Band 8 Studien zur jdischen Kultur in den romanischen Lndern
Herausgegeben von Christoph Miething
Anne-Berenike Bin...
35 downloads
1971 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Band 8 Studien zur jdischen Kultur in den romanischen Lndern
Herausgegeben von Christoph Miething
Anne-Berenike Binder
«Mon ombre est reste l-bas» Literarische und mediale Formen des Erinnerns in Raum und Zeit
Max Niemeyer Verlag Tbingen 2008
n
Meinem Bruder Timon
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-57008-5
ISSN 1435-098X
Max Niemeyer Verlag, Tbingen 2008 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbesondere fr Vervielfltigungen, bersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbestndigem Papier. Gesamtherstellung: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
V V
Vorwort
Die vorliegende Arbeit ist die überarbeitete Fassung meiner im Januar 2007 vom Fachbereich Literaturwissenschaften der Geisteswissenschaftlichen Sektion der Universität Konstanz angenommenen Dissertation. Danken möchte ich meinem Betreuer Herrn Prof. Dr. Pere Joan Tous (Uni versität Konstanz), der mich bereits während meines Studiums für den Themenbereich Shoah begeisterte. Er unterstützte mich dabei, auf dem facettenreichen und interessanten Gebiet der ShoahForschung neue Ideen zu entwickeln und eigene Wege zu beschreiten. Seine Gesprächsbereit schaft, sein Wohlwollen und sein Interesse am Entstehen und Gelingen der vorliegenden Dissertation sowie seine Bemühungen um finanzielle Unter stützung meiner Forschung haben mir das Arbeiten sehr angenehm gestaltet. Sehr herzlich möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Rainer Stillers (Universität Marburg) für die Erstellung des Zweitgutachtens danken, für sein Interesse an meiner Arbeit und seine stete freundliche Hilfsbereitschaft. Dem Fachbereich Literaturwissenschaften der Universität Konstanz danke ich für die Übertragung der Vertretung der Forschungsdozentur, die mir den Abschluss meiner Dissertation finanziell erleichterte. Herrn Prof. Dr. Christoph Miething (Universität Münster) danke ich für die Aufnahme in die Buchreihe Conditio Judaica. Mein persönlicher Dank gilt meinem Freund Prof. Dr. Benno Rothstein, der mich mit Rat und großer Unterstützung auf dem Weg zur Publikation be gleitete. In ganz besonderer Weise danke ich meiner Mutter für ihre außergewöhn liche Hilfsbereitschaft, ihren Beistand, ihr Verständnis und ihre liebevolle Art, mit der sie mich in den Jahren der Dissertation ermuntert und unter stützt hat. Meinem Bruder Dr. Timon Binder danke ich für seine unermüdliche Gesprächsbereitschaft, konstruktive Diskussionen sowie immerwährenden Zuspruch und Bestätigung in den vergangenen Jahren. Sie beide haben die vorliegende Arbeit mitgetragen.
Konstanz, im Januar 2008
AnneBerenike Binder
VII
Inhaltsverzeichnis
1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.4.4 1.4.5 1.4.6 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.2.4 2.3 2.3.1 2.3.2 2.3.3 2.3.4 2.3.5 2.4 2.4.1 2.4.2 2.4.3
Einleitung .......................................................................................... 1 Thema und Problemstellung.............................................................. 1 Text-, Filmauswahl und Methodik .................................................... 4 Zum Stand der Forschung ................................................................. 9 Leitgedanken zur Arbeit .................................................................. 27 Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien............................. 27 Autoreflexive Aspekte – Erinnerung, Sprache und ästhetischstilistische Konfiguration................................................................. 29 Das Lager, «un monde à part» – Vergegenwärtigte Erinnerung ..... 31 Heterotopien des Lagers – Kultur versus Nazismus........................ 33 Die Figur des Überlebenden............................................................ 35 Reflexions- und Transitorte – Gedächtnis und Schuld.................... 37 Charlotte Delbo, Auschwitz et après – «le devoir de témoignage»............................................................ 40 Erzählen nach Auschwitz – «une connaissance inutile» ................. 40 Inhalt und Struktur........................................................................... 40 Das Werk vor dem literarischen Hintergrund – «nouveau roman» und «écriture de cendres» ............................... 42 Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – «le passé ne passe pas»................................................................. 44 Vermischung der Zeit-, Handlungs- und Erzählebenen .................. 44 Erinnerung als Katalysator der Erzählung....................................... 46 Verknüpfung der Erinnerungsebenen.............................................. 48 Gebrauch der Tempora .................................................................... 53 Autoreflexive Aspekte – «car cela devient une histoire» ................ 56 «L’histoire» und «des histoires» ..................................................... 56 Sprache in der Erzählung – eine neue Sprachform.......................... 60 Sprache im Lager............................................................................. 63 Nicht-Referentialität der Sprache – «Les mots n’ont pas le même sens ...» ........................................ 67 Poetische Bildersprache................................................................... 68 Das Lager – «un monde à part» – «je suis encore là-bas»............... 74 Beschreibung des Lagers................................................................. 74 Täter und Opfer im Lager................................................................ 80 Als Frau im Lager............................................................................ 81
VIII 2.4.4 Unterschiedliche Formen der weiblichen Gemeinschaft – Frauensolidarität und Aufbau parafamiliärer Strukturen.............. 84 2.5 Heterotopien des Lagers – «qu’il parlait bien, Alceste».................. 96 2.5.1 Grenzen ........................................................................................... 96 2.5.2 Grenzüberschreitungen.................................................................... 97 2.5.3 Literatur als Fluchtreservat............................................................ 100 2.5.4 Zusammenprall von Kultur und Nazismus – «l’orchestre» ........... 105 2.6 Die Figur des Überlebenden – «deux parts en moi» ..................... 106 2.6.1 Gefangenschaft in der Erinnerung................................................. 106 2.6.2 Die Lebenden und die Toten ......................................................... 109 2.7 Reflexions- und Transitorte – «l’absence du monde» ................... 115 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3 3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 3.3.6 3.4 3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.5 3.5.1 3.5.2 3.6 3.6.1 3.6.2 3.7 3.7.1
Soazig Aaron, Le non de Klara – «paroles suffoquées» oder die Desakralisierung der Überlebenden ................................ 117 Erzählen nach Auschwitz – «ce sont des bribes» .......................... 117 Inhalt und Struktur – Die fiktionalisierte Stimme der Zeugin ....... 117 Das Werk vor dem literarischen Hintergrund – Topoi der Holocaust-Verarbeitung ................................................................ 120 Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – «il faut du temps» ....................................................................... 122 Zeitebenen ..................................................................................... 122 Rekonstruierter Nicht-Wissensstand der Erzählerin...................... 124 Autoreflexive Aspekte – «che ne feux pas» .................................. 127 Suche nach Antworten................................................................... 127 Sprache in der Erzählung .............................................................. 130 Nicht-Referentialität der Sprache – «un monde sans mots».......... 132 Funktion der deutschen Sprache.................................................... 133 Sprechende Namen – Die Bedeutung des Judentums.................... 135 Verräumlichung des Geschehens .................................................. 138 Das Lager – «un monde à part» – «ça s’appelle là-bas» ............... 140 Beschreibung des Lagers............................................................... 140 Erzählen von Auschwitz................................................................ 144 Frauensolidarität............................................................................ 145 Täter und Opfer im Lager.............................................................. 147 Heterotopien des Lagers – «le mur du rire» .................................. 149 Grenzen der Transzendenz ............................................................ 149 Überlebensstrategien im Lager...................................................... 150 Die Figur des Überlebenden – «un drôle de petit homme» ........... 153 «Klara est revenue, mais ne nous est pas revenue» ....................... 153 Victoire – die zweite Generation ................................................... 159 Reflexions- und Transitorte – «t’as pas changé»........................... 162 Hotel Lutétia – Treffpunkt für Heimkehrer................................... 162
IX 3.7.2 Angelikas Wohnung als Reflexionsort.......................................... 164
3.7.3 Deutschland in Trümmern ............................................................. 165 3.7.4 Frankreich und Deutschland danach – Spiegel der Nachkriegsgesellschaft .................................................................. 167 4 4.1 4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.3.5 4.3.6 4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.6 4.6.1 4.6.2
Romain Gary, La Danse de Gengis Cohn – Wanderer durch Raum und Zeit ............................................................................... 170 Erzählen nach Auschwitz – «la création romanesque» ................. 170 Inhalt und Struktur – Abrechnung mit der Menschheit................. 170 Das Werk vor dem literarischen Hintergrund – «un roman total»......................................................................... 172 Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – «et puis, on avait des ordres» ..................................................... 175 Vergegenwärtigung der Zeit durch die Figur des Dibbuks ........... 175 Verschiedene Arten der Vergangenheitsbewältigung ................... 177 Funktion des Lesers....................................................................... 182 Autoreflexive Aspekte – «un écrivain impitoyable» ..................... 183 Nicht-Darstellbarkeit des Grauens ................................................ 183 Ästhetisierung des Leidens............................................................ 185 Sprache in der Erzählung – Sprache des Kabaretts ....................... 188 Parodie der Begrifflichkeit ............................................................ 191 Funktion des Deutschen und Jiddischen........................................ 193 Sprachliche Apokalypse ................................................................ 195 Das Lager, «un monde à part» – «la forêt de Geist» ..................... 197 Die Figur des Überlebenden.......................................................... 210 Der Dibbuk als «élément psychanalytique» .................................. 211 Der Dibbuk als Stellvertreter für das Judentum ............................ 214 Der Dibbuk in der Person Jesu ...................................................... 222 Reflexions- und Transitorte – «l’humanité vous a assez vu» ........ 225 «La forêt de Geist» – Schauplatz der Aufarbeitung ...................... 225 Die Stadt Licht – Spiegel der Nachkriegsgesellschaft................... 227
Alain Resnais, Nuit et Brouillard – «le double témoignage» ........ 231 5 5.1 Erzählen nach Auschwitz – «a personal documentary» ................ 231 5.1.1 Inhalt und Struktur – Quelle und Ausgangspunkt für die gesamte Holocaust-Verarbeitung .................................................. 231 5.1.2 Das Werk vor dem filmischen Hintergrund – «un cinéma de philosophie» .................................................................................. 234 5.2 Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – «témoigner et méditer»............................................................... 238
X 5.2.1 5.2.2 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4 5.3.5 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.5 5.5.1 5.5.2 5.5.3 5.6 5.7 5.7.1 5.7.2 6 6.1 6.1.1 6.1.2
6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 6.3.1 6.3.2 6.3.3 6.3.4 6.4
Bewältigungsmöglichkeiten .......................................................... 238 Aufbau in Dichotomien – Film als Totalität.................................. 239 Autoreflexive Aspekte – «Qui ne l’ignore pas d’ailleurs?» .......... 241 Text und Kamera als Mittel der Selbstreflexion............................ 241 Kommentar als eigener Diskurs .................................................... 243 Erzählstimme................................................................................. 246 Musik als eigener Diskurs ............................................................. 247 Kamera auf Spurensuche im Raum ............................................... 250 Das Lager, «un monde à part» – «mais on ne peut plus rien dire …»............................................ 251 Auschwitz damals – die Geschehnisse .......................................... 251 Täter und Opfer im Lager.............................................................. 259 Klimax – das Krematorium und die Gaskammer .......................... 262 Heterotopien des Lagers – «exercer sa mémoire avec des rêves»......................................... 266 Einbruch des Unerwarteten ........................................................... 266 Ästhetik der Brüche....................................................................... 267 Kulturelle Aktivitäten.................................................................... 269 Die Figur des Überlebenden – «La vie quotidienne va-t-elle les reconnaître?».......................... 269 Reflexions- und Transitorte – «même un paysage tranquille» ...... 271 Auschwitz heute – das Dokumentieren ......................................... 271 Auschwitz als Gedächtnisort ......................................................... 276 Liliana Cavani, Il portiere di notte – Sensation und Sensibilisierung................................................... 278 Erzählen nach Auschwitz – Sexualität und Macht ........................ 278 Inhalt und Struktur......................................................................... 278 Das Werk vor dem literarischen Hintergrund – Fiktionale Verfilmung des Holocaust im Kontext des italienischen Neorealismus ................................................................................. 280 Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – Spiel mit Rückblenden ............................................................... 285 Erinnerungsebenen ........................................................................ 285 Verschiedene Arten der Vergangenheitsbewältigung ................... 288 Autoreflexive Aspekte – Bilder und Spiegelbilder........................ 294 Bild und Abbilden – Kamera im Film ........................................... 294 Reflektierende Oberflächen........................................................... 295 Sprachlosigkeit und Musik als Ausdrucksform............................. 296 Architektonische Konstruktion des Raumes.................................. 297 Das Lager, «un monde à part» – Interaktion von Gegenwart und Vergangenheit ......................... 300
XI 6.4.1 Beschreibung des Lagers im Kontext von Sadismus und Masochismus ................................................................................. 300 6.4.2 Eine neue Form des Lagers – Max‘ Appartement ......................... 301 6.5 Heterotopien des Lagers – Inszenierung der Künste ..................... 305 6.5.1 Die Ikonographie des Nazismus.................................................... 305 6.5.2 Zusammenprall von Nazismus und Kultur – die Opernsequenz ... 306 6.5.3 Der Widerschein des Nazismus – Berts Tanz ............................... 309 6.5.4 Die Erotik des Nazismus – die Cabaretszene ................................ 311 6.6 Die Figur des Überlebenden – die Verdammten ........................... 315 6.7 Reflexions- und Transitorte – Gedächtnis und Schuld.................. 320 6.7.1 Schauplätze in Wien – die Funktion der Schwelle ........................ 320 6.7.2 Die Stadt Wien – Spiegel der Nachkriegsgesellschaft .................. 323 7 7.1 7.2 7.3 8
Ergebnisse ..................................................................................... 327 Literarische und filmische Aufarbeitung – Ergebnisse aus den Werkanalysen ......................................................................... 327 Interdependenz zwischen Zeit, Raum und Erinnerung.................. 333 Formen des Erinnerns – Rückblick und Ausblick ......................... 334 Bibliographie ................................................................................. 338
1
1
Einleitung
1.1
Thema und Problemstellung
Die Geschehnisse der Shoah1 sind in den letzten 60 Jahren auf unterschiedliche Weise literarisiert und medialisiert worden – so verschiedenartig die Verarbeitung sein mag, so ist doch allen Zugängen gemein, dass sie sich mit persönlicher Erinnerung und Zeugenschaft sowie kollektivem Gedächtnis beschäftigen, um das Geschehene kommunizierbar zu machen. Der Wunsch, das Grauen und die Vergangenheit zu vergessen, zugleich aber auch der Wille, sich mitzuteilen und sich zu erinnern, bilden Konstituenten in der literarischen und medialen Verarbeitung der Shoah. «Il me semble que mon ombre est restée là-bas.»2 – diese Worte Klaras, einer Auschwitz-Überlebenden, aus der 2002 erschienenen fiktiven Tagebuch-Erzählung Le non de Klara, im Titel dieser Arbeit, verweisen auf die Problematik der Überlebenden, die sich in ihrer Erinnerung reflexiv mit den Geschehnissen auseinandersetzen: Die Aufarbeitung und Erinnerung ist nicht abgeschlossen, sondern dauert bis in die Gegenwart an, der Überlebende erfährt in seiner Person eine Zweiteilung in Gegenwart und Vergangenheit, was im obigen Zitat durch die Metapher des Schattens, der sich immer noch «là-bas» in Auschwitz befindet, versinnbildlicht wird. Die vorliegende Arbeit untersucht anhand ausgewählter Werke der Shoah-Literatur und -Verfilmung Zeit- und Raumkonstruktionen in ihrer literarischen und filmischen Inszenierung und Vermittlung mit Fokus auf den französischsprachigen Raum. Aufgezeigt werden soll, wie mit Hilfe struktureller, narratologischer und kinematographischer Mittel Erinnerungsebenen und ihre räumliche Verknüpfung dargestellt werden, wie sie sich gegenseitig bedingen, parallelisiert werden und ineinander übergehen. Der Fokus liegt demnach auf der Untersuchung der Verknüpfung der Themenkomplexe Raum, Zeit und Erinnerung. ––––––– 1
2
Der Begriff der Shoah wird hier nicht nur auf die industriemäßige Vernichtung der europäischen Juden während der NS-Herrschaft verwendet, sondern im weiteren Sinne für die Verfolgung und den Mord an Opfern der NS-Herrschaft verstanden. Soazig Aaron: Le non de Klara. Paris 2002.
2 In einer vergleichenden Analyse der Erzählverfahren von Film und Literatur werden literarische und spezifisch kinematographische Mittel einander gegenübergestellt. Eine systematische Analyse der Raum- und Zeitstrukturen in Film und Literatur der französischsprachigen literarischen und medialen Bearbeitung der Shoah, die eine Gegenüberstellung von narrativ-literarischen und narrativ-kinematographischen Mitteln unternimmt, gibt es bisher in der wissenschaftlichen Literatur nicht. Eine Differenzierung der verschiedenen Raumarten sowie eine Abgrenzung und Definition der Räume im Kontext der Erinnerungs- und Zeitebenen wurde bis jetzt in der Forschung nicht berücksichtigt. Die vorliegende Arbeit stellt eine komprimierte Darstellung der verschiedenen zusammenspielenden Faktoren innerhalb des Erinnerungsprozesses in Literatur und Film dar. Das ausgesuchte Werkcorpus, das unterschiedliche literarische Gattungen sowie einen Spiel- und einen Dokumentarfilm beinhaltet, beleuchtet auf verschiedene Arten die konzentrationäre Welt und Erfahrung und ihre Auswirkungen bis in die Gegenwart. Die Werke wurden nach Erinnerungsformen und ihren spezifisch literarischen bzw. kinematographischen Erzähltechniken ausgewählt, wobei die Texte und Filme exemplarisch für die jeweilige Erzählweise stehen. Die Texte und Filme zeigen nicht nur den Versuch, die vergangenen Ereignisse zu bezeugen, sondern thematisieren anhand unterschiedlicher Erzähl- und Darstellungstechniken den Prozess des Erinnerns in Zeit und Raum. Der Vorgang des Erinnerns wird in der folgenden Arbeit in Beziehung zur Technik des Erzählens gesetzt. Erinnerung stellt ein Verbindungsglied zwischen Zeit und Raum dar und bestimmt als Mittel der (Re-) Konstruktion die Erzählverfahren und die jeweilige Darstellung der Vergangenheit. Untersucht wird, von welchem gegenwärtigen (Schreib-) Ort und -Zeitpunkt des Erzählenden ausgegangen wird, wie Erinnerung motiviert ist, welche Auslöser von Erinnerung gewählt werden und welchen Einfluss die veränderte Perspektive auf die Erzählung des Geschehens hat. Des Weiteren wird analysiert, wie die Orte der Vergangenheit evoziert werden und in welcher Weise die Bruchstücke der Erzählungen angeordnet sind. Für die gesamte Struktur der Werke ist das zeitliche Verhältnis von Vergangenheits- und Gegenwartsgeschichte entscheidend, da mit ihm die Beziehung des Erzählenden, Schreibenden und/oder Erinnernden zur Erinnerung festgelegt wird. Der Akt des Erinnerns wird in der Narration wieder aufgenommen, d.h., der Prozess des Erinnerns funktioniert in Bruchstücken und Fragmenten, die sich auch in der Narration widerspiegeln. Es wird sich zeigen, dass Erinnerung und Imagination aufs engste miteinander verbunden sind.
3 Raum und Zeit sind für die Schaffung des Erinnerungsprozesses von großer Bedeutung, da sie Handlungs- und Erzählebenen in Verbindung zueinander setzen: «Zeit» wird nicht allein als lineare Abfolge von Ereignissen verstanden, sondern wird als Kategorie für die Reflexion über die einzelnen Handlungsund Erinnerungsstufen in den Texten untersucht. In den ausgewählten Werken steht das Erzählen und die Repräsentation von Zeit im Vordergrund. «Raum»3 ist ein wichtiges Konstituens für die Schaffung des Erinnerungsprozesses und wird in der vorliegenden Arbeit auf unterschiedliche Weise verstanden: Zum einen handelt es sich hierbei um real existierende Räume der Gegenwart und Vergangenheit. In der Gegenwart sind das vornehmlich Städte, aber auch Ruinen oder das stillgelegte Lager, das als Gedenkstätte besichtigt werden kann. Diese Orte werden in der folgenden Arbeit als Reflexions- und Transitorte definiert.4 Bei den Räumen der Vergangenheit steht das Lager und im besonderen Auschwitz in seiner literarischen bzw. filmischen Umsetzung im Zentrum der Betrachtung. Zum anderen gibt es Außenräume, die während des Lagerlebens entstehen; in der vorliegenden Arbeit werden sie als Heterotopien, als «Anders-Orte»5 verstanden, die parallel zum Lager entwickelt werden. Diese sind als Gegenentwurf zum Lager(-alltag) zu verstehen und spiegeln die Koexistenz von zwei Welten: der Welt der Kultur und der Welt des Nazismus. Bei den ausgewählten Autorinnen dienen diese Heterotopien als Fluchtreservate zur Kulturrezeption. Die beiden hier zu untersuchenden Filme arbeiten vor allem mit einer Gegenüberstellung von Kultur und Nazismus und verfolgen dadurch die Demontage der Mechanismen des Nazismus. Eine besondere Form des Raumes bildet das Text- bzw. Filmbild: Diese bieten auf visueller Ebene durch lexikalische, semantische, syntaktische oder typographische Determinanten beim Text (beispielsweise die Platzierung eines einzigen Satzes auf einer Seite) bzw. in der ––––––– 3 4 5
Vgl. Sigrid Lange (Hg.): Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur – Literatur – Film. Bielefeld 2001, 8. Eine genauere Erklärung im Hinblick auf das Werkcorpus erfolgt im einleitenden Unterkapitel «Reflexions- und Transitorte – Gedächtnis und Schuld.» Vgl. Heterotopia (griech.: «Anders-Ort») ist im literarischen Sinne nach Michel Foucault ein Anders-Ort, eine Gegenplatzierung, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte (vgl. Michel Foucault: Die Heterotopien / Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt a.M. 2005; Michel Foucault: «Andere Räume.» In: Martin Wentz: StadtRäume. Frankfurt 1991, 65–72).
4 architektonischen Komposition der Bilder beim Film (beispielsweise die Rahmung der Figuren im Bildausschnitt) eine zusätzliche Interpretation des Dargestellten. Die Komposition der Text- und Filmbilder stellt eine weitere Form der Selbstreflexion dar, die über das Textbild bzw. über den filmischen Rahmen vermittelt wird. Die Verbindung von Raum, Zeit und Erinnerung wird insofern hergestellt, als sich die Kapitel sowohl hinsichtlich Räume (der Vergangenheit und Gegenwart) untergliedern lassen, als auch speziell sich dem Erinnernden und (seiner) Erinnerung widmen. Eine werkmonographische Einteilung eröffnet die Möglichkeit zur klaren Synthese innerhalb der Werke, wobei die ausgesuchten Themenkomplexe als Untersuchungskriterien für das jeweilige Werk dienen. Innerhalb des Text- und Filmkorpus werden Querverbindungen gezogen. In der Untersuchung der einzelnen Werke lassen sich drei Schwerpunkte ausmachen: Erzählen und Erinnern, Zeit und Raum in der Vergangenheit und Zeit und Raum in der Gegenwart. Unter den ersten Themenkomplex fallen die Unterkapitel Erzählen nach Auschwitz, Erinnerungsprozess und die autoreflexiven Aspekte. Der zweite Themenkomplex beschäftigt sich mit dem Lager, und den aus der Lagererfahrung heraus entstehenden Heterotopien. Der dritte Themenkomplex, Zeit und Raum in der Gegenwart, widmet sich der Figur des Überlebenden sowie den Reflexionsund Transitorten.
1.2
Text-, Filmauswahl und Methodik
Diejenigen, die sich mit der Beschreibung der Shoah auseinandersetzen, werden mit unvorstellbar grausamen Geschehnissen konfrontiert, die unverständlich und unerklärlich bleiben. Durch Verwendung verschiedener Erzähltechniken versuchen die Autoren und Regisseure die Diskrepanz zwischen dem Geschehenen und seiner Mittelbarkeit, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu verkleinern.6 Sie entfalten künstlerische Produktivität, indem sie einen neuen Zugang ermöglichen: Durch Aussparungen, ––––––– 6
«Dans la nécessité de parler de soi-même, et dès lors que c’est le statut même de ce ‹soi›» qui fait problème du fait du décalage (temporel, statutaire ...) entre l’identité concentrationnaire et l’identité civile – dans cette difficulté de parler, doublée d’une nécessité de le faire, - le recours à la forme littéraire peut être l’une des modalités de l’expression, entendue soit comme effort de distanciation, soit comme entreprise de restauration de liens» (Michael Pollak: L’expérience concentrationnaire. Essai sur le maintien de l’identité sociale. Paris 2000, 223f.).
5 Übertragungen und Metaphern nähern sie sich einer literarischen bzw. filmischen Umsetzung der Shoah. «To portray the Holocaust [...] one has to create a work of art.»7 Das ausgewählte Werkcorpus zeigt fünf verschiedene poetologische Konzepte auf, um die Geschehnisse literarisch bzw. filmisch zu verarbeiten.8 Die Schreibgeschichte bzw. Gegenwartsgeschichte kann als «récit premier»9 angesehen werden und die davon ausgehenden Anachronien10 wie Vor- und Rückgriffe als konstituierende Elemente der Werke. Da die besprochenen Werke alle von einem «récit premier» in der Erzählgegenwart ausgehen, herrscht der Typus der späteren Narration11 vor, in der der Erzähler durch Vor- und Rückgriffe das Geschehene bereits interpretieren kann. Explizit persönliche Erinnerungen in Verbindung mit fiktionalen Gedanken sind es bei Charlotte Delbo und Jean Cayrol, der den Text zu Nuit et Brouillard schrieb. Da aber auch diese beiden Texte geraume Zeit nach den Ereignissen der Shoah geschrieben und
––––––– 7 8
9
10
11
Claude Lanzmann, zitiert nach Claude Schumacher: Staging the Holocaust. The Shoa in drama and performance. Cambridge 1998, 3. Delbo lehnt ihr Werk Auschwitz et après an den «nouveau roman» und eine «écriture de cendres» an und als ehemaliger Häftling in Auschwitz ist ihr Werk zur «littérature de témoignage» zu rechnen; Aaron wählt für Le non de Klara die traditionelle Erzählweise in Form des Tagebuchs. Gary verfolgt das Konzept eines «roman picaresque» in La Danse de Gengis Cohn. Die beiden ausgesuchten Filme versuchen in Form der Dokumentation Nuit et Brouillard (wobei hier Resnais ganz explizit die künstlerische Komponente seiner Arbeit betont, im Sinne einer «personal documentary») und des Spielfilms Il portiere di notte (in dem Cavani sich auf die Darstellung eines Psychogramms von Täter und Opfer konzentriert) ihr Verständnis und ihre Verarbeitung der Shoah zu zeigen und arbeiten explizit und ausführlich mit narrativen und medialen Mitteln (rein kinematographische im Gegensatz zu literarischen Formen) und machen diese sogar zum Thema. Erste oder «Basiserzählung» (récit premier) wird jene temporale Erzählebene genannt, in Bezug auf die sich eine Anachronie als solche definiert. Natürlich können die Verschachtelungen komplexer sein, und eine Anachronie kann in Bezug auf eine andere, die von ihr getragen wird, selbst als Basiserzählung fungieren. Prinzipiell und in einem allgemeineren Sinn kann der gesamte Kontext einer Anachronie als Basiserzählung betrachtet werden (vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. München 1998, 32 [Orig.: Le récit. Paris 1969]). Anachronien sind verschiedene Formen von Dissonanz zwischen der Ordnung der Geschichte und der Erzählung, zwischen den beiden Zeitordnungen. Die retrospektiven und antizipativen Anachronien werden Analepsen und Prolepsen genannt (vgl. Genette, Erzählung, 23). Auf die Unterscheidung wird in den jeweiligen Kapiteln «Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien» näher eingegangen. Spätere Narration (die klassische Position der Erzählung in Vergangenheitsform, zweifellos die bei weitem häufigste). Der Gebrauch einer Zeitform der Vergangenheit genügt, um sie als solche kenntlich zu machen (vgl. Genette, Erzählung, 156f.).
6 selbstreflexiv und retrospektiv sind, wird auch hier der zeitliche Rahmen durch Überschreitungen aufgebrochen.12 Im Folgenden werden die ausgewählten Werke knapp vorgestellt: Charlotte Delbos Trilogie Auschwitz et après13 vereinigt verschiedene literarische Formen, um den Lageralltag in Auschwitz, das schmerzhafte Erinnern und den Alltag nach dem Alptraum zu thematisieren und zu reflektieren. Ihre Suche nach adäquaten Ausdrucksformen manifestiert sich in einer artifiziellen, von Figuren-, Montage- und Kombinationstechniken reichen und höchst facettenreichen Sprache, die sich bis ins Textbild niederschlägt. Delbo verarbeitet die Erinnerung im Kontext von Raum und Zeit auf verschiedenen Ebenen. Sie beschreibt Auschwitz in Auschwitz et après als einen anderen Planeten und greift die Lager- und Zeitstruktur anhand verschiedener Erzählstrategien und -techniken auf. In der Analyse von Auschwitz et après wird die Darstellung des Lagers und seiner Raumund Zeitstrukturen in Verbindung zur weiblichen Identität (und ihrer Manifestierung in unterschiedlichen Formen der weiblichen Gemeinschaft) im Konzentrationslager im Mittelpunkt stehen. An einigen Stellen bietet Béatrix de Toulouse-Lautrecs Bericht J’ai eu vingt ans à Ravensbrück14 einen Vergleichstext, da dieser, autobiographisch verankert, das Leben von Mutter und Tochter im KZ erzählt. Einen großen Schwerpunkt auf die Beschreibung des Lebens nach Auschwitz legt Soazig Aaron in Le non de Klara.15 In ihrer Erzählung in Form einer Tagebuchniederschrift zeichnet sie die schmerzhafte Rückkehr einer Überlebenden von Auschwitz nach, die ihre Erinnerungen in Bruchstücken und Fragmenten mitteilt und letztlich die Diskrepanz zwischen den Erfahrungen der Vergangenheit und dem Alltag in der Gegenwart nicht überwinden kann. Dieses Spannungsverhältnis wird durch ––––––– 12
13
14 15
Der Zeitabstand zwischen Ereignissen und Schreibzeitpunkt ist für die Erzählweise und die Geschichte bedeutend, da sich, je kleiner der Abstand ist, desto weniger «andere» Zeit zwischen Ereignis und Schreiben einschieben kann. Deshalb lassen sich in den früheren Texten (vgl. Robert Antelmes L’espèce humaine [Paris 1947] und Marguerite Duras‘ La douleur [Paris 1985]) wenig Überschreitungen des festgelegten zeitlichen Rahmens erkennen; Erinnerungen und Zukunftsvorstellungen sind selten. Die Ereignisse der Haft sind nicht Teil einer Geschichte, sondern sie werden zur einzigen Geschichte (vgl. Ariane Eichenberg: Zwischen Erfahrung und Erfindung. Jüdische Lebensentwürfe nach der Shoah. Köln 2004, 19). Charlotte Delbo: Aucun de nous ne reviendra. Paris 1970. Band I; Une connaissance inutile. Paris 1970. Band II; Mesure de nos jours. Paris 1971. Band III. Im Folgenden wird die Trilogie entsprechend mit Auschwitz I, II oder III abgekürzt. Béatrix De Toulouse-Lautrec: J’ai eu vingt ans à Ravensbrück. La victoire en pleurant. Paris 1991. Soazig Aaron: Le non de Klara. Paris 2002. Im Folgenden wird Le non de Klara mit Klara abgekürzt.
7 die Struktur des Tagebuchs vermittelt: Erzählungen von Auschwitz und Berichte über den Nachkriegsalltag in Paris, die von der Tagebuchschreiberin Angelika notiert werden, wechseln sich ab. Aaron verwendet einige Topoi der Shoah-Verarbeitung in ihrem Werk und interpretiert diese weiter, konzentriert sich aber in ihrer Darstellung vor allem auf die Auswirkungen der Verbrechen, die sie anhand der Zweierbeziehung von Überlebender und Tagebuchschreiberin entwickelt. Durch die Form des Tagebuchs wird das Erinnerungskonzept zum Konstruktionsprinzip erhoben und das Schreiben auf mehreren Ebenen wird verdeutlicht: Vergangenheit und Gegenwart sowie die Reflexion über Zeitund Raumebenen. Klaras Geschichte entwickelt sich an verschiedenen Orten, die alle eine symbolische Implikation innerhalb der Erzählung haben. Eine andere Herangehensweise an die Darstellung des Grauens, seiner Vermittlung und Formen des Erinnerns zeigt Romain Gary in seinem Roman La Danse de Gengis Cohn16 auf. In einer Mischung aus unterschiedlichen Erzähl- und Textformen bietet Gary eine kritische Auseinandersetzung mit der gesamten europäischen Politik- und Kulturgeschichte anhand verschiedener Bewältigungsmöglichkeiten der Shoah auf satirischer, allegorischer und rein narrativer Ebene. Das Verhältnis von Kunst und Grauen sowie die Selbstreflexion über das Schreibprojekt und die künstlerische Verarbeitung sind wichtige Bestandteile des Romans. Anhand der Figur des Dibbuks17 Gengis Cohn, der als Wanderer durch Raum und Zeit die gesamte Handlung bestimmt, werden Narrationsebenen, Zeit- und Raumebenen, Ereignisse authentischer und fiktionaler Art aneinandergereiht, das psychische Geschehen von Täter und Opfer vermischt, Erinnerung, Vergessen und Verdrängen vergegenwärtigt. Alain Resnais hingegen entwirft und visualisiert in seiner Dokumentation Nuit et Brouillard18 die konzentrationäre Welt anhand von Bildmontagen. Er schafft durch die Spurensuche in der Gegenwart in Auschwitz die Erhellung der Vergangenheit und eine Reflexion über die Zeit- und Raumebenen hinweg. Durch verschiedene filmische ––––––– 16 17
18
Romain Gary: La Danse de Gengis Cohn. Paris 1967. Im Folgenden wird der Roman mit GC abgekürzt. Gengis Cohn erklärt seine Dibbuk-Natur im Roman selbst: «C’est un mauvais esprit, un démon qui vous saisit, qui s’installe en vous et se met à régner en maître» (GC, 87). Judith Kauffmann bezeichnet die hebräische Wurzel «D-B-K qui signifie coller» (Judith Kauffmann: «La Danse de Romain Gary ou Gengis Cohn et la valse-horà des mythes de l’occident.» Etudes littéraires 17, 1 [avril 1984], 71–94, hier: 76). Alain Resnais: Nuit et Brouillard (1956).
8 Erzählstrategien wird nicht nur das Vergangene dargestellt, sondern auch das «Wie» des Erinnerns visualisiert und die Notwendigkeit des Erinnerns thematisiert. Der Zusammenhang zwischen Zeit und Raum wird dem Zuschauer bewusst gemacht. Die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit wird zum einen durch die Bildmontagen und die Akzentuierung der Vergangenheit durch Schwarzweiß-Dokumentarbilder mit der Gegenwart bewirkt, zum anderen durch eine variantenreiche Filmmusik und einen vielschichtigen Off-Kommentar. Wie alle ausgesuchten Werke verbindet Resnais in Nuit et Brouillard den Anspruch, über die reine (vermittelnde) Darstellung hinaus auch Kunstwerk zugleich zu sein. Das Aufeinandertreffen einer Überlebenden mit ihrem ehemaligen Peiniger nimmt Liliana Cavani zum Ausgangspunkt ihres Spielfilms Il portiere di notte,19 der sich vor dem Hintergrund einer artifiziellen mise-enscène mit den Themen Sexualität, Sadismus, Mittäterschaft des Films (und des Filmens), Überschreitungen von Raum und Zeit und voyeuristischem Zwang beschäftigt. Il portiere di notte hat nicht den Anspruch, eine dokumentarische oder mimetische Repräsentation der historischen Wirklichkeit zu sein, sondern zeigt eine Fokussierung auf die Zweierkonstellation von Täter und Opfer. Die Wiederaufnahme einer sadomasochistischen Liebesgeschichte wird durch die Struktur von Rückblenden, die die chronologisch verlaufende Entwicklung der Gegenwartshandlung durchdringt, bewirkt. Das ausgefeilte Licht- und Schattenspiel, der stilisierte Hintergrund, das Dekor, die facettenreiche mise-en-scène erzeugen Spannung und setzen die Figuren nicht nur in Szene, sondern veranschaulichen auch ihre innere Entwicklung innerhalb eines komplexen Raum- und Zeitgefüges. Vor dem Hintergrund der Inszenierung eines Skandals führt Cavani anhand des Blicks (der Figuren und der Kamera) durch Innen- und Außenräume, Gegenwart und Vergangenheit. Das Erzählverfahren hängt bei den besprochenen Werken von der Art ab, wie die Geschichte rekonstruiert und in welchen Formen der Erzähler sich erinnert. Die Erinnerungsprozesse und -strategien in Literatur und Film der Shoah, die mit den in den Werken entworfenen Raum- und Zeitkonstruktionen in Verbindung gebracht werden, sind in poetologischer und narratologischer Hinsicht zu untersuchen. Literaturwissenschaftliche Fragestellungen und kulturhistorische Ansätze werden interdisziplinär behandelt. ––––––– 19
Liliana Cavani: Il portiere di notte (1973).
9 Film und Literatur werden hinsichtlich Erzählstrukturen und Sprache analysiert;20 somit wird in dieser Arbeit Film als visuelle Sprachform, die auf die Leinwand gebracht wird, verstanden.21 Die Grundlage der Untersuchung bilden Theorien zum modernen Roman, Zeitdefinitionen, Erinnerungskonzepte und Raumkonzeptionen. Im Rahmen von Erinnerung und Gedächtnis stehen vor allem die Theorien von Jan und Aleida Assmann22 im Vordergrund. Bei der Analyse der Texte wurde vor allem auf die narratologische Terminologie von Gérard Genette23 zurückgegriffen.
1.3
Zum Stand der Forschung
Die Holocaust-Forschung hat sich als ein interdisziplinäres geistes- und sozialwissenschaftliches Studienfeld entwickelt. Für die vorliegende Arbeit sollen an dieser Stelle exemplarisch einige relevante Arbeiten zu den Themenkomplexen Darstellbarkeit und Erinnerung genannt werden, wobei themenspezifischere Arbeiten (wie beispielsweise zu Trauma und Schuld) sowie spezielle Analysen zu den Werken in den jeweiligen Kapiteln genauer ausgeführt werden. Es gibt wenige Monographien zum Themenkomplex Erinnerung und Literatur bzw. Film in französischer Sprache; meist ist die Auseinandersetzung autorenzentriert. Etwas häufiger sind Artikel, die einen oder mehrere Texte behandeln und sich dabei auf einige wenige Aspekte konzentrieren. Die literaturwissenschaftliche und medienwissenschaftliche Forschung hat sich zwar mit der Frage beschäftigt, anhand welcher Mittel das Grauen in fiktionalen und nicht-fiktionalen ––––––– 20
21
22
23
«Historisch scheinen mir bis heute zwei konkurrierende Linien in der Entwicklung der Filmtheorie von Bedeutung zu sein: Auf der einen Seite handelt es sich um die ‹Rede vom Film als Sprache,› eine formanalytisch und artikulationsorientierte Richtung; und auf der anderen Seite um eine inhaltsbezogene, narrative, an der Genre- und Autorenfrage und im weiteren Sinne an ‹Literatur› orientierte Linie» (Joachim Paech [Hg.]: Methodenprobleme der Analyse verfilmter Literatur. Münster 1988, 13). «Cinema and language has been in many ways the great theoretical impetus for work on film over the last few years: the attempt to pose with regard to cinema the fact and the analogy of language, to determine similarities, connections, terms of interaction» (Stephen Heath / Patricia Mellencamp: Cinema and Language. Los Angeles 1983, 1). Assmann, Aleida: «Das Gedächtnis der Orte.» DVjs 68 (1994), Sonderheft, 17–35; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. Jan Assmann: «Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität.» In: Jan Assmann / Tonio Hölscher (Hgg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1988, 9–19; Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Gérard Genette: Le récit. Paris 1969; Figures I. Paris 1966; Figures II. Paris 1969.
10 Werken vermittelt wird, und über diesen Zugang hinaus wurden Arbeiten von anthropologischer und philosophischer Seite veröffentlicht, inwieweit das Grauen überhaupt darstellbar ist. In der bisherigen Forschung gibt es jedoch keine systematische Aufarbeitung der Raum- und Zeitstrukturen in Verbindung mit Erinnerungsdiskursen in Film und Literatur der französischsprachigen Shoa-Verarbeitung, die eine Gegenüberstellung von narrativ-literarischen und narrativ-kinematographischen Mitteln unternimmt. Darstellbarkeit Nach der ersten Zeugenliteratur, die vor allem der «devoir de témoignage» verpflichtet war, hob eine zweite Welle von späterer Zeugnisliteratur an, die sich mit der Erzählbarkeit und Mittelbarkeit (an einen bereits vorgebildeten Leser) beschäftigte.24 Zeitgleich setzte die wissenschaftliche Diskussion in den 60er Jahren an, die sich vor allem mit der Frage beschäftigte, ob Literatur nach Auschwitz überhaupt möglich sei. Adornos Erzählbarkeitsund Darstellungs-Aporie, die besagt, dass er Literatur nach Auschwitz für unmöglich hält,25 richtete sich vor allem gegen die fiktionale Literatur, die sich in den 60er Jahren vermehrt ausbreitete. Die wissenschaftliche Diskussion beschäftigte sich auch in den Folgejahren mit dieser Feststellung, die allerdings von anderen Philosophen weniger absolut, aber den Kern der Problematik treffend, formuliert wurde:
––––––– 24
25
Dieser zweiten Welle von «Zeugnisliteratur» kam eine doppelte Funktion zu: Auf der Rezeptionsseite konnte diese nicht-literarische Aufarbeitung als Resonanzboden und voraussetzbare Leseerfahrung für das eigene Schreiben in Anspruch genommen werden. Auf der Produktionsseite bedeutete dies vor allem: Zeugnis ablegen über die Lager, im vollen Bewußtsein dessen zu schreiben, dass die Worte an sich keinen Beweis für das Leiden und die Wirklichkeit der Lager einbringen können, dass aber andererseits das Gewesene einzig und allein durch eben diese Worte an erlebter, also historischer Wirklichkeit gewinnen und sich ins kollektive Gedächtnis einprägen können (vgl. Pere Joan i Tous: «Ecriture de cendres. Zur Problematik der Erzählbarkeit und Ästhetisierung des Leidens in der französischen KZ-Literatur.» Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 1997, 167–183, hier: 171). Vgl. Theodor Adorno: Zur Dialektik des Engagements. Frankfurt a.M. 1973. Vgl. auch Bertolt Brecht, der schrieb: «Die Literatur war nicht vorbereitet auf und hat keine Mittel entwickelt für solche Vorgänge» (zitiert nach Judith Klein: Literatur und Genozid. Darstellungen der nationalsozialistischen Massenvernichtung in der französischen Literatur. Wien 1992, 11).
11 «L’holocauste, événement absolu de l’histoire, historiquement daté, cette toute-brûlure où toute l’histoire s’est embrasée, où le mouvement du sens s’est abîmé (...). Comment le garder, fût-ce dans la pensée, comment faire de la pensée ce qui garderait l’holocauste où tout s’est perdu, y compris la pensée gardienne?»26
Ende der 70er und in den 80er Jahren wurde zum ersten Mal wissenschaftlich erörtert, ob man von einer Holocaust-Literatur sprechen kann und auf welche Art und Weise Geschichte und Fiktion miteinander verbunden sind (bzw. nicht getrennt voneinander sind). Lawrence Langer untersucht in seinem mittlerweile zum Standardwerk gewordenen The Holocaust and the Literary Imagination27 Darstellungsformen anhand verschiedener Texte und zeigt auf, welche Idiome und Stile die Schriftsteller entwickelt haben, um das Undarstellbare darzustellen. Er prägt den Begriff «literature of atrocity»28 für Texte, in denen das Problem der rein sprachlichen Verarbeitung des Grauens etwas zurückgedrängt wird durch andere Fragen, die ein autonomes Reflexionsobjekt konstituieren und von der persönlichen Bindung des Autors mit dem Konzentrationslager erzählen. Entgegen Adornos Aussage wird die Kunst zu einer Quelle, die sich der Herausforderung stellt, indem sie versucht dem Schrecken ein Ausdrucksmittel zu geben.29 Sidra DeKoven Ezrahi30 erweitert diesen Zugang, indem sie eine Literaturgeschichte entwickelt (mit Fokus auf jüdische Autoren), die sich mit der Frage beschäftigt, was Literatur angesichts der historischen Ereignisse bedeutet. Sie sieht die dokumentarische Literatur als Zwischenstation zum Zeugnis und zur ––––––– 26
27 28 29
30
Maurice Blanchot: L’écriture du désastre. Paris 1980. Auch bei Emmanuel Lévinas erkennt man, dass der Gedanke an den Holocaust alle seine Schriften beherrscht, obwohl die Geschehnisse selbst kaum genannt werden. Begriffe wie Trauma, Verfolgung und Nähe sind zentral in Lévinas Werk. Er beschäftigt sich mit der Frage, ob man von einer Moral nach dem (Zer-)Fall der Moral nach Auschwitz sprechen kann. Diese Frage durchzieht sein gesamtes Werk (vgl. Emmanuel Lévinas: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. Paris 2004). Sarah Kofman prägt in Paroles suffoquées den Begriff der «écriture de cendres» für eine Literatur, die sich ihrer eigenen Unzulänglichkeit bewusst ist. Auf deren Merkmale wird im ersten Kapitel über Charlotte Delbo eingegangen. Bei Paroles suffoquées handelt es sich um eine auf der Grundlage philosophischer Gedanken verfasste Autobiographie, die als philosophisches Denkmal für Robert Antelme gedacht ist und für Maurice Blanchot und ihren Vater, der in Auschwitz umgebracht wurde, geschrieben ist. Hier formuliert sie die Hoffnung auf einen neuen Humanismus, der einzig die Wiederholung von Auschwitz verhindern könnte (vgl. Sarah Kofman: Paroles suffoquées. Paris 1987). Lawrence L. Langer: The Holocaust and the Literary Imagination. New Haven 1975. Langer, Holocaust and Literary Imagination, XII. Die Erkenntnis, dass das Erinnerte von den jeweiligen Schreib- und Denkmustern abhängt, verbunden mit einer größer werdenden Selbstreferenz der Texte, findet als eigener Diskurs erst Ende der 1970er Jahre vermehrt Eingang in die Texte. Sidra DeKoven Ezrahi: By words alone. Chicago 1980.
12 imaginären Literatur an und prägt den Begriff «concentrationary realism.»31 DeKoven Ezrahi gliedert ihre Arbeit nach Darstellungsformen.32 Charlotte Wardi33 konstatiert das Problem der Beziehung in den Erzählungen zwischen Geschichte und Fiktion34 und untersucht die Darstellung des Holocaust vor dem Hintergrund der Repräsentation von Geschichte (Wie wird Geschichte repräsentiert, verfälscht oder wie wird sie wahrnehmbar gemacht?) und im Kontext der romanesken Literatur. Wardi analysiert die technischen Mittel, anhand derer der Holocaust dargestellt und die konzentrationäre Welt bei Gary, Bellow, Böll und Styron repräsentiert wird. Eine Weiterführung der Fragestellungen von Charlotte Wardi bietet Judith Klein.35 Sie beschäftigt sich mit der Darstellbarkeit des Grauens und untersucht verschiedene Darstellungsformen. Zugleich entsteht eine Geschichte literaturtheoretischer Überlegungen seit 1945, in die ein Vergleich mit deutsch- und englischsprachigen Theorien einfließt. Klein konzentriert sich auf wichtige Texte der französischen Literatur (u.a. Antelme, Gary, Delbo, Langfus). Einen ähnlichen Zugang mit besonderer Fokussierung auf die Frage, wie sich Zeugenschaft und literarische Ästhetik verbinden lassen zeigt Alain Parrau,36 der seine Analyse mit dem Versuch verbindet, das konzentrationäre Phänomen zu beleuchten.37 Primo Levis Se ––––––– 31
32
33 34
35 36 37
«The next level, at which history operates less as a specific record than as a creative resource but still reflects the artist’s primary sense of loyalty to fact, is what I call ‹concentrationary realism,› a form of fiction which places the exposed individual at its center and traces the degrees of submission to concentrationary reality, the erosive effects of brutal reality on the autonomy and integrity of the self» (DeKoven Ezrahi, Words, 14). Documentation, «Concentrationary Realism,» Literature of Survival, The Holocaust as Jewish Tragedy: The Legacy of Lamentations / The Covenantal Context; The Holocaust Mythologized; History Imagined: The Holocaust in American Literature. Charlotte Wardi: Le génocide dans la fiction romanesque. Histoire et représentation. Paris 1986. Vgl. auch: Berel Lang (Hg.): Writing and the Holocaust. New York 1988. In dieser Aufsatzsammlung wird der Frage nachgegangen, wie die historische und moralische Zerstörung durch den Holocaust die folgenden Schriften beeinflusst hat. Die Aufsätze widmen sich der Problematik, welche speziellen Erfordernisse sich denjenigen stellen, die sich mit dem Holocaust beschäftigen und inwieweit das Ausmaß des Holocaust eine adäquate Repräsentation von Tagebuchschreibern, Historikern, Philosophen oder Schriftstellern in Poesie und Fiktion ausschließt. Judith Klein: Literatur und Genozid. Darstellungen der nationalsozialistischen Massenvernichtung in der französischen Literatur. Wien 1992. Alain Parrau: Ecrire les camps. Paris 1995. Vgl. auch Michael Pollak: L’expérience concentrationnaire. Essai sur le maintien de l’identité sociale. Paris 2000. In dieser psychosozialen Studie untersucht Pollak anhand von drei Beispielen von Frauenschicksalen die Sprache des Nicht-Darstellbaren, wobei die Erinnerung der Überlebenden und ihre Suche nach Identität im Mittelpunkt der Analyse steht.
13 questo è un umo?, David Roussets L’univers concentrationnaire und Tadeusz Borowskis Le monde de pierre stehen im Mittelpunkt seiner Arbeit. Richtungsweisend für die Interpretation der Shoah Literatur ist James Edward Youngs Beschreiben des Holocaust. Darstellen und Folgen der Interpretation.38 Young legt in seiner Studie besonderen Wert auf die hermeneutische Problematik der KZ-Literatur und befasst sich mit der Verbindung von Weltdeutung und Handeln, mit der Verschränkung von Narration und Handeln im Alltag; er geht in seiner Studie nicht nur davon aus, dass das Verständnis (und die Erinnerung) der Ereignisse in einem nachträglich verfassten Bericht beispielsweise durch das Erzählen dieser Ereignisse erzeugt wird, sondern auch davon, dass schon die Wahrnehmung nach bestimmten kulturellen und sprachlichen Mitteln organisiert ist und dementsprechend die Erfahrung ihrerseits bestimmt. «Die Ereignisse des Holocaust [...] wurden bereits während sie stattfanden von den Schemata geprägt, nach denen sie begriffen und ausgedrückt wurden und die schließlich zu bestimmten Formen des Handelns geführt haben. Auf diese Weise wird das, was früher vielleicht ausschließlich als Frage der kulturellen, religiösen oder nationalen Perspektive des Holocaust galt, zur Triebkraft in diesen Ereignissen.»39
In dieser Zeichentheorie kann also lediglich das Zeichen vermittelt werden;40 dadurch wird erklärt, wie durch die Analyse der Schrift die Opfer gehandelt und empfunden haben.41 Stellvertretend für die zahlreichen Weiterführungen der narrativen Behandlung von Darstellung und Geschichte seien hier die Arbeiten von Dominick La Capra42 genannt: Als einer der ersten geht er auf die Interaktion zwischen Geschichte, Erinnerung, ethisch-politischen Themen und Psychoanalyse in unterschiedlichen Medien (Literatur, Film und Comic) ein. Er untersucht die Darstellung des Holocaust durch einen doppelten Zugang: in einer theoretischen Reflexion und einer historischen Untersuchung. La Capra konstatiert, dass Psychoanalyse nicht als Psychologie des Individuums gesehen werden sollte, sondern als inhärente historisierte Art des Denkens, die mit sozialen, politischen und ethischen ––––––– 38
39 40 41
42
James Edward Young: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folgen der Interpretation. Frankfurt a.M. 1992 (Orig.: Writing and rewriting the Holocaust. Narrative and consequences of interpretation. Indiana 1990). Young, Holocaust, 20. Young, Holocaust, 37. Die «authentische Wahrheit» liegt dann nicht in der «vermeintlichen Faktizität» eines Tagebuchs beispielsweise, sondern in seiner Darstellung, in der Interpretation der Ereignisse, wie Young es auch nennt (vgl. Young, Holocaust, 68). Dominick La Capra: Representing the Holocaust. New York 1994; Dominick La Capra: History and Memory after Auschwitz. New York 1998.
14 Belangen verknüpft ist. Einen ebenfalls interdisziplinären Zugang mit Fokus auf Erinnerung, Darstellbarkeit und Trauma wählt Sven Kramer,43 der die filmisch-rhetorischen Strategien von Filmen, philosophischen Texten und Literatur anhand der begrifflichen Distinktion von Inszenierung und Erinnerung untersucht. In diesem interdisziplinären Rahmen, der verschiedene Konzepte und Strategien miteinbezieht, soll auch die vorliegende Arbeit verstanden werden. In der ersten multidisziplinären Studie Breaking crystal. Writing and Memory after Auschwitz. von Efraim Sicher44 untersucht eine internationale Gruppe von Forschern aus Geschichte, Literatur, Kulturwissenschaften, Psychologie, Film und Jüdischen Studien, wie Mitglieder der zweiten Generation nach dem Holocaust in Israel und den USA sich einem traumatischen Ereignis stellen, das sie selbst nicht miterlebt haben. Diese Wissenschaftler nähern sich der Frage, um wessen Erinnerung es sich handelt, was aus dem kollektiven Gedächtnis im 21. Jahrhundert werden wird (nachdem die letzten Überlebenden Zeugnis abgelegt haben), wie Literatur und Geschichte nach Ende des zweiten Weltkrieges gelesen werden müssen und wie Erinnerung in Film und Kunst eingeschrieben ist.45 Zwei literaturwissenschaftliche Herangehensweisen lassen sich unterscheiden: Die eine versucht anhand einer chronologischen Untersuchung eine Weiterführung in der Schreibweise festzumachen.46 Die ––––––– 43 44 45
46
Sven Kramer: Auschwitz im Widerstreit. Zur Darstellung der Shoah im Film, Philsophie und Literatur. Wiesbaden 1999. Efraim Sicher (Hg): Breaking crystal. Writing and Memory after Auschwitz. Illinois 1998. Eine weitere Aufsatzsammlung, die sich mit Darstellbarkeit, Repräsentation, Vermittlung und Erinnerung beschäftigt ist von Andrew Leak / George Paizis (Hg.): The Holocaust and the text. Speaking the unspeakable. London 2000. Zur Frage nach der Möglichkeit der Definition von erster und zweiter Generation: Helene Schruff (Helene Schruff: Deutsch-jüdische Identität in erzählender Prosa der «zweiten Generation.» Hildesheim 2000), bezeichnet die Texte der ersten Generation als nicht innovativ. Nach Schruff richtet die Überlebendengeneration ihren Blick ausschließlich auf die Shoah selbst, wobei hingegen die «zweite Generation» den Gedächtnisprozess und die Nachwirkungen der Shoah thematisiere. Auch Eva Lezzi argumentiert im chronologischen Sinn, wenn sie die Texte von Autoren, die zur Zeit der Vernichtung Kinder waren, als innovativ bezeichnet (Eva Lezzi: Zerstörte Kindheit. Literarische Autobiographien zur Shoah. Köln 2001). Lezzi konstatiert, dass Autoren von Kindheitserfahrungen «tiefgreifende inhaltliche, stilistische und strukturelle Neuerungen [...] in die Zeugnisliteratur einbringen (51).» Nach Pollak müßte man von einem dreistufigen Modell ausgehen: So gäbe es in den ersten vier Nachkriegsjahren die «faktenorientierten» Texte, ab Mitte der 1950er Jahre die Texte von Autoren, die im Schreiben versuchen, ihr Trauma zu überwinden, während ab den 1980er Jahren die Suche nach Formen der Weitergabe spezifisch ist (Michael Pollak: Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZÜberlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit. Frankfurt 1988). Reiter
15 andere akzentuiert Darstellungs- und Erinnerungsformen und eine themenorientierte Analyse. Die Autoren und Regisseure der vorliegenden Arbeit sind zeitlich zwischen der ersten47 (Charlotte Delbo, Romain Gary, Alain Resnais), der 1.548 (Liliana Cavani) und der zweiten Generation49 (Soazig Aaron) einzuordnen. Diese zeitliche Festlegung spielt für die vorliegende Arbeit keine Rolle und die Argumentation soll nicht im Sinne der Chronologie –––––––—
47 48
49
geht ebenfalls von einem dreistufigen Modell aus: erste Phase: 1933–1945 (Texte, die an die Weltöffentlichkeit gerichtet waren und deren Forderung eine unmittelbare Hilfeleistung sein sollte); die zweite Phase entspricht der ersten von Pollak (Texte von 1945–1949); die dritte Phase setzt Reiter entgegen Pollak ab 1950 bis heute an, ohne weiter zu differenzieren (Andrea Reiter: «Auf dass sie entstiegen sind der Dunkelheit.» Literarische Bewältigung von KZ-Erfahrung. Wien 1995). Ariane Eichenberg nimmt nun diese Thesen als Grundlage, um eine weitere Differenzierung vorzunehmen: Sie bemerkt, dass sowohl einfach abbildende, als auch Texte mit Selbstreferenzialität zeitunabhängig geschrieben worden sind und dass die frühen Texte mehr als dokumentarischen Realismus beinhalten. Die Besonderheiten der zweiten Generation sind auch an der ersten zu erkennen. Sie wählt ein binäres Modell (ältere [nach dem Krieg] versus neuere [ab 1980er Jahre] Literatur): Ariane Eichenbergs These beschreibt eine Entwicklung ab den 1980er Jahren eines sichtbar werdenden Wandels im autobiographischen Schreiben und seine daraus folgenden Konsequenzen für den Autor, für den Erzähler und das Erzählte an narrativen Zusammenhängen. Sie organisiert die verschiedenen Zeugnisse nach den biographischen Daten ihrer Autoren (Ariane Eichenberg: Zwischen Erfahrung und Erfindung. Jüdische Lebensentwürfe nach der Shoah. Köln 2004). Durch eine Einteilung seines interdisziplinären Corpus nach Gattungen (Memoirs; Realism; Myth, Parable, and Fable; Fantasy) versucht Daniel Schwarz (Daniel R. Schwarz: Imagining the Holocaust. New York 1999) Darstellung, Authentizität und Funktion der Erinnerung in Zusammenhang mit einer Entwicklung von Metaphern, Allegorien etc. zu bringen und manifestiert, dass je weiter die Ereignisse sich entfernen, desto größer der Einsatz von Umschreibungen ist. Und auch Ilrud Ibsch (Ilrud Ibsch: Die Shoah erzählt: Zeugnis und Experiment in der Literatur. Tübingen 2004) beschreibt eine Entwicklung von der Autobiographie zum (postmodernen) Experiment in der literarischen Darstellung der Shoah. Bei der Interpretation der Zeugnisse der Überlebenden wird die selektive Erinnerungsarbeit anhand repräsentativer Texte aus verschiedenen Literaturen im Vergleich herausgestellt. Unter der ersten Generation versteht man Überlebende, die zur Zeit des Krieges Erwachsene waren. Durch Susan Suleiman entstandener Begriff, der diejenigen bezeichnet, die zur Zeit der Verfolgung noch Kinder waren (Susan Robin Suleiman: «The 1.5 Generation: Thinking about Child Survivors and the Holocaust.» American Imago 59.3 [2002], 277–295). Unter der zweiten Generation versteht man Nachkommen, die aus den fremden Erzählungen und ihrer Konfrontation mit der Elterngeneration ihre persönlichen Erinnerungen verschriftlichen. Fragen nach einer Identität nach der Shoah rücken in den Mittelpunkt, mischen sich mit Liebes- und Lebensfragen, aber auch mit der Suche nach Formen des Erinnerns und Gedenkens aus der jeweiligen Gegenwart heraus. Die Shoah ist in diesen Texten ganz in die Gegenwart eingelassen, sie ist Teil des Alltags geworden und kann aber gerade dadurch lebendig gehalten werden.
16 verlaufen (ein Vergleich der ersten und zweiten Generation lässt nicht zwangsläufig den Schluss zu, dass es sich hierbei um eine Weiterentwicklung oder gar Verfeinerung der Erzählverfahren handelt), da in diesen Texten eben nicht die oft zitierte Diskrepanz zwischen Gegenwartskonzentrierung (im Lager) und der Vielschichtigkeit des Erinnerns in der zweiten Generation vorkommt, sondern alle Werke sich mit dem Thema Erinnern und Reflexion beschäftigen. Das selbstreflexive Erzählen, der Einfluss verschiedener literarischer Gattungen und die Bezugnahme auf authentische Zeugnisse in den fiktionalen Texten machen eine exakte Einordnung der Texte schwierig. Die älteren Werke beschränken sich nicht auf die Geschichte der Verfolgung, sondern erzählen wie auch die neueren Werke über die Schreibgegenwart und die Zeit zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart und der damit verbundenen Selbstreferenz. Vereint werden alle Zeugnisse durch den starken Willen der Autoren, Zeugnis abzulegen.50 Die nachfolgenden Werke sind themenorientierte anerkannte Analysen, die sich mit der Darstellung des Holocaust in der französischen Literatur beschäftigen. Im Zentrum von Mounira Chattis Abhandlung51 stehen Form und Gegenstand der «l’écriture du désastre,» wobei sie unterschiedliche Textarten nach Funktionen des Schreibens und Erinnerns untersucht und einen besonderen Akzent auf jüdische Schriftsteller legt. Auch Myriam Ruszniewski-Dahan52 wendet sich vor allem den narrativen Strukturen fiktionaler Literatur in Verbindung mit der Shoah bei jüdischen Schriftstellern53 zu und konstatiert nicht nur die Verwendung besonderer Narrativa aufgrund der Spezifik des Themas, sondern auch eine progressive Zerstörung des literarischen Modells. Diese These wird in der vorliegenden Arbeit ebenfalls bestätigt werden. Eine thematische Ausrichtung erfolgt bei Joyce Block Lazarus.54 Sie untersucht die Themen der Desillusionierung, Entfremdung und des Exils anhand von jüdischen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts. Cynthia Haft55 konzentriert sich in ihrer Abhandlung vor allem auf die Beschreibung des Lagers in literarischen Texten und wie diese ––––––– 50 51 52 53 54 55
Vgl. Young, Holocaust und Ulrich Baer (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoa. Frankfurt a.M. 2000. Mounira Chatti: L’écriture de la déportation et de la Shoah ou la double impossibilité: entre le silence et le dire. Marseille 1995. Myriam Ruszniewski-Dahan: Romanciers de la Shoah. Si l’écho de leur voix faiblit ... Paris 1999. Das Corpus umfasst jüdische Schriftsteller, die auf französisch schreiben (Elie Wiesel, Anna Langfus, Romain Gary, Patrick Modiano, Georges Perec). Joyce Block Lazarus: Strangers and Sojourners. Jewish Identity in Contemporary Francophone Fiction. New York 1999. Cynthia Haft: The Theme of Nazi Concentration Camp in French Literature. Hague 1973.
17 Erfahrung vermittelt wird. Sie untersucht die Charakteristika der unterschiedlichen Zugänge und zeigt die Abfolge der Verfolgung (mit dem Weg dorthin, die Organisation des Lagers, die Befreiung und die Folgen der Erfahrung). Das Element der Zeit wird als Schlüssel für die Analyse benutzt. David Rousset56 war der erste Deportierte, der sich zu den Mechanismen und der Logik der nationalsozialistischen Lager äußerte; sein Zeugnis zeigt nicht nur die verschiedenen bürokratischen und ideologischen Schichten dieses Systems auf, es ist auch im Gedenken an die Opfer geschrieben und gehört mittlerweile zum Standardwerk in der Beschreibung der Lager. Seit Anfang der 90er Jahre werden Konzentrationslager als Systeme angesehen, die als verschiedene gesellschaftliche Bereiche funktionierten. Nicht nur Überlebende oder die dort erstellten Lagerakten durften Auskunft geben, sondern die Lager wurden zum Forschungsgegenstand. Auf der Basis dieser Erkenntnisse zeigt Wolfgang Sofsky eine Weiterführung von Rousset in Die Ordnung des Terrors,57 eine detaillierte und exakte Untersuchung der Organisation des Lagersystems und seiner physisch und psychisch vernichtenden Wirkung auf die Häftlinge. Es ist eine soziologische Analyse des organisierten Terrors und des KZ als ein Machtsystem eigener Art. Die Macht beruht auf Terror, Organisation und exzessiver Tötungsgewalt. Die typischen Prozesse der Macht, die Formierung von Raum, Zeit und Sozialität, die Steigerung zu exzessiver und organisierter Tötungsmacht werden in der Studie erläutert. Die meisten dieser Referenzwerke thematisieren nicht die geschlechterspezifischen Strukturen der Lager und vor allem der Frauenkonzentrationslager. Bis Ende der 80er Jahre standen einer umfangreichen Memoirenliteratur nur drei publizierte wissenschaftliche Arbeiten zur Geschichte des KZ Ravensbrücks gegenüber, die von Wanda Kiedrzynska (1961)58 und von Ino Arndt (1970/1987)59 sowie Germaine Tillions 1946 erschienene soziologische Studie Ravensbrück,60 die als fundamentales Referenzwerk über das Leben im Lager gilt. ––––––– 56 57 58 59
60
David Rousset: L’univers concentrationnaire. Paris 1946. Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a.M. 2002 Wanda Symonowicz / Wanda Kiedrzynska (Hgg.): Über menschliches Maß. Opfer der Hölle Ravensbrück sprechen. Warschau 1970. Ino Arndt: «Die Geschichte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück.» In: Institut für Zeitgeschichte (Hg.): Studien zur Geschichte der Konzentrationslager. Stuttgart 1970, 39– 120. Insgesamt gibt es drei Fassungen, die 1946, 1973 und 1988 erschienen sind (Germaine Tillion: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Lüneburg 1998 [Orig.: Ravensbrück. 1946, 1973 und 1988]).
18 Diese Werke werden in der vorliegenden Arbeit als Fundament genommen, um die Lageranalyse auf narrativer Ebene in adäquater Weise vornehmen zu können. Ganz der Gender-Perspektive widmet sich Marlene Heinemann,61 die versucht Holocaust-Narrativa speziell aus der weiblichen Perspektive mit besonderem Fokus auf die jüdische Erfahrung zu beschreiben. Es ist eine thematische Studie von Erfahrungen, die spezifisch für Frauen in den Nazi-Lagern ist, wobei auch die Eigenart der Texte berücksichtigt wird. Im Vergleich von männlichen und weiblichen Häftlingsbeziehungen in ausgewählten Texten werden Faktoren der Glaubwürdigkeit und Authentizität in diesen Texten betrachtet. Im Kontext der filmischen Verarbeitung der Shoa wendet sich die Forschung erst seit kurzem der Überlieferung in Bildern (Fotos und Filmmaterial) zu. In den 60er und 70er Jahren standen vor allem Textdokumente im Mittelpunkt des Interesses, wobei in den 70er und 80er Jahren die Quellengrundlage erweitert wurde. Neben dokumentarischen Aufnahmen gewinnen in der Forschung auch Kino, Fernsehen und bildende Kunst zunehmend an Gewicht.62 In den 90er Jahren wurde intensiv im Kontext der Holocaust-Forschung gearbeitet (Anstöße und grundlegende Arbeiten kamen meist aus den USA, häufig von den im Exil lebenden Vertriebenen). Annette Insdorfs Indelibe Shadows. Film and the Holocaust63 gilt als einer der umfangreichsten und detailliertesten Zugänge zur Holocaust-Verfilmung. Sie beschäftigt sich mit Filmen, die im Kontext des Holocaust stehen oder diesen zum Thema haben und setzt einen besonderen Schwerpunkt auf die Frage, wie ein Film gestaltet werden muss, der sowohl moralisch, als auch filmästhetisch ist. Sie analysiert ihr reiches Werkcorpus nach Authentizitätsfaktoren, nach der Art und Weise, wie der Holocaust sich durch Bilder substituieren lässt und wie kinematographische Mittel eingesetzt werden. Die Untersuchung ist sowohl beschreibend, als auch moralisch bewertend. Der Fokus wird auf das Kino der USA, Frankreich, Polen, Italien und Deutschland gesetzt, weil diese Länder die bedeutendsten und zugänglichsten Filme über den Holocaust herausbrachten. Eine interdisziplinäre Weiterführung von Insdorfs Fragestellungen stellt der Sammelband Die Shoah im Bild dar.64 Hier ––––––– 61 62
63 64
Marlene E. Heinemann: Gender and destiny. Women Writers and the Holocaust. Connecticut 1986. Die amerikanische TV-Miniserie Holocaust (Marvin J. Chomsky 1979) und später Steven Spielbergs Schindler‘s List (1993) prägen das Verständnis der Geschehnisse. Andere Bilder sind zeitenthoben präsent (erste Aufnahmen der Allierten aus den befreiten Lagern, Leichenberge in Bergen-Belsen, die Befreiten hinter Stacheldraht, die Gleise und das Tor von Auschwitz). Annette Insdorf: Indelibe Shadows. Film and the Holocaust. Cambridge 32003. Sven Kramer (Hg.): Die Shoah im Bild. Stuttgart 2003.
19 untersuchen Historiker und Kunstgeschichtler, Kultur-, Sozial-, Literaturund Filmwissenschaftler zentrale Aspekte und Entwicklungen der audiovisuellen Geschichte der Shoah von den Vierzigerjahren bis heute. Berücksichtigt werden Tendenzen aus Dokumentar- und Spielfilm, bildender Kunst, Fotografie und Fernsehen sowie verschiedene Lesarten. Die Beiträge stellen die Historizität der audiovisuellen Überlieferung der Shoah in Rechnung.65 Somit wird in der Konfrontation der rekonstruierten Gegenstände mit dem heutigen Blick auf sie sowohl die zeitgenössische Pluralität der Lesarten als auch die Begrenzung der Diskurse in den Blick genommen. Im Vergleich zur Literatur findet der wissenschaftliche Diskurs und öffentliche Debatten deutlicher im dauernden Austausch miteinander statt.66 Intensität und Frageinteresse des Forschens modellieren sich innerhalb der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Shoah. In diesem Zusammenhang beschäftigen sich die verschiedenen Beiträge der Aufsatzsammlung Zur neuen Kinematographie des Holocaust. Das Kino als Archiv und Zeuge?67 kritisch mit dem Film als kulturelles Archiv. Ob und wie das Kino als weltweit genutztes Archiv jenseits der unmittelbaren Zeugenschaft zur Geschichtsschreibung und zum Geschichtsbild der NaziVerbrechen neue Beiträge hinzuzufügen vermag, auch dieser Frage gehen die Beiträge aus den unterschiedlichsten Perspektiven nach. Die Grenzen der Erzählbarkeit und Darstellbarkeit der Shoah, verbunden mit der Suche nach geeigneten Genre- und Ausdrucksformen wurden im ––––––– 65
66
67
Vgl. ebenso Peter Daly / Karl Filser: Building History. The Shoah in Art, Memory, and Myth. New York 2001. In dieser Aufsatzsammlung werden verschiedene Zugänge (Zeugnisse, graphische Kunst, Musik, Film und Theater) dargestellt, anhand derer die Integration der Shoah in Bewusstsein und Kultur stattfindet und Nicolas Berg / Jess Jochimsen: Shoa. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. München 1996. Die Hauptuntersuchungspunkte sind die Interaktion zwischen Erinnerung und Darstellung. Einen nicht spezifisch auf die Shoah bezogenen Zugang zur Intermedialität findet man in: Franz-Josef Albersmeier: Theater Film Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität. Darmstadt 1992. Vom kollektiven Schweigen der 50er Jahre über die studentischen Proteste der 60er Jahre erreicht die Shoah nach der Ausstrahlung der Serie Holocaust (1979) eine bis dahin nicht erreichte Resonanz. In den 90er Jahren fand dann die Aufarbeitung auf sämtlichen Ebenen statt (Schindlers Liste, Goldhagen-, Mahnmal-, und Walser-Bubis-Debatten). Indem die Shoah aber seit dem Schweigen der Nachkriegszeit Stück für Stück in den Diskurs überführt wurde, trat eine Rederoutine ein, eine souveräne Rhetorik des Gedenkens (national und international) Günter Giesenfeld / Thomas Koebner (Hgg.): Zur neuen Kinematographie des Holocaust. Das Kino als Archiv und Zeuge? Augenblick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft 36 (2004).
20 Kontext der filmischen Verarbeitung von wissenschaftlicher Seite aus ebenso heftig diskutiert wie im literarischen Kontext.68 In einem viel größeren Maße als bei der Literatur wird im Film eine authentische Abbildung der Geschehnisse gefordert. In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der filmischen Umsetzung des Holocaust dominiert immer noch die Frage, wie «authentisch» die Handlung dargestellt wird.69 Béla Balázs formulierte die These, dass der fiktionale Film dadurch bewertet wird (oder werden sollte), inwieweit die Handlung es versteht, Authentizität durch die fiktive Spielhandlung hindurch zu vermitteln.70 Diese These ist bis heute grundlegend für die (wissenschaftliche) Auseinandersetzung mit der filmischen Umsetzung der Shoah. Standardwerke, wie von Ilan Avisar,71 Lawrence Langer,72 Judith Doneson73 oder Alvin Rosenfeld,74 nehmen «Dokumentarfilme» wie Nuit et brouillard oder Shoah, als Grundlage und Maßstab für eine Beurteilung der fiktionalisierten Form der Shoah. Avisar beschäftigt sich in Screening the Holocaust mit der Frage, ob der typische Hollywood-Spielfilm mit seinen festgelegten Strukturen vom Kampf gegen Gut und Böse und dem Sieg des Guten (der sich auch in der visuellen Form abzeichnet) die Shoah, die gerade keine Sinngebung hat, überhaupt darstellen kann und manifestiert an einigen Filmen, dass das Material der Erzählformel angepasst wird.75 Ein ––––––– 68
69
70 71 72 73 74 75
Vgl. Ilan Avisar: Screening the Holocaust. Cinema’s Images of the Unimaginable. Indiana 1988, 125–128; Lawrence Langer: The Holocaust and the Literary Imagination. New Haven 1975, 79–87; Alvin H. Rosenfeld: Ein Mund voll Schweigen. Literarische Reaktionen auf den Holocaust. Göttingen 2000 (Orig.: A double dying. Reflections on Holocaust literature. Indiana 1980), 156–163. Zur Visualisierung des Holocaust siehe auch Gertrud Koch: «Handlungsfolgen: Moralische Schlüsse aus narrativen Schließungen. Populäre Visualisierungen des Holocaust.» In: Dies. (Hg.): Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung. Köln 1999, 295–313. Zu dieser Fragestellung vgl. auch Hanno Loewy: «Fiktion und Mimesis. Holocaust und Genre im Film.» In: Margrit Frölich / Hanno Loewy / Heinz Steiner: Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. Augsburg 2003, 37–64, besonders 52ff. Béla Balázs: Theory of the film. Character and growth of a new art. New York 1970. Vgl. Avisar, Screening, 7–32. Lawrence Langer: Admitting the Holocaust. Collected Essays. New York 1995. Judith Doneson: The Holocaust in American film. Syracuse 2002. Auch Alvin Rosenfeld behauptet in A double dying Auschwitz markiere das Ende aller Metaphern und könne daher auch selbst nichts repräsentieren. Avisar, Screening, 34. Avisar lässt allerdings bei seiner Definition von Erzählung («Narrative is the construction of an action, composed of a series of events, forming a coherent structure with clearly discernible beginning, middle and end» [Avisar, Screening, 34]) den spezifisch kinematographisch-(optischen) Aspekt aus. In der vorliegenden Arbeit wird ein weiterer Begriff von Erzählung verwendet, im Sinne von Kramer (Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 55f.), der die optische Seite der Erzählstrategien betont oder/und
21 zentrales Merkmal der Shoah, das Scheitern aller Sinngebungsversuche diesem Ereignis gegenüber, muss das populäre Erzählkino umfälschen. Durch die narrative Struktur wird das Trauma ignoriert oder als abgeschlossen in die Vergangenheit gesetzt, um somit dem typischen Entlastungsdiskurs Raum zu geben.76 Für Berel Lang ist es unmöglich, den Holocaust in imaginativer Form zu repräsentieren, da hier die Geschehnisse personalisiert werden, was dem Ereignis des Holocaust an sich widerspricht. Nur eine unmittelbare Sprache, «immediate and unaltered,»77 die frei von narrativer Geschichte ist und den Holocaust zur Geschichte verformt, kann nach Lang in der Lage sein, den Holocaust zu repräsentieren. Hayden White hingegen konstatiert, dass der Holocaust repräsentierbar ist;78 die Ausdrucksmittel der Moderne seien den traditionellen «storytelling techniques» überlegen, wenn es um eine realistische Repräsentation der jüngsten Vergangenheit geht. Die Frage bei White bleibt jedoch offen, wo die Grenze zwischen Fiktion, Genre und Mimesis tatsächlich verläuft. Hanno Loewy beschreibt am Beispiel Wolfgang Hildesheimer den Versuch, das Absurde (das zwei eigentlich unvereinbare Erfahrungen in einen Diskursraum stellt) als einen möglichen Ausweg zu bestimmen;79 er entwickelt Hildesheimers Ausführungen zur Satire hin. Wara Wende80 nimmt diese Diskussion als Ausgangspunkt, um explizit die Thematik Geschichte im Film zu entwickeln. Hierbei geht sie auf Formen des filmischen Speicherns ein, auf Möglichkeiten der Abbildbarkeit und Funktionen des Films als «Mittler» zwischen Vergangenheit und Gegenwart, als «Außendimension des menschlichen Gedächtnisses» bzw. als «externalisiertes Gedächntis»81 einer sozio–––––––—
76
77 78
79
80 81
im Sinne von Hickethier: «Filmische und televisuelle Narration sind durch die Verbindung von Dramaturgie, Erzählstrategien und Montage zu beschreiben» (Knut Hickethier: Einführung in die Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart 1993, 143). Vgl. Avisar, Screening, 130. Avisar untersucht: «three essential aspects of narrative form: the stimulation of expectations and their gratification in a coherent structure; the inducement of emotional involvement with the fate of the characters; and the insertion of ideological positions by means of manipulating the reader’s or viewer’s emphatic reaction to the actions of the dramatic agents» (Avisar, Screening, 35). Berel Lang: Act and Idea in the Nazi Genocide. Chicago 1990, 156. Hayden White: «Historical Emplotment and the Problem of Truth.» In: Saul Friedlander (Hg): Probing the Limits or Representation. Nazism and the «Final Solution.» Cambridge 1992, 37–53, hier: 51ff. Vgl. Loewy, Fiktion und Mimesis, 59f. sowie Wolfgang Hildesheimer: «Frankfurter Poetik-Vorlesungen. 1. Die Wirklichkeit des Absurden.» In: Hart Nibbrig / Christian Lucas (Hgg.): Gesammelte Werke in sieben Bänden, Bd. VII. Frankfurt a.M. 1991. Waltraud «Wara» Wende (Hg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis. Stuttgart 2002. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis, 19; 23.
22 kulturellen Gemeinschaft. In der vorliegenden Arbeit wird gezeigt werden, dass sowohl eine realistisch-authentische Auseinandersetzung mit den Mitteln der Kunst möglich ist (in Nuit et Brouillard), als auch eine metaphorisierte Darstellung von Auschwitz (in Il portiere di notte) – beide Filme versinnbildlichen in diesem Sinne «authentisch» das Grauen. Erinnerung Das Phänomen des Gedächtnisses ist in der Vielfalt seiner Erscheinungen nicht nur transdisziplinär in dem Sinne, dass es von keiner Profession aus abschließend und gültig zu bestimmen ist, es zeigt sich auch innerhalb der einzelnen Disziplinen als widersprüchlich und kontrovers diskutiert. Die Art und Weise, wie erinnert wird, hängt mitunter auch von herrschenden und sich wandelnden Schreib- und Denkmustern ab. In den 90er Jahren, die als Phase des Übergangs von der lebendigen kommunikativen Erinnerung zur medial vermittelten Erinnerung angesehen werden kann, intensivierte sich die Beschäftigung mit Erinnerung auf wissenschaftlicher Ebene. Nicht zuletzt durch die Geschehnisse der Shoah wird Erinnerung zu Ende des 20. Jahrhunderts zu einem wichtigen Forschungsschwerpunkt. Der Erinnerungsprozess als solcher wird zum Thema der Beschäftigung. Bei den Theoretikern, die sich mit der Funktion des kollektiven Gedächtnisses beschäftigt haben, wurde die Unterscheidung zwischen Geschichte und Gedächtnis zur Leitdifferenz. Der Begriff und die Funktionsweise von Erinnerung umfasst nicht nur Erinnerung der Individuen, sondern kann sich auch im weiteren Sinne auf ein kollektives Gedächtnis beziehen. Die Grundlage diesbezüglicher Überlegungen bildet hier die Theorie des kollektiven Gedächtnisses («mémoire collective») von Maurice Halbwachs.82 Anhand eines soziologischen Zugangs zeigt Halbwachs das Verhältnis von individuellem und kollektivem Erinnern auf. Halbwachs fragt nach dem Zusammenhalt von Menschen als Gruppe. Aus diesen Überlegungen kristallisiert sich die gemeinsame (kollektive) Erinnerung («Gruppengedächtnis») als wichtigstes Mittel des Zusammenhalts heraus. Seine Definierung des Kollektivgedächtnisses basiert auf der Zuordnung von Gedächtnis und Gruppe. Aleida und Jan Assmann haben eine genaue kulturwissenschaftliche Bestimmung von Gedächtnisformen unternommen
––––––– 82
Den Begriff des «mémoire collective» entwickelt Maurice Halbwachs in drei Werken: Maurice Halbwachs: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris 1985 (Orig.: 1925); Maurice Halbwachs: La topographie légendaire des évangiles en terre sainte. Étude de mémoire collective. Paris 1941; Maurice Halbwachs: La mémoire collective (in den 30er Jahren entstanden / Paris 1985).
23 und führen damit Halbwachs’ Überlegungen weiter.83 Jan Assmann unterscheidet zwei Formen des kollektiven Gedächtnisses, das kommunikative bzw. das kulturelle Gedächtnis. «Das kollektive Gedächtnis operiert daher in beide Richtungen: zurück und nach vorne. Das Gedächtnis rekonstruiert nicht nur die Vergangenheit, es organisiert auch die Erfahrung der Gegenwart und der Zukunft.»84 Kollektive Kontinuität wird durch die Übertragung von Gedächtnisinhalten, von Werten und Normen, Kultur und Tradition einer Generation erhalten. Nach Jan Assmann ist das kommunikative Gedächtnis die Alltagsform des kollektiven Gedächtnisses, sein wichtigstes Merkmal ist der beschränkte Zeithorizont von 80–100 Jahren. Das kulturelle Gedächtnis hingegen zeichnet sich durch Alltagsferne aus. Die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses sind identitätskonkret, d.h. auf eine bestimmte Gruppe bezogen; sie dienen der Stiftung und Kontinuierung kollektiver Identitäten. In bezug auf diese Gedächtnisinhalte wird von ihren Trägern laut Jan Assmann eine scharfe Grenze zwischen Eigenem und Fremdem gezogen. Konstitutiv für das kulturelle Gedächtnis ist das Merkmal der Rekonstruktivität, d.h. die Auswahl der Gedächtnisinhalte bezieht sich immer auf die aktuelle Situation: «Das kulturelle Gedächtnis existiert in zwei Modi: einmal im Modus der Potentialität als Archiv, als Totalhorizont angesammelter Texte, Bilder, Handlungsmuster, und zum zweiten im Modus der Aktualität, als der von einer jeweiligen Gegenwart aus aktualisierte und perspektivierte Bestand an objektiviertem Sinn.»85
Vor dem Hintergrund dieser Bestimmungen kommt Assmann zu jenem Begriff des «kulturellen Gedächtnisses,» wie er seither in der Fachdiskussion verwendet wird: der «jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümliche Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten [...], in deren «Pflege» sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen vorzugsweise (aber nicht ausschließlich) über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenart stützt.»86 Besonders sinnfällig wird dieser Begriff des kulturellen Gedächtnisses in der vorliegenden Arbeit in der Analyse von Heterotopien, da hier das kollektive Gedächtnis mit besonderem Fokus auf das kulturelle ––––––– 83
84 85 86
Jan Assmann: «Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität.» In: Jan Assmann / Tonio Hölscher (Hgg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1988, 9–19 und Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Diese Studie handelt vom Zusammenhang der drei Themen Erinnerung, Identität und kulturelle Kontinuierung. Jan Assmann, Kulturelles Gedächtnis, 42. Ebd., 10. Ebd., 15.
24 Gedächtnis in seinen verschiedenen Ausformungen untersucht wird. Eine Auseinandersetzung mit der Erinnerung impliziert immer auch ein bestimmtes Konzept von Zeit. Für Jan Assmann ist Erinnerung immer zugleich Konstrukt: «Die Vergangenheit nun, das ist unsere These, entsteht erst dadurch, dass man sich auf sie bezieht.»87 Dieser Vergangenheitsbezug setzt eine als Bruch empfundene Differenz zwischen Gestern und Heute voraus. Die Erinnerung scheint in der Lage zu sein, diesen Bruch zu überbrücken und das Vergangene zu bewahren. Tatsächlich ist die Erinnerung ein Produkt der Gegenwart, eine Rekonstruktion, die durch die aktuelle Situation ihrer Träger bestimmt wird. Diesem Verständnis zufolge kann von einer objektiven Existenz der Vergangenheit nicht ausgegangen werden. Diese Argumentation zeigt sich deutlich an den Texten des ausgewählten Werkcorpus, die die Erinnerungsleistung aus der Schreibgegenwart nachzeichnen. Dass sich kollektive Erinnerung immer wieder verändert betont von Bredow, der die kollektive Erinnerung speziell im Kontext des Holocaust untersucht: «In der Tat ist kollektive Erinnerung weder in sich konsistent, noch gibt es überhaupt die Möglichkeit, einen unumstrittenen und vor allem auf längere Zeit unveränderlichen Kanon kollektiver Erinnerung zu schaffen; es sei denn, man hätte es mit geklonten Menschen zu tun oder mit Zombies. Eine demokratische Gesellschaft ist geradezu dadurch gekennzeichnet, daß kollektive Erinnerung in ihr umstritten, bisweilen sogar umkämpft ist.»88
Harald Welzer89 nimmt nun die Überlegungen von Jan und Aleida Assmann auf und beschäftigt sich mit dem Gedächtnis, wie es aus der Sicht der Neurowissenschaften und der kognitiven Psychologie verstanden wird, wie sich unser Gedächtnis bildet, wie es arbeitet und was es verarbeitet. Zusätzlich wird die Perspektive durch die Beschäftigung mit sozialen Prozessen der Erfahrungs- und Vergangenheitsbewältigung erweitert. Er zeigt auf, dass unsere lebensgeschichtlichen Erinnerungen gar nicht zwingend auf eigene Erlebnisse zurückgehen müssen, sondern oft aus ganz anderen Quellen, aus Büchern, Filmen und Erzählungen etwa, in die eigene Lebensgeschichte importiert werden. ––––––– 87 88
89
Ebd., 42. Von Bredow, Tückische Geschichte, 75. Zur Aufarbeitung, Geschichtserinnerung, Erinnerungsdebatte in Deutschland siehe Wilfried von Bredow: Tückische Geschichte. Kollektive Erinnerung an den Holocaust. Stuttgart 1996, «Einleitung/Fragen» und «Selbstverständnis: Wechselrahmen für politische Erinnerung, 13–21. Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung. München 2002.
25 Bei Halbwachs finden wir noch die scharfe Trennung zwischen kollektivem Gedächtnis und dem Gedächtnis der Geschichtswissenschaft, zwischen Geschichte und Erinnerung.90 Ebenso bei Pierre Nora. Die Studien des französischen Historikers91 haben gezeigt, dass weder Kollektivseele noch objektiver Geist hinter dem Gedächtnis der Gruppe steckt, sondern die Gesellschaft (im Unterschied zu Halbwachs eine abstrakte Gemeinschaft [z.B. die Nation]) mit ihren Zeichen und Symbolen. Über die gemeinsamen Symbole hat der einzelne teil an einem gemeinsamen Gedächtnis und einer gemeinsamen Identität. Pierre Nora unterscheidet diese Zeichen der Geschichte, die das Gedächtnis der Nation konstituieren, von den Zeichen der Geschichtsschreibung, die den wissenschaftlichen Diskurs der Historiographie ausmachen. «Die Gedächtnistheorien von Nietzsche, Halbwachs oder Nora betonen den konstruktivistischen, identitätssichernden Charakter der Erinnerung und affirmieren deren Recht gegenüber einer objektiven und neutralen historischen Geschichtswissenschaft. Die Leitopposition ist in allen drei Fällen zwischen verkörpert und entkörpert, bzw. zwischen bewohnt und unbewohnt: Das Gedächtnis gehört lebendigen Trägern mit parteiischen Perspektiven, die Geschichte dagegen ‹gehört allen und niemandem,› sie ist objektiv und damit identitätsneutral.»92
Diese Opposition von Geschichte und Gedächtnis lässt sich nicht mehr aufrechterhalten, da Geschichtsschreibung immer mit Gedächtnisarbeit verbunden ist. Jörn Rüsen spricht von Erinnerung als «Geschichtskultur»93 und Dan Diner setzt sogar Geschichte und Gedächtnis gleich.94 Saul Friedlander thematisiert in Memory, History, and the extermination of the Jews of Europe95 Aufarbeitung, Erinnerung und Geschichte des Holocaust. Er ––––––– 90
91 92 93
94
95
Folgende Unterscheidungsmerkmale hob er dabei besonders hervor: das kollektive Gedächtnis sichert Eigenart und Kontinuität einer Gruppe, während das historische Gedächtnis keine identitätssichernde Funktion hat; die kollektiven Gedächtnisse ebenso wie die Gruppen, mit denen sie verbunden sind, existieren stets im Plural, während das historische Gedächtnis, das einen integrierenden Rahmen für viele Geschichten konstruiert, im Singular existiert; das kollektive Gedächtnis blendet Veränderungen weitgehend aus, während sich das historische Gedächtnis auf ebendiese Veränderungen spezialisiert. Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990 (Orig.: Les lieux de mémoire. Paris 1984). Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 133. Vgl. Jörn Rüsen: «Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art über Geschichte nachzudenken.» In: Ders.: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewusstseins, sich in der Zeit zurecht zu finden. Köln 1994, 211–234. Dan Diner: «Germany, the Jews and Europe. History and Memory and the Recent Upheaval.» In: Y.M. Bodemann (Hg.): Jews, Germans and Memory. Reconstructions of Jewish Life in Germany. Michigan 1996, 263–272. Saul Friedlander: Memory, History, and the extermination of the Jews of Europe. Indiana 1993.
26 setzt explizit keine Trennung zwischen Geschichte und Erinnerung und konstatiert, dass die Dichotomie zwischen Geschichte und Erinnerung nicht so strikt aufrechterhalten werden kann. Aleida Assmann schlägt in Erinnerungsräume96 vor, Geschichte und Gedächtnis (bewohntes und unbewohntes Gedächtnis) als zwei komplementäre Modi der Erinnerung festzuhalten, die sich nicht gegenseitig ausschließen und verdrängen müssen. «Das bewohnte Gedächtnis wollen wir das Funktionsgedächtnis nennen. Seine wichtigsten Merkmale sind Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung. Die historischen Wissenschaften sind demgegenüber ein Gedächtnis zweiter Ordnung, ein Gedächtnis der Gedächtnisse, das in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat. Dieses Gedächtnis der Gedächtnisse schlage ich vor Speichergedächtnis zu nennen.»97
In der vorliegenden Arbeit wird nicht nur die Verbindung zwischen Geschichte und Geschehen in den Werken aufgezeigt, sondern die Reflexion der Autoren und Regisseure über diese Interaktion (von Geschichte und Geschehen) analysiert und interpretiert. Die literaturwissenschaftliche Gedächtnisforschung hat sich bisher stark an der antiken Mnemotechnik, Gedächtniskunst, ausgerichtet.98 The Art of Memory99 heißt das Pionierwerk von Dame France Yates, Renaissanceforscherin und Spezialistin für okkulte Strömungen in der frühen Neuzeit. An Yates konnten 25 Jahre später Literaturwissenschaftler wie Renate Lachmann und Anselm Haverkamp anschließen.100 Sie nahmen die ––––––– 96
97 98 99 100
Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 133. Die Arbeit ist in drei Teile geteilt, von denen der erste den Funktionen, der zweite den Medien und der dritte dem Speichern des kulturellen Gedächtnisses gewidmet ist. Das Unterkapitel V. Orte wird besonders für die Untersuchung der Räume wichtig werden. Zur expliziten Untersuchung von Raum und Erinnerung siehe auch Anne-Katrin Hillebrands Dissertation (Anne-Katrin Hillebrand: Erinnerung und Raum. Friedhöfe und Museen in der Literatur. Würzburg 2001), die sich mit der Problematik beschäftigt, inwiefern der Aufenthalt auf Friedhöfen und Museen das individuelle Selbstbild von Menschen und ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe beeinflusst. Die Arbeit soll zeigen, wie die genannten Räume in der Literatur in Erscheinung treten und in welchem Verhältnis sie zur historischen Wirklichkeit stehen. Hillebrand geht es darum, materialisierte Erinnerung als die aktualisierten Inhalte eines individuellen oder kollektiven Gedächtnisses zu begreifen und zur Aussage des Textes beziehungsweise zum historischen Kontext in Beziehung zu setzen. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 134. Nähere Ausführungen bei Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 28. Frances A. Yates: The Art of Memory. London 1984. Renate Lachmann: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a.M. 1990. Intertextualität, Gedächtnis und Doppelkodierung sind Zentralpunkte. Die Diskussion bestimmter Gedächtniskonzepte, besonders jener, die der antiken Mnemotechnik und ihrer Tradition zugrunde liegen, ermöglicht die Situierung der Intertextualität von Texten in von bestimmten Gedächtnismodellen strukturierten kulturellen Kontexten. Vgl. hierzu Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hgg.):
27 Erinnerungskunst produktiv auf und verbanden die Mnemotechnik mit avancierten Theorien wie Intertextualität und Dialogizität, Psychoanalyse und Dekonstruktion. Die vorliegende Arbeit orientiert sich an dieser Theorie, indem sie einen intermedialen und intertextuellen Ansatz im Rahmen vom Erinnerungsdiskurs verfolgt und verschiedene psychoanalytische, philosophische und kulturanthropologische Konzepte miteinbezieht.
1.4
Leitgedanken zur Arbeit
Die folgenden Untersuchungen widmen sich der vergleichenden Analyse von literarischen und kinematographischen Erzählverfahren im Kontext von Erinnerungsebenen und Erinnerungsprozessen. Die verschiedenen Faktoren innerhalb des Erinnerungsvorgangs werden in ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension untersucht und anhand von Raumarten und Zeitebenen erklärt. Die unterschiedlichen psychoanalytischen, philosophischen und kulturanthropologischen Konzepte werden in den jeweils auf Schwerpunkte ausgerichteten Kapiteln virulent (z.B. beziehen die Überlegungen zur Figur des Überlebenden im besonderen Maß die Psychoanalyse mit ein, in die Analyse zur Funktion der Sprache fließen philosophische Gedanken etc.). Zunächst werden die Themenkomplexe im Einzelnen vorgestellt. 1.4.1 Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien «Moi aussi j’avais rêvé / de désespoir / et d’alcools / autrefois / avant / Je suis remontée du désespoir / celui-là / croyant que j’avais rêvé / le rêve du désespoir / La mémoire m’est revenue / et avec elle une souffrance / qui m’a fait m’en retourner / à la patrie de l’inconnu« (Auschwitz II, 184). «Ils m’ont foutu dans leur subconscient, j’y reste. Indéracinable» (GC, 27).
Erinnerung verfährt grundsätzlich rekonstruktiv und ist eine subjektive Wahrnehmung mit psychischen und zeitbedingten Verschiebungen.101 Sie lässt sich in literarische, historische, soziologische, psychoanalytische und –––––––—
101
Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt a.M. 1991; Anselm Haverkamp / Renate Lachmann (Hgg.): Memoria - Vergessen und Erinnern. Poetik und Hermeneutik 15. München 1993. In der deutschen Sprache gibt es im Unterschied zum Englischen (memory) und Französischen (mémoire) die Unterscheidung von Gedächtnis und Erinnerung. Mit Gedächtnis wird der Speicher von Vergangenem bezeichnet; mit Erinnerung der Zugriff auf den Speicher aus je neuen, darauf folgenden Gegenwarten (vgl. Detlef Hoffmann: «Aktuelle Symbolisierungsstrategien im Umgang mit dem System Auschwitz.» In: Sven Kramer [Hg.]: Die Shoah im Bild. Stuttgart 2003, 171–198, hier: 171).
28 -therapeutische Erinnerungsdiskurse einteilen.102 Die verschiedenen Funktionen des Gedächtnisses spiegeln sich in unterschiedlichen Gedächtnistheorien und -diskursen wider: Die Aufgabe des «Speicherns»103 und «Erinnerns»104 kommt dem Gedächtnis zu, womit, wie sich zeigt, auch zwei weitgehend unabhängige Diskurstraditionen benannt sind: die Tradition der rhetorischen Mnemotechnik (die auf die Organisation und gestalthafte Ordnung von Wissen abzielt) und die psychologische Tradition (die auf die Interaktion des Gedächtnisses mit Imagination und Vernunft abzielt), die das Gedächtnis als eine von drei Seelenfakultäten, auch innere Sinne genannt, ausweist.105 Alle Texte und Filme thematisieren die Prozesse von Erinnern und Vergessen in künstlerischer Verarbeitung und funktionieren somit als Mittel des Speicherns und Erinnerns. Im Kontext der individuellen Erinnerung lassen sich analytisch zwei Arten unterscheiden, die sich allerdings im jeweiligen Akt des Erinnerns vermischen: «mémoire volontaire» und «mémoire involontaire.» «Gemeinsam ist beiden Modi der Erinnerung, dass in ihnen Spuren einer vergangenen (individuellen oder kollektiven) Wirklichkeit (willentlich oder am Willen vorbei) wieder ins Bewusstsein eintreten.»106 Ereignisse (im vorliegenden Fall Erinnerungen an die schrecklichen Geschehnisse bei den Überlebenden) sind als Erfahrung in das Speichergedächtnis eingebrannt, sodass sie unerwartet und unvermittelt gegenwärtig werden können,107 wobei die Überlebenden häufig traumatisiert sind und versuchen, der Erinnerung zu entgehen, sie zu verdrängen, jedoch die Vergangenheit als nie abgeschlossen erfahren.108 ––––––– 102 103
104
105 106 107 108
Zur Diskussion um Erinnerung: Manuela Günter (Hg.): Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoa. Würzburg 2000. Aleida Assmann unterteilt das Gedächtnis als «ars» und «vis:» Der mit «ars» überschriebene Weg zum Gedächtnis wird «Speichern» genannt (Brief, Buch, Datei, Auswendiglernen; vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 28). Dem Verfahren des Speicherns wird der Prozess des Erinnnerns («vis,» immanente Kraft, als Energie mit eigener Gesetzlichkeit) gegenübergestellt. Hierbei wird, im Gegensatz zum Prozess des Speicherns, die Zeitdimension akut. Das Erinnern ist kein vorsätzlicher Akt (vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 29). Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 18. Zur kulturwissenschaftlichen Perspektive vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 19f. Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 65. Vgl. Welzer, Das kommunikative Gedächtnis, 39f. Die Nachgeborenen des Täterkollektivs hingegen vergegenwärtigen sich ein abgeschlossenes Geschehen. Nach Ansicht von Psychoanalytikern und Soziologen gibt es neben dem individuellen und willkürlichen kollektiven Erinnern (das von der Geschichtsschreibung organisiert wird) auch ein individuelles unwillkürliches und unwillkürliches kollektives Erinnern (hier wäre z.B. die Verdrängung und das Schweigen in den 50er Jahren zu nennen (vgl. Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 65).
29 Die hier ausgewählten Schriftsteller und Regisseure konstruieren Auslöser von Erinnerung oder Katalysatoren für den Erinnerungsprozess, die je nach geschildertem Lebensumstand unterschiedlich sind: Menschen, Bilder, Dinge, Umstände dienen als Initiatoren der Erinnerung, die dann in Worten bzw. im Film in Bildern in eine Erzählung transponiert werden. Innerhalb des Erinnerungsprozesses findet eine Vermischung der Zeit-, Handlungsund Erzählebenen und eine Reflexion über die einzelnen Zeitstufen statt. Da die ausgesuchten Texte und Filme von der Gegenwart aus die Vergangenheit behandeln, ist vor allem die Analyse der Rückgriffe bzw. Rückblenden und ihre Verwendung innerhalb der Chronologie der Handlung entscheidend. Von der jeweiligen Erzählgegenwart aus wird an Ereignisse erinnert, die sowohl Aufschluss über die Vergangenheit geben, als auch die Gegenwart neu beleuchten. 1.4.2 Autoreflexive Aspekte – Erinnerung, Sprache und ästhetischstilistische Konfiguration «Qui ne l’ignore pas d’ailleurs? Cette réalité des camps, méprisée par ceux qui la fabriquent, insaisissable pour ceux qui la subissent, c’est bien en vain qu’à notre tour nous essayons d’en découvrir les restes» (Nuit et Brouillard). «Un livre, c’est leur façon de se débarasser de ce qui les gêne» (GC, 265).
Selbstreflexion funktioniert als verbindendes Element zwischen den Zeitebenen und ist verstehbar als Selbstreferenzialität und Dialogizität. Mit dem Zurückweichen vor dem Gebrauch herkömmlicher sprachlicher Mittel und mit der Suche nach anderen Ausdrucksformen praktizieren fast alle Künstler ein selbstreflexives Arbeiten, sie thematisieren den Prozess des Schreibens bzw. Filmens, wobei im Roman konstitutiv das Schreibprojekt in Frage gestellt wird. Die Selbstreflexion ist bedingt durch die ständig präsente Frage nach dem Sinn und der Möglichkeit von Erinnerung und Zeugenschaft, sie bedeutet Reflexion über das Schreib- oder Filmprojekt und somit über das eigene Tun.109 Neben die Geschichte tritt die Geschichte des Schreib- und Erinnerungsprozesses. Die Selbstbezüglichkeit deutet auch auf den Unterschied zwischen dem Vorhaben oder der Planung des Werkes und seiner letztendlichen Gestalt. Der Unterschied ist umso größer, da das zu beschreibende Objekt sich den herkömmlichen Techniken der Literatur- und Filmbeschreibung entzieht. Alle Werke über den Genozid zeichnen den schmerzhaften Prozess der Entstehung nach. Auf der Mikroebene bedeutet Selbstreflexivität alle narrativen Verfahren, die Korrespondenzen und Veränderungen zwischen der Vergangenheitsgeschichte und der Gegenwartsgeschichte ermöglichen und ––––––– 109
Vgl. zur Selbstreflexion Klein, Literatur und Genozid, 170ff.
30 einen Dialog zwischen Erzähler und erzähltem Ich herstellen. Sowohl die Texte als auch die Filme erweitern ihre theoretischen Überlegungen, indem sie über ihr eigenes Schreib- oder Filmprojekt reflektieren, die Grundlagen ihres Mediums erörtern – das Erzählen wird selbst zum Thema der Erzählung. Alle ausgesuchten Autoren thematisieren das Problem, inwieweit es skandalös ist, aus Leiden Schönheit zu ziehen und das Leiden zur Schaffung ästhetischer Werke zu nutzen; sie widmen sich unterschiedlich ausführlich der Problematik des Verhältnisses der Literatur und Kunst zum Phänomen des Leidens. Der Schmerz wird in allen Werken nicht beschönigt oder verklärt, sondern durch verschiedene Erzählweisen vermittelt. Die Werke thematisieren das Problem, dass eine Darstellung von Auschwitz (nach Auschwitz) eigentlich nicht möglich ist und dass die Aufgabe des Autors darin besteht, den Leser und Zuschauer durch eine wertende Haltung auf die Missstände aufmerksam zu machen. Mit der Untersuchung der selbstreflexiven Elemente im Raum- und Zeitgefüge einhergehend ist in der vorliegenden Arbeit auch eine nähere Analyse der Sprachebenen unerlässlich: Die Verwendung der Sprache im Kontext der Zeit-Problematik wird auf mehreren Ebenen untersucht: die Verwendung der Sprache innerhalb der Erzählung und unter besonderer Berücksichtigung des Einsatzes des Deutschen und Jiddischen; die Bedeutung der Sprache im Lager und die Sprache des KZ-Personals im Gegensatz zur Sprache der KZ-Insassen, und schließlich die Bedeutungstransformation der Sprache von der Zeit vor der Shoa zur Zeit in Auschwitz und zur Gegenwart. Die dem Medium Film eigenen Elemente wie Musik und akustische Vermittlung des Geschehens werden ebenso in diesem Kontext analysiert. Die reflexive Komponente der ausgesuchten Werke spiegelt sich auch in der visuellen Form wider: In der Literatur zeigt sie sich, indem die Schwierigkeit der Darstellung und die Unsicherheit in der Wahl der Sprache durch die räumliche Semantik (Betonung einzelner Wörter, Phrasen etc. durch eine topographische Setzung auf die Seite oder durch Leerstellen) verdeutlicht wird. Somit findet eine Verräumlichung des Gesagten statt. Der Raum wird durch lexikalische, semantische, syntaktische oder typographische Determinanten vergegenwärtigt. Der räumliche Eindruck, der durch Setting, Musik und Bewegung beim Theater bzw. Film vermittelt wird, kann in einem geschriebenen Text nur durch geschriebene Zeichen übermittelt werden.
31 An diesen Stellen findet eine Symbiose von Form und Inhalt statt, in denen das Textbild die Geschehnisse imitiert, interpretiert oder verdeutlicht.110 Im Film zeigt sich die räumliche Semantik in der architektonischen Komposition der Bilder und der Kameraführung. Bei beiden ausgesuchten Werken scheint es, als ob die Kamera selbst Beobachter ist und noch auf der Suche nach der geeigneten Ausdrucksform ist, um das Geschehene abzubilden. Durch das Experimentieren mit einer Verlagerung des Bildmittelpunktes erreicht die Bildkomposition eine zusätzliche Interpretation. 1.4.3 Das Lager, «un monde à part» – Vergegenwärtigte Erinnerung «Aujourd’hui on sait / On sait que ce point sur la carte / c’est Auschwitz / On sait cela / Et pour le reste on croit savoir» (Auschwitz II, 37). «Oswiecim, c’est cela: savoir quand, où et pourquoi on a ri pour la dernière fois, quand, où et pourquoi on a pleuré pour la dernière fois, savoir que ces deux fonctions sont détruites, avoir d’autres occasions et s’apercevoir que ce n’est plus possible, ni le rire, ni les larmes, et se rappeler les circonstances de la dernière fois. Voilà. On laisse des choses comme celles-là à Oswiecim. C’est cela Oswiecim ... [...]. Oswiecim plein de boue est un endroit sec, un lieu qui a tout asséché» (Klara, 142).
Das Lager, und besonders Auschwitz als dessen Inbegriff, vereinigt unterschiedliche Komponenten,111 wobei in der vorliegenden Arbeit nicht nur den sozialen Funktionen des Lagers als Zwischenreich zwischen Leben und Tod mit seiner typischen Raumstruktur nachgegangen wird,112 sondern ––––––– 110
111
112
Genette spricht von der aktiven literarischen Räumlichkeit der Sprache, wenn er die Räumlichkeit des Schreibens und andere räumlichen Beziehungen, die die Sprache innerhalb der Erzählung hervorbringt, betrachtet: «La narration s’attache à des actions ou des événements considérés comme purs procès, et par là même elle met l’accent sur l’aspect temporel du récit; la description au contraire, parce qu’elle s’attarde sur des objets et des êtres considérés dans leur simultanéité, et qu’elle envisage les procès eux-mêmes comme des spectacles, semble surprendre le cours du temps et contribue à étaler le récit dans l’espace» (Gérard Genette: Figures II. Paris 1969, 59). Die unterschiedlichen Komponenten, die am selben Ort verankert sind, machen seine Komplexität aus. Für einige Gruppen ehemaliger Häftlinge, für die der Ort gesättigt ist mit der Erfahrung erlittenen Leids, ist er das konkrete Umfeld einer gemeinsamen Erfahrung. Für die Überlebenden und ihre Kinder, die hier ihre ermordeten Angehörigen betrauern, ist er vorrangig ein Friedhof. Für diejenigen, die keine persönliche Verbindung zu den Opfern haben, steht das Museum im Vordergrund, das den konservierten Tatort in Ausstellungen und Führungen präsentiert. Für kirchliche oder politische Gruppen steht der Wallfahrtsort als Leidensstätte prominenter Märtyrer im Vordergrund. Für Staatsoberhäupter wird der historische Schauplatz zur Kulisse für öffentliche Bekenntnisse, Mahnungen, Erklärungen, Ansprüche. Für Historiker bleibt der Ort ein archäologischer Schauplatz der Spurensuche und Spurensicherung (vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 330). «Inmitten der Gesellschaft war das KZ ein abgeriegelter Kosmos. Nirgendwo ist die Theorie des geschlossenen Sozialsystems sinnfälliger als im Falle des KZ. Die Grenzen
32 auch die symbolischen Implikationen des Ortes und ihre narrative Umsetzung und Darstellung verständlich gemacht werden. «Das KZ als Ort? Ortschaft, Landschaft, landscape, seascape – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher.»113
Die Darstellung des Lagers in seiner sozialen und symbolischen Dimension ist zugleich destrukturierender Art, was Zeit und Raum anbelangt, da Auschwitz als unvergleichbares Ereignis nicht in ein historisches Kontinuum einzureihen ist.114 Die ausgewählten Autoren geben keine faktische Beschreibung des Lagers oder eine Rekonstruktion des Lagers, sondern zeigen ihre individuelle Sicht. In ihrer Zeichnung des Terrorsystems gibt es einen klaren Unterschied zwischen der Auffassung von Zeit innerhalb des poetologischen Konzepts und der Zeit im Lager. Die Autoren greifen in ihrer Beschreibung die Gesetzmäßigkeiten des Lagers und die Wahrnehmung der Häftlinge auf und versinnbildlichen diese durch sprachliche Mittel: Ziel der Lagerstruktur war die Aufhebung von Zeit als sich wandelndes Kontinuum;115 es gibt keine zeitlichen Anhaltspunkte und es herrscht Monotonie. Zeit im Lager war eine kontinuierliche Gegenwart, die zu keiner Zukunft führte, außer der Wiederholung der Gegenwart bis zum Tod.116 Diese Destrukturierung von Raum und Zeit wird von den –––––––—
113 114
115
116
waren unüberwindbar, die Menschen wurden isoliert und in eine Welt des Terrors eingesperrt, in der das Personal freie Hand hatte. Für sie war das Lager eine Kolonie des Terrors am Ende der sozialen Welt» (Sofsky, Terror, 24). Ruth Klüger versucht in ihrem Roman einen adäquaten Ausdruck für den traumatischen Ort Auschwitz zu finden (vgl. Ruth Klüger: weiter leben. Göttingen 1992, 78). «La cassure opérée à Auschwitz est d’une telle ampleur que, dans l’histoire de la pensée, le philosophe a besoin d’un certain recul pour statuer sur l’événement: ou plus exactement ce non-événement qu’est Auschwitz, en tant qu’il vient remettre en question l’enchaînement des événements dans le temps, niant en quelque sorte le principe de causalité» (Ruszniewski-Dahan, Romanciers de la Shoah, 60). «Die Zeit des Lagers war mehr als ein äußerer Zwang, wie er jeder sozialen Zeit eigen ist. Die Lagermacht durchdrang das innere Zeitbewußtsein und zerriß das innere Band der Erinnerung, Erwartung und Hoffnung. Absolute Macht übertrifft die bekannten Formen organisierter Zeitkontrolle bei Weitem. [...] Sie zerstört die Kontinuität der inneren Zeit, kappt die Verbindungen zwischen Gegenwart und Zukunft, sperrt die Menschen in einer ewigen Gegenwart ein. Fern davon, nur die Körper zu beherrschen, bemächtigt sie sich der biographischen Zeit und der Bewegungen des Geistes» (Sofsky, Terror, 88). Wolfgang Sofsky zeigt sehr genau, wie das Zeitbewusstsein der Häftlinge und somit auch ihre Fähigkeit zur Erinnerung und Identität systematisch und organisiert durch immer den gleichen Ablauf an Arbeit und Qualen zerstört wird. Das Zeitgesetz absoluter Macht ist nicht Berechenbarkeit, sondern die freie Variation des Tempos, der Wechsel von Dauer und Plötzlichkeit, von Hetze und Warten, Ruhe und Schock. Das Zeitgesetz des Terrors
33 Schriftstellern und Regisseuren narrativ umgesetzt. Die «Absolutheit des Gefängnisses,» wie sie vor allen in den frühen Schreibweisen anzutreffen ist, wird durch einen distanzierten Betrachter in allen Werken ersetzt, d.h. es findet im vorliegenden Werkcorpus eine Auslese der geschilderten Ereignisse statt, der Autor schildert wissend und kommentierend.117 1.4.4 Heterotopien des Lagers – Kultur versus Nazismus «Wenn ich mir was wünschen dürfte, käme ich in Verlegenheit, was ich mir denn wünschen sollte, eine gute oder schlechte Zeit» (Il portiere di notte).118
Die vom Lager aus entwickelten Außenräume werden als Heterotopien definiert, die die Koexistenz von zwei Welten widerspiegeln – der Welt der Kultur und der Welt des Nazismus. Das ausgesuchte Werkcorpus zeigt verschiedene Arten der Parallelraumentwicklung zum Lager auf: Hierbei kann man die Texte Delbos und Aarons unter dem Begriff «Kulturrezeption» gruppieren. Bei Delbo und Aaron sind es aus der Lagerhaft entwickelte Fluchtreservate, die den Frauen die Möglichkeit geben, durch Kultur in eine Parallelwelt zum Lager zu treten und die ihnen helfen, zu überleben. Im nationalsozialistischen Konzentrationslager, dem Inbegriff von Unmenschlichkeit und grausamem Verbrechen, scheint Kultur ein Absurdum.119 Trotzdem konnten sich in der Umgebung des Lagers kulturelle Tätigkeiten entwickeln, wobei Literaturproduktion und -rezeption nicht nur wichtige Bestandteile für das kollektive Sein und Erinnern bildeten, sondern auch zur Herauskristallisierung eines kulturellen Gedächtnisses im Lager beitragen konnten. Wer sich erinnerte, schuf zugleich Außenräume, die besonders im Dialog mit anderen an Lebendigkeit gewannen und direkt auf –––––––—
117 118 119
verknüpft die zyklische Wiederkehr mit endloser Dauer und Plötzlichkeit. «So war die Zeit der Arbeit zugleich endlos und punktuell, kontinuierlich und disruptiv, ein zielloser Zustand, durchbrochen von Momenten äußerster Gefahr» (Sofsky, Terror, 93). In den vorliegenden Werken wurde der Schritt zur Unabhängigkeit (zum reflektierten und freien Erzählen über das Grauen) durch die (Selbst-)Reflexion bereits erbracht. Friedrich Holländer, «Wenn ich mir was wünschen dürfte» aus dem Film Der Mann, der seinen Mörder sucht (Robert Siodmak 1931). «In den KZ war es, als ob die Kultur und Zivilisation insgesamt weggefegt waren. Als in der Geschichte der Menschheit die Schrift und die Buchdruckkunst noch nicht erfunden waren, war die Kunst des Erzählens von Geschichten und Überlieferungen sehr wichtig. Durch die Buchdruckkunst ist sie verdrängt worden. Aber in den KZ schien es, als sei die Menschheit in die Zeit zurückgeworfen worden, bevor unsere Zivilisation begann. Schien es, als ob die Geschichte der Menschheit wieder von vorn beginnen mußte» (Bericht Aat Breur [1983]. Zitiert nach Susanne Minhoff: «‹Ein Symbol der menschlichen Würde› Kunst und Kultur im KZ Ravensbrück.» In: Claus Füllberg-Stolberg [Hg.]: Frauen in Konzentrationslagern. Bergen-Belsen. Ravensbrück. Bremen 1994, 207–220, hier: 212).
