Rudyard Kipling
Mit der Nachtpost Unheimliche Geschichten
Aus dem Englischen von Friedrich Polakovics
Insel Verlag
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Rudyard Kipling
Mit der Nachtpost Unheimliche Geschichten
Aus dem Englischen von Friedrich Polakovics
Insel Verlag
insel taschenbuch 1368 Erste Auflage 1991 Originalausgabe © Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 1991 Alle Rechte vorbehalten
Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuchverlag Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus Satz: MZ-Verlagsdruckerei GmbH, Memmingen Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany
Joseph Rudyard Kipling, geboren am 30. Dezember 1865 in Bombay, ist am 18. Januar 1936 in London gestorben. Kaum überschaubar sind die Einzelausgaben und Auflagen der Romane und Erzählungen des Autors, dessen Erfolge sich nicht nur dem »Dschungelbuch«, den »Just-so-stories« oder »Kim« verdanken. Der Nobelpreisträger (1907) für Literatur, der uns in vielen seiner zahlreichen Kurzgeschichten die Unvereinbarkeit östlichen Denkens und westlicher Zivilisation vor Augen führt, hat dabei fast immer Motive aus dem Bereich des Phantastischen verwendet. So durchzieht all seine Geschichten ein Hauch des Übernatürlichen, oft auch kommt es zum Wechselspiel zwischen anschaulich geschildertem Diesseits und einer Ahnung von Jenseitigem. Fast nicht bekannt ist jedoch, daß Kipling auch etliche Erzählungen geschrieben hat, die sich dem Utopischen zuordnen lassen. So schildert »Mit der Nachtpost« (1905 und 1909) als »Geschichte aus dem Jahr 2000« eine Nachtfahrt mit einem transatlantischen Postluftschiff. Zu einer Zeit, da Funkverkehr noch selten war, sah Kipling schon die Notwendigkeit von Luftverkehrskontrollen und Kommunikationssystemen voraus. In der zweiten Erzählung »Mit der Leichtigkeit des A.B.C.« (1912) spielt dieser »Aerial Board of Control« eine düstere Rolle. Die ironisch-utopische Geschichte drückt Kiplings Besorgnis aus, alle Demokratie könnte obsolet werden weil ersetzt durch politisches Desengagement, Bevölkerungsreduktion und private Abkapselung unter der Herrschaft eines erdumfassenden, übermächtigen Konsortiums – eben des Luftüberwachungs-Ausschusses »A.B.C.«.
In der dritten Erzählung »Drahtlose Botschaft« – einer, wenn man so will, Utopie von vorgestern – unternimmt es der Autor anhand eines Experiments mit drahtloser Nachrichtenübermittlung, uns in meisterlicher Parallele gänzlich anders geartete, seelisch bedingte Vorgänge nahezubringen.
Mit der Nachtpost
An einem böigen Winterabend stand ich um neun Uhr auf den unteren Stufen eines der äußeren G.P.O.-Türme∗ für den Postversand. Zweck meines Hierseins war ein Abstecher nach Quebec hinüber, mit dem »Postfrachter 162 oder sonst einem dorthin bestimmten«: und der Generalpostmeister hatte den Antrag persönlich gegengezeichnet. Dieser Talisman öffnete sämtliche Türen, sogar jene zum Abfertigungs-Caisson ganz unten im Tower, wo die sortierte Kontinentalpost versandbereit lag. Wie Heringe stapelten sich die Postsäcke auf den langen und grauen Untersätzen, die unsere G.P.O. noch immer als »Kutschen« bezeichnet. Gleich fünf solcher Kutschen wurden in meinem Beisein beladen und auf Leitschienen nach oben geschossen, zum Eindocken in die wartenden Frachter, den Sternen um einhundert Meter näher. Vom
Abfertigungs-Caisson
geleitete
mich
ein
zuvorkommender, aufs beste geschulter Beamter – ein Mr. L. ∗
General Post Office
L. Geary, Zweiter Abfertiger für die Weststrecke – zum Kapitänszimmer (eine Bezeichnung, welche romantische Reminiszenzen in uns heraufruft), wo die Postkapitäne eingeteilt werden. Dort stellte er mich den Kapitänen der »162« vor – einem Kapitän Purnall sowie seinem Zweiten, dem Kapitän Hodgson. Der eine ist klein und dunkelhaarig, der andere hochgewachsen und rot, doch haben sie beide den brütend
verschleierten,
für
Adler
wie
Aeronauten
charakteristischen Blick. Man kann das auf Bildern unserer Rennprofis sehen, von L. V. Rautsch angefangen bis zu der kleinen Ada Warrleigh – jenes unergründbar Abstrakte in Augen, welche gewohnt sind, nur die Leere des Raumes vor sich zu haben. An der Übersichtstafel des Kapitänszimmers registrieren vibrierende Zeiger von etwa zwanzig Indikatoren nach Breiten- und Längengraden die jeweilige Position von ebenso vielen Frachtern auf deren Heimflug. Das Wort »Kap« erscheint auf dem Skalenblatt einer Meßuhr; ein Gong schlägt an; die südafrikanische Post von Mitte der Woche ist an den Einlauftowers von Highgate, nichts weiter. Das Ganze erinnert auf komische Weise an die kleine Signalglocke, welche an Brieftaubenkästen das Eintreffen einer Botschaft anzeigt.
»Zeit, sich zum Abflug fertigzumachen«, sagt Kapitän Purnall, und der Passagierlift schießt mit uns hinauf zur obersten Plattform des Towers. »Unsere Kutsche wird erst eingedockt, wenn sie voll ist und wenn auch die Postbegleiter an Bord sind.«… »Nr. 162« wartet ganz oben auf uns, am Einstieg E. Das riesige
Rund
ihrer
Rückseite
schimmert
eisig
im
Lampenschein, und eine winzige Positionskorrektur bewirkt einen leichten Ruck an den Halteklampen. Kapitän Purnall zieht eine finstere Miene und verschwindet im Innern. Unter leisem Zischen pendelt die »162« sich in die vorgeschriebene, waagrechte Lage. »Nr. 162« mißt von der Bugkappe (die vom Durchpfeilen unzähliger Meilen aus Hagel, aus Eis und aus Schnee diamantgleich geschliffen ist) bis zu den Führungsringen ihrer drei achternen Luftschrauben wohl an die achtzig Meter, bei einem über beträchtliche Länge gleichbleibenden Durchmesser von mehr als zehn Metern. Erst der Vergleich mit den dreihundert zu zweiunddreißig Metern jedes beliebigen Luftkreuzers führt uns richtig vor Augen, welche Kraft diesen Schiffsrumpf durch alle Unbill des Wetters vorantreibt mit einer Geschwindigkeit, welche das Spitzentempo der großen »Zyklon« noch weit übertrifft!
Das Auge entdeckt an der Außenhaut keinerlei Fuge, bis auf den haarfeinen Einschnitt der Bugsteuerung – Magniacs Ruder, das uns die Beherrschung des unsichern Luftraums erst richtig erlaubt hat, doch dem Erfinder nur Armut und halbe Erblindung eintrug. Es ist nach Castellis »Möwenschwingen«Kurve berechnet. Hebt man nur wenige Fuß dieser fast nicht sichtbaren Platte um neun Millimeter an, so bricht der Frachter fünf Meilen nach Back- oder Steuerbord aus, noch bevor man ihn wieder unter Kontrolle gebracht hat. Fährt man jedoch das Ruder voll aus, so ist er gleich wieder auf kerzengeradem Kurs. Neigt man das Ganze nach vorn – eine winzige Raddrehung reicht dafür aus –, so saust der Frachter auf- oder abwärts, ganz je nachdem. Und bei kompletter Drehung des Rades gibt’s in der Luft einen Rauchpilz, der das Schiff vertikal eine halbe Meile nach oben katapultiert. »Ja«, sagt Kapitän Hodgson, als hätte er meine Gedanken erraten. »Castelli glaubte, die Aeroplanlenkung erfunden zu haben, und hatte doch nur die Steuerung lenkbarer Ballone entdeckt. Magniac hat dann ein Ruder erfunden, um Kriegsluftkreuzer leichter rammen zu können. Als der Krieg aber abgeschafft wurde, kam Magniac um den Verstand und
sagte, er könne dem Vaterland nun nicht mehr nützen. Ich frage mich, wer von uns wirklich weiß, was wir tun.« »Wenn Sie das Kutschen-Eindocken mitkriegen wollen, dann sollten Sie jetzt an Bord kommen. Es ist gleich soweit«, sagt Mr. Geary. Ich benutze den mittschiffs gelegenen Einstieg. Das Innere des Frachters ist ohne Aufwand gestaltet. Die Hüllen der Gasbehälter befinden sich nur einen halben Meter über dem Kopf und berühren mit ihrer oberen Krümmung fast schon die Außenwand. Passagierkreuzer und Privatjachten verbergen die Tanks hinter Dekorationen, die G.P.O. jedoch begnügt
sich
mit
dem
offiziell-grauen
Anstrich.
Die
Innenverschalung trennt etwa fünfzehn Meter des Bugraums und ebensoviel am Heck vom Mittelteil ab, doch enthält der abgeschottete Bugraum den Schacht für die Höhensteuerung, das Heck hingegen die Bohrungen für den Schiffsantrieb. Der Maschinenraum liegt etwa mittschiffs. Ihm schließt sich nach vorne, fast bis an die Krümmung der Bugtanks, ein jetzt noch geöffneter Einlaß an, durch den unsre »Kutsche« eingedockt werden soll. Über die Lukenumrandung hinweg sieht man hundert Meter nach unten, bis auf den Grund des Caissons, von wo der Stimmenlärm zu uns heraufdringt. Unten das Licht verdüstert sich jetzt und wird zum Donnergetöse, mit dem
unsre »Kutsche« längs ihrer Leitschienen zu uns emporschießt. Sehr rasch kommt sie näher, war eben noch briefmarkenklein, ist jetzt schon spielkartengroß, gewinnt die Ausmaße eines Kahns und schließlich eines Pontons. Die beiden Beamten darauf heben während des Eindockens nicht einmal ihre Köpfe. Die Quebec-Poststücke fliegen unter den Fingern der Männer hervor und landen in den beschrifteten Fächern, während die zwei Kapitäne und Mr. Geary sich überzeugen, daß die Kutsche sicher eingedockt ist. Einer der beiden Beamten reicht jetzt den Postbegleitzettel über den Lukenrand. Kapitän Purnall drückt seinen Daumen darauf und reicht das Papier zurück: der Empfang ist bestätigt. »Guten Flug«, wünscht Mr. Geary und verschwindet danach durch den Ausstieg,
worauf
der
fußhohe
Kompressor
die
Tür
pneumatisch verschließt. »A-ah« seufzt der Kompressor, während die Druckluft entweicht. Unsre Festhalteklampen lösen sich klickend. Wir sind klar zum Abflug. Kapitän Hodgson öffnet die große Kolloid-Bodensichtklappe, durch die ich das von Millionen Lichtern erhellte London unter uns ostwärts weggleiten sehe, sobald der Sturm uns erfaßt hat. Die erste, tiefhängende Winterwolke verdeckt den vertrauten
Anblick und verfinstert ganz Middlesex. An ihrem südlichen Rand ist das Licht eines Postfrachters sichtbar, wie es die weißliche Wolle durchpflügt. Sekundenlang leuchtet es auf wie ein Stern, ehe der Frachter nach unten verschwindet, in Richtung der Anlegetowers von Highgate. »Die BombayPost«, sagt Kapitän Hodgson nach einem Blick auf seine Uhr. »Mit vierzig Minuten Verspätung.« »Wie hoch sind wir jetzt?« frage ich. »Zwölfhundert Meter. Wollen Sie nicht auf die Brücke mitkommen?« Die »Brücke« (gesegnet sei die G.P.O. als Refugium ältester Traditionen!) besteht aus dem Anblick von Kapitän Hodgsons Beinen auf der Kontrollplattform, die quer zum Schiff steht, knapp über Kopfhöhe. Die Blenden am Bugkolloid öffnen sich, und Kapitän Purnall, die eine Hand an der Steuerung, geht auf leichten Steigflug. Der Höhenanzeiger klettert auf 1300. »Recht steil heute nacht«, murrt er vor sich hin, während draußen die Wolken Schicht um Schicht abwärts vorbeiziehen. »Im allgemeinen haben wir um diese Jahreszeit schon unter eintausend Meter den Ostwind im Rücken. Dieser Blindflug durch nichts als Wolken ist mir gründlich zuwider!«
»Ganz wie Van Cutsem auch. Schau mal hinüber, wie schräg er hinaufjagt!« sagt Kapitän Hodgson. Ein Nebelscheinwerfer glimmt durch die Wolken herauf, fast zweihundert Meter tiefer.
Der
Antwerpener
Postfrachter
signalisiert
und
verschwindet im Steigflug zwischen zwei fernen, backbords vorüberjagenden Wolken, wobei seine Längsseite blutrot aufleuchtet im doppelten Lichtstrahl von Sheerness. In einer halben Stunde werden wir bei diesem Sturm schon über dem Nordmeer sein, aber Kapitän Purnall bleibt gelassen auf Steigflug – nach welcher Richtung auch immer. »Fünfzehnhundert – zweitausend – zweitausendeinhundert« – der Neigungsmesser zeigt es uns an, noch ehe wir in der Ostströmung sind, die sich bei etwa 1800 durch einen Schneeschauer
ankündigt.
Kapitän
Purnall
ruft
den
Maschinenraum an und schaltet den Drehzahlregler herunter. Es hat keinen Sinn, die Maschinen über Gebühr zu belasten, wenn Aeolus persönlich – und noch dazu gratis – für gutes Vorankommen sorgt. Erst jetzt sind wir wirklich auf Kurs – die Bugkappe weist ganz genau auf unseren Peilungsstern. In dieser Höhe breiten die tieferen Wolken sich unter uns, von den trockenen Fingern des Ostwinds strähnig und sauber durchkämmt. Und noch weiter unten sieht man die starke
westliche Strömung, durch die wir gestiegen sind. Über uns zieht der südwärts treibende Dunst seinen Schleier gleich einem Bühnenvorhang vors Firmament. Das Mondlicht wandelt die Wolkenschicht unter uns zur makellos-silbernen Fläche, die nur unser Schatten durchläuft. Das Doppelfeuer von Bristol und Cardiff (jene prächtigen, schrägen Strahlen über der Severnmündung) taucht direkt vor uns auf – wir benutzen die südliche Winterstrecke. Coventry-Mitte, die Drehscheibe unseres englischen Netzes, schickt alle zehn Sekunden seinen blitzenden Lichtstrahl in nördlicher Richtung herauf, und ein, zwei Strich steuerbords beschreibt The Leek, der große Wolkenbrecher von Saint David’s Head, mit seinem unverwechselbar
grünen
Strahl
einen
Lichtkegel
von
fünfundzwanzig Grad. Bei der herrschenden Wetterlage muß die Wolkenschicht über ihm wohl eine halbe Meile dick sein, aber das hat für The Leek nichts zu bedeuten. »Unser Planet ist recht gut beleuchtet, das steht außer Frage«, meint Kapitän Purnall am Steuer, während Cardiff-Bristol unter uns weggleitet. »Ich entsinne mich noch der alten Zeiten mit
ihren
gewöhnlichen
weißen
Vertikalstrahlern,
die
höchstens eintausend Meter in den Dunst hinaufgereicht haben – und auch da mußte man wissen, wo sie zu suchen waren.
Und bei wirklich verhangenem Himmel hätte man ebensogut den Hut draufhauen können. Mitunter hat man sich damals ganz schön verfranzt auf dem Heimflug. Heute dagegen ist es, als führe man Piccadilly entlang.« Er deutet in Richtung der Lichtsäulen, welche die Wolkendecke durchstoßen. Von Englands Umrissen sehen wir nichts – nur eine weißliche Bodenschicht, die allerorten durchsetzt ist mit Schächten verschiedenfarbenen Lichts, von Holy Island herauf weiß und rot, von St. Bee als weißes Blinkfeuer, und so geht es weiter bis an den Rand unsres Blickfelds. Gesegnet seien Sargent, Ahrens und die Gebrüder Dubois für die Erfindung dieser Wolkenbrecher, welche das Reisen so sicher gemacht haben! »Gehen Sie höher beim Anflug auf The Shamrock?« fragt Kapitän Hodgson. Cork Light (grün und unbeweglich) wird nun
immer
größer.
Kapitän
Purnall
nickt.
Dichtester
Flugbetrieb herrscht hier herum – die Wolkenbank unter uns ist streifig erhellt von den laufenden Flammenspuren der Atlantikschiffe, welche knapp über der Dunstschicht Eilkurs auf London nehmen. Durch Konferenzbeschluß sind den Postfrachtern die Flugstraßen auf 1700 vorbehalten – doch wenn es ein Ausländer eilig hat, nimmt er’s im englischen
Luftraum nicht so genau. Unter langgezogenem Heulen des Fahrtwinds an der vorderen Ruderklappe gewinnt »162« an Höhe, wir überfliegen Valencia (weiß-grünweiß) in sicheren 2100 Metern und dippen unseren Scheinwerferstrahl zur Begrüßung eines hereinkommenden Washington-Postfrachters. Keine Wolke steht überm Atlantik, und die schwachen Schaumstreifen an den Ufern der Dingle Bay zeigen an, wo die windgepeitschte See gegen die Küste anbrandet. Ein großer S.A.T.A.-Liner (Societe Anonyme des Transports Aeriens, Lufttransport-A.G.) geht 800 m unter uns abwechselnd höher und tiefer, auf der Suche nach einem Durchschlupf inmitten des steifen West. Noch weiter unten liegt ein flugunfähig gewordener
Däne:
er
ist
dabei,
seine
Daten
nach
internationalem Code an den Liner weiterzugeben. Unser Hauptkommunikator fängt den Funkverkehr auf und hört mit. Schon will Kapitän Hodgson ihn abschalten, besinnt sich aber im letzten Moment: »Vielleicht möchten Sie mithören«, sagt er. »›Argol‹ von St. Thomas«, wimmert es im Empfänger. »Informieren
Sie
Steuerbordantriebswellen
Eigner,
Lager
durchgeschmort.
von
drei
Können
noch
Flores erreichen, Weiterflug nicht mehr möglich. Sollen wir in Fayal Ersatzlager kaufen?« Der Liner bestätigt den Funkspruch und rät, die Lager verkehrtherum einzubauen. ›Argol‹ funkt zurück, dies sei schon geschehen, doch ohne Erfolg, und läßt danach ihrem Unmut über das deutsche Billig-Email für Antriebslager freien Lauf. Der Franzose stimmt dem von Herzen bei, ruft noch »Courage, mon ami« und schaltet ab. Dann verschwinden die Lichter der beiden unter der Kimm. »Das ist einer der Lundt & Bleamer-Transporter«, sagt Kapitän Hodgson. »Geschieht ihnen recht – warum verwenden sie deutsche Legierungen in ihren Antriebsblocks! Der kommt heut abend nicht mehr bis Fayal. Übrigens, möchten Sie jetzt einen Blick in den Maschinenraum tun?« Da ich schon gespannt auf diesen Vorschlag gewartet habe, folge ich Kapitän Hodgson auf seinem Weg von der Plattform, sehr tief gebückt, um mit dem Kopf nicht gegen die Treibstoffbehälter zu rennen. Wir wissen, daß Fleury’s Gas alles heben kann, wie die weltberühmten Versuche von 89 gezeigt haben, doch erfordern seine nahezu unbegrenzten Expansionskräfte einen sehr großen Tankraum. Sogar in dieser dünnen Luft reduzieren die Höhenruder den normalen Auftrieb
beständig um ein Drittel, und trotzdem muß die »162« gelegentlich mit dem Ruder nach unten gedrückt werden, sonst würden wir bis an die Sterne steigen. Kapitän Purnall zieht es vor, in den höheren Schichten zu fliegen, doch sind bezüglich der Schiffssteuerung keine zwei Kapitäne der gleichen Meinung. »Bin ich auf der Brücke«, sagt Kapitän Hodgson, » so nehme ich vierzig Prozent des Gasauftriebs weg und steuere nur mit dem oberen Ruder – also mit Aufwärts- und nicht mit Abwärtstendenz, könnte man sagen. Jede Art hat was für sich, es ist bloß Gewohnheitssache. Sehen Sie mal auf die Neigungsanzeige! Immer nach dreißig Knoten drückt Tim uns nach unten, das geht so gleichmäßig wie unser Atem.« Man sieht es am Neigungsmesser. Fünf, sechs Minuten lang klettert der Anzeigepfeil von 2000 auf 2200. Dann kommt das leise Zischen des Ruders, und schon sinkt der Pfeil bis unter 2000, während wir zehn oder fünfzehn Knoten im Abwärtsflug zurückgelegt haben. »Bei schwerem Wetter läßt sie sich ebensogut mit den Luftschrauben dirigieren«, sagt Kapitän Hodgson, löst dabei die Barriere, welche den Maschinenraum vom leeren Deck abteilt, und führt mich nach unten.
Hier sehen wir Fleurys Vakuumkammer-Paradoxon – das wir heutzutag als gegeben hinnehmen, ohne erst viel drüber nachzudenken – buchstäblich in voller Aktion. Die drei Antriebsaggregate sind verstärkte Fleury-Hochdruckturbinen mit einem Limit von 3000 Touren, also bis zu dem Punkt, wo die Schaufeln zu »schrillen« anfangen – d. h. von sich aus ein Vakuum erzeugen, ganz wie früher die Schiffsschrauben bei zu hoher Drehzahl. Das Limit von »162« liegt vergleichsweise tief, bedingt durch geringere Größe ihrer neun Luftschrauben, die, obschon leichter bedienbar als die alten KolloidThelussons,
früher
zu
»schrillen«
beginnen.
Die
Mittschiffturbine, die für gewöhnlich nur zur Verstärkung gebraucht
wird,
ist
abgeschaltet.
Also
sind
die
Vakuumkammern von Back- und Steuerbordturbine direkt mit den Rückstoß-Hauptrohren gekoppelt. Von den tiefgewölbten Expansionstanks führen Ventilröhren säulengleich zu den Turbinenkästen, und von dort treibt das Gas in sausendem Wirbel die spiraligen Schaufeln mit einer Wucht, die jeder Motorsäge die Zähne wegblasen würde. Dahinter wird dann der Gasdruck mithilfe der Auftriebsregelungsklappen gehemmt oder
beschleunigt,
je
nach
Bedarf.
Davor
ist
die
Vakuumkammer, wo der Fleurystrahl als violettgrünes
Flammenband wirbelt. Die gekoppelten U-Röhren der Vakuumkammer sind aus drucksicherem Kolloid (weil kein Glas der Beanspruchung standhalten könnte), und ein Hilfsmaschinist mit getönten Schutzbrillen läßt den Gasstrahl – das Herzstück des Ganzen – nicht aus den Augen. Der Vorgang ist ja noch immer kein restlos gelöstes Rätsel. Sogar Fleury, der ihn erfand und, anders als Magniac, als Multimillionär starb, konnte nicht erklären, wie und warum der rastlose kleine Impuls in den U-Röhren im Bruchteil eines Sekundenbruchteils jene furiose Gasdruckwelle durch die graugrüne Kühlflüssigkeit treibt, die tropfenweise (man kann es hören) vom hinteren Ende des Vakuums durch die Zuleitungsrohre herein- und durchs Hauptrohr in die Bilgen zurückkommt. Dort nimmt sie ihren gasförmigen, man möchte fast sagen ›denkenden‹ Zustand wieder an und steigt auf zu neuerlicher Aktion. Bilgentank, oberer Tank, Seitentank, Expansionskammer, Vakuum, Hauptrückstrahlrohr (für den flüssigen Zustand) und wiederum Bilgentank bilden so den beständigen Kreislauf. Fleury’s Strahl achtet darauf, und der Maschinist mit den Schutzbrillen achtet auf Fleury’s Strahl. Ein winziger Ölfleck, ja sogar das natürliche Fett eines Fingerabdrucks an den Schutzkappen der Verbindungsventile
genügt, um den Strahl sofort zum Erlöschen zu bringen, und es bedarf
großer
Mühe,
ihn
neuerlich
aufzubauen.
Das
beansprucht dann einen halben Tag Arbeit für die gesamte Besatzung und kostet die G.P.O. einhundertsiebzig Pfund an hinausgeworfenem Geld für Radiumsalze und ähnliches Zeug. »Sehen Sie sich mal unsre Schubverstärkerringe an. Sie werden daran kaum eine Legierung aus Deutschland vorfinden. Läuft alles auf echten Steinen, nicht wahr«, sagt Kapitän Hodgson, während der Maschinist eine der Schutzkappen aufklappt. »Unsere Antriebswellen laufen in Lagern der I.D.C. (Industriediamanten-Compagnie), die Steine sind so sorgfältig geschliffen wie Teleskoplinsen. Sie kommen per Stück auf 37 Pfund. Ihre Lebensdauer ist noch lange nicht abgelaufen. Diese Lager zum Beispiel stammen von »Nr. 97«, und die wiederum hat sie von der alten ›Dominion of Light‹ übernommen, für die sie aus dem Wrack von einem der ›Perseus‹-Aeroplane ausgebaut worden sind, in den Jahren, als man noch stoffbespannte Kisten mit Thorium-Motoren verwendet hat! Eigentlich sind sie ein schimmernder Vorwurf für all diese billige
deutsche
›Rubin‹-Emaillierung
›Diamantstaub‹-Beläge
und
der
sogenannten unverläßlichen
Aluminiumlegierungen, die nur unsern dividendenhungrigen Eignern behagen, aber uns Skipper wahnsinnig machen.« Rudermaschine und Gasauftriebsregler, beide unterhalb der Kontrolltafel des Maschinenraums, sind die einzigen, deren Funktion sichtbar ist. Das von Zeit zu Zeit hörbare leise Zischen rührt vom Ölkolben der Rudermechanik her, wogegen der Auftriebsregler, nicht minder geschützt als die U-Röhren dahinter, einen zweiten Fleurystrahl zeigt, nur in verkehrter Richtung und von grünlicherem Violett. Seine Aufgabe ist es, den Gasauftrieb zu reduzieren, wobei er jedoch nicht überwacht werden muß. Und damit hat sich’s auch schon: ein winziges Pumpengestänge, das neben einem grünflimmernden Lämpchen gedämpfte Quietschlaute von sich gibt; dahinter, am Ende des fünfzig Meter langen, flachen Tunnels mit den Tanks, ein schwächlich flackernder, violetter Schein; zwischen den beiden Lichtern drei weißlackierte Turbinenschutzgitter, die an gekippte Aalkörbe gemahnen und den leeren Durchblick akzentuieren. Man hört es rieseln, wenn das verflüssigte Gas aus dem Vakuum in die Bilgentanks fließt, und man vernimmt das leise Klicken beim Schließen der Durchlaßklappen, sobald Kapitän Purnall die »162« bugabwärts steuert. Das Gesumm der Turbinen und das Rauschen der Luft an der Schiffshaut
wirkt in der universellen Stille nicht anders, als legte ein wollener Lappen sich um das Fahrzeug. Und dabei machen wir die Meile in achtzehn Sekunden! Ich spähe vom vordern Maschinenraum-Ende über die Lukenumrahmung in die »Kutsche« hinunter. Dort sind die Postangestellten dabei, die Poststücke zu sortieren – nach Winnipeg, Calgary, Medicine Hat – und in den betreffenden Postbeuteln zu verstauen. Ein Pakken Postkarten liegt aber noch auf dem Tisch. Plötzlich schrillt eine Klingel: Alarm! Die Maschinisten eilen an die Turbinenventile. Doch der Strahlsklave mit seinen Schutzbrillen hebt nicht einmal den Kopf. Er darf seinen Posten niemals verlassen. Wir werden sehr hart gebremst und gehen dann rückwärts. Von der Kontrollplattform tönen Wortfetzen herein. »Tim ist über irgendwas fuchsteufelswild«, meint Kapitän Hodgson gelassen. »Wollen mal nachsehn!« Tatsächlich hat Kapitän Purnall nichts mehr von jenem verbindlichen Menschen an sich, der er noch vor einer halben Stunde gewesen ist: er verkörpert nunmehr die gesamte Autorität der G.P.O. Vor uns schwebt ein alter, überaus schäbiger,
aluminiumgeflickter
Tramper
mit
Zwillingsschraubenantrieb, so wenig berechtigt, sich auf unserm Kurs in 1500 m Höhe herumzutreiben, wie ein Pferdekarren im modernen Großstadtverkehr. Er ist mit einem uralten »Barbette«-Kommandoturm ausgestattet – einem Ding von 1,80 Höhe, vorn mit Geländerplattform –, und unser Signalscheinwerfer strahlt dessen Oberteil an wie die Lampe des
Polizisten
einen
Verkehrssünder.
