Red Geller Schlosstrio Band 17
Mister Gänsehaut
scanned by Ginevra corrected by AnyBody Der Überfall geschieht, als Ra...
24 downloads
800 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Red Geller Schlosstrio Band 17
Mister Gänsehaut
scanned by Ginevra corrected by AnyBody Der Überfall geschieht, als Randy Ritter am frühen Abend nach Hause kommt. Aus den Büschen springt ein furchteinflößendes Monster - Mister Gänsehaut. Randy kann ihm und auch den Leuten, die es für den Überfall programmiert haben, gerade noch entwischen. Doch danach beginnt der Ärger erst richtig. Denn die Erpresser haben es in Wirklichkeit auf Dr. Ritter abgesehen. Er soll ihnen helfen. Mister Gänsehaut und weitere ComputerBestien noch perfekter, noch unbesiegbarer zu machen. Als Druckmittel benutzen die Erpresser Randy. Turbo und Ela. Doch die wären nicht das ,Schloß-Trio', würden sie nicht auch aus solch schlimmer Lage letztendlich einen Ausweg finden. Und so kommt es zum großen Entscheidungs-Finish gegen die SUPERSTARS OF THE NIGHT... ISBN 3-8144-1717-8 © 1990 by Pelikan • D-3000 Hannover l Umschlaggestaltung: strat + kon, Hamburg Innen-Illustrationen: Solveig Ullrich
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Inhalt 1. Verfolger am Abend......................................................... 3 2. Auf der Spur der Superstars ........................................... 28 3. Ein seltsamer Anruf........................................................ 44 4. Kinderland ...................................................................... 50 5. Gefährliche Suche .......................................................... 72 6. Jureks teuflischer Plan.................................................... 92 7. Ela und Hasso............................................................... 101 8. Mister Gänsehaut und seine Freunde ........................... 109 9. Aus für den Professor ................................................... 129
1. Verfolger am Abend Der Nebel war so plötzlich da, als hätte ihn ein wutschnaubender Drache über die Fahrbahn gepustet. Die dicke, wabernde Masse hatte die Uferwiesen hinter sich gelassen, kroch höher, bis sie als breiter Streifen über der Straße lag. Im Frühjahr und im Herbst passierte es oft, daß plötzlich solche Nebelbänke auftauchten und die Autofahrer überraschten. Die Fahrzeuge wurden schier von der grauen Watte verschluckt. Wie blutige Augen glühten dann die Bremslichter auf. Noch schlimmer war es in der Dunkelheit. Die Nacht und der Nebel veränderten die Welt. Das merkte auch Randy Ritter, der tief gebeugt auf seinem Rad hockte und kräftig in die Pedale trat. Er wollte sich beeilen, da er sich sowieso schon verspätet hatte. Der sechzehnjährige Schüler war bei einem Klassenkameraden gewesen, um Mathe-Aufgaben durchzusprechen. Komische Gleichungen in der Art: die Mutter ist vierzig, der Vater drei Jahre älter, was ißt der Sohn am liebsten? Rätsel mit mehreren Unbekannten, die aber Randy kaum Probleme machten, da er in Mathe recht begabt war. Kein Wunder bei einem Ingenieur als Vater. Bei Nebel nutzten Randy seine Mathekenntnisse wenig. Er fuhr mitten durch die graue Suppe und schaute angestrengt auf den Strahl der Fahrradlampe, die nur ein spärliches Licht warf. Feucht, kühl hüllten die Schwaden den Jungen ein. Wie mit langen Armen oder Tüchern strichen die kalten Nebelfetzen über sein Gesicht. Selbst der Mittelstreifen der Straße war kaum noch zu erkennen; Randy fuhr so weit wie möglich rechts. Zu allem Übel dämpfte der Nebel die Geräusche oder verzerrte sie. Es herrschte wenig Verkehr, doch wenn er ein Auto näherkommen hörte, dauerte es einige Zeit, bis er heraus hatte, -3-
aus welcher Richtung es kam. Leuchteten dann die verwaschenen Glotzaugen der bleichen Scheinwerferlichter dicht vor ihm oder hinter ihm auf, machte er, daß er noch näher an den Straßenrand kam.
Weit hatte es Randy nicht mehr. Er kannte sich gut in der Gegend aus, da spielte es keine Rolle, ob sich die Welt veränderte oder nicht. -4-
Er spürte auch keine Angst, zumindest nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das änderte sich schlagartig, als er hinter sich einen Motor aufheulen hörte. Im Sattel hockend, drehte Randy den Kopf und sah für einen Moment einen dunklen kompakten Schatten mit zwei gelblichen Lichtern. Die Scheinwerfer glotzten böse in seinem Rücken, als er sich wieder in die Pedale stemmte. Der Wagen kam langsam näher, bis er den Jungen erreicht hatte. Randy rechnete damit, daß ihn das dunkle Fahrzeug überholen würde, doch seltsamerweise blieb es mit ihm auf gleicher Höhe. Ein rascher Blick nach links ließ Randy erkennen, um welches Fabrikat es sich handelte. Es war ein dunkler Opel Senator. Wenn ihn nicht alles täuschte, hockten mindestens drei Männer in seinem Innern. Zwei vorn und einer im Fond.
In Randy wuchs das Unbehagen. Er merkte seine Unsicherheit und ärgerte sich darüber, daß der Fahrer nicht beschleunigte. Wollten die Kerle was von ihm? Der Mann auf dem Beifahrersitz drehte seinen Kopf nach rechts und wandte Randy das Gesicht zu. Hinter der Scheibe wirkte es wie ein breiter Fleck oder wie ein Klumpen Teig, in den jemand mit der flachen Hand -5-
hineingeschlagen hatte. Ein Gesicht ohne Konturen; es war nur da und starrte verzerrt durch die vorbeifliegenden Nebelfetzen. Was wollten die Typen? Randy kannte niemanden, der einen solchen Wagen fuhr. So verschwommen das Gesicht auch war, einen Bekannten hätte er zumindest erkannt. Randy bremste. Jetzt mußte der Senator überholen. Randy schaute auf die Heckleuchten. Er hätte sich gern das Nummernschild gemerkt, was leider unmöglich war, da ihm der Nebel die Sicht nahm. Der Wagen rollte weiter. Wie ein Gespenst mit roten Augen tauchte er in die graue Suppe, bevor er von den dichten Schwaden verschluckt wurde, als hätte es ihn nie zuvor gegeben. Randy Ritter bremste noch stärker ab, hielt am Fahrbahnrand, stieg aus dem Sattel und stellte tatsächlich fest, daß er zitterte. Seine Arme vibrierten in Höhe der Ellenbogen, der Rucksack mit den Büchern über seiner Schulter wurde plötzlich schwer wie Blei, und er merkte, daß ihn diese Begegnung stärker beunruhigt hatte als er sich selbst eingestehen wollte. War es ein Zufall gewesen? Gebrannte Kinder scheuen das Feuer, sagt man. Randy schwante nichts Gutes. Er und seine Freunde Ela und Turbo die drei bildeten zusammen das Schloß-Trio - hatten schon zu viel erlebt, als daß Randy an einen Zufall glauben mochte. Nein, das hatte etwas zu bedeuten. Welcher normale Mensch fuhr bei Nebel einem Radfahrer so dicht auf? Das war doch Absicht gewesen! Es war sinnlos, lange darüber nachzugrübeln. Randy mußte nach Hause, wo man auf ihn wartete. Außerdem hatte er Hunger, und er fragte sich, ob ihm Turbo noch etwas von dem Kartoffelsalat übriggelassen hatte, den seine Mutter für den Abend zubereiten wollte. -6-
Wieder stieg er in den Sattel. Die Straße war frei, und bereits nach knapp fünfzig Metern hatte Randy die dichte Nebelbank hinter sich gelassen. Vor ihm lag die Uferstraße in der Dunkelheit. Der Mond war schon aufgegangen und tauchte die Landschaft in mildes Licht, wenn Randy den Kopf nach links drehte, konnte er den Rhein sehen, der seine dunklen Wassermassen durch das Flußbett schob. Auch um diese Zeit fuhren Schiffe. Von fern flackerten Positionsleuchten. Die Welt war wieder normal geworden, und Randy kam der Wagen wie ein böser Traum vor. Das Haus der Ritters - es war mehr ein kleines Schloß mit einem turmartigen Anbau - stand abseits, zwischen Uferstraße und Strom, und die nächsten Häuser waren gut einen Kilometer entfernt. Dort wohnte auch Ela Schröder, deren Vater als Maurerpolier sein Haus selbst gebaut hatte. Die Ritters hatten das Schloß gemietet, wobei Randys Vater wohl einen Teil der Miete vom Staat ersetzt bekam, für den er hin und wieder nicht ganz ungefährliche Aufgaben übernahm. Manchmal hatte Randy den Eindruck, als wäre Dr. Ritter nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Agent. Aber darüber sprach er nicht mit ihm. Er hatte Alfred, das Mädchen für alles im Haus, mal darauf angesprochen, der aber hatte nur mit einem Achselzucken geantwortet. Alfred war super. Es gab nichts, was der nicht konnte. Er hätte James-Bond-Nachfolger werden könnten, ein irrer Typ, echt ätzend. Früher war er mal Stuntman im Film gewesen. Als Experte für Special Effects, beherrschte er außerdem noch einige Kampfsportarten. Er war im Boxen gut - manchmal stieg er sogar in den Ring -, war ein erstklassiger Judoka, besonders in Karate ausgebildet, und er besaß eine Schußwaffe. Darüber sprach er selten. Meist hockte er mit Dr. Ritter zusammen oder erledigte für ihn verschiedene Botengänge. Um das Haus zu erreichen, mußte Randy auf die andere Seite. -7-
Er hatte ungefähr noch einen Kilometer zu fahren. Nach der Hälfte der Strecke wechselte er auf die linke Seite und bog auf den schmalen Weg ab, der sich durch Buschwerk und einen niedrigen Wald in Schlangenlinien dahinzog und dann direkt zum Schloß führte, dessen Lichter Randy jetzt allerdings noch nicht sehen konnte. Dafür entdeckte er etwas anderes. Er war kaum zehn Meter gefahren und wollte gerade um die erste Kurve biegen, als er heftig bremsen mußte. Direkt vor ihm stand der Opel Senator. Randy stieß scharf die Luft aus. Er blieb im Sattel, hatte nur das rechte Bein langgemacht und den Fuß auf den Boden gesetzt. Es paßte ihm nicht, daß plötzlich eine Gänsehaut auf seinem Rücken lag. Wenn er aber ehrlich war, dann mußte er zugeben, daß ihm dieser dunkle Wagen Furcht einflößte. Vielleicht oder gerade deshalb, weil die Männer verschwunden waren. In einem Gelände wie diesem konnte man sich gut verstecken. Randy schluckte. Sein rechter Mundwinkel, der etwas verzerrt war und seinem Mund einen leicht grinsenden Ausdruck gab, worüber sich schon zahlreiche Pauker aufgeregt hatten, zuckte. Noch ein Zeichen, daß Randy allmählich nervös wurde. Er beugte sich über das Rad und schaute durch das Seitenfenster des Wagens. Da war nichts zu sehen. Randy strengte sich an, durch die getönten Scheiben zu blicken. Vergeblich. Er richtete sich wieder auf und dachte nach. Sollte er einfach weiterfahren, oder sollte er nach den Männern aus dem Opel suchen? Nein, er wollte sich nicht unnötig in Gefahr begeben, am besten war es, wenn er so rasch wie möglich zum Schloß fuhr und dort Bescheid sagte. Alfred und auch sein Vater würden sich für den fremden Wagen bestimmt interessieren. -8-
Der Wagen hatte ein Frankfurter Kennzeichen. Er prägte sich die Autonummer ein. Ein Schild an der Frontscheibe ließ Randy erkennen, daß es sich um einen Leihwagen einer bekannten Firma handelte. In der Dunkelheit hatte es nicht viel Sinn, nach Spuren zu suchen. Randy hätte auch seine Taschenlampe einschalten können, aber er fuhr weiter. Dabei überlegte er, ob er tatsächlich auf dieser Abkürzung bleiben und nicht lieber die Straße nehmen sollte. Das Buschwerk und die niedrigen Bäume kamen ihm plötzlich nicht mehr geheuer vor. In der Dunkelheit wirkten sie auf ihn so unheimlich, als lauerte hinter jedem ein Feind. Nie war ihm der Weg so lang vorgekommen. Wenn überhängende Zweige ihn streiften, hatte er das Gefühl, von fremden Händen angefaßt zu werden, und zuckte jedesmal zusammen. Drei weitere Kurven hatte er schon geschafft. Fast wiegte er sich schon in Sicherheit, da ließ ihn ein Geräusch aufhorchen, das er hier noch nie gehört hatte. Ein dumpfes, tiefes Summen oder Brummen! Sofort hielt Randy an. Das ungewöhnliche Geräusch war von der linken Seite her gekommen. Er lehnte das Rad gegen einen Baumstamm und schob es mit dem Hinterrad noch in ein Gestrüpp. Erst dann war er zufrieden und lauschte weiter. Das Summen war leiser geworden. Ein Zeichen, daß es sich entfernte. Randy blieb stehen. Undurchdringlich wie eine Wand lag das Unterholz vor ihm. Er konnte noch umkehren, aber die Neugierde war stärker. Er vergaß den Kartoffelsalat und wollte nur noch die Quelle des Geräusches herausfinden. Er duckte sich und schlich vorsichtig durch die Büsche. Kein Zweiglein knackte. -9-
Das leise Brummen blieb. Dann hörte er eine Stimme: „Ja, das ist gut. Das ist sogar hervorragend. Besser als ich dachte. Gratuliere, Jurek." „Danke." Randy runzelte die Stirn. Er hatte einen Namen gehört. Jurek. Anfangen konnte er damit nichts; aber er würde ihn sich merken. „Und jetzt?" „Ihr werdet sehen, was er kann. Seid nur vorsichtig. Ein Spielzeug ist es diesmal nicht." „Das wissen wir. Deine Firma würde sich wundern." „Sie hat mich geärgert." „Und dieser Junge? War er das?" „Genau, Ritters Sohn." Randy erschrak, als er hörte, daß die Unbekannten über ihn redeten. Was sollte das? Was hatte er mit ihnen zu tun? Nichts aber woher kannten sie ihn und den Namen seines Vaters? Randy ahnte, daß sich dunkle Wolken über ihm und dem Schloß zusammenbrauten. Jetzt konnte er nicht mehr zurück, er mußte am Ball bleiben und hören, was die Männer weitersprachen. „Ob er etwas bemerkt hat?" „Ich weiß es nicht." „Kennt er dich denn?" Jurek lachte kratzig. „Glaube ich nicht. Aber laß mich jetzt in Ruhe, ja?" „Ist ja gut." Randy hatte große und rote Ohren bekommen. Im Entengang kroch er näher an die Männer heran. Sein Herz klopfte schneller als gewöhnlich. Auf seiner Stirn standen Schweißtropfen. Was hier gespielt wurde, kam ihm ganz und gar nicht geheuer vor. -10-
Die Dunkelheit verzerrte den Klang der Stimmen etwas. Randy konnte zwar die ungefähre Richtung bestimmen, woher die Stimmen aufklangen, er wußte allerdings nicht, wo genau die Männer standen. Deshalb drang er noch ein paar Meter tiefer in das Gehölz. Wie ein Indianer auf dem Kriegspfad schlich er sich näher. Die einzige Geräuschquelle, an der er sich orientieren konnte, war dieses Brummen. Bis er die Schritte hörte. Randy legte sich flach auf den feuchten Boden. Das Gras kitzelte in seiner Nase. Er hörte die dumpfen Geräusche, die entstanden, wenn Füße auf weichem Waldboden aufsetzen. Es wäre ihm ja lieber gewesen, wenn die Schritte sich von ihm entfernt hätten, leider traf das nicht zu, denn sie kamen genau in seine Richtung. Wer immer es auch sein mochte, er mußte Röntgenaugen haben. Oder vielleicht hatte er irgendwie gemerkt, daß sich ein Fremder in der Nähe aufhielt. Randy blieb liegen. Es war zu spät, um in die Höhe zu schnellen und wegzurennen. Damit hätte er sich erst recht verraten. Also blieb er bäuchlings liegen, atmete nur durch den offenen Mund und so flach wie möglich. Die Schritte wurden lauter. Rücksicht auf die Natur nahm der nicht. Er zertrampelte alles, was ihm unter die Füße kam, brach auch kleinere Äste oder Zweige ab, wie an den knackenden Geräuschen zu hören war. Rechts von Randy erklang abermals ein Knacken. So dicht, daß Randy Herzflattern bekam. Wenn der andere nicht blind war, dann mußte er ihn einfach sehen. Er sah ihn nicht. Er ging rechts an Randy vorbei, und der Junge riskierte es.
-11-
-12-
Erst ließ er einige Sekunden verstreichen, dann hob er den Kopf und drehte ihn etwas, damit er die Gestalt sehen konnte. Zwei Beine sah er. Dicker und staksiger als bei einem Menschen. Beine, die sich so ungewöhnlich bewegten, marionettenhaft, als würde diese Person ferngelenkt werden. Jedesmal, wenn der andere seinen Fuß aufsetzte, tat er es mit so großer Kraft, als wollte er ein Loch in den Boden stampfen. Wer war diese Person? Ein Mensch? Ein Roboter? Randy wollte es genau wissen. Noch mußte er versteckt bleiben, denn die Männer ließen den anderen nicht allein gehen. Sie folgten ihm auf den Fersen, achteten aber auf nichts anderes, so daß sich Randy ziemlich sicher fühlen konnte, obgleich ihm einer fast auf die Hand getreten wäre. Sie verschwanden rasch, und Randy richtete sich auf. Er wechselte sofort den Standort, nahm hinter einem Busch Deckung und wünschte sich den Nebel zurück. In seinem Schutz hätte er wunderbar verschwinden können. So aber mußte er noch eine Weile warten, bis er den Weg zu seinem Fahrrad einschlagen konnte. Fahrrad! Siedendheiß fiel ihm ein, daß er einen Fehler begangen hatte. Er hätte das Rad nie so dicht in der Nähe des fremden Wagens abstellen sollen. Es war zwar durch Buschwerk geschützt, aber nicht genug, um einem aufmerksamen Beobachter zu entgehen. Jetzt konnte er nur auf sein Glück vertrauen und darauf, daß die Männer einen anderen Weg nahmen. Wenn sie in dieser Richtung weitergingen, würden sie direkt in das Rad laufen. Randy ging ein paar Schritte zurück, blieb aber abrupt stehen, als das geisterhaft wirkende Licht einer Taschenlampe durch die Bäume huschte und er plötzlich einen nicht druckreifen Fluch hörte. -13-
„Kennt jemand dieses Rad?" „Ja, das hat doch diesem Bengel gehört." „Richtig." „Dann ist er in der Nähe." „Genau." „Wir werden ihn suchen und..." „Nein, nicht", meldete sich Jurek. „Ich habe eine bessere Idee, Freunde." „Raus damit!" „Unser Freund hier macht es. Ja, Mister Gänsehaut soll mal zeigen, was er kann." Schweigen, Nachdenken, dann lachte einer der Männer. „Das ist gut, das ist toll. Hast du ihn geladen?" „Und ob." Randy hatte genau zugehört und alles verstanden. Besonders den letzten Satz und die vorletzte Frage. Was konnte es bedeuten, wenn sie von geladen sprachen? Da konnte es sich doch eigentlich nur um Waffen handeln. Randy bekam einen trockenen Mund. Was hatten die Männer gleich noch gesagt? Mister Gänsehaut! Was sollte das sein? Er hatte keine Vorstellung. War es vielleicht ein Monster, von dem die Typen gesprochen hatten? Er dachte darüber nach, ob er sich zurückziehen sollte, aber die Neugierde siegte. Randy blieb, der duckte sich und entdeckte dabei eine kleine Senke, die ihm Schutz gab. Zum Glück war es dunkel. Bei Tageslicht hätte er es nicht gewagt. „Wenn das Rad hier steht, dann wird der Junge versuchen, es zu holen. Wir könnten warten." „Nein!" entschied der zweite. „Soviel Zeit haben wir nicht. -14-
Jurek soll ihn einprogrammieren." „Wird erledigt." Mister Gänsehaut, programmieren - Randy schüttelte den Kopf. Wie das alles wohl zusammenpaßte? „Alles klar?" „Moment noch", meldete sich Jurek. Der Moment dauerte ungefähr fünf Sekunden, dann hörte Randy wieder jenes bekannte Brummen. Wie eine Welle drang es genau von vorn auf ihn zu. Man konnte bei diesem unheimlichen Geräusch schon eine Gänsehaut bekommen, vor allen Dingen, weil Randy nichts sah und die Dunkelheit alles noch schlimmer machte. Er mußte sich auf sein Gehör verlassen und sich ansonsten alles zusammenreimen. Dann hörte er Jurek sprechen. „Er läuft wieder. Ja, zum Henker, er läuft." Der Mann kicherte vor Freude und konnte sich danach ein schrilles Lachen nicht verkneifen. „Und er wird ihn finden?" „Sicher. Ich habe ihn entsprechend programmiert. Mister Gänsehaut weiß immer, was er zu tun hat." Obwohl Jurek leiser gesprochen hatte, waren seine Worte von Randy genau verstanden worden. Nur konnte sich dieser noch immer keinen Reim auf Mister Gänsehaut machen. Eines stand für ihn fest: Ein Freund war das nicht gerade. Wenn dieser Unbekannte irgendwie auf ihn abgerichtet war, würde er ihn sofort finden, deshalb schaute sich Randy nach einem Fluchtweg um. Es wurde Zeit, denn die Männer waren mit starken Taschenlampen ausgerüstet. Die langen Lichtarme zuckten durch die Dunkelheit und gaben der Umgebung eine gespenstische Atmosphäre. Flink huschten die suchenden Finger durch das Gestrüpp, das Unterholz, schreckten schlafende Vögel auf, die in die -15-
Dunkelheit hineinflogen und dabei aufgeregt zwitscherten und schrien. Randy tauchte weg. Sein Rad schrieb er ab. Er lauschte gebannt auf die für ihn so fremden Geräusche, denn zu seinem Schrecken verstärkte sich das Summen. Mister Gänsehaut war hinter ihm her! Tief gebückt lief Randy um einen sperrigen Busch herum, rutschte aus, weil eine aus der Erde wachsende Wurzel glatt wie Eis gewesen war, und fiel hin. Im letzten Augenblick unterdrückte er einen lauten Fluch, der seine Verfolger gewarnt hätte. Er kroch auf allen vieren weiter, aber sie hatten ihn schon gehört. „Da vorne ist er!" Drei Lichtspeere rasten in seine Richtung, fanden Lücken. Einer jagte hautnah an seinem Gesicht vorbei, der nächste hätte ihn fast getroffen, aber Randy rettete sich in eine Mulde, in die er schlangengleich hineinkriechen konnte. „Nichts!" „Sucht weiter!" Randys Herz klopfte bis zum Hals. Er stand allein gegen die drei Kerle und ihren Helfer Mister Gänsehaut. Was sollte er gegen diese Übermacht tun? Randy überlegte, ob er in Richtung Fluß oder zum Schloß hin fliehen sollte. Zu einer Entscheidung kam er nicht mehr, denn Mister Gänsehaut befand sich bereits in seiner Nähe. Trotz der nächtlichen Dunkelheit sah er den Schatten, der bereits den Rand der Mulde erreicht hatte. Randy war unfähig, sich zu rühren. Sekundenlang starrte er gelähmt vor Schreck wie das Kaninchen auf die Schlange. Seine Blicke tasteten den unförmigen Gegenstand ab. Ein mächtiger Koloß. Viereckig, klotzig, düster... -16-
Gesicht oder nicht? Etwas blinkte dort oben. Hellrot, dann gelb, dann wieder hellrot, wie ein unheimliches Auge. Und dann schoß das Monstrum. Etwas klatschte dicht neben Randys Arm in die weiche Erde. Es war keine Revolverkugel, irgendein anderes Geschoß, und Randy sah, daß Mister Gänsehaut seine Arme bewegte. Fast lässig schwang er sie hoch. „Er hat ihn!" schrie Jurek. „Wo?" Für Randy wurde es allerhöchste Eisenbahn. Als sich das Monstrum in Bewegung setzte, schnellte er hoch, warf seinen Körper herum und rannte davon. Er brach mit seinem gesamten Gewicht in die um die Mulde herumstehenden Büsche ein, überschlug sich, kam wieder auf die Füße und rannte weiter. Das Summen hinter ihm schwoll zu einem Heulen an. Abermals wurde geschossen, zum Glück nicht getroffen, denn die komischen Kugeln jagten rechts und links neben Randy in den Boden. Er gratulierte sich selbst dazu, daß er sich hier so gut auskannte. Schon bald hatte er den freien Streifen Wiese erreicht, der sich bis zum Ufer des Rheins zog. Er drehte sich um und atmete heftig. Er konnte zwar die Straße sehen, zumindest die Scheinwerfer der vorbeifahrenden Wagen, aber seine Verfolger entdeckte er nicht. Auch nicht diesen Mister Gänsehaut. Niemand verließ den dichten Buschgürtel, es blieb alles ruhig. Randy wischte über seine schweißnasse Stirn. Er zitterte, schluckte und schüttelte den Kopf. Was er hinter sich hatte, war unglaublich. Das würde ihm kaum einer abnehmen. Trotzdem hatte er es nicht geträumt. Drei Männer und ein Monster waren -17-
