KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
F R I E D R I C H BANZ
AUS D E N ...
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KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
KULTURKUNDLICHE
HEFTE
F R I E D R I C H BANZ
AUS D E N P I O N I E R J A H R E N DES AUTOS
VERLAG
SEBASTIAN
LUX
MIJRNAU • M Ü N C H E N • I N N S B R U C K • Ö L T E N
In den Jahrenl885/86begann mit einem Daimler-Motorrad, das durch die Cannstatter Straßen ratterte, und mit einem motorisierten BenzDreirad, das in den Mannheimer Straßen Aufsehen erregte, das Zeitalter des Kraftfahrzeugs. Wenn man bedenkt, daß beide Maschinen zusammen nur eineinviertel PS entwickelten, so erscheint dieser Beginn bescheiden genug. In bescheidenen Bahnen bewegte sich die neue Erfindung auch in die Zukunft. Wie stürmisch hatte sich dagegen sechzig Jahre vorher die Entwicklung der Eisenbahn vollzogen, als der Engländer Stephenson 1829 die erste betriebssichere Lokomotive im ersten Lok-Rennen der Welt zum Siege geführt hatte. Noch im gleichen Jahre hatte der Eisenbahnverkehr eingesetzt, und die Schienenwege begannen den Erdball zu überziehen. Für das Kraftfahrzeug war es viel schwerer, die Weltöffentlichkeit von sich zu überzeugen. Die entscheidenden Leistungsprüfungen, bei denen das Kraftfahrzeug auf allen Straßen des Erdballs seine Bewährungsprobe bestehen mußte, erstreckten sich fast über zwei Jahrzehnte. Zunächst suchten die Erfinder, Ingenieure und Industurieleute durch Geschwindigkeitsfahrten für Automobil und Motorrad Freunde in aller Weh zu gewinnen. Seit dem Jahre 1894 gab es internationale Kraftwagenrennen; fast jede dieser Schnelligkeitsprüfungen wurde nicht nur zu einer erfolgreichen Werbung für das neue Verkehrsmittel, sondern bot der Industrie auch den Anreiz zur Steigerung der Motorleistung und zur Verbesserung der Fahreigenschaften und der äußeren Formen. Aber dann kam der Zeitpunkt, in dem die Erhöhung des Fahrtempos unsinnig wurde, da der Zustand der Straßen den bereits erreichten Gescliwindigkeiten nicht mehr gewachsen war. Seit dem Jahre 1905 lösten Zuverlässigkeits- und Belastungsprüfungen die bisherigen Rennen ab, und sie haben die Entwicklung widerstandsfähiger Gebrauchswagen mehr gefördert als alle Rennen zuvor. Sie ermutigten tatkräftige Ingenieure und Fahrer dazu, mit dem Kraftwagen auch in unwegsame Erdräume vorzudringen, um auch die letzten Zweifel an der Tüchtigkeit der motorbetriebenen Fahrzeuge zu beseitigen.
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Nur schwer kann man sich heute vorstellen, welch ein Aufsehen es erregte, als im Januar 1908 der Pariser „Matin" einen Preis für eine Zuverlässigkeitsfahrt von Neiv York nach Paris aussetzte, die mit Einschluß der Ozeandampferreise als eine Fahrt rings um den Erdball gedacht war. Diese Weltreise ist deshalb besonders bedeutsam, geworden, da sie die letzten Reste von Mißtrauen in die Leistungskraft des Kraftfahrzeugs zerstreut und ihm den Weg in die Zukunft weit geöffnet hat. Über das Abenteuer dieser denkivürdigen Umrundung des Erdballs plaudert Friedrich Banz auf den folgenden Seiten.
Aufbruch in Berlin, Rom und Paris In Berlin, Rom und New York waren die Mannschaften dabei, ihre Wagen auszurüsten. Fünfzehn Teilnehmer hatten sich für diese Fahrt gemeldet. Zeitungen und einflußreiche Sportklubs übernahmen die Finanzierung und Ausrüstung. In Berlin meldete die Redaktion der „Berliner Zeitung am Mittag", kurz „BZ am Mittag" genannt, ihren Protos-Wagen; an der Ausrüstung beteiligte sich der Kaiserliche Automobil-Club. In New York stattete die „New York Times" den schwersten Wagen des Rennens, einen 60-PS-Thomas-Flyer, mit der besten nur denkbaren Ausrüstung aus. In Paris waren die vom Pariser „Matin" gemeldeten Wagen bereits fertig. Auch in Rom war man nicht müßig. Es galt nicht nur, dem Automobil zum Durchbruch zu verhelfen, sondern auch dem nationalen Ansehen ein Ruhmesblatt hinzuzufügen. Das Komitee, das den Start und die Fahrtroute der Wagen vorbereitete, tagte in New ^ o r k . Für unsere Begriffe, die wir die schnittigen Renner von heute gewöhnt sind, glich der gute alte Protos, den die Berliner auf die Reise schicken wollten, einem vorsintflutlichen Ungeheuer. Über dem Chassis erhob sich ein hoher stabiler Kasten aus schwerem Holz. An den Seiten waren Spitzhacken, Schaufeln und Bohlen befestigt, für den Fall, daß der Wagen steckenbliebe. Unter dem Chassis sah man eine Unmenge von Gestängen, die Kurbelwelle, das Differential, Bremsgestänge und sogar einen herunterklappbaren Bergstock, der den schweren Wagen auf abschüssiger Straße halten sollte. Einer der halb mit Luft gefüllten Vorderreifen war dicht mit Nägelköpfen besetzt; es war damals die neueste Erfindung gegen Pannen und Rutschgefahr. Der zweite Vorderreifen war, genau wie die Hinterreifen, mit tiefen Querrillen versehen. Auch bei den Hinterrädern hatten sich die Fahrer für Luftreifen entschlossen. Um aber gegen
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alle Überraschungen gefeit zu sein, führte .der Wagen Vollgummireifen mit, die man bei schlechten Wegstrecken aufmontieren konnte. Hoch über allem erhoben sich wie ein Olymp die bequemen und gemütlichen Führersitze. Über den ganzen Wagen hatten die Karosseriebauer wie bei einem Lieferwagen eine riesige graue Plane gezogen, und weil sie es besonders gut meinten, hatten sie zum Schutze der Fahrer die Vorderfront mit einer abschnallbaren Plane abgeschlossen, hinter deren Zelluloidfenster man die Männer wohlaufgehoben glaubte. Karosserie, Kühler und Zeltplane waren mit riesigen Buchstaben bedeckt. „Protos Berlin" konnte man auf der Holzwand des Kastens lesen. Darüber, auf der Plane und auch auf der Kühlerhaube stand: „New York — Paris". Und ganz oben an der Zeltplane der Name der Zeitung. Am Sonntag, dem 26. Januar 1908, morgens, sollte der Wagen vor dem Berliner Verlagshaus in der Kochstraße nach Hamburg abfahren, wo er ins Schiff verladen werden mußte, um den Startort New York zu erreichen. Eine unübersehbare Menschenmenge lauerte schon seit den frühesten Morgenstunden auf das große Ereignis der Abfahrt. Für die europäischen Fahrer war es ein Aufbruch zur Fahrt um die Erde — das wollte keiner versäumen. Auf dem Hof des Berliner Zeitungsgebäudes stand das Ungetüm — der Protos-Wagen — bereit. Eine Gruppe von Männern rüstete den Wagen mit den letzten für die Reise notwendigen Gegenständen aus und schleppte eine riesige Kiste über den Hof: „Ersatzteile und Werkzeug" stand in weißer Schrift auf dem Deckel. Dann kamen die Pelzmäntel, Handschuhe, Pelzkappen und Decken an die Reihe. Ein beachtlicher Berg türmte sich schon im Wagen. Eimer, Proviantkisten, ein Benzinkocher und eine Kiste mit Medikamenten fehlten nicht. Endlich betraten die Fahrer den Hof, begleitet von einem Schwärm von Journalisten. Als Fahrer des deutschen 40 PS-Protos-Wagens waren die Ingenieure Hans Knape und Ernst Maass gewonnen worden, denen sich als Reisebegleiter der Berichterstatter Oberleutnant Koeppen angeschlossen hatte. Knape und Maass waren in warme Militär-Wintermäntel gehüllt; Koeppen trug einen großkarierten Zivilmantel, den er bis obenhin zugeknöpft hatte. Auf dem Kopf saß eine warme Autokappe. Der Werkmeister des Hauses ließ es sich nicht nehmen, den Wagen selbst anzukurbeln. Knatternd sprang die Maschine an. Eine Gasse öffnete sich quer durch die auf dem Hof versammelte Menge. Der Fahrer ließ den Gang einrasten. Langsam setzte sich der Protos in
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Bewegung und rollte im ersten Gang zur Ausfahrt. Hinter ihm schloß sich die Gasse. Wie von einem Sog wurde die Menschenmenge mit zum Tor gerissen. Begeisterte Hochrufe stiegen aus der Menschenmasse auf. Dem Protos folgte eine Kolonne von Benzinkutschen. Sie wollten den Reisenden wenigstens ein Stück weit das Geleit geben. Die Fahrzeuge wanden sich durch die Straßen Berlins. Endlich lag die Spandauer Chaussee vor den Protos-Männern. Es war ein wundervoller Januarmorgen. Während sich das Geleit hupend verabschiedete, rollte der Wagen rasch in Richtung Hamburg.