Und
wie
ein
Gesetzesübertreter kommt jetzt aus dem Turm ein verstörter Pilot in Hemdsärmeln zum Vorschein. Kapitän Purnall kurbelt das Kolloidfenster auf, will reden von Mann zu Mann: es gibt ja Momente, in denen die bloße Technik nicht ausreicht. »Was hast du hier unter den Sternen zu suchen, du wolkenkratzender
Schornsteinfeger?«
brüllt
er
hinüber,
während wir Bord an Bord treiben. »Weißt du nicht, daß hier die Poststrecke ist? Und du willst ein Navigator sein, Bursche? Bist ja nicht mal imstande, bei den Eskimos Luftballons zu verkaufen! Deinen Namen und deine Nummer, so mach schon – und dann hinunter mit dir, und sei dreimal – !« »Ich bin auf einmal hier oben gewesen«, schreit heiser der völlig entgeisterte Mann – es klingt fast wie Hundegebell. »Und was Sie machen, das kümmert mich einen Dreck, Sie trauriger Posthengst!«
»Finden Sie, Sir? Na, dann sorg’ ich dafür, daß es Sie kümmert! Ich mache Sie fest, mit dem Heck Richtung Disko∗, und lege Sie still. Und von der Versicherung kriegen Sie keinen Groschen, sobald man Sie wegen Behinderung sperrt! Verstehn Sie mich jetzt?« Darauf brüllt der Fremde: »Sehn Sie sich lieber meine Propeller an! Dort unten hat’s einen Wirbel gegeben, der hat das reine Schirmgestell aus uns gemacht! Seit zwölf Kilometern treibt es uns hoch, und innen sehen wir aus wie ein kaputtes Uhrwerk! Mein Maat hat einen gebrochenen Arm, mein Maschinist einen zerschlagenen Schädel. Der Gasstrahl ist abgerissen, als die Maschine zu Bruch ging, und… und… um Gotteswillen, sagen Sie mir, wie hoch wir sind, Kapitän! Ich hab’ das Gefühl, wir sacken jetzt ab!« »Zweitausendeinhundert. Können Sie das halten?« Kapitän Purnall, alle Insulte bewußt übergehend, beugt sich aus dem Kolloidluk, überzeugt sich vom Zustand des fremden Fahrzeugs und zieht prüfend die Luft ein. Das leckgewordene Schiff stinkt infernalisch.
∗
Insel vor der Westküste Grönlands. Anm. d. Ü.
»Wenn wir Glück haben, machen wir’s noch bis St. John’s. Wir sind gerade dabei, den Vordertank abzudichten, aber das Gas pfeift ganz einfach davon!« jammert der fremde Pilot. »Der sackt ab wie ein Stein«, meint leise Kapitän Purnall. »Ruf mal das Wachschiff an, George!« Unsre Kontrolluhr zeigt an, daß wir, Bord an Bord mit dem Luftvagabunden, innerhalb weniger Minuten einhundertfünfzig Meter an Höhe verloren haben. Kapitän Purnall drückt einen Schalter, und der Strahl des Signalscheinwerfers durchbricht die Nacht mit rotierenden Speichen aus Licht. »Das wird schon jemanden herbeirufen«, sagt er, während Kapitän Hodgson den Hauptkommunikator betätigt. Er hat das Wachboot der Nordküste angerufen, ein paar hundert Meilen westlich, und gibt jetzt den Sachverhalt durch. »Ich werd’ Ihnen Beistand leisten!« brüllt Kapitän Purnall zu der einsamen Gestalt in ihrem Leitturm hinüber. »Steht es so schlimm?« kommt’s zurück. »Es ist mein eigenes Schiff – und nicht versichert!« »Das hätt’ ich mir denken können«, murrt Hodgson. »Besitzerrisiko ist das schlimmste von allen!«
»Komm’ ich nicht mehr bis St. John’s – auch nicht mit diesem Wind?« tönt es klagend herüber. »Machen Sie alles bereit zum Verlassen des Schiffs! Haben Sie gar keinen Auftrieb mehr – weder vorne noch achtern?« »Nichts – nur die Mittschifftanks, und die sind nicht dicht! Ich sagte ja schon, mein Gasstrahl ist weg, und – « Ein Hustenkrampf im Gestank des entweichenden Gases macht den Worten ein Ende. »Armer Teufel!« Doch das erreicht unsern Freund nicht. »Und was sagt das Wachboot, George?« »Will wissen, ob Gefahr für den Luftverkehr ist. Sagt, es sei selber in Sturmnot und kann seine Position nicht verlassen. Ich hab’ einen allgemeinen Notruf hinausgeschickt, damit uns auch ohne den Lichtstrahl jemand zu Hilfe kommt – sonst müssen wir selber es tun. Soll ich unsre Fangtaue klarmachen? Moment – da ist ja schon einer! Noch dazu ein PlanetPassagierschiff! Gleich wird es da sein!« »Gib ihm durch, es soll seinen Rettungskorb ausfahren«, ruft der Kollege. »Es ist nicht viel Zeit zu verlieren… Verbinden Sie Ihren Maat!« brüllt er zum Tramper hinüber. »Mein Maat ist versorgt. Aber der Maschinist! Er dreht durch!«
»So beruhigen Sie ihn – mit dem Schraubenschlüssel – nur rasch!« »Aber ich halte durch bis St. John’s, wenn Sie mir helfen!« »Sie halten nicht durch, sondern zu, und zwar auf den Grund des Atlantik – in zwanzig Minuten sind Sie soweit! Sie sind jetzt schon unter zweitausend! Los – und vergessen Sie nicht die Papiere!« Ein Planet-Passagierschiff auf Ostkurs beschreibt eine saubere Schleife und hängt sich danach über uns. Das Bodenkolloidluk ist offen, und die Transportschlingen hängen heraus wie Fangarme. Wir schalten den Scheinwerfer ab, während der Liner – haargenau kommt er herein – über dem Leitturm des Trampers in Position geht. Jetzt taucht der Maat auf, den Arm an den Leib gebunden, und taumelt zum Rettungskorb. Ihm folgt ein Mann mit gräßlich durchblutetem Kopfverband, fortwährend schreiend, er müsse zurück, den Gasstrahl aufbauen! Der Maat beruhigt ihn, indem er sagt, im Maschinenraum des Passagierschiffs erwarte ihn ein noch viel schönerer Strahl. Der Kopfbandagierte nickt aufgeregt und wird gleichfalls nach oben gehievt. Ein Junge und eine Frau folgen. Vom Liner kommen aufmunternde Rufe, und wir können die Passagiergesichter am Salonkolloid erkennen.
»Sie ist ein gutes Mädchen. Worauf wartet der Hohlkopf noch?« sagt Kapitän Purnall. Jetzt taucht der Skipper zum andernmal auf, appelliert nochmals an uns, bei ihm zu bleiben und ihn bis St. John’s zu begleiten. Danach taucht er unter und kommt – was wir kleinen Menschen in der Leere des Raums ganz besonders bejubeln – mit dem Schiffskätzchen zum Vorschein. Die Fangtaue des Liners gehen zischend nach oben, rasselnd schließt sich sein Bodenluk, und gleich darauf saust er davon. Der Höhenmesser zeigt nur mehr 900 Meter an. Vom Wachboot ergeht der Befehl, wir hätten beim Wrack zu bleiben, das nunmehr langsam, in pfeifendem Zickzackkurs, in seinen Tod sinkt. »Halten Sie’s weiter im Suchscheinwerfer und geben Sie eine generelle Warnung hinaus«, sagt Kapitän Purnall und geht gleichfalls tiefer. Aber das wäre nicht nötig. Es gibt keinen Liner, der die Bedeutung unseres Vertikalstrahls nicht kennte und uns nicht in weitem Bogen auswiche. »Sie wird doch vollaufen und absaufen?« frage ich. »Nicht unbedingt«, sagt der Kapitän. »Ich weiß da von einem Wrack,
das
sich
kopfüber
und
mit
herausgekippten
Antriebsmaschinen noch drei Wochen auf den tieferen Strecken herumtrieb, bloß von den vorderen Tanks in Schwebe gehalten. Wir dürfen kein Risiko eingehen. Gib ihr den Rest, George, aber gib Obacht dabei! Dort vorn zieht ein böses Wetter herauf!« Kapitän Hodgson öffnet das Bodenluk, fährt das gewichtige Fangeisen aus seiner Halterung, die in den Linern zumeist mit einer Sitzbank verschalt ist. Wir hören das schwirrende Öffnen der sichelförmigen Arme. Der Bug des Wracks wird durchbohrt, herumgedreht und diagonal durchgerissen. Danach saust das Schiff, noch immer in unserem Scheinwerferstrahl, mit dem Heck voran in die Tiefe, gleitet wie eine verlorene Seele längs unerbittlicher Lichtbahn hinab – und wird vom Atlantik verschlungen. »Ein dreckiger Job«, sagt Hodgson. »Wie das wohl früher gewesen sein mag, in alten Zeiten?« Die nämliche Frage war auch mir durch den Kopf gegangen. Wie, wenn jener taumelnde Rumpf voll mit internationalen Fahrgästen gewesen wäre, deren jeden man gelehrt hatte (und das ist der Horror daran!), ihm sei nach dem Tode die Ewige Höllenqual so gut wie gewiß?
Und kaum fünfzig Jahre danach verstehen wir uns (die wir, wie jedermann weiß, nur der verlängerte Arm unsrer Väter sind) so wunderbar auf das Rammen und Reißen und In-denGrund-Bohren! Doch in diesem Moment befiehlt uns Tim vom Kontrollstand herab, sofort unsre aufblasbaren Schutzanzüge anzulegen und auch ihm den seinen hinaufzureichen! Eilig zwängen wir uns in die schweren Gummianzüge – die Maschinisten sind schon soweit – und pumpen sie an den Anschlüssen auf. Die G.P.O.-Inflatoren sind dreimal so dick wie die »Flitzer« der Rennpiloten und reiben abscheulich unter den Achseln. George übernimmt die Steuerung, während Tim sich nahezu kugelrund aufblasen läßt. Stieße man ihn vom Kommandostand an die Decke, er würde zurückprallen wie ein Fußball. Indes, solches Ballspiel besorgt unsre »162« von sich aus. »Im Wachboot drehen sie durch – total übergeschnappt«, schnauft der zurückkehrende Tim. »Sie warnen uns vor argen Luftlöchern auf unsrem Kurs und wollen, daß wir über Grönland ausweichen. Aber da will ich erst noch sie absaufen sehen! Eineinviertel Stunden verschwenden wir da an die lahme Ente dort unten, und jetzt will man von mir, daß ich mir
den Hintern am Nordpol erfriere! Was glauben denn die, woraus ein Postfrachter gemacht ist? Aus Seidengummi vielleicht? Gib ihnen durch, George, wir bleiben auf direktem Kurs!« George schnallt ihn auf dem Pilotensitz fest und schaltet danach die Kontrolle ein. Tims linke Fußspitze ist überm Gaspedal der Backbordmaschine, die linke Ferse über dem Rückwärtsgang, und dementsprechend ist’s auch mit dem anderen Fuß. Die Auftriebs-Stopper am Steuerrad sind mit den Fingern der linken Hand zu bedienen. Rechts ist der Schalthebel
für
die
stillgelegte,
aber
betriebsbereite
Mittschiffsmaschine. Jetzt beugt sich der Kapitän in seinem Gurt ganz nah an die Kolloidscheibe und hält Ausschau nach vorn, das eine Ohr zum Hauptkommunikator geneigt. Dergestalt ist er die personifizierte Kraft und auch Richtung der »162«, auf jedes Ereignis gefaßt. Das Küstenwachboot funkt seitenlang A.B.C.-Direktiven zur Luftverkehrslage: Wir sollen sämtliche »losen Objekte« festmachen, unsern Fleury-Strahl mit der Schutzklappe sichern und »unter keinen Umständen versuchen, den Schnee von den Leittürmen zu entfernen, ehe das Unwetter abflaut.« Auch schwächere Fahrzeuge, teilt man uns mit, könnten bis an die
Grenze des Auftriebs hochkommen, so daß die Postfrachter auch auf sie achten müssen. Die tieferen Strecken nach Westen seien höchst unsicher »wegen häufiger Luftlöcher, Wirbel, seitlicher Böen etc.« Draußen im Dunkel macht sich noch keine Störung bemerkbar.
Einzige
Vorwarnung
ist
ein
elektrisches
Hautprickeln (ich komme mir vor, als klöppelte jemand Spitzen auf mir) sowie eine nervliche Irritation, die der schnatternde Hauptkommunikator beinah bis zur Hysterie steigert. Seit der Versenkung des Luftvagabunden sind wir auf 2500 m gestiegen, und unsre Turbinen verleihen uns eine Geschwindigkeit von mehr als 210 Knoten, das sind an die 400 km/h. Sehr fern nach Westen hinaus kündigt tief unten ein länglicher
Rotschimmer
die
Position
des
Nordküstenwachbootes an. Rund um sein Steigen und Fallen sind feurige Pünktchen zu sehen – sie gleichen verirrten Planeten um eine unruhige Sonne und sind hilflose Fahrzeuge, die sich an die Lichter des Wachbootes halten. Kein Wunder, daß es seinen Platz nicht verlassen konnte!
Jetzt warnt es uns, auf der Hut zu sein vor der Bugwelle eines argen Luftwirbels, in den es (sein Leuchtfeuer zeigt es uns an) soeben geraten ist. Draußen die finstere Abgründigkeit füllt sich nach und nach mit schwachleuchtenden Schwaden – mit bedrohlich sich windenden
Formen.
Eine
davon
ballt
sich
zu
einer
fahlflammenden Kugel, die, vor Begier zitternd, unsern Vorbeiflug erwartet. Das monströse Gebilde hüpft durch die Schwärze heran, setzt sich genau an unsrer Bugspitze fest, rotiert dort ein paar Sekunden – und flitzt davon. Unser sausender Bug geht nach unten, als wär’ dieser Ball aus Blei statt aus Licht, sinkt weiter und fängt sich zu unruhig stoßendem Flug durch das folgende Luftloch. Tims Finger am Auftriebsregler spielen wahre Zahlenakkorde, denn er steuert das Schiff nur mithilfe der Tanks abwechselnd nach oben und abwärts in dieser unruhigen Luft. Alle drei Antriebsmaschinen sind jetzt in Aktion, denn je rascher wir über so dünnes Eis weg sind, desto besser für uns. Höher zu gehen, wagen wir nicht. Der gesamte obere Hohlraum im Schiff ist geschwängert mit
graubleichen
Kryptonschwaden,
die
durch
die
Reibungshitze unserer Schiffshaut zu böser Entladung gebracht werden könnten. Zwischen der Ober- und Untergrenze unserer
Flughöhe – also von 1500 bis 2000 m, wie uns das Wachboot signalisiert – wäre ein Durchschlüpfen möglich, wenn… Unser Bug ist in bläuliche Flammen gehüllt und senkt sich jetzt gleich einem Schwert! Nicht einmal größte Erfahrung könnte Schritt halten mit all den verschiedenen Luftströmungen. Jetzt springt uns von vorn ein Luftwirbel an, und wir sausen 500 Meter nach unten, in einer Schräge (der Neigungsmesser und mein gerüttelter Körper zeigen es an) von fünfunddreißig Grad! Unsre Turbinen beginnen zu schrillen, die Propeller können die dünne Luft nicht mehr fassen! Tim nimmt den Auftrieb aus fünf Tanks gleichzeitig und jagt so das Schiff nur mithilfe des Eigengewichts wie ein Geschoß durch den Wirbel dahin, bis es, nach einem Sturzflug von 900 Metern, sich mit einem Ruck an einer Aufwärtsbö fängt. »Jetzt sind wir durch«, sagt George mir ins Ohr. »Unsre Reibung bei solcher Schräge hat den Teufel aus dieser höllischen Luft ausgetrieben! Gib auf den Seitenwind acht, Tim, und halt uns auf Kurs!« »Ich hab’ sie im Griff«, ist die Antwort. »Na, komm schon, komm hoch, altes Mädchen!« Und sie kommt – elegant kommt sie hoch, aber die seitlichen Böen rütteln uns stoßweise nach rechts und nach links – wie
Flügelschläge von zornigen Engeln ist das! Wir werden aus unsrer Flugrichtung gedrängt auf viererlei Weise gleichzeitig – dann wieder auf Kurs gestoßen, doch nur, um uns gleich darauf abgetrieben und in neue Wirbel gestürzt zu sehen! Und allzeit das höhnische Licht des St. Elmsfeuers an unserm Bug, und dazu dieses Schlingern, kopfüber von Spitze bis mittschiffs, und das Knattern elektrisch geladener Luft von außen wie innen, worein sich ein- oder zweimal das Prasseln von Hagelschlag mischt – eines Hagels, der unten nie ankommen wird. Wir müssen langsamer werden, sonst brechen wir noch auseinander in diesem andauernden Auf und Ab! »Luft, das ist pure Elastizität!« brüllt George jetzt durch das Getöse. »Etwa so wie die Gegensee vor Fastnet Rock an der Südspitze Irlands, nicht wahr?« Damit wird er aber dem Element nicht ganz gerecht: sobald man nämlich die Lüfte durchfährt, wenn sie dabei sind, ihre elektrischen
Ladungen
auszutarieren;
sobald
man
die
Rechnung der Götter zerstört, indem man stählerne Rümpfe mit 200 Kilometern pro Stunde durchs bebend justierte, elektrische Spannungsfeld jagt, darf man sich nicht beklagen, wenn man eine grobe Abfuhr erleidet. Tim jedoch nimmt sie hin mit steinerner Miene, beißt sich auf die Unterlippe, späht
hinaus in die zwanzig Meilen Schwärze vor uns und beachtet kaum die knisternden Funken, die ihm bei jeder Drehung des Steuers um die Handknöchel stieben. Hin und wieder schüttelt er sich den Schweiß aus den Brauen, worauf George jedesmal das Sicherheitsgitter zurückklappt und dem Kollegen mit einem roten Taschentuch übers Gesicht wischt. Ich habe bisher nicht geglaubt, daß ein Mensch so ausdauernd und gesammelt eine halbstündige Hölle des ärgsten Sturms durchhalten könne. Hin und her werden wir geworfen von den erwärmten oder eiskalten Saugströmungen, hinaufgeschleudert bis an den Kulminationspunkt des Aufruhrs, wieder hinuntergewirbelt und von seitlichen Böen aus unserer Bahn gestoßen unterm schwindelerregenden Taumel der Sterne und des betrunkenen Monds!
Ich
höre
das
Rasseln
und
Klicken
des
Mittschiffsmaschinengestänges, das dumpfe Rumoren der Auftriebsmechanik und, lauter noch als das Sturmgeheul draußen, das Kreischen des Bugruders, das sich an jede Luftwelle preßt, die nur irgendwie Halt und Stütze verspricht. Zuletzt unternehmen wir den Versuch, mit dem Bugruder und dem Backbordpropeller im Schrägflug nach oben zu scheren, und nur die genaueste Tankbalancierung bewahrt uns vor
einem Drall, wie ihn früher einmal die Gewehrprojektile hatten. »Wir müssen irgendwie trachten, uns luvwärts vom Wachboot zu halten!« schreit George. »Da gibt es kein Luv und kein Lee«, widerspreche ich, ganz außer Atem an eine der Streben geklammert. Und während wir dreihundert Meter absacken in einem weiteren Luftloch – lacht dieser rothaarige Kerl! – Wirklich, er lacht über mich in der Aufgeblasenheit seines Schutzoveralls! »Schau!« sagt er. »Wir müssen ganz hoch hinauf, um klarzukommen von diesen haltsuchenden Kähnen!« Das Wachboot befindet sich jetzt unter uns, ein wenig südwestlich, steigend und fallend inmitten seiner zerblasnen Trabanten. Die Luft ist erfüllt von tanzenden Lichtern in jedweder Höhe. Ich nehme an, daß die meisten von ihnen versuchen, dem Wind mit dem Kopf zu begegnen. Da sie jedoch keine Hydras sind, bringen sie es nicht fertig. Ein Moghrabi-Boot mit den Tanks an der Unterseite ist bis an sein Limit gestiegen, trifft dort keine bessern Bedingungen an, sackt gleich darauf ab um hunderte Meter, gerät in einen beträchtlichen Wirbel und wird aufs neue emporgeschleudert gleich einem verwehten Blatt. Statt Gas wegzunehmen, geht es
nach achtern, prallt ab wie von einer Wand – und hätte beinahe das Wachboot gerammt, dessen Sprache (wir hören es durch den H.K.) von dementsprechender menschlicher Simplizität ist. »Wenn sie’s einfach in Ruhe abwarten würden – das wäre gescheiter«, sagt George in einer Pause des Sturms, während wir fledermausgleich über den anderen hängen. »Aber manche Piloten meinen, sie müßten um jeden Preis weitersteuern, auch wenn sie nicht genug Auftrieb haben. Was macht denn das T.A.D.-Boot da drüben, Tim?« »Spielt eine Art Katz-und-Maus-Spiel«, sagt Tim ungerührt. Ein Trans-Asia-Direktliner ist an einen Durchschlupf geraten und dreht nun auf volle Kraft. Aber am Ende des Schlupfes gibt’s einen Luftwirbel, so daß unser T.A.D. weggeschnipst wird wie eine Erbse vom Fingernagel, worauf er im Sturzflug so plötzlich Fahrt wegnimmt, daß er sich fast überschlägt. »Ich hoffe, jetzt hat er genug«, sagt Tim. »Bin nur froh, kein Wachboot zu sein… Wie – ob ich Hilfe brauche?« Die Küstenwache hat angefragt. »George, bestell doch dem Herrn meine herzlichsten Grüße – herzlich, vergiß das nicht, George – und sag ihm, ich brauch’ keine Hilfe. – Was will denn die
ekelhafte Sardinenbüchse vor uns? Wer ist denn das überhaupt?« »Ein Rimouski-Abschlepper, auf Auslug nach Arbeit.« »Sehr freundlich von dem Rimouskischlepper. Doch dieser Postfrachter muß gegenwärtig nicht abgeschleppt werden.« »Die kommen überallhin, wo sie eine Bergungschance wittern«, erläutert George. »Wir sagen ›Aasgeier‹ zu ihnen.« Ein langschnäbeliges, stählern blinkendes Fahrzeug von 30 m Länge hält sich kurze Zeit in Rufweite, die Taue schleppbereit ausgerollt und mit einem Mann im offnen Kommandoturm. Er raucht. Außerhalb dieses Aufruhrs der Lüfte, durch den wir uns unsern Weg bahnen, schwebt sein Schiff in absoluter Windstille. Ich sehe den Pfeifenrauch senkrecht aufsteigen, ehe das Fahrzeug nach unten wegsackt, als fiele ein Stein in den Schacht eines Brunnens. Wir sind kaum erst vom Wachboot und seinen verstreuten Begleitern klargekommen, als der Sturmwind sich so plötzlich legt, wie er gekommen ist. Eine Sternschnuppe füllt den nördlichen Himmel mit dem grünlichen Leuchten des verdampfenden Meteoriten. Darauf George: »Vielleicht hat das jetzt alle Spannungen ausgebügelt!« Und noch während er’s sagt, legen sich alle
widrigen Winde. Ein Luftausgleich findet statt, die seitlichen Böen ersterben zu langen und leichten Luftwellen, und die Strecke vor uns glättet sich. Schon nach kaum drei Minuten haben die um das Wachboot versammelten Schiffe ihre Warnlichter eingefahren und befinden sich wieder auf Kurs. »Was war das?« frage ich atemlos. Die Nervenbelastung hier drinnen ist ebenso weg wie draußen das Knistern elektrischer Ladung. Der voll aufgepumpte Schutzanzug wird mir zur bleiernen Last. »Das mag Gott allein wissen«, sagt trocken Kapitän George. »Die Reibungshitze des Meteoriten hat alle unterschiedliche Spannung zur Entladung gebracht. Ich hab’ dergleichen schon einmal erlebt. – Puh – was bin ich erleichtert!« Wir gehen von dreitausend Meter auf achtzehnhundert hinunter und legen die schweißnassen Anzüge ab. Tim nimmt den Antrieb weg und steigt auf die Plattform. Von hinten kommt das Wachboot heran. Tim öffnet das Kolloidluk und fährt sich über die Stirn. Draußen herrscht himmlische Stille. »Hallo, Williams!« ruft er hinüber. »Einen Grad oder zwei abgekommen von Ihrem Standort, was?« »Schon möglich«, kommt es vom Wachboot zurück. »Hab’ ganz schön Gesellschaft gehabt heute abend!«
»Das hab’ ich bemerkt. Ganz hübsches Lüftchen, nicht wahr?« »Ich hab’ Sie gewarnt! Warum sind Sie nicht über Disko ausgewichen! Die nach Osten gehenden Postfrachter haben’s getan!« »Ausweichen? Ich? Nur wenn ich so ein fliegendes Polarsanatorium für Schwindsüchtige kommandiere! Unsereins hat schon durchs Kolloidluk geblinzelt, da sind Sie noch in den Windeln gelegen, mein Junge!« »Ich
wäre
der
letzte,
das
abzustreiten«,
lenkt
der
Wachbootskapitän ein. »Und wie Sie Ihr Schiff vorhin durchgebracht haben – und ich kenn’ mich aus mit Verkehr bei elektrischer Störung –, das war um eintausend Touren mehr, als sogar ich je erlebt hab’!« Tims Rücken strafft sich. Er ist merklich geschmeichelt ob solcher Ölung. Kapitän George am Kommandostand zwinkert mir zu und deutet dann auf das Bild eines sehr hübschen Mädchens: Tim hat das Foto an die Halterung des Teleskops überm Steuer geheftet. Damit weiß ich Bescheid – jetzt ist alles klar! Oben wird etwas vereinbart, wegen »zum Tee hereinschauen am Freitag«, dann folgt noch ein kurzer Bericht über das
Schicksal des Wracks, und danach klettert Tim herunter, wobei er von sich aus bemerkt: »Für so einen A.B.C.-Mann ist dieser junge Williams eigentlich recht normal im Vergleich zu etlichen dieser Hochspannungshengste… Übernimmst jetzt du, George? Dann könnte ich mir die Backbordmaschine ansehen – sie scheint mir ein wenig zu warm –, und danach zockeln wir weiter.« Das Wachboot brummt sorglos davon und nimmt seine vorgeschriebene Position wieder ein. Und auf ihr wird es bleiben – als offenes Observatorium, als Rettungsstation, als Bergungsschlepper,
als
letzte
Anlaufstelle
mit
meteorologischem Dienst auf fünfhundert Kilometer im Umkreis, bis am folgenden Mittwoch die Ablösung unter den Sternen
hereinschweben
und
seinen
unruhigen
Platz
einnehmen wird. Der schwarze Rumpf mit den ZwillingsLeittürmen und den allzeit bereiten Fangtauen steht für all das, was unsrem Planeten von jener einstigen kosmischen Weltbehörde geblieben ist. Verantwortlich ist das Wachboot einzig dem Aerial Board of Control – dem A.B.C. über den Tim so wegwerfend redet. Doch kontrolliert jene zur Hälfte gewählte, zur Hälfte ernannte Körperschaft aus mehreren Dutzend Personen beider Geschlechter den gesamten Planeten.