ihm auf den Fersen gewesen und hatten ihn angegriffen. Weshalb? Er hatte ihnen nichts getan. Wie lange Randy schon auf der Flucht war, konnte er nicht sagen. Jetzt schaute er auf die Uhr und erschrak. Er hatte sich bereits um mehr als eine Stunde verspätet. Seine Eltern würden sich große Sorgen machen, das stand fest. Er traute sich nicht, sein Fahrrad zu holen, und lief deshalb im Jogging-Tempo in Richtung Schloß, dessen Umrisse von hier aus schon gut zu erkennen waren. Das Licht hinter den kleinen Fenstern, die Außenlampen und auch die Scheinwerfer im Garten warfen einen hellen, tröstlichen Schein durch die Dunkelheit. Von seinen Verfolgern hatte Randy nichts mehr gesehen. Wahrscheinlich hatten sie aufgegeben. Vorerst jedenfalls. Denn daß sie wiederkommen würden, stand für Randy Ritter fest... „Und das sollen wir dir alles glauben?" fragte Frau Ritter mit tonloser Stimme, als Randy seinen Bericht beendet hatte. Die Frau mit den dunkelblonden Haaren, in die sie eine Schleife gebunden hatte, war ebenso überrascht wie auch Dr. Peter Ritter und Turbo, Randys japanischer Freund, der bei den Ritters lebte. „Ja, das stimmt." Mehr konnte Randy nicht sagen. Er griff zu seinem Glas und leerte den Saft bis zum Grund. Länger als eine Viertelstunde saß er jetzt in der Küche. Er hatte geredet und geredet und merkte erst jetzt, daß Alfred in der offenen Tür stand und nachdenklich über seinen Oberlippenbart strich, während er den erschöpft wirkenden Randy beobachtete. Vorwürfe hatte dem Jungen keiner gemacht. Es herrschte eine sehr nachdenkliche Stimmung. Ein jeder hing seinen Gedanken nach, ohne sie richtig in Worte fassen zu können. -18-
Dr. Ritter stand am Fenster und schaute auf den Strom. „Wie war denn die Autonummer?" Randy versuchte sich zu erinnern, aber er hatte sie in der Aufregung vergessen. „Tut mir leid, Vati, die weiß ich nicht mehr. Es war ein dunkler Senator, ein Leihwagen, das Schild der Firma hing an der Windschutzscheibe." „Das müßten wir doch rausbekommen", meldete sich Alfred von der Tür her und betrat erst jetzt die Küche. Dr. Ritter drehte sich um. „Das ist sicher nicht schwierig. Aber wichtiger erscheint mir, was dahintersteckt. Das würde ich gern wissen." „Grundlos haben die sich nicht in dieser Gegend herumgetrieben", meinte Randy. Turbo meldete sich. „Sollten wir uns den Ort nicht ansehen? Außerdem steht da noch Randys Rad." „Zu gefährlich!" protestierte Marion Ritter und stand heftig auf. „Wenn es stimmt, was Randy sagt, dann haben sie sogar auf ihn geschossen. Das ist furchtbar. Wir müssen die Polizei alarmieren." „Nicht mit normalen Kugeln, Mutti." „Meine Güte, wie du das sagst." Randy zuckte zusammen. „Es stimmt aber." „Was war es dann?" fragte Alfred. „Ich weiß es nicht." Dr. Peter Ritter nickte. „Ich bin auch dafür, daß wir uns dort umschauen." Er wandte sich an seine Frau. „Randy kann ja hier bei dir bleiben, wenn es dich beruhigt." „Nein, das mache ich nicht. Ich muß euch doch führen." „Da hat er recht", sagte Turbo grinsend. Er hieß eigentlich Toshikiara, wurde aber nur Turbo genannt, denn sein richtiger -19-
Name war einfach zu schwer auszusprechen. Das konnten nur Zungenakrobaten, und wer war das schon? „Du bist auch dabei, Alfred?" „Natürlich, Frau Ritter." „Das beruhigt mich etwas." „Außerdem werden sie nicht mehr da sein, Mutti." „Ich traue keinem so leicht." Dr. Ritter hatte aus der Halle bereits seine Jacke geholt und sie übergestreift. „Können wir?" Sie waren bereit. Der alte Mercedes der Ritters stand noch in der Einfahrt. Randy setzte sich nach vorn neben seinen Vater und wies ihm den Weg. „Noch ein paar Meter, dann sind wir da." Der Verkehr war abgeflaut. Ihre doch recht langsame Fahrweise behinderte niemanden. „Stopp!" Dr. Ritter hielt und hörte, wie sein Sohn ihn bat, von der Straße ab und in den kleinen Weg zu biegen, den er mit dem Rad gefahren war. „Aber nicht in die Büsche, oder?" „Nein, nein." Wenig später hielten sie und stiegen aus. Alfred hatte eine lichtstarke Taschenlampe mitgenommen. Er leuchtete den Erdboden ab und entdeckte die Reifenspuren, die der Senator im feuchten Erdreich hinterlassen hatte. „Der Junge hat recht, Herr Ritter." „Sag ich doch." Turbo lachte auf, denn er hatte Randys Rad entdeckt. „Da steht es und meldet sich nicht." Beide untersuchten den Drahtesel; mit dem war alles in Ordnung. -20-
Dr. Ritter winkte die Jungen heran. Von Randy wollte er noch einmal alles genau hören. „Jede Einzelheit ist wichtig, Junge, solange die Erinnerung noch frisch ist." Noch einmal berichtete Randy und führte sie in das Unterholz. Überall waren Spuren zu sehen, auch solche, die Dr. Ritter und Alfred sehr nachdenklich machten. An einigen Stellen waren die Büsche so stark beschädigt, als wäre ein Riese durch sie hindurchgebrochen. Randy bekam die geflüsterte Diskussion zwischen den beiden Männern mit und sagte: „Das war Mister Gänsehaut!" Beide drehten sich um und schauten Randy an. „Du bist dir sicher, dich nicht verhört zu haben?" fragte Dr. Ritter. „Hundertprozentig." „Ein komischer Name." „Kann ich auch nichts für, Vati." „Der klingt so nach Grusel oder Horror", meinte Alfred und schüttelte den Kopf. „Tut mir leid, aber damit kann ich nichts anfangen. Wenn ich allerdings über die Spuren nachdenke, die dieser Mister Gänsehaut hinterlassen hat... es kann sich bei ihm wirklich nicht um einen Menschen handeln." „Ein Roboter!" stellte Dr. Ritter fest. „Genau, Vati, du sagst es. Das muß ein Roboter gewesen sein. Deshalb auch das Summen." Dr. Ritter legte seine Stirn in Falten. „Lassen wir das mal beiseite. Du bist geflohen, hätte ich auch gemacht. Wohin bist du gegangen, wann wurde auf dich geschossen?" „Komm mit." Randy führte sie. An seiner Seite ging Alfred mit der Lampe. Erst in der kleinen Mulde blieben sie stehen. „Hier mußt du leuchten, Alfred. Ich glaube, daß wir hier diese komischen Geschosse finden werden. Sie hätten mich fast erwischt." Alfred ging in die Hocke. Er drehte sich sehr langsam im -21-
Kreis und ließ den Lichtkegel wie ein dünnes Tuch über den Erdboden streifen. „Da!" rief Randy. Sein linker Arm schnellte vor. Er deutete auf einen bestimmten Punkt. Dort lag etwas Schwarzes auf der Erde. Mit zwei Fingern hob Alfred es an und drehte es so, daß alle den Fund betrachten konnten. „Eine Kugel ist das nicht", flüsterte Turbo, „auch wenn es fast so aussieht, weil es vorn etwas kegelförmig zuläuft." „Und trotzdem ein Geschoß", sagte Dr. Ritter. „Und zwar ein Hartgummigeschoß. Wenn es einen erwischt, gibt das mehr als nur kleine blaue Flecken. Du hast Glück gehabt, mein Junge." „Wer macht denn so etwas?" flüsterte Turbo. „Mister Gänsehaut", erwiderte Randy und verzog seine Lippen, als wollte er grinsen. Alfred steckte das Geschoß ein und suchte weiter nach den anderen, die ebenfalls in seinen Taschen verschwanden. Später standen sie wieder am Wagen und waren fast so ratlos wie zuvor. Alfred wollte mit Randys Rad zurückfahren. Er schaute den Jungen an. „Sag mal, ist dir nicht noch etwas aufgefallen? Hast du auch nichts vergessen?" Randy nickte. „Da war tatsächlich noch etwas. Ja, das war noch was. Ich... ich habe es nur vergessen gehabt." „Was denn?" „Ein Name. Da ist ein Name gefallen." Er schlug gegen seine Stirn. „Daß ich daran nicht gedacht habe." „Wie hieß er?" „Jurek!"
-22-
-23-
Nach dieser Antwort war es still. Bis Dr. Ritter anfing zu sprechen. Er redete mit sehr leiser Stimme und schüttelte dabei den Kopf. „Das darf doch nicht wahr sein! Das ist verrückt. Hast du wirklich Jurek gehört, Randy?" „Ich schwöre es." „Kennen Sie den Mann, Dr. Ritter?" „Und wie, Alfred. Jurek - Professor Jurek. Ein ehemaliger Kollege von mir, allerdings besser als ich. Ein Mann mit verrückten Ideen, die andere nicht wahrhaben und in die Tat umsetzen wollten. Ein Wissenschaftler von allererster Klasse. Computerspezialist, jemand, der erfinden konnte, der zu weit vordachte und für meine Firma nicht mehr tragbar war. Man legte ihm nahe, zu gehen." „Wo ging er hin?" „Ich weiß es nicht, Randy. Es ist ja auch nicht sicher, ob es der Jurek ist, den ich meine." „Doch, Vati, doch! Wer einen derartigen Roboter erfindet, muß einfach gut sein." „Oder ein bißchen verrückt", meinte Alfred. Peter Ritter schüttelte den Kopf. „Ich würde ihn sogar als gefährlich einstufen." „Wie kommen Sie darauf?" „Er zog sich immer mehr zurück, als man ihn nicht so akzeptierte wie er war. Seine Ideen kamen nicht durch. Er erfand Programme, die rasch wieder gelöscht werden sollten. Mister Gänsehaut könnte ein Kind von ihm sein." „Das einzige?" fragte Alfred. „Das ist eine gute Frage. Ich glaube nicht daran, aber ich erinnere mich noch, daß ich einer der wenigen gewesen bin, die damals vor einer Entlassung des Professors gewarnt haben. Ich befürchtete, daß er seine Dienste anderen zur Verfügung stellen könnte und nicht nur harmlosen Personen." -24-
„Denken Sie an eine andere Macht?" „Richtig, Alfred." „Dann frage ich mich, was die hier bei uns wollen?" „Vielleicht will Jurek mit mir Kontakt aufnehmen!" Peter Ritter hob die Schultern. Alfred winkte ab. „Wenn das so wäre, hätte ich mir eine andere Lösung einfallen lassen." „Du bist nicht Jurek. Du weißt nicht, was in seinem Kopf vorgeht. Er war dafür bekannt, daß er nicht gern den direkten Weg ging, sondern Winkelzüge bevorzugte. Nein, nein, da steckt mehr dahinter als wir bisher ahnen können." „Und warum nennt er ihn Mister Gänsehaut?" fragte Randy. Dr. Ritter legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter. „Weißt du, Junge, auch Erwachsene sind manchmal kindlich. Sie geben ihren Schöpfungen oder Kindern Namen. Das ist wie mit den Tornados. Auch sie bekommen Mädchennamen. Aber darüber werden wir morgen nachdenken können. Ich lasse meine Beziehungen spielen, um herauszufinden, wo sich Jurek aufhalten könnte." „Immer vorausgesetzt, es ist der gleiche." „Das versteht sich." Sie stiegen wieder in den Mercedes, Alfred winkte noch kurz, dann radelte er los. „Sag mal, Vati, willst du eigentlich die Polizei einschalten oder erst mal abwarten?" Peter Ritter schaute nach rechts und lächelte seinen Sohn an. „Wie würdest du denn an meiner Stelle reagieren?" „Zunächst mal keine Polizei." „Das meine ich auch. Wir müssen herausfinden, was dahintersteckt. Damit meine ich Alfred und mich. Ihr haltet euch da raus, denn Hartgummigeschosse nicht gerade kleine Erbsen. -25-
Beim nächsten Zusammentreffen trifft diese Maschine bestimmt besser." Randy schwieg, auch Turbo enthielt sich eines Kommentars. Er schaute sogar aus dem Fenster. „Du sagst nichts?" „Na ja, Vati, ich kenne dich." „Sicher, Sohn, und ich kenne dich. Du hast oft die fatale Angewohnheit, deine Nase in Dinge hineinzustecken, die ein wenig zu groß für dich sind. Da kann man sich leicht die Finger verbrennen. Für mich ist es kein Zufall, daß Jurek und die anderen Männer hier erschienen sind. Wir werden auf der Hut sein müssen. Ich leite morgen früh die entsprechenden Schritte ein, um noch einiges über Jurek herauszufinden." Randy wechselte das Thema. „Was sagen wir Mutti?" „Das überlasse mal mir." „Okay." Sie rollten vor dem Eingang aus. Die Außenleuchte warf einen hellen Fleck auf den dunklen Lack. Als sie ausstiegen, radelte Alfred heran und winkte. „Mir ist unterwegs niemand begegnet, euch vielleicht?" „Nein, auch nicht." Sie gingen ins Haus. In der Halle stand Marion Ritter und bestürmte sie mit Fragen. „Alles okay, Marion", beruhigte Peter Ritter seine Frau. „Es ist nicht so schlimm." „Hat sich Randy alles nur eingebildet?" „Nein, das hat er nicht." Peter Ritter lächelte. „Es ist alles halb so schlimm." Seine Frau zog die Augenbrauen hoch. Bei ihr ein Zeichen, daß sie die Worte nicht überzeugt hatten. „Ich lasse mich überraschen." Dann fragte sie Randy. „Möchtest du noch etwas -26-
essen?" „Hunger habe ich nicht." „Wenigstens eine Kleinigkeit." Randy kannte seine Mutter und ließ sich überreden. Aus Freundschaft aß Turbo mit, denn die Apfelpfannkuchen schmeckten ihm auch kalt. Die beiden Jungen saßen allein in der Küche, und Turbo, der zur Tür schielte, meinte plötzlich: „Ich muß dir was sagen." Randy hörte auf zu kauen und sagte: „Rück raus damit." „Ich kenne diesen Mister Gänsehaut." Fast hätte Randy sich verschluckt. Er hustete, trank rasch etwas und fragte: „Willst du mich vernatzen?" „Nein, ich kenne ihn wirklich." „Und woher?" „Mister Gänsehaut ist ein Spielzeug aus der Serie Superstars of the Night. Er ist dabei der gefährliche Roboter, der alles umhaut, was sich ihm in den Weg stellt." Randy saß da und bekam vor Überraschung den Mund nicht mehr zu.
-27-
2. Auf der Spur der Superstars Ela Schröder, von Randy oft genug Möpschen genannt, was ihr überhaupt nicht paßte, stand im Schatten und leckte ihr Eis. Drei Kugeln lagen auf der tütenförmigen Waffel. Erdbeer, Schokolade und Zitrone, und das Zeug schmolz in der Maisonne schnell dahin. Ela hatte sich deshalb in den Schatten gestellt und schleckte mit der Hitze um die Wette. War das ein Mai! Zu heiß, zu trocken. Die Bauern schrien nach Regen, die Erwachsenen stöhnten, aber Ela Schröder gehörte zu denen, die sich über die Sonne freuten und sie genossen. Sie hatte sich dem Wetter entsprechend angezogen. Zu den blauweiß gestreiften Bermudas trug sie ein weißes T-Shirt, das locker über ihre Hüften fiel, und die dunklen Haare hatte sie hochgesteckt und zu einem Dutt frisiert; aus dem eine Papierblume hervorschaute. So etwas war jetzt in. Eine Menge junger Mädchen liefen mit dieser Frisur herum. Die Düsseldorfer Innenstadt kochte fast über. Ela wunderte sich darüber, daß trotz des herrlichen Wetters so viele Menschen in der City unterwegs waren, wo sie geschäftig hin und her rannten, Einkaufstüten schleppten und nicht zu bremsen waren. Ela stand im Eingang eines der zahlreichen Kaufhäuser, denn hier wollte sie sich mit Randy und Turbo treffen. In der Schule hatten sie schon miteinander gesprochen, und Ela wußte bereits, worum es ging. Sie war nur nicht dazu gekommen, viele Fragen zu stellen, das wollte sie nachholen, wenn beide eingetroffen waren. Sie ließ die Haltestelle nicht aus den Augen. Immer wenn eine Straßenbahn eintraf, bekam sie besonders große Augen, doch bisher war ihr Warten erfolglos geblieben. Daß die beiden kommen würden, stand fest. Ela war es egal, -28-
ihr Eis interessierte sie mehr. Mittlerweile tropfte es stark, obwohl sie im Schatten stand. An den Seiten der Waffel rann das Zeug herunter. Ela mußte schnell nachlecken, um keine klebrigen Finger zu bekommen.
„Schmeckt's dir?" Eine piepsig klingende Stimme sprach Ela an. Sie schaute nach unten. Vor ihr stand ein Knirps auf einem Skateboard, der von einem Ohr zum anderen grinste. „Ja, Kleiner." -29-
„Gut." „Und weiter?" Der Knirps zog den Schirm der Mütze nach vorn, lachte und zog auf dem Skateboard davon. Kopfschüttelnd blickte ihm Ela nach. Sie hatte keine Ahnung, warum er sie angesprochen hatte, bis sie einen Blick auf ihre Leinenschuhe warf - und erstarrte. Auf dem linken Fuß hockte eine Spinne! Dick, schwarz, so richtig zum Ekeln. Vor Schreck wäre ihr das Eis fast aus der Hand gefallen. Im letzten Augenblick fing sie die Waffel auf und hielt sie fest. Dann kickte sie den Fuß vor, die Spinne verschwand, landete auf dem Pflaster und tickte dort weiter wie ein Gummiball. Genau das war es! Gummi. Die Spinne war nicht echt gewesen. Künstlich, aus irgendeinem Kunststoff. Der Dreikäsehoch mußte ihr die Spinne auf den Fuß gelegt haben. Ausgerechnet sie war darauf hereingefallen, aber vor Spinnen konnte sie sich eben ekeln. Sie suchte nach dem Skater, aber der war längst verschwunden und lachte sich bestimmt krumm. „Auf wen wartest du denn?" Ela stopfte sich gerade die letzten Reste der Eiswaffel in den Mund. Sie mußte erst schlucken, bevor sie antworten konnte. „Ach, kommt ihr auch schon?" „Was heißt ,schon'?" fragte Turbo, der hinter Randy stand. „Wir sind doch pünktlich." „Dann geht meine Uhr anders." „Dein Pech." Ela tippte sich an die Stirn und wischte die klebrigen Hände an einem Taschentuch ab. Dann schaute sie Randy an. „Wie sieht es aus? Alles okay?" Sie rieb ihre Handflächen gegeneinander. „Ich platze schon -30-
vor Tatendrang." „Ja, wie immer." „Meine Güte, bist du ätzend. Richtig übersäuert. Hast du keine Lust mehr? Habe ich umsonst in diesem komischen Umweltmief gewartet?" Randy strich durch sein dunkelblondes Haar. „Die Straßenbahn war eine Sauna." „Das haben Bahnen im Sommer nun mal so an sich." Sie deutete über die Schulter zum Kaufhaus. „Was hältst du davon? Die haben da drin eine Klimaanlage." „Da wollten wir auch hin." „Um uns Spielzeug anzusehen." „Richtig, Möpschen!" Randy erntete einen wütenden Blick. „Wenn du nicht willst, Randolph Ritter, daß hier ein Menschenauflauf entsteht, halte dich lieber zurück. Sonst zeige ich dir, wozu ich noch alles fähig bin. Das kannst du mir glauben, mein Freund", fauchte Ela wie eine Katze. „Bist du wieder biestig!" „Und zickig." Sie tippte Randy gegen die Brust. „Bei einem derartigen Wetter laufe ich stets zu neuer Hochform auf." „Ja, das merkt man." „Also, was ist Sache?" „Es bleibt dabei, wir sehen uns in der Spielwaren-Abteilung um, denn da muß es diesen Mister Gänsehaut geben." „Ich kenne den nicht." „Aber ich", meldete sich Turbo. „Und darauf kannst du dich verlassen, Ela." Sie hob die Schultern. „Meinetwegen laßt uns gehen. Ich habe heute meinen tierfreundlichen Tag." Randy fing an zu bellen. „Wo ist denn das Hündchen? Ja, wo -31-
ist es denn?" „Komm an die Leine!" Ela schnappte nach Randys Hand und zog ihren Freund kurzerhand mit sich. Der große Eingang des Kaufhauses schluckte und spie die Massen aus. Es war ein ständiges Hin und Her, ein Drängeln, ein Schimpfen, Lachen und Murmeln. Der typische Lärm eines Kaufhauses bei Hochbetrieb. Besonders im Untergeschoß trat man sich schier auf die Füße. Immerhin war es im Innern tatsächlich kühler, und die Freunde fühlten sich sofort besser. Ela wollte noch etwas besorgen und steuerte deshalb die Kosmetik-Abteilung an, wo es roch, als wären mehrere Parfümflaschen zerbrochen. Ein schwerer Duft füllte den Raum. Turbo und Randy verzogen die Nasen. Es paßte ihnen nicht, daß sie um die mit Parfüms, Sprays und Seifen beladenen Verkaufsstände schlichen. Ela wußte, wohin sie wollte. Zielstrebig steuerte sie einen mit allerlei Krimskrams beladenen Stand an. Da gab es Kämme, Spangen, Ketten, Ohrringe, sogar glitzernde Bänder und Schleifen. Alles, was gerade schick und in Mode war. Die Jungen bauten sich abseits auf und ließen Ela in Ruhe wählen. Auch andere Mädchen standen um die Körbe herum und probierten alles mögliche an. „Was machst du denn, wenn du diesen Mister Gänsehaut gefunden hast?" fragte Turbo. Randy zuckte die Achseln. „Keine Ahnung. Zumindest bin ich dann etwas schlauer und weiß genau, wie er aussieht." „Den kann ich dir auch beschreiben." „Hast du ja. Aber ich will sehen, was es da noch alles im Programm gibt, denn ich habe so ein komisches Gefühl." „Und?" Randy senkte seine Stimme. „Es könnte ja sein, daß wir es -32-
nicht nur mit diesem Mister Gänsehaut zu tun bekommen, sondern auch mit seinen Kumpanen. Also alles, was da kreucht und fleucht." Turbo riß erstaunt die Augen auf. „Bist du dir da ganz sicher?" „Nein." „Lebensgroß wirst du sie nicht finden." Randy hob die Schultern. „Ich weiß bisher gar nichts. Aber du hast gestern abend selbst miterlebt, wie Alfred und mein Vater reagierten. Sie waren ziemlich besorgt, und der Name dieses Professors muß eingeschlagen sein wie eine Bombe." „Das stimmt allerdings." Turbo schaute auf seine bunten Turnschuhe, die von der weißen Hose abstachen. „Hast du dir Gedanken darüber gemacht, was alles passieren könnte?" „Lieber nicht." „Wie meinst du das denn?" „Stell dir mal vor, was das heißen könnte. Die haben es möglicherweise geschafft, all die kleinen Spielzeuge zu vergrößern. Mister Gänsehaut ist erst der Anfang. Der kann schießen." Randys Blick wurde stechend. „Und was können die anderen?" Turbo wiegte den Kopf. „Wenn ich mir das so durch meinen Kopf gehen lasse und mir die anderen Figuren vorstelle, könnte es leichten bis mittelschweren Ärger geben." „Eher ganz schweren." „Auch das." Ela kam. Sie grinste und hielt eine Tüte mit dem Aufdruck des Kaufhauses in der Hand. „Hast du, was du wolltest?" „Klar doch." „Zeig mal." -33-
Ela griff in die Tüte und holte die Ohrklips hervor, die sie gekauft hatte. Es waren zwei verschiedene Ohrringe. Einmal ein roter Halbmond, zum anderen ein Ding aus Plastik, das Ähnlichkeit mit einem schiefen Fragezeichen besaß. Die Jungen prusteten los und stießen sich verstohlen an. Blitzschnell schloß Ela die Hand wieder zur Faust und ließ ihren Fund verschwinden. Gekränkt drehte sie sich um und ging mit festen Schritten auf die Rolltreppe zu, die in die dritte Etage führte, wo sich die Spielwaren-Abteilung befand. Bis zum Ziel sprach sie kein Wort mit den Jungen. Je höher sie kamen, um so mehr leerten sich die Rolltreppen, auch in der dritten Etage war es nicht mehr so voll. An den Hinweispfeilen konnten sie sich orientieren; sie durchquerten erst einmal die Sportabteilung, wo man sich schon ganz auf den Sommer eingestellt hatte. Boote, Surfbretter, Taucherausrüstungen und vieles mehr waren in jeder Preisklasse angeboten. Die Spielwaren-Abteilung dahinter war kaum besucht. Ela fröstelte in der kühlen Luft der Air condition. Mit Puppen und Puppenkleidern hatten sie nichts im Sinn. Auch nicht mit Eisenbahnen und Autorennstrecken, obwohl die Jungen manch sehnsüchtigen Blick riskierten. Endlich waren sie am Verkaufsstand, den sie suchten. Hier waren sie aufgebaut, die Figuren aus den Horror- und Sciencefiction-Filmen. Die Alptraumgestalten aus Plastik, die Skelette, die Supermänner, die Tiermonster und die utopisch wirkenden Fahrzeuge, mit denen sich all die „Helden" fortbewegten. „Jetzt müssen wir nur noch unseren Mister Gänsehaut finden", sagte Turbo und schaute sich um. Ela hatte ihn entdeckt. Sie winkte von der anderen Seite des Standes. „Kommt her, da ist er!" Wenig später schauten drei Augenpaare auf das große -34-
Pappplakat, das von der Decke herabhing. Es zeigte tatsächlich den Koloß mit dem Namen Mister Gänsehaut. „Ist er das?" fragte Turbo leise. Randy starrte die Abbildung an und dachte an die Erlebnisse des vergangenen Abends. Dabei bekam er selbst eine Gänsehaut. Ein schwarzes Monstrum starrte vom Plakat herunter. Wirklich tief schwarz. Ein klobiger, kompakter Körper mit viereckigen Schultern. „Schau dir das Gesicht an!" hauchte Ela. „Das ist irgendwie furchtbar. Da kann man Angst bekommen." Es hatte einen ebenfalls schwarzen Kopf mit gelben dünnen Streifen, die von oben nach unten liefen und dort endeten, wo sich bei einem Menschen das Kinn befand. Die Augen wirkten in dem kastenartigen Gesicht wie zwei glühende Kohlenstücke. „War er das?" fragte Turbo noch einmal.