34 das Erleben und Erzählen des realen Raums einwirkten und somit auch die Verfassung der Häftlinge bestimmten. Diese Evozierung von Außenräumen, wie sie bei Delbo, de Toulouse-Lautrec und Aaron geschaffen werden, waren von der physischen und psychischen Situation der Erzählerinnen abhängig und konnten auf verschiedene Weise funktionieren.120 Delbo und de Toulouse-Lautrec reflektieren ihre damaligen Möglichkeiten zur kulturellen Tätigkeit, wobei Aaron fiktive Szenen der Freiraumgestaltung entwickelt. Da Garys La Danse de Gengis Cohn das Raum-Zeit-Kontinuum bewusst im Laufe seines Romans auflöst bzw. demontiert, können hier keine Heterotopien, wie oben gezeigt, definiert werden. Der «fôret de Geist» kann zwar u.a. auch als Bild für das Lager dienen, doch ist er kein fest determinierter Raum. Räume und Zeiten gehen so ineinander über, dass kein an sich fest gelegter Raum fixiert werden kann, zu dem ein Parallelraum entwickelt werden könnte. Die beiden Filme schildern den Zusammenprall von Kultur und Nazismus: Das Zusammenspiel von Schöngeistigem und Grausamkeit wird bei Resnais und Cavani unterschiedlich aufgearbeitet, doch arbeiten beide Filme in ihrer Gegenüberstellung der «normalen Welt» mit dem Nazismus mit einer Technik des Einbruchs des Unerwarteten und Ungewöhnlichen und erreichen damit eine Demontage der Mechanismen des Nazismus. Resnais erreicht durch ein Kontrastverfahren und eine Ästhetik der Brüche die Gegenüberstellung der Lebenswelten. Aussage und Wirkung des Nazismus, seine Inszenierung und seine Instrumente der Erniedrigung und des Leidens werden bei Cavani anhand ikonographischer Muster in der Koexistenz mit Kunst (Oper, Tanz und Cabaret) beleuchtet und entmystifiziert.
––––––– 120
Die Möglichkeiten, die äußere Welt in die Gefangenschaft hereinzuholen, sind an verschiedene Bedingungen geknüpft: Physische Schranken, Todesdrohungen, aber auch eine geistige Mauer riegelten das Lagerleben von der restlichen Welt ab. In die Welt des Lagers, der Gefangenschaft und Unterdrückung Elemente der äußeren Welt hereinzuholen, gelang nur, wenn die psychischen (Glaube an die Freiheit, Ermutigung durch Mithäftlinge etc.) und physischen Voraussetzungen (Stellung im Lager) gegeben waren. Im Lager ist das persönliche Schicksal und das subjektive Erinnern unausweichlich mit dem kollektiven Schicksal bzw. Gedächtnis verbunden. Fluchtgedanken sind zwar eine Verbindung zur Außenwelt, doch wird Freiheit immer mehr zum irrealen Begriff. Eine strenge Postzensur, Verbot von Privatgesprächen mit Zivilarbeitern, vollständiges Schreibverbot für bestimme Häftlingskategorien, sowie keinerlei Briefkontakt zu Angehörigen und Wegnahme aller Wertsachen beim Eintritt in das Lager verhinderten jegliche Bindung an die Außenwelt bzw. Erinnerung an die Heimat oder Familie (vgl. Sofsky, Terror, 24).
35 1.4.5 Die Figur des Überlebenden «Il me semble que mon ombre est restée là-bas» (Klara, 31). «Je ne suis pas une belle figure de victime» (Klara, 29). «Cette montagne de cadavres entre eux et moi» (Auschwitz III, 59).
Für die Überlebenden gibt es zwar die Zeit vor und nach der Shoah, doch hat die Shoah keinen beliebigen Ereignischarakter, ist niemals zu Ende und in der Erinnerung der Überlebenden nie abgeschlossen. Sie empfinden eine Schuld gegenüber denjenigen, die im KZ sterben mussten.121 Nach Cayrol sind sie lazarenische Helden, die gefangen sind zwischen der Unmöglichkeit und der Notwendigkeit mit dem Rest der Menschheit zu kommunizieren. Sie sind isoliert und verletzlich, aber diese Einsamkeit selbst wird zu ihrer Leidenschaft und Stärke.122 Die Überlebenden nehmen das Raumverständnis des Lagers mit in den Alltag in der Gegenwart: Diese Räume werden als Räume der Gefangenschaft wahrgenommen, in denen die Überlebenden nach einer Bedeutung für ihre Existenz und nach einem Zeichen der Hoffnung suchen. So wird auch im ausgesuchten Werkcorpus verdeutlicht, inwieweit die Existenz in der Gegenwart ein Spiegel der Vergangenheit ist. Eine Möglichkeit, die Erinnerungen zu fassen, wird in den ausgewählten Werken durch den Versuch, eine doppelte Existenz zu entwickeln, verdeutlicht. In der Retrospektive versuchen die Figuren ihr Ich, das Auschwitz erlebt hat, zu verdrängen, wobei die Existenz im Jetzt immer ein Gedächtnis an Auschwitz hat. Der Überlebende möchte beide Ebenen voneinander trennen; er lebt in der ständigen Angst, diese Erinnerung könnte in die Post-Auschwitz-Phase übertreten. Die Überlebenden überwinden das Trauma nicht, vielmehr lernen sie, damit zu leben. Der Begriff des Traumas ist eng mit dem Verhältnis Vergangenheit und Gegenwart, Zeit und Raum verbunden, da das Trauma einen Bruch zwischen der Erfahrung und der Fähigkeit, damit umzugehen, beschreibt.123 Als Konzept der Psychoanalyse spezifischer Erfahrungen kommt dem ––––––– 121
122
123
«Even outside Holocaust experience, there is a tendency to believe that it is the best, the good who die; those who survive are therefore, in their own view the worst, the bad» (Gillian Banner: Holocaust Literature. Schulz, Levi, Spiegelman and the Memory of the Offence. London 2000, 20). In seinem Artikel Pour un romanesque lazaréen, der zuerst 1950 veröffentlicht wurde, schildert Cayrol, wie die Erfahrungen im Lager tiefgreifend sein Leben, seine Theorien und seine literarische Arbeit veränderten. Nach Cayrol war jeder Schriftsteller, der nach dem 2. WK schrieb davon betroffen. Vgl. Hoffmann, Symbolisierungsstrategien, 171.
36 Trauma in den letzten Jahren besondere Bedeutung zu.124 Aufgrund menschenunwürdiger Lagerbedingungen wurden die KZ-Häftlinge täglich mit einer andauernden Extremsituation125 konfrontiert, deren Nachwirkung in der Zeit nach der Lagererfahrung sich in einer hohen Mortalitätsrate126 niederschlug sowie in weitreichenden psychischen und physischen Schäden.127 William Niederland führte den Begriff des «ÜberlebendenSyndroms» in die psychiatrische Literatur ein,128 der als Referenzpunkt für die Traumaforschung angesehen werden darf. In den ausgewählten Texten und Filmen werden nicht nur die von Niederland entwickelten Merkmale des Überlebenden-Syndroms129 narrativ umgesetzt, sondern diese thematisieren auch die Weiterführung und Ausdifferenzierung von Niederlands Überlegungen durch die Psychoanalyse,130 die die Interaktion ––––––– 124
125 126 127
128
129
130
Vgl. u.a. Cathy Caruth (Hg.): Trauma. Explorations in Memory. Baltimore 1995 und Cathy Caruth: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History. Baltimore 1996 (bes. Kap. 5: Traumatic Awakenings. Freud, Lacan and the Ethics of Memory, 81–112). Dieser Begriff wurde schon sehr früh von Bettelheim eingeführt (vgl. Bruno Bettelheim: Erziehung zum Überleben. Stuttgart 1980). Vgl. Leo Eitinger: «KZ-Haft und psychische Traumatisierung.» Psyche 44 (1990), 118– 132. In der direkten Nachkriegszeit gab es noch kein Wissen über dauerhafte Schäden der Überlebenden auf Körper und Psyche. Nach dem Krieg konnten ehemalige Häftlinge in Deutschland Entschädigungsverfahren in Gang setzen (Nachweis, dass derzeitige Symptome mit der Haft in einer ursächlichen Verbindung stehen). Mit Erwin Leisers Mein Kampf aus dem Jahre 1959 begann die bundesdeutsche filmische Auseinandersetzung mit der Judenvernichtung. Bezeichnenderweise war es also ein Deutscher jüdischer Abstammung, der dieses Thema aufgriff (vgl. Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 50ff.). William G. Niederland: Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord. Frankfurt a.M. 1980. Dieser «Dokumentenband» legt in seinem Hauptteil Gutachten vor, die William G. Niederland in Wiedergutmachungsprozessen erstattet hat. Es war jeweils die Frage zu beantworten, ob die Minderung der Erwerbsfähigkeit eines Antragstellers – von jüdischen Menschen, die das KZ überlebt hatten, sich oft jahrelang versteckt hatten oder geflohen waren – verfolgungsbedingt war oder nicht. Die Gutachten Niederlands vermitteln nicht nur ein konkretes Bild von den Verfolgungsschäden und deren Erlebnishintergrund, sondern auch davon, wie die Tatsache und die Folgen der Verfolgung verhüllt, verleugnet, verneint, verdrängt wurden. Zum Überlebenden-Syndrom gehören nach Niederland: «schwere, oft ganz plötzlich einsetzende Erregungs- und Angstzustände, die das Personenganze [...] erfassen;» ein starkes Gefühl des «Andersseins» (232); eine tiefe «Überlebensschuld» (232); ein «Zustand des seelischen Überwältigt- und Verringertseins» (232); ein «Todesengramm» (232), geprägt durch die ständige Präsenz des Todes im Lager; «psychosoziale Konsequenzen insbesondere für die nächste Generation» (233) durch die KZ-Erfahrung; die «nach der Befreiung geborenen Kinder werden in das Verfolgungsschicksal der Eltern vielfach miteinbezogen und beginnen Symptome aufzuweisen» (233). Die psychiatrische Forschung arbeitet heute bevorzugt mit der PTDS-, also PostTraumatic-Stress-Disorder-Hypothese, die besagt, dass eine extreme Stresssituation für die Traumatisierung verantwortlich gewesen sei. Die Überforderung des gesamten Organismus
37 der Überlebenden und deren Psyche mit Umweltfaktoren, d.h. gesellschaftliche und sonstige Bedingungen des Lebensumfeldes, betont.131 In den vorliegenden Werken wird nun die vom Trauma geprägte Erinnerungs- und Gegenwartswahrnehmung anhand unterschiedlicher Methoden umgesetzt, wobei bei allen Werken die Vergangenheit über die Gegenwart dominiert.132 1.4.6 Reflexions- und Transitorte – Gedächtnis und Schuld «Au moment où je vous parle, l’eau froide des marais et des ruines remplit le creux de charniers. Une eau froide comme notre mauvaise mémoire» (Resnais, Nuit et Brouillard).
Orte der Gegenwart, von denen aus Geschehnisse erinnert werden, lassen sich als Reflexions- und Transitorte in der vorliegenden Arbeit definieren. An diesen Reflexions- und Transitorten wird von den Autoren ein kritisches Gesellschaftsbild entworfen, das unter den Themenkomplexen Gedächtnis133 und Schuld134 näher beleuchtet werden kann und sich mit den Aus–––––––—
131
132
133
134
habe zu Langzeitschäden geführt, die mit Hilfe des PTSD-Schemas klinisch-pathologisch erkannt werden könnten (vgl. Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 51). 1979 führte Keilson den Begriff der sequentiellen Traumatisierung ein (vgl. Hans Keilson: «Sequentielle Traumatisierung bei Kindern.» In: Gertrud Hardtmann [Hg.]: Spuren der Verfolgung. Gerlingen 1992, 69–79). Zur näheren Untersuchung von Trauma im Kontext von Geschichte und Geschichten siehe: Cathy Caruth: Unclaimed experience. Trauma, Narrative, and History. Baltimore 1996. Auf der Grundlage der Psychoanalyse, unter besonderer Berücksichtigung Freuds, analysiert sie verschiedene Zugänge. Sie untersucht die Wege, welche Texte einer bestimmten Periode – Texte der Psychonalyse, der Literatur und Literaturtheorie – sowohl über als auch durch die tiefe Geschichte einer traumatischen Erfahrung sprechen. «[...] knowing and not knowing are entangled in the language of trauma and in the stories associated with it» (Caruth, 4). Siehe auch: Dominick LaCapra: History, Theory, Trauma. Representing the Holocaust. Cornell 1994. Wie es neben dem willkürlichen individuellen auch ein willkürliches kollektives Erinnern gibt, das z.B. von der Geschichtsschreibung organisiert wird, so gibt es nach Ansicht vieler Psychoanalytiker, Soziologen und anderer Wissenschaftler neben dem individuellen unwillkürlichen Erinnern auch eine unwillkürliche Erinnerung des Kollektivs, die ohne das Wissen der Akteure verläuft, aber dennoch von ihnen betrieben wird. Im Kollektiv der Täter wäre z.B. das von Mitscherlich analysierte Schweigen über die schuldhafte Verstrickung in den Nationalsozialismus während der 50er Jahre zu nennen (vgl. Kramer, Auschwitz im Widerstreit; Margarethe Mitscherlich / Alexander Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. München 1977). Schuld und kulturelles Gedächtnis sind aufs engste miteinander verbunden. Diner sieht im Massenmord, der von Schuldgefühlen losgelöst begangen wird, die Ursache für ein Generationen übergreifendes Gedenken. Weil das Verbrechen gegen ein anderes Kollektiv gerichtet war, zieht es gleichsam intuitiv eine kollektive Schuldvermutung nach sich. Dieses Schuldgefühl mutiert zu einem zentralen Bestandteil des kollektiven Bewusstseins der Deutschen (vgl. Dan Diner: «Über Schulddiskurse und andere Narrativa.
38 wirkungen der Geschehnisse auf die Psyche der Überlebenden – Täter wie Opfer – beschäftigt. Es soll gezeigt werden, dass eine sozio-historische Verbindung zwischen den Ereignissen in der Vergangenheit mit der Gegenwart in den Texten und Filmen besteht. Indem alle ausgewählten Werke an den Orten der Gegenwart Geschichten erzählen, lassen sie die Vergangenheit wieder auferstehen bzw. halten sie die Erinnerung an die Geschehnisse wach. «Selbst wenn Orten kein immanentes Gedächtnis innewohnt, so sind sie doch für die Konstruktion kultureller Erinnerungsräume von hervorragender Bedeutung. Nicht nur, daß sie die Erinnerung festigen und beglaubigen, indem sie sie lokal im Boden verankern, sie verkörpern auch eine Kontinuität der Dauer, die die vergleichsweise kurzphasige Erinnerung von Individuen, Epochen und auch Kulturen, die in Artefakten konkretisiert ist, übersteigt. [...] Wie die Gegenstände einer Sammlung sind auch Orte, ‚Mittler zwischen Vergangenheit und Gegenwart;’ wir können auch sagen: sie sind Gedächtnismedien; sie verweisen auf eine unsichtbare Vergangenheit und halten den Kontakt zu ihr aufrecht.»135
Für diese Orte kann der Begriff Reflexions- oder Transitort (in der vorliegenden Arbeit beispielsweise Auschwitz heute, Wien heute etc.) verwendet werden. Orte der Gegenwart lösen den Erinnerungsprozess aus und können in ihrer Erscheinung unterschiedliche Funktionen haben: Die Räume der Gegenwart und der Vergangenheit sind ortsfest und ihre Bedeutung kann nicht von ihrer Stelle losgelöst werden. In ihrem Status als ZwischenRäume (zwischen Zeiten und Räumen der Vergangenheit und Gegenwart) erinnern sie zugleich an Heterotopien, an Orte, die die Grenzen, Übergänge und Ambivalenzen des herrschenden Diskurses markieren, sowie an Heterochronien, da sie nicht nur den Raum des Diskurses brechen, sondern auch seine zeitliche Bestimmtheit.136 In den hier behandelten Werken sind es auch Orte, «an denen Menschen zusammenkommen, ohne jedoch ihre –––––––—
135 136
Epistemologisches zum Holocaust.» In: Gertrud Koch [Hg.]: Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung. Köln 1999, 61–84, hier: 65). Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 299; 331. Orte nicht des utopischen Jenseits der Wirklichkeit, sondern des sowohl Realen wie Außerrealen bezeichnet Foucault als Heterotopien. Ihre Wirklichkeit wird in starkem Maße symbolisch oder imaginär überformt. In der Moderne treten sie vor allem durch ihre Rolle als «Abweichungsheterotopien» von der Norm hervor, und sie sind häufig zugleich Heterochronien. Foucault nennt hier einige herausgehobene Beispiele: Schiffe, Friedhöfe, Museen und Bordelle, Theater und Kolonien (vgl. Lange, Raumkonstruktionen, 15). «Vielmehr liegt das Symptomatische der modernen Umbruchszeit in der Häufigkeit heterotopischer Zuschreibungen in der genannten Doppelung von Realem und Symbolischem. Man muß das Entweder/Oder der oppositionellen Begriffspaare nur als das Zugleich der Gegensätze zusammendenken, um in den zuvor zitierten Kunsttheorien den Spiegel zeitgenössischer Erfahrung zu erkennen: Einfühlung und Abstraktion, Empirie und Projektion, Wirklichkeit und Mythos semantisieren die Räume, die dem modernen Subjekt sowohl vertraut als auch entfremdet sind» (Lange, Raumkonstruktionen, 16).
39 Identität an die Lokalität binden zu wollen oder zu können.»137 Diese Orte bezeichnet man als Transit-Räume.138 Die Reflexions- und Transitorte sind einer Veränderung unterworfen, von den Geschehnissen gezeichnet und haben immer auch symbolische Implikationen. In den hier behandelten Werken kann der Erzähler die Orte aus der gegenwärtigen Handlung mit den Orten der Vernichtung parallel zueinander setzen. Bei den Reflexionsorten ist die Funktion der Schwelle als räumlich sichtbare und metaphorische von Gegenwart zu Vergangenheit wichtig. Hier entsteht ein Dialograum (bzw. Reflexionsraum), der eine (gedankliche) Interaktion zwischen der sich erinnernden Figur in der Gegenwart mit seinem früheren Ich ermöglicht.
––––––– 137
138
Nach Sloterdijk handelt es sich um «Niemandsorte» wie Bahnhöfe, Häfen, Flughäfen, Straßen, Plätze, Einkaufszentren, Tourismusstädte, Nachtasyle (Peter Sloterdijk: Sphären II: Globen. Frankfurt 2003, 1000). Vgl. Ute Gerhard : Literarische Transit-Räume. Ein Faszinosum und seine diskursive Konstellation im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1997, 94. Siegfried Kracauer nennt in Stehbars im Süden (FZ 1926) Straßen, Passagen, Häfen, Bahnhöfe und Cafés, also Orte der Anonymität und Entwurzelung, die gemeinhin als Transit-Räume gefasst werden.
40
2
Charlotte Delbo, Auschwitz et après – «le devoir de témoignage»
2.1
Erzählen nach Auschwitz – «une connaissance inutile»
2.1.1 Inhalt und Struktur Charlotte Delbo1 ist eine Überlebende des Konzentrationslagers Auschwitz/Birkenau. Bisherige Arbeiten haben sich hauptsächlich auf die Vermittlung von Authentizität und Wirklichkeit («imaginative truth») ihres Werks gestützt und ihre Trilogie vor allem als Zeugenliteratur im Kontext der Holocaust-Literatur untersucht. Charlotte Delbo verfasste den ersten Band ihrer Trilogie Aucun de nous ne reviendra kurz nach ihrer Befreiung, wartete jedoch zwanzig Jahre bis ––––––– 1
Charlotte Delbo wurde am 10. August 1913 in Vigneux-sur-Seine, Seine-et-Oise geboren und starb am 1. März 1985 in Paris. Sie trat 1932 den jungen Kommunisten bei, unter denen sie ihren späteren Ehemann Georges Dudach kennenlernte. In den 30er Jahren arbeitete Charlotte Delbo als literarische Assistentin und Verwalterin für Louis Jouvet. Sie verließ Frankreich für eine Südamerika-Tour mit Jouvets Gruppe im Mai 1941, kehrte jedoch von Rio de Janeiro am 15. November 1941 zurück, um aktiv in der Résistance mitzuarbeiten. Sie wurde zusammen mit Georges Dudach am 2. März 1942 verhaftet. Dudach wurde als Staatsfeind am 23. Mai auf dem Mont-Valérien erschossen. Charlotte Delbo wurde am 24. Januar 1943 nach Romainville (einem Durchgangslager) gebracht und dann in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau, zusammen mit 230 Frauen. Sie wurde am 23. April 1945 durch das schwedische rote Kreuz befreit und kehrte im Juni 1945 nach Paris zurück. Die meisten von Delbos Schriften sind Erinnerungen an Auschwitz-Birkenau gewidmet: La Sentence (Paris 1969) zeigt die gefährliche Situation von baskischen Militärs unter der Diktatur Francos vom Blickpunkt der Freundinnen, Frauen, Mütter und Schwestern der Gefangenen. Qui rapportera ces paroles? (Paris 1974) ist eine tragédie en trois actes, die in einem nicht näher definierten Konzentrationslager spielt, bietet 23 Frauenrollen und stellt Szenen aus Auschwitz dar. In Spectres mes compagnons (Paris 1977) wird die Erzählerin von literarischen Gestalten auf ihrem Weg ins KZ begleitet. Le convoi du 24 janvier (Paris 1978) beinhaltet Kurzbiographien (mit Verhaftung, Überleben und Sterben in Auschwitz oder Ravensbrück) der Teilnehmerinnen des Transports (nachvollziehbare, treffende erzählerische Bilder paaren sich mit überprüfbaren Daten). Hierbei handelt es sich um eine dokumentarische Gedenkarbeit. Bei Kalavrita des mille Antigone (1979) handelt es sich um ein dramatisches Gedicht, das die Gräueltaten, die am 13. Dezember 1943 auf der Peloponnes durch die sich zurückziehenden Nazi-Armeen begangen wurden, beschreibt.
41 zu seiner Veröffentlichung, um, wie sie selbst sagt, aus der Distanz Zeugnis abzulegen.2 Die beiden anderen Schriften fertigte sie in den 70er Jahren an. Zunächst wurde die Trilogie einzeln veröffentlicht, doch immer wiederkehrende Personen, wieder aufgegriffene Ideen und eine alle drei Teile umfassende Gesamtargumentation verlangen es, dass alle Teile in Beziehung zueinander gesetzt werden. Der erste Teil erzählt den Lageralltag im Konzentrationslager. Der zweite Teil der Trilogie Une connaissance inutile wurde fünf Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes veröffentlicht und ist weniger eine Fortsetzung, als ein wiederholendes, aufnehmendes Erzählen. «Une connaissance inutile enthält Bruchstücke, Variationen eines «entretien infini,»3 eines «letztendlich «unendlichen Gespräches» über das Unendliche der Not in den Lagern.»4 Charlotte Delbo schildert andere Begebenheiten, setzt andere Schwerpunkte als im ersten Teil, doch die Fokussierung auf das schmerzhafte Erinnern und die Frage, wie dieses in Worte gebracht werden soll, bleiben. In beiden Teilen sind lyrische Passagen miteingewoben, die teils das Beschriebene reflektieren, teils bewusst völlig neue Problemstellungen oder persönliche Reflexionen aufgreifen. Delbo präsentiert Szenen und Portraits, die nach Themen und nicht chronologisch geordnet sind.5 Mesure de nos jours, 1971 erschienen, beschäftigt sich nicht mehr mit der detaillierten Erzählung des Lageralltags, sondern versucht dem Leser anhand von Berichten Überlebender von Auschwitz und Ravensbrück den Alltag nach dem Alptraum zu erklären. Einige schreiben von ihrer Wiedereingliederung in einen normalen Alltag, andere jedoch beschreiben ein bloßes Weiterleben, das nur aufgrund von ungeheurer Selbstdisziplin bewerkstelligt werden kann. In diesem Teil verlässt Delbo die in den beiden vorhergehenden Bänden verwendete Erzählform der auktorialen Erzählperspektive und lässt, vermutlich aus Gründen der Authentizität und eines umfassenderen Gesamteindrucks, die Betroffenen in der Ich-Form selbst zu Wort kommen. Sie variiert die Form des Berichtes, das sich an ein «du» richtet, mit Berichten, die zwar in der Ich-Form geschrieben sind, aber eine andere Überlebende charakterisieren.6 Die Trilogie ist kein fortlaufender Bericht, weist keine in sich geschlossene Form auf, zeigt aber eine übergeordnete Chronologie, indem ––––––– 2 3 4 5
6
Vgl. Klein, Literatur und Genozid, 78. Vgl. Maurice Blanchot: L’entretien infini. Paris 1969. Joan i Tous, Ecriture de cendres, 177. Eine einzige Autorin, die polnische Schauspielerin Zarebinska-Broniewska, verwendet eine ähnliche Darstellungsweise (Martha Zarebinska-Broniewska: Auschwitz Erzählungen. Berlin 1949). Vgl. exemplarisch den Bericht von Marie-Louise (Marie-Louise, Auschwitz III, 83f.).
42 Delbo die Beschreibung des Lagerlebens im ersten und zweiten Teil der Trilogie verarbeitet, ihre Schilderung des Alltags nach dem Grauen im dritten Teil beschreibt. Passagen, in denen Delbo detailliert Situationen erklärt, wechseln mit szenenhaften und fragmentarischen Einschüben ab, die meist einen artifiziellen und metaphorischen Charakter haben. Nur einzelne Szenen zeigen eine stringente Erzählstruktur, wobei auf diese meist eine lyrische Passage oder eindringliche Wiederholungen folgen. Das Erzählen wird immer wieder durch Erinnerungssegmente in unterschiedlichen Formen unterbrochen, verdeutlicht durch ständig wechselnde Tempora. Bei Delbo finden sich im Text einige Passagen oder Kapitel, die sich sowohl thematisch, als auch erzähltechnisch von den anderen Teilen des Textes unterscheiden – dies sind allgemeine Reflexionen, Apostrophen an den Leser und lyrische Passagen (die sowohl autonom als auch in Gruppen stehen). Die lyrischen Passagen sind oftmals Ausdruck von persönlichen Emotionen, die in Gedichtform erscheinen, eine «literary organization of prose and poetry,»7 in denen Delbo versucht, aus den Berichten einzelner Überlebender das Wesentliche ihrer individuellen Erfahrungen nachzuempfinden. Diese Darstellungen lösen die Handlungsentwicklung ab und bilden eine Reflexion sowohl über das Lager, als auch über die Vorvergangenheit; sie sind Pausen vom Geschehen und bewirken zugleich eine Distanz vom Erzählten zum Erzähler, als auch zum Leser, der aus der fortlaufenden Erzählung wieder herausgerissen wird. Somit haben sowohl Erzähler als auch Leser die Möglichkeit, dem Geschehen als Betrachter gegenüberzustehen. 2.1.2 Das Werk vor dem literarischen Hintergrund – «nouveau roman» und «écriture de cendres» Auschwitz et après vereinigt verschiedene literarische Formen: Das Werk erinnert an vielen Stellen an Tagebuchaufzeichnungen, minutiös werden verschiedene Tagesabläufe beschrieben, Mimik, Gestik und Reaktionen ihrer Mitgefangenen aufgezeichnet; und nicht zuletzt dadurch, dass ein Teil der Trilogie kurz nach Kriegsende geschrieben wurde, entsteht der Eindruck bei einigen Teilen, dass sie tagebuchartig verfasst worden sind. Diese persönlichen Passagen sind mit historischen Fakten vermischt.8 ––––––– 7
8
Renée Kingcaid: «Charlotte Delbo’s Auschwitz et après: The struggle for signification.» French Forum 9 (1984), 98–109, hier: 109. Alvin Rosenfeld stuft diese Werk als «surrealist reponse» auf den Holocaust ein; für Cynthia Haft repräsentiert die Trilogie «perhaps the purest and most sensitive chants tragiques about concentration camps.» «Der Autor, der zugleich Augenzeuge ist, will sowohl das Gefühl der Diskontinuität und Desorientierung in katastrophalen Ereignissen darstellen als auch seine persönliche Verwicklung in die Ereignisse mitteilen – und all dies durch ein Medium, das den Leser
43 Delbo beschäftigt sich mit der Problematik von Fakt, Fiktion und Darstellbarkeit und erweitert sie durch die Frage, inwieweit Sprache überhaupt fähig ist, diese Realität ausdrücken zu können. Der Gebrauch von Figuren, Montage- und Kombinationstechniken, mit denen Delbo das Leben im Lager beschreibt, erinnert an die Vorgehensweise des «nouveau roman,» der damit das menschliche Dasein in seiner Härte und Sinnlosigkeit beschreibt.9 Der «nouveau roman» brach mit der funktionalen Struktur des klassischen realistischen Romans, verdrängte die zeitliche Abfolge von Geschichtseinheiten, das sinnvolle Nacheinander der Beschreibungen und die kausale Verknüpfung von Handlungen, die einander bedingen und erklären. Der Glaube an Kohärenz und Verstehbarkeit des Subjekts, auf denen der realistische Roman beruht, ist durch die Erfahrungen der KZ-Überlebenden, die ihrer Individualität beraubt wurden, genommen worden. Diese Auflösung von raumzeitlichen und individuellen Abgrenzungen und die Ersetzung von kausalen durch akausale Situationsabfolgen spiegeln die Erfahrungen der KZÜberlebenden wider. Die Zeitstrukturen in der Holocaust-Literatur sind also ein Versuch, die Zeitproblematik des modernen Romans zu verarbeiten; somit gibt es strukturelle Übereinstimmungen zwischen «nouveau roman» und konzentrationärer Literatur. Doch nicht nur Einflüsse des «nouveau roman» sind im Werk von Delbo erkennbar, auch die «énergie de témoignage» des realistischen Romans fließt in die Literatur mit ein.10 Exemplarisch steht Delbos Werk für eine «écriture de cendres,»11 einer freieren Erzählform, die sich in den 70er Jahren etablierte. Es handelt sich hierbei um eine «Aschenschrift,» die sich den strengen narrativen Strukturen verweigert, einen bestimmten –––––––— 9
10 11
zwangsläufig ‹orientiert,› den Ereignissen Kontinuität verleiht und die Autorität des Autors als Zeuge in den Hintergrund drängt» (Young, Holocaust, 34). In der literarischen Neuorientierung der Nachkriegszeit gab der «nouveau roman» den Techniken des Erzählens gegenüber den psychologischen und sozialen Bedeutungen seinen Vorrang. Die Krise des Romans wurde nicht auf dichtungsinterne, poetologische Probleme zurückgeführt, sondern auf die epochale Krise, als deren Reflex die Krise in den einzelnen Künsten zu verstehen war (vgl. Kurt Wilhelm: Der Nouveau Roman. Ein Experiment der französischen Gegenwartsliteratur. Berlin 1969). Unter der «littérature de témoignage» versteht man eine spezifische Textsorte, die die mikroskopische Beschreibung des Lageralltags mit theoretischer Reflexion verbindet. «Écriture de cendres,» eine Literatur, die die Aufgabe des Zeugnisses und des Gedenkens erfüllt, ohne das Grauen zu verschleiern oder zu verklären; sie beinhaltet kein lineares Erzählen und befreit sich von den Zwängen der Erzählkausalität, ist eine Mischung aus Fiktion und Autobiographie und meist episodenhaft. «[...] écriture de cendres, écriture du désastre qui évite le piège d’une complicité avec le savoir spéculatif, avec ce qui en lui relève du pouvoir, et est donc complice des tortionnaires d’Auschwitz» (Kofman, Paroles suffoquées, 14).
44 Erzählmodus ablehnt, um somit der Aussagekraft des Textes nicht im Weg zu stehen, «[…] ein Schreiben, das seine literarische, ja moralische Würde nur dann gewinnen kann, wenn es darauf verzichtet, die Ohnmacht der Opfer und die Sinnlosigkeit ihres Leidens durch einen Erzählmodus zu verbrämen, der Sinnstiftung vortäuscht.»12
Die Funktion der Aschenschrift ist es, Zeugnis und Gedenken zu erfüllen, ohne das Grauen verschleiern oder erklären zu wollen.13 Auschwitz et après stellt ein Konglomerat von Motiven und Topoi der Shoa-Verarbeitung dar und ist aber darüber hinaus ein einzigartiges Beispiel für die Verarbeitung von Erinnerung (im Umfeld von Raum und Zeit) auf sämtlichen Ebenen: im Gebrauch erzählerischer Strategien, in der Kreation narrativer Verzweigungen, in der Form des Beschriebenen. In den vergangenen Jahren ist Charlotte Delbos Trilogie Auschwitz et après zu einem der wichtigsten Werke in der Holocaust-Literatur geworden und kann sich neben die Arbeiten von Jean Cayrol, Robert Antelme, Marguerite Duras, Jorge Semprún und Anna Langfus reihen.
2.2
Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – «le passé ne passe pas»
2.2.1 Vermischung der Zeit-, Handlungs- und Erzählebenen In Auschwitz et après lässt sich eine Vielstufigkeit im Erinnerungsprozess erkennen: Aus der Retrospektive erinnert sich die Hauptfigur an die Zeit während des Genozids, davor und danach. Hierbei findet eine Vermischung der Zeit-, Handlungs- und Erzählebenen und eine Reflexion über die einzelnen Zeitstufen statt. Die Vergangenheit verändert sich in ihrer Bedeutung, da sie parallel zur Gegenwart rekonstruiert wird und Erinnerung ein dynamischer Prozess ist und nicht alle Fakten und Einzelheiten wiedergeben kann. Delbo greift dieses Verfahren auf, indem sie ihre Erinnerungen in komplexen Sinnzusammenhängen, aber auch in Bruchstücken und Fragmenten formuliert. Sie richtet ihr Augenmerk aber ––––––– 12 13
Joan i Tous, Ecriture de cendres, 174. «[...] die Überlebenden haben es nicht bei Worten bewenden lassen, haben nicht bloß erklärt, daß die, deren Verbrechen man aufs schärfste verurteilt, immer noch Menschen sind oder daß es unzulässig ist, die ganze Gruppe für das Verhalten von Individuen verantwortlich zu machen; sie haben auch Taten folgen lassen, die zeigen, daß diese Überzeugungen tatsächlich für ihr persönliches Leben bestimmend geworden sind» (Tzvetan Todorov: Angesichts des Äußersten. München 1993, 276 [Orig.: Face à l’extrême. Paris 1994]).
45 nicht nur auf die Vergangenheit (Auschwitz und davor), sondern auch auf die Erzähl- und Schreibgegenwart. Verschiedene Erinnerungsebenen und eine Gegenwartsebene werden beleuchtet mit eigenen Räumen und Zeiten. In den ersten beiden Teilen dienen die Einschübe aus der Gegenwart vor allem dazu, das Bemühen nach Rekonstruktion und Wahrhaftigkeit zu zeigen und die Schreibgegenwart ist nicht so präsent wie im dritten Teil, der die Schreibgegenwart als Basis und Ausgangspunkt für die Erinnerung auch thematisiert – hier kommt der umgekehrte Fall zum Tragen: Die Vergangenheit wird hier nur kurz angerissen und die Gegenwart ist die Haupterzählebene, in der Erinnerungs- und Schreibprozess reflektiert werden. Eine gewisse Chronologie herrscht in der Trilogie, wobei die Auschwitz-Birkenau Sequenzen einen viel größeren Raum erhalten als die Ereignisse in Ravensbrück oder die Erzählungen der Überlebenden. Die Trilogie im Gesamten ist chronologisch aufgebaut, jedoch verwendet Delbo keine Datumsangaben (mit Ausnahme eines Monatsnamens und im zweiten Teil der Nennung: «C’était pendant l’été 1942» [Auschwitz II, 32]). Die Zeit im Lager wird in ihrer Monotonie ohne Zeitangaben gezeigt und die Ereignisse sind in ihrer Grausamkeit zeitlos, besitzen eine statische Zeit;14 dies gilt nicht nur für die Lagerbeschreibung im Hauptteil der ersten beiden Teile, sondern auch für die lyrischen Passagen.15 Im Gegensatz hierzu erhalten Ereignisse, die in Form von Zeitungsnotizen gestaltet sind, genaue Zeitangaben, um ausdrücklich den retrospektiven und vergleichenden Charakter zu betonen (Auschwitz II, 32; II, 111) und um zu zeigen, dass sich in der Welt nach Auschwitz die Grausamkeiten fortsetzen. Genaue Zeitangaben treten auch dann auf, wenn sie mit der bevorstehenden Befreiung und des Sieges in Zusammenhang stehen. Das Befreiungsdatum wird langsam aufgebaut, als ob die Hoffnung mit der präzisen Datumsangabe wächst: Nous partirons le 23 (Auschwitz II, 152; 154), dann: «Nous sommes parties le 23, le 23 avril» (Auschwitz II, 154) und schließlich: «Je sais maintenant pourquoi le capitaine M. était ––––––– 14
15
«Un cadavre. [...] Essayez de regarder. Essayez pour voir» (Auschwitz I, 137); «L’homme marche avec les crocs du chien dans la chair» (Auschwitz I, 138); «Une femme que deux tirent par les bras. [...] Elle hurle. Les genoux s’arrachent sur les cailloux. Essayez de regarder. Essayez pour voir» (Auschwitz I, 139). Ein Vertreter der 1.5 Generation, Georges Perec, berichtet davon, wie er als Kind keine Zeitstruktur mehr spürt, wie die fortschreitende Zerstörung der linearen Temporalität mit der Absenz von zeitlichen Anhaltspunkten beginnt: «Nulle chronologie sinon celle que j’ai arbitrairement reconstituée: du temps passait. Il y avait des saisons. On faisait du ski ou les foins. Il n’y avait ni commencement ni fin. Il n’y avait plus de passé et pendant très longtemps il n’y eut pas non plus d’avenir, simplement ça durait. On était là [...]» (Georges Perec: W ou le souvenir d’enfance. Paris 1975, 94).
46 beau ce matin du 23 avril 1945, au seuil de Ravensbrück» (Auschwitz II, 182). 2.2.2 Erinnerung als Katalysator der Erzählung Bei Delbo funktioniert die Erinnerung als Katalysator der Erzählung. Insgesamt ergibt ihr Werk eine persönliche Sicht auf das Geschehen, trägt aber zugleich zu einem erweiterten Geschichtsverständnis durch die Möglichkeit bei, ihre eigene Erfahrung mit unterschiedlichen Diskursen zu mischen. Ihr Werk beinhaltet eine doppelte Identität: eine Zeugenschaft über die Deportation, die dadurch verstärkt wird, dass sie den ersten Teil der Trilogie sofort nach den Geschehnissen schrieb (eine «littérature de témoignage immédiate») und eine neue, reflexive Erzählweise, die sich des zeitlichen Abstandes bewusst ist und gegen das Vergessen antritt. Von ihrem früheren Leben berichtet Delbo nur in Bruchstücken – der Leser erfährt nicht ihren Beruf, ihre Wirkungsstätten und Interessen, doch als geradezu wiederkehrendes Motiv kann man ihre Liebe zu ihrem ermordeten Mann sehen. Nach und nach wird diese (autobiographisch verankerte) Liebesgeschichte in nicht chronologischer Reihenfolge aufgerollt. Delbos Werk ist nicht als Erfahrungsbericht, sondern als Roman ausgewiesen; IchErzähler und Autor sind folglich nicht identisch. Der Ich-Erzähler fungiert aber dennoch als Spiegel für das Leben Delbos, bildet ein Analogon zu Delbos Leben, beide Biographien stimmen überein. Der ständige Wechsel von Zeitebenen, der Wechsel von Narration und Reflexion, von auktorialer Darbietungsform, innerem Monolog, erlebter und memorierter direkter Rede lassen eine sehr komplexe Werkstruktur entstehen. Die auktoriale Erzählperspektive bietet an sich schon eine distanziertere Haltung zum Geschehen, doch Delbo überträgt diese Distanz auch auf den Leser zum Erzählten. «Statt Annäherung durch Identifikation wählte Charlotte Delbo die Distanz: für sich als Erzählerin und für den Leser. Ihre auktoriale Stimme wird zur eifersüchtigen Hüterin dieser Distanz.»16 Die Annäherung von Erzähler und erzähltem Ich17 erreicht Delbo durch einen häufig abrupten Wechsel der Erzählperspektive zwischen der Erinnerung an das Geschehene und zwischen dem direkt erlebenden Ich und stellt deshalb auch öfters verschiedene Tempora in einen Satz. Somit vermengt sie die Erinnerung an Auschwitz mit dem in ––––––– 16 17
Joan i Tous, Ecriture de cendres, 182. Üblich ist, dass die autobiographische Narration ihren Helden bis an den Punkt führt, wo der Erzähler auf ihn wartet, sodass die beiden Hypostasen am Ende zusammentreffen (vgl. Genette, Erzählung, 161). Meist wird durch eine kontinuierliche Vergangenheitserzählung der gegenwärtige Standpunkt und damit der Sinn für die Zukunft bestimmt.
47 Auschwitz Erlebten, wobei hier auch bereits eine Reflexion über die Ereignisse zu konstatieren ist: «Et je suis revenu / Ainsi vous ne saviez pas, / vous, / qu’on revient de là-bas / On revient de là-bas / et même de plus loin / Je reviens d’un autre monde / dans ce monde / que je n’avais pas quitté / et je ne sais / lequel est vrai / dites-moi suis-je revenue / de l’autre monde ? / Pour moi / je suis encore là-bas / et je meurs / là-bas» (Auschwitz II, 183).
Ein Wechsel der Erzählperspektive vom sich erinnernden zum unmittelbar erlebenden Ich, vom Präsens in die Tempora der Vergangenheit und wieder zurück zeigt, dass die Erinnerungsarbeit an Auschwitz mit den Erlebnissen in Auschwitz vermischt wird. Im ersten und zweiten Teil der Trilogie sind die Erlebnisse von so großer und grausamer Intensität, dass Delbo (fast immer) den Blick des damaligen Ichs wählt (als ob sie kein späteres Wissen hätte), eine interne Fokalisierung;18 die Vergangenheit ist allgegenwärtig: Die Erzählerin wird nochmals in die damaligen Geschehnisse zurückgeworfen und erleidet sie sozusagen ein zweites Mal. Verstärkt wird dieser Eindruck dadurch, dass Delbo an diesen Stellen das Präsens wählt. Nach Young enspricht die interne Fokalisierung dem «Gefühl der Diskontinuität und Desorientierung in katastrophalen Ereignissen,»19 die typisch für die Augenzeugen ist. Bei Darstellungen unmenschlichen Verhaltens oder Grauens wählt Delbo häufig eine indirekte Beschreibung und benutzt die Perspektive der personalen Erzählsituation: Die Folterung eines Häftlings mit 50 Schlägen mit der Aufforderung, diese laut zu zählen, wird beinahe ausschließlich indirekt ausgedrückt. Das, was die anderen Häftlinge sehen, kann nicht dargestellt werden – das Geräusch ersetzt das nicht darstellbare Bild. Das Entsetzliche wird mit Hilfe eines Vergleichs aus der anderen Welt suggeriert («Cet homme qu’on bat avec le bruit d’un tapis qu’on bat,» Auschwitz I, 95). Es findet eine literarische Distanzierung statt. «Die doppelte Entrückung vom Vorgang selbst – seine Kennzeichnung mit Hilfe von ‹tapis› und der bloße Bezug auf das Geräusch – verringert die Distanz zwischen Geschehenem und dessen Vorstellbarkeit und läßt zugleich das Ausmaß des Leidens ahnen.»20
Die Schreibende setzt sich immer dann in die Rolle eines Zuschauers, wenn sie das Lagerleben in einer grotesken Form beschreiben will, d.h. sie verwendet hier Komik, stellt Vorkommnisse als grotesk dar, um über sie berichten zu können. Die literarische Distanzierung besteht hier also im Erschaffen eines diskursiven Raumes, der es erlaubt, dass sich eine Vielzahl ––––––– 18 19 20
Vgl. Genette, Erzählung, 135. Young, Holocaust, 34. Klein, Literatur und Genozid, 86.
48 von Stimmen äußern. Der autobiographische Charakter der ZeugnisErzählungen wird somit überschritten, ohne von der Einzelperspektive zu einer Gesamtperspektive zu wechseln. «Le langage et le style précis, sobres, sans aucun pathos recréent cette communauté de souffrance qu’une commémoration héroisante ne pourrait qu’exproprier de son expérience.»21 Im dritten Teil gibt die Ich-Erzählerin ihre Stimme mitunter an andere Überlebende ab und kleine metadiegetische Erzählungen22 beschreiben den individuellen Alltag nach Auschwitz, wobei hier immer wieder die Gegenwart mit den Erinnerungen an Auschwitz verbunden werden. 2.2.3 Verknüpfung der Erinnerungsebenen Bei der Analyse des Textes ist die Vergangenheits- und Gegenwartsgeschichte entscheidend. In welchem Verhältnis diese zueinander stehen ist wichtig, da dadurch aufgezeigt werden kann, wie das Verhältnis des Erzählenden zur Erinnerung ist. Auschwitz et après verläuft auf mehreren Zeitebenen: Der Umgang mit der Zeit ist vielschichtig, da durch den Blick auf das Schreiben und die Erinnerung eine zweite Zeit (die Schreibzeit mit ihrer eigenen Geschichte und reflexiven Momenten) hinzukommt. Die Gedächtnisinstanz meldet sich zwar immer wieder (besonders bei eindrücklichen Erlebnissen, die zusätzlich nochmals reflektiert werden), doch ist die Geschichte der Vergangenheit von größerer Bedeutung. Anhand Delbos Verfahren, mehrere Erinnerungsebenen parallel zu betrachten, bringt sie die geschilderten Ereignisse in einen neuen Bedeutungszusammenhang. Dieses Vorgehen beinhaltet zwangsläufig eine Deutung der Ereignisse in der Vergangenheit und zugleich eine (Selbst)Reflexion über diese. Zwar bildet in den ersten beiden Teilen der Trilogie die Schreibgeschichte, die Gegenwartsgeschichte (die Erzählerin in einem Café sitzend, die versucht, die Geschehnisse aufzuschreiben), den Ausgangspunkt der Erzählung, und wäre somit also als primäre Erzählung23 zu bezeichnen, doch ist die eigentliche Zentralgeschichte die Erzählung ––––––– 21 22
23
Pollak, L’expérience concentrationnaire, 221. Die narrative Instanz einer ersten Erzählung ist per definitionem extradiegetisch. Die narrative Instanz einer zweiten (metadiegetischen) Erzählung ist per definitionem diegetisch, eine Erzählung zweiter Stufe also, die von einer besimmten Figur vorgetragen wird (vgl. zu näheren Erläuterungen Genette, Erzählung, 165). Mit Genettes Termini von «récit premier» («Basiserzählung» beziehungsweise «erster Erzählung») und den davon ausgehenden «Anachronien» lassen sich die spezifischen Merkmale und Schwierigkeiten – die sich aus der Verflechtung beider Zeitraster ergeben – am produktivsten erkennen, auch wenn die Bewertung, was die «erste» und was die «zweite» abgeleitete Erzählung ist, nicht ganz unproblematisch scheint (vgl. Genette, Erzählung, 32), da die Erlebnisse aus der Vergangenheit innerhalb der Erzählung an Bedeutung und Raum gewinnen.
49 über das Lager. Somit werden Analepsen24 zur primären Erzählung. In der Beschreibung des Lagerlebens greift Delbo signifikante Ereignisse heraus und beschreibt diese dann mit besonderen erzählerischen Mitteln. Die immer wieder kehrenden lyrischen Passagen bilden oftmals wie von Genette definierte Summarys oder Szenen,25 in denen zeitlich fokussiert wichtige Begebenheiten (auch in Form eines Dialogs) nochmals zusammengefasst werden. Die Ebenen des Sich-Erinnerns vermischen sich oftmals bei Charlotte Delbo: Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen. Der Wechsel zwischen gleichzeitiger26 und späterer Narration27 ist zugleich Zeichen des Übergangs von beschreibender zu reflektierter Sicht. Die Erinnerung an einen Tag in Auschwitz bringt die Erinnerung zurück, die sie damals in Auschwitz hatte. Heute, in der Gegenwart des Schreibens nach Auschwitz, wird somit der Schmerz, der die Erinnerung hervorruft, in der Struktur der Erzählung selbst vergegenwärtigt (vgl. hierzu «Les Mannequins» [Auschwitz I, 28ff.]). «Zerstörerische Erinnerungen waren es damals, weil sie das Leidensbewußtsein verschärften. Verzweifelnde, erinnerte Erinnerungen sind es heute, im déjà vu der Sonne am blauen Himmel, der Gerüche und Farben des Frühlings, heute, im déjà vécu des Lagers, mitten im Grauen von Auschwitz.»28
Die Gegenwart sowie die Vergangenheit der jeweiligen Geschichten laufen bei Delbo nicht parallel zueinander, sondern werden durch verschiedene Elemente miteinander verbunden, um somit die einzelnen Ebenen zu verknüpfen. Erinnerungen aus der Gegenwart an die Vergangenheit, als auch von der Vergangenheit aus an die Zeit vor der Deportation schafft Delbo mittels Bildern, Bezeichnungen und Redensarten. Begebenheiten, Zusammenhänge und Handlungen treten als Metonymien und Metaphern auf; Bedingungen und Erfahrungen des Lagers werden mit den Worten des normalen Lebens beschrieben, Analepsen an Kindheitserlebnisse leiten Szenen aus dem Lager ein (die einzelnen Punkte werden im folgenden ––––––– 24
25 26
27
28
Vgl. Genette, Erzählung, 25: «[...] mit Analepse [bezeichnet man, Anmerkung der Verf.] jede nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses, das innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat.» Vgl. Genette, Erzählung, 67ff. Unter Gleichzeitiger Narration versteht man eine Erzählung im Präsens, die die Handlung simultan begleitet. Die strenge Koinzidenz von Geschichte und Narration schließt Interferenzen und zeitliche Spielereien aus (vgl. Genette, Erzählung, 156). Unter Späterer Narration versteht man die klassische Position der Erzählung in Vergangenheitsform. Der Gebrauch einer Zeitform der Vergangenheit genügt, um sie als solche kenntlich zu machen (vgl. Genette, Erzählung, 156f.). Joan i Tous, Ecriture de cendres, 179.
50 besprochen). Der Sinn dieser verbindenden Elemente besteht darin, die Diskrepanz, die zwischen dem Lager und dem Alltag liegt, aufzuzeigen. Beschreibungen, die der Leser in einen assoziativen Zusammenhang setzt, werden im Nachhinein von Delbo in einen gänzlich anderen Kontext gestellt: den des Lageralltags. Oftmals dient dieser Einsatz von stilistischen Mitteln auch als Möglichkeit, das Geschehen überhaupt darstellen zu können, wie beispielsweise in der Szene, in der die Erzählerin Abschied von ihrem Mann nehmen muss und dies mit den Mitteln der Verfremdung beschreibt («[...] C’est ce qui le faisait si beau / d’avoir choisi / choisi sa vie, choisi sa mort / et d’avoir regardé d’avant» [Auschwitz II, 159]). Zudem benutzt Delbo Metaphern aus der romantischen Welt im Kontext und dem Hintergrundwissen von Auschwitz und zeigt somit in ihrem Gedicht, das sie an «vous qui savez» richtet, wie poetische Kodierungen verzerrt werden (Auschwitz I, 21), in welcher Weise für sie diese poetischen Codes ihre Unschuld verloren haben: «Moi aussi j’avais rêvé / de désespoirs / et d’alcools / autrefois / avant / Je suis remontée du désespoir / celui-là / croyant que j’avais rêvé / le rêve du désespoir / La mémoire m’est revenue / et avec elle une souffrance / qui m’a fait m’en retourner / à la patrie de l’inconnu» (Auschwitz II, 184).
Literarische Codierungen laufen entgegengesetzt zur Realität im Lager. Die Szene der Befreiung bringt Erinnerungen an ein vergangenes Leben mit: Zunächst ist der Offizier, der sie befreit, «un vrai chevalier comme dans l’Histoire, chasublé de croix,» wird dann aber in einen mittelalterlichen Helden abgewandelt: «le chevalier qui vient délivrer les captives» (Auschwitz II, 180 - II, 191): Die Erzählerin erkennt nun, dass die Erlebnisse ihrer Geschichte nicht in das Zeichensystem der Kultur, aus der sie herausgerissen worden ist, integriert werden können. Die Tulpe, die sie und ihre Kameradinnen während ihrer Haftzeit entdecken, weckt Erinnerungen an das Leben vor Auschwitz, erhält jedoch nun in der Gegenwart der Gefangenschaft dadurch eine andere Konnotation, indem sie im Haus eines SS-Mannes steht. «There can be, it seems, no better illustration of the scrambled codes that were the products of the camps, than this disquieting imitation of art by life in the most unliterary of all possible experiences, life in the camps.»29
Das Erzählte als authentisch darzustellen scheint der Erzählerin unmöglich, da die Referenzialität fehlt und da sie, um wirklich glaubwürdig sein zu können, in Auschwitz gestorben sein müsste: ––––––– 29
Kingcaid, Charlotte Delbo, 107.
51 «Vous ne croyez pas ce que nous disons, parce que / si c’était vrai / ce que nous disons / nous ne serions pas là pour le dire» (Auschwitz III, 78). Die Erinnerung und der Bezug zur normalen Welt sind sehr oft mit Kindheitserinnerungen gekoppelt. Diese Erinnerungen überkommen die Erzählerin beim Anblick von Tod oder Gewalt, jedoch häufiger beim Schreiben selbst: Sie nennt die Erinnerung an den sterbenden Hund, wobei hier eine Gleichsetzung von Mensch und Tier stattfindet.30 «Die Bedeutung solcher Bezüge mag jeweils eine unterschiedliche sein, immer aber dienen sie dazu, die Lesenden in die Falle des Vertrauten zu locken und dann die Kluft aufzureißen zwischen den Erfahrungen des Lagers und denen der normalen Welt.»31
Der Episode über die Durstkrankheit der Erzählerin geht eine Darstellung des Durstes in den Abenteuerbüchern ihrer Kindheit voraus («La soif, c’est le récit des explorateurs, vous savez, dans les livres de notre enfance. C’est le chapitre pathétique du livre» [Auschwitz I, 114]), wobei hier die beiden Welten kontrastiert werden: In den Büchern wird der Durst befriedigt, es kommt zur Erlösung, während im Lager der Durst zum Wahnsinn (eines bestialischen Willens, «comme boit un cheval» [Auschwitz II, 46]) oder Tod führt. Die gestapelten Leichen des Kranken-Blocks lassen sie an ihre Kindheit denken (Auschwitz I, 30): Als Kind beobachtete die Schreibende die Stapelung und den Transport von Schaufensterpuppen. Eine gewisse Initiation lässt sich in dem proleptischen32 Ausspruch «Maintenant je suis grande. Je peux regarder des mannequins nus sans avoir peur» erkennen, zugleich aber auch eine erschreckende Gleichsetzung von leblosen Puppen mit Menschen bzw. eine Verrohung gegenüber der Empfindsamkeit der Kindheit, zusätzlich aber auch eine Erkenntnis darüber. Für einen Augenblick überschreitet die Erzählerin die Grenzen des Lagers und der Zeit durch die Erinnerung an die Kindheit, und sucht Halt in der Vergangenheit. Doch mit Erinnerung wird ihre Fühlfähigkeit wieder geweckt. Dieser Bezug zur normalen Welt, der einen Weg darstellt, das Grauen indirekt auszudrücken und dadurch dem Leser zu vermitteln, wird auch durch ein Bild oder auch nur ein Wort hergestellt. Synästhetische Eindrücke (Geräusche, Rhythmus) dienen als Verbindungsglieder, um die Diskrepanz des Vergleichs noch deutlicher zu zeigen. Das Leiden der Häftlinge wird in ––––––– 30
31 32
Auffallend an dieser Stelle ist hier der direkte Vergleich von Mensch und Tier. Historischen Zeugnissen zufolge nannte die SS einen Hund «Mensch» und Juden «Hunde.» Vielleicht wollte Delbo durch diese tragische Überhöhung nicht nur die Trauer vor und während Auschwitz vergleichen, sondern auch die Stellung der Menschen im Lager durchscheinen lassen. Klein, Literatur und Genozid, 83. Genette, Erzählung, 25.
52 Zusammenhang gebracht mit Alltagsphänomenen und -tätigkeiten: die unaufhörlichen mechanischen Bewegungen einer Frierenden mit Tanzen (Auschwitz I, 45), das Rasseln der Lungen in Eiseskälte mit der im Wind flatternden Wäsche (Auschwitz I, 105) [die Wäsche als Ausdruck von Heim, Sauberkeit, Anmerkung der Verf.], das starke Klopfen des Herzens nach dem Tod zweier Gefährtinnen mit einer schlagenden Uhr (Auschwitz I, 136), die Hose, auf der sich das Blut des vom SS-Hund angefallenen Mannes ausbreitet, mit Löschpapier (Auschwitz I, 138). Die verwendeten Vergleiche sind alle aus dem täglichen Leben gegriffen, doch sind sie alle unbelebt im Vergleich zu den lebenden Beispielen aus dem Lager. Hier wird zum einen die Kluft zwischen dem Leben vor und in Auschwitz aufgezeigt, aber auch die Wehrlosigkeit und Entindividualisierung der Opfer thematisiert. Im dritten Teil reflektieren verschiedene Stimmen von Überlebenden ihr Leben in der Gegenwart, verweisen aber immer wieder auf die Vergangenheit. Emotionen werden mit den Gefühlen in Auschwitz verglichen (die Angst, allein zu sein mit der Angst vor der Kapo im Lager [Auschwitz III, 24ff.]); die Schuld, überlebt zu haben wird mehrfach thematisiert, Gegenwart und Erinnerung vermischen durch Bilder aus dem Lager, die in den Alltag eindringen: «L’eau soyeuse de ma joie s’est changée en boue gluante, en neige souillée, en marécage fétide» (Auschwitz III, 55). Die Gesichtszüge des eigenen Sohnes, der nun 17 Jahre alt ist, überlagern sich mit den Gesichtszügen der verstorbenen Gefährtinnen, so präsent sind diese nach wie vor im Gedenken (Auschwitz III, 56). In der Nacht und in den Träumen trifft Mado ihre Kameradinnen wieder und findet nur dann Ruhe und Entspannung, wenn sie mit den Toten in Kontakt tritt: «Je les revois dans leur agonie, je les revois comme elles étaient avant de mourir, comme elles sont demeurées en moi. Et quand revient le jour, je suis triste» (Auschwitz III, 54). Auch für diejenigen, die versuchen, ihre Erinnerungen zuzuschütten und durch Anhäufung von anderen Erlebnissen zu vergessen, gilt: «le passé ne passe pas» (Auschwitz III, 64). Gegenstände des Alltags können sofort den Erinnerungsprozess auslösen: Eine Kartoffel bewirkt den Rückblick ins Lager, ein Geschmack, eine Farbe, das Geräusch des Windes oder des Regens. Vor allem aber der Hunger in Auschwitz kann nicht vergessen werden und wird durch die Kinder, die nichts ahnend das Essen verweigern, wieder herauf beschworen: «‹Si nous avions eu cette côtelette là-bas ...,› ce serait odieux de dire pareille chose à un enfant et j’ai toujours réussi à faire en sorte qu’il ne soupçonne pas à quel point sa mère est différente des autres mères» (Auschwitz III, 64f.).
53 Eine andere Überlebende kommentiert ihre Vergangenheit (innerhalb eines Treffens mit der Ich-Erzählerin), die sie jeden Tag zu sich holt, wie eine Dokumentaristin; sie lässt ihren Mann ihre Erinnerungen aufsagen, recherchiert und besucht Gedenkstätten, doch eine persönliche Aufarbeitung ihrer Erlebnisse scheint sie nicht zu bewältigen. Andere berichten von ihrer Deportation, vom Leben im Lager und ihrer Rückkehr und beschreiben chronologisch ihre Erlebnisse (vgl. Ida, Auschwitz III, 100ff.). Eine weitere Form der Darstellung erklärt Delbo in der Art eines (Telefon-) Gesprächs («Loulou est retrouvé. Oui, retrouvé. Où? Tu ne le devineras pas» [Auschwitz III, 126]) über das Schicksal eines Kameraden. Die Hand einer gestorbenen Freundin in der Gegenwart löst bei der IchErzählerin unaufhaltsam den Mechanismus aus, die Hand einer gestorbenen Freundin in Auschwitz zu sehen und für kurze Zeit dahin zurückzukehren («[...] et je me demandais si je parviendrais à me dominer. Devant moi, ce n’était plus Germaine qui était allongée dans un lit blanc, c’était Sylvaine qui était couchée sur des planches pourries» [Auschwitz III, 143]). Um den Berichten einen zusätzlichen Zusammenhalt zu geben und damit auch die Authentizität des Gesagten zu unterstreichen, nehmen die einzelnen Ich-Erzähler aufeinander Bezug (vgl. beispielsweise Gaby, Auschwitz III, 170; Louise, Auschwitz III, 176). 2.2.4 Gebrauch der Tempora «Representation of time is linguistically expressed through the tenses of verbs; tenses relate the time of the discourse to the time of the writer and the reader, and also presents an aspect of the process.»33 Um die Kombinationstechnik aus Vergangenheit und Gegenwart zu verwirklichen, wechseln die grammatikalischen Zeiten immer wieder. Das soll nicht heißen, dass die Vergangenheit nur noch bruchstückhaft vorhanden ist, vielmehr will Delbo eine komplette Distanzierung des Lesers vermeiden, indem sie durch den häufigen Gebrauch des Präsens direkt Gefühle vermittelt oder ihn anspricht. Auch Anna Langfus betont die intensive Wirkung des Krieges, indem sie ihn im Präsens memoriert. Ruszniewski-Dahan definiert den PräsensGebrauch bei Anna Langfus als eine «hors-temps, un monde à la fois ––––––– 33
Nicole Thatcher: A literary analysis of Charlotte Delbo’s concentration camp representation. New York 2000, 136. Thatchers Untersuchung erstreckt sich auf alle Werke Delbos, die sich mit dem Thema KZ beschäftigen oder daraus resultieren (Prosa und Theaterstücke) und untersucht dabei literarische Strategien unter Einbezug von kulturellen und situellen Elementen.
54 parfaitement étranger.»34 Anna Langfus sagt selbst hierzu: «Si je pense à la guerre, même maintenant, je n’y pense jamais au passé. C’est sans doute cela. Je viens de m’en rendre compte. Je ne m’en étais pas rendu compte avant.»35 Delbo verdeutlicht im Präsens, dass die Vergangenheit nicht als abgeschlossenes Ereignis betrachtet werden kann und darf und sich diese fortsetzt und gegenwärtig bleibt. Dies wird dadurch verstärkt, dass der Leser die im Präsens geschriebenen Zeilen expliziter «miterleben» kann (Zeit der Geschehnisse und Zeit des Lesens sind in diesem Fall identisch). Aber auch für die Erzählerin bedeutet das Präsens, signifikante Szenen herauszuheben, als ob die Erinnerung zur Gegenwart wird, die «mémoire profonde» an die Oberfläche tritt. Die Geschichte der Gegenwart und der Vergangenheit müssen jedoch zusammengeführt werden, um in der Welt nach Auschwitz leben zu können. Das ununterbrochene Spiel zwischen den Zeiten und Personen zeigt die Schwierigkeit, sich in dieser Vergangenheit einzuschreiben, «mémoire profonde» und «mémoire ordinaire» zu trennen. Im Präsens werden Einblicke ins Lager mimetisch vergegenwärtigt, in der Vergangenheitsform werden die Monotonie des Lageralltags beschrieben, oder Urteile und Kommentare ausgesprochen («Tous étaient marqués au bras d’un numéro / indélébile / Tous devaient mourir nus / Le tatouage identifiait les morts et les mortes» [Auschwitz I, 24]). Indem häufig an jenen Stellen Präsens verwendet wird, an denen man eigentlich Imperfekt erwarten würde, konstituiert sich die Vergangenheit andauernd in der Gegenwart (und veranschaulicht damit eine Geschichte mit Traumcharakter, die außerhalb jeglicher Zeitlichkeit steht).36 Auch Reflexionen über das Erlebte schreibt Delbo im Präsens: «Et maintenant je suis dans un café à écrire cette histoire – car cela devient une histoire» (Auschwitz I, 49). Diese Vermischung von Präsens und Imperfekt spiegeln auf der einen Seite den Schrecken und Ausdruck von allgegenwärtiger Erinnerung und Panik wider, auf der anderen Seite die Suche der Erzählerin nach einer Aufarbeitung des Geschehens. In «Les Mannequins» (Auschwitz I, 28–33) beginnt der erste Paragraph im Imperfekt, um die tägliche Routine der Suppenausgabe anzudeuten, sowie das Bild der Erzählerin zu zeigen, die mit ihren Kameradinnen im Block die Suppe trinkt; das Präsens wird ––––––– 34 35
36
Ruszniewski-Dahan, Romanciers de la Shoah, 75. Vgl. Ruszniewski-Dahan, Romanciers de la Shoah, 75; vgl. auch Claude Lanzmann: «J’ai cherché à abolir toute distance entre le passé et le présent, pour que les spectateurs revivent la Shoah dans une sorte d’intemporalité presque hallucinatoire» (Claude Lanzmann: «A propos de Shoah.» Colloque des intellectuels juifs. Mémoire & histoire. Paris 1986). «Nous faisons remplir notre tablier et nous courons. / Nous courons. / La porte. / C’est là où les furies sont le plus serré. SS en jupes et en culottes se sont joints à elles. / Courir [...]» (Auschwitz I, 145).
55 dann verwendet, um Block 25 mit den nackten aufgereihten Körpern zu beschreiben. Dieser Anblick wiederum führt die Erzählerin im Imperfekt zurück in ihre Kindheit in Montluçon, als sie Schaufensterpuppen in einem Geschäft sah. Die Nacktheit der Körper und die Leblosigkeit sind gemeinsame Faktoren zwischen den Zeiten, die zur Austauschbarkeit der Leichen bzw. Schaufensterpuppen und zurück zum Präsens führen: «Maintenant les mannesquins sont couchés dans la neige» (Auschwitz I, 30). Thatcher sieht die Alternanz der Zeiten als Visualisierung einer Szene an: «The alternation of tenses creates a spatial dimension of foreground, the actual scene in the present, and as background the evocation of the past, thus giving the narrative the dimension and impact of a scene in a theater.»37
In den folgenden Paragraphen gibt es den gleichen Wechsel zwischen Präsens (um die aktuelle Szene zu beschreiben) und Imperfekt (um den Gang der Häftlinge zu verfolgen, der zu ihrem Tod führte). Somit deckt das Imperfekt zwei völlig unterschiedliche Zeitebenen ab, die Kindheit der Erzählerin in Frankreich und ihr Leben jetzt im Lager, und erleichtert das von Delbo intendierte Bild der Überlagerung der Körper: «Maintenant je suis grande. Je peux regarder des mannequins nus sans avoir peur» (Auschwitz I, 33). Das «maintenant» im Präsens ist schwierig zeitlich einzuordnen, wobei höchstwahrscheinlich hier die Schreibgegenwart und nicht die Erzählgegenwart gemeint ist. Auch in «Un Jour» (Auschwitz I, 40–49) symbolisiert die Vermischung von Gegenwart und Vergangenheitsformen den emotionalen Zustand der Erzählerin.38 Der Zusammenschluss der verschiedenen Zeiten zeigt sowohl die Nähe des Erzählers zum Geschehen (und damit auch die Aufforderung an den Leser, sich darauf einzulassen), zugleich aber bedeutet dies auch eine Distanz für Erzähler und Leser. Das abrupte Ende der Erzählung und die Rückkehr in die Schreibgegenwart ist gepaart mit der Verzweiflung, dass das Erlebte (zwangsläufig aus der Retrospektive) nur als Geschichte weitergegeben werden kann: «Et maintenant je suis dans un café à écrire cette histoire – car cela devient une histoire» (Auschwitz I, 45).
––––––– 37 38
Thatcher, A literary analysis, 137. Vgl. Thatcher, A literary analysis, 138f.
56
2.3
Autoreflexive Aspekte – «car cela devient une histoire»
2.3.1 «L’histoire» und «des histoires» Charlotte Delbo entwickelt die Möglichkeit eines Schreibens, das sich beständig der Wandelbarkeit von Erinnerung und ihrer Rekonstruktion in der Gegenwart bewusst ist. Bei Delbo sind Gegenwart und Vergangenheit nicht als getrennte Einheiten zu betrachten, denn im Schreiben und Darstellen wird die Vergangenheit nicht nur rekonstruiert, sondern sie erscheint viel unmittelbarer, als ob sie sich noch einmal ereignete. Neben die Geschichte tritt die Geschichte des Schreib- und Erinnerungsprozesses als Selbstreflexion. Auch sie lehnt die traditionellen Erzählgewohnheiten ab, ist sich bewusst, dass sie nicht die Wahrheit über Auschwitz schreiben kann. Delbo erzählt im vollen Bewusstsein jener Ausweglosigkeit, die Sarah Kofman als «parler sans pouvoir»39 umschreiben sollte: «Es [das Schreiben nach Auschwitz, Anmerkung der Verf.] ist vor allem ein einsamer Balance-Akt über den Abgrund, der die erlebte konzentrationäre Wirklichkeit von ihrer nachträglichen Mimesis trennt. Delbo thematisiert die Kluft, und oft schreibt sie aus deren Tiefe heraus.»40
Es gibt vielfältige Formen der Selbstreflexion, wobei an dieser Stelle drei für Delbos Werk signifikante kurz erörtert werden sollen: «Die Selbstreflexion kann Reflexion über das Schreibprojekt, über seine Grenzen und Unmöglichkeiten sein, und dient der Rechtfertigung des Vorhabens und seiner ästhetischen Entscheidungen.»41 Delbos Schreiben über Auschwitz ist immer verknüpft mit der Frage, auf welche Art und Weise man nach Auschwitz erzählen kann: «Comment dire la détresse dans leurs gestes, l’humiliation dans leurs yeux» (Auschwitz I, 153).42 Gerade in den autobiographischen Romanen über die Konzentrationslager entspringt die Kluft zwischen Schreibprojekt und Resultat auch dem Problem des Sich-Erinnerns. «Sie [die Selbstreflexion, ––––––– 39 40 41 42
Kofman, Paroles suffoquées, 16. Joan i Tous, Ecriture de cendres, 178. Klein, Literatur und Genozid, 170. Jorge Semprún setzt authentische Zeugnisse in den fiktionalen Text, verwendet sie nicht nur als Stilmittel und literarische Technik, sondern sie dienen zugleich als Zeugnis, als eine Autorität der Fakten (Jorge Semprún: L’ecriture ou la vie. Paris 1994). Bei ihm tritt die Selbstreflexion häufig auf, verbunden mit dem Zweifel und der Sorge darüber, ob und wie vergangene Erfahrung rekonstruierbar ist. Für Semprún ist es unerlässlich, zunächst zu vergessen, um der Erinnerung später einen objektiveren Charakter verleihen zu können. Nach den Jahren des Vergessens glaubt er sprechen zu können «au nom des choses qui sont arrivées, pas en mon nom personnel.» Werden die Möglichkeiten des Erinnerns abgewogen, so erst recht die Frage, ob Erzählen einen Sinn hat.
57 Anmerkung der Verf.] ist die aus der Verzweiflung entspringende, plötzlich einbrechende Selbstthematisierung, sie löst den Zusammenbruch des Erzählens aus und ist zugleich Bedingung von dessen Wiederaufnahme.»43 Delbo quält sich mit dem Gedanken, dass erlebtes Grauen zu einer erzählten Geschichte wird. Das Schreiben selbst wird immer wieder zum Gegenstand ihrer Erzählung und zugleich kommen der Erzählerin Zweifel darüber, inwiefern es überhaupt möglich ist, das Vergangene in adäquater Form zu beschreiben, und die Angst, dass die Vergangenheit lediglich zu einer Geschichte wird: «Et maintenant je suis dans un café à écrire cette histoire – car cela devient une histoire» (Auschwitz I, 45). Die Erzählung ist notwendig, ist aber keine adäquate Art der Darstellung des Geschehenen. Auf der einen Seite ist es ihr ein Bedürfnis, das Erlebte mitzuteilen, auf der anderen Seite ist sie sich der Diskrepanz zwischen Erlebtem und Erzähltem bewusst. Die Selbstreflexion ist bedingt durch die ständig präsente Frage nach dem Sinn und der Möglichkeit von Erinnerung und Zeugenschaft.44 Ist es überhaupt möglich, das Geschehen in adäquater Form an die Nachwelt zu überliefern? «Selbstreflexion tritt als ständige Infragestellung des eigenen Tuns auf [...] Selbstreflexion tritt als Feststellung des - vorläufigen oder endgültigen - Scheiterns des Schreibens auf.»45 In Auschwitz et après wird die Diskrepanz zwischen erlebter Realität und nachträglicher Repräsentation hervorgehoben und der Vorgang des Erinnerns und Schreibens wird zum Hauptbestandteil des Werkes: «Mais tout cela n’est que souvenir rapporté» (Auschwitz II, 63). Das selbstreflexive Schreiben, der Einfluss verschiedener literarischer Gattungen und die Bezugnahme auf authentische Zeugnisse in den fiktionalen Texten zeichnen diese Texte aus.46 Eng verknüpft mit der Thematik der Selbstreflexion ist die Frage der Darstellbarkeit und der (zwangsläufigen) Vermischung von Fiktion und historischem Bericht, von «l’histoire» und «des histoires.» Hier wirkt die ––––––– 43 44
45 46
Klein, Literatur und Genozid, 171. Eine andere Art, das Geschriebene zu reflektieren, entwickelt Primo Levi (Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. München 1993 [Orig.: I sommersi e i salvati. Turin 1986]), indem er Briefe abdruckt, auf die er innerhalb seines Berichts antwortet. Er versucht hier, die direkte Auseinandersetzung mit dem Leser zu verschriftlichen. Klein, Literatur und Genozid, 171; 173. Semprún wie auch Delbo teilen die Zweifel an der Fähigkeit oder Bereitschaft der NichtZeugen zuzuhören und zu verstehen. Bei einer Besichtigung des Lagers in L’écriture ou la vie kurz nach der Befreiung sind die Besucher zunächst über den Komfort des Lagers erstaunt und halten das Krematorium für eine Küche. Erst nachdem sie der Leichenberge gewahr werden, stellt sich ein gewisses Entsetzen ein («C’est la cuisine, ça? a-t-elle demandé. J’ai souhaité d’être mort. [...] Si j’avais été mort, je n’aurais pas pu entendre cette question» [Semprún, L'écriture, 131]).
58 Selbstreflexion als verbindende Komponente.47 Langer und Haft unterscheiden zwischen «factual narration» und «imaginative reconstruction.»48 Le convoi du 24 janvier beschäftigt sich vor allem mit den Biographien der Frauen und historischen Daten, während sich Auschwitz et après vielmehr in ästhetisch-stilistischer Weise mit den Lebensbedingungen im Lager auseinandersetzt. Dieses Werk ist eine Mischform aus «recollection» («factual narration») und «reconstruction» und behält damit eine beständige Spannung zwischen «l’histoire» und «des histoires,» zwischen Geschichte und Geschichten bei. Diese Spannung ist umso problematischer, da Delbo die Rekonstruktion der «histoire» wichtig ist, sie sich aber zugleich bewusst ist, dass sie dies im retrospektiven Schreiben nicht leisten kann: «Aujourd’hui, je ne suis pas sûre que ce que j’ai écrit soit vrai. Je suis sûre que c’est véridique» (Auschwitz I, 7). Zu viel Zeit ist zwischen Erleben und Aufschreiben vergangen, um eine «histoire» schreiben zu können und somit liegt ihr Bemühen weniger in einer (historischen) Wahrheitsfindung als in einer Rekonstruktion und Vermittlung der Vergangenheit durch erzählerische Mittel. In einer Episode im letzten Teil der Trilogie bemerkt Delbo, dass die physische Situation im Lager ihr Gedächtnis beeinträchtigt hat. Damit kann sie auch als Historikerin nicht uneingeschränkt glaubhaft sein; Vergessen und Erinnern gehen ineinander über und sind gleichwertig: «C’était l’époque où elle [Charlotte, Anmerkung der Verf.] était complètement ahurie. Elle n’avait plus sa tête du tout. De quoi faut-il se souvenir et que faut-il oublier, pour garder sa tête? Oublier les tomates, c’est bête ... Pourquoi ne pas oublier plutôt l’odeur de la fumée, ... les morts du matin et ... les morts du soir, ... la soif, la faim, le froid, la fatigue, puisque cela ne sert à rien que je m’en souvienne» (Auschwitz III, 196f.).
Trotzdem lehnt sie das Vergessen ab und überwindet mit Hilfe des Schreibens ihre Verzweiflung. Sie wendet sich vor allem an ihre Kameradinnen, wenn sie zur Erinnerung aufruft: «Oublier ce serait atroce. Non que je m’agrippe au passé, non que j’aie pris la décision de ne pas oublier. Oublier où nos souvenirs ne dépendent pas de notre vouloir, même si nous
––––––– 47
48
Georges Perec fasst diese Problematik in W ou le souvenir d’enfance wie folgt zusammen: «Je ne sais pas si j’ai réellement vécu cet accident ou si, comme on l’a déjà vu à d’autres occasions, je l’ai inventé ou emprunté [...]» (Perec, W ou le souvenir, 184). Langer schreibt: «To establish an order of reality in which the unimaginable becomes imaginatively acceptable exceeds the capacities of an art devoted entirely to verisimilitude; some quality of the fantastic whether stylistic or descriptive, becomes an essential ingredient of l’univers concentrationnaire» (Langer, The Holocaust and the Literary Imagination, 43). Für Cynthia Haft muss die Rekonstruktion der Erfahrung des Holocaust zu einer Kreation des Mythos führen; dieser Gedanke wird aber wohl der linguistischen und literarischen Seite von Delbo nicht gerecht (vgl. Kingcaid, Charlotte Delbo, 103f.).
59 en avions le droit. Etre fidèles aux camarades que nous avons laissées là-bas, c’est tout ce qui nous reste. Oublier est impossible de toute manière ... Je ne suis pas vivante, je suis morte à Auschwitz et personne ne le voit» (Delbo, Le Convoi, 64ff.).
Verbunden mit der Erzählbarkeit des Geschehens ist die Frage der Mittelbarkeit an den Leser. Der Leser ist in Auschwitz et après Teil des Schreibprojekts und wird als zusätzliche Instanz der Erzählung eingesetzt, denn dieser ist fähig, die einzelnen Handlungsstränge zusammenzuführen. Die fragmentarische Erzählstruktur bei Delbo dient nicht nur dazu, das Leiden durch den Text zu symbolisieren, sondern auch dem Leser zu verdeutlichen, dass er nur aus einer distanzierten Position mitleiden darf und kann. Charlotte Delbos Ziel war es nicht, über die Lager aufzuklären oder zu informieren, sie hat vielmehr «une information plus haute,» angestrebt, «c’est à dire plus durable, celle qui ferait sentir la vérité de la tragédie.»49 Zwar wird dem Leser das Grauen vorgehalten, doch die Grenze zwischen Werk, Autor und Leser wird immer bewahrt (Auschwitz I, 137; 139; 170) – er soll Außenstehender bleiben. Gerade dadurch, dass durch Delbos verfremdete Sprache auch der Leser (wie der Schreiber auch) keine Katharsis erleben darf, erhält das Leiden letztendlich keine Sinngebung. Die Apostrophe an den Leser ist eindringlich («Essayez de regarder. Essayez pour voir» [Auschwitz I, 137, 139]; «Ne regardez pas, n’écoutez pas» [Auschwitz I, 170]).50 Es wird klar, dass Delbo kein Mitleiden oder Nachvollziehen zulässt. Hier zieht sie einen Vergleich aus dem Alltag heran: Il y a des gens qui disent: «J’ai soif. Ils entrent dans un café et ils commandent une bière» (Auschwitz II, 49). Es folgt eine Beschreibung des Durstes, den sie im KZ verspürte, ein Durst, der ihr die Sinne raubte, ihr beinahe den Verstand und ––––––– 49 50
Zitiert nach Klein, Literatur und Genozid, 78f. Dieser Zweifel an der Übermittlungsmöglichkeit der Geschehnisse wird auch in anderen Erinnerungsberichten durch die direkte Apostrophe an den Leser deutlich: Eine Zeitzeugin (Lucie Adelsberger) schreibt: «Könnt Ihr Euch vorstellen, was es heißt, vor jeder Post zu zittern, die dreimal am Tag kommt, in Erwartung einer Vorladung zur Gestapo oder des Schreibens vom Jüdischen Rat, der Dich laut seiner amtlichen Liste an dem oder dem Tag zur Evakuierung einlädt, Dich und Deinen Mann oder Deine Eltern oder Deinen Sohn, der Reihe nach jeden, dem Dein Herz gehört? Oder ahnt Ihr, was für ein Marterwerkzeug die Klingel sein kann, wenn man von morgens bis abends mit allen Fibern auf sie lauscht und ihre eingebildeten Schwingungen einen aus dem tiefsten Schlaf aufscheuchen, wenn die Hitler-Jungen schon beim Morgengrauen daran zerren, um Dich auf das Erscheinen der Gestapo vorzubereiten, und wenn es spät abends Sturm läutet und ein sadistischer Portier, der Deine Angstphasen kennt und frohlockend verfolgt, Dich um die Leiter bittet. Angst war das Leben der ‚politisch nicht zuverlässigen Elemente’ und der Juden überall da, wo Hitler seinen Fuß hinsetzte. Wer dieses Gehetztsein nicht mit allen überempfindlichen Rezeptoren gekostet hat, weiß nicht, was Angst ist. Angst ist der Vorraum zur Hölle» (Martin Stöhr: Erinnern, nicht vergessen. Zugänge zum Holocaust. München 1979, 69).
60 das Leben kostete. Somit beschämt sie den Leser und bestraft ihn beinahe, weil er den Versuch unternommen hat mitzuempfinden. Das Leiden in Auschwitz soll weder nachvollzogen noch instrumentalisiert werden. An einigen Stellen, an denen der Leser das Gefühl hat, die Grausamkeiten des Berichtes (vgl. Auschwitz I, 48) nicht mehr ertragen zu können, setzt Delbo ganz bewusst einen Schnitt: Dem Leser wird nicht länger die Anteilnahme gegönnt, zugleich zweifelt die Erzählerin an ihrem Schreiben. Die Erzählstimme ironisiert mitunter die Erwartungen des Lesers (Auschwitz I, 172), um das Geschehen nicht zu erhaben erscheinen zu lassen. In Mesure de nos jours wird eine andere Form der Aufarbeitung mit der Problematik von Erzählbarkeit und «l’histoire» und «des histoires» aufgezeigt: Marie-Louise erlebt ihre Erfahrungen nur noch auf der Ebene einer Geschichte. Sie liest wieder und wieder Bücher über die Deportation; sie verteilt Kopien ihrer Geschichten und in der Unterhaltung schmückt sie das Erlebte aus, um in ihre Geschichten einen dramatischen Effekt einzubauen. «‹Ne raconte pas à Charlotte qu‘au retour je mangeais les feuilles pourries› […]‹Tu ne les mangeais pas, mais si je ne t’avais pas retenue ... ›» (Auschwitz III, 90). 2.3.2 Sprache in der Erzählung – eine neue Sprachform Der Begrenztheit der Sprache, die nicht dafür geschaffen ist, die Ereignisse in den Konzentrationslagern adäquat beschreiben zu können,51 begegnet Delbo mit einer ihr eigenen Sprache. Charlotte Delbo ist eine der wenigen, die ein kompatibles Idiom für die Erfahrungen gefunden hat; anstelle von Charakterentwicklung stellt sie in Fragmenten die ausweglose Situation im Lager dar; der Rhythmus ihrer Sprache drückt die Agonie der Körper im tödlichen Kampf aus, es herrscht keine Differenzierung unter den Opfern; somit wird jegliche Heroisierung ausgeschlossen. Bei Charlotte Delbo wird die Sprache durch Fragmente und Bruchteile von Sätzen verfremdet und gewinnt eine zusätzliche Aussagekraft, z.B. schildert Delbo ihre Trauer nur in Satzfetzen und lässt somit nicht zu, daß ihre eigenen Gefühle in den Mittelpunkt rücken.
––––––– 51
«Dying is only one of the ideas that has been altered by the Holocaust. An entire literary vocabulary, which for generations furnished a sanctuary for motive and character, has been corrupted by that event» (Lawrence L. Langer: «The writer and the Holocaust experience.» In: Henry Friedlander [Hg]: The Holocaust: Ideology, bureaucracy, and genocide. New York 1980, 309–321, hier: 314).
61 «L’image de cette langue paradoxale, qui donne d’autant plus en partage qu’elle est au plus près de l’impartageable, s’impose à l’épreuve d’une inadéquation essentielle du langage constitué à la vérité des camps.»52
Die Verfremdung findet auch ihren Niederschlag in einer sehr rationalnüchternen Sprache. Nur durch einige wenige Adjektive lässt Delbo eine Wertung des Beschriebenen einfließen. Dieses verfremdete Erzählen könnte sowohl ein Indiz für den nüchternen Umgang der KZ-Insassen mit dem Grauen sein, um Abstand zu gewinnen und um zu überleben, als auch ein Hinweis wiederum an die Leser, dass das Leiden als «connaissance inutile» keine Sinngebung erfährt. Auch der Tod, der das Hauptthema darstellt, wird in einer Nüchternheit und in einer gänzlich unästhetisierten Art und Weise beschrieben («Cette fois-ci je vais claboter» [Auschwitz I, 172]). Ihre Zweifel gegenüber der Signifikanz des Wortes kompensiert sie durch eine Umkehrung der herkömmlichen Bedeutung, gibt den Sequenzen eine pervertierende und parodierende Bedeutung. Delbo zeigt drei Arten auf, das Grauen im Lager zu versinnbildlichen: durch Bezüge zur normalen Welt, durch Naturmetaphern und durch Vergleiche. Die meisten Überschriften suggerieren Normales, beinahe Banales, doch der Inhalt des nachfolgenden Kapitels ist erschütternd und verstörend: «Les Mannequins» beinhaltet die Entdeckung gestapelter Leichname (Auschwitz I, 28); die Kapitelüberschrift «Jusqu’à cinquante» zeigt die Zahl der Schläge an, die ein Häftling ertragen muss, wobei dieser Akt mit Teppichklopfen verglichen wird (Auschwitz I, 95); «L’ours en peluche» erinnert an die Deportation jüdischer Kinder (Auschwitz II, 79). Diese Ausdrücke dienen keineswegs der Verharmlosung, vielmehr versucht Delbo eine Verbindung zwischen ihren Erfahrungen und dem Vorstellungsvermögen der Leser aufzubauen, um ihnen umso deutlicher das Grauen zu zeigen. Die Kluft zwischen Auschwitz und der normalen Welt könnte nicht deutlicher dargestellt werden, doch gerade mit diesem Verfahren schafft Delbo die Vorstellungskraft des Lesers zu wecken, seine (beschränkten) Erfahrungen in Verbindung mit den Erfahrungen im KZ zu setzen. Häufig werden Metaphern aus der Tierwelt herangezogen, um die Mitinsaßinnen zu beschreiben (Auschwitz I, 74). Die Arbeitskolonnen beschreibt sie mit «Anneau par anneau, le camp jetait au jour ses entrailles de la nuit» (Auschwitz I, 74); die im gefrorenen Sumpf arbeitenden Frauen werden «insectes misérables et désarmés» (Auschwitz I, 76) genannt. Mensch und Insekt verschmelzen sogar («insectes aux yeux d’épouvante» [Auschwitz I, 74]). Eine Frau erscheint als «grenouille dépouillée» (Auschwitz I, 139). Die Köpfe der im Staub sitzenden Frauen gleichen ––––––– 52
Parrau, Ecrire les camps, 204.
62 «têtes de hiboux,» die Frauen selbst erinnern die Erzählerin an «des mouches sur un fumier» (Auschwitz I, 175; 178). Diese Entstellung des menschlichen Körpers durch die Beschreibung mit Tier-Metaphern ist eine Groteske, eine «comique terrifiant,» um die Schrecken des Lagers benennen zu können (Auschwitz I, 147). Charlotte Delbo wählt das Bild von Insekten, da hier die SS-Ideologie am deutlichsten gezeigt werden kann: Ziel war die Entindividualisierung und Entmenschlichung. Germaine Tillion wählt in Le Verfügbar aux enfers53 ebenfalls die Darstellung von Insekten für sich und für ihre Mitinsaßinnen: Die Idee, die der Operette zugrunde liegt, ist den «Verfügbaren» (selbst ein Teil der Gruppe von «Verfügbaren,» bilden Germaine Tillions persönliche Erfahrungen die Folie für die Operette) als neue tierische Spezies vorzustellen, die versucht, ganz der biologisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis entsprechend, sich gegen seine Umwelt durch verschiedene Anpassungsstrategien und gegen alle widrigen Umstände zu behaupten, um letztendlich seiner Arbeit zu entkommen. Die Wahl, die Spezies der «Verfügbaren» als Insekten zu kennzeichnen, konterkariert die SSIdeologie; die Arbeit im Kollektiv, in dem der Einzelne zum Arbeitsobjekt verkommt, wird hier ironisiert. Doch in der Operette wehren sich die «Verfügbaren» durch Witz und Widerstand. Wird in Le Verfügbar aux enfers das Grauen in Form einer Parodie der Opera buffa dargestellt, so bedient sich auch Delbo der Ironie, die falschen Pathos und jeglichen melodramatischen Effekt verhindert. Durch Ironie verstärkt Delbo die Distanz und den Bruch zwischen ihrer Vergangenheit und der Gegenwart des Lagers: Der Beschreibung des Durstes im Lager im Imperfekt folgt der lakonische Kommentar im Präsens, der keiner weiteren Erklärungen bedarf: «Il y a des gens qui disent: ‹J’ai soif.› Ils entrent dans un café et ils commandent une bière» (Auschwitz II, 49). Charlotte Delbo versucht ihre ausweglose Situation beim Appell mit einem Vergleich zu einer größeren Dimension sich selbst zu verdeutlichen: «ce n’est pas la fin de la nuit pour les étoiles glacées au ciel glacé» (Auschwitz I, 94). Doch der Mensch wird nicht nur mit der Natur verglichen, auch wird die Natur mit der Grausamkeit gleichgesetzt («Je ne regarde pas les étoiles. Elles sont coupants de froid. Je ne regarde pas les barbelés éclairés blanc dans la nuit. Ce sont des griffes de froid» [Auschwitz I, 104]) oder als feindlich angesehen («Un paysage qui ne répond pas» [Auschwitz I, 98]) und an anderer Stelle kontrastiert: Die Schönheit der Natur hilft, die Hoffnung nicht aufzugeben und weiterzuleben: «C’est le jour sur le marais où brillent ––––––– 53
Nähere Erläuterungen zur Operette siehe bei Charlotte Delbo das Unterkapitel «Heterotopien des Lagers – qu’il parlait bien, Alceste» (Germaine Tillion: Le Verfügbar aux enfers. Une opérette à Ravensbrück. Paris 2005).
63 de grands roseaux dorés» (Auschwitz I, 79); «Le soleil brillait [...] Le printemps chantait dans ma mémoire – dans ma mémoire» (Auschwitz I, 177). Ein Zusammenlaufen dieser konträren Deutungen der Natur stellt die Episode mit der Tulpe dar (Auschwitz I, 99): Die Tulpe wird zunächst als Symbol der Schönheit und Hoffnung angesehen, doch wird dies zerschlagen, denn die Tulpe steht im Haus eines SS-Mannes: «Les yeux brillent comme à une apparition. Vous avez vu ? Vous avez vu ? Une tulipe. Tous les regards se portent sur la fleur. Ici, dans le désert de glace et de neige, une tulipe. Rose entre deux feuilles pâles. [...] Tout le jour nous rêvons à la tulipe. [...] Quand nous avons appris que c’était la maison du SS qui commandait la pêcherie, nous avons hai notre souvenir et cette tendresse qu’ils n’avaient pas encore séchée en nous.»
Erstaunlich ist die Verwendung einer ästhetisierenden Metaphorik bei der Beschreibung von Leiden und Tod. Delbo schreibt über die sich bewegenden Finger eines Leichnams: «Les doigts se replient lentement, c’est la neige qui fleurit en une anémone de mer décolorée» (Auschwitz I, 32) und über die Hand einer Verzweifelten, die sich im Schnee vorwärtsbewegt: «La main retombe – une étoile mauve fanée sur la neige» (Auschwitz I, 42). Durch das Nebeneinander von Grauenhaftem und Schönem erregt sie die Aufmerksamkeit des Lesers auf die menschliche Seite der Millionen von Getöteten: nicht der Kadaver wird beschrieben, sondern ein kleiner Teil, die Augen, werden mit Zeichen der Vernichtung und Überresten von Schönheit illustriert («Un cadavre. L’œil gauche mangé par un rat. L’autre œil ouvert avec sa frange de cils» [Auschwitz I, 137]). Die lyrischen Sequenzen dienen zur Wiederholung und Verdichtung der Eindrücke und Erkenntnisse. «Ce n’est pas la fin de la nuit» (Auschwitz I, 93; 94), ein Satz, der immer wiederkehrt, betont die Intensivierung der beschriebenen Ereignisse und kulminiert in der Beschreibung vom Sterben im Krankenrevier. «Die lyrischen Passagen fassen Erinnerungen in Worte, die – im doppelten Sinn von Widerschein und Schönheit einen Abglanz des Schmerzes tragen.»54 2.3.3 Sprache im Lager Die Schwierigkeit bei der Wahl der Sprache besteht nicht nur darin, das Unaussprechliche zu beschreiben, sondern sie liegt auch darin, dass man kaum von einer Kommunikation im Lager sprechen kann. Das Wort wurde unter den SS-Schergen zum Zerstörungsinstrument und wurde oftmals genau konträr seiner Aussage verwendet. Kapos und Befehlsinhaber ––––––– 54
Klein, Literatur und Genozid, 89.
64 kommunizieren durch «hurlements,» nicht zu unterscheiden vom Heulen der Hunde. «Dans les camps nazis, la langue allemande elle-même se découvre défigurée par la violence et l’inhumanité dont les bourreaux la chargent»55 (essen wird zu fressen etc.). Das Deutsche wird von Delbo nicht übersetzt, es bleibt ein Code unverständlichen Horrors. Ziel der SS war auch die psychische Zerstörung der Gefangenen. Die deutsche Sprache zu können war ein Vorteil; die Gefangenen ihrerseits wurden sich schnell der Macht des Wortes und seiner intendierten Bedeutung bewusst. Für jene «femmes de toutes les langues» (Auschwitz I, 43), die die erste Selektion überlebten, begann mit dem Eintritt in das Lager eine neue Zeichenwelt: Neue Codes ersetzten die alten in einer bizarren Parodie der Bedeutung. Die Frauen erlebten diesen Zusammenbruch in einem fortschreitenden Prozess des Verlustes (des Entzugs), des Hungers, der Krankheit. Die notwendige Akzeptanz der Bedeutungsverschiebung bzw. des Zusammenbruchs der Sprache (über die Sprache des Lagers hinaus) degradiert diese noch mehr und lässt sie immer an die unüberbrückbare Distanz zwischen der Vergangenheit und der alptraumhaften Gegenwart denken.56 Die Frauen haben gelernt, die Zeichen des Todes an ihren Kameradinnen ablesen zu können («[...] la peau collée, aux maxillaires, la peau collée aux orbites, la peau collée aux pommettes» [Auschwitz II, 66]). «These then are among the dependable signs of the camps, signifiants whose signifiés only an extreme cruelty could have invented, but reliable signs nonetheless on which the women can count for meaning.»57 Wie beinahe alle Neuankömmlinge, verstehen auch die Frauen die deutschen Befehle nicht. Beim «L’appel» fügt Marie-Claude ihrer Übersetzung: «Mais il vaut mieux ne pas le dire» (Auschwitz I, 39) hinzu, als sie ein deutscher Offizier auffordert, jene sich melden zu lassen, die nicht mehr arbeiten können. Ihre Übersetzung (mit Zusatz) rettet einige Frauen (die sich unwissentlich freiwillig melden wollten) vor dem Exterminations-Block 25, mit Ausnahme einer Frau, die dem Offizier mehr Glauben schenkt als Marie-Claude. In der zweiten Episode («Weiter») bewegt sich eine Polin weit an die Grenzen des Arbeitsplatzes. Als sie vorsichtig fragt «Ici, est-ce permis?,» bekommt sie als Antwort nur ein «weiter,» bis sie über der Grenze erschossen wird «comme on fait d’un gibier» (Auschwitz I, 113). Bei Delbos Text existiert nicht nur das Problem der Erfahrung des Grauens, von Geschehnissen für die es keine verbale Repräsentation gibt, ––––––– 55 56 57
Parrau, Ecrire les camps, 201. Langes Haar bedeutet jetzt nicht mehr Schönheit, sondern ein Durchhalten in der Qual (bezüglich Vivas langer Haare: «Elle a tenu longtemps, celle-là,» Auschwitz II, 67). Kingcaid, Charlotte Delbo, 100.
65 sondern es ist vielmehr der Verlust des Glaubens in den Prozess der Bedeutung selbst. Der Zusammenbruch des gewohnten Zeichensystems lässt sich an einigen Beispielen zeigen: Bereits die Anfangssequenz, die aus Elementen des Reisens von Delbo zusammengesetzt ist, erweckt den Anschein einer bekannten Begebenheit, um dann aber die Realität der Deportation zu zeigen. Sowohl die Deportierten, als auch die Leser werden durch die Thematik des Ankommens und Abreisens in das neue Universum mit einem anderen Zeichensystem eingeführt. Die Diskrepanz zwischen der Erwartung (der Deportierten und des Lesers) und der Realität wird nach und nach aufgeblättert. Die Worte des Ankommens und Abreisens verlieren ihren herkömmlichen Sinn, werden gegenseitig austauschbar und werden zu Platzhaltern für den Tod: «Ceux-là qui arrivent sont justement ceux-là qui partent ... où ceux qui arrivent ne sont jamais arrivés, où ceux qui sont partis ne sont jamais revenus» (Auschwitz I, 9). Ankommen, Abreisen, Verschwinden, Sterben drücken alle das gleiche aus: Wer das Lager betritt, betritt die Hölle. Die Ankommenden reihen sich auf, nicht weil sie die deutschen Befehle verstehen, sondern weil sie den Schlägen folgen (müssen). Nachdem sie zu den «Duschen» getrieben wurden, schreibt Delbo: «Et peut-être alors tous comprennent-ils,» bei dem Moment, als sie ihr Schicksal erkennen; ein Teil des Erkennens besteht darin, dass sie sehen, dass sie kein sprachliches Mittel zur Verfügung haben, um das Grauen beschreiben zu können: «Et cela ne sert de rien qu’ils comprennent maintenant puisqu’ils ne peuvent le dire à ceux qui attendent sur le quai ...» (Auschwitz I, 17). Bereits hier zeigt Delbo ihre bevorzugte Technik des Vergleichs mit der normalen Welt und deutet mit der Verwendung des Bahnhofs den bevorstehenden Tod an: «Ils cherchent la plaque de la gare. C‘est une gare qui n’a pas de nom. Une gare qui pour eux n’aura jamais de nom. [...] Il y a une petite fille qui tient sa poupée sur son cœur, on asphyxie aussi les poupées. [...] C’est la plus grande gare du monde pour les arrivées et les departs» (Auschwitz I, 12; 16; 19).
Zugleich ist dieser Anfang den jüdischen Deportierten und dem jüdischen Volk gewidmet und betont damit zugleich das Unbegreifliche, Entsetzliche und Unvergleichliche der Vernichtung. Aus ganz Europa kommen jüdische Gefangene am Bahnhof von Auschwitz an (Auschwitz I, 12). Doch lässt Delbo nicht nur das Grauen und die Aussichtslosigkeit sprechen, auch widmet sie dem reichen kulturellen Hintergrund des jüdischen Volkes einige Zeilen. Langsam nähert sie sich den Ankommenden und zeigt die Diskrepanz zwischen ihrem früheren Leben und dem, was sie nun erwartet. Immer wieder kehrt sie schlaglichtartig zum Gedenken an das jüdische Volk zurück – der Musik, die einen großen Teil der jüdischen Kultur ausmacht, wird mit Hilfe des Orchesters von Auschwitz gedacht und einem
66 der größten jüdischen Geiger (Yehudi Menuhin). Der Gedanke kehrt konstant zurück, doch zugleich auch die Gewissheit, ihn nicht aushalten zu können: «Ne pensez pas à tous les Yehudis qui avaient emporté leur violon» (Auschwitz I, 171). Die Absurdität der Sprache im Lager und ihre neue Konnotation wird an weiteren Episoden verdeutlicht: Zunächst werden die Frauen aufgestellt, um zu arbeiten, werden dann aber bewegungslos stehen gelassen. Der Befehl zu rennen, ist so absurd, dass Charlotte Delbo bemerkt: « L’ordre se transmettait sans éveiller en nous aucune volonté de l’exécuter, aucune image de nous courant. Comme si on avait dit: «S’il pleut, ouvrez votre parapluie.» Aussi saugrenu» (Auschwitz I, 59). Natürlich hatten die Häftlinge keine Möglichkeit, einen Regenschirm aufzuspannen. Delbos Wahl einer Nonsensphrase in ihrer Rekonstruktion scheint damit den kontextuellen Bruch zu betonen, der aus einem «normalen» Zeichen in der Erfahrung des Lesers eine komplette Absurdität für die Protagonisten macht. Das «Il faudra courir» stellt sich ebenso als falsche Interpretation heraus wie auch die Annahme, dass gearbeitet werden soll: Das Laufen dient nicht zum Testen desselben, sondern um zu schauen, wie jung die Frauen aussehen und ob sie arbeiten können (Auschwitz I, 64f.). «Other signs, however, are less dependable, and it is here, in the experience of a Saussurean arbitrariness, deliberately pushed to extremes, that the signifying process, the prisoners‘ ability to couple reliably experience and its semiotic representation, irremediably breaks down.»58
Die Umkehrung der sprachlichen Codes beherrscht auch die Episode mit Lily, einer französischen Chemikerin und ihrem polnischen Verlobten. Der Vermittler ihrer illegalen Korrespondenz versteckt die Briefe extra nicht in der Tasche (denn diese wird als erstes untersucht), wird aber trotzdem entdeckt und geschlagen, um die Namen preiszugeben (obwohl die Briefe unterzeichnet sind) – ein Beispiel purer Grausamkeit. Sein Freund möchte ihm helfen, gesteht, dass er der Verlobte ist und beide Männer (mit Lily) werden umgebracht aufgrund illegaler politischer Aktivitäten, denn «pour la Gestapo, tout était code, et les mots d’amour traduisaient forcément des mots d’ordre politiques» (Auschwitz II, 78). Liebesworte, Poesie wird im Codesystem und dem Verständnis der SS zur illegalen politischen Aktivität.
––––––– 58
Kingcaid, Charlotte Delbo, 101.
67 2.3.4 Nicht-Referentialität der Sprache – «Les mots n’ont pas le même sens ...» «Ces mots qui ne seraient plus des ‹mots libres,› qui seraient les mots de l’enfermement absolu, comment pourraient-ils constituer autre chose qu’une langue étrangère et intraduisible?»59 Ähnlich wie Primo Levi spricht Charlotte Delbo von einem Mittel der Nicht-Kommunikation, die die Sprache aufgrund der Lagererfahrung geworden ist: «Les mots n’ont pas le même sens ...» (Auschwitz III, 60ff.). Es entsteht eine doppelte Bedeutungsumwandlung: Die Sprache aus der normalen Welt vor der Inhaftierung verändert sich im Lager. Nach der Gefangenschaft, zurück im normalen Leben, hat sich die Sprache durch die Erlebnisse im Lager nochmals verändert. Alltägliche Begriffe und Handlungen aus der normalen Welt haben im Lager eine andere Bedeutung erhalten. Zurück im normalen Leben bringen die Überlebenden die Bedeutung der Wörter im Lager mit ins Leben hinein und scheitern an ihrem, dem Umfeld nicht zu vermittelnden Verständnis der Wörter. Delbos Werk ist nicht als Antwort auf die Frage der Darstellbarkeit zu lesen. Wie Renée A. Kingcaid in ihrem Aufsatz darstellt, geht es ihr vielmehr darum, die Nicht-Referentialität der Sprache nach Auschwitz in den Gemeinplätzen des sozialen Diskurses aufzuzeigen. «The substantial time interval separating the memoirs from the events they recount suggests, rather, that for Delbo as for other Holocaust writers, the experience of atrocity has rendered language suspect, if not entirely meaningless.»60
Genau so wie Delbo die Diskrepanz zwischen den Erfahrungen des Lebens vor dem Lager und den Erfahrungen im Lager durch die Verwendung von Begriffen aus der normalen Welt aufgezeigt hat, so ist jetzt auch die Diskrepanz zwischen der Sprache im Lager (und den zugefügten Bedeutungen) und der Sprache in der Gegenwart groß. Die Bedeutung der Worte wie «faim» und «soif» haben für die Überlebenden eine andere semantische Konnotation, als sie diese in der gängigen Sprache haben. «Les mots n’ont pas le même sens ... Ils [die Menschen, Anmerkung der Verf.] disent: j’ai peur, j’ai froid, j’ai soif, j’ai sommeil, j’ai mal, comme si ces mots-là n’avaient pas le moindre poids ... Comment être avec eux quand on ne porte que des mots lourds, lourds, lourds? J’ai des images derrière les yeux...» (Auschwitz III, 60f.).
Für Mado, einer Überlebenden, die nach 20 Jahren berichtet, wie auch für ihre Kameradinnen haben die außergewöhnlichen Bedingungen der Lager neue und unkommunizierbare Signifikanten geschaffen, die die Über––––––– 59 60
Parrau, Ecrire les camps, 205. Kingcaid, Charlotte Delbo, 98.
68 lebenden von all jenen isoliert, die nicht diese Referenten (im Kontext des Lagers) erlebt haben. Mado sieht sofort Bilder (von Auschwitz), die nicht mit dem Alltagswörtern vereinbar sind («Angst,» «Hunger,» «Schmerz» und auch «Freunde» haben in Auschwitz andere Konnotationen). Die Macht des Wortes, das in Auschwitz seine Bedeutung verändert hat, geht also so weit, dass sich die Zeugen nicht mehr verständlich machen können – ein Hinweis darauf, dass den Opfern sogar die Möglichkeit zur Kommunikation (zur Zeugenschaft) von den Tätern genommen wurde. Somit steht nicht nur die Erfahrung zwischen den Überlebenden und dem Rest der Welt, auch spiegelt die Sprache die «Sprachlosigkeit» und die Schwierigkeit der Kommunikation, der Vermittlung der Ereignisse wider. Zwar haben fast alle Überlebenden die Gesten und Worte des normalen Lebens sich wieder angeeignet («Marcher, parler, répondre aux questions, dire où l’on veut aller, y aller. J’avais oublié» [Auschwitz III, 11]), doch leben sie außerhalb der Gesellschaft – sie sind abwesend in ihrer Anwesenheit. «C’est de l’amour qui nous aurait fallu / si nous étions revenus» (Auschwitz III, 69). Diese Liebe wird in allen Berichten gesucht, genauso wie alle beschreiben, dass sie der Liebe eigentlich nicht mehr fähig sind und von Kälte und Einsamkeit umfangen sind (Auschwitz III, 24). Das Projekt der Zeugenschaft wird in Frage gestellt, da sie keine Stimme mehr haben, Zeugnis abzulegen – die «parole suffoquée» wird nicht gehört und mitunter unterbunden. Mados radikales Misstrauen in die Alltagssprache ist für sie und die anderen Zurückgekehrten ein Zeichen der systematischen Entmenschlichung, die sie im Lager erfahren mussten. Von dieser Beobachtung des Zusammenbruchs der Zeichen aus gesehen, zieht Charlotte Delbo den Schluss in Auschwitz II mittels der Beschreibung des Durstes: «Il y a des gens qui disent, ‹J’ai soif.› Ils entrent dans un café et ils commandent une bière» (Auschwitz II, 49). Die Autorin ruft sich ins Gedächtnis, welchen Durst sie in Auschwitz hatte (ihre Zunge geschwollen wie «un bout de bois» [Auschwitz II, 43]). «The loss of speech through physical deprivation repeats the enforced semiotic deprivation, for discursive language is the first system to break down in the camps.»61 2.3.5 Poetische Bildersprache Auschwitz et après ist ein Werk, das die Schwierigkeit der Darstellung auch am Textbild festmacht. Delbo verändert die Struktur des Textes, benutzt Räumlichkeit (räumliche Semantik) in den lyrischen Passagen wie in der Prosa, um ihre Erfahrung dem Leser näher zu bringen und um damit eine ––––––– 61
Kingcaid, Charlotte Delbo, 99.
69 andere Form der Vermittlung des Grauens zu verwenden. Nicole Thatcher leitet Delbos poetische Bildersprache von Delbos Erfahrung aus dem Theater ab, vor allem ihr Bewusstsein für die Signifikanz der Räumlichkeit, der Körperlichkeit und des Sehens.62 Delbo benutzt poetische Prosa und freien Vers, um zur eigentlichen Bedeutung den Effekt der visuellen Anordnung auf der gedruckten Seite hinzuzufügen – diese Räumlichkeit bietet einen Kontrapunkt zur Theaterbühne. Besonders im ersten und zweiten Teil der Trilogie betont Delbo einzelne Wörter, Phrasen oder Sätze, indem sie sie typographisch auf die Seite setzt, und ihnen damit den Anschein von Versen gibt. Lawrence Langer hebt hervor, dass Delbo eine Sprache benutzt, die das Geschehen versteinert und ein flüssiges Dahingleiten nicht zulässt.63 «là-bas» wird von der Erzählerin häufig abgesetzt, um die Besonderheit, aber auch die Unerklärbarkeit von Auschwitz zu betonen: «[...] je suis encore là-bas et je meurs là-bas» (Auschwitz II, 183); «[...] parce que j’avais appris là-bas qu’on ne peut pas parler aux autres» (Auschwitz II, 188)
Inmitten der grauenhaften Umgebung des Lagers beginnt die Erinnerung der Erzählerin an den Frühling der normalen Welt – diese Erinnerung steht zwar im starken Kontrast zur Lagerrealität, dennoch hat der blaue Himmel keine heilende Wirkung auf sie, sondern verstärkt nur noch die Realität des Stacheldrahtzauns. Die letzten drei Phrasen zeigen die Wirklichkeit mit Nachdruck auf: ohne Interpunktion, ausschließlich Verneinungen in gleicher Satzkonstruktion aneinandergereiht, zeigen, dass hier kein Leben (vert, végétal, vivant) möglich ist, und geben damit in ihrer Typographie, Alliteration und Aussage zugleich die triste und verödete Landschaft wieder. «Au printemps, traverser le Luxembourg [...]. Au printemps, le merle de l’acacia sous la fenêtre se réveille avant l’aube. [...] Pourquoi avoir laissé à moi seulement la mémoire? [...]. Le ciel était d’un bleu si bleu sur les poteaux de ciment blancs et les barbelés blancs aussi, d’un bleu, si bleu que le réseau des fils électriques paraissait plus blanc, plus implacable. ici rien n’est vert
––––––– 62 63
Thatcher, A literary analysis, 119. Lawrence Langer: The age of atrocity. Death in modern literature. Boston 1978, 206.
70 ici rien n’est végétal ici rien n’est vivant. Loin au-delà des films, le printemps voltige, le printemps frissonne, le printemps chante» (Auschwitz I, 179f.).
Die Verschmelzung von Zeit und Raum wird in «Le jour» (Auschwitz I, 72) deutlich: Ein Arbeitstag im Lager wird beschrieben, wobei auf der letzen Seite als eine Art Zusammenfassung durch die Wiederholung «C’est le jour ...,» welches eingerückt steht, die Monotonie und die Konstanz der Anstrengung betont wird: «C’est le jour pour jusqu’à la fin du jour. La faim. La fièvre. La soif. C’est le jour pour jusqu’au soir. Les reins sont un bloc de douleur. C’est le jour pour jusqu’à la nuit [...] C’est le jour sur le marais où le soleil fait étinceler au loin des formes d’arbres dans leur suaire de givre» (Auschwitz I, 79).
Die Verwendung von einsilbigen französischen und deutschen Wörtern (in Verbindung mit Bindestrichen) versinnbildlicht zum einen die Reduzierung der deutschen Sprache im KZ auf die Befehlsgewalt, zum anderen visualisiert der Text die atemlose Anstrengung der Häftlinge (deren Gedankengang das Textbild widerspiegeln könnte) und die unsinnige Tätigkeit, die immer automatisierter wird und schließlich nur noch mechanisch mit letzter Kraft ausgeführt wird: «Courir. Vider le tablier à l’endroit qu’indiquent les hurlements. [...] Courir. Longer les barbelés. [...] Courir. Schneller. Courir» (Auschwitz I, 145).
Und schließlich wird die Steigerung der Kraftanstrengung auch im Textbild versinnbildlicht: «Nos jambes enflent. Nos traits se crispent. A chaque tour nous sommes plus défaites. Courir – schnell – la porte – schnell – la planche – schnell – vider la terre – schnell – barbelés – schnell – la porte – schnell – courir – tablier – courir – courir courir courir schnell schnell schnell schnell. C’est une course hallucinée» (Auschwitz I, 150).
Die Dauer der Schläge, die ein Häftling aushalten muss, die er selbst «Jusqu’à cinquante» (Auschwitz I, 95) zu zählen hat, werden im Text durch eingerückte einzelne Absätze versinnbildlicht: «Vier. Fünf. Sa voix faiblit. Sechs. Sieben.
