhalten zu erfassen, nicht aber das Verhalten oder Handeln selbst. Mit
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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der Inhaltsanalyse geraten nur die manifesten Inhalte in den Blick, auf deren Entstehungsbedingungen kann daher nur geschlossen werden. Und mit der Beobachtung lassen sich nur die offenen und sichtbaren Verhaltensweisen ermitteln, aber nicht die subjektive Sinngebung, die das Verhalten oder die Handlung erst motivieren. Mehrmethodendesigns gelten als Möglichkeit, die Schwächen – bzw. die ‚blinden Flecke’ – von Methoden wechselseitig zu kompensieren und so insgesamt das Problem begrenzter Reichweite der einzelnen Methoden in den Griff zu bekommen. 2
Kombinationsmöglichkeiten und Verbindungsmodi
Zentral für die Konzeption von Methodendesigns ist die Frage nach der grundsätzlichen Kombinierbarkeit der Methoden und den Möglichkeiten der In-Beziehung-Setzung der Methoden bei der Datenerhebung und vor allem bei der Interpretation der Ergebnisse. Hier sind viele Stufen denkbar: Sie reichen von der schwerpunktmäßig theoretischen Verknüpfung von Forschungsergebnissen, die auf Basis verschiedener Methoden im Rahmen eines Forschungsdesigns gewonnen wurden, bis hin zur tatsächlichen methodisch-praktischen Verbindung von Methoden. Die Kombination kann man nach zwei Dimensionen beurteilen: In der funktionalen Dimension geht es um die Funktion der Methodenkombination, also ob sich die Methoden ergänzen oder (einseitig oder gegenseitig) validieren sollen. In der strukturellen Dimension geht es um die Stärke (oder Intensität) der Verbindung zwischen den Methoden, also ob sie forschungspraktisch stark oder nur lose aneinander gekoppelt sind. Beide Dimensionen müssen nicht strikt voneinander getrennt werden, sondern bedingen einander wechselseitig und werden deshalb in der folgenden Darstellung auch nicht mehr getrennt. Die einfachste Art der Kombination ist der arbeitsteilige Einsatz zur Beantwortung verschiedener Teil-Fragestellungen im Rahmen eines Forschungsprojekts. Hierbei bleiben die Methoden im Rahmen eines Forschungsdesigns möglicherweise recht unverbunden nebeneinander stehen und die Ergebnisse werden eher lose aufeinander bezogen; im Vordergrund steht hier die komplementäre Verbindung der Methoden. Eine intensivere Kombination sieht vor, dass die Instrumente der eingesetzten Methoden aufeinander bezogen werden, etwa wenn aus einer Befragung Kategorien für die Inhaltsanalyse gewonnen werden oder umgekehrt aus inhaltsanalytischen Kategorien Fragen formuliert werden. Bei einer derartigen Kombination zur einseitigen – denkbar ist auch die wechselseitige – Instrumentenentwicklung kann man eher von einer kooperativen Verbindung der Methoden sprechen. Am engsten miteinander verknüpft sind die Methoden, wenn mit der einen Methode die Ergebnisse einer anderen Methode validiert werden sollen. Hier muss gewährleistet sein, dass die Instrumente beider Methoden sehr eng miteinander verzahnt sind; sie stehen dann in kompetitiver Verbindung. Weitere Kombinationsmöglichkeiten im Rahmen von Mehrmethodendesigns ergeben sich, wenn man noch die Unterscheidung qualitativ-offener und quantitativ-standardisierter Methoden mit einbezieht (vgl. Flick 2008, 75 ff.; Kelle 2007). Die hiermit angesprochene ‚Quantitativ vs. Qualitativ-Debatte’ lässt sich mittlerweile über verschiedene Stadien nachzeichnen (vgl. Kelle 2007, 25 ff.), die Teddlie und Tashakkori (2009, 3 ff.) in „three methodological movements“ unterscheiden: die quantitative Tradition, die qualitative Tra-
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dition bis hin zur „mixed methods tradition“ (ebd., 7), von der seit den 1990er Jahren als eigene methodologische Orientierung die Rede sein könne (ebd., 76 ff.). Hier sind sowohl Kombinationsmöglichkeiten innerhalb einer Methode denkbar (z. B. die Kombination Leitfadeninterview und standardisierte Befragung) als auch zwischen zwei oder mehr Methoden (z. B. zwischen Leitfadeninterview, strukturierter Beobachtung und standardisierter Inhaltsanalyse). Dies kann sich auch auf das Verhältnis von Datenerhebung und Datenauswertung beziehen. So können durch computergestützte Verfahren der qualitativen Datenanalyse auch quantitative Daten erzeugt werden. In der empirischen Forschung werden qualitative und quantitative Methoden oft ganz selbstverständlich miteinander kombiniert, denn in methodisch-praktischer Hinsicht ist es weitgehend unstrittig, dass sich beide Formen gut miteinander kombinieren lassen. Vor dem Hintergrund dieses Umstands kann man mittlerweile von einem „Mixed Methods Movement“ (vgl. Kelle 2007, 46 ff.) sprechen, das für eine zunehmende Zahl von Forschungsprojekten steht, in denen qualitative und quantitative Verfahren miteinander kombiniert werden, „ohne dass dies irgendwelche methodologischen Kontroversen hervorgerufen hätte“ (ebd., 46). Dennoch beruhen sie auf unterschiedlichen Forschungsphilosophien, die wiederum auf unterschiedlichen erkenntnistheoretischen Prämissen basieren (vgl. Loosen 2004), welche die Grundsatzdebatten zu quantitativen und qualitativen Methoden – trotz vielfältiger Annährungen – (vor allem auf Seiten der qualitativ orientierten Forscherinnen und Forscher) noch immer prägen (vgl. Sale, Lohfeld & Brazil 2002). Gerade diese geraten bei einer eher pragmatischen Kombination leicht aus dem Blick. Für den Soziologen Udo Kelle (2007, 48) hat die vorliegende Literatur über ‚Mixed Methods’ zudem wenig zu einer integrativen Methodenlehre beigetragen, denn „es werden zu wenig systematische Bezüge hergestellt zwischen Fragestellungen und Theorien über den Forschungsgegenstand einerseits und den verwendeten Methoden andererseits.“ Im Hinblick auf den zeitlichen Einsatz verschiedener Methoden innerhalb eines Forschungsdesigns sind ferner sequentielle Verbindungen (die Methoden werden nacheinander eingesetzt) versus parallele Verbindungen (beide Methoden kommen gleichzeitig zum Einsatz) verschiedener Methoden denkbar: Während kooperative Verbindungen immer sequentiell sein müssen, können komplementäre und kompetitive Verbindungen sequentiell oder parallel aufeinander bezogen sein. Im Hinblick auf forschungspraktische Aspekte lässt sich die Methodenkombination auch danach bewerten, inwiefern die Analyseeinheiten aufeinander bezogen werden (vgl. Neuendorf 2002, 61 ff.). Die stärkste Verbindung zwischen zwei (oder mehreren) Methoden ergibt sich, wenn eine eins-zu-eins Korrespondenz der Einheiten der verschiedenen Methoden möglich ist („empirical evidence“), wohingegen das Fehlen dieser Korrespondenz dazu führt, dass die Verbindung zwischen den Methoden bzw. den Ergebnissen, die sich aus den Methodenverwendungen ergeben, indirekt erschlossen werden müssen („anecdotal evidence“). Am Beispiel der Kombination von Inhaltsanalysedaten und Befragungsdaten unterscheidet Winfried Schulz (2008, 353 f.) die Methodenverbindung danach, aus welcher Methode die Analyseeinheit als Basis genommen wird. Ist etwa der Befragte die Analyseeinheit, wird seine Mediennutzung ermittelt, die betreffenden genannten Medien werden inhaltsanalysiert und diese Inhaltsdaten werden dem Befragten zugeordnet. Ist dagegen ein Artikel oder ein ähnliches Beitragselement aus der medialen Berichterstattung die Analyseeinheit, werden diesem die mit Hilfe eines Copytests ermittelten Leserdaten in aggregierter
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Form zugeordnet, sodass man für jeden Artikel weiß, wie aufmerksam er gelesen wurde usw. Eine besonders elaborierte Form ist die hybride Analyseeinheit, die immer dann vorliegt, wenn Inhaltsanalysedaten und Befragungsdaten so einander zugeordnet werden können, dass eine neue Analyseeinheit entsteht. Dafür ist eine Medienwirkungsuntersuchung von Wolfgang Donsbach (1991, 109) ein Beispiel: In der Befragung wurden Leser von vier Tageszeitungen zu bestimmten Einstellungen befragt sowie in einem Copytest ermittelt, welche Artikel mit welchem Aufmerksamkeitsgrad gelesen wurden. In der Inhaltsanalyse wurden sowohl genau die im Copytest ermittelten Artikel auf bestimmte Merkmale hin analysiert als auch die gesamte Berichterstattung dieser Zeitungen. Durch den Copytest war es möglich, einen „Hybridfall“ zu generieren, den Donsbach „potentieller Kontakt“ nennt, sodass beide Datensätze über diese Einheit zusammengeführt werden konnten. Diese neuen „Kontakteinheiten“ werden aus den aufsummierten Produkten der Anzahl der kodierten Artikel je Zeitung und der Anzahl ihrer Leser (welche die entsprechende Ausgabe zumindest in der Hand hatten) gebildet. Als Hybridfälle kann man sie deshalb bezeichnen, weil sie je nach Auswertungsrichtung entweder auf der Ebene der Inhaltsanalyse oder auf der Ebene der Befragung ausgewertet werden können (vgl. Donsbach 1991, 124 f.) Diese forschungspraktischen Vorgehensweisen gelten oft als empirisch notwendige und hinreichende Bedingungen für die Inferenz zwischen den betreffenden Methoden. So argumentiert Neuendorf (2002, 61), dass bei der eins-zu-eins-Korrespondenz eine „firstorder linkage“ mit empirischer Evidenz entsteht, wohingegen das Fehlen dieser methodisch strikten Kopplung allenfalls eine „second-order linkage“ ermöglicht.1 Die Inferenz bzw. Verbindung der Ergebnisse beider Methoden ist dann allenfalls interpretativ („andecdotal“) oder gelegenheitsabhängig („occasional“). Dagegen könnte man einwenden, dass Methoden und empirische Ergebnisse bzw. deren (theoretische) Interpretation immer kontingent sind, sodass die strikte Kopplung oder Korrespondenz zwar der elegantere Weg zur (inhaltlichen) Inferenz ist, aber keinesfalls der logisch-argumentativ hinreichende (oder nicht einmal der logisch notwendige). 3
Ausgewählte Beispiele von Methodenkombinationen in der Journalismusforschung
3.1 Vorgehensweise Nachfolgend zeigen wir anhand verschiedener empirischer Beispiele aus unserer eigenen Forschung, wie die Methoden jeweils miteinander verknüpft wurden, zu welchem Zweck und wie die Ergebnisse in ihrer Bezugnahme aufeinander zu interpretieren sind. Die Beispiele haben hier vor allem exemplarischen Charakter für die Fragestellung des vorliegenden Beitrags. Damit ist kein Anspruch auf Repräsentativität oder Vollständigkeit verbunden, aber die Beispiele ermöglichen das Aufzeigen der grundsätzlichen Problematik. Auch außerhalb der Journalismusforschung im engeren Sinne spielen Methodenkombinationen selbstverständlich eine wichtige Rolle, so vor allem in der Medienwirkungsforschung, etwa 1
Damit einher geht auch die Problematik, dass first-order linkage nur auf der individuellen Datenebene möglich ist, nicht jedoch bei aggregiertem Makrolevel. Ob damit eine Präferenz für methodologischen Individualismus verbunden ist, lässt sich hier nicht klären.
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in der Kombination von Befragung und Inhaltsanalyse (vgl. z. B. Donsbach 1991; Maurer 2003; Wolling 2002; Wolling 2006). Die zunächst eher verfahrenstechnische Fragestellung wird dabei notwendigerweise methodologisch und erkenntnistheoretisch erweitert, denn die Verbindung zwischen den Ergebnissen und ihren theoretischen Schlussfolgerungen kann nur mit einer solchen breiten Perspektive deutlich gemacht werden. Dass wir hierbei Beispiele aus der empirischen Journalismusforschung auswählen, hat nicht nur mit den eigenen Forschungsschwerpunkten zu tun, sondern auch damit, dass gerade in der Journalismusforschung immer wieder erkenntnistheoretische und gesellschaftstheoretische Fragestellungen sowie die damit verbundenen methodologischen Problematiken mitlaufen müssen. Die Befunde aus den hier thematisierten Studien spielen bei der Darstellung nur insoweit eine Rolle, wie sie helfen, die Spezifika des Mehrmethodeneinsatzes – auch mit seinen Folgeproblemen bei der Interpretation der Ergebnisse – zu verdeutlichen. 3.2 Journalistisches Rollenselbstverständnis Befragt man Journalisten nach ihrem beruflichen Selbstverständnis (Rollenselbstverständnis), ergibt sich die Indikatorproblematik, ob diese Selbstbekundungen idealisierte Berufsvorstellungen sind oder ob sie sich auch in der beruflichen Praxis niederschlagen, ob sie also handlungsrelevant werden (vgl. Tabelle 1). Da im Journalismus das Produkt der Handlung, die journalistische Berichterstattung, manifest vorliegt, liegt eine Inhaltsanalyse nahe, um dies zu überprüfen. Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass die Befragten (und deren Selbstauskünfte) mit ihren Handlungsprodukten (Artikel, Sendebeiträgen usw.) verknüpft werden müssen (verfahrenstechnischer Aspekt) und die Ergebnisse vor dem Hintergrund der Validierung interpretiert werden müssen, indem die Befragungsaussagen mit den Berichterstattungsinhalten verglichen bzw. konfrontiert werden (methodologischer Aspekt). Hierbei kann nicht von vornherein ein Konsens, also ein einvernehmliches Verständnis der Selbstbeschreibung der befragten Journalisten und der Fremdbeschreibung durch Wissenschaftler oder Kodierer unterstellt werden. Dennoch (oder deshalb?) ist die Kombination von Befragung und Inhaltsanalyse in erster Linie kompetitiv angelegt, da die Ergebnisse der Inhaltsanalyse die Selbstauskünfte der Journalisten auf ihre Handlungsrelevanz hin überprüfen sollen. In der Studie „Journalismus in Deutschland“ (1993) wurden die Journalisten mit 21 Items zu ihrem Rollenselbstverständnis befragt. Im Anschluss an das Interview sollten die Befragten dem Interviewer oder Forscher eigene gelungene Artikel oder Sendebeiträge zur Verfügung stellen (best practice). Die Items zum Rollenselbstverständnis wurden weitgehend als Kategorien für die Inhaltsanalyse dieser Artikel oder Sendebeiträge verwendet (vgl. Scholl & Weischenberg 1998, 175 ff.).2 Für die Inhaltsanalyse nicht verwendet werden konnten Rollenselbstverständnis-Items wie „Es geht mir darum, die Realität so abzubilden, wie sie ist“, weil die Beziehung zwischen Medienberichterstattung und medienexterner Wirklichkeitsreferenz nicht (allein) inhaltsanalytisch untersucht werden kann – ganz 2
Da sich das Einsammeln von best-practice-Beiträgen der Journalisten als schwierig und aufwändig erwies, wurde in der Nachfolgestudie (JouriD 2) von 2005 darauf verzichtet, zumal bei Telefoninterviews der Rücklauf dieser best-practice-Beiträge noch schwieriger geworden wäre als bei den persönlichen Interviews 1993.
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abgesehen von grundsätzlichen epistemologischen Schwierigkeiten, ob medienexterne Daten überhaupt als Repräsentanten von Wirklichkeit gelten können.3 Tabelle 1: Beispiel zum journalistischen Rollenselbstverständnis Theoretisches Problem
Handlungsrelevanz von journalistischen Selbstauskünften
Methodische Konzeption
Validierung der Befragungsergebnisse durch die Inhaltsanalyse der Berichterstattung auf individueller Basis
Operationalisierung
x Befragung: 21 Items (Rating-Skala) zum Rollenselbstverständnis x Inhaltsanalyse: Analyse gut gelungener Artikel und Beiträge mit Kategorienschema analog zu Items zum Rollenselbstverständnis
Ergebnis
Nur teilweise Übereinstimmung von Rollenselbstverständnis und Handlungsprodukten Journalistische Selbstauskünfte (teilweise) invalide?
Der Vergleich der Befragungsergebnisse mit den Inhaltsanalyseergebnissen zeigt Übereinstimmungen (bei anspruchsvollen Rollenbildern wie investigativer Journalismus), aber auch Divergenzen (meist bei routinierten Rollenbildern wie neutraler Informationsjournalismus). Demnach ist die Handlungsrelevanz des Rollenselbstverständnisses unterschiedlich hoch. Eine Schlussfolgerung könnte sein, dass im Fall von Divergenzen die journalistischen Selbstauskünfte invalide sind (zum Beispiel durch sozial erwünschte Zustimmung zum neutralen, objektiven Informationsjournalismus). Allerdings sind auch alternative Erklärungen denkbar: Die „best-practice“-Beiträge entsprechen einem anspruchsvollen Rollenselbstverständnis, wohingegen die rein informationsbezogene Routineberichterstattung darin keinen Niederschlag findet. So gesehen wären die divergierenden Befunde kein Indiz für eine invalide Befragung (gemessen an den Ergebnissen der Inhaltsanalyse), sondern eher ein Indiz dafür, dass die enge Verbindung von Befragung und Inhaltsanalyse nicht funktioniert hat, dass also verschiedene Konstrukte gemessen wurden. Die journalistischen Selbstauskünfte (Befragung) dokumentieren dann den beruflichen Alltag mit dessen Relevanzsetzungen, wohingegen die erbetenen gelungenen Berichterstattungsbeispiele eher die (anspruchsvolle) Ausnahme in der beruflichen Arbeit, sozusagen die Highlights, repräsentieren, sodass die Methoden sich nicht gegenseitig validieren können, weil sie unterschiedliche Referenzen ansprechen. Eine methodische Korrektur könnte so aussehen, dass nicht (nur) die best-practiceBeiträge der befragten Journalisten inhaltsanalysiert werden, sondern eine größere Stichprobe ihrer Beiträge. Dies wäre aber mit deutlich erhöhtem Aufwand verbunden, weil die Berichterstattung jeweils individuell den befragten Journalisten zugeordnet werden müsste. Ebenfalls denkbar wäre exemplarisch die Vollerhebung einer Redaktion (unter Ein3
Auf erkenntnistheoretischer Ebene ist die Debatte zwischen Rosengren (1970) und Schulz (1976) zu nennen, aus forschungspraktischer Ebene hat Best (2000) verschiedene Anwendungen diskutiert.
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schluss der freien Redakteure) sowie eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung, die von dieser Redaktion produziert wird, um auf einer aggregierten Ebene den Zusammenhang zwischen Rollenselbstverständnis und praktischer Umsetzung (Handlungsrelevanz) messen zu können. Auch hier wäre der Aufwand immens und die Teilnahmebereitschaft an der Befragung würde mit Sicherheit erheblich unter den Anforderungen an eine Vollerhebung leiden. Eine weitere Methodenkombination könnte eine ‚kommunikative’ Validierung ermöglichen, wenn man die zunächst standardisiert befragten Journalisten mit den Ergebnissen der (individuellen Inhaltsanalyse) in Form eines Tiefeninterviews konfrontiert, um die möglichen Diskrepanzen zwischen den Ergebnissen beider Methoden mit Hilfe der Befragten selbst zu interpretieren. Allerdings könnte auch diese zweite Befragung auf Akzeptanzprobleme stoßen, zumal wenn die Befragten den Eindruck bekommen, ihre Aussagen sollten überprüft werden. 3.3 Crossmediale Kooperationen Befragungen von Journalisten in Leitungspositionen (z. B. Chefredakteure), die eher auf die institutionell-strukturelle Ebene abzielen und Befunde zu den Bedingungen der Aussageentstehung in den Redaktionen liefern sollen, können am ehesten mit der Methode der Beobachtung validiert bzw. ergänzt werden. In beiden Fällen beziehen sich die Methoden, auch wenn das Subjekt der Beschreibung das Individuum ist, nicht auf die personalindividuelle, sondern auf die institutionelle Ebene. Allerdings scheitert gerade die Methodenkombination von Befragung und Beobachtung häufig an der Kooperationsbereitschaft der Redaktionen bzw. der Verlage. Sie nimmt weiter ab, je näher das Forschungsthema im Bereich von ‚Geschäftsgeheimnissen’ angesiedelt ist – im hier zugrunde gelegten Beispiel sind dies die Crossmedia-Strategien – und/oder je stärker man befürchtet, dass die Beobachtung die alltäglichen Arbeitsprozesse behindern würde. Kann man unter solchen Umständen nur die Kombination von Befragung und Inhaltsanalyse realisieren, bleiben die tatsächlich ablaufenden Arbeitsprozesse – jenseits der Selbstauskünfte – eine Black Box. Tabelle 2 gibt einen Überblick über die beim Beispiel zu crossmedialen Kooperationen zwischen Print-, Online- und TV-Redaktionen (Untersuchungsobjekte waren Spiegel“, stern und Focus) relevanten Aspekte der hier eingesetzten Methodenkombination von Inhaltsanalyse und Befragung (zur genauen Konzeption und zu den detaillierten Befunden vgl. Loosen 2005).
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Tabelle 2: Beispiel zu crossmedialen Kooperationen Theoretisches Problem
Umsetzung crossmedialer Strategien in der Berichterstattung (Print, TV, Online)
Methodische Konzeption
Ergänzung, Präzisierung und Validierung der Befragung durch Inhaltsanalyse
Operationalisierung
x Leitfadenbefragung von Chefredakteuren zu crossmedialen Strukturen in den Redaktionen x Quantitative und qualitative Inhaltsanalyse: thematische Überschneidungen vs. thematische Exklusivität in der Berichterstattung der Medien
Ergebnis
Befragungsbefunde sprechen für stärkere Crossmedialität als die Inhaltsanalyse de facto zeigt Auskünfte der Chefredakteure (teilweise) unpräzise und invalide?
Die Inhaltsanalyse wurde zur Untersuchung der journalistischen Produkte eingesetzt; Drehund Angelpunkt ist die Untersuchungseinheit ‚Thema’ (thematische Exklusivität vs. thematische Überschneidungen zwischen den Medientypen). Sie wurde in einer quantitativen und einer qualitativen Variante sequentiell – also nacheinander – eingesetzt. Hierfür wurden unterschiedliche Untersuchungseinheiten definiert: Formen gegenseitiger Referenzen der jeweiligen Print-, TV- und Online-Titel untereinander (Untersuchungseinheit: Medienreferenz), Themenstrukturen aller Titel (Untersuchungseinheit: Beitrag), Themen, die in mehr als einem Medium vorkommen (Untersuchungseinheit: Thema) sowie trimediale Themen, die im Print-, TV- und im Online-Produkt eines Titels vorkommen (Untersuchungseinheit: trimediales Thema). Auf diese Weise sind vier Datensätze entstanden, von denen die drei themenbezogenen (Untersuchungseinheiten: Beitrag, Thema, trimediales Thema) miteinander verknüpft sind und mit Hilfe von quantitativ-standardisierten Inhaltsanalysen untersucht wurden. Der fünfte Datensatz schließlich basiert auf einer qualitativen Inhaltsanalyse, welche die ermittelten trimedialen Themen, die bei jedem Titel (Spiegel, stern, Focus) und dort in jedem Medientyp (Print, TV, Online) vorkommen, miteinander vergleicht. Die quantitativ-standardisierte und die qualitativ-offene Inhaltsanalyse sind hier also vor allem arbeitsteilig eingesetzt worden, bauen aber dennoch insofern aufeinander auf, als die quantitative Inhaltsanalyse die für die qualitative Inhaltsanalyse notwendige Reduktion auf Themen, die in allen drei Medientypen vorkommen, leistet. Die Analyse der journalistischen Produkte wurde durch eine Untersuchung der Kontextbedingungen der Aussagenentstehung im ‚trimedialen Redaktionsverbund’ mit Hilfe einer Befragung in Form von Leitfadeninterviews ergänzt. Der Methodenwechsel bedeutet also (immer) auch einen Perspektivenwechsel. In dieser Hinsicht beleuchten die eingesetzten Methoden einen anderen Gegenstand, gegenseitige Validierung steht daher nicht im Vordergrund. Aus organisatorischen Gründen mussten Inhaltsanalyse und Befragung weitgehend parallel konzipiert und durchgeführt werden. Inhaltlich wäre es aber durchaus wünschenswert gewesen, die Inhaltsanalyse der Befragung vorzuschalten, um die Methoden
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enger kooperativ miteinander zu verbinden und um die inhaltsanalytischen Befunde mit in die Befragung einbeziehen zu können. Für den Leitfaden waren alle Dimensionen relevant, die Hinweise auf Kooperationsund Koordinationsprozesse zwischen den beteiligten Print-, TV- und Online-Redaktionen geben und die allein auf der Ebene der Inhalte nicht sichtbar gemacht werden können. Hierzu zählen verschiedene Formen der Koordination zwischen den Redaktionen auf der Ebene der Inhalte (etwa die gegenseitige Beobachtung/Rezeption, den Austausch und Weitergabe von Themen und Rechercheergebnissen, die gegenseitige Teilnahme an Redaktionskonferenzen) und der Redakteure (u. a. die personelle Mobilität, Art und Umfang der Kontakte zwischen den Redaktionen) sowie die organisatorische und technische Koordination (u. a. der Institutionalisierungsgrad von Koordinationsstellen, die technische Infrastruktur) und die strategische Positionierung der einzelnen Redaktionen im Verbund (u. a. die Selbst- und Fremdwahrnehmung der eigenen Stellung im Redaktionsverbund/Verlag). Der Vergleich der Befragungsergebnisse mit den Inhaltsanalyseergebnissen zeigt, dass die Befunde aus der Befragung für stärkere Crossmedialität sprechen, als die Inhaltsanalyse dies auf der Ebene der Berichterstattung zeigt. Dieser Befund lässt sich in mehrere Richtungen hin interpretieren, denn es gibt mehrere mögliche Gründe für die (teilweise) NichtÜbereinstimmung von Befragungsdaten und Inhaltsanalysedaten. So ist es denkbar, dass die befragten Chefredakteure aus Gründen der sozialen Erwünschtheit den Umfang und das Ausmaß der crossmedialen Kooperationen der beteiligten Redaktionen untereinander überbetonen, weil crossmediale Redaktionsorganisation sozusagen als ‚State of the Art’ oder wünschenswerter Zustand qualifiziert wird. Zudem stellt sich eine Schwierigkeit, die sich insbesondere für Fragestellungen auf der institutionell-strukturellen Ebene ergibt, nämlich welche inhaltsanalytischen Indikatoren sich unter diesen Umständen überhaupt für die Untersuchung des tatsächlichen Einflusses der strukturellen Bedingungen auf die Berichterstattung eignen, denn diese lassen sich nicht alle auch in entsprechende kodierbare Elemente für die Inhaltsanalyse journalistischer Produkte überführen. Ähnliche Schwierigkeiten zeigen sich beispielsweise in der Qualitätsforschung, wenn der (als dysfunktional antizipierte) Niederschlag struktureller Veränderungen in journalistischen Redaktionen (z. B. Personalkürzungen, Zusammenlegung von Redaktionen, Autonomie, Ressourcen) in der Berichterstattung untersucht werden soll (z. B. in Bezug auf Themen- und Quellenvielfalt sowie Eigenleistungen vs. Agenturleistungen). Hierbei müssen auf der inhaltsanalytischen Ebene zwangsläufig Lücken bleiben, da nicht alle Veränderungen auf der Redaktionsebene anhand der journalistischen Produkte sichtbar (gemacht) werden. Bei der hier vorliegenden speziellen Untersuchungsanlage, bei der in drei verschiedenen Medienhäusern jeweils Interviews in den Print-, den TV- und den Online-Redaktionen durchgeführt wurden, zeigt sich zudem, dass die Selbstauskünfte über die eigene Redaktion und die Fremdauskünfte über die jeweils anderen Redaktionen im crossmedialen Verbund ein insgesamt heterogenes Bild von Selbst- und Fremdwahrnehmung sowie antizipierter Fremdwahrnehmung zeichnen, die Teil des Ergebnisses sind – und zwangsläufig sein müssen. Daher gibt es nicht den einen ‚wahren’ Maßstab, der zum Abgleich mit den Befunden aus der Inhaltsanalyse genutzt werden könnte, um diese zu validieren. Als methodische Korrektur bietet sich vor diesem Hintergrund eine ergänzende Beobachtung der Arbeitsprozesse in den Redaktionen an, die genaueren Aufschluss darüber geben könnte, wie etwa Absprachen und Kooperationen bei bestimmten Themen, die von
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mehreren Redaktionen aufgegriffen werden, konkret erfolgen. Zudem könnten Inhaltsanalyse und Befragung sequentiell eingesetzt werden, denn auf diese Weise könnte über die Befragung eine Rekonstruktion journalistischer Kooperationen anhand der durch die Produktanalyse identifizierten crossmedialen Themen erfolgen und die Befragung so mit Rückgriff auf Befunde aus der Inhaltsanalyse konzipiert werden. 3.4 Einfluss von Public Relations auf Journalismus Will man den Einfluss von PR-Mitteilungen auf die journalistische Berichterstattung messen, bietet sich eine inhaltsanalytische Input-Output-Messung an, also der Vergleich zwischen den PR-Mitteilungen (als Input) und der Berichterstattung (als Output) (vgl. Tabelle 3). Die Inhaltsanalyse gibt allerdings (allein) keine direkten Hinweise auf die Art der Verarbeitung, die eine Black-Box bleibt. Die Transformation des Inputs in den Output, der „Throughput“, lässt sich am besten mit einer Redaktionsbeobachtung ermitteln, indem man den Redakteuren über die Schulter schaut, wie sie mit dem PR-Material umgehen und wie ihre Themenselektion stattfindet. Hier ist das Verhältnis der Methoden eher ergänzend und arbeitsteilig, weil die Methoden jeweils die Lücken der anderen Methode schließen sollen (vgl. Scholl 2004). Zusätzlich kann über die Themenkategorien ein partieller Vergleich der beiden Methoden erfolgen. Tabelle 3: Beispiel zum Einfluss von Public Relations auf Journalismus Theoretisches Problem
Prozess des Einflusses von PR-Mitteilungen auf journalistische Berichterstattung
Methodische Konzeption
Beobachtung ergänzt Input-Output-Analyse und unterstützt die Beschaffung des Inputs
Operationalisierung
x Inhaltsanalyse des PR-Materials (Input) und der Berichterstattung (Output) x Beobachtung von redaktioneller Themenselektion und Sammlung des PR-Materials
Ergebnis
Beobachtung kann den ‚Throughput‘ nur teilweise rekonstruieren
Beobachtungsergebnisse und Inhaltsanalyseergebnisse sind inkompatibel Bei der 2001 durchgeführten Redaktionsbeobachtung in Kombination mit der InputOutput-Analyse wurden jeweils die Lokalredaktion und das Wirtschaftsressort von zwei Regionalzeitungen untersucht. Die Beobachtung der vier Redaktionen erstreckte sich über eine Woche. Die Inhaltsanalyse der Lokal- und Wirtschaftsberichterstattung der beiden Zeitungen erfolgte parallel dazu einen Tag zeitversetzt. Für die Beobachtung wurden je ein Beobachter für die Sammlung des Input-Materials und ein Beobachter für den Prozess der Themenverteilung unter den Redakteuren bzw. der Themenvergabe an (bestimmte) Redakteure durch Vorgesetzte sowie für die Erhebung
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weiterer journalistischer Handlungen eingesetzt. Als Beobachtungseinheit wurde nicht die Person des Redakteurs, sondern das Thema gewählt, um den Vergleich mit der Inhaltsanalyse zu ermöglichen. Die Beobachtung sollte also zum einen rein praktisch die Sammlung des Input-Materials gewährleisten und zum anderen methodisch die Themenentscheidung rekonstruieren, um den Input-Output-Vergleich der Inhaltsanalyse mit Kontextinformationen zu ergänzen (vgl. Scholl 2004). Tatsächlich ist die Komplementarität der beiden Methoden durch ihren spezifischen Einsatz stark eingeschränkt, weil man nur wenige Redakteure (und Redaktionen) beobachten kann, sodass die breit angelegte, das gesamte Ressort umfassende, Input-OutputAnalyse nur teilweise mit der Beobachtung von nur zwei Redakteuren verknüpft werden kann. Die Themen aus der Beobachtung und der Inhaltsanalyse (hier: des Outputmaterials, also der redaktionellen Berichterstattung) lassen sich nur bedingt miteinander vergleichen, da nur über die Themen entschieden wurde, die überhaupt entscheidungsbedürftig waren, wohingegen die Routineberichterstattung ohne gesonderte (und vor allem sichtbare) Themenentscheidung vonstatten ging. Aufgrund der quantitativ geringen Datenmenge bei der Beobachtung von nur 66 Themen besteht der Hauptwert der Beobachtung nicht in der Analyse dieser Themen, sondern in der Zulieferung für die Inhaltsanalyse. Die Sammlung des Inputmaterials ausschließlich den Redakteuren selbst zu überlassen, hätte mit Sicherheit zu großen Datenlücken geführt, da die Redakteure unterschiedlich motiviert sind und auch arbeitsbedingt wenig Zeit haben, darauf zu achten, ihre Quellen zu sammeln (zumal wenn diese nicht gebraucht werden für die Berichterstattung, sondern sofort aussortiert werden). Um spezifische Themenselektionen den spezifischen Themen der Inhaltsanalyse zuordnen zu können, wäre eine personale Identifizierung des Themenauswahlprozesses notwendig gewesen, was aber in einer Redaktion oft nicht möglich ist, weil die Themenauswahlprozesse kollektiv verlaufen. Die Ergebnisse sind demnach – in diesem Fall – nur in aggregierter Form komplementär, nicht dagegen in individueller Verknüpfung. Durch den immensen Aufwand von Redaktionsbeobachtungen in zeitlicher Hinsicht (5 Tage Beobachtung sind unbedingt erforderlich, um überhaupt verallgemeinerbare Aussagen machen zu können) und aufgrund personeller Ressourcen (zwei Beobachter pro Ressort sind erfahrungsgemäß zu wenig, weil sie nicht das komplette Geschehen innerhalb eines Ressorts beobachten können) ist eine weitere Individualisierung der Daten kaum möglich. Hinzu kämen Akzeptanzprobleme innerhalb der Redaktion, wenn diese von zahlreichen Beobachtern geradezu überwacht würde. Überprüft werden müsste folglich, welche Stichproben geeignet wären, um den Aufwand zu reduzieren, ohne die Genauigkeit der Daten zu gefährden. 4
Schlussfolgerungen
Die Beispiele zeigen, dass bei allen Methodenkombinationen eine Nähe-Distanz-Paradoxie mitläuft: Sind die Methoden allzu lose miteinander verbunden, ist der Mehrwert der Kombination nicht oder kaum noch gegeben (Problem der willkürlichen Bezugnahme). Werden die Methoden in ihrer Kombination dagegen auf einseitige oder wechselseitige Validierung fokussiert, schleichen sich erkenntnistheoretisch problematische Schlussfolgerungen ein (Problem der Invisibilisierung kontingenter Ergebnisinterpretation), denen aber immerhin
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mit einer Präzisierung der Kombinationsmöglichkeiten und der mit ihnen verbundenen Verbindungsmodi (komplementär, kooperativ, kompetitiv) entgegengewirkt werden kann. Gerade bei der Anwendung von Mehrmethodendesigns müssen also begründete Vermutungen darüber angestellt werden, ob die Ergebnisse eher als komplementär oder eher als kontradiktorisch einzuschätzen sind – ohne dass sie allein deswegen als invalide verworfen werden. Spielt man diese Szenarien schon vorab theoretisch bei der Konzeption eines Mehrmethodendesigns durch, kann dies dazu beitragen, die Methoden entsprechend aufeinander zu beziehen. Hierfür ist eine theoriegeleitete Empirie unabdingbar, denn nur auf dieser Basis können Mehrmethodendesigns adäquat entwickelt und Mehrmethodenbefunde sinnvoll miteinander verknüpft und gleichzeitig voneinander abgegrenzt werden. Die Notwendigkeit und die daraus resultierenden möglichen Probleme der Kombination verschiedener Methoden ergeben sich nicht nur aus dem spezifischen Leistungsvermögen und den Begrenzungen der Methoden selbst, sondern sind auch von der Fragestellung abhängig. Deshalb müssen Methodenkombinationen immer wieder neu entwickelt und diskutiert werden. Hierzu gehören auch erkenntnistheoretische und methodologische Überlegungen, die im Rahmen empirischer Untersuchungsdesigns im Allgemeinen nicht explizit offen gelegt werden. Ein zudem vielfach unterschätzter Mehrwert von Mehrmethodendesigns ist auch darin zu sehen, dass sie die Wahrscheinlichkeit erhöhen, zu widersprüchlichen Ergebnissen zu gelangen. Diese können dann zur Revision oder Modifikation zugrunde gelegter Theorien und Hypothesen führen – ganz im Sinne des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts durch den Kreislauf des theoretisch-empirischen Forschungsprozesses. Literaturverzeichnis Atteslander, P. (2003): Methoden der empirischen Sozialforschung (10. Auflage). Berlin, New York: de Gruyter. Best, S. (2000): Der Intra-Extra-Media-Vergleich – ein wenig genutztes Analyseinstrument und seine methodischen Anforderungen. Ein Beitrag zur Nachrichtenwert-Theorie. In: Publizistik, 45(1), 51-69. Bortz, J. & Döring, N. (2006): Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler (4. Auflage). Berlin: Springer. Brewer, J. & Hunter, A. (2008): Foundations of Multimethod Research. Synthesizing Styles. Thousand Oaks, London, New Delhi: Sage. Brosius, H.-B. & Koschel, F. (2001): Methoden der empirischen Kommunikationsforschung. Wiesbaden: VS Verlag. Diekmann, A. (2000): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen (6. Auflage). Reinbek: Rowohlt. Donsbach, W. (1991): Medienwirkung trotz Selektion. Einflußfaktoren auf die Zuwendung zu Zeitungsinhalten. Köln, Weimar, Berlin: Böhlau. Flick, U. (2003): Triangulation in der qualitativen Forschung. In: U. Flick, E. von Kardorff & I. Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch (2. Auflage). Reinbek: Rowohlt, 309318. Flick, U. (2008): Triangulation. Eine Einführung (2. Auflage). Wiesbaden: VS Verlag. Kelle, U. (2007): Die Integration qualitativer und quantitativer Methoden in der empirischen Sozialforschung. Theoretische Grundlagen und methodologische Konzepte. Wiesbaden: VS Verlag. Kromrey, H. (2002): Empirische Sozialforschung. Modelle und Methoden der standardisierten Datenerhebung und Datenauswertung (10. Auflage). Opladen: Leske+Budrich.
Validierung oder Ergänzung?
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Journalismus in veränderten Medienkontexten. Mehrmethodendesign zur Erfassung von Wandel Bernd Blöbaum, Sophie Bonk, Anne Karthaus und Annika Kutscha
1
Einleitung
Veränderungen im Bereich der Medien und des Journalismus sind evident. Der folgende Beitrag geht der Frage nach, wie Wandel bei Nachrichtenmedien untersucht werden kann. Neben der Generierung von Daten erstreckt sich das Forschungsinteresse auch auf die Entwicklung eines methodisch abgestimmten Untersuchungskonzepts sowie auf die Arbeit an theoretischen Fragestellungen in der Journalismusforschung – wie die Verknüpfung von Strukturbereichen und -ebenen (Individuum, Organisation, Gesellschaft). Die wissenschaftliche Analyse von Wandel bedarf eines Konzepts, das zeitliche, soziale und sachliche Dimensionen von Wandel umfasst. In der Kommunikationswissenschaft sind Prozessbegriffe gebräuchlich, mit denen Veränderungen über – oft nicht genau spezifizierte – Zeiträume charakterisiert werden. In der Regel bündeln diese Begriffe eine Reihe von Einzelphänomenen und stehen für eine Dynamik in dem jeweils fokussierten Bereich. So bezeichnet „Amerikanisierung“ eine breitflächige, sich aus vielen einzelnen Elementen zusammenfügende Veränderung in der politischen Kommunikation (vgl. Kamps 2000); „Medialisierung“ steht für die zunehmende Bedeutung medial vermittelter Kommunikation, wobei Meyen (2009, 24) konstatiert, dass „die Medialisierung unserer Lebenswelt die gesamte Gesellschaft grundlegend verändert“, es aber in der Wissenschaft keinen Konsens darüber gibt, „welches Phänomen eigentlich genau untersucht werden soll und wie dieses Phänomen heißt.“„Emotionalisierung“, „Boulevardisierung“, „Personalisierung“ und „Skandalisierung“ beschreiben Darstellungsweisen und Vermittlungsformen von Medieninhalten; Veränderungen bei den journalistischen Rollenträgern im Mediensystem werden durch Begriffe wie „Professionalisierung“, „Akademisierung“ oder „Feminisierung“ gekennzeichnet (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006). Die empirische Fundierung der mit diesen Prozessbegriffen indizierten Veränderungen fällt sehr unterschiedlich aus. Mindestens zwei Probleme erschweren die wissenschaftliche Analyse: (a) die Identifizierung angemessener Indikatoren, Variablen und Ausprägungen, die geeignet sind, die Entwicklung zu repräsentieren, und (b) die Notwendigkeit, die Prozesse über einen längeren Zeitraum zu untersuchen. Erforderlich sind aufwendige Forschungsdesigns, deren Ressourcen es erlauben, das benötigte Material aus mehreren Jahren zusammenzutragen und mit verschiedenen methodischen Instrumenten zu bearbeiten. Dabei haben inhaltsanalytische Untersuchungen von Fernsehen, Radio und Internet mit der problematischen Zugänglichkeit des Analysematerials zu kämpfen. Die in der Kommunikationswissenschaft üblichen Einzelprojekte sind in der Regel nicht in der Lage, die oben genannten Phänomene zu erfassen; dennoch gibt es Studien, die solche Prozesse empirisch gehaltvoll verfolgen (vgl. zum Beispiel für Nachrichtenwerte Maier, Ruhrmann & Stengel
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Bernd Blöbaum, Sophie Bonk, Anne Karthaus und Annika Kutscha
2009 und Wilke 1984; für die Journalisten Scholl & Weischenberg 1998 und Weischenberg, Malik & Scholl 2006). Die Untersuchung zum Wandel des Journalismus, deren methodisches Vorgehen in diesem Beitrag vorgestellt wird, basiert auf einem analytischen Konzept, das ein Mehrmethodendesign vor dem Hintergrund eines gesellschaftstheoretischen Rahmens realisiert (vgl. Blöbaum 2005). Journalismus wird als gesellschaftliches Teilsystem verstanden, das im Umfeld anderer Bereiche der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Sport etc.) operiert (vgl. Blöbaum 1994). Um seine grundlegende Funktion – die Vermittlung aktueller Information zur öffentlichen Kommunikation – erfüllen zu können, hat Journalismus im Laufe seiner Geschichte eine eigene Struktur ausgebildet, die aus drei Teilbereichen besteht: journalistische Rollen (hierunter fallen die Journalisten und das Publikum als Akteure), journalistische Organisationen (dies sind vor allem die Redaktionen) und journalistische Programme (dies sind die Techniken der Sammlung, Bearbeitung und Darstellung von Ereignissen und Themen) (vgl. Rühl 1989; Altmeppen 2006). Dieses Verständnis von Journalismus als ein strukturdeterminiertes System liefert die Grundlage für eine Analyse des Wandels. Folgende Überlegungen leiten die skizzierte Untersuchung: y y
y
Journalismus wird als Informationsjournalismus (gelegentlich auch als Nachrichtenjournalismus bezeichnet) aufgefasst; dies beeinflusst die Auswahl der untersuchten Medien und Redaktionen. Ausgangspunkt der Analyse ist die Frage nach dem Wandel, der als Veränderung über den Zeitraum von 1990 bis 2008 untersucht wird; Wandel als vergleichsweise neutraler Begriff enthält sich jeder Wertung und lässt zunächst offen, ob beobachtete Phänomene etwa als Professionalisierung, Emotionalisierung, Boulevardisierung oder Personalisierung zu deuten sind. Wandel des Journalismus liegt nicht vor, wenn sich ein einzelnes Element ändert, sondern wenn es zu Veränderungen in der gesamten Struktur des Journalismus kommt. Dabei sind zwei Auslöser von Wandelprozessen zu unterscheiden: die Selbständerung des Journalismus (gewissermaßen als normale Evolution) und die Veränderung aufgrund von Einflüssen aus seiner Umwelt. Es wird davon ausgegangen, dass Stabilität und Wandel zwei Seiten des Journalismus ausmachen.
Dieser Beitrag stellt das Untersuchungsdesign eines vierjährigen Forschungsprojekts am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster vor. Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Studie analysiert mit Hilfe eines Mehrmethodendesigns den Wandel im Journalismus seit 1990. Im Folgenden wird zunächst auf die Auswahl der Untersuchungsobjekte (vgl. Abschnitt 2) und die für das Untersuchungsziel notwendige triangulierende Perspektive (vgl. Abschnitt 3) eingegangen. In Abschnitt 4 werden die einzelnen methodischen Schritte dokumentiert. Abschließend wird ein Fazit zur Untersuchungsanlage gezogen (vgl. Abschnitt 5).
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Auswahl der Untersuchungsobjekte
Da im Rahmen der Studie mit einem Mehrmethodendesign gearbeitet wurde, das u.a. eine mehrtägige Redaktionsbeobachtung beinhaltet, musste eine Auswahl von journalistischen Medienangeboten getroffen werden. Dabei sollten Redaktionen aus den verschiedenen Mediengattungen – Fernsehen, Hörfunk, Print und Internet – in die Auswahl eingehen. Die Auswahl der Medienangebote erfolgte bewusst, da eine Zufallsauswahl „bei sehr kleinen Stichproben eher Abweichungen von den Parametern der Grundgesamtheit produzieren“ (Quandt 2005, 196) kann. Ziel war es, Medien auszuwählen, die für den öffentlichen gesellschaftlichen Diskurs in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren wichtig gewesen sind; es sollte das Kriterium der „Bedeutsamkeit“ (ebd., 197) greifen. Die untersuchten Redaktionen sind insofern typische Fälle, als sie die Vermittlung relevanter und aktueller Informationen als ihr Kerngeschäft ansehen. Das Forschungsinteresse der Studie gilt den Veränderungen im deutschen Nachrichten- bzw. Informationsjournalismus, wodurch sich die Homogenität der Auswahl der Untersuchungsobjekte begründet. Zwar sollte laut Merkens bei der Auswahl von Fallgruppen „eine gewisse Homogenität der Fälle“ (Merkens 2000, 290) als Auswahlkriterium berücksichtigt werden, da „über die dann die Allgemeinheit der gewonnenen Aussagen geprüft werden kann“ (ebd.), es wurde jedoch darauf geachtet, dass die Auswahl eine gewisse Varianz aufweist. So wurden im Printbereich nicht nur überregionale (Süddeutsche Zeitung, die tageszeitung, BILD-Zeitung) und regionale (Kölner Stadtanzeiger, Westfälische Nachrichten) Tageszeitungen einbezogen, sondern auch die beiden wöchentlich erscheinenden Titel Spiegel und Die Zeit. Bei den Rundfunkmedien sind öffentlich-rechtliche (tagesthemen, WDR2 „Der Tag“, Deutschlandfunk „Informationen am Abend“) sowie private Programme (RTL aktuell, RPR1. „Der Tag in Rheinlandpfalz“) in die Auswahl eingegangen. Zudem wurde beim Fernsehen als Besonderheit mit ntv ein Special-Interest-Kanal im Nachrichtenbereich berücksichtigt. Neben den typischen wurden folglich auch besondere Fälle in der Auswahl realisiert. Berücksichtigung fanden die taz, die sich durch ihre flachen Hierarchien, eine besondere Organisationskultur und die weitüberwiegende Finanzierung durch Abonnements auszeichnet, sowie die BILD-Zeitung als Boulevardmedium, das sich auf den Einzelverkauf stützt. Komplettiert wurde die Auswahl der Untersuchungsobjekte durch die beiden Internetanbieter Spiegel Online und netzeitung. Die Entscheidung für eine bewusste Auswahl der Angebote induziert, dass von den Ergebnissen der Studie nicht auf die Grundgesamtheit – den Informationsjournalismus allgemein – geschlossen werden kann. Allerdings sind die ausgewählten Medienangebote exemplarisch für den Informationsjournalismus, sodass Trends, die sich in den Ergebnissen zeigen, ebenfalls für andere deutsche Nachrichtenmedien anzunehmen sind (vgl. Merkens 2000, 291; Wenger 2005, 53). 3
Wandel aus verschiedenen Perspektiven – Triangulation
Wie erläutert, generiert die Studie Erkenntnisse über Veränderungen des Systems Journalismus in seinen drei Dimensionen (Organisationen, Rollen, Programme) und darüber hinaus den Wandel der Kontextbedingungen journalistischer Arbeit. Diese ganzheitliche Herangehensweise macht es erforderlich, unterschiedliche Methoden der Journalismusforschung einzusetzen, um den Journalismus aus mehreren Perspektiven zu betrachten (vgl.
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Scholl & Weischenberg 1998, 53). Paus-Hasebrink (2004, 4) weist auf die Notwendigkeit eines Mehrmethoden-Designs hin, „sobald eine Fragestellung […] nicht einer [...] spezifischen Hypothese, sondern eher einem bestimmten Gegenstandsbereich gilt.“ Scholl und Weischenberg stellen heraus, dass sich das „Problem der begrenzten Reichweite […] auf jede empirische Methode übertragen [lässt] und […] nur in den Griff zu bekommen [ist] – nicht lösbar – durch Methodenkombination“ (Scholl & Weischenberg 1998, 57; Hervorhebungen im Original). Um den Gegenstandsbereich „Journalismus“ in seinem Wandel seit 1990 zu untersuchen, wurden Leitfadeninterviews, Inhaltsanalysen, Beobachtungen sowie eine Onlinebefragung durchgeführt (die Abbildung in Abschnitt 4 fasst das Untersuchungsdesign zusammen). Eine inhaltsanalytische Voruntersuchung der Verbandszeitschrift journalist und die Erstellung von Mediendossiers für die ausgewählten Angebote komplettieren die methodische Anlage. Die Triangulation der Methoden ermöglicht die Berücksichtigung unterschiedlicher Aspekte des Forschungsgegenstandes (vgl. Paus-Hasebrink 2004, 9; Flick 2000, 313). So lässt sich über die Beobachtung beispielsweise journalistisches Handeln direkt erfassen, während sich mit den Befragungsmethoden die Einstellung der Journalisten zu ihrem Beruf ergründen lässt. Nach dem Prinzip der Komplementarität kamen in dieser Studie sowohl qualitative als auch quantitative Zugänge zum Einsatz (vgl. Lamnek 1995, 250). Die Untersuchungsinstrumente wurden darüber hinaus inhaltlich aufeinander abgestimmt. So konnten mit unterschiedlichen Methoden zum einen die gleichen Phänomene beleuchtet werden; zum anderen gerieten etwaige Wechselwirkungen zwischen den Dimensionen des journalistischen Systems in den Blick: Die Befragung lieferte beispielsweise Erkenntnisse zu den Bedingungen, unter denen Medieninhalte entstehen; diese Medieninhalte wurden zudem mit einer Inhaltsanalyse untersucht. Die einzelnen methodischen Zugänge ergänzen sich nicht nur, die Ergebnisse der aufeinander bezogenen Methoden können darüber hinaus wechselseitig abgesichert werden. Das Verfahren verspricht zudem Widersprüche aufzudecken, die eine kritische Reflexion über den untersuchten Gegenstand anstoßen und sich so für folgende empirische Forschung oder die Entwicklung neuer theoretischer Modelle fruchtbar machen lassen (vgl. Flick 2000, 318; Lamnek 1995, 253). Triangulation erlaubt somit die „Validierung von Ergebnissen – durch das GegeneinanderAusspielen von Methoden –, [die] Steigerung der Reliabilität von Vorgehensweisen – verschiedene Methoden sind eher reliabel als eine Methode – und [die] Fundierung der Theoriebildung“ (Flick 2004, 17). Der folgende Abschnitt stellt die einzelnen methodischen Schritte in ihrer chronologischen Abfolge genauer vor.
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Untersuchungsdesign
Abbildung:
Untersuchungsdesign
Programme
Organisationen
Rollen
Kontexte
Vorstudie Journalist Codebuch mit 92 Items Qualitative Leitfadeninterviews Leitfaden (40 Schlüsselfragen plus Eventualfragen; Dauer: 45 bis 150 Minuten) Standardisierte Inhaltsanalysen Medienstruktur sowie Beitragsebene (Codebücher mit 40 bis 80 Variablen) Standardisierte Beobachtung Codebuch mit 22 sehr differenzierten Variablen
Standardisierte Onlinebefragung Fragebogen mit 15 Fragebatterien mit jeweils mehreren Thesen
4.1 Erster empirischer Zugang zum Untersuchungsfeld – Vorstudie „journalist“ Am Beginn der Studie stand eine quantitative Themenanalyse des Verbandsmagazins journalist. Ziel war es, Hinweise darauf zu bekommen, welche Veränderungen und Wandelprozesse in den drei Dimensionen des Journalismus und welche Umwelteinflüsse aus Sicht der Akteure des Systems als wichtig eingeschätzt wurden. Neben aktuellen Nachrichten aus der Medienbranche thematisiert der journalist vor allem neue Medientrends sowie die Arbeitsund Rahmenbedingungen im gesamten Journalismus, d.h. bei allen Mediengattungen. Im journalist schreiben häufig Journalisten über Journalismus; hier findet also eine kontinuierliche Selbstbeobachtung des Systems statt. Im Rahmen einer Vollerhebung wurden 2613 Artikel aus dem Zeitraum Januar 1990 bis Juni 2006 analysiert1. Analyseeinheit war der einzelne Artikel. Ausgehend von der Annahme, dass Themen, denen eine größere Bedeutung für die Journalisten und den Journalismus zugeschrieben wird und die einen Trend darstellen, in einem größeren Beitrag – und nicht bloß in einer kurzen Meldung – behandelt werden, gingen nur solche Beiträge in die Untersuchung ein, die mit einem Autorennamen oder -kürzel gekennzeichnet waren. Pro Artikel wurden bis zu fünf Themen kodiert. Das Codebuch umfasste 92 Themen, die zuvor aus der Berichterstattung des Branchenmagazins abgeleitet wurden. Diese Themen ließen sich zu 19 Themengruppen zusammenfassen (z.B. „ökonomische Kontexte“ oder „Darstellungsprogramme“). In einem zweiten Schritt wurden diese Themengruppen dann den Strukturbereichen des Journalismus (Organisationen, Rollen, Programme) sowie den Kontextbedingungen zugeordnet. Bei der Analyse zeigte sich, dass drei der fünf am häufigsten vorkommenden Themengruppen zum Bereich Kontextbedingungen zählten. Dies weist auf eine hohe Relevanz der 1
Damit wurden Artikel aus dem gleichen Zeitraum untersucht, aus dem auch für die standardisierte Inhaltsanalyse Artikel zufällig gezogen wurden.
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ökonomischen, rechtlichen und politischen Umwelteinflüsse für das System Journalismus hin. Dieser Befund ging zum Abschluss der Erhebung in eine Onlinebefragung der Redaktionsmitglieder (vgl. Abschnitt 4.5) ein, die insbesondere den Wandel dieser Kontextbedingungen fokussierte. Die Tatsache, dass im journalist zahlreiche Beiträge Entscheidungsabläufe in den Redaktionen sowie im gesamten Medienbetrieb behandeln, führte zu der Entscheidung, bei den Redaktionsbeobachtungen (vgl. Abschnitt 4.4) nicht nur physische Handlungen zu berücksichtigen, sondern einen Hauptakzent auf die Kommunikations- und Koordinationsprozesse zu legen. Darüber hinaus gaben die Befunde bei der Entwicklung der Inhaltsanalyseinstrumente Hinweise für Schwerpunktsetzungen. Die Themenanalyse hat gezeigt, welche Trends bei den Selektions- und Darstellungsprogrammen in den letzten Jahren unter den Journalisten als relevant galten. 4.2 Wahrgenommene Veränderungen in den einzelnen Redaktionen – Leitfadeninterviews „Der zentrale Einwand gegen die Verwendung sog. quantitativer Verfahren zielt darauf ab, daß durch standardisierte Fragebogen, Beobachtungsschemata usw. das soziale Feld in seiner Vielfalt eingeschränkt, nur sehr ausschnittweise erfasst und komplexe Strukturen zu sehr vereinfacht und zu reduziert dargestellt würden“. (Lamnek 1995, 4)
Diesem Einwand Rechnung tragend berücksichtigte das Forschungsdesign (ergänzend zu den standardisierten methodischen Zugängen) qualitative Interviews, um Einblicke in die komplexen Strukturen in den Redaktionen zu erhalten und Zusammenhänge zwischen einzelnen Faktoren aufzuspüren. 15 leitende journalistische Rollenträger, die im Idealfall schon lange Mitglied der jeweiligen Redaktionen waren, wurden interviewt. Die Wahl fiel hierbei bewusst auf Entscheider (Ressortleiter, Mitglieder der Chefredaktionen), weil diese über Strukturwissen und Organisationserfahrung verfügen. Der 40 Schlüsselfragen (plus Eventualfragen) umfassende Leitfaden war breit angelegt: Er ging nicht nur veränderten Bedingungen journalistischer Arbeit nach, sondern thematisierte auch Umstrukturierungen in der jeweiligen Redaktion und fragte nach den Gründen hierfür sowie nach Einflüssen aus der Umwelt des Medienunternehmens auf die Redaktion2. In diesem Sinne sind die befragten Journalisten Experten für ihr Medium und sie verfügen über Hintergrundwissen (vgl. Gläser & Laudel 2006, 10). Wie in vielen Studien waren die qualitativen Interviews ein erster methodischer Zugang zum Untersuchungsobjekt, der „zum einen [...] die Aufdeckung der für den jeweiligen Gegenstand relevanten Einzelfaktoren, zum anderen die Konstruktion von möglichen Zusammenhängen dieser Faktoren“ (Mayring 2008, 20) ermöglichte. Die Leitfadengespräche hatten zum einen die Funktion von Rechercheinterviews: Sie sammelten Informationen über die ausgewählten Medien, die auf anderen Wegen nicht zu recherchieren waren. Zum anderen hatten sie explorativen Charakter, indem sie erste Eindrücke vermittelten3, welche Veränderungen im 2
3
Der Leitfaden umfasste in acht Blöcke aufgeteilt Fragen zum beruflichen Werdegang sowie zu Veränderungen in Bezug auf die Arbeitsorganisation, die ökonomischen Rahmenbedingungen, die inhaltlichen und redaktionellen Konzepte, die Organisationskultur, die Technik, die Arbeitsweisen und Rollen und ferner Fragen zur Zukunft des Journalismus. Erste Eindrücke zu Veränderungen im Journalismus hatte auch die Themenanalyse des Journalist geliefert; bei den Leitfadeninterviews handelt es sich jedoch um die ersten Eindrücke seitens einzelner Rollenträger der 15 Medien, die die Auswahl dieser Studie konstituieren.
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Journalismus seit 1990 in den jeweiligen Redaktionen aus Sicht erfahrener Journalisten eine entscheidende Rolle gespielt haben. Ziel der Leitfadengespräche war es, „dem Forscher das besondere Wissen der in die Situation und Prozesse involvierten Menschen zugänglich zu machen“ (Gläser & Laudel 2006, 10 f.). Dass auch in einer systemtheoretisch argumentierenden Studie eine Befragung von Rollenträgern ihren festen Platz hat, begründen Scholl und Weischenberg (1998, 53) damit, dass Individuen als „Kristallisationspunkte sozialer Wirklichkeit“ für die empirische Forschung heranzuziehen sind, weil sie diejenigen sind, von denen Kommunikation initiiert wird, die Luhmann wiederum als konstitutiv für soziale Systeme setzt. Die Individuen geraten nicht als Person, sondern als Träger einer Mitgliedsrolle in einem sozialen System in den Fokus der Forschung (vgl. ebd., 54 ff.). „Die Systemmitglieder beobachten journalistische Kommunikationen, also die Bedingungen, den Prozess und das Produkt der Entstehung öffentlicher Aussagen, und beschreiben diesen nach bestimmten Regeln im Rahmen der Befragung“ (ebd., 56). Obwohl die Befragung bei den Individuen ansetzt, erlaubt sie systematische, d.h. über das Individuelle hinausgehende Erkenntnisse: „Die (Selbst-) Beschreibung wird von Individuen angefertigt, ist aber nicht (notwendigerweise) selbst individuell, sondern eine Beschreibung ausgewählter Aspekte des Systems. Die thematische Auswahl der Fragen, Beobachtungs- oder Codierschemata bestimmt hauptsächlich, inwiefern die Beschreibung eher individuell oder sozial, also auf das System bezogen ist“. (Scholl & Weischenberg 1998, 54)
Die Leitfadeninterviews können im Gegensatz zu den aggregierenden Daten der Onlinebefragung (vgl. Abschnitt 4.5) für jedes Medium nachzeichnen, wie sich die Veränderungen im konkreten Fall in den Redaktionen vollzogen bzw. niedergeschlagen haben. So lässt sich also für die Entwicklung in jeder Redaktion identifizieren, welche Faktoren sich in- und außerhalb der Redaktion auf welche Weise beeinflusst haben. Bei der Interpretation der in der Studie generierten Befragungsergebnisse zum Wandel des Journalismus muss bedacht werden, dass es sich um subjektive Erinnerungsleistungen der Befragten, d.h. um nachträgliche Rekonstruktionen handelt. 4.3 Analyse der Medieninhalte – standardisierte Inhaltsanalysen Die Inhaltsanalyse dient der „systematischen, intersubjektiv nachvollziehbaren Beschreibung inhaltlicher und formaler Merkmale von Mitteilungen“ (Früh 1998, 24) und ergänzt die subjektiven Einschätzungen der journalistischen Rollenträger damit um eine Analyse manifester Inhalte. Inhaltsanalysen eignen sich als Instrumente für Längsschnittstudien zum Medienwandel besonders, weil sie erfassen, was sich aus Perspektive der Rezipienten über die Jahre formal und inhaltlich geändert hat. Von den Medieninhalten ist hingegen nicht direkt auf die Entstehungsbedingungen in den Redaktionen zu schließen. Dieses Problem lässt sich wiederum durch die Triangulation angehen, indem Informationen zu veränderten Kommunikations- und Kooperationsprozessen in den Redaktionen mithilfe von Befragungen erhoben werden. „Demnach sind die Stärken und Schwächen von Befragung und Inhaltsanalyse offenbar komplementär“ (Scholl & Weischenberg 1998, 60). Dies zeigte sich in der vorliegenden Studie bei der Triangulation der Ergebnisse der Inhaltsanalyse mit denen der Leitfadeninterviews (vgl. Abschnitt 4.2) und der Onlinebefra-
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gung (vgl. Abschnitt 4.5): So halfen die Befragungen dabei, herauszufinden, inwieweit Umstrukturierungen in den Redaktionen, veränderte Arbeitsbedingungen und/oder Umwelteinflüsse mit Trends und Veränderungen auf der Ebene der Medieninhalte – unter anderem der Themen und Darstellungsformen oder verschiedener Gestaltungsmittel wie Personalisierung, Emotionalisierung, Sprachstil oder der Verwendung von Fallbeispielen – zusammenhängen. Beispielsweise hat sich gezeigt, dass ein Großteil der untersuchten Medien zunehmend an den Formen der Vermittlung arbeitet und anstrebt, die Berichterstattung für das Publikum attraktiver zu gestalten – etwa durch eine zunehmende Verwendung von Personalisierung oder durch einen aufgelockerten Sprachstil. Auch die Ergebnisse der standardisierten Onlinebefragung bestätigten, dass die Publikumsorientierung wichtiger geworden ist. Ziel der durchgeführten Inhaltsanalyse war zudem, neben der Beschreibung von Veränderungen bei den Medieninhalten auch Inferenzen aus der untersuchten Medienberichterstattung zu ziehen. Diese Inferenzen wurden mithilfe der Leitfadeninterviews und der Onlinebefragung noch einmal validiert. Für die Konzeption der Codebücher gab die explorative Vorstudie, wie an anderer Stelle bereits erwähnt (vgl. Abschnitt 4.1), Hinweise darauf, inwiefern sich die Berichterstattung in den letzten Jahren verändert hat. Darüber hinaus orientierte sich die Kategorienbildung an bereits vorhandenen Studien. So ließen sich in anderen Untersuchungen bewährte Kategorien für die Studie zum journalistischen Wandel anpassen (vgl. u.a. Donsbach & Büttner 2005; Schönbach 1997; Wegener 2001; Wittwen 1995). Zudem wurden Kategorien induktiv aus dem Material heraus erarbeitet und durch Probekodierung weiter verfeinert bzw. spezifiziert. Für den Internetbereich standen zum damaligen Forschungsstand noch nicht für alle zu erforschenden Phänomene Beispiele der Kategorienbildung aus anderen Studien zur Verfügung. Die Analyse der Berichterstattung wurde daher breit angelegt und setzte auf zwei Ebenen an: Zum einen wurde die Ebene der gesamten Ausgabe untersucht – hierbei standen formale und strukturelle Elemente wie das Verhältnis von werblichem und redaktionellem Teil, Visualisierungselemente und die Musikeinbettung im Vordergrund. Zum anderen wurden einzelne Beiträge inhaltlich analysiert – Kategorien wie Thema, Darstellungsform, Tenor, Emotionalität und Sprachstil fanden dabei Berücksichtigung. Eine besondere Herausforderung bei der Entwicklung der Inhaltsanalyse bestand darin, die unterschiedlichen Mediengattungen so zu untersuchen, dass sie hinsichtlich möglichst vieler Kategorien verglichen und gleichzeitig in ihren Spezifika erfasst werden konnten. Daher war es notwendig, für jede Mediengattung (Print, Fernsehen, Hörfunk, Internet) ein eigenes, entsprechend angepasstes Erhebungsinstrument zu erarbeiten. Bei den Rundfunkmedien wurden jeweils die gesamte Sendung auf struktureller und alle Beiträge der Sendung auf inhaltlicher Ebene analysiert (zwei Codebücher). Die Internet- und Printmedien wurden hinsichtlich ihrer strukturellen Merkmale auf der Ebene der gesamten Ausgabe untersucht; die inhaltlichen Kategorien wurden auf eine Zufallsstichprobe von Artikeln aus diesen Gesamtausgaben angewandt (vier Codebücher). Diese sechs sehr differenzierten Codebücher mit ausführlichen Definitionen und illustrierenden Ankerbeispielen umfassten jeweils zwischen 40 bis 80 Variablen (je etwa 40 Seiten); die ausführlichen Definitionen in den Untersuchungsinstrumenten sowie aufwendige Schulungen der Kodierer und eine kontinuierliche virtuelle Diskussion auf einer Internetplattform sicherten eine hohe Reliabilität4. 4
Fast alle Reliabilitätswerte (berechnet nach Holsti) liegen über 0,6; die meisten über 0,8. Für Kategorien, bei denen schlechtere Werte erzielt worden sind, wurden erneut Kodiererschulungen durchgeführt. Werte um 0,6 sind im vorliegenden Fall als durchaus akzeptabel anzusehen, da es sich bei den Kategorien teilweise um
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Jedes einzelne Codebuch wurde zudem in mehreren Pretests am Material geprüft. Wenn notwendig, wurden Kategorien verändert bzw. spezifiziert und ergänzt. Die 15 Medien des Samples wurden für die bewusst ausgewählten Jahrgänge 1990, 1995, 2000 und 20055 analysiert. Aus forschungsökonomischen Gründen musste für die Analyse eine Auswahl der Berichterstattung getroffen werden: Die Entscheidung fiel gegen eine künstliche Woche und für die Ziehung einer Zufallsstichprobe, da sich die vermeintlichen Vorzüge der künstlichen Woche als Mittel für die Auswahl als unhaltbar erwiesen haben: „Zunächst ist festzuhalten, dass sich der forschungsökonomische Vorteil künstlicher Wochen in Luft auflöst, wenn man berücksichtigt, dass wesentlich kleinere Zufallsstichproben bessere Ergebnisse erzielen als künstliche Wochen. Ein Mehraufwand bei der Stichprobenziehung würde damit durch einen deutlich geringeren Codieraufwand mehr als aufgewogen“. (Jandura et al. 2005, 112)
Zudem wird angeführt, dass diejenigen Studien, die mit künstlichen Wochen operiert haben, Variablen untersuchten, die kaum Varianz aufweisen – wie der Anteil des redaktionellen Teils oder der Umfang der Bildberichterstattung (vgl. ebd., 112). Die hier vorgestellte Studie fokussiert, wie bereits erläutert, neben diesen eher strukturellen Kategorien jedoch auch inhaltliche Komponenten wie z.B. Themen und Akteure; bei diesen Variablen ist der Stichprobenfehler bei einer künstlichen Woche jedoch teilweise so groß, dass keine sinnvollen Aussagen mehr möglich wären (vgl. ebd.). Gegen das Verfahren der natürlichen Woche spricht, dass diese durch spezifische Ereignisse in dem Maße geprägt sein kann, dass sie die Grundgesamtheit der Berichterstattung nicht mehr adäquat abbildet (vgl. Maurer & Reinemann 2006, 53). Aus den oben genannten Jahrgängen wurde für die Strukturanalyse pro Monat eine Ausgabe zufällig gezogen; somit gingen pro Medium 48 Ausgaben in die Analyse ein, wie die folgende Tabelle zeigt. Eine Ausnahme bildeten die Internet- sowie teilweise die Hörfunkmedien. Bei diesen Mediengattungen waren die Angebote in einigen Fällen nicht über so lange Zeiträume archiviert, sodass sie für die Analyse nicht zugänglich waren. Zudem berichten die Internetmedien erst seit Mitte der 90er-Jahre.
5
sehr „weiche“ Kategorien (Tenor, Sprachstil, Emotionalität etc.), teilweise um Kategorien mit mehr als 30 Ausprägungen (Thema, Darstellungsform etc.) handelt. Im Fall der Hörfunk- und Internetanbieter wurden auch Ausgaben aus den Jahren 2007 und 2008 analysiert, um das fehlende Material aus den frühen Jahrgängen zu kompensieren. Aus forschungspragmatischen Gründen musste auf diese Jahrgänge zurückgegriffen werden, weil private Hörfunksender über keine systematische Archivierung ihres Programms verfügen und auch Online-Redaktionen ihre Angebote ebenfalls nicht speichern. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich die Jahrgänge 2005 bzw. 2007/08 grundlegend in Struktur und Aufbau unterscheiden, so dass dieser Lösungsweg als praktikabel erschien. Natürlich ist bei der Interpretation der Themenkarrieren dieser Unterschied zu berücksichtigen. Der Nutzen, diese Unregelmäßigkeit in Kauf zu nehmen war höher, als auf das Einbeziehen dieser Medien in die Analyse zu verzichten.
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Bernd Blöbaum, Sophie Bonk, Anne Karthaus und Annika Kutscha
Tabelle:
Stichprobe der Inhaltsanalyse
Monat
1990 Tag
1995 KW
Tag
2000 KW
Tag
2005 KW
Tag
KW
Januar
Mo
8
2
Fr
6
1
Di
11
2
Sa
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Aufgrund der zufällig ausgewählten Messzeitpunkte über 15 Jahre hinweg kann die Inhaltsanalyse valide Aussagen über den Wandel treffen. Die hohen Fallzahlen6 für die einzelnen analysierten Kategorien sprechen zudem für eine hohe Generalisierbarkeit der Ergebnisse auf den Wandel der ausgewählten Medien. 4.4 Analyse der Kommunikations- und Kooperationsprozesse in den Redaktionen – standardisierte Beobachtung „Zwar ist die Beobachtung auf Handlungen und Reaktionen beschränkt, kann also im Gegensatz zur Befragung oder Inhaltsanalyse Meinungen und Einstellungen nicht direkt erfassen, sie kann aber bei geschicktem Einsatz Daten erheben, die den anderen Verfahren verborgen bleiben. Das gilt insbesondere dann, wenn es sich um unbewusste Phänomene, beiläufiges beziehungsweise routiniertes Verhalten handelt.“ (Gehrau 2002, 9)
Den von Gehrau angesprochenen Vorzug einer Beobachtung, beiläufiges und routiniertes Verhalten zu erfassen, nutzte die beschriebene Studie. Bei der standardisierten Redaktions-
6
Es wurden gut 4100 Hörfunkbeiträge, 3800 Fernsehbeiträge und 1700 Printartikel kodiert. Hinzu kommen gut 1300 Fälle bei der Strukturanalyse der Internetmedien sowie 6200 Fälle bei der Strukturanalyse der Printmedien (ein Fall entspricht einem Ressort in einer Zeitungsausgabe an einem Messzeitpunkt).
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beobachtung (ein bis vier Tage)7 standen Kommunikations- und Kooperationshandlungen im Vordergrund; sie sollten u.a. Aufschluss über das tägliche Themenmanagement geben. Bei diesen Handlungen ist davon auszugehen, dass sie weitgehend routiniert und in schneller Folge ablaufen und demzufolge von den Journalisten nur eingeschränkt reflektiert und verbalisiert werden können. Eine Befragung der Rollenträger würde demnach wahrscheinlich keine – oder nur begrenzt – zufriedenstellende Daten dazu liefern. Mit der Beobachtung dagegen wird der Anspruch verbunden „herauszufinden, wie etwas tatsächlich funktioniert oder abläuft. Darstellungen in Interviews enthalten demgegenüber eine Mischung davon, wie etwas ist, und davon, wie es ein sollte, die erst noch entwirrt werden muß“ (Flick 2000, 152; Hervorhebung im Original). Mittels standardisierter Beobachtungen lassen sich die Daten von der Einzelperson abstrahieren. Allerdings gilt dies nicht für eine Abstrahierung auf Redaktionsebene, da aufgrund des hohen Erhebungsaufwands keine repräsentativen Studien durchführbar sind. „Selbst wenn Redaktionen und die in ihnen stattfindenden Interaktionen untersucht werden, ist die Generalisierung auf das gesellschaftliche Funktionssystem Journalismus [...] problematisch, denn die Beobachtung einer Organisation ist – wie die Befragung von Individuen – methodisch reduktionistisch. Die Erforschung organisatorischer Probleme ist nämlich ebenso wie die Erforschung individueller Perspektiven nur mittelbar ein Indiz für Journalismus insgesamt.“ (Scholl & Weischenberg 1998, 58 f.)
In der Studie fiel die Wahl auf eine Einzelperson als Beobachtungsobjekt. Dies war deshalb notwendig, da bei einer weitgehend standardisierten Beobachtung die Forscher schlicht überfordert gewesen wären, die Handlungen ganzer Gruppen detailliert zu erfassen und zu kodieren: „Die Beobachtung von Einzelpersonen bringt aber nicht nur entscheidende forschungspraktische Vorteile mit sich [...]. Zudem ist durch die Fokussierung auf Einzelne die Vernetzung von unterschiedlichen Handlungselementen in der alltäglichen Arbeit des jeweiligen Redakteurs detailliert zu betrachten.“ (Quandt 2005, 171)
Beobachtet wurde der Redakteur vom Dienst (RvD) oder eine vergleichbare Position (z.B. Chef vom Dienst, Manager Newsdesk etc.) in den Redaktionen. Dieser Fokus ergibt sich aus dem primären Forschungsinteresse der Untersuchung: Durch die Beobachtung sollte – wie eingangs erwähnt – identifiziert werden, wie Kommunikations-, Entscheidungs- und Koordinationsprozesse in Redaktionen verlaufen, wie in einer Redaktion im Tagesgeschäft zusammengearbeitet wird, wie die Arbeitsabläufe zustande kommen und gesteuert werden. Daher wurde eine zentrale, koordinierende Arbeitsrolle innerhalb der Redaktion beobachtet. Die Arbeitsprofile von Journalisten sind in Abhängigkeit von spezifischen Medien, Rollen und Ressorts sehr verschieden, sodass sich die Rollenträger nicht ohne weiteres miteinander vergleichen lassen (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006). Die Konzentration auf den RvD konnte hier ein hohes Maß an Vergleichbarkeit gewährleisten. Zudem ist der RvD in der Regel nicht einem bestimmten Ressort zugeteilt, sondern agiert auf einer übergeordneten Ebene. Dies korrespondiert mit der Inhaltsanalyse der Studie, in der ebenfalls keine 7
Der erste Beobachtungstag ging nicht mit in die Auswertung ein, um Eingewöhnungseffekte auf beiden Seiten zu minimieren. Dabei gab es allerdings eine Ausnahme, da in diesem Fall seitens der Redaktionsleitung nur einem Beobachtungstag zugestimmt wurde.
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Beschränkung auf bestimmte Ressorts vorgenommen wurde, sondern der Wandel des Informationsjournalismus insgesamt erfasst worden ist. Das Kodierschema der Beobachtung beinhaltete 22 sehr differenzierte Variablen (mit bis zu 100 Ausprägungen), die folgende Bereiche der Handlungen abdeckten: (1) den Kontext einer Handlungssituation, (2) die Handlung selbst (Art und Funktion), (3) die Kommunikation, (4) die Handlungsdifferenzierung (Grund und Hinweise auf Berichterstattung), sowie (5) allokative und autoritative Ressourcen. Durchgeführt wurde die Beobachtung in zwölf der 15 ausgewählten Medienredaktionen. Kodiert wurden mithilfe der Statistiksoftware SPSS insgesamt 7300 Handlungen von zwölf Beobachtungstagen – die weiteren Beobachtungstage wurden aufgrund des großen Zeitaufwandes (noch) nicht in ihrer endgültigen Form in SPSS kodiert, sondern liegen lediglich als ausgefüllte Codesheets vor; der erste Beobachtungstag ging aufgrund möglicher Verzerrungen nicht in die Auswertung mit ein. Alle Aspekte, die mit dem standardisierten Instrument der Beobachtung nicht zu erfassen waren, aber dennoch wichtige Informationen über die Redaktion, die Strukturen, Arbeitsabläufe und die Organisationskultur lieferten, wurden von den Beobachtern in einem Beobachtertagebuch festgehalten. Im Vorfeld der Beobachtungsstudie wurde dazu ein entsprechender Beobachterleitfaden erstellt, der die Forscher für bestimmte Aspekte sensibilisierte; dabei wurde auf den Leitfaden für die Experteninterviews sowie auf die ersten Ergebnisse der Auswertung der Leitfadengespräche Bezug genommen. Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass das Instrument hinreichend offen angelegt war, um keine relevanten Arbeits- und Kommunikationsprozesse außer Acht zu lassen. Die Konzeption des standardisierten Untersuchungsinstrumentes orientierte sich u.a. an den Beobachtungsstudien von Manfred Rühl (1979), Klaus-Dieter Altmeppen (1999) und insbesondere Thorsten Quandt (2005). Es handelt sich um eine standardisierte, nichtteilnehmende, offene Beobachtung. Für die offene Anlage der Beobachtung sprachen forschungsethische Gesichtspunkte. Zudem hätte sich eine verdeckte Beobachtung der Schaltstelle der Redaktion wohl kaum realisieren lassen. Quandt (2005, 173) gibt dennoch zu bedenken: „Kritiker monieren jedoch, dass eine solche offene Untersuchungsform hoch reaktiv sei, da die Natürlichkeit des Beobachtungsfeldes durch das Wissen um den Beobachter empfindlich gestört werde“. Die Erfahrungen während der Beobachtungen wiesen jedoch darauf hin, dass dies nicht der Fall war. Spätestens am zweiten Tag wurden die Forscher von den Beobachteten kaum mehr wahrgenommen; dies ist sicherlich auch auf die hohe Arbeitsdichte im Arbeitsalltag der beobachteten Redakteure zurückzuführen. Durchgeführt wurde die Beobachtung von Mitgliedern des Forscherteams selbst. Der Datenerhebung im Feld ging ein aufwendiger Abstimmungs- und Schulungsprozess der Forscher voraus. Zum einen waren alle Forscher des Teams an der Konstruktion des Codebuchs für die standardisierte Beobachtung beteiligt; zum anderen wurden mit allen Beobachtern mehrere Pretests in der Redaktion des Hochschulhörfunks durchgeführt. Die dort vorgenommenen Kodierungen wurden verglichen und diskutiert. Alle diese Maßnahmen dienten dazu, ein gemeinsames Verständnis der Forscher von den Kategorien und ihren Ausprägungen zu entwickeln und auf diese Weise, die Interkodierer-Reliabilität sicherzustellen8. 8
Ständige Absprachen der Beobachter untereinander während des detaillierten Kodierungsprozesses auf Basis der standardisierten Protokollierung während der Beobachtung trugen ebenfalls zur Sicherung einer hohen Reliabilität bei. Ein systematischer Reliabilitätstest wurde nicht durchgeführt. Ein solches Vorgehen war in diesem Fall nicht notwendig, weil hier die Kodierungen nur von den Mitgliedern des Forscherteams selbst durchgeführt wurden. Eine diskursive Aushandlung war aus Sicht der Forscher daher ausreichend.
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In der Studie gibt es in Bezug auf die Beobachtung nur einen Messzeitpunkt, es handelt sich also um eine Nullmessung. Rückschlüsse auf Wandel können demnach nicht gezogen werden; dazu muss in einigen Jahren eine weitere Messung durchgeführt werden – was mit Hilfe des sehr standardisierten Instruments auch bei einem Personalwechsel innerhalb des Forschungsteams gut realisierbar ist. In Bezug auf die unterschiedlichen Organisationsformen – traditionelle Redaktionen gegenüber Newsroom/Newsdesk-Redaktionen – lassen sich jedoch auch bei einer Nullmessung vorsichtige Rückschlüsse auf Veränderungen im Rollenprofil des RvD ziehen. Dies lässt sich damit begründen, dass davon auszugehen ist, dass sich die Profilanforderungen in der Redaktion mit Newsdesk gerade aufgrund dieser neuen Organisationsform verändert haben (vgl. Meier 2002). Stützen lassen sich diese Annahmen durch die Leitfadeninterviews mit einzelnen Rollenträgern der Redaktionen sowie durch die quantitative Onlinebefragung. 4.5 Einschätzungen der Journalisten zum Wandel – Onlinebefragung Basierend auf den Erkenntnissen aus Experteninterviews, Inhaltsanalysen sowie den Beobachtungen wurde zum Abschluss der Studie eine standardisierte Onlinebefragung konzipiert. Sie hatte zum Ziel, die identifizierten Trends und Entwicklungen anhand der Aussagen der journalistischen Mitarbeiter aller Redaktionen zu validieren. Zudem wurden Veränderungen zu Aspekten abgefragt, die bis dato in der Studie noch nicht berücksichtigt werden konnten. Hier spielen vor allem die Umweltbeziehungen des Journalismus eine Rolle. Die journalistischen Akteure aus der Stichprobe sollten Veränderungsprozesse bei ihren Medien und im Journalismus insgesamt bewerten. Dabei galt es, in den Fragen sowohl die inhaltliche als auch die zeitliche Dimension zu integrieren. Aus den Ergebnissen der anderen Methoden, aus den bisherigen Erkenntnissen der Journalismusforschung sowie relevanten Diskussionen in der journalistischen Fachpresse wurden Thesen zu Veränderungen und Trends im Journalismus formuliert, zu denen die Befragten Stellung nehmen sollten9. Darüber hinaus wurden die Akteure aufgefordert, für bestimmte Ressourcen, Maßnahmen der Qualitätssicherung, Darstellungsmittel, journalistische Kompetenzen etc. einzuschätzen, ob diese in den vergangenen 20 Jahren an Relevanz gewonnen oder verloren haben10. Insgesamt bestand der Fragebogen aus 15 Fragebatterien mit jeweils mehreren Thesen. So sollte beispielsweise auf einer fünfstufigen Skala Zustimmung/Ablehnung zu folgenden Thesen geäußert werden: „Seit 1990 bzw. seitdem ich hauptberuflich journalistisch tätig bin, >…@ gehe ich bei der Auswahl und Bearbeitung der Themen weniger von eigenen Interessen und Vorlieben aus; >…@ ist die Arbeit dichter geworden; >…@ ist die Orientierung an der Auflage/Quote zu einer entscheidenden Größe für die tägliche journalistische Arbeit geworden.“ 9
10
Um die Ergebnisse adäquat bewerten zu können, wurden die Journalisten gleich zu Beginn des Fragebogens gebeten, neben ihrem Alter auch ihre Dienstjahre anzugeben. Dem folgte die Bitte, die Veränderungen im Journalismus für die eigenen Dienstjahre einzuschätzen und nicht für die vergangenen 20 Jahre, wenn man noch nicht so lange als Journalist tätig ist. Für die Onlinebefragung gelten die gleichen methodologischen Voraussetzungen wie für die Leitfadeninterviews: Durch ihre Mitgliedsrolle in der Redaktion und ihre Beteiligung am Journalismus sind die Journalisten strukturell an das System Journalismus gekoppelt und eignen sich daher für eine Beschreibung des gesellschaftlichen Funktionssystems Journalismus. Die Systemmitglieder beobachten journalistische Kommunikationen, also die Bedingungen, den Prozess und das Produkt der Entstehung öffentlicher Aussagen (vgl. Scholl & Weischenberg 1998, 55 f.).
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Die Befragung wurde online durchgeführt, weil das Ausfüllen eines Online-Fragebogens am einfachsten in den journalistischen Alltag integrierbar ist. Alle Journalisten der 15 ausgewählten Redaktionen wurden angeschrieben, soweit der Feldzugang es zuließ – ausgefüllt wurde der Fragebogen schließlich von 327 Journalisten. Die Erreichbarkeit der Journalisten war insofern begrenzt, als das Projekt auf die aktive (und zeitaufwendige) Hilfe von Schlüsselpersonen in den Medien angewiesen war. Kontaktiert wurden die Redaktionsleitungen der Medien mit der Bitte, den Fragebogen über den E-Mail-Verteiler der Redaktion zu versenden11. Positiv auf den Rücklauf wirkte sich die Tatsache aus, dass jeweils ein Mitglied des Forscherteams bereits im Rahmen der Beobachtung in beinahe jeder Redaktion zu Gast gewesen war und somit keine absolute Anonymität, sondern eine gewisse Verbindlichkeit zwischen Forschern und Befragten bestand. Außerdem wurde den Redaktionen ein Bericht über die Ergebnisse des Forschungsprojekts in Aussicht gestellt. Es lässt sich vermuten, dass dies einen zusätzlichen immateriellen Anreiz für einige Befragte bedeutet hat: „Tatsächlich scheinen Informationen, wie z.B. die Bereitstellung einer Zusammenfassung der Ergebnisse der Studie, dem Wunsch vieler Teilnehmer/innen von Online-Befragungen zu entsprechen“ (Batinic & Moser 2005, 66). Bei der Befragung war es – wie schon bei der Inhaltsanalyse – eine Herausforderung, einen Fragebogen zu entwickeln, der für alle Mediengattungen praktikabel war. Daher musste es zwangsläufig zu Vereinfachungen und Verallgemeinerung von Sachverhalten kommen. Der Fragebogen wurde, bevor er ins Feld ging, von Journalisten im Rahmen eines Pretests beantwortet. Mit Hilfe der Anmerkungen und Kritikpunkte dieser Befragten wurde der Fragebogen überarbeitet und – vor allem hinsichtlich der Verständlichkeit und des Aufbaus – optimiert. Dennoch ließ sich nicht sicherstellen, dass alle Befragten eine Frage gleich verstehen bzw. interpretieren – dies ist aber ein generelles Problem der schriftlichen Befragung. Es „hängt die Qualität der Beantwortung aber allein vom Befragten ab und ist nicht mehr korrigierbar durch den Interviewer“ (Scholl 2003, 58). Was die Leistung der Onlinebefragung zur Messung von Wandel betrifft, so sind dieselben Einschränkungen zu konstatieren wie bei den Leitfadeninterviews: Die Befragten können immer nur subjektive Erinnerungsleistungen erbringen. Problematisch können bei der Deutung der Antworten weiterhin die unterschiedlich lange Betriebszugehörigkeit sowie die Berufserfahrung generell sein, da einzelne Mitarbeiter die Veränderungen unterschiedlich empfunden haben können. Wenn Journalisten keine Wandelprozesse feststellen, muss dies nicht zwangsläufig bedeuten, dass in dem Medium auch keine Veränderungsprozesse stattgefunden haben; möglicherweise wurden die Mitarbeiter nur nicht davon tangiert oder haben keine Veränderung empfunden. In die andere Richtung sind Antworten voraussichtlich valider: Wenn Mitarbeiter Veränderungen verbalisieren, ist auch davon auszugehen, dass Veränderungen an sich statt gefunden haben. Allerdings kann es sein, dass die Journalisten die Veränderungen stärker bzw. schwächer empfinden, als sie tatsächlich stattgefunden haben. So gaben beispielweise gut 80 Prozent der Befragten an, dass Personalisierung (viel) wichtiger geworden sei; in der Analyse der Berichterstattung zeigte sich jedoch nur ein leichter Anstieg (knapp zwei Prozentpunkte) von Beiträgen mit personalisierenden Elementen. Dieses Ergebnis könnte zum einen so zu interpretieren sein, dass die befragten 11
Bei zwei Redaktionen wurden Mitarbeiter von zuliefernden Redaktionen sowie Korrespondenten vom Forscherteam direkt angeschrieben, um den Aufwand für die jeweiligen Redaktionen selbst möglichst gering zu halten. Eine weitere Redaktion äußerte ebenfalls den Wunsch, die Mitarbeiter der Redaktion direkt anzuschreiben.
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Journalisten das Konzept der Personalisierung anders verstanden haben als vom Forscherteam gemeint12. Zum anderen wäre es denkbar, dass eine mögliche redaktionelle Tendenz, in Artikeln und Beiträgen Elemente der Personalisierung überhaupt einzubauen, von den Redaktionsmitgliedern sehr viel stärker wahrgenommen wird. Dies ist der Tatsache geschuldet – wie andere Ergebnisse der Studie zeigen – dass sich die Redaktionen angesichts von verschärften Konkurrenzbedingungen verstärkt darum bemühen müssen, sich an den Bedürfnissen und Wünschen des Publikums zu orientieren. Dieser Sachzwang führt dazu, dass während Redaktionskonferenzen und informellen Gesprächen viel über redaktionelle Strategien und Konzepte der Publikumsorientierung – wie z.B. Personalisierung – gesprochen wird und deshalb diese den journalistischen Akteuren sehr viel präsenter sind als sie sich tatsächlich in der konkreten Berichterstattung niederschlagen. Die von den journalistischen Akteuren wahrgenommenen gefühlten Veränderungen in Sachen Publikumsorientierung sind deutlich stärker als die inhaltsanalytisch messbaren. 5
Fazit
Die Dynamik des Journalismus wissenschaftlich zu analysieren, bleibt eine Herausforderung. Um bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen, welche Einflussfaktoren zu welchen Veränderungen im Journalismus geführt haben, und um die Veränderungen ungefähr datieren zu können, wurde für den Untersuchungszeitraum der Studie ein Zeitstrahl erstellt. Auf diesem Zeitstrahl wurden sowohl gesellschaftliche Prozesse und Ereignisse von 1990 bis heute aus unterschiedlichen Bereichen wie Politik, Wirtschaft, Kultur, Katastrophen, Kriege etc. als auch einschneidende Veränderungen, die direkte Auswirkungen auf das journalistische System hatten, aufgezeigt. Bei Zweitgenannten wurden beispielsweise Entwicklungen innerhalb des Mediensystems berücksichtigt – wie die Medienkrise um die Jahrtausendwende oder neue technologische Entwicklungen, die die Arbeit in journalistischen Redaktionen beeinflusst haben. Zudem helfen die Aussagen der für die Studie interviewten Journalisten dabei, die Veränderungen im System Journalismus zeitlich einzuordnen. Ein großer Vorzug der Studie besteht darin, dass die unterschiedlichen Methoden jeweils auf dieselben Fälle (Redaktionen mit ihren Erzeugnissen und Mitgliedern) angewandt wurden, sodass jede Redaktion aus dieser ganzheitlichen Perspektive untersucht werden konnte. Auf diese Weise entstehen im Rahmen des Projekts 15 Fallstudien zu relevanten Nachrichtenmedien, die wiederum unter verschiedenen Fragestellungen miteinander verglichen werden können, aber auch Aussagen über die Entwicklungen der unterschiedlichen Mediengattungen zulassen. Damit lassen sich für jede Redaktion individuell Veränderungen nachzeichnen. Flick bewertet ein solches Vorgehen als elaborierte Form der Triangulation: „Die konsequenteste Variante ist, die triangulierten Methoden an denselben Fällen einzusetzen: […] Dieses Vorgehen ermöglicht die fallbezogene Auswertung [der] Datensorten und erlaubt am Einzelfall die unterschiedlichen Perspektiven, die die methodischen Zugänge eröffnen, zu vergleichen und zu verknüpfen.“ (Flick 2000, 316) 12
Bei der schriftlichen Befragung besteht immer das Risiko, dass die Frageformulierung anders verstanden wird als sie intendiert war, weil nicht die Möglichkeit zur Erläuterung besteht (vgl. Scholl 2003, 49 f.; 196 ff.).
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Die ganzheitliche Perspektive auf die Redaktionen ist zudem insofern wichtig, als diese zwar zum Teil vergleichbare Strukturen aufweisen, aber eben auch Unterschiede. Zudem variieren die Rahmenbedingungen und Umwelteinflüsse, unter denen die Redaktionen ihre journalistische Berichterstattung gestalten. Die Triangulation auf der Ebene der Forscher bei der Entwicklung der Instrumente, der Datenerhebung sowie bei der Auswertung der Daten hat sich auch für diese Studie als wichtig und hilfreich erwiesen. Da an allen Schritten des Projekts stets mehrere Mitglieder des Forschungsteams beteiligt waren, gab es durchgehend eine gegenseitige Kontrolle (vgl. Paus-Hasebrinck 2004, 6). Das methodische Konzept, ausgehend von 15 Fallstudien Erkenntnisse zum Wandel des Journalismus seit 1990 zu gewinnen, hat sich als tragfähig erwiesen, die Dynamik solch verschiedener journalistischer Strukturelemente wie Rollen (z.B. Veränderungen der journalistischen Tätigkeiten), Organisationen (z.B. Arbeitsabläufe in traditionellen Redaktionsformen und an Newsdesks) und Programmen (z.B. Veränderungen beim Einsatz journalistischer Darstellungsformen) zu erfassen. Die Untersuchungsanlage trägt einer Vorstellung Rechnung, die unter Journalismus nicht nur das Handeln von Journalisten, die Inhalte von Medien oder die Medienorganisation versteht, sondern diese Elemente in ihren jeweiligen Bezügen erfasst. Eingebettet in ein gesellschaftstheoretisches Konzept sind damit auf der Basis empirischer Daten Aussagen über die Entwicklung des Informationsjournalismus in Deutschland in den vergangenen zwei Dekaden möglich, die sowohl die innere Dynamik wie die vom Journalismus zu verarbeitenden Umwelteinflüsse in den Blick nehmen. Literaturverzeichnis Altmeppen, K. (2006): Journalismus und Medien als Organisationen. Leistungen, Strukturen und Management. Wiesbaden: VS Verlag. Altmeppen, K. (1999): Redaktionen als Koordinationszentren. Beobachtungen journalistischen Handelns. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Batinic, B. & Moser, K. (2005): Determinanten der Rücklaufquoten in Online-Panels. In: Zeitschrift für Medienpsychologie, 17(2), 64-74. Blöbaum, B. (1994): Journalismus als soziales System. Geschichte, Ausdifferenzierung und Verselbständigung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Blöbaum, B. (2005): Wandel und Journalismus. Vorschlag für einen analytischen Rahmen. In: M. Behmer, B. Blöbaum, A. Scholl & R. Stöber (Hrsg.): Journalismus und Wandel. Analysedimensionen, Konzepte, Fallstudien. Wiesbaden: VS Verlag, 41-60. Donsbach, W. & Büttner, K. (2005): Boulevardisierungstrend in deutschen Fernsehnachrichten. Darstellungsmerkmale der Politikberichterstattung vor den Bundestagswahlen 1983, 1990 und 1998. In: Publizistik, 50(1), 21-38. Flick, U. (2000): Qualitative Forschung. Theorie, Methoden, Anwendung in Psychologie und Sozialwissenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Flick, U. (2004): Triangulation. Eine Einführung. Wiesbaden: VS Verlag. Früh, W. (1998): Inhaltsanalyse. Theorie und Praxis. Konstanz: UVK. Gehrau, V. (2002): Die Beobachtung in der Kommunikationswissenschaft: Methodische Ansätze und Beispielstudien. Konstanz: UVK. Gläser, J. & Laudel, G. (2006): Experteninterviews und qualitative Inhaltsanalyse als Instrumente rekonstruierender Untersuchungen. Wiesbaden: VS Verlag. Jandura, G., Jandura, O. & Kuhlmann, C. (2005): Stichprobenziehung in der Inhaltsanalyse: Gegen den Mythos der künstlichen Woche. In: V. Gehrau, B. Fretwurst, B. Krause, & G. Daschmann (Hrsg.): Auswahlverfahren in der Kommunikationswissenschaft. Köln: Halem, 71-116.