-35-
Randy nickte und wiegte zugleich nachdenklich den Kopf hin und her. „Ich habe ihn nicht so genau sehen können. Es war dunkel, da war er mehr ein Schatten. Dafür konnte ich ihn hören." „Ob der hier auch aufgebaut steht?" fragte Ela. „Ich habe ihn nicht entdeckt", meinte Turbo. „Ich auch nicht." Randy schlug vor, daß sie sich die Abteilung noch einmal genauer ansehen sollten. Einige Meter weiter fanden sie den kompletten Satz der Superstars of the Night. Die aufgebauten Figuren standen auf einer runden Platte, die sich drehte. Mister Gänsehaut war der absolute King. Er hatte seinen Platz auf einer kleinen Erhöhung, damit er über die anderen hinwegschauen konnte. Zu seinen Füßen und um ihn herum gruppierten sich die anderen Figuren aus dem Programm. Sie alle bestanden aus Kunststoff, waren beweglich, konnten verändert werden und bestimmte Kampfhaltungen annehmen. Es gab die Hexe, den Schattenmann, den unheimlichen Gato, einen Kerl mit zwei Lanzen bewaffnet, aber es gab auch den Fighter, groß, blond und mit einem kantigen Gesicht. Bewaffnet war der Fighter mit einem grünen Laserschwert. Hinzu kamen zahlreiche Fußtruppen, komische Monster, die mehr zum Lachen reizten. Auch die Fahrzeuge interessierten die Jungen. Sie alle sahen sehr futuristisch aus, manche besaßen sechs Räder und mehr. Sie ließen sich auch umrüsten, so daß aus einem Lastwagen ein Amphibienfahrzeug wurde, das sowohl im Wasser als auch auf dem Land fahren konnte. „Ganz schön ordentlich", meinte Turbo und nickte. „Mehr sagst du nicht?" fragte Randy. Ela antwortete statt dessen: „Ihr könnt ja sagen, was ihr wollt, -36-
aber ich mag sie nicht. Die... die finde ich einfach blöd, wenn ihr versteht." „Ist eben Ansichtssache." „Hör auf, Randy, ich brauche dich nur anzuschauen, um erkennen zu können, daß du ihnen skeptisch gegenüberstehst. Oder nicht?" „Kann sein", murmelte der Junge. „Ich denke über ganz etwas anderes nach." Turbo lachte leise. „Das kann ich mir schon denken. Du hast den Mister Gänsehaut in Menschengröße erlebt." „Stimmt." „Und jetzt überlegst du, wie es sein würde, wenn auch die anderen Monster hier so groß werden." „Richtig." „Seid ihr verrückt?" flüsterte Ela. „Malt den Teufel nur nicht an die Wand. Das ist toll, Irrsinn." Sie tippte gegen ihre Stirn, auf der kleine Schweißperlen standen. „So etwas kann es doch nicht geben. Das gehört zur Sciencefiction." „Leider nicht", murmelte Randy. „Dieser Professor Jurek ist ein Meister seines Fachs, das hat selbst mein Vater zugegeben. Er ist ein Computer-Genie. Der schafft es sogar, die mannsgroßen Figuren so zu programmieren, daß sie auf alles losgehen, was sich ihnen in den Weg stellt. Ich könnte mir vorstellen, daß sie sogar gegenseitig aufeinander losgehen und sich vernichten." „Vorausgesetzt, man programmiert sie dementsprechend", warf Turbo ein, der sich besser auskannte als Randy. „Ja." „Okay", sagte Ela und nahm den Fighter in die Hand, um ihn von allen Seiten zu betrachten. „Bisher haben wir nur davon geredet, aber keinen Beweis bekommen. Rechnet ihr denn damit, daß die noch mal auftauchen?" -37-
„Bestimmt", sagte Randy. „Und dann müßte man noch feststellen, wo sie eigentlich hergestellt werden. Kommen die aus den Staaten?" „Nein, junge Dame, aus Deutschland!" Keiner hatte den Mann gesehen, der plötzlich hinter ihnen stand. Sie fuhren herum und schauten in das lächelnde Gesicht eines dunkelhaarigen Verkäufers, der einen hellen, leicht zerknitterten Anzug trug, sein Haar zur Bürste geschnitten hatte und Anfang Zwanzig sein mußte. An seinem linken Handgelenk baumelte ein Goldkettchen. Das Schild am Kragen der Jacke zeigte dem Kunden, mit wem er es zu tun hatte. Der Mann hieß Starke. „Ach ja?" fragte Ela. „Woher denn da aus Deutschland?" Herr Starke genoß es, mit seinen Kenntnissen glänzen zu können. „Gar nicht weit von hier. Die Fabrik liegt am Niederrhein. Ist ganz neu auf den Markt gekommen, das Programm. Damit will die Firma die Vormacht der Japaner und Amerikaner brechen." Er grinste Turbo an. „Nichts gegen Japaner, wir sind froh, wenn sie hier einkaufen." „Wie heißt die Firma?" fragte Randy. „Kinderland!" Randy und seine Freunde verzogen die Lippen, als hätten sie Essig getrunken. „Das darf doch nicht wahr sein", beschwerte sich Ela. „Wie kann man sich bei dem Zeug nur Kinderland nennen?" Der Verkäufer bekam einen abweisenden Gesichtsausdruck. „Das ist ja nicht alles, was die Firma herstellt." „Was denn noch?" „Puppen und Puppenmöbel, Autorennbahnen aus Kunststoff. Man drängt auf den Markt." Ela winkte ab. „Das ist nur das komische Plastikzeug, glauben Sie mir." -38-
Jetzt wurde Herr Starke richtig sauer. „Wenn ihr dagegen seid, weshalb steht ihr hier und schaut es euch an. Geht doch woanders hin. Oder wollt ihr etwas kaufen?" „Ich", sagte Randy und erntete von Ela einen mehr als überraschten Blick. „Ich möchte etwas kaufen." „Schön, und was?" „Von jeder der Hauptfiguren ein Exemplar." „Bist du verrückt!" zischelte Ela. „Du kannst doch dafür kein Geld ausgeben." „Laß mich. Ich habe meine Gründe. Außerdem ist das mit meinen Eltern und Alfred abgesprochen." „Okay, meinen Segen hast du." Der Verkäufer zauberte augenblicklich ein geschäftsmäßiges Lächeln auf sein Gesicht und drehte sich zu dem Regal um, in dem die Kartons mit den Figuren gestapelt waren. „Nein, nicht verpackt. Ich suche sie mir hier von der Scheibe aus." „Das ist aber..." „Sonst kaufe ich keine." „Ja, meinetwegen, weil ihr es seid." „Uaaa - wie großzügig." Ela verdrehte die Augen und wandte sich ab. Sie mochte den Mann nicht. Der Verkäufer wußte nicht, ob er ein beleidigtes oder triumphierendes Gesicht ziehen sollte. Er entschied sich für ein Mittelding zwischen beiden. Mit spitzen Fingern nahm er Mister Gänsehaut, die Hexe, den Schattenmann, Gato und den Fighter an sich. Fünf Hauptfiguren, mit denen er zur Kasse vorausschritt. Randy hatte aus der hinteren Hosentasche seine Geldbörse geholt und den Klettverschluß aufgerissen. Ein Blauer schaute heraus. Den brauchte er auch, denn die Figuren kosteten über -39-
achtzig Mark. „Eine Quittung auch." „Die bekommst du sowieso." Ela stand neben Randy. „Das ist eine Menge Geld", kommentierte sie. „Hätte ich nie ausgegeben." „Du mußt sie als Beweisstücke ansehen", stand Turbo seinem Freund bei. „Außerdem wollte Herr Ritter, daß wir sie kaufen." „Nun ja, wenn das so ist." „Der Verkäufer wünschte ihnen noch viel Spaß mit dem neuen Spielzeug, was alle drei Freunde stark bezweifelten. Randy hatte eine letzte Frage: „Wissen Sie vielleicht die Adresse der Firma?" „Was wollt ihr denn von denen?" „Weiß nicht. Vielleicht besichtigen wir mal das Werk. Wir haben noch einen Wandertag frei." „Na ja, meinetwegen. Ich schreibe sie euch auf." Der Knabe kritzelte etwas auf ein Stück Papier, das er Randy reichte. „Aha, nicht weit von Krefeld." „Aber auf dem flachen Land." „Macht uns nichts, Meister. Dann brauchen wir wenigstens auf keine Berge zu steigen." Er winkte mit dem Zettel. „Herzlichen Dank und schönen Tag noch." „Gleichfalls." „Was kannst du so freundlich sein", meinte Ela mit pikierter Stimme. „So kenne ich dich nicht." „Ich bin eben super." Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Strunz, geh in die Hütte, heißt es doch." „Klar, und wir gehen woanders hin." „Wo denn?" fragte Turbo. „Was essen?" -40-
„Auch. Darf ich die Herrschaften ins Restaurant einladen? Es ist eine Etage tiefer." Randy hatte kaum ausgesprochen, als Turbo schon in Richtung Rolltreppe stürmte... Man mußte sich hier selbst bedienen. Turbo nahm Suppe, ein Schnitzel, Fritten und auch Wackelpudding. Ela beließ es bei einem Salat. Randy hatte sich für eine Bratwurst entschieden, und er zahlte für alle. „Geht das auch auf Spesen?" fragte Ela. „Klar doch." „Sei froh, daß ich auf meine Linie achten will." „Turbo ißt doch für dich mit." Freie Tische gab es genug. Mit Getränken hatten sie sich ebenfalls versorgt, und in den nächsten zehn Minuten war es still am Tisch. Turbo mampfte noch, als Randy in die Tüte griff und die sechs Figuren nebeneinander auf den Tisch stellte. Ela verzog prompt darauf das Gesicht und fragte: „Muß das sein?" „Warum nicht?" „Die verderben mir den Appetit." „Wieso? Du bist doch fertig." „Ja, ja, schon gut." Randy betrachtete jede Figur genau. „Harmlos sehen sie aus. Wenn ich mir allerdings vorstelle, daß sie so groß wie Menschen sein können, wird mir ganz anders." „Bisher gibt es nur Mister Gänsehaut", meinte Turbo und schluckte die letzten Fritten. Randy nickte nachdenklich und murmelte: „Ja - bisher... Ich glaube, daß da etwas auf uns zukommt." Ela schüttelte den Kopf. „Wenn wir es auf uns zukommen lassen." -41-
Randy starrte sie verblüfft an. „Wie meinst du das denn? Willst du kneifen?" „Tja." Ela hob die Schultern. „Na ja, es ist so. Vielleicht ist das eine Nummer zu groß für uns." „Das sind ja ganz neue Töne", meinte Turbo. „Klar. Es ist komisch. Ich habe keinen Bezug zu diesen Puppen. Ich lehne sie einfach ab." „Kann ich dir nachfühlen." Randy packte die Figuren wieder ein. „Trotzdem hat uns der Verkäufer eine heiße Spur gegeben." „Die Fabrik." „Klar, Turbo. Bis Krefeld ist es nicht weit. Wir sollten mal einen kleinen Ausflug machen." „Wann denn? Heute noch?" „Nein, morgen." „Da ist Samstag." „Um so besser." Randy grinste wissend. Turbo zwinkerte ihm zu. „Ah, ich verstehe. Du willst dich auf dem Gelände umschauen." „Nicht schlecht." Der Junge aus Japan nickte. „Ich bin dabei, nur weiß ich nicht, was dein Vater dazu sagen wird. Und Alfred wird auch nicht begeistert sein, von deiner Mutter ganz abgesehen." „Müssen sie denn Bescheid wissen?" „Wäre besser." „Meine ich auch", pflichtete Ela Turbo bei. „Überlege mal, was alles passieren kann, wenn dieser Mister Gänsehaut plötzlich als lebensgroßes Monster auf uns zukommt. Der hat doch auf dich geschossen." Randy nickte. „Na gut. Machen wir es davon abhängig, wie mein Vater und Alfred mit ihren Nachforschungen vorangekommen sind. Dann können wir uns immer noch -42-
entscheiden." „Finde ich auch", stimmte Ela zu. Sie streckte die Beine aus und reckte sich, bevor sie fragte: „Wann fahren wir denn wieder zurück?" „Meinetwegen sofort." „Okay, Randy, die Bahn wartet." Ela stand auf. Den Jungen blieb nichts weiter übrig, als ihr zu folgen. Randy nahm noch die Tüte an sich. Gut fühlte er sich nicht, denn er hatte das Gefühl, als würde über ihm ein gewaltiger Steinklotz schweben, der nur daraufwartet, niederzufallen...
-43-
3. Ein seltsamer Anruf Randy und Turbo waren in die Stadt gefahren und nach der Schule nur kurz im Schloß gewesen. Dr. Ritter hatte mit den beiden Jungen gesprochen und ihnen den Auftrag gegeben, die Figuren zu kaufen. Er selbst hatte mit einer bestimmten Firma in Köln gesprochen. Man kannte ihn dort, denn er hatte den Mitarbeitern dieser Firma, die der Regierung unterstand, schon einige Male einen Gefallen getan. Man hatte ihm versprochen, zurückzurufen. Gegen Mittag hatte ihn der Rückruf in seinem Labor erreicht. Dr. Ritter erfuhr einiges, darunter war ein Hinweis, der Professor Jurek betraf. Der Wissenschaftler sei bei einer Firma namens Kinderland untergekommen, und die Adresse hatte man Dr. Ritter ebenfalls mitgeteilt. Nicht weit von Krefeld entfernt. Ein Katzensprung. Nachdenklich schaute der Ingenieur auf den Zettel, auf dem seine Notizen standen; sogar die Telefonnummer hatte er bekommen. Was hinderte ihn daran, in der Firma anzurufen? Zudem kannte er Professor Jurek noch aus früheren Zeiten. Er würde sich bestimmt an ihn erinnern können. Allmählich schloß sich der Kreis. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und hielt den Hörer schon in der Hand, als seine Frau das Labor im Turm betrat. „Bist du vorangekommen, Peter?" „Ich glaube schon." „Und?" Er berichtete, was er herausgefunden hatte, und erklärte ihr, daß er mit Jurek telefonieren wollte. „Wird sich Jurek denn an dich erinnern?" fragte Marion Ritter zweifelnd. -44-
Ihr Mann lachte auf. „Und ob. Schließlich hat er sich in dieser Gegend hier herumgetrieben." „Das ist noch nicht bewiesen." „Keine Sorge, ich werde es beweisen."
In den folgenden Sekunden wählte er die Telefonnummer. Man verband ihn von der Zentrale aus weiter. Es dauerte ein wenig, dann meldete sich eine Sekretärin, die nach seinen Wünschen fragte. -45-
„Professor Jurek hätte ich gern gesprochen?" „In welcher Angelegenheit?" „Ich bin ein früherer Kollege." „Darf ich Ihren Namen erfahren?" „Ja, Dr. Peter Ritter." „Moment bitte." Peter Ritter legte eine Hand auf die Sprechmuschel und flüsterte seiner Frau zu, daß er gleich zur Sache kommen werde. „Meinst du?" „Aber sicher." „Hallo, Kollege!" hörte er einen Moment später die Stimme des Professors. Jurek sprach noch immer mit seinem harten Akzent. „Wir haben lange nichts mehr voneinander gehört. Sehr schade." „Das kann sich ändern." „Mir soll es recht sein, sogar sehr recht, wenn Sie verstehen." „Ja, ich weiß, Jurek. Wenn mich nicht alles täuscht, haben Sie sich am vergangenen Abend in der Nähe unseres Schlosses herumgetrieben. Sie, zwei andere und ein Etwas..." Jurek unterbrach ihn mit einem Lachen. „Etwas ist gut, Ritter, wirklich." „Was ist es genau?" „Einer meiner Prototypen, sozusagen mein Erstling. Die Entwicklung des Spielzeugs, denn dieser Markt darf einfach nicht stagnieren, wie ich meine." „Aber ist Mister Gänsehaut etwas für Kids? Ich glaube nicht." „Da haben Sie recht. Ich wollte eigentlich auch zu Ihnen, dann aber kam uns etwas anderes in den Sinn, als wir Ihren Sohn sahen. Wir wollten ausprobieren, wie Mister Gänsehaut wirkt." „Er hat gewirkt, Jurek." -46-
„Das sollte er auch." „Und was wollen Sie von mir? Sie klingen so, als hätten Sie meinen Anruf erwartet." „Da haben Sie sich nicht getäuscht. Wir haben überlegt, das heißt, ich habe nachgedacht und mich an Sie erinnert. Sie sind eine Kapazität, Ritter, und haben ein eigenes Labor. Sie sind also unabhängig. Ich wollte Sie davon überzeugen, daß es für Sie nur gut sein kann, wenn Sie bei uns einsteigen." „Ich soll für Sie forschen?" „So ist es. Wir würden sehr gut zahlen. Wer bei uns arbeitet, dem geht es nicht schlecht." „Das kann ich mir denken. Mit schmutzigen Geschäften ist immer viel verdient worden." „Ich bitte Sie, Ritter. Wer spricht denn von schmutzigen Geschäften? Wir sind gut, wir sind die Zukunft oder ihr sogar noch ein kleines Stück voraus. Der Markt wird sich ändern, das Spielzeug bleibt nicht allein den Kindern überlassen. Denken Sie an die Computer, damit spielen Väter und Söhne, wie damals mit der Eisenbahn." „Trotzdem, das ist kein Job für mich." „Ihr letztes Wort?" fragte Jurek lauernd. „Mein allerletztes sogar." Der Professor seufzte. „Schade, sehr schade ist das. Ich hätte Sie für vernünftiger gehalten, Ritter." „Ich bin vernünftig." „Nein, das sind Sie nicht. Denken Sie an den gestrigen Abend. Er hätte auch anders für Ihren Sohn ausgehen können. Soviel Glück hat man nicht immer." Peter Ritter atmete scharf ein. „Soll das eine Drohung sein, Jurek? Soll es das sein?" „Nein, nur ein Ratschlag. Ich will mit Ihnen auch nicht nur am -47-
Telefon reden. Kommen Sie her. Setzen Sie sich in den Wagen und fahren Sie die paar Kilometer." „Und dann?" „Ich möchte Ihnen etwas demonstrieren, mehr nicht. Ich bin dafür, daß Sie selbst erleben müssen, was ich meine. Besuchen Sie mich in meinem Labor, da findet die Demonstration statt. Ihre wissenschaftliche Neugierde wird geweckt werden, glauben Sie mir." „Ich weiß es noch nicht." „Aber Doktor Ritter! Versäumen Sie es nicht, einen Blick in die Zukunft zu werfen. Elektronik der Spitzenklasse. Sie können mir glauben. Es wird Sie begeistern. Und Sie können durch Ihr Wissen mithelfen, unsere Forschungen noch besser zu machen." „Vielleicht komme ich", sagte Peter Ritter und legte auf. Nachdenklich starrte er vor sich hin. Seine Frau schaute ihn an und fragte: „Du wirst doch nicht zu dieser Fabrik fahren, Peter?" „Ich bin mir nicht sicher." „Nein, die wollen dich reinlegen. Die... die wollen dich zwingen." „Das weiß ich auch, Marion, dennoch überlege ich. Eigentlich könnte ich auf das Spiel eingehen. Dank meines Wissens gehöre ich zu denen, die eine Gefahr erkennen und ihr entsprechend begegnen können. Was Jurek sagte, hörte sich interessant und gefährlich an. Ich muß wissen, was da im Gange ist. Vielleicht kann ich es verhindern." „Du allein?" „Ich würde Alfred mitnehmen." „Das erwarten die doch!" Peter Ritter stand unschlüssig auf. „Kann sein." „Das ist alles wie in einem schlechten Krimi. Ich glaube fest -48-
daran, daß du in eine Falle gelockt oder zur Mitarbeit gezwungen werden sollst. Das denke ich." „Möglich." Dr. Ritter lächelte etwas verloren. „In diesem Fall bin ich nicht nur Wissenschaftler, Marion. Ich spüre auch eine andere Verantwortung in mir. Das ist die der Allgemeinheit gegenüber. Wenn dort etwas produziert wird, was uns gefährlich werden kann, muß ich einfach versuchen, es zu verhindern." „Ohne Polizei?" „Alfred reicht mir eigentlich." Er setzte sich wieder. „Jurek will etwas demonstrieren. Er möchte beweisen, daß er zu Unrecht entlassen worden ist. Er will sich und sein Produkt darstellen. Ich bin der Ansicht, daß ich nicht kneifen darf." „Gut, dann fahr." Peter Ritter stand auf und nahm seine Frau in die Arme. „Keine Sorge, nichts wird so heiß gegessen wie es gekocht wird. Ich bin heute abend wieder zurück." „Was soll ich den Kindern sagen?" „Daß ich weggefahren bin." „Du kennst sie. Die werden mir Löcher in den Bauch fragen." Dr. Ritter winkte ab. „Das ist egal. Sie können ja nicht überall ihre Nasen hineinstecken." Marion Ritter atmete seufzend aus. „Meinetwegen, Peter. Ich kann dich ja doch nicht zurückhalten." Er gab ihr einen Kuß und verließ das Labor, um mit Alfred zu reden. Marion Ritter schaute ihrem Mann mit sorgenvollem Gesicht nach.
