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Margarete Schütte-Lihotzky
Millionenstädte Chinas Bilder- und Reisetagebuch einer Architektin (1958) Herausgegeben...
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Margarete Schütte-Lihotzky
Millionenstädte Chinas Bilder- und Reisetagebuch einer Architektin (1958) Herausgegeben von Karin Zogmayer im Auftrag der Universität für angewandte Kunst Wien
Mit einem Nachwort von Albert Speer
SpringerWienNewYork
Dr. Karin Zogmayer (Hrsg.) Wien, Österreich
Eine Publikation der Sammlungen der Universität für angewandte Kunst
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und MarkenschutzGesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. © 2007 Springer-Verlag/Wien Printed in Austria SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at Lektorat: Mag. Josef Weilguni Umschlagbild und Abbildungen: Dorothea Stransky und Sammlungen der Universität für angewandte Kunst Wien, Nachlass Schütte-Lihotzky Satz und Layout: Mag. Judith Martiska, Springer-Verlag Wien Druck: Druckerei Theiss GmbH, 9431 St. Stefan, Österreich Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN: 12030996 Mit 55 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-211-71583-3 SpringerWienNewYork
Inhalt
Patrick Werkner Schütte-Lihotzky und die Universität für angewandte Kunst Wien
7
Karin Zogmayer Vorwort
11
Margarete Schütte-Lihotzky Millionenstädte Chinas
31
Altes chinesisches Wohnhaus und neue Stadtplanung Peking
37
Nanking – Schanghai – Wuhan, die drei Großstädte in Mittelchina und ihre heutigen, städtebaulichen Aufgaben
73
Nanking
73
Schanghai
83
Wuhan
103
Editorische Nachbemerkung
127
Albert Speer Nachwort
129
Margarete Schütte-Lihotzky und die Universität für angewandte Kunst Wien
Im Herbst 1915 begann Margarete Schütte-Lihotzky ihr Studium an der damaligen kaiserlich-königlichen Kunstgewerbeschule in Wien. „Mitten im Ersten Weltkrieg kam ich als Achtzehnjährige in die Kunstgewerbeschule (...) Hier lehrten die Maler Oskar Kokoschka, Kolo Moser und Bertold Löffler, der große österreichische Bildhauer Anton Hanak und Rudolf von Larisch, der die Schönheit der Schrift für Europa entdeckt hat. Hier lebte noch etwas vom Geiste der Wiener Secession, und hier leiteten Josef Hoffmann, Oskar Strnad und Heinrich Tessenow die drei Architekturklassen.“ Diese Zeilen stehen auf den ersten Seiten von Schütte-Lihotzkys viel später entstandenem Rückblick auf ihre Studienzeit und ihren ersten Schaffensabschnitt im Wien und Frankfurt der 1920er Jahre.1 Durch ihre ehemalige Ausbildungsstätte wurde die Architektin anlässlich ihres 100. Geburtstages in einem großen Festakt geehrt. Als sie im Jahr 2000 starb, wenige Tage vor ihrem 103. Geburtstag, hinterließ Schütte-Lihotzky ihren architektonischen Nachlass und ihr privates Archiv der Universität für angewandte Kunst Wien, der Nachfolgeinstitution der ehemaligen Kunstgewerbeschule.
7
Die Sammlungen der Universität haben seither den Bestand für die Forschung erschlossen und publizieren Schütte-Lihotzkys Schaffen und Leben mittels unterschiedlicher Aktivitäten. Dazu gehörten bisher – ein durch die Architektinnen Renate Allmayer-Beck und Susanne Baumgartner durchgeführtes Forschungsprojekt, dessen Ergebnisse teilweise auf den Webseiten der Stadt Wien über das Internet zugänglich sind2 – die Mitwirkung an verschiedenen architekturgeschichtlichen Ausstellungen, die das Werk Schütte-Lihotzkys einbezogen3 – die Herausgabe der autobiografischen Schrift „Warum ich Architektin wurde“, aus der eingangs zitiert wurde – der Auftrag zum Bau eines Modells von zwei Varianten der „Frankfurter Küche“, also des wohl bekanntesten, in vielen Tausend Exemplaren realisierten Innenraumkonzepts der Architektin (das Modell im Maßstab 1:5, gefertigt durch den international anerkannten Designer von Architekturmodellen, Franz Hnizdo, steht für künftige Ausstellungen zur Verfügung und wurde 2007 erstmals im Architekturzentrum Wien vorgestellt). Der Nachlass Schütte-Lihotzkys umfasst Hunderte Pläne und Entwurfszeichnungen für Bauten und Innenräume, darunter Wohnhausprojekte, Reihenhäuser, Kindergärten, Kinderkrippen etc., weiters an die Tausend biografische Fotos, Hunderte Werkfotos, einige Originalgrafiken (wie Porträtzeichnungen und Naturstudien) sowie nicht zuletzt umfangreiche Archivalien, Manuskripte zu Vorträgen über ihr Werk, über verschiedene Projekte, zu diversen Reisen, Radiovorträge und auch Schriften zu politischen Themen – etwa zur Widerstandsbewegung, sowie audiovisuelle Aufnahmen. 8
Zu diesem Bestand gehört auch ein Typoskript, in dem die Architektin fasziniert eine 1956 von ihr durchgeführte Chinareise beschreibt. Umfangreiches Fotomaterial, das Schütte-Lihotzky teils in China sammelte, teils selbst fotografierte, ergänzt den Text, dem heute angesichts des allgegenwärtigen Themas China ganz neue architekturgeschichtliche und kulturhistorische Bedeutung zukommt. Zugleich gibt der Text auch Einblick in Schütte-Lihotzkys optimistische Sicht auf das China der Fünfzigerjahre – die Sicht einer Architektin, die von der weltverbessernden Wirkung des Kommunismus überzeugt war. Die Idee zu einer Publikation dieser Materialien ist der transdisziplinär tätigen Forscherin Karin Zogmayer zu verdanken (sie ist u. a. eine Expertin für das Werk von Elias Canetti), die schon den Band „Warum ich Architektin wurde“ im Auftrag der Universität für angewandte Kunst edierte. Die Sammlungen der Universität für angewandte Kunst, die 1981 durch den damaligen Rektor Oswald Oberhuber begründet wurden und bis 2004 durch Erika Patka stetig aufgebaut wurden, bilden das kulturelle Gedächtnis unserer Universität und tragen wesentlich zu ihrer Identitätsbildung bei. Unter dem heutigen Rektor Gerald Bast sehen die Sammlungen ihre Aufgabe vor allem darin, das Schaffen der an dieser Institution Studierenden und Lehrenden zu dokumentieren und für die Forschung zu erschließen. Forschungsaufträge, Publikationen, Ausstellungskooperationen, der Ausbau der digitalen Datenbank, die Einbindung in die Lehre sind Aufgaben, die zur Funktion der Sammlungen innerhalb der Universität gehören.4 Mein Dank gilt Frau Dorothea Stransky, der Eigentümerin der Urheberrechte, für eine weitere erfreuliche Kooperation im Sinne der Veröffentlichung von Schütte-Lihotzkys Werk; der Herausgeberin Karin Zogmayer und dem Architekten und vielfach in China 9
tätigen Stadtplaner Albert Speer für seinen Beitrag; dem SpringerVerlag, insbesondere David Marold für die umsichtige Betreuung der Publikation und die ansprechende Ausstattung des Bandes; und nicht zuletzt meinen Mitarbeiterinnen Silvia Herkt und Elke Handel, zu deren vielfältigen Aufgaben auch die Recherche unserer Forschungsmaterialien zählt.
Patrick Werkner, Leiter der Sammlungen Universität für angewandte Kunst Wien, Wien 2007
1
Margarete Schütte-Lihotzky, Warum ich Architektin wurde. Hg. Karin Zogmayer im Auftrag der Universität für angewandte Kunst Wien. Salzburg 2004, S. 13. 2 www.frauensichtbarmachen.at/005/Frauenlebensbilder?id=7 (Abfrage vom 30.3.2007). 3 Ausstellung über Schütte-Lihotzky in der Galerie Göttlicher in Krems 2004; Wanderausstellung „Die Neuen kommen! Weibliche Avantgarde in der Architektur der 20er Jahre“ (gezeigt in Dessau, Hannover, München und Itzehoe 2005/06), worin Schütte-Lihotzky prominent vertreten war (Katalog von Ute Maasberg und Regina Prinz). 4 Siehe: www.uni-ak.ac.at/sammlung/ 10
Vorwort der Herausgeberin
Die weitgereiste Architektin
Die 1897 in Wien geborene Margarete Schütte-Lihotzky bereiste die Welt wie wenige Menschen ihrer Generation. Ihre Offenheit, ihr umfassendes Interesse und ihr selbstverständlicher Umgang mit fremden Kulturen machten einen entscheidenden Aspekt ihres lebensbejahenden Wesens aus. Gleich im Anschluss an ihre Studienzeit an der Wiener Kunstgewerbeschule, wo sie als erste Frau das Architekturstudium abschließt, verlässt Margarete Lihotzky ein erstes Mal ihr Heimatland. Als Betreuerin eines Kindertransports reist sie im Dezember 1919 für ein halbes Jahr ins vom Krieg verschont gebliebene Holland, das damals Hunderte von hungernden Kindern aus Wien aufnimmt. Vormittags erteilt sie den Kindern Zeichenunterricht, am Nachmittag erarbeitet sie in einem Rotterdamer Architekturbüro selbstständig Entwürfe für Einfamilien-Reihenhäuser, der damals dort üblichen Wohnweise. Zurück im „Roten Wien“ wird Lihotzky in der Siedlerbewegung tätig, unter anderem als Mitarbeiterin von Adolf Loos, dem nicht zuletzt auch der Auslandsaufenthalt der jungen Architektin imponierte, wie sie selbst in ihren autobiografischen Erinnerungen „Warum ich Architektin wurde“ beschreibt:
11
„In etwas naiver und höchst begeisterter Weise bewunderte er angelsächsische Wohnformen, denen die holländischen fast gleich waren. Ständig hielt er den Österreichern diese Wohnformen als Vorbild vor Augen. Ich bin sicher, dass bei seiner raschen Zusage, ich solle mit ihm für die Siedlungen arbeiten, meine Tätigkeit in Holland eine Rolle spielte.“ Knapp sechsundzwanzig Jahre alt kommt Margarete Lihotzky zu ihrem ersten Gemeindeauftrag. Gemeinsam mit sieben berühmten Architekten jener Zeit, neben Loos unter anderem Josef Hoffmann, Josef Frank und Peter Behrens, plant sie einen großen Wohnkomplex, den Winarsky-Hof in Wien-Brigittenau. In diese Zeit fällt auch ihre erste Begegnung mit Ernst May, den sie, da Loos keine Zeit dafür hat, durch die Wiener Siedlungen und auch in ihr Atelier in der Hofburg führt. In ihrem hoch über den Bäumen des Burggartens gelegenen Arbeitsraum entdeckt May eine Vielzahl an theoretischen Studien und Zeichnungen zum Thema Wohnbau und rationelle Haushaltsführung. Sofort beauftragt er Lihotzky, einen Artikel für seine Zeitschrift „Das schlesische Heim“ zu schreiben, der in der Theorie vorwegnimmt, was sie fünf Jahre später in Frankfurt verwirklichen sollte. Denn als May 1925 Stadtbaurat von Frankfurt am Main wird, greift er gleich zum Telefon, um die junge Wiener Architektin einzuladen, für ihn zu arbeiten. Sie überlegt nicht lange und sagt zu, nennt ihre Gehaltsvorstellung und erhält das Doppelte. Wieder war Lihotzky in einen Brennpunkt des Wohnungs- und Städtebaus geraten, der als Neues Frankfurt in die Geschichte eingehen sollte. Die von ihr entwickelte und in über zehntausend Wohnungen eingebaute Frankfurter Küche trug nicht nur dazu ihren Teil bei. Bis heute untrennbar mit dem Namen Schütte-Lihotzky 12
verbunden, ist sie wesentlich für den hohen Bekanntheitsgrad der Architektin verantwortlich. Bis ins hohe Alter hat Schütte-Lihotzky die Rezeption der Frankfurter Küche verfolgt, so zeugen etwa einige ihrer an den Rand von Zeitungsartikeln gekritzelten Kommentare von ihrem ambivalenten Verhältnis zu der Tatsache, dass sie ausgerechnet mit der Konzeption und Gestaltung einer Küche identifiziert wird. In ihren autobiografischen Erinnerungen schreibt die betagte Schütte-Lihotzky im Kapitel zur Frankfurter Küche: „Es kam den damaligen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Vorstellungen entgegen, dass die Frau im Wesentlichen am häuslichen Herd arbeitet. Deshalb wisse auch eine Frau als Architekt am besten, was für das Kochen wichtig sei. Das machte sich eben damals propagandistisch gut. Aber, um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich habe bis zur Schaffung der Frankfurter Küche nie einen Haushalt geführt, nie gekocht (...).“ 1927 heiratet Grete Lihotzky, deren Familie väterlicherseits ursprünglich aus Czernowitz kam, ihren Architektenkollegen Wilhelm Schütte und erhält so ihren charakteristischen (Doppel-) Namen. Als Schütte-Lihotzky drei Jahre später von Ernst May gefragt wird, ob sie ihn und eine Gruppe Mitarbeiter für die Planung der neuen Arbeiter-Wohnstädte der sowjetischen Schwerindustrie nach Moskau begleiten wolle, sagt sie erneut sofort zu – unter zwei Bedingungen. Dass erstens ihr Mann mitkomme und sie zweitens keine Küchen mehr planen müsse. Wieder bricht Schütte-Lihotzky in eine völlig neue Welt auf. Von nun an spezialisiert sie sich auf den Bau von Kinderanstalten, während ihr Mann seinen Arbeitsschwerpunkt auf Schulbauten legt. 13
In diesen Jahren lernt sie nicht nur weite Teile der damaligen Sowjetunion kennen, Besichtigungs- und Dienstreisen führen sie unter anderem in den Kaukasus, nach Magnitogorsk und Briansk, nach Armenien und bis in die Türkei. Auch die erste Reise nach China und Japan unternimmt Schütte-Lihotzky von Moskau aus. Während des sieben Jahre währenden Aufenthalts in der damaligen Sowjetunion geht sie dem Westen aber nicht gänzlich verloren. Auf Einladung von Josef Frank plant Schütte-Lihotzky zwei Einfamilienhäuser der Wiener Werkbundsiedlung und auf der Weltausstellung 1933 in Chicago werden Pläne und Fotos ihrer Arbeiten gezeigt. Als ihre Pässe ablaufen und sich das politische Klima schließlich verschärft, verlässt das Architektenpaar im Jahr 1937 Moskau und reist mit Zwischenstopps in Odessa, Istanbul, Athen und Triest nach Frankreich. Ein Jahr leben sie in Paris, bis sie sich nach einem kurzen Aufenthalt in London schließlich in Istanbul niederlassen, wo sie beide an der dem Erziehungsministerium unterstehenden Académie des Beaux Arts tätig werden. Kurz nach ihrer Ankunft stirbt Bruno Taut, der ihnen diese Arbeit vermittelt hatte. SchütteLihotzky gehört in der Türkei bald zum engeren Kreis um den Architekten Herbert Eichholzer, der an der Wiederherstellung der Auslands-Verbindungen des kommunistischen Widerstands gegen den Nationalsozialismus in Österreich arbeitet. Ihre Reise nach Wien im Dezember 1940 führt die Widerstandsaktivistin nicht nur nach langer Zeit wieder zurück in ihre Heimatstadt, sondern aufgrund ihrer Verhaftung durch die Gestapo und der anschließenden Verurteilung zu fünfzehn Jahren Haft auch ins Gefängnis. Die Befreiung aus dem bayrischen Zuchthaus Aichach erfolgt mit Kriegsende im April 1945.
14
Danach verbringt sie einige Zeit zur Erholung in Tirol, bis sie sich schließlich wieder in Wien niederlässt, wo sie, unterbrochen von mehrmonatigen Auslandsaufenthalten, von nun an leben wird. Bereits 1946 zieht sie als Mitarbeiterin am Stadtbauamt Sofia für neun Monate nach Bulgarien. Fünf Jahre später besichtigt sie Kuba ein erstes Mal, 1963 bleibt sie für drei Monate im Land, um für das kubanische Erziehungsministerium zu arbeiten. Ihr letzter längerer Aufenthalt im Ausland fällt ins Jahr 1966, wo sie sich für ein halbes Jahr in Ostberlin zur Arbeit an der Bauakademie niederlässt. Konferenzen, Vortragsreisen, mit fortgeschrittenem Alter auch die Entgegennahme von Ehrungen und ebenso regelmäßige private Reisen führen auch noch die hochbetagte Schütte-Lihotzky in verschiedene europäische Städte, immer wieder nach Italien, nach Rom, Florenz und bis zuletzt einmal jährlich nach Venedig.
Reise nach China und Japan 1934
Margarete Schütte-Lihotzky bereiste China zweimal. Das erste Mal bereits 1934, als sie eine mehrwöchige Vortragsreise, die sie gemeinsam mit ihrem Mann unternahm, nicht nur nach Japan, sondern auch durch China führt. Auf diese erste Reise begibt sich das Ehepaar von Moskau aus mit der transsibirischen Eisenbahn, neun Tage und neun Nächte sind sie für die etwas mehr als neuntausend Kilometer bis Wladiwostok unterwegs. Schütte-Lihotzky erzählt in einem nachgelassenen Manuskript von dieser Fahrt und ihren ersten Eindrücken von Asien: 15
„Man hat genug Zeit, die Sorglosigkeit des Reisens voll zu empfinden, wenn man an nichts anderes zu denken braucht und lediglich durch das Fenster auf weite Ebenen und verschneite Wälder oder auf kleine Stationen blickt, auf Flüsschen und Bäche, auf Stationsvorsteher mit roten Mützen, auf Telegraphenstangen oder auf Schlitten mit Iswoschtschiki – einem alten Kutscher mit Pelzmütze und vereistem Bart. So sah das damals noch aus! Und das tage- und nächtelang, – damit wird die ungeheure Größe dieses Landes erst so richtig spürbar und bewusst. Erst hinter dem zugefrorenen Baikalsee (wir fuhren Ende April), änderte sich das Bild. Es erscheinen große Flächen bedeckt mit den kleinen, mandschurischen Eichen, man überquert die riesigen sibirischen Flüsse und die Sonne erscheint bei ihrem Aufgang schon als eine große rote Scheibe, wie sie die Japaner auf ihrer Fahne als Symbol zeigen.“ Anekdotisch schildert sie das nahende Ende der Zugfahrt: „Etwa alle 24 Stunden hält der Zug in einer großen Stadt und in der letzten, in Tscheljabinsk – das war einen Tag vor der Ankunft in Wladiwostok – sagen schon alle: Jetzt aber müssen wir packen, jetzt kommen wir ja bald an. Abschiedsfeier im Zug, – Tanzen im Gang zu den Klängen eines Grammophons, das irgendjemand mit sich führte, – man war wie in einem fahrenden Hotel, in dem die Gäste 9 Tage beisammen waren.“ Drei Tage bleiben Schütte-Lihotzky und ihr Mann in Wladiwostok, weitere drei Tage verbringen sie im Anschluss daran auf einem kleinen japanischen Schiff, das sie mit zwei Zwischenstopps im damals noch ungeteilten Korea schließlich an die japanische Westküste bringt. 16
In der kleinen japanischen Hafenstadt, in der sie anlegen, besuchen die Schüttes auch zum ersten Mal ein japanisches Teehaus. Wilhelm Schütte wird in seinem Reisetagebuch noch einige Bemerkungen über die damals für Europäer so fremde (Grün-)Teekultur der Chinesen und Japaner, deren Unterschiede sowie seine eigenen Präferenzen, festhalten. Über die Bahnfahrt von der Küste nach Kioto schreibt SchütteLihotzky: „Bergige Landschaft, – japanische Föhren kriechen die Bergkämme hinauf und hinunter. Wieso man sie immer nur, wie auf den Bildern, in der bizarren Silhouette sieht, ist mir unerklärlich.“ In Kioto wird das Ehepaar von seinen Freunden Bruno und Erica Taut erwartet, die zu dieser Zeit Deutschland bereits verlassen hatten und in Japan Exil fanden. Mit ihnen verbringen sie zwei gemeinsame Wochen, als Gäste im Haus eines wohlhabenden Japaners. Bruno Taut, der sich in mehreren Publikationen mit der japanischen Architektur, vor allem dem Wohnhaus, beschäftigt hat, bringt ihnen die alten Bautraditionen näher und Schütte-Lihotzky gibt sich begeistert von den Häusern aus Holz und Papier, vom weichen, schönen Licht im Inneren und von den Einheitsmaßen, die nicht wie bei uns in „abstrakt-theoretischen“ Metern, sondern in „Matten“ gerechnet werden. In ihren Aufzeichnungen notiert sie: „Wenn ein Haus damals in Japan vermietet oder verkauft wurde, stand in der Zeitungsanzeige beispielsweise: Haus zu 17
verkaufen, mit einem Zimmer, 2 Matten lang und 4 Matten breit usf. (...) Diese ganz konsequent durchgeführten Maßeinheiten, und zwar in allen drei Dimensionen, erzeugen eine Harmonie, die für uns kaum vorstellbar ist.“ Schütte-Lihotzky fasst für sich selbst die zwei wesentlichen Charakteristika der japanischen Architektur zusammen. Zum einen das Fehlen jeder Symmetrie, das ihre Architektur „so angenehm unfeierlich“ mache, und zum anderen die sorgfältige Gestaltung der Natur, die ein Bauwerk umgibt und die dadurch geschaffene fließende Verbindung zwischen Haus und Natur, die ihr als eine Forderung ihres Lehrers Oskar Strnad bereits vertraut war. „Die Natur gilt in Japan als ein vom Menschen geschaffenes Kunstwerk. Deshalb ist die Umgebung des Hauses völlig vom Menschen gestaltet, bis zum Tröpfeln eines Wasserstrahls im Gartenhof, mit dessen Tönen komponiert wird, wie bei einer Komposition für Geige.“ Durch die japanische Binnensee ging es bei dieser Reise Mitte der Dreißigerjahre schließlich über Nagasaki nach Shanghai, wo Schütte-Lihotzky ein erstes Mal chinesischen Boden betritt. In der Folge besucht das Ehepaar die Städte Nanking, Peking, Hankou und Hangtschou. Anlass für diese erste Reise nach China ist eine offizielle Einladung, die auf einen in Berlin geschlossenen Kontakt Wilhelm Schüttes mit einer Delegation von chinesischen Pädagogen zurückgeht. Die Mitglieder der Delegation hatten Kindergärten und Schulen des Architektenpaares in der Sowjetunion besichtigt, woraufhin die beiden eingeladen wurden, in Nanking zu arbeiten. Dieses Angebot schlagen die Schüttes zwar aus, sie antworten aber mit 18
einem Gegenvorschlag, auf den man sich schließlich auch einigt: Das Architektenpaar begibt sich also auf eine Vortragsreise durch China und Schütte-Lihotzky erarbeitet ihre „Richtlinien für den Bau von Kindergärten und -krippen in China“, die allerdings nie umgesetzt werden. Mehr als zwanzig bewegte Jahre später bereist Margarete Schütte-Lihotzky dieses Land ein zweites Mal, erneut einer offiziellen Einladung aus China folgend. Dazwischen liegen unter anderem die viereinhalb Jahre Haft als politische Gefangene, unterschiedliche gestalterische Arbeiten, Ausstellungsbeteiligungen und Vorträge nach Kriegsende und auch die Trennung von Wilhelm Schütte.