Journalismus in veränderten Medienkontexten
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Journalistische Selektionskriterien und Selektionsentscheidungen. Methodische Implikationen für die Anwendung einer Wert-Erwartungstheorie Ines Engelmann
1
Einleitung
Dass der Rational-Choice-Ansatz in der Journalismusforschung bislang eher zögerlich aufgegriffen wurde (z.B. bei Reinemann 2007), verwundert etwas, da zum Beispiel die Nachrichtenwerttheorie explizit mit Werten von Nachrichten als Selektionskriterien und somit zumindest implizit mit der Maximierung von Aufmerksamkeit argumentiert (Fengler & Ruß-Mohl 2007, 100). Staab (1990, 98 ff.) argumentierte als einer der ersten, dass Nachrichtenfaktoren keine inhärenten Merkmale von Ereignissen und nicht nur konsensbedingte Selektionskriterien im Journalismus sind (Kausalmodell). Er ergänzte die Nachrichtenwerttheorie um eine finale Perspektive. Sie geht davon aus, dass Journalisten aufgrund individueller oder redaktionell vermittelter politischer Einstellungen Nachrichtenfaktoren instrumentalisieren, um Sachverhalte in der Berichterstattung besonders zu betonen oder herunterzuspielen. Das Finalmodell der Nachrichtenwerttheorie wurde bisher nur inhaltsanalytisch geprüft (Staab 1990). Hauptkritikpunkt an diesem Vorgehen ist aber erstens, dass sich Kausal- und Finalwirkung von Nachrichtenfaktoren am Berichterstattungsergebnis nicht unterscheiden lassen (Fretwurst 2008). Und zweitens war die Nachrichtenwerttheorie bisher methodisch zumeist auf Inhaltsanalysen begrenzt, so dass sie strenggenommen keine Selektions-, sondern nur daran anknüpfende Gewichtungsentscheidungen durch Nachrichtenfaktoren erklärte (z.B. Eilders 1997, 34). Zudem wurde das Finalmodell der Nachrichtenwerttheorie bisher nicht handlungstheoretisch fundiert, so dass der Rational-Choice-Ansatz zwei Vorteile hat: Zum einen lassen sich damit individuelle Publikationsentscheidungen von Journalisten auf Basis bestimmter Selektionskriterien (z.B. zugeschriebenen Nachrichtenfaktoren) methodisch befriedigend erklären, zum anderen lassen sie sich in unterschiedliche institutionelle Kontexte wie z.B. Ressorts oder Redaktionen einbetten (z.B. Reinemann 2007). Eine Variante des Rational-Choice-Ansatzes sind Wert-Erwartungstheorien (WETheorie), die vor allem in der Mediennutzungsforschung präsent sind (z.B. Bilandzic 2006). Sie erweisen sich aber auch für die Journalismusforschung als fruchtbar. In diesem Beitrag schlage ich ein korrelatives Design auf Basis eines Wert-Erwartungsmodells (WEModell) vor, mit dem das Finalmodell der Nachrichtenwerttheorie mittels Befragung untersucht wird. Die zu erklärenden Variablen dieses Modells sind Selektionsentscheidungen über politisch divergierende Sachverhalte. Die unabhängigen Variablen sind erstens Nachrichtenfaktoren, die als subjektiv erwartete Intensitäten zu publikationswürdigen Sachverhalten und subjektive Bewertungen interpretiert werden sowie zweitens politische Einstellungen von Journalisten. Es wird erstens angenommen, dass Nachrichtenfaktor-
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Ines Engelmann
Zuschreibungen bei jenen Sachverhalten, die der politischen Einstellung von Journalisten entsprechen, höher ausfallen als bei ‚einstellungsfernen‘ Sachverhalten. Zweitens wird angenommen, dass aus zugeschriebenen Nachrichtenfaktor-Intensitäten und Bewertungen der Nachrichtenwert resultiert, der Selektionsentscheidungen erklärt. Nachfolgend werden kurz zwei grundlegende WE-Theorien skizziert, mit denen unterschiedliche Annahmen über Handlungs- bzw. Entscheidungsprozesse von Akteuren verbunden sind. Aus diesen Annahmen folgen unterschiedliche Operationalisierungen. Der Beitrag diskutiert die Operationalisierungsvarianten unter dem Aspekt, wie sich der Zusammenhang von Nachrichtenfaktoren als Selektionskriterien und journalistischen Selektionsentscheidungen empirisch zutreffend abbilden lässt. 2
Wert-Erwartungsmodelle
Im Kern geht die WE-Theorie1 davon aus, dass sich Entscheidungen durch zwei Elemente beschreiben, erklären oder vorhersagen lassen. Das sind (a) die subjektiven bzw. sozial vermittelten Erwartungen von Ergebnissen oder Folgen, die mit Entscheidungen antizipiert werden, (b) die subjektiven bzw. sozial vermittelten Bewertungen, inwieweit man diese Ergebnisse bzw. Folgen für wünschenswert hält (vgl. Krampen 2000, 17). In der sozialpsychologischen Einstellungsforschung wendet Ajzen (2005) das WEModell in der „Theorie des geplanten Handelns“ (TPB) u.a. an, um Einstellungen zu Handlungen zu bilden. Diese Handlungseinstellungen basieren auf subjektiv salienten Vorstellungen („beliefs“) zu bestimmten Handlungen. Je nach Akteur bzw. Akteursgruppe variieren diese Vorstellungen in den wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen Stärken und in den Bewertungen. Aus den Produkten einzelner Vorstellungsstärken und -bewertungen sowie deren anschließender Addition werden die Einstellungen gegenüber dem Handeln gebildet. Solche Handlungseinstellungen erklären in der TPB Handlungsintentionen. In der psychologischen Entscheidungsforschung wird die Subjective Expected Utility Theory (SEU-Theorie) als WE-Modell angewendet, um Entscheidungen zu erklären (Jungermann, Pfister & Fischer 2005, 203 ff.). Der hier relevante Hauptunterschied zur TPB ist, dass die SEU-Theorie eine (meist nutzenmaximierende) Entscheidungsregel enthält. Sie ist aber in die TPB integrierbar, sofern Entscheidungen bzw. Handlungen intraindividuell und nicht nur interindividuell erklärt werden sollen. Die Intention entspricht dann entscheidungspsychologisch einer hypothetischen Wahl (Pfister & Konerding 1996, 93 f.). Bezogen auf die Erklärung journalistischer Selektionsentscheidungen durch Nachrichtenfaktoren bzw. deren zugeschriebenen Stärken und Bewertungen sind folgende Elemente des WE-Modells detaillierter zu diskutieren: a. b.
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Journalistische Handlungsalternativen: Wie können politisch divergierende Sachverhalte als Selektionsalternativen operationalisiert werden, um damit journalistische Selektionsentscheidungen zu simulieren (vgl. Abschnitt 3.1)? Journalistische Vorstellungen: Wie können journalistische Vorstellungen als Selektionskriterien berichtenswerter Sachverhalte erhoben werden? Insbesondere geht es hier um Nachrichtenfaktoren als Handlungsvorstellungen (vgl. Abschnitt 3.2). Zum Überblick über Varianten von WE-Theorien (vgl. Krampen 2000).
Journalistische Selektionskriterien und Selektionsentscheidungen c. d.
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Nachrichtenfaktor-Stärken und -Bewertungen sowie Bildung des Nachrichtenwerts: Wie können die Stärken und Bewertungen von Nachrichtenfaktoren skaliert und zum Nachrichtenwert verknüpft werden (vgl. Abschnitt 3.3)? Politische Einstellungen: Wie erfolgt die Anbindung politischer Einstellungen an die wert-erwartungstheoretische Modellierung der Nachrichtenwerttheorie im Sinne des Finalmodells (vgl. Abschnitt 3.4)? Operationalisierung der Elemente journalistischer Entscheidungsprozesse
3.1 Erhebung journalistischer Handlungsoptionen Journalistische Handlungsoptionen kann man offen oder geschlossen abfragen (Jungermann, Pfister & Fischer 2005, 27). Im ursprünglichen WE-Modell sind Handlungsoptionen immer vorgegeben. Andernfalls würde man ein Satisficing-Konzept zugrunde legen, bei dem Akteure Optionen erst suchen müssen und entsprechend ihres individuellen Anspruchsniveaus mit der Suche nach weiteren Alternativen aufhören, sobald sie eine für sich zufriedenstellende Option gefunden haben (Jungermann, Pfister & Fischer 2005). Vorgegebene Optionen haben den Vorteil, das Finalmodell der Nachrichtenwerttheorie unter vergleichbaren Bedingungen zu prüfen. Damit sind aber weitere Aspekte zu klären: (a) die aktuelle oder retrospektive Erfassung von Optionen, (b) die Anzahl der Optionen, (c) deren Ein- vs. Mehrstufigkeit, (d) die Einmaligkeit vs. Wiederholung der Optionen sowie (e) die Ähnlichkeit zwischen den Optionen (ebd., 27, 281, 307 f.; Friedrichs, Stolle & Engelbrecht 1993, 6 f.). (a) Journalistische Handlungsoptionen kann man vergangenheitsbezogen als Selbstberichte abfragen (Ajzen & Fishbein 1980, 37) oder aktuell simulieren (z.B. Kepplinger & Ehmig 2006). Bei Selbstberichten bleibt offen, welche Entscheidungssituationen erinnert werden – „die am häufigsten vorkommenden, die kürzlichsten, die angenehmsten, die beeindruckendsten, die lebhaftesten?“ (Bilandzic 2006, 208). Simulierte, aber aktuelle Auswahlsituationen stellen dagegen sicher, dass sich handlungsleitende Vorstellungen und Handlungsoptionen in simulierten Situationen aufeinander beziehen, was die Erklärungskraft von Entscheidungen erhöht (Ajzen & Fishbein 1980, 34 ff.). Das Problem externer Validität ist dabei weniger zu ändern als zu reflektieren (vgl. Abschnitt 4). (b) WE-Modelle sind nicht grundsätzlich auf eine bestimmte Anzahl vorgegebener Optionen begrenzt. Allerdings ist die WE-Abfrage für mehrere Optionen recht umfangreich. Forschungspragmatisch ist es deshalb, sich auf der Issue-Ebene2 auf zwei Optionen zu beschränken. Problematisch bleibt, dass sich Entscheidungen für eine Option mit dem Hinzukommen jeder neuen Option verändern würden (Jungermann, Pfister & Fischer 2005, 281) und dass zwei vorgegebene Optionen an sich natürlich nicht erschöpfend sind (Friedrichs, Stolle & Engelbrecht 1993, 7). Für das erste Problem sei auf den simulierenden Charakter der Studie verwiesen, deren Aussagekraft sich auf die manipulierten Merkmale der Textmeldungen beschränken muss. Das zweite Problem wird gelöst, indem die Journalisten
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Issues eignen sich als Typ journalistischer Entscheidungsoptionen, weil sie erstens Träger von Nachrichtenwerten sein können und zweitens im Sinne des nachrichtenwerttheoretischen Finalmodells unterschiedliche politische Positionen mit ihnen verknüpft sind.
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in der Befragung nicht zu einer Entscheidung zwischen den zwei Optionen gezwungen werden, sondern auch Nicht-Entscheiden zugelassen ist. (c) Die Entscheidungssituation wird mehrstufig für drei Ereignisebenen – Issues, Statements und Quellen – operationalisiert (Kepplinger 2001, 119). Auf der Issue-Ebene werden zwei zur Auswahl stehende Meldungen analog mit einem aktuellen Aufhänger und je einem Pro- und Contra-Statement formuliert. Die Meldungen beziehen sich zum einen auf das Issue „Einführung der Vorratsdatenspeicherung“, zum anderen auf die „Einführung von Mindestlöhnen“. Beide Meldungen sind ausgewogen formuliert, aber die MindestlohnMeldung wird links gerahmt, die Meldung zur Datenspeicherung rechts (Eilders, Neidhardt & Pfetsch 2004). Nach deren Typologie gehört die „Vorratsdatenspeicherung“ in das IssueFeld „Innere Sicherheit“, in dem der Frame „Law and Order“ dominierte und vorwiegend mit der rechten Position „Sanktion“ gerahmt wurde. Eilders, Neidhardt & Pfetsch (2004) sprechen folglich von „rechten Issues“. Mindestlöhne fallen unter das Issue-Feld „Löhne“. Hier dominierte der Frame „Konjunkturpolitik“, wobei in den untersuchten Kommentaren der Autoren die linke Position der „Nachfrageförderung“ überwog3 (Tabelle 1). Die hier ausgewählten Issues stammen aus Issue-Feldern, bei denen empirisch nur zwei Frames aufgetreten sind. Obwohl für die simulierten Issue-Szenarios der thematische Kontext nicht systematisch variiert werden kann, wird versucht, den Nachrichtenwert beider Szenarios vergleichbar zu halten: Beide Issues hatten sich bereits längerfristig innenpolitisch etabliert. Allerdings führt die Einschränkung auf innenpolitische, langfristig etablierte Issues auch zu einer eingeschränkten Aussagekraft der Ergebnisse auf bestimmte Ereignis- bzw. Nachrichtentypen (Kepplinger 2001) sowie auf bestimmte Nachrichtenfaktoren. Die Issue-Entscheidung erfolgt auf einer 6-stufigen Skala4.
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Die Textmeldung zum Mindestlohn-Issue ist unter der Überschrift „Mindestlohn verteuert Arbeit“ folgendermaßen formuliert: „In zahlreichen deutschen Wirtschaftsbranchen ist ein Stundenlohn von 3 bis 5 Euro üblich. Dies geht aus einer neuen Studie des Wirtschaftsinstituts Halle hervor. Bundesarbeitsminister Olaf Scholz (SPD) fordert deshalb die Einführung eines Mindestlohns: ‚Die Leute müssen von ihrer Arbeit leben können, ohne dass der Staat unter die Arme greift.‘ Zudem steigere ein Mindestlohn die Kaufkraft und erhöhe die Sozialeinnahmen, so Scholz. Bundeswirtschaftsminister Michael Glos (CSU) glaubt daran nicht: ‚Mindestlöhne erhöhen die Arbeitskosten‘, die die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen gefährden.“ Der Wortlaut dazu: „Stellen Sie sich vor, in der Ausgabe für den kommenden Tag ist noch Platz für einen Beitrag: Welches der beiden nachfolgenden Themen hat in Ihrer Redaktion mehr Chancen, veröffentlicht zu werden?“ 6-stufige Antwortskala von „sehr sicher das Thema ‚Flugdatenspeicherung’“ bis „sehr sicher das Thema ‚Mindestlohn’“
Journalistische Selektionskriterien und Selektionsentscheidungen
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Tabelle 1: Mehrstufige Variation journalistischer Entscheidungsoptionen Rechtes Issue-Feld: Innere Sicherheit Them. Kontext des Flugdatenspeicherung in Nachrichtenszenarios Deutschland
Einführung eines Mindestlohns in Deutschland
Dominanter Frame im Issue-Feld und dominante Position
1. Frame: Law and Order
1. Frame: Konjunkturpolitik
Rechte Position: Sanktion1
Linke Position: Nachfrageförderung1
Linke Position: Prävention2
Rechte Position: Angebotsförderung2
2. Frame: Liberalismus
2. Frame: Föderalismus
Rechte Position: Bindung2
Rechte Position: Selbststeuerung2
Linke Position: Freiheit2
Linke Position: Zentralismus2
Untergeordneter Frame im Issue-Feld
1 2
Linkes Issue-Feld: Löhne
Simulation der Issue-Szenarios mit diesen Frame-Positionen Zu jeder Position wurden zwei Statements formuliert, je ein positives bzw. erfolgsorientiertes und ein negatives bzw. misserfolgsorientiertes
Nach der variierten Issue-Entscheidung simuliert die nächste Stufe das Verfassen eines Beitrags auf Basis des ausgewählten Issues, also deren weitere journalistische Verarbeitung. Dafür treffen die befragten Journalisten Entscheidungen darüber, welche der vorgegebenen Statements sie unabhängig von Akteuren in ihren simulierten Beitrag aufnehmen würden. Die Statements variieren ebenfalls nach Framezugehörigkeit und Links-RechtsPosition (Eilders, Neidhardt & Pfetsch 2004). Da nicht unbedingt zu vermuten ist, dass sich die Links-Rechts-Variation von Statements in den journalistischen Auswahlentscheidungen entsprechend ihrer politischen Einstellungen niederschlägt (z.B. Hagen 1992), simuliert die dritte Stufe Rechercheentscheidungen. Hierfür können die Journalisten zwischen verschiedenen Funktionsträgern als Recherchequellen wählen. Als linke Politikerquelle – d.h. contra „Datenspeicherung“ – wurde entsprechend der Parteiprogramm-Aussagen ein „Parteipolitiker/in der FDP“ vorgegeben, als linke Quelle für das Mindestlohn-Issue ein „Parteipolitiker der Grünen“. Auch die Quellenvorgaben je Issue variieren auf dem LinksRechts-Spektrum. Geeignete Statements und Quellen wurden vorab aus den medialen Diskursen der Leitmedien inhaltsanalytisch ermittelt. Für die Selektion der Statements und der Quellen ist zusätzlich jeweils eine offene Ausprägung vorgesehen, so dass erneut kein Entscheidungszwang besteht. Die nominal skalierten Statement- und Quellen-Entscheidungen werden nachträglich zu Typen nach der Links-Rechts-Variation und nach Nachrichtenfaktoren zusammengefasst, so dass die genannten Häufigkeitstypen intervallskaliert sind. (d) WE-Modelle sind „insbesondere für erstmalig bzw. selten durchgeführte Verhaltensweisen [konzipiert], bei denen der Einfluß kontrollierter kognitiver Prozesse maximal ist“ (Jonas & Doll 1996, 22). Prinzipiell handelt es sich bei journalistischen Selektionsentscheidungen meist um Entscheidungen mit Wiederholungscharakter. Simuliert man aber
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Entscheidungen situationsspezifisch, werden die Befragten mehr und weniger Vorerfahrung mit den simulierten Issues haben. Als Näherungslösung kann man die vergangenen Erfahrungen der Journalisten mit innenpolitischen Issues im Allgemeinen oder mit den zwei simulierten Issues im Speziellen als Kontrollvariablen abfragen. In der Vergangenheit gezeigtes Verhalten als Indikator für ein Habit-Maß bzw. für Gewohnheitsstärken zu verwenden, wie dies in bisherigen Studien oft erfolgte, scheint dagegen wenig geeignet, um journalistische Entscheidungen zu erklären (dazu z.B. Kunz 1997, 263 f.; Ajzen 2005, 89). (e) Um ausschließlich das Finalmodell der Nachrichtenwerttheorie zu prüfen, sind die ‚ereignisimmanenten‘ Nachrichtenfaktoren der simulierten Issue-Szenarios ähnlich zu halten. Stattdessen wird angenommen, dass die Nachrichtenfaktoren nur aufgrund subjektiv bzw. redaktionell sozialisierter Zuschreibungen entsprechend Links-Rechts-Rahmung der Nachrichtenszenarios variieren. Dieses Vorgehen unterscheidet sich deutlich vom Experimentaldesign bei Kepplinger & Ehmig (2006), die Nachrichtenmeldungen selbst u.a. nach Nachrichtenfaktoren und Intensitäten variierten und damit das Kausalmodell (UV: Nachrichtenfaktoren; AV: Selektionsentscheidung) prüften. 3.2 Erfassung journalistischer Vorstellungen Die handlungsleitenden Vorstellungen sind Anfangsbedingungen oder Brückenannahmen (Kelle & Lüdemann 1995, 252), die hier durch nachrichtenwerttheoretische Variablen spezifiziert werden. Es gibt verschiedene Verfahren, um die Anfangsbedingungen oder Vorstellungen zu ermitteln (Kelle & Lüdemann 1995). Methodisch ist danach zu differenzieren, ob man (a) die Vorstellungen der Befragten empirisch selbst erhebt oder ob man (b) auf bisherige empirische Befunde, z.B. der Nachrichtenauswahlforschung zurückgreift. (a) Die direkte empirische Erhebung zielt auf ein offenes bzw. unstandardisiertes Vorgehen. Es hat den Vorteil, das Antwortspektrum nicht a priori einzuschränken und die Reaktivität der Befragten zu senken (Krampen 2000, 63). Allerdings können die Antworten unvollständig sein, sie sind nicht standardisiert und unterschiedlich abstrakt (Friedrichs, Stolle & Engelbrecht 1993, 8). Erhebt man Vorstellungen in der eigentlichen Erhebung offen, ist die zusätzliche Abfrage dazugehöriger Erwartungen und Bewertungen innerhalb der gleichen Erhebung kaum handhabbar. Offene Abfragen in explorativen Vorstudien durchzuführen (Ajzen & Fishbein 1980, 63), eignet sich dagegen forschungspraktisch nicht, weil die Grundgesamtheit in Frage kommender und teilnahmewilliger Journalisten schon für die eigentliche Erhebung eher überschaubar ist. Diese Überschaubarkeit liegt größtenteils an der Fragestellung, denn Publikationsentscheidungen aufgrund von Links-RechtsRahmungen dürften eher Journalisten in überregional statt in regional tätigen Tageszeitungen betreffen (Staab 1990). (b) Die Orientierung an Nachrichtenauswahlstudien erlaubt dagegen ein standardisiertvergleichendes Vorgehen. Leitet man die Vorstellungen aus der Nachrichtenwerttheorie ab und fasst sie als Nachrichtenfaktoren, sind die Vorstellungen für einzelne Optionen berichtenswerter Sachverhalte issue-übergreifend gleich (Friedrichs, Stolle & Engelbrecht 1993, 7). Sie sind damit für mehrere vorgegebene Issue-, Statement- oder Quellen-Optionen direkt vergleichbar. Würde man inhaltliche Ereignisaspekte (Theorie der Instrumentellen Aktualisierung) oder einzelne Frame-Elemente (Framing-Ansatz) als handlungsleitende Vorstellungen verstehen, so wären die Vorstellungen der Selektionskriterien ungleich. Un-
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gleiche Vorstellungen würden z.B. vorliegen, wenn Journalisten in einem Fall von der Datenspeicherung betroffene Normalbürger und im anderen Fall Proteste von Unternehmen gegen Mindestlöhne als entscheidungsleitend ansehen anstatt z.B. eines issue-übergreifenden Relevanz- oder Reichweitenkriteriums. Die Variante ungleicher Handlungsvorstellungen zu berichtenswerten Sachverhalten wird hier nicht präferiert, weil bei nur zwei vorgegebenen Issue-Szenarios inhaltliche Handlungsvorstellungen dazu führen könnten, dass die Journalisten die Forschungsfrage durchschauen. Welche Nachrichtenfaktoren sind nun als Vorstellungen für die simulierten Selektionsentscheidungen vorzugeben? Eine größere Anzahl Nachrichtenfaktoren vorzugeben, bringt mehrere Nachteile mit sich: Erstens vereinen simulierte Sachverhalte nicht alle Nachrichtenfaktoren zugleich auf sich. Zweitens sind aufgrund der begrenzten menschlichen Informationsverarbeitung nur wenige Vorstellungen bzw. Nachrichtenfaktoren entscheidungsrelevant (Friedrichs, Stolle & Engelbrecht 1993, 9). Ajzen und Fishbein (1980, 63-70) schlagen vor, nur bedeutsame Vorstellungen zu erheben, wobei sie ca. fünf bis neun Vorstellungen für individuell verarbeitbar halten. Tabelle 2 zeigt eine Synopse relevanter Nachrichtenfaktoren bzw. die dahinterliegenden latenten Konstrukte im Studienvergleich von Inhaltsanalysen5. Aus diesen Ergebnissen kristallisieren sich bedeutsame Nachrichtenfaktoren heraus, wobei nur NachrichtenfaktorDimensionen enthalten sind, die in mindestens zwei der drei verwendeten Synopsen bzw. Studien vorkommen. Aufgrund der Beschränkung auf längerfristig etablierte Issues bei der abhängigen Variable der Issue-Szenarios eignen sich die Nachrichtenfaktoren-Dimensionen „Dynamik“ und „Human Interest“ nach Schulz (1982) nicht für die Generierung von Items. Aus den übrigen fünf latenten Dimensionen von Nachrichtenfaktoren lässt sich passend zu den simulierten Issue-Meldungen je ein Item als handlungsleitende NachrichtenfaktorVorstellung ableiten. Abschließend ist zu klären, ob Vorstellungen für die Untersuchungsteilnehmer als Handlungskonsequenzen oder als beliebige Attribute von Selektionsentscheidungen zu formulieren sind. Während es in der entscheidungstheoretischen WE-Theorie grundsätzlich von Handlungskonsequenzen, also um antizipierte Ergebnisse bzw. Folgen von Entscheidungen geht im Sinne von „ich handle, weil …“ bzw. „ich handle, um zu …“, nennen Ajzen & Fishbein (1980) beliebige Kognitionen als Einstellungsattribute zum Handeln, ohne den Begriff auf zukünftige Ergebnisse oder Folgen zu beschränken6. In einem Fall hieße ein entscheidungsleitendes Item z.B.: Ich halte Ereignis X für publikationswürdig, weil die kontroversen Standpunkte Aufmerksamkeit bei unseren Lesern erzeugen. Im anderen Fall hieße es etwa: Ich halte das Ereignis X für publikationswürdig, weil es kontrovers diskutiert wird. Hier wird aufgrund der theoretischen Überlegung, Nutzencharakter von Nachrichtenfaktoren und redaktionelle Sozialisation gleichermaßen zu berücksichtigen, die zweite Variante bevorzugt. Grundsätzlich ist die Erhebung von Nachrichtenfaktor-Zu5
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Theoretisch wäre allerdings zu diskutieren, ob inhaltsanalytische Befunde – d.h. Ergebnisse von Selektionsentscheidungen – überhaupt als Kriterium dienen können, um kognitiv bedeutsame Nachrichtenfaktoren zu generieren. Auch im Rahmen der Nutzungsforschung unterscheiden sich die Ergebnisse verschiedener Formulierungen. Bei Rayburn, Palmgreen & Acker (1984) führten die Sendungsattribute zu besseren Vorhersagen des Nutzungsverhaltens als die Sendungsgratifikationen. Schenk, Büchner & Rössler (1986) zeigten dagegen, dass sich die Vielseher zweier Krimiserien in ihren Gratifikationen, aber nicht in ihren Perzeptionen bezüglich der beiden Sendungen unterschieden. Möglicherweise sind diese Ergebnisse aber nicht 1:1 auf journalistische Selektionsentscheidungen übertragbar.
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schreibungen nicht nur für Issues, sondern auch für Statements und teilweise für Quellen möglich. Da die Wert-Erwartungs-Abfragen aber recht umfangreich sind, wird nachfolgend ein Mittelweg vorgeschlagen (vgl. Abschnitt 3.3). Tabelle 2: Synopse latenter Nachrichtenfaktoren-Konstrukte anhand von Inhaltsanalysen Theoretisch
Literatursynopse (Print)
Faktorenanalysen (TV-Bereich)
Schulz (1982, 152)
Eilders (1997, 42, 193)
Maier1 (2003, 86 f., 336)
Relevanz: geo., pol., kult. Nähe, Ethnozentrismus, Tragweite, Betroffenheit
Reichweite: Relevanz, Bedeutsamkeit, Reichweite, Tragweite
Konsonanz: Kontinuität, Thematisierung, Stereotypie
Etablierung: Kontinuität, Thematisierung, Etablierung
Status: Elite-Nation, institutioneller Einfluss, Elite-Person
Prominenz: Elite-Person, Prominenz, persönlicher Einfluss
Prominenz: Prominenz, Einfluss
Valenz: Aggression, Kontroverse, Erfolg, Werte
Kontroverse: Negativismus, Kontroverse, Aggression, Schaden
Kontroverse: Kontroverse, Schaden/ Misserfolg, (Visualität)
Dynamik: Frequenz, Unvorhersehbarkeit, Ungewissheit, Überraschung
Überraschung, Ungewissheit
Human Interest: Personalisierung, Emotionalisierung
Emotionalisierung
Einzelschicksal: Faktizität, neg.: Reichweite
Personen: Personalisierung, Prominenz
Ortsstatus (nur in reg. Tageszeitungen)
Ortsstatus: Ortsstatus, neg.: Etablierung
Lokales: geographische Nähe, Nutzen/ Erfolg
Fretwurst (2008, 198) Verwandtschaft: wirt., pol., kult. Nähe und Länder-Status
Kontroverse: Einfluss, Reichweite, Kontroverse, Thematisierung/ Kontinuität Negativismus: Schaden/ Misserfolg, Aggression/ Gewalt, Tragik, Kriminalität Kuriositäten: Überraschung, Tiere, Kuriositäten
Nutzen: Nutzen/Erfolg 1
Für den Vergleich wurden hier die Daten für die innenpolitische Berichterstattung im Öffentlich-Rechtlichen für 1995 verwendet. Faktorenanalysen für andere Jahrgänge ergaben andere NachrichtenfaktorenBündel. Die Faktorenanalysen beruhen auf sehr geringen Fallzahlen, sodass teilweise nur eine Variable auf einen Faktor lädt (z.B. Nutzen).
3.3 Skalierung der Vorstellungsstärken und -bewertungen Bisher ging es darum, welche Vorstellungen für Journalisten entscheidungsleitend sein können und wie man sie generiert. Nun geht es um die Frage, (a) wie die Stärkeeinschätzungen und Bewertungen von Nachrichtenfaktor-Vorstellungen zu skalieren und wie sie (b) anschließend zu verknüpfen sind, so dass sie Selektionsentscheidungen erklären können.
Journalistische Selektionskriterien und Selektionsentscheidungen
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Hierbei ist zwischen hinreichend differenzierter Abbildung und der Gefahr von Künstlichkeit abzuwägen (z.B. Krampen 2000, 62). (a) Die Vorstellungsstärken des WE-Modells ähneln den Intensitäten7 von Nachrichtenfaktoren in der Nachrichtenwerttheorie. Mit dem WE-Modell sind Nachrichtenfaktoren entweder als subjektive Wahrscheinlichkeiten (Jungermann, Pfister & Fischer 2005, 202; Krampen 2000, 19 f.) über das Eintreten der Nachrichtenfaktoren bei Veröffentlichung oder als Sicherheit über die Richtigkeit (z.B. Albarracin et al. 2005, 274) der Verknüpfung zwischen publikationswürdigen Ereignisoptionen und ihnen zugeschriebenen Nachrichtenfaktoren zu interpretieren. Im ersten Fall müsste die Summe aller subjektiven Wahrscheinlichkeiten von Nachrichtenfaktoren streng axiomatisch je Handlungsoption jpij = 1 ergeben. Diese Annahme unterstellt allumfassend informierte Akteure (z.B. Jungermann, Pfister & Fischer 2005, 202) und ist deshalb nicht sehr realitätsnah. Da Journalisten wie andere Akteure auch nur begrenzt informiert sind, werden die Vorstellungsstärken von Nachrichtenfaktoren zu den beiden Issue-Szenarios auf unipolaren 5-stufigen Intervallskalen mit den Polen „trifft überhaupt nicht zu – trifft voll und ganz zu“ erhoben. Für die Journalisten heißt das zu beurteilen, dass sie z.B. die Mindestlohn-Debatte für (wahrscheinlich) relevanter, kontroverser, regional besser anbindbar etc. halten als die vorrätige Speicherung von Flugdaten (oder auch umgekehrt). Auch für die Nachrichtenfaktor-Zuschreibungen zu Statement- und Quellenentscheidungen werden 5-stufige Skalen eingesetzt, allerdings summarisch über alle Quellen und Statements. D.h. Journalisten entscheiden sich für drei Statements und drei Quellen, die sie in ihrem Beitrag weiter verarbeiten würden. Anschließend geben sie dafür summarisch über alle gewählten Statements und Quellen hinweg die zugeschriebenen Nachrichtenfaktor-Stärken an, die ihre Auswahl leiteten, also z.B. inwiefern sie mit ihrer Quellenauswahl „bekannte Politiker zu Wort kommen lassen“ oder mit ihrer Statement-Auswahl „negative Aspekte des Themas“ betonen wollten. Der Nachrichtenwert von Nachrichtenfaktoren wird in der Nachrichtenwertforschung nicht immer ausschließlich über Intensitäten definiert (Eilders 1997; Fretwurst 2008). In Anlehnung an Fretwursts (2008, 10) Definition des Nachrichtenwerts, bei dem auch Nachrichtenfaktor-Gewichte ein Definitionselement sind, wird die Bewertungskomponente für Nachrichtenfaktoren als Nachrichtenfaktor-Wichtigkeit interpretiert. Ajzen und Fishbein (1980, 68) lehnen eine solche Interpretation zwar mit der Begründung8 ab, dass als wichtig eingeschätzte Vorstellungen dennoch positiv oder negativ bewertet werden können, so dass Wichtigkeiten und Bewertungen letztlich Unterschiedliches9 messen. Folgt man aber den Überlegungen der Nachrichtenwerttheorie, dass Nachrichtenfaktoren den Nachrichtenwert von berichtenswerten Sachverhalten nur erhöhen können, also grundsätzlich „positiv“ auf Publikationsentscheidungen gerichtet sind, dann lassen sich Bewertungen auch als Wichtigkeiten interpretieren. Für die Erhebung der Nachrichtenfaktor-Wichtigkeiten verwende ich ein Ranking-Verfahren (Jungermann, Pfister & Fischer 2005, 416). Ordinalskalierte 7
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Es ist zwischen Stärke und Intensität von Nachrichtenfaktoren zu unterscheiden. Bei der Intensität geht die Null-Ausprägung mit ein, bei der Stärke nicht, so dass man dort zwischen Vorkommen und Stärke unterscheiden muss. Auch die Nutzungsforschung operationalisiert teilweise Bewertungen als Wichtigkeiten (z.B. Galloway & Meek 1981, 431 f.), wenngleich die Wichtigkeit in der Entscheidungsforschung als eigenes Konzept gilt (Jungermann, Pfister & Fischer 2005, 113 ff.). Allerdings bringt die Abfrage von Wichtigkeiten neben Vorstellungsstärken und Bewertungen im SEUModell keinen zusätzlichen Erklärungswert (Ajzen & Fishbein 1980, 67; Friedrichs, Stolle & Engelbrecht 1993, 12).
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Nachrichtenfaktor-Wichtigkeiten sind zwar für die spätere Produktsummenbildung mit den Nachrichtenfaktor-Intensitäten nach Kunz (1997) problematisch, da die Skala des neu gebildeten Interaktionsterms „Sprungstellen“ aufweist und nicht mehr intervallskaliert ist. Dieses Problem ließe sich aber auch nicht beseitigen, wenn die NachrichtenfaktorWichtigkeiten intervall- statt ordinalskaliert wären. Zudem birgt die Verwendung einer Intervallskala die Gefahr eines Deckeneffekts, da Journalisten alle Nachrichtenfaktoren hinsichtlich berichtenswerter Sachverhalte für ähnlich wichtig halten dürften. (b) Um aus den Stärkeeinschätzungen und Wichtigkeiten der NachrichtenfaktorVorstellungen Selektionsentscheidungen erklären zu können, werden im ersten Schritt separat für jedes zur Auswahl stehende Issue jede einzeln zugeschriebene Nachrichtenfaktor-Stärke mit jeder subjektiven Nachrichtenfaktor-Wichtigkeit multipliziert (Produktbildung). Im zweiten Schritt werden alle zu einem Issue gebildeten NachrichtenfaktorProdukte aufsummiert (Summenbildung). Dadurch erhält man den zugeschriebenen Nachrichtenwert zu einem einzelnen Issue (Produktsumme). Stehen mehrere Issues zur Auswahl für die Publikation, bedarf es einer Selektionsregel, welches der Issues letztlich veröffentlicht wird. Im Gegensatz zur TPB enthält die SEU-Theorie eine solche Entscheidungsregel. Danach entscheiden sich Journalisten für das Issue, das als Produktsumme den höchsten Nachrichtenwert hat. Dieser Regel liegt die Annahme der journalistischen Nutzenmaximierung von Aufmerksamkeit zugrunde.10 3.4 Politische Einstellungen und Nachrichtenwert Um zu überprüfen, ob die Zuschreibungen von Nachrichtenfaktor-Intensitäten im Sinne politischer Ziele erfolgen, wird zusätzlich die politische Einstellung als situationsspezifische Konfliktsicht zu den beiden Issues „Mindestlohn“ und „Vorratsdatenspeicherung“ auf einer jeweils 5-stufigen Intervallskala erhoben11. Die Verknüpfung zwischen zugeschriebenen Nachrichtenwerten und den abgefragten Konfliktsichten als Zieleinstellungen kann entweder sequentiell (Ajzen & Fishbein 1980, 84) erfolgen12. Dann sind politische Einstellungen Ursachen des Nachrichtenwerts. Oder die Verknüpfung erfolgt simultan (Fazio 1990). Da die simultane Verknüpfung informationsverarbeitungstheoretisch fundiert ist, wird sie hier methodisch-statistisch reflektiert13. Zwei Varianten des Wirkzusammenhangs von Zieleinstellungen sind zu unterscheiden: 10
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Neben dieser nutzenmaximierenden Entscheidungsregel gibt auch andere, kognitiv weniger aufwendige Entscheidungsregeln, um die Stärken und Bewertungen von Nachrichtenfaktor-Vorstellungen zu verknüpfen (vgl. Jungerman, Pfister & Fischer 2005). Der Wortlaut im Fragebogen heißt z.B. zum Issue „Mindestlohn“: „Sind Sie persönlich dafür, dass Mindestlöhne eingeführt werden, oder sind Sie dagegen? Ajzen & Fishbein (1980, 84) unterscheiden zwischen Ziel- und Handlungseinstellungen. Handlungseinstellungen beziehen sich im Gegensatz zu Zieleinstellungen auf zwei Objekte, zum einen auf die Handlungsweise (z.B. Einstellung zur Veröffentlichung des kontroversen Issues „Mindestlohn“) und zum anderen auf das Zielobjekt (z.B. Einstellung zum Issue „Mindestlohn“). Ajzen & Fishbein (1980) betrachten Handlungseinstellungen als geeignetere Prädiktoren von Handlungsintentionen, weil sie hinsichtlich der (Handlungs-) Intention ähnlicher spezifiziert sind als Zieleinstellungen. Zweitens können Konfliktsichten erstens die Nachrichtenwert-Differenzen beeinflussen (dann sind auch Links-Rechts-Differenzen der Konfliktsichten zu berechnen!) oder zweitens die zu einzelnen Optionen zugeschriebenen Nachrichtenwerte. Dieser Aspekt kann hier nur erwähnt werden, da das vorliegende Untersuchungsdesign nicht erlaubt, konsistent alle Varianten der Verknüpfung von Konfliktsichten und Nachrichtenwerten auf Selektionsentscheidungen empirisch zu testen.
Journalistische Selektionskriterien und Selektionsentscheidungen
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(a) Nachrichtenwert – Konfliktsicht: Verfügen Journalisten aufgrund vorangegangener Lernprozesse bereits über einen Nachrichtenwert zu einem Issue, können sie ihn simultan mit der Konfliktsicht zu einem Issue aktivieren. In diesem Fall sind Nachrichtenwert und Konfliktsicht simultane Prädiktoren von Selektionsentscheidungen in Regressionsmodellen. Dabei kann die Konfliktsicht entweder direkt Selektionsentscheidungen bedingen. Dies entspricht dem News-Bias-Ansatz. Oder um das Finalmodell der Nachrichtenwerttheorie zu belegen, müsste eine linke (rechte) Issue-Konfliktsicht den Zusammenhang zwischen Nachrichtenwert und Selektionsentscheidung zugunsten des links (rechts gerahmten) Issues verstärken. Dafür sind hierarchische Regressionen mit den zwei Ausgangsvariablen und dem Interaktionsterm aus Nachrichtenwert und Konfliktsicht zu berechnen, wobei für den Beleg des Finalmodells der Zuwachs des Determinationskoeffizienten R² für den Interaktionsterm statistisch bedeutsam sein müsste (z.B. Urban & Mayerl 2006, 295 ff.). (b) Einzelne zugeschriebene Nachrichtenfaktor-Intensität – Konfliktsicht: Haben Journalisten noch keine Erfahrungen mit einem Issue, ist zweitens denkbar, dass subjektive Konfliktsichten die Wahrnehmung einzelner Nachrichtenfaktor-Vorstellungen auf Basis des Konsistenzmotivs filtern. D.h. einzelne Nachrichtenfaktor-Intensitäten werden aufgrund der aktivierten Konfliktsicht zu einem publikationswürdigen Issue verstärkt oder abgeschwächt wahrgenommen. In diesem Fall beinhalten die hierarchischen Regressionsmodelle als Haupteffekte einen ersten Block mit einzelnen zugeschriebenen NachrichtenfaktorIntensitäten, einen zweiten Block mit den subjektiven Konfliktsichten und einen dritten Block mit den Interaktionstermen aus Nachrichtenfaktor-Intensitäten und Konfliktsichten. Ist der Zuwachs des R² für den Block der Interaktionsterme signifikant, ist zu prüfen, ob die Konfliktsicht die Zusammenhänge zwischen Nachrichtenfaktoren und Selektionsentscheidung auch hypothesenkonform verändert. Für Ergebnisse, die auf diesem Untersuchungsdesign basieren, sei auf Engelmann (2010) verwiesen. 4
Fazit
Welche Grenzen die hier vorgestellte Untersuchungsanlage hat, wird anhand von vier Dimensionen – (a) Standardisierungsgrad, (b) Zeitdimension, (c) Kontrolldimension und (d) Wahl der Methode (Scheufele & Engelmann 2009, 93) – reflektiert. Diskussionswürdig ist erstens die Verwendung eines WE-Modells im Allgemeinen und zweitens die Übertragung auf die Erklärung journalistischer Selektionsentscheidungen. Folgeprobleme und offene Fragen lassen sich an dieser Stelle jedoch nur kursorisch streifen. (a) WE-Theorien folgen einem standardisierten Vorgehen, um die WE-Abfragen vergleichen zu können. Allerdings können Entscheidungsoptionen und dazugehörige Vorstellungen nur in qualitativen Vorstudien generiert werden. Die Vorgehensweise, die relevanten Basisvariablen aus bisherigen empirischen Befunden mit der Nachrichtenwerttheorie zu generieren, kann deshalb nur Gültigkeit für die Theorie beanspruchen und geht aufgrund der Antwortvorgaben mit entsprechenden Reaktivitätsproblemen einher. Daneben bestehen bei der Operationalisierung von WE-Theorien auch Skalierungs- und Verrechnungsprobleme (Krampen 2000, 62 f.). (b) Auf der Zeitdimension sind WE-Theorien in der Regel als Querschnittsdesigns angelegt, wenngleich ein Längsschnitt durch mehrmalige Anwendung des WE-Modells möglich ist. Die einmalige Erfassung einer Entscheidungssituation impliziert also eher eine
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strukturelle als eine dynamische Perspektive. Zudem werden die Vorstellungen zu einem beliebigen Zeitpunkt erhoben, was für die Erklärung von Entscheidungen zweitrangig ist, nicht aber für den Zusammenhang zwischen Entscheidungen und deren tatsächlicher Umsetzung. Ein prozesshaftes Moment stellt die Erfassung der vergangenen Verhaltenshäufigkeit dar. Sie dient immerhin als Kontrollvariable, das Ausmaß der nicht-erklärten Varianzanteile im Entscheidungsmodell zu beziffern (Kunz 1997). (c) Auf der Kontrolldimension wurde ein ex-post-facto-Design vorgeschlagen. Damit kann geprüft werden, ob in unterschiedliche Kontexte eingebettete Journalisten unterschiedliche Nachrichtenfaktor-Vorstellungen sowie damit verknüpfte Intensitäten und Wichtigkeiten erlernt haben, die entsprechend zu unterschiedlichen Selektionsentscheidungen führen. Allerdings haben künstliche Entscheidungssituationen den Nachteil, dass sie extern wenig valide bezüglich der Vielfalt journalistischer Entscheidungen und externer Einflussfaktoren wie z.B. der Ereignislage sind. Sie bergen zudem das Risiko von Fehlurteilen (Friedrichs, Stolle & Engelbrecht 1993, 6). Um über die Stabilität der Entscheidung zumindest reflektieren zu können, wird die Selektionsentscheidung für die Issue-Ebene nicht nominal, sondern metrisch skaliert. Zudem wurden Nachrichtenfaktor-Vorstellungen als Attribute formuliert, so dass ein relativ enger Bezug zwischen Vorstellungen und den beiden Issue-Optionen besteht, der die Erklärungskraft erhöht14. Das Design gewährleistet damit zumindest interne Validität, weil die simulierten Nachrichtenszenarios hinsichtlich relevanter Aspekte variiert wurden, und sich das Finalmodell standardisiert und vergleichend testen lässt. Bisher wurden solche Untersuchungsanlagen eher selten in der Journalismusforschung angewendet (z.B. Kepplinger et al. 1989), so dass in gewisser Hinsicht Neuland betreten wird. (d) Methodisch ließen sich journalistische Entscheidungen auch mittels Beobachtungen oder Inhaltsanalysen untersuchen. Allerdings werden so nur die Ergebnisse der Berichterstattung, nicht aber die Kriterien für journalistische Publikationsentscheidungen ermittelt. Inhaltsanalysen argumentieren von vornherein nur auf organisatorischer Ebene, meist mit Unterschieden aufgrund redaktioneller Linien. Individuell beabsichtigte Einflussfaktoren sind so nicht zu ermitteln, weil Ergebnisse durch andere externe als die individuell beabsichtigten Faktoren hervorgerufen werden können (Ajzen & Fishbein 1980, 30). Beobachtungen erfassen tatsächliches Handeln bzw. Verhalten, das aber nicht zwingend individuellen journalistischen kognitiven Entscheidungen entsprechen muss. Zudem lassen sich durch Beobachtung gewonnene Daten schwer vergleichen, da man nur sehr aufwendig zeitgleich unter gleichen Bedingungen journalistische Selektionsentscheidungen erheben kann. Zur Prüfung von WE-Modellen eignen sich damit – trotz anderer Nachteile – noch am ehesten Befragungen, um Vergleichbarkeit zwischen individuellen Selektionsentscheidungen sicher zu stellen. Allerdings setzen sie voraus, dass sich Journalisten der Vorstellungen zu ihren Entscheidungen bewusst sind und darüber Auskunft geben können. Dieses Problem ist aber eher theoretischer15 als methodischer Art. Denn wenn man davon ausgeht, dass Entscheidungen durch Gründe oder Konsequenzen erklärbar sind, dann müssen Akteure diese auch angeben können (vgl. Bilandzic 2006).
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Die Formulierung von Handlungsfolgen kann aufgrund des langfristigeren Charakters die Erklärungskraft senken. Dieser Theoriegruppe liegt das Menschenbild eines rationalen, überlegt handelnden Menschen zugrunde (Krampen 2000).
Journalistische Selektionskriterien und Selektionsentscheidungen
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Ines Engelmann
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Methodische Designs zur Messung subjektiver Einflüsse auf Nachrichtenentscheidungen von Journalisten Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch
1
Einleitung
Den Kern der Journalismusforschung bilden Kausalanalysen über Einflussfaktoren auf Medieninhalte. Für solche Kausalanalysen gibt es eine Reihe von Modellen, mit denen man die an Inhaltsentscheidungen beteiligten Faktoren systematisiert hat. Diese Modelle haben eine sinnvolle forschungsleitende Funktion. Eine Theorie, die sämtliche mögliche Faktoren integriert, steht aber noch aus und ist angesichts der Komplexität des Prozesses wahrscheinlich auch nicht möglich. Stattdessen lassen sich Theorien finden, welche die Wirkungsstärke einzelner Faktoren zu ermessen versuchen – zum Beispiel den Einfluss von Nachrichtenfaktoren, von Public Relations, wirtschaftlichen Faktoren, gruppendynamischen Prozessen, Schlüsselereignissen oder historisch-strukturellen Entwicklungen. In diesem Aufsatz geht es um die Frage, wie die verschiedenen eingeschränkt legitimen oder völlig illegitimen Einflüsse subjektiver Interessen auf journalistische Nachrichtenentscheidung methodisch untersucht worden sind. Von Interesse sind also nicht die natürlicherweise subjektiv gefärbten Kommentare von Journalisten, sondern die Frage, ob und wie die Eigeninteressen von Journalisten, Medieneigentümern, PR-Akteuren und Werbekunden sich auf die Nachrichtenauswahl auswirken und sich in den Medieninhalten niederschlagen. Es liegt eine große Zahl empirischer Untersuchungen vor, die sich dieser Frage auf methodisch verschiedene Weise angenommen haben. Für diese unterschiedlichen Ansätze und Designs liefern wir einen Systematisierungsvorschlag, stellen konkrete Beispiele für unsere Kategorien vor und diskutieren deren methodische Stärken und Schwächen. 2
Subjektivität als Einflussgröße
Das Forschungsinteresse für den Einfluss subjektiver Prädispositionen rührt vor allem daher, dass nach Begründungen für sog. ‚Verzerrungen’ in den Medieninhalten gesucht wird. Wenn beispielsweise die subjektiven Interessen der Journalisten selbst einen Einfluss auf deren Nachrichtenentscheidungen ausüben, dann können die Einstellungen einer kleinen Minderheit in der Gesellschaft zum wesentlichen Input für die Wirklichkeitswahrnehmung der gesamten Bevölkerung werden. Die Frage, wie gut oder schlecht die Auswahlkriterien der Journalisten repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind, stand schon am Anfang wissenschaftlicher Auseinandersetzungen über die Rolle der Presse und damit die Legitimität von Pressefreiheit (Prutz 1846; Löffler 1837).
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch
Die Journalisten selbst sind eine von mehreren Gruppen von Akteuren, die einen Einfluss auf Medieninhalte haben können. Die ideologischen oder politischen Interessen von Journalisten schlagen sich in der Recherchepraxis, der Themen- und Nachrichtenauswahl sowie der Präsentation von Medieninhalten nieder. Der Einfluss der Journalisten auf die Medieninhalte ist bedingt legitim: Journalisten können persönliche Rechte aus dem Arbeitsrecht und Redaktionsstatuten ableiten und nehmen die institutionelle Garantie der Pressefreiheit stellvertretend wahr. Gleichzeitig obliegt es dem Verleger und Chefredakteur die weltanschaulich-politische Linie bzw. die Haltung zu längerfristigen Themen zu bestimmen. Weitere Einflussquellen sind die wirtschaftlichen oder strukturellen Eigentümer der Medien, die ideologische, politische und wirtschaftliche Interessen berücksichtigt wissen wollen. Diese Interessen sind insofern bedingt legitim, als sie sich im Spannungsfeld zwischen Tendenzschutz und dem Schutz des Eigentums bewegen. Gerade deutsche Journalisten zeigen sich jedoch mit der redaktionellen Tendenz des eigenen Mediums ausgesprochen einverstanden (Weischenberg, Malik & Scholl 2006). Sie geben außerdem an, einem Druck vom Medien-Management kaum ausgesetzt zu sein (Donsbach 2008). Grundsätzlich illegitim sind Einflussnahmen von Seiten staatlicher Autoritäten, die über die Gesetzgebung und Sanktionen subjektive Einflüsse einzubringen suchen, und Werbekunden, die auf eine positive Darstellung ihrer Unternehmen hinwirken. Die von Journalisten wahrgenommene Einflussnahme der Interessen von Anzeigenkunden hat sich inzwischen erheblich verstärkt (Donsbach 2008). Wiederum bedingt legitim ist es, wenn sich die Interessen von Quellen in den Medieninhalten niederschlagen. PR etwa repräsentiert die Vielfalt gesellschaftlicher Interessen. Gleichzeitig haben die Interessen einzelner Quellen einen häufig verdeckten und damit für das Publikum nicht erkennbaren Einfluss auf die Medienberichterstattung. Die ‚Bias-Studien‘ haben immer wieder an Einzelthemen Verzerrungen aufgezeigt und diese Abweichungen von der erwarteten Berichterstattung mit den subjektiven Absichten und Zielen der Journalisten erklärt. Auch aus Sicht des Medienpublikums sind die Inhalte von Journalisten zu großen Teilen Ergebnis deren eigener subjektiven Sicht – gleichzeitig bestehen die Bürger auf einer Berichterstattung, die es ihnen erlaubt, sich auf objektiver Grundlage ihr subjektives Bild zu machen (Donsbach et al. 2009). Der Wahrnehmung folgt die Wirkung: Verzerrungen führen beim Publikum letztlich zu einer selektiven Zuwendung (Iyengar & Hahn 2009). Bei den Studien zum „Hostile Media Phenomenon“ wird die Wahrnehmung der Berichterstattung eines Beitrags unter anderem an Hand der Frage indiziert, welche Konfliktposition man bei dem verantwortlichen Redakteur unterstelle (Vallone, Ross & Lepper 1985). Kepplinger (1989, 4) definiert „News Bias“ als „Einseitigkeit als überzufällige Abweichung von Ausgewogenheit im Sinne der Gleichbehandlung“. Da bei der Forschung zum Einfluss subjektiver Interessen auf die journalistische Nachrichtenauswahl nicht nur die Abweichung von Ausgewogenheit von Bedeutung ist, sondern auch vor allem die Begründungen dieser Abweichung, ist diese Definition zu eng gefasst. Außerdem wird sie nicht der Verschiedenartigkeit der Ansätze und empirischen Studien gerecht, die sich dem Einfluss subjektiver Interessen auf Nachrichtenentscheidungen angenommen haben. Wir schlagen deshalb eine differenziertere Einordnung vor. Betrachtet man die bisherige News-Bias-Forschung, dann lassen sich zwei Kategorien von Ansätzen und Studien unterscheiden: solche, bei denen eine Abweichung des Medieninhalts zu einem bestimmten Thema von dem erwarteten Medieninhalt gefunden wird, ohne die unabhängige Variable für diesen Befund selbst zu operationalisieren, und zweitens Studien, bei denen versucht
Einflüsse auf Nachrichtenentscheidungen von Journalisten
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wird, einen Nachweis für Verzerrungen anhand der Prädispositionen zu führen. Grundsätzlich zu unterscheiden sind deshalb Designs deskriptiver und explikativer Natur. 3
Deskription von Verzerrung
Zahlreiche Studien haben einen Vergleich zwischen Realität und Medienrealität vorgenommen. Im Wesentlichen lassen sich hier drei Kategorien empirischer Maße für Objektivität erkennen, die diesen Vergleichen zugrunde liegen: medienexterne und medieninterne Objektivitätsmaße sowie Maße der Gleichverteilung. Hier befinden wir uns im Bereich der ‚Objektivitätsmaße’. Da diese bereits ausführlich dargestellt worden sind (Donsbach 1990), beschränken wir uns hier auf die methodischen Designs und deren Kritik. 3.1 Medienexterne Objektivitätsmaße Hier werden die Darstellungen in den Medien mit externen Indikatoren für die Realität wie beispielsweise statistischer Kennzahlen oder mit den Realitätsdarstellungen anderer Autoren wie etwa Experten verglichen, die außerhalb des Mediensystems angesiedelt sind. Lang und Lang (1953) haben die Fernsehberichterstattung über den Triumphzug General McArthurs durch Chicago untersucht und sie anschließend mit Aufzeichnungen von Beobachtern verglichen, welche die Wissenschaftler selbst zu diesem Ereignis geschickt hatten. So wurde deutlich, dass die Darstellung des Fernsehens nicht mit der direkten Wahrnehmung der ausgesandten Beobachter übereinstimmte. Andere Studien fanden heraus, dass die Intensität der Medienberichterstattung über die von ihnen untersuchten Ereignisse und Konflikte weitgehend unabhängig davon verlief, wie sich die Ereignisse und Entwicklungen in Statistiken darstellten: Kepplinger (1989) hat der gegenüber technischen Entwicklung in den 1970ern zunehmend kritischen Medienberichterstattung statistische Kennzahlen der tatsächlichen Schadensentwicklung in der BRD am Beispiel von etwa Verkehrstoten, Waldschäden, der Lebenserwartung oder Umweltinvestitionen gegenübergestellt und auf diese Weise eine Überbetonung der Schadensgefahr für die Menschen durch die Medien geschlussfolgert. Experten als Vergleichsquelle hinzuzuziehen, erlaubt, die Medienberichterstattung entweder mit den Expertenurteilen selbst oder den Darstellungen dieser Urteile in den Medien zu vergleichen. Rothman und Lichter (1982) zum Beispiel haben die Berichterstattung über Kernenergie in den US-Medien in Form der Pro- und Kontra-Argumente zur Kernenergie mit den Argumenten von Physikern für und wider diese Technologie in Bezug gesetzt – mit dem Ergebnis, dass sich beide Verteilungen deutlich unterschieden. Im Bereich der medienexternen Objektivitätsmaße wird also eine Verteilung eines Medieninhalts einzelner oder mehrerer Medien ermittelt, die von einer ausgewogenen oder anders definierten normativen Verteilung abweicht. Die Abweichung der Mediendarstellung von dieser als objektiv qualifizierten Verteilung wird als Folge subjektiver Interessen interpretiert. Es ist jedoch zu prüfen, ob statistische Kennzahlen tatsächlich die Dringlichkeit eines Ereignisses oder einer Entwicklung repräsentieren und diese Dringlichkeit nicht vielmehr über- oder unterbewerten. Zudem ist fraglich, ob Expertenurteile als Objektivitätsmaß taugen, wo sie doch von Interessen geleitet sein können und sich zudem nicht unbedingt mit gesellschaftlichen Empfindungen decken müssen.
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Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch
3.2 Medieninterne Objektivitätsmaße Im Bereich der medieninternen Objektivitätsmaße lassen sich Inter-Media-Vergleiche, Intra-Media-Vergleiche und Input-Output-Analysen unterscheiden. Bei Inter-Media-Vergleichen wird die Berichterstattung eines bestimmten Medientyps mit der Berichterstattung eines anderen Medientyps abgeglichen, also etwa die Berichterstattung verschiedener Zeitungen mit der Fernsehberichterstattung. Dabei wird unterstellt, dass alle einzelnen Medien mehr oder weniger verzerrt berichten, sie aber insgesamt betrachtet ein einigermaßen ausgewogenes Bild abgeben. Richtung und Ausmaß der Verzerrung der Inhalte einzelner Medien ergeben sich über den Vergleich mit einem Standardmaß. In Deutschland dienen zumeist die vier Qualitätszeitungen mit überregionaler publizistischer Geltung als solches. Es ergibt sich folglich aus dem Mittelwert der Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine Zeitung, Süddeutsche Zeitung, Die Welt und Frankfurter Rundschau, die ihrerseits nachgewiesenermaßen das politische Links-Rechts-Spektrum publizistisch abdecken. Inhaltsanalysen der Berichterstattung über den Bundestagswahlkampf 2002 haben unter anderem gezeigt, dass sich die redaktionellen Tendenzen der Medien im Bundestagswahlkampf 2002 hinsichtlich der Berichterstattung über Gerhard Schröder von der gemittelten Tendenz der vier ‚Spektrumsmedien‘ abheben. Unterstützt wurde Schröder stärker von linksliberalen Presse- und Fernsehmedien, gegen den Amtsinhaber positionierten sich vor allem liberalkonservative Medien. Von linksliberaler Seite wurde Schröder deutlich stärker unterstützt als seine Partei (Donsbach & Jandura 2005). Intra-Media-Vergleiche beruhen auf dem Vergleich von Medien derselben Gattung. Hier ist zum Beispiel die Studie von Rosengren (1970) zu nennen, der die Berichterstattung schwedischer Medien über den politischen Umsturz in Portugal im Zuge der ‚Nelkenrevolution‘ in den 1970ern untersucht hat. Rosengren hat zum einen die Anzahl der Statements aller Parteien in allen Zeitungen inhaltsanalytisch erfasst, um danach den Anteil der Statements der einzelnen Parteien an der Berichterstattung der verschiedenen einzelnen Medien zu bestimmen. So konnte er Rückschlüsse auf deren jeweilige politische Tendenz ziehen. Bei Input-Output-Analysen werden die Meldungen von Nachrichtenagenturen mit der Berichterstattung in den Medien verglichen und darüber Rückschlüsse auf journalistische Selektionsentscheidungen getroffen. Agenturmeldungen bilden das Ausgangsmaterial für Journalisten, der Abgleich dieser Meldungen mit der Berichterstattung von Medien legt offen, inwieweit die Medienberichterstattung dem gegenüber verzerrt ist. Als Pionierstudie gilt die Untersuchung von David Manning White (1950), der die tägliche Nachrichtenauswahl eines „Mr. Gates“, Fernschreibredakteur einer kleineren Zeitung aus dem Mittelwesten der USA, analysierte. Dessen Auswahl war eine gute Stichprobe aus den Agenturmeldungen, seine Auswahl jedoch deutlich subjektiv, wie die Auswertung der Ablehnungsgründe zeigte. 3.3 Objektivitätsmaße der Gleichverteilung Maße der Gleichverteilung beruhen auf der Annahme, dass die Proportionen der Berichterstattung über Personen, Parteien, Standpunkte oder Regionen gleich verteilt sein müssen oder zumindest in einem noch als hinnehmbar empfundenen Maße variieren. Studien, die diese Gleichverteilung als Norm unterstellen und darüber Verzerrung abbilden, lassen sich
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einer dieser drei Formen zuordnen: Ausgewogenheitsstudien, Nachrichtenfaktor-Studien und Studien der geografischen Äquivalenz. Ausgewogenheitsstudien untersuchen zumeist, ob bestimmte Personen, Institutionen oder Standpunkte in der Medienberichterstattung gleichermaßen repräsentiert sind. Ein Beispiel hierfür ist die in der Wahlkampfberichterstattung aus verschiedenen Gründen angemessene Gleichbehandlung der Spitzenkandidaten. Donsbach und Jandura (2005) stießen in den Bundestagswahlkämpfen 1998 und 2002 auf eine deutlich stärkere Präsenz des jeweiligen Amtsinhabers in den Fernsehnachrichten: Helmut Kohl war 1998 wie Gerhard Schröder 2002 mit erheblich mehr und längeren OTönen in den Nachrichten vertreten als die jeweiligen Herausforderer Gerhard Schröder und Edmund Stoiber. In Anlehnung an diese Studie hat Spranger (2003) die halbstündige Magazinsendung Informationen am Abend des Deutschlandfunks untersucht. Dabei hat sie den Anteil an Beiträgen mit O-Tönen an allen Beiträgen und die Länge dieser O-Töne miteinander verglichen – mit dem Ergebnis, dass der damalige Kanzler Schröder eine insgesamt viermal so starke Präsenz hatte wie sein Herausforderer Stoiber. Ausgewogenheitsstudien basieren also auf dem normativen Anspruch, über beispielsweise Personen oder Parteien müsse in gleichem Maße berichtet werden. Unberücksichtigt bleibt dabei aber, ob dies der Wirklichkeit gerecht wird: So dürfte der Amtsinhaber angesichts seiner Verpflichtungen naturgemäß stärker medial präsent sein und von einem Amtsbonus profitieren. Ausgewogenheitsstudien leisten zudem wie alle deskriptiven Studien lediglich eine Beschreibung von Verzerrungen, erhellen aber nicht die ursächlichen Faktoren. Von einer Gleichverteilung geografischer Entitäten in der Medienberichterstattung gehen Studien der geografischen Äquivalenz aus. Sie messen, ob die Quantität der Berichterstattung über einzelne Regionen deren geografischer Größe entspricht oder sich die bilaterale Darstellung zweier Länder oder Regionen im Gleichgewicht befindet. Gerbner und Marvanyi (1977) forderten zum Beispiel, dass das Ausmaß der Berichterstattung über die fünf Kontinente den tatsächlichen geografischen Proportionen dieser Erdteile entsprechen müsse. Diese Verzerrung illustrierten sie mit Landkarten, welche die Größe der Erdteile einmal auf Basis ihrer realen geografischen Größe und auf Basis der Berichterstattungshäufigkeit darstellen. Es überrascht nicht, dass dort Europa als der geografisch kleinste, aber auch als jener Kontinent abgebildet ist, über den proportional am meisten berichtet wird. Auch die Nachrichtenfaktorstudien gehören zu den Studien, die Verzerrungen beschreiben, denn auch sie unterstellen im Prinzip eine Gleichverteilung. Nachrichtenfaktoren können als kollektive Vorstellung von Journalisten darüber verstanden werden, was eine Nachricht berichtenswert macht. Studien zu Nachrichtenfaktoren messen, welche Merkmale von Ereignissen eine hohe Chance haben, in den Medien prominent behandelt zu werden. Nachrichtenfaktorstudien beschreiben damit die Struktur der Medienrealität. Sie sagen allerdings nichts darüber aus, warum bestimmte Nachrichtenfaktoren einflussreicher sind als andere. Schulz (1976) zum Beispiel, der auf den Studien von Galtung und Ruge (1965) und Östgaard (1965) aufbaute, führt solche Erklärungsvariablen lediglich als „journalistische Antizipationen des Publikumsinteresses“ an, hinterfragt sie aber nicht. Deskriptive Studien beruhen überwiegend auf Analysen des Medieninhalts, worüber sie Tendenzen in der Berichterstattung und die Abweichung von einer definierten Norm aufdecken. Sie sind damit nicht in der Lage, bestimmte Einflussfaktoren für Verzerrungen in der Berichterstattung zu identifizieren und isoliert zu betrachten. So könnte die negative
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Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch
Berichterstattung über einen Politiker oder über politische Sachverhalte aus besonderen Umständen der Berichterstattung oder anderer Faktoren resultieren und nicht aus parteilicher Verzerrung durch Journalisten. Allen Studien aus dem Bereich der ‚Objektivitätsmaße‘ ist gemein, Abweichungen des Medieninhalts von einer erwarteten Qualität zu beschreiben und gelegentlich noch zu interpretieren. Letztlich vermögen sie es aber nicht, wissenschaftlich-systematische Evidenzen für die Ursachen dieser Abweichungen anzubieten. 4
Explikation von Verzerrung
Bei explikativen Ansätzen und Studien werden Abweichungen des Medieninhalts von einem erwarteten Wert nicht nur beschrieben, sondern auch erklärt. Hier wird versucht, eine Beziehung zwischen subjektiven Einflüssen und den Medieninhalten herzustellen, mithin einen Kausalnachweis für den Einfluss subjektiver Einstellungen auf Medieninhalte zu führen und einzelne Einflussfaktoren zu identifizieren. Im Bereich der ‚Subjektivitätsmaße‘ unterscheiden wir zwischen Aggregat-Daten-Studien, Gruppen-Daten- und IndividualDaten-Studien. 4.1 Aggregat-Daten-Studien Aggregat-Daten-Studien setzen die Medieninhalte von Stichproben von Medien zu den Prädispositionen von Akteuren der Medien oder zu anderen Medieninhalten in Bezug, sie stellen also einen Zusammenhang zwischen den durchschnittlichen Merkmalen der Inhalte des ganzen Mediensystems oder von Teilen des Mediensystems und den Prädispositionen aller Journalisten der gleichen geografischen Grundgesamtheit her. Bereits erwähnt wurde die Studie von Kepplinger (1989), die auf eine mediale Überbetonung der Gefahren technischer Entwicklungen in den 1960er bis 1980er Jahren über den Vergleich etwa mit Statistiken stieß. Werden diese durch medienexterne Realitätsindikatoren offengelegte verzerrte Darstellung realer Technikgefahren mit Daten zu den Einstellungen der deutschen Journalisten in Verbindung gebracht, könnte der von Kepplinger als Erklärung ins Feld geführte Wertewandel, mithin die Änderung der persönlichen Prädispositionen von Journalisten für die überzogene Gefahrendarstellung verantwortlich sein. Laut einer Längsschnittstudie spielte im Laufe der Jahrzehnte unter Journalisten der Umweltschutz eine zunehmend starke Rolle, wirtschaftliche Interessen traten hingegen in den Hintergrund (Ehmig 2000). Ein ähnliches Bild bietet sich, wenn wir die unausgewogene Präsenz der Kanzlerkandidaten von SPD und Union in der Fernsehberichterstattung zu den Bundestagswahlkämpfen 1998 und 2002 (Donsbach & Jandura 2005) mit der parteipolitischen Affinität von Journalisten in Beziehung setzen. Das Institut für Demoskopie Allensbach erhebt kontinuierlich Daten zur politischen Selbstverortung der Deutschen auf dem Rechts-LinksSpektrum. Der Vergleich dieser Zahlen mit den methodisch identisch erhobenen Daten einer Journalistenbefragung macht deutlich, dass sich Journalisten als linker beschreiben, als es die Bevölkerung ihrerseits tut (Donsbach 2008). Kann die gegenüber den Bürgern linkere Gesinnung von Journalisten eine Erklärung dafür sein, dass der SPD-Kandidat Schröder in den Medien präsenter war als sein Herausforderer Stoiber und 1998 kaum weniger Beachtung erfuhr als der damalige Amtsinhaber Kohl?
Einflüsse auf Nachrichtenentscheidungen von Journalisten
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Ein weiteres Beispiel für Aggregatdatenstudien ist die Meta-Analyse von D’Alessio und Allen (2000) über den Zusammenhang der Tendenzen der Wahlberichterstattung von US-Medien und den Wahlabsichten der Journalisten. Die Autoren haben 59 quantitative Bias-Studien zu allen Wahlkämpfen in den USA seit 1948 ausgewertet und 132 verschiedene Verfahren vorgefunden, das Ausmaß von Verzerrung zu messen. Für keine der drei Bias-Arten „gatekeeping bias“ (subjektive Nachrichtenauswahl der Journalisten), „coverage bias“ (physisches Ausmaß der Nachrichtenberichterstattung, gemessen in Artikellängen, Fotoanzahl und -größe) und „statement bias“ (Niederschlag subjektiver Meinungen der Journalisten in den Nachrichten, gemessen am Ausmaß wertender Statements) haben sie einen systematischen Zusammenhang zwischen den Wahlabsichten der Journalisten und der Berichterstattung entdeckt. Eine Analyse über alle Bias-Arten hinweg ergab weder einen liberalen noch einen konservativen Bias, letztlich einen „zero overall bias“ (D’Alessio & Allen 2000, 148). Metaanalysen erlauben es, Befunde verschiedener Untersuchungen zu aggregieren und darüber Evidenzen auf breiter empirischer Basis zu gewinnen. Die den Analysen von D’Alessio und Allan zugrunde liegenden Studien haben relativ große Stichproben, was die Anfälligkeit für einfache Stichprobenfehler wie Scheinkorrelationen gering hält. Statistische Tests waren jedoch nicht möglich. Zudem war es nötig zu gewichten, weil die einzelnen Stichproben unterschiedlich groß waren und in vielen Fällen die Berichterstattung unterschiedlicher publizistischer Bedeutung repräsentierten. Denn ohne Gewichtungen zählten Studien mit kleineren Stichproben und Stichproben publizistisch weniger bedeutender Medien genauso viel wie Studien mit größeren Stichproben und Stichproben großer Medien. Neben den subjektiven Einstellungen von Journalisten können sich auch die Einstellungen und Interessen anderer Akteure in der Medienberichterstattung niederschlagen. So lassen sich zum Beispiel die PR-Inhalte eines gesellschaftlichen Akteurs mit der Darstellung dieses Akteurs in den Medien eines Landes miteinander in Verbindung bringen. Barth und Donsbach (1992) haben die Aktivität und Passivität von Journalisten gegenüber der PR von Unternehmen untersucht. Der Abgleich der PR- mit den Medieninhalten legte offen, dass die zentrale Botschaft jener Unternehmen, deren Pressekonferenz Instrument der Aktions-PR war, in der Mehrheit der Pressebeiträge vollständig oder teilweise wiedergegeben wurde. Der Krisen-PR der untersuchten angeschlagenen Unternehmen gegenüber verhielten sich die Journalisten deutlich aktiver. Es konnte gezeigt werden, dass PR Einfluss auf die Berichterstattung besitzt. Die Ursachen von PR auf die Berichterstattung bleiben jedoch im Dunkeln. Ist es tatsächlich die geschickte ‚Manipulation‘ von PR-Fachleuten oder nicht doch etwa der Zeitdruck in den Redaktionen, der zur Übernahme von PR-Inhalten durch Journalisten führt? 4.2 Gruppen-Daten-Studien Untersuchungen, welche die Medieninhalte bestimmter Einheiten zu den Prädispositionen der Redakteure dieser Einheiten in Beziehung setzen, nennen wir Gruppen-Daten-Studien. In der Regel wird dabei ein Zusammenhang zwischen der Berichterstattung bestimmter Medien und den Voreinstellungen der Redaktionsmitglieder hergestellt. Studien dieser Art lassen sich vier verschiedenen Forschungstraditionen zuordnen: der SynchronisationsForschung, der Tradition, Befragungen mit Inhaltsanalysen zu kombinieren, der Endorsement- und der ‚Interessens-Studien‘-Forschungstradition.
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Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch
Synchronisationsstudien beschäftigen sich mit der Frage, ob Journalisten Informationen häufig in Übereinstimmung mit der redaktionellen Tendenz auswählen, wie sie in den Kommentarteilen der Medien zum Ausdruck kommt. Die erste Studie dieser Art stammt von Klein und Maccoby (1954) zur Berichterstattung über den US-Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 1952. Über einen Zeitraum von über einem Monat analysierten sie die Artikel auf den Titelseiten von acht Zeitungen, deren redaktionelle Linie hinsichtlich der konkurrierenden Kandidaten Eisenhower und Stevenson bekannt war. Ihr Ergebnis war ein signifikanter Zusammengang von redaktioneller Linie und Berichterstattung, die Blattlinie schlug sich in einer ausführlicheren und einer stärker bebilderten Berichterstattung über den favorisierten Politiker nieder. Eine Klassikerstudie ist die Untersuchung von Mann (1974) über die Synchronisation von Nachricht und Meinung bei US-Zeitungen während des Vietnamkrieges. Die redaktionelle Linie wurde über die Standpunkte der Zeitungen zum Vietnam-Krieg erfasst, wobei redaktionelle Kommentare und wertgeladene Äußerungen von in den Zeitungen zitierten Experten berücksichtigt wurden. Verglichen wurde die redaktionelle Linie nun mit der Tendenz der Berichterstattung über die Teilnehmerzahl von AntiVietnamkriegs-Demonstrationen. Zeitungen, die sich in ihren Kommentaren gegen den Krieg positionierten, berichteten von weitaus höheren Demonstranten-Zahlen, als jene Blätter, die sich hinter die Kriegspolitik der US-Regierung stellten. In der deutschen Kommunikationsforschung hat erstmals Schönbach (1977) den Beweis dafür erbracht, dass die Zeitungen Argumente gemäß ihrer redaktionellen Linie auswählten und damit den Lesern nicht annähernd die Breite an vorhandenen konkurrierenden Standpunkten zu einem politischen Konflikt anboten, welche diese für ihre subjektive Meinungsbildung benötigen. In zahlreichen weiteren Studien ist dies bestätigt worden. Dass Redaktionen häufig auf Aussagen „opportuner Zeugen” zurückgreifen, also auf Aussagen solcher Experten oder anderer externer Akteure, deren Standpunkt mit der redaktionellen Linie harmoniert, hat Hagen (1992) nachweisen können. Er untersuchte die Berichterstattung deutscher Presse-Leitmedien über das kontroverse Thema der Volkszählung 1987, indem er die Blatt-Linien in Bezug auf dieses Thema mit den Argumenten von Kommunikatoren in Bezug setzte, die in diesen Medien Gehör fanden. Bei der tageszeitung, der Frankfurter Rundschau und der Welt stimmte die durchschnittliche Argumentationsrichtung der Journalisten mit jener anderer Kommunikatoren am stärksten überein. Die Gleichgerichtetheit von Kommentaren und Nachrichten der Medien ist gerade in politischen Wahlkämpfen immer wieder untersucht worden. Zur Berichterstattung über den Bundestagswahlkampf 2002 führten Donsbach und Weisbach (2005) eine Synchronisationsanalyse durch, indem sie die Richtung der in den Medien veröffentlichten Aussagen zum Meinungsklima und zum Wahlausgang im Spektrum von pro SPD und Gerhard Schröder zu pro Union und Edmund Stoiber den redaktionellen Tendenzen der Medien im Spektrum von pro SPD zu pro Union gegenüberstellten. Beim Verfahren der Synchronisationsanalyse gibt die Lage des Schnittpunktes beider Linien an, ob und wie stark ein Medium die Berichterstattung an seinen eigenen Standpunkt gegenüber den Parteien anpasste. Nahezu alle Medien haben solche Aussagen überdurchschnittlich veröffentlicht, in denen das von ihnen in der sonstigen Berichterstattung unterstützte Lager führte (vgl.Abbildung 1).
Einflüsse auf Nachrichtenentscheidungen von Journalisten Abbildung 1:
163
Synchronisation von Wahlaussagen mit der redaktionellen Tendenz
Wahlaussagen zu Gunsten von ...
1,5
Union/ Stoiber
1,0
,5
Bild Welt FAZ
SZ
Pro Union
Pro SPD
0,0
FR
-,5
-1,0
SPD/ Schröder
-1,5 -1,5
-1,0
-,5
0,0
,5
1,0
1,5
redaktionelle Tendenz Steigung: 0,88; Schnittpunkt: 0,47 Basis: 205 Wahlaussagen, 2.577 Tendenzcodierungen
Quelle: Donsbach & Weisbach (2005) Die Synchronisationsstärke bemisst sich dabei nicht am absoluten Punkt im Koordinatensystem, sondern an der relativen Position mit Blick auf eine gedachte Regressionsgerade. Die Werte auf der Y-Achse sind im abgebildeten Fall nach oben verschoben, weil die damalige Wählermeinung und die Erwartungen der Bürger zum Wahlausgang im Jahr 2002 nicht gleichverteilt waren, sondern überwiegend die Union begünstigt sahen. Die Befragungs-Inhaltsanalyse-Studie von Flegel und Chaffee (1971) hat Ergebnisse von Journalistenbefragungen zu verschiedenen Konflikthemen mit inhaltsanalytisch gewonnenen Verteilungen von Medieninhalten der betroffenen Medien in Beziehung gesetzt. Der stärkste Korrelationskoeffizient (r = .67) ergab sich bei der Messung des Zusammenhangs zwischen der Meinung der Journalisten und der Tendenz des eigenen Blattes. Diese Studie beruht allerdings auf sehr kleinen Stichproben und kannte keine Kontrollvariablen. In den USA haben vor Präsidentschaftswahlen Kandidaten-Empfehlungen der Medien eine lange Tradition. Mit ihren Endorsements legen die Medien ihrem Publikum offen, welchen der konkurrierenden Kandidaten sie aus welchen Gründen für das Amt geeignet sehen. Zahlreiche Endorsement-Studien sind der Frage nachgegangen, ob Medien-Eigen-
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Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch
tümer Einfluss auf die Wahlempfehlung der Redaktionen nehmen, das Endorsement also von den Redaktionen übernommen wird. Busterna und Hansen (1990) haben die Auswirkungen der ‚chain ownership‘, also der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Medienkonzern, auf die redaktionelle Freiheit am Beispiel der Endorsements in den Präsidentschaftswahlkämpfen 1976, 1980 und 1984 untersucht und dabei 181 ‚chains‘ einbezogen. Die ‚chain ownership‘ spielt bei den Endorsements keine Rolle. Auch andere Studien (etwa Merron & Gaddy 1986; Gaziano 1989) bestätigen, dass Zeitungen hier vielmehr ihre Autonomie betonen. Dass Medien-Eigentümer einen entscheidenden Einfluss auf die Nachrichtengebung dieser Medien haben können, haben Interessens-Studien gezeigt. Hier geht es um die Frage, ob und auf welche Weise eine unterschiedliche Berichterstattung auf die Zugehörigkeit des Mediums oder der Journalisten zu einem Verlag oder auf Verlagsinteressen zurückzuführen ist. Bei Studien dieser Art wird der Interessenstandpunkt a priori theoretisch festgelegt und der Berichterstattung über ein Thema, das mit eigenen Interessen in Zusammenhang steht, gegenübergestellt. Mit einer Analyse der Presseberichterstattung zum Konflikt auf dem Berliner Zeitungsmarkt im Jahre 2002 haben Müller und Donsbach (2006) einen Nachweis für den Einfluss von Verlagsinteressen erbracht. Für die betroffenen Verlage Axel Springer und Holtzbrinck wurden jeweils drei Zeitungen verschiedener Zeitungstypen ausgewählt, interessenfreie Zeitungen mit hinzugezogen und alle Artikel untersucht, die im fast fünfmonatigen Untersuchungszeitraum die Fusionspläne oder die Neufassung der Pressefusionskontrolle thematisierten. Im Ergebnis entsprach der Berichterstattungstenor über die Fusionsdebatte größtenteils der Konfliktsicht der beteiligten Verlage (vgl. Abbildung 2). Abbildung 2:
Nachrichtenentscheidungen zu Gunsten von Verlagsinteressen
Valenz der Aussagen von Journalisten in Prozent 100
93
pro Holtzbrinck contra Holtzbrinck
80
76 60
40
20
24 7
0
Holtzbrinck Basis: 130 Aussagen
Quelle: Müller & Donsbach (2006)
7 Axel Springer
Einflüsse auf Nachrichtenentscheidungen von Journalisten
165
Mit Hilfe von Gruppendatenstudien lässt sich auch der Einfluss von Interessen von Anzeigenkunden prüfen. Andresen (2006) hat das Anzeigenaufkommen in Süddeutscher Zeitung und Spiegel der Tendenz der Berichterstattung dieser Medien über jene Unternehmen, die diese Anzeigen geschaltet haben, gegenübergestellt. Während bei der Süddeutschen Zeitung kein Einfluss nachgewiesen werden konnte, zeigte sich, dass Anzeigenkunden in der Berichterstattung des Spiegel umso positiver bewertet wenn, je größer das Anzeigenaufkommen dieser Kunden war. Auch die Häufigkeit von Berichten mit Bezug zu Unternehmensprodukten verhielt sich proportional zur Werbeintensität der Unternehmen im Spiegel. Gruppen-Daten-Studien stellen eine Beziehung zwischen den Inhalten spezifischer Medien, zumeist die Berichterstattung bestimmter Redaktionen, und den Prädispositionen von bestimmten Akteursgruppen her. Zum tatsächlichen kausalen Zusammenhang zwischen den Interessen dieser Gruppen und der Tendenz der Medienberichterstattung liefern sie keine Evidenz. Sie geben jedoch keine Antwort auf die Frage, ob individuelle Akteure, die bestimmte messbare Voreinstellungen haben, auch tatsächlich für den mit diesen subjektiven Voreinstellungen korrelierenden Inhalt verantwortlich sind. 4.3 Individual-Daten-Studien Individual-Daten-Studien erbringen den stringentesten Kausalnachweis, weil die Prädisposition des einzelnen Redakteurs mit dessen diskreter individueller Nachrichtenentscheidung in Beziehung gesetzt wird. Diese Untersuchungen sind entweder experimentell oder als Fragebogen-Simulationen angelegt. Experimentelle Studien zum Einfluss subjektiver Einstellungen auf journalistische Nachrichteninhalte sind rar, die bedeutendste Untersuchung ist daher auch schon fast ein halbes Jahrhundert alt. Kerrick, Anderson und Swales (1964) haben drei Teilexperimente zum Einfluss der Prädisposition von Journalisten auf die Nachrichten und Editorials derselben Personen durchgeführt. Dafür wurde allerdings nicht auf Journalisten, sondern auf Studenten der Kommunikationswissenschaft zurückgegriffen. Die Variablen der drei Experimente waren die Ausgewogenheit der Berichterstattung, die Einstellung der ‚Journalisten‘, deren Einstellung in Verbindung mit der redaktionellen Linie sowie deren Einstellung in Kombination mit der ‚Neigung‘ des Ereignisses. Es konnte ein starker Einfluss der redaktionellen Linie auf die Tendenz der Kommentare und Berichte nachgewiesen werden, vor allem bei jenen Studenten, die zuvor am wenigsten mit der redaktionellen Linie übereinstimmten. Auch die ‚Neigung‘ des Ereignisses hatte einen Einfluss auf die Berichterstattung, wiederum am stärksten bei jenen, die am wenigsten mit dieser Tendenz übereinstimmten. In solchen experimentellen Designs werden zwei oder mehr Gruppen verschiedenen Stimuli ausgesetzt, nachher wird ihr Verhalten verglichen. Experimente sind die einzigen Verfahren, die einen eindeutigen Kausalnachweis erbringen. Kerrick, Anderson und Swales (1964) ist es gelungen, einzelne subjektive Einflussgrößen zu isolieren und zu testen. An den Untersuchungen nahmen jedoch insgesamt nur 79 Studenten teil; auf die drei Teilexperimente entfielen zwischen 17, 30 und 32 Probanden – eine geringe Fallzahl. Fragebogen-Simulationen haben bislang die größte Evidenz erbracht. Simuliert wird eine experimentelle Situation, weshalb von Quasiexperimenten gesprochen wird. Anders als bei ‚echten‘ Experimenten sind Test- und Kontrollgruppe nicht vom Forscher egalisiert, vielmehr basiert die Zuordnung der Probanden auf deren Selbstselektion.
166
Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch
Die Studie von Rosenthal (1987) zeigte, dass Journalisten bereit sind, negative Meldungen über missliebige Politiker auch unter Verletzung der Sorgfaltspflicht zu veröffentlichen, während sie solche Meldungen bei ihnen politisch nahe stehenden Politikern eher zurückhalten würden. Nur knapp die Hälfte der Journalisten, die gegenüber einem bestimmten Politiker Sympathie empfanden, waren bereit, eine Meldung über diesen zu veröffentlichen, ohne diese Meldung zuvor zu prüfen. Unter jenen Journalisten, die ihn unsympathisch fanden, zeigten sich sieben von zehn bereit, eine zügige Veröffentlichung anzustreben, ohne die Meldung vorher durch eine zweite Quelle abzusichern. In einer internationalen Journalistenbefragung haben Donsbach und Patterson (2003) Anfang der 1990er Jahre geprüft, wie häufig und wie intensiv sich die politische Orientierung von Journalisten in deren persönlicher Nachrichtenauswahl niederschlägt. Die Journalisten wurden gefragt, wo sie sich selbst im Links-Rechts-Spektrum einstufen. In vier Fallbeispielen wurden ihnen unter Vorlage kurzer Informationstexte zudem insgesamt 24 konkrete Nachrichtenentscheidungen abverlangt. So waren Entscheidungen über den Nachrichtenwert, über eine vorgegebene Überschrift einer fiktiven Meldung und über den Abdruck von illustrierendem Bildmaterial oder zur Auswahl von Informanten zu treffen. In allen diesen Fällen ging es um politische Konflikte, 17 von 24 Nachrichtenentscheidungen waren so konstruiert, dass sie eine bestimmte Haltung implizierten, die sich als entweder ‚links’ oder ‚rechts’ verstehen ließ. Diese Entscheidungen wurden mit der Selbsteinstufung der Journalisten im Links-Rechts-Spektrum korreliert. In den 1990er Jahren, als die Nachrichtenjournalisten zum ersten Mal im Rahmen des „Media & Democracy“-Projektes befragt wurden, war der Zusammenhang insgesamt mäßig, aber hochsignifikant. Am stärksten zeigte er sich bei den deutschen (r = .16), gefolgt von den italienischen (r = .13) und britischen (r = .12) Journalisten. Am schwächsten korrelierten die politische Einstellung der Journalisten und ihre jeweilige Nachrichtenauswahl in den USA und Schweden (jeweils r = .09). Die nach einer aktuellen Replikation dieser Studie derzeit lediglich für Deutschland vorliegenden aktuelleren Daten zeigen, dass die Einflusskraft der subjektiven Einstellungen von deutschen Nachrichtenjournalisten nachgelassen hat: Inzwischen korreliert die politische Prädisposition des Journalisten noch schwächer mit deren Nachrichtenauswahl (r = .05). Für jeden einzelnen befragten Journalisten wurde auf Basis aller simulierten Entscheidungen ein individueller Punktestand errechnet, der angibt, wie groß der Anteil jener Nachrichtenentscheidungen ist, welche die Journalisten gemäß ihrer eigenen Einstellung getroffen haben. Während von deutschen Journalisten in den 1990ern noch über die Hälfte aller Nachrichtenentscheidungen einstellungssynchron getroffen wurden, waren es 2007/08 nur noch 34 Prozent. Dieser Anteil bewegt sich damit auf dem vor 20 Jahren für alle anderen in die Umfrage einbezogenen Länder typischen Niveau (vgl. Abbildung 3).
Einflüsse auf Nachrichtenentscheidungen von Journalisten Abbildung 3:
167
Einfluss von Prädispositionen auf Nachrichtenentscheidungen im internationalen Vergleich
Anteil der Nachrichtenentscheidungen gemäß der eigenen Meinung in Prozent 80
1990/91 2007/08 60
52 40
34
34
33
33
31
20
0
Deutschland
Italien
Schweden
Großbritannien
USA
Quelle: Projekt "Media and Democracy" (Donsbach & Patterson 2003; Donsbach 2008)
Wie stark sich die persönliche Sicht der Journalisten in einem „publizistischen Konflikt“ auf deren Nachrichtenentscheidungen auswirkt, hat Kepplinger (1989) mit seiner Studie zur „instrumentellen Aktualisierung“ gezeigt. Eine solche „instrumentelle Aktualisierung“ tritt zutage, „wenn eine instrumentelle Gegebenheit, die objektiv in einem Zusammenhang mit dem zentralen Konflikt-Gegenstand steht oder subjektiv so wahrgenommen wird […], öffentlich in den Vordergrund gedrückt wird“ (Kepplinger 1989, 205). Abhängig vom subjektiven Konfliktstandpunkt des Journalisten werden dieses Konfliktereignis betreffende neue Informationen hoch- oder heruntergespielt. Die ‚eigene‘ Seite wird durch das Bekanntmachen nützlicher Informationen gestärkt, die ‚gegnerische‘ Seite durch die Veröffentlichung nachteiliger Informationen geschwächt. In einer Redakteursbefragung wurden die Konfliktsicht von Journalisten, deren Urteile über die Publikationswürdigkeit und deren Position gegenüber dem bewussten Hoch- und Herunterspielen von Informationen ermittelt (vgl. Abbildung 4). Es wurden acht Nachrichtensituationen simuliert, von denen jeweils die Hälfte für oder gegen eine bestimmte Konfliktsicht stand. Kepplinger wies mittels einfacher Regressionen nach, dass die Konfliktsicht der Journalisten einen geringen, aber statistisch hochsignifikanten Einfluss auf die Nachrichtenauswahl hatte. Zwischen 14 und 17 Prozent der Varianz waren auf die individuelle Konfliktsicht und die gewünschten Publikationsfolgen zurückzuführen.
168
Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch
Abbildung 4:
Instrumentelle Aktualisierung
Zugeschriebener Nachrichtenwert zu Meldungen je nach eigener Meinung* 6
5,6
5
5,3 4,6
4
Eigene Meinung: dafür unentschieden dagegen
4,3 3,4
3
3,7
2
1
0
Nachrichten dafür
Nachrichten dagegen
* Sortieren von acht Meldungen zur 35-Stunden-Woche. Die Werte geben den mittleren Rangplatz der Meldungen an.
Quelle: Kepplinger (1989)
Methodische Designs, die wie Kepplingers Untersuchung auf Individual-Daten-Niveau basieren, erbringen den stringentesten Nachweis des Einflusses subjektiver Interessen auf die Nachrichtenauswahl. Sie genügen dem Ziel der auf Explikation ausgerichteten Forschung, Varianzanteile zu ermitteln, die Auskunft darüber geben, in welcher Stärke einzelne unabhängige Variablen wie beispielsweise die persönliche Einstellung eines Journalisten auf die abhängige Variable der Nachrichtenauswahl des jeweiligen Journalisten hat. 5
Fazit
Wie unsere Systematik gezeigt hat, haben sich Forscher dem Einfluss subjektiver Interessen auf Nachrichtenentscheidungen von Journalisten auf methodisch vielfältige Weise genähert und hierüber Evidenzen unterschiedlicher Qualität hervorgebracht. Deskriptive Ansätze und Designs legen Verzerrung in der Medienberichterstattung offen, indem sie ein ‚Objektivitätsmaß‘ an die Medienrealität anlegen. Abweichungen werden dabei beschrieben und in vielen Fällen interpretiert, keinesfalls jedoch bringen sie Erkenntnisse über die Ursachen verzerrter Berichterstattung. Welche Variablen hinter den untersuchten stehen, bleibt unklar. Explikative Studien aus dem Bereich der ‚Subjektivitätsmaße‘ hingegen stellen eine Beziehung zwischen den Medieninhalten und den Einflüssen subjektiver Interessen her und erbringen, sofern sie experimentell oder quasi-experimentell angelegt sind, sogar einen Kausalnachweis. Ein Beispiel hierfür ist die Prüfung der „Theorie der instrumentellen Aktualisierung“, bei der die Bewertung von Ereignismerkmalen durch die Journalisten, das heißt also, ihr ‚Nachrichtenwert‘, als abhängige Variable der
Einflüsse auf Nachrichtenentscheidungen von Journalisten
169
Instrumentalität dieser Merkmale für bestimmte Wirkungsziele beim Publikum betrachtet wird. Wenngleich der Einfluss subjektiver Interessen auf journalistische Nachrichtenauswahl implizit oder explizit häufig untersucht wurde, liegt das komplexe Variablen-Geflecht des Nachrichtenentscheidungsprozesses zu weiten Teilen noch im Dunkeln. Aus methodischer Sicht ist es ausgesprochen schwierig, die einzelnen relevanten Faktoren zu identifizieren, aufeinander zu beziehen und ihren relativen Anteil an diesem Prozess zu bestimmen. Neben dem Aufstellen von Theorien zur Nachrichtenauswahl ist es deshalb künftig vor allem nötig, uns dieser ‚Blackbox‘ durch weitere methodisch anspruchsvolle Designs zu nähern. Literaturverzeichnis Andresen, N. (2006): Umsatz versus öffentliche Aufgabe? Eine Analyse der redaktionellen Berichterstattung der deutschen Qualitätspresse über wichtige Anzeigenkunden (unveröffentlichte Magisterarbeit, TU Dresden). Dresden. Barth, H. & Donsbach, W. (1992): Aktivität und Passivität von Journalisten gegenüber Public Relations. In: Publizistik, 37(2), 151-156. Busterna, J. C. & Hansen, K. A. (1990): Presidential Endorsement Patterns by Chain-Owned Papers, 1976-1984. In: Journalism Quarterly, 67(2), 286-294. D’Alessio, D. & Allen, M. (2000): Media bias in presidential elections. A meta-analysis. In: Journal of Communication, 50(4), 133-156. Donsbach, W. (1990): Objektivitätsmaße in der Publizistikwissenschaft. In: Publizistik, 35(1), 18-29. Donsbach, W. (2008): 15 Jahre später. Ergebnisse der zweiten Welle der internationalen Befragung von Nachrichtenjournalisten 2008. (URL: http://www.donsbach.net, 31.07.2009). Donsbach, W. & Jandura, O. (2005): Rückkehr des Kanzlerbonus. Redepräsenz der Kanzlerkandidaten in den Fernsehnachrichten. In: E. Noelle-Neumann, W. Donsbach, & H. M. Kepplinger (Hrsg.): Wählerstimmungen in der Mediendemokratie. Freiburg [u.a.]: Alber, 69-90. Donsbach, W. & Patterson, T. E. (2003): Journalisten in der politischen Kommunikation: Professionelle Orientierungen von Nachrichtenredakteuren im internationalen Vergleich. In: F. Esser & B. Pfetsch (Hrsg.): Politische Kommunikation im internationalen Vergleich. Opladen: Westdeutscher Verlag, 281-304. Donsbach, W. & Weisbach, K. (2005): Kampf um das Meinungsklima. Quellen und Inhalte der Aussagen über den möglichen Wahlausgang. In: E. Noelle-Neumann, W. Donsbach & H. M. Kepplinger (Hrsg.): Wählerstimmungen in der Mediendemokratie. Freiburg [u.a.]: Alber, 104127. Donsbach, W., Rentsch, M., Schielicke, A.-M. & Degen, S. (2009): Entzauberung eines Berufs. Was die Deutschen vom Journalismus erwarten und wie sie enttäuscht werden. Konstanz: UVK. Ehmig, S. C. (2000): Generationswechsel im Journalismus. Freiburg [u.a.]: Alber. Flegel, R. C. & Chaffee, S. H. (1971): Influences of Editors, Readers and Personal Opinions on Reporters. In: Journalism Quarterly, 48(4), 645-651. Galtung, J. & Ruge, M. H. (1965): The Structure of Foreign News. The Presentation of the Congo, Cuba and Cyprus Crisis in Four Norwegian Newspapers. In: Journal of Peace Research, 2(1), 64-91. Gaziano, C. (1989): Chain Newspaper Homogeneity and Presidential Endorsements, 1972-1988. In: Journalism Quarterly, 66(4), 836-845. Gerbner, G. & Marvanyi, G. (1977): The Many Worlds of the World’s Press. In: Journal of Communication, 27(1), 52-66.