-49-
4. Kinderland „Hurra, sie sind noch da!" rief Randy, als sie die Straßenbahn verließen. „Wer oder was?" „Unsere Räder, Turbo. Da, an der Haltestelle." Tatsächlich! Einträchtig standen alle drei Fahrräder nebeneinander. Die beiden Jugnen hatten ihre Räder noch zusätzlich zusammengeschlossen. Die klaute keiner. „Kommst du noch mit zu uns?" fragte Randy, als er sich in den Sattel schwang. Ela nickte. „Ja, ich habe noch Zeit." „Gut, dann ab." Sie brauchten nicht weit zu fahren, um das Schloß zu erreichen. Diesmal passierte auf der Uferstraße nichts. Die Sonne schien heiß, der Verkehr lief normal, es tauchte auch kein Senator auf, der sie riskant überholte. Und von einem großen Monstrum war erst recht nichts zu sehen. Vor dem Schloß stand Alfred, schüttelte den Kopf und schaute auf seine ölverschmierten Hände. „Was hast du denn?" rief Randy. Er winkte ab. „Ach, das ist schlimm. Ich habe nachgeschaut, weil der Wagen nicht ansprang. Eigentlich hätten dein Vater und ich schon längst nicht mehr hier sein sollen." „Wohin wolltet ihr denn?" „Frag deinen Vater selbst." „Das mache ich auch." Randy stürmte als erster in die Halle, wo Peter Ritter stand und eine Tasse Kaffee trank. Turbo und Ela folgten ihm dicht auf den Fersen. „Schon zurück?" rief er. -50-
„Und mit Erfolg." Randy öffnete die Tüte und kippte die Figuren auf einen Tisch. „Das sind sie." „Aha", sagte Dr. Ritter nur. „Ist das alles, Vati?" Peter Ritter nahm Mister Gänsehaut in die Hand. „Und der hat dich also verfolgt?" „Richtig." „Sieht ja böse aus." „Der Name stimmt", meinte Ela. Peter Ritter stellte die Figur wieder weg und erkundigte sich nach den anderen vier. Turbo zählte ihre Namen auf, und der Ingenieur schüttelte den Kopf. „Das ist ja wirklich verrückt, was sich die Leute alles einfallenlassen." „Und die Fabrik ist in der Nähe von Krefeld", sagte Randy laut. „Das weiß ich." „Woher?" „Meine Beziehungen, Sohnemann. Alfred und ich sind schon so gut wie weg, falls der Wagen heute noch anspringt." Randy staunte. „Oh... ihr... ihr wollt dahin?" „Genau. Man hat mich eingeladen." „Jurek?" „Ich sprach mit ihm. Es ist genau der Jurek, den ich meinte, Randy. Ich habe mich nicht geirrt." Der Junge wischte über seine Stirn. „Da könnten wir doch eigentlich mitfahren, wenn es euch nichts ausmacht." Peter Ritter schüttelte den Kopf. „Das habe ich mir fast gedacht. Nein, Jurek will mit mir allein reden. So leid es mir tut, ihr werdet wohl hier im Haus bleiben müssen." -51-
„Ehrlich?" „Ganz ehrlich." „Und warum hat mich dieser Mister Gänsehaut verfolgt? Hast du darüber auch mit Jurek gesprochen?" „Es war eine Warnung im gewissen Sinne, denn er will, daß ich mit ihm zusammenarbeite." „Machst du das denn?" „Alfred und ich schauen uns um." „Da könnten wir doch mit. Schließlich haben wir auch die Spur zu Kinderland gefunden." „Es wird ein reines Fachgespräch werden, Randy." „Wir bleiben dann draußen." Dr. Ritter stöhnte genervt auf. „Möchtest du deinem Mister Gänsehaut noch einmal begegnen, Randy?" „Wenn Alfred dabei ist. Außerdem bist du auch nicht vor ihm sicher. Dir kann auch etwas passieren." „Wir können uns aber besser wehren, das darfst du nicht vergessen, Randy." „Ich gehe nach oben", sagte Turbo und verschwand, ohne auf Antwort zu warten. „Ich fahre nach Hause", erklärte Ela. „Wenn du etwas willst, Randy, kannst du ja anrufen." Randy nickte. Er war sauer; so begleitete er Ela nicht einmal mehr nach draußen. Dafür sprach Frau Ritter mit ihr. „Es ist schon gut, wenn mein Mann alleine fährt." „Das meine ich auch. Falls es überhaupt klappt." Ela zeigte auf Alfred, der fluchte, da er den Fehler noch immer nicht gefunden hatte. Von Alfred war nur sein Rücken zu sehen, der Kopf und ein Teil des Oberkörpers waren unter der hochgeklappten Motorhaube verschwunden. „Grüß deine Eltern von mir, Ela." -52-
„Mach ich, Frau Ritter. Tschüß dann." Sie schwang sich auf ihr Rad und rief auch Alfred einen Gruß zu, der irgend etwas zurückbrummte, sich aber ansonsten nicht stören ließ. Etwas beruhigter ging Frau Ritter zurück ins Haus; die Lage hatte sich offenbar entschärft. Ela hatte es nicht weit bis nach Hause. Es waren knapp zwei Kilometer, wenn sie die Abkürzung nahm und durch das Ufergelände fuhr. Am Tage war der Weg kein Problem, nur bei Dunkelheit fuhr Ela hier nicht gern allein. Die Strecke war zu unübersichtlich. Sie ahnte deshalb nichts Böses, als sie in die Pedalen trat. Ihre Gedanken beschäftigten sich mit Biene, ihrem Rauhhaardackel, den sie noch ausführen wollte. Und Randy wollte sie zunächst links liegen lassen, so wie der sich ihr gegenüber gerade benommen hatte. Es war ein Wetter, bei dem sie auch im Freien malen konnte. Malen war ihr Hobby. In ihrem Zimmer stapelten sich die Bilder. Sie hatte kein bestimmtes Motiv; sie malte, was ihr gerade einfiel. Der Weg schlängelte sich in engen Kurven durch das Buschwerk, das sein Sommerkleid längst angelegt hatte. Die Blätter waren sehr dicht; man konnte sich leicht hinter den Büschen verbergen. Warum hätte Ela daran denken sollen? So traf sie der Schock mit der Wucht eines Hammers. Von der Seite wirbelte etwas auf sie zu. Sie sah den Gegenstand, der von oben nach unten fiel und eine schräge Linie beschrieb, bevor er dicht vor ihrem Rad in den Boden schlug und sich tief hineinbohrte. Ela bremste so heftig, daß sie beinahe aus dem Sattel kippte. Aus den Augenwinkeln bekam sie jedoch mit, was da im Boden stak. Eine Lanze! -53-
Sie zitterte noch an der Spitze, und Ela hatte einen furchtbaren Verdacht. Diese Lanze kannte sie, wenn auch in klein. Dieser Gato hatte sie getragen. Ela war vom Rad abgesprungen. Sie beugte sich über den Lenker. Was in ihrem Rücken geschah, bekam sie nicht mit. Zwei Männer waren hinter den Büschen aufgetaucht. Sie waren so schnell bei ihr, daß sie nichts von ihnen sah. Einen Augenblick später verdunkelte sich die Welt. Jemand stülpte einen pechschwarzen Beutel über ihren Kopf, zurrte ihn am Hals fest, so daß der Stoff über ihrem Gesicht fest anlag. Ein zweiter Mann hielt einen Wattebausch unter ihre Nase.
Scharfer Chloroformgeruch drang durch den Stoff. Sie -54-
zappelte noch ein wenig, strampelte mit den Beinen, dann sackte ihr Körper zusammen, und einen Moment später war Ela Schröder betäubt. Kräftige Hände zerrten sie hoch und schleiften sie weg. Die Männer schleppten sie zu einem Lieferwagen und legten sie auf die Ladefläche. Einer der Männer rammte die Tür zu. Der zweite saß schon hinter dem Steuer, die Lanze hatte er mitgenommen. Als der Wagen anfuhr, blitzte im Sonnenlicht eine rote Schrift an der Wagenseite auf. KINDERLAND stand dort zu lesen... Marion Ritter schaute ihren Sohn an. „Findest du es eigentlich richtig, wie du Ela behandelt hast?" „Wie meinst du das, Mutti?" „Sie war ziemlich eingeschnappt, als sie uns verließ. Du hast dich nicht einmal von ihr verabschiedet." „Ich kann doch nicht auf alles achten. Das ist ja hier wie in einem Irrenhaus." Scharf drehte Peter Ritter sich um. „Moment mal, mein Junge. Ein bißchen netter, okay?" „Na ja, ich..." Randy lächelte. „Entschuldigung, Mutti. Heute bin ich wohl etwas nervös." „Das kann man wohl sagen." Randy schaute auf das Zifferblatt der alten Standuhr. „Willst du wirklich noch fahren, Vati?" „Ich weiß es nicht. Mal sehen, was Alfred macht. Wenn er es schafft, den Wagen zu reparieren, dann dampfen wir ab." Peter Ritter ging zur Tür. Randy folgte ihm. Alfred grinste ihnen schon von weitem entgegen. „Ich glaube, daß ich es packen werde." „Was war es denn?" „Da waren einige Schläuche porös. Ich habe mir neue -55-
zurechtgeschnitten, dann wird er wohl gleich anspringen. Können Sie mal starten, Herr Ritter?" „Das mache ich!" rief Randy. Er saß schon im Wagen und drehte den Zündschlüssel. Der Diesel sprang an, und Alfred klatschte begeistert in seine Hände, die noch immer ölverschmiert waren. „Ausgezeichnet", lobte er sich und das Auto. „Besser konnte es gar nicht laufen." Randy stellte den Motor wieder ab. Mit ziemlich saurem Gesichtsausdruck stieg er aus, während Alfred im Haus verschwand, um sich zu waschen. „Hör mal, Vati..." „Nein, Randy, nein!" „Du weißt ja gar nicht, was ich sagen wollte." „Und ob, Sohnemann, ich kenne dich. Du wolltest fragen, ob du mitfahren kannst." „Ja." „Und ich sage nein." „Aber so schlimm..." „Es wird zu langweilig für euch. Ich werde mit Jurek reden. Ihr müßt warten. Hier seid ihr viel besser aufgehoben, glaube es mir. Ihr könnt noch gießen, der Garten braucht Wasser. Die letzten Sonnentage haben den Boden stark ausgedörrt." Randy nickte. Er kannte seinen Vater, der konnte sehr energisch sein. Herr Ritter ging ins Haus. Frisch geduscht und die kurzen Haare noch naß, erschien Turbo in der Tür. Er hielt etwas in der Hand, das Randy erstaunt fragen ließ: „Was willst du denn mit deinem Schwert?" „Ich habe es geputzt." „Aha." Das Schwert war für Turbo die einzige Verbindung zu seinen verschollenen Eltern. Vor Jahrhunderten hatte es einem Samurai -56-
- einem japanischen Krieger - gehört, war dann in den Besitz der Familie Toshikiara übergegangen, doch eine andere Familie hatte versucht, das Schwert zu rauben. Damals war es zu einer harten Auseinandersetzung gekommen. Mit Alfreds Hilfe hatte Turbo das Schwert behalten können, das die Freunde seither wie ihren Augapfel hüteten. Außerdem war Turbo noch immer davon überzeugt, daß sich seine Eltern einmal wieder melden würden. Er glaubte nicht, daß sie tot waren. Sie hielten sich möglicherweise nur vor ihren Feinden, dem anderen Clan, der hinter dem Schwert her war, versteckt. Er drehte es im Sonnenlicht. Die Klinge warf Reflexe, sie war blank wie ein Spiegel. „Gut, nicht?" „Ja, da hast du dir Mühe gegeben." Turbo ließ das Schwert sinken. „Und wie sieht es aus, Randy? Noch immer keine Chance?" „Nein, mein Vater bleibt eisenhart." „Pech." Randy hob die Schultern. „Ist nicht zu ändern, Turbo. Vielleicht kommen wir morgen zu unserer Besichtigung." „Er fährt mit Alfred, nicht?" Randy nickte. „Das ist auch gut. Ich habe das Gefühl, als würde nicht alles so glatt laufen. Da kann durchaus noch etwas dazwischen kommen, glaub mir." Kurz darauf kehrten Alfred und Dr. Ritter zurück. Beide hatten sich umgezogen. Dr. Ritter trug ein dunkelblaues Hemd, dessen weiße Knöpfe am Hals offenstanden. Die Jacke des hellen, leichten Anzugs hatte er über die Schulter geworfen. Alfred fühlte sich in Jeans am wohlsten. Er war in seine neuen, die senfgelben, geschlüpft. -57-
„Dann macht's mal gut, Jungs", sagte er, als er die Fahrertür öffnete, denn er wollte fahren. „Viel Spaß", erwiderte Randy. „Ob wir den haben werden?" Auch Peter Ritter stieg ein. Er wollte zu Randy noch etwas sagen, hatte die Tür noch halb offen, als im Eingang mit beiden Armen winkend Marion Ritter erschien. „Das kann was geben", flüsterte Turbo. „Telefon für dich, Peter. Schnell!" Dr. Ritter lehnte sich aus dem Auto. „Wer ist es denn?" „Jurek." Plötzlich wurde es still. Keiner sagte mehr ein Wort. Peter Ritters Gesicht verdüsterte sich. Beim Aussteigen fragte er: „Was will er? Hat er was gesagt?" „Nein, nichts." „Okay, ich komme." Marion Ritter ging mit ins Haus, die beiden Jungen blieben draußen. Auch Alfred verließ den Mercedes. Unter den buschigen Brauen zeigten die Augen einen besorgten Ausdruck. „Was denkst du, Alfred?" „Ich weiß es nicht, Randy. Aber etwas Gutes wird das wohl kaum bedeuten." „Das fürchte ich auch." „Dieser Kerl wird sicherlich sauer sein, daß dein Vater noch nicht da ist", vermutete Turbo. „Der Wagen sprang doch nicht an." „Glaubst du, daß Jurek ihm das abnimmt?" „Weiß ich nicht." Es dauerte nicht lange, bis Dr. Ritter zurückkehrte. Als Randy das bleiche Gesicht seines Vaters sah, flüsterte er Turbo zu: „Da -58-
ist was passiert." Dr. Ritter ging wie ein Schlafwandler, mit eckigen Bewegungen und Schritten, als würden ihm seine Beine nicht mehr gehorchen. Einige Male wischte er sich wie hilflos über seine Stirn. Dann blieb er stehen, holte tief Luft und sagte mit halblauter und fast verzweifelt klingender Stimme: „Sie haben Ela..." Das Schweigen stand wie eine Mauer zwischen ihnen. Keiner wollte es richtig wahrhaben. Randy konnte nicht antworten, auch Turbo nicht. Beide Jungen schauten sich nur an. „Sie haben Ela!" wiederholte Dr. Ritter mit tonloser Stimme und ging auf den Mercedes zu, an dessen Dach er sich abstützte, wobei er sein Gesicht in beide Hände vergrub. „Und jetzt?" flüsterte Turbo. Randy hob nur die Schultern. Auf seinem Rücken spürte er etwas wie Eiskörner, die vom Nacken bis zu seinen untersten Wirbeln hinabrannen. Alfred schritt um die Kühlerschnauze herum und blieb neben Dr. Ritter stehen. Er legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte leise: „Wollen Sie nicht weitersprechen?" „Doch, natürlich." Er richtete sich auf, drehte sich, um die beiden Jungen ansehen zu können. „Es geht auch euch an. Jurek fühlte sich von mir hintergangen. Er ist stinkwütend, sauer, ich habe nicht angerufen, ich bin auch nicht erschienen, deshalb haben seine Leute Ela entführt und sie in ihre Gewalt gebracht. Wo sie ist, das weiß ich nicht, kann mir allerdings vorstellen, daß Jurek sie in die Fabrik bringen ließ." „Was ist mit uns, Vati?" „Ja, Randy, jetzt müßt ihr mit. Jurek hat es zur Bedingung gemacht. Wir drei, ohne Alfred." Der reagierte sofort. „Nein, Herr Ritter, ich bin dabei."
-59-
„Tut mir leid, Alfred. Das Leben des Mädchens ist in Gefahr. Ich weiß jetzt hundertprozentig, daß Jurek ein Verbrecher ist, der über Leichen geht, um seinen Erfolg zu bekommen. Er will mich, er will, daß ich einige Steuerungsprozesse überprüfe. Er ist der Theoretiker, ich bin ein Mann der Praxis. Ich glaube, er hat gewonnen." So hatten sich Randy und Turbo ihre Fahrt nicht vorgestellt. Beide blickten niedergeschlagen zu Boden und schwiegen. KINDERLAND - welcher Hohn lag in dem Namen. Dahinter verbarg sich eine verbrecherische Organisation, die vor nichts zurückschreckte. Kein Pardon, keine Rücksicht, auch nicht auf Kinder oder Jugendliche. „Wir müssen der Familie Schröder Bescheid geben", schlug Alfred vor. Peter Ritter runzelte die Stirn. „Müssen wir vielleicht wirklich! Aber wollen wir zunächst nicht alles versuchen? Ich -60-
habe mich natürlich als Geisel angeboten und mir von ihnen versichern lassen, daß Ela freikommt, sobald ich bei ihnen bin." „Trauen Sie denen, Herr Ritter?" „Verflucht, was soll ich denn machen?" Er hob die Arme und ließ sie wieder fallen. „Das ist eine hundsgemeine Falle. Jurek hat genau gewußt, was er tat. Wir stecken drin." „Wann sollen Sie dort sein?" „So rasch wie möglich." „Sagen Sie Bescheid, wenn Ela frei ist?" „Klar, wenn ich anrufen kann." Alfred hielt ihm die Tür auf, und Dr. Ritter setzte sich hinter das Lenkrad. „Weiß Mutti Bescheid?" fragte Randy. „Ja, mein Junge. Sie... sie ist entsetzt. Gehe doch bitte zu ihr, Alfred." „Okay, mache ich." Alfred sprach mit gepreßt klingender Stimme. „Und viel Glück, Herr Ritter." „Danke." Er schlug die Tür zu. Die beiden Jungen waren in den Fond gestiegen. Dann fuhren sie an. Randy warf einen Blick auf Turbo, der wie eine Statue neben ihm hockte. Auf seinen Knien jedoch lag das japanische Schwert... Speiübel war ihr nach dem Erwachen. Der Magen revoltierte, ihr Mund brannte und in der Nase hing noch der süßliche Geruch des Chloroforms. Ela war so stark in Schweiß gebadet, daß sie vor Kälte und Erschöpfung mit den Zähnen klapperte. Wo sie sich befand, wußte sie nicht, es war ihr auch egal. Sie wünschte nur, daß dieses Gefühl der Übelkeit verschwand. Wie ein kranker Hund kroch sie über den Steinboden, weg von dem Regal, daß mit Tuben und Töpfen vollgestellt war, die Farben -61-
und Lacke enthielten. Obwohl sie geschlossen waren, ging von ihnen ein Geruch aus, der sich mit dem des Chloroforms in Elas Nase mischte. Sie krabbelte auf die andere Seite, wo sich genau über ihr und direkt unter der Decke ein Gitter befand, durch das Tageslicht fiel. Etwas Sonne tat ihr gut. Und sie erinnerte Ela daran, daß es draußen so schön war. Draußen! Plötzlich schluckte sie, als sie daran dachte. Die Erinnerung kehrte schlagartig zurück. Gesehen hatte sie keinen Menschen, nur diese Lanze, die vor ihr in den Boden rammte. Dann waren die Unbekannten von hinten gekommen und hatten sie geschnappt. Die Dunkelheit, der Geruch - aus... Sie lehnte mit dem Rücken an der kahlen Wand. Der rauhe Betonputz kratzte durch ihre Kleidung und scheuerte auf der Haut. Gegenüber sah sie eine Tür, fand aber nicht die Kraft, hinzulaufen und sie zu öffnen. Warum gerade ich? dachte sie. Und was haben die mit mir vor? Ihre Gedanken wurden allmählich klarer. Du bist ein Druckmittel, sie wollen dich als Druckmittel einsetzen. Etwas anderes kam überhaupt nicht in Frage. Erst der Anschlag auf Randy, jetzt hatte man sie entführt, um Dr. Ritter zur Mitarbeit zu erpressen. Ja, das war es wohl. Ela fühlte sich sehr allein. Sie hörte kein Geräusch, und sie saß in diesem Keller wie in einer Falle. Keiner kam ihr zu Hilfe. Das alles hätte nicht einmal ein Erwachsener verkraftet, und ihre Tränen kamen automatisch. Ela weinte. Manchmal blickte sie hoch, wo sich unter der Decke die Öffnung abzeichnete. Das Tageslicht kam ihr vor wie ein Rettungsanker, aber es war hoffnungslos. Auch wenn sie noch so hoch sprang, sie würde die Öffnung nicht erreichen können. -62-
Ela hatte nicht auf die Uhr geschaut, sie wußte nicht, wie lange sie hier schon auf dem Boden hockte. Langsam stand sie nun auf. Wie mit Pudding in den Knien ging sie auf das Regal zu, wo die Lacktöpfe und die Flaschen mit den Farben standen. Sie wußte selbst nicht genau, was sie eigentlich suchte, fand aber eine Kombizange. Deren Griffe waren durch ein dickes Polster aus Kunststoff geschützt. Es schimmerte so dunkelrot wie eingetrocknete Erdbeermarmelade. Ela nahm die Zange an sich und ging auf die Tür zu. Erst rüttelte sie an der Klinke, aber die Tür war natürlich verschlossen. Wie stabil sie war, würde sich gleich zeigen. Vielleicht konnte sie einen der Griffe in den Spalt schieben und die Tür so aufbrechen. Sorgfältig suchte sie nach einer Lücke zwischen Futter und Rahmen, war aber enttäuscht, daß sie diese nicht fand. Diese Mühe hätte sie sich sparen können. Erschöpft lehnte sie ihre Stirn gegen das Holz. Nein, es gab keine Chance, aus dieser verfluchten Kammer herauszukommen. Sie war gefangen, und die andere Seite konnte mit ihr machen, was sie wollte. Plötzlich erstarrte sie. Hinter der Tür hatte sie Schritte gehört. Gleichzeitig vernahm sie ein anderes Geräusch. Es hörte sich an wie ein Tappen von Pfoten. Ela Schröder wurde es mulmig. Sicherheitshalber zog sie sich von der Tür zurück. Als sie vor dem Regal stand, waren die Schritte verstummt. Sie hielt die Kombizange fest in der Hand. Dann kratzte es von außen gegen das Holz, und in den nächsten Sekunden sagte eine tiefe, heisere Stimme: „Sei ruhig, Hasso!" Hasso war also ein Hund! Ela liebte Hunde. Aber ob ihr das jetzt half, fragte sie sich. Sie -63-
preßte ihren linken Handballen auf den Mund und wartete. Noch geschah nichts, bis auf das typische Geräusch, das entsteht, wenn sich ein Schlüssel im Schloß dreht. Ela ließ die Klinke nicht aus den Augen. Im nächsten Augenblick glitt diese geräuschlos nach unten, erreichte den Anschlag, dann wurde die Tür aufgestoßen und ein großer Schäferhund sprang hechelnd und bellend über die Schwelle. Er hechtete auf Ela zu, doch der Mann, der den Hund begleitete, hielt ihn straff an der Leine. „Zurück, Hasso, zurück! Mach keinen Unsinn! Wir beide kommen schon klar, mein Lieber." Hasso gehorchte. Er blieb stehen, seine klugen Augen auf Ela gerichtet, die es nicht wagte, sich zu rühren, und zur berühmten Salzsäure erstarrt war. Der Mann gefiel Ela überhaupt nicht. Er war ein kompakter Typ, mit sehr dünnem, schwarzem Haar. Das Gesicht war eckig, der Mund breit, die Lippen schmal, und auch die großen Ohren fielen ihr auf. Unter dem grauen Arbeitskittel schaute eine braune Cordhose heraus. Oben trug er ein schmuddeliges Hemd. Der ganze Mann wirkte ungepflegt. Als er Ela anlächelte, flößte ihr das auch kein Vertrauen ein. „Was willst du denn mit der Kombizange?" fragte der Mann mit seiner Reibeisenstimme. „Nichts, nichts." „Dann leg sie doch weg." Ela ließ die Hand sinken, drehte sich um und legte die Zange an ihren alten Platz. Langsam, dachte sie bei sich, nur keine Bewegung, die der Hund mißverstehen konnte. Doch Hasso verhielt sich freundlich. Er sah Ela nicht als Feindin an. „Wie geht es dir?" „Schlecht", flüsterte das Mädchen. -64-
Der Mann im Kittel lachte. „Kann ich mir denken. Ist eben nicht jedermanns Sache, Chloroform einzuatmen. Na ja, das geht vorbei. Eigentlich geht alles vorbei." Er verengte die Augen zu Schlitzen. „Man muß eben nur vernünftig sein." „Ich bin vernünftig." „Das wird sich zeigen. Sag mir deinen Namen." „Michaela Schröder." „Schön. Ich heiße Orth. Richard Orth. Ich bin hier für den Betrieb verantwortlich, verstehst du?" Ela zuckte mit den Schultern. Was sollte sie da groß verstehen? „Na ja", meinte Orth. „Alles halb so schlimm, Mädchen. Eigentlich dürfte ich es ja nicht, aber ich habe selbst eine Nichte in deinem Alter und möchte dich nicht in dieser engen Bude lassen." Ela schöpfte wieder Hoffnung. „Kann ich gehen?" fragte sie hastig. „Kann ich weg?" „Das nicht gerade, Mädchen, aber ich will dir die Zeit verkürzen. Ist doch nett - oder?" „Weiß nicht." „Komm, Kleine, nicht so schüchtern." Ela deutete auf den Hund, der sich inzwischen gesetzt hatte, sie aber nicht aus den Augen ließ. „Was ist denn mit ihm?" Richard Orth lachte. „Mit Hasso? Der ist richtig nett und harmlos, wenn man ihn nicht reizt. Und das hast du doch nicht getan. Sonst würde er nicht so friedlich dasitzen." „Stimmt." „Dann ist ja alles klar." Er lächelte wieder. „Ist bestimmt interessant für dich. Und so geht auch die Zeit besser herum, das kannst du mir glauben." „Wo wollen Sie mich denn hinbringen?" Ihr Mißtrauen war -65-
noch immer nicht weg. „In den Betrieb. Viele wären froh, wenn sie Kinderland besichtigen könnten." „Na gut." Ela ging mit zitternden Knien auf den Hund zu, aber Hasso rührte sich nicht. Er schaute sie nur aus seinen braunen Augen an, so lächelte Ela ihm scheu zu. „Wenn du willst, kannst du ihn streicheln." „Tut er mir wirklich nichts?" „Ich kenne ihn. Versuche es. Er hat es gern, und ich schätze, daß er dich mag." Ela ging neben dem Hund in die Hocke und traute sich endlich, ihn mit der Hand durch das Fell zu fahren, was Hasso außerordentlich gut gefiel. Er wälzte sich auf den Rücken und ließ sogar seine Brust kraulen. „Ho!" wunderte sich Herr Orth. „Das habe ich noch bei keinem Fremden erlebt. Bist du etwas Besonderes?" „Ich... ich liebe Hunde und komme gut mit ihnen aus." „Das merkt man. Alle Achtung." Ela zog die Hand wieder zurück, und Hasso stand sofort auf, wurde aber kurzgehalten. „So, mein Freund, jetzt kommst du erst mal mit mir. Wir werden einen Spaziergang machen." Orth deutete auf die offene Tür. „Bitte, die Dame zuerst." Ela nickte. Sie ging wie auf Eis. Noch traute sie dem Frieden nicht. Nach links, hatte der Mann gesagt. Ein Gang nahm sie auf. Die Wände bestanden ebenso aus Beton wie der Fußboden. Es roch nach Staub, der in Elas Nase kitzelte. „Immer geradeaus, bis zu der Tür am Ende des Ganges!" Orth hatte dem Hund mehr Leine gegeben, und Hasso trabte neben Ela her, als würde er nur ihr gehören. Vor der Tür blieb sie stehen und streichelte das Tier. „Ich -66-
habe auch einen Hund", erzählte sie Hasso. „Das ist eine Hündin. Sie heißt Biene, und sie ist viel frecher als du, Hasso." Der Schäferhund knurrte beruhigt, als hätte er die Worte des Mädchens genau verstanden. „Mach mal Platz", sagte Orth. Er schob sich an Ela vorbei, um die Tür zu öffnen. Elas Blick weitete sich. So groß hatte sie sich die Werkshalle von Kinderland nicht vorgestellt. Sie stand mit dem Mann und dem Hund auf einer Galerie oder Plattform, von der aus man nach unten in die Halle schauen konnte. Dort befanden sich die Produktionsanlagen. Für Ela war das alles fremd; sie war noch nie in einem modernen Werk gewesen. Neugierig betrachtete sie die hohen Kessel, die rot angestrichenen Rohre, die durch die ganze Halle liefen, die Pressen und die Fließbänder, und dann entdeckte sie die meterhoch aufgestapelten Kartons ganz am anderen Ende der Halle, wo das Spielzeug eingepackt zum Versand bereitlag. Es wurde nicht gearbeitet, weil schon Feierabend war. Alle Maschinen standen still. Richard Orth bemerkte Elas Staunen. „Da schaust du, was, Mädchen?" „Ja, echt." „Das ist die Zukunft, das ist die Zukunft. Wir produzieren hier das Spielzeug der Zukunft, und jeder, der sich uns in den Weg stellt, dem geht es verflixt schlecht." Ela überlief ein Schauer. Sie schaute den Mann an, der ihr grimmig zunickte. „Ich... ich kann dazu nichts sagen, überhaupt nichts", flüsterte sie. „Tut mir leid..." Orth winkte ab. „Ist ja auch egal. Ich will dir nur zeigen, daß wir ein großer Betrieb sind. Komm mal mit." Er ging einige Meter zur Seite und deutete auf den großen Glaskasten, der -67-
ebenfalls auf der Galerie stand. „Von hier aus wird alles gesteuert, das ist das Herz der Anlage." Orth öffnete die Tür und ließ Ela den Vortritt, die mit scheuen Schritten die Zentrale betrat. „Kannst dich ruhig umschauen. Alles läuft hier über Computer und wird über die Monitore kontrolliert. Die Männer, die hier arbeiten sind Spezialisten, sie verdienen gutes Geld und werden mehr als sauer, wenn jemand versucht, ihnen den Arbeitsplatz wegzunehmen." „Aber das mache ich doch nicht", sagte sie. Orth kratzte sich an seinem linken, großen Ohr. „Tatsächlich nicht, mein kleines Fräulein?" „Nein, ich will doch..." Er lachte. „Was du willst, ist klar, Kind. Nur deine Freunde halten sich nicht an die Regeln." „Wir haben Ihnen nichts getan." „Direkt nicht, das stimmt. Aber ich kann dir auch nicht helfen, Mädchen, es gibt nun mal Dinge, die ich nicht zu entscheiden habe. Möchtest du nach unten gehen?" Ela hob die Schultern. „Ich weiß nicht." „Oder zurück in deine Zelle." „Nein", sagte sie schnell, „dann lieber nach unten." Orth lacht. „Das habe ich mir doch gedacht. Komm, gehen wir." Über eine Metalltreppe stiegen sie in die Tiefe. Ela ging neben Orth, und auch Hasso blieb in ihrer Nähe, wobei er sie ständig berührte, als suchte er ihre körperliche Nähe. Unten angekommen, kam sich Ela winzig vor im Vergleich zu den großen Maschinen. Sie hatten dicht vor den Fließbändern angehalten. „Was wird denn hier alles hergestellt?" -68-
„Spielzeug. Unsere Figuren, die kleinen Monster, verstehst du, Mädchen." „Ja, ungefähr." „Kennst du denn nicht die Superstars of the Night?" „Nicht so gut, wissen Sie..." „Verstehe schon. Mit diesen Dingern spielen eher die Jungen." Orth grinste. „Zu meiner Zeit gab es so etwas nicht, leider. Ich habe mich noch mit Blechspielzeug begnügen müssen. Das ist heute bei Sammlern übrigens viel wert." „Habe ich auch gehört." „Und weißt du, Ela, was mein Liebling unter all den Figuren ist?" „Nein." „Mister Gänsehaut!" Ela schluckte und verzog dabei den Mund. Orth fiel es sofort auf. „Den magst du wohl nicht, wie?" „Nein." „Spielst du lieber mit Puppen?" „Auch nicht, ich male." Orth lachte dümmlich. „Etwa Kaffee?" „Bilder. Das andere Mahlen, das beim Kaffee, schreibt man mit einem h." „Weiß ich auch", knurrte Orth ein wenig ärgerlich. „Los, wir gehen weiter." „Und wohin?" „Auf die andere Seite." Ela hatte nichts dagegen, denn dort befanden sich wenigstens Fenster, durch die Licht in die Halle fiel. Auch wenn die Sonne mittlerweile im Sinken war, einige Strahlen drangen noch herein. -69-
Sie gingen neben dem Fließband her. Es hatte einen dunkelblauen Belag mit einem Stich ins Graue. Am Ende standen die Kartons. Die kannte Ela aus dem Kaufhaus. Bei einigen waren noch die Deckel offen. Als Ela ein Exemplar von Mister Gänsehaut entdeckte, zuckte sie zusammen. „Meine Güte, bist du empfindlich." Orth klopfte ihr auf die Schulter. „Irgendwie hast du schon recht. Mister Gänsehaut ist auch gefährlich." „Besonders als menschengroßes Monster, nicht?" Der Mann sah sie scharf an. „Ach - das weißt du?" „Ja, ich habe es gehört." „Interessant, wirklich..." „Wieso? Das ist..." „Eigentlich noch ein Betriebsgeheimnis, aber darüber soll sich der Professor seinen Kopfzerbrechen. Ihm wird ja ein Helfer an die Seite gestellt werden." „Doktor Ritter, nicht?" „Ja, genau." „Der will aber nicht hier arbeiten." „Haha, was bis du naiv, Mädchen. Natürlich wird er für uns arbeiten. Es bleibt ihm nichts anderes übrig." Orth schaute auf seine Uhr. „Was glaubst du, Ela, was ein Mensch alles tut, wenn er zu gewissen Dingen gezwungen wird. Da habe ich meine Erfahrung." Ela hörte nicht hin. Sie wußte ja selbst, daß sie das Druckmittel dazu war, aber sie wollte es sich nicht anmerken lassen. Sie ging weiter und schaute hoch zu den Fenstern. Die ganze obere Hälfte der Hallenwand war verglast, so daß die Halle viel Tageslicht bekam. Für die Leute, die hier arbeiteten, war das sicher angenehm. Aber das alles interessierte Ela in diesem Augenblick nicht, -70-
sie hatte etwas anderes gesehen: Einen Kopf, ein Gesicht, das über den Fensterrand lugte und hinunter in die Halle schaute. Sie kannte das Gesicht. Es gehörte Randy Ritter!