Reise nach China 1956
Ihre zweite ausgedehnte Chinareise, die Gegenstand dieses Buches ist, unternimmt Schütte-Lihotzky als Mitglied einer österreichischen Studiengruppe. Zu dieser Reise hatte die Chinesische Gesellschaft für kulturelle Beziehungen mit dem Ausland eingeladen. Das ausdrückliche Ziel der Reise bestand darin, die europäischen Gäste mit der chinesischen Kultur und deren Einrichtungen vertraut zu machen und dadurch das gegenseitige Verständnis der beiden Staaten zu fördern. Schütte-Lihotzky bezeichnet es als Glück und Ehre, Mitglied dieser achtköpfigen Reisegruppe zu sein, zu der außer ihr zwei Zoologen (Eduard Tratz und Wilhelm Marinelli in Begleitung seiner Frau Martha), ein Geograph (Gustav Stratil-Sauer), ein Nationalökonom (Hans Bayer), ein Kunsthistoriker und Chinaspezialist (Viktor Griessmaier) und der Maler Sergius Pauser gehören. 19
Die Reise erstreckt sich über den Zeitraum vom 4. September bis zum 17. Oktober 1956, wobei der Aufenthalt in China selbst vom 8. September bis zum 13. Oktober, also genau fünf Wochen dauert, eingerahmt von mehrtägigen Aufenthalten in Moskau. In ihrem Reisetagebuch hält Schütte-Lihotzky die Zwischenstopps sowie die Flugdauer von Hin- und Rückreise fest: Da ging es von Wien nach Budapest, über Lemberg und Kiew schließlich nach Moskau. Weiter nach Kasan, Swerdlowsk, Omsk, Nowosibirsk, Krassnojarsk, Irkutsk, über die Wüste Gobi, bis die Reisegruppe schließlich – nach rund 32 Stunden Flugzeit – in Peking ihr vorläufiges Ziel erreicht. Die Tatsache, dass es sich um eine Flugreise handelt, scheint auch für die weitgereiste Grete Schütte-Lihotzky aufregend und neu zu sein, so hält sie in ihrem Reisetagebuch etwa diverse Flughöhen und andere Daten fest und notiert an einer Stelle, dass sie „etwas“ gegen „Flugkrankheit“ einnehme. Später schreibt sie jedoch, sie spüre gar nichts am Herzen und müsse, obwohl ihr ihre Ärztin „eine ganze Apotheke“ mitgegeben habe, nichts davon nehmen. Die Bezeichnung „Flugbahnhof“, ein weiteres Indiz dafür, dass ihr das Verkehrsmittel Flugzeug noch relativ fremd zu sein scheint, zieht sich beharrlich durch alle Beschreibungen, wie etwa die folgenden, in denen sie auf die Architektur eingeht: „Der Flugbahnhof Schwechat ist primitiv und provinzialistisch-spiessig. Pauser und ich äußern das auch beim Würstelessen dort. (...) Nach 45 Minuten Flugzeit landen wir in Budapest. Flugbahnhof neu aber unfertig, moderne Architektur im Grundriss recht gut (...) aber etwas plump gebaut.“
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Als sie die innere Mongolei überfliegen, kann Schütte-Lihotzky bereits wahrnehmen, was sie später in ihrem Manuskript „Millionenstädte Chinas“ als für China charakteristisch ausführen wird, nämlich, dass jedes Grundstück, jeder einzelne Hof, ummauert ist. In gespannter Erwartung, endlich auch die große Chinesische Mauer zu sehen, „schreit“ sie der eigenen Erzählung nach schließlich auf, als sie diese entdeckt. Ihr Reisegefährte Eduard Tratz eilt sogleich an ihre Seite und wird dabei, da die zweimotorige chinesische Maschine sehr unruhig fliegt, gegen einen Sitz geschleudert und bricht sich eine Rippe, „was ihn aber gar nicht daran hindert, dieses Riesenbauwerk zu bewundern“. Nach einer langen und turbulenten Reise in Peking angekommen, nimmt Schütte-Lihotzky sogleich die ersten Veränderungen seit ihrem letzten Besuch in dieser Stadt wahr: „Aber es ist nicht mehr so, wie damals, als ich vor 22 Jahren hier war, wo man am Tor seine Visitenkarte abgeben musste, um in die Stadt zu kommen. Man fährt überhaupt nicht mehr durch die Tore, die verschlossen sind, sondern neben den Toren ist die Mauer durchbrochen, mit zwei flachen Schrägen abgeschrägt und der Verkehr flutet durch eine breite Öffnung in der Mauer hindurch. Und obwohl mehr als zwei Jahrzehnte seit ihrem letzten Besuch vergangen sind, weiß sie sich sogleich wieder in der Stadt zu orientieren, was sie auch auf die Klarheit des Stadtplans zurückführt. Peking, als typische chinesische Stadt, komme ohne „das verwirrende Zentrum der mittelalterlichen Stadtkerne der europäischen Städte mit ihren winkeligen Gassen“ aus. Wie auch später in ihrem Manuskript weist Schütte-Lihotzky schon in ihrem Reisetagebuch 21
auf die für alle chinesischen Städte charakteristische Nord-SüdAnlage hin, die auch jedem Fremden eine einfache Orientierung in einer auch noch so großen Stadt ermöglichte. Das Hotel, in dem die Gruppe in Peking untergebracht ist und das sich auch auf zwei Fotos festgehalten findet, beschreibt SchütteLihotzky als vornehm, im europäischen Sinne modern gebaut und gleichzeitig doch unverkennbar chinesisch: „(...) auch wenn man hier kein chinesisches Gesicht und keine chinesische Aufschrift sehen würde, man wüsste doch genau, dass man in China ist. Alle Details sind eben chinesisch, Stiegengeländer, Farben, Bilder, Teppiche (...).“ Schütte-Lihotzky fühlt sich wohl: „Unsere Zimmer im 3. Stock liegen alle nebeneinander, ich bekomme ein besonders hübsches, mit einem Wasch- und Ankleideraum und eigenem WC, Bad gegenüber dem Zimmer, sehr geschmackvoll eingerichtet, hellgelbe einfarbige Wand, grüner Teppich und grüne Möbelbezüge, keine nüchternen Hotelmöbel und doch auch kein ‚Pflanz‘; quadratische Proportion des Raums, nicht sehr hoch, ich fühle mich gleich gemütlich und bewundere die intelligente Fensterkonstruktion, Eisenfenster, außen Glas, innen Moskitodraht, gescheit ausgedachte verkröpfte Fensterbänder aus Messing und Messingstangen zum Verstellen des äußeren Glasfensters.“ Respekt und Interesse an der Kultur ihrer Gastgeber zeigen die Reiseteilnehmer etwa auch beim Essen: Keiner von ihnen rührt das Besteck an, das sie alle an ihren Plätzen finden, die ganze Gruppe 22
isst mit Stäbchen. Als ehemalige Strnad-Schülerin war SchütteLihotzky damit vertraut, die Form von Alltagsgegenständen, wie etwa jene der verschiedenen Trinkgläser, aus ihrer Funktion zu begründen. So findet sie sich auch gleich am chinesischen Esstisch zurecht: „Wir essen an zwei runden Tischen (in China isst man nur an runden Tischen, damit alle gleich weit zu den Schüsseln haben, das hängt mit der Art des Essens zusammen).“ In einem ihrer Vorträge, die die Architektin im Anschluss an die Reise hält, vertieft sie ihre Aufmerksamkeit rund um das chinesische Essen und beschreibt die Chinesen als außerordentliche Feinschmecker, was wohl mit ein Grund dafür sein könnte, dass sie, im Unterschied zu uns Europäern, kein Metall in den Mund nehmen. Die Stäbchen, mit denen sie essen, sind aus Elfenbein, Holz oder die billigsten aus Bambus. Dass alles Essen zerkleinert werde und man nichts mehr wiedererkenne, hänge mit der Art des Essbestecks zusammen, es leite sich davon ab. Schütte-Lihotzky ist beeindruckt von der chinesischen Gesellschaft und deren Leistungen, beinahe überschwänglich beschreibt sie, was ihr in diesem fernen Land vorgeführt wird: „Überall sahen wir Bienenfleiß, Geduld, Ausdauer, Konzentration bei der Arbeit, Pünktlichkeit und eine unvorstellbare Sauberkeit auch in den primitivsten Verhältnissen – und vor allem Überzeugungskraft gepaart mit einer außerordentlichen Bescheidenheit.“ Mit großer Ehrlichkeit würden auch die Mängel, etwa was die Wohnungsnot in Shanghai betrifft, zugegeben. Sie als Ausländer 23
hätte man sogar dort hingeführt und auf die ungeheuren Aufgaben und Probleme, die zu bewältigen sind, aufmerksam gemacht. Schütte-Lihotzky wird auch nicht müde, immer wieder die Organisation der Reise als vorbildlich herauszustreichen und ihre ausgesprochen wohlwollende Sicht auf China mitzuteilen. Es finden sich keinerlei kritische Äußerungen über den von der Kommunistischen Partei Chinas geführten autoritären Staat. Zum Thema Geburtenkontrolle schreibt sie ohne jeden weiteren Kommentar, dass man ihr versichert habe, die Frauen selbst würden heute nicht mehr so viele Kinder haben wollen. Im Anschluss an den ersten, neun Tage währenden Aufenthalt in Peking besucht die Gruppe im weiteren für zwei Tage Nanking, danach bleiben sie fünf Tage in Shanghai, drei Tage in Hangtschou, drei Tage in Hankou und abschließend noch einmal knappe zwei Wochen in Peking, wo Schütte-Lihotzky dann auch ihren Vortrag über das Bauen in Österreich in der „Bauhochschule von Peking“ hält. Wie auch in Peking, so wurde die Gruppe auch in Nanking, das als „Stadt der Bildung und Erziehung“ bezeichnet wird, mit dem chinesischen Studium der Architektur vertraut gemacht. Vor allem die Forschungsabteilung für alte Bauten, in der sich die Studenten mit großer Sorgfalt den Bautraditionen ihres Landes widmen, hebt Schütte-Lihotzky, für die Bauen immer Bauen für die Zukunft bedeutet, gesondert hervor. Shanghai wird der „Charakter der vollkommenen Charakterlosigkeit“ zugeschrieben. Hier gäbe es ganze Straßenteile, wo man glauben könnte, in England, Frankreich oder Holland zu sein. An dieser Stelle besinnt sie sich auch das einzige Mal in ihren „Millionenstädten Chinas“ auf ihre erste Reise, die sie an diesen Ort führte: Der „unbeschreibliche Luxus“, dem sie damals in den Dreißiger24
jahren in Shanghai begegneten, ein „Luxus, wie man ihn damals in Europa kaum finden konnte“, sei mittlerweile verschwunden. In Wuhan schließlich werden sie zu einem großen Brückenbauprojekt geführt: die erste Brücke, die über den Jangtse, der an dieser Stelle über einen Kilometer breit ist, führt und damit die erste geschlossene Landverbindung von Nord- nach Südchina darstellt. Wieder in Wien berichtet Schütte-Lihotzky in mehr als einem Dutzend Lichtbildervorträgen von dieser Reise, wobei sie meistens ein Hauptaugenmerk auf die bauliche Situation und die Stadtplanungen des Landes wirft sowie auf das Architekturstudium. Immer wieder beleuchtet sie auch historische Hintergründe, widmet sich sozialen Fragen oder sie kommt auf konkrete Themen wie etwa die Situation der Frauen in China, das Verhältnis zur Religion, den Analphabetismus und die Lernbegierigkeit von alten Menschen zu sprechen. Diese kurze Vorstellung der China-Reise, die diesem Manuskript zugrunde liegt, wäre unvollständig, würde nicht auch der politische Aspekt, der dabei eine wesentliche Rolle spielt, angesprochen werden. Es ist bekannt, dass Grete Schütte-Lihotzky nach den Vorfällen um den Justizpalastbrand im Juli 1927 aus der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei austrat, deren Mitglied sie seit 1923 gewesen war. Noch bekannter ist, dass sie 1939 in die Kommunistische Partei Österreichs eingetreten ist und bis zu ihrem Tod im Jänner 2000 voller Überzeugung deren Mitglied blieb. Rassismus und Antisemitismus verurteilte Schütte-Lihotzky stets als unmenschliche Überheblichkeit, sie sehnte sich leidenschaftlich nach Frieden und kam zu der festen Überzeugung, dass der Kommunismus den richtigen Weg dorthin vorgebe. Auch hier argumentiert sie in ihrer rational-naiven Art: die sozialdemokratische Gemeindeverwaltung Wiens hätte das schlimmste 25
Wohnungselend zwischen den Weltkriegen zwar gemildert, Reformen umgesetzt, das Problem aber nicht gelöst. Im kapitalistischen Wirtschaftssystem sei es nicht möglich, die für die Volksgesundheit entscheidenden städtebaulichen Impulse zu setzen, dies bedürfe der Nationalisierung von Grund und Boden, wie es Schütte-Lihotzky in der Sowjetunion und China verwirklicht sah. Es ist naheliegend, dass Schütte-Lihotzky ihren Parteigenossen von ihrer Reise nach China Bericht erstattete. Durchschläge ihres Reiseberichts und der Charakteristiken der einzelnen Reiseteilnehmer hat sie aufbewahrt, sie sind in ihrem Nachlass zugänglich. In der für Schütte-Lihotzky typischen Direktheit berichtet sie in den Personenbeschreibungen über politische und berufliche Vergangenheit und Gegenwart ihrer Mitreisenden und stellt Vermutungen an, was diese zu Hause über China erzählen würden und ob bzw. wie sie für die Interessen der kommunistischen Partei zu gewinnen wären. In diesen Charakteristiken schreibt Schütte-Lihotzky über Menschen, mit denen sie während einer ausgedehnten Reise in freundschaftlichem Kontakt stand. Nicht der belanglose Inhalt dieser Schriftstücke, der auch gegen deren Veröffentlichung spricht, sondern die Tatsache, dass Schütte-Lihotzky ihrer Partei berichtet, was ihr in persönlichen Gesprächen anvertraut und erzählt wurde, hat mich irritiert. Sie hat mir gezeigt, wie selbstverständlich wir in unserem Eifer, eine bessere Welt zu schaffen, zu fragwürdigen Mitteln greifen und die Wirklichkeit dabei aus den Augen verlieren. Ähnlich, wie sie ihre Reisebegleiter für ihre politischen Vorstellungen instrumentalisieren wollte, passiert es uns heute mitunter, dass wir Grete Schütte-Lihotzky, wenn wir sie etwa als Heldin stilisieren, als Projektionsfläche für unsere eigenen moralischen Wertvorstellungen benutzen.
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Millionenstädte Chinas
Schütte-Lihotzky hat die Menschheit als eine Familie angesehen und den Städtebau als eine Aufgabe, dem Wohle der Allgemeinheit zu dienen. Ihre Auseinandersetzung mit den Millionenstädten Chinas ist eingebettet in ein groß angelegtes Publikationsprojekt mit dem Arbeitstitel „Besseres Leben durch Städtebau“, das allerdings über die Sammlung von Materialien, handschriftliche Skizzen und einige überarbeitete Typoskriptseiten nicht hinauskam. „Millionenstädte Chinas“ ist eines der drei fertig gestellten Buchmanuskripte von Schütte-Lihotzky. Ihre „Erinnerungen aus dem Widerstand“ waren das einzige eigene Buch, dessen Erscheinen sie, die nach eigener Aussage sehr ungern schrieb und immer nur bauen wollte, erlebte. Die beiden anderen Manuskripte gingen unveröffentlicht in ihren Nachlass ein. Ihre autobiografischen Erinnerungen an die Studienzeit und die ersten Abschnitte ihres Berufslebens, die sich an eine breite Leserschaft richten, sind 2004 postum unter dem Titel „Warum ich Architektin wurde“ erschienen. Mit der Publikation „Millionenstädte Chinas“ wird also nicht nur ein kulturhistorisches Dokument zu einer aktuellen Thematik vorgestellt, sondern auch der schönen Aufgabe nachgegangen, einen Text seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen: gelesen zu werden.
Karin Zogmayer, Wien 2007
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Foto- und Planmaterial stammen aus dem Nachlass SchütteLihotzky. Auch die Bildlegenden wurden von Schütte-Lihotzky selbst verfasst.