71 Acht. Nous ne l’entendons plus. Mais il compte toujours. Il faut qu’il compte jusqu’à cinquante» (Auschwitz I, 95).
Leerzeichen oder Ellipsen64 grenzen die narrativen Sequenzen ab und vermitteln auf visuelle Weise die Schwierigkeit der Darstellung. Der Satz «Aucun de nous ne reviendra» (Auschwitz I, 182) auf der zweitletzten Seite des ersten Bandes korrespondiert mit «Aucun de nous n’aurait dû revenir» auf der letzten Seite nicht nur durch die ähnliche Konstruktion der Sätze (das Futur wird in einen Konjunktiv transferiert) und der inhaltlichen Weiterführung bzw. Interpretation, sondern auch durch die Anordnung: «Aucun de nous ne reviendra» steht etwas abgesetzt zum oben verlaufenden Text und bezieht sich deutlich nochmals auf den Buchtitel. Auf der gleichen Höhe auf der nächsten Seite steht nun der Kommentar zu diesem Satz und zum gesamten Buch, ein Fazit, bzw. eine desillusionierende Abrundung des Ganzen. Eine leere Seite kann auch die Ratlosigkeit der Erzählerin verdeutlichen, die den Verlust einer geliebten Person nicht in Worte fassen kann und die als Epigramm gelesen werden kann. Ganz oben auf der Seite stehen nur die nachfolgenden Linien: «Et toi Viva et moi Charlotte dans pas longtemps nous serons mortes nous qui n’avons plus rien de bien» (Auschwitz I, 51).
Ratlosigkeit zeichnet auch die folgenden Zeilen aus: «Je ne sais pas si vous pouvez faire encore quelque chose de moi Si vous avez le courage d’essayer» (Auschwitz III, 212).
Und an anderer Stelle in der gleichen typographischen Aufmachung im Versmaß heißt es über den Mann der Erzählerin: «D’amour et de douleur Il s’est tari mon cœur De douleur et d’amour A séché jour à jour» (Auschwitz I, 26).
Leerstellen können auch zwischen dem Text und den Zeilen auf einer Seite sein. Beispielsweise als Verdichtung der Topographie (vgl. Auschwitz I, ––––––– 64
Vgl. Genette, Erzählung, 76ff.: «Vom zeitlichen Gesichtspunkt aus läuft die Analyse der Ellipsen auf eine Betrachtung der ausgesparten Zeit der Geschichte hinaus, und die erste Frage, die sich hier stellt, ob diese Zeitspanne angegeben wird (bestimmte Ellipsen) oder nicht (unbestimmte Ellipsen) [...].»
72 25), um die Verlassenheit und Leere zu versinnbildlichen, aber auch um eine ganz persönliche Referenz zu verdeutlichen: «Ma mère C’était des mains un visage Ils ont mis nos mères nues devant nous Ici les mères ne sont plus mères à leurs enfants» (Auschwitz I, 23).
In der lyrischen Passage werden durch die Anordnung und Wiederholung die zentrale Stellung der Mutter und die sensitive Beziehung zum Kind durch Körperlichkeit verdeutlicht. Die abgesetzte Phrase ist nicht nur eine Erweiterung des Blickwinkels (von «ma mère» und «nos mères» zu «les mères»), sondern die Zwischenzeile scheint Symbol für ein Sich-fassen, eine Überlegung der Erzählerin zu sein, um damit in einem allgemeineren Satz schließen zu können. Einen Zusammenschluss von freien Zeilen, einer Isolierung und Leerzeilen bzw. Leerräumen65 sieht man beispielsweise in der abgesetzten Zeile «Essayez de regarder. Essayez pour voir» (Auschwitz I, 137ff.), die sich auf den darauffolgenden Seiten wiederholt. Der Gebrauch einer Einzelzeile innerhalb der Prosa sieht man v.a. im ersten Teil der Trilogie. Die abgesetzten Zeilen beginnen nach einem Viertel der Seite und zeigen schlaglichtartig grauenhafte Szenen aus dem Lager: einen Kadaver, dessen linkes Auge von einer Ratte gegessen wurde; einen Mann, an dem sich ein Hund festgebissen hat; eine völlig entkräftete Jüdin, die zur Extermination geschleppt wird. Die Beschreibung innerhalb der Texte ist knapp und erhält seine Intensität vor allem durch Vergleiche, die sich implizit bereits an die Vorstellungskraft des Lesers richten: «[...] Le sang marque les rayures du pantalon. De l’intérieur, une tache qui s’élargit comme sur du buvard. L’homme marche avec les crocs du chien dans la chair. Essayez de regarder» (Auschwitz I, 138). «Une grenouille dépouillée. [...] Elle hurle. Les genoux s’arrachent sur les cailloux. Essayez de regarder. Essayez pour voir» (Auschwitz I, 139).
––––––– 65
Bei Federman und Perec wirkt gerade die Auslassung der Orte (als Leerstelle existieren sie im Text): hier wird die Verfolgung, Vernichtung, aber auch das Vergessen, Verdrängen und das Unaussprechbare ohne die dazugehörigen Räume markiert und u.a. durch leere Seiten oder Leerzeichen gekennzeichnet (vgl. Perec, W ou le souvenir und Raymond Federman: Die Stimme im Schrank / La voix dans le cabinet de débarras / The voice in the closet. Hamburg 1989).
73 Die abgesetzte Zeile richtet sich nun explizit an den Leser, der nicht nur sehen, sondern auch begreifen soll. Die Aufforderung zum Sehen wird durch die abgesetzte Zeile noch verstärkt. Somit zeigt die Wirkung des Textbildes und die sichtbare Beziehung zwischen den Wörtern auf der Seite den Ausdruck der schrecklichsten Erfahrung und tiefer Emotionen. Räumlichkeit wird auch durch die Beziehung zwischen Phrasen bzw. Wörtern hergestellt: «Le matin [..] Le soir [...] La nuit [...] Le jour [...] L’hiver [...] L’été» (Auschwitz I, 11f.) sind jeweils am Zeilenanfang eingerückt und fordern genauere Aufmerksamkeit des Lesers, der damit die beschwerliche Reise unterteilen und die schnelle Bewegung des Zuges, Ankunft und Abfahrt nachvollziehen soll; zugleich suggerieren sie Zeitlichkeit, die die umfassende Organisation des Exterminationsprozesses einfängt. Thatcher schlägt hier wieder einen Bogen zum Theater: «Although the words on the page have a spatial relationship, in this case one of symmetry and contrast, their semantic aspect also connects them to the temporal dimension, common to narrative prose and theatre.»66
Ein anderes Beispiel für die Verbindung von rhetorischen Mitteln und dem daraus resultierenden Gefühl des Theaterraums ist die allgemeine Reflexion über Ankunft und Abfahrt zu Beginn von Aucun de nous ne reviendra: Die Paragraphen, die typographisch abgesetzt sind, werden durch Leerzeichen voneinander getrennt. Durch die fehlenden Kommata zeigt die IchErzählerin ihre Unsicherheit, ob sie die «richtige» Sprache wählen kann, um zu erzählen. Der erste und der sechste Paragraph werden durch die Wiederholung von «il y a» zu Anfang einiger Zeilen verbunden; doch während die vielen «il y a» der ersten Sektion «les gens» vorstellen, also die anonyme Masse, folgen den «il y a» der sechsten Sektion erklärende Details über eine Masse von Reisenden verschiedener Nationalitäten, Länder in individuellen Situationen etc. Somit werden zwei Szenen durch Symmetrie und durch Komplementarität in Beziehung zueinander gesetzt. Die Wiederholung von «il y a» in Verbindung mit dem kontinuierlichen Gebrauch von «ils,» das durch die Typographie (eingerückt und meist ohne Interpunktion) betont wird, suggeriert eine unbeschreibbare Masse von Menschen und beschwört einen großen Ort herauf, an dem Menschen ankommen und abfahren. Somit gelingt es Delbo (durch beinahe filmische Mittel) die erzwungene Zusammenkunft der Juden in Auschwitz zu visualisieren. Die folgenden visuellen Strukturen reflektieren in ihrer Antithese die Gewalt, die dem Tod vorausgeht. Die zweite bis fünfte Sektion beschreiben die chaotische Ankunft, während die siebte bis neunte bereits einen Einblick in den hierarchisierten Alltag («Par cinq [...] Ils ––––––– 66
Thatcher, A literary analysis, 134.
74 marchent bien en ordre» [Auschwitz I, 16]) und den organisierten Tod geben. «This antithetic parallelism creates a spatialised narrative in a way similar to the various settings or lighting structures on stage.»67 Tatsächlich erinnert diese Szene ganz besonders an die Deportationsszenen aus Nuit et Brouillard. Die räumliche Dimension bringt hier wieder dem Leser die Hauptaussage nah: «Avec les enfants et les femmes les vieux parents Avec les souvenirs de famille et les papiers de famille Ils ne savent pas qu’à cette gare-là on n’arrive pas» (Auschwitz I, 10).
2.4
Das Lager – «un monde à part» – «je suis encore là-bas»
2.4.1 Beschreibung des Lagers (mit Bezug auf Béatrix de ToulouseLautrec, J’ai eu vingt ans à Ravensbrück) In den Texten der ersten Generation ist der Zeitraum meist auf die Gefangenschaft begrenzt, die alle andere Zeit vernichtet. Überschreitungen sowie Bezugnahmen auf Folgeereignisse oder gar Schreibgegenwart sind sehr selten. Es gibt nur eine einzige Raumart bzw. das Lager wird durch andere Orte erweitert, doch sind diese auch Räume der Gefangenschaft (Sammellager, Zug, Konzentrationslager) und können somit als ein Handlungsraum gelesen werden.68 Delbos Text hingegen zeigt ein bewegliches Raum- und Zeitgefüge, sie verknüpft verschiedene Erinnerungsebenen, stellt ihr eigenes Schreibprojekt in Frage und reflektiert über Geschehenes und Geschriebenes. Bei Delbo soll die Beschreibung des Lagers und seiner Raum- und Zeitstrukturen in Verbindung zur weiblichen Identität im Konzentrationslager aufgezeigt werden. Auschwitz et après ist vor allem ein großartiges Beispiel für Frauensolidarität und für die Suche nach einem Aufbau familiärer Strukturen im Raum der Gefangenschaft: Nicht nur wiederholt Charlotte Delbo mehrfach, dass sie es allein ihren Kameradinnen zu verdanken hat, überlebt zu haben, auch vergleicht sie Fürsorge und Hilfe ihrer engsten Freundin mit der Zuneigung und Sorge einer Mutter. Hier entstehen nicht nur Strukturen, die an die Familie erinnern, sondern die Kameradin tritt sogar an die Stelle der Mutter. Vergleichend soll an einigen Stellen Béatrix de Toulouse-Lautrecs biogra-
––––––– 67 68
Thatcher, A literary analysis, 133. Vgl. hierzu auch Eichenberg, Zwischen Erfahrung und Erfindung, 20ff.
75 phischer Bericht J’ai eu vingt ans à Ravensbrück69 herangezogen werden, der das Leben von Mutter und Tochter während der Gefangenschaft in Montluc und im KZ Ravensbrück beleuchtet und somit einen Erhalt eines Teils der familiären Struktur zeigt. Delbo nennt zwar die Komponenten eines Lagers (Schornsteine, Gaskammern, Stacheldraht, den Krankenblock etc.), beschreibt sie aber nicht detailliert und setzt sie immer in Verbindung zum (aktuellen) Geschehen. Der Block, in dem sie und ihre Freundinnen untergebracht waren, wird häufiger genannt. Auch über die Arbeitsstelle wird nicht viel berichtet, vielmehr über den Weg dorthin (vgl. Auschwitz I, 140); präzise Details werden nur in Verbindung zu bestimmten Episoden gegeben, wie etwa die Tulpe im Haus eines SS-Mannes und das Haus des Kommandanten, dessen Garten genau beschrieben wird. Beide Episoden stehen als Sinnbild für die (Gefühls-)Welt der Häftlinge. Auf der Suche nach Wasser, um ihren großen Durst zu löschen, wird zwar die Umgebung genau beschrieben, doch die Episode dient vor allem zur Illustrierung der Erschöpfung der Erzählerin (Auschwitz I, 114ff). Das Bild, das uns die Erzählerin von Auschwitz gibt, ist allgemein gehalten, erzählt nicht von einem konkreten Ort, ist ein anderer Planet. In den Textstellen über das Lager sind Erzähler und erzähltes Ich im erzählten Raum und in der Narration gefangen. Ziel der Lagerstruktur ist es, das Individuum in seinem Eigenraum zu zerstören, den Raum als Handlungs- und Lebensraum zu unterbinden. Grenzerhaltung (verschiedene Grenzen menschlicher und ––––––– 69
Béatrix de Toulouse-Lautrec und ihre Mutter wurden von der Gestapo im Juni 1944 in Lyon in Haft genommen, dann in Montluc interniert und schließlich nach Ravensbrück deportiert, wo sie im April 1945 befreit wurden. Die Autorin, die 1944 20 Jahre alt war, schrieb ihre Erlebnisse bereits 1946 auf, um sich ein Stück weit von ihnen zu befreien, jedoch ohne die Intention, sie jemals zu veröffentlichen. Doch seit 1948 war das anonyme Manuskript im Umlauf (das nur mit der Bezeichnung «matricule 75537» gekennzeichnet war) und wurde erst 1981 veröffentlicht. Dieses Dokument zeichnet sich durch einen klaren Stil aus und ist eine bewegende und schmucklose Beschreibung des unmenschlichen Grauens. Béatrix de Toulouse-Lautrec beschwört, ohne zu philosophieren zu versuchen, die Qualen des Gefängnislebens herauf, die Todesangst, aber auch die Hoffnung und die kleinen Freuden, die sich oftmals aus einem Nichts ergaben und das Grauen erträglicher machten. Diesen Episoden gehen einzelne Szenen mit der Vorstellung ihrer Mitinhaftierten und deren Schicksalen und Dialoge voran, die voller Spontaneität, Emotionen, Liebe und Einfachheit sind. Ihr primäres Ziel ist nicht Zeugenschaft abzulegen, sie versucht vielmehr, ihre Gefühle und die Atmosphäre in Montluc und Ravensbrück zu vermitteln. «Vous qui lirez ceci, vous connaissez, déjà le camp de Ravensbrück. [...] Toutes ces choses incroyables, et pourtant vraies, les camarades vous les ont racontées, sous diverses formes. Et je ne veux pas insister sur ce côté tragique. Je veux rappeler à nos camarades qui ont lutté avec moi et qui ont retrouvé leur vie normale et leur équilibre, que nous n’avons pas versé que des larmes, mais que nous avons aussi eu de bons moments» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 127).
76 technischer Art verhindern das Entkommen der Opfer), aber auch Grenzüberschreitung (keine Individualität aufgrund von unerträglicher Nähe) kollidieren und machen das Leben im Lager unerträglich. Das Wechselverhältnis von Raum und Mensch existiert im Lager nicht mehr, da der Mensch keinen Handlungs- und Lebensraum mehr hat, er ist vielmehr nur noch Objekt im Raum. «Nous sommes des êtres soumis à d’autres lois que celles des hommes, dans un monde qui n’a rien de commun avec celui que nous venons de quitter» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 144). Die Entindividualisierung und auch Entmenschlichung thematisiert Béatrix de Toulouse Lautrec am Beispiel des Appells: «Sur ces figures émaciées qui se succèdent, on lit la faim, la haine, la peur. La dureté de leurs traits me surprend et aussi une façon très particulière de marcher, avec une brutale lordeur. Quelques semaines après, je marchais ainsi. La souffrance ne rend pas bon» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 136).
Da die Arbeitszeit von unerbittlicher Dauer und Monotonie (ohne Zäsuren) war und die Häftlinge keine Uhr tragen durften, mussten diese, wollten sie noch wachen Geistes bleiben, eine «innere Gegenzeit»70 entwickeln, d.h. sie konstruierten sich individuell Phasen und Strecken, sodass sie die Orientierung hatten, wieviel Zeit sie bereits abgearbeitet hatten.71 Der erste Kontakt mit dem Lager zeigt bei Charlotte Delbo und Béatrix de ToulouseLautrec bereits die furchteinflößende Ordnung von Raum und Zeit im Lager. «Der Terror prägt sich dem Raum auf und verwandelt ihn zum Medium seiner selbst.»72 «Devant nous se dresse une muraille noire: […] ça, c’est le Frauenkonzentrationslager. [...] la prison sévère et des murs hauts et noirs du camp de Ravensbrück. Pour ma part, j’ai souffert là, plus qu’ailleurs, de la psychose des barbelés» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 127; 179f.).
Schon beim Einmarsch ins Lager werden die Häftlinge gleichgeschaltet, müssen völligen Gehorsam leisten und sich unterwerfen; der unbeschreibliche Hunger (der eine wichtige Komponente in der KZLiteratur einnimmt) und der Verlust des Zeitgefühls beherrschen von Anfang bis Ende das Lagerleben («Nous avons perdu la notion du temps» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 129]). Charlotte Delbo beginnt ihre Trilogie mit dem Bild des Bahnhofs, als Symbol der Ankunft und Abfahrt und stellt diesen gewöhnlichen Bahnhof dem «Bahnhof» in Auschwitz, an dem es keine Abfahrt gibt, gegenüber. Damit charakterisiert sie die Ankunft ––––––– 70 71 72
Sofsky, Terror, 93. Das Aufsagen von Telefonnummern diente als Ablenkung und zur Stärkung des Geistes. Sofsky, Terror, 61.
77 in Auschwitz, die an die grauenhafte und einzigartige Selektion gebunden war. Der erste Teil der Trilogie, der keine Situierung des Geschehens beinhaltet, verstärkt den Eindruck der Orientierungslosigkeit der Deportierten. Auch der Leser weiß nicht, wo er sich befindet, der Bahnhof könnte überall sein. Erst auf Seite 140 wird zum ersten Mal der Name Auschwitz genannt. Zeit im Lager war eine kontinuierliche Gegenwart, die zu keiner Zukunft führte, außer der Wiederholung der Gegenwart bis zum Tod. Sie unterscheidet sich grundlegend vom Zeitverlauf im normalen Leben;73 die veränderte Situation lässt die Häftlinge die Zeit als statische Komponente (unbeweglich und langsam) erleben, was Delbo durch verschiedene erzählerische Strategien ausdrückt, besonders durch Wiederholungen, die Fokussierung auf kleinste Bewegungen oder Kommentare («Quoi est plus long qu’une journée? A quoi peut-on savoir qu’elle s’écoule?» [Auschwitz I, 78]; «C’est le jour pour jusqu’au soir. [...] C’est le jour pour jusqu’à la nuit. [...] C’est le jour pour toute une éternité» [Auschwitz I, 79]). Um ihrem Leben im Lager eine Struktur (und auch einen Sinn, nämlich den der [nachfolgenden] Zeugenschaft) zu geben und um sich ein gewisses Maß an Zivilisation erhalten zu können, stellen die Häftlinge ihre «eigene» Zeitrechnung auf. Bezeichnenderweise gilt der Tod als Zeitmaß für ihre Rechnung: «Nous voulions toujours être en mesure de dire: ‹Une telle est morte le ... quand on nous le demanderait si jamais nous revenions» (Auschwitz II, 57). Tod und Leben sind durch das Erlebnis Auschwitz aufs Engste miteinander verbunden. «La mort est, par définition, rupture du continuum temporel.»74 Die Zeit scheint vor allem dann endlos, wenn extremes Leiden beschrieben wird. Der wiederkehrende Rhythmus von Dauer und Plötzlichkeit zerstört letztlich das Zeitgefühl.75 Innerhalb Delbos Erzählung gibt es zwar Angaben über Zeit durch Jahreszahlen, Jahreszeiten oder auch über Tageszeiten, wenn es für den Handlungsablauf entscheidend ist (vgl. Kapitel Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien). Hierbei gelten sie eher als Rekonstruktionsmittel für die Erzählerin, denn als bewußt wahrgenommene Einteilungskriterien des monotonen Tages. Auf ––––––– 73 74 75
Vgl. Sofsky, Terror, 90f. Ruszniewski-Dahan, Romanciers de la Shoah, 67. Der Tagesablauf gehorchte einem stetig wiederkehrenden Schema: Appell; Aufstellen der Arbeitskolonnen; Grußritual am Lagertor; Marsch zur Arbeitsstelle; Arbeitszeit. Die Anpassung der Arbeitszeit an das Tageslicht war das einzige Zugeständnis, das das Regime an die natürliche Zeit machte. Nach dem Ende der Arbeit wiederholte sich der Rhythmus des Morgens in umgekehrter Reihenfolge; abendlicher Zählappell; «Freizeit» (vgl. Sofsky, Terror, 90ff.).
78 erzähltechnischer Ebene im Kontext der narrativen Frequenz76 gelten die iterative77 oder repetitive78 und singulative79 Erzählweise als weitere Verfahren, die verschiedenen Bereiche des Lagerlebens mit der Monotonie des Alltags für die Häftlinge, die durch die plötzlichen Übergriffe von Seiten der SS unterbrochen werden kann, zu verdeutlichen. Wiederholung erzeugt auch den Eindruck von nicht enden wollender Zeit und Monotonie: «Il faut marcher. Vous marchez. [...] Vous marchez. Vous marchez sur la route lisse comme un patinoire. [...] Vous marchez. Vous marchez vers les marais [...]. Vous marchez sans rien voir [...]. Vous marchez. Vous marchez dans la plaine couverte de marais» (Auschwitz I, 73). Dieses Beispiel vereint den räumlichen und zeitlichen Aspekt. Diese repetitive Erzählweise steht im Kontrast zur singulativen Erzählweise, in der die Datumsangaben geschrieben sind, die den Weg der Befreiung nachzeichnen (Auschwitz II, 152; 154). Auch im Kleinen war der Raum durchstrukturiert. Die Beschreibung des Blocks (Auschwitz I, 100) ist kurz gefasst, wobei als Detail das Fenster auffällt, durch das die Erzählerin (und somit der Leser) die anderen Häftlinge sieht (Auschwitz I, 28). Die räumliche Ordnung der Quartiere war eine inkorporierte Klassenordnung (von Holzbaracken bis zum Prominentenlager). Zonierung und Segmentierung, kollektive Klausur und fortwährende Grenzkontrolle, geregelte Fortbewegung und Regungslosigkeit, Privilegierung (Platz war Privileg) und Verdichtung, dies sind die strategischen Verfahren der Raumordnung.80 Charlotte Delbo greift diesen Gedanken auf und wählt eine Beschreibung, die die Frauenkörper beim Schlafen beinahe zu einem werden lassen: ––––––– 76
77
78
79
80
Narrative Frequenz bedeutet die Frequenz- oder einfacher die Wiederholungsbeziehungen zwischen Erzählung und Diegese. Ein Ereignis kann nicht nur eintreten, es kann erneut oder wiederholt eintreten (vgl. Genette, Erzählung, 81). Entsprechend wird eine narrative Aussage nicht bloß produziert, sie kann auch reproduziert, ein oder mehrere Male im selben Text wiederholt werden. Einmal (ein einziges Mal) erzählen, was sich n-mal zugetragen hat (iterative Erzählung). Eine einzige Aussage fasst mehrere Fälle desselben Ereignisses zusammen (d.h. mehrere Ereignisse, die nur nach Maßgabe ihrer Ähnlichkeit betrachtet werden; vgl. Genette, Erzählung, 83). Das iterative Erzählen versinnbildlicht die Monotonie, Zeitlosigkeit und Gleichförmigkeit im Lager. N-mal erzählen, was sich einmal zugetragen hat (repetitive Erzählung); Wiederkehr der Aussage liegt kein wiederholtes Geschehen zugrunde; Mehrfachschilderungen (vgl. Genette, Erzählung, 82f.). Einmal erzählen, was sich einmal zugetragen hat (singulative/singuläre Erzählung); Singularität der narrativen Aussage entspricht der Singularität des erzählten Ereignisses (vgl. Genette, Erzählung, 82). Vgl. Sofsky, Terror, 87.
79 «C’est un enchevêtrement de corps, une mêlée de bras et de jambes et, quand enfin nous croyons atteindre à quelque chose de solide, c’est que nous cognons contre les planches où nous dormons et tout s’évanouit dans l’ombre où bougent cette jambe qui est celle de Lulu, ce bras qui est d’Yvonne, cette tête sur ma poitrine qui m’oppresse, c’est la tête de Viva [...]» (Auschwitz I, 89).
Diese räumliche Beschreibung ist zugleich auch eine Illustration der Gefühlswelt der Erzählerin. Sie fühlt sich eins mit den Kameradinnen. Diese Brücke zwischen räumlicher und emotionaler Dimension, die in Il portiere di notte noch ausführlich behandelt werden wird, lässt sich auch an einem anderen Beispiel der Trilogie festmachen: In der französischen Gefängniszelle benutzt Delbo die räumliche Situierung, aber ohne Details zu nennen, um die Emotionen der Frauen (Ohnmacht und Angst, Verlust) zu vermitteln (Auschwitz II, 27f.); später im zweiten Teil, als die Frauen ihre Lage klarer sehen, verwendet Delbo auch mehr räumliche Hinweise (die Struktur von «La Santé» wird genannt [Auschwitz II, 28]); der Garten in Raisko beschrieben, allerdings ist der bedrohliche Ort noch in Sichtweite: «Nous étions loin du camps, nous n’en sentions plus l’odeur. Nous ne voyions que la fumée qui montait des fours crématoires» [Auschwitz II, 74]). Im zweiten Teil der Trilogie wird die Reise nach Ravensbrück sogar genau situiert durch die Nennung der Städte – dies dient zum einen als «landmarks for the reader to follow the detainees journey,»81 aber vermutlich noch entscheidender um Delbos physischen Zustand zu verdeutlichen. Sie ist wieder so gesund, dass sie die Reise aktiv miterleben kann. Die bloße Evozierung des Raumes verarbeitet Delbo in Qui rapportera ces paroles?82, einem Theaterstück, das das Lagerleben von 23 Frauen als dramatis personae zeigt; die Inszenierung beschränkt sich darauf, die Frauen zu zeigen, wie sie nebeneinander liegen, sich gegenseitig wärmen – trotzdem weiß der Zuschauer, dass sie sich innerhalb des Lagers befinden. «No clear difference is made between inner and outer space since all physical space is that of imprisonment.»83 Hier spielt Delbo noch expliziter mit dem Wissen des Zuschauers, der den Stacheldraht, die Hunde, die SSMänner nicht sieht und trotzdem weiß, was geschieht – die Frauen erzählen es, ihre Augen sind groß vor Grauen, sie flüstern. Die Bewegung der
––––––– 81 82 83
Thatcher, A literary analysis, 123. Charlotte Delbo: Qui rapportera ces paroles? Paris 1974. Rosette C. Lamont: «Charlotte Delbo’s Frozen Friezes.» L’esprit créateur XIX, 1 (1979), 65–74, hier: 68.
80 Schauspielerinnen, die Beleuchtung und die Musik dienen hier als «Ersatz» für die fehlenden Objekte.84 2.4.2 Täter und Opfer im Lager Wie auch bei Soazig Aaron erfolgt in Auschwitz et après keine individuelle Beschreibung oder Charakterisierung der Täter, sondern auch sie zeigt aus der Perspektive der Opfer (sowohl erlebend, als auch beobachtend) die grausam agierenden Täter, die immer im Kontext zur Situation der Frauen gesehen werden. Eine Aufseherin tritt mehrmals namentlich auf, doch auch sie ist beispielhaft für die Täterschaft beschrieben: grausam, höhnisch und skrupellos (vgl. Auschwitz I, 84f.). Eine größere Reflexion über die Täter findet wie in La Danse de Gengis Cohn oder auch in Il portiere di notte nicht statt. Im Kapitel Le commandant allerdings beleuchtet Delbo kurz die Mechanismen der Gewalt sowie ihren Ursprung. Es zeigt zwei Kinder, die in die Rolle des Kommandanten und des einfachen Soldaten schlüpfen – das Grausame an der Szene ist, wie Delbo beschreibt, wie sich ein Siebenund Elfjähriger ganz in die Machtverhältnisse einfinden: «Le grand se prépare. [...] A mesure qu’il se vêt de son personnage, ses traits deviennent durs, et sa bouche»; «Instanténement, le petit entre dans son personnage aussi. [...] Le petit suit à distance. Il marche moins raide. Un simple soldat» (Auschwitz I, 156f.).
Nach den in deutscher Sprache ausgerufenen Befehlen des Älteren, verändert sich auf einmal der Blickwinkel und Delbo beschreibt die Häftlinge während eines Kommandos («Bientôt les prisonniers à qui les ordres s’adressent ne peuvent plus suivre. Il butent sur le sol, perdent le pas» [Auschwitz I, 158]). Delbo kehrt in ihrer Beschreibung wieder zum Spiel der Jungen zurück, in dem jetzt der Jüngere einen Häftling mimt («[...] la bouche douloureuse, la bouche de celui qui n’en peut plus» [Auschwitz I, 158]). Nur «pour jouer» schlägt der Kommandant bzw. der ältere Junge den Häftling bzw. den jüngeren, gibt ihm einen Fußtritt, der Häftling stirbt und der Kommandant befiehlt, die Leiche zum Krematorium zu bringen, «Raide, satisfait et dégoûté» (Auschwitz I, 159). Um nochmals das Nebeneinander von Alltag und Grauen zu verdeutlichen, beschreibt Delbo, dass der «Spielplatz» der Kinder das Haus des Lagerkommandanten ist in einer idyllischen Umgebung, in der zwischen den Rosenstöcken der Weg zum Krematorium führt. Sie zeigt in ihrem Kapitel das grausam beliebige Agieren der Täter am Beispiel der Kinder des Lager––––––– 84
In den Theaterstücken Une scène jouée dans la mémoire und Kalavrita des mille Antigone finden wir auch kein Dekor. Nur durch die Beleuchtung wurden die Emotionen untermalt, als 1980 die University of Glasgow Une scène jouée dans la mémoire aufführte (vgl. Thatcher, A literary analysis, 125).
81 kommandanten: «Les fils du commandant jouent dans le jardin. Ils jouent au cheval, au ballon, ou bien ils jouent au commandant et au prisonnier» (Auschwitz I, 159). 2.4.3 Als Frau im Lager Die spezifischen Lebensbedingungen internierter Frauen zeigen eine offensichtliche Verbindung von Frau und Raum auf sowie eine Verknüpfung von persönlichem und kollektivem Schicksal.85 Hierbei gibt es zwei große Themenkomplexe, die auch als Unterscheidung zu MännerKonzentrationslagern zu sehen sind: Zivilisationsmängel im weitesten Sinne und der Verlust familiärer Bindungen. Eine Studie über Furcht und Angst im Zusammenhang mit einer Analyse von Lagergefahren ergab, dass Gefahrensituationen, die von Frauen als solche angesehen wurden, weibliche Erlebnisse sind.86 Die Zahlen zeugen an erster Stelle von der Vorrangigkeit und Bedeutung charakteristischer weiblicher peripherer Zeichen für die Integrität der weiblichen Persönlichkeit.87 Die Frauen müssen ihre Kleider abgeben und unpassende und unschöne Kleider annehmen; sie sind entsetzt über die hässliche Wirkung: «Nous avons de la peine à nous reconnaître: pauvres marionnettes multicolores, balancées au-dessus de l’abîme» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 144). Nicht mehr der Name (der auch Familienzugehörigkeit zeigt), sondern eine anonyme Nummer definiert nun den Einzelnen: «Nous n’avons plus de noms [...] L’échelle ––––––– 85
86
87
Todorov zeigt in Face à l‘extrême verschiedene Abwehrmechanismen auf (Abwehr durch Flucht, Abwehr durch Angriff und Abwehr durch Bindungen, die die wichtigste und effektivste Art der Angstabwehr ist). Hierbei unterscheidet er vier Gruppen von Bindungen: Ichhafte, soziale (familiäre), religiöse und ideelle. Die sozialen bzw. familiären Bindungen sind für das Überleben entscheidend. In Frauenschicksale in Konzentrationslagern verarbeitet die Jüdin Marta Kos die drei Jahre, die sie in den Konzentrationslagern von Theresienstadt und Auschwitz verbringen musste mit einer Analyse (einerseits oral history, andererseits theoretische Aufarbeitung) von Furcht und Angst aus wissenschaftlicher Perspektive. Zugleich ist das Buch ein frühes und seltenes Unterfangen, die spezifischen Lebensbedingungen internierter Frauen darzustellen. Persönlichkeitsanalysen weiblicher Häftlinge, die das Leben im Lager sowie die Zeit davor und danach umfassen, verschmelzen mit dem theoretischen Ansatz der Psychologie. Die Arbeit ist als Dissertation 1948 an der Prager Karlsuniversität eingereicht worden und erschien 1998 in überarbeiteter Fassung: Marta Kos: Frauenschicksale in Konzentrationslagern. Wien 1998. Verschiedene Stufen der Entmenschlichung sind zu nennen: Nach der Enthaarung folgt die Entseuchung, dann die Registrierung (von da ab müssen sich die Frauen als Nummern präsentieren) und schließlich der Abschied vom bisherigen Leben. Ohne Haare, ohne individuelle Kleidung, ohne gewohnte Einstellung der Frauen zur Umwelt und dieser Umwelt zu den Frauen hören diese auf, sich als Frauen zu fühlen, sind tief erschüttert, desorientiert und haben Angst.
82 sociale est renversée, eux sont les rois et nous la roture. Mon numéro est 57978 et celui de Maman 57977» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 144). Trotz allem Wert auf Sauberkeit zu legen hieß nicht nur eine Verbesserung des Lebens, sondern nicht selten die Rettung vor dem Tod.88 Das Schminken für das Weihnachtsfest (Auschwitz II, 6. Kapitel) innerhalb des Sonderkommandos bedeutet für Charlotte Delbo nicht nur die Bestärkung des Wiedergewinns von Weiblichkeit, sondern auch den Gewinn einer anderen Wahrnehmung – nicht mehr die Sorge um das bloße Überleben, wie sie im Todeslager allein möglich war, ist der einzige Lebenszweck, sondern die Eingliederung in ein menschlich(er)es Dasein. Das «redevenir femme» schildert Béatrix de Toulouse-Lautrec an einer kleinen Szene: Nach der Befreiung auf dem Weg nach Schweden nimmt eine Kameradin wieder behutsam Kontakt zu Männern auf:89 «Un jeune officier passe. Il nous sourit. Christiane lui répond avec une charmante coquetterie, elle redevient femme. Quelle douce sensation!» (ToulouseLautrec, Ravensbrück, 285). Charlotte Delbo widmet ihr erstes Kapitel des zweiten Bandes dem «Verhältnis» (das nur in Blickkontakten bestand) von Männern und Frauen im Konzentrationslager: Mitleid und Schrecken auf der weiblichen Seite, ein Gefühl der Hilflosigkeit, des Unvermögens, keinerlei Schutz und Beistand für die Frauen sein zu können, auf der männlichen Seite.90 In vielen Situationen spielt das Mitleid mit anderen eine große Rolle und nicht nur die Furcht um sich selbst und die Menschen, die einem lieb waren, oder die eigene Angst. Dies stellte einen möglichen Weg dar, um der eigenen Angst zu entrinnen. «Die Situation des Menschen im KZ – das ist die Situation der Einsamkeit, der Fremdheit und der völligen Absurdität von allem, was geschieht, des völligen Zusammenbruchs aller moralischen und sozialen Werte.»91 Soziale Werte wie zum Beispiel Achtung vor dem Leben, der Familie, dem Alter werden ebenso wenig in den Frauen-KZ wie in den Männer-KZ eingehalten. Béatrix de Toulouse-Lautrec und auch ––––––– 88 89
90
91
Vgl. Kos, Frauenschicksale, 164f. Der Verlust der Haltung der männlichen Welt gegenüber den Frauen und Verlust der Sexualität bewirkt, wie Kos aufzeigt, dass die Frauen aufhören, sich als Frauen zu fühlen (der Mann wird nach Arbeitsfähigkeit bewertet; die Frau nach ihrer Schönheit [vgl. Kos, Frauenschicksale, 169ff.]). Die Kontakte zwischen Männern und Frauen, die Charlotte Delbo beschreibt (Episode mit Lily, Auschwitz II, 5. Kapitel) enden immer mit dem Tod einer Hälfte des Paares oder mit dem Tod aller Beteiligten. Liebe im Konzentrationslager war unmöglich und wurde strengstens unterbunden – eine weitere Maßnahme, um den Menschen jeglichen Halt und jede Individualität zu entziehen. Kos, Frauenschicksale, 161.
83 Germaine Tillion hatten das Glück als «Verfügbare» arbeiten zu können und bekamen nicht zuletzt dadurch die Möglichkeit, einen Teil der «Kaninchen» bei einer Befreiungsaktion zu retten.92 In Frauenkonzentrationslager Ravensbrück unterscheidet Germaine Tillion verschiedene «Kategorien» für Frauen: «Kaninchen» (vor allem junge Polinnen wurden in Versuchslaboren «Operationen» unterzogen, an deren Folgeerscheinungen sie meistens starben93), «Schmuckstücke»94 und «Verfügbare.»95 Prostitution war eine zusätzliche Einnahmequelle für Frauen, denen damit eine vorzeitige Entlassung vorgegaukelt wurde. «Schmuckstücke» und Prostituierte lebten außerhalb der weiblichen Gemeinschaft und wurden auch ganz bewusst ausgeschlossen. Den Zustand eines «Schmuckstücks» kann man als Gegensatz zum Weiblichen sehen und als mögliche Gefahr einer bewussten Isolierung von anderen: Sie waren keiner internen oder sozialen Disziplin fähig, kümmerten sich nicht mehr um Läuse, ihre Körper waren entstellt von Wunden und Krätze, sie hatten keine Kameradinnen, waren ohne Hoffnung und Würde und wurden nur noch von Hunger und Angst getrieben. Die «Schmuckstücke» gingen an Vereinsamung und Selbstaufgabe zugrunde. Diese Selbstaufgabe aufgrund unendlichen Hungers und Durstes beschreibt auch Charlotte Delbo, deren Sinne schwinden und die sich in den Schlamm stürzen will («Diese armen Kreaturen warfen sich flach auf den Bauch, um aus dem Schlamm einen Napf verschütteter Suppe aufzulecken [...]»96). Doch um kein Schmuckstück zu werden bedarf es vor allem der Kameradinnen, die Charlotte Delbo führen und zurückhalten; durch ihre Barackengenossinnen kann sie die Orientierung behalten («Carmen, dans l’espoir de voir revenir à mon regard une lueur d’intelligence, a dû me répéter plusieurs fois: ‹Il y a de l‘eau. Demain, tu boiras›» [Auschwitz II, 43]). ––––––– 92 93 94
95
96
Vgl. Tillion, Ravensbrück, 190ff; Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 256. Siehe Tillion, Ravensbrück, 181. «Das ganze Lager benutzte den Begriff ‹Schmuckstück› als Antiphrase, um die elenden menschlichen Wesen zu bezeichnen, die auf der letzten Stufe moralischen und physischen Verfalls angelangt waren. Das Wort ‹Schmuckstück› besitzt keine weibliche Entsprechung, denn die so bezeichnete Kategorie Mensch gehörte nicht mehr zu denen, die einem Geschlecht zugeordnet werden könne, sondern zur Neutrums-Kategorie von Gegenständen, von ‹Stücken› also [...]» (Tillion, Ravensbrück, 210f.). «Diejenigen Häftlinge, die nicht in Nachtschicht arbeiteten, nicht im Revier lagen, sich nicht in Quarantäne befanden, nicht Mitglied einer Arbeitskolonne und nicht für den Innendienst eingeteilt waren, mußten ergo in der Kolonne der ‹Verfügbaren› marschieren, und aus dieser Gruppe suchte sich der Leiter eines Kommandos immer unvorhergesehen Personal aus, das ihm auf einer Arbeitsstelle oder für einen überraschenden Sondereinsatz fehlte» (Tillion, Ravensbrück, 175f.). Tillion, Ravensbrück, 211.
84 Bei Männern bildeten sich Solidaritätsgemeinschaften nach politischideologischer Überzeugung. In verschiedenen Arbeiten (u.a. Tillion, Todorov, Kos) herrscht Konsens darüber, dass die Frauen sich angesichts der grausamen Ereignisse auf die erste Stufe der Zusammengehörigkeit besinnen: die Familie. Die durch die Trennung von der Familie hervorgerufene Erschütterung oder durch die Gefährdung freundschaftlicher Beziehungen zeigt, wie bedeutend die Aufrechterhaltung von Familienbeziehungen ist: Freundschaftliche Beziehungen waren oftmals Ersatz für Familienbande, alte Frauen werden von den jüngeren nicht zur Seite geschoben, sie werden vielfach geliebt und verehrt, denn sie werden zum Gegenstand der Projektion der Liebe zur eigenen Mutter, deren Ersatz und Symbol. Über die nationalen Grenzen hinaus bildeten sich selten Gruppen, die Bildung kleiner Gruppen, die die Familie ersetzen sollten, fand nie im großen Maßstab statt (Ausnahme hier waren die Kommunistinnen): Sobald ein neues Territorium innerhalb des Lagers betreten wurde, war die erste Frage: «– Y a-t-il des Françaises?» (ToulouseLautrec, Ravensbrück, 244). Die Frauen versuchten immer wieder in diesen engen Grenzen des Lagers die Reste der Kultur festzuhalten, ihre Gewohnheiten, ihre innere Lebensart, um sich durch die Etablierung häuslicher Strukturen vor der Bedrohung zu schützen. Die Schaffung kleiner Territorien versinnbildlicht auch Béatrix de Toulouse-Lautrec, wenn sie beschreibt, wie ein Blockwechsel zugleich immer die neue Eroberung eines kleinen Territoriums bedeutete und das Verlassen eines wieder etablierten Raumes.97 2.4.4 Unterschiedliche Formen der weiblichen Gemeinschaft – Frauensolidarität und Aufbau parafamiliärer Strukturen «Chacune avait appris de dure expérience que l’isolé est sans défense, qu’il est impossible de survivre sans les autres. Les autres, ce sont celles de votre groupe, celles qui vous soutiennent ou vous portent quand vous ne pouvez plus marcher, celles qui vous aident à tenir quand vous êtes à bout de force ou de courage» (Auschwitz II, 132).
Die Gemeinschaft der Menschen im KZ ist erzwungen. Die NS-Gewalt zwingt ihnen direkt und indirekt eine völlig unterschiedliche Bewertung von all dem auf, was in einer normalen Gesellschaft üblich ist.98 Der einzige Wert, der unverändert bleibt, sogar im Wert steigt, ist von sozialem und lebensnotwendigem Rang: die Freundschaft und Gruppensolidarität – beides Werte, die vor allem innerhalb politischer und nationaler Gruppen vorkamen. ––––––– 97 98
Da die Mutter sehr gut organisieren kann, verschafft sie sich und Béatrix ein gutes Bett (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 244). Vgl. Kos, Frauenschicksale, 161ff.
85 «Quant à moi, si j’ai survécu, c’est par hasard. En plusieurs occasions j’ai failli mourir. J’ai été aidée. J’ai aidé des camarades et beaucoup de camarades m’ont aidée. Il y a eu autour de moi une entraide constante.»99
Solidarität konnte sich in verschiedenen Formen äußern: von reiner Nächstenliebe (das Teilen von Brot, die Beschaffung von Suppe, einer Decke oder Kleidung), bis hin zur Einreihung in eines der weniger schweren Arbeitskommandos oder Versteck von anderen unter Risiko des Verlusts des eigenen Lebens.100 «Inmitten des grauenvollen Infernos dieser Stätte faschistischer Menschenverachtung verteidigten sie [die Frauen und Mädchen, Anmerkung der Verf.] die hohen Ideale der Menschenliebe und der Menschenwürde, der Treue und der Kameradschaft mit dem Einsatz ihres Lebens (‹Erika Buchmann, Häftlingsnummer 2077/1›).»101
Gemeinsamer Widerstand in Form von Solidarität konnte sich nur im Kleinen abspielen – durch eine Geste oder einen Kommentar; alles andere wurde mit dem Tod bestraft (Charlotte und Viva hatten sich geschworen, immer in aufrechter Haltung vor den SS-Leuten zu stehen: «C’était un serment que nous nous étions fait, Viva et moi. La tête haute devant Drexler, devant Taube. Nous avons même dit: ‹La tête haute ou les pieds avant›» [Auschwitz I, 135]). Zumeist war die Solidarität in Kleingruppen vorhanden, doch zeigte sich auch im größeren Rahmen Hilfsbereitschaft und Widerstand (beispielsweise die Befreiung der Versuchskaninchen in Ravensbrück, die sowohl von Germaine Tillion, als auch von Béatrix de Toulouse-Lautrec [ToulouseLautrec, Ravensbrück, 256] thematisiert wird). Die gewaltige Übermacht und der Wahnsinn der Gewalt wird bei beiden Autorinnen vor allem während des Appells deutlich: Die Frauen sind sich nicht nur gegenseitig Hilfe («Lucette tape des talons, Nicole frotte le dos de sa voisine, moi je souffle dans celui de Maman» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 216]), ––––––– 99 100
101
Geneviève De Gaulle-Anthonioz (Hg): Germaine Tillion – La traversée du mal. Entretien avec Jean Lacouture. Paris 2000, 76. Widerstand in der Rüstung stellte eine Solidarität auf nationaler Ebene dar (Einige Häftlinge werden verlegt, um in einer Waffenfabrik zu arbeiten – die Frauen wagen den Aufstand und weigern sich, Waffen herzustellen: «Il s’est formé deux clans: celles qui subissent et celles qui refusent» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 183]). Bei der Arbeit beim Transport können die Frauen Seife entwenden und die Schuld auf die Soldaten schieben («‹organiser.› Cela veut dire: voler, voler le Grand Reich ou, si vous préférez, récupérer» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 269]), wobei es einen großen Unterschied zwischen Stehlen von anderen oder Stehlen vom Grand Reich gibt – das eine ist geächtet, das andere wird bewundert (Béatrix de Toulouse-Lautrec wird später für den Diebstahl am «Grand Reich» bei der Beichte vom Priester gelobt). Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer in der deutschen demokratischen Republik (Hg.): Ravensbrück. Berlin 1960, 9.
86 sondern bilden sogar, indem sie ihre Hände unter die Arme derjenigen stecken, die vor ihr steht, einen Kreislauf, wobei, wie Charlotte Delbo schreibt, eine allen gemeinsame Blutbahn entsteht: «Le cou dans les épaules, le thorax rentré, chacune met ses mains sous les bras de celle qui est devant elle. Au premier rang, elles ne peuvent le faire, on les relaie» (Auschwitz I, 103).
Beide Frauen beschreiben, wie immer wieder eine helfende Hand sie vor der Erschöpfung bzw. Aufgabe (und somit dem Tod) rettet, manchmal auch unbemerkt. Beim (regelmäßigen) Rennen, bei dem die Gesundheit untersucht wird, verliert Charlotte Delbo ihre Gruppe. Besorgt erwarten die anderen sie bereits im Block. Doch die ganze Zeit ist eine Freundin neben ihr geblieben. Gegenseitiger Schutz ist immer das vorrangige Ziel auch bei der «Selektion:» Jede will dicht bei einer Gefährtin bleiben, die eine vor einer Schwächeren, um sich an ihrer Stelle schlagen zu lassen, die andere hinter einer, die nicht mehr laufen kann, um sie aufzufangen, wenn sie fällt. Sprechen bei der Arbeit war Trost, Erleichterung («Parler restait la seule évasion, notre délire» [Auschwitz II, 91]), bedeutete Widerstand und Stärkung des Überlebenswillens (Auschwitz I, 162). Auffallend ist, dass sich die Solidarität nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Form zeigt: Das Oszillieren zwischen «je» und «nous» bzw. «on» spiegelt auf der einen Seite den individuellen Kampf, auf der anderen Seite die erzwungene, aber auch lebensrettende Vermischung der Masse wider. «[...] la conscience solitaire qui résiste et l’impersonnalité opaque à quoi la violence de l’oppression réduit les détenus.»102 Dieses «je» ist aber nicht nur als Stellvertreter für eine Gruppe anzusehen (obwohl Delbo hier eine wichtige Rolle zukommt), es spiegelt auch den von den Umständen aufgezwungenen Egoismus wider: Im absoluten Überlebenskampf ist jeder allein.103 Das Wesentliche an diesem «nous» stellen zunächst die Körper dar, die der Gewalt ausgesetzt sind, die sie in reines «Menschenmaterial» machen will. Das «je» geht auf in «un essaim de bêtes engluées de cire,» ––––––– 102
103
Alain Parrau: Ecrire les camps. Paris 1995, 299. Parrau behandelt in seinem Werk anhand unterschiedlicher Texte vornehmlich die Frage, wie sich Zeugenschaft und literarische Ästhetik verbinden lassen. Se questo è un umo? (Primo Levi), L’univers concentrationnaire (David Rousset), Le monde de pierre (Tadeusz Borowski) stehen im Mittelpunkt seiner Arbeit. Somit ist sie auch ein Versuch, das konzentrationäre Phänomen zu beleuchten. Bei den beiden politisch Verfolgten (Levi und Borowski) handelt es sich um Zeugnisse über die konzentrationäre Erfahrung, hier ist der Genozid als solcher nicht das Zentralthema. Bezeichnenderweise beschreibt Delbo den unstillbaren Durst der Erzählerin und die Rücksichtslosigkeit, mit der sie die anderen durch diesen gefährdet mit einer Konzentrierung auf «je» – die anderen sind verschwunden, es gibt nur noch die eigene Person (vgl. Auschwitz I, Kap. La soif, 34).
87 une «masse gélatineuse»104 – verschluckt in einer Masse, aber immer noch da, im Herzen des «on.» Unterscheiden zwischen «on» und «nous» könnte man dahingehend, dass es sich bei «on» zumeist um die Masse der Häftlinge handelt, während bei Delbo mit «nous» vor allem ihre Gruppe um sie gemeint ist. Bei Delbo zeigt sich der Wechsel von «je» zu «nous» immer dann, wenn ein Weiterleben oder Überleben ohne die Mithilfe der anderen Frauen nicht möglich gewesen wäre. Mit «nous» sind bei Delbo nicht etwa alle Französinnen oder alle Widerstandskämpferinnern gemeint,105 sondern die kleine Gruppe von Frauen, die sich nicht nur zum Ziel gesetzt haben, ihr eigenes Leben zu retten, sondern auch ihr Leben für andere aufs Spiel zu setzen. Der Sinn liegt mitunter in der Gemeinschaftsbildung – es entsteht an diesen Stellen ein exemplarischer Text, ein Totengedenken; die schrecklichen Erlebnisse können im «nous» besser ertragen werden und im Schreiben rekonstruiert werden. Das «nous» wird zum Rhythmus und zum Körper einer kollektiven Angst: «Nous marchons,» «nous attendons» etc. heißt es bei Delbo immer wieder. Dieses Eingliedern und Verschwinden in der Masse, dieser Wille, sich nicht von den anderen zu unterscheiden, nicht aufzublicken, bedeutet den Verlust der Individualität und des Menschseins. Doch zugleich ist dies auch ein Schutz vor der Bedrohung des Todes. «L’expérience concentrationnaire, c’est en grande partie celle de la puissance écrasante de ce ‹on,› depuis le simple regard du SS jusqu’à la violence ouverte qui s’exerce sur les corps.»106 Gerade in dieser ausweglosen Situation, in der die Gewalt immer offener wird und die physische Erschöpfung steigt, verbindet sich das «on» und bewirkt Menschliches. Diese Entindividualisierung setzt Delbo auch sprachlich um – sie stellt an vielen Stellen den menschlichen Körper als Platzhalter für Charaktere und reduziert ihn sogar nur noch auf seine Organe, die sich bemühen, den Organismus am Leben zu halten. Nicht die Menschen kämpfen mehr, sondern die Organe bieten Widerstand und Aufruhr; nur noch Mund und Augen bleiben von den Frauen übrig («Un parterre de bouches tordues. [...] Un parterre d’yeux creux» [Auschwitz I, 81; I, 51]).107 ––––––– 104 105
106 107
Rousset, L’univers concentrationnaire, 23. Vgl. Primo Levi: Se questo è un uomo? Turin 1958. Bei Levi erhält das «Wir» verschiedene Signifikate (alle Juden, Häftlinge, Kranke, Angehörigen eines Kommandos oder Blockes). Das «wir» ergibt sich aus dem jeweiligen Opferzusammenhang heraus. Parrau, Ecrire les camps, 301. Während des Appells im Frost verliert sich die Fähigkeit, den Körper zu beherrschen («morceau de froid qui avance d’une pièce» [Auschwitz I, 51]). Die Beine sind dem Körper nicht mehr zugehörig; die Frauen werden zu lebenden Toten, zu Eisblöcken ohne Regung (Auschwitz I, 54f), die Körper vereinen sich mit dem Staub (Auschwitz I, 175). Die Überlebenden tragen für immer die Kennzeichen des Todes mit sich, das Todeslager macht alle Unterschiede zwischen Lebenden und Toten zunichte.
88 Der Körper übermittelt die Sinneswahrnehmungen und Gefühle. «The detached tone or the use of images to depict death is replaced by an almost surrealist language expressing, through the body and transfer of sensations, the harrowing feelings of women taken to the gas chamber, and of women who look at them.»108 «Leurs bras tendus vers nous crient, et tout d’elles. Chaque corps est un cri [...] des cris qui ont pris des corps des femmes. [...] Nous regardons avec des yeux qui crient» (Auschwitz I, 56f.). Die optische Austauschbarkeit und Gleichmachung drückt sich in einer Wiedererkennungssequenz aus: Beim Weg zur Arbeit durch Auschwitz in ein Rübensilo kommen die Frauen an einer Schaufensterscheibe vorbei – jede möchte sich erkennen, möchte sich selbst bestätigen, dass sie noch am Leben, also noch sichtbar und unterscheidbar ist – alle Frauen heben den Arm, um sich sehen zu können – somit bleiben sie wieder eine identitätslose Masse (vgl. Auschwitz I, 140f.). Thatcher sieht den Körper in Delbos Trilogie «to express emotions and female sexuality [...] as provider of both emotional and physical support»109 und schlägt hiermit den Bogen zu ihrer These, dass diese Funktion vom Dasein der Frau als Mutter und Ernährerin herrührt. Dieser These kann beigepflichtet werden – allerdings versucht Thatcher zu stark die weibliche Sichtweise in den Text hineinzuinterpretieren. Als typische «feminine awareness» beschreibt sie die Erkennungsszene im Schaufenster – und ignoriert dabei, dass bereits Robert Antelme in ähnlicher Weise vorher die Entindividualisierung beschrieben hat.110 Eine realistische Beschreibung des weiblichen Aussehens wird bei Delbo durch eine Ästhetisierung des Körpers ersetzt. Einen besonderen Fokus setzt sie auf die Haare – ein Symbol der weiblichen Schönheit («les belles boucles noires de Viva» [Auschwitz II, 67]; «Tu te rappelles, Charlotte ces cheveux [von Sylvian, Anmerkung der Verf.] qu’elle avait, d’un blond doré qui allait si bien avec ses yeux?» [Auschwitz III, 147]). Diese Fokussierung darf man allerdings nicht nur auf die Schönheit reduzieren («She celebrates its beauty and regrets its loss or ––––––– 108 109
110
Nicole Thatcher: «Charlotte Delbo’s Voice: The conscious and the unconscious determinants of a woman writer.» L’esprit créateur XL, 2 (Summer 2000), 41–51, hier: 46. Thatcher, Charlotte Delbo’s voice, 44. Nicole Thatcher analysiert in diesem Aufsatz, wie Delbos Schreiben ihre Kriegserlebnisse reflektiert und was diese als typisch weiblich kennzeichnet. Hierbei geht sie stark auf die Bedeutung des Körpers im Konzentrationslager ein, sowie im zweiten Teil auf die persönliche Stellung Charlotte Delbos zum Krieg, mit den damit einhergehenden Konzepten von Patriotismus, Opfer und Heldentum in Abgrenzung zum männlichen Widerstand. Die Entindividualisierung drückt Delbo wie Robert Antelme in einer Spiegelepisode aus. Während Delbo als Spiegel eine Schaufensterscheibe dient, ist es bei Antelme eine Scherbe. Robert Antelme: L’espèce humaine. Paris 1947.
89 the damage done to it»111), sondern die Haare sind bei Viva auch ein Zeichen des Widerstands – trotz unzumutbarer Umstände und allgegenwärtiger Gefahr der Rasur, konnte diese Frau sich ihre Haare erhalten. Im abgeschlossenen Raum des Lagers, in dem Uniformität und Anonymität die beherrschenden Faktoren waren, bildeten sich Kleingruppen heraus, deren soziale Strukturen an Mutter-Tochter-Beziehungen oder an parafamiliäre Bindungen erinnern und die sich auf verschiedenen Ebenen manifestieren: auf der biologischen Ebene (Béatrix mit ihrer leiblichen Mutter Anne), unter Kameradinnen (Charlotte mit ihren französischen Freundinnen, Béatrix mit Barackengenossinnen); familiäre Strukturen werden nachgespielt (Béatrix und die Adelsfamilie112), die Kameradin wird als Schwester geliebt (Béatrix und Nicole), Frauen im KZ kümmern sich um Waisen, eine Aufseherin sieht die Gefangenen als «ihre Kinder» an. Diese Gegenentwicklung (Formierung von Kleingruppen und familiären Verbindungen) war ein wirksames Mittel gegen die vom Naziregime angestrebte Entindividualisierung der Häftlinge. Die Frauen überlebten die Lager zahlenmäßig und psychisch besser, was Todorov auf die stärkere Ausprägung der Sorge bei den Frauen zurückführt. «Die Sorge unterscheidet sich von der Solidarität dadurch, dass ihre Nutznießer nicht automatisch mit ihr rechnen können und darüber hinaus immer individuelle Personen und keine Gruppenmitglieder sind.»113
Sie ist unabhängig von Nationalität, kann aber nur dort wirksam werden, wo Verständigung möglich ist. Sowohl bei Charlotte Delbo, als auch bei Béatrix de Toulouse-Lautrec stehen die Mutterfiguren (leibliche und nur bezeichnete) für Schutz, Hilfsbereitschaft und Aufopferung und entsprechen somit der Idee einer Mutter. Doch bei beiden kommen noch unterschiedliche Komponenten hinzu. Zunächst soll das Spezifische an der Mutter-Tochter-Beziehung bei Béatrix de Toulouse-Lautrec erläutert werden. Anders als bei Charlotte Delbo entwickelt sich im Laufe der Handlung die Mutter-TochterBeziehung, zugleich steht die Mutter für die Erinnerung (was auch im sozio-psychologischen Sinne verständlich ist), für Heimat und für die (einzige) Anlaufstelle in lebensbedrohlichen Situationen. Obwohl Béatrix de Toulouse-Lautrec und ihre Mutter Anne unter extremen Bedingungen ––––––– 111 112 113
Thatcher, Charlotte Delbo’s voice, 45. Vgl. ausführliche nachfolgende Erläuterungen. Todorov, Angesichts des Äußersten, 94.
90 leben, lässt sich ein zentraler Punkt der Mutter-Tochter-Problematik, wie sie Caroline Eliacheff und Nathalie Heinich in ihrer Analyse Mères et filles. Une relation à trois114 beschreiben, erkennen: Denn über den Kampf um Anerkennung hinaus, auf den sich eine männliche Identifizierung beschränken kann, steht das Mädchen vor der «paradoxe[n] Anforderung,» «sich von der Mutter abzulösen und sich dennoch mit ihr zu identifizieren.»115 Bei der Mutter-Tochter-Beziehung geht es vor allem um Identitätskonstruktion, Rollenzuschreibung und Anerkennung, die für den Abgrenzungsprozess116 wesentlich sind: Zunächst völlig von der Mutter abhängig (die bis dahin die gesamten Verhöre mit der Gestapo bestritten hat und der Tochter genaue Anweisungen gegeben hat, was zu tun ist), wird sie erstmals von der Mutter räumlich getrennt (nur durch, im doppelten Sinn, «ce lien invisible»117 miteinander verbunden). Diese Kommunikation ist nicht nur ein unsichtbares Band zwischen Mutter und Tochter, sondern stellt auch einen Akt des Widerstands der Frauen dar, die sich den Gedankenaustausch nicht verbieten lassen und die den Bezug zum Leben nicht verlieren wollen (durch Klopfzeichen wird die Uhrzeit weitergegeben).118 Im Laufe der Monate, die Béatrix von ihrer Mutter räumlich in Montluc getrennt ist, erkennt sie, welche große Einheit sie mit ––––––– 114
115 116
117
118
Caroline Eliacheff und Nathalie Heinich befassen sich in ihrer Analyse von einer soziologischen und psychoanalytischen Perspektive aus mit der Mutter-Tochter-Beziehung. Sie untersuchen fiktionale Geschichten aus Literatur und Film. Obwohl sie sich in ihrer Studie nicht mit KZ-Literatur beschäftigen, kann man doch einige grundlegende Muster des Verhaltenskodex auf die konzentrationäre Situation übertragen. Caroline Eliacheff / Nathalie Heinich: Mütter und Töchter. Ein Dreiecksverhältnis. Düsseldorf 2004 (Orig.: Mères-filles. Une relation à trois. Paris 2002). Eliacheff, Mütter und Töchter, 318. «Die Voraussetzung für eine dauerhafte Beziehung zwischen Müttern und Töchtern – eine Beziehung, der nur der Tod ein Ende setzen kann – liegt in der psychischen Beweglichkeit der Mutter, die bereit sein muss, zunächst ihre vermeintliche oder reale Allmacht und später ihren Einfluss aufzugeben, bis sich schließlich ihre Unabhängigkeit von der Tochter in Abhängigkeit umkehrt» (Eliacheff, Mütter und Töchter, 291). Im Gefängnis ist zunächst ihre Hauptbeschäftigung, die Mutter zu finden («Ma principale préoccupation est de découvrir où est Maman» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 32] und schließlich wird durch Klopfzeichen der Standort der Mutter eruiert: «Le fait d’avoir atteint Maman, de sentir qu’à travers tous ces murs épais, elle est là, quelque part, comme moi, seule dans la pierre et qu’elle a entendu mon cœur vibrer au travers de tous ces autres cœurs qui pleurent, déchaîne une nouvelle vague de sanglots. [...] C‘est un réconfort qui brise, mais c’est doux de se sentir lié par ce lien invisible: la télégraphie sans fil» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 34]). «C’est la résistance d’un seul être, d’une seule volonté, ce n’est plus qu’une énergie tendue vers un seul but: tenir et vaincre. Un cœur qui bat. Le téléphone c’est l’expression vivante de l’union de tous ces êtres qui pleurent et qui ont foi dans la victoire de leur juste cause» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 34).
91 den Frauen in ihrer Gefängniszelle bildet. Die Kameradinnen in der Zelle sind nun Ansprechpartnerinnen und auch Identifikationsfiguren («[...] et Mado a été plus courageuse que moi! Mado dont j’ai toujours essayé de suivre l’exemple» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 100]). Obwohl sie die Jüngste ist, muss sie schließlich die «Leitung» der Zelle übernehmen (Teilen des Brotes, Regelung der Abortkübelbesuche; sie animiert die Frauen zur Einhaltung von Sauberkeit). Nur kurz denkt sie während dieser Zeit an ihre Mutter – in Augenblicken höchster Gefahr, während eines Verhörs der Gestapo und beim Abtransport einiger Frauen. Die Gegenwart bilden nun die Kameradinnen, die Mutter ist zwar noch fester Bestandteil von Béatrix‘ Leben, doch gehört diese im Moment vor allem der Erinnerung an. Durch gemeinsames Beten, Singen und auch durch die gegenseitige Aufmunterung und Hilfe verlässt Béatrix am Ende von zwei Monaten Haft ihre Zelle ungern und weint beim Abschied. Ihre Mutter ist völlig verständnislos und erkennt nicht, dass ihre Tochter sich unter den Frauen weiterentwickelt hat: «– Pourquoi pleures-tu? – Je les aimais. – Ma pauvre petite fille! Comme tu as dû souffrir! Cela a dû être si dur pour toi. – Oh! Non, mais elles étaient trés chic, au fond, je l’amais bien ma cellule. – Maman hausse les épaules. Comment peut-elle comprendre cela?» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 102).119
Parallel zur Emanzipation von der Mutter bleibt diese jedoch Bezugspunkt bei lebensbedrohlichen und gefahrvollen Situationen und steht für die Heimat und Erinnerung: «Je me serrais contre Maman, je n’avais jamais vu un mort et j’avais peur [...] J’ai pleuré dans les bras de Maman. Il me semble que chacune de nous se sentit submergée cette nuitlà» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 204; 214).
Beim Verlassen Frankreichs erinnert sich Béatrix allerdings an ihre Heimat und an ihr Zuhause und evoziert damit Orte aus der Vergangenheit. Insgesamt überwiegt die Sorge und die Anteilnahme am Schicksal der ––––––– 119
Beide Zugfahrten nach Ravensbrück (von Montluc nach Ravensbrück, von Torgau nach Ravensbrück) stehen sinnbildlich für einen größer werdenden Abgrenzungsprozess: Während der ersten Zugfahrt nach Ravensbrück zeichnet sich zum ersten Mal eine «asymmetrische Mutterbeziehung» ab: Die Tochter muss sich um die mittlerweile krank gewordene Mutter kümmern: «L’officier m’a autorisée à y rester avec elle pour la soigner» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 110). Auch im Zug aklimatisiert sich Béatrix schnell und genießt sogar das «Reisen» mit anderen (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 119; 120). Bei der zweiten Zugfahrt nach Ravensbrück wählt Béatrix bewusst einen anderen Waggon, um nicht bei den Kranken (und damit bei ihrer Mutter, die dolmetscht), sein zu müssen und erregt damit den Zorn und das Unverständnis von Anne (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 209). Beim zweiten Eintritt in das Konzentrationslager ist es dann auch nicht die Mutter, die Béatrix zur Seite steht, sondern eine Kameradin.
92 anderen ihr Verhältnis: Da die Mutter sehr gut deutsch spricht und als «secrétaire du Block» eingesetzt wird, erhält diese wichtige Informationen, die den anderen Französinnen vorenthalten sind und verschafft sich und ihrer Tochter die Vergünstigungen, als «Verfügbare» zu arbeiten, den Schlafplatz nur noch mit einer anderen Frau teilen zu müssen und bewirkt, dass man sich um Béatrix kümmert als diese ernstlich erkrankt. Auch beim Appell hilft die Mutter Béatrix während ihrer Krankheit; immer wieder ist Béatrix froh, dass sie die Selektionen überstehen und zu zweit bleiben dürfen: «Pour ma part, quel que soit le motif d’appel, l’angoisse éteint mon cœur, c’est que nous sommes deux: Maman et moi. La pauvre Coury, quels que soient ses efforts, n’a pu sauver sa mère, et d’autres sont dans le même cas (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 271).120
Die Mutter-Tochter-Beziehung bleibt bei Charlotte Delbo auf der Ebene des Schutzes, der Hilfsbereitschaft und der Aufopferung. Charlotte Delbos eigene Mutter spielt in der Trilogie keine Rolle. Diese wird nur kurz erwähnt, wobei hier die Mutter stellvertretend für alle Bindungen, für den Abschied vom normalen Leben und für die schwächer werdende Lebenskraft steht: «Ma mère c’était des mains un visage. Ils ont mis nos mères nues devant nous» (Auschwitz I, 23). «Je vois ma mère avec ce masque de volonté durcie qu’est devenue son visage. Ma mère. Loin» (Auschwitz I, 104). Überraschend ist es deshalb, warum sie ihre Kameradinnen, die ihr mehrfach das Leben retten, mit ihrer bzw. einer Mutter vergleicht. Der Begriff der Mutter wird hier abstrahiert, bezieht sich Charlotte Delbo doch auf die Idee des Mutterseins: die Mutter hat Leben gegeben und schützt vor dem Tod, «indem sie durch ihr bloßes Dasein eine Illusion von Permanenz erweckte.»121 Diesen allgemeinen Begriff des Mutterseins greift Delbo gleich zu Beginn ihrer Trilogie auf: «Ici les mères ne sont plus les mères à leurs enfants» (Auschwitz I, 23) – die Mütter können in dieser Umgebung des Schreckens nichts mehr für ihre Kinder tun. Die Mütter und Kinder, die beieinander bleiben durften, leben in ständiger Angst, dass sie getrennt werden, wobei hier die Kinder als Inbegriff des Lebens stehen (das ihnen von der Mutter gegeben wurde): «Les mères gardent les enfants contre elles – elles tremblaient qu’ils leur fussent enlevés» (Auschwitz I, 11). Und umgekehrt werden die älteren Mädchen von ihren Müttern dazu aufgerufen, ––––––– 120
121
Mit «Coury» ist Germaine Tillion gemeint, die ebenfalls mit ihrer Mutter nach Ravensbrück deportiert wurde. Obwohl Béatrix de Toulouse-Lautrec von Selektionen schreibt, bei denen Germaine Tillion große Angst hatte, ihre Mutter zu verlieren und es schließlich nicht verhindern konnte, dass diese umgebracht wurde, schreibt diese doch in Frauenkonzentrationslager Ravensbrück an keiner Stelle über ihre Mutter. Sie wählt eine andere Form der Erinnerung und des Gedenkens: Sie hat ihr Werk ihrer Mutter gewidmet. Eliacheff, Mütter und Töchter, 304.
93 lieber sich selbst als auch noch die Mutter zu schützen: Bei einem der Selektions-Rennen befiehlt eine Mutter ihrer Tochter, sie zu verlassen: «J’ai vu Madame Brabander quand la Drexler l’a arrêtée avec sa canne. Elle a dit à sa fille ‹Sauve-toi. Cours. Laisse-moi›» (Auschwitz I, 63). Das Fehlen einer Mutter ist zugleich auch ein Verlust von Identitätsbezügen, der Irritationen auslösen kann, bzw. der Identitätsbezug verlagert sich auf andere – im Falle Delbos auf die Kameradinnen. Interessant ist hierbei, dass vor allem der sensitive Aspekt betont wird: Beim Appell droht Charlotte Delbo das Bewusstsein zu verlieren. Allein durch Vivas Ohrfeigen wird sie wieder aufgerüttelt. Mit aller Kraft schlägt die Freundin zu und sagt wieder und wieder ihren Namen. «Elle dit et dit encore mon nom qui m’arrive lointain du fond du vide – c’est la voix de ma mère que j’entends. La voix se fait dure: ‹Du cran. Debout›» (Auschwitz I, 106). Das Possessivpronomen «ma» verdeutlicht die hilflose Situation, in der sich Charlotte Delbo befindet – sie ist das Kind und Viva ist die Mutter in diesem Augenblick. Charlotte fühlt (und schreibt selbst), dass sie an Viva hängt wie ein Kind an seiner Mutter: «Et je sens que je tiens après Viva autant que l’enfant après sa mère. Je suis suspendue à elle qui m’a retenue de tomber dans la boue, dans la neige d’où on ne se relève pas» (Auschwitz I, 106).
Vom sehr persönlichen «ma mère» wechselt Delbo nun zu «l’enfant après sa mère» – diese allgemeinere Form zeigt eine Entfernung und zugleich die Rückkehr der Erzählerin zum Bewusstsein und schließlich zum Weiterarbeiten. «Je suis au milieu de mes camarades. Je reprends place dans la pauvre commune chaleur que crée notre contact [...]» (Auschwitz I, 106f). Der kurze emotionslose Einschub Delbos von Vivas Tod bleibt zunächst isoliert stehen, doch da sich diese Beziehung als Mutter-Tochter-Beziehung definiert hat, rekurriert Delbo nochmals darauf und verwendet eine Metapher für das Sterben Vivas, um ihren Schmerz ausdrücken zu können: Delbo beschreibt, wie Viva vom Tod in Besitz genommen wird. Es ist keine ästhetisierende Beschreibung, doch wird hier der Tod als eigenständige Person gesehen («La mort a déjà saisi sa main [...] C’est la dernière fois que je verrai Viva. Aucune larme ne m’est venue. Il y a longtemps, longtemps que je n’ai plus de larmes» [Auschwitz II, 67]). Eine tröstende und zugleich lebensrettende Funktion nimmt auch eine andere Kameradin ein: Bei der Arbeit wendet sich Charlotte Delbo an eine Kameradin (Lulu) und gesteht, dass sie nicht mehr fähig ist weiter zu arbeiten. Tröstend berührt Lulu ihren Arm und schlägt Charlotte vor, dass diese sich hinter sie stellen soll, um weinen zu können. Lulu arbeitet weiter
94 und trocknet mit ihrem Ärmel sanft Charlotte Delbos Gesicht; schließlich kann sie diese wieder dazu motivieren, weiter zu arbeiten. «Je ne sais plus pourquoi je pleure lorsque Lulu me tire: ‹C’est tout maintenant. Viens travailler. La voilà.› Avec tant de bonté que je n’ai pas honte d’avoir pleuré. C’est comme si j’avais pleuré contre la poitrine de ma mère» (Auschwitz I, 168).
Hier wird nicht nur körperliche Nähe suggeriert (obwohl realiter keine vorhanden ist und Delbo sich nur ausruhen kann), sondern auch mit der «poitrine de ma mère» ein frühkindliches Stadium signalisiert, das Schutz und Fürsorge zugleich bedeutet. Eine ganz besondere Form parafamiliärer Strukturen stellt die Etablierung einer Kleinfamilie im Raum der Gefangenschaft in Ravensbrück dar: Béatrix und einige Kameradinnen geben sich familiäre Namen und verwenden Bezeichnungen des Alltaglebens (zum Markt einkaufen gehen, putzen, «Faire le ménage, cela consiste à entasser les caisses de telle façon qu’à l’intérieur de la tente on constitue une petite pièce» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 261]). Dieses Vorspielen einer Familie122 (Béatrix wird sogar durch einen «offiziellen» Akt von zwei Kameradinnen adoptiert) bedeutet für die Frauen auf der einen Seite ein Suggerieren von Normalität unter abnormalen Umständen, aber auch eine Erschaffung eines eigenen kleinen (imaginären) Territoriums, das außerhalb der Macht der Täter liegt. Als eine Art Steigerung der Kameradschaft verwendet Béatrix de ToulouseLautrec den Begriff «sœurs» für besonders geschätzte und lieb gewonnene Kameradinnen, die ihr Zuversicht und Stärke vermitteln («Ces compagnes de cellule sont devenues des sœurs, alors tout est facile maintenant que Marthe est là» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 146]). Ihre einzige Freundin, die sie in Ravensbrück gefunden hat, ist für sie der Inbegriff eines guten Menschen und einer Schwester. Bei der Beschreibung ihrer «unique amie» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 203) kommen Béatrix de Toulouse-Lautrec zum ersten (und einzigen) Mal Zweifel, ob sie eine adäquate Form im Schreiben finden kann, um dieser Frau gerecht zu werden. ––––––– 122
«Nous formons là une drôle de famille, mais bien unie. Elle est d’ailleurs très large. Ma mère à moi est le petit-fils de Bérangère et de Marcelle. Suzy est notre grand-père à toutes; Lucienne est le gendre. Quant à Wanda, du bureau, elle est notre notaire. Et le 18 avril, jour de mon anniversaire, elle a réussi à dresser un acte notarié sur parchemin, signé et contresigné de mes parents, me reconnaissant pour fille, sinon naturelle, tout au moins légitime. Que de fous rires! Notre famille porte le nom illustre de ‹Comte de la Couillonade, Marquis de la Porcelaine› et nos armes représentent un écu en bannière ‹or› sur lequel se détache un pou ‹gueule›» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 262).
95 «Peut-on analyser dans un livre le cœur d’une sœur? Je ne m’en sens pas le courage et, pourtant, je voudrais fixer à jamais le visage d’une Française et d’un grand cœur» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 200).
Sie thematisiert den Verlust dieser «Schwestern» und Kameraden beim Abschied von Ravensbrück.123 Wie bereits ausgeführt, spielt die Sorge um die anderen auch für das eigene Überleben eine wichtige Rolle. Die Herausforderung des Lagerlebens bestand darin, in einer unmenschlichen Umgebung Mensch zu bleiben. In einigen Werken der KZLiteratur findet man Beschreibungen von Frauen, die als Waisenkinder ins KZ gebracht wurden und nicht nur mütterliche Gefühle zu den fremden Kindern entwickelten, sondern auch selbst damit wieder Lebensmut und willen schöpfen konnten. Klara erinnert sich in Le non de Klara an ihre Beziehung zu einem kleinen Jungen im KZ, erzählt, wie dieser ihr zur Aufgabe und zum Lebenszweck wird und wie, nach seinem Tod, ihr jeglicher Lebenssinn abhanden kommt. In Ravensbrück blieben im Durchschnitt von 100 Kindern nur fünf bis zehn am Leben. Seit 1942 waren auch größere Kinder im Lager, denn viele der evakuierten Frauen aller Nationen hatten ihre Kinder mitgebracht.124 Die Frauen bereiten eine Weihnachtsfeier für die Kinder vor. «Die offene Durchführung der Feier konnten aber die SS-Männer und die Naziweiber nicht verhindern; die Liebe der Mütter, Frauen und Mädchen war das eine Mal stärker als sie.»125 Weihnachten als Fest der Familie wird auch bei Béatrix de ToulouseLautrec und Charlotte Delbo thematisiert: Weihnachten dürfen Mutter und Tochter zwar gemeinsam begehen,126 doch bedeutet es für beide zugleich ––––––– 123
124
125 126
«[...] Lorsque les camions blancs nous sortirent de l’enfer, je n’éprouvais pas de joie, seulement une profonde douleur de devoir laisser sur la terre étrangère mon unique amie» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 203). Eine Zeitzeugin berichtet, wie die Anwesenheit der Kinder in den Frauen mütterliche Gefühle hervorgerufen hat: «Jahrelang haben diese Frauen nichts gekannt, als ihr eigenes Leid. Jahrelang haben sie keinen anderen Gedanken gehabt, als den, an ihre Lieben zu Hause und den, an das eigene Ich im Lager. Und dann sind die Kinder gekommen. In den Müttern, ja in allen Frauen erwachte ein Gefühl, das sie hinausführte über den engen Kreis des eigenen Ichs» (Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Geschildert von Ravensbrücker Häftlingen. Wien 1945, 23). Ebd., 24. Eine beinahe grotesk anmutende Form der Mutter-Tochter-Beziehung wird im Kontext des Weihnachtsfestes angesprochen: die Aufseherin eines Blockes (Blockova) und ihre ihr unterstehenden Häftlinge («Je suis votre mère et vous êtes mes chers enfants. Je songeais aux coups de cravache de notre mère» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 242]). Diese Mutter-Tochter-Beziehung ist nicht reziprok. Zwar vergleicht die Blockova «mes enfants» (die Häftlinge) mit ihrem eigenen Kind, das sie vor 17 Jahren verlassen hat, und betont den familiären Charakter von Weihnachten, doch wird in ihrer Ansprache an die Häftlinge deutlich, dass sie sich den strengen Lagerregeln unterwirft («Il me faut parfois être sévère,
96 die schmerzliche Erinnerung an Zuhause («pour ma part, j’attends avec impatience le lendemain. Ce fut la journée la plus triste de l’année» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 243]), eine Suggerierung eines friedlichen Raumes im Grauen der Gegenwart des Lagers.
2.5
Heterotopien des Lagers – «qu’il parlait bien, Alceste»
2.5.1 Grenzen Im Folgenden soll auf die Funktion der kulturellen Tätigkeiten im Lager eingegangen werden und Beispiele über das friktionsreiche Nebeneinander von Kultur und Nazismus gegeben werden. Mehrere Grenzen trennten das Lager von der Außenwelt und das Lager wurde somit ein «verschwiegener Terrorort inmitten der Gesellschaft.»127 Nicht nur physische Schranken, Todesdrohungen und Kollaboration, auch eine geistige Mauer riegelte den Lagerraum ab (eine strenge Postzensur, Verbot von Privatgesprächen mit den Zivilarbeitern und das vollständige Schreibverbot für bestimmte Häftlingskategorien sowie keinerlei Briefkontakt zu Angehörigen verhinderten jeglichen sozialen Austausch). Die Grenze war eine Tabuzone, wobei jegliche Art von Überschreitung einem Todesurteil glich (vgl. Auschwitz I, 113). Da den Häftlingen alle Wertsachen beim Eintritt in das Lager abgenommen wurden, konnten materielle Erinnerungen an die Heimat oder die Familie nicht aufrechterhalten werden – somit wurden die letzten Verbindungen an das Leben davor zerstört («J’ai très envie de pleurer, devant tant de ruines, tant de souvenirs envolés. Et j’ai compris qu’il ne nous fallait plus avoir de souvenirs» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 141]). Die Möglichkeiten, die äußere Welt in die Gefangenschaft hineinzuholen, sind an physische und psychische Bedingungen geknüpft: Die Stellung im Lager war entscheidend, Fluchtgedanken stellten zwar eine Verbindung zur Außenwelt dar, doch wurde die Freiheit immer mehr zum irrealen Begriff. Die freie Welt bot nur am Anfang der Gefangenschaft eine Opposition, schließlich verlagerte sich (zwangsläufig) die gesamte Konzentration auf das Dasein im Jetzt. Das subjektive Erinnern hängt mit dem kollektiven Gedächtnis zusammen. Im Erinnern und im Dialog bilden sich Außenräume, die direkt –––––––—
127
mais c’est toujours votre intérêt et votre bien que je recherche» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 242]) und die Strenge einer Mutter ins Absurde verkehrt wird: das tägliche Sterben und Töten gehört zu den Lagergesetzen. Sofsky, Terror, 70.
97 auf das Erleben und Erzählen des realen Raums einwirken und somit auch die Verfassung der Häftlinge bestimmen. 2.5.2 Grenzüberschreitungen Der Bezug zu Räumen außerhalb des Lagers kann auf verschiedene Weise funktionieren: sei es durch Erinnerungen an ein Leben in Freiheit, Hoffnung, sei es durch kulturelles Gedächtnis, sei es durch Nachrichten über die Alliierten, durch Erhalt von winzigen Ritualen der Zivilisation oder durch Aktivierung des kulturellen Gedächtnisses. Angesichts der hoffnungslosen Situation und einer absurden Arbeitssituation (die Arbeit war darauf ausgerichtet, die Arbeitsfähigkeit zu vernichten; durch systematische Überlastung ohne Regeneration und Untertechnisierung sowie durch End- und Sinnlosigkeit der Arbeit) waren Fluchtreservate (wie beispielsweise Gerüchte,128 Religion,129 Ideologien,130 Phantasiefluchten) für das psychische Überleben essentiell.131 «Combien de temps avons-nous marché? Je ne sais pas. Et quel travail avons-nous fait? Je ne le sais pas non plus» (Auschwitz II, 52). Fluchtreservate oder Freiräume, die nur im Kollektiv verwirklicht werden können, werden von Béatrix de Toulouse-Lautrec und Charlotte Delbo jeweils mit anderer Schwerpunktsetzung beschrieben. Beide Autorinnen zitieren die großen Künstler der Weltliteratur, um dem grausamen Alltag zu entrinnen, und diskutieren bei erschöpfender Arbeit über Literatur und Musik, aber auch über alltägliche Dinge: «On avait besoin de pureté, de clarté, c’était bon, pour des bagnardes, de parler de Bach, de Corneille, de Platon, de Raphael, et aussi d’un bon beefsteak béarnais!» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 219). Bei Béatrix de ToulouseLautrec gewinnt der Glaube noch eine zusätzliche Gewichtung – sowohl in Montluc als auch in Ravensbrück finden die Frauen im Glauben die Kraft ––––––– 128
129
130
131
Die flüchtigste Form einer kollektiven Zukunftsfiktion ist das Gerücht. Nachrichten von baldiger Befreiung etc. stärkten nur kurzzeitig den sozialen Zusammenhalt und die Widerstandskraft (vgl. Sofsky, Terror, 110). Religionen liefern interpretative Modelle, mit denen gegenwärtige Ereignisse in einen Erwartungshorizont eingeordnet und im Lichte einer fiktiven Zukunft gedeutet werden können. Gegen die Dissoziation des Terrors hielten Gemeinschaften der Gläubigen zusammen (vgl. Sofsky, Terror, 110). Gegenüber der Religion hatte die politische Ideologie den Vorteil des direkten Realitätsbezugs. Sie definierte eine diesseitige Zukunft, deren Verlauf auch davon abzuhängen schien, was im Lager an Opposition geleistet wurde und was die Verbündeten außerhalb des Lagers erkämpften (vgl. Sofsky, Terror, 110). Sofsky, Terror, 107: Die Abwehr der Vergangenheit war unerlässlich, um sich vor Niedergeschlagenheit und Depressionen zu schützen. So war das Lager ein System des Vergessens.
98 weiterzuleben («Il y en a qui ne croient à rien et qui rient, mais beaucoup pleurent et il semble qu’après la messe on se sente plus uni et plus fort!» [Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 153]). Gemeinsames Singen (sowohl bei Delbo als auch bei Béatrix de Toulouse-Lautrec wird mehrfach die Marseillaise angestimmt) richtet die Frauen auf, ordnet sie ihrem vermissten Heimatland zu und lässt sie hoffen, aus ihrer Opferposition irgendwann die Möglichkeit zu haben, selbst zu den Waffen greifen zu können. Die Weitergabe von Informationen stellt eine wichtige Komponente im Kampf ums Überleben und um das Bewahren des Gedächtnisses dar: «Les nouvelles, c’est l’art d’interpréter» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 97). Germaine Tillions Le Verfügbar aux enfers, das Béatrix während ihres Aufenthalts im Revier II erhält, bietet eine besondere Form der Informationsweitergabe, denn diese Schrift stellt den Versuch einiger Frauen dar, durch eine Art Operette die Missstände im Lager zu thematisieren, die Frauen zu informieren und zu motivieren – «C’est un chef-d’œuvre»132 (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 229). Eine ungewöhnliche Form, Erlebnisse im Lager zu dokumentieren, ist Le Verfügbar aux enfers, das sich laut Manuskript als «opérette revue» versteht, als eine Art Varietéevorstellung, die durch die Verwendung verschiedener Text- und Musikgattungen die kollektive Zusammenarbeit widerspiegelt, aber auch durch den fragmentarischen Charakter eine formale Entsprechung der erlebten Wirklichkeit des Lageralltags darstellt. Le Verfügbar aux enfers ist ein Gesamtwerk von einer Gruppe französischer Häftlinge, die aufgrund ihrer Résistance-Mitarbeit nach Deutschland deportiert worden war. Im Konzentrationslager Ravensbrück gehörte Germaine Tillion zur Gruppe der «Verfügbaren.» Als «Verfügbare» ergriff sie unbemerkt die Möglichkeit, während das Kommando der «Verfügbaren» im Herbst 1944 Waggons entladen musste, in einer Kiste im Aussortierdienst, der die Kleidung von deutschen Plünderungen sortierte, innerhalb von 20 Tagen die Operette Le Verfügbar aux enfers zu schreiben. Germaine Tillion profitierte nicht nur von der Komplizenschaft einer tschechischen Gefangenen, Vlasta Stachova, die in der Bauleitung arbeitete, sondern auch von der Solidarität und Kameradschaft der Häftlinge untereinander, die es ermöglichten, dass sie ––––––– 132
Es gibt kein anderes im Lager entstandenes Werk, das dieser Textgattung nahe kommen würde. Le Verfügbar aux enfers ist ein Text in Form einer Operette, der in Ravensbrück von einer Gruppe französischer Häftlinge verfasst wurde. Maßgebend an der Entstehung war Germaine Tillion beteiligt, wobei eine andere Überlebende des Lagers (Anise PostelVinay) das Manuskript aus dem Lager mitnahm. Germaine Tillion schrieb während ihrer Haftzeit diese Operette (im Schutz eines Verstecks), deren Arien Offenbachs Operetten entlehnt sind und erzählt die Versuche der Verfügbaren, der Arbeit zu entkommen, sowie die Versuche eines Naturalisten, diese noch unerforschte Spezies zu beschreiben. Der Text weist mitunter den Rhythmus der Fabeln La Fontaines auf.
99 unentdeckt schreiben konnte. Germaine Tillion setzte in ihrem Versteck die Operette (in 3 Akte gegliedert, «Printemps,» «L’été» und «Hiver») aus Segmenten zusammen, die sie zuvor im Kollektiv mit ihren Kameradinnen memoriert hatte. Am Abend, in den stickigen Baracken, rezitierte sie zur großen Freude der Kameradinnen die Szenen. Die kritische Distanz der «teilnehmenden Beobachterin,» mit der Germaine Tillion ihre Umwelt als Ethnologin studiert hatte, konnte sie sich auch im KZ erhalten. Sie zwang sich im Lager, diese neue Welt, die die Nazis geschaffen hatten, zu beobachten und geistig zu durchdringen, um so den Freundinnen ihre Existenz vor Augen zu führen und ihnen Möglichkeiten des Überlebens aufzuzeigen: Auf der einen Seite Überleben und Erhaltung der durch die SS aberkannten Menschenwürde, durch Lachen, auf der anderen Seite Überleben durch die Evozierung klassischen Kulturguts, das nicht nur den Geist stimulieren sollte, sondern auch an das Leben in der Vergangenheit erinnern sollte. «[...] elle les fait rire et, en même temps, leur transmet une analyse lucide de la situation dans les camps. Lucidité, malice et tendresse marchent de concert.»133 Der Text hat seine eigentliche Funktion bereits erfüllt: Er hat den Frauen, die das Glück hatten, an Germaine Tillions Rezitation teilzunehmen, den Mut und die Kraft zum (Über-)Leben vermittelt. Als sich die Lagerbedingungen änderten, musste Germaine Tillion ihre Arbeit beenden. Im April 1945 wurde Ravensbrück befreit. Eine Freundin, Jacqueline d’Alincourt, brachte das kleine Buch aus dem Lager, eine Kameradin Germaine Tillions aus Ravensbrück Anise PostelVinay hat es jetzt verlegt. Die Bedeutung der gemeinsamen Kommemoration, die sich durch Le Verfügbar aux enfers zieht, ist auch (lebens-)notwendiger Bestandteil des Lageralltags bei Toulouse-Lautrec und Delbo. Weihnachten wird für alle Anlass, sich der persönlichen und nationalen Wurzeln zu erinnern. Die Russinnen singen nostalgische Lieder, die Polinnen rezitieren Gebete, die Französinnen organisieren eine Séance: «Stille Nacht, Heilige Nacht, douce nuit, sainte nuit, et il y a eut beaucoup de larmes. Les Polonaises aussi chantèrent des Noëls, et les Russes, et les Tchèques, et nous nous esquivâmes, Maman et moi, afin de nous rendre à l’invitation de Wanda, au Block 15» (Toulouse-Lautrec, Ravensbrück, 242). Mit Weihnachtsbaum und «Weihnachtsessen» wird ein Raum der Vergangenheit suggeriert und Bestandteile des vergangenen Lebens verschmelzen mit der Grausamkeit der Gegenwart. ––––––– 133
Tzvetan Todorov: Mémoire du mal. Tentation du bien. Enquête sur le siècle. Paris 2000, 314.
100 2.5.3 Literatur als Fluchtreservat Die Nutzung von Literatur diente vor allem zur Stärkung der Widerstandskraft der Häftlinge, stellte also selbst eine Form des Widerstandes dar.134 Kultur und Kunst bilden nur eine Form des Widerstands, der sich im Geheimen abspielte, zunächst individuell, später mitunter auch im Kollektiv. Die Literatur hatte verschiedene Funktionen im Kampf um die Stärkung der Widerstandskraft der Häftlinge: Literatur diente als Grundlage politischideologischer Bildung und religiöser Erziehung in individuellen und kollektiven Formen. Das Lesen von Zeitungen war bereits seit Beginn Teil der politischen und kulturellen Betätigung einiger weniger Häftlinge im KZ und ermöglichte diesen (auf offiziellem Weg [nationalsozialistische oder «gleichgeschaltete Presseerzeugnisse»]) oder auf illegalem Weg (u.a. von Häftlingen selbst hergestellte Presseorgane) eine relativ umfassende Information über das (Kriegs-)Geschehen in der Welt zu erhalten. Sich mit schöngeistiger Literatur befassen zu können, war stark abhängig von der Stellung im Lager und der psychischen Situation des Häftlings. Lesen ist im Lager immer schon mit Kulturtätigkeit verbunden. Lesen und Schreiben verbindet Vergangenheit und Gegenwart in signifikanter Weise. Beim Lesen von Texten erinnert sich der Lesende zurück an die Freiheit und auch an den Umstand, in dem er früher den Text gelesen hat. Zum anderen bedeutet es auch einen Schnitt, einen Ausweg aus der konkreten Gefangenschaft über zeitlich und räumlich ferne Geschehnisse. Lesen wird als Kontrapunkt zur Zerstörung der Gefangenen, physisch, aber vor allem auch psychisch, wichtig. «Der Lesende sieht sich, sofern er nicht zur Unterhaltung liest, als Kulturträger; als Kulturträger wird er aber wieder zu dem, der er vor der Gefangenschaft war. Lesen wird so zum symptomatischen Beweis der Kontinuität der Haltung.»135
Bei Charlotte Delbo sieht man einen deutlichen Zusammenhang zwischen der «Freiraum-Gestaltung» und der Stellung im Lager. Räume, an die man sich ausgehend von der Lagerschilderung erinnert, wirken auf die Schilderung der Erzählerin und bestimmen deren Verfassung. Erst durch eine Verbesserung der Arbeitssituation ist sie körperlich nicht mehr so geschwächt und für neue geistige Anregungen und Gedanken offen.136 Die ––––––– 134
135 136
Rolf D. Krause: «Vom kalten Wind. Leseverhalten und Literaturrezeption in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.» In: Rainer Noltenius (Hg.): Alltag, Traum und Utopie. Lesegeschichten – Lebensgeschichten. Essen 1988, 124–140, hier: 128f. Krause, Leseverhalten, 130. Im August 1943 wurden die Überlebenden des Transports in Quarantäne geschickt sowie einem commando privilégié im Versuchs-Labor Rajsko bei Auschwitz zugeteilt; seitdem lebten und arbeiteten sie unter günstigeren Bedingungen. Bei den unmenschlichen
101 freie Welt ist eine Parallelwelt, in die es zurückzukehren gilt. Mit dem Andauern der unmenschlichen Situation allerdings wird die freie Welt immer irrealer, wird mehr und mehr zur Utopie. Bei den Autoren sieht man einen deutlichen Zusammenhang zwischen dieser «Freiraum-Gestaltung» und der Stellung im Lager. In einigen Zeugnissen wird, ausgehend von der Lagerschilderung, an Räume außerhalb des Lagers erinnert: So erfährt etwa Primo Levi durch das Wiederholen von Versen der Divina Commedia seine Umgebung neu;137 dieses meist kollektive Erinnern vereint nicht nur die Häftlinge untereinander, sondern bietet auch ein Refugium, um sich aus dem erdrückenden Lageralltag zu entziehen und den gegenwärtigen Gefängnisraum zu ertragen. Die Philosophie bietet Jorge Semprún138 die Möglichkeit, sich dem Lageralltag zu entziehen bzw. eine lebensrettende Distanz zwischen sich und dem Lager aufzubauen. Jean Améry reflektiert die Opferexistenz und welche Bedeutung Geistesbildung im Lager hat. Er allerdings kommt zu dem Schluss, dass die intellektuelle Grunddisposition einem Lagerhäftling nicht hilft und Literatur keine Kraft mehr für ihn entfalten kann.139 Delbo versucht ihre Erinnerung zurückzubekommen, indem sie ihr Gedächtnis trainiert: «Depuis Auschwitz, j’avais eu peur de perdre la mémoire. Perdre la mémoire, c’est se perdre soi-même, c’est n’être plus soi. Et j’avais inventé toutes sortes d’exercices pour faire
–––––––—
137
138
139
Zuständen während des Lageralltags findet man allerdings bei Delbo keine Fluchtgedanken – das Geschilderte ist so grausam und die (wenigen), die Fluchtversuche unternommen haben, wurden, so auch im Text Delbos, umgebracht. Durch Kommunikation über den Text gewinnt Primo Levi eine veränderte Haltung zum Geschehen, wobei zugleich eine neue Bedeutungsschicht am Text freigelegt wird. Rezeption wird so zur Produktion, in der sich der Text und das Subjekt in seiner Situation gleichermaßen erschließen (vgl. Levi, Uomo, 1958). Jorge Semprún, der 1944 als Mitglied der Résistance nach Buchenwald deportiert worden war, lieh sich aus der Lagerbibliothek in Buchenwald immer wieder Bücher aus. Er konnte sogar in Buchenwald die philosophischen Lektüren seiner Studienzeit (Kant, Schelling, Fichte, Hegel, Heidegger) fortführen und vertiefen. Auch das Festhalten an einer politischen Ideologie (Überleben auch durch marxistische Ideologie) half ihm zu überleben (vgl. Jorge Semprún: L’écriture ou la vie. Paris 1994). Der Zustand der äußersten physischen Entbehrung, die den Häftling ganz auf sich und seine Körperlichkeit zurückwirft, wird durch die physische Isolation verschärft. Die Geistesbildung wurde «einerseits, psychologisch, zu etwas ganz und gar Irrealem und andererseits, sofern man es in sozialen Begriffen definiert, zu einer Art von unerlaubtem Luxus» (Améry, 19). Anhand einer Episode, in der Améry einige Verse eines HölderlinGedichtes rezitiert, die aber in diesem Moment keine transzendente Bedeutung mehr für ihn haben, erkennt er, dass für ihn im Lager der Geist seine Grundqualität und Transzendenz verloren hat (vgl. Jean Améry: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1966, 19).
102 travailler ma mémoire: me rappeler tous les numéros de téléphone que j’avais sus, toutes les stations de métro ...» (Auschwitz II, 124).
Delbo konzentriert sich in ihrem Werk auf zwei Begebenheiten, mit denen durch kollektives Erinnern an Räume außerhalb des Lagers die Häftlinge miteinander vereint werden, und zugleich finden die Frauen dadurch ein Refugium, um sich aus der erdrückenden Alltagslast zu befreien und den präsenten Gefängnisraum zu ertragen. Delbo tauscht Brot, um ein Heft von Le Misanthrope zu erhalten; somit ist sie ohne Nahrung und damit auf die Hilfe der anderen angewiesen. Die Frauen teilen ihre Brotrationen auf, um von Delbo den Text vorgelesen zu bekommen: «Qu’il parlait bien, Alceste. Que sa langue était précise et ferme, que son allure était simple [...] J’ai appris Le Misanthrope par cœur, un fragment chaque soir, que je me répétais à l’appel du lendemain matin» (Auschwitz II, 124f).
Die Inszenierung von Le Malade Imaginaire ist ein blendendes Beispiel für die gemeinsame Arbeit der Frauen und der Aktivierung des kollektiven Gedächtnisses: Nach sechs Monaten Todeslager wird eine kleine Gruppe zu einem in einiger Entfernung gelegenen privilegierten Kommando geschickt. Nach einiger Zeit, so schreibt Delbo, gewinnt sie wieder ihr menschliches Aussehen zurück. Dann kommen auch wieder Gedanken an Kultur, Literatur und Zerstreuung und somit keimt der Gedanke, ein Stück aufzuführen: Le Malade imaginaire. «Cependant, objecterez-vous, chacun n’avait il pas son bagage de souvenir? Non. Le passé ne nous était d’aucun secours, d’aucune ressource. Il était devenu irréel, incroyable. Tout ce qui avait été notre existence d’avant s’effilochait» (Auschwitz II, 90f.).
Zum Leben zurückkehren bedeutet zugleich zu Erinnerung und Gedächtnis zurückzukehren. «Et voilà que dans ce petit camp, nous revenions à la vie et tout nous revenait. Tous les désirs, toutes les exigences. Nous aurions voulu lire, entendre de la musique, aller au théâtre» (Auschwitz II, 91). Claudette, die im Labor arbeitet, unternimmt es, Le Malade imaginaire aus dem Gedächtnis aufzuschreiben; Eva, die Zeichnerin, macht ein Plakat für die Barackentür: «Le Malade imaginaire, d’après Molière, par Claudette. Costumes de Cécile. Mise en scène de Charlotte. Agencement scénique et accessoires de Carmen» (Auschwitz II, 92). Die Initiatorinnen suggerieren hier bewusst den gewöhnlichen Ablauf einer Theatervorstellung; sie zeigen einen unglaublichen Erfindungsreichtum bei Kostümen und Kulissen, einen großen Eifer beim Schauspiel. Mit der Kreation eines neuen Raumes (der Bühne) erschaffen die Frauen zugleich einen fiktiven Ort als auch einen (umfunktionierten) Raum der Gegenwart. Zum ersten Mal verlieren die
103 Frauen unter der Vorbereitung für die Aufführung die Sorge um Brot, Suppe, um den Dienst. «C’était magnifique parce que, pendant deux heures, sans que les cheminées aient cessé de fumer leur fumée de chair humaine, pendant deux heures, nous y avons cru» (Auschwitz II, 95f.).
Als Charlotte Delbo aus dem Konzentrationslager zurückkam, erklärte sie einem Journalisten die Bedeutung der Literatur für ihr Leben und für ihr Schreiben: «Quand je suis rentrée du camp, j’ai voulu témoigner. Il fallait que quelqu’un rapporte les paroles, les gestes, les agonies d’Auschwitz [...] Chacun témoigne avec ses armes ... Je considère le langage de la poésie comme le plus efficace – car il remue le lecteur au plus secret de lui-même – et le plus dangereux pour les ennemis qu’il combat [...] Je me sers de la littérature comme d’une arme, car la menace m’apparaît trop grande.»140
Die immense Bedeutung von Literatur als Fluchtreservat für Charlotte Delbo zeigen zwei Stücke Delbos (die hier nur kurz erwähnt werden sollen), die sich ganz explizit mit diesem Thema beschäftigen, wobei Les Hommes, ein Theaterstück, das Delbo 1978 schrieb, in diesem Zusammenhang besonders interessant ist, da die Grundkonstellation die gleiche ist wie in der geschilderten Misanthrope-Szene und auch hier das Theaterstück ideal zur bewussten Wahrnehmung der Situation dient:141 Im Stück steht Françoise als Delbos alter ego bzw. Stellvertreterin.142 Les Hommes erzählt von den Vorbereitungen eines Bühnenstücks, das von Frauen, die kurz vor ihrer Deportation stehen, inszeniert wird. In Romainville, einem Gefangenenlager, in dem jeden Tag die Angst regiert, ob die eigenen Männer erschossen werden, lenken sich die Frauen durch eine Komödie (Alfred Mussets Un Caprice) ab. Der erste Akt von Les Hommes zeigt, wie die Frauen das Bühnenstück organisieren. Madeleine, die Bühnenbildnerin, erklärt den Sinn des Stückes: «Il faut une pièce qui ––––––– 140 141
142
Fran ois Bott: «Entretien avec Charlotte Delbo: ‹Je me sers de la littérature comme d’une arme.›» Le Monde 20. Juni 1975, 83. Claude Schumacher nimmt u.a. Stellung zu Delbos unveröffentlichten Stück Les Hommes. Es ist ein Zeugnis von Charlotte Delbos unglaublicher Willensstärke, sowohl physisch wie psychisch zu überleben. Es erzählt eine Episode von Delbos Leben als Gefangene vor der Deportation (vgl. Claude Schumacher: «Charlotte Delbo: theatre as a means of survival.» In Claude Schumacher: Staging the Holocaust: The Shoa in drama und performance. Cambridge 1998). «The plays are essentially autobiographical while retaining some degree of ‹objective reality› (in the tradition of The Persians, whose author Aeschylus, Charlotte Delbo particularly admired)» (Schumacher, Staging the Holocaust, 219). Françoises/Delbos Mann wurde erschossen; Francoise/Delbo arbeitet beim Theater und wurde während ihrer Haftzeit gebeten, Stücke zu rezitieren.
104 rompe avec notre vie ici et notre vie avant; [...] Des personnages comme il n’en existe plus de nos jours. Quelque chose de tellement différent, que nous plongions dans une autre vie, une autre époque.»143 Als die Aufführung gerade beginnen soll, werden einige der Beteiligten abgeholt, um sich von ihren Männern zu verabschieden. Als die Frauen wieder zurückkommen, sind sie «droites, raides, elles vont à leur lit sans un mot.»144 Doch das Stück beginnt trotzdem: Die Schauspielerinnen mimen nur eine Caprice und sprechen keinen Ton. Die Erklärung, warum Francoise in Les Hommes nicht ein Stück über die Situation der Frauen im Gefängnis geschrieben hat, geben die Frauen selbst: «Mettre en scène notre situation présente [...] Non, cela ne faisait pas une pièce pour nous en ce moment, même en déplaçant l’action dans l’antiquité ... Aucune n’aurait pu jouer son propre rôle. C’était trop dur.» [und Françoise antwortet, Anmerkung der Verf.] «C’est justement la raison pour laquelle je ne peux pas l’écrire. Le jouer, c’aurait été prendre une conscience si aigue de la réalité que personne ne l’aurait supporté. Ni les actrices, ni les spectatrices.»145
Das Stück, zu welchem Françoise in Romainville nicht den Mut hatte, schrieb Charlotte Delbo 37 Jahre später.146 In Spectres mes compagnons zieht Delbo Vergleiche zwischen Menschen, denen sie während ihrer Gefangenschaft begegnet, und Charakteren aus bekannten Romanen und Theaterstücken. Ihre Mitinhaftierten fordern sie immer wieder auf Stücke zu rezitieren oder mit ihnen über diese zu diskutieren. Während des Transports nach Auschwitz hört die Erzählerin zum ersten Mal Alcestes Stimme. Ihre Weggefährten werden nun nicht mehr nur die Frauen sein, die sie in Romainville getroffen hat, sondern auch literarische Gestalten, dramatis personae. «The latter two are as vivid as friends of flesh and blood. Delbo has learned this from her master and friend Jouvet. Although the director is not named in the novella, it is his presence and influence which pervade the text.»147 Spectres mes compagnons beginnt mit einem Gespräch zwischen der Erzählerin und einem unbekannten «tu.» Bei diesem Spaziergang, dessen Protagonisten leicht als Delbo und Jouvet zu erkennen sind, diskutieren die beiden, wie ––––––– 143 144 145 146
147
Zitiert nach Schumacher, Staging the Holocaust, 220. Ebd., 222. Ebd., 224f. Ein weiteres Indiz für einen berechtigten Vergleich zwischen Charlotte Delbo mit Françoise: den nahezu gleichen Dialog, den Delbo in Le convoi du 24 janvier beschreibt (über Selbstmordgedanken mit Maria Alonso [Josée]), gibt sie in Les Hommes wider – zwischen Françoise und Claire. Rosette C. Lamont: «Literature, the Exile’s Agent of Survival: Alexander Solzhenitsyn and Charlotte Delbo.» Mosaic IX/1 (1975–1976), 1–17, hier: 7.
105 ein fiktionaler Charakter sich in eine dramatis personae verwandelt. Diese Unterhaltung wird der Erzählerin den Hintergrund für ihre literarischen, lebensnotwendigen Fluchten im Lager etc. geben. In ihrer Gefängniszelle (in Romainville, ihr Mann ist bereits erschossen worden), erhält sie «The Charterhouse of Parma.» Doch nicht nur das Buch erreicht Delbo, sondern auch der Protagonist. «Stendhal’s young hero, himself a prisoner in the ‹Farnèse Tower› of the citadel of Parma is the most suitable companion at the moment of the narrator’s incarceration.»148 Fabrice verlässt sie jedoch auf dem Weg ins Lager – ihr Direktor und Freund Louis Jouvet ist ihr spiritueller Führer auf ihrer Reise: Er trägt die Maske von Alceste. In ihrer Gefängniszelle begegnet sie Phädra und Undine, deren letztes Treffen mit Hans zugleich das letzte Treffen von Charlotte mit Georges ist. Aber auch Alceste kann den Anblick des Lagers nicht ertragen. Ihre letzte Begleiterin ist Electra. 2.5.4 Zusammenprall von Kultur und Nazismus – «l’orchestre» Der grausame Zusammenprall von Nazismus und Kultur wird im Orchester von Auschwitz deutlich: In «L’Orchestre» beschreibt Delbo, wie berühmte Musiker dazu gezwungen sind, zur Belustigung des Kommandanten und/oder zur Begleitung der Ankömmlinge, die sofort in die Gaskammer geschickt werden, beim Morgenappell zu spielen. Nicht nur die Musik an sich (Wiener Walzer zum Ausmarschieren der Kolonnen) ist eine Parodie, auch die Menschen sind Parodie ihrer selbst geworden («Ne regardez pas les gestes de celle qui dirige. Elle parodie celle qu’elle était dans ce gra nd café de Vienne où elle dirigeait un orchestre féminin, déjà, et cela se voit, qu’elle pense à ce qu’elle était autrefois» [Auschwitz I, 170]). Mit einem beständigen Appell an den Leser («Ne regardez pas,» «N’écoutez pas» [Auschwitz I, 170f.]) unterstreicht Delbo diese grauenhafte Diskrepanz zwischen der Musik («Die fröhliche Witwe») und den Schlägen, die währenddessen die Häftlinge erleiden müssen und gedenkt der in Auschwitz zunichte gemachten Menschen und Kultur («Ne pensez pas à tous les Yehudis qui avaient emporté leur violon» [Auschwitz I, 171]).
––––––– 148
Lamont, Literature, the Exile’s Agent, 8.
106
2.6
Die Figur des Überlebenden – «deux parts en moi»
2.6.1 Gefangenschaft in der Erinnerung Delbo benutzt in La mémoire et les jours, dem der Trilogie nachfolgenden Werk, die Schlangenhaut als Metapher für ihre Erinnerung. In der Eröffnungssequenz, die sich einem anonymen «du» zuwendet, greift Delbo den Gedanken auf, wie die Überlebenden mit der Erfahrung von Auschwitz im Alltag umgehen können. Sie benutzt das Bild einer Schlange, die ihre alte Haut abstößt und mit einer neuen und glänzenden Haut auftaucht, um ihre eigene Schwierigkeit aufzuzeigen, die Erlebnisse in Auschwitz zu verarbeiten: Sie verließ Auschwitz mit einer abgetragenen Haut. Das menschliche Ritual der Erneuerung bedeutet das Wiedererlernen von Gewohnheiten ihres «früheren» oder prä-Auschwitz-Lebens.149 Implizit mit dem Prozess der Erneuerung ist die «Gegenzeit» von Auschwitz, die in die erzählende Erinnerung eindringt. Zwei Stimmen wetteifern hier um die Vorherrschaft: Auf der einen Seite gibt Delbo zu, dass es einige Jahre gedauert hat, bis sich ihre neue Haut wieder gebildet und reorganisiert hat. Auf der anderen Seite weiß sie, auch wenn sich die Schlange gehäutet hat, kann sie doch unverändert bleiben, und Ähnliches trifft auch auf sie zu, denn für die früheren Opfer existiert nicht nur die Erinnerung, sondern auch die «Haut der Erinnerung,» eine hart gewordene Schicht, die man nicht abwerfen kann und dessen Nachwirkung außerhalb ihrer Kontrolle ist.150 Gefragt, wie und ob sie nach ihrer Rückkehr mit der Erfahrung Auschwitz lebt, antwortet Delbo, dass sie neben Auschwitz lebe, dass Auschwitz fixiert und unverändert bleibe und dass sich die Haut der Erinnerung, im Gegensatz zur Schlagenhaut, nicht erneuert. «Neben» Auschwitz zu leben aktiviert einen Vergleich, der um einiges komplexer als das natürliche ––––––– 149
150
Beispielsweise der Gebrauch der Zahnbürste, Toilettenpapier, Taschentuch, Messer und Gabel; wie man lächelt – zunächst mit den Lippen, dann mit Lippen und Augen; wie man vergessene Gerüche und Empfindungen wieder entdeckt – wie den Duft den Regens. Den Vergleich mit der verwundeten Haut, die sich in der Welt nach Auschwitz nicht verbessert, zieht auch Gilberte in Mesure de nos jours: «Tout était meurtrissure et de fait j’avais l’impression d’être couverte de bleus, aucune partie de ma peau qui ne me fît mal» (Auschwitz III, 40). In La mémoire et les jours geht Delbo kurz auf die Möglichkeiten zu Freiräumen im Lager ein (wobei sie hier kontrovers zu Auschwitz et après argumentiert), indem sie feststellt, dass die grauenhafte Realität und die Entbehrungen, die später zur harten Schicht der Erinnerung werden sollten, Delbo und ihre Kameradinnen daran hinderten, sich in die Fantasie zu flüchten. Heute jedoch hat sie psychologische und verbale Strategien entwickelt, um «contending with her albatross. [...] The exploded metaphor of the snakeskin returns in fresh guise, as if it had shed its own earlier implications to reappear with a vividness that is more than metaphorical» (Lawrence Langer: Holocaust Testimonies. The ruins of Memory. New Haven 1991, 4f.).
107 Ereignis der Häutung und Erneuerung ist: eine Verdopplung der Person der Überlebenden, die sich in zwei Begriffen der Erinnerung – «mémoire profonde» und «mémoire ordinaire»151 – manifestiert. Durch beide Arten werden die Überlebenden fähig, Antworten zu finden und verschiedene «Versionen» ihres Überlebens zu erklären. «These memories appear to oscillate between a redemptive or hopeful recollection which emphasizes coalescence, chronology and conjunction, and a despairing or dismantling recollection emphasizing disruption, absence and irreversible loss.»152 In der Retrospektive versucht Delbo nun einen Zugang durch eine Art doppelter Existenz: Die normale prä- oder post-Auschwitz-Person ignoriert die Auschwitz-Person oder verhält sich so, als hätte diese nie existiert. Trotzdem beinhaltet die Existenz im Jetzt ein Gedächtnis an die Auschwitzzeit, wobei der Überlebende dagegen ankämpft und versucht, die beiden Ebenen zu trennen; er lebt aber in der ständigen Angst, diese Erinnerung könnte in die post-Auschwitz-Phase übertreten – «Alors vous saurez qu’il ne faut pas parler avec la mort c’est une connaissance inutile.» heißt es im zweiten Teil der Trilogie (Auschwitz II, 185). Dieses Doppelgängertum oder diese Spaltung ist notwendig, um ein Leben nach Auschwitz wieder aufgreifen zu zu können: «Comme s’il y avait deux parts en moi, l’une de rêve, l’autre d’ailleurs» (Auschwitz III, 57). Die extreme Erfahrung müsste also getrennt betrachtet werden, um normal nach Auschwitz leben zu können. Auschwitz et après zeigt den Versuch, das «Ich» und das Geschehen von damals zu rekonstruieren, trotz des anderen Ichs, das sich skeptisch gegenüber dieser Unternehmung zeigt. Dieses Gefühl des «Neben»Auschwitz-leben und das Gefühl des Doppelgängertums setzt sich auch in der Sprache fort. Als Resultat der Lagererfahrung hat nicht nur das «Ich»
––––––– 151 152
Banner, Holocaust Literature, 20. Banner, Holocaust Literature, 20. Eine Form des Erinnerns ruft die Bedeutung, Vereinheitlichung, Chronologie der Ereignisse wach, hoffnungsvoll und erlösend, wobei Erinnerung hier Bedeutung zukommt («Mémoire profonde» versucht das Auschwitz-Ich so in Erinnerung zu rufen, wie es damals war); die andere steht für das Loslösen von Bedeutung, eine Zersplitterung, bedeutet den unwiederbringlichen Verlust der Erinnerung an die Ereignisse, ist verzweifelt und zerstörend, wobei hier die Erinnerung für Zerstörung steht («Mémoire ordinaire» hat eine doppelte Funktion, indem es das «Ich» wieder in den normalen prä- und post-Auschwitz Zustand setzt, aber auch selbständige [unvoreingenommene] Schilderungen, vom überlegenen Standpunkt heute, wie es damals gewesen sein muss, offeriert). Diese Verneinung von Kontinuität und Chronologie manifestiert sich in der Erzählung, und die Strukturierung erfolgt durch den Leser.