* Auch in Paris und in Rom hatte man die" Teilnehmer der Fahrt mit großem Gefolge entlassen. Von den aus Europa und Amerika gemeldeten fünfzehn Wagen waren indes nur sechs übriggeblieben. Den anderen erschien das Wagnis zu groß. Das New Yorker Komitee hatte alle Hände voll zu tun. Automobilfachleute hatten die Reiseroute festgelegt. Aus der Autoindustrie und von Seiten der beteiligten Zeitungen waren beachtliche Geldsummen eingegangen. In Nordamerika, Alaska und Sibirien hatte das Komitee bereits Depots eingerichtet, aus denen sich die Mannschaften mit Bereifung, Treibstoff, Proviant und Ersatzteilen versorgen konnten. „Die Route liegt jetzt fest", sagte Mr. Johnson, der Wegeplaner, zu seinen Mitarbeitern im New Yorker Büro. „Die Wagen fahren von New York über Chikago nach San Franzisko, dann nach Seattle an der Nordwestküste der USA, dicht an der kanadischen Grenze. Von dort geht es per Schiff" — er zeichnete auf der Karte eine Linie durch die Fluten des Pazifik — „nach Skagway, dem Südzipfel Alaskas. Die Wagen nehmen dann Richtung Norden und überqueren das Eis der Beringstraße. Das wird bis etwa Mitte April möglich sein." — In diesem Punkt irrte sich jedoch das Komitee — wie sich später herausstellen sollte — gewaltig. (Vergleiche auch die Karte auf dem Umschlag.) Der Bleistift Mr. Johnsons wanderte nun auf den asiatischen Kontinent hinüber und über die Landkarte von Sibirien. „Hier geht es weiter", sagte er. „Bitte, meine Herren, wenn Sie mir noch einen Augenblick Aufmerksamkeit schenken wollen!" Sein Bleistift verband die Städte Kolymsk, Yakutsk, Irkutsk, Tomsk und Moskau mit einer Linie. „Hier in Moskau wird ein Empfang für die Fahrer vorbereitet", fuhr er fort, „und dann geht es über Petersburg und Berlin nach Paris, ans Ziel." 5
Die Herren des Komitees waren von ihrer Idee so begeistert, daß keine Zweifel mehr laut wurden. Presse und Publikum allerdings hatten sich bereits in zwei Lager gespalten. Die einen wetteten, daß es nie möglich sein würde, diese Strecke mit Automobilen zurückzulegen. „Die Motoren werden versagen. Die Mannschaften sind den Strapazen nicht gewachsen", meinten sie. Die anderen sagten: „Man kann es schaffen. Die Wagen sind stark, und die Männer haben ein halbes Jahr Zeit, die Strecke hinter sich zu bringen.'" Dieser Optimismus war nur möglich, weil man von den ungeheuren Schwierigkeiten nichts "ahnte, die sich den kühnen Autopionieren fast auf jedem Kilometer entgegenstellen sollten; selbst heute noch ist es ein Wagnis für Autofahrer, gewisse Teile der Strecke zu befahren, auf die man die sechs Fahrzeuge damals unbeirrt losgelassen hat.
New York: Times Square Der Tag des großen Ereignisses rückte näher. Nachdem die europäischen Wagen in New York eingetroffen waren, wurde der Start zur Durchquerung Amerikas, Asiens und Europas für Mittwodi, den 12. Februar 1908, endgültig festgesetzt. Schon in den frühen Morgenstunden des 12. Februar hatte ein Kordon berittener Polizisten den Times Square abgeriegelt, wo sidi das Pressehaus der „New York Times" und die Startstelle befanden. Ein weiteres Polizei-Aufgebot war auf Fahrrädern und zu Fuß erschienen. Aber die Hüter der Ordnung hatten es nicht leidit. Wie von einem Magnet angezogen, strömten immer neue Mensdienmassen zum Times Square. Im Nu war die Tribüne überfüllt. Um neun Uhr dreißig war etwa eine halbe Million Schaulustiger versammelt. Einen besonders schweren Stand hatten die berittenen Polizisten. Es schien, als habe sich der gesamte Autopark der Welt im Zentrum New Yorks versammelt, um mit ohrenbetäubendem Geknatter und Gehupe die armen Pferde scheu zu machen. Die Spannung der Zuschauer stieg ins Ungemessene, als die erste Benzinkutsche, die am Rennen teilnehmen sollte, auf den Platz rollte. Die Mannschaften steckten in schweren Winterpelzen. Auf den Wagen aufgeschnallt waren Unmengen von Kästen, Geräten und Ersatzteilen. Hupend und fauchend bog Wagen um Wagen zum 6
Startplatz ein, bis alle sechs Teilnehmer in einer Reihe an der Startlinie Aufstellung genommen hatten. Der deutsche Protos erregte allgemeines Aufsehen durch seine praktische Kastenkonstruktion. In diesem Lastwagen konnte man die Ausrüstung bequem verstauen. Nur der amerikanische Thomas Flyer besaß eine ähnliche Karosserie. Allerdings wog der Protos mit Ausrüstung gute fünfzig Zentner — ein unvorstellbares Gewicht, das die 40 PS-Maschine durch Tundra und Steppe schleppen sollte. Der amerikanische Thomas war viel stärker, er hatte immerhin 60 PS zur Verfügung. In der Reihe der Wagen war der französische Sizaire-Naudin der kleinste, ein Gefährt von nur fünfzehn PS. Sogar die Landsleute der Fahrer, die Mannschaften des De Dion und des Moto-Bloc, verspotteten die Sizaire-Naudin-Leute. Aber die waren guten Mutes. „Wo ihr längst steckengeblieben seid, rutschen wir mit unseren anderthalb Pfund immer noch rüber!" rief der Monteur den Spöttern auf den anderen Wagen zu, die siegessicher über ihren 40 PSMaschinen thronten. Eine dieser vorsorglidien Mannschaften hatte sogar ein riesiges Segel an Bord genommen, das dazu diente, unterwegs günstige Winde zur Erhöhung der Geschwindigkeit zu benutzen. Dann kam der Augenblick, da es losgehen sollte,
6000 Kilometer Amerika Monteure eilten zu den Wagen. Wo die Motoren noch nicht liefen, drehten sie wild die Andrehkurbeln. Im Nu war der Platz in einen Hexenkessel verwandelt. Auch die Motoren der zweihundert Begleitwagen stimmten knatternd in den Lärm ein. Polizeipferde wieherten und bäumten sich. In all dem Lärm und Wirrwarr blies die Kapelle mit aller Kraft die amerikanische Nationalhymne, deren Melodie man, selbst wenn man neben der Kapelle stand, kaum im Konzert der Hupen und in dem übrigen Höllenlärm vernehmen konnte. Die Startflagge fiel. In der Kolonne setzte sich auch der Protos in Bewegung. Knape gab Gas und trat die Kupplung. Knirschend rastete der Gang ein. Dröhnend rumpelte der schwere Wagen in die Reihe, deren Spitze nach kurzer Zeit in den Broadway einbog. Kilometerlang säumten auch hier die Menschenmassen die Straße. Stundenlang hatten sie gewartet. Wetten waren abgeschlossen worden, ob die Fahrer es schaffen würden oder nicht. Jetzt war das alles vergessen. Man jubelte den Weltreisenden zu, die wacker ihre Hupen
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betätigten. Hinter den Rennfahrern fuhr dichtauf die lange Kette der Begleitfahrzeuge. Audi ihre Fahrer verursachten ein prächtiges Hupenkonzert, bis die sechs Wagen auf die Chaussee nach Albany einbogen. 240 Kilometer lagen bis zum ersten Etappenziel Albany vor den Fahrern, eine Entfernung, die heute Tausende von Amerikaner täglich in wenigen Stunden mit ihren Wagen zurücklegen. Damals war das eine Strecke, auf der viele ernste Strapazen Automobil und Fahrer zu schaffen machten. Schweigend saßen Knape und Maass hinter dem Steuerrad. Hinter ihnen versuchte Koeppen, sich so gut es ging gegen den schneidenden Zugwind zu schützen. Die Luftbereifung des Protos machte sich angenehm bemerkbar. Die anderen Wagen waren fast durchweg mit Vollgummireifen ausgerüstet und rumpelten beträchtlich. Die Straße war verschneit und stellte an die Fahrer höchste Anforderungen. Immer wieder mußte Knape, der den Wagen lenkte, gegensteuern, um das schwerbelastete Fahrzeug am Rutschen zu verhindern. Trotz der dicken Handschuhe waren Knapes Hände schon bald wie erstarrt. „Viel Glück für Alaska!" knurrte er vor sich hin. Noch war der De Dion zu sehen, der die Spitze hielt. Mindestens sah man die Reifenspuren, wenn sich die Räder durch eine Schneewehe gefräst hatten. Die Fahrer quälten sich durch die wilde Landschaft Amerikas. Am ersten Tage legte der Sieger, der amerikanische Thomas, nur eine Strecke von 190 Kilometer zurück und erreichte die Stadt Hudson. 70 Kilometer zurück lag der Protos, zwischen den beiden der De Dion und der italienische Züst. Die beiden übrigen Konkurrenten waren noch hinter dem Protos zurückgeblieben. Die Reisenden waren überall von der Bevölkerung der kleinen Städte begeistert begrüßt worden. Aber die Fahrer des Protos waren nicht mit sich zufrieden. Unterwegs hatten sie schon gegen Mittag den De Dion aus einer Schneewehe ausgraben müssen. Noch hatte das Feld dicht beieinandergelegen, und der Wagen war schnell wieder flott gewesen. Vier Stunden später aber war der Protos selber steckengeblieben. Kein anderer Wagen war in der Nähe. Auch die Fahrzeuge hinter ihm kamen nicht heran. Stundenlang hatten die Männer geschaufelt. Sie hatten den Wagen halb entladen müssen, um das Hindernis zu überwinden. Als der Protos endlich weiterrollte, war der Vorsprung, den der Thomas-Wagen hatte, nicht mehr einzuholen.