»Transportation
ist
Zivilisation«,
lautet
unsre
Devise.
Theoretisch haben wir freie Hand, sofern unser Tun das Verkehrswesen einschließlich alles dessen, was es umfaßt, nicht tangiert. Praktisch betrachtet, annulliert oder bestätigt der A.B.C. alle internationalen Abkommen und findet dabei, zufolge seines jüngsten Berichts, unsern geduldigen, trägen und komischen kleinen Planeten nur allzu willfährig, ihm die gesamte Last öffentlicher Verwaltung zu übertragen. Ich diskutiere darüber mit Tim, der auf dem Kommandostand Matetee schlürft, während George unsern Frachter über den weißen
Schaumstreifen
der
Banks
in
herrlichen
Neunzigkilometerkurven nach oben steuert. Der Schreiber des Neigungsanzeigers bringt sie in ununterbrochener Linie aufs Band. Tim nimmt sich ein Stück davon vor und studiert die letzten anderthalb Meter, auf welchen der Weg unsrer »162« durch das Unwetter registriert ist. »Seit fünf Jahren habe ich eine so wildgewordene Fieberkurve nicht mehr gesehen«, meint er betreten. Eines
Postfrachters
Fahrtschreiberkurven
zeigen
jeden
Flugmeter an. Die Bänder gehen dann zum A.B.C. werden dort kollationiert und photographiert für die Ausbildung der
Kapitäne. Kopfschüttelnd betrachtet Tim die unumstößlichen Zeichen. »Hallo! Da gibt’s einen Absturz um vierhundertfünfzig Meter bei fünfundachtzig Grad Neigung! Wir müssen ja fast einen Kopfstand gemacht haben!« »Was du nicht sagst«, versetzt George. »Mir war, als hätte ich das im Moment mitgekriegt.« George hat vielleicht nicht Kapitän Purnalls katzengewandte Raschheit, doch ist er ein Künstler bis in die Spitzen seiner breiten, kräftigen Finger, welche die Auftriebsmechanik bedienen. Die herrlichen Flugkurven zeichnen sich fehlerlos und ohne Schwankung aufs Band. Die vertikale Lichtspindel des Wachboots liegt jetzt schon ostwärts weit hinter uns und verschwindet unterm Geflimmer vorüberziehender Sterne. Nach Westen hinaus, wo jetzt kein Planet mehr heraufsteigen wird, erzeugt der dreifache Vertikalstrahl von Trinity Bay einen langsam sich hebenden Leuchtnebel (wir befinden uns noch auf der südlichen Route). So hat es den Anschein, als wären
wir
hier
das
einzig
ruhende
Ding
unterm
Himmelsgewölbe: in der Schwebe verharrend, bis uns die Erdrotation unsre Landetürme in Sicht bringt.
Und alle sechzehn Sekunden dreht sich diese lautlose Uhr unter uns um eine Meile weiter. »Herrliche Nacht«, bemerkt Tim. »Bald sind wir auf gleichem Niveau mit der Gebieterin unserer Uhr.« »Sie kommt schon herauf hinter uns«, versetzt George über die Schulter. »Aber noch bin ich westwärts der Nacht auf den Fersen.« Vor uns die Sterne verblassen ein wenig, als hätte, von uns nicht bemerkt, sich unter sie eine zarte Dunstschicht gebreitet. Aber das dumpfe Dröhnen der Luft an unsrer Rumpfhülle wird nun zum freudigen Brausen. »Das ist die Brise vor Aufgang«, sagt Tim. »Sie weht der Sonne entgegen. So schaut doch – schaut doch einmal! Wie es das Dunkel zurücktreibt an unserm Bug! Kommt einmal mit zum Heck-Kolloid, dort gibt’s was zu sehen!« Der Maschinenraum ist heiß und stickig. Noch schlafen die Postleute in ihrer Kutsche, und auch der Sklave am Strahl ist nahe daran, einzunicken. Tim schiebt das achterne Kolloid auf und zeigt, wie die Krümmung der Erde – überm tiefpurpurnen Meer – sich rändert mit dunstigem, fast unerträglichem Gold. Dann steigt die Sonne herauf, und ihr durch das Kolloidluk
flutendes Licht macht unsre Lampen erblinden. Tim zieht ein finstres Gesicht. »Affen im Käfig«, murrt er vor sich hin. »Was sind wir schon andres – nur Affen im Käfig! Sie ist doppelt so schnell wie wir. Aber warte du nur ein paar Jahre, du strahlende Freundin, und du wirst Augen machen! Dann tun wir es Josua gleich und halten dich an!« Ja, das ist unser Traum: den gesamten Erdball nach unsrem Belieben zum biblischen Tal von Ajalon zu verwandeln. Gegenwärtig vermögen wir nur, den Aufgang der Sonne in diesen Breiten auf zweifache Dauer hinauszuschieben. Eines Tages jedoch – und das sogar am Äquator – werden wir mit der Sonne Schritt halten können! Jetzt ist der Blick frei aufs Meer unter uns und damit auch auf den dichten Verkehr, der darauf herrscht. Ein riesiges Tauchfahrzeug stößt unter uns plötzlich ans Licht. Dann noch eins – und noch eins, unterm saugenden Wallen des Wassers hervor
und
mit
wildbrodelnder,
blasiger
Spur
vom
entweichenden Überdruck. Diese Tiefseefrachter kommen nach langer Nacht zum Luftschöpfen herauf, und die träge Fläche des Meeres sieht plötzlich aus, als wäre sie über und über gesprenkelt mit schäumenden Pfauenaugen!
»Auch wir könnten jetzt etwas Luft schnappen«, läßt Tim sich vernehmen, und sobald wir zurück am Kommandostand sind, nimmt George die Fahrt weg, die Kolloidluken werden geöffnet, und Frischluft streicht durch das Schiff. Es hat keine Eile mit uns: die alten Verträge (sie sollen erst Ende des Jahres auf neuesten Stand gebracht werden) geben uns zwölf Stunden Zeit für einen Flug, den jeder Postfrachter schon in zehn Stunden bewältigen kann. So frühstücken wir in den Armen der östlichen Brise, die uns mit lässigen zwanzig Meilen vorantreibt. Um das Leben und auch den Tabak recht zu genießen, scheint so ein sonniger Morgen, eine halbe Meile über der lockeren Wolkenschicht des Atlantik, eigens geschaffen – besonders, wenn ein überstandnes Unwetter die Nerven geklärt und beruhigt hat. Und während wir noch mit der Überlegenheit derer, denen die oberen Flughöhen eingeräumt sind, die wachsende Luftverkehrsdichte besprechen, hören wir (und für mich ist’s das erste Mal) den Morgengesang, der von einem Spitalsschiff zu uns heraufdringt. Noch durch die zerfaserten Wolken verdeckt, kommt es unter uns durch, und wir haben das Singen noch vor dem Auftauchen der Sänger im Ohr. »Oh, ihr göttlichen Winde«,
tönt’s mit unsichtbaren Stimmen, »segnet den Herrn! Singet Ihm Lob und Preis in alle Ewigkeit!« Wir nehmen die Mützen ab und stimmen mit ein. Und als unser Schatten über die große, offene Deckplattform gleitet, blicken die Menschen herauf und strecken im Singen die Arme nach uns. Wir können die Ärzte und Schwestern ganz deutlich erkennen, ja selbst die knopfbleichen Gesichter der Kranken in ihren Betten. Langsam gleitet das Schiff unter uns weg, nach Norden hinaus, und sein taunasser Rumpf schimmert blitzend im Morgenlicht. Danach verschwindet es im Wolkenschatten – aber das Singen geht weiter. Oh, ihr demütig Frommen, segnet den Herrn! Singet Ihm Lob und Preis in Ewigkeit! »Ein Spitalsschiff für Lungenkranke – sonst hätten sie nicht das Benedicite gesungen. Und mit Standort in Grönland, man sieht’s an den Schneeblenden über den Luken«, bemerkt George
abschließend.
Frederikshavn
oder,
»Wahrscheinlich für
einen
Monat,
geht
sie
zu
einer
nach der
Gletscherheilstätten. Wäre sie nur ein Unfallsspital, so bliebe sie in Position auf zweitausendfünfhundert Meter. Ja – es sind Lungenkranke.« »Eigentlich komisch, wie sehr doch die neuen Dinge den alten gleichen! Ich habe gelesen«, sagt Tim, »daß die Wilden
ehedem ihre Kranken oder Verletzten hinauf auf die Höhen geschafft haben, weil es dort weniger Bazillen gab. Wir hingegen bringen sie für eine Weile hinauf in sterile Luftschichten. Das Prinzip ist freilich dasselbe geblieben. Um wieviel, sagen die Ärzte, ist unsre Lebenserwartung im Durchschnitt verlängert?« »Um dreißig Jahre«, sagt George augenzwinkernd. »Und die verbringen wir jetzt wohl hier oben?« »Gut, flattern wir weiter – so mach schon! Oder hindert dich jemand daran?« lacht der Chefkapitän, während wir uns ins Innre des Schiffes begeben. Wir gehen ein gutes Stück höher, um uns den Küsten- und Kontinentalverkehr vom Leib zu halten. Denn obwohl unsre Route nicht sonderlich belebt ist, gibt’s doch auch auf ihr ein fortwährendes Her und Hin. Wir begegnen Hudson-BayPelzhändlern auf ihrem Rückflug vom Großen Wildreservat. Sie haben es eilig, von Bonavista mit ihren Zobel- und Schwarzfuchsfellen den unersättlichen Markt zu beliefern. Wir queren den Kurs von kleinen Keewatin-Linern mit ihrer beengten Ladekapazität. Doch ihre Schiffskapitäne, die zwischen Trepassy und Blanco kein Land zu Gesicht bekommen, wissen genau, welches Gold sie von Westafrika
zurückbringen
werden.
Auch
Kreuzer
der
Transasien-
Direktverbindung treffen wir an, welche die Welt längs des fünfzehnten Längengrads mit gut siebzig Knoten umkreisen, und weißlackierte Bananenfrachter der Firma Ackroy & Hunt fliegen von Süden her unter uns durch, wobei die belüfteten Rümpfe ein Pfeifgeräusch wie chinesische Drachen erzeugen. Ihr Absatzgebiet liegt im Norden, zwischen den Heilstätten, wo man inmitten von Kälte und Schnee den Bananen- und Grapefruitgeruch Rindfleischfrachter
spüren kommen
kann. in
Sicht,
Argentinische von
plumper
Erscheinung, aber mit riesigen Laderäumen. Auch sie versorgen die Gesundheitsstationen im Norden und fliegen die zugefrorenen Häfen an, wo die Unterseefrachter nicht auftauchen können. Gelbbäuchige Erzkähne und Ungava-Öltanker ziehen träge von Norden heran gleich unbeirrbaren Wildentenscharen. Es steht nicht dafür, Erze und Öl auch nur um eine Meile weiter zu »fliegen« als nötig. Doch ist der Seetransport in den Packeisgebieten vor Nain oder Hebron dermaßen riskant, daß diese Großfrachter lieber Direktkurs auf Halifax nehmen und auf ihren Wegen die Lüfte verpesten. Sie sind die mächtigsten aller
Tramp-Fahrer,
mit
Ausnahme
der
Athabasca-
Getreidetransporter, die aber, seit der Weizen verschifft ist, auf der Kehrseite unserer Erde, in Sibirien, Holz transportieren. Wir halten uns an den St. Lorenzstrom (es ist erstaunlich, wie sehr diese uralten Wasserstraßen uns Kinder der Lüfte noch immer an sich ziehn) und folgen seinem vom Treibeis durchsetzten, schwärzlichen Band bis hinunter zum »Park«, den wir der Weisheit unserer Väter verdanken – aber die Quebecstrecke ist ohnehin jedem bekannt. Dann gehen wir tiefer, nehmen Kurs auf die Landetowers der Heights, zwanzig Minuten vor uns, und bleiben dort schweben, bis
der
Yokohama-Postfrachter
seine
Zwischenlandung
beendet und uns den Landeweg freigemacht hat. Merkwürdig ist es, all die Festhalteklampen längs des eisigen Flußufers beim An- oder Abflug der Boote in Aktion zu sehen. Soeben verläßt ein nach Hamburg bestimmter Frachter Pont Levis, und seine Besatzung, beim Einfahren der Plattformgeländer, stimmt dazu »Elsinor« an – das älteste unserer Shanties. Ihr kennt ja den Text:
Mother Rugen’s Teehaus bei den Balten – Vierzig Paare tanzen dort was vor! Bleib du an der Turbin’,
Denn ich muß rasch mal hin Zum Tanz mit Ella Sweyn in Elsinor!
Und dann, beim beschwerlichen Schließen der Deckplatten:
Nor’-Nor’-Nor’-Nor’– West von Surabaya zu den Balten – Neunzig Knoten und nach Norden vor! Mother Rugen ‘s Teehaus bei den Balten, Und ein Tanz mit Ella Sweyn in Elsinor!
Die Halteklampen lösen sich – fast könnte man meinen, mit einer
Bewegung
des
Abscheus,
als
hätte
das
schneeüberglitzerte Quebec so leichte und seiner nicht würdige Liebhaber von sich gestoßen! Von den Heights erhalten wir Landeerlaubnis: Tim wendet das Schiff, läßt es steigen – und dann, wie bei liebevollem Empfang, tun die Arme des Towers sich auf – oder vielleicht kommt es mir nur so vor, weil auf der obersten Plattform eine kleine, vermummte Gestalt ihre Arme gleichfalls gebreitet hält – zur Begrüßung des Vaters!
Schon zehn Sekunden danach rasselt die Kutsche mit ihren Postbegleitern
hinunter
zum
Einlaufcaisson.
Das
Wartungskommando ersetzt nun die Maschinisten an den stillgelegten Turbinen, und Tim, stolzgeschwellter denn je, stellt mich jetzt jenem Mädchen vor, dessen Photographie überm Pilotensitz hängt. »Übrigens«, sagt er zu ihr, als er hinaus in das Sonnenlicht tritt, nun schon wieder ganz Zivilist – »ich habe im Wachboot den jungen Williams gesehen und ihn für Freitag zum Tee eingeladen.«
Warnlichter Keine Änderungen der englischen Inlandbefeuerung bis Wochenende 18. Dez. PLANETARISCHE KÜSTENLICHTER. Mit Wochenende 18. Dez. Verde Schräglichtstrahl wechselt ab 1. nächsten Monats zu Dreifachblinklicht – grün/weiß/grün –, statt früherem Rotblinklicht. Warnlicht für Harmattanstürme wird zu ständigem Vertikalstrahl (weiß) auf allen Oasen der Trans-Sahara Ostnordost-Hauptrouten.
INVERCARGIL (Neuseeland) – Ab 1. nächsten Monats: südlichstes Feuer (zweifach rot), zeigt weißen Strahl mit 45 Grad
Neigung
bei
Annäherung
südlicher
Brecher.
Luftverkehr meidet betreffende Küste April bis Oktober. TAFELBUCHT – Devil’s Peak Warnlicht nach Simonsberg versetzt. Verkehr Tafelberg-Küste hält Mindesthöhe 150 m über
sämtlichen
Lichtern
von
Three
Anchor
Bay.
Einschwenken erst hinter Ostschulter Devil’s Peak. SANDHEADS-FEUER – Dreifach grün vertikal, markiert neue Privatlandebühne für Bay- und Burmaverkehr ausschließlich. SNAEFELL JOKUL –
weißes Blinkfeuer wintersüber
eingestellt. PATAGONIEN – Kein Sommerfeuer südlich Pilar C. Betrifft auch Staten Island und Port Stanley. KAP NAVARIN – Vierfaches Nebelblitzlicht (weiß), in Minutenintervall (neu). OSTKAP – Nebelblitzlicht – einfach weiß mit Einzelzündung, Dreißigsekunden-Intervall (neu). MALAYISCHER ARCHIPEL – Befeuerung unverläßlich wegen Vulkanausbrüchen. Direktkurs von Somerset nach Singapore in größter Flughöhe.
Für den Ausschuß (Abt. Warnfeuer): CATTERTHUN ST. JUST VAN HEDDER
Verluste Für die Woche bis 18. Dez.
SABLE ISLAND LANDETOWERS – Grüner Frachter, Nummer nicht erkennbar, heckaufwärts, Bugtank nach Kollision aufgerissen, in 90 m Höhe am 15. Dez. vorbeigetrieben. Wasserung abgewartet und versenkt durch Küstenwachboot. NEUFUNDLAND-BANKS – Postfrachter 162 meldet HalmaFrachter
(Fowey-St
leckgeschlagen
nach
John’s) Unwetter
aufgegeben, 46°15’N.
weil
50°15’W.
Besatzung geborgen von Planetliner Asteroid. Wasserung abgewartet, versenkt durch Postfrachter am 14. Dez. KERGUELEN-WACHBOOT meldet letztes Signal von Cymena-Frachter.
(Gayer,
Tong-Huk
&
Co.)
Nach
Wassereinbruch in Schneesturm südl. McDonald-Inseln
gesunken. Keine Wrackteile gesichtet. Adressen etc. der Besatzung in jeder A.B.C.-Agentur. FEZZAN – T.A.D.-Frachter Ulema Bodenberührung auf Akakus-Kette
während
Harmattansturm.
Bodenplatten
weggerissen. Besatzung bei Reparatur in Ghat, 13. Dez. BISKAYA-WACHBOOT meldet Carduca (ValandinghamLinie) leicht beschädigt in Westschlucht Point de Benasque. Passagiere
transferiert
auf
Andorra
(selbe
Linie).
Barcelona-Küstenwachboot birgt Frachter 12. Dez. ASCENSION-WACHBOOT Eilflugzeugs,
Parden-Ruder,
–
Wrack
unbekannten
drahtverspannte
Xylonit-
Tragflächen und Harliss-Antrieb, gesichtet und geborgen 7°20’S. 18°41’W. 15. Dez. Photos bei allen A.B.C.Agenturen.
Vermißt Da auf Rundfragen letzter Woche bisher keine Antwort, gelten folgende überfällige Fahrzeuge als vermißt: Atlantis, W. 17630: Kanton – Valparaiso Audhumla, W. 809: Stockholm-Odessa Berenice, W. 2206: Riga – Wladiwostock Draco, E. 446: Coventry – Puntas Arenas
Tontine, E. 3068: Kap Wrath – Ungava Wu-Sung, E. 41776 Hankau – Lobitobucht Neue Rundfrage (an alle Wachboote) wegen: Jane Eyre,W. 6990: Port Rupert – Mexiko City Santander,W. 5514: Wüste Gobi – Manila V. Edmunsun, E. 9690: Kandahar – Fiume
Gesperrt
wegen
Behinderung
und
Nichteinhaltens
der
Flughöhe WALKÜRE (Eilflugzeug), Eigner A. J. Hartley, New York (nach zweimaliger Verwarnung). GEISHA (Eilflugzeug), Eigner S. van Cott, Philadelphia (nach zweimaliger Verwarnung). WUNDER VON PERU (Eilflugzeug), Eigner J. X. Peixoto, Rio de Janeiro (nach zweimaliger Verwarnung).
Für den Ausschuß (Abt. Verkehr): LAZAREFF McKEOUGH GOLDBLATT
Mit der Leichtigkeit des A.B.C.
1912
Der A.B.C. jene zur Hälfte gewählte, zur Hälfte ernannte Körperschaft
aus
Geschlechter, »Transportation
mehreren
kontrolliert ist
Dutzend den
Zivilisation«,
Personen
gesamten lautet
unsre
beider
Planeten. Devise.
Theoretisch haben wir freie Hand, sofern unser Tun das Verkehrswesen einschließlich alles dessen, was es umfaßt, nicht tangiert. Praktisch betrachtet, annulliert oder bestätigt der A. B. C. alle internationalen Abkommen und findet dabei, zufolge seines jüngsten Berichts, unsern geduldigen, trägen und komischen kleinen Planeten nur allzu willfährig, ihm die gesamte Last öffentlicher Verwaltung zu übertragen. »Mit der Nachtpost«
Wäre es nicht an der Zeit, daß unser Planet einiges Interesse aufbrächte für die Aktivitäten und Sitzungsberichte des A. B. C. – des Aerial Board of Control∗? Zwar ist bekannt, daß die Leichtigkeit heutiger Kommunikationen sowie das einstige Fehlen jeder Privatsphäre alle Neugier innerhalb dieser Menschheit ausgetilgt haben – doch fühle ich mich in meiner Eigenschaft als offizieller Reporter des A.B.C. zu diesem Berichte verpflichtet: Am 26. August des Jahres 2065, vormittags 9 Uhr 30, wurde der Ausschuß auf seiner Londoner Sitzung durch De Forest informiert,
daß
der
Distrikt
Illinois-Nord
sich
in
widersetzlicher Absicht aus allen Systemen gelöst habe und bis zur direkten Verwaltung durch den A. B. C. keine Verbindung mehr aufnehmen wolle. Jedweder Tower in Illinois-Nord, ob für Passagier- oder Güterverkehr, sei außer Betrieb, erklärte De Forest. Im gesamten Distrikt habe man Haupt- und Nebenbeleuchtung sowie auch die Richtfeuer abgeschaltet. Das Hauptleitungsnetz sei tot, der Durchzugsverkehr umgeleitet. All das ermangele jeder Begründung, doch gebe es inoffizielle Informationen
∗
Luftüberwachungs-Ausschuß
vom Bürgermeister Chicagos, man beklage sich im Distrikt über »Zusammenrottung und Einbrüche in die Privatsphäre«. Nun spielt es hinsichtlich der Praxis ja keine Rolle, ob Illinois-Nord dem Verkehrsnetz unsres Planeten weiterhin angehört oder nicht. Geht es jedoch um die Politik, so erfordert jede Beschwerde über Privatheitsgefährdung eine sofortige Untersuchung, um Schlimmerem vorzubeugen. Schon vormittags 9.45 waren De Forest, Dragomiroff (Rußland), Takahira (Japan) und Pirolo (Italien) ermächtigt, in Illinois nach dem Rechten zu sehen und alle Maßnahmen zur Wiederaufnahme des Verkehrs einschließlich alles dessen, was er umfaßt, einzuleiten. Um 10 Uhr war der Sitzungssaal leer, und die vier Ausschußmitglieder sowie ich als Fünfter befanden sich schon an Bord eines Fahrzeugs, das Pirolo hartnäckig als »mein Patenkindchen« bezeichnet – kürzer gesagt: an Bord der neuen Victor Pirolo. Unser Planet kennt Victor Pirolo vor allem als jenen vornehmen Enthusiasten mit grauem Haar, der in der Umgebung von Foggia damit befaßt ist,
aus
spanischen
und
italienischen
Sorten
neue
Olivengewächse zu züchten. Doch gehört seine zweite Vorliebe der Realisierung ausgefallner Ideen, deren durchaus nicht geringste die Victor Pirolo sein dürfte. Sie und ein paar
Dutzend Schwesterschiffe der nämlichen Bauart verkörpern Pirolos letzte Eingebungen. Sehr komfortabel ist sie ja nicht. Ein A.B.C.-Schiff hebt nicht flachbahnig ab wie ein Linientransporter, sondern steigt, wie die »Aeroplane« unsrer Altvordern, raketenhaft auf und gewinnt vom Start weg mit voller Geschwindigkeit seine Flughöhe. Deshalb saß ich urplötzlich auf der massigen Leiblichkeit von Eustace Arnott, des Befehlshabers der A. B. C.-Einsatzflotte. Man weiß nicht sehr viel vom Bestehen solch einer Flotte auf unsrem Planeten – auch nicht, daß sie, theoretisch, für Zwecke geschaffen wurde, die man vordem als »Kriegsfall« bezeichnet hat. Erst vor
einer
Woche,
gelegentlich
des
Besuchs
einer
Gletscherheilstätte hinter Godhavn∗, war ich Zeuge geworden, wie ein paar Geschwader auf ihrem Übungsflug um den Pol falsche Nordlicht-Effekte hervorriefen. Indes hätte ich mir nicht träumen lassen, daß man dergleichen auch ernsthaft einsetzen würde. Während ich taumelnd bemüht war, einen Sitz auf dem Divan des Kartenraums zu ergattern, wandte Arnott sich an De Forest: »Wir sollten denen in Illinois eigentlich dankbar sein – ohne sie wären wir nie dazu gekommen, die Flotte im ∗
Auf Disko, vor der Westküste Grönlands. Anm. d. Ü.