108 eine doppelte Bedeutung, sondern auch das Wort. Die Wörter bedeuten für die Überlebenden etwas anderes als für die Gesellschaft.153 Im ersten und zweiten Teil von Auschwitz et après beschreibt Delbo die Ereignisse im Lager und verlässt die Erzählung nur durch kurze Einschübe, Apostrophen an den Leser und lyrisch-reflektierende Passagen, d.h. die Stimme der Überlebenden ist nur teilweise zu hören. Zu Beginn beinhalten diese Einschübe zwar einen direkten Bezug zur Gegenwart («Et maintenant je suis dans un café à écrire ceci» [Auschwitz I, 49]), behandeln aber nicht explizit das Moment des Erinnerns, der Selbstreflexivität und der Infragestellung der eigenen Glaubwürdigkeit, was sich im zweiten Teil stärker abzeichnet: «Je ne vois que le ruisseau. Dans mon souvenir, et j’ai beau solliciter ma mémoire, il n’y a que le ruisseau et moi. Ce qui est faux, absolument faux. Personne là-bas n’a jamais été seule à moins d’être au cachot [...]» (Auschwitz II, 54f).
Mit grauenhaften Momentaufnahmen des Lagerlebens, die sich in der Form ähneln und repetitive Elemente enthalten («Un cadavre. [...] Essayez de regarder. Essayez pour voir» [Auschwitz I, 137]; «L’homme marche avec les crocs du chien dans la chair» [Auschwitz I, 138]; «Une femme que deux tirent par les bras. [...] Elle hurle. Les genoux s’arrachent sur les cailloux. Essayez de regarder. Essayez pour voir» [Auschwitz I, 139]), wendet sich die Erzählerin direkt an den Leser und fordert ihn auf, sich dem damals Geschehenen im Heute zu stellen, d.h. die Verbindung zur Vergangenheit zu ziehen. An den zweiten Teil ihrer Trilogie setzt Delbo, nachdem sie die Befreiung beschrieben hat, als Schluss eine Reflexion und ein «prière,» das bereits deutlich die Problematik der Überlebenden und der Wiedereingliederung in den Alltag (Themen, die dann im dritten Teil explizit aufgegriffen werden) thematisieren. Zwar spricht die Ich-Erzählerin von einer Rückkehr, doch ist sie sich selbst nicht sicher, ob die Welt des Lagers auch jetzt noch die realere für sie ist, ob sie nicht mit den anderen gestorben ist: «Je reviens d’un autre monde / dans ce monde / que je n’avais pas quitté et je ne sais / lequel est vrai / dites-moi suis-je revenue de l’autre monde? Pour moi / je suis encore là-bas / et je meurs / là-bas / chaque jour un peu plus / je remeurs / la mort de tous ceux qui sont morts / et je ne sais plus quel est vrai / du monde-là / de l’autre monde-là-bas / maintenant / je ne sais plus / quand je rêve / et quand / je ne rêve pas» (Auschwitz II, 184).
Im Folgenden spricht sie von der «connaissance inutile,» die ihr Auschwitz gebracht hat und die sich nicht in den Alltag der Gegenwart integrieren ––––––– 153
Nähere Ausführungen und Analysen vgl. Unterkapitel «Autoreflexive Aspekte – ‹car cela devient une histoire.›»
109 lässt, in dem es sogar ratsam ist, «[...] ne rien savoir / ne rien savoir du prix de la vie / à un jeune homme qui va mourir» (Auschwitz II, 185). Mit der direkten Anrede «Vous qui vous aimez / hommes et femmes» (Auschwitz II, 185) evoziert sie Szenen aus dem Alltag eines Paares, während das Bild des Schaufensters, (das bereits in Auschwitz I, 140 als Zeichen der Entindividualisierung gedient hatte), hier zur Betonung der Intimität des Paares verwendet wird. Es sind harmlose Versatzstücke von Dialogen und Gesten, wobei Delbo durch Benennung ihres eigenen konträren Schicksals ihre Anklage hervorbringt («comment pouvez-vous et pourquoi / le dire à moi [...] comment osez-vous / à moi» [Auschwitz II, 187]), eine Anklage, die sich wiederum mit der Nicht-Integration ihres Wissens und ihrer Erfahrung befasst. Eingeschlossen wird diese Beschreibung durch eine Phrase, die an den Anfang erinnert: «Je suis revenue d’entre les morts [...]» (Auschwitz II, 188). In diesem Abschnitt spricht sie die Hauptproblematik aller Überlebenden an: den Wunsch der Überlebenden, sich mitzuteilen und die enorme Schwierigkeit, die sich daraus ergibt: «Je suis revenue d’entre les morts / et j’ai cru / que cela me donnait le droit / de parler aux autres / et quand je me suis retrouvée en face d’eux / je n’ai rien eu à leur dire / parce que / j’avais appris / là-bas / qu’on ne peut pas parler aux autres» (Auschwitz II, 188).
Das abschließende Gebet richtet sich an die Leser direkt und beschwört diese, ihr Leben zu leben und zu schätzen («apprenez à marcher et à rire / parce que ce serait trop bête / à la fin / que tant soient morts / et que vous viviez / sans rien faire de votre vie» [Auschwitz II, 190]). Die Erzählerin erkennt, dass sie sich in dieser Welt nicht mehr zurechtfindet und vergleicht die Überlebenden mit «spectres revenants» (Auschwitz II, 191), die versuchen (und letztlich daran scheitern) von der Vergangenheit zu berichten («qui reviennent / sans pouvoir même / expliquer comment» [Auschwitz II, 191]). 2.6.2 Die Lebenden und die Toten In Mesure de nos jours leiht Charlotte Delbo ihre Stimme auch anderen Überlebenden: Nach der Rückkehr lösen sich die starken Verbindungen sofort auf («Toutes les liens, toutes les lianes qui nous relaient les unes aux autres se détendaient déjà» [Auschwitz III, 9]), wie Gespenster verfliegen die einst so lebensrettenden Kameradinnen, die Delbo nicht mehr wieder erkennt. Sie tauchen in der Menge der Leute unter und werden von ihr für immer verschluckt (Auschwitz III, 9). Die Zentralfrage «Si je confonds les mortes et les vivantes, avec lesquelles suis-je, moi?» (Auschwitz III, 11) zieht sich durch den gesamten dritten Teil. Und obwohl die «foule» bereit ist zu helfen, so besteht doch die größte Schwierigkeit darin, das Leben
110 wieder zu erlernen («[...] j’ai essayé de me souvenir des gestes qu’on doit faire pour reprendre la forme d’un vivant dans la vie» [Auschwitz III, 11]). Nur die Form oder die Konturen eines Lebenden wieder zu übernehmen ist schon ein groß angelegtes Ziel für die Überlebenden. Die Erzählerin erkennt aus der Reflexion (an Auschwitz), wie ihr damals allein das Erinnern und Denken schwerfiel: «Savoir, se demander, penser, ce sont des mots que j’emploie maintenant. [...] J’ai retrouvé mes mots depuis, vous voyez» (Auschwitz III, 12). Die «monde à part» (Auschwitz III, 13) stellt jetzt die Welt nach Auschwitz dar mit ihren Menschen, die versuchen, die Erzählerin durch Bücher und Fragen abzulenken, doch die Erzählerin bleibt lange in ihrer «absence du monde» (Auschwitz III, 14). Langsam gewinnt die Wirklichkeit wieder Form, die Erzählerin berichtet, dass sich zunächst wieder Sinneseindrücke einstellten und die Literatur sehr lange gebraucht hat, um wieder einen Platz in ihrem Leben einzunehmen. Auch die Bücher waren «inutiles» (Auschwitz III, 17) geworden, genauso wie das Wissen und das Leben selbst; doch eines Tages scheint der Bann gebrochen und sie nimmt ein Buch zur Hand. Dieser Abschluss des ersten Kapitels (das als allgemeine Reflexion über den Zustand der Überlebenden angesehen werden kann und die Grundfragen stellt) scheint eine Art Erlösung oder Befreiung zu sein, doch die nachfolgende lyrische Passage und die individuellen Berichte, die Delbo unter den einzelnen Namen der Frauen aufteilt, sprechen davon, dass die Wunde von Auschwitz nicht heilen kann. Ganz unterschiedlich sind die Lebensräume der Frauen und ihre Probleme der Wiedereingliederung in den Alltag: Gilberte berichtet, wie sie sich völlig hilflos nach der Rückkehr fühlt, als die Kameradinnen zu ihren Familien gehen; in der Gruppe fühlte sie sich beruhigt, getröstet, aufgemuntert, doch jetzt nur noch allein; zwar ist Auschwitz vorbei, doch die fremde Stadt ist nun für sie «un désert où personne ne faisait attention à moi» (Auschwitz III, 22). Diese Überlebende holt die Kameradinnen im Gedächtnis zu sich zurück, berichtet, wie sie viel von ihnen gelernt hat und trauert um die verloren gegangene Gemeinschaft. Sie greift den Vergleich aus dem Lager des zirkulierenden Kreislaufs wieder auf: «Il me manquait tout à coup un membre, un organe essentiel» (Auschwitz III, 22), berichtet, wie sie sich verlassen wie ein Kind von seiner Mutter fühlt (auch hier wieder der Vergleich Mutter und Kind) und beschreibt immer wieder die Angst, sich in das neue Leben einfügen zu müssen, die so schwer wiegt, dass Gilberte sie mehrfach mit der Angst in Auschwitz vergleicht. Gilbertes Bericht (der durch die direkte Ansprache an ein «du» an ein Interview oder eine Beichte erinnert) zeigt deutlich, wie eine Überlebende ihr Leben von Auschwitz im Leben nach Auschwitz weiterführt: Angst, Einsamkeit ohne die Gemeinschaft der anderen, Suche nach Zufluchtsorten, Verlust des
111 Zeitgefühls (oder auch der Eindruck, dass seither keine Zeit vergangen ist: «Le temps ne passe pas. Le temps s’est arrêté» [Auschwitz III, 52]) und ein Gefühl der omnipräsenten Bedrohung («Je ne savais comment faire pour éviter le contact de tous ces objets qui m’encerclaient, m’assaillaient, me heurtaient» [Auschwitz III, 40]) beherrschen den Alltag. Auf einmal scheint die im Lager so sehr erkämpfte Rückkehr sinnlos: «Il fallait rentrer. Pourquoi? Seule dans cette chambre, abandonnée, perdue, je ne savais plus pourquoi il avait fallu à tout prix rentrer» (Auschwitz III, 29) und auch jetzt, so schließt der Bericht, 25 Jahre danach, findet die Erzählerin keinen Sinn im Leben und ist eigentlich noch immer in Auschwitz geblieben. «Je me répète pour m’en assurer qu’il y a vingt-cinq ans que nous sommes rentrés, sinon je ne le croirais pas. Je le sais comme on sait que la terre tourne, parce qu’on l’a appris. Il faut y penser pour le savoir» (Auschwitz III, 41).
Das Unverständnis der Gesellschaft bzw. die Unmöglichkeit für NichtOpfer, sich die Vergangenheit vorstellen zu können, wird zwischen den Berichten in Form von erzählerischen Einschüben, die den Leser direkt ansprechen, oder in lyrischen Passagen thematisiert: «Vous direz qu’on peut tout enlever à un être humain, tout sauf sa mémoire. Vous ne savez pas» (Auschwitz III, 44); «[...] quand c’est d’un ailleurs aux autres inimaginable» (Auschwitz III, 45) und auch in den Berichten wird die Unmöglichkeit der Mitteilung (auch gegenüber seinen Nächsten) angesprochen.154 Die Schuld, überlebt zu haben und die Kameradinnen verloren zu haben, der beständige Gedanke mit den Kameradinnen gestorben zu sein und die eigentliche Familie in den Kameradinnen gehabt zu haben, zeigt eine andere Überlebende und sieht als eine Form des Gedenkens an die Kameradinnen ihren Sohn stellvertretend als das Kind aller (Verstorbenen): «Mon fils est leur fils à toutes. Il est l’enfant qu’elles n’auront pas eu. Leur traits se dessinent par-dessus les siens, parfois s’y confondent. Comment être vivante au milieu de ce peuple de mortes?» (Auschwitz III, 56).
«Je ne suis pas vivante. Je suis enfermée dans des souvenirs et des redites [...] Je suis morte à Auschwitz et personne ne le voit» (Auschwitz III, 54; 66) umschreibt die ausweglose Situation der Überlebenden. Dieses Gefühl der lebenden Toten dient auch Klara in Le non de Klara als Begründung dafür, sich nicht mehr in den Alltag einfinden zu können. Weitere lyrische Passagen folgen, die die Ausweglosigkeit der Kommunikation zwischen ––––––– 154
«Je veux t’aider à oublier, j’y fais mon possible […] oui, c’est cela que pense mon mari. [...] Je n’ai jamais essayé de lui faire comprendre» (Auschwitz III, 65); «Que nous soyons là pour le dire est un démenti à ce que nous disons» (Auschwitz III, 48).
112 den Überlebenden und der Gesellschaft zeigen («qu’ils se retirent et se replient ...» [Auschwitz III, 68]; «[...] c’est de l’amour qu’il nous aurait fallu / si nous étions revenus» [Auschwitz III, 69]). Die Gesellschaft stellt die falschen Fragen (nach Hunger, Angst und Tod) und die Überlebenden können aufgrund der Nicht-Referentialität der Wörter155 nicht antworten (Auschwitz III, 77): «Vous ne croyez pas ce que nous disons / parce que / si c’était vrai / ce que nous disons / nous ne serions pas là pour le dire» (Auschwitz III, 78). Andere Überlebende überwinden «l‘absence de vie» (Auschwitz III, 74) durch den Gedanken an die Kameradinnen (und die durch sie nähergebrachte Literatur) mit einem Aufbruch in ein neues Leben (vgl. Auschwitz III, 76). Ein Besuch der Ich-Erzählerin bei einer Kameradin ergibt einen völlig neuen Einblick: Mit einem «Je suis heureuse» (Auschwitz III, 83) beginnt der Einblick in den Alltag einer Überlebenden, die ihr Leben mit der Dokumentation (sowohl durch selbst verfasste Texte als auch durch Lektüre) über Auschwitz ausfüllt. Bezeichnenderweise wird dieser Lebensentwurf von außen beschrieben, d.h. durch diese Distanzierung verliert dieser Standpunkt an Allgemeingültigkeit und die Ich-Erzählerin bemerkt ironisch: «Elle parlait d’une voix feutrée qui s’accordait aux teintes douces des tentures, à la couleur pâle de sa robe, à la lumière filtrée par des tulles froncés et par le feuillage d’un arbre qui remplissait sa fenêtre» (Auschwitz III, 85).
Diese Überlebende fand durch die Hilfe ihres Mannes ins Leben zurück – doch bemüht sich Charlotte Delbo nicht, ihren Zweifel gegenüber der Unglaubwürdigkeit dieses Unternehmens zu unterstreichen und beschreibt den Aufarbeitungsprozess von Marie-Louise in großem Umfang.156 Während des Besuchs kreist das Gesprächsthema ausschließlich um Auschwitz, wobei nicht die Überlebende, sondern ihr ausgelagertes Gedächtnis, ihr Mann, berichtet. Dieser «Idylle» der Aufarbeitung entflieht die Erzählerin («Je les ai laissés sur le seuil de leur jolie maison au bout de l’allée que les sapins faisaient fraîche et sombre» [Auschwitz III, 99]) und betont mit dieser Schilderung nachdrücklich, dass die Geschehnisse in Auschwitz eben nicht nachvollziehbar und «nacherlebbar» gemacht werden können. Andere chronologisch-biographische Abrisse Überlebender geben Einblicke in historische und individuelle Schicksale (Ida, Auschwitz, 100ff.), erzählen vom Verbleiben eines Überlebenden in einer Irrenanstalt ––––––– 155 156
Vgl. Unterkapitel «Autoreflexive Aspekte – ‹car cela devient une histoire.›» Durch beständige Gespräche mit ihrem Mann («Mes souvenirs sont devenus les siens» [Auschwitz III, 88]) erklärt Marie-Louise voller Stolz über ihren Mann), durch Briefwechsel mit allen Lagergenossinnen und durch Gedenkfahrten nach Auschwitz, die von dem Ehepaar in bester Stimmung erzählt werden.
113 (Loulou, Auschwitz, 126ff.) und stellen die Problematik der Rückkehr ins Zentrum des Erzählten (Poupette, Auschwitz, 134ff.), «Celui qui est rentré s’est dit qu’il avait eu toute sa part de malheur d’un coup. Et c’est là qu’il a été pris au dépourvu» (Auschwitz III, 135). Am Sterbebett einer Gefährtin treffen sich einige Freundinnen wieder und die Ich-Erzählerin reflektiert darüber, warum sie eine Kameradin, die ihr wie eine Mutter war, nach ihrer Rückkehr nie besucht hatte, «je ne suis pas revenue pour te dire puisque j’étais revenue et que, là-bas, on ne disait pas ces choses-là» (Auschwitz III, 142) und begibt sich, ausgelöst durch die Hand der Toten, nochmals nach Auschwitz und wieder zurück zur Toten in der Gegenwart. Scham empfand sie, als sie sich vor der Toten im Lager ekelte, Scham empfindet sie jetzt, dass sie sich erst bei Germaine gemeldet hatte, als diese schon im Sterben lag. Hier findet eine sehr sensible Verschmelzung der Zeit- und Raumebenen statt. Nicht nur Unverständnis, sondern geballte Ablehnung schlägt einem anderen Überlebenden entgegen, da dieser irrtümlich nach seiner Rückkehr vom Lager für einen Verräter des Widerstandsnetzes gehalten wurde (Jacques, Auschwitz III, 151ff.). Nach dem Bericht Jacques’ in Ich-Form folgt interessanterweise die andere Perspektive, die Perspektive seiner Freundin Denise, die als einzige in den Jahren des Hasses, die Jacques beschrieben hatte, zu ihm gehalten und sich selbst dabei verloren hat («J’ai eu tant de peine à lui rendre la volonté de vivre / que penser à moi / toutes ces années-là ...» [Auschwitz III, 169]). Neben solchen eher biographischen Abrissen wie von Jacques ordnet Delbo einzelne Probleme bestimmten Frauen zu, wie beispielsweise die Kälteempfindlichkeit einer Überlebenden (Gaby, Auschwitz III, 170ff.), die jedes Mal, wenn sie fröstelt, sich zurück nach Auschwitz versetzt fühlt; oder die Problematik eines gemeinsamen Alltags, wenn beide deportiert worden sind: Louise führt das Leben einer Krankenschwester an der Seite ihres Mannes («Il a été déporté, il est fragile, il est malade, il est nerveux, il est frileux» [Louise, Auschwitz III, 176]), das sie zwar die Deportation nicht vergessen lässt, ihr selbst aber jede Möglichkeit zur Ruhe nimmt. Wenig Geld, Arbeit und beständige Krankheit zeichnet das Leben einer anderen Überlebenden bis zu ihrer Heirat aus, deren Mann Auschwitz einfach ignoriert und die Wiedereingliederung als reine Willenssache erklärt (Marceline, Auschwitz III, 182). In einem der letzten Kapitel greift Delbo nochmals das Motiv des Bahnhofs auf: Die Kameradinnen treffen sich wieder zur Beerdigung von Germaine, erkennen sich mitunter zunächst nicht («Retouchée, lavée par notre mémoire, elle était redevenue la Jeanne que nous avions connue» [Auschwitz III, 187]), bemerken aber, dass eine solche Vertrautheit und Gemeinschaft im Alltag nicht entstehen kann: «Entre nous, il n’y a pas
114 d’effort à faire, il n’y a pas de contrainte, pas même de la politesse usuelle. Entre nous, nous sommes nous» (Auschwitz III, 193f.). Die Unterhaltung kreist vor allem um Auschwitz, die Rückkehr und die Probleme des Alltags (nach Auschwitz), wobei alle von Alpträumen geplagt sind.157 Der Gedanke, vom Traum zur Realität zurückzukehren, wird im Schlusssatz wieder aufgegriffen und damit zugleich die Frage gestellt, ob nicht Auschwitz für immer die Realität sein wird: «Et si on passait du rêve à la réalité? La réalité, où est-ce?» (Auschwitz III, 202). Der nachfolgende Bericht und die ihn umschließenden Reflexionen beschäftigen sich abschließend mit der Liebe und dem Verlust – Delbo beendet ihre Trilogie im Gedenken an ihren getöteten Mann. Waren im Gespräch mit den Kameradinnen bereits zusätzliche biographische Informationen gegeben worden, so wird nun der Verlust des geliebten Mannes in einer lyrischen Passage verfremdet («Je cherche et je sais / que je ne le retrouverai jamais / La ville tout entière est vide et m’appartient» [Auschwitz III, 204]), wobei hier die Stadt als Symbol der Einsamkeit und als Spiegel des Innenlebens angesehen werden kann bzw. im nachfolgenden Bericht von Françoise (Charlotte Delbos alter ego) auf eine andere Person übertragen wird, die den Abschied von ihrem Mann, einem Widerstandskämpfer, im Gefängnis beschreibt.158 Immer wieder kehrt der Satz «refaire sa vie, quelle expression» (Auschwitz III, 205; 210; 211) und beschreibt damit nochmals die Unmöglichkeit, nach diesen Verlusten und dem Trauma des Verlassenwerdens («Je ne peux toujours pas me représenter comment vivre sans lui» [Auschwitz III, 210]; «Je vis en somnambule que rien ne réveillera» [Auschwitz III, 211]) weiterzuleben. Die nachfolgenden Passagen behandeln nochmals die Aufforderung an den Leser, die Überlebenden zu hören, die Hoffnung auf Erinnerung; die Trilogie endet mit einen Epilog, der den Widerstandskämpfern gewidmet ist, insbesondere ihrem Mann, der am 23. Mai auf dem Mont-Valérien als Staatsfeind erschossen wurde.
––––––– 157
158
«Tu imagines cela, sortir d’Auschwitz et y retourner de soi-même?» (Auschwitz III, 200); «[...] dans mes cauchemars, je revois toutes celles qui sont mortes. Elles supplient, elles appellent. Je les entends et je ne bouge pas» (Auschwitz III, 201). «Mon cœur ne bat plus que forcé. Il ne retrouvera jamais le battement de l’amour, le battement vivant de l’amour» (Auschwitz III, 206). «[...] il savait que son cœur éclaterait et que mon cœur ne battrait plus que juste assez pour ne pas fléchir [...]» (Auschwitz III, 209).
115
2.7
Reflexions- und Transitorte – «l’absence du monde»
Paris der Gegenwart – Kontrast- und Lebensräume Im ersten und zweiten Teil der Trilogie ist der eigentliche Handlungs- und Zentralraum das Lager. Die Räume, an die ausgehend vom Lager erinnert wird, sind im Kontrast zum Lager aufgebaut: Es sind Räume der Kindheit aus der Vergangenheit (vor Auschwitz)159 und Räume der Gegenwart in Paris; vor allem ein Café hat hier einen besonderen Stellenwert, in dem die Erzählerin sitzt und ihre Geschichte aufschreibt. Die Wahl eines Cafés als Reflexionsraum ist ein Indiz dafür, wie groß die Diskrepanz zwischen der Gegenwart und dem Erlebten ist: Nach der Beschreibung des Sinne raubenden Durstes im Lager folgt der lakonische Kommentar: «Il y a des gens qui disent, ‹J’ai soif.› Ils entrent dans un café et ils commandent une bière» (Auschwitz II, 49).160 Im dritten Teil wird nach der Rückkehr aus dem Lager zunächst kein neuer Raum erschlossen, dann bilden in den Berichten der Überlebenden die individuellen Lebensräume Illustration für das Erzählte. Die IchErzählerin berichtet zunächst von einer völligen «absence du monde» (Auschwitz III, 14), ist orientierungslos und scheint in einem Zwischenraum oder Nichtraum zu leben. Auch besteht kein (konkreter) Lebensraum im Jetzt, eine Überlebende beschreibt, wie sie das Leben nur imitiert, wie sie in zwei Welten lebt, wie sie abwesend in dieser Welt ist (Auschwitz III, 53; 56; 60). Die Vergangenheit füllt Gedanken und Träume aus. Im dritten Teil sind gegenwärtige Räume Handlungsräume, und das Lager entsteht nur noch durch Erinnern, wobei die Ereignisse der Vernichtungslager in der Gegenwart dauerhaft präsent sind. Delbo lässt ihre ehemaligen Leidensgenossinnen sprechen; diese lassen nicht nur die Ereignisse Revue passieren, sondern ihre Erlebnisse und die Handlung werden durch erzählerische Kommentare und Reflexionen unterbrochen und an die Gegenwart angebunden. Durch Querverweise zu weiteren Schicksalen von Frauen knüpft die jeweilige Erzählerin an einen anderen Raum und eine andere Zeit an. Damit wird der Raum im dritten Teil ganz explizit durch Leseranrede und Vergleiche geöffnet. Die Geschlossenheit des Raumes wird hier aufgehoben: Alle Erzählerinnen bewegen sich frei in Raum und Zeit und auch in der Narration; verstärkt wird dieser Eindruck durch ––––––– 159 160
Vgl. Unterkapitel «Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – ‹le passé ne passe pas›» Zur näheren Erklärung für die Nicht-Referentialität der Sprache vgl. Kapitel «Autoreflexive Aspekte – ‹car cela devient une histoire.›»
116 Vergleiche und Parallelisierungen, d.h. alle Überlebenden können nun auch im Text die Geschlossenheit des Raumes (Lagers) verlassen. Auch Delbo zieht wie Cavani, Gary, Resnais und Aaron eine soziohistorische Verbindung zwischen den Ereignissen in der Vergangenheit und denen der Gegenwart, die sie in Form einer Zeitungsnotiz wiedergibt: In «La Marseillaise le cou coupé» (Auschwitz II, 27ff.) schlägt sie den Bogen von Häftlingen, die bei ihrer Enthauptung die Marseillaise singen zu einem algerischen Patrioten, dem der Kopf abgeschlagen wurde und der auch von seinen Genossen durch Singen begleitet wurde. Die überraschenden menschlichen Regungen eines Kommandanten (und anderer SS-Männer), der im Lager durch seine Grausamkeit bekannt war (vgl. Auschwitz II, 107), werden in Verbindung zur emotionalen Veränderung eines Leutnants aus dem Vietnamkrieg gesetzt. In Form einer datierten Zeitungsnotiz wird auch hier kurz der «Werdegang» eines besonders brutalen Leutnants beschrieben. Er hatte eine emotionale Beziehung, so schreibt die Notiz, zu einem kleinen Mädchen aufgenommen, das er bei sich beherbergt hatte, das ihm aber wieder davonlief. «Voir des enfants nus et affamés errer dans les rues déchirait le cœur du lieutenant Wiliam L. Calley. [...] Le lieutenant William L. Calley en a eu beaucoup de peine.» heißt es in der Notiz lakonisch-spöttisch (Auschwitz II, 111). Was bei Delbo als dezente Hinweise auf die Kontinuität von Verbrechen bzw. die Verbindung und Weiterführung von Gräueltaten angedacht ist, wird in La Danse de Gengis Cohn ein Zentralpunkt der Handlung.
3
Soazig Aaron, Le non de Klara – «paroles suffoquées» oder die Desakralisierung der Überlebenden
3.1
Erzählen nach Auschwitz – «ce sont des bribes»
3.1.1 Inhalt und Struktur – Die fiktionalisierte Stimme der Zeugin Le non de Klara ist eine Tagebuchaufzeichnung aus der Perspektive einer Überlebenden der ersten Generation, die sich mit einer KZ-Überlebenden in ihrem Schreiben auseinandersetzt.1 Nachdem Klara 29 Monate im KZ Auschwitz verbracht hat, kehrt sie nach Paris zurück, wo sie von Angelika, ihrer Schwägerin, im Hotel Lutétia gefunden wird. Paris war nicht die erste Station, die sie nach Kriegsende aufgesucht hatte – Dresden, Linz, Prag, Krakau und schließlich Berlin waren die Stätten ihrer Gedächtnisfahrt. Nun ist sie, äußerlich wie auch innerlich, kaum wiederzuerkennen zurückgekehrt und genau hier setzt Angelika mit ihrer Tagebuchniederschrift ein. Teilweise zeichnet sie ihre eigenen Reflexionen auf, teilweise gibt sie Dialoge mit Klara wörtlich wieder oder beschreibt Überlegungen, die sie mit ihrem Mann anstellt. Nach und nach teilt sich Klara mit – sie spricht zunächst nur in Fragmenten, Bruchstücken und bleibt am Anfang für Angelika unverständlich, doch je mehr sich Klara öffnet und sich mitteilt und die grauenvollen Ereignisse in Auschwitz beschreibt, desto mehr wird auch Angelika verzehrt vom Beschriebenen und ist schließlich erleichtert, als Klara mitteilt, dass sie nach Amerika gehen wird. Le non de Klara lässt sich sowohl formal als auch inhaltlich in zwei Ebenen gliedern. Inhaltlich kristallisieren sich zwei Handlungsstränge heraus: Erzählungen von Auschwitz und Berichte über den Nachkriegsalltag in Paris. Der erste Handlungsstrang zeigt Klaras Erzählungen von Auschwitz, die nicht zum Ziel haben eine genaue Beschreibung des Grauens zu geben, sondern die seelische Zerstörung eines Menschen zeigen. In diesen Berichten von Auschwitz ist Klaras Bemühen ––––––– 1
Diese Konstellation hatte bereits Marguerite Duras in ihrer autobiographisch verankerten Erzählung La douleur aufgegriffen, in der sie die Rückkehr ihres damaligen Lebensgefährten Robert Antelme aus ihrer Perspektive beschreibt.
118 um Geld integriert, d.h. sie ist die ganze Zeit beschäftigt, ihre Abreise zu planen und ihr neues Leben zu finanzieren. Der zweite Handlungsstrang beschreibt Angelikas Versuche, ihr alltägliches Leben zu bewerkstelligen, sowie die Regelung von Klaras Eigentum (Klara, 33ff.). Angelika kommentiert aber auch das Heranwachsen von Isidore und Victoire (Klara, 35) und versucht so Normalität unter abnormalen Umständen zu wahren. Diese klug angelegte Struktur vermittelt die Reibung zwischen dem trotz Krieg und Besatzung einigermaßen normal gebliebenen Leben Angelikas und ihrer Freunde und zwischen Klaras Wunsch nach Rückkehr zur Normalität und der Unmöglichkeit eines Zurückkehrens. Diese «Familiengeschichte» Angelikas spielt sich vor dem Hintergrund der Geschichte der deutschen Emigration und der Résistance in Frankreich ab. Formal lassen sich zwei Schreibformen unterscheiden: zum einen die Tagebuchform Angelikas, in traditioneller Erzählweise geschrieben, und Klaras Bericht über Auschwitz, der bruchstückhaft und nicht fortlaufend ist und an eine «écriture de cendres» erinnert: Als Klara nach und nach von Auschwitz zu erzählen beginnt, tut sie dies in Bruchstücken («Ce sont des bribes, elle ne dit pas en continu» [Klara, 31]) und auch in Bruchstücken gibt Angelika in ihrem Tagebuch Klaras Ausführungen wieder, eingeleitet jeweils nur durch eine kurze Situierung des Geschehens (abgesetzt im Text durch eine Leerzeile), dann lässt Angelika in ihrem Tagebuch Klaras «écriture de cendres» erzählen; es besteht kein Dialog mehr (vgl. Klara, 40f.). Innerhalb von Klaras Reden lässt sich aber eine Entwicklung vom bruchstückhaften, fragmentarischen Reden zu einem kohärenten Erzählen ablesen, das auf der Grundlage der Erfahrung in Auschwitz in Reflexionen über die Existenz, Philosophie und Poesie (vgl. Klara, 118–122) mündet. Die Form des Tagebuchs gilt als «authentischste» Berichtform. Das selbsternannte Ziel der Tagebuch- und Memoirenschreiber über den Genozid war, die Autorität des Augenzeugen zu bewahren oder wiederherzustellen, wohingegen sich die Verfasser dokumentarischer Romane und Theaterstücke über den Holocaust alle Mühe gaben, ihre fiktionalen Diskurse mit einer eigenen Autorität des Zeugnisses auszustatten. Bei dem vorliegenden Werk einer Erinnerung handelt es sich nicht um eine «authentische» Form oder um ein Zeugnis, sondern um eine fiktionalisierte Sichtweise einer Überlebenden, die nicht aus der Opferperspektive berichtet. Ganz bewusst wählte Aaron die Beobachterposition: «[...] Zum Thema Tabu kann ich noch sagen, dass ich von mir behauptet hatte, das ich keins hätte: Doch plötzlich wurde mir eine sehr unangenehme Frage gestellt: Warum ich das Tagebuch von Angelika geschrieben hätte, und nicht das des Opfers Klara? So ist mir
119 mein Tabu bewusst geworden: Niemals hätte ich in die Rolle einer KZ-Überlebenden hineinschlüpfen können.»2
Zugleich ist Angelikas Tagebuch auch Soazig Aarons Roman. Im Französischen wurde dem Werk keine Gattungsbestimmung zugeschrieben, die deutsche Übersetzung definiert Le non de Klara als «Tagebuch-Erzählung.» Durch die Form des Tagebuchs3 wird in Le non de Klara das Erinnerungskonzept zum Konstruktionsprinzip gemacht. Das Tagebuch beginnt am 29. Juli 1945 und Angelika beschreibt bereits in den ersten Zeilen die Funktion des Tagebuchs: «Il faut que je l’écrive pour que ce soit plus vrai et pour y croire. Depuis trois jours, je ne suis certaine de rien. Klara est revenue. Ce cahier au mauvais papier et providentiel ... sinon, tout va couler, je vais couler» (Klara, 9).
Diese Zeilen zeigen vor allem den Selbstzweck Angelikas, im Schreiben geht es um ihr Überleben, nicht um Klaras. Gemeinsame Gespräche sollen Klara zurückbringen, doch bereits hier erkennt Angelika, dass sie sich nur im Schreiben Klara nähern kann, im Leben bleibt es ihr zunächst versagt. Wie man Tagebuch schreibt, ist der Erzählerin eigentlich fremd, so gibt sie wieder, was sie kann oder was sie will. Doch das Tagebuchschreiben gibt ihr auch Halt, lässt sie die schrecklichen Ereignisse, die Klara schildert, besser verarbeiten. Das Notieren von Klaras Erzählungen fällt ihr schwer. Die eigene Schreibweise erscheint ungenügend, wobei Aaron hier einen Topos der Holocaust-Literatur anspricht: die Infragestellung der eigenen Fähigkeiten zum Zeugnisablegen: «Comment raconter une vérité peu crédible, comment susciter l’imagination de l’inimaginable, si ce n’est en élaborant, en travaillant la réalité, en la mettant en perspective? Avec un peu d’artifice donc,» so schreibt auch Jorge Semprún in L’écriture ou la vie.4 In der Tagebuch-Erzählung erscheint das Wort «silence» sehr häufig – eigentlich erstaunlich für ein Tagebuch, doch ein sehr gutes Mittel, um den stockenden Dialog zwischen Angelika und Klara authentisch wiederzugeben. Bei der Dokumentation von Klaras Verhalten werden implizit größere Themenkomplexe aufgeworfen: Wie lässt sich das Unsagbare und Unaussprechliche mitteilen? Wie lässt sich etwas Unvorstellbares und Unbegreifliches glauben? Angelika muss es schreiben, damit es wirklicher ––––––– 2 3
4
Carine Debrabandère: «Tod der Seele. Soazig Aaron: Klaras Nein.» Deutschlandfunk 07.09.2004. Aarons Schreibweise erinnert auch an ein Scrap book, ein Tagebuch in Bildern und Texten, Zitaten, visuellen Fetzen alltäglicher Wirklichkeit – Skizzenbuch und Sammelband in einem, voller Eigentümlichkeiten und künstlerischer Erfindungen (vgl. Hoffmann, Symbolisierungsstrategien, 193). Semprún, L'écriture, 135.
120 wird und um daran zu glauben. Sie vergleicht ihr Tagebuchschreiben, ihre Rekonstruktion von Klaras Monologen mit einem mit Kieselsteinen bestreuten Weg: Die Kieselsteine werden aufgehoben oder auch nicht, man bleibt stehen, man lässt sich nieder, man schaut nicht mehr nach dem Weg, schlägt wieder einen anderen ein (vgl. Klara, 118). Angelika beschreibt das Vorgefallene und zugleich ihre Reflexionen, die sie im Moment tätigt; somit entsteht der Eindruck des Schreibens auf mehreren Ebenen: Vergangenheit – Gegenwart und die Reflexion über beide. In die organisatorischen Überlegungen Angelikas mischen sich auch Reflexionen in die fortlaufende Erzählung, die in einem Parallelismus wiedergegeben werden: «Klara est revenue, mais ne nous est pas rendue. Klara est revenue, mais ne nous est pas revenue» (Klara, 36). Angelikas ansonsten chronologische Aufzeichnung wird am Ende des Tagebuchs variiert: zunächst berichtet sie von Klaras Abschied und dann folgt noch das finale Gespräch mit Klara (und ihre letzte Enthüllung). Angelika schlägt den Bogen zum Anfang des Tagebuches: «Klara est revenue» (Klara, 9) – «Klara est partie» (Klara, 147), wiederholt jeweils mehrmalig ihren Namen und unterstreicht damit nochmals, dass der Lebensabschnitt mit Klara nun vorbei ist. 3.1.2 Das Werk vor dem literarischen Hintergrund – Topoi der HolocaustVerarbeitung Soazig Aaron5 ist eine Nachgeborene, eine Schriftstellerin der zweiten Generation, die nicht aus der Erfahrung schreibt, sondern aus dem vorhandenen (historischen und literarischen) Material ihre Geschichte konstruiert. Sie verwendet einige Topoi der Holocaust-Verarbeitung und interpretiert diese weiter. Viele Elemente erinnern an Delbos Auschwitz et après, wobei Aaron sich ganz auf die Zweierbeziehung zwischen Klara und Angelika konzentriert und den Schwerpunkt auf die Auswirkungen von Auschwitz legt. Elemente der Literatur der zweiten Generation zeigen sich im Thema der Spurensuche, die Angelika von Klara aufgezwungen wird und im Verhältnis Klaras zu ihrer Tochter Victoire; ebenso in der Entfremdung der Opfer im Lager und ihrem Unvermögen, sich in der Welt danach wieder zurechtzufinden. Das andauernde Gefühl des Gefangenseins beschreiben einige Werke der zweiten Generation, die die Elterngeneration beleuchten. ––––––– 5
Soazig Aaron wurde 1949 in Rennes geboren. Sie hat als Zwanzigjährige ein Jahr in Israel verbracht, in Paris Geschichte studiert und in einer Buchhandlung gearbeitet. Sie lebt mit ihrem Mann weit ab vom Medienbetrieb, dem sie sich konsequent entzieht, in der Bretagne. Für Le non de Klara bekam sie 2002 in Paris einen Literaturpreis und ein GoncourtStipendium. 2004 wurde Le non de Klara mit dem Geschwister Scholl Preis ausgezeichnet. Weder Aaron noch ihre Familie sind Betroffene. Sie ist auch nicht Jüdin, Aaron ist der Name des Großonkels, bei dem sie aufgewachsen und den sie als Pseudonym benutzt.
121 Eine genauere Beleuchtung der Problematik der zweiten Generation findet im jeweiligen Unterkapitel «Figur des Überlebenden» statt. «Il faut avoir beaucoup dit pour mériter de se taire» (Robert Pinget). Diese Aussage stellt Soazig Aaron ihrem Roman voraus, wobei sie hier sowohl Motivation, als auch Legitimation für ihr Schreiben erklärt. Wochenlang auf den Bestsellerlisten, mit einigen wichtigen Literaturpreisen ausgezeichnet und von namhaften Holocaust-Überlebenden und Kritikern gefeiert und gelobt (mit dem Buch beginne ein «neues Kapitel der Auschwitzliteratur»6) sind doch mit dem Erscheinen des Buches (wieder) Fragen laut geworden, die sich mit der Problematik beschäftigen, ob eine Schriftstellerin, die nicht Opfer des Holocaust war, legitimiert ist, darüber zu schreiben und ob es überhaupt möglich ist, ein fiktives Werk über die Opfer zu schreiben, ohne persönlich betroffen zu sein.7 In Frankreich wurde Le non de Klara unter anderem seine «Negativität» vorgeworfen und Klaras «nein» als zu absolut angesehen.8 Die Debatte, die sich um Binjamin Wilkomirskis Bruchstücke entwickelte, ist noch in Erinnerung. Nach wie vor wird jedes Dokument über den Holocaust einer Authentizitäts-Prüfung unterzogen. Die Problematik der Wahrheit und Authentizität umgeht Soazig Aaron, indem sie ein wahrhaftiges und fiktionales Buch geschrieben hat: «Für mich ist das Wichtigste,» so Jorge Semprún, «was man von Buchenwald erzählen kann, der Geruch des Krematoriums. Den Geruch des Krematoriums kann man nicht beschreiben, man muss ihn schreiben.»9 Die Wahrheit über die Lager lässt sich nicht geschehensgetreu erzählen, auch historische, soziologische, psychologische Abhandlungen können nur Informationen geben, doch das ist nicht das Hauptziel Aarons. Auf der Informationsebene bietet der Roman nichts außergewöhnlich Neues, der Schwerpunkt liegt auf der emotionalen Ebene. Und gerade deshalb ist Le non de Klara ein großartiges Buch, das die «Wahrheit» über die Lager dem Leser näherbringt.10 ––––––– 6 7
8 9 10
Jürg Altwegg: «Erstickte Worte machen sich Luft. Es heißt ‹da unten.› Soazig Aarons Roman über Auschwitz.» FAZ 8.10.2004, 34. Die Fragen, die sich durch die gesamte Holocaust-Literatur ziehen, wurden auch hier wieder gestellt: Kann man überhaupt das Grauen erfassen, sich das Unvorstellbare vorstellen? Wer darf die Erinnerung wach halten? Ist die Erzählung vom Holocaust nicht nach wie vor für Zeugen und Opfer gedacht? Vgl. Barbara Heber-Schärer: «Die Unmöglichkeit zu entkommen.» Die Wochenzeitung. 05.05.2005, 57. Fritz Klinggräf: «Wie viel Dichtung braucht es, um historische Wahrheit wiederzufinden?» Frankfurter Rundschau 26.03.03, 23. Christoph Buchwald hält in seiner Laudatio «Rückkehr aus der Hölle» anlässlich des Geschwister-Scholl-Preises für Soazig Aaron einige wichtige Punkte der Verbindung von
122
3.2
Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – «il faut du temps»
3.2.1 Zeitebenen Bereits die literarische Form des Tagebuchs verlangt, dass hier verschiedene Zeitstufen zusammengefasst bzw. miteinander verknüpft werden und dass das Erzählte in Analepsen und Prolepsen11 aufgebaut ist. Verschiedene Zeitstufen sind zu unterscheiden: In der Gegenwart im Paris 1945 verfasst Angelika ihr Tagebuch, in dem sie über die laufenden Ereignisse (Gegenwart 1945) mit Klara schreibt. Klara berichtet (in Analepsen) über die Vergangenheit in Auschwitz und Angelika erinnert sich (in Analepsen) an die Zeit während des Krieges. Die Zeit vor dem Krieg wird in einem positiven Licht und geradezu antithetisch zur Gegenwart und Auschwitz gesehen: «Et ce qu’on a pu rire tous ensemble, et à Barbery avec Alban et toi et Rainer et Adrien et aussi Frédéric, c’était avant la guerre, et même en 40 on riait encore un peu» (Klara, 18).12 Barbery bildet für Angelika einen Ort zum Aufatmen, an dem sie sich um die Kinder kümmern kann, aber auch mit Freunden über Klara sprechen kann. Hier wird ihr aber auch die schmerzliche Erkenntnis zuteil, welche Diskrepanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart liegt: zwischen den «folles soirées» (Klara, 36) und der Gegenwart liegen sieben Jahre und der Krieg. Angelika greift ein Datum aus vielen heraus; das Weihnachtsfest, als Inbegriff der Gemeinschaft und als Symbol für eine friedliche Welt, wird auch bei Delbo und Toulouse-Lautrec thematisiert. Mit Musik und Tanz versuchte sich die Gruppe 1941 (damals noch vollständig) von den –––––––—
11 12
Literatur und «Wahrheit» fest: «Eines der wunderbarsten und erstaunlichsten Phänomene der Literatur und der Künste ist es, dass die pure Fiktion die reine Erfindung ‹wahrer› sein kann als jede auf Fakten basierende Darstellung. [...] Die Beispiele belegen dreierlei: 1. Literatur und Kunst, wie fiktiv sie auch sein mögen, sind immer auch ein Echo von Zeit und Epoche. 2. Ihre Wahrheit ist etwas vollkommen anderes als die Summe historisch belegbarer Zahlen, Daten und Ereignisse. [...] 3. Zeitzeugenschaft und historische Authentizität sind weder Voraussetzungen noch Garanten für das Gelingen, geschweige denn für die Wahrheit von Literatur. Im Gegenteil: zu große Nähe macht blind. Weil die größten Dilemmata einer Epoche den Ereignissen fast nie unmittelbar auf der Zunge liegen, braucht es den zeitlichen Abstand, um die entscheidenden Fragen überhaupt stellen zu können, zuzulassen im Denken» (Christoph Buchwald: «Rückkehr aus der Hölle. Laudatio anlässlich des Geschwister- Scholl-Preises für Soazig Aaron.» FAZ 9.9.2004, 23). Vgl. Genette, Erzählung, 25: «Mit Prolepse bezeichnen wir jedes narrative Manöver, das darin besteht, ein späteres Ereignis im voraus zu erzählen oder zu evozieren [...].» Mit Barbery (Klara, 19) wird eine Idylle im Grünen und mit Tieren evoziert; auch später, als Klara wieder zurückgekehrt ist, bleibt Barbery eine Oase des Aufatmens («On a beaucoup ri. C’est si bon de rire. Ici, j’ai envie de rire» [Klara, 36]).
123 Geschehnissen in Paris abzulenken; sie sprachen nicht über Politik «On le savait» (Klara, 19). Angelika reiht in ihrem Tagebuch die darauffolgenden Jahre aneinander (41, 42, 43, 44) und nennt diese nur Jahre der Angst. Aus der Gruppe bleiben nur noch Angelika und ihr Mann, Agathe und ihre Eltern, Isidore und Victoire, «les bébés qui ont grandi. Et nous aussi» (Klara, 20). In einem kurzen Summary13 schildert Angelika die Schicksale, die sich so oftmals in Familien wiederholt haben: Rainer wurde als Mitglied der Résistance erschossen; Adrien, der als Spaßmacher galt, ist nur mit einem Auge wiedergekehrt; Frédéric, der Freund Agathes, hat mit dem Naziregime kooperiert. In Barbery im Jahr 1945 vermischt sich die Vergangenheit mit der Gegenwart: Die Auswirkungen der Vergangenheit sind visuell erfassbar: «Un borgne et un manchot à table, plus deux orphelins, plus Agathe sans Frédéric, plus moi sans Rainer, plus Klara ...» (Klara, 129). Nach einer Woche, die Klara bei Angelika und Alban verbracht hat, schreibt die Erzählerin, dass ihr diese Zeit wie eine Ewigkeit vorgekommen ist. «Il faut du temps. Les quelques moments où nous voyons Alban et moi, c’est notre leitmotiv: il faut du temps. [...] Il faut attendre» (Klara, 21). Die Schlaflosigkeit, die auch Angelika seit dem Auftauchen Klaras befallen hat, verwendet diese, um zu schreiben («J’ai dit que je voulais dormir, mais je n’y arrive pas, alors je continue à écrire comme hier» [Klara, 17]). Während sie Tagebuch schreibt, berichtet Angelika öfters in gleichzeitiger Narration, wie Klara sich gerade in diesem Moment verhält («Pendant que j’écris, je l’entends marcher dans le salon» [Klara, 11]). Angelika begibt sich im Schreiben wieder in die Gegenwart der Erzählung zurück – sie verlässt also den Reflexionsort (ihr Zimmer, in dem sie in diesem Augenblick Tagebuch schreibt), um zum «Tatort» zurückzukehren. Dies wird zum einen durch Sätze wie «Je reprends au présent» (Klara, 21), aber auch durch die Rückkehr vom Perfekt zum Präsens und in Prolepsen versinnbildlicht («J’étais sur le seuil de la grande salle, elle ne bougeait pas. Je reprends au présent. Je suis sur le seuil du salon, elle ne bouge pas» [Klara, 21]). In Klaras Erzählungen und Reflexionen über Auschwitz treten nur manchmal exakte Daten auf; dies geschieht v.a. im Kontext grausamer Ereignisse: die Erhängung von vier Mädchen, bei der alle anderen zusehen mussten («C’était le 6 janvier de cette année» [Klara, 76]). ––––––– 13
Summary ist eine summarische Erzählung (eine Form mit veränderlichem Tempo), die dank ihrer großen Geschmeidigkeit das ganze Feld zwischen der Szene und der Ellipse abdeckt); eine Schilderung mehrerer Tage, Monate oder Jahre in einigen Absätzen oder auf ein paar Seiten, d.h. ohne dass bei den Handlungen oder Reden ins Detail gegangen würde (vgl. Genette, Erzählung, 68).
124 3.2.2 Rekonstruierter Nicht-Wissensstand der Erzählerin Angelika als (durch die Form des Tagebuchs bedingte) auktoriale Erzählerin begleitet Klara zwei Monate lang in ihrer Rekonstruktion der Ereignisse in Auschwitz. Sie ist nicht nur Zuhörende und somit Plattform für Klaras Ausführungen, sie wird auch zu Klaras Chronistin. Zuhören ist die einzige «Hilfe,» die sie Klara gewähren kann, die diese annimmt bzw. sogar verlangt – obwohl Angelika sich der Unerträglichkeit des Beschriebenen kaum noch entziehen kann. Angelika schildert die mühsamen Versuche einer Annäherung (sowohl körperlicher als auch seelischer Art), aber auch Klaras Gedankenwelt versucht Angelika wiederzugeben. Aaron schreibt nicht direkt von Auschwitz, sondern lässt eine Überlebende in metadiegetischen Erzählungen berichten, deren Sicht wiederum durch die Erzählweise der Tagebuchschreiberin Angelika gefiltert wird. Nicht aus der Sicht des Opfers wird erzählt, sondern aus der Sicht von Angelika, die zwar selbst unter Gefahren überlebt hat, die jedoch mit dem Geschilderten überfordert ist und oftmals hilflos reagiert. Ihr Verhältnis zu Klara bleibt von Verständnislosigkeit und dem Nicht-verstehen-können gekennzeichnet, und somit ist Angelika in genau der Rolle, in der auch der Leser ist, der nicht ermessen kann, was im Vernichtungslager vorgefallen ist. Interessant hierbei ist aber die zusätzliche Funktion des Lesers: Der Leser hat mehr Wissen als Angelika, ist sich vor ihr bewusst, wie manche Erzählung Klaras endet und welche Bedeutung ihr zukommt, was mit dem Begriff dramatische Ironie14 beschrieben werden kann. Der Wissensstatus des Lesers lässt sich eher mit dem Klaras vergleichen. So spielt Aaron etwa mit «Des expériences de médecins dont un certain Mendélé ou Menkélé, en tout cas une ordure, mais pas le seul» (Klara, 31) bewusst mit der Kenntnis des Lesers, der sich an den richtigen Namen erinnert und mit ihm Grauen etc. assoziiert. Dies ist eine geschickte Technik, um den Leser zur Reflexion anzuleiten, ihm aber nicht alle Informationen noch zusätzlich geben zu müssen. Dennoch ist der Leser als Nicht-Beteiligter, als Leser (der zweiten Generation) ein Beobachter wie Angelika, die stellvertretend Klara befragt und erschüttert ist. Der Roman verlässt diese Perspektive des Staunens, des langsamen Erkennens nie. Angelika versucht die Bruchstücke niederzuschreiben, die Klara ihr gibt und schreibt, gepaart mit ihrer wachsenden Erkenntnis (des Geschehenen, aber auch der Unmöglichkeit der Vermittlung) eine fortlaufende Handlung in ihr Tagebuch. Durch die Technik der
––––––– 14
Dramatische Ironie bezeichnet einen absichtsvollen Widerspruch zwischen Gesagtem und Gemeintem.
125 eingeschobenen Narration15 und späteren Ergänzungen macht sich sowohl Angelika die Erzählung Klaras bewusst wie auch indirekt dem Leser. Aaron lässt beide Perspektiven offen, sie wertet nicht, zeichnet sie einfach nur auf. Angelika gibt ihre Gespräche mit Klara wieder, die Klara mit anderen hat, die sie, Angelika, mit ihrem Mann, mit Freunden, mit Verwandten führt. Der Prozess des Verstehens setzt nur langsam ein. «Il y a comme une glace épaisse entre nous» (Klara, 9), welches durch das veränderte Verhalten und eine andere Ausdrucksweise nicht überwunden werden kann. Mit größtmöglicher Sorgfalt erkundet Aaron hier psychische Vorgänge. Erst als Klara und Angelika sich in Angelikas Wohnung auf dem Boden gegenüber sitzen (Klara, 22), beginnt Klara von Auschwitz zu erzählen; d.h. eine räumliche Annäherung ist zunächst unabdingbar für Klaras Bericht. Durch einen Absatz gekennzeichnet, verlässt Angelika kurz den Bericht Klaras, um zu ihrem eigenen Zustand (den der Schreibenden) zurückzukehren. Sie ermutigt sich selbst weiterzuschreiben, um nochmals die Möglichkeit zu haben, die grausamen Dinge, die Klara erzählt hat, zu reflektieren («Je continue cette soirée, ce premier soir. Il faut que j’en vienne à bout pour toutes les choses difficiles qui se sont dites» [Klara, 22]). Angelika versucht durch einen Dialog mit sich selbst, Klara näher zu kommen, Fragen zu beantworten, die sie Klara nicht stellen kann: «Pourquoi ne m’ont ils [die Haare, Anmerkung der Verf.] pas choquée plus que cela? Pourquoi ne me suis je pas posé de questions?» (Klara, 24).16 Die eingeschobene Narration («En y repensant, je crois que ce moment a été le plus délicat» [Klara, 26]) versinnbildlicht immer wieder das Bemühen Angelikas, die Dinge zu hinterfragen. Erst nach und nach fängt Klara an über Auschwitz zu sprechen, zunächst ist es auch nicht Angelika, die vertraute Freundin, an die sich Klara wendet, sondern sie erzählt Alban (der es später Angelika berichtet) von medizinischen Versuchen, die vor allem von Mengele geleitet wurden. Das Erzählen von anderen Einzelschicksalen (Wiedersehen im Hotel Lutétia [Klara, 38]) gibt der Handlung eine allgemeinere Aussagekraft und versucht (kurz) das immense Leid von vielen Menschen anzureißen. Geschehnisse, die Klara Alban berichtet, der sie wiederum Angelika erzählt, versucht diese sich selbst bewusst zu machen: «Je reconstitue alors» ––––––– 15
16
Die eingeschobene Narration (zwischen den Momenten der Handlung) ist eine Narration mit mehreren Instanzen; Geschichte und Narration können sich hier dergestalt verwickeln, dass letztere auf erstere reagiert (vgl. Genette, Erzählung, 155). Vor ihrem inneren Auge sieht Angelika Klara wieder und Angelika setzt sich auch (als alle anderen schlafen) weiter mit Klara auseinander. Die Verweigerung zu Rainer (Klara hätte ansonsten die Scheidung eingereicht) lässt Angelika und Alban «sans voix» (Klara, 26), während Klara mit einer «voix sans beaucoup de variation» (Klara, 27) spricht.
126 (Klara, 45). In Lebensphasen größter Anspannung wird Angelikas ansonsten so reflektierender und ruhiger Erzählstil abgehackt: «Victoire me manque. Il fait chaud. Rien ne va. Il faut tenir» (Klara, 85). Als Klara zu sprechen beginnt, ist das Erzählte manchmal so grauenhaft, dass Angelika Klara bittet, ihre Schilderungen zu unterbrechen (vgl. «le sort des enfants tziganes» [Klara, 90]). Einige Abschnitte weiter erzählt Angelika dann genau diese grausame Szene, aufgrund derer sie Klara unterbrochen hat, als ob sich Angelika im Tagebuchschreiben fassen muss, zunächst weniger Schlimmes zu schildern, um dann aber letztendlich doch das Schreckliche niederschreiben zu können («La malnutrition creusait les os et trouait les joues des enfants tziganes. Klara a vu. Voilà aussi ce qui la fait marcher chaque nuit» [Klara, 91]). Klara als Individualistin, die jegliche Form von Bindung ablehnt, steht als Gegenentwurf zu Angelika, die als Symbol für Familie und Familienzusammengehörigkeit anzusehen ist. Victoire und Isidore sind als Inbegriffe des Lebens und der Lebensfreude zu verstehen: «Eux sont splendides, couleur pêche et caramel, pêche pour les joues, caramel pour le reste du corps» (Klara, 128). In Barbery, kurz vor Klaras Abreise, kommt Angelika zum ersten Mal zu sich und weint hemmunglos; in diesem Gefühlsstrom erscheint es Angelika, als ob Rainer mit im Raum sei (Klara, 128), was als Zeichen der Aufarbeitung der Vergangenheit angesehen werden kann. Nur eine einzige Frage stellt Klara Angelika, wie sie den Krieg nach ihrer Deportation erlebt hat. Interessanterweise beschreibt Angelika in ihrem Tagebuch, wie sie Klara die persönlichen und emotionalen Ereignisse vorenthält (Rainers letzter Besuch, Verzweiflung, Tarnungen angeblicher Kranker, frühere Aktivitäten, Angst um Victoire etc. [vgl. Klara, 134]) und ihr vor allem von den gesellschaftspolitischen Ereignissen in einem Summary erzählt (vgl. Klara, 134f.). Allein von der Angst entdeckt zu werden erzählt Angelika Klara indirekt («J’ai dit ma peur d’être arrêtée [...]» [Klara, 135]). Angelika sträubt sich also in gleicher Weise wie Klara sich dagegen wehrt, sich zu öffnen. In der letzten Aufzeichnung Angelikas, in der Klara vom Mord an zwei Deutschen berichtet, benutzt Aaron verschiedene Erzählstile: Sie erzählt zum einen ganz aus der Perspektive Angelikas («Klara me raconte le Reich truffé de camps ...» [Klara, 149]), in der indirekten Rede Klaras («Elle aurait frappé ...» [Klara, 176], dann wird Aussage an Aussage gestellt: «Lui ou elle: ‹...› […] Klara: ‹...›» [Klara, 150]), Gedanken Klaras, die sie heute in der Retrospektive Angelika mitteilt («J’ai cru tomber, tu sais comme on dit en français, sans connaissance» [Klara, 152]), und Kommentare Angelikas. Das Überraschende hierbei ist, dass die direkten Reden im Detail mit Anführungszeichen wiedergegeben werden. Obwohl die
127 Aussagen des Ehepaares sich vor allem darauf beschränken, den Mord an Klaras Mutter und die Geschehnisse insgesamt bzw. ihr persönliches Schicksal herunterzuspielen, werden sie doch detailliert wiedergegeben, um die Spannung aufzubauen, aber auch um die Tat Klaras zu kontextualisieren. Auffallend ist auch die Etablierung der Szene, die so minutiös beschrieben und reflektiert wird, dass sich Angelika geradezu in eine Beobachterposition vor Ort zu begeben scheint – die Szene spielt sich direkt vor ihrem (inneren) Auge ab: «Donc, Klara dressée au bout de la table. Eux, assis. Bien calés? Pas bien calés sur leur chaise? [...]» (Klara, 150).
3.3
Autoreflexive Aspekte – «che ne feux pas»
3.3.1 Suche nach Antworten Die Tagebuchschreiberin Angelika beschleichen sowohl Zweifel am eigenen Schreibprojekt, als auch an der Authentizität des Geschilderten. «J’essaie ici d’écrire l’histoire calmement pour mettre un peu d’ordre dans mes pensées, mais ce n’est pas facile parce qu’en réalité, dans le même temps, j’avais beaucoup de choses en tête» (Klara, 15).
Die doppelte Ebene, die sich aus der Konstellation ergibt, dass Angelika ein Tagebuch schreibt, das wiederum Le non de Klara darstellt (also den Roman von Soazig Aaron), wird von Alban durch seinen Kommentar zu Angelikas Tagebuch noch durch eine zusätzliche Ebene erweitert: Er bemerkt, dass das Tagebuch durch seine Dialogstruktur einer Geschichte ähnelt (« – ‹Je ne savais pas qu’on écrivait un journal avec autant de dialogues. C’est comme une histoire, ça me donne envie de connaître la suite›» [Klara, 47]). Das Geschehene wird durch das Aufschreiben zur Geschichte (vgl. «[...] car cela devient une histoire» [Auschwitz I, 45]). Angelika erklärt, dass sie selbst gar nicht weiß, wie man ein Tagebuch zu schreiben hat, und fragt sich, ob es überhaupt eine adäquate Darstellungsart gibt, «[...] s’il y a même une manière d’en écrire» (Klara, 47). Hier spricht sie die Problematik der Darstellung des Grauens an und die Möglichkeiten der Vermittlung. Die Dialogform wählt sie, um schneller voranzukommen, «une question pratique [...] Je redonce ce que je peux ou ce que je veux. Comment savoir entre pouvoir et vouloir?» (Klara, 47). Angelika erzählt Klara von ihrem Schreibprojekt und nennt als Ziel, «pour tenter de faire le point» (Klara, 64). Sie schlägt ihr ein gemeinsames Prozedere vor (Angelika liest Klara Fragmente vor, um zu überprüfen, was sie gesagt hat oder sagen wollte) und obwohl Angelika Klaras Interesse spürt, bereut sie
128 ihren Vorschlag wieder (Klara, 64). Angelika richtet es so ein, dass Klara ihr jeden Tag von Auschwitz berichtet, wobei diese jeweils für Angelika und Alban verschiedene Aspekte auswählt. Angelika erkennt die zwei Seiten des Aufschreibens für sich: zum einen hat das Schreiben therapeutische und kathartische Wirkung, zum anderen gewinnt sie aber auch Lust am Schreibprojekt selbst («Écrire me procure du soulagement certes, mais aussi de plus en plus de plaisir. J’essaie de ne pas trahier les paroles et surtout la pensée de Klara» [Klara, 96]). Klaras Erzählungen von Auschwitz sind nicht nur Evozierungen des Grauens, sondern sind zugleich Reflexionen über das Geschehene, gehen also weit über einen bloßen Zeugenbericht hinaus. Die Vergangenheitsbewältigung Klaras erscheint als Albtraum, als sich immer wiederholendes Ereignis, das in der Vergangenheit stattgefunden hat und in der Gegenwart sich reproduziert. «Là-bas, je n’ai jamais eu de cauchemar. Maintenant ici, sans cesse. Les cauchemars sont venus ici et dans tout mon voyage depuis la Pologne. Au cœur du cauchemar, pas de cauchemar. Ici, toujours le cauchemar. J’habite toutes les nuits le cœur du cauchemar» (Klara, 17).
Somit nimmt Klara die Gegenwart (Angelika und Alban) gar nicht im vollen Bewusstsein wahr, sondern erlebt jede Nacht erneut ihre Erfahrungen in Auschwitz. Klara vergleicht sich mit den Romangestalten der Bücher, die sie und Angelika verschlungen haben und stellt das Leben der Protagonisten im Roman, das oftmals einem Dahinvegetieren gleicht, neben ihr eigenes Leben im KZ. Der Schriftsteller, der aus reiner Lust seine Figur (während der Dauer des Buches) nicht sterben lässt, ist Klara, die ihren eigenen Roman mit sich als Hauptperson im KZ schreibt: «[...] alors j’ai été aussi cet écrivain, sauf que le personnage c’était moi, que j’ai duré des pages et des pages, et je ne sais pas pourquoi je ne me suis pas laissé mourir au vingtième jour, sauf la prétention d’arriver au bout de ce gros roman, du plus mauvais des romans qui ait été écrit, avec des péripéties de mauvais roman et la même absurdité, la même dérision, la même bêtise» (Klara, 71).
Obwohl es Klaras eigentliches Ziel ist, sich bei Angelika und Alban ihrer Erinnerungen zu befreien, lehnt sie doch die Erinnerung an die eigene Familie (Victoire und Rainer) völlig ab. Für sie bedeutet Vergangenheitsbewältigung einmalig zu sprechen, um letztendlich zu vergessen. Beim Versuch, über Rainer zu sprechen, erhält Angelika als Antwort eine Metapher, die Klaras Loslösung von emotionalen Bindungen verdeutlicht: «Elle a dit, ‹tu enfermes les morts dans un placard, tu fermes à clé et tu jettes la clé et encore oublie que tu l’as jetée et qu’il y avait un placard.› Plus rien à dire» (Klara, 28). Klara ist sich ihrer eigenen Gründe für die
129 Registrierung selbst nicht bewusst und verbindet diese Unerklärbarkeit mit den unerklärlichen Gründen für die Geschehnisse in den Lagern. «Un acte imbécile a-t-il des raisons, une raison, un ensemble de raisons, alors s’il y a des raisons à tout, il faudra trouver les raisons à l’horreur vécue dans les camps, il faudra les trouver, sinon comment demander raison individuellement pour les actes absurdes de chaque individu?» (Klara, 65).
Die Suche nach Antworten, der Versuch, die Vergangenheit zu beleuchten, wird im Zentralsatz des Buches deutlich: «Si personne ne peut répondre au pourquoi des camps, chaque être est justifié de tous ses actes, même les plus meurtriers. Si on répond pas, le monde est en danger» (Klara, 65). Die Ursachenforschung hingegen will Klara der Geschichtsschreibung überlassen: «Le grand pourquoi appartient aux autres, le comment, ou le petit pourquoi, j’en suis aussi responsable, comme tu le dis, la bêtise de s’être laissé prendre de cette façon, cela multiplié par le nombre qui a été pris de la même façon, c’est cela l’interrogation première, celle à laquelle je peux répondre un jour, mais le pourquoi global reste aux historiens, la réponse globale» (Klara, 66).
Der Entschluss, sich selbst zu schützen, die persönlichen «pourquois» einschätzen zu wissen und sich dann zu retten, das ist die Erkenntnis von Klara. Klaras Rede dreht sich vor allem um das unbändige Erstaunen darüber, was ihr Grauenhaftes widerfahren ist: In ihrer Aufzählung der verschiedenen «gens ordinaires» (Klara, 66) erinnert sie stark an Delbos Eingangssequenz von Auschwitz et après: Kinder, Greise, Mütter mit Kindern, Männer. Die Wiederholung von «ordinaire» (Klara, 66) setzt Klara ein, um den Kontrast zum «extraordinaire» (Klara, 67) um so größer und deutlicher wirken zu lassen: «les bourreaux» und davon «les petits, la racaille» (Klara, 67). Klara spricht die Entindividualisierung des Einzelnen an: «[...] et même ceux pour qui les préoccupations ordinaires n’étaient pas leur préoccupations, sont devenus ordinaires avec des préoccupations ordinaires justement, et c’est peut-être l’extraordinaire de cette vie de ne se préoccuper plus que de pain, d’eau, de chaussures, de lainages, un peu de sommeil, rien d’autre» (Klara, 67).
Klara beschreibt den Überlebenskampf, der direkt nach der Selektion beginnt und in dessen Verlauf die Entmenschlichung jedes Einzelnen angestrebt wird, «l’humanité de chacun est exacerbée» (Klara, 67); «le domaine du non et du plus» (Klara, 68) definiert Klara den Bereich, in dem die menschlichen Eigenschaften schonungslos zu Trage treten. Die Frage nach Vergebung stellt sich für Klara insofern nicht, da Auschwitz zum Begriff ohne Referentialität geworden ist. «tenter l’approximation» (Klara, 92) bleibt den Überlebenden überlassen, um sich mitteilen zu können und sich verständlich zu machen. In diesem Zustand der Verständnislosigkeit
130 und des Unglaubens der Welt gegenüber sieht sich Klara als eigene Welt, zu der sie selbst keinen Zugang mehr hat, die sie nicht versteht («Je suis devenue un monde auquel je n’ai pas accès, que je ne peux pas comprendre» [Klara, 93]). Hier sind einem Verstehen von außen Grenzen gesetzt. Klara resümiert die grauenhaften Erfahrungen als ein unnützes Wissen – Die, die in Auschwitz starben, sind tot, doch diejenigen, die zurückgekehrt sind, sind ebenfalls tot («Morts pour rien. Nous avons souffert pour rien, absolument rien» [Klara, 71]). Die absolute Sinnlosigkeit des Leidens in Auschwitz17 manifestiert sich für Klara auch in der Unmöglichkeit, ihr «savoir extrême» (Klara, 71), ihre «connaissance inutile» (Auschwitz II, 185) zu vermitteln – es ist ein Wissen um die Extreme ohne Kontinuität, ein unvermittelbares Wissen, das niemandem dienen kann und somit auch nutzlos ist. Rache ist für sie ausgeschlossen, da die konkreten Täter, die konkreten Opfer, aber auch die angemessenen Mittel fehlen. Was bleibt, sind die Nachkommen, die zweite Generation, die die Nummern der Tätowierten weitertragen. Soazig Aaron deutet hier bereits die Schwierigkeiten der zweiten Generation an – sowohl der Generation der Opfer, als auch der Täter. «Les numéros qu’ils nous ont tatoués vont se transférer sur eux et leurs descendants, c’est ce que j’imagine ... mais ce n’est pas sûr, et cela ne me regarde pas ...» (Klara, 93). 3.3.2 Sprache in der Erzählung Klara findet sich in der Welt der Lebenden kaum zurecht. Ein Neuanfang, mit neuer Sprache und einem von vertrauten Menschen völlig abgeschiedenen Leben in Amerika ist für Klara der einzige Ausweg zu überleben. Aaron beschreibt das Dilemma, überlebt zu haben, aber trotzdem nicht mehr ins (normale) Leben zurückgekehrt zu sein. Die Scham der Überlebenden, ein besseres Los gehabt zu haben als die vielen Getöteten, verfolgt auch Klara, die versucht, sich durch die Flucht nach Amerika dieser und der Rückkehr zu entziehen. Das «Wahnhafte» von Klara äußert sich für Angelika in der Sprache (sie spricht schnell, dann wieder langsam, das Unfassbare erzählt sie in einem ausdruckslosen Ton). Sie strahlt keine Sekunde Ruhe aus, obwohl ihre Stimmlage eintönig bleibt. Diese Diskrepanz zwischen der Art und Weise der Erzählung und dem, was erzählt wird, stellt in Le non de Klara eine Form der Vergangenheitsbewältigung dar. Klara benutzt ein anderes Vokabular, das auf Angelika gewalttätig und ––––––– 17
«Et la question est, a-t-elle ajouté, est-ce que tous ces gens étaient nés quelque part, sur une multitude de petits points partout en Europe, pour se faire pousser dans une chambre à gaz en Haute-Silésie et ensuite brûler et volatiliser, pour vivre le destin singulier et commun d’une cigarette, a dit Klara, ou mourir dans leur merde couverts de poux ... chacun seul sur une pailasse pleine d’ordures» (Klara, 73).
131 zuweilen obszön wirkt. Von konventionellen Umgangsformen hat sich Klara verabschiedet (Ihr «Je veux un café» [Klara, 15] wird sofort von Angelika in eine gesellschaftstaugliche Formel übersetzt), sie wirkt arrogant, unkultiviert, rücksichtslos und kalt. Victoire will sie nicht mehr sehen – sie sei «minée.» «Je suis minée. A tout moment, une bombe peut exploser. Il faudra du temps pour tout désamorcer, [...]. A l’intérieur, je ne suis que mort, j’ai un goût de mort, je pue la mort, pour longtemps encore, peut-être pour toujours» (Klara, 137).
Auch Klaras Stimme wird mittels eines Gegensatzes beschrieben: Eine raue Stimme begrüßt Angelika, früher jedoch, so erinnert sich Angelika, hatte Klara eine sanfte Stimme. Ihre Rede ist wie ein Fluss, der alles mit sich reißt: «Klara débite, monotone, et ses paroles sont comme un fleuve qui roulerait des rochers, des graviers, les morts et les ruines pêle-mêle, sans distinction, toute chose à charrier sans distinction» (Klara, 101).
Im retrospektiven Denken an die Geburt Victoires und Klaras mehrmaligem Rufen nach ihr und Alban («Lika, Lika, Alban, vous avez été merveilleux, merci, merci ...» [Klara, 96]) beschreibt Angelika nun in der Gegenwart die völlige Absenz der Anreden und somit auch jeder Form von Höflichkeit. Das «bonjour Angelika» des ersten Tages scheint so fremd in dieser groben Art, dass sich Angelika selbst nicht mehr sicher ist, ob Klara diese Worte überhaupt gewählt hat. «Plus de trace de politesse donc, plus de merci, s’il vous plaît, pardon, bonjour, bonne nuit, mahlzeit encore moins!» (Klara, 97). Angelika kommt auch mit dieser Facette Klaras nur schwer zurecht und glaubt ebenso in dieser Konstanz der Haltung den festen Willen Klaras dahinter zu spüren. Diese rüde und abgehackte Sprache erinnert an die funktionalisierte Sprache im Lager und ist ein Indiz dafür, dass Klara das Lager mental noch nicht verlassen hat. Ihren Hass gegenüber den deutschen Frauen und Kindern drückt Klara in einem Vergleich mit Tieren aus, die in den Trümmern wühlen «comme des chiens sans maître, des oiseaux libres (sans doute veut-elle dire hors-la-loi: für Vogel frei) des bestioles affreuses du désert, enfin ce genre de chose comme des corbeaux, des charognards de toutes sortes» (Klara, 110).18 Raben und Aasfresser sind die deutschen Frauen für Klara, die alles aufsammeln, sogar plündern.
––––––– 18
Siehe auch Vergleich der Frau auf dem Schutthügel mit «chienne» (Klara, 112).
132 Klara erzählt, wie sie dieses «peuple de clochards, une cour des miracles [...] Des rats, un peuple de rats» (Klara, 111) mit einem Bleirohr in der Hand vertrieben hat – nur um sie zu ärgern. Berlin wird von Klara anhand der bekannten Assoziationen und Bilder einer vom Krieg zerstörten Stadt beschrieben (Trümmer, Rauchschwaden, Panzer, Keller, Ratten, vgl. Klara, 149), aber auch in Vergleichen und Metaphern: «ses voitures retournées comme des tortues sur le dos [...] ses cages d’ascenseurs sans rien autour et on pense, dit-elle, qu’ils ont été des cercueils pour des ascensions d’un autre sorte» (Klara, 149), die die apokalyptische Atmosphäre Berlins in seiner Todesstimmung einfängt. Hier ist die Diskrepanz zwischen der hasserfüllten Beschreibung der Menschen und der melancholisch-lyrischen Beschreibung der Stadt auffallend. Klaras Nein, ihr unmissverständliches «Che ne feux pas» gilt der Rückkehr in das alte Leben auf allen Ebenen, die damit zusammenhängen. «Les non de Klara ne sont pas des pensées, ce sont des non physiques, des non de résistance et de renoncement, résister à le jeunesse, à la santé, au confort, à l’argent, résister à l’apparence du retour de ce cimetière des âmes.»19 «Che ne feux pas» ist das erste, was Klara sagt und «Che ne feux pas» ist auch die erste Reaktion auf Angelikas Vorschlag, ihr Victoire zu zeigen und auch ihre Reaktion auf Angelikas Frage, ob sie, da diese Sprachschwierigkeiten vermutet, lieber auf deutsch miteinander reden sollen («je dis, ‹tu veux qu’on parle allemand?› Elle dit, ‹non, ça non plus, plus jamais, et che ne feux pas foir l’enfant›» [Klara, 13]). Nein auch zu Agathe, die sich um Victoire gekümmert hatte, als Klara abtransportiert wurde. Klara erklärt Angelika, dass Wut ihr Hauptantrieb war und dass ihr das «Nein» ihr Leben gerettet hat («Avec un oui, je serais morte, physiquement morte. J’ai toujours dit non. Seuls, les anges disent oui et puis les idiots ...» [Klara, 64]). Nach dem «Ja» zu ihrem richtigen Namen (d.h. Registrierung, schließlich Deportation) hat sie sich entschlossen, nie wieder ein «Ja» zuzulassen. «Klaras Nein ist ihr entschiedener Einspruch gegen unsere Welt nach Auschwitz, die im Grunde nicht wahrhaben will, was sich ereignet hat.»20 3.3.3 Nicht-Referentialität der Sprache – «un monde sans mots» Angelika erzählt vom Leben mit der Überlebenden, doch darin gibt es eine unüberwindbare Unverständlichkeit. Nicht nur im Ausdruck Klaras (Schweigen und Bruchstücke, Satzfetzen einer Erzählung), sondern die ––––––– 19 20
Jean-Baptiste Harang: «Qui vivra Vera.» Littérature française. 20.06.2002. Werner Renz: «Von ‹da unten› kommt man nicht zurück.» Fritz Bauer Institut – Rezensionen, Newsletter Nr. 26 (Herbst 2004).
133 Sprache an sich, das wird nur allzu deutlich, ist keine adäquate Form der Informationsvermittlung: «là-bas» war eine andere Welt, mit anderen Signifikanten und diese sind nicht in die andere Welt transponierbar. Auschwitz damals und Paris heute bleiben unvereinbare Welten und somit ist auch eine Rückkehr in die Normalität des Alltags ausgeschlossen. Die Veränderung der Sprache bzw. der Wörter durch Auschwitz beschreibt Klara mit dem Vergleich von Auschwitz als «un monde sans mots» (Klara, 32). Bekannte Wörter wurden hier in einem anderen Sinn gebraucht und um die Grausamkeit wiederum zu beschreiben existieren keine Wörter. Die Angst, die Klara im KZ gespürt haben muss, kann nicht vermittelt werden und bleibt unverstanden (Klara, 75). Erst in den letzten Tagen im KZ, bei der die Insassen wussten, dass sie in das normale Leben zurückkehren sollten, bekommt Klara Angst (Klara, 76). Obwohl Auschwitz auch ein Zusammentreffen von verschiedenen Sprachen bedeutete, war der Verlust der Signifikanz der Wörter vorhanden. Die Aufseher hatten kein angemessenes Vokabular und sprachen in Codes: «Un monde sans mots. Est-ce que tu comprends que ce monde-là n’avait pas de mots disponibles. C’était un autre pays où on utilisait des mots connus pour autre chose qui ne pouvait pas avoir de vocable précis, qui n’existait dans aucune langue, et pourtant là-bas, c’était Babel, mais je crois qu’aucune langue ne possède et ne possédera jamais le vocabulaire adéquat. Et eux, nos bourreaux, n’avaient pas non plus le vocabulaire adéquat puisqu’ils employaient des codes. Je le sais» (Klara, 32).
Hier reflektiert Aaron über die Sprache, die bei Delbo an Beispielen und Begebenheiten analysiert wurde – Aaron geht sozusagen einen Schritt weiter, von der Beschreibung zur Reflexion. 3.3.4 Funktion der deutschen Sprache Klara weigert sich, je wieder ein deutsches Wort zu sprechen und rechnet mit der deutschen Sprache, den Deutschen, aber auch den Juden ab. Sie spricht nie ein Wort deutsch, nicht einmal um die Lagersituation genauer zu beschreiben; das Deutsche will sie vollkommen aus ihrem Wortschatz streichen, obschon sie noch deutsch zu denken scheint und sich auch dem deutschen Volk noch zugehörig fühlt «Je n’aurai pas trop du reste de ma vie pour tuer en moi cette langue. [...] Mais toujours le peuple allemand sera mon peuple, la nation allemande ma nation, même si je n’écris plus un mot d’allemand, ne prononce plus un mot d’allemand, toujours, à l’intérieur de moi, cette langue pleure» (Klara, 100).
Dies ist eine ungewöhnliche Form der Darstellung, da in sämtlichen Zeugenberichten nie auf die deutsche Sprache verzichtet wird. Aaron setzt die deutsche Sprache dennoch bewusst ein – als Ausrutscher Klaras, die
134 diese zu vertuschen versucht. Um die Atmosphäre von Auschwitz jedoch Angelika deutlich zu machen, lässt sie diese die Wörter auf deutsch denken: «– Vite, vite, vite, me dit-elle, pense ce mot en allemand, ne le dis pas surtout. Moi je pense schnell, schnell, schnell» (Klara, 99). Und wenn Klara doch deutsche Ausdrücke aus Versehen verwendet, sucht sie schnell nach einem französischen Pendant.21 Die deutsche Sprache wird von Klara personifiziert und geradezu dämonisiert. Sie erklärt Angelika ihren Kampf gegen die deutsche Sprache, den sie jeden Tag ficht. «Jour après jour, je couperai les tout petits bouts qui repousseraient, qui repousseront forcément, jusqu’à l’épuisement de la sève» (Klara, 100). Die deutsche Sprache, die «aboie à la figure» (Klara, 100) ist eine Bedrohung für jeden, d.h. die deutsche Sprache müsste wieder in die Sprache der Literatur (Klara, 100) zurückgeführt werden. Diese Diskrepanz zwischen der Sprache der Literatur und des Missbrauchs der Sprache im Lager ist ein Topos der KZ-Literatur, den Aaron hier streift. Im Moment «weint» diese Sprache für Klara und das Echo des Bellens ist bis heute nicht verstummt, d.h. eine adäquate Ausdrucksweise in der Sprache der Peiniger zu finden, gestaltet sich als schwierig. «[...] cette langue pleure. [...] Ils l’ont fait aboyer, la langue de Goethe, de Schiller, de Hölderlin, de Heine, de Fontane, de Kant et de tout un peuple» (Klara, 100). Doch mit der Sprache verbindet sich für Klara nicht nur Nationalität, ein nicht zu überwindender Akzent, sondern auch Kindheit, Familie und Ahnen, die seit Generationen auf deutsch gelebt haben («En allemand et seulement en allemand» [Klara, 100]). Von der allgemeinen Reflexion über die deutsche Sprache und welchen Stellenwert sie in der Gegenwart für Klara hat, gelangt sie zur lebenswichtigen Funktion des Beherrschens der deutschen Sprache im Lager. Dort hat die deutsche Sprache dazu gedient, Klaras Leben zu retten. Ihr Missfallen, sich der deutschen Sprache («Ma langue, ma chère langue [...]» [Klara, 101]) als Hilfsmittel zum bloßen Überleben zu bedienen, drückt sie in dem Vergleich der Sprache mit einer Hure aus: die Sprache als Körper, der sich prostituiert, um sich Vorteile bei den SS-Männern zu verschaffen («[...] je la poussais devant moi, à lui faire tortiller du cul, oui, aussi vulgaire, ne me regarde pas comme ça, chaque fois, je lui disais, viens salope, viens aguicher le SS, viens, tu vas rouler le SS, des histoires comme ––––––– 21
Die Bedeutung der französischen Sprache, nicht nur der Literatur, sondern auch des Alltags, zeichnet sich für Klara im letzten Satz ab, den Agathe vor Klaras Deportation zu ihr gesagt hat: «je m’occupe de ta tourterelle» (Klara, 97) beinhaltet nicht nur eine geschickte Metapher, um Victoire das Leben zu retten, sondern für Klara bedeutet dieser Satz die Rettung der französischen Sprache («Je me suis accrochée à cette phrase, dis-lui ... jusqu’à mon départ de la douce France» [Klara, 97]).
135 ça [...]» [Klara, 101]). Die Sprache als Hure steht im Kontrast zur Sprache als Kind, das Klara wiegt, indem sie auf deutsch Reime und Gedichte aufsaugt und sie vom Schmutz (vgl. obiges Zitat) reinigt (Klara, 101). Die Worte im Lager, «ces mots de violence, des mots d’un espace et d’un temps» (Klara, 101) werden die anderen Häftlinge im Alltag vergessen können, oder zumindest nur noch Bruchstücke davon benutzen müssen. Die deutschen Häftlinge jedoch müssen ihre Sprache wieder verwenden, sie verändern und lernen, dass das Wort «schnell» nun wieder eine andre Bedeutung als im Lager hat: «Les Allemands, victimes et bourreaux, devront toujours parler ce parler-là, calmer les mots qui ont aboyé, admettre de dire et d’entendre ‹vite,› sans craindre pour sa peau ou sans menacer la vie d’un autre» (Klara, 101).
Einziger Ausweg für Klara, um sich von dieser Sprache zu entfernen, bedeutet, den Lebens- und Sprachraum zu verlassen, um in ein Land zu gehen, das sich völlig von Europa und seinen Sprachen unterscheidet; sie entscheidet sich für die englische Sprache, da diese im «babel européen» (Klara, 102) von Auschwitz nicht gesprochen wurde. «À Oswiecim, [Klara spricht Auschwitz nie aus, Anmerkung der Verf.] il y avait tout le babel européen, sauf l’anglais» (Klara, 102). Eine tote Sprache scheint für Klara der Ausweg und die Entfernung des Babels zu sein, denn «Quand une langue réapparaît, imaginons, imaginons réapparaît, elle peut aboyer. Une langue, si on l’oxygène, elle aboie» (Klara, 102). Sogar eine seit 2000 Jahren geschützte Sprache wie das Hebräische, eine Sprache der Gelehrten, der Gesänge und des Gebetes wird durch den Gebrauch zu einer bellenden Sprache. Um ein völlig neues Leben in Amerika beginnen zu können, möchte sich Klara nichts von ihrer früheren Identität bewahren und will deshalb auch ihren Namen ändern (vgl. Klara, 124). Mit dem Verlassen Klaras von Paris endet auch das Tagebuch. Aus der Hölle, aus der man «vernünftigerweise» nicht zurückkehrt (vgl.: «[...] dites-moi suis-je revenue / de l’autre monde? / Pour moi / je suis encore là-bas / et je meurs / là-bas» [Auschwitz II, 183]), will sie nicht in das bekannte Leben wieder eintauchen, sondern versucht eine Existenz in der Fremde aufzubauen. 3.3.5 Sprechende Namen – Die Bedeutung des Judentums In den französischen wie auch deutschen Namen spiegelt sich nicht nur die Veränderung der persönlichen und historischen Situation ab, sondern die Namen geben auch Auskunft über das Netz der Bezüge innerhalb der Personenkonstellationen und geben einen Einblick in die Bedeutung des Judentums in der Familie. Manche Namen werden beschworen, andere verschwiegen. Die Protagonisten heißen Rot und Schwarz, Blanc, Legris
136 und Leroux. Im Titel des französischen Originals klingt diese Bedeutung der Namen bereits an: le non / le nom sind im Französischen Homonyme. Klara verändert ihren Namen mehrfach, um ihn letztendlich (in Amerika) ganz abzulegen und auch ihm ein «non» gegenüberzustellen. Nachdem sich ihr Vater Ulrich Adler aus Karrieregründen von seiner jüdischen Frau hatte scheiden lassen, nimmt Klara den Familiennamen ihrer Mutter an und weigert sich fortan hartnäckig, ihn zu ändern – eine Treue, für die sie mit dem KZ bezahlt. Im Dezember 1941 führt die Vichy-Regierung eine Volkszählung durch und Klara lässt sich unter ihrem richtigen Namen registrieren. Sie weiß, dass sie damit ihr Schicksal besiegelt hat, doch den Namen zu ändern bedeutete für sie, die tote Mutter zu verraten (vgl. Klara, 65). Ulli nennt sie trotzdem den kleinen Jungen, um den sie sich in den letzten Monaten in Auschwitz kümmert. Er stirbt ohne ein Wort gesagt zu haben; als ihr eigener Vater in Auschwitz an ihr vorbeischreitet, spricht sie aus Scham kein einziges Wort mit ihm. Als ehemalige Nachbarn, die nun im Haus ihrer Mutter wohnen, sie mit dem Namen Sarah ansprechen – mit dem zusätzlichen Vornamen, den die Nazis allen Jüdinnen per Verfügung gaben – übt Klara Selbstjustiz. Im Hotel Lutétia hatte Angelika seit Wochen Adresse und Foto der sehnlichst Erwarteten hinterlassen und ist trotzdem von Klaras Heimkehr nicht benachrichtig worden – Klara meldet sich bei ihrer Rückkehr aus Auschwitz unter einem falschen Namen – dem deutschen Namen ihres deutschen Vaters Ulrich Adler: als Sarah Adler. Diese Wahl des Namens darf wohl als ironische Anspielung auf die NaziHerrschaft sein und eine Betonung Klaras, dass sie (trotzdem) am Leben ist. Mit dem Ablegen des Ehenamens beschreibt sie auch ein Ablegen der Lagerjahre. Auch die Namen ihrer Freunde benutzt Klara in ihren Gesprächen nicht und scheint damit verdeutlichen zu wollen, dass (nahezu) keine persönliche Bindung mehr besteht. Klara nannte ihre Tochter ursprünglich Vera. Zehn Tage nach Klaras Deportation ändern ihre Freunde diesen Namen zum Schutz des kleinen Mädchens, das jetzt Victoire heißt: Wer leben wird, wird siegen. «C’est bien Victoire ... j’avais dit qui vivra verra, et son nom a été Vera ... et vous, Victoire ... qui vivra Victoire ... c’est bien» (Klara, 15). Doch Klara verdeutlicht, dass sie, im Gegensatz zu dem Mädchen, tot ist. Bei ihrem ersten Tagebucheintrag bemüht sich Angelika, durch häufiges Nennen von Klaras Namen, die Heimgekehrte tatsächlich in die Gegenwart (und zu sich) zurückzuholen. Sie bringt ihren Namen (der wieder und wieder gesagt werden muss) in Verbindung zu ihrer Familie (Klara als Schwägerin, als Freundin, als Mutter). Angelika hingegen entscheidet sich für eine schnelle Namensänderung: Ihr Name zeigt die Liebe zur Literatur und zum freigeistigen Denken und auch sie hält durch ihren Namen die Verbindung zur Mutter aufrecht (der Vorname Solange als
137 Reminiszenz an George Sand [Tochter] und als Verbindung zu ihrer Mutter Aurore). «Tout naturellement, j’ai choisi Solange comme la fille de George Sand, une façon de rester la fille de ma mère Aurore» (Klara, 84f.). Solange wie «l’ange du soleil ou le soleil de l’ange» (Klara, 86) als Wortspiele und Schutzpatronin des Berry. Rainer nannte sich zumindest im Untergrund René Leroux. Der französische Name hat Angelika letztendlich das Leben gerettet und das Festhalten Klaras an ihrem ihr das Leben gekostet. Hieraus ergibt sich eine interessante Konstellation: Klara hat an das Leben geglaubt (ihr Ja zum Namen führte zur Deportation), Angelika hat an den Tod geglaubt (wählte einen anderen Namen, falsche Papiere, und wurde nicht deportiert): «Toi, tu as cru à la mort, moi je n’y croyais, n’y pouvais croire» (Klara, 65). Die Treue zu den Ahnen sieht Angelika als Tod an: «Nos noms étaient mortels, nos ancêtres transformés en poison mortel» (Klara, 84). Die Problematik der eigenen und der aufoktroyierten Identität schneidet Klara an, als sie von Hitler zu Kriegszeiten spricht, «le salaud! on est en train de devenir juif» (Klara, 41). Lachen22 als Abwehr und Verteidigung zu Kriegszeiten («On n’en pouvait plus de rire lorsqu’Alban nous trouvait tellement abominables et antisémites» [Klara, 40f.]) erinnert an den jüdischen Humor in La Danse de Gengis Cohn, genauso wie das Amusement über Céline: «Rainer hurlait littéralement de rire, il disait, ‹pas un écrivain allemand n’est capable de ça!› Après il a dit, ‹peut-être un Juif allemand!› Et on a ri de plus belle» (Klara, 40). Die fröhliche Stimmung findet ihr Ende, als Klara dann zur Volkszählung geht. Angelika erzählt, wie sie trotz dieser nicht nachvollziehbaren Entscheidung Klaras («C’était de la folie. C’est comme si tout à coup, elle s’était convertie au catholicisme, au judaisme, au nazisme, quelque chose d’aberrant» [Klara, 41]) versucht, ihr zu helfen. Jüdischsein war und ist in Angelikas Familie kein Thema, auch Klara spricht nie darüber. «C’est comme si nous n’assimilions pas cette filiation» (Klara, 82). Nur Weniges hat Angelika von ihrer Mutter erfahren, die selbst, wie auch ihre Eltern, diese Religion nicht praktizierte. «Bref, tout était confus pour nous tous, et rien n’a jamais été éclairci» (Klara, 82). Mit der Abwendung Klaras Vaters von seiner jüdischen Frau und seiner Familie aus Karrieregründen (er reichte 1933 die Scheidung ein) beginnt Klaras Hinwendung zum Judentum – 1936 fordert sie ihren einstmals geliebten und verehrten Vater durch eine Heirat mit einem Juden heraus, indem sie ihn darüber informiert. Klaras Treue zur Mutter und zum Familiennamen ––––––– 22
«Mais ce n’était pas cela, (est-ce qu’on devient juif sans le vouloir? ou plutôt, par ce temps, la question est: si on le veut, peut-on ne pas l’être?) c’est qu’instinctivement, on cherchait et on trouvait la parade de tous les persécutés. On riait» (Klara, 41).
138 steht im Kontrast zur Feigheit ihres Vaters, der eine glänzende Karriere im Nationalsozialismus macht, wieder eine neue Familie gründet und seine alte aber trotzdem über seinen Werdegang informiert. Ihre Abrechnung mit der deutschen Sprache bringt Klara auch dazu mit dem jüdischen und dem deutschen Volk abzurechnen. Hierbei spricht sie von der Möglichkeit, dass jedes Volk zu Tätern werden kann (« – Les Juifs vont tuer aussi. Il faudra s’y faire. Aboyer et tuer, ils sauront aussi» [Klara, 102]). In ihrer Illusionslosigkeit und ihrer Apokalyptik erinnert sie an Gengis Cohn. Sie weigert sich weiterhin, sich als Jüdin anzusehen, lehnt die Riten ab, will ihren Peinigern durch die Anerkennung nicht rechtgeben («[...] et c’est faire allégeance à ce caporal minable que de retourner dans le giron du judaisme» [Klara, 103]) und somit dem grauenhaften Töten eine Transzendenz verleihen. In ihrer Rede erwähnt sie die antisemitischen Vorwürfe Hitlers vom auserwählten Volk und der reinen Rasse, ihn ernstzunehmen sei das größte Verbrechen der europäischen Nation gewesen. Zugleich relativiert sie die Schuld Deutschlands («‹– Oui, bien sûr, mais tu te souviens aussi combien l’affreux traité de Versailles nous avait mis à genoux.› Klara, Allemande incurable» [Klara, 104]). 3.3.6 Verräumlichung des Geschehens Klaras Welt (von der Auschwitz-Vergangenheit für immer gezeichnet) bleibt mit der Nachkriegswelt der Erzählerin unvereinbar. Klara kann nicht in Angelikas Welt zurückkehren, genauso wenig kann sich Angelika in die Auschwitz-Erfahrung hineinversetzen. Die beiden Pole, die in diesem Roman aufeinandertreffen, sind visuell auch am Textbild erkennbar: In der strukturierten Form des Tagebuchs erklärt und reflektiert Angelika die Geschehnisse, immer auf der Suche nach der adäquaten und richtigen Ausdrucksweise. Klara spricht hingegen in ihren Ausführungen in Bruchstücken und Fragmenten von Auschwitz. Auch an anderen Stellen imitiert das Textbild die Geschehnisse: Die erste Unterhaltung findet im Café statt, wobei auch das Textbild die Konfrontation der beiden Frauen widerspiegelt (Moi / Elle / Moi etc. erhalten jeweils nur eine Gesprächszeile, vgl. Klara, 14) und ein Aufeinandereingehen ist noch nicht möglich. Als ob sich Klara es selbst versichern möchte, wiederholt sie, «je suis revenue.» Und auch Angelika versichert sich immer wieder «Klara est revenue,» das jeweils deutlich vom anderen Text abgesetzt ist und somit als eigene textunabhängige Reflexion dasteht (Klara, 28). Während Klara von ihren Freundinnen und deren grausamem Tod berichtet (Klara, 55ff.), fungieren Angelika und Alban nur als Folie für die Erläuterungen Klaras. Dies zeigt sich im Text durch zwei Merkmale: Zum einen stellen Angelika und Alban nur sehr kurze Fragen, zum anderen wird
139 – durch jeweils einen Absatz gekennzeichnet – ihr wachsendes Entsetzen im Text sichtbar. Schweigen und Fassungslosigkeit drücken diese Einschübe aus; die Leerstellen dienen zur Versinnbildlichung, dass die Sprache keine ausreichenden Mittel mehr für das Erzählte hat: «Nous, avec point d’interrogation sur nos visages. Elle: - C’est la cheftesse du bloc, blockova en polonais. [...] Pour être bon chef, c’est rare. Mon amie de Praha était pareille ... Moi: - ... elle est ou? ... Elle: - Morte. Silence Moi: - Et tes autres amies? [...] Elle: - Oui, sage femme. Elle a tué plusieurs enfants ... Nous, silence. [...] Klara: - Elle a fait des piqûres quand elle avait du produit elle éttoufait ... pour sauver la mère ... [...] Hiver 44. Nous silence. Plus tard. Moi: - Et l’autre amie de Linz? Elle: - La petite oui. La plus jeune ... vingt ans ... hiver 44 aussi ... morte. C’est le typhus et moi. Nous silence. On la regarde. [...] Nous, silence. Et parce qu’il faut aller au bout» (Klara, 56).
Leerstellen (gekennzeichnet durch «...») werden in Le non de Klara oftmals als Mittel der Rückblende verwendet: «Elle finit par s’asseoir au bord d’un fauteuil ... hop! hop Klara! Klara bondit dans n’importe quel fauteuil en levant haut les jambes hop!» (Klara, 22). Die Leerstelle («...») steht für eine doppelte Rückkehr in die Vergangenheit (Klara, 22): Zunächst begibt sich die Tagebuchschreiberin durch einen Wechsel der Tempora in die Gegenwart des Erzählten, dann geht sie noch einen Schritt weiter zurück in die Zeit vor Auschwitz. Auch grauenhafte Impressionen aus dem Lager werden durch «...» voneinander abgesetzt und ergeben (trotzdem) ein informatives und emotional aufwühlendes Bild des Lagers («Des femmes à quatre pattes, léchant de la soupe renversée, à même le sol ... une femme tombée, déchiquetée par un chien excité par son SS, et ce qu’elle a dit du camp des Tziganes, des enfants tziganes ...» [Klara, 89]).
140 In die Erzählung von Ulli schiebt Aaron einen Absatz ein, der die Spannung der Beteiligten zeigt, aber auch das fassungslose Entsetzen und das Wissen, wie die Geschichte zu Ende geht (Klara, 141f.). Nur ein oder zwei Sätze sind in diesem Abschnitt in eine Linie gesetzt. Die durch die Vorrückung hervorgehobenen Wörter verdeutlichen die angespannte, beinahe geisterhafte Atmosphäre. Während Alban den Kopf in den Händen hält und Angelikas Kehle zugeschnürt ist, sitzt Klara ruhig da. «J’ai la gorge serrée. Bien sûr nous connaissons la fin. Mais il faut qu’elle soit dite. Klara ne bouge pas. Son visage est beau, ses traits adoucis. Elle est calme. Nous nous levons pour boire de l’eau. En silence. Nous nous déplaçons avec précaution, nous sommes presque cérémonieux, Alban et moi. Klara nous suit des yeux. Elle attend. Nous savons la suite. D’avance, nous sommes dans le rituel» (Klara, 142).
3.4
Das Lager – «un monde à part» – «ça s’appelle là-bas»
3.4.1 Beschreibung des Lagers Aaron nimmt den Reflexionsgegenstand Auschwitz aus der Literatur der Überlebenden in Klaras Bericht auf, verwendet Topoi der KZ-Literatur und erweitert diese durch Beschreibungen und Reflexionen Klaras. Klara erzählt von der «Hölle» Auschwitz, der Ermordung der Babys, vom Sterben der Kinder, der Freundinnen und vom Sterben der Würde in Auschwitz. Sie erzählt Geschichten vom Knaben, der vor den Kapos verborgen und (fast) gerettet wird, von ihrem arischen Vater, der Goethe liebt und als Obersturmbannführer die Vernichtungslager bereist, vom Ende der Philosophie und dem Überlebenden der Poesie. Dies alles sind Topoi einer langen Reihe literarischer Ereignisse. In Marguerite Duras La douleur steht, wie auch in Le non de Klara, das Verbrechen, das alle angeht und aus dem keine Sentimentalisierung zu ziehen ist im Zentrum. Wie Duras hat auch Aaron die Tagebuchform gewählt – allerdings ist Aaron eine Nachgeborene, die bewusst und erkennbar eine Fiktion schreibt. Trotzdem findet m.E. keine Aufhebung der vielfältigen Stimmen der Überlebenden statt,23 denn Le non ––––––– 23
Vgl. Fritz von Klinggräff: «Die Stimme der Zeugen.» taz 29.11.03.: «So wird aus Erinnerungsarbeit Empathie, selbst tragende Wahrheit – vergleichbar mit Binjamin
141 de Klara ist keine bloße Aufbereitung der Zeugenliteratur der Vernichtungs- und Konzentrationslager, sondern das Werk zeigt vielmehr eine andere Schwerpunktsetzung in der Ausgestaltung der Überlebenden. Wie aber entwickelt Aaron ihr Bild von Auschwitz in Le non de Klara? Auffallend ist, dass Klara mit der Reflexion über Auschwitz beginnt und erst allmählich in Fragmenten eine Beschreibung von Auschwitz liefert. Dies muss als Annäherung an den Gegenstand gesehen werden, vielleicht als Versuch Klaras, Angelika auf das Erzählte vorzubereiten. Als Angelika behutsam versucht, Klara zum Erzählen zu veranlassen, beginnt Klara auf die Frage, wie es war, von Auschwitz zu berichten: «Là-bas. Ça s’appelle là-bas. Ça s’appelait Oswiecim» (Klara, 22f.). Was nun folgt, ist eine Reflexion über das Zurückkehren und die Unmöglichkeit, dieses wirklich zu tun, das stark an Delbos Überlegungen erinnert; Klara sinniert darüber, ob nicht alle in Auschwitz Heilige waren und dementsprechend auch dort gestorben sind («[...] nous avons été tous des saints. Alors, nous sommes tous morts» [Klara, 23]). Die Unvorstellbarkeit des Grauens wird in Beziehung gesetzt zum Nichteingreifen der anderen («mais si tout cela est réel, il faut imaginer que tout le reste du monde dormait» [Klara, 23]). Klara erklärt, dass sie Auschwitz eigentlich nie verlassen hat («Je n’ai pas quitté là-bas ...» [Klara, 23])24 und dass ihre Rückkehr nur im Vergleich und Kontext zu ihrem Aufenthalt in Auschwitz gesehen werden kann («Peut-être qu’on revient pour voir comment c’est» [Klara, 23]). Klara ist sich ihres Privilegs bewusst, dass sie sich mitteilen kann « – Ils ne pourront pas tous parler comme moi, j’ai pu le faire ici avec vous. (Un remerciement? hoffentlich ja)» (Klara, 130) und ist überzeugt, dass unter den Opfern die politischen sich mitteilen, weniger aber die aufgrund der Rasse Deportierten. Zugleich reflektiert sie die Vermittelbarkeit und Authentizität der Zeugen und greift somit eigentlich ihrem gegenwärtigen Wissenszustand voraus, indem sie sich über die Rezeption der Shoah Gedanken macht: « – Telle que je suis, je ne pourrais pas figurer une musulmane dans un film ... je suis obèse, cela ferait rire tous les anciens détenus ... ce qui est certain, c’est qu’aucun film, jamais, ne rendra compte de cette catégorie» (Klara, 90).
–––––––—
24
Wilkomirskis Fälschung Bruchstücke. Artistischer, aber vergleichbar. Im Namen Klaras bricht die Geschichte ‚Auschwitz’ im Jahr 1945 ab, gerinnt zu archäologischem Material, das von seiner Autorin nur gehoben zu werden braucht. [...] Soazig Aaron schreibt die vielfältigen Stimmen der Überlebenden nicht weiter. Sie hebt sie auf. In ihrer endgültigen Kopie.» Diese Problematik thematisiert Delbo in einem wiederkehrenden Alptraum, «Tu imagines cela, sortir d’Auschwitz et y retourner de soi-même?» (Auschwitz III, 200f.).
142 «Là-bas» ist ein Ort, der die Sinne raubt, wo es ein Unglück ist, Augen zu haben, ein Unglück Ohren zu haben. Die Bilder lassen sich im Alltag vergessen, kehren jedoch in den Albträumen wieder; die Geräusche indessen tauchen irgendwo wieder auf: «[...] les grincements, les hurlements, les trains, les sifflements, les râles, la musique, les pleurs, les murmures, les aboiements, ceux de chiens et ceux des hommes ... pareils» (Klara, 92).
Aaron evoziert bekannte Bilder: Transporte, Rauch, Unmenschlichkeit und umreißt dies mit dem repetitiven Ausdruck «depuis la nuit des temps,» der in den besprochenen Filmen sowohl im Titel als auch im Inhalt noch weiter zum Tragen kommt. «Là-bas, c’est comme si tout avait existé depuis la nuit des temps, on dit cela la nuit des temps, depuis la nuit des temps, et nous, on était dans la nuit du temps sauf ces salauds de printemps et d’automnes, les deux nous disaient que ce n’était peut-être pas depuis la nuit des temps ...» (Klara, 23).
Klara erzählt Angelika und den anderen von einem anderen Planeten, von einem anderen Stamm, der auf ganz anderen Strukturen beruht als alles bekannte: eigene Gewohnheiten, Klassen, Kodes, Rituale, Opfer und Täter. Doch all dies ist schwer für die Zuhörenden zu glauben, «une légende grimaçante» (Klara, 75). Auf diesem Planeten herrschen keine Gesetze mehr – der Mensch ist dem Menschen ausgeliefert («Nous apprenons que tout est possible, y compris de nous-mêmes. C’est sans doute ce qui effraie le plus, qui est le plus pénible à entendre» [Klara, 75]). Diese Absenz von Regeln und Normen und die Überschreitung der eigenen Grenzen macht Cavani zum Thema in Il portiere di notte. Nur einmal kehrt eine Gestalt aus der normalen Welt in das Lager – als jedoch ihr Vater Ulrich Adler als «Gruppenführer» als Teil der Schutzstaffel ins Lager kommt, empfindet Klara nur Scham (Klara, 136f.). Die Masse der unschuldigen Opfer, die aufgrund von nazistischen Kriterien ausgesucht wurden und die allein zum Sterben nach Auschwitz deportiert wurden, wird auch in Nuit et Brouillard visualisiert. «Et la question est, a-t-elle ajouté, est-ce que tous ces gens étaient nés quelque part, sur une multitude de petits points partout en Europe, pour se faire pousser dans une chambre à gaz en Haute-Silésie et ensuite brûler et volatiliser, pour vivre le destin singulier et commun d’une cigarette, a dit Klara, ou mourir dans leur merde couverts de poux ... chacun seul sur une pailasse pleine d’ordures» (Klara, 73).
Der Absatz über «Muselmänner» gibt detailliert Auskunft über diese Form des «Lebens» im Konzentrationslager, steht aber etwas isoliert im Gesamtzusammenhang der Geschichte und dient vielmehr als weiteres Beispiel für
143 die entmenschlichte Situation und die entwürdigenden Bedingungen im Lager (Klara, 90f.). Nur durch die «salauds» (Klara, 23) Herbst und Winter ist ein Zeitbewusstsein möglich und genau diese Erfahrung von Zeitlichkeit schmerzte die Insassen, da der Wandel der Jahreszeiten zugleich auch die Erfahrung von Erinnerung vermittelte («[...] les deux nous disaient que ce n’était peut-être pas depuis la nuit des temps ...» [Klara, 23]). Die Monotonie des Lageralltags beschreibt Aaron mit einer nie endenden Bewegung («un mouvement perpétuel» [Klara, 23]), was an die repetitive Schreibweise Delbos erinnert, die dadurch die Monotonie des Lagers, die unaufhaltsame abwärts gehende Spirale schilderte. «Une planète sans cheveux, une planète chauve» (Klara, 29) stellt für Klara Auschwitz 1942 dar, wobei sie dann weiter differenziert und der Tatsache Rechnung trägt, dass nur die Jüdinnen regelmäßig geschoren worden sind. Im Lager waren Verbindungen zum polnischen Widerstand vorhanden, doch die öffentliche Hängung von vier Widerstandshelferinnen schreckte auch Klara ab. Bei der Erläuterung der Hierarchie im Lager (Klara, 130f.) konzentriert sich Aaron vor allem auf das Verhältnis von politisch Gefangen, die innerhalb der Gefangenen auf der höchsten Stufe standen («Un titre de noblesse en somme, face au troupeau» [Klara, 131]) zu den am wenigsten privilegierten – den Jüdinnen. Die Kontaktaufnahme seitens Klaras war sinnlos (« ... j’ai eu l’impression d’être une mendiante ...» [Klara, 131]). Dieser Erklärung Klaras über die «innere» Ordnung im Lager schließt sich eine Reflexion Angelikas an: Im Lutétia hatte sie zwei französische Politische getroffen und diese nach Klara gefragt.25 «J’ai dit a Klara: Mais elle ont souffert aussi, payé cher, je crois. Peu sont revenues. Elle: ‹Oui, mais elles savaient pourquoi, et nous l’ont fait savoir ... trop›» (Klara, 132). Das Abstoßendste für Klara jedoch war die Kombination aus Schönheit («[...] une fille splendide très jeune, une horrible salaude ... des cheveux magnifiques» [Klara, 29]) und brutaler Grausamkeit («la salaude avec son fouet» [Klara, 29]), was auch letztendlich der Grund dafür ist, dass sie sich selbst nun die Haare schert. Rauch, Wind, Geruch, die ständige Frage, wann man selbst zum Opfer wird («[...] quelquefois je me suis demandé si ce n’était pas moi la fumée qui montait [...]» [Klara, 31]) und der allmähliche Verlust des Glaubens an den eigenen Körper beherrschen den Alltag im Lager. Ein anderes Bruchstück beschreibt einen Transport, 27 Tage und Nächte zusammengepfercht, ohne zu essen und zu trinken; nur der Zugführer war noch lebendig bei der Ankunft «Comment comprendre» (Klara, 32). Dies sind Topoi der KZ-Literatur, die Aaron hier evoziert, und nur durch das ––––––– 25
Aaron gibt hier schlaglichtartig Einblick in das Verhältnis von politisch zu rassisch Deportierten. Sie stellt eine als «la délicate» und eine als «la rude» vor (Klara, 132).
144 leichte Antippen dieser Elemente erschafft sie hier einen Raum in der Imagination des Lesers, der die Zusammenhänge selber erstellt. Hier ähnelt die Art und Weise, wie Aaron die Partizipation und oftmals Antizipation des Lesers fördert, der von Alain Resnais. Und wie auch in Nuit et Brouillard wird das Verbrechen nicht isoliert gesehen, sondern im Zusammenhang mit der Verantwortung des Menschen. «Il [Alban, Anmerkung der Verf.] m’a appris pour le Japon, bombe atomique lundi sur une ville, des milliers de morts en quelques secondes. Horrible. Il faut que j’écoute la radio» (Klara, 59) und später «La ville bombardée du Japon s’écrit Hiroshima» (Klara, 62). Dieser Hinweis auf andere grausame Ereignisse verwendet auch Delbo in Form von Zeitungsnotizen und spielt hier auf den Algerien- (Auschwitz II, 27ff.) und Vietnamkrieg (Auschwitz II, 111) an. 3.4.2 Erzählen von Auschwitz Die Erzählweise Klaras charakterisiert Angelika als bruchstückhaft, sie spricht in «bribes» (Klara, 31). «Sa parole advient, on l’entend à un moment, c’est comme l’apparition d’un sous-marin, il était là, invisible, puis on le voit, puis il replonge.» (Klara, 31). Obwohl ihre Sprechweise nicht konstant ist, hat Angelika das Gefühl, dass Klara ihre Gedanken doch klar strukturiert hat, denn sie erzählt von Auschwitz im Imperfekt, ist sich also der Abgeschlossenheit des Geschehens bewusst. Im August erkennt Angelika wieder ein Zeichen der Klara von früher («J’ai eu l’impression de retrouver ma Klara d’avant» [Klara, 34]) und vergleicht die Reaktion von heute (Schüchternheit und Durchsetzungskraft zugleich beim Wohnungsverkauf) mit dem Skilaufen zu Kindertagen (Klara, 34). Nicht nur kleine Veränderungen im Wesen konstatiert Angelika, sondern auch in der Stimme gewinnt Klara an Emotionalität («des petites nuances soient apparues dans sa voix» [Klara, 34]). Klara spricht öfters sentenzartig: «Il y a autant de travail pour parvenir au mépris du genre humain qu’à son exaltation» (Klara, 93). Die Monotonie in der Sprache Klaras bleibt – Emotionen (Nervosität und Wut) sind anhand von Gesten erkennbar. Ansonsten spricht sie im Gehen. Ganz schwach sind Ansätze von Betonungen zu erkennen, Fragen, Ausrufe. Als Klara von Berlin berichtet, spricht sie in längeren Sequenzen, durchsetzt mit Schweigepausen. Ihr Redefluss ist schneller und die Wortwahl sicherer. Dann stürzt sie sich wieder hinein, und es scheint, als ob es sie drängt, zum Ende zu kommen. «À défaut de l’écrire, elle pense pour dire, pour se débarrasser. Ce n’est pas un programme, c’est un chemin pour continuer à vivre. Je sens que c’est important pour elle. Il faut que nous tenions. Que je tienne» (Klara, 121). Vielleicht können die längeren Sequenzen als Zeichen dafür gelesen
145 werden, dass die frühere Heimat mit dem Leben und somit der Sprache vor Auschwitz verbunden ist. Einige Szenen können von Angelika nur indirekt erzählt werden (vgl. Klara, 112: Klara vertreibt eine Frau in den Trümmern von Berlin, indem sie mit dem Revolver auf eines ihrer Kinder zielt) – Angelika beschreibt, dass sich Klara zu komplex, kompliziert, abgehackt und stockend ausdrückt: «J’essaie de remettre d’aplomb le récit, non pas incohérent, mais bousculé. Bousculé, me semble le terme juste» (Klara, 112). Mit den Betonungen in Klaras Reden bemerkt Angelika auch Anzeichen emotionaler Regungen: Klaras Hände zittern, sie sitzt senkrecht auf ihrem Stuhl vor Wut (Klara, 120). Bei ihrem letzten gemeinsamen Gespräch erzählt Klara von ihrer «Mutterschaft» im Konzentrationslager, die auch der eigentliche Grund für das Zurücklassen Victoires ist. Zum ersten Mal beschreibt Angelika nicht die Nervosität, die Wut oder die monotone Erzählweise Klaras, sondern genau das Gegenteil: Klara ist konzentriert, zugleich wendet sie sich aber an ihre beiden Gesprächspartner und sie ist schön, ihre Stimme ist harmonisch; sie ist nochmals in Auschwitz und erlebt diese intensiven Gefühle: «Pendant tout le récit que nous fera Klara, elle fermera les yeux, elle ouvrira les yeux, elle sera là-bas, comme étant làbas, elle regardera le mur ou Alban ou moi, elle sera belle, belle, Klara enfin belle. Avec une voix toujours rauque, mais harmonieuse.» (Klara, 139). Die Verwendung des Futurs, obwohl Angelika in der Retrospektive schreibt, erscheint auch als Vorausschau für eine (am Ende) kathartische Klara. Klaras Anliegen ist es hier, die Geschichte so genau und wahrhaftig wie möglich wiederzugeben: «C’est avec émotion que j’essaie de me rappeler avec exactitude et dans les détails l’histoire du petit Ulli» (Klara, 139). 3.4.3 Frauensolidarität Auslöser für Klara, Angelika über ihre Freundinnen im KZ zu erzählen, ist die Ärztin, die Klara behandelt. Zunächst als «grosse vache» bezeichnet, findet Klara doch einen positiven Vergleich für sie, der aus dem Lager stammt: « – ‹Là-bas, elle aurait été une bonne blockova›» (Klara, 55). In einzelnen Absätzen gibt Angelika Klaras dürre Worte wieder, in der sie den jeweiligen Tod der Freundinnen beschreibt.26 Und wieder sind es ihre nüchtern sachlichen Kommentare, die nicht nur Angelika und Alban entsetzen, ––––––– 26
Dabei zeigt sie ein Bild unsäglichen Grauens: die Freundin aus Krakau, die fühere Hebamme, tötete Kinder im KZ, um die Mütter zu retten (« – Oui, sage-femme. Elle a tué plusieurs enfants ...» [Klara, 55]) und wollte sich jedes Mal danach selbst umbringen, starb aber an Typhus. Die Freundin aus Linz wurde von Klara, auf deren Wunsch hin, da sie ebenfalls schwer an Typhus erkrankt war, erstickt.