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Abfahrt der französischen Teilnehmer an der Autofernfahrt New York—Sibirien—Paris. Im Vordergrund der französische Kraftwagen „Züst"
In aller Frühe des nächsten Tages krochen die drei Protos-Männer aus den Federn. In fliegender Eile machten sie den Wagen startklar. Koeppen kurbelte. Maass saß hinter dem Lenkrad und regulierte die Zündung. Ab und zu pustete^er sich in die Hände, es war schneidend kalt. Der Motor wollte nicht anspringen. Knape jagte einen Boy des Hotels in die Küche, um eine Kanne heißen Wassers zu holen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Boy wiederkam. Knape hatte schon das kalte Wasser abgelassen und den Kühler aufgeschraubt. Zischend schoß das heiße Wasser in den Motorblock. Ein paar Umdrehungen noch mit der Kurbel, dann sprang der Wagen an. Knape und Koeppen ließen alles stehen und liegen und kletterten in die Sitze. Jede verlorene Minute bedeutete einen weiteren Vorsprung der anderen Wagen. Der Gang rastete ein. Der Protos schoß von der Stelle. Die Zuschauer, die sich trotz der frühen Stunde eingefunden hatten, sprangen beiseite. Ihre Rufe gingen im Geknatter des Motors unter. Für den Sizaire-Naudin war dieser zweite Tag bereits der letzte. Er verirrte sich und war nach einer harten Fahrt durch den Schnee auch nicht einen Kilometer vorwärts gekommen. Als die Fahrer bemerkten, daß sie sich verirrt hatten, versuchten sie, durch scharfes Fahren den Zeitverlust wettzumachen. Dabei gerieten sie von der Straße ab. Plötzlich gab es ein heftig knirschendes Geräusch. Der Motor lief auf Hochtouren, aber der kleine Wagen bewegte sich keinen Zentimeter mehr von der Stelle. Die Männer sprangen ab. Es war ein trauriges Bild: Das Differentialgetriebe hing nur noch an einer Seite, der Rest und die halbe Hinterachse lagen im Schnee. Der Sizaire-Naudin hatte ausgedient. Die Franzosen ließen das Wrack von Bauern abschleppen und fuhren nach New York zurück. Am Abend dieses Tages lag der Protos weit hinter der Spitzengruppe. Die Nachrichten, die für die Protos-Fahrer vorlagen, besagten, daß der Thomas-Wagen bereits in Fonda stürmisch empfangen worden war und jetzt, noch in nördlicher Richtung, Kurs auf Albany nahm. Immer noch folgten ihm in dichtem Abstand der italienische Züst und der De Dion. „Die haben es gut", meinte Knape, als Koeppen die Nachricht vorlas, „das macht dieser kleine Idealist an Bord." Ein Fahrer des Thomas-Wagens hatte nämlich kurz vor dem Start verzichtet. Statt seiner war ein junger Mechaniker eingesprungen, der eigentlich nur den Wagen im Auftrag der Thomas-Werke hatte abliefern sollen. Jetzt war er iler schneidigste Fahrer im Rennen. 10
Durch das Indianer-Land Die Protos-Fahrer erkämpften Kilometer um Kilometer. Aber al» sie in Albany ankamen, war die Spitzengruppe schon längst in der Nähe des Erie-Sees. Etwas flotter ging es über den schmalen Treidelweg längs des Erie-Kanals. Sie hatten es hier leichter, weil die Reisenden der Spitzengruppe bei der Wegräumung von Hindernissen gute Vorarbeit geleistet hatten. Trotzdem bedeutete diese Wegstrecke gegenüber den Landstraßen eine unvorstellbare Beanspruchung für Mensch und Material. Zusammengekauert und durchgerüttelt saßen die drei auf ihrem verdreckten Gefährt. Die Maschine quälte sich durch Schlaglöcher, durch Schneeberge und durch Pfützen. Die Räder schleuderten den Dreck hoch. Erst bei einer Rast sahen die Männer, was für einen unbeschreiblichen Anblick sie boten. Eine gleichmäßige Schmutzkruste überzog Mäntel, Stiefel, Handschuhe, Gesichter und sogar die Autobrillen. Die Wangen brannten von dem scharfen Wind. Schnell machten sich die drei daran, den Benzinkocher in Gang zu setzen. An einer windgeschützten Stelle kauerten sie nieder. Einer betätigte die Luftzufuhr, die anderen entfachten mit ihren Feuerzeugen die Flamme. Dann schlug Knape ein paar Eier in die Pfanne, während Maass und Keoppen umhersJapften, um sich warm zu halten. Schnell aßen die Männer. Sie mußten mit jeder Sekunde rechnen. Dann packten sie zusammen und fuhren weiter. Scharf wehte der Wind aus Nordwest. Immer wieder hieß es, herunter von dem Wagen, um den Protos auszugraben, wenn er in einem Schlammloch versackt war. Endlich erreichten sie das am Ende des Erie-Kanals gelegene Buff alo. Aber die drei Wagen der Spitzengruppe, die jetzt vom De Dion angeführt wurde, waren bereits über die Stadt Erie hinaus und hatten Kurs auf Chikago genommen. Trotzdem waren die Protos-Fahrer zufrieden, daß sie den ersten Abschnitt hinter sich gebracht hatten. Wie ein Meer lag die große Fläche des Erie-Sees vor ihnen. Von hier an ging es parallel zum Ufer über einigermaßen gute Straßen. Das Wetter wurde zusehends besser. Nach wenigen Tagen langte der Protos in Toledo an, das die Westecke des Erie-Sees beherrscht. Nun öffnete sich ihnen der Staat Indiana. Als der Protos Toledo mit Kurs auf Fort Wayne und Chikago verließ, ahnten die drei Männer der Besatzung nicht, daß die vor ihnen
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liegenden Wagen in einen schlimmen Blizzard geraten waren und nur noch im Schrittempo vorankamen. Erst in Fort Wayne lasen sie Depeschen, die ihnen Näheres mitteilten. Koeppen las die Schilderung des Korrespondenten, der auf dem Thomas mitgefahren war, vor und ließ das Blatt sinken. „Immerhin sind sie schon am Michigan-See und in Chikago", sagte er. „Wir dagegen müssen uns noch immer in der schönen Landschaft von Indiana herumplagen." „Der Moto-Bloc ist noch weiter zurück als wir", erwiderte Knape. Er holte eine Karte hervor, entfaltete sie und deutete auf einen Punkt weit östlich von Fort Wayne. „Hier irgendwo muß er stecken!" „Schlechter Trost", meinte Maass, stiefelte zum hinteren Ende des Wagens und zerrte den Wagenheber vom Kasten. Die Bereifung hinten rechts mußte ausgewechselt werden. Der Gummi hing in Fetzen von der Leinwand, ein Zeichen für den ungeheuren Verschleiß, dem der Wagen ausgesetzt war. Am nächsten Morgen war man unterwegs nach Chikago. Als der Protos über die Wabash Avenue in die Großstadt einfuhr, wurde er begeistert begrüßt. Am nächsten Tag ging es am Ufer des Michigan-Sees entlang über die prächtige Michigan Avenue aus der Stadt hinaus, weiter in Richtung Westen. Davenport am nördlichen Mississippi war das nächste Ziel. Bis dahin mußte der Protos Nord-Illinois durchqueren, ein altes Indianerterritorium. Die Namen der Ortschaften erweckten in den Männern Erinnerungen an die Zeit, da sie als Kinder Indianerbücher verschlungen hatten, in denen vom Kampf der Rothäute in Illinois und Iowa die Rede war. Vor den Äugen der Fahrer breitete sich die gewaltige verschneite Prärielandschaft aus, nur zuweilen unterbrochen von Streifen Waldes. Am Abend dieses Tages kamen ihnen aus der nächsten Farm, in der sie übernachten wollten, zwei vermummte Reiter entgegen. Der Telegraph hatte den Protos schon gemeldet, und die Leute auf der j> Farm erwarteten die Fahrer mit Spannung. War es doch eine Sensation in ihrem eintönigen Dasein. Die beiden Reiter waren die Söhne des Farmers. Im Trab ritten sie neben dem Protos her. „Die anderen sind vor vier Tagen durch", rief der eine von ihnen. „Sie haben bei uns nicht gerastet, da der Tag noch vor ihnen lag." Nur Bruchstücke der Rede drangen ans Ohr Koeppens. Den Rest riß der Wind hinweg. „Sind wir auf dem richtigen Weg?" brüllte Knape. Der Reiter neben ihm nickte und schrie dann etwas zurück, wovon die ProtosMänner nur das Wort „Strohfeuer" verstanden. 12
Der Wagen holperte durch ein kleines Gehölz. In der schmalen Schneise waren die Schneewehen besonders hoch. Als Koeppen auf den zweiten Gang herunterschaltete, wurden die Pferde scheu. Sie wieherten und stoben davon. Doch die Reiter, echte Männer der Prärie, hatten sie bald wieder in der Gewalt. Als der Protos das Waldstück hinter sich gebracht hatte und auf die Prärie hinauskam, verschwanden die Reiter in gestrecktem Galopp wie Schemen in der Nacht. Hätten die Männer auf ihrem Wagen jetzt nicht den roten Schein des Signalfeuers gesehen, das die Farmer angezündet hatten, um ihnen die Richtung zu weisen, so wäre ihnen diese Begegnung unheimlich vorgekommen. Koeppen trat den Gashebel bis zum Anschlag durch. Hüpfend und keuchend jagte der Wagen über den Schnee, bis die drei endlich den freien Platz zwischen den Farmgebäuden erreichten. Hilfreiche Hände halfen den steifgefrorenen Reisenden vom Wagen. Man führte sie über eine Art Veranda in das Innere des hölzernen Farmhauses, wo schon ein saftiges Ferkel über dem Herd röstete. Wieder war ein Tag geschafft. Weiter und weiter ging es über die Prärie, dem Mississippi entgegen. Es war wärmer geworden. Von der Spitze meldeten die Thomas-Fahrer, daß sie in Iowa im Schlamm säßen. So konnten die Protos-Leute ein wenig aufschließen. Auch der Moto-Bloc, der immer noch hinter ihnen lag, kam jetzt gut voran. Davenport kam in Sicht. Breit und träge lag der Mississippi mit seinen schmutzigenFluten vor den Kraftfahrern. Brücken überspannten den Fluß und verbanden das am rechten Ufer gelegene Davenport mit Rock Island auf dem linken Ufer. Sägemühlen kreischten, daß man es meilenweit durch die klare Winterluft hören konnte. Romantisch spiegelten sich die Reihen roter Backsteinhäuser im Wasser. Von Davenport an sollte die Orientierung für die Fahrer leichter werden. Und doch lag der schwierigste Teil der 6000 Kilometer langen Strecke noch vor ihnen. Als der Protos die Stadt verlassen hatte — man befand sich jetzt im Staate Iowa —, erwartete ihn der tiefe Schlamm, der den vorausfahrenden Konkurrenten bereits viel zu schaffen gemacht hatte. Schon am ersten Tage mußten die Fahrer das Angebot eines Farmers in Anspruch nehmen, der sie mit seinem Gespann aus einem Schlammloch zog, in dem derProtos bis an dieAchsen versunken war. Rechts von ihnen zog sich der Bahndamm der Union-Pazific-Linie hin. Ab und zu rauschte ein Zug vorbei. Verwunderte Reisende starrten dem Ungetüm nach, das sich da durch den Schlamm mühte. Am Nachmittag kamen sie an einen Flußlauf. Knape, der gerade 13