170
Wolfgang Donsbach und Mathias Rentsch
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Die Rückfangmethode. Ein Verfahren zur Ermittlung unzugänglicher Grundgesamtheiten in der Journalismusforschung Sven Engesser und Benjamin Krämer
1
Das Problem unzugänglicher Grundgesamtheiten
In der empirischen Journalismusforschung spielen zwei Größen eine besondere Rolle: Grundgesamtheit (auch Zielgesamtheit genannt) und Stichprobe. Diese stehen in einem wechselseitigen Zusammenhang (vgl. Abbildung 1). Einerseits sind Kenntnisse über Größe und Struktur der Grundgesamtheit die Voraussetzung für die Anwendung verteilungsangepasster Verfahren der Stichprobenziehung, d. h. Zufalls- und Quotenauswahl (Fretwurst, Gehrau & Weber 2005, 36). Andererseits können auf Basis der Stichprobe mit den Methoden der Inferenzstatistik die unbekannten Parameter der Grundgesamtheit (z. B. Häufigkeiten, Mittelwert und Standardabweichung) geschätzt oder Mittelwertdifferenzen und Korrelationskoeffizienten auf ihre Signifikanz getestet werden. Auch jenseits der Anwendung statistischer Verfahren bildet die Grundgesamtheit die Zielgröße empirischer Schlussfolgerungen. Sie stellt stets das „Bezugsobjekt von wissenschaftlichen Aussagen“ (Fretwurst, Gehrau & Weber 2005, 34) dar.1 In der Regel steht der Journalismusforscher während der empirischen Untersuchung in direktem Kontakt mit den Elementen der Stichprobe. Diese können z. B. in Gestalt der befragten Journalisten, analysierten Medieninhalte oder beobachteten Redaktionen auftreten. Die Grundgesamtheit erscheint dem Journalismusforscher jedoch als abstrakte Größe, mit der er in der Praxis meist nur partiell in Berührung kommt und die sich in Umfang und Struktur ausschließlich theoretisch erfassen lässt. Dies könnte ein Grund dafür sein, dass der Grundgesamtheit trotz ihrer methodologischen Relevanz in der Forschungspraxis nur ein geringer Stellenwert eingeräumt wird. So kommen Fretwurst, Gehrau und Weber (2005, 43) aufgrund einer Meta-Analyse der Veröffentlichungen aus zwei Jahrgängen (2002/03) deutscher kommunikationswissenschaftlicher Fachzeitschriften und Tagungsbände zu dem Ergebnis, dass „in etwa 60 Prozent aller Studien […] keine Angaben zur Auswahl- bzw. Grundgesamtheit“ gemacht werden. Zerback, Schoen, Jakob & Schlereth (2009, 24) fanden heraus, dass in immerhin 26 Prozent der Beiträge zu Onlinebefragungen, die von 40 internationalen sozialwissenschaftlichen Fachzeitschriften zwischen 1997 und 2006 veröffentlicht wurden, wesentliche Informationen zur Grundgesamtheit fehlen. Ein weiterer möglicher Grund für dieses methodische Defizit ist die Unzugänglichkeit zahlreicher Grundgesamtheiten. Dieses empirische Problem stellt sich in der Journalismusforschung besonders eindringlich. Die bestehenden Journalisten- und Medienverzeichnisse 1
Ausführlich äußern sich Schnell, Hill und Esser (2008, 265-267) zur Bedeutung der Grundgesamtheit in der empirischen Sozialforschung.
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
172
Sven Engesser und Benjamin Krämer
sind in Deutschland aufgrund des freien Zugangs zum Beruf und des weitgehenden Verzichts auf die Lizenzpflicht in der Regel lückenhaft. Im Online-Bereich ist die Situation noch gravierender. Für die meisten Grundgesamtheiten von Webangeboten existieren weder Verzeichnisse, noch gibt es Suchroutinen, mit denen sie sich vollständig erschließen lassen. Daher ist die Ziehung von Zufalls- oder Quotenstichproben in der Online-Forschung bisher kaum möglich (Roessing 2005, 174). Falls Listen mit Elementen zur Verfügung stehen (z. B. Linksammlungen, Aufzählungen von Experten, Stichproben vorheriger Studien), stellt sich das Problem, dass diese in der Regel gegenüber der unzugänglichen Grundgesamtheit verzerrt sind. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, im ersten Schritt zur Sensibilisierung für die methodologische Bedeutung der Grundgesamtheit beizutragen. Im zweiten Schritt soll ein Verfahren für die Journalismusforschung fruchtbar gemacht werden, mit dessen Hilfe sich Aussagen über unzugängliche Grundgesamtheiten treffen lassen. Zu diesem Zweck wird zunächst ein Überblick über den bisherigen Forschungsstand zur Ermittlung von Grundgesamtheiten in der Journalismusforschung geboten. Dann wird die ursprünglich aus den Naturwissenschaften stammende Rückfangmethode vorgestellt. Schließlich werden ihre Anwendungsmöglichkeiten in der Journalismusforschung aufgezeigt und am Beispiel partizipativer Nachrichtensites veranschaulicht. Abbildung 1:
Zusammenhang zwischen Stichprobe und Grundgesamtheit
(Statistische) Inferenz
Stichprobe
Grundgesamtheit
Verteilungsangepasste Auswahlverfahren 2
Grundgesamtheiten in der Journalismusforschung
In diesem Abschnitt soll am Beispiel ausgewählter Studien gezeigt werden, wie in der Journalismusforschung bislang mit der Grundgesamtheit umgegangen wird. Während in den meisten methodologischen Arbeiten der Fokus auf der Ziehung der Stichprobe liegt (z.B. Fretwurst, Gehrau & Weber 2005), wird hier der Blick auf die Bestimmung der Grundgesamtheit gerichtet. Dabei wird differenziert zwischen der Definition der abstrakten Grundgesamtheit (Zielgesamtheit) und der Ermittlung der konkreten Auswahlgesamtheit. Zwar meist weniger differenziert als wünschenswert, doch im Vergleich zu anderen Studien aus dem Bereich der Journalismusforschung noch relativ detailliert, wird die Grundgesamtheit in empirischen Untersuchungen behandelt, die verteilungsangepasste
Die Rückfangemethode
173
Verfahren der Stichprobenziehung anwenden.2 Daher liegt der Schwerpunkt der folgenden Darstellung auch auf dieser Art von Studien (vgl. Tabelle 1). Die ausführlichere Berücksichtigung der Grundgesamtheit lässt sich damit erklären, dass Zufalls- und Quotenauswahl nur dann angewendet werden können, wenn detaillierte Kenntnisse über die Grundgesamtheit bestehen. Außerdem erheben diese Studien in der Regel Anspruch auf Repräsentativität. Dadurch haben ihre Autoren ein gesteigertes Interesse an der Bestimmung der Zielgröße für ihre Schlussfolgerungen. Tabelle 1: Grundgesamtheiten in Studien der Journalismusforschung mit verteilungsangepasster Stichprobenziehung Studie
Grundgesamtheit
Auswahlbasis
Verfahren
Hahn et al. (2008)
Deutsche Auslandskorrespondenten
Verzeichnisse der Botschaften und Redaktionen
Einschlussverfahren (Schneeballverfahren)
Löffelholz et al. (2003)
Onlinejournalisten in Verzeichnisse (z. B. Deutschland Stamm, Zimpel)
Meyen & Springer (2009)
Freie Journalisten in Deutschland
Verzeichnis des DFJV
Neuberger et al (2009)
Journalistische Internetangebote in Deutschland
Verzeichnisse (z. B. Zimpel Online)
Roessing (2005)
Politisch extreme Webangebote
Weischenberg et al. (2006)
Hauptberufliche Journalisten in Deutschland
Wied & Schmidt (2008)
Journalistische Kollaboratives Ausschlussverfahren Internetangebote mit Verzeichnis des integriertem Weblog Weblogs „Wortfeld“
Wiederer (2007)
Rechtsextreme Webangebote
Ausschlussverfahren
Ausschlussverfahren
Einschlussverfahren (mit Suchmaschine) Verzeichnisse (z.B. Stamm, Zimpel)
Seed-Sites
Ausschlussverfahren
Einschlussverfahren (mit Web Crawler)
In diese Kategorie von Studien fällt eine Reihe groß angelegter Umfragen, die jeweils eine bestimmte Population der Journalisten in Deutschland als Grundgesamtheit definieren. Während Weischenberg, Malik & Scholl (2006) hauptberufliche Journalisten untersuchen, erforschen Löffelholz et al. (2003) die Onlinejournalisten. Meyen und Springer (2009) 2
Verteilungsangepasste Verfahren der Stichprobenziehung orientieren sich an der Verteilung der Grundgesamtheit (z. B. Zufalls- und Quotenauswahl). Bei nicht verteilungsangepassten Verfahren (z. B. Auswahl extremer oder typischer Fälle) ist das nicht der Fall.
174
Sven Engesser und Benjamin Krämer
konzentrieren sich dagegen auf freie Journalisten. Zur Ermittlung der Auswahlgesamtheit ziehen sie alle eine Auswahlbasis heran. Dabei handelt es sich um Journalisten- und Medienverzeichnisse unterschiedlicher Herkunft. Sie können von Verlagen (z. B. Stamm, Zimpel), Vereinen (z. B. IVW) oder Berufsverbänden (z. B. Bundesverband Deutscher Zeitungsverleger, Deutscher Fachjournalisten-Verband) herausgegeben werden (Löffelholz et al. 2003, 478; Malik 2005, 189; Meyen & Springer 2009, 38). Aus diesen Verzeichnissen werden in einem Ausschlussverfahren alle Elemente entfernt, die nicht der Definition der Grundgesamtheit entsprechen. Übrig bleibt die Auswahlgesamtheit (vgl. Abbildung 2).3 Hahn, Lönnendonker & Schröder (2008) weichen von diesem Weg leicht ab. Ihre Studie hat deutsche Auslandskorrespondenten im Ausland zur Grundgesamtheit. Die Autoren verwenden als Auswahlbasis ebenfalls Verzeichnisse, die sie in diesem Fall von ausgewählten Botschaften und Redaktionen erhalten haben. Allerdings werden die aufgeführten Journalisten um Mithilfe bei der Rekrutierung weiterer Befragter gebeten (Schneeballverfahren). Diese werden in die Auswahlgesamtheit aufgenommen, wenn sie den Anforderungen an die Grundgesamtheit genügen (Lönnendonker 2008, 142). Daher kann von einem Einschlussverfahren gesprochen werden. Einschlussverfahren zur Ermittlung der Auswahlgesamtheit bieten sich auch gerade dann an, wenn keine Verzeichnisse der Elemente existieren. Dies ist meist in der OnlineForschung der Fall. Wiederer (2007, 236-240) nähert sich seiner Grundgesamtheit der rechtsextremen Webangebote, indem er eine begrenzte Anzahl „Seed-Sites“ als Auswahlbasis festlegt. Von dort aus zeichnet ein automatisiertes Suchprogramm, ein sogenannter Webcrawler, das Netzwerk der Webangebote nach und erweitert auf diese Weise den Kreis der Elemente. Roessing (2005, 177) verzichtet vollständig auf eine Auswahlbasis und tastet sich an die Grundgesamtheit der politisch extremen Webangebote vorrangig mithilfe von Suchmaschinen (z. B. Google, Yahoo Search) heran. Auch im Online-Bereich liegen zunehmend Verzeichnisse vor, die eine Ermittlung der Auswahlgesamtheit nach dem Ausschlussverfahren ermöglichen. Neuberger, Nuernbergk & Rischke (2009) vermessen die Grundgesamtheit der journalistischen Internetangebote in Deutschland. Klammert man den Teilbereich Weblogs aus, bedienen sich die Autoren dazu ebenfalls der gängigen Medienverzeichnisse (Neuberger, Nuernbergk & Rischke 2009, 203). Wied und Schmidt (2008, 182) greifen für ihre Untersuchung über Internetangebote mit integriertem Weblog sogar auf ein kollaborativ erstelltes Medienverzeichnis zurück.4 In empirischen Untersuchungen mit nicht verteilungsangepassten Verfahren der Stichprobenziehung, d.h. Auswahl extremer oder typischer Fälle, wird der Grundgesamtheit in der Regel noch etwas weniger Aufmerksamkeit geschenkt.5 Allerdings spielt die Grundgesamtheit auch in diesem Kontext eine wesentliche Rolle. Bei der Auswahl extremer Fälle 3
4
5
Bei Meyen und Springer (2008) ließen sich keine genauen Angaben zum Verfahren der Auswahlgesamtheitsermittlung finden. Es wird davon ausgegangen, dass Auswahlbasis und Auswahlgesamtheit deckungsgleich sind. Das Verzeichnis ist auf dem Weblog „Wortfeld“ einsehbar (URL: http://www.wortfeld.de/wiki/index.php/ Features_von_Zeitungs-Websites_in_Deutschland, 27.10.2010). Bei Untersuchungen mit nicht verteilungsangepassten Verfahren lässt sich nicht immer trennscharf bestimmen, ob sie auf extreme oder typische Fälle abzielen. Es besteht jedoch eine erkennbare Tendenz zur Auswahl extremer Fälle, da diese in der Regel als besonders relevant betrachtet werden. Zum Beispiel analysiert Fengler (2008, 159) die neun, bezüglich der Anzahl täglicher Besuche „populärsten medienkritischen Blogs“. Hohlfeld und Dörsam (2008, 100) konzentrieren sich auf elf „durch ihre publizistische Bedeutung hinsichtlich Verlinkung, RSS-Feed-Intensität und Trackback-Aktivitäten hervorstechende Börsen- und Finanzblogs“.
Die Rückfangemethode
175
wird sie nicht bedeutungslos, sondern lediglich auf einen Extrembereich reduziert (Schnell, Hill & Esser 2008, 298). Im Rahmen der Auswahl typischer Fälle besteht die Herausforderung, für die Grundgesamtheit möglichst repräsentative Elemente zu identifizieren. Dies ist ohne verlässliche Informationen über die Beschaffenheit der Grundgesamtheit kaum zu bewerkstelligen (Schnell, Hill & Esser 2008, 299). Abbildung 2:
Verfahren zur Ermittlung der Auswahlgesamtheit in der Journalismusforschung
Ausschlussverfahren
Einschlussverfahren
Auswahlgesamtheit
Auswahlbasis
Auswahlbasis
Auswahlgesamtheit
Das Ausschlussverfahren erfordert zur Ermittlung der Auswahlgesamtheit ein annähernd vollständiges Verzeichnis der Elemente. Das Einschlussverfahren verlangt den Einsatz komplizierter Suchroutinen und einen hohen Rechercheaufwand. Beide Vorgehensweisen bieten nur mehr oder weniger genaue Annäherungen an die abstrakte Grundgesamtheit. Vor allem ihr Umfang bleibt in der Regel unbekannt. Zusammenfassend sind also folgende Probleme im bisherigen Umgang mit Grundgesamtheiten in der Journalismusforschung festzuhalten: Auf der Ebene der Reflexion und der Darstellung des Umgangs mit Grundgesamtheiten gehen nicht alle Studien gleichermaßen systematisch und explizit vor. Während in großen Studien mit verteilungsangepassten (in der Regel nach Repräsentativität strebenden) Stichprobenverfahren meist recht genau thematisiert wird, wie die Grundgesamtheit definiert ist und wie aus ihr ausgewählt wird, bleiben andere Untersuchungen teilweise vage, etwa indem sie ausgewählte Fälle nach einigen Kriterien als typisch kennzeichnen, ohne genau anzugeben, auf welche größere Gruppe von Merkmalsträgern verallgemeinert werden soll. Auf der Ebene der Zugänglichkeit und Beschreibung von Grundgesamtheiten stellt sich das Problem, dass ihre Elemente oft nicht vollständig aufzufinden sind und Informationen über ihre Größe und weitere relevante Parameter nicht vorliegen. Methodisch muss man sich deshalb sozusagen von bestehenden Merkmalsträgern in eine Richtung vorarbeiten, die man nicht genau kennt: Man kann oft nicht kontrollieren, ob man mit dem gewähl-
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ten Verfahren die Grundgesamtheit bereits weitgehend erfasst oder nicht, und welche Verzerrungen vorliegen. Es kann vermutet werden, dass beide Problembereiche teilweise miteinander zusammenhängen: Ist über die Grundgesamtheit wenig bekannt und stehen keine Verfahren zur Verfügung, um die Bildung einer Auswahlgesamtheit zu kontrollieren, kann die Thematisierung der Grundgesamtheit nicht immer so präzise ausfallen wie es wünschenswert wäre. Womöglich besteht von der Seite der Autoren sogar die Neigung, in der Darstellung eher vage zu bleiben, als die Unsicherheiten in Bezug auf die Grundgesamtheit auszubreiten. Um nähere Kenntnisse über Grundgesamtheiten zu gewinnen und die Ergebnisse bestehender Verfahren zu ihrer Bestimmung kontrollieren und ergänzen zu können, wird im Folgenden eine alternative Methode zur Ermittlung der Grundgesamtheit vorgestellt. 3
Die Rückfangmethode
Die Rückfangmethode wurde in der Biologie und Ökologie entwickelt und dient zur Bestimmung der Populationsgrößen von Tieren einer Art in einem bestimmten Lebensraum (Amstrup, McDonald & Manly 2005).6 Sie findet zwar Erwähnung in Überblickswerken zu Methoden der Sozialwissenschaften (z. B. Diekmann 2000, 346; Stark 2003), wird jedoch in diesen Fächern insgesamt kaum und in der Kommunikationswissenschaft offenbar noch gar nicht angewendet. In ihrem ursprünglichen Einsatzgebiet, der Biologie, läuft die Anwendung der Methode wie folgt ab: Es werden in einem definierten Gebiet während eines kurzen Zeitraums zufällig Tiere der zu analysierenden Art gefangen, markiert und wieder ausgesetzt. Sobald man sicher ist, dass sich die Tiere wieder ausreichend im Gebiet verteilt haben, fängt man erneut zufällig Tiere und stellt fest, wie viele markierte Tiere sich unter den gefangenen befinden. Das Verhältnis der markierten Tiere zu den unmarkierten im zweiten Fang verhält sich (mit Zufallsabweichungen) wie die Zahl der im ersten Fang insgesamt markierten Tiere zur Gesamtpopulation. Zum Beispiel werden im ersten Fang zehn Tiere gefangen und markiert. Im zweiten 10er-Fang finden sich fünf markierte Tiere wieder. Folglich beläuft sich die Grundgesamtheit im Idealfall auf 20 Tiere (vgl. Abbildung 3). Zur Verbesserung der Genauigkeit und zur Schätzung komplexerer Modelle kann das Verfahren mit verschiedenen Markierungen pro Fangaktion oder mit individuellen Markierungen pro Exemplar der Tierart wiederholt werden. Damit die Schätzung der Größe der Grundgesamtheit zuverlässig ist, müssen folgende Prämissen erfüllt sein (Otis et al. 1978, 7-11, 74-76): y y y
6
Bei jeder Fangaktion ist der Fänger gleichermaßen geschickt und die Umweltbedingungen sind vergleichbar, so dass man Tiere mit der gleichen Wahrscheinlichkeit fängt, dies also nicht vom Fangzeitpunkt abhängt (kein Zeiteffekt). Alle Tiere gehen mit der gleichen Wahrscheinlichkeit in die Falle (kein Heterogenitätseffekt). Einmal gefangene Tiere werden durch den Fang nicht scheuer oder zutraulicher, so dass sie danach seltener oder häufiger erneut in die Falle gehen; die Population muss Die Rückfangmethode wird auch Mark-Recapture-, Capture-Recapture- oder Lincoln-Petersen-Verfahren genannt (Petersen 1896).
Die Rückfangemethode
y y y y
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sich nach einer Fangaktion auch wieder ausreichend vermischt haben, damit die vorher gefangenen Tiere nicht überproportional oft erneut gefangen werden (kein Verhaltenseffekt). Es ist eindeutig bestimmbar, ob ein gefangenes Tier zur untersuchten Art gehört. Die Population ist geschlossen, d.h. es kommen zwischen den Fangaktionen keine Tiere hinzu oder werden geboren, und es wandern keine ab oder sterben. Tiere überleben das Einfangen immer. Die Markierung geht nicht verloren und ist bei individueller Markierung eindeutig.
Abbildung 3:
Vorgehensweise der Rückfangmethode
Grundgesamtheit
Fang 1 (N=10)
Fang 2 (N=10)
Diese Annahmen werden in der Praxis oft verletzt, was zu schweren Fehleinschätzungen der Population führen würde. Deshalb werden Modelle berechnet, die den Effekt der genannten Annahmen auf die Wahrscheinlichkeit des Fangs eines Individuums schätzen. Voraussetzung sind dabei häufig mehr als zwei Fänge und meist auch individuelle Daten, wie oft jedes einzelne jemals gefangene Individuum erneut gefangen wurde. Vor allem werden Zeiteffekte, Effekte der Heterogenität und Verhaltenseffekte geschätzt:7 Die Wahrscheinlichkeit eines Fangs als abhängige Variable wird in einem loglinearen Modell erklärt durch den Fangzeitpunkt (in der Literatur wird der Effekt oft mit dem Kürzel t für time gekennzeichnet) und die Tatsache, ob das Individuum bereits vorher gefangen wurde oder nicht, also einen Verhaltenseffekt (Effekt b = behavior). Sodann bleibt eine um diese Einflüsse bereinigte Verteilung der unverzerrten, aber möglicherweise heterogenen Fangwahrscheinlichkeit (Effekt h = heterogeneity). Die Verteilung dieser Wahrscheinlichkeit in der Gesamtstichprobe aller gefangenen Tiere kann dann zur Schätzung der
7
Eine Übersicht über die Verzerrungseffekte und detaillierte Angaben zur Berechnung inkl. mathematischer Formeln bietet Chao (2001).
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Sven Engesser und Benjamin Krämer
Populationsgröße, einschließlich der dazugehörigen Konfidenzintervalle, herangezogen werden. Auch andere Abweichungen sind schätzbar; so existieren Modelle für offene Populationen, Probleme der Trennschärfe zwischen Spezies, die Tötung beim Fang usw. Überdies gibt es Modelle für kontinuierliche Erhebungen, bei denen die Fänge nicht auf diskrete Zeitpunkte verteilt sind, sondern fortlaufend unter Aufzeichnung der genauen Fangzeit geschehen. Auf diese Modelle kann im vorliegenden Beitrag jedoch nicht weiter eingegangen werden. Stattdessen werden nur Modelle für geschlossene Populationen mit diskreten Fangzeitpunkten und echter Rückfangmöglichkeit (also Fänge ohne Tötung) behandelt. Einige Verzerrungen können auch auf direkt messbare Variablen zurückgeführt werden. So kann Heterogenität in der Fangwahrscheinlichkeit auf die Zugehörigkeit zu Subgruppen bezogen werden (z. B. das Geschlecht des Tieres) und Unterschiede zwischen den Fangzeitpunkten auf messbare Umwelteinflüsse (z. B. die Temperatur). Somit können in die Modelle Kovariate eingeführt werden, die dann eine genauere Schätzung der verzerrten Fangwahrscheinlichkeiten erlauben als bei ihrer Rückführung auf den Fangzeitpunkt an sich oder die reine Betrachtung einer Wahrscheinlichkeitsverteilung. Eine einfache Lösung für die Einbeziehung messbarer Verzerrungen ist die Schichtung, d. h. man trennt alle Fangdaten nach Gruppen auf, berechnet für die Gruppen getrennte Modelle und addiert anschließend die Ergebnisse (Sekar & Deming 1949). Das ist natürlich nur für eine geringe Zahl von Gruppen praktikabel. Ansonsten bezieht man die Kovariate direkt in logistische Regressionsmodelle ein, welche die verzerrte Fangwahrscheinlichkeit als abhängige Variable vorhersagen. Dies erlaubt dann die genauere Hochrechnung auf die Größe der Grundgesamtheit, meist unter Beachtung der verbleibenden nicht erklärten Heterogenität (z. B. Huggins 1989; Pollock 2002). Die Verwendung von Modellen gemäß dem Konzept der Rückfangmethode ist neutral gegenüber der Art der Grundgesamtheit und ihrer Erfassung; d. h. es ist unerheblich, welche Art von Untersuchungseinheiten man als Individuum (z. B. Personen, Objekte, Organisationen usw.) und welche Art der Stichprobe man als Fang identifiziert (verschiedene Arten von Listen und Suchvorgängen, Antreffen an definierten Orten usw.). Im folgenden Abschnitt werden verschiedene Beispiele für die Definition von „Individuen“ und „Fängen“ gegeben. Bedingung ist, dass mehrere (mindestens zwei, für komplexere Modelle mehr) Stichproben aus einer Grundgesamtheit definierter Untersuchungseinheiten gezogen werden bzw. bereits vorliegen. Zwischen den Stichproben müssen Überschneidungen auftreten und die Stichproben müssen im Prinzip zufällig ausgewählt sein. Die Wahrscheinlichkeit der Auswahl darf jedoch durchaus systematischen Einflüssen unterliegen. Entscheidend ist dann die Wahl eines passenden statistischen Modells, das die relevanten Verzerrungen einbezieht. Diese sollten jedoch nach Möglichkeit bereits bei der Erhebung minimiert werden. In Bezug auf Verhaltenseffekte sind nicht-reaktive Verfahren (z. B. die Nutzung von Verzeichnissen) grundsätzlich denjenigen vorzuziehen, die auf die Kooperation von Personen oder Organisationen angewiesen sind. Werden reaktive Verfahren verwendet, sollte bei der Ersterfassung dafür gesorgt werden, dass die Kontaktpersonen die erforderlichen erneuten Kontakte möglichst nicht verweigern. Es sollten Gelegenheiten der Kontaktaufnahme gewählt werden, die von den Kontaktpersonen entweder kaum zu vermeiden oder mit hohen Anreizen verbunden sind (z. B. wichtige Pressekonferenzen für Journalisten). Falls die
Die Rückfangemethode
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Kontaktpersonen namentlich identifiziert werden müssen, sollten ihnen die Gründe dafür ausführlich verständlich gemacht werden. Ferner ist in Bezug auf Zeiteffekte anzustreben, dass die „Fänge“ möglichst unabhängig voneinander geschehen. Zum Beispiel sind diesbezüglich mehrere gleichzeitig und räumlich getrennt erstellte Listen gegenüber bestehenden (und ggf. bereits veröffentlichten) Verzeichnissen überlegen, da sich die Verfasser im ersten Fall nicht aneinander orientieren können. Außerdem sichern kurze Zeitabstände zwischen den „Fängen“ die Geschlossenheit der Population. Schließlich sind in Bezug auf Heterogenitätseffekte solche Verfahren zu wählen, die einer Zufallsstichprobe möglichst nahekommen. Zumindest sollten sich unvermeidbare Verzerrungen entlang bekannter und messbarer Variablen bewegen. Keinesfalls sollte die Auswahl so erfolgen, dass sie Teile der Grundgesamtheit von vorneherein auf unkontrollierbare Weise ausschließt. Simulationsstudien (z. B. Chao 1987) und Tests auf Basis realer Grundgesamtheiten (z. B. Otis et al. 1978, 81-84) bestätigen die statistische Zuverlässigkeit der Methode, auch der komplexeren Modelle. Es liegen verschiedene erprobte Software-Programme zur Analyse von Fangdaten und Schätzungen von Populationen vor, mit jeweils verschiedenen Schwerpunkten bei der Implementierung speziellerer Modelle. Da das Verfahren lange erprobt, ständig verfeinert und vielfach eingesetzt wurde, kommt es auch in anderen Fächern zur Anwendung. Neben dem Einsatz in der Biologie wird z. B. in der Epidemiologie die Verbreitung von Krankheiten geschätzt (Tilling 2001). Im Software Engineering wird damit die Zahl von Fehlern in einem Quellcode anhand mehrerer unabhängiger Überprüfungen eines Programms berechnet (Briand et al. 2000) und in der Demographie die Fehler in Zensusdaten (Freedman 1991). Auch auf Medien im weitesten Sinne ist das Verfahren angewendet worden, allerdings mit eher technischem Interesse: Anhand der Überschneidung der Trefferlisten bei einer größeren Zahl von Suchbegriffen ist die Leistungsfähigkeit von Suchmaschinen verglichen und die Größe des potenziell durchsuchbaren Webs geschätzt worden (Bradlow & Schmittlein 2000; Lawrence & Giles 1998). Im Folgenden sollen jedoch Anwendungsmöglichkeiten diskutiert werden, die im engeren Sinne der Kommunikationswissenschaft und speziell der Journalismusforschung zuzurechnen sind. 4
Anwendungsmöglichkeiten in der Kommunikationswissenschaft
Die Rückfangmethode ist ein universelles Verfahren zur Ermittlung unzugänglicher Grundgesamtheiten. Daher kann es auch in der Kommunikationswissenschaft vielfältig angewendet werden. Seine Einsatzbereiche lassen sich anhand der Grundgesamtheiten differenzieren, die näher bestimmt werden sollen. In Tabelle 2 sind exemplarisch Grundgesamtheiten aufgeführt, die in der Journalismusforschung als Untersuchungsgegenstand besonders beliebt und gleichzeitig in der Regel schwer zugänglich sind. Für jede Grundgesamtheit gibt es verschiedene Möglichkeiten, Äquivalente zu „Fängen“ herzustellen. Die einzelnen Vorgehensweisen orientieren sich an konventionellen Methoden der Datenerhebung (Befragung, Dokumentenanalyse und Autopsie). Sie greifen jeweils auf bestimmte Datenquellen zurück.
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Tabelle 2: Exemplarische Datenquellen für die Rückfangmethode in der Kommunikationswissenschaft Grundgesamtheit
Datenerhebungsmethode Befragung
Dokumentenanalyse
Autopsie
Journalisten
Pressesprecher
Mitgliederverzeichnisse
Pressekonferenzen
Webangebote
Medienexperten
Linksammlungen
World Wide Web
Printmedien
Presse-Grossisten
Medienverzeichnisse
PresseEinzelhandel
Wissenschaftliche Publikationen
Wissenschaftler
Datenbanken
Bibliotheken
Unter der Grundgesamtheit „Journalisten“ sind alle in Frage kommenden Teilpopulationen zusammengefasst. Sollen z. B. Auslandskorrespondenten in Deutschland „gefangen“ werden, können erstens Mitarbeiter in Pressestellen befragt werden, die mit diesen regelmäßig in Kontakt stehen. Zweitens können Mitgliederverzeichnisse von Berufsorganisationen herangezogen werden, z. B. des Vereins der ausländischen Presse in Deutschland und der Bundespressekonferenz. Drittens besteht die Möglichkeit, einschlägige Pressekonferenzen, z. B. des Auswärtigen Amts, aufzusuchen und die anwesenden Auslandskorrespondenten mit eigenen Augen zu erfassen. In die Kategorie „Webangebote“ fallen alle Untergruppen von Webangeboten mit spezifischen Eigenschaften, z. B. partizipative Nachrichtensites. Hier können Medienexperten befragt werden, die sich mit dem entsprechenden Untersuchungsgegenstand auskennen. Die Rolle der Dokumente können Linksammlungen einnehmen, die wiederum von einschlägigen Webangeboten bezogen werden können. Als Alternative bietet sich eine Autopsie des World Wide Web mithilfe von automatischen (Webcrawlern) und manuellen Suchmaschinen (z. B. Google, Yahoo Search) an. Zu den „Printmedien“ gehören z. B. Stadtmagazine. In diesem Fall können Vertreter des Presse-Großhandels nach ihrem Angebot befragt werden. Für eine dokumentenanalytische Vorgehensweise lassen sich Medienverzeichnisse, z. B. das Verzeichnis der Alternativmedien, heranziehen. Eigenhändig lässt sich das Angebot an Printmedien am ehesten im Presse-Einzelhandel untersuchen. Im Fall von ausländischen Tageszeitungen in Deutschland bieten sich die Sortimente von Verkaufsstellen an Bahnhöfen, im Fall von GratisStadtmagazinen die Auslagen in Kneipen und Restaurants als Datenquellen an. Auf die Grundgesamtheit „wissenschaftliche Publikationen“ wird speziell bei MetaAnalysen zugegriffen. Als Beispiel lassen sich wissenschaftliche Veröffentlichungen zur Rückfangmethode anführen. Hier können Wissenschaftler, z. B. Universitätsprofessoren mit dem Schwerpunkt sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden, befragt werden. Auch Recherchen in wissenschaftlichen Datenbanken können geeignete Ergebnisse liefern. Schließlich bietet sich die Autopsie der Bestände öffentlicher und privater Bibliotheken als Methode der Datenerhebung an.
Die Rückfangemethode
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Die einzelnen Vorgehensweisen können auch miteinander kombiniert werden (z. B. Haines, Pollock & Pantula 2000). In jedem Fall entsteht als Ergebnis der Datenerhebung eine (möglichst große) Anzahl von Listen (L). Dabei dokumentiert jede Liste einen „Fang“. Auf jeder Liste sind unterschiedlich viele Elemente der Grundgesamtheit eingetragen (N1NL). Es ist notwendig, dass sich diese Einträge in ausreichendem Maß überschneiden. Wird die Summe der Einträge (Ȉ) um die Mehrfachnennungen bereinigt, ergibt sich die Auswahlgesamtheit (A). Diese Auswahlgesamtheit lässt sich mithilfe der Rückfangmethode auf die Grundgesamtheit hochrechnen. An den präsentierten Beispielen wird ersichtlich, dass sich die Umsetzung der Rückfangmethode in der Kommunikationswissenschaft zwar theoretisch an die Vorgehensweise in der Biologie und Ökologie anlehnt. In der Praxis hat die Datenerhebung jedoch mit dem ursprünglichen Einfangen, Markieren und Wiedereinfangen nur noch entfernt zu tun. Aus diesem Grund stellt sich auch das Problem mangelnder Anonymität, das mit der namentlichen oder codierten Identifikation von Untersuchungseinheiten zur Ermittlung der Überschneidungen einhergeht (Diekmann 2000, 346) nur in seltenen Fällen. In der Regel können öffentlich zugängliche oder freiwillig abgegebene Daten verwendet werden. 5
Anwendungsbeispiel: Partizipative Nachrichtensites
Die Anwendung der Rückfangmethode soll nun an einem Beispiel veranschaulicht werden. Dabei liegt der Schwerpunkt nicht auf der Optimierung des Modells, sondern auf der Demonstration des Verfahrens in seinen Grundzügen. Als Anwendungsfall wird versucht, die Größe der Grundgesamtheit „partizipative Nachrichtensites“ zu schätzen. Diese werden definiert als Nachrichtenangebote im Internet, die den Nutzern die maßgebliche Beteiligung an der Produktion der Inhalte und die aktive Teilhabe an der Medienöffentlichkeit ermöglichen.8 Zunächst muss geklärt werden, wie die Begrifflichkeiten der Rückfangmethode auf diesen Gegenstand übertragen werden können. Die einzelnen Nachrichtensites stellen die Individuen dar. Sie sind namentlich erfasst und damit bereits individuell „markiert“. Als „Fänge“ werden Listen herangezogen, auf denen partizipative Nachrichtensites genannt sind. Es werden Linklisten im Internet und Listen aus einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen herangezogen. In der Summe ergeben sich elf Listen (davon vier aus wissenschaftlichen Publikationen und sieben Linksammlungen) mit insgesamt 405 Einträgen, die sich unter Abzug der Mehrfachnennungen auf 235 Einheiten, also individuelle Nachrichtensites beziehen (vgl. Tabelle 3). Es ist einleuchtend, dass diese Summe quantitativ noch weit von der Grundgesamtheit entfernt ist.
8
Diese Definition erfolgt in Anlehnung an die Begriffsbestimmung des partizipativen Journalismus nach Engesser (2008, 66).
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Tabelle 3: Listen partizipativer Nachrichtensites Liste
Art
Borstelmann (2005)
Wissenschaftliche Publikation
N1 =
Cyber Journalist
Linksammlung
N2 = 78
Democracies Online
Linksammlung
N3 = 11
Dmoz
Linksammlung
N4 = 47
Lasica (2003)
Wissenschaftliche Publikation
N5 =
Martin
Linksammlung
N6 = 47
Ourmedia
Linksammlung
N7 = 15
Outing (2005)
Wissenschaftliche Publikation
N8 = 20
Readers Edition
Linksammlung
N9 = 61
Schaffer (2007)
Wissenschaftliche Publikation
N10 = 31
SourceWatch
Linksammlung
N11 = 77
Gesamt
Anzahl der Einträge 9
9
Ȉ = 405 (A = 235)
Es ist ferner plausibel, dass die Daten von der Annahme einer gleichen Fangwahrscheinlichkeit (hier: Auffindungswahrscheinlichkeit eines Webangebots) abweichen. Mehrere Verzerrungen sind wahrscheinlich: Die Ersteller der Listen haben offenbar unterschiedlich intensiv gesucht oder verschieden streng ausgewählt und deshalb eine stark variierende Anzahl von Webangeboten aufgelistet (entspricht dem Verzerrungseffekt t)9. Die Webangebote selbst unterscheiden sich vermutlich auch darin, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie überhaupt bei vergleichbarer Anstrengung aufgefunden werden, etwa in Abhängigkeit von ihrer Etabliertheit, Größe, journalistischen Bedeutung usw. (entspricht h). Schließlich ist es möglich, dass sich die Listenersteller bei der Auswahl der Webangebote aneinander orientiert haben, so dass die Wahrscheinlichkeit der Auflistung einer Seite davon beeinflusst wird, ob sie bereits vorher aufgelistet wurde (entspricht b). Zusätzliche Verzerrungen sind denkbar: unterschiedliche Definitionen der Grundgesamtheit durch die Listenersteller, die Einstellung oder Neuetablierung von Webangeboten und Namensänderungen der Nachrichtensites. Es wurde hier zwar im Sinne der oben geforderten Transparenz im Umgang mit Grundgesamtheiten eine Definition partizipativer Nachrichtensites gegeben, jedoch ist nicht gesichert, dass die vorliegenden Listen diese auch konsistent anwenden. Ginge der vorliegende Beitrag über eine erste Demonstration der Rückfangmethode hinaus, müsste hier noch diskutiert werden, wie die Zugehörigkeit der genannten Webangebote zur Grundgesamtheit genau zu prüfen, also die Definition zu operationalisieren wäre. Ferner müsste 9
In Tabelle 4 werden die Prämissen der Rückfangmethode auf das Anwendungsbeispiel übertragen und den dazugehörigen Verzerrungseffekten zugeordnet.
Die Rückfangemethode
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sichergestellt werden, dass die Webangebote an einem bestimmten Stichtag noch unter dem genannten Namen bestehen. Schließlich muss beachtet werden, dass hier nur derjenige Teil der Population berücksichtigt werden konnte, der den Autoren aufgrund ihrer Sprachkenntnisse über Listen zugänglich ist. Die exakte Bestimmung der Grundgesamtheit müsste also nach folgendem Schema ablaufen: partizipative Nachrichtensites gemäß obiger Definition, die zum Zeitpunkt t existierten, in den Sprachräumen S1, S2 usw. Für die mit dem vorliegenden Beitrag verfolgten Demonstrationszwecke wurden die Listen der Einfachheit halber jedoch ohne weitere Prüfung übernommen. Tabelle 4: Prämissen und Verzerrungseffekte der Rückfangmethode Verzerrungseffekt
Prämisse Rückfangmethode
Anwendungsbeispiel
Konstante Geschicklichkeit bei der Durchführung der Fänge
Konstante Recherchequalität bei der Erstellung der Listen
Zeit (t)
Konstante Einfangwahrscheinlichkeit der Tiere
Konstante Auffindungswahrscheinlichkeit der Webangebote
Heterogenität (h)
Keine Verhaltensänderung der Tiere durch die Fänge
Keine Koorientierung bei der Erstellung der Listen
Verhalten (b)
Eindeutige Feststellung der Tierart
Einheitliche Definition der Webangebote
Keine Zunahme/Abnahme der Tierpopulation
Keine Einstellung/Neuetablierung von Webangeboten
Tiere überleben die Fänge
10
Kein Verlust der Markierung
Keine Namensänderung der Webangebote
Auf Basis der gesammelten Listen werden Modelle gerechnet, welche die Verzerrungen t und h einbeziehen (vgl. Tabelle 5). Bei den Listen ist im Gegensatz zu Verhaltenseffekten bei zeitlich geordneten Fängen unklar, welcher Ersteller sich an welchen bereits bestehenden Listen orientiert haben könnte, da die Listen nicht allesamt eindeutig zu datieren sind und teilweise im Laufe der Zeit aktualisiert werden. Eine Einbeziehung dieses Effekts würde komplexere Modelle verlangen, deren Beschreibung hier nicht geleistet werden kann. Die Schätzungen wurden anhand der Software Rcapture (Baillargeon & Rivest 2007) mit zwei verschiedenen Schätzmethoden zur Bestimmung der heterogenen Verteilung der Fangwahrscheinlichkeit vorgenommen (nach Chao und Darroch). 10
Für das Anwendungsbeispiel partizipativer Nachrichtensites ergibt sich kein Äquivalent zur Prämisse des Überlebens. In anderen Kontexten sind Äquivalente jedoch vorstellbar, z. B. könnte ein befragter Pressesprecher die Aufnahme in weitere Untersuchungen dauerhaft verweigern.
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Ein Modell ganz ohne Verzerrungen (M0) ergibt eine Größe der Grundgesamtheit von 319 Webangeboten. Demgegenüber schätzen Modelle mit Effekten der Suchintensität und der Heterogenität der Auffindungswahrscheinlichkeit (Mth) je nach Berechnungsmethode Anzahlen von 422 und 519. Modelle, die nur einen der beiden Effekte einbeziehen (Mh und Mt), weisen eine geringere Anpassungsgüte auf. Die Gesamtzahl der Webangebote liegt also vermutlich bei 400 bis 500, da Verzerrungseffekte plausibel sind und das Modell ohne zusätzliche Effekte den Daten nicht gerecht werden. Ferner erlauben weitere Programme zur Berechnung von Rückfangdaten Hypothesentests auf das Vorliegen der Verzerrungen. Auch diese Programme kommen zu dem Ergebnis, dass das Modell Mth sinnvoll ist. Tabelle 5: Schätzung der Grundgesamtheit partizipativer Nachrichtensites Modell
Geschätzte Größe der Grundgesamtheit
Standardfehler des Schätzers
Freiheitsgrade
M0
316
14,7
2045
844,6
Mth (Chao)
422
43,1
2031
554,7
Mth (Darroch)
519
53,1
2034
552,6
Informationskriterium (Akaike)
Die hier beschriebene Berechnung dient v. a. der Demonstration des Verfahrens; in einem weiteren Schritt sollte man die Parameter der Modelle näher betrachten (u. a. um dann womöglich eine begründete Entscheidung treffen zu können, ob ein bestimmtes Schätzverfahren für den Heterogenitätseffekt angemessener ist) und noch komplexere Modelle verwenden, insbesondere mit Eigenschaften der Listen und der Webangebote als Kovariate. Hierzu müssten aber die Webangebote codiert werden (z. B. nach Sprache bzw. Land, Gründungsjahr, inhaltlichen Kategorien usw.). Ferner könnte die Koorientierung der Listenersteller genauer modelliert werden. Dadurch könnte insgesamt eine präzisere Schätzung vorgenommen werden. Unter dem Strich ist jedoch anzunehmen, dass die vorliegende Schätzung erstmals einen (und vermutlich bereits recht guten) Anhaltspunkt für die Größe der Grundgesamtheit liefert – selbstverständlich mit der Einschränkung, dass diese noch recht ungenau eingegrenzt ist. Andernfalls wäre man jedoch vollständig auf Spekulationen darüber angewiesen, ob die Gesamtzahl wenig über die aufgelisteten Webangebote hinausgeht oder ein Vielfaches davon beträgt, und wie stark die Auswahl der verzeichneten Webangebote verzerrt ist. Alle auf den Listen aufbauenden Untersuchungen wären mit dieser grundlegenden Unsicherheit behaftet. Der Aufwand für den Einsatz der Rückfangmethode wäre noch lohnender, wenn man die Rechenmodelle für Fang- bzw. Auflistungswahrscheinlichkeiten auch bei der Schätzung von Parametern der Grundgesamtheit einfließen ließe (Duan, Liu & Zhao 2009). Wo ansonsten nur vermutet werden kann, in welche Richtungen eine Stichprobe auf Basis der Listen verzerrt sein könnte, ließen sich die Parameter (z. B. Häufigkeiten, Mittelwerte, Standardabweichungen) dann durch Gewichtung um die errechneten Einflüsse auf die Listenerstellung bereinigen.
Die Rückfangemethode 6
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Diskussion und Fazit
Im vorliegenden Beitrag wurde die Rückfangmethode in ihren Grundzügen auf die Kommunikationswissenschaft übertragen. Auf dieser Basis lässt sich die Größe einer unzugänglichen Grundgesamtheit schätzen. Dies konnte am Beispiel partizipativer Nachrichtensites gezeigt werden. Im Anwendungsfall hätte sich dieses Ergebnis nicht mit herkömmlichen Ausschluss- oder Einschlussverfahren erzielen lassen. Ein Richtwert für die Größe der Grundgesamtheit ermöglicht die Optimierung der bisher gebräuchlichen Verfahren. So lässt sich die Vollständigkeit eines Verzeichnisses besser beurteilen oder der Zeitpunkt zum Abbruch eines Schneeballverfahrens besser rechtfertigen. Der Mehrwert der Rückfangmethode zeichnet sich also bereits ab. Er kann im Zuge einer ausführlichen Erprobung und Weiterentwicklung des Verfahrens im Fach sicherlich noch gesteigert werden. So ist es vorstellbar, dass sich mithilfe ausgefeilterer Datenerhebungsmethoden und Rechenmodelle auf Basis der entstehenden Listen nicht nur Schlüsse auf die Größe, sondern auch auf die Struktur der Grundgesamtheit ziehen lassen. Darauf aufbauend könnten Stichproben auf ihre Verzerrungen hin überprüft und entsprechend gewichtet werden. Außerdem lassen sich durch eine intensivere Auseinandersetzung mit den auftretenden Verzerrungseffekten nicht nur Schlüsse auf die Grundgesamtheit ziehen, sondern auch der Entstehungskontext der Listen näher beleuchten. Auf diese Weise kann die Qualität von Datenquellen (z. B. aus dem Internet) besser eingeschätzt werden. Außerdem lassen sich die Mechanismen verstehen, die bei der Erstellung der Listen wirken. Es lässt sich hinterfragen, warum bestimmte Elemente ausgewählt werden (z. B. aufgrund von Hypes) und welche Zusammenhänge zwischen den Listen bestehen (z. B. mithilfe von Korrespondenzanalysen). So können die Prozesse der Koorientierung analysiert werden. In diesem Zusammenhang bietet sich besonderes Forschungspotential in Kombination mit den Theorien und Befunden der Netzwerkanalyse. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Plädoyer für einen sorgfältigen Umgang mit Grundgesamtheiten und Stichproben in der Journalismusforschung. Außerdem argumentiert er dafür, die Rückfangmethode ins methodische Repertoire der Kommunikationswissenschaft und speziell der Journalismusforschung aufzunehmen und beständig weiterzuentwickeln. Dies ist besonders wünschenswert angesichts der Tatsache, dass mit der Ausdifferenzierung des Journalismus und der wachsenden Bedeutung des Internets die Journalismusforschung zunehmend mit unzugänglichen Grundgesamtheiten konfrontiert werden wird.
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Die Rückfangemethode
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Fehler durch Nichtmessen in der Journalismusforschung Olaf Jandura
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Einleitung – Fehlerquellen bei der Datenerhebung
Unzulänglichkeiten bei der Datenerhebung können in unterschiedlichen Bereichen beobachtet werden. Diese werden im Folgenden anhand einer Analogie zu einer Fehlertypologie, die ursprünglich für die standardisierte Befragung entwickelt wurde, beschrieben und auf quantitative empirische Studien im Bereich der Journalismusforschung übertragen. Groves (1987) entwickelte eine Systematik zur Beschreibung von Fehlern, in der er zwischen Fehlern, die durch das Messen, und Fehlern, die sich aus dem Nichtmessen ergeben, differenziert. Quellen von Messfehlern sind neben dem Fragebogen der Interviewer, der Befragte und der Befragungsmodus; Fehler durch das Nichtmessen entstehen durch Abdeckungs- und Stichprobenfehler und durch die Informationsverweigerung (non-response) seitens des Befragten. Diese Fehlertypologie lässt sich so auch auf andere Methoden übertragen. Als Fehler durch Messen sind bei Inhaltsanalyse und Beobachtung dann Fehler zu verstehen, die sich aus der Auswahl, Definition und Beschreibung der Kategorien ergeben (Fehler des Instruments), Fehler, die durch die Codierer/Beobachter entstehen (Erfassungsfehler) und Fehler, die mit den Gegebenheiten des gewählten Modus zusammenhängen (Modusfehler). Analog zu den Kriterien von Groves entstehen auch beim Einsatz anderer Methoden Fehler durch Nichtmessen z.B. durch Fehlspezifikationen der Grundgesamtheit (Abdeckungsfehler) und durch das Arbeiten mit Stichproben (Stichprobenfehler). Ebenso ist das Nicht-Vorliegen und damit die Nichtcodierbarkeit oder Nichtbeobachtbarkeit von relevanten Analyseeinheiten als Fehler durch Nichtmessen zu verstehen (vgl. Abbildung). Während die Forschung sich intensiv mit Instrumenten und modusbedingten Fehlern bei der Erhebung von Daten auseinandersetzt und Vorgehensweisen entwickelt, um solche Fehler zu vermeiden, werden Fehler durch Nichtmessen nur selten angesprochen. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, diesen Fehlertyp in den Mittelpunkt zu stellen und dessen Einflüsse auf die Validität der Ergebnisse von Studien aus dem Bereich der Journalismusforschung aufzuzeigen. Abschließend wird diskutiert, wie Fehler durch Nichtmessen vermieden bzw. neutralisiert werden können.
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Olaf Jandura
Abbildung:
Fehlertypologie Fehlerarten
Fehlerquellen durch Messen
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Fehlerquellen durch Nichtmessen
Erhebungsinstrument
Abdeckungsfehler
Codierer/Befragter
Stichprobenfehler
Erhebungsmodus
Nonresponse, -coding
Fehler durch Messen
Mehr als alles andere entscheidet die Güte des Messinstruments über die Qualität der zu erhebenden Daten. Fehler, die an dieser Stelle gemacht werden, sind kaum zu kompensieren. Insbesondere die Auswahl und Definition der Kategorien eines Codebuches oder der Fragen im Fragebogen sollten bei einer kritischen Analyse der empirischen Studie hinterfragt werden. In der Literatur findet sich eine Vielzahl von Beiträgen, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Generell zeigt sich in der Journalismusforschung jedoch der Trend, dass Standardinstrumente für Journalistenbefragungen, aber auch für die Erfassung von Medieninhalten noch fehlen. Am ehesten finden sich solche Instrumente in der international vergleichenden Journalismusforschung, wo aus einer Hand bzw. in einem Netzwerk entwickelte Fragebögen länderübergreifend zum Einsatz kommen (u.a. Hanitzsch 2009; Patterson & Donsbach 1996; Weaver 1998). Ebenso existieren Mehrmethodenstudien, die ihre Instrumente auf das Forschungsziel hin synchronisieren (z.B. Maier in diesem Band). Analysen von Medieninhalten, die z.B. Metatrends wie Boulevardisierung, Ökonomisierung oder die Selbstreferentialität der Medienberichterstattung zum Thema haben, arbeiten mit eigens entwickelten Codebüchern, die sich in ihrer Kategoriendefinition nur in geringem Maße mit den Instrumenten anderer Erhebungen überschneiden, was die Vergleichbarkeit der Befunde vieler Einzelstudien einschränkt (z.B. Bernhard & Scharf 2008). Messfehler entstehen aber nicht nur durch den das Messinstrument erarbeitenden Forscher, sondern auch – zumindest wenn diesbezüglich keine Personalunion vorliegt – durch diejenigen, die Daten erfassen: Codierer, Interviewer oder Beobachter. Diese können einund dasselbe Material unterschiedlich verschlüsseln (Reliabilität), zwar alle gleich, aber anders als vom Forscher intendiert codieren (Validität), unbewusst verzerren, indem persönliche Merkmale Einfluss auf die Datenerfassung nehmen, oder bewusst diese beeinflussen, indem sie falsche Antworten geben, wie es beispielsweise bei der Frage nach dem letzten Geburtstag bei Telefonbefragungen (Maurer 2005; Rizzo, Brick & Park 2004) oder
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bei der Beantwortung der Fragen mittels Antworttendenzen (Jandura & Brosius 2010) vorkommt. In der Methodenforschung werden Fragen diskutiert, wie man solche Fehler identifizieren bzw. vermeiden kann. Groves nennt als dritte Messfehlerkategorie den modusbedingten Fehler. Generell stellt sich hierbei die Frage, ob Befragungsergebnisse, die mit verschiedenen Modi erzielt werden, vergleichbar sind. In den 90er Jahren wurde intensiv zur Vergleichbarkeit zwischen telefonischen Befragungen und schriftlichen bzw. face to face Befragungen geforscht. Die Methodenforschung wird heute durch das expansive Wachstum von Internetbefragungen vor eben diese Frage gestellt (Jackob et al. 2010). Bei der Planung von Inhaltsanalysen versucht man computergestützte Verfahren zu implementieren, um große Berichterstattungsmengen verschlüsseln zu können (Scharkow 2010). Jedoch ist der Einsatz der computergestützten Inhaltsanalyse zurzeit noch recht beschränkt und die Nachteile können oft nicht durch dessen Vorteile kompensiert werden. Daher werden immer noch vorrangig Studien mit kleinen, für die althergebrachte Inhaltsanalyse codierbaren Fallzahlen durchgeführt (Tatzl 2010). 3
Fehler durch Nichtmessen
Weit weniger hinterfragt werden die Fehler, die durch das Nichtmessen entstehen. Entscheidungen für oder gegen bestimmte Untersuchungseinheiten, die Selektion von Untersuchungsmaterial, aber auch die Teilnahmebereitschaft der Probanden an Befragungen führen zu Fehlern bei der Datenerhebung. Sehr häufig wird hier auf Wissensbestände aus anderen Studien zurückgegriffen, ohne diese dabei einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Groves (1987) differenziert in seiner Fehlertypologie zwischen dem Abdeckungsfehler, dem Stichprobenfehler und Fehlern, die durch das Nichtantworten bzw. aus dem Nichtvorliegen des Materials entstehen. 3.1 Abdeckungsfehler Decken sich Ziel- und Untersuchungspopulation nicht, werden also Teile der Grundgesamtheit von vornherein aus der Untersuchung ausgeschlossen, liegt ein Abdeckungsfehler vor. Am deutlichsten tritt der Abdeckungsfehler in der Journalismusforschung bei der Analyse der Berichterstattung auf. Auch wenn es prinzipiell das Ziel vieler Untersuchungen ist, Aussagen über die Inhalte deutscher Medien zu treffen, macht es die Vielfalt im Mediensystem unmöglich, alle zu untersuchen. Um zu einer handhabbaren Zahl an Untersuchungseinheiten zu kommen, werden Zeitungen, Zeitschriften oder Fernsehsendungen nach vom Forscher bestimmten Kriterien ausgewählt. Neben willkürlichen Fällen kommt dabei die Auswahl von typischen Fällen, extremen Fällen und relevanten Fällen am häufigsten zum Einsatz (Gehrau & Fretwurst 2005, 18). So werden z.B. in Studien, die sich mit der Berichterstattung im Wahlkampf beschäftigen, Medien nach ihrer politisch-publizistischen Bedeutung und/oder ihrer Reichweite ausgewählt. Eine hohe politisch-publizistische Bedeutung haben diejenigen Medien, die mit ihrer Berichterstattung Themen und Frames setzen und dadurch einen hohen gesellschaftlichen Einfluss bekommen. Sie sind anhand dreier Indikatoren identifizierbar: Sie werden
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von anderen Medien häufig zitiert (Zitate-Ranking), Journalisten weisen ihnen für die eigene Arbeit eine hohe Bedeutung zu und sie determinieren die Themensetzung und Valenzen der Berichterstattung anderer Medien (intermediäres Agenda-Setting) (Jandura 2007). Aufgrund dieser Kriterien werden die vier Spektrumszeitungen bzw. eine Auswahl aus diesen Zeitungen – zumeist SZ und FAZ – häufig als Untersuchungseinheiten genommen (Schönbach 1977; Wilke & Reinemann 2000). Beim Reichweitenkriterium werden pro einbezogene Mediengattung die Medien mit der höchsten Verbreitung (Leser- bzw. Seherzahlen) ausgewählt. Somit wird abgesichert, dass nur die publikumswirksamsten Nachrichtenmedien untersucht werden (Reinemann 2008). Häufig werden beide Auswahlverfahren miteinander kombiniert. Die Fernsehnachrichtensendungen und die BILD-Zeitung werden aufgrund ihrer Reichweite ausgewählt, die Spektrumszeitungen aufgrund ihrer publizistischen Bedeutung im Mediensystem (Donsbach, Jandura & Petersen 2005). Zweifel an der These, die ausgewählten Medien stünden stellvertretend für die Gesamtberichterstattung in Deutschland, müssen jedoch ernst genommen werden. Einige Studien zeigen, dass die analysierten Medien in mehrerlei Hinsicht Besonderheiten aufweisen und dass es unklar ist, ob und wie sich die Themen aus diesen Medien in Boulevardzeitungen und Regionalzeitungen wiederfinden (Paasch-Colberg 2010). Ferner werden Untersuchungseinheiten als typische Fälle ausgewählt. So zeigen Bernhard und Scharf (2008) anhand einer Inhaltsanalyse der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, der Fuldaer Zeitung und der Celleschen Zeitung die steigende Boulevardisierung. Die Politikberichterstattung in den neuen Bundesländern wurde von verschiedenen Autoren auf der Basis von Inhaltsanalysen unterschiedlicher Zeitungen als typische Fälle (u.a. Hagen 1997; Möhring 2001) erfasst. Im Falle der Printmedien ist noch auf eine weitere Einschränkung zu verweisen, die ebenfalls in den Bereich des Abdeckungsfehlers fällt – die Endauswahl der zu codierenden Einheiten (Gehrau & Fretwurst 2005, 18). Anders als bei den Nachrichtensendungen, die von den Codierern meistens in Gänze geschaut und nach relevanten Inhalten durchsucht werden, gelten für Printmedien häufig Einschränkungen. Aus forschungsökonomischen Gründen werden bestimmte Zugriffskriterien gewählt, z.B. die Suche nach relevanten Beiträgen auf der ersten Seite, die Beschränkung auf bestimmte Teile der Zeitung, wie z.B. das erste Buch, oder eine Kombination dieser Verfahren. Das heißt, dass Beiträge, die in anderen Teilen der Zeitung erscheinen und für das Ziel der Analyse relevant sein könnten, von der Codierung ausgeschlossen bleiben. Diese Entscheidung für eine solche Reduktion wird mit Blick auf die Zeitungsgestaltung und die Lesegewohnheiten der Zeitungsnutzer (Noelle-Neumann & Köcher 2002, 395) gerechtfertigt. Trotzdem ist auch hier eine mangelnde Abdeckung einzuräumen. Methodenexperimente, die zeigen, welchen Einfluss die Selektion innerhalb einer ausgewählten Zeitung auf die Befunde hat, gibt es bislang nicht. Abdeckungsfehler finden sich jedoch nicht nur bei der Auswahl der Untersuchungseinheiten und der innerhalb der Untersuchungseinheiten zu codierenden Beiträge, sondern auch beim Untersuchungszeitraum. Häufig ist es der Anspruch von Studien generell über Entwicklungen, Besonderheiten und Trends in der Berichterstattung Auskunft zu geben. Jedoch konzentriert sich der Großteil der Inhaltsanalysen auf eingeschränkte bzw. spezielle Zeiträume, wie z.B. Wahlkämpfe, normale Wochen (Weiß 2009) oder besondere Ereignisse (z.B. Kriege), um am Extremen das Typische sichtbar zu machen. Diese Einschränkung lässt sich zum Teil auf die fehlende Archivierung bzw. den hohen finanziellen Aufwand für die Beschaffung gerade von audiovisuellem Material erklären, was eine Codierung zurück-
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liegender Sendungen schwer bzw. unmöglich macht. Dennoch sollten die Befunde aus Inhaltsanalysestudien zu speziellen Zeiträumen mit Studien zu typischen Zeiträumen (z.B. im Rahmen der Politikberichterstattung zwischen Wahlkämpfen und der Berichterstattung in der Legislaturperiode) verglichen werden, wenn auch auf der strukturellen Ebene kaum Veränderungen zwischen der Berichterstattung in einem normalen bzw. in einem besonderen Untersuchungszeitraum zu finden sind (Wolling 2005). Studien zur Qualität von Stichprobenverfahren zeigen, dass sich trotz dieser Strukturgleichheit, die Inhalte der Berichterstattung und die Darstellung stark unterscheiden (Jandura, Jandura & Kuhlmann 2005). Aber auch bei Journalistenbefragungen müssen Abdeckungsfehler einkalkuliert werden. Da es keine Listen oder Verzeichnisse in Deutschland gibt, in denen Journalisten aufgeführt sind, gestalten sich die Definition der Grundgesamtheit sowie die Erreichbarkeit der Elemente der Grundgesamtheit für Journalistenbefragungen schwierig (Malik 2005, 188, auch in diesem Band) und somit steigt auch die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Abdeckungsfehlern. In der Kontroverse um den Anteil der freien Journalisten in Deutschland wird die Bedeutung von Definition und Auswahlverfahren deutlich. So wird die Anzahl der freien Journalisten in Deutschland in der JouriD-Studie auf 12.000 geschätzt. Im Vergleich zur Erhebung 1993 ist ihre Zahl somit zurückgegangen (Weischenberg, Malik & Scholl 2006). Meyen und Springer halten dagegen, dass es weit mehr freie Journalisten gäbe. Der DJV würde von 22.500 ausgehen, die Künstler-Sozialkasse führt in der Gruppe Wort gut 40.000 Versicherte und somit 15.000 mehr als 1998 (Meyen & Springer 2009, 18). Diese Unterschiede haben jedoch noch nichts mit dem Abdeckungsfehler zu tun. Sie sind einzig und allein eine Folge unterschiedlicher Definitionen des Untersuchungsgegenstandes. So definieren Weischenberg, Malik und Scholl (2006) in ihrer repräsentativen Journalistenbefragung Journalisten als Personen, die 50 Prozent ihres Einkommens aus journalistischen Tätigkeiten beziehen oder 50 Prozent der Arbeitszeit dafür aufwenden. Diese Definition schließt jedoch alle diejenigen aus, die allein vom Journalismus nicht leben können und sich über andere Tätigkeiten finanzieren müssen (Meyen & Springer 2009, 65 ff.), jedoch verstärkt für redaktionelle Inhalte verantwortlich sind (Pöttker 2008, 2). Der Abdeckungsfehler, also der Unterschied zwischen Ziel- und Untersuchungspopulation, wird relevant, wenn aus unvollständigen Listen eine Auswahl getroffen bzw. eine Vollerhebung der Elemente durchgeführt wird. Durch die Kombination verschiedener Listen kann zwar die Größe des Abdeckungsfehlers reduziert werden, jedoch ist eine genaue Abschätzung nicht möglich, wenn die Grundgesamtheit unbekannt ist (Meyen & Springer 2009; auch Engesser & Krämer in diesem Band). 3.2 Stichprobenfehler Offensichtlicher als der Abdeckungsfehler ist allerdings der Fehler, der sich aus dem Arbeiten mit Stichproben ergibt. Jede Studie, die auf einer Teilerhebung basiert, muss eine gewisse Unschärfe ihrer Ergebnisse in Kauf nehmen. Dabei interessiert zunächst, auf welcher Grundgesamtheit die Auswahl basieren soll. Gerade Journalistenbefragungen haben das Problem einer in Teilen unbekannten Grundgesamtheit, da es keine einheitlichen und vollständigen Listen der Merkmalsträger gibt. Unsicherheiten bei der Grundgesamtheit haben dann auch Unsicherheiten bei den Auswahlverfahren zur Folge (Engesser & Krämer in
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diesem Band). Bei Inhaltsanalysen sind die Schwierigkeiten anders gelagert. Paradox ist hier, dass, obwohl man ob der Materialfülle bei Inhaltsanalysen schon fast von einem Zwang zur Stichprobenbildung sprechen kann, das Problem des daraus resultierenden Fehlers im Gegensatz zur Befragung bislang kaum Beachtung gefunden hat (Jandura, Jandura & Kuhlmann 2005). Das größte Problem bei der Ziehung von Stichproben bei Inhaltsanalysen ist, dass das der Stichprobenbildung zu Grunde liegende Kriterium der Analyseeinheit der Untersuchung entsprechen muss. Stichproben bei Journalistenbefragungen genügen diesem Anspruch. Hier sind Erhebungs-, Aussage- und Untersuchungseinheit identisch. Stichproben bei Inhaltsanalysen hingegen lassen die geforderte Kriteriumsidentität sehr oft vermissen (Lauf & Berens 2003, 456). Für die Stichprobenbildung bei Inhaltsanalysen kann dabei auf den gleichen Kanon an Auswahlverfahren zurückgegriffen werden, wie bei Befragungen. Zufällige und nichtzufällige Verfahren stehen hierbei zur Auswahl. Jedoch wird bislang überwiegend bei inhaltsanalytischen Verfahren auf nichtzufällige Verfahren zurückgegriffen. So basierten gut zwei Drittel (68 Prozent) der innerhalb von 25 Jahren in der „Journalism & Mass Communication Quarterly“ veröffentlichten Inhaltsanalysen auf bewussten und zusätzlichen zehn Prozent auf willkürlichen Stichproben. Gerade einmal jede fünfte Inhaltsanalyse wurde entweder mit Vollerhebungen oder repräsentativen Samples durchgeführt (Riffe & Freitag 1997). Begründet wird die Stichprobenauswahl durch zeitliche Zwänge, ökonomische Zwänge oder (vor allem bei audiovisuellen Inhalten) durch das Nichtvorliegen des Materials. Schaut man sich die repräsentativen Samples an, so zeigt sich, dass einfache Auswahlverfahren relativ selten zur Anwendung kommen (u.a. für Deutschland Wilke & Reinemann 2000). Der Grund liegt zweifelsohne im großen Aufwand bei der Erstellung der Stichprobe. Zunächst muss der ungefähre Umfang der Berichterstattung geschätzt werden, um dann ein systematisches Auswahlintervall (jeder x-te Beitrag) zu bestimmen oder eine randomisierte Zufallsauswahl zu erstellen. Daher dominieren geschichtete Auswahlverfahren oder Klumpungsverfahren die Stichprobenbildung. Im Besonderen Klumpenauswahlen, bei denen eine Stichprobenbildung über Elementgruppen erfolgt, sind für die Stichprobenbildung bei Inhaltsanalysen reizvoll. Schon in den Anfangszeiten der quantitativen Inhaltsanalyse stellte Backmann (1956, 730) fest: „In most research involving a content analysis of newspaper or magazines, issues, articles, front pages editorials, and stories are the ultimate elements of investigation. They are usually not conveniently listed, but titles are.” Das Vorliegen natürlicher Auswahleinheiten (Merten 1995, 323) bestimmt die Stichprobenbildung noch heute. Die meisten Inhaltsanalysen basieren daher auf der Auswahl bestimmter Zeitcluster, die jedoch sehr unterschiedlich definiert werden können. Der Auswahl zusammenhängender Zeiträume, wie z.B. einer gesamten Berichterstattungswoche (Weiß 2009), steht die Auswahl einzelner Erscheinungsintervalle von Medien gegenüber, die zusammengesetzt eine oder mehrere Berichterstattungswochen bilden. Typische Formen dieser Art der Stichprobenbildung sind die variierenden Ausprägungen der künstlichen Wochen (rotated week sampling, constructed week sampling, composite day sampling). Doch wie genau lässt sich mit dieser Art der Stichprobenbildung die Berichterstattung abbilden? Die statistische Argumentation ist, dass die Präzision des Repräsentationsschlusses der einzelnen Stichprobenmodi abhängig von der Stabilität des Auftretens der untersuchten Merkmale der Berichterstattung ist. Der Fehler wäre gleich Null, wenn alle Klumpen untereinander vollkommen homogen wären. Jeder Klumpen wäre somit eine perfekte Abbildung der Grundgesamtheit. Indes wird der Klumpungsfehler umso größer, (a) je kleiner die Anzahl der
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einbezogenen Klumpen ist, (b) je größer die Zahl der Elemente pro Klumpen ist, (c) je heterogener die Klumpen selbst sind und (d) je homogener die Elemente innerhalb eines Klumpens sind (Diekmann 1998). Für die Berechnung des Stichprobenfehlers bei Inhaltsanalysen bedeutet dies, dass im Gegensatz zu Stichproben, die auf einfachen Zufallsauswahlen beruhen, der Klumpungsfehler für jede Variable individuell berechnet werden muss und dass je nach Auftreten des Merkmals erst im Nachhinein die Präzision des Repräsentationsschlusses festgestellt werden kann, was letztendlich zu einer gewissen Unsicherheit bei der Stichprobenbildung führt. Kontrastiert man die Befunde zu den Medieninhalten mit den Anforderungen für möglichst geringe Klumpungsfehler, muss festgehalten werden, dass bei der Inhaltsanalyse von Medieninhalten alle Bedingungen für große Stichprobenfehler gegeben sind. a.
b.
c.
d.
Die Anzahl der einbezogenen Klumpen ist in vielen Studien eher klein. Neben der Stichprobenbildung über „natürliche Wochen“ mit insgesamt 14 Zeitklumpen pro Jahr (2x eine natürliche Woche von 7 Berichterstattungstagen (Weiß 2009)) sind es gerade die Langzeitstudien, die mit wenigen Zeitklumpen pro Jahr die entsprechende Berichterstattung abbilden wollen (12 zufällige Tage pro Jahr). Aufgrund der Einbeziehung eines breiten Medienspektrums (z.B. Blöbaum in diesem Band) wird die Anzahl der Elemente eines Klumpens relativ groß. Zudem kann sie sich zwischen den Klumpen auch noch stark unterscheiden. Ein breites Medienspektrum führt automatisch zur Reduktion der Klumpen. Durch die Ereignisabhängigkeit der Medienberichterstattung sind die Unterschiede zwischen den Klumpen zumeist groß. Studien zu Thematisierungsprozessen in den Massenmedien machen deutlich, dass die Themenagenden in der Medienberichterstattung stark variieren können (Kolb 2005). Durch eine starke Kollegenorientierung sind die Elemente innerhalb eines Klumpens relativ ähnlich. Studien zum Intermedia-Agenda-Setting können zeigen, dass die Übereinstimmung zentraler Kategorien der Berichterstattung wie z.B. das Thema relativ groß sind und der Anteil der Exklusivberichterstattung über ein Thema gering ist (u.a. Rössler 2002). In diesem Zusammenhang wird von der Intrahomogenität der Klumpen gesprochen. Für andere Kategorien liegen noch keine belastbaren Ergebnisse zur Intrahomogenität der Klumpen vor.
Für die Einordnung der Befunde zur Präzision von Klumpenstichproben ist es daher auch nötig, nicht pauschal von der Medienberichterstattung zu sprechen, sondern einzelne Kategorien auf dem Kontinuum, das die Breite des Stichprobenfehlers abbildet, zu verorten. So zeigen bereits die frühen Studien, dass bei allen Merkmalen, die über die Zeit hinweg wenig variieren, wie z.B. Umfang der Berichterstattung bzw. der Bildberichterstattung oder der Anteil des Lokalen am Gesamtangebot, Umfang der Berichterstattung in begrenzten Teilen (z.B. Polizeibericht) der Klumpungsfehler sehr gering ist. Ferner trifft dies auf Themen zu, bei denen im Untersuchungszeitraum eine starke Konsonanz innerhalb der Berichterstattung zu verzeichnen war und die regelmäßig angesprochen wurden (Backmann 1956). Auf der anderen Seite muss bei allen Variablen, die über die Berichterstattung stärker variieren, ein erhöhter Auswahlfehler eingerechnet werden. So konnten Jandura, Jandura und Kuhlmann (2005, 102 ff.) in ihrem Vergleich der Ergebnisse einer Vollerhebung mit verschieden simulierten Stichproben zeigen, dass trotz einer großen Anzahl von codierten
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Beiträgen die Fehlerabweichungen bei den Kategorien Vorkommen und Bewertung der Akteure so erheblich waren, dass sie in keinem Verhältnis zum Aufwand der Codierung standen (ebd., 103). Die Kostenvorteile beim Ziehen einer Klumpenstichprobe werden durch die Nachteile bei der Präzision der Ergebnisse so schnell wieder aufgehoben (Kops 1977, 251). Aufgabe weiterer Forschung zum Thema sollte es sein, die Anfälligkeit verschiedener Variablen gegenüber Stichprobenfehlern bei Klumpenstichproben zu testen, um bei der Entscheidung für bzw. gegen ein Stichprobenverfahren auf belastbare empirische Befunde zurückgreifen zu können. Aber auch bei den Journalistenbefragungen, die auf Zufallsauswahlen beruhen, sucht man häufig vergebens nach der Ausweisung des Stichprobenfehlers. Dabei ist deren Ausweisung bei einfachen Zufallsstichproben, wie etwa bei Auswahlen aus Listen, die auf der Basis eines oder mehrerer Verzeichnisse erstellt wurden (u.a. Stamm, Zimpel, BDZV oder DFV) noch einfach (Neuberger, Nuernbergk & Rischke 2009; Meyen & Springer 2009). Greift man jedoch auf geschichtete Stichproben zurück, wird die Berechnung des Stichprobenfehlers ähnlich komplex wie bei der Inhaltsanalyse (Weischenberg, Malik & Scholl 2006; Malik in diesem Band). 3.3 Nichtvorliegen des Materials Schließlich muss noch der Fehler angesprochen werden, der sich aus dem Nichtvorliegen von Material bzw. der fehlenden Bereitschaft zur Teilnahme an Interviews oder für eine Beobachtung ergibt. Die Ausfälle durch nicht vorliegendes Material können in Zukunft minimiert werden, da durch den Aufbau von Datenbanken, in denen die Ausgaben verschiedener Zeitungen und Zeitschriften vorliegen, auch im Nachhinein Zugriff auf die Beiträge möglich ist. Problematischer sieht es jedoch bei der Sammlung audiovisueller Inhalte aus. Ein Datenbanksystem ähnlich wie beim Zeitungsbestand existiert nicht. Daher bedarf es stärkerer Anstrengungen für eine dauerhafte Sammlung von audiovisuellem Material in Form von TV-Stichproben und Onlinestichproben, die den Kriterien einer Zufallsstichprobe entsprechen. Stärker als die Inhaltsanalyse sind Befragungsstudien vom Problem der fehlenden Antworten stichprobenrelevanter Merkmalsträger betroffen. Die in den letzten Jahren veröffentlichten repräsentativen Bevölkerungsbefragungen zeigen, dass die Ausschöpfungsquoten rückläufig sind. Quoten zwischen 22 und 46 Prozent werden berichtet (Kepplinger & Maurer 2005; Emmer, Füting & Vowe 2006; Quiring & Jandura 2008). Noch stärker als bei den repräsentativen Bevölkerungsbefragungen kämpfen jedoch Journalisten- und Expertenbefragungen mit sinkenden Ausschöpfungsquoten. Die berichteten Werte liegen zwischen 7 und 40 Prozent. So bekamen Kepplinger und Marx (2008) in ihrer Befragung von Landtagsabgeordneten je nach Partei einen Rücklauf zwischen 7 und 39 Prozent, Meyen und Springer (2009) erzielten bei einer Onlinebefragung freier Journalisten eine Ausschöpfungsquote von 24 Prozent und auf die Fragen von Bentele, Großkurth und Seidenglanz (2008) antworteten 25 Prozent der befragten Pressesprecher. Etwas höher fiel der Rücklauf bei der Befragung von Immobilienjournalisten durch Jackob, Arens und Zerback (2008) mit 40 Prozent aus. Einzig Weischenberg, Malik und Scholl (2006, 227) weisen eine Quote von 73 Prozent aus, wobei bei dieser Quote der Anteil der Redaktionen, die sich an der Befragung generell nicht beteiligt haben, nicht berücksichtigt ist.
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Während bei repräsentativen Bevölkerungsbefragungen die Rohdaten auf der Basis der vorhandenen Informationen aus der Grundgesamtheit (Mikrozensus) gewichtet werden können, besteht diese Möglichkeit für Journalistenbefragungen nicht, da es keine dem Mikrozensus adäquate Quelle gibt, in der Informationen über die Zusammensetzung der Grundgesamtheit bereit stehen. Die Erfahrung aus repräsentativen Bevölkerungsbefragungen zeigt aber, dass zwischen den Auszählungen der Rohdaten und der gewichteten Daten erhebliche Unterschiede auftreten können, woraus die Frage nach der Zuverlässigkeit der Daten abzuleiten wäre, wenn keine Grundlage für die Gewichtung existiert. In der Forschungspraxis werden zwei Antworten auf diese Frage gegeben. Einerseits wird versucht mittels externer Validierung die Ergebnisse der eigenen Studie mit Benchmarkstudien zu vergleichen. Andererseits ignoriert man das Problem der Repräsentativität, wenn es darum geht, Verhalten zu erklären, indem man Zusammenhänge zwischen Variablen testet (Diekmann 1998, 368). In diesem Fall beruft man sich auf die Argumentation von Schnell (1991), der davon ausgeht, dass Verzerrungen in der Stichprobe keinen Einfluss auf die Variablenzusammenhänge haben. Diese Annahme kann jedoch für lineare Beziehungen nicht aufrechterhalten werden. In verschiedenen Studien (Wolling 2005; Schoen 2004) wird gezeigt, dass sich die linearen Variablenzusammenhänge im Vergleich von repräsentativen und verzerrten Stichproben stark unterscheiden. Je stärker es zu einer affinitätsbedingten Verzerrung der Stichprobe gegenüber dem Untersuchungsgegenstand kommt, desto größere Unterschiede in den Variablenbeziehungen lassen sich im Vergleich zu Repräsentativbefragungen feststellen. So demonstriert Schoen, dass neben den erwarteten Unterschieden in den Randverteilungen auch die Ergebnisse von Korrelationsanalysen, Reliabilitätstests von Skalen sowie Regressionsmodellen durch eine verzerrte Stichprobenbildung beeinflusst werden können. Ein Grund für diese Unterschiede könnte in stärker ausgeprägten Einstellungsstrukturen der Befragten hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes liegen. Diese Tatsache führt im Endeffekt dazu, dass in den Befragungen gefundene Variablenzusammenhänge nicht auf die Grundgesamtheit übertragen werden können. Je geringer die Ausschöpfungsquote einer Umfrage ist, desto stärker ist die Wahrscheinlichkeit des Auftretens solcher affinitätsbedingten Verzerrungen. 4
Fazit
Empirische Studien haben in der Journalismusforschung eine zentrale Bedeutung. Nur mit ihnen lässt sich journalistisches Entscheiden erfassen und beschreiben. Bei jeder Datenerhebung müssen Fehler, die durch das Messen, und solche, die durch Nichtmessen entstehen, berücksichtigt werden. Während messbedingte Fehler häufig diskutiert und analysiert werden, werden Fehler, die durch das Nichtmessen bedingt sind, eher weniger berücksichtigt. Im vorliegenden Aufsatz konnte deutlich gezeigt werden, welche Bedeutung letztgenannte Fehler für die Validität der Befunde entwickeln können. Welche Schlussfolgerungen lassen sich für den Umgang mit Fehlern durch Nichtmessen ziehen? Eine einheitliche Empfehlung kann es nicht geben, dafür sind die Untersuchungsziele und Untersuchungsanlagen zu individuell, doch lassen sich drei Strategien ableiten, um die unterschiedlichen Fehlerursachen zumindest zu minimieren. Die erste Strategie zielt auf die (1) Verbesserung der Forschungsinfrastrukturen ab. Gerade bei Inhaltsanalysen steht man häufig vor dem Problem, dass die Idealvorstellungen
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bei der Stichprobenbildung schon bei der Überprüfung des zur Verfügung stehenden Materials scheitern. Dies gilt vor allem für audiovisuelle Inhalte, aber auch für Stichproben im Internet. Für Printmedien existieren mittlerweile Datenbanken, in denen eine beachtliche Zahl von überregionalen, regionalen und lokalen Tageszeitungen durchsucht werden kann. Dies ist u.a. der Grund dafür, dass bei Langzeitinhaltsanalysen zu zentralen Trends wie Boulevardisierung oder Ökonomisierung audiovisuelle Medien stark unterrepräsentiert sind. Die Chancen, die die Digitalisierung der Übertragungswege hier bieten, sollten genutzt werden, um Programmarchive aufzubauen, auf die man zu Forschungszwecken zurückgreifen kann. Die Studien zum Stichprobenfehler bei Inhaltsanalysen haben gezeigt, dass eine stärke Investition in die Stichprobenbildung die Menge des zu codierenden Materials bei gleicher Aussagegenauigkeit erheblich senken kann. Bei Journalistenbefragungen muss dem Problem der Überforschung des Untersuchungsgegenstandes begegnet werden. Die zweite Strategie bezieht sich vordergründig auf die Methode der Inhaltsanalyse. Die (2) Auswahlentscheidungen für Untersuchungseinheiten sollten stärker hinterfragt werden. Anhand empirischer Studien muss verdeutlicht werden, ob die bisher gemachten Annahmen einer Meinungsführerschaft innerhalb des Mediensystems immer noch gelten oder ob es Verschiebungen im Bereich der Meinungsführer zugunsten anderer Medien oder neu hinzu gekommener Medien wie z.B. spiegel-online gegeben hat. Anhaltspunkte für eine solche Verschiebung finden sich u.a. in der Studie von Meyen und Riesmeyer (2009), die festgestellt haben, dass besonders die Redaktionen über ein hohes Ansehen unter den Journalisten verfügen und somit Agenda-Setter innerhalb des Mediensystems sind, die viel Zeit für Recherche aufwenden können. Die dritte Strategie zielt darauf ab, (3) Fehler durch Nichtmessen durch Messen zu minimieren, indem man sich auf ein einheitliches Messinstrument einigt, will man bspw. das Berufsverständnis von Journalisten oder die Veränderung in der Berichterstattung in regionalen und überregionalen Nachrichtenmedien oder Zeitschriften messen. Durch die Anwendung eines Standardinstruments lassen sich besser als heute additiv Befunde für Veränderungsprozesse in der Berichterstattung bestimmter Zeitungen oder z.B. im Berufsverständnis verschiedener Journalistengruppen sammeln. Die wissenschaftliche Diskussion sollte in der Zukunft daher stärker auf die Entwicklung von Standardinstrumenten ausgerichtet sein. Einen Anfang in diesem Prozess bilden Skalenhandbücher bzw. bei Bevölkerungsbefragungen die sehr gut dokumentierten Standardbefragungen der Sozialwissenschaften, die jedoch aus Perspektive der Kommunikationswissenschaft den Malus aufweisen, dass die Gegenstände des Faches nur eine untergeordnete Rolle spielen. Gerade vor dem Hintergrund sinkender Ausschöpfungsquoten bei Befragungen helfen solche Benchmarkstudien aber auch Methodentriangulationen das Wissen über den Untersuchungsgegenstand zu erweitern.
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III. Untersuchungsinstrumente
Fotonachrichtenfaktoren als Instrument zur Untersuchung journalistischer Selektionsentscheidungen Patrick Rössler, Jan Kersten und Jana Bomhoff
1
Einleitung
Der Selektionsprozess stellt eine entscheidende Phase des redaktionellen Handelns dar – auf allen Ebenen journalistischer Aussagenproduktion werden vom Kommunikator Entscheidungen darüber verlangt, ob über einen Sachverhalt überhaupt berichtet wird, und wenn ja, in welchem Umfang und mit welcher Gewichtung.1 Ein klassisches Konzept aus der Kommunikationsforschung, das sich diesem Prozess widmet, ist der NachrichtenwertAnsatz: Ohne hier auf die Details des umfangreichen Literaturkorpus eingehen zu können (vgl. zuletzt Fretwurst 2008), liegt dem die Annahme zugrunde, dass sich Sachverhalte anhand eines Kriterienkatalogs, den so genannten Nachrichtenfaktoren, bewerten lassen, und die hieraus resultierenden Nachrichtenwerte den Beachtungsgrad erklären, der diesem Sachverhalt in der medialen Berichterstattung zuteil wird. Nachdem sich die Forschung zunächst scheinbar ereignisimmanenten Faktoren und dem Entscheidungshandeln von Journalisten gewidmet hat, wurde in jüngerer Zeit verstärkt untersucht, inwieweit das Nachrichtenwert-Konzept auch zur Erklärung des Selektions- und Rezeptionsverhaltens von Rezipienten herangezogen werden kann (vgl. z. B. Eilders 1997, 53). Der bisherigen Forschung ist freilich gemein, dass sie sich fast ausschließlich auf die Text- und Wortberichterstattung bezieht und primär an Printmedien orientiert, obwohl Pressefotos einen regelmäßigen Bestandteil der Angebote darstellen. Fotos wühlen den Leser auf, erzeugen Emotionen, verdichten Informationen und regen zu einer weiteren Informationsaufnahme an. Ebenso komplex wie die Selektions- und Rezeptionsprozesse auf der Seite des Betrachters gestaltet sich die Auswahl eines Fotos auf Seiten der Bildredakteure. Der vorliegende Beitrag führt mit den so genannten Fotonachrichtenfaktoren ein Instrument in die empirische Forschung ein, das sich aus der Übertragung der Nachrichtenwerttheorie von Texten auf Bilder ergibt und das erlaubt, die Selektion und Rezeption von Pressefotos zu untersuchen. Entwickelt und angewandt wurde das Instrument erstmals im Rahmen eines Forschungsprojekts zur Selektion und Wirkung von Pressefotos am Beispiel des Wochenmagazins stern. In diesem Projekt wurde einerseits untersucht, nach welchen Kriterien Bildredakteure Pressefotos für die Berichterstattung eines Nachrichtenmagazins selektieren, und andererseits, wie Pressefotos auf Rezipienten wirken. Der Rezeptionsteil 1
Die Studie entstand 2008 im Rahmen des Bachelor-Abschlusses im Fach Kommunikationswissenschaft an der Universität Erfurt, mit Unterstützung von Prof. Dr. Patrick Rössler und Prof. Dr. Kai Hafez. Neben den Autoren dieses Beitrags waren Patricia Gehrlein, Josef F. Haschke, Lena Kiening, Franziska Marquart, Rüdiger Müller sowie Johannes Sebastian Steidel Teil der Forschungsgruppe. Als Projektpartner unterstützten das Wochenmagazin stern und die Mediaforschung des Verlags Gruner & Jahr, Hamburg die Durchführung des Projekts.
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _12, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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der Studie basiert auf einer experimentellen Befragung von 202 Studierenden und umfassenden Tiefeninterviews mit stern-Lesern, wird im Folgenden aber nicht weiter vertieft.2 Vielmehr widmen sich die weiteren Ausführungen dem Instrument der Fotonachrichtenfaktoren, der Methodik ihrer Erhebung und ihrem Nutzen für die Analyse journalistischer Aussagenentstehung. 2
Von der Nachrichtenwerttheorie zu den Fotonachrichtenfaktoren
Die Nachrichtenwertforschung untersucht (vergleichbar der Gatekeeper- und der NewsBias-Forschung) primär journalistisches Entscheidungshandeln. Im Unterschied geht die Nachrichtenwertforschung allerdings davon aus, dass die Berichterstattung nicht etwa eine „Verzerrung“ der Wirklichkeit ist (Grittmann 2007, 80 f), sondern dass die Nachrichtenauswahl auf Basis professioneller Kriterien – den Nachrichtenfaktoren – erfolgt (Staab 1990, 41). Walter Lippmann führte 1922 den Begriff des Nachrichtenwerts („news value“) ein und beschrieb diesen als Ereignismerkmal, das über die Publikationswürdigkeit einer Meldung entscheidet (Lippmann 1964, 230 ff). Seitdem wurde die Nachrichtenwerttheorie etwa von Östgaard (1965), Galtung & Ruge (1965), Schulz (1976) und Staab (1990) weiterentwickelt, die verschiedene, sich ähnelnde Kataloge von Nachrichtenfaktoren erstellten. Christiane Eilders (1997) hat die Nachrichtenwertforschung durch die Anwendung von deren Logik auf Rezipientenseite entscheidend weiterentwickelt. Sie konnte zeigen, dass Nachrichtenfaktoren nicht nur die journalistischen Auswahlentscheidungen der Kommunikatoren erklären können, sondern auch für die Auswahl und Verarbeitung der Medienberichterstattung durch die Rezipienten von Bedeutung sind. Mit Blick auf die Fernsehberichterstattung haben Ruhrmann (2003) und Fretwurst (2008) Nachrichtenfaktoren für Vergleiche zwischen den Selektionsentscheidungen der Journalisten und den Relevanzzuschreibungen der Zuschauer verwendet. Fretwurst (2008) konstatiert einerseits zwar signifikante Übereinstimmungen zwischen Kommunikator und Rezipienten, kommt aber insgesamt zu dem Ergebnis, dass sich die Prozesse der Relevanzzuweisung unterscheiden. Neben der Übertragung der Nachrichtenwerttheorie auf den Rezipienten gab es in den letzten Jahren auch erstmals Studien, die im Rahmen von Nachrichtenfaktorenstudien die Bedeutung von Bildern berücksichtigten. So stellen Ruhrmann und Göbbel (2007) in ihrer Studie zur Entwicklung und Struktur von Nachrichtenfaktoren in der journalistischen Praxis fest, dass nach Ansicht der von Ihnen befragten Journalisten die Kriterien „Verfügbarkeit von Bildern“, „Visualität“ und „Bildliche Darstellung von Emotionen“ in den letzten Jahren für die Selektionsentscheidung an Bedeutung gewonnen haben. Trotz der genannten Befunde liefert die bisherige Forschung kaum Hinweise dafür, dass Nachrichtenfaktoren auch zur Erklärung der Struktur visueller Berichterstattung dienen können. So stellt Grittmann (2007, 83) zutreffend fest, dass in bisherigen Studien „nicht die Nachrichtenfaktoren der Visualisierung analysiert [würden], sondern Visualisierung lediglich als Nachrichtenfaktor aufgefasst wird.“ 2
Die Ergebnisse des zweiten Teils der Studie, in dem insbesondere der Frage nachgegangen wurde, wie Bilder auf Rezipienten wirken und welche Rolle Fotonachrichtenfaktoren und ihre Ausprägung dabei spielen, wurden im Januar 2009 in Zürich auf der Tagung „Zwischen Medienallmacht und -ohnmacht. Rezeption und Wirkung politischer Medienangebote“ der DGPuK-Fachgruppe „Rezeptions- und Wirkungsforschung“ präsentiert und sind im hierzu erschienenen Tagungsband nachzulesen (vgl. Rössler, Marquart & Haschke 2010).
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In seiner unveröffentlichten Magisterarbeit hatte bereits Johannes Wende (2001) den Versuch unternommen, das Konzept der Nachrichtenwertforschung auf Pressefotos zu übertragen. Er ging der Frage nach, ob bildinhärente Nachrichtenfaktoren einen Einfluss auf die Bildselektion besitzen. Methodisch umgesetzt hat er dies durch eine quantitative Inhaltsanalyse von jeweils zwei Zeitungen und Nachrichtenmagazinen, was als erster Versuch angesehen werden kann, die Nachrichtenwerttheorie empirisch auf Bildberichterstattung zu übertragen. In dem von Wende (2001) erstellten Nachrichtenfaktorenkatalog bleiben allerdings entscheidende Faktoren – wie etwa die gezeigten Emotionen oder auch die farbliche Gestaltung eines Bildes – unberücksichtigt. Darüber hinaus ist sein Vorgehen rein am medialen Produkt orientiert und umfasst weder Rezipienten- noch Journalistenbefragungen. Hier schließt die vorliegende Studie an, wenn Sie auf Basis eines umfassenderen Prozessmodells die Fotonachrichtenfaktoren sowohl auf Kommunikatorseite mittels Befragungen und Beobachtungen bestimmt als auch auf Rezipientenseite experimentell untersucht. 3
Theoretischer Hintergrund der Gesamtstudie
Die Studie beruht auf einer eigenen Modellierung des bildbezogenen Ablaufs von Selektions- und Wirkungsprozessen auf Kommunikator- wie Rezipientenseite, deren Logik auf dem Dynamisch-Transaktionalen Ansatz aufbaut (vgl. Früh 1991; zuletzt Wünsch et al. 2007). Das adaptierte Modell integriert zur Erklärung der Prozesse auf Kommunikatorseite den Gatekeeping-Ansatz und die auf Fotos übertragene Nachrichtenwerttheorie (Abbildung 1). Die Intra-Transaktion aus Aktivation und Wissen ergibt sich in diesem Fall als Zusammenspiel aus Fotoinput, Textgrundlage und Hintergrundwissen: der Redakteur wird durch eintreffende Fotos (i. d. R. das Bildmaterial von Agenturen, Korrespondenten oder eigenen Fotografen) aktiviert, ein passendes Foto für das Medium auszuwählen. Dabei greift er auf sein vorhandenes Wissen zurück, das wesentlich durch die Kenntnis der aktuellen Zusammenhänge, in denen das Foto entstanden ist, oder des Artikels, den das Foto illustrieren soll, bestimmt wird. Das Ergebnis ist eine Fotoeinschätzung, deren Kriterien sich durch die Fotonachrichtenfaktoren operationalisieren lassen und die zur Selektion oder NichtSelektion des jeweiligen Fotos für die Berichterstattung führt.
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Abbildung 1:
Modell zur Selektion und Wirkung von Pressefotos3
Fotonachrichtenfaktoren sind also jene Kriterien, anhand derer Kommunikatoren über die Publikationswürdigkeit von Pressefotos entscheiden oder diese rechtfertigen; und ausschlaggebend für die Selektion ist, wie stark diese Fotonachrichtenfaktoren jeweils ausge3
Eigene Darstellung, in Anlehnung an Früh 1991, 53.