146 auch der Leser kann die Diskrepanz zwischen dem Gesagten und der Art und Weise, wie Klara erzählt, kaum ertragen («Elle dit, ‹si vous voyiez vos têtes› et d’un ton presque léger, avec un soupir, ‹c’est fou ce qu’un squelette est lent à mourir›» [Klara, 57]). Diese Nüchternheit der Sprache erinnert an Delbos «Cette fois-ci je vais clabotter» (Auschwitz I, 172). Die Augen Klaras sind auf Alban und Angelika gerichtet, «Ses grands yeux sur nous, gris, gris-bleu, tranquilles et froids» (Klara, 57). Nachdem sich Klara sicher ist, dass man ihr auch zuhört, («Nous, silence. On attend. On sent tous les deux qu’elle veut parler. Elle comprend qu’on est prêt à l’entendre. Il faut entendre. Tout ce qu’elle voudra dire, il faudra l’entendre. Elle prend son temps» [Klara, 57]), gibt sie den Grund für ihre Gefühlskälte an, für ihr Verweigern von menschlich(er)en Gefühlen, für ihre Skrupellosigkeit und das Fehlen von Gewissensbissen: Alle ihre Freundinnen sind gestorben, obwohl Klara ihr Leben für jede riskiert hatte («Il n’y a d’ailleurs rien eu de glorieux jamais pour moi après la mort de mes amies. Rien que la besogne journalière pour durer» [Klara, 57f.]). Schließlich galt für Klara nur noch das nackte Überleben jeden Tag zu sichern, mit «la vigilance de la bête» (Klara, 58) – auch hier wählt sie einen Vergleich mit der Tierwelt, um zu zeigen, wie wenig Menschlichkeit noch in ihr ist. Ein Beispiel von Solidarität unter den Frauen betont Klara besonders, da sie in diesem Fall zunächst befürchten musste, die Freundin hätte sich auf die Seite der Täter gestellt: Die Freundin aus Prag rettete Klara das Leben, indem sie sie vor einer polnischen Aufsicht schlägt. Klara war im Begriff gewesen, sich auf die Aufseherin zu stürzen und durch die Schläge der Freundin wurde sie davon abgehalten und zugleich vor dem Erschießungstod gerettet. Die Freundin wurde daraufhin zur Blockova ernannt, weil die Aufseherin davon ausging, dass sie Beflissenheit zeigte. «J’étais tellement choquée que je ne me suis même pas protégée. C’était trop fort, pas les coups, je ne m’en souviens pas, mais qu’elle fasse cela, que ce soit elle qui me batte, qui prenne le relais, c’était le plus impensable ...» (Klara, 76).
Durch die Vermittlung der Freundinnen untereinander und durch geschicktes Taktieren (Klara gibt an, dass sie Medizin studiert hat und vier Sprachen spricht), erhält Klara eine bessere Arbeit (zunächst in «Kanada,» Magazin zur Kleidung- und Kofferaufbewahrung der Deportierten, dann im Krankenbau und schließlich in der Aufnahme), was bedeutete, dass man die Möglichkeit hatte, zu tauschen und zu organisieren, um sich eine bessere Kleidung (Schuhe und Wollzeug), d.h. Überleben zu sichern. Auch hier stehen die «Muselmänner» als Schreckensbild und als Zeichen für den Verlust von Gemeinschaft, Anerkennung und Überleben – «Elles se surveillaient, les amies aidaient les amies. Les personnes seules ne
147 pouvaient pas s’en sortir [...]» (Klara, 90). Über den Tod hinaus hält Klara die Freundschaft zu den Freundinnen aufrecht und unternimmt eine Reise nach Krakau, Prag und Linz für die gestorbenen Freundinnen, um diese in Gedanken begraben zu können; die Reise nach Deutschland hat sie zu ihrem eigenen Gedenken gemacht, «pour moi qui suis autant morte ...» (Klara, 58). Die Namen ihrer Freundinnen gibt Klara nicht preis; da sie ihnen auch kein Grab geben konnte, werden die Namen mit ihnen verschwinden, «Leurs noms mourront quand je mourrai ...» (Klara, 58). Das «Begräbnis» ihrer Freundinnen besteht darin, den Himmel über Krakau, Prag und Linz zu betrachten, die Wolkennamen aufzusagen und an die Freundinnen zu denken. «Trois funérailles que j’ai officiées toute seule ... leur souvenir dans ma pensée a été leur cercueil ... je contiens leurs noms et je suis leur monument ... voilà» (Klara, 58). Klara wird zum Grabstein der Freundinnen, zum einzigen Gedenkstein, also ein «numinoser Ort einer absoluten Absenz.»27 Die Reise hat Klara auch unternommen, um sich an den kleinen Jungen zu erinnern, der eine Zeit lang im Lager bei ihr gewesen war und dann freiwillig sein Leben aufgegeben hat. Auch will sie sich von Fotos lösen, die sie mit den Augen im Lager gemacht hat, damit das Grauen dort erträglicher wurde. 3.4.4 Täter und Opfer im Lager Soazig Aaron widmet sich in Le non de Klara nur einer kurzen Beschreibung der Täter. Ihr Werk soll vielmehr ein intensiver Zugang zum Opfer sein, das so weit getrieben wird, dass es selbst zum Mörder wird. Allerdings greift Aaron in der Illustration der Nachkriegsgesellschaft Verdrängungsmechanismen und Ignoranz der Täter auf. Nur schlaglichtartig werden brutale und grausame Szenen im Lager erwähnt, die aber meistens zur Illustration von Klaras Situation in Auschwitz dienen und nicht eine Tätercharakterisierung darstellen. Klara sinniert über das Zusammenleben von Tätern und Opfern im Lager, in dieser abgeschlossenen Welt, in der sich die Machtverhältnisse so drastisch aufteilen: «Klara – (tendue) Nous avons été là-bas réciproquement avec l’autre, victimes et bourreaux, la joie d’être avec l’autre tu comprends, l’être reciproquement, etc., côté à côté, etc., autour de la vérité, autour de quelque chose, etc., sauf le fait privé de notre existence» (Klara, 119).
Sie ist überzeugt (oder hofft), dass sie die Täter in deren Träumen genau so verfolgt wie die Täter sie und es auch für diese kein Ende der Geschehnisse gibt. « – A savoir si nous étions dans leurs rêves ou eux dans les nôtres ... et ––––––– 27
Aleida Assmann, Das Gedächtnis der Orte, 35.
148 ce n’est pas fini» (Klara, 94). Klara wird selbst zur Mörderin: Aus Zuneigung und Kameradschaft tötet sie eine Freundin, die sie anfleht, ihr das Leben zu nehmen und aus Hass bringt sie eine mordende Funktionshäftlingsfrau um. In Auschwitz mussten die Häftlinge sogar (allerdings hier aus Nächstenliebe) Neugeborene ersticken, um den Müttern eine Überlebenschance zu lassen. Die Szene im Nachkriegsdeutschland, als Klara auf ein Kind zielt, um die Mutter mit ihren drei Kindern zum Gehen zu veranlassen, weil sie den Sonnenuntergang alleine anschauen wollte (Klara, 112), zeigt eine entmenschlichte Klara, die sich ihre Gefühle im Lager abgewöhnt hat. In Berlin erschießt sie die «rechtmäßigen» Besitzer (die mit einem wohl verwahrten Kaufvertrag ausgestattet sind) der mütterlichen Wohnung. Sie nimmt an (und der Leser schenkt ihr Glauben), dass die Nachbarn ihre Mutter ermordet haben, um an ihre Wohnung zu kommen. Ohne Beweise, aus einem Gefühl heraus (die Nachbarn nennen sie Sarah), tötet sie ohne Hemmungen und Schuldgefühle. Klara fordert einen Umgang mit den deutschen Mördern, eine radikale Form der Aufarbeitung, die weder von den Siegern, noch von den besiegten und «befreiten» Deutschen so praktiziert wurde: Klara spricht sich für die Tötung der Peiniger aus, damit die Erinnerung nicht überleben kann, damit die Menschen, die anderen Menschen dieses Leid angetan haben, die außerhalb der Menschlichkeit agiert haben, nicht einfach weiterleben können. «C’est pourquoi il faudrait tuer tous les bourreaux pour que ce souvenir-là ne survive pas, pour qu’il ne reste pourrir dans aucun cerveau. [...] Oui, moi je les tuerais. Pas pour la vengeance, non. Seulement pour l’hygiène du monde» (Klara, 143f.).
Die Opfer jedoch sieht sie in Komplizenschaft zu den Tätern, da sie überleben wollten und die Erinnerung an die Schande mit sich tragen; folglich müsste man auch die Opfer töten (Klara, 144). Klara vergleicht die Position der Opfer mit einem Buch von Wassermann Der Fall Maurizius (vgl. Klara, 105) und versucht anhand des zu Unrecht verurteilten Mauritius, der begnadigt anstatt rehabilitiert wird und sich einige Tage nach der Freilassung umbringt, die Unmöglichkeit der Rehabilitierung der überlebenden zivilen Opfer aufzuzeigen. Hier greift Aaron einen Gedanken der Holocaust-Verarbeitung auf (die Schuld der Opfer, überlebt zu haben) und führt ihn mit Klaras Aussage ad absurdum, d.h. Klaras Verzweiflung, überlebt zu haben (im Gegensatz zu ihren Freundinnen und Millionen anderer) ist so groß, dass sie sich den Tod wünscht. Hier erinnert sie an die gebrochene Figur der Lucia aus Liliana Cavanis Il portiere di notte. Ein Kapitel, in dem sich der Schwiegervater Angelikas dazu bekennt, Antisemit gewesen zu sein, widmet Aaron einer kurzen Beleuchtung der Täterperspektive: Aufgrund der persönlichen Erfahrungen (Léandre und
149 Louise versteckten Kinder 1943 bei sich und mussten diese nach Kriegsende bei den Vätern wieder abgeben – da die Mütter und Schwestern alle in Auschwitz gestorben sind) findet eine Reflexion statt, in der Léandre sich selbst als «complice de crime» unter den «sales Français dégueulasses» bezichtigt (Klara, 79). Auch Frédérics Lebenslauf wird nur kurz angerissen. Er war ein ehemaliger Freund der Familie und Agathes Freund, der sie verließ, als er mit dem Naziregime kooperierte.
3.5
Heterotopien des Lagers – «le mur du rire»
3.5.1 Grenzen der Transzendenz Nach der Rückkehr von Auschwitz versucht Klara wieder das Denken zu lernen: «Je ne pense peut-être pas correctement, et je ne suis pas sûre que cela soit de la pensée, cela ressemble ... mais non, je crois que je ne pense pas encore ... non, mes pensées ne sont pas encore de la pensée. Je ne sais pas dire» (Klara, 68).
Klara erzählt von der Unmöglichkeit in Auschwit gedanklich auszubrechen, sich Freiräume zu verschaffen («Realité et rien que realité» [Klara, 118]), vom Denken, das als pures Mittel zum Überleben dient, um sich ausschließlich auf den Augenblick konzentrieren zu können (Klara, 68). Sie berichtet davon, dass sie diese Realität in den ersten Wochen abgelehnt und kontrastiert hat, wie auch Delbo, die Kindheit (als Refugium zur Wirklichkeit) mit dem Alltag in Auschwitz: «[...] ... et quoi, sinon mon enfance heureuse, m’a permis d’opposer une fin de non-recevoir à ce que je vivais [...]» [Klara, 118]); schließlich erzählt sie von der Entscheidung, das Leben in Auschwitz «dans cette bulle-là» (Klara, 119) als einziges zu akzeptieren. Klara konstatiert das Verschwinden der Philosophie im Lager – nur die äußersten Grenzen des Seins und alle Nuancen des Seins sind vorhanden (Klara, 119), es gibt keine Moral, keine Ästhetik, keine philosophischen Systeme. Auf den Trümmern des Geschehenen werde man wieder über das Sein und das Nicht-Sein philosophieren: «Des sophistes, des tas de sophistes sous le patronage de Goebbels, le dernier des philosophes, saint Goebbels, le metteur en œuvre de toutes les philosophies, le cuisinier et l’assassin ... sauf le fait privé de notre existence» (Klara, 120).
Die Philosophie hat auch ihren Wert dadurch verloren, dass sie den Nationalsozialismus nicht verhindern konnte (das Denksystem sei nicht stark genug gewesen, um sich zwölf Jahren Wahnsinn zu widersetzen) und
150 nunmehr als gelehrtes Hirngespinst für Studenten und Zitatesammler dient. Der Zusammenprall von Kultur und Nazismus wird in der Beschreibung von Klaras Vater sinnfällig: ein Literaturliebhaber, der sich von seiner jüdischen Familie abwendet und Auschwitz besichtigt: «Juste avant de se quitter, Klara a dit: ‹Près de Weimar, il y avait un camp ... mon père aimait beaucoup Goethe ...› J’ai dit, qu’aurait pensé Goethe de tous ces lecteurs de Goethe?» (Klara, 115). Dieser Gedanke von Schöngeistigem und Grausamkeit wird in La Danse de Gengis Cohn noch ausführlich behandelt. 3.5.2 Überlebensstrategien im Lager Aaron beschreibt verschiedene Überlebensstrategien im Lager und Möglichkeiten zur Freiraumbildung: die Poesie, das Lachen und kreative gemeinsame Überlegungen der Frauen. Die Poesie als Ausnahmeerscheinung und als Möglichkeit zur Freiraumbildung im Lager manifestiert sich in Augenblicken und Momentaufnahmen (etwas unerwartet Sanftes in einem Blick, eine Träne des Mitleids, das Lachen eines Mädchens, ein schönes Frauengesicht einer Neuen, ein blühender Löwenzahn, das Lied einer Slowakin beim Entlausen einer Freundin), die alle im Lager gesammelt worden sind. «Pour avoir cette puissance et autant de répercussions, il faut que cela en soit ... ou bien la poésie serait la capacité de saisir ces instants de grâce innombrables, mais dont on ne capterait qu’un nombre infime ... comme les étoiles ... ce serait l’exception à ce que j’ai dit tout à l’heure, l’exception à l’incapacité de s’évader en général» (Klara, 122).
Klara nahm die Poesie im Lager wahr und wenn sie sich auch nur in Namen manifestierte.28 «[...] elle [die Poesie] était aussi là-bas. Des moments brefs et rares qu’il serait dommage d’oublier» (Klara, 122). Das Lachen hat in Klaras Erzählungen eine besondere Funktion. «Toujours l’aspiration de Klara au rire. Comme défense, comme libération, comme fierté. Une réponse provisoire ou définitive» (Klara, 120). Klara beschreibt auf Angelikas Frage hin, ob sie in Auschwitz auch gelacht habe, verschiedene Stufen von Humor bzw. Lachen, bis zum Versiegen. Die ersten Wochen lachten Klara und ihre Freundinnen, ihre Kräfte waren noch nicht verbraucht und die Wut manifestierte sich im gemeinsamen Lachen. Mit der Müdigkeit und der nachlassenden Kraft verwandelte sich die Wut in Zynismus, «une sorte d’humour cruel» (Klara, 69) den anderen gegenüber, was bedeutete, dass niemand bemitleidet oder geschont wurde, vor allem die Neuen informierte man ohne Rücksicht und ohne Trost über ––––––– 28
Eine Französin klammerte sich an das Wort «velours,» weil es für sie Erinnerung, Schönes, Warmes, Festliches beinhaltete (vgl. Klara, 122).
151 die Lagerbedingungen. Die unglaubliche Grausamkeit des Lagers und damit auch das Zweifeln an Gott kleidet Klara in einen Witz ein, der zum running gag im Lager wurde. Kontrastiert wird das paradiesische Leben in Frankreich («heureux comme Dieu en France» [Klara, 70]) mit dem Lageralltag und der desillusionierenden Erkenntnis, dass es keinen Beistand im Lager gibt («Dieu s’est fait rafler en France, il est ici à Oswiecim, il part en fumée tous les jours, on est les premiers à le savoir» [Klara, 70]). Es war eine Art Trost, so Klara, sich zu sagen, dass Gott persönlich verbrannte, der Witz diente als Zuflucht, als Stütze, um die Tage zu überleben. Hier dient nicht der Glaube als Halt, sondern gerade der Unglaube, der keine Illusionen birgt; er schützt hier vor Enttäuschung; Wut und Entrüstung verhindern das Sterben. Das Lachen wiederzugewinnen hält Klara für möglich, doch die Tränen, so Klara, sind, wenn man zu viel erlebt hat, nicht zu revitalisieren («Moi, j’ai la nostalgie des larmes. Des miennes ... de toutes les larmes ...» [Klara, 72]). Die «mur du rire» (Klara, 72) ist ein weiteres Beispiel, sich durch das Lachen der bedrückenden Situation zu entheben. Beim Appell, so hatten sich die Freundinnen ausgedacht, hätten sie alle gelacht, doch sie mussten den Plan schnell aufgrund der Angst und der vielfältigen Sprachen der anderen Frauen, der Gebrechlichkeit und Krankheit vieler aufgeben. Doch bald schwanden die Kräfte Klaras und ihrer Freundinnen und ihr einziges Ziel war Überleben. In der Retrospektive sieht Klara den kollektiven Tod (in der Lachmauer), den sie nicht eingegangen sind als ein Sterben in Würde, im Kontrast zum Tod ihrer Freundinnen «dans l’abjection» (Klara, 73). Zurück in Paris, in der Rue Richter, gelingt es Klara nicht mehr zu lesen, schließlich räumt sie ein, dass nur komische naive Literatur in Frage käme, doch selbst der Humor hat sich von Auschwitz zum Heute geändert (Klara erzählt die «Geschichte,» in der sie und zwei Freundinnen eine Aufseherin zu Tode prügelten und dabei lachten – das letzte Lachen Klaras, an das sie sich in Birkenau erinnert). Gegen die Schläge, Schmerzen und andere Qualen entwickelten Klara und ihre Freundinnen Phantasie und Poesie, die zu Mitteln des Überlebens wurden: in Auschwitz mit den Augen fotografieren und diese Bilder entwickeln (d.h. sich Bilder einzuprägen und diese sich gegenseitig erzählen) und den verschiedenen Wolkenarten eigene Namen zu geben und diese Namen einem Gebet gleich immer wieder aufsagen. Zum Freiraum, den sich die Frauen im Konzentrationslager verschaffen konnten, gehörte, den fünfundvierzig Wolken in fünf Sprachen Namen zu geben – die Namen wurden gefunden, wiederholt, kombiniert, rückwärts buchstabiert. Bis zum Schluss dienten die Wolken als Ablenkung von Schlägen, von der
152 unerträglichen Enge, von grausamen Ereignissen. Ein letztes Mal sagten die Frauen die Namen auf, als vier Mädchen gehenkt wurden (vgl. Klara, 75f.). Die Namen der Wolken (bzw. die 45 Wörter, vgl. Klara, 77) vermitteln Assoziationen auf mehreren Zeitebenen: es sind (allgemeine, äußere) Eindrücke bzw. Bestandteile des Lagers («Mirador,» «Fumée,» «Train,» «Barbelés»), persönliche Erfahrungen im Lager, die sowohl die Bereiche Arbeit («Sabot,» «Pioche,» «Fouet,» «Navet»), Hygiene und Krankheit («Seringue,» «Dysenterie,» «Typhus,» «Latrines,» «Rat,» «Dent,» «Poux»), Tod («Feu,» «Charbon,» «Phénol,» «Poêle,» «Crâne») und Bedingungen im Lager («Écuelle,» «Soupe,» «Cris,» «Crâne») abdecken – diese Wörter entsprechen der Gegenwart des Lagers. Begriffe wie «Culotte,» «Savonnette,» «Salle de bains,» «Maison,» «Manteau,» «Lit,» «Enfant,» «Couverture,» «Laine,» «Soleil» evozieren einen geschützten Raum, Sauberkeit, Wärme und Geborgenheit – diese Wörter entsprechen der Vergangenheit (Gedanken an die Zeit vor dem Lager). Schließlich bilden «Tribunal,» «Avocat» und «Droit» und auch «Revolver» die Hoffnung auf eine Gerechtigkeit nach dem Grauen – sowohl eine staatliche, als auch eine persönliche (Revolver). «Amérique» ist das Hoffnungsland, in das es zu gehen gilt und das Photo steht für das Aufzeichnen des Erlebten – diese Wörter entsprechen der Zukunft. Die Tage in Paris verbringt Klara damit, mit den Augen zu fotografieren – d.h. sie prägt sich ein bestimmtes Bild ein und entwickelt es dann später, indem sie es erzählt. Diese «Technik» hatte sie in Birkenau mit der Freundin aus Prag ausgebildet. Bemerkenswert ist hier, dass sie sich, wie auch Delbo, diesen Freiraum erst schaffen konnte, als sie «des postes acceptables» (Klara, 86) hatte. Bevor die Freundin starb, bat sie Klara «tu feras une photo de la paix pour moi» (Klara, 87) und seitdem ist sie danach auf der Suche. Klara erzählt Angelika «Negative» – Bilder, die sie nicht bereit ist zu entwickeln, die aber als potenzielle Bilder des Friedens in Frage kämen (Klara, 87f.), doch diese recht gewöhnlich erscheinenden Stadtansichten verbergen für Klara Unheimliches, Grausames. Mit Angelika überlegt Klara lange, was für sie ein Bild des Friedens sein könnte, doch die Suche gestaltet sich schwierig, denn «tout ce qui menace et est menacé ne peut pas être une image de la paix [...] rien de ce qui est vivant ne peut présenter la paix [...]» (Klara, 89). In Amerika will sie wohl ihre Suche fortsetzen, denn ihr Plan sieht vor, dort ein Fotolabor aufzumachen.29 Diesen Wunsch, etwas abzubilden, etwas Schönes ––––––– 29
«[...] Als ich anfing, diesen Roman zu schreiben, ist mir eine polnische Regisseurin eingefallen. Eine Auschwitz-Überlebende. Als sie über dem KZ-Eingang ‹Arbeit macht frei› gesehen hat, hat sie sich geschworen: wenn ich überleben sollte, dann wird dies die erste Einstellung meines Films sein. Deshalb wurde Klara bei mir Fotografin. Klara und
153 festzuhalten, erinnert an Siegfried Kracauers Theorie des Films, der in der Abbildung der Wirklichkeit ihre Rettung sieht.30
3.6
Die Figur des Überlebenden – «un drôle de petit homme»
3.6.1 «Klara est revenue, mais ne nous est pas revenue» «[...] je suis partie avec un corps acceptable, un visage également, des cheveux blonds et des yeux gris. Je reviens avec un visage ravagé, des cheveux gris, un corps que je n’ose pas regarder et qui n’est pas regardable» (Klara, 71).
Le non de Klara erzählt die Geschichte einer Toten, die überlebt hat, einer Zurückgekommenen, die für sich und andere eine Zumutung darstellt. «Klara est revenue, mais ne nous est pas rendue. Klara est revenue, mais ne nous est pas revenue» (Klara, 28) – bereits mit den ersten Worten greift Aaron die Problematik der Überlebenden auf, die, wie auch bei Delbo ausführlich diskutiert wurde, nicht in das Leben nach Auschwitz zurückfinden.31 Klara zweifelt an ihrer Normalität, da man ihrer Meinung nach von Auschwitz eigentlich nicht zurückkehrt (Klara, 31) und ihre Freundinnen in Auschwitz getötet worden sind. Klara sieht sich selbst zurückgekehrt mit «des sortes de bâtons en place des bras et des jambes» (Klara, 32), doch nur ihr Körper ist hier, «le corps oui, celui-là se débrouille, mais le reste ...» (Klara, 32). Äußerlich gleicht sie den bekannten Bildern und Beschreibungen einer Überlebenden: Das erste Bild von Klara, das sich Angelika im Hotel Lutétia bietet, ist das eines jungen Mannes («un drôle de petit homme» [Klara, 10]), wobei eine besondere Betonung in ihrer Beschreibung auf die Augen gelegt wird. Angelika ent–––––––— 30
31
ihre Freundinnen ‹fotografieren› in Auschwitz mit den Augen und entwickeln diese Bilder, indem sie sie sich gegenseitig erzählen» (Debrabandère, Tod der Seele). Vgl. Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a.M. 1985 (Orig.: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. Oxford 1960). Filme, die ihrem Medium gerecht werden, registrieren jedoch nicht nur, sondern enthüllen, «erretten» die äußere Wirklichkeit: Sie öffnen unseren Blick für das Kleine, Zufällige, Unbeabsichtigte und Unbestimmte. Eine von Soazig Aaron in Zusammenarbeit mit Carole Drouelle entwickelte Theaterinszenierung, die weder Text noch Chronologie der literarischen Vorlage verändert, zeigt Klara als Marionette, die hauptsächlich. von Angelika (Delphine Cheverry) gesteuert wird und die auch Klaras Text spricht. Alban (Philippe Suberbie) ist vor allem Folie für Angelikas Ausführungen. «Ce sont plutôt des coupures et des basculements de réflexions et de situations, du personnage d’Angelika sur celui d’Alban pour un équilibre scénique» (persönlicher Brief von Soazig Aaron). Klara als Marionette darzustellen, dient zum einen dazu, den literarischen Hintergrund zu verdeutlichen (Angelikas schreibt in ihrem Tagebuch über Klara), zum anderen wird hier Distanz und zugleich Nähe erzeugt. Eine Verfilmung ist, laut Soazig Aaron, geplant.
154 wickelt geradezu ein Erkennungsmerkmal der Zurückgekehrten («Le garçon a les cheveux blonds très courts, il a des joues creuses et imberbes et d’immenses yeux, souvent ils ont de grands yeux» [Klara, 10]).32 Die Akzentuierung der Augen findet sich in vielen Schriften über die Shoah, da diese sinnbildlich für die Erfahrung, für das Sehen des Grauens stehen. Klaras große Augen sehen Angelika schon eine Weile an und in dieser Partialisierung erkennt Angelika zugleich auch die größte Problematik im Zusammensein mit Klara: die Augen sind groß, aber leer – «Alors, on le sait plus» (Klara, 11). Alban bringt Angelika dazu, nochmals über Klaras Erscheinung (und vor allem über ihre Haare) nachzudenken. Wieder evoziert Aaron die Androgynität bzw. das männliche Aussehen Klaras, das Angelika nicht weiter beschäftigt hat, da es in sich stimmig war («Si elle était en robe, peut-être. Ce doit être cela, la vision superposée du jeune homme et la connaissance dans le même temps que c’est Klara» [Klara, 24]). Angelika erkennt, dass sie (vom ersten Augenblick an) auf der Suche nach der «alten Klara» war, die Details der völlig veränderten Erscheinung (Haare, Kleidung, Magerkeit, Augen, Haltung) einfach vernachlässigt hat, um «retrouver Klara d’avant» (Klara, 24). Klaras Erscheinungsbild und alles, was Angelika von ihr erinnert – Reden, Lachen, Denken, Fühlen – ist ausgelöscht. «Ce pourrait être un gamin de seize ans, une femme de quarante et on ne sait quoi encore, quelqu’un dont on ne saisirait pas le temporel, en sorte qu’on pourrait dire qu’elle possède toute l’étendue des temporels et tous les modes aussi, jusqu’au neutre de l’objet» (Klara, 16).
Eine fremdgewordene Figur, die nicht nur zeitlich nicht mehr zu fassen ist, sondern auch keine geschlechtsspezifischen Züge mehr aufweist; diese Zeichen kündigen bereits den Zerfall der eigenen Persönlichkeit an, den Prozess der inneren Verwandlung der Überlebenden, von dem Klara schonungslos berichtet. In einem kurzen Abschnitt gibt Angelika eine Episode wieder, die Klara ihr erzählt hat: Eine Gruppe von Frauen reichen einen Spiegel weiter, bis eine Frau diesen von sich wirft und an der Glaubwürdigkeit des Spiegels zweifelt. «‹On a été nombreuses à ne pas croire les miroirs!› a commenté Klara tranquillement» (Klara, 126).33 Die Auswirkungen von Auschwitz auf den menschlichen Organismus umreißt Aaron, indem sie Klaras schlechte Zähne erwähnt, sowie die Unter––––––– 32
33
Delbo schreibt über die Augen der Überlebenden: «Tous ces yeux, tous ces yeux qui s’agrandissent dans ces visages qui s’émacient, tous ces yeux qui se décolorent et s’éteignent, tous ces yeux qui défient, ou qui supplient et se résignent» (Auschwitz III, 61f). Hierbei handelt es sich wohl um eine Reminiszenz an Robert Antelmes Spiegelszene, die auch von Delbo variiert wurde.
155 suchungen der Ärztin beschreibt (vgl. Klara, 47). Klara spricht «très dégagée» (Klara, 53) über die intimsten Dinge, (vgl. Klara, 53); sie spricht von «chiasse» oder «Bauchfluß» (Klara, 53), vom Dreck und dem nicht vorhandenen Wasser. In der Gegenwart sträubt sie sich zur Weiblichkeit zurückzukehren, lässt ihre Haare nicht nachwachsen und benutzt Albans Parfum. Klara ist sich selbst bewusst, dass sie gar nicht dem Typus eines Opfers entspricht («Je ne suis pas une belle figure de victime» [Klara, 29]). Somit macht sie deutlich, dass sie in keiner Weise den Erwartungen ihrer Umwelt gerecht werden kann und will und vielleicht gerade deshalb spricht Angelika auch von Klaras «arrogance tranquille» (Klara, 29). Klara meint, es sei selbstverständlich nach Auschwitz zurückzukehren, sie sei gar nicht weg von dort; sie isst zu wenig, alles Menschliche, einschließlich ihrer Weiblichkeit und der Körperpflege, ist ihr verhasst; sie schneidet sich selber die Haare so kurz, dass sie wie ein magerer junger Mann aussieht. Vor allem ihr Kind will sie nicht sehen und von ihrem Mann hätte sie sich scheiden lassen. Sie stiehlt, was sie braucht, sieht nicht ein, warum sie nicht stehlen soll.34 Zum ersten Mal wird hier deutlich, dass sie die andere Strafbarkeit (das andere Recht) des Lagers mit in das Leben nach Auschwitz genommen hat.35 Auch im Paris der Nachkriegszeit verweigert sich Klara, diese Angewohnheit aufzugeben («Impossible, je fais ça mieux qu’une Tzigane» [Klara, 29]), ja sie bezichtigt Angelika selbst des Diebstahls («Toi, tu as volé un nom, tu as été dégourdie ... les honnêtes et les godiches meurent [...] Lá-bas, ce que je savais faire, je ne l’ai plus su, et ce que je ne savais pas, je l’ai su» [Klara, 29]). Klara erklärt Stehlen, Lügen zur Wissenschaft. « – Ici, je ne dis que la vérité. Maintenant, il faut bien que moi aussi j’apprenne mon histoire. / Et naturellement, je la crois. J’ai besoin de la croire» (Klara, 107). Diese Überlebende hat in dieser Form kein Äquivalent in der Literatur. Noch nie hat jemand von einer Überlebenden erzählt, die bedrohlich unbegreiflich für alle bleibt. «Darf man, hören wir uns leicht ungehalten, aber leise fragen, eine Jüdin, eine fast zu Tode geschundene Überlebende so darstellen? Als brutales, berechnendes menschliches Wrack, das alles auch das Ureigenste, das Wichtigste und Liebste, scheinbar erbarmungslos niedermacht.»36
––––––– 34
35
36
Um überhaupt bis zu diesem Zeitpunkt überlebt zu haben, hat sich Klara ihre Vitamine, die sie aus Röhrchen aus ihrer Tasche zieht, zusammengeklaut, genau wie das Feuerzeug. Dieser Vorzug des sterilen Essens, den sie beibehält, ist ein weiterer Hinweis, dass sich Klara nicht in den Alltag einfügen will. Zugleich stellt ein Utensil (bezeichnenderweise eine Sicherheitsnadel, die ihr Agathe geschenkt hatte) aus der Vergangenheit in den drei Jahren eine Hilfe für Klara dar zu überleben. Buchwald, Rückkehr aus der Hölle, 23.
156 Doch Aarons große Meisterschaft liegt darin, immer wieder die Ambivalenz von Klaras Charakter aufzuzeigen: gleichgültig, herzlos, brutal, unverschämt, rücksichtslos ist sie durch Auschwitz gemacht worden. Klara ist sich dessen wohl bewusst und weiß auch, dass sie selbst mit der Klara von früher nichts gemein hat. Sie ist sich ihrer Entmenschlichung bewusst und weil sie nicht mehr die psychische Kraft hat, sich endgültig von der Last zu befreien, verlangt sie sich das Äußerste an Menschlichkeit ab, dessen sie noch fähig ist: nämlich die Unmenschlichkeit, ihre Tochter je wiederzusehen. Die Erwartungshaltung, die der Überlebenden entgegengebracht wird und die Auswirkungen, die sich für ihr Umfeld ergeben, werden durch Angelika und Alban versinnbildlicht: Angelika erwartet die sanftmütige und liebe Klara zurück, die sich nach Tochter und Mann sehnt und versucht im Verlaufe des Tagebuchs diese Klara zu finden.37 Alban reagiert auf Klara als Arzt, was, wie Angelika vermutet, weniger schmerzlich für ihn ist – er sucht nicht die Klara von vorher, sondern betrachtet sie als Patientin.38 Angelika beschreibt in ihrem Tagebuch, wie sie durch Klaras Anwesenheit gelähmt wird, wie sie sich ihrem Rhythmus anpasst («Depuis quelques heures, c’est comme si déjà j’acceptais son rhytme. Mois aussi, comme elle, je ne suis plus familière de mes lieux, je reste avec elle, là, debout» [Klara, 22]). Die Umarmung im Hotel Lutétia ist ein Übergriff, jede Berührung auch. Klara muss es nicht explizit machen, denn ihre Körpersprache sagt nein und Angelika begreift es sofort. Auch Angelikas Körper(sprache) verändert sich: Nur einmal versucht sie Klara zu umarmen, dann zittern ihre Hände und die Zähne klappern. Die gleiche Unsicherheit, mit der sich Klara bewegt, schlägt sich nun auch auf Angelika nieder (sie darf ihre Arme und Hände nicht mehr so benutzen, wie sie es eigentlich möchte, vgl. Klara, 22). Die Klara von früher ist verschwunden, und doch rekurriert Angelika immer wieder auf sie und stellt sie in der Antithese zur jetzigen Klara dar. Nicht nur Klaras Verhalten ist anders, auch wird Angelika dazu gezwungen, sich anders zu verhalten. «Si serait Agathe, ce serait Klara d’avant, je la pousserais, je l’entourerais de mes bras, je la bousculerais et l’embrasserais. Mais là, on ne peut pas toucher, c’est défendu et je ne sais pas quoi faire de mes bras» (Klara, 22).
––––––– 37
38
Unverständnis und Fassungslosigkeit empfindet auch Agathe, die zunächst Klara Undankbarkeit vorwirft, da sie, Angelika und Alban und auch Albans Eltern ihr Leben für Victoire riskiert haben. Doch dann stellt sie sich die Frage, «[...] mais qu’est-ce qu’on lui a fait?» (Klara, 18). «Alban était plus à l’aise que moi, sans doute avait-il des réflexes de médecin. [...] La représentation a été la malade, c’était, dans l’immédiat, plus pratique pour lui, moins douloureux» (Klara, 25).
157 Der Unterschied zwischen der lebensfrohen und quirligen Klara von früher und der übervorsichtigen und schwer gezeichneten Klara von heute wird in der Episode deutlich, als sich Klara im Wohnzimmer zum ersten Mal niederlässt. Angelika ruft sich die Vergangenheit ins Gedächtnis: «Elle finit par s’asseoir au bord d’un fauteil ... hop! hop Klara! Klara bondit dans n’importe quel fauteuil en levant haut les jambes hop! hop Klara! J’adore les fauteuils, pas vous? Et les garçons: tu nous le refais, Klara? hop Klara!» (Klara, 22).
Angelika kommen die Tränen und sie ist hilfloser denn je, als sie die Klara von heute sieht, die auf dem äußersten Rand des Sessels sitzt, «comme s’il allait la mordre» (Klara, 22). Angelika vergleicht Klara an einigen Stellen mit Victoire: Beim Eintritt in das Wohnzimmer («C’est comme les premiers pas de Victoire, peur qu’elle tombe» [Klara, 21]) und beim Essen («Eh bien, Klara a peu mangé, très peu même, beaucoup moins que Victoire» [Klara, 25]) und zeigt somit die Unsicherheit Klaras auf, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Die zweite, geradezu unmenschliche Reaktion (nach dem Ablehnen Victoires) ist Klaras Verweigerung zu Rainer, von dem sie sich hätte scheiden lassen, wenn dieser noch am Leben gewesen wäre. Absolute Sprachlosigkeit erzeugt Klara mit ihren harten Worten.39 Ziel von Klaras Besuch ist es, Bilanz zu ziehen: «Klara, échouée ellemême pour dresser l’inventaire. Venue ici pour cela, semble-t-il. Sinon, pourqoui?» (Klara, 101). Das Leben von Angelikas Familie wird durch Klaras Besuch aus seiner normalen Bahn geworfen. Nicht nur Angelika lebt im permanenten Angstzustand um Klara (siehe Klara, 45), wird selbst nervös und kann das Erzählte kaum bewältigen, auch Alban und Victoire verändern sich unter den abnormalen Umständen: Alban bricht bei der Arbeit in «un fou rire» (Klara, 48) aus und auch Victoire leidet unter der Situation: Aaron gelingt es hier meisterhaft, das Ausmaß von Klaras Rückkehr und ihr Einbrechen in die Familie zu zeigen. Obwohl Victoire von Klaras Existenz nichts weiß und jegliche Information vor ihr geheimgehalten wird, spürt sie doch das angespannte Verhalten ihrer Eltern (Klara, 49). Victoires Unsicherheit kann nur durch eine Erklärung gelöst werden, doch diese, das befinden Angelika und Alban, kann erst später erfolgen. Der gemeinsame Weg, den Angelika und Klara beschreiten, ist immer wieder von Rückschlägen geprägt, dennoch gelingt es Klara, ihre ––––––– 39
Angelika versucht Klara das Bemühen Rainers, einen Fluchtweg für seine Familie zu finden, deutlich zu machen; doch diese lehnt die Erkläung Angelikas ab und stellt Rainers Fürsorge sogar in Frage. Für sie hat Rainer das Heldentum gesucht und schließlich auch gefunden: «Non. Chacun son destin. Je ne vais pas pleurer sur un héros ... la grâce d’être tué ... il a eu de bonnes raisons pour mourir ... tout le monde n’a pas cette chance. [...] Peutêtre dans sa voix sans beaucoup de variation, y a-t-il un soupçon de hargne? Je crois que j’ai entendu cela, en plus des mots» (Klara, 27).
158 Geschichte zu erzählen. Obwohl die Gespräche zu einem festen Ritual zwischen Angelika und Klara geworden sind und Klara sogar Zeichen von Normalität zeigt (vgl. Klara, 85), bleibt Klara fremd für Angelika («En dehors de quelques brefs instants, je ne retrouve pas mon amie, alors je suis désemparée» [Klara, 86]). Das Zuhören (besonders nach dem Bericht über die Freundinnen, «Puisqu’elle a fait tout cela, vécu, subi, on lui doit de l’écouter, sinon comprendre. C’est ce qu’elle veut» [Klara, 58]) gestaltet sich für Alban und Angelika oftmals als Gewaltakt, nach dem sie wie betäubt sind. Während Angelika Klara einmal bitten muss zu schweigen, da das Erzählte grauenhafteste Dimensionen annimmt (Klara, 89f.), macht es sich Alban zur Aufgabe, alles zu hören. Er steht für das Aufrechterhalten des Gedenkens, für das Bestreben um Aufklärung und erklärt sein Bemühen mit: «Si on ne croit pas les victimes, tout est permis aux bourreaux» (Klara, 90). Ein Kapitel widmet Angelika in ihrem Tagebuch den Auswirkungen von Auschwitz auf Klaras Psyche. Umrahmt wird dieses Kapitel bezeichnenderweise von der Beschreibung zweier Frauengestalten, die Klara entgegengesetzt sind: die natürliche und herzliche, Vertrauen ausstrahlende Fabienne, die Ärztin, die sich um Klara kümmert und sie zum Essen bewegen will (Klara, 53), und die aufgeregte Victoire, deren größte Sorge es ist das Leben ihrer Puppe zu retten; dieses warmherzige Gedenken an Victoire («Je t’embrasse, ma petite chérie» [Klara, 117]) steht im Kontrast zu Klaras Gefühlskälte. Klara kündigt immer wieder ihre Abreise an, doch lässt sie Angelika, die sich mehr und mehr verbraucht und mißbraucht fühlt («À son contact, je me sens vieille. Elle m’use» [Klara, 116]), mit ihren Erzählungen nicht los. Durch Klaras Reden definiert sich Hass für Angelika in einer ganz neuen Form: Nichts Leidenschaftliches, Unbeherrschtes dringt aus Klara, sondern sie spricht die grausamsten und aufwühlendsten Dinge kalt und monoton aus («En permanence, il y a cette dichotomie entre ce qu’elle dit d’abonimable et la façon dont elle le formule» [Klara, 117]). Das Lachen («Cynisme, gloussements, rire de Klara comme une herse. On ne peut pas rire avec elle» [Klara, 117]) Klaras scheint unbegründet, geradezu unpassend zum Gesagten. Angelika erzählt, wie ihr die Grausamkeiten in kleinen Dosen immer wieder zugemutet werden und wie diese Taktik Klaras sie allmählich zersetzt («Klara la douce, dont je n’avais aucune raison de me méfier, corrode insidieusement. Me corrode. Et j’ai mal» [Klara, 117]). Angelika steigert ihr Bild sogar noch, indem sie von ihrem allmählichen Tod durch Klara spricht («Klara me tue à petites doses. Je commence seulement à le sentir» [Klara, 117]). Sie ermuntert sich selbst zum Durchhalten und wünscht sich Klaras Abreise. Beim letzten gemeinsamen Treffen von Angelika, Alban und Klara
159 kündigt diese an zu kochen, was als Zeichen der Aklimatisierung verstanden werden kann. Letztendlich ist es wohl aber mehr ein Abschied (Klara, 135). Angelikas Schlussreflexion kreist um die Problematik der Erinnerung, der Aufrechterhaltung von Erinnerung, der Authentizität der Zeugen und bildet somit Retrospektive und Ausblick. Soll man oder muss man glauben? Oder einfach nur glauben? Die andere Möglichkeit hat Klara selbst angeboten: «Enfermer les mots dans un placard et jeter la clé, oublier l’existence de la clé et du placard» (Klara, 159), doch der letzte Satz entkräftet diese Möglichkeit: «Klara comme un chantier» (Klara, 159) erinnert zwar an die Trümmerfelder Berlins, ist aber zugleich auch ein Bild, das Transformation und Veränderung beinhaltet, etwas nicht Abgeschlossenes und steht somit auch für die Hoffnung. 3.6.2 Victoire – die zweite Generation Le non de Klara beschäftigt sich hauptsächlich mit den Problemen der ersten Generation: den grausamen Erinnerungen an Auschwitz, den schwierigen Versuchen, sich in der «normalen» Welt wieder zurecht zu finden und der Last, überlebt zu haben. Trotzdem integriert Aaron in ihr Werk auch einige Problemstellungen der zweiten Generation und vermittelt damit die Schwierigkeiten, die sich auch für die folgenden Generationen ergeben. Zugleich gibt Klara damit eine Begründung ab, warum sie Victoire nicht sehen will. Vor dem letzten Gespräch, so notiert Angelika in ihrem Tagebuch, steht es für Alban und sie fest, dass Victoire die Existenz ihrer beiden Eltern (nach und nach) offen dargelegt wird. Klara gibt eine Erklärung für das Ablehnen Victoires ab, die Angelika im Präsens wiedergibt, die die Probleme der zweiten Generation glänzend aufzeigt. Klara sieht sich selbst als gestorben in Auschwitz und versucht als eine andere Person nach Amerika aufzubrechen (« – Vous oubliez que je suis morte à Brzezinka. [...] Je vais disparaître. Klara Schwarz-Adler va disparaître» [Klara, 137]). Klara versucht das «Ich,» das Auschwitz erlebt hat, für immer abzulegen (vgl. hierzu «mémoire profonde» und «mémoire ordinaire» bei Delbo). Die Auswirkungen einer Auschwitz-Überlebenden auf die Psyche der zweiten Generation sind hier im Konjunktiv geschrieben und sind zugleich die Gründe, warum Klara für ihre Tochter nicht existent sein möchte. Klara spielt das Musterbeispiel durch, was wäre, wenn sie Victoire nach Amerika mitnehmen würde: Für Victoire wäre Klara eine Fremde, weggerissen von ihren (bisherigen) Eltern Angelika und Alban. Die Vision von Klara nach 6 Monaten zeigt eine Assimilation an die schwer gezeichnete Überlebende, die sich auch im Äußeren niederschlägt: Victoire spräche nicht mehr französisch und noch kein Englisch und sie könnte nicht
160 mehr lachen. Auch hier verwendet Aaron wieder das Lachen als Inbegriff von Leben und Lebensfreude (vgl. Klara, 137). Victoire steht für die Unschuld und das Unwissen, Klara zum Kontrast verkörpert den Krieg und die Auswirkungen des Krieges. Sie sieht sich selbst als «champ de mines» (Klara, 137) an, es brauche Zeit diese Minen zu entschärfen, zu viel Zeit, wahrscheinlich die gesamte Kindheit von Victoire. Sie repräsentiere die Gefahr, «le danger d’Oswiecim» (Klara, 137) und den Tod («À l’intérieur, je ne suis que mort, j’ai un goût de mort, je pue la mort, pour longtemps encore, peut-être pour toujours» [Klara, 137]) und eine falsche Bezugsperson für die Suche nach der eigenen Identität Victoires. Das geordnete Familienleben mit Angelika und Alban sieht Klara als selbstverständliche Lösung an – ihren Schmerz, Wahnsinn und ihre Krankheit will Klara nicht an Victoire weitergeben, auch glaubt sie nicht, dass ein Kind dazu in der Lage ist, eine Kranke wie sie zu heilen. «Je ne rejette pas ma fille. C’est moi que je rejette en dehors de sa vie à elle, pour sa vie à elle» (Klara, 138). Schließlich gibt Klara den eigentlichen Grund für ihre Entscheidung an und enthüllt damit Angelika und Alban ihr Innerstes. « – Là-bas, j’ai eu un enfant, un petit garçon» (Klara, 139) – mit diesen Worten beginnt Klaras Bericht über ihre Mutterschaft im Konzentrationslager. Hierbei erzählt sie von einem Mutter-Kind-Verhältnis, das auf Liebe, Fürsorge, Geborgenheit und Vertrauen beruht, das zum einen vergleichbar mit einer «normalen» Mutterschaft ist, aber auch an die Konstellationen in Auschwitz et après, bzw. J’ai eu vingt ans à Ravensbrück erinnert. Der kleine Junge erscheint eines Tages gut genährt, sauber, aber stumm und ohne ein Lachen in ihrer Baracke («Il restait les preuves de la nourriture. Pas du rire» [Klara, 140]). Die Augen sind bei diesem Jungen noch nicht tot, sondern aufmerksam. Klara beschäftigt sich mit dem Jungen, singt ihm Lieder auf deutsch oder russisch vor – er trommelt mit den Fingern den Takt auf ihre Handfläche oder Oberschenkel. Interessanterweise spricht hier Klara, die für keinerlei Berührungen mehr empfänglich zu sein scheint, viel von Berührungen (Trommeln, Klara hält ihm die Hand, er schläft dicht an sie gedrängt). Klara besiegelt ihre «Mutterschaft» («Parce qu’il était à moi» [Klara, 140]) damit, dass sie die Erste ist, die ihn beim Namen nennt und gibt ihm den Namen des Vaters, Ulli, um somit das verlorene Familienmitglied in anderer Form zu sich zurückzuholen. Als Angelika sie nach dem Namen des Jungen fragt, antwortet Klara ohne zu zögern – den Namen ihrer Freundinnen hatte Klara nicht preisgegeben. Vielleicht ist das ein Indiz dafür, dass Ulli für Klara noch nicht begraben ist. Die in Auschwitz et après so detailliert beschriebene Solidarität unter Frauen im Raum der Gefangenschaft, die oftmals an eine Mutter-Kind-
161 Konstellation erinnerte, greift Aaron in der Hilfe der Frauen auf, die sich um Ulli und somit auch um Klara kümmern: Alle Frauen haben zusammengehalten und Klara geholfen den Jungen zu verstecken, aufzupassen, vor Gefahr zu warnen und Essen für ihn zu organisieren.40 Doch kümmert sich Klara nicht nur um die körperliche Versorgung des Jungen; sie erzählt ihm Geschichten und spricht mit ihm über das Ende des Krieges, über die Rückkehr zu seiner Familie, über die Wiederfindung der Sprache (Klara, 141), d.h. die Rückkehr in das bekannte Leben. Die Verdopplung der Mutter-Kind-Ebene wird deutlich, wenn Klara Ulli von seiner Mutter erzählt und davon, dass sie beide seine Mutter wiederfänden. In diesen Momenten, so erzählt Klara, drückte er kräftig ihre Hand, presste die Finger in ihrer Hand, «[...] je lui disais ... je lui disais ... tant de choses que l’on dit à un petit garçon inconsolable» (Klara, 141). Ullis Anwesenheit stärkt auch Klaras Glauben an die Befreiung und an die Möglichkeit einer Rückkehr in das normale Leben. Der unbedingte Wille, dass Ulli ihr vertraut und glaubt, scheint Klara in dieser Zeit am meisten beschäftigt zu haben (Klara, 141). Der plötzliche Tod Ullis ist der letzte Anlass, bei dem Klara weint. Am Unglauben gegenüber der Welt und auch gegenüber Klara ist Ulli nach Klaras Meinung gestorben; ihr Scheitern sieht sie darin, keine mögliche Mutter für ihn gewesen zu sein: «Il a décidé de mourir. Chez un si petit enfant, il y a eu refus. [...] Il ne m’a pas attendue pour que je sois une mère possible pour lui, je n’ai pas su le convaincre» (Klara, 143). Die letzten «miettes» (Klara, 143) ihrer Liebeskraft hatte sie Ulli gegeben: «Mes dernières parcelles d’amour ont été pour le petit Ulli si digne qui est mort avec la plus belle intelligence qui soit, c’est-à-dire dans le refus de vivre au-delà des limites acceptables. Tous ceux qui sont revenus ont été bien au-delà de ces limites. Ce n’est pas glorieux» (Klara, 143).
Durch Ullis Nein zum Leben setzt Aaron einen Brückenschlag zu Klaras Nein zu ihrer Tochter: « – Ulli a dit plus que non, un superlatif de non. Un mot inexistant. Un non total, et celui-là n’est pas un oui à quelque chose d’autre» (Klara, 144). Diesem mehr als Nein hat sich Klara jedoch durch ihre Entscheidung weiterzuleben verweigert. Klaras Entscheidung ist wohlüberlegt und reflektiert und mit der Geschichte von Ulli zeigt sie, wie viel Opfer ihr diese Wahl abgerungen hat. Somit kann ich mich Ruth Klüger ––––––– 40
«Toutes ont accepté ... du moins toutes ont participé pour le cacher, veiller, prévenir du danger, toutes complices, blockova inclue, oui, cela a existé dans cet endroit là-bas, en enfer à Brzezinka, un enfant a pu vivre, continuer à vivre ... avec des femmes ... avec moi ...» (Klara, 140).
162 nicht anschließen, die von Aaron komplexere erzählerische Mittel erwartet hätte, um Klaras Standpunkt glaubhaft zu machen. «Vom psychologischen Standpunkt ist die Situation nicht überzeugend. Die Erzählerin vermittelt zwar, dass das Kind bei den Verwandten gut aufgehoben sein wird, doch Klara wird nicht als derart oder auch als so dauerhaft psychotisch dargestellt, dass sie das Einzige, was ihr geblieben ist, ablehnen und sich für alle Zeit bei diesem Kind verleugnen lassen würde.»41
Gerade in der Ablehnung Victoires zeigt sich Klara doch als reflektierend und fürsorglich. Sie möchte der Tochter das Verlassenwerden ersparen.42 Angelika beschreibt nur in einem kurzen Satz, der im sachlichen Zeitungsstil verfasst ist, dass sie Klaras Wunsch entsprechen wird: «Le moment venu, nous dirons à Victoire que sa mère est morte à Auschwitz, HauteSilésie, Pologne» (Klara, 145). Im Rückblick beschreibt Angelika Klaras Abschied auf dem Bahnsteig und erkennt im sanften Umgang die Klara von früher: Klara hatte Angelika fest an sich gedrückt und ihr Gesicht abgewischt. Seither weint Angelika. Angelika ruft sich nochmals die «bonnes paroles» (Klara, 147) Klaras der letzten Tage ins Gedächtnis, die sie stichpunktartig aneinanderreiht. Diese Aussagen Klaras zeugen von Dank, von Einsicht, wie schwer sie Angelika und Alban mit ihren Erzählungen belastet hat, aber auch von einem Weichwerden, das sich in den Gesprächen mit Angelika nur ansatzweise finden ließ, sowie von einer größer werdenden Vertrautheit, die Angelika hoffen lässt, dass sie den Kontakt zur Familie doch aufrechterhalten will. «Elle a ainsi émaillé son bilan par ces petites bribes. Des mercis de contrebande» (Klara, 148).
3.7
Reflexions- und Transitorte – «t’as pas changé»
3.7.1 Hotel Lutétia – Treffpunkt für Heimkehrer Das Hotel Lutétia, den Treffpunkt für «Heimkehrer,» hatte Angelika, so schreibt sie in ihrem Tagebuch, immer wieder aufgesucht, in der Hoffnung, Klara wiederzufinden. Diesen Ort nimmt Aaron als Ausgangspunkt, um allgemein zur Problematik der Überlebenden hinzuführen und dann auf den speziellen Fall Klaras zu sprechen zu kommen. ––––––– 41 42
Ruth Klüger: «Gedankenspiel mit letzten Dingen.» Die Zeit 51 (11.12.2003). Vgl. auch: «Dieses Nein zu ihrem Kind, das einem zunächst skandalös vorkommt, ist im Prinzip ein Ja zum Glück der jüngeren Generation. Klara ist am Ende, sie spürt, dass sie die Folgen von Auschwitz auf ihr Kind übertragen kann. Und sie weiß, sie hat kein Recht, ihr Kind unglücklich zu machen» (Debrabandère, Tod der Seele).
163 Das Hotel Lutétia bildet einen Ort der Begegnung, an dem sich die Zurückgekehrten mit ihren Familien zum ersten Mal nach den Geschehnissen wiederbegegnen. Das Hotel ist zugleich aber auch ein Transitort, ein Ort der Anonymität43 und Entwurzelung, da sich die Heimkehrer und Daheimgebliebenen nicht wiedererkennen: Im Tagebuch reflektiert Angelika eine Episode, die sie zuvor den Freunden in Barbery erzählt hat. Im Mai war sie im Hotel Lutétia als freiwillige Helferin. Sie beschreibt das Prozedere, das die Angekommenen hinter sich bringen müssen (hier gibt Aaron sehr genaue Informationen), aber auch die emotionale Seite, das Warten und die Hoffnung, dass bei jedem Transport auch ein vermisster Bekannter oder Freund dabei sein könnte und die (fast immer) darauf folgende Enttäuschung («Tous les jours la déception au rendez-vous, tous les jours je repartais en me disant que je ne reviendrais pas, que ce n’était pas la peine, mais chaque fois, je revenais en dépit de tout» [Klara, 38]). Dargestellt werden Menschen, die warten, die meisten mit Fotos ausgestattet, hysterische Frauen, Personen, die andere zurückdrängen etc. Die Ankommenden bilden jedoch das Gegenstück: voller Schweigen, in schlechter Verfassung, manche auf Bahren. Einige sterben wenige Stunden nach ihrer Ankunft, die Gesünderen sind verlegen, sehen nirgendwohin und helfen den anderen. Nach dieser allgemeinen Etablierung des Szenarios erzählt Aaron eine Geschichte, die in ihrer Schlichtheit exemplarisch und anrührend zugleich ist: Angelika dient hier als Zeugin aus nächster Nähe («J’étais sur le côté et j’ai tout vu.» [Klara, 38]). Eine junge Frau, die sehnsüchtig auf ihren Mann gewartet hat, erkennt diesen nicht wieder, als er vor ihr steht – beide reagieren darauf wütend, bis schließlich die Umstehenden helfen, den schwierigen Moment des Nichterkennens zu überwinden und sich quasi in einer Anagnorisis über das Wiedersehen freuen (Klara, 38f.). In dieser Szene steckt die ganze Problematik der Heimkehrer und Überlebenden: die Angst, in das alte Leben zurückzukehren, aber ein anderer zu sein und von den Daheimgebliebenen nicht mehr erkannt zu werden, aber auch die Erwartungshaltung der Überlebenden, die nicht im KZ waren. Das wütende «t’a pas changé» (Klara, 39) der jungen Frau ist eine Versicherung für beide, dass ein normales Leben (so weit möglich) angestrebt werden muss. Das kollektive Bewusstein («un soupir collectif» [Klara 39]) und die ––––––– 43
Obwohl Angelika ihre Adresse, Telefonnummern, Klaras Namen und ein Foto von ihr hinterlassen hatte, konnte Angelika von Klaras Rückkehr nicht benachrichtigt werden: Klara hatte einen anderen Namen angegeben und das Foto bot keinen Anhaltspunkt mehr – die Charakteristika, die Klaras altes Leben bestimmt hatten, haben nun keine Gültigkeit mehr.
164 kollektive Hilfsbereitschaft, die sich bei dieser Situation entwickeln, beschreibt Angelika als «Comme si tout le monde avait pensé ensemble qu’il fallait les aider un peu» (Klara, 39). Zorn und Angst, nicht erkannt zu werden, («Adeline a dit, ‹ce doit être horrible quand on ne vous reconnaît pas›» [Klara, 39]), aber auch Einsamkeit während des Wartens, Leid, Schwanken zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit charakterisieren diese Treffen zwischen Heimkehrer und Daheimgebliebenen. Die Ankommenden im Hotel Lutétia ähneln sich alle (bis auf die erst in jüngster Zeit Deportierten) und sind unkenntlich. Diese Menschen sind so schwach, «au bord de quelque chose» (Klara, 132), dass sich bei den freiwilligen Helfern, wie Angelika es beschreibt, ein Gefühl der Verlegenheit, eine Beklemmung gegenüber den eigenen Ungeschicklichkeiten einstellt. Egal mit welchem Temperament die Ankommenden sich den administrativen Fragen stellen, alle sehnen Schlaf, Ruhe, Pflege, Stille und, wenn möglich, Zärtlichkeit herbei (vgl. Klara, 132). Klara passt keineswegs in dieses Raster, das Unbehagen gegenüber ihr ist von anderer Art. «Son aplomb, son arrogance la préservent de toute commisération, c’est plus âpre. J’avoue que je préfère» (Klara, 133). 3.7.2 Angelikas Wohnung als Reflexionsort Paris ist für Klara zu einer fremden Stadt geworden, in der sie die Freunde nicht mehr am gewohnten Wohnsitz antrifft und damit die Suche nach ihnen beendet – ein Sinnbild für die Heimatlosigkeit, die sich bis zu Klaras Abschied hält. Zwar versucht sie auch in Paris «une photo de la paix» zu machen, doch gelingt es ihr nicht. In einem Café wagen die beiden Frauen die erste Annäherung – bezeichnenderweise findet dies auf neutralem Boden statt (vgl. hierzu auch Delbo). Amerika steht als Gegenpol zur persönlichen Auseinandersetzung mit ihrem Schicksal in Paris. Hier wird Klara ihren Namen, ihre Familie und Herkunft und auch ihre Vergangenheit ablegen. Klaras persönliche Aufarbeitung beginnt in Angelikas Wohnung. «Elle martyrise le coussin à l’angle du divan ou bien elle marche dans le salon, elle ne reste jamais en place» (Klara, 10). Bevor sich Klara Angelika mitteilt, beschreibt Angelika in ihrem Tagebuch, wie Klara ruhelos auf und ab geht, «J’étais sur le seuil de la grande salle, elle ne bougeait pas. Je reprends au présent. Je suis sur le seuil du salon, elle ne bouge pas» (Klara, 21). Die Schwelle ist hier nicht nur ein Zeichen dafür, dass Klara sich überwinden muss, wieder in die familiäre (häusliche) Atmosphäre einzutauchen, sie ist auch zugleich ein Zeichen, dass in diesem Raum mit
165 Sicherheit die Sprache auf ihre Vergangenheit kommen wird.44 In diesem Augenblick erinnert sich Angelika an die kleine Victoire und an ihre ersten Schritte – doch Klara steht ganz im Kontrast zu den unschuldigen Versuchen eines Kindes, das das Laufen lernt. Sie hält an ihrem wenigen Hab und Gut fest, als ob sie befürchten müsse, dass ihr auch an diesem Ort alles genommen wird. Schließlich überschreitet Klara die Schwelle, «avec des délicatesses de chat au bord d’une flaque» (Klara, 22). Angelika versucht mit einem Ausdruck aus Klaras Erfahrungsbereich («Il n’y a pas de mine Klara» [Klara, 22]) sie zum Gehen zu bewegen, doch Klara ist sich der Tragweite ihres Schrittes bewusst. Sogar das Inventar wird für Klara zu bedrohlichen Objekten: der Sessel, «comme s’il allait la mordre» (Klara, 22). Im Gegensatz dazu werden die Objekte, die sie dabei hat, nicht nur vertrauter (und Klara klammert sich noch fester an diese), sondern werden in zärtlicher Art und Weise beschrieben «avec sa minuscule mallette et son chien, son nounou de manteau noir» (Klara, 22). 3.7.3 Deutschland in Trümmern Klara führt Angelika an die Stätten des Geschehens zurück («Berlin, elle m’y ramène» [Klara, 109]) – Berlin ist eine Stadt in Trümmern, eine Stadt, die durch Hitler gezeichnet ist («[...] toutes les rues de Berlin en ruine s’appellent Pazuzustraße, s’appelleront Pazuzustraße» [Klara, 109f.]) Im Zusammenhang mit dem Namen Pazuzu45 spricht Klara über Berlin. Und sie nennt ein Zitat Hitlers, das zu umgekehrter Wahrheit wurde – dass man Berlin nicht wiedererkennen könne (Klara, 42): «Ce n’était pas un bombardement de guerre, mais un pilonnage, un lâcher de bombes pour l’expiation.» Die Fassaden der Bauwerke werden zu Gesichtern der Täter(innen) (« – Les bâtiments en ruine de Hitler, c’est beaucoup mieux. Sur les façades, c’est comme du rimmel qui a coulé ça a flambé, salement flambé» [Klara, 110]) und damit betont Aaron, inwieweit die Erfahrung der Überlebenden von Auschwitz in die Wahrnehmung der Nachkriegswelt hineinreicht. «Im Lande der Täter sind die Städte, und allen voran Berlin, ––––––– 44
45
Die Schwelle als Grenze zur Außenwelt thematisiert auch Charlotte Delbo in Mesure de nos jours im Bericht von Gilberte: «J’ai ouvert la porte et je suis restée sur le seuil, guettant, attendant, me demandant si je devais prendre à droite ou à gauche, hésitante» (Auschwitz III, 27f.). «Pazuzu» wurde für die (teilweise) jüdische Familie und ihre Freunde zur Folie der Gegenwartsbewältigung anhand von Zeichnungen, die während eines «Zeichenwettbewerbs» in Barbery, bei dem es um die grässlichste Darstellung Hitlers/Pazuzus ging, angefertigt wurden. In der Reflexion von heute weiß Angelika, dass diese Bilder «pour juguler nos peurs» (Klara, 40) waren. «En les revoyant, c’est ce qui apparaît. Nos dérisoires défoulements, comme lorsqu’on riait tellement des écrits antisémites, surtout de Céline» (Klara, 40).
166 ein einzigartiges Erinnerungsdepot.»46 Klara differenziert zwischen den Bauwerken Hitlers und dem (deutschen) Boden: «Le sol outragé de l’Allemagne respire mieux» (Klara, 110). Die Trümmer stellen hier tatsächlich die Reste der Vergangenheit dar und sind notwendig, um auf dem Boden wieder Neues zu schaffen. An Aufarbeitung im kollektiven Gedächtnis glaubt Klara jedoch nicht.47 Berlin ist in diesem Zusammenhang als Gedenkort anzusehen, der durch Diskontinuität, d.h. durch eine eklatante Differenz zwischen Vergangenheit und Gegenwart gekennzeichnet ist. «Am Gedenkort ist eine bestimmte Geschichte gerade nicht weitergegangen, sondern mehr oder weniger gewaltsam abgebrochen. Die abgebrochene Geschichte materialisiert sich in Ruinen und Relikten, die sich als fremde Überreste von der Umgebung abheben. Das Abgebrochene ist in Überresten erstarrt und beziehungslos zum örtlichen Leben der Gegenwart, das nicht nur weitergegangen, sondern über diese Reste auch achtlos hinweggegangen ist.»48
Pierre Nora spricht von einem Übergang vom «milieu de mémoire» zum «lieu de mémoire.»49 Im letzten «Kapitel» von Angelikas Tagebuch berichtet Klara nochmals von Berlin. Klara erzählt Angelika vom Reich, das durchsetzt mit Lagern ist wie ein Käse voller Löcher und genau diese Löcher werden auch die Gedächtnislücken Deutschlands darstellen – man wird versuchen, diesen Teil der Vergangenheit zu vergessen und zu verdrängen (vgl. Klara, 149). «Berlin puzzle» (Klara, 149) verspricht zwar noch keinen Neuanfang, scheint aber schon eine Vorausdeutung auf einen nachfolgenden Ausdruck zu sein, der ebenfalls Umbruch und Neuanfang verspricht: «Klara comme un chantier» (Klara, 159). Somit kann die Stadt zum einen als Sinnbild für Klaras eigene innere Zerstörung gelesen werden, «... à l’intérieur Klara n’est plus qu’un champ de ruines,»50 aber auch als «puzzle,» das neu zusammengesetzt werden muss, als etwas Unfertiges («chantier»), dem man ––––––– 46 47
48 49
50
Bogdan Bogdanovic: Die Stadt und der Tod. Klagenfurt, Salzburg 1993, 22; vgl. auch Bogdan Bogdanovic: Architektur der Erinnerung. Klagenfurt 1994. Sie sagt zwar «L’Allemagne s’est purifiée de ses Juifs par le feu, l’Allemagne a été purifiée de ses nazis par le feu» (Klara, 42), doch als Angelika diese Feststellung hinterfragt, nimmt Klara sie sofort zurück. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 309. Nora, Geschichte und Gedächtnis, 11. Ein Gedenkort ist das, was übrigbleibt von dem, was nicht mehr besteht und gilt. Um dennoch fortbestehen zu können, muss eine Geschichte erzählt werden, die das verlorene Milieu supplementär ersetzt. Denn mit der Aufgabe und Zerstörung eines Ortes ist seine Geschichte noch nicht vorbei; er hält materielle Relikte fest, die zu Elementen von Erzählungen und damit wiederum zu Bezugspunkten eines neuen kulturellen Gedächtnisses werden. Pascale Frey: «Le non de Klara.» Lire décembre 2002/janvier 2003, 62.
167 sich widmen muss. Nach dieser Einleitung über das verwüstete Berlin (und Klaras Gang durch die Stadt) findet sie das Haus ihrer Mutter wieder und die Figuren des Nachkriegsdeutschlands werden beschrieben. 3.7.4 Frankreich und Deutschland danach – Spiegel der Nachkriegsgesellschaft An drei Episoden macht Soazig Aaron ihr Bild der Nachkriegsgesellschaft fest: an der Erzählung Klaras von der Familie in Krakau, an ihrem Zusammentreffen in Berlin mit den neuen Eigentümern der Wohnung ihrer Mutter und an den Besuchern des Cafés in Paris. Die Erzählung Klaras von Krakau (Klara erhielt die Möglichkeit, die Kinder eines Arztes, den sie im Krankenhaus kennen gelernt hatte, ein paar Stunden russisch zu unterrichten) dient dazu, die Ignoranz und Arroganz der gebildeten Bevölkerung aufzuzeigen: Nach mehrmaligem Fragen der Frau des Arztes, warum Klara deportiert worden ist, antwortet Klara, dass sie Jüdin sei, was jene als ausreichende Schuld für eine Inhaftierung einstuft: «Klara a dit, ‹oh! alors, c’est parce qu’ils ont trouvé que j’étais Juive ...› et l’autre, ‹ah! vous voyez bien, Klara, c’était pour quelque chose, personne n’est innocent›» (Klara, 106). Die «Schuld,» jüdisch zu sein, entstammt direkt aus der nazistischen Rassenideologie und Klaras nachfolgender Wutausbruch verdeutlicht ihr Entsetzen. Das Paar in Berlin, das nun in der Wohnung ihrer Mutter lebt,51 ist zunächst verlegen, versucht normal zu wirken und wird schließlich von Klara zum Gespräch herausgefordert. Die Reden des Paars sind voller Ausflüchte (u.a. geben sie vor, die Mutter geschützt zu haben), (unterschwelliger) antisemitischer Bemerkungen («[...] tout était risqué avec les Juifs [...] à cause des Juifs quand même, sinon il n’y aurait pas eu de problème» [Klara, 151]) und nationalsozialistischem Denken, das die Schuld nicht im eigenen Land sucht («[...] dans les bombardements de Dresden, une vraie barbarie les bombardements, une sauvagerie» [Klara, 151]). Klara bezichtigt das Paar des Diebstahls und die beiden argumentieren mit den Bestimmungen der Nazis: Die Wohnung sei sowieso zum Staatseigentum erklärt worden und es sei schon «drôle» (Klara, 152) für eine einzige Person, noch für eine Jüdin 1941 gewesen, eine so große Wohnung gehabt zu haben (Klara, 152) und deshalb könne es sich (wenn ––––––– 51
Ihrer Familie gab sie alles mit, damit diese größere Freiheiten hatte, um sich irgendwo niederzulassen. Vor der Abreise von Angelika und Rainer erklärte die Mutter Rainer, dass sie auch Frau Adler das Nötige gegeben habe, «c’était encore le meilleur cadeau à faire» (Klara, 37). Zunächst denken Angelika und Rainer, als sie vom Tod von Klaras Mutter 1941 hören an das Gift, doch zwei quasi anonyme Briefe, die mit einer unleserlichen Unterschrift versehen sind, lassen sie an dem Selbstmord zweifeln.
168 überhaupt) nur um einen Diebstahl gegen den Staat gehandelt haben. Nur leichte Betroffenheit löst Klaras Bemerkung aus, dass sie aus Auschwitz komme – die beiden versuchen sogleich, das Geschehene als abgeschlossene Vergangenheit zu behandeln « – C’était pas drôle sans doute ... mais c’est fini maintenant, tu t’en es tirée finalement, c’est ça le principal. Tu ne crois pas, Sarah?» (Klara, 155). In direkter Rede beschreibt Klara sehr genau, wie sie das Ehepaar tötet. Nur die Schlüssel ihrer Mutter nimmt sie mit. Reue empfindet Klara auf Angelikas Frage hin nicht, begründet aber ihre Tat: « – Mais je ne suis pas, à moi seule, la malchance. La malchance, c’est la rencontre – la rencontre de leur bêtise, de leur égoisme, de leur hypocrisie et de moi et mon revolver» (Klara, 156). Diese Weigerung zur Schuldübernahme und die Unversehrtheit der beiden (die sich auch optisch zeigt, im Gegensatz zum zerstörten und geplünderten Berlin) sind die Hintergründe für den Mord an dem Ehepaar. Klara kontrastiert den «luxuriösen» Tod des Ehepaares (schnell, ohne Furcht, ohne Krankheit, ohne Leiden, ohne Gericht, Alter, Krankheiten und auch ohne Schuldgefühle) mit dem Tod in Auschwitz (der Tod in Block 25 hingegen: vergast, versklavt, verworfen, erniedrigt und in grauenhafter Angst, ekelerregend, vgl. Klara, 157). Die einzige Reue, die sie empfindet, besteht in ihrem fehlenden Vorsatz und deshalb sieht Klara das Geschehene eher als Unfall denn als schöne Tat. Angelika schreibt, dass im Laufe dieses Samstagabends noch einige Informationen von Klara nachgeliefert wurden, die weitere Indizien für den Mord an ihrer Mutter für Angelika (und den Leser) bringen: Das Mobiliar der Wohnung war nicht verändert außer dem modernen Wohnzimmer (Klaras Mutter hatte dieses mit Arbeiten von Bauhaus-Freunden und zwei Klees eingerichtet). Diese Kunstrichtung stand auch auf dem Kodex der Nationalsozialisten und um die antisemitische Haltung des Ehepaars nochmals zu betonen, erwähnt Angelika, dass auch Ulrich Adler diese Einrichtung hasste («[...] bref, tout ce que détestait Ulrich Adler» [Klara, 158]). In direkter Rede erklärt Klara, dass ihre Mutter Waffen verabscheute, dass aber die Schwiegersöhne des Ehepaares bei der Wehrmacht waren. Angelikas Sprachlosigkeit (die auch in der Tagebuchaufzeichnung ihren Widerhall findet, indem sie den Mord unkommentiert lässt) scheint Klara so zu interpretieren, dass sie sich rechtfertigen muss: Das Anzünden des Hauses sei Teil ihres Planes gewesen, doch habe sie rechtzeitig an Frau Kuntz gedacht (« – Alors tu vois! a-t-elle commenté. Ce que j’ai prolongé mentalement par ‹je ne suis pas un monstre.› Elle ne l’a pas dit» [Klara, 158]). Schließlich gibt sie den eigentlichen Grund für den Auslöser an: « – C’est eux qui ont fait sauter la sécurité sur mon revolver avec le déclic Sarah» (Klara, 158). Diese Stigmatisierung von Klara als Jüdin und somit die Verweigerung, sie als
169 Mensch anzuerkennen, der Unwille, Wissen aus der Vergangenheit gezogen zu haben, vernichtet Klara mit dem Töten der beiden. Sie tötet somit (im Kleinen) die ignorante Täterschaft und «säubert,» wie sie es als Hoffnung und Ziel erklärt hat, die Welt. « – Tu me dis, Klara, que c’est ce nom? – Sans doute oui ... ‹le mot juif› en a fait sauter bien d’autres» (Klara, 159). Die Ignoranz der Nachkriegsgesellschaft wird auch an einem anderen Beispiel sinnfällig. In einem Café in Paris wird Klara aufgrund ihrer kurzen Haare von einem Franzosen verhöhnt, der sie für eine Frau hält, die sich mit den deutschen Besatzungsmächten eingelassen hat und darum geschoren wurde. Klara schlägt ihn ins Gesicht, fällt in Ohnmacht und in einen langen Tiefschlaf. Allgemeine Beschämung ruft Klara hervor, als ihre Jacke verrutscht, und der Mann, der sie verbal angegriffen hat und die Umstehenden die Tätowierung sehen. Die Menschen sind betroffen und berührt vom Anblick und Auftritt einer KZ-Überlebenden («Apparemment, les mots de petit squelette leur plaisent bien. C’est dit sans méchanceté, plutôt avec une nuance d’admiration et d’amusement» [Klara, 61]), zugleich spürt Angelika aber, dass offensichtlich alle beim Anblick Klaras an eine Geschorene gedacht hatten. Angelika versucht die Geschorenen insgesamt zu verteidigen, doch das Gespräch wird abgebrochen. Die spätere Entschuldigung des Mannes nimmt Klara nicht an und auch Angelika hat den Eindruck, dass die Entschuldigung des Mannes eher als Freispruch für sich selbst gedacht war als ein Akt der Reue für die (erneute) Stigmatisierung von Menschen. «Je suis soulagée, comme si cet acte me délivrait d’une peur, quelque chose que je craignais, je ne sais pas quoi au juste. Maintenant, je sais. Cette crainte depuis le début, c’était cela: si elle n’avait pas cogné ce type, c’est moi qu’elle aurait frappée» (Klara, 62) «[...] On dirait qu’il s’accroche à sa faute» (Klara, 74).
4
Romain Gary, La Danse de Gengis Cohn – Wanderer durch Raum und Zeit
4.1
Erzählen nach Auschwitz – «la création romanesque»
4.1.1 Inhalt und Struktur – Abrechnung mit der Menschheit Romain Garys1 Roman La Danse de Gengis Cohn beinhaltet unterschiedliche und verzweigte Narrations- und Handlungsstränge, auf die im Folgenden kurz eingegangen werden soll: In der deutschen Kleinstadt Licht sind eine Reihe mysteriöser Morde geschehen. Zeitgleich geht die Meldung vom Verschwinden der jungen Aristokratin Lily in der Polizeidienststelle ein. Polizeikommissar Schatz, ein ehemaliger SS-Offizier, wird mit dem Fall betraut. Das Verbrechen wird undurchsichtiger, als bekannt wird, daß alle Mordopfer (ausschließlich Männer) hinterrücks erdolcht wurden und ein unerklärbares Lächeln der Verzückung auf ihren Gesichtern haben. Zunächst mutet die Aufklärung der Morde wie eine Kriminalgeschichte an und läuft parallel zur «Besessenheit» des Hauptkommissars. Beide Geschichten werden dann aber mit fortschreitender Handlung ineinander verwoben. Hauptkommissar Schatz war während des dritten Reiches für die Organisation von Erschießungskommandos verantwortlich. Seit er aber nach dem Ende des Krieges entnazifiziert wurde, ist er sich keiner Schuld bewusst und reagiert auf Fragen mit den gängigen ––––––– 1
Romain Gary wurde 1914 in Russland geboren, siedelte aber bald nach Frankreich über, wo er seine Schul- und Universitätslaufbahn hatte. Er war als Luftwaffenoffzier im freien Teil Frankreichs an den Kriegshandlungen beteiligt und trat nach dem Krieg in das Corps diplomatique ein. Er beging 1980 Selbstmord. Sein Gesamtwerk stellt eine kritische Auseinandersetzung mit politischen, historischen und kulturellen Fragen sowie authentischen Ereignissen dar. Gary nimmt in seinen Romanen auf historische Ereignisse Bezug. Sein Werk ist Spiegel der jeweiligen Gesellschaft und der Zeitgeschichte. Obwohl sich Gary der Geschichte widmet, bleibt er doch immer ein distanzierter Beobachter, der zur Darstellung seiner Weltsicht fiktive Charaktere wählt, Spiegelbilder seiner Weltsicht, die aber wiederum durch ihre kritisch-ironische Darstellung einen wichtigen Kommentar zur Geschichtsschreibung beitragen. Verbunden mit dem zeitgeschichtlichen Aspekt in Romain Garys Werk ist die ideologische Seite, die in allen seinen Werken eine große Rolle spielt: Menschheit und Kultur, Gesellschaft und Identität, Kirche und Jesus, Konzeptionen von Frau und Mann.
171 Beteuerungsmustern. Seit 20 Jahren ist er von einem Dibbuk besessen, einem jüdischen Komiker, der durch seinen Befehl in einem KZ erschossen wurde, sich aber durch einen Akt der Revolte (Entblößung seines Gesäßes) aus der Masse hervorheben konnte und somit für immer in Schatzens Unterbewusstsein eindrang. Im ersten Teil des Romans lässt der Dibbuk nichts unversucht, um Schatz zu einem Schuldeingeständnis zu bringen, ihn sogar zum Judentum zu bekehren. Die Geschichte um Lily und Florian dient nicht nur als Hintergrund für die Besessenheit, sondern wird zum Hauptinhalt des zweiten und dritten Teils von La Danse de Gengis Cohn. Die Aristokratin Lily und ihr Kompagnon Florian sind verantwortlich für die, wie es zunächst scheint, Einzeltaten, schließlich aber für den Massenmord an Tausenden innerhalb der ganzen Menschheitsgeschichte. Die durch Schatz und die Menschen bzw. Menschheit angestrebte Fraternisierung mit Cohn findet nicht statt – im Gegenteil: Die Assimilation geht in die andere Richtung. Cohn wacht nach einem langen Schlaf im Vietnamkrieg auf und kämpft an der Seite von Schatz mit. Nach und nach – zur Freude von Schatz, der damit den Dibbuk verloren zu haben scheint – soll Cohn gesellschaftlich integriert werden. La Danse de Gengis Cohn ist eine Mischung aus Epos, «[...] form of the mediaeval allegory,»2 Satire, mystischer Lyrik und Erotik. Gary selbst zählt sein Werk zur romanesken Literatur.3 «[...] la grandeur des romanciers consiste pour moi à révéler un aspect de l’homme que, sans eux, nous n’aurions pas vue [...] La création romanesque est pour moi un état obsessionnel, compulsif.»4 Garys Roman, der tragikomisch anmutet,5 ist in kurze Szenen aufgeteilt, die die Reflexionen des Dibbuks unterbrechen und an den historischen Hintergrund erinnern. Diese Vereinigung von zwei parallelen Plots, eines tragischen und eines komischen von gleichem Gewicht (die komischen Ausführungen des Dibbuks vor dem Hintergrund des Holocaust), die durch ein gemeinsames Thema und vergleichbare Motive miteinander verknüpft sind (der Massenmord in Licht ist verbunden mit den Gräueltaten des dritten Reiches) und durch eben diese Parallelität sich gegenseitig von ihrer spezifischen Färbung abgeben, bestimmt Struktur ––––––– 2 3
4 5
Jane McKee: «The Symbolic Imagination of Romain Gary.» Maynooth Review 6, 2 (1982), 60–71, hier: 64. «[...] la fiction romanesque [...] mêle la réalité historique à l’imaginaire et doit par conséquent répondre à des exigences autres que purement artistiques» (Charlotte Wardi, Le génocide, 215). K.A. Jelenski: «Entretien avec Romain Gary.» Biblio mars (1967), 3–9, hier: 6f. «Wenden wir uns dem Problem der Abgrenzung zu, so bemerken wir, daß das Phänomen des Tragikomischen eine große Anzahl von Verwandten aufweist [...].» Beispielsweise Parodie und Travestie, Melodramatik, Satire, Humor, Absurde und Groteske (vgl. Karl S. Guthke: Die moderne Tragikomödie. Theorie und Gestalt. Göttingen 1968, 75ff.).
172 und Inhalt der Tragikomödie6 und des Romans La Danse de Gengis Cohn. In einigen Teilen evoziert Gary die Atmosphäre einer spiritistischen Sitzung, indem er Gengis Cohn die grausamsten Szenen für Schatz «imitieren» lässt. Die sprachliche und stilistische Seite zeichnen Gary als traditionellen Erzähler aus, er charakterisiert seine Figuren genau, schildert ihre Lebensumstände und Probleme. Gary schreibt vor dem Hintergrund geschichtlicher Ereignisse und bleibt dabei immer ein distanzierter Erzähler bzw. Betrachter. 4.1.2 Das Werk vor dem literarischen Hintergrund – «un roman total» Die Idee zu La Danse de Gengis Cohn hat einen zeitgeschichtlichen Bezug: Gary schrieb seinen Roman in den 60er Jahren, die ein kurzes Wiederaufleben nationalistisch orientierten Denkens zeigten.7 Außerdem besuchte Gary kurz vor dem Beginn der Arbeit am Roman das Warschauer Ghetto, das einen tiefen Eindruck auf ihn hinterließ. 8 Gary betont mit Nachdruck die Nicht-Darstellbarkeit des Grauens in La Danse de Gengis Cohn und strebt zugleich, wie in seinem theoretischen Werk Pour Sganarelle9 erläutert wird, eine inhaltliche und formale Totalität an.10 Pour Sganarelle ist der erste Teil des dreiteiligen Zyklus Frère Océan, der Pour Sganarelle, La Tête Coupable und La Danse de Gengis Cohn ––––––– 6
7
8
9 10
Unter der modernen Tragikomödie versteht man ein von Anfang bis Ende zugleich komisches und tragisches Drama. Am leichtesten gibt sich die tragikomische Sichtweise zu erkennen, die eine Tragödienfigur mit einer Welt kontrastiert, die eindeutig dem Bereich der Komödie angehört. Es besteht eine Inkongruenz eines potentiell tragischen Charakters und komödienhafter Umgebung, die sein Streben in komischem Licht erscheinen lässt. Umgekehrte Inkongruenz ist ebenso denkbar: Eine im Wesentlichen komische Person gerät in eine tragische Welt und wird von ihr überwältigt (vgl. Guthke, Tragikomödie, 75ff.). «Nous sommes en 1966 dans une Allemagne miraculée sur le point d’effectuer un dangereux retour aux sources nazis» (GC, 220). Im Folgenden wird La Danse de Gengis Cohn mit GC abgekürzt. «L’été dernier, j’ai pourtant eu une expérience bouleversante, qui est à l’origine de ce Gengis Cohn dont je vous ai parlé, je ne me suis jamais senti le même depuis. Au cours d’un voyage à Varsovie, j’ai visité le Musée d’Insurrection. [...] Or, devant la section du Musée consacrée à la révolte du Ghetto, je me suis soudain écroulé et je suis resté évanoui vingt minutes. Je ne m’étais peut-être pas rendu compte du poids qu’avait eu pour moi, dans cette ville où j’avais été élevé, cette immense, cette massive absence: celle des Juifs» (Jelenski, Romain Gary, 4). Romain Gary: Pour Sganarelle. Paris 1965. Der Versuch, Literatur neu zu bestimmen und die Bedingungen eines neuartigen Romans abzustecken, liegt diesem Werk zu Grunde, das in einigen Punkten eine theoretische Grundlage für La Danse de Gengis Cohn bietet. Hier wird der pikareske oder totale Roman dem «nouveau roman» entgegengestellt. Der Untertitel Recherche d’un personnage et d’un roman verweist u.a. auf den kommenden Roman La Danse de Gengis Cohn.
173 beinhaltet. Das Ziel der drei Werke ist es, eine Gestalt in ihrer Entwicklung darzustellen, die Garys Theorie von der «identité» entspricht: «J’ai dit que mon personnage ne saurait être fixé dans une seule identité. Le roman du changement, de la péripétie, ne peut être celui du personnage fini.»11 Diese Gestalt soll als Wanderer durch Raum und Zeit gezeichnet werden. Das Verhältnis von Kunst und Grauen dient als Leitgedanke. Gary versucht La Danse de Gengis Cohn als einen «roman total»12 zu schreiben, in dem das Lachen das Verbrechen anprangert13 und die Erfahrungen der Menschheit in ihrer Gesamtheit dargestellt werden sollen. Gary umgeht die Problematik der Nichtdarstellbarkeit mit einer Fülle von historischen, politischen und kulturellen Querverbindungen, Metaphern und Assoziationen, die einen universelleren Blick auf die Menschheitsgeschichte, ihre Ideologien und ihre Kultur geben, zugleich aber auch einen intimen Einblick in die Psyche seiner Figuren und Charaktere. Hierbei verbindet er in seinem überzeitlichen Zugang «l’histoire» und «des histoires.» Innerhalb seines Werkes verknüpft er verschiedene Bewältigungsstrategien über unterschiedliche Zeitebenen hinweg zu einem Gesamten. Gary negiert die klassischen realistischen Erzählformen. Er reiht verschiedene Narrationsebenen, Zeitebenen, Orte, Ereignisse authentischer und fiktionaler Art aneinander, vermischt das psychische Geschehen von Täter und Opfer, beschreibt einen Durchlauf der gesamten europäischen Politik- und Kulturgeschichte, wobei die meisten Ereignisse satirisch verzerrt oder gänzlich abgewandelt werden. Durch Satire, Ironie, facettenreichen Identitätswechsel und betonte Selbstreflexion kreiert er ein fiktionales Werk, das das Grauen thematisiert, aber nicht zum eigentlichen Thema macht.
––––––– 11 12 13
Gary, Pour Sganarelle, 138. Vgl. Gary, Pour Sganarelle. Nach Gary ist es in Pour Sganarelle «impossible de satiriser Auschwitz,» da «la dérision et la parodie ne s’exercent efficacement que de l’intérieur» (Gary, Pour Sganarelle, 138). Indem aber Gary seiner Hauptfigur Gengis Cohn eine Vergangenheit als Kabarettist gibt, widerlegt Gary seine Aussage in Pour Sganarelle, dass es unmöglich sei, nach Auschwitz eine Satire zu schreiben. Teilhabe und Anhaften sei Voraussetzung einer Satire und die Erfahrung der Vernichtungslager verbiete eine solche Ausgangssituation. Ein «teilweises Anhaften» («une partielle adhésion, [...] cette part trompeuse d’apparente approbation» [Gary, Pour Sganarelle, 137]) sei bei der Behandlung des Themas Auschwitz unzulässig und unmöglich. Garys fiktionales Werk über Auschwitz indes zeigt satirische Züge, die «partielle adhésion» ist hier realisiert durch die Einführung der Dibbuk-Figur, die dem SSMörder angeheftet ist
174 «Drawing on the naked authenticity of the events, Gary initiates a fictive transfiguration of the documentary materials and eyewitness accounts as a result of which historical reality is balanced against aesthetic representation.»14
Innerhalb seiner fantastisch-grotesken Welt kann Gary spielerisch allgemeine Problemstellungen umkehren, satirisch verarbeiten, um somit eine allgemeine Wertevermittlung zu geben bzw. die Aufmerksamkeit oder Partizipation des Lesers zu erzwingen. Die Frage, inwieweit ein Werk über den Holocaust insgesamt möglich ist und ob sich jegliche Art von Kunst überhaupt damit beschäftigen kann und darf, zeigt Gary zunächst innerhalb seiner Erzählhandlung auf, um dann letztendlich sein eigenes Werk dieser Fragestellung zu unterziehen. In Garys La Danse de Gengis Cohn lassen sich Vergleichspunkte zur jüdischen literarischen Tradition ziehen. Mit der jüdischen «HolocaustLiteratur» hat der Roman die literarische Tradition, die auf die Bibel und das Mittelalter zurückgeht, gemein. Oftmals sind die Werke vom Wunsch getragen, «Erinnerungszeichen des jüdischen Volkes zu sein und individuelle Traumata in kollektive Erinnerung zu verwandeln.»15 Individuelle Geschichte steht in ihnen als Symbol der Geschichte der Gemeinschaft, Sinnbild der kollektiven Katastrophe des jüdischen Volkes. Die Verknüpfung der Erfahrung des Genozids in Verbindung mit der jüdischen Geschichte zu lesen, ist auch in La Danse de Gengis Cohn vorhanden. Gary erzählt nicht nur individuelle Geschichte, sondern gedenkt der kollektiven jüdischen Lebenserfahrung. Die auf die Theodizee bezogenen Fragestellungen und eine teleologische Geschichtsdeutung sind bei Gary nur latent präsent: Zwar werden die (unterlassenen) Aufgaben der Kirche gestreift, doch im eigentlichen Zentrum der religiösen Reflexionen steht Jesus. Gary hebt stärker die menschheitsgeschichtliche Dimension des Genozids hervor und löst ihn nicht aus seinem gesellschaftlich-kulturellen Kontext. Romain Gary hat zwei seiner Werke den Gräueltaten des Holocaust gewidmet;16 während sein erstes Werk Education européenne17 großen Anklang fand, blieb das zweite Werk La Danse de Gengis Cohn unbeachtet. Genauso unterschiedlich wie die Rezeption der beiden Werke ––––––– 14 15 16 17
Eli Pfefferkorn: «The Art of Survival: Romain Gary’s The Dance of Gengis Cohn.» Modern Language Studies 10/3 (1980), 76–87, hier: 78. Klein, Literatur und Genozid, 161. In einigen anderen Werken ist der Holocaust auch Thema: La vie devant soi, Les racines du ciel und in den Erzählungen La plus vieille histoire du monde und Un humaniste. Romain Gary: Education européenne. Paris 1956.
175 ist auch ihr Aufbau und ihr Anliegen: Education europénne ist eine linear geschriebene Erzählung mit klassischen Charakteren, die eine optimistische und hoffnungsvolle Botschaft trägt. La Danse de Gengis Cohn enthüllt das andere Gesicht des Naziregimes, des Genozids und des bisher unverarbeiteten Horrors. Es ist eine parodistische Verarbeitung des Themas, gepaart mit einer kritischen Auseinandersetzung mit der gesamten abendländisch-christlichen Kultur und Geschichte und der Vergangenheitsbewältigung von Opfern und Tätern anhand eines konkreten fiktiven Verbrechens.
4.2
Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – «et puis, on avait des ordres»
4.2.1 Vergegenwärtigung der Zeit durch die Figur des Dibbuks Die Vergangenheit wird in La Danse de Gengis Cohn nicht wie in Auschwitz et après parallel zur Gegenwart konstruiert oder wie in Le non de Klara nach und nach entwickelt, sondern vielmehr dringt die Vergangenheit in Form eines Dibbuks in die Gegenwart ein, um die Zukunft zu ändern.18 Der Auslöser für das Erscheinen des Dibbuks in Schatz‘ Psyche war sein Tod in Auschwitz; seitdem besteht Cohn in Raum und Zeit fort: «Une certaine absence, qui a de la gueule, sans me vanter. A force de se faire sentir, elle devient une véritable présence. Il y eut certes, usure, habitude, accoutumance, une légère évaporation et la fumée ne marque jamais le ciel d’une manière indélébile» (GC, 9).
Ausgangspunkt der Erzählung ist die Narration des Dibbuks in der Gegenwart in der Stadt Licht im Jahre 1967. Gengis Cohn bedient sich unterschiedlicher Arten von Analepsen: Durch das Auffächern seines biographischen Hintergrunds gewährt er dem Leser Einblick in seinen Werdegang und vermittelt somit ein besseres Verständnis für sein Agieren in der Gegenwart (GC, 9ff.). Doch bleiben bei Gary die Rückgriffe nicht auf einer rein beschreibend-inhaltlichen Ebene. Seine abstrakten Überlegungen über das Schreibprojekt selbst, über die Frage nach Gedächtnis, Schuld und Ästhetisierung des Leidens sind als Analepsen und ––––––– 18
Mit der Einführung dieser Figur konstatiert Ruszniewski-Dahan eine Identitätsfindung Romain Garys: «[...] tout se passe comme si l’élaboration d’une fiction du génocide conduisait Romain Gary à un retour sur son identité. [...] Romain Gary le choisit dibbouk et non rescapé, précisément parce que la part du mort en lui est là pour nous signifier cet envahissement. Le statut du ‹témoin› correspond à celui d’un espace-temps dominé par la mort» (Ruszniewski-Dahan, Romanciers de la Shoah, 72ff.).
176 Prolepsen zu verstehen, in denen Selbstreferenz erkennbar wird.19 Bei Gary findet, im Gegensatz zu Delbo, kein Dialog zwischen erzählendem und erzähltem Ich statt, vielmehr bildet der Dibbuk als überzeitliches Wesen eine auktoriale Erzählinstanz, die über dem Geschehen erhaben ist. Die Erzählebenen innerhalb der Menschheits- und Weltgeschichte werden durch historische Aspekte, Allegorien, Metaphern (und ihre Auflösung) verbunden. Der Dibbuk springt von einer Epoche zur anderen, von einem Ort zum anderen. Die Kraft des Dibbuks besteht darin, die sechs Millionen getöteter Juden durch seine (Nicht-) Anwesenheit wieder aufleben zu lassen und dies gelingt ihm durch seine Zeitlosigkeit und Allgegenwart. Der Gebrauch der Tempora erfolgt im ersten Teil des Romans traditionell chronologisch. Gengis Cohn stellt sich in einer Art Steckbrief dem Leser vor: «Moiche Cohn, dit Gengis Cohn. Jude. Profession: Jude. Geboren: 1909. Gestorben: 1944. J’ai donc exactement 32 ans. Lorsqu’on est né en 1909, en 1966, c’est une espèce de record, 32 ans» (GC, 11). Diese genauen zeitlichen Angaben, stehen im Kontrast zur inhaltlichen Aussage, denn ein Dibbuk lässt sich eigentlich nicht in ein zeitliches Schema einpassen. Eine Verbindung der verschiedenen Zeitebenen stellt der Erzähler durch seine Überzeitlichkeit her: «Il a raison. Tout à fait raison. Au moment où nous creusions notre tombe, alors que les SS tenaient déjà les mitraillettes prêtes, j’avais demandé à mon voisin de tombeau Sioma Kapelusznik, ce qu’il en pensait» (GC, 61). Dieser Anachronismus (der Freund war damals während des Gesprächs noch kein Grabnachbar) versinnbildlicht die Beständigkeit und Determiniertheit des Geschehens und der Geschichte. Erst im zweiten Teil fehlen jegliche zeitliche Anhaltspunkte. Diese Form der Destabilisierung des im ersten Teil chronologisch gehaltenen Zeitgefüges bewirkt auch eine Desorientierung bei der Lektüre. Nach Dahan kann nur der Dibbuk als Zwischenglied zwischen den Lebenden und den Toten eine solche «entorse au déroulement linéaire de l’action» bewirken.»20 Das Fehlen einer Zeitstruktur versinnbildlicht die Erschütterung der Zeitlichkeit, die durch den Nazismus ausgelöst wurde – die Zeit wird zum anonymen (und unbeeinflussbaren) Faktor, der losgelöst von der Geschichte agiert. Das Kapitel «Le mort saisit le vif» zeigt an, dass eine Eroberung von Zeit und Raum durch den Geist der Toten stattfindet. Mit der Destabilisierung der Zeit verliert auch Gengis Cohn seinen Beobachterstandpunkt als auktorialer Erzähler, der sich öfters an den Leser in Metalepsen21 wendet und sieht sich ––––––– 19 20 21
Vgl. GC, 264f. Ruszniewski-Dahan, Romanciers de la Shoah, 73. Der Übergang von einer narrativen Ebene zur anderen kann prinzipiell nur von der Narration bewerkstelligt werden, einem Akt, der genau darin besteht, in einer bestimmten
177 letztendlich gezwungen, im Strom der Menschheit mitzuschwimmen. Selbst der Erzähler Gengis Cohn (und am Ende der Schriftsteller) ist also nicht mehr Herr über das Berichtete. 4.2.2 Verschiedene Arten der Vergangenheitsbewältigung Die Anonymität in der Täter-Opfer-Konstellation während des Krieges22 wird durch die Besessenheit von Schatz durch Cohn völlig aufgehoben. Nicht der Massenmord lässt Schatz nicht mehr los, sondern der Dibbuk, der in seinem Unterbewusstsein agiert. So wie bei Delbo die Erinnerungsschübe und Assoziationen aus der normalen Welt als Aufhänger für die Aufarbeitung dienen, ist die Erinnerung hier in Gestalt des Dibbuks als Katalysator der Erzählung zu sehen, der verschiedene Bewusstseins- und Erfahrungsebenen zusammenführt. Cohn erscheint im ganzen Roman nicht als Opfer. Er ist vielmehr Provokateur, Humorist und Satiriker. «Seine hartnäckige Präsenz im Unbewußten des Täters, dessen Schuldbekenntnis er erzwingt, zeigt ihn als selbstbewußten, den Opferstatus überschreitenden ‹Helden.›»23 Wäre dieser nicht, Schatz hätte den Zusammenhang zwischen dem Massenmord in Licht und den Massenmorden während des dritten Reiches übersehen. Für Schatz zählt das Motiv der Morde in Licht und er fragt nicht nach dem Motiv der Morde im «forêt de Geist.» Der Grund, warum er keine Verbindung zu den Verbrechen sehen kann, liegt für ihn auf der Hand: «Il y avait la guerre. Il y avait une idéologie ... Et puis, on avait des ordres» (GC, 19). Schatz ist die Figur des sich nicht schuldig fühlenden Massenmörders, die Hannah Arendt folgendermaßen charakterisiert hat: «Wenn der Vorhang diesmal fallen wird, werden wir einem ganzen Chor von Spießern zu lauschen gezwungen sein, die ausrufen werden: ‹Dies haben wir nicht getan.› [...] Wenn sein Beruf ihn zwingt, Menschen zu morden, so hält er sich nicht für einen Mörder, gerade
–––––––—
22
23
Situation erzählend – durch einen Diskurs – eine andere Situation zu vergegenwärtigen. Die Metalepse des Autors besteht in der Vermittlung des Eindrucks, dass «der Dichter selbst die Dinge [bewirke, Anmerkung der Verf.], die er besingt» (Genette, Erzählung, 167). «Wo das Gegenüber von Täter und Opfer ausgelöscht ist und der Mord so hygienisch wie anonym absolviert wird, beginnt die Zone einer Unmenschlichkeit, die der Reichweite aller üblichen moralischen Phantasie außerhalb liegt [...]» (Reinhard Baumgart: «Unmenschlichkeit beschreiben. Weltkrieg und Faschismus in der Literatur.» Merkur 19/1 [1965], 37–50, hier: 39). Die normalerweise vorherrschende Anonymität und Entindividualisierung wird von Gary durch die immer größer werdenden Summen an Toten karikiert. Klein, Literatur und Genozid, 127.
178
weil er es nicht aus Neigung, sondern beruflich getan hat. Aus Leidenschaft würde er nicht einer Fliege etwas zu Leide tun.»24
Die Entschuldigung, nicht selbst verantworlich gewesen zu sein, lässt der Dibbuk nicht gelten. Er versucht, Schatz zu humanisieren und den mittlerweile mechanisch wirkenden Charakter durch ein Gewissen zu ersetzen. Er will seinen Mörder zur Rechenschaft ziehen. Doch dieses Bemühen, ihm beizubringen das Gute vom Schlechten zu unterscheiden, schlägt insofern fehl, als Schatz bei seinen Wertvorstellungen bleibt. Um die Vergangenheitsbewältigung, die Bewertung und Kommentierung von Gräueltaten durch die beiden Protagonisten genauer zu beleuchten und somit auch über ihr Verhältnis zueinander detailliertere Kenntnisse zu erlangen, bietet es sich an, den Moment der Erschießung Cohns (vgl. GC, 31f.) genauer zu betrachten. Hier werden zwei verschiedene Versionen des gleichen Ereignisses gegeben, die jeweils im Leser andere Emotionen wecken. Cohn schwankt in dieser Szene zwischen burlesker Parodie und philosophischem Kommentar, benutzt deftige jüdische Ausdrücke und blickt reflektiert zurück.25 Er enthält sich jeden Werturteils, erzählt distanziert und ohne Emotionalität. Opfer und Täter erinnern sich an Gesten und Worte, mit denen Cohn im Angesicht des Peinigers und Mörders seine Revolte und seine Verachtung ausdrückte: Er wendet dem Erschießungskommando sein nacktes Gesäß zu, macht eine obszöne Geste und ruft «Kisch mir in tokhès» (GC, 26). Somit macht er die SSTodesmaschinerie lächerlich und reagiert mit dem einzigen, was ihm noch bleibt – dem Humor. Seine Geste («[...] j’ai donc utilisé la seule arme, purement symbolique, certes, que nous avions réussi à conserver à peu près intacte à travers les âges et que j’allais perdre dans un instant» [GC, 25]) ist die wehrlose und doch wirksame «agression par la moquerie,»26 wie sie die Schwachen und Entwaffneten noch im Angesicht des tödlichen Terrors der Mächtigen erfinden können. Cohns sachliche Beschreibung des Massakers und seiner eigenen Tötung, die mit seiner Enthaltung jeglichen Werturteils verbunden ist, kommt einer emotionalen Entfremdung gleich, denn er verschafft sich die für das Erzählen nötige Distanz, indem er sich hinter seiner Komikerfassade versteckt. Die Leichtigkeit des Stegreifkomödianten und die unsägliche Tragik des Ereignisses, das er beschreibt, ergibt eine ––––––– 24 25 26
Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a.M. 1976, 43. «His style, essentially that of a night-club raconteur, easily meanders between burlesque frivolity and historical-philosophical commentary» (Pfefferkorn, Art of Survival, 79). Romain Gary: La nuit sera calme. Paris 1974, 22.
179 verwirrend-widersprüchliche Stimmung. Dieser beißende jüdische Humor bewahrt die Exekutionsszene davor, ins Sentimentale abzugleiten. Der Protest im Moment der Erschießung empört Schatz, der ansonsten die Tötungsmaschinerie eiskalt bedient, und veranlasst ihn zugleich, sich mit Cohns Identität zu beschäftigen. Es scheint, als ob es die Geste der Revolte war, die den Dibbuk befähigte, sich im Unbewussten des Täters einzunisten. Schatz‘ Bericht der Exekution ist ein Zeugnis der Verdrängungsleistung, er argumentiert mit Selbstverteidigung und strotzt vor Pathos, während ihm jegliches Gefühl von Verantwortung abgeht. Schatz sieht Cohns ohnmächtig rebellische Geste als Beweis mangelnder Würde im Angesicht des Todes («Il s’était avancé, se plaçant devant les autres, et il a fait ce geste obscène, alors que mes hommes le visaient déjá. Aucune dignité» [GC, 25]). Schatz‘ Beschreibung der Exekution steht im direkten Kontrast zu Cohns, ihr fehlt jegliche humoristische Anspielung und sie schwelgt in einer pathetischen Selbstrechtfertigung und entschuldigung. Schatz ist durch die Nazi-Gehirnwäsche und unzählige Morde völlig taub und unzugänglich geworden. Sogar noch 24 Jahre nach den Verbrechen und einiger Entnazifizierungsprozesse, denen sich Schatz unterziehen musste, gehört sein Denken immer noch der Nazizeit an. Seine atemlose Rede, durch einen inkohärenten und verzerrten Stil gekennzeichnet, spiegelt den Versuch wider, Verantwortung für die Taten abzulehnen, anstatt sich auf moralischer und intellektueller Ebene damit auseinanderzusetzen («Non ... Oui ... Enfin, entre les deux. Je ne le connaissais pas personnellement, mais je l’avais remarqué, parce que ... bon, enfin, quand j’ai crié Feuer ... j’avais des ordres, vous comprenez, j’avais des ordres [...] [GC, 31]). Bezeichnend ist, dass nicht der Massenmord Schatz noch immer aufwühlt, sondern die Tatsache, dass Cohn sich selbstbewusst der Todesmaschinerie entgegenstellte. Diese Missachtung von Befehlen ist für Schatz so fremd, dass für ihn die Geste Cohns ein doppelter Schock war. Denn Cohn machte durch seine abwertende Geste nicht nur das für Schatz unangreifbare System zum Spott der Öffentlichkeit, sondern er zeigt durch seine Haltung den Sieg des menschlichen Verstandes über die sorgsam durchdachte Todesmaschinerie. Gerade durch diese Geste weckt Cohn die Neugierde von Schatz. Gengis Cohn ist Teil der «negativen deutsch-jüdischen Symbiose»27 – ein Begriff, der von der Wissenschaft erst einige Jahre nach Erscheinen des Romans geprägt wurde. Nach Diner verbindet Deutsche und Juden eine «Art gegensätzlicher Gemeinsamkeit:»28 Das Selbstverständnis von ––––––– 27 28
Vgl. Klein, Literatur und Genozid, 135. Dan Diner: Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis. Berlin 1995, 9.
180 Deutschen und Juden wird jeweils von der Massenvernichtung geprägt und dieses Sich-Bewusstmachen der Vergangenheit dominiert auch das Verhältnis von beiden in der Gegenwart. Diese Feststellung ist bereits im Roman verankert, als der Dibbuk erklärt, dass «au mot ‹Juif› puisse répondre à tout jamais par un processus d’association normal le mot ‹Allemand›» (GC, 148). Diese Verbindung manifestiert sich auch im Verhältnis von Gengis Cohn und Schatz, das durch eine tiefe Abhängigkeit gekennzeichnet ist: Wenn Schatz den Dibbuk in sich austreiben ließe, riskierte er, dass er von den Israelis zum wiederholten Male des Judenmordes beschuldigt würde. Der Dibbuk andererseits ist sich bewusst, dass er sich, um unsterblich zu sein, weiterhin im Unterbewusstsein aufhalten muss (oder es selbst sein muss): «Ils m’ont foutu dans leur subconscient, j’y reste. Indéracinable» (GC, 27). Am deutlichsten wird das Verhältnis von Täter und Opfer und auch die allmähliche Assimilierung der beiden in Gengis Cohns Ausspruch «toute l’horreur de ma situation m’apparaît clairement. Est-ce que vraiment la victime et le bourreau sont condamnés à demeurer liés l’un à l’autre, tant qu’il y aura des hommes?» (GC, 149). Die große Fraternisierung29 (sogar die Zweige im «forêt de Geist» rufen Cohn zu: «Viens avec nous, petit» [GC, 231]) lehnt Cohn ab. Der Druck, nicht mehr Individuum zu sein, sondern sich in eine Gemeinschaft einzupassen und dazuzugehören,30 wird immer größer. Cohn verweigert sich der Eingliederung; er will, dass der Unterschied zwischen Opfern und Tätern deutlich erhalten bleibt, denn das Versöhnungsangebot der Täter hat seinen Preis: Verzeihen, Vergessen und die Wiederherstellung des erschütterten deutschen Selbstbewusstseins. Dieses Festhalten an der scharfen Trennung zwischen Juden und Deutschen unterstreicht Gary nochmals deutlich durch Cohns Klammern an seinen Judenstern. Auch indem er sich mehrfach vergewissert, ob sein Judenstern noch da ist,31 wird nachdrücklich die Gefühlswelt Cohns symbolisiert: Er selbst befindet sich durch den allgemeinen Druck auch im Zweifel, ob er in die Gemeinschaft eintreten soll, hält aber an seinen Prinzipien und seiner Identität (verdeutlicht durch den Judenstern) fest. Eine Vereinigung bedeutet für Cohn zugleich auch eine Ausgrenzung anderer. «Si tous les hommes sont frères, on veut de toute évidence prouver ––––––– 29 30 31
«Cohn, nous vous offrons la fraternité! Ça ne vous coûtera rien, ce sont toujours les autres qui paient. Vous faites une affaire!» (GC, 236). Selbst die Juden sind wütend auf Cohn: «Cohn, tu es complètement michougé? Ils te proposent la fraternité et tu refuses ça? Lâcheur! Planche pourrie! Judas!» (GC, 234). «Je cherche aussitôt mon étoile jaune: on me l’a arrachée. Heureusement, elle est là, à mes pieds. Je la ramasse et la remets en place» (GC, 242). «Mon étoile, où est mon étoile? Ah bon, ça va» (GC, 250).
181 par là que les Juifs sont responsables de la mort de Jésus, paix à Ses cendres. C’est cousu de fil blanc» (GC, 232). Schlimmer noch, sieht er auch die Gefahr darin, für Hiroshima und vor allem Auschwitz (also für die eigene Extermination) auch noch die Verantwortung übernehmen zu müssen. Somit können sich die Täter entlasten, indem sie sich zu Opfern stilisieren. Doch Cohn erkennt die Aktualität der sich immer aufs Neue wiederholenden Geschichte: Es werden immer wieder Minderheiten gefunden, die der Verfolgung ausgesetzt sind. Bei Gary bleibt es jedoch nicht beim eindimensionalen Täter-OpferProfil, in dem der Täter, um sein Gewissen zu beruhigen, sich selbst als Opfer der geschichtlichen Umstände darstellt, sondern interessanterweise assimiliert sich das Opfer an den Täter. Die Besessenheit verlagert sich im Laufe der Handlung: «Mais, peu à peu, les cartes se brouillent: les rôles semblent s’inverser et, par moments, on dirait, qu’au contraire c’est le nazi qui hante le Juif, Schatz qui s’est installé, increvable, dans la tête du pauvre Cohn.»32
Nach einem tiefen Schlaf im «forêt de Geist» wacht Cohn auf und befindet sich als Oberst Cohn im Vietnamkrieg «confiant, ragaillardi. [...] cultivé, rééquipé, moralement réarmé» (GC, 241). In seiner apokalyptischen Beschreibung der Kriegszustände zeigt Gary das desillusionierende Ergebnis der Assimilation: Nicht Schatz hat letztendlich Moralvorstellungen oder Werte, die ihm der Dibbuk vermitteln wollte, übernommen, sondern Gengis Cohn hat sich der Gewalt, der Herrschaft über andere und schließlich der Vernichtung angepasst: «Je saisis une grenade, [...] je te la leur balance en plein jaunisse, il n’y reste rien, pas un œil bridé» (GC, 244). Schatz freut sich hingegen über diese Entwicklung: «Bravo Cohn! Les Juifs avec nous! Allez mourir chrétiennement avec les autres, on vous permet!» (GC, 260). Doch immer wieder versucht Cohn dieser Vereinnahmung zu entkommen – Assimilierung bedeutet für ihn, an der Zerstörung der Menschheit beteiligt zu werden. Verallgemeinernd kann man sagen, dass Gary hier zeigen will, dass sich der Mensch seiner Lage anpasst und auch anpassen muss, um zu überleben. «In einer unmenschlichen Lage [...] überlebt der, welcher sich dem Niveau der Lage anpaßt, auch auf die Gefahr hin, daß er selbst nun unmenschlich scheint.»33 Cohn ruft Hitler, Goebbels und Streicher zu Hilfe, umsonst: «Les Noirs pourront enfin être antisémites, les Juifs pourront être nazis. Il n’y a plus rien à espérer, je suis fraternisé» (GC, 261). Im großen Menschheitsstrom der «fraternité,» der hinter Lily herströmt, rettet sich Cohn, indem er «sein» Kreuz auf sich nimmt und Jude bleibt. «Il ne ––––––– 32 33
Nancy Huston: Tombeau de Romain Gary. Paris 1995, 66. Baumgart, Unmenschlichkeit beschreiben, 41.