Margarete Schütte-Lihotzky Millionenstädte Chinas Bilder- und Reisetagebuch einer Architektin ()
Chinareise 1934
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Dieses kleine Buch soll dazu dienen, die Probleme beim Aufbau chinesischer Städte aufzuzeigen, wie sie sich aus der großen baulichen Vergangenheit Chinas, aus der Gegenwart und aus den weiten Perspektiven für die Zukunft ergeben. Es soll schildern, wie ein europäischer Architekt, der einige chinesische Städte in wenigen Wochen bereiste, diese Probleme sieht. Es gibt umfangreiche und bedeutende Arbeiten von Kunsthistorikern über chinesische Architektur in der europäischen Fachliteratur. Aber es gibt bis jetzt kaum irgendwelche Arbeiten, die vom Standpunkt des Architekten und Städtebauers, der heute seine Entscheidungen über die weitere Entwicklung der Großstädte fällen muss, geschrieben sind. Arbeiten, welche die Stadtanlagen und die Wohnweise der Chinesen im Zusammenhang mit den derzeitigen sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten beleuchten, im Zusammenhang mit den so rasch fortschreitenden Veränderungen im gesellschaftlichen Leben, im Leben der Frauen und im Familienleben ebenso wie im Zusammenhang mit der großen Industrialisierung, kurz mit dem heutigen Aufbau des Landes. Gerade dies aber ist notwendig, will man über die städtebaulichen Aufgaben einen auch nur kurzen Überblick bekommen und zwar so, dass dieser Überblick auch für unsere Arbeit in Europa anregend und befruchtend sein kann. Dieses Buch soll nur ein kleiner Anfang dazu sein, es kann keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erheben, es will vielmehr nur als eine Art Bilder- und Reisetagebuch eines Architekten aufgefasst sein, mit dem Ziel, die große asiatische Welt und die gesellschaftlichen Veränderungen in China, wie sie sich in Architektur und Städtebau widerspiegeln, dem Europäer näherzubringen. Es will und kann nur ein kleines Beispiel dafür sein, wie sich Europäer und Asiaten, aus zwei so völlig verschiedenen Welten kommend, auf Grund von fachlichen, wissenschaftlichen und künstlerischen Auseinandersetzungen näherkommen und voneinander lernen können. 33
Die heutigen Bauprobleme in China sind ungeheuer. Stellen Sie sich vor, ein Land, das von Ost nach West und von Nord nach Süd mehr als viertausend Kilometer misst – also sechsmal so breit ist wie Deutschland von der polnischen Grenze bis zum atlantischen Ozean – das von Nord nach Süd die Entfernung von Flensburg bis nach dem Mittelpunkt der Sahara hat, ein Land, das heute weit über sechshundert Millionen Einwohner zählt, also zehnmal so viel wie Deutschland, ein Land, das außer Chinesen noch über vierzig verschiedene Völkerschaften beherbergt, nationale Minderheiten mit ganz verschiedenen Lebensgewohnheiten, verschiedenen Religionen und auf ganz verschiedener Kulturstufe lebend – ein Land, das ebenso höchste Gebirge wie weite Ebenen und Steppen, Seen und Riesenflüsse, ja sogar Wüsten umfasst (die Höhenlagen der Behausungen erstrecken sich vom Meeresspiegel bis auf zweitausend und dreitausend Meter), das also die verschiedensten Boden- und Klimaverhältnisse aufweist. In einem solchen Lande die derzeit auch nur dringendsten Bauaufgaben zu lösen, das ist auch in einer Planwirtschaft eine unvorstellbar schwierige und umfangreiche Aufgabe. Am Beispiel der vier großen, voneinander in ihrer geographischen Lage, Baugeschichte und heutigen Aufgabenstellung grundverschiedenen Städte Peking, Nanking, Schanghai und Wuhan sollen hier die wichtigsten Aufbaufragen erläutert werden.
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Neue Gebäude in Peking
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Peking Innenstadt. Genau nord-südlich orientiert. Breite Verkehrsstraßen, schmale Wohnstraßen. Im Zentrum des nördlichen Teils liegt der Kaiserpalast, eine Stadt für sich, der seinerseits die „Verbotene Stadt“ umfasst. 1 : 50.000 (aufgenommen 1900-1905)
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Altes Chinesisches Wohnhaus und neue Stadtplanung von Peking
Peking ist eine der schönsten Städte der Erde – Peking ist die größte alte Gartenstadt der Welt – Peking baut heute viele Wohnungen und der Bedarf dafür wächst rapide. Aus diesen drei Tatsachen ergeben sich die speziellen städtebaulichen Probleme dieser einzigartigen Stadt. Jeder europäische Architekt oder Stadtplaner, der sich nach kaum elf Flugstunden mit dem Düsenflugzeug so plötzlich in die traumhaft schöne Pekinger Architekturatmosphäre versetzt fühlt, kann sich kaum von dem Gedanken an die künftige Entwicklung, an die Rekonstruktion dieser Stadt freimachen. Auf Schritt und Tritt wird er daran erinnert und immer wieder drängt sich die Frage auf: Wie muss man es machen, damit an dieser riesigen Gartenstadt mit ihren wunderbaren Silhouetten der Mauern, Tore und geschwungenen Dächern nichts ruiniert wird? Wie muss man es machen, damit diese ganze Schönheit nicht durch Industrialisierung, durch moderne Verkehrsanforderungen und durch die Erstellung der heute notwendig gewordenen Großbauten zerstört wird? Kommt es doch gerade jetzt, wo so viel gebaut wird, darauf an, für welche städtebaulichen Prinzipien man sich bei der weiteren Entwicklung der Stadt entscheidet. Davon hängt es ab, ob diese großartige Stadtanlage für künftige Generationen verdorben wird oder ob aus der alten, architektonisch so traditionsreichen und herrlichen Stadt Peking eines Tages eine ebenso schöne, moderne Stadt werden kann. Die städtebauliche Aufgabe ist von einmaligem Reiz. Sie ist grundsätzlich eine völlig andere als bei unseren europäischen Städten. Die Gegebenheiten der bestehenden Stadtanlage ebenso wie die
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Eines der 16 Stadttore, die höchsten Gebäude der Stadt. Die Mauer ist etwa 13 m hoch.
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heutige Situation des Landes bieten der Stadtplanung von Peking drei große Vorteile gegenüber der Planung unserer alten Städte. Erstens: Es gibt kein mittelalterliches Zentrum mit kleinen, geschwungenen Gässchen und winkeligen Plätzen, das dem Stadtplaner in Europa heute, im Zeitalter der Motorisierung, so unendlich viel zu schaffen macht. Zweitens: Der Grund und Boden ist in den chinesischen Städten nationalisiert (nicht die Häuser), sodass der Städtebauer dort, ungehindert von Einzelinteressen, nur zum Wohle der Allgemeinheit entscheiden kann. Und drittens: Die alten Bauformen und die handwerklichen Traditionen sind heute in China noch so lebendig wie eh und je, zum Unterschied von Europa, wo die Industrialisierung in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in der Kunst so viel zerstört hat, wo die berüchtigte „Gründerzeit“ mit ihrer Bau- und Bodenspekulation die menschenunwürdige Zinskaserne schuf. Diese für den Städtebau so unglückliche Zeit haben die Chinesen übersprungen, das traurige Erbe der Mietskasernenviertel muss nicht mitgeschleppt werden. Unbelastet davon können die Stadtplaner von Peking an die logische Weiterentwicklung ihrer Hauptstadt nach neuzeitlichen städtebaulichen Forderungen und Erfahrungen herangehen. Die alte, herrliche Stadtanlage ist im Wesentlichen nicht zerstört und die neue, große Industrialisierung des Landes vollzieht sich weit außerhalb des Pekinger Gebiets. Wieso kann Peking als eine der schönsten Städte der Erde bezeichnet werden? Peking ist Verwaltungs- und Kulturzentrum dieses Riesenlandes, und wie fast alle andern chinesischen Städte genau in NordSüd-Richtung orientiert. Die Stadt ist durch eine ost-westlich laufende Mauer in zwei Teile geteilt: in die nördliche, die sogenannte 39
„Mandschu-Stadt“, mit dem ehemaligen Kaiserpalast, der „verbotenen Stadt“ in der Mitte, und in die Südstadt, die Chinesenstadt, das ist jener Stadtteil, in den die Chinesen nach der Eroberung durch die Mandschus verdrängt waren. Beide Teile zusammen sind von der großen, zweiunddreißig Kilometer langen Stadtmauer umschlossen. Das Territorium innerhalb der Mauer ist 6.340 ha groß. Sechzehn Tore führten in die Stadt. Heute sind diese Tore verschlossen, die Mauer neben den Toren ist abgeschrägt und so weit aufgerissen, dass der Verkehr durchfluten kann. Die Tore waren, und sie sind es im Wesentlichen auch heute noch, die höchsten Gebäude der Stadt. Auch der Kaiserpalast, heute Museum, der selbst wieder eine ganze Stadt darstellt, ist niedriger als die Tore, jedoch höher als die übrigen Gebäude der Stadt gewesen. Tore, Stadtmauer, Kaiserpalast, Tempel und künstlich geschaffene städtebaulich genau überlegte Hügel mit Pagoden und Pavillonbauten geben der Stadt phantastische Silhouetten. Größe und Ausmaße dieser Silhouetten kann man sich nur vorstellen, wenn man weiß, dass die Pekinger Stadtmauer dreizehn Meter, die Tore bis zu vierzig Meter hoch sind und dass die Mauer oben elf Meter breit ist, damit mehrere Wagen nebeneinander fahren konnten. Und diese Mauer umschließt ebenso die großartigsten alten Baudenkmäler chinesischer Architektur wie die älteste und größte Gartenstadt der Welt. Grundlage für diese Gartenstadt liefert das alte chinesische, erdgeschossige Pavillonwohnhaus, für viele von uns Architekten immer schon Vorbild für das Wohnen in engster Verbindung mit der Natur, fern vom Lärm der Straße. Für jeden Stadtplaner und Architekten ist bei der Schöpfung eines Bauwerks die Beschäftigung mit dem Bauplatz, mit der landschaftlichen Umgebung, das Grundlegende. Aber nirgends spielte die Stellung der Häuser auf dem Bauplatz, ihre Lage zur Himmelsrichtung, zu Sonne, Wind und Wasser eine solche Rolle wie in China. Es gibt 40
Wohnstraße, rechts und links geschlossene Mauern
Pekinger Wohnhausanlage
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darüber eine ganze Lehre, die den Namen „Feng-Shui“ trägt, was wörtlich „Wind-Wasser“ bedeutet. Das zeigt, wie ernst die Verpflichtung des Architekten gegenüber der Natur bei Anlage einer Stadt oder eines Hauses genommen wurde. Bildliche Darstellungen der verschiedensten Bauberatungen finden sich deshalb häufig in alten chinesischen Chroniken. Die Form des chinesischen Wohnhauses, in seiner ursprünglichen Lehmbauart, wird teils vom Höhlenbau, der in der Lössformation bodenständig ist, teils vom runden Jurtenzelt abgeleitet. Die vierekkigen Häuser sind naturgemäß zuerst in den waldreichen Gegenden entstanden, da das unbiegsame Holz zur eckigen Hausform zwingt. Die Berge in Pekings Umgebung waren ursprünglich ganz bewaldet und so entstand dort das eckige Pekinger Wohnhaus. Während breite, fast ausschließlich schnurgerade Verkehrsstraßen die Stadt Peking von Nord nach Süd und von Ost nach West durchziehen und so die gegenüberliegenden Tore miteinander verbinden, werden die Wohnanlagen durch weitaus schmälere Wohnstraßen aufgeschlossen. Diese Straßen sind beiderseitig mit zirka drei Meter hohen Mauern aus grauen Ziegelsteinen, manchmal auch verputzt, eingefasst. Sie sind mit Ziegeln, ähnlich Mönch und Nonne, die der Dachfläche eine starke und schöne Plastik geben, abgedeckt. Auch diese Dachziegel sind meist grau, manchmal aber farbig glasiert. Ursprünglich waren diese Mauern immer fensterlos. Nicht nur die Städte, auch die Wohnanlagen sind genau nordsüdlich orientiert. Der Hauseingang musste immer an der Südostecke des Wohngehöftes liegen. Das bedeutet, dass Ost-West laufende Wohnstraßen nur an der südseitigen Mauer Hauseingänge haben, dass hingegen Nord-Süd laufende Straßen beiderseitig Haustore zeigen. Das bedeutet ferner, dass bei Nord-Süd laufenden Wohnstraßen zwischen Straße und Hauseingang immer ein gassenartiger 42
Eingang in eine alte Wohnhausanlage eines reichen Mannes
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Groß sind die Variationen der Gestaltung der Eingangstore
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Zwischengang eingeschaltet werden muss, damit man an der SüdOstecke des Hauses hineingehen kann. Dieses ursprünglich streng vorgeschriebene System ist in Peking lückenlos durchgeführt. Die Eingänge in den Wohnstraßen haben erhöhte und sehr verschieden ausgebildete Dächer, sodass in der Perspektive anmutige, viel variierte Unterbrechungen der langen Gesimshorizontale entstehen. Die Haustore selbst aber waren die Visitenkarten der Bewohner. Die holzprofilierten Dachgesimse oberhalb der Haustore sind überall starkfarbig gestrichen, was zu den langen grauen Mauerflächen sehr schön kontrastiert. Oberhalb des Eingangs gibt es Schriftzeichen, die zum Beispiel „Eintreten – Glück“ oder „Glück – Segen“ heißen. Treten wir nun über die drei vorschriftsmäßigen Stufen durch das Außentor ins Wohngehöft, so kommen wir zuerst in den teils überdeckten, teils offenen Vorraum. Hier hängt die große, rote lampionartige Laterne. Ihr chinesischer Name heißt auf Deutsch „den Wind ärgern“, da dieser das Licht drinnen nicht ausblasen kann. Von besonderem Reiz ist beim chinesischen Wohnhaus der allmähliche Übergang von den steinernen, von Menschen wimmelnden Straßen, in den eigentlichen Wohnteil, das „Atrium“ des Hauses, in den von Pflanzen umrankten Säulen und Wandelgängen umgebenen ruhigen Wohnhof. Im Vorplatz, hinter dem Haustor, geht man zuerst auf die so genannte „Schattenmauer“ zu, die den Einblick in die Wohnanlage, auch bei geöffnetem Haustor, verhindert. Oleander, Granatbäume und andere Pflanzen in Töpfen stehen vor dieser kleinen Mauer, die das Hauswesen gleich beim Eingang vom Weltgetriebe abschirmt. Vom Vorplatz mit der Schattenmauer geht man links in einen gartenmäßig ausgebildeten Gang. Hier fühlt man sich bereits der Großstadt völlig entrückt. Von da kommt man rechts durch ein Innentor in den Wohnhof, der in wunderbaren Proportionen das Gefühl vollkommener Ruhe und Harmonie gibt. 45
Zwischengang zwischen Schattenmauer und Wohnhof
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Rundherum stehen die erdgeschossigen Wohnpavillons mit den vorgelagerten Terrassen- und Säulengängen. Holzgesimse, Balken und Holzsäulen sind starkfarbig gestrichen. Die Chinesen haben von alters her ganz bestimmte Farbkombinationen mit sehr kräftigen Farben, die beim Bauen genau vorgeschrieben sind, für das moderne Bauen ist das ein schwieriges Problem. So werden zum Beispiel die Tore zur Straße immer rot, die inneren Hoftore immer grün gestrichen. Wie schon Marco Polo berichtet hat, gibt es bei den reich ausgestatteten Gebäuden ein ganz kompliziertes Farbsystem, und zwar so, dass „die farbigen Holzkonstruktionen schon von weitem einen leuchtenden Eindruck machen“. Um diese Tradition nicht abreißen zu lassen, hat man neuerdings auch bei Neubauten versucht, mit denselben Farben zu arbeiten. Aber bei der großformatigen Architektur der heutigen Zeit ist dieses Experiment nicht gelungen, kein Mensch war davon befriedigt. Daraufhin hat man einen großen Neubau innen und außen in feinsten europäischen Farbkombinationen bemalt, creme-grau und gold, mit schönen Naturhölzern verbunden, von guten Architekten mit großem Geschmack abgestimmt und man meinte, das wäre nun das Richtige. Aber weit gefehlt. Seit Generationen an die kräftigen Farbkontraste von Rot, Grün, Blau, Schwarz, Weiß oder Gold beim Holzbau gewöhnt, lehnte das Volk, das in den Häusern leben muss, den Versuch vollkommen ab. Bei den kleinflächigen Erdgeschossbauten sind die alten Farbkombinationen herrlich, aber was soll man bei den großflächigen, modernen Bauten machen? Dies nur eines von den vielen Problemen, wie sie sich aus den alten Traditionen und den neuen Anforderungen ergeben. Die Pavillonbauten der Wohngehöfte sind in Grundriss und Ausmaß, ja sogar in den Details, weitgehend typisiert. Der Hauptpavillon ist immer nach Süden orientiert, die Gartenfront weit geöffnet, die Nordfront fenster- und türlos. Im Mittelraum wurde gewohnt 47
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Wohnanlage an Ost-West-Straße, Maßstab 1 : 250
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Pförtner
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Empfangsraum
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Fremdenzimmer
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Küche
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Bad
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Arbeitsraum
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Schlafraum
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Wohnraum
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8 Wohnanlage an
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Nord-Süd-Straße, Maßstab 1 : 250
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Pförtner
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Empfangsraum
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offener Gang
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Küche
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Bad
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Arbeitsraum
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Schlafraum
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Wohnraum
und gegessen. Der Hausherr und der Gast mussten immer mit dem Gesicht zur Öffnung nach Süden sitzen, damit sie das Leben auf dem Hofe überblicken konnten. Dem Chinesen ist die festgelegte Orientierung nach der Himmelsrichtung ihrer Häuser und Räume eine solche Selbstverständlichkeit, dass sie sogar im Sprachgebrauch nicht etwa von einem rechten oder linken, sondern nur vom östlichen oder westlichen Tischnachbar sprechen. Man sieht, es ist kein Zufall, dass gerade die Chinesen den Kompass erfunden haben. Aber nicht nur die Himmelsrichtung, auch Abmessungen und Proportionen sind im Wohnbau genau festgelegt. So beträgt zum Beispiel die Tiefe der dem Pavillon vorgelagerten Terrasse immer ein Viertel, diejenige der Räume drei Viertel der gesamten Haustiefe. Säulen und Säulenabstände sind ebenfalls normiert. Rechts und links vom Pavillon findet man häufig die so genannten „Ohrhäuser“. Darin sind Schlafzimmer oder Nebenräume wie Küche, Bad, Klosetts untergebracht. Die Ausmaße der Schlafräume sind durch den Bau der Schlafstatt, des so genannten „Kang“, festgelegt. Dieser Kang ist ein 1,20 m breites Bett, das bei Tag zum Sitzen und als Unterhaltungsecke verwendet wird. Man stellt kleine Tischchen drauf, die als Armstützen oder als Teetische dienen. Diese Bettstatt, 45 cm hoch, ist aus Ziegeln mit Feuerzügen gemauert, also ein richtiger Ofen, der vom Zimmer aus oder von außen her mit Briketts in Kugelform geheizt wird. Die Briketts, ebenfalls eine chinesische Erfindung, sollen von dort im siebzehnten Jahrhundert nach Europa eingeführt worden sein. Auf dieser Bettstatt ist eine Holzstallung, darüber liegen Matten, Felle oder Teppiche und die Polster. Die nordchinesische Wohnhausarchitektur ist vornehmlich eine Holzarchitektur, die Verwendung des Steins beschränkt sich auf die Umfassungsmauern der Gehöfte, in den Pavillons auf die Ausfüllung der Zwischenräume zwischen den Holzständern, soweit 49
dies klimatisch notwendig ist. Deshalb ist seit jeher das Zimmermannshandwerk in China besonders hoch entwickelt. Es hat sich zu hervorragender Kunstfertigkeit ausgebildet. Staunend und bewundernd steht der Europäer vor den präzisen, wie aus Metall gearbeiteten, äußerst komplizierten Zimmermannskonstruktionen. Und dieses Können hat sich bis auf den heutigen Tag voll erhalten. Die Entstehung der chinesischen Wohngehöfte geht auf die alte, chinesische Familienordnung zurück. Denn nach dieser blieben die Söhne nach ihrer Verheiratung im Hause, die Familien wurden dadurch immer größer und immer wieder mussten Pavillons dazugebaut werden. So entstanden Wohngehöfte für oft fünfzig, ja sogar hundert Familienmitglieder, die eine Folge von Wohnhöfen und Pavillonbauten darstellten. Reizvolle Gartenmauerdurchbrüche in den verschiedensten Formen (viereckig, rund, achteckig oder in geschwungenen Linien) verbinden die Wohnhöfe miteinander. Sie haben den für chinesische Gestaltung so charakteristischen Namen „man leiht sich eine Landschaft“, weil sie dem Auge einen ganz bestimmt gewollten, sehr überlegten Ausschnitt der Gartenlandschaft zeigen. So weit das Wohnsystem und das Wohngehöft, das die kleinste Zelle der Stadt bildet. Und aus dieser Stadtzelle heraus entwickelt sich, absolut folgerichtig, der ganze Stadtplan von Peking mit seinen rechtwinkelig zueinander stehenden, stark differenzierten Verkehrsund Wohnstraßen. Und äußerst locker in dieses strenge System eingestreut sehen wir künstliche Wasser, Teiche, Hügel und Parks – wunderbar, bewusst gestalteter Gegensatz von bewegter Natur und den klaren Formen einer hochkultivierten Stadtbaukunst. Und ebenso wunderbar, stark gestalteter Ausdruck in der Architektur selbst für den Gegensatz von Bewegung und Ruhe, von kollektivem Leben auf Straßen und Plätzen, in Parks und öffentlichen Gebäu50
Ein Innentor zwischen zwei Wohnhöfen, Türen dunkelgrün mit Goldleisten, Holzwerk farbig bemalt