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prägt sind. Im Abgleich mit den redaktionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen resultiert aus diesen Einschätzungen letztlich eine Auswahl von Fotos, die als Medienbotschaften die Inter-Transaktion zwischen Kommunikator und Rezipient anregen und sowohl eine vom Kommunikator intendierte Wirkung auf die Rezipienten als auch eine Vermittlung spezifisch ausgeprägter Fotonachrichtenfaktoren einschließen. Die daraufhin ablaufenden Intra-Transaktionsprozesse innerhalb der Rezipienten, die die Intensität der Zuwendung zu einem Bild und darüber hinaus auch die weitere Zuwendung zum Text beeinflussen, wurden ebenfalls modelliert und erhoben; ihre Darstellung muss hier aus Platzgründen zurückgestellt werden (vgl. Fußnote 2). Der im Rahmen der Studie verwendete Fotonachrichtenfaktorenkatalog umfasste acht verschiedene Faktoren: Schaden, Gewalt/Aggression, Kontroverse, Prominenz, Überraschung, Emotionen, Fototechnik und Sex/Erotik. Die Auswahl dieser Faktoren ergibt sich einerseits aus den in der Nachrichtenwertforschung bereits zuvor angewandten Faktoren(katalogen), anderseits berücksichtigt sie die besonderen Erfordernisse bei deren Anwendung auf Fotos (vgl. Tabelle 1). Denn nicht alle Nachrichtenfaktoren lassen sich im Bild reliabel codieren, und darüber hinaus müssen die Faktoren alleine aus der bildlichen Darstellung und ohne textliche Kontextualisierung, Einordnung oder Erläuterung wirken, was die Liste möglicher Faktoren weiter einschränkt (Wende 2001, 54). Tabelle 1: Fotonachrichtenfaktoren: Selektionskriterien für Bilder und ihre Wirkung auf den Rezipienten Faktor Schaden Gewalt/Aggression Kontroverse
Quelle Können dem Faktor Negativismus untergeordnet werden
Vgl. Wende (2001)
Prominenz Überraschung Emotionen
Vgl. Eilders (1997) Vgl. Ruhrmann & Göbbel (2007)
Fototechnik
Vgl. Wende (2001)
Sex/Erotik
Vgl. Eilders (1997)
In Anlehnung an Wende (2001) wurden die Faktoren Schaden, Gewalt/Aggression, Kontroverse, Prominenz und Überraschung in den Faktorenkatalog aufgenommen. Die Faktoren Schaden, Gewalt/Aggression und Kontroverse wurden außerdem zum übergeordneten Faktor Negativismus zusammengefasst, da sie in der bildlichen Darstellung nah beieinander liegen und dort nicht trennscharf differenziert werden können. Aufgrund der Bedeutung der bildlichen Darstellung von Emotionen in der Auseinandersetzung mit Bildern (vgl. Döveling 2005; Müller 2003, 83) wurde dieser Faktor in den Katalog integriert (vgl. Abbildung 2), der sich mittlerweile auch in neueren textbezogenen Nachrichtenfaktorenkatalogen findet (vgl. Eilders 1997; Ruhrmann & Göbbel 2007). Ein Aspekt, der bei der Bebilderung
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von Artikeln vermehrt eine Rolle spielt, ist eine Darstellung von Personen durch Sex/Erotik, die auch von Eilders bereits im Bezug auf Texte überprüft wurde.4 Abbildung 2:
Beispielbildpaar Fotonachrichtenfaktor „Emotionen“: links schwach, rechts stark ausgeprägt (Foto: Wanniarachchi 2008)
In der bisherigen, text- und wortbezogenen Nachrichtenwertforschung verständlicherweise nicht vertreten ist der Faktor Fototechnik. Er summiert eine Reihe die fotografische Qualität betreffende Aspekte (wie etwa Perspektiveinstellungen, Farbigkeit, Kontraste, Schärfentiefe etc.) und vervollständigt als spezifisch bildbezogener Faktor den untersuchten Nachrichtenfaktorenkatalog. Der Faktor Personalisierung, der in der Forschungsliteratur häufig genannt wird, wurde hingegen nicht als eigenständiger Faktor berücksichtigt, da, wie Grittmann (2007, 66) in einer Zusammenstellung bisheriger Inhaltsanalysen zu Pressefotos feststellt, „in Bezug auf die empirischen Ergebnisse >...@ Personenaufnahmen eindeutig dominieren“ (vgl. auch Wilke 1999, 165; Fretwurst 2008, 5 ff.) und sich die Frage, ob es sich dabei jenseits der Personendarstellung tatsächlich um eine „Personalisierung“ handelt, aus dem Bild selbst so gut wie nicht erschließen lässt. Als zentrale Forschungsfrage wurde in der Kommunikatorstudie untersucht, welche Faktoren die Fotoselektion von Kommunikatoren für die Berichterstattung eines Nachrichtenmagazins beeinflussen, in welchem Zusammenhang diese Faktoren untereinander stehen, und welche Bedeutung sie im Vergleich zu anderen Rahmenbedingungen der journalistischen Aussagenentstehung besitzen. Entsprechend der Natur des vorliegenden Bandes liegt ein Schwerpunkt der nachfolgenden Darstellung auf der Methodik bei der Erhebung 4
Dieser Faktor wurde in Rücksprache mit stern-Bildredakteuren vor allem aufgrund seiner vermeintlichen Bedeutung in der journalistischen Praxis mit aufgenommen.
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von Fotonachrichtenfaktoren innerhalb journalistischen Handelns, bevor im Anschluss einige zentrale Ergebnisse der empirischen Untersuchung in der Redaktion des stern berichtet werden. 4
Methodik: Erhebung von Fotonachrichtenfaktoren
Angesichts der theoretischen Vorüberlegungen ist für die Kommunikatorseite ein Mehrmethodendesign auf Basis qualitativer Erhebungen entwickelt worden, die zwischen dem 3. und 7. März 2008 als Fallstudie in der Bildredaktion des stern im Verlagshaus von Gruner & Jahr (Hamburg) durchgeführt wurden. Die Kombination von fokussierten Leitfadeninterviews und einer offenen, nicht-teilnehmenden Feldbeobachtung sollte dabei die Gewinnung umfassender Kenntnisse über die Arbeitsweisen und ablaufenden Prozesse bei der Selektion von Pressefotos innerhalb der Bildredaktion des stern ermöglichen. Die Beobachtung hatte zum Ziel, den Ablauf des Redaktionsalltags und die Arbeitsweisen in der Bildredaktion des stern systematisch zu protokollieren, die in diesem Fall das Beobachtungsfeld darstellte. Darüber hinaus wurden aber auch Arbeitsprozesse in anderen Abteilungen des stern beobachtet (z. B. Layout oder Bildbearbeitung), um so ein umfassendes und lückenloses Bild der Arbeitsschritte und der Bedeutung der Fotonachrichtenfaktoren in diesem Prozess zu erhalten. Generell waren der Grad der Offenheit und der Komplexität – nach Lamnek (2005, 584) zwei zentrale Kriterien zur Einordnung eines Beobachtungsfeldes – in der stern-Bildredaktion sehr hoch. Dies erschwerte es dem Beobachter, den Überblick über handelnde Personen zu behalten: Zum einen fand ein ständiger Austausch mit anderen Abteilungen innerhalb der stern-Redaktion statt, wie etwa dem Layout, der Chefredaktion, den einzelnen Ressorts oder der Bildbearbeitung. Zum anderen gab es Kontakte zu anderen Abteilungen im Verlagshaus; u.a. der Marktforschung, dem Vertrieb, anderen Publikationsorganen des Verlags und zu verschiedenen außenstehenden Personen und Institutionen wie Fotografen, Bildagenturen, Korrespondenten, Auslandsbüros usw. Aufgrund dieser vielfältigen Kontakte zu unterschiedlichen Personen und Institutionen ergab sich eine kaum überschaubare Anzahl möglicher zu beobachtender Aktionen. Die Erhebungseinheit der Beobachtung umfasste zunächst alle relevanten Akteure in unserem Fallbeispiel, d.h. alle Personen, die in der Bildredaktion arbeiten. Die tatsächlich untersuchte Erhebungseinheit war jedoch stärker fokussiert und konzentrierte sich auf diejenigen Personen, die unmittelbar mit der Bildselektion beschäftigt waren. Dies war erforderlich, um zu gewährleisten, dass der Beobachter alle Einflussfaktoren, die auf die handelnde Person einwirkten, erkennen und einordnen konnte. Ist es nun einerseits notwendig, die Erhebungseinheit räumlich und personell einzugrenzen, macht dies im Bezug auf die beobachteten Handlungen wenig Sinn. Eine reduktionistische Beobachtungseinheit, die kleinste, ihrem Sinn nach vollständige Verhaltenseinheiten misst (Lamnek 2005, 588), war angesichts der komplexen Strukturen des Beobachtungsgegenstands nicht hilfreich. Die Beobachtung orientierte sich deswegen eher an der „Situation als Beobachtungseinheit“, was eine genauere Beschreibung und Begründung der Relevanz der Situation verlangt, es aber möglich machte, komplexere Zusammenhänge zu erfassen (Friederichs & Lütke 1973, 46). Die Beobachtung lief in nicht-teilnehmender und offener Form ab, die am Fotoselektionsprozess beteiligten Redakteure wurden dabei in ihrem natürlichen Arbeitsumfeld beglei-
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tet. Um jedoch einen maximalen Erkenntnisgewinn bei der Beobachtung zu erzielen, kamen Kurzinterviews in Form von „Nachfragen bei Unklarheiten, z.B. unverständlichen Handlungen, unbekannten Personen oder ungewöhnlicher Ressourcennutzung“ (Quandt 2005, 192) zum Einsatz. Die Protokollierung der Beobachtungen erfolgte mittels eines vorher erstellten Beobachtungsleitfadens. Die Handlung selbst wurde hier mit detaillierten Beschreibungen festgehalten und zudem (wenn in der Situation möglich) mit einem Diktiergerät verbal aufgezeichnet. Es liegt in der Natur der Beobachtung als Methode, dass hier weniger internale Bewertungsprozesse, sondern primär der redaktionelle Kontext des Entscheidungshandelns erhoben werden. Insgesamt wurde deutlich, dass auch Bildredakteure mindestens 60% ihrer Arbeitszeit mit Kommunikation und Organisation verbringen, zumeist mit Telefonaten. Diese adressieren den Fotoinput und den inhaltlichen Hintergrund unseres Modells, während die eigentliche Bildselektion als deren Folge im Zuge der Befragung der Journalisten erhellt wurde. Den zentralen Teil der Erhebung auf Seiten des Kommunikators bildete daher die Durchführung fokussierter Leitfadeninterviews mit vier Bildredakteuren aus verschiedenen Ressorts sowie dem Leiter der Bildredaktion, die im Vorfeld beobachtet worden waren. Dabei fungierten die Bildredakteure als Experten, da sie klar definierte Aussagen über den zuvor beobachteten Gegenstand geben konnten. Darüber hinaus sollten zwei Interviews mit dem Art Director des stern sowie mit der Sekretärin des Leiters der Bildredaktion weitere Erkenntnisse über Hierarchien, Organisationsstrukturen und Arbeitsweisen liefern. Der Interviewleitfaden ist jeweils im Anschluss an die Beobachtung individuell an den begleiteten Mitarbeiter angepasst worden. Den Stimulus stellte dabei das vom Bildredakteur zuvor selektierte Bildmaterial dar, welches auf die Existenz von Fotonachrichtenfaktoren erörtert wurde. Je nach Gesprächssituation blieb die Möglichkeit für individuelle Fragen, um das Forschungsinteresse zu erhellen. So konnte vom Frageleitfaden abgewichen werden, um den Befragten Artikulationschancen einzuräumen (Hopf 2005, 358). Der Interviewleitfaden umfasste im Schwerpunkt Fragen zu den Themenblöcken ‚Arbeitsprozesse‘, ‚Fotonachrichtenfaktoren‘ und ‚Äußere Faktoren – Gatekeeping‘. Im Block ‚Arbeitsprozesse‘ spielten nicht nur der berufliche Werdegang des einzelnen Redakteurs und seine Zuständigkeiten im Ressort eine Rolle, sondern auch seine Routinen und die Bedeutung von Erfahrungswerten bei der Arbeit. Für den umfangreichsten Block ‚Fotonachrichtenfaktoren‘ wurde den Redakteuren der wissenschaftlich erarbeitete Fotonachrichtenfaktorenkatalog vorgestellt und anhand der vom Bildredakteur während des Beobachtungszeitraums ausgewählten Fotos diskutiert. Dabei stand vor allem die Wichtigkeit der einzelnen Fotonachrichtenfaktoren bei der täglichen Arbeit im Vordergrund; außerdem wurde erfragt, inwiefern dabei die Stärke von deren Ausprägung die jeweilige Auswahl bestimmt. Mit dem dritten Schwerpunkt ‚Äußere Faktoren – Gatekeeping‘ wurde die persönliche Einstellung des Redakteurs zum Arbeitsumfeld sowie zu den organisatorischen und gesellschaftlichen Strukturen innerhalb der Redaktion und des Unternehmens untersucht. Außerdem zielte dieser Fragenblock darauf ab, herauszufinden, inwiefern Blattlinie, Zeitdruck und Kosten die Fotoauswahl beeinflussen. Die Auswertung der qualitativen Interviews basierte im wesentlichen auf der von Mayring beschriebenen „Qualitativen Inhaltsanalyse“ (Mayring 2003), integrierte aber auch weitere Ansätze. Auf Grundlage des Interviewleitfadens entstand ein ausdifferenziertes Kategoriensystem mit sieben Hauptkategorien (Fotonachrichtenfaktoren, Textgrundlage,
Fotonachrichtenfaktoren
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Arbeitsprozesse, Wissen, Bilder der Woche, Äußere Faktoren – Gatekeeping, Feedback/Parafeedback) und jeweils bis zu fünf Unterkategorien, das auf die 428 den Experteninterviews entnommenen Aussagen angewendet wurde. Daneben wurden die Daten aus den beobachteten Situationen und dazu geführten Kurzinterviews in der stern-Bildredaktion nach dem gleichen Prinzip durch das Kategoriensystem verdichtet, denn eine einheitliche Codierung wurde durch die oben beschriebene Abstimmung der Instrumente zwischen Beobachtung und fokussierten Leitfadeninterviews ermöglicht. 5
Ausgewählte Ergebnisse
In der Gesamtschau bestätigte die Studie die Bedeutung von Fotonachrichtenfaktoren für die Bildselektion durch die stern-Bildredakteure. Diese sind sich der jeweiligen Faktoren durchaus bewusst,5 messen ihnen jedoch unterschiedliche Relevanz zu, teilweise in Abhängigkeit von dem Ressort, in dem sie jeweils arbeiten. Im Detail wird den acht vorab definierten Fotonachrichtenfaktoren folgende Bedeutung zugeschrieben: 1.
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5. 5
Der Fotonachrichtenfaktor Schaden steht in engem Zusammenhang mit der Aktualität, besonders bei der Bebilderung von Naturkatastrophen oder Unfällen. Es werden gezielt Fotos gesucht, die das Ausmaß einer Katastrophe verdeutlichen, ohne es aber zu reißerisch oder verherrlichend darzustellen. Bilder mit dem Fotonachrichtenfaktor Gewalt/Aggression gehen oftmals mit dem Faktor Schaden einher, denn Ereignisse, die Sach- oder Personenschaden zur Folge haben, sind oft auf Gewalthandlungen zurückzuführen (z. B. Terroranschläge, Kriege, Demonstrationen). Fotos, denen dieser Faktor zugeschrieben wird, werden als wichtig eingestuft – wenngleich unter den Bildredakteuren Konsens besteht, dass gewaltverherrlichende Szenen nicht gezeigt werden. Stattdessen wählen sie eher Bilder, die eine Gewalthandlung zwar verdeutlichen, ethische Moralvorstellungen aber nicht verletzen. Den befragten Redakteuren zufolge wirken „schwächere“ Bilder manchmal sogar besser. Bilder mit dem Fotonachrichtenfaktor einer dargestellten Kontroverse sind kaum Gegenstand des Fotoinputs und in der Folge scheint der Faktor als Selektionskriterium kaum relevant. Eine Wirkung wird diesen Bildern aber nicht abgesprochen, weil Gestik und Mimik generell gut wirken. Prominenz besitzt als Fotonachrichtenfaktor einen sehr starken Einfluss auf die Fotoselektion und spielt bei der Bebilderung von Artikeln aller Ressorts eine Rolle. Die Redakteure erwarten, dass der Leser durch die Darstellung von Prominenten erreicht wird. Der Leser bekommt nach Aussagen der Bildredakteure das Gefühl vermittelt, die dargestellte Person zu kennen und sie einem Geschehen direkt zuordnen zu können. Aber für sich genommen stellt der Fotonachrichtenfaktor Prominenz kein absolutes Kriterium für die Bildselektion dar, denn auch bei Fotos von Prominenten spielen beim stern Aufmachung und Qualität eine erhebliche Rolle (s. u.). Dem Fotonachrichtenfaktor Emotionen messen alle Bildredakteure eine sehr große Bedeutung zu. Nach deren Ansicht sprechen Emotionen den Leser direkt an und weDie nachfolgende Darstellung beruht auf Aussagen der Redakteure in den Interviews; aus Gründen der sprachlichen Klarheit wird darauf verzichtet, alle Aussagen im Konjunktiv zu formulieren.
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8.
Patrick Rössler, Jan Kersten und Jana Bomhoff cken so sein Interesse. Ausdrucksstarke Gesichter, die Gefühle transportieren, seien im Allgemeinen sehr wirkungsstark. Der Fotonachrichtenfaktor Überraschung bezieht sich auf Bilder, die ungewöhnliche Motive zeigen oder bisher selten dargestellte Ereignisse visualisieren. Überraschende Situationen werden als sehr wichtig eingestuft, aber trotz oder gerade wegen der Vielzahl täglich eintreffender Bilder stellt es sich für die Redakteure als zunehmend schwierig dar, Fotos mit überraschenden Motiven zu finden. Die Suche gilt daher gezielt den „Hingucker-Bildern“, die den Blick des Lesers beim Blättern fesseln. Sex/Erotik hat in der fotografischen Darstellung beständig an Relevanz verloren: Während dieser Faktor nach Aussagen der Bildredakteure noch vor nicht allzu langer Zeit ein Garant für eine hohe Auflage schien, erfüllen diese Fotos diesen Zweck heute nicht mehr. In den Bereichen ‚Unterhaltung/Kultur‘ oder ‚Sport/ Lifestyle/Mode’ spielt der Fotonachrichtenfaktor noch am ehesten eine Rolle. Aber auch dort wird großen Wert auf eine dezente Darstellung entsprechender Motive gelegt. Der Faktor Fototechnik hat primär eine stilistische (und weniger eine inhaltliche) Bedeutung. Es wird ein enormer Wert auf Fotos gelegt, die in Auflösung, Farbe, Kontrast und Belichtung hochwertig sind und deswegen auch gut in dem mitunter ganze Doppelseiten füllenden Bildlayout des stern verwendet werden können. Abstriche bei der Bildauswahl werden lediglich zugunsten von Aktualität oder bei bedeutenden Ereignissen gemacht.
Neben der Bedeutung der Fotonachrichtenfaktoren in ihrer ursprünglichen Form kehrte in den Interviews mit den stern-Mitarbeitern der Begriff „sterniges Bild“ öfters wieder. Als Etikett für ein für den stern publikationswürdiges Bild summiert der Begriff verschiedene Fotonachrichtenfaktoren: Nach Aussagen der Befragten zeichnen sich „sternige Bilder“ u.a. durch eine Mischung aus starken dargestellten Emotionen, tollen Farben, einer überraschenden Situation und prominenten Personen aus. „Sternige Bilder“ werden dem Anspruch gerecht, zwar technisch kunstvoll fotografiert, inhaltlich aber nicht komponiert oder inszeniert zu sein. Das heißt, dass der Fotograf keinen Einfluss auf die Szenerie nimmt, sondern in seinem Bild Stimmungen und Situationen möglichst authentisch einfängt. Anhand der sich ähnelnden Aussagen zum Begriff „sternige Bilder“ zeigt sich eine Sozialisation der Bildredakteure in der stern-Bildredaktion. Die an ein solches Bild angelegten Kriterien lassen sich insgesamt mit dem Konstrukt der Fotonachrichtenfaktoren gut beschreiben – wenngleich die Redakteure beim Erkennen „sterniger Bilder“ ihre Auswahl gerne Intuition und Bauchgefühl zuschreiben. Insgesamt belegen die Ergebnisse, dass Bildredakteure des stern bei ihrer Selektionsentscheidung maßgeblich Fotonachrichtenfaktoren als Kriterien anlegen. Diese Entscheidung geschieht allerdings vor dem Hintergrund persönlicher Einstellungen und des zur betreffenden Thematik angeeigneten Wissens. Die theoretisch angenommenen Einflussgrößen des (1) tatsächlichen oder antizipierten Feedbacks und (2) der jeweiligen Textgrundlage, die illustriert werden soll, konnten jedoch nicht als entscheidende Determinanten für die Selektion von Pressefotos bestätigt werden. Den Rahmen für die Auswahlprozesse bilden aber wie angenommen redaktionelle und gesellschaftliche Kontexte, die maßgeblich darauf einwirken, welche Bilder letztlich kommuniziert werden:
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Das Hintergrundwissen der Bildredakteure manifestiert sich in ihren Kenntnissen zu aktuellen Ereignissen oder Themen, was für eine adäquate Bebilderung unabdingbar scheint. Zu diesem Bereich gehört ebenso das Erfahrungswissen des Bildredakteurs: Je häufiger er sich mit einander ähnelnden Ereignissen beschäftigt, desto besser weiß er, welches Material sich für die Bebilderung eignet. Ferner zählen ebenso das Wissen über passende Datenbanken, geeignete Bildagenturen und gute Fotografen zum Bereich des Hintergrundwissens. Persönliche Einstellungen des Bildredakteurs zum Inhalt der Bilder treten den Redakteuren zufolge in der täglichen Arbeit in den Hintergrund und sind bestenfalls hinsichtlich ästhetischer Aspekte von Bedeutung. Durch die fortdauernde Mitarbeit (und die damit einhergehende Sozialisation) verfestigen sich persönliche Einstellungen des Bildredakteurs im Laufe der Zeit. Der Einfluss der redaktionellen Rahmenbedingungen schlägt sich im Zeit- und Kostendruck sowie in den Strukturen der Redaktionshierarchie nieder. Der Zeitdruck ist beim Wochenmagazin stern geringer als bei tagesaktuellen Medien und variiert je nach Ressort. Um dem Zeitdruck entgegen zu wirken, werden ereignisunabhängige Themen vorproduziert. Ein Konsens über den möglichen Preis von Fotos eröffnet den Bildredakteuren ein eigenständiges Handlungsspektrum; Fotos, die den festgelegten Preis übersteigen, werden mit der Ressortleitung besprochen. Ansonsten spielen Hierarchien eine geringe Rolle, da die Redakteure als Spezialisten autonom mit den Ressorts zusammenarbeiten. Einen übergeordneten Einflussfaktor bilden die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, deren tatsächlicher Einfluss auf die Bildselektion jedoch kaum messbar ist. In der Bildauswahl der Redakteure schlagen sie sich insofern nieder, als dass die Redakteure gesellschaftlich sozialisiert sind und sich die sozial geprägten Wertvorstellungen auch auf die eigenen ethischen Maßstäbe auswirken. Ethische und moralische Wertvorstellungen beeinflussen die Bildauswahl der Bildredakteure besonders im Hinblick auf Kinder- und Jugendschutz und die Wahrung von Persönlichkeits- und Urheberrechten.
Die verschiedenen Einflussfaktoren auf die Bildselektion des Kommunikators lassen sich in Anlehnung an Weischenberg (2005) heuristisch in einem Schichtenmodell (Abbildung 3) bündeln. Die oben genannten Fotonachrichtenfaktoren stehen dort neben den (schwer voneinander trennbaren) persönlichen Einstellungen und dem Hintergrundwissen des einzelnen Redakteurs. Das fallspezifische Selektionshandeln wird außerdem von redaktionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geprägt.
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Patrick Rössler, Jan Kersten und Jana Bomhoff
Abbildung 3:
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Einflussfaktoren auf die journalistische Bildselektion
Fotonachrichtenfaktoren bei Journalisten und Lesern
Das Konstrukt der Fotonachrichtenfaktoren versucht, bildimmanente Charakteristika von Pressefotografien möglichst trennscharf voneinander abzugrenzen. Der Einfluss der Fotonachrichtenfaktoren auf Kommunikator und Rezipient im Selektionsprozess wurde in einem Mehrmethodendesign untersucht, das ähnliche Präferenzmuster für die Bedeutungszuschreibung durch Fotonachrichtenfaktoren erkennen lässt: Für Kommunikatoren stellen Fotonachrichtenfaktoren Selektionskriterien dar, die die Fotoauswahl für Nachrichtenmagazine zu einem großen Teil erklären. Auf Seiten der Rezipienten konnte experimentell nachgewiesen werden, dass Fotonachrichtenfaktoren neben der persönlichen Themenrelevanz erklärungsstarke Selektions- und Wirkungskriterien darstellen (vgl. Rössler et al. 2009). Tabelle 2 stellt gegenüber, welche Bedeutung beide Gruppen den verschiedenen Fotonachrichtenfaktoren zuschreiben. Dabei stellt die Rangfolge der Faktoren auf Kommunikatorseite keine strenge Hierarchie dar, sondern folgt einem Spektrum von ‚sehr wichtig’ bis ‚weniger wichtig’. Auf Rezipientenseite hingegen ist die Rangfolge analog zu den Ergebnissen der Experimentalstudie angeordnet.
Fotonachrichtenfaktoren
217
Tabelle 2: Bedeutung der Fotonachrichtenfaktoren im Vergleich zwischen Kommunikator und Rezipient Bedeutung
Ergebnisse für Kommunikatoren
Ergebnisse für Rezipienten
Sehr wichtig
Emotionen Prominenz Fototechnik Überraschung
Gewalt/Aggression Fototechnik Schaden Emotionen
Wichtig
Schaden Gewalt/Aggression
Prominenz Überraschung
Weniger wichtig
Sex/Erotik Kontroverse
Sex/Erotik Kontroverse
Beide Gruppen messen den Fotonachrichtenfaktoren Fototechnik und Emotionen eine wesentliche Bedeutung zu. Bezüglich des Fotonachrichtenfaktors Fototechnik lässt sich erkennen, dass der hohe Anspruch der Bildredakteure an publikationswürdige Fotografien mit der Zuwendungsintensität der Rezipienten korrespondiert. Mit der Darstellung von Emotionen verfolgen die Bildredakteure die Intention, damit gezielt die Aufmerksamkeit der Leser zu erregen. Die Ergebnisse des Experiments bestätigen6 diese Einschätzung weitenteils. Übereinstimmungen zwischen den Gruppen ergaben sich auch für die Fotonachrichtenfaktoren Sex/Erotik und Kontroverse: Sowohl bei der redaktionellen Selektionsentscheidung als auch in der Zuwendungsintensität der Leser besitzen diese Faktoren eine geringe Bedeutung. Die von den Bildredakteuren geäußerte Überzeugung, wonach die Publikation von erotischen Fotografien in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung verloren habe, deckt sich somit offenbar mit den Rezeptionsinteressen des Publikums. Die Fotonachrichtenfaktoren Schaden und Gewalt/Aggression variieren in der Bedeutungszuschreibung nur geringfügig; während die Bildredakteure des stern beiden Faktoren keine oberste Priorität einräumen, erregten Bilder, auf denen Gewalt, Aggressionen oder Schaden dargestellt sind, die Aufmerksamkeit der Rezipienten im Experiment besonders stark. Umgekehrt halten Bildredakteure Fotos, die überraschen und solche, die prominente Personen zeigen, für Zuwendungsgaranten – eine Einschätzung, die experimentell nicht nachgewiesen werden konnte.
6
Damit stehen diese Ergebnisse in einem gleichsam offensichtlichen wie interessanten Widerspruch zu denen von Fretwurst (2008), demzufolge Fernsehnachrichten, die Ereignisse mit emotionalem Inhalt behandeln, weder bei Journalisten noch bei Rezipienten eine bedeutende Wirkung erzielen. Der Vergleich der Ergebnisse beider Studien kann somit als Indiz dafür gelten, dass sich Nachrichtenfaktoren für Bewegtbilder und Fotonachrichtenfaktoren hinsichtlich der Bedeutungszuweisung von Kommunikatoren und Rezipienten unterscheiden können (Fretwurst 2008, 188 ff).
218 7
Patrick Rössler, Jan Kersten und Jana Bomhoff Theoretische und methodische Reflexion des Konzepts
Das in diesem Beitrag eingeführte Konzept der „Fotonachrichtenfaktoren“ fußt auf der Nachrichtenwerttheorie und erweitert diesen theoretischen Erklärungsansatz auf Bilder. Es steht damit in der Tradition ähnlicher Bestrebungen der vergangenen Jahre, in der der Ansatz zur Rezipientenforschung hin erweitert und um spezifische Faktorenkataloge (wie etwa „Kindernachrichtenfaktoren“; vgl. Zorn 2007) ergänzt wurde. Dabei wird deutlich, dass der Begriff „Nachrichtenfaktor“ in verschiedenen Studien unterschiedlich definiert und angewendet wird. Grittmann (2007, 84) zeigt mit der Formulierung „Visualisierung [...] als Nachrichtenfaktor“ vs. „Nachrichtenfaktoren der Visualisierung“ nicht nur auf, dass in der Forschung zu Nachrichtenfotos noch einige Lücken bestehen, sondern auch, dass der Begriff „Nachrichtenfaktor“ verschiedene Kontexte benennen kann. Während Galtung & Ruge (1965) von einem ereignisimmanenten Nachrichtenwert ausgingen, der ein Ereignis in der Folge zur Nachricht werden ließ, hat die spätere Forschung den funktionalen Aspekt in den Vordergrund gerückt und Nachrichtenfaktoren als Legitimation journalistischen Handelns begriffen (vgl. z. B. Staab 1990). Die Untersuchung des Selektionsverhaltens von Bildredakteuren verdeutlicht eine weitere Dimension des Konzepts: Anders als bei Textmeldungen, die der Redakteur nach Belieben modifizieren kann, ist seine Möglichkeit der nachträglichen Manipulation von Bildern stark eingeschränkt. Nicht das Ereignis ist der Ausgangspunkt der Selektion, sondern der Pool von Bildern, der zu diesem Ereignis zur Verfügung steht und aus dem eines aufgrund seines Fotonachrichtenwerts vom Kommunikator ausgewählt wird. Gleichzeitig belegt der wiederkehrende Hinweis auf die Leerformel „sternige Bilder“, die der stern-Redakteur scheinbar intuitiv erkennt, die legitimatorische Funktion der Nachrichtenwerte: Wenn ein Bild als „sternig“ identifiziert und ausgewählt wurde, sind Nachrichtenfaktoren beliebte Zuschreibungen, um die getroffene Auswahl zu legitimieren. Die vorliegende Studie bezeichnet die „Nachrichtenfaktoren der Visualisierung“ (Grittmann 2007) als Fotonachrichtenfaktoren. Diese erklären sowohl die Selektion durch den Kommunikator als auch die Rezeption durch den Rezipienten – zwei unterschiedliche Vorgänge also, die eventuell auch einer differenzierteren Terminologie bedürften. Der Vorteil der einheitlichen Verwendung des Begriffs „Fotonachrichtenfaktoren“ ist dagegen, dass sie eine Verknüpfung von Kommunikator- und Rezipientenhandeln hinsichtlich eines gemeinsamen, mit diesem Begriff adressierten Kommunikats ermöglicht. Der Dynamischtransaktionale Ansatz (DTA) erlaubt durch dieses Bindeglied die Modellierung von Prozessen, die sich als Intra-Transaktionen für gewöhnlich auf sehr unterschiedliche Traditionen der Journalismus- bzw. Rezeptionsforschung beziehen. Fotonachrichten scheinen geeignet, als Brücke zwischen diesen Traditionen zu fungieren. Deswegen mag der DTA vor dem Hintergrund, dass in diesem Artikel nur der Kommunikatorteil vorgestellt wurde, als theoretischer Rahmen nur vermeintlich unnötig umfangreich erscheinen. Für eine reine Kommunikatorstudie würde ein weniger umfassendes Modell genügen; der DTA jedoch ermöglicht einerseits die sinnvolle Verknüpfung beider Perspektiven und stellt dabei durch seine Prozessorientierung das Foto und die darin enthaltenen Fotonachrichtenfaktoren in den Mittelpunkt. Als Rahmenkonzept verlangt es die Präzisierung durch spezifische Theorien (vgl. Früh, 1991) – im vorliegenden Fall geschehen durch die Integration der Gatekeeping-Stufen und des (Para-)Feedbacks. Entsprechende zeitliche und finanzielle Mittel vorausgesetzt, ließen sich mit den von Früh (1991,
Fotonachrichtenfaktoren
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54) vorgeschlagenen Panel-Studien (also Messungen bei allen beteiligten Personen und Gruppen in hinreichend kurzen Zeitabständen, z.B. durch den Einsatz physiologischer Messverfahren oder umfassender Inhalts- und Rezeptionsanalysen) die dynamischen Wirkungsprozesse bei Kommunikatoren und Rezipienten besser und vollständiger erfassen; zumindest für Studien im Redaktionsablauf sind hier im journalistischen Alltag allerdings klare Grenzen gesetzt. Die Reliabilität des Untersuchungsdesigns wird vor allem durch die Orientierung an den zuvor erarbeiteten Interview- und Beobachtungsleitfäden während der Erhebung gesichert. Wenngleich zusätzliche fokussierte Leitfadeninterviews mit Bildredakteuren und Mitarbeitern verschiedener Hierarchieebenen (und/oder thematisch angrenzenden Abteilungen) nicht nur die Validität der Ergebnisse hätten erhöhen können, sondern auch (über die Konstruktion möglicher weiterer Dimensionen) deren Reliabilität, so stärkt die Fokussierung auf den Interviewleitfaden dennoch die Zuverlässigkeit der erhobenen Aussagen. Die schriftliche und verbale Protokollierung der Beobachtungssituation anhand festgelegter Kriterien ermöglicht zudem die Nachvollziehbarkeit der Beobachtungssituation und könnte in nachfolgenden Erhebungen analog angewendet werden. Um die Validität des vorliegenden Untersuchungsdesigns zu verbessern, könnte außerdem eine deutlich längere Beobachtungsphase vorgesehen werden. Der uns für die Feldforschung zur Verfügung stehende Zeitrahmen hat dem Anspruch einer umfassenden Stichprobe nicht genügt, die auch andere Produktionskontexte (z. B. spektakuläre Medienereignisse) abdeckt. Hinzu kommt, dass durch die Weitläufigkeit des Beobachtungsfeldes wesentliche Einflusskriterien unbeachtet geblieben sein könnten. Bewährt haben sich hingegen die Kurzinterviews während der Beobachtung, um auch die organisatorischen und administrativen Aufgaben des Bildredakteurs bei der Bildselektion zu erfassen. Als zentrale weiterführende Fragestellung muss zukünftige Forschung klären, inwiefern Fotonachrichtenfaktoren bei der Selektion im Zusammenspiel mit dem dazugehörigen Artikel wirken, und ob sich Artikel und Foto in ihrer jeweiligen Wirkung auf den Rezipienten ergänzen. In Bezug auf die Fotonachrichtenfaktoren könnte etwa der Frage nachgegangen werden, inwiefern sich die Gewichtung einzelner Faktoren, beispielsweise Prominenz und Sex/Erotik, je nach Medium und Zielgruppe unterscheidet. Der großformatige und qualitativ hochwertige Druck von Bildern sowie die identitätsbildende Bedeutung von Fotos („sterniges Bild“) weisen dem Faktor Fototechnik beim stern eine herausragende Position zu. Interessant ist daher auch die Fragestellung, ob dieser Faktor bei tagesaktuellen Medien einen geringeren Einfluss auf die Auswahl hat und ob auch bei diesen Medien – analog zum „sternigen Bild“ – redaktionsintern ein Konsens darüber besteht, was ein gutes Bild ist. Weiterhin bleibt offen, ob es Fotos geben kann, die keine Fotonachrichtenfaktoren aufweisen und dennoch publiziert werden, wenngleich dies per Definition kaum möglich scheint, da jede Begründung für den Abdruck eines Fotos auch einen potenziellen neuen „Fotonachrichtenfaktor“ einführt. Deswegen steht der vorgestellte Katalog von Fotonachrichtenfaktoren der Erweiterung um zusätzliche Faktoren offen. Insbesondere könnte die Anwendung auf tagesaktuelle Medien wertvolle neue und vergleichende Erkenntnisse zur Weiterentwicklung des Konzepts der Fotonachrichtenfaktoren beisteuern. Der tägliche Erscheinungsrhythmus und der damit verbundene Zeitdruck dürften sich ebenso in den Kriterien für die Bildauswahl niederschlagen wie das enger bemessene Budget für den Ankauf von Bildern.
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Patrick Rössler, Jan Kersten und Jana Bomhoff
Analog zu Ruhrmann und Göbbel (2007) kann deswegen davon ausgegangen werden, dass sich nicht nur der Katalog der klassischen Nachrichtenfaktoren, sondern auch derjenige der Fotonachrichtenfaktoren auf Seiten der Kommunikatoren im Laufe der Zeit verändert, indem neue Faktoren hinzukommen. So hat sich bereits in dieser Studie gezeigt, dass der Fotonachrichtenfaktor Emotionen sinnvollerweise in die Faktoren positive Emotionen und negative Emotionen unterteilt werden sollte. Ferner bietet die Studie von Wende (2001, 49 f.) weitere Ansatzpunkte hinsichtlich der Unterteilung des Fotonachrichtenfaktors Fototechnik in bildinhärente Faktoren, wie beispielsweise Lichtkontraste und Schärfentiefe. Zusammenfassend können Fotonachrichtenfaktoren als Instrument und Erklärungsgrundlage vor dem Hintergrund der jüngeren Forschung und der Entwicklungen in der journalistischen Praxis unserer Ansicht nach eine Forschungslücke schließen. Ein eigenes Instrument zur Untersuchung von Bildern trägt der wachsenden Bedeutung von Fotos in der Presse Rechnung. Außerdem können Fotonachrichtenfaktoren (analog zur Argumentation von Eilders 1997) auch als Erklärung von Rezeptionsverhalten dienen. Damit stellen Fotonachrichtenfaktoren eine entscheidende Weiterentwicklung der Nachrichtenwerttheorie dar, die sich vor allem für vergleichende Studien zwischen Kommunikator- und Rezipientenverhalten eignet. Literaturverzeichnis Döveling, K. (2005): Emotionen – Medien – Gemeinschaft – Eine Kommunikationssoziologische Analyse. Wiesbaden: VS Verlag. Eilders, C. (1997): Nachrichtenfaktoren und Rezeption. Eine empirische Analyse zur Auswahl und Verarbeitung politischer Informationen. Opladen: Westdeutscher Verlag. Fretwurst, B. (2008): Nachrichten im Interesse der Zuschauer. Eine konzeptionelle und empirische Neubestimmung der Nachrichtenwerttheorie. Konstanz: UVK. Friederichs, J. & Lütke, H. (1973): Teilnehmende Beobachtung. Einführung in die sozialwissenschaftliche Feldforschung. Weinheim [u.a.]: Beltz Verlag. Früh, W. (1991): Medienwirkungen: Das dynamisch-transaktionale Modell (1. Auflage). Opladen: Westdeutscher Verlag. Galtung, J. & Ruge, M. H. (1965): The Structure of Foreign News: The Presentation of Congo, Cuba and Cyprus Crises in Four Norwegian Newspapers. In: Journal of Peace Research, 2(1), 64-91. Grittmann, E. (2007): Das politische Bild. Fotojournalismus und Pressefotografie in Theorie und Empirie. Köln: Herbert von Halem. Hopf, C. (2005): Qualitative Interviews – Ein Überblick. In: U. Flick, E. von Kardorff & I. Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch (4. Auflage). Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 349-360. Lamnek, S. (2005): Qualitative Sozialforschung. Weinheim [u.a.]: Beltz PVU. Lippmann, W. (1964): Die öffentliche Meinung. München: Rütten+Loening. Mayring, P. (2003): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken (8. Auflage). Weinheim: Beltz. Müller, M. G. (2003): Grundlagen der visuellen Kommunikation. Theorieansätze und Analysemethoden. Konstanz: UVK. Östgaard, E. (1965): Factors influencing the flow of news. In: Journal of Peace Research, 2(1), 39-63 Quandt, T. (2005): Journalisten im Netz. Eine Untersuchung journalistischen Handelns in OnlineRedaktionen. Wiesbaden: VS Verlag. Rössler, P., Marquart, F. & Haschke, J.F. (2010): Zur Selektion und Wirkung von Pressefotos. Eine rezipientenorientierte Untersuchung auf Basis von Fotonachrichtenfaktoren. In: C. Schemer, W.
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Das Leitfadeninterview. Königsweg der qualitativen Journalismusforschung? Claudia Riesmeyer
1
Einleitung
Das Interview ist eine „alte und zugleich moderne Methode, die sich heute großer Beliebtheit und Verbreitung erfreut“, schreibt Lamnek (2005, 329) zu Beginn seines Kapitels über das qualitative Interview in seinem Lehrbuch „Qualitative Sozialforschung“. Er ist sich sicher, dass es auf dem besten Weg sei, ebenso wie im „quantitativen Paradigma“ zum „Königsweg“ der qualitativen Sozialforschung zu werden (Lamnek 2005, 329). Die teilnehmende Beobachtung als „qualitative Methode par excellence“ verliere hingegen an Bedeutung, da es immer schwieriger werde, für eine Beobachtung Zugang zum Untersuchungsfeld zu bekommen und es leichter falle, „einzelne Personen zu einem Interview zu bewegen“ (Lamnek 2005, 329). Weitere Gründe für den Bedeutungszuwachs des qualitativen Interviews sieht Lamnek in den Interpretationsmöglichkeiten und der Datenerhebung, die „unverzerrt authentisch“ ist, „intersubjektiv nachvollzogen und beliebig reproduziert werden“ kann (Lamnek 2005, 329). Der vorliegende Aufsatz thematisiert nicht wie Lamnek allgemein das qualitative Interview, sondern fokussiert auf zwei Schwerpunkte: Zum einen konzentriert er sich auf eine qualitative Interviewform – das Leitfadeninterview „als gängigste Form“ der Sozialforschung (Aufenanger 2006, 100). Zum anderen rückt er die Journalismusforschung als Anwendungsbereich von Leitfadeninterviews in den Mittelpunkt. In der Journalismusforschung sind neben repräsentativen standardisierten Befragungen (zum Beispiel Weischenberg, Malik & Scholl 2006) Leitfadeninterviews als Erhebungsmethode etabliert. Die Spannbreite, wann Leitfadeninterviews in der Journalismusforschung zum Einsatz kommen, reicht von der Ergänzung von Daten, die durch die Anwendungen anderer (qualitativer) Verfahren gewonnen wurden (beispielsweise durch teilnehmende Beobachtungen), bis hin zur Nutzung als alleinige Erhebungsmethode. Welche Einsatzvariante wann gewählt wird, hängt vom Forschungsinteresse und theoretischen Zugang ab. Bisherige Studien können auf einen sehr umfangreichen Bestand an qualitativer Methodenliteratur zurückgreifen. Es gibt Lehrbücher, die einen Überblick liefern wollen (wie Lamnek 2005; Kvale & Brinkmann 2009), und Aufsatzsammlungen (wie Flick, von Kardorff & Steinke 2004), die Beiträge zu Forschungsstilen, Methodologie und Forschungspraxis zusammenfügen. Warum also ein weiterer Text? Bislang finden sich in diesem Literaturbestand kaum Texte, die die Methoden der Journalismusforschung thematisieren. Wenn sie aufgegriffen werden, dann wird das Leitfadeninterview oft ausgeblendet (zum Beispiel bei Löffelholz & Weaver 2008). Auch Literatur, die Hinweise zur Methode mit konkreten Forschungsbeispielen verknüpft, ist in der Journalismusforschung selten. Diese Lücke schließt der vorliegende Aufsatz. Er verbindet Erklärungen zur Methode mit einem
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _13, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Claudia Riesmeyer
forschungspraktischen Beispiel. Schritt für Schritt wird der Methodeneinsatz im Forschungsprozess beschrieben und anhand des Fallbeispiels verdeutlicht. Ziel des Beitrages ist es, die Vorzüge und Grenzen des Leitfadeninterviews herauszuarbeiten, um die im Titel gestellte Frage nach dem Königsweg der qualitativen Journalismusforschung beantworten zu können. 2
Methodische Grundzüge und Merkmale des Leitfadeninterviews
Die Entscheidung für oder gegen Leitfadeninterviews hängt eng mit dem theoretischen Fundament und dem Erkenntnisinteresse der Untersuchung zusammen. Geht es darum, repräsentative Daten zu sammeln, um Aussagen über Größenordnungen und die statistische Verteilung bestimmter Merkmale treffen zu können, helfen Leitfadeninterviews nicht weiter. Sollen hingegen individuelle Handlungsmuster erkannt, die Sichtweise Einzelner untersucht und seine Selbstwahrnehmung innerhalb seiner Lebenswelt gekennzeichnet werden, sind Leitfadeninterviews eine Methode zur Datenerhebung. Sie sind an den „Sinndeutungen“ und dem Alltagswissen der Befragten interessiert (Diekmann 2002, 444). Ziel ist es, die Perspektive des Interviewten nachzuvollziehen, um so komplexe Zusammenhänge erkennen zu können (Flick, von Kardorff & Steinke 2004, 23). Dem Interviewten kommt im Gespräch die Aufgabe zu, „aktiv Ereignisse, Erfahrungen, Handlungen und Wissen zu rekonstruieren“ (Honer 2003, 95). Mit Leitfadeninterviews können folglich Fragestellungen beantwortet werden, die sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die Gegenwart beziehen. Das Leitfadeninterview ist von der Erwartung bestimmt, dass „in der relativ offenen Gestaltung der Interviewsituation die Sichtweisen des befragten Subjekts eher zur Geltung kommen als in standardisierten Interviews oder Fragebögen“ (Flick 2002, 117). Relativ offen meint, dass Leitfadeninterviews ein strukturierendes Element – ein Interviewleitfaden – zugrunde liegt. Der Leitfaden fasst alle für das Interview relevanten Themenblöcke und Anhaltspunkte sowie zum Teil vorformulierte Fragen zusammen. Diese Blöcke und Fragen können flexibel aneinandergereiht und so an die Gesprächssituation angepasst werden. In dieser Flexibilität des Leitfadens sehen Wimmer und Dominick (2006, 116) den Hauptunterschied zu einem quantitativen Fragebogen: „Qualitative research uses a flexible questioning approach. Although a basic set of questions is designed to start the project, the researcher can change questions or ask follow-up questions at any time. Quantitative research uses a static or standardized set of questions. All respondents are asked the same questions. Although follow-up questions (and skips) can be designed into a questionnaire, they must be included in the questionnaire or measurement instrument before the research projects begins.“
Bei aller möglichen Flexibilität stellt der Leitfaden sicher, dass „eine Vergleichbarkeit mit anderen Interviews, denen der gleiche Leitfaden zugrunde liegt, möglich ist“ (Marotzki 2003, 114). Während des Gesprächs dient der Interviewleitfaden als Gedächtnisstütze und Absicherung, dass einerseits keine relevanten Themenkomplexe vergessen werden und andererseits das Gespräch sich nicht in Themen verliert, die nicht zum Untersuchungsgegenstand gehören. Offenheit meint auch, dass der Leitfaden keine standardisierten Antwortvorgaben enthält, sondern der Befragte die Möglichkeit hat, für ihn wichtige Themen
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von sich aus anzusprechen und zu schildern. Neben der Offenheit gehört die „Forschung als Kommunikation“ zu den Merkmalen des Leitfadeninterviews (Keunecke 2005, 255). Hinter dieser abstrakten Formulierung Keuneckes verbirgt sich der Rat, bei Leitfadeninterviews auf eine möglichst natürliche Gesprächssituation zu achten, um so leichter mit dem Interviewpartner ins Gespräch zu kommen und Vertrauen aufzubauen. Findet das Leitfadeninterview in der gewohnten Umgebung des Befragten statt, lässt sich diese Natürlichkeit des Gesprächs leichter erreichen (Girtler 1992, 151). Doch wo finden sich Leitfadeninterviews in der Journalismusforschung? Drei Möglichkeiten bieten sich an, um diese Befragungsform einzusetzen. Alle drei haben sich in der Forschungspraxis bereits bewährt. Leitfadeninterviews werden angewendet a.
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c.
als einzige Methode der Datenerhebung: Dieses Design nutzt beispielsweise die Interviewstudie „Diktatur des Publikums“ von Meyen und Riesmeyer (2009), die Leitfadeninterviews mit über 500 Journalisten auswerten, um Einblicke in den Arbeitsalltag zu erhalten und Aussagen zum journalistischen Selbstverständnis treffen zu können; als Ergänzung quantitativ gewonnener Daten: Die Erhebung von Meyen und Springer „Freie Journalisten in Deutschland“ verbindet eine quantitative Befragung mit Leitfadeninterviews, um so nicht nur die Verteilung von Mustern in der Grundgesamtheit, sondern auch Einstellungen und Werturteile erheben zu können (2009, 36). Durch die Kombination beider Methoden soll ein umfassenderes Bild vom Untersuchungsgegenstand gezeichnet werden. Auch die Studie „Hauptsache Medien“ ist so angelegt, dass die aus „quantitativen Untersuchungen gewonnenen Erkenntnisse über Medienakteure um qualitative Analysen“ ergänzt werden (Blöbaum 2008, 8). In dieser Erhebung werden Leitfadeninterviews mit Journalisten, Werbern und PR-Mitarbeitern über ihre Medienbiografie mit den Resultaten früherer quantitativer Untersuchungen verglichen (zum Beispiel Weischenberg, Malik & Scholl 2006); als Ergänzung qualitativ gewonnener Daten: Ein Beispiel für dieses Vorgehen ist die Dissertation „Journalisten im Netz“ von Quandt (2005). Er setzt Leitfadeninterviews ein, um „Informationen zu erheben, die über das hinausgehen, was mit den Beobachtungen zu erfassen“ ist, die die hauptsächlich angewandte Methode in seiner Untersuchung bildet (Quandt 2005, 192).
Wenn Quandt (2005) schreibt, dass nur durch die Methodenkombination ein Gesamtbild des Handelns in den Redaktionen sichtbar wird und er durch die Interviews Zugang zu Informationen bekommt, die er nur mit einer Beobachtung nicht erhalten hätte, dann betont er den Vorteil, den Leitfadeninterviews für die Journalismusforschung haben. Sie ermöglichen das „Beobachten“ des journalistischen Feldes durch die Augen des Befragten (Hanitzsch 2007, 257), das ausführliche Erfassen seiner persönlichen Sichtweise und so das Erkennen und Interpretieren von Strukturen und Handlungsmustern im Journalismus. Fallbeispiel: Im Gespräch mit Auslandskorrespondenten Das „Beobachten“ des journalistischen Feldes durch die Augen der Journalisten ist auch Ziel der Untersuchung, die hier als Forschungsbeispiel dient. Sie setzt sich mit Journalisten auseinander, die aus dem Ausland für deutsche Massenmedien berichten. Auch wenn zahlreiche, repräsentative Befunde zu Journalisten in Deutschland vorliegen, gehören die Aus-
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landskorrespondenten nicht zu der Berufsgruppe, die häufig im Zentrum des Forschungsinteresses steht. Die Literatur zum Thema stammt größtenteils aus den 1970er und 1980er Jahren. Sie besteht aus Berufsbiographien und Standortbeschreibungen durch die Korrespondenten (wie Vahlefeld 1976, Koch 1981, Fischer 1986). Der Forschungsstand spiegelt oft nicht die aktuelle Arbeitssituation von Auslandskorrespondenten wider. Einzig die Untersuchung von Junghanns und Hanitzsch (2006) sowie das „Handbuch Auslandskorrespondenten“ sind eine Ausnahme (Hahn, Lönnendonker & Schröder 2008). Die letztgenannte Publikation fasst die Ergebnisse einer Interviewstudie zusammen und thematisiert die Arbeitsbedingungen und -routinen sowie die Professionalisierung der Korrespondenten vor Ort, ohne allerdings auf die zentralen Aspekte Herkunft, Ausbildung und Sozialisation der Korrespondenten einzugehen, die die journalistische Arbeitsweise beeinflussen (vgl. die Modelle von Donsbach 1987, Weischenberg 1992 und Meyen & Riesmeyer 2009). Neben dem Forschungsstand sind drei Beobachtungen Hintergrund für die Untersuchung, die hier nur kurz angerissen werden: x x
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Erstens führt die Medienkrise der vergangenen Jahre zu Veränderungen im journalistischen Feld. Diese haben Umstrukturierungen und Entlassungen in den Redaktionen zur Folge und wirken sich damit unmittelbar auf den Arbeitsalltag der Journalisten aus. Zweitens sind Qualitätsmedien um Exklusivinformationen bemüht, die zur Abgrenzung von der journalistischen Konkurrenz dienen. Ein breites Korrespondentennetz, das exklusiv berichtet, ist zum Beispiel für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk ein Aushängeschild. Drittens verändert das Internet den redaktionellen Arbeitsalltag. Sowohl Journalisten vor Ort als auch Rezipienten haben einen viel schnelleren und einfacheren Zugang zu Informationen.
Diese Entwicklungen stellen einerseits die Frage, wer als Korrespondent arbeitet. Welche Fähigkeiten muss derjenige mitbringen, welche Ausbildungsstufen durchlaufen haben, um als Aushängeschild des deutschen Heimatmediums im Ausland arbeiten zu dürfen? Anderseits ist es interessant zu untersuchen, unter welchen konkreten Bedingungen Auslandskorrespondenten aktuell arbeiten und welche Rolle das Internet als Informationsquelle einnimmt. Theoretischer Rahmen für die Analyse ist die Feldtheorie Pierre Bourdieus (1983; 1998), die den einzelnen Akteur mit seiner Lebensgeschichte und seinem Handeln in den Vordergrund stellt. Bourdieus „Denkwerkzeuge“ sind das Kapital als akkumulierte Arbeit, das sich nicht nur in materiellen Kapitalformen, sondern auch in Bildungstiteln, Netzwerken und Reputation ausdrückt, und der Habitus als Praxissinn und Gespür für die Spielregeln des Feldes, in dem man sich bewegt (Meyen & Riesmeyer 2009, 29 ff). Dieses Gespür speist sich aus der Sozialisation und den Erfahrungen, die der Journalist im Laufe seines Lebens macht. Sowohl Kapital als auch Habitus bestimmen die Stellung im sozialen Raum und die Art und Weise des individuellen Handelns. Beide dienen für das Forschungsbeispiel als Konzepte bei der Herleitung der Untersuchungskategorien und begründen die Methodenwahl. Folgt man Bourdieus Feldtheorie, liegt die Entscheidung für Leitfadeninterviews als (alleinige) Methode der Datengewinnung nahe. Seine Konzepte Kapital und Habitus sind zu komplex, als dass sie in einem standardisierten Fragebogen erhoben werden könnten.
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Vielmehr geht es um das persönliche Erleben der Auslandskorrespondenten, ihre Meinung und ihre Biografie (Kindheit, Ausbildungszeit, Berufsstationen), die ihr aktuelles Handeln bestimmen. Zentral für die Frage nach den Arbeitsbedingungen sind aber auch die Aussagen über das persönliche Umfeld, vor allem im aktuellen Berufsleben, und den Arbeitsalltag. Auch Einschätzungen und Meinungen zu diesen zwei Themenkomplexen können mittels Leitfadeninterview besser erhoben werden, da die Beziehungen zwischen Akteuren oft unsichtbar ablaufen und nicht vor der Erhebung bestimmt werden können, sondern ein Ergebnis des Forschungsprozesses sind. 3
Leitfadenkonstruktion und Frageformen
Von der Vorbereitung auf die Untersuchung hängt laut Kvale und Brinkmann (2009, 99) die Qualität der erhobenen Daten ab. Dabei setzt die Konstruktion des Interviewleitfadens zum einen die Vorstellung vom Untersuchungsobjekt und die Kenntnis des theoretischen Zugangs voraus. Wenn man nicht weiß, ob man Journalisten zu ihren Kriterien der Nachrichtenauswahl oder zu ihrem beruflichen Selbstverständnis befragen will und ob die theoretische Grundlage die Systemtheorie Niklas Luhmanns oder die Feldtheorie Pierre Bourdieus ist, kann man keinen für das Erkenntnisinteresse passenden Leitfaden verfassen. Diese Fragen müssen vor der Leitfadenkonstruktion geklärt sein. Zum anderen sollte im Vorfeld überlegt werden, welcher Zeitrahmen für das Gespräch zur Verfügung steht und welche Motivation den Befragten zur Teilnahme bewegt. Beide Überlegungen bestimmen die Frageform und die Länge des Leitfadens. Keunecke (2005, 262) rät zu maximal einer DIN A4-Seite Umfang, da der offene Charakter des Gesprächs dazu führe, dass „weitaus mehr zur Sprache kommt als geplant und Ermüdungserscheinungen sowohl beim Interviewer als auch beim Befragten“ vermieden werden sollten. Parallel zu diesen Überlegungen findet die Operationalisierung der Forschungsfrage statt. Diese konkrete Frage sollte nicht an den Befragten weitergegeben werden, um sein Antwortverhalten nicht zu beeinflussen. Sie wird entlang des theoretischen Zugangs in Themenblöcke und Leitfragen übersetzt. Diese werden wiederum in Interviewfragen transferiert. Dabei ist zwischen Schlüssel- und Eventualfragen zu unterscheiden. Schlüsselfragen sollten in jedem Fall angesprochen werden, um die Vergleichbarkeit der Interviews untereinander zu gewährleisten, Eventualfragen können als Nachfragen in das Interview einfließen. Neben diesen Frageformen unterscheiden Baxter und Babbie (2004, 332-336) beschreibende, strukturierende und kontrastierende Fragen. Während erstere darauf zielen, den Befragten ein Phänomen mit seinen eigenen Worten beschreiben zu lassen, geht es bei strukturierenden Fragen um den Wissenserwerb: Der Interviewpartner wird über die Frage angeregt, sein Wissen zu teilen. Kontrastierende Fragen sollen helfen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Phänomenen herauszufiltern. In der deutschsprachigen Methodenliteratur findet sich die Trennung zwischen Meinungs- und Faktenfragen sowie hypothetischen Fragen. Neben diesen Fragetypen können Erzählanregungen gegeben werden – beispielsweise über ein Zitat oder aber einen Artikel des befragten Journalisten. Diese Anregung hat das Ziel, den Befragten ein Stück weit zu provozieren und zu einer Antwort zu bewegen. Auf gleiches zielt die Eisbrecherfrage, die am Beginn des Interviews gestellt wird, in das Gespräch einführt und so formuliert werden
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sollte, dass der Befragte Vertrauen fasst und zu reden beginnt. Wann jedoch welche Frageform eingesetzt wird, hängt vom Erkenntnisinteresse ab. Welche Frageform auch gewählt wird: Alle Fragen sollten immer offen, neutral, einfach und klar formuliert werden. Offene Fragen geben Raum für die Antworten des Befragten (Marotzki 2003, 114). Geschlossene Fragen, die auf eine ja/nein-Antwort zielen, stellen das Gegenteil zu offenen Fragen dar und sind nach Auffassung Keuneckes (2005, 263) „die größte Sünde“. Offene Fragen hingegen nehmen möglichst wenig Einfluss auf das Antwortverhalten. In keinem Fall sollten Suggestivfragen gestellt werden. Vielmehr sollte die Frageformulierung neutral geschehen, ohne eine mögliche Deutung vorzugeben. Die letzten beiden Regeln fordern eine einfache und klare Frageformulierung. Dahinter verbirgt sich der Anspruch, nicht mehr als einen Gegenstand pro Frage zu thematisieren (einfach) und die Frage möglichst kurz zu formulieren (klar). Jede Frage sollte den kulturellen Kontext des Befragten berücksichtigen und entsprechend formuliert werden. Je mehr sich der Interviewer auf die Situation des Befragten einlässt und seine Frageformulierung an sein Gegenüber anpasst, desto höher wird die Qualität der Antworten sein. Fallbeispiel: Leitfragen Dass dieser Rat praktische Relevanz hat, wird am hier vorgestellten Forschungsbeispiel deutlich. Ein Auslandskorrespondent arbeitet oft als einziger Journalist der Heimatredaktion vor Ort unter Rahmenbedingungen und innerhalb von Grenzen, die nicht mit denen in der Bundesrepublik vergleichbar sind. Beispielsweise können Korrespondenten auf Sprachbarrieren treffen und dadurch nur schwer Zugang zu Informationsquellen und -kontakten finden. Diese beiden Grenzen können die Ausübung des Berufs im Ausland erschweren. Nur wenn der Interviewleitfaden auf diese Rahmenbedingungen achtet, wird das Interview die Komplexität der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsalltags widerspiegeln können. Der Leitfaden des Forschungsbeispiels berücksichtigt diese Anforderungen und gibt vor, welche Themen im Interview angesprochen werden sollen. Es liegt in der Hand des Befragten, welche Informationen er preisgibt, welche er verschweigen will und wie ausführlich er antwortet. Die konkreten Themenkomplexe des Leitfadens ergeben sich aus dem Erkenntnisinteresse (wer arbeitet wie als Auslandskorrespondent) und dem theoretischen Fundament der Untersuchung (Feldtheorie Pierre Bourdieus). Alle Korrespondenten werden nach ihrem Lebenslauf und Karrierestationen, den Arbeitsbedingungen und ihrem Arbeitsziel gefragt: a.
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Lebenslauf und Karriere: Wie wird man Auslandskorrespondent für [Medium]? Was waren ihre ersten Schritte im Journalismus? Wann ist ihr Interesse für das Ausland entstanden? Was würden sie jemandem raten, der heute in den Journalismus will? Was muss man können, wenn man für [Medium] ins Ausland gehen will? Wenn sie heute entscheiden könnten, wo sie arbeiten möchten, würden sie noch einmal diesen Weg gehen? Was ist ihnen wichtig im Leben? Hat man als Auslandskorrespondent Zeit für ein Hobby? Können sie zuhause über ihre Arbeit reden? Arbeitsbedingungen und Arbeitsalltag: Können sie mir ihren typischen Arbeitstag als Auslandskorrespondent schildern? Für wen arbeiten sie genau? Welche Aufgaben erfüllen sie? Im Vergleich zur Heimatredaktion haben sie durch die Zeitverschiebung
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unterschiedliche Arbeitszeiten. Stellt die Zeitverschiebung eine Belastung/einen Vorteil [je nach Berichtserstattungsland] für sie dar? Wie würden sie den Kontakt zur Heimatredaktion beschreiben? Wissenschaftliche Studien haben gezeigt, dass Journalisten eifrige Mediennutzer sind. Gibt es Medienangebote, ohne die sie sich ihre Arbeit nicht mehr vorstellen können? Wie recherchieren sie als Auslandskorrespondent ihre Informationen? Welche Quellen nutzen sie? Welche Rolle spielt das Internet in ihrer alltäglichen redaktionellen Arbeit? In den vergangenen Monaten gab es immer wieder Meldungen, dass deutsche Medien ihre Auslandskorrespondenten abziehen, um Kosten zu sparen, und durch sogenannte „Fallschirmkorrespondenten“ ersetzen. Worin besteht der Mehrwert ihrer Arbeit gegenüber diesen Korrespondenten? Arbeitsziel: Man kennt Journalisten, die ein politisches Ziel verfolgen. Andere sagen, sie arbeiten nur wegen des Geldes, oder verweisen auf die Zufälle des Lebens, die den Beruf bestimmen. Was treibt sie ins Büro? Welche Möglichkeiten bietet ihnen ihre Tätigkeit als Auslandskorrespondent, die sie in Deutschland als Journalist nicht hätten? Wie viel Macht haben sie als Korrespondent? Was glauben sie: Wer liest ihre Beiträge? Für wen schreiben sie? Was ist für sie guter Journalismus?
Die hier genannten Fragen sind Beispiele aus dem Musterleitfaden. Sie sind keine starren Vorgaben, sondern können in der jeweiligen Interviewsituation abgewandelt werden. Je nachdem, welcher Interviewpartner zur Verfügung steht, wie viel Vorwissen zu seiner Personen vorliegt und in welchem Land er für welches Medium arbeitet, werden die Fragen auf den Befragten zugespitzt. Sie sind aber stets so formuliert, dass sie Raum für ausführliche Schilderungen und eine Schwerpunktsetzung des Korrespondenten sowie für Nachfragen durch den Interviewer lassen. 4
Auswahlverfahren
Repräsentativität ist wie eingangs beschrieben nicht das Ziel von Leitfadeninterviews. Sie können aufgrund ihrer Anlage keine Aussagen über die prozentuale Verteilung von Mustern in der Grundgesamtheit treffen. Leitfadeninterviews setzen die Bereitschaft voraus, einem Fremden sein Leben zu öffnen. Der Interviewte gewährt dem Interviewer Zutritt zu seinem privaten Bereich (zum Beispiel wenn das Interview im Büro oder zuhause stattfindet). Zudem muss der Befragte fähig und bereit sein, etwas aus seinem Leben zu erzählen. Vor allem stark beschäftigte und am Gegenstand nur wenig interessierte Personen sind normalerweise nicht geneigt, solche Belastungen auf sich zu nehmen. Leitfadeninterviews können deshalb zwar typische Varianten beschreiben, aber niemals repräsentativ sein. Um dennoch verallgemeinerbare Aussagen treffen zu können, werden die Befragten oft nach dem Verfahren der theoretischen Sättigung ausgewählt (Fuchs-Heinritz 2000). Dieses Verfahren geht davon aus, dass nur „wenige strukturelle Muster zur Beschreibung eines Handlungsbereiches ausreichen und dass es eine endliche Vielzahl von Variationen gibt“ (Nawratil 2008, 352). Das Ziel dieses Auswahlverfahrens ist es, „not to generalize but to generate variance“ (Möhring & Schlütz 2008, 2516). Als Interviewpartner kommen nur Personen in Frage, die aufgrund ihrer „Merkmale und lebensweltlichen Hintergründe einen Beitrag zur Lösung des Forschungsproblems erwarten lassen“ (Keunecke 2005, 263). Diese Personen sind typische Fälle, die nur gefun-
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den werden können, wenn eine Vorstellung davon existiert, aus welchen Merkmalen und Hintergründen das Typische besteht. Wie bei der Konstruktion des Leitfadens sind ein theoriegeleitetes Vorgehen und ein klar formuliertes Erkenntnisinteresse zwingende Voraussetzungen für die Definition der Auswahlkriterien. Diese Kriterien sind allerdings nicht unabänderlich, sondern können im Laufe des Erhebungsprozesses angepasst und ergänzt werden (Meyen & Pfaff-Rüdiger 2009, 27). Für die Auswahl der Befragten bedeutet dies konkret, dass sie möglichst unterschiedliche Varianten des gemeinsamen Musters und „zu der bereits vorliegenden Information widersprechend neue Einzelfälle“ darstellen (FuchsHeinritz 2000, 229). Liefern zusätzliche Interviews keine neuen Informationen mehr, kann die Auswahl typischer Fälle abgeschlossen werden. Fallbeispiel: Auswahlkriterien Was im vorhergehenden Abschnitt sehr theoretisch klingt, lässt sich anhand des Forschungsbeispiels leicht erklären. Ziel des Fallbeispiels ist es, die Auslandskorrespondenten zur ihrer Biografie, ihrem Berufszugang und Karrierestufen sowie ihren Arbeitsbedingungen zu befragen. Nach dem Prinzip der theoretischen Sättigung geht es darum, typische Fälle auszuwählen, die Variationen eines gemeinsamen Merkmals sind. Gemeinsamer Ausgangspunkt für die Auswahl der Journalisten ist ihre aktuelle hauptberufliche Tätigkeit als Auslandskorrespondenten. Die Kriterien für die Auswahl der Korrespondenten ergeben sich wie bei der Konstruktion des Leitfadens aus dem Erkenntnisinteresse und dem theoretischen Zugang. Berücksichtigt werden in der Untersuchung nur Länder, die eine zentrale Bedeutung für die Bundesrepublik haben: entweder als Wirtschaftspartner, als Schauplatz, an dem politische oder wirtschaftliche Rahmenbedingungen ausgehandelt werden, oder über eine historische Verbindung. Dass deutsche Medien in Länder, zu denen eine unmittelbare Verbindung besteht, Korrespondenten entsenden, scheint wahrscheinlich. Um die Vielfalt möglicher Standorte abzubilden, zugleich aber mehrere typische Fälle zu finden, wurde darauf geachtet, eine möglichst große Bandbreite an verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu erheben. Neben dem Berichterstattungsland ermöglicht eine Auswahl nach Geschlecht, Alter, Anstellungsverhältnis (feste oder fest-freie Beschäftigung) sowie Medium und Organisationsform Varianz, da diese Kriterien in unterschiedlichen Kombinationen vorkommen können und sich so eine Verschiedenheit der typischen Fälle erwarten lässt. Als Auswahlkriterium wären auch die Dauer des Auslandsaufenthaltes und die Funktion des Korrespondenten in der Redaktion in Frage gekommen. Da jedoch eine möglichst große Spannbreite möglicher Arbeitskontexte und Arbeitsabläufe untersucht werden sollte, wurden diese Kriterien bei der Rekrutierung vernachlässigt. Das Forschungsbeispiel zieht anhand der genannten Kriterien einen bewusst gewählten Ausschnitt. Ziel war es, möglichst vielen Varianten des gemeinsamen Merkmals Auslandskorrespondenten zu finden. Ein Blick auf die Zusammensetzung der Stichprobe verdeutlicht diese Varianz. Insgesamt haben bislang 91 Korrespondenten an der Untersuchung teilgenommen.1
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Dank gebührt den Studierenden des Instituts für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung, LMU München, deren Arbeiten über einzelne Berichterstattungsländer die Grundlage für das Fallbeispiel liefern.
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Berichterstattungsland bzw. -ort: USA, Japan, China, Singapur, Südamerika, Afrika, Israel, Brüssel, Paris und Österreich Geschlecht: 23 Frauen und 68 Männer Alter: 15 Befragte jünger als 39 Jahre, 34 zwischen 40 und 49 Jahren, 34 zwischen 50 und 59 Jahren und 8 sind 60 Jahre und älter Anstellungsverhältnis: 12 (stellvertretende) Studioleiter, 58 festangestellte Redakteure und 21 fest-freie Redakteure Medium und Organisationsform: 25 Korrespondenten arbeiten für einen öffentlichrechtlichen und 5 für einen privaten Fernsehsender, 7 für einen öffentlich-rechtlichen Radiosender, 21 für eine Tageszeitung, 16 für eine Wochenzeitung oder ein Nachrichtenmagazin, 11 für eine Nachrichtenagentur, 2 für Onlinemedien und 4 haben mehrere Auftraggeber.
Trotz der beschriebenen Varianz ist es fraglich, ob sich die theoretische Sättigung bereits eingestellt hat. Mit Sicherheit könnte man einen Interviewpartner finden, der sich von den bislang 91 Befragten unterscheiden würde. Auch wenn dieser Fall nicht ausgeschlossen werden kann, so zeigen sich dennoch bereits jetzt zwischen den Auslandskorrespondenten gemeinsame Muster, die zum Beispiel ihre Biografie, die zahlreichen Berufsstationen auf dem Weg ins Ausland, die Motivation für den Beruf, den Umgang mit Informationsquellen und die Zusammenarbeit mit der Heimatredaktion betreffen, so dass Verallgemeinerungen und eine Beantwortung der Fragestellung möglich sind. 5
Datenaufbereitung und Auswertung
Ist die Erhebung der Leitfadeninterviews abgeschlossen, beginnt die Datenaufbereitung und Auswertung. Ziel der Auswertung ist es, aus dem gewonnenen Interviewmaterial „typische Handlungs- und Deutungsmuster“ zu rekonstruieren (Bergmann 2006, 30). Vor der Auswertung des Materials muss jedoch die Transkription der Leitfadeninterviews erfolgen. In der Regel werden die Gespräche digital aufgezeichnet. Für ihre Transkription finden sich in der Methodenliteratur ganz unterschiedliche Anweisungen (zum Beispiel bei Meuser & Nagel 2002, 83; Keunecke 2005, 266; Lamnek 2005, 403). Sie unterscheiden sich nicht nur in den Transkriptionsregeln (wann welche Zeichen genutzt werden), sondern auch den Hinweisen, wie die Transkription vorgenommen werden sollte (wörtliche oder um Pausen und sprachliche Elemente bereinigte Transkription). Welcher Weg bei der Transkription eingeschlagen wird, hängt wiederum vom Erkenntnisinteresse ab. Untersucht man beispielsweise den Habitus eines Befragten, sind alle Details, auch die Körpersprache oder Reaktionen auf Fragen, relevant. Dient das Leitfadeninterview vor allem der Vervollständigung von bereits erhobenen Daten und damit der Ermittlung von Sachinformationen, können diese Details bei der Transkription vernachlässigt werden. Laut Flick (2002, 253) sollte auf eine genaue Transkription zugunsten der Interpretation verzichtet werden, da sie einerseits Zeit binde, die nicht für die Deutung der gewonnenen Ergebnisse zur Verfügung stehe, andererseits werden Erkenntnisse durch differenzierte Transkripte und damit oft unübersichtliche Verschriftlichungen „eher verstellt als zugänglich“. Wie die Analyse konkret erfolgt, ist von dem Forschungsziel und der Fragestellung abhängig (Keunecke 2005, 266). Folglich muss das gewählte Vorgehen auf das Projekt
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zugeschnitten werden. Lamnek (2005) zeigt einen möglichen Auswertungsweg auf. Er unterscheidet vier Phasen und beginnt mit der Transkription (1. Schritt). Anschließend schlägt er eine Einzelanalyse jedes Transkripts vor (2. Schritt), „die zur Konzentration des Materials führen soll“ (ebd., 403). Wichtige Interviewpassagen im Hinblick auf das Forschungsziel werden hervorgehoben, unwichtige gestrichen, um das Interview leichter überblicken und interpretieren zu können. Sind die Einzelanalysen abgeschlossen, erfolgt in Schritt 3 eine generalisierende Analyse. Dabei werden Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Interviews gesucht. Diese führen zu „unterschiedliche[n] Typen von Befragten, Aussagen, Informationen“, die bezogen auf „die konkreten Einzelfälle dargestellt und interpretiert“ werden können (ebd.). Um Fehlinterpretationen auszuschließen, empfiehlt Lamnek eine Kontrollphase als 4. Schritt, bei der gefundene Typen mit den ursprünglichen Interviews abgeglichen werden. Auch wenn die Kontrollphase Fehldeutungen vermeiden soll, ist die Auswertung des Datenmaterials „durch die persönliche Deutungskompetenz des Forschers und durch seine Eindrücke von den jeweiligen Interviews beeinflusst“ (ebd., 406). Um Zweifel an den Resultaten zu vermeiden, schlägt Lamnek (2005, 407) vor, jeden Interpretationsschritt und das exakte Vorgehen offenzulegen. Pfaff-Rüdiger (2007) stellt auf die Kontextuierung des Interviews ab, die in allen Auswertungsphasen parallel läuft. Ihr Auswertungsweg führt von der Rückbesinnung auf theoretische Vorannahmen über das intensive Lesen und Verdichten des Materials hin zur Paraphrasierung und thematischen Strukturierung der mit eigenen Worten zusammengefassten Interviewaussagen. Vor allem letzteres ist Voraussetzung für die Typologisierung, das eines der zentralen Verfahren der qualitativen Forschung ist (Pfaff-Rüdiger 2007, 43). Eine Typologie zielt auf zweierlei: Einerseits will sie ein gemeinsames „Set an Handlungsmustern“ identifizieren (Lamnek 2005, 512), anderseits sollen durch den Vergleich der Typen Einflussfaktoren auf das Muster herausgearbeitet werden (Pfaff-Rüdiger 2007, 43). Über ein oder mehrere gemeinsame Merkmale, die relevant für die Fragestellung sind, die sich aus dem Forschungskontext ergeben und die eine Gruppe von Interviewten vom Rest der Stichprobe abheben, können Typen gebildet und den Mustern zugeordnet werden. Auch wenn ein Merkmal nicht ausgeprägt ist, kann es in die Typologie einfließen (ebd.). Fallbeispiel: Auswertungsstrategie Ziel des Forschungsbeispiels ist es nicht, eine Typologie der Auslandskorrespondenten zu liefern. Vielmehr ging es um die länderübergreifende Analyse der Arbeitsbedingungen und des Arbeitsalltags (Riesmeyer 2010). Gesucht wurde in allen Leitfadeninterviews nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Korrespondenten, die auf das (geänderte) Arbeitsumfeld zurückgeführt wurden. Die im Fallbeispiel gewählte Auswertungsstrategie orientiert sich an den von Lamnek vorgeschlagenen vier Schritten. Alle Interviews sind zunächst aufgezeichnet und anschließend in normales Schriftdeutsch übertragen worden. Besonderheiten, die während des Gesprächs aufgefallen sind, werden in einem Interviewprotokoll festgehalten. Diese Informationen helfen bei der Einordnung der Gesprächspassagen und deren Interpretation. Nach der Transkription folgt die Analyse jedes einzelnen Interviews anhand eines Kategoriensystems, das sich aus dem theoretische Zugangs des Fallbeispiels und seinem Erkenntnisinteresse ableitet und sowohl geschlossene (beispielsweise Dispositionen, Sozialisation, berufliche Laufbahn und Lebenssituation) als auch offene Kategorien (beispielsweise Arbeitsziel, Arbeitsalltag, Berufszufriedenheit, Umgang
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mit Informationsquellen und Wirkungsvorstellung) miteinander verbindet. Das Interviewtranskript wird für die Einzelfallanalyse mehrfach gelesen, wichtige Passagen im Hinblick auf diese Kategorien werden markiert und in einer verkürzten Form des Transkripts mit eigenen Worten zusammengefasst (beispielsweise in einer Tabelle, geordnet nach den Kategorien). Markante Interviewpassagen, die als Zitat dienen könnten, werden in diesem Schritt hervorgehoben. Im Anschluss an die Einzelfallanalyse folgt die generalisierende Analyse, deren Ziel es ist, auf Grundlage der einzelnen Interviews zwischen den Gesprächspartnern gemeinsame Muster und Strukturen sowie Erklärungen für die Gemeinsamkeiten oder aber Unterschiede zu finden, um die Forschungsfrage zu beantworten. Im Fallbeispiel stimmen die Auslandskorrespondenten vor allem in den Karrierestationen (das Handwerk von der Pike auf lernen), dem Weg ins Ausland (aktive Bewerbung um den Arbeitsplatz als Korrespondent), der Einschätzung des Arbeitsplatzes (Traumjob Auslandskorrespondent) und der Bewertung des Internets als Recherchequelle für sie und die Heimatredaktion überein. Unterschiede finden sich hinsichtlich der Berufszufriedenheit und der Beurteilung des Berichterstattungslandes, wobei die Bewertung deutlich von dem Land, in dem der Korrespondent arbeitet, bestimmt wird (große Zufriedenheit in den USA beispielsweise, Ablehnung unter anderem in China). Alle gefundenen Gemeinsamkeiten und Unterschiede helfen, ein differenziertes Bild vom Arbeitsalltag deutscher Auslandskorrespondenten zu liefern. In der Interpretation der Ergebnisse stellt sich jedoch verstärkt die Frage nach dem Nutzen von Auslandskorrespondenten. Warum leistet sich ein deutsches Medium in Zeiten knapper Kassen und kostengünstiger alternativer Informationsquellen (Internet, Nachrichtenagenturen) einen eigenen Korrespondenten? Diese Frage ist wiederum vor dem Hintergrund des theoretischen Zugangs des Fallbeispiels zu erklären: Einerseits können deutsche Medien gute Journalisten nur halten, wenn sie ihnen Aufstiegsmöglichkeiten im journalistischen Feld jenseits der deutschen Redaktionshierarchie bieten können. Anderseits wollen deutsche Redaktionen ihren Exklusivanspruch unter Beweis stellen und sich über eigene Korrespondenten von ihrer Konkurrenz abheben (Riesmeyer 2010, 432). 6
Anstelle eines Fazits: Vorzüge und Grenzen des Leitfadeninterviews in der Journalismusforschung
In der Einleitung wurde die Frage aufgeworfen, ob das Leitfadeninterview der Königsweg der qualitativen Journalismusforschung sein kann. Eine Antwort auf diese Frage ist nur möglich, wenn Vor- und Nachteile dieser Interviewmethode gegeneinander aufgewogen werden. Nachdem in den vorangegangenen Abschnitten das methodische Vorgehen erklärt und anhand eines Fallbeispiels forschungspraktisch geschildert wurde, ist deutlich geworden, worin die Stärke des Leitfadeninterviews liegt: Durch die offene Gestaltung der Gesprächssituation kann zwischen dem Interviewer und dem Befragten die vertraute Atmosphäre eines Alltagsgespräches entstehen, die dazu führt, dass Hemmschwellen und eventuell bestehende Ängste, sich dem unbekannten Forscher offen und ehrlich anzuvertrauen, abgebaut werden können und ein Dialog zwischen Interviewer und Befragtem entsteht (Scholl 2008). Das Leitfadeninterview „provides more accurate response on sensitive issues“, so dass auch „taboos“ angesprochen und geäußert werden können (Wimmer & Dominick 2006, 135). Sie sind quantitativen Befragungen dann überlegen, wenn die Tie-
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fenperspektive und die Selbstwahrnehmung des Befragten für die Beantwortung der Fragestellung relevant sind (und nicht die Repräsentativität der Stichprobe im Vordergrund steht), beispielsweise um Strukturen und Handlungsmuster aus Sicht der Interviewpartner untersuchen zu können. Leitfadeninterviews sind am „Alltagsgeschehen“ und „Alltagswissen“ des Interviewpartners interessiert (Flick, von Kardorff & Steinke 2004, 23). Neben diesen methodischen Grundzügen liegen die Vorteile des Leitfadeninterviews in seinen Merkmalen: Es ist durch den Interviewleitfaden klar strukturiert und durch die „Einfachheit der Erhebungssituation“ gekennzeichnet (Aufenanger 2006, 100). Der konsequente Einsatz des Leitfadens stellt zudem die Vergleichbarkeit der Daten sicher (Flick 2002, 144). Allen Vorzügen zum Trotz finden sich in der Methodenliteratur einige, zum Teil berechtigte, Bedenken gegenüber dem Leitfadeninterview. Diese betreffen sowohl die Merkmale der Methode als auch deren konkrete Durchführung. Zu jedem Forschungsschritt finden sich Einwände: Beispielsweise wird in der bewussten Auswahl der Stichprobe, der Frageformulierung oder aber in der Gültigkeit und Zuverlässigkeit der gewonnenen Daten sowie deren Auswertung und der Verallgemeinerbarkeit der Resultate ein Problem gesehen (Dieckmann 2000, 451; Aufenanger 2006, 110). Hopf (2004, 357) beginnt noch vor der Datenerhebung und kritisiert die oft mangelnde Vorbereitung der Interviewer auf das Gespräch. Zwar werde die „Fähigkeit, qualitative Interviews durchzuführen, im allgemeinen als ein selbstverständlicher und relativ unproblematischer Bestandteil der Qualifikation von Sozialwissenschaftlern angesehen“, doch diese Fähigkeit sei in der Praxis nicht zwangsläufig gegeben und müsse stattdessen trainiert werden. Hinter all diesen Einwänden gegen das Leitfadeninterview liegen die Gütekriterien quantitativer Sozialforschung, an denen oft auch qualitative Methoden gemessen werden. Diese Kriterien betreffen in erster Linie die Datenerhebung und -auswertung. Einige methodisch qualitativ ausgerichtete Untersuchungen legen diese beiden Schritte nicht offen und liefern damit Kritikern Angriffspunkte. So schreibt denn auch Loosen (2008, 596), dass nicht die „Subjektzentriertheit qualitativer Methoden“ problematisch sei, sondern „vielmehr die vielfach mangelnde Transparenz des qualitativ-methodischen Vorgehens, welche die intersubjektive Nachvollziehbarkeit erschwert, wenn nicht sogar unmöglich macht“. Um diesen Einwänden vorzubeugen, finden sich auch in der qualitativen Methodenliteratur Gütekriterien, die die Vergleichbarkeit und die Gültigkeit qualitativ gewonnener Daten sicher stellen sollen. Dazu gehören unter anderem die Nennung aller Untersuchungsschritte und deren Dokumentation sowie die offene Diskussion der Reichweite der Befunde (Mayring 2002, 144 ff.; Steinke 2004, 324 ff.). Trotz der genannten Einwände überwiegen die Vorteile und Chancen des Leitfadeninterviews gerade dann, wenn im Forschungsprozess diesen Bedenken vorgebeugt und so genau wie möglich Aufschluss über das genaue Vorgehen gegeben wird. Das Leitfadeninterview ist in der Journalismusforschung als Methode etabliert und dort vielfältig einsetzbar. Es ermöglicht das „Beobachten“ des Journalismus durch die Augen des Befragten (Hanitzsch 2007, 257) und im Vergleich zu anderen qualitativen Methoden einen leichteren Zugang zum Untersuchungsgegenstand (Lamnek 2005, 329). Misst man die Zuschreibung der Methode als Königsweg der Journalismusforschung an den Einsatzfeldern und der Häufigkeit der Anwendung, muss die im Titel gestellte Frage bejaht werden. Für die weitere Etablierung des Leitfadeninterviews als Königsweg der qualitativen Journalismusforschung müssen aber Gütekriterien konsequent beachtet werden, um Kritikern weniger Angriffsfläche zu bieten.
Das Leitfadeninterview
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Synchronisierung von Erhebungsinstrumenten zur Erfassung des dynamischen Nachrichtenprozesses am Beispiel der Krisenkommunikation Michaela Maier, Karin Stengel, Georg Ruhrmann, Joachim Marschall, Arne Freya Zillich und Roland Göbbel
1
Einleitung: Methodentriangulation
Unter Triangulation wird die Verwendung verschiedener Herangehensweisen verstanden, um ein und dasselbe Phänomen zu analysieren und zu beschreiben (vgl. Benoit & Holbert 2008; Flick 2008; Brewer & Hunter 2006; Paus-Haase 2000). Dabei ist es möglich, verschiedene Datenquellen zu nutzen (Datentriangulation), im Rahmen der Datenerhebung verschiedene Methoden zu verwenden (Methodentriangulation), die Ergebnisse im Lichte verschiedener theoretischer Ansätze zu betrachten (Theorientriangulation) oder die Beobachtungen mehrerer Wissenschaftler im Rahmen einer Studie systematisch zu vergleichen (Forschertriangulation). „Vereinfacht ausgedrückt bezeichnet der Begriff der Triangulation, dass ein Forschungsgegenstand von (mindestens) zwei Punkten aus betrachtet – oder konstruktivistisch formuliert: konstituiert – wird“ (Flick 2008, 11). Diese Kombinationen von Daten, Methoden, Theorien oder wissenschaftlichen Beobachtern sollen es ermöglichen, die Vielschichtigkeit von (sozialen) Phänomenen und die Multideterminiertheit von (menschlichem) Verhalten angemessen zu reflektieren (vgl. Brunswik 1956; Brunswik 1934). Das „klassische“ Ziel der Triangulation ist also, sich dem Forschungsobjekt aus mehreren Perspektiven anzunähern und es auf der Grundlage konvergierender Forschungsbefunde zu beschreiben. Dieses Ziel wird auch mit dem Terminus „konvergente Validität“ bezeichnet (Schmitt 2006, 17; vgl. auch Campbell & Fiske 1959). Der Triangulation liegt die Einsicht zugrunde, dass es aufgrund der inhärenten Defizite einzelner Datenquellen, Methoden und Theorien, jedoch auch der Wissenschaftler selbst, keinen perfekten Weg zur wissenschaftlichen Erkenntnis gibt: „The multivariate nature of Brunswik’s research became important for multimethod thinking because it suggested that measurement methods relying on human perception and judgment can hardly be perfectly valid“ (Schmitt 2006, 18; vgl. auch Brunswik 1934). Diese Erkenntnis prägt auch die Tradition des Critical Multiplism (vgl. Cook 1985), nach dem keine wissenschaftliche Herangehensweise einen perfekten Weg zur Erkenntnis bietet, sondern jede einzelne ihre eigenen Stärken und Schwächen hat. Folglich ist davon auszugehen, dass der Einsatz von jeweils nur einer Theorie, einer Datenquelle, einer Methode oder einem Betrachter die Forschungsergebnisse verzerren könnte. Durch die Kombination mit jeweils weiteren Quellen, Methoden usw. können die spezifischen Defizite einzelner Ansätze kompensiert werden. Hinzu kommt das Verständnis, dass Mehrfachmessungen zur Beschreibung ein und desselben Phänomens grundsätzlich O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _14, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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notwendig sind, um festzustellen, ob ein Ergebnis systematisch oder zufällig zustande kam, und um die Reliabilität der verwendeten Messmethoden einschätzen zu können (vgl. auch Benoit & Holbert 2008; Wirth & Matthes 2008). Um eine gegenseitige Validierung von wissenschaftlichen Ergebnissen durch Triangulation zu erreichen, müssen die gewählten Ansätze bezüglich des gemessenen Objektkonstrukts homogen sein, also ihren Forschungsgegenstand übereinstimmend definieren (vgl. Schmitt 2006). Die Ergebnisse, die auf der Grundlage verschiedener Methoden erzielt werden, sollten dann konvergieren. Jedoch ist es nicht nur sinnvoll, verschiedene Ansätze und Methoden mit dem Ziel der Konvergenz einzusetzen. Bilandzic (2008) weist darauf hin, dass gerade in der gegenseitigen Ergänzung von Forschungsergebnissen ein Reiz der Triangulation liegen kann (vgl. auch Erzberger & Kelle 2003). Eine solche kann gerade dann erreicht werden, wenn die gewählten Ansätze und Methoden auch bezüglich ihres Forschungskonstrukts nicht homogen sind. Dieser Argumentation liegt die Überlegung zugrunde, dass Ansätze und Methoden ihrerseits ebenfalls Forschungsobjekte und (soziale) Realität konstruieren. Somit kann bei der Triangulation nicht nur die objektive Messung mit dem Ziel der gegenseitigen Validierung der Messergebnisse im Mittelpunkt stehen, sondern es geht zusätzlich darum, ein tieferes und umfassenderes Verständnis für die Vielschichtigkeit der Phänomene zu erreichen (vgl. Morse 2003; Tashakkorri & Teddlie 2003). Dabei sollen heterogene Forschungsstrategien besonders fruchtbar sein. Als solche können z.B. Forschungsdesigns gesehen werden, bei denen in mehreren Datenerhebungen unterschiedliche Facetten eines Phänomens beleuchtet werden, oder solche Forschungsdesigns, bei denen verschiedene Methoden der Datenerhebung kombiniert werden, die per se nicht dazu geeignet sind, ihre Ergebnisse gegenseitig zu replizieren. Als ein Beispiel für eine möglichst heterogene Forschungsstrategie kann hier die Kombination verschiedener methodologischer Paradigmen, z.B. qualitativer und quantitativer Methoden der Datenerhebung, genannt werden (vgl. Erzberger & Kelle 2003; Teddlie & Tashakkori 2003). In der Kombination mehrerer homogener und heterogener Methoden liegt auch eine wesentliche Innovation des hier vorgestellten Forschungsprojekts zur Krisenkommunikation. Das ihm zugrunde liegende, interdisziplinär orientierte Modell soll es ermöglichen, die Interdependenzen dreier Akteursgruppen im Verlauf des Nachrichtenprozesses, d.h. zeitlich dynamisiert, abzubilden. Bei den jeweiligen Datenerhebungen in den Akteursgruppen kommen sehr heterogene Verfahren zum Einsatz. Um die Daten aus diesen Teilstudien dennoch miteinander in Beziehung setzen zu können, ist eine inhaltliche Synchronisation der Erhebungsinstrumente unabdingbar. Der Anspruch, auch Aussagen über dynamische Entwicklungen formulieren zu wollen, erfordert darüber hinaus die zeitliche Synchronisation der Datenerhebung. Nach einer Darstellung des Forschungsprojekts in Abschnitt 2 wird in Abschnitt 3 näher auf diese Rahmenbedingungen für die Triangulation eingegangen. 2
Die Studie „Bedrohung auf der (Medien-)Agenda“
Internationale Konflikte sind Themen mit einem potenziell hohen Nachrichtenwert. Doch wie entstehen Nachrichten über solche Konfliktsituationen? Und in welcher Phase ihres Verlaufs werden Konflikte von den Medien besonders beachtet? Hierüber existieren bisher kaum gesicherte empirische Erkenntnisse. Im Fokus der hier vorgestellten Studie stehen internationale Konflikte, bei denen es zumindest potenziell zum Einsatz von Gewalt in
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Form von Kriegshandlungen, militärischen Interventionen, Terrorismus o.ä. kommen kann. Untersucht werden die Perspektiven medialer, politischer und militärischer Akteure sowie des Medienpublikums: Welche Bedeutung messen diese Akteursgruppen internationalen Krisen bei, und wie beeinflussen sie sich gegenseitig im Verlauf eines Konflikts? Der normative und von der neueren Forschung kritisch bewertete (vgl. Hanitzsch 2007; Gilboa 2006) Anspruch des proaktiven Friedens-Journalismus, Konflikte vor ihrem Ausbruch zu verhindern (vgl. Bläsi 2004; Galtung & Fischer 2003), soll im Rahmen dieses Projektes auf einer analytisch-empirischen Grundlage reflektiert werden. Dazu werden theoretische Ansätze und „typische“ Methoden verschiedener Forschungsstränge miteinander verknüpft: der Risiko- und Krisenkommunikation (a), der politischen Kommunikations(b), der Journalismus- (c), der Medieninhalts- (d) und der Rezeptionsforschung (e). Die bisherigen Befunde zur Risiko- und Krisenkommunikation (a) zeigen dabei, welche Risikofaktoren Entscheidungsträger und Experten bestimmten Gefahrenquellen zurechnen (vgl. Görke 2008; Ruhrmann 2008; Zwick & Renn 2008; Löffelholz 2007). Studien zur politischen Kommunikationsforschung (b) beschreiben und analysieren hingegen die Interdependenzen von Politik und Medien in unterschiedlichen Stadien der Entscheidungsfindung sowie die öffentliche Meinungsbildung im Kontext von Krisen- und Konfliktsituationen (vgl. Gilboa 2006; Löffelholz & Hanitzsch 2006; Szukala 2003; Jarren & Donges 2002;). Die Journalismusforschung im engeren Sinne (c) diskutiert strukturelle Bedingungen der Nachrichtenproduktion im Katastrophen- und Krisenfall. Dabei stehen die Veränderung formaler und inhaltlicher Merkmale der Berichterstattung und die Kriterien der journalistischen Selektion im Vordergrund (vgl. Görke 2008; Donsbach 2004). Auch neuere Befunde der Gatekeeperforschung (vgl. Shoemaker & Cohen 2006) sind hier relevant. Konzepte des Framing und der Nachrichtenwerttheorie (vgl. Maier & Ruhrmann 2008; Ruhrmann & Göbbel 2007; Eilders 2006) liefern im Rahmen der Medieninhaltsforschung (d) gute Analysewerkzeuge für die vorliegenden Fragestellungen: Mit Hilfe des FramingKonzepts lassen sich die Interaktion und die Veränderung formaler und inhaltlicher Textund Bildmerkmale empirisch untersuchen (vgl. Scheufele & Tewksbury 2007; Entman 2004; Iyengar 1991). Gerade für die Friedens- und Konfliktforschung (vgl. Edy & Meirick 2007) ist dies relevant, denn hier aktivieren Schlüsselereignisse die jeweiligen Medienframes und verändern diese (vgl. Matthes 2007; Scheufele 2005). Die klassische Nachrichtenwerttheorie modelliert auf der Grundlage von ursprünglich auf internationale Konflikte und Krisen bezogenen Überlegungen (vgl. Galtung & Ruge 1965; Östgaard 1965) journalistische Selektivität. Erste, auf geringeren Fallzahlen basierende Studien, welche die Berichterstattung deutscher Fernsehnachrichten im Kontext von Krieg und Terrorismus untersuchen, deuten darauf hin, dass die aus der Nachrichtenwerttheorie abgeleiteten Modelle gerade für den Themenbereich der internationalen Krisen und militärischen Konflikte gut geeignet sind, das Selektionsverhalten von Journalisten zu erklären (vgl. Maier & Stengel 2007; Ruhrmann 2006; Maier 2005). Das Nachrichtenwertkonzept wird auch für Rezeptionsprozesse (e) postuliert (vgl. Eilders & Wirth 1999; Ruhrmann 1989; Sande 1971). Fallstudien aus diesen Forschungsgebieten zeigen bisher, y
wie Entscheidungsträger und Experten riskante Ereignisse anhand der klassischen Risikomerkmale wahrnehmen und bewerten (vgl. Slovic 2003). Dabei werden zunächst jedoch häufig die Rahmenbedingungen ignoriert, vor deren Hintergrund die Ri-
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y
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Michaela Maier et al. sikomerkmale potentieller Krisen beurteilt werden und die die Wahrnehmung und Beschreibung der Krisen beeinflussen (vgl. Zwick & Renn 2008; Coombs 2007); wie Journalisten in Agenturen und Redaktionen militärische Risiken bzw. Krisen und Kriege wahrnehmen und darüber berichten (vgl. Eilders & Hagen 2005; Scherer et al. 2005). Dabei werden neuerdings auch in Anlehnung an die klassischen Aufmerksamkeitsregeln des politischen Systems spezifische Ablaufphasen krisenjournalistischer Kommunikation postuliert (vgl. Görke 2008). Einige Arbeiten zeigen schließlich auch, wie Rezipienten Meldungen, in denen Konflikte gezeigt werden, aufnehmen und verarbeiten (vgl. z.B. Spohrs 2006; Kempf 2005; Millar & Heath 2004). Jedoch fehlt hier häufig der Rückbezug zur öffentlichen Meinungsbildung und damit zum politischen Prozess.