fuhr, schlug rechts ein und jagte den Protos mit Vollgas auf den Bahndamm, um eine Eisenbahnbrücke anzusteuern. Es war nicht das erstemal, daß die Männer diesen Ausweg wählen mußten. Die Pferdegespanne der Farmer benutzten meist Furten, die aber für ein Kraftfahrzeug unpassierbar waren, da unweigerlich Wasser in den Motor gedrungen wäre. An Autofahrer hatten die Wegebauer im „Wilden Westen" noch nicht gedacht. So blieb nichts anderes übrig, als die Brücken der Union-Pazific-Bahn zu benutzen. Als Knape wieder vom Bahndamm hinunterlenken wollte, legte Koeppen die Hand aufs Lenkrad. „Halt mal an!" rief er. „Ich habe eine Idee. Wir benutzen, so weit wir können, den Bahndamm als Straße. Die Thomas-Leute werden das auch so gemacht haben, sonst steckten sie heute noch in diesem Schlammpfuhl." „Aber die Züge?" fragte Knape. „Ganz einfach!" sagte Koeppen. „Einer von uns muß mit dem Fernglas die Strecke hinter uns absuchen. Wenn ein Zug kommt, müssen wir runter." Eine Hand mit dem Fernglas streckte sich ihm aus dem Wageninnern entgegen. Koepppen setzte sich so, daß er die Geleise hinter dem ^ a g e n beobachten konnte. Maass hatte die hintere Plane hochgerollt, so daß man wie durch einen Tunnel unter der Wagendecke hindurch die Strecke liegen sah. Der Protos ratterte weiter. Nach etwa einer halben Stunde gab Koeppen die erste Warnung. „Zug von hinten"*, rief er. Knape schlug scharf nach rechts ein. Der Protos rumpelte vom Bahndamm herunter und blieb sofort in einem Sumpfloch stecken. Während der Zug vorbeiraste, hatten die Männer eine Bohle unter das Rad geschoben, um den Wagen wieder flott zu kriegen. Wieder ging es auf den Bahndamm zurück. Aber es war ein gefährliches Fahren. Einmal riß der Luftstrom eines entgegenkommenden Zuges die Plane herunter. Fast alle Schnallen waren abgerissen, und die nächste Zeit ging es ohne Plane weiter. Vor den Augen der Männer erstreckte sich die unendliche Schienenschlange der Union Pazific, neben ihnen die weite Prärie, auf der es oft für Stunden keinen Punkt gab, an dem das Auge haften konnte. Bald mußten die Reisenden wieder vom Bahndamm herunter, weil die Böschung zu steil wurde. Im Falle der Gefahr wären sie nicht schnell genug von den Schienen gekommen. Wieder ging es den mühevollen Weg durch den Schlamm Iowas.
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Wettrennen mit Wölfen Weiter keuchten die Wagen. Die Rocky Mountains — das große Bergmassiv im Westen der Vereinigten Staaten — waren das nächste Ziel. Der Thomas, der immer noch an der Spitze lag, hatte inzwischen den Missouri zwischen Council Bluffs und Omaha überschritten. Hinter dem Thomas rollten der Züst und der De Dion, aber sie mußten zur Überholung in die Werkstätten der UnionPazific-Bahn. Wenige Tage später traf auch der Protos ein, und auch er war froh, in die Werkstatt zu kommen. Die Kotflügel waren verbeult, die Reifen hatten sich aufgelöst. Die Lampen waren zum großen Teil verlorengegangen. Die Fahrer sahen in ihren zerrissenen und verschmierten Mänteln aus, als wären sie jahrelang von keiner Zivilisation berührt worden. Aber die Bürgerwehr von Omaha kümmerte sich nicht darum und begrüßte die Fahrer mit Kanonensalut. Die Begeisterung für das Unternehmen griff auch auf die Bewohner Omahas über. Stürmisch feierten sie ihre Helden. Die besten Hotels stellten ihre Betten zur Verfügung. Vom Morgen bis zum Abend trafen Berge von Verpflegung und neuer Ausrüstung ein. Währendessen standen die drei Wagen aufgebockt in den Werkstätten der Union Pazific. Sie wurden in ihre sämtlichen Bestandteile zerlegt. Die Monteure waren gründlich. Jedes einzelne Teil wurde nachgesehen, verschlissene Lager wurden ersetzt, die Ventile eingeschliffen, neue Kolbenringe aufgezogen. Nagelneue Bereifung stand bereit für die letzte Etappe durch die Vereinigten Staaten. Mehrere Tage noch warteten die Monteure und die Fahrer der drei Wagen auf das Eintreffen des Moto-Bloc. Aber er kam nicht. Der Schlamm Iowas hielt ihn mit seinen Klauen fest. Auch diese Mannschaft mußte aufgeben. Neuer Frost brach ein, als die Wagen nach wenigen Rasttagen in Abständen, wie sie gekommen waren, starteten. Die Wege waren steinhart gefroren. Der Thomas.näherte sich indes in verwegenem Tempo den Rocky Mountains. Hinter ihm lagen der Züst, der De Dion und der Protos. Auf dem Protos wechselten die Fahrer alle zwei Stunden ab. Der klirrende Frost ließ sie fast erstarren. Die Prärie wurde hügelig. Die Amerikaner nennen diese Landschaft „Rolling Prärie". Im Sommer erstreckten sich hier unabsehbare Weizenfelder und Obstplantagen, die im Norden durch eine wilde und unzugängliche Landschaft, die „Mauvaises terres" — „Das üble Land" — abgegrenzt werden. Es ging an Farmen mit riesigen Stallungen vorüber, in denen das Vieh überwinterte. Zur Linken zog sich der seichte Platte-Fluß hin. Ab und zu sah man verlassene 15
Tongruben. Richtige Straßen gab es nicht. Alles war öde. Die Kälte hatte anscheinend jedes Lehen ausgelöscht. Jedes? Die Protos-Mannschaft war erst wenige Tage von Omaha entfernt, als sie die ersten Warnungen erhielt. JCoeppen kam bei einer Rast aus dem Postbüro des kleinen Städtchens gestürzt. Er schwenkte aufgeregt ein Telegramm. „Thomas und Züst sind von den Wölfen angefallen worden", rief er. „Hier, lest!" Es war wirklich so. Auch die Farmer berichteten, daß sich Wolfsrudel zuweilen, vom Hunger getrieben, bis in diese Gegend verirrten. Von nun an galt es vorsichtig zu sein. Mit diesen ausgehungerten Bestien war nicht zu spaßen. „Wir wollen die Gewehre schußbereit machen", sagte Maass. Die Männer luden die Waffen, drei bewährte preußische Gewehre 98 und mehrere Pistolen, und verstauten sie griffbereit hinter den Sitzen. Weiter ging die Fahrt. Immer noch war der Boden Nebraskas hart gefroren. Der Protos kam gut voran. Nur morgens heim Starten verloren die Männer viel Zeit. Es dauerte eine Ewigkeit, bis der Motor bei dieser Kälte ansprang. Schon zwei Tage später geschah es. Die Dunkelheit war bereits hereingebrochen, aber etwa eine Stunde Fahrt trennnte die Reisenden noch von ihrem Tagesziel. Der Wagen ratterte durch die Nacht. Schneidende Kälte ließ die Fahrer sich tief in ihre Pelze verkriechen. Plötzlich klang unheimliches Jaulen an die Ohren der drei Männer. Sie fuhren aus ihren Sitzen hoch. „Wölfe!" rief Knape, der am Steuerrad saß. „Los, die Gewehre bereit!" Da jagten sie auch schon heran. Langgestreckte gelbe Körper tauchten vorn neben den Schutzblechen auf. Ein ganzes Rudel. Knape gab Gas. Der Wagen beschleunigte sein Tempo zu halsbrecherischer Fahrt. Aber immer noch hielten die Wölfe Schritt, angeführt von einem riesigen Leilwolf, der wie ein gelber Pfeil neben den Rädern hersetzte. Unheimlich still waren die Wölfe jetzt. Ohne einen einzigen Laut jagten sie hinter dem Wagen her. Koeppen hatte sich schußfertig gemacht. Er lud das Gewehr durch. „Los!" rief er in den Lärm des Motors, der als einziges Geräusch durch die unheimliche Nacht hallte. „Wir müssen den Leitwolf abschießen!" Auch Maass hielt eine schußfertige Pistole in der klammen Hand. Die Tiere hatten jetzt dicht aufgeschlossen. Von Zeit zu Zeit sprang der Leitwolf neben dem Wagen hoch. „Schießt doch schon!" rief Knape. „Der Kerl beißt mir noch den Arm ab!" 16
In den Schneewehen der straßenlosen nordameriliatiischen Ebenen
Wenn jetzt der Motor des Protos versagt hätte, wären die Männer den Wölfen ausgeliefert gewesen. Aber treu und unverwüstlich arbeitete die Maschine. Maass schoß einmal mit dem Revolver in die Luft. Unheimlich hallte der Schuß durch die Nacht. „Es nützt nichts!" schrie Koeppen durch den Wind. „Wir müssen ein paar erledigen. Paßt auf, sie sind gleich wieder da!" Wirklich vergingen nur ein paar Minuten, bis das Rudel wieder unheimlich lautlos an der Seite auftauchte. Ko eppen zielte, so gut es in der Dunkelheit gehen wollte. Er drückte ab. Die Wölfe blieben etwas zurück, aber es schien keiner getroffen zu sein. Koeppen lud nach. Er wartete einen Augenblick. Dann schoß er zum zweitenmal. Ein Wolf jaulte auf. In der nächsten Viertelstunde war das Rudel nicht zu sehen. Schon dachten die Männer, daß sie den Leitwolf getroffen hätten und so dem Rudel entkommen wären. Koeppen hatte das Gewehr neu geladen und wollte es schon aus der Hand legen, als Maass aufgeregt nach rechts deutete. Da waren sie wieder. Wie winzige gelbe Farbflecken tauchten sie aus der Nacht auf, verschwanden aber wieder, aber immer hatten die Männer das fürchterliche Gefühl, daß sie da waren, daß sie den Wagen nicht aus den Augen ließen. Koeppen schoß wieder, und auch diesmal verkündete ihnen ein schreckliches Jaulen, daß der Schuß gesessen hatte. Die Wölfe schienen endgültig zurückzubleiben. Vielleicht fraßen sie ihre getroffenen Kameraden. In der Ferne leuchtete endlich ein Feuerschein auf. Noch zehn Minuten vergingen. Dann hatten die Reisenden die Farm und damit schützendes Obdach erreicht. Der Protos befand sich hier im Staate Nebraska, genau in der Mitte zwischen Atlantik und Pazifik. Bald, an der Westgrenze des Staates, würde das Gelände zu steigen beginnen, da dort die Mointains begannen.