-71-
5. Gefährliche Suche Es hätte so schön sein können. Das Wetter spielte mit, die Straßen waren leer, der Mai zeigte sich von seiner besonders strahlenden Seite, und trotzdem schauten die beiden Jungen im Fond des Mercedes düster vor sich hin und hingen ihren Gedanken nach. Dr. Ritter erging es nicht anders, auch wenn er sich auf das Fahren konzentrieren mußte. Doch immer wieder merkte er, daß seine Konzentration nachließ und die Gedanken abirrten. Fast hätte er auf der Autobahn sogar einen Unfall gebaut. Mit krächzender Stimme entschuldigte er sich bei den Freunden. „Ist ja noch mal gut gegangen, Vati." Dr. Ritter nickte. „Noch mal, tut mir einen Gefallen und macht keinen Unsinn, wenn wir am Ziel sind, Denkt dabei immer an Ela Schröder. Es hört sich zwar schlimm an, aber es ist so. Ihr Schicksal liegt tatsächlich in unseren Händen." „Was wollen Sie denn machen, Herr Ritter?" „Eine gute Frage, Turbo. Ich weiß es noch nicht. Ich bin noch völlig durcheinander." „Sind wir auch." „Fest steht, daß Jurek mit mir reden will und daß er meinen Rat braucht. Anscheinend ist ihm die ganze Sache über den Kopf gewachsen. Jetzt braucht er jemand, der seine eventuellen Fehler wieder ausbügeln kann." „Das würdest du tun, Vati?" „Nicht sehr gern. Ich denke auch darüber nach, ob ich vielleicht etwas tricksen kann." „Ja?" „Langsam, langsam." Peter Ritter hatte die Begeisterung in der Stimme seines Sohnes sehr wohl vernommen. „Bitte keine -72-
zu großen Erwartungen." „Ich meinte ja nur." Turbo hielt sich zurück und schaute auf sein Schwert, das er auf den Boden gelegt hatte, damit Dr. Ritter es nicht entdeckte. Es war keine Absicht gewesen, daß er es mitgenommen hatte. Die Ereignisse hatten sich einfach überstürzt. Jetzt dachte er über die Waffe nach. Möglicherweise würde sie ihm noch gute Dienste erweisen. Oft genug trainiert hatte er damit. Er führte die Klinge sehr gut, zwar nicht wie ein Samurai, aber Hindernisse konnte er damit schon aus dem Weg räumen. Natürlich würde er das Schwert niemals gegen Menschen einsetzen, allerhöchstens in Notwehr. Sie fuhren auf der A 57, hatten Krefeld bereits erreicht und rollten jetzt auf die Nordgrenze der Stadt zu. Mit wachen Blicken hatte beide Jungen aus dem Fenster geschaut und mit aufgepaßt. „Gleich kommt die Ausfahrt, Vati." „Glaube ich auch." Kurz vor Moers verließen sie die Schnellstraße und fuhren durch die bügelbrettflache Landschaft links des großen Flusses, die auch Niederrhein genannt wurde. Es war eine Welt für sich, eine besondere Gegend. Entweder mochte man sie oder lehnte sie ab: Keine hohen Berge wie in den Alpen, auch keine Hügel, dafür eine Symphonie aus Wiesen, Weiden, hohen Bäumen, alten Dörfern und sehr gerade verlaufenden Straßen. Auf den Wiesen standen Kühe in majestätischer Ruhe, oder sie lagen widerkäuend und schlugen mit dem Schwanz nach den Fliegen. Vögel kreisten durch die blaue Luft. Amseln, Spatzen, Elstern, selbst Möwen waren zu sehen, die vom Fluß herüber kamen. -73-
Am Rand der Städte aber waren große Industriegebiete angesiedelt. Speditionen, Fabriken, große Warenlager der Kaufhäuser, und auch die Firma Kinderland hatte hier ihr Werk. Schon von weitem sahen sie die rote Schrift auf dem weißen, langestreckten Bau. Man konnte das Werk gar nicht verfehlen. „Kinderland ist falsch!" meldete sich Randy. „Die hätten es Monsterland nennen sollen." „Dann gäbe es weniger Kunden", erklärte Dr. Ritter und bog in die breite Zufahrtsstraße ein, die zum Eingang führte.
Es war bereits Feierabend. Deshalb herrschte so gut wie kein Betrieb. Der alte Mercedes war der einzige Wagen, der die Straße entlangrollte. „Wenn die uns nicht schon längst gesehen haben, fresse ich einen Besen", erklärte Randy. „Dann verschluck dich mal nicht." „Danke, Turbo." Ein hoher Maschendrahtzaun lief um das Firmengelände. Entsprechende Schilder mit der Aufschrift BETRETEN VERBOTEN hingen überall, und Turbos kundiges Auge entdeckte sogar die Objektive mehrerer Video-Kameras. Sofort machte er die anderen darauf aufmerksam. „Wenn das nicht übertrieben ist!" meinte Randy. Peter Ritter erwiderte nichts. Er rollte nach rechts auf das -74-
große Tor zu, das den Zaun unterbrach. Es stand wie einladend offen; auch in dem Portiershäuschen an der rechten Seite der Zufahrt saß niemand. Mehrere Gebäude, meist große Hallen, standen in rechten Winkeln zueinander. Im Schrittempo rollten sie über das Grundstück. In einer Reihe waren links von ihnen sechs Lieferwagen mit der Aufschrift KINDERLAND abgestellt. Wohin sollten sie fahren? Wo konnte die Forschungsstätte untergebracht sein? Wie gerufen erschienen plötzlich zwei Männer. Sie hatten hinter einem großen Container gewartet. Nun kamen sie näher und hielten direkt auf den Wagen zu. „Wenn du weiterfährst sind sie platt", sagte Randy. Aber da bremste sein Vater schon. Weder ihm, noch Randy, noch Turbo gefielen die Typen mit den Sonnenbrillen. Kerle, die es mehr in den Muskeln hatten als im Kopf. Dr. Ritter drehte sich auf seinem Sitz um. Sein Gesicht sah ernst aus. „Ihr wißt, um was es geht, Freunde?" Turbo nickte. „Klar, Vati." „Dann ist es okay. Ich verstehe zwar nicht, weshalb Jurek euch dabeihaben wollte, aber das wird sich schon herausstellen." Dr. Ritter brauchte die Tür nicht zu öffnen, denn eines der Muskelpakete hatte es schon getan. „Sie sind Ritter?" „Ja." „Aussteigen und mitkommen." „Moment, meine Herren. Ich habe hier noch zwei Jungen im Auto. Was geschieht mit ihnen?" „Die sind später an der Reihe." „Wann später?" -75-
„Steigen Sie endlich aus!" fuhr der zweite Kerl ihn an. „Oder glauben Sie, daß wir zum Vergnügen hier sind?" „Nein, das sicherlich nicht." „Dann machen Sie schon." Dr. Ritter verließ den Wagen. Er drückte die Tür leise zu. Hätte er noch einmal zurückgeschaut, hätte er seinen Sohn gesehen, der im Fond hockte, die Hände zu Fäusten geballt hatte und so wütend aussah, als würde er jeden Augenblick explodieren. Das merkte auch Turbo. „Laß es gut sein, Randy." „Du hast..." „Unsere Zeit kommt noch." „Baust du darauf?" „Sogar stark." „Na denn..." Randy beugte sich vor und blickte seinem Vater nach. Die beiden Männer hatten ihn in die Mitte genommen und schritten auf das Gebäude zu, das ihnen gegenüberlag. „Die führen ihn tatsächlich ab wie einen Gefangenen." „Sind wir das denn nicht?" Randy hob die Schultern. Er wischte über seine Augen. Verflixt noch mal, da spürte er ein Brennen. „Hast du was?" „Ja, die Sonne." „Ach so...", Turbo fragte nicht mehr weiter. Er kam sich so schon blöde vor, daß er es überhaupt getan hatte. Das war Randys Vater, der dort abgeführt wurde. Ihm wäre es an Randys Stelle auch nicht anders ergangen. Als einer der Kerle eine Tür öffnete, entstand ein spiegelnder Reflex, der die beiden Jungen kurz blendete. Als sie wieder klar sahen, waren Dr. Ritter und seine beiden Bewacher verschwunden. -76-
Turbo atmete tief aus. „So, jetzt sind wir allein." „Schön. Und was bedeutet das?" Er grinste knapp. „Daß wir uns jetzt etwas einfallen lassen können." Er schaute auf sein Schwert und hob es hoch. „Das hat keiner von denen entdeckt, Randy." „Was willst du damit?" „Es zumindest mitnehmen." „Und wohin?" Turbo deutete vage in die Runde. „Kann ich dir auch nicht sagen, aber wir können uns auf dem Gelände mal umschauen. Aufpasser habe ich nicht gesehen." „Denk an die Kameras." „Stimmt. Die wir entdeckt haben, sind nach außen gerichtet." Er grinste breit. „Stark, nicht." „Kaum, eher lau. Glaubst du denn im Ernst, daß hier keine Sicherheitsanlagen eingebaut sind?" „Das können wir testen. Du steigst aus, gehst um den Wagen herum, läufst mal ein paar Schritte zur Seite, und wenn sich dann nichts tut, wagen wir es gemeinsam." „Mann, o Mann, das wird ein Ding. So fett wie eine Gans. Hoffentlich klappt es." „Da die Füchse im Bau sitzen, haben die Gänse freien Auslauf", erklärte Turbo, dessen Optimismus Randy nicht recht teilen mochte. „Du denkst doch an Ela?" „Klar, sogar immer. Ich würde vorschlagen, daß wir sie suchen, wenn wir uns auf dem Gelände umschauen." „Habe ich mir gedacht, daß so etwas dahintersteckt." „Ha, Schnellmerker." Turbo nickte heftig. „Los, steig endlich aus, du Knaller." „Hat das Schwert dich stark gemacht?" -77-
„Immer. Ich fühle mich jetzt wie der große und unheimliche Kasimantuko." „Wer ist das denn?" „Der letzte Samurai Japans." „Bist du das nicht?" „Fast." Randy stieg aus, blinzelte gegen das Sonnenlicht und dachte daran, daß er seine Sonnenbrille vergessen hatte. Komisch kam er sich schon vor, so als müßte er in einem Film spielen. Turbo blieb im Wagen und beobachtete den Freund. Der wiederum ließ seine Blicke schweifen, geriet aber immer stärker ins Schwitzen, je weiter er sich von dem Fahrzeug entfernte. Es mußte doch einfach passieren. Gleich würden sie kommen und ihn mitnehmen. Nichts geschah... Tief atmete Randy ein, es war, als trinke er heißes Blei. Er schlug eine andere Richtung ein und lief parallel zur Kühlerhaube. Auch jetzt tat sich nichts. Keine Lautsprecherstimme, die ihn zum Verlassen des Geländes aufforderte. Die Stille blieb, und ihm wurde heiß und heißer. Randy strich sich den Schweiß von der Stirn. Turbo winkte ihm aus dem Auto zu. Wesentlich sicherer als zuvor machte sich Randy auf den Rückweg. „Bleib ruhig draußen", sagte Turbo, als Randy die Tür öffnete. „Ich komme gleich." „Hundertprozentig überzeugt bin ich noch nicht." „Hör auf. Was ist schon hundertprozentig? Nichts, sage ich dir, gar nichts. Nicht einmal ich." Randy winkte nur ab und behielt die Fassaden der Hallen im Blick. -78-
Die Sonne stand tief, der Nachmittag neigte sich dem Ende zu. Und noch immer waberte die Hitze. Die Luft tanzte über der Straße. Turbo hatte sein Schwert so gut wie möglich unter der Kleidung verborgen, damit die Klinge im Sonnenlicht keine verräterischen Reflexe warf. Nur nicht auffallen, das fehlte gerade. Sie fielen nicht auf, denn sie erreichten unangefochten die von der Sonne aufgeheizte Hallenwand. Die Aluminiumbeschichtung hatte die starke Sonne während des ganzen Tages gespeichert. Beide Jungen schwitzten - auch vor Aufregung. Turbo sah Randys fragenden Blick auf sich gerichtet. „Ich weiß nichts." „Wir müssen uns entscheiden. Suchen wir Ela oder meinen Vater?" schlug Randy vor. „Am besten beide." „Klar, nur werden sie nicht zusammen sein", Randy schüttelte den Kopf. „Nein, nein, das muß anders laufen. Ich glaube, wir sollten zuerst nach Ela Ausschau halten." „Wo denn?" Randy klopfte gegen die Hallenwand. „Da haben sie meinen Vater hineingeführt. Uns stehen verschiedene Hallen zur Auswahl. Fangen wir mit der nächsten an." Die war flacher gebaut, dafür aber länger und erstreckte sich fast bis zum Zaun. Die Außenwand war waagerecht in zwei Hälften unterteilt. Die obere bestand aus einer Fensterfront, die untere war wieder mit Aluminium verkleidet. Und sie sahen die Leiter. Wie bestellt und nicht abgeholt lag sie auf dem schmalen Grünstreifen, der rings um die Halle lief. Turbo lief sofort auf die Leiter zu und lehnte sie gegen die -79-
Wand. „Die kommt uns doch wie gerufen!" flüsterte er und deutete in die Höhe. Er maß die Entfernung mit den Augen ab. „Das müßte passen", murmelte er. „Du willst hoch?" „Oder du?" Randy grinste. „Okay, aber nur, wenn du die Leiter festhältst." „Mach ich doch alles." Turbo richtete die Leiter auf. Randy half ihm dabei. Da die Leiter aus Holz bestand, war sie schwer, aber sie schafften es. Bevor Randy hochkletterte, warf er noch einen Blick durch den Maschendrahtzaun. Das Gelände hinter der Firma lag leer vor ihnen. Flach und grün. Teilweise bildeten Bäume einen bunten Teppich auf den Wiesen. Jenseits der Anlage führte die Bundesstraße entlang. Auf ihr erreichte man auch die Autobahn. „Alles klar?" fragte Turbo. Der Junge stand neben der Leiter und hielt sie mit beiden Händen fest. „Ich schon." „Dann mal los." Randy probierte die Sprosse. Sie bog sich um keinen Zentimeter durch, als er sie mit seinem Gewicht belastete. „Das müßte klappen", murmelte er. „Steig schon hoch." In den folgenden Sekunden kletterte Randy flink in die Höhe. Er wurde erst vorsichtiger und langsamer, als er so weit gekommen war, daß er durch eine Scheibe in das Innere der Halle schauen konnte. Behutsam richtete er sich auf und brachte sein Gesicht an das Glas. Er sah den Staub darauf, den das Sonnenlicht noch deutlicher hervortreten ließ. Er sah auch noch etwas anderes und hatte das Gefühl, mit einem Schlag zu Eis zu erstarren. In der Halle befanden sich ein Mann im Kittel, ein -80-
Schäferhund - und Ela Schröder! Turbo, der breitbeinig unten stand und die Leiter festhielt, hatte Randys sonderbares Verhalten bemerkt. „Was ist denn? Hast du was gesehen?" Randy verschluckte eine Antwort. Er hatte sich schnell geduckt, schob sich jetzt wieder hoch und schaute noch einmal nach. Es gab keinen Zweifel. Ela befand sich in der Halle, zusammen mit dem Hund und dem Fremden. Man hatte sie zwar nicht gefesselt, trotzdem machte sie auf Randy den Eindruck als stehe sie wie unter Zwang. Er nahm sich Zeit, das Mädchen zu beobachten. So ging Ela im Normalfall nicht, sie war der Typ, der immer in Action sein mußte. Neben dem schwarzhaarigen Mann kam sie Randy so fremd und anders vor, ihre Bewegungen wirkten auch langsamer. „Sag schon, was los ist, Randy!" Der kletterte zunächst nach unten, blieb neben Turbo stehen und holte tief Luft. „Ich habe Ela gesehen." „Nein?" „Doch, in der Halle." „Und was ist mit ihr?" Da mußte Randy leise lachen. „Sie läuft herum und ist trotzdem eine Gefangene, finde ich." Und er erzählte Turbo, was er gesehen hatte. Beide Jungen wußten nicht, was sie damit anfangen sollten und hingen ihren Gedanken nach. „Was macht sie eigentlich in der Halle?" fragte Turbo schließlich. Randy legte die Stirn in Falten. „Du kannst mich auslachen, du kannst alles machen, aber ich habe den Eindruck gehabt, als hätten sie und der Mann eine Besichtigung hinter sich." -81-
„Ach nee." „In dieser komischen Halle werden die Figuren hergestellt." Randy klopfte gegen die Außenverkleidung. „Die großen oder die kleinen?" „Die echten natürlich." „War der große Mister Gänsehaut denn nicht echt?" „Hör auf mit dem Quatsch, wir müssen in die Halle reinkommen. Das ist unsere einzige Chance." Turbo verengte seine Augen. „Aber der Schäferhund gehört nicht zu Ela." „Leider, der wacht." „Wenn wir jetzt einen Knochen hätten", flüsterte Turbo, „so einen schönen Knochen wie ihn deine Mutter immer nimmt, wenn sie einen besonders gute Suppe kochen will. Damit wäre uns viel geholfen. Wir könnten den Bello weglocken..." „Vorausgesetzt, er läßt sich locken." „Mit dem Knochen immer." „Erst einmal müssen wir rein in die Halle. Hast du ein Tor gesehen?" „Bis jetzt noch nicht." Wenig später begaben sich die Jungen auf die Suche. Die Leiter hatten sie wieder auf den Grünstreifen gelegt, ansonsten hätte sie nur Verdacht erregt. Der Eingang befand sich an der Schmalseite der Halle. Ein großes Tor in zwei Hälften unterteilt mit starken Griffen, durch deren Hilfe das Tor aufgezogen werden konnte. „Hoffentlich ist es nicht verschlossen", flüsterte Turbo und umfaßte den Griff mit der rechten Hand. „Zieh mal." Turbo stemmte sich kräftig dagegen, und er schaffte es. Saugend schwang die rechte Hälfte auf. Wahrscheinlich hatte -82-
man noch laden wollen und deshalb die Halle noch nicht zugesperrt. Warme Luft strömte aus dem Spalt. Die Jungen schauten direkt in die große Halle hinein, wo die Kessel, Rohre und Fließbänder einen für Laien unverständlichen technischen Wirrwarr bildeten. Gleich vor ihnen stapelten sich die Kisten und Kartons mit den verpackten Figuren. Sie hatten insofern Glück gehabt, daß sie die Halle von hinten betreten konnten. Ela, der Mann und auch der Hund hielten sich an der gegenüberliegenden Seite auf. Langsam schwappte die Tür wieder zu. Die Freunde standen eng nebeneinander. „Wenn das mal gutgeht", hauchte Turbo. „Es muß gutgehen." „Außerdem habe ich mein Schwert mit dabei." „Nicht gegen Menschen!" warnte Randy. „Weiß ich, weiß ich alles. Aber ich kann damit drohen." Turbos Worte klangen unsicher. Er und Randy wußten nicht, wie sie sich verhalten sollten. Wichtig war vielleicht, daß sie in Elas Nähe kamen. Also schlichen sie so lautlos wie möglich weiter. Wenn sie die Füße aufsetzten, war kaum ein Geräusch zu hören. Der glatte Boden machte es ihnen einfach. Sie waren so nahe herangekommen, daß sie den Mann bereits sprechen hörten und auch verstanden, was er sagte. „Willst du noch etwas sehen, Mädchen?" „Nein." „Dann muß ich dich wieder zurückbringen." „Sie können mich auch freilassen." Der Mann im Kittel lachte. „Wenn das geschieht, macht mich mein Boß einen Kopf kürzer." „Warum denn?" „Ich blicke auch nicht durch, doch es geht um sehr viel Geld, -83-
Mädchen, und auch um die Zukunft. Der Markt wird größer, und die Kids brauchen Spielzeug..."
