Silber Grusel � Krimi � Nr. 319 �
Roger Damon �
Mississippi-Monster � 15.Roman mit dem Detektiven der UWA �
Sie kam...
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Silber Grusel � Krimi � Nr. 319 �
Roger Damon �
Mississippi-Monster � 15.Roman mit dem Detektiven der UWA �
Sie kamen aus dem Mississippi und huschten auf den alten Mann zu… drei… sechs… zehn… kleine Tiere auf flinken Füßen… Zehn Schritte vor dem Alten bildeten sie eine dichte Schar. Seine Pfiffe wurden rhythmischer. Die Tiere gehorchten. Sie tanzten nach der Pfeife des Mannes, den einige Leute in New Orleans den »Vater der Ratten« nannten. Bald waren es fünfzig Wanderratten, die dicht gedrängt vor dem Alten tanzten. Schrill verstummte die Pfeife. Die Rattenschar erstarrte. Dann blies der Mann lang schleifende Töne, aufsteigend und absinkend, und die Ratten wogten mal nach links, mal nach rechts wie Grashalme im Wind. Jäh ließ der Alte mit hartem Staccato die Tänzer auf- und niederhüpfen. Er kicherte. Das wurde immer besser. Die Ratten taten genau das, was er wollte. Er setzte die Pfeife zu einer neuen Passage an, als er Mädchenstimmen hörte. Noch waren sie weit entfernt, aber sie näherten sich schnell… * In ausgelassener Stimmung hatten die schwarzhaarige Maud Pivot und ihre blonde Freundin die Party verlassen. »Sei kein Frosch! Wir sind mindestens zehn Minuten früher zu Haus.« »Laß uns auf der Straße bleiben«, bettelte Alice Baker. »Es ist so dunkel und auf der Wiese…« »Auf der Wiese ist kein Mensch«, erwiderte Maud, »und auf der Straße wimmelt es von Betrunkenen. Komm! Wir können unseren Tanz noch mal probieren. Es gibt immer noch ein paar 3 �
Schritte, die ich nicht kapiere.« »Du kannst dich eben nicht konzentrieren«, willigte Alice ein und lief zu der Freundin auf. »Deine Gedanken sind immer woanders. Wer ist es denn diesmal?« »Überhaupt niemand«, wehrte sich Maud. »Das ist ja das Gute am Karneval. Da sieht man, daß mit den Kerls nichts los ist.« Alice Baker lachte. »Umso besser. Wollen wir mal?« »Klar. Leg los!« Alice Baker lief einige Schritte auf die Wiese und hielt in einer anmutigen Tanzhaltung an. Von allen Seiten wehten Saxophone, Trompeten, Posaunen und Gitarren Melodiefetzen heran. Alice führte Tanzschritte vor. »Tatati… tatato… tipi tipi tipi – tap!« Maud Pivot hatte unsicher mitgemacht. »Na also«, lachte Alice, »du kannst es doch.« Sie lief auf Maud zu, ergriff ihre Hände und wiederholte mit ihr gemeinsam die Schritte. Bald wurde daraus ein zügelloser Reigen, zu dem sie ausgelassen lachten. Dabei näherten sie sich dem alten Mann, der zurückwich, bis er mit dem Rücken an die Duelleiche stieß und stehen bleiben mußte. Alice bemerkte den Alten als erste und hielt an. »Oh, Pardon! Wir haben Sie nicht gesehen.« Maud Pivot ergriff eine Hand des Alten. »Es ist Karneval, Alter. In zehn Tagen ist Mardi Gras: Komm, mach mit!« Sie zog ihn weg vom Baum. Er stolperte ein paar Schritte vor. Die Mädchen umtanzten ihn übermütig und trieben ihn dadurch immer näher an das Flußufer. Der Alte faßte endlich in seine Rocktasche und holte die Me4 �
tallpfeife heraus. Er blies hinein… kurze Signale. Alice Baker jauchzte. »Fein! Das ist recht… Machen Sie mit! Pfeifen Sie den Marsch vom Mardi Gras!« Maud ließ die Hand ihrer Freundin los und wirbelte singend über die Wiese. Alice sah ihr unbeteiligt zu. Sie war müde und fühlte sich plötzlich nicht wohl. Was war nur? Hatte sie zuviel getrunken? So viel war es doch gar nicht gewesen… Maud tanzte auf eine der zierlichen Brücken zu, die in sanften Bögen über den Fluß sprangen. Alice sah sich um. Wo war der Alte hin? Ein heißer Schreck durchfuhr sie. Der Mann war weg. Maud stand auf der Brücke, streckte die Arme weit auseinander und beugte den Kopf nach vorn. Ihre langen schwarzen Locken bedeckten das Gesicht. Sie ist schön, fuhr es Alice durch den Kopf, als sähe sie das heute zum erstenmal. Da kamen wieder leise Pfeifsignale. Alice Bakers Blick raste über die beiden Flußufer und blieb auf der nächsten Brücke, die vielleicht dreißig Yard entfernt war. Da stand der alte Mann und pfiff. Maud Pivot richtete sich jäh erschreckt auf. »Nein«, hauchte sie. »Das ist doch… Alice«, rief sie angstvoll, »komm doch mal her! Ich kann es nicht erkennen…« Alice Baker setzte sich langsam in Bewegung. »Hat sie wieder mal ihre Brille nicht dabei«, grollte sie vor sich hin. Maud Pivot sprang zurück und wollte die Brücke verlassen. Sie wandte sich nach rechts und erstarrte. »Nein«, schrie sie, »nein… nein…!« Alice lief zu ihr hin. Aber nach einigen Schritten blieb sie entsetzt stehen. Maud konnte die 5 �
Brücke nicht verlassen. An beiden Ufern rückten zwei breite Kolonnen von Ratten heran auf der sie sich vereinigen wollten. Und dort stand hilflos und starr das schöne Mädchen. Alice lief wild entschlossen auf die Brücke zu. Aber schon schwenkte eine Gruppe von Ratten auf Alice zu. Das Mädchen wollte sich nicht aufhalten lassen und trampelte die ersten Angreifer nieder. Da sprangen andere an ihr hoch. Alice schlug um sich. Maud stieg auf das Geländer der Brücke. Schrill schreiend sprang sie in den Fluß… Von der anderen Brücke pfiffen kurze Signale herüber. Sie versetzten Alice in rasende Wut. Sie rannte auf den alten Mann zu und wehrte unterwegs angreifende Tiere ab. Der alte Mann stand mitten auf der kleinen Brücke und erwartete sie grinsend. Kaum betrat Alice Baker die Brücke, da stieß der Alte einen schrillen Pfiff aus. Das Mädchen sah, wie die Scharen, die Maud in den Fluß gedrängt hatten, kehrtmachten und auf den Alten zugerannt kamen. Wütend fiel sie den Mann an, der, überrascht, keinen Widerstand leistete. Er flog mit dem Rücken an das Brückengeländer und starrte haßverzerrt das rasende Mädchen an. Alice Baker konnte sich nicht mehr mit ihm beschäftigen, da sie mit schnellen Seitenblicken erkannte, daß die Ratten in wenigen Sekunden auch die zweite Brücke überschwemmen würden. Mit einem Satz gelangte sie an das andere Ufer und rannte über die Wiese auf die nächsten Straßenlaternen zu. Von da kam wie bestellt laute Musik. Der alte Mann brachte mit einem langen Triller die Ratten zur Umkehr. Mühsam reckte er sich am Geländer wieder hoch und sah hinter dem fliehenden Mädchen her. »Lauf nur!« fauchte er. »Du wirst mir nicht entgehen. Mit Avon 6 �
Hiller spielt man nicht. Ich werde dich finden.« Kichernd fügte er hinzu: »Meine Truppen werden dich finden…« * Auf der Orleans Avenue stolperte Alice Baker außer Atem in eine Gruppe ausgelassener junger Menschen. Sie waren zum Teil kostümiert und in Stimmung. Sie konnten den Höhepunkt des Mardi Gras nicht mehr abwarten. Sechs Musikanten überboten sich an heißen Improvisationen, und die anderen umtanzten das Mädchen, das keuchend auf dem Boden lag. Es hatte offenbar Gesellschaft gesucht. Was anderes war doch nicht möglich im Karneval. Es dauerte eine ganze Weile, bis Alice Baker sich verständlich machen konnte. »Ratten«, keuchte sie und zeigte zum Fluß hinüber. »Ratten… Tausende… Abertausende… meine Freundin in den Fluß gedrängt… ein Alter pfeift und sie kommen…« Ein baumlanger Kreole in einem Torerokittel kniete bei Alice nieder und zog sie an sich. »Ruhig Blut, kleiner Schmetterling«, lachte er begütigend. Alice hatte sich wieder so weit in der Gewalt, daß sie zusammenhängend schildern konnte, was sie im City Park erlebt hatte. Die Geschichte war aber so unwahrscheinlich und paßte so gar nicht in die Karnevalsstimmung, daß die jungen Fans sich nach und nach entfernten. Als dann eine Trompete wieder lockte, fielen die anderen Instrumente sofort ein. Singend und lachend zog die Gruppe weiter. Alice Baker blieb mit dem langen Kreolen allein zurück. Er sah unentschlossen hinter der Gruppe her. Dann legte er einen Arm um die Schultern des Mädchens und erhob sich mit ihm. 7 �
»Ich heiße José. Kommst du mit uns? Du brauchst ein bißchen Zerstreuung…« »Nein, nein«, unterbrach Alice erregt. »Ich muß sehen, was mit Maud ist… Sie braucht Hilfe. Danke. Es ist sehr nett, aber ich kann jetzt nicht… seid mir nicht böse.« José gefiel die Blondine. Die anderen waren auch schon so weit weg. Vielleicht war hier ein Abenteuer… »Komm! Ich werde dich begleiten, wenn es dir recht ist.« »Danke.« Alice Baker wandte sich dem Park zu, hielt aber noch mal inne und sah den langen Kreolen freundlich an. »Ich heiße Alice.« Damit sprang sie auch schon in die Wiese zurück. Die Sträucher und Bäume ragten noch kahl und finster. Ein leichter Wind wehte sie an. Schweigend lief en sie nebeneinander her. Etwas raschelte in der Nähe. Alice ergriff Joses Hand. »Da war etwas.« »Ein Vogel… oder ein Eichhörnchen«, bagatellisierte er. Alice ließ sich täuschen. Aber dann raschelte es mit einem Mal stärker. Es plätscherte im Fluß. Sie umklammerte den Unterarm des jungen Mannes. »Das will ich mir ansehen«, entschied José, ging entschlossen auf das Flußufer zu und zog das blonde Mädchen hinter sich her. Sie hasteten über die Wiese. Das Plätschern wurde immer lauter. Sie erreichten die Brücke, auf der der Alte gestanden hatte. Alice zerrte ihn zurück. »Hörst du das nicht?« schluchzte sie. »Das sind doch…« José blieb ganz ruhig. »Wir werden schon sehen, was da los ist.« Er machte ein paar vorsichtige Schritte auf die Brücke hinauf 8 �
und nahm Alice mit. In der Dunkelheit war nicht viel zu erkennen. José zog ein Feuerzeug aus der Tasche. Er beugte sich über das Brückengeländer, ließ den Arm tief hängen und rieb die Flamme an. Er glaubte zuerst an eine Täuschung. Aber dann konnte er doch nicht mehr zweifeln, daß da zahllose Ratten schwammen, Körper an Körper, wie eine exerzierte Truppe. Aber sie kamen nicht auf die Brücke zu. Sie entfernten sich und spalteten sich in zwei Ströme auf. Sie schwammen auf die Ufer zu, und da verschwanden sie. Da mußte es Löcher oder Rohre geben. Sie nahmen die Ratten auf. José löschte das Feuerzeug und erhob sich. »Hat deine Freundin auf dieser Brücke gestanden?« fragte er sie und bemühte sich, seine Erregung nicht spürbar zu machen. Alice Baker schüttelte den Kopf und zeigte auf die nächste Brücke. »Reg dich nicht auf«, tröstete sie der lange Kreole. »Die Biester sind weg. Es waren nur noch einige, die sich verspätet hatten.« Dann nahm er wieder Alices Hand und führte sie im Laufschritt zu der anderen Brücke. Er ließ ihre Hand los und ging, sich umschauend, bis zur Mitte der Brücke. »Hat sie hier gestanden?« fragte er gedämpft. Alice bekam keinen Ton heraus. Sie nickte stumm. Er beugte sich über das Geländer. Da sah er im Gestänge etwas Weißes. Er nahm es an sich: ein Leinenschuh. Er hob ihn hoch und zeigte ihn Alice. Sie nickte und schlug die Hände vors Gesicht. Von irgendwoher kamen leise Pfiffe. Alice Baker geriet außer sich. »Komm der Alte… weg hier…« Sie wartet seine Reaktion nicht ab und rannte los, stolperte, fiel 9 �
hin, raffte sich wieder auf, lief und heulte fassungslos. José horchte und versuchte festzustellen, aus welcher Richtung der Pfeifton kam. Der Fluß gluckste. José sah, daß sich im Wasser wieder einige Ratten zeigten. Sie kamen auf ihn zu. Er drehte sich um und – lief Alice nach. Ratten, dachte er, tatsächlich Ratten. Dann fiel ihm ein, daß man in letzter Zeit hie und da von einer Rattenplage gesprochen hatte. Aber er hatte nicht genau hingehört. Er wußte nicht, was man im einzelnen gesagt hatte. Er holte das Mädchen kurz vor der Straße ein. »Das ist was für die Polizei. Komm mit! Nicht weit von hier haben wir in einer Schule für die Mardi-Gras-Parade geprobt. Da steht mein Motorrad.« Sie hatten kaum hundert Yard zu laufen. Da standen auf dem Vorhof eines hellen Zweistockhauses im englischen Kolonialstil zwei Sportwagen, einige Fahrräder und ein Motorrad. In einem Parterrefenster war noch Licht. José klopfte an. Ein Kopf erschien, hörte sich Joses Meldung an und verschwand wieder. José startete die Maschine. Alice saß auf. * Im Police Headquarters wurden Alice Baker und José von der Wache sofort in den ersten Stock zur Mordkommission gebracht. Das war ein weiter Raum, in dem zehn oder mehr Schreibtische standen. Nur drei oder vier waren besetzt. Aber die Telefone summten auf allen Tischen. Die Türen flogen auf und zu. Beamte traten ein und liefen hinaus. In einer Ecke stand ein großer Glaskasten. In dem war der meiste Betrieb. Die Männer, die darin herumstanden, verbargen 10 �
den Chiefinspektor, dessen Heiligtum der Glaskasten war. Ein junger Beamter widmete sich den beiden jungen Menschen. Alice war todmüde. Sie konnte sich kaum noch konzentrieren. Mit Joses Hilfe brachte sie doch eine zusammenhängende Geschichte für den jungen Beamten zustande, dessen Interesse zunehmend wuchs. Während der Vernehmung äugte er immer wieder zum Kasten des Chiefs hinüber. Als die Besucher des Chiefs den Kasten verließen, sprang der junge Mann auf und rannte in den Kasten. Alice und José sahen ihm nach. Sie beobachteten, wie der junge Mann auf den Chief hinter dem Schreibtisch einredete. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Mann offensichtlich wenig interessiert erhob und aus dem Kasten heraustrat. Er war ein kleiner bebrillter Mann in einem zerknitterten Anzug. Ohne Krawatte und mit offenem Hemdkragen trat er auf die jungen Menschen zu und blieb vor ihnen stehen. Er nahm die Brille ab und musterte sie. »Ich bin Chiefinspektor Custer. Sie haben Ratten gesehen?« Alice Baker berichtete erregt die ganze Geschichte noch mal. Der Chief ließ sie reden, bis sie erschöpft aufhörte. Er nickte verständnisvoll. »Scheußliche Biester… sie laufen nachts durch meine Träume. Wo kommen die nur wieder her? Wir glaubten, sie verjagt zu haben. Und da gibt es nun auch noch einen alten Kerl, der die Biester mit Pfiffen dirigiert?« Alice erzählte, was sie wußte, und José bestätigte es. »Der hat uns noch gefehlt«, knurrte der Chief. Dann wandte er sich an José. »Wir haben Ihre Aussage und Ihre Adresse. Sie können gehen. Sie haben Ihre Sache gut gemacht. Danke!« José verabschiedete sich von Alice die sich mit Tränen in den Augen bei ihm bedankte. »Galvez«, wandte sich der Chief an den jungen Beamten. »Nehmen Sie ein paar Männer mit und untersuchen Sie den 11 �
Kampfplatz. Wir brauchen Spuren von dem Alten und' dem schwarzgelockten Mädchen.« Sergeant Galvez übergab dem Chief das Protokoll, das er von Jose und Alice aufgenommen hatte, und verschwand. Custer nahm Alice mit in seinen Glaskasten. »Sie haben heute abend Kostüme für die Kitten geschneidert. Wie lange haben Sie daran gearbeitet?« »Fünf Stunden.« »Ihr seid alle aus dem Edgewood Viertel. Stimmt's?« »Ja. Das ist heute unsere dritte Saison.« »Da geht's lustig zu. Da wird auch ein Tropfen getrunken…« Alice wehrte sich heftig. »Ich habe keinen Tropfen getrunken. Wir waren alle nüchtern, als wir kurz nach Mitternacht…« »Schon gut«, beschwichtigte der Chief. »Ich muß nur fragen. Wie soll ich Ihnen sonst helfen können?« Alice konnte sich nicht länger beherrschen. Sie brach weinend zusammen. Custer sah sie mitfühlend an. Er nahm den Telefonhörer auf und gab einen Befehl durch. Er legte dem Mädchen beruhigend die Hand auf die Schulter. »Eine Kollegin wird Sie im Wagen nach Hause bringen.« Eine dreißigjährige Beamtin in Uniform holte Alice ab. Dann rief Custer Sergeant Terex zu sich. Das war ein Mann Anfang Fünfzig. »Phil«, begrüßte ihn der Chief, »hast du schon mal etwas von einem Mann in New Orleans gehört, der Ratten dressiert?« Terex schüttelte bedächtig den Kopf. »Ich gehe nicht ins Variete und auch nicht in den Zirkus.« »Der Mann trainiert die Biester im City Park und dirigiert sie durch Pfeiftöne.« »Wer hat dir denn das erzählt?« 12 �
»Eine junge Frau, die gesehen hat, wie der Kerl mit dressierten Ratten ein Mädchen ermordet hat.« Sergeant Terex machte seit dreißig Jahren Dienst. In New Orleans waren ihm schon die tollsten Kunststücke vorgesetzt worden. Aber das übertraf alles. »Phil, den Kerl müssen wir finden… einen mittelgroßen, alten, weißhäutigen Mann mit einer Rattenpfeife…« * Frederick L. Smuts war Ingenieur und Science-fiction-Fan. Er sammelte alles, was ihm von diesem Genre in die Finger kam. In Antiquariaten fahndete er nach den ältesten Heften, so verstaubt und vergilbt sie auch sein mochten. Das war aber nur ein Hobby des fünfundzwanzigjährigen Ingenieurs. Seine Liebe gehörte der Schlange Ubika, einem Python, der schon einen Meter zwanzig maß. Smuts fütterte das herrlich gezeichnete Tier mit Mäusen und Ratten, die er in Drahtkäfigen aufbewahrte. Früher standen sie auf dem Balkon. Da sich die Hausbewohner über den Gestank beschwert hatten, mußte er sie nun in der Toilette unterbringen. Der Ingenieur war ein manischer Technokrat, der keine Gefühlregungen kannte. Nur der Todeskampf der Ratten, wenn sie von seiner Schlange verspeist wurden, konnte ihn begeistern. Smuts war kein Mann, mit dem man verkehren möchte. Er wollte Freddy genannt werden, aber niemand machte Gebrauch davon. Als Egoist nahm er von anderen, was er bekommen konnte. Und man gab ihm etwas, um ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden. Leben war für ihn nur vegetieren: essen, trinken, schlafen. Er 13 �
ging keinen Schritt zuviel. Sogar für die kurze Strecke zur nächsten Straßenbahnhaltestelle ließ er ein Taxi kommen. Dadurch wurde er immer träger und dicker. Die Zweizentnermarke war schon längst überschritten. Technische Probleme fanatisierten ihn. Wenn ihm sein Beruf Zeit ließ, las er Weltraum-Thriller. Es klingelte. Mürrisch schlurfte er zur Tür. Sein Gesicht hellte sich auf. Eliza Duck stand vor der Tür, die neue Nachbarin. Sie war Lehrerin und stammte aus Orange. Vor einer Woche war sie eingezogen. Sie war so hilflos in der großen Stadt, daß sie sich an den Nachbarn klammerte, wie sie das von Zuhause aus gewohnt war. Smuts hatte ihr beim Einzug geholfen. Dabei war es für ihn selbstverständlich, daß er dafür auch etwas bekommen würde. Zum Schlafen, Essen, Trinken gehörten von Zeit zu Zeit Frauen. »Halloo«, sagte Miß Duck. In der Hand hielt sie einen Pappteller mit einigen Calas, kreolischen Reisplätzchen. »Ich wollte mich nur noch mal bedanken…« Smuts verschlang das Gebäck mit den Augen. »Komm nur herein«, sagte er. »Hab ich gesagt, daß ich Freddy heiße?« Eliza Duck errötete schwach. »Ich heiße Eliza«, flüsterte sie. »Ich will nicht stören. Ich dachte nur, ehe mir die Decke auf den Kopf fällt, seh ich mal lieber hier herein… Die Calas sind gut, hoffe ich. Ich mache sie selbst nach alten Rezepten.« Smuts nahm ihr mit einem Ruck den Pappteller aus der Hand und stopfte gleich von dem Mitgebrachten in den Mund. »Ich finde mich so schwer hier zurecht«, gestand Eliza. »Die große Stadt… die langen Straßen und die vielen Kanäle und 14 �
Flußarme… und die Musik. Tag und Nacht Musik… und die aufgeregten Menschen auf den Straßen. Die Jungen sind oft so frech… der Karneval…« »Den haben wir nur zwei Monate im Jahr«, fiel Smuts in ihren gehetzten Redestrom ein. »Komm nur rein. Setz dich…« Er fegte ein paar Hefte vom Tisch und stellte den Pappteller ab. In seiner Wohnung sah es aus wie auf einem Schlachtfeld. Überall lagen Zeitschriften, Hefte und Bücher herum. Seine Regale bestanden aus rohen Holzplatten, die sich unter der Papiermasse bogen. Gemütlich konnte man Freddys Bude wirklich nicht nennen, zumal über der Couch das riesige Terrarium mit der fürchterlichen Schlange befestigt war. Eliza war das erstemal in so einer unaufgeräumten und verdreckten Bude. Als sie das Terrarium sah, stieß sie einen Schrei aus. »Was ist das denn?« »Keine Angst«, grinste Freddy. »Das ist Ubika, meine Hausschlange. Die tut niemand etwas. Wenn du willst, darfst du einer Fütterung beiwohnen.« »Ist die nicht giftig?« Elizas Gesichtsausdruck zeigte, daß sie alles andere als beruhigt war. Sie setzte sich nur mißtrauisch in den angebotenen Sessel. »Pythonschlangen sind nicht giftig«, belehrte Freddy. »Ein ausgewachsener Python schlingt sein Opfer mit Haut und Haaren herunter. Ubika ist noch ein Baby und verschlingt erst Mäuse und Ratten. »Wie gräßlich«, sagte Eliza. »Ich finde das ekelhaft.« »Ich nicht.« Dem Dicken kam für einen Augenblick die Vision, daß Ubika sich um Elizas Oberkörper ringelte. Er sah die Frau zitternd und hilflos seiner Gnade und Ungnade ausgeliefert. Nach einer Weile ging er in die Küche und holte eine Flasche 15 �
Rotwein und zwei Gläser. »Schenk dir schon ein! Ich komme gleich wieder…« Damit verließ er seine Wohnung und ging in die Toilette. Er schloß auf. Die Ratten und Mäuse tobten in den Käfigen. Eines der Tiere sollte von Ubika gefressen werden. Er öffnete den Rattenkäfig und holte ein Exemplar heraus. Die Ratte biß in die Hand ihres Killers und sprang in die Schüssel. Ehe Smuts es sich versah, war das Tier im Abflußrohr verschwunden. Smuts fluchte und nahm eine Maus heraus. Sie genügte, um Eliza die Fütterung des Pythons vorzuführen. Die Ratten waren unruhig. Smuts bemerkte es nicht. Er vermutete, daß die geflohene Ratte in der Kanalisation ertrunken war. Aber da irrte er sich… * Avon Hiller, der »Vater der Ratten«, hatte sich noch bis zum Morgengrauen ruhelos im City Park herumgetrieben. Immer wieder fand er zur Duelleiche zurück. Sie hatte ihren Namen in der Zeit bekommen, als die Menschen noch nicht dem Genuß und dem Vergnügen verfallen waren und noch eine Ehre hatten. Dieser alte Baum war der Treffpunkt für Duellanten gewesen. Hier focht der »Vater der Ratten« sein Duell mit den sittenlosen Menschen dieses Jahrhunderts aus. Hiller hatte gehofft, das zweite Mädchen wiederzusehen. Wenn es noch einen Funken Gefühl verspürte, mußte es sich um die Freundin kümmern. Tatsächlich war Alice Baker auch gekommen. Aber sie hatte einen jungen Mann mitgebracht. Hiller hatte seine Ratten gerufen. Aber sie hatten die jungen Leute nicht bedroht. 16 �
Hiller war ihnen gefolgt. Er hoffte, die Wohnung des Mädchens zu finden. Aber dann hatte der junge Mann Alice Baker auf einem Motorrad entführt. Hiller überkam nur kurz die Versuchung, nach Hause zu gehen. Er hatte in East End ein Holzhaus erworben, das man Gunshot House nannte. Da hatte er sein Labor. Aber was sollte er da? Er mußte sehen, ob das schwarzgelockte Mädchen gefunden wurde und was mit ihm geschah. Irgendwann würde sich auch die blonde Freundin einfinden… Tatsächlich wurde es bald lebendig. Einige Autos kamen, auf den Dächern montierte Scheinwerfer. Polizisten suchten das Gelände ab. An der Brücke, auf der das Mädchen umgekommen war, hielten sie sich lange auf. Sie entdeckten eine Anzahl toter Ratten. Dann folgten sie dem Lauf des Flusses, der weiter im Norden in den Outfall Canal mündete. Vorher aber war das Mädchen am Pfeiler einer Fußgängerbrücke hängen geblieben. Hiller hatte es noch in der Nacht gesehen. An dieser Stelle wucherte am Ufer eine dichte Hecke, in der sich Avon Hiller verkriechen konnte. Vielleicht war er ein wenig eingenickt. Er konnte es nicht beschwören. Jedenfalls schreckte er auf, als eine kräftige Männerstimme schrie: »Hallo, Sergeant, hier ist was!« Dann kamen Polizisten. Ein Auto fuhr dicht an den Uferrand. Ein Scheinwerfer flammte auf und streifte das gegenüberliegende Ufer suchend ab. »Halt!« rief ein Mann. Hiller schob die Zweige ein wenig auseinander und sah das schwarzlockige Mädchen. Der Fluß spielte noch mit dem langen Haar. Die toten Augen waren geöffnet. Im Gesicht und am Körper gab es Blutspuren. Es war noch nicht vollends hell. Trotzdem standen auf der Brücke und am gegenüberliegenden Ufer im Nu zehn Zuschau17 �
er. Dabei lag der Fundort tief im Park, und die Straße war weit entfernt. Wer hatte die Leute nur alarmiert? »Da… den Alten, den kenn' ich. Der spielt mit Ratten«, krächzte eine schrille Frauenstimme. Und die dürren Finger einer anderen Frau zeigten auf die Hecke, in der sich Hiller versteckt hatte. Er drehte sich sofort um und schlich davon. Ein Polizist war aufmerksam geworden. Er rief die Frau an. »He, Sie da! Wen haben Sie da eben gemeint?« Während der Beamte die Gaffer auseinanderdrängte, machte sich flink wie ein Wiesel die Alte aus dem Staub. »Haltet sie fest!« rief der Polizist. Als er einsehen mußte, daß die Frau entkommen war, wandte er sich an die Umstehenden. »Hat einer die alte Frau erkannt? Wen hat sie gemeint?« Alle sahen den Kollegen verständnislos an. In dem Augenblick traf Chiefinspektor Custer ein. * Avon Hiller entfernte sich schnell. Er sah sich nicht mehr um und wußte auch nicht, wohin er ging. Jedenfalls lief er nicht in Richtung seiner Wohnung. Er konnte nicht ahnen, ob er verfolgt wurde. Er durfte unter keinen Umständen auf sein Labor aufmerksam machen. Wer war nur die Alte auf der Brücke gewesen, die ihn zu kennen glaubte? Er war überzeugt, daß er sie noch nie gesehen hatte. Ob sie eine Nachbarin war? Sein Haus hatte keine Nachbarn. Es lag inmitten verlassener Gärten. Die Gegend war vor einigen Jahren aus der Mode gekommen. Die Besitzer der Grundstücke warteten auf eine Konjunktur. Es ging das Gerücht um, daß eine der großen Baugesellschaften einen supermodernen Apartment-Riesen dort plante. 18 �
Das würde noch eine Weile dauern. Bis dahin konnte Hiller sein Schäfchen im Trockenen haben. Er lief und merkte nicht, daß er schon lange asphaltierten Boden unter den Füßen hatte. Er kaute immer noch an der Wut, die die Tote und ihre Freundin ihm eingebrockt hatten. Diese lauten jungen Menschen, die nur noch Drogen und schrille Musik kannten und keine Moral, dachte Avon Hiller. Er war in Texas aufgewachsen, an einem Ort, wo jeder Einwohner jeden kannte. Da gab es nur gute und schlechte Leute. Und die Guten waren immer gut, und die Schlechten waren immer schlecht. So wie der Weiße immer weiß und der Rote immer rot blieb. Hiller war Mitglied des Ku-Klux-Klan geworden. Sein Vater war Farmer. Avon war körperlich schwach. Dafür hatte er einen scharfen Verstand. Sein Vater hungerte für ihn und schickte ihn in die Schule und zum Schluß auf die Universität. Er wurde Biologe. Er durchforschte die Natur nach dem Guten und nach dem Schlechten. Er suchte Mittel, das Schlechte auszurotten. Damals wurden die Ratten sein Hobby. Wegen seiner überspannten Moralvorstellungen fand Avon auch nie eine Frau. So war es nur logisch, daß er sich mit seinem Beruf verheiratete. Er erzielte aufsehenerregende Entdeckungen. Als er aber mit der Parapsychologie in Kontakt kam, erhielt alles, was er bisher erreicht hatte, eine verhängnisvolle Wendung. Anschwellende dunkle Klänge überdröhnten plötzlich seine Gedanken. Er sah sich um und fand sich vor dem Eingang einer Kirche. Er fühlte sich angerufen und trat durch das Portal ein. Er setzte sich in eine der Bänke und ließ Raum und Stille auf sich wirken. Allmählich überschlugen sich die Gedanken in seinem Kopf. Wieder mußte er an die beiden Mädchen und an die Geschehnisse der Nacht denken. 19 �
Hiller vergaß, daß er in der Kirche saß… * Smuts kam mit dem Schlangenfutter zurück. Als er die Tür zu seinem Zimmer aufstieß, stutzte er. War die Nachbarin ausgerissen? Eliza Duck hatte sich in die äußerste Ecke gedrückt und starrte wie hypnotisiert auf das Terrarium. »Was machst du denn da?« ulkte Smuts. »Hast du Angst vor meiner Schlange? Komm mal her! Streichle sie mal…« »Strei… Ekelhaft!« entsetzte sich Eliza Duck. Sie gab sich einen Ruck und wollte zur Tür. Er trat ihr feixend in den Weg. »Hast du etwa auch Angst vor Mäusen?« Er hielt ihr die geschlossen Faust unter die Nase. »Ich will gehen…« »Jetzt wirst du etwas Einmaliges zu sehen bekommen. Hast du schon mal beobachtet, wie eine Schlange speist? Sie schmatzt nicht, sie schlürft nicht, sie hat diskrete Tischmanieren.« Er hob die Deckplatte an und ließ die Maus in das Terrarium fallen. Der Python lag aufgerollt in einer Ecke. Die Maus rührte sich nicht und starrte unentwegt auf die Schlange. Hypnotisierte die Schlange die Maus oder hypnotisierte die Maus die Schlange? Das war nicht festzustellen. Plötzlich wurde es der Maus zu dumm. Sie wandte sich um. Da schoß der Kopf der Schlange mit aufgerissenem Maul vor, und schon war die Maus verschwunden. »Bravo, Ubika«, reagierte Smuts. »Hast du das gesehen? Weg ist sie! Aber sie kaut nicht, sie würgt nicht… siehst du? Du kannst genau sehen, wie die Maus in die Schlange rutschte…« Er unterbrach sich. Ein Geräusch irritierte ihn. Er sah sich um. 20 �
Eliza Duck war nicht mehr da. Sie war geflohen und hatte leise die Tür zugemacht. »Albernes Frauenzimmer«, schimpfte Smuts und stapfte zur Tür, und brüllte in den leeren Flur: »Benimmt man sich so?« Krachend warf er die Tür zu und wandte sich ins Zimmer. Da fiel sein Blick auf den Pappteller mit den Calas. Wutschnaubend griff er danach. Dann fiel ihm wieder ein, daß die Frau erst freundlich war und ihn dann sitzen ließ. Das wollte er nicht mit sich machen lassen. Unter einem Stapel von Zeitungen kramte er eine abgeschabte Geldtasche hervor. Er entnahm ihr ein paar Scheine, versteckte die Tasche wieder und verließ die Wohnung. Die Tür verschloß er sorgfältig. Nicht weit von seiner Wohnung gab es einige Häuser, wo er sein Vergnügen fand. * Die Sonne schien durch den Vorhang ins Zimmer. Ulla Thölken gähnte und streckte sich. Sie sah auf den Wecker und erschrak. »O je, schon wieder elf Uhr.« Ihr Freund Mike Wismath blinzelte. Die beiden hatten gestern abend ausgiebig New Orleans bei Nacht genossen. Im Karneval gab es hier so viele Veranstaltungen, daß ein Pärchen gar nicht alle besuchen konnte. »Das Frühstück haben wir verpennt«, stellte er fest und richtete sich auf, und ehe sie es sich versah, hatte er ihr einen Kuß gegeben. »Nicht so stürmisch«, wehrte sie sich. »Nimm Rücksicht, ich habe Hunger.« »Dann wirst du dich fein machen«, ordnete Mike an. »Weil du brav warst, sollst du heute belohnt werden. Wir gehen zu Kolb 21 �
und essen deutsch. Der wird dir eine Knödelsuppe und eine Haxe servieren, wie du sie in Nürnberg nicht besser finden kannst.« Sie umarmte ihn stürmisch. »Du bist der beste Menschenjäger, den es gibt.« Ulla stammte aus Nürnberg. Seit Jahren lebte sie allerdings meist in England, wo sie in einer Familie als Au-pair-Mädchen arbeitete. Und der »Menschenjäger« Mike war Detektiv der Londoner Unknow Worlds Agency, kurz UWA genannt, der Ulla vor drei Jahren in Saint Tropez an der Riviera kennen gelernt hatte. Er war auf Vampirjagd gewesen und hatte Ulla das Leben retten können. Ein Jahr später hatten sie sich in Nürnberg wiedergesehen. Ulla hatte ihre Eltern besucht, und Mike war hinter dem Vampir Conqueiro her. Da waren sie sich sehr nahgekommen, zumal sich Ulla als eine tapfere Partnerin erwiesen hatte. Später hatten sie sich in London wiedergesehen. Da war es ihnen klar geworden, daß ihre Freundschaft mehr als eine harmlose Begegnung war. Sie gehörten zusammen. Sie hatten oft über Heirat gesprochen. Mike wollte davon aber nichts wissen. Ein Geisterjäger durfte an so etwas nicht denken. Zu oft mußte er mit dem Tod rechnen. Er wollte keine Witwe hinterlassen. Ulla hatte ihn mit nach Hause genommen. Die Eltern waren von Mike entzückt. Ihm wäre es lieber gewesen, sie hätten ihn nicht gemocht. Dann hätte es einen bitteren Abschied gegeben, und die Sache wäre längst vergessen. Daß das nicht stimmte, wußte er genau. Aber manchmal mußte er so tun, als ob er daran glaubte. Mike ging zum Fenster und schob den Vorhang beiseite. Das Hotel lag in der Chartres Street. Er sah auf die St. Louis Cathedra! 22 �
Ulla trat barfüßig an ihn heran und legte ihm die Arme um den Hals. »Ich danke dir«, hauchte sie. »Wofür?« Mike spielte den Erstaunten. »Ich hab' wohl in der Nacht ein bißchen viel getrunken und dir etwas geschenkt… oder versprochen… ist es sehr teuer?« Ulla lachte. »Ich danke dir für New Orleans. Ich finde es herrlich, und wir sind hier so wunderbar allein.« Mike nickte stumm. Er würgte an einem Geheimnis. »Freu dich nicht zu früh«, unkte er. »Das dicke Ende kommt vielleicht noch.« »Was meinst du damit?« »Na, den fettigen Dienstag, den Mardi Gras. Da ist hier die Hölle los.« »Aber das soll doch gerade das Schönste sein.« »Wir werden sehen. Und jetzt wer geht zuerst ins Bad?« »Natürlich…« Das Telefon meldete sich. Ulla stand dabei und hob ab. »Ja bitte? Ja, er ist hier.« Sie übergab Mike den Hörer. »Natürlich gehe ich zuerst ins Bad. Der Anruf kommt aus London.« Mit einem tiefen Seufzer ging sie ins Badezimmer. Mike Wismath meldete sich. Sir Randolph, der Chef der UWA, war am Apparat. »Es ist soweit! Melden Sie sich sofort bei Chiefinspektor Custer im Police Headquarters! Eine junge Frau ist in der vergangenen Nacht von Ratten getötet worden. Der Mörder soll ein alter Mann sein, der die Ratten durch Pfeiftöne dirigiert.« »Der Kerl hätte auch noch ein paar Tage warten können«, murrte Mike. »Okay, ich werde zu Custer gehen.« »Und da ist noch etwas«, gestand Sir Randolph. »Erinnern Sie sich an Ricardo Conqueiro?« 23 �
»Erinnern? Der Typ erscheint mir noch oft im Traum.« »Conqueiro soll leben.« »Unmöglich! Wir haben doch vor gut einem Jahr ..,. aber nein, wir haben ihn nicht als Leiche gesehen. Das ist ja auch bei Dämonen und Untoten oft unmöglich. In diesem Fall durften wir aber vollkommen… Wer, zum Teufel, verbreitet denn das Greuelmärchen, daß Conqueiro lebt?« »Zuverlässige Leute… in New Orleans.« »Was? Von hier? Soll das Monster am Ende auch hier zu finden sein?« »Das müssen Sie dort feststellen. Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie an.« Sir Randolph legte auf. Mike stand noch lange grübelnd da, bis er endlich den Hörer auf die Gabel fallen ließ. Im gleichen Augenblick öffnete sich die Badezimmertür. Ulla lehnte in einem Bademantel am Türrahmen. »Du bist ein Schuft, Mike Wismath«, sagte sie sachlich. »Bin ich«, gab Mike zu. »Ich wollte es dir nur ersparen, stündlich auf den Abruf zu warten. Du hast eben selbst gesagt, daß es bis jetzt schön gewesen ist.« »Sehr schön sogar«, bestätigte Ulla. »Und jetzt?« »Ich weiß nicht, was jetzt auf mich zukommt. Ich weiß nur, daß die Stadt mit großem Aufwand die Ratten verjagt hat. Plötzlich kommen sie wieder. Ein Mädchen ist von ihnen getötet worden. Es soll nicht mit rechten Dingen zugehen. Darum hat die hiesige Polizei die UWA um Beistand gebeten.« »Und wo die UWA hinkommt, da geht es hoch her«, vollendete Ulla nüchtern. »Vielleicht ist es besser, wenn du nach Hause fährst«, schlug Mike vor. »Man hat mich eingeladen, den Mardi Gras in New Orleans zu 24 �
erleben«, erinnerte Ulla. »Es hat keinen Sinn, planlos daherzureden«, entschloß sich Mike Wismath. »Ich muß zuerst mal zu Chiefinspektor Custer, um zu hören, was wirklich los ist. Dann kann man planen, was zu tun ist. Kann ich ins Badezimmer?« Ulla Thölken gab die Tür frei. * Zehn Minuten später verließ Mike Wismath das Hotel und hatte es nicht eilig. Zum Civic Centre war es nicht weit. Hie und da blieb er vor einem Schaufenster stehen, sah hinein und bemerkte nicht, was er sah. Auf einem breiten Schaufenster stand »Alles für das Tier«. »Ob der auch Ratten hat?« fragte Mike sich laut und musterte die Auslage. So sah er unvermittelt in zwei Hundeaugen, die ihn gespannt fixierten. »Jerry«, entfuhr es Mike. Es war ein kleiner Münsterländer, weiß mit braunen und schwarzen Flecken. Denselben Hund hatten Ullas Eltern in Nürnberg, nur war der schon alt und grau ums Maul herum. Im Fenster saß ein blutjunger Artgenosse. Mike konnte nicht widerstehen. Er betrat den Laden. Der Hund war zu haben. Er hatte Papiere und einen tierärztlichen Paß. Während Mike mit dem Händler verhandelte, sah Jerry aufmerksam zu. Er schien an einem Zustandekommen des Handels interessiert zu sein. Das Tier war nicht gerade billig. Aber Mike hatte den Betrag bei sich. »Spesen, Sir Randolph«, murmelte er vergnügt. * Ulla Thölken stand im Neglige vor dem offenen Kleiderschrank � 25 �
und konnte sich nicht entschließen, was sie anziehen sollte. Es klopfte. »Come in«, sagte sie, ohne zur Tür zu schauen, die langsam nur einen Spaltbreit geöffnet wurde. Ein junger Münsterländer wurde hereingeschoben. Das Tier sah die Frau vor dem Schrank erwartungsvoll an. Ulla wandte den Kopf und erstarrte. »Jerry?« flüsterte sie. Der Hund wedelte mit dem Schwanz, einmal hin und einmal her. Das war zuviel für Ulla. »Jerry«, jubelte sie und lief auf den Hund zu, der sich erschrocken zurückzog. Ulla riß die Tür auf und sah in den leeren Gang hinaus. Dann schloß sie die Tür und kniete vor dem Hund nieder. Der wedelte wieder einmal links und einmal rechts, ganz langsam. Dann sahen sich eine ganze Weile an, wie zwei, die Gefallen aneinander fanden. * Die Ratte, die Frederick L. Smuts entkommen war, geriet in der Kanalisation zunächst in die Abwässer der großen Stadt. Sie wurde mit allem Unrat weggeschwemmt. Aber dann erhielt sie einen neuen Impuls. Er zwang ihr den Kampf gegen den Strom auf und wies ihr die Richtung. So wie ein anderer Impuls sie angetrieben hatte, dem sicheren Tod, den Smuts ihr zugedacht hatte, zu entfliehen. Niemand vermochte zu erklären, was in dem Tier vorging. Die Ratte empfing Impulse und sendete Impulse aus. Die Lungen drohten schon zu zerspringen, als sie endlich auf26 �
tauchen konnte. Sie ließ sich treiben und begann kläglich zu fiepen. Irgendwann spürte das Tier, daß irgendwo Artgenossen sein mußten. Nach einer Weile bekam das Tier Antwort auf sein Fiepen. Ratten kamen aus ihren Löchern. Aber in dem Abwasserkanal existierten zwei Mauern. An jeder Seite des unterirdischen Kanals lief ein Gang entlang. Dort oben wurden die ersten Tiere sichtbar. Durch Gullydeckel drang diffuses Licht in den Untergrund. Die Ratten sahen auf ihre treibende Artgenossin hinab. An einer Leiter blieb sie hängen. Mit den Pfoten tastete sie um sich und versuchte sich hochzuziehen. Die anderen beobachteten sie. Zwei von ihnen waren so groß wie kleine Hauskatzen. Sie sprangen ins Wasser und bugsierten ihre Artgenossin vorsichtig hinaus. Ausgepumpt blieb das nasse Bündel auf dem Beton hegen. Aber immer noch sandte ihr Gehirn eine Botschaft aus. Die anderen erfuhren von der Schlange und den Artgenossen in Smuts' Käfig. Die beiden katzengroßen Tiere schienen zu einem Entschluß gekommen zu sein. Sie nahmen die gerettete Ratte in die Mitte und liefen über den Laufsteg, bis sie ein Loch fanden, in dem sie verschwanden. Zwanzig Artgenossen folgten der Spitzengruppe, als wären die beiden Riesennager die Anführer. In die finstere Röhre drang kein Lichtstrahl. Nur die Geräusche der Tiere waren zu hören: trippelnde Pfoten und gelegentliches Fiepen. Nach einer Weile gelangten die Ratten in eine hellerleuchtete Halle. Aus einer Öffnung in der Decke fiel Licht ein. Ein seltsamer Anblick bot sich hier: Im Gitter an der Decke hing an einer Silberkette ein winziger Stab, für die Ratten uner27 �
reichbar. Unter ihm lag ein formloser Haufen an der Wand. Von irgendwo glotzten zwei stechende Augen aus dem Gestrüpp. Für die Ratten ging eine seltsame Autorität von dem Gebilde aus, eine unheimliche Macht. Die beiden Tiere stellten sich vor das Ding und begannen eine lautlose Kommunikation. Seltsamerweise sprach das unschöne Gebilde seine Worte aus. Unterhalb der Augen öffneten sich Lippen. »Ich habe vernommen«, sprach das Gebilde mit einer gutturalen Stimme. »Befreit eure Brüder! Vernichtet die Schlange! Bringt Verderben über den Menschen!« Die Ratten berührten mit den spitzen Schnauzen den Boden und zogen sich langsam zurück. Einige blieben allerdings. Offenbar hatten sie den formlosen Haufen zu ernähren und zu bedienen. Die Ratten warfen sich wieder in die Kanalisation. Ihr Ziel war die Wohnung von Frederick Smuts. * »Alice, aufstehen! Es ist schon nach zwölf. Willst du nichts zu Mittag essen?« Mrs. Baker blickte in das Zimmer ihrer Tochter. Es roch nach Alkohol und Räucherstäbchen. »Gleich.« Das Mädchen reckte sich und drehte sich zur Seite. »Ich komme.« Mrs. Baker zog sich zurück. Sie machte sich Sorgen um ihre Tochter, nachdem das Mädchen in der Nacht von der Polizei heimgebracht worden war. Sie hatte von der Beamtin zwar einiges erfahren, verstand aber noch immer nicht recht, was überhaupt passiert war. Es sollte eine Geschichte mit Ratten gewesen sein. Mrs. Baker wußte noch nicht, daß Maud tot war. 28 �
Die Mutter servierte das Mittagessen. Am Tisch saßen ihr Mann und der Sohn Pete. Als die Familie schon fast mit dem Essen fertig war, hörte Mrs. Baker ihre Tochter im Badezimmer hantieren. Zehn Minuten später kam das Mädchen zum Essen. Inzwischen hatte sich Baker schon wieder ins Wohnzimmer zurückgezogen, wo der Fernseher lief. Pete ging in sein Zimmer, um sich für die Tanzstunde fertig zu machen. Als Alice ins Eßzimmer kam, war sie mit ihrer Mutter allein. Das Mädchen stopfte lustlos die Mahlzeit in sich hinein und sprach kein Wort. »Willst du mir nicht genau erzählen, was passiert ist?« fragte die Mutter. Alice Baker stocherte mit dem Löffel im Nachtisch herum. »Es«, hauchte sie, »es war alles so schrecklich…« Dann sprudelten die Worte nur so aus ihr hervor. Noch mal berichtete sie, was in der Nacht geschehen war. Als sie geendet hatte, ging sie ins Bad und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann schlüpfte sie in ihren Parka und in die Stiefel und ging zur Tür. »Wo willst du denn hin?« rief Mrs. Baker ihr nach. »Ich geh nur rasch zur Polizei«, erklärte sie im Hinausgehen. »Ich muß wissen, was mit Maud ist.« Damit fiel die Tür ins Schloß. Alice lief über die Treppe nach unten und verließ das Haus. Bis zur nächsten Straßenbahnhaltestelle mußte sie ein Stück laufen. Plötzlich stand eine Frau neben ihr und sprach sie an. Alice Baker erschrak, da sie die Frau nicht kommen sah. »Sei vorsichtig, mein Kind«, raunte sie. »Der Todesengel schwebt schon über dir.« Das Mädchen zuckte zusammen und sah die Frau an. Sie mochte Mitte vierzig sein, hatte halblanges brünettes Haar und 29 �
ein hartes Gesicht. In ihren Augen spiegelte sich eine Wärme, die nicht zu dem harten Gesicht paßte. Alice wußte nicht, ob sie sich zu fürchten hatte oder nicht. »Der Vater der Ratten ist hinter dir her«, sprach die Frau weiter. »Er wird dich töten, wie er deine Freundin getötet hat.« Nur langsam begriff Alice Baker den Sinn der Worte. Sie blieb stehen und sah der Fremden in die Augen. »Maud ist tot…?« Die Fremde nickte. »Die Ratten haben sie ertränkt. Den Weg zur Polizei kannst du dir sparen. Ruf Mauds Eltern an.« Die Knie des Mädchens wurden weich. Ehe Alice zusammenklappen konnte, fing die Frau sie auf. »Vorsichtig«, sagte die Fremde. »Was geschehen ist, ist nicht mehr zu ändern.« »Ich begreife es nicht«, hauchte Alice Baker. »Ich ich kann mir einfach nicht vorstellen, daß Maud…« »Du mußt jetzt auf dich aufpassen«, ermahnte die Frau. »Ich kann dir nicht helfen, ich darf nur warnen. Am besten gehst du nicht mehr ohne Begleitung auf die Straße.« Ungläubig sah Alice die Frau an. »Wer sind Sie?« fragte sie dann. »Du kannst mich Diana nennen. Ich war Mauds Lehrerin. Sie war ein Talent.« Alice begriff nicht recht, was die Frau meinte. Maud und sie waren doch Schulfreundinnen gewesen und hatten die gleichen Lehrer gehabt. Die Fremde schien die Gedanken des Mädchens zu erraten. »Ich meinte nicht die Schule. Maud Pivot wollte noch eine andere Kunst lernen. Ich weihte sie in Geheimwissenschaften ein. Mehr darf ich nicht sagen.« »Aber woher wissen Sie das alles?« hakte Alice Baker nach. »Der Vater der Ratten spukt schon eine ganze Weile in New 30 �
Orleans. Bisher im Verborgenen. Neuerdings ist aber ein Rivale aufgetaucht, der ihm die Herrschaft über die Ratten streitig macht. Der Rattenvater ist daher in Alarmstimmung. Er schlägt blindlings zu. Maud wird nicht das letzte Opfer gewesen sein.« »Woher wissen Sie denn nun wirklich, daß Maud tot ist?« ließ Alice nicht locker. »Bitte! Weichen Sie mir nicht aus!« Ein durchbohrender Blick traf Alice, der sie erschauern ließ. »Auf die Gefahr hin, daß du mir nicht glaubst ich weiß es von Maud selbst.« Alice riß die Augen auf. »Dann lebt sie doch…!« »Für unsere Welt ist sie tot. Aber in einer anderen Dimension lebt jede Seele weiter.« »Sie hat doch nicht… Sie haben doch nicht…« »Doch«, nickte Diana. »Maud hat aus dem Jenseits Kontakt mit mir aufgenommen. Die Verbindung war nur kurz.« * Vier Männer saßen um einen Tisch in Hillers Haus und fuhren mit ihren Fingern auf einem Plan herum. Das Zimmer war abgedunkelt. Nur der Tisch war beleuchtet. Draußen war es hell. Es war noch nicht dreizehn Uhr. »Durch diesen Lüftungsschacht dringen die Tiere also ein«, rekapitulierte ein bulliger Gorilla. »Wie willst du sie dann lenken, Avon?« »Das laß nur meine Sorge sein«, erwiderte der Alte. »Kümmert ihr euch um den Einbruch und das Fluchtauto. Die Alarmanlagen der Bank schalte ich aus.« »Dann treffen wir uns heute abend wie vereinbart an der Royal Bank«, schloß der Gorilla. »Ich möchte den Coup möglichst schnell hinter uns bringen. Wenn die Generalprobe klappt, ist keine Bank mehr vor uns sicher.« 31 �
»Die Sache klappt«, bekräftigte Hiller. »Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Selbst wenn wider Erwarten eine der Alarmanlagen losgehen sollte, findet die Polizei nur ein paar Ratten.« »Okay.« Der Gorilla sah seine beiden Kumpane an. Der eine war ein milchkaffeebraunes Halbblut und der andere ein schmächtiger, grauhaariger Kümmerling. Was der Farbige in den Fäusten hatte, übertraf der Schwächling mit seinem Grips. Er hatte aus dem verrückten Einfall, die Royal Bank auszurauben, einen brauchbaren Plan gemacht. Die drei Verbrecher verabschiedeten sich von Avon Hiller. Der Alte brachte sie an die Haustür und schloß hinter ihnen ab. Anschließend ging er zum Tisch, faltete den Plan zusammen und betrat ein Zimmer mit einem Zugang in den Keller. Er stieg über die steinernen Stufen in die düstere Tiefe. Unten angekommen, öffnete er eine Klappe und pfiff einige Male. Es dauerte nicht lange, bis eine Ratte erschien. Weitere folgten. Sie umringten Hiller. Plötzlich stutzte der alte Mann. Er bückte sich und hob eines der Tiere hoch. Wollten die Ratten ihn auf etwas hinweisen? Hiller versuchte, sich zu konzentrieren. Immerhin war er in der Lage, nicht nur Befehle zu erteilen, er konnte die Tiere manchmal auch verstehen. Die Verständigung kam durch Impulse zustande. Aber heute klappte es nicht. Die Ratten waren unruhig. Sie nahmen weder Impulse an, noch sandten sie welche aus. Der Alte verschloß den Schacht und ging nachdenklich nach oben. Er spürte, daß etwas seine Pläne zunichte machen wollte. Warum gehorchten ihm die großen Ratten nicht? War es eine abtrünnige Art, die sich vom Menschen nicht beeinflussen ließ? Grübelnd setzte Hiller sich an seinen Tisch. Mehr und mehr verlor er die Überzeugung, daß der Banküberfall funktionierte. 32 �
Das beschäftigte ihn so sehr, daß er sogar das Mädchen Alice vergaß. Und er vergaß, daß er seine Ratten auf die Suche nach ihr losgeschickt hatte… * Wie ein Heer zogen die Tiere durch die unterirdischen Kanäle. Immer mehr stießen dazu. Es mochten schon hundert sein. Ihr Ziel war die Wohnung des Schlangebesitzers Frederick L. Smuts. Unterwegs stießen sie auf Ratten, die sie aufhalten wollten. Schon war eine wüste Beißerei im Gange, die in ein Gemetzel ausartete. Der Widerstand war schnell vernichtet, und die Ratten rasten weiter. Ein Impuls trieb sie an, ihre Artgenossen zu befreien. Daß sie dabei Artgenossen tot bissen, ging den Tieren nicht auf. Bald erreichten sie einen Gully im Hof des Hauses, in dem Smuts wohnte. Sie arbeiteten sich nach oben. Der schwere Gullydeckel wurde von den vereinten Kräften der Ratten wie ein Sektkorken weggesprengt. Der Weg war für die Nager frei. Sie quollen heraus wie ein Strom. Ihr Ziel schienen sie zu kennen. Sie rannten auf die Haustür zu. Diese war nur angelehnt. Schon trippelten die Ratten über die Treppen nach oben. Smuts wohnte im zweiten Stock. Es war sein Glück, daß er nicht im Haus war. Es war noch eines jener Häuser am Rand des Franzosen-Viertels, das mit den langgezogenen Balkons und dem reichen schmiedeeisernen Schmuck an die erste Kolonialzeit der Stadt erinnerte. 33 �
Es hatte wohl mal reichen Bürgern gehört, bis deren Reichtum geschwunden war und sie das Haus nicht mehr halten konnten. Vor ein paar Jahren war es oberflächlich modernisiert und in Apartments für Junggesellen aufgeteilt worden. Das Rattenheer passierte gerade den ersten Stock. Im ersten Stock öffnete eine Frau die Tür ihrer Wohnung. Sie wollte nachsehen, was da polterte und trippelte. Als sie die Ratten sah, stieß sie einen Schrei aus und knallte die Tür wieder zu. Sie konnte nicht glauben was sie gesehen hatte. Konnte sie die Polizei anrufen, ohne sich lächerlich zu machen? Inzwischen hatten die Ratten die Wohnung von Frederick M. Smuts erreicht. Hier gab es Probleme. So ohne weiteres würde die Wohnungstür nicht zu öffnen sein. Die Ratten witterten. Irgendwoher kam Frischluft. War im Treppenhaus ein Fenster offen? Sofort rannten die Tiere nach oben. Tatsächlich war ein Fenster im dritten Stock geöffnet. Über die Balkone kletterten sie mühelos nach unten. Das Toilettenfenster war offen. Sofort warfen sich einige Ratten auf die Käfige. Acht Artgenossen waren hier gefangen. Die Nager kippten den Käfig um, die Tür sprang auf. Die Befreiten schlossen sich im Strom an. Die Toilette hatte eine feste Tür. Die Wohnzimmertür hatte Smuts ebenfalls verschlossen, als er die Wohnung verließ. Diese beiden Türen waren Hindernisse, mit denen die Ratten nicht fertig wurden. Aber sie konnten auch nicht umkehren. Der Befehlsgeber im Kanal, der sie hierher geschickt hatte, entließ sie nicht aus seinem Impuls. »Zerstört die Wohnung… bringt die Schlange um… tötet den Mörder der Ratten!« 34 �
Die Eindringlinge sprangen an der Tür hoch. Durch das offene Fenster quollen sie auf den Balkon hinaus. Der Herr im Kanal hatte offenbar alles mobil gemacht, was er bereits dem »Vater der Ratten« Avon Hiller abspenstig gemacht hatte. Er wollte diesmal keine Schlappe erleiden. Darum schickte er alles, was er erreichen konnte, in das Haus am Rand dieses Viertels. * Die Frau im ersten Stock hatte sich nicht überwinden können, die Polizei anzurufen. Da nun aber über ihr in der Wohnung von Smuts gelärmt wurde, packte sie doch die Angst, daß die Biester auch zu ihr kämen. Sie verließ die Wohnung und rannte in den Keller, wo der Hausmeister saß. Sie hatte Glück. Er war zu Hause. Die Frau mußte nicht allzu große Überredungskunst aufwenden, um den Mann zu überzeugen. Er bewaffnete sich mit einer alten Pistole, einem Zweitschlüssel für Smuts Wohnung und stieg die Treppe hoch. Die Frau verschwand wieder in ihrer Wohnung. Der Hausmeister schloß die Korridortür auf und lauschte. Irgendwo rumorte etwas. Vorsichtig öffnete er das Wohnzimmer. Da war nichts los. Die Schlange schlief in ihrem Terrarium. Und draußen auf dem Balkon… Der Mann sah durchs Fenster und erschrak. Auf dem Boden war ein Gewimmel, das er nicht gleich erkennen konnte. Er öffnete ein Fenster, und schon sprangen mehrere Ratten ins Zimmer. Eine biß ihn. Fluchtartig verließ der Hausmeister Zimmer und Wohnung. Im Treppenhaus erschlug er auf dem Treppengeländer die Ratte mit 35 �
dem Knauf seiner Pistole. Als er den ersten Stock erreichte, fragte die Frau durch den Türschlitz, was denn oben los wäre. »Ratten«, keuchte der Mann. »Eine hat mich gebissen. Ich muß mich verbinden.« Die Frau öffnete die Tür vollends und zog den Mann zu sich herein. Während sie seine Wunde säuberte und verband, rief der Hausmeister die Polizei an. * Die Schlange hatte keine Chance. Sofort sprangen die Ratten an den Bücherwänden und Regalen hoch und zerschmetterten die Scheiben des Terrariums. An die zehn Tiere stürzten sich auf Ubika und bissen sie tot. Die Schlange konnte keinen einzigen Gegner abwehren. Sie waren einfach in der Überzahl. Gläser klirrten, Matratzen und Federbetten wurden angefressen, der Teppich und die Sesselpolster zerbissen. Die Tiere wüteten höchstens eine Viertelstunde. Dann zogen sie sich zurück über den Balkon und die Gitter und Pfeiler und durch das Treppenhaus. Dabei wurden sie gestört. Aus der Nähe ertönte eine Polizeisirene. Reifen quietschten. Als die Uniformierten den Hof betraten, quollen ihnen die Ratten schon entgegen. Manche von ihnen trugen noch vom Angefressenen Fetzen in der Schnauze. Die Polizisten hatten Feuerlöscher dabei und zögerten nicht, die Geräte einzusetzen. Viele Ratten blieben auf der Strecke, doch ebenso viele zogen sich in einen Gully zurück. 36 �
Erst als einer der Polizisten beherzt Zugriff und den Deckel auf das Loch warf, reagierten die Ratten desorientiert. Sie rannten auf die Straße und versuchten irgendwo unterzuschlüpfen. Einige wurden überfahren, andere mit dem Feuerlöscher erwischt oder erschossen. Zwei der Polizisten hatten Luftgewehre dabei. »Luftgewehr hin, Luftgewehr her«, sagte einer zu seinem Kollegen, »ein Schrotgewehr wäre besser gewesen.« Innerhalb von zehn Minuten war die üble Brut zur Strecke gebracht, aber auch einige Polizisten waren nicht ungeschoren davongekommen. Die Wunden mußten behandelt werden. Als die Polizisten abrückten, kam Smuts nach Hause. Zwar merkte er schon im Hof, daß etwas nicht stimmte, aber noch kümmerte es ihn nicht weiter. Allerdings wunderte er sich über die toten Ratten. Sein Blick glitt an der Fassade des Hauses nach oben zu den Fenstern seiner Wohnung. Da erblickte er die geborstenen Fensterscheiben. So schnell er sich bewegen konnte, hastete er nach oben. Dort standen zwei Polizisten, die Spuren untersuchten. Das Gros des Einsatzkommandos war bereits abgezogen. Sie besahen sich das geöffnete Fenster im dritten Stock. Smuts schloß seine Wohnung auf. Er stieß einen Schrei aus, der die Beamten alarmierte. Sie kamen herunter und sahen in die Wohnung. Der Ingenieur kniete auf dem Boden und wühlte mit beiden Händen in den Trümmern seiner Sammlung. Tränen kullerten über sein Gesicht und trübten die Brillengläser. Dann trommelte er mit beiden Fäusten auf den Boden. »Das hat die Duck gemacht«, brüllte er. »Die lausige Nachbarin sie hat das gemacht.« 37 �
Ein Polizist beugte sich zu ihm herunter. »Wer soll das gemacht haben?« »Die Duck! Nebenan wohnt sie, Sie haßt meine…« Mit irrem Blick sah er sich um, bis er die Reste der Schlange fand. »Ubika… meine Ubika… sie hat Ubika ermordet…«, schrie Smuts. Er sprang auf und stolperte auf die Tür zu. »Wo wollen Sie hin?« »Die Duck… ich werde sie zur Rechenschaft ziehen.« Der Polizist stieß ihn zurück. »Das werden wir aufklären. Ruhig Blut! Mein Kollege wird die Frau verständigen.« Der Kollege lief hinaus, aber eine Etage tiefer zum Telefon. * Gegen vier Uhr fand Mike Wismath das Haus, in dem Alice Baker wohnte. Der Detektiv parkte den Leihwagen einen roten BMW 323, auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das junge Mädchen wohnte in einem alten Mietshaus, das wohl noch vor dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden war. Mike stieg aus dem Wagen und rekapitulierte kurz, was ihm der Nachmittag bisher gebracht hatte. Im Polizeipräsidium hatte Wismath einiges erfahren. Er hatte Maud Pivots Leiche gesehen. Das Mädchen war ertrunken. Aber die Leiche hatte auch einige Bisse aufgewiesen. Mike konnte sich das nicht erklären. Bisher gab es einfach kein Motiv dafür. Er mußte erst einen Ansatzpunkt finden, dann würde alles andere sich finden. Chiefinspektor Custer hatte Mike Alices Adresse gegeben. Der 38 �
junge Agent hoffte, von dem Mädchen noch einige Zusatzinformationen zu bekommen, die den Polizisten nicht aufgefallen waren. Der Detektiv überquerte die Straße und klingelte unter dem Namensschild Baker. Gleich darauf summte der Türöffner. Oben angelangt öffnete eine etwa fünfzigjährige Frau. »Sie wünschen?« »Ich komme von der Polizei«, sagte Mike, um die Sache nicht noch mehr zu komplizieren. »Könnte ich bitte Ihre Tochter sprechen?« »Einen Augenblick.« Sie musterte Mike von oben bis unten. Offenbar bestand der Detektiv die Prüfung, denn die Frau bat ihn herein. »Alice«, rief sie nach hinten, »Besuch für dich.« Eine Tür wurde geöffnet, und eine verschlafene Stimme antwortete mit einem schwachen »Ja!« Die Tochter des Hauses kam. Sie sah bleich aus. Die Ereignisse mußten ihr nahe gegangen sein. »Ich komme vom Präsidium«, erklärte Mike. »Mein Ñame ist Mike Wismath. Ich hätte noch einige Fragen an Sie.« Alice Baker zögerte. »Muß das sein?« »Ich will Sie nicht lange aufhalten. Wir müssen nur noch mal alles durchgehen.« Alice lenkte ein. »Kommen Sie bitte in mein Zimmer.« Mike folgte ihr. Als sie vor der Tür standen, drehte das Mädchen sich um. »Maud ist wirklich tot, nicht wahr?« Mike nickte mit ernster Miene. »Ich habe ihre Eltern angerufen«, gab Alice zurück. »Sie sagten es mir schon, aber ich konnte nicht daran glauben. Ich wünschte, ich könnte sie noch mal sehen.« Die Neunzehnjährige ließ Mike eintreten und schloß die Tür. »Setzen Sie sich!« 39 �
Mike nahm in einem bequemen Korbsessel Platz. »Was wollen Sie wissen?« fragte sie. »Alles«, sagte Mike. »Erzählen Sie mir noch mal alles der Reihe nach.« Alice musterte den Detektiv einen Augenblick. »Ich dachte, er hat alles zu Protokoll genommen, Ihr nervöser Kollege…« Sie hielt sich die Hand vor den Mund, als sie sich bewußt wurde, was sie gesagt hatte. »O Verzeihung!« »Macht nichts«, erwiderte Mike leutselig. »Ich habe Custer heute kennengelernt. Der Mann schont sich nicht. Ich frage mich, wie lange er das durchhalten will.« Lange sah er das Mädchen an. »Aber zurück zum Thema. Vielleicht haben Sie in der Aufregung der letzten Nacht etwas vergessen. Deshalb möchte ich, daß Sie jetzt in aller Ruhe noch mal alles erzählen.« »Also gut.« Alice Baker berichtete alles lückenlos von vorn, wie es sich ereignet, hatte.« »Das war alles«, sagte Mike. Die junge Frau wußte nicht, ob es eine Feststellung oder eine Frage war. »Eigentlich schon…«, murmelte sie. »Eigentlich?« fragte Mike. »Ich weiß nicht… Es war zu verrückt…« »Verrückt?« horchte der Detektiv auf. »Reden Sie! Was ist an dem Fall nicht verrückt?« »Da war… hm… da war eine Frau. Heute nachmittag…« »Erzählen Sie«, bat Mike interessiert. Alice Baker schilderte ihren kurzen Ausflug nach dem Mittagessen. Der Detektiv spürte, daß er der Lösung des Rätsels näher kam. Die fremde Frau wußte sicher mehr, als sie zugegeben hatte. »Wissen Sie, wo die Frau wohnt?« hakte Mike sofort nach. Alice schüttelte den Kopf. »Das nicht, aber…« »Aber?« 40 �
»Sie will mich wiedersehen. Beim Abschied sagte sie, daß sie noch mal mit mir zusammentreffen würde.« »Wann?« »Keine Ahnung. Sie wollte an mich herantreten.« Mike stützte den Kopf in die Hände. »Noch eine Frage«, sagte Alice gleich darauf. »Ja?« »Gibt es das…«, quälte sie sich. »Ich meine kann ein Verstorbener mit dem Lebenden Kontakt aufnehmen?« Mike sah seinem Gegenüber tief in die Augen. Alice Baker wich dem Blick nicht aus. Der Detektiv wußte, daß sie die Wahrheit suchte. »Ja, ich glaube, daß Maud sich mit der mysteriösen Diana unterhalten hat.« »Dann ist Maud nicht tot«, hauchte das Mädchen. »Es tut gut, das zu wissen.« Mike erhob sich und gab Alice die Hand. »Auf Wiedersehen! Ich nehme an, daß ich Sie noch mal aufsuchen muß. Halten Sie mich über die fremde Frau auf dem laufenden.« Er nahm einen Zettel heraus und kritzelte einige Ziffern darauf. »Das ist meine Telefonnummer, und mein Hotel. Rufen Sie mich an, wenn es etwas Neues gibt!« Das Mädchen steckte den Zettel ein. Dann brachte sie den Detektiv zur Tür. Mike ging zu seinem Wagen. Er startete und fuhr ins Polizeipräsidium. Dort erfuhr er von dem Rattenüberfall auf Smuts. Eigentlich wollte er vor der Wohnung von Alice auf die mysteriöse Diana warten. Statt dessen fuhr er jetzt zum Schlachtort der Ratten. Vielleicht gab es dort neue Spuren. * 41 �
»Sie sagen mir also nichts?« Der Mann, der mit Chiefinspektor Custer sprach, wirkte erregt. »Wissen Sie nicht, daß die Öffentlichkeit ein Recht auf Information hat?« »Ich darf Ihnen die Hintergründe nicht aufdecken, Shirley«, sagte Custer zu dem Journalisten, »so sehr ich Sie schätze, Mann. Wir sind selbst noch auf Vermutungen angewiesen. Sie können über den Fund der Leiche schreiben. Aber verschweigen Sie die Rattenbisse. Wir wollen keine Panik erzeugen. Das Mädchen ist ertrunken. Klar?« Frank Shirley knurrte etwas, das sowohl ja und nein bedeuten konnte. »Und wenn es etwas Neues gibt, erfahre ich dann davon?« »Bestimmt«, bewilligte Custer. »Das verspreche ich Ihnen.« »Ich brauche Fakten und keine Versprechungen«, erklärte der Journalist. »Wenn Sie nichts haben, muß ich mich eben nach anderen Quellen umsehen.« »Mischen Sie sich nicht in meinen Fall«, warnte der Chiefinspektor. »Möglicherweise stoßen Sie auf Dynamit. Ich möchte Sie nicht als nächstes Opfer sehen.« »Schon gut.« Der Journalist verließ das Civic House. Insgeheim verwünschte er Custer. Der Mann war seit zwei Jahren im Amt. Sein Vorgänger Martins war ein guter Freund von Shirley gewesen. Martins war von einer Terroristin erschossen worden. Der Journalist setzte sich in seinen Wagen und grübelte vor sich hin. Irgendwo mußte es doch einen Anhaltspunkt geben. Die Sache mit den Ratten könnte eine sensationelle Story werden. Vielleicht wußte Robert Essex etwas? Sofort startete Shirley seinen Wagen und setzte sich in Richtung Southport in Bewegung. Dort wohnte Shirleys Freund. Robert Essex war Fachjournalist für esoterische Zeitschriften. 42 �
Hauptberuflich arbeitete er als technischer Zeichner. Shirley hoffte, daß er den Freund antraf. Normalerweise arbeitete Essex zu Hause. Shirley wußte nicht, was der Freund am Sonntag machte. Wehmütig dachte Frank Shirley an den Januar 1976 zurück. Damals war seine Frau Susan von einer Eishexe getötet worden. Essex hatte den Journalisten mit einer Magierin bekannt gemacht. Gemeinsam hatten sie die Eishexe besiegt. Seit dieser Zeit hatte der Witwer seinen Freund Robert Essex nur selten besucht. Shirley hatte sein Einfamilienhaus verkauft und sich in der Stadt eingemietet. Am schlimmsten war das erste Jahr nach Susans Tod gewesen. Dort hatte er zu trinken begonnen und war nur unter größten Anstrengungen wieder vom Alkohol losgekommen. Inzwischen hatte er sich wieder gefangen. Frauen ging er aus dem Weg. Susan war nicht zu ersetzen… Shirley schüttelte den Kopf und verdrängte diese Gedanken. Er hatte die kleine Siedlung erreicht, wo er mit Susan gelebt hatte. Hier gab es moderne Einfamilienhäuser, von denen keines die Höhe eines Stockwerks überschritt. Robert Essex wohnte auch in solch einem Haus. Es stand in der Mitte eines Gartens. Shirley klingelte zweimal. Der Türsummer ertönte. Essex war also daheim. Ein korpulenter Mann öffnete. Er trug einen gelben Rollkragenpullover und Jeanshosen. »Hallo, Frank«, begrüßte er den Freund. »Welche Überraschung! Komm herein!« Essex schaltete den Fernseher aus und ging zur Bar. »Das Übliche?« fragte er. Es war eine eingespielte Zeremonie. Immer wenn Shirley zu Essex gekommen war, ging dieser an die Bar und fragte:»Das 43 �
Übliche?« Shirley antwortete immer: »Sherry?« Und Essex schenkte ein. Der Fachjournalist brachte die Gläser und stellte sie auf den Tisch. »Wir haben uns lange nicht gesehen«, sagte er. »Ein halbes Jahr«, gab Frank Shirley zurück. »Ich hatte viel Arbeit.« »Eine neue Freundin?« »Nein. Außer Susan gibt es keine Frau für mich.« »Verzeih! Ich dachte, du wärst darüber hinweggekommen.« »Das wird noch Jahre dauern wenn überhaupt!« Shirley wechselte das Thema. »Weißt du, daß sich in New Orleans eine Rattenplage abzuzeichnen beginnt?« Essex nickte. »Ich habe einiges munkeln hören. In der letzten Nacht wurde ein Mädchen getötet, nicht wahr?« Shirleys Augen weiteten sich. »Woher weißt du das? Offiziell ist doch nichts bekannt gegeben worden.« »Ich habe meine Quellen«, erwiderte Robert Essex nur. »Du müßtest mich doch kennen.« »Das tue ich«, gab Shirley zurück. »Vielleicht kannst du mir den einen oder anderen Tip geben. Dieser Fall interessiert mich.« »Also berufliches Interesse«, konstatierte Essex. »Ich dachte, du wolltest mal wieder einen alten Freund besuchen.« »Das auch.« Shirley fixierte den Freund. »Sag mal, interessiert dich die Geschichte denn nicht? Du schreibst doch auch über solche Dinge.« »Natürlich«, gab Essex zurück. »Ich habe auch schon Recherchen gemacht…« »Gibst du mir was von deinem Wissen ab?« Einen Augenblick zögerte Essex, dann nickte er. »Also gut. Immerhin schreiben wir für verschiedene Zeitungen und kommen uns nicht ins Gehege. Wir könnten uns schon zusammentun. Die 44 �
Tagesmeldungen für dich, und den Kommentar für mich. Einverstanden?« »In Ordnung«, Shirley zögerte nicht lange. »Dann laß mal deine Unterlagen sehen.« Essex erhob sich. »Komm mit! Die Sache wird interessant…« * Mike Wismath kam vor dem Haus an, in dem der Ingenieur Frederick L. Smuts gewohnt hatte. Die Polizei war längst abgezogen. Wismath sah sich um. Er mußte an Nürnberg denken. Da jagte er vor zwei Jahren einen Vampir, der sich am Ende in der Kanalisation versteckt hatte. »Jetzt steh' ich wieder vor einem Gully. Diesmal in New Orleans. Und diesmal handelt es sich um Ratten. Das heißt… Sir Randolph hatte doch von Conqueiro, eben diesem Vampir gesprochen. Da haben wir es. Darum werde ich jetzt an Nürnberg erinnert. Wenn man genau hinsieht, ist alles ganz anders. Selbst der Gullydeckel sieht anders aus. Mike trat an den Einstieg heran und betrachtete den Deckel nachdenklich. Da unten mußte jemand stecken, der die Ratten kommandierte. Der »Vater der Ratten«? War das eine neue Rolle des dämonischen Vampirs Conqueiro? Unfug! Conqueiro ist in Germany vor zwei Jahren gestorben. Mike bückte sich und öffnete den Gullydeckel. Dann ließ er sich durch die Öffnung nach unten gleiten. Der Detektiv wollte sich etwas umsehen. Stockfinster war es hier. Durch die Öffnungen in den Gullydeckeln fiel etwas Licht ein. Mike kehrte noch mal zum Wagen zurück und holte eine Ta45 �
schenlampe. In den Kanälen rauschte das Wasser. Es roch erbärmlich. Vorsichtig tastete er sich an den glitschigen Wänden entlang. Nach einer Weile bückte sich Mike und leuchtete den Boden ab. Er fand das, was er vermutet hatte. Der Boden war von winzigen Trittspuren übersät. Es mochten mehr als hundert sein. Ratten… Mike folgte ihnen bis zu einer Biegung. Hier flossen zwei Abwässerkanäle zusammen. Mike griff in seine Jackentasche und fühlte das kalte Metall seiner Beretta. Viel würde ihm die Waffe allerdings nicht nützen. Im Höchstfall konnte er sechs Ratten erschießen. ¡ Mike Wismath wußte, daß es leichtsinnig war, was er tat. Andererseits wußte Chiefinspektor Custer, wo er war. Mike lief weiter. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt. Er vertraute darauf, daß ihm im Fall einer Gefahr schon etwas einfallen würde. Außerdem gab es hier überall Gullydeckel, die eine rasche Flucht auf die Straße ermöglichten. Der UWA-Agent dachte an die Geschichte, die Alice Baker ihm erzählt hatte. Die mysteriöse Diana hatte von einem »Vater der Ratten« gesprochen. Wer konnte das sein? Vorsichtig lief Mike weiter. Er war bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Das Rauschen der Abwässer war laut und monoton. Da! War da nicht ein leises Pfeifen gewesen? Hier in der Nähe? Mike glaubte das Scharren und Trippeln kleiner Pfoten zu vernehmen. Er sah sich nach einem Fluchtweg um. Über ihm war kein Kanaldeckel. Der nächste Gully befand sich auf der anderen Seite des Kanals. Mike Wismath leuchtete hin und sah die schmale Leiter, 46 �
die nach oben führte. Die Sinne des Detektivs waren aufs höchste angespannt. Er zog die Beretta heraus und entsicherte sie. In der einen Hand hielt er die Taschenlampe, in der anderen die Waffe. Das Pfeifen und Fiepen wurde lauter und übertönte jetzt sogar das Wasserrauschen. Gleichzeitig näherte sich das Trippeln unzähliger kleiner Füße. Weiter vorn entdeckte Mike in der Seitenwand ein Loch. Er leuchtete mit der Taschenlampe hinein. Der Strahl verlor sich im Dunkel. Aber ganz weit hinten leuchtete es auf. Zwei leuchtende Knöpfe… dahinter noch zwei und noch zwei. Sie kamen näher, wurden größer und größer. Augen! Und bald erkannte Mike auch die spitzen Köpfe… * »Woher weißt du das alles?« fragte Frank Shirley seinen Freund, dessen Aufzeichnungen er gelesen hatte. »Kennst du den ›Vater der Ratten‹?« »Nein, ich habe ihn nie gesehen«, erklärte er. »Aber, wie du weißt, kenne ich einige Leute, die mehr wissen als die Allgemeinheit. Meine Informationen habe ich von einer Frau. Wenn du willst, dann mache ich dich mit ihr bekannt. Diana will schon lange gegen Hiller vorgehen, kann es aber allein nicht.« »Und warum hilfst du ihr nicht?« wollte Shirley wissen. »Vielleicht bin ich feige. Vielleicht habe ich mir auch alles noch nicht ernsthaft überlegt…« »Bringst du mich zu ihr?« Essex nickte. »Brechen wir auf. Hoffentlich ist Diana zu Hau47 �
se.« Die beiden Männer verließen das Haus. Sie waren übereingekommen, mit zwei Autos zu fahren, da keiner wußte, ob sie sich nicht bald wieder trennen mußten. Shirley war auf diese Frau gespannt. Er wußte, daß Essex interessante Freunde hatte. Ständig gab es dabei Überraschungen. Robert Essex hielt vor einem alten Haus. Die beiden Männer stiegen aus und läuteten. Gleich darauf wurde ihnen geöffnet. Shirley erwartete eine Märchenhexe. Diana war aber groß und schlank, etwa Mitte vierzig, hatte halblange, brünette Haare und ein hartes Gesicht. Ihre Augen paßten nicht zu diesen Zügen. Sie strahlten eine Wärme aus, die diese Frau sympathisch machten. »Ach, Robert«, sagte sie zur Begrüßung. »Kommst du also doch noch. Und einen Freund hast du auch mitgebracht. Wollt ihr mir helfen?« »Das ist Frank Shirley«, stellte Essex den Freund vor. »Er hat mich überredet, zu dir zu fahren. Ich muß gestehen… dein Anruf heute morgen hat mich eingeschüchtert.« »Du hattest Angst, daß die Ratten dich überfallen und dein schönes Haus vernichten könnten. Gib es ruhig zu!« Diana bat die Männer herein. »Ich kann es dir nicht verübeln. Übrigens habe ich das Mädchen inzwischen gewarnt. Viel Hoffnung habe ich aber nicht. Wahrscheinlich wird sie wieder allein aus dem Haus gehen. Ich habe Angst um sie. Jemand sollte sie beschützen.« »Kann ich das nicht erledigen?« erbot sich Essex sofort. »Ich könnte vor ihrem Haus Posten beziehen. Wenn du mir eine Beschreibung der Kleinen gibst und die Adresse, läßt sich das machen.« »Sehr gut. Du kümmerst dich um das Mädchen, und dein Freund Shirley und ich werden versuchen, dem alten Hiller eins 48 �
auszuwischen. Sobald er sein Haus verläßt, werden wir zuschlagen.« Essex ließ sich die Beschreibung des Mädchens geben und verabschiedete sich. Diana war erleichtert, daß Alice Baker nun einen Beschützer bekam. »Hoffentlich kommt er nicht zu spät«, wünschte sie. »Und was machen wir?« wollte Shirley wissen. »Robert hat mich weitgehend informiert, aber ich hätte doch noch einige Fragen…« »Später«, winkte Diana ab. »Wir haben zu tun. Kommen Sie mit!« Frank Shirley folgte ihr. Er sah sich um. Dianas Haus war elegant eingerichtet. Nur die Bilder an der Wand und einige Requisiten, die herumstanden, waren merkwürdig. Kabbalistische Symbole prangten an einem Wandvorhang, unter Bildern von seltsamen Wesen prangten geheimnisvolle Sprüche. Überall standen Kerzenleuchter herum. In einer Wandvitrine lag eine weiße Kugel. Auf der Couch schliefen zwei Katzen. »Sind Sie auch eine Magierin?« wollte Shirley wissen. Diana schüttelte den Kopf. »Ich bin eine Mystikerin, keine Magierin. Ich befasse mich mit übersinnlichen Zeichen und Kräften, aber ich beherrsche sie nicht so wie ein Magier. Ich bin froh darüber. Es gibt viele Dinge auf dieser Welt, in die man nicht zu tief eindringen sollte.« Sie verließen das Haus und gingen zu einem Bretterverschlag. Dort lagerten zwei mittelgroße Jutesäcke. »Was ist das?« fragte Shirley. »Rattengift. Wir werden Hillers Brut vernichten. Bringen wir das Zeug in Ihr Auto. Ich besitze keinen Wagen.« Shirley bückte sich und hob einen der Säcke auf. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. 49 �
Worauf hatte er sich da nur eingelassen? Er konnte sich nicht vorstellen, daß sich diese Ratten so einfach beseitigen ließen. * Mike zog durch und ballerte. Die erste Ratte wurde getroffen und zurückgeworfen, dann die zweite und die dritte. Die getöteten Tiere bildeten eine Barriere für die nachdrängende Flut. Mike gewann wertvolle Sekunden. Das nützte nicht viel. Die Nager kamen jetzt auch von hinten und von vorn. Sogar auf der anderen Seite des Kanalschachts wimmelten sie. Mike peilte die Lage. Alle Wege zu den Kanaldeckeln waren ihm versperrt. Selbst wenn er in das Abwasser sprang, würde er die Leiter auf der anderen Seite kaum erreichen. Ein Trippeln und Fiepen war überall. Es war jetzt so laut, daß es das Rauschen des Wassers übertönte. Mike sprintete los. Vielleicht schaffte er es, die Ratten zu überraschen. Er mußte nur flink sein. Er sprang auf einige Tiere, zertrat ihre Schädel und raste weiter. Irgendwann mußte doch ein Kanalschacht kommen. Die Ratten waren auch nicht müßig. Sie sprangen jetzt hoch, verkrallten sich in Jacke und Hose des Detektivs und hingen wie Kletten an ihm. Mike hatte das Bild des getöteten Mädchens vor Augen. Wenn die Ratten ihn ins Wasser zwangen, würde es ihm genauso ergehen wie der armen Maud Pivot. Endlich erblickte der Detektiv einen schmalen Seitengang, in dem es keine Ratten gab. Mike bog ab. 50 �
Die Ratten folgten ihm. Da der Gang aber schmal war, behinderten sie sich selbst. Glücklicherweise waren jetzt keine Ratten mehr vor ihm. Mike landete in einem breiteren Raum. Einige größere Steine lagen herum. Mike wuchtete einen der Blöcke vor den Durchgang. Trotzdem konnte er nicht verhindern, daß ihm doch noch einige Ratten folgten. Auf den ersten Blick schien es Mike, daß dieser Raum nicht mehr zur Kanalisation gehörte. Vielleicht hatte er während der Bauzeit als Depot oder Werkstatt gedient. Es lagen neben den Steinen auch Holzteile, eine zerbrochene Axt, eine Holztür, zusammengeschlagene Bänke und Stühle. All das war jetzt für Mike willkommenes Baumaterial. Er arbeitete, so schnell es ging, und verbarrikadierte den Eingang. Gelegentlich zertrat er eine Ratte, die ihm zu nahe kam. Hier war es stockfinster. Mike legte die Taschenlampe auf einen Stein. Bald schaffte er es, daß keine weiteren Ratten mehr eindrangen. Gleichzeitig hatte er sich selbst eingesperrt. Mike vernichtete die letzten Ratten, die in den Hohlraum eingedrungen waren. Dann leuchtete er die Wände ab. Es gab keinen Ausweg. Den einzigen Zugang hatte Mike verschlossen. Eine fatale Situation! Draußen waren die Ratten zu hören. Sie belagerten ihn. Er setzte sich auf einen der Steinblöcke und dachte nach. Lange würde er es hier nicht aushalten. Die Luft würde knapp werden, Wasser und Nahrung waren nicht vorhanden. 51 �
Mike suchte nach einem Ausweg. Wenn er etwas ausgeruht war, mußte er einen Ausfallversuch unternehmen. Die Polizei müßte unterrichtet werden, Mit Gas und Rattengift mußte hier aufgeräumt werden. Um jeden Preis! Mike nahm die Beretta zur Hand und lud nach. Viel konnte er mit der Waffe zwar nicht ausrichten, aber wenig war immerhin besser als gar nichts. Er knipste die Taschenlampe aus, mußte Strom sparen. Bei einem Ausbruch war Licht notwendig. Der Detektiv atmete durch und bemerkte einen seltsamen Geruch. Mike versuchte ihn zu identifizieren und kam zu der Überzeugung: Gas. War eine Leitung undicht geworden? Panik erfaßte den Detektiv. Würde er in diesem Loch schneller ersticken oder vergiftet werden? * In diesem Augenblick verspürte Ulla Thölken einen Stich. Er fuhr von den Schläfen zum Hinterkopf und dauerte höchstens zwei Sekunden. Sie hatte den Vormittag damit verbracht, sich mit Jerry zu verständigen. Das gelang ohne Schwierigkeit. Jerry war in dem Alter, in dem der heimatliche Hund in Nürnberg gewesen war, als die zwölfjährige Ulla mit ihm gespielt hatte. Es war für Ulla eine Wiederkehr schöner Kindheitsjahre. Als Mike pünktlich um zwölf erschien, um Ulla wie versprochen zu Leberknödelsuppe und Schweinshaxe bei Kolb zu führen, reagierte der kleine Münsterländer Jerry schon prompt auf bayrische Kommandos. 52 �
Das Essen war eine Wucht, und Mike hatte mit keiner Silbe über seinen dummen Auftrag geredet. Nach Tisch hatte Ulla mit Jerry einen ausgedehnten Spaziergang längs des Mississippi gemacht. Und nun saß sie in ihrem Hotelzimmer in einem bequemen Sessel. Jerry lag zusammengerollt zu ihren Füßen. Da kam die zweite Schmerzwelle. Wenige Sekunden ein stechender Schmerz in Ullas Kopf… Jetzt kam noch ein nervöser Druck auf den Magen hinzu. Sie dachte: Mike! Sinnlose Angst packte sie. Sie wußte nicht, warum. Sie glaubte, daß Mike etwas zugestoßen war. Die Kopfschmerzen ließen nicht mehr nach. Ulla Thölken hielt es im Zimmer nicht mehr aus. Sie erhob sich und begann ruhelos umherzuwandern. Jerry sprang auf und beobachtete gespannt die Wanderung seiner Herrin. Ulla bemerkte es und blieb stehen. Minutenlang sahen sich beide an. Dann gab sich Ulla einen Ruck. Sie nahm die Hundeleine von der Garderobe. »Komm, Jerry«, hauchte sie. »Gehen wir Gassi!« Der Hund freute sich, sprang auf Ulla zu und ließ sich anhängen. Es war schon später Nachmittag, als Ulla Thölken mit Jerry das Hotel verließ. Auf den Straßen war erregtes Treiben. Der nahe Höhepunkt des Karnevals war spürbar. Ulla fühlte sich von dem Treiben gequält. Was konnte sie nur tun? Die fremde Stadt und das wirre Leben ließen sie völlig im Stich. Sie hing dem Gedanken nach, zum Police Headquarters zu ge53 �
hen und mit dem Chiefinspektor zu sprechen. Davon kam sie aber wieder ab. Mike würde es ihr sicher übelnehmen. So kam es, daß sie völlig willenlos sich dem Hund überließ. Er zog sie aus dem Trubel der Hauptgeschäftsstraßen hinaus und schien einen ruhigen Winkel zum Spielen zu suchen. Ulla Thölken fand sich in einem weiten Park wieder, als die Dämmerung einbrach. New Orleans war reich an solchen Anlagen. Sie konnte sie nicht auseinanderhalten. Jerry zwang sie, zu laufen. Er wollte anscheinend ein Ziel erreichen. Er lief über eine üppige Wiese, die überraschend in eine kleine Sandwüste mündete. Ringsum gab es Parkplätze, die nur schwach belegt waren. Ulla wurde das Tempo des Hundes zu scharf. Sie klinkte die Leine aus und ließ Jerry laufen. Es war niemand zu sehen. Jerry hatte den ganzen Platz für sich und nutzte die Chance. Ulla sah zu, bis sie plötzlich wieder die grundlose Angst überfiel. Sie pfiff dem Hund. Als er nicht reagierte, rief sie ihn laut und zornig. Jerry aber lief auf ein breites Betonrohr zu, das etwa dreißig Meter entfernt aus einer Mauer ragte. Ulla stutzte. Sie hatte einen Schatten gesehen. Ein Fellbündel kam aus dem Rohr heraus. Es war groß, von schmutzigbrauner Farbe. Eine Ratte… Sofort dachte Ulla an Mike. Sie rief den Hund zurück, aber Jerry hörte nicht. Noch flüchtete die Ratte nicht vor dem Münsterländer. Erst als der kleine Wirbelwind nur noch einen knappen Meter von dem Rohr entfernt war, drehte die Ratte sich um und verschwand im Rohr. Jerry folgte ihr. Ulla hastete über den Platz. Als sie das Betonrohr erreicht hat54 �
te, waren Ratte und Hund verschwunden. »Jerry!« rief Ulla hinein. »Jerry! Komm zurück!« Nichts rührte sich. Die junge Frau bückte sich und versuchte, sich in das Rohr hineinzuzwängen, aber es war zu eng. »Jerry!« rief sie noch mal verzweifelt. »Komm heraus…« Ihre Stimme erstarb. In diesem Augenblick ging die Straßenbeleuchtung an. Unmerklich war es dunkel geworden. Ulla Thölken war zutiefst aufgewühlt. Erst war Mike verschwunden und jetzt auch noch der Hund. Holten sich diese verdammten Ratten denn alles, was sie liebte? Was sollte sie tun? Immer rascher wurde es dunkel. Fast schien es, als habe das Verschwinden des Hundes die Dunkelheit heraufbeschworen. Ulla nahm ihr Feuerzeug heraus und leuchtete in das Rohr hinein. Zuerst sah sie nichts. Dafür vernahm sie ein leises Scharren. Gleich darauf wurde die Flamme des Feuerzeugs von zwei glühenden Augen reflektiert. Dem Augenpaar folgte ein zweites, ein drittes… Erschrocken wich Ulla Thölken zurück. Der Luftzug blies das Feuerzeug aus. Ulla befand sich hier im Schatten der Straßenlampen. Irgendwo in diesem Schatten pfiff und krabbelte es. * Durch das Gitter an der Decke drang das Licht einer Straßenlampe in das unterirdische Gewölbe. Das Licht warf seltsame Reflexe. 55 �
Das Silberkettchen, das um ein Kabel geschlungen war, leuchtete hell. Der Stab reflektierte sein Abbild an die Schachtwand. Das Monster mußte es anstarren und leiden. Immer wieder zuckte es in ihm. Gelegentlich ertönte ein Wimmern. Die Ratten um ihn herum waren hingegen ruhig. Vor den Wächterratten standen zwei größere und fiepten. Aber das Monster, das einen Teil der Ratten beherrschte, war nur begrenzt aufnahmefähig. Es erfuhr, daß die Ratten einen Eindringling gestellt hatten. »Vernichten!« knurrte das Monster, schrie laut auf und faßte sich wieder. »Vernichten«, flüsterte er noch mal. Die beiden Ratten hatten noch eine andere Nachricht zu überbringen. Aber das seltsame Gebilde, das einen Teil der Ratten unter seine Gewalt gebracht hatte, konnte in diesem Augenblick keine differenzierten Antworten und Anordnungen erteilen. Nur das Wort »Vernichten«, entrang sich der Kehle des Monstrums. Immer nur das gleiche Wort. Die beiden Ratten zogen sich zurück. Draußen trennten sie sich. Jeder nahm sich eine andere Aufgabe vor. * Frank Shirley und Diana Allegra hatten vor dem Haus von Avon Hiller Posten bezogen. Es war zwanzig Uhr und finster. Der Journalist hatte seinen Wagen weiter unten geparkt. Das Rattengift befand sich noch im Kofferraum. »Sind Sie sicher, daß er heute noch fortgeht?« raunte Shirley seiner Begleiterin zu. »Er geht jeden Abend in seine Stammkneipe«, gab Diana zur Antwort. »Verlassen Sie sich darauf, bis spätestens um halb neun ist er aus dem Haus. Er hat einige Freunde, die er des öfte56 �
ren trifft.« »Ich dachte, er mag nur Ratten«, wunderte sich der Journalist. »Ist es möglich, daß so ein Mensch Freunde hat?« »Möglich ist alles«, erwiderte Diana. »Vergessen Sie das nie! Sie mußten schon mal gegen dämonische Mächte kämpfen. Das Wort Unmöglich gibt es in meinem Sprachgebrauch nicht.« »Verstehe«, meinte Shirley nur. »Ich werde es mir merken.« Er blickte hinüber auf das Gunshot House. Liebhaber alter Häuser hätten aus dem Bauwerk ein Schmuckstück gemacht. Avon Hiller ließ sein Haus verkommen. Dunkel und finster zerfiel es in einem verwahrlosten Garten. Nur hinter einem einzigen Fenster brannte Licht. Der Rest des Hauses lag im Dunkeln. In diesem Augenblick flammte im Nebenraum ein Licht auf. Die Lichtquelle im andern Raum erlosch. »Sieht aus, als würde er kommen«, raunte Diana dem Journalisten zu. Frank Shirley nickte. Gebannt blickte er auf das Gebäude. Gleich darauf flammte vor der Haustür die Außenbeleuchtung auf. Im Innern des Hauses erlosch das Licht. Die Tür wurde geöffnet. Der alte Mann kam heraus. Er ging gebückt, hatte aber keinen Stock bei sich. Zielstrebig lief er auf die Straße hinaus und verschwand. »Los!« sagte Diana. »Holen wir die Säcke mit dem Gift!« Shirley setzte sich in Bewegung. Der Wagen stand in der anderen Richtung. Es bestand also keine Gefahr, dem alten Hiller zu begegnen. Zehn Minuten später standen die beiden Kämpfer wieder vor dem Tor des Hauses. Die Lampe an der Haustür brannte noch immer. Das Licht fiel auf kahle Bäume und warf lange Schatten. 57 �
Das Gartentor war leicht zu öffnen. Shirley und Diana schleppten die Säcke auf das Grundstück. »Stellen wir sie hier ab«, schlug Diana vor, als sie an der Hausmauer angelangt waren. »Ich suche einen Eingang.« Damit verschwand sie schon im Dunkeln der Nacht und lief um das Haus herum. Shirley wartete. Ein unheimliches Gefühl beschlich den Journalisten. Nun war er den Antworten auf viele Fragen nahe. Aber diese Gewißheit beruhigte ihn nicht. Im Gegenteil! Es war das gleiche Gefühl wie damals, als er den Feuerdämon bekämpft hatte. Damals hatte es unter seinen Freunden Todesopfer gegeben. Auch in dieser Nacht war der Tod sein Partner. Frank Shirley fröstelte. Das Haus des Rattenvaters strahlte eine unglaubliche Kälte aus. * Ulla Thölken mußte ihren neuen Freund aufgeben, so schwer es ihr auch ums Herz wurde. Sie konnte hier nicht länger auf Jerry warten. In jedem Augenblick konnten die Ratten in großer Zahl aus der Betonröhre ausbrechen und über Ulla herfallen. Was konnte mit Mike passiert sein? Die Frage war viel wichtiger. Er war in Gefahr. Davon war sie überzeugt. Aber wo konnte er sein? Wie konnte sie ihm helfen? Sie hatte laufend den Park verlassen und traf an seinem Rand auf eine Telefonzelle. Sie wählte die Nummer des Chiefinspektors, die Mike ihr auf alle Fälle gegeben hatte. Custer meldete sich sehr höflich. Er konnte aber Ulla nicht beruhigen. Das Letzte, was er von Mike gehört hatte, war ein Tele58 �
fonanruf aus der Nähe eines Hauses, indem heute die Ratten einen Mann verfolgt, eine Schlange getötet und eine Wohnung demoliert hatten. Mike Wismath war allein dorthin gefahren, um die Spuren zu studieren. Er glaubte, Ähnlichkeiten mit einem Vorfall aus Nürnberg feststellen zu können. Mit dieser Mitteilung versetzte Custer Ulla in Panik, ohne es zu wollen. Er wußte ja nicht, daß Ulla mit Mike gemeinsam die Kämpfe in der Kanalisation von Rimberg vor zwei Jahren durchgestanden hatte. Sie dankte dem Chiefinspektor für seine freundliche Hilfsbereitschaft und beendete das Gespräch. Was konnte sie tun? Mike Wismath würde Spuren von Ratten gefunden haben, die in die Kanalisation führten. Und da unten würde es nicht nur Ratten geben, da hausten auch gefährliche Dämonen, wie sie in Nürnberg erlebt hatten. Vielleicht war der Vater der Ratten, von dem Mike erzählt hatte, auch so ein Dämon. Sie wagte noch mal einen Anruf bei Custer. Er war keineswegs belästigt. Und die Frage nach dem Vater der Ratten konnte er sogar beantworten. Es war eben die Meldung durchgekommen, wo der Mann namens Avon Hiller wohnte. Er gab Ulla die Adresse. Ulla Thölken lief zum nächsten Taxistand. Ein junger Mexikaner nahm sie auf und fuhr los. Nach fünf Minuten sagte der Fahrer, daß es jetzt nur noch einige hundert Meter sein würde, als der Wagen plötzlich vorn absackte. Der Fahrer zog die Bremsen hart an und sprang aus dem Wagen. Ulla folgte ihm zögernd. Quer über die Straße lief ein breiter Riß. Die Decke war aufgerissen. Das Auto steckte mit den Vorderrädern darin. Ulla Thölken und der Fahrer sahen in den klaffenden Ab59 �
grund. Der Fahrer vermutete ein Erdbeben. Die Deutsche aber glaubte, den wahren Grund zu kennen. Sie hörte dasselbe Scharren und Fiepen, das sie in der Betonröhre gehört hatte, als Jerry darin verschwand. »Was ist denn da unten?« fragte sie. »Ist das nicht Wasser?« »Das wird die Kanalisation sein«, meinte der Mexikaner. »Ich muß die Polizei anrufen. Ich habe eben im Vorbeifahren eine Telefonzelle gesehen.« Der Mann lief den Weg zurück, den sie gekommen waren. Ulla kniete nieder und beugte sich vorsichtig vor. Flinke Schatten huschten da unten. Der Rand des Risses war brüchig. Sand rieselte in den Abgrund. Die Straße war sicher nicht auf Sand gebaut worden. Ratten hatten den Unterbau ausgehöhlt. Nun begriff Ulla, warum die Londoner UWA einen ihrer Agenten hierher geschickt hatte. Und es war ihr klar, daß das nur Mike Wismath sein konnte, der aus Nürnberg einschlägige Erfahrungen besaß. Der Fahrer kam zurück. Ulla Thölken wollte ihn bezahlen. Er lehnte es ab. Es näherten sich Polizeifahrzeuge mit dem Martinshorn. Ulla wollte nicht ausgefragt werden. Sie zog sich unmerklich zurück und wollte durch eine Nebenstraße zu Fuß zum Haus des »Vaters der Ratten« gehen. Da blieb ihr das Herz stehen. Am Straßenrand parkte Mikes Leihwagen. * Diana Allegra fand schon nach wenigen Schritten eine Möglichkeit, das Haus des Rattenvaters zu betreten: ein offenstehendes Kellerfenster. 60 �
Die Mystikerin überlegte erst, ob sie Shirley sofort Bescheid geben sollte, entschied sich dann aber dagegen. Vorsichtig ließ sie sich ins Kellerloch gleiten. Ohne Schwierigkeit kam sie mit beiden Beinen zugleich auf dem Kellerboden auf. Hier unten war es stockfinster. Von außen drang kein Licht herein. Die Mystikerin holte eine Taschenlampe heraus und knipste sie an. Der Lichtkegel verlor sich in einem feuchten Keller von unerwarteten Ausmaßen. Einige Pfeiler stützten die Decke ab. Hier unten war alles verwahrlost. Kisten und Gerümpel lagerte kreuz und quer. Die ideale Umgebung für Ratten. Im Augenblick schien keines der Tiere in der Nähe zu sein. Diana hörte weder ein Scharren noch ein Fiepen. Es schien, als hätte der Rattenvater seine Befehlsempfänger alle weggeschickt. Das konnte nur bedeuten, daß Avon Hiller etwas vor hatte. Aber was? In den Wänden entdeckte die Mystikerin einige Rattenlöcher. Durch sie verschwanden die Tiere in der Kanalisation. Interessiert schlich Diana durch den Keller. Sie war gespannte Aufmerksamkeit. Eigentlich hatte sie Frank Shirley sofort ins Haus hereinlassen wollen. Aber jetzt dachte sie daran, daß es vielleicht besser war, wenn der Journalist draußen im Garten Wache schob. So war sie vor Überraschungen einigermaßen gesichert. Weiter vorn befand sich ein Kistenverschlag. Dahinter beleuchtete der Strahl der Lampe eine Treppe, die nach oben führte. Diana lief auf den Verschlag zu. Verwesungsgeruch stieg ihr in die Nase. 61 �
Sie bog um den Verschlag. Der Strahl der Taschenlampe traf auf ein Skelett. Diana zuckte zusammen. Mit dieser Entdeckung hatte sie hier unten nicht gerechnet. Sie hätte nicht geglaubt, daß Hiller im eigenen Haus soweit ging. Offenbar hielt er Schreckensmahlzeiten für die Ratten ab. Hinter dem Skelett türmte sich ein größerer Knochenhaufen. Sie stürzte die Treppe hoch und rannte auf die Tür zu. Plötzlich knickte sie ein. Eine Stufe hatte nachgegeben. Als Diana noch nachdachte, was das bedeuten könnte, hörte sie über sich das Rasseln einer Kette, die blitzschnell gelockert worden war. Dianas Hand mit der Lampe zuckte nach oben. Als die Mystikerin die Gefahr erkannte, war es fast schon zu spät. Mit gewaltigem Satz sprang sie die Treppe hinunter. Es krachte und schepperte, als das schwere Stahlgitter auf der Treppe aufkam. Staub wirbelte empor. Benommen leuchtete Diana über die Treppe nach oben. Das Gitter lief in Spitzen aus, die an Schwerter erinnerten. Die mörderische Apparatur hätte Diana in zwei Hälften zerschnitten, wenn sie nicht so schnell reagiert hätte. Offensichtlich war Avon Hiller auf Besuch vorbereitet. Sie wich langsam zurück und atmete tief durch. Dabei war sie froh, daß sie sich nichts gebrochen oder verstaucht hatte. Sofort lief sie zum Kellerfenster zurück, um den Journalisten herbeizurufen. Sorgfältig leuchtete sie dabei den Boden nach eventuell verborgenen Fallen und Kontakten ab. Im Augenblick schien es dergleichen nicht zu geben. Das bittere Erwachen kam erst, als Diana das Kellerfenster erreichte, durch das sie eingestiegen war. Hier hatte sich etwas verändert. 62 �
Ein breites Gitter hatte sich über die Fensterwand geschoben. Offenbar hing der Mechanismus mit dem Fallgitter zusammen. Diana war gefangen. Sie begann zu schreien und konnte nur hoffen, daß der Journalist sie auch hörte. Aber auch Ratten haben Ohren… * Mike Wismaths erste Aufregung wegen des Gases hatte sich gelegt. Seine überspannten Sinne waren einer Täuschung erlegen. Zwar war das Geräusch noch immer vorhanden, und Mike vermochte es nicht zu lokalisieren, aber er wußte jetzt sicher, daß weder Luft noch sonst etwas in diese abgeschlossene Kammer kam. Mike hatte genug Zeit gehabt, alle Wände abzuhorchen. Aber das Zischen war nicht das einzige Geräusch. Immer häufiger vernahm er aus den Wänden das Scharren und Kratzen der Ratten, die ihn belagerten. Den Geruch, den Mike irrtümlich für Gas gehalten hatte, strömten Pilze aus, die hier unten wuchsen. Monoton und aus allen Richtungen kam das Scharren der Ratten. Da sie Mike auf direktem Weg nicht beikommen konnten, versuchten sie Gänge zu graben. Immer wieder leuchtete der Detektiv mit der Taschenlampe die Wände ab, um einem eventuellen Durchbruch der Tiere zuvorzukommen. Seine Beretta hatte er inzwischen nachgeladen. Es handelte sich um das Modell 950 B, Kaliber 6,35 mm. Diese Waffe war als Damenpistole entworfen worden, wurde aber von sämtlichen Agenten der UWA, egal ob männlichen oder weiblichen Geschlechts, benutzt. Die Waffe war handlich und wog nur dreihundert Gramm im entladenen Zustand. Gelegentlich flimmerte es Mike vor den Augen. Die Luft wurde 63 �
immer schlechter. In diesem Augenblick brach gegenüber ein Stück der Wand heraus. Der Lichtstrahl zeigte den Kopf einer Ratte. Mike hob die Beretta und drückte zweimal ab. Zwei Ratten hatte er ins Jenseits befördert, da brach auch an zwei anderen Stellen die Mauer. So schnell er konnte, rollte er die Steine weg, womit er den Eingang verstopft hatte. Natürlich bestand die Gefahr, daß er von Ratten erdrückt wurde. Seltsamerweise waren aber gar nicht mehr so viele Ratten im Gang. Sie hatten sich verteilt, um Gänge zu graben. Mike gab sich keinen Illusionen hin. Es würde nicht lange dauern, und die ganze Meute war wieder hinter ihm her. Auf der Flucht zertrat Mike einige Nager und erreichte wieder die Kanalisation. Seltsamerweise gab es hier gar keine Ratten. Hatte ihr geheimnisvoller Meister sie gerufen? Setzte er seine Killerhorden jetzt woanders ein? Mike rannte, so rasch er konnte. Er wollte den nächsten Gully finden und zurück an die Oberfläche entwischen. Nur wenige Ratten verfolgten ihn. In diesem Augenblick vernahm der Detektiv einen Hilferuf. Er kam aus einem Seitengang. Sofort bog der UWA-Agent ab. Zwar wußte er nicht, was ihn dort vorn erwartete. Ein Mensch war in Not. Er mußte zu helfen versuchen. Der Gestank war nicht mehr so penetrant. Mike verspürte einen frischen Luftzug. Er kam von oben. Verblüfft sah der Detektiv hinauf. Dort schimmerten in einem langen Riß die Sterne. 64 �
Ein Auto steckte mit den Vorderrädern in der Spalte. Mike ahnte instinktiv die Zusammenhänge. Schotter und Sand rieselten herunter. Das Abwasserkanalbett war gestaut worden. Mike mußte sich an der Wand entlangpressen, um trockenen Fußes vorbeizukommen. Der Detektiv begriff, daß von den Ratten eine größere Gefahr ausging, als er sich in seinen schlimmsten Mutmaßungen vorgestellt hatte. Wenn ihr geheimnisvoller Herrscher es darauf anlegte, konnte er langsam aber sicher die ganze Stadt lahmlegen. Nicht auszudenken, was passierte, wenn die Tiere erst die Wasserrohre, die Telefonleitungen, das Strom- und das Gasnetz annagten und zerstörten. Wenn noch mehr Straßen untergraben wurden, dann würde New Orleans zu einer Geisterstadt werden, in der niemand mehr leben konnte. Mike hing diesen trüben Visionen nicht lange nach. Der Hilferuf ertönte wieder. Irgendwo hier in der Nähe mußte es sein. Jemand rief einen Namen. Mike bog in einen weiteren Seitenkanal ein. Verwundert nahm er zur Kenntnis, daß keine Ratten mehr hinter ihm her waren. Offensichtlich hatten die Tiere plötzlich Wichtigeres vor. Aber was? * Als Diana nichts mehr von sich hören ließ, lief Frank Shirley ebenfalls einmal um das Haus herum. War sie schon ins Haus eingedrungen? 65 �
Warum ließ sie dann nichts von sich hören? Erst beim zweiten Kontrollgang entdeckte Shirley das geöffnete Kellerfenster. Er ließ sich hinunter, schaffte es aber nicht, sich durch die Öffnung zu zwängen. Ein Gitter störte ihn. »Sind Sie es, Frank?« vernahm er da eine bekannte Stimme. »Diana?« fragte er. »Hier«, sagte sie. »Ich habe schon nach Ihnen gerufen, aber sie hörten nicht. Ich bin gefangen. Sie müssen selbst sehen, wie sie in das Haus kommen, Passen Sie auf! Es gibt Fallen…« Die Mystikerin erzählte dem Journalisten, wie sie in diese Situation geraten war. Geduldig hörte Shirley zu, dann kletterte er wieder nach oben. Jetzt war er sich selbst überlassen. Ins Haus einzudringen würde sicher nicht schwer sein, überlegte er sich. Aber wie sollte er Diana aus dem Keller befreien? Noch mal lief er um das große Haus herum. Schließlich entschloß er sich dazu, ein Fenster einzuwerfen und ins Erdgeschoß einzusteigen. Als er einen Stein aufhob, vernahm er hinter sich plötzlich Schritte. Das Gartentor wurde geöffnet und fiel wieder ins Schloß. Shirleys Faust umkrallte den Stein. Kam Avon Hiller zurück? Hatte der Ankömmling ihn schon gesehen? Hart hallten die Schritte auf dem Pflaster. Shirley duckte sich hinter einen Strauch. Die Beleuchtung an der Haustür brannte immer noch. Shirley empfand es als ein wahres Wunder, daß der Fremde ihn nicht entdeckt hatte. Es war nicht Avon Hiller. Es handelte sich um einen jungen Mann. Im Licht der Hauslampe identifizierte Shirley ein hellhäu66 �
tiges Halbblut. Es trug eine blaue Fliegerjacke und ausgewaschene Jeans. Zielstrebig schritt der Mann auf die Haustür zu. Er griff in die Hosentasche und zog einen Schlüssel heraus. Damit sperrte er die Haustür auf und verschwand im Haus. Vorsichtig hob sich Shirley aus seinem Versteck und ging zum Haus hinüber. Das Halbblut hatte den Schlüssel stecken lassen. Vorsichtig drehte Shirley den Schlüssel herum und schlich ins Haus. Dabei bemühte er sich, kein Geräusch zu verursachen. Aus einem Impuls heraus steckte er den Schlüssel einfach ein. Dabei nahm Shirley bewußt die Gefahr in Kauf, daß das Halbblut Verdacht schöpfte. Sollte der Kerl denken, was er mochte, jedenfalls war Shirley jetzt im Haus. Im Innern war das Licht angeschaltet. Shirley vernahm Schritte auf der Treppe. Der Journalist hielt noch immer den Stein in der linken Faust. Vielleicht brauchte er ihn noch. Leise folgte er dem Halbblut nach oben. Die übliche Neugier des Journalisten erwachte in Frank Shirley. Beim Aufstieg sah er sich ständig nach neuen Versteckmöglichkeiten um, für den Fall, daß der andere umkehrte und ihn auf der Treppe überraschte. Im Obergeschoß hörte Shirley den anderen rumoren. Vorsichtig schlich der Journalist weiter. Oben angekommen, drückte er sich in eine Ecke. Von hier aus konnte er viel übersehen. Der andere hatte die Tür offen gelassen. In einem Zimmer, dessen Einrichtung an eine Werkstatt erinnerte, suchte er etwas. Er öffnete eine Schublade nach der anderen, wühlte darin herum und schloß sie wieder. Interessiert sah Shirley zu. 67 �
Endlich schien der Mann gefunden zu haben, wonach er suchte: eine kleine Trillerpfeife. Er sah sie sich kurz an und steckte sie ein. Außerdem nahm er noch einen Spazierstock des Alten mit. Er löschte das Licht und ging über die Treppe wieder nach unten. Shirley folgte ihm nicht. Er atmete auf, daß der Fremde ihn nicht gesehen hatte. Die Treppe war weiter vorn. Direkt neben dem Werkstattraum führte sie in die Tiefe. Einen Augenblick überlegte der Journalist noch, was als nächstes zu unternehmen war. Das beste wäre es gewesen, dem Halbblut zu folgen. Aber was wurde dann aus Diana? Shirley gab sich einen Ruck und schlich nach unten. Eben knallte das Halbblut die Haustür zu. Damit hatte er sich selbst ausgesperrt. Shirley rannte hinunter. Neben der Treppe gab es im Erdgeschoß noch eine Tür. Der Journalist nahm an, daß sie in den Keller führte. Damit hatte er sich nicht getäuscht. Aber er kam nicht weit. Das Fallgitter hinderte ihn am Weiterkommen. »Diana!« rief er in die Dunkelheit. »Hier!« Auf der Treppe erklangen Schritte. Die Mystikerin mußte ganz in der Nähe sein. »Können Sie noch etwas aushalten?« fragte er. So schnell es ging berichtete er von den letzten Ereignissen. »Verfolgen Sie ihn«, drängte Diana. »Sicher führt er Sie zu Hiller. Jetzt interessiert es mich doch, was die Kerle vorhaben. Ich wußte nicht, daß der Alte einen Partner hat…« »Und Sie?« fragte Shirley. »Was wird aus Ihnen, wenn ich gehe?« »Sie kommen ja zurück«, blieb Diana ganz ruhig. »Außerdem hoffe ich, doch noch einen Weg zu finden, wie ich mich selbst 68 �
befreien kann und wenn ich durch ein Rattenloch in die Kanalisation hinunterkriechen muß.« »Also gut…«, meinte der Journalist zweifelnd. »Gehen Sie!« drängte die Mystikerin. »Mir passiert schon nichts. Aber wenn Sie noch länger herumtrödeln, verlieren Sie den Anschluß an den Kerl.« Sie unterbrach sich und fügte leise hinzu: »Wenn er nicht schon entkommen ist…« Dieser Satz gab für Shirley den Ausschlag. Er eilte die Treppe hoch. Gleich darauf war er im Garten. Natürlich war von dem Halbblut nichts mehr zu sehen. Shirley rannte zur Straße vor und knallte das Gartentor hinter sich zu. Er schlug die Richtung ein, in der Avon Hiller verschwunden war. Es war nur logisch, daß der andere denselben Weg einschlagen mußte, wenn er den Alten treffen wollte. Shirley rannte, so schnell er konnte. Zwei Straßen weiter fand er den Gesuchten. Er ging langsam die Straße hinunter. Der Journalist folgte ihm in gemessenem Abstand. Etwas später steuerte das Halbblut auf eine Kneipe zu. Gleich darauf war er darin verschwunden. Auch Shirley betrat das Lokal. Seine Blicke überflogen die Gaststube. Nur wenige Menschen hielten sich hier auf. Inzwischen war es neun Uhr abends geworden. Die meisten Menschen aus dieser Gegend tobten sich auf einer der ungezählten Karnevalsveranstaltungen aus. Avon Hiller sah Shirley sofort. Obwohl der Journalist den Rattenvater beim Verlassen seines Hauses nur kurz gesehen hatte, hätte er dieses Gesicht bestimmt nicht verwechselt. Es ähnelte schon selbst dem Kopf einer Ratte. Gut konnte Shir69 �
ley sich die Schnurrhaare vorstellen, die noch aus diesem Gesicht sprießen mußten, um den Eindruck perfekt zu machen. Hiller saß mit dem Halbblut an einem Tisch. Die beiden wechselten nicht viele Worte. Shirley setzte sich an einen Nebentisch, um das Gespräch der beiden zu belauschen. Der Journalist bestellte ein Ginger Ale und wartete. Zu seiner Enttäuschung wurden am Nebentisch nur belanglose Worte gewechselt. Shirley konnte nur heraushören, daß die beiden noch an diesem Abend zwei andere Männer treffen wollten. Aber auch das war schon interessant. Shirley wußte nicht, wie der Alte sich mit den Ratten verständigte, aber es gab ihm zu denken, daß Hiller zu diesem Treffen unbedingt einen Stock und eine Trillerpfeife mitnehmen mußte. Als die beiden aufbrachen, zahlte Shirley sein Bier und folgte kurz darauf. Er hofft nur, daß sie ihn nicht bemerkten, sonst dürfte es mehr als kritisch für ihn werden. Die beiden Männer stiegen in einen Peugeot, der dem Halbblut zu gehören schien. Shirley störte sich nicht daran. Er hatte gehört, daß sich die Männer gegen zweiundzwanzig Uhr an der Royal Bank treffen wollten. Diese Angabe genügte dem Journalisten. * Jerry, der kleine Münsterländer, irrte durch die Kanalisation. Der Hund war jetzt zwar mehr grau als weiß, aber das machte nichts. Jedenfalls hatte er die Beißerei mit den Ratten überlebt. Sie waren hinter ihm her, und er war hinter den Ratten her. In erster Linie roch es nach Ratten. Sie mußten hier überall sein. Und doch war im Augenblick keine zu sehen. 70 �
Der Hund irrte jetzt schon einige Zeit durch das Labyrinth. Instinktiv schlug er die richtige Richtung ein. Er eilte dahin, wo der Rattenduft am stärksten war. Irgendwann mischte sich aber noch ein anderer Duft hinein, nur ganz schwach in diesem Gewirr aus allen möglichen Gerüchen kaum auszumachen. Aber für den Hund genügte es. Es war der Duft seines neuen Herrn. Sofort wechselte das Tier die Richtung. Es sehnte sich nach einem Partner, der es beim Kampf gegen die Ratten unterstützen konnte… * Alice Baker hielt es in ihrem Zimmer nicht mehr aus. Auch wenn ihr der freundliche Detektiv geraten hatte, in der Wohnung zu bleiben, mußte sie doch frische Luft schnappen. Beim Spazierengehen ließ sich viel überdenken. In der Enge ihres Zimmers bohrten sich die Gedanken fest. Entschlossen ging das Mädchen auf den Korridor und zog Mantel und Stiefel an. Im Wohnzimmer tönte der Fernseher. Alice Baker verabschiedete sich nicht. Leise schlich sie aus der Wohnung. Auf der Straße empfing sie die kühle Februarnacht. Genüßlich atmete sie ein. Langsam begann es ihr wieder besserzugehen. Sie hörte, wie etwas weiter unten, auf der anderen Straßenseite der Motor eines Motorrades angelassen wurde. Sie dachte sich nichts dabei. Im Augenblick wußte sie noch nicht mal, wohin sie sich wenden sollte. So lief sie die Straße hinunter und ging auf das Zentrum zu. Jetzt kristallisierte sich in Alice ein Ziel heraus. Sie wollte in die 71 �
Diskothek gehen. Dort hoffte sie Zerstreuung zu finden. Aber so weit sollte sie nicht kommen. Plötzlich wurde das Geräusch von Motorrädern lauter. Alice Baker drehte sich um. Vier Scheinwerfer blendeten sie. Gleich darauf brausten vier dunkle Gestalten auf Motorrädern an ihr vorbei, wendeten und kamen wieder auf sie zugebraust. Der erste Rocker fuhr auf den Bürgersteig und schnitt dem Mädchen den Weg ab. Ein weiterer fuhr hinter Alice Baker auf den Gehweg, die beiden anderen schnitten ihr den Weg über die Straße ab. Die Motoren heulten auf, als die Kerle extra Gas gaben. Alice wurde es Angst und Bange. Was wollten die Typen von ihr? In diesem Augenblick wünschte sie nichts mehr, als daheimgeblieben zu sein. »Komm her, Süße!« herrschte der Rocker vor ihr sie an. Dabei schwang er eine Kette leicht hin und her. »Wenn du brav bist, geschieht dir herzlich wenig. Wenn du dich wehrst oder abzuhauen versuchst, hast du dein schönes Gesicht gehabt.« Alice spürte, daß der Kerl es ernst meinte. Der Scheinwerfer seiner schweren Maschine blendete sie. Sie sah ein, daß sie willig sein mußte – zumindest für den Augenblick. Langsam ging sie auf das Motorrad zu. In diesem Augenblick stellte der Rocker den Motor ab. Er stieg von der Maschine und griff nach ihren Arm. Hart zog er das Mädchen an sich heran. Auch zwei andere Rocker stiegen von ihren Maschinen. Einer hatte Schnüre in der Hand. Damit fesselten sie ihre Hände. Das Mädchen bebte. Die Angst in ihr wuchs. »Aufsteigen!« herrschte sie der Anführer an. »Wir machen einen kleinen Ausflug.« Die beiden anderen Rocker hoben sie auf die Maschine des An72 �
führers. Schon heulte der Motor auf. Gleich darauf rauschten die schweren Maschinen über die Asphaltdecke. Alice Baker biß sich auf die Lippen. Sie hatte Angst, vom Motorrad zu fallen. Ohne Schutzkleidung und Sturzhelm mußte das tödlich enden. Die Rocker rasten durch die Nacht. Sie hielt die Kälte kaum aus. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper. Ein Wagen überholte die Rocker. Er fuhr ein Stück vor und hielt am Seitenstreifen. Am liebsten hätte Alice dem Mann ein Zeichen gegeben, aber das war nicht möglich. Der Wagen verschwand im Dunkel der Nacht. Die Rocker fuhren sogar an Alices Wohnung vorbei über die Mirabeau Avenue in den City Park hinein. Dort bremsten die vier Rocker an der Duelleiche und stellten ihre Motorräder ab. Die Scheinwerfer erloschen. Alice Baker wurde es unheimlich zumute. Hier war Maud Pivot ermordet worden. »Absteigen!« herrschte einer der Rocker das Mädchen an. Alice konnte nicht verhindern, daß sie vom Sozius gezerrt wurde. Die vier Kerle marschierten mit ihr auf den Fluß zu. Einer der Rocker sah das Mädchen genüßlich an. »Vielleicht sollten wir uns noch ein wenig mit ihr vergnügen«, schlug er vor. Der Anführer wollte zu einer Entgegnung ansetzen, aber dazu kam es nicht. Plötzlich ertönte ein Rauschen und Rasseln. Ein seltsames Pfeifen hing in der Luft. Alice geriet in Erregung. Diese Geräusche kannte sie. Gestern hatte sie es genauso erlebt, als die Ratten aus dem Fluß gekommen waren… Das Geräusch nahm an Intensität zu. Es wurde immer schlim73 �
mer. Plötzlich waren sie da. Sie kamen von allen Seiten, ein Strom winziger Körper, der den Menschen keinen Ausweg ließ. Alice Baker begann zu schreien. Alles war verloren, die Rocker und sie selbst. Ein lebender Todesstrom bedeckte die Wiese, soweit das Auge reichte. * Mike Wismath wollte herausfinden, woher vorhin der Hilferuf gekommen war. Seit einiger Zeit war es still hier unten. Der Detektiv wußte nicht mal, ob er sich noch auf der richtigen Fährte befand. Stockdunkel war es hier. Mike mußte des öfteren seine Taschenlampe einschalten. Mike rief noch mal. Hörte ihn denn niemand? Plötzlich vernahm er ganz in der Nähe eine Stimme. »Ja«, ertönte es schwach. »Ja hier.« Die Richtung stimmte. Mike lief weiter. Etwas später stand Mike vor einem kleinen Schacht, der gerade breit genug war, einen kriechenden Mann durchzulassen. »Hallo?« fragte Mike noch mal. »Sind Sie dort hinten?« »Hier bin ich«, antwortete die Stimme einer Frau. Nun zögerte der UWA-Agent nicht länger. Er zog sich in die Röhre und robbte hindurch. Lichtschein kam ihm entgegen. Zwar war das Licht nur schwach, aber es genügte. Kurz keimte in ihm ein Anflug von Platzangst. Er biß die Zähne zusammen und schob sich weiter in einen Kellerraum. An der Wand brannten zwei Fackeln. 74 �
Eine Frau saß auf dem Boden, die Mike merkwürdig ansah. »Sie sind ein Rattenjäger, nicht wahr?« »So kann man es nennen.« Mike blickte sich um und sah, daß die Frau in diesem Kellerloch eingeschlossen war. Die Gitter waren nicht zu über sehen. »Mein Name ist Mike Wismath«, stellte der Detektiv sich vor. »Mit wem habe ich die Ehre?« Noch war der Detektiv mißtrauisch. Er wußte nicht, was er mit der seltsamen Situation anfangen sollte. »Nennen Sie mich Diana«, gab die Frau zurück. Mike zuckte zusammen. Damit hatte er nicht gerechnet. Sofort mußte er an sein Gespräch mit Alice Baker denken. »Dann sind Sie die Frau, die Alice die Nachricht vom Tod ihrer Freundin überbrachte«, stellte Mike fest und musterte sein Gegenüber aufmerksam. »Sie sind gut informiert«, gab die Mystikerin zurück. »Vielleicht sollten wir unsere Erfahrungen austauschen.« »Sie vertrauen mir sehr schnell.« Mike setzte sich neben sie. »Ich sehe sofort, ob ein Mensch gut oder schlecht ist«, gab Diana zurück. »Übrigens befinden Sie sich im Augenblick im Haus des Rattenvaters…« »Dann schießen Sie mal los«, sagte der Detektiv. »Auf Ihr Wissen bin ich gespannt.« Noch war Mike mißtrauisch. Aber Diana konnte seine Zweifel rasch zerstreuen. * Als der Ford Granada im City Park hielt, war es fast schon zu spät. Robert Essex hatte den ganzen Abend über Alices Elternhaus beobachtet. Dem Mann war nicht entgangen, daß sie das Haus 75 �
verlassen hatte. Vorsichtig war er ihr nachgefahren. Daher hatte er auch den Rockerüberfall beobachtet. Nicht viel hätte gefehlt und Essex hätte eingegriffen. Aber als der Journalist gesehen hatte, daß die Kerle dem Mädchen nichts taten, interessierte es ihn, wohin sie Alice Baker brachten. So war er den Motorrädern gefolgt. Keiner hatte es bemerkt. Aber als Essex im Park ankam, mußte er sehen, daß der Tod schon mitspielte. Die ganze Wiese war von Ratten übersät. Sie knabberten die Reifen der Motorräder an. Robert Essex sah die vier Menschen in der Mitte der Wiese. Die Ratten hatten sie eingekreist. Jetzt kamen die Ratten auch auf den Ford zu. Essex zögerte nicht. Er ließ den Motor aufheulen, legte den ersten Gang ein und beschleunigte. Der Zwei-Liter-Granada machte einen Satz nach vorn. Der Wagen ächzte. Ratten wurden unter den Rädern zermahlen, ihre Kadaver in die Wiese gedrückt. Der Wagen richtete ein Massaker unter den Nagern an. Die vier Menschen waren im Scheinwerferbereich des Wagens. Essex fuhr genau auf sie zu. Er hofft dabei nur, daß sein Ford nicht steckenblieb. Wenn er in ein Sumpfloch geriet, war es aus. Der Ford mähte die Ratten nieder und hinterließ eine blutige Spur. Aber die Tiere waren nicht untätig. Längst hatten sie begonnen, über ihre Opfer herzufallen. Zwei der Rocker wurden unter einer Last aus Rattenleibern zu Boden geworfen. Essex sah, daß er den beiden Männern nicht mehr helfen konn76 �
te. Auch der dritte Rocker wurde von den Nagern bedrängt. Nur Alice und der Rocker, der sie festhielt, waren noch relativ frei. Endlich stand der Ford Granada neben den beiden. Essex stieß die Beifahrertür auf. Der Rocker sprang herein, ließ das Mädchen stehen und schlug die Tür zu. »Was soll das?« herrschte Essex ihn an. »Holen Sie sofort das Mädchen herein!« »Wozu?« blieb der Rocker ganz ruhig. »Sie ist eine Todeskandidatin. Nur ihr haben wir diesen Mist zu verdanken.« Essex schlug ihm die Faust ins Gesicht und sprang aus dem Wagen. Er packte Alice am Arm und zog sie mit sich. Das Mädchen ließ sich apathisch auf das Spiel ein. Da heulte plötzlich der Motor auf. Der Wagen machte einen Satz nach vorn. Der Rocker hatte sich ans Steuer gesetzt und schickte sich an, mit dem Granada zu fliehen. Und überall waren Ratten! Essex nahm Alice bei der Hand und drehte sich um. »Kommen Sie! Wir müssen rennen!« Er rannte auf die Straße zurück. Alice zog er mit sich. Glücklicherweise kapierte das Mädchen und rannte mit. Sie traten auf Ratten. Einige sprangen sie an, aber entweder verfehlten sie die Flüchtenden, oder sie wurden von Essex weggeschlagen. In diesem Augenblick erstarb im Hintergrund das Motorengeräusch. Essex sah, daß der Rocker seinen Ford Granada in den Fluß gefahren hatte. Langsam versank der Wagen. 77 �
Die Sekunde des Zögerns hatte es einigen Ratten ermöglicht, sich in Essex und Alices Hosenbeinen zu verbeißen. Trotzdem setzten sie ihre Flucht fort. Irgendwann erreichten sie die Straße. Es war ein Wunder. Aber noch war die ganze Rattenmeute hinter ihnen her. »Wir müssen in ein Haus«, rief Essex dem Mädchen zu. »Nur dort sind wir in Sicherheit.« Alice nickte. Die Häuser waren verschlossen. Keiner der Bewohner schien etwas mitbekommen zu haben. In diesem Augenblick geschah das Entsetzliche. Die Ratten hatten sich geteilt und kamen nun auch noch von vorn… Das Ende…? * Die vier Männer saßen im Schacht und blickten durch eine kleine Öffnung in den Keller des Bankgebäudes. Avon Hiller trillerte eine seltsame Melodie. Im Keller der Bank raschelte und knisterte es. »Eine gute Idee, die Kabel der Alarmanlage von den Ratten durchnagen zu lassen«, flüsterte der Gorillatyp dem Halbblut zu. »Wir bleiben sauber und kommen doch ans Geld. Die Tiere arbeiteten in völliger Dunkelheit. Hiller hörte jedoch mit geschulten Ohren, daß alles nach Plan verlief. Dabei hörte er in keinem Augenblick mit dem Pfeifen auf. Die Laute trieben die Ratten an. Zusätzlich hielt Hiller noch eine Art von Gedankenverbindung zu seinen Sklaven aufrecht. Er zweifelte nicht daran, daß sein Plan aufgehen würde. Hiller hatte Bakterienkulturen gezüchtet, die die Ratten für seine schwachen parapsychischen Gaben sensibilisierten. 78 �
Seither kontrollierte er ein Rattenheer, das New Orleans an den Rand des Unterganges treiben konnte, wenn Hiller es wollte. Aber bisher hatte Hiller nur einzelne Personen in die Vernichtung getrieben. Er wußte, daß ein großes Rattenheer in diesem Augenblick im City Park sein Unwesen trieb. Phil Hudson, das Halbblut, hatte Hiller die Trillerpfeife und den Stock gebracht und vier Rocker beauftragt, das Mädchen zu kidnappen und an den Fluß zu bringen. Für die Durchführung des Auftrages hatte er den Motorradfahrern viel Geld versprochen. Avon Hiller hatte aber den Tod der Rocker einkalkuliert. Er mochte diese kettenschwingenden Kerle nicht. Natürlich hinderte ihn das nicht, solche Leute für seine Pläne einzusetzen. Eine seiner Ratten hatte Hiller Alices Aufenthaltsort gemeldet. Für den Alten war es nicht schwer gewesen, entsprechende Maßnahmen zur Vernichtung des Mädchens zu treffen. In diesem Augenblick nahm er die Pfeife aus dem Mund. »Geschafft«, sagte er. »Ihr könnt eindringen. Die Alarmanlage ist außer Betrieb.« Neben dem kleinen Lüftungsloch gab es einen Schacht, der gerade groß genug war, einen Mann durchzulassen. Allerdings war er vergittert. Die drei Gangster setzten einen Schweißbrenner an. Hiller pfiff seine Ratten zurück. Sie kamen heraus und setzten sich außen auf den Boden, wo schon eine Unzahl Ratten saß. Das Gitter war rasch durchgeschweißt. Die Bankräuber warteten noch eine Weile, dann drangen sie ein. Avon Hiller kontrollierte die Instinkte seiner Ratten. Seine telepathischen Fähigkeiten waren nicht so stark, daß er die Gedanken von Menschen lesen konnte. Er konnte nur seine Nager kontrollieren. 79 �
In diesem Augenblick rauschte es in der Nähe. Hiller vernahm ein Trippeln und Pfeifen. Ihm fiel auf, daß seine Ratten unruhig zu werden begannen. Der alte Mann konzentrierte sich auf die Stelle, woher die Geräusche kamen. Plötzlich zuckte er zurück. Er empfing Haßimpulse. In den Gehirnen von hundert Ratten vielleicht nistete ein einziger großer Haßimpuls. Zunächst wurde Hiller das Ziel des Hasses nicht recht klar. Aber bald schon mußte er erkennen, wer diesmal das Opfer der Ratten sein sollte. Die Erkenntnis schüttelte Hiller. Er zuckte zurück. Er konnte es nicht fassen. Unvermittelt mußte er an die Ereignisse des Nachmittags in seinem Keller denken. Das Heer der Mordratten näherte sich unbeirrbar. Avon Hiller sah nach oben. Hatte er noch eine Chance? Das Opfer der Ratten sollte diesmal er selbst sein. Aber wer hatte die Tiere dazu angestiftet? * Frank Shirley hatte Hiller und Hudson bis zur Roya Bank verfolgt. Dort hatten die beiden sich mit zwei anderen Männern getroffen. Alle vier waren hinter der Bank in einen Gully eingestiegen und verschwunden. Shirley war zur nächsten Telefonzelle gelaufen und hatte Chiefinspektor Custer angerufen. Der hatte sich zwar über die Aktivität des Journalisten gewundert, versprach aber, sofort einen Streifenwagen vorbeizuschicken. Shirley war zurück zum Gully gelaufen. 80 �
Dort prallte er mit dem alten Hiller zusammen, der entsetzt aus dem Schacht geklettert kam. Hiller sah Shirley und schlug mit dem Stock nach ihm. Instinktiv wehrte der Journalist den Alten mit einem Tritt ab. Hiller konnte sich nicht halten und stürzte in den Schacht. Das hatte Shirley nicht gewollt. Er leuchtete hinunter und sah den Alten reglos am Boden liegen. Entschlossen kletterte er die Leiter hinunter. Von den andern drei Männern war nichts zu sehen. Sie waren bereits in die Bank eingedrungen. Shirley bückte sich zu dem alten Mann hinunter. Er war so in diese Tätigkeit vertieft, daß er das Trippeln und Pfeifen gar nicht vernahm, das sich wie eine Lawine heranwälzte. Als er sich zu Hiller hinabbückte, erkannte er, daß der Alte nicht mehr lebte. Er hatte sich das Genick gebrochen. Benommen stand Shirley auf. Er bemerkte nicht, daß Hillers Ratten desorientiert hin und her huschten. Langsam verkrochen sie sich in ihre Löcher. Dafür kam jetzt die Welle der anderen Ratten heran. Ihr Befehl lautete auf Vernichtung. Diese Order beschränkte sich nicht allein auf den alten Hiller. Shirley schaffte es nicht bis zur Leiter. Überall waren Ratten. Ehe er es sich versah, hingen sie an seiner Kleidung und warfen ihn zu Boden. Der Journalist konnte sich nicht mehr wehren. In seiner Agonie sah er das Gesicht seiner Frau Susan. Sie lächelte ihn an… * Das Wunder geschah in dem Augenblick, als die beiden Ratten81 �
heere fast zusammentrafen. Essex und Alice wußten nicht mehr wohin. Plötzlich blieben sämtliche Ratten abwartend stehen. Sie hoben die Köpfe und blickten nach oben. Es war die Minute, in der Avon Hiller starb. Unvermittelt änderten die Ratten ihre Richtung. Ehe die beiden Menschen es sich versahen, rasten sämtliche Ratten zum Flußufer hinunter und verschwanden. Die beiden Menschen sahen sich an. Essex legte seine Arme um Alices Körper und drückte sie an sich. »Geschafft«, murmelte er, »wir haben es tatsächlich geschafft!« »Ein Wunder«, hauchte Alice, »ein echtes Wunder…« Der Journalist brachte das Mädchen nach Hause. Dann rief er die Polizei ah. Was von dem ganzen Spuk übrig geblieben war, waren vier tote Rocker, eine Unzahl von Rattenkadavern, vier kaputte Motorräder und Essex versunkener Ford. Nur diese Überreste zeugten noch von dem Kampf, der ebenso plötzlich endete, wie er begonnen hatte. * Der kleine Hund irrte durch die unterirdischen Kanäle. Manchmal glaubte er den Geruch des Herrchens zu spüren, aber immer wieder verlor er die Spur. Jerry wußte nicht mehr, wo er war. � Der Hund jaulte kläglich. � Da vernahm er plötzlich eine Stimme. � »Vernichten«, sagte die Stimme, »vernichten…«
Jerry folgte der Stimme. � Er bog in einen Seitengang ein. Da wurde er von Ratten ange82 �
fallen, die er totbiß. Es waren vier. Gleich darauf erreichte der kleine Hund das Gewölbe mit dem Monster. Instinktiv wich das Tier zurück. Sollte dieses Etwas, das sprechen konnte, ein Mensch sein? Es roch nicht mal wie ein Mensch. Drei Ratten nahmen den Hund auf's Korn. Eine Rauferei entbrannte, bei der eine Ratte totgebissen wurde. Jerry flüchtete, aber die beiden anderen Tiere verfolgten ihn. Noch mal stellte er sich zum Kampf. Er schaffte es, auch die zweite Ratte zu töten. Da lief der Hund noch mal in den Seitenkorridor zu der Stimme… Die letzte Riesenratte folgte ihm. Der Münsterländer raste auf das Monster zu, biß hinein und zog es ein Stück weg. Der Reflex des Stabes traf jetzt die Wand. Das Monster lag frei und beruhigte sich. Es sprach kein Wort mehr. Der Hund schleifte das Ding, das entfernt einem Kopf ähnelte, in den Hauptgang hinaus. In diesem Augenblick griff die letzte der Wächterratten an. Der Hund stellte sich zum Kampf. Es kam zu einer wilden Beißerei, bei der Ratte und Hund den Boden unter den Füßen verloren. Beide platschten in den Abwasserkanal. Auf der Mauer blieb das todbringende Monster liegen. Es war jetzt aus seinem Gefängnis befreit. Was die Ratten nicht zustande brachten, hatte der junge verspielte Hund geschafft. *
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»Sie kennen Nürnberg?« fragte Diana den Detektiv, als sie ihre Informationen ausgetauscht hatten. »Flüchtig«, gab Mike zu. »Ich mußte da mal einen Vampir jagen. Er starb in der Kanalisation. Seine Gefährtin wurde gepfählt.« »Das Mädchen hieß Beate Pfeifer, nicht wahr?« »Woher wissen Sie das?« »Sie war eine Schülerin von mir, ein Talent. Leider auch ein unschuldiges Opfer… Beate hat aus dem Jenseits mit mir gesprochen. Sie ist froh darüber, daß sie nicht als Vampir weiterexistieren mußte.« »Seien wir froh, daß ihr Mörder starb«, sagte Mike nachdenklich. Diana antwortete nicht. Mike drehte sich zu ihr um. Sie preßte die Finger gegen die Schläfen. »Was ist?« fragte er. »Ich weiß nicht«, erwiderte sie fast unhörbar. »Ich glaube, daß Sie sich irren. Der Vampir muß noch immer da sein. Ich spüre es.« »Verschwinden wir von hier«, schlug Mike vor. »Am besten auf dem gleichen Weg, durch den ich hereingekommen bin.« Mike ging auf das Rattenloch zu und schob sich durch den Schacht. Diana folgte ihm. In unmittelbarer Nähe führte eine Leiter über einen Gully an die Oberfläche. Wenige Minuten später genossen Mike und Diana die frische Nachtluft. Sie waren frei, aber sie durften nicht tatenlos herumstehen. Gemeinsam liefen sie zu Hillers Haus zurück. Dunkel lag das Haus im Garten wie ein Relikt aus ferner Vergangenheit. 84 �
Die Säcke mit dem Gift waren noch an der alten Stelle. Diana wies Mike darauf hin. Aber der Detektiv winkte ab. »Lassen wir das Zeug liegen. Vielleicht deponiere ich später einen Teil davon in der Kanalisation.« Die Haustür war noch offen. Shirley hatte einen Ast zwischen Tür und Angel gelegt. * Vorsichtig betraten Mike und Diana das Haus. Es war nicht ausgeschlossen, daß Hiller noch mehr Fallen gegen unbefugte Eindringlinge aufgebaut hatte. Sie mußten auf der Hut sein. Mike nickte. Er durchsuchte zunächst das Erdgeschoß, ohne etwas Interessantes zu finden. Hier existierten nur Wohn- und Abstellräume. In einem Zimmer war eine Bibliothek eingerichtet. Interessiert musterte Mike die Literatur. Hiller besaß eine umfangreiche Sammlung biologischer Fachliteratur. Aber auch andere Werke, vor allem über Parapsychologie. In einer Ecke stand ein Schreibtisch, dahinter ein Aktenregal, breit wie die Wand, und vom Fußboden bis zur Decke voller Ordner. Diana und Mike stellten sich davor und studierten die Aufschriften. Mike griff einen heraus und blätterte ihn durch. »Rechnungen… über chemische Substanzen. Sehen Sie sich nur mal die Beträge an. Woher hat er soviel Geld?« »Hier diese ganze Reihe…« Diana strich über ein Bord von zwei Meter Länge… »Auf jedem Ordner steht Experimente.« Sie nahm einen heraus und schlug ihn auf: »Pläne… Berichte… Ergebnisse…« Mike meinte: »Das sollten wir uns mal genauer ansehen.« Diana zog einen Stuhl heran. Mike ging mit einem Arm voller 85 �
Ordner zum Schreibtisch. Über eine halbe Stunde durchstöberten sie die Aufzeichnungen. Hie und da machten sie sich auf Bemerkenswertes aufmerksam. Der Mann war fast krankhaft fleißig. Und fanatisch sorgfältig. Da war nichts gehudelt oder leichtfertig behauptet. Unbestechlich war Schritt für Schritt jede Phase in jedem Experiment durchgearbeitet und ausgewertet worden. »Er hat ja auch Ergebnisse erzielt, die so großartig sind, daß sie Bewunderung herausfordern«, gestand Diana. »Er hat sich nur für Ratten interessiert… mehr als zwanzig Jahre«, konnte Mike nicht verstehen. Diana zeigte auf einige Ordner links oben. »Begonnen hat er mit Tierversuchen aller Art: mit Katzen, mit Hunden und vielen Vogelarten. Überall dasselbe Erlebnis: keine absolute Hörigkeit. Aber das suchte er: Kreaturen, die ihm bedingungslos gehorchten.« »Finden Sie das bewundernswert?« staunte Mike. »Ich finde es scheußlich«, ereiferte sich Diana, »krank und pervers.« Mike setzte sich hinter den Schreibtisch. »Haben Sie sich das Bild da schon angesehen?« Er zeigte auf einen Farbdruck, anderthalb Meter im Quadrat. Es hing genau gegenüber vom Schreibtisch. Wer von der Arbeit aufsah, mußte das Bild ansehen. Es stellte drastisch und grausam alle Phasen der Hölle dar. »Ist das nicht ein Ausschnitt aus dem Höllenbild von Bosch?« fragte Diana. »Das könnte es sein«, gab Mike zu. »Ein Verrückter, der mit hörigen Ratten arbeitet… hängt der sich so ein Bild vor die Nase? Bosch hat das Bild gemalt, um den Sündern Angst zu machen. Hiller aber will so ein Teufel sein, wie sie in Scharen auf 86 �
dem Bild herumlaufen und Grausamkeiten ausüben. So ein Kerl ist er auch.« Sie legte Mike eine Mappe aufgeschlagen auf den Tisch. »Hier ist alles zusammengefaßt, was er erreicht hat. Sehen Sie das an! Er hat Bakterien gezüchtet, die er den Ratten eingespritzt hat. Sie machten das Gehirn der Tiere zu einem Befehlsempfänger. Sie nahmen jeden Impuls, den er auf sie ausstrahlte und jeden Gedanken, den er telepathisch übertrug und führten ihn aus. Das kann doch nur ein Teufel gewünscht haben.« Mike war aufgestanden und dicht vor das Bild getreten. »Glauben Sie, daß er sich an seiner eigenen Scheußlichkeit weidet, indem er das Bild betrachtet?« Er faßte es am Rahmen an. Er bewegte sich. Mike griff kräftiger zu. Das Bild war eine Tür. Dahinter gab es noch mal Regale mit Ordnern. Sie hatten alle einen Obertitel: »Clades«. »Das ist doch lateinisch«, meinte Mike. »Ja«, bestätigte Diana. »Heißt soviel wie Mißerfolg.« Mike lachte sarkastisch. »Da hat er seine Pleiten gesammelt. Alles, was ihm schiefgegangen ist, hat er aufgeschrieben und hier gesammelt. Was jeder vernünftige Mensch verbrennt, das hat er aufbewahrt. Damit hat er seinen Haß geschürt.« Diana hatte sich einige Ordner vorgenommen. Mike blätterte auch einen durch. »Hier dreht sich alles um Telepathie und Telekinese… Gedankenübertragung und Bewegung ferner Gegenstände…« »So einem Kerl bin ich mal begegnet«, fiel Diana ein. »Ich weiß nur nicht wo. Auf irgendeinem Kongreß drängt sich uns ein Mann auf, der Ratten dressieren konnte. Er wollte von uns wissen, ob man dasselbe auch mit Menschen machen könnte.« »Aber das ist doch unser Mann«, rief Mike. »Nein. Das war ein Deutscher… oder Österreicher. Jedenfalls sprach er nur Deutsch. Er hieß… auch nicht Hiller. Berger ja, 87 �
Berger hieß er. Aber wo ich ihn getroffen habe… es war mir nicht so wichtig, daß ich es…« Dabei blätterte sie in dem Ordner, den sie gerade in der Hand hatte. Plötzlich hielt sie ein. »Da steht es ja… natürlich, da bin ich ihm begegnet…« Sie hielt Mike einen Bericht hin. Er las die Überschrift. »Nürnberg.« Mike schlug das Herz im Hals. Er mußte schlucken, bevor er heiser fragen konnte: »Wie sind Sie denn überhaupt dahin gekommen?« »Durch Beate. Ich habe sie in Venedig auf einem Meeting kennengelernt. Wir freundeten uns an. Sie bat mich, nach Nürnberg zu kommen, um Vorträge zu halten und sie zu schulen. Ich bin mehrfach dort gewesen.« »Und dabei ist Ihnen dieser Berger begegnet?« »Nein, das war später. Als Beate tot war… hat sie mich angerufen aus einer anderen Dimension. Sie hat mich gebeten, nach Nürnberg zu gehen und dort zu sehen, was aus ihrem Mörder geworden wäre… diesem dämonischen Vampir Conqueiro, den Sie ausgelöscht haben. In Nürnberg kursierten die tollsten Gerüchte. Der Vampir sollte nicht tot sein, sondern herumgeistern. Niemand hatte natürlich den Mut, in die Kanalisation einzusteigen. Da meldete sich dieser Berger.« »Und ist er eingestiegen?« »Ich weiß es nicht. Ich habe Beate beruhigt. Ich habe sie davon überzeugt, daß der Dämon ihr nicht mehr schaden könne.« Mike hatte wieder weitergeblättert. »Hier… sehen Sie sich das an. Hier hat er einen Menschen gefunden, der bereit war, sich mit denselben Bakterien impfen zu lassen, die die Ratten hörig machten.« Er blätterte hastig weiter. »Da! Er ist ihm unter der Hand gestorben.« Mike schlug den Ordner zu. »Hier dürften wir genug Material finden, um den 88 �
Herrn auszuschalten.« Mike sah Diana an. »Rufen Sie die Polizei! Ich glaube, das genügt, um den Mann zu verhaften.« Die Mystikerin nickte. Sie ging in seinen Nebenraum zum Telefon. »Ich sehe mich noch etwas um.« Mike lief über die Treppe in den ersten Stock. Schon hinter der ersten Tür fand Mike, was er hier vermutet hatte. Das Labor mit den Bakterienkulturen. * Ulla Thölken wußte nicht, was sie tun sollte. Sie hatte Mikes Leihwagen gefunden, und wo war er? So harrte sie aus und hoffte, daß Mike bald kommen würde. Sie schlenderte zum Schauplatz des Geschehens zurück. Drei Polizeifahrzeuge waren eingetroffen. Ulla Thölken unterhielt sich aus Langeweile mit den Beamten. Dabei war sie nur mit halbem Herz bei den Gesprächen. In diesem Augenblick kam ein Polizist mit einem durchnäßten Bündel im Arm. Es wimmerte leise. Ulla mußte zweimal hinsehen, ehe sie es erkannte. Ihr Herz schlug höher. »Jerry! Das gibt es doch nicht!« Der Hund richtete sich im Arm des Beamten auf und sah sich benommen um. Ulla rannte auf den Polizisten zu. Ehe der Mann es sich versah, hatte sie ihm den Hund schon abgenommen. Jerry freute sich sichtlich. Mit der Schnauze stieß er sein Frauchen an und leckte ihren Hals. Ulla ließ Jerry gewähren, so freute sie sich, daß das Tier wieder 89 �
bei ihr war. »Ist das Ihr Hund?« fragte der Polizist verblüfft. Ulla nickte und erzählte, was vorgefallen war. Erstaunt hörte der Beamte zu. So etwas war ihm noch nicht vorgekommen. Ulla rieb Jerry mit einem Tuch einigermaßen trocken. Der Hund roch fürchterlich. Natürlich mußte er sofort gebadet werden. Nach zehn Minuten hatte Jerry sich soweit erholt, daß Ulla ihn auf die Beine stellen konnte. Da fing der Hund zu rennen an quer über die Straße, direkt auf den Gully zu. Vor dem offenen Deckel blieb Jerry stehen und bellte. Ulla Thölken kam herbei. Der Hund kläffte dort hinunter. Wollte er ihr etwas zeigen? Das Gebell hallte von den kahlen Wänden wider. Plötzlich dachte Ulla an Mike. Sein Wagen stand dort an der Ecke. War er etwa dort unten? Das gab den Ausschlag. Sofort hob Ulla Jerry auf und kletterte hinunter. * In den Käfigen liefen einige weiße Laborratten hin und her. Mike beachtete sie nicht. Viel interessanter waren die langen Glaszylinder, in denen eine dunkle Flüssigkeit schwamm. Aus den Aufzeichnungen Hillers wußte der Detektiv, daß es sich hierbei um jene Bakterienkultur handelte, die Ratten für Telepathieimpulse empfänglich machte. In einer Ecke des Raumes befand sich ein Elektronenmikroskop. Mike fragte sich, woher der alte Mann das Geld hatte, um all das hier bezahlen zu können. 90 �
Der Detektiv wurde den Verdacht nicht los, daß Avon Hiller sich das Geld durch krumme Touren beschaffte. Als Mike sich eine Bakterienprobe unter dem Mikroskop ansehen wollte, kam Diana herein. Der Detektiv sah, daß sie Neuigkeiten hatte. »Hiller ist tot«, platzte sie heraus. »Mein Helfer, der Journalist Frank Shirley ebenfalls.« »Wann ist das geschehen?« fragte Mike sofort. »Eben erst«, gab Diana zurück. »Ich weiß nicht. Als ich die Polizei anrief, versprach mir ein Beamter zwar, sofort einen Wagen zu schicken, aber dabei erfuhr ich auch, das Hiller von Ratten getötet worden sein muß. Offenbar hat Shirley ihn verfolgt.« Der Detektiv vergaß die Bakterienprobe. »Wir sollten hinfahren«, sinnierte er. »Das möchte ich sehen. Was ist mit den Ratten, die in die Bank eingedrungen sind?« »Teilweise verschwunden, teilweise von den Polizisten getötet«, berichtete die Mystikerin. »Ich möchte auch sehen, was da los ist.« »Dann kommen Sie!« Mike verließ den Raum. Als sie am Gartentor ankamen, brauste eben ein Streifenwagen heran. Mike erstattete kurz Bericht, dann überließ er den Polizisten das weitere. Von den Beamten erfuhr er noch von dem Zwischenfall mit der unterhöhlten Straßendecke ganz in der Nähe. Mike wußte nicht, was er davon halten sollte. Da sein Leihwagen ganz in der Nähe stand, wollte er kurz nachsehen, was dort gesehen war. Aber da täuschte er sich. Fünf Minuten später war Mike am Ort des Geschehens. Er wußte, daß es die Stelle war, die er schon von unten aus gesehen hatte. Dieser klaffende Riß machte deutlich, welche Gefahr wirklich von den Ratten ausging. 91 �
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Chiefinspektor Custer wurde aus London verlangt. Sir Randolph von der UWA meldete sich. »Wo ist Mike Wismath? Im Hotel ist er nicht, und man weiß auch nicht, wo er hingegangen ist. Der Karneval ist wohl in New Orleans in vollem Gang.« »Nicht für Mister Wismath«, versicherte Custer. »Miß Thölken sucht ihn auch. Ich weiß nur, daß er auf eine Spur gestoßen ist, die in die Kanalisation führt.« »Da wird er ja auf Conqueiro stoßen. Hoffentlich schafft er ihn diesmal endgültig.« »Wer ist Conqueiro?« Sir Randolph erklärte es mit wenig Worten. »Es ist der hartnäckigste Gegner, mit dem wir es in den letzten Jahren zu tun gehabt haben. Wir durften glauben, daß Wismath ihn vor zwei Jahren in Nürnberg zur Strecke gebracht hätte. Aber er ist noch da und bei Ihnen in Aktion. Ich habe vor einer Stunde Beweise bekommen, daß Conqueiro in Nürnberg mit einem Mann namens Berger Kontakt gefunden hat. Von ihm wissen wir noch wenig. Nur soviel und das dürfte Sie interessieren daß er mit Ratten zu tun hat.« »Damned, Sie glauben doch nicht, daß dieser Berger auch jetzt hier ist?« erregte sich Custer. »Ich weiß gar nichts«, gab Sir Randolph zu. »Ich habe nur eine vage Personenbeschreibung von Berger Ihnen zugefunkt. Geben Sie sie bitte an Wismath weiter.« »Berger?« grübelte Custer. »Das ist deutsch. Englisch heißt das etwa Hill.« »Wie meinen Sie? Mister Custer, sind Sie noch da?« »Ja. Ich glaube, daß wir hier einen Hiller haben, der mit Ihrem 92 �
Berger identisch sein könnte… Aber der ist tot!« »Dann kommt er für uns ja nicht in Frage. »Er ist erst seit einer Stunde tot. Die Ratten haben ihn gefressen…« * Der Gorilla Bob Beales und sein Partner Fritz Kälterer schleppten sich mit der Beute aus dem Banküberfall ab und suchten einen Ausgang aus dem Kanallabyrinth. Ihr Boß Avon Hiller war tot, und das Halbblut war im Kampf mit den Ratten in die Abwasserströmung gefallen und abgetrieben worden. Kälterer stöhnte. »Halt an! Ich kann nicht weiter.« Er war klein und schmächtig und solchen Strapazen nicht gewachsen. Aber er war Hillers wertvollster Mann. Er kannte den Boß schon lange, als der sich noch Berger nannte. Kälterer stammte aus Tirol. Er hatte das ganze Rattenabenteuer mitgemacht. Er war der Generalstab. »Gib den Sack her«, grollte der Gorilla. »Wir müssen weiter.« Kälterer umklammerte verbissen den Geldsack. »Geh allein weiter. Das Geld bleibt bei mir.« Der Gorilla legte seinen rechten Arm um die Schultern des kleinen Mannes und schleppte ihn wie ein widerspenstiges Kind mit. Als sie um eine Biegung kamen, traf der Strahl von Bobs Lampe ein kugelförmiges Gebilde, das schleimig schimmerte. »Halt an«, zischte Kälterer. »Wir müssen umkehren. Das da das ist ein Dämon… mächtiger als jeder Mensch. Er hat uns die Ratten auf den Hals gehetzt.« »Was? Dieser Schlammhaufen?« Bob richtete die Lampe auf das Gebilde. Tatsächlich wurde die 93 �
Andeutung von einem Gesicht erkennbar. Zwei Augen funkelten. Der Mund war geöffnet. Zwei Reihen makelloser Zähne wurden sichtbar. Und die beiden Eckzähne… Bob ließ vor Schreck seinen Kumpan fallen. � Die Eckzähne liefen spitz zu und waren übermäßig lang. � Ein Vampirgebiß… � Die Erkenntnis kam zu spät. Bevor Bob zurückweichen konnte, � hing ihm das kopfartige Gebilde schon am Hals und biß zu. Kälterer traute seinen Augen nicht. Bob schrie auf. Er spürte, wie das Blut seinem Körper entwich. Der Vampir konnte das Blut des Menschen nicht halten. Es tropfte aus dem Halsansatz auf den Boden. Am liebsten wäre Kälterer jetzt geflüchtet, aber er wollte seinen Kollegen nicht im Stich lassen. Er griff nach seiner Hand und zog ihn mit. Zu seinem Erstaunen klappte es sogar. Ein ekelhaftes Schmatzen wurde hörbar. Kälterer mußte durchhalten. Bob mußte gerettet werden. In der Dunkelheit sah es aus, als hätte Bob einen Buckel. Jemand kam näher. Ein Hund bog um die Ecke. Als er den Gorilla mit dem Buckel sah, fing er fürchterlich zu kläffen an. Dem Hund folgte eine junge Frau. Ihre Augen weiteten sich, als sie den Vampirkopf sah. »Was ist das?« fragte sie leise. »Ein Ungeheuer«, keuchte Kälterer. »Verschwinden Sie! Wir müssen uns beeilen. Bob braucht Hilfe… er verblutet…« In diesem Augenblick löste sich der Vampirkopf von Conqueiros Hals. Eiskalte Augen fixierten Ulla. Das Ungeheuer schwebte auf die junge Frau zu. Ulla Thölken schrie.
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Als Mike Wismath den Schrei hörte, rannte er auf den offenen Gully zu und ließ sich in die Tiefe gleiten. Polizisten folgten ihm. Noch mal vernahm Mike Wismath einen Schrei, dann Hundegebell. Er ahnte, daß Ulla und Jerry in der Nähe waren. Als er um die nächste Ecke bog, bot sich ihm ein seltsames Bild. Im Licht seiner Taschenlampe sah er einen Kopf, der im Raum schwebte. Ulla kauerte am Boden. Jerry stand vor ihr und kläffte den Kopf an. Auch einer der Polizisten schlug nach dem Gebilde. Ein Mann lag reglos auf dem Boden. Mike eilte herbei, um zu helfen. In diesem Augenblick fixierten ihn die Augen seines Gegenüber. Reglos blieb der Kopf in der Luft hängen. »Der UWA-Schnüffler«, zischte die Ausgeburt der Finsternis. »So sieht man sich wieder«, murmelte Mike Wismath. Irgendwie hatte ihn das Gespräch mit Diana auf diese Begegnung vorbereitet. »Ich dachte, ich hätte dich erledigt, Conqueiro…« * Mike Wismath knöpfte seinen Hemdkragen auf und zog an silberner Kette ein kleines Kreuz hervor. Er hielt es dem Vampir entgegen. Conqueiro versuchte zu fliehen. Mike folgte ihm. Jeden Ausweg verlegte er ihm mit dem Kreuz. So trieb er den Vampir in die Ecke zurück, in der er gelegen hatte, seitdem er in New Orleans war. Er rollte sich dicht in die Ecke, so daß seine Augen nicht zur Decke blicken konnten. 95 �
Mike sah hoch. An einem Kabelstrang hing ein kleines silbernes Kreuz. »Das also hat dich hier festgehalten«, erkannte Mike. Das Monster antwortete nicht. »Seit Menschengedenken wissen wir, daß ein Vampir vergeht, wenn man ihn in fließendes Wasser wirft. Ich habe dich in Nürnberg in den Abwasserkanal geworfen. Wieso hast du überlebt?« wollte Mike endlich wissen. »Ich bin ein Günstling des Satans«, krächzte der Kopf. »Ich bin der treueste seiner Kämpfer. Ich gebe nie auf, und meine Gegner…« »Hör auf, ich weiß, wer du bist und was du kannst«, unterbrach ihn Mike. »Ich bin oft genug dein Gegner gewesen. Also lobe dich nicht. Ich könnte es besser. Beantworte meine Frage: Wieso hast du überlebt?« Es dauerte eine Weile, bis der Kopf sich überwand. »Das Wasser hat nur meinen Körper erfaßt. Da rief ich Satan mit der Formel an, die nur die engsten seiner Diener in der Stunde der höchsten Not aussprechen dürfen. Er ist erschienen. Er zog mich aufs Trockene. Aber nur noch mein Kopf war unversehrt. Der Körper war aufgelöst und davongeschwemmt worden. Satan neigte sich zu mir. Willst du sterben, fragte er mich. Ich will dir gnädig sein. Ich bestürmte ihn, mich leben zu lassen. Ich versprach ihm das Ende der UWA. Und das ist jetzt gekommen.« Er wälzte sich herum und wollte Mike anspringen. Aber Mike kam ihm mit seinem Kreuz zuvor. Conqueiro rollte sich wieder in seinen Winkel. Lautes Trappeln und Pfeifen näherten sich. Schüsse aus Schrotflinten donnerten in den Gängen. »Meine Armee«, ächzte Conqueiro. »Sie wird mir helfen.« 96 �
»Sollte es nicht die Armee des Vaters der Ratten sein?« höhnte Mike Wismath. Der Vampir sah den Detektiv zornfunkelnd an und schwieg. Ein gewaltiges Rattenheer tauchte auf. Es benutzte vor allem den Wasserlauf. Mike drückte sich an die Wand und hielt seine Beretta schußbereit. Die Ratten beachteten ihn aber nicht. Sie bildeten nur vor dem Vampir einen Schutzwall. Schießend und brüllend näherten sich die Soldaten. Offensichtlich wurden sie von der kleinen Halle, in der Conqueiro lag, abgelenkt. Mike sah zur Decke hinauf. An einer Kette schaukelte der Silberstab, unerreichbar für die Ratten. Der Vampir konnte nicht ausreißen. Mike wandte sich um und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Bald schon fand er seine Gruppe wieder. Ulla hockte auf einem Sockel. Jerry saß vor ihr und bewachte sie. Als Mike kam, stand er auf und wedelte freundlich mit dem Schwanz. Die Gelegenheit, da Ulla, Mike und Jerry miteinander beschäftigt waren, wollte Kälterer nutzen. Er raffte seinen Geldsack auf und versuchte, davonzuschleichen. Jerry war wachsam. Bellend sprang er ihn an und zerrte ihn zurück. Mike sah sich den Mann zum erstenmal genau an. »Wer sind Sie? Was haben Sie da in dem Sack? Und überhaupt… wie kommen Sie denn in die Kanalisation?« Kälterers Augen flackerten. »Das hier sind meine Sachen. Wir haben hier unten gearbeitet. Und wie der Trubel losgegangen ist, da wollten wir nach oben. Mein Kollege da…« Er zeigte auf den starr liegenden Gorilla. 97 �
»…. ich kann nichts für ihn tun. Er ist tot. Ich werde es oben melden.« Damit wandte er sich zum Gehen. Diana kam mit einer helleuchtenden Lampe. »Ach, hier sind Sie«, begrüßte sie Mike. »Soldaten und Polizei haben den Fall im Griff. Man ist auch schon unterwegs, meine Giftsäcke zu holen. Diesmal wird man gründlich mit der Plage…« Sie stockte und sah den zitternden, schmächtigen Mann mit dem Geldsack an. »Aber das ist doch… Mike, den Mann da hab ich auch in Nürnberg gesehen. Er war der Gehilfe von Berger.« Mike ging gelassen auf ihn zu und nahm ihm ruhig den Sack ab. Er sah hinein. »Das gehört wohl in die Royal Bank. Hab ich recht?« »Ja, ich wollte es gerade dahintragen«, beeilte sich Kälterer zu erklären. »Ich habe es gefunden… muß wohl einer weggeworfen haben… vielleicht auf der Flucht.« »Hören Sie auf«, bat Mike freundlich, »das ist uninteressant. Sagen Sie mir lieber, wie lange Sie schon für Berger alias Hiller gearbeitet haben.« Kälterer gab auf. »Fünf Jahre.« »Und was haben Sie für Hiller gemacht?« »Ich war erster Assistent in einem Universitäts-Forschungs-Institut. Herr Berger suchte einen Laboranten und bot ein sehr gutes Gehalt. Ich brauchte leider Geld…« »Herr Berger der Wohltäter«, flachste Mike. »Aber später müssen Sie doch gemerkt haben, daß ihr Wohltäter sehr merkwürdige Dinge tat. Sollten Sie das nicht durchschaut haben?« Kälterer sah zu Boden. Dann kam er zu der Überzeugung, daß er mit einer offenen Aussage mehr erreichen würde als mit fragwürdigen Lügen. 98 �
»Berger hat seine wahren Absichten geschickt getarnt. Als ich dann aber doch dahintergekommen bin, war es schon zu spät für mich, Schluß zu machen. Ich mußte weiter mitmachen. Der Bankeinbruch heute nacht den hab ich geplant. Ich hatte die Hoffnung, mich mit der Beute heimlich davonmachen zu können. Ich wollte mir den Trubel des Mardi Gras zunutze machen.« Mike schmunzelte und blinzelte Ulla und Diana an. »Ich bin auch der Meinung, daß Sie für Berger sehr nützlich waren. Warum ist Ihr Boß eigentlich nach Nürnberg gekommen?« »Berger war ein sehr begabter Mann. Er hat es in der Tierpsychologie sehr weit gebracht. Er wollte aber die Menschen beherrschen. Und da hat er im Lauf der Jahre eingesehen, daß seine geistigen Kräfte nie dazu reichen würden, Menschen hörig zu machen wie die Ratten, die er psychisch völlig umgebaut hat mit seinen Bakterien. Es gab für seine ehrgeizigen Pläne nur einen Ausweg: das Bündnis mit einem starken Dämon.« »Da hatte er mit Conqueiro fraglos eine gute Wahl getroffen. Aber der Dämon-Vampir war doch schon tot, als Berger in Nürnberg ankam.« »Berger glaubte an die Gerüchte, daß der Vampir in der Kanalisation noch lebte«, erklärte Kälterer. »Er ist dann auch heimlich eingestiegen und hat mit ihm Kontakt bekommen.« »Mit einem Kopf, der sich selbst nicht befreien kann?« wunderte sich Diana. »Was versprach er sich davon?« »Berger hatte schon mit ungezählten Dämonen in Verbindung zu treten versucht. Er wurde aber immer nur als Gehilfe angenommen. Er aber wollte der Herr sein. Da war es ihm sehr recht, daß dieser Dämon von ihm abhängig war.« »Und warum ging er nach Orleans?« »Dort hatte Berger schon ein Jahr zuvor ein Haus erworben 99 �
und ein Labor eingerichtet. Wir haben damals auch schon Experimente mit Ratten gemacht. Es gelang uns auch schon eine kleine Rattenplage. Sie befriedigte Berger aber nicht. Er wollte Menschen beherrschen. Er verlangte darum von Conqueiro einen Beweis seiner Kraft. Der hilflose Krüppel war natürlich sofort bereit, seine Macht zu zeigen. Er der Günstling des Satans rief seinen Meister an. Und eines Abends hat er uns drei Berger, sich und mich in das Labor von New Orleans transplantiert. »Wir haben aber den einsamen Kopf in der Kanalisation gefunden«, brachte Diana in Erinnerung. »Da liegt er erst seit ein paar Wochen.« Kälterer zuckte die Achsel. »Sie waren sich zu ähnlich.« »Wer? Der Kopf ohne Körper und der fanatische Gernegroß?« »Jeder von ihnen wollte der Herr der Erde werden. Sie haben sich zerstritten. Vor allem war Berger enttäuscht, daß Conqueiro keine Verbindung zwischen Berger und dem Satan herstellte. Ich habe es dem Boß oft klarzumachen versucht, daß Satan für ihn ein paar Nummern zu groß ist. Er glaubte es nicht. Er hielt Conqueiro für neidisch und intrigant. Da wollte Berger es ihm zeigen, wer der Herr ist. Er hatte im Labor Dämpfe gefunden, die den Vampir einschläferten. So haben wir den Kopf hierher gefahren und in der Halle nebenan deponiert. Zum Schluß hat Berger am Lichtkabel genau über dem Vampir den Silberstab aufgehängt, der ihn in Nürnberg schon auf den Platz bannte.« Diana horchte auf und ging langsam in den Gang hinein. »Als Conqueiro wieder zu sich kam«, berichtete Kälterer weiter, »sann er auf Rache. Und Satan hat ihm dabei geholfen.« »Wieso geholfen? Wenn der Vampir sein Günstling war, warum hat er ihn nicht in einen schönen jungen Mann verwandelt? So etwas sollte er doch können.« Kälterer schüttelte den Kopf. »Satan tut niemand etwas zuliebe. Er nutzt seine Opfer nur 100 �
aus. So gab er dem Vampir den Gedanken ein, mit seiner überlegenen Suggestivkraft die Ratten dem Rattenvater abspenstig zu machen. Zur Unterstützung schenkte er ihm einige Riesenratten, die groß und selbständig wie Katzen waren. Sie waren sozusagen seine Garde. Es hat eine ganze Weile gedauert, bis Berger merkte, daß die Ratten sich zunehmend von ihm abwandten. Daß sie auf Conqueiro hören und seinen Wunsch, Berger zu vernichten, ausführen, weiß er erst seit Stunden.« Mike entdeckte, daß Diana nicht mehr bei ihnen war. Er wandte sich an Ulla. »Liebste, begleite den Mann auf die Straße und übergib ihn den Soldaten oder der Polizei!« Er fragte Kälterer: »Sie werden keine Schwierigkeiten machen?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Im Grund bin ich froh.« Er griff seinen Sack auf und ging zur Gullyleiter. Ulla Thölken folgte ihm. Terry ließ den Mann nicht aus den Augen. Mike fand Diana in der kleinen Halle, wo der Kopf des Vampirs inmitten toter Ratten lag. Diana sah zur Decke und rührte sich nicht. »Der Kreis schließt sich«, hauchte sie. »Hoffentlich«, wünschte Mike. »Es muß mit Conqueiro endlich ein Ende habe.« Diana hatte gar nicht zugehört. »Den Stab da oben… am Tag, da wir uns kennenlernten, habe ich ihn Beate geschenkt. Nach ihrem Tod hat sie mich aus dem Jenseits angerufen. Als sie durch Conqueiro zu Tode kam, hat sie den Stab nicht getragen. Sie hat mich gebeten, nach Nürnberg zu fahren und in ihrer Wohnung an einem bestimmten Platz diesen Stab zu holen und den Mörder damit zu töten. Ich ließ mir sagen, wo das Monster im Kanal liegen sollte. Ein Mitglied des Science-fiction-Clubs, den Beate leitete, brachte mich in der 101 �
Nacht zu einem Gully. Mit einer starken Leuchte konnten wir unten den Schleimhaufen sehen, der Conqueiro war. Ich habe diesen Stab auf ihn geworfen. Mike nickte nachdenklich. »Er ist auf einem Kabel hängen geblieben und hat den Vampir bewacht. Berger hat ihn mitgenommen und hier wieder als Wächter aufgehängt.« Er sah den Stab genau an und senkte den Blick. Das Monster lag genau darunter. Mike zog seine Beretta. Er zielte und schoß. Die Kugel zerriß das Kettchen, der Stab fiel herunter, genau auf den Kopf des Vampirs. Conqueiro schrie. Der Stab glühte auf und brannte sich durch den ganzen Kopf, der zu Asche wurde. Mike und Diana standen dabei. Nach Minuten schüttelte Mike die Gedanken ab, die ihn durchtobten. »Das wäre es dann wohl«, schloß er sachlich. Diana hob mit einem Taschentuch den verglühten Stab auf. Mike ging voraus zur Gullyleiter. Auf der Straße war noch viel Betrieb von abrückenden Soldaten und Polizisten. Mike wurde von Ulla und Jerry erwartet. »Jerry freut sich schon darauf«, sagte sie, »daß er mit dir baden darf. Im Hotel wird eine Riesenwanne vorbereitet.« »Und nach dem Bad?« »Man wird sehen. Morgen ist übrigens Mardi Gras. Dazu sind wir doch eigentlich hergekommen.« Mike sah sich um. Diana war verschwunden. ENDE 102