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den und von Stille und vollkommener Konzentrationsmöglichkeit für Familie und Individuum im Wohnhaus. Beim Erleben dieser Pekinger Gartenwohnhöfe kommt einem, genau wie bei der Betrachtung antiker Wohnhäuser mit ihren Atrien oder bei den stillen Kreuzgängen des Mittelalters, der Gedanke: Wieso verzichtet die heutige Gesellschaft beim modernen Städtebau so vollkommen auf derartige Stätten der Ruhe, die wir an den alten hohen Kulturen so bewundern? Je kollektivistischer unser Leben wird, umso mehr bräuchten wir doch solche Wohnsysteme, solche Konzentrations- und Ausruhmöglichkeiten. Der kleine Handwerker mit seiner eigenen Werkstatt wurde zum Arbeiter in großen, lärmenden Fabriken, der Wissenschafter, früher abgeschieden in seiner Arbeitsstube, wurde zum Forscher in riesigen Laboratorien und Instituten. Massensport, Kino, Versammlungen, Clubleben, Motorisierung, ständig steigendes Tempo in Arbeit und Verkehr, alles das muss eines Tages zu Nervenzerrüttung und geistiger Zerfahrenheit führen, die, wenn dem nicht bald entgegengewirkt wird, den Völkern zum Verhängnis werden können. Wir Städtebauer und Architekten haben uns sehr ernstlich und schnell darüber den Kopf zu zerbrechen, wo und wie wir Räume der Ruhe und Konzentration innerhalb der großen Städte schaffen können und zwar sowohl individuell im Rahmen des Wohnens als auch kollektiv bei Gemeinschaftsbauten wie Bibliotheken, Museen, Bädern und so weiter. Wie sieht es nun mit den Neubauten und dem künftigen Stadtplan von Peking aus? Das dringendste Problem ist dort, wie überall, der Wohnungsbau. Im Jahre 1949 hatte Peking eine Million Einwohner (vor der japanischen Besetzung rund eineinhalb Millionen), heute hat es drei Millionen. Der Geburtenüberschuss allein beträgt, durch hohe Geburtenziffern, aber vor allem durch rapides Sinken der 52
Peking
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Kinderkrankenhaus von Architekt Hoa Leon
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Säuglingssterblichkeit, zwei Prozent. Das bedeutet jährlich sechzigtausend Menschen mehr in der Stadt. Man wünscht natürlich, das planlos überstürzte Bevölkerungswachstum in den Städten einzudämmen. Schon heute ist die Zuwanderung nach Peking gering. Die Beschränkung der Stadt auf ein gesundes, noch tragbares, ihrer Aufgabe als Großstadt, als Kultur- und Verwaltungszentrum entsprechendes Maß wird in China mit allen Mitteln angestrebt. Mit dem Ziel „keine Zuwanderung mehr nach Peking“ werden keinerlei Industrien mehr innerhalb der Mauer errichtet. 1950 hat man mit dem Bau von Wohnungen in großem Maßstab begonnen, da noch kein neuer Stadtplan vorlag im Wesentlichen außerhalb der Stadtmauer. Das war, bei allen noch unentschiedenen Fragen der städtebaulichen Weiterentwicklung, gewiss das einzig Richtige. Und so ist auf einem Geviert von rund 20 km2 bei Peking, gegen die Westberge zu, in der gesundheitlich günstigsten Wohnlage in sieben Jahren eine ganz neue Stadt entstanden. Das alte Peking, innerhalb der Mauer, hatte 1949 insgesamt 17 Mill. m2 benutzbare Baufläche. Dabei sind Wohnbauten und alle öffentlichen Gebäude mit eingerechnet und zwar nach der chinesischen Berechnungsart, die nicht die bebaute Erdoberfläche, sondern die gebaute Grundfläche aller Stockwerke zählt. Im Jahre 1950 mit 300.000 Neubauquadratmetern für Wohnungen beginnend, steigerten sich die jährlichen Ziffern auf über 4½ Mill. m2 Neubauflächen im Jahre 1956, und zwar so, dass bis zu Ende 1956 etwa 17 Mill. m2 neue Bauten errichtet waren, also genau ein zweites Peking. Und doch reicht alles längst nicht aus. Der Bedarf ist derart gestiegen, dass man noch rund 8 Mill. m2 bauen muss, um jedem Bewohner der Stadt im Durchschnitt erst 5 m2 Wohnfläche zu sichern. Mit Ende des Jahres 1958 werden diese 8 Mill. m2 gebaut sein, sodass die Norm ab 1. Januar 1959 auf 8 bis 9 m2 pro Mensch erhöht werden kann. Die neuen Wohnbauten dienen heute, bei der geringen Zuwanderung, 56
nur der Auflockerung der Bevölkerungsdichte, der Aussiedlung der Menschen aus den noch viel zu dicht bewohnten Stadtteilen und dem Bevölkerungszuwachs durch Geburtenüberschuss. Für die Zukunft gehen die Pläne der Pekinger Städtebauer dahin, außerhalb der Mauer im Norden, Süden und Osten der Stadt einen breiten Grün- und Landschaftsgürtel bestehen zu lassen und erst hinter diesem Industrien mit den dazugehörigen Trabantenstädten zu errichten. Um jedes weitere Anwachsen der Bevölkerung von Peking zu vermeiden und eine teilweise Umsiedlung in die Trabantenstädte zu erreichen, sind zwei wesentliche Voraussetzungen zu erfüllen: Erstens: Es sind die besten verkehrstechnischen Verbindungen zum Großstadtzentrum zu schaffen. Eine Untergrundbahn ist für Peking zu diesem Zweck bereits im Projektstadium. Mit ihrem Bau wird im nächsten Planjahr Fünf, 1962 begonnen. Zweitens: Eine der Hauptursachen der starken Zuwanderung in die Großstädte Chinas ist die Sehnsucht des Volkes nach Wissen und Bildung, das Verlangen nach kulturellem Leben. Das Gelingen der Umsiedlung eines Teiles der Pekinger in die Trabantenstädte wird demnach nicht nur von der Schaffung guter Arbeits- und Wohnmöglichkeiten in den Satellitenstädten abhängen, sondern auch von der gleichzeitigen Errichtung ausreichender Bildungsstätten sowie von der Entwicklung eines intensiven kulturellen Lebens in den Trabanten. Trotz des ungeheuren Bedarfs an Wohnungen wird man in China in allernächster Zeit nicht an die Herstellung vorfabrizierter Häuser herangehen. Es gibt vorläufig keinerlei Anzeichen für einen Mangel an Arbeitskräften, ganz im Gegenteil. China hat, selbst bei dem heutigen großen Bauumfang, immer noch enorme Reserven an Arbeitskräften. Die hohen Investitionskosten für den Aufbau einer 57
Stadtbaudirektor von Peking und zwei Architektinnen vom Stadtbauamt
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Bauindustrie für vorfabrizierte Fertigteile wären deshalb vorläufig noch nicht gerechtfertigt. Trotzdem ist man theoretisch mit verschiedenen Systemen der Vorfabrikation beschäftigt. Konstruktiv und materialmäßig arbeitet man intensiv an allerlei Neuerungen. So verwendet man zum Beispiel heute schon beim Wohnbau Bambusbeton für Zimmerdecken. Der Bambus wird mit verschiedenen Flüssigkeiten präpariert, so dass er sich mit dem Beton chemisch verbindet. Das bedeutet in China gegenüber jeden anderen Dekkenkonstruktionen eine außerordentliche Ersparnis. Für größere Spannweiten ist Bambusbeton noch im Versuchsstadium. Selbstverständlich aber ist man an weitestgehender Verwendung des außerordentlich billigen Bambus beim Bauen interessiert. Für Fußböden zum Beispiel spaltet man den Bambus, macht ihn durch Präparation flach und kann ihn dann wie Bretter verlegen. Organisatorisch unterstehen Stadtplanung und die Projektierung aller typischen Bauten der Stadtbaudirektion von Peking. Nur besondere Einzelgebäude, meist Großbauten, werden im Bauministerium projektiert. Es muss jedoch jedes Gebäude, das in Peking errichtet wird, von der Stadtbaudirektion genehmigt werden. Die Bauausführung liegt in den Händen einer anderen Organisation, der projektierende Architekt der Stadtverwaltung muss aber mindestens zweimal wöchentlich den Bau persönlich kontrollieren. Die Pflege der großen, alten Architekturwerke gehört einer eigenen Behörde an. Das heutige China hat höchste Ehrfurcht vor seinen alten Bauwerken. Kein einziges wertvolles Baudenkmal, egal ob es sich um Tempel oder Profanbauten handelt, wurde abgerissen. Ganz im Gegenteil. Wo zum Beispiel ein altes Pai Lou (das sind hölzerne, offene Torbauten) dem Verkehr im Wege ist, wird es sorgfältig abgebaut und genauso in irgendeinem Park wieder aufgestellt. Die Restaurierung alter Bauten wird ständig und mit größter künst-
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lerischer Sorgfalt durchgeführt, wovon sich jeder dort mit eigenen Augen überzeugen kann. Der dringendste Wohnbedarf wird vorläufig, wie oben beschrieben, in einer ganz neuen Stadt außerhalb der Mauer und später durch die Industrietrabantenstädte befriedigt werden. Aber was wird innerhalb der Mauer geschehen? Wie soll die bauliche Weiterentwicklung hier vor sich gehen? Natürlich braucht die Hauptstadt eines so großen Landes mit eineinhalb bis zwei Millionen Einwohnern, die innerhalb der Mauer leicht unterkommen können, auch große und hohe Bauten, wie unter anderem Verwaltungs- und Bürohäuser, Hotels, Krankenhäuser, Kulturbauten aller Art. Außerdem wird es immer auch Wohnbauten für Alleinstehende, Studenten, kinderlose Ehepaare und so weiter im Etagenwohnhausbau geben müssen, denn die alte Familienordnung ist in den Großstädten schon lange durchbrochen, die Kinder wandern, wenn sie erwachsen sind und heiraten, vom Elternhaus ab und die Familien, die beisammen wohnen, werden kleiner. Ganz abgesehen vom Geburtenrückgang, der kommen wird, da die Frauen selbst, wie man uns versichert hat, heute nicht mehr so viele Kinder haben wollen wie früher. Große Aufklärungsaktionen von Seiten der Frauen- und Ärzteorganisationen sind zu diesen Fragen im ganzen Lande im Gang. Die Meinungen der chinesischen Architekten und Stadtplaner, wie man die notwendigen höheren Gebäude in diese riesige, flach gebaute Gartenstadt stellen soll, gehen sehr auseinander und lebhafte, heftige Diskussionen werden darüber geführt. Alle gemeinsam sind sich klar über die Bedeutung der jetzigen Entscheidungen, alle gemeinsam sind sich einig über das, was sie nicht wollen, nämlich diese Flachbaustadt zerstören. Alle sind entschlossen an die großen Bau- und Wohntraditionen anzuknüpfen, ohne die Vergangenheit zu kopieren. Die Bindung an diese Traditionen ist noch sehr stark, 60
Typisches Bild der Stadt aus der Vogelschau. Am Horizont die Silhouette eines großen Stadttores, das höchste Gebäude im Stadtbild
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nichts davon wurde jählings unterbrochen und zerstört. Das alte handwerkliche Können am Bau ist lebendig wie früher. Die für uns kaum vorstellbare Genauigkeit, mit der die äußerst vielgestaltigen Holzgesimsverbindungen hergestellt werden, ist heute dieselbe wie in früheren Jahrhunderten. Nicht einheitlich aber sind die Vorstellungen über das städtebauliche Prinzip, mit dem man die genannten Ziele erreichen will. Die einen meinen: sieben bis acht Stock hohe Häuser entlang der breiten Verkehrsstraßen zu bauen und die alten Pavillonbauten im Innern nur so weit zu belassen, als es sich um besonders schöne, wertvolle Anlagen handelt, diese ständig mit öffentlichen Mitteln zu restaurieren und sie teilweise umzuwandeln in Museen, Ausstellungsgebäude oder Kinderanstalten, sonst aber im Innern vier- bis fünfgeschossige Wohnhäuser zu errichten. Diese Meinung wird jedoch von vielen anderen Architekten nicht geteilt. Sie halten gerade das Gegenteil für das Richtige, nämlich: an den lärmenden Verkehrsstraßen im Wesentlichen niedrige Ladenbauten zu errichten und die hohen Gebäude, nicht höher als sieben bis acht Geschosse, in die Wohnquartiere zu verlegen. Da wir immer und überall um unsere Meinung und Kritik gefragt wurden, sei es mir auch hier erlaubt, nach allem was ich dort gesehen und gehört habe, meine Anschauung darüber zu entwickeln und mit Photos zu belegen. An manchen Verkehrsstraßen, zum Beispiel an der großen, breiten Ost-West-Achse, in deren Mitte das berühmte Haupteingangstor zum Kaiserpalast „Tien An Men“ liegt, könnte man ungehindert mehrgeschossige öffentliche Gebäude errichten, was bereits zum Teil geschehen ist. Ihre Höhe muss jedoch, wenigstens in der unmittelbaren Nähe des Tores, unter der Höhe desselben, das sind 24 m, bleiben. Nach wie vor müsste die großartige Silhouette gegen den Himmel dominieren. An allen anderen Straßen, sowohl an den 62
breiten Verkehrsstraßen als auch an den Wohnstraßen, müsste man, um den Gesamtcharakter der Stadt zu wahren, niedrig bleiben. An den Verkehrsstraßen sollten höchstens zweigeschossige, basarähnliche, moderne Ladenbauten, Werkstätten mit Läden, Garagen und so weiter errichtet werden. Die Wohnstraßen bleiben rechts und links eingerahmt von den hier und da durch einen Eingang durchbrochenen, erdgeschossigen Mauern, welche die Wohngrundstücke begrenzen. Schulen, Kinderanstalten und niedrige Saalgebäude sollten erdgeschossig inmitten der weiterhin gartenmäßig gestalteten Wohnbauten liegen, diese nur um Weniges überragend. Die notwendigen hohen Gebäude aber sollten weit hinter den Straßenfronten, genau in der Mitte zwischen zwei Wohnstraßen mit breiten Gartenanlagen vor und hinter den Gebäuden liegen. Selbstverständlich genau nord-südlich orientiert, kompromisslos modern in ihrer Architektur, wenigstens sieben bis acht Geschosse hoch, jedoch keinesfalls höher als die alten Stadttore, eventuell vorne und hinten zu den Wohnstraßen mit erdgeschossigen Vorbauten anschließend. So würden solche Gebäude keinerlei Konkurrenz zu den erdgeschossigen Wohnanlagen darstellen. Der Kontrast vom niedrigen Alten zum hohen Modernen kann, wenn es richtig gemacht ist, von besonderer Schönheit sein. Wenn solche hohen, schnittigen Kuben in schöner Proportion (geringste Haustiefe bei entsprechender Länge) in den Himmel ragen und sich nicht allzu oft wiederholen, dann bleibt der Charakter der Gartenstadt vollkommen erhalten. Äußerst gefährlich sind alle Mittelhöhen, wie drei-, vier- oder fünfgeschossige Wohnhäuser, Blöcke, die bei der notwendigen 12-m-Mindesthaustiefe äußerst plump wirken würden und die eleganten, zarten Säulenhohlbauten der Wohnanlagen optisch völlig erdrücken würden. Ein starker Gegensatz zwischen den Häusern des individuellen Lebens, nämlich den Wohnhäusern, und den Häusern der Gemeinschaft, den Kultur-, Gesundheits-, 63
Alt und neu. Unser modernes Hotel inmitten alter Häuser
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Unser Hotel
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Erziehungs-, Verwaltungs- und Handelsgebäuden, ergäbe eine eindrucksvolle, starke städtebauliche Wirkung – es gäbe wieder Dominanten und moderne, starke Silhouetten. Wie gut solche Lösungen sein können, beweisen die Photos eines ganz modern gebauten Hotels inmitten von erdgeschossigen Pekinger Wohnanlagen, das vor etwa sechs Jahren fertig wurde. Der Anschluss an die alte, straßenbegrenzende Gartenmauer ist baulich und gärtnerisch ausgezeichnet. Man bräuchte bezüglich der notwendigen hohen Bauten nur so fortzufahren und diese Frage wäre gelöst. Auch würde dieses System eine gleichmäßige Bevölkerungsdichte in der Stadt ergeben und damit eine gleichmäßige Belastung des Straßenverkehrs. Von neuen Grünflächen, notwendigen Grünzungen im Stadtzentrum, Entkernung der Innenstadt und so weiter braucht in Peking keine Rede zu sein. Die derzeitigen großen Landschaftsparks geben mit den Wohngartenhöfen alle notwendigen Grünflächen und Luftreservoirs. Es besteht keinerlei Missverhältnis, vielmehr ein Idealverhältnis zwischen bebauter Fläche und Freiflächen, zwischen Bauhöhen und Garten- und Parkflächen. Dieses Verhältnis darf durch die erforderlichen Hochhausbauten nicht gestört werden. Das zweite schwierige Problem, das grundsätzlich noch zu lösen wäre, liegt in den alten, schönen Wohnanlagen selbst. Alle wohntechnischen Neuerungen des heutigen Lebens, wie unter anderem Zentralheizung oder der Einbau von Badezimmern und Toiletten, sind in vielen Häusern schon durchgeführt. Die Heizung in diesen Wohngehöften spielt eine große Rolle. Obwohl Peking auf dem Breitengrad von Neapel liegt, sinkt die Temperatur im Winter bis auf -21°C, während sie im Sommer bis auf 40°C Hitze ansteigen kann. Es ist nur mehr eine Frage der Zeit, bis die Zentralheizungen an Fernheizwerke angeschlossen werden. Jedoch langsam aber sicher werden diese Wohngehöfte doch zugrunde gehen müssen, 66
wenn man nicht dauernd sehr viel Geld für ihre Restaurierung ausgibt. Wird sich die Gesellschaft aber die Erhaltung eines letzten Endes so riesigen Museums alter Wohnbauten auf die Dauer wirtschaftlich leisten können? Weiters: Lohnt es sich denn, so viel Geld in – wenn auch noch so bezaubernde – Bauten hineinzustecken, die funktionell, nach dem Verschwinden der chinesischen Großfamilie, den künftigen Familienverhältnissen nicht mehr entsprechen können? Wo sind Ruhe und Konzentration in den Innenhöfen, wenn die verschiedenen um den Gartenhof gruppierten Pavillons von zwei oder drei nicht zusammengehörigen Familien bewohnt werden müssen? Mit der alten Familienform fällt unweigerlich, wenn auch erst in einem längeren Zeitraum, die spezielle Wohnform des alten Pekinger Wohngehöfts. Form und Inhalt, hier wie überall, sie stehen in ewiger Wechselwirkung und aus der alten Form und dem veränderten Inhalt werden neue Formen und wieder neue Inhalte geboren. Mir scheint, um dieses nationale Kleinod der Architektur, Peking genannt, in aller Schönheit zu erhalten, muss die Allgemeinheit die Mittel aufbringen, die nicht überaus zahlreichen und noch gut erhaltenen Wohnanlagen ständig zu restaurieren und nicht dem Verfall preiszugeben, ebenso wie man heute auch auf Kosten des Volks den Kaiserpalast und die wertvollen Tempel in ausgezeichnetem Zustand erhält. Manche der Wohngehöfte lassen sich auch ohne große Kosten in wunderschöne Flachbauschulen und Kinderanstalten umwandeln, die man nach Bedarf gleichmäßig über die Stadt verteilen kann. Auch für Kunsthandwerks- und andere Werkstätten, die keinen Lärm machen, sind die Wohnanlagen geeignet. Wir sahen zum Beispiel in Peking die große Druckerei, die jene herrlichen Handdrucke chinesischer Tuschmalerei herstellt, die in Europa so bekannt sind und bewundert werden. Sie ist in einer alten Wohnhausanlage untergebracht und schafft mit den um eine Reihe 67
von Gartenhöfen gelegenen Pavillons geradezu ideale Arbeitsbedingungen für die achtzig dort arbeitenden Menschen. Jene Wohnanlagen aber, deren Restaurierung auf die Dauer nicht mehr lohnen kann, müssen über kurz oder lang fallen. Sie werden durch neue Wohnhäuser ersetzt werden. Wie aber sollen diese Wohnhäuser aussehen? Man fragt sich, warum sollte man die wunderbaren Wohntraditionen in Peking, erdgeschossig um Gartenhöfe herum zu leben, zerstören? Man antworte nicht, bei Erdgeschossbauten würden die horizontalen Wege zu lang. Die Entfernungen haben sich durch die fortschreitende Motorisierung schon sehr verringert und werden sich immer weiter, auch durch den Bau einer Metro in Peking, außerordentlich verringern. Die Größe der Stadt ist ja territorial durch die alte Stadtmauer gegeben. Eineinhalb bis zwei Millionen Menschen können auf diesem Territorium in erdgeschossigen Bauten gut wohnen. Eine Erhöhung der Einwohnerzahl ist keineswegs erwünscht. Das beweist auch die Entwicklung der europäischen und amerikanischen Großstädte, was sowohl beim internationalen Städtebaukongress im Jahre 1956 in Wien als auch beim internationalen Architektenkongress 1958 in Moskau von allen Vertretern aus West und Ost bestätigt wurde. Die Zahl der Einwohner Pekings kann durch Geburteneinschränkung, durch Vermeidung der Anlage großer Betriebe und Fabriken innerhalb der Mauer und durch den Bau der Trabantenstädte auf der gewünschten und gewollten Ziffer verbleiben. Aus all diesen Gründen ist es meine Überzeugung, dass für die neuen Wohnhäuser in Peking innerhalb der Mauer ein neuer Typus entstehen sollte, eine Synthese aus dem alten naturverbundenen Pekinger Wohngehöft mit seinen geschlossenen Gartenwohnhöfen und einem modernen, erdgeschossigen Wohnhaus mit allem technischen Komfort, was auch der neuen Form der chinesischen 68
Familie entspricht. Es ist interessant, dass der Oberstadtbaudirektor von Hamburg, Prof. Werner Hebebrand, der ebenfalls mit einer Architektengruppe China bereist hat, vor kurzem in der Monatsschrift des deutschen Werkbunds einen in diese Richtung gehenden Vorschlag für ein neues Wohnviertel in China veröffentlicht hat. Auch in der neuen, alle technischen Errungenschaften unseres Zeitalters auswertenden Stadt und Architektur muss der Mensch immer das Maß aller Dinge sein und bleiben. Und dieser menschliche Maßstab ist es, der uns gerade am Pekinger Wohnhaus so entzückt. Bei Völkern, die aus den materiell äußerst rückständigen und primitiven Lebensformen großer Bauernmassen kommend plötzlich die Möglichkeiten haben, sich in wenigen Jahren eine mächtige moderne Industrie und ganze Städte aufzubauen, besteht immer die Gefahr, dass ihnen solche Möglichkeiten und Erfolge zu Kopf steigen und dass jene Gigantomanie entsteht, die jeden menschlichen Maßstab in der Architektur zerstört. Es gibt in China bereits ernste und einflussreiche Stimmen der Warnung vor solchen Entwicklungen, wie zum Beispiel der Bericht über den Staatsplan 1953 – 1957 von Li Fuchun, dem Vizeministerpräsidenten und Vorsitzenden der staatlichen Plankommission, beweist, Stimmen der Warnung sowohl aus ökonomischen als auch aus ideologisch-künstlerischen Gründen. Dem Geiste der Gefahren des plötzlichen materiellen Wachstums stehen die großen, alten Kulturtraditionen Chinas gegenüber, die diese Gefahr rechtzeitig bannen werden. Die Regierung warnt vor Übereilung und Übertreibung. Im Februar dieses Jahres veröffentlichte die größte Zeitung „Shenbao“ eine Mahnung an die Städtebauer, nicht phantastischen Zukunftsprojekten nachzujagen. Dies sei irreal, man könne den Charakter der chinesischen Städte nicht in Kürze ändern. Wir hoffen und wünschen mit allen Freunden der chinesischen Architektur, dass sich der Charakter Pekings, dieser städtebaulichen Perle der asiatischen Welt, nicht plötzlich grundlegend ändern wird 69
Küche einer Familie in Peking
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– dass er sich wohl „Schritt für Schritt“, wie die Devise in China heißt, zum Neuen verändert – wir hoffen, dass die harmonische Verbindung von alter Gartenstadt und modernem Hochhausbau, dass die Synthese von altem Pekinger Pavillonhaus mit den neuen wohntechnischen Forderungen und der jetzigen Familienordnung bald gefunden wird, um so aus dem alten asiatischen Juwel Peking ein neues, städtebaulich einzigartiges Juwel erstehen zu lassen.