Insgesamt wurden internationale Krisen und potenziell friedensbedrohende Ereignisse in der einschlägigen Forschung zum Nachrichtenjournalismus vergleichsweise wenig beachtet (vgl. jedoch den Überblick bei Löffelholz 2007; sowie Spohrs 2006; Eilders & Hagen 2005). Vernachlässigt blieben insbesondere empirische Untersuchungen zu folgenden Aspekten: Welchen Einfluss haben der kommunikationspolitische Kontext (z.B. politische PR) und die Interdependenz einzelner Akteure in Journalismus und Politik auf die Nachrichtenauswahl? Wie dramatisieren und instrumentalisieren Journalisten Risiken und Krisen in Nachrichten (vgl. Gilboa 2005a; Gilboa 2005b; Galtung & Fischer 2003; Kepplinger 1989)? Zudem untersuchte die Mehrzahl dieser Studien jeweils ausschließlich eine der drei genannten Ebenen. Die Interaktionen der Akteure in der öffentlichen Kommunikation, vor allem zwischen politischen sowie militärischen Entscheidungsträgern und Medienvertretern, blieben hingegen – mit wenigen Ausnahmen (vgl. Hanitzsch 2007; Löffelholz & Hanitzsch 2006) – weitgehend unbeachtet. Die gewählten Forschungsdesigns ermöglichten meist auch keine solche Analyse. Insbesondere liegen nur wenige empirische Befunde dazu vor, welche Einflussmöglichkeiten Medienakteure in verschiedenen Phasen von Konflikten auf die politische Entwicklung haben (vgl. Gilboa 2005a; Robinson 2002; Seib 2002; Robinson 2000). Die Notwendigkeit, diese Zusammenhänge zu analysieren, wird indes von der Friedens- und Konfliktforschung sowie von der Journalismus- und Kommunikationsforschung betont, begründet und gefordert (vgl. Görke 2008; Scheufele & Gasteiger 2007). Insgesamt fehlt also ein integrierter, multidisziplinärer Forschungsansatz, in dem auch der typische Verlauf internationaler Krisen und die Wahrnehmung der Krisen in ihren verschiedenen Phasen rekonstruiert werden kann. Darüber hinaus liegen bisher nur wenige international vergleichende Studien vor. Sie würden zeigen, wie die Risikowahrnehmung auch durch landesspezifische Kulturen, Normen und Werte beeinflusst wird (vgl. Lindell & Perry 2004; Viklund 2003; Yates et al. 2002). Schließlich wurden bei der Primärdatenerhebung im Rahmen von Forschungsprojekten nur selten mehrere Methoden im Sinne einer Triangulation eingesetzt. Befragungen von Journalisten, politischen und militärischen Entscheidungsträgern sowie Rezipienten wurden bisher kaum mit quantitativen Inhaltsanalysen kombiniert. Diese Mehrmethoden-Forschung ist jedoch notwendig, um den gesamten Prozess der Risiko- und Krisenkommunikation umfassend zu verstehen.
Synchronisierung von Erhebungsinstrumenten 3
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Modell der aktuellen Studie
Das Ziel der aktuellen Studie ist, die Zusammenhänge zwischen Nachrichtenentstehung, Medienberichterstattung, öffentlicher Meinungsbildung und politischem Handeln im Kontext von internationalen Krisen und Kriegen zu untersuchen. An diesem Prozess der Krisenkommunikation sind militärische und politische Akteure, Journalisten in Agenturen und Redaktionen sowie die Medienrezipienten beteiligt (vgl. Abbildung 1). Abbildung 1:
Akteure der Krisenkommunikation Ereignisse/Krisen
Militärische Akteure
Politiker
Journalisten
Nachrichten
Journalisten Analysiert wird, wie politische und militärische Akteure Risiken wahrnehmen (Risikofaktoren) und kommunizieren, nicht zuletzt, um auf der Medienagenda beachtet zu werden. Anschließend wird untersucht, welche dieser Risiko- und Krisenaussagen Journalisten in Agenturen und Redaktionen unter bestimmten Bedingungen als Nachrichten auswählen und produzieren (Gatekeeping). Mittels der Konzepte der Nachrichtenframes, der Nachrichtenfaktoren sowie des Nachrichtenwertes lässt sich zeigen, welche dem Ereignis zugeschriebenen Merkmale dabei hervorgehoben werden und in welchen größeren – auch durch die Interaktionen zwischen Journalismus und politischem System geprägten Deutungsrahmen – sie gestellt werden. Zu fragen ist: Wie verwenden Politiker ihre Medienauftritte und präsenz als Plattform für Selbstinszenierung und Legitimation? Wie beeinflussen Medien durch ihre Berichterstattung politisches Handeln? Berücksichtigt werden auch Reaktionen von Rezipienten auf die Krisenberichterstattung, z.B. deren Rekonstruktion von Nachrichtenfaktoren und Nachrichtenframes. Zu fragen ist aber auch, wie Politiker und Journalisten die öffentliche Meinung wahrnehmen und ihr Handeln danach ausrichten. Wie die einschlägige Forschung programmatisch fordert, soll das Design für diese Studie die Analyse dieses gesamten Prozesses der politischen und medialen Risiko- und Krisenkommunikation ermöglichen. Mit diesem Ziel wird der Studie das funktionale Mo-
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dell der Krisenberichterstattung von Gilboa (2006) zugrunde gelegt. Darin wird von einem typischen Verlauf internationaler Krisen in vier Phasen ausgegangen (vgl. Abbildung 2): Einer Präventionsphase, in der der Konflikt z.B. in Form von Unstimmigkeiten und einer Zunahme feindseliger verbaler Äußerungen und Verhaltensweisen zutage tritt; einer Eskalations- und Managementphase, in der es zu gewalttätigen bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Konfliktparteien kommt; einer Lösungsphase, in der keine Gewalt mehr angewendet wird; und einer Aussöhnungsphase, in der Grenzen geöffnet und beispielsweise Handels-, Tourismus- und kulturelle Beziehungen wieder aufgenommen werden. In jeder dieser Phasen können mediale Akteure1 Einfluss auf die weitere Entwicklung der Krise nehmen: Abbildung 2:
Modell der Krisenphasen (nach Gilboa 2006)
Präventionsphase
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1
Eskalations- & Managementphase
Lösungsphase
Aussöhnungsphase
In der Präventionsphase haben die Medien potenziell den größten Einfluss auf die weitere Entwicklung (vgl. Jarren & Donges 2002), zum Beispiel, indem sie die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Konflikt lenken und so politische Akteure zu präventivem Handeln zwingen können. Allerdings wirken die typischen Ereignismerkmale (v.a. langsamer Verlauf, komplizierte Faktenlage, geringe Sichtbarkeit) in einem solchen Frühstadium eher hemmend auf die journalistische Selektion (vgl. Gilboa 2006), so dass Konflikte in dieser Phase nur selten und wenig prominent von den internationalen Medien aufgegriffen werden. In der Eskalations- und Managementphase steigt das mediale Interesse am Konflikt hingegen signifikant, da Meldungen über Kriege, Zerstörung und Opfer auf höheres Interesse stoßen (vgl. Taylor 2000). Obwohl die beteiligten militärischen und politischen Akteure bemüht und häufig auch erfolgreich sind, den Informationsfluss im Krisenfall zu kontrollieren, beschreibt der sogenannte „CNN-Effekt“ (vgl. Gilboa 2005a; Gilboa 2005b) die Einflussmöglichkeit der Medien, ihrerseits durch die Berichterstattung, z.B. über humanitäre Katastrophen in Krisengebieten, die politischen Entscheidungsträger zum Handeln zu zwingen. Vor allem in dieser Phase wird die Konvergenz der Medienberichterstattung deutlich (vgl. Maier 2002), d.h. der Journalismus reproduziert förmlich seine eigene Berichterstattung und betont dabei auf jeder Stufe der Selektion (vgl. Galtung & Ruge 1965; Östgaard 1965) die stets selben, negativ ausgeprägten Nachrichtenfaktoren (z.B. Aggression, Negativität, Schaden, Überraschung, Visualität). Görke (2008, 127) spricht sogar von einer „Monopolisierung“ und „Dominierung“ krisenjournalistischer Kommunikation. Die Berichterstattung kann aus Sicht der Politik selbst zu einem Risikofaktor werden, den die einzelnen Akteure strategisch beachten müssen.
Im Mittelpunkt dieser Studie steht die Analyse der Berichterstattung deutscher Medien über internationale Krisen. In der einschlägigen Literatur (vgl. Löffelholz 2004) wird neben solchen „international berichtenden“ insbesondere den „lokalen“ Medien in der Krisenregion selbst eine wichtige Rolle bei krisenhaften Entwicklungen zugeschrieben.
Synchronisierung von Erhebungsinstrumenten y
y
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In der Lösungsphase werden die Medien von politischen Akteuren gerne genutzt, um durch die Berichterstattung über ihre eigenen Verhandlungserfolge die öffentliche Meinung für die sich abzeichnende Lösung des Konflikts einzunehmen und den Prozess so günstigstenfalls weiter zu beschleunigen (vgl. Löffelholz 2007). In der Aussöhnungsphase können die Medien schließlich über die zunehmenden ökonomischen und politischen Kontakte zwischen den ehemaligen Konfliktparteien berichten, die Experten für eine zentrale Bedingung für dauerhaften Frieden halten (vgl. Gilboa 2006). Dass der bewältigte Konflikt in dieser Phase noch eine größere Beachtung durch die Medien erfährt, ist jedoch unwahrscheinlich; das Krisenthema wird marginalisiert und verschwindet (vgl. Görke 2008; Coombs 2007), da die Merkmale von Ereignissen, die der Eskalation nachgeordnet sind (erneut langsamer Verlauf, geringe Sichtbarkeit und Erfolg) den zentralen Auswahlregeln des Journalismus widersprechen. Allerdings lassen sich mittels etablierter Frames bei strukturähnlichen Ereignissen und Themen die Krise bzw. einzelne ihrer Aspekte reaktualisieren (vgl. Görke 2008).
3.1 Die Triangulation in der aktuellen Studie Zur Analyse dieses funktionalen Modells der Krisenkommunikation unter Berücksichtigung aller drei Akteursebenen ist eine Triangulation von theoretischen Ansätzen, Datenquellen und Methoden der Datenerhebung notwendig, um sowohl die Interaktionen zwischen den Akteuren als auch die zeitliche Dynamik von Krisenverläufen berücksichtigen zu können (vgl. auch Newman et al. 2003): Theoretische Ansätze Die Theorientriangulation erscheint besonders dann sinnvoll, wenn verschiedene Theorien zur Erklärung eines Phänomens vorliegen (vgl. Flick 2008; Denzin 1970). Im Fall der vorliegenden Studie ist dies insbesondere hinsichtlich zweier Fragestellungen der Fall: 1.
2.
Wie kann die Auswahl bestimmter Themen und Ereignisse durch die Journalisten für die Berichterstattung erklärt werden? Spielen dabei eher zugeschriebene Ereignismerkmale eine Rolle (entsprechend der Nachrichtenwerttheorie) oder eher redaktionelle Vorgaben, Aspekte der organisationalen Sozialisation oder vorhandene Ressourcen (entsprechend dem Gatekeeping-Ansatz)? Welche Elemente beeinflussen die Erinnerungsleistung der Rezipienten: Eher Nachrichtenfaktoren, die durch die journalistische Präsentation weiter verstärkt werden (Nachrichtenwerttheorie), oder Merkmale der formalen und inhaltlichen journalistischen Darstellung (Framing-Ansatz)?
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Datenquellen Von Datentriangulation spricht man, wenn Daten miteinander verglichen werden, die mit Hilfe derselben Methode erhoben wurden, die jedoch bezüglich Zeit, Raum und Personen der Datenerhebung variieren. Dies ist in der vorliegenden Studie bezüglich mehrerer Aspekte der Fall: Daten zu Auswahl- und Präsentationsregeln von Journalisten werden jeweils in mehreren Redaktionen je Medientyp erhoben und verglichen; die Medienberichterstattung wird für mehrere Fallstudien sowie zusätzlich für einen abgeschlossenen, dreimonatigen Untersuchungszeitraum analysiert, um einen zeitlichen Vergleich zu ermöglichen; und schließlich werden alle Befragungen in angemessen großen Stichproben durchgeführt, um zu reliablen Ergebnissen zu gelangen. Methoden der Datenerhebung Die Methodentriangulation findet in den Sozialwissenschaften die größte Aufmerksamkeit (vgl. Flick 2008). Grundsätzlich ist hier die Unterscheidung zwischen einer Triangulation innerhalb einer Methode („within-method“) und zwischen verschiedenen Methoden („between-method“) möglich (vgl. Smith & Harris 2006). In der hier vorgestellten Studie werden in erster Linie Daten miteinander verglichen, die mit Hilfe unterschiedlicher Methoden erhoben wurden („between-method“). Konkret werden die folgenden Verfahren der Datenerhebung eingesetzt: y y y y y y
Quantitative und systematische Inhaltsanalysen von Agentur-, Presse- und TVMeldungen, Fallstudien zur Dokumentation von Verlauf und Dramatisierung ausgewählter Krisenereignisse, Interviews mit Entscheidungsträgern aus dem politischen und militärischen Bereich, Befragungen von Journalisten, Experimentelle Befragungen von Rezipienten, sowie Sekundäranalysen von Bevölkerungsumfragen.
Im Zuge der quantitativen Inhaltsanalysen werden Nachrichtenmeldungen über internationale Konflikte, Krisen und militärische Bedrohungen analysiert. Berücksichtigung finden sowohl innerstaatliche Konflikte als auch internationale Krisen, in deren Folge es zumindest potenziell zum Einsatz von Gewalt in Form von Truppenbewegungen, Grenzverletzungen, militärischen Interventionen, Kriegshandlungen, Guerillakriegen oder terroristischen Anschlägen kommen kann. Dabei wird im Sinne einer Input-Output-Analyse untersucht, über welche Krisensituationen und Konflikte berichtet wird. Hierzu werden die themenrelevanten Meldungen von drei führenden Nachrichtenagenturen (Deutsche Presseagentur, Agence France Press, Associated Press), Pressemitteilungen der UNO und Meldungen und Jahresberichte renommierter Friedensforschungsinstitute (z.B. Stockholm International Peace Research Institute und Carnegie Commission on Preventing Deadly Conflict) mit Berichten deutscher Medien abgeglichen. Zur Analyse der Medienberichterstattung werden die Titelseiten sowie die Seiten zu Politik und Vermischtem zweier führender Qualitätszeitungen (Süddeutsche Zeitung, Frankfurter Allgemeine Zeitung), der führenden deutschen Boulevardzeitung (BILD) und
Synchronisierung von Erhebungsinstrumenten
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der vier reichweitenstärksten Fernsehhauptnachrichtensendungen (ARD Tagesschau, ZDF heute, RTL aktuell, SAT.1 Nachrichten) erfasst.2 So kann zusätzlich die Berichterstattung verschiedener Medientypen verglichen werden. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich dabei über drei aufeinander folgende Monate. Die Daten der Inhaltsanalyse dienen dabei nicht nur der Beschreibung der „durchschnittlichen“ Medienberichterstattung während des relativ lang gewählten Untersuchungszeitraums. Sie dokumentieren ferner den Verlauf von mehreren Krisen-Medienereignissen und ihre Dramatisierung. Für drei ausgewählte Krisenereignisse (Georgien-Krise, KongoKrise, Gaza-Krise) werden zusätzlich Fallstudien angefertigt. Hierzu wird die Inhaltsanalyse für die Berichterstattung über die jeweiligen Ereignisse über den oben beschriebenen Zeitraum hinaus ausgedehnt (vgl. Abschnitt 3.2). Parallel zur Inhaltsanalyse und auch bezogen auf die ausgewählten Fallstudien werden in den insgesamt zehn Nachrichtenredaktionen der analysierten Medien (dpa, AP, AFP, ARD, ZDF, RTL, SAT.1, SZ, FAZ, BILD) insgesamt knapp 100 Redakteure zu journalistischen Arbeitsprozessen befragt, um die Ergebnisse der Inhaltsanalyse extern validieren zu können und Erkenntnisse über journalistische Selektions- und Produktionsroutinen in unterschiedlichen Krisenfällen zu gewinnen. Die Befragung erfolgt per Online- bzw. PapierFragebogen schriftlich mittels eines teilstandardisierten Instruments. Dabei interessiert, welchen Einfluss einerseits die Berichterstattung anderer Medien und die Kommunikation mit Kollegen als auch andererseits die wahrgenommene öffentliche Meinung auf die Themenfindung, -wahl und -aufbereitung haben. Zusätzlich zur Inhaltsanalyse und zur Journalistenbefragung werden ebenfalls bezogen auf die gewählten Fallstudien Befragungen von Kommunikatoren, d.h. Politikern, Mitgliedern von Streitkräften oder außen- und sicherheitspolitischen Interessensgruppen sowie von relevanten Vertretern der Friedens- und Konfliktforschung, durchgeführt. Die schriftliche Befragung erfolgt ebenfalls auf der Grundlage eines teilstandardisierten Instruments, das mit dem Instrument der Journalistenbefragung synchronisiert ist. Hierbei werden die Kriterien der Risiko- und Krisenwahrnehmung, die wahrgenommene sicherheitspolitische Lage durch Medien und Bürger, sowie ihre Handlungskriterien in internationalen Krisen ermittelt. Zur Analyse der Rezipientenperspektive werden in einem experimentellen Setting die Effekte prototypischer Medienberichte analysiert. Dabei werden die Probanden (rund 150) zu den Nachrichtenfaktoren ausgewählter Meldungen befragt, sowie entsprechend ihre Rezipienten-Frames ermittelt, um die Publikumseinschätzungen mit denen der Journalisten und Politiker vergleichen und Veränderungen und Wechselwirkungen feststellen zu können. Sekundäranalysen von vorhandenen einschlägigen Umfragedaten zu Einstellungen der Bevölkerung gegenüber Risiken und internationalen Krisen ermöglichen zudem Aussagen auf einer breiteren Datenbasis und vervollständigen so das multi-methodische Design.
2
Die genannten Printmedien wurden ausgewählt, weil sie als Meinungsführer auch die Nachrichtenauswahl und -darstellung anderer Zeitungen prägen (vgl. Brosius & Esser 1995, 88). Die Nachrichtensendungen der ausgewählten Fernsehvollprogramme haben die höchsten Einschaltquoten. Insgesamt erlauben die in die Analyse einbezogenen Medien so vielfältige vergleichende Analysen, z.B. den Vergleich der Berichterstattung zwischen öffentlich-rechtlichen und privaten Sendern und den Vergleich zwischen Qualitäts- und Boulevardtageszeitungen.
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3.2 Synchronisierung des Mehrmethodendesigns Neben unterschiedlichen theoretischen Ansätzen zur Analyse der Krisenkommunikation werden für dieses Projekt bewusst (vgl. Greene & Caracelli 2003) mehrere heterogene Datenquellen (Berichte von Friedensforschungsinstituten; Agenturmeldungen; Beiträge tagesaktueller Medien; Aussagen von Journalisten, politischen und militärischen Entscheidern sowie Einschätzungen von Bürgern) und heterogene Methoden der Datenerhebung (Fallstudien vs. systematische inhaltsanalytische Vollerhebung in einem zeitlich begrenzten Untersuchungszeitraum; qualitative Interviews und teilstandardisierte Befragungen; Rezeptionsexperimente und repräsentative Bevölkerungsbefragungen) gewählt. Dieses Untersuchungsdesign wurde bewusst vor dem Hintergrund des aktuellen Verständnisses von „Triangulation“ gewählt, dementsprechend soll durch den Einsatz vielfältiger theoretischer Ansätze sowie heterogener Methoden ein tieferes und umfassenderes Verständnis für den Untersuchungsgegenstand gewonnen werden. Tabelle:
Inhaltliche Synchronisation der Erhebungsinstrumente
Forschungsfrage
F1. Wahrnehmung/ Bewertung von Risikofaktoren F2. Kriterien der journalistischen Selektion F3. Journalistische Präsentation F4. Eigeninteresse und gegenseitige Beeinflussung F5. Wahrnehmung und Bewertung politischer und medialer Akteure
Inhaltsanalyse
Rezeptionsexperimente
Befragung Journalisten
Politiker & Militär
Hypothese H1I Variablen V1I1, V1I2 …
Hypothese H1J Variablen V1J1, V1J2, …
Hypothese H1P Variablen V1P1, V1P2 …
H2I V2I1, V2I2 …
H2J V2J1, V2J2 …
H3I V3I1, V3I2 …
H3J V3J1, V3J2 … H4J V4J1, V4J2 …
Hypothese H1R Variablen V1R1, V1R2 …
H4P V4P1, V4P2 …
H5R V5R1, H5R2 …
Um jedoch die Ergebnisse der einzelnen Teilstudien sinnvoll auswerten zu können, ist sowohl eine inhaltliche als auch eine zeitliche Synchronisation der Datenerhebungen nötig. Die inhaltliche Synchronisation (vgl. Tabelle) stellt sicher, dass im Rahmen der Auswertung die Daten der einzelnen Erhebungen aufeinander bezogen werden können und so komplexe Zusammenhänge in Bezug auf den gesamten Nachrichtenprozess im Kontext von internationalen Krisen und Kriegen analysiert werden können. Hierzu werden in den einzelnen Erhebungen jeweils dieselben Aspekte für die Messung operationalisiert und erhoben.
Synchronisierung von Erhebungsinstrumenten
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Anhand eines ausgewählten Beispiels soll an dieser Stelle die inhaltliche Abstimmung zwischen verschiedenen Erhebungsmethoden detaillierter erläutert werden. So wurde z. B. die Forschungsfrage 1 nach der Wahrnehmung und Bewertung von Risikofaktoren im Kontext von internationalen Krisen sowohl bezogen auf die Beurteilung durch Politiker und militärische Experten und die journalistische Auswahlsituation als auch auf die Berichterstattung und die Rezipienten formuliert. Entsprechend wurden die Wahrnehmung und Beurteilung von Risikofaktoren für alle vier Teilstudien operationalisiert (vgl. Tabelle). Die konkreten Operationalisierungen und Formulierungen der entsprechenden Variablen können den Abbildungen 3, 4 und 5 entnommen werden. Abbildung 3:
Operationalisierung der Risikofaktoren in der Inhaltsanalyse
Inhaltsanalyse - Auszug aus dem Codebuch Variable V1I1: Thema des Beitrags Von welcher Krise bzw. welchem Konflikt oder Krieg handelt der Beitrag? Die Codierung richtet sich immer nach dem Themenschwerpunkt des Beitrags. Die Unterüberschriften der Printartikel und der Agenturmeldungen können bei der Einordnung behilflich sein. Code aus Liste der Krisenherde auswählen! Falls Krise nicht in der Liste steht Æ offene Eingabe Variable V1I2: Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse Werden in der Berichterstattung Aussagen über mögliche Ereignisse in der Zukunft gemacht? Variable V1I3: Wahrscheinlichkeit zukünftiger negativer Ereignisse 0 1
2 3 9
keine Aussage über zukünftige negative Ereignisse bzw. Schäden Das Eintreten eines negativen Ereignisses bzw. eines Schadens wird mit einer geringen Wahrscheinlichkeit dargestellt. („vielleicht wird sich die Situation verschlechtern“; „könnte“) (Hier werden auch Bedingungsaussagen ohne nähere Angabe einer Wahrscheinlichkeit codiert, z.B. „Wenn Staat X das tut, wird die Situation eskalieren.“) Das Eintreten eines negativen Ereignisses bzw. eines Schadens wird als sehr wahrscheinlich dargestellt. („es ist zu erwarten, dass sich die Situation verschlechtert“; „kann“) Das Eintreten eines negativen Ereignisses bzw. eines Schadens wird als sicher dargestellt. („es gilt als sicher, dass sich die Situation verschlechtern wird“; „wird“) unklar
Variable V1I4: Perspektive des zukünftigen negativen Ereignisses (nur codieren, wenn bei V1I3 die Codes 1, 2 oder 3 gewählt wurden) 1 2 9
individuelle Perspektive (negatives Ereignis bzw. Schaden ist nur für einzelne Personen relevant) gesellschaftliche Perspektive (negatives Ereignis bzw. Schaden bezieht sich auf eine Gesellschaft) unklar
Die Verknüpfung der Variablen V1I2, V1I3 und V1I4 ermöglicht eine Analyse der Darstellung der Risikofaktoren bezogen auf eine konkrete Krise, die mit den anderen Teilstudien vergleichbar ist.
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Abbildung 4:
Operationalisierung der Risikofaktoren bei den Befragungen
Befragungen Journalisten und Politiker & Militär – Auszug aus den Fragebögen Frage V1J1/V1P1: Wenn Sie die aktuelle sicherheitspolitische Lage bedenken, wo könnte in nächster Zeit eine (weitere) Krise entstehen? Bitte entscheiden Sie sich für einen der angegebenen potenziellen Krisenherde! (Liste potentieller Krisenherde zum Ankreuzen) Frage V1J2/V1P2: Wenn Sie nun an die nähere Zukunft denken: Wie wahrscheinlich ist es, dass dort (wieder) eine Krise entsteht? Sehr unwahrscheinlich
Eher unwahrscheinlich
Teils/teils
Eher wahrscheinlich
Sehr wahrscheinlich
Frage V1J3/V1P3: Als wie hoch schätzen Sie die Schäden ein, die dort eintreten werden? Schäden sind hier nicht nur im Sinne von Toten/Verletzten, sondern auch als ökonomische Schäden sowie soziale, ökologische, politische und kulturelle Folgeschäden für die Gesellschaft zu verstehen. Sehr niedrig
Eher niedrig
Teils/teils
Eher hoch
Sehr hoch
Frage V1J4/V1P4: Betrachten wir nun die Risikomerkmale dieser Krise, also die potentielle Gefahr, dass dort eine Krise eintritt. Bitte schätzen Sie anhand der folgenden Adjektivpaare ein, wie Sie die Risikomerkmale dieser Krise wahrnehmen: kontrollierbar folgenlos regional bekannt beobachtbar alt sofort wirkend
{{{{{ {{{{{ {{{{{ {{{{{ {{{{{ {{{{{ {{{{{
unkontrollierbar folgenreich global unbekannt nicht beobachtbar neu(artig) verzögert wirkend
Frage V1J5/V1P5: Kommen wir nun zur aktuellen sicherheitspolitischen Problemlage: Was sind aus Ihrer Sicht momentan die drei wichtigsten sicherheitspolitischen Themen? (offene Angabe) Frage V1J6/V1P6: Und was sind aus Sicht der Medien die drei wichtigsten sicherheitspolitischen Themen? (offene Angabe) Frage V1J7/V1P7: Was sind aus Ihrer Sicht wichtige sicherheitspolitische Themen, über die jedoch nicht berichtet wird? (offene Angabe) Frage V1J8/V1P8: Was denken Sie: Was sind aus Sicht der deutschen Bevölkerung die wichtigsten sicherheitspolitischen Themen? (offene Angabe)
Synchronisierung von Erhebungsinstrumenten Abbildung 5:
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Operationalisierung der Risikofaktoren bei den Rezeptionsexperimenten
Rezeptionsexperimente – Auszug aus den Fragebögen Frage V1R1: Was sind Ihrer Meinung nach die drei größten zukünftigen Bedrohungen für Deutschland? (offene Angabe) Frage V1R2: Wenn Sie an die Zukunft denken, wodurch sehen Sie Deutschland bedroht?
Deutschland ist sehr bedroht von: 1. der schweren globalen Wirtschaftskrise. 2. der Verarmung bestimmter Gesellschaftsgruppen. 3. Kriegen und Konflikten außerhalb Europas, die dazu führen, dass Flüchtlingsströme aus Krisengebieten nach Deutschland kommen. 4. politischem Extremismus. 5. der weltweiten Ausbreitung einer Krankheit oder einer Seuche. 6. Kriegen und Konflikten außerhalb Europas, die zu einer Zunahme der Terrorgefahr führen. 7. Kriegen und Konflikten außerhalb Europas, die zu einer Rohstoffverknappung führen. 8. dem weltweiten Klimawandel durch die globale Erderwärmung. 9. große Naturkatastrophen, wie Stürme oder Überschwemmungen. 10. Kriegen und Konflikten außerhalb Europas, die dazu führen, dass kulturelle Konflikte in Deutschland ausgetragen werden. 11. Atombomben in der Hand von anderen Staaten. 12. Sonstigem, und zwar: ________________________
Stimme überhaupt nicht zu
Stimme eher nicht zu
Teils/teils
Stimme eher zu
Stimme voll und ganz zu
Die zeitliche Synchronisation der Datenerhebungen ist eine Voraussetzung für die Analyse des dynamischen Verlaufs des Krisenberichterstattungsprozesses. Hierzu werden die einzelnen Erhebungen in aufeinander abgestimmten Zeiträumen durchgeführt (vgl. Abbildung 6): Zunächst werden die Inhaltsanalysen von Nachrichtenagenturmeldungen, Fernsehnachrichten und Tageszeitungen bezogen auf die ausgewählten Fallstudien-Ereignisse durchgeführt. Im Rahmen dieser Fallstudien wird auch das Instrument weiterentwickelt und schließlich für die Vollerhebung im dreimonatigen Untersuchungszeitraum angepasst. Aus
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den so gewonnenen Fällen wird in Abstimmung mit den Ergebnissen der Befragungen der Journalisten und Entscheider prototypisches Stimulusmaterial für die Rezeptionsexperimente ausgewählt. Abbildung 6:
Zeitliche Synchronisation der Datenerhebungen
Vor Beginn der teilstandardisierten Befragungen der Journalisten und der Kommunikatoren aus den Bereichen Politik und Militär werden sogenannte „Leuchtturminterviews“ durchgeführt. Hier werden ausgewählte Kommunikatoren aus den Bereichen Journalismus, Politik, Militär und Konfliktforschung in leitfadengestützten Interviews befragt. Die Ergebnisse dieser dreizehn Interviews fließen ebenfalls in die Weiterentwicklung des Inhaltsanalyseinstrumentes für die dreimonatige Vollerhebung ein. Die teilstandardisierten Befragungen finden zeitgleich mit der Vollerhebung der Medieninhaltsanalyse statt. Auf diese Weise können die Aussagen der politischen und militärischen Kommunikatoren über ihre Erwartungen an die mediale Berichterstattung und ihre eigenen Handlungsspielräume, die Einschätzungen der Journalisten über die wahrgenommenen Handlungsintentionen der militärischen und politischen Akteure sowie ihre eigenen Auswahlregeln mit der tatsächlichen Medienberichterstattung bezogen auf konkrete Ereignisse und Entwicklungen während des Beobachtungszeitraums verglichen werden. Abschließend werden Sekundäranalysen einschlägiger Bevölkerungsumfragen durchgeführt, die sich zeitlich sowohl mit den Inhaltsanalysen und den standardisierten Befragungen, als auch mit den Rezeptionsexperimenten überschneiden, um das durch die Rezeptionsexperimente gewonnene Bild der Rezipientenwahrnehmung und -bewertung des Handelns der
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politischen und militärischen Akteure einerseits und der Berichterstattung durch die Medien andererseits mit repräsentativen Daten ergänzen zu können. Die Überschneidung der einzelnen Erhebungszeiträume stellt sicher, dass die erhobenen Daten entsprechend dem Ereignishintergrund auf dieselben konkreten Krisenereignisse bezogen werden können. So können die Interaktionen der Akteure der Krisenkommunikation analysiert werden. Durch die Wahl eines relativ langen Untersuchungszeitraums und zusätzlicher Fallanalysen können zusätzlich der Verlauf der Ereignisse und ihre mediale Dramatisierung verdeutlicht werden. Die inhaltliche und zeitliche Synchronisation ist die Voraussetzung für eine Analyse, bei der die Ergebnisse der einzelnen Erhebungen aufeinander bezogen werden können. Nur dann können komplexe, dynamische Prozesse wie der der Nachrichtenproduktion und -wirkung angemessen empirisch analysiert werden (s. Abschnitt 3). Beispielhaft wird in Abbildung 7 eine solche integrierte Analyse synchronisierter Datenerhebungen anhand unserer aktuellen Studie zur Krisenkommunikation verdeutlicht. Abbildung 7:
Beispielhafte Analyse synchronisierter Datenerhebungen
Bei der Analyse der Berichterstattung über internationale Krisen und Konflikte und deren Wirkung auf politische und militärische Entscheider und Rezipienten können verschiedene Daten miteinander in Beziehung gesetzt werden, die z.B. durch die Inhaltsanalyse und die Leitfadeninterviews erhoben wurden. Im Rahmen einer solchen Analyse wurden z.B. die normativen Ansprüche des Friedensjournalismus überprüft (vgl. Zillich, Göbbel, Stengel, Maier & Ruhrmann 2009). Die Ergebnisse der Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung über internationale Konflikte zeigen, dass internationale Krisen in der Eskalationsphase die höchste journalistische Aufmerksamkeit erhalten und dass die Nachrichtenauswahl vor allem durch die Nachrichtenfaktoren Reichweite, Schaden und Aggression determiniert wird. Das kann als Beleg dafür gewertet werden, dass die Berichterstattung in deutschen Medien nur selten Konfliktlösungen oder Möglichkeiten der Deeskalation thematisiert. Dieser Befund aus der Inhaltsanalyse wurde durch teilstandardisierte Interviews mit verantwortlichen Redakteuren untermauert. Die Journalisten räumten ein, dass sich die Berichterstattung über internationale Krisen und Konflikte aufgrund von Redaktionsroutinen und wahrgenommenen Publikumsinteressen in der Regel auf die Phase nach dem Ausbruch gewalttätiger Aktivitäten beschränkt. Andererseits sind sich die Journalisten darüber im Klaren, dass ihre Berichterstattung in einer früheren Phase der internationalen Konflikte potentiell zu einer friedlichen Lösung beitragen könnte. Darüber hinaus räumten die befragten Journalisten korrespondierend mit den Ergebnissen der Inhaltsanalyse ein, dass die Aspekte Gewalt, Trauer und Dramatik der Bilder eine große Bedeutung für die Krisenberichterstattung haben und dass die Nachrichtenfaktoren Schaden, Aggression, Reichweite und Visualisierung einen großen Einfluss auf journalistische Selektionsprozesse haben (vgl. Zillich, Göbbel, Stengel, Maier & Ruhrmann 2009).
252 4
Michaela Maier et al. Fazit
Zur Analyse von Krisenkommunikation ist es notwendig, den gesamten Prozess sowie die Zusammenhänge zwischen Nachrichtenentstehung, Medienberichterstattung, öffentlicher Meinungsbildung und politischem Handeln zu betrachten und dabei die typischen Phasen zu berücksichtigen. Die Notwendigkeit der Integration von Publikums-, Inhalts- und Kommunikatorperspektive mit dem Ziel, die Medienleistung („Qualität“) angemessen beurteilen zu können, gilt in der Kommunikationswissenschaft als common sense (vgl. z.B. Arnold 2008). Zur Analyse eines solchen integrierten Modells ist ein Mehrmethodendesign notwendig. Bei der Triangulation steht dabei nicht länger nur die objektive Messung und Validierung im Vordergrund. Vielmehr geht es auch um ein tieferes und umfassenderes Verständnis für die Vielschichtigkeit der Phänomene. Dennoch ist für die Aussagekraft der Befunde relevant, dass zentrale Konstrukte bzw. Objekte vergleichbar gemessen werden. Daher sind die inhaltliche Synchronisation der Erhebungsinstrumente sowie die zeitliche Synchronisation der Datenerhebungen zwingend notwendig. Die in diesem Beitrag beschriebene Studie erfüllt durch die theoretische Fundierung anhand unterschiedlicher Zugänge sowie die zeitliche und inhaltliche Synchronisation bei den Datenerhebungen die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Triangulation. Dieses Vorgehen ermöglicht einerseits einen umfassenderen Zugang zum Forschungsgegenstand des Nachrichtenentstehungsprozesses im Kontext der Krisenberichterstattung. Andererseits wird mit dieser Studie ein Beitrag zur Weiterentwicklung der Methodentriangulation in der Journalismusforschung geleistet. Literaturverzeichnis Arnold, K. (2008): Qualität im Journalismus. Ein integratives Konzept. In: Publizistik, 53(4), 488508. Benoit, W. L. & Holbert, R. L. (2008): Empirical intersections in communication research. Replication, multiple quantitative methods, and bridging the quantitative-qualitative divide. In: Journal of Communication, 58(4), 615-628. Bilandzic, H. (2008): Triangulation. In: W. Donsbach (Hrsg.): International Encyclopedia of Communication. Malden: Wiley & Sons, 5178-5180. Bläsi, B. (2004): Peace journalism and the news production process. In: Conflict & Communication Online, 3(1/2), 1-12. Brewer, J. & Hunter, A. (2006): Foundations of multimethod research. Thousand Oaks: Sage. Brosius, H.-B. & Esser, F. (1995): Eskalation durch Berichterstattung. Massenmedien und fremdenfeindliche Gewalt. Opladen: Westdeutscher Verlag. Brunswik, E. (1934): Wahrnehmung und Gegenstandswelt. Wien: Deuticke. Brunswik, E. (1956): Perception and representative design of psychological experiments. Berkeley: University of California Press. Campbell, D. & Fiske, D. (1959): Convergent and discriminant validation by the multitrait-multimethod matrix. In: Psychological Bulletin, 56(2), 81-105. Cook, T. D. (1985): Postpositivist critical multiplism. In: L. Shotlan & M. M. Mark (Hrsg.): Social science and social policy. Newbury Park: Sage, 21-62. Coombs, W. T. (2007): Ongoing crisis communication. Thousand Oaks: Sage. Denzin, N. (1970): The research act. Chicago: Aldine.
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IV. Datenerhebung
Repräsentativität als Herausforderung für Journalistenbefragungen in Deutschland Maja Malik
1
Einleitung: Repräsentativität als Problem
Journalistenbefragungen stellen in Deutschland wie in vielen anderen Ländern insbesondere im Hinblick auf die Repräsentativität der Befragungsdaten eine besondere Herausforderung dar. Die Frage nach der Repräsentativität einer Studie rückt ihren Geltungsbereich und ihre Reichweite in den Fokus der Betrachtung. Nur selten ist es möglich, alle Journalisten zu befragen, über die mit einer Studie Auskunft gegeben werden soll. Der Aufwand und die Kosten für eine solche Vollerhebung sind in der Regel viel zu hoch. Daher wird meist ein Teil der interessierenden Population für die Befragung ausgewählt. Dann aber stellt sich die Frage, ob und inwieweit Aussagen über die Befragten auch auf andere, nicht befragte Personen aus der Population übertragen werden können. Repräsentativität beschreibt die Annahme der standardisierten Sozialforschung, dass von Aussagen über eine Teilmenge (z.B. die befragten Journalisten) auf die Gesamtmenge (z.B. alle Journalisten in Deutschland) geschlossen werden kann. Ein solcher Repräsentationsschluss ist voraussetzungsreich: Er ist nur dann zulässig, wenn die untersuchte Stichprobe (hier: die befragten Journalisten) in wesentlichen Merkmalen der Grundgesamtheit entspricht, über welche Aussagen getroffen werden sollen (hier: alle Journalisten in Deutschland). „Man erwartet dann, dass in der Stichprobe die Gestalt der Verteilungen und die statistischen Beziehungen zwischen den Variablen so geartet sind wie in der Grundgesamtheit“ (Diaz-Bone 2006, 132). Repräsentativität bezieht sich damit auf das Verhältnis von Grundgesamtheit und Stichprobe und stellt für Journalistenbefragungen in zweierlei Hinsicht eine Herausforderung dar: Erstens setzt die Repräsentativität von Befragungsergebnissen eine präzise Definition und Ermittlung der Grundgesamtheit voraus. Zweitens erfordert sie ein Auswahlverfahren für die Befragungspersonen, durch das die Zusammensetzung der Stichprobe der Zusammensetzung der Grundgesamtheit soweit wie möglich entspricht. Beides ist im Fall von Journalistenbefragungen nicht ohne weiteres, sondern nur auf der Basis aufwändiger theoretischer, methodischer und empirischer Vorarbeiten zu realisieren. Denn in der Bundesrepublik – genauso wie in den meisten anderen Ländern – existieren keine zuverlässigen Daten, Listen, Register oder Statistiken, mit denen man die Grundgesamtheit des Journalismus einfach erfassen könnte (weder in Bezug auf Medien als Produkte oder Medienbetriebe als Organisationen noch auf Journalistinnen und Journalisten als Personen). Mehr noch: ‚Journalismus‘ beschreibt die verschiedensten Medien und Medienorganisationen; der Beruf des ‚Journalisten‘ ist frei zugänglich und eine ungeschützte Berufsbezeichnung. Was ist dann also für eine Journalistenbefragung die Grundgesamtheit, von der man eine repräsentative Stichprobe untersuchen könnte? Sind Thomas Gottschalk oder Johannes B.
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _15, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Kerner Journalisten, weil sie in ihren Sendungen Interviews führen? Ist der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt als Herausgeber der Zeit ein Journalist? Und sollte man bei einer repräsentativen Journalistenbefragung auch die Sprecher und Sprecherinnen der Tagesschau in die Grundgesamtheit aufnehmen? Solche einzelnen, prominenten ‚Problemfälle‘ illustrieren pars pro toto, dass die Grundgesamtheit ‚Journalismus‘ sehr heterogen ist und ihre Grenzen nicht ohne weiteres zu erkennen sind. Bei der Auswahl der zu befragenden Journalisten stellt sich darüber hinaus das Problem, dass die konkreten Personen, die innerhalb der definierten Grundgesamtheit zum Journalismus gehören, nur mühsam identifiziert und erreicht werden können. Die Frage nach der Reichweite und der möglichen Repräsentativität der Ergebnisse stellt bei einer Journalistenbefragung also sowohl im Hinblick auf die Bestimmung der Grundgesamtheit als auch mit Bezug auf die Auswahl der Befragungspersonen besondere Ansprüche. Dieser Beitrag beschreibt erstens die Möglichkeiten und Grenzen bei der Bestimmung der Grundgesamtheit der Journalisten in Deutschland. Zweitens diskutiert er Verfahren der Stichprobenbildung für repräsentative Journalistenbefragungen. Am Beispiel der Studie „Journalismus in Deutschland“ (JouriD) werden bei beiden Arbeitsschritten die theoretischen, methodologischen und forschungspraktischen Grenzbereiche aufgezeigt, in denen in der Forschungspraxis schwierige, oft kontigente Entscheidungen getroffen werden müssen.1 Selbstverständlich gibt es weitere methodische Herausforderungen, die im Zusammenhang mit Journalistenbefragungen zu lösen sind. Etwa stellen Journalisten im Vergleich zu anderen Befragungsgruppen eine besondere Population dar, deren Charakteristika bei der Konzeption des Untersuchungsdesigns beachtet werden müssen. Die verschiedenen Befragungsmodi (face-to-face, telefonisch, schriftlich-postalisch, online) haben verschiedene Stärken und Schwächen. Der Fragebogen und die Frageformulierung müssen Anforderungen an mögliche Zeitvergleiche und kulturelle Unterschiede standhalten (vgl. dazu im Überblick: Weaver 2008). Und in der Datenanalyse gilt es zu prüfen, inwiefern Aussagen von Individuen (den befragen Journalisten) zu Aussagen über größere Einheiten (journalistische Organisationen, ein journalistisches System) verdichtet werden können (vgl. Scholl & Weischenberg 1998, 55 ff.). Dieser Beitrag stellt allerdings die Repräsentativität als Herausforderung für Journalistenbefragungen in den Mittelpunkt und vernachlässigt diese anderen Aspekte. 2
Die Grundgesamtheit repräsentativer Journalistenbefragungen
Was Journalismus ist und wer ‚die Journalisten’ sind, scheint intuitiv jedem klar zu sein: Journalismus ist das, was zum Beispiel bei Spiegel online oder in der Regionalzeitung zu lesen ist, was im heute journal, bei RTL Aktuell oder Panorama zu sehen ist und was von Nachrichtenagenturen oder dem Deutschlandfunk verbreitet wird. Und als ‚Journalisten’ werden diejenigen bezeichnet, die für solche Medien oder Programme arbeiten. 1
Mit der ersten Studie zum „Journalismus in Deutschland“ wurden 1993 erstmals repräsentative Basisdaten über die Anzahl und Verteilung, die Tätigkeiten, Merkmale und Einstellungen der Journalistinnen und Journalisten in der Bundesrepublik erhoben (vgl. Scholl & Weischenberg 1998; Weischenberg, Löffelholz & Scholl 1994; dies. 1993). 2005 wurde mit „Journalismus in Deutschland II“ eine Replikation der ersten Studie durchgeführt (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006a; Malik & Scholl 2006b). Beide JouriD-Studien wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert.
Repräsentativität als Herausforderung für Journalistenbefragungen
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Allerdings arbeiten bei journalistischen Medien nicht nur Journalisten, sondern auch Techniker, Anzeigenverkäufer, Grafiker, Marktforscher, Fotografen, Kameraleute usw., die mit der inhaltlich-publizistischen Arbeit nur mittelbar zu tun haben. Zudem bezeichnen sich viele Personen als ‚Journalist’, die nur sporadisch Beiträge für journalistische Medien liefern und hauptsächlich in der PR, in der Werbung, im Marketing oder in ganz anderen Branchen arbeiten, weil sie vom Journalismus allein nicht leben können. Und schließlich existiert eine große Zahl von Medienangeboten, die nicht ohne weiteres als journalistische Medien bestimmt werden können. Die Berufsbezeichnung ‚Journalist’ ist in der Bundesrepublik Deutschland ungeschützt. Auf der Basis von Artikel 5 des Grundgesetzes hat jeder „das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“ – und damit auch das Recht, journalistisch tätig zu sein. Dies hat zur Folge, dass jemand nicht erst dann zum Journalismus gehört, wenn er eine bestimmte Ausbildung absolviert hat. Jeder, der zum Beispiel hin und wieder einen Spielbericht über die örtliche A-Jugend-Fußballmannschaft im Heimatblatt unterbringt oder seine Meinung zum Tagesgeschehen in einem Weblog veröffentlicht, kann sich ‚Journalist’ nennen und bekommt auf Verlangen in der Regel auch einen Presseausweis von einem der Journalistenverbände. Will man die Gesamtzahl der Journalisten in Deutschland ermitteln und eine repräsentative Auswahl von ihnen befragen, muss man deshalb präziser abstecken, welche Personen mit der Berufsbezeichnung ‚Journalist’ gemeint sein sollen. Dies kann mit unterschiedlichem Aufwand und unterschiedlicher Differenziertheit gemacht werden was dann allerdings gravierende Folgen für die Reichweite der Studien hat. Die Schwierigkeiten, die Grundgesamtheit der Journalisten zu definieren und empirisch zu ermitteln, sind daher Gegenstand der folgenden Abschnitte. 2.1 Definition der Grundgesamtheit Die Definition der Berufsgruppe der Journalisten als Grundgesamtheit für Journalistenbefragungen ist einerseits nur der Startpunkt für den empirischen Forschungsprozess. Andererseits bestimmt sie den gesamten Prozess entscheidend: Sie legt fest, welcher Phänomenbereich untersucht wird und was nicht zum Gegenstand der Untersuchung wird. Um die Reichweite einer Journalistenbefragung beurteilen zu können, ist es daher eine zentrale Voraussetzung, dass die Definition der Grundgesamtheit hinreichend dargelegt und reflektiert wird. Bedauerlicherweise wird dies gerade in Publikationen zu Journalistenbefragungen immer wieder versäumt. Grundsätzlich lassen sich bei der Definition der Grundgesamtheit für Journalistenbefragungen zwei Herangehensweisen unterscheiden, die in der Forschung praktiziert werden: theoriegeleitete Definitionen der Grundgesamtheit und forschungspragmatische Bestimmungen, bei denen Berufsverbände, Statistiken oder Branchenverzeichnisse für die Beschreibung der Grundgesamtheit herangezogen werden.2 Mit beiden Vorgehensweisen können prinzipiell Stichproben für eine Journalistenbefragung gebildet werden, welche die 2
Scholl (2010) unterscheidet differenzierter zwischen operationalen Definitionen bzw. Nominaldefinitionen, Realdefinitionen, funktionalen Definitionen und kulturelle Definitionen des Journalismus. Für das Thema des vorliegenden Beitrags reicht eine Unterscheidung in forschungspragmatische und theoriegeleitete Definitionen jedoch aus.
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Grundgesamtheit angemessen repräsentieren. Doch der Geltungsbereich der Befunde unterscheidet sich in der Regel deutlich. Dies wird im Folgenden am Beispiel ausgewählter Journalistenbefragungen gezeigt. Eine ausschließlich forschungspragmatisch begründete Bestimmung der Grundgesamtheit wählen beispielsweise Meyen und Springer (2009) für ihre Online-Befragung freier Journalisten in Deutschland. Sie stützten sich auf die E-Mail-Adressen der freien Journalisten, die diese in den Branchenverzeichnissen Zimpel und MEDIAtlas angegeben haben. Als Grundgesamtheit der durchgeführten Befragung können also diejenigen Personen gelten, die sich selbst in den genannten Verzeichnissen als freie Journalisten eingetragen haben. Damit ist die Aussagekraft der Befragung deutlich begrenzt: Erstens bleibt unklar, welche Personen überhaupt als „freie Journalisten“ Gegenstand der Untersuchung sein sollen, und welche nicht. Gehören etwa die Betreiber von Weblogs, freiberufliche Fotografen, Pauschalisten bei Tageszeitungen oder Redaktionsassistenten zur untersuchten Berufsgruppe? Zweitens lassen sich längst nicht alle Journalisten in solchen Verzeichnissen registrieren, und drittens arbeiten nicht alle registrierten Personen als Journalisten. Die Autoren selbst geben an, „dass nicht alle Menschen, die in den genannten Verzeichnissen vertreten sind, tatsächlich (noch) als freiberufliche Journalisten arbeiten“ und dass es in Deutschland deutlich mehr als die genannten freien Journalisten gibt (Meyen & Springer 2009, 38 f.). Die Ergebnisse dieser Studie lassen sich daher nicht für ‚die freien Journalisten in Deutschland’ verallgemeinern, weil die Grundgesamtheit gar nicht bekannt ist und man nicht beurteilen kann, inwiefern sie von der befragten Stichprobe abgebildet werden. Repräsentativität kann auf diesem Wege also nicht hergestellt werden, auch keine „eingeschränkte Repräsentativität“, wie die Autoren den Geltungsbereich ihrer Studie beschreiben (vgl. Meyen & Springer 2009, 37). Ähnlich verhält es sich bei Untersuchungen, deren Grundgesamtheit über die Mitglieder von Journalistenorganisationen und -verbänden definiert wird (vgl. etwa für die Schweiz: Marr et al. 2001, 52 ff.). Sie sind in ihrer Aussagekraft auf die Mitglieder dieser Organisationen begrenzt, weil nicht alle Journalisten Mitglieder solcher Vereinigungen sind und andererseits auch nicht alle Mitglieder dieser Vereinigungen ohne weiteres als Journalisten gelten können.3 Vollständig unklar bleibt dagegen der Geltungsbereich von Journalistenbefragungen, welche die Grundgesamtheit der Untersuchung nicht angeben (können). Dies ist in der Regel dann der Fall, wenn für eine Journalistenbefragung aus forschungspragmatischen Gründen die Fragebögen in Kooperation mit verschiedenen Medien und Verbänden durch Homepages, E-Mail-Verteiler, Intranet und Verbandszeitschriften veröffentlicht werden und die Journalisten um Teilnahme gebeten werden (vgl. z.B. Schwenk 2006, 143 ff.; Haller, Sattler & Bigl 2005, 3). Bei diesem Verfahren kann die Anzahl der schließlich Befragten sehr groß sein. Dennoch kann eine Verallgemeinerung der Befunde über die konkret Befragten hinaus nicht begründet vorgenommen werden. Auch deutlich aufwändigere Verfahren zur Bestimmung der Grundgesamtheit einer Journalistenbefragung stoßen an ihre Grenzen, wenn sie nicht theoretisch expliziert werden, 3
Der Repräsentationsfehler dieses Verfahrens ließe sich in den Griff bekommen, wenn man den Organisationsgrad der Journalisten kennen würde. Je mehr Journalisten Mitglied von Journalistenverbänden sind, umso eher lassen sich die Mitglieder von Journalistenverbänden als Grundgesamtheit der Journalisten des Landes definieren. Allerdings bleibt hier immer noch das Problem, dass vorab bestimmt werden müsste, welche Personen als Journalisten gelten sollen, um dann zu ermitteln, wie hoch der Organisationsgrad dieser Journalisten ist.
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sondern ausschließlich operational vorgenommen werden. So ermittelten etwa Schneider, Schönbach und Stürzebecher (1993a; 1993b; Schneider & Schönbach 1993) als Grundgesamtheit ihrer „Sozialenquete“ der Journalisten in der gerade wiedervereinigten Bundesrepublik die Summe der fest angestellten Redakteure und Volontäre bei Zeitungen, Zeitschriften (ohne Fachzeitschriften), Rundfunkanstalten und Nachrichtenagenturen mit Sitz in Deutschland. Durch das Fehlen einer theoretischen Bestimmung der Grundgesamtheit bleibt damit aber unklar, warum die Journalisten bestimmter Medientypen (etwa Fachzeitschriften, Stadtmagazine, Anzeigenblätter) und freie Journalisten keine Bestandteile der Grundgesamtheit sind. Auch wird nicht offengelegt, ob bestimmte Rollen im Zusammenhang mit der journalistischen Aussagenproduktion zur Grundgesamtheit der Befragung gehören oder nicht beispielsweise technische Redakteure, Bildredakteure oder Redaktionsassistenten. Alles in allem bleibt der Geltungsbereich der Studie somit erstens auf fest angestellte Journalisten bei bestimmten Medientypen beschränkt. Zweitens gibt es einen großen Teil von Medienschaffenden, von denen man nicht weiß, ob sie als Journalisten Bestandteil der Untersuchung sind und ob die Befragungsergebnisse also auch für diese Gruppen gelten können. Repräsentativität stellt damit nicht nur eine methodische und empirische Herausforderung dar, sondern auch eine theoretische. Da Journalismus ein komplexes, sehr heterogenes Phänomen darstellt, das ständigen Veränderungen unterworfen ist, das als Berufsbild nicht geschützt ist und sich stark ausdifferenziert hat, muss man sich die Mühe machen, die Grenzen des Untersuchungsbereichs abstrakt zu beschreiben und im Idealfall auch zu begründen. Damit eine Journalistenbefragung repräsentativ etwa für ‚den Journalismus in Deutschland’ sein kann, muss theoretisch expliziert werden, wie diese Grundgesamtheit definiert wird. Dabei muss das Phänomen einerseits so breit wie möglich definiert werden, um seine Vielfältigkeit zu erfassen. Andererseits muss Journalismus von anderen, nichtjournalistischen Kommunikationsformen unterscheidbar sein; es müssen also theoretische, empirisch umsetzbare Grenzen gezogen werden (vgl. Scholl 1997). Ein solches theoriegeleitetes Vorgehen kann bei Journalistenbefragungen entweder für die gesamte journalistische Berufsgruppe (beispielsweise eines Landes) versucht werden (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006a; 2006b; Scholl & Weischenberg 1998; Weischenberg, Löffelholz & Scholl 1994; 1993) oder für Teilbereiche des Journalismus wie z.B. Sportjournalismus (vgl. Hackforth 1994) oder Onlinejournalismus (vgl. Löffelholz et al. 2003). Eine theoriegeleitete Definition der Grundgesamtheit von Journalistenbefragungen kann dabei auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen. Für die erste Repräsentativbefragung zum „Journalismus in Deutschland“ (vgl. Weischenberg, Löffelholz & Scholl 1994; 1993) wurde beispielsweise eine theoretische Definition von Journalismus auf der Basis seiner gesellschaftlichen Funktion entwickelt und auf drei Ebenen präzisiert, um Journalisten als Akteure des Journalismus zu bestimmen: 1.
Auf gesellschaftlicher Ebene wird Journalismus als soziales System konzipiert, das eine exklusive Funktion für die Gesellschaft erfüllt und durch spezifische Kommunikationsmechanismen charakterisiert ist: Journalismus stellt durch professionelle Fremdbeobachtung der verschiedenen Gesellschaftsbereiche Themen für die öffentliche Kommunikation zur Verfügung, die als neu und relevant bewertet werden und die auf Tatsachen(erfahrungen) basieren. Auf diese Weise lässt sich Journalismus von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen und insbesondere von anderen Formen der öf-
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2.
3.
Maja Malik fentlichen Kommunikation (z. B. Public Relations, Werbung, Literatur) unterscheiden. Diese funktionale Begriffsbestimmung kann zwar nicht direkt empirisch umgesetzt werden; sie leitet aber die Definition sowie die Operationalisierung der weiteren Dimensionen des Journalismus an (vgl. Scholl & Weischenberg 1998, 63 ff.; Scholl 1997, 471 ff.) Auf der organisatorischen Ebene stellen Medienbetriebe und Medienangebote Institutionen des Journalismus dar, die anhand spezifischer Regeln und Routinen kontinuierlich journalistische Kommunikation produzieren und damit die journalistische Funktion operativ umsetzen. Mit Hilfe formaler und inhaltlicher Kriterien lassen sich auf dieser Ebene journalistische von nicht-journalistischen Organisationen und Medienangeboten unterscheiden. Da journalistische Kommunikation theoretisch durch ihren spezifischen Bezug auf Aktualität, Faktizität und Relevanz definiert wird, werden etwa Medien mit fehlender oder geringer Periodizität (z. B. Bücher, vierteljährlich erscheinende Zeitschriften) ebenso aus der Definition ausgeschlossen wie überwiegend fiktionale Medienangebote (z.B. Romanhefte, Spielfilme, Satiremagazine) oder Medien mit einer geringen Reichweite, denen wenig Relevanz aus der Rezipientenperspektive und mit Blick auf die öffentliche Kommunikation unterstellt wird. Als Institutionen professioneller Fremdbeobachtung werden journalistische Medien auch von PR-Medien unterschieden, die im Auftrag von Unternehmen, Vereinen, Parteien oder Verbänden erstellt werden und primär der (positiven) Selbstdarstellung der Auftraggeber dienen (sollen), sowie von Laienmedien, die ausschließlich durch ehrenamtliche Arbeit zustande kommen und als Selbstthematisierung von Interessen- und Meinungsgruppen kategorisiert werden (vgl. Scholl 1997, 471 ff.). Auf der Ebene professioneller Akteure werden journalistische Arbeitsrollen als Bestandteile des Systems Journalismus konzipiert, wenn sie hauptberuflich in fest angestellter oder freier Mitarbeit mit der Produktion journalistischer Medienangebote verknüpft sind. Hauptberuflichkeit wird dann konstatiert, wenn ein Journalist mehr als die Hälfte seiner Einkünfte aus journalistischer Arbeit bezieht.4 Ausgeschlossen werden Arbeitsrollen, die keinen unmittelbaren Einfluss auf den Inhalt der redaktionellen Produkte haben. Auch ehrenamtliche, arbeitslose oder nebenberuflich freie Journalisten werden somit nicht als professionelle Akteure des Journalismus berücksichtigt (vgl. Scholl 1997, 472 ff.).
Diese Definition wurde auch bei der Replikation der „Journalismus in Deutschland“-Studie zugrunde gelegt (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006a; 2006b; Malik 2005) sowie mit leichten Modifikationen für die Studie „Onlinejournalisten in Deutschland“ verwendet (vgl. Löffelholz et al. 2003) und bei einer Erhebung der Grundgesamtheit der österreichischen Journalisten berücksichtigt (vgl. Kaltenbrunner et al. 2007). Einen ähnlichen Definitionsansatz entwickeln Neuberger, Nuernbergk und Rischke (2009a, 200 f.; 2009b, 238 f.), um die Grundgesamtheit des Journalismus im Internet zu 4
Dieses Kriterium der Hauptberuflichkeit wurde für die Replikation der Studie im Jahr 2005 erweitert: Hauptberuflichkeit wird entweder festgestellt, wenn ein Journalist mehr als die Hälfte seiner Einkünfte aus journalistischer Arbeit bezieht oder mehr als die Hälfte seiner Arbeitszeit für die Herstellung journalistischer Medienangebote verwendet. Damit wurde der Tatsache Rechnung getragen, dass die Arbeit im Journalismus häufig schlechter bezahlt wird als etwa Öffentlichkeitsarbeit. Es sollten auch Freiberufler berücksichtigt werden, die zwar weniger als die Hälfte ihres Einkommens aus journalistischer Arbeit beziehen, aber mehr als die Hälfte ihrer Arbeitszeit im Journalismus verbringen.
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bestimmen und (unter anderem) eine Befragung von Anbietern journalistischer Angebote im Netz durchzuführen.5 Die zentralen Merkmale ihrer Journalismus-Definition stellen Aktualität, Universalität, Periodizität, Publizität und Autonomie dar; sie leiten die Identifikation journalistischer Angebote im Internet an (vgl. Neuberger, Nuernbergk & Rischke 2009a, 200 f.). Journalistische Mitarbeiter bei diesen Angeboten werden über ihr berufliches Handeln definiert als „Personen, die mindestens eine der folgenden journalistischen Tätigkeiten ausführen: Schreiben und Redigieren eigener Texte, Recherchieren, Auswählen und Redigieren fremder Texte, Produzieren von Video- und Audiobeiträgen, Leitung und Organisation der genannten Tätigkeiten“ (Neuberger, Nuernbergk & Rischke 2009b, 238). Fest angestellte, freiberufliche, voll- und teilzeitbeschäftigte Mitarbeiter sowie Praktikanten werden gleichermaßen als Journalisten definiert. Hauptberuflichkeit wird im Gegensatz zur oben beschriebenen JouriD-Definition nicht zum bestimmenden Merkmal journalistischer Mitarbeiter. Mit den beiden exemplarisch erläuterten Definitionen wird deutlich, dass eine theoretische Explikation dessen, was mit „Journalismus“ und mit „Journalisten“ empirisch erfasst werden soll, den Geltungsbereich einer Studie absteckt und es damit erleichtert, die Reichweite der Befunde zu beurteilen. Allerdings beinhaltet die präzise Definition der Grundgesamtheit zwangsläufig Entscheidungen und Festlegungen, die dann auch kritisiert werden können, weil sie stets auch anders getroffen werden könnten. Beispielsweise stieß die Entscheidung, für die Studie „Journalismus in Deutschland“ nur hauptberufliche Journalisten als journalistische Akteure zu erfassen, in der Wissenschaft wie in der Medienpraxis gelegentlich auf Kritik. Ein nennenswerter Teil der Personen, die zum Zustandekommen journalistischer Medien beitragen, würde damit vernachlässigt (vgl. etwa Pöttker 2008). Dieser Kritik ist an dieser Stelle (erneut) entgegenzusetzen, dass notwendigerweise theoretische und empirische Grenzen gezogen werden müssen, um den Geltungsbereich repräsentativer Journalistenbefragungen zu bestimmen. Das Kriterium der Hauptberuflichkeit ist dabei gängiges, forschungspraktisch umsetzbares Kriterium der Berufsforschung. Einen anderen Weg, die Gruppe journalistischer Akteure zu definieren und zu begrenzen, schlagen indes Löffelholz et al. (2003, 478 f.) für ihre repräsentative Befragung von Onlinejournalisten in Deutschland vor. Als „äußeren Rand“ der Berufsgruppe erfassen sie auch diejenigen Personen, die weniger als die Hälfte ihres Einkommens aus journalistischer Tätigkeit beziehen und nur zwischen 10 und 50 Prozent ihrer Arbeitszeit für Online-Medien tätig sind. Dass die Bestimmung und Erfassung der freien Journalisten unabhängig vom gewählten Verfahren eine besondere Herausforderung für repräsentative Journalistenbefragungen sind, ist nicht zuletzt daran erkennbar, dass bisher nur sehr wenige Studien überhaupt Freiberufler in ihrer Definition berücksichtigen und in die empirische Untersuchung aufnehmen. Gerade die Kritik an einzelnen Theorieentscheidungen offenbart aber auch die Vorteile einer theoriegeleiteten Bestimmung der Grundgesamtheit von Journalistenbefragungen: Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsgegenstand zwingt zum Of5
Die Grundgesamtheits-Definition der Untersuchung von Neuberger, Nuernbergk und Rischke (2009a, 2009b) wird hier erläutert, obwohl die Studie nicht auf eine Befragung einzelner Journalisten abzielt, sondern auf die Befragung der Leiter von journalistischen Internetredaktionen. Da diese Redaktionsleiter auch nach der Anzahl ihrer festangestellten und freiberuflichen journalistischen Mitarbeiter befragt werden (vgl. Neuberger, Nuernbergk & Rischke 2009b, 238 f.), definieren und erheben die Autoren nicht nur die Grundgesamtheit journalistischer Angebote im Internet, sondern auch die Grundgesamtheit journalistischer Akteure. Lediglich die Ziehung einer Stichprobe aus dieser Grundgesamtheit unterbleibt, weil eine Journalistenbefragung nicht Bestandteil des Forschungsprojektes war.
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fenlegen und zur Explikation der Definitionskriterien. Hier kann dann zwar Kritik ansetzen und können Verbesserungsvorschläge gemacht werden aber die Reichweite der Untersuchung wird erkennbar und begründet. 2.2 Ermittlung der Grundgesamtheit Während die theoretische Definition von Journalisten als Grundgesamtheit von Journalistenbefragungen in der Regel noch recht abstrakt bleibt, müssen bei der empirischen Ermittlung der Grundgesamtheit konkrete Operationalisierungsentscheidungen getroffen werden. In Abhängigkeit von ihrer Definition ist die empirische Ermittlung der Grundgesamtheit wiederum in unterschiedlichem Maße aufwändig. Wurde die Grundgesamtheit der Journalistenbefragung forschungspragmatisch über die Mitgliedschaft in journalistischen Organisationen und Verbänden bzw. über die Nennung in Brachenverzeichnissen definiert, so müssen zur Ermittlung der Grundgesamtheit ‚nur noch’ die verzeichneten Personen zusammengestellt werden (vgl. etwa am Beispiel der vorne beschriebenen Studien von Meyen & Springer 2009, 38 und Marr et al. 2001, 52 ff.). Allerdings führt sich hier das Problem der mangelhaften Definition der Grundgesamtheit fort. Wie oben erläutert wurde, bleibt unklar, ob und hinsichtlich welcher Kriterien diese Personen Journalistinnen und Journalisten darstellen. Auch abstraktere Bestimmungen, die nicht ausschließlich in Registern verzeichnete Personen als Grundgesamtheit definieren, greifen in der Regel auf verschiedene Quellen, Statistiken, Verzeichnisse und Dossiers zurück, um die journalistische Grundgesamtheit zu erfassen. Beispielsweise ermittelten Schneider, Schönbach und Stürzebecher (1993a, 1993b) die Grundgesamtheit ihrer „Sozialenquete“ der Journalisten in der Bundesrepublik als Summe der angestellten Redakteure und Volontäre bei Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunkanstalten und Nachrichtenagenturen mit Hilfe von Daten des Statistischen Bundesamtes, des Branchenverzeichnisses Zimpel, Daten vom Institut der deutschen Wirtschaft sowie schriftlichen Anfragen an Nachrichtenagenturen und Rundfunkanstalten. Allerdings birgt auch dieses Vorgehen jenseits der engen und an den Randbereichen unklaren Definition ein Problem: Nicht alle dieser Quellen differenzieren hinreichend zwischen journalistischen und nicht-journalistischen Mitarbeitern der Medienbetriebe, so dass die ermittelte Grundgesamtheit die Zahl der Journalisten in Deutschland möglicherweise überschätzt, weil sie etwa technische Mitarbeiter in Medienbetrieben, Mediengestalter, Schriftsteller oder Öffentlichkeitsarbeiter einbezieht. Wird die Grundgesamtheit der Journalisten (eines Landes, einer Sparte etc.) in der theoretischen Definition über ihre Arbeit für journalistische Medien bestimmt, ist dagegen ein mehrstufiges Rechercheverfahren notwendig. Erstens gilt es zu klären, welche Medien als journalistische Medien Basis der Erhebung sind. Zweitens müssen die journalistischen Mitarbeiter dieser Medien ermittelt werden.
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Am Beispiel der Studie „Journalismus in Deutschland“ wird an dieser Stelle ein solches vierstufiges Verfahren illustriert, das in ähnlicher Form der Studie „Onlinejournalisten in Deutschland“ (vgl. Löffelholz et al. 2003) zugrunde liegt:6 1.
2.
3.
4.
Um die Grundgesamtheit der journalistischen Medien in Deutschland zu ermitteln, wurden zunächst alle Mediensparten zusammengestellt, in denen journalistische Kommunikation prinzipiell erwartbar ist. Im Bereich der Presse sind dies Tages-, Wochen- und Sonntagszeitungen, Anzeigenblätter, Publikums-, Special-Interest- und Fachzeitschriften sowie Beilagen (Supplements), Stadtmagazine und Alternativzeitschriften. Beim Rundfunk werden öffentlich-rechtliche und private Hörfunk- und Fernsehanbieter, freie Radioveranstalter sowie Hörfunk- und Fernsehzulieferer unterschieden. Weiterhin werden Nachrichtenagenturen, Mediendienste und Online-Medien berücksichtigt. Im nächsten Schritt wurde eine Liste der Medien mit Redaktionssitz in Deutschland erstellt. Als Quellen dienten die jeweils aktuellen Ausgaben der Adressverzeichnisse Zimpel und Stamm sowie ergänzend IVW, das Verzeichnis Bunte Seiten, die OnlineMediaDatenbank und Online-Werbeplanung. Alle Einträge dieser Medienliste wurden auf ihre Zugehörigkeit zur Grundgesamtheit hin überprüft. Ausgehend von der oben skizzierten Journalismus-Definition wurden diejenigen Medien in die Mediengrundgesamtheit aufgenommen, die als redaktionell eigenständige Einheiten zu identifizieren sind, deren Herausgeber weder Unternehmen, Parteien, Vereine, Verbände, Behörden o. ä. sind, die nicht ausschließlich von ehrenamtlichen Mitarbeitern erstellt werden, die regelmäßig und mindestens sechs Mal im Jahr erscheinen und neben Werbung, Fiktion, Musik, Spielen, Rätseln u. ä. auch einen eigenen redaktionellen Teil aufweisen.7 Nach der umfangreichen Recherchearbeit basierte die Studie 2005 auf einer Grundgesamtheit von knapp 2.900 journalistischen Medienorganisationen in Deutschland. Sie wurden nach Mediensparten differenziert und in weitere Unterkategorien systematisiert, um unterschiedliche (Auflagen-)Größenklassen und Erscheinungsfrequenzen in der Grundgesamtheit zu erfassen. Auf Grundlage der Mediengrundgesamtheit wurde eine geschichtete Zufallsstichprobe der journalistischen Medien schriftlich zur Zahl ihrer freien und fest angestellten journalistischen Mitarbeiter sowie deren Verteilung auf Ressorts, Positionen in der redaktionellen Hierarchie und Geschlecht befragt. Auf der Basis dieser Personalerhebung konnte schließlich die Grundgesamtheit der Journalisten in Deutschland hochgerechnet und nach zentralen Parametern differenziert werden.
Damit ist die Voraussetzung für eine repräsentative Stichprobenbildung geschaffen: Die Grundgesamtheit kann benannt und hinsichtlich der zentralen Merkmale Verteilung auf 6
7
Neuberger, Nuernbergk und Rischke (2009a, 2009b) zielen bei ihrer Analyse des Journalismus im Internet nicht darauf ab, eine Grundgesamtheit von Journalisten zu erfassen. Allerdings liegt ihre Erfassung journalistischer Mitarbeiter von Internetredaktionen ein ähnliches Procedere zugrunde: Zunächst werden Medientypen und Internetformate definiert, in denen journalistische Angebote und Anbieter zu erwarten sind. Daraufhin werden die Internetangebote erfasst und (in einem aufwändigen inhaltsanalytischen Verfahren) daraufhin überprüft, ob sie die definierten journalistischen Merkmale besitzen (vgl. Neuberger, Nuernbergk & Rischke 2009a, 201 ff.). Zur Operationalisierung dieser Kriterien für die verschiedenen Mediensparten vgl. Malik (2005).
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Medien, Verteilung auf Ressorts, Anstellungsverhältnis, Hierachie und Geschlecht beschrieben werden. Erst auf dieser Grundlage lässt sich eine strukturgleiche Teilmenge dieser Grundgesamtheit konzipieren und als Stichprobe befragen. Die Grundgesamtheit der freien Journalisten bleibt in diesem Stadium der Forschung allerdings noch ein vorläufiger und ungenauer Wert, der sich erst mit den Erkenntnissen aus der Befragung im Nachhinein präzisieren lässt. Das liegt vor allem daran, dass freie Journalisten häufig für mehrere Redaktionen arbeiten und dann in der Personalzahlerhebung von mehreren Medien genannt und mehrfach gezählt werden könnten. Erst durch die Befragung selbst kann daher festgestellt werden, für wie viele verschiedene Medien die Gruppe der freien Journalisten durchschnittlich arbeitet, so dass die Zahl der Freiberufler in der Grundgesamtheit dann korrigiert werden kann. Hinzu kommt, dass die genaue Anzahl der regelmäßigen freien Mitarbeiter auch in den Redaktionen selbst nicht immer bekannt ist. Auch werden regelmäßige freie Mitarbeiter in den Medien unterschiedlich definiert, so dass die Angaben der Betriebe im Einzelnen nur bedingt vergleichbar sind. Daher lässt sich die Gruppe der freien Journalisten bei der Stichprobenbildung nur mit einem Schätzwert berücksichtigen. Insgesamt zeigt sich, dass die Ermittlung der Grundgesamtheit für repräsentative Journalistenbefragungen einen erheblichen methodischen und forschungspraktischen Aufwand mit sich bringt und dennoch stets kritisiert werden kann, weil Entscheidungen kontingent sind, also stets mit guten Gründen auch anders getroffen werden könnten. Insbesondere die Frage, ob einzelne Medien an den Randbereichen des Journalismus (z.B. sehr spezielle Fachzeitschriften, Internet-Portale mit Nachrichtenangeboten oder private Weblogs) als journalistische Institutionen gelten können, ist in Einzelfällen nur schwer zu entscheiden (vgl. Malik 2005). 3
Stichproben repräsentativer Journalistenbefragungen
Mit der Stichprobenbildung wird das in der Methodenlehre zentrale Problem der Repräsentativität in den Blick genommen. Um von den Ergebnissen der Befragung einer Auswahl von Journalisten auf ihre Gesamtheit schließen zu können, muss die Stichprobe bzw. das Auswahlverfahren so konzipiert werden, dass von Aussagen über die Teilmenge auf die Gesamtmenge geschlossen werden kann. Ein solcher Repräsentationsschluss „ist nur dann zulässig, wenn die Elemente aus der Grundgesamtheit in der Teilmenge in der selben Zusammensetzung vertreten sind, die Teilmenge also ein verkleinertes, strukturgleiches Abbild der Gesamtmenge ist“ (Brosius & Koschel 2005, 72). Damit werden an die untersuchte Stichprobe Ansprüche in zweierlei Hinsicht formuliert: Erstens muss das Auswahlverfahren so angelegt sein, dass die Stichprobe die Grundgesamtheit möglichst angemessen repräsentiert. Zweitens muss die geplante Stichprobe auch in angemessenem Umfang realisiert werden können. Die Qualität der Stichprobenbildung hängt damit sowohl von der Konzeption des Auswahlverfahrens als auch von der tatsächlichen Realisierung der geplanten Stichprobe ab.
Repräsentativität als Herausforderung für Journalistenbefragungen
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3.1 Auswahlverfahren Die Ergebnisse einer Journalistenbefragung wären am zuverlässigsten, wenn alle Mitglieder der definierten Grundgesamtheit befragt würden. Da dies bei größeren Populationen viel zu aufwändig ist, gilt es, aus dieser Grundgesamtheit eine Auswahl zu treffen, anhand derer auch Aussagen über die Personen getroffen werden können, die nicht befragt werden, aber der definierten Grundgesamtheit angehören. Dafür muss die Wahrscheinlichkeit, mit der die Stichprobendaten Kennwerte der Grundgesamtheit abbilden, möglichst groß gehalten werden. Dies wird am besten über eine reine Zufallsauswahl realisiert, bei der jedes Element der Grundgesamtheit eine angebbare Chance größer als null hat, in die Stichprobe zu gelangen (vgl. Brosius & Koschel 2005, 74). Das würde heißen: Aus einer vollständigen Liste aller Journalisten in Deutschland würde per Zufall eine Stichprobe ausgewählt. Damit wäre die Wahrscheinlichkeit nur kleiner Abweichungen zwischen den Merkmalen der Grundgesamtheit und den Merkmalen der Stichprobe größer als die Wahrscheinlichkeit großer Abweichungen (vgl. Kühnel & Krebs 2001, 226). In der Praxis der Journalismusforschung kann eine reine Zufallsauswahl für Journalistenbefragungen nur bei kleinen, übersichtlichen Grundgesamtheiten umgesetzt werden. Beispielsweise lassen sich auf der Basis von Branchenverzeichnissen und Impressa die Chefredakteure und Ressortleiter von regionalen Tageszeitungen relativ einfach und zuverlässig ermitteln. Für den gesamten Journalismus in Deutschland ist hingegen eine reine Zufallsauswahl nicht durchführbar, da Namenslisten aller Journalisten in Deutschland als konkrete Auswahlgesamtheit kaum zu erstellen sind. Auch die aufwändigen Personalzahlerhebungen, die im vorangegangenen Abschnitt als Schritt zur Ermittlung der Grundgesamtheit beschrieben wurden, führen nicht zu vollständigen Personenlisten, sondern lediglich zu Mitarbeiterzahlen einer Stichprobe von Medienbetrieben, die sich zu einer Grundgesamtheit hochrechnen lassen. Die Schwierigkeit, eine einfache Zufallsauswahl umzusetzen, hat zur Folge, dass bei Journalistenbefragungen immer wieder Stichprobenmodelle angewandt werden, die nicht zufallsgesteuert sind und damit systematische Fehlerquellen aufweisen. Im Folgenden werden verschiedene Auswahlverfahren mit ihren Stärken und Schwächen anhand von ausgewählten Studien illustriert. Eine willkürliche Auswahl der befragten Journalisten ist festzustellen, wenn diese ohne besondere Systematik nach ihrer Verfügbarkeit ausgewählt werden (vgl. Brosius & Koschel 2005, 79). Ein solches Verfahren liegt beispielsweise bei der Journalistenbefragung von Johanna Schwenk (2006) vor, die über die Zeitschriften und Websites der Berufsverbände DJV und dju, über die Intranetseiten verschiedener öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, auf dem Internetportal JoNet.org und mit dem E-Mail-Verteiler des Journalistinnenbundes einen standardisierten Fragebogen verbreitete (vgl. Schwenk 2006, 143 ff.). Eine bewusste Auswahl der befragten Journalisten wird mit einem Quotaverfahren angewandt, wie es beispielsweise in der „Sozialenquete“ von Schneider, Schönbach und Stürzebecher (1993a, 1993b) durchgeführt wurde. Hier erfolgt die Auswahl der zu befragenden Journalisten zwar systematisch und nachvollziehbar anhand zuvor definierter Kriterien, aber nicht nach dem Zufallsprinzip. Zwar zeigen repräsentative Bevölkerungsbefragungen, dass eine Quotenauswahl über wenige Merkmale grundsätzlich ausreicht, um repräsentative Stichproben zu bilden. Wenn man die Grundgesamtheit - wie im Fall des Journalismus - allerdings nicht besonders gut kennt, besteht die Gefahr, dass Repräsentativität
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nicht hinsichtlich sämtlicher Merkmale und Merkmalskombinationen der Erhebungseinheiten gegeben ist, sondern lediglich hinsichtlich der Merkmale bzw. Merkmalskombinationen, die als Auswahlkriterien bestimmt werden (vgl. Brosius & Koschel 2005, 83).8 Bei der Journalistenbefragung zur „Sozialenquete“ wurden zunächst nach der Methode der publizistischen Stichprobe in einem mehrstufigen Verfahren Medien als Organisationseinheiten ausgewählt, aus denen wiederum die zu befragenden Journalisten rekrutiert wurden. Dazu wurde ein Quotenplan aufgestellt, in dem festgelegt wurde, wie viele Journalisten mit welchen Merkmalen (z.B. Chefredakteure, Ressortleiter, Journalisten in Zentralund Außenredaktionen) befragt werden sollten. In den ausgewählten Medien wurde derjenige Journalist befragt, der als erster telefonisch erreicht wurde. Für leitende Redakteure, die wahrscheinlich selten telefonisch zuerst erreicht werden, wurde eine Quote von zehn Prozent vorgegeben. Wenn in einer Redaktion mehrere Personen befragt werden sollten, wurde die Auswahl mittels Schneeballverfahren fortgesetzt: Der zuerst erreichte Redakteur wurde darum gebeten, den nächsten Interviewpartner zu benennen. Die Entscheidungsfreiheit dieses Redakteurs wurde durch die Vorgabe eines bestimmten Anfangsbuchstabens des Nachnamens eingeschränkt (vgl. Schneider, Schönbach & Stürzebecher 1993a, 7 f.). Das Problem der geschilderten Vorgehensweise findet sich vor allem in der mangelnden Kontrolle der Stichprobenbildung. Sie ist beim Quotaverfahren innerhalb der Quotenvorgaben den Interviewern überlassen; beim Schneeballverfahren erfolgt sie durch die Befragten selbst. Wenn diejenige Person befragt wird, die zuerst ans Telefon geht, ist außerdem davon auszugehen, dass Journalisten mit Schreibtischtätigkeiten mit den damit einhergehenden Tätigkeiten und Berufserfahrungen in der Stichprobe überrepräsentiert werden. Der Vorteil dieser Vorgehensweise ist allerdings, dass sie forschungspraktisch und -ökonomisch deutlich weniger aufwändig ist als Varianten der Zufallsauswahl. Für die Ziehung geschichteter Zufallsstichproben wird die Grundgesamtheit der Journalisten in verschiedene Gruppen eingeteilt, aus denen dann eine Zufallsauswahl gezogen werden kann. So wurde beispielsweise die Grundgesamtheit der Journalisten in Deutschland für die JouriD-Studien mehrfach geschichtet: Innerhalb der verschiedenen Mediensparten wurden Gruppen verschiedener Auflagengrößenklassen (z.B. große vs. mittlere und kleine Zeitschriften) gebildet und diese wiederum nach Erscheinungsweisen (z.B. 6 bis 11 Mal im Jahr vs. mehr als 11 Mal im Jahr) unterteilt. Wenn die Zahl der fest angestellten Journalisten pro Betrieb in einem dieser Teilsegmente deutlich unterschiedlich war und die Schicht daher in sich nicht hinreichend homogen war, erfolgte eine weitere Schichtung nach der Mitarbeiterzahl in den Redaktionen. Und schließlich wurden innerhalb der Teilsegmente die Parameter Anstellungsverhältnis (fest angestellte vs. freie Journalisten), Position (Chefredakteure, leitende Redakteure, Redakteure, Volontäre) und Geschlecht als Schichtvorgaben kombiniert. Dabei wurden die Stichproben innerhalb der einzelnen Teilschichten teilweise disproportional zur Grundgesamtheit angelegt, um auch kleine Segmente des Journalismus in einer hinreichenden Größe in der Stichprobe zu berücksichtigen.9 8
9
Auf der Basis der Grundgesamtheitserhebungen, die sowohl von Schneider, Schönbach und Stürzebecher (1993a, 1993b) als auch von Weischenberg, Löffelholz & Scholl (1993) und Weischenberg, Malik & Scholl (2006a,b) durchgeführt wurden, lassen sich daher durchaus geeignete Quotenstichproben für Journalistenbefragungen bilden. Allerdings gilt zu bedenken, dass durch die ständigen und seit Beginn der Digitalisierung schnellen Veränderungen des Journalismus auch diese Basisdaten nach einigen Jahren ein zunehmend unsicheres Fundament werden, weshalb die Grundgesamtheit immer wieder neu erhoben werden muss. Kleinere Subgruppen könnten sonst quantitativ nicht mehr sinnvoll analysiert werden. Die Aussagen wären nicht verallgemeinerungsfähig, weil die inferenzstatistischen Maße wegen ihrer Abhängigkeit von der
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Mit Hilfe dieser Schichtvorgaben erfolgte die Auswahl der Stichprobe schließlich in zwei Schritten: Zuerst wurde innerhalb der Schichten eine Zufallsstichprobe von Medienbetrieben und Ressorts bestimmt, aus denen dann – wiederum nach einem Zufallsschlüssel – die zu befragenden Journalisten rekrutiert wurden. Mittels schriftlicher und telefonischer Recherche wurden möglichst alle Namen aus den ausgewählten Betrieben bzw. Ressorts ermittelt, um auf diese Weise schließlich per Zufallsauswahl eine Liste der zu befragenden Journalistenstichprobe zu generieren (vgl. detaillierter: Malik 2005; Scholl & Weischenberg 1998, 305 ff.) Mit einer solchen Schichtung handelt man sich aber auch Probleme ein: Das mehrstufige Auswahlverfahren birgt das Problem, dass es die Standardabweichung der Schätzung multipliziert. Dieses Problem wächst mit sinkender Zahl und zunehmender Größe der Schichten, mit der Homogenität der Elemente innerhalb der Schichten und mit der Heterogenität der Elemente zwischen den Schichten (vgl. z. B. Diekmann 2000, 336). Daher wurden bei der Stichprobenbildung für die „Journalismus in Deutschland“-Studien möglichst viele Medien berücksichtigt, die hinsichtlich ihrer Zugehörigkeit zu einer Mediensparte und einem Medienteilsegment untereinander homogen sind, aber in sich in Bezug auf die Merkmale Anstellungsverhältnis, Position und Geschlecht relativ heterogen sein dürften. Damit sind die Schichten zwar unterschiedlich groß, aber nicht zu groß. Zudem hat die Schichtung nicht nur einen forschungspraktischen, sondern auch einen methodisch-inhaltlichen Sinn: Sie ermöglicht es, auch bei der Stichprobenbildung die Heterogenität und den Differenzierungsgrad des Journalismus zu berücksichtigen, indem die reine Zufallsauswahl erst innerhalb verschiedener Schichtungen durchgeführt wird. 3.2 Realisierung der Stichprobe In der Forschungspraxis ist die Umsetzung eines komplexen Stichprobenplans eine weitere Herausforderung. Die Teilnahme- und Auskunftsbereitschaft von Medienbetrieben und einzelnen Journalisten ist sowohl für die Bestimmung der Grundgesamtheit der Journalisten als auch für die Ermittlung der zu befragenden Personen eine zentrale Voraussetzung. Allerdings zeigt sich in der Forschungspraxis, dass diese Auskunftsbereitschaft nicht in allen Medien ausgeprägt ist. Gerade wenn zahlreiche Medien oder Journalisten die notwendigen Auskünfte verweigern, können systematische Fehler produziert werden (vgl. Brosius & Koschel 2005, 89). Beispielsweise könnten Verzerrungen in der Stichprobe entstehen, wenn systematisch diejenigen Journalisten eine Befragung verweigern, die im redaktionellen Alltag zeitlich besonders belastet sind. Ähnlich systematisch könnten aber auch beispielsweise Tageszeitungsjournalisten unterrepräsentiert werden, wenn die Interviewer die Kontaktaufnahme stets vormittags durchführen, wenn in vielen Tageszeitungsredaktionen Konferenzen stattfinden. Allerdings werden solche systematische Ausfälle bei den wenigsten Studien dokumentiert oder problematisiert nicht zuletzt, weil in den Publikationen der Raum für solche methodischen Informationen in der Regel zulasten der Ergebnispräsentation gehen würde. (Teil-) Stichprobengröße bei so geringen Größen versagen. Die Disproportionierung bringt allerdings das Problem mit sich, dass die Auswahlwahrscheinlichkeit jedes einzelnen Journalisten der Grundgesamtheit nicht gleich ist. Da aber die Verteilung der Erhebungsmerkmale für die Grundgesamtheit bekannt sind, können die Disproportionierungen im Nachhinein durch Gewichtung wieder ausgeglichen werden.
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Daher wird in diesem Abschnitt wiederum am Beispiel der Studie „Journalismus in Deutschland II“ dargelegt, welche forschungspraktischen Herausforderungen bei der Realisierung einer repräsentativen Journalistenstichprobe auftreten können. Diese Herausforderungen bewegten sich auf zwei Ebenen: erstens bei der Erhebung der Personalzahlen in den Redaktionen und zweitens bei der Erfassung der Namen und Telefonnummern der zu befragenden Journalisten. So ließ sich 2005 die Erhebung der Mitarbeiterzahlen zur Ermittlung der Grundgesamtheit nur mit einer nicht geplanten, aufwändigen telefonischen Nachfassaktion zum gewünschten Erfolg bringen (Ausschöpfungsquote: 74 Prozent). Die umfangreichen Telefonrecherchen waren notwendig, weil insbesondere die fehlenden Angaben mehrerer großer Rundfunkanstalten, Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen eine zuverlässige Ermittlung der Grundgesamtheit in den jeweiligen Mediensparten unmöglich gemacht hätte. Durch Anrufe, Briefe und E-Mails aus den Redaktionen ließen sich vier Erklärungen für das im Vergleich zur ersten Studie zunächst schleppende Antwortverhalten systematisieren: 1.
2.
3. 4.
Überforschung: Insbesondere die Redaktionen großer Rundfunkanstalten, Zeitungen und Zeitschriften werden allzu häufig befragt und nach eigenen Angaben aus Universitäten sowie aus Markt- und Meinungsforschungsinstituten „mit Fragebögen zugeschüttet“. Umstrukturierungen: Wegen laufender redaktioneller Umstrukturierungen sind die Befragten unsicher, welche Angaben sie bezüglich ihrer Personalzahlen machen sollen. Entlassungen, die ausgesprochen, aber noch nicht vollzogen sind, oder das Outsourcing ganzer Redaktionsbereiche machen Auskünfte über die Zahl der fest angestellten und freien journalistischen Mitarbeiter schwierig. Medienkrise: Viele Befragte empfanden es wegen der schwierigen wirtschaftlichen Lage des Medienmarktes zum Zeitpunkt der Erhebung als sehr heikel, Mitarbeiterzahlen preiszugeben. Arbeitsbelastung: Da der Fragebogen detaillierte Angaben über die Verteilung der Mitarbeiter auf Ressorts, Positionen und Geschlechter erfordert, ist seine Beantwortung in größeren Betrieben mit einigem Aufwand verbunden.
Hingegen war die Phase der Stichprobenbildung, in der Namenslisten von fest angestellten und freiberuflichen Journalisten bei den ausgewählten Medien erhoben werden mussten, insgesamt durch eine große Kooperationsbereitschaft der Redaktionen gekennzeichnet. Doch während Verweigerungen ganzer Betriebe oder Ressorts die Ausnahme blieben, erwies sich die Rekrutierung der Stichprobe von freien Journalisten in einigen großen Redaktionen (v. a. im öffentlich-rechtlichen Rundfunk) als schwierig. In diesen Fällen gaben die Redaktionsleiter die Namen ihrer freien Mitarbeiter nicht von sich aus preis, sondern erfragten zuvor deren Auskunftsbereitschaft (entweder in einer Konferenz, durch Aushang in der Redaktion oder durch Weiterleiten einer E-Mail). Zur Begründung verwiesen sie auf den Datenschutz, vor allem aber auf die Befürchtung, freie Journalisten könnten eine feste Arbeitsstelle einklagen, wenn sie vom Betrieb als regelmäßige freie Mitarbeiter benannt würden. Erst mit dem Einverständnis der Journalisten wurden deren Namen und Telefonnummern für die Studie zur Verfügung gestellt. Auf diese Weise wurde die Ermittlung der Bruttostichprobe in einigen Betrieben und in Bezug auf die Gruppe der freien Journalisten zur vorzeitigen Abfrage der Teilnahmebereitschaft an der Befragung. Allerdings scheint
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dieses Vorgehen keine systematischen Fehler zu provozieren, weil sich diejenigen Journalisten, die ihre Namen in die Stichprobe aufnehmen lassen, wahrscheinlich nicht einheitlich hinsichtlich relevanter Merkmale oder Einstellungen von denjenigen unterscheiden, die diesen Eintrag verweigern. Die Befragung selbst konnte schließlich mit einer hohen Ausschöpfungsquote von 73 Prozent der in der Stichprobe verzeichneten Journalisten durchgeführt werden. Hilfreich dafür war eine intensive Schulung der Interviewer, eine möglichst genaue Anpassung der Interviewzeiten an die Tagesabläufe in Redaktionen und die Tatsache, dass die Interviewer viele (bis zu 38) Kontaktversuche unternahmen, um die ausgewählten Journalisten zu erreichen. 4
Fazit
Dieser Beitrag hat am Beispiel ausgewählter Studien dargelegt, dass der Anspruch auf Repräsentativität bei Journalistenbefragungen sowohl mit theoretischen als auch mit methodischen und forschungspraktischen Herausforderungen einhergeht. Diese Herausforderungen lassen sich auf vier Ebenen des Forschungsprozesses lokalisieren: y
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Definition der Grundgesamtheit: Repräsentative Journalistenbefragungen erfordern zunächst theoretische Grundlagenarbeit, um die Grundgesamtheit der zu befragenden Journalisten theoretisch umfassend und gleichzeitig trennscharf zu definieren, um einerseits die Vielfältigkeit der journalistisch tätigen Berufsgruppe zu berücksichtigen und andererseits klare Grenzen zu anderen Berufsgruppen mit Journalismus-ähnlichen Tätigkeiten zu ziehen. Insbesondere die Definition der freiberuflichen Journalisten steht hier vor dem Problem, dass zwar nennenswerte Anteile der journalistischen Medien von freien Mitarbeitern erstellt werden (vgl. Freischreiber 2009), aber nicht alle dieser Freiberufler ohne weitere Überlegungen und Begründungen als Journalisten bezeichnet werden können. Ermittlung der Grundgesamtheit: Im nächsten Schritt stellen sich bei der Ermittlung der Grundgesamtheit insbesondere methodische und forschungspraktische Herausforderungen. Zum einen gilt es, die theoretisch definierte Grundgesamtheit in empirisch messbare Kategorien zu übersetzen; zum anderen ist die Erfassung der Journalisten in der Grundgesamtheit mit großem forschungspraktischen Aufwand verbunden. Da Journalistinnen und Journalisten nur über journalistische Medien angemessen zu erfassen sind, ist die Ermittlung der Grundgesamtheit von der Auskunftsbereitschaft der Medienbetriebe abhängig, die gegebenenfalls nur durch umfassende Überzeugungsarbeit hergestellt werden kann. Insbesondere die Grundgesamtheit der freien Journalisten ist nur schwer zu ermitteln, da diese nicht in allen Medienbetrieben hinlänglich erfasst sind und in der Regel für mehr als ein Medium arbeiten. Konzeption des Auswahlverfahrens: Bei der Stichprobenbildung müssen dann methodische Anstrengungen unternommen werden, um ein zufallsgesteuertes Auswahlverfahren zu entwickeln. Erst die Zufallsauswahl erlaubt es mit angebbarer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass die Merkmale der untersuchten Teilmenge den Merkmalen der Grundgesamtheit entsprechen. Für Journalistenbefragungen bieten sich dazu komplexe Auswahlverfahren an, welche die Vielfalt der journalistischen Grundgesamtheit
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Maja Malik berücksichtigen können aber dann auch die allgemeinen Fehlerquellen solcher Auswahlverfahren in Kauf nehmen müssen (etwa Probleme der mehrstufigen Auswahl, der Disproportionierung und der Klumpung). Realisierung der Stichprobe: Die Umsetzung des geplanten Auswahlverfahrens kann schließlich mit verschiedenen forschungspraktischen Problemen einhergehen: einem schweren Zugang zur Gruppe der freien Journalisten, der ‚Überforschung‘ einzelner Segmente im Journalismus und daraus resultierenden Verweigerungen sowie den permanenten Veränderungen, denen der journalistische Arbeitsmarkt schon seit längerer Zeit unterliegt, mit einer entsprechend schwierigen Erreichbarkeit von Journalisten.