182 dérange personne» (GC, 273) heißt der Schlusssatz, der auf die kulturelle Vereinnahmung anspielt. 4.2.3 Funktion des Lesers Gary möchte laut seines theoretischen Essays Pour Sganarelle den Leser an der Entstehung seines Werkes beteiligen; er erwartet vom Leser eine «collaboration involontaire.»34 Der Leser muss von dem Werk überzeugt sein, um sich in die fiktive Welt des Schriftstellers entführen zu lassen. In dem Interview von Jelenski, das dieser kurz vor Erscheinen von La Danse de Gengis Cohn mit Romain Gary führte, äußert sich Gary über die Rolle des Lesers: Er erläutert den Wunsch, dass die ganze Menschheit sich als «je» des Romans ansehen sollte und er auch deshalb ein breites Spektrum an Identitäten und Charakteren anbiete, die sich ständig verändern, damit ein Roman des «conscience-poursuite» entsteht.35 Die Verwendung von realistischen Aspekten (authentische Vorbilder, historisch belegte Begebenheiten) bewirkt im Roman eine größere Involvierung des Lesers bzw. eine bewusste Fehlleitung des Lesers.36 Hierbei erkennt der Leser die satirische Verarbeitung der Massenmorde als Wiederholung oder Spiegelung der Morde des dritten Reiches. Der Leser muss die historischen Bezüge erkennen können, damit die Satire ihre volle Wirkungskraft entfalten kann.37 Die Satire bindet sich in der Regel an Aktualität. In der satirischen Darstellung der Menschheit und dem Tod als mordendes Paar übt Gary Kritik an der Menschheit und dem letztlichen Scheitern des Humanitätsideals. Indem Gary die Gesellschaft der 60er Jahre in gleicher Verblendung zeigt wie ––––––– 34
35
36
37
Gary, Pour Sganarelle, 422. «[...] le lecteur utilise la collaboration involontaire du lecteur antérieurement à la lecture, pendant qu’il écrit, pour mieux le tromper lorsqu’il ouvre enfin le livre [...]» (Gary, Pour Sganarelle, 421f). «Comme si l’humanité, sans se définir dans une conscience unique, pouvait communier avec un infini de consciences dans leur rapport avec la singularité de chaque univers psychique, aspiration qui me paraissait réalisable dans la conscience collective de la culture dans les rapports avec les œuvres individuelle» (Jelenski, Romain Gary, 5). «authenticité» und «imagination» bilden für Gary eine Verbindung: «Le réalisme n’est qu’une technique au service de l’invention. Les écrivains les plus réalistes sont seulement des contrebandiers de l’iréel. Le réalisme est une mise en scène cohérente du mythe [...], une invention de plus [...]. Le réalisme, pour l’auteur de la fiction, cela consiste à ne pas se faire prendre» (Gary, La nuit sera calme, 232). Die Satire hat meist eine konkrete Absicht, weist auf Normwidrigkeiten hin, um Veränderung zu bewirken. «Komisch wirkt doch [...] primär die Spannung zwischen den faktischen Erscheinungen, auf die sich Satire ja unbedingt beziehen muß, und deren Spiegelung im Stück bzw. Film» (Wolfgang Preisendanz: «Zur Korrelation zwischen Satirischem und Komischem.» In: Ders.: Das Komische. Poetik und Hermeneutik [1976], 411–421, hier: 412).
183 während des dritten Reiches, erreicht er eine doppelte Kritik.38 Die Einbindung des Lesers durch vermehrte Apostrophen39 innerhalb der Metalepsen lässt die Grenze zwischen Autor, Werk und Leser verwischen – der Leser wird an der Konstruktion der Vergangenheitsbewältigung beteiligt. Die immer wieder von Delbo gesuchte Distanzierung vom Leser wird bei Gary durch eine Annäherung an den Leser ersetzt – allerdings wird der Leser durch die im zweiten und dritten Teil sich steigernde Apokalypse vom Text und seinen Figuren entfremdet. Bei Delbo wird die Sprache entfremdet und dadurch erhält das Leiden keine Sinngebung, wird zur «connaissance inutile;» Garys Entfremdung und Distanzierung findet hingegen auf einer inhaltlich-strukturellen Ebene statt.
4.3
Autoreflexive Aspekte – «un écrivain impitoyable»
4.3.1 Nicht-Darstellbarkeit des Grauens In La Danse de Gengis Cohn nimmt sowohl der Dibbuk-Erzähler als auch der intervenierende Autor unablässig vom eigenen Tun, dem Schreiben über den Genozid, Abstand. Dies wird durch eine durchgehende Polemik gegenüber der literarischen Verarbeitung des Grauens erreicht. Durch Ironie und Selbstreflexion deutet der Dibbuk die Bewusstheit der eigenen Inadäquatheit, der Nicht-Darstellbarkeit des Geschehens und der Gefahr kultureller Konsumierbarkeit an. Sein Werk thematisiert sich selbst und zeichnet sich selbst als Fiktion aus. Die Selbstreflexion tritt letztendlich als Feststellung des – vorläufigen oder endgültigen – Scheiterns des Schreibens auf und spiegelt die Inadäquatheit unablässig wider. Ironisch und teilweise auch bruchstückhaft mit einem Wechsel der Stile und Gattungen zeigt La Danse de Gengis Cohn durch diese Formen die Nicht-Darstellbarkeit des Grauens. Die Selbstreflexivität des Schriftstellers in seinem Werk versinnbildlicht Gary wie auch seine anderen Anspielungen und Metaphern in einem konkreten Auftritt des Schriftstellers. Dieser unterscheidet sich durch eine besondere Gabe von den Menschen, er sieht mit geschlossenen Augen, denn «c’est avec le cœur qu‘ [il] voit le mieux» (GC, 270), auch betrachtet ––––––– 38
39
«Der deutsche Faschismus als Gegenstand von kritischer Literatur und Kunst ruft [...] die Darstellungsmethode der Satire (und Groteske) geradezu herbei. Wo ein ganzes Herrschaftssystem durch Schein, Demagogie und Lüge konstituiert wird, sind speziell die Satiriker mit ihren ästhetischen Techniken entlarvender Montage gefordert» (Uwe Naumann: Zwischen Tränen und Gelächter. Satirische Faschismuskritik 1933 bis 1945. Köln 1983, 288). Vgl. Genette, Erzählung, 167, der als prominentes Beispiel für vermehrte Apostrophen an den Leser Lawrence Sternes Tristram Shandy anführt.
184 er Lily mit geschlossenen Augen «[il] garde encore les yeux fermés et [il] la [Lily] voit dans toute sa clarté de madone des fresques» (GC, 270). Seine Sensibilität wird noch dadurch unterstrichen, dass ihm «tout reste sur l’estomac» (GC, 169; 249). Die mythologische Anspielung des blinden Sehers wird durch ein weiteres Charakteristikum verstärkt, denn sobald er die Augen öffnet, entgleitet ihm alles («Dans un instant, [il] va ouvrir les yeux et [il] ne le [Gengis] retrouvera plus jamais» [GC 272]). Er gehört zu jenen, die sehen, obwohl «ils ne peuvent pas voir» (GC, 271). Der Verdacht, dass es sich hier um die Psyche des Schriftstellers handelt, wird bestätigt: «Ce n’est pas un monsieur, [...] c’est un écrivain» (GC, 264; 270; 272). Er ist einer von denen, die «se débarassent de ce qui les gêne (264) [...] en donnant un livre» (GC, 264; 265; 272). Gary enthüllt seine Identität immer mehr («un écrivain impitoyable» [GC, 95]; «une belle âme, un authentique ennemi de l’ordre établi» [GC, 172]; «un tendre, un humaniste» [GC, 271]), erscheint selbst im Warschauer Ghetto (vgl. GC, 272) und wird schließlich namentlich angesprochen: «Please, Romain, for Christ’s sake, don’t say things like that» (GC, 352). Die Besetzung von verschiedenen Personen auf unterschiedlichen Ebenen ist steigernd aufgebaut.40 In dem Moment, als sich Gengis Cohn bewusst wird, dass er von Schatz getrennt werden soll, dass man ihn und Schatz auslöschen will, verbrüdern sich die beiden für kurze Zeit. Sie befinden sich beide am gleichen Ort, in einem Unterbewusstsein, das sowohl den Juden als auch den Ex-Nazi aus seinem Gedächtnis verbannen will: «Schatz s’accroche à mon bras. – Lâchez-moi, imbécile. Le cochon nous est défendu. – Cohn, ce n’est pas le moment de nous disputer. Il y a là un type qui essaie de nous vider. – Quel type? Où ça? – Nous ne pouvons pas le voir. Nous sommes dedans [...] Cohn, nous sommes tombés dans le subconscient d’un obsède sexuel» (GC, 147).
«Le type,» der versucht, sich der beiden Eindringlinge zu entledigen, ist der Schriftsteller selbst. Sein Versuch spiegelt wahrscheinlich die Hoffnung wider, die eigenen Dämonen zu exorzieren, indem man sie niederschreibt. «La boucle du roman est nouée, et l’intrigue dénouée: la dissimulation du Juif dans le nazi a permis au Juif d’une part de survivre comme juif et d’autre part d‘‹enjuiver› le nazi
––––––– 40
Kauffmann transferiert die drei Stufen des rituellen initiatorischen Schamanentums («une étape préparatoire avant l’isolement dans un lieu sacré, un voyage dans l’au-delà fréquemment assimilé à une mort initiatique, une renaissance» [Kauffmann, La danse de Romain Gary, 77]) auf die «Besetzung» durch Gengis Cohn, sowohl von Schatz als auch vom Schriftsteller.
185 malgré lui; la dissimulation du Juif et du nazi réunis dans la conscience de l’auteur a permis à celui-ci de les exorciser tous deux et d’écrire, explicitement, sa judéité.»41
Interessanterweise wird dies von den beiden Hauptfiguren bemerkt, die sich dann um so mehr aneinander klammern. Somit versucht der Schriftsteller Gary also, seinen eigenen Dibbuk auszutreiben.42 Auch Joseph Sungolowsky konstatiert hier, dass Gary bei sich selbst Exorzismus betreibt: «La Danse de Gengis Cohn se situe également au niveau de la prise de conscience, car Romain Gary y cherche à exorciser sa hantise de l’Holocauste qui paraît l’avoir douleureusement atteint.»43 Zum Schluss überschlagen sich die Ereignisse, der Leser wird direkt in den imaginativen Sog Garys gezogen, der in wilden Assoziationen einen Fluss (vermutlich als Sinnbild seines eigenen Gedankenflusses) als Spiegel seiner apokalyptischen Vision zeigt. Noch im Schluss ironisiert Gary sein eigenes Werk, denn Florians Aussage («un livre, c’est leur façon de se débarasser de ce qui les gêne» [GC, 265]) gilt auch für Garys eigenes Schaffen. 4.3.2 Ästhetisierung des Leidens In Pour Sganarelle untersucht Gary insbesondere das Verhältnis der Literatur und Kunst zum Phänomen des Leidens in der Geschichte. Gary bekennt sich zum uneingeschränkten Primat der Kunst, die autorisiert ist, sich jeden Gegenstand anzueignen und in ästhetischen Genuss zu verwandeln: «[...] il n’y a pas de respect, tout est possible, tout est permis, ouvert à l’art, au Roman. Il n’y a pas plus de directive que de récusation.»44 Auch eine «exploitation sans scrupules de l’horreur et de la souffrance»45 scheint Gary denkbar und zulässig als Quelle: «Tout est bon à prendre, il n’y a pas de petits bénéfices, la bombe, pour le roman, c’est une veine.»46 Bedingung für die Darstellung ist es nach Gary, den Schmerz nicht zu beschönigen, nicht mit einem Heiligenschein zu umgeben. Denn durch Verklärung des Opfers und der Verherrlichung des Heroismus würden auch die Verhältnisse, die diese hervorbrächten, legitimiert und mit einem Schein von ––––––– 41 42
43
44 45 46
Clara Lévy: Écritures de l’identité. Les écrivains juifs après la Shoah. Paris 1998, 171. Vgl. hierzu auch Luc Estang: «La Danse de Gengis Cohn de Romain Gary.» In: Astrid Poier-Bernhard (Hg.): Romain Gary im Spiegel der Literaturkritik. Frankfurt a.M. 1999, 18–19, hier: 122 (auch in Le Figaro Littéraire 7 [1967]). Joseph Sungolowsky: «La judéité dans l’œuvre de Romain Gary. De l’ambiguité à la transparence symbolique.» Etudes Littéraires. Colette De Luxe et l’écriture 26,1 (été 1993), 111–127, hier: 121. Gary, Pour Sganarelle, 118 f. Ebd., 68. Ebd., 110.
186 Rechtmäßigkeit umgeben. Die Glorifizierung des Leidens bedeute dessen Verlängerung und Ausbreitung.47 Sobald Literatur nur Emotionen erwecke, werde der Holocaust in eine Reihe gestellt mit anderen Brutalitäten und verfälsche somit die geschichtliche Dimension und spiele das Ausmaß der Unmenschlichkeit herunter. «La réalité d’une mort injuste et atroce transforme l’œuvre d’art impassible en scandale.»48 Gary spitzt die Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Leiden noch zu: Ist es skandalös, aus Leiden Schönheit zu ziehen, Leiden auszunutzen zur Schaffung ästhetischer Werke? Gary thematisiert das Problem der Darstellbarkeit und ist sich des Widerspruchs bewusst: «C’est que je me suis trouvé confronté avec la difficulté de transformer Guernica en un Guernica – de faire un œuvre d’art à partir de ce qu’on résume par Auschwitz.»49 Der Dibbuk in La Danse de Gengis Cohn verknüpft das Grauen der Vergangenheit mit dem der Gegenwart. Er fragt nach der Verarbeitung der Verbrechen in der Gegenwart und erkennt, dass durch die Darstellung der Verbrechen in der Kunst eine neuerliche Schandtat verbrochen wird – das Verbrechen gegen die Menschheit. Bereits die jahrhundertelange künstlerische Verkörperung der Leiden Christi erscheint ihm als skandalöse Ausschlachtung von Leiden für Erbauung und Genuss. Seitdem habe Kunst nicht aufgehört, aus den Schlachtfeldern und Massengräbern emporzusteigen, «pour donner du plaisir» (GC, 38). Die Rebellion des Dibbuk richtet sich gegen die Ausbeutung der Geschichte durch die Kunst. Die große Befürchtung von Gengis Cohn ist, dass auch der Massenmord an den Juden ästhetisiert wird und als gigantischer Beitrag zum Kulturerbe gerechnet wird. Der Gedanke, Objekt künstlerischer Vereinnahmung zu werden, weckt in Gengis Cohn Abscheu und er nennt ein solches Unternehmen «infâme:» «On cherche peut-être à me faire renaître et à me faire rentrer dans ma peau, peut-être même à m’immortaliser – ce qui, de tous les tours pendables que l’on a déjà joués aux Juifs, serait certainement le plus odieux» (GC, 146).
Doch nicht nur die Verschönerung des Leidens durch ihre Darstellung sieht er als Skandal, er erkennt auch, dass die künstlerische Verarbeitung dazu beiträgt, das Grauen zu vergessen. Dies mag etwas verwundern, da man ––––––– 47
48 49
Vgl. auch Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. München 1984, 18: «Dies ist genau das ganze Problem: Die Aufmerksamkeit verlagert sich schrittweise von der Evokation des Nazismus selbst, vom Grauen und Schmerz [...] zu wollüstiger Beklemmung und hinreißenden Bildern, Bildern, die man unentwegt weitersehen will [...] mitten in der Meditation erhebt sich ein Verdacht auf Selbstgefälligkeit und Sympathie für das Dargestellte.» Kauffmann, La danse de Romain Gary, 85. Jelenski, Romain Gary, 5.
187 annehmen kann, dass gerade das Festhalten von Erinnerung auch ihren Erhalt sichert, doch Gary sieht eine Art Exorzismus durch die Darstellung. Besonders die Dichter, die sich des Erinnerns bzw. des Dibbuks wohl bewusst sind, wollen sich seiner durch das Produzieren von Büchern entledigen (vgl. GC, 264ff.). Gerade auch durch die Verwendung von verschiedenen künstlerischen Genres (Zitate aus der Literatur, parodistische Kapitelüberschriften, Anspielungen auf die Malerei) wird die Kunst als Verrat an der Wirklichkeit gesehen. Eine Verarbeitung durch die Kunst bedeute zugleich Mystifikation und Ästhetisierung des Leidens. Die Literatur ziele nicht darauf, Erinnerung zu bewahren, sondern das Vergangene zu verhüllen oder auszutreiben. Wenn von Auschwitz überhaupt noch die Rede sei, so «uniquement parce que ça n’a pas encore été effacé par une belle œuvre littéraire» (GC, 146). Die Hauptfigur zeigt auf, dass das Bewusstsein, das durch ein Buch oder ein Kunstwerk geweckt wird, vielmehr der Vernichtung der Erinnerung dient, wohingegen das Unterbewusstsein sich stärker mit dem Vergessen und der Verdrängung auseinandersetzen muss und somit auch keinen Exorzismus zulässt. Die Kultur ziele auf Erlösung, Vergebung und schließlich auf das Vergessen der Verbrechen. «Je crains qu’à force de nous griser de culture, nos plus grands crimes s’estompent complètement. Tout sera enveloppé d’une telle beauté que les massacres et les famines ne seront plus que des effets littéraires ou picturaux heureux sous la plume d’un Tolstoi ou le pinceau d’un Picasso» (GC, 48).
Cohn ist empört, dass Guernica im Bild Picassos keine andere Rolle als die eines «compotier» spiele, dass «les crimes les plus terribles deviennent des mines de pierres précieuses, des thèmes, la fontaine d’où jaillit l’Esprit, une galvanisation du génie» (GC, 134). Dieses Bild versinnbildlicht in einer nie zuvor dagewesenen Art und Weise das Grauen, und es zwingt den Zuschauer, sich durch die abbildende Kunst, durch Picassos gemalte Verrenkungen und Verzerrungen, mit der menschlichen Natur in ihrer grausamsten Ausformung auseinanderzusetzen.50 Auch sich selbst sieht Cohn als Objekt eines solchen Unternehmens: «Je sens que ce qui a été fait va être racheté et que je vais avoir bientôt, moi aussi, une tête de chefd’œuvre, comme le Christ» (GC, 46). ––––––– 50
«[...] yet Picasso’s Guernica, perhaps the first valid example of an art of atrocity in our time, for all its roots in his earlier works, laid the foundations for a fresh way of perceiving – and conceiving – reality, as a direct result of the incomprehensible historical action of the decimating of a helpless town, the victimizing of its women and children, for no apparent reason other than the desire (and need?) to terrorize and destroy» (Langer, Holocaust and Literary Imagination, 21).
188 Die Wahl der Figur des Dibbuks als personifiziertes Unterbewusstsein unterstützt deshalb diese Forderung nach Nichtdarstellung – das Unterbewusstsein ist nicht auslöschbar und v.a. nicht sichtbar. Kurz nachdem der Dibbuk festgestellt hat, dass die Opfer als Kunstwerke vermarktet werden («je suppose qu’ils vont faire de moi un livre, comme toujours, lorsqu’ils cherchent à se débarrasser de quelque chose qui leur est resté sur l’estomac» [GC, 264]) und ihnen somit weiteres Leiden zugefügt wird, erscheint seine folgende Aussage etwas widersprüchlich: «Je respire mieux. L’idée que je vais rapporter à notre Musée imaginaire me fait du bien. Sous la main d’un peintre de génie ou d’un grand écrivain, j’aurais été une bonne occasion, sinon pour moi-même, du moins pour la culture. J’aime l’idée que je vais rapporter quelque chose» (GC, 45f.).
Auch wenn diese Aussage voller Selbstironie ist, kann man dahinter jedoch das Bedürfnis lesen, etwas zur Geschichtsschreibung beizutragen und nicht dem Vergessen anheimzufallen. Das Dilemma, ja selbst auch als Schriftsteller aus dem Leiden zu profitieren, indem er über es schreibt, hebt Gary durch einen Kunstgriff am Ende des Werkes auf: Der Autor interveniert am Schluss selbst und löst den Erzähler des Romans, Gengis Cohn, für kurze Zeit ab, um sich selbstkritisch zu äußern und sein eigenes Werk in Frage zu stellen: «Madame, croyez-vous qu’à la suite de cette expérience, il va nous donner un livre sur...» (GC, 272). Somit kehrt Gary zu seiner theoretischen Ausgangssituation zurück: Literatur nach Auschwitz ist nicht möglich und nicht darstellbar, die Aufgabe des Schriftstellers besteht aber darin, den Leser durch eine wertende Haltung auf die Missstände aufmerksam zu machen. Faszinierend ist, dass Gary bereits Ende der 60er Jahre die Problematik der Stilisierung des Holocaust zu einem Zentralpunkt seines Romans macht.51 4.3.3 Sprache in der Erzählung – Sprache des Kabaretts Garys Text ist von der assoziativen Logik des Kabaretts beherrscht: Die Sprache besteht aus Mehrdeutigkeiten, die historische Verquickungen, Ver––––––– 51
Die Debatte setzte in den 80er Jahren ein: «Ein Holocaust-Konformismus entwickelte sich, ein Holocaust-Sentimentalismus, ein Holocaust-Kanon, ein Holocaust-Tabusystem und die dazugehörige zeremonielle Sprachwelt. [...] Ich halte aber jede Darstellung für Kitsch, die nicht die weitreichenden ethischen Konsequenzen von Auschwitz impliziert und der zufolge der mit Großbuchstaben geschriebene MENSCH – und mit ihm das Ideal des Humanen – heil und unbeschädigt aus Auschwitz hervorgeht» (Imre Kertész: «Wem gehört Auschwitz? Aus Anlaß des umstrittenen Films Das Leben ist schön: Der ungarische Schriftsteller und KZ-Überlebende Imre Kertész über die Enteignung der Erinnerung.» Die Zeit 48, 19.11.1998, 55–56, hier: 56).
189 schiebungen und Verkehrungen schafft. Die Sprache agiert auf mehreren Zeitstufen, verknüpft diese miteinander und spielt mit der Vorkenntnis des Lesers. Phrasen und Ausdrücke werden so eingesetzt, dass der Leser die implizite Nebenbedeutung erkennt. «L’azur instant enjuivé, se passe un peu de vent sur la figure et aussitôt il n’y a paraît plus» (GC, 9). Hier wird auf die beständige Präsenz des Dibbuks im Unterbewusstsein angespielt. Der Dibbuk versucht vergebens, eine Veränderung in der Geisteshaltung von Schatz zu bewirken, doch auch die Sprache ist von der Vergangenheit belastet. Einige Worte wie Gas, Verfolgung, Rauch bewirken sowohl beim Leser als auch bei den Protagonisten des Buches grauenhafte Assoziationen. «Vous avez vous des médecins? – J’en ai vu des tas, des tas, des tas ...» Il se fige. Je lui fais un petit signe, il m’a vu. «Des tas de médecins, je veux dire» (GC, 24). Diese Bedeutungstransformationen der Sprache in der Gegenwart konnte man auch schon bei Delbo erkennen, die ihren Zweifel gegenüber der Bedeutung der Wörter durch eine Umkehrung ausdrückte und den Wörtern damit eine pervertierte und parodierte Bedeutung gab. Diese Parodierung setzt Gary auf zwei Ebenen ein: zum einen auf der Ebene der Sprache, zum anderen erhalten bekannte Vorstellungen und Begriffe eine überraschende Konnotation: der Tod als Playboy, Jesus als müder Flüchtiger, die Menschheit als mordende femme fatale etc. Auf die Spitze getrieben wird diese Pervertierung der Sprache dadurch, dass selbst die Objekte nicht mehr nur über ihre Materialität hin wahrgenommen werden: «Du savon? Pourquoi du savon? Non! Il y a vingtdeux ans que je ne touche plus au savon, on ne sait jamais qui est dedans!» (GC, 91). Doch verbergen sich nicht nur mehrere Ebenen in der Wortwahl, auch werden vorgeprägte Begriffe in einen neuen historischen Zusammenhang gerückt, wobei somit auch durch sprachliche Mittel Gegenwart und Vergangenheit miteinander verknüpft werden. Als markantestes Beispiel wäre hier Garys Spiel mit «cacher» zu nennen; Gengis Cohn kommentiert sein Dasein in der Psyche von Schatz folgendermaßen: «voilà bientôt vingt-deux ans qu’il cache un Juif chez lui» (GC, 10). «cacher» evoziert einen geschichtlichen Rückblick auf die Zeit des Genozids, als «verstecken» für Juden Rettung bedeutete. Diese positive Komponente wird jedoch ins Groteske gekehrt, da jetzt der Nazi-Mörder Schatz den Juden Cohn versteckt hält. Zugleich wird somit auf der einen Seite die Verdrängung der Schuld, auf der anderen Seite die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart angesprochen. «Die Sprache gerät aus den Fugen, bezeichnet das, was ist, durch das, was hätte sein sollen. Worte, die einst das einzig Rettende bedeuteten, bezeichnen nun das Verdrängen.»52 ––––––– 52
Klein, Literatur und Genozid, 141.
190 Wörter («diaspora,» «exode,» «enjuivé,» «fraternité») werden in einen Kontext gestellt, dem sie widersprechen und zeigen durch diesen Gebrauch die Absurdität der Ereignisse: «Il n’y aura pas de nouvelle diaspora. Vous pouvez vous tortiller autant que vous voudrez, ni moi ni les six millions d’autres dibbuks nous ne reprendrons jamais le chemin de l’exode hors de votre subconscient enjuivé» (GC, 174).
Florian und Cohn diskutieren über die Möglichkeiten eines israelischen Krieges mit Begriffen, die aus der Welt der Kunst stammen: «quelque chose de beau,» «une fresque historique,» «votre plus belle œuvre,» «pour l’amour de l’art,» «je me sens inspiré» (GC, 164f.). Der Gebrauch dieser Terminologie für Gemetzel und für den Tod Jesu zeigt nicht nur eine satirisch überhöhte Diskrepanz zwischen Geschehen und Repräsentation, sondern impliziert auch eine Anklage gegen die Kultur, die als Blendwerk oder versteckt für den moralischen Zerfall und Grausamkeit gedient hat. Dies wird nochmals durch das Hervorrufen der Zahl der Toten verstärkt, die der Tod als «une seule unité» (GC, 165) bezeichnet. Aussagen, die antithetisch wirken, gewinnen durch die erzählten Situationen eine neue Bedeutung: «la guerre, ça forge la fraternité» (GC, 245) erklärt Cohn als Colonel Cohn seinen multinationalen Untergebenen. Indem Gary die Worte in ihrer Bedeutung auseinandernimmt, sie ironisch überhöht und sie mit Vergangenheit und Gegenwart verwebt, zeigt er die Unglaublichkeit (und auch Undarstellbarkeit) der Ereignisse. Durch Zeitsprünge und Aneinanderreihung bzw. Gleichsetzung von historischen Episoden, die jeweils zu einer völlig anderen Zeit stattgefunden haben, werden diese satirisch umgekehrt. Wie auch im sprachlichen Aspekt gibt es hier zwei Ebenen und auch hier erkennt man die scharfe Kritik, die dahinter steckt. Ein signifikantes Beispiel hierfür ist die Immigrations-Episode, die zunächst den Anschein eines humanitären Aktes erweckt, schließlich aber auf die Nazi-Ideologie («Maschinen gegen Menschen») abzielt.53 Auch hier wird wieder darauf hingewiesen, dass nur die Masse zählt, um Ideologien zu erschaffen und Geschichte zu schreiben. Darüber hinaus wird mit dieser Aussage wiederum der damaligen Regierung unter Kiesinger unterstellt, sich der gleichen Mechanismen wie die Befehlsinhaber des dritten Reiches zu bedienen. ––––––– 53
«Le gouvernement Kiesinger va se déclarer en faveur d’une immigration massive de Juifs du monde entier en Allemagne. Il n’y en a que trente mille, actuellement. Ils ne sont pas assez nombreux pour nous fournir un but, une idéologie, une mission historique [...]. Si Israel accepte de les laisser partir, nous sommes prêts à les échanger contre des camions !» (GC, 233).
191 Nicht nur historische Ereignisse, sondern auch die Religionsgeschichte wird umgeschrieben oder umgekehrt: Judas ist nicht mehr der Verräter, sondern der Retter von Jesus vor den Menschen: «si les hommes apprennent que j’ai aidé Jésus à leur échapper, mon nom jusqu’à la nuit des temps sera Judas» (GC, 240). Eine kurze Gegenüberstellung der Sprache von Täter und Opfer gibt Gary in der unterschiedlichen Art der Vergangenheitsbewältigung von Gengis Cohn und Schatz. 4.3.4 Parodie der Begrifflichkeit Auffallend ist, dass die Namen antithetisch zur jeweiligen Person sind. Diese satirische Umkehrung wird bei der Namensgebung von Schatz verwendet: der «Hauptjudenfresser» (GC, 10), der Cohn hingerichtet hat, wird von Gengis Cohn liebevoll «Schätzchen» genannt («un terme câlin qui veut dire ‹petit trésor,› en allemand» [GC, 10]). «Schatz» ist bereits an sich Kosename. Auch Gengis Cohn vereinigt zwei antithetische Pole: Mit «Gengis» klingt Gewalt und Ausbeutung an, während «Cohn» von «Cohen» (Priester) jüdische Ethik und den Glauben an das Gute darlegt. «Schickse» ist dem Hebräischen entlehnt und enthält eine aggressive Note,54 doch wird dieser Name für ein jüdisches Kabarett verwendet. Polizist Hübsch, der sich durch Unsicherheit und Verklemmtheit auszeichnet, macht die Idealisierung der Schönheit und der Liebe lächerlich. Der Baron von Pritwitz erinnert durch seinen Namen an einen preußischen General. Im Roman ist er jedoch genau das Gegenteil: kein Sieger, sondern ein realitätsfremder Schöngeist. Ähnlich verhält es sich mit Graf von Zahn, der an einen Theologen und Pädagogen erinnert. «A ceci s‘ajoutent les effets comiques produits par la sonorité et le sens des mots Pritwitz et Zahn.»55 Auch Lily (auf deren Bedeutung im Roman später noch näher eingegangen wird) baut durch ihren Namen zunächst einen Bezug zur Lilie auf, dem Symbol der Reinheit. «Le visage de Lily, ses yeux, cette clarté, cette lumière soudaine» (GC, 216). Die Kapitelüberschriften parodieren die Kultur: «Le mort saisit le vif» (GC, 19) steht für die ermordeten Juden, die sich für immer in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingeprägt haben; «Un cœur simple» (GC, 69) zitiert Flauberts Erzählung und persifliert diese durch die Gestalt Johanns, der von der absoluten Erfüllung durch Lily träumt («C’est le sort ––––––– 54
55
«Das jiddische ‹Schickse› entspringt der weiblichen Form von ‹schekez,› ‹Ungeziefer,› ‹Abschaum,› und diente der Bezeichnung nichtjüdischer Mädchen. In deutschen ‹Mundarten› wurde ‹Schickse› gelegentlich für ‹Judenmädchen› benutzt» (vgl. Klein, Literatur und Genozid, 139). Charlotte Wardi, Le génocide, 224.
192 le plus beau, le plus digne d’envie!» [GC, 98]). Heines Werk «Deutschland, ein Wintermärchen» (GC, 63) steht im Kontext des Romans für ein moralisch degradiertes Deutschland. Das Zitat von Rabelais «Le rire est le propre de l’homme» (GC, 35) ist leitmotivisch für den ganzen Roman zu verstehen und unterstreicht die Absurdität der Geschichte und des barbarischen Verhaltens der Menschen. Gengis Cohn parodiert die Begrifflichkeit des Antisemitismus.56 Der antisemitische Vorwurf des Wuchers und der gerissenen Geldgeschäfte57 wird als Grundlage von Cohn genommen, um die geschichtlichen Ereignisse ironisch58 in ihr Gegenteil zu verkehren: die Nazis seien nur ein ausführendes Instrument gewesen, «dans la main des Juifs qui voulaient mourir, en faisant en même temps une affaire» (GC, 90). Der Vorwurf des geschäftlichen Ehrgeizes und des Profitstrebens wird somit überspitzt formuliert und ins Lächerliche gesteigert. Auschwitz sei ein kollektiver Selbstmord gewesen, der aufgrund von Schadensersatzzahlungen als Mord dargestellt worden sei. Somit seien die Juden für das schlechte Gewissen der Deutschen verantwortlich und würden sich so für immer in das kollektive Gedächtnis der Deutschen verankern, ein «véritable crime contre l’espèce, une atrocité spirituelle, plus criminelle que toutes celles, purement physiques, d’Auschwitz» (GC, 95). In dieser Passage wird aber nicht nur der Vorwurf des Wuchers karikiert, sondern Cohn gibt eine ausgezeichnete Variante und Persiflage der Verdrängung, Rechtfertigung und Schuldzuweisung des Nachkriegsdeutschlands. Ironie wird somit von Gary in zwei unterschiedlichen Varianten verwendet: Zum einen als Stilmittel, um menschliche Verhaltensweisen zu entlarven und zu kritisieren, zum anderen stattet Gary seine Figuren mit Ironie aus und gibt ihnen so einen Schutzpanzer zur Bewältigung ihrer Lebenskrisen. Eigentlich ist nur Gengis Cohn komisch, denn nicht die Figuren selbst sind ironisch, sondern wie der auktoriale Erzähler Gengis Cohn sie beschreibt und kommentiert. Die ––––––– 56
57
58
«Schließlich ist unter ‹Antisemitismus› weniger eine homogene Weltanschauung, denn eine Kummulation unterschiedlich gewichteter Negativhaltungen Juden gegenüber zu verstehen» (Diner, Schulddiskurse, 74). «Das Geschäftsleben ist schon als häufiges Thema jüdischen Humors genannt worden. Insbesondere wird gern von der überlegenen Schläue des jüdischen Geschäftsmannes erzählt» (Peter L. Berger: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung. New York 1998, 106). Ironie ist eine besondere Variante des Humors und hat wie dieser die Funktion, das Leben auf verschiedenen Bedeutungsebenen darzustellen, die durch den Leser entdeckt werden sollen. Ironie dient als Schutzfunktion, Trauer oder auch Angst abzuwehren und somit wieder vor allem als ein Mittel der Schutzlosen (vgl. Michael Hellenthal: Schwarzer Humor. Theorie und Definition. Essen 1989, 63).
193 Ironie des Erzählers dient zur humorvoll-spöttischen Darstellung eines bestimmten Verhaltens und ist so Kritik an diesem. 4.3.5 Funktion des Deutschen und Jiddischen Die Verwendung von deutschen Ausdrücken, die sich durch den Roman hindurchzieht, könnte ein Indiz dafür sein, um nochmals auf die Vergangenheit von Gengis Cohn zu verweisen: Oschlies bezeugt durch ein von ihm angeführtes Beispiel, in dem ein tschechischer Arzt während der Nürnberger Prozesse darum bittet, seine Ausführungen auf deutsch machen zu können, wie die deutsche Sprache von den ehemaligen KZ-Häftlingen verinnerlicht wurde. «[...] eine Reihe von speziellen Fachausdrücken, die sich auf das Leben in und um die Konzentrationslager beziehen, sind ausschließlich deutsche Erfindungen, und man findet in keiner Sprache ein entsprechendes Äquivalent.»59
So liegt es nahe, die Ausführungen Cohns auch in diesem Kontext zu sehen: Er erinnert Schatz durch die deutschen Ausdrücke an ihre gemeinsame Vergangenheit, an die Dominanz der deutschen Sprache im KZ. Eine ironische Komponente ist hierbei, dass Cohn mit seinem Mörder deutsch redet. Denn Oschlies schreibt: «Wenn sich ehemalige Häftlinge treffen, dann fallen sie gesprächsweise in die Lagerszpracha zurück [...].»60 Auch der Name des Kabaretts Schwarze Schickse, der früheren Wirkungsstätte Cohns, spielt auf das Verhältnis von Juden und Deutschen an.61 Doch nicht nur deutsche Ausdrücke sind von Gary in den Text eingewoben, sondern er stellt den jüdischen Humor, den Gary vor allem durch Wortwitz und schwarzen Humor zeichnet, dem grausamen Brachialhumor der SS entgegen: «‹Je refuse,› hurle le commissaire! ‹Il m’a une très sale tête votre savon! Il n’a pas du tout l’air catholique!› Mais il a tort. J’ai entendu un SS à Auschwitz le reconnaître lui-même, avec un bon gros rire: C’est du savon du luxe, il est fait avec le peuple élu!» (GC, 90).
Hier wird nicht nur die völlige Ignoranz gegenüber Menschenleben sichtbar, sondern auch Neid und Missgunst, die in Brutalität übergeht, deutlich. Durch die Gegenüberstellung der beiden Humorarten ist es Gary ––––––– 59
60 61
Zitiert nach Wolf Oschlies: «Lagerszpracha. Soziolinguistische Bemerkungen zu Sprachkonventionen. Muttersprache.» Zeitschrift zur Pflege und Erforschung deutschen Sprache 46 (1986), 98–109, hier: 99. Oschlies, Lagerszpracha, 104. Vgl. Diner, Kreisläufe, 9: Nach Diner verbindet Deutsche und Juden eine gegensätzlicher Gemeinsamkeit:» Das Selbstverständnis von Deutschen und Juden jeweils von der Massenvernichtung geprägt.
KZder
«Art wird
194 möglich, über die Ebene des Humors die Mentalität zu beleuchten. Doch gemäß dem Motto «Le rire est le propre de l’homme» (GC, 35) zeigt Gary in einer Schlüsselszene, dass sich durch das Mittel des Humors die Menschenwürde erhalten lässt: Nazis posieren für ein Foto, amüsieren sich und ziehen am Bart eines alten Hassids. Dieser stimmt in das Lachen mit ein und symbolisiert somit den Triumph des Geistes über den Sadismus und die Barbarei. «L’humour qui caractérise le discours intarissable du narrateur, sa verve endiablée, rendent compte de l’horreur du réel qui se mêle à l’allégorie, sans que le coulée du récit soit interrompue. Il crée la respiration nécessaire entre les passages dont la lecture serait, autrement, insupportable.»62
Mit dem Einsatz des Jiddischen bewirkt Gary oftmals durch die bloße Nennung eines Wortes, manchmal auch nur durch eine Silbe einen erzählerischen Effekt. «Le yiddish reste pour Gary une langue aux possibilités d’humour infinies et en même temps extraordinairement contractables.»63 Um seine Verachtung auszudrücken, verwendet Schatz «Voix-Shmoix» (GC, 96), Gengis Cohns lakonische Antwort auf einige Probleme ist ein einfaches «Mazltov» (GC, 119). «Dans les premiers romans de Gary, la langue yiddish qui travaillait et traversait la langue française était une langue de mémoire qui signait l’identité des personnages, et leur appartenance à un monde culturel.»64
Gerade der seiner Bedeutung konträr laufende Einsatz dieser jiddischen Worte zeigen nochmals deutlich die Eigenart des jüdischen Humors auf.65 Doch das Jiddische wird von Gary nicht nur als weiteres Element der jüdischen Kultur verwendet, er räumt dem Jiddischen und somit der Sprache selbst einen größeren Stellenwert ein: Schatz übernimmt nicht nur bestimmte Riten des jüdischen Glaubens, als Höhepunkt seiner Assimilation fängt er an, jiddisch zu sprechen: «‹Je me surprends malgré moi à prononcer des mots dans cet infâme jargon ... J’ai fini par acheter un dictionnaire pour me comprendre Arakhmounes cela veut dire pitié, je l’ai entendu mille fois au bas mot. Hutzpe, culot ... Gvalt, au secours ... Mazeltov, félicitations
––––––– 62 63 64 65
Charlotte Wardi, Le génocide, 66. Anny Dayan Rosenman: «Des cerfs-volants jaunes en forme d’étoiles: La judéité paradoxale de Romain Gary.» Les Temps Modernes 568 (Nov. 1993), 30–54, hier: 38. Rosenman, Des cerfs-volants, 53. «J’ai l’impression qu’il se prépare autor de moi une sorte d’apothéose de l’imaginaire et que bientôt on n’apercevra plus sur cette terre nulle trace de souillure, d’impureté, d’imperfection. Mazltov, comme on dit en yiddish, ce qui veut dire: félicitations» (GC, 15f.); oder auch in einer kürzeren Fassung: «On assassine la Joconde! – Mazltov!» (GC, 112).
195 ... Et puis tenez, l’autre nuit, je me suis réveillé en chantant.› Guth sourit. ‹Au moins c’est plus gai.› ‹Vous croyez ça? Vous ne connaissez pas mon salopard! Vous savez ce qu’il me fait chanter? El Molorakhmim. C’est leur chant funèbre pour les morts ... ensuite il m’a fait chanter yiddishe mamma›» (GC, 27).
4.3.6 Sprachliche Apokalypse Ort und Zeit der Handlung sind (zumindest im ersten Teil) klar definiert und beschrieben. Der zweite Teil von La Danse de Gengis Cohn weist jedoch in der Erzählweise einige Besonderheiten auf. Paragraphen mit ungewöhnlicher Länge (20 oder 30 Linien), die in ähnlicher Syntax aneinandergereiht sind (mit oder ohne Interpunktion), bilden Stilmerkmale der Schreibweise Garys in La Danse de Gengis Cohn. Mit dieser Erzählweise gelingt es Gary, das Unterbewusstsein und dessen Degenerierung darzustellen, «comme un véritable dépotoir:»66 «[...] un bouc, une belle-mère qui en vaut dix, trois buddhas, [...] deux Staline, [...] vingt paires de bottes pleines de souffrance juive, [...] et la lévite de mon maître bien-aimé Rabbi Zur, de Bialystok, encore pleine d’œcuménisme» (GC, 198).
Das Groteske, das Gary hier verwendet, ist vor allem an den sprachlichen Bildern zu konstatieren, vor allem in einer unvermittelten und überraschenden Zusammenführung von Unvereinbarem.67 Es kommt zu keiner Auflösung der beiden Realitätsebenen, die erschaffene Welt der Groteske ist unerklärlich und nicht außerfiktional übertragbar. Mit dem Einsatz einer Flut von sprachlichen und literaturhistorischen Allusionen, Metaphern und gewagten Verknüpfungen wird der Leser derart von Eindrücken überhäuft, dass er selbst innerhalb Garys Roman orientierungslos wird. Die Verknüpfungen schlagen nochmals einen Bogen zu Garys Literaturkritik: «[...] la Joconde en Schwarze Schickse sous l’œil borgne et rond des culs de Jérôme Bosch, [...] quarante Harpo Marx fusillés se déculottent face au peloton d’exécution et visent l’Allemagne dans son honneur, Schatz hurle Deutschland erwache [...] il se dresse il bondit sur sa chaise il tape du pied il danse il gueule» (GC, 118).
––––––– 66 67
Kauffmann, La danse de Romain Gary, 78. «In die als vertraut geltende Wirklichkeit, mit der der Leser sich soeben noch identifizieren konnte, bricht ohne Vorwarnung etwas ein, das aus einer anderen, wunderbar fremden und gänzlich irrealen Welt stammt» (Hellenthal, Schwarzer Humor, 64). Auch im Kleinen zeigt sich Garys Vorliebe fürs Groteske: so läßt er den Juden Gengis Cohn das Horst Wessel Lied pfeifen (GC, 246), während der Tod in der Lektüre des Playboys vertieft ist (GC, 147).
196 Diese monströse und absurde68 Montage oder Anhäufung erweckt im Leser den Eindruck, den Autor in seinen Visionen auf dem Weg zum absoluten Chaos zu begleiten. Die Welt wird als Chaos begriffen, in dem es keine Ideale bzw. Werte mehr gibt. Einen Lebenszweck gibt es nicht mehr, die Suche nach den Idealen kann letztendlich nicht befriedigt werden. «C’est bien le retour au chaos de toutes les initiations, étape ultime avant le réveil et l’expulsion, symbolique, le cas échéant, du gouffre béant.»69 Durch die Akkumulation verschiedener Gedankenstränge, die Gary im Bild des Flusses versinnbildlicht, greift er zugleich auf eine Erinnerungsmetapher zurück70 und betont somit nochmals die enge Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Der positiv bewertete «frère Océan» («J’aime l’Océan, et j’attends tout de lui. Il est tourmenté, tumultueux, il se fait mal à tous les rivages. C’est un frère» [GC, 228]), der bei Gary leitmotivisch verwendet wird und dem auch seine Essaytrilogie gewidmet ist, bietet ihm zunächst Hilfsmittel und Trost zugleich, was durch die Personifizierung des Meeres unterstrichen wird. Der «frère Océan» ist aber zudem auch Versinnbildlichung des Verlaufs der Menschheitsgeschichte, sowie der pikaresken Schreibweise, in welcher der Schriftsteller die Kultur- und Menschheitsgeschichte aufschreibt.71 Doch der kreativen und zerstörerischen Kraft des Ozeans der (Gedankenflut der) Menschheit kann sich nicht einmal Gengis Cohn entziehen. «J’essaie de nager à contre-courant, mais des coulées irréstisibles m’entraînent, l’Océan originel me porte en avant, du reste, je ne tiens pas tellement à remonter à la Source, une Source pareille, je ne souhaite pas ca à mes meilleurs amis» (GC, 264).
Interessant ist im Zusammenhang von kollektivem und historischem Gedächtnis Halbwachs‘ Vergleich der Geschichte mit dem Ozean: «Die historische Welt ist gleich einem Ozean, in den alle Teilgeschichten einmünden. [...] Die Geschichte kann als das universale Gedächtnis des Menschengeschlechts erscheinen. Aber es gibt kein universales Gedächtnis. Jedes kollektive Gedächtnis hat eine zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe zum Träger. Man kann die Totalität der vergangenen Ereig-
––––––– 68
69 70 71
Das Absurde repräsentiert, ausgehend von einem philosophischen Konzept, die Darstellung eben dieses Konzepts jedoch als inhaltliche Kategorie. Absurd bedeutet die Vorstellung von Irrationalität und Sinnlosigkeit (vgl. Hellenthal, Schwarzer Humor, 67ff.). Kauffmann, La danse de Romain Gary, 79. Zur Bedeutung des Wassers als Metapher des Lebens und Erinnerns vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 171. «Frère Océan meint den Tumult und das Grollen der pikaresken Romanfigur, aber auch die Unerschöpflichkeit und Unendlichkeit einer ausufernden Schreibweise, die sich der kabarettistischen Phantasie hingibt und die Technik literarischer Anspielungen und Parodierung ebenso beherrscht wie die Übernahme von Figuren und Motiven der surrealistischen Malerei» (Klein, Literatur und Genozid, 137).
197 nisse nur unter der Voraussetzung zu einem Bild zusammenstellen, dass man sie vom Gedächtnis jener Gruppen löst, die sie in Erinnerung behielten, dass man die Bande durchtrennt, durch die sie mit dem psychologischen Leben jener sozialen Milieus verbunden waren, innerhalb derer sie sich ereignet haben, und dass man nur ihr chronologisches und räumliches Schema zurückbehält.»72
4.4
Das Lager, «un monde à part» – «la forêt de Geist»
«La forêt de Geist» – Kultur und Massenmord Im «forêt de Geist» werden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verquickt, Elemente aus der gesamten europäischen kulturellen und politischen Geschichte treten auf, unterschiedlichste Identitäten und Kombinationen lösen sich in wilder Folge ab. In ganz außergewöhnlicher Weise verbindet Gary in La Danse de Gengis Cohn reale Geschehnisse mit fantastischen Elementen. Der «forêt de Geist» kann auf verschiedenen Sinnebenen verstanden werden.73 Er bietet eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten und wird deshalb für die vorliegende Arbeit anhand von zwei unterschiedlichen Zugängen untersucht: zum einen bietet er im Rahmen des Themenkomplexes Lager eine besondere Form des Lagers, zum anderen wird im der Diskussion der Reflexionsorte explizit auf die Themen Verarbeitung, Aufarbeitung, Bewusstwerden und Gedächtnis eingegangen. Auch wenn der «forêt de Geist» kein explizites Bild der Konzentrationslager gibt, so werden doch Charakteristika und Strukturen des Lagers, die literarische Verarbeitung und Auswirkung des Lagers sowie Vergangenheitsbewältigung und Erinnerung an die Konzentrationslager in einem größeren Zusammenhang angesprochen.74 Im «forêt de Geist» werden die Ereignisse der Vergangenheit in Beziehung zur Gegenwart gesetzt. Die Parallelwelt entsteht aber nicht getrennt zwischen ––––––– 72 73
74
Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1985, 71f. (Orig.: La mémoire collective [in den 30er Jahren entstanden / Paris 1985]). Es entsteht eine «symbolische Sinnwelt» (vgl. Aleida Assmann / Jan Assmann / Christof Hardmeier [Hgg.]: Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation. München 1998, 267). Als Vergleichstexte können hierbei George Perecs W ou le souvenir d’enfance (1975) und André Schwarz-Barts Le dernier des justes (1959) dienen. Die gewählten Räume/Schauplätze sollen als Sinnbild für die Verwirklichung ideologischer Ziele dienen. Auch ist ein interessanter Aspekt, wie einzelne Welten entworfen werden; hierbei lässt sich eine in der Zeichnung des Terrorsystems bei Schwarz-Bart und bei Perec völlig unterschiedliche Richtung erkennen.
198 Vergangenheit und Gegenwart, sondern wird im «forêt de Geist» kompensiert. «What makes this novel outstanding in the literature of atrocity is the employment of what can be best described as a point-counter-point technique which counteracts factual fantasy with literary fantasy, grotesque events with grotesque stylization bringing into focus the phantom world of the Holocaust superimposed on the phantom world of the imagination.»75
Auf der deskriptiven Ebene ist der «forêt de Geist» ein Wald oberhalb der Stadt Licht76 und zunächst Schauplatz des Verbrechens für die Sexualmorde, später für sämtliche Verbrechen der Menschheit (unter anderem auch für Vietnam, für Babi Yar und die vollständige Vernichtung der Menschen). Der «forêt de Geist» wird von Gary als ehemaliges Lager, als Auschwitz, definiert. Nur noch die Gräber von jüdischen Opfern (auch Cohns Grab und seine sterblichen Überreste befinden sich hier) und eine Ruine erinnern zu Anfang an die Ereignisse der NS-Zeit. «On peut encore voir les tombes que les SS nous avaient fait creuser avant de nous abattre. La mienne est là, sous ce sapin, pour vous servir» (GC, 128). Luxusresidenzen und ein Kindergarten ersetzen die ehemaligen Häuser. Doch ähnlich wie bei Resnais wird das stillgelegte Lager durch die «Besucher» (Schatz und Cohn, Lily und Florian) des Waldes reanimiert und die vergangenen Ereignisse werden aufs Neue evoziert. Der Gedanke das Lagers als Zwischenreich zwischen Leben und Tod, als einen Raum der absoluten Gefangenschaft und Unentrinnbarkeit anzusehen, wird im «forêt de Geist» durch Florian und seine Opfer aufgegriffen. Entindividualisierung und Massenvernichtung sind auch im «forêt de Geist» wichtige Komponenten: Die Opfer sind namenlos und auch nicht weiter definiert; es sind sinnlose Morde, deren kontinuierliche Aufzählung das riesenhafte Ausmaß der Tötung beschreibt. Die Omnipräsenz des Todes im Lager wird durch die Allgegenwart Florians versinnbildlicht, der willkürlich und plötzlich zuschlagen kann. Indem Gary keine Motivation für die Morde beschreibt, greift er das ideologisch verankerte Morden im Konzentrationslager an und hebt dessen Sinnlosigkeit hervor. Ziel der Lagerstruktur war es, das Individuum in seinem Eigenraum zu zerstören, den Raum als Handlungs- und Lebensraum zu unterbinden. Die Interaktion zwischen Opfer und Raum findet im «forêt de Geist» nicht statt. Hier liegt kein geschlossenes Sozialsystem vor, der Raum bietet hier eine andere Art von Gefängnis. Zwar handelt es sich auch ––––––– 75 76
Pfefferkorn, Art of Survival, 78. «un lieu très élevé» weist auf die verschiedene (Meta-)Ebenen hin.
199 hier um ein psychisches und physisches Gefängnis, doch ist das Verhältnis der Opfer zum Täter ein rein sexuelles auf der Seite der Opfer, die wenig Mitleid erregen, da sie Lily zunächst verfallen. Wie bei der Analyse von Charlotte Delbos Text aufgezeigt wurde, ist das Gedächtnis im Lager der allmählichen Auslöschung ausgesetzt. Da bei Gary die konzentrationäre Wirklichkeit implizit als Hintergrund vorhanden ist, besteht auch keine klare Definierbarkeit von Zeit im Lager bzw. im Roman. Der Raum ist ein anderer und da der Raum bezeichnend für die Personenkonstellation ist (Verhinderung der individuellen Entfaltung, Zerstörung des Eigenraums, kein Übergangsritus vorhanden), hat Gary in der Form seines Romans die Möglichkeit, das Verständnis von Raum und Zeit in der Fiktion darzustellen und zu zerstören. Gary greift in seinem Roman nicht das Raum-Zeit-Verständnis der konzentrationären Literatur während der Geschehnisse auf, sondern zeigt vielmehr die Auswirkungen davon: Die zeitlichen Anhaltspunkte sind verlorengegangen; nach dem Krieg ist die Zeit nicht mehr im gleichen Maße einzuteilen, und diese Destrukturierung spiegelt sich auch im Text wider. Da Auschwitz nicht nur für den fabrikmäßigen Massenmord der Nazis an Juden steht, sondern auch als Emblem für andere wehrlose Opfer geworden ist, verknüpft Gary somit die Geschichte des jüdischen Volkes mit der Geschichte des christlichen Abendlandes. Damit tritt Gary auch für eine Konservierung und Musealisierung traumatischer Orte ein, die «Mittler sind, um die zwischen Vergangenheit und Gegenwart»77 nationalsozialistischen Massenverbrechen dauerhaft im historischen Gedächtnis verankert zu wissen. In diesem Kontext stellt der «forêt de Geist» einen kulturellen Erinnerungsraum der Menschheit dar.78 Im «forêt de Geist» sieht Gengis Cohn eine Hand aus einem Kanalisationsdeckel des Warschauer Ghettos ragen; diese Hand gehört zu einem Widerstand leistenden Juden, «laissée sans armes par l’humanité entière» (GC, 167). «La résistance juive au nazisme est symbolisée par le ‹poing juif› qui reste levé au-dessus d’une bouche d’égout dans le ghetto de Varsovie.»79 Diese Faust des Widerstands steht für das jüdische Gedächtnis, als Gedenken für eine (beinahe) zerstörte Kultur und für ein Zeugnis80 – es ist eine schwache und unbewaffnete Geste gegen die erdrückende Übermacht. Hier wird der «forêt de Geist» zum Generationenort,81 wobei Cohns Grab hier ––––––– 77 78 79 80 81
Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 331. Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 299. Sungolowsky, La judéité, 125. «Es geht um das Verhältnis zwischen dem nicht immer voll bewussten und oft passiven Zum-Zeuge-Werden und dem Ablegen eines Zeugnisses» (Baer, Zeugen, 61). Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 301.
200 stellvertretend für alle jüdischen Opfer steht und die Verbindung von Raum und Zeit besonders sinnfällig wird. Als man Gengis Cohn jedoch für ein Denkmal auf dem Platz des Warschauer Ghettos gewinnen will («On me fait poser pour le monument au Juif comique inconnu, à l’emplacement où s’élevait jadis le ghetto de Varsovie» [GC, 249]), mit einem zerbrochenen Schwert auf den Knien, antwortet er: «Quelle épée? Celle qu’ils ne nous avaient pas donnée quand on nous exterminait?» (GC, 250). Hier zeigt Gary wieder einmal, wie die Vergangenheit verklärend behandelt wird: Die Wehrlosigkeit der Juden wird außer acht gelassen, das Denkmal soll zur Schuldbereinigung der Deutschen dienen.82 Das Bild der Menschheit steigert sich zur alptraumhaften Apokalypse83 am Ende des Romans. Linearität und Eindeutigkeit gehen verloren, weshalb der Text stark an Träume und Halluzinationen in der Literatur von Überlebenden des Holocaust erinnert, mit denen er die nicht immer logische Aneinanderreihung der Ereignisse gemein hat. Auch hier sieht man eine Verschmelzung der alptraumhaften Realität mit nächtlichen Träumen. In der Holocaust-Literatur entbehren die Fantasien von Geistern, die aus Massengräbern steigen, von brennenden Öfen, von Erscheinungen, einer rationalen Erklärung für die Ereignisse im dritten Reich, stellen aber für die Augenzeugen eine Möglichkeit dar, ihre Erlebnisse überhaupt schildern zu können.84 Genau diese assoziative Akkumulation von Ideen greift auch Gary wieder auf, um seine Form der Apokalypse vom Untergang der Menschheit – die untergehen muss, wenn sie zu solchen Taten fähig ist – verständlich zu machen. Indem er den «forêt de Geist» als Ort der menschlichen Seele und Fantasie anlegt, sind Gary keine Grenzen gesetzt, dem Leser durch Allegorien, Metaphern und Bilder sämtliche Allusionen an den Holocaust zu geben, ohne diesen direkt beschreiben zu müssen. Somit zeigt Gary die Verbindung oder Synthese zwischen Form und Inhalt signifikant auf: Nicht nur strukturell erinnert der Text hier ganz besonders an konzentrationäre Literatur, sondern das Gedächtnis und die Erinnerung werden hier in der Form versinnbildlicht: Das Unterbewusstsein ist nicht strukturiert, verknüpft verschiedene Erinnerungsebenen miteinander, zieht Querverbindungen etc. Zugleich knüpft Gary an die romantische Tradition ––––––– 82 83
84
Als Schauplatz konkurrierender Erinnerungsgemeinschaften bietet der «forêt de Geist» auch einen «Gedächtnisort» (vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 306). Träume sind dadurch gekennzeichnet, dass sie die Vergangenheit in die Gegenwart (des Traumes) aufnehmen. Im Traum sind Zeit und Raum nicht wie in der Situation der Wiedergabe vorhanden. Im Traum bleibt der Ort oft nicht der gleiche, vieles geschieht gleichzeitig. Die Orte sind in diesem Sinne ortlos, die Zeit zeitlos (vgl. Hoffmann, Symbolisierungsstrategien, 173). Vgl. Pfefferkorn, Art of Survival, 84.
201 an, indem er die Natur als Spiegel der Seele ansieht. Explizite Traumberichte enthält Garys Roman nicht, denn die Realität ist bereits ein reiner Alptraum: «c’est un cauchemar, autrement dit, c’est la réalité» (GC, 73) heißt es bei der Entdeckung von einundvierzig im «forêt de Geist» ermordeten Menschen. Trotzdem befindet sich Gengis Cohn im «forêt de Geist»/Vietnam in einem trance- und traumähnlichen Zustand, aus dem er immer wieder zu erwachen scheint. Dieses Erwachen stellt eine Veränderung der Situation dar. Der Dibbuk ist hier (zumindest teilweise) einer Vereinnahmung durch Kultur und Politik anheimgefallen: Ohne Judenstern (der ihm im Schlaf entrissen wurde) ist er nicht mehr Teil des Unterbewusstseins der Täter, sondern wird selbst zum Täter (GC, 241). Hier wiederum wird der Traumzustand von Gengis Cohn in ganz traditioneller Art und Weise eingesetzt: der Traum als Umbruch der Narration und als Sprengung des chronologischen Ablaufs. Somit findet eine Verknüpfung von Ereignissen und Zeiten statt. In wenigen Bildern drücken die Träume eine Vielzahl von Gedanken, Gefühlen, Ängsten oder Wünschen aus und verknüpfen individuelle Biographie und politisches Geschehen.85 Insgesamt stellt Gary den von vielen Intellektuellen im Zusammenhang mit Auschwitz immer wieder aufgegriffenen Gedanken vor dem Hintergrund des «forêt de Geist» dar: Dass es sich beim Holocaust nicht nur um ein mehr oder weniger kontingentes historisches Geschehen gehandelt habe, sondern das Modell der westlichen Kultur insgesamt beschädigt wurde, wenn nicht gar widerlegt worden sei. Deshalb könne man von einem Fortschritt, den diese Kulturentwicklung mit sich gebracht habe, nicht mehr sprechen.86 Der «forêt de Geist» als Symbol des kulturellen westlichen Bewusstseins, als Unterbewusstsein der Menschen und der Menschheit und auch in einem weiteren Kontext als Versinnbildlichung der Wirkungsstätte der Menschheit und als Grundlage des kollektiven Gedächtnisses bildet also den Hintergrund für Garys Kulturkritik, die er mit der Konstatierung des Scheiterns der Kultur in Verbindung setzt. Was von dem kulturellen Hintergrund, an dem Deutschland so reich ist, angesichts der Gräueltaten des dritten Reiches übrigbleibt, fasst Gengis Cohn zynisch-resigniert zusammen: «La culture c’est lorsque les mères qui tiennent leurs enfants dans leurs bras sont dispensées de creuser leurs tombes avant d’être fusillées» (GC, 62). Die Zeit ist im «forêt de Geist» zyklisch zu verstehen, d.h. dass keine Entwicklung möglich ist; der Mensch ist ihr bis in die Ewigkeit ausgeliefert und kann ihr nicht entrinnen. ––––––– 85 86
Vgl. Klein, Literatur und Genozid, 183. Vgl. Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 14.
202 «La condition humaine et les malheurs de l’Histoire, que les injustices se perpétreront, que les calamités historiques se répéteront à l’infini [...] Après de nombreuses variations, Gary semble finalement adopter une vision discontinue de l’Histoire dans laquelle l’homme, privé du discours justificateur du progrès, n’a que deux possibilités: celle d’agir sur son temps concret et celle de nourrir l’intemporel par des œuvres ou des actions assez valables pour s’évader du temps chronologique.»87
Das schrittweise, in Etappen nachvollzogene Scheitern der abendländischchristlichen Zivilisation und ihrer Kultur wird an Auschwitz festgemacht. Der größte Vorwurf, den Gengis Cohn ausspricht, ist gegen die Kultur gerichtet, die Auschwitz nicht verhindern konnte: «[...] à cette époque la presse allemande était pleine de récits d’atrocités commises par les sauvages Simbas au Congo. Le monde civilisé était indigné. Alors, voilà: les Allemands avaient Schiller, Goethe, Hölderlin, les Simbas du Congo ne les avaient pas. La différence entre les Allemands héritiers d’une immense culture et les Simbas incultes, c’est que les Simbas mangeaient leurs victimes, tandis que les Allemands les transformaient en savon. Ce besoin de propreté, c’est la culture» (GC, 62).
Hier wird zum einen nachdrücklich die Unfähigkeit der Deutschen betont, sich zu ihrer eigenen Schuld zu bekennen, andererseits zeigt Gary die völlige Degenerierung der Menschheit. Gary erklärt dieses Scheitern: Im Westen dient das Humanitätsideal als Vorwand für die Verbrechen gegen die Menschheit. Die Befürworter dieses «Ideals» folgen blind den ideologischen Forderungen dieser Kultur und töten und sterben, um sich und das Ideal im Glauben daran zu befriedigen. Wenn die Menschen sich vom Tod angezogen fühlen, so nur deshalb, weil die Literatur, die Kunst, die Philosophie, die Religion und die Ideologien diesen idealisieren und seinen wahren Charakter verschleiern: «Je sais que Florian depuis toujours passe son temps dans la Forêt de Geist» (GC, 131). Cohn jedoch verweigert sich dieser Idealisierung und Heroisierung, er revoltiert gegen den Tod und die Rechtfertigung von Massenmorden aufgrund von Ideologien: «Je veux bien avoir été tué sans l’ombre d’une raison ... Mais lorsqu’on invoque une doctrine ... Je me présente tout de suite avec mon étoile jaune, encore tout couvert de plâtre» (GC, 80).
Menschheit und Kultur im Angesicht des Todes – die Figuren des «forêt de Geist:» Lily und Florian Garys Figuren in La Danse de Gengis Cohn sind Allegorien und zugleich Spiegelbilder seiner Weltsicht. Gary geht von der Realitätsebene nach und nach auf die Metaebene der Metaphern und Symbole über. In diesem Kapi––––––– 87
Jörn Boisen: «La conception du temps chez Romain Gary.» Revue Romane Langue et littérature 29/1 (1994), 51–70, hier: 67; 70.
203 tel sollen nun Interpretationsmöglichkeiten aufgezeigt werden, welche Bedeutung beiden Figuren im Kontext von Kultur und Massenmord, Triebunterdrückung und Gewalt zukommt. Auf der rein deskriptiven Ebene ist Lily die liebreizende, gebildete und tugendhafte Frau eines Barons. Florian ist der Gärtner, der in ihren Diensten steht. Mit fortschreitender Handlung kristallisiert sich heraus, daß Lily, die in unstillbarem Verlangen nach immer neuen Bekanntschaften lechzt, zunächst die Männer verführt, die sie aber letztendlich nicht (und niemals) befriedigen können. Dieses nicht erwiderte Verlangen wird zusätzlich dadurch karikiert, indem alle Opfer mit einem entzückten Gesichtsausdruck und ohne Unterhose aufgefunden werden. Florian bestraft die wehrlosen Männer für ihre Inkompetenz und ermordet sie, indem er ihnen einen Pfahl in den Rücken rammt. Lily, die sich jedes Mal, wenn sie wieder ein neues Opfer ausfindig macht, in einer Hochstimmung befindet, fällt nach jedem gescheiterten Versuch, endgültige Befriedigung zu finden, in große Depressionen. Dieser Zusammenhang zwischen Liebe/Sexualität und Tod wird durch ein Charakteristikum im Erscheinungsbild des «forêt de Geist» verstärkt: die durch die von den Gefangenen ausgehobenen Gräber enstandenen Vertiefungen sind sehr beliebt bei Liebespaaren.88 Lily89 erinnert an Lilith, einen weiblichen Dämon der jüdischen Volkskunde. Der Name ist die hebraisierte Form der mächtigen babylonischen Dämonin Lilitu, die zusammen mit ihrem Mann Lilu und ihrer Dienerin Ardat Lile Sturmgeister waren. In rabbinischer Tradition wurde sie als Dämonin der Nacht neu interpretiert.90 Ein anderer Zugang interpretiert Lilith als erste Frau Adams, die, wie er auch, aus Lehm geschaffen worden war, von ihm floh und Rache schwor.91 In La Danse de Gengis Cohn ist Lily eine Frau von außergewöhnlicher Schönheit (vgl. GC, 135). Die Faszination, die von ihr ausgeht, zieht auch den Tod in ihren Bann, den Florian verkörpert. Florians Kopf erinnert an mittelalterliche Darstellungen des Todes:
––––––– 88 89
90
91
Vgl. GC, 164. «tombes que les SS nous avaient fait creuser avant de nous abattre.» Zum Ursprung der Lily-Figur schreibt Gary: «Je me suis servi d’une vieille légende caucasienne et d’une gravure allégorique allemande du début du XXe siècle; elle représente l’humanité comme une princesse qui condamne à mort tous les amants qui ne lui donnent pas satisfaction» (Gary, La nuit sera calme, 354). «Lilit, vielleicht die Nächtliche, Nachtgespenst, ein weiblicher koboldartiger Dämon, Jes. 34, 14. Nach späterer Sage verfolgt sie Männer und Kinder» (Georg Herlitz [Hg.]: Jüdisches Lexikon Bd. 3. Berlin 1929, 1116). Vgl. Isaac Landman: The Universal Jewish Encyclopaedia in ten volumes. Vol. 7. New York 1942, 63.
204 «[...] osseux, plat, la peau ne semble être là que par souci des convenances. Des yeux sans éclat, des paupières sans cils. Pas une ride. C’est un visage qui fait un peu tortue, un peu préhistorique» (GC, 132).
Diese direkte Personifizierung des Todes wird nochmals durch eine Kapitelüberschrift verdeutlicht: «Le mort [nicht «la mort,» Anmerkung der Verf.] saisit le vif» (GC, 19). Dieser Tod hat seinen Heroismus verloren, verliert sich in Statistiken von unzähligen Toten. Für Gengis Cohn hat der Tod einen «caractère eichmannien de banalité quotidienne» (GC, 135) – der Tod wird zwar, wie im Mittelalter auch, personifiziert dargestellt, doch er ist nun zu etwas Banalem, Schrecklichem und Menschlichem geworden. «[...] auch Eichmann und seine entsetzliche Lächerlichkeit ist anwesend in den Mitläuferfiguren, sie sind seine ‹Stellvertreter› in der Literatur. Ihnen gegenüber braucht die Satire nicht zu verzagen.»92 Dieser Tod hat seine Allmacht verloren – Gary degradiert ihn zur Impotenz. Florian bewirkt eine außergewöhnliche Reaktion bei seiner Umwelt: Wo auch immer er sich aufhält, fallen Vögel und Insekten tot vom Himmel, Pflanzen sterben.93 Nach dem Erläutern ihrer Funktion in der Handlung und ihrem Erscheinungsbild sollen im Folgenden auf allegorisch-metaphorischer Ebene Funktionen im Raum- und Zeitgefüge der beiden Figuren aufgezeigt werden. Lily als Allegorie der Menschheit verbindet Gary mit dem Begriff der «féminité.»94 Im Gesamtwerk von Gary lassen sich zwei Tendenzen zur Beschreibung von Frauen feststellen: entweder sind es «prostituées» oder Symbole oder Personifikationen der «humanité.»95 Lily vereinigt in La Danse de Gengis Cohn beide Komponenten, wobei der Schwerpunkt auf der Versinnbildlichung der Menschheit liegt und die Prostitution eher als Mittel zum Zweck dient. Doch was als doppelt positiv konnotierte Figur erscheint (humanité und féminité), führt nicht zur erträumten idealen Gesellschaft oder einer glücklichen Menschheit – im Gegenteil: Lily bringt durch ihre Sexualität Tod, Massenmord und Verderben. Durch die Gleichsetzung von eigentlich für Gary positiv besetzten Begriffen, die aber ––––––– 92 93
94
95
Baumgart, Unmenschlichkeit beschreiben, 42. «Dès qu’une mouche venait près de lui, elle tombait morte. Et les moustiques aussi. Même les papillons. Même les oiseaux ... Lorsqu’il s’approchait, ils se mettaient à chanter [...] – et puis, ils tombaient morts à ses pieds» (GC, 56f.). «Unter ‹féminité› sieht Gary nicht nur den weiblichen Charakter oder die der Frau eigenen Eigenschaften und Züge, sondern vor allem eine grundsätzliche, von ihm durchweg positiv beurteilte, weibliche Ausprägung innerhalb des gesellschaftlichen Miteinanders» (Claudia Gronewald: Die Weltsicht Romain Garys im Spiegel seines Romanwerkes. Münster 1997, 133). Gary versteht unter humanité die menschliche Gemeinschaft und die Art und Weise, in der Individuen in ihr oder mit ihr zusammenleben oder aber sich von ihr abgrenzen bzw. abgegrenzt werden (vgl. Gronewald, Die Weltsicht Romain Garys, 133).
205 in Verbindung miteinander zur Selbstzerstörung und Ausrottung der Menschheit führen, zeigt Gary seine pessimistische Sicht der Gesellschaft. Gary sieht die einzige Chance für eine Erneuerung der «humanité» in ihrer Vernichtung, um so einen Neubeginn zu gewährleisten. Er charakterisiert den Menschen als grausames Wesen, das sich und sein Umfeld durch sein Verhalten zerstört und stellt die Menschheit mit ihren beiden gegensätzlichen Seiten dar: schön und gebildet, aber auch unerbittlich, rachsüchtig und zur völligen Destruktion bereit. «Beide zusammen verkörpern sie eine Art Anti-‹humanité,› eine Menschheit des Verderbens.»96 Mit ihrer maßlosen Gier nach Befriedigung und ihrer Suche nach «Erlösung» macht Lily als Allegorie der Menschheit zwei Dinge deutlich: Sie zeigt Egoismus und Brutalität des Menschen auf der einen Seite, auf der anderen Seite ist sie ein Sinnbild für die Menschheit im historischen Kontext des Krieges, für die blutige Auseinandersetzung von Mensch gegen Mensch. Die Menschen brauchen jemanden, der sie führt, eine Ideologie, der sie folgen können, wobei die historische Suche nach einer totalen Erfüllung der Menschheit, wie La Danse de Gengis Cohn verdeutlicht, unmöglich ist.97 «Le problème c’est que, devant cet idéal de beauté occidentale, les hommes ne songent pas à créer une humanité vraiment humanitaire, au contraire. Ils versent dans l’idéologie [...] Beauté virginale ou vaginale, cela revient au même. Lily n’est peut-être qu’un beau rêve qui ne se réalisera jamais.»98
Doch Lily steht auch für die Verbindung von Menschheit und Kultur.99 Lily, mit deren Namen Reinheit und Schönheit der Lilie assoziiert wird, repräsentiert zum einen die todbringende abendländische Kultur, zum anderen die Menschheit. Allein durch ihre Gegenwart, durch ihr Lächeln ist die «princesse de légende» fähig, dass sich «la forêt de Geist s’illumine tout ––––––– 96 97 98
99
Gronewald, Die Weltsicht Romain Garys, 140. McKee, The Symbolic Imagination, 64. «Vous êtes pris d’une envie fougeuse d’accomplir. Vous vous sentez d’humeur monumentale, vous vous mettez à regarder les chênes les plus fiers d’égal à égal. C’est un de ces moments de certitude absolue où l’homme prend vraiment sa mesure et cesse de douter de sa grandeur. Cette fois, vous allez faire son bonheur, vous êtes sûr de votre génie, de votre système, ce n’est plus du vent, vous tenez enfin quelque chose de solide. Vous vous dressez de tout votre haut, vous vous mettez en position, vous déployez votre bannière idéologique et vous vous mettez à œuvrer à la construction du socialisme» (GC, 136). «Elle soulève un peu sa robe lourde de chefs-d’œuvre [...] avance parmi les pâquerettes, et, au même moment, comme un signe de quelque bienveillance céleste, dans la forêt de Geist depuis longtemps pourtant privée de son gibier naturel, où l’herbe a repoussé entièrement, vingt-sept Socrate, sept Homère, quatorze Platon, vingt-sept Leibniz [...] paraissent parmi les licornes [...]» (GC, 216).
206 entière» (GC, 144). Diese Unschuld und Reinheit behält sich Lily selbst bei, auch wenn die Zahl ihrer Liebhaber unermesslich ist. Sie sieht ihr Handeln im Geiste der Kultur («cela se situe toujours au niveau de l’esprit» [GC, 61]).100 Um die mythisch anmutende Umgebung, die hier von Zeit und Raum enthoben zu sein scheint, noch zu vervollkommnen, lässt Gary Lily durch Einhörner (GC, 216) begleiten, die die traditionellen Begleiter der Keuschheit und Jungfräulichkeit sind.101 Lily als «la princesse de légende» und «madone des fresques» wird den großen Frauen der Welt- und Literaturgeschichte gleichgesetzt. An dieser Stelle noch erreicht die Frau den Gipfel ihres Ruhmes: Sie wird zum Symbol der kulturellen Werte der westlichen Welt. «Mais vous savez que, pour moi, l’humanité est le grand personnage romanesque.»102 Gary betont vor allem den Klang ihrer Stimme, «ce n’est plus une voix, c’est du Mozart» (GC, 136) und erinnert somit an eine Sage der westlichen Kulturgeschichte: an die Lorelei, die von Gengis Cohn im Original nach Heine zitiert wird: «und ruhig fließt der Rhein. Die schönste Jungfrau sitzet, dort oben wunderbar» (GC, 10). Sowohl bei der Lorelei als auch bei Lily genügt ein Blick, um die Männer in den Abgrund zu stürzen. Ein weiterer Mythos wird verwendet, um die Gefährlichkeit von Lily zu unterstreichen, und auch hier spielt wieder der Blick eine Rolle. Rabbi Zur warnte den jungen Gengis Cohn, niemals in ihr Gesicht zu sehen, denn man verlöre sonst «la vue ou même la raison!» (GC, 134). Diese verbotene Anziehungskraft des Bösen und dessen Wirkung spielt auf das Haupt der Medusa an.103 Primo Levi zieht interessanterweise diesen Vergleich mit seinen Erfahrungen in Auschwitz: «Wer ihn [den tiefsten Punkt des Abgrunds, Anmerkung der Verf.] berührt, wer das Haupt der Medusa erblickt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden.»104
Durch ihre Präsenz über die Jahrhunderte hinweg steht Lily als Verbindungsglied zwischen Gegenwart und Vergangenheit: ––––––– 100
101 102 103
104
Zusätzlich fließt in die Konstellation des bürgerlichen Florians und seiner Geliebten von adeligem Rang Lily auch eine Allusion an Lady Chatterley ein (vgl. Wardi, 224). Wardi hält La Danse de Gengis Cohn für ein gelungenes Experiment, da es den Holocaust als absurde und außerhalb aller Normen stehende Realität deutlich machen kann und keine psychologische Wahrscheinlichkeit vortäuscht. Vgl. Kauffmann, La Danse de Romain Gary, 80. Jelenski, Romain Gary, 9. «Die Moral des Mythos ist natürlich, daß wir wirkliche Greuel nicht sehen und auch nicht sehen können, weil die Angst, die sie erregen, uns lähmt und blind macht; und daß wir nur dann erfahren werden, wie sie aussehen, wenn wir Bilder von ihnen betrachten, die ihre wahre Erscheinung reproduzieren» (Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Frankfurt a.M. 1964, 395). Levi, Die Untergegangenen, 85.
207 «Dans l’iconologie de la Renaissance, on représentait la mémoire comme une femme à deux visages, tourné l’un vers le passé, l’autre vers le présent; tenant dans une main un livre (où elle peut puiser ses informations), dans l’autre une plume (probablement, pour pouvoir écrire de nouveaux livres).»105
Lily wird von Gary jedoch nicht nur als Stellvertreterin der Kultur allgemein gesehen, sondern sie symbolisiert das Vorkriegs-Deutschland mit seiner Kultur, Philosophie, Musik und Kunst. «[...] c’est le mythe de l’Allemagne ‹femelle› vivant dans la nostalgie du grand mâle, du chef, du maître qui lui donnera enfin, en la violant sauvagement, l’ivresse de la vie et le sentiment de la plénitude.»106
Doch lässt sie ihre Liebhaber eiskalt erstechen, weint aber beim Lesen einiger Zeilen aus dem Werther. Hier wird nochmals verdeutlicht, dass ein kulturell reiches und gebildetes Land genauso unmenschlich sein kann wie weniger zivilisierte Völker, nur funktionieren die Verschleierungstaktiken besser. «Une culture qui masque, qui sert d’alibi et, en profondeur, une rage de vivre qui, sans cesse décue, se mue en plaisir de saccager, en goût du néant.»107 Gliedert man nun diese Teilaspekte der Figur und Allegorie der Lily in den Kontext des Romans ein, stellt Lily nicht nur die Menschheit oder die Kultur Deutschlands im Spiegel der Jahrhunderte dar, sondern steht auch konkret für die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse im dritten Reich.108 Durch den vorgegebenen Hintergrund (rätselhafte Morde in der Kleinstadt Licht) verkörpert Lily Massenmord und Vernichtung. Aufgrund der Anonymität ihrer Liebhaber, deren völliger Unschuld und des grauenhaften Ausmaßes von Lilys Tun impliziert Gary hier geschickt für den historisch aufgeklärten Leser eine Allusion oder Parallele zum wahnsinnigen Mord an zahllosen Juden in Deutschland während der Nazizeit. Die immer wieder betonte Schönheit Lilys und ihre Anziehungskraft könnten Metaphern für die gefährliche Anziehungskraft des Nationalsozialismus sein. Die völlige Unterwerfung der Männer, die rückhaltlose Ergebenheit (ein Bediensteter des Barons möchte lieber von ihr geliebt werden und sterben, als nicht ausgewählt zu werden: «Les malheureux? Quels malheureux? C’est le sort le plus beau, le plus digne d’envie! Je ... Je veux ses empreintes! Je les veux partout!» [GC, 98]) und die grandiose Begeisterung könnten weitere Anspielungen auf die ––––––– 105 106 107 108
Todorov, Mémoire du mal, 216f. Jean Onimus: «La Danse de Gengis Cohn.» La Table Ronde (Okt./Nov. 1967), 249–251, hier: 250. Onimus, Gengis Cohn, 250. «Être juif ou nègre ne suffit pas à vous protéger des Allemands, des nazis. Le nazisme n’était pas seulement politique: c’était quelque chose d’humain» (Jelenski, Romain Gary, 4).
208 Obrigkeitshörigkeit vieler Menschen im dritten Reich sein. Auch im Zusammenhang mit Lily gilt für viele der Männer, lieber zu sterben als nicht mit ihr in Kontakt gekommen zu sein. Der Wunsch nach sexueller Befriedigung kann als Streben nach Anerkennung und Macht sowohl auf Seiten Lilys, als auch von ihren Liebhabern interpretiert werden. Ganz explizit wird diese Verknüpfung von Sexualität und Macht durch die «Affäre» mit Hitler deutlich, wobei hier Gary einen satirischen Seitenhieb einbaut – Hitler sei, wie auch alle anderen Männer der Geschichte, nicht fähig Lily zu befriedigen, doch ihm sehe man dies bereits an: «Elle [Lily, Anmerkung der Verf.] est très généreuse, dit Florian. Parfois elle se donne sans même prendre le temps de regarder à qui elle a affaire. Hitler, par exemple. Franchement, je ne l’aurais pas cru capable de ca. Il n’y avait qu’à le regarder pour savoir que c’était un impuissant» (GC, 165 f.).
Ein Zentralthema des Romans, das Gary mit der Figur Lilys einführt, ist die Sexualität. Lily-Lilie-Lilith vereint den im christlichen Mittelalter begründeten Mythos der jungfräulichen und heiligen Madonna mit dem Gegenbild der Verführerin. Lily zeigt diese Dichotomie von Jungfrau und Hure. Romain Gary karikiert die Prüderie der Kirche sowie ihre Ablehnung des Körperlichen (vgl. GC, 211). «Elle renferme dans son caractère les exigences de la prima donna et la perfection du vierge. C’est une combinaison désastreuse pour le rêve de progrès.»109 In dem Moment, als Lily zur Hure wird, dient auch die Kunst nur noch zur Verschönerung oder Verschleierung ihrer wahren Natur (GC, 134). Mit Lily und Florian parodiert Gary die Sexualfeindlichkeit der christlich-abendländischen Gesellschaften. Indem Lily mehrfach als «prostituée» bezeichnet wird und sich bei der Wahl ihrer Liebhaber nicht einschränken lässt, wird sowohl Sexualität als auch Liebe zur Ware degradiert. Florian ist nicht im Stand, die Frau an seiner Seite zu befriedigen, doch mehr aus Gewohnheit denn aus Eifersucht bringt er ihre Liebhaber um.110 Schatz nennt sie eine «nymphomane qui ne parvient jamais à ses fins» (GC, 70), eine Verführerin, die Verführung ohne Befriedigung mit Vernichtung heimzahlt. Sie lässt Florian alle Männer töten, die es nicht vermögen, sie zufriedenzustellen. Die meisten Texte der Holocaust-Literatur bleiben ohne Erwähnung der Sexualität.111 Umso erstaunlicher ist es, dass Gary der Sexualität in ––––––– 109 110
111
Guy Robert Gallagher: L’univers imaginaire de Romain Gary. Québec 1978, 120. Gary greift das Thema der nicht erfüllten sexuellen Liebe in Au-delà de cette limite votre ticket n’est plus valable wieder auf, wobei hier die beiden Hauptpersonen sich von ihren Zwängen befreien und die Liebe zwischen ihnen beiden siegt. «In den Lagern, darin stimmen so gut wie alle Darstellungen Überlebender überein, gab es nur ein zentrales Verlangen, das nie befriedigt und daher stets wachgehalten wurde: das Verlangen nach Essen. Alle anderen Leidenschaften waren daneben zweitrangig und, so
209 seinem Roman einen so großen Raum gibt.112 Wie auch bei Il portiere di notte deutlich gezeigt werden kann, wäre eine Erklärung im Zusammenhang von Macht und Sexualität zu sehen. Saul Friedländer erklärt den «neuen Diskurs,»113 der Ende der 60er Jahre aufkam: «[...] unter den sichtbaren Themen entdeckt man den Auslöser eines Reizes, das Vorhandensein eines Verlangens und die Manöver eines Exorzismus.»114 Jede dieser drei Bedeutungsschichten ist von tiefen Widersprüchen durchzogen. Der ästhetische Reiz wird ausgelöst durch den Gegensatz zwischen Kitsch-Harmonie und permanenter Beschwörung der Themen Tod und Zerstörung; das Verlangen wird durch Erotisierung der Macht, der Gewalt und der Herrschaft geweckt. Hierbei stellt der Nazismus das Ausleben unterdrückter Affekte dar. Der Exorzismus verbirgt durch die Sprache die Realität des Verbrechens und verschleiert diese durch Erklärungen. Die Faszination am Nazismus (bzw. an Lily) liegt in «einer besonderen Art von Entmündigung, die sich sowohl am Verlangen nach restloser Unterwerfung als auch an dem nach totaler Entfesselung nährt.»115 Genau dieses Verhalten lässt sich bei Lilys Liebhabern erkennen. Abschließend zu diesem Kapitel soll das Verhältnis von Florian und Lily genauer beleuchtet werden. «Als ideale Form gesellschaftlichen Zusammenlebens wird das Paar, ‹le couple,› [bei Gary, Anmerkung der Verf.] empfunden und angestrebt.»116 Dieses ideale Paar wird satirisch karikiert, indem Gary mit Lily und Florian eine körperlich unerfüllbare Liebesbeziehung zeigt: eine Nymphomanin und einen Eunuchen.117 Gary thematisiert ein Tabuthema bzw. persifliert den Männlichkeits- und Manneskult, indem er Florian zum Eunuchen macht. Dieses Unvermögen ist einer der Punkte, warum Florian Lilys Liebhaber tötet. Gary legt einen kausalen Zusammenhang zwischen Triebunterdrückung, Krieg und Gewalt nahe. Diesen Zusammenhang thematisiert er immer wieder und führt als Beispiele die Massenvernichtung der Geschichte von den Kreuzzügen bis –––––––—
112
113 114 115 116 117
scheint es, bei den meisten nur latent vorhanden. Infolgedessen bleiben die meisten und gerade die authentischen Texte der Holocaust-Literatur ohne jede Erwähnung der Sexualität» (Rosenfeld, Schweigen, 162). Rosenfeld stellt sogar «die Entstehung einer Literatur über die Erotik von Auschwitz» fest. Rosenfeld, Schweigen, 162. Beispielsweise William Styrons Bestsellerroman Sophie‘s Choice. Saul Friedländer, Kitsch und Tod, 10. Ebd., 16. Ebd., 16. Gronewald, Die Weltsicht Romain Garys, 106. «Romain Gary nous prévient qu’il s’est inspiré pour son allégorie de deux études cliniques de Steckel, La Femme frigide et L’Homme impuissant, ‹couple parfait›» (Estang, Gengis Cohn, 121).
210 zum Vietnamkrieg an sowie die befürchtete Weltvernichtung durch die Atombombe. So produziert das Bestreben nach (männlicher) Perfektion angesichts der großen Forderungen der christlichen Ethik Leichen und Kunstwerke. Die Vollkommenheit von Lily ist solcher Art, dass sie «invite presque au crime passionnel» (GC, 152). Obwohl Lily wiederum als Sexobjekt dient, ist sie es jedoch, die die patriarchalischen Strukturen ablehnt und ihre Liebhaber auswählt und umbringen lässt. Als Eunuch bietet Florian den perfekten spirituellen Liebhaber, «[…] parce que j’ai ce qu’il faut, ou, si tu préfères, parce que je n’ai pas ce qu’ils ont. Ils sont pleins de ... réalité. Ils en débordent. Ils sont handicapés par leur ... hé-hum! par leur physique, voilà. La physiologie, les organes, c’est une vraie infirmité» (GC, 182).
Er gibt sich damit zufrieden, von Lily zu träumen und ihr zu helfen. «Comme ça, on échappe la médiocrité» (GC, 151). Lily bestätigt diese spirituelle Liebe: «Je me demande si ce n’est pas ça, le vrai, le très grand amour: deux êtres qui ne se rencontrent pas» (GC, 183). Und auch Gengis Cohn hält eine unerfüllte, spirituelle, aber auch nur imaginierte Liebe für die perfekte Form: «Je ne m’étais pas rendu compte que j’ai vécu un très grand amour, de mon vivant: je n’ai jamais rencontré la femme de ma vie» (GC, 183). Der Wechsel zwischen Keuschheit und sexueller Freigiebigkeit, der sich auch in einigen Unterhaltungen niederschlägt, mündet allmählich in eine Demaskierung dieser vielschichtigen Figur: In direktem Kontrast zur Gutgläubigkeit ihres Mannes,118 der als Gegenstück zu Lily angelegt ist und der sie als Opfer sieht, enthüllt sie ihr wahres Gesicht. Und auch die spirituelle Liebe Florians zu Lily nimmt Formen einer Zweckgemeinschaft an: Florian agiert im Folgenden in der Funktion des Zuhälters von Lily.
4.5
Die Figur des Überlebenden
Durch die Figur des Dibbuks erreicht Gary die Verschmelzung der Zeitund Erzählebenen: Der Dibbuk verbindet die Gegenwart (die Geschehnisse in der Stadt Licht 1967) mit der Vergangenheit (die gesamte Politik- und Kulturgeschichte der Menschheit mit besonderem Fokus auf Auschwitz) und kann somit als Zeitreisender beschrieben werden. Der Blick des ––––––– 118
Die Figur des Barons tritt in fast allen Werken Garys auf. Der Baron steht stellvertretend für die Liebe, «[er, Anmerkung der Verf.] steht für zwei Dinge: Zum einen taucht er überall dort auf, wo die Liebe fehlt oder verloren gegangen ist, zum anderen verkörpert er den Prototyp des Menschen, der ohne Liebe lebt und deshalb verkümmert ist. Damit wird der Baron [...] indirekt zu einer Art Kämpfer oder Verfechter der wahren Liebe» (Gronewald, Die Weltsicht Romain Garys, 193).
211 Dibbuks liegt auf den vergangenen Ereignissen ebenso wie auf der Gegenwart, die er allerdings nicht nur als reiner Erzählender erklärt, sondern diese aktiv metaleptisch mitgestaltet. Die gesamte Handlung wird aus der Perspektive dieses Toten vorgetragen – durch die Sicht des Dibbuk wird jedes Geschehen subjektiv eingefärbt und meistens kommentiert.119 Gary zeichnet den Dibbuk nicht als Halluzination oder Ergebnis der kranken Psyche von Schatz, sondern er gibt ihm die Rolle des Erzählers. Im folgenden soll auf die drei wichtigsten Facetten des Protagonisten in La Danse de Gengis Cohn eingegangen werden: als «élément psychanalytique» versucht er im Unterbewusstsein von Schatz die Aufarbeitung zu bewirken; mit der Figur des Gengis Cohn setzt Gary der jüdischen Kultur (insbesondere dem jüdischen Humor) ein überzeitliches literarisches Denkmal und schließlich wird mit Treffen und Fusion von Gengis Cohn und Jesus eine Gesamtschau und -kritik an der gesamten Menschheitsgeschichte in Raum und Zeit bewirkt. Mit dem «übermenschlichen» Wesen des Dibbuks erreicht Gary sowohl die Einbeziehung des individuellen Versuchs einer Bewältigung des Grauens, als auch die gesellschaftlich-kulturelle Verarbeitung. 4.5.1 Der Dibbuk als «élément psychanalytique» Der Dibbuk ist eine jüdische zeitgemäße Variante des «pícaro:» «Ce personnage est un homme en changement constant d’identité, en devenir.»120 Er kämpft gegen die «puissance,» d.h. gegen alles, was den Menschen zerstört. Gengis Cohn selbst gibt eine Definition seines Daseins und seiner Funktion: «C’est un mauvais esprit, un démon qui vous saisit, qui s’installe en vous et se met à régner en maître» (GC, 87). Mit der Wahl der Figur des Dibbuk gelingt Gary nicht nur eine erzähltechnische Besonderheit, sondern er zeigt hier eine außergewöhnliche Variante seiner Vorstellung davon, dass Erzählen immer auch eine Möglichkeit bietet, sich eine neue Identität anzueignen und sich von seiner Identität zu lösen.121 Das Verlassen der eigenen Identität geht einher mit der Identifizierung des Schriftstellers mit seiner Hauptfigur und mit der Multiplizierung bzw. Spaltung der Identitäten:122 ––––––– 119
120 121 122
«Paradoxalament Moshé Cohn, dit Gengis Cohn exterminé en 1944 est le seul personnage vivant du roman et, partant, le seul avec qui l’auteur et le lecteur peuvent s’identifier» (Charlotte Wardi, Le génocide, 221). Jelenski, Romain Gary, 3. Vgl. Gary, La nuit sera calme, 229. In dem bekannten Roman von Hilsenrath (Edgar Hilsenrath: Der Nazi und der Friseur. Köln 1977) findet man eine ähnliche Konstellation von Ex-Nazi und ermordetem Juden.
212 «Étant un peu cosaque et tartare, mâtiné de Juif, je me suis défini dans Pour Sganarelle comme une sorte de Gengis Cohn – et c’est le nom du personnage principal de mon prochain roman.»123
In La Danse de Gengis Cohn bewirkt der Dibbuk eine Spaltung der Identität in ein und derselben Person:124 sein ehemaliger Mörder Schatz vereinigt sowohl seine eigenen (alt-)nazistischen Ansichten, als auch (durch Gengis Cohn bewirkt, der sich ihm «anhaftet») das Ausagieren der jüdischen Kultur und jüdischer Sitten: «Dibbuk bedeutet wörtlich ‹das Anhaften,› nämlich der Seele eines Toten an einem lebenden Menschen; von hier aus bedeutet es in übertragenem Sinne den Geist des Toten selbst, der von einer anderen Person Besitz nimmt [...] Dieses Besitzergreifen vom Körper einer anderen Person wird durchweg als Strafe für geheime Sünden des Besessenen betrachtet.»125
Das Charakteristikum des Anhaftens126 hat Gary bereits in Pour Sganarelle als wirksames literarisches Mittel erwähnt: «La satire, pour qu’elle soit efficace, doit se passer à partir d’une adhésion, au sein de la famille.»127 Dieses Anhaften wird durch die Personenkonstellation Cohn und Schatz in der Symbiose von Opfer und Täter versinnbildlicht. Im «forêt de Geist» drang der Dibbuk in den Körper seines Mörders, des ehemaligen SSOffiziers und jetzigen Kommissars Schatz, ein. Die obszöne Geste der Revolte im Moment der Erschießung scheint den Dibbuk zu befähigen, sich für immer im Unterbewusstsein von Schatz einzunisten. Seit 20 Jahren nun hält der Dibbuk die begangenen Verbrechen in der Psyche von Schatz wach, lässt nicht zu, dass auch nur Teile der Erinnerung ins Vergessen geraten.
–––––––— 123
124
125 126 127
Jedoch übernimmt hier der Mörder gänzlich das Leben und die Identität des von ihm getöteten Opfers. Jelenski, Romain Gary, 4. Mit seiner Vorliebe für multiple Identitäten erreicht Gary einige Jahre nach dem Erscheinen des Frère Océan den Höhepunkt, als er selbst eine neue Identität annimmt. Seine Theorie der «identité multiple» hat er in seinen Emile AjarRomanen verwirklicht. Identitätswechsel, -verlust und -vervielfältigung sind auch zentrale Themen des Zyklus Frère Océan, wobei in La Tête Coupable Gengis Cohn seine Identität variiert und immer wieder neu erfindet. Jakob Klatzkin (Hg.): Encyclopaedia Judaica Bd. 5. Berlin 1930, 1099. «[...] dibbuk contient la racine hébraique D-B-K qui signifie voller [...]» (Kauffmann, La danse de Romain Gary, 76). Gary, Pour Sganarelle, 137.
213 «Gengis Cohn mène le jeu. Il ‹enjuive› le commissaire Schatz, commente ses gestes, relève ses propos, non sans s’interroger (le trait est important) sur une possible mutuelle, l’Allemand étant devenu son juif, à lui, Gengis Cohn.»128
Cohn und Schatz stehen sich in einer osmotischen Beziehung zueinander.129 Cohns Allgegenwart lässt Schatz zum Alkoholiker werden und bringt ihn beinahe an den Rand des Wahnsinns. Schatz muss sogar seine Partnerschaft aufgeben, da seine Frau eine «ménage à trois» nicht aushält.130 Ziel der Anwesenheit des Dibbuks ist es, Schatz zur Einsicht und zu einem Schuldeingeständnis zu bewegen: Auf die Behauptung von Schatz hin, dass er ein derartiges unerklärbares Töten noch nie gesehen habe, wird der Dibbuk wütend, er erlaubt Schatz nicht, seinen Verdrängungsmechanismus zu betätigen und ruft ihm Auschwitz und seinen Tod durch das Erschießungskommando ins Gedächtnis. Durch das Nachahmen von Schreien jüdischer Mütter, die ihre Kinder beschützen wollen, versucht er Schuldgefühle in Schatz zu provozieren, will erreichen, dass er sich seiner Vergangenheit stellt. Auch lässt er Schatz das jüdische Totengebet, «El molorakhmin» und dann «yiddishe mamma» singen. Cohn will die völlige Identifizierung von Schatz mit den Juden, er zwingt ihn, auf den Knien den Kaddish zu singen, das Gebet für die Toten.131 Doch Schatz antwortet anders als intendiert. Geradezu prototypisch für eine Schuldabwälzung gibt sich Schatz entrüstet über die Grausamkeit und die Unsensibilität von Cohn: «Un manque de tact! Car enfin, il y avait des mères et des enfants parmi ces malheureuses victimes d’Hitler ... Cet individu n’a pas de cœur» (GC, 27). Diese Reaktion zeigt, dass trotz der ausgebliebenen Reue und des fehlenden Bruchs im Denken und Fühlen der Täter Folgen im Unbewussten vorhanden sind. Mit dem Einsatz eines Juden als Gewissen könnte Gary auch auf einen Satz Hitlers anspielen,132 und diesen Ausspruch persiflieren. Ein Geständnis will der Dibbuk erzwingen, das Gewissen nicht zur Ruhe kommen lassen und ––––––– 128 129
130
131
132
Estang, Gengis Cohn, 18. Die Textpassagen, die die Gedankenwelt Cohns gegenüber der Schatzens abgrenzen sollen, sind voneinander abgehoben bzw. abgetrennt und werden somit ausdrücklich einander gegenübergestellt. «A l’époque, tout le monde avait jugé cette fille déséquilibrée, il y eut un divorce. Je me souviens que j’avais mis mon ami Schatz dans une colère noire en exprimant l’espoir que la garde du Juif allait lui être confiée par le tribunal et non à sa femme» (GC, 130). Schatz berichtet seinen Kollegen von den ungewöhnlichen Erziehungsmaßnahmen Cohns: «Il [Cohn, Anmerkung der Verf.] est venu me tirer par les pieds et il m’a forcé à m’agenouiller [...] et à réciter le kaddish, la prière pour les morts» (GC, 27). «‹Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Es ist wie die Beschneidung, eine Verstümmelung des menschlichen Wesens.› This ethical concept – disparagingly attributed by Hitler to the discovery of Judaism – is grotesquely manifested in the Cohn-Schatz relationship. Indeed, Cohn’s tireless endeavour to redeem Schatz from his moral depravity seems to run in the tradition of his forefathers» (Pfefferkorn, Art of Survival, 82).
214 verhindern, dass verdrängt wird; er nistet sich ein, nicht nur bei Schatz, sondern allseits, denn überall herrscht das Bedürfnis zu vergessen: «Nous en avons assez d’être obligés de vivre avec des fantômes! [...] L’humanité vous a assez vus. Elle veut du neuf. Vos étoiles jaunes, vos fours, vos chambres à gaz, on ne veut plus en entendre parler» (GC, 81) [protestiert Schatz, und Gengis klagt, Anmerkung der Verf.] «je ne suis pas d’actualité, le public est saturé, il m’a assez vu, on lui a assez cassé les oreilles avec ces histoires et il ne veut plus en entendre parler. Les jeunes, surtout, se fichent de moi comme de l’an 40» (GC, 11).
Der Dibbuk nennt sich selbst «élément psychanalytique» (GC, 148) in einem «subconscient de merde» (GC, 149). Cohn verhindert jeglichen Versuch des Exorzismus,133 der Austreibung oder Unterdrückung: Er gräbt sich immer tiefer ein, führt Tänze, insbesondere die jüdische Horà, auf, die er zu einem «danse de scalp asiatique, barbare et vengeresse» (GC, 99) im kollektiven Unbewussten gestaltet. Dank des Dibbuks ist die Realität des Genozids, die Aufarbeitung der Erinnerung und besonders das Gedenken an die jüdische Kultur («[...] ce sont des millions de victimes qui parlent par la voix de ce dibbouk»134) allgegenwärtig im Roman.135 Gary nähert sich der Erfahrung des Grauens durch einen «toten» Überlebenden und setzt somit die Erkennnis literarisch um, wonach die Konzentrationslager und was in ihnen geschah nur in «images drawn from a life after death»136 gezeichnet werden können. 4.5.2 Der Dibbuk als Stellvertreter für das Judentum 4.5.2.1 Jüdische Kultur Garys Werk zeugt von einer permanenten Auseinandersetzung mit dem Judentum. Mit der Darstellung von Gengis Cohn verbindet Gary jüdische Musik,137 Kultur und Humor. Die zentrale Aufgabe dieser Beschreibungen ist es, an eine Kultur und einen Glauben zu erinnern, der weit gehend in
––––––– 133
134 135
136 137
Die Idee Garys vom Exorzieren des Dibbuks ist nicht rein fiktiv. Die Encyclopaedia Judaica beschreibt verschiedene, tatsächlich realisierte Arten des Exorzismus (vgl. Klatzkin, Encyclopaedia Judaica, 1099). Rosenman, Des cerfs-volants, 43. «A la légende du Juif errant, j’ai donné un prolongement inattendu: celui du Juif immanent, omniprésent, latent, assimilé, mélangé à chaque atome d’air et de terre allemands» (GC, 12). Arendt, Tradition, 749. Judentum und Kultur sind für Gary untrennbar miteinander verbunden. So beschreibt auch Gengis Cohn seinen Auftritt im Kabarett «en dansant sur un petit air de violon juif» (GC, 19).
215 Europa zerstört worden ist.138 Dieses Erinnern wird in der Figur des Dibbuk besonders deutlich gemacht, dessen Existenz von der Erinnerung und der Angst vor Wiederholung der Ereignisse geprägt ist. Den Holocaust versteht Gary als politische Parabel, die Geschehnisse, die er in seinem Roman beschreibt, haben für jede Epoche Gültigkeit. Gengis Cohn steht stellvertretend für eine lange Leidensgeschichte des jüdischen Volkes und universeller gesehen für alle unterdrückten Minderheiten. «Il fait parler et parfois même ‹il parle› des personnages juifs mais sans jamais assumer un ‹je› qui les représente.»139 Garys detaillierte Darstellung der jüdischen Sitten und Rituale, die immer wieder gezielt eingesetzten Rückblicke auf ihr Schicksal (Ermordung von Gengis Cohn) sowie die allegorische Darstellung des Holocaust durch die Massenmorde in Licht zeigen das große Interesse Garys, dieser Kultur zu gedenken, das Erinnern an sie aufrecht zu erhalten und die Sinnlosigkeit der Massenvernichtung aufzuzeigen. «Er repräsentiert jüdische Kunst, die im Gegensatz zur deutschen eine Kunst der Karikatur ist. Dieses kunsttheoretische Stereotyp legitimiert den satirischen Roman Garys, bildet die ikonische Folie, von der aus er seinen Sinn erhält.»140
4.5.2.2 Jüdischer Humor «C’est la première fois qu’un roman de l’Holocauste se détache avec tant de netteté sur un arrière-plan d’humour [...] Mais on voit tout de suite qu’il s’agit bien de cet humour juif né d’un excès d’amertume et de désespoir.»141
Generell ist Humor direkter Ausdruck einer bestimmten Einstellung dem Leben gegenüber. Eine Form des Humors ist der jüdische Humor,142 der einige Überschneidungen mit dem schwarzen Humor, der gerade seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vermehrt eingesetzt wurde, aufweist. Dem schwarzen und dem jüdischen Humor ist gemein, dass es sich jeweils um ein besonderes Betrachtungs- und Erklärungsmodell in Hinsicht auf das ––––––– 138
139 140 141 142
«Mission de témoignage, devoir de mémoire, rapport qui s’inscrit dans la dette et une culpabilité diffuse, autant de caractéristique liées à la psychologie garienne et à son rapport à la mère, mais aussi sentiments liés chez de nombreux auteurs juifs au souvenir de la Shoa et à la difficulté pour un artiste d’en porter témoignage» (Rosenman, Des cerfs-volants, 41). Rosenman, Des cerfs-volants, 33. Ibsch, Die Shoah erzählt, 90f. Sungolowsky, La judéité, 902. «Die spezifische Qualität des jüdischen Humors liegt also weder in seinen Themen noch in der Ausdrucksform. Vielmehr ist sie in einer besonderen Sensibilität zu suchen, einer Perspektive, einem Tonfall. [...] es handelt sich um einen scharfen, schneidenden Ton. Er ist stark intellektuell, [...] hat auch eine surreale Dimension» (Berger, Erlösendes Lachen, 106).
216 Sein selbst handelt.143 Mit dem Einsatz des jüdischen Humors vereinigt Gary verschiedene Belange: Zum einen dient ihm der jüdische Humor als weiteres Element, um ein umfassendes Bild des Judentums zu geben, zum anderen ist gerade der jüdische Humor geeignet, Lachen und Grauen auf besondere Art zu verbinden: «Je me suis toujours demandé ce que c’est au juste, l’humour juif. Qu’est-ce que vous croyez? C’est une façon de gueuler» (GC, 166). Als Definitionsmöglichkeit für den jüdischen Humor bietet sich an, ihn als Versuch anzusehen, seine eigene Identität trotz menschenunwürdiger Situationen zu bewahren und Grauenhaftes zu überstehen.144 Das Lachen ist ein Versuch zu überleben, obwohl eigentlich keine Chance mehr dazu besteht; es ist ein (oder der einzige) Hoffnungsträger in einer aussichtslosen Situation. Der jüdische Humor ergibt sich aus der speziellen historischen Situation des Judentums.145 Besonders ein Thema ist vorrangig: das Leiden.146 Die zentrale Figur des Leidens ist der «shlemiel.»147 Der Schlemihl ist nicht nur jemand mit einem ausgesprochenen Hang zum Pech, sondern verkörpert in sympathischer Gestalt, wie durch den jüdischen Humor das Leiden bewältigt werden kann und somit Distanz zu seiner eigenen Situation gewonnen wird. Es findet durch die Gestalt des Schlemihl eine Relativierung des Leidens statt, ein Weg zur Selbstbehauptung und hiermit einhergehend die Erkenntnis, dass ––––––– 143
144
145
146
147
Die Aufgabe des Schwarzen Humors ist es, durch Moral, Ideen, Ideale und Werte das Wirkliche und Wichtige wieder sichtbar zu machen. Es wird bewusst eine Vorstellung gebildet, die Denk- und Verhaltensweisen, die gegen die allgemeine Norm laufen, akzeptiert. Das Werk mag bizarr und skurril erscheinen, ist aber an die erfahrbare und intelligible Welt geknüpft. «So gibt es in Werken Schwarzen Humors keine unvereinbaren Elemente, die aus einer jenseitigen Traumwelt in die als real empfundene einbrechen und diese dann dem Leser entfremden» (Hellenthal, Schwarzer Humor, 47). «Diesen Humor kennzeichnet nach Ansicht Garys, dass er auch dort zu finden ist, wo man ihn eigentlich nicht mehr erwarten kann. Das jüdische Lachen ist daher kein herzliches, sondern ein bitteres, hasserfülltes und schmerzvolles Lachen» (Gronewald, Die Weltsicht Romain Garys, 212). «Schon früh stellte sich auf Grund von Verfolgungen und Ghettoisierungen, denen die Juden ausgesetzt waren, die Notwendigkeit eines zumindest inneren Widerstandes ein, welcher sich vor allem durch hartnäckiges Festhalten an traditionellen Bildungsgütern äußerte» (Hellenthal, Schwarzer Humor, 37). Berger spricht von einer «Ambivalenz des Zugehörigen und Außenseiters,» von der «gesellschaftlichen Rolle des Fremden,» einer typischen intellektuellen Tradition des Judentums und einer ganz eigenen Auffassung der Beziehung zwischen Gott und Mensch, die als Grundlage für die Herausbildung des jüdischen Humors, des Galgenhumors und des schwarzen Humors mitverantwortlich ist (vgl. Berger, Erlösendes Lachen, 107ff). Ein weiterer Punkt ist der Sprachenreichtum: «The richness of language is probably one of the main reasons for the development of Jewih humor» (Avner Ziv: National Styles of Humor. Connecticut 1988, 114). Vgl. Hellenthal, Schwarzer Humor, 36.
217 auch die schrecklichste und bedauernswerteste Lage durch Humor bewältigt werden kann.148 Die Selbstironie, die dem jüdischen Humor eigen ist, hilft dabei, die Realität anzuerkennen. Die Rolle des Schlemihls übernimmt Gengis Cohn, der das gesamte Geschehen aus seiner Sicht erzählt. Die Geschichte der Juden, geprägt vor allem durch die Kreuzzüge bis zu Auschwitz, resümiert er lakonisch-spottend: «La Mort et son Juif, quel duo, quel régal pour les salles populaires!» (GC, 167). 4.5.2.3 Der Dibbuk als Kabarettist Durch die Entscheidung, seiner omnipräsenten Hauptfigur einen kabarettistischen Hintergrund zu geben, entgeht Gary der Gefahr des Pathos und der Sentimentalität. Gengis Cohn stellt sich bereits auf den ersten Seiten als Kabarettist vor: «Je suis un comique juif et j’étais très connu jadis, dans les cabarets yiddish: d’abord au Schwarze Schickse de Berlin ensuite au Motke Ganeff de Varsovie, et enfin à Auschwitz» (GC, 9).
Diese Aufzählung zeichnet nicht nur seinen Lebensweg nach, sondern zeigt zugleich die Lebenseinstellung von Gengis Cohn und dessen Humor: Das Leben selbst ist für ihn zum Kabarett geworden, allerdings zum grotesken Kabarett, das schließlich in Auschwitz sein Ende fand. Wenn er von den Begegnungen und Begebenheiten in Auschwitz erzählt, sind diese meistens von unsäglicher Tragik, die mit Gengis Cohns schwarzem Humor verbunden sind. Der Tod in Auschwitz selbst wird nicht thematisiert, aber indem eine Begebenheit herausgegriffen wird (der Kabarettist hat seinen Beruf so gut ausgeführt, dass sich ein Mithäftling zu Tode gelacht hat: «Un jour, à Auschwitz, j’ai raconté une histoire tellement drôle à un autre détenu qu’il est mort de rire» [GC, 9]) und durch einen Kommentar von Cohn bewertet wird («C’était sans doute le seul Juif mort de rire à Auschwitz» [GC, 10]), spielt Gary mit dem Hintergrundwissen des Lesers, der um den Massenmord an den Juden weiß. Gerade hieraus resultiert zum einen der Witz, zum anderen aber auch die Beklemmung, die Gary hier hervorzurufen versteht. Der jüdische Humor zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er sich gegen sich selbst wendet oder gegen das Schicksal des jüdischen Volkes, ––––––– 148
Beispielsweise verknüpft er die Gräueltaten der Deutschen mit einem Stereotyp (akkurates Auftreten und Reinlichkeit), und versinnbildlicht somit ironisch überhöhend die unglaubliche Grausamkeit: «On les avait tous foutus à poil, hommes, femmes et enfants avant de tirer. Ce n’était pas de la cruauté: les Allemands manquaient de tout, à la fin de la guerre, et ils voulaient récupérer les vêtements intacts, sans trous» (GC, 39).
218 eine Art von «auto-ironie.»149 Als Gengis Cohn sein Aussehen beschreibt («le vrai nez juif,» «les vraies oreilles juives» [GC, 76]), entspricht dies nicht dem Äußeren von Moiché Cohn, sondern auch diese Beschreibung ist eine satirische Überhöhung: Zum einen sah Gengis Cohn in seiner berühmtesten Kabarettnummer so aus, als «Judas-traître» (GC, 232), zum anderen entspricht dieses Bild genau dem antisemitischen stereotypen Bild des Juden. «Il [der Komiker, Anmerkung der Verf.] reprend à son compte les accusations de cupidité, de haine et de pollution, physique ou morale, composantes traditionnelles de la figure mythique.»150 Cohn manifestiert in den Passionsspielen von Oberammergau die Verschmelzung des Bildes des Juden mit Jesus: «[...] la Passion dans le village d’Oberammergau [...] où la puissance et le souffle retrouvés accomplissent un vrai miracle, une vraie Résurrection: pas encore celle du Christ, il est vrai, mais déjà celle du youtre maudit qui renaît de ses cendres allemandes, se lève du four crématoire, et conduit à la chambre à gaz Notre-Seigneur Jésus» (GC, 76).
Cohns Vorwurf an die Inszenierung (und somit an die gesamte Aufarbeitung der Deutschen) besteht darin, in ihrem Willen, sich jeglicher Schuld durch großes Verständnis zu entledigen, wieder antisemitisch zu sein: Ein Jude wird wieder mit den gleichen antisemitischen Attributen dargestellt, «s’il y a encore un peu d’antisémitisme dans le monde, c’est uniquement par amour du sacré» (GC, 76). Zugleich verbindet Cohn mit der Anklage eine Eigensatire,151 in der er die Vorurteile, mit denen das jüdische Volk von jeher konfrontiert worden ist, übernimmt; beispielsweise den Vorwurf der Geschäftstüchtigkeit («N’est-ce pas? lui dis-je. Au fonds, ils auraient dû bâtir une Bourse ou une banque sur les ruines d’Auschwitz. Ça nous aurait ressuscités» [GC, 184]). Das Bild des Sündenbocks152 wird mehrfach von Gengis Cohn zitiert und auf sich selbst projiziert.153 Indem Gary nur Gengis Cohn die Vorstellung vom Sündenbock auf sich anwenden lässt und nicht Schatz, ––––––– 149 150 151
152 153
Vgl. Lévy, Écritures de l’identité, 175. Kauffmann, La danse de Romain Gary, 86. Die Herausgeber einer Anthologie jüdischen Humors beschreiben die Gegenstände dieses Humors wie folgt: «Essen (das Futter ist sakrosankt), Familie, Geschäft, Antisemitismus, Reichtum und sein Fehlen, Gesundheit und Überleben» (zitiert nach Berger, Erlösendes Lachen, 105). Vgl. René Girard: Ausstoßung und Verfolgung: eine historische Theorie des Sündenbocks. Frankfurt a.M. 1992, 23f. (Orig.: Le bouc émissaire. Paris 1982). «J’étais le bouc, je sentais mauvais, je n’avais pas de cœur, pas d’âme, j’étais une espèce inférieure, et brusquement, je renoncerais à mes privilèges, et j’accepterais d’être des leurs, uniquement parce qu’ils ont trouvé un autre bouc, noir ou jaune, et qu’ils décident de me compromettre, moi aussi, de m’admettre dans leur tapisserie historique, dans leur chevalerie?» (GC, 252).