Großverband auszuprobieren. Ich habe Generalmobilmachung befohlen und erwarte bis heute Abend zumindest zweihundert Schiffe auf Angriffshöhe.« »So hoch?« fragte De Forest. »Natürlich, Sir. Außer Sicht – bis auf Abruf.« Arnott lachte, als er sich über den transparenten Kartentisch lehnte, über welchen die sommerblaue Atlantikkarte dahinglitt, von Grad zu Grad in Entsprechung zu unserem Kurs. Unsre Skala zeigte schon mehr als 500 Kilometer pro Stunde, und wir befanden
uns
700
Meter
über
den
höchsten
Flugverkehrsstraßen. »Wo liegt denn eigentlich euer Illinois-Distrikt?« wollte Dragomiroff wissen. »Da kommt man so weit in der Welt herum, sieht aber so gut wie gar nichts dabei! Ach ja – jetzt fällt es mir wieder ein: in Nordamerika ist er!« De Forest, dem es obliegt, sich um die äußeren Gebiete zu kümmern, unterrichtete uns, es handle sich um die Gegend am südlichen Michigan-Ufer, an einer Straße ohne spezielle Bedeutung. Die Ausdehnung des Areals entspreche einer halben Flugstunde, und es sei, bis auf kleinere Randbereiche, so flach wie das Meer. Wie heutzutag alle ebenen Gebiete, war es
durch
hochgezüchtete
Wälder
gegen
alle
Privatheitsbedrohung
geschützt
–
durch
Anpflanzung
wachstumsbeschleunigter Tannen und Lärchen, die nur fünf Jahre gebraucht hatten, um auf fünfzehn Meter Höhe zu kommen. Bei einer Bevölkerung von knapp zwei Millionen, hauptsächlich aus Florida und Kalifornien zugewandert, stütze sich alles auf kleinere Farmen (ab 50 Hektar gelten sie in Illinois schon als Farm), deren Besitzer sich während des Winters in Chicago aufhielten, um dort Gesellschaft und Unterhaltung zu finden. Sie seien, ergänzte De Forest, sehr ruhige und freundliche Leute, wenngleich, wie in allen flachen Gebieten, ein wenig anspruchsvoll in bezug auf Privatheit. Seit siebenundzwanzig Jahren existiere zum Beispiel in Illinois kein gedrucktes Nachrichtenblatt. Chicago argumentiere, daß Rotationsmaschinen sich irgendeinmal zu Betreibern von Privatheitsbeeinträchtigung auswachsen könnten, was unserm Planeten
den
alten
Erpressungs-
und
Massenterror
zurückbringen würde. »Das also ist Illinois heute«, sagte De Forest abschließend. »In früheren Tagen gehörte es zu den Vorkämpfern dessen, was man einstmals als Fortschritte bezeichnet hat, und Chicago – «
»Chicago?« fragte Takahira. »Ist das nicht der kleine Ort, wo Salati’s Statue des Brennenden Niggers steht? Eine sehr schöne Arbeit – und alt!« »Wann haben Sie die gesehen?« fragte De Forest sogleich. »Sie wird ja nur einmal jährlich enthüllt!« »Ich weiß – zu den Erntedankfestivitäten. Dabei ist es gewesen«, sagte Takahira, und es schauderte ihn. »Und außerdem hat man MacDonoughs Weise dazu gesungen.« »Phüüh!« De Forest pfiff durch die Zähne. »Das habe ich nicht gewußt! Hätten Sie mir das nur früher gesagt! MacDonoughs Weise war ja zur Zeit ihrer Entstehung von einigem Nutzen – doch für die Nachwelt ist sie eine höllische Erbschaft!« »Das ist ja alles nur Schutzinstinkt, liebe Freunde«, sagte Pirolo und rollte dabei eine Zigarette. »Unser Planet hat seine Dosis an Volksregierung schon hinter sich. Er leidet an überkommener Platzangst. Er hat keine – also – er hat nichts mehr übrig für den Massenauftrieb von Menschen.« Der weißbärtige Russe beugte sich vor, um Pirolo Feuer zu geben. »Das stimmt«, sagte er. »Unser Planet hat während des letzten Jahrhunderts alles getan, um Übervölkerung zu verhindern. Wie viele Menschen leben jetzt auf dieser Welt?
Wir hoffen, sechshundert Millionen, oder schätzungsweise fünfhundert. Und wenn die Zählung im kommenden Jahr mehr als vierhundertfünfzig ergibt, so freß ich persönlich die überzähligen
Babies.
Wir
haben
ja
die
Geburtenrate
heruntergedrückt und auf ihren Tiefststand gebracht! Und zum Allmächtigen sagen wir schon seit langem, ›Wir danken Dir, Herr, aber Dein Spiel mit dem Leben paßt uns nicht mehr – also machen wir da nicht mehr mit!‹« »Jedenfalls«, widersprach Arnott fast ungehalten, »lebt heutzutage der Mensch, im Durchschnitt gerechnet, ein volles Jahrhundert!« »Oh – dagegen ist nichts zu sagen! Ich bin reich – Sie sind reich – wir alle sind reich und zufrieden, weil wir so wenige sind und so lange leben. Was ich aber glaube, ist nur, daß der Allmächtige sich erinnert, wie der Planet zu Zeiten der Massen und Epidemien ausgesehn hat. Möglicherweise sendet Er uns eine Prüfung! – Ist was, Pirolo?« Der Italiener blinzelte in die Leere des Raums. »Kann sein«, sagte er, »daß Er sie uns schon gesandt hat! Jedenfalls können Sie diesen Planeten nicht überzeugen. Die alten Zeiten hängen ihm nach, und – was wollen Sie dagegen tun?«
»Wir können die Welt nicht nochmals erschaffen, soviel steht fest.« De Forest sah auf die langsam von West nach Ost über den Tisch hingleitende Karte. »Um neun Uhr abends müßten wir überm Zielgebiet sein. Danach ist an Schlaf wohl nicht mehr zu denken.« Auf diesen Hinweis trennten wir uns, und ich schlief, bis mich Takahira zum Essen weckte. Für unsre kurzlebigen Vorfahren reichten neun Stunden Schlafenszeit vollkommen aus. Wir jedoch, bei um dreißig Jahre verlängertem Leben, fühlen uns um unsre Nachtruhe betrogen, wenn wir von den vierundzwanzig nicht volle elf Stunden zu schlafen vermögen. Punkt zehn waren wir überm Michigansee. Am Westufer war alles finster, nur ein schwacher Lichtschimmer markierte Chicago, und ein einsames Ortungsfeuer – mit Richtstrahl nach Norden – war steuerbords voraus bei Waukegan zu sehen. Keine der Städte am See gab irgendein Lebenszeichen, und landeinwärts, so weit der Blick reichte, lag’s wie eine Decke aus Schwarz überm Flachland. Wir stießen nach unten und glitten im Tiefflug durchs Dunkel, wobei wir von Landkreis zu Landkreis Signale aussandten. Ab und zu sichteten wir den schwachen Schein eines Hauslichts oder hörten den Lärm eines ferngesteuerten Kultivators, doch insgesamt war ganz Illinois-
Nord eine einzige, tintige, scheinbar unbesiedelte Ödnis aus hochgezüchteten Wäldern. Nur unsre beleuchtete Karte mit ihrem Richtungsanzeiger, der von Landkreis zu Landkreis mitwanderte, wies uns die jeweils erreichte Kursposition. Die über den Hauptkommunikator ausgesandten Signale, so dringlich und bittend, so überredend oder befehlend sie waren, lösten keinerlei Antworten aus. Illinois hielt eisern fest an seiner Abkapselung hinter den Wällen aus Wald, die man zum Selbstschutz angelegt hatte. »Das ist doch absurd!« rief schließlich De Forest. »Wie eine Nachteule kommt man sich vor, die ein Getreidefeld absucht! Ist das jetzt schon Bureau Creek? Landen Sie, Arnott, und sehen Sie zu, daß wir uns dann jemand schnappen können!« Wir strichen sehr tief über eine der hochgeforsteten Waldbarrieren
hinweg
–
eine
fünfzehnjährige
Ahornanpflanzung, fast zwanzig Meter hoch –, setzten auf einem privaten Wiesendock auf, vertäuten das Schiff mit bordeigenen Landeklampen und eilten danach durch die warme Nacht auf eine erhellte Veranda zu. Als wir uns aber der Gartentür näherten, hätte ich schwören mögen, plötzlich in knietiefem Schwimmsand zu stecken: es war fast nicht möglich, in der prickelnden, saugenden, jede Bewegung
hemmenden Strömung voranzukommen! Schon nach wenigen Schritten blieben wir stehen, wischten den Schweiß von der Stirn und sahen uns hoffnungslos festgesetzt auf dem trockenen, weichen Rasen, als steckten wir wirklich im Sumpf. »Scheiße!« schrie Pirolo wütend. »Stromfalle – wir haben Erdschluß! Und noch dazu mein System! Ich kenn’ dieses Ziehen!« »Schönen guten Abend, die Herren!« begrüßte uns eine Mädchenstimme aus der Veranda. »Ach – entschuldigen Sie! Der Sperrstrom ist eingeschaltet – gedulden Sie sich noch einen Moment!« Wir hörten den Schalter klicken – und stürzten beinah vornüber, als der Strom um die Knie plötzlich weg war. Das Mädchen lachte und ließ ihre Strickarbeit sinken. Ein veraltetes Fernbedienungsgerät stand neben ihr, an dem sie von Zeit zu Zeit drehte, und wir hörten aus einer halben Meile Entfernung, über den Schutzwald hinweg, den Lärm des gesteuerten Kultivators. »Treten Sie ein und nehmen Sie Platz«, sagte sie. »Ich dirigiere hier bloß einen Pflug. Pa ist weg, in Chicago, weil – Ach so! Dann waren das vorhin Ihre Signale!«
Sie hatte Arnotts Pilotenkleidung erkannt – und drehte den Schalter auf volle Stromstärke! Wir waren sofort festgenagelt und rangen nach Luft, als steckten wir hüfttief im saugenden Schwimmsand, drei Meter vor der Veranda! »Wir wollen nur wissen, was in Illinois los ist«, meinte De Forest gelassen. »Wären Sie dann nicht besser gleich nach Chicago gegangen, um dort nachzufragen?« erwiderte sie. »Hier ist alles in Ordnung – wir stehen auf eigenen Füßen.« »Wie sollen wir von hier weg, wenn Sie uns nicht gehen lassen?« erkundigte sich De Forest, während Arnott schon finster dreinsah. Luftflottenadmirale werden recht menschlich, sobald ihre Würde verletzt ist. »Bleiben Sie noch ein wenig, Sie haben ja keine Ahnung, wie komisch Sie aussehn!« Sie stemmte die Hände gegen die Hüften und lachte unbändig. »Das soll Sie nicht weiter stören«, versetzte Arnott und ließ die Signalpfeife schrillen. Von der Victor Pirolo kam über die Wiese her Antwort. »Nur ein einfach gesicherter Sperrstrom!« rief Arnott. »Macht ihn aus – aber vorsichtig, bitte!«
Wir hörten den Knall einer berstenden Röhre – irgendwo im Gebälk der Veranda sprang eine Sicherung aus ihrer Fassung und schreckte ein Nest voller Vögel auf. Der Sperrstrom war weg. Wir bückten uns, um uns die prickelnden Fußgelenke zu reiben. »Sowas von Unverschämtheit – wie kann man so grob sein!« entrüstete sich die junge Dame. »Für Spaßhaftigkeit bleibt uns leider nicht Zeit«, sagte Arnott. »Wir müssen sofort nach Chicago. Und an Ihrer Stelle, mein Fräulein, würde ich während der nächsten zwei Stunden im Keller Schutz suchen und auch die Mamma mitnehmen!« Damit schritt er drauflos und wir hinterher. Erbost wie er war, knurrte er vor sich hin, und erst am Fuße der Einstiegleiter kam ihm die Komik des Vorfalls so recht zu Bewußtsein, und er brach in Gelächter aus. »Der Kontrollausschuß hat sich in diesem Fall nicht sonderlich ausgezeichnet – keine Rede von Geistesblitz!« sagte De Forest und fuhr sich über die Augen. »Ich kann nur hoffen, nicht ebenso blöd ausgesehen zu haben wie Sie, lieber Arnott! Hallo – was ist denn jetzt wieder los? Kommt Pa von Chicago nach Hause?«
Mit knatterndem Krach und Getöse wälzte sich um die Waldbarriere
ein
ferngesteuerter
Kultivator,
alle
fünf
Pflugscharen hoch in der Luft wie ein gefletschtes Gebiß, und rollte funkensprühend direkt auf uns zu! »Los, los, so macht schon!« schrie Arnott, während wir uns durch die Einstiegsluke ins Innere zwängten. »Laßt sie offen – nur ab und hinauf!« Schon stieg die Victor Pirolo wie eine Luftblase hoch – und jene
lästerliche
Maschine
schoß
mit
hochgestellten
Pflugscharen gerade noch unter uns durch! »Sowas von Fauchkatze – und was für niedliche Krallen sie hat!« rief Arnott und klopfte den Staub von den Knien. »Wir stellen ihr eine höfliche Frage – und da setzt sie uns erst unter Strom und hetzt dann auch noch ihren Kultivator hinter uns her!« »Und wir reißen aus wie Schafleder«, ergänzte Dragomiroff. »Wäre ich jünger um vierzig Jahre, so käm’ ich zurück und nähme sie um den Hals – hoho!« »Und ich«, rief Pirolo, »würde sie maulschellieren! Mein schönes Schiff muß sich jagen lassen von so einem dreckigen Pflug! Von einer – wie sagt man bei euch – gewöhnlichen Landmaschine!«
»Ach – so ist das nun mal hier in Illinois«, versetzte De Forest. »Man redet nicht nur von Privatheit – man verteidigt sie auch! Und wo bleibt die versprochene Luftflotte, Arnott? Wir müßten uns doch zur Wehr setzen können gegen so eine Bauerndirne!« Arnott zeigte zum nachtschwarzen Himmel. »Dort oben – in Abwarteposition«, sagte er. »Soll ich sie einsetzen, Sir?« »Ach – die junge Dame ist das Theater nicht wert, glaube ich«, versetzte De Forest. »Gehen Sie über Chicago – vielleicht gibt es dort was zu sehen!« Schon ein paar Minuten danach schwebten wir siebenhundert Meter über einem langen und finsteren Bauwerk im Zentrum der Kleinstadt. »Es könnte das frühere Rathaus sein – natürlich, da steht ja Salati’s Statue davor!« rief Takahira. »Doch was geht denn dort unten vor sich – was machen sie denn mit dem Platz? Ich habe geglaubt, daß er jetzt für Marktzwecke dient! Bitte, gehn Sie ein wenig tiefer!« Wir
vernahmen
den
knatternden
Lärm
von
Straßenbelagsmaschinen des billigen Western-Typs, der Steine und
Bauschutt
zu
lavageripptem
Glasfluß
für
grobe
Landstraßendecken verschmilzt. Je drei oder vier dieser Straßenmaschinen Abbruchgevierts.
arbeiteten Der
an
jeder
aufgenommene
Seite
eines
Bauschutt
wurde
zerkleinert, kam als weißglühend-zähflüssige Masse wieder zum Vorschein und wurde von den Verteilerarmen mehr oder minder flach aufgetragen. Fast ein Drittel des großen Komplexes war schon auf diese Weise verarbeitet worden und erlosch unter rötlichem Glosen vor unserm staunenden Blick. »Es ist der Altmarkt«, sagte De Forest. »Aber niemand kann Illinois daran hindern, eine Straße daraus zu machen. Der Verkehr wird dadurch nicht berührt, wie ich sehe.« »Pschscht!« machte Arnott und packte mich an der Schulter. »So horcht doch! Sie singen! Warum singen sie denn?« Wir gingen noch tiefer, bis wir die düsteren Menschenmassen am Rande des glosenden Vierecks wahrnehmen konnten. Zunächst hatte es den Anschein, als wollten sie bloß den Lärm der Planierraupen übertönen. Dann aber wurden die Worte verständlich – und waren der Text des verbotenen Lieds, das jedermann kennt, aber keiner zu singen wagt: Pat MacDonoughs Gesang aus den übervölkerten Tagen der Seuche, jedes verrückte Wort bis zum Platzen geladen mit der ererbten Erinnerung dieses Planeten an Schrecknis und Panik,
an Grausamkeit und an Angst! Und Chicago – das harmloszufriedene, kleine Chicago – sang diese Worte jetzt lauthals zu jener höllischen Weise, die wenige Generationen zuvor nichts als Aufruhr, Wahnwitz und Pestilenz über die Welt gebracht hatte!
»Es war Das Volk, das einstmals – den Terror uns gebracht hat; Es war Das Volk, das einstmals – zur Höll’ die Welt gemacht hat!«
(Dann, nach einer Pause taktmäßigen Stampfens:)
»Die Welt zertrat den Terror. Ihr Toten, stimmt mit ein: Es war Das Volk von einstmals – und wird nie wieder sein!«
Die Planierraupen stießen erbarmungslos vor gegen die stürzenden Mauern, während das Lied stets von neuem erklang, wieder und wieder, und das Krachen des stürzenden Trümmerwerks übertönte.
De Forest sah finster drein: »Das paßt mir gar nicht«, sagte er, »das ist ja ein Rückfall in längst vergangene Tage! Bald wird es zu Mord und zu Totschlag kommen. Das beste, Arnott, wird sein, sie auseinanderzujagen!« »Ay, ay, Sir.« Arnott legte die Hand an die Kappe, und der Rumpf der Victor Pirolo schwang hörbar mit bei dem Kommando: »Die Strahler! Beide Wachboote Alarm! Licht! Licht! Licht!« »Ruhe
bewahren!«
flüsterte
Takahira
mir
zu.
»Die
Schutzbrillen bitte, Quartiermeister!« »Schon da – schon zur Stelle!« sagte Pirolo von hinten und stülpte mir zu meinem Schrecken eine Art Gummihelm über, der mit schnappendem Laut meinen Kopf umschloß. Vor meine Augen preßten sich dicke Schutzhüllen, so daß ich urplötzlich in nachtschwarzer Finsternis stand. »Zum Schutz vor der Blendung«, erläuterte er und schob mich zum Kartenraumdivan. »Sie werden’s gleich merken!« Noch während er sprach, gewahrte ich einen feinen Strahl von nahezu unerträglicher Blendkraft, herab aus immenser Höhe – einen vertikalen, gefrorenen Blitz, so dünn wie ein Haar!
»Das kommt von unsern Flankensicherungsschiffen«, sagte Arnott knapp neben mir. »Das eine steht über Galena – und dort, nach Süden hinaus, ist das zweite, genau über Keithburg. Hinter uns ist Vincennes, und vor uns im Norden liegt Winthrop Woods.« Dann, zu De Forest: »Die Flotte ist in Position, Sir, und wartet auf Ihre Befehle.« »Nein doch! Nein!« schrie an meiner Seite Dragomiroff auf. Ich spürte, wie sehr der bejahrte Mann zitterte. »Ich weiß nicht, was alles Sie tun können – aber seien Sie gnädig! Ich bitte Sie, haben Sie Mitleid mit dnen dort unten! Das ist ja schrecklich – entsetzlich!« »›Sticht die Frau das Hühnchen ab, Sinkt mit ihm die Welt ins Grab‹«, zitierte Takahira. »Zu spät, jetzt noch Mitleid zu haben!« »Dann nehmt mir den Helm ab! Zieht mir den Helm vom Kopf!« schrie Dragomiroff hysterisch. Offenbar hatte Pirolo den Arm um ihn gelegt. »Schscht«, sagte er. »Ich bin ja da, Iwan. Ist ja schon gut, alter Freund!« »Ich hätt’ unsrer Kleinen in Bureau City noch gern eine kurze Vorwarnung gesandt«, sagte Arnott. »Zwar verdient sie es
nicht, aber wir sollten ihr noch zwei Minuten gönnen, damit sie mit ihrer Mamma den Keller aufsuchen kann.« In der äußersten Stille nach dem grollenden Blitz, der nach Arnotts Signal von der außer Sicht befindlichen Flotte erfolgt war, tönte MacDonoughs Lied schon schwächer herauf aus der Stadt, über der wir nun auf Positionshöhe gingen. Dann aber schlug ich die Hände vor meine Schutzlinsen, denn der Himmel
schien
plötzlich
zu
bersten,
und
durch
die
Einstiegsluken fiel unerträgliche Helle, als entstünden da neue Sonnen! »Zählen Sie nicht«, sagte Arnott zu mir, der ich ans Zählen gar nicht gedacht hatte. »Zweihundertfünfzig Schiffe sind über uns, in fünf Meilen Abstand. Volle Lichtstärke, bitte, für noch zwölf Sekunden!« So weit unsre Blicke reichten, schien das Firmament auf weißglühenden Pfeilern zu stehen! Einer davon war auf das glosende Viereck Chicagos gerichtet und wandelte es zu Schwarz. » Oh! Oh! Oh! Dürfen Menschen denn so etwas tun?« schrie Dragomiroff auf und fiel quer über unsere Knie.
»Ein Glas Wasser, bitte«, befahl Takahira einer behelmten Gestalt, die herzueilen wollte. »Es ist nur ein kleiner Anfall von Schwäche.« Die blendenden Lichter erloschen, und Finsternis stürzte herein wie eine Lawine. Wir hörten Dragomiroffs Zähne gegen den Glasrand schlagen. Beruhigend sprach Pirolo auf ihn ein. »Ist ja schon gut – alles guut«, wiederholte er. »Kommen Sie, legen Sie sich erst mal hin – hier unten –, wir nehmen die Maske herunter. Auf mein Wort, alter Freund, es ist alles in Ordnung. Es sind nur die Standlichter von unsrer kleinen Victor Pirolo – winzige Lichter! Sie kennen mich doch! Ich tue den Leuten nichts Böses!« »Entschuldigen Sie«, klagte Dragomiroff, »aber ich habe den Tod – habe den Überwachungs-Ausschuß noch nie in Aktion gesehen. Gehen wir jetzt hinunter? Verbrennen wir diese Menschen bei lebendigem Leib – oder haben wir das schon getan?« »Beruhigen Sie sich«, sagte Pirolo, und mir war’s, als wiegte er ihn auf den Armen. »Das ganze nochmal, Sir?« fragte Arnott, an De Forest gewandt.
»Gönnen wir ihnen noch eine Minute«, versetzte De Forest. »Ich glaube, sie haben es nötig.« Wir warteten eine Minute, und MacDonoughs Kampflied, zwar schwächer, aber noch immer voll Trotz, scholl aus dem ungebrochnen Chicago herauf. »Die sind ganz vernarrt in das Lied«, sagte De Forest. »Ich glaube, jetzt ist’s an der Zeit, Arnott.« »Jawohl, Sir«, bestätigte Arnott und tastete sich zum Schaltbrett des Kommunikators. Keine Lichthölle brach diesmal los, doch aus der sich höhlenden Finsternis uns zu Häupten erscholl ein dermaßen hirnzermürbender Laut, wie man ihn allenfalls im Delirium hört: gezeitenhaft schwoll er heran, wie von jenseits aller Gemarkung des Raumes! »Das ist unser stärkster Sirenenton«, sagte Arnott. »Wir werden jetzt ein wenig durchgerüttelt. Habe bisher noch nie zweihundertfünfzig Sirenen gleichzeitig betätigt.« Er zog die Schaltknöpfe und drehte den Kommunikator auf volle Stärke. Zum andernmal zuckten die blendenden Strahlen hernieder, vollführten gemessen und schreckenerregend ihren gestelzten Tanz, schwangen mit jedem steifbeinigen Schritt an die vierzig Meilen nach rechts und nach links, während sich aus der
Finsternis Laute gebaren – unmeßbar nach menschlichem Maß –, die den Tanz dirigierten. Einzelne Töne – man wartete voller Entsetzen auf sie – schnitten durch Mark und Bein, bis nach weiteren drei Minuten alles Denken und Fühlen erloschen war, und nur mehr unsägliche Schmerzempfindung zurückblieb. Wir konnten noch hören und sehen, doch drohten uns fast schon die Sinne zu schwinden. Jene zweihundertfünfzig Säulen aus Licht waren in ständigem Wandel begriffen, formierten sich neu, fächerten und vervielfachten, schmälerten und verbreiterten sich, bänderten sich wellenhaft auf, zerstoben zu tausend parallel verlaufenden Streifen, die gleich danach ineinander
verschmolzen
zu
wirbelnden,
kreisenden
Lichträdern, eins in das andre verzahnt wie die alten Maschinengetriebe vergangener Zeiten. Sie schossen hinauf zum
Zenit,
um
mit
verdoppelter
Wucht
von
dort
herniederzustürzen und die Qual zu erneuern, hielten inne im letzten Moment, umzuckten wie irregeworden den Horizont – und warfen mit ihrem Erlöschen zum hundertsten Mal eine Finsternis über ganz Illinois, die noch erschreckender war als das gleich hinterher wieder aufzuckende Licht! Doch urplötzlich hatte der Horror aus Getöse und Licht sein Ende gefunden, und wir vernahmen nur mehr ein ohrenzerreißendes
Klagegeheul, als striche ein feuchter Finger über den Rand einer ungeheuren gläsernen Schüssel. »Aha – meine neue Sirene«, sagte Pirolo. »Damit zersägen Sie einen Eisberg, wenn Sie die richtige Tonhöhe finden! Und das pfeift jetzt in ganzen Geschwadern! Wir jagen den Wind durch verschließbare Bohrungen vorne im Bug.« Ich war neben Dragomiroff zusammengebrochen, kaum fähig, auch nur zu stöhnen, weil bei lebendigem Leibe den Schrecken des Jüngsten Gerichts unterworfen! Und alle Engel der Auferstehung riefen mich durchs Universum zurück, nackt, unter Klängen der Sphärenmusik! Dann sah ich De Forest mit der flachen Hand auf Arnotts Helm
einschlagen.
langgezogenen,
Das
Heulen
kreischenden
Ton,
erstarb der
zu
einem
gleich
einem
tiefschwarzen Schatten an uns vorbeistrich und zu seinem Ursprung über den Wolken entschwebte. »Ich unterbrech’ einen Spezialisten höchst ungern, sobald er aufgeht in seinem Geschäft«, sagte De Forest. »Aber seit fünfzehn Sekunden bittet uns ganz Illinois, ein Ende zu machen.«
»Wie jammerschade!« Arnott zog sich die Maske vom Kopf. »Ich wollte uns einmal ordentlich dröhnen hören. Unser tiefes C wirft sogar die Straßenpflasterung auf!« »Das ist ja höllisch – infernalisch ist das!« schrie Dragomiroff und begann laut zu schluchzen. Ohne ihn anzusehen, versetzte Arnott: »Es sind etliche tausend Volt mehr als beim alten ›Abschießen‹, aber ›höllisch‹ möchte ich nicht dazu sagen. Was soll ich der Flotte durchgeben, Sir?« »Geben Sie durch, wir sind sehr zufrieden und tief beeindruckt. Ich glaube, man braucht dort oben nicht länger zu warten. Unten ist jetzt alles finster, kein Funke zu sehen.« De Forest zeigte hinunter. »Dort muß alles taub sein und blind!« »Oh – das glaube ich nicht, Sir. Unsere Vorführung hat keine zehn Minuten gedauert.« »Unglaublich!« stieß Takahira hervor. »Mir kam es vor wie die halbe Nacht! Was machen wir jetzt – gehn wir hinunter, die Trümmer einsammeln?« »Erst wollen wir eins darauf trinken«, versetzte Pirolo. »Der Kontrollausschuß darf bei seinem Erscheinen nicht weinen über sein eigenes Tun!«
»Ich bin wirklich ein Narr – ein alter Narr!« sagte Dragomiroff kläglich. »Hab’ überhaupt nicht gewußt, was da gespielt wird. Für mich ist das neu. In Kleinrußland verhandeln wir erst noch mit solchen Leuten.« Der Kontrollturm Chicago-Nord war unbeleuchtet, und so sah sich Arnott gezwungen, das Schiff mit Hilfe der eigenen Lichter in die Landeklampen zu steuern. Kaum waren die Scheinwerfer an, da hörten wir auch schon vielstimmiges Schreckensgejammer und flehentliches Bitten von unten. »Beruhigt euch doch!« brüllte Arnott ins Dunkel. »Es kommt nichts mehr nach, wir fangen nicht wieder an!« Wir fuhren die Landetreppe aus, stiegen hinunter – und fanden uns knietief in einer Vielzahl zu Boden gestreckter Menschen. Die einen schrieen, sie seien blind, andre flehten uns an, nicht wieder mit dem Gedröhn zu beginnen, die meisten jedoch verharrten flach auf dem Boden, die Gesichter nach unten und die Hände oder die Kappen gegen die Augen gepreßt. Es war Pirolo, der schließlich die Initiative ergriff und uns andern zu Hilfe kam. Er kletterte auf eine Planierungsmaschine und richtete gestikulierend, als könnten die Menschen ihn sehen, das Wort an dieses geschlagene Illinoisvolk.