* In dieser Zeit, als der stärkste der Wagenkonkurrenten, der Thomas, in einer Bravourfahrt ohnegleichen alle übrigen weit hinter sich gelassen hatte und San Franzisko erreichte — 42 Tage hatte die Durchquerung Nordamerikas gedauert — ergab sich etwas Überraschendes für die Herren des Komitees in New-York. Nach Befragung von seekundigen Polarkapitänen stellte sich heraus, daß die Beringstraße, die Nordamerika von Asien trennt, seit der Eiszeit wohl noch niemals zugefroren war, daß also von einer Eisbrücke zwischen den beiden Erdteilen keine Rede sein konnte; das aber bedeutete, daß ein Durchfahren Alaskas und des Nordostzipfels 18
Asiens nicht möglich war t da die Wagen nicht über die Meerenge der Beringstraße „rollen" konnten. In aller Eile begann man in New-York umzuorganisieren. Der Telegraph spielte in alle Richtungen. Das Rennen wurde in der Reihenfolge, wie es zu diesem Zeitpunkt stand, gestoppt und das ganze Programm umgeworfen. Die vier Wagen, die sich noch im Rennen befanden, sollten sich im Hafen Seattle an der Grenze Kanada-USA versammeln, um per Schiff nach Wladiwostok verfrachtet zu werden. Der weit zurückliegende Protos sollte Seattle mit der Pazifikbahn zu erreichen suchen, die übrigen aber mit Küstenschiffen dorhin fahren. Dann wollte man gemeinsam über den Stillen Ozean nach Asien hinübersetzen.
Sibirische Abenteuer Nach einem ereignislosen Transport per Schiff und quer durch Japan langten die Wagen Mitte Mai 1908 in Wladiwostok an. In der Bai Peters des Großen lagen Einheiten der russischen SibirienFlotte. Die Schiffe dippten die Flagge, als der Dampfer mit unseren Weltreisenden an Bord eintraf. Am 22. Mai standen die drei Wagen zum Rennen quer durch Asien startbereit: der amerikanische Thomas, der italienische Züst und der deutsche Protos. Die Fahrer des französischen De Dion hatten vor dem Start zur neuen Etappe aufgegeben, da sie glaubten, ihr Wagen werde weiteren Strapazen nicht mehr gewachsen sein. Schnell überwanden die drei Automobile die hinter Wladiwostok gelagerten Gebirgszüge und rasten durch die Tiefebene der Mandschurei. Dann aber begannnen bereits die unvorstellbaren Schwierigkeiten. Als die Fahrzeuge den Fluß Nonni überschritten hatten, mußten sie über das Chingan-Gebirge klettern. Kleine Gruppen von Eingeborenen auf struppigen Pferdchen kreuzten oft den Weg. Lange Flinten lagen bedrohlich quer über den Sätteln. Immer wieder aber trafen die Reisenden auf gastfreundliche Russen, die Brennstoff, Proviant und Ersatzteile für sie bereit hielten. Bald waren der Protos und der Thomas allein auf weiter Flur. Der Protos gewann sogar einen Vorsprung. Das Glück hatte sich gewendet. Der Züst lag weit zurück. Über schmale Gebirgspfade, am Rande von Schluchten vorbei, wand sich der treue Protos durch das Gebirge. Der Reifenverschleiß auf dieser Strecke war ungeheuer. Der steinige Boden fraß den Gummi auf. Trotzdem fuhren die Protos-Leute mit höchstem Tempo 19
weiter. Mehr als zehntausend Kilometer lagen noch vor ihnen. Endlich erreichten sie die Hochebene, die von den Ausläufern der Wüste Gobi zwischen dem Chingan-Gebirge und dem JablonoiGebirge gebildet wird. Sie kamen rasch voran. Inzwischen meldete der Telegraph, daß der Thomas sich noch immer im Gebirge befand. Seine Insassen waren vom Wege abgekommen und hatten nur mühsam zur Strecke zurückgefunden. Buchstäblich mit dem letzten Tropfen Benzin und auf dem letzten Reifenpaar waren sie im nächsten Depot eingetroffen. Einen Tag lang waren sie fast dem Verhungern preisgegeben. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Diesmal traf es den Protos, vor dem sich bereits das Massiv des Jablonoi-Gebirges auftürmte. Die Paßwege waren in einem unsagbaren Zustand. Oft mußten die Fahrer anhalten, um riesige Steine aus dem Wege zu wälzen, die als Hindernisse plötzlich vor ihnen lagen. Notdürftig mußten sie mit Felsbrocken und Bohlen Übergänge über reißende Gebirgsbäche schaffen, immer in der Gefahr, daß sie vom Wege abkamen und sich in der Wildnis verirrten. Die Wagen bewegten sich über Strecken, die noch heute für Kraftwagen unbefahrbar erscheinen. Eines Tages hielten sie am Rande eines reißenden Gebirgsbaches. Jenseits des Baches erstreckte sich eine schmale Schlucht. Auf der rechten Seite wurde sie von einer steil aufragenden Felswand begrenzt, an der ein schmaler Pfad nach oben führte. Auf der Höhe sah man die Mauerreste einer Befestigung. Die Fahrer waren ausgestiegen. „Scheint eine alte Grenzburg zu sein", sagte Maass. Dunkel und bedrohlich blickten die Schießscharten der Burg auf sie hernieder. Im Hintergrund ballten sich, von einem heftigen Sturm gepeitscht, Wolken zusammen. Der Wind heulte in den engen Felskaminen und riß an den Kleidern der Männer. Von Minute zu Minute wurde es unheimlicher. Schnell machten die drei sich daran, kleine Felsbrocken zusammenzutragen und im Flußbett aufzuschichten, um einen Steg für den Wagen zu schaffen. Plötzlich krachte wie ein Kanonenschlag der erste Donner. Blitze zuckten aus den Wolken. Es begann in Strömen zu regnen. Im Nu waren die Männer bis auf die Haut durchnäßt. Aber sie arbeiteten weiter. So merkten sie nicht, was um sie herum vorging. Aus der dunklen Festung sickerte, von der Regenwand fast verborgen, eine dünne Kette von Mongolen, die ihre struppigen Pferdchen am Hafter führten. Langsam und unbemerkt schlängelte sich der Zug an der Felswand hinab. Die Deutschen konnten auch nicht sehen, daß blanke Flintenläufe 20
von der Festung her auf sie gerichtet wurden und daß unter der Anführung eines Hauptmannes Leute dabei waren, große Steine an den Rand der Schlucht zu rollen, um sie gegebenenfalls auf den Protos hinabzustürzen. Mit leiser Stimme rief der Hauptmann einen Unterführer heran, übergab ihm das Kommando, schwang sieh auf sein struppiges Pferd und galoppierte mit angezogenen Beinen über den halsbrecherischen Pfad seiner Truppe nach. Die Protos-Männer waren eben wieder auf ihren Wagen geklettert und wollten losfahren, als sie plötzlich im Licht eines niederzuckenden Blitzes die unheimliche Reiterschar auf dem anderen Ufer auf sich zugaloppieren sahen. „Was ist denn das?" sagte Koepppen und griff nach dem Gewehr. „Jetzt wird's gefährlich!" Schnell drückte er auch den Kameraden die Karabiner in die Hand. „Los durchladen, so schnell kriegen die uns nicht!" Die Mongolen waren bereits so nahe, daß man sie durch den Regen hindurch deutlich sehen konnte. Maass rief: „Ich habe eine Idee. Wir fahren mit Karacho auf sie zu und lärmen was das Zeug hält. Vielleicht spicken sie uns mit Kugeln, vielleicht kommen wir durch!" „Los denn", rief Koeppen, „vielleicht schaffen wir es!" Er schoß in die Luft. Die Mongolen wichen etwas zurück; aber auf ihre Pferde gekauert, erhoben sie drohend ihre langen Flinten. Knape gab Gas. Der Protos schoß mit ohrenbetäubendem Geknatter auf den Bach zu und rumpelte über die Steine. Regen peitschte den Männern ins Gesicht. Knape hielt mit der einen Hand das Steuer. Mit der anderen stützte er das Gewehr auf den Oberschenkel und schoß in die Luft. Auch die anderen schössen, was die Flinten hergaben. Knape hielt direkt mit dem Wagen auf die Angreifer zu, tief hinter das Lenkrad geduckt. Vor dem fauchenden Ungetüm gingen die Pferde durch. Sie machten auf der Hinterhand kehrt und ergriffen wild die Flucht. Hinter ihnen her lärmte der Protos. Es war gespenstisch. Im Rollen des Donners und den aufzuckenden Blitzen ging die wilde Jagd in die Schlucht hinein. Dicht vor ihnen preschten Leib an Leib die Rosse, Blitze fuhren dazwischen. Von der Festung her hagelte es Flintenkugeln; aber sie trafen nicht, weil zwischen ihnen und den Flüchtenden nicht genug Abstand blieb. Als die Felsbrocken von der Höhe heruntergewälzt wurden, war der Protos schon an der gefährlichen Stelle vorüber. Wenige Meter hinter ihm sehlugen sie krachend auf. Die Protos-Männer merkte« 21