219 lässt er den Dibbuk damit selbstironisch das Bild, wie es der christlichabendländische antisemitische Mythos geprägt hat, übernehmen. Mit dieser Konkretisierung eines Bildes erinnert Gary an den Sündenbock als interkulturell definiertes anthropologisches Symbol, das seine Performanz in Ritualen oder der Ritualfiktion findet. In La Danse de Gengis Cohn wird der Sündenbock nicht nur mit Sorgen beladen, er wird sogar von der Menschheit beinahe zu Tode geritten, («Fini le bouc. La culture a toujours le dernier mot» [GC, 245]). Cohn ist sich durchaus der Rolle in der Geschichte bewusst, die er zwar nicht ausgewählt hat, sie jedoch zu akzeptieren gelernt hat: «Nous avons fait un parce de sang et pendant des siècles je me suis saigné aux quatre veines pour le respecter» (GC, 252). Sein Name beinhaltet eine Wortspielerei, die nicht nur im Zusammenhang mit seinem facettenreichen Wesen steht, sondern auch auf seinen Beruf des Kabarettisten hinweist: Gengis (Khan) ist der Prototyp des blutigen Angreifers, Cohn die Inkarnation des Jahrtausende alten Sündenbocks. Des Weiteren scheint der Nachname Cohn ein weit verbreiteter jüdischer Nachname zu sein.154 Diese Synthese bietet eine spannungsgeladene Ausgangssituation, die sich bereits auf den ersten Seiten zeigt: Er revoltiert, im Rahmen der Möglichkeiten, im Augenblick seiner Hinrichtung, mit einer obszönen Geste («vieux geste insultant connu du monde entier» [GC, 25]) und als Steigerung mit dem Entblößen seines Gesäßes. Dieser Widerstand im Moment der völligen Ohnmacht zeigt eine Seite des jüdischen Humors, dieser «espèce d’agression à main désarmée» (GC, 199).155 Gengis Cohns schwarzer Humor weist aber auch Parallelen zum Galgenhumor156 der «lagerszpracha» der Häftlinge auf. Ein Humor, der sich in der Sprache manifestiert, «dass ––––––– 154 155
156
Klatzkin, Encyclopaedia Judaica, 624f. «Entscheidend also ist, dass die Wirklichkeit – ihre Traurigkeit, ihr Ernst – in der Kunst Moment ist, und dass man sieht: Die Heiterkeit der Kunst ist gar nicht das Gegenteil des Ernstes, sondern eine bestimmte Weise, mit dem Ernst zu leben, nämlich so, dass er zum Moment eingearbeitet, d.h. heruntergespielt wird. [...] Zum Moment herunterspielen kann die Kunst den Ernst der Wirklichkeit deswegen, weil sie sich mit dem verbündet, was ihn an Ernst überbietet: dem eigenen Tod» (Odo Marquard: «Exile der Heiterkeit.» In: Wolfgang Preisendanz / Rainer Warning: Das Komische. Poetik und Hermeneutik. München 1976, 133–151, hier: 135f.). Hier könnte man zusätzlich zum jüdischen Humor eine Form des Galgenhumors, wie er nach Hellenthal definiert wird, erkennen: «Jener wird, wie schon das Wort ‹Galgen› im Kompositum andeutet, im Zusammenhang mit Situationen gebraucht, in welchen eine Figur dem Tode ins Auge zu blicken hat. In ihrer Reaktion auf die tödliche Situation erkennt sie zwar das drohende Schicksal als nicht mehr abwendbar an, erhält sich aber ihre Würde, indem sie den Tod in seiner Finalität ignoriert.» (vgl. Hellenthal, 38ff.). Die Bedeutung des Todes wird übersehen bzw. bewusst heruntergespielt, was wiederum die Öffentlichkeit lächerlich macht. Der Individualist verhöhnt die stärkere Masse.
220 von dieser Sprache Impulse ausgingen, die die physische Widerstandsfähigkeit und damit den Willen zum Überleben stärkte.»157 Diese Art der Lagersprache entwickelte sich vornehmlich dort, wo sie eine Ironie annehmen konnte, die dem Sprecher eine gewisse Distanz verschaffte und ihm das Gefühl einer verbalen Revanche oder Gegenwehr gegen das System gab.158 Aus Moiché Cohn wurde der Komiker Gengis Cohn, noch bevor die Schrecken der Naziherrschaft angefangen hatten. Der Beruf des Komikers, der sich durch Sprachwitz, Gestik und Gesellschaftskritik auszeichnet, wurde wahrscheinlich deshalb von Romain Gary gewählt, weil die Sprache und die Gedanken das einzig freie waren, was jüdischen Gefangenen blieb. Der Gebrauch umgangssprachlicher Ausdrücke und Kalauer lassen sich ebenfalls auf seinen Beruf als Kabarettist zurückführen, wie beispielsweise «Hauptjudenfresser» (GC, 10) oder «Gott in Himmler» (GC, 26). Den Unterdrückten und Schwachen bleibt Ironie und schwarzer Humor als Rebellion und Ausdrucksform. Sie kennzeichnen nach Pfefferkorn das «Jewish ethos.»159 In dem fiktiven Interview La nuit sera calme nennt Gary ein Charakteristikum des schwarzen Humor, das er in La Danse de Gengis Cohn verwendet hat: «La réponse de Gengis Cohn à l’horreur, c’est le rire entre les dents [...] C’est la danse, cette gigue populaire, c’est la seule façon d’accéder à la légèreté et de supporter des poids écrasants [...] quand Rabelais dit le rire c’est le propre de l’homme, il parle de souffrance.»160
Nicht nur verbal zeigt Cohn seine Zugehörigkeit zum Judentum und seine satirische Rebellion gegen die Geschichte. Wie schon auch im Augenblick des Todes von Gengis Cohn eine Geste entscheidend war, so bedient er sich als Zeichen seines Widerstandes wieder einer gestischen Untermauerung seines Andersseins und betont hiermit nachhaltig seine jüdische Zugehörigkeit: Er tanzt den alten jüdischen Volkstanz, die Horà. «Gengis, avec sa horà, a allègrement scalpé les figures mythiques qui ont mené l’Occident, en valsant, jusqu’à la Catastrophe.»161 Als «parasite psychique» (GC, 126) und «élément psychanalytique» (GC, 148) will Schatz sich von ihm exorzieren lassen, doch der Dibbuk wehrt sich mit der Kraft der Horà. ––––––– 157 158
159 160 161
Oschlies, Lagerszpracha, 107. «Wo die Lagerszpracha das Lebensgefühl der Häftlinge verbalisierte, wurde sie zum eigentlichen Lagerjargon, d.h. zu einer durch Sinn- und Satzveränderungen spontan entstandenen Sprechweise, in der sich aktuelle Bedürfnisse, Solidarisierungen und Abwehrhaltungen der Gruppe ausdrückten» (Oschlies, Lagerszpracha, 105). Pfefferkorn, Art of Survival, 80. Gary, La nuit sera calme, 67. Kauffmann, La danse de Romain Gary, 91.
221 Sein Tanz ist zugleich eine visuelle Behauptung seiner Identität, die man ihm rauben möchte. «J’ai bougé encore plus fort, j’ai rué, je me suis accroché, je me suis huissé plus haut. [...] je me suis mis à danser comme un enragé, dans cette conscience allemande où j’étais tombé, la horà du souvenir, notre vieille horà» (GC, 126).
Ein weiteres Beispiel für die Einsetzung des Tanzes als Mittel der Gegenwehr zeigt sich, als Cohn sich gegen die Behauptung Schatzens auflehnt, er habe noch nie ein solches Grauen (Massenmord) gesehen. Um sich der Vereinnahmung durch die Menschheit und den Tod zu wehren, greift Cohn ebenfalls auf die Horà zurück. Dieser Akt der Revolte wird nochmals satirisch überhöht, als er versucht, mit Lily auf den Walzer «An der schönen blauen Donau» zu tanzen. Schon allein die musikalische Auswahl zeugt von purer Ironie: Dieser Inbegriff des imperialistischen Wiens wird als Hintergrundmusik gewählt, um einen im KZ getöteten Juden und die in weiblicher Gestalt dargestellte mordende Menschheit zu begleiten. Darüber hinaus muss der Tanz nach kurzer Zeit abgebrochen werden. Zunächst ist der Tanz berauschend, die Musik erfüllend, die Schönheit Lilys umwerfend, wie auch ihr Parfüm. Und hier setzt Gary abermals ein wirkungsvolles Mittel ein, mit dem er nicht nur seine Hauptperson, sondern auch den Leser schockiert: Er reißt beide aus einer idyllischen Situation, um ohne Umschweife genau den Gegensatz zu beschreiben: Das Parfüm nimmt auf einmal eine seltsame Duftrichtung an: Gas. «Ce n’est rien, dit Lily, c’est Le Beau Danube bleu, il vous monte à la tête ... - Mais non, c’est d’elle que ça vient, c’est son parfum. Je le reconnais. - Le gaz ... je murmure. Excusez-moi, mais vous sentez le gaz!» (GC, 195).
Die Idylle ist zerstört, das Erinnern schmerzhaft eingeleitet. Wieder einmal verbindet Gengis Cohn verschiedene Welten.162 Die Antwort auf den Schock ist die Horà, die sich seiner bemächtigt, ohne dass er sie kontrollieren kann. Diese Reaktion zeugt von seiner Spontaneität und seinem Zugehörigkeitsgefühl zum Judentum und ist als Abwehr gegen das Leiden zu sehen. Aber diese für Gengis Cohns Humor so typische Umkehrung in den Tanz der Horà steigert sich zu einem aggressiven Gewalttanz; seine Stiefel «tapent dur» (GC, 148), er tanzt nicht nur, er «piétine» (GC, 148). Er gesteht in selbstironischer und -reflexiver Weise: «Une danse pareille, je ne souhaite pas ça à mes meilleurs amis» (GC, 126). Der Tanz ––––––– 162
«La rencontre de la civilisation occidentale – la valse, cette quintessence de l’Europe aristocratique au mieux de son éclat – et du ‹parfum› des chambres de la mort fait de Gengis Cohn, une fois de plus, le lieu de jonction des contraires» (Kauffmann, La danse de Romain Gary, 73).
222 ist in seiner Wildheit ein Zeichen für die Omnipräsenz von Cohn im Bewusstsein und Unterbewusstsein der Menschen.163 4.5.3 Der Dibbuk in der Person Jesu Der Kunstgriff Garys, eine Begegnung bzw. eine Assimilation von Jesus und Gengis Cohn darzustellen, bietet ihm zum einen die Möglichkeit, das Leiden der Opfer zu versinnbildlichen: In der Holocaust-Literatur wird das Leiden der Opfer häufig mit dem Leiden Christi in Verbindung gebracht.164 Zum anderen wird durch das Zusammentreffen der beiden Figuren in verstärktem Maß das Zeit-Raum-Kontinuum im «forêt de Geist» aufgehoben, um Menschheits- und Kulturkritik zu üben. La Danse de Gengis Cohn ist eine Parodie auf die Dogmen der Kirche und auf ihre unzeitgemäße Art der Glaubensvermittlung, wohingegen Gary Jesus als positiv wertet.165 «En ce qui concerne la religion, je suis catholique non croyant. Mais il est tout à fait exact que j’ai toujours eu un grand faible pour Jésus.»166 Für Gary definiert sich Gott vor allem durch seine NichtAnwesenheit, die bewirkt, dass er keinen Einfluss auf das Weltgeschehen hat.167 Gott wird auf die Rolle beschränkt, den Menschen nach ihrem Tod Glück zu verschaffen.168 Ganz deutlich wird die Abwesenheit bzw. der Rückzug der himmlischen Kräfte durch die Flucht Jesu nach Tahiti (vgl. GC, 239). Auch durch die starke Rolle Lilys wendet sich Gary gegen das ––––––– 163 164
165
166 167
168
Vgl. Kauffmann, La danse de Romain Gary, 74. Vgl. hier auch die Überlebende Klara bei Aaron: «Même si je suis revenue avec des sortes de bâtons en place des bras et des jambes ... avoir vu son squelette ... ce tour de force ... ressusciter en trois mois, c’est plus fort que leur Christ en trois jours. Mais est-ce qu’on ressuscite ... le corps oui, celui-là se débrouille, mais le reste ...» (Klara, 32). Dem Christentum gesteht er positive Werte zu «[...] la féminité, la pitié, la douceur, le pardon, la tolérance, la maternité, le respect des faibles» (Gary, La nuit sera calme, 163), während er sich solidarisch gegenüber dem Judentum zeigt: «Je suis un minoritaire-né» (Gary, La nuit sera calme, 168). Gary, La nuit sera calme, 227. Gary sieht Gott als Beobachter, zwar existent, jedoch für die Menschen völlig funktionslos, da er niemals interveniert. Schuld an Gottes Zurückhaltung ist für Gary die Kirche, die durch das Festhalten an längst überkommenen Regeln, Prüderie und Seelenlosigkeit eine Atmosphäre auf Erden geschaffen hat, die Gott seiner Macht beraubt hat. «[...] il n’est pas concevable que Dieu refuse de faire le bonheur de l’humanité, une fois qu’on les met enfin tous les deux en présence dans des conditions favorables. Au fond, jusqu’à présent, il a dû être gêné par l’Eglise» (GC, 211). «On conçoit alors que lorsqu’il s’agit de faire le bonheur physique et terrestre de l’humanité, et non simplement son bonheur posthume, Dieu ait fini par éprouver de sérieuses difficultés et des scrupules, qu’Il soit devenu prisonnier de nos préjugés et de notre culte de la douleur, qu’Il soit ainsi complètement inhibé et n’ose plus se manifester dans toute Sa Puissance» (GC, 212).
223 Bild der Frau, wie es die Kirche nach seiner Ansicht entwirft169 und stellt sich mit der ausführlichen Beschreibung der sexuellen Tätigkeiten gegen die Kirche und ihre frauen- und sexualfeindlichen Ansichten. Gary ist überzeugt, dass die Kirche nicht nach der Lehre Jesu handelt, sondern ihrer eigenen Interpretation folgt.170 Gary setzt Jesus und Cohn in Verbindung zueinander,171 indem er die Passion Christi mit der Marter Cohns gleichsetzt. Mit der Parodie auf die Dogmen und Institutionen des Christentums geht die Stilisierung Jesu zum Symbol jüdischen Leidens einher, «the emergence of Jesus as an emblem of Jewish catastrophe.»172 Auch versuchen Cohn und Jesus für ihr Volk als Sprachrohr zu dienen. Cohns Seelenverwandschaft – ein wiederkehrendes Motiv im Handlungsverlauf – findet ihren Ursprung in einem ähnlichen biographischen Hintergrund: gleiches Alter bei der Hinrichtung, gemeinsamer religiöser und ethnischer Ursprung, beide sind von den Toten auferstanden (natürlich jeder unter anderen Umständen), um die Moral in der Menschheit wieder herzustellen. Beide versuchen, die Menschen zur Einsicht und Umkehr zu bewegen. Die Verbindung zwischen beiden wird Cohn jedoch erst bei ihrem Treffen im «forêt de Geist» bewusst. Der Dibbuk Cohn begegnet Jesus bei dessen zweiten Erscheinen auf der Erde. Zunächst wird Jesu jüdischer Ursprung betont («C’était un vrai Juif. Il rêvait de créer le monde, lui aussi» [GC, 237f.]), jedoch beschreibt Gary auf sehr ungewöhnliche Weise das erste Bild von Jesus: nichts Himmlisch-Göttliches hat die ausgemergelte, blutende, beinahe nackte Gestalt an sich – es wird klar, dieser Jesus ist der Geschundene, der von den Menschen ans Kreuz geschlagen wurde.173 Cohn wird Zeuge von Jesu Entrüstung: Christus-Darstellungen dienten als ––––––– 169
170
171
172 173
«[...] aidés par l’Eglise et la morale, on a fait régner encore plus la convention selon laquelle une femme, c’est seulement pour le repos du guerrier» (Gary, La nuit sera calme, 250). «Telles sont les valeurs ‹féminines:› douceur, tendresse, compassion, non-violence, respect pour la faiblesse. [...] Ces valeurs ont également été assumées par le christianisme – ou plutôt elles ont été attachées à l’image d’un homme, Jésus-Christ - , et c’est pourquoi Gary chérit ce personnage, alors même qu’il est résolument agnostique. Jésus n’est pas Dieu, il n’est qu’un homme, mais il est la première et la plus haute incarnation de ces valeurs. [...] Le christianisme, c’est la féminité, la pitié, la douceur, le pardon, la tolérance, la maternité, le respect des faibles, Jésus la faiblesse» (Todorov, Mémoire du mal, 243). Huston geht davon aus, dass der Vergleich von Schatz als Judas nahe liegt, wenn man Gengis Cohn als Reinkarnation von Jesus ansehen darf: «[...] alors que Schatz, caricature moderne de Pone Pilate, se lave les mains sans arrêt» (Huston, Tombeau, 67). David G. Roskies: Against the Apocalypse. Responses to Catastrophe in Modern Jewish Culture. Boston 1984, 262. Der Körper als Emblem der Zerstörung sowie als Sinnbild für Geschichte und Geschehen wird in der Figur Jesu besonders signifikant (vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 21).
224 Steckbriefe, dass die Polizei ihn schneller erkennen kann. Auch versichert ihm Jesus, dass bereits Vorbereitungen zu einer erneuten Kreuzigung getroffen würden.174 Die Jahrhunderte alte, christlich geprägte Kultur sei nur Exekutionsmedium der Polizei und sei bereit, den Todesakt der Kreuzigung zu wiederholen. Durch das Töten von unzähligen Menschen erhoffe sich die Menschheit nun durch eine wiederholte Kreuzigung von neuem die Erlösung von ihren Sünden. Der wiedergekehrte Jesus flüchtet aus den Kirchen. Gary scheint hiermit andeuten zu wollen, dass die Menschheit nach 2000 Jahren Geschichte erneut nach Erlösung strebt. Wie auch Cohn ist Jesus nicht gewillt, sich fraternisieren zu lassen. Er ist enttäuscht, dass sich nach seiner Kreuzigung nichts verändert hat und diese als Topos in Literatur und Kunst eingegangen ist (vgl. GC, 238). Wenn er dies vorausgesehen hätte, wäre er Jude geblieben. «Pour rien» habe er sich ans Kreuz schlagen lassen. Deshalb wolle er sich nicht ein zweites Mal ans Kreuz schlagen lassen und lieber nach Tahiti fliehen. «[...] il était très important pour moi de voir ce que ça a donné, je me disais que deux mille ans, c’était assez pour que je puisse vraiment me rendre compte du changement» (GC, 238).
Indem er Jesus keineswegs als zerbrechlichen und duldsamen Menschen darstellt,175 verdeutlicht Gary die Missinterpretation von Jesus und seiner Botschaft durch die Kirche und die Menschen. Cohn und Jesus haben keine Lust mehr, ein zweites Mal die Welt zu retten («Je refuse catégoriquement d’essayer encore une fois de les sauver. Trop, c’est trop. Ils ne changeront jamais» [GC, 239]). Dies dürfte wohl der Höhepunkt der Resignation angesichts der Menschheit sein – sogar Jesus wendet sich ab und weigert sich, für diese Menschheit sich nochmals zu opfern. Zunächst war das Ziel von Cohn und Jesus, die Menschen Verantwortung, Gewissen und Menschlichkeit zu lehren. Doch bleibt beiden letztendlich nur die Flucht von «une religion réduite à des rites, une société où la cruauté a remplacé l’amour et la charité.»176 Nachdem nun Christus als Inspirationsquelle für Literaten und Künstler völlig ausgeschöpft scheint, befürchtet Cohn, dass die kreativen Köpfe sich auf die Suche nach einem neuen Anreiz begeben, ––––––– 174
175
176
«[...] ils m’ont tout de suite enfoncé une couronne d’épines sur la tête. Quand j’ai commencé à leur crier ce que je pensais d’eux et quand ils ont vu que je n’allais pas me laisser faire encore une fois, puisque je savais que cela allait être encore pour rien, ils ont commencé à hurler ce que j’etais un imposteur, mais au lieu de me laisser tranquille ils ont voulu me traîner de force vers la croix, sous prétexte que j’étais un faux messie» (GC, 239). «[...] tant de fois faiblard, transparent, mignon. [...] C’est un homme, un vrai. Il a un visage tellement fort, tellement sévère et viril et les yeux d’une telle dureté qu’il faut Le voir pour comprendre à quel point tout l’art sacré s’est voué à Le domestiquer» (GC, 240). Charlotte Wardi, Le génocide, 223.
225 der sich dann wieder in einem Massenverbrechen gigantischen Ausmaßes niederschlagen kann – der Tod der Juden als kultureller Beitrag einer degenerierten Menschheit. In den letzten Abschnitten des Romans wird der zuvor beschriebene Vergleich zwischen Cohn und Jesus zu einer Transformation von Cohn zu Jesus ausgebaut. Sein wirkliches Gesicht verschmilzt nicht nur mit dem Gesicht von Cohn, wie dieser es bereits im «forêt de Geist» bemerkt hat, («Son visage m’est vaguement familier, et je découvre avec stupeur que c’est mon portrait tout caché, trait pour trait» [GC, 237]), Gary verdeutlicht die menschliche Seite von Jesus so stark, dass er diesen an Gengis Cohn assimiliert, aus beiden eine Symbiose gestaltet. Als Gengis Cohn aus dem Rauch und Nebel wieder auftaucht, hat er das Aussehen des geschundenen Jesus, der sein Kreuz trägt. Die Konvergenz von Shoa und Kreuzigung wird hier nochmals verdeutlicht: «Il est d’une maigreur effrayante, il est couvert de plaies, il a un œil poché, il vacille, ils ont déjà eu le temps de le couronner et il a l’air complètement ahuri, sous les épines [...] il est plié en deux, mais il tient debout, et il suit obstinément Lily, en traînant sur l’épaule Son énorme Croix» (GC, 272 f.).
Nun geht Gengis Cohn/Jesus gebeugt unter der Last. «Le romancier refuse de faire culminer la vision finale dans l’exposition sur la Croix. Il lui préfère le lent cheminement sous la Croix.»177
4.6
Reflexions- und Transitorte – «l’humanité vous a assez vu»
4.6.1 «La forêt de Geist» – Schauplatz der Aufarbeitung Als Schauplatz der Aufarbeitung stellt der «forêt de Geist» eine Kontaktzone zwischen Vergangenheit und Gegenwart dar und ist somit im Kontext der Themen Verarbeitung, Aufarbeitung und Gedächtnis von besonderer Bedeutung bzw. geht ganz explizit auf diese Themen ein. An diesem traumatischen Ort, an dem der Mensch einen «unmittelbaren Kontakt mit der Vergangenheit sucht,»178 sind Raum und Zeit nicht festgelegt. Der «Kontakt mit den Geistern der Vergangenheit»179 wird zum einen durch den Geist und Dibbuk Gengis Cohn entwickelt, aber auch durch Garys Skizzierung der gesamten Menschheits- und Kulturgeschichte. Der Name des Waldes verweist nicht nur auf die Geister der Toten hin (im «forêt de Geist» sind Gräber von getöteten Juden), sondern auch auf den ––––––– 177 178 179
Kauffmann, La danse de Romain Gary, 90. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 337. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 337.
226 menschlichen Geist, das menschliche (Unter-) Bewusstsein.180 Durch den Kontrast von Vergangenheit (früher war der Wald ein Lager) und der Gegenwart (heute dominieren Luxusresidenzen und ein Kindergarten das Erscheinungsbild) versinnbildlicht Gary wie auch Resnais in Nuit et Brouillard das (visuell sichtbare) Auslöschen des Gedächtnisses und der Erinnerung. Der Zusammenhang zwischen Erinnerung und räumlicher Anordnung wird in der Szene sinnfällig, als Gengis Cohn sich allein im «forêt de Geist» befindet: Im Abschreiten eines realen oder imaginären Raumes kann vergangenes Geschehen rekonstruiert werden, aber nicht nur die Vergangenheit wird durch den Raum wachgerufen, Gengis Cohn reanimiert Ereignisse aus der Geschichte. «Orte können ein Gedächtnis auch über Phasen kollektiven Vergessens hinweg beglaubigen und bewahren. Dabei kommt es zu «Reanimationen,» wobei der Ort die Erinnerung ebenso reaktiviert wie die Erinnerung den Ort.»181 Wie in Nuit et Brouillard werden die Geschehnisse der Vergangenheit durch das Abschreiten in der Gegenwart wachgerufen. Cohn bewirkt die «Freilassung» der eingeschlossenen Geister,182 indem er Schatz zur Aufarbeitung zwingt. Schatz‘ Unterbewusstsein wird mit folgenden Worten umschrieben: «D’autant plus que ce n’est pas un subconscient, c’est un taudis. Pas de lumière, pas d’air, un plafond bas» (GC, 157) [...] «C’est vert, complètement vert!» (GC, 269), eine deutliche Allusion an den Wald. Cohn versucht im Unterbewusstsein von Schatz ihn zum Bewusstwerden seiner Taten zu bewegen, indem er verhindert, dass Schatz verdrängt (durch Psychopharmaka und Alkohol), ihm hilft, sich zu erinnern (durch Imitation von Schreien etc.) und schließlich suggeriert Gary eine gegenseitige Abhängigkeit der beiden. Diese Erinnerungsarbeit Cohns ist über die drei Teile des Romans steigernd aufgebaut: Erinnerung, Aufarbeitung und Verbrüderung bzw. Abhängigkeit. Der «forêt de Geist» ist aber nicht nur als Sinnbild für Schatz‘ Psyche zu lesen, sondern als Unterbewusstsein der gesamten Menschheit, deren Vergangenheit im «forêt de Geist» reinszeniert wird (beispielsweise die Kreuzigung Christi, der Holcaust, der Vietnamkrieg etc., aber auch der Kampf der Religionen und Kulturen). In diesem Kontext stellt er einen ––––––– 180 181 182
Laut Gronewald ist für Gary die Natur der Spiegel der Seele (vgl. Gronewald, Die Weltsicht Romain Garys, 162). Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 21. Diese Gefangenschaft im Wald steht konträr zu Garys Aussage, dass die Natur für ihn Freiheit bedeutet. Mensch und Natur sind für Gary untrennbar miteinander verbunden (vgl. Gronewald, Die Weltsicht Romain Garys, 162). Diese von Gary proklamierte Symbiose gliedert sich in die Argumentation vom Wald als Ort der Selbstfindung ein.
227 kulturellen Erinnerungsraum der Menschheit dar, der die Erinnerung von Individuen und Kulturgemeinschaften übersteigt.183 Gary versucht hier durch eine Aneinanderreihung von historischer Wirklichkeit, Fiktion und Groteske die Nichtdarstellbarkeit einerseits zu fassen, andererseits auf die Mißstände der Verdrängung hinzuweisen. Ein Neubeginn wird in La Danse de Gengis Cohn auf unterschiedliche Arten gezeigt: durch das Jüngste Gericht, das außerhalb des «forêt de Geist» eingeläutet wird184 oder aber ein Neuanfang im Innern, also im «forêt de Geist» selbst, durch Bewusstwerden und Aufarbeiten. 4.6.2 Die Stadt Licht – Spiegel der Nachkriegsgesellschaft Gary zeigt in La Danse de Gengis Cohn verschiedene Wege der Vergangenheitsbewältigung auf. Was jedoch noch in Education Européenne zum Ziel und Sinn seines Schaffens deklariert worden war,185 relativiert Romain Gary in La Danse de Gengis Cohn: Zwar steht noch immer die Bewahrung der Erinnerung an Ereignisse und historische Begebenheiten im Mittelpunkt seines Werkes, doch Zuflucht oder gar Hilfe für den Leser wie in Education Européenne kann man in seinem zweiten Werk über den Holocaust nicht mehr erkennen.186 Gary verbindet die Gräueltaten des Holocaust mit der gesellschafts-politischen Entwicklung Nachkriegsdeutschlands Ende der 60er Jahre und macht diese an einem fiktiven und symbolisch aufgeladenen Ort in einem bestimmten Jahr fest: Die deutsche Kleinstadt Licht im Jahre 1967 ist Zentrum der Handlung. Licht dient ihm als Schauplatz, um ein kritisches Gesellschaftsbild des nationalen Bewusstseins zu geben. Die Kritik an der Unwilligkeit, sich der Geschehnisse während des dritten Reiches zu erinnern, wird noch durch die Einbeziehung authentischer Ereignisse verstärkt: Durch Garys Gleichsetzung der Interessen der Regierung Kiesinger mit denen des dritten Reiches (vgl. GC, 233) wird nicht nur eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und Gegenwart suggeriert, sondern Gary zeigt hier auf, dass sich das Bewusstsein trotz der Geschehnisse nicht grundlegend verändert hat.187 Obwohl Gary mit der Wahl der Figur ––––––– 183 184
185
186 187
Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume, 299. Einige Dominikanermönche betätigen eine nicht vorhandene Glocke: «A première vue, on pourrait croire qu’ils essaient de faire sonner une cloche, mais une cloche qui n’est pas là» (GC, 271). «Je voudrais que mon livre soit un de ces refuges, qu’en l’ouvrant, après la guerre, quand tout sera fini, les hommes retrouvent leur bien intact, qu’ils sachent qu’on a pu nous forcer à vivre comme des bêtes, mais qu’on n’a pas pu nous forcer à désespérer» (Gary, Education européenne, 76f.). So auch Gronewald, Die Weltsicht Romain Garys, 34. Garys «historisches Erinnern» zeigt sich auch in seiner Affinität zu großen Persönlichkeiten, denen er sich menschlich und ideologisch verbunden fühlte. In La Danse
228 des Dibbuks als personifiziertes Gewissen oder Unterbewusstsein klar gegen das Vergessen eintritt, zeichnet sich doch die Stadt Licht durch das Bedürfnis aus, die Vergangenheit zu verdrängen und darüber zu schweigen: «L’humanité vous a assez vu. Elle veut du neuf. Vos étoiles jaunes, vos fours, vos chambres à gaz, on ne veut plus en entendre parler. On veut autre chose. Du neuf. On veut aller de l’avant! Auschwitz, Treblinka, Belsen, ça commence à faire pompier! Ça fait le Juif de papa!» (GC, 81).
Das Kommissariat, das sich in der Goethestraße befindet, bildet einen Mikrokosmos der Gesellschaft, die in verschiedenen sozialen Klassen dargestellt wird. Minister, Ministerpräsidenten, Polizisten, Adlige und sämtliche Bürger der Stadt Licht erinnern sich im Geheimen gerne ihrer «glorreichen» Vergangenheit, vermeiden es aber in der Öffentlichkeit, die Vergangenheit auch nur anzusprechen. Alle verhalten sich so, als ob es den Holocaust nie gegeben hätte; die Juden sind für sie nach wie vor die Sündenböcke. Die Vertreter des Adels, Baron von Pritwitz und Graf von Zahn, repräsentieren beide die «kulturelle Elite;» man könnte sagen, sie haben den Realitätsbezug gänzlich verloren, sind völlig losgelöst von den politisch-gesellschaftlichen Geschehnissen und preisen die Schönheit der Natur und die Lust am Leben.188 Sie stehen als Prototypen für die kollektive Verdrängung, bestreiten sogar die Existenz der Gräueltaten und sind überzeugt von der Unschuld der Täter. Das menschliche Grauen um sie herum wird von ihnen ignoriert. Hübsch hingegen saugt begierig jede neue Information auf, ist hysterisch und fanatisch und gibt sich ganz seinem sexuellen Delirium hin. Gary stellt ihn als jungen und attraktiven Menschen dar, der sich immer mehr in seine Begeisterung hineinsteigert und der wohl als Repräsentant der begeistert-fanatischen jubelnden Massen von NaziDeutschland angesehen werden darf. Die neue Generation, die von Guth verkörpert wird, ist jung, dynamisch und interessiert sich nicht mehr für die Vergangenheit: «C’est un Allemand de la nouvelle génération. Je n’ai rien à lui dire. Pour eux, je n’existe pas» (GC, 22). Bewusst setzt Gary sprechende Namen ein, um in ihnen deutsche Tugenden und kulturellen Anspruch zu versinnbildlichen. Gary führt die Mahnmale an (Fotos, Zeugenberichte, Aufzeichnungen) und bewirkt im Leser eine emotionale Partizipation an den Ereignissen. Doch ganz anders reagieren seine Figuren darauf; diese suchen nicht nur –––––––—
188
de Gengis Cohn ist hier vor allem Charles de Gaulle zu nennen. «Le gaullisme [...] est pour moi une force morale, une élévation spirituelle, une foi humaniste, une lumière» (Zitiert nach Dominique Bona: Romain Gary. Paris 1987, 277). Sogar mitten im Vietnamkrieg preist der Baron die Kultur: «Pardon, proteste le Baron, pardon! C’est une nature d’élite! Justement, j’apporte mon Stradivarius!» (GC, 257).
229 aus dem Gezeigten einen ästhetischen Wert zu ziehen, sondern negieren einfach dessen Bedeutung: «Vous avez vu les photos de tous ces corps nus entassés les uns sur les autres à Buchenwald? Quelle pornographie! C’était d’une impudeur ... [...] On n’a pas le droit de photographier des choses pareilles, et encore moins de les publier» (GC, 104).
Indirekt wird hier nicht der Vorwurf gegen die Täter, sondern gegen die Opfer laut. Auch wird nicht die Perversität der Verbrechen gezeigt, sondern das Erinnern an die Gräueltaten als Pornographie abgetan. Gary führt diese Meinung noch weiter aus, indem er Schatz vorschlagen lässt, die ganze Sache doch ein für allemal damit zu beenden, indem man sie einfach totschweige: «Les exécutions, certes, étaient un crime contre les Juifs, mais la publication de ces photos, c’est un crime de lèse-humanité. Dans l’intérêt supérieur de notre espèce, il fallait passer tout cela sous silence» (GC, 105). Schatz stellt eine Karikatur des Durchschnittsdeutschen in der Nachkriegszeit dar, der sich seiner Vergangenheit nicht zu stellen vermag. Die Verteidigungsstrategien der Täter sprechen dafür, dass die Ereignisse weder aufgearbeitet worden sind noch dass die Täter dazu bereit sind, die Taten einzugestehen, sich zu verändern und somit auch die Zukunft anders zu gestalten. Die stereotype Beteuerung, die in sämtlichen Prozessen, Berichten und Zeugenaussagen immer wieder vorkam, wendet auch Schatz an: Er habe von nichts gewusst, habe nur Befehle ausgeführt und seine Pflicht als rechtschaffener Bürger erfüllt: «[...] Qu’est-ce qu’on me veut? J’ai été un fonctionnaire zélé, obéissant. J’ai crié Feuer! parce que j’avais des ordres! J’avais des ordres! Des ordres, Cohn! Je n’ai fait que mon devoir. Je désire être lavé de toutes les accusations une fois pour toutes. Tout ce que je veux, c’est me sentir propre» (GC, 90).
Schatz versucht hier nicht nur seine gedankenlose Ausführung der Befehle zu rechtfertigen, sondern ganz präzise auch den Mord an Gengis Cohn und hat deshalb auch zum Ziel, den Dibbuk milde zu stimmen, damit dieser ihn verlässt. Sein Ziel, sich «propre» zu fühlen, steht hier in direktem Kontrast zu den grausamen Taten, die er in der Vergangenheit begangen hat.189 «[...] zu einem eigentlichen Geständnis kam es bei den Deutschen niemals, bestenfalls bei solchen, die selber unschuldig waren und die Schuld der ––––––– 189
Die Thematik des sich Reinwaschens wurde bereits in der Beschreibung des Büros sinnfällig: Peinlichste Sauberkeit wird hier gepflegt, über dem Waschbecken hängt das Porträt des Präsidenten Lübke; Schatz wäscht sich bevorzugt mit Puderseife (die Phobie gegen Seife leitet sich von Gengis Cohns Ausspruch ab, «Du savon? Pourquoi du savon? Non! Il y a vingt-deux ans que je ne touche plus au savon, on ne sait jamais qui est dedans!» [GC, 91]).
230 anderen auf sich nahmen.»190 Gary setzt den Dibbuk aber nicht nur im Unterbewusstsein von Schatz ein, sondern deutet an, dass es für den Dibbuk keine Möglichkeit der Flucht gibt, d.h.: Er ist im kollektiven Gedächtnis verankert: «Ce n’est que je me plaise dans ce subconscient de merde, mais où voulez-vous que j’aille? Je suis aussi mal ici qu’ailleurs. Je voudrais bien aller à Tahiti, au bord de l’Océan, mais c’est toujours et partout le même subconscient. C’est collectif» (GC, 149).
Andererseits ist er sich bewusst, dass die Menschheit auf der Suche nach neuen Opfern das Gedächtnis an ihn verlieren könnte: «Gevalt! Comment peut-il faire ça à un grand artiste de la scène qui tient l’affiche depuis plus d’un quart de siècle? – Le public est saturé. On en a assez du tralala juif. Les choses bougent, tu sais. On veut du tralala nègre et du tralala vietnamien. On ne peut pas garder indéfiniment six millions de Juifs sur la liste des best-sellers. – Mais qu’est-ce que tu me racontes là? C’est de l’antisémitisme, voilà ce que c’est! [...] Tu vas passer aux artistes noirs maintenant, c’est ça, espèce de Judas? Tu as oublié que ce qui compte, ce n’est pas la couleur de la peau, c’est le talent» (GC, 221).
Insgesamt entwickelt sich die Schuldfrage in La Danse de Gengis Cohn nicht von Unwissenheit zur Einsicht, sondern wird lediglich verlagert, d.h. Gary zeichnet eine durchweg pessimistische Sicht auf die Gesellschaft: Kein Übel wird beseitigt, es wird lediglich auf andere übertragen. Jetzt sind nicht mehr die Juden die Sündenböcke, sondern Schwarze, wohingegen die Täter Chinesen sind: «[...] ils sont en train de passer au nègres, ces salauds-là» (GC, 231); «[...] ils ont trouvé un autre bouc, noir ou jaune» (GC, 252); «Les Noirs pourront enfin être antisémites, les Juifs pourront être nazis» (GC, 261).191
––––––– 190
191
René König: «Zurück nach Deutschland. Aus: ‹Leben im Widerspruch. Versuch einer intellektuellen Autobiographie.›» In: Bernt Engelmann (Hg.): Literatur des Exils. München 1981, 88–94, hier: 90. Die Problematik der Schuldverlagerung wird auch in La Vie devant soi (1982) thematisiert: «C’est fini le monopole juif, madame. Il y a d’autres gens que les juifs qui ont le droit d’être persécutés aussi» (zitiert nach Todorov, Mémoire du mal, 237).
5
Alain Resnais, Nuit et Brouillard – «le double témoignage»
5.1
Erzählen nach Auschwitz – «a personal documentary»
5.1.1 Inhalt und Struktur – Quelle und Ausgangspunkt für die gesamte Holocaust-Verarbeitung Nuit et Brouillard stellt auch über 50 Jahre nach seinem Erscheinen einen der wichtigsten Beiträge zur Vergangenheitsbewältigung des Holocaust dar. In nur 32 Minuten zeigt Alain Resnais‘1 Dokumentation den Zeitraum von 1933–1945 und bietet innerhalb seiner Darstellung keinen festen historisch––––––– 1
Alain Resnais wurde am 3. Juni 1922 in Vannes (Morbihan) geboren. Er realisierte einige Amateurfilme auf 16mm und wurde Assistent von Nicole Vedrès. Van Gogh (1948) und Gauguin (1950) bieten zwei originelle Versuche, den Künstlern durch ihre Bilder näherzukommen. Für Guernica (1948), einem kinematographischen Gedicht, ausgehend von einigen Werken Picassos und einem Text von Eluard gewann er 1950 den Oscar. Les statues meurent aussi (1951) zeigt die Absetzung der schwarzen Kunst in der Folge der Kolonialisierung und wurde durch die Zensur verboten. 1956 folgte Nuit et Brouillard (1956). Toute la mémoire du monde (1956) ist auf der Grundlage einer Reportage über die Bibliothèque Nationale eine Meditation über die verzweifelte – aber vergebliche – Anstrengung des Menschen, sein Gedächtnis zu bewahren, indem er es mumifiziert. Le chant du Styrène (1958) ist ein Gedicht über die seltsame Vegetation einer Plastikfabrik. Hiroshima mon amour (1959) bietet eine Meditation über die Liebe, den Tod, das Erinnern und das Vergessen. Resnais hat u.a. bei der Realisation von Mystère de l’Atelier quinze (1957) mitgewirkt und die Montage mehrerer Filme geleitet, v.a. von La pointe Courte (1955) von Agnès Varda (vgl. Vincent Pinel: «Nuit et Brouillard.» Institut des Hautes Etudes Cinématographiques. Fiche Filmographique (No 163). In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 142-146). Resnais drehte drei Filme über unvorstellbare Grausamkeiten gegen die Menschheit (Guernica, erster nazistischer Anschlag auf Zivilbevölkerung; Nuit et Brouillard, erster Versuch einer völligen Extermination; Hiroshima mon amour, erste Atombombe durch militärische Kräfte). Resnais‘ Hauptthemen sind die Zeit, das Erinnern und das Vergessen; seine Filme sind häufig wie Kreisläufe konstruiert; Rückblenden spielen eine große Rolle; Vergangenheit und Gegenwart verbinden sich oder werden umgekehrt und die meist unchronologische Zusammensetzung der Sequenzen verspricht einen neuartigen Zugang zum Filmgeschehen. Ein anderes Thema ist die Kommunikation, die Schwierigkeit des einzelnen, seine Gefühle und Ideen unabhängig seiner Vergangenheit auszudrücken.
232 chronologischen Rahmen. Durch diese ahistorische Zeitstruktur unterscheidet sich Resnais‘ Film von anderen Dokumentationen und zugleich manifestiert sich darin sein Wunsch, seinem Film Allgemeingültigkeit zu geben.2 Damit wird der Holocaust nicht für ein vergangenes und abgeschlossenes Ereignis gehalten, das man vergessen kann; des Weiteren ist das ahistorische Konzept ein Schlüssel zum Verstehen des über Jahre hinweg errichteten KZ-Universums. Das Verschwinden der historischen Ereignisse des zweiten Weltkrieges aus der gelebten Erfahrung macht Resnais zum Thema seines Films. Er zeigt die verschiedenen Stufen der Zerstörung des Menschen innerhalb der Pseudogesellschaft des Lagers.3 Schlaglichtartig werden Massendeportationen, Häftlingstransporte, Ankunft und Einteilung im Lager, Einkleidung, Appelle, Unterkünfte, Schlafsäle, sanitäre Anlagen, Zwangsarbeit, Ernährung, Registratur, Krankenbehandlung, medizinische Versuche, Gaskammern, Krematorien, Leichenberge, Massengräber, Verwertung der sterblichen Überreste und anderes gezeigt. Auf der Grundlage dessen entwickeln Resnais und Cayrol eine Demonstration der Mechanismen des Bösen sowie der unmenschlichen Lage der Opfer, um davon ausgehend eine moralische Verpflichtung oder einen Appell an die Nachwelt zu formulieren, sich an den Holocaust zu erinnern und mit allen Mitteln gegen eine Wiederholung der Geschehnisse anzugehen. Der Film lässt sich in sieben Teile gliedern, darunter Einleitung und Schluss.4 Seine Wirkung erklärt sich durch die gekonnte Gesamt––––––– 2
3
4
Dies kann im Kontext des Algerienkrieges gesehen werden. Das Ablehnen zu vergessen ist auch ein Ablehnen der Gegenwart des Algerienkrieges. Fünf Jahre später verfasst Resnais einen Protestbrief zusammen mit Marguerite Duras, Robbe-Grillet, Florence Malraux, Robert Antelme, Anne-Marie de Vilaine und Gabriel Bounoure. Diese Deklaration, die letztendlich von 246 Intellektuellen unterzeichnet wurde, hat nach Meinung einiger zu einem Stillstand des Krieges geführt (vgl. Robert Benayoun: «Alain Resnais, Arpenteur de l’Imaginaire.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 156 [auch in Robert Benayoun: Alain Resnais, Arpenteur de l’Imaginaire. Paris 1980, 52–55]). Einleitung (Konstruktion der Lager und Deportation); Selektion und Erniedrigung (das Leben im Lager); Extermination (produktives Töten: Gaskammer, Krematorien, etc.); Schlussfolgerung (Ankunft der Alliierten; Appell zur Aufmerksamkeit). Einleitung (in Farbe und in der Gegenwart): der langsame Gang in die Erinnerung und die Vorstellung ausgehend von der Suche in der Gegenwart im Lager; Erster Teil: «La machine se met en marche» a) (s/w und Präsens) 1933 – la machine se met en marche; Die Konstruktion der ersten Lager; Die ersten Deportationen / (Farbe / Gegenwart) Heute, der gleiche Weg, auf der Suche nach den Spuren der Körper b) (s/w / Imperfekt und Präsens) Die Entdeckung des anderen Planeten; Organisation und Hierarchie / (Farbe / Präsens und Imperfekt) Unmöglich, die Lager zu ignorieren oder darüber zu sprechen / Zweiter Teil: Ein abgegrenztes Universum des Leidens a) (s/w / Gegenwart) Arbeiten, Leiden, Sterben; Erste Sorge: Essen / (Farbe / Imperfekt) Die Latrinen, das Zentrum der nächtlichen Treffen
233 komposition des Films. Die Bilder stammen nicht von Resnais selbst, sondern waren Filmrollen des britischen Militärs und dienten ursprünglich zum Zweck der Dokumentation historischer Tatsachen.5 Um aber ein größeres Publikum zu erreichen und über die aufklärerische Komponente hinweg auch noch eine emotionale Wirkung zu erzeugen, bedurfte es der formal-narrativen Gestaltung durch Resnais und dem kommentierenden Text von Cayrol. Der Film arbeitet als Totalität, in welchem kein Element dominiert. Der Kommentar beruht auf Augenzeugenberichten,6 wobei Struktur und Aufbau (die Kapitelüberschriften des Buches mit der Themenfolge des Filmes) von Buch und Film übereinstimmen,7 sowie die –––––––—
5
6
7
b) (s/w / Präsens) Die Befehle und die Worte der SS; Vortäuschungen eines normalen Lebens durch die SS / (Farbe / Imperfekt) Ein abgeschlossenes Universum, das von den Wachtürmen aus gesehen wird / Dritter Teil: Leben, um zu sterben a) (s/w / Gegenwart) Bestrafungen, Erniedrigungen, Exekutionen; Individueller Widerstand durch Kunsthandwerk; Sorge um die anderen b) (Farbe / Imperfekt) Das Krankenhaus: eine falsche Erleichterung/Hilfe c) (s/w / Präsens) Amputationen und medizinische Experimente; systematische Entmenschlichung; Das Leben der Herren d) (Farbe / Imperfekt) Das Bordell und das Gefängnis / Vierter Teil: die Endlösung / die finale Beschleunigung («Il faut anéantir mais productivement») a) (s/w / Präsens) 1942 Systematisierung und Beschleunigung der Extermination; Ausführungen über die Techniken b) (Farbe / s/w / Farbe / s/w / Farbe / Imperfekt und Präsens) Die Gaskammern c) (s/w / Präsens) Was ist zu tun mit Tausenden von Körpern? d) (s/w / Präsens) 1945 werden die Lager gigantisch; permanente Verwirtschaftlichung, die auf der Extermination beruht / Fünfter Teil: die Offenbarung des Ausmaßes des Horrors b) (s/w / Präsens) Die Niederlage; Das Ausmaß des Massakers c) Wer ist verantwortlich? / Schlussfolgerung a) (Farbe / Gegenwart) ((vgl. André Pierre Colombat: «The Holocaust in French Film.» Filmmakers, No. 33. London 1993, 136f.) sowie Pinel, Nuit et Brouillard, 143 (der nur durch die kleine Unterscheidung, dass er den zweiten und dritten Teil Colombats zusammenfasst, von diesem Modell abweicht) und die Übernahme durch Raskin, Nuit et Brouillard, 69). Das komplette Shooting script zu Nuit et Brouillard (Raskin, Nuit et Brouillard, 70–130) wurde bei Raskin erstmals veröffentlicht. Dieses originäre Filmmaterial wurde u.a. auch in amerikanischen Umerziehungslagern eingesetzt (vgl. Sylvain Roumette: «Alain Resnais à la question.» Premier plan 18 [Oktober 1961], 36–54, hier: 37). Dokumentarische Quellenbasis war das 1954 erschienene Buch Tragédie de la Déportation 1940–1945. Témoignages de survisants des camps de concentration allemands, das von Olga Wormser und Henry Michel (beide waren Mitglieder des «Comité d’Histoire de la Seconde Guerre Mondiale,» in dessen Auftrag der Film erstellt wurde) herausgegeben wurde. Beide haben bei der Produktion des Films mitgewirkt. Olga Wormser / Henri Michel (Hgg.): Tragédie de la déportation 1940–1945. Témoignages de survivants des camps de concentration allemands. Paris 1955. I. Les Convois; II. L’arrivée au camp et la quarantaine; III. Vie quotidienne; IV. Le travail dans les camps de concentration; V. Les catégories sociales dans les camps; VI. Permanence de l’homme; Vie spirituelle et résistance; VII. Le revier: l’antichambre et la mort; VIII. La mort: la dernière station; IX. Les évacuations des camps et leur libération.
234 dialogische Vernetzung von Buch- und Filmende.8 Während bei Wormser und Michel vor allem die Dokumentation im Vordergrund stand,9 ist es bei Alain Resnais das historische Erinnern.10 Resnais entwirft (und durchschaut) in Nuit et Brouillard die konzentrationäre Welt mit seinem filmischen Medium so genau, wie es in der wissenschaftlichen Literatur erst wieder Wolfgang Sofsky mit seiner «Ordnung des Terrors» meisterte. 5.1.2 Das Werk vor dem filmischen Hintergrund – «un cinéma de philosophie» Alain Resnais wählt die Form der Dokumentation für seine Reflexion über den Holocaust, allerdings nicht die klassische Form einer Dokumentation,11 sondern arbeitet im Sinne einer «personal documentary.»12 Resnais greift im ––––––– 8
9 10
11
12
«Die Hoffnung von Wormser und Michel, dass das Geschrei der Opfer einst die Mauern der Gleichgültigkeit und Vergessenheit durchbrechen werde, korrespondiert im Film mit dem Kommentar, der mit der Feststellung endet, es werde unaufhörlich geschrieen, doch niemand höre hin.» Allerdings beschränkt sich das Buch auf französische Augenzeugenberichte, Gedichte, Fotos und Zeichnungen. Der Film ist komprimierter. Zu näheren Ausführungen vgl. Ewout van der Knaap: «Monument des Gedächtnisses – Der Beitrag von Nacht und Nebel zum Holocaust-Diskurs.» In: Waltraud «Wara» Wende (Hg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis. Stuttgart 2002, 67–75, hier: 75. Vgl. Wormser, Tragédie, 10. André Bazin sieht Nuit et Brouillard vor allem als Parabelstück über die Menschheit an. «Si je ne craignais de paraître chercher le paradoxe et de prêter le malentendu, je dirais volontiers que Nuit et Brouillard est un film de douceur et de tendresse, un film de pitié en tout cas et non de haine et de colère [...] mais parce que Nuit et Brouillard est avant tout un regard d’amour et de confiance en homme, l’affirmation de l’espoir au delà de la désespérance l’herbe ne poussait plus sous les pas d’Attila: l’herbe a repoussé, timide, rase et rare entre les ruines du crématoire, assez pour affirmer que la vie est plus forte que le néant. [...] La vérité de Nuit et Brouillard c’est la douce lumière de l’Homme» (André Bazin: «Nuit et Brouillard.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 139 [auch in Radio-Cinéma-Télévision 9 February 1956]). Resnais hat eine absolute Verpflichtung zum Dokumentationsprozess. Ein unvermeidbarer Grad an Stilisierung ist aber in jedem kinematographischen Prozess enthalten, welche eine Beeinträchtigung der Wahrnehmung von historischer Wahrheit bewirken kann oder die Authentizität der KZ verzerren kann. Mehr als der Spielfilm bettet zwar die Dokumentation Bildmaterial und Zeitzeugen ein, doch jedes Bild ist der individuellen und kollektiven Wahrnehmung ausgesetzt, die das Bild anders wertet. Die Vergangenheit kann (auch) im Dokumentarfilm nicht so wiedergegeben werden, wie sie wirklich gewesen ist, sondern vermittelt lediglich Einblicke in das Vergangene, das durch die Rezeption bereits interpretiert wurde. Vgl. Insdorf, Indelible shadows, 199f.: Besonders Filmemacher, die mit der Realität des Holocaust umgehen, waren dazu imstande die Dokumentation in ein persönliches Genre zu
235 Kontext der «rive gauche,»13 einer Abspaltung der «nouvelle vague,»14 die Hauptthemen des Erinnerns und Vergessens, der Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit auf. Immer wieder erkundete Resnais die Funktion von Zeit und Erinnerung im Handlungsaufbau (Nuit et bruillard [1956], Hiroshima mon amour [1959], L’Année dernière à Marienbad [1962]). Im Gegensatz zu den Vertretern der «nouvelle vague» schrieb Resnais weder die Dialoge, noch die Drehbücher selbst, arbeitete aber jeweils sehr eng mit den Autoren zusammen. Resnais war fortschrittlicher als seine Kollegen der «nouvelle vague,» ein Vertreter des «modern cinema,»15 und arbeitete bevorzugt mit Schriftstellern zusammen, die das Drehbuch für seine Filme schrieben: Marguerite Duras, Alain Robbe-Grillet und Jean –––––––—
13
14
15
verwandeln, das der Erinnerung oder dem Tagebuch gleichkommt. Filme wie Nuit et brouillard, Sighet, Sighet (Harold Becker 1964) und Shadow of Doubt (Rolf Orthel 1975) benutzen «dokumentarisches» Material, wie Wochenschauen und Interviews, sind aber formal so reich wie die besten «fiktionalen» Filme. Sie beinhalten eine narrative Basis, eine zutiefst persönliche Stimme und setzen Montage und Schnitt als Interpretation des Geschehens ein. Zur Rive Gauche gehörten unter anderen Alain Resnais, Agnès Varda, Chris Marker, Alain Robbe-Grillet und Marguerite Duras. Wie die Nouvelle vague, so waren auch die Filmschaffenden der Rive Gauche miteinander befreundet und gehörten in Paris zur Gruppe der Intellektuellen. Doch «le cinéma des auteurs» (Filmschaffende ohne schriftstellerischen Hintergrund [Resnais, Varda, Colpi], Filmschaffende und zugleich Schriftsteller [Marker, Robbe-Grillet, Duras, Cayrol]) fing bereits einige Jahre vor der Nouvelle vague an und hatte im Gegensatz zur Nouvelle vague nicht als Ziel, das ästhetische Bewusstsein der Vergangenheit zu ändern, sondern vielmehr von der «exploration de l’univers mental de l’homme, de ses angoisses, de sa responsabilité» (Claire Clouzot: Le cinéma français depuis la nouvelle vague. Paris 1972, 57), von Gefühlsprozessen, von der Vergangenheit, der Erinnerung und dem Vergessen zu erzählen. Durch neue erzählerische und technische Mittel versuchten junge Filmschaffende, das Kino der 50/60er Jahre zu revolutionieren, indem sie «un cinéma d’expression nouvelle» (Gilbert Guillard [Hg.]: Le cinéma français de 1930 à 1981. München 1983, 44) mit sowohl neuen Themen, als auch einer neuen Konzeption erschaffen wollten. Sie suchten nach Stoffen, die die Gefühlswelt der Protagonisten zum Ausdruck bringen sollten; der Schwerpunkt ihrer Arbeit lag auf der Umsetzung und Verfilmung von Problemen Jugendlicher. Die Realisierung und Visualisierung der Themen wurde mit neuen erzählerischen und technischen Mitteln ausgedrückt: Das klassische Drehbuch wurde umkonzipiert, lange Einstellungen und Panoramaansichten wurden häufiger verwendet, um die Gefühlswelt und die innere Entwicklung der Protagonisten deutlicher zeigen zu können. Somit kamen auch den Schauspielern größere improvisatorische Freiheiten zu. Zugleich wurden die Dialoge bedeutsamer für den ganzen Film, die Alltagssprache wurde in den Film integriert. Um die Konzentrierung auf Dialoge noch stärker zu verdeutlichen, wurde wieder häufiger der Schwarzweiß-Film eingesetzt; die Kameraführung gewann an Mobilität, häufig wurde die Kamera sogar auf der Schulter getragen. Somit veränderte sich schließlich der Gesamteindruck des Films. Jim Hillier (Hg.): Cahiers du cinéma. Volume 2. The 1960s. London 1996, 29.
236 Cayrol.16 Resnais‘ Kunst liegt darin, dem Zuschauer den Zusammenhang zwischen Zeit und Raum bewusst zu machen. Durch die Zusammenarbeit von Romanciers übertrug Resnais etwas von der avantgardistischen Komplexität des «nouveau roman» in seine Filme. Dieser Wunsch, anhand von neuen erzählerisch-filmischen Formen ein verändertes Bewusstsein und eine veränderte Welt darzustellen, lässt sich ebenso in Nuit et Brouillard finden. Auch die fließenden Übergänge zwischen Autor, Protagonist (in diesem Fall dem Gezeigten durch die Kamera) und Leser (Zuschauer), die für den «nouveau roman» so charakteristisch sind,17 zeigen sich in Nuit et Brouillard, der den Zuschauer permanent zu einer kreativen Kollaboration aufruft. Die Selbstreflexivität und die Erörtertung des Zustandekommens des Werkes bilden Konstanten in Resnais’ Film. Seine archäologische Studie ist nicht zu trennen vom gesellschaftlich-literarischen Kontext der Epoche des Wandels, deren Fortschrittsoptimismus verloren gegangen ist und deren Krise und Rastlosigkeit in die künstlerischen Werke miteinfließen.18 So sind auch Cayrols Text und Resnais Bilder in Nuit et Brouillard zu verstehen: als Spiegel einer Modernität, die durch Brüche,19 Zersplitterungen und dem Entzug einer logischen Einheit der Handlung gekennzeichnet ist. Dies wird durch eine nicht chronologisch verlaufende Zeitstruktur, ein Durchbrechen der Linearität der Erzählung und oftmals ein Verschmelzen von Vergangenheit und Gegenwart versinnbildlicht. «C’est ainsi qu’un mode ‹moderne› de l’unité des œuvres d’art peut s’accorder avec une nouvelle pensée du temps.»20 Das Bild des Suchenden, der sich auf den (individuellen) Weg macht, «die Wanderschaft durch immer neue Bezirke des Bewusstseins»21 antritt und in Frage stellt, ist leitmotivisch in Nuit et Brouillard wiederzufinden. Die suchende Kamera sowie Montageund Schnitttechniken bilden Konstituenten dieser formalistischen ––––––– 16
17 18 19 20 21
«Resnais n’applique pas au cinéma des idées philosophiques, mais (…) il invente un cinéma de philosophie, un cinéma de pensée tout à fait nouveau dans l’histoire du cinéma, tout à fait vivant dans l’histoire de la philosophie, constituant avec ses collaborateurs irremplaçables, une rare noce entre la philosophie et le cinéma» (Pierre Maillot: Le Cinéma Français. De Renoir à Godard. Paris 1988, 56). Vgl. auch Kurt Wilhelm: Der Nouveau Roman. Ein Experiment der französischen Gegenwartsliteratur. Berlin 1969. Vgl. Sarah Leperchey: Alain Resnais. Une lecture topologique. Paris 2000, 9ff. Sätze, die sich in Parenthesen verlieren, ohne Anfang und Ende, ohne klar artikulierte Bedeutung finden sich auch in Cayrols Text. Leperchey, Alain Resnais, 9. Der Autor ist nicht mehr der allwissende Gott, der die Wege seiner Kreaturen lenkt und über die Romanhandlung hinweg dem Leser direkt oder indirekt Hinweise auf den Sinn des Ganzen und auf das angesteuerte Ziel zukommen lässt. Er ist zumindest der Fiktion nach mit auf der Suche.
237 Untersuchung Resnais’ auf der Grundlage eines Bildmaterials, mit Hilfe dessen die KZ-Erfahrung verdeutlicht und verstanden werden soll. Obwohl die breite wissenschaftliche Beschäftigung mit Erinnerungsdiskursen (besonders im Kontext der Shoah) erst in den 80er Jahren einsetzte und die ersten Arbeiten über Nuit et Brouillard sich vornehmlich auf dessen Inhalt konzentrierten,22 beschäftigt sich doch die Dokumentation bereits mit der Problematik und der Notwendigkeit des historischen Erinnerns. Nicht nur wurden Motive aus Nuit et Brouillard in anderen Filmen verwendet bzw. zitiert, auch unser Verständnis von Auschwitz ist mit den Bildern aus Nuit et Brouillard gekoppelt – der Film ist selbst Teil unseres kulturellen Gedächtnisses geworden. Die Rezeption begann in Deutschland 1956, wobei der Film vor allem aus didaktischen Gründen bei politischen Bildungsveranstaltungen und im Schulunterricht eingesetzt und als Dokumentation der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik verstanden wurde. Für viele Zuschauer bedeutete dies in den 50er Jahren die erste (visuelle) Konfrontation mit den Geschehnissen des zweiten Weltkrieges.23 Als Argos Films und die Comité d’Histoire de la Seconde Guerre Mondiale an Alain Resnais mit dem Auftrag zu diesem Projekt herantraten, lehnte er zunächst ab, da er um die Glaubwürdigkeit des Projektes fürchtete; erst als Jean Cayrol, ein Überlebender sich dazu bereit erklärte, den Kommentar zu schreiben, stimmte Resnais zu.24 Nuit et Brouillard gilt als Standardwerk in der Beschäftigung mit dem Holocaust. Für die vorliegende Arbeit ist der Film deshalb besonders wichtig, weil er über die Grenzen des Dokumentarfilms hinausgeht und durch dramatische Inszenierungsstrategien nicht nur das Vergangene darstellt, sondern auch das «Wie» des Erinnerns thematisiert und visualisiert. Die Struktur der Dokumentation ist so angelegt, dass sie ––––––– 22
23
24
Siehe Günter Moltmann: Der Dokumentarfilm Nacht und Nebel. Erläuterungen und Hinweise für seine Auswertung. Hamburg 1957. Raskin versucht in seiner Arbeit (Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987) den Hintergrund des Films zu beschreiben, die Entstehungsgeschichte, Inhalt und Rezeption, indem er die Ereignisse in ihrer chronologischen Reihenfolge rekonstruiert und diese auf der Basis von Interviews mit Schlüsselpersonen wie auch Zeitungsartikeln von Frühjahr/Sommer 1956 stützt. Das Original «shooting script» wird hier zum ersten Mal abgedruckt. Auch beinhaltet das Buch das Transkript eines Interviews mit Alain Resnais sowie eine Auswahl der besten Kommentare, die zum Film geschrieben wurden. Im letzten Kapitel versucht Raskin den vermittelnden Funktionen des Films nachzugehen. Für viele der Nachkriegsgeborenen gehörte er sicherlich zu den medialen Schlüsselerlebnissen ihrer gesellschaftspolitischen Sozialisation (vgl. van der Knaap, Monument des Gedächtnisses, 68). Vgl. Insdorf, Indelible shadows, 201.
238 einer Spurensuche gleicht, um die Vergangenheit zu beleuchten. In dieser Suche werden verschiedene kinematographische Mittel (jeweils mit ihrer eigenen Aussagekraft) gleichzeitig benutzt (eine Technik, die auch in Il portiere di notte sinnfällig wird). Die Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit wird zum einen durch die Bildmontagen und die Akzentuierung der Vergangenheit durch schwarz-weiß Dokumentarbilder mit der Gegenwart (Gegenwartsaufnahmen von Auschwitz in Farbe) bewirkt, zum anderen durch einen facettenreichen Soundtrack und einen vielschichtigen Off-Kommentar.
5.2
Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – «témoigner et méditer»
5.2.1 Bewältigungsmöglichkeiten In Nuit et Brouillard wird das Erinnern selbst visualisiert und inszeniert:25 Ausgehend von einem Spaziergang im Auschwitz der Gegenwart beginnt die Spurensuche in die Vergangenheit;26 die Kamera fährt den Schauplatz auf der Suche nach Spuren der Vergangenheit ab. Hier wird ein Gedankenweg nachgezeichnet, dessen Bewegung (von der Entstehung des KZ-Kosmos bis zu seiner Zerschlagung) erst im Gesamtüberblick sichtbar wird. Die Vergangenheit bildet das Schwarz-weiß-Material, das die Erklärung für die suchenden Kamerafahrten gibt und durch die Bilder in der Gegenwart hervorgerufen wurde. Diese archäologische Studie kann als Analyse nicht nur der (damals jüngsten) Vergangenheit angesehen werden, sondern ist zugleich ein Appell an den Zuschauer, die unterschiedlichen Regionen unseres selektiven kollektiven Gedächtnisses genau zu durchforschen. Im Abschreiten des Lagers in Auschwitz 1955 wird der Zusammenhang zwischen Erinnerung und räumlicher Anordnung sinnfällig, denn hier wird die Vergangenheit rekonstruiert. Die enge Verbindung zwischen Raum und Zeit lässt sich aus der antiken Rhetorik
––––––– 25
26
1955 war Resnais bereits für seine Arbeiten über Zeit und Gedächtnis bekannt. Claude Lanzmann vergegenwärtigt in Shoah den Zeitsprung dadurch, dass er Zeitzeugen von den Erlebnissen erzählen lässt. In der Gegenwart vergegenwärtigt Lanzmann das Vergangene, indem er entsprechende Orte aufsucht, um dort die Opfer zu einer Auskunft und emotionalen Reaktion zu bringen. Das Thema der Spurensuche wird hier ganz signifikant. Claude Lanzmann: Shoah (1974–1983). Das Drehbuch wurde teilweise vor der Fahrt nach Polen geschrieben und vor Ort nochmals modifiziert.
239 ziehen.27 Die Grundidee wird in Nuit et Brouillard übernommen, wobei der Unterschied darin besteht, dass der Redner bei seiner Rede bewusst die von ihm gewählten Sachverhalte wieder abruft, wobei in der Dokumentation beispielsweise die Öfen zwangsläufig Assoziationen und Erinnerungen an Vorkommnisse in diesem Kontext hervorbringen. Die lange Sequenz im Krematorium macht die Verbindung Raum, Erinnerung und Tod sinnfällig.28 «Die Trias Erinnerung, Tod und Raum besitzt gleichermaßen für die Mnemotechnik, die zum Wiederauffinden bestimmter Gedächtnisinhalte eingesetzt wird, wie für die Technik kulturellen Erinnerns, die der Kontinuierung von Identität dient, Gültigkeit.»29
In der Krematoriums-Sequenz werden anhand der einzelnen Objekte (Rohre, Öfen etc.) die Schritte des Exterminationsprozesses in Erinnerung gerufen und vergegenwärtigt. Das Oszillieren zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird im Kommentar reflektiert, indem dieser beschreibt, dass das Gedächtnis unfähig ist, die Ereignisse im Gesamten anhand der vorhandenen Spuren zum Vorschein zu bringen: «Le sang a caillé, les bouches se sont tues ...» Die kreative Arbeit Resnais’ präsentiert sich in einer doppelten Richtung: «témoigner» (hier geht es darum, eine historische Wirklichkeit objektiv zu präsentieren; dies wird durch die Verwendung des Schwarzweiß-Materials unterstützt) und «méditer» (der Autor lädt den Zuschauer dazu ein, dieses Stadium zu überschreiten, um ihm eine allgemeinere Sicht näherzubringen; hierzu dienen vor allem die Farbsequenzen).30 5.2.2 Aufbau in Dichotomien – Film als Totalität Nuit et Brouillard ist durch einen Aufbau in Dichotomien gekennzeichnet, der sich in der Verwendung verschiedener Kontrapunkte manifestiert: ––––––– 27
28
29 30
Hier wird die Erinnerung als begehbarer Raum verstanden, in dem die Gegenstände/Argumente der Rede in Form von bildlichen Repräsentationen an einzelnen Orten deponiert werden. Die Erinnerungsleistung besteht im Abschreiten des Raumes in der Vorstellung und im Abrufen der Inhalte in der entsprechenden Reihenfolge. Die Anordnung von Gedächtnisinhalten im imaginären Raum ermöglicht es, diese zu memorieren und sie bei Bedarf wiederaufzufinden (vgl. Cicero, De Oratore II 86, 351–354 und Quintilian, Institutio Oratoria XI, 2, 17–21). Die Urszene der Mnemotechnik ist die Simonides-Legende, bei der die räumliche Anordnung entscheidend ist für das Wiederfinden von Gedächtnisinhalten (Nach einem Unglück kann der Dichter Simonides die genaue Sitzordnung der Toten wiedergeben und gibt damit jedem Toten seinen Namen und seine Identität zurück [Cicero, De oratore II, 86, 352–354]). Diese Urszene der Mnemotechnik ist mit dem Tod verbunden; der Tod geht als Verlusterfahrung der Erinnerungsleistung voraus. Anne-Katrin Hillebrand: Erinnerung und Raum. Friedhöfe und Museen in der Literatur. Würzburg 2001, 15. Vgl. Pinel, Nuit et Brouillard, 145.
240 Immer wird die Aufmerksamkeit und die Reflexion des Publikums erwartet, egal ob der Kontrapunkt zwischen Bild und Ton liegt, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Statik und Bewegung, Verzweiflung und Hoffnung, Schwarz-weiß und Farbe oder Vergessen und Erinnern. Die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie der Gefahr des Vergessens und der Notwendigkeit des Erinnerns bildet das Gliederungsprinzip des Films. Ein historisches Ereignis wird in Erinnerung gerufen und zugleich ist der Zuschauer sich des Zeitsprungs durch die Verwendung von schwarz-weiß und Farbe immer bewusst. Resnais‘ Arbeit in Dichotomien lässt sich auf allen Ebenen konstatieren: Die Vergangenheit wird durch authentisches Archivmaterial in schwarzweiß durch Montage von Standbildern oder kurzen Einstellungen vermittelt, während die Gegenwart in Farbe gefilmt ist und die Kamera sich langsam in langen Einstellungen bewegt.31 Der Rhythmus der Montage gründet sich auf der Alternanz von zwei Bewegungen: Die der Gegenwart und Meditation (Farbsequenzen) ist ruhig, die andere ist hastig und ruckartig und versinnbildlicht das Nazi-Universum (Schwarz-weißSequenzen). Die idyllische Landschaft wird von einer pastoralen Flöte begleitet, während die marschierenden Nazis mit dem Klang der Pizzicati und Drums gezeigt werden. Die beiden (Zeit- und Raum-)Ebenen, die kinematographisch so unterschiedlich gestaltet sind, beinhalten auch dementsprechend eine andere Aussage: Die Standbilder sind erschütternde und fortwährende Zeugnisse einer grauenhaften Vergangenheit, die schnellen Abfolgen von Schwarz-weiß-Bildern vermitteln die Kulmination der Ereignisse und die beständig wachsende Gewalt dahinter; die Farbsequenzen sind eine Reflexion über das Geschehene. Diese Dialektik hat ihre Wurzeln im grundlegenden Konflikt zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, dessen beispiellose Konsequenzen der Film zeigt, und entspricht der scharfen moralischen Dichotomie zwischen drangsalierten Opfern und grausamen Tätern, die gemeinsam «l’autre planète» bewohnten. Letztlich zeigt der dialektische Zugang eine spezielle dynamische Einstellung gegenüber der Vergangenheit vom Standpunkt der Gegenwart. ––––––– 31
Auch Spielberg bedient sich in Schindler’s List (1993) dem Wechsel von schwarz-weiß zum Farbfilm (und dem darin eingeschlossenen Auftreten der geretteten Schindler-Juden an dessen Grab), wobei die Farbe hier den Wechsel von der Fiktion zur Dokumentation anzeigt. In Nuit et Brouillard reflektiert die Gegenwart die Vergangenheit, in Schindler’s List wird durch die (Farb-) Dokumentation das Fiktive beglaubigt. «Spielberg relativiert den Bruch zwischen Fiktion und Fakt, er nimmt die suggestive Kraft des Dokumentarischen für die Fiktion in Dienst, die nun erst den Höhepunkt ihrer persuasiven Kraft erreicht» (Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 19).
241 Die Vergangenheit wird durchdrungen um ihr Erinnern in der Gegenwart zu gewährleisten.
5.3
Autoreflexive Aspekte – «Qui ne l’ignore pas d’ailleurs?»
5.3.1 Text und Kamera als Mittel der Selbstreflexion In Nuit et Brouillard gibt es zwei Hauptkomponenten, an denen sich die Selbstreflexion am besten festmachen lässt: Jean Cayrols Text ist als eigener Diskurs zu verstehen, der die Darstellungsund Verarbeitungsproblematik der Shoah diskutiert. Die Kamera, die sich auf die Spurensuche nach der Vergangenheit begibt und nach und nach selbst zum Beobachter wird, bietet eine filmspezifische Variante der Selbstreflexion. Der Kommentar für die Farbbilder bildet eine Reflexion auf der Grundlage der gezeigten Ereignisse in der Vergangenheit und gleicht eher verschriftlichten Überlegungen und Gedankengängen. Der Text verarbeitet die Darstellungsproblematik in ähnlicher Weise wie die Musik und die Bilder: Durch Brüche und Inversionen ist der Zuschauer konstant dazu aufgefordert, das Geschehene zu reflektieren und zu interpretieren. Das Element der Suche und Reflexion wird auch in der Gestalt des Kommentars aufgegriffen; so entwickelt sich oftmals das Gesagte erst: Zum Beispiel wird nach dem Aufzählen der verschiedenen Hierarchiestufen, denen sich die Deportierten zu unterwerfen haben, der Kommandant präsentiert: «Tout en haut le commandant. Lointain, il préside au rite, il affecte d’ignorer le camp.» Dieser letzte Teil der Phrase orientiert die Überlegung in eine andere Sinnrichtung: «Qui ne l’ignore pas d’ailleurs? Cette réalité des camps, méprisée par ceux qui la fabriquent, insaisissable pour ceux qui la subissent, c’est bien en vain qu’à notre tour nous essayons d’en découvrir les restes.» Danach leitet der Kommentar zur Nacht im Lager über: «Voilà tout ce qui nous reste pour imaginer cette nuit coupée d’appels, de contrôles, de poux, nuit qui claque des dents ...» Dieses Oszillieren zwischen Distanz und Identifizierung32 macht auch u.a. den Wert der Dokumentation aus: Der Text verarbeitet allgemeine Annahmen, wie sie einer normalen Vorstellungswelt entsprechen, in den Text mit ein, um sie gleich darauf zu widerlegen. Diese Kontrastierung zwischen «normaler ––––––– 32
Vgl. Alain Resnais‘ Hiroshima mon amour, das die persönliche wie historische Komponente meisterhaft verbindet und eine Nähe zu den Opfern schafft, obwohl sich der Zuschauer der Unmöglichkeit des Verstehens bewusst ist.
242 Welt» und konzentrationärer Welt erinnert stark an Auschwitz et après und verdeutlicht nochmals die Absurdität des Geschehens. «Approcher de cette porte [Krankenblock, Anmerkung der Verf.], c’était l’ illusion d’une vraie maladie, l’espérance d’un lit. ... C’était aussi le risque d’une mort à la seringue […]. Il y avait un block chirurgical. Pour un peu on se serait cru devant une vraie clinique ... Il y a un décor, mais derrière ... Des opérations inutiles, des amputations, des mutilations expérimentales.»
Die Schwierigkeit und das Unvermögen, das Geschehene in adäquate Worte zu fassen, das Misstrauen gegenüber der Sprache illustrieren die vielen Fragen, die durch ihr Offensein den unabgeschlossenen Aspekt des Erinnerns symbolisieren. Auch verbindet der Kommentar die Erinnerungsebenen, indem er Fragen zum gezeigten Schwarzweiß-Material in der Gegenwart stellt, um den Zuschauer anzuleiten, sich die Antworten selbst zu geben. Zum Beispiel schneidet der Film von einer Schwarzweiß-Einstellung eines Zuges in einer nebligen Nacht (die Opfer werden in das Lager gebracht) zu einer Kamerafahrt in Farbe entlang der leeren Gleise an einem schönen sonnigen Tag in der Gegenwart und der Erzähler fragt. «On la parcourt lentement, à la recherche de quoi? De la trace des cadavres qui s’écroulaient dès l’ouverture des portes?» Diese Fragen evozieren Bilder, die im Film nie tatsächlich gezeigt werden, und müssen deshalb vom Zuschauer imaginiert werden. Die Kamera nimmt in Nuit et Brouillard eine wichtige Erzählinstanz ein: Zu Anfang vermitteln die Kamerafahrten eine Bestandsaufnahme der Situation, eine Eruierung des Raumes, in dem die Kamera entlang der Korridore und durch die Latrinen fährt. Sie ist das Mittel der Spurensuche und kann auf symbolischer Ebene als Orakel verstanden werden.33 Die Unbeweglichkeit der Kamera in der Vergangenheit wird zur Vorwärtsbewegung von Resnais’ Kamera kontrastiert – die Rigidität des Todes zum gemessenen Schritt eines zeitgenössischen Ermittlers. Beinahe am Ende des Films verändert sich die ruhige Kamerabewegung und entwickelt ein Eigenleben, indem sie buchstäblich versucht, durch etliche Richtungsänderungen mehr zu sehen und zu entdecken. Hier werden die Möglichkeiten und Grenzen der Abbildbarkeit ganz deutlich. In den Gaskammern scheint die Kamera an der Stelle auf den Kommentar zu reagieren, als der Erzähler die Kratzer an der Decke als Zeichen vergangenen Schreckens bezeichnet; die Kamera rückt näher an die genannte Stelle. Auch im Krematorium, dem grausamen Zentrum des ––––––– 33
Der Vogelflug einer Krähe (von links nach rechts) war als Zeichen einer Katastrophe zu lesen. Die häufigste Kamerabewegung im Lager ist ebenfalls von rechts nach links (vgl. Colombat, The Holocaust, 134).
243 Exterminationsprozesses, fährt die Kamera sehr lange an den Öfen entlang, hält immer wieder inne, schaut in die Öfen hinein, als ob sie auf der Suche nach den Toten sei. 5.3.2 Kommentar als eigener Diskurs Der gesprochene Text ist von Jean Cayrol, einem HolocaustÜberlebenden.34 Der Text ist nicht nur als Kommentar zu Nuit et Brouillard zu sehen, sondern als eigener Diskurs, der das wesentliche Problem der Holocaust-Darstellung aufwirft: Wie ist es möglich und ist es überhaupt möglich die Shoah (mit ästhetischen Mitteln) zu vermitteln? Die Aufteilung des Textes in zwei Hauptelemente spiegelt auch die Gesamtaussage des Films wider: Sowohl Text als auch Film beinhalten eine historische Komponente (in der die Chronologie der Ereignisse gezeigt wird und Informationen über das Lager gegeben werden) und eine poetische Seite (die über die Dimensionen des Geschehenen in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reflektiert und eine Bewertung durch die gesamte Menschheit fordert). Anfang und Ende bilden die poetische Komponente, die den Zuschauer in den KZ-Kosmos einführt und ihn auch wieder mit einer Aufforderung und Mahnung entlässt. Während der SchwarzweißSequenzen ist der Text kurz, nervös, hastig, aus kurzen Phrasen konzipiert, um die Situation zu präsentieren und um nicht den Effekt der Bilder zu belasten. «La machine se met en marche. ...»; «Trains clos, verrouillés, entassement des déportés à cent par wagon, ni jour ni nuit, la faim, la soif, l’asphyxie, la folie. ...» Oft beschränkt sich der Kommentar auch nur auf eine bloße Aufzählung, die den Vorgang beschreibt: «L’homme déjà humilié, rasé, tatoué, numéroté, pris dans le jeu d’une hiérarchie encore incompréhensible, revêtu dans la tenue bleu-rayé, classé parfois ‹Nacht und Nebel,› ‹Nuit et Brouillard.› Die isolierten Wörter lassen Platz zur Imagination: «Docteur SS ... infirmière inquiétante ...» Auch Sätze, die in Spannung gelassen werden – «Ceux de gauche iront travailler, ceux de droite ...» – vermitteln die Brisanz des Gezeigten. Während der Vergangenheitspassagen benutzt der Kommentar einzig das narrative Präsens, um die Präsenz des Geschehens zu verdeutlichen. Die Datumsangaben (1933; 1942; 1945) bezeichnen nicht nur die großen Etappen der Dokumentation, sondern scheinen eine Anspielung auf die so systematisch betriebene Extermination durch die Nazis zu sein. ––––––– 34
In Cayrols Kommentar zu den Bildfolgen des Films finden sich intertextuelle Bezüge zu dem bereits 1945 erschienenen Gedichtband Poèmes de la Nuit et du Brouillard. Larmes publiques, darüber hinaus gibt es wortwörtliche Übernahmen aus dem Essay Les rêves lazaréens (1954).
244 Cayrols Text hat verschiedene Funktionen inne: Mal ist er antithetisch zum Bildmaterial zu lesen, wenn der Kommentar das Ruhige der Farbbilder durch schreckliche Evokationen ausgleicht. «Aujourd’hui sur la même voie il fait jour et soleil. On la parcourt lentement, à la recherche de quoi? De la trace des cadavres qui s’écroulaient dès l’ouverture des portes? [...] Des latrines. Des squelettes au ventre de bébé y venaient sept fois, huit fois par jour. La soupe était diarrhéique...»
dann dient er als Interpretation der Bilder oder gibt schlicht zusätzliche Informationen (beispielsweise erklärt der Text die Bilder bei der Beschreibung der Hierarchieverhältnisse im Lager). So wie die ersten Bilder alle in das Lager führen, enden all die gebrochenen Sätze mit den gleichen Wörtern: «un camp de concentration.» An einigen Stellen kompensiert der Text das Gezeigte: Die Zusammenarbeit von Bild und Kommentar ist vor allem an jenen Szenen eindrücklich, in denen das Bild den Kommentar ergänzt. Das Bild zeigt Körper und Seife. Als das Bild die vom Körper gelösten Hautfetzen mit Tätowierungen zeigt, schweigt die Stimme. Die Problematik der Darstellbarkeit bzw. die Unmöglichkeit der Versprachlichung der grausamsten Dinge wird hier eindrücklich aufgegriffen. Einige Bilder sind von so großer Unsäglichkeit, dass der Text verstummt. Der Zuschauer sieht den immensen Haarberg der geschorenen Frauen und allein durch die Kameraeinstellung, die zunächst nur einen Teil zeigt, dann immer mehr, bis sie die Masse nicht mehr fassen kann, wird der Zuschauer dazu aufgefordert (da hier der Kommentar ausbleibt) sich vorzustellen, wie viele Menschen dafür sterben mussten. Als der Erzähler die Kratzer auf der Wand bemerkt, beginnt der Zuschauer zu überlegen, welch unvorstellbares Leiden in der Gaskammer ertragen werden musste. Manchmal fordert der Kommentar den Zuschauer direkt auf, sich den fehlenden Text auszudenken: «... Une prison: Inutile de décrire ce qui se passait dans ces cachots ...» Die Erzählstimme bleibt unbestimmt und unterstreicht somit die allgemeingültige Aussage des Textes; Dialoge kommen nicht vor. «Text und Bild begegnen sich an den Orten des Grauens und versuchen in ihnen die Spuren des Geschehens abzulesen. Zum Ausgangspunkt des filmischen Erinnerns wird dadurch die Abwesenheit des historischen Ereignisses, nicht dessen inszenierte Präsenz.»35
Pausen im Text werden dazu genutzt, dass die Zuschauer dazu aufgefordert sind, in der Schwebe gelassene Sätze gedanklich zu vervollständigen und vor allem in der zweiten Hälfte der Dokumentation sind die Pausen dazu intendiert, den Zuschauer zur Reflexion zu bewegen. Während solcher ––––––– 35
Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 18.
245 Unterbrechungen gewinnt die Musik durch (Wieder-)Aufnahme eines Themas an Bedeutung. In der Gaskammersequenz wird die Technik der Leerstelle deutlich: Zwar definiert der Kommentar den Raum, lässt aber das Resultat der Handlung offen. Somit kann sich der Zuschauer die grauenhafte Situation des Todeskampfes selbst vorstellen und zugleich wird die Pietät vor den Opfern bewahrt. Wie bereits an den Texten erläutert, wurde die Sprache und Konnotation von Wörtern durch die Nazis verändert, es fand eine Inversion der Realität auf sprachlicher Ebene durch die Nazi-Macht statt. Oranienburg, Auschwitz, Neuengamme und Dachau waren einst Ortsbestimmungen ohne weitere Konnotation («... furent des noms comme les autres sur les cartes et les guides.»), wurden dann heimlich zu Lagern gemacht und heute sind sie zu Symbolen von Unmenschlichkeit und fabrikmäßiger Extermination geworden. In der Gegenwart scheint die Landschaft friedlich, bis die Kamera die Stacheldrahtzäune zeigt und auch die Gebäude wirken zunächst nicht ungewöhnlich, bis der Kommentar sich einschiebt: «bâtiments qui pourraient être écuries, granges, ateliers [...] mais le mal a tout perverti et l’enfer et la mort ont triomphé de l’innocence.» Bei der Ankunftsszene wird neben dem Eingang «Arbeit macht frei» eingeblendet. Dieser Sprachcode, der die Grausamkeiten der Nazis versteckte und verzerrte und dessen grausame Ironie bereits an den entsetzten Gesichtern der Deportierten abzulesen ist, versinnbildlicht den Beginn einer anderen Welt, in der alles Bekannte hinter dem Stacheldrahtzaun zurückgelassen wird. Cayrol und Resnais stellen durch eine weitere Inversion (indem die Begriffe durch die Bilder entlarvt werden («Arbeit macht frei;» «Jedem das Seine») bzw. sinnfällig ergänzt werden («Eine Laus Dein Tod» / «Un pou, c’est ta mort» ... Et un SS donc!) die Perversität heraus und decken ihre Euphemismen auf. Bereits der Titel Nuit et Brouillard ist ein Beispiel für Denunziation und Inversion des nazistischen Sprachgebrauchs. Diese Phrase drückt die Intention der Nazis aus, die Zeugen für immer verschwinden zu lassen und die Geschehnisse des Holocaust in Nacht und Nebel zu lassen.36 Resnais und Cayrol benutzen diesen Code, um den Opfern ein Gedenken zu schaffen, um die Informationen gerade nicht im Dunkeln zu lassen, sondern das unglaubliche Leid der Opfer aufzuzeigen.
––––––– 36
Einige Jahre später wird Nuit et Brouillard zu einem Liedtitel von Jean Ferrat; dieses Lied wurde in Erinnerung an die Gräueltaten des Holocaust geschrieben (vgl. Avisar, Screening, 14).
246 5.3.3 Erzählstimme Die Erzählstimme behält wie auch der Kommentar eine kritische Distanz zum Gezeigten und demonstriert dadurch wieder das Misstrauen in das eigene Unvermögen, die Geschehnisse darstellen zu können. Sie strahlt an keiner Stelle die in Dokumentarfilmen übliche allwissende Autorität aus – das voice over von Michel Bouquet wird nicht direkt identifiziert, ist mal fragend, mal stockend, immer bemüht, nicht in Sentimentalismus abzurutschen37 und entwickelt damit die notwendige Distanz zwischen Zuschauer, Autor des Textes und den Bildern (vgl. Resnais, La Guerre est finie, 1966). Die Stimme ist monoton und versucht nie durch eine zur Schau gestellte Emotionalität den Schmerz und das Leiden im Lager zu verdeutlichen und bestätigt auch durch den Gebrauch des Präsens, dass hier nur rückblickend erzählt werden kann und die Erzählstimme nicht die Stimme der Opfer ersetzen kann. So wird durch die ruhige Stimme einfach Zeugnis abgelegt, beispielsweise im Vorlesen von Statistiken.38 Die Variationen der Stimme lassen sich vor allem in Länge und Intensität erkennen – ein Beweis dafür, dass sie den Text unterstützt, aber der Musik ihren Eigenwert überlässt. Colombat unterscheidet drei verschiedene Intensitätsebenen in der erzählenden Stimme:39 Die erste ist ruhig, langsam, intoniert lange Sätze, fordert den Zuschauer dazu auf, sich vorzustellen, was passiert ist in dem nun stummen Lager. Die Stimme wird zur Imagination benutzt, um zu evozieren, was nicht gezeigt, sondern nur suggeriert werden kann. Der gleiche ruhige Ton wird für die finale Meditation und Interpretation der Konsequenzen des Holocaust in der ––––––– 37
38 39
La Guerre d’un seul homme (Edgardo Cozarinsky 1982) geht weiter als Falkenau (Emil Weiss 1988) mit seinem Nebeneinanderstellen von Wochenschaumaterial und einer Stimme, die zu einem späteren Zeitpunkt aufgenommen wurde. In dieser faszinierenden «Dokumentation» begleitet der Regisseur französische Wochenschauen des zweiten Weltkrieges (hauptsächlich Propagandamaterial, das zeigt, wie die Franzosen manipuliert wurden – mit einer voice-over von den Pariser Tagebüchern Ernst Jüngers (gelesen vom französischen Schauspieler Niels Arestrup). Cozarinsky hat seinen Film eine «documentary fiction» genannt, denn die Stimme, die wir hören, ist nicht die objektive Erzählung eines traditionellen Dokumentarfilms, sondern eine intime Erinnerung. La Guerre d’un seul homme ist ein subtiler Dialog zwischen der öffentlichen Täuschung von französischen Wochenschauen und den privaten Reflexionen eines deutschen Offiziers. Cozarinsky bekannte, dass er Jüngers Monolog wie ein musikalisches Material – eine ernüchterte, kontrapunktische Stimme neben der optimistischen, aggressiven Stimme der Wochenschauen gebrauchte. «This self-conscious style creates both an awareness of the complexities of the Occupation and a wariness of ideologies or certitude» (Insdorf, Indelible shadows, 202). Vgl. hierzu Richard Widmarks theatralische Begleitung des gleichen Archivmaterials in Judgment at Nuremberg (Stanley Kramer 1961). Vgl. Colombat, The Holocaust, 144f.
247 Gegenwart genutzt. Als die Stimme die Arbeitshierarchie der Nazis beschreibt, wird der Rhythmus schneller, die Sätze kürzer, die Stimme etwas lauter, oft mit pizzicati oder staccati im Hintergrund. Die Stimme erzählt die Deportation mit kurzen oder gebrochenen Sätzen, um die schnelle Abfolge der verschiedenen Sequenzen und Photographien zu begleiten (eine ähnliche Technik lässt sich in Resnais’ Guernica, 1950 erkennen). Wenn die Stimme das Lesen von Befehlen oder Nazi-Slogans imitiert, wird sie lauter und schneller bei lauterer Musik. Doch bleibt die Stimme auch bei den Sequenzen aus Triumph des Willens die eines anonymen Zeugens.40 5.3.4 Musik als eigener Diskurs Ganz im Gegensatz zu oftmals schweren dramatischen Orchestersounds41 bei der Behandlung des Holocaust ist die Musik akzentuiert eingesetzt in Nuit et Brouillard. Die Filmmusik muss hier ebenfalls als eigener Diskurs verstanden werden. Sie kann Interpretation, Gegengewicht oder auch Deskription zu den Bildern sein. «En dernière analyse la musique est un cri: la protestation supplémentaire des victimes et l’affirmation mystique de l’immortalité. La musique crée une chaîne de solidarité entre les morts et les survivants: c’est là sa principale raison d’être.»42
Die Musik von Hanns Eisler – der bereits mit Bertolt Brecht und Joris Ivens zusammengearbeitet hatte und der vor dem Nazi-Regime geflüchtet war – ist eng mit Bild und Text verwoben und hat als hervorstechendstes Merkmal die kontrapunktische Anwendung der musikalischen Themen und Motive. Innerhalb der facettenreichen Musik kristallisieren sich vier Themen, die variiert werden, heraus:43 Das erste Thema könnte man als Reflexionsthema beschreiben: Der Film beginnt (über den Credits) mit einer langen melodischen Phrase, dem Thema des Vorspanns, das kurz drei Mal im Laufe des Films wiederkehrt (Sequenz 7, 11, 19). Dieses Thema erscheint erst am Ende in voller Länge wieder und verknüpft, was vor und nach dem KZ-Universum war und wird schließlich in der letzten Sequenz aufgelöst. Somit verstärkt die Musik den poetisch-lyrischen Charakter der Dokumentation, der besonders im Prolog und Epilog des Films auch durch ––––––– 40 41 42
43
Ganz im Kontrast zu Lanzmanns Shoa, in dem die alten Nazis nochmals die Freude und Selbstzufriedenheit fühlen, wenn sie die alten Phrasen lesen. Allen voran Carlo Rustichelli für Gillo Pontecorvos Kapo (1960). Armand-Jean Cauliez: «Nuit et Brouillard.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 148–149 (auch in Télé-Ciné 280 juillet-août 1956). Vgl. auch Pinel, Nuit et Brouillard, 146 und Colombat, The Holocaust, 25f.
248 Text und Bild sich abzeichnet. Das Thema des Lagers besteht aus zwei Flöten- und Klarinettenduos, die allerdings durch pizzicati an einigen Stellen abgelöst werden. Zum einen dient die ruhige Musik als Kontrapunkt zu den Bildern, andererseits begleiten die pizzicati eines der Resultate der Nazis: das große Lager, Typhus, die Körper, die durch den Bulldozer weggeschoben werden, die SS, die von den Amerikanern fortgeführt wird. Kontrapunktisch werden Momente des Leidens einer sanften Musik gegenübergestellt (die Flöte begleitet die Aufnahmen von Leichenbergen), werden grauenhafte und rasche Bilder mit einer einfühlsamen und ruhigen Musik unterlegt «[...] Dans Nuit et Brouillard, plus l’image et violente plus la musique est légère. Eisler voulait montrer que l’optimisme et l’espérance de l’homme existaient toujours en arrière-plan.»44 Das Thema der Deportation lässt sich nicht nur durch seine Melodie wiedererkennen, sondern auch durch das Einfallen der bewegenden Trompete. Hier interpretieren die Trompeten den Klang der abfahrenden Züge. Sie begleiten auch die Bilder, die die Soldaten zeigen; jedoch verhindert die Dissonanz und Isolation eines Soloinstruments jeglichen sentimentalen Effekt. Beim Thema der Nazis handelt es sich nicht wirklich um ein Thema, sondern vielmehr um einen humoristischen Kontrapunkt. Eisler gebraucht pizzicati und einige Perkussionsinstrumente. Diese hüpfende und schneidende Musik erscheint innerhalb der Sequenzen «La machine se met en marche. Il faut une nation sans fausse note;» «Himmler se rend sur les lieux» und auf den Bildern mit Kadavern. Bei den Bildern von marschierenden Nazis findet, entgegen der Erwartung, keine Verdopplung in der Musik etwa durch Marschmusik statt, (was Resnais‘ subtile Kritik und Ironie am System zeigt), sondern diese werden mit einem Pizzicato und Hintergrundtremelos geradezu ironisch kommentiert, ironisiert und pervertiert. Ein wiederkehrender Trommelwirbel innerhalb der Sequenzen aus Triumph des Willens ist die einzige Allusion an die NS-Marschmusik, dieser wird allerdings explizit als Zitat eingesetzt. Als die Kamera zu Hitler emporfährt, setzt eine wehklagende Geige ein – wiederum ein schmerzlichironischer Hinweis, dass hier die Quelle des Grauens ist. Das Deutschlandlied wird verfremdend eingesetzt (man sieht wieder di e Technik der doppelten Inversion, die auch schon im Text und Bild angeklungen ist): Die Hymne begleitet Szenen vom Beladen der ersten Züge für die Lager. Auch hier wird der Missbrauch der Nazis von Haydns Stück als Symbol der nazistischen Dominanz über Deutschland wiederum durch den Einsatz und die Orchestrierung Eislers verkehrt und ironisiert (es wird von einer Jazz-Trompete intoniert, die in der NS-Zeit als «entartetes» ––––––– 44
Roumette, Alain Resnais, 37.
249 Instrument galt). Die Erinnerung jedoch an das Originalwerk Haydns könnte man als Hoffnungsschimmer lesen, das auch die Verzerrung durch die Nazis überlebt hat. Unterstützend kann die Musik starke Brüche im Bild oder Text durch äquivalente Brüche in der Musik begleiten: ein Rollen der Trommeln, das laute Ertönen der Trompete, laute Schläge des Schlagzeugs, ein Klang, stark angeschlagen auf dem Klavier, jeder gefolgt durch eine leise Melodie der Violine, Flöte oder Klarinette können den Bruch zwischen den gegensätzlichen Themen stark machen (z.B. während des Wechsels zwischen Suppe essenden Häftlingen und dem nachfolgenden Schuss der Latrinen in Farbe, wobei die Suppe den Tod bedeuten kann). Ebenso kann das Zusammenfallen von Klang und Bild neue Sektionen des Films verdeutlichen, was eine verstärkende Wirkung hat. Sobald die Aussagekraft der Bilder wieder ansteigt, wird die Musik diskreter: Als die Türen des ersten Zuges sich schließen, verschwindet der imitierende Klang der Trommeln. Als die Massengräber gezeigt werden, verstummt der Text und die Musik bietet eine langsame, tiefe, respektvolle und friedvolle Unterstützung als Hintergrund, um den Zuschauer davon abzuhalten, sich einfach abzuwenden und sich damit dem Horror zu entziehen. Dieser Gegensatz verhindert eine melodramatische Repräsentation und hält den kritischen Sinn des Zuschauers wach. Es verhindert die Dominanz eines Stils und verdeutlicht die tiefe Einheit der verschiedenen Serien und des Films. Jedoch, wenn Bilder in Farbe Bildern in schwarzweiß nachfolgen auf dem gleichen Thema, versichert die Kontinuität der Musik den leichten Übergang zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Auffallend ist die völlige Abwesenheit von jeglichem Lärm; diese Besonderheit gibt einigen Passagen eine surreale Wirkung: Akustische Leerstellen sind an verschiedenen Punkten des Films gesetzt: Hier wird die Ungewissheit und Angst der Deportierten über ihr Schicksal verdeutlicht, und auch zu Beginn des vierten Teils geht völlige Stille Himmlers Direktiven, die den Exterminationsprozess beschleunigen, voraus. Beide Male wird hier der Abstieg zum Grauen verdeutlicht. Die Aufnahmen von befreiten Lagern läuten das Ende des Films ein. Ein Bild des unvorstellbaren Grauens zeigt sich hinter den Toren den Befreiern. Und auch der Zuschauer sieht mit größter Fassungslosigkeit dieses Bild menschlichen Elends – ganz ohne Kommentar und Musik zeigt Resnais diese Grausamkeiten. Diese Leerstellen dienen dazu, allein durch visuelle Eindrücke den Zuschauer durch nichts zu beeinträchtigen und zu versuchen, ihm das Unvorstellbare zu zeigen und ihn zum Nachdenken anzuregen. Nach unerträglichen 90 Sekunden werden nach den Opfern die Täter gezeigt.
250 «Musik, Text und Bild verhandeln ihre je eigenen Probleme der ästhetischen Vermittlung der Shoah, sie stören und stützen sich gegenseitig, sie ringen um Ausdruck welcher, nicht zuletzt durch die genaue Abstimmung der einzelnen filmsprachlichen Parameter aufeinander, auch erreicht wird.»45
Die Leerstellen korrespondieren demnach mit dem Kommentar Cayrols, dass kein Film zu einer objektiven Repräsentation der realhistorischen Geschehnisse in der Lage sei und filmische Annäherung immer eine individuelle Sicht sei.46 5.3.5 Kamera auf Spurensuche im Raum In Nuit et Brouillard spiegelt die architektonische Komposition der Bilder zugleich die Gesamtaussage wider: Ausgehend vom Konzentrationslager in Auschwitz im Jahre 1955, das durch die sich vorwärtsbewegende Kamera erschlossen wird, bewegt sich der Zuschauer anhand der Schnitte und der Kamerabewegung in Zeit und Raum, oszillierend zwischen Gegenwart und Vergangenheit. In den Einleitungseinstellungen von Nuit et Brouillard wandert die Horizontlinie nach und nach tiefer, zur Mitte und zum unteren Drittel des Bildes, um letztendlich in der Perspektive der Stacheldrahtzäune, die die Tiefe des Bildes kreuzen, ganz zu verschwinden. Solche Linien sind ein wiederkehrendes Bild in der Dokumentation – in den Stacheldrahtzäunen, Schienen, Latrinen und Gefangenenreihen, die zur Arbeit gehen. Die Horizontlinie, die immer noch die Möglichkeit zur Flucht symbolisierte (sowohl für die Häftlinge aus dem Lager, als auch für den Zuschauer, der sich mit seiner Vergangenheit konfrontiert sieht) verschwindet komplett, als die historischen Aufnahmen gezeigt werden, die Linien des KZ und die Reihen der Militärs dominieren und der Zuschauer sich in der Geschichte Nazi-Deutschlands im Jahr 1933 befindet. Hier ist das Bild komplett bedeckt mit Soldaten und der begeisterten Masse, was so gelesen werden kann, dass die ideologische Botschaft keine Freiräume zulässt. Die Bilder aus dem Lager vermitteln die Entindividualisierung und Gefangenschaft durch Räume, die vollgestopft mit Menschen sind («Premier regard sur le camp: c’est une autre planète»). Die erste Einstellung verbindet visuell beide Grundelemente der Dokumentation und zeigt zugleich das Verfahren: Dem Zuschauer eröffnen sich nicht nur Bilder von Auschwitz und ein Feld, sondern auch Ackerfurchen, die das Bild in unzählige Linien gliedern, die in der unteren rechten Hälfte des Bildes sich ––––––– 45 46
Berg, Shoah, 226. Jean Cayrol: «Nous avons conçu Nuit et Brouillard comme un dispositif d’alerte.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 137.
251 treffen und dieses diagonal teilen. Ein vertikaler Kameraschwenk gibt den Blick auf Horizontlinien und Ackerfurchen im Vordergrund und auf den Stacheldraht und die Posten des KZ frei. Somit sind beide Elemente gegeben: Vergangenheit (zumindest die Reste dieser) und Gegenwart werden miteinander verbunden und die Spurensuche ist durch die Kamerabewegung vorgegeben: die Bewegung zeigt an, dass sich unter der Oberfläche dieser idyllischen Landschaft noch eine andere Schicht der europäischen Geschichte befindet, die nun aufgedeckt und wieder zum Vorschein gebracht werden soll – der Erinnerungsprozess wird damit in Gang gebracht. Die Kamerabewegung, die diese Szene etabliert (die quasi als Einleitung und Grundlage für das Kommende angesehen werden kann) verändert sich bereits in der zweiten Einstellung; sie geht zurück, bewegt sich langsam nach rechts (jetzt sind die Ackerfurchen und der Horizont parallel, wie die Zäune in der ersten Einstellung). Es scheint, als ob die Kamera selbst Beobachter ist und noch auf der Suche nach der geeigneten Ausdrucksform ist, um das Geschehene abzubilden. Auf einmal kreuzt der Stacheldraht das ganze Bild – ein Zeichen für den verbotenen Zutritt und trotzdem wird die Kamera hinter diesen Stacheldrahtzaun gehen, um die Vergangenheit aufzuzeigen.
5.4
Das Lager, «un monde à part» – «mais on ne peut plus rien dire …»
5.4.1 Auschwitz damals – die Geschehnisse Von der Spurensuche in der Gegenwart gelangt die Dokumentation zu den Geschehnissen in der Vergangenheit, die Resnais durch historisches Filmmaterial zeigt. Auf die Frage, warum er seinen Film teilweise in Farbe und schwarz-weiß gedreht habe: «En faisant tout le film en noir, je craignais d’obtenir avec ces vielles pierres, les barbelés et les ciels de plomb, un romantisme cinématographique qui n’aurait pas du tout été de bon aloi. Les couleurs et les parties muettes servent à montrer la différence. D’ailleurs dans les souvenirs on pense un peu en gris, en tout cas dans une couleur moins nette. Le contraste entre le mouvement et l’immobilité pour certains aspects dramatiques paraît très recherché, j’en ai même eu un peu honte au moment du montage.»47
––––––– 47
Alain Resnais: «Alain Resnais à la question.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 135–136 (auch in Premier Plan 18 Octobre 1961, 36–38).
252 Diese Archivaufnahmen sind als Kennzeichnung der Erinnerung anzusehen. Doch zugleich vermitteln sie auch Dokumentation und Authentizität,48 wobei die Dokumentation zugleich (nicht allein durch den kritischen Text Cayrols) die Unmöglichkeit der Vermittlung einräumt. Drei Bildquellen bilden die Grundlage für die Vergangenheitssequenzen: Leni Riefenstahls Triumph des Willens; historische Wochenschauen und Photographien. Die Auswahl der Bilder ist variantenreich, d.h. Resnais sucht nicht nur in ihrer Aussagekraft brutale Bilder aus (wie beispielsweise das berühmte Bild des Bulldozers oder eine verwesende Frauenleiche etc.), sondern auch subtilgrausame Bilder, die aber gerade durch ihre Diskretion bestechen (die Fotografie des kleinen Jungen, der seine Hände hochhält). Die Vergangenheit wird plötzlich eingeleitet durch einen Wechsel auf verschiedenen Ebenen: von Farbe (einer ruhigen Landschaft in der Gegenwart) zu schwarz-weiß (marschierende Soldaten), in der Musik (von der langsamen pastoralen Flöte und den sanften Klängen der Drums schwenkt die Musik zu den Pizzicati der Violinen um, zusätzlich wird immer wieder ein Trommelwirbel eingesetzt) und schließlich wird der poetische Text durch einen historischen Kommentar ersetzt. Die langsame Meditation der Gegenwart wird durch den frenetischen Rhythmus der NaziMaschinerie ersetzt: «1933 – la machine se met en marche» läutet den Beginn der Nazi-Ära ein. Das symbolisch-ikonographische Zentrum wird allmählich aufgebaut.49 In den Filmaufnahmen aus Triumph des Willens war das Bild ursprünglich als Vermittler der Ideologie gedacht.50 Diese Techniken von Riefenstahl sollen allerdings hier nicht diskutiert werden, zumal Resnais durch Musik und Kommentar die NS-Ideologie subversiv ––––––– 48
49
50
Diese Bilddramaturgie (s/w: Vergangenheit, Farbe: Gegenwart) ist heute geläufiger Filmkunstgriff. 1955 war sie ein Avantgardismus, den die relativ neuen Farbfilme suggerierten. Reihen von Soldaten kommen von links nach rechts, von rechts nach links, vom Hintergrund, dann bedeckt das Hakenkreuz das gesamte Bild. Die Bevölkerung flankiert die Soldaten im Hitlergruß. Das Gefühl des Eingeschlossenseins wird stärker. Die Kamera schwenkt nach rechts in die Straßen von Nürnberg, folgt einer anderen Parade und fokussiert Himmler und Hitler, die die ganze Szene mit dem Hitlergruß bedecken. Unzählige Soldaten mit Hakenkreuzfahnen, die direkt auf die Kamera und somit den Zuschauer zulaufen, eine begeisterte Menschenmasse, deren Größe die Kamera gar nicht in der Lage ist einzufangen, die (berühmten) Unteransichten von Hitler und seinen Gefolgen, die hierarchische Rangordnung, symbolisiert durch den Kameraschwenk (von Himmler geht die Kamera nach oben, bis sie schließlich bei Hitler angelangt ist). Die Ordnung der Figuren des Nazi-Regimes ist wichtig: Himmler, Chef der SS, wird als erstes als Chefingenieur der KZ gezeigt; Hitler, als Führer, ist in der Mitte als Kern des NaziNetzwerkes und Julius Streicher, Herausgeber des «Stürmer,» repräsentiert die Quelle des fanatischen Rassismus. Bilder von gläubigen Nazis aus Triumph des Willens komplettieren die kurze Einführung zum NS-Staat.
253 unterläuft und ironisiert. Riefenstahls Bilder stehen im Kontrast zu den Kamerafahrten in Nuit et Brouillard in den Gegenwartssequenzen, die dem Zuschauer Raum lassen, durch Imagination eigene Schlüsse zu ziehen. Die Kamera scheint in den Archivaufnahmen auf der Suche nach einem Fluchtweg durch die Straßen zu rennen und verharrt bei Gesichtern. Hier in den Schwarz-Weiß-Aufnahmen wie auch in den ersten Farbaufnahmen ist keine Flucht möglich, der Raum ist geschlossen, der Horizont verschwunden. Die begeisterte Masse bedeckt das gesamte Bild. Die Konsequenzen dieser fanatischen Begeisterung und des blinden Gehorsams werden in einem Schnitt zu den Lagern unterstrichen. Letztlich sehen wir das fertige Lager; als ob Resnais die Vergangenheit nochmals Stück für Stück rekonstruieren möchte, bemerkt der Kommentar: «Et le jour vient où leurs blocks sont terminés où il ne manque plus qu’eux.» Obwohl Resnais Ausschnitte aus Triumph des Willens benutzt, werden diese jedoch durch seine Technik der Brüche und Inversionen so eingesetzt, dass zum einen keine Gefahr der Propaganda mehr besteht und sie darüber hinaus bei Resnais zur Aufklärung, Interpretation und Erhellung der Geschehnisse dienen. Leni Riefenstahl benutzt die Froschperspektive zur Verherrlichung der Hitlerschen Armee, um deren Stärke zu zeigen und die Macht der NaziFührer zu versinnbildlichen, ebenso die Vogelperspektive, um die Macht über das Volk zu demonstrieren. Resnais wiederum verwendet bewusst die gleichen Kameraperspektiven, um das Ausmaß des Horrors im Lager zu beschreiben: Berge von Haaren, Aufnahmen des Lagers von einem Flugzeug aus, das Lager von einem Wachturm aus. Die eigentliche Funktion des Propagandafilms wird somit durch Resnais Auswahl und Montage51 umgekehrt bzw. zerstört. Die verschiedenen Architekturstile (Türme, Wachtürme), die das Lagerleben einführen, unterstreichen die Allgemeingültigkeit des Gezeigten: «Et c’est alors que Nuit et Brouillard devient non seulement un exemple sur lequel méditer, mais un appel, ‹un dispositif alerte› contre toutes les nuits et tous les brouillards qui tombent sur une terre qui naquit pourtant dans le soleil, et pour la paix.»52
Die Opfer repräsentieren jedermann, jede Nation, jede Kultur, sie alle teilen das gleiche Schicksal: Die wenigsten werden die Schwelle des Lagers ein ––––––– 51
52
Henri Colpri hatte zusammen mit seiner Frau Jasmine Chasney den Schnitt übernommen; Resnais selbst hat exzellente Kenntnisse im Montagebereich, da er selbst als Cutter gearbeitet hat. Jean Cayrol: «Nous avons conçu Nuit et Brouillard comme un dispositif d’alerte.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 137 (auch in Les Lettres Françaises 606 [February 9, 1956]).
254 zweites Mal übertreten («Des architectes inventent calmement ces porches destinés à n’être franchis qu’une seule fois»). Währenddessen, so lautet der Kommentar, leben die potentiellen Opfer ihr normales Leben, wobei die Bilder verschiedene Lager zeigen – das Schicksal der Opfer ist bereits festgelegt. Dann folgt die Visualisierung der Deportation. Was bei Charlotte Delbo durch eine Aneinanderreihung von Namen und Orten (Auschwitz I, 12) das unglaubliche Ausmaß und die unaufhaltbare Geschwindigkeit des Schicksals ausdrücken sollte, wird in Nuit et Brouillard durch Aufzählung sämtlicher Städte Europas, Bilder von Deportierten aus ganz Europa, die das Bild in jeder Richtung durchkreuzen und auf ihre Abfahrt warten, visualisiert, verstärkt durch den Kommentar, der die Unbestimmtheit der Verhaftungen einfängt: «la foule des-pris-sur-le-fait, des pris-par-erreur, des pris-aus-hasard, se met en marche vers les camps.» Bereits in den Wartelagern herrschen unmenschliche Bedingungen. Die Deportation wird ohne Kommentar gezeigt, nur durch eine ruhigere Musik mit Klavierklängen begleitet, in die sich ab und an eine schicksalshafte Trompete oder dunkle Klarinettentöne mischen. Das nunmehr ikonographisch gewordene Bild des Zuges (das auch Delbo in ihrer Trilogie als Aufhänger verwendet) wird hier eingesetzt:53 Der Zug fährt ab, einem Horizont entgegen, der nun ganz durch den Zug gefüllt ist; das Schicksal der Deportierten ist nunmehr besiegelt, versinnbildlicht und visualisiert durch den geschlossenen Raum: Der Horizont als Symbol der Freiheit ist verschwunden. Das Bild der Großaufnahme von Gleisen wird in der nachfolgenden Farbsequenz wieder aufgenommen. Aggressivere Musik löst das beinahe lyrische Thema ab. Die alptraumhafte Fahrt wird vor dem Hintergrund einer dieser verschlossenen Züge erzählt («Trains clos, verrouillés. Entassement des déportés à cent par wagon. Ni jour, ni nuit, la faim, la soif, l’asphyxie, la folie»), was eine Möglichkeit darstellt, das Leiden visuell umzusetzen, ohne es direkt zu zeigen. Ein Kamerawechsel vom abfahrenden Zug (Zug entfernt sich vom Betrachter) zum ankommenden Zug (Zug fährt von links nach rechts, Horizont sichtbar) mündet in der Ankunftsszene im Lager, die den Filmtitel visualisiert: Der ––––––– 53
Alain Resnais zitiert diese Szene von Wanda Jakubowskas Ostatni Etap (1947). Die Regisseurin Wanda Jakubowska war selbst im Frauenlager in Auschwitz-Birkenau. Der Film war der erste Spielfilm, der auf dem Gelände des Vernichtungslagers gedreht wurde. Er schildert Leben und Sterben im Frauenlager, die Tagesabläufe und Grausamkeiten, aber auch die Solidarität unter den Häftlingen. Ostatni Etap steht am Anfang aller Holocaustfilme. Gedreht wurde mit Statisten, von denen manche selbst Überlebende des Lagers waren, gedreht am «Originalschauplatz,» vor und in den Baracken des Lagers, zwei Jahre nach dem Ende des Krieges. Zur «authentischen» Einsetzung des Films sowie darüber hinaus zu Fragen der Genre-Grenzen und Genrefilm und Holocaust (vgl. Loewy, Fiktion und Mimesis, 37f.).