Insgesamt ist die Konzeption und Durchführung repräsentativer Journalistenbefragungen also mit großem theoretischen, methodischen und forschungspraktischen Aufwand sowie entsprechend hohen Kosten verbunden, so dass sie in der Forschungspraxis nur selten nach der reinen Lehre durchgeführt werden (können). Dabei ist eine fehlende Repräsentativität kein grundsätzlicher Malus für eine Journalistenbefragung. Zahlreiche Fragestellungen der Journalismusforschung lassen sich erst einmal auch mit bewussten Auswahlverfahren und qualitativen Befragungsverfahren sinnvoll bearbeiten wenngleich auch hier die Grundgesamtheit zumindest definiert und expliziert werden sollte. Zum Problem wird mangelnde Repräsentativität allerdings dann, wenn eine Verallgemeinerbarkeit der Befunde trotz mangelhafter Verfahren bei der Bestimmung der Grundgesamtheit und der Stichprobenbildung einfach behauptet wird. Literaturverzeichnis Brosius, H.-B. & Koschel, F. (2005): Methoden der empirischen Kommunikationsforschung. Eine Einführung (3. Auflage). Wiesbaden: VS Verlag. Diaz-Bone, R. (2006): Statistik für Soziologen. Konstanz: UVK/UTB. Diekmann, A. (2000): Empirische Sozialforschung. Grundlagen, Methoden, Anwendungen (6. Auflage). Reinbek: Rowohlt. Freischreiber (2009): Ohne Freie kein Feinschmecker (URL: http://www.freischreiber.de/ohne-freiefehlt-was, 23.3.2010). Hackforth, J. (1994): Sportjournalismus in Deutschland: Die Kölner Studie. In: Hackforth, J. & Fischer, C. (Hrsg.): ABC des Sportjournalismus. München: Ölschläger, 13-49. Haller, M., Sattler, S. & Bigl, B. (2005): In Zukunft werden Journalisten Alleskönner sein (URL: http://www.uni-leipzig.de/~zdj/zdj-ergebnisse.pdf, 23.3.2010). Kaltenbrunner, A., Karmasin, M., Kraus, D. & Zimmermann, A. (2007): Der Journalisten-Report. Österreichs Medien und ihre Macher. Eine empirische Erhebung. Wien: Facultas. Kühnel, S. & Krebs, D. (2001): Statistik für die Sozialwissenschaften. Grundlagen, Methoden, Anwendungen. Reinbek: Rowohlt. Löffelholz, M., Quandt, T., Hanitzsch, T. & Altmeppen, K. D. (2003): Onlinejournalisten in Deutschland. Zentrale Befunde der ersten Repräsentativbefragung deutscher Onlinejournalisten. In: Media Perspektiven, Heft 10, 477-486. Malik, M. (2005): Heterogenität und Repräsentativität. Zur Konzeption von Grundgesamtheit und Stichprobe der Studie „Journalismus in Deutschland II“. In: V. Gehrau, B. Fretwurst, B. Krause, & G. Daschmann (Hrsg.): Auswahlverfahren in der Kommunikationswissenschaft. Köln: Halem, 183-202. Marr, M., Wyss, V., Blum, R. & Bonfadelli, H. (2001): Journalisten in der Schweiz: Eigenschaften, Einstellungen, Einflüsse. Konstanz: UVK.
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Journalisten unter Beobachtung. Grundlagen, Möglichkeiten und Grenzen der Beobachtung als Methode der Journalismusforschung Thorsten Quandt
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Die Beobachtung in der Journalismusforschung: Eine ungeliebte Methode?
Was tun eigentlich Journalisten? Will man sich mit der Produktion journalistischer Medien forschend auseinandersetzen, drängt sich diese grundlegende Frage früher oder später auf. Doch die augenscheinlich banale Fragestellung nach dem Arbeitsalltag der Akteure im Journalismus stellt die Journalismusforschung vor große Herausforderungen. Die beiden Hauptmethoden der Journalismusforschung, wie sie auch in diesem Band sehr breit dokumentiert sind – nämlich die Inhaltsanalyse und die Befragung –, sind bei der Beantwortung nämlich nur begrenzt hilfreich. Die Inhaltsanalyse lässt nur indirekte Schlüsse auf das Handeln der Journalisten zu – aus den Produkten kann man zwar plausible Thesen über den Entstehungskontext der Angebote anstellen, doch basieren diese auf einer bereits bestehenden, generellen Kenntnis der Produktionszusammenhänge. D.h. um Rückschlüsse auf das Handeln über den Umweg der Angebote zu ziehen, muss man zuvor schon Kenntnisse über Handlungszusammenhänge haben (die über andere Erhebungsmethoden gesammelt wurden). Und selbst dann ist der Rückschluss vom Angebot auf einen Urheber und dessen Handeln angesichts einer professionell organisierten, arbeitsteiligen Produktion mit verschiedensten Bearbeitungsstufen vom Ereignis bis hin zur Nachricht ein sehr schwieriger. Über Befragungen ist konkretes Handeln ebenfalls nur in begrenztem Maße zu erfassen. Zwar kann man die Journalisten zu ihrem Tun Fragen stellen, doch die Antworten sind Reflexionen und Einschätzungen aus Sicht der Betroffenen. Dadurch findet eine mehrfache Konstruktion (oder je nach Sichtweise: Filterung) statt – einerseits durch den Wissenschaftler und seine Fragestellungen, durch die Wahrnehmung und Interpretation der Fragen seitens der Befragten, durch die Rückerinnerung der Befragten an das Handeln, durch die sprachliche Beschreibung desselben, und wiederum durch die Interpretation der Antworten seitens des Wissenschaftlers. Selbst bei Befragungen, die Interpretationsspielräume stark einschränken (indem auf unmissverständliche, geschlossene Items zurückgegriffen wird), muss man sich als Forscher bewusst sein, dass hier kein ‚direkter’ Zugriff auf eine Handlungsrealität genommen werden kann – insofern sind Differenzen zwischen dem empirischen Handlungsgeschehen und den Befragungsreflexionen nie auszuschließen, in vielen Fällen sogar wahrscheinlich (vgl. hierzu auch beispielhaft Vogelgesang & Scharkow in diesem Band sowie die Ausführungen zu Reflexivität in Giddens 1997). Angesichts dieser Probleme würde es sich eigentlich anbieten, die Frage nach dem Handeln von Journalisten mit der Methode der Beobachtung anzugehen. Zwar erfolgt auch O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _16, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Thorsten Quandt
ihr Zugriff auf Ereignisse über die Perspektive des Beobachters, seine Wahrnehmung und Interpretation, doch es sind weniger (Re-)Konstruktionsstufen und indirekte Schlüsse notwendig als bei den anderen Erhebungsverfahren. Es soll hier keinem naiven Realismus das Wort geredet werden, doch es scheint plausibel, dass der Weg von den Ereignissen zur wissenschaftlichen Konstruktion bei der Beobachtung ‚direkter’ ist. Trotz dieses offenbaren Vorzugs finden sich in der Journalismusforschung – und mehr noch in der allgemeinen Kommunikationswissenschaft – nur vereinzelt Beobachtungsstudien. Gehrau (2002) konstatiert in seinem Übersichtswerk zur Beobachtung in der Kommunikationswissenschaft, dass diese „unbeliebt“ sei. Und weiter: „Betrachtet man die fachnahen Bücher zu Methoden der Datenerhebung, so fallen die Kapitel zur Beobachtung meist deutlich schmaler aus als die der Befragung. Des Weiteren finden sich – abgesehen von der Telemetrie – kaum methodologische Aufsätze zur Beobachtung in kommunikationswissenschaftlichen Fachzeitschriften, ganz im Gegensatz zur Befragung oder Inhaltsanalyse [...]. Zudem drängt sich der Verdacht auf, dass viele Kommunikationswissenschaftler die Beobachtung als Verfahren zur Vorbereitung von Befragungsstudien betrachten. [...] Insofern dient sie offenbar eher zu Vorbereitung von Forschungsprojekten, die keiner eigenen Methodendokumentation bedarf, denn als eigenständiges Erhebungsverfahren.“ (Gehrau 2002, 98 f.)
Diese Aussage muss man für die Journalismusforschung etwas qualifizieren: Beobachtungen sind hier – im Verhältnis zu den anderen Erhebungsmethoden – ebenfalls rar gesät, doch gibt es zumindest eine (zwar kleine, aber durchaus bedeutsame) Tradition redaktioneller Beobachtungen (vgl. Abschnitt 2). In verwandten Disziplinen ist die Lage deutlich anders: Speziell in der Psychologie spielen Beobachtungen im experimentellen Design eine entscheidende Rolle und haben einen hohen Grad an fachlicher Akzeptanz, auch aufgrund einer langen Tradition. Bereits seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben Behavioristen wie B.F. Skinner (1938) und J.B. Watson (1913) tierisches und menschliches Verhalten mittels Beobachtungen erfasst. Einige der spektakulärsten psychologischen Experimente (z.B. Bandura, Ross & Ross 1961, Milgram 1963, 1974, Zimbardo 1971) sind letztlich Beobachtungsstudien. Auch aus der Soziologie, der Anthropologie und der Ethnologie sind Beobachtungen nicht wegzudenken – wenngleich hier insbesondere Feldbeobachtungen von zentraler Wichtigkeit sind. So bleibt die Frage: Warum wird die Beobachtung in der Kommunikationswissenschaft und der Journalistik vergleichsweise selten eingesetzt? Warum oft nur im Rahmen kleinerer Vorstudien und häufig auf methodisch niedrigem Niveau? Hierfür gibt es wohl mehrere Gründe: So verleitet die „Nähe zu alltäglichen Techniken zur Erlangung von Informationen“ (Schnell, Hill & Esser 1989, 365) in gewisser Weise dazu, der Methode keinen eigenständigen Wert zuzuordnen oder methodischen Anforderungen weniger Wert beizumessen als bei Verfahren, die weniger ‚natürlich’ erscheinen. Gleichzeitig erfordert die Beobachtung bei der Felddurchführung und der Auswertung – sollte man sie systematisch und methodisch kontrolliert durchführen – einen hohen Aufwand, finanziell (wenn man mehr als nur Einzelfälle beobachten möchte) wie auch persönlich (wenn man sich selbst als Beobachter ins Feld begibt). Will man sich mit Journalisten als zu beobachtenden Akteuren auseinandersetzen, scheint zudem der Feldzugang schwieriger als beispielsweise bei offenen Beobachtungen im öffentlichen Raum oder bei Beobachtungen von anderen Personengruppen (beispielsweise Mitgliedern bestimmter
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Schichten oder Subkulturen) – allein schon deswegen, weil die Zielgruppe verhältnismäßig klein und stark beforscht ist (in Deutschland unter 50.000 Journalisten, vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006). Sagt eine Person aus der Zielgruppe nicht zu, ist es oft schwer, überhaupt adäquaten Ersatz zu finden. Und schließlich arbeitet in der Journalismusforschung nur eine überschaubare Zahl an Wissenschaftlern – die Kommunikationswissenschaft und Journalistik sind im Vergleich beispielsweise zur Psychologie und Soziologie verhältnismäßig kleine Disziplinen mit einer jüngeren Tradition. Eingedenk der genannten Anforderungen der Methode ‚Beobachtung’ konnte auf dieser Basis noch keine umfassende und vertiefte Entwicklung sowie Kanonisierung stattfinden. Klare Dokumentationen des methodischen Vorgehens sind immer noch rar, so dass bislang nur bedingt auf Vorgängerstudien aufgebaut werden konnte, und auch Lehrbücher zur Beobachtung in der Kommunikationswissenschaft sind selten (als Ausnahme vgl. z.B. Gehrau 2002). Der vorliegende Beitrag setzt hier an und skizziert Grundlagen und Möglichkeiten der Beobachtung als Methode der Journalismusforschung. Im Rahmen eines Sammelbandbeitrags muss sich diese Darstellung selbstverständlich auf einen Überblick beschränken (vgl. Abschnitt 2). Ergänzt wird die Diskussion der Methode aber zumindest durch ein konkretes Anwendungsbeispiel – eine strukturierte redaktionelle Beobachtung (vgl. Abschnitt 3). Andere Anwendungsmöglichkeiten der Methode werden ebenfalls gestreift. In einem abschließenden Fazit werden schließlich die Grenzen, aber auch die Potenziale der Erhebungsmethode aufgezeigt (vgl. Abschnitt 4). 2
Grundlagen der Beobachtung als wissenschaftliche Erhebungsmethode
2.1 Herkunft und Fachtraditionen Die Beobachtung ist wohl die ursprünglichste Datenerhebungsmethode – der beobachtende Wahrnehmungsmodus gehört letztlich zur menschlichen Natur und lässt sich daher kaum auf ein ‚Entstehungsdatum’ festlegen. Selltiz, Jahoda, Deutsch und Cook haben dies in ihrem Klassiker „Research Methods in Social Relations“ folgendermaßen gefasst: „We are all constantly observing – noticing what is going on around us (...); as long as we are awake, we are almost constantly engaged in observation. It is our basic method of getting information about the world around us“ (Selltiz et al. 1967 [1951], 200). Freilich ist das alltägliche Beobachten der Menschen noch keine wissenschaftliche Methode. Selltiz und Kollegen differenzieren daher die wissenschaftliche Beobachtung von der als „chance observation“ bezeichneten, nicht-wissenschaftlichen Beobachtung über mehrere Bedingungen: „Observation becomes a scientific technique to the extent that it (1) serves a formulated research purpose, (2) is planned systematically, (3) is recorded systematically and related to more general propositions rather than being presented as a set of interesting curiosa, and (4) is subjected to checks and controls on validity and reliability“ (Selltiz et al. 1967 [1951], 200). Die wissenschaftliche Beobachtung im genannten Sinne hat in den Sozialwissenschaften mehrere Wurzeln: Eine frühe Tradition hatte sich bereits im 19. Jahrhundert mit ethnologischen Beobachtungsstudien herausgebildet (vgl. hierzu Diekmann 1995, 456 ff.). Allerdings waren diese (Feld-) Studien nicht immer systematisch, und eine Validitäts- und Re-
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Thorsten Quandt
liabilitätsprüfung, wie sie Selltiz et al. vorschwebten, war in der ethnologischen Feldforschung kaum umsetzbar. Die ethnologische Tradition, die in der Soziologie teilweise fortgeführt wurde, prägte somit in Teilen ein Bild von der Beobachtung als einem qualitativen, offenen, weitestgehend unstrukturierten Aufschreiben persönlicher Eindrücke und Erfahrungen (vgl. z.B. Kromrey 1990, 187). Allerdings gilt hier zu ergänzen, dass sich auch in dieser frühen Tradition schon Protokoll-Techniken und (Teil-)Systematisierungen finden lassen. Wesentlich stärkere Systematisierungs- und Vereinheitlichungsschritte finden sich dagegen in der psychologischen Forschung (sowohl in der Humanpsychologie als auch in der Forschung zu animalischem Verhalten). Wie bereits oben ausgeführt, sind hier Beobachtungen insbesondere in experimentellen (Labor-)Settings zu finden. Ziel ist dabei eine hohe Kontrollier- und Überprüfbarkeit – ganz im Sinne von Selltiz et al. Die Beobachtung in der Psychologie hat aufgrund ihrer durchaus beachtlichen Tradition seit den Studien der frühen Behavioristen (vgl. Abschnitt 1) und ihrer breiten Anwendung einen hohen Grad an Vereinheitlichung und Kanonisierung erreicht, beispielsweise in Hinblick auf die Logik der Durchführung, die eingesetzten Skalen und die Auswertungsmethoden. Dadurch lassen sich Ergebnisse unterschiedlicher Studien unaufwändig vergleichen. In der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft und der Journalistik finden sich Einflüsse sowohl der ethnologisch-soziologischen als auch der psychologischen Tradition. Speziell in der kommunikationswissenschaftlichen Wirkungsforschung ist die psychologisch orientierte Richtung prominent vertreten, während in der Journalismusforschung eher die traditionelle Feldbeobachtung eine Rolle spielt. Dahinter steht einerseits eine thematische Nähe, andererseits auch die Beschaffenheit der Untersuchungsobjekte bzw. Forschungsgegenstände: Während in der Wirkungsforschung vor allem der Einfluss von Medien auf (breite) Bevölkerungsschichten und vergleichbare Effekte bestimmter Angebote auf (beliebige) Individuen untersucht werden, befasst sich die Journalismusforschung vielfach mit journalistischen Akteuren – was bezogen auf die Gesamtbevölkerung eine rare Spezies ist. Geht es um bestimmte Journalistengruppen (z.B. Chefredakteure bestimmter Medientypen), handelt es sich selbst im nationalen Rahmen nur um wenige Einzelfälle. Insofern hat man es in der Journalismusforschung oftmals mit ‚Case Studies’ und Einzelfallbeschreibungen zu tun, deren Übertragbarkeit auf andere Fälle – sei es z.B. in anderem medialen Kontext oder zu anderen Zeitpunkten – unklar bleibt. Die Methodendokumentation bei Beobachtungsstudien war bis in die jüngste Zeit dürftig. Für den BeobachtungsKlassiker von Rühl (1969), aber auch die Arbeiten von Rückel (1975) und DygutschLorenz (1971, 1973) stellt Gehrau (2002, 108) fest: „Aufgrund des offenen Vorgehens ist das genaue methodische Vorgehen in den Studien nur schwer nachvollziehbar, so dass sie praktisch nicht replizierbar sind“. Auch den Studien von Krzeminski (1987) und Hienzsch (1990) sowie der Begleitforschung zum Kabelpilotprojekt Dortmund (Koller, Hamm & Hehr-Koch 1988, 45) – welche ansonsten ausführlich dokumentiert ist – lässt sich nicht detailliert entnehmen, wie die Beobachtungen durchgeführt worden sind. Dies nährt Zweifel an der Systematik des Vorgehens und der Einhaltung von Wissenschaftsnormen, wie sie z.B. Selltiz et al. (1967 [1951], s.o.) formuliert haben. Eine methodische Auseinandersetzung mit den Arbeiten, aber auch die Konsolidierung einer entsprechenden empirische Tradition sind so kaum möglich – fehlen doch Orientierungs- und Vergleichspunkte. Erst in jüngerer Zeit wurden mehrere Beobachtungsstudien veröffentlicht, die zum einen ihr Vorgehen und die genutzten Instrumente detailliert dokumentieren, zum anderen
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stark strukturiert vorgehen. Hierzu gehören u.a. die Arbeiten von Altmeppen (1999) bzw. Altmeppen, Donges und Engels (1999), Quandt (2005), Vicari (2008) sowie Blöbaum et al. (2010). Hinzu kommen Arbeiten zur Beobachtung als Methode (u.a. Gehrau 2002, Altmeppen, Donges & Engels 2002), die auch auf Fragestellungen der Journalismusforschung eingehen. 2.2 Varianten der Beobachtung Letztgenannte Methodenarbeiten verweisen darauf, dass die redaktionelle Beobachtung nicht die einzige Anwendungsmöglichkeit der Erhebungsmethode in der Journalismusforschung ist (wenngleich die beliebteste). Betrachtet man die verschiedenen Variationsmöglichkeiten der Beobachtung, erschließen sich auch weitere Verwendungszusammenhänge. Gehrau unterscheidet in seiner zusammenfassenden Systematik eine große Zahl an Varianten, die er nach Verhalten und Positionierung des Beobachters, der Beobachtungssituation und dem Vorgehen bei der Erhebung differenziert (vgl. Tabelle nach Gehrau 2002, 28 ff.; vgl. ähnlich Atteslander 2003; Diekmann 1995; Greve & Wentura 1997; Grümer 1974). Tabelle:
Systematik der Beobachtungsvarianten nach Gehrau (2002, 28)
Bereiche
Varianten
Beobachter
Interne Beobachter versus extern beauftragte Beobachter Selbst- versus Fremdbeobachtung Teilnehmende versus nicht teilnehmende Beobachtung
Beobachtungssituation
Offene versus verdeckte Beobachtung Wissentliche versus unwissentliche Beobachtung Feld- versus Laborbeobachtung Beobachtung mit versus ohne Stimulus
Erhebungsverfahren
Standardisierte versus nicht standardisierte Protokollierung Direkte Beobachtung versus indirekt über Verhaltensresultate Unvermittelte Beobachtung versus vermittelt über Aufzeichnung Manuelle versus automatisierte Protokollierung
Gehrau reduziert diese Unterscheidungen jedoch auf „drei zentrale Fragen“ (Gehrau 2002, 42), nach denen auch die Beobachtungen (nicht nur in der Journalismusforschung) differenziert werden können: „(1) Soll es sich um eine teilnehmende oder um eine nicht teil-
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nehmende Beobachtung handeln und wenn teilgenommen werden soll, in welcher Form? (2) Findet die Beobachtung offen mit Wissen der Beobachteten statt oder werden sie im Unklaren gelassen? (3) Geht man beim Protokollieren des Beobachteten offen oder strukturiert standardisiert vor?“ (ebd., 43; vgl. hierzu auch Cranach & Frenz 1969) Die Entscheidung für eine Beobachtungsvariante als spezifische Kombination der genannten Möglichkeiten basiert u.a. auf der wissenschaftlichen Fragestellung und theoretischen Erwägungen, den Vorkenntnissen, der Beschaffenheit des Feldes, der Beobachtungsobjekte und -subjekte, dem Beobachter und den Analysezielen. So ist beispielsweise die Entscheidung, ob nicht-standardisiert (offene Protokollierung) oder standardisiert vorgegangen wird, auch davon abhängig, ob man auf Basis von Vorkenntnissen überhaupt ein strukturiertes Instrument für die Beobachtung entwickeln kann, oder man zunächst explorativ arbeiten muss (was für eine offene Protokollierung spräche). Die Entscheidung, ob eine teilnehmende oder nicht teilnehmende Variante bzw. eine offene oder verdeckte Beobachtung gewählt wird, ist auf Basis des Feldes und der dortigen Gegebenheiten zu treffen: Darf man überhaupt im Feld teilnehmen bzw. ist hierfür eine Freigabe notwendig (z.B. bei redaktionellen Beobachtungen üblich)? Welchen Einfluss hat eine offen teilnehmende Beobachtung auf die handelnden Personen im Feld – reagieren diese auf den Beobachter, und verfälscht dies die Ergebnisse? In diesem Sinne sollte klar werden, dass die klassische offene Redaktions- und Journalistenbeobachtung ‚im Feld’ nur ein – wenn auch häufig zum Einsatz kommender – Spezialfall sein kann (als Beispiel vgl. u.a. Rühl 1969, Berkowitz 1992, Christensen 2003, Clausen 2004, Matthews 2005, Quandt 2005). Bei Redaktionsbeobachtungen wird vielfach mit einem nicht-standardiserten Instrument gearbeitet. Wie oben beschrieben, gibt es inzwischen aber eine Reihe von Beobachtungen, die strukturiert vorgehen. Oft bleibt der Beobachter bei der Redaktionsbeobachtung passiv, nimmt also nicht aktiv an den Handlungen im Feld Teil. Es gibt aber auch Beispiele von ‚Insider’- bzw. ‚Undercover’-Beobachtungen (als wissenschaftliches Beispiel vgl. Soloski 1979; für Deutschland vgl. auch das bekannte nicht-wissenschaftliche Beispiel Wallraff 1977) – freilich sind hier im besonderen Maße auch ethische und datenschutzrechtliche Aspekte relevant, ebenso wie die Frage des ‚going native’ (vgl. hierzu u.a. Altmeppen, Donges & Engels 2002, 119; Berger 2000, 161; Friedrichs & Lüdtke 1977, 48) bzw. der Verzerrung der Beobachtungsergebnisse durch eine Solidarisierung des Beobachters mit den Beobachtungssubjekten. Neben der ‚klassischen’ Redaktionsbeobachtung durch einen menschlichen Beobachter im Feld wären auch (verdeckte oder offene) nicht-teilnehmende, automatisierte Beobachtungen, beispielsweise mit Hilfe von Kameras, Mikrofonen, Bewegungssensoren usf., denkbar. Solche Verfahren kommen üblicherweise u.a. in der Überwachung von öffentlichen Räumen und Plätzen, der Stauforschung oder in der Überwachung von Einrichtungen aus Sicherheitsgründen zum Einsatz. Beim Einsatz in der redaktionellen Journalismusforschung wären umfassende ethische wie datenschutzrechtliche Erwägungen zu berücksichtigen; bislang kamen derlei automatisierte Aufzeichnungen daher auch nur sehr restringiert zum Einsatz. Im weiteren Sinne kann man auch automatisierte Aufzeichnungen von Verhaltensspuren – z.B. anhand von logfiles oder mit Hilfe von Aufzeichnungsgeräten zur Erfassung der Fernsehnutzung (‚people meter’, z.B. GfK-Meter, Nielsen-Meter) oder des Leseverhaltens (ReaderScan) – zu dieser Art der Beobachtung zählen. Diese automatisierten Verfahren kommen bei der Analyse von Nutzerverhalten zum Einsatz, wobei seitens der Wissenschaft aufgrund der Aufwändigkeit und Kosten der Verfahren meist nur ‚aus zweiter
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Hand’ auf Daten der kommerziellen Markt- und Medienforschung zurückgegriffen wird (vgl. Webster, Phalen & Lichty 2000). Eine weitere Option der Beobachtung für die Journalismusforschung sind experimentelle Studien. Wie beschrieben kommen diese eher in der kommunikationswissenschaftlichen Wirkungs- und Nutzungsforschung zum Einsatz. Freilich fließen auch deren Ergebnisse (z.B. zur Wahrnehmung und Verarbeitung bestimmter Medieninhalte) in die Journalismusforschung ein – selbst wenn sie im deutschsprachigen Raum nicht immer als zur Journalismusforschung ‚zugehörig’ angesehen werden. Einer solchen Haltung wäre aber grundsätzlich entgegenzuhalten, dass Journalismusforschung nicht ausschließlich ‚Journalistenforschung’ sein kann und muss, und dass zum Journalismus immer auch das Publikum dazu gehört (umso mehr angesichts partizipativer Medienangebote, bei denen eine ‚saubere’ Trennung zwischen Produzent und Rezipient kaum noch durchzuhalten ist; vgl. hierzu auch Singer et al. 2011). Zudem wären experimentelle Settings auch mit Medienschaffenden als Versuchspersonen durchaus denkbar (vgl. Engelmann 2010). Die Beispiele deuten lediglich an, welche generelle Spannbreite bei Beobachtungen in der Journalismusforschung möglich ist. Darüber hinaus ergeben sich im Detail weitere Variationen auf basis diverser Grundentscheidungen bezüglich Beobachtungsfeld, -zeitraum, -subjekten/-objekten, -schemata, -systemen und weiteren Aspekten der Planung und Durchführung.
2.3 Grundentscheidungen und Planungsschritte Die Wahl einer Beobachtungsvariante ist mit vielfältigen Faktoren und Entscheidungen verbunden, die systematisch angegangen werden können. Der generelle Ablauf einer Beobachtung lässt sich anhand einiger grundlegender Entscheidungen und Planungsschritte beschreiben (vgl. Abbildung 1). Die ersten Schritte der Beobachtung sind mit jenen anderer sozialwissenschaftlicher Methoden vergleichbar: Zunächst gilt es, ein Forschungsinteresse und gegebenenfalls erste Forschungsfragen zu entwickeln (ob aus der Literatur, anderen Studien, Alltagsbeobachtungen oder über Forschungsaufträge). Interesse und Grundfragen sind in Hinblick auf die zugrundeliegenden Dimensionen zu analysieren (vgl. Kromrey 1990), und die Basiskonzepte der Untersuchung sind zu spezifizieren. Bei der sog. ‚dimensionalen Analyse’ werden die „relevanten Aspekte der zu untersuchenden Situation (...) herausgearbeitet und mit Begriffen (mit sprachlichen Symbolen) „bezeichnet“ (ebd., 42). Greift man (z.B. bei hypothesentestenden Laborstudien) auf bereits bestehende theoretische Begriffe zurück, dann bedarf es einer sog. ‚semantischen Analyse’, d.h. „die in der Theorie verwendeten „theoretischen Begriffe“ oder Konstrukte (sind) zu spezifizieren“, es ist ihr „Bedeutungsgehalt festzulegen“ (ebd., 41). Hat man so die Grundinteresse und -fragen in Hinblick auf die relevanten Begriffe seziert und die entsprechenden Konzepte spezifiziert, gilt es, den sich daraus ergebenden Rahmen der Beobachtung abzustecken und Operationsweisen für die Erfassung der entsprechend eingegrenzten und spezifizierten Realitätsbereiche festzulegen. D.h. es ist zu klären, wie man die – möglicherweise nicht direkt erfassbaren Konzepte – empirisch zugänglich macht.
284 Abbildung 1:
Thorsten Quandt Grundlegende Phasen einer Beobachtungsstudie
Forschungsinteresse Forschungsfrage(n) ggf. Hypothesen theoretische Begriffe
Konzeptspezifikation Feld und Gegenstand Objekte/-subjekte Fälle Planung (B.-Schema, B.-System, Fälle)
Training
Prestest
Zugangs- und Einstiegsphase
Feld- (oder Labor-) Phase
Datenaufbereitung
Datenanalyse
Interpretation
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Dabei sind bei der gegebenen Methode bestimmte Zugänge zur Empirie angezeigt: Bei sozialwissenschaftlichen bzw. kommunikationswissenschaftlichen Studien liegt der Fokus natürlich vor allem auf menschlichem Handeln (wenngleich man z.B. auch eine Inhaltsanalyse als Beobachtung von Verhaltensspuren verstehen könnte), in der Journalismusforschung meist auf jenem von Journalisten. Dennoch sind auch andere Beobachtungsgegenstände denkbar, und der Zugang zum Handeln ist auch indirekt über Indikatoren für (erfolgtes) Handeln möglich (wenn z.B. gezählt wird, wie viele Personen in einem bestimmten Zeitraum an einem bestimmten Ort auftauchen, steht diese Personenfrequenz auch für etwas anderes – z.B. für die Häufigkeit von Arbeitspausen, wenn es sich um einen Aufenthaltsraum handelt, und vielleicht auch indirekt für erfolgte andere Handlungen, z.B. Absprachen für ein privates Gespräch zwischen Kollegen). Konkret gilt also zu fragen, wer oder was in welchem Kontext beobachtet werden soll. Zu differenzieren ist hier zum einen das Beobachtungsfeld, d.h. wo und wann wird in welchem kontextuellen Setting beobachtet (vgl. Bunge 1967; sowie Gehrau 2002, 65 f.), zum anderen die Beobachtungssubjekte bzw. –objekte, d.h. werden Personen, Gruppen, Arbeitsvorgänge, Gegenstände/Dinge usf. beobachtet. Feld und Objekt können auch zusammenfallen, wenn Orte selbst beobachtet werden (und die dort auftauchenden Personen nur ‚Zustandsvariablen’ für den Ort darstellen; vgl. hierzu auch Altmeppen, Donges & Engels 2002, 109). Auch bei den augenscheinlich so ähnlichen redaktionellen Beobachtungen in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft zeigen sich in Hinblick auf Feld und Subjekte/Objekte große Unterschiede. Zwar nehmen es sich fast alle dieser Beobachtungen zum Ziel, redaktionelle Arbeitsprozesse zu analysieren, doch über höchst differente perspektivische Zugänge. So betrachteten Rühl (1969), Dygutsch-Lorenz (1971, 1973) und Rückel (1975) ganze Redaktionen bzw. Personengruppen als Beobachtungssubjekte. Altmeppen, Donges & Engels (1999), Vicari (2008) sowie Rössler, Kersten & Bomhoff (in diesem Band) wählten einzelne Journalistinnen und Journalisten als Subjekte. Koller, Hamm und Hehr-Koch (1988) beobachteten in verschiedenen Projektphasen sowohl Redaktionen als auch einzelne Redakteure. Hienzsch (1990) erfasste mit einer „qualitativen Exploration innerhalb einer Redaktion“ Tätigkeiten, um nachfolgend in „einer quantitativen Phase“ das Handeln der „Stelleninhaber“ mit Hilfe der so ermittelten Klassifikation zu erfassen (ebd., 51). Krzeminski (1987) wiederum fokussierte weder auf Personen noch Gruppen, sondern untersuchte redaktionelle Entscheidungsvorgänge. Dementsprechend unterschieden sich die jeweiligen Beobachtungsschemata trotz grundlegend ähnlichem Ziel sehr deutlich. Ein Beobachtungsschema „ist der Plan, der angibt, was und wie zu beobachten ist. Es definiert die Zahl und Art der Beobachtungseinheiten, deren besonders relevante Dimensionen und gibt Beispiele für die Sprache, in der beobachtet werden soll. Es ist damit die Zusammenfassung der operationalisierten Merkmale“ (Friedrichs & Lüdtke 1977, 60). Festzulegen sind dabei – im Rahmen der Definition der Beobachtungseinheiten – gegebenenfalls relevante Aspekte des Feldes, der Subjekte/Objekte, deren Handlungen, mithin der gesamten sozialen „Situation“ (Spradley 1980, 78). Spradley (edb.) unterscheidet beispielsweise bis zu neun Dimensionen (Raum, Akteur, Aktivität, Gegenstand, Handlung, Ereignis, Zeit, Ziel, Gefühle) – die freilich nicht für alle Beobachtungen relevant sein müssen. Darüber hinaus ist feszulegen, wie „Handlungsabläufe oder Elemente von Handlungen“ vom Beobachter „selektiert, klassifiziert und codiert“ (Schnell, Hill & Esser 1989,
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Thorsten Quandt
359) werden sollen. Diese Festlegung geschieht auf der Grundlage eines Beobachtungssystems. Grundlegend werden in der Literatur drei Arten von Beobachtungssystemen unterschieden (vgl. Cranach & Frenz 1969, 272, in Anschluss an Medley & Mitzel (1963): Zeichensysteme (Aufzeichnung des Auftretens von Ereignissen eines bestimmten Typs), Kategoriensysteme (Codierung jedes Ereignisses anhand von Kategorien) und Schätzskalen (Rating-Verfahren, d.h. Beurteilung von Ereignissen oder Objekt-/Subjekt-Eigenschaften anhand einer Skala)1. Es wird also festgelegt, mit welcher Perspektive beobachtet wird, welches Skalenniveau zur Anwendung kommt, und letztlich auch, wie Aufzeichnungen bzw. Codierungen erfolgen (vgl. Gehrau 2002, 71-78). Schließlich muss sich der Forscher noch entscheiden, gemäß welcher Bezugseinheit codiert wird bzw. was der zu beobachtende Fall ist – meist werden bei Beobachtungen menschlichen Handelns Zeit- oder Handlungseinheiten gewählt. Dabei muss es sich nicht um einen prinzipiellen Unterschied handeln: wenn entlang von Zeiteinheiten protokolliert wird, so zeichnet man gegebenenfalls immer noch das Handeln auf – wenn auch zergliedert mittels einer „zeitlichen Rhythmisierung“ (Altmeppen, Donges & Engels 2002, 116), also im Minuten-, 10-Minuten-, Stunden-Takt usf. Cranach und Frenz stellen daher fest: „Strenggenommen ist eine Dichotomisierung der Beobachtungseinheiten in Zeiteinheiten und Ereignisse irreführend. Selbstverständlich werden die Beobachtungskategorien durch Verhaltensbeschreibungen ausgedrückt. Zusätzlich bestehen jedoch häufig verbindliche Angaben für den Beobachter, wie lange er beobachten bzw. nach welchem Zeitabschnitt er Kodierungen vornehmen soll. In dieser Eigenschaft fungieren die Zeiteinheiten als eine Methode der Datenerhebung, und sie bestimmen gleichzeitig die Art der Rohwerte.“ (Cranach & Frenz 1969, 289 f.)
Sind alle obigen Entscheidungen getroffen und alle notwendigen Instrumente für Beobachtung fertiggestellt, empfiehlt sich üblicherweise ein (Beobachter-)Training. Umfangreiche Listen für eine standardisierte Feldbeobachtung müssen ggfs. memoriert werde und der Umgang z.B. mit Aufzeichnungsbögen erlernt werden. Oft ist erst dann ein Pretest sinnvoll. Gerade in der Journalismusforschung ist die Zahl der Beobachtungssubjekte bei Feldbeobachtungen meist sehr gering, weswegen Pretests nur sehr sparsam zum Einsatz kommen können, ‚verbraucht’ man doch mitunter einen durchaus relevanten Teil der zu untersuchenden Gruppe. In Fällen sehr kleiner Zahlen von Beobachtungssubjekten ist möglicherweise gar kein Pretest möglich. Andererseits bedürfen eigentlich gerade Instrumente der Feldforschung einer Prüfung an der Beobachtungsrealität, lassen sie sich doch wegen ihrer Anpassung an sehr spezifische Bedingungen in den seltensten Fällen aus anderen Studien umstandslos übertragen (was auch eine langfristig angelegte Validierung und Kanonisierung erschwert). Insofern muss der Forscher abwägen, was im jeweiligen Fall die beste Alternative ist – umfangreiche Pretests stehen einem minimalen Eingriff ins Feld gegenüber. 1
Schätzskalen sind durchaus streitbar, da es sich um Bewertungen durch einen Beobachter handelt. Selbst wenn dieser geschult ist, muss eine subjektive Wahrnehmungs- und Erlebenskomponente zugrunde gelegt werden, und so bleibt die Frage, ob das zu beobachtende Phänomen die Ergebnisse erklärt – oder die Einstellungen und Wahrnehmungen des Beobachters. Dem kann man zwar entgegenhalten, dass letztlich jede Beobachtung als eine Konstruktion gesehen werden kann; freilich muss man aber konstatieren, dass es Beobachtungen gibt, die weitestgehend beobachterunabhängig sind (z.B. bei weitgehend eindeutigen/zweifelsfreien Kategoriensystemen). Die Problematik von Schätzskalen ist durch den Einsatz mehrerer Beobachter und die Berechnung einer Inter-Beobachter-Reliabilität zwar nicht vollständig zu lösen, aber besser zu kontrollieren.
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Bereits beim Pretest, mehr noch aber bei der eigentlichen Feldphase ist zu entscheiden, welche der als Beobachtungssubjekte bzw. –objekte definierten Gruppe man für die Beobachtung auswählt. Eine Zufallsauswahl einer Stichprobe aus der vorher bestimmten Grundgesamtheit ist oft aus forschungspraktischen Gründen nicht möglich. Allerdings wäre selbst bei einer Zufallsausfall von Personen zu diskutieren, ob man auf dieser Basis einen Inferenzschluss auf eine ‚Handlungsgrundgesamtheit’ herstellen kann – denn eine Person handelt selbstverständlich auch nach ihr spezifischen Muster, und Handlungen erfolgen im Zeitverlauf ebenfalls nach bestimmten Verläufen (vgl. ausführlicher Quandt 2005). D.h. die Auswahl erfolgt für gewöhnlich nach einer zu begründenden Systematik (z.B. ‚typische’ Vertreter für die Gesamtheit, Vertreter bestimmter Gruppen oder auch Extremfälle, die bestimmte Entwicklungsrichtungen eines Realitätsbereichs abbilden). Die Auswahl der zu beobachtenden Personen oder Objekte ist zudem eng verbunden mit der Frage nach dem Feldzugang (es sei denn, man arbeitet mit Laborbeobachtungen, bei denen sich selbstverständlich davon abweichende Fragestellungen ergeben). In der Journalismusforschung stehen vielfach Redaktionen bzw. Journalisten im Mittelpunkt des Interesses – der Zugang zum Feld ist dann meist erst über eine Einverständniserklärung des Medienhauses, der Redaktionsleitung und des Journalisten möglich. Zu kritisieren ist dabei natürlich, dass man eventuell nur einen von den Redaktionen spezifisch ausgewählten Beobachtungsbereich oder ‚Vorzeigemitarbeiter’ präsentiert bekommt und andere Bereiche unsichtbar bleiben. Zu manchen Feldern erhält man möglicherweise auch gar keinen Zugang. Der durchaus berechtigten Kritik ist freilich entgegenzuhalten, dass zum einen die Präsentation eines ‚Schauspiels’ für den Beobachter über längere Zeiträume in aktuellen Arbeitsprozessen nur schwer durchzuhalten ist und einem geschulten Beobachter wohl auffallen würde. Zudem erlauben auch andere Methoden keine direkteren Zugänge zu diesen Realitätsbereichen – so können auch absichtsvoll unzutreffende Antworten in Fragebögen zur journalistischen Arbeit gegeben werden. Startet man die eigentliche Hauptstudie, ist zunächst mit einer Einstiegsphase zu rechnen (es sei denn, man arbeitet experimentell im Labor, wo man über eine Pretest bereits die meisten Eventualitäten und den Rahmen der Beobachtung abstecken kann). Zum einen muss sich der Beobachter in das Feld einfinden, zum anderen müssen sich auch die beobachteten Personen an die Präsenz des Beobachters gewöhnen (sofern nicht verdeckt beobachtet wird). Man muss davon ausgehen, dass das Material gerade dieser Anfangsphase gewissen Verzerrungen und anderen Problemen wie z.B. Beobachtungs-/Codierlücken unterliegen wird, weswegen die Phase des Feldeinstiegs separat von der eigentlichen Beobachtung zu behandeln und ggfs. aus dem Datenkorpus zu entfernen ist. Allerdings muss sich der Beobachter bewusst sein, dass auch in der späteren Phase der Beobachtung Schwierigkeiten auftreten können. So wird darauf hingewiesen, dass es bei Feldbeobachtungen es zu einer Anpassung des Beobachters an das Feld kommen kann – und zwar auch in seinen Auffassungen und Wahrnehmungen, was den Blick trüben und zu einer Verzerrung führen kann (vgl. hierzu u.a. Altmeppen, Donges & Engels 2002, 119; Berger 2000, 161; Friedrichs & Lüdtke 1977, 48). Eine weitere Kritik zielt darauf ab, dass die häufig eingesetzte, offene Beobachtung hochreaktiv sei, da die Natürlichkeit des Beobachtungsfeldes durch das Wissen um den Beobachter empfindlich gestört werde (vgl. Friedrichs & Lüdtke 1977, 41-50; Gehrau 2002, 34 f.; zur Diskussion offener vs. verdeckter Beobachtung vgl. Babbie 1979, 224 ff.). Es wird darauf hingewiesen, dass „das Bewusstsein der Beobachteten, dass sie beobachtet werden“ schon eine Verzerrung des Handelns
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Thorsten Quandt
der Akteure mit sich bringen könne (Gehrau 2002, 35). Allerdings widersprechen Berichte von Forschern, die passiv-teilnehmende Redaktionsstudien durchgeführt haben, dieser Annahme (vgl. zu den Felderfahrungen u.a. Altmeppen, Donges & Engels 2002; Rühl 1970) – sie verweisen darauf, dass die Arbeitsabläufe in Redaktionen auf Beobachter eingestellt sind und diese im Feld nichts ungewöhnliches seien (nämlich in Form von Praktikanten). Zudem sei das Handeln im Arbeitsprozess so stark durch standardisierte bzw. notwendige Abläufe bestimmt, dass die Präsenz eines Beobachters kaum zu Veränderungen führen könne. Wichtig ist in diesem Zusammenhang aber auf alle Fälle eine (Selbst-)Kontrolle des Beobachterverhaltens im Feld und eine systematische Protokollierung, die ggfs. auch den Status des Beobachters selbst mit einschließt.2 Die Aufzeichnung während der Feldphase kann – wie oben erwähnt – auf unterschiedlichste Art und Weise stattfinden, mit offenen oder geschlossenen Protokollierungsinstrumente, ggfs. auch gestützt durch Geräteaufzeichnungen (z.B. physiologische Messungen bei Laborbeobachtungen). Last but not least muss das erhobene Datenmaterial meist aufbereitet werden (sei es, weil handschriftliche Protokolle in eine digitale Reinform übertragen werden müssen, oder Codebögen einzuscannen sind). Das aufbereitete Material wird schließlich ausgewertet, und die Ergebnisse gegebenenfalls einer Interpretation unterzogen. 3
Beispielstudie: Teilstandardisierte Redaktionsbeobachtung
Im vorigen Abschnitt wurden die grundlegenden Schritte von Beobachtungen ohne einen spezifischen Anwendungsfall umrissen. Im Folgenden soll anhand einer konkreten Beispielstudie dargelegt werden, wie eine Beobachtung konkret ablaufen kann. Ausgewählt wurde hierfür die Arbeit „Journalisten im Netz“ (Quandt 2005), eine teilstrukturierte Beobachtung in Online-Redaktionen. Das grundlegende Forschungsinteresse der Studie bestand darin, das berufliche Handeln in Online-Redaktionen differenziert zu beschreiben und in Hinblick auf wiederkehrende Muster im Handeln zu analysieren. Da Online-Journalismus zur Zeit der Durchführung der Studie (2001) als einer der zentralen Innovationsbereiche des Journalismus galt, zu dem bis zum damaligen Zeitpunkt nur wenige empirische Arbeiten existierten, war das Vorgehen einerseits explorativ angelegt. Andererseits konnte auf vielfältige Studien zu anderen Journalismusbereichen zurückgegriffen werden und bereits bestehende Erkenntnisse aus der redaktionellen Beobachtungsforschung (insb. Altmeppen 1999 und Altmeppen, Donges, Engels 1999 und 2002) auf den neuen Forschungsbereich übertragen werden. Die Klärung theoretischer Begriffe bezog sich u.a. auf die Fragen, was OnlineJournalismus ist, wer ‚Online-Journalisten’ sind und in welchen Medienhäusern bzw. redaktionellen Kontexten sie arbeiten. Während die Klärung dieser Begriffe nahe liegt, widmete sich die Arbeit jedoch auch einem grundlegenderen Konzept sehr ausführlich: dem Handeln selbst. Handeln wurde hierzu mit Hilfe eines netzwerktheoretischen Models segmentiert (vgl. Quandt 2005, Kapitel 4). Nach diesem Modell ist jede Einzelhandlung be2
In der Parlamentarismusforschung sind Beobachtungen mit zwei Beobachtern zu finden (vgl. Patzelt 1999). Durch solche Maßnahmen kann eine bessere Kontrolle erzielt und ein Test der Inter-Beobachter-Reliabilität durchgeführt werden. Freilich wird nicht immer Zustimmung für ein derlei aufwändiges Verfahren zu erzielen sein.
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stimmt durch ihre grundlegende Handlungstypik, d.h. eine Kerncharakteristik, eine Art ‚Grundmuster’ für die Handlung. Die Handlung wird desweiteren bestimmt durch Raum und Zeit, Subjekt- und Objektbezüge, die einbezogenen (allokativen und autoritativen) Ressourcen, sowie eine Kontextualisierung (unabhängig von den konkreten Bezügen der Einzelhandlung). Die ‚Zerlegung’ der einzelnen Handlung in sie bestimmende Elemente ermöglichte eine sehr kleinteilige Codierung und löste auch das Problem der Definition von Start- und Endpunkten einer Handlung: Anfang und Ende einer Handlung im fortlaufenden Handeln wurde durch die Veränderung eines der Elemente angezeigt. Zudem wurden weitere Modellannahmen getroffen: x
Es bestehen nicht nur Verbindungen einzelner Handlungselemente innerhalb einer Handlung, sondern auch zu den Elementen anderer Handlungen (wenn z.B. in zwei Handlungen dieselbe Ressource benutzt wird, gibt es einen Bezug). D.h. Relationen sind nicht auf die jeweilige Einzelhandlung beschränkt.
x
Relationen können in Form so genannter Assoziationen auftreten. Hierbei handelt es sich um Verbindungen zwischen den Elementen einer Handlung. Zudem können auch Verbindungen zwischen den Elementen verschiedener Handlungen im zeitlichen Verlauf auftreten. Hierbei spricht man von Sequenzen.
x
Im Handeln der Akteure bilden sich distinkte Muster von Verknüpfungen (sowohl der Handlungselemente als auch der Handlungen im Zeitverlauf) heraus – im Sinne regelhaften Handelns. Bei häufiger Replikation solcher Arbeitsregeln und der dabei stattfindenden Reproduktion spezifischer Ressourcen kann es zur Ausbildung von dauerhaften Strukturen kommen. Werden diese von einem Großteil der Akteure in einem Bereich geteilt, kommt es zur Bildung eines Sets an Handlungsregeln (in der Journalismustheorie auch unter dem Begriff der ‚Programme‘ diskutiert; vgl. Quandt 2005, 121-134).
x
Das Netz an Relationen zwischen Handlungselementen kann Cluster aufweisen, d.h. Gebiete hoher Elementverdichtung und starker Verbindungen zwischen den entsprechenden Elementen. Wenn im Handeln der Akteure eines sozialen Bereiches äquivalente Netzwerkcluster zu beobachten sind, prägen diese die weiteren Erwartungen an diesen Bereich. Diese ‚Handlungscluster’ oder ‚Handlungssysteme’ (nicht im Sinne der Systemtheorie nach Luhmann) sind multidimensional und können sich im Zeitverlauf verändern.
Die theoretischen Konzepte ließen sich im vorliegenden Fall vergleichsweise ‚direkt’ empirisch zugänglich machen. Durch die Segmentierung des Handelns waren bereits Variablen für die Beschreibung menschlichen – und spezieller: redaktionellen – Handelns gegeben, für die Ausprägungen auf Basis der Literatur und Vorrecherchen festgelegt wurden. Zudem wurde das daraus entwickelte strukturierte Beobachtungsschema mit der Option für Erweiterungen versehen – über ‚ad hoc’ Codenummer-Vergaben für bestimmte Handlungselemente konnte das Schema noch im Feld erweitert werden (wenngleich dies kaum notwendig war, da das Schema nochmals im Rahmen eines Pretests in einer Redaktion, die nicht in die Hauptstudie einging, optimiert wurde). Die weitgehende Strukturierung war deswegen auch möglich, weil redaktionelles Handeln ganz allgemein bereits gut erforscht war (s.o.), zudem auch auf Einzelhandeln hin
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optimiert werden konnte, welches ‚live’ noch sehr differenziert codierbar ist. Die Entscheidung für die Beobachtung einzelner Redakteure hatte indes seine Gründe nicht nur in der Forschungspragmatik, sondern war auch eine Folge der Annahmen und Erkenntnisse zum Phänomenbereich: Flexiblere Produktionsprozesse als noch im traditionellen (Print-) Journalismus würden die Beobachtung von Gesamtredaktionen (wie sie z.B. in Rühls Pionierstudie zum Einsatz kam, vgl. Rühl 1969) erschweren, speziell bei größeren redaktionellen Einheiten, so die Annahme. Zudem seien Regeln im Einzelhandeln gut nachvollziehbar (während z.B. die Beobachtung von Gesamtredaktionen eher Kenntnisse zu Abstimmungs-, Koordinations- und Kommunikationsprozessen erbringt). Das Beobachtungsschema umfasste schließlich rund 250 individuelle Codes, welche die kategoriale Einordnung von Handlungstypen, Raumbezügen, kontextuellen Rahmen, Subjektbezügen und Ressourcen ermöglichten. Hinzu kamen ergänzende Maßnahmen (Leitfadeninterviews mit den Journalisten und redaktionellen Entscheidern, Beobachtertagebücher, Fotografien, Redaktionsskizzen, Dokumentation der Webseiten), um eine dichte Beschreibung des Handelns sowohl qualitativ als auch mit Hilfe von sinnvollen Quantifizierungen zu ermöglichen. Die ergänzenden Maßnahmen wurden aber nicht allein durchgeführt, um grund- und ziellos ‚mehr Material’ zu sammeln. Vielmehr halfen diese Maßnahmen, die Beobachtungsinformationen besser einordnen und z.T. aufeinander beziehen zu können: Die Tagebücher wurden genutzt, um nicht einordenbare Beobachtungselemente oder besondere Ereignisse festzuhalten; die Interviews dienten dazu, den subjektiven Sinn bestimmter Handlungen und die redaktionellen Strukturen, die das Handeln umschließen, aus Sichtweise der Akteure nachvollziehen zu können; die Webseiten der jeweiligen Anbieter erlaubten es, die Arbeiten der Redakteure ‚am Angebot’ verstehen zu können; die Fotografien und Redaktionsskizzen ermöglichten es, im Nachhinein die Ortsveränderungen der Redakteure kartographieren zu können. Die Durchführung der Hauptstudie erfolgte über 10 Wochen in fünf unterschiedlichen Redaktionen; beobachtet wurden sechs Personen (zur theoriegeleiteten Begründung der Auswahl vgl. Quandt 2005). Der Beobachter war im Feld präsent, nahm aber an den Handlungen der Journalisten selbst nicht teil – durch die in Redaktionen üblichen Beobachterrollen (z.B. Praktikant) stellte dies keine Beeinträchtung des Feldes dar. Die Codes wurden ‚live’ auf einem speziellen Codeblatt im Feld eingetragen. Für jede Handlung gab es ein eigenes Handlungsfeld, in das die beschreibenden Codes und die Handlungsdauer eingetragen werden konnten (welche mit Hilfe einer Uhr auf 5 Sekunden genaue festgehalten wurde). Diese Art der Codierung ermöglichte eine direkte Vercodung des beobachteten Verhaltens im Feld, synchron zu den aktuell ablaufenden Handlungen, und bildete eine Art universelle Beschreibungssprache für redaktionelles Handeln. Während der zehnwöchigen Beobachtungszeit wurden 11.671 Handlungen codiert, deren Gesamtzeit sich zu knapp 29.000 Minuten aufsummierte. Mit Hilfe der Segmentierung des Handelns und der Erfassung der jeweiligen Handlungszeiten konnten sehr fein gegliederte und präzise Beobachtungsdaten erstellt werden. Die Beobachtungsbögen wurden im Anschluss an die Feldphase in eine digitale Form überführt, die eine rechnergestützte statistische Analyse ermöglichte. Zum einen konnten die Daten mit Hilfe üblicher deskriptivstatistischer Verfahren ausgewertet werden – d.h. es wurden beispielsweise die Anteile bestimmter Handlungstypen am Gesamtkorpus, die Häufigkeit des Rückgriffs auf einzelne Ressourcen oder die Kontaktzahl mit spezifischen Gruppen von Akteuren bestimmt. Für die Suche nach Handlungsmustern waren unterdes-
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sen neuere Verfahren des Datamining interessanter. Assoziationen zwischen Handlungselementen wurden u.a. mit Hilfe von Netzwerkanalysen untersucht, zeitliche Verläufe mit Hilfe von Sequenzanalysen (vgl. Abbildung 2 und 3). Prinzipiell wird bei diesen Verfahren untersucht, ob Kombinationen von bestimmten Elementtypen (also letztlich Kombinationen von Variablenwerten) besonders häufig auftreten, sei es zeitgleich oder als bestimmte Verlaufsmuster. Je ein Beispiel für grafische Elementnetzwerke und Sequenzanalysen (hier: spezifische Handlungstypiken) sind unten abgebildet. Mit Hilfe der genannten Auswertungen konnte schließlich belegt werden, dass der Online-Journalismus zwar einige Spezifika aufweist (fehlende Produktionsdeadlines bei gleichzeitiger Verdichtung des Handelns, häufiger Rückgriff auf Agenturmaterial, sehr viel Umschreiben von Meldungen, kaum Offline-Recherchen, Redaktionssysteme als zentrale Ressource im Handeln usf.), andererseits die Referenz des redaktionellen Handelns zumeist immer noch der klassische (Print- und Agentur-) Journalismus ist. Dessen Grundmuster waren auch in den Beobachtungsdaten deutlich erkennbar – die dort erkennbare „Handlungs-DNA“ war klar journalistisch. Kurzum: Die Arbeit konnte damit belegen, dass sich das Handeln im Online-Journalismus deutlich von einigen frühen Vorstellungen eines komplett andersartigen, netzbasierten ‚Multimedia-Journalismus’ unterscheidet, welcher eher technikorientiert gedacht worden war. Insgesamt zeigt die genannte Studie, dass die Beobachtung als Methode viele Erhebungs- und Auswertungsmöglichkeiten eröffnen kann – auch jenseits eines einfachen ‚freien Notierens von Eindrücken’ zum Zwecke der Vorbereitung anderer (Befragungs- oder Inhaltsanalyse-)Studien. Es handelt sich nicht um eine ‚Zufallsbeobachtung’: Das Vorgehen ist systematisch und klar strukturiert. Selbstverständlich gibt es aber auch diverse Nachteile der skizzierten Beobachtungsanlage: Das Vorgehen ist aufwändig, für viele Beobachtungsziele nicht geeignet (so funktioniert ein weitgehend geschlossenes Instrument nur bei repetitivem redaktionellen Handeln mit einem limiterten Satz an Handlungselementen), und es produziert extrem feingliedrige Daten, was wiederum zu einer hohen Auswertungskomplexität führt. Auch wurden hier noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft: So gibt es äußerst differenzierte Methoden zur Analyse (zeitbasierter) Handlungsmuster (vgl. z.B. Klösgen & Zytkow 2002, Magnusson 2002), die aus forschungspraktischen Gründen nicht zum Einsatz kamen. Dennoch sollte deutlich geworden sein, dass die Beobachtung für die Journalismusforschung ein hohes Potenzial bietet, welches im abschließenden Abschnitt nochmals zusammenfassend und kritisch diskutiert werden soll.
292 Abbildung 2:
Thorsten Quandt Netzwerk aus Handlungselementen und deren Relationen
Journalisten unter Beobachtung Abbildung 3:
4
293
Handlungssequenzen (Tagesverlaufsmuster & Handlungskategorien3)
Fazit: Aufwand, Erkenntnisgewinn und Potenzial der Beobachtung in der Journalismusforschung
Die Beobachtung als wissenschaftliche Methode bietet für die Journalismusforschung vielfältige Möglichkeiten, die in diesem Beitrag nur angerissen werden konnten. Freilich sind auch einige Herausforderungen zu meistern. Diese sind in der Methodenliteratur klar dokumentiert (z.B. Becker 1958, Berger 2000, Gehrau 2002, Selltiz et al. 1967 [1951]). So wird u.a. kritisiert, dass (a) eine Zufallsauswahl der Untersuchungspersonen bzw. Beobachtungsfälle aus einer Beobachtungsgrundgesamtheit forschungspraktisch wie auch theoretisch kaum denkbar sei (insbesondere wenn man berücksichtigt, dass die Beobachtung im Feld jeweils zeitsynchron abläuft, d.h. die künftig zu beobachtenden Handlungen noch gar nicht ‚realisiert’ sind, und die Zahl und Art möglicher Handlungen letztlich unbestimmbar ist). Dadurch sei aber auch keine schließende Statistik anwendbar. (b) Der Feldzugang sei schwierig bzw. in manchen Fällen sogar unmöglich. (c) Fehlerquellen könnten bei Feldbeobachtungen kaum kontrolliert werden, so die Kritik weiter. Auch sei es kaum möglich, alle möglichen Schwierigkeiten vorab einplanen zu können. (d) Neben den nicht planbaren Ereignissen im Feld sei die Präsenz des Beobachters im Feld und ggfs. die Interaktion des 3
Die Kategorien links bezeichnen Handlungen, die einem bestimmten Bereich zugeordnet werden können, wie z.B. Bewegung, Organisation, Technik, Produktion, Kommunikation, Kommunikation via Medien, Textproduktion, Suchtätigkeiten und Sonstige. Sobald eine Handlung auftritt, wird im Schaubild ein horizontaler Strich entsprechend der Länge der Handlung eingetragen.
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Beobachters mit den im Feld vorhandenen Personen ein Problem. So könne die Beobachtung z.B. Reaktanz bei den Beobachteten auslösen, oder es könne zu einem ‚going native’ (s.o.) des Beobachters kommen, d.h. einer unerwünschten Anpassung an das Feld (die möglicherweise zu verzerrten Wahrnehmungen und Bewertungen führen könnte). Insgesamt gelten Beobachtungen aufgrund der genannten Schwierigkeiten als (e) wenig reliabel. Erschwerend kommt hinzu, dass ‚Inter-Beobachter’-Reliabilitätstest zumeist aus forschungspraktischen Gründen nicht realisierbar sein werden. Dies gilt im Besonderen für die Journalismusforschung, bei der die Zahl beobachtbarer Personen oft eng begrenzt ist und kaum Möglichkeiten für aufwändige Doppelbeobachtungen durch zwei Beobachter bestehen (wenn man überhaupt einen Zugang z.B. zu Redaktionen bekommt). Schließlich wird (f) angemerkt dass bei verdecken Beobachtungen ethische und rechtliche Konsequenzen stärker zu berücksichtigen sind als bei Verfahren, die kaum oder gar keinen Einfluss auf die Beobachtungsrealität haben (wie z.B. die traditionelle Inhaltsanalyse von Zeitungen). Im besonderen gilt dies natürlich bei verdeckten Beobachtungen. Dem stehen aber eine Reihe von einzigartigen Vorzügen gegenüber, die im Rahmen dieses Beitrags zur Sprache kamen. (a) Beobachtungen erlauben einen ‚direkten’ Einblick in die interessierenden Phänomenbereiche (z.B. in der Journalismusforschung: Redaktionen). Es gibt keine Filterung durch die Wahrnehmungen und (Selbst-)Einschätzungen der Akteure (wie z.B. bei der Befragung), und es muss auch nicht aus Produkten auf die Produktion oder deren Wirkungen indirekt geschlossen werden (wie dies z.T. bei Inhaltsanalysen gemacht wird; vgl. Abschnitt 1). Daher gilt die Beobachtung als eine Methode, die prinzipbedingt besonders hohe (externe) Validität erzielen kann. (b) Desweiteren ermöglichen es Beobachtungen, weitgehend unbekannte Felder zu erschließen und dadurch wichtige Impulse für die Forschung zu geben. (c) Beobachtungen erbringen – je nach Anlage – Tiefeninformationen zu komplexen Interrealtionen der beobachteten Phänomene unter realweltlichen Bedingungen. Kombiniert mit dem ‚direkten’ Zugang können so Zusammenhänge erkannt werden, die mit anderen Methoden nicht zutage treten. (d) Einige Forschungsfragen, die konkrete Einblicke in tatsächliches Handeln erfordern, lassen sich schlussendlich nur mit Beobachtungsstudien beantworten. Betrachtet man die Erkenntnismöglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten und mitunter hohen Anforderungen der Beobachtung, so wird deutlich: Die Methode bietet ein hohes Potenzial, das aber erschlossen werden muss – mit oftmals nicht unerheblichem Aufwand (wie in diesem Beitrag dargestellt). Im Gegensatz zu den anderen Erhebungsmethoden ist die Beobachtung bei weitem noch nicht so weit vorangetrieben, differenziert, kanonisiert und konsentiert. Dies mag man je nach Standpunkt als Vor- oder Nachteil bewerten. Möglichkeiten bieten sich jedoch viele: Zu diskutieren wäre beispielsweise der Einsatz mobiler Aufzeichnungsgeräte im Feld (z.B. Mini-Computer/ Tablets oder andere Handheld-Geräte, ggfs. inklusive Optionen zur Audio/Video-Aufzeichnung oder Lage-/Ortssensoren). Meistenteils erfolgen Feldaufzeichnungen immer noch klassisch per ‚Paper & Pencil’ und werden nachfolgend mühsam in Computer eingegeben – was mit der zunehmenden Miniaturisierung digitaler Endgeräte und der Steigerung der Aufzeichnungskapazitäten zunehmend als Anachronismus erscheint. Auch die Analysemöglichkeiten gehen inzwischen weit über reine Beschreibungen und Deskriptivstatistiken hinaus. Wie oben angedeutet, ergeben sich durch Verfahren der computergestützten Mustererkennung, die in den letzten Jahren deutlich vorangetrieben wurden, interessante Optionen für die Datenauswertung (vgl. Klösgen & Zytkow 2002).
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Neben den Assoziationsmustern sind auch zeitbasierte Regelhaftigen von Interesse – für die bereits anwendungsfertige Verfahren existieren (vgl. z.B. Magnusson 2002). Dies sind nur einige der vielfältigen Möglichkeiten der Weiterentwicklung und Modernisierung der Beobachtung als Methode in der Journalismusforschung. Mit der Tradition redaktioneller Beobachtungen (vgl. hierzu Abschnitt 2.1) bestehen bereits Anknüpfungspunkte zu bestehenden Fachdiskursen und somit beste Voraussetzungen für einen weiteren Ausbau der Methode auf einem soliden wissenschaftlichen Fundament. Begreift die Journalismusforschung das noch ungenutzte Potenzial als Ansporn für die Methodenentwicklung, wird sie mit Beobachtungsstudien gleich im doppelten Sinne – nämlich methodologisch wie inhaltlich – ‚neue Felder’ erschließen können.
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Messung der Publikumsagenda mittels Nutzungsstatistiken von Suchmaschinenanfragen Jens Vogelgesang und Michael Scharkow
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Einleitung
Im Jahr 1970 – zwei Jahre bevor die „Chapel Hill“-Studie (vgl. McCombs & Shaw 1972) veröffentlicht wurde – lag in Deutschland die Reichweite des Hörfunks bei 67 Prozent, die der Tageszeitung bei 70 Prozent und die des Fernsehens bei 72 Prozent (van Eimeren & Ridder 2005, 495).1 In der Ära des Massenpublikums dominierten das Fernsehen, das Radio und die Tageszeitung die Medienagenda und bestimmten im Zusammenspiel mit interpersonaler Kommunikation die Publikumsagenda. Inzwischen zeichnet sich das Ende der Ära des Massenpublikums ab. Immer mehr Bürger bewegen sich in einer „multiaxialen Informationsumwelt“ (vgl. ausführlich Delli Carpini & Williams 2001, 173), in der die klassischen Massenmedien nach und nach an Bedeutung verlieren. Laut der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation 2010 nutzt in Deutschland die Generation der digital natives (14- bis 29-Jährige) das Internet bereits an einem durchschnittlichen Tag genau so lange wie das Radio und das Fernsehen (vgl. Ridder & Engel 2010, 527). 41 Prozent der digital natives lesen mittels Internet aktuelle Nachrichten; in der Gesamtbevölkerung beträgt dieser Anteil nur 22 Prozent (vgl. Ridder & Engel 2010, 531). Delli Carpini und Williams (2001, 173) haben frühzeitig vermutet, dass die veränderte Informationsumwelt der Bürger im Zeitalter des Internets auch Folgen für den Journalismus haben wird: „The new media environment presents a challenge to mainstream journalists in their roles of agenda setter and issue framer.“ In der modernen multiaxialen Informationsumwelt speist sich die Publikumsagenda nicht mehr allein aus traditionell verbreiteten Nachrichten wie noch vor vierzig Jahren (Brundidge & Rice 2009, 148): „(...) the Internet with its attendant destruction of normal news cycles and rise of news blogs and online newspapers has created novel opportunities for non-mainstream political actors to contribute to the setting and framing of the public agenda.“ Auch wenn die Zahlen der ARD/ZDF-Langzeitstudie Massenkommunikation 2010 auf den ersten Blick zu belegen scheinen, dass ein Großteil der täglichen Internetnutzung primär dem persönlichen Austausch dient (z.B. E-Mail, Instant Messaging in Chats, Foren oder Online Communitys), ist es dennoch plausibel anzunehmen, dass auch aktuelle Nachrichten über diese Anwendungen verbreitet werden (Donsbach 2009, 194): „Junge Menschen nutzen immer häufiger Blogs, Chaträume oder Netzwerke wie Facebook oder MySpace, um »Nachrichten« bzw. das, was sie für Nachrichten halten, zu bekommen.“ Trotz der zunehmenden Verbreitung des Internets gibt es aktuell keine empirisch gesicherten Hinweise darauf, dass die zentrale Rolle der Journalisten beim Setzen der Medienagenda ernsthaft in Frage gestellt wäre 1
Dieser Beitrag ist die vollständig überarbeitete und erweiterte Fassung einer Forschungsnotiz, die im International Journal of Public Opinion Research erschienen ist (vgl. Scharkow & Vogelgesang 2011).
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _17, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Jens Vogelgesang und Michael Scharkow
(Redden & Witschge 2010, 183): „Journalists and editors still ultimately decide what makes a ‘good’ news story, who gets to speak, and what gets said.“ Die derzeitige Zusammensetzung der Medienrepertoires der Onliner und insbesondere der digital natives lässt jedoch vermuten, dass ihre Agenda in der Zukunft stärker durch Internetquellen geprägt sein wird. Aus der Perspektive der mikroanalytischen Journalismusforschung lässt sich die Publikumsagenda als Maßstab dafür heranziehen, ob die zu einem gewissen Grad für die Entstehung journalistischer Berichterstattung handlungsleitenden Publikumserwartungen (z.B. unterstellte Themeninteressen) mit den faktischen Themenprioritäten des Publikums übereinstimmen. Die Publikumserwartungen der Journalisten sind Teil ihres Publikumsbilds, welches sich aus unterschiedlichen Quellen speist (Scholl 2004, 520): „So bilden sich die Kommunikatoren (nicht nur Journalisten) ihr Publikumsbild entweder durch Informationen über die Reichweite ihres Mediums, mit Hilfe von Reaktionen aus dem Publikum, anhand von Publikumsbildern der Kollegen oder auf Basis von Umfrageergebnissen.“ Bislang waren Umfrageergebnisse in der Agenda-Setting-Forschung das einzige Mittel der Wahl, um empirisch gesicherte Aussagen über die Themenprioritäten des Publikums zu treffen. Mit dem vorliegenden Beitrag möchten wir ein neues Verfahren zur Messung der Publikumsagenda vorstellen: Nutzungsstatistiken von Suchmaschinenanfragen. Der Beginn der akademischen Nutzung von Google-Daten lässt sich auf das Jahr 2007 datieren, als Rech (2007) seine Studie über die Entdeckung von Software-Engineering-Trends veröffentlichte. Nutzungsstatistiken werden seitdem beispielsweise eingesetzt, um die wirtschaftlichen Lage in Wahlkämpfen zu analysieren (vgl. Constant & Zimmermann 2008), kollektives Interesse an Ländern zu untersuchen (vgl. Pascha 2008) oder um Grippewellen2 (vgl. Freifeld et al. 2008, Ginsberg 2008, Nougairède et al. 2010), Produktumsätze (vgl. Choi & Varian 2009a, Goel et al. 2010), Zwangsvollstreckungen (vgl. Webb 2009), Arbeitslosenquoten (vgl. Asiktas & Zimmermann 2009, Choi & Varian 2009b, D’Amuri, F. & Marcucci, J. 2010), öffentliches Interesse an wissenschaftlichen Ergebnissen (vgl. BaramTsabari & Segev 2009, Segev & Baram-Tsabari 2010) oder Reiseverhalten (vgl. Költringer & Wöber 2009) vorherzusagen. Die Nutzung von Suchmaschinen gehört für über 80 Prozent der deutschen InternetNutzer, die mindestens einmal in der Woche online sind, zum Nutzungsalltag (van Eimeren & Frees 2010, 338). Die Ausgangsthese dieses Beitrags lautet, dass die Nutzung von Suchmaschinen für die Agenda-Setting-Forschung bzw. für die Messung der Publikumsagenda nutzbar gemacht werden kann. Wir begreifen im Anschluss an Granka (2010, 6) das Stellen einer Suchmaschinenanfrage als eine Manifestation interessengeleiteten Verhaltens: „(…) online search queries may be a strong behavioral indicator of what issues and topics are the most compelling, interesting, or important“. Die Protokollierung der Anfragen durch die Suchmaschinensoftware kommt einer non-reaktiven Verhaltensmessung gleich. Wertet man die Daten der Messprotokolle nach einzelnen Suchbegriffen im Längsschnitt aus, erhält man Datenreihen, mit denen sich das Volumen begriffsspezifischer Suchen im Längsschnitt beschreiben lässt. Nachfolgend geht es darum, an einem Fallbeispiel zur Bundestagswahl 2005 das Potential der Nutzungsstatistiken von Suchmaschinenanfragen wie Google Insights For Search (GIFS)3 für die Agenda-Setting-Forschung zu illustrieren und weitere Forschung dieser Art anzuregen. Im zweiten Abschnitt betten wir das Stellen von 2 3
http://www.google.org/flutrends/ http://www.google.com/insights/search/
Messung der Publikumsagenda
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Suchmaschinenanfragen in den theoretischen Kontext der Agenda-Setting-Forschung ein und erläutern, welche Verhaltensformen in der Agenda-Setting-Forschung bislang untersucht worden sind. Im dritten Abschnitt erläutern wir im Anschluss an das need for orientation-Konzept (vgl. Weaver 1980; Matthes 2006) unseren theoretischen Vorschlag, bestimmte Formen von Suchmaschinenanfragen konzeptionell den sogenannten fortgesetzten Publikumsreaktionen im Agenda-Setting-Prozess zuzurechnen. Im vierten Abschnitt arbeiten wir die messtheoretischen Unterschiede zwischen einer reaktiven Erhebung der Publikumsagenda mittels Befragung und einer non-reaktiven Erhebung mittels Nutzungsstatistiken von Suchmaschinenanfragen heraus. Im fünften Abschnitt beschreiben wir die Untersuchungsanlage und die Ergebnisse einer single issue-Fallstudie. Zweck der Fallstudie ist es, die Ergebnisse des klassischen Befragungsverfahrens zur Messung der Publikumsagenda mit den Nutzungsstatistiken von GIFS zu vergleichen – und zwar am Beispiel der Kandidatur von Paul Kirchhof im Bundestagswahlkampf 2005. Im sechsten und letzten Abschnitt diskutieren wir abschließend die Validität und Reliabilität der Messung der Publikumsagenda mittels Nutzungsstatistiken von Suchmaschinenanfragen. 2
Verhaltensreaktionen auf Agenda-Setting-Effekte
Wie bereits einleitend erwähnt, gehen wir davon aus, dass das Stellen einer Suchmaschinenanfrage eine Manifestation interessengeleiteten Verhaltens ist. Theoretisch ist es vorstellbar, dass Suchmaschinenanfragen durch Agenda-Setting-Effekte ausgelöste Verhaltensreaktionen sind. Verhaltensreaktionen waren zumindest theoretisch von jeher ein Teil des Agenda-Setting-Modells: Bereits Becker, McCombs und McLeod (1975, 39) unterschieden zwischen ersten Publikumsreaktionen (cognitions) und fortgesetzten Publikumsreaktionen (behavioral responses). Auch wenn der kommunikationswissenschaftliche Fortschritt der Agenda-Setting-Forschung vor allem darin bestand, das aus der Persuasionsforschung stammende Paradigma minimaler Medienwirkungen durch die Untersuchung kognitiver Medienwirkungen relativiert zu haben, sollte der Stellenwert von Verhaltensreaktionen nicht aus den Augen verloren werden (Dearing & Rogers 1996, 97): „Usually, an end goal of an agenda-setting process is individual level behavior change: smoking cessation, recycling, condome use and safer sex, and designated driving.“ Dearing und Rogers (1996, 82 f.) verweisen in diesem Zusammenhang auf die Agenda-Setting-Studie von Gellert et al. (1992), in der ein positiver Zusammenhang zwischen der Berichterstattung über an HIV erkrankte US-Stars und der Anzahl durchgeführter HIV-Tests in der Bevölkerung nachgewiesen werden konnte. McCombs (2004, 129 ff.) zählt in seiner Überblicksmonographie u.a. folgende Studien auf, in denen durch Agenda-Setting-Effekte ausgelöste Verhaltensreaktionen in der politischen Kommunikationsforschung untersucht worden sind: y
y
Mit der „Federal Budget Deficit Issue“-Studie hatte Weaver (1991) empirisch zeigen können, dass die wahrgenommene Wichtigkeit des Haushaltsthemas und das themenspezifische politische Verhalten (Schreiben von Protestbriefen, Teilnahme an Unterschriftenaktionen oder Veranstaltungen, Wählen) zusammenhängen. Roberts (1992) untersuchte den texanischen Gouverneurs-Wahlkampf des Jahres 1990 und fand einen empirischen Zusammenhang zwischen Themenwahrnehmung und Wahlverhalten.
302 y
Jens Vogelgesang und Michael Scharkow Im Rahmen des „Vanishing Voter“-Projekts hatten sowohl Stevenson, Böhme und Nickel (2001) als auch Patterson (2002) den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf des Jahres 2000 untersucht und empirische Belege für einen Zusammenhang zwischen der Themenberichterstattung und Gesprächen über den Wahlkampf gefunden.
McCombs (2004, 131f.) berichtet darüber hinaus über eine experimentelle Agenda-SettingStudie von Ogawa (2001): Rezipienten, die für ein Experiment speziell aufbereitete Zeitungsartikel über Themen gelesen hatten und denen diese Themen persönlich am wenigsten wichtig erschienen, gaben unabhängig von der Art und Weise der redaktionellen Aufbereitung in Anschluss an, mehr über diese Themen erfahren zu wollen. Willnats (1997, 52) zog mit Blick auf die zitierten empirischen Studien eine nüchterne Bilanz, die unserer Ansicht nach auch heute noch Bestand hat: „However, none of these studies was able to provide an explanation of how exactly issue salience might influence these observed behavioral consequences“. 3
Suchmaschinenanfragen als Verhaltensreaktionen auf Agenda-Setting-Effekte
Anders als in klassischen Rezeptionssituationen wie etwa beim Fernsehen oder beim Lesen einer Tageszeitung haben die Nutzer von Online-Nachrichten noch während der Nachrichtenrezeption die Möglichkeit, eigeninitiativ weitere themenspezifische Informationen zu Ereignisorten, Sachfragen oder Akteuren im WWW zu suchen. Im Gegensatz zu den herkömmlich in der Agenda-Setting-Forschung untersuchten Publikumsreaktionen wie beispielsweise Gesprächen über Medienthemen oder Wahlverhalten zeichnen sich Suchmaschinenanfragen durch ihre Unmittelbarkeit im Anschluss an die Medienrezeption aus. Laut Murata (2008, 63) ziehen beispielsweise Medienberichte über Katastrophen überdurchschnittlich viele Suchmaschinenanfragen unmittelbar nach sich. Problematisch an der oben genannten experimentellen Studie von Ogawa (2001) ist die geringe externe Validität des experimentellen Designs, da im Anschluss an die Rezeption des Stimulusmaterials nur berichtete Verhaltensintentionen erfasst worden sind und nicht das Verhalten der Probanden selbst. Im Gegensatz zu den von Ogawa (2001) erfassten Verhaltensintentionen sind Suchmaschinenanfragen tatsächliche Verhaltensmanifestationen. Wir meinen, dass in Suchmaschinenanfragen durch Agenda-Setting-Effekte ausgelöste Verhaltensreaktionen zum Ausdruck kommen können, die sich theoretisch einem Bedürfnis zuordnen lassen, das Weaver (1980) als need for orientation bezeichnet hat. Im Anschluss an die Klassifikation von Matthes (2006) ist es möglich, Suchmaschinenanfragen theoretisch nach unterschiedlichen Bedürfnissen zu unterscheiden: y y y
Fakten: Wo genau liegt Meseberg, der Ort der Klausurtagung der Berliner Koalition? Themen: Worum geht es beim Streit um „Stuttgart 21“? Bewertungen (von Journalisten): Wie lautet der Medientenor zu den provokanten Äußerungen von Thilo Sarrazin über Zuwanderer?
Mit dem Internet stehen der Agenda-Setting-Forschung relativ neue und aus unserer Sicht vielversprechende Methoden der nicht-reaktiven Messung zur Verfügung. Jede Online-
Messung der Publikumsagenda
303
Kommunikation folgt einem spezifischen technischen Protokoll (HTTP: World Wide Web, SMTP: Email, NNTP: Usenet). Mit jedem dieser Protokolle ist prinzipiell die Möglichkeit verbunden, sogenannte Log-Files zu speichern und anschließend zu analysieren. Der wissenschaftliche Einsatz von Statistiken über die Nutzung von Suchmaschinenanfragen hing bis vor kurzem maßgeblich von der Zugänglichkeit zu diesen Daten ab. Die wenigen publizierten Studien über Daten dieser Art erregten zumeist großes öffentliches Aufsehen, da ihre empirischen Ergebnisse zumeist belegten, dass es sich bei den häufigsten Suchanfragen um pornografische Inhalte oder illegale Downloads handelte (vgl. Silverstein et al. 1999). Kommunikationswissenschaftlich einschlägiger als die Studie von Silverstein et al. war die Untersuchung von Anschlusskommunikation in Mailbox-Systemen (electronic bulletin boards, kurz: EBB) von Roberts, Wanta & Dzwo (2002). Die Untersuchungsanlage dieser Studie sah sowohl eine Inhaltsanalyse der Berichterstattung der New York Times, von Associated Press, Reuters, Time Magazine und CNN als auch von den politischen Diskussionseinträgen im EBB von AOL (Today’s News) vor. Die Autoren konnten zeigen, dass es bei drei von vier analysierten Themen (Einwanderung, Gesundheitssystem, Steuern, Abtreibung) signifikante positive Korrelationen zwischen der Medienberichterstattung und den Online-Diskussionen über diese Themen gab. Das Fazit von Roberts, Wanta & Dzwo (2002, 464) lautete daher: „[m]edia coverage apparently can provide individuals with information to use in their Internet discussions“. Explizite Bezüge zwischen Suchmaschinenanfragen und den theoretischen Konzepten der Agenda-Setting-Forschung sind erstmalig von Granka (2009, 2010) hergestellt worden. Sie geht davon aus, dass sich die persönlich wahrgenommene Wichtigkeit der Themen in den Medien im Volumen von Suchmaschinenanfragen zu genau diesen Themen widerspiegelt. Granka (2009) argumentiert, dass sich in einer themenspezifischen Suchmaschinenanfrage die Themenbekanntheit (awareness) abbilde: Wird mittels einer Suchmaschine nach einem Thema gesucht, kann implizit vorausgesetzt werden, dass das Thema bekannt ist und dass das Publikum mehr über dieses Thema erfahren möchte (vgl. auch Ripberger 2010). Die wahrgenommene Wichtigkeit eines Themas (perceived issue salience), so Granka (2009), komme indirekt in den Abweichungen vom durchschnittlichen Suchvolumen nach diesem Thema zum Ausdruck. Die zentrale These von Granka (2009, 2010) lautet, dass das Volumen von themenspezifischen Suchmaschinenanfragen eine Funktion der Nachrichtenberichterstattung sei. Granka (2009) verglich die Themen- und Kandidatenberichterstattung der USNetworks ABC, CBS und NBC mit entsprechenden Google-Suchanfragen in den USA für einen Zeitraum von 92 Tagen vor der US-Präsidentschaftswahl 2008. Der Vergleich zwischen TV-Berichtertstattung und Google-Suchanfragen ist für folgende Begriffe durchgeführt worden (Granka 2009, 2): „Iraq“, „War“, Economy“, „Unemployment“, „Health Care“, „Taxes“, „Education“, „Joe the Plumber“, „Tina Fey“, „Saturday Night Live“, „Obama“, „Biden“, „McCain“ und „Palin“. Regressionsanalysen zeigten, dass das Suchvolumen von „Education“, „Healthcare“ und „Economy“ stärker von entsprechender Fernsehnachrichtenberichterstattung abhängt als das Suchvolumen von „Iraq“, „Taxes“ und „War“; die Berichterstattung über „Unemployment“ hatte keinen Einfluss auf das entsprechende Suchvolumen (Granka 2009, 2). Das Volumen der Suche nach den oben genannten Personen hing ebenfalls signifikant mit der Fernsehnachrichtenberichterstattung zusammen (Granka 2009, 2); das galt insbesondere für die Begriffe „Tina Fey“ (Imitatorin von Sarah Palin) und „Joe the Plumber“ (US-amerikanischer Installateur namens Samuel Joseph Wurzelba-
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Jens Vogelgesang und Michael Scharkow
cher, der infolge eines von ABC aufgezeichneten Interviews mit Barack Obama bekannt geworden ist). In einer breit angelegten Nachfolgestudie hat Granka (2010) im Vergleich zur Studie aus dem Jahr 2009 die Zahl der untersuchten Begriffe erhöht und thematisch erweitert: Zur Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Medienberichterstattung (inhaltsanalytisch untersucht wurden in LexisNexis archivierte Fernseh- und Radionachrichtentranskripte, Tageszeitungen und Web-Publikationen) und Google-Suchverhalten sind neben ausgewählten Suchbegriffen aus der politischen Nachrichtenberichterstattung (z.B. Politikernamen und Themen) auch Begriffe aus der Boulevard- (z.B. „Michael Jackson“ oder „Tiger Woods“) oder Katastrophenberichterstattung (z.B. „Tsunami“ oder „Haiti Earthquake“) untersucht worden. Das zentrale empirische Ergebnis dieser Studie lautet (Granka 2010, 2425): „Clearly, there are unique correlations between search queries and news coverage, as news coverage must be one of the key triggers that prompt an individual to search about the given event (in order to perform a search about a given topic, an individual first needs to hear something about it).“ Im Gegensatz zu den Studien von Granka (2009, 2010) untersuchen wir keine Intermedia-Effekte zwischen Medien- und Publikumsagenda, sondern interessieren uns für die methodische Frage, mit welchem Validitäts- und Reliabilitätsgrad sich die Publikumsagenda mittels Nutzungsstatistiken von Suchmaschinenanfragen erheben lässt. Unsere Arbeitshypothese lautet, dass die mittels Befragung erhobene Wichtigkeitseinschätzung eines Themas mit dem themenspezifischen Suchvolumen positiv korreliert ist. 4
Messung der Publikumsagenda mittels Google Insights for Search
Im August 2008 startete die weltgrößte Suchmaschine Google ihren Dienst GIFS als Weiterentwicklung von Google Trends. GIFS aggregiert alle Suchanfragen, die über Google Search und andere Dienste gestellt werden. Google stellt entsprechende Suchvolumenmuster in Form von normalisierten relativen Häufigkeiten zur Verfügung. Die Daten dieser Suchanfragen können nach verschiedenen Kriterien sowohl im Längsschnitt als auch internationalem Querschnitt kostenlos für Sekundäranalysen zusammengestellt und in Form von Grafiken und Tabellen heruntergeladen werden. Außerdem erlaubt GIFS einen Vergleich von verschiedenen Begriffen anhand ihrer relativen Suchhäufigkeit. Die Publikumsagenda wird üblicherweise mit Hilfe repräsentativer Bevölkerungsumfragen gemessen. Die Messung der Themenwichtigkeit erfolgt entweder mit Blick auf die invidual issue salience, die perceived issue salience oder die community issue salience (Rössler 1997, 88-91). Messtheoretisch gesehen sind alle genannten Formen von Themenwichtigkeit latente, nicht beobachtbare Variablen. Die individual issue salience wird im deutschsprachigen Raum üblicherweise mittels der Frage „Welche drei Themen, über die in Zeitungen, im Radio oder im Fernsehen in diesen Tagen berichtet wurde, interessieren Sie besonders?“ messbar gemacht. Die Messung der individual issue salience ist insofern reaktiv, weil die Befragten fremdinitiativ (d.h. nach Präsentation des Fragestimulus) damit beginnen, ihre Themenwichtigkeiten zu berichten. Im Gegensatz zur reaktiven Messung mittels Befragungsverfahren erlaubt der Einsatz von GIFS die nicht-reaktive Messung der Themenwichtigkeit. Nicht-reaktive Messverfahren lassen sich der Methode der Beobachtung zuordnen. Beobachtungsverfahren kommen
Messung der Publikumsagenda
305
in der Kommunikationswissenschaft selten zum Einsatz, weil aus forschungsökonomischen Gründen in der Regel nur sehr wenige Beobachtungseinheiten untersucht werden können und damit die empirischen Ergebnisse nur schwer verallgemeinerbar sind.4 Einen möglichen Ausweg aus diesem forschungsökonomischen Dilemma eröffnen apparative Messungen. Apparative Messungen wie sie z.B. bei der deutschen Fernseh- oder schweizerischen Radioreichweitenforschung zum Einsatz kommen, ermöglichen die automatisierte Untersuchung sehr vieler Beobachtungseinheiten. Die Beobachtungsdaten der apparativen Reichweitenforschung eignen sich jedoch nicht für die Agenda-Setting-Forschung, da aus dem reinen Nutzungsverhalten nicht auf die Themenwichtigkeit geschlossen werden kann. GIFS-Daten zeichnen sich durch für die Forschung vorteilhafte Messeigenschaften aus. Im Gegensatz zur Beantwortung von Interviewfragen werden Suchmaschinenanfragen frei von sozialer Erwünschtheit gestellt. Zudem finden Suchmaschinenanfragen in einer natürlichen Feldsituation statt. Diese Feldsituation kann mit Hilfe von GIFS nicht-teilnehmend beobachtet werden. 5
Fallstudie
Wir illustrieren im Rahmen einer single-issue-Studie den Einsatz von GIFS am Beispiel des Bundestagswahlkampfs 2005 – genauer: Wir fokussieren unser Fallbeispiel auf die Person Paul Kirchhof bzw. auf das von ihm vorgeschlagene und mit seiner Person zu dieser Zeit untrennbar verbundene steuerpolitische Thema (vgl. Brettschneider, Neller & Anderson 2006; Holtz-Bacha 2006; Schmitt-Beck & Faas 2006). Um die Validität der GIFSBeobachtungsdaten zu prüfen, haben wir diese mit aggregierten Befragungsdaten verglichen. Unsere Entscheidung, den möglichen Einsatz von GIFS am Beispiel des Finanzexperten Paul Kirchhof zu illustrieren, hat vor allem pragmatische Gründe: Die Person Kirchhof trat nur für kurze Zeit, nämlich vom 16. August 2005 (Tag der Berufung des Steuerexperten Paul Kirchhof in das Kompetenzteam von Union-Kanzlerkandidatin Angela Merkel) bis zur Bundestagswahl am 18. September 2005 sowie sporadisch noch in der Zeit der Wahlnachlese massenmedial sichtbar in Erscheinung. Zudem ist ein Eigenname sowohl in offenen Antworten von Befragten als auch in Google-Suchanfragen relativ leicht zu finden, auch wenn Rechtschreib- und Transkriptionsfehler unvermeidbare Fehlerquellen bleiben.
4
Vgl. auch den Überblick von Quandt in diesem Band. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die medienpsychologischen Studien von Ravaja (2004) oder Unz & Schwab (2005) sowie die Agenda-Setting-Beobachtungsstudie von Kepplinger & Martin (1986).
306 Abbildung 1:
Jens Vogelgesang und Michael Scharkow Screenshot von Google Insights for Search
Bei der Abfrage der GIFS-Daten wurde die Suche sowohl räumlich als auch zeitlich eingegrenzt. Da nur Suchanfragen aus Deutschland relevant sind, wurden auch nur diese abgefragt, wobei Google hierfür die IP-Adressen der Nutzer heranzieht. Als zeitlicher Rahmen wurden die Monate August und September 2005 vorgegeben, von denen wir nachträglich die ersten zwei Wochen entfernt haben, da in diesem Zeitraum keine Daten vorlagen. Die Suchanfrage bestand aus den beiden Begriffen ‚kirchhof + kirchhoff’, die in diesem Fall durch ein Boole’sches ODER verknüpft sind. Dadurch ist gewährleistet, dass auch falsch geschriebene Anfragen berücksichtigt werden. Auch wenn die technischen Abfragemöglichkeiten für diese Fallstudie ausreichend waren, muss man sich bei der Nutzung von GIFS mit einem rudimentären Abfrageinterface begnügen, das keine Trunkierungen (z.B. ,kirchho*’) oder komplexe Verknüpfungen bietet, wie sie bei der Freitextrecherche üblich sind (vgl. Hollanders & Vliegenthart 2008). Bei thematisch komplexeren Konstrukten ist es daher nötig, mehrere Anfragen nachträglich zu aggregieren, um tatsächlich valide zu messen. Neben einem grafischen Output bietet GIFS (vgl. Abbildung 1) auch die Möglichkeit, die Daten in Form kommaseparierter Werte herunterzuladen. Tagesdaten sind allerdings nur für Abfragezeiträume bis zu acht Wochen zu bekommen, für größere Zeiträume liegen momentan nur Wochen- oder Monatsdaten vor. Die Umfragedaten für die Fallstudie stammen aus telefonischen Befragungen von Forsa, bei denen werktäglich 500 Personen interviewt wurden. Die Stichprobe basiert auf dem ADM-Verfahren für telefonische Befragungen (vgl. Gabler & Häder 2002) und ist repräsentativ für Wahlberechtigte ab 18 Jahren. Da die Befragungen nicht am Wochenende durchgeführt wurden, fehlen im Gegensatz zu den GIFS-Daten die entsprechenden Befragungsdaten für Samstag und Sonntag. Als Indikator für Themensalienz verwenden wir die Antworten auf die offene Frage „Welche drei Themen, über die in den Zeitungen, im Radio oder im Fernsehen in diesen Tagen berichtet wurden, interessieren Sie besonders?“ Diese
Messung der Publikumsagenda
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Antworten wurden von zwei Codiererinnen hinsichtlich der Nennung Paul Kirchhofs analysiert, so dass für jeden Tag die aggregierten Häufigkeiten zur Verfügung stehen.5 Alternativ böte sich für diese Codierung auch die Verwendung einer diktionärbasierten Analysesoftware an – insbesondere für Eigennamen oder spezifische Themen (vgl. Scharkow 2010). Als erster Schritt einer Analyse des Zusammenhangs von Suchanfragen und per Befragung ermittelter Publikumsagenda bietet sich eine Inspektion der beiden Zeitreihen an, die in Abbildung 2 dargestellt sind. Obwohl in absoluten Zahlen das Thema Paul Kirchhof nur für eine kleine Minderheit von Befragten von Interesse war, kann man deutlich den Verlauf der Themenkarriere erkennen: x
x
Befragungsdaten (vgl. Abbildung 2, rechte y-Achse): Kirchhof taucht kurz nach seiner Nominierung als Finanzexperte im Kompetenzteam von Angela Merkel am 16. August 2005 erstmals in der öffentlichen Wahrnehmung auf. Das größte Interesse unter den Befragten mit knapp drei Prozent aller Nennungen erfährt er, nachdem zuerst inhaltliche Differenzen mit Angela Merkel (22.08.) und später mit Edmund Stoiber und Peter Müller (30.08.) in den Medien thematisiert werden. Kurz vor der Wahl am 18. September zeigen die Befragten nochmals gesteigertes Interesse an der Person Kirchhof, danach sinkt es rapide. GIFS-Daten (vgl. Abbildung 2, linke y-Achse): Hier zeigt sich ein ähnliches Bild. Die Suchanfragen steigen sofort nach der Nominierung Kirchhofs an (16.08.). Ein zweites Mal zeigt sich deutlich gesteigertes Interesse unmittelbar im Anschluss an die Fernsehdebatte zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel (04.09.), in deren Rahmen die Steuerpläne und gesellschaftspolitischen Ansichten Kirchhof kontrovers diskutiert wurden. Ein dritter Anstieg in den Suchanfragen lässt sich nach der Ankündigung erkennen, dass Friedrich Merz und Paul Kirchhof als Tandemlösung für Finanzpolitik der CDU/CSU auftreten sollten (13.09.).
Zusätzlich zur grafischen Analyse der beiden Zeitreihen haben wir eine einfache SpearmanKorrelation berechnet, die mit rS = ,49 (p < ,01) für Aggregatdaten moderat ausfällt, jedoch einen eindeutigen Zusammenhang zwischen den Datenreihen anzeigt. Beide Indikatoren teilen einen gewissen Anteil gemeinsamer Varianz. Weiterführende Detailanalysen zeigen, dass beide Zeitreihen einem AR(1)-Prozess folgen, was bei der Modellierung eines vollständigen Agenda-Setting-Prozesses genau genommen berücksichtigt werden muss (vgl. Weeks & Southwell 2010). Aufgrund des relativ kurzen Untersuchungszeitraums und der Problematik fehlender Werte bei den Forsa-Daten an den Wochenenden haben wir darauf verzichtet, ARIMA-Modelle mit Kreuzkorrelationen oder Transferfunktionen zu berechnen, wie dies etwa Krause und Fretwurst (2007) mit ähnlichen Daten tun.
5
Unser Dank gilt an dieser Stelle Prof. Manfred Güllner (forsa Gesellschaft für Sozialforschung und statistische Analyse mbH) für die Bereitstellung der Rohdaten sowie Ana Ivanova und Christiane Waas für die Codierung der offenen Antworten.
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Jens Vogelgesang und Michael Scharkow
4,0
90 80
3,0
70 60
2,0
50 40 30
1,0
20 10
GIFS
6
26.09.05
19.09.05
12.09.05
05.09.05
29.08.05
0,0 22.08.05
0
Themeninteresse der Befragten (%)
Google-Suchanfragen und Forsa-Befragungsdaten zum Thema „Kirchhof“ im Bundestagswahlkampf 2005
100
15.08.05
Suchanfragen (relative Häufigkeiten)
Abbildung 2:
Forsa-Befragungsdaten
Zusammenfassung und Diskussion
Mit dem vorliegenden Beitrag haben wir anhand einer Fallstudie beschrieben, wie es mit Hilfe des Google-Dienstes GIFS möglich ist, aggregierte Statistiken zu Google-Suchanfragen für die Messung der Publikumsagenda nutzbar zu machen. GIFS-Daten zeichnen sich durch zahlreiche forschungspraktische Vorteile gegenüber klassischen Befragungsdaten aus: Sie sind kostenlos, stehen jedem Forscher zur Verfügung, weisen keine fehlenden Werte aufgrund von Wochenendtagen auf und stehen für Auswertungen noch schneller zur Verfügung als telefonische Befragungsdaten.6 Auch wenn auf den ersten Blick die forschungspraktischen Vorteile der GIFS-Daten für die Agenda-Setting-Forschung zu bestechen scheinen, sind mit Blick auf die Validität und Reliabilität noch sehr viele Fragen offen: 1.