/ es kaum. Vor ihnen öffnete s>ich die Schlucht. Von den Reitern war in wenigen Minuten nicht ein einziger mehr zu sehen. Koeppen kletterte nach hinten und übernahm die Rückendeckung. Hastend fuhren sie weiter, um eine möglichst große Entfernung zwischen sich und den Gegner zu legen. Als sie endlich anhielten, war es Abend geworden. Das Gewitter war vorbei. Nur ein leichter Regen fiel hernieder. Müde krochen sie zu einem Hirten in die Hütte, die an der sanften Lehne eines Tales stand. Erstaunt und freundlich hatte sie der verwitterte Alte empfangen. Sie tranken Tee und rauchten Zigaretten. Für den Hirten waren es die ersten Zigaretten, die er je in seinem Leben zu sehen bekommen hatte. „Noch mal gut gegangen!" sagte Knape, als er die Gewehre neu lud. „Wir müssen von der nächsten Telegraphen-Station aus den Thomas und den Züst benachrichtigen." Dann legten er und Maass sich schlafen. Knape übernahm den ersten Teil der Nachtwache. Es war besser, auf der Hut zu sein. Am Morgen nahmen sie Abschied und fuhren weiter, ohne daß sie noch jemand von der Bande zu Gesicht bekommen hätten. Ein scharfer Wind wehte vom Baikal-See her, als der Protos die Hänge des Jablonoi-Gebirges hinunterkletterte, aber es war ein warmer Frühlingswind. Sibirien begann zu erwachen. Die Reisenden konnten die dicksten Pelze im Wagen verstauen. In raschem Tempo ging es jetzt am Ufer des Baikal-Sees entlang, auf Irkutsk zu. Der Thomas und Züst lagen immer noch hinter ihnen. Vor Irkutsk erwartete sie Peter Petrowitsch, ein Teehändler und Mitglied des zaristischen Automobilklubs. Er besaß eines der beiden Automobile, die es damals in dieser Stadt gab. „Willkommen in Irkutsk!" rief er durch das Knattern der Motoren. Die Bewohner der Stadt blieben gaffend am Straßenrand stehen, als der Protos mit seinem Geleit durch die Stadt fuhr. Die Wagen polterten über die Brücke, die den reißenden Angara überspannt, dann hielten sie vor dem großen Besitz Peter Petrowitschs. Das gemütliche Haus nahm die müden Rennfahrer auf, und im Gespräch bei schwarzem Tee verging die Zeit wie im Fluge.
Es geht um 1000 Dollar Die nächste Etappe führte sie nach Krasnojarsk am Jenissei. Eine uralte Poststraße, die kaum zu verfehlen war, führte am Rande des ostsajanischen Gebirges entlang. Der Weg war allerdings durch die oo
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Schneeschmelze so aufgeweicht, daß der ^ agen wieder mühsam durch den Schlamm pflügen mußte. Primitive Brücken überquerten die reißenden Gebirgsbäche. Da sie sich an einer Stelle verfahren hatten, holte der Thomas tüchtig auf. In Krasnojarsk erwartete sie die Nachricht, daß sich der amerikanische Wagen nicht mehr weit hinter ihnen befand. Eine wilde Jagd begann. Die beiden Kraftwagen lieferten sich das spannendste Rennen dieser Fahrt um die Erde. Würden die überanspruchten Automobile durchhalten? Würden die erschöpften Männer dieser Hetzjagd gewachsen sein? Koeppen, der das Steuer übernommen hatte, holte aus dem längst reparaturbedürftigen Fahrzeug heraus, was es nur hergeben wollte; der andere saß ihm dicht auf den Fersen. Oft mußten die Fahrer herunter, wenn der Protos in einem Loch zu versinken drohte, und schoben Bohlen unter die Räder. Es ging um den Sieg — und um die 1000 DollarPrämie, die der Zar für den Sieger des Rennens durch Rußland ausgesetzt hatte. Noch hatten die Protos-Leute das riesige Sumpfgebiet um Omsk nicht erreicht, als der Thomas in Sicht kam. Koeppen, der wieder hinten saß, beobachtete die Straße hinter dem Wagen durch das Fernglas. Plötzlich beugte er sich zu den beiden in den Vordersitzen. „Er ist hinter uns!" Die beiden Mitfahrer sahen sich um. Noch war mit dem bloßen Auge nur ein kleiner Punkt zu erkennen, der aber von Minute zu Minute größer wurde. Wenig später konnte man schon deutlich Einzelheiten erkennen. Knape trat den Gashebel durch. Aber viel mehr war aus der ausgeleierten Maschine nicht mehr herauszuholen. Der Thomas kam immer näher. „Das wäre ja noch schöner!" sagte Koeppen. Schon konnte man deutlich die Fahrer erkennen. Meter um Meter rückte der Amerikaner heran. Jetzt bog er aus der Spur. Sekundenlang lagen die beiden Wagen Seite an Seite. Die Thomas-Männer winkten in Siegerlaune. „Habt Ihr uns erwischt!" brüllte Koeppen hinüber. Dann war das fauchende Vehikel vorbei. Nach etwa einer \iertelstunde verschwand der Konkurrent hinter einer Wegbiegung. Die Protos-Fahrer gaben die Hoffnung nicht auf. „Mütterchen Rußland ist groß", sagte Maass. „Und der Weg ist weit." Wirklich überholten sie auch schon am nächsten Tage den Thomas wieder; doch einige Stunden später brauste der Amerikaner wieder an ihnen vorbei, als sie vom Wege abgekommen waren. Kostbare Stunden vergingen, bis der Protos in der öden Gegend wieder zur Route zurückfand. 23
Wenige Kilometer vor Tomsk sackte der Wagen auf einmal mit dem gesamten Vorderteil weg. Der aufgeweichte Boden war ein einziger Morast. Obgleich Knape sofort den Rückwärtsgang einschaltete, kam der Protos nicht mehr frei. Die Männer versuchten, mit Brechstangen den Wagen zu lieben. Es mißlang. Die wenigen Bohlen, die der Protos mitführte, reichten nicht aus, um eine genügend tragende Fläche zu bilden. Nach mehrstündiger Arbeit war nicht der geringste Fortschritt festzustellen. „Ich weiß noch einen Ausweg", sagte Knape. Wir demontieren den Kasten und schieben die Seitenwände unter die Räder." Schwitzend gingen die Männer an die Arbeit. Eine Viertelstunde später sah der Protos aus wie ein gerupftes Huhn. Der Aufbau war verschwunden, die schweren Seitenwände waren unter die Vorderräder geschoben. Koeppen versank beim Ankurbeln bis an die Knie im Morast. Knape ließ den Rückwärtsgang einrasten und gab Gas. Langsam ließ er die Kupplung los. Zentimeter um Zentimeter kam der Wagen frei. Der Protos war arg zugerichtet. Die Spurstange hatte sich verbogen. Die Vorderräder „radierten" auf Kosten der Laufflächen. Schnell beluden die drei den Wagen und zurrten die Gegenstände auf dem Rest der Plattform, die vom Wagenkasten geblieben war, mit Riemen fest. Dunkelheit brach herein. Koeppen und Maass schritten vor dem Wagen her, der ihnen in langsamem Tempo folgte, bis sie das Sumpfloch umgangen hatten. Dann fuhren sie weiter. Einige Kilometer weiter platzte der rechte Vorderradreifen weg. Reserve war nicht mehr an Bord. Durch das Schiefstehen der Räder war der Reifen regelrecht weggefressen worden. Eine halbe Stunde später folgte der zweite. Auf Felgen kroch der Wagen im Schritttempo weiter, Tomsk entgegen. Es war tiefe Nacht, als sie im Depot eintrafen. Der Thomas hatte Tomsk bereits am Morgen verlassen. Noch in der Nacht überholten die hilfsbereiten Mechaniker der Militärschmiede den Protos. Als der Morgen heraufdämmerte, stand er neu bereift und fahrfertig auf dem Kopfsteinpflaster des Hofes. Die Männer jagten los, hinter dem Thomas her. Gleich hinter der Stadt überquerten sie auf einer Brücke den Irtysch, einen der Nebenflüsse des Ob. Jetzt waren sie nur noch wenige Tagereisen vom Ural entfernt. Geduckt saßen die Männer auf ihrem verbeulten Fahrzeug, den einsamen Wäldern und Sümpfen ausgeliefert, die sich östlich vom Ural ausbreiten. Kilometer um Kilometer legten sie zurück, oft ohne sich die notwendigste Rast zu gönnen. Manchmal stießen sie auf Spuren des Thomas. Dann kamen sie wieder vom Wege ab und 24