„Aber nicht so etwas!" „Das ist Ansichtssache." „Würden Sie das denn Ihren Kindern kaufen, Herr Orth?" „Ich habe keine." „Und Ihrer Nichte?" Die Antwort ging in einem für Randy und Turbo unverständlichen Gemurmel unter. Randy bewegte vorsichtig den Mund, als er flüsterte: „Ela ist gut, die hält diesen Orth auf Trab." „Ja, nicht schlecht. Ich frage mich nur, wo der Kerl sie wieder hinbringen will." „In ein Lager oder so." „Dann müssen wir uns beeilen." Turbo wollte weiterschleichen, aber Randy hielt ihn fest. -84-
„Mir ist eingefallen, daß mich Ela gesehen haben muß, als ich durch das Fenster schaute." „Sicher?" „Und wie. Das hören wir doch auch. Sie spricht bewußt so laut, weil sie damit rechnet, daß wir in der Nähe sind." Randy bekam seine Vermutung im nächsten Moment bestätigt, denn Ela stellte die nächste Frage. „Dr. Ritter ist bestimmt schon eingetroffen. Jetzt wäre es an der Zeit, mich..." „Wann was an der Zeit ist, bestimme weder ich noch du, Mädchen. Das ist allein seine Sache." „Wie heißt der Boß denn?" „Spielt keine Rolle." „Jurek?" „Das ist der Professor, das Gehirn, wie wir ihn auch nennen. Aber der Chef ist ein anderer." „Sagen Sie schon." „Er heißt Becker!" „Nie gehört." „Eben." Turbo und Randy hatten die Unterhaltung genutzt und waren noch weiter vorgeschlichen. Zwischen ihnen und Ela befanden sich noch immer einige große Maschinen, aber sie gerieten immer tiefer in die Halle hinein und mußten sich fast schon auf einer Höhe mit Ela, dem Mann und dem Hund befinden. Und der merkte etwas. Sein scharfes Bellen erschreckte alle. Selbst Orth wurde davon überrascht. Er fing an zu schimpfen und zerrte Hasso zurück, der an seiner Leine riß. Ela war einige Schritte zur Seite gegangen und bleich geworden. Sie ahnte, was den Hund zu dieser Reaktion veranlaßte, hielt die Hände zu Fäusten und drückte Randy den -85-
Daumen. Sie konnte sich gut vorstellen, daß er es geschafft hatte, die Halle zu betreten. Da Randy nur selten allein auf „Tour" ging, war Turbo sicherlich auch nicht weit entfernt. Das hatte sie hoffen lassen, trotz der Reaktion des Hundes. „Verdammt noch mal, stell dich nicht so an!" schimpfte Richard Orth. Er hatte Mühe, Hasso unter Kontrolle zu bringen, der Hund setzte sich auf die Hinterläufe, die Leine war sehr straff gespannt. Es sah aus, als würde er sich jeden Moment loßreißen. „Vielleicht will er hier raus", sagte Ela. Sie wollte Orth von den eigentlichen Problemen ablenken. „Nein, das will er nicht." „Was ist es dann?" Orth warf ihr einen schnellen Blick zu. Sein Gesicht war schweißnaß geworden. Ela sah ihm an, wie sehr er unter Druck stand. „Es gibt nur eine Möglichkeit!" flüsterte er scharf. „Da ist jemand in die Halle eingedrungen, Mädchen. Ein Fremder." Ela bekam einen großen Schreck, riß sich jedoch zusammen und lachte so laut, daß es schon unecht klang. „Nein, das kann ich nicht glauben. Ehrlich nicht." „Doch!" „Sie hätten doch bestimmt etwas gesehen." Orth hob die Schultern. „Hast du überall deine Augen? Ich bestimmt nicht, Mädchen." „Klar, aber..." „Wir werden jetzt einen Spaziergang durch die Halle machen. Aber keine Tour zur Besichtigung. Wenn ein Fremder sich eingeschlichen hat, findet Hasso ihn." Das wußte Ela auch. Heftig atmete sie durch die Nase. Plötzlich wurde ihr kalt. Sie versuchte zu lächeln, aber es wurde nur ein Grinsen. „Du bleibst an meiner Seite." Orth drückte seinen Oberkörper -86-
zurück, Hasso zog immer stärker. „Gut." Die Jungen hatten den größten Teil der Unterhaltung mitbekommen. Keiner konnte behaupten, daß ihnen wohl dabei war. Sie schauten sich an, jeder wartete auf den Vorschlag des anderen. „Wohin?" „Kein Ahnung, Turbo!" „Aber ich habe sie." Neben ihnen stand die Anlage mit dem Fließband. „Wir könnten uns dort verstecken. Wir kriechen einfach darunter, und alles ist in Ordnung." „Bis der Hund kommt. Der findet uns doch." „Dann weiß ich auch nicht." Das scharfe Bellen erstickte ihre Diskussion und auch die harten Befehle von Orth. Er hatte die Leine gelöst und trieb den Hund mit heiserer Stimme an: „Such, Hasso, such und faß!" „Nein, das dürfen Sie nicht!" schrie Ela, aber sie hatte keine Chance. Der Hund war schon unterwegs. Lange genug hatte er an der Leine gehangen, jetzt endlich war er frei. Wie ein Schatten raste er los. Kraftvoll stieß er sich ab, kam wieder auf dem Boden auf, setzte von neuem an und vergrößerte seine Sprünge. Für ihn war es eine Sache von Sekunden, bis er die Eindringlinge erreichte. Randy und Turbo hatten keine Chance, um in Deckung zu gehen. Pfeilschnell war Hasso bei ihnen. Sie mußten zurück. Er sprang sie an, schnappte nach ihnen und scheuchte sie bis gegen die Wand, an die sie sich drückten. Dort blieben die Jungen regungslos wie zwei Statuen stehen, -87-
die Arme gespreizt, die Hände gedreht und die Handflächen gegen die Wände gepreßt. Hasso sprang vor ihnen herum. Sein Fell war gesträubt, das Maul stand offen, und er zeigt ein Gebiß, das schon Furcht einjagte, wenn man nur hinschaute. Keiner der Jungen rührte sich. Eine falsche Bewegung ihrerseits, und Hasso würde ihnen an die Kehle springen. Turbo hütete sich, auch nur an sein Schwert zu denken. Lauter als das Knurren klang Orths Lachen, als er den Gang am Fließband erreicht hatte. Er amüsierte sich köstlich, als er die beiden Jungen steif an der Wand stehen sah. „Also doch!" Ela ging hinter ihm. Sie hatte den Blick gesenkt und sah aus wie jemand, der alle Hoffnung verloren hatte. Randy verdrehte die Augen, schielte ihr entgegen und verzog den Mundwinkel noch mehr. Es war kein Lächeln, eher eine Geste des Verlierens. Sie hatten nicht gewonnen, das stand fest. Orth genoß seinen Auftritt. Zunächst winkte er Ela in seine Nähe. Er kam sich mächtig toll vor. „Ja, wen haben wir denn da?" fragte er mit süffisant klingender Stimme. „Zwei Einbrecher." „Nein, das sind wir..." „Halt dein Maul, Junge, sonst lasse ich Hasso springen!" Randy schwieg erschreckt. Orth redete weiter. „Wenn mich nicht alles täuscht, hattet ihr den Befehl im Wagen zu bleiben - oder?" „Ja!" gab Randy zu. „Und weshalb schnüffelt ihr hier herum?" „Uns war es zu heiß", erklärte Turbo, und Orth fühlte sich auf den Arm genommen. „Was? Noch große Klappe. Willst du die Zähne von Hasso spüren. Die merkst du nur einmal, dann nicht mehr." Nach -88-
dieser Drohung grinste er und stellte sich breitbeinig hin. „Ihr wolltet bestimmt die großen Beschützer spielen, wie? So wie im Kino. Ein kleiner Held, der die schwache Frau befreit. Da habt ihr euch geschnitten. So etwas gibt es nur im Kino, aber nicht bei uns." Randy hatte sich wieder gefangen. „Was wollen Sie eigentlich, Herr Orth? Mein Vater ist doch bei Ihren Bossen." „Stimmt, aber ihr seid unsere Versicherung gewesen. Spielt auch keine Rolle, dann werde ich euch eben zu dritt vorführen. Da kann ich Pluspunkte sammeln." Ela mischte sich ein. „Was haben Sie denn vor, Herr Orth? Wollen Sie sich denn mit den anderen auf eine Stufe stellen?" „Was heißt hier eine Stufe? Ich mache meinen Job, und ich versuche, ihn gut zu machen." „Noch haben Sie eine Chance." „Ich habe immer Chancen." „Nein!" Ela blieb hartnäckig. „Wir sind bestimmt nicht ohne Rückendeckung gekommen. Denn wir werden..." „Hört auf, zum Teufel. Aber keine Angst, ich werde euch nicht einsperren, sondern wegbringen, und der beste Wächter, den ich kenne, bleibt bei euch. Mein Freund Hasso." Der Hund drehte kurz den Kopf, als er seinen Namen hörte, stellte sein Knurren aber nicht ein. Orth lachte fett. Er wischte seine feuchten Handflächen am Kittel ab und schnickte mit den Fingern. Dann deutete er auf Turbo. „Mich würde interessieren, was du da in deinem Gürtel stecken hast?" „Nichts eigentlich", stotterte der Junge. „Zieh es hervor!" „Ein Schwert aus... Holz." Orth ging einen Schritt vor. Sofort knurrte Hasso lauter. „Soll -89-
er dich anspringen und zubeißen?"
Turbo geriet ins Schwitzen. Wenn er die Klinge hervorzog, würde sie ihm Orth abnehmen, und er wollte das Schwert um alles in der Welt nicht aus der Hand geben. „Nun?" „Hasso wird nicht zubeißen!" Ela hatte mit fester Stimme gesprochen und alle anderen damit überrascht. -90-
Orth drehte den Kopf. Verwundert zwinkerte er mit den Augen und legte dazu eine Hand an sein Ohr. „Habe ich richtig gehört? Habe ich tatsächlich richtig gehört?" „Das haben Sie." „Und wer will das verhindern, bitte schön?" „Ich!" Auf diese Antwort hin erbleichten selbst Randy und Turbo!
-91-
6. Jureks teuflischer Plan Ja, dachte Dr. Ritter, er sieht noch aus wie früher. Vielleicht ist sein Haar grauer geworden, aber der Schnitt, der ist der gleiche geblieben. Eine Cesarenfrisur, die Haare nach vorn, in die Stirn gekämmt. Seine Nase wirkte wie ein kleiner, zu dick gewordener Erker; der Mund bestand aus breiten Lippen, die er, als Dr. Ritter eintrat, zu einem Grinsen verzogen hatte. Jurek trug einen weißen Kittel, so gab er sich wenigstens nach außen hin den Anschein eines seriösen Wissenschaftlers. Er winkte mit einer Hand, was beide Männer verstanden. Sie verließen den Raum. Als sie die Tür laut hinter sich zuhämmerten, klang dies wie ein Schuß. „Willkommen, mein lieber Ritter. Herzlich willkommen in meinem neuen Reich!" „Das ist Ihre Sache." Jurek lachte. „Kann ich mir denken, daß Sie sauer sind. Wäre ich an Ihrer Stelle auch." Peter Ritter war sauer. „Hören Sie zu, Jurek, Sie können ja mit mir einiges machen, aber lassen Sie, verflucht noch mal, die Kinder aus dem Spiel. Sie haben hierbei nichts zu suchen. Sie sind mitgefahren, jetzt reicht es auch." Erstaunt schaute Jurek sein Gegenüber an. „Hören Sie mal, Ritter, Sie sind nicht in der Lage, um mir Bedingungen stellen zu können. Das sind Sie wahrhaftig nicht." „Ich bleibe dabei." „Und ich auch." Dr. Ritter wußte, daß es keinen Sinn hatte, mit diesem Mann zu diskutieren. Der hatte seinen Plan und wich um keinen Millimeter davon ab. Deshalb konzentrierte sich Dr. Ritter auf das Wesentliche. „Was also wollen Sie von uns, Jurek?" „Ihre Unterstützung." -92-
„Die bekommen Sie nicht!" Der Professor legte seine Stirn in Falten. „Schauen Sie sich um, Ritter. Schauen Sie sich genau um. Was Sie hier sehen, ist die Werkstatt eines Genies." „Bescheidenheit ist nicht Ihre Tugend." „Bestimmt nicht. Ich habe mich lange genug an der Nase herumführen lassen. Meine Projekte wurden verlacht, aber ich fand eine Firma, die meine Forschungen unterstützte. Was hier als Spielzeug beginnt, kann später entscheidend sein für die Herstellung von Waffen." „Weiter." „Was sehen Sie hier?" „Der Raum glich einem kleinen Hörsaal. Erhöht stehende Bankreihen bildeten eine kleine Zuschauertribüne. Niemand saß dort. Dr. Ritter und Jurek waren allein. Vor den Sitzreihen war der Platz groß genug, für die Demonstrationen von Experimenten, mit denen sich der Professor beschäftigte. Der Saal hatte keine Fenster; von der Decke fiel künstliches Licht, das den Raum bis in die kleinste Ecke scharf ausleuchtete. An der einen Wand wimmelte es von Monitoren, Computern und Druckern, die alle eingeschaltet waren. Eine Konsole mit Joysticks war ebenfalls aufgebaut worden, und dahinter hatte Jurek seinen Platz gefunden. Er blickte auf eine Anlage, die nun auch Dr. Ritter entdeckte. Ein Spielfeld. Es zeigt eine nachgebaute wilde Landschaft aus Hügeln, Tälern, dichten, dschungelartigen Wäldern, Hütten und monsterhaften Tieren, die zu den Spielfiguren paßten. Sie standen innerhalb des Geländes verteilt und stammten aus der Serie Superstars of the Night. „Ihr Kommentar, Ritter?" „Wollen Sie hier spielen?" Jurek lachte meckernd. „So ähnlich, Ritter, so ähnlich. Nur ist -93-
dieses Spiel erst der Anfang." „Tut mir leid, ich bin wohl zu dumm, um das zu verstehen." Jurek kraulte sich am Kinn. „Das ist schade, denn ich habe leider nicht die Zeit, um Ihnen alles zu erklären. Deshalb will ich mich kurz fassen." „Ich bitte darum." Jurek warf seinem „Kollegen" noch einen längeren Blick zu, bevor er mit seinen Ausführungen begann. „Diese Geländeform, die Sie hier sehen, ist ein Prototyp. Wir werden sie bald in Serie verkaufen, zusammen mit den Spielfiguren. Und jetzt kommt das Neue, das Außergewöhnliche. Die Kids brauchen die Figuren nicht mehr selbst in die Hände zu nehmen, sie steuern sie, wobei sie sich vorkommen wie Generäle. Der Spieler schaltet sein Fernsehgerät ein und die von ihm ausgewählte Figur reagiert auf das über das Fernsehen ausgestrahlte Signal. Das Kind bewegt seine Figur mittels eines Joysticks und den Knöpfen an seiner Spielkonsole. Gleichzeitig kann es den Ablauf des Kampfes auf dem Bildschirm des Fernsehers kontrollieren. Für alles dies gibt es Programme, so braucht der Spieler nicht erst auf unsere Fernseh-Sendung mit den ausgestrahlten Signalen zu warten, die wir eingekauft haben. Es gibt Disketten für diese Spiele, so daß der Junge oder das Mächen eigene Programme kaufen und diese über den Spielecomputer abrufen kann. Es kann alle Variationen durchspielen. Schlachten, aber auch Einzelkämpfe, und wir sind jetzt schon dabei, das System auszubauen. Es bleibt nicht bei dieser einen Geländeform, wir werden Städte bauen, jedes Teil paßt zu jedem, das ist wie ein Puzzle, und über allem herrscht natürlich unsere Superfigur, Mister Gänsehaut. Er ist der große Held, der Macher. Was sagen Sie dazu?" Dr. Ritter schüttelte den Kopf. „Das ist zynisch, Jurek, verdammt zynisch. Sie nehmen den Kindern die Phantasie und treiben die Gefühle der Gewalt in ihnen hoch." -94-
„Unsinn, jeder soll sich als Herrscher fühlen." „Und im eigenen Leben auch so reagieren, wie? Nein, das ist nicht mein Gebiet, tut mir leid. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, wie ich Ihnen helfen soll." „Hierbei nicht." „Sondern?" „Ich habe die Sache weiterentwickelt, weil ich mich mit den Spielzeugfiguren nicht zufrieden geben wollte und bin in der Lage gewesen, auch andere herzustellen." „Lebensgroße?" „Ja, Ritter, so ist es!" Jurek gab die Antwort mit einer Begeisterung, die den Ingenieur erschreckte. Hinter dieser Maske mußte ein Wahnsinniger stecken. „Weshalb?" Der Professor schüttelte den Kopf. „Da fragen Sie noch? Was meinen Sie, wieviel Interessenten schon bei uns angeklopft haben. Selbst die Japaner haben es nicht geschafft, so etwas herzustellen. Überlegen Sie mal, lebensgroße Figuren, in Serie hergestellt, können Soldaten, Armeen ersetzen. Das spart Kosten. Sie brauchen nur gesteuert oder gelenkt zu werden, und sie führen jeden Befehl aus." „Wie dieser Mister Gänsehaut bei meinem Sohn." „Genau. Wir wollten Ihnen etwas demonstrieren. Sie sollten nicht ins kalte Wasser springen, Ritter. Wir brauchten einen Beweis. Wer konnte Ihnen den besser geben als Ihr eigener Sohn. Geben Sie mal acht." Jurek trat an eine ComputerKonsole und schaltete die Anlage ein. Dann schaute er auf den Bildschirm, wo sich eine Landschaft abzeichnete, die Dr. Ritter vor sich im Modell aufgebaut sah. „Die Diskette habe ich schon eingelegt. Was Sie gleich erleben werden, ist der einmalige Kampf der Giganten." Und schon ging es rund. -95-
Die Figuren auf dem Spielfeld bewegten sich. Zuerst schlichen die Monster vor. Es waren aus mehreren verschiedenen Teilen zusammengesetzte Tiere. Hunde mit Flügeln, Pferde mit krokodilartigen Schnauzen oder riesige Vögel aus der Urzeit. Die kleinen Figuren mußten sich gegen die Übermacht verteidigen, und sie taten es mit Bravour. Aus Mister Gänsehauts Waffen schossen Blitze, ebenso griff der Fighter in den Kampf ein, und sein Laserschwert schlug regelrecht Breschen in die Natur. Die Hexe versuchte es mit Zauberei und bewegte dabei ihren Körper schlangengleich wie eine Tänzerin. Auch der schwarze Schattenmann kämpfte Rücken an Rücken mit Gato, der seine Lanzen einsetzte. Nach ungefähr zehn Minuten blieb eine zerstörte Welt zurück. Der Professor schaltete ab und nahm seine Hände von den Joysticks. „Ich hätte auch die Monster gewinnen lassen können, aber das wollte ich Ihnen nicht antun, Ritter." Der wischte über seine feucht gewordene Stirn. Was er soeben erlebt hatte, war für ihn schlimm gewesen und hatte ihn sehr erschreckt. „Sagen Sie doch was!" Er hob die Schultern. „Ich bin erstaunt." „Nur das?" „Nein, Jurek, noch mehr. Mit solch einem gewalttätigen Mist wollen sie die Kinder beglücken?" „Ha...", lachte Jurek. „Die Kids werden darauf fliegen, das können Sie mir glauben." „Es bleibt abzuwarten." „Sicher, Ritter, sicher. Alles ist eine Frage der Zeit und natürlich der guten Werbung. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß unsere Firma Sendezeit kaufte, da werden wir voll hineinfahren und unsere Produkte bekanntmachen." -96-
„Schön, Jurek, dann können Sie auf mich ja verzichten." „Da irren Sie sich, Ritter." „Ich mache nicht mit!" „Denken Sie an Ihre Kinder." Dr. Ritter senkte den Kopf. „Wissen Sie, was Sie sind, Jurek?" „Halt, sprechen Sie es nicht aus." „Ich hätte es als zivilisierter Mensch auch nicht getan, aber Sie sind verdammt tief gesunken, Jurek." „Nein, aufgestiegen. Ich verdiene viel Geld." „Das ist nicht alles im Leben." „So können Sie meinetwegen Ihren Nachwuchs erziehen, Ritter, aber lassen Sie mich damit in Ruhe." „Gut, was wollen Sie noch?" Jureks Zeigefinger deutete wie eine Lanzenspitze auf die Brust des Ingenieurs. „Ihre Mithilfe, Ritter!" „Wobei?" Dr. Ritter drehte sich im Kreis. „Wenn ich mich hier umschaue, ist schon alles perfekt. Sie haben es doch geschafft. Sie waren der Mann, der die Zukunft..." „Das ist der Anfang. Ich beschäftige mich bereits mit dem nächsten Schritt. Dabei geht es mir um die menschengroßen Figuren. Sie sind noch nicht perfekt, sie gehorchen mir nicht so wie die kleinen, man muß noch zu viele Eingaben machen, um sie perfekt reagieren zu lassen. Und diese Eingaben will ich reduziert haben, verstehen Sie?" „Natürlich. Sie wollen die gesamten Befehle auf einem kleine Chip speichern." „Auf einem Supermikrochip, Ritter. Sie haben sich damit beschäftigt. Sie sind noch dabei. Sie haben hervorragende Beziehungen in die Staaten, und Sie werden mir dabei helfen, den neuen Chip herzustellen. Mehr sollen Sie nicht tun." -97-
„Hier etwa?" „Ja. Sie werden ein kleines Labor bekommen und haben bis zum Sonntag zunächst Zeit." „Und wenn ich es nicht schaffe?" Jurek setzte ein schmieriges Grinsen auf. „Hören Sie, Ritter, wir haben Ihre Kinder. Die bleiben natürlich auch bei uns." „Ab Montag stürmt dann die Polizei den Laden hier. Oder nicht?" „Dazu wird es nicht kommen, wir haben vorgesorgt. Wenn der Chip fertig ist, werden wir das Land verlassen, daß heißt die Leute, die für die Entwicklung und das Marketing der neuen Generation verantwortlich sind. Die kleinen Figuren produzieren wir hier weiter. Alles andere wird verlagert." „Wohin?" „Sie glauben doch nicht im Ernst, daß ich Ihnen dies unter die Nase reibe." Jurek schaute auf die Uhr. „Jede Minute, die wir hier vertrödeln, geht von Ihrer Zeit ab, Ritter. Kommen Sie!" Er ging zur Tür, blieb allerdings sehr schnell stehen, als er sah, daß Dr. Ritter nicht folgte. „He, was ist?" „Ich mache nicht mit." „Jurek legte die Stirn in Falten. Er sah aus, als wollte er genau über die Antwort nachdenken. „Ist das ihr letztes Wort?" „Darauf können Sie wetten!" Jurek drückte auf einen Knopf in der Hand. Sofort wurde die Tür geöffnet. Die beiden Männer, die Peter Ritter abgeholt hatten, erschienen wieder. „Holt die Jungen!" „Was ist mit dem Mädchen?" „Das kommt auch noch an die Reihe!" „Gut!" Die Männer machten auf dem Absatz kehrt und verschwanden. Jurek schaute Peter Ritter scharf an. „Jetzt kostet -98-
es Sie Zeit, Kollege, zuviel Zeit!" „Ich bleibe bei meinem Entschluß." Der Professor schüttelte den Kopf. „Weshalb sind Sie so dumm, Ritter? Wirklich dumm. Sie brauchen nur ja zu sagen und sie sind übermorgen um ein erkleckliches Sümmchen reicher. Meine Partner und ich dachten an Einhunderttausend." „Auch dafür nicht." „Über die Summe läßt sich reden." „Nicht mit mir." „Ihre Dummheit, Ritter. Allein Ihre verdammte Dummheit. Dann müssen Sie eben in den sauren Apfel beißen und bekommen keinen Pfennig." Der Ingenieur schaute auf das Schlachtfeld zu seinen Füßen. Je länger sein Blick darauf verweilte, um so mehr war er innerlich überzeugt, daß es richtig gewesen war, nicht auf die Forderungen des Mannes einzugehen. Jurek räusperte sich. „Ich bin sicher, Ritter, daß Sie Ihre Meinung gleich ändern werden, wenn Ihr Junge und dessen Freund hereinkommen. Nur werden sie dann nichts kassieren." Peter Ritter schwieg. Er wollte nicht mehr sprechen. Dieser Jurek war ihm zuwider. Auch damals hatte er nie direkt mit ihm zusammengearbeitet, es hatte allerdings öfters einen beruflichen Gedankenaustausch gegeben. Die Theorien dieses Mannes waren Peter Ritter schon immer suspekt gewesen. Jemand rammte die Tür so heftig auf, daß beide Männer sich erschreckt umdrehten. Die Gorillas standen wieder da, allein, ohne die Jungen. „Was ist? Wo sind sie?" „Nicht mehr da, Professor!" Jurek schüttelte den Kopf. „Wie, was, wo?" Er war auf einmal durcheinander. -99-
„Sie sind nicht im Wagen. Sie haben die Flucht ergriffen!" Der Professor blieb für einen Moment unbeweglich stehen, bevor er auf der Stelle herumschwang und mit der Hand auf Peter Ritter deutete. „Sie haben Schuld, verflucht! Nur durch Sie..." „Wieso? Was kann ich dafür?" „Haben Sie den beiden nicht klargemacht, wie sie sich verhalten sollen?" „Selbstverständlich." „Und wo sind sie jetzt?" „Verflixt, ich weiß es nicht. Ich bin ebenso überrascht wie Sie, Jurek, glauben Sie mir. Ich habe keine Ahnung. Dann will ich Ihnen noch etwas sagen. Die Jungen sind keine Kinder oder Kids mehr, wie Sie es nennen. Es sind Jugendliche, mit Verstand. Man kann sie nicht an der Kette halten." „O doch!" keuchte Jurek und trat einen Schritt vor. „Man kann sie an der Kette halten, das werde ich Ihnen beweisen. Ich persönlich werde mich um sie kümmern. Ich und meine Spielgefährten." Jurek wandte sich an die beiden Männer. „Paßt ihr auf ihn auf." Dann eilte er aus dem Raum und knallte die Tür hinter sich zu. Peter Ritter stand da und mußte seine Gedanken zunächst einmal ordnen. Er dachte über die letzten Worte des Mannes nach, Jurek würde sie gnadenlos in die Tat umsetzen. Wen er mit seinen Spielgefährten gemeint hatte, war ebenfalls klar. Die Superstars of the Night. Allerdings nicht die Spielfiguren, sondern die lebensgroßen...