6
Bislang ist empirisch ungeklärt, wie viele Personen hinter den relativen Häufigkeiten von GIFS stehen. Die absolute Anzahl von Suchanfragen (z.B. nach Paul Kirchhof) wird derzeit von Google nicht ausgewiesen. Prinzipiell ist es jedoch möglich, zur Bestimmung der Zahl absoluter Suchanfragen andere Dienste wie etwa das KeywordTool von Google Adwords heranzuziehen. Solange nur die Kovariation zwischen Zeitreihen untersucht wird, ist das Fehlen absoluter Zahlenwerte zumindest aus statistischer Sicht kein Problem. Mit Google Echtzeit (http://www.google.de/realtime) steht inzwischen ein weiterer Suchdienst zur Verfügung, der Nachrichten sozialer Netzwerke wie Twitter oder Facebook durchsucht und die Zahl der Suchanfragen in Form aggregierter Statistiken ausweist.
Messung der Publikumsagenda 2. 3.
4. 5. 6.
7.
309
Das Zustandekommen der GIFS-Daten ist zum Teil intransparent, weil nicht dokumentiert ist, wie etwa mit wiederholten Anfragen desselben Ursprungs umgegangen wird und wie die Aggregationsregeln definiert sind. Die von Google automatisch vorgenommene Normalisierung der Suchhäufigkeiten erschwert komparative Forschungsbemühungen. Da die Normalisierung der Daten immer auf Basis des Untersuchungszeitraumes stattfindet, ist es nicht ohne weiteres möglich, Tagesdaten über längere Zeiträume zu sammeln. Eine nachträgliche Fusionierung längerer Zeitreihen ist zumindest denkbar, indem sich überschneidende Zweimonatszeitreihen genutzt werden. Geografische Vergleiche sind wiederum dadurch erschwert, dass die GIFS-Daten immer nur je Region normalisiert ausgewiesen werden. Eine Suchanfrage muss mit der theoretischen Konzeption des Themenbegriffs korrespondieren (vgl. Eichhorn 1996). Da sich die Onliner und Offliner in Alter, Bildung und Sozioökonomie bislang noch unterscheiden (vgl. Gerhards & Mende 2009), stellt sich die Frage, welche Inferenzschlüsse anhand von GIFS-Daten eigentlich getätigt werden dürfen. Bislang kaum erforscht ist die Frage, mit welchen Motiven und unter welchen Bedingungen es überhaupt zu Suchmaschinenanfragen als fortgesetzte Publikumsreaktion kommt. Ob die Suche nach Paul Kirchhof mit Hilfe von Google politisch unmotivierte Neugier oder Ausdruck starken politischen Interesses ist, muss an dieser Stelle offen gelassen werden. Wie bei jeder Aggregatanalyse stellt sich auch bei der Auswertung von GIFS-Daten das Problem des ökologischen Fehlschlusses (vgl. Robinson 1950). Die im Rahmen der Fallstudie ermittelte Korrelation könnte einen anderen Wert annehmen, würde sie aus Individualdaten berechnet werden (vgl. Erbring 1990). Bei der Interpretation der Kovariation zwischen GIFS- und Befragungsdaten sollte daher im Hinterkopf behalten werden, dass diese nicht unbedingt auf intra-individuelle Salienzveränderungen zurückgeführt werden kann.
Es steht außer Zweifel, dass die Messung der Publikumsagenda mittels GIFS einer umfassenden theoretischen Einbettung in die Agenda-Setting-Forschung bedarf. Verhaltensreaktionen im Agenda-Setting-Prozess sind bislang erst wenig erforscht (vgl. Huck et al. 2009). Bemühungen für eine grundsätzliche theoretische Einbettung von GIFS als einer möglichen Verhaltensreaktion in die Agenda-Setting-Forschung finden sich mittlerweile – wie oben beschrieben – bei Granka (2009, 2010). Wir meinen, dass es über die theoretische Argumentation von Granka hinaus plausibel ist, davon auszugehen, dass der Zusammenhang zwischen Themensalienz und fortgesetzter Publikumsreaktion zum einen gar nicht zeitstabil ist (und somit nicht hinreichend mit Hilfe eines einzigen Korrelationskoeffizienten beschrieben werden kann) und dass zum anderen die Stärke des Zusammenhangs von themenund personenspezifischen Randbedingungen moderiert wird. Zudem haben wir in Abschnitt 3 vorgeschlagen, im Anschluss an Weaver (1980) und Matthes (2006) themenspezifische Suchanfragen als fortgesetzte Publikumsreaktionen zu konzeptualisieren. Die Studien von Granka (2009, 2010) haben gezeigt, dass die themenspezifische Berichterstattung der Offline- und Online-Medienagenden mit der Häufigkeit von entsprechenden Google-Suchanfragen positiv korreliert ist. Diese positive Korrelation erlaubt es, den im Rahmen der Fallstudie ermittelten Zusammenhang zwischen den Befragungs- und
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den GIFS-Zeitreihen als substantiellen empirischen Beitrag zum besseren Verständnis von Agenda-Setting-Prozessen zu interpretieren. Trotz des noch ausstehenden theoretischen Anschlusses und der offenen methodischen Fragen ist das empirische Potential der GIFS-Daten für uns augenscheinlich. Vorausgesetzt ein Thema ist überhaupt mit Hilfe einer Google-Suche identifizierbar, kann dessen Wichtigkeit für eine Vielzahl von Ländern bzw. zurückliegende Zeitabschnitte untersucht werden. Kombiniert man GIFS-Daten mit Online-Mediendaten wie sie beispielsweise von Google News zur Verfügung gestellt werden, wäre es prinzipiell möglich, vollautomatisierte Agenda-Setting-Studien durchzuführen. Die präsentierte Fallstudie erlaubt zudem jedem Journalisten ohne ein Umfrageinstitut beauftragen zu müssen, sich der aktuellen Themeninteressen des Publikums zu versichern. Coleman et al. (2009) gehen davon aus, dass das Internet die größte Herausforderung in der künftigen Agenda-Setting-Forschung sein wird. Die deutschsprachige Kommunikationswissenschaft stellt sich dieser Herausforderung bereist schon seit längerer Zeit (vgl. Rußmann 2007; Arens et al. 2010; Bulkow & Schweiger 2010; Urban 2010). Zu den speziellen methodischen Herausforderungen zählen in diesem Zusammenhang die OnlineInhaltsanalyse von Themen (vgl. Welker & Wünsch 2010), die Erfassung der InternetNutzung in all ihren Facetten innerhalb eines Medienrepertoires (vgl. Hasebrink & Domeyer 2010) oder die Untersuchung der Folgen von Agenda-Setting-Effekten wie beispielsweise Online-Kommunikation über Medieninhalte (z.B. Haas, Keyling & Brosius 2010). Die Nutzung von Google-Suchstatistiken zur Messung der Publikumsagenda ist unserer Ansicht nach eine vielversprechende Möglichkeit, die von Willnat (1997) beklagte theoretische Lücke beim Verstehen des Zusammenhangs zwischen Themensalienz und fortgesetzter Publikumsreaktion zu schließen. Auf diese Weise könnte zugleich ein wesentlicher Beitrag dazu geleistet werden, die methodischen Herausforderungen der AgendaSetting-Forschung im Internetzeitalter zu bewältigen. Literaturverzeichnis Arens, M., Böcking, S., Kummer, S. & Rüf, F. (2010): Das Meinungsklima zur Klimakonferenz: Wie sich Themenkarrieren im Internet entwickeln und mit welchen Themen sich Politiker positionieren. In: M. Welker & C. Wünsch (Hrsg.): Die Online-Inhaltsanalyse. Köln: Herbert von Halem, 427-447. Askitas, N. & Zimmermann, K.F. (2009): Google Econometrics and Unemployment Forecasting. In: Applied Economics Quarterly, 55(2), 107-120 Baram-Tsabari, A. & Segev E. (2009): Exploring new web-based tools to identify public interest in science. In: Public Understanding of Science (online). [URL: http://pus.sagepub.com/ content/early/2009/10/09/0963662509346496.full.pdf+html, 17.01.2011]. Brettschneider, F., Neller, K. & Anderson, C. (2006): Candidate Images in the 2005 German National Election. In: German Politics, 15(4), 481-499. Brundidge, J. & Rice, R. E. (2009): Political engagement online: Do the information rich get richer and the like-minded more similar? In: A. Chadwick, & P. N. Howard (Hrsg.): Routledge handbook of internet politics. London: Routledge, 144-156. Bulkow, K. & Schweiger, W. (2010): Ein Blick in den Automaten – individuelle Lernprozesse als vernachlässigte Größe im Agenda-Setting-Ansatz. In: C. Schemer, W. Wirth & C. Wünsch (Hrsg.): Politische Kommunikation. Wahrnehmung, Verarbeitung, Wirkung. Baden-Baden: Nomos, 213-239.
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V. Datenauswertung
Die Modellierung hierarchischer Datenstrukturen in der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ein Vergleich von OLS-Regression und Mehrebenenanalyse an einem Beispiel aus der Journalismusforschung Thomas Hanitzsch
1
Mehrebenenstrukturen in der Kommunikations- und Medienwissenschaft
Hierarchische Datenstrukturen sind in der empirischen Kommunikations- und Medienwissenschaft eine unbestreitbare Realität. Denn bei der Erforschung sozialer und kommunikativer Phänomene haben es Forscher häufig mit unterschiedlichen Analyseebenen zu tun. Dies gilt insbesondere für hochgradig organisierte Bereiche der sozialen Welt. So sind Journalisten innerhalb von Organisationen (Redaktionen bzw. Medienunternehmen) tätig, und diese operieren wiederum innerhalb nationaler Räume. Studenten der Medien- und Kommunikationswissenschaft bilden einen weiteren interessanten Anwendungsfall: Ihre Lernleistung ist nicht nur abhängig von individuellen Faktoren wie Motivation und Leistungsfähigkeit, sondern auch von der Qualität des Lehrangebotes, der Ausbildungsstätte und dem gruppenspezifischen Lernumfeld. Forscher mögen nun daran interessiert sein herauszufinden, wie sich die Gruppeneffekte (Lehrangebot, Seminargruppe, Institut bzw. Universität) im Vergleich zu den individuellen Effekten verhalten. Ein weiteres Beispiel ist die Rezeption und Aneignung von Medienangeboten. Diese findet noch immer in Form von weitgehend nationalen Publika statt, und viele Medien werden reichweitenbedingt nur in lokalen oder regionalen Räumen genutzt. Eine häufig untersuchte Frage ist daher, ob und wie diese lokalen, regionalen oder nationalen Besonderheiten die Rezeption von Medienangeboten beeinflussen, und zwar unter Kontrolle der relevanten individuellen Merkmale des Publikums. Ist erst einmal der Blick für Mehrebenenstrukturen geschärft, treffen Kommunikationswissenschaftler beinahe überall auf hierarchische Anordnungen. Auch Inhaltsanalysen geraten dabei in den Blick, denn sie bilden einen geradezu prototypischen Fall einer Mehrebenenstruktur: Textaussagen sind eingebettet in den Kontext von Textbeiträgen, und die Beiträge werden wiederum von Journalisten verfasst, die innerhalb von Medienbetrieben tätig sind, die innerhalb von nationalen Räumen operieren. Paneldaten lassen sich ebenfalls auf diese Weise charakterisieren, da es sich hierbei um mehrere zeitlich aufeinander folgende Messungen bei identischen Personen handelt. Das Prinzip und die Konsequenz ist bei all diesen Anwendungsfeldern gleich: Die Beobachtungen liegen in gruppierter Form vor. Sie sind somit nicht unabhängig voneinander, sondern sie sind jeweils Einheiten höherer Ordnung „zugehörig“. Die Abbildung fasst grundlegende Formen von Mehrebenenstrukturen in der Kommunikationswissenschaft zusammen.
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _18, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
318 Abbildung:
Thomas Hanitzsch Mehrebenenstrukturen in der Kommunikationswissenschaft
Einstellungen und Verhalten
Individuen
Gruppen
Medieninhalte
Aussagen
Beiträge
Verfasser
Beobachtungen
Individuen
Gruppen
Zeitliche Dynamik
Medien
Häufig lässt sich plausibel begründen und empirisch belegen, dass sich Beobachtungen aus derselben Einheit höherer Ordnung ähnlicher sind als Beobachtungen aus verschiedenen Einheiten. So ähneln sich Personen, die derselben Gruppe zugehören, tendenziell eher als Personen, die verschiedenen Gruppen angehören. Der Grund hierfür ist simpel: Innerhalb der Gruppe beeinflussen sich Personen gegenseitig und sind überdies den gleichen Bedingungen ausgesetzt. Dies gilt in gleichem Maße für Beiträge, die von demselben Journalisten verfasst werden (bzw. die im selben Medium erscheinen) sowie für Mehrfachmessungen an identischen Personen. Diese Mehrebenenstrukturen – und die damit einhergehende Ähnlichkeit von Beobachtungen – bilden jedoch einen in der Kommunikationswissenschaft häufig unterschätzten Tatbestand. Schließlich bleibt damit nicht nur wertvolles heuristisches Potenzial ungenutzt. Die mangelnde Berücksichtigung gruppierter Beobachtungen kann zudem erhebliche statistische Konsequenzen nach sich ziehen und zu fehlgeleiteten Interpretationen führen. Diese Probleme sind in verwandten Disziplinen längst erkannt worden, allen voran in den Erziehungswissenschaften, aber auch in der Soziologie, Psychologie und der Politikwissenschaft (vgl. Boyd & Iverson 1979; Bryk & Raudenbush 1992; Goldstein 1987; Steenbergen & Jones 2002; Van de Vijver, van Hemert & Poortinga 2008). Für die in der Folge entwickelten Analyseverfahren finden sich in der überwiegend englischsprachigen Literatur recht uneinheitliche Bezeichnungen, die zwischen Multilevel Modeling, Random Coefficients Models, Hierarchical Linear Models, Contextual Analysis und Multilevel Regression breit streuen. Im deutschsprachigen Raum wird ziemlich einheitlich „Mehrebenenanalyse“ verwendet, auch wenn die damit verbundenen Entwicklungen zunächst nur zögernd zur Kenntnis genommen wurden (vgl. Ditton 1998; Langer 2004). Mit dem Vorliegen nutzerfreundlicher Softwarepakete wie HLM, MlwiN, LISREL und MLA sowie mit der Implementierung entsprechender Features in einigen der breit genutzten StandardStatistikprogramme hat sich die Situation jedoch erheblich gebessert. Auf den Punkt gebracht ist die Mehrebenenanalyse ein statistisches Verfahren, das die simultane Modellierung von Varianz auf mehreren Analyseebenen erlaubt. Pan und McLeod haben bereits 1991 in einer Sonderausgabe der Fachzeitschrift „Communication Research“ darauf hingewiesen, dass „[t]he very nature of mass communication processes compels multilevel consideration“ (Pan & McLeod 1990, 140). Dennoch sind Anwendungen der Mehrebenenanalyse im Fach noch immer rar (vgl. Southwell 2005). Ein Grund hierfür mag sicherlich der unter Kommunikationswissenschaftlern weit verbreitete metho-
Modellierung hierarchischer Datenstrukturen in der Journalismusforschung
319
dologische Individualismus sein (vgl. Park, Eveland & Cudeck 2008, 230), ein weiterer ist zweifellos der mit Mehrebenenanalysen verbundene immense zusätzliche Aufwand bei der Datenerhebung und Datenanalyse. Der vorliegende Aufsatz versteht sich dezidiert als Beitrag zur stärkeren Verankerung der Mehrebenenanalyse im Fach. In den folgenden Abschnitten sollen daher zunächst die Schwächen konventioneller Analysemethoden aufgezeigt und in die Grundlagen der Mehrebenenanalyse eingeführt werden. Danach werden im Rahmen eines Anwendungsbeispiels die Ergebnisse aus der konventionellen Analyse und dem Mehrebenenmodell gegenübergestellt und vergleichend bewertet. Im Fazit werden schließlich einige weiterführende Überlegungen angestellt. 2
Konventionelle Ansätze
Bei Mehrebenenphänomenen der hier diskutierten Kategorie geht es dem Forscher zumeist um die Modellierung einer komplexen Beeinflussungsstruktur. Die abhängige Variable wird auf der tiefsten Analyseebene gemessen, die Prädiktorvariablen beziehen sich hingegen auf unterschiedliche Analyseebenen. Ein „klassisches“ Beispiel aus der Journalismusforschung ist Weavers und Wilhoits (1986, 118 f.) Versuch, die Unterschiede in den beruflichen Rollenverständnissen von US-amerikanischen Journalisten durch persönliche Merkmale und Einstellungen sowie Eigenschaften der Redaktionen und Medienbetriebe, in denen die befragten Journalisten tätig waren, zu erklären. Scholl und Weischenberg (1998, 172 ff.) haben in Deutschland einen ähnlichen Weg beschritten. Wird dabei jeweils nur ein Journalist pro Redaktion befragt, bedeutet dies nicht notwendigerweise ein methodisches Problem. Die Mehrebenenstruktur hat dann keinerlei Bedeutung für das Design, und aus ihrem Vorhandensein wird kein Nutzen für die Analyse gezogen. Häufig werden jedoch – um beim genannten Beispiel zu bleiben – mehrere Journalisten aus derselben Redaktion befragt, und dieser Klumpungseffekt kann erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen. In der Forschungspraxis lassen sich drei konventionelle Strategien des Umgangs mit Mehrebenenstrukturen unterscheiden: Disaggregierung, Aggregierung und separate Analysen auf den einzelnen Ebenen. Disaggregierung: Bei der Disaggregierung werden die auf höheren Analyseniveaus gemessenen Merkmale auf das Niveau der untersten Analyseebene disaggregiert und dem Datensatz hinzugefügt. In unserem Beispiel würden wir allen Journalisten aus derselben Redaktion die gleichen organisationsspezifischen Kennwerte (Redaktionsgröße, Medientyp etc.) zuweisen. Die nachfolgende Analyse geschieht dann üblicherweise über das Verfahren der OLS-Standardregression, was in der Literatur häufig auch unter den Stichworten „pooled regression“ und „total regression“ diskutiert wird (Kreft & De Leeuw 1998, 27). Hier zeigen sich bereits die ersten Probleme: Das konventionelle Verfahren kann nämlich nicht zwischen verschiedenen Analyseebenen unterscheiden, denn die einfache lineare Regressionsgleichung Yi = ȕ0 + ȕ1Xi + ri
[1]
320
Thomas Hanitzsch
enthält unabhängig von der Zahl der Analyseebenen nur ein Residualterm (ri) zur Modellierung von Varianz.1 Mögliche Mehrebenenstrukturen werden damit unterschlagen, und die resultierenden Regressionskoeffizienten bilden eine uninterpretierbare Mischung von Effekten auf verschiedenen Analyseebenen (vgl. Ditton 1998, 29). Darüber hinaus erlaubt die OLS-Regression nur die Schätzung von festen Effekten. Das heißt, es wird davon ausgegangen, dass die Effekte – ausgedrückt in der Regressionskonstanten ȕ0 (intercept) und dem Steigungskoeffizienten ȕ1 (slope) in Gleichung 1 – in allen Aggregateinheiten (z.B. Gruppen) identisch sind.2 Das OLS-Modell setzt also implizit voraus, dass etwa die Natur und Stärke des Einflusses der politischen Einstellung auf das berufliche Rollenverständnis der Journalisten in allen Redaktionen identisch ist (konstante Slopes) und dass das Rollenverständnis in allen Redaktionen gleich ausgeprägt ist, wenn alle Prädiktorvariablen den Wert Null annehmen (konstante Intercepts). Die Konstanz von Regressionskonstanten und Steigungskoeffizienten ist jedoch häufig nicht gegeben. So können sich nicht nur die gemessenen Effektniveaus der abhängigen Variable von Aggregateinheit zu Aggregateinheit unterscheiden, sondern auch die Natur der Beziehung zwischen abhängiger und unabhängiger Variable innerhalb der Aggregateinheiten. Im ersten Fall variieren die Regressionskonstanten, im letzteren die Steigungskoeffizienten. Unter der Annahme, dass die untersuchten Aggregateinheiten eine zufällige Auswahl aus einer entsprechenden Population bilden, wird bei variierenden Regressionskoeffizienten deshalb von „Zufallseffekten“ gesprochen. Daher wird in der Literatur für diese Modellklasse häufig auch die Bezeichnung Random Coefficients Models verwendet. Eine statistische Konsequenz der Nichtberücksichtigung vorhandener Mehrebenenstrukturen sind suspekte Signifikanztests von Regressionskoeffizienten auf den höheren Analyseebenen (vgl. Hox 2002, 3; Kreft & De Leeuw 1998, 10). Die zur Berechnung von Signifikanztests herangezogenen Standardfehler beruhen nämlich auf der berücksichtigten Fallzahl. Mit zunehmender Fallzahl steigt statistisch die Wahrscheinlichkeit, dass ermittelte Koeffizienten bei unveränderter Effektstärke signifikant werden. Die OLS-Regression geht von der gleichen Fallzahl für alle in die Analyse einbezogenen Variablen aus, was bei hierarchisch geklumpten Datenstrukturen selbstverständlich nicht der Fall ist. Die Zahl der Aggregateinheiten ist deutlich geringer als die Gesamtzahl der individuellen Beobachtungen auf der untersten Analyseebene. Die Signifikanztests für Effekte auf der Aggregatebene werden jedoch nicht anhand der Zahl der Aggregateinheiten (z.B. der Redaktionen) berechnet, sondern auf Basis der individuellen Fälle (z.B. Journalisten). Je größer die Ähnlichkeiten zwischen den individuellen Analyseeinheiten innerhalb der Gruppen sind (d.h. zwischen den Journalisten in den einzelnen Redaktionen), umso stärker wirkt sich der so genannte Design-Effekt auf die Standardfehler – und damit auf die Signifikanztests – aus. Auch wenn die Standardfehler mithilfe gängiger Statistikprogramme mittlerweile entsprechend korrigiert werden können, so bleibt eine essenzielle Voraussetzung der linearen Regressionsanalyse verletzt – die Unabhängigkeit der Beobachtungen. Aggregierung: Bei der Aggregierung werden die Daten auf einer höheren Analyseebene zusammengefasst und in dieser Form der Analyse zugeführt. So werden z.B. für jede 1
2
Die hier verwendete Notation orientiert sich an der gängigen Praxis der Mehrebenenanalyse. Diese weicht zum Teil von den in der OLS-Regression üblichen Konventionen ab. In Einführungstexten zur Standardregression findet sich daher häufiger die äquivalente Formel Yi = a+bXi+ri. Die Regressionskonstante bzw. das Intercept bezeichnet den exakten Wert der abhängigen Variablen Y für den Fall, dass alle unabhängigen Variablen (X1, X2…) den Wert Null annehmen.
Modellierung hierarchischer Datenstrukturen in der Journalismusforschung
321
Redaktion Durchschnittswerte für Indikatoren des Rollenverständnisses und der politischen Einstellung der dort beschäftigten Journalisten berechnet. Die Regression wird dann anhand dieser Mittelwerte durchgeführt. Manifeste Mehrebenenstrukturen werden auch hier ignoriert, da prinzipiell nur Varianz auf der Aggregatebene modelliert werden kann (vgl. Kreft & De Leeuw 1998). Dies führt zu einem hohen Informationsverlust, da die gesamte Varianz auf der individuellen Ebene unwiderruflich der Analyse entzogen bleibt. Häufig weichen die Ergebnisse aus der Analyse von Aggregatdaten von denen aus Individualanalysen ganz erheblich ab (vgl. Ditton 1998, 31). Eine Modellierung von ebenenübergreifenden Interaktionseffekten ist wie beim Verfahren der Disaggregierung nicht möglich, d.h. das Zusammenspiel von Individual- und Aggregateffekten gerät aus dem Blickfeld der Analyse. Darüber hinaus können auch hier nur feste Effekte geschätzt werden, wobei in der Analyse implizit von der Annahme homogener Aggregateinheiten ausgegangen wird. Diese Homogenitätsbedingung ist in der Realität jedoch nur selten tatsächlich gegeben. So ist es kaum wahrscheinlich, dass Journalisten, auch wenn sie für dieselbe Redaktion tätig sind, in ihrer Wahrnehmung des beruflichen Rollenverständnisses vollständig übereinstimmen. Bei mehr als zwei Analyseebenen wird das Verfahren der Aggregierung ohnehin suspekt, da für jede Aggregationsebene eigentlich eine eigene aggregierte Analyse durchgeführt werden müsste. Die Ergebnisse wären mit großer Wahrscheinlichkeit widersprüchlich. Separate Analysen: Natürlich könnten für die unterschiedlichen Analyseebenen jeweils separate Regressionsanalysen durchgeführt werden. Dies ist aus verschiedenen Gründen ebenfalls unergiebig: Erstens können nicht alle Effekte in einem gemeinsamen Modell berechnet und gegeneinander auspartialisiert werden. Zweitens bleiben ebenenübergreifende Interaktionseffekte wie bei den beiden oben diskutierten Verfahren von der Analyse ausgeschlossen. Und drittens schließlich muss zumindest die abhängige Variable für die Analyse auf der Aggregatebene immer noch aggregiert werden. 3
Das Hierarchisch-Lineare Modell
Der hier unternommene Streifzug in das heute recht ausdifferenzierte Feld der Mehrebenenanalyse beschränkt sich im Folgenden auf das Hierarchisch-Lineare Modell, das auf Arbeiten der Erziehungswissenschaftler Anthony Bryk und Stephen Raudenbush (1992) zurückgeht. Die Anwendung des Verfahrens ist an Voraussetzungen gebunden, die denen der linearen Regression im Prinzip ähnlich sind. Hierzu zählt die korrekte Spezifizierung des Modells, womit insbesondere die Linearität der Variablenbeziehungen und Nichtexistenz von Korrelationen zwischen Prädiktorvariablen und Residuen gemeint ist. Darüber hinaus sollten die Residuen auf allen Analyseebenen normalverteilt sein und gleiche Varianzen aufweisen (vgl. Ditton 1998, 117 ff.; Raudenbush & Bryk 2002, 253 ff.; Snijders & Boskers 1999, 120 f.). Metrisches Skalenniveau der abhängigen Variablen sowie die zufällige Auswahl der Untersuchungseinheiten sind weitere Vorbedingungen, die in der Praxis allerdings häufig relativiert werden. Im Grundsatz basiert das Hierarchisch-Lineare Modell auf dem Ansatz der gestaffelten Varianzzerlegung, d.h. die Variation der Koeffizienten auf der tieferen Analyseebene wird durch separate Regressionsgleichungen auf der höheren Ebene modelliert. Das einfachste Mehrebenenmodell ist dabei das vollständig unkonditionierte „Nullmodell“, das keinerlei
322
Thomas Hanitzsch
Prädiktorvariablen enthält (Ditton 1998, 61; Hox 2002, 16). Auf der ersten Analyseebene lässt sich dieses Modell anhand folgender Gleichung beschreiben: Yij = ȕ0j + rij
[2.1]
Der modellierte Parameter ist hier die Regressionskonstante ȕ0j, die den Mittelwert der abhängigen Variable Y für die Aggregateinheit j beziffert. Der Wert einer Individualeinheit i ergibt sich aus ȕ0j und der individuellen Abweichung rij von diesem Mittelwert (vgl. Ditton 1998, 60). Das so spezifizierte Modell geht davon aus, dass sich die Regressionskonstanten von Aggregateinheit zu Aggregateinheit signifikant unterscheiden. Ziel ist es nun, diese Varianz auf der höheren Analyseebene zu modellieren. Das Modell für die Aggregatebene kann also beschrieben werden als: ȕ0j = Ȗ00 + u0j
[2.2]
Die Regressionskonstante ȕ0j aus dem Modell 2.1 wird also in einen festen Effekt Ȗ00 (dem Mittelwert der Regressionskonstanten für alle Aggregateinheiten) und einen Zufallseffekt u0j (der Abweichung der Aggregateinheit j von diesem Mittelwert) zerlegt. Nach Kombination der beiden Gleichungen ergibt sich: Yij = Ȗ00 + u0j + rij
[2.3]
Das Nullmodell stellt erste wichtige Informationen zur Verfügung. Von größter Bedeutung ist hierbei die Partitionierung der Varianz in einen Anteil zwischen den Aggregateinheiten IJ00 (Varianz von u0j) und einen Anteil innerhalb der Aggregateinheiten į2 (Varianz von rij). Daraus lässt sich der Intraklassen-Korrelationskoeffizient (ICC) bestimmen. Dieser bezeichnet den Varianzanteil, der auf die Unterschiede zwischen den Aggregateinheiten zurückzuführen ist (vgl. Hox 2002, 15). Der Intraklassen-Korrelationskoeffizient kann mittels der folgenden Formel berechnet werden: ȡ = IJ00 / (IJ00 + į2)
[3]
Somit beziffert ȡ die Korrelation zwischen zwei zufällig aus einer Aggregateinheit ausgewählten Fällen.3 In der Terminologie der Varianzanalyse entspricht der ICC dem EtaQuadrat, d.h. dem Anteil der Varianz, der durch die Gruppierungsvariable „erklärt“ wird. Mit dem bedeutsamen Unterschied allerdings, dass sich das Eta-Quadrat auf die konkret untersuchten Fälle bezieht und der ICC eine Schätzung für die Population darstellt, die unter der Annahme vorgenommen wurde, dass die untersuchte Stichprobe zufällig aus der Grundgesamtheit gezogen wurde. Die einzelnen Varianzkomponenten werden über einen Chi-Quadrat-Test auf Signifikanz geprüft. Eine substanzielle und signifikante Intraklassen-Korrelation ist ein klarer Indikator dafür, dass in diesem Fall die Mehrebenenanalyse der Standardregression vorzuziehen ist. Simulationsstudien haben gezeigt, dass sich selbst geringe IntraklassenKorrelationen von 0,01 bei entsprechend großen Aggregateinheiten (z.B. 100 Fälle pro 3
Aufgrund seiner Eigenschaften wird die Intraklassen-Korrelation für inhaltsanalytische Anwendungen auch als Alternative zu korrelationsbasierten Intercoder-Reliabilitätsmaßen diskutiert.
Modellierung hierarchischer Datenstrukturen in der Journalismusforschung
323
Einheit) dramatisch auf die Schätzung der Standardfehler – und damit auf die Signifikanztests – auswirken können (vgl. Barcikowski 1981). Allerdings ist die Literatur auffallend zurückhaltend mit konkreten Empfehlungen für Richtwerte. Der Grad der Verzerrung von Standardfehlern hängt von verschiedenen Faktoren ab, sodass eine Entscheidung für oder gegen die Mehrebenenanalyse nicht allein auf Basis von ICC-Koeffizienten getroffen werden sollte. Das zur ersten Bestimmung der Varianzanteile herangezogene Nullmodell ist die einfachste Variante eines so genannten Random Intercept Models. Dabei wird die Regressionskonstante der ersten Ebene (Modell 2.1) durch eine separate Regressionsgleichung auf der zweiten Analyseebene (2.2) modelliert. Diese Struktur kann nun entsprechend erweitert werden. Ein komplexeres Mehrebenenmodell mit Prädiktoren auf zwei Analyseebenen könnte auf der Individualebene so aussehen: Yij = ȕ0j + ȕ1jXij + rij
[4.1]
Und auf der Aggregatebene: ȕ0j = Ȗ00 + Ȗ01Wj + u0j
[4.2]
ȕ1j = Ȗ10 + Ȗ11Wj + u1j
[4.3]
Beide Gleichungen lassen sich nun ineinander überführen: Yij = Ȗ00 + Ȗ01Wj + Ȗ10Xij + Ȗ11Wj*Xij + u0j + u1jXij + rij
[4.4]
Diese Modellklasse wird als Random Coefficients Models bezeichnet. Dabei wird dem Modell 4.1 auf der ersten Ebene eine Prädiktorvariable X auf Individualdatenniveau hinzugefügt, mitsamt zugehörigem Steigungskoeffizienten ȕ1j. Die Addierung des Residualterms u0j in Gleichung 4.2 ermöglicht der Regressionskonstante ȕ0j je nach Aggregateinheit verschiedene Werte anzunehmen. Diese Varianz in den Intercepts wird nun versucht, durch eine Prädiktorvariable W auf Aggregatdatenniveau teilweise zu erklären, womit ein zusätzlicher Parameter Ȗ01 geschätzt werden muss. In ähnlicher Weise wird der Steigungskoeffizient ȕ1j des Prädiktors X in Gleichung 4.3 als Zufallseffekt modelliert, d.h. es wird davon ausgegangen, dass die Beziehung zwischen X und Y von Aggregateinheit zu Aggregateinheit variieren kann. Die Varianz in den Steigungskoeffizienten wird wiederum über die Kontextvariable W teilweise modelliert. Dies wird durch den Parameter Ȗ11 angezeigt, bei dem es sich mithin um einen ebenenübergreifenden Interaktionseffekt handelt. Dabei wird der Effekt von X auf Y durch das Aggregatmerkmal W konditioniert, d.h. die Beziehung zwischen den beiden Variablen ist abhängig vom Wert, den die Gruppenvariable W in der jeweiligen Aggregateinheit j annimmt. Die Vorzüge der Mehrebenenanalyse gegenüber konventionellen Verfahren lassen sich bereits an den oben diskutierten Modelltypen aufzeigen: So wird im Rahmen des Hierarchisch-Linearen Modells die Mehrebenenstruktur explizit zum Gegenstand der Analyse gemacht und nicht als störender Faktor zu eliminieren versucht. Die ebenenspezifische Partitionierung von Varianz erlaubt es, konkurrierende Erklärungsmodelle – etwa psychologisch-individuelle vs. organisationale – gegeneinander auszuspielen und angemessen zu
324
Thomas Hanitzsch
testen. Darüber hinaus wird die Mehrebenenanalyse am ehesten der Tatsache gerecht, dass Modellbeziehungen auf verschiedenen Analyseebenen durchaus unterschiedliche Formen annehmen können und überdies auch noch von Aggregateinheit zu Aggregateinheit erheblich variieren können. Damit wird die Gefahr einer fehlerhaften Spezifikation von Modellen verringert (vgl. Steenbergen & Jones 2002). Inferenzstatistisch relevant ist der Umstand, dass mittels der Mehrebenenanalyse die Standardfehler korrekt geschätzt werden können, was zu verlässlicheren Signifikanztests beiträgt. 4
Ein Anwendungsbeispiel
4.1 Analysemodell und Datensatz In der folgenden Darstellung werden die genannten Ansätze anhand eines Anwendungsbeispiels vergleichend gegenübergestellt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die hier angestellten Berechnungen Demonstrationscharakter haben und aufgrund der gebotenen Kürze und Komplexität der Materie nicht ohne Vereinfachungen auskommen können. Das benutzte Beispiel bezieht sich auf die Modellierung von Vertrauen in politische Institutionen im Kontext einer Journalistenbefragung. Auf konzeptionell-theoretische Überlegungen kann in diesem Beitrag aus Platzgründen nur am Rande eingegangen werden. Die abhängige Variable in unserem Beispiel ist Vertrauen in politische Institutionen. In diesem Index (TRUST, Cronbach’s Alpha = 0,816) wurden insgesamt vier Indikatoren zusammengeführt: Vertrauen in die Regierung, das Parlament, politische Parteien sowie Politiker im Allgemeinen.4 Der Wertebereich des Indexes erstreckt sich zwischen 1 und 5. Die im Modell angenommenen Prädiktoren verteilen sich auf insgesamt drei Analyseebenen: Individuen, Organisationen und Mediensysteme. Auf der individuellen Ebene sind dies folgende Prädiktoren: y y
y
y
4
5
Leitungsfunktion: Hier wird angenommen, dass leitende Journalisten Politikern und politischen Institutionen tendenziell weniger vertrauen (RANK, Dummy-Variable). Zeitbudget Recherche: Diese Variable quantifiziert den prozentualen Anteil der Arbeitszeit, der in die Recherche investiert wird. Es wird vermutet, dass Journalisten, die mehr recherchieren, dies unter anderem deswegen tun, weil sie politischen Institutionen weniger vertrauen (INVEST, Wertebereich: 0-100). Politische Einflüsse: Dieser Index besteht aus drei Indikatoren – den wahrgenommenen Einflüssen von Regierung, Politikern und Zensur.5 Die Annahme ist, dass mit wachsenden politischen Einflüssen das Vertrauen in politische Institutionen sinkt (POL_INFL, Cronbach’s Alpha = 0,834, Wertebereich: 1-5). Berufserfahrung: Hier gehen wir davon aus, dass Journalisten mit zunehmender Berufserfahrung (in Jahren) politischen Institutionen tendenziell misstrauischer gegenüberstehen (PRF_EXP, Min. = 0, Max. = 54). Wortlaut der Frage im Interview: „Please tell me on a scale of 1 to 5 how much you personally trust each of the following institutions. One means you have complete trust, and 5 means you do not trust an institution at all.“ Wortlaut im Interview: „Please tell me on a scale of 1 to 5 how influential each of the following is in your day-to-day job. One means it is extremely influential, 2 means very influential, 3 means somewhat influential, 4 means little influential, and 5 means not influential at all.“
Modellierung hierarchischer Datenstrukturen in der Journalismusforschung y
325
Interesse an Politik: Die Annahme lautet hier, dass mit höherem Interesse am politischen Geschehen auch das Vertrauen der Journalisten in politische Institutionen zunimmt (POL_INTR, Wertebereich: 1-5).6
Statistisch kontrolliert wird darüber hinaus für die Variablen Geschlecht (GENDER, Dummy-Variable, 0 = männlich, 1 = weiblich), Alter (AGE, Min. = 19, Max. = 75) und Bildung, d.h. das Vorliegen eines Studienabschlusses (DEGREE, Dummy-Variable). Auf der Ebene der Redaktion bzw. des Medienbetriebs (organisationale Faktoren) wurden folgende potenzielle Prädiktoren im Modell integriert: y
y
Reichweite: Diese Variable unterscheidet überregionale und lokale bzw. regionale Medien. Hier gehen wir von der Vermutung aus, dass Journalisten, die bei überregionalen Medien tätig sind, gegenüber politischen Institutionen misstrauischer eingestellt sind. (NATIONAL, Dummy-Variable) Eigentümerschaft: Diese Variable klassifiziert Medienbetriebe in drei Kategorien – überwiegend privatfinanziert, überwiegend öffentlich bzw. öffentlich-rechtlich finanziert sowie überwiegend staatlich finanziert. Im Modell dient Privatbesitz als Basiskategorie, während die Ausprägungen „öffentlich“ (PUBLIC) und „staatlich“ (STATE) als Dummy-Variablen verwendet werden. Wir vermuten, dass Journalisten bei öffentlichen Medien weniger und ihre Kollegen bei staatlichen Medien politischen Institutionen stärker vertrauen.
Auf der Ebene der Mediensysteme schließlich wurden folgende Beziehungen angenommen: y
y y
Pressefreiheit: Je umfassender die Medienfreiheit in einem Land ausgeprägt ist, um so mehr neigen Journalisten dazu, politischen Institutionen zu vertrauen. Datengrundlage sind die von Freedom House für das Jahr 2007 publizierten Länderwerte. (PRSSFREE, Min. = 16, Max. = 88) Demokratie: Es wird vermutet, dass Journalisten in demokratischen Gesellschaften den politischen Institutionen mehr Vertrauen entgegen bringen. Grundlage war die Einstufung der internationalen Polity-IV-Studie. (DEMOCRCY, Dummy-Variable) Korruption: Je stärker Korruption in einem Land verbreitet ist, umso weniger vertrauen Journalisten politischen Institutionen. Datenbasis sind die von Transparency International für das Jahr 2007 ermittelten Länderwerte. (CORRUPTN, Min. = 1, Max. = 7,7)
Um eine intuitivere Interpretation der Ergebnisse zu unterstützen wurden dort, wo es erforderlich war, numerische Variablen so recodiert, dass höhere Werte eine stärkere Ausprägung der jeweiligen Variablen indizieren. Der verwendete Datensatz stammt aus der internationalen Studie „Worlds of Journalism“. Für die vorliegende Analyse wurde auf Daten aus insgesamt 17 Ländern zurückgegriffen, einschließlich von Ägypten, Australien, Brasilien, Bulgarien, Chile, China, Deutschland, Indonesien, Israel, Österreich, Rumänien, Russland, Spanien, Uganda sowie der Schweiz, Türkei und den USA.
6
„How interested are you in politics? Are you extremely interested, very interested, somewhat interested, little interested, or are you not interested at all?“
326
Thomas Hanitzsch
Die Datenerhebung nahm zwischen September 2007 und April 2009 insgesamt 20 Monate in Anspruch. Um die Voraussetzungen für die Anwendung der Mehrebenenanalyse sicherzustellen, wurde ein komplexes Stichproben- und Erhebungsdesign realisiert. In jedem Land wurden standardisierte persönliche oder telefonische Interviews mit jeweils 100 Journalisten aus etwa 20 Medienorganisationen geführt. Die Auswahl der Redaktionen und Journalisten erfolgte dabei in einem mehrstufigen Verfahren. Im ersten Schritt wurden pro Land 20 Redaktionen nach einem Quotenschlüssel bestimmt. Aufgrund der spezifischen Besonderheiten in einigen Mediensystemen ließ sich das Quotenschema nicht überall vollständig umsetzen, sodass in Einzelfällen auf vordefinierte Alternativen ausgewichen werden musste. Innerhalb der Redaktionen wurden jeweils fünf Journalisten ausgewählt, und zwar zunächst geschichtet nach dem Umfang an redaktioneller Verantwortung. So waren idealerweise ein Journalist in einer Gesamtleitungsrolle, ein Journalist in einer Teilleitungsrolle sowie drei Journalisten ohne bzw. mit geringer Leitungsfunktion. Innerhalb dieser Kategorien erfolgte die Selektion per Zufall.7 Über die Interviews hinaus wurden Daten zu den Redaktionen und Medienunternehmen erhoben. Dies geschah einerseits über allgemein zugängliche Quellen und Dokumente (z.B. Webauftritte, Datenbanken, Geschäftsberichte) und andererseits über direkte Nachfragen bei den Organisationen. Auf der Ebene der Mediensysteme wurde auf Informationen zurückgegriffen, die frei zugänglich sind (z.B. Freedom House, UNESCO) oder von kommerziellen Anbietern bezogen werden können (z.B. World Advertising Research Center). Darüber hinaus haben wir aggregierte Daten verwendet, die in anderen Zusammenhängen wissenschaftlich erhoben wurden (z.B. durch die World Values Survey oder die Polity-IVStudie). Nach Bereinigung des Datensatzes konnten für die vorliegende Analyse Daten von insgesamt 1504 Journalisten aus 328 Redaktionen und 17 Ländern verwendet werden. 4.2 Modellvergleich Für diesen Beitrag wurden sechs Modelle geschätzt: Eine OLS-Regression mit disaggregierten Organisations- und Ländermerkmalen, eine Regression mit aggregierten Individualmerkmalen, jeweils eine separate Regression auf Individual-, Redaktions- bzw. Länderniveau sowie ein Hierarchisch-Lineares Modell mit variierenden Regressionskonstanten. Die Ergebnisse der einzelnen Modellrechnungen sind in Tabelle 1 vergleichend gegenübergestellt. Bei der disaggregierten Analyse werden die Standardfehler (und damit die Signifikanztests) anhand der individuellen Fallzahl von 1504 Journalisten berechnet. Demnach bringen Journalisten politischen Institutionen mit zunehmendem Alter mehr Vertrauen entgegen. Darüber hinaus ist das Vertrauen stärker ausgeprägt bei männlichen Journalisten sowie bei Personen, die für lokale/regionale Redaktionen, bei staatlichen Medien und in demokratischen Ländern tätig sind. Negativ assoziiert ist Vertrauen in politische Institutionen mit dem Zeitaufwand für Recherche sowie mit Pressefreiheit und Korruption. Alle anderen Prädiktoren verfehlen in diesem Modell die Signifikanz. Der Anteil der erklärten Varianz fällt mit 18,6 Prozent moderat aus, was unter anderem darin begründet ist, dass die Gesamtvarianz bei der OLS-Regression nicht ebenenspezifisch partitioniert wird. Die rest7
Eine detailliertere Darstellung des methodischen Vorgehens findet sich in Hanitzsch (2009).
Modellierung hierarchischer Datenstrukturen in der Journalismusforschung
327
lichen 81,4 Prozent nicht erklärte Varianz setzen sich somit aus verbleibender Variabilität auf der individuellen, organisationalen und der nationalen Ebene zusammen. Tabelle 1: Modellrechnungen im Vergleich Disaggregiert b
SE
p
Aggregiert (2, Ebene)
Separate Regression1
Random Intercept1
b
SE
p
b
SE
p
b
SE
p
Individuelle Faktoren Konstante
4,339 ,318 ,000
4,433
,480
,000
1,962
,172
,000
4,479
,682
,000
Leitungsfunktion
-,015 ,047 ,745
,165
,116
,157
-,058
,049
,238
-,028
,046
,542
Zeitbudget Recherche
-,002 ,001 ,022
-,007
,002
,002
-,003
,001
,001
-,002
,001
,027
Politische Einflüsse
-,030 ,020 ,146
-,028
,036
,433
,044
,019
,023
,004
,022
,850
Berufserfahrung
-,010 ,005 ,052
-,018
,009
,046
-,010
,005
,070
-,004
,005
,464
Interesse an Politik
,036 ,020 ,077
-,025
,041
,546
,077
,021
,000
,035
,021
,092
Bildung
,008 ,053 ,880
,048
,104
,648
-,067
,056
,229
-,011
,055
,845
-,095 ,041 ,019
-,107
,094
,256
-,104
,043
,016
-,078
,040
,049
,013 ,005 ,005
,025
,009
,006
,015
,005
,003
,008
,005
,111
2,544
,036
,000
Geschlecht Alter
Organisationale Faktoren Konstante Reichweite
-,085 ,041 ,038
-,103
,050
,041
-,163
,043
,000
-,090
,044
,040
Eigentümerschaft: öffentlich
,010 ,068 ,877
-,040
,086
,643
,241
,070
,001
,012
,072
,868
Eigentümerschaft: staatlich
,369 ,061 ,000
,351
,075
,000
,360
,053
,000
,212
,067
,002
5,013
,244
,000
Mediensystem Konstante Pressefreiheit
1
-,021 ,002 ,000
-,022
,003
,000
-,025
,002
,000
-,022
,005
,001
Demokratie
,240 ,114 ,036
,230
,139
,099
,268
,114
,019
,268
,306
,397
Korruption
-,202 ,029 ,000
-,209
,036
,000
-,222
,028
,000
-,199
,075
,021
(korr.) R2
,186
,421
,032 / ,039 / ,148
,189 / ,442 / ,709
Das R² wird pro Analyseebene separat ausgewiesen (individuelle Ebene / organisationale Ebene / nationale Ebene).
Die Ergebnisse des aggregierten Regressionsmodells, das auf Basis der 328 Redaktionen berechnet wurde, zeigen auf den ersten Blick ähnliche Zusammenhänge. Allerdings haben sich die Steigungskoeffizienten auf der individuellen Ebene zum Teil erheblich verändert. Im Vergleich zum disaggregierten Modell ist der Einfluss von Berufserfahrung nun signifi-
328
Thomas Hanitzsch
kant, wohingegen Geschlecht und Demokratie die Signifikanzgrenze verfehlen. Diese Abweichungen können kaum verwundern, bilden sie doch die Beziehungen zwischen den Prädiktoren und der abhängigen Variablen auf der Ebene der Redaktionen ab – und nicht mehr auf der Ebene der individuellen Journalisten. Die Steigungskoeffizienten auf der Organisationsebene sind ebenfalls leicht verändert, während die Werte auf der Mediensystemebene weitgehend stabil geblieben sind. Die Standardfehler fallen insgesamt größer aus, da sie anhand einer geringeren Fallzahl berechnet wurden (N = 328 < N = 1504). Der Anteil der erklärten Varianz ist mit 42,1 Prozent um einiges höher. Ein entscheidender Grund hierfür ist der Umstand, dass in diesem Regressionsmodell nur die Varianz auf der Organisations- und Mediensystemebene modelliert wurde. Die Varianz auf der individuellen Ebene wurde durch die Daten-Aggregierung ja bereits vor der Analyse eliminiert. Die zum Teil erheblichen Unterschiede zwischen den beiden ersten Modellen machen deutlich, dass von einem aggregierten Regressionsmodell keineswegs auf Beziehungen auf der individuellen Ebene geschlossen werden kann. Dies würde zudem bedeuten, einen ökologischen Fehlschluss zu begehen (vgl. Landman 2000, 49). Wiederum andere Ergebnisse lassen sich durch separate Regressionsmodelle auf den jeweiligen Analyseebenen erzielen. Die Modelle erklären 3,2, 3,9 bzw. 14,8 Prozent der Varianz. Im Unterschied zu den vorangegangenen Modellen lassen sich insgesamt mehr signifikante Effekte ausmachen. Auf der individuellen Ebene leisten nun auch die politischen Einflüsse und das Interesse an Politik einen signifikanten Beitrag zur Erklärung von Vertrauen in politische Institutionen. Signifikante Effekte konnten darüber hinaus für alle Prädiktoren auf der organisationalen Ebene und der Ebene der Mediensysteme ermittelt werden. Allerdings können individuelle, organisationale und nationalen Effekte durch die separate Berechnung nicht gegeneinander auspartialisiert werden. Damit erbringt diese Vorgehensweise keinen zusätzlichen heuristischen Gewinn. Als nächstes wurde nun ein einfaches Random Intercept Model ohne Prädiktoren geschätzt. Im Unterschied zu den OLS-Modellen wurde der Regressionskonstante nun erlaubt, in verschiedenen Redaktionen und Ländern jeweils unterschiedliche Werte anzunehmen. Die Schätzung erfolgte mittels Restricted Maximum Likelihood (REML) im spezialisierten Softwarepaket HLM6. Die Ergebnisse des Nullmodells erlauben nun die Schätzung der Varianzkomponenten, die wiederum zur Berechnung der Intraklassen-Korrelationskoeffizienten herbeigezogen werden (vgl. Tabelle 2). Dies kann nun analog zu der unter (3) genannten Formel geschehen: Demnach beläuft sich ȡ für die Organisationsebene auf 0,028/(0,506+0,028+0,158) = 0,040 sowie für die Ebene der Mediensysteme auf 0,158/(0,506+0,028+0,158) = 0,228. Das heißt, die Analyseebene der Mediensysteme bindet insgesamt knapp 23 Prozent der Gesamtvarianz und die Organisationsebene immer noch vier Prozent. Beide Varianzkomponenten sind hochsignifikant. Damit ist eine Mehrebenenanalyse angemessen und sollte der OLS-Regression – sofern möglich – vorgezogen werden.
Modellierung hierarchischer Datenstrukturen in der Journalismusforschung
329
Tabelle 2: Varianzkomponenten im Nullmodell Zufallseffekt
Varianzkomponente
d.f.
Ȥ2
p
Ebene der Individuen, eijk
,506
Ebene der Organisationen, rjk
,028
311
386,7
,002
Ebene der Mediensysteme, uk
,158
16
382,0
,000
Um die Äquivalenz zu den auf konventionelle Weise geschätzten Modellen zu sichern, wurden für das konditionierte Modell identische Variablenbeziehungen angenommen. Unter Verzicht auf die üblicherweise verwendeten Bezeichnungen der Koeffizienten lassen sich die Variablenbeziehungen in vereinfachter Gleichungsform darstellen. Für die Individualebene ist dies: TRUSTijk = INTRCEPTjk + RANKijk + INVESTijk + POL_INFLijk + PRF_EXPijk + POL_INTRijk + DEGREEijk + GENDERijk + AGEijk + eijk
[5.1]
Für die Ebene der Organisationen: INTRCEPTjk = INTRCEPTk + NATIONALjk + PUBLICjk + STATEjk + rjk
[5.2]
Und für die Ebene der Mediensysteme bzw. Länder: INTRCEPTk = INTRCEPT CORRUPTNk + uk
+
PRSSFREEk
+
DEMOCRCYk
+
[5.3]
TRUSTijk = INTRCEPT + PRSSFREEk + DEMOCRCYk + CORRUPTNk + NATIONALjk + PUBLICjk + STATEjk + RANKijk + INVESTijk + POL_INFLijk + PRF_EXPijk + POL_INTRijk + DEGREEijk + GENDERijk + AGEijk + rjk + uk + eijk
[5.4]
Gemeinsam ergibt dies folgende integrierte Gleichung:
Dabei ist eijk in Gleichung 5.1 das Residuum – d.h. die nicht modellierte Varianz – auf der Ebene der Journalisten. In der ersten Zeile von Gleichung 5.2 wird die Regressionskonstante INTRCEPTjk in einen festen Effekt INTRCEPTk (d.h. der durchschnittlichen Regressionskonstante für alle Redaktionen) und einen Zufallseffekt rjk (der Abweichung der Redaktion j im Land k vom Mittelwert) zerlegt. Die Steigungskoeffizienten für NATIONALjk, PUBLICjk und STATEjk sollen einen Beitrag zur Erklärung der Unterschiede in den Regressionskonstanten der verschiedenen Redaktionen leisten. Die Steigungskoeffizienten für RANKijk, INVESTijk, POL_INFLijk, PRF_EXPijk, POL_INTRijk, DEGREEijk, GENDERijk und AGEijk auf der individuellen Ebene (Gleichung 5.1) werden als feste Effekte behandelt, d.h. es wird davon ausgegangen, dass die Natur der Beziehung zwischen diesen Variablen und Vertrauen in politische Institutionen in allen Redaktionen und Ländern im Großen und
330
Thomas Hanitzsch
Ganzen ähnlich ist.8 Analog dazu wird nun auf der höchsten Analyseebene in Gleichung 5.3 vorgegangen. Die Variation in den Intercepts auf der Organisationsebene wird versucht, durch die Variablen PRSSFREEk, DEMOCRCYk und CORRUPTNk auf der Ebene der Mediensysteme zu erklären. Die verbleibende Restvarianz wird durch den Fehlerterm uk aufgefangen. Auf diese Weise wurde ein Modell spezifiziert, innerhalb dessen die verschiedenen Effekte auf der individuellen, organisationalen und Mediensystem-Ebene additiv zur Geltung kommen sollen. Auf das Hinzufügen von Interaktionseffekten wurde zunächst verzichtet.9 In HLM6 konvergierte das Modell nach insgesamt acht Iterationen. Der Anteil der durch die Prädiktoren erklärte Varianz beläuft sich auf 18,9 Prozent auf der Ebene der Individuen, 44,2 Prozent auf der Ebene der Organisationen und 70,9 Prozent auf der Ebene der Mediensysteme. Ein Blick auf die Ergebnisse der Mehrebenenanalyse zeigt zunächst ein ähnliches Bild wie die konventionellen Analysen (vgl. Tabelle 1). Die deutlichsten Ähnlichkeiten lassen sich im Vergleich mit der OLS-Regression mit disaggregierten Daten ausmachen. Signifikante Effekte gehen demnach von Recherche-Zeitbudget, Geschlecht, Reichweite, staatlicher Eigentümerschaft, Pressefreiheit und Korruption aus. Im Unterschied zum OLSModell verfehlen die Prädiktoren Alter und Demokratie nunmehr die statistische Signifikanz. Die Steigungskoeffizienten für die signifikanten Effekte im Random-InterceptModell weichen mit Ausnahme des Koeffizienten für staatliche Eigentümerschaft nur minimal vom disaggregierten Modell ab. Die Standardfehler für Effekte auf den höheren Analyseebenen fallen hingegen durchweg höher aus, da sie im Unterschied zur OLS-Regression nunmehr anhand der korrekten Fallzahlen geschätzt werden. Dies hat insbesondere Konsequenzen für die Signifikanztests von Effekte auf der Ebene der Mediensysteme. Hier fallen die Standardfehler in etwa zwei- bis dreimal so groß aus. In der Konsequenz verfehlt der Effekt von Demokratie die Signifikanz. Die durch das Modell erklärten Varianzanteile liegen ungefähr auf dem Niveau der disaggregierten (für die individuelle Ebene) und aggregierten OLS-Regression (für die organisationale Ebene). Insgesamt verdeutlicht der hier an einem konkreten Beispiel aus der Forschung vorgenommene Modellvergleich mehrere Vorzüge von Mehrebenenanalysen gegenüber konventionellen Verfahren. So können erstens Effekte auf verschiedenen Analyse- bzw. Einflussebenen gegeneinander auspartialisiert werden, was eine adäquatere Abbildung komplexer Variablenbeziehungen erlaubt. Durch die Zerlegung der Gesamtvarianz auf ebenspezifische Varianzanteile ermöglicht das Verfahren zweitens eine konkrete Angabe der durch das jeweilige Modell erklärten Varianz, und zwar separat für jede Analyseebene. Drittens schließlich können durch die korrekte Schätzung der Standardfehler zu optimistische Signifikanztests vermieden werden. So hätte im genannten Beispiel die OLS-Regression mit disaggregierten Daten den Forscher irrtümlicherweise dazu verleitet, von einem signifikanten Effekt von Demokratie auf Vertrauen in politischen Institutionen auszugehen.
8
9
Diese Annahme müsste eigentlich empirisch geprüft werden. Dies ist in HLM über eine spezielle Subroutine möglich, die es erlaubt, die Varianzkomponenten der einzelnen Steigungskoeffizienten sowie deren Signifikanzen einzeln zu schätzen. Letztlich aber sollte die Entscheidung darüber, ob ein Effekt als „fest“ (d.h. gleichförmig) oder „zufällig“ (gruppenspezifisch variierend) behandelt wird, anhand von theoretischen Überlegungen oder empirischem Vorwissen getroffen werden. Interaktionseffekte hätten das Modell zusätzlich verkompliziert und somit seine inhaltliche Verständlichkeit erschwert.
Modellierung hierarchischer Datenstrukturen in der Journalismusforschung
331
Darüber hinaus hat die Mehrebenenanalyse freilich noch weitere Vorzüge, auf die in unserem Beispiel aus Platzgründen nicht eingegangen werden konnte. Der zweifellos bemerkenswerteste Vorteil ist die Möglichkeit, auch die Steigungskoeffizienten auf den niedrigeren Analyseebenen als variabel zu modellieren, wodurch sich die Möglichkeit der Berücksichtigung zahlreicher ebenenübergreifender Interaktionseffekte ergibt. Solche Interaktionseffekte sind jedoch dabei immer theoretisch abzuleiten. 5
Fazit
Die Mehrebenenanalyse bietet also vielfältige und neue Möglichkeiten der Analyse, die je nach Forschungsfrage und -interesse unterschiedlich zur Geltung kommen können. So interessiert sich der Redaktionsforscher vielleicht für organisationale Effekte auf die Nachrichtenproduktion, und der komparative Medienforscher möchte die Rezeption von Medieninhalten in Abhängigkeit von individuellen Prädispositionen und nationalen bzw. kulturellen Rahmenbedingungen modellieren. Diejenigen von uns, die mit inhaltsanalytischen Verfahren arbeiten, möchten oft den Einfluss des individuellen Journalisten als Verfasser des Beitrags vom Einfluss des Mediums und der Redaktion trennen – oder zumindest diesen Einfluss in der Analyse kontrollieren. Immense heuristische Potenziale tun sich mit der Mehrebenenanalyse insbesondere auch dann auf, wenn es um die Testung von Erklärungsansätzen geht, die auf unterschiedlichen Analyseebenen miteinander konkurrieren. Diese Modelle können dann in einem einzigen Analyseschritt gegeneinander ausgespielt werden. So ließe sich u.a. die Frage klären, ob Medieninhalte tatsächlich in erster Linie ein Produkt individueller Prädispositionen der Journalisten sind oder vielmehr Resultat organisationaler Faktoren. Allerdings: So faszinierend die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten der Mehrebenenanalyse auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, so sollte ihr Einsatz wohlüberlegt und dosiert erfolgen. Die Modellkonstruktion sollte in Mehrebenenanalysen immer theoriegeleitet erfolgen und keinesfalls der Software überlassen werden. Es kann nicht deutlich genug darauf hingewiesen werden, dass die Mehrebenenanalyse keine explorative Technik für „Datenfummler“ ist. Wenn hierarchische Datenstrukturen nur ein störendes Element bei der Analyse sind, dann genügt oft eine Korrektur der Standardfehler mittels konventioneller Techniken (vgl. Hox 2002, 5; Snijders & Boskers 1999, 22-24). Dieser Ansatz ist von Lutz Erbring kürzlich pointiert als „OLS für Arme“ bezeichnet worden.10 Wenn allerdings Mehrebenenstrukturen und die damit verbundenen kommunikativen Phänomene für die Forschung von substanziellem Interesse sind, dann ist die Mehrebenenanalyse den konventionellen Verfahren klar überlegen. Trotz dieser offenkundigen Analysevorteile hat sich die Kommunikations- und Medienwissenschaft mit dem Verfahren der Mehrebenenanalyse bislang nur sehr zögerlich beschäftigt. Dies hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass die Auseinandersetzung mit komplexen multivariaten Auswertungsmethoden viele Ressourcen bindet. Diese Ressourcen fehlen dann oft an anderer Stelle, etwa bei der theoretisch-inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand. Aufgrund der relativ schwachen Verankerung komplexer multivariater Analysemethoden im Fach müssen sich interessierte Forscher weitgehend 10
Diskussionsbeitrag auf der Berliner Tagung „Methoden der Journalismusforschung“, 5.-7. Februar 2009.
332
Thomas Hanitzsch
autodidaktisch in die Materie einarbeiten. Dazu kommt, dass sich die Einführungsliteratur überwiegend an erfahrene Anwender multivariater Statistik wendet. Dies gilt auch für das aktuelle Lehrbuch von Bickel (2007), das den lapidaren und zunächst viel versprechenden Untertitel „It’s just Regression!“ trägt. Die meisten Einführungstexte setzen jedoch die Beherrschung der „Grundlagen“ der linearen Regression voraus, wobei recht schnell deutlich wird, dass damit durchaus mehr gemeint ist als zu wissen, auf welchen Knopf für eine entsprechende Berechnung bei SPSS gedrückt werden muss. Im Hinblick auf die Struktur und Güte der Daten ist die Mehrebenenanalyse überdies ein extrem anspruchsvolles Verfahren, da es komplexe und aufwändige Datenerhebungen auf mehreren Ebenen verlangt. So setzt das Hierarchisch-Lineare Modell – wie auch andere Verfahren der Mehrebenenanalyse – hinreichend große Stichproben voraus, da es auf einer large sample theory basiert (vgl. Ditton 1998, 123). In der Literatur werden insbesondere hinreichende Fallzahlen auch auf den höheren Analyseebenen gefordert. Die Zahl der benötigten Aggregateinheiten wird häufig mit 30 angegeben, besser sind 50 oder 100 (vgl. Kreft & De Leeuw 1998). Nicht jeder Forscher muss sich dabei in einer vernetzten Wissenschaft die Mühe machen, aufwändige Datenerhebungen selbst vorzunehmen. Vor allem stark internationalisierte Befragungsprojekte produzieren zunehmend Daten im Feld der kommunikationswissenschaftlich relevanten Meinungs- und Einstellungsforschung, die über das Internet öffentlich zugänglich sind. Beispiele hierfür sind die World Values Survey, das European Social Survey-Projekt und die zahlreichen Barometer-Studien, die mittlerweile auf allen Kontinenten verbreitet sind. Weniger kritisch als die Menge der Aggregateinheiten ist hingegen die Zahl der Fälle innerhalb der Aggregateinheiten. Mehrebenenanalyse können theoretisch auch Einheiten mit zwei Fällen verarbeiten, z.B. dyadische Einheiten wie Paare in Beziehungen. Allerdings stößt die Zahl der berechenbaren Parameter dann schnell an seine Grenzen. So ist ein Modell, das auf jeweils fünf Fällen pro Aggregateinheit basiert, mit einem random intercept und einem random slope schnell gesättigt. Darüber hinaus sind große Gruppenstärken – auch hier werden mindestens 30 empfohlen – auch eine Bedingung für das Aufspüren von ebenenübergreifenden Interaktionseffekten (vgl. Kreft & De Leeuw 1998, 126). Allgemein wird die Empfehlung gegeben, dass einer großen Zahl der Aggregateinheiten mehr Priorität eingeräumt werden sollte, als einer möglichst großen Zahl von Fällen innerhalb der Aggregateinheiten. Simulationsstudien haben gezeigt, dass die Zahl der Aggregateinheiten die Schätzung der Standardfehler von Varianzparametern stärker beeinträchtigt als die Zahl der Gruppenelemente (vgl. Maas & Hox 2005). Insgesamt aber gehen die Meinungen über hinreichende Fallzahlen noch recht weit auseinander. So halten Snijders und Bosker (1998, 44) eine Zahl von zehn Aggregateinheiten durchaus für hinreichend für einen Mehrebenenansatz, was allerdings in der Simulationsstudie von Maas und Hox (2005, 89 f.) bezweifelt wird. Sie empfehlen bei wenigen Aggregateinheiten vielmehr simulationsbasierte Prozeduren wie das Bootstrapping zur Beurteilung der Modellstabilität. Da die Voraussetzungen für Mehrebenenanalysen in der sozialwissenschaftlichen Praxis häufig nicht vollständig erfüllt bzw. erfüllbar sind, beschäftigt sich die Literatur zunehmend mit den (erwartbaren) Effekten einer Verletzung von Modellannahmen. Dabei zeigt sich, dass die üblicherweise verwendeten Maximum-Likelihood-basierten Schätzverfahren durchaus robust auf kleine Fallzahlen und die Verletzung der Normalverteilungsannahme reagieren (vgl. Maas & Hox 2005, 87). Darüber hinaus liegt mit dem Hierarchischen Gene-
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333
ralisierten Linearen Modell (HGLM) mittlerweile ein Verfahren zur Modellierung nichtnormalverteilter abhängiger Variablen vor, d.h. insbesondere für dichotome, ordinale und multinomiale Merkmale. Weiterentwicklungen auf dem Feld der Mehrebenenanalyse umfassen zudem Hierarchische Multivariate Lineare Modelle sowie die Klasse der CrossClassified Models, bei der individuelle Fälle gleichzeitig mehreren Aggregateinheiten angehören können. Es bleibt also anzunehmen, dass die Mehrebenenanalyse in einigen Jahren durchaus zum Standardarsenal der quantitativen Auswertungsmethoden im Fach zählen wird. Das ist keineswegs übertrieben optimistisch, denn wann immer kommunikative oder medienbezogene Phänomene auf mehreren Analyseebenen bzw. über mehrere Ebenen modelliert werden, kann die Mehrebenenanalyse gegenüber den konventionellen Verfahren ihre Überlegenheit ausspielen. Gerade weil wir es in der Kommunikations- und Medienwissenschaft oft mit Mehrebenenphänomenen zu tun haben, wird sich das Fach mit dem Verfahren auseinandersetzen müssen. Andernfalls würden nicht nur gravierende Analysefehler und fehlerhafte Interpretationen in Kauf genommen, sondern auch wertvolle heuristische Potenziale verspielt. Literaturverzeichnis Barcikowski, R. S. (1981): Statistical Power with Group Mean as the Unit of Analysis. In: Journal of Educational Statistics, 6(3), 267-285. Bickel, R. (2007): Multilevel Analysis for Applied Research: It's just regression! New York: Guilford. Boyd, L. H. & Iverson, G. R. (1979): Contextual Analysis: concepts and statistical techniques. Belmont, CA: Wadsworth. Bryk, A. S. & Raudenbush, S. W. (1992): Hierarchical Linear Models for Social and Behavioural Research: applications and data analysis methods. Newbury Park, CA: Sage. Ditton, H. (1998): Mehrebenenanalyse. Grundlagen und Anwendungen des Hierarchisch Linearen Modells. Weinheim, München: Juventa. Goldstein, H. (1987). Multilevel Models in Educational and Social Research. London: Griffin. Hanitzsch, T. (2009): Zur Wahrnehmung von Einflüssen im Journalismus: Komparative Befunde aus 17 Ländern. In: Medien & Kommunikationswissenschaft, 57(2), 153-173. Hox, J. (2002): Multilevel Analysis: Techniques and Applications. Mahwah, NJ: Lawrence Erlbaum. Kreft, I. & Leeuw, J. de (1998): Introducing Multilevel Modeling. London [u.a.]: Sage. Landman, T. (2000): Issues and Methods in Comparative Politics: An Introduction. London, New York: Routledge. Langer, W. (2004): Mehrebenenanalyse. Eine Einführung für Forschung und Praxis. Wiesbaden: VS Verlag. Maas, C. J. M. & Hox, J. J. (2005): Sufficient Sample Sizes for Multilevel Modeling. In: Methodology, 1(3), 85-91. Pan, Z. & McLeod, J. M. (1991): Multilevel Analysis in Mass Communication Research. In: Communication Research, (18)2, 140-173. Park, H. S., Eveland, Jr., W. P. & Cudeck, R. (2008): Multilevel Modeling: Studying People in Contexts. In: A. F. Hayes, M. D. Slater & L. B. Snyder (Hrsg..): Advanced Data Analysis Methods for Communication Research. Thousand Oaks, CA: Sage, 219-245. Raudenbush, S. W. & Bryk, A. S. (2002): Hierarchical Linear Models: applications and data analysis methods (2nd edition). Thousand Oaks: Sage. Scholl, A. & Weischenberg, S. (1998): Journalismus in der Gesellschaft. Theorie, Methodologie und Empirie. Opladen: Westdeutscher Verlag.
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Stabilität und Dynamik im Journalismus. Zum Gewinn von Kohortenanalysen für die Journalismusforschung Maja Malik und Volker Gehrau
1
Einleitung
Veränderungen wie auch Stabilität im Journalismus werden auf den verschiedenen Strukturebenen des Systems augenscheinlich und empirisch messbar: auf der Ebene seiner Organisationen und Organisationsformen (z.B. Redaktionen, Ressorts, redaktionelle Arbeitsabläufe), auf der Ebene der Medienprodukte (z.B. einzelne Fernsehsendungen oder gesamte TV-Programmstrukturen) sowie auf der Ebene der Akteure (z.B. Tätigkeiten, Merkmale und Einstellungen von Journalisten). Ob Veränderungen im Journalismus gemessen werden oder nicht, kann dabei in hohem Maße davon abhängig sein, mit welchem Fokus der Journalismus in den Blick genommen wird, also ob das gesamte System Journalismus bzw. die Summe seiner Organisationen, Medien oder Akteure untersucht wird, oder ob individuelle Veränderungen bzw. Veränderungen einzelner Segmente analysiert werden. So können zum Beispiel einzelne Medienangebote im Zeitvergleich bemerkenswert unverändert bleiben, obwohl die Medien in der Summe ein deutlich gewandeltes Angebot offerieren. Genauso kann sich das Rollenselbstverständnis von Journalisten in der Summe deutlich geändert haben, ohne dass die einzelnen Individuen ihr berufliches Selbstbild nennenswert modifizieren. Das heißt: Veränderungen im Aggregat schließen Stabilität auf der Ebene der einzelner Elemente bzw. Subgruppen nicht aus. Und umgekehrt kann das System stabil bleiben, obwohl sich einzelne Einheiten ändern. Daraus folgt: Um Stabilitäten und Dynamiken im Journalismus adäquat zu erkennen und einzuordnen, müssen beide Perspektiven System und einzelne Einheiten berücksichtigt werden, sonst bleibt die Journalismusforschung auf einem Auge blind. Im vorliegenden Beitrag wollen wir zeigen, wie Kohortenanalysen in der Journalismusforschung dazu genutzt werden können, um die systemische und individuelle Perspektive auf den Journalismus zu kombinieren und damit eine neue Erkenntnis- und Erklärungsmöglichkeit für Wandel im Journalismus zu erschließen. Damit liegt der Fokus dieses Beitrags auf der Analyse von Veränderungen auf der Ebene der journalistischen Akteure, der Journalistinnen und Journalisten. Mit der Methode der Kohortenanalyse kann geprüft werden, inwiefern die Merkmale, Werte und Einstellungen verschiedener Journalistengenerationen Veränderungen im Journalismus insgesamt beeinflussen. Da ein Wertewandel in der Gesellschaft insgesamt auch durch unterschiedliche Werteprofile der verschiedenen Generationen erklärt werden kann (vgl. z.B. Klein 2003), ist anzunehmen, dass auch im Journalismus zentrale Charakteristika der Journalistinnen und Journalisten von ihren jeweiligen Alters- und Berufsalterskohorten abhängen und damit Veränderungen der journalistischen Profession auch durch Generationswechsel zu begründen sind.
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _19, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Um zu zeigen, welche neuen Erkenntnismöglichkeiten für die Analyse von Veränderungen im Journalismus mit der Methode der Kohortenanalyse erschlossen werden können, wird in diesem Beitrag zunächst anhand einiger zentraler Forschungsarbeiten dargelegt, mit welchen methodischen Herangehensweisen Stabilität und Dynamik im Journalismus bisher untersucht wurden (vgl. Abschnitt 2). Dann wird die Methode der Kohortenanalyse vorgestellt (vgl. Abschnitt 3), um anschließend die Datenbasis und das methodische Vorgehen unserer exemplarischen Anwendung der Methode zu erläutern (vgl. Abschnitt 4). Abschnitt 5 beschreibt die Vermutungen, Hypothesen und Formationen, die unserer beispielhaften Kohortenanalyse zu Grunde liegen, um damit zu zeigen, welche Analysestrategien mittels Kohortenanalysen verfolgt werden können. In Abschnitt 6 wird anhand exemplarischer Auswertungen der mögliche Ertrag von Kohortenanalysen illustriert. 2
Analyse von Stabilität und Dynamik im Journalismus
Inwiefern der Journalismus Veränderungen unterliegt, wurde in der deutschsprachigen Journalismusforschung bereits mit Blick auf die verschiedenen Ebenen des Systems und mit verschiedenen methodischen Zugangsweisen untersucht. Einige zentrale Forschungsarbeiten werden hier zunächst im Vergleich dargestellt, um die methodischen Möglichkeiten der Erhebung von Stabilität und Dynamik im Journalismus mit ihren verschiedenen Stärken und Schwächen zu illustrieren. Den Wandel redaktioneller Organisationsformen und Arbeitsabläufe von Zeitungsredaktionen untersuchte Klaus Meier (2002) mittels der Kombination einer standardisierten, schriftlichen Befragung der Chefredakteure aller Publizistischen Einheiten in Deutschland, mittels Intensivinterviews mit ausgewählten Redaktionsmanagern sowie einer offenen, passiv teilnehmenden Beobachtung mit Redakteursbefragungen in drei Redaktionen (vgl. Meier 2002, 59 ff.). Ergänzt wurden diese Erhebungen durch eine Literaturstudie, mit welcher die Veränderungen journalistischer Organisationen nachgezeichnet wurden. Damit beruht Meiers Studie einerseits auf der systematischen Erhebung des Status Quo, andererseits auf den retrospektiven und prospektiven Beschreibungen und Bewertungen der journalistischen Akteure über Stabilität und Wandel. Methodisch ermöglichen die Befunde, umfassende Erklärungen für Veränderungen journalistischer Organisationen zu erfassten. Allerdings können mögliche Veränderungen nur auf der Basis der subjektiven Erinnerungsleistungen der Befragten gemessen werden. Hans-Jürgen Weiß und Joachim Trebbe analysieren im Auftrag der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten seit 1998 die Entwicklung von Fernsehprogrammangeboten, indem sie jährlich zwei exemplarische Wochen der bundesweit ausgestrahlten Fernsehvollprogramme hinsichtlich Programmstruktur und Beitragsinhalten erheben (vgl. Weiß 2008a; Trebbe 2005). Die vielfältigen Befunde ermöglichen eine detaillierte Einsicht in die Veränderung von Programmstrukturen und -inhalten (vgl. z.B. Weiß 2008b); sie sind sowohl in Bezug auf einzelne Medienangebote bzw. -sparten als auch auf das gesamte (journalistische) Angebot auszuwerten. Durch die Methode der Inhaltsanalyse sind die Ergebnisse nicht an subjektive Einschätzungen von Journalistinnen und Journalisten gebunden, sie können jedoch auch keine Erklärungsmöglichkeiten für Veränderungen erheben.
Stabilität und Dynamik im Journalismus
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Inwiefern sich die journalistischen Akteure und ihre Tätigkeiten im Zeitverlauf ändern und damit Dynamik im Journalismus erzeugen, wurde bisher mit verschiedenen methodischen Zugängen untersucht. y
y
y
Ehmig (2000) hat mit einer Journalistenbefragung zu einem Messzeitpunkt die Einstellungen und das berufliche Selbstverständnis verschiedener Altersgruppen gegenübergestellt. Es zeigte sich, dass sich politische Haltungen und Meinungen, Berufsmotivation und berufliche Einstellungen der verschiedenen Altersgruppen deutlich unterscheiden lassen. Auf der Basis der Querschnittsbefragung können somit Effekte identifiziert werden, die scheinbar auf das Alter der Journalisten zurückzuführen sind. Da die Befragung nur einen Messzeitpunkt hat, lassen sich davon allerdings keine Veränderungen unterscheiden, die durch verschiedene Journalistengenerationen mit spezifischen, stabilen Charakteristika geprägt werden oder durch den Wandel der journalistischen Rahmenbedingungen im Zeitverlauf hervorgerufen wurden. Auch die Veränderungen des individuellen Berufsverständnisses, die etwa mit Panelbefragungen ersichtlich würden, können auf diese Weise nicht erfasst werden. Weischenberg, Malik und Scholl (2006) haben mit der Replikation der repräsentativen Studie „Journalismus in Deutschland“ (Scholl & Weischenberg 1998) die Tätigkeiten, Merkmale und Einstellungen der hauptberuflichen Journalisten in Deutschland mittels Befragungen zu zwei Messzeitpunkten verglichen. Beim Längsschnittvergleich der aggregierten Daten wurde besonders auffällig, dass sich trotz veränderter Rahmenbedingungen im Journalismus die zentralen Einstellungen der Journalisten (z.B. Rollenselbstverständnis und Berufsethik) nicht maßgeblich gewandelt haben. Medien-, ressort- und hierarchiespezifische Differenzierungen zeigen indes ein etwas genaueres Bild: Die Merkmale, Tätigkeiten und Einstellungen der Journalisten haben sich in verschiedenen Medien, Ressorts und Hierarchiestufen in unterschiedlicher Intensität verändert oder sind stabil geblieben (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006). Zwar lassen solche Längsschnitt-Befragungen, solange sie nicht als Panel angelegt sind, keine Rückschlüsse auf individuelle Veränderungen zu. Auf der aggregierten Ebene können jedoch Effekte von Alter und Untersuchungsperiode identifiziert werden. Blöbaum et al. (in diesem Band) erheben den Wandel der journalistischen Arbeit mittels Intensivinterviews als retrospektive Reports von Redaktionsleitern sowie durch eine standardisierte Online-Befragung von Redakteuren. Diese Befunde werden durch die Ergebnisse einer Inhaltsanalyse derselben Medien von 1990 bis 2008 sowie standardisierte Beobachtungen der redaktionellen Arbeitsabläufe ergänzt. Die im Querschnitt erhobenen Befragungsdaten liefern Beschreibungen von Veränderungen und Erklärungen für Wandlungsprozesse. Da sie auf subjektiven Erinnerungen beruhen, werden Veränderungen auf der individuellen Ebene erkennbar; zugleich sind sie deshalb aber auch an die subjektiven Erinnerungsleistungen gebunden. Alterseffekte und Veränderungen aufgrund sich wandelnder Rahmenbedingungen können nicht unterschieden werden.
Kohortenanalysen bieten demgegenüber die Möglichkeit, Stabilität und Dynamik im Journalismus im Hinblick auf Effekte von Alter, Kontext und Kohorte zu differenzieren. Sie werden bislang hauptsächlich in der Soziologie vorgenommen, um Veränderungen zwischen Generationen zu untersuchen, aber auch im Marketing, um Phasen von Markenent-
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scheidungen und Markentreue im Lebensverlauf zu identifizieren. Kohortenanalysen in der Kommunikationswissenschaft betreffen bislang vor allem das Publikum (vgl. im Überblick Peiser 1996), insbesondere dessen Mediennutzung (z.B. Engel & Best 2001) oder Werbeaffinität (z.B. Gaßner 2006; Wild 2004). Mit Bezug auf den Journalismus hat bisher Ehmig (2000, 49 ff.) am Rande ihrer eigenen Erhebung die Veränderungen einzelner Alterskohorten betrachtet, um zu zeigen, dass bei journalistischen Einstellungsänderungen Generationen prägende Verbindungen bestehen. Ihr standen dazu allerdings keine Trenddaten zur Verfügung, sondern nur die publizierten Ergebnisse der methodisch schwer vergleichbaren Einzelerhebungen von Köcher (1985) und Schneider, Schönbach und Stürzebecher (1993). Aufgrund der Datenlage konnte sie außerdem nur zwei Altersgruppen vergleichen. 3
Die Methode der Kohortenanalyse
Kohortenanalysen sind ein spezielles Auswertungsverfahren, um Dynamik zu untersuchen, speziell um Effekte von Alter, Kontext und Jahrgang zu differenzieren. Dabei greifen sie auf Trenddaten zurück, also auf Daten, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten nach nahezu demselben Erhebungsverfahren an unterschiedlichen Stichproben desselben Stichprobenansatzes erhoben wurden. Insofern arbeiten Kohortenanalysen mit Aggregatdaten und können keine Individualaussagen machen, im Gegensatz zu Panelerhebungen oder retrospektiven Reports. Grundsätzlich liegt Kohortenanalysen eine Stabilitätshypothese zugrunde. Sie geht davon aus, dass sich (1) Personen ähnlicher Jahrgänge gleichen, weil sie unter nahezu denselben Bedingungen sozialisiert wurden, und dass sich (2) Personen im Laufe der Zeit nicht grundlegend ändern, weil ihre frühe Prägung langfristig bestimmend bleibt (vgl. z.B. Inglehart 1977). Diesem Kohorteneffekt stehen Alters- und Periodeneffekte gegenüber: Der Alterseffekt basiert auf systematischen Unterschieden zwischen Altersgruppen, die im Berufskontext häufig auf eine Weiterentwicklung der Karriere und einen Aufstieg in der Hierarchie von älteren Personen hindeuten. Periodeneffekte bezeichnen Veränderungen zwischen den Messzeitpunkten, die auf einen Wandel der Rahmenbedingungen zurückzuführen sind. Eine Differenzierung dieser möglichen Ursachen von Veränderungen im Journalismus ermöglicht nicht nur, weiterreichende Erklärungen für den heutigen Zustand der Profession zu gewinnen, sondern erlaubt auf der Basis der heutigen jungen Journalistengenerationen auch Prognosen über die künftige Formation des Berufs. Die typische Kohortenanalyse basiert auf einer Kreuztabellenlogik. Wenn z.B. drei Altersgruppen mit je 10 Jahren Differenz zweimal im Abstand von 10 Jahren befragt werden, entsteht eine Tabelle mit zwei-mal-drei-Zellen (vgl. Tabelle 1). Die Altersanalyse findet zwischen den drei Altersgruppen (vertikal) und die Periodenanalyse zwischen den zwei Messungen (horizontal) statt. Die Kohortenanalyse betrachtet demgegenüber diagonal dieselben Kohorten zu verschiedenen Perioden.
Stabilität und Dynamik im Journalismus
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Tabelle 1: Logik der Kohortenanalyse Kohorte
Befragung 1980
Befragung 1990
Alterseffekt
40-49 Jahre
30
20
25
30-39 Jahre
20
10
15
20-29 Jahre
10
0
5
Periodeneffekt
20
10
Die Tabelle verdeutlicht die Logik einer idealtypischen Kohortenanalyse, bei der ein Alterseffekt (Steigerung mit dem Alter) sowie ein Periodeneffekt (Abnahme nach 10 Jahren) identifiziert werden, ohne dass sich innerhalb der Kohorten (zwischen den diagonal verschobenen Zellen derselben Jahrgänge) Veränderungen ergeben haben. Allerdings ist es in der Regel schwierig, die drei Effekte voneinander zu differenzieren, weil sich meist in allen drei Analysedimensionen Veränderungen zeigen. Für eine klare Effektdifferenzierung ist es nötig, die Kohorten möglichst sinnvoll und trennscharf voneinander abzugrenzen. Der beste Weg klare Kohortengrenzen zu bestimmen ist, diese deduktiv aus vorhandenem Wissen abzuleiten. Denkbar ist aber auch, anhand einer Befragungswelle homogene Altersgruppen zu bestimmen und diese dann im Zeitverlauf zu betrachten. Die typische soziologische Kohortenanalyse arbeitet mit Daten, die aus vielen Erhebungsjahren stammen und viele Altersgruppen bzw. die Gesamtbevölkerung umfassen, also beispielsweise Daten der jährlich stattfindenden Trendstudien zur Bevölkerungsentwicklung (vgl. z.B. Glenn 2005). Abgesehen von der oben dargestellten Tabellenlogik mit Alter und Untersuchungszeit zur Analyse der Datenlage besteht der Wunsch, die Einflussgröße bzw. die relative Wichtigkeit der Einflussfaktoren Alter, Untersuchungszeit (Periode) und Jahrgang (Kohorte) festzustellen und zu vergleichen. Dazu werden dann Regressionsmodelle mit den entsprechenden Prädiktoren (d.h. unabhängigen Variablen) gerechnet. Dabei entsteht aber das Problem der gegenseitigen Abhängigkeit, denn individuell ergibt sich eine der drei Prädiktoren als Funktion der anderen beiden, zum Beispiel lässt sich der Jahrgang aus dem Untersuchungsjahr minus Alter in Jahren errechnen. Das zwingt dazu, entweder Modelle mit Alter, Untersuchungsjahr und nur wenigen Kohorten zu schätzen, oder Modelle zu vergleichen, in denen jeweils nur zwei der drei Erklärungsdimensionen berücksichtigt werden (vgl. Glenn 2005). 4
Datenbasis und Design des Anwendungsbeispiels
Die Umsetzung einer Kohortenanalyse in der Journalismusforschung wird in diesem Beitrag mit einer exemplarischen Auswertung der Daten vorgeführt, welche in den Studien zum „Journalismus in Deutschland“ (JouriD) gewonnen wurden.1 Die Daten basieren auf der repräsentativen Befragung der Journalisten in Deutschland, welche 1993 erstmals 1
Wir danken den Projektleitern der Studie Prof. Dr. Siegfried Weischenberg und Prof. Dr. Armin Scholl für die Erlaubnis, diese Daten zu verwenden.
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durchgeführt und 2005 repliziert wurde (vgl. Weischenberg, Löffelholz & Scholl 1993; dies. 1994; Scholl & Weischenberg 1998; Weischenberg, Malik & Scholl 2006). Zwar arbeitet die typische soziologische Kohortenanalyse mit Daten aus vielen Erhebungsjahren und mit vielen Altersgruppen. Da solche Daten für den Journalismus jedoch nicht vorliegen, wird anhand der Datensätze aus den beiden Erhebungswellen der JouriD-Studie illustriert, wie sich die Grundidee der Kohortenanalyse anwenden lässt. Ziel der Studien war eine umfassende Bestandsaufnahme der Medien und Personen, Tätigkeiten und Bedingungen, die den Journalismus zu den jeweiligen Erhebungszeitpunkten ausmachten. Die Studien bestehen zum einen aus einer Ermittlung der Grundgesamtheit der journalistischen Medien in Deutschland sowie der bei ihnen beschäftigten hauptberuflichen (fest angestellten und freien) Journalisten, zum anderen aus der Befragung dieser Journalisten basierend auf einer repräsentativen Stichprobe. Den JouriD-Studien liegt eine systemtheoretische Journalismus-Definition zugrunde, mit deren Hilfe die Grundgesamtheit des Journalismus theoretisch wie empirisch möglichst exakt identifiziert und begrenzt wurde (vgl. Scholl 1997; Malik 2005). Als Journalisten gelten alle Personen, die hauptberuflich in fester Anstellung oder in freier Mitarbeiterschaft direkt an der Herstellung der Berichterstattung von journalistischen Medien beteiligt sind. Befragt wurde jeweils eine mehrfach geschichtete Zufallsstichprobe der Journalisten aller Mediensparten. Die Befragung wurde 1993 mittels persönlicher Interviews mit 1.498 Journalisten durchgeführt, 2005 wurden telefonische Interviews mit 1.536 Befragten realisiert (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006, 227 f.). Der Fragebogen, welcher in beiden Studien weitgehend gleich konzipiert wurde, enthält unter anderem Fragen zu den soziodemographischen Merkmalen und journalistischen Tätigkeiten der Journalistinnen und Journalisten in Deutschland, zu ihrem Rollen- und Aufgabenverständnis, ihrer Arbeits- und Berufszufriedenheit, ihrem Publikumsbild sowie zu den redaktionellen Strukturen und der Autonomie in ihren Redaktionen (vgl. ebd., 229 ff.). Da die meisten Angaben in beiden Befragungswellen identisch erhoben wurden, konnte ein gemeinsamer Datensatz erstellt werden. Als unabhängige Variablen werden dabei das Jahr der Befragung, das Geburtsjahr der Befragten sowie das Alter im Jahr der Befragung herangezogen. Bei der Analyse werden sie als mögliche Gründe für Veränderungen angesehen; es soll geprüft werden, was jeweils prägender ist: das Lebensalter, die Umstände oder die Kohorte. Als abhängige Variable, also als Kriterien der Veränderung, dienen die Daten zur Dauer der Tätigkeiten an einem durchschnittlichen Arbeitstag. Da wir nur über zwei Messzeitpunkte verfügen (1993 versus 2005), ist eine regressionsanalytische Modellierung nicht möglich. Stattdessen wird hier eine varianzanalytische Analyse vorgenommen. Dazu wurde sowohl die Altersvariable als auch die Jahrgangsvariable jeweils in Gruppen von je zehn Jahren zusammengefasst. Diese Art der Zusammenfassung wurde vorgenommen, um die grundsätzliche Vorgehensweise auszuprobieren und darzustellen. Angemessener wäre es natürlich, entweder solche Gruppen zu bilden, die sich in anderen Kontexten und Studien als empirisch gehaltvoll erwiesen haben oder die sich aus theoretischen Überlegungen ableiten lassen. Allerdings ist es auch bei diesem Vorgehen nicht möglich, alle drei Prädiktoren parallel zu modellieren. Deshalb entwerfen wir für jede abhängige Variable zwei Modelle, und zwar eines mit Erhebungsjahr und Alter als Prädiktoren und eines mit Erhebungsjahr und Geburtsjahrgang. Das hat nicht nur den Vorteil, anhand der jeweiligen Haupteffekte die Einflussgröße der drei Prädiktoren vergleichen zu können, da sie ja in beiden Modellen dieselbe Varianz erklären. Es ermöglicht zudem in
Stabilität und Dynamik im Journalismus
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jedem Modell anhand des Interaktionseffektes einen indirekten Hinweis auf die Art des Einflusses des jeweils ausgelassenen Prädiktoren zu erhalten. Ziel wird es sein, anhand bestimmter Konstellationen von Effektwerten Formationen zu identifizieren, die auf typische Veränderungsmuster im journalistischen System bzw. unter den Journalisten hindeuten, die dann wiederum theoretisch oder empirisch erklärt werden können. 5
Vermutungen, Hypothesen, Formationen
Die grundlegende Vermutung der entworfenen Analysestrategie lässt sich in Anlehnung an Herbert Grönemeyer folgendermaßen charakterisieren: „Alles bleibt anders!“ Es finden sich sowohl Aspekte von Stabilität als auch von Veränderung. Beide hängen davon ab, welche Phänomene aus welcher Perspektive betrachtet werden. Je nach Gegenstand und theoretischer Position sind ganz unterschiedliche Herangehensweisen denkbar. Eine – aufgrund prominenter Ansätze in der Journalismusforschung naheliegende – Modellierung wollen wir exemplarisch vorstellen: y
y
Einige theoretische Ansätze der Journalismusforschung stellen die individuellen Merkmale und Einstellungen der Journalisten in das Zentrum ihrer Betrachtungen (vgl. z.B. Donsbach 2004). Solche Ansätze nehmen zuvorderst das Individuum, also den einzelnen Journalisten in den Blick. Dieser hat beispielsweise bestimmte Charaktermerkmale und eine bestimmte Ausbildung, welche beide für Stabilität sorgen. Andererseits wandeln sich die individuellen Umstände, etwa die Familienverhältnisse oder das Alter, wodurch Veränderung hervorgerufen werden können, zum Beispiel bei den Einstellungen und Werthaltungen. Andere Ansätze legen den Fokus ihrer Überlegungen auf das journalistische System (vgl. z.B. Weischenberg & Scholl 1998). Auch in diesem gibt es einerseits stabilisierende Faktoren, etwa dadurch, dass die journalistische Aussagenproduktion in Redaktionen organisiert ist und auf recht stabilen Arbeitsprogrammen und Rollenaufteilungen basiert. Zugleich sind gerade auf der Systemebene Veränderungen deutlich erkennbar, vor allem aufgrund des technischen Fortschritts (z.B. der Digitalisierung) oder der wirtschaftlichen Entwicklung (z.B. der Auswirkungen der Finanzkrise auf den Werbemarkt).
Interessant ist nun, beide Perspektiven zu verbinden, da Stabilität auf der einen Ebene nicht zwangsläufig Stabilität auf der anderen Ebene mit sich bringt. So finden beispielsweise auf der Ebene des Individuums durch gängige Karrieremuster immer wieder Veränderungen statt, wenn der einzelne Journalist neue Positionen in der beruflichen Hierarchie erreicht. Für die Organisationen ändert sich dabei grundsätzlich nichts, weil auf den unteren hierarchischen Positionen immer wieder junge Personen nachrücken, wenn die ältern befördert werden oder ausscheiden. Andererseits kann personeller Wechsel auch bedeuten, dass auf individueller Ebene eine relative Stabilität herrscht, auf der Systemebene aber deutliche Veränderungen stattfinden, weil sich die ausscheidenden und die neu einsteigenden Generationen insgesamt deutlich unterscheiden.