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Fassade unseres Hotels in Schanghai
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Nanking – Schanghai – Wuhan Die drei Großstädte in Mittelchina und ihre heutigen städtebaulichen Aufgaben
Nanking
Nanking ist eine der ältesten Städte Chinas. Territorial ist es, innerhalb der Mauer, die größte Stadt des Landes. Die außerordentlich schönen und vielgestaltigen landschaftlichen Gegebenheiten sind von denen Pekings grundverschieden. Die Stadtmauer ist ein acht bis fünfzehn Meter hohes und fünfunddreißig Kilometer langes Riesenbauwerk, das sich in Windungen am Fuße eines Höhenzuges hinzieht. Volle neunhundert Jahre, vom fünften bis ins vierzehnte Jahrhundert hinein, wurde an ihr gebaut. Hier in Nanking versteht man, welch ungeheure Rolle Mauern in der chinesischen Architektur überhaupt spielen und welche wichtigen Wirkungen man mit geschlossenen Mauern erzielen kann. Von der großen chinesischen Mauer angefangen, die über Bergketten und Gipfel in der schier unendlichen Länge von 2.500 km rennt und gebaut wurde, um die nördlichen Grenzen des Landes zu stützen, weiter zu den Umfassungsmauern ganzer Landbezirke, zu Mauern um jede chinesische Stadt, Mauern um jeden Palast oder Tempel, um jedes Kloster – Mauern fast um jedes Dorf, Mauern um jeden einzelnen Bauernhof (ein Wohngehöft ohne Umfassungsmauer ist dort undenkbar) – Mauern um jedes Grundstück in der Stadt, Mauern zur Straßenbegrenzung 73
rechts und links, nur erdgeschossig und ohne Fenstermauern zur Abwehr der bösen Geister in Gärten und Parks – Mauern in grauen Ziegeln, Mauern in roten Ziegeln, Mauern in herrlichem Naturstein und Mauern, verputzt und mit dem schönen chinesischen Rot bemalt – Mauern mit grauen, gelben oder blauen keramischen Ziegelabdeckungen – Mauern, Mauern und nochmals Mauern. Als Gestaltungsmittel von Gartenräumen und Plätzen, immer in innigster Verbindung mit Natur- und Pflanzenwelt – Mauern um das Eigenleben nach außen zu begrenzen, wodurch eben gerade dieses Eigenleben nur noch erhöht und gesteigert werden sollte. Die Mauer von Nanking umschließt eigentlich gar keine geschlossene Stadt, sondern ein riesiges Gebiet, das zu großen Teilen noch offenes Feld ist, nur stellenweise mit Häusergruppen und -reihen bebaut, die man aber nur teilweise schließen will. Die Gesamtanlage der Stadt weicht hier etwas von dem strengen Nord-Süd-Schema der chinesischen Städte ab. Dies kommt nur dort vor, wo das bergige Gelände in die alten Verteidigungslinien einbezogen werden musste. Und das war schon bei der Gründung Nankings der Fall, als zwischen dem vierten und sechsten Jahrhundert fremde Eroberer den Norden des Landes beherrschten und sich die Chinesen nach dem Süden, dem späteren Nanking zurückzogen. „Nan“ heißt Süd und „King“ heißt Stadt, sodass der Name Nanking südliche Hauptstadt bedeutet sowie „Pe“ – Nord, also Peking nördliche Hauptstadt heißt. Nanking liegt an einem dicht bewaldeten Bergland, das bis zu 450 m hoch ist. Der hier zwei Kilometer breite Jangtse fließt heute im Nordwesten unmittelbar außerhalb der Stadtmauer. Früher, zur Zeit der Stadtgründung, vor etwa 1.500 Jahren, floss er in Windungen, genau entlang der heutigen westlichen Stadtmauer, denn, wie so viele andere Flüsse in China, hat auch der Jangtsekiang sein 74
Flussbett völlig verändert. Dadurch steht heute die westliche Stadtmauer auf einer zwanzig Meter hohen Felsterrasse, die seinerzeit das Flusstal begrenzte. Im Osten und Südosten lehnt sich die Stadt an die Ausläufer des Nankinger Hügellandes an. Sie liegt 210 km vom Meer landeinwärts, sogar Ebbe und Flut machen sich hier am Fluss noch bemerkbar und große Ozeandampfer können den Jangtse aufwärts bis Nanking fahren. Strom, Felsenterrasse, bewaldetes Bergland und zahlreiche Wasserläufe und Kanäle innerhalb und außerhalb der Mauern bilden den schönen landschaftlichen Rahmen, in den die Stadt, fast nur erdgeschossig oder mit einstöckigen Häusern bebaut, ins Grüne gebettet ist. Sie beherbergt heute 1,3 Millionen Menschen, für ihr großes Territorium (sie misst zehn Kilometer von Nord nach Süd und fünf Kilometer von Ost nach West) keine allzu große Einwohnerzahl. Nanking war Ende des vierzehnten Jahrhunderts wohl die größte und erfolgreichste Stadt der Erde. Sie hatte damals 800.000 Einwohner, nahm aber später, nach Verlegung der Hauptstadt nach Peking, an Bedeutung ab. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aber sollte sie wieder eine große Rolle spielen, als 1853 die revolutionären Bauernmassen des Taiping-Aufstands Nanking zur Hauptstadt ausriefen. Später, bei Niederschlagung des Taiping-Reichs durch die Mandschus im Jahre 1864, wurde Nanking von Grund auf zerstört, neben vielen anderen Prachtbauten auch der berühmte, 165 m hohe, achteckige Porzellanturm. Obwohl zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts Nanking nur mehr 150.000 Einwohner zählte, war es doch wieder Mittelpunkt für Kunst und Wissenschaft geworden. Dieser Tradition folgend, wird Nanking heute die „Stadt der Bildung und Erziehung“ genannt und man will sie weiterhin nur als solche ausbauen. Sie besitzt eine große Universität, der eine Architekturhochschule angegliedert ist.
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Wie plant die Stadtverwaltung den weiteren Ausbau von Nanking? Da die Stadt hauptsächlich der Bildung und Erziehung dienen soll, werden, gemäß dem Staatsplan, keine größeren Industrien nach und um Nanking gelegt. Es ist somit mit keiner großen Zuwanderung zu rechnen. Man will viel Grünflächen in der Stadt belassen und schafft fünf große Erholungsgebiete, teils innerhalb, teils außerhalb der Mauer und zwar überall dort, wo sich landschaftliche Schönheit mit großen alten Kulturdenkmälern vereinigt. So zum Beispiel will man ein riesiges Park- und Naturschutzgebiet bei den violetten Bergen im Osten der Stadt, wo die große Anlage des Sun Ja Sen-Mausoleums steht, wo es schöne alte Tempel gibt und wo sich die Allee der berühmten Steinfiguren der Ming Gräber aus dem vierzehnten Jahrhundert befindet, belassen und ausgestalten. Weiters wird es einen Park im Norden geben, wo es zahlreiche natürliche Grotten in einer äußerst romantischen Landschaft gibt. Außer den zwei großen axialen Straßen von Nanking, die eine in Nord-Süd-Richtung, die andere in Ost-West-Richtung, beide heute schon mit je vier Baumreihen bepflanzt, wird ein breiter Außenring die neu ausgebauten Vorstädte miteinander verbinden. Das Zentrum der Stadt bildet ein runder Platz am Schnittpunkt dieser beiden Achsen. Außerhalb der Mauer sieht man eine starke territoriale Vergrößerung der Stadt vor, um im Innern die fünf großen Erholungsgebiete schaffen zu können. Den Bedarf an Wohnungen will man durch neue Wohnbauten, rund um die Stadt, decken. Hier in Nanking will man die Wohnbauten und auch die sozialen Bauten nur erdgeschossig oder mit höchstens einem Stockwerk bauen, nur in ganz seltenen Fällen will man höher gehen. Als Begründung hierfür wird angegeben, dass die Chinesen seit Generationen gewohnt sind in niederen Häusern zu leben und dass man diese gesunden und guten Traditionen nicht zerstören will. Hier
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denkt man an keine Untergrundbahn, nur Autobusse und Autos werden auf breiten Straßen den Verkehr bewältigen können. Auch hier in Nanking ist der Grund und Boden nationalisiert, die Häuser jedoch gehören Privatpersonen, die den Boden nutzen können, solange ihn die Stadt nicht braucht. Ist dies aber der Fall, so muss das Haus von der Stadt gekauft werden und die Stadt hilft dem ehemaligen Besitzer ein neues Grundstück zu finden und muss ihm so viel zahlen und das Baumaterial aus dem staatlichen Handel liefern, damit er sich auch ein anderes Haus bauen kann. Über die Architektenausbildung erfuhr ich vom Leiter der Architekturhochschule in Nanking Folgendes: Es gibt in China im ganzen sieben Architekturhochschulen und zwar in Peking, Tientsin, Schanghai, Nanking, Kanton und Tschungking. Sie sind teilweise den Universitäten, teilweise technischen Hochschulen angegliedert. Aus diesen sieben Schulen kommen heute jährlich etwa fünfhundert Absolventen heraus. Das ist aber viel zu wenig. Alle Studenten haben schon längst bevor sie fertig sind feste Anstellungen. Die Zahl der Studenten wächst ständig. Die Nankinger Fakultät hatte vor drei Jahren nur dreißig Absolventen, 1956 jedoch bereits sechzig. Seit 1955 dauert das Studium fünf Jahre, früher waren es vier. Schon nach dem ersten Jahr müssen alle Studenten Praxis im Büro oder an einer Baustelle machen. Im Anfang weniger, in den späten Jahren mehr. Im letzten Studienjahr spezialisieren sie sich. Es gibt dafür drei Sparten: erstens Städtebau, zweitens zivile Bauten, drittens Industriebauten. Dreiundvierzig Prozent der Stunden sind nach dem Lehrplan der Architektur und dem Entwerfen, der Gebäudelehre etc. gewidmet. Die übrigen siebenundfünfzig Prozent teilen sich auf in Architekturgeschichte, Konstruktionslehre und schöne Künste (das ist Zeichnen, Aquarellieren und so weiter).
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Studenten der Kunstakademie arbeiten an einem Relief im Freien
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Bildhauer- und Zeichenklasse (oben: Schütte-Lihotzky 3. von links, unten: Schütte-Lihotzky stehend 2. von rechts)
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Vierundzwanzig Prozent der Studenten sind Frauen. Die meisten Architekturstudenten sind Kinder von Arbeitern, Angestellten und Intellektuellen, viel seltener sind es Bauernkinder. In der Hochschule wurde mir eine Ausstellung von Arbeiten gezeigt. Es fällt Folgendes auf: Schon vom ersten Jahr an wird wunderbar gezeichnet, alles sehr penibel und gründlich durchgearbeitet, vieles sehr klug überlegt. In der Architektur meist eine Mischung von Modernem mit chinesischer Tradition, aber nicht schlecht, teilweise sogar sehr gekonnt und wahrscheinlich der richtige Weg. Bei der Nankinger Architekturhochschule gibt es eine spezielle Forschungsabteilung für alte Bauten. Professoren und Studenten dieser Abteilung fahren im Lande herum und nehmen die wertvollen Bauten auf, sowohl planmäßig als auch photographisch. Diese Aufnahmen und Pläne erscheinen regelmäßig in Heften, die alle Architekturstudenten in China bekommen. Ich sah in dieser Abteilung herrliche Dinge. In besonderer Erinnerung sind zweihundert bis dreihundert Jahre alte Wohnhäuser, drei- bis viergeschossige Rundbauten aus Bruchstein, die frei in der Landschaft stehen, alte runde Wohntürme, außen mit Fenstern, innen mit offenen Galerien, über die man in die Wohnungen geht. Nanking besitzt ein sehr umfangreiches Nationalmuseum, das größte seiner Art im ganzen Land. Dieses Museum entfaltet gleichzeitig eine weitgespannte pädagogische Tätigkeit, denn es ist Bildungsstätte mit vielen Kursen zur Weiterbildung junger Menschen aus den verschiedensten Berufsgruppen. In Nanking sahen wir auch eine Ausstellung für angewandte Kunst, Arbeiten des chinesischen Kunsthandwerks, wie sie heute noch in den verschiedenen Provinzen und Dörfern hergestellt werden: bemalte Tierfiguren oder Opernfiguren aus Lehm, etwa zwölf bis fünfzehn Zentimeter groß, Korb- und Töpfereiarbeiten, schöne 80
Brokate (die Chinesen kannten die Kunst des Musterwebens schon zur Zeit vor Christi Geburt), prachtvolle Scherenschnitte, Schnitzereien aus Elfenbein oder Bambus, auch Möbel mit Lackschnitzarbeiten und so weiter. Unsere Frage: Was tut man und was kann man tun, damit dieses alte, große Können, das sich in bestimmten Gegenden von Generation zu Generation vererbte, erhalten bleibt? Wird es nicht durch die moderne Industrialisierung und Entwicklung zwangsläufig aussterben? Darauf die Antwort des Direktors: In den Gegenden, wo bestimmtes Kunsthandwerk Tradition ist, gibt es viele Dörfer und Produktionsgenossenschaften, in denen die Hälfte aller Bewohner von der landwirtschaftlichen Arbeit befreit ist und sich dadurch ganz dem Kunsthandwerk widmen kann. Diese Kunsthandwerker schließen sich zu Genossenschaften zusammen. Die Regierung liefert das Material und erteilt laufend Aufträge, die zum größten Teil für den Export bestimmt sind. Zeichner und Maler kommen häufig zum Unterricht aufs Dorf. Die Genossenschaft verkauft ihre Arbeiten aber außer an die Regierung auch an Städte und Museen. Unter den verschiedenen Genossenschaften ist ein Erfahrungsaustausch organisiert. In eineinhalb Tagen sahen wir Nanking, diese Stadt, die so ganz verschieden von den andern chinesischen Städten ist. Und wenn die Gunst der Lage Nanking im Laufe von Jahrhunderten zum Tummelplatz militärischer Gewitter machte, so wird hier, in den hoffentlich friedlichen nächsten Jahrzehnten, eine Großstadt im Grünen entstehen, ein umfangreiches Bildungs- und Erziehungszentrum für das Sechshundert-Millionen-Volk der Chinesen.