Der Protos-Wagen nach 20 OOO ' Kilometer Wcltlahrt
brauchten Stunden, um auf die Strecke zurückzufinden. Nur selten trafen sie auf menschliche Ansiedlungen. Nur ein Gedanke beherrschte die Männer: Würde es ihnen gelingen, den Konkurrenten wieder einzuholen? Auch an der nächsten Station hatte er noch einen ganzen Tag Vorsprung. Gleidi hinter dieser Ansiedlung begannen schweigende Wälder. Das Tempo war für den mitgenommenen Protos jetzt geradezu halsbrecherisch. Die Stoßdämpfer waren zerrissen, die Federn nur notdürftig geflickt. Ein harter Zug hatte sieh in die Gesichter der Männer gegraben, die mit ihrem Wagen wie Gespenster dahinrasten. Endlich war ihnen das Glück günstig. Am dritten Tage hielten sie an einem Flußarm. Eine gebrechliche Fähre lag am Ufer bereit, die sie an das andere Ufer bringen sollte. Auf ein paar umgestürzten Bäumen saß der Fährmann und drehte sich aus Machorka und Zeitungspapier eine Zigarette. Sein zerfranster, schmutziger Bart hing auf eine zerschlissene Steppjacke herab. . Koeppen begann, den merkwürdigen Mann wegen des Thomas zu befragen. „Der Thomas scheint noch nicht durch zu sein", sagte Koeppen dann zu seinen Kameraden. „Es klingt unglaublich. Aber eine andere Route kann er kaum gefahren sein!" „Ob wir ihn überholt haben?" fragte Maass. „Es ist kaum möglich. Er hatte doch einen ganzen Tag Vorsprung." Durch Zeichen bedeuteten sie dem Fährmann, sie schnell überzusetzen. Der Alte winkte ihnen, den Wagen auf das Fährboot zu fahren. Der Protos rollte zum Ufer hinab. Langsam, Zentimeter für Zentimeter schob sidi der schwere Wagen auf die Fähre. Die Bohlen ächzten. Immer tiefer sank die Fähre ins Wasser. Maass sah den Fährmann fragend an. „Dobsche, dobsche", sagte der. „Schiff . . . gut!" Als der Wagen sicher stand, griffen der Fährmann und sein Weib nach den langen Stangen und stießen ab. Langsam stakten die Russen das Boot über den Fluß, der breit und träge im schimmernden Sonnenlieht lag. Auf der anderen Seite glitt der Wagen ans Ufer, während die Männer die Fähre an den zerfetzten Stricken festhielten. Koeppen drückte dem Alten ein paar Rubel in die Hand. Weiter rollte der Wagen, vom Gekreische der Kinder vtnd den lauten Dankesbezeigungen der Fährleute verfolgt. Die Stimmung stieg. 26
„Stellt euch vor", sagte Knape, „wenn wir den Thomas nun wirklich überholt hätten!" Aber erst als sie den Ural überschritten, fanden sie ihre Vermutung bestätigt. Die Protos-Männer hatten schon seit einiger Zeit bemerkt, wie das Gelände anstieg und der Boden steinig wurde. „Der Ural!" sagte Maass, „bald sind wir wieder in Europa." Dann fuhr ihr Wagen zwischen den schwärzlichen Häusern der nächsten Stadt hindurch zur Poststation. Der Thomas war hier noch nicht gemeldet. Von einer Station weit zurück aber war die Nachricht eingetroffen, daß er in einen Sumpf geraten war und daß die ThomasMänner das Getriebe reparieren mußten. Auf diese Nachricht hin beschlossen die Protos-Fahrer, ihre Rast erheblich abzukürzen, um den Vorsprung zu vergrößern. Bald rollte der Wagen die Westabhänge des Urals hinab, Moskau entgegen. Nach vielen tausend Kilometern waren die Weltumfahrer w ieder auf europäischem Boden. Quer durch das Tartarenreich näherten sie sich über hügeliges Gelände der Wolga und der alten Stadt Kasan, die sie wenige Tage später erreichen sollten. Am Ausgang eines Städtchens in der Nähe von Kasan gerieten die Fahrer mit ihrem Wagen in eine Hammelherde, Tier an Tier, so weit man sehen konnte. Der Protos versuchte, sich einen Weg durch die andrängenden Tiere zu bahnen, und Knape wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Diese dummen Biester bringen uns noch um den Sieg", sagte er. Wütend gab er Gas und lärmte aus allen Kräften, um die Herde auseinander zu bringen. Tatsächlich öffnete sich eine Schneise. Weiter ging es über schlechte Straßen nach Kasan. Noch war hier nichts von Europa zu spüren. Ein wunderlicher orientalischer Bazar breitete sich in den Gassen aus. Staunend liefen auch hier die Leute zusammen, als der Protos durch die Häuserengen polterte. Zwischen den meist einstöckigen Häusern, die von Gärten umgeben waren, tauchten, auf den Hügeln der Stadt gelegen, Kirchtürme und Kuppeln von Moscheen auf. Eine Märchenwelt, von der man im Westen Europas kaum eine Ahnung hatte. Mit Bedauern nur trennten sich unsere Weltreisenden von dem Anblick, begleitet von den Wünschen der freundlichen Bewohner, bei denen sie Rast gemacht hatten. Immer mehr näherten sie sich Moskau, der ersten Weltstadt seit vielen Wochen. Es war in diesem Zeitpunkt fast sicher, daß den Protos-Fahrern der 1000-Dollar-Sieg für die schnellste Rußlandfahrt nicht mehr zu nehmen war. Fünf volle Tage hatte die Thomas-Mannschaft ge27
braucht, um das besdiädigte Getriebe zu reparieren. Obgleich die Amerikaner verbissen kämpften und jetzt Tag und Nacht fuhren, hatte sich der Abstand kaum verringert. Noch viel weiter zurück lag der Ziist, der als dritter und letzter Wagen das Rennen nicht aufgab und tapfer durchhielt. Am 18. Juli fuhr der Protos in die Riesenstadt Moskau. Schon von weitem leuchtete den Reisenden der Kreml mit seinen Türmen und Kuppeln entgegen. Die Straße führte zuerst durch kümmerliche Vororte mit hölzernen Häusern. Dann wechselten diese trostlosen Viertel mit Stadtteilen ab, die von eleganten, europäisch wirkenden Boulevards durchzogen wurden. Groß und massig lag der Kreml mitten in der Stadt. Zwischen den europäischen Häusern mutete er seltsam orientalisch an. Sämtliche Bewohner schienen zum Empfang der kühnen Rennfahrer zusammengelaufen zu sein. Fast 50 Tage hatte die fast unvorstellbare Reise durch das tiefste Rußland gedauert. In aller Welt warfen die Druckmaschinen Zeitungen aus mit der Schlagzeile vom voraussichtlichen Sieg der Protos-Fahrer im Rußland-Rennen.
* Auf dem Kartentisch Mr. Johnsons im Büro der New Yorker Rennleitung machte der Bleistift, der den Weg der Wagen rund um die Welt täglich nachgezeichnet hatte, für zwei Tage auf dem Fleck halt, der die Stadt Moskau darstellte. Mr. Johnson und seine Kollegen waren in doppelter Hinsicht zufrieden. Einer der Wagen hatte immerhin das ärgste geschafft. Audi der amerikanische Wagen hatte alle Aussicht, das Rennen durdizustehen. Schließlich besaß der Protos noch seine Strafpunkte, so daß berechtigte Hoffnung bestand, den Thomas als Gesamtsieger werten zu können. Den 1000-DolIar-Preis allerdings, der für den Sieg im Abschnitt Rußland ausgesetzt war, schienen die Protos-Fahrer in der Tasche zu haben. In Moskau zwängten sidi die drei Fahrer in ihre Offiziersuniformen, um den prächtigen Empfang über sich ergehen zu lassen, den die russichen Automobilfreunde für sie geplant hatten. Es wurden schwungvolle Reden gehalten und begeisterte Trinksprüche ausgebracht. Während das rauschende Fest bis tief in die Nacht andauerte, waren unermüdlidie Mechaniker tätig, den Protos wieder instandzusetzen. Von neuem wurde der Wagen überholt und die Ausrüstung ergänzt. Als die gefeierten Helden in der Nacht todmüde in die Prachträume zurückkehrten, die man ihnen in einem der elegantesten Hotels angewiesen hatte, hämmerten die fleißigen Monteure immer noch, um ihre Arbeit bis zum Morgen abzuschließen. 2?