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Aus der Denkweise der Kohortenanalyse ergibt es sich nun, die Frage nach Veränderungen versus Stabilität aus der zu untersuchenden Gegenstandsperspektive (hier also der Journalismusforschung) auf die Dimensionen Alter, Jahrgang und Untersuchungsjahr zu beziehen und dann bestimmte Konstellationen zu identifizieren, aus der sich Hypothesen für einzelne abhängige Variablen ableiten lassen. Tabelle 2: Formationen von Stabilität und Veränderung nach System und Individuum Individuum
System
Veränderung
Stabilität
Veränderung
Umbruch
Generationen
Stabilität
Karriere
Stabilität
Veränderungen, die sich sowohl auf das Individuum als auch auf das System beziehen, werden von uns als Umbruch-Modell bezeichnet (vgl. Tabelle 2). Der ‚reine’ Umbruch müsste varianzanalytisch mit einem Haupteffekt für das Untersuchungsjahr ohne Alters-, Jahrgangs- oder Interaktionseffekte einhergehen. Wenn die Veränderungen unterschiedliche Altersgruppen oder Kohorten unterschiedlich betreffen, würden zudem Interaktionseffekte auftreten. Wenn sich demgegenüber das gemessene Kriterium zwischen den Altersgruppen oder den Kohorten systematisch unterscheidet, dann müssten zu den Periodennoch Alters- oder Jahrgangseffekte hinzukommen. Der jeweils größte Effekt müsste aber der Haupteffekt des Untersuchungsjahres sein. Ein Karriere-Modell zeichnet sich demgegenüber durch Stabilität im System, aber Veränderungen für den Einzelnen aus. Demnach müsste sich ein Alterseffekt nachweisen lassen, da die Veränderungen mit dem Alter einhergehen. Betrachtet man demgegenüber die Kohorten, so müssten sich diese in jeder Erhebungswelle unterscheiden und zwischen den Wellen variieren, womit zwei Haupteffekte (in speziellen Fällen auch ein Interaktionseffekt zwischen beiden) entstehen. Das Generationen-Modell differenziert einzelne Jahrgangsgruppen, z.B. die 68er oder die Generation Golf. Charakteristisch dafür wäre entweder nur ein Jahrgangseffekt oder ein Jahrgangseffekt gekoppelt mit einer Interaktion aus Alters- und Periodeneffekten. Das Stabilitäts-Modell ist schließlich dann zu erkennen, wenn gar keine signifikanten Effekte auftreten. 6
Anwendungsbeispiel
Mit Hilfe der skizzierten Analyselogik wollen wir exemplarisch untersuchen, ob, und wenn ja, wie sich die Arbeitsweise der Journalisten zwischen 1993 und 2005 geändert hat. Als Kriterium dafür dient uns die Zeit (in Minuten pro Tag), die die Journalisten für bestimmte Tätigkeiten im Durchschnitt aufwenden. Stark vereinfacht lassen sich zumindest zwei Vermutungen anstellen: (1) Da sich zwischen den Messzeitpunkten die Arbeitstechniken – insbesondere durch die Digitalisierung – deutlich verändert haben, sollte ein Umbruch in
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dem Zeitaufwand für bestimmte Tätigkeiten stattgefunden haben. Plausiblerweise müsste das vor allem die Bereiche Informationsbeschaffung, Recherche, Kontaktaufnahme etc. betreffen. (2) Dieser Vermutung steht die Überlegung entgegen, dass die Arbeit in Aufgaben, Rollen und Programmen festgelegt ist, die im Beruf tradiert und sozialisiert werden, ohne sich grundlegend zu verändern. Diese Konstellation dürfte sich bei denjenigen Arbeiten wiederfinden, die mit Entscheiden, Koordination und Organisation verbunden sind, also etwa Redigieren und Verwaltungstätigkeiten. Es geht uns hier nicht darum, die Vermutungen einem strengen Test zu unterziehen, sondern darum, die Analysestrategie zu verdeutlichen. Deshalb haben wir die Daten zu den durchschnittlichen Arbeitsminuten auf typische und interpretierbare Muster durchsucht. Pro Kriteriumsvariable wurden zwei varianzanalytische Modelle mit den Prädiktoren Alter und Erhebungsjahr oder Jahrgang und Erhebungsjahr geschätzt und die Haupteffekte der Prädiktoren und der Interaktionseffekt zwischen beiden betrachtet. Für das Kriterium „Zeit für die Auswahl von Texten“ findet sich eine Formation, die entsprechend der oben vorgestellten Tabelle als Umbruch zu charakterisieren ist (vgl. Tabelle 3 & 4 sowie Abbildung 1 & 2). Durchschnittlich hat sich die Zeit, die Journalisten an einem durchschnittlichen Arbeitstag darauf verwenden Texte auszuwählen, von knapp 50 Minuten in 1993 auf deutlich unter 40 Minuten in 2005 reduziert. Dabei finden sich weder statistisch aussagekräftigen Differenzen zwischen den Altersgruppen oder den Zehnjahreskohorten, noch signifikante Interaktionseffekte zwischen den Variablen. Es ist also festzustellen, dass die Situation zu den einzelnen Messzeitpunkten ebenso wie die Veränderung zwischen den Messzeitpunkten alle Untersuchten gleichermaßen betrifft. Insofern hat sich die oben aufgestellte Vermutung bewährt. Offen bleibt aber der Grund. Möglicherweise erleichtert es die Informationszugänglichkeit via Internet Texte auszuwählen, sodass der dafür nötige Aufwand sinkt. Vielleicht zwingt aber auch die veränderte wirtschaftliche Lage dazu, mehr Arbeit in derselben Zeit zu schaffen, so dass für einzelne Schritte – wie die fundierte Auswahl relevanter Texte – weniger Zeit bleibt. Tabelle 3: Altersmodell: Zeitaufwand für die Auswahl von Texten pro Tag (in Minuten)1
1
Faktoren
F-Wert
p-Wert
Erhebungsjahr
28,468
< .001
Alter
1,116
n.s.
Erhebungsjahr × Alter
0,052
n.s.
Korrgiertes R² = 0,019.
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Abbildung 1:
Geschätzte Randmittel des Altersmodells (Zeitaufwand für die Auswahl von Texten pro Tag in Minuten)
Tabelle 4: Jahrgangsmodell: Zeitaufwand für die Auswahl von Texten pro Tag (in Minuten)1
1
Faktoren
F-Wert
Erhebungsjahr
29,742
< .001
Jahrgang
1,143
n.s.
Erhebungsjahr × Jahrgang
0,828
n.s.
Korrgiertes R² = 0,021.
p-Wert
Stabilität und Dynamik im Journalismus Abbildung 2:
345
Geschätzte Randmittel des Jahrgangsmodells (Zeitaufwand für die Auswahl von Texten pro Tag in Minuten)
Anders verhält es sich mit der täglichen Arbeitszeit für Verwaltungs- und Organisationstätigkeiten (vgl. Tabelle 5 & 6 sowie Abbildung 3 & 4). Diese hat zwischen den Erhebungswellen nicht messbar abgenommen. Das Analysemodell nach Altersgruppen belegt aber einen deutlichen Alterseffekt: Je älter die Befragten sind, desto mehr tägliche Arbeitszeit wird für Organisatorisches aufgewendet. Bei den Jüngsten sind es jeweils unter 60 Minuten, bei den Ältesten über 100 Minuten pro Tag. Da diese Formation in beiden Erhebungswellen gleichermaßen auftritt, ist weder ein Haupteffekt für das Erhebungsjahr noch ein Interaktionseffekt zwischen Studie und Alter festzustellen. Das stellt sich aus der Perspektive des Jahrgangsmodells anders dar. Auch in diesem tritt kein signifikanter Interaktionseffekt auf, dafür aber zwei signifikante Haupteffekte. Zum einen gibt es einen Anstieg der Arbeitszeit für Verwaltungstätigkeiten mit dem Jahrgang: je älter der Jahrgang, desto länger die Verwaltungstätigkeit. In diesem Effekt steckt ein indirekter Alterseffekt, da sich mit den Geburtsjahrgängen automatisch das jeweilige Alter verändert. Hinzu gesellt sich aber dieses Mal ein Effekt der Erhebungswelle. Innerhalb derselben Kohorte steigt jeweils die tägliche Zeit für Organisationstätigkeiten zwischen den Erhebungsjahren. Diese Formation kann gemäß der oben dargestellten Systematik als Karriereschritte interpretiert werden: Je älter die Untersuchten werden, desto höher steigen sie auf der Karriereleiter. Mit den Karriereschritten geht eine Ausdehnung der Verwaltungs- und Organisationsaufgaben (wahrscheinlich im Sinne von Leitungstätigkeiten) einher. Aus Systemperspektive hat sich an dieser
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Formation nichts geändert. Weder der ökonomische Druck noch die veränderten Arbeitstechniken ändern etwas an der Zeit, die für Verwaltung aufgewendet werden muss. Aus der Perspektive des Individuums hat Veränderung stattgefunden: die Position, in der der Untersuchte arbeitet, und die damit verbundenen Tätigkeiten. Tabelle 5: Altersmodell: Zeitaufwand für Organisations- und Verwaltungstätigkeiten pro Tag (in Minuten)1 Faktoren
F-Wert
p-Wert
Studie
1,098
n.s.
Alter
14,466
< .001
0,594
n.s.
Studie × Alter 1
Korrgiertes R² = 0,02.
Abbildung 3:
Geschätzte Randmittel des Altersmodells (Zeitaufwand für Organisationsund Verwaltungstätigkeiten pro Tag in Minuten)
Stabilität und Dynamik im Journalismus
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Tabelle 6: Jahrgangsmodell: Zeitaufwand für Organisations- und Verwaltungstätigkeiten pro Tag (in Minuten)1 F-Wert
p-Wert
Studie
3,394
< .001
Jahrgang
5,942
< .001
Studie × Jahrgang
1,595
n.s.
Faktoren
1
Korrgiertes R² = 0,016.
Abbildung 4:
7
Geschätzte Randmittel des Jahrgangsmodells (Zeitaufwand für Organisations- und Verwaltungstätigkeiten pro Tag in Minuten)
Fazit
Anhand des letzten Beispiels lässt sich das zusätzliche Potenzial der Kohortenanalyse gegenüber herkömmlichen Befragungsstudien verdeutlichen. Wenn man auf die Ergebnisse einer Befragung mit zwei unabhängigen Stichproben aus unterschiedlichen Erhebungsjah-
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ren zurückgreift und die Resultate nach Erhebungsjahren im Aggregat vergleicht, so entspricht diese Logik unserem oben vorgestellten Altersmodell. Danach würde man wahrscheinlich interpretieren, mit Blick auf den Zeitaufwand für Organisationsaufgaben habe sich in den Jahren zwischen den Erhebungswellen nichts verändert. Das stimmt aber nur auf der aggregierten Ebene. Für den einzelnen Journalisten hat sich die Arbeit hingegen mit den Jahren deutlich verändert. Man muss also als Individuum Veränderungen einplanen, ohne dass sich insgesamt etwas verändert. Anders ausgedrückt: Die Stabilität auf Systemebene geht mit notwendigen Veränderungen auf Individualebene einher. Auch weist diese Analyse nach dem Jahrgangs-, oder besser gesagt: Kohortenmodell darauf hin, welche Ergebnisse man bei einer Retrospektivbefragung von Journalisten zu erwarten hätte: Wenn man diese nach ihren persönlichen Berufserfahrungen der vergangenen Berufsjahre fragt, dann werden nahezu alle Befragten von Veränderungen berichten. Für sie hat sich im Laufe der Karriere der zeitliche Aufwand für Organisationstätigkeiten deutlich ausgedehnt. Dem entsprechend würde man auf der Basis einer solchen retrospektiven Befragung eine deutliche Ausdehnung der Arbeitszeit für Verwaltungsarbeiten diagnostizieren, die aber de facto auf Systemebene gar nicht vorliegt. Mittels Kohortenanalysen lässt sich also in der Journalismusforschung besser identifizieren, welche Formationen für das Individuum und welche für das System stabil sind und welche Veränderungen auf welcher Ebene auftreten. Dabei ist von Vorteil, dass sich mit der Kohortenlogik Ansätze und empirische Daten aus anderen Disziplinen importieren lassen, solange diese auch mit Kohorten argumentieren. Denkbar wäre es etwa, die Erkenntnisse, die aus der Soziologie, der Politikwissenschaft oder der BWL über die Generation Golf (vgl. Klein 2003) bekannt sind, auf Journalisten zu übertragen und nachzuprüfen, ob und inwiefern sich die Besonderheiten dieser Generation auch in den Einstellungen und Arbeitsweisen der Journalisten niederschlagen. Zudem wird es in wenigen Jahren von Interesse sein, ob die Journalisten, die mit dem Internet groß geworden sind, journalistisch anders denken und arbeiten als Kollegen, die den Umgang mit dem Internet erst im Laufe des Lebens erlernt haben. Nicht zuletzt erlaubt es die vorgestellte Analysestrategie, kohortenbasierte Hypothesen exakt zu prüfen und die jeweiligen Effekte zu differenzieren, insbesondere dann, wenn konkurrierende Effekte anderer Variablen wie Geschlecht, Medium, Stellung, Berufsjahr oder Einkommen als Modellvariablen berücksichtigt oder als Kovariaten kontrolliert werden. Insgesamt erlauben es Kohrtenanalysen also nicht nur, weiterreichende Erklärungen für den Wandel und den heutigen Zustand der Journalismus zu gewinnen. Auf der Basis der heutigen jungen Journalistengenerationen ermöglichen sie auch Prognosen über die künftige Formation der Profession. Voraussetzung für diese Analysen sind Befragungsdaten, die mit einem vergleichbaren Design aus mehreren unabhängigen Stichproben und in unterschiedlichen Erhebungsjahren gewonnen werden. Solche Datensätze fehlen für den Journalismus bislang allerdings weitgehend. Neben den JouriD-Daten sind im uns bekannten Forschungs- und Sprachraum die Erhebungen von David Weaver und Kollegen (1986, 1996, 2007) mit ihrer Vorgängerstudie von Johnstone, Slawski und Bowman (1976) zu den US-amerikanischen Journalisten für Kohortenanalysen geeignet. Allerdings umfassen sie ebenso wie die JouriD-Daten bisher nur wenige Messzeitpunkte und wären daher nur mit den genannten Modifikationen (varianz- statt regressionsanalytische Modellierung) zu nutzen.
Stabilität und Dynamik im Journalismus
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Vergleichbarkeit in der (international) vergleichenden Journalismusforschung auf der Basis von Sekundäranalysen Steffen Kolb und Daniel Beck
1
Einleitung: Vergleichbarkeit – funktionale Äquivalenz als Lösung
Viele vergleichende Studien im Bereich der Kommunikationswissenschaft kommen nicht über einen relativ beschränkten Aussagegrad hinaus: Häufig wird anhand von international vergleichenden Analysen lediglich deskriptiv versucht, den Blick auf nationale Besonderheiten – also Unterschiede zwischen den untersuchten Nationen – und internationale Gemeinsamkeiten zu lenken. Solche Forschungen werden in der Kommunikationswissenschaft als „Differenzstudien“ (Wirth & Kolb 2003, 109) bezeichnet. Sie haben kaum theoretischen Anspruch, sofern man die Suche nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten nicht als solchen versteht, sondern erreichen ‚nur‘ eine Öffnung des Blickwinkels über den nationalen ‚Tellerrand‘ hinaus. Darüber hinaus sind solche Studien in der Regel teuer und aufwändig. Das gilt besonders, wenn repräsentative Stichproben gezogen werden sollen, wie es im Fall der systematischen Journalismusforschung der Fall ist. Vergleichende Journalismusforschung ist oftmals nur dann möglich, wenn man sich auf bereits bestehende Datensätze bezieht, also sekundäranalytisch vorgeht (vgl. z. B. Beck & Kolb 2009). Auf internationaler Ebene sind aber durchaus hypothesengeleitete Fragestellungen denkbar und auch zu beantworten. Wirth und Kolb (2003) regen an, sich nicht auf die nationale Überprüfung von Hypothesen und Theorien zu beschränken, sondern auch z. B. deren internationale Anwendbarkeit in so genannten Generalisierungsstudien zu überprüfen. Ob man lediglich vergleichen will oder hypothesentestend vorgeht, hat keinen Einfluss darauf, dass ein hohes Maß an methodologischen Vorüberlegungen über die Vergleichbarkeit der Forschungsgegenstände anzustellen ist. Dazu wird in der Literatur zumeist auf das Konzept der funktionalen Äquivalenz verwiesen. Es ist also das gleichwertige Funktionieren der Untersuchungsgegenstände in den jeweiligen Systemkontexten herauszuarbeiten. Dazu haben Wirth und Kolb (2003) einen Leitfaden vorgeschlagen, dessen praktische Anwendbarkeit u.a. von Kolb (2004) nachgewiesen wurde. Inwiefern dieser Ansatz und der Leitfaden allerdings unter den besonderen Bedingungen einer sekundäranalytischen Auswertung bestehender Datensätze brauchbar ist, soll in der Folge an Beispielen überprüft werden. Darüber hinaus werden Auswege aus kritischen Situationen vorgestellt, in denen Vergleichbarkeit bzw. Äquivalenz nicht gegeben zu sein scheinen. Im folgenden Abschnitt wird kurz beleuchtet, worin sich Sekundäranalysen von Primäruntersuchungen unterscheiden. Danach wird mit Hilfe des Leitfadens von Wirth und Kolb (2003) versucht, Äquivalenz für den Vergleich von drei Beispielstudien herzustellen: Dabei handelt es sich um zwei repräsentative Journalistenbefragungen in Deutschland (vgl. Scholl & Weischenberg 1998; Weischenberg, Malik & Scholl 2006) und eine in der Schweiz (vgl. Marr et al. 2001), auf
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9 _20, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Steffen Kolb und Daniel Beck
deren Methode und Fragestellung noch genauer eingegangen wird. Ziel ist ein Vergleich der Situation in den beiden Nachbarländern. 2
Besonderheiten von Sekundäranalysen
Sekundäranalysen untersuchen in der Regel Datensätze, die für andere Forschungsvorhaben und damit oftmals auch andere Forschungsfragen erhoben worden sind (vgl. Müller o.J.). Die Hauptvoraussetzung für Sekundäranalysen ist die Zugänglichkeit des Materials. Erfolgversprechende Quellen sind dabei die verschiedenen Zentralarchive, SIDOS in Neuenburg, Schweiz, oder das ZA in Köln, Deutschland. Nimmt man die Verfügbarkeit der Daten einmal an, stehen Forscher allerdings oftmals vor einer Reihe von spezifischen Problemen, besonders dann, wenn mehrere Datensätze gemeinsam ausgewertet werden sollen. Diese können bei mehreren Datensätzen oft als Probleme der Vergleichbarkeit bezeichnet werden. Das gilt insbesondere für internationale Vergleiche, reicht doch die (identische) Verwendung gleicher Instrumente (oft) nicht aus, um Vergleichbarkeit herzustellen (vgl. Wirth & Kolb 2011; Wirth & Kolb 2003). Und selbst diese Verwendung identischer Instrumente ist selten Grundlage verschiedener Datensätze, wie im folgenden Abschnitt am Beispiel der Integration des Internets in die Beispielstudien gezeigt wird.1 Generell ist die Transparenz bzw. Dokumentation der Datensätze von sehr unterschiedlicher Qualität. Daraus ergibt sich, dass die zu erforschenden Konstrukte und deren Operationalisierung zum Teil nicht mehr eindeutig nachzuvollziehen ist. Das führt in der Folge zu Schwierigkeiten bei der Bestimmung der Konstruktäquivalenz (vgl. den folgenden Abschnitt). Selbst in den meisten vergleichenden Gesamtdatensätzen ist Äquivalenz wegen mangelnder Transparenz in aller Regel kaum mit den herkömmlichen Instrumenten zu überprüfen (vgl. ähnlich: Friedrichs 1990, 356 ff.), d.h. auch Sekundäranalysen einzelner Datensätze haben streng genommen ähnliche Probleme. Selbst wenn die Äquivalenz aber fundiert überprüft werden kann, sind Sekundäranalysen mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Wenn in einem Fall kultureller Bias2, also fehlende Äquivalenz, angenommen werden muss, kann das Messinstrument nicht mehr verändert werden, weil die Daten ja bereits erhoben wurden. Die Maßnahmenkataloge (vgl. Wirth & Kolb 2003) greifen hier also nicht. Daher sind besondere Überlegungen erforderlich, wie man mit Vergleichen umgeht, die auf der Basis in anderem Rahmen erhobener Daten beruhen. 1
2
Ähnliche Probleme lassen sich auch bei anderen zur Sekundäranalyse verfügbaren Datensätzen erkennen: Selbst die Schwerpunktbefragungen im Eurobarometer, also innerhalb einer Langzeitstudie bzw. Studienreihe, verändern in der Regel die Fragestellungen von Befragungswelle zu Befragungswelle. Kultureller Bias oder kulturelle Verzerrungen „können daher als generelles Gegenstück zum Äquivalenzbegriff aufgefasst werden. Sie lassen sich definieren als Ergebnisunterschiede bestimmter Variablen oder Indikatoren, die nicht auf unterschiedliche Ausprägungen oder Fähigkeiten in demselben Bereich zurückzuführen sind. Wenn also z.B. bei einer Inhaltsanalyse von Zeitungsberichten der Umfang der außenpolitischen Berichterstattung gemessen werden soll, könnte Umfang unter anderem (recht grob) über Artikellängen erhoben werden. Sind nun aber generell die Artikel in Land A länger als in Land B, so wird ein Ergebnis, wonach der Umfang der außenpolitischen Berichterstattung in Land A größer ist als in Land B, wenig überraschen. Bei der Interpretation der Ergebnisse müssten in jedem Fall die generell unterschiedlichen Artikellängen berücksichtigt werden, andernfalls sind die Ergebnisse verzerrt bzw. basieren nicht auf einer funktionalen Äquivalenz der Messung.“ (Wirth & Kolb 2003, 119). Solche Verzerrungen können auf allen fünf Ebenen auftreten, die in Abschnitt 4 behandelt werden.
Vergleichbarkeit in der (international) vergleichenden Journalismusforschung 3
353
Daten zu Journalisten im deutschsprachigen Raum und spezifische Besonderheiten
In der deutschsprachigen Journalismusforschung sind die repräsentativen Befragungen aller Journalisten im jeweiligen Land unterschiedlich durchgeführt worden: den telefonisch durchgeführten Studien aus Deutschland 2005 und Österreich 2008 stehen persönliche Befragungen aus Deutschland 1993 und schriftliche bzw. postalische Daten aus der Schweiz 1998 gegenüber. In der Folge sollen die beiden deutschen Umfragen und die Schweizer Studie miteinander verglichen werden. Die Schweizer Daten sind dabei in unserer Perspektive als besonders zu betrachten: In diesen wurde bereits vergleichend gearbeitet. In der Schweizer Journalistenbefragung wird durch den Einbezug der französisch- und italienischsprachigen Teile bzw. Journalisten verglichen (vgl. Marr et al. 2001). Dabei ist zwar keine internationale, sondern eine interkulturelle Vergleichbarkeit zu prüfen, die Verfahren sind jedoch weitestgehend identisch (vgl. Wirth & Kolb 2003). Die Äquivalenz hätte also bereits von den Forschern beachtet werden müssen. Dennoch sollten auch bei renommierten Datensätzen Überprüfungen stattfinden, da eine Diskussion solcher Details des Forschungsprozesses in der Regel nicht dokumentiert ist. Darüber hinaus sind jeweils z. T. unterschiedliche Fragestellungen angewendet worden. In einigen Fällen liegen die Gründe dafür auf der Hand, wie ein einfaches Beispiel zeigen kann: Die Abfrage von für Recherchen im Internet aufgewendete Zeit in der Befragung von 1993 hätte nicht nur seherische Fähigkeiten vorausgesetzt, sondern hätte vermutlich den einen oder anderen Teilnehmer an der Seriosität der Befragung zweifeln lassen und damit zu vermehrten Abbrüchen der Befragung führen können. Umgekehrt hätte ein nicht angepasstes Messinstrument, das bei der Erfassung der Recherchemethoden nicht auf das Internet und Datenbanken eingeht, im Jahre 2005 keine korrekten Ergebnisse erbringen können. Das Problem der zu überprüfenden Vergleichbarkeit bleibt aber bestehen. Der besondere Reiz der vorliegenden Daten ist, dass bei funktionaler Äquivalenz die Ergebnisse auch als Zeitreihemit drei Messpunkten ausgewertet werden können. Daher ist die Vergleichbarkeit von besonders großem Interesse für die Sekundäranalyse und wird im folgenden Abschnitt geprüft. 4
Leitfadenartiges Vorgehen
4.1 Ordne die Bestandteile des (weit gefassten) Forschungsgegenstands in einem Schichtenmodell an und grenze den Kernbereich vom Kontextbereich ab! Im ersten Schritt geht es darum, sich bewusst zu machen, was der Forschungsgegenstand ist und mit welchen anderen Elementen er wie verknüpft ist. Das klingt zunächst recht trivial. Es reicht dazu aber nicht aus, Journalisten als Forschungsgegenstand im weiteren Sinne zu benennen und festzuhalten, dass diese sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz existieren, um eine Vergleichbarkeit als sicher anzunehmen. Umgekehrt ist auch die Feststellung, dass Schweizer Fernsehjournalisten zu einem viel größeren Teil bei öffentlichrechtlichen Anbietern arbeiten als deutsche, nicht ausreichend, um eine Vergleichbarkeit auszuschließen. Streng genommen wüssten wir all diese Details nicht, wenn wir nicht vor-
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her einen – wie trivial auch immer gearteten – Vergleich unternommen hätten (vgl. ähnlich für Nachrichten Kolb 2004). Alle im Folgenden genannten Faktoren, die einen Einfluss auf die Vergleichbarkeit haben können, sollten der Übersichtlichkeit halber in einem hierarchisch gegliederten Schema dargestellt werden. In unserem Beispiel geht es um Journalisten, die in Anlehnung an die gängigen hierarchischen Schemata zu Kontexten des Journalismus etwa wie in Abbildung 1 analysiert werden können (vgl. Weischenberg 1992, 68). Die Mediensysteme und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den zwei westlichen Demokratien dürften z. B. sehr ähnlich sein (vgl. Hallin & Mancini 2004), die Funktionen des Journalismus dürften also in Deutschland und der Schweiz dieselben sein. Trotz nationaler Besonderheiten wie der erfolgreichen Gratiszeitungen in der Schweiz dürften auch zentrale Aspekte auf Ebene der Medieninstitutionen in beiden Ländern gleich funktionieren. Ähnliches gilt für die Ebene der Medienaussagen und auch der -akteure selbst. Es gibt zunächst keinen Grund, ein grob unterschiedliches Funktionieren des deutschen und Schweizer Journalismus im Normen-, Struktur-, Funktions- und Rollenkontext anzunehmen. Abbildung 1:
Kontexte des Journalismus – Gegenstände der Journalistik
MEDIENSYSTEME (Normenkontext)
MEDIENINSTITUTIONEN (Strukturkontext)
Gesellschaftliche Rahmenbedingungen Historische und rechtliche Grundlagen Kommunikationspolitik Professionelle und ethische Standards
Ökonomische Imperative Politische Imperative Technologische Imperative
MEDIENAUSSAGEN (Funktionskontext)
MEDIENAKTEURE (Rollenkontext)
Informationsquellen und Referenzgruppen Berichterstattungsmuster und Darstellungsformen Konstruktionen von Wirklichkeit ‚Wirkungen‘ und ‚Rückwirkungen‘
Demographische Merkmale Soziale und politische Einstellungen Rollenselbstverständnis und Publikumsimage Professionalisierung und Sozialisation
Quelle: Weischenberg 1992, 68
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4.2 Prüfe die Konstruktäquivalenz! In diesem zweiten Schritt beginnt die eigentliche Analyse und Sicherung bzw. Herstellung funktionaler Äquivalenz. Dazu werden in allen beteiligten Ländern die Kernbereiche analysiert, um zu einem Schluss zu kommen, ob diese gleichwertig funktionieren oder wie die Fragestellung bzw. der Untersuchungsgegenstand abgeändert werden müssen, um die funktionale Äquivalenz zu erreichen. Im Falle von Sekundäranalysen ist dies nicht möglich. Daher kann eine umfangreiche Bestimmung der Konstruktäquivalenz aus pragmatischen Gründen entfallen, wenn bei der Ergebnisinterpretation mit besonderer Vorsicht vorgegangen wird. Die funktionale Basis für einen Vergleich von Journalisten in Deutschland und der Schweiz wird also mit den oben genannten Einschränkungen als gegeben angenommen, weil sie nicht mehr herstellbar wäre. Die dadurch ausgeklammerte Frage bleibt aber bestehen: Gibt es kulturell grundlegende Unterschiede, die eine unterschiedliche Berufsauffassung, andere Ausbildungswege und Einflussgrößen auf den Journalismus wahrscheinlich machen? Dies kann in einem binationalen Forschungsteam in die Diskussion der Resultate eingearbeitet werden. Für die Auswertungen werden immer – also auch bei Zeitreihenanalysen (nicht im statistischen Sinne) – die kulturellen Unterschiede als unabhängige Variable integriert werden. Somit kann die mögliche kulturelle Fehlerquelle zwar nicht ausgeschaltet werden, sie wird jedoch zumindest kontrolliert, um die Konstruktäquivalenz zu sichern. Daneben werden im folgenden Abschnitt Auswertungsverfahren vorgestellt, die diese Kontrolle ermöglichen. 4.3 Prüfe die Itemäquivalenz! Unter Itemäquivalenz versteht man die Gleichwertigkeit der verschiedenen Fassungen des Messinstruments auf der Ebene einzelner Items (van de Vijver & Leung 1997; Wirth & Kolb 2003). Sie lässt sich bei Befragungen vergleichsweise einfach prüfen (wenn Konstruktäquivalenz gegeben ist): Versuchspersonen unterschiedlicher kultureller Herkunft, die auf einer (gedachten) Konstruktskala gleiche Positionen einnehmen, müssen bei einem Item zur Messung dieses Konstrukts das gleiche Antwortverhalten zeigen. Der Grund für Itembias liegt zumeist in schlechten Übersetzungen der Messinstrumente, die durch unterschiedlichste Verfahren minimiert werden können.3 Eine beispielhafte Analyse kann innerhalb des Schweizer Datensatzes erfolgen: Es werden die drei großen kulturellen Gruppen der Schweiz miteinander verglichen. Zwischen der deutschen Schweiz und Deutschland sind nicht dieselben Instrumente verwendet worden, sondern nur ähnliche. Ob das notwendige kulturelle Adaptionen sind, kann nicht mehr überprüft werden. Daher werden auch hier im Folgenden ergebnisorientierte Verfahren präsentiert, um die Vergleichbarkeit zu prüfen und in der Präsentation der Resultate herzustellen (vgl. Kolb & Wirth 2011).
3
Schlechte Übersetzungen schaffen es nicht, Messinstrumente mit allen kulturellen Konnotationen in eine andere Sprache zu übertragen. Die Mitgliedschaft in einer kommunistischen Partei kann beispielsweise in Frankreich ohne Probleme abgefragt werden, weil es eine Partei gibt, die so heißt und die immer noch aktiv und akzeptiert ist. Währenddessen macht die geschichtliche Entwicklung in Deutschland bei dieser Frage genauere Formulierungen und vielleicht auch vorsichtigere Fragestellungen unausweichlich. Denkbar sind zur Vermeidung rein auf Übersetzung, auf kulturelle Adaption und auf kulturelle Neuentwicklung zielende Strategien (vgl. Wirth & Kolb 2003 als Überblick).
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4.4 Prüfe die Methodenäquivalenz! Unter den Begriff Methodenäquivalenz fallen drei Bereiche, die ebenfalls auf kulturelle Besonderheiten untersucht werden müssen. Die Populationsäquivalenz bezeichnet eine äquivalente Auswahl von Untersuchungseinheiten bzw. teilnehmenden Personen. Dabei ist jeweils das Ziel der Forschung zu berücksichtigen. Wenn z. B. das Alter eine Rolle in der theoretischen Modellierung spielt oder spielen könnte und die zu vergleichenden Länder unterschiedliche Altersstrukturen aufweisen, sollte man kulturspezifische Samples bilden. Die repräsentative Stichprobenziehung in der Schweiz und in Deutschland beruht auf unterschiedlichen Definitionen der Grundgesamtheiten. In der Schweizer Studie werden Journalisten darüber definiert, dass sie aktiv in ihrem Beruf tätig sind und einem der drei großen Berufsverbände angehören (vgl. Marr et al. 2001, 54-55). Die deutschen Studien bestimmen und definieren die Grundgesamtheit dagegen basierend auf Recherchen der Redaktionsstrukturen kombiniert mit dem Kriterium der Hauptberuflichkeit (vgl. Malik 2005; Weischenberg, Malik & Scholl 2006, 227-228). Der Journalismusbegriff ist in beiden Studien allerdings ähnlich breit gefasst – es werden anders als in einigen Berufsfeldstudien aus dem englischsprachigen Raum (vgl. Weaver 1998; Hanitzsch 2007) nicht nur die festen Mitarbeiter bei traditionellen Nachrichtenmedien, sondern auch journalistische Mitarbeiter von Fachmedien und anderen nicht tagesaktuellen Publikationen sowie freie Journalisten erfasst. Dennoch ist aufgrund der unterschiedlichen Definitionen der Grundgesamtheiten Populationsbias zu erwarten. Die Instrumentenäquivalenz bezeichnet die gleichwertige Gewöhnung an das eingesetzte Erhebungsinstrument.4 Besonders bei Befragungen stellt sich die Frage, ob mündlich oder schriftlich, per Telefon oder Face-to-Face usw. befragt werden soll. Die unterschiedlichen Befragungstypen können aber ganz spezielle Probleme in verschiedenen Ländern aufwerfen. Ein deutsches Beispiel war in der Zeit nach der Auflösung der DDR die mangelhafte Erreichbarkeit der Ostdeutschen mit einer Telefonbefragung. In den drei für die Sekundäranalyse zur Verfügung stehenden Berufsfeldstudien wurden wie bereits erwähnt unterschiedliche Interviewverfahren eingesetzt – 1993 in Deutschland persönliche Interviews, 1998 in der Schweiz eine schriftliche (postalische) Befragung, 2005 in Deutschland telefonische Interviews. Die physische Präsenz des Interviewers oder die besondere Situation des Telefonats können unterschiedliche Auswirkungen auf das Antwortverhalten haben. Außerdem ist der Rücklauf bei schriftlichen Befragungen normalerweise geringer als bei mündlichen: Die neuere deutsche Studie weist einen Rücklauf von 73% aus, was für Telefoninterviews kein schlechter Wert ist (vgl. Weischenberg, Malik & Scholl 2006, 228); bei der schriftlichen Befragung aus der Schweiz betrug der Rücklauf dagegen nur 39%, was bei diesem Befragungstyp aber ebenfalls als zufrieden stellend gilt (vgl. Marr et al. 2001, 55). Daher ist letztlich von Instrumentenbias auszugehen.
4
Mit Instrumententenäquivalenz bezeichnet man „alle vom konkreten Forschungsthema unabhängigen Äquivalenzaspekte, die mit dem Einsatz fertiger Instrumente im Feld zu tun haben. Hier muss untersucht werden, ob alle Kulturen an die Form der Erhebung (paper-and-pencil, Telefonbefragung, Online-Befragung) in gleicher Weise gewöhnt sind bzw. in gleicher Weise zur Teilnahme bereit sind […]. Es geht also beispielsweise auch um den Verbreitungsgrad einzelner Medien, die bei der Befragung genutzt werden und um das Image dieser Medien.“ (Wirth & Kolb 2003, 122). So waren ist Ostdeutschland lange Zeit nicht alle zu Befragenden telefonisch erreichbar und die Gewöhnung an die Teilnahme an Befragungen dürfte bei Westeuropäern anders sein als bei Ureinwohnern Australiens oder der Arktis.
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Schließlich ist die Administrationsäquivalenz zu nennen. Verzerrungen („administration bias“, van de Vijver & Tanzer 1997, 264) können hier entstehen unter, weil Interviewerorganisationen unterschiedlich arbeiten bzw. Interviewer sich kulturell bedingt anders verhalten und damit kulturspezifische Antwortraten produzieren. Setzen sich in einzelnen Kulturen die Interviewer beispielsweise soziodemografisch anders zusammen als in anderen Kulturen, so können ebenfalls Verzerrungen entstehen. Auch dies ist wahrscheinlich wegen der unterschiedlichen Verfahren, die z. T. auf Interviewer zurückgreifen und z. T. nicht. Insgesamt sind kulturelle Verzerrungen besonders auf Methodenebene wahrscheinlich, wenn man die Ergebnisse der Studien vergleichen will. Ausprägungsorientierte Fragestellungen sind also streng genommen nicht zu beantworten. Die tatsächliche Höhe z. B. der Zustimmung zu einem Aspekt kann nicht nur auf die verschiedenen Kulturen, sondern auch auf unterschiedlich passende und reaktive Methoden zurückgeführt werden. Daher können in jedem Falle nur die Strukturen verglichen werden, was ein geringeres Maß an Äquivalenz voraussetzt (vgl. Wirth & Kolb 2003). Auch diese müssen, wie in der Folge gezeigt wird, mit Vorsicht interpretiert werden. 5
Ergebnisse
Der Vergleich der Ergebnisse der drei Studien erfolgt in Bezug auf drei Kenngrößen, die in der Berufsfeldforschung als besonders bedeutend betrachtet werden. Die Frage nach der Ausbildungssituation erlaubt Rückschlüsse über die Unterschiede der Sozialisation der Medienschaffenden. Des Weiteren sollen die Rollenselbstbilder miteinander verglichen werden, d.h. die Frage, ob sich die Journalisten selbst als neutrale Vermittler, Kommentatoren, Analytiker, Kritiker, Unterhalter oder in einer anderen Funktion sehen (vgl. Scholl & Weischenberg 1998, 162). In früheren Studien wurden in Bezug auf diese Selbstbilder Unterschiede zwischen verschiedenen Ressorts und Altersgruppen sowie auch im internationalen Vergleich festgestellt (vgl. z.B. Ehmig 2000; Marr et al. 2001, 134-138; Weischenberg, Malik & Scholl 2006, 279-285; Weaver 1998; Köcher 1985). Da sich das Selbstbild der Journalisten an den externen Erwartungen orientieren dürfte, die an sie herangetragen werden, ist schließlich die Frage nach der Orientierung an externen Einflussgrößen von Interesse. Bei allen Kenngrößen werden die Ergebnisse sowohl für ein ausgewähltes Ressort (hier das Sportressort) wie auch für alle Befragten ausgewiesen. Dadurch ergibt sich eine weitere Vergleichsebene: Es kann ermittelt werden, wie stark die Werte der ausgewählten Gruppe von einer mit den gleichen Methoden erhobenen Referenzgröße – dem Wert für alle Befragten – abweichen und welche Unterschiede bezüglich dieser Abweichungen zwischen den verschiedenen Studien bestehen. 5.1 Ausbildung Beim Vergleich der Ausbildungssituation müssen die unterschiedlichen Ausbildungsstrukturen in den beiden Ländern mitberücksichtigt werden. Der Vergleich der Studien zeigt, dass der Anteil der Journalisten, die nur über ein Volontariat und über keine andere journalistische Ausbildung verfügen, in der Schweiz generell deutlich geringer ist als in Deutschland (vgl. Abbildung 2). Dafür gibt es in Deutschland wesentlich mehr Journalisten mit
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Hochschulabschluss. Bei den Sportjournalisten ist der Anteil der Hochschulabsolventen in beiden Ländern geringer als bei den übrigen Journalisten, doch die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ressorts innerhalb des gleichen Landes sind weniger groß als die Unterschiede zwischen den beiden Ländern. Dies deutet darauf hin, dass nichtuniversitäre Ausund Weiterbildungsangebote für Medienschaffende in der Schweiz eine größere Bedeutung haben. Abbildung 2:
Journalistische Ausbildung in Deutschland und in der Schweiz (Anteile in Prozent)
Nur Volontariat
Hochschule und andere Ausbildung
D 1993
D 1993
D 2005
Sportjournalisten
D 2005
CH 1998
alle Journalisten
CH 1998
0
20
40
60
80
100
0
20
40
60
80
100
Dieser Unterschied spiegelt sich allerdings bereits im Fragebogen wider, denn die Antwortvorgaben bei der Frage nach der journalistischen Ausbildung sind in der Schweiz und in Deutschland nicht ganz identisch: In der Schweizer Untersuchung werden anders als in Deutschland alle größeren Journalistenschulen des Landes einzeln aufgeführt, und es wird explizit nach Weiterbildungskursen innerhalb und außerhalb der Medienunternehmen gefragt. Diese Antwortvorgabe gibt es in den deutschen Untersuchungen nicht (vgl. Marr et al. 2001, 304; Weischenberg, Malik & Scholl 2006, 234). Während die Schweizer Journalisten also den Besuch eines solchen Kurses in einem vorgesehenen Feld ankreuzen konnten, vermerkten ihre deutschen Kollegen entsprechende Kurse unter ‚Sonstiges’ – wenn sie es überhaupt taten. Unterschiede zwischen verschiedenen Ländern müssen also auch bei einer Faktenfrage wie jener nach der journalistischen Ausbildung vorsichtig interpretiert werden. Klare Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und der Schweiz können allerdings mit Gruppenvergleichen festgestellt werden: Der Anteil der Hochschulabsolventen ist in beiden Ländern unter den Sportjournalisten noch immer deutlich geringer als in allen Ressorts zusammen. Der strukturorientierte Vergleich ergibt also mit sehr großer Wahrscheinlichkeit valide Ergebnisse: „Bei strukturorientierten Fragestellungen stehen die Beziehungen der Variablen zueinander im Mittelpunkt des Interesses. Als Auswertungstechniken kommen vorwiegend Korrelations- und Regressionstechniken in Betracht. Aber auch, wenn beispielsweise in einer Knowledge-GapUntersuchung das Verhältnis des Wissensgewinns Hochgebildeter und des Wissensgewinns niedrig Gebildeter nach dem Sehen von Nachrichtensendungen in England und den USA untersucht werden soll, ist diese Fragestellung strukturorientiert, da nicht die mittlere Wissensleistung jeder Gruppe per se interessiert, sondern deren Verhältnis zueinander. Strukturorientierte
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Forschungsfragen sind zumeist mit relativ einfachen Designs zu erheben, da es nur auf die exakte Messung der Verhältnisse von Variablen ankommt, nicht aber auf die tatsächlichen Messwerte. Liegt das Interesse aber tatsächlich auf den mittleren Wissensleistungen der einzelnen Gruppen, möchte man also z.B. wissen, ob die niedrig gebildeten US-Amerikaner im Mittel weniger Wissensgewinn hatten als die Engländer, ist die Fragestellung ausprägungsorientiert. Das Forschungsdesign einer solchen Fragestellung ist weitaus komplexer. Kontextvariablen aller Art, d.h. strukturverändernde und die Individualdaten verändernde, müssten in diesem Falle mit erhoben und interpretiert werden“ (Wirth & Kolb 2003, 111-112, Hervorhebungen im Original).
5.2 Rollenselbstbilder Die Frage nach den Rollenselbstbildern wird in beiden Studien ähnlich gestellt: In der Schweizer Studie folgten die Items auf den Satz „Ich setze mir zum Ziel, …“, in der neueren deutschen Studie war der Einleitungssatz wie folgt formuliert: „In meinem Beruf geht es mir darum >…@“ (vgl. Marr et al.2001, 298; Weischenberg, Malik & Scholl 2006, 243). Beim Vergleich der Resultate ergeben sich aber zwei Probleme: Erstens sind die erfragten Rollenselbstbilder nicht ganz deckungsgleich, so dass nur ausgewählte Items miteinander verglichen werden können. Zweitens wird der Grad der Zustimmung zwar in beiden Fällen mit einer Ratingskala gemessen, diese ist aber bei den deutschen Studien fünfstufig, in der Schweizer Studie sechsstufig. Eine Vergleichsmöglichkeit besteht nun darin, die beiden Skalen zu standardisieren und dann die Mittelwerte der vergleichbaren Items – hier Informierer, Analytiker, Kritiker und Animator – einander gegenüberzustellen (vgl. Tabelle 1). Tabelle 1: Rollenselbstbilder der deutschen und schweizerischen Journalisten (Mittelwerte auf der standardisierten Ratingskala: Minimum = 0, Maximum = 1) Rollenselbstbilder
D 1993
D 2005
CH 1998
Gesamt n=1498
Sport n=101
Gesamt n=1536
Sport n=92
Gesamt n=1993
Sport n=117
Informierer
0.76
0.78
0.85
0.84
0.84
0.91
Analytiker
0.75
0.67
0.78
0.65
0.76
0.71
Kritiker
0.68
0.61
0.66
0.63
0.72
0.70
Animator
0.57
0.74
0.53
0.70
0.45
0.66
Mit einem solchen Vergleich würde aber zum einen außer Acht gelassen, dass unterschiedliche Skalierungen ein unterschiedliches Antwortverhalten bewirken könnten. Das gilt besonders dann, wenn mit ungeraden und geraden Anzahlen von Items operiert wurde, es also in einem Fall eine absolute Mittelposition gegeben hat und im anderen nicht. Zum anderen sind die Werte nicht mehr auf den Skalen zu interpretieren. Die mittlere Zustimmung, wie sie in Tabelle 1 abgetragen wurde, ist also nur noch als Zahl lesbar und letztlich in der Struktur vergleichbar. Eine Rückbindung an die abgefragten Items wird unmöglich.
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Steffen Kolb und Daniel Beck
Außerdem werden die beiden Ordinalskalen damit in metrische Daten umgewandelt. Darüber hinaus zeigen die absoluten Werte bei einer ausprägungsorientierten Analyse kaum interpretierbare Unterschiede. Im Schweizer Sportressort scheint die Unterhaltung einen geringeren Stellenwert zu haben als in Deutschland, bei den anderen Rollenselbstverständnissen ist dies tendenziell umgekehrt. Allerdings zeigen sich diese Unterschiede fast durchgängig auch für alle Journalisten. Auch ein zeitlicher Trend ist nicht ablesbar, allenfalls die größere Bedeutung der Informationsrolle ist in den Daten für Deutschland 2005 – sowohl im Sport als auch über alle Journalisten – belegbar. Als Alternative bietet es sich an, die Anteile der Journalisten, die einem bestimmten Rollenselbstbild zustimmen, auf zwei Arten miteinander zu vergleichen. Im ersten Fall werden die Anteile der Journalisten gegenübergestellt, die auf der deutschen Fünferskala bzw. der schweizerischen Sechserskala den höchsten oder den zweithöchsten Zustimmungswert angegeben haben (vgl. Tabelle 2). Das beinhaltet in der deutschen Studie aber automatisch alle, die überhaupt zugestimmt haben, da die anderen Antwortmöglichkeiten die Mittelposition bzw. Ablehnungen darstellen. Tabelle 2: Rollenselbstbilder der deutschen und schweizerischen Journalisten (Anteile der höchsten beiden Zustimmungswerte in Prozent) Rollenselbstbilder
D 1993
D 2005
CH 1998
Gesamt n=1498
Sport n=101
Gesamt n=1536
Sport n=92
Gesamt n=1993
Sport n=117
Informierer
74
83
89
88
81
93
Analytiker
74
65
79
61
67
61
Kritiker
63
50
58
53
63
60
Animator
47
74
37
69
26
51
Dabei zeigt sich, dass insbesondere bezüglich der Unterhalterrolle die graduellen Unterschiede aus Tabelle 1 viel größer ‚aussehen’: Die Zustimmungsanteile im Sportressort liegen 2005 in Deutschland um 18 Prozentpunkte höher als 1998 in der Schweiz. Im Zeitverlauf ist dies allerdings kaum interpretierbar, da die Zustimmungsanteile von 1993 bis 1998 stark sinken, um dann wieder stark anzusteigen. Ob es sich um einen kulturellen Unterschied handelt oder um Bias, ist hier nicht direkt zu klären. Wenn man für den Vergleich aber in beiden Ländern alle Werte zählen will, die eine Zustimmung signalisieren, werden für Deutschland weiterhin die höchsten zwei, für die Schweiz aber die höchsten drei Zustimmungswerte gezählt. Durch den Einbezug des dritthöchsten Zustimmungswerts steigen die Anteile von Schweizer Journalisten, die sich mit einem bestimmten Rollenselbstbild identifizieren, erwartungsgemäß deutlich an, vor allem bei den schwächer ausgeprägten Selbstbildern (vgl. Tabelle. 3).
Vergleichbarkeit in der (international) vergleichenden Journalismusforschung
361
Tabelle 3: Rollenselbstbilder der deutschen und schweizerischen Journalisten (Anteile der Zustimmung in Prozent) Rollenselbstbilder
D 1993
D 2005
CH 1998
Gesamt n=1498
Sport n=101
Gesamt n=1536
Sport n=92
Gesamt n=1993
Sport n=117
Informierer
74
83
89
88
92 (+11)
97 (+4)
Analytiker
74
65
79
61
85 (+18)
81 (+20)
Kritiker
63
50
58
53
82 (+19)
80 (+20)
Animator
47
74
37
69
46 (+20)
77 (+26)
Während die Zustimmungswerte für die Animationsrolle jetzt ähnliche Höhen in Deutschland und der Schweiz aufweisen (besonders bezüglich der ersten deutschen Erhebung), zeigt sich bei den anderen Rollen, dass die Schweizer Werte jetzt systematisch höher sind als die deutschen. Ein direkter Vergleich der schweizerischen und der deutschen Zustimmungswerte in Prozent erweist sich also wegen der unterschiedlichen Skalierung als schwierig. Immerhin bleibt aber im konkreten Fall unabhängig von der Art der Auswertung die Rangfolge von stärker und schwächer ausgeprägten Rollenselbstbildern in der Schweizer Studie konstant. Diese allgemeine rein strukturorientierte Betrachtung der Größenverhältnisse bestätigt, dass das Selbstbild des Animators bei den deutschen Sportjournalisten stärker ausgeprägt ist als die Selbstbilder ‚Kritiker’ und ‚Analytiker’, nicht jedoch bei ihren Kollegen aus anderen Ressorts und auch nicht bei den Schweizer Sportjournalisten (vgl. Tabelle 4). Tabelle 4: Rollenselbstbilder der deutschen und schweizerischen Journalisten (Rangfolge) Rollenselbstbilder
D 1993 Gesamt n=1498
D 2005
Sport n=101
Gesamt n=1536
CH 1998
Sport n=92
Gesamt n=1993
Sport n=117
Informierer
1
1
1
1
1
1
Analytiker
1
3
2
3
2
2
Kritiker
3
4
3
4
3
3
Animator
4
2
4
2
4
4
Es zeigt sich, dass die Schweizer Sportjournalisten sich in dieser Betrachtungsweise nicht von ihren Kollegen unterscheiden, während in Deutschland über beide Erhebungszeitpunkte hinweg der Unterschied konstant bleibt: Die Unterhalterrolle wird von den deutschen
362
Steffen Kolb und Daniel Beck
Sportjournalisten am zweithäufigsten zustimmend genannt. Es scheint sich hierbei tatsächlich um einen kulturellen Unterschied zu handeln. 5.3 Orientierung an Einflussgrößen Ein Vergleich der Rangfolgen drängt sich auch bei der Frage nach den Einflüssen auf die Berichterstattung auf, also bei der Frage, welche Bedeutung die Medienschaffenden z.B. dem Publikum, den Verlagsinteressen, den redaktionellen Leitlinien bzw. der oberen redaktionellen Ebene sowie der Rolle der Kollegen zumessen. Denn diese Frage wurde in Deutschland und in der Schweiz unterschiedlich formuliert. In Deutschland wurde gefragt, wie groß der Einfluss dieser Faktoren eingeschätzt wird, in der Schweiz dagegen, wie stark eine eigene Orientierung an diesen Faktoren erfolge (vgl. Marr et al. 2001, 296-297; Weischenberg, Malik & Scholl 2006, 239-241). Die Schweizer Zustimmungswerte sind daher durchweg höher als die deutschen. Außerdem ist die Ratingskala auch bei dieser Frage in der Schweizer Studie sechsstufig, in der deutschen Studie fünfstufig. Beispielhaft werden hier für den Vergleich nur die Anteile der höchsten Zustimmungswerte für die verschiedenen Einflussgrößen betrachtet und eine Rangfolge erstellt (vgl. Tabelle 5). Letztlich wären hier auch alle Versuche durchzuführen, die im vorangegangenen Abschnitt bezüglich der Rollenselbstverständnisse präsentiert wurden. Das kann hier aus Platzgründen entfallen. Tabelle 5: Einfluss auf den Journalismus (Rangfolge nach Häufigkeit der Angabe „sehr groß“ bzw. „sehr stark“) Einflussgrößen
D 1993
D 2005
CH 1998
Gesamt n=1498
Sport n=101
Gesamt n=1536
Sport n=92
Gesamt n=1993
Sport n=117
Kollegen, mittlere red. Ebene
1
1
1
1
3
3
Chefredaktion, red. Leitlinien
2
2
2
2
1
2
Publikum
3
3
3
3
2
1
Verlag
4
4
4
4
4
4
Gemäß dieser Aufstellung scheinen die Kollegen in Deutschland die wichtigere Einflussgröße zu sein als die Chefredaktion, in der Schweiz ist es umgekehrt. Dagegen weicht das Antwortverhalten zwischen Sportjournalisten und übrigen Journalisten kaum voneinander ab, auch die unterschiedliche Rangfolge von Chefredaktion und Publikum in der Schweizer Untersuchung ist nur auf marginale Abweichungen (jeweils weniger als ein Prozentpunkt) zurückzuführen. Hier ist zunächst nicht zu klären, warum die Rangfolgen sich unterscheiden. Es kann sich um kulturelle Differenzen und um Bias handeln.
Vergleichbarkeit in der (international) vergleichenden Journalismusforschung
363
Dass die Unterschiede zwischen der Schweiz und Deutschland nicht allein aus der unterschiedlichen Fragestellung resultieren, sondern dass in Bezug auf die Einflussgrößen durchaus kulturelle Differenzen feststellbar sind, ergibt sich aber aus dem Vergleich der verschiedenen Landesteile in der Schweizer Studie (vgl. Tabelle 6). Tabelle 6: Einfluss auf den Journalismus (Anteile der Angabe „sehr stark“ in den Schweizer Sprachregionen in Prozent) Einflussgrößen
D-CH
F-CH
I-CH
Gesamt
n=1487
n=417
n=90
n=1994
Kollegen, mittlere red. Ebene
5
21
21
9
Chefredaktion, red. Leitlinien
27
14
14
23
Publikum
20
29
27
22
4
8
12
5
Verlag
Die Unterschiede zwischen den Sprachregionen bestätigen sich auch, wenn als Zustimmung zum großen Einfluss nicht nur die Angabe „sehr stark“, sondern die drei höchsten Werte auf der sechsstufigen Ratingskala gezählt werden (vgl. Tabelle 7). Tabelle 7: Einfluss auf den Journalismus (Anteile der drei höchsten Zustimmungswerte in den Schweizer Sprachregionen in Prozent) Einflussgrößen
D-CH
F-CH
I-CH
Gesamt
n=1487
n=417
n=90
n=1994
Kollegen, mittlere red. Ebene
56
81
81
62
Chefredaktion, red. Leitlinien
88
72
78
84
Publikum
81
91
90
83
Verlag
38
44
64
41
Der Vergleich der Sprachregionen macht also deutlich, dass in der französisch- und italienischsprachigen Schweiz die Orientierung an den Kollegen und am Publikum wichtiger ist als in der Deutschschweiz, die Deutschschweizer sich aber stärker an der Chefredaktion und an den redaktionellen Leitlinien orientieren. Die starke Publikumsorientierung in der Schweiz ist insgesamt auffällig.
364 6
Steffen Kolb und Daniel Beck Fazit
Der Beitrag zeigt im ersten Teil die Bedeutung von Sekundäranalysen besonders im Bereich der Berufsfeldforschung auf. Durch Analysen bestehender Datensätze lassen sich Studien nicht nur replizieren, es sind – z. T. durch Kombinationen mit anderen Studien – auch neue Fragestellungen zu bearbeiten. Für internationale Vergleiche ergeben sich dabei spezifische Probleme, deren Lösung oftmals nur in der sehr vorsichtigen Interpretation der Ergebnisse liegt, da die meisten Qualitätssicherungsmaßnahmen bei bereits erhobenen Daten nicht angewendet werden können. Im Ergebnisteil werden die Konzentration auf strukturorientierte Fragestellungen, die als ‚Auswertungstriangulation’ benennbare Kombination von verschiedenen Auswertungen zur selben Fragestellung und der Einbezug von Kontextfaktoren dargestellt. Die Ergebnisse haben allerdings kein abschließendes Urteil zugelassen, ob die Resultate als kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten interpretiert werden können. Um sich dieser Frage zu nähern, kann man besonders die Ergebnisse zu den Einflussgrößen und den Rollenselbstverständnissen heranziehen. Hier könnte man versuchen, die gefundenen Unterschiede und Gemeinsamkeiten kulturellen Effekten oder Artefakten zuzuordnen, indem die Publikumsorientierung herausgegriffen wird. Wenn sich das Publikumsbild der deutschen und Schweizer Journalisten nicht signifikant voneinander unterscheidet, dürften sich auch die Rollenselbstbilder nicht stark voneinander unterscheiden. Wenn man sich die Befunde der Mediennutzungsforschung anschaut, müsste bei starker Publikumsorientierung die eigene Rolle von den Journalisten auch stark als Unterhalter angenommen werden. Hier zeigt sich in den Daten jedoch, dass die Schweizer Journalisten die Publikumsorientierung als wichtiger benennen, während die deutschen sich stärker auch als Unterhalter sehen. Im Sinne einer oben erläuterten Ermittlung der Äquivalenz lässt sich hier festhalten, dass diese Unstimmigkeit eher darauf hindeutet, dass Vergleiche nur eingeschränkt und besonders die Interpretation der Daten als Zeitreihe eher nicht durchführbar sind. Literaturverzeichnis Beck, D. & Kolb, S. (2009): Sportjournalismus in Deutschland und der Schweiz: Ein Vergleich der vorliegenden Befunde. In: D. Beck & S. Kolb (Hrsg.): Sport & Medien. Aktuelle Befunde mit Blick auf die Schweiz. Zürich: Rüegger, 13-33. Ehmig, S. C. (2000): Generationswechsel im deutschen Journalismus. Zum Einfluss historischer Ereignisse auf das journalistische Selbstverständnis. Freiburg Breisgau [u.a.]: Alber. Friedrichs, J. (1990): Methoden empirischer Sozialforschung. Opladen: Westdeutscher Verlag. Hallin, D. C. & Mancini, P. (2004): Comparing Media Systems. Three Models of Media and Politics. New York: Cambridge University Press. Hanitzsch, T. (2007): Journalismuskulturen. In: B. Thomaß (Hrsg.): Mediensysteme im internationalen Vergleich. Konstanz: UVK, 163-176. Köcher, R. (1985): Spürhund und Missionar. Eine vergleichende Untersuchung über Berufsethik und Aufgabenverständnis britischer und deutscher Journalisten (unveröffentlichte Dissertation, Ludwig Maximilians Universität). München.
Vergleichbarkeit in der (international) vergleichenden Journalismusforschung
365
Kolb, S. (2004): Voraussetzungen für und Gewinn bringende Anwendung von quasiexperimentellen Ansätzen in der kulturvergleichenden Kommunikationsforschung. In: W. Wirth, E. Lauf & A. Fahr (Hrsg.): Forschungslogik und -design in der Kommunikationswissenschaft. Band 1: Einführung, Problematisierungen und Aspekte der Methodenlogik aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive. Köln: Halem, 157-178. Wirth, W. & Kolb, S. (2011): Securing Equivalence: Problems and Solutions. In: F. Esser & T. Hanitzsch (Hrsg.): Handbook of Comparative Communication Research. New York: Routledge (in press). Malik, M. (2005): Heterogenität und Repräsentativität. Zur Konzeption von Grundgesamtheit und Stichprobe der Studie „Journalismus in Deutschland II“. In: V. Gehrau, B. Fretwurst, B. Krause & G. Daschmann (Hrsg.): Auswahlverfahren in der Kommunikationswissenschaft. Köln: Halem, 183-202. Marr, M., Wyss, V., Blum, R. & Bonfadelli, H. (2001): Journalisten in der Schweiz. Eigenschaften, Einstellungen, Einflüsse. Konstanz: UVK. Müller, G. (o.J.): Sekundäranalyse. In: SOCIALinfo Wörterbuch der Sozialpolitik. (URL: http://www.socialinfo.ch/cgi-bin/dicopossode/show.cfm?id=546, 22.01.2009). Scholl, A. & Weischenberg, S. (1998): Journalismus in der Gesellschaft. Theorie, Methodologie und Empirie. Opladen, Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. van de Vijver, F. J. R. & Leung, K. (1997): Methods and Data Analysis for Cross-Cultural Research. Newbury Park, CA: Sage. van de Vijver, F. J. R. & Tanzer, N. K. (1997): Bias and equivalence in cross-cultural assessment: An overview. In: European Review of Applied Psychology, 47(4), 263-279. Weaver, D. H. (1998): Journalists Around the World. Commonalities and Differences. In: D. H. Weaver (Hrsg.): The Global Journalist. News People Around the World. Cresskill NJ: Hampton Press, 455-480. Weischenberg, S. (1992) Journalistik. Band 1: Mediensysteme, Medienethik, Medieninstitutionen. Opladen: Westdeutscher Verlag. Weischenberg, S., Malik, M. & Scholl, A. (2006): Die Souffleure der Mediengesellschaft. Report über die Journalisten in Deutschland. Konstanz: UVK. Wirth, W. & Kolb, S. (2003): Äquivalenz als Problem: Forschungsstrategien und Designs der komparativen Kommunikationswissenschaft. In: F. Esser & B. Pfetsch (Hrsg.): Politische Kommunikationsforschung im internationalen Vergleich. Opladen: Westdeutscher Verlag, 104-131.
Autorinnen und Autoren Daniel Beck, Dr. rer. soc., ist Oberassistent am Departement für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Freiburg/Schweiz. Jana Bomhoff, B.A., ist Masterstudentin im Fach Communication Management an der Universität Leipzig. Sophie Bonk, M.A., ist in der qualitativen Markt- und Medienforschung tätig. Bernd Blöbaum, Dr. phil., ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit Schwerpunkt Medientheorie und Medienpraxis an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Michael Brüggemann, Dr. phil., ist Oberassistent am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Wolfgang Donsbach, Dr. phil., ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Ines Engelmann, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sven Engesser, M.A., ist Assistent am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Volker Gehrau, Dr. phil., ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Roland Göbbel, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Thomas Hanitzsch, Dr. phil., ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der LudwigMaximilians-Universität München. Olaf Jandura, Dr. phil., ist akademischer Rat auf Zeit am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Anne Karthaus, M.A., ist Promovendin am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Jan Kersten, B.A., ist Masterstudent der Politikwissenschaft an der Universität Potsdam. Steffen Kolb, Dr. phil., ist Lektor und Doktorassistent am Departement für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Freiburg/Schweiz. Benjamin Krämer, M. A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung der Ludwig-Maximilians-Universität München.
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
368
Autorinnen und Autoren
Annika Kutscha, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Martin Löffelholz, Dr. phil., ist Professor für Medienwissenschaft an der Technischen Universität Ilmenau. Wiebke Loosen, PD Dr. phil., ist wissenschaftliche Referentin am Hans-Bredow-Institut für Medienforschung der Universität Hamburg. Michaela Maier, Dr. phil., ist Professorin für angewandte Kommunikationspsychologie an der Universität Koblenz-Landau. Maja Malik, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Joachim Marschall, Dipl.-Psych., ist wissenschaflicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationspsychologie, Medienpädagogik und Sprechwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau. Klaus Meier, Dr. phil., ist Professor für Journalistik an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt. Thorsten Quandt, Dr. phil., ist Professor für Kommunikationswissenschaft insb. Interaktive Medienund Onlinekommunikation an der Universität Hohenheim. Liane Rothenberger, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Medien und Kommunikationswissenschaft der Technischen Universität Illmenau. Mathias Rentsch, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft an der Technischen Universität Dresden. Claudia Riesmeyer, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Patrick Rössler, Dr. phil., ist Professor für Kommunikationswissenschaft mit dem Schwerpunkt Empirische Kommunikationsforschung/Methoden an der Universität Erfurt. Georg Ruhrmann, Dr. phil., ist Professor für Grundlagen medialer Kommunikation und Medienwirkung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Michael Scharkow, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Hohenheim. Armin Scholl, Dr. phil., ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Karin Stengel, Dipl.-Sozialwiss., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationspsychologie, Medienpädagogik und Sprechwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau. Jens Vogelgesang, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Hohenheim.
Autorinnen und Autoren
369
Jürgen Wilke, Dr. phil., ist Professor für Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Arne Freya Zillich, M.A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kommunikationswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Register A ABC ..................................................................... 303 action research ................................................ 68, 71 administration bias ............................................. 357 Administrationsäquivalenz ................................. 357 Agence France Press .......................................... 244 Agenda Setting ............................................... 36, 41 awareness....................................................... 303 community issue salience .............................. 304 invidual issue salience ................................... 304 perceived issue salience ............................ 303–4 Publikumsagenda .......................................... 307 salience .......................................................... 304 Ajzen, I. ................................. 142–43, 147, 150, 152 Akademisierung.................................................. 123 Akteur ................................................... 21, 241, 277 Aktionsforschung ..................................... 68, 71–72 Allen, M. ............................................................. 161 Alltag .................................................................. 234 Altersmodell ....................................................... 343 Altmeppen, K.-D. ............. 34, 55, 134, 173, 264–65, 267, 281, 285 Amerikanisierung ............................................... 123 Anderson, T. E. ................................................... 165 Anwendungsorientierung ..................................... 67 AOL ..................................................................... 303 Äquivalenz, geografische ................................... 159 Arbeit Arbeitsalltag .................................................. 277 Arbeitsbedingungen ........................................ 96 Arbeitsbelastung ............................................ 272 Arbeitsprozesse ............................................. 117 Arbeitsschritte ................................................. 22 Arbeitsvorgänge .............................................. 22 Arbeitszufriedenheit ........................................ 96 ARD .................................................................... 245 Artefakt ................................................................. 51 Associated Press ......................................... 244, 303 Assoziationsanalyse ........................................... 291 Aufgabenverständnis ............................................ 91 Ausbildung ............................................. 94, 357–59 Ausgewogenheit ................................................. 159 Auslandskorrespondenten .................................. 226 Ausschlussverfahren........................................... 173 Ausschöpfungsquote .......................................... 272 Austria Presse Agentur (APA) ............................. 73 Auswahlverfahren ......... 229–31, 259, 269–71, 273, s. auch Stichprobe Auswahl ......................................................... 198 Auswahlbasis ................................................. 173 Auswahlkriterien ..................................... 230–31 Auswertungsmethoden .............................. 26–27 Auswertungsstrategie .............................. 232–33
bewusste Auswahl ..........................................269 geschichtete Zufallsstichprobe .......................270 Klumpenauswahl ............................................194 Quotaverfahren ...............................................270 Schneeballverfahren ...............................173, 270 willkürliche Auswahl .....................................269 Zufallsauswahl ...............................................269 Autobiographie .................................... s. Biographie
B Bandura, A. .........................................................278 Barth, H. ..............................................................161 Bayerischer Rundfunk ...........................................75 Beam, R. A. ..........................................................348 Befragung .......... 23–24, 83, 113, 115–16, 163, 180, 193, 206, 245, 259–75, 277, 306, 340, 356 Befragungs-Inhaltsanalyse-Studie .................163 Befragungsmodi .............................................260 Befragungswellen...........................................340 ländervergleichende Befragung .......................56 mündliche Befragung .................................42, 72 Onlinebefragung .............................. 42, 126, 135 schriftliche Befragung ................................42, 72 Begründungszusammenhang ................................18 behavioral responses ...........................................301 Behaviorismus .....................................................278 Beobachtung .................. 21–22, 51, 61, 72, 83, 115, 117–18, 125–26, 211, 225, 277–97 automatisierte Beobachtung ...........................282 Beobachter......................................................281 Beobachtertraining .........................................286 Beobachtungsbogen .......................................290 Beobachtungsfeld ...........................................285 Beobachtungsobjekt ...............................133, 285 Beobachtungsschema .............................285, 290 Beobachtungssituation ...................................281 Beobachtungssystem ......................................286 Bezugseinheit .................................................286 chance observation .........................................279 Eingewöhnungseffekt.....................................133 Fall ..................................................................286 Insider-Beobachtung ......................................282 Kategoriensystem ...........................................286 klassische Redkationsbeobachtung ................282 nicht-teilnehmende Beobachtung...................211 offene Beobachtung ................ 22, 134, 211, 282 Phasen.............................................................284 Probleme.........................................................287 redaktionelle Beobachtung.............................278 Schätzskala .....................................................286 Schulung .........................................................134 standardisierte Beobachtung ..................132, 282 strukturierte Beobachtung ..............................282 Subjekt ............................................................285
O. Jandura et al. (Hrsg.), Methoden der Journalismusforschung, DOI 10.1007/978-3-531-93131-9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
372 teilnehmende Beobachtung ............... 22, 56, 281 verdeckte Beobachtung ................... 22, 134, 282 Zeichensytem................................................. 286 Berufsmotive ........................................................ 91 Bias, kultureller .................................................. 352 BILD Zeitung .................... 60, 61, 85, 125, 192, 244 Biographie ............................................................ 59 Artikelbiographie ............................................ 59 Autobiographie .......................................... 84, 88 Berufsbiographie ........................................... 226 Gesamtbiographie............................................ 88 Partialbiographie ............................................. 88 Blöbaum, B. ........................................ 225, 281, 337 Blum, R. .............................................................. 351 Böhme, R............................................................. 302 Bomhoff, J. .......................................................... 285 Bonfadelli, H. ..................................................... 351 Bonk, S. ....................................................... 281, 337 Bootstrapping ..................................................... 332 Boulevardisierung .............................................. 123 Bourdieu, P. .................................................. 226–28 Bowman, W. W. .................................................. 348 Breed, W. .............................................................. 54 Brewer, J............................................................. 109 Brownlee, B. J. ................................................... 348 Bryk, A. ............................................................... 321 Bücher, K. ............................................................. 54 Busterna, J. C. .................................................... 164
C Case Study .......................................................... 280 CBS ..................................................................... 303 Cellesche Zeitung ............................................... 192 Chaffee, S. H. ...................................................... 163 chance observation ............................................. 279 Chaostheorie ......................................................... 26 Chapel Hill-Studie .............................................. 299 CNN .................................................................... 303 Code .................................................................... 290 Codebuch ............................................................ 130 cognitions ........................................................... 301 Contextual Analysis ........................................... 318 Cook, S. W. ......................................................... 279 Copytest .............................................................. 111 coverage bias ...................................................... 161 Critical Multiplism ............................................. 237 Cross-Classified Models .................................... 333 Crossmedia ................................................. 115, 117 cultural lag ............................................................ 49 Cultural Studies ............................ 19, 26, 42, 44, 48
D D’ Ester, K. ........................................................... 83 D’Alessio, D. ...................................................... 161 Daten Datenaufbereitung ........................... 231–33, 288
Register Datenauswertung ............................. 231–33, 288 Datenerhebung ...............................................189 Datentriangulation ..........................................244 hierarchische Datenstrukturen .................317–34 David, W. .............................................................348 Delli Carpini, M. X..............................................299 Design-Effekt ......................................................320 Deutsch, M. .........................................................279 Deutsche Presseagentur ................................80, 244 Deutschlandfunk ..................................................125 Dialog ....................................................................71 dialogischer Forschungsprozess............................70 Die Welt .......................................................158, 162 Die Zeit ................................................................125 Differenzstudien ..................................................351 digital natives ......................................................299 Diskurs...................................................................51 diskurstheoretische Schule ....................................49 DJV ........................................................................20 Dokumentanalyse ................................... 56, 72, 180 Donges, P. ...................................................281, 285 Donsbach, W. ......... 89, 112, 159, 161–62, 164, 166 Dovifat, E. .............................................................35 Dygutsch-Lorenz, I. .....................................280, 285 Dynamisch-transaktionaler Ansatz ...... 17, 207, 218 Dzwo, T. ...............................................................303
E Ehmig, S. C. .........................................................337 Eilders, C. ....................................................148, 206 Einschlussverfahren ............................................173 Einstellungen Einstellungsforschung ....................................142 politische Einstellungen ............ 93, 143, 150–51 electronic bulletin boards (EBB) ........................303 Emotionalisierung ...............................................123 Endorsement-Studien ..........................................163 Engels, K. ....................................................281, 285 Engesser, E. ...........................................................83 Entdeckungszusammenhang ...........................17, 18 Entscheidung .......................................................143 Entscheidungshandeln ....................................206 Nachrichtenentscheidung .........................155–70 Quellenentscheidung ......................................149 Statement-Entscheidung.................................149 Erbring, L. .............................................................16 Erhebung Analyseeinheit ................................................111 Erhebungseinheit ............................................211 Erhebungsmethoden ...................................21–25 Erhebungsverfahren .......................................281 Erhebungszeiträume .......................................251 Erreichbarkeit ......................................................136 Esser, H. ....................................................15–16, 23 Ethnographie .............................................56–57, 62 Interview...........................................................51 Ethnologie ...........................................................279
Register Ethnomethodologie .............................................. 50 Eurich, C............................................................... 68 Evaluationsforschung ........................................... 71 Experiment ............. 42, 83, 165, 245, 278, 280, 283 ex-post-facto-Design ..................................... 152 Experteninterview ................................................ 56
F Fabris, H. H.......................................................... 68 Fall ...................................................................... 286 Einzelfall ....................................................... 280 fallorientierter Vergleich ................................. 52 Fallstudie ................................... 73–76, 137, 245 typischer Fall ................................. 125, 192, 229 Fehler .......................................................... 189–201 Abdeckungsfehler............................ 189, 191–93 Erfassungsfehler ............................................ 189 Fehler des Instruments .................................. 189 Fehlertypologie.............................................. 190 Modusfehler........................................... 189, 191 Nichtvorliegen ......................................... 196–97 non-response.................................................. 189 Stichprobenfehler ............................ 189, 193–96 Feld ..................................................................... 285 Feldstudien .................................................... 279 Feldzugang .................................................... 287 Feldtheorie .................................................... 226–28 Feminisierung ..................................................... 123 Fernsehprogrammforschung ................................ 20 first-order linkage ............................................... 112 Fishbein, M. ................................ 143, 147, 150, 152 Flegel, R. C. ........................................................ 163 Focus ............................................................ 115–16 Fragebogen ......................................................... 136 Frageformen ................................................. 227–29 beschreibende Fragen .................................... 227 Eisbrecherfrage .............................................. 227 Eventualfragen............................................... 227 Faktenfragen .................................................. 227 geschlossene Fragen ...................................... 228 hypothetische Fragen..................................... 227 kontrastierende Fragen .................................. 227 Leitfragen ................................................ 228–29 Meinungsfragen ............................................. 227 offene Fragen ................................................. 228 Schlüsselfragen.............................................. 227 strukturierende Fragen .................................. 227 Suggestivfragen ............................................. 228 Framing......................................... 37, 144, 146, 239 Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) ............. 158, 192, 244 Frankfurter Rundschau (FR)...................... 158, 162 Frankfurter Schule ............................................... 24 Fretwurst, B. ............................................... 148, 206 Fuldaer Zeitung .................................................. 192 funktionale Äquivalenz ...................................... 351
373
G Galtung, J. .......................................... 159, 206, 218 Garfinkel, H. ..........................................................50 Gatekeeper-Forschung ......................... 36, 206, 239 gatekeeping bias ..................................................161 Geertz, C..........................................................56, 57 Gehrau, V. ...................................................278, 281 Generalisierungsstudien ......................................351 Generationen-Modell ..........................................342 Gesellschaftstheorie ..............................................15 GfK-Meter ...........................................................282 Giddens, A. ............................................................55 Gilboa, E. ............................................................242 Göbbel, R. ....................................................206, 220 going native .........................................................282 Google .........................................................180, 300 Google Insights For Search ...........................300 Google Search ................................................304 Google Trends ................................................304 Granka, L. A. .......................................... 303–4, 309 Grittmann, E. .......................................................218 Groves, R. M........................................................189 Grundgesamtheit ................. 19–21, 84–85, 171–87, 193–94, 259–68, 356 Akteursebene ..................................................264 Definition .......................................................273 Ermittlung.......................................................273 forschungspragmatische Bestimmung ...........261 gesellschaftliche Ebene ..................................263 organisatorische Ebene ..................................264 Schätzung ...............................................176, 184 theoriegeleitete Definition .............................261 Zielgesamtheit ................................................171 Grundlagenforschung ............................................67 Gruppendiskussion ................................................72 Gütekriterien............................... 71–72, 77–79, 234 Adäquatheit ......................................................78 Anschlussfähigkeit ...........................................79 Indikatoren des Veränderungsprozesses .......... 79 Intersubjektivität ..............................................78 Messinstrument ..............................................190 Personal Factor .................................................78 Transparenz ......................................................78
H Habitus.................................................................226 Hagen, L. M. ........................................................162 Hahn, O. ..............................................................174 Hall, S. ...................................................................48 Hamm, I. ......................................................280, 285 Handeln .......................................................133, 288 Handlungseinheit............................................286 Handlungsmuster, Analyse ............................291 Handlungsoptionen ..................................143–46 Handlungstheorie .................................16, 21, 37 Journalistische Handlungsalternativen ..........142
374
Register
Handwerk, journalistisches .................................. 94 Hanitzsch, T. ................ 33, 37–38, 54, 173, 264–65, 267, 325 Hannoversche Allgemeine Zeitung .................... 192 Hansen, K. A. ...................................................... 164 Hartley, J. ............................................................. 19 Hehr-Koch, M. ............................................ 280, 285 Henzinger, M. ..................................................... 303 Heterogenität .............................................. 177, 179 Datenquellen.................................................. 246 Forschungsstrategien ..................................... 238 Methoden der Datenerhebung ....................... 246 heute ................................................................... 245 Hienzsch, U. ............................................... 280, 285 Hostile Media Phenomenon ............................... 156 Hovland, C............................................................ 36 Hunter, A. ........................................................... 109
Johnstone, J. W. C. ..............................................348 Journalismus Definition .......................................... 19, 259–68 Onlinejournalismus ....................................42–43 Journalismus in Deutschland (Studie) ...... 113, 193, 260, 263–65, 267, 270, 337, 339, 351 Journalismus in Deutschland II (Studie) ...........272, 337, 340, 351 Journalismusforschung, empirische ......................36 Journalismusforschung, Phasen empirical turn ...................................................33 global-comparative turn .............................33–34 normative research ...........................................33 sociological turn ...............................................33 journalist .......................................................126–28 Journalisten im Netz (Studie) ............... 225, 288–93 Journalisten, freie ................................................268
I
K
Image .................................................................... 99 Individualebene .................................................. 348 Inferenz, statistische ........................................... 172 Informationsbeschaffung...................................... 95 Inhaltsanalyse ............ 24–25, 42, 83, 113, 116, 118, 126, 129, 163, 194, 244 qualitative Inhaltsanalyse .................. 26, 62, 212 Innovationsforschung ..................................... 69, 71 Innovationsprozess ............................................... 72 Input-Output-Analyse................................... 25, 158 Institut für Demoskopie Allensbach ............. 36, 160 Institutionen .......................................................... 96 Instrumentelle Aktualisierung .................... 146, 168 Instrumentenäquivalenz ..................................... 356 interaktive Forschung ............................... 67, 69–70 interaktive Innovationsforschung .............. 69, 75 Interessens-Studien............................................. 164 interkulturelle Vergleichbarkeit ......................... 353 internationale Vergleichbarkeit .......................... 353 Internationalisierung....................................... 37–38 Interpretation ...................................................... 288 interpretierender Ansatz .................................. 50 Verstehen ................................................... 50, 55 Interview Interviewleitfaden.......................................... 224 Leuchtturminterview ..................................... 250 qualitatives Interview .................................... 128 relativ offen (Leitfadeninterview) ................. 224 Tiefeninterview ............................................. 115 Issue .................................................................... 144 Itemäquivalenz ................................................... 355
Kaltenbrunner, A. ................................................264 Karmasin, M. .......................................................264 Karriere-Modell ...................................................342 Karthaus, A..................................................281, 337 Kausalanalyse ......................................................155 Kepplinger, H. M.......................... 156–57, 160, 167 Kernbereich (Forschungsgegenstand).................353 Kerrick, J. S. ........................................................165 Kersten, J. ............................................................285 Keyton, J. ...............................................................56 Klein, M. W..........................................................162 Kodierschema ......................................................134 Kohortenanalyse ............................................335–50 Alterseffekt .....................................................338 Kohorteneffekt ...............................................338 Periodeneffekt ................................................338 Kolb, D. ...............................................................351 Kollegen Kollegenorientierung .......................................95 Koller, B. .....................................................280, 285 Kölner Stadtanzeiger ...........................................125 Kommunikatorforschung ......................................41 komparative Forschung .......................................351 international vergleichende Forschung ..........240 komparativer Fallstudienansatz .................50–51 Konflikt .............................................. 151, 167, 238 Konstruktäquivalenz ...........................................355 Konstruktivismus ..................................................24 Konstruktivismusdebatte..................................16 Kontext ......................................... 53, 116, 232, 354 Kontextbereich (Forschungsgegenstand).......353 Konvergenz (Forschungsstrategien) ...................238 Konzeptspezifikation...........................................283 Kraus, D. .............................................................264 Krise Krisenkommunikation ..............................237–55 Medienkrise ....................................................272 Phasenmodell .................................................242
J Jahoda, M. .......................................................... 279 Jahrgangsmodell ................................................. 344 Jandura, O. ......................................................... 159 Johnstone, J. ......................................................... 36
Register Kritische Theorie ...................................... 24, 26, 72 kritischer Rationalismus ....................................... 15 Krzeminski, M. ............................................ 280, 285 Kultur ........................................................ 47–50, 53 Kulturanalyse............................................. 58–59 kulturelle Kontextualisierung .......................... 53 kultureller Bias .............................................. 352 Kulturtheorie ................................................... 47 Produktionskultur ...................................... 47, 54 Kutscha, A................................................... 281, 337
L Lamnek, S. .................................................. 223, 232 Lang, K. u. G. E. ................................................. 157 Lasswell, H. D. ..................................................... 36 latentes Konstrukt ................................................. 16 Lazarsfeld, P. F. ................................................... 36 Leitfadeninterview.... 42, 56, 116, 126, 128, 223–36 fokussiertes Leitfadeninterview .................... 212 Leitfaden ................................................ 128, 212 Leitfadenkonstruktion ............................. 227–29 Leitfragen ................................................ 228–29 Lewin, K. ............................................................... 71 LexisNexis ........................................................... 304 Lichter, R. S. ....................................................... 157 Lippmann, W. ..................................................... 206 Löffelholz, M. .......... 34, 173, 260, 263–65, 267, 340 Lönnendonker, J. ................................................ 174 Loosen, W. ............................................................ 25 Luhmann, N. ..................................... 16, 21, 34, 227 Lünenborg, M. ...................................................... 37
M Maccoby, N. ........................................................ 162 Maier, M. ............................................................ 148 Mailbox-Systeme................................................ 303 Makrotheorie ............................................ 21, 57–58 Malik, M. ............ 173, 193, 260, 264, 337, 340, 351 Mann, L............................................................... 162 Marais, H. ........................................................... 303 Marcinkowksi, F. .................................................. 26 Marr, M. ............................................................. 351 Matthes, J. .................................................. 302, 309 Mayring, P. ......................................................... 212 McCombs, M. ..................................................... 299 Media & Democracy-Studie ............................... 166 Medialisierung .................................................... 123 Medienforschung .................................................. 41 Medieninhalte ....................................................... 56 Medieninhaltsforschung ....................................... 41 Mediensparten .................................................... 267 Mehrebenenanalyse .......................... 16, 57, 317–34 Aggregierung ................................................. 320 Disaggregierung ............................................ 319 hierarchisch-lineares Modell ........... 318, 321–24 Mehrebenenstrukturen............................. 317–19
375 Multilevel Modeling ......................................318 Multilevel Regression ....................................318 pooled regression ...........................................319 Random Coefficients Models ....... 318, 320, 323 Random Intercept Models ......................323, 328 separate Analysen...........................................321 total regression ...............................................319 Mehrebenenananlyse OLS-Regression .......................................317–34 Mehrmethodendesign ..................... 42, 109, 123–39 Meier, K. ..............................................................336 Memoiren ..............................................................84 mentalistische Schule ............................................49 Meso-Ebene ...............................................37, 57–58 Messzeitpunkte ....................................................340 Metaanalyse .........................................................161 Methodenäquivalenz ...........................................356 Methodenkombination ..................................109–21 funktionale Dimension ...................................110 kompetitive Verbindung ................................110 komplementäre Verbindung...........................110 kooperative Verbindung .................................110 Mehrmethodendesign ...............................123–39 mixed methods ...............................................111 parallele Verbindung ......................................111 sequentielle Verbindung ................................111 strukturelle Dimension ...................................110 methodologischer Individualismus .......................28 Meyen, M. ................................... 173, 193, 225, 262 Mikrotheorie ..............................................21, 37, 57 Mikrozensus ........................................................197 Milgram, S. ..........................................................278 mobile Aufzeichnungsgeräte...............................294 Moricz, M. ...........................................................303 Müller, D. ............................................................164
N Nachrichtenauswahl ............................... 25, 155–70 Nachrichtenfaktoren ................... 143, 146, 148, 159 Fotonachrichtenfaktoren ..........................205–21 Nachrichtenwert ........................... 150–51, 205, 238 Nachrichtenwerttheorie ................ 36, 141, 206, 239 Finalmodell.............................................141, 152 Kausalmodell..................................................141 Nähe-Distanz-Paradoxie .....................................119 Nassehi, A. .............................................................26 NBC .....................................................................303 need for orientation .........................................301–2 Negus, K. ...............................................................54 netzeitung ............................................................125 Netzwerk Recherche ..............................................20 Netzwerk, professionelles .....................................61 Netzwerkanalyse ...................................................26 Neuberger, C. ..............................................174, 264 neuronale Netze .....................................................26 New York Times...................................................303 News Bias ..................................... 25, 151, 156, 206
376
Register
Newsdesk................................ 75, 77, 133, 135, 138 nicht verteilungsangepasste Verfahren .............. 174 Nichtmessen ............................................... 189–201 Nickel, N. ............................................................ 302 Nielsen-Meter ..................................................... 282 Noelle-Neumann, E. ............................................. 36 non-response ....................................................... 189 Nuernbergk, C. ........................................... 174, 264 Nutzungsstatistik ........................................ 299–313
Protokollierung ....................................................288 Prutz, R. E. ............................................................35 Psychologie .................................................278, 280 Entscheidungsforschung ................................142 Sozialpsychologie ..........................................142 Public Relations ............................................118–19 Publikum Publikumsagenda ...........................................307 Publikumsbild ..................................................94
O
Q
Objekt ................................................................. 285 Objektive Hermeneutik ........................................ 25 Objektivitätsmaß ................................................ 168 Ausgewogenheitsstudien ............................... 159 geografische Äquivalenz ............................... 159 Gleichverteilung ...................................... 158–60 Input-Output-Analyse ................................... 158 Inter-Media-Vergleich................................... 158 Intra-Media-Vergleich................................... 158 medienexternes Objektivitätsmaß ................. 157 medieninternes Objektivitätsmaß .................. 158 Ogawa, T. ........................................................... 302 Onlinejournalisten in Deutschland (Studie) ............. ......................................................... 264–65, 267 Operationalisierung ................... 114, 116, 118, 142, 227, 247–49, 266 Operationsweisen ............................................... 283 opportune Zeugen ............................................... 162 Organisation ....................................................... 124 Östgaard, E. ............................................... 159, 206
Qualitative Methoden ................... 110, 212, 223–36 Quandt, T. ................ 25, 55, 134, 173, 225, 264–65, 267, 281, 288–93 Quantiative Methoden .........................................110
P partizipativer Journalismus .......................... 181–82 path dependence ................................................... 55 Patterson, T. E. ........................................... 166, 302 Patton, M. ............................................................. 72 people meter ....................................................... 282 Personalerhebung ............................................... 267 Personalisierung ................................................. 123 Personenparadigma .............................................. 34 Pfaff-Rüdiger, S. ................................................. 232 Pfetsch, B. ............................................................. 53 Planspiel ......................................................... 72, 75 politische Kommunikationsforschung ............... 239 Popper, K. ............................................................. 17 Populationsäquivalenz ........................................ 356 practical consciousness ........................................ 51 Praktika ................................................................. 51 Praktizismus ......................................................... 35 Praxeologie ........................................................... 49 Praxis .............................................................. 17, 70 Pressefreiheit .................................................. 96, 98 Pretest ................................................................. 286 Professionalisierung ..................................... 19, 123 Programme ......................................................... 124
R Raabe, J. ..........................................................34, 54 Rager, G. ...............................................................69 Rational-Choice-Ansatz ......................................141 Raudenbush, S. ....................................................321 ReaderScan ..........................................................282 Rech, J. ................................................................300 Recherche ............................................................145 Redaktion ............................. 21–22, 54, 60–62, 125 redaktionelle Beobachtung.............................278 redaktionelle Tendenz ....................................163 Redaktionskultur ........................... 47, 55, 58, 60 Redaktionsorganisation ....................................73 Regression ............................. s. Mehrebenenanalyse Rekonstruktion ......................................................53 Reliabilität .................... 77, 134, 190, 219, 280, 308 Inter-Beobachter-Reliabilität .................288, 294 Repräsentativität .......... 20, 155, 175, 194, 197, 229, 259–75, 356 Repräsentationsschluss...........................259, 268 Restricted Maximum Likelihood ........................328 Reuters .................................................................303 Rezeptionsforschung .............................................41 Riesmeyer, C........................................................225 Rischke, M. ..................................................174, 264 Roberts, M. S. ..............................................301, 303 Roessing, T. .........................................................174 Rogers, E. ..............................................................72 Rolle ................................................... 124, 357, 359 Rollenselbstverständnis..................... 23, 113–15 Rollenspiel .......................................................72, 75 Rosengren, K. E. ..................................................158 Rosenthal, M........................................................166 Ross, D.................................................................278 Ross, S. A. ............................................................278 Rössler, P. ...........................................................285 Rothman, S. .........................................................157 RPR1. ...................................................................125 RTL ..............................................................125, 245 Rückel, R. R. ................................................280, 285
Register Ruge, M. H.......................................... 159, 206, 218 Rühl, M. ...................... 21, 33, 35, 55, 134, 280, 285 Ruhrmann, G. ............................................. 206, 220 Ruß-Mohl, S. ......................................................... 77
S Saake, I. ................................................................ 26 SAT.1 .................................................................. 245 Schichtung .......................................................... 178 Schmidt, J. .......................................................... 174 Schneider, B........................................ 263, 266, 269 Schnittstellenproblematik ..................................... 76 Scholl, A. .............. 113, 129, 173, 193, 260, 263–64, 319, 337, 340 Schönbach, K. ............................. 162, 263, 266, 269 Schröder, R. ........................................................ 174 Schulung ............................................................. 134 Schulz, W. ............................. 111, 147–48, 159, 206 Schütz, A. .............................................................. 16 Schwenk, J. ......................................................... 269 second-order linkage .......................................... 112 Segmentierung (Handeln) .................................. 289 Sekundäranalysen ....................................... 245, 351 Selbstauskünfte................................................... 113 Selbst-Kontrolle.................................................. 288 Selektion ....................................................... 205–21 Selltiz, C. ............................................................. 279 Sequenzanalyse .................................................. 291 Shaw, D............................................................... 299 Silverstein, C. ..................................................... 303 Simulation............................. 26, 145, 165, 179, 332 Skalierung ........................................................... 148 Skandalisierung .................................................. 123 Skinner, B. F. ...................................................... 278 Slawski, E. J........................................................ 348 Soziale Beziehungen ............................................ 99 Sozialenquete (Studie) ................................ 263, 266 Sperlich, W. .......................................................... 84 Sphärenmodell ...................................................... 89 Gesellschaftssphäre ................................... 97–99 Institutionssphäre ...................................... 96–97 Professionssphäre ...................................... 94–95 Subjektsphäre ............................................ 90–94 Spiegel .......................................... 115–16, 125, 165 Spiegel Online .................................................... 125 Springer, N. ................................ 173, 193, 225, 262 Staab, J. F. .................................................. 206, 218 Stabilität .............................................................. 341 Stabilitäts-Modell ............................................... 342 standardisierte Ratingskala................................. 359 Standardisierung ................................................. 151 statement bias ..................................................... 161 stern ........................................ 115–16, 205, 211–15 Stevenson, R. L. .................................................. 302 Stichprobe ................ 19–21, 171, 259, 271–74, 356, s. auch Auswahlverfahren Ausschlussverfahren...................................... 173
377 Ausschöpfungsquote ......................................196 composite day sampling .................................194 constructed week sampling ............................194 Einschlussverfahren .......................................173 Fang ................................................................176 geschichtete Zufallsstichprobe .......................270 Klumpenauswahl ............................................194 Klumpungsfehler ............................................194 künstliche Woche ...................................131, 194 normale Woche ..............................................192 publizistische Stichprobe .................................20 Quotaverfahren ...............................................270 Quotenauswahl ...............................................173 Quotenplan .....................................................270 Quotenstichprobe ...........................................172 rotated week sampling ...................................194 Rückfangmethode ....................................171–87 Sample ............................................................131 Schneeballverfahren .......................................173 Stichprobenbildung ........................................268 Stichprobenziehung ..........................................19 verteilungsangepasste Verfahren ...................173 Zufallsauswahl .......................................125, 269 Zufallsstichprobe ........................... 131, 172, 194 Stieler, K. ...............................................................35 Strukturationstheorie .............................................26 Strukturgleichungsmodelle ...................................16 Strukturierung......................................................289 stummes Wissen ....................................................51 Stürzebecher, D. ................................. 263, 266, 269 Subjective Expected Utility Theory ....................142 Subjekt .................................................................285 subjektive Interessen ...........................................155 Subjektivität ..................................................155–57 Subjektivitätsmaß ..........................................160–68 Aggregat-Daten-Studien ..........................160–61 Gruppen-Daten-Studien ...........................161–65 Individual-Daten-Studien .........................165–68 Suchmaschinen ............................................299–313 Süddeutsche Zeitung (SZ)... 125, 158, 165, 192, 244 Survey-Feedback-Ansatz ......................................68 Swales, L. B. ........................................................165 Synchronisationsstudien......................................162 Synchronisierung...........................................237–55 systematische Ausfälle ........................................271 systematische Fehler ...........................................271 Systematisierung .................................................280 Systemebene ........................................................348 Systemkontext .....................................................351 Systemparadigma ..................................................34 Systemtheorie .......... 15, 19, 21, 26, 34, 37, 42, 129, 227, 340
T Tagebuch .........................................................22, 62 tagesschau ...........................................................245 tagesthemen .........................................................125
378 tageszeitung (taz)........................................ 125, 162 Tapper, C. ............................................................. 25 Teilnahmebereitschaft ........................................ 196 Themenblöcke .................................................... 224 theoretische Sättigung ........................................ 229 theoretischer Holismus ......................................... 28 Theorien der Nachrichtenselektion ...................... 41 Theorien mittlerer Reichweite........................ 42, 44 Time Magazine ................................................... 303 Transferforschung .......................................... 69, 79 Transkription ...................................................... 231 Trebbe, J. ............................................................ 336 Triangulation ............. 50–51, 56, 72, 109, 126, 129, 137–38, 237–38, 240, 243–45 Auswertungstriangulation ............................. 364 between-methode (Methodentriangulation) .. 244 Datentriangulation ......................................... 237 Methodentriangulation .................... 237, 244–45 Theorientriangulation ............................ 237, 243 within-method (Methodentriangulation) ....... 244 Triggerstudie .................................................. 59–60
U
Register Wallraff, G. ............................................................85 Wandel.................................................................124 Wanta, W. ............................................................303 Watson, J. B. ........................................................278 WAZ .......................................................................60 WDR ....................................................................125 Weaver, D. H. ................................. 301–2, 309, 319 Weber, M. ........................................................36, 50 Weisbach, K. ........................................................162 Weischenberg, S. ............. 24, 33, 89, 113, 129, 173, 193, 215, 260, 263–64, 319, 337, 340, 351, 354 Weiß, H.-J. ...........................................................336 Wende, J. .....................................................207, 220 Werte .....................................................................93 Wert-Erwartungstheorie ................................141–54 Wessler, H. ............................................................53 Westfälische Nachrichten ....................................125 White, D. M. ..................................................59, 158 Wied, K. ...............................................................174 Wiederer, R..........................................................174 Wilhoit, G. C................................................319, 348 Williams, B. A. .....................................................299 willkürliche Auswahl ..........................................269 Wirth, W. .............................................................351 Wissenstransfer ...............................................67–80 Worlds of Journalism (Studie) ......................37, 325 Wyss, V. .........................................................69, 351
Überforschung .................................................... 272 Umbruch-Modell ................................................ 342 Untersuchungsdesign ........................... 127–37, 260 Untersuchungseinheit ................ s. Erhebungseinheit Unzugänglichkeit................................................ 171
Y
V
Yahoo Search.......................................................180
Validität ................................ 77, 190, 219, 279, 308 konvergente Validität .................................... 237 Veränderung ....................................................... 341 Verhaltenseffekte................................................ 177 Verwertungszusammenhang .......................... 17, 18 Verzerrung .................... 134, 160–68, 183, 185, 271 Vicari, J. ..................................................... 281, 285 Voakes, P. S. ....................................................... 348 von Goethe, J. W................................................... 83 von Schwarzkopf, J. .............................................. 35 von Studnitz, C...................................................... 83 Vorstellungen, journalistische .............. 142, 146–48
Z
W Wahl-Jorgensen, K. ........................................ 33, 38
ZDF .....................................................................245 Zeichensystem .....................................................286 Zeiteffekte ...................................................177, 179 Zeiteinheit............................................................286 Zeitreihe.......................................................307, 353 Zelizer, B. ..............................................................38 zero overall bias ..................................................161 Zimbardo, P. G. ...................................................278 Zimmermann, A. ..................................................264 Zwiebelmodell ........................................ 24, 89, 354 zyklischer Forschungsprozess ...... 18, 71, 73, 79–80