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Fahrt am Huangpu
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Schanghai
Schanghai, die riesige Industrie- und Hafenstadt Chinas, ist die weitaus bevölkerungsreichste Stadt des Landes. Während sie 1949 noch vier Millionen Einwohner zählte, umfasst sie heute rund sechs Millionen Menschen. Diese Erhöhung der Bevölkerungszahl ergibt sich teilweise durch Zuwanderung, größtenteils aber durch die außerordentlich hohe Geburtenziffer, die seit 1949 auf jährlich fast eine Viertel Million angestiegen ist, in Verbindung mit dem starken Sinken der Säuglingssterblichkeit. Durch den Namen Schanghai, das auf Deutsch „Ausfahrt zum Meere“ heißt, ist die Situation der Stadt bereits charakterisiert. Sie liegt an dem Fluss Huangpu, der sich in den Jangtsekiang ergießt und zwar nahe der Mündung dieses größten chinesischen Stromes, der die wichtigste natürliche Zugangsstraße ins dicht besiedelte Innere des Landes bildet. Nicht umsonst wird das weite Flachland, der Landstrich, der in den großen Bogen des Jangtse vor seiner Mündung eingebettet ist, „chinesisches Holland“ genannt. Dieser dicht bewohnte Landesteil ist erfüllt von einer Unzahl kleinerer und größerer stehender Gewässer, das ganze Land um Schanghai ist durchzogen von natürlichen und künstlichen Wasserstraßen. Dank dem Riesenstrom ist der Boden äußerst fruchtbar und besonders geeignet für den Reisbau. Es gibt hier auf denselben Feldern mehrere Ernten jährlich. Das Wasser wird aus den Kanälen mittels hoher, leichter Bambusräder, von der schwachen Strömung getrieben, auf die erhöhten Reisfelder gehoben. Ursprünglich gab es hier nur Buschwald, Sumpfwald und Sumpfgräser und nur der Bienenfleiß von hunderten Generationen konnte das Land in solch ein fruchtbares Gebiet verwandeln. Ein zweihundert Kilometer langer Damm längs der Küste, angefangen bei der Bucht von Hangtschou 83
Vorstadt am Huangpu
Mündung des Huangpu ins Meer
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bis zur Jangtse-Mündung, schirmt Schanghai gegen das Meer ab, um es vor Stromüberschwemmungen, Gezeiten und den von Taifunen erzeugten Sturmfluten zu schützen. Das Klima ist im Sommer heiß, schwül und feucht, immergrüne Gewächse zieren alle Gärten. Im Winter gibt es kaum einmal etwas Frost, jedenfalls nie so viel, dass der Schiffsverkehr dadurch behindert würde. Die Stadt bedeckt ein Areal von insgesamt 654 km2, von denen jedoch allein 24 km2 Wasserflächen sind und nur 116 km2 die Innenstadt bilden, in der rund 5,7 Millionen Menschen hausen. Dagegen entfallen 514 km2 auf die niedrig und schütter bebauten Vorstädte, die insgesamt nur mit 430.000 Menschen bevölkert sind. Diese außerordentlich verschiedene Wohndichte bedeutet, dass die Stadtplanung von Schanghai nur ein Bestreben kennt – nämlich aus diesen 116 km2 Innenstadt so rasch als nur irgend möglich Menschen herauszubringen und in neue Wohnstätten umzusiedeln. Sowohl der landschaftlichen und klimatischen Lage als auch ihrer baugeschichtlichen Entwicklung nach kann man sich keinen größeren Kontrast vorstellen als denjenigen zwischen Peking und Schanghai. Und dementsprechend sind auch die heutigen Stadtbauprobleme dieser beiden Städte völlig verschieden. Ehemals bestand Schanghai nur aus einer kleinen, eiförmig ummauerten Stadt mit Basaren und Tempeln, mit Kanälen, Brükken und sich im Wasser spiegelnden malerischen Bauten, ein kleines Venedig Asiens, das, obwohl die Stadtmauer gefallen ist, heute noch besteht und den europäischen Besucher entzückt. Die sieben Meter hohe und fünf Kilometer lange Mauer umschloss nur eine Stadtfläche von insgesamt 2 km2. Sieben Tore führten in das kleine Städtchen, einem großen Fischerdorf gleich. Diese Altstadt hatte nur untergeordnete Bedeutung, sie entbehrt großer geschichtlicher
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Venedig in Schanghai
England in Schanghai
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Nankingstraße in Schanghai
Arbeiterclub in Schanghai
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Vergangenheit und damit auch der glanzvollen Baudenkmäler alter chinesischer Architektur. Erst 1842, nach Beendigung des ersten britischen Opiumkrieges, begann sich durch Öffnung des Hafens für die ausländischen Händler aus dem hübschen altchinesischen Städtchen eine baulich völlig charakterlose Großstadt zu entwickeln mit den ab 1854 entstandenen großen, exterritorialen „internationalen“ Niederlassungen. Mit dem Eindringen der Ausländer verlor die Stadt baulich vollkommen ihren chinesischen Charakter und würden hier nicht Chinesen gehen und wären keine chinesischen Aufschriften zu sehen, man wüsste auf weiten Strecken nicht, dass man sich in China befindet. Die Stadt ist architektonisch ein Chaos, baulich ein unbeschreiblicher Mischmasch, etwas so völlig Charakterloses, dass sie dadurch schon wieder Charakter bekommt – nämlich einen Charakter der vollkommenen Charakterlosigkeit. Es gibt ganze Straßenteile, wo man glauben könnte in England zu sein, andere wieder, in denen man meint in den Banlieue, in den Vororten von Paris herumzuspazieren, andere in Holland – man findet echt französische Mansardendächer neben ganz barocken Balkonhäusern, typisch englische Siedlungshäuschen neben zwanzig Stockwerke hohen Wolkenkratzern – neben neuen christlichen Kirchen uralte buddhistische Tempel – und am Außenrand der Stadt Fabrikschlote, Fabrikschlote und nochmals Fabrikschlote. Nur eines sieht man nicht mehr: den unbeschreiblichen Luxus, wie er mir noch auf meiner ersten Chinareise 1934 in die Augen sprang, einen Luxus, wie man ihn damals in Europa kaum finden konnte. Und das neben der grauenhaftesten Armut, zerlumpten Bettlern und Kulis, die auf dem glühend heißen Asphalt barfüßig durch die Straßen rannten, um andere Menschen in den Rikschas fortzubewegen. Die Rikschas sind zwar immer noch eines der Hauptverkehrsmittel, aber sie werden von Radfahrern, die alle eine 88
Fußbekleidung haben, bewegt. Im ehemals französischen Teil wechseln wieder Cottagehäuser, die ebenso in Wien stehen könnten, mit portugiesischen Wohnhäusern, wechselt Italien mit England und Frankreich mit Holland, manchmal kommt auch irgendwo China zum Vorschein. Der riesige „Volksplatz“, ehemals Pferderennbahn, ist ein großer Park für Erholung und Sport inmitten der Stadt. Die frühere „Hunderennbahn“ ist heute umgebaut in ein halboffenes Theater, die Bühne für zweihundert Menschen, der Zuschauerraum für rund fünfzehntausend Besucher. Daneben das Museum im Pseudorenaissancestil gebaut, ehemals Clubhaus der Rennbesucher, dann wieder ein Riesenhotel mit vierundzwanzig Stockwerken, alles unorganisch, nichts sich natürlich Entwickelndes, sowohl im Städtebau als auch in der Architektur. Weiter an einer neu gebauten evangelischen Kirche vorbei – die Gelder für den Bau stammen von den Gläubigen, es gibt reiche Leute in Schanghai. (Es leben dort fünfzigtausend Christen, zweihundert evangelische und vierzig katholische Kirchen sind in Betrieb.) Wir kommen zum berühmten „Bund“, der großen Uferstraße am Huangpu. Wir sehen große Ozeandampfer im Hafen liegen, der Fluss ist ausgebaggert, nur die größten Dampfer müssen bei Wusong, dem alten Sperrfort an der Mündung des Flusses in den Jangtse, vor Anker gehen. Fast zwei Stunden dauert die Einfahrt vom ostchinesischen Meer her durch die Jangtsemündung und den Huangpu direkt zum Bund. Der Anblick vom Wasser aus ist ganz der einer europäischen oder amerikanischen Hafenstadt. Da alle Höhenunterschiede durch das Gelände fehlen, sieht man nur die Fronten der riesigen Häuser, von denen aus die andern Straßen wie tiefe Schluchten abzweigen. Jeder Zoll des Grund und Bodens kostet hier enorme Summen. Das sumpfige, von verschlickten Flüssen angeschwemmte wertlose Gelände, das man um die Mitte des 89
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„Bund“ (Uferstraße in Schanghai)
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vorigen Jahrhunderts für ein paar Dollar hätte kaufen können, hatte zu Anfang unseres Jahrhunderts einen Wert von Millionen. Heute ist der Grund und Boden der Stadt im Besitze der Allgemeinheit. Weiter wechseln am Bund ehemalige Bankgebäude mit Hotels, Wolkenkratzern und riesigen Zeitungsgebäuden, auf einem sehen wir noch den verblassten Putz unter den heruntergekommenen Schriftzeichen „North China Daily News“. Auch hier ein tolles Durcheinander von Baustilen und Bauhöhen. Der kopierte Renaissancepalast neben einem chinesisierenden Wolkenkratzer, viel Schlechtes neben wenigem Guten in der Architektur, das Spiegelbild einer Zeit, in der jeder kam und nahm, in der die so genannte „zivilisierte Welt“ China auspoferte, in der Geschäftsleute und Händler aus aller Welt hierher zogen, um in wenigen Jahren ein Vermögen zu machen, von dem sie ihr Leben lang zehren konnten, ohne zu arbeiten – ein treues Spiegelbild kolonialer Ausbeutung. In einer Ausstellung, die die Leistungen der Schanghaier Industrieerzeugnisse zeigt, sehen wir, dass es hier keineswegs nur die sehr umfangreiche Textilindustrie gibt, sondern, dass Schanghai auch eine hoch entwickelte Industrie moderner Apparate besitzt. Hier werden Röntgen-, Radio- und Photoapparate ebenso wie Turbinen, Pumpen und Druckereimaschinen hergestellt, es gibt eine Elektro- und Fahrradindustrie und auch der sich rapide entwickelnde Schiffsbau ist naturgemäß hier konzentriert. Die Stadt besitzt eine große technische Hochschule, die berühmte Tung Chi Universität („Tung Chi“ heißt „Zusammenarbeit“), deren Studentenzahl in den letzten sieben Jahren von tausend auf viertausend angewachsen ist. Darunter ein Drittel weibliche Hörer. Sie ist eine ganze Stadt mit vielen neuen Häusern, da fast alle Studenten hier im Internat leben. Dieser technischen Hochschule ist eine Schnellmittelschule angeschlossen, bestimmt für besonders 92
begabte Arbeiter- und Bauernkinder, die keine Mittelschule besuchen konnten. Der Leiter der Architekturabteilung Prof. Kung Ki Sung spricht ausgezeichnet Deutsch, denn er hat in Wien studiert und neun Jahre dort gewohnt. Hier an der Tung Chi Universität verlassen hundertfünfzig Architekten jährlich nach einem sechsjährigen Studium die Hochschule. Das Studium einschließlich Wohnen ist kostenlos, nur das Essen muss bezahlt werden, aber viele mittellose Studenten haben auch dafür Stipendien. Bei der Ausstellung der Studentenarbeiten fällt Folgendes auf: Erstens: Alle Gebäude sind nach Süden orientiert, denn gegen die Südsonne kann man sich schützen (was in China durch vorspringende Dächer und über die ganzen Fassaden vorgehängte Matten gemacht wird), gegen die tief stehende Ost- und Westsonne aber nicht. Zweitens: Wohnbauten sind alle nur erdgeschossig projektiert, fast alle anderen Gebäude, außer Theater und Clubs, ebenfalls. Drittens: Für Diplomarbeiten werden Wettbewerbe ausgeschrieben, bei denen der erste Preis in Form des Bauauftrags von der Stadtverwaltung vergeben wird. Viertens: Die Studenten machen sehr sorgfältige planliche und photographische städtebauliche Aufnahmen von alten, kleineren chinesischen Städten. Fünftens: „Präfabrikation“ ist ein spezielles Unterrichtsfach, deshalb gibt es in der Ausstellung eine Reihe von Projekten für vorfabrizierte Bauten und zwar aus großen Ziegelbauelementen, bei denen die Ziegel in der Fabrik mit Kalkzementmörtel zu Fertigbaublöcken fertig hergestellt und mit dem Kran am Bau versetzt werden. Dieses System ist bis ins Letzte von den Studenten durchgearbeitet, sogar bis zu einer sehr klugen Konstruktion, in die Fertigteile Steine einzusetzen zur Anbringung von Bambusstangen, welche die Matten für den Sonnenschutz tragen. 93
Sechstens: Ein Großteil der Projekte zeigt Ambulatorien, Krankenhäuser, Kliniken und Schulen, das heißt Bauten der Gesundheit und des Erziehungs- und Bildungswesens. Das ist kein Zufall, denn der Bedarf daran ist im Land enorm. In Schanghai gibt es zum Beispiel heute 126 Spitäler, aber das reicht bei Weitem nicht aus, und die Einführung der allgemeinen Schulpflicht im ganzen Land ist vorläufig vor allem aus Mangel an Schulgebäuden noch unmöglich. Einem ausführlichen Gespräch mit dem Stadtbaudirektor von Schanghai, der sechs Jahre in Amerika tätig war, entnahm ich folgende Tatsachen über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieser städtebaulich so schwierig zu meisternden Stadt: Erstens: Staatsplanung und Städtebau tun alles, damit die Zahl der Einwohner von Schanghai in Zukunft sechs Millionen nicht überschreitet. Es werden keinerlei Industrien nach Schanghai gelegt, im Gegenteil, man wird voraussichtlich einen Teil der durch ausländische Interessen an dieser Stelle des Landes übermäßig aufgeblähten Textilindustrie verlegen und zwar näher an die großen Rohstoffquellen im Innern des Landes, da die Fertigfabrikate weniger Transportmittel benötigen, als die Rohstoffe, außerdem das Land selbst heute viel mehr Textilwaren absorbiert als früher. Auf diese Weise wird die Bevölkerung der Stadt vermindert, heute schon wandern Menschen aus Schanghai ab und zwar in die Schwerpunkte der neuen Industrien in Nord- und Mittelchina. Zweitens: Durch den Krieg war viel zerstört. Nach 1949 baute man in sechs Jahren 5,1 Mill. m2, darin sind sämtliche Bauten und Wiederaufbauten enthalten und davon neue Wohnungen für 180.000 Menschen. In der jetzigen Periode von 1956 bis 1967, also in zwölf Baujahren, errichtet die Stadt Neubauwohnungen für insgesamt eine Million Menschen.
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Drittens: Man kann auch privat ein Einfamilienhaus für sich und seine Familie bauen. Die Regierung leiht dafür Geld. Man darf das Haus nur zu einer vom Staat festgesetzten Miete vermieten und darf keinen Profit aus diesem Hausbesitz haben. Der staatliche Baumaterialienhandel gibt an Private Material ab. Aber Miethäuser für mehrere Familien können nicht privat gebaut werden, diese werden alle durch die öffentliche Hand und nur aus öffentlichen Mitteln errichtet. Die festgesetzten Mieten sind außerordentlich niedrig. Viertens: Auch die Stadtplanung von Schanghai will die Aussiedlung aus dem so furchtbar dicht besiedelten Teil der Innenstadt durch Errichtung von Trabantenstädten erreichen, sie will aber zu diesem Zweck die vielen, dünn besiedelten und sehr primitiven Vorstädte um- und ausbauen. Diese Trabanten werden für hundertbis zweihunderttausend Einwohner berechnet. Die Verbindungen von den Trabantenstädten zum Stadtkern sollen durch Autos und Eisenbahnen gewährleistet sein, der Bau einer Metro ist wegen des hohen Grundwasserspiegels in Schanghai nicht möglich. Fünftens: Es gibt in der Stadt 800.000 Kinder im Schulalter, aber davon gehen nur oder in China man muss vielmehr sagen schon 640.000 Kinder in die Schule. Und zwar in die derzeit 1.256 bestehenden Schulgebäude. Man ist jetzt daran, in allen Vierteln der Stadt ein Netz von Schulen und Kinderanstalten zu errichten. Es gibt in Schanghai 228 Mittelschulen, 866 Kinderkrippen und 786 Kindergärten, aber das reicht noch bei weitem nicht aus. Sechstens: An volle Vorfabrikation geht man noch nicht heran, da die dafür nötigen außerordentlich hohen Investitionen noch nicht gerechtfertigt wären. Man baut unter weitestgehender Verwendung von Bambus, macht Bambusgerüste, Bambusfußböden, Bambusdachstühle, Bambusgartenzäune und verwendet Bambusbeton für die kleinen Spannweiten im Wohnbau.
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Bambusdachstuhl
Bambuszaun
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Siebentens: Da die Chinesen gewohnt sind in niedrigen Häusern zu leben, sieht das Bauprogramm von Schanghai vor, zweiunddreißig Prozent der Wohnbauten erdgeschossig zu bauen, vierundfünfzig Prozent mit einem Stockwerk und nur vierzehn Prozent mit mehr als einem Stockwerk. Eine neue Siedlung, die wir sahen, für dreißigtausend Menschen, mit einem glänzenden Bebauungsplan, hatte nur einstöckige Häuser mit durch Bambuswände abgeschlossenen Wohnhöfchen, mit breiten Verkehrsstraßen und reizvollen Wohnstraßen, mit Kulturzentrum, Verkaufsläden und allem, was sonst nötig ist. Wir sahen aber auch ein Elendsviertel, ein Wohnviertel, in dem achtzigtausend Menschen in unvorstellbar primitiven Verhältnissen hausten, eines jener Viertel, in die sich die Europäer einstmals gar nicht hineingetraut haben und aus denen früher jeden Morgen die Toten herausgetragen wurden. Dort wohnen hauptsächlich Transportarbeiter, teils auch asoziale Elemente. Man muss sagen, dass heute viel von Seiten der gewählten Mieterkomitees geschieht, das sind die Vertreter der zwanzig Distrikte, in die Schanghai aufgeteilt ist, sechs Mieterkomitees für achtzigtausend Menschen, die mit dem Volksrat auf dem Sektor der Kultur- und Erziehungsarbeit zusammenarbeiten und vor allem auf dem Gebiet der Volksgesundheit. Aber die Millionen Menschen alle in neue Bauten zu bringen, das kann nicht so schnell gehen, das muss auch bei angespanntester Arbeit wenigstens noch zwei Jahrzehnte dauern. Und die Sanierung der bestehenden Stadt, dieses rapide und unorganisch entstandenen Häusermeers? Die Hauptsorge der Stadtplanung ist jetzt nur schnell und massenweise menschenwürdigen Wohnraum zu schaffen. So werden die großen, aus den primitiven Vororten entstehenden Traban97
Neue Siedlung für 30.000 Menschen
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tenstädte und die riesigen neuen, niedrig gebauten Gartenstädte und Siedlungen die eng bebaute Innenstadt langsam von außen her auflockern. Ein kleiner Citykern aber wird noch lange bestehen bleiben, vielleicht sollte man ihn überhaupt erhalten, erhalten als Geschäftsstadt und Museum zugleich – Symbol einer Zeit, über die unsere Kinder, nicht nur in China, auch in Europa und Amerika, nur mehr aus Geschichtsbüchern etwas wissen werden, ein bauliches Wahrzeichen zur Abschreckung, denn klarer als hier kann kein Städtebau zum Ausdruck bringen, dass Handels- und Schachergeist aus aller Welt diese Stadt geschaffen haben und dass Handels- und Schachergeist sie jahrzehntelang beherrschten. Von Schanghai über Nanking kamen wir nach dreieinhalbstündiger Flugzeit und 750 km langer Flugstrecke in die vierte chinesische Großstadt, Wuhan. Wir sahen beim Flug über Schanghai die rundherum liegenden, baulich mit der Stadt nicht verbundenen Vorstädte, deren Ausbau als Trabantenstädte vorgesehen ist, und wir sahen, dass es leicht ist, zwischen Stadtrand und Trabantenstadt eine unbebaute Grünzone zu belassen. Wir flogen weiter über „chinesisch Holland“, den riesigen Landstrich innerhalb des Jangtse-Bogens mit einer Unmenge von Wasseradern, Wasserflächen, Kanälen und Reisfeldern. Nach einer halben Stunde überflogen wir den Taihu (Hu heißt See), das große Binnenmeer, in dem zahlreiche Inseln mit vielen Dörfern liegen. Das größte Inseldorf hat dreißigtausend Einwohner. So etwas nennt man in China noch Dorf. Und weiter überall noch große Wasserflächen, Deiche und Dämme, denn die Flüsse liegen höher als die Felder. Nach fünfundvierzig Minuten Flug bekommt die Ebene Relief, es beginnen Hügelketten und Getreidefelder. Die Hügel werden immer höher, man sieht befestigte Bergkämme und Riesenwälder, dann das Sun Yat Sen Mausoleum, man überfliegt 99
Nanking mit seiner gigantischen uralten Stadtmauer. Deutlich sieht man die großen, unbebauten Flächen innerhalb der Mauer, die zu Erholungsgebieten und Parks ausgebildet werden sollen. Man überquert den Jangtse, belebt von unzähligen Booten. Auch hier, beim Weiterflug, sieht man, dass noch etwa zehn bis zwölf Prozent des Geländes unter Wasser stehen. Das Land ist noch dicht besiedelt, viele Dörfer, viele Gehöfte sind zu erkennen, alle ummauert. Die Gebirge werden immer höher, wir überfliegen ein mächtiges Bergmassiv – kreisförmige Reisterrassen, ganz mit den Schichtenlinien laufend, schieben sich die Bergfalten hinauf, wunderschön wie auf alten chinesischen Bildern und Malereien. Wir steigen auf über zweitausend Meter. Rechts im Norden scheinen zwei riesige Gebirgsflüsse auf, sie treffen sich in einem weiten Stausee, die Staudämme zwischen drei abgestuften, großen Seen leuchten in der Morgensonne in grellem Weiß, zwischen dunkelblauen Wassern und grünen Berghängen. Es ist die Regulierung des Huai-RiverTals, in dessen Flusssystem fünfzig Millionen Bauern wohnen und das ein Siebentel des in ganz China kultivierten Bodens umspült. Durch Regulierung und ein umgeleitetes Irrigationssystem werden diese fünfzig Millionen Bauern vor Überschwemmungen geschützt und vor Trockenheit bewahrt werden und hunderte Meilen Wasserweges werden dadurch schiffbar. Wir überfliegen eine deutlich erkennbare Wasserscheide. Die nördlich liegenden Stauseen gehören zum Flussgebiet des bisher wegen seiner großen Überschwemmungen so berüchtigten Huangho, die südlichen Gewässer gehören zum Flusssystem des Jangtse. Gegen Wuhan zu wird das Gelände schnell wieder flach, auch hier in den Ebenen unendlich viele und weit verzweigte Gewässer. Das Flugzeug senkt sich rasch, wir sehen Tempelanlagen und Pagoden wie aus einer Spielzeugschachtel und schließlich unter uns die Dreistadt Wuhan. 100
Blick auf Hankou
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Bei der Ankunft in Hankou (Schütte-Lihotzky hinten rechts)
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Wuhan