»Ihr Schschwachköpfe!« hub er an. »Vor was habt ihr solche Aangst? Ja, schon – morgen früh habt ihr rote und schmerzende Augen. Ihr werdet aussehn, als hättet ihr zuviel gesoffen, Männer wie Weiber – aber nicht lange, und ihr könnt wieder sehen, so gut wie zuvor! Das sage euch ich – und ich bin Pirolo! Victor Pirolo!« Ein Beben durchlief die Menge, denn um Victor Pirolo aus Foggia und sein Wissen um die Geheimnisse Gottes ranken sich viele Legenden. »Pirolo?« kam es mit schwankender Stimme zurück. »Dann sagen Sie uns – war da noch was andres als Licht in Ihren Kaskaden von vorhin?« Von überallher aus dem Dunkel wiederholte sich jetzt diese Frage. Pirolo lachte. »Nein!« rief er mit donnernder Stimme (warum haben eigentlich so kleine Leute dermaßen gewaltige Stimmen?). »Auf mein Wort, und auch auf das vom Kontrollausschuß, es ist Licht gewesen – nur Licht und sonst nichts, ihr Schschwachköpfe! Ist eure Geburtenrate nicht jetzt schon zu klein? Ich muß irgendwann was erfinden, um sie zu steigern – von Verminderung kann keine Rede mehr sein, nimmermehr!«
»Ist das wahr? – Und wir haben geglaubt – jemand hat uns gesagt – « Man konnte spüren, wie sich ringsum die Anspannung löste. »Wie kann man denn nur so vernagelt sein!« schrie Pirolo. »Ihr hättet ja bei uns rückfragen können – dann hätten wir’s euch gesagt!« »›Rückfragen können!‹« kam’s mit grollender Stimme zurück. »Ihr hättet erst mal an unserem Ende des Drahtes sein müssen!« »Gottlob war ich das nicht«, sagte De Forest. »Es war schon scheußlich genug hinter den Strahlern. Aber lassen wir das – es ist ja vorbei! Gibt es hier jemand, mit dem ich verhandeln kann? Ich bin De Forest – für den Kontrollausschuß!« »Dann reden Sie erst mal mit mir – ich bin hier der Bürgermeister«, versetzte der Mann mit der Baßstimme. Eine große Gestalt erhob sich taumelnd vom Boden und näherte sich unsicheren Schrittes dem breiten Rasenstreifen an der Gartenumzäunung, wo wir uns hingesetzt hatten. »Sieht aus, als wär’ ich der erste, der wieder auf seinen Füßen steht – oder nicht?« »Stimmt«, sagte De Forest und half ihm beim Niedersetzen. »Hallo – Andy! Bist du es?« rief’s aus dem Dunkel.
»Entschuldigung«, sagte der Bürgermeister. »Das klingt ja wie Bluthner, mein Polizeichef!« »Ja, hier ist Bluthner – auch Mulligan und Keefe sind bei mir – schon auf den Beinen!« »Bring sie herauf zu uns, Bluth! Wir vier sind verantwortlich für dieses Kuhdorf – was wir sagen, das gilt. Und was haben Sie uns zu sagen, De Forest?« »Noch nichts – im Moment«, versetzte De Forest, während wir den schweratmenden, wankenden Männern Platz machten. »Sie haben sich aus dem System gelöst. Also, was ist?« »Der Steward soll uns was zu trinken herunterschicken«, raunte Arnott der neben ihm stehenden Ordonnanz zu. »Gut!« sagte der Bürgermeister und befeuchtete seine trockenen Lippen. »Ich glaube, De Forest, wir können nun damit rechnen, daß wir ab jetzt dem Kontrollausschuß unmittelbar unterstehen?« »Nicht, wenn es vermeidbar ist«, sagte De Forest und lachte. »Der A.B.C. kümmert sich nur um den Verkehr auf diesem Planeten.« »Einschließlich alles dessen, was er umfaßt!« Die Großen Vier, welche Chicago regierten, zitierten die Magna Charta im Chor – wie in der Schule.
»Na gut – aber weiter«, winkte De Forest ab. »Worin besteht überhaupt euer verrücktes Problem?« »Zuviel
an
verdammter
Demokratie«,
sagte
der
Bürgermeister und legte die Hand auf De Forests Knie. »So? Ich habe geglaubt, Illinois hat seine Dosis bereits abgekriegt!« »Hat es ja auch. Eben deshalb geht’s hier so zu. Bluth, was hast du getan mit unsern Häftlingen letzte Nacht?« »Hinter Schloß und Riegel gesetzt, im Wasserturm, damit die Weiber sie nicht massakrieren können«, versetzte der Polizeichef. »Ich bin im Moment noch zu sehr geblendet, aber – « »Arnott, schicken Sie bitte ein paar Ihrer Männer los, und lassen Sie die Arrestanten herschaffen«, befahl De Forest. »Aber der Sperrstrom ist dreifach gesichert«, warnte der Bürgermeister. »Sie müssen drei Sicherungen ausmachen!« Er wandte sich wieder De Forest zu. Seine breite Figur war nur ein Schatten im schwindenden Dunkel. »Ich möchte dem Ausschuß bestimmt nicht noch mehr Arbeit machen. Bin selber Verwaltungsbeamter, nur sind wir mit unseren Hörigen nicht mehr zurechtgekommen. – Was das ist? – Nun, in jeder größeren Stadt gibt es auch ein paar Männer und Frauen, die
glauben, ohne Gemeinschaft nicht leben zu können und deshalb am liebsten aus Röhren trinken, von denen ihnen kein Ende gehört. Sie verbringen das Jahr in Hotels oder Mietwohnungen, weil ihnen das, wie sie sagen, allen Wirbel erspart. Auf jeden Fall haben sie dadurch mehr Zeit, ihren Nachbarn auf die Nerven zu fallen. Wir nennen sie hier nur ›die Hörigen‹. Außerdem sind sie anfällig für Tuberkulose.« »So ist es«, sagte der Mann, den sie Mulligan nannten. »Transportation ist Zivilisation. Demokratie bedeutet nur Krankheit.
Das
hab’
ich
durch
Blutproben
jederzeit
nachgewiesen.« »Mulligan, unser Gesundheitsbevollmächtigter, ist nur von einer Idee besessen«, erklärte der Bürgermeister und lachte. »Aber
es
stimmt
schon
–
die
meisten
dieser
Gemeinschaftshörigen haben sich nicht in der Hand. Sie wollen einfach reden. Und fassen die Leute das Reden erst als Beruf auf, so kann es zu allem möglichen kommen – so ist’s doch, De Forest?« »Zu allem – nur nicht zu den Fakten unseres Falles«, versetzte De Forest, ebenfalls lachend. »Zu denen komm’ ich sofort«, sagte der Bürgermeister.
»Unsere Hörigen sind, wie gesagt, ins Reden gekommen – erst mal in ihren Häusern, später auf offener Straße – und haben den Leuten erzählt, wie sie es anfangen sollten, ihre eignen Affären zu regeln. (Sie können es so einem Hörigen einfach nicht beibringen, die Finger von seines Nachbarn Seele zu lassen!) Natürlich ist das schon eine Art Eingriff in die Privatsphäre, aber hier in Chicago dulden wir alles noch eher, als daß es zu Aufläufen kommt. Und weil solches Treiben nicht sehr viel Beachtung fand, ließ ich es dabei bewenden. Mein Fehler! Man hatte mich ja gewarnt, es werde zu Unruhen kommen, aber in Illinois war es seit neunzehn Jahren weder zu Kundgebungen noch zu Mord oder Totschlag gekommen.« »Seit zweiundzwanzig, nicht neunzehn«, verbesserte der Polizeichef. »Kann sein. Jedenfalls haben wir nicht mehr an sowas gedacht. Na, und vom Reden in ihren Häusern und dann schon auf offener Straße gehn unsre Hörigen weiter und rufen zu einer Massenkundgebung auf – dort drüben am Altmarkt.« Er wies mit dem Kinn auf das Geviert, wo sich die verhüllte Statue des »Brennen den Negers« am Abbruchgebäude gegen den Schimmer des grauenden Morgens abhob. »Es gibt keinen Grund, Kundgebungen zu verhindern, bis auf den Umstand,
daß
es
der
Menschennatur
widerspricht,
sich
zusammenzurotten, und außerdem schadet es der Gesundheit. Ich hätte ja an der Art und Weise, wie unsre Männer und Weiber sich zu jener Kundgebung drängten, auf Anhieb erkennen müssen, daß sich etwas zusammenbraute! Ein ganzes Tausend war schon auf dem Marktplatz versammelt, und sie berührten einander! In Tuchfühlung sind sie gestanden! Und die Hörigen haben sich angestrengt und auf sie eingeredet, während wir – « »Worüber haben sie denn geredet?« erkundigte sich Takahira. »In erster Linie, wie miserabel die Stadt von uns verwaltet werde. Aber das konnte uns Vieren nur angenehm sein – wir standen ja auf der Tribüne –, weil wir uns ein paar gute Mitarbeiter für die Stadtverwaltung erhofften. Sie wissen ja, wie schwer es oft ist, effiziente Vollzugsbeamte zu finden! Und selbst, wenn wir keine fänden, so ist es – so war es erfreulich genug, überhaupt jemanden anzutreffen, der genug Interesse bekundet, Ihre Arbeit herunterzumachen! Haben Sie denn eine Ahnung, was es bedeutet, jahrein und jahraus nur weiterzumachen, ohne auf andere Meinung zu stoßen?«
»Na – und ob!« sagte De Forest. »Mitunter würden wir bei uns im Ausschuß liebend gern alles hinschmeißen, wenn uns nur jemand hinauswerfen und unser Amt übernehmen wollte!« »Aber es ist niemand da«, versetzte der Bürgermeister bekümmert. »Glauben Sie mir, Sir, wir Vier haben uns in Chicago Dinge geleistet – nur in der Hoffnung, die Leute zum Widerspruch zu ermuntern –, Dinge, die sich kein Nero erlaubt haben würde! Und was hören wir dann? ›Schon recht, Andy, macht nur so weiter! Ist alles noch besser als Massenaufläufe! Ich geh’ jetzt wieder auf meine Länder.‹ Sie können mit Leuten nichts anfangen, denen es freisteht, ihre eigenen Wege zu gehen, und die sich darüber hinaus nichts anderes wünschen auf Gottes Erdboden! Es ist auf diesem Planeten niemand mehr da, der etwas riskieren würde – und wär’ es auch nur ein Fußtritt.« »Dann ist vermutlich der Schuppen da drüben von selbst eingestürzt?« fragte De Forest. Vor uns lag die nackte, noch rauchende Brandruine, und wir hörten das Knacken und Knistern der in sich zusammensackenden Schlackenberge. »Ach – das ist nur zum Spaß! Doch davon später. Nun, wie schon gesagt, unsere Hörigen haben die Kundgebung abgehalten. Wir mußten den Platz recht bald unter Sperrstrom
setzen, um zu verhindern, daß sie erschlagen würden. Doch hat das nicht dazu beigetragen, die Bevölkerung zu beruhigen.« »Wie meinen Sie das?« warf ich ein. »Wären Sie jemals im Sperrstrom gestanden, durch Elektrizität
an
den
Boden
geklebt«,
versetzte
der
Bürgermeister, »so würden Sie wissen, wie ekelhaft das Gefühl ist, festgehalten zu sein von einem Nichts, gegen das man nicht ankämpfen kann. Nein, Sir: es ist ja ganz lustig, acht- oder neunhundert Leute wie die Fliegen im Sirup strampeln und lärmen zu sehen, während ein Rudel von Hörigen sicher und außer Reichweite drauf und dran ist, sich mental und spirituell in die Privatsphäre zu drängen. Und hinterher sind solche Leute nicht mehr so leicht unter Kontrolle zu bringen!« Pirolo lachte in sich hinein. »Unsre Leute bekennen sich nur zu sich selbst – und sie waren der Meinung, die Dinge gingen zu weit, ja unter die Haut. Ich hab’ diese Hörigen gewarnt, aber die sind ja geborene Stubenhocker: was ihnen nicht auf den Kopf fällt, das sehen sie nicht. Sir, Sie werden es nicht für möglich halten, aber die haben sich dazu verstiegen, von der ›Herrschaft des Volkes‹ zu reden! Buchstäblich! Und sie haben uns aufgefordert, zurückzukehren zu jener alten Wudu-Zauberei,
zu Wahlen mit papierenen Zetteln und hölzernen Kästen und wortbesoffenen
Wählern,
Vordrucken
und
Nachrichtenblättern! Und sie haben gesagt, sie selber praktizierten das unter sich, in ihren Häusern, wenn’s um die Wahl ihrer Mahlzeiten gehe, daheim wie in ihren Hotels! Jawohl, Sir! Da standen sie aufrecht hinter Bluthners doppelter Bodenstromsperre und haben in diesem herrlichen Jahr und an dieser Stelle solche Sachen zu eigenverantwortlichen Männern und Frauen gesagt! Und zum Schluß haben sie« – er dämpfte nahezu ängstlich die Stimme – »auch noch von der Gesamtheit des Volkes gesprochen. Bluthner mußte danach die ganze Nacht wach bleiben und die Stromsperre kontrollieren, weil er sich auf die eigenen Männer nicht mehr verlassen konnte.« »Die Leute sind zu sehr aufgereizt worden«, sagte der Polizeichef. »Aber wir konnten sie doch nicht auf Dauer unter der
Stromsperre
halten!
Also
habe
ich
diese
Gemeinschaftskrakeeler wegen öffentlicher Unruhestiftung samt und sonders verhaften und im Wasserturm festsetzen lassen. Erst hinterher ließ ich den Dingen ihren Lauf. Ich konnte nicht anders! Der ganze Distrikt glich einem gezündeten Gasbehälter!«
»Die Nachricht war schon über sieben Landgrade verbreitet«, ergänzte der Bürgermeister. »Und wenn erst einmal die Privatsphäre auf dem Spiel steht, dann Gute Nacht für Ordnung und Recht in ganz Illinois! Schon Donnerstag abends hat man begonnen, alle Verkehrslichter zu löschen und die Landetürme zu sperren. Und am Freitag haben sie den Verkehr stillgelegt und verlangt, der Überwachungsausschuß solle den Fall übernehmen. Danach wollten sie auch noch Chicago vom Seeufer anderswohin verlegen – nur in Ansehung des ›Volks‹, von dem die Hörigen gefaselt haben. Ich schlug ihnen vor, den Altmarkt,
auf
dem
die
Massenkundgebung
stattfand,
einschlacken zu lassen, und habe dann einen Hilferuf an euren gesamten Ausschuß abgesandt. Das hat sie bis zu eurer Ankunft zurückgehalten. Na und jetzt – könnt ihr zusehn, wie ihr zurechtkommt mit dem Schlamassel.« »Besteht irgendwelche Aussicht auf Beschwichtigung dieser Leute?« fragte De Forest. »Probieren Sie’s doch!« versetzte der Bürgermeister. De Forest erhob seine Stimme vor der sich erholenden und herzudrängenden Menge. Es war inzwischen taghell geworden. »Glaubt ihr nicht, daß wir uns einigen könnten?« begann er. Doch nur ein wütender Aufschrei antwortete ihm:
»Wir haben Schluß gemacht mit allen Versammlungen! Schluß mit der Vergangenheit! Übernehmt uns in eure Verwaltung! Fort mit den Gemeinschafts-Sklaven – befreit uns von ihnen! Regiert uns direkt, oder wir bringen sie um! Nieder mit allem, was ›Volk‹ heißt!« Irgendwer stimmte MacDonoughs Gesang an. Doch schon nach der ersten Zeile sandte die Victor Pirolo einen gedämpften Warnton hernieder, und eine schon brüchige Mauer am Rande des Altmarkts geriet ins Wanken und stürzte über den Bergen aus Schlacke in sich zusammen. Regungslos, ohne ein Wort, warteten alle, bis auch der letzte Staub sich gesetzt und das Stahlgehäuse der Statue zu aschenem Grau verfärbt hatte. »Da sehen Sie es: Sie müssen uns übernehmen«, raunte der Bürgermeister. De Forest hob nur die Schultern. »Sie reden daher, als ließe die Exekutivgewalt sich wie Pferdestärken rein aus der Luft herab schalten! Könnt ihr denn nicht mehr von euch aus zurechtkommen?« erwiderte er. »Zurechtkommen, wie Sie es nennen, könnten wir schon. Nur würde das gleich zu Beginn das Leben dieser paar Leute da kosten.«
Der Bürgermeister wies über den Platz, wo Arnotts Mannschaft soeben zehn oder zwölf stolpernde Männer und Frauen an das Seeufer brachte und sie vor der Statue anhielt. »Ich glaube«, sprach Takahira gedämpft, »jetzt wird es gleich Ärger geben!« Vor uns, aus der Menschenmenge, erhob sich ein Murren, als wären da wilde Bestien versammelt. Und in dem Moment, als die Sonne heraufstieg, und die Menschen gewahrten, daß sie ja selber die Massenkundgebung formierten, sahen wir, daß ein Schauder aus Schreck und aus Widerwillen die Menge durchlief, ganz wie die Böen über die stahlgraue Wasserfläche draußen am See. Wortlos und noch halb geblendet, gerieten die Leute nur nach und nach in Bewegung. Trotzdem, nach kaum einer Viertelstunde waren die
Massen
–
sie
zählten
zumindest
dreitausend
–
dahingeschmolzen wie Eis an sonnseitigen Traufen, und der verbliebene Rest legt sich flach auf den Rasen, wodurch jede Massenansammlung aufhört, eine solche zu sein. »Die jetzt noch da sind, bedeuten Arbeit für uns«, sagte der Bürgermeister zu Takahira. »Es sind gar nicht so wenige Frauen darunter, die schon geboren haben. Ich habe kein gutes Gefühl!«
Der Frühwind vom See her fuhr in die Wipfel der Bäume ringsum und verhieß einen sehr warmen Tag. Die Sonne spiegelte sich in der kanisterförmigen Hülle von Salad’s Statue. In den Gärten begannen die Hähne zu krähen, und von fern ertönte das Schließen der Türen, als die Menschen in ihre Häuser heimkehrten. »Ich fürchte, heut gibt’s keine Morgenzustellung«, sagte De Forest. »Wir haben vergangene Nacht hierzulande die Dinge ganz schön durcheinandergebracht!« »Das spielt keine Rolle«, versetzte der Bürgermeister. »Wir sind allesamt bevorratet auf sechs Monate. Bei uns setzt man sich keinen Zufällen aus.« Das tut heute niemand mehr, wenn man es recht überlegt. Schon seit fast einem Menschenalter hat es in keinem Haus, keiner Stadt eine Lebensmittelverknappung gegeben. Welches Haus, welche Stadt auf unsrem Planeten hätte nicht auf ein halbes Jahr vorgesorgt heutzutage? Wir gleichen den Schiffbrüchigen aus alten Büchern, die, einmal dem Hungertod preisgegeben, hinterher allzeit auf einen Vorrat an Zwieback bedacht
sind.
Und,
vor
allem,
wir
trauen
der
Massenversorgung nicht mehr – und auch keinem System, das auf der Masse beruht!
De Forest wartete ab, bis die letzten Schritte verhallten. Mittlerweile benahmen die Häftlinge unter der Statue sich unruhig wie kleine Kinder: sie scharrten und stießen einander herum und posierten recht unverschämt. Sie waren sämtlich nur mittelgroß, keiner erreichte einsneunzig, und viele von ihnen hatten schon graue Haare und die verhärmten, verwüsteten Züge alter Porträts. Alle hielten sich eng aneinandergedrängt,
wogegen
die
übrige
Menge
auf
gebührenden Abstand bedacht war und aus blutunterlaufenen Augen auf die Gefangenen starrte. Und dann begann einer der Häftlinge plötzlich zu reden – hielt
eine
Ansprache!
Der
Bürgermeister
hatte
nicht
übertrieben: unser Planet, so schien es, lag versklavt unterm Stiefel des Luftüberwachungs-Ausschusses! Der Redner beschwor uns, daß wir uns erheben, daß wir unsre Fesseln zerbrechen sollten (die Metaphorik entstammte zur Gänze dem Mittelalter). Jedes Ding des täglichen Lebens, einschließlich der meisten Körperfunktionen, solle allwöchentlich, jeden Monat und jedes Jahr den Beschlüssen all derer unterliegen, die innerhalb eines gewissen Bereichs zeitweilig oder auf Dauer ansässig wären, und zur Entscheidungsfindung müsse hinkünftig jedermann seine eigenen Interessen hintanstellen:
denn
erst
einmal
wären
da
Massenversammlungen
einzuberufen, zweitens Reden zu halten, und letztlich wäre durch Ankreuzen papierener Zettel, die hinterher unter allerlei mystischem Zeremoniell und eidlichem Ritual ausgezählt werden sollten, das Resultat zu ermitteln! Aus solchen Sonderbarkeiten, so versicherte uns der Redner, werde ganz automatisch eine höhere, edlere und auch hellere Welt hervorgehen, auf der Grundlage – er demonstrierte uns das mit aller düsteren Luzidität des Verrückten – sakrosankter Mehrheitsbeschlüsse
gegen
die
Schurkerei
einzelner.
Abschließend rief er noch Gott an, zum Zeugen seiner persönlichen
Integrität
und
Verdienstlichkeit.
Als
der
Wortschwall versiegt war, sah ich verwirrt auf Takahira, der bedeutsam und feierlich nickte. »Vollkommen korrekt«, sagte er. »Wie in den alten Scharteken. Nichts hat er weggelassen – nicht einmal das Gefasel vom Krieg.« »Aber wie kann man mit solchem Gewäsch auch nur ein Kind aus der Ruhe bringen? Und gar einen ganzen Distrikt?« fragte ich.
»Oh – Sie sind noch zu jung«, sagte Dragomiroff. »Und außerdem – Sie sind keine Mamma. Na bitte, sehn Sie doch hin – auf die Mammas!« Mehr als ein Dutzend Frauen, die noch geblieben waren, hatten sich aus der Schar der schweigenden Männer gelöst und bewegten sich langsam auf die Gefangenen zu. Es sah aus, als umkreiste ein Wolfsrudel eine Herde von Moschusochsen, hoch oben im Norden, heimlich, bevor es sich auf seine Beute stürzt. Das blieb auch den Häftlingen nicht verborgen, und so schlossen sie sich noch enger zusammen. Der Bürgermeister bedeckte sekundenlang das Gesicht mit den Händen, und De Forest, barhaupt wie er war, trat zwischen die Gruppe der Häftlinge und die langsam und steif sich nähernden Frauen. »Das alles ist ja recht interessant«, wandte er sich an den Redner. »Aber der springende Punkt scheint zu sein, daß ihr Kundgebungen macht und damit die Privatsphäre gefährdet.« Jetzt trat eine Frau vor, um etwas zu sagen, doch das beifällige Gemurmel der Männer, welche erkannten, daß De Forest der Situation auf den Grund ging, hinderte sie daran. »Jawohl, so ist es!« ertönte es von allen Seiten. »Wir haben alle
Verbindungen
unterbrochen,
weil
die
da
Massenkundgebungen machen und unsre Privatsphäre stören!