-100-
7. Ela und Hasso Sie fühlte sich plötzlich allein, denn sie hatte es geschafft, alle Gedanken auszuschalten und sich nur auf den Hund zu konzentrieren. Ela wußte, daß sie ein Risiko einging, doch sie rechnete mit ihrer Erfahrung mit Hunden und baute darauf. Vorhin war sie doch sehr gut mit Hasso ausgekommen! Langsam ging sie in die Hocke. Randy und Turbo standen reglos an der Wand. Und auch Orth beobachtete sie, ohne einzugreifen. Hasso würde nur ihm gehorchen, dachte er verächtlich. Ela machte den Arm lang und öffnete ihre Hand. Sie streckte dem Hund die Finger entgegen und bewegte sie sehr langsam. „Hasso", sprach sie ihn mit einer weich klingenden Stimme an. „Lieber Hasso, du bist ein guter Hund, du bist der beste, ja, du bist der beste." Hasso hatte die Ohren hochgestellt, als hätte er die Worte genau verstanden. Über Elas Lippen huschte ein Lächeln. „Du bist ein braver Hund. Komm zu mir, Hasso. Komm her zu mir. Ich will dich streicheln..." Das Knurren verstummte. Für Orth ein schlechtes Zeichen, die Freunde hörten ihn schnaufen. „Nein, Hasso, nein!" Der Hund war irritiert. Er drehte seinen Kopf Orth zu, dann schabte er mit den Pfoten. „Du bist mein Freund, Hasso, nur meiner!" flüsterte Ela. „Bitte, komm her." „Nein, Hasso!" „Doch!" Der Hund hatte es schwer. Er wußte nicht, für wen er sich entscheiden sollte. Mann oder Mädchen? -101-
„Ich bin dein Herr!" keuchte Orth. Die Augen traten ihm vor. Er ahnte, daß er sich auf der Verliererseite befand, und schwitzte wie verrückt. Er öffnete den Mund und sah ein, daß es keinen Sinn hatte, den Hund zu rufen. Aber Orth wollte gewinnen, so packte er Ela an der Schulter, um sie herumzuziehen. Da sprang der Hund! Er hatte das Mädchen als neue Herrin akzeptiert, und er spürte, daß der ehemalige Herr ihr Böses wollte. Deshalb griff er an. Es ging so schnell, daß Richard Orth nicht mehr ausweichen konnte. Er sah noch einen Schatten dicht vor sich, dann stürzte sich der Hund mit seinem gesamten Gewicht auf ihn. Orth schrie und fuchtelte heftig mit den Armen, als er von der Wucht des Aufpralls gestoßen wurde. Wie ein Brett fiel er auf den Rücken und schlug mit dem Hinterkopf auf dem harten Boden auf. Hasso aber stand drohend und knurrend über ihm, eine gefährliche Haltung, die er erst aufgab, als Ela ihn rief. Gehorsam trottete er zu ihr und blieb neben ihr stehen, sein Fell dabei an ihren Beinen reibend. „Teufel, war das nervig!" keuchte Randy und schüttelte den Kopf. „Das hält ja keiner aus." Turbo schlug beide Handflächen zusammen, als wollte er Ela Schröder Beifall spenden. Die aber schaute auf Richard Orth, der auf dem Rücken lag und sich nicht rührte. Wie tot sah er aus... „Geht doch einer zu ihm, Mensch!" Ihre Stimme zitterte beim Sprechen. Randy setzte sich in Bewegung, auch Turbo kam nach. Sie -102-
knieten sich neben den Mann und stellten bald fest, daß Richard Orth nur bewußtlos war. Das sagten sie Ela auch. „Ein Glück, ein Glück, denn so übel war er nicht. Er hat mich aus meinem Gefängnis geholt und mir die Fabrikhalle gezeigt. Sonst hätte ich dich, Randy, nicht sehen können." „Ich weiß." Er stand schwungvoll auf. „Stellt Sich natürlich die Frage, was wir jetzt machen? Wie soll es weitergehen?" „Wir müssen deinen Vater suchen." „Okay, Turbo, meine ich auch. Zuvor aber wäre es besser, wenn wir die Polizei alarmieren." „Wie denn? Willst du laut rufen?" „Das bestimmt nicht. Telefonieren." „Und wo?" „In diesem Mistladen wird sich doch ein Telefon finden lassen." „Ich habe keines gesehen", sagte Ela und runzelte die Stirn. „Oder?" Sie überlegte eine Weile. „Doch, oben auf der Galerie, wo sich die Steuerzentrale befindet." „Ich schaue mal nach", sagte Turbo und rannte schon los. „Ruf dann auch bei uns im Schloß an!" rief Randy dem Davonstürmenden nach. „Mach ich." Ela und Randy schauten sich an. Sie lehnte sich gegen ihren Freund. „Hättest du das erwartet?" „Nein." „Ich auch nicht. Das ist ja verrückt gewesen. Da komme ich einfach nicht mit." „Jedenfalls müssen die mit den Figuren aus der Serie Superstars of the Night einiges vorhaben." Ela hob die Schultern. „Was kann man denn damit anfangen? -103-
Weißt du das nicht?" „Leider nein." Turbo kehrte zurück. Etwas außer Atem, weil er den Rückweg ebenfalls gerannt war. An seinem Gesicht sahen Ela und Randy ihm an, daß er keinen Erfolg gehabt hatte. „Nichts!" erklärte Turbo. „Überhaupt nichts. Mit dem Apparat kannst du nur innerhalb der Fabrik telefonieren. Da existiert keine Leitung nach draußen." „Womit wir wieder einmal halb in der Tinte sitzen!" stellte Ela fest. „Ja, aber halb ist nicht ganz. Wir werden uns schon wieder herausziehen." „Und wie, Herr Ritter?" „Wir suchen meinen Vater." „Klar, der ist auch so einfach zu finden." „Keine Panik. Als er von den Typen abgeholt wurde, haben wir ihn in das flache Gebäude hineingehen sehen. Ich glaube sogar, daß sich dort die Labors und Büroräume befinden. Da arbeitet dieser Jurek, der von meinem Vater was wollte. Wenn wir uns hineinschleichen, können wir es schaffen." „Ich bin dabei", sagte Turbo. „Was ist mit dir, Ela?" Sie lächelte knapp. „Ich habe ja einen neuen Beschützer. Hasso wird bestimmt auf mich achtgeben, das hat er ja bewiesen." „Dann los." Sie ließen den bewußtlosen Richard Orth zurück, überstürzten aber nichts, sondern näherten sich vorsichtig der normalen Ausgangstür. Turbo zog sie zunächst auf, winkte den anderen zurückzubleiben, und schaute erst einmal nach draußen. Er drehte den Kopf nach rechts, nach links, nickte zufrieden. -104-
„Die Luft ist rein, Freunde." „Zu rein, wie?" Neben Ela hechelte Hasso. Er wollte rennen, aber das Mädchen hielt ihn am Halsband zurück. Turbo hatte noch eine Idee. „Wir werden den kürzesten Weg nehmen, Freunde. Ich habe ihn mir auch schon eingeprägt. Dabei brauchen wir nur diesen Bau zu umrunden und dann ein paar Meter eine freie Fläche zu überqueren." Randy stieß ihn in den Rücken. „Mach schon." „Okay, dann!" Erst ging Turbo, Randy folgte, den Schluß machten Ela und ihr neuer vierbeiniger Freund. Hasso verhielt sich so, als wäre Ela schon immer seine Herrin gewesen. Er hatte sie akzeptiert und würde auch weiterhin für sie durchs Feuer gehen. Dicht an der Außenwand schlichen sie weiter. Noch immer schien die Sonne. Sie war allerdings noch tiefer gesunken, so daß ihre Strahlen die Erde in einem spitzen Winkel erreichten und die drei Freunde blendeten. Sie schirmten ihre Augen ab und setzten vorsichtig ihren Weg fort. Am Ende des Gebäudes blieben sie stehen, und Turbo zeigte schräg nach vorn. „Da steht der Wagen, da ist das Haus." „Worauf wartest du noch?" Ela lief als erste. Neben ihr hetzte Hasso mit langen Sätzen her. Zur gläsernen Eingangstür führten drei breite Stufen hoch, die Ela und ihr Hund mit einem Sprung nahmen. Im Schatten des dachartigen Vorbaus blieb sie stehen, winkte den Jungen, die ebenfalls über die freie Strecke sprinteten und dann zufrieden aufatmeten, als sie neben Ela standen. „Das hätten wir geschafft", sagte sie. Mit ihrem Optimismus riß sie ihre Freunde mit. -105-
„Aber nicht beendet", warf Randy trotzdem ein. „Nein, es geht erst los." Ela steckte auch weiterhin voller Tatendrang und drückte gegen die Tür, die tatsächlich nicht verschlossen war und aufschwang. Die drei holten tief Luft, als sie die Schwelle übertraten und in die Kühle des Flurs gerieten. Nach der Hitze draußen war es ein wohltuender Schock. Zunächst hielten sie nach einer Tafel mit Hinweisschildern Ausschau. Es gab keine, nur eine leere Glaskabine, wo sonst der Pförtner seinen Platz hatte. Randy ging einige Schritte vor, dann blieb er stehen und drehte sich um die eigene Achse. „Wohin jetzt?" fragte er. „Wir können die Treppe nach oben nehmen, den Gang hier an der linken Seite, aber auch nach unten gehen in den Keller." „Falls es einer ist", sagte Turbo. „Was soll es sonst sein?" „Ich könnte mir vorstellen, daß man dort die Labors untergebracht hat. So kenne ich es aus Romanen und Filmen." „Vergiß die." Plötzlich fing Hasso an zu knurren. Das hörte sich nicht eben freundlich an. Der Hund blieb auch nicht bei Ela. Er lief bis zum Treppenabsatz und blieb dort stehen. Seinen Kopf hatte er vorgestreckt, und er schaute die Stufen hinunter, wobei er unaufhörlich knurrte. Turbo nickte. „Der Keller", wisperte er. „Da muß etwas sein. Hasso hat es gemerkt." „Aber er kennt meinen Vater nicht." „Dann ist es etwas anderes." Keiner von ihnen traute sich, auf die Treppe zuzugehen. Sie spürten genau, daß die Sache dicht vor einer Entscheidung stand, die schon in den nächsten Sekunden fallen konnte. „Mir gehört der Hund", erklärte Ela bestimmt und lief auf Hasso zu. „Gib acht, daß er..." Randy verschluckte die nächsten Worte, -106-
denn Ela kam nicht mehr dazu, Hasso zurückzuziehen. Plötzlich, als sie ihn greifen wollte, sprang er die Treppe hinunter. Mit einem Satz hatte er drei Stufen hinter sich gelassen, der nächste Sprung brachte ihn schon nach unten. Dann wirbelte er nach links weg, hinein in den Gang, der von oben nicht einsehbar war. Ela stand kerzengerade, beide Handflächen an ihre Wangen gepreßt und bleich im Gesicht. „Wenn das nur gutgeht", flüsterte sie. „Meine Güte, wenn das nur klappt." „Keine Sorge, Hasso ist gut", beruhigte Randy sie. „Weißt du, was da unten lauert?" „Nein." Sie sahen es nicht, aber sie hörten Geräusche, die ihnen überhaupt nicht gefielen. Nicht allein Schritte, auch ein hartes Kratzen, einen dumpf klingenden Aufprall - und dann das Winseln. Ein furchtbarer Laut hallte über die Stufen der Treppe und machte ihnen Angst. „Hasso", hauchte Ela. Und Hasso kam. Erst war er die Treppe hinuntergesprungen, zurück schaffte er es nicht mehr. Er kroch förmlich voran, an einer Stelle war sein Fell naß. Blut... Es quoll aus einer Rückenwunde, und im Körper des Tieres steckte noch die Lanze. „Gato!" hauchte Randy. „Das ist Gato gewesen, die Figur mit den beiden Lanzen." Hasso schaffte es nicht mehr. Er jaulte noch einmal auf und brach auf der drittletzten Stufe zusammen. „Nein!" keuchte Ela. Sie wollte zu ihm, doch Turbo und Randy zerrten sie schnell zurück, denn sie hatten genau gesehen, -107-
welche Gestalt da die Treppe herauf kam.
Groß, dunkel, monströs, mit einem eckigen, kastenförmigen Kopf in dem gelbe Augen intervallweise aufblinkten. Das war Mister Gänsehaut!
-108-
8. Mister Gänsehaut und seine Freunde Das Gesicht des Professors war wutverzerrt, als er den Demonstrationssaal verließ. Er haßte Niederlagen. Er konnte es einfach nicht vertragen, wenn er verlor. Da drehte er durch, da überkam ihn die Wut wie ein gewaltiger Sturm. Und er wollte nicht verlieren. Über eine Treppe war er in den Keller gehuscht, wo die Freunde standen, auf die er baute. Noch nicht richtig perfekt, aber gut genug, daß er sie einsetzen konnte, denn sie würden ihm und den Befehlen gehorchen. Daran gab es nichts zu rütteln. Vor einer schmalen, grauen Tür blieb er stehen. Sie hatte kein Schloß, dafür einen Schlitz, in den eine Codekarte hineingesteckt werden mußte, wenn sich die Tür öffnen sollte. Nur zwei besaßen die Karten. Professor Jurek und der Firmenchef, ein Mann namens Becker. Die Karte verschwand zur Hälfte im Schlitz, es erklang ein leises Summen, dann konnte Jurek die Tür aufschieben. Der Raum war nicht größer als eine Kammer, aber vollgestopft mit Elektronik. Monitore, Konsolen, Tapes und auch Bündel von zusammengeschnürten Leitungen, die wie Schlangen auf dem Fußboden lagen. Das interessierte den Professor nicht. Sein Augenmerk galt der breiten Scheibe aus schußsicherem Glas, durch die er in den Nachbarraum schauen konnte, wo seine Lieblinge standen. Alle waren sie da. Mister Gänsehaut, das schwarze Monstrum mit dem eckigen Kopf und den Lichtaugen im Gesicht. Er war mit zwei pistolenähnlichen Waffen ausgerüstet, aus denen die Hartgummigeschosse kamen. Noch bestanden sie aus Hartgummi, später würde sich das ändern. -109-
Rechts neben ihm stand der Schattenmann, eine schlanke, sehr muskulöse, straffe Gestalt, dunkelblau und ebenfalls so groß wie ein Mensch. Äußerlich trug er keine Waffe, doch seine Schläge würde man fürchten lernen. Jurek wollte ihn so weit bekommen, daß er Mauern durchschlagen konnte. Natürlich war auch Gato da, die Figur mit den beiden Lanzen. Bis auf einen Lendenschurz war er nackt. So stellt man sich einen Dschungelmenschen vor, der mit Affen zusammen aufgewachsen war; Gato hatte beinahe ein affenartiges Gesicht, und auf seinem Körper wuchsen die Haare dicht wie ein Fell. Der Fighter stand neben Gato. Eine mannshohe Figur, die einen silbrig glänzenden Anzug trug, der so dünn war wie eine Folie. In der Hand hielt er ein Laserschwert, eine Waffe, die grün schillerte und keine Spitze besaß, sondern kantig zulief. Die Hexe war auch noch da. Sie hatte keinen besonderen Namen, war einfach nur die Hexe. Ihr Haar war knallrot, und sie trug ein violettes Gewand mit Stickereien und Druckmotiven, die allesamt Monsterköpfe zeigten. Ihr breitflächiges Gesicht war zur Fratze verzerrt. Die Arme hielt sie angewinkelt und halb erhoben, die Finger gespreizt; lang waren sie und dünn wie Spinnenbeine, schwarz lackiert die spitzen Fingernägel. Das also war Jureks vorläufige Armee, die er stolz betrachtete. Er sprach gegen die Glasscheibe, tat aber so, als könnten ihn die Figuren hören. „Ihr werdet es ihnen zeigen! Ihr werdet es ihnen allen zeigen. Niemand legt mich rein, auch ein Peter Ritter und seine halbwüchsigen Kids nicht. Das verspreche ich." Aus seiner Kehle kam ein tiefes Knurren. Danach senkte er den Kopf und griff nach einer Diskette, die er in einen schon eingeschalteten Computer schob. Jetzt lief das Programm an. Zunächst erschien auf dem Bildschirm der Text. SUPERSTARS -110-
OF THE NICHT - ACTION
Ein Befehl, den die lebensgroßen Figuren über die Programmsignale auffingen. Und sie bewegten sich. Nicht der Reihe nach, sondern zugleich.