Wuhan ist der Sammelname für die drei Städte Hankou, Hanyang und Wuchang mit zusammen zwei Millionen Einwohnern. Diese drei Städte liegen in einer weiten, mit Wassern durchsetzten Ebene, ausgebreitet an den verschiedenen flachen Ufern der zwei Riesenflüsse, des Hankiang und des Jangtsekiang, die hier ineinander fließen. Dadurch ist Wuhan, und davon insbesondere Hankou, im Laufe seiner Geschichte den furchtbarsten Überschwemmungen ausgesetzt gewesen. China war immer das Land ungeheurer Naturkatastrophen, der Wirbelstürme einerseits und der Überschwemmungen anderseits. Diese Wirbelstürme, Taifune genannt, sind durch die geographische Situation des Landes bedingt. Im Sommer und Herbst ziehen heiße, feuchte Winde nach Norden, im Herbst und Winter aber kommen über die Mongolei und die Wüste Gobi kalte trockene Luftströmungen südwärts. Zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Gegenden von Mittelchina prallen diese Luftströmungen aufeinander und erzeugen die Furcht erregenden Taifune. Ein Warnsystem schützt, so weit dies möglich ist, Küstengebiete und Inseln vor diesen verheerenden Stürmen. Gegen die Überschwemmungen aber wird heute ein gigantischer Kampf geführt. Die großen Flussregulierungen und Wasserbauten, die zurzeit durchgeführt werden und für das nächste Jahrzehnt im Plan vorgesehen sind, werden die ganze Geographie des Landes verändern. Ein riesiges System von Stauseen, Schleusen und Dammbauten soll das China der Zukunft vor Überschwemmungskatastrophen bewahren und große Wasserkraftwerke werden dem Land ungeahnte Energiequellen erschließen. Hankou ist jene Stadt, in der die Überschwemmung von 1931 bei der damaligen Bevölkerung von 770.000 Einwohnern dreißig103
tausend Menschenleben forderte. In ganz Südchina sind damals nicht weniger als drei Millionen Menschen zu Grunde gegangen. 1952 war wieder größte Gefahr für eine solche Katastrophe. Wuhan hatte von seinen damaligen zwei Millionen Einwohnern zweihunderttausend Menschen gegen die Überschwemmung eingesetzt und Hankou ist jene Stadt, in der 1952 die Menschen, Mann an Mann, sich zusammenstellten und so eine lebende Mauer bildeten, um das Wasser von der Stadt abzuhalten. Damals gab es „nur“ siebzig Tote. Heute sieht man große Dämme beiderseits des Jangtse Stromes, sie wurden wesentlich erhöht, aber das genügt noch nicht. Das neue System der Wasserbauten in Mittelchina wird in Zukunft die Wasser der Flüsse schon in ihren Oberläufen rechtzeitig ableiten, stauen und eindämmen, damit solche Katastrophen die Städte und das Ackerland nie mehr bedrohen können. Wuhan ist, seiner Lage nach, wie geschaffen für eine künftige große Industrie- und Handelsstadt und unterscheidet sich in seiner städtebaulichen Konzeption dadurch wesentlich von Peking und Nanking. Zweitausend Kilometer vom Meer entfernt, liegt es im Herzen des Landes, an einer der bedeutendsten Binnenwasserstraßen der Erde, in hervorragender Verkehrslage, inmitten einer fruchtbaren, klimatisch günstigen, dicht besiedelten Landschaft. Kein Wunder, dass sich früher auch hier die Ausländer festsetzten, dass sie in einer Zeit, in der China industriell und technisch schwach und politisch uneinig war, in einer Zeit, da die verschiedensten Generalscliquen gegeneinander kämpften, den einträglichen Handel an sich reißen konnten. 1858 für die Ausländer geöffnet, fuhren englische Schiffe vom Meer stromaufwärts bis Hankou und beherrschten die ganze Personen- und Transportschifffahrt auf dem Jangtse. Ich selbst fuhr 1934 mit einem englischen Dampfer jangtseaufwärts nach Hankou und sah dort das äußerst luxuriöse Leben der ausländischen Kauf104
Unser Hotel, neu gebaut
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leute neben dem Elendsdasein der Chinesen. Während man an den Bauten in Hankou heute noch manches sieht, das an die Zeit des Eindringens der Ausländer in China und an deren Luxus erinnert, stehen Hanyang und Wuchang bereits ganz im Zeichen des neuen großen Aufbaus. In Wuhan angekommen, sahen wir als Erstes den großen Brükkenbau, der für das neue China von so ungeheurer Bedeutung ist. Diese Brücke, inzwischen im Oktober 1957 eröffnet und in sechsundzwanzig Monaten Bauzeit vollendet, ist die erste Brücke überhaupt, die über den Jangtse, der hier über einen Kilometer breit ist, gebaut wurde. Die anschließenden Bahn- und Straßenbrücken über den Hankiang wurden schon im Jahre 1955 fertig, sodass die neue Jangtse-Brücke mit diesen Brücken zusammen die erste geschlossene Landverbindung von Nord- nach Südchina überhaupt darstellt. Wuhan ist der Platz, wo sich die große chinesische Ost-West-Wasserstraße, diese riesige Transportader des Jangtse, mit der PekingHankou-Kanton-Bahn kreuzt. Die neue Brücke ist eine zweigeschossige Doppeldeckerbrücke, oben sechsundzwanzig Meter breit, für sechs Reihen Autos nebeneinander und zwei Gehsteige, unten 12,5 m breit, für die Bahn. Ihre Höhe erlaubt es auch 10.000-Tonnen-Dampfern durchzufahren. An ihren Enden liegt sie auf zwei flachen Hügeln auf, dem Schildkrötenhügel und dem Schlangenhügel. Durch diese Brücken sind jetzt mittels Straßen-, Bahn- und Schiffsverbindung nicht weniger als neun chinesische Provinzen miteinander verbunden. Die Fahrtdauer von Kanton nach Peking und weiter in die Mongolei wird durch den Brückenbau um einen ganzen Tag verkürzt. Wuhan, die Dreistadt, geht heute durch ihre Verkehrslage und ihr weites fruchtbares Hinterland einem ungeheuren Aufschwung ent106
Brückenbau
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Wir vor der Brücke (Schütte-Lihotzky 1. Reihe, 2. von links)
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gegen. Sie hat eine sich rapide entwickelnde Maschinen-, Zement-, chemische- und Textilindustrie sowie eine ganz moderne Eisenund Stahlindustrie, die in Wuchang am Südufer des Jangtse in den letzten Jahren aufgebaut wurde und noch weiter in rapidem Tempo in Tag- und Nachtarbeit ausgebaut wird. Jetzt, am 1. Oktober 1958, findet der erste Abstich im Hüttenkombinat statt. Der Hochofen wird täglich Eisen für die Herstellung von hunderttausend zweirädrigen Pflügen liefern. 1960 werden die gesamten Arbeiten dieser Eisenstadt abgeschlossen sein, die heute neben Paotow in der Mongolei das zweite große Stahlzentrum des Landes geworden ist. Der Stadtplanung erwachsen in Wuhan dadurch enorme Aufgaben. Man rechnet bis 1962 mit einer Vermehrung der Bevölkerung von rund zweihunderttausend Menschen, teils durch Geburten, teils durch Zuwanderung. Die eine Stadt Hankou wird sich voraussichtlich nicht wesentlich erweitern, da dort keine neuen Industrien hinkommen und die Einwohner dadurch eher in die zwei anderen, sich außerordentlich entwickelnden Städte abwandern werden. In Hankou will und muss man nur die vorhandene Stadt sanieren, dahingegen muss man in Hanyang und Wuchang unendlich viele neue Wohnungen bauen. Allein für den Bevölkerungszuwachs sind dort siebentausend neue Wohnungen jährlich nötig, ohne zu berechnen, dass auch die bereits vorhandene Bevölkerung aus schlechten Quartieren, primitiven Lehmbauten und Baracken raschest umgesiedelt werden muss. Und so sieht man hier bereits viele, viele drei- und viergeschossige Neubaublöcke, noch unverputzt (aber die Leute wohnen bereits darin), aus vorfabrizierten Ziegelblöcken, die mit dem Kran auf der Baustelle versetzt werden, zusammengesetzt, bereits ein System halber Vorfabrikation. Für die Arbeiter der Stahlindustrie gibt es derzeit zu den neuen Wohnungen schon drei Schulen, zwei Mittelschulen, zehn Kinderanstalten,
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Pavillon der Akademie der schönen Künste
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neunzig Geschäftslokale, drei Theater, fünf Freilichttheater, Arbeiterclubs und Bibliotheken, Ambulatorien und ein Spital, aber das alles ist noch immer zu wenig. Der Wohnungsbau in China geht, wie man sieht, keineswegs nach einem Schema vor sich. Während man in Schanghai hauptsächlich zweigeschossig baut, in Nanking nur erdgeschossig, baut man in Wuhan drei- bis viergeschossige Blöcke, in der Regel Zweizimmerwohnungen mit Balkon, in die aber vorläufig noch zwei Familien kommen müssen. Man sieht, die Lage ist noch hart, aber das Umsiedeln von zwei Familien in eine solche Wohnung ist, gegenüber dem bisherigen Wohnen, wenn man das Hausen in den schlechten Quartieren, die aus ein paar Brettern oder Lehm selbst irgendwie zusammengebaut sind, überhaupt so nennen kann, schon ein sehr großer Fortschritt. Auch hier in Wuhan, wo die Temperatur im Sommer auf 41°C hinaufklettert, wird die Südlage der Zimmer jeder anderen Orientierung vorgezogen. Dachvorsprünge, Balkonplatten und häufig ganze Mattenfassaden, die wie in Schanghai etwa 1½ m vor die gebaute Fassade an Bambusstangen vorgehängt werden, schützen die Zimmer vor der Sonne. Aber Wuhan ist heute nicht nur Handels- und Industriestadt. Es hat eine Universität, deren Studentenzahl in weniger als zehn Jahren von tausend auf zehntausend gestiegen ist, es hat eine Musikakademie und eine Akademie der schönen Künste, zu der in letzter Zeit eine Reihe neuer Häuser zugebaut wurde. Die erste Begabtenauswahl erfolgt bereits mit zwölf Jahren. Von da an werden die Kinder auf ihr Fach vorbereitet, im Ganzen fünfmal gesiebt und treten dann mit dem vierundzwanzigsten Jahr aus der Akademie fertig ausgebildet aus.
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Welche Art Kunst wird hier gelehrt? Nehmen wir einmal das Beispiel der Malerei. In Wuhan wird, wie an allen anderen Kunstakademien, außer europäischer Ölmalerei chinesische Tuschmalerei gelehrt und gepflegt. Wir haben die großartigsten Werke dieser Kunstgattung in Ausstellungen, zum Beispiel eine in Schanghai mit über neunhundert Bildern heutiger Maler, bewundern können. Der Großmeister der modernen chinesischen Malerei ist der kürzlich mit 96 Jahren verstorbene Tchi Bai-sih. Als Sohn einer Bauernfamilie geboren, war er zuerst Kuhhirte, dann Lehrling bei einem Zimmermann, mit einundzwanzig Jahren begann er sich bereits als Holzschnitzer und Maler einen Namen zu machen. Dann ging er acht Jahre auf Reisen in seinem Land, hingegeben der Betrachtung der Berge, Flüsse, Städte und Fluren. Später in seiner Heimat zog er Blumen, Insekten und Vögel, bis er, wie er sich selbst ausdrückte, „ihren inneren Geist verstand“ und diesen vollendet zu Papier bringen konnte. Generationen von Malern hat er diese große Kunst gelehrt. Hier ist eine passive Naturbetrachtung und eine ungeheure Liebe zur Natur in der höchsten Vollendung ausgedrückt. Ein Volk aber, das heute mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln die Natur verändern will, um den Menschen ein besseres Dasein zu schaffen – kann dann diese stille, passive Betrachtung noch Ausdrucksmittel seiner Kunst bleiben? Dieses Volk muss und wird naturgemäß den Menschen in seiner ganzen Aktivität in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellen, alles andere wäre doch widersinnig. Und kann bei so wechselndem Inhalt die Form der Kunst sich gleichmäßig weiterentwickeln, muss sie nicht viel mehr sprungartig sich verändern? Es ist die ewige Wechselwirkung von Inhalt und Form, die auch hier die Formen ändern wird. In diesem Zusammenhang ist es äußerst interessant zu erfahren, dass vor kurzem in Peking in der Galerie des Malerverbandes eine ungewöhnliche Ausstellung zu sehen war. Aquarelle und 112
Wir sehen dem Professor bei der Arbeit (Tuschmalerei) zu (Schütte-Lihotzky ganz links)
Wir in einer Ausstellung chinesischer Tuschmalerei in der Akademie (Schütte-Lihotzky 4. von links)
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Schwarz-Weiß-Graphiken von Bauern eines Distrikts in der Kiangsi-Provinz. 15.000 Amateurmaler haben 78.000 Blätter eingereicht, aus denen zirka zweihundert als die besten für die Ausstellung ausgewählt wurden. Außerdem wurden Photos von Wandgemälden (viele Wände von Dorfhütten werden heute von den Bauern in einer Art Freskomalerei bemalt) sowie Bauernkünstler am Werk gezeigt. Gegenstände dieser naiven und oft sehr phantasiereichen Zeichnungen sind „der Kampf gegen die Natur“ und vor allem die gemeinsame Arbeit. Natürliche Größenverhältnisse spielen wie bei Kinderzeichnungen keine Rolle und vieles zeugt von tief verwurzelter Volkskunst. Sicher ist, dass unter diesen 15.000 Amateuren nicht wenige echte Künstler verborgen sind. Und das ist nur ein Distrikt dieses ungeheuren Landes. Millionen Bauern im Lande fühlen sich plötzlich ermuntert zu malen und aus diesem Strom einer entfesselten Volksmalerei muss eines Tages auch hier, auf dem Gebiete der Malerei, eine Synthese aus Tradition und neuem Leben entstehen. Außer einem sehr hübschen neuen Erholungsheim besuchten wir in Wuhan das neu gebaute Institut für nationale Minderheiten, bestehend aus einem Zentralhaus und fünfzehn Pavillons, alle zweigeschossig, auf einem gärtnerisch schön ausgebildeten Territorium. Das Institut hat Universitätsrang, hier arbeiten Forscher, Professoren und einige hundert Studenten. Es gibt in China sechs Prozent nationale Minderheiten, das sind sechsunddreißig Millionen Nichtchinesen. Es gibt deshalb auch innerhalb der Landesgrenzen siebzig verschiedene autonome Gebiete. Aufgabe des Instituts ist es, die Lebensbedingungen, Kultur und Wirtschaft dieser Minderheiten zu studieren. Es gibt in China zum Beispiel Volksstämme, die bis vor kurzem noch gar keine Schrift besessen haben, also auch keinen einzigen Menschen, der lesen und schreiben konnte. Für sie werden Schriften, der Sprache angepasst, ausgearbeitet oder die chinesische 114
Chinesische Architektin vom Stadtbauamt und ich
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Schrift wird entsprechend ergänzt. Wo es möglich ist, versucht man es gleich mit der lateinischen Schrift. In einem Museum des Instituts werden Kleidung, Geräte, Handwerk und in großen Photos Landschaft und Landwirtschaft, Tänze und auch der Hausbau und das Wohnen dieser Völker gezeigt. Sechzig Prozent des Bodens des heutigen China fallen in die Gebiete der nationalen Minderheiten, das heißt, dass nur vierzig Prozent des Bodens im dicht besiedelten China liegen. Obwohl 1956 zwei Millionen Hektar Brachland der Bebauung zugeführt wurden, harren noch hundert Millionen Hektar der Bebauung. Hieraus allein erhellen die Perspektiven, vor denen das Land steht. Und so wie in der Landwirtschaft ist es auch auf allen andern Gebieten, vor allem im Städte- und Wohnungsbau. Peking, Nanking, Schanghai, Wuhan – vier chinesische Städte, hier baulich beschrieben mit der sie umgebenden Landschaft, ihrem alten Architekturerbe und ihren heutigen großen städtebaulichen Problemen – vier chinesische Städte, voneinander grundverschieden und doch einer einheitlichen sozialen Welt zugehörig. Peking, die Stadt, deren Anblick Geist und Herz jedes Architekten bewegt, die Stadt, deren Schönheit in jedem Künstler den Wunsch wachruft, sie als Zeugin des großen Kulturerbes chinesischer Architektur zu erhalten und dabei mit größter Einfühlung in die komplizierte, verfeinerte Aufgabenstellung weiter auszubauen. Nanking, die Stadt der bergigen und doch weiträumigen Waldhügellandschaft, die Stadt im Grünen, dadurch die Stadt der Ruhe zum Lernen, der Bildung und Erziehung, von der aus die Jugend hinauszieht, um hunderten Millionen Bauern Wissen und Kultur zu vermitteln. Schanghai, die ehemalige Kolonialstadt, Symbol einer vergangenen Epoche der Welteroberung, die Stadt der sechs Millionen mit ihrer Öffnung zum weltweiten Meer. 116
Und schließlich Wuhan, das künftige große Handels- und Industriezentrum am wichtigsten Verkehrsknotenpunkt des Landes. Hier spürt man am stärksten den dramatischen Ablauf des rapiden Aufbaus, hier fühlt man am intensivsten die Bedeutung der Veränderungen an dem Menschen, der sich vom ständig durch Naturkatastrophen und Ausbeutung bedrohten Bauern und Kuli zum natur- und gesellschaftsgestaltenden Staatsbürger entwickelt. Und diese Menschen alle brauchen schnell dieser Entwicklung Rechnung tragende Städte und Wohnungen. China war immer das Land der allergrößten Gegensätze. Höchste Bildung (zwanzigtausend Zeichen musste man studieren, um die großen Werke der Literatur überhaupt lesen zu können) und finsterste Unwissenheit, krasse Trennung zwischen einer ganz kleinen Schicht mit hoher Kultur und den primitiven Bauernmassen, die dauernd der Vernichtung durch Überschwemmungen und Dürre, Misswirtschaft und Lokalkriege preisgegeben waren. Die Natur wird gezähmt, die Gesellschaft wird umgebaut. Diese Tatsachen stellen den chinesischen Städtebauer und Architekten vor ungeheure Aufgaben. Große Schwierigkeiten sind dabei zu überwinden, schwere Probleme zu bewältigen. Wie werden sie gelöst? Und vor allem: Wie wird die Gegenwart, wie wird unsere Generation in der Kunst die Verbindung zwischen einer äußerst subtilen, verfeinerten kulturellen Vergangenheit und einer aktiven, weltaufgeschlossenen, siegesbewussten Zukunft herstellen? In welche Richtung geht die gegenwärtige Kunstentwicklung hier überhaupt? Diese Frage muss jeden Kulturinteressierten, der China heute bereist und ehrlich erlebt, zutiefst bewegen, er stellt sie sich dort täglich aufs Neue, ganz einerlei ob er Musiker, Bildhauer, Maler, Architekt oder Städtebauer ist.
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Frau mit Kindern im Kinderwagen aus Bambus
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Mit dem grundlegenden Umbau der gesellschaftlichen Struktur aber, mit dem Einfluss von Wissenschaft und Technik kann es natürlich auch in der Architektur nicht bei den alten Formen bleiben. Aber die Architekten und Städtebauer haben es leichter als die Maler, Bildhauer oder Musiker. Ist doch das Bauen viel unmittelbarer mit den sozialen Fragen einerseits und mit der technischen und wissenschaftlichen Entwicklung anderseits verbunden. Von allen Künsten ist es immer und überall die Architektur, die am wenigsten Gefahr läuft, sich unabhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung, losgelöst von den Fragen, die die Menschen bewegen, irgendwo im Wolkenkuckucksheim zu verlieren. Was bedeutet nun der neue gesellschaftliche Inhalt für das Bauen? Was bedeutet es für Architektur und Städtebau, dass sich ein Volk mit aller Energie und Aktivität ein besseres, glücklicheres Dasein schaffen will? In erster Linie Bildung und Lernen, also Schulen, Bibliotheken, Theater und Ähnliches bauen, weiters Hygiene, Volksgesundheit, Senkung der Säuglingssterblichkeit und das bedeutet moderne Wohnungen mit Licht, Luft und Sonne, also Kanalisierung, Badezimmer, Elektrizität, neue saubere Dörfer, Entbindungsheime, Ambulatorien, Erholungsheime und Sanatorien. Das heißt in China Einbruch der Zivilisation in ein Land mit großem altem Kulturerbe. Letzteres verhindert die blinde Anbetung dieser Zivilisation, den Freudentaumel über technische Errungenschaften, wie er in Europa im neunzehnten und auch noch im zwanzigsten Jahrhundert ausgebrochen ist. Die Chinesen haben am europäischen und japanischen Beispiel gesehen und erlebt, dass diese Errungenschaften auch zum Unglück der Völker führen können und tun deshalb vernunftgemäß alles, um die Gedanken der Menschen gegen die Vernichtungsmöglichkeiten der Menschheit durch die Technik einzusetzen. Dem Einbruch der Zivilisation steht
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Obstverkäufer am Bahnhof von Tientsin
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in China die große alte Kultur, die heute noch lebendige hohe Tradition in Architektur und Kunsthandwerk gegenüber. Die Formen werden sich verändern, die Tradition lebt weiter. Immer ist es der chinesischen Kultur im Laufe der Geschichte gelungen, Einflüsse auch von außen in sich aufzunehmen, ja sie aufzusaugen und zu verarbeiten und immer hat sich dabei das Chinesische als das Stärkere und Kräftigere erwiesen. Nie ist die chinesische Kultur ihrer Größe verlustig gegangen. Die getrennten Begriffe von Kultur und Zivilisation, erst Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Europa entstanden, werden in einer künftigen einheitlichen Kultur auch wieder zu einer Einheit verschmelzen. Die Welt ist kleiner geworden und sie wird mit jedem Tag, mit jeder neuen wissenschaftlichen Erkenntnis, mit jeder neuen technischen Erfindung und mit jeder neuen menschlichen Beziehung zwischen den Völkern und Rassen, zwischen Ländern und Erdteilen kleiner und damit wird die Weltaufgeschlossenheit aller Völker weiter und größer. Nirgends kann man das heute stärker empfinden als in China. Im Zeitalter der Atomenergie werden eines Tages alle Völker friedlich nebeneinander leben müssen, wollen sie sich nicht der Vernichtung preisgeben. Der Gedanken- und Kulturaustausch muss naturgemäß wachsen und wer sich davon ausschließt, gerät ins Hintertreffen nur zu seinem eigenen Schaden. Die Chinesen sind von dieser Tatsache zutiefst überzeugt. China will aus den Erfahrungen des Auslands lernen. Immer wieder wurden wir um unsere Meinungsäußerung zu ihren Fragen, zu ihren Problemen gebeten, zur ungeschminkten und offenen Kritik an ihren Arbeiten aufgefordert. Die Chinesen wollen und brauchen den Anschluss an die Welt wie jedes andere Volk der Erde. Sie wissen aber auch, dass Weltaufgeschlossenheit keineswegs gleichbedeutend ist mit einem schalen Kosmopolitismus. Wahrhaft große nationale Kulturgüter 121
und Traditionen können durch Weltaufgeschlossenheit nie verlieren, sondern nur gewinnen. Die Chinesen arbeiten heute in dem Bewusstsein, dass sie mit den tief greifenden Veränderungen in ihrem Lande, mit dem Aufbau Chinas, auch wesentlich zur Entwicklung der Welt beitragen. Chinesischer Städtebau und Architektur werden ihren Weg in der Synthese der großen Kulturtraditionen mit dem sozialen, wirtschaftlichen und technischen Fortschritt in China, in Asien und in der Welt finden.