Das ist es – hier müssen Sie ansetzen! Fort mit den Leuten! Jetzt ist der Kontrollausschuß dran!« »Oh ja, jetzt ist der Kontrollausschuß dran«, sagte De Forest. »Ich nehme, wenn ihres wollt, diese Massenaktivitäten formell zur Kenntnis, doch die Beweisführung liegt bei den Ausschußmitgliedern. Würde euch das genügen?« Die näherkommenden Frauen hatten ihr Tempo verlangsamt und ballten die unruhigen Hände immer wieder zu Fäusten. »Gut – sehr gut sogar!« riefen die Männer. »Dann sind wir zufrieden! Nur fort mit den Leuten – so rasch wie möglich!« »Kommt jetzt zu uns herauf«, sagte De Forest zu den Gefangenen. »Das Frühstück ist schon bereit!« Aber die Häftlinge rührten sich nicht von der Stelle – waren offenbar fest entschlossen, in Chicago zu bleiben und ihre Kundgebungen fortzusetzen. Auch machten sie geltend, der Vorschlag De Forests sei ein gröblicher Eingriff in die Privatsphäre! »Mein lieber Freund«, sagte Pirolo zum beredtesten ihrer Anführer. »Jetzt aber rasch, wenn eure Massen, die ja immer im Recht sind, euch nicht umbringen sollen!«
»Aber das wäre ja Mord«, versetzte der Mehrheitsverfechter. Die allgemeinen Lachstürme, die sich daraufhin erhoben, schienen der Krise ein Ende zu setzen. Aus der Reihe der Frauen trat jetzt eine vor, herzlich lachend wie alle andern, das kann ich bezeugen! Mit der einen Hand schützte sie noch ihre Augen, die andere hatte sie an ihrer Kehle. »Ach – hier braucht niemand zu fürchten, daß man ihn umbringen könnte!« rief sie. »Nicht im geringsten«, sagte De Forest. »Aber glauben Sie nicht, daß es jetzt, wo der Ausschuß den Fall übernimmt, für Sie besser wäre, nach Hause zu gehen, während wir diese Leute wegbringen?« »Da werd’ ich schon lange daheim sein. Es war ja – es ist ein recht mühsamer Tag.« Hochaufgerichtet stand sie vor De Forest und überragte den zwei Meter großen Mann ganz beträchtlich. Noch immer lächelte sie, hielt aber wegen der blendenden Helle die Augen geschlossen. »Da haben Sie recht«, stimmte De Forest ihr bei. »Doch ich fürchte, das Sonnenlicht ist noch zu stark für Ihre Augen. Wir lassen das Schiff tiefergehen.«
Er winkte der Victor Pirolo, sich zwischen uns und die Sonne zu schieben – und dabei die unruhig gewordnen Gefangenen mit einer Stromschlinge zu sichern. Die unter Strom Gesetzten erstarrten sofort, aber die Frau sprach weiter, mit sanfter und leiser Stimme: »Ich glaube nicht, daß ihr Männer es wahrhabt, wie bedeutungsvoll diese – nun, diese Art Vorgänge für eine Frau sind. Ich habe drei Kindern das Leben geschenkt, und wir Frauen werden nicht zulassen, daß unsre Kinder der Masse überantwortet werden! Das mag ein ererbter Instinkt sein. Menschenansammlungen führen zu Unruhen. Sie bringen die alten Zeiten zurück: Haß, Angst, Erpressung, Nötigung, Öffentlichkeit, kurz ›Das Volk‹ – eben das, das und nur das!« Sie zeigte dabei auf die Statue, und wieder begann die Menge zu murren. »Ja – wenn man die Leute gewähren ließe«, sagte De Forest. »Indes, diese kleine Affäre – « »Für uns Frauen ist es von großer Bedeutung, daß diese – diese kleine Affäre nie wieder vorkommen kann. Natürlich, ›nie wieder‹, das sagt sich so leicht, doch rein gefühlsmäßig wissen wir alle, wie wichtig es ist, jede Zusammenrottung schon in ihrem Keim zu ersticken! Jene sklavischen
Kreaturen« – sie wies mit der Linken auf die Gruppe der unterm Sperrstrom wie Seetang gezeitenhaft wankenden Arrestanten –, »jene paar Leute haben ja Freunde und Frauen und Kinder hier in der Stadt oder irgendwo draußen! Ihnen will man ja gar nichts antun, nicht wahr! Schrecklich, nicht auszudenken,
einen
Menschen
nach
fünf
oder
sechs
Jahrzehnten anständigen Lebens daraus zu vertreiben! Ich selber bin vierzig, ich weiß Bescheid! Und doch hat man das Bedürfnis, ein Exempel zu statuieren, denn kein Preis ist zu hoch, wenn damit diese – wenn damit diesen Leuten und allem, was zu ihnen gehört, ein Ende gemacht werden kann! – Ist Ihnen überhaupt klar, wovon ich rede, und hätten Sie auch noch die Güte, diese Statue da von Ihren Männern enthüllen zu lassen? Der Anblick ist sehenswert!« »Ich verstehe Sie wirklich vollkommen – doch glaube ich nicht, daß irgendeiner der Anwesenden, noch ohne etwas im Bauch zu haben, die Statue ansehen möchte – entschuldigen Sie mich für einen Moment!« De Forest wandte sich ab und rief das Schiff an: »Fangschlinge bereithalten, an Backbord, bitte!« Und dann, mit einiger Schärfe, wieder zu seiner Gesprächspartnerin: »Ein wenig Handlungsfreiheit könnten Sie uns in dieser Sache schon lassen!«
»Aber natürlich! Ich danke Ihnen für Ihre Geduld – ich weiß, meine Argumente sind töricht, aber ich – « Sie wandte sich halb zur Seite und sprach mit veränderter Stimme: »Vielleicht hilft das Ihnen bei der Entscheidung.« Sie streckte den rechten Arm aus, ein Messer war in ihrer Hand – doch bevor sie es an ihre Kehle oder auch Brust führen konnte, wurde die Waffe den Fingern entwunden, flog aus dem Schattenbereich des darüberschwebenden Schiffs und landete fünfzig Meter entfernt zu Füßen der Statue, wo sie im Sonnenlicht blitzte. Der gestreckte Arm blieb stocksteif in der Luft, bis der nachlassende Sperrstrom eine langsame Rückführung zum Körper erlaubte. Die übrigen Frauen wichen zurück und verdrückten sich zwischen die Männer. Pirolo rieb sich die Hände, und Takahira nickte beifällig. »Das war sehr klug von Ihnen, De Forest«, sagte er anerkennend. »Welch herrliche Pose!« sprach Dragomiroff vor sich hin, denn die erschrockene Frau war am Rande der Tränen. »Warum haben Sie mich dran gehindert? Ich hätt’ es getan!« schrie sie auf. »Daran zweifle ich nicht«, versetzte De Forest. »Aber wir können nicht zulassen, daß Sie Ihr Leben hingeben für diese
Leute. Ich hoffe, der Stromstoß hat Ihr Gelenk nicht verletzt – es ist schwierig, solch eine Fangschlinge zu dirigieren. Im übrigen glaube ich, daß Sie in bezug auf die Frauen und Kinder dieser Personen rechthaben. Wir nehmen sie alle mit uns, wenn Sie mir versprechen, keine Dummheiten mehr zu machen!« »Ich versprech’s – ich verspreche es Ihnen.« Sie riß sich gewaltsam zusammen. »Es ist für uns Frauen so wichtig! Wir wissen, was es bedeutet – ich hab’ nur gedacht, wenn Sie noch gesehen hätten, wie ernst es mir war – « »Ich hab’ es gesehen – der Punkt geht an Sie. Vom Fleck weg nehme ich jetzt all eure ›Hörigen‹ mit mir. Der Bürgermeister stellt
eine
Liste
von
sämtlichen
Freunden
und
Familienmitgliedern hier in der Stadt und auch im Umland zusammen und sendet mir dann die Betreffenden auf dem Luftwege nach – noch vor heute abend!« »Gewiß«, versetzte der Bürgermeister und stand auf. »Keefe, könnten Sie nicht, wenn es geht, den Altmarkt vollständig einebnen? Der jetzige Anblick ist nicht sehr schön, und für Kundgebungen wird der Platz nicht mehr benötigt.« »Wär’ es nicht besser, auch gleich die Statue verschwinden zu lassen, Herr Bürgermeister?« fragte De Forest. »Ich stelle
den Kunstwert ja nicht in Frage – aber ich glaube, sie ist eine Spur zu morbid!« »Wird gemacht, Sir – hallo, Keefe! Machen Sie erst noch Schluß mit dem Nigger, bevor Sie den Marktplatz verheizen! Ich geh’ an den Kommunikator und verlautbare für den Distrikt, daß der Ausschuß jetzt die Vollzugsgewalt hat. Wollen Sie etwas Spezielles durchgeben, Sir?« »Nichts. Wir können unsere Mannschaften nicht für Hinterwäldler verzetteln. Machen Sie weiter wie bisher, doch ab jetzt unter unserer Aufsicht. Arnott, nehmen Sie bitte Ihre Gefangenen an Bord! Landen Sie unser Schiff bei offenen Abflußluken. Wir warten inzwischen die Zerstörung des Kunstwerkes ab.« Die Häftlinge trotteten hinter Arnott einher, ununterbrochen redend, doch ohne zu gestikulieren – der Sperrstrom hinderte sie ja daran. Dann fuhren die Glattmacher an – je zwei zu Seiten der Statue –, wie auf Befehl sahen die Zuschauer weg, aber das wäre nicht nötig gewesen: Keefe drehte auf volle Stärke, und das Ding schmolz samt seiner Hülle dahin! Ich sah nur eine weißglühende Welle über den Sockel branden und konnte vor dessen Zerstieben gerade noch seine Aufschrift
entziffern: »Zum Ewigen Gedenken der Rechtsprechung durch Das Volk«. Die Menge sah es jubelnd mit an. »Herzlichen Dank«, sagte De Forest. »Doch jetzt wird es Zeit zum Frühstück, auch für Sie, nehm’ ich an. Leben Sie wohl, Herr Bürgermeister! Würde mich freuen, Sie wiederzusehen, doch hoffentlich nicht von Amts wegen in den kommenden dreißig Jahren! Empfehle mich, Madam! Ach ja – man fällt heutzutage gelegentlich seinen Nerven zum Opfer – ich spür’s an mir selber. Leben Sie wohl, Herrschaften! Ab jetzt unterstehen Sie dem tyrannischen Ausschuß, doch sollten Sie je das Bedürfnis empfinden, Ihre Fesseln zu sprengen, so geben Sie uns Bescheid! Das ganze freut uns nicht sehr. Alles Gute!« Inmitten des Abschiedsgeschreis begaben wir uns an Bord und hörten zu steigen erst auf, als der Stimmenlärm nur mehr ein Flüstern war. De Forest ließ sich auf das Sofa des Kartenraums fallen und wischte den Schweiß von der Stirn. »Nichts gegen Männer«, stieß er hervor und atmete auf. »Doch diese Weiber sind teuflisch!« »Und trotzdem«, erwiderte Pirolo munter, »hat sich die eine umbringen wollen!«
»Ich weiß. Deshalb hab’ ich ja signalisiert, eine Fangschlinge für sie bereitzuhalten. Ich muß mich dafür noch bei Ihnen entschuldigen, Arnott! Es war keine Zeit, Sie zu warnen, und Sie waren ja auch mit diesem Gesindel beschäftigt. Wer war’s übrigens, der reagiert hat auf mein Signal? Wirklich, ein feines Stück Arbeit!« »Das ist Ilroy gewesen«, versetzte Arnott. »Nur war der Stromimpuls etwas zu stark. Zwar ist es ein Kabinettstück, einer Dame das Messer glatt aus den Fingern zu funken – aber haben Sie nicht bemerkt, wie sie sich die Hand rieb? Ilroy hat ihr die Finger verbrannt. Pfuscharbeit nenne ich sowas!« »Es liegt mir fern, mich in Sachen der Borddisziplin zu mischen – aber seien Sie nicht zu hart zu dem Burschen! Wenn jene Frau sich umgebracht hätte, so wär’ es zu Mord und Totschlag gekommen – kein Gemeinschaftshöriger im Bezirk hätte es überlebt, einschließlich der gesamten Verwandtschaft, und das noch vor Abend!« »Genau darauf hatte sie’s angelegt«, bestätigte Takahira. »Und weil unsre Flotte schon weg ist, hätten wir es nicht verhindern können.« »Ich mag ja blöd genug sein, in einen Sperrkreis zu laufen«, widersprach Arnott. »Aber ich schicke die Flotte nicht weg,
bevor ich nicht sicher sein kann, daß der Wirbel vorbei ist. Die Flotte steht noch immer bereit, und ich lasse sie in Position, bis diese Hörigen abtransportiert sind aus dem Distrikt. Der letzte kleine Zusammenrottungsversuch hatte Mord und Totschlag in sich, liebe Freunde!« »Das alles sind nur die Nerven – sonst nichts!« sagte Pirolo. »Gegen Platzangst kann man nicht argumentieren.« »Man hat nicht den Eindruck, als hätten die Leute bisher schon viele Tote gesehn – oder doch?« frug Takahira. »In meinem neunzigjährigen Leben habe ich keinen einzigen Toten gesehn«, versetzte Dragomiroff, und es klang fast wie eine Entschuldigung. »Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb ich – vergangene Nacht – « Dergestalt stellte sich noch beim Frühstück heraus, daß keiner von uns – mit Ausnahme von Pirolo und Arnott – jemals eine Leiche gesehen oder dem Hinscheiden eines Menschen beigewohnt hatte. »Wir sind schon ein ulkiger Haufen – flattern da in der Luft herum, um die Geschicke dieses Planeten zu leiten«, lachte De Forest. »Jetzt, wo alles vorbei ist, kann ich’s ja sagen: meine größte
Befürchtung
war,
die
Sache
Menschenverluste durchziehn zu können!«
nicht
ohne
»Bei mir war’s nicht anders«, bestätigte Arnott. »Aber es ist kein Toter gemeldet, und ich habe überall nachgefragt. Was wird jetzt aus den Passagieren? Ich habe sie mittlerweile verpflegen lassen.« »Wir sind da in einer Zwickmühle«, sagte De Forest gedehnt. »Setzen wir sie an einem Ort ab, der uns nicht untersteht, so werden seine Bewohner das zum Anlaß nehmen, alle Verbindungen zu unterbrechen, ganz wie es in Illinois war, und wir müssen den Fall übernehmen. Und setzen wir sie in unserm Kontrollbereich ab, so bringt man sie um, kaum daß wir fort sind.« »Finden Sie?« sagte Pirolo nachdenklich. »Ich aber kann garantieren, daß diese Leute nach einer gewissen Zeit ganz friedlich aussterben werden. Wie steht’s denn mit ihrer Geburtenrate?« »Gehn Sie hinunter zu ihnen und fragen Sie sie!« sagte De Forest. »Wenn denen die Nerven durchgehn, so reißen sie mich in Stücke«, versetzte der Denker aus Foggia. »Glauben Sie wirklich? Also, was tun?« »Öffnen wir doch die Bodenluken!« Takahira ballte die Faust, den Daumen nach unten gestreckt.
»Doch wohl kaum – nach all der Mühe, die wir uns gemacht haben, um sie zu retten«, sagte De Forest. »Probieren Sie’s lieber mit London«, schlug Arnott vor. »Dort könnten Sie sogar den Teufel loslassen – und man würde ihn höchstens zum Essen einladen!« »Mann! Sie bringen mich da auf eine Idee! Vincent – natürlich, Vincent!« De Forest stellte den Hauptkommunikator so ein, daß wir mithören konnten, und schon nach wenigen Minuten füllte die mächtige, klangvolle Stimme von Leopold Vincent den Raum – die Stimme des Mannes, der schon seit dreißig
Jahren
ganz
Unterhaltungsprogrammen
London
mit
versorgt.
ausgesuchtesten Wir
grinsten
erwartungsvoll, als säßen wir in einer Loge der »Vereinigten Bühnen«, um einer Premiere beizuwohnen. »Wir haben da was für Sie aufgelesen«, begann De Forest die Unterredung. »Das hört man gern, alter Freund. Wenn es nur alt genug ist! Nichts geht über die alten Klamotten, wenn’s ums Geschäft geht! Haben Sie London, Chatham und Dover gesehn, in Earls Court? Nein? Mir war aber so, als hätte ich Sie dort bemerkt. Immense Sache! Ich habe dafür alte Dampfloks originalgetreu nachbauen lassen, auch die Schienen dazu – und alles von
Hand! Sogar stofftapezierte Sitze in den Waggons! Immense Sache! Noch die Fahrkarten waren aus echtem Papier – und dazu Polly Milton.« »Wie – Polly Milton tritt wieder auf?« rief Arnott begeistert. »Reservieren
Sie
mir
zwei
Logen
für
die
morgige
Abendvorstellung! Was singt sie denn jetzt, die Gute?« »Die alten Nummern, wie bisher. Nichts läßt sich damit vergleichen. Hört euch das einmal an, liebe Freunde!« Und Vincent hub an, mit aller Verschnörkelung zu intonieren:
»›O grausame Lichter von London, Wär’ unseren Thränen zu traun, Wir würden euch all’ drin ertränken, Ihr Lichter von London Town!‹
– Und hinterher flennen sie alle!« »Seht ihr?« sagte Pirolo mit entsprechender Handbewegung. »Die Leute von damals wurden beim Anblick der Massen zu Tränen gerührt! Sie wußten zwar nicht, warum – aber sie haben geweint. Wir Heutigen wissen es, aber weinen nicht mehr, außer, der alte und fette, geriebene Vincent zieht uns dafür das Geld aus der Tasche!«
»Sie haben’s nötig, mich alt zu nennen!« rief Vincent erheitert. »Ich bin ein Wohltäter der Öffentlichkeit – ich sorge dafür, daß die Leute schön brav sind und einig.« »Und ich bin De Forest, vom Ausschuß«, sagte De Forest beißend, »und will einen Handel abschließen mit Ihnen. Wie schon gesagt, ich habe da ein paar Leute kassiert, in Chicago.« »Nichts zu machen! Chicago, das ist ja – « »So hören Sie doch! Die sind einmalig – finden nicht ihresgleichen!« »Bauen die etwa Häuser aus Ziegeln in Ihrem Beisein – na? Das wär’ ein Bezugspunkt zu früher!« »Es ist eine unberührte, primitive Gemeinschaft mit sämtlichen alten Ideen.« »Mit Nähmaschinen und Tanz unterm Maibaum, mit Kochen auf
Leuchtgasrechauds,
mit
Streichhölzern
zum
Pfeifenanzünden und mit Pferdegespannen? Das hat Gerolstein schon letztes Jahr ausprobiert. Es war ein kompletter Versager!« De Forest blendete ihn wütend aus und beschrieb ihm dann in den höchsten Tönen unsere Tätigkeit während der letzten vierundzwanzig Stunden.
»Und sie machen’s in aller Öffentlichkeit«, sagte er abschließend. »Nichts kann sie abhalten davon. Je öffentlicher, desto besser. Stundenlang können sie reden – genauso wie Sie! So, jetzt sind wieder Sie dran!« »Sie wollen mir wirklich erzählen, die wissen noch, wie man wählt?« fragte Vincent erstaunt. »Die können das spielen?« »Was heißt da ›spielen‹? Sie leben es auch! Und erst ihre Gesichter! Sowas hat man noch nicht gesehen! Jedes Gesicht ein zerfurchter Vulkan! Neid, Haß und Bosheit, ganz offen zur Schau getragen. Und herrlich flexible Stimmen. Und außerdem können sie weinen!« »Laut? Und vor Publikum?« »Das garantiere ich Ihnen! Kein Funke Schamgefühl, nichts von Zurückhaltung in dem gesamten Verein! Es ist die Chance Ihres Lebens!« »Sie wollen doch nicht etwa sagen, die hätten auch ihre Wahlrequisiten dabei – den gesamten Stimmzettelzirkus, samt Wahlurnen und dergleichen?« »Verdammt
noch
mal,
nein!
Ich
bin
doch
kein
Lastentransporter. Wenden Sie sich doch direkt an Chicago, an dessen Bürgermeister – der läßt Ihnen alles zugehen, was Sie verlangen. Also, wie ist es?«
»Einen Moment noch: hat man in Chicago die Leute umbringen wollen? Das würde sich großartig machen auf unsern Kommunikatoren!« »Ja. Wir haben sie mit genauer Not vor dem heulenden Mob gerettet – wenn Sie wissen, was Mob bedeutet.« »Keine Ahnung«, bekannte der Große Vincent. »Na gut, die Leute werden es Ihnen persönlich erklären. Die können ja stundenlang Reden halten.« »Wieviele sind’s denn im ganzen?« »Wenn wir erst alle herübergeflogen haben – so um die hundert, einschließlich der Kinder. Die Alte Welt en miniature. Können Sie sich jetzt ein Bild machen?« »Hmm – ja. Aber wenn es ein Durchfaller wird, geht er auf meine Spesen, bedenken Sie das, alter Freund!« »Die können auf offener Straße die alten Kriegslieder singen, sich an Worten besaufen und sich zusammenrotten. Sie brechen auf echte, altmodische Weise in die Privatsphäre ein – und den Wahlschwindel machen sie jedesmal neu, bei jeder Frage, die man ihnen stellt.« »Was nicht noch alles!« spottete Vincent.
»Sie ungläubiger Thomas! Ich habe ein Dutzend von ihnen an Bord! Ich verbinde Sie jetzt direkt – probieren Sie es doch selber!« Er dreht den Schalter, und wir hörten zu. Sofort begannen zumindest fünf unsrer Passagiere im untern Verdeck, sich bei Vincent zu beschweren: man habe sie aus dem Schoß der Familie gerissen, allen Besitzes beraubt, ihnen beim Essen nicht einmal Fingerschalen gegeben, und sie in diesen stinkenden Kerker geworfen! »Aber das ist doch – « rief Arnott entgeistert. »Die lügen euch ja das Blaue vom Himmel! Es stinkt nicht in meinem unteren Deck, und die Fingerschalen hab’ ich mit eigenen Augen gesehen!« »In Kleinrußland redet mein Volk mitunter auch solches Zeug«, sagte Dragomiroff. »Aber wir unterhandeln mit ihnen – wir bringen niemanden um. Nein, sowas tun wir nicht – nie und nimmer!« »Aber es ist nicht wahr, was die sagen«, beharrte Arnott. »Was soll man mit Leuten anfangen, die sich nicht an die Tatsachen halten? Die sind ja nicht ganz bei Trost!«
»Schscht!« machte Pirolo, die Hand ans Ohr haltend. »Es ist gar nicht so lange her, da hat man noch überall auf diesem Planeten gelogen.« Dann hörten wir Vincents einschmeichelnde Worte. Ob die Herrschaften, fragte er, ihre Anschuldigungen auch öffentlich vorbringen würden – vor ganz großem Publikum? Wenn er, Vincent, ihnen Gelegenheit böte, gelobten sie hoch und heilig, so würde dieser Planet widerhallen von all dem Unrecht, das man ihnen angetan habe. Ihr Lebensziel sei es – ein Mann und zwei Frauen fielen einander ins Wort –, die Welt neu zu ordnen. Und, so komisch es klingt, es war das auch Vincents Idealvorstellung gewesen. Er bot ihnen eine Arena an, worin sie alles darlegen und am Beispiel des eigenen Lebens diesen Planeten auf ein gehobnes Niveau bringen könnten. Und er fand viele Worte zum Thema eines moralischen Aufschwungs unsrer sinnlosen Zivilisation durch die Vorführung einer intakten, der alten Lebensweise verpflichteten Gruppe von Menschen! Ob sie sich wohl, fragte er, dazu verstehen könnten, zumindest drei Monate lang unter seinen Auspizien und an einem Ort namens Earls Court, den er nicht ganz zu Unrecht als eines der geistigen Zentren dieses Planeten bezeichnete –
ob sie sich wohl zur Veredelung dieser Menschheit als Missionare betätigen wollten? Darauf bedankten sie sich und ersuchten (wir vernahmen ganz deutlich sein hochzufriedenes, heimliches Lachen) um etwas Bedenkzeit, um den Vorschlag erwägen und darüber abstimmen zu können. Die Wahl erfolgte sehr feierlich durch Abzählen der Köpfe – jeder Kopf eine Stimme – und fiel zu Vincents Zufriedenheit aus. Sein Angebot war akzeptiert, und man wählte danach zwei Dankesredner – den einen nannten sie »Antragsteller«, den andern »Antragsbefürworter«. Danach schaltete Vincent herüber zu uns, mit vor Dankbarkeit bebender Stimme: »Ich hab’ sie herumgekriegt. Habt ihr diese Reden gehört? Das ist echt, ist Natur, liebe Freunde! Sowas läßt sich nicht künstlich erzwingen! Und das Wählen ging ihnen so leicht von der Hand wie das Lügen! Ich habe bisher noch nie eine Truppe geborener Lügner gehabt! Gott segne euch, Freunde! Und vergeßt nicht: ab heute steht ihr auf der Liste für Dauerfreikarten, wann und wo immer, ein jeder von euch! Ah – Gerolstein wird zerplatzen vor Neid!« »So glauben Sie, daß diese Leute mitmachen werden?« fragte De Forest.
»Mitmachen? Unsre gesamte Kleinstadt wird den Verstand verlieren! Ich arrangiere eine Reihe von Stücken aus den vergangenen Zeiten, und diese Leute werden euch mit ihren Stimmen zum Lachen und Weinen bringen! Bei Gott, liebe Freunde, ich frag’ euch, wo sie nur all ihr Elend herhaben mögen auf dieser besten aller Welten? Ich mach’ ein historisches Schaustück über den Anfang der Welt, und Mosenthal soll die Musik dazu schreiben! Ich werde – « »Sehen Sie zu, ein Dorf aufzutreiben, noch vor heute abend! Wir treffen einander am Westlandeturm Nr. 15«, sagte De Forest. »Und vergessen Sie nicht, der Rest trifft schon morgen hier ein!« »Nur her damit«, sagte Vincent begeistert. »Sie machen sich keinen Begriff, wie schwierig es heutzutag auch für mich ist, etwas zu finden, das dem Publikum unter seine verwünschte, iridiumharte Haut geht! Aber jetzt hab’ ich es doch noch geschafft! Leben Sie wohl!« »Na gut«, meinte De Forest, als wir genug gelacht hatten. »Würde in London irgendein Mensch sich auf Korruptheit verstehen, so hätte ich Vincent und Gerolstein ausgespielt gegeneinander und meine Gefangenen zum Höchstpreis verschachert! Wie aber die Dinge nun einmal liegen, werd’ ich
heute abend bloß als ihr Rechtsberater fungieren, beim Abschluß ihrer Verträge. Sie werden mir ohnehin keine Ämter aufdrängen.« »Ab jetzt«, sagte Takahira, »ist es natürlich ein Unding, Mitglieder von Leopold Vincents neuer Theatergesellschaft hinter Gittern zu halten! Also Stühle her für die Damen, wenn ich bitten darf, Arnott!« »Da leg’ ich mich lieber schlafen«, sagte De Forest. »Ich kann heute keine Weiber mehr sehen!« Damit verschwand er. Sobald unsre Passagiere befreit und nochmals verköstigt waren (die Fingerschalen kamen diesmal als erstes), bekannten sie frei, was sie von uns und dem Kontrollausschuß hielten. Und wir wunderten uns nicht weniger als Vincent, wie sie es fertigbrachten, soviel Gift und Galle zu speien, soviel Unruhe aus diesem gottgewollt guten und friedlichen Leben zu ziehen! Sie tobten und zürnten, schlugen zornrot um sich, bis ihnen die Nerven
versagten,
sie
brüllten
sich
heiser
bis
zur
Stimmlosigkeit – und erneuerten dann ihre sinnlosen, unverschämten Attacken. »Aber begreift ihr denn nicht«, sagte Pirolo nachdrücklich zu einer der kreischenden Frauen, »ihr wäret umgebracht worden, wenn wir euch in Chicago gelassen hätten!«
»Nein, wären wir nicht! Es war eure Pflicht, unser Leben zu schützen!« »Dann hätten wir eine Unmenge anderer Leute umbringen müssen!« »Das spielt keine Rolle. Wir haben die Wahrheit verkündet. Ihr könnt uns nicht aufhalten. Und in London verhalten wir uns nicht anders – dann werdet ihr Augen machen!« »Das könnt ihr schon jetzt – schaut mal da hinunter!« sagte Pirolo und öffnete eine der unteren Lukenklappen. Soeben senkten wir uns auf unsere kleine Stadt London mit ihren drei Millionen Einwohnern, locker verteilt innerhalb ihres Außenrings von Hauptverkehrsfeuern – jenen acht unbeweglichen Strahlkegeln bei Chatham, Tonbridge, Redhill, Dorking, Woking, St. Albans, Chipping Ongar und Southend. Leopold Vincents neuengagierte Truppe spähte aus schmalen und bleichen Gesichtern hinab in die Stille und auf die riesige Fläche mit den vereinzelten Häusern. Und dann fingen etliche an, laut zu weinen, unverschämt laut – doch ohne die mindeste Scheu: ungeniert, schamlos wie immer!