Der Zar nimmt die Parade ab Einige Tage später in Petersburg . . . Durch die hohen Fenster des prächtigen Winterpalastes fällt die Sonne. In den Privatgemächern -des Zaren herrscht reges Leben. In einer Stunde soll die Vorbeifahrt der Fahrer des Protos-Wagens vor Zar Nikolaus II. stattfinden. Sie sind soeben von Moskau her in Sankt Petersburg eingetroffen. Die Sieger im Rennen durch Rußland erwartet die versprochene und verdiente Belohnung. Indes sind flinke Hände dabei, den Protos für die Vorbeifahrt vor dem Kaiser vorzubereiten. Der treue Wagen wird von der zähen Dreckkruste befreit, die Mütterchen Rußlands fruchtbare Erde über ihn gezogen hat, die Reifen werden ausgewechselt und der Benzinvorrat ergänzt. Besonders beglückt sind die drei Weltumfahrer darüber, daß von Berlin her eine Anzahl Automobile des Kaiserlichen Automobil-Clubs eingetroffen ist, die den Zwischensieg miterleben wollen und anschließend 'den Protos nach Berlin geleiten werden. Als das Fahrzeug, soweit als möglich, auf Hochglanz gebracht ist, klettern die drei wieder in die Sitze. Gefolgt von einer Autokarawane wählen sie einen Umweg und fahren den Newskij-Prospekt, die Prachtstraße Petersburgs, entlang, die von dem Spalier begeisterter Petersburger gesäumt ist. Schließlich biegen sie in Richtung auf den Winterpalast ein. Neben ihnen fließt die Newa zwischen ihren granitgefaßten Ufern dahin. Die ganze Pracht und Größe der Innenstadt Petersburgs entfaltet sich auf diesem kurzen Weg vor den Augen der Deutschen. Zar Nikolaus erscheint mit seiner Suite auf der Freitreppe des Palastes. In glanzvoller Aufmachung steht er da, umgeben von Militärs und Staatsbeamten. Polizisten haben den Platz abgesperrt. An seinen Rändern drängen sich die Neugierigen. In den Sitzen des Protos-Wagens sieht man die drei Fahrer. Hinter dem Protos biegt die Kolonne der Begleitfahrzeuge auf den Platz ein. Im Schrittempo rollt der verbeulte Wagen am Zaren vorbei. Die Mannschaft grüßt militärisch. Der Zar erwidert den Gruß. Die malerische Militärkapelle, die vor dem Generalstabsgebäude aufgezogen ist, bläst einen schneidigen Marsch. Das Volk jubelt. Schnell wie ein Traum ist schließlich alles vorbei. Der Protos kehrt zum Hotel zurück, begafft und bestaunt von der Menschenmenge. Über die nächsten Empfänge, die den Fahrern zu Ehren veranstaltet werden, breitet sich schon der Schatten des Abschieds. In feierlichen Zeremonien werden den Rennfahrern der 1000Dollar-Preis und eine Siegerurkunde überreicht. Dann bricht die 29
Kolonne auf, um den Protos auf seinen letzten beiden Etappen, Petersburg — Berlin und Berlin — Paris, zu begleiten. Vier Tage hinter ihnen folgt der Thomas. Und trotzdem sind seine Fahrer die wirklichen Sieger. Ihr Vorsprung im ersten, amerikanischen Teil des Rennens war zu groß gewesen. Noch viel weiter zurück liegt der Züst, dessen tapfere italienische Mannschaft aber ebenfalls den bösesten Teil der Strecke bereits hinter sich gebracht hat.
Dem Ziel entgegen Über für damalige Begriffe gute Chausseen näherten sich die Wagen schnell der deutschen Grenze. Eines Tages tauchte vor den Protos-Fahrern ein schwarz-weißer Schlagbaum auf — die preußischen Farben, „Ostpreußen", sagte Knape. Dann zog er die Bremsen an. Mit einem Ruck kam der Wagen zum Stehen. Im Augenblick waren die Männer umringt von deutschen Zollbeamten und Männern des Grenzschutzes. Auch eine staatliche Delegation war erschienen. Den Heimkehrenden wurde ein riesiger Blumenstrauß überreicht, und eine kleine Musikabordnung spielte „In der Heimat, in der Heimat, da gibt's ein Wiedersehn". Schon ging es weiter. Immer bekannter wurden die Städtenamen: Schneidemübl — Landsberg — Küstrin. Schließlich lag Berlin vor ihnen, die glanzvolle Stadt aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg. Wie im Triumphzug fuhr die Autokolonne mit dem Protos an der Spitze in die Stadt ein, durch die östlichen Vororte, über den Alexanderplatz und den Spittelmarkt und schließlich durch die Lindenstraße in die Kochstraße. Lachend und glücklich saßen die drei auf ihrem Vehikel, Objekt der Bewunderung für Zuschauer, Reporter und Photographen. Blumensträuße wurden ihnen in die Hände gedrückt. In den Fenstern des Verlagshauses der „BZ am Mittag" und vor dem Portal waren sämtliche Belegschaftsmitglieder versammelt. Immer mehr Neugierige strömten herzu. Ein Meer von Hüten wogte um den Wagen. Von den Protos-Werken waren Direktoren und Mechaniker gekommen, um die Männer zu beglückwünschen. Aber noch war nicht das Letzte getan; noch fehlte die Strecke bis Paris, dem Ziel des Rennens. Verglichen mit den Strapazen der bisherigen Reise kam den Protos-Männern dieser letzte Abschnitt vor wie ein gemütlicher Sonntagsausflug mit dem Töff-Töff. Es war warmes Sommerwetter. 30
Pelze, Mäntel und Stiefel waren in Berlin zurückgeblieben. Über das Kopfsteinpflaster der deutschen Landstraßen flitzte der Protos flink nach Westen. Fast kümmerlich nahm sich der stolze Vater Rhein neben den riesigen Flüssen aus, die sie in Sibirien überquert hatten. Auch an der französischen Grenze wurden sie freudig begrüßt. Hier warteten Wagen der Pariser Automobil-Clubs, um sie in Empfang zu nehmen. Als sie von der Grenzstation starten wollten, leistete sich der Protos eine letzte Mucke. Knape gab Gas und ließ die Kupplung einrasten. In diesem Augenblick gab es einen lauten Knall, und der rechte Vorderreifen schrumpfte in sich zusammen. „Salutschuß für Frankreich", sagte Knape. Hinter ihnen war die Autokolonne ins Stocken geraten. Die Fahrer eilten heran, um zu sehen, was geschehen war. Eigenhändig schleppten die eleganten Sportsmänner vom Auto-Club Wagenheber und Reservereifen herbei und wechselten den Reifen aus, ohne daß die drei Männer von ihrem Wagen herunterklettern durften. In fröhlicher Stimmung ging es weiter durch die malerischen Städtchen Frankreichs. Das war nur noch wie ein Wochenendausflug. Die Leute blieben am Straßenrand stehen und winkten, die weißgestrichenen Häuschen lagen freundlich im Sonnenlicht da. Knape holte aus dem Protos das äußerste heraus. So ringelte sich die Benzinkutschenschlange schnell der Metropole Paris entgegen, wo man mit echt französischer Aufregung diesen ersten Wagen erwartete, der die Fahrt um die Erde geschafft hatte. Als der Protos endlich fauchend und hupend in der Straße des „Paris Matin" auftauchte, sah man von allen Seiten die Menschen heraneilen. Verzweifelte Polizisten versuchten vergeblich, ihm den Fahrweg freizuhalten. Die Herren des Komitees waren von New York herübergekommen und sdiwenkten ihre Blumensträuße. Die Leute warfen ihre Mützen in die Luft. Aus dem Gebäude der Zeitung stürzte eilig eine Gruppe von Männern mit Musikinstrumenten und begann die französische Nationalhymne zu spielen. Ein Abgeordneter des „Paris Matin" lief vor dem Wagen her und hielt mitten in dem Getöse eine Empfangsrede, von der kein Mensch auch nur ein Wort verstand. Jetzt hatte der Protos endlich unter dem Jubel der Menge das Portal des Redaktionsgebäudes erreicht; das erst war der genaue Zielpunkt. Die Lichter von Paris flammten auf, als Koeppen den Schlüssel aus der Zündung zog und hinter dem Steuer hervorkletterte. Die 31
Männer gingen in das Redaktionsgebäude. Fast 20 000 Kilometer hatten sie mit ihrem Protos zurückgelegt. 123 Tage waren sie, oft unter Einsatz ihrer letzten Kräfte und mit dem letzten Tropfen Benzin durch drei Kontinente gereist. Es schien ihnen, als läge ihre Fahrt durch Amerika schon Jahre zurück. Diese 123 Tage waren so reich an Erlebnissen gewesen, daß das Gefühl für die Zeit fast völlig verloren war. Jetzt waren sie die ersten in Paris. Vier Tage später traf auch der Thomas-Wagen ein. Der Empfang des Siegerwagens, der alle Strapazen bis hierher glücklich überstanden hatte, verlief so stürmisch, daß der Thomas fast ein Opfer» der Begeisterung der Pariser geworden wäre. Jeder mußte den Wagen angefaßt haben. Die Thomas-Männer hatten nur 112 Tage gebraucht. 14 Tage später rollte auch der Züst am Ziel ein. Drei Wagen von sechs gestarteten hatten das Rennen um die Erde geschafft. Nach -dieser Bravourleistung der Weltumrundung schwand das Mißtrauen gegen den Kraftwagen. Wenn heute mehr als 100 Millionen Kraftfahrzeuge die Straßen der Erde bevölkern und wenn wir von den Rekorden hören, die Sinke und schnittige Rennwagen in allen Teilen der Welt aufstellen, dürfen wir nicht vergessen, daß die tapferen Fahrer von 1908 an der Schwelle dieser Entwicklung stehen.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Fotos: Ullstein-Bilderdienst
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IM FALLE EINES FALLES...