Mister Gänsehauts Augen blinkten wie Signale. Seine Arme bewegten sich auf und ab, aber er schoß nicht - noch nicht... Schattenmann schlug mit den Handkanten Löcher in die Luft. Gato wirbelte mit seinen Lanzen, und der Fighter ließ sein Laserschwert kreisen, während sich die Hexe auf der Stelle drehte und Blitze zwischen ihren gespreizten Fingern aufzuckten. Sie waren bereit... Jurek leckte mit der Zungenspitze über seine Lippen. Dann fuhr er über die Tastatur und tippte einen weiteren Befehl ein. Im Raum hinter der Scheibe schwang ein Stück der Wand zur -111-
Seite und gab den Weg in den Flur frei. Für Mister Gänsehaut und seine Freunde! Das Monstrum machte den Anfang und verließ die Kammer. Der Reihe nach folgten ihm die anderen, den Schluß machte die Hexe. Noch bewegten sie sich roboterhaft, konnten nur bestimmte Befehle befolgen. Genau das wollte Jurek ändern, dafür hatte er sich Dr. Ritter geholt. Der mußte einfach mitspielen, wenn er erlebte, wie diese Figuren vorgingen. Auch ihr weiterer Weg war elektronisch vorgeschrieben. Jedes Hindernis, das sich ihnen entgegenstellte, würden sie zur Seite räumen. Jurek nickte sich selbst zu. Er hatte geschafft, was andere noch versuchten. Dann verließ er seine kleine Bude. Er durfte seine Schützlinge nicht allein gehen lassen. Schließlich wollte er den Erfolg genießen... Verflixt, ich muß hier raus, dachte Peter Ritter immer wieder. Ich kann hier nicht ewig hockenbleiben und die anderen tun und machen lassen. Die Kinder waren in Gefahr. Randy und Turbo waren sicher auf eigene Faust losgegangen und hatten sich über alle Warnungen hinweggesetzt. Sie waren eben anders, die Jungen, und hatten stets das Pech, in Dinge zu geraten, die sehr gefährlich waren. Und Ela Schröder stand ihnen nicht nach. Ihm wäre wohler gewesen, hätte er Alfred in der Nähe gewußt. Der hockte vermutlich wie auf heißen Kohlen im Schloß, ebenso wie Marion Ritter. Die beiden Gorillas hatten sich zu beiden Seiten der Tür aufgebaut und standen da wie Salzsäulen, mit vor der Brust verschränkten Armen. -112-
In ihren Gesichtern regte sich nichts; sie blieben maskenhaft starr. Kein Funke von Gefühl, kein Bedauern oder Mitleid, das waren wirklich nur Marionetten. Peter Ritter war klar, daß sie jeden Befreiungsversuch von seiner Seite vereiteln würden. Da kam er nicht durch, nicht mit Geld und guten Worten. Er versuchte es trotzdem und sprach sie an. „Hören Sie, vielleicht wissen Sie es nicht, aber ich kann Ihnen sagen, was auf Kidnapping steht. Da werden Sie Jahre hinter Gittern verschwinden. Kidnapping ist eines der schwersten Verbrechen, und Sie haben sich dabei mitschuldig gemacht. Ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken." „Und ich nicht in Ihrer, Ritter", sagte der rechte der beiden Aufpasser. „Bestimmt. Nur gibt es Dinge, an denen man nicht vorbeikommt. Denken Sie nach. Sie haben die Jungen holen wollen. Was ist geschehen? Sie sind verschwunden, geflohen, weggelaufen. Jetzt dürfen Sie mal raten, wo sie hingelaufen sind." „Interessiert uns nicht." Peter Ritter lächelte, obwohl es ihm schwerfiel. „Ich will es Ihnen sagen. Die haben sich nicht in Luft aufgelöst, nein, die Jungen sind zur Polizei. Also, ich an Ihrer Stelle würde damit rechnen, daß die hier bald erscheint und aufräumen wird." „Wollen Sie das noch erleben, Ritter?" „Bestimmt." „Nein, der Professor ist besser als die Polizei. Seine Pläne sind gewaltig. Sie und alle anderen werden sie nicht durchkreuzen können. Und ich will Ihnen sagen, daß die Jungen und auch das Mädchen keine Chance mehr haben." „Weshalb nicht?" „Weil unsere Freunde jetzt Jagd auf sie machen, Ritter. Haben Sie begriffen?" -113-
Peter Ritter hatte die Blässe in seinem Gesicht nicht vermeiden können. Ja, er hatte genau verstanden. Mit den „Freunden" waren wieder die lebensgroßen Figuren der Superstars of the Night gemeint. Schon einmal hatte es deren Anführer, Mister Gänsehaut, versucht, aber Randy war schneller gewesen. Er schluckte, seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Wo war der Ausweg, der Kompromiß? Es gab keinen. Er mußte hier bleiben und abwarten, wie sich die Sache entwickelte. „Sie hätten sich auf die Seite des Professors schlagen sollen", sagte der Aufpasser. „Dann wäre es Ihnen besser ergangen, sie wären auch reicher geworden." „Kommt es darauf denn an?" „Immer noch besser als zu verlieren." „Was nicht feststeht." „Für uns schon." Die beiden waren hart wie Granit. Die Zeit dehnte sich. Und den Aufpassern wurde es allmählich langweilig. Sie traten von einem Fuß auf den anderen. „Wo ist denn der Professor hin?" fragte Peter Ritter und ging auf die beiden Männer an der Tür zu. „In sein Labor." „Ist es das nicht hier?" „Es gibt noch ein zweites." „Hier unten?" „Ja." „Kann ich es sehen?" Die Männer lachten. „Sie sind wohl verrückt, Ritter? Nein, nicht ohne Erlaubnis. Hätten Sie sich zur Mitarbeit entschlossen, wäre alles kein Problem, so aber ist es anders, Meister. Und jetzt -114-
halten Sie den Rand, wir wollen unsere Ruhe haben." „Ich eigentlich auch." „Wie schön, dann..." Die Schritte auf dem Flur waren für die drei deutlich zu hören. Einen Moment später flog die Tür auf, und der Professor stürmte in den Raum. Hochrot im Gesicht, merklich nervöser, aber mit Triumph in der Stimme wandte er sich an Peter Ritter. „Es ist geschafft, Ritter. Ich habe es geschafft." Er schlug sich mit der Hand auf die Brust. „Ja, ich habe es geschafft, zum Teufel." „Was denn?" In Jureks Augen trat ein wilder Glanz. „Meine Freunde sind frei. Mister Gänsehaut und seine lieben Kollegen halten dieses Gebäude unter Kontrolle." „Und die Kinder?" Jurek legte den Kopf schief. Lauernd antwortete er: „Raten Sie mal, was mit ihnen geschehen ist?" Da drehte Peter Ritter durch. Diese Antwort war der Funke gewesen, der das Pulverfaß explodieren ließ. Er konnte das gehässige Gesicht dieses Professors einfach nicht mehr ertragen, seinen widerlichen Erfolg. Damit hatte keiner der Männer gerechnet. Jurek erstarrte auf der Stelle, er bekam nicht einmal die Hände zur Gegenwehr in die Höhe, als Dr. Ritter ihn packte und ihn selbst als Geisel nahm. Da stürzten sich die beiden Gorillas vor. Dr. Ritter schleuderte Jurek von sich, der steif in die Arme der Männer fiel. Das lenkte sie für einen Augenblick ab, und Peter Ritter hatte die Chance, die er brauchte. Er stürmte zur Tür, riß sie auf und jagte in den Gang hinaus. -115-
Hinter sich hörte er die kreischende Stimme des Professors: „Verflucht noch mal, schnappt ihn euch. Seid ihr denn verrückt? Zu zweit schafft ihr es nicht?" Wie ein Schatten war Peter Ritter in den Gang getaucht. Er rannte nach rechts und hörte hinter sich die Schritte der Verfolger. Aber das war nicht am schlimmsten. Vor ihm erschien jemand! Zuerst meinte er zu träumen, dann erkannte Dr. Ritter, daß es eine der komischen Figuren war. Fast so schwarz wie die Dunkelheit; und deshalb hieß diese Figur auch Schattenmann. Auf und nieder jagten die Arme, teilten Schläge nach allen -116-
Seiten aus. Hier half nur List. Noch immer war der Mensch der Maschine überlegen, dachte Dr. Ritter grimmig. Mit geschickten Sprüngen wich er den Hieben des Schattenmanns aus. Trotzdem erwischten ihn einmal dessen Schläge. Schmerzlich prasselten sie auf seine Unterarme. Doch dann gelang es Peter Ritter sich mit seinem gesamten Gewicht gegen den Roboter zu stemmen. Zwei Treffer bekam er noch am Rücken mit, dann schleuderte er den Schattenmann nach links und brachte ihn so aus dem Gleichgewicht. Mit dem Rücken rutschte dieser mit einem gräßlichen Geräusch an der Wand entlang. Noch immer schlug er. Damit würde er erst aufhören, wenn das Programm abgeschaltet war. Diesmal trafen die Schläge die Mauer, dann hatte sich der Schattenmann wieder gefangen und setzte seinen Weg fort. Nur, Freund und Feind konnte er nicht unterscheiden. Das hatte der Professor nicht geschafft. Für so etwas hatte er einen Spezialisten wie Dr. Ritter gesucht. Für die Gorillas des Professors wurde der Schattenmann zum Bumerang. Mit ihm hatten sie nicht gerechnet und rannten genau in seine Schläge hinein. Der erste verlor den Halt und rutschte zu Boden. Der zweite duckte sich noch, kam aber nicht vorbei, denn die Treffer trommelten ihn förmlich nieder. Bevor er sich wieder erheben konnte, war Dr. Ritter längst verschwunden. Jurek aber, der ebenfalls im Gang stand, glotzte aus verständnislosen Augen dem Schattenmann entgegen, der sich ihn als nächsten vorgenommen hatte. Der Professor stand noch in der Tür, als die Handkante auf ihn zielte. Er zuckte zur Seite, der Schattenmann traf den Türrahmen. Jurek stürzte zurück in sein Labor, schlug die Tür heftig zu -117-
und drehte durch: er hopste im Raum herum und führte einen irren Tanz auf. Er heulte, fluchte, und schimpfte in einem fort, bis ihn die hämmernden Schläge gegen die Tür verstummen ließen. Der Schattenmann gab nicht auf. Er war darauf programmiert worden, zu schlagen, bis alles kurz und klein war. Und er zerhackte mit seinen wuchtigen Treffern das Holz. Die Splitter wirbelten wie Schneeflocken in den Raum, das Holz brach knirschend, eine Lücke entstand, die der Schattenmann durch weitere Treffer vergrößerte. Seine Bahn war frei! Jurek hatte das Programm selbst ausgetüftelt. Er wußte genau, was kommen würde. Der Schattenmann würde die Kampfhandlungen erst einstellen, wenn der Gegner am Boden lag. Aber Jurek war der Meister und nicht der Lehrling. Was tun? Mit bloßen Fäusten kam er gegen sein Geschöpf nicht an. Er brauchte eine Waffe. Gleichmäßig schlagend drang der Schattenmann in den Raum. Seine Arme bewegten sich zuckend und dreschflegelartig, und Jurek mußte sich mit einem Satz zwischen die Bänke retten, um ihnen zu entwischen. Der Schattenmann gab nicht auf. Stolpernd erreichte Jurek die gegenüberliegende Wand, wo die rote Signalfarbe eines Feuerlöschers leuchtete. Neben ihm hing eine kleine Axt. Sie war für Notfälle gedacht, und sie war Jureks Rettung! Er griff nach der Axt, die in einer Klemme hing. Plötzlich schrie er auf, als Hiebe seinen Rücken trafen. Doch Jurek hielt durch. Mit der Axt in der Hand wirbelte er herum und schlug zu. -118-
Die Schneide traf genau den Kopf der künstlichen Gestalt. Unter der weichen, gummiartigen Haut verbarg sich die Steuerungszentrale des Schattenmanns. Und die wurde zerstört. Der Roboter spielte plötzlich verrückt. In rasenden Tempo zuckten die Hände auf und nieder. Gleichzeitig schossen aus dem Spalt im Kopf Funkenströme in die Höhe, ein regelrechtes Gewitter aus Blitzen und sprühendem Regen. Alles war aus der Reihe, war durcheinander, und der Schattenmann torkelte und schwankte plötzlich wie betrunken hin und her. Qualm strömte aus dem Kopf, etwas zischte laut, der Gestank von durchschmorten Kabeln drang in die Nase des Professors, dann war es mit dem Schattenmann vorbei. Er kippte um. Einfach so, schon halb geschmolzen, in seinem Innern noch knisternd, blieb er über einem Pult liegen und bewegte sich nicht mehr. Jurek starrte aus großen Augen auf ihn. Ein, zwei Sekunden rührte er sich nicht, atmete nur keuchend, dann schleuderte er die Axt fort und rannte irre lachend davon... „Ich kann nicht mehr bleiben!" hatte Alfred zu Marion Ritter gesagt. „Es tut mir leid, ich muß fahren." „Sie wissen um die Gefahr?" „Sicher." Wie ein Tiger im Käfig lief Alfred in der großen Halle auf und ab. „Wir haben noch immer nichts von ihnen gehört. Ich möchte zumindest in der Nähe sein." „Und ich auch!" Alfred blieb abrupt stehen. „Was haben Sie gesagt?" „Ja, ich möchte mit Ihnen fahren, wenn es losgeht. Ist das so ungewöhnlich?" -119-
„Nein, das wohl nicht." „Dann bitte." „Und wann sollen wir los?" Marion Ritter erhob sich von ihrem Stuhl. Ihr Gesicht wirkte starr wie eine Maske. „Sofort!" Alfred nickte. „Natürlich!" murmelte er. „Packen wir es an, wie man so schön sagt." An diese Szene mußte Marion Ritter denken, als Alfred von der Autobahn abbog. Sie hatten den Golf von Frau Ritter genommen, ein schon älteres Modell, das aber noch immer gut fuhr. Über ihr Vorgehen hatten sie während der Fahrt nicht miteinander gesprochen. Marion Ritter war dafür gewesen, alles auf sich zukommen zu lassen, und auch Alfred hatte keinen besseren Plan gehabt. „Kinderland", murmelte Frau Ritter. Sie hatte die Hände im Schoß verschränkt, hatte sich auch nicht umgezogen, trug noch immer die Jeans und das helle T-Shirt. „Was sagten Sie?" „Schon gut. Ich habe nur den Namen der Firma ausgesprochen." Die Sonne stand ziemlich tief, sie blendete stark. Um etwas sehen zu können, mußte Marion Ritter unter der Sonnenblende hervorschielen, und sie entdeckte tatsächlich die rote Schrift auf einer der Hallen. „Da ist es, Alfred!" „Schon erkannt." „Himmel, bin ich aufgeregt. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, hätten wir vielleicht besser die Polizei einschalten sollen." „Noch nicht, Frau Ritter." -120-
„Aber Kommissar Hartmann ist unser Freund." „Weiß ich. Was hätten wir ihm sagen sollen? Welche Beweise können wir ihm vorlegen?" „Keine wahrscheinlich." „Daran dachte ich auch." Der Golf bog in die Zufahrtsstraße ein; und dann erreichten sie das Gelände. In der Sonne blitzend huschte der Maschendrahtzaun vorbei. Wenig später riß Alfred den Wagen hart nach rechts; er und Marion Ritter hatten den Mercedes gesehen. „Das ist ja unser Auto!" Neben dem Mercedes kam der Golf zum Stehen. Frau Ritter hatte sich schon losgeschnallt; sie stürmte aus dem Fahrzeug, und Alfred war nicht weniger schnell. Beide blickten sie zum Eingang der Halle, und beide wurden leichenblaß. „Das darf doch nicht wahr sein!" hauchte Marion Ritter, die das Gefühl hatte, vor ihr laufe ein Actionfilm ab, in dem ihr Sohn und dessen Freunde die Hauptrollen übernommen hatten... Mister Gänsehaut kam wie der programmierte Tod. Er stapfte die Stufen der Treppe hoch und schritt über den reglos daliegenden Hundekörper. Hinter ihm erschienen die anderen lebensgroßen Monster-Figuren - Gato, der Fighter, und die Hexe. Nur der Schattenmann fehlte. Das fiel den Freunden nicht auf, die sich erst mal zurückzogen. Randy hielt Ela fest, aus Angst, daß sie zu Hasso rennen würde. Im Eingang blieben sie stehen. „Schießt der wirklich?" fragte Turbo. „Gestern hat er geschossen." „Hier gibt es keine Deckung." -121-
„Dann müssen wir raus!" rief Ela. „Und mein Vater?" fragte Randy. Keiner gab ihm Antwort, aber Turbo wollte nicht aufgeben. Sein Gesicht hatte einen harten entschlossenen Ausdruck angenommen, als er die Hand auf den Schwertgriff legte und die Klinge mit einer gleitenden Bewegung hervorzog. „Du willst...?" fragt Randy mit kaum hörbarer Stimme. „Ja! Jetzt oder nie! Wenn mich nicht alles täuscht, sind diese Monstren programmiert. Das Programm selbst können wir nicht zerstören, an das kommen wir ja nicht heran, aber an die künstlichen Monstren schon. Wenn ich die zerhaue, drehen sie durch. Und das Schwert habe ich immer gut gepflegt. Mit der Klinge kannst du Papier schneiden, so scharf ist die." „Dann viel Glück." „Werde ich haben. Geht ihr mal zurück." Turbo war in seinem Element. Es wurde auch Zeit, denn Mister Gänsehaut, dieses furchtbare Monstrum hatte die Treppe hinter sich gelassen und seine laternenhaften Augen auf Empfang geschaltet. Sie leuchteten auf, sie schlossen sich, sie leuchteten auf, der Kopf bewegte sich und suchte nach einem Ziel. Hinter ihm erschien Gato. Er trug nur noch eine Lanze, die andere hatte er schon abgeschossen. Und er schleuderte auch diese. Nicht auf Turbo. Die verfluchte Waffe jagte in Randys und Elas Richtung. Einen der beiden hätte sie getroffen, aber Randy reagierte blitzartig. Er warf sich zu Boden und riß Ela mit, die ebenso hart aufprallte wie er. Lieber ein verstauchtes Knie als durchbohrt werden. Die Lanze war über sie hinweggeflogen und gegen die Wand geprallt. Dennoch machte Gato weiter. Seine Arme zuckten vor und zurück. -122-
Dann hatte Randy eine Idee. „Kriech weg!" zischte er Ela zu, kam geduckt auf die Füße und rannte dorthin, wo die Lanze zu Boden gefallen war. Die konnte er als Waffe gebrauchen. Turbo wollte sich Mister Gänsehaut vornehmen, aber da war jemand schneller. Der Fighter griff an, während Mister Gänsehaut an Turbo vorbeiging und auf die Eingangstür zusteuerte. Jetzt schoß er auch aus den beiden Waffen. Die Hartgummipatronen hämmerten gegen das Glas der Tür ohne durchzuschlagen. Schwert gegen Schwert! Zum erstenmal erlebte Turbo diesen Kampf. Er hatte gewußt, daß es irgendwann dazu kommen mußte und sich auch innerlich darauf eingestellt. Mit beiden Händen hielt er den Griff umklammert. Um einen besseren Halt zu finden, hatte er sich breitbeinig hingestellt. Er wollte ebenso schnell sein wie der Fighter. Der schlug kreuz und quer. Turbo wußte nicht, aus welchem Material das Schwert bestand, jedenfalls leuchtete es bei jedem Schlag auf und schimmerte grünlich. Dann griff Turbo an. Kreuzweise bewegte er seine Klinge. Er wollte zunächst das andere Schwert treffen. Dann klirrten die beiden Klingen zusammen, und einen Moment später zuckte Turbo zusammen und schrie auf. Er fiel vor Schreck auf den Rücken, rollte sich ab und keuchte: „Strom, Randy, das ist Strom!" „Weiß ich!" schrie dieser zurück und konzentrierte sich auf den Fighter. Er würde ihn nicht berühren und dadurch einen Schlag bekommen; er hatte etwas ganz anderes vor. Der Fighter drehte ihm die Brustseite zu, als Randy angriff, den rechten Arm erhoben und in der Hand die Lanze. Es war -123-
wie im „Krieg der Sterne", nur leider echt. Der Fighter riß die Arme hoch und damit auch das Schwert. Wenn er zuschlug, dann nach vorn. Er wartete nur noch ab, bis Randy in seine unmittelbare Nähe kam. Den Gefallen tat ihm der Junge nicht. Noch gut vier Schritte entfernt, schleuderte er die Lanze. Der Flug wurde von Randys Schrei begleitet, und er hatte Glück. Die Waffe des Gato stieß in den Kopf des Roboters. Die Silberhaut platzte, aus dem Kopf quollen Drähte, es sprühten Funken, und die Gestalt, jetzt völlig außer Kontrolle, zückte das Schwert in die eigene Richtung. Sie jagte es sich in den Körper und gab sich selbst den Rest. Es zischte, kam zu Kurzschlüssen, und das Kunstmonster verbrannte und verschmorte. Als dicker Klumpen fiel es zu Boden. Aber Gato war noch da, die Hexe ebenfalls und natürlich Mister Gänsehaut. Randy kam nicht mehr dazu, die Lanze wieder an sich zu nehmen. Die Hexe trat nun an. Hektisch bewegte sie ihre gespreizten Finger, zwischen denen Funken zuckten. Turbo ging auf Gato los. Er hatte gesehen, was sein Freund erreicht hatte. Diesmal schlug er blitzschnell. Und Gato stand still. In seinem Hals klaffte eine Lücke. Von singenden Geräuschen begleitet, sprangen Drähte hervor, und der Schädel kippte zur anderen Seite weg, blieb aber noch auf dem Hals. Für Turbo war das ein Erfolg. „Ich habe ihn erwischt!" kreischte er. „Ich habe ihn erwischt!" Er jubelte, er mußte einfach jubeln, aber freute sich zu früh, denn Mister Gänsehaut war noch da. Und der stürmte nach draußen. Auf der oberen Treppenstufe -124-
blieb er stehen, seine Hände bewegten sich dabei, aber Turbo konnte nicht erkennen, ob er mit den Gummigeschossen feuerte. Randy kümmerte sich um die Hexe. Ela war die Treppe hinunter ausgewichen, denn sie hatte keine Waffe. Sie wollte noch einmal den Gang entlang, vielleicht fand sie dort Dr. Ritter. Die Hexe war verflixt schnell und hätte mit ihren funkensprühenden Fingern beinahe Randys Hals erwischt, aber Randy tauchte zur Seite. „Laß sie mir!" schrie Turbo. „Aber gib auf die Funken acht!" „Mach ich doch glatt!" Die Freunde wechselten die Plätze, denn Randy wollte Mister Gänsehaut bekommen. Als er an Gato vorbeikam, riß er geistesgegenwärtig die Lanze an sich. Turbo schlich auf die Hexe zu. Er tänzelte leicht von einer Seite zur anderen. Sein Schwert machte diese Bewegungen mit, und tatsächlich, die Hexe konzentrierte sich allein auf ihn. Turbo wußte, daß er schnell sein mußte und auf keinen Fall in den Funkenkreis hineingeraten durfte. So wischte er an der Figur vorbei, um in deren Rücken zu gelangen. Bevor sich die Hexe noch umdrehen konnte, hatte er schon zugeschlagen. Wuchtig und zielsicher. Schreien konnte sie nicht, sie war ja kein lebendiges Wesen, aber aus der Wunde quollen wieder Drähte hervor, begleitet von kleinen, bläulich schimmernden Flammen, die sich blitzschnell ausbreiteten und die Gestalt verbrannten. Schwarzer, stinkender Rauch trieb durch die Eingangshalle. Er reizte Turbo zum Husten. Bevor der Junge nach draußen konnte, um Randy zu helfen, sah er eine Gestalt, die die Treppe hochstürmte, dicht hinter ihr Ela Schröder. Es war Dr. Ritter! „Turbo, meine Güte, du bist... wo ist Randy?" -125-
„Da!" Dr. Ritters Augen weiteten sich, als er durch die Glastür schaute und seinen Sohn sah. Da stand neben seinem Mercedes noch ein anderes Fahrzeug. Es war der Golf von Marion Ritter...
Randy hatte Glück gehabt, denn Mister Gänsehaut wandte ihm den Rücken zu. Er riß die Glastür auf, sah das Monstrum noch auf der Stufe stehen, hob ein Bein und trat der künstlichen Gestalt so hart wie möglich in den Rücken. Diesem Stoß hatte auch Mister Gänsehaut nichts entgegenzusetzen. Die lebensgroße Monster-Puppe kippte -126-
wuchtig nach vorn, schlug auf den kantigen Stufen auf und rollte dann klappernd die Treppe hinunter. Aber Mister Gänsehaut war auf Schießen programmiert. Auch noch im Liegen feuerte er die Hartgummikugeln ab, da bei zuckte er mit den Händen hin und her, so daß die Geschosse wild durch die Gegend jagten. Das erkannte auch Alfred, der auf Marion Ritter zuhechtete und sie zu Boden riß. Gerade noch rechtzeitig, denn einige dieser Geschosse trafen verdammt gut. Sie hämmerten gegen das Blech des Golfs und hinterließen dort tiefe Beulen. Randy aber hatte die Nerven behalten. Im letzten Augenblick hatte er die Lanze mitgenommen, die ihm schon einmal so gute Dienste erwiesen hatte. Mister Gänsehaut lag noch auf dem Boden, aber er war bereits dabei, sich hochzustemmen. Das mußte Randy verhindern. Er holte aus. Dann rammte er die Lanze nach unten. Die dicke Haut platzte auf. Eine tulpenförmige Wunde entstand, aber Mister Gänsehaut war nicht kleinzukriegen. Er stand auf! Damit hatte Randy nicht gerechnet. Unwillkürlich wich er zurück und mußte hilflos mit ansehen, wie das Monstrum sich auf der Stelle drehte und von neuem schoß. Aber nicht auf ihn die Waffen waren auf den Boden gerichtet, als ob dem Roboter die Arme nicht mehr gehorchten. Aus den Läufen peitschten die Gummigeschosse. Sie tickten gegen den Boden und sprangen in verschiedene Richtungen davon, ohne Schaden anzurichten. Randy starrte ihm in die Augen, und er starrte zurück. Kalt und gelb waren sie gewesen, jetzt aber flackerten sie, ähnlich wie bei Lampen, die kurz vor dem Verlöschen waren. -127-
„Ja, Mister Gänsehaut", flüsterte Randy. „Jetzt funktionierst du nicht mehr." Da bewegte das Monstrum in einem Reflex seinen Schädel. Es sah so aus, als hätte es Randy verstanden. In der Glastür erschien Turbo, auch Alfred und Marion Ritter rannten herbei. Aber keiner tat etwas, sie alle schauten zu. Und auch Dr. Ritter und Ela, die sich hinter der Glastür befanden. Mister Gänsehaut zog seine letzten Register. Ein Roboter versuchte sein einprogrammiertes, künstliches Leben zu retten. Wieder sprach Randy mit ihm „Los du verfluchtes, schwarzes Monster, geh endlich kaputt. Hast du nicht gehört? Ich will, daß du kaputt gehst." Den Gefallen tat ihm Mister Gänsehaut noch nicht. Er führte einen Tanz auf, von einem Bein auf das andere. Manchmal zuckten aus den hellen Streifen in seinem Gesicht kleine Blitze. Turbo kam. „Ich mache ein Ende!" rief er, schwang das Schwert wie ein echter Samurai im Kreis über dem Kopf - und drosch zu. Die Klinge hackte in den viereckigen Schädel des Monstrums. Ein Geräusch, das nach einer Kreissäge klang, und der halbzerstörte Schädel fing an zu wackeln und zu pendeln, als wäre Mister Gänsehaut dabei, permanent den Kopf zu schütteln. Er schoß nicht mehr. Die Waffen fielen ihm aus den Klauen, die allmählich verschmorten. Dann sackte er zusammen, als hätte ihm jemand die Beine weggezogen, und als er endlich zusammenkrachte, begleitet von einem wahren Sprühregen aus Funken, da klatschten nicht nur die Freunde vom Schloß-Trio vor Erleichterung Beifall. Die Erwachsenen taten es ebenfalls, so lange, bis sie sich in die Arme fielen..
-128-
9. Aus für den Professor Er hatte es kaum geschafft, sich auf den Beinen zu halten, und seine Bewegungen glichen denen eines kleinen Kindes, das anfängt laufen zu lernen. Mit den Händen hatte er seine Haare zerwühlt, der Mund stand halb offen, und kichernde Laute drangen über die Lippen. Er begriff nichts mehr; sein Geist war verwirrt. In der Eingangshalle blieb er stehen, schaute sich um, sah die verschmorten Reste seiner Lieblinge und war nicht fähig, auch nur ein Wort zu sagen. Er kicherte, bückte sich einige Male und strich über das hinweg, was von ihnen übrig geblieben war. „Warum nur?" jammerte er. „Warum habt ihr mir das angetan?" Er schluchzte auf. Die Antwort gab ihm Dr. Ritter. „Weil sich Verbrechen nicht auszahlen, Professor. Irgendwann ist Schluß." „Hau ab, geh!" „Nein, Professor, wir gehen zusammen, und zwar zur Polizei. Es wird kein Kinderland mehr geben, wenigstens nicht in dieser Form. Marion, bitte benachrichtige Kommissar Hartmann." Frau Ritter verschwand in der leeren Portierloge, wo auch das Telefon stand. Die Polizei traf schnell ein und sammelte Jurek und seine Leute ein. Um den Besitzer der ungewöhnlichen Firma Kinderland, Herrn Becker, wollte sich Hartmann persönlich kümmern, in Begleitung von Dr. Ritter. Das alles interessierte die Freunde nicht. Sie hockten auf der Kellertreppe um Hasso, dem es sehr schlecht ging. In seinen treuen Augen stand eine Mischung aus Schmerzen und Furcht, aber auch Hoffnung, wie Ela sagte, die sein Fell streichelte und sich hütete in die Nähe der Lanze zu kommen. Ein Tierarzt war bereits unterwegs; der Hund brauchte sofort -129-
eine Notoperation. „Du schaffst es, Hasso, du schaffst es. Davon bin ich überzeugt", flüsterte Ela, die Mühe hatte, die Tränen zurückzuhalten. „Du wirst wieder gesund." Randy und Turbo schwiegen. Sie hatten es geschafft, wieder einmal, und abermals war es sehr knapp gewesen. „Wollen wir nicht nach Hause fahren?" fragte Frau Ritter, als die Dämmerung angebrochen war. „Nein, Mutti, erst müssen wir wissen, was mit Hasso wird." Der Arzt war eingetroffen und tat sein Bestes. Auch er war erschöpft, als er sich erhob. „Wird er es schaffen?" fragte Ela voller Bangen. Der Doktor lächelte. Das war den Freunden Antwort und Anlaß genug, sich jubelnd in die Arme zu fallen...
-130-