Drahtlose Botschaft
»Komische Sache, dieses Marconigeschäft, nicht?« frug Mr. Shaynor und hustete heftig. »Angeblich macht’s keinen Unterschied, wie es hereinkommt – ob durch Gewitter, ob über Berge hinweg oder sonst irgendwie. Wenn das stimmt, so werden wir’s wissen, bevor’s wieder Tag ist!« »Natürlich stimmt es«, erwiderte ich und trat hinter das Pult. »Wo ist denn der alte Mr. Cashell?« »Er hat sich niedergelegt mit seiner Grippe. Hat gesagt, Sie würden wahrscheinlich hereinschaun.« »Und sein Neffe?« »Ist drinnen, gleich nebenan. Hat mir erzählt, bei den letzten Versuchen, als sie die Antenne auf dem Dach eines hiesigen großen Hotels installiert haben, sei durch die Batterien die gesamte Wasserversorgung unter Spannung geraten, und die Damen hätten beim Baden Elektroschocks abgekriegt in ihren Wannen.« »Davon hab’ ich überhaupt nichts gehört.«
»Hätte vielleicht das Hotel es bekanntmachen sollen? Eben jetzt sind sie dabei – soviel Mr. Cashell mir mitgeteilt hat –, von hier aus mit Poole in Verbindung zu treten, mit noch viel stärkeren Batterien als damals auf dem Hoteldach. Aber er ist ja der Neffe des Hausherrn (und auch die Presse berichtet darüber) – da spielt’s keine Rolle, wenn hier im Haus etwas elektrisiert wird. Möchten Sie zusehn?« »Aber gern! Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Gehen Sie denn nicht schlafen?« »An Samstagen schließen wir erst um zehn Uhr. Überdies geht auch die Grippe um in der Stadt, da kommen bis morgen noch ein Dutzend Rezepte herein. Normalerweise schlaf ich gleich hier im Fauteuil – es ist wärmer, als jedesmal aus den Federn zu müssen. Ganz schön kalt heute, nicht?« »Draußen ist Frost. Tut mir leid, daß sich Ihr Husten verschlimmert hat!« »Vielen Dank, ‘ne Erkältung macht mir nicht allzuviel aus. Nur dieser Wind – er geht mir durch Mark und Bein.« Ein weiterer Hustenkrampf schüttelte ihn – und eine alte Dame trat ein und wollte Chininlösung haben. »Chinin in Flaschen ist ausverkauft«, sprach geschäftsmäßig Mr. Shaynor. »Aber
wenn Sie sich zwei Minuten gedulden, so mach’ ich es für Sie fertig, gnädige Frau!« Seit einiger Zeit war ich Stammkunde hier, und aus der Bekanntschaft mit dem Geschäftsführer war mittlerweile etwas wie Freundschaft geworden. Aber es war Mr. Cashell gewesen, der mir Zweck und Einfluß der Apothekerkammer dargelegt hatte, seinerzeit, als einem Fachkollegen bei einem meiner Rezepte ein Fehler passiert war, den er durch faule Ausreden kaschieren gewollt. Und als dann solches Vertuschen offenbar wurde, hatte er allerlei Briefe geschrieben. »Ein Schandfleck für unsern Beruf!« hatte der dürre, sanftblickende Mann erbittert gerufen, als ich ihm den Fall erzählte. »Sie könnten unserem Stand keinen besseren Dienst erweisen, als sich an die Kammer zu wenden!« Nun, das tat ich denn auch, freilich ohne zu wissen, welche Geister ich damit wachrufen würde. Die zogen ein Einbekenntnis nach sich, das wie durch nachtlange Folter erzwungen wirkte und meinen Respekt vor der Kammer nicht minder vertiefte wie meine Hochachtung vor Mr. Cashell, diesem tüchtigen Fachmann, der seinem Beruf alle Ehre machte.
Bevor
Mr.
Shaynor
aus
dem
Norden
hierhergekommen, waren die Angestellten durchaus nicht einer
Meinung mit Mr. Cashell gewesen. »Die Leute begreifen es nicht«, so behauptete er, »daß der Arzneihersteller zu allererst Medizinmann ist. Von ihm hängt der Ruf des behandelnden Arztes ab. Der ist ihm buchstäblich in die Hände gegeben, mein Lieber!« Mr. Shaynors Art war vielleicht nicht so höflich und glatt wie nebenan im italienischen Kaufhaus, aber er kannte und liebte sein Apothekergeschäft bis ins kleinste Detail. Zu seiner Entspannung schien ihm die Geschichte des Drogen- oder Arzneiwesens voll zu genügen – dazu bedurfte es keiner Reisen. Indes, die Entdeckung und Zubereitung der Drogen, ihre Verpackung und ihr Export führten ihn bis ans Ende der Welt,
und
in
diesem
Punkte,
zusammen
mit
der
Pharmazeutischen Formelsammlung und dem verläßlichen Buch von Nicholas Culpepper, waren wir einer Meinung. Auch wurde mir nach und nach etliches von Mr. Shaynors Anfängen und Aspirationen klar – seine Mutter war Lehrerin gewesen in einer nördlichen Grafschaft, sein rothaariger Vater, ein kleiner Fuhrwerksund Pferdeverleiher in Kirby Moors, war früh verstorben, noch in Mr. Shaynors Kindertagen. Auch hörte ich von seinen Prüfungen und wie sie von Mal zu Mal schwieriger wurden, von seinem Traum, einen Laden in London zu haben,
von seinem Haß auf die Genossenschaftsläden, welche die Preise verdarben, und schließlich – als Interessantestes – vom Verhältnis zu seinen Kunden. »Man kommt schon mit ihnen zurecht«, erklärte er mir, »und zwar
durch
peinlich
Zuvorkommenheit,
genaue
ohne
das
Bedienung eigene
und
durch
Denken
dabei
abzuschalten. Ich habe im ganzen heurigen Herbst Christies Neue Heilpflanzenkunde von A bis Z durchgeackert, und da muß man sich schon gehörig hineinknien, glauben Sie mir! Und solange es nicht um Rezepte geht, behalte ich gut und gern eine halbe Seite im Kopf und verkaufe dabei noch zweimal den Schaufensterinhalt – und die Rechnung stimmt auf den Groschen genau! Und was die Verschreibungen angeht – das klappt, im großen und ganzen, fast schon im Schlaf!« Ich war damals aus privaten Gründen äußerst interessiert an den in England noch neuen Marconi-Experimenten, und Mr. Cashell, in seiner sprichwörtlichen Rücksicht, hatte mich, wie schon erwähnt, zu sich ins Haus geladen, als dort sein Neffe, welcher Elektriker war, eine Funkstation für den Fernempfang installierte. Die alte Dame mit ihrer Arznei war gegangen, und Mr. Shaynor und ich stampften auf dem gekachelten Boden herum
im Bestreben, uns warmzuhalten. Der Laden im Licht seiner vielen Lampen ähnelte einem Pariser Juwelengeschäft, denn Mr. Cashell glaubte fest an das komplette Ritual seiner Profession: drei prächtige Glaskrüge, rot, grün und blau – von der Art, für die Rosamund sich von ihren Schuhen getrennt hat –, funkelten in dem breiten, spiegelverglasten Schaufenster, und die Luft im Lokal roch nach Dürrkräutern, Kodakfilmen, Hartgummi, Zahnpulver, Mandelcreme und Parfümbeutelchen. Mr. Shaynor schürte das Feuer im Ofen der Apotheke, und wir lutschten
Cayennepastillen
und
Mentholhustenbonbons.
Draußen, im beißenden Ostwind, lag die Straße wie ausgestorben, und die wenigen Passanten waren vermummt bis an die zusammengekniffenen Augen. Vor dem benachbarten italienischen Laden hing an Haken buntfarbenes Federvieh und etliches Wildbret und schlug im Winde beständig gegen den linken Rand unseres Schaufensterrahmens. »Die sollten das Viehzeug lieber hineinbringen bei diesem Sturm, statt es da draußen zerbeuteln zu lassen«, meinte Mr. Shaynor. »Das ist ja, um aus der Haut zu fahren! Sehen Sie nur dieses Hasenvieh! Der Wind bläst ihm ja noch das Fell vom Kadaver!«
Ich sah, wie die Bauchbehaarung des totgeschossenen Tiers sich im Wind streifig teilte und die bläuliche Haut offenlegte. »So eine Kälte!« rief Mr. Shaynor, und es schüttelte ihn. »Unvorstellbar, jetzt noch ins Freie zu müssen! Oh – da kommt ja der junge Mr. Cashell!« Die Tür zum Nebenraum der Apotheke ging auf, und ein energisch aussehender, spitzbärtiger Mann trat heraus, rieb sich die Hände und sagte: »Shaynor, ich brauche ein Stück Stanniol. – Guten Abend, die Herren! Mein Onkel hat mir schon gesagt, daß Sie möglicherweise hereinschauen würden.« Damit meinte er mich, der ich schon ansetzte zu meiner ersten der hundert Fragen, die mir auf den Lippen brannten. »Ich habe jetzt alles beisammen und fertig«, versetzte er nur. »Wir
müssen
noch
warten,
bis
Poole
sich
meldet.
Entschuldigen Sie, ich muß wieder weg. Sie können ja jederzeit zu mir hinein – aber ich darf meine Apparatur jetzt nicht sich selbst überlassen. Das Stanniol, bitte – und vielen Dank!« Während unseres Gesprächs war ein Mädchen – offenbar keine Kundin – hereingekommen, und Mr. Shaynors Miene
und Haltung änderten sich sogleich. Vertraulich beugte die Eingetretene sich über den Ladentisch. »Aber ich kann doch jetzt nicht«, flüsterte Mr. Shaynor betreten. Seine Wangen liefen rot an, er zitterte wie ein betäubter Nachtfalter. »Ich kann jetzt unmöglich weg! Bin ja ganz allein hier.« »Woher denn! Und wer ist das} Er soll dich auf eine halbe Stunde vertreten! Ein erfrischender Rundgang tut dir ganz gut! Also, John – komm schon!« »Aber er ist ja nicht – « »Mir doch egal! Ich will, daß du mitkommst. Nur einmal rund um St. Agnes. Und wenn du jetzt nicht auf der Stelle – « Er trat zu mir in das Halbdunkel hinterm Verkaufspult und fing an, umständlich herumzureden, eine befreundete Dame… »Aber gewiß doch«, fiel sie ihm ins Wort. Und dann, zu mir gewendet, »Sie passen jetzt eine halbe Stunde hier auf – mir zuliebe, das werden Sie doch?« Ihre Stimme war äußerst sympathisch und klangvoll. »In Ordnung, mach’ ich«, versicherte ich. »Sie aber, Mr. Shaynor, sollten sich erst noch warm anziehn!« »Oh, die frische Luft wird mir guttun. Wir gehn ja nur um die Kirche herum.« Als die beiden ins Freie traten, hustete er ganz
erbärmlich. Ich kümmerte mich um das Feuer und machte ausgiebig
Gebrauch
von
Mr.
Cashells
Kohlenvorrat.
Allmählich wurde es wärmer im Laden. Sodann hielt ich Nachschau in den zahllosen Schubladen, die mit gläsernen Griffen die Wände säumten, kostete etliche nicht ganz geheure Arzneien und mischte mithilfe von Cardamonkörnern, pulverisiertem Ingwer und Chloroform, mit Alkohol verdünnt, ein neues, verrücktes Getränk zusammen, von dem ich ein Glasvoll dem jungen, im Hinterzimmer beschäftigten Cashell hinüberbrachte. Er lachte hellauf, als ich ihm sagte, Mr. Shaynor sei ausgegangen – ließ aber dabei eine dünne Drahtspule nicht aus den Augen und hatte kein weiteres Wort für meine Verwirrtheit inmitten all der Batterien und Drähte. Nach und nach verstummte der Straßenverkehr, das Rauschen der See wurde vom Strand her vernehmbar – und dann erst erklärte er mir kurz und bündig das Funktionieren der ringsum auf Tischen und auf dem Fußboden verteilten Apparatur. »Für wann erwarten Sie, daß Poole sich meldet?« fragte ich, während ich meinen Likör aus einem Meßglase nippte. »Um Mitternacht, wenn alles klappt. Wir haben unsre Empfangsantenne draußen am Hausdach fixiert. Ich würde Ihnen nicht raten, heut nacht einen Wasserhahn anzufassen
oder dergleichen. Wir haben das Ganze an der Steigleitung geerdet, und so ist alles Wasser elektrisiert.« Und dann wiederholte er die Geschichte von der Aufregung unter den Damen im Hotel seiner ersten Installation. »Aber was hat es in Wahrheit damit auf sich?« fragte ich. »Wissen Sie, Elektrizität – das ist wirklich nicht mein Gebiet!« »Ach – wenn Sie das wüßten, wären Sie um ein gutes Stück klüger als alle andern. Es ist, was es ist – wir sagen dazu Elektrizität, aber der Zauber, die Manifestierung, die Hertzschen Wellen – werden erst dadurch aktiv: wir nennen es den Kohärer.« Er hob ein Glasröhrchen an, nicht viel dicker als ein Thermometer, worin sich in ganz engem Abstand zwei winzige Silberkontakte befanden und zwischen ihnen ein Hauch metallischen Staubes. »Das ist es«, sprach er so stolz, als hätte er dieses Wunder erfunden. »An diesem Ding wird die Kraft offenbar, welcher Art immer sie sein mag – und wird aktiv, über den Raum und weite Distanzen.« In diesem Moment kam Mr. Shaynor zurück. Er war allein, stand auf dem Fußabstreifer und hustete sich schier das Herz aus dem Leib. »Geschieht Ihnen ganz recht für Ihre Blödheit!« rief der junge Cashell. Ihn ärgerte ja diese Störung genauso wie mich.
»Egal – wir haben die ganze Nacht noch vor uns, um das Wunder zu sehen.« Shaynor klammerte sich ans Verkaufspult und hielt das Taschentuch gegen die Lippen gepreßt. Als er es vom Mund nahm, sah ich zwei hellrote Flecken darauf. »Ich – ich hab’ nur ‘nen rauhen Hals – kommt von den Zigaretten«, erklärte er krächzend. »Vielleicht hilft mir eine Kubebe.« »Nehmen Sie lieber das. Ich hab’ es zusammengebraut, während Sie weg waren.« Damit reichte ich ihm die Mixtur. »Es macht mich doch nicht betrunken? Ich nehme sonst nichts, außer Tee. – Bei Gott! Das tut gut und beruhigt!« Er stellte das leere Glas ab und begann wieder zu husten. »Brr! So eine Kälte da draußen. Nicht mal im Grab liegen möcht’ man in so einer Nacht! Haben Sie schon einmal einen Raucherhusten gehabt?« Verstohlen sah er sein Taschentuch an – und steckte es weg. »Oh ja, mitunter«, antwortete ich und überlegte im stillen, welchen Schreck ich empfinden würde, sollte ich jemals so rote Alarmzeichen vor meiner Nase haben. Der junge Cashell bei seinen Batterien deutete mit einem Räuspern an, daß er seine wissenschaftlichen Darlegungen fortsetzen wolle, doch
ich gedachte noch immer des Mädchens mit der volltönenden Stimme und dem schöngeschnittenen Mund, auf deren Befehl ich mich um den Laden gekümmert hatte. Und mir fiel plötzlich auf, daß da eine Ähnlichkeit war zwischen ihr und dem suggestiven Mundwasserplakat im Schaufenster, dessen Lockung im roten Reflexlicht des Glaskrugs nahezu unsittlich wirkte. Und als ich mich wandte, gewahrte ich, daß Mr. Shaynor gleichfalls das goldgerahmte Plakat anstarrte, und erkannte rein instinktiv, daß er in dem flammenden Ding eine Art Heiligtum sah. »Was nehmen Sie denn gegen Ihre – gegen den Husten?« fragte ich ihn. »Nun – auf meiner Seite des Ladentischs hält man nicht viel von Patentmedizinen. Wir haben da Asthmazigaretten und Hustenpastillen. Doch wenn ich aufrichtig sein soll und Ihnen der Weihrauchgeruch nichts ausmacht, so sind mir Blaudett’s Kathedralpastillen am liebsten, obwohl ich nicht römischkatholisch bin.« »Na, dann probieren wir sie!« Ich hatte bisher noch niemals in einer Apotheke gekramt und machte es deshalb sehr gründlich. Schließlich förderten wir die Pastillen ans Licht – braune Zäpfchen aus Benzoegummi – und entzündeten sie
unter Shaynors Mundwasserplakat. Der bläuliche Rauch stieg in dünnen Spiralen empor. »Aller Eigenbedarf aus dem Laden«, erläuterte Mr. Shaynor auf meine Frage, »geht natürlich auf eigene Rechnung. Na ja – die Lagerhaltung in unserm Geschäft ist nicht viel anders als beim Juwelier, mehr kann ich dazu nicht sagen. Immerhin hat man das Zeug« – und er wies auf die Zäpfchenschachtel – »ja zum Großhandelspreis.« Offenbar war die Beweihräucherung jenes so fröhlich die Zähne bleckenden, siebenfarbigen Mundwassermädchens ein ständiges Ritual, das er sich was kosten ließ. »Wann sperren wir eigentlich zu?« »Wir lassen die ganze Nacht offen. Der Alte – Mr. Cashell – verläßt
sich
lieber
aufs
Licht
als
auf
Läden
und
Vorlegeschlösser. Außerdem ist’s ein Geschäft. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, bleib’ ich ganz einfach hier sitzen, neben dem Ofen, und schreib’ einen Brief. Ihre drahtlose Elektrizität ist nicht mein Fall.« Drinnen der junge Cashell machte sich räuspernd bemerkbar, und Shaynor ließ sich in seinen Lehnsessel fallen, über den er, gleich einer Tischdecke, einen schwarzrotgelben Überwurf gebreitet
hatte.
Ich
suchte
zwischen
all
den
Patentmedizinbroschüren nach etwas zum Lesen, fand aber nichts, und machte mich deshalb nochmals an die Zubereitung meines Gesöffs. Vorm italienischen Laden nahm man das Wildbret vom Haken und sperrte zu. Von der anderen Straßenseite reflektierten die blanken Rolläden das Gaslicht in kalten,
verschwommenen
Flecken,
das
aufgetrocknete
Straßenpflaster schien unter den Stößen des grimmigen Winds sich mit einer Gänsehaut zu überziehen, und lange bevor er vorbeikam, vernahmen wir schon den sich nähernden Polizisten, der sich durch Armschlagen warmhalten wollte. Hier drinnen lagen der Kardamon- und Chloroformgeruch im Widerstreit mit den Düften von Seife, Parfüm und allerlei Drogen. Die Beleuchtung am unteren Schaufensterrahmen vor den bauchigen Rosamundkrügen warf drei monströse Streifen aus Rot, Blau und Grün zu uns herein, deren Farben sich kaleidoskopartig
brachen
an
den
facettierten
Schubladengriffen, den geschliffnen Parfümflacons und den blanken Siphonflaschenverschlüssen. Das gab auf dem weißgekachelten Boden ein prachtvolles Farbengemisch, welches
sich
Verkaufspultes
in
den
spiegelte
silbrigen und
Nickelbeschlägen die
des
hochglanzpolierten
Mahagonipaneele marmorierte mit zahllos-porphyrnen und
malachitenen Flecken. Mr. Shaynor zog eine Lade heraus und entnahm ihr, bevor er zu schreiben begann, einen dünnen Pack Briefe. Von meinem Ofenplatz aus sah ich den welligen Rand des Papiers und auch dessen protziges Monogramm an den Ecken – ja, sogar noch den leichten Chypreduft nahm ich wahr. Nach jeder weiteren Seite sah er verklärt auf die Mundwasserdame im Fenster. Den Überwurf hatte er um die Schultern gelegt und glich nun im Wechselspiele des Lichts mehr denn je einem betäubten Nachtfalter – einem Bärenspinner vielleicht, wie mir einfiel. Er kuvertierte sein Schreiben, frankierte den Umschlag mechanisch und steif – und legte ihn in die Lade zurück. Erst jetzt wurde mir die Stille der schlafenden Großstadt bewußt – eine Stille, die noch das gleichmäßig schwebende Brausen der Brecher am Strand untermalte –, eine dichte, summende Stille aus bettwarmem Leben, das nur auf Abruf zur Ruhe gelegt ist – und unwillkürlich bewegte ich mich in dem glitzernden Laden
so
lautlos,
als
befände
ich
mich
in
einem
Krankenzimmer. Der junge Cashell nebenan war mit seinen Drähten beschäftigt, die elektrischen Funken knackten und knisterten wie überdehnte Gelenke. Von oben vernahm ich ein
eiliges Öffnen und Schließen der Tür und das Husten seines zu Bett gegangenen Onkels. »Da«, sagte ich, als das Getränk warm genug war, »probieren Sie’s, Mr. Shaynor!« Er drehte sich mit einem Ruck im Sessel herum und streckte die Hand nach dem Glas. Die Mixtur war sattrot wie Portwein, und sie moussierte. »Das sieht aus«, sprach er plötzlich, »wie – ich meine die Bläschen – als würde da eine Perlenschnur glänzen – oder vielmehr, wie die Perlenkette am Hals der jungen Dame da drüben.« Abermals wandte er sich dem Plakat zu, auf dem jenes Weib im taubengrauen Korsett sich vorm Zähneputzen all ihre Perlen umgehängt hatte. »Gar nicht so schlecht, was?« fragte ich. »Wie sagten Sie?« Er starrte mich an, und während ich hinsah, erstarb das Verstehen in den weitoffnen Augen. Der Körper verlor seine Steifheit, sackte im Lehnstuhl zusammen, das Kinn sank ihm auf die Brust, die Hände erschlafften und hingen herab, und so verblieb er: offenen Blicks und vollkommen reglos.
»Ich fürchte, ich hab’ Mr. Shaynor die Suppe versalzen!« Damit reichte ich dem jungen Cashell das frischgebraute Getränk. »Vielleicht war’s das Chloroform!« »Ach – der ist schon in Ordnung.« Der spitzbärtige Mann sah mitfühlend nach nebenan. »Schwindsüchtige sind rasch hinüber, oft bei nur ganz schwacher Dosierung. Es ist die körperliche Erschöpfung… Es wundert mich nicht, ja ich möchte sagen, das Zeug tut ihm sogar gut – eine vortreffliche Mischung!« Damit trank er das Glas genießerisch leer. »Ja – wir waren gerade – bevor er hereingeschneit kam – bei diesem kleinen Röhrchen, dem sogenannten Kohärer. Das bißchen Staub darin, das sind Nickelfeilspäne. Und die Hertzschen Wellen, die der Sender ausstrahlt, durch queren die Leere und kommen herein – verstehn Sie –, und diese kleinen Partikel verbinden sich untereinander – wir sagen, sie kohärieren –, solange der Strom sie durchläuft. Dabei muß man wissen, es ist Induktionsstrom. Es gibt vielerlei Induktion – « »Ja – aber was ist Induktion?« »Das ist laienhaft schwer auszudrücken. Aber der langen Rede kurzer Sinn ist, daß der elektrische Strom, durch einen Draht geleitet, einen starken Magnetismus hervorruft, so daß bei Parallelführung eines zweiten Drahtes innerhalb solchen
Magnetfelds, wie wir es nennen – also, mit einem Wort, auch dieser zweite Draht wird elektrisch geladen.« »Nur so, von sich aus?« »Von sich aus.« »Also, wenn ich es richtig verstehe: Meilen entfernt, in Poole, oder wo immer – « »Noch zehn Jahre, und an jedem beliebigen Ort.« »… haben Sie einen elektrisch geladenen Draht – « »Geladen mit Hertzschen Wellen, welche vibrieren – sagen wir, zweihundertdreißigmillionenmal pro Sekunde.« Mr. Cashell
beschrieb
mit
dem
Finger
eine
rasche
Wellenbewegung. »Nun gut – ein elektrisch geladener Draht strahlt also in Poole diese Schwingungen aus. Und Ihr in die Luft ausgefahrener Draht – auf diesem Haus da – wird auf mysteriöse
Weise
gleichfalls
mit
diesen
von
Poole
ausgestrahlten Wellen geladen – « »Sie könnten ebensowohl von anderswo kommen – zufällig diesmal aus Poole.« »Und diese Wellen betätigen dann den Kohärer? Wie einen gewöhnlichen Morse-Empfänger im Telegraphenbureau?«
»Aber nein! Eben dies ist der Punkt, wo so viele sich irren! Die Hertzschen Wellen sind viel zu schwach. Sie können einen so großen und schweren Morse-Empfänger gar nicht in Tätigkeit setzen, sondern bloß diesen Staub kohärieren – und während er kohäriert (für einen Punkt nur ganz kurz, für einen Strich etwas länger), kann der Strom aus dieser Batterie, der Empfängerbatterie« – er legte die Hand auf das Ding – »den Morseschreiber durchlaufen und die Punkte und Striche ausdrucken. Ich will es noch deutlicher sagen: kennen Sie sich mit dem Dampfbetrieb aus?« »Nur wenig – aber fahren Sie fort!« »Sehen Sie, der Kohärer, das ist wie ein Dampfventil. Jedes Kind ist imstande, solch ein Ventil aufzudrehn und die Maschinerie in Betrieb zu setzen – eine Drehung der Hand läßt den Betriebsdampf einströmen, nicht? Nun ist aber diese Empfängerbatterie, welche die Morsezeichen ermöglicht, so etwas wie der Betriebsdampf. Der Kohärer fungiert als Ventil, das man nur aufzudrehn braucht. Und somit ist die Hertzsche Welle die Kinderhand, die es betätigt.« »Jetzt hab ich’s begriffen – aber das grenzt ja an Wunder!« »Ganz recht – es ist wunderbar! Und bedenken Sie noch, wir stehen damit erst am Anfang! Zehn Jahre später, und es wird
nichts mehr geben, das wir nicht verwirklichen könnten! So lange möcht’ ich noch leben – du lieber Gott, wie gern ich das noch erleben möchte, auch die ganze Entwicklungsarbeit!« Er warf einen Blick durch die Tür nach nebenan, auf den leise atmenden Shaynor im Lehnstuhl. »Armer Kerl! Und wünscht sich so sehr, mit Fanny Brand beisammen zu sein.« »Fanny – wer?« fragte ich. Irgendwie kam mir der Name bekannt vor – hatte zu tun mit einem blutfleckigen Taschentuch und dem Begriff »arteriell«. »Fanny Brand – das Mädchen, für die Sie auf den Laden aufgepaßt haben!« Er lachte. »Mehr weiß ich nicht über ihre Person und kann auch ums Leben nicht das in ihr sehen, was Shaynor in ihr zu sehen vermeint – oder auch sie in ihm.« »Wirklich? Sie können nicht sehen, was er an ihr findet?« »Ach – das, was Sie meinen, schon! Ein großes und festes Stück Weib ist sie, alles in allem! Das wird auch der Grund sein, daß er so verrückt nach ihr ist. Aber sie paßt nicht zu ihm. Na – das spielt sowieso keine Rolle. Mein Onkel sagt immer, daß Shaynor das neue Jahr nicht mehr erlebt. Jedenfalls hat Ihr Gesöff ihm zum Schlafen verholfen.« Der junge Cashell konnte Shaynors Gesicht nicht erkennen, weil es abgewandt war, in Richtung auf das Plakat.