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„3 Generationen in China“: chinesische Großmutter mit ihrem Enkel. Sie hat noch die berühmten „Lilienfüße“, wie sie in früheren Zeiten durch Faschen der Beinchen schon bei kleinen Mädchen entstanden. Ein sonderbares Schönheitsideal, das die Frauen ein ganzes Leben lang hinderte, bequem zu gehen. Die Chinesin von heute geht auf ganz normalen Füßen (rechts). Und viele Großmütter lassen sich in Spitälern durch eine Operation die Füße normalisieren.
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Editorische Nachbemerkung
Das Manuskript mit dem Titel „Millionenstädte Chinas“ stammt aus dem Nachlass Schütte-Lihotzky, der in den Sammlungen der Universität für angewandte Kunst Wien untergebracht ist. Es findet sich in drei Textstufen: die Signatur TXT 245 bezeichnet eine aus Skizzen, einem handschriftlich stark bearbeiteten Typoskript und einer Liste an Bildunterschriften bestehende Rohfassung. TXT 245A, ein von der Autorin handschriftlich korrigiertes Typoskript, ist die dazugehörige Endfassung, die auch die Grundlage dieser Ausgabe darstellt. Unter TXT 245B ist ein unkorrigierter Typoskriptdurchschlag abgelegt. Der im Vorwort erwähnte „Reisebericht“ bzw. die „Charakteristiken der Mitreisenden“ sind unter TXT 421 abgelegt. Das „Reisetagebuch“, aus dem ebenfalls im Vorwort zitiert wird, trägt die Signatur TXT 420. Diese Ausgabe versteht sich als Leseausgabe. Eindeutige Tipp- und Orthographiefehler wurden korrigiert, der Text der aktuellen Rechtschreibung angepasst und grammatikalische Fragwürdigkeiten nach Möglichkeit ausgeräumt. Falsch geschriebene Eigennamen wurden richtig gestellt. Anmerkung zu Seite 69 „Shenbao“: Schütte-Lihotzky schreibt im Original „Shenninshinbao“. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Manuskripts war die Shanghaier Zeitung „Shenbao“ eine der größten Chinas. Höchstwahrscheinlich ist diese gemeint. Gemeint sein könnte unter Umständen auch die 1949 gegründete Zeitung „Renminribao“ (= „Volkszeitung“).
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Nachwort
Fünfzig Jahre nach dem Besuch von Frau Schütte-Lihotzky in China habe ich die schöne Aufgabe, einige Gedanken aus heutiger Sicht zu ihrem Reisebericht zu schreiben. Ich versuche es in einem kleinen Dialog mit der Autorin. Jeder, der ihren Bericht liest, wird begeistert und erstaunt sein, die Offenheit bewundern, mit der die chinesischen Partner ihre Probleme und Chancen dargestellt haben und wie einfach die Entwicklungskonzepte waren. China und die Welt haben sich radikal gewandelt, trotzdem bleiben Erkenntnisse und Gedanken der Autorin auch heute aktuell und die Ansichten einer ausländischen Architektin lesenswert. 1956, zehn Jahre vor der tragischen und radikal zerstörerischen Kulturrevolution, scheint in China ein Klima geherrscht zu haben, in dem Kommunismus, Architektur, Erhaltung von Bauwerken, Kunsthandwerk und Künste in der Tradition der zweitausend Jahre alten chinesischen Kultur und Zivilisation friedlich nebeneinander existieren konnten. „(...) ein Land, das heute weit über sechshundert Millionen Einwohner zählt, (...) das außer Chinesen noch über vierzig verschiedene Völkerschaften beherbergt, nationale Minderheiten mit (...) verschiedenen Religionen und auf ganz verschiedener Kulturstufe lebend (...).“ Die unterschiedlichen Kulturstufen, die Völkerschaften und verschiedenen Sprachen gibt es heute auch noch immer, nur ist die Bevölkerung auf 1,4 Milliarden Menschen angewachsen und dementsprechend hat eine unglaubliche Verstädterung eingesetzt, die für einen Europäer eine unvorstellbare Größenordnung angenommen hat. 129
„Die heutigen Bauprobleme in China sind ungeheuer.“ Entsprechend sind die Bauprobleme in neue Dimensionen angewachsen. Das Land erlebt seit der Öffnung in allen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bereichen ungeheuere, damals nicht vorstellbare Veränderungen, die Konsequenzen in allen chinesischen Städten haben. Der sowjetische Einfluss ist abgelöst von europäischen und amerikanischen Vorstellungen, die teilweise genauso unkritisch und dogmatisch übernommen werden wie die Vorbilder der Fünfzigerjahre. „Man baut unter weitestgehender Verwendung von Bambus, macht Bambusgerüste, Bambusfußböden, Bambusdachstühle, Bambusgartenzäune und verwendet Bambusbeton für die kleinen Spannweiten im Wohnbau.“ Als ich 1997 China zum ersten Mal besuchte, war ich beeindruckt, dass selbst Hochhäuser mit einem Netzwerk von Bambusgerüsten gebaut werden. Auch die drei- bis viergeschossigen Hochstraßen in Shanghai wurden ausschließlich mit Bambus gebaut und man stand auf den Baustellen staunend in einem Bambuswald. Diese Tradition gibt es heute nicht mehr, auch der Gerüstbau ist globalisiert worden. „Trotz des ungeheuren Bedarfs an Wohnungen wird man in China in allernächster Zeit nicht an die Herstellung vorfabrizierter Häuser herangehen.“ Heute baut China mit den weltweit bekannten Technologien und Systemen. Auch hier haben sich die Architektur und die Konstruktionsmethoden dem internationalen Markt angepasst. Wir arbeiten 130
in China sehr eng mit jungen chinesischen Architekten und Planern zusammen, die teilweise im Ausland studiert haben oder auch an den chinesischen Universitäten wie der Tonji Universität in Shanghai ausgebildet worden sind. Ihr Wissen und Können, ihr Umgang mit Computersystemen und Programmen unterscheidet sich nicht von dem Wissen europäischer Architekten. In einigen Jahren werden chinesische Architekten auch selbständig weltweit tätig sein. „(...) nirgends spielte die Stellung der Häuser (...), ihre Lage zur Himmelsrichtung, zu Sonne, Wind und Wasser eine solche Rolle wie in China. (...) in wunderbaren Proportionen das Gefühl vollkommener Ruhe und Harmonie. (...) Es besteht keinerlei Missverhältnis, vielmehr ein Idealverhältnis zwischen bebauter Fläche und Freiflächen, zwischen Bauhöhen und Garten- und Parkflächen.“ Die von der Autorin beschriebenen Prinzipien chinesischer Stadtbaukunst gehen auf Regeln zurück, die ich beim Studieren der Kaiserlichen Nord-Süd-Achse in Peking gefunden habe. Diese wurden schon zirka 200 v. Chr. in einem Kanon formuliert, der die Anordnung, Lage und Größe der Stadt beschreibt. Zum Beispiel stehen dort erstaunlich moderne ökologische Anweisungen; so sollte eine Stadt nicht über eine bestimmte Größe wachsen, so dass sie vom Umland noch ernährt werden kann. Leider ist von diesen aus der jahrtausendealten chinesischen Stadtbaukultur überlieferten Prinzipien in den großen Stadterweiterungen und Satellitenstädten nichts mehr übrig geblieben. Von Harmonie und Idealverhältnissen kann heute nicht mehr die Rede sein. Die Stadt in China ist austauschbar geworden mit Städten in der ganzen Welt. Im Wohnungsbau ist ein Prinzip übrig geblieben, die 131
Ausrichtung der Wohnungen nach Süden. Dies führt zu Monotonie, wenn man große Stadtteile oder eine deutsche Stadt wie in der Internationalen Automobile City in Anting Shanghai entwikkeln soll. In den letzten Jahren haben die gebauten, teilweise hässlichen, riesigen Stadtteile zu einem Wissen um Umweltprobleme, mangelnde Grün- und Freiflächen und qualitative Mängel geführt, das politische Reaktionen ausgelöst hat, die für die Zukunft hoffen lassen. Die Gesetzgebung in Peking setzt neue Rahmenbedingungen; zum Beispiel zum energiesparenden Bauen, wie es von uns in Anting angewandt wurde. In einem Riesenland wie China dauert es etwas, bis diese neuen Gesetze Wirkung in den Provinzen zeigen. Ich bin aber zuversichtlich, dass China in zehn Jahren nicht mehr der größte Umweltverschmutzer der Welt sein wird. Die Beschreibung der städtischen Verhältnisse und Entwicklungen von Nanjing und Wuhan kann ich nicht kommentieren, da ich diese Städte nicht gut genug kennen gelernt habe, wohl aber Peking und Shanghai.
Peking
„(...) heute hat [Peking] drei Millionen [Einwohner]. (...) Ziel ‚keine Zuwanderung mehr nach Peking’ (...). Die städtebauliche Aufgabe ist von einmaligem Reiz.“ Die Autorin würde das heutige Peking nicht mehr wiedererkennen, die Stadt hat 2007 zirka zwölf bis fünfzehn Millionen Einwohner, fünf Autobahnringe, der sechste ist im Bau, und trotzdem enorme 132
Verkehrsprobleme mit stundenlangen Staus, die jeder geduldig erträgt und die trotz des in den letzten Jahren beschleunigten Ausbaus des U- und S-Bahnnetzes und einer generellen Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs weiter wachsen werden. Das Ziel, die Zuwanderung zu begrenzen, gibt es in den großen Metropolen auch heute noch; dies kann jedoch das weitere Wachsen von Städten wie Peking und Shanghai nicht verhindern. Die Attraktivität der vielfältigen Arbeitsmöglichkeiten, Ausbildung, Lebensqualität und internationale Vielfalt tragen zu den weltweit ähnlichen und nicht verhinderbaren Wachstumstendenzen bei. „Peking ist eine der schönsten Städte der Erde. (...) Kein einziges wertvolles Baudenkmal, egal ob es sich um einen Tempel oder Profanbau handelt, wurde abgerissen.“ Peking kann man heute nicht mehr als eine der schönsten Städte der Welt bezeichnen und abgerissen wurde in den vergangenen zehn Jahren sehr viel, um nicht zu sagen zu viel, auch historisch wertvolle Substanz. Dies gilt nur teilweise für die alten Hutong ähnlichen Wohnviertel, hier verklärt oft der romantische nostalgische europäische Blickwinkel die Sicht auf die Realität von heruntergekommenen und überbevölkerten Quartieren ohne jede Infrastruktur (Fäkalienentsorgung in Eimern und Handkarren) und die unmenschlichen Lebensbedingungen. In den letzten Jahren hat allerdings ein Umdenken eingesetzt und Geschichte und Tradition haben einen höheren Stellenwert erhalten. Dazu gehören vor allem auch historische Gebäude und Stadtstrukturen. Der Stolz der Chinesen, eine uralte Kultur zu sein, ist das Eine. Das Andere bestimmt aber auch das Geld. Mit den an der chinesischen Geschichte interessierten Touristen aus dem In- und Ausland ist viel Geld zu verdienen.
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Nicht umsonst haben die Chinesen den Ruf, die besten Kaufleute der Welt zu sein. Ein kleines Beispiel ist die Reisewelle zum chinesischen Frühlingsfest vom 3. Februar bis zum 14. März 2007. Es waren 155 Millionen Chinesen mit dem Zug unterwegs. Zwanzig Millionen mit dem Flugzeug, 28 Millionen mit dem Schiff und siebenhundert Millionen Reisen fanden mit dem Auto statt. Es werden Denkmäler gepflegt oder auch wieder errichtet wie das Südtor auf der kaiserlichen Achse in Peking, das 1956 wahrscheinlich noch gestanden hat. Ganze Quartiere werden unter Denkmalschutz gestellt, nicht nur in Peking und in Shanghai. Bis zu den Olympischen Spielen 2008 wird die Stadt in neuem Glanz erstrahlen, in einer einmaligen Symbiose aus Geschichte und Zukunft. „Der Kontrast vom niedrigen Alten zum hohen Modernen kann, wenn es richtig gemacht ist, von besonderer Schönheit sein.“ Unter hoch verstand die Autorin gewiss nicht das ungeheuer dichte Nebeneinander von Hochhausarchitekturen, die den Geschmacksmischmasch von Neureichen widerspiegeln. Die Hochhäuser damals hatten zehn bis zwanzig Geschosse, heute das Doppelte und mehr. Das Chaos lässt keinen bewussten Gestaltungswillen erkennen. Doch auch hier ändern sich die Zeiten rasant. Es ist eine enorme Qualitätssteigerung in den Architekturen zu erkennen, wozu ich Ausrutscher wie die moderne Pekingoper neben der Verbotenen Stadt nicht rechnen möchte. Aber viele olympische Bauten werden die neue Qualität zeigen. „(...) zum Beispiel an der großen, breiten Ost-West-Achse, in deren Mitte das berühmte Haupteingangstor zum Kaiserpalast ‚Tien An Men‘ liegt, könnte man ungehindert mehrgeschossige 134
öffentliche Gebäude errichten, was bereits zum Teil geschehen ist. Ihre Höhe muss jedoch (...) unter der Höhe desselben, das sind 24 m, bleiben.“ Typisches Beispiel für den Wandel der Zeiten ist die Ost-WestAchse am Tien An Men Platz, von einer Höhenbeschränkung ist nicht mehr die Rede. Shopping Malls, Hotels, Banken, Büro- und Regierungsgebäude sehen aus wie in jeder Welthauptstadt dieser Erde.
Shanghai
„Die Stadt ist architektonisch ein Chaos, baulich ein unbeschreiblicher Mischmasch, etwas so völlig Charakterloses, dass sie dadurch schon wieder Charakter bekommt, nämlich einen Charakter der vollkommenen Charakterlosigkeit. (...) Staatsplanung und Städtebau tun alles, damit die Zahl der Einwohner von Schanghai in Zukunft sechs Millionen nicht überschreitet.“ Heute ist Shanghai die Wirtschaftsmetropole Chinas und mit dem Shanghai von 1956 nicht mehr zu vergleichen. Die Bevölkerung ist bei zwölf bis vierzehn Millionen und auf der anderen Uferzeile vom Bund ist Pudong entstanden, eine eigene Stadt, 2007 mit 2,8 Millionen Einwohnern. Mit dem Bau der Stadt wurde erst 1990 begonnen und sie hat heute den Internationalen Flughafen, den Transrapid und 2006 wurde auf künstlichen Inseln, fünfundzwanzig Kilometer vor der Küste, der größte Tiefwasserhafen mit aller notwendigen 135
logistischen Infrastruktur wie Auto- und Eisenbahnverbindung in Betrieb genommen. In Shanghai sind über dreitausend Hochhäuser entstanden, darunter ein Hotel mit 66 Geschossen und dreitausend Zimmern, das Royal Meridien, und zur Zeit ist in Pudong das Shanghai World Financial Center der Japanischen Minoru Mori Gruppe Tokio mit 492 Metern im Bau. Chinesische Baufirmen, unterstützt von etwa hundert japanischen, amerikanischen und europäischen Experten, die Technik und Bauqualität überwachen, bauen mit gleichzeitigen Ausbaustufen in unterschiedlichen Höhen dieses von KPF entworfene Hochhaus mit 101 Stockwerken und 91 Liften. Zu den Olympischen Spielen 2008 wird es fertig sein. Ebenfalls in Pudong entsteht die chinesische Weltausstellung für 2010. Hier wird im großen Stil aus maroden Industriequartieren am Yan Pu River Stadtqualität zurückgewonnen und mit dem Generalbauthema „Better City, Better Life“ gezeigt, wie die Welt in zwanzig Jahren aussehen könnte. „Nur eines sieht man nicht mehr: den unbeschreiblichen Luxus, wie er mir noch auf meiner ersten Chinareise 1934 in die Augen sprang, einen Luxus, wie man ihn damals in Europa kaum finden konnte.“ Was 1956 undenkbar war, ist nach Shanghai zurückgekehrt. Der Luxus, die Restaurants, das glitzernde Leben einer Weltmetropole ist wieder da. Ein schönes Beispiel hierfür ist das luxussanierte Viertel Xintiandi. Hier steht noch das bescheidene Gebäude, in dem die kommunistische Partei gegründet wurde. Die alten Strukturen wurden erhalten und ein weitschauender Unternehmer, Vincent Lo mit seiner „Shui On Land Group“, hat das Ganze mit einem wunderschönen Park und alten Strukturen ergänzt. Heute trifft sich hier 136
die reiche Jugend Shanghais. Erkauft wurde die Luxuswelt mit einer teuren Wohnhochhaussiedlung, die auf die erhaltene und verwandelte Geschichte herunterschaut. Shanghai ist dabei, Hongkong seinen internationalen Rang als Wirtschafts- und Finanzmetropole streitig zu machen. Und Shanghai steht nicht nur für Luxus. „Diese Trabanten werden für hundert- bis zweihunderttausend Einwohner berechnet.“ Shanghai hat sich mit einem Ring von neun Trabantenstädten umgeben, die alle in eine Größenordnung von ein bis zwei Millionen Einwohnern wachsen und Industriezweigen zugeordnet sind. Die Automobilindustrie ist in Anting, dreißig Kilometer vom Stadtkern, konzentriert – mit VW-Werken, Zulieferindustrien, Verwaltung, Büros, einer Formel-1-Rennstrecke, einem College of Engineering für die Autoindustrie für 16.000 Studenten der Tonji Universität, Golfplätzen, Ausstellungsgebäuden und Parkanlagen. Mein Büro hat versucht, mit der Masterplanung und einer deutschen Wohnstadt für 50.000 Einwohner chinesisches Denken und europäische Technologie miteinander zu verbinden. In fünf bis zehn Jahren wird man sehen, ob das Beispiel funktioniert. „[Der Bund:] Der Anblick vom Wasser aus ist ganz der einer europäischen oder amerikanischen Hafenstadt.“ Der Bund ist heute nachts angestrahlt und er ist ein wesentlicher Teil der wechselhaften Geschichte Shanghais. Das Plazahotel und das von der Autorin am Bund fotografierte Shanghai Maison Hotel gibt es noch in der gleichen Funktion. Die Uferpromenade ist unterparkt und in den Fluss hineingeschoben, der Flanierboulevard der Weltmetropole mit der glitzernden und glänzenden Skyline von 137
Pudong, gegenüber mit dem Fernsehturm und dem Jin Mao Tower, in dem in der 45. Etage das spektakuläre Hyatthotel beginnt. Einen Tag in Shanghai beschließt man am schönsten in der Bar, in der 88. Etage, mit dem Rundblick über eine der phantastischen und faszinierenden Städte der Welt und einem Glas guten chinesischen Rotweins. „Die Welt ist kleiner geworden und sie wird mit jedem Tag (...) kleiner (...). Nirgends kann man das heute mehr empfinden, als in China.“ Schöner kann man auch heute die Veränderung der Welt nicht beschreiben.
Albert Speer, Frankfurt am Main 2007
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