Ich schürte das Feuer im Ofen, denn im Zimmer wurde es kälter, und brannte ein weiteres Zäpfchen an. Mr. Shaynor in seinem Lehnstuhl verharrte noch immer bewegungslos und starrte mit weitoffnen, glanzlosen Augen durch mich hindurch oder über mich weg wie ein totgeschossener Hase. »In Poole haben sie Verspätung«, sagte der junge Cashell, als ich zurückkam. »Ich werd’ sie jetzt rufen.« Er drückte im Halbdunkel auf eine Taste, und unter prasselndem Knistern entstand eine Funkenbrücke zwischen zwei Draht-Enden – wahre Garben von Funken! »Großartig, nicht? Das ist die Kraft – unsre nicht näher bekannte Kraft, die nur darauf aus ist, losgelassen zu werden«, sagte der junge Cashell. »Da geht sie hin – zack-zack-zack –, hinaus in den Raum! Ich komm’ über diese Unbegreiflichkeit nie hinweg, so oft ich auf Senden schalte – daß da Wellen hinausstrahlen in die Leere! ›T. R.‹ – das ist unser Rufzeichen. Die Antwort von Poole müßte ›L. L. L.‹ sein.« Wir warteten ab – zwei, drei, fünf Minuten. In der Stille, zu der auch das ferne Brausen der See gehörte, vernahm ich vom Dach her das Scharren der Antennenverspannung im Wind. »Poole ist noch nicht auf Empfang. Ich bleib’ dran und rufe Sie, wenn es soweit ist.«
Ich begab mich wieder in den Laden hinüber und stellte mein Glas unbedacht laut auf eine der Marmorplatten. Das Geräusch riß Shaynor aus seinem Schlummer – er sprang auf und starrte von neuem auf das Plakat, wo die junge Dame im Rotlicht des Glaskrugs ihre Perlen so einfältig grinsend zur Schau trug. Unaufhörlich bewegten sich seine Lippen. Ich trat näher, um besser zu hören:∗ »And threw – and threw – and threw«, wiederholte er, und sein Gesicht war gespannt wie in unaussprechlicher Pein. Erstaunt trat ich noch etwas näher hinzu – und erst jetzt fand er Worte und äußerte sie klar und deutlich:
And threw warm gules on Madeleine’s young breast (Und warf ein warmes Rot auf Madeleines junge Brüste.)
Die Verstörtheit wich von seiner Miene, er trat leise an seinen vorigen Platz und rieb sich die Hände. Mir war noch nie aufgefallen, obwohl wir schon öfter zum Zeitvertreib über Lektüre und literarische Vergleiche diskutiert hatten, daß Mr. Shaynor jemals Keats gelesen haben oder gar ∗
Die von Keats inspirierten oder auch originalen Zitate sind auf deutsch nicht immer nachvollziehbar und im folgenden nur interlinear übersetzt. Anm. d. Ü.
imstande sein könnte, ihn so präzis zu zitieren. Nun war da freilich jener Kirchenfenster-Effekt auf dem üppigen Busen des Hochglanzplakats, der bei einiger Phantasie jene Gedichtzeile in Mr. Shaynor ausgelöst haben mochte – wie etwa ein schäbiger Farbdruck sein unvergleichbares Vorbild in uns heraufrufen kann. Die Nacht, mein Gebräu und die Verlassenheit hier im Laden bewirkten jetzt ganz offenbar, daß Mr. Shaynor zum Dichter wurde! Er setzte sich wieder hin und begann eilig zu schreiben auf seinem verschmierten Notizblatt. Die Lippen zitterten ihm noch immer. Leise schloß ich die Tür nach nebenan und trat knapp hinter ihn. Er schien das gar nicht zu merken – nahm seine Umgebung nicht wahr. Ich blickte ihm über die Schulter und entzifferte zwischen halb hingeworfenen
Wörtern,
zwischen
Satzanfängen
und
unleserlichem Gekritzel: –
– Very cold it was. Very cold The bare – the hare – the hare – The birds – (Es war sehr kalt. Sehr kalt / Dem Hasen – Hasen – Hasen – / Den Vögeln – )
Dann hob er plötzlich den Kopf, sah stirnrunzelnd auf die leeren Läden der Geflügelhandlung, dort, wo sie den Rand unsres Schaufensters überragten. Und dann folgte die deutlich lesbare Zeile: –
The hare, in spite of fur, was very cold. (Dem Hasen war, trotz seinem Fell, sehr kalt.)
Jetzt wandte der Kopf sich mechanisch wieder nach rechts, zu dem Plakat, vor welchem Blaudetts Kathedralpastillen noch immer
zum
Himmel
stanken.
Irgendwas
vor
sich
hinbrummend, schrieb er weiter: –
Incense in a censer – Before her darling picture framed in gold – Maiden’s picture – angel’s portrait – (Weihrauch aus einem Faß – / vor ihrem süßen Bildnis, goldgerahmt – / Jungfräulich – engelhaft – )
»Schscht!« ließ sich Cashell behutsam von drüben vernehmen, als wären dort Geister zugegen. »Da kommt etwas durch, von irgendwoher – aber Poole ist es nicht!« Ich hörte das
Funkengeknister, als er auf Senden umschaltete. Auch im Kopf begann’s mir zu knistern – doch waren es wohl nur die Haare darauf. Und gleich danach hörte ich mich heiser flüstern: »Mr. Cashell – auch hier herüben kommt etwas durch – bleiben Sie drüben, bis ich Sie rufe!« »Aber ich habe geglaubt, Sie wollten sich dieses Wunderding ansehen – Sir!« Das ›Sir‹ hatte recht indigniert geklungen. »Lassen Sie mich, und bleiben Sie drüben, bis ich Sie rufe! Und seien Sie still!« Ich beobachtete angestrengt – wartete ab. Unter der blaugeäderten Hand- der dürren Hand eines Schwindsüchtigen – kam jetzt deutlich und ohne Streichung zum Vorschein: –
And my weak spirit fails To think how the dead must freeze –
und mit zitternder Hand schrieb er weiter –
Beneath the churchyard mould. (Und mein matter Geist nicht fähig / Auszudenken, wie’s die Toten frieren muß – / Unter des Kirchhofs Erde)
Damit hielt er inne, legte die Feder zur Seite und lehnte sich wieder zurück. Für einen Augenblick – der für mich eine halbe Ewigkeit war – drehte sich der Verkaufsraum vor meinem Blick wie ein irisierender Wirbel, durch welchen ich leidenschaftslos meiner eigenen Seele zusah, wie sie sich wehrte gegen übermächtige Angst. Dann stieg mir der Zigarettengeruch aus Mr. Shaynors Anzug in die Nase, und ich vernahm seinen rasselnden Atem – mir war er wie Trompetengeschmetter! Ich verharrte noch immer auf meinem Beobachtungsposten wie auf dem Schießstand vorm nächsten Schuß auf die Scheibe, halb vorgebeugt, die Hände gegen die Knie, die Augen ganz nahe am schwarzrotundgelben Überwurf um seine Schultern. Aufmunternd raunte ich vor mich hin – offenbar zu meinem anderen Ich –, in getragenen Sätzen, wie sie nur im Traume gesprochen werden. »Hat er Keats wirklich gelesen – so beweist das noch nichts. Und wenn nicht – gleiche Ursachen müssen zu gleichen Wirkungen führen! Das ist unumstößlich. Sei du lieber froh, daß du ›St. Agnes Eve‹ auswendig kannst, auch ohne das Buch! Und weil im gegebenen Fall Fanny Brand, welche die Schlüsselfigur dieses Rätsels zu sein scheint, im großen und
ganzen für Fanny Brawne stehen könnte; ferner im Hinblick auf das hellrote, arterielle Blut auf dem Taschentuch, über das du dir eben vorhin Gedanken gemacht hast im Laden; und auch noch
miteingerechnet
den
Effekt
der
professionellen
Umgebung, ihrer beinah perfekten Duplizität∗ – so ist das Ergebnis
nur
logisch
und
unausweichlich.
Ebenso
unausweichlich wie Induktion.« Doch meine andere Seelenhälfte wollte sich noch nicht zufriedengeben:
sie
hatte
sich
in
einen
winzigen,
unangemessenen Winkel zurückgezogen – in immenser Entfernung. Indes, alsbald war ich wieder bei mir. Meine Hände umklammerten immer noch meine Knie, und meine Augen hefteten sich auf das Blatt vor Mr. Shaynor. Wie Träumende das Zerbersten des Erdreichs und das Auferstehen der Toten hinnehmen und es sich erklären mit dem Tagrest aus Abendgebet oder Einmaleinshersagen, so akzeptierte auch ich alle Fakten, derer ich ansichtig werden sollte, wie immer sie sich darstellen mochten – ja, hatte auch schon eine faßbare, glaubhafte Theorie, mit der sich das alles begründen ließ. Ich ∗
Auch John Keats (1795-1821) war Drogist und starb an der Schwindsucht.
Anm. d. U.
war jenen Fakten sogar schon voraus und eilte vor ihnen her, mit solcher Sicherheit nahm ich an, daß meine Theorie auf sie passen werde. Was ich heute noch von ihr weiß, sind die hochtrabenden Worte: ›Hat er Keats wirklich gelesen, so ist es das Chloroform; wenn aber nicht, so ist es der nämliche Krankheitserreger, die Hertzsche Frequenz der Tuberkulose, plus Fanny Brand und dem Status des gleichen Berufes, was im Verein mit dem unterbewußten Denken, wie es der Welt ja bekannt ist, hier einen temporär induzierten Keats herauf geschwemmt hat!‹ Jetzt machte Shaynor sich wieder ans Werk, strich aus und schrieb weiter – alles so rasch wie bisher. Zwei, drei unbeschriebene Blätter schob er zur Seite. Dann schrieb er wieder – und sprach dabei leise mit: –
The little smoke of a candle that goes out. (Der dünne Rauch einer Kerze, die erlischt.)
»Nein«, brummte er. »Little smoke – little smoke – little smoke. Und weiter?« Er schob das Kinn vor, in Richtung des Plakats,
wo
jetzt
die
letzte
von
Blaudett’s
Kathedralpastillen
verrauchte. »Aha!« Und dann, merklich erleichtert: –
The little smoke that dies in moonlight cold. (Der dünne Rauch, der stirbt im kalten Mondlicht.)
Es lag auf der Hand – er war fixiert durch die vorangegangenen Reime, denn er schrieb »gold – cold – mould« wieder und wieder hin – zu vielen Malen. Neuerlich blickte er nach dem Plakat, auf der Suche nach Inspiration – und schrieb unverweilt, ohne Streichung, die Zeile auf, die er als erste gesprochen: –
And threw warm gules on Madeleine’s young breast.
Wie ich mich des Originals entsann, stand dort »fair« (schön) – ein abgedroschener Ausdruck – und nicht »young«, und so nickte ich beifällig, ohne es recht zu wollen und wiewohl ich wußte, daß sein Versuch, die originale Zeile »its little smoke in pallid moonlight died« (Ihr dünner Rauch erstarb
im
fahlen
danebengegangen war.
Mondlicht)
zu
reproduzieren,
Es folgten ohne Unterbrechung zehn oder fünfzehn Zeilen nüchterner Prosa – ein Bekenntnis der nackten Seele, wie sie sich körperlich nach der Geliebten sehne – unkeusch im Sinne von dem, was wir Unkeuschheit nennen, auch unerquicklich, aber überaus menschlich. Es war dies, so schien mir in jener Umgebung und um jene Stunde, der Rohstoff, aus dem Keats die sechs-, die sieben- und achtundzwanzigste Strophe seines Gedichtes geformt hat. Ich empfand keine Scham, bei solcher Enthüllung zugegen zu sein, und auch meine Angst war mit dem Rauch der Pastille dahin. »Das ist es«, murmelte ich. »Das ist der Entwurf! Mach weiter – und setz es um, Mann – so setz es schon um!« Neuerlich fing Mr. Shaynor mit Versifizierungen an, in denen »loveliness« sich auf »her empty dress« (Anmutsfülle – leeren Kleides Hülle) reimte. Er nahm eine Falte der weichen, gemusterten Decke, legte sie über die Hand, strich liebkosend darüber hin, dachte nach, murmelte irgendwas, brachte Wortfetzen zu Papier, die ich nicht entziffern konnte, schloß schläfrig die Augen – und ließ das Zeug kopfschüttelnd fallen. Ich aber war ratlos, weil ich damals (anders als heute) noch nicht begriff, wie sehr diese rot, schwarz und gelb gemusterte Decke seinen Träumen Farbe verlieh.
Ein paar Minuten danach schob er die Feder beiseite, stützte das Kinn in die Hand und besah nachdenklich und wachen Blicks seinen Laden. Er ließ den Überwurf fallen, erhob sich, trat zu den Schubladenreihen und las laut die Bezeichnungen auf deren Schildchen. Auf seinem Rückweg nahm er Christies Neue Heilpflanzenkunde sowie den alten Culpepper, den ich ihm geschenkt hatte, vom Pult, schlug beide auf, legte die Bücher
nebeneinander
und
las
wie
ein
Buchhalter,
leidenschaftslos, zunächst in dem einen, dann in dem anderen Band, die Feder hinter dem Ohr. »Welches himmlische Wunder mag denn jetzt kommen?« fragte ich mich. »Manna – Manna – Manna«, sprach er zuletzt und zog die Brauen zusammen. »Das ist’s, was ich wollte! Gut! Also los! Gut, gut! Mein Gott, ist das gut!« Und mit erhobener Stimme sprach er fehlerlos vor sich hin, ohne zu zögern:
Candied apple, quince and plum and gourd, And jellies smoother than the creamy curd, And lucent syrups tinct with cinnamon, Manna and dates in Argosy transferred
From Fez; and spiced dainties, every one From silken Samarcand to cedared Lebanon. (Kandierter Apfel, Quitte, Pflaum’ und Kürbis, / Gelees auch, weicher noch als dicker Rahm, / Und klarer Sirup, cinnamongefärbt, / Manna und Datteln, übers Meer gebracht / Aus Fes; würzige Leckereien, jede von / SchönSamarkand bis Zedern-Libanon).
Er sprach es zum zweitenmal, ersetzte aber das »smoother« der zweiten Zeile durch »blander« (milder), schrieb es in einem Zug und ohne Streichungen nieder, wobei er diesmal (meinem gespannten Blick entging keine Silbe), seinen scheußlichen zweiten Einfall durch »soother« (linder) ersetzte, so daß unter seiner Hand nun alles hervorkam, wie es gedruckt steht im Buch – ganz so wie im Buch! Ein heulender Windstoß fuhr die Straße entlang, gefolgt vom Prasseln eines Regengusses. Nachdem Mr. Shaynor eine Weile still vor sich hingelächelt – mit gutem Recht, wie mir schien –, begann er aufs neue zu schreiben, wobei er das jeweils letzte Blatt über die Schulter warf: –
The sharp rain falling on the window-pane, Rattling sleet – the wind-blown sleet. (Der scharfe Regen an den Fensterscheiben, Das Hagelprasseln – windgepeitschter Hagel.)
Danach wieder Prosa: »Es ist sehr kalt am Morgen, wenn der Wind Regen und Hagel mit sich bringt. Ich hörte draußen den Hagel an der Fensterscheibe und habe an dich gedacht, du meine Geliebte. Ich denke ja unablässig an dich. Ich wünsch’ mir, wir könnten weglaufen wie zwei Verliebte, hinaus in den Sturm, und jenes Häuschen über der Küste bewohnen, an das wir schon immer gedacht haben, du meine einzig Geliebte. Dort könnten wir sitzen und durch unsre Fenster aufs Meer hinabsehen. Ein Märchenland wär’ das, nur uns zu eigen – ein Märchen am Meer – ein Märchen am Meer…« Er hielt inne – hob lauschend den Kopf. Das gleichmäßig schwebende Tosen des Ärmelkanals längs der Küste, das uns so lange Gesellschaft geleistet, war plötzlich umgeschlagen – war lauter und höher geworden zufolge der stärkeren Brandung beim Wechsel der Ebbe zur Flut. Als hätte da eine Armee plötzlich den Schritt gewechselt, so neu klang nun das
Pulsieren der See und füllte unser Gehör, bis wir uns daran gewöhnt hatten und es nicht länger wahrnahmen.
A fairyland for you and me Across the foam – beyond… A magic foam, a perilous sea. (Ein Märchenland für dich und mich / Hinter der See – dort drüben…/ Ein Zaubermeer, der Fährnis voll.)
Abermals knurrte er vor sich hin, dachte angestrengt nach und nagte an der Unterlippe. Die Kehle wurde mir trocken, doch wagte ich keinen Schluck, sie zu befeuchten, denn ich wollte den Zauber nicht brechen, der ihn näher und näher an jene Flutmarke führte, die nur zwei Adamssöhne jemals erreicht haben. Bedenken wir doch, daß unter all den Millionen Zeilen, die jemals geschrieben wurden, es nur fünfe gibt – fünf ganz kurze Zeilen – von denen man sagen kann: »Sie sind die pure Magie. Sie sind die reine Vision. Alles andre ist bloß Poesie.« Und Mr. Shaynor war zweien davon schon auf der Spur! Ich schwor mir, daß keinerlei unbewußter Gedanke von mir Einfluß ausüben solle auf diese so blindlings agierende Seele,
und hielt mich verzweifelt an die restlichen drei, die ich unausgesetzt wiederholte:
A savage spot as holy and enchanted As e’er beneath a waning moon was haunted By woman wailing for her demon lover. (Ein finstrer Ort – so weihevoll und zaubrisch / Wie je nur einer unterm Schwindmond heimgesucht ward / von Weiberklag’ um den Gespensterbuhlen.)
Doch obwohl ich mein Hirn dadurch abgelenkt glaubte, hing ich mit all meinen Sinnen an den Schriftzügen dieser verdorrten, knochigen Hand, deren Finger braunfleckig waren von Chemikalien und Zigaretten.
Our windows fronting on the dangerous foam, (Unsre Fenster, hinaus aufs gefahrvolle Meer,)
(das schrieb er nach langen, unschlüssigen Versuchen), und dann –
Our open casements facing desolate seas Forlorn – forlorn – (Unsre offnen Fenster vor trostloser See / Verlassen – hoffnungsleer –)
Aufs neue wurde sein Ausdruck bekümmert und bänglich vor Unvermögen, wie schon zuvor, als jene Macht ihn erstmals überkommen hatte. Diesmal jedoch war die Seelenqual zehnmal so stark. Wie im Thermometer die Quecksilbersäule, stieg sie zusehends an – machte ihm das Gesicht von innen erstrahlen, bis ich schon glaubte, die sichtbar gepeinigte Seele nackt aus ihm fahren zu sehn in unerträglicher Qual. Ein Schweißtropfen sickerte mir von der Stirn längs der Nase herab und benetzte mir den Handrücken.
Our windows facing on the desolate seas And pearly foam of magic fairyland – (Die Fenster vor der trostlos öden See / Und Perlengischt aus Zaubermärchenland – )
»Noch nicht – noch nicht«, murmelte er. »Nur einen Moment noch. Bitte, nur einen Moment, und ich hab’ es – «
Our magic windows fronting on the sea, The dangerous foam of desolate seas… For aye. (Die Zauberfenster blicken auf das Meer, / Das wüste Schäumen hoffnungsloser Wogen… / Auf ewiglich.)
Es schüttelte ihn am ganzen Körper – vom Innersten her. Dann hob er die Arme, sprang auf und stieß dabei den Lehnstuhl über die glatten Fliesen zurück, so daß er gegen die Schubladen schlug und polternd umstürzte. Ganz automatisch bückte ich mich, um ihn wieder aufzustellen. Als ich mich aufrichtete, gähnte Mr. Shaynor und streckte sich voll Behagen. »Ich bin wohl ein wenig eingenickt«, sagte er. »Wie konnte ich nur diesen Stuhl umwerfen? Was ist denn – Sie sehen ja aus, als ob – « »Ihr Sessel hat mich erschreckt«, sagte ich. »Es kam so unerwartet in dieser Stille.« Der junge Cashell hinter geschlossener Tür bewahrte beleidigte Ruhe. »Ich muß wohl geträumt haben«, vermutete Mr. Shaynor.
»Wahrscheinlich«, bestätigte ich. »Weil Sie sagen, ›geträumt‹ – ich – ich habe Sie schreiben sehen – eben vorhin – « Betreten errötete er. »Ich wollte Sie fragen, ob Sie jemals etwas von der Hand eines gewissen Keats gelesen haben?« »Ach – ich hab’ nicht viel Zeit, um Gedichte zu lesen – kann auch nicht sagen, daß ich mit dem Namen etwas verbinde. Ein populärer Schriftsteller?« »So halbwegs. Ich dachte, Sie müßten ihn kennen, weil er ja der einzige Dichter ist, der auch Drogist war. Er ist eher das, was man einen Poeten für Liebende nennt.« »Tatsächlich? Den muß ich mir anschaun. Und worüber hat er geschrieben?« »Über sehr vieles. Hier wäre ein Musterbeispiel, das auch Sie interessieren wird.« Und ich rezitierte vom Fleck weg die Verse, die er kaum zehn Minuten zuvor zweimal gesprochen und dann sofort zu Papier gebracht hatte. »Aha! Aus der Zeile mit der Tinktur und dem Sirup erkennt jedermann, daß ihr Verfasser Drogist gewesen sein muß. Ein sehr schöner Tribut, der da unserm Beruf gezollt ist.«
»Ich weiß ja nicht«, sagte der junge Cashell in eisiger Höflichkeit durch die spaltbreit geöffnete Tür, »ob Sie an unsern banalen Experimenten noch interessiert sind. Sollte dies aber der Fall sein – « Ich zog ihn beiseite und raunte ihm zu: »Shaynor schien in eine Art Bewußtseinsstörung zu fallen, als ich vorhin gesagt habe, Sie sollen still sein. Ich wollte Sie, auch auf die Gefahr hin, unhöflich zu wirken, nicht von den Apparaten wegholen, wo doch der Ruf hereinkommen soll – ist das klar?« »Bewilligt – fraglos bewilligt«, sprach er verbindlich. »Ich fand es nur komisch im ersten Moment. Also deshalb hat er den Stuhl umgeworfen?« »Ich habe doch hoffentlich nichts versäumt?« »Da muß ich Sie leider enttäuschen – aber noch ist es Zeit für das Ende eines recht kuriosen Verkehrs. Mr. Shaynor, auch Sie können kommen! Hören Sie zu – ich lese ab.« Der Morseempfänger tickte wahnsinnig rasch. Mr. Cashell übersetzte die Zeichen: »›K.K.V. Signale unverständlich.‹« Pause. »›M.M.V. – M.M.V. – Signale unverständlich. Gehen vor Anker Sandown Bay. Überprüfen Apparatur morgen.‹ Wissen Sie, was das heißt? Zwei Panzerkreuzer vor der Isle of Wight suchen Verbindung mit Marconisignalen. Keiner kann
sich verständlich machen, aber unser Empfänger nimmt ihre Funksprüche auf! Die ganze Zeit geht das schon so. Ich wollte, Ihr hättet es mithören können!« »Es grenzt an ein Wunder!« erwiderte ich. »Sie meinen also, wir hören hier mit, wie die Schiffe vor Portsmouth miteinander zu sprechen versuchen – und wir hören sie ab, über das halbe südliche England hinweg?« »So ist es. Die Sender sind ja intakt, nur die Empfänger sind nicht abgestimmt, übermitteln nur dann und wann einen Punkt oder Strich. Funksalat eben.« »Und wie kommt es zu sowas?« »Das weiß nur Gott – und morgen vielleicht auch die Wissenschaft.
Möglicherweise
klappt’s
nicht
mit
der
Induktion. Vielleicht arbeiten die Empfänger nicht auf der genauen Sendefrequenz. Nur ein Wort dann und wann – eben genug, um verrückt zu werden darüber.« Abermals fing es zu ticken an. »Da beklagt sich der eine schon wieder. Horch: ›entmutigend – hoffnungslos‹. Klingt wirklich bemitleidenswert. Wart ihr jemals zugegen bei einer Seance – einem spiritistischen Zirkel? Es erinnert daran – ab und zu. Nur Andeutungen, lose Enden
von irgendwoher – aus dem Nichts. Gelegentlich mal ein Wort – und alles nur für die Katz.« »Diese Medien sind samt und sonders Betrüger und Schwindler«, meldete sich Mr. Shaynor zu Wort. Er stand in der Tür und zündete sich eine Asthmazigarette an. »Sie machen es nur aus Geldgier. Ich hab’ es erlebt.« »Da ist Poole – also doch! Und glasklar! ›L.L.L.‹ Jetzt geht’s endlich los!« Mr. Cashell betätigte freudestrahlend die Schaltknöpfe. »Irgendwas, das Sie durchgeben möchten?« »Nein – lieber nicht«, sagte ich. »Ich geh’ jetzt nach Hause, zu Bett. Bin etwas müde.«
Zu dieser Ausgabe
insel taschenbuch 1368 Rudyard Kipling, Mit der Nachtpost Mit der Nachtpost. S. 9. Originaltitel: With the Night Mail. Erstveröffentlichung in: Mc Clure’s Magazine, New York, November 1905. Mit der Leichtigkeit des A.B.C. S. 50. Originaltitel: As Easy as A.B.C. (1912). Erstveröffentlichung in: Family Magazine (Sunday Newspaper Supplement), London, 25. Februar und 12. März 1912. Drahtlose Botschaft. S. 100. Originaltitel: Wireless. Erstveröffentlichung in: Scribner’s Magazine, London, August 1902. Friedrich Polakovics hat diese drei Erzählungen für die vorliegende Ausgabe neu übersetzt. Umschlagabbildung: Illustration von Hans und Botho von Römer: Zweimotoriger „Albatros“-Doppeldecker L 73 (1926). Aus: Wolfgang Lochner, Als die Luftfahrt noch ein Abenteuer war. Bild: Hans und Botho von Römer. Bruckmann Verlag, München o. J. Foto: Deutsches Museum München.