255 Zug fährt in der Nacht ein, Soldaten warten im Nebel und sind im rechten Bildrahmen aufgebaut, parallel zur Bewegung des Zuges. «La mort fait son premier choix [dieser Satz wird noch auf die Bilder des Zuges gesprochen und bildet zugleich die Überleitung zur Ankunft im Lager, Anmerkung der Verf.] Un second est fait à l’arrivée dans la nuit et le brouillard.» Die Kamera entdeckt den gleichen Ort in einer parallelen Kamera-Zugfahrt in Vergangenheit und Gegenwart (der Einleitung) nur dieses Mal im Schwarzweiß-Material im Nebel mit der Ankunft des Zuges in Auschwitz mit dem berühmten Gebäude, dessen Haupteingang die Deportierten bald verschlucken wird. Nach einem kurzen Schnitt zur Gegenwart knüpft die Vergangenheit an die Gegenwart mit dem Bild des Wachturms an (der durch eine aggressive Trompete begleitet wird). Ein langsamer Kameraschwenk situiert das nun folgende Geschehen: Das Tor von Auschwitz mit «Arbeit macht frei» wird in Szene gesetzt (hier wird die Melodie zu einem Ende geführt) und mit einer Großaufnahme von weit aufgerissenen Augen gegengeschnitten. Unübersehbare Menschenmassen, die in einem Hof zusammengedrängt worden sind, füllen das Bild aus. Resnais zeigt in seiner Darstellung des «autre planète» den entwürdigenden Initiationsprozess, den die Gefangenen durchleben müssen. Sie werden gezwungen, sich auszuziehen und versuchen vergeblich, sich zu bedecken (ein Bild, das Cavani für ihre Zeichnung des Lagers aufgreift).54 Die Klassifizierung der Inhaftierten führt zu einer Einführung in die Lagerhierarchie.55 Eine kurze Episode in Farbe, die sich mit dem Thema Erinnerung und Unverstehbarkeit des konzentrationären Universums sowie den Schlafstätten der Gefangenen beschäftigt, leitet über zur Alltagsroutine im Lager, d.h. zur Organisation des täglichen Überlebenskampfes,56 wobei der Tag mit dem Tod beginnt, indem die Gefangenen die Toten am Morgen wegschaffen müssen. Die Omnipräsenz des Todes zeigt sich in allen ––––––– 54
55
56
Der Initiationsprozess wird vermittelt durch eine Serie von Bildern Gefangener, die rasiert, tätowiert und numeriert werden. Hier zeigt das Bild genau, was der Kommentar beschreibt. Auf dem Rücken eines Häftlings ist groß «NN» zu lesen, das durch den Text noch erklärt wird («classé parfois ‹Nacht und Nebel,› ‹Nuit et Brouillard›»). Die Häftlinge des «Nacht und Nebel»-Dekrets stoßen zunächst auf gewöhnliche Kriminelle (die Bilder zeigen jeweils die entsprechenden Dreiecke), darüber befindet sich der Kapo (die Kamera erfasst das Bild eines feist und roh aussehenden Mannes), «presque toujours: un droit commun,» dann der SS-Mann, «On lui parle à trois mètres,» dann der Kommandant, «Tout en haut [...],» den man bezeichnenderweise auf einer Art Aussichtsplattform sieht. Dieses Einschließen von Raum und Horizont durch ein massives Gebäude, das den Hintergrund des Bildes kreuzt, wird wieder in L’année dernière à Marienbad (1961) genutzt, um die Gefangenschaft der drei Hauptcharaktere des Films zu charakterisieren, die Unmöglichkeit, das Gelände des Schlosses zu verlassen, die Notwendigkeit, sich ihrer Erinnerungen zu stellen und ihre Metamorphosen in Zeit und Raum.
256 Bereichen des Lagers: Morgenappell, unmenschliche Arbeit zu extremen Zeiten (grausam-ironisch durch ein kleines Orchester begleitet) und die Natur, die zum Gegner werden kann («Travail dans la neige qui devient vite de la boue glacée»).57 Verschiedene Bilder mit arbeitenden Deportierten folgen.58 Das Hauptthema des Essens, das in allen filmischen wie literarischen Behandlungen des Lageralltags eine große Rolle spielt («Le déporté, lui, retrouve l’obsession qui dirige sa vie et ses rêves: manger.»), wird eingeleitet durch Bilder abgemagerter Gefangener, die in einer Essensschlange stehen.59 Die Szenen kulminieren in der Beschreibung des Muselmanns,60 der zum Sterben bereit ist. Die Farbbilder der Latrinen und deren Zugänge zeigen den Übergang zu den durch das Essen verursachten Krankheiten, zur Beschreibung einer Welt, der jeglicher Vergleich fehlt. Die Gesellschaft und Solidarität der Gefangenen, die sich im Lager bildet (Kommentar noch in der Gegenwart), wird der «Ordnung» der SS entgegengesetzt (Schwarz-weiß-Bilder). Auf Tafeln steht in sadistischer Komik geschrieben: «Arbeit macht frei,» «Jedem das Seine,» «Eine Laus Dein Tod.» Dass die Häftlinge bei ihren schweren Arbeiten durch ein kleines Orchester «begleitet» werden, ist ein weiteres Detail des wahnwitzigen Sadismus. Der Kommentator spricht mit befremdlicher Stimme und setzt einen ironisch-wahren Zusatz an den letzten Satz, «Un pou, c’est ta mort’ ... Et un SS donc!» Das Aufeinanderprallen zweier
––––––– 57
58
59
60
Elemente der Ordnung des Terrors sind: Lagerhierarchie, Solidarität zwischen den Gefangenen, launenhafte Bösartigkeit der Unterdrücker, Dauer der Appelle, schlechte medizinische Versorgung, Selektion etc. (vgl. Sofsky, Terror, 137–151, 96, 90, 229, 241– 242, 282–283). Der Steinbruch von Mauthausen wird besonders erwähnt, hier verharrt die Kamera auf der Treppe, die nach unten führt, «Trois milles Espagnols sont morts pour construire cet escalier qui mène à la carrière de Mauthausen.» Die Arbeit in den unterirdischen Fabriken führt für die geschwächten Häftlinge ebenfalls zum Tod. Ein grausam-ironischer Wegweiser zeigt an, auf welcher Seite des Lagerlebens man sich befindet («Des pancartes de style rustique renvoient chacun chez soi»). Die Strichliste eines Kapos zeigt an, wieviele Menschen an einem Tag starben. Ein Zeugnis der andauernden Solidarität unter den Gefangenen bietet das Bild von zwei Gefangenen, die sich die Suppe teilen. Diese Einstellung wurde sicherlich für die Dokumentation nachgedreht. Der Muselmann war ein zerstörter, am Lagerleben zerbrochener Mensch, ein Opfer der schrittweisen Vernichtung. Ein Häftling, der nur die Lagerkost erhielt und nicht die Möglichkeit des «Organisierens» hatte, verfiel schon nach wenigen Wochen. Der chronische Hunger führte zu einer allgemeinen Körperschwäche. Die Muskulatur schwand, die Vitalfunktionen gingen auf das Minimum zurück. Der Pulsschlag verlangsamte sich, Blutdruck und Temperatur sanken ab, der Körper zitterte vor Kälte. Die Atmung ging langsamer, die Stimme wurde leise, jede Bewegung kostete größte Mühe.
257 Welten – der Welt der Kultur mit der Welt der Grausamkeit – wird anhand einiger Beispiele beschrieben und gezeigt.61 Mit Bildern, die vom Lager ausgehend, eine Stadt und ein Schloss zeigen, wird ein kurzer Sprung zur Gegenwart übergeleitet. Die in den Farbsequenzen angesprochene Beschäftigung der Soldaten im Wachturm zeigen die Schwarz-weiß-Bilder in grauenhafter Deutlichkeit. Verschiedene Fotos mit ermordeten Häftlingen im Stacheldrahtzaun bilden den Anfang einer Reihe von Bildern, die ausgehungerte Menschen zeigen, verschiedene Strafen und Schikanierungen von Gefangenen (die auf Fotos gebannt wurden und im Kommentar erläutert sind), die schließlich mit einer Großaufnahme des Galgens und dem Erschießungshof des Blocks 11 enden. Die idyllische Aufnahme des Schloss in Hartheim täuscht: «Ce château d’Hartheim, où des autocars aux vitres fumées conduisent des hôtes qu’on ne reverra plus» und schließlich werden Transporte in Lastwagen gezeigt, deren Ziel die Krematorien sind. Das Bild wird in schwarz ausgeblendet und dem Zuschauer wird suggeriert, dass bei so viel Leid sich auch das Kameraauge verschließen muss. Die Aufblende in Weiß leitet den Teil über kulturelle Tätigkeiten der Häftlinge ein – Akte des Widerstands, die angesichts des vorher gezeigten Leids ungeheure Aussagekraft haben. Dass diese kulturellen Tätigkeiten aber immer im Angesicht des Todes bewerkstelligt wurden, zeigt das nachfolgende Bild eines Muselmanns. Somit werden die kulturellen Tätigkeiten durch Tod und Krankheit eingerahmt, auch ein struktureller Hinweis, wie schwierig es für die Häftlinge war, unter diesen Bedingungen kreativ tätig zu sein. Für jene, bei denen die gegenseitige Hilfe und Umsicht nichts mehr helfen, ist die letzte Möglichkeit der Krankenblock («En dernière ressource, on pousse avec angoisse les plus menacés à l’hôpital»). Die Sequenz über den Krankenblock wird mit der Gegenwart in kurzen aufeinanderfolgenden Schnitten gezeigt. Hier übertritt der Zuschauer in der Gegenwart die Grenze zur Vergangenheit und befindet sich sozusagen nochmals in der Vergangenheit (deshalb wird die Sequenz vollständig in diesem Kapitel erläutert): In der Farbsequenz nähert sich die Kamera der Tür des Krankenblocks («Approcher de cette porte, c’était l‘illusion d’une vraie maladie, l’espérance d’un lit. C’était aussi le risque d’une mort à la seringue»). Ein Schnitt zur Vergangenheit zeigt Bilder des Grauens von völlig geschwächten Kranken, die nicht versorgt werden. Der Kommentar erklärt die unzureichende Versorgung, die fehlende Hygiene, das ––––––– 61
Ein Symphonieorchester, ein Zoo (Bild zeigt einen Bären), Treibhäuser Himmlers und die Goethe-Eiche. Dem Bild der Goethe-Eiche mit dem Kommentar, dass dieser Respekt bei der Erbauung gezollt wurde, folgen Filmaufnahmen von Waisen und Invaliden, die in Blocks geführt werden.
258 fortwährende Hungern («Quelquefois le malade affamé mange son pansement»). Die Entindividualisierung und Entmenschlichung beschreibt der Kommentar und die Bilder zeigen Kranke, die sich alle ähneln und alterslos scheinen. Ein Foto mit einem die Augen weit aufgerissenen Toten schließt die Schwarz-weiß-Sequenz ab. Diese Aufnahme wird besonders lang gezeigt – der Tote schaut den Zuschauer direkt an. Der Schnitt zur Gegenwart zeigt die geschlossene Tür des Krankenblocks, wobei die Kamera weiter zum Experimentierblock weiterfährt. «Il y avait un block chirurgical. Pour un peu on se serait cru devant une vraie clinique» – doch die Aufnahmen in schwarz-weiß beweisen das Gegenteil: Musikalisch nur durch eine Geige begleitet, werden Bilder der Täter dieser Versuchsstätten gegeben. Nachdem die Gerätschaften gezeigt wurden, folgen Bilder mit den Ergebnissen: kastrierte Deportierte, ein durch Phosphorverbrennungen entstellter Fuß, Menschen, die für immer gezeichnet sind. Ein Blick zurück zum Beginn des Lagerlebens zeigt, dass die Entindividualisierung bereits hier stattgefunden hat: Die Verwaltungsstellen bewahren die Ausweise auf. Resnais zeigt hier Großaufnahmen einiger Ausweise, ein Listenbuch der Registrierten, die Namen von Angehörigen von 22 Nationen. Mit diesen Bildern, die die Identität und Charakteristika jedes einzelnen Gefangen unterstreichen, versucht Resnais den Opfern ein Teil ihrer Würde und ihres Selbst zurückzugeben. Durch einen kurzen Einschub verdeutlicht Resnais die unterschiedliche Raumstruktur im Lager, die mit der Stellung im Lager verbunden ist: Die Gesamtansicht des Zimmers des Kapos, das der nächste Schnitt zeigt, steht im krassen Kontrast zum Lagerleben der Häftlinge. Eine Steigerung findet dies noch in den Filmaufnahmen der Villa (zunächst von außen, dann Innenaufnahmen) des Kommandanten, der hier sein normales Leben mit familiären und sozialen Verpflichtungen weiterführt. Die Zerstreuung für die Kapos (das Bordell) sowie das Gefängnis werden in den Farbsequenzen festgehalten. Durch Festlegung des Datums «1942» und einer Serie von 12 Photos von Himmlers Besuch in Auschwitz wird der Exterminationsprozess eingeleitet. Zunächst werden die Bilder ohne Kommentar gezeigt, dann zitiert der Kommentar die Direktive Himmlers: «Il faut anéantir, mais productivement.» Hier ist nicht so sehr die Alleinverantwortlichkeit Himmlers auffallend, sondern mit welcher Sorgfalt das Lager und im besonderen die Konstruktion des Krematoriums entwickelt wurde (zunächst sieht man einen Plan, dann ein Modell, schließlich wird es im Schnee gebaut). Die Deportierten arbeiten an ihrer eigenen Vernichtung: an Krematorien und Öfen.
259 5.4.2 Täter und Opfer im Lager Alain Resnais entscheidet sich in Nuit et Brouillard das Schicksal nicht an einzelnen Personen festzumachen und verfolgt somit genau die entgegengesetzte Richtung von Cavani. Und obwohl er die Entindividualisierung und Anonymisierung der Opfer zeigt, schafft er es trotzdem, sie als Individuen darzustellen. Diese Aufgabe fällt dem Text zu, der Namen von Deportierten und Städten von Europa nennt, um die Individualität der Opfer zu betonen und zwischen Opfer und Zuschauer eine Verbindung herzustellen. Nicht nur der Name, sondern auch Beruf und Nationalität werden genannt, um das gesellschaftliche Leben der Opfer zu zeigen, das sie vor der Deportation hatten («Pendant ce temps, Burger ouvrier allemand, Stern étudiant juif d’Amsterdam, Schmulszki marchand de Cracovie, Annette lycéenne de Bordeaux vivent leur vie de tous les jours, [...]»). Dem von den Nazis intendierten Vernichtungsprozess der Identitäten und der erzwungenen Anonymität der Opfer versucht Resnais hier entgegenzuwirken. Durch die Auswahl des Dokumentationsmaterials über die Täter hinterfragt Resnais ihre Ideologie: In seiner Verwendung von Szenen aus Triumph des Willens sieht der Zuschauer Himmler, Streicher und Hitler siegessicher, überzeugt von ihrem ideologischen Tun an der Spitze einer jubelnden Menge. Hier wird kein Text beigelegt, sondern allein die Musik Eislers ironisiert diese Aufnahmen. Diese Ausgewogenheit von Bild und Ton wird im Kommentar zu den Bildern aus Triumph des Willens aufgehoben, der ursprünglich intendierte Effekt der Bilder wird umgedreht. Während der Bahnhofssequenz wird sinnbildlich, wie wenige Täter über eine ungeheure Masse von Opfern die Macht hatten. Die Szenen am Zug mit den hilflosen Opfern werden neben das arrogante Verhalten der Nazis gestellt. Eine Großaufnahme eines entsetzten Mädchengesichtes aus einem Waggon, der mit 74 Personen vollgestopft ist, verrät auch das (individuelle) Empfinden des Schreckens. Die Sequenz in Auschwitz über die Identität der Opfer zeigt zum einen die intendierte Entindividualisierung der Nazis gleich zu Beginn des Eintritts in das Lager («Ces femmes, ces hommes, les bureaux administratifs conservent leur visages, déposés à l’arrivée»), zum anderen aber wird durch das ausgesuchte Bildmaterial den Opfern ein wenig ihre Individualität zurückgegeben: Großaufnahmen eines italienischen Passes, eines Ausweises aus Rotterdam, eines französischen Passes und individueller Photos geben einen Eindruck davon, dass jedes Opfer ein Leben vor dem Lager hatte. Von den Tätern ist Himmler in einer ausgedehnten Sequenz, die den Krematoriumsszenen vorausgeht, länger zu sehen. In 12 Aufnahmen sieht
260 man ihn nachdenklich die Pläne und Modelle studieren und im Gespräch mit anderen die Krematorien entwickeln. Diese für die kurze Dokumentation zahlreichen Einstellungen eines einzelnen wurden von Resnais wohl deshalb ausgewählt, um zu betonen, dass die Krematorien von Menschen ausgedacht wurden zur gezielten Vernichtung von anderen Menschen – hier wird explizit betont, dass nicht «das Böse» an sich an der Ermordung von Millionen von Menschen schuldig war. In einer der erschütterndsten Sequenzen der Dokumentation zeigt Resnais über 90 Sekunden lang ohne Musik und ohne Kommentar die Opfer: Leichen, Detailaufnahmen von Verstümmelungen und Verwesung und das (mittlerweile bekannte) Bild der Planierraupe, die Leichen stapelt. Gegenüber diesen Bildern des Grauens setzt er sofort die Täter: Wärterinnen in SS-Uniform und SS-Wachleute. Die von den Nazis so sorgfältig elaborierte Organisation (die Lebenden und die Toten wurden gezählt, dokumentiert, tätowiert, durch verschiedene Farben gekennzeichnet) wird unterminiert, als der Zuschauer die Massen nackter Menschen sieht, die ununterscheidbar von Geschlecht, Alter und Charakter sind. Am Schluss der letzten Schwarz-weiß-Sequenz werden die Überlebenden gezeigt. Die Täter jedoch entehren die Opfer ein letztes Mal, indem sie alle erklären, dass sie nicht schuldig sind – in der hierarchischen Reihenfolge erklären sie ihre Nicht-Mittäterschaft: «‹Je ne suis pas responsable› (dit le kapo). ‹Je ne suis pas responsable› (dit l’officier). ‹Je ne suis pas responsable .... ›» Interessanterweise werden die Männer in einer Froschperspektive gezeigt, die sehr an die Kameraeinstellung aus Triumph des Willens erinnert – die zur Schau getragene Ideologie von damals wird nun demaskiert. Das «Alors, qui est responsable?,» das über den Bildern von Leichenbergen gesprochen wird, richtet sich direkt an den Zuschauer.62 Nuit et Brouillard wurde für einige Kritiker wegen der Darstellung der Opfer zur Angriffsfläche: In Nuit et Brouillard gibt es keine Unterscheidung der Opfer, was sich sowohl im Bild, als auch im ––––––– 62
In Eberhard Fechners Der Prozess (1984) werden hingegen durch Schnitt und Montage die Erinnerungen der Täter mit den Erinnerungen der Opfer konfrontiert. Fechner schneidet in direkter Konfrontation die widersprüchlichen Erinnerungen und ergreift schließlich Partei für die Opfer. Denn ihre Aussagen belegt er mit über 500 historischen Fotos, einigen Filmausschnitten und Aussagen von Experten wie Simon Wiesenthal. Der Prozess ist vor allem ein Film über das Kollektiv der Täter. Ersichtlich wird, dass das Vergangene bis in die Jetztzeit fortwirkt, doch die Traumatisierung der Überlebenden bleibt dabei im Hintergrund. Das Anliegen des Gerichts und des Filmemachers konvergieren: Beide sind auf der Suche nach der materiellen Wahrheit, wollen wissen, wie es im Lager wirklich gewesen ist. Während das Gericht die Urteile festschreiben muss, um zu einem Urteil zu gelangen, kann der Künstler den polyperspektivischen Blick auf das Geschehene wahren (vgl. Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 62).
261 Kommentar niederschlägt.63 Bewusst setzt Alain Resnais diese globalere Sichtweise ein, da er seinen Film über Täter und Opfer insgesamt, über die menschliche Existenz und die Gefahren der Wiederholung der Ereignisse drehen wollte. Somit spart auch der Text «Deutschland» aus. Allerdings muss festgehalten werden, dass das Schicksal jüdischer Deportierter sich eben doch von dem der anderen unterschied.64 Der Fehler liegt nach Avisar weniger im Weglassen oder Ignorieren des jüdischen Leidens, sondern im Fehler, die Tötung der Juden nicht als essentielle Säule des NaziPhänomens zu betrachten.65 Dieses Ignorieren des jüdischen Schicksals war zu dieser Zeit in der Filmgeschichte nicht unüblich.66 Avisar hält einen politischen Druck für wahrscheinlich; beispielsweise weigerte sich das Cannes Festival 1956 einen polnischen Film über das Warschauer Ghetto zu zeigen; Nuit et Brouillard wurde ebenso verbannt, denn es zeigte eine 5Sekunden-Einstellung eines französischen Polizisten in einem französischen KZ. Mitte der 50er Jahre hatte die breite Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit und Kollaboration noch nicht begonnen. Für Robert Michael universalisieren Resnais und Cayrol die Schuld der Mörder für ihre Taten und lassen die Besonderheit des jüdischen Holocaust aus.67 Doch sollte nach van der Knaap jede Repräsentation des Vergangenen aus ihrem
––––––– 63
64
65
66 67
Das Wort «Jude» wird nur im Text erwähnt, die englische Übersetzung hat es sogar ausgespart; auch wird keine direkte Referenz zum Schicksal der Juden genommen. Wormser / Michel hingegen zeigen den einzigartigen Charakter der Behandlung der Nazis und haben Statistiken, wie wenig Juden im Vergleich zu anderen Deportierten überlebten (vgl. Charles K. Krantz: «Alain Resnais‘ Nuit et Brouillard: A Historical and Cultural Analysis.» Holocaust studies annual [1985], 107–120, hier: 108). Krantz nennt ein Beispiel, das die Verzerrung der Universalisierung besonders deutlich macht: Am 16. Juli 1942 wurden 12884 Männer, Frauen und Kinder, in das Véldrome d’Hiver in Paris gebracht und dann in den Osten deportiert («Operation Spring Wind»). An diese Operation wird im Film zwar erinnert, doch weder die Identität der Juden noch der Franzosen wird genannt. «The film by the sin of omission transforms Frenchmen into Germans and Jews who lacked French citizenship into Frenchmen» (Krantz, Nuit et Brouillard, 110f). «However, notwithstanding specific political climates and social attitudes, Night and Fog fails to consider the direct connection between the perennial cultural malaise of antisemitism and Auschwitz, nor does it mention clearly the genocidal assault against the Jewish people» (Avisar, Screening, 16). Vgl. auch hierzu Saul Friedlander, Memory, History, 22. «It allows an escape into a mythical evil-in-general or responsibility-in-general for those who sould be presented with the specifics of the prodigious suffering of the Jews of the Holocaust» (Robert Michael: «A second look at Nuit et Brouillard.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 159 [auch in Cinéaste 13, 4 [1984], 36–37]).
262 diskursiven Ermöglichungszusammenhang heraus verstanden werden.68 Die Problematik der Authentizität und des Wahrheitsanspruchs des Dokumentarfilms reflektiert und durchbricht Resnais m.E. mit seiner Gesamtkomposition. 5.4.3 Klimax – das Krematorium und die Gaskammer «It is also in the heart of our recent history whether we want to see it or not. For Cayrol, the author of the film’s text, it is at the foundation of the post-war literature.»69
Die Gaskammern stellen das phantasmagorische Zentrum von Auschwitz dar und gelten als Inbegriff des Grauens und der Nicht-Darstellbarkeit.70 Der Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem Raum heute und damals, wird nicht mehr so hart herbeigeführt – die Vergangenheit gewinnt die Oberhand über die Gegenwart (was ihre prägende Funktion in der Gegenwart noch unterstreicht). Die Gegenüberstellung der Aufnahmen der Krematorien in Farbe und schwarz-weiß zeigt deutlich die Explizitmachung der Notwendigkeit, die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu ziehen. Diese Gaskammer-Einstellung ist das Zentrum des Lagers und der Höhepunkt der Dokumentation, bei dem Bild und Soundtrack sich treffen. «This is a shot whose function is to bring the audience into a collective recollection of a past which is in danger of being forgotten or replaced by the audience’s own present. Here, with more intensity than anywhere else in this documentary, the spectators have to imagine and interpret what they see and hear.»71
In Farbe wird zunächst das Krematorium gezeigt – heute, wie der Kommentar bitter bemerkt, eine Touristenattraktion («Un crématoire, cela pouvait prendre, à l’occasion, un petit air carte postale. Plus tard – aujourd’hui – , des touristes s’y font photographier»). Dass Resnais dieses oberflächliche Erinnern nicht toleriert, wird durch die letzte Einstellung der ––––––– 68
69 70 71
Die herrschende Kriegsnarration bildete nach van der Knaap keine Unterscheidung zwischen Konzentrations- und Vernichtungslager (üblich für 50er Jahre) und keine präzise Entsprechung der Tatsachenwirklichkeit bei den Opfern: Zeugen Jehovas und Homosexuelle kommen im Kommentartext nicht vor, politische Begründungsangebote für die Gefangenschaft dominieren über rassistische Motive. Genauso dominieren auch in der Bildsprache des Films auf den ersten Blick die «roten Winkel» der politischen Gefangenen über den «gelben Stern» (rassistisch); weitere Informationen sind in der Bildsprache versteckt: Davidstern (wird vom Kommentar nicht thematisiert; vgl. van der Knaap, Monument des Gedächtnisses, 72). Colombat, The Holocaust, 125. Alle Filme sparen die Visualisierung des Todeskampfes aus Gründen des Bilderverbots bzw. Abbildungstabus aus. Colombat, The Holocaust, 138.
263 Kamera, bevor sie zu den schwarz-weiß Bildern wechselt, betont: hinter den Bäumen der blühenden Landschaft ist der Schornstein zu sehen, vor dem die Kamera direkt in der Sonne stehenbleibt. Die leeren Bilder der Öfen werden durch die Montage von schwarz-weiß-Fotos definiert. Da Resnais diese Technik der «Reanimation» oder «Definition» bereits bei den Eisenbahngleisen (durch eine Montage von Wochenschauen wurden die mittlerweile durch Gras überwucherten Gleise definiert) verwendet hat, ist der Zuschauer an die Machart des Films gewöhnt und folgt Resnais‘ Bilder, die eine erneute Inbetriebnahme der Krematorien suggerieren. Die Schwarz-weiß-Filmaufnahmen zeigen Massen von Vertriebenen, Bilder von Deportierten, Tod, Selektion und Liquidierung und gehen Resnais‘ Bilder in der Gegenwart voraus, die versuchen, die letzten Augenblicke vor dem Tod zu beschreiben. Die Kamera fährt durch die Gaskammer, erkundet den Raum («A l’intérieur, une salle de douche fausse accueillait les nouveaux venus»),72 wobei die Kamera eine Großaufnahme der Wasserröhre zeigt. Dann fährt die Kamera langsam weiter durch die Gaskammer und vervollständigt durch Bild (das Türen zeigt) und Text die Beschreibung; hier wird die Perspektive der Täter eingenommen («On fermait les portes. On observait»). Die Szene kommt beinahe ohne Text aus, und die Flöte gewinnt wieder an Bedeutung. Hier wird deutlich, dass dieses Zwischenterritorium nicht gezeigt werden kann, da es von diesem Ort keine Überlebenden gibt. «The gas chambers constitute a terribly palpable purgatory between life and death, the most concrete reality to ever approach the transcendence of death.»73 Resnais versucht denn auch nicht das Grauen zu zeigen, sondern verwendet ein Zeichen, um den unglaublichen Schmerz auszudrücken: Die Kamera geht stetig nach innen und schwenkt dann hoch zur Decke. Die Kratzer der sterbenden Menschen an der Decke sind die Spuren ihres Todeskampfes. «Le seul signe, mais il faut le savoir, c’est ce plafond labouré par les ongles. Même le béton se déchirait.»74 Cayrol erklärt das Zeichen nicht, denn es ist, in den Worten George Steiners, «the kind of thing under which language breaks.» Die Kratzspuren im Beton ––––––– 72
73 74
Vgl. hier ebenso in Lanzmanns Shoah den Bericht von Mordechai Podchlebniks: Auch hier versucht die Kamerafahrt den Vergasungsprozess nachzuzeichnen und legt einen bedeutsamen Schnitt ein. Ähnlich wie Resnais arbeitet Lanzmann mit kinematographischen Mitteln (mise en scène, Schnitt und Montage), um die Erinnerung und die Nichtdarstellbarkeit zu visualisieren. Avisar, Screening, 10. Im direkten Kontrast zu dieser Technik der Leerstelle steht Steven Spielbergs Gaskammersequenz in Schindler’s List (1993): Spielberg scheint zunächst ein Tabu zu übertreten. Doch entgegen der Annahme der Figuren (und der Zuschauer) befinden sich die Gefangenen tatsächlich in einer Dusche und nicht in der Gaskammer (vgl. die kritische und ausführliche Erklärung dieser Sequenz in Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 9–14).
264 können auch als Symbol dafür gelesen werden, dass die Nazis es eben nicht geschafft haben, die Erinnerung an die Opfer zu töten. Die Kamerabewegung selbst wird expressiver, geht langsam aufwärts, wechselt leicht ihren Kurs, als ob sie nach etwas hinter dem Konkreten suchen würde, diesen stillen Spuren der unermesslichen Qualen folgend und fährt langsam die Decke ab und verweilt schließlich für einige Zeit in einer Ecke – Resnais setzt hier bewusst eine kleine Zäsur, um dem Zuschauer Zeit zur Verarbeitung zu geben. Die schwarz-weiß-Bilder der Toten gehören zu den deutlichsten und grausamsten Aufnahmen des Films: Hier verwendet Resnais sowohl Aufnahmen von Einzelpersonen (Nahaufnahme einer toten Frau), zeigt aber auch die Massen der Toten, wie beispielsweise ein Haufen übereinander geworfener, ausgemergelter toter Körper. An dieser Stelle verstummt der Kommentar, nur die Flöte untermalt mit wehmütiger Musik das Grauenhafte. «Quand les crématoires sont insuffisants, on dresse des bûchers» erklärt der Kommentar und zeigt so noch die Steigerung des Exterminationsprozesses. Filmaufnahmen von verkohlten Menschen und Leichenbergen zeigen das Ergebnis des Kommentars. Das «Gegenargument» wird in den Farbsequenzen geliefert. «Les nouveaux fours arrivaient cependant à absorber plusieurs milliers de corps par jour.» Die Kamera fährt weiter durch das Krematorium, zeigt immer wieder schwarz, fährt sehr lange an vielen Öfen vorbei, kommentiert nicht und verweilt schließlich sehr lange am letzten Ofen. Der letzte Schnitt zur Vergangenheit bezeugt, dass die ultimative Entmenschlichung und Verletzung der Würde des Menschen ihren Abschluss auch noch über den Tod der Opfer hinaus stattfindet: Das menschliche Material wird wiederverwertet.75 Der Text ringt um Worte («Avec les corps ... mais on ne peut plus rien dire ...») bei Bildern von zerstückelten Menschen und abgetrennten Köpfen. Das nächste Bild (die Herstellung von Seife) wird wieder vom Kommentar begleitet («Avec le corps on veut fabriquer ... du savon»). Der Kommentar lässt wieder eine Leerstelle, als es um die Verwertung der Menschenhaut geht («Quant à la peau ...») und das Bild füllt die Leerstelle aus: Hautstücke mit Bildern werden ohne Kommentar ––––––– 75
Hier fängt die Kamera das Ausmaß der Grausamkeit durch Nahaufnahmen, die durch Zoom erweitert werden, ein: Zunächst werden die Haare in einer Nahaufnahme gezeigt, dann zoomt die Kamera immer weiter zurück und bietet schließlich ein Gesamtbild, das das Ausmaß nicht mehr fassen kann. Das nächste Bild zeigt die Verwertung der Haare: Die Kamera fährt lange an Stoffballen, die aus den Haaren gewonnen wurden, vorbei («A quinze pfennig le kilo ... On en fait du tissu»). Ein weiteres Beispiel, das Bild und Text parallel laufen lässt, sind die Knochen, «Avec les os [eine Ofentür wird geöffnet und man sieht einen verbrannten Körper; Knochenberge, Anmerkung der Verf.] des engrais» [Gesamtansicht eines Feldes, Anmerkung der Verf.].
265 gezeigt. Die letzte Phase wird eingeleitet, «1945. Les camps s’étendent, sont pleins. Ce sont des villes de cent mille habitants. Complet partout» und die Lager werden vom Flugzeug aus gefilmt. Diese Kameraperspektive aus sicherer Distanz unterstreicht die sachliche Feststellung. Der Kommentar lässt noch kurz die Pläne der Nazis aufscheinen (Interesse der Industrie an diesen Wirtschaftsunternehmen, «Les nazis peuvent gagner la guerre»), doch die grauenhaften Lagerbedingungen lassen die Arbeitskräfte schwinden («Les cadavres engorgent les rues des camps ... Le typhus...»). «Quand les Alliées ouvrent les portes ...» Die nachfolgenden Bilder werden ohne Kommentar gezeigt, das Pizzicato bildet die einzige Begleitung. Das Bild, das sich den Befreiern 1945 eröffnete, bietet zugleich auch dem Zuschauer das Ergebnis dieses Systems: zerstörte Körper, eine Pyramide von toten Körpern, der mittlerweile zur Ikonographie des Schreckens gehörende Bulldozer, der die Körper in ein Massengrab schaufelt.76 Auf den Satz «Toutes les portes ...» erscheinen auch die Verantwortlichen dieser Verbrechen: Die Täter kommen einer nach dem anderen aus einer Tür heraus, begleitet durch die Amerikaner; SS-Männer kreuzen die Kamera. Abgemagerte Leichen werden weggetragen, in ein Massengrab geworfen, einzelne Köpfe werden zu anderen gestellt. Die wenigen Überlebenden werden gezeigt, darauf die sich rechtfertigenden Täter. Der Schlusssatz der Schwarz-weiß-Sequenzen «Alors, qui est responsable?»77 wird über das Bildmaterial gelegt, das Leichen und Massengräber zeigt. Resnais entlässt den Zuschauer mit dem historischen Bildmaterial, das in uns nachwirkt in der Gegenwart, in der auch der Film begann. Vor den Relikten des Lagers (zerstörte Wachtürme, Ruinen der Krematorien und Zäune) hält der Epilog den Zuschauer an, sich zu erinnern und nicht zu vergessen.
––––––– 76
77
Das letzte Bild, konstruiert aus Bildern von nackten, verstümmelten Körpern, erinnert an Rodins Das Höllentor (1880–1917), oder an Michelangelos Das jüngste Gericht (um 1500). «Indeed the enormity of the Final Solution not only shattered the concept of justice in the human realm but also challenges the very notion of Providence and divine justice» (Avisar, Screening, 11). Dieser finale Appell zur Erinnerung erinnert an Elijah Moshinskys Ende des Spielfilms Gengis Cohn (1993), als die Hauptfigur sich direkt an den Zuschauer wendet und ihn zur Reflexion und Aktion auffordert.
266
5.5
Heterotopien des Lagers – «exercer sa mémoire avec des rêves»
5.5.1 Einbruch des Unerwarteten Die Gegenüberstellung der «normalen Welt» mit dem Nazismus wird in Nuit et Brouillard durch den Einbruch des Unerwarteten und Ungewöhnlichen visualisiert. Das Erscheinungsbild der ruhig daliegenden Stacheldrahtzäune in der Farbsequenz des Prologs wird durch die plötzlich einfallenden Reihen von Soldaten in Schwarz-weiß aufgegriffen. Zunächst findet eine Metamorphose statt, da die Realität des Lagers mit den heroischen Aufnahmen von Triumph des Willens in Verbindung gesetzt wird. Zusätzlich wird die Aussage invertiert: Triumph des Willens war als Propagandafilm für Hitlers Aufstieg gedacht, während Nuit et Brouillard ein reflektierendes Plädoyer gegen die Gräueltaten des Nazismus und für das aktive Wirken gegen eine Wiederholung der Ereignisse ist. Der plötzliche Stilbruch (in Form der Montage der Farbbilder mit den Schwarzweiß-Aufnahmen) verhindert eine Überstilisierung. Wie auf sprachlicher Ebene bei Charlotte Delbo deutlich wurde, so verkehrt auch Resnais die Aussage der Nazis in das Gegenteil und bringt somit durch die Inversion die Wahrheit ans Licht. Colombat unterscheidet vier Bruchlinien in Nuit et Brouillard, die eine Inversion und Metamorphose der Realität schaffen.78 Durch ein Kontrastverfahren, das auf der einen Seite die invertierte Welt des Lagers beschreibt (das gewöhnlich-alltägliche Leben der Nazis und das nackte Grauen der Gefangenen), auf der andern Seite die Verwendung von kulturellen Symbolen im Lager, demonstriert Resnais den Zusammenprall von Kultur und Nazismus. Das Lager hatte ein Symphonieorchester, einen Zoo und sogar einen leeren Gerichtssaal sowie einen Exekutionsplatz, eine Perversität angesichts der «Gerichtsbarkeit» im Lager. Zwar zieht Himmler «des plantes fragiles,» doch lässt er Millionen Menschen sterben. Das hervorstechendste Bild des Zusammenpralls von Zivilisation und Grauen, Kultur und Grausamkeit ist Goethes Eiche in Buchenwald. Der Baum war beim Aufbau des Lagers nicht zerstört worden «On a construit le camp autour, mais on a respecté le chêne.» Wie auch in La Danse de Gengis Cohn deutlich wird, wird hier bewusst durch den Kommentar betont, wie zwar die Kultur geschätzt wurde, aber ein Menschenleben nichts mehr wert ––––––– 78
Hervorkommen von Horror im Herzen der Banalität; das umgekehrte Auftauchen von erschreckender Banalität im Herzen des Horrors; die ambivalente Reaktion des Zuschauers, sowohl intellektuell als auch sensitiv; und das Betonen, dass der Horror noch heute präsent ist (Distanz und Identifikation zur gleichen Zeit; vgl. Colombat, The Holocaust, 129f.).
267 war (die Waisen und Invaliden, die in den nachfolgenden Filmaufnahmen zu sehen sind, werden weggeführt). Das Gegenüberstellen von zwei Welten wird auch durch die Visualisierung der unterschiedlichen (Lebens-)Räume gezeigt: Für die Gefangenen ist das Lager eine andere Welt. Gemäß der in der Dokumentation beschriebenen Hierarchie ist auch der Lebensraum steigernd aufgebaut. Der Raum des Kapos ist groß, enthält ein Bett, einen Schreibtisch, Stühle und eine Nachttischlampe («Le kapo a sa propre chambre où il peut entasser ses réserves et recevoir le soir ses jeunes favoris.»). Der Kommandant an der Spitze der hierarchischen Ordnung lebt in einer Villa und führt dort (direkt neben dem entsetzlichen Geschehen) ein idyllisches Leben mit Frau, Hund und Gästen. Er führt das Leben, das die Gefangenen vor dem Lager hatten, einfach weiter, «entretenir une vie familiale et quelquefois mondaine.» Das Lager wurde, wie auch die Dokumentation thematisiert, zu einer eigenen funktionalen Gesellschaft mit einer Klassentrennung, einem Justizapparat, medizinischer Versorgung und verschiedenen Vergnügungen. Die Gegenwart eines Lagerbordells erinnert daran, dass der Holocaust «[…] presented a blatantly new model of government – the concentration camp – in which the freedoms of both political and sexual life were denied almost absolutely to the subject class and indulged in to the point of perversion by those who ruled.»79
Diese Loslösung von gängigen Werte- und Moralvorstellungen in einem System, das keine bzw. eigene Regeln aufstellte, wird in Il portiere di notte zu einem großen Thema. 5.5.2 Ästhetik der Brüche Der gezielte Einsatz von Ironie stellt für Resnais eine weitere Möglichkeit dar, die beiden Welten zu kontrastieren. Indem der Kommentar NSMeinungen zitiert, diese aber in einen anderen Kontext setzt oder durch Schnitte ironisiert (z.B. bei «Il faut une nation sans fausse note» wird zu einem Trommel spielenden Jungen geschnitten), wird die Ideologie entlarvt. Gleich zu Beginn der Dokumentation wird das Lager provokativ mit jedwedem Gebäude verglichen und die verschiedenen Stile der Wachtürme genannt («Un camp de concentration se construit comme un stade, ou un grand hôtel [...] Style alpin, style garage, style japonais, sans style»). Das «sans style» erweckt im Zuschauer ein zweigeteiltes Gefühl: Einerseits wird die Ironie bemerkt, andererseits ist man sich zugleich bewusst, dass die Funktion der Wachtürme die Observierung der ––––––– 79
Avisar, Screening, 10.
268 Gefangenen war. Die Dokumentation schafft somit ein beständiges Unbehagen und eine notwendige Distanzierung des Zuschauers zur bewussten Reflexion. «The juxtaposition of the sordid aspect of many images and the irony of the comments reveal that this film will be as much about what happened as it will be about how we react individually to its complex reality and its consequences.»80
Die musikalische Begleitung zu den militärischen Paraden und Aufmärschen ist ebenfalls als ironischer Kommentar zu verstehen. Hier erwartet der Zuschauer Militärmusik oder den Einsatz einer heroischen Trompete. Durch die Verwendung von Pizzicati und Hintergrundstremolos unterwandert Resnais das Problem, dass sein Werk als Nazi-Vermächtnis missverstanden werden könnte. Da er für diese Szenen nur von nazistischer Seite entstandenes Material zur Verfügung hatte, musste Resnais einen künstlerischen Zugang wählen, um seine eigene Aussage übermitteln zu können und der ideologischen Wirkung des Materials entgegenzuwirken. Dieses Entgegenwirken der NS-Ideologie findet sich auch in der Sprache des Erzählers. Hier hat die Sprache eine komplett andere Funktion zum nazistischen Gebrauch angenommen: Den knapp formulierten, grausam ironischen Befehlen im Lager («Sauberkeit ist Gesundheit;» «Jedem das Seine») setzt Resnais eine vorsichtig fragende, den Sinn der Wörter beständig reflektierende und zweifelnde Stimme entgegen. Der Filmtitel spielt auf Hitlers «Nacht und Nebel»-Dekret an, dessen Inhalt es war, alle, die in besetzten Gebieten nicht kooperationsbereit waren, in Konzentrationslager zu deportieren.81 Hier erkennt man gleich eine doppelte Verzerrung: Der neutrale Begriff «bei Nacht und Nebel davongehen» wurde von den Nazis gebraucht, um damit ihre Terroraktion zu bezeichnen. Die Intention der Nazis wird von Resnais und Cayrol wiederum invertiert: Durch ihren Film wollen sie die Wahrheit ans Licht bringen und nichts in der Dunkelheit des Vergessens verschwinden lassen. Diese Ästhetik der Brüche betont nicht nur den Gegensatz zwischen der Perversität der NaziOrdnung und der Welt, sondern ist auch als Kontrast zu den traditionellen Dichotomien der Hollywood-Produktionen zu lesen, die zwischen den «mad, dirty and sweaty-looking ‹bad guys› and the good, pitiful, sometimes dirty but always clean-looking ‹good guys›»82 gemacht werden. Dieser Kontrast wird noch durch eine melodramatische Musik betont. Im Gegensatz hierzu steht Resnais’ Ästhetik der Brüche und subtilen Übergänge. Resnais zeigt durch den Einsatz dieser Techniken die Verantwortung der ––––––– 80 81 82
Colombat, The Holocaust, 128. Vgl. Moltmann, Der Dokumentarfilm Nacht und Nebel, 5f. Colombat, The Holocaust, 129.
269 Nazis auf, bestimmt diese aber zugleich als normale Menschen, die nicht etwa aus einer anderen Welt kamen, um im Lager Grausames zu vollbringen, sondern aus der Mitte der Gesellschaft («Ont-ils vraiment un autre visage que le nôtre?»). 5.5.3 Kulturelle Aktivitäten Der Widerstand wird in Nuit et Brouillard in verschiedenen Bereichen gezeigt: eine (Hitler-)Marionette leitet diesen Teil ein. Bei den Beispielen der Kunst schaffenden Häftlinge vervollständigen die Bilder den Kommentar, wobei damit die Gesamtleistung der Gefangenen gewürdigt wird («On réussit à écrire, à prendre des notes [das Bild zeigt ein Wäschestück, das vollgeschrieben ist, Anmerkung der Verf.], à exercer sa mémoire avec des rêves» [das Bild zeigt ein Rezept, Anmerkung der Verf.]). An Kulturproduktion im Lager werden genannt: Handwerkskunst (die Bilder zeigen eine Marionette, ein Monster und eine Zigarettenschachtel) und Schreiben (durch Bilder von Schriften und Rezepten visualisiert). Andere Formen des Widerstands bildet der Glaube und im Geheimen formierte politische Widerstandsgruppen («On arrive même à s’organiser politiquement, à disputer aux droits communs le contrôle intérieur de la vie du camp»).
5.6
Die Figur des Überlebenden – «La vie quotidienne va-t-elle les reconnaître?»
Die duale Perspektive des Zeugen Nuit et Brouillard enthält die duale Perspektive des Zeugen: Die Zusammenarbeit zwischen dem Überlebenden, dem früheren Häftling Jean Cayrol (der sich über den Kommentar [und einem voice-over] dem Zuschauer mitteilt), und dem Künstler und neugierigen Besucher Alain Resnais (der sich über Bilder und die Gesamtkomposition offenbart) ist durch den ganzen Film hindurch spürbar. Das Publikum identifiziert sich mit dem Künstler und Besucher, der sich als Ermittler mit seiner Kamera auf die Suche nach Spuren begibt. Die ausgesuchten Bilder sind nicht allein durch das Abgebildete von schockierender Wirkung, sondern auch durch den zusätzlichen Realitätsgehalt. Dieser wird noch dadurch verstärkt, dass der Kommentar von einem Überlebenden von Mauthausen, Jean Cayrol, geschrieben wurde und die deutsche Übersetzung von Paul Celan, ebenfalls einem Überlebenden, angefertigt wurde.
270 Für das ehemalige Opfer Jean Cayrol stellt die blühende Landschaft einen unerträglichen Kontrast zum Ort des Leidens dar. Für Alain Resnais bietet die Landschaft einen Anhaltspunkt, um von dort seine Spurensuche in die Vergangenheit anzutreten und eine Aufgabe, gegen die Unmöglichkeit der Darstellung anzugehen. Die Problematik der Rekonstruktion des Geschehenen wird selbst zum Gegenstand der Dokumentation gemacht. Dieser Gang innerhalb von Raum und Zeit, verbunden mit einer Spurensuche nach Geschehnissen, erinnert an die Literatur der zweiten Generation und findet in Resnais, der sich als NichtBetroffener auf die Suche begibt, ein Äquivalent. Er (bzw. die Kamera) stellt in Nuit et Brouillard die Figur des Führers dar, der für den Besucher des Erinnerungsraumes eine Auslesung der dargestellten Inhalte vornimmt.83 In einer der letzten Sequenzen zeigt der Film die Überlebenden: Es sind abgemagerte, scheu und verwirrt schauende Menschen, die sich nicht sicher sind, ob das Grauen wirklich vorbei ist, zumal sie sich noch immer hinter dem Stacheldrahtzaun befinden («Les déportés regardent sans comprendre. Sont-ils-délivrés?»). Das «reconnaître,» das bei Delbo und Aaron so prominent war und das die Problematik des Sicheinfindens nach der Lagerzeit anspricht, wird auch hier kurz gestreift: «La vie quotidienne va-t-elle les reconnaître?» Eine andere sehr prominente dokumentarische Bearbeitung ist Claude Lanzmanns Shoah,84 die die Überlebenden ganz explizit zum Thema macht. Er greift auf keine dokumentarischen Bilder zurück, sondern zeigt Zeitzeugen, die er nach ihren Erinnerungen fragt, oder die Kamera fährt über die evozierten Landschaften und Orte (im Kontext der Spurensuche in der Gegenwart ist er mit Resnais vergleichbar). Dieses selbst auferlegte Darstellungsverbot85 bewirkt, dass die individuelle Erinnerung der Zeitzeugen in den Mittelpunkt der Dokumentation rückt. Lanzmann versucht das Zeugnis86 an den Überlebenden abzulesen und entwickelt damit ein genuin filmisches Konzept.87 Durch die Kontextualisierung der ––––––– 83
84 85
86 87
In Jan Assmann Phänomenologie des kulturellen Gedächtnisses entspricht diese Figur dem Spezialisten, der in einer Gesellschaft mit der Pflege, Deutung und Vermittlung der überlieferten Gedächtnisinhalte betraut ist (vgl. Hillebrand, Erinnerung und Raum, 18). Claude Lanzmann: Shoah (1974–1983). Vgl. Siegfried Kohlhammer: «Anathema. Der Holocaust und das Bilderverbot.» Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 48, Heft 538–549 (1994), 501–509, bes. 504f. Zur Bedeutung der Zeugenschaft in Shoa vgl. auch: Shoshana Felman: «A l’âge du témoignage: Shoa.» In: Bernard Cuau (Hg.): Au sujet de Shoah. Paris 1950, 55–145. «Wir sehen zu, wie Erfahrungen zu Sprache werden [...]. Während der Schriftsteller das Schweigen brechen muss, um es darzustellen, ist dieses Schweigen im Videozeugnis ebenso präsent wie die Worte selbst [...]. Im Unterschied zum literarischen Zeugnis kann
271 Überlebenden (in ihrer jeweiligen Umgebung, beispielsweise Abraham Bomba in einem eigens gemieteten Friseursalon), der intensiven Interviewtechnik Lanzmanns (er drängt die Überlebenden zur Aussage von Details) und der filmischen Technik des Zooms, der den Schmerz in den Gesichtern der Überlebenden noch deutlicher zeigt, visualisiert Lanzmann das Trauma, das bis heute anhält und nicht überwunden werden kann. Lanzmann erzeugt bewusst Situationen, in denen sich die Überlebenden erneut in der damaligen Situation befinden – diese Wiederholung der Ereignisse erkennt man auch in Il portiere di notte, in denen die Figuren ihr Verhalten aus der Vergangenheit in der Gegenwart wieder aufnehmen. In Il portiere di notte lässt sich keine heilende Wirkung dieses Ausagierens erkennen, während Lanzmanns viel gelobte Interviewtechnik, in der er um jedes Zeugnis kämpft, die Überlebenden dazu bringt, sich abermals ihrer Vergangenheit (und ihren bis dahin unterdrückten Gefühlen) zu stellen.88 Lanzmanns Film ist (bis in die Komposition hinein) wie auch Resnais Film den Opfern und den Überlebenden gewidmet.
5.7
Reflexions- und Transitorte – «même un paysage tranquille»
5.7.1 Auschwitz heute – das Dokumentieren Die Farbsequenzen schließen in Nuit et Brouillard die Dokumentation ein und werden jeweils durch einen gegenwartsbezogenen Kommentar verstärkt. Zwischen Einleitung und Schluss dienen sie dazu, die Sequenzen zu unterbrechen und den Gegenwartsbezug aufrechtzuerhalten und bieten eine Reflexion über die Unmöglichkeit, das Lagerleben in der Gegenwart zu beschreiben; zugleich dienen sie dazu, dem Zuschauer die Möglichkeit zu geben, jene Begebenheiten sich vorzustellen, welche das Archivmaterial nicht zeigen kann. Die ersten drei Teile enden mit Farbbildern, auf der Suche nach Spuren der Ereignisse. Der Wechsel von Vergangenheit, Gegenwart und wieder zur Vergangenheit zeigt dem Zuschauer, auf welche Art und Weise er die Geschehnisse erinnern soll. Das KZ-Universum wird –––––––—
88
das Videozeugnis auch das Nichterzählen einer Geschichte darstellen» (Young, 249). Young spricht in diesem Zusammenhang von «Formen des Zeugnisses [...], die uns nur das Video oder der Film erschließen können» (Young, Holocaust, 251; vgl. auch Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 23). Nach Eva Hohenbergers Modell setzt er damit die Realität bzw. Institution Film in Funktion. Als vervielfältigendes und speicherndes Medium wird die Kamera zum Repräsentanten der Öffentlichkeit, und das vor ihr abgelegte Zeugnis erlangt zusätzliches Gewicht für die Überlebenden, weil sie durch den Apparat zur Allgemeinheit und zur Nachwelt sprechen können (vgl. Kramer, Auschwitz im Widerstreit, 63).
272 mit seinen Hauptcharakteristika erfasst, die noch erhalten sind: Gleise, Stacheldraht, Baracken, Zäune, Zangen der Krematorien, Öfen, Latrinenlöcher und die Ruinen der Gebäude. Der Kommentar bezeugt den Ärger darüber, in Worten die Nazi-Taten nicht beschreiben zu können, das Unaussprechliche und Undenkbare zu verstehen. Die Anfangsbilder leben von der direkten Gegenüberstellung von Relikten aus der Vergangenheit und der (scheinbaren) Idylle in der Gegenwart: Die Eröffnungsbilder zeigen einen strahlend blauen Himmel, eine schöne und friedliche Landschaft, bis sich in die Kamerafahrt ein Stacheldrahtzaun und ein Wachturm einschiebt. Immer wieder überquert die Kamerafahrt eine Straße, ein Feld, um dann doch wieder vor dem Lager zu stehen – alle Wege89 führen in dieser Dokumentation ins Lager als prägendstem Ort dieser Landschaft und als Ausgangpunkt für die Dokumentation («Même un paysage tranquille [...] Même une route où passent des voitures, des paysans, des couples [...] peuvent conduire tout simplement à un camp de concentration»). Der Kommentar widmet sich hierbei der Problemstellung, die jede Holocaust-Präsentation betrifft: Wie kann die Diskrepanz zwischen Vergangenem und Gegenwart überbrückt werden; wie kann man sich im Heute an Vergangenes erinnern?90 Die Opfer können nicht mehr sprechen, «Le sang a caillé, les bouches se sont tues [...].» Die Macht des Lagers, dessen realer Existenz man nicht entfliehen kann, wird durch die Kamerafahrt verdeutlicht, die zunächst einer Landstraße folgt und zum Himmel schwenkt. Dies könnte man als weiteren Versuch des Zurückweichens vor der Realität sehen, der aber sofort gebremst wird: In der gleichen Bewegung erscheint zunächst ein Wachturm und dann zwei Reihen Stacheldrahtzaun. Sowohl die Kamera als auch der Zuschauer sind gefangen im Lager, egal welcher Linie der Landschaft das Kameraauge folgt. Im Auschwitz heute wird die Spurensuche91 nach der ––––––– 89 90
91
Sogar wenn die Kamera einem Flug Krähen folgt, endet die Kamerafahrt im Lager. Weitere Dokumentarfilme, die sich mit der Dokumentation der Erinnerung und Reflexionen über die Formen der Erinnerung beschäftigen (die beide allerdings weniger auf emotionale Ansprache ausgerichtet sind): Tom Segevs Film über Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung (1995) (Erinnerung als Staatsrhetorik) oder vor allem Andres Veiels Dokumentation Balagan (1994) über die Kommerzialisierung der Shoah. Einen literarischen Zugang ermöglicht Patrick Modiano: Er parallelisiert das Paris während der Occupation mit dem heutigen Paris – zeitliche und räumliche Vergangenheit und Gegenwart werden einander gegenübergestellt und in Beziehung zueinander gesetzt. Durch die Hinreise zu den Geschehensstätten (auch filmisch anschaulich umgesetzt in Pscar Levys Le premier convoi 1992) überlagern sich die Ebenen (Patrick Modiano: Dora Bruder. Paris 1997). Falkenau beschreibt die Spurensuche des amerikanischen Regisseurs Sam Fuller, der das heutige Falkenau-Lager besucht; auch kommentiert er in einem Filmraum die Bilder von 1945 oder der Zuschauer sieht Fullers ersten «Film,» den er als junger Soldat im Lager
273 Vergangenheit durch die Kamerabewegung verdeutlicht: durch eine Kamerafahrt nach vorne beschreiben die Farbbilder eine dynamische Bewegung, die die Suche und das Interesse nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit vermitteln. Somit gewinnt die Kamera eine Eigendynamik, die im Text noch durch die Personifizierung der Kamera verdeutlicht wird («[...] les blocks ne sont plus visités que par une caméra.»). Durch das langsame Gleiten der Kamera über die unbewegte Landschaft scheint es so, als ob sie diese animieren würde, um damit ihre Funktion in der Vergangenheit zu suggerieren. Ruinen sind hinter dem Stacheldrahtzaun zu erkennen, die allmählich von Pflanzen überwuchert werden. Hier setzt Resnais ein starkes visuelles Zeichen, wie das Vergangene allmählich der Auslöschung oder Überwucherung ausgesetzt ist. Diese Einleitungseinstellungen (die sich in Länge, Ton und Tempo ähneln) bereiten nicht nur die Grundlage für die Spurensuche, sondern geben auch die Art und Weise vor, wie diese getätigt wird und vermitteln bereits die Angst, sowohl vor dem, was entdeckt werden kann, als auch diesem durch sprachlich/filmische Mittel nicht gerecht werden zu können.92 Der erste Umschwung zur Vergangenheit tritt plötzlich und unerwartet ein, trotzdem wird durch zwei Verbindungsglieder (vergleiche auch Lucias Hände in Il portiere di notte) eine filmästhetische Linie hergestellt: An die Stelle der architektonischen Anordnung der einander folgenden Reihen von Stacheldrahtzäunen im Farbbild (von links im Vordergrund zum Zentrum des Hintergrunds) treten unzählige Reihen von paradierenden Soldaten in Schwarz-weiß, die das Bild im gleichen Winkel ausfüllen. Anstelle der Schritte des Besuchers, wie der Kommentar bemerkt («Plus aucun pas, que le nôtre»), setzt sich der Schritt von einem Heer von Soldaten in Gang. Nach der Ankunft des Zuges in der Vergangenheit in Auschwitz schneidet Resnais zur Gegenwart und greift das Thema des Weges und des Ankommens durch eine Großaufnahme der von Gras überwucherten Gleise in Birkenau auf. Der Kommentar betont, dass es sich hierbei um die Gegenwart handelt: «Aujourd’hui, sur la même voie, il fait jour et soleil» und es schwierig ist, die Spurensuche fortzuführen, «On la parcourt lentement, à la recherche de quoi? De la trace des cadavres qui s’écroulaient dès l’ouverture des portes?» Die Kamerabewegung ist gegenläufig zu der in der Vergangenheit. Noch kann sich der Zuschauer nur vorstellen, was ihn (und die Gefangenen) bei der Ankunft erwartet. Um die Spurensuche und –––––––—
92
drehte. Somit lernt der Zuschauer das tschechische KZ von mindestens drei Standpunkten kennen, immer aber durch die visuelle und verbale Zeugenschaft des amerikanischen Regisseurs Sam Fuller. Gary hat diese Spurensuche nach Ereignissen und Relikten der Vergangenheit im «forêt de Geist» literarisch umgesetzt.
274 das «Nacherleben» des Zuschauers von heute von den Geschehnissen damals ganz deutlich zu machen, folgt die Kamera den Schienen, die heute ins Lager nach Auschwitz führen.93 Im Lager in Auschwitz bewegt sich die Kamera im Schritttempo, passiert Stacheldrahtzäune, während der Erzähler kommentiert. Sonne, Bäume und ein blauer Himmel lassen den Kommentator an seiner Aufgabe zweifeln («[...] c’est bien en vain qu’à notre tour nous essayons d’en découvrir les restes»). Die Kamera bewegt sich, im Vergleich zu den Montagen von Bildern, die für die Vergangenheit stehen, ständig, somit ist die Gegenwart lebendig, zum Rekonstruieren des (toten) Vergangenen bereit. Die Stacheldrahtzäune setzen beunruhigende Akzente in dieser farbenfrohen Landschaft und sind als Spur und Relikt der Vergangenheit zu lesen. Die Kamera, die sich immer weiter, ähnlich wie in einem Labyrinth,94 in das verlassene Lager hineinbegibt, hält öfters inne, scheut davor zurück, das Grauen der Vergangenheit aufzudecken und erkennt mit dem Zurückweichen auch die eigene Beschränktheit in der Abbildung. Der Gang in das Lager bedeutet, sich dem unterdrückten Ereignis im kollektiven Unterbewusstsein zu stellen. Die Kamera geht an Baracken vorbei, an Bettstellen aus Holz, an Steinbaracken, wobei der Kommentar hier nicht mehr gegenwartsbezogen ist, sondern die Geschehnisse der Vergangenheit in der Gegenwart rekonstruiert («ces châlits où l’on dormait à trois, ces terriers où l’on se cachait, où l’on mangeait à la sauvette, où le sommeil même était une menace [...]»), und die Erklärung abgibt, warum die Schlafstätten in Farbe gefilmt werden – «aucune description, aucune image ne peuvent leur rendre leur vraie dimension, celle d’une peur ininterrompue [...] De ce dortoir de brique, de ces sommeils menacés, nous ne pouvons que vous montrer l’écorce, la couleur.» Im Folgenden «korrespondieren» Vergangenheit und Gegenwart dahingehend miteinander, dass beispielsweise in den Schwarz-weißSequenzen die Notwendigkeit der Nahrung beschrieben wird und in den Farbsequenzen die Schwierigkeit, die mit dem Essen verbunden war, gezeigt wird.95 ––––––– 93
94 95
Wieder werden die architektonischen Charakteristika der Bilder in der Vergangenheit in der Gegenwart aufgegriffen: Die zwei parallelen Linien der Gleise ersetzen den Zug und die Soldaten des vorigen Bildes. Die Suche in einem Labyrinth ist eine Konstante in Resnais Arbeit (vgl. auch L’année dernière à Marienbad [1961]). Die Kamera fängt die Abortanlage ein und der Kommentar erklärt die aus der Nahrung resultierenden Krankheiten («[...] On s’y observait avec crainte, on y guettait des symptômes bientôt familiers; faire du sang c’était signe de mort.»), aber auch die Möglichkeit, die sich an diesem Ort bot, Widerstandsgruppen zu formieren, «une société y prenait forme.»
275 Resnais macht die unfassbare Diskrepanz der Lebensqualität von Tätern und Opfern durch die Illustration der einzelnen Lebensräume innerhalb des Lagers fest: Nachdem die Lebensräume der Kapos und Kommandanten gezeigt wurden, schneidet die Dokumentation zur Farbe zurück und erklärt auf der Grundlage der am Bordell entlang fahrenden Kamera die Zerstreuung der Kapos. Die SS ließ eine richtige Stadt erstehen, die der Kommentar erklärt, dann fährt die Kamera am Gefängnis vorbei. Allein die Idee, ein Gefängnis innerhalb eines Gefängnisses aufzubauen und mit Stacheldraht zu umzäunen, ist absurd und so gestaltet sich auch der Kommentar: «Inutile de décrire ce qui se passait dans ces cachots.» Auf der Naheinstellung der Lüftungslöcher erklärt der Kommentar die grausamen Bedingungen des Gefängnisses, um schließlich zu erklären: «Les bouches d’aération ne retiennent pas le cri.» Diese Bilder des absoluten Eingeschlossenseins kontrastieren mit den folgenden Schwarz-weißAufnahmen Himmlers, dessen Besuch im Lager den Exterminationsprozess einleitet. Der Gang durch das Krematorium bildet den Höhepunkt der Dokumentation. Dieser wird im Unterkaptiel «Das Lager, ‹un monde à part› – Vergegenwärtigte Erinnerung« besprochen, da hier die Bilder in Farbe und in Schwarz-weiß steigernd zueinander aufgebaut sind. Das «Alors, qui est responsable?» über den letzten Schwarzweiß-Bildern von Leichenbergen hallt noch in der abschließenden Farbsequenz nach. «The alternation of history and immediacy insists upon responsibility, whether for those during World War II who were responsible for the Holocaust, or those today who are responsible to it.»96
Die Postkartenidylle des Anfangs ist zu einem Alptraum geworden, der die Funktion eines Röntgenstrahls übernommen hat: durch das dokumentarische Material und Cayrols ruhiger Meditation, ist der Zuschauer gezwungen, das Grauen anzusehen. Die Kamera fährt über die mit Sumpf bedeckten Massengräber und der Kommentar richtet sich nun direkt an den Zuschauer und unsere Erinnerung: «Au moment où je vous parle, l’eau froide des marais et des ruines remplit le creux de charniers. Une eau froide comme notre mauvaise mémoire.» Die Kamerafahrt entfernt sich und nimmt das KZ-Gelände auf, die Großaufnahme eines gynäkologischen Stuhles erinnert nochmals an die Schrecken. Die Melodie der Violine schließt (vorläufig) durch eine Art Kadenz ab – das Gelände ist mit Gras überwachsen, und auch das Krematorium, das durch die Kamerafahrt eingefangen wird, ist «hors d’usage.» Doch dass diese Landschaft ihre Unschuld niemals zurückgewinnen kann, betont der Kommentar: «Neuf ––––––– 96
Insdorf, Indelible shadows, 38.
276 millions de morts hantent ce paysage.»97 Die letzte Einstellung zeigt nochmals die zerstörten Dächer des Krematoriums, die Trümmer und der Kommentar schließt mit einer langen Schlussreflexion ab. Cayrol gestaltet ihn gegenwartsbezogen, indem er den Zuschauer direkt anspricht, dass es die Aufgabe eines jeden ist, dass sich diese Geschehnisse nicht wiederholen. Er nennt die Täter und fragt sich, inwieweit sie sich wirklich von uns unterscheiden («Ont-ils vraiment un autre visage que le nôtre?») und schließt mit einer direkten Anklage gegen unser Vergessen, gegen unseren Wunsch, diese Geschehnisse in der Vergangenheit für immer verschwinden zu lassen, «[...] nous qui feignons de croire que tout cela est d’un seul temps et d’un seul pays, et que ne pensons pas à regarder autour de nous, et qui n’entendons pas qu’on crie sans fin.» Das Gras hat bereits die letzten Objekte überwuchert, die an das Geschehene noch erinnern. «Diese Rückeroberung [der Natur, Anmerkung der Verf.] scheint nur eine Frage der Zeit: Überwuchertes scheint als Symbol für das Ausradierte.»98 5.7.2 Auschwitz als Gedächtnisort Das Auschwitz von heute stellt einen «Gedächtnisort [dar], der die Stelle markiert, wo einmal etwas Bedeutungsvolles sich ereignet hat,» zugleich ist Auschwitz ein «Schauplatz oder Tatort, der die Indizien eines Verbrechens, einer Person, eines Lebens für nachträgliche Zeugen festhält.»99 Obwohl der Gedächtnisort100 Auschwitz ortsfest ist, so ist doch mit dem Namen Auschwitz der gesamte Genozid verbunden; er ist zum Symbol der NaziVerbrechen geworden, so dass dieser Ort (losgelöst von seinem Standort) über das materielle Gedächtnis hinausgeht und die Abwesenheit des zu Erinnernden zeigt, ein «numinoser Ort einer absoluten Absenz.»101 Diese Lösung von Erinnerung aus der Ortsbindung will auch Nuit et Brouillard ––––––– 97
98 99 100
101
Direkt nach den Bildern der Krematorien erhält die blühende Landschaft einen noch unerträglicheren Beigeschmack: «But one must suspect that the abundant, bright green grass owes its luxuriance to the unusually rich fertilizer it received in the past» (Marsha Kinder / Beverle Houston: From Close-Up: A Critical Perspective on Film. New York 1972, 155). van der Knaap, Monument des Gedächtnisses, 71. Aleida Assmann, Das Gedächtnis der Orte, 17. «Der heilige Ort, der die Präsenz eines numinosen Wesens verbürgt, der Gedächtnisort, der die Stelle markiert, wo einmal etwas Bedeutungsvolles sich ereignet hat, der Gedenkort, wo eine rituelle Kommemoration stattfindet, der genius loci als auratischer Ort, an dem Naturstimmen, aber auch Geisterstimmen einer verschollenen Vergangenheit zu vernehmen sind, und schließlich der Schauplatz oder Tatort, der die Indizien eines Verbrechens, einer Person, eines Lebens für nachträgliche Zeugen festhält» (Aleida Assmann, Das Gedächtnis der Orte, 17). Aleida Assmann, Das Gedächtnis der Orte, 35.
277 verdeutlichen, indem der gesamte Film durch die kinematographische Sprache die allgemeine Dimension des Verbrechens betont. Am Ort des Geschehens auferstehen die Bilder der Vergangenheit wie die Dokumente in einem Museum102 wieder. Hier soll das Vergangene gezeigt und dokumentiert werden,103 zu Überlegungen anregen und einen politischen und moralischen Appell formulieren. Und genau wie in der Museumsdidaktik spielen auch bei Resnais formal-ästhetische Überlegungen eine Rolle, um das Verständnis des Zuschauers anzuregen. In diesem Fall handelt es sich nicht um eine in der Realität existierende Sammlung von Dokumenten, sondern die Fotos und Filme werden am Ort des Geschehens durch Montage und Schnitt mit kinematographischen Mitteln gezeigt. «In Museen kann der einzelne den Raum zur individuellen Identitätsstiftung nutzen, im Akt des Begehens hat er am kulturellen Gedächtnis teil, das diese Räume repräsentieren.»104 Und genau dies ist mitunter das Ziel der Dokumentation: sie soll zum kulturellen Gedächtnis beitragen, zum Erinnern (und ist mittlerweile selbst ein Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden). Die Kamerabewegung und der Kommentar nehmen die Figur des Führers ein, der für den Besucher des Erinnerungsraums eine Auslegung der dargestellten Inhalte vornimmt. In Jan Assmanns Phänomenologie des kulturellen Gedächtnisses entspricht diese Figur dem Spezialisten, der in einer Gesellschaft mit der Pflege, Deutung und Vermittlung der überlieferten Gedächtnisinhalte betraut ist. Nach Assmann haben die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses die Funktion, Identität zu stiften und dauerhaft zu erhalten, der Bezug auf die Vergangenheit hat den Zweck, die Gegenwart und auch die Zukunft zu organisieren.105 Der Erinnerungsraum kann den Figuren als mnemotechnisches Hilfsmittel dienen, die räumliche Präsenz ihrer Vergangenheit soll ihnen ein Bild ihrer selbst vermitteln, eine Kontinuität suggerieren, die es ihnen ermöglicht, aufbauend auf dem bereits Erreichten sich in die Zukunft hinein weiterzuentwickeln.
––––––– 102
103 104 105
Das Museum kann in seiner nicht institutionalisierten Form durchaus Inhalte rein individuellen Erinnerns zeigen, eine öffentliche Kunstgalerie gibt in erster Linie kulturelle Gedächtnisinhalte wieder. Zwischen diesen Extremen stehen die musealen Räume, deren Inhalte sich sowohl auf individuelle als auch auf kulturelle Gedächtnisse beziehen (vgl. Hillebrand, Erinnerung und Raum, 17). Das Konservieren, Rekonstruieren und Präsentieren von Orten des Schreckens hat häufig museale Tendenzen (Funktionen des Vorgangs siehe Rüsen, Geschichtskultur). Hillebrand, Erinnerung und Raum, 252. Vgl. Assmann, Schrift und Gedächtnis, 271ff.
6
Liliana Cavani, Il portiere di notte – Sensation und Sensibilisierung
6.1
Erzählen nach Auschwitz – Sexualität und Macht
6.1.1 Inhalt und Struktur Liliana Cavanis1 Il portiere di notte gehört zu den umstrittensten filmischen Zugängen im Kontext der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihrer Aufarbeitung. Die Filmhandlung entwickelt sich in Wien 1957: Max Theo Aldorfer, ein ehemaliger SS-Sturmbannführer und Kriegsverbrecher ist nun Nachtportier im «Hotel zur Oper,» in dem er zufällig auf Lucia Atherton, seinem einstigen Opfer im Konzentrationslager, die jetzt die Frau eines berühmten Dirigenten ist, stößt. Diese Begegnung löst nun eine Reihe von Erinnerungen aus, in denen Max im KZ als Mitglied der SS und in der Funktion als Arzt und Kameramann von Lucia mehr und mehr Besitz ergreift und sie zum Opfer und Liebesobjekt gleichermaßen macht. Das Paar nimmt nun in der Gegenwart der Filmhandlung seine damalige Form der Beziehung von Täter und Opfer wieder auf. Die Mittäterschaft des Films (und des Filmens), Überschreitungen von Raum und Zeit und voyeuristischer Zwang sind in Il portiere di notte (wie auch in Cavanis späteren Filmen) eigentlicher Gegenstand des Films. Die (Re-) ––––––– 1
Cavani (1935 auf Capri geboren) ist Regisseurin von 12 Spielfilmen, sowie verschiedenen Dokumentationen und Opern. 1961 kommt Cavani zur RAI, wo sie eine Reihe von zeitgeschichtlichen und sozialkritischen Dokumentationen macht, u.a. einen Film über La donna nella Resistenza (1965) und Storia del Terzo Reich (1961–1962) in vier Teilen. Ihre folgenden Arbeiten beschäftigen sich vorwiegend mit religiösen Themen: Francesco di Assisi (1966); Galileo (1968), ein antiklerikaler Historienfilm über die Verurteilung Galileo Galileis. Ihr 1970 entstandener Film Die Kannibalen wird von den italienischen Zensurbehörden als eine skandalöse Attacke auf Kirche und Staat zu unterbinden versucht, während die renommierten italienischen Regisseure und Kritiker für den Film Partei ergreifen. Das Schicksal einer kranken Frau beschreibt Cavani in ihrem 1971 gedrehten Film L’Ospite und in Milarepa (1973) die Abenteuer eines Jungen, der sich von seinen Eltern abwendet und Schüler eines tibetanischen Lamas wird. Die Wahl von kontroversen Themen, der plakative Gebrauch von Sexualität und ihr politischer Standpunkt begründen ihren Ruf als Skandalfilmerin und verschließen aber zugleich den Zugang zu einer genaueren Lesart ihrer Filme.
279 Konstruktion einer sadomasochistischen Liebesgeschichte wird durch die Struktur von Rückblenden, die die chronologisch verlaufende Entwicklung der Gegenwartshandlung durchdringt, ermöglicht. Zwar wird die Beziehung in der Gegenwart wieder aufgenommen, doch die ergänzenden bzw. interpretierenden Einschübe, die letztlich das Geschehen formen, bieten Informationen für den Zuschauer (und auch für die Protagonisten) und somit für das Verständnis des gegenwärtigen Verhältnisses. Die Filmhandlung wird durch eine poetische Komplexität bereichert, die sich visuell in einem bildhaften Expressionismus niederschlägt.2 Den beiden Protagonisten stellt Cavani eine Gruppe (Ex-)Nazis an die Seite, deren Bedeutung aber hauptsächlich in der Gegenwart zu finden ist: Während gruppentherapeutischer Sitzungen wollen sich die Altnazis im «Hotel zur Oper» von ihren Schuldkomplexen befreien – was hauptsächlich bedeutet, dass die noch aufzufindenden Papiere aus der Vergangenheit vernichtet werden, ebenso wie unliebsame ehemalige Opfer und jetzige Zeugen umgebracht werden sollen. Aus dieser Gruppe hat Cavani drei Personen individuelle Züge zugeschrieben.3 Die erneute Annäherung von Max und Lucia vollzieht sich während der Aufführung von Mozarts «Die Zauberflöte» in der Oper. Hier findet ein dicht gewobenes Zusammenspiel von Handlung (in der Gegenwart und Vergangenheit), Musik, Blick und Macht statt. Als Sinnbild der sadomasochistischen Liebe kann die Cabaret-Szene verstanden werden, die durch Max‘ Erzählung an die Gräfin von Stein umrahmt wird und somit Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen lässt. Max entzieht sich der Gruppe der Altnazis immer deutlicher und wendet sich von ihren Plänen ab, Lucia zu töten. Aufgrund des größer werdenden Drucks durch die Gruppe verlagert Max sein gesamtes Leben in sein Appartement, in das Lucia ihm gefolgt ist. Ihre Beziehung wird nochmals intensiviert und erfährt eine neue Facette des Machtverhältnisses. Ohne Nahrung, Licht und Luft, eingesperrt und beobachtet, wird das Appartement zum zweiten Lager, aus dem es nur ein Entkommen gibt: Völlig entkräftet und beinahe leblos verkleidet Max ––––––– 2
3
Augenfällig sind die formalen Bezüge zu Luchino Viscontis La caduta degli dei (1960), am deutlichsten aber zu Bernardo Bertoluccis Versuch der Faschismus-Bewältigung in Il conformista (1970); Parallelen sind auch erkennbar zu Bertoluccis Ultimo tango a Parigi (1972). Cavanis visuelle Sprache wurde mit Gemälden von Munch, Klee, Schiele und Kandinsky verglichen (vgl. Gaetana Marrone: The Gaze and the Labyrinth. The Cinema of Liliana Cavani. Princeton 2000, 89). Bert, ehemaliger Tänzer im Lager und jetzt Dauergast im «Hotel zur Oper,» der sich vergeblich um Max‘ Anerkennung bemüht, Klaus, ein Monokel tragender Rechtsanwalt, der das Verfahren gegen Max leiten wird, und Hans, ein Professor für Psychologie. Die Gräfin Stein, die ebenfalls im Hotel zur Oper wohnt, erhofft wie auch Bert körperliche Zuwendung, hat aber innerhalb der Handlung die Funktion des «nazistischen Gewissens» von Max, das er schließlich abstreift, indem er sich zu Lucia bekennt.
280 Lucia nochmals als kleines Mädchen, während er die SS-Uniform anlegt; beide verlassen die Wohnung, fahren zur Donaubrücke und wandeln dort gemeinsam Richtung Sonnenaufgang. Bert, der ihnen gefolgt ist, erschießt beide. 6.1.2 Das Werk vor dem literarischen Hintergrund – Fiktionale Verfilmung des Holocaust im Kontext des italienischen Neorealismus In den 70er Jahren war ein breiter internationaler Trend zu beobachten, den Saul Friedländer 10 Jahre später als «enthistorisierende Darstellungstendenz,» als einen «neuen Diskurs über den Nazismus»4 im Kontext von Kitsch und Tod beschreiben sollte: der historische Faschismus wurde als Folie für erotische Maskeraden genutzt, mythisiert und ästhetisiert.5 «[...] unter den sichtbaren Themen entdeckt man den Auslöser eines Reizes, das Vorhandensein eines Verlangens und die Manöver eines Exorzismus.»6 Jede dieser drei Bedeutungsschichten ist von tiefen Widersprüchen durchzogen.7 Die Faszination am Nazismus liegt in «einer besonderen Art von Entmündigung, die sich sowohl am Verlangen nach restloser Unterwerfung als auch an den nach totaler Entfesselung nähert.»8 Il portiere di notte gilt als ein Beispiel dieses «neuen Diskurses,» aber auch als Auslöser einer (film-)theoretischen Diskussion über eine weibliche Ästhetik. Dieses «feierliche Erotisieren des Faschismus» hatte Susan Sontag 1974 in ihrem Essay «Faszinierender Faschismus» aufgezeigt: «Im Mittelpunkt faschistischer Dramaturgie steht das orgiastische Wechselspiel zwischen machtvollen Kräften und ihren einheitlich gekleideten, zu immer größeren Massen anschwellenden Marionetten. [...] Faschistische Kunst glorifiziert die Unterwerfung, feiert den blinden Gehorsam, verherrlicht den Tod.»9
––––––– 4 5
6 7
8 9
Saul Friedländer: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. München 1984, 10. Hier wären auch Luchino Viscontis La caduta degli dei (1960), Louis Malles Lacombe Lucien (1974) und Rainer Werner Fassbinders Lili Marleen (1981) zu nennen (vgl. Gertrud Koch: «Sieben Schönheiten.» Epd Film. Zeitschrift des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik 2 [Oktober 1985], 24–25, hier: 24). Saul Friedländer, Kitsch und Tod, 16. Der ästhetische Reiz wird ausgelöst durch den Gegensatz zwischen Kitsch-Harmonie und permanenter Beschwörung der Themen Tod und Zerstörung; das Verlangen wird durch Erotisierung der Macht, der Gewalt und der Herrschaft geweckt. Hierbei stellt der Nazismus das Ausleben unterdrückter Affekte dar. Der Exorzismus verbirgt durch die Sprache die Realität des Verbrechens und verschleiert diese durch Erklärungen. Saul Friedländer, Kitsch und Tod, 16. Susan Sontag: «Faszinierender Faschismus.» In: Dies: Im Zeichen des Saturn. München 1981, 95–124, hier: 111 (Orig.: Under the Sign of Saturn. New York 1980); vgl. auch
281 Diese Filme beugten sich dem moralisch-ästhetischen Credo der Bildfaszination nicht mehr.10 Gewalt, Leidenschaft und Erotik interagieren mit Themen des Nationalsozialismus vor dem Hintergrund von Kostümen und einem Dekor, das an die Dekadenz erinnert. «Wurde die Botschaft des Faschismus durch eine ästhetische Betrachtungsweise des Lebens neutralisiert, so ist sein Aufputz sexualisiert worden.»11 Diese Affinität vor allem der romanischen Länder zu ästhetisch-emotionalen Phänomenen des Faschismus lässt sich auch in einigen Filmsequenzen in Il portiere di notte ablesen.12 Cavanis Beziehung zum Neorealismus war nicht doktrinal: Cavani stand und steht für eine unabhängige politische Position. Das Unbehagen an der abendländischen Kultur, die Ablehnung der italienischen Bourgeoisie und die Erforschung der kulturellen Phänomene des Nazismus und Faschismus teilt sie mit den Stellvertretern der italienischen politisch engagierten Linksintellektuellen wie Visconti, Pasolini, Bertolucci u.a., die fast ausnahmslos aus dieser sozialen Schicht stammen.13 Für Cavani ist das Kino ein kreatives Spiel, eine Kunstform, ein Ideenkino, das sich vor allem auf das Erzählen einer Geschichte (Cavani hat für ihre Filme den Status klassischer Tragödien gefordert) stützt. Sie ist ein «auteur:» Sie initiiert und überwacht den kompletten Produktionsprozess, vom Skript bis zum letzten Schnitt und vereinigt das «cinéma d’essai» mit den Gesetzen des Massenmediums. «Her ontological stance entails the inevitable ‹sense of ambiguity of reality› that Bazin found essential to Italian neorealism: ‹Realism is such a cruel game,› she claims, ‹that is not easy to play it: I have always tried to play it in each of my films ... Cruelty, analytical egoism, and play are the means to achieve realism.›»14
–––––––— 10
11 12
13 14
Frank Wagner (Hg.): Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus. Berlin 1987. Bis dahin galt, dass eine Bildfaszination nach Auschwitz nicht mehr möglich sei, da diese Tragik verlangt und Tragik Dimensionen des Menschlichen voraussetzt, die in Auschwitz verachtet worden sind. Sontag, Faschismus, 119. «Für die Faszination des Bösen und die morbide Schönheit nationalsozialistischer Kulthandlungen und Kunstformen sind gerade französische und italienische Intellektuelle schon immer besonders empfänglich gewesen» (Fernand Jung: «Der Nachtportier [Il portiere di notte].» Jugend. Film. Fernsehen. Zeitschrift für audiovisuelle Medien, Kommunikation und Pädagogik 19, 1 [1975], 115–118, hier: 116). Für Jung macht sich die Vorliebe für dekadente Schönheit und makaber-morbide Stimmung an der Cabaret-Szene von Il portiere di notte fest. Vgl. Jung, Nachtportier, 116f. Marrone, The Gaze, 8. Marrone charakterisiert Cavanis Filme als Werk der Überschreitung: Cavanis Kunst kann mit Hilfe einer Zweiteilung verstanden werden: Die eine (bestes
282 Il portiere di notte hat nicht den Anspruch, eine dokumentarische oder mimetische Repräsentation der historischen Wirklichkeit zu sein, sondern zeigt durch ein artifizielles mise-en-scène eine Fokussierung auf die Zweierkonstellation. Der Film stellt ein breites Untersuchungsfeld dar, da Cavani in ihm die Rhetorik des Films, das Problem der Dramatisierung sowie den Film als Spektakel und soziohistorisches Konzept thematisiert und begreift. Der Grund für die Filmauswahl liegt sowohl am spektakulären und vielschichtigen Thema, als auch an Cavanis Schwerpunkt, Emotionen weniger zu versprachlichen (die Dialoge sind knapp und prägnant) denn zu visualisieren. Sie zeigt das Nicht-Darstellbare. Diese Betonung der Visualität schlägt sich in einer facettenreichen mise-en-scène nieder: Cavani legt Wert auf Authentizität in Details der Ausstattung und den Kostümen, durch den stilisierten Hintergrund und das Dekor erzählt das Set eine eigene Geschichte. Bei ihr wird die Subjektivität des filmischen Bildes sehr deutlich; jedes Objekt hat seine Bedeutung, steht im Zusammenhang mit der Filmhandlung und fordert zur Interpretation durch den Zuschauer heraus. Das ausgefeilte Licht- und Schattenspiel, der stilisierte Hintergrund, das Dekor erzeugen Spannung und setzen die Figuren nicht nur in Szene, sondern veranschaulichen auch ihre innere Entwicklung innerhalb eines komplexen Raum- und Zeitgefüges. Durch die Komplexität der Kameraführung15 und der narrativen Entwicklung zeigt Cavani verschiedene Positionen und Facetten der Figuren sowie Machtstrukturen, innerhalb derer sie agieren. Dies bedeutet nicht, dass Täter und Opfer austauschbar sind – die Handlung eröffnet vielmehr den Einblick, dass die Charaktere in sich nicht eindeutig bestimmbar sind. Vor dem Hintergrund der Inszenierung eines Skandals führt uns Cavani mit Hilfe des Blicks (der –––––––—
15
Beispiel: Francesco di Assisi) betrifft die Figur des Idealisten, der (ehrlich) die Schranken der konventionellen Gesellschaft überschreitet, der gegen seine Zeit revoltiert, auf der Suche nach Selbstverwirklichung und Identität; die zweite (Beispiel: die DeutschlandTrilogie) beschreibt eine gefährlichere und feindseligere Überschreitung, in der die Zerstörung der historischen Zeit durch die abgrundtiefen ruinösen sexuellen Phantasien des Paares verkörpert werden, ein Mechanismus der ständigen Gefangennahme (vgl. Marrone, The Gaze, 8). Der rastlose Vergleich der Kamera von jeder Position mit jeder anderen ist u.a. eine der mächtigsten und verstörendsten Strategien des Films. Dies minimiert das Grauen des Holocaust nicht, sondern hält es relevant. «They signify the Holocaust, not as the unthinkable Other, but as one distinctly possible effect of the misogynistic signifying situations through which those of us who share this history and culture are ourselves articulated» (Marguerite Waller: «Signifying the Holocaust: Liliana Cavani’s Portiere di notte.» In: Laura Pietropaolo / Ada Testaferri [Hgg.]: Feminisms in the Cinema. York 1995, 206–219, hier: 216).
283 Figuren und der Kamera) durch Innen- und Außenräume, Gegenwart und Vergangenheit. Il portiere di notte hat in den letzten 30 Jahren zu heftigen Kontroversen geführt. Mit diesem Film wurde das europäische und amerikanische Publikum auf Cavani aufmerksam. Angeekelt waren die einen von der bewusst offen zur Schau gestellten Sexualität in sämtlichen Facetten, erzürnt die anderen über die Darstellung eines Opfers, das sich in dekadentschwülstiger Atmosphäre halbnackt SS-Männern anbietet;16 die wahre Attraktion des Films wurde in der «Nazipornographie»17 vermutet und die Befürchtung wurde laut, dass durch die Verschiebung vom historischen Bild zur Metapher «die Opfer ein zweites Mal umgebracht [würden].»18 So ablehnend die einen Kritiker waren, so euphorisch die anderen: Nach der Konfiszierung des Films durch die Staatsanwaltschaft in Italien19 wurde er nach kurzer Zeit rehabilitiert und in einigen Ländern als Kunstwerk und Meisterwerk gerühmt; von italienischen Regiegrößen wie Bertolucci und Visconti20 wurde Il portiere di notte verteidigt, in Frankreich als psychologische Analyse des Faschismus erachtet, der ihn identifiziert und ––––––– 16
17
18
19 20
«Cavani zeigt in ihrem Film in den ästhetischen Formen eines B-Pictures und sagt in ihren Selbstzeugnissen mit der Deutlichkeit einer naiven Bekennerin, was andere in ihren Filmen subtiler zeigen: der Faschismus als politischer Karneval erlaubt dem Individuum den Exorzismus seiner privaten Lüste» (Jutta Brückner: «Vom historischen Bild zur Metapher. Überlegungen zu Liliana Cavanis Film Der Nachtportier.» In: Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik e.V. [Hg.]: Die Ästhetik des Bösen im Film. Frankfurt a.M. 1987, 26–31, hier: 27). Karsten Visarius: «Ist das Böse noch zu retten?» In: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik e.V. (Hg.): Die Ästhetik des Bösen im Film. Frankfurt am Main 1987, 3–7, hier: 5. Brückner, Bild zur Metapher, 31. Oftmals wurde Il portiere di notte mit Bertoluccis Ultimo tango a Parigi gleichgesetzt (vgl. Marrone, The Gaze, 101). Als «romantic pornography» und als «piece of junk» beschimpft, als «porno gothic» bezeichnet und der Geschichtsfälschung bezichtigt, wurde Il portiere di notte von all diesen Kritikern nicht in seiner Gesamtheit wahrgenommen (vgl. Marrone, The Gaze, 224ff.). Näheres in Jean-Louis Bory: «Le Carnaval des spectres.» Nouvel Observateur 8. April 1974, 63. Protestbriefe an die italienische Zensur kamen von Antonioni, Pasolini, Bertolucci, Visconti, Belochio, Bolognini, Lizzani und Alberto Moravia (Filmkolumnist der Zeitschrift L’Espresso), der schrieb: «[...] In ihrem Film wird das zentrale Problem der europäischen Gesellschaft geschildert. [...] Die Darstellung ist die beste Therapie, die beste Ausmerzung der Wunde. Wenn man nun die Darstellung einer bestimmten Sache nicht will, heißt das, dass man deren Fortbestehen will, und zwar ein Fortbestehen im Geheimen. Wir sind gegen diese Haltung, denn wir denken, dass man die Realität darstellen muss, um sie zu verändern» (vgl. Jung, Der Nachtportier, 117).
284 bekämpft.21 Obwohl Cavani sich in Europa einen Ruf als bekennende Intellektuelle und kompromisslose Künstlerin gesichert hat, ist sie in den USA doch eher als häretische Filmemacherin des Il portiere di notte bekannt. Hier wurde ihr Film durch Schnitt und falsche Werbung («a sadomasochistic thriller, romantic pornography») und dementsprechende Kritiken zerstört.22 Die meisten dieser Stimmen (sowohl die positiven wie auch die negativen) konzentrieren sich allerdings vor allem auf thematische Aspekte des Films und hier allen voran auf die Darstellung des Eros23 mit den «patterns of an action film.»24 Die Charaktere werden falsch gelesen und ihre Handlungen werden in die sexuellen Abschweifungen der «mode rétro» zugeteilt.25 Cavanis Leistung als visuelle Künstlerin und Erzählerin wurde unterschätzt und unterbewertet. Der Film jedoch besitzt weit mehr als ein skandalöses Thema, mit dem er offenherzig umgeht: er stellt einen Wendepunkt in Liliana Cavanis Karriere dar: mit Il portiere di notte etablierte Cavani ihren Ruf als eine der provokativsten Filmautoren ihrer Generation und gelangte zu internationaler Berühmtheit; auf künstlerischer Ebene bedeutet dieser Film einen neuen Status in Stil und psychologischer Figurenentwicklung. Insbesondere für die feministische Filmkritik26 stellt Il portiere di notte Gegenstand der Analyse von der Selbstverwirklichung und dem Weg einer Frau dar und wurde somit als Frauenfilm27 verstanden; ebenso wurde er als gelungene Studie über das Verhältnis von ––––––– 21 22 23
24 25 26
27
Vgl. Bory, Le Carnaval, 63. Vgl. Teresa De Lauretis: «Cavani’s Night Porter: A Woman’s Film?» Film Quarterly 30 (1976), 35–38, hier: 36. Eine Studie, die über diese eindimensionale Interpretation hinausgeht, bietet Gaetana Marrones The Gaze and the Labyrinth. The Cinema of Liliana Cavani. Princeton 2000. Sie hat einen interdisziplinären und intertextuellen Zugang; ihre Studie bezieht den philosophischen Diskurs mit ein, sowie Literaturtheorie und europäische Historiographie, um Cavanis komplexem Schaffen gerecht zu werden. Ihre Filme werden hier in chronologischer Reihenfolge untersucht, um stilistische Charakteristika herauszuarbeiten. Ganz besonderes Augenmerk wird auf Cavanis eigene Schriften und Interviews gelegt, da diese Quellen eine Einsicht in die Arbeitsmethode und den Kreativprozess geben. Zitiert nach Mira Liehm: Passion and defiance. Film in Italy from 1942 to Present. Berkeley 1984, 264. Vgl. Marrone, The Gaze, 103; ebenso Claire Clouzot: «Liliana Cavani. Le mythe, le sexe et la révolte.» Ecran: revue mensuelle de cinéma 26 (1974), 36–42. Die Aussagen von Primo Levi zu Il portiere di notte und Bruno Bettelheim zu Pasqualino Settebellezze (Lina Wertmüller 1975) werden von Marguerite Waller als Ausgangspunkt für ihre Untersuchung von Il portiere di notte auf gender-relevante Aspekte sowie auf Fragen der nationalen und individuellen Identität genommen. «What I mean by a woman’s film is a film that deals with female experience from within, that investigates the deeper strata of female experience, that seeks answers, causes and the dialectic nature of the experience rather than presenting only a surface, whether polished or scarred» (De Lauretis, Cavani’s Night Porter, 35).
285 Masochismus und Sadismus angesehen.28 Cavanis filmische visuelle Sprache ist reich und komplex, wobei sie in ihre Arbeit kulturelle Ikonen und Bilder einbindet. Sie variiert narrative Muster, indem sie ihre Handlungen auf verschiedenen Zeitebenen entwickelt und ihre Bilder durch eine komplexe Beleuchtungs- und Raummetaphorik komponiert. Auf der Grundlage der Inszenierung einer außergewöhnlichen Verbindung beleuchtet Cavani Innen- und Außenräume, die wiederum emotionale Spannungen widerspiegeln. Cavanis Personen erfahren innerhalb der visualisierten Zeit- und Raumkonstruktionen den Konflikt zwischen historischer und seelischer Realität, von Gegenwart und Vergangenheit. Il portiere di notte ist der erste Teil von Cavanis Deutschlandtrilogie.29
6.2
Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – Spiel mit Rückblenden
6.2.1 Erinnerungsebenen Cavani zeigt in Il portiere di notte die Formbarkeit und Gestaltungsfähigkeit filmischer Zeit in sämtlichen Facetten. Das Verweben von Rückblenden und Gegenwartshandlungen bildet die konstitutive Struktur der Filmhandlung. Die Rückblenden dienen zur Erhellung der Gefühlslage in der Gegenwart und versinnbildlichen die Emotionen der Protagonisten in der Gegenwart. Die Erinnerungen, die im Kontrast zu den halluzinatorischen Ausgangssequenzen in der Gegenwart ein stark realistisches Erscheinungsbild haben, sind sehr eindrücklich, da in ihnen die Beziehung von Max und Lucia mit ihren sadomasochistischen Zügen im Lager entfaltet wird. Durch die Dominanz der Rückblenden (die meist ohne ––––––– 28
29
Für Kaja Silverman hat Il portiere di notte starken Wert für das Verhältnis von Masochismus und Sadismus. «Not only does the film unequivocally portray the masochism of the female subject, but it brings into sharp focus the passivity of the male subject. Moreover, while maintaining the close connection between masochism and voyeurism, it demonstrates the autonomy of the subjugating Gaze» (Kaja Silverman: The Acoustic Mirror: The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema. Indiana 1988). Auch Houston und Kinder untersuchen Il portiere di notte als «film celebrating female masochism,» der jedoch zugleich die Verbindungen zwischen Nazismus, Bisexualität und Cabaret erforscht (Beverle Houston / Marsha Kinder: «The Night Porter as Daydream.» Film Quarterly Literature 3 [Autumn 1975], 363–370). Marrone unterscheidet zwischen einer frühen «realistischen» Phase und einer nachfolgenden «psychologischen,» der die Deutschlandtrilogie zuzurechnen ist. Die Filme der Deutschlandtrilogie waren als Gruppe konzipiert. Ihre spezifische Natur begründet sich nicht in der Thematik, sondern in der visuellen, erfindungsreichen Sprache (vgl. Marrone, The Gaze, 13f.).
286 Sprache auskommen) entsteht eine Komposition, deren Gegenwartsebene von Phantasien und Rückblenden der Protagonisten gesteuert wird. Diese Wirkung wird nicht nur durch die Komposition, sondern auch durch die Kamerabewegung verstärkt.30 Die Rückblenden variieren in der Farbgebung: Krankenblock, Registrierung und Schlafraum vermitteln den Eindruck von Schwarz-weiß-Aufnahmen, die grünlich sind, was sowohl dokumentarischen Charakter ausstrahlen, als auch das Grauenhafte unterstreichen soll. Die Cabaret-Szene, das andere Gesicht des Lagers in Il portiere di notte, ist bläulich und vermittelt somit die dekadent-rauchige Atmosphäre des Cabarets. Die Vergangenheit wird durch zwei subjektive Sichtweisen gesehen und gefiltert: Max und Lucia erinnern sich jeweils an andere Begebenheiten ihrer Beziehung in der Vergangenheit. Innerhalb der ersten Rückblende, die das Zusammentreffen von Täter und Opfer thematisiert, wird der Zuschauer Zeuge der Annäherung von Max an Lucia. Max’ Schritte sind zu hören, eine Handkamera bietet den einzigen (stark subjektiven) Eindruck der Situation, bis zu dem Punkt, als die Kamera Lucia einfängt und der erzählerische Blickpunkt konstant wechselt, indem sowohl die Macht von Max, als auch die Angst von Lucia genau in die Schnittfrequenz eingesetzt wird. Durch diesen kontinuierlich verwendeten Perspektivwechsel bewirkt Cavani eine Destabilisierung der Ausgewogenheit der Wahrnehmung: Obsession und Angst werden genau in den Schnitt eingepasst. Dieser erste Flashback zeichnet die Chronologie der Ereignisse nach: Lucia wird durch Max’ Kamera eingefangen, als sie sich zur Registrierung aufstellt. Der Zuschauer sieht, wie Max sich als Arzt verkleidet und die Bilder aufnimmt. Die Rückblende findet in dem Moment einen Abschluss, als Lucia Max anschaut und das Licht seiner Kamera auf ihrem Gesicht spürt. Dieser Blick zurück bedeutet die einzige Waffe, die Lucia in diesem Moment bleibt, um Max’ voyeuristisch-aggressivem Blick Gegenwehr zu bieten. Die Schnitttechnik verstärkt den Eindruck der (An-)Spannung, indem Franco Arcalli (Cutter) nach und nach die Dauer der Rückblenden verlängert (Lucia erscheint nur kurz im Bild, dann ruht die Kamera immer länger auf ihrem Gesicht) und somit zugleich die größer werdende Aufmerksamkeit von Max für Lucia, die sich zur Obsession steigern wird, verdeutlicht. Max’ Erinnerungssequenzen bilden den Anfangspunkt in der Gegenwart mit einer extremen Naheinstellung: Max in der Bildmitte überlegt mit beiden Händen vor dem Mund, wobei die Rezeption, sein Arbeitsplatz, ––––––– 30
«Alfion Contini hat den Film so fotografiert, als sähe man die Bilder wie durch ein Aquarium, das die Figuren in den Hintergrund in fremdartige, obskure, wie vernebelte Muster hüllt und die Rückblenden so, als seien die Bilder der Erinnerung durch den Gang der Zeiten wie abgegriffen (Contini)» (Jung, Der Nachtportier, 116).
287 unscharf gefilmt ist. Dies könnte ein Hinweis sein, dass er sich seiner Funktion in der Gegenwart entzieht und durch sein Sinnieren versucht, die Vergangenheit klar zu stellen und zu sehen. Cavani platziert Max in einer Ecke des Bildrahmens, sein Blick geht nach unten, als ob er dem Verlauf seiner eigenen Erinnerungen, die sich nun vor seinem inneren Auge entwickeln, zusieht. Max erinnert sich nochmals an die Registrierung und an sein Abfilmen von Lucia im Lager. Immer wieder wird zum verzweifeltbestürzt aussehenden Max in der Gegenwart geschnitten, der im Kontrast zum forsch auftretenden «Dokumentarfilmer» der Vergangenheit steht. Max befindet sich in dieser ersten längeren Erinnerungssequenz bezeichnenderweise im Dunkeln und ist erzürnt, als das Licht wieder angeschaltet wird – d.h. seine Erinnerungen werden unterbrochen. Eine besondere Form der Rückblende bildet Max‘ Erinnerung an den Mord von Mario, dem einzigen Zeugen, der Lucia identifizieren könnte. Allein akustisch wird dieser Mord evoziert; der Zuschauer sieht lediglich Max, der sich auf seinem Bett wälzt und sich gegen seine Erinnerung wehrt. Das voice off wird immer lauter und damit der Wortwechsel zwischen Max und Mario bewegter. Beim letzten «no» von Mario schlägt sich Max die Hände vors Gesicht und wendet sich ab. Diese räumlich-zeitliche Manipulation, die Cavani hier einsetzt, versinnbildlicht Max‘ widerstreitende Gefühle zwischen Alptraum, Schuld und Gewissen auf der einen Seite und eiskaltem Morden und grausamer Vergangenheit auf der anderen. Lucias Flashbacks spielen mit der Zeit und reflektieren ihren emotionalen Zustand. Die Szene, in der Max sie in einem bekachelten Raum im Lager beschießt, sei hier exemplarisch herausgegriffen: In der Gegenwart noch spürt sie die Angst von damals. Während sie sich daran erinnert, wie Max sie beschossen hat, zieht sie sich in der Gegenwart die Bettdecke ans Kinn und rückt von ihrem Mann ab. Die Inszenierung setzt Max und Lucia in der Erinnerungssequenz jeweils in den entgegengesetzten Bildrand. Zurück in der Gegenwart befindet sich Lucia in der Bildmitte und füllt damit die Leerstelle in ihrer Erinnerung aus. Wieder in der Vergangenheit wird Max jetzt in die Bildmitte aufgenommen, lächelnd mit seinem Revolver in der Hand – er beherrscht nun abermals ganz ihre Erinnerungen und die unentrinnbare Zweierkonstellation zeichnet sich hier auch durch die Platzierung der Figuren im Schnitt ab. Lucia zündet sich in der Gegenwart eine Zigarette an, was als ein Zeichen der Emanzipation und Distanzierung vom Erlebten gesehen werden kann. Lucias Erinnerungen bilden eine Art Projektion, eine Ansammlung von Bildern, die sich vor ihrem inneren Auge entwickeln.31 Lucia wird zum Beobachter ihrer eigenen ––––––– 31
Vgl. auch die Karussell-Szene, die im nachfolgenden Kapitel besprochen wird.
288 Handlungen in der Vergangenheit. Sie «sieht» in der Rückblende, wie Max die jüngere Lucia, das frühere Ich, streichelt. Ihre Erinnerungen sind stärker mit ihrer eigenen Gefühlswelt gekoppelt, da sie sich selbst sieht, während Max die Szene in der Vergangenheit beobachtet (ausgedrückt wird dies durch die jeweilige Kameraeinstellung: extreme Naheinstellung oder Halbtotale). Lucias Streifzug durch Wien kommt einer Spurensuche gleich.32 In einem Laden betrachtet sie verschiedene Kleidungsstücke, die sie wiederum an ein Kleid im Lager erinnert, das ihr Max geschenkt hat – während des eingeschobenen Flashbacks richtet sich ihr Blick nach oben, zunächst ist nur ein schwarzer Arm mit SS-Zeichen erkennbar, der ihr das Kleid überstreift. Max und Lucia sehen in der Gegenwart ihre Vergangenheit33 und ziehen dadurch Rückschlüsse auf die Gegenwart bzw. wiederholen dementsprechend die Vergangenheit. Natürlich dienen diese Flashbacks nicht nur zur Verdeutlichung der Erkenntnisgewinnung von Max und Lucia, die somit sich selbst und den anderen erforschen, sondern bilden auch für den Zuschauer eine wichtige Informationsquelle zum Verständnis der Beziehung. Wie Cavani durch diese Rückblenden auch eine selbstreflexive Komponente in ihre Filmhandlung einflicht, wird im Kapitel «Autoreflexive Aspekte» erörtert. 6.2.2 Verschiedene Arten der Vergangenheitsbewältigung Das Täter-Opfer-Verhältnis gestaltet sich vornehmlich auf der sexuellen Ebene:34 Perverse Leidenschaft und grausame Affinität,35 die sich in einem ––––––– 32
33 34
Vgl. auch hierzu Patrick Modianos Dora Bruder. Hier begibt sich der Erzähler in Paris auf Spurensuche. Dora Bruder beschreibt eine allegorische Verdopplung: Modiano parallelisiert das Paris während der Occupation mit dem heutigen Paris – zeitliche und räumliche Vergangenheit und Gegenwart werden einander gegenübergestellt und in Beziehung zueinander gesetzt. Durch die Hinreise zu den Geschehensstätten überlagern sich die Ebenen. Hierbei werden sie jeweils am Rand des Bildrahmens platziert. «In den KZ hat eine so totale Besitzergreifung von Menschenleibern stattgefunden wie niemals zuvor. Durch eine sexuelle Beziehung konnte ich diese Besitzergreifung eines Körpers und seines Geistes besser darstellen, als wenn ich Menschenmassen gezeigt hätte, die von der SS in die Gaswagen oder –kammern gedrängt wurden. Die wahrnehmbare Besitzergreifung eines Körpers und seines Geistes sowie die langsame und stufenweise Entwicklung zum Peiniger und zum Opfer (wobei, wie meine Hauptdarstellerin, ein totales Opfer auch der Erfahrung einer psychischen Vergewaltigung ausgesetzt ist) schienen mir Anstöße zu sein, um über die Mechanismen nachzudenken, denen Personen unterliegen, die einer entarteten Ideologie dienen» (Liliana Cavani: «Herren der Gaskammern unter uns.» In: Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik e.V. [Hg.]: Die Ästhetik des Bösen im Film. Frankfurt a.M. 1987, 36–37, hier: 37).
289 diffizilen Macht- und Gewaltverhältnis zeigen, charakterisieren die Verbindung von Lucia und Max. Die Leidenschaft füreinander bewirkt das Wiederaufleben der bis dahin unterdrückten Wünsche und Erinnerungen. Erst durch die sadomasochistische Beziehung, die beide an ihre Grenzen führt, verlässt Lucia ihren Status als brave Ehefrau und Max seinen Beruf des seriösen Nachtportiers. Eine wirkliche Umwandlung des Verhältnisses findet nicht statt – keine Angst beim Täter, kein Verlangen nach Rache beim Opfer: «Bourreau et victime n’échangent pas leur place. Ils n’ont de cesse, l’un et l’autre, que de redevenir ce qu’ils étaient, de retrouver ce qu’ils ont connu.»36 Die Weiterentwicklung des sozio-historischen Hintergrunds wird letztendlich von Lucia und Max verneint, die Konditionen des Lagers wollen wieder erschaffen werden. Leben und Liebe im Lager bedeuteten fast immer den Tod und auch in Il portiere di notte werden die beiden Protagonisten exekutiert. Die tragische Unausweichlichkeit der Filmhandlung besteht darin, dass Cavani ihre Charaktere nicht von ihrer Vergangenheit trennt. Ein Ereignis in der Gegenwart wird mit einem aus der Vergangenheit identifiziert und in der Gegenwart wiederum bis zum Extremen durchgespielt.37 Max und Lucia sind tragische Figuren, die ihre Beziehung, die in der NS-Zeit «legitim» war, wieder ausagieren – im Wien des Jahres 1957 bedeutet dies allerdings den sozialen Absturz und letztlich den Tod.38 –––––––— 35
36 37
38
Max‘ Verhältnis zu Lucia drückt sich in Sadismus (er streichelt die von ihm verursachten Wunden), Fetischismus (Kleidung, die er Lucia schenkt), Demütigung und einer bizarren Vater-Tochter-Konstellation aus (er nennt sie «my little girl» und zieht ihr Kinderkleidung an). Lucia ist in ihren Aktionen sowohl Patiens (im Lager) als auch Agens (sie lässt Max auf Glasscherben treten und nötigt ihn zum Geschlechtsakt) und noch im Hotelzimmer der Gegenwart hin- und hergerissen, zwischen dem Wunsch Max zu widerstehen oder sich ihm hinzugeben. Bory, Le Carnaval, 63. «[...] Freud hatte festgestellt, dass traumatisierte Menschen dazu neigen, ihre leidvollen und traumatischen Erfahrungen bis zur selbstzerstörerischen Re-Inszenierung traumatischer Erinnerungen zu wiederholen, ohne dass das Ereignis selbst in der Erinnerung repräsentiert werden kann» (Joachim Paech: «Ent/setzte Erinnerung.» In: Sven Kramer [Hg.]: Die Shoah im Bild. Augsburg 2003, 13–29, hier: 15). Gerade im letzten Punkt unterscheidet sich Il portiere di notte. Eine ähnliche Auflösung der Filmhandlung findet sich in Kapo (Gillo Pontecorvo 1960) und Sophie’s choice (Alan Pakula 1982) wieder: In Kapo kollaboriert eine jüdische Deportierte, um zu überleben, und stirbt, nachdem sie geläutert wurde, den Märtyrertod. In Sophie’s choice, ein Film, der das Trauma einer KZ-Überlebenden zum Thema hat, die im Lager gezwungen wird, eines ihrer Kinder in den Tod zu schicken, besteht auch hier die Auflösung darin, dass sich die Protagonistin letztlich umbringt. In beiden Fällen wird die «Normalität» der Gesellschaft, die sich nicht mehr um die traumatisierten Mitbürger kümmern muss, wieder hergestellt. Indem beide Figuren den Freitod wählen, entheben sie die Gesellschaft, sich den mit ihnen verbundenen Problemen zu stellen.
290 «My protagonists act their role according to the law until 1945; when they meet again in 1957, their roles are outlawed. They may appear to be psychopaths; they are always the same, not psychopaths, but tragic. It is a tragedy to live a role outside the historical time that produced and allowed it.»39
Cavanis Idee zu Il portiere di notte geht auf ihre Dokumentationsjahre zu La donna nella Resistenza (1965) und Storia del Terzo Reich (1961–1962) zurück. Die während ihrer Zeit als freie Regisseurin für RAI-TV in Auftrag gegebene vierteilige Dokumentation über die Geschichte des dritten Reiches ist eine methodologische Untersuchung des Nazismus, die als Hintergrund von Il portiere di notte angesehen werden kann.40 Die Dokumentation La donna nella Resistenza gibt Cavani selbst als Quelle für ihre Zeichnung des Täter-Opfer-Verhältnisses in Il portiere di notte an. In La donna nella Resistenza interviewt Cavani Partisanenfrauen, die das KZ überlebten. Diese minutiöse Erforschung und Rekonstruktion von psychologischen und organisatorischen Hintergründen schimmert auch in Il portiere di notte und dessen stilisierter Bildersprache durch. Cavani erzählt in ihrer Einleitung zum Drehbuch Il portiere di notte von einer Frau, die aus bürgerlichem Haus stammte und als Partisanin nach Auschwitz deportiert worden war. Sie berichtet, wie überrascht sie gewesen sei, diese in einem ärmlichen Vorort zu interviewen, doch die Überlebende gesteht, dass sie mit ihrer Umwelt nicht mehr zurechtgekommen sei: «She began to feel guilty for having survived hell, for being the living witness, and therefore the bitter memory, of something embarrassing that everyone wanted to forget as soon as possible ... I asked her which memories tormented her the most. She replied that she was still haunted not by the memories of a particular episode but by the fact that in the Lager, she could fully test her own nature, what she was capable of doing in good and in evil; she stressed the word evil. She said she could not forgive the Nazis for making her aware of people’s capacity for evil. But she gave me no details; she only told me not to expect a victim to be always innocent because a victim too is a person.»41
––––––– 39
40
41
«I believe that in every place, in every relationship, there is a master-victim dynamic, more or less manifest and generally lived at an unconscious level. [...] Because of the war, my protagonists have broken their repressions and live their roles with lucidity. They are interchangeable roles ... When we are at war, the State monopolizes the sadomasochistic energy of its citizens, provokes it, and legalizes it. One may become a victim or an assassin within the law» (Liliana Cavani: Introduction to Il portiere di notte. Turin 1974, IX-X). In ihrer Einleitung zu Il portiere di notte beschreibt sie die unglaublichen Dinge, die ihr im Instituto Nazionale Luce aufgefallen sind, die offensichtliche Liebe der Nazis, jedes Ereignis zu filmen und die Vorliebe Hitlers und seiner Gefolgschaft für Filme. Cavani, Introduction to Il portiere di notte, VIII. Cavani, Introduction to Il portiere di notte, VII-VIII. Auch bei De Lauretis, Cavani’s Night Porter, 36.
291 Eine andere Überlebende berichtet, dass sie jedes Jahr nach Dachau zurückkehrt, um dort ihre Sommerferien zu verbringen – ein Opfer, das den Ort des Verbrechens wieder aufsucht. Auf der Grundlage dieser Interviews entstand denn auch Cavanis «[...] besoin d’analyser les limites de la nature humaine à la limite de la crédibilité. Pousser les choses jusqu’au bout.»42 Cavanis These, die sich durch den Film zieht und wohl auch als ein Interpretationsstrang angesehen werden kann, ist, dass der Krieg und die dafür verantwortlichen Regierungen alle sadomasochistischen Komponenten, die im Menschen angelegt sind, mobilisieren, sie verstärken und sie für legal erklären. «Cavani attempted to uncover the most equivoqual and unforeseeable aspects of human characters as they may appear in certain extreme situations.»43 Die Verbindung der politischen Frage mit der Sexualfrage dient zur Erhellung und Verdeutlichung der These, die letztlich das Skandalöse des Films ausmacht.44 Cavani will zeigen, dass Gewalt durch das faschistische System der NS-Ideologie hervorgebracht und legitimiert wurde: «Die Nazis haben ihr [Lucia, Anmerkung der Verf.] gezeigt, wozu der Mensch fähig ist, und das verzeiht sie sich und ihnen nie ... [...] Daher die Komplizität zwischen Henker und Opfer: Sie reagieren an sich die brutale Spannung ihres Unterbewußtseins ab. Die gequälte Lucia kehrt zu Max zurück und übertrifft als gute Schülerin noch ihren Lehrmeister.»45
Die Karussell-Sequenz (deren Verbindungsglied zur Gegenwart das Geschenk eines Miniaturkarussels von Lucia an Max ist, worauf dieser ihr in die Oper folgt und ihre Affäre wieder beginnt) versinnbildlicht ihre Beziehung, indem sie die von Cavani eingeführten Charakteristika von Max und Lucia nochmals aufgreift. Stille beherrscht die Szene, die nur durch Schreie und Schüsse unterbrochen wird. Der Vergnügungspark ist ein großer Spielplatz, aber auch ein Ort der Spannung, der Erwartung und Erfüllung.46 Die Mechanismen des Karussells (Rotation, Halten, Fallen) sind spezifisch dafür gemacht, (körperliche) Panik zu verursachen. Dieses Ungewisse und eine panische Erwartungshaltung sind wichtige Elemente in Max und Lucias Beziehung. Lucia ist engelsgleich gekleidet, wie ein Kind mit einem hellen Kleid, weißen Schuhen und einem Haarreif (die gleiche Kleidung, die sie trägt, wenn beide exekutiert werden – was einer Rückkehr ––––––– 42 43 44
45 46
Clouzot, Liliana Cavani, 42. Mira Liehm: Passion and defiance. Film in Italy from 1942 to Present. Berkeley 1984, 262. Vgl. Alfons Arns: «Der Nachtportier.» In: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik e.V. (Hg.): Die Ästhetik des Bösen im Film. Frankfurt am Main 1987, 18–25, hier: 18f. Jung, Der Nachtportier, 117. Zur Bedeutung des Spielplatzes allgemein siehe Siegfried Kracauer: From Caligari to Hitler. Princeton 1947.
292 zur Unschuld gleichkommt). Sie sitzt (beinahe) unbeteiligt auf dem Karussell, wird hin- und herbewegt in ihrem Sitz, das Karussell beschleunigt wieder und es scheint, als ob sie der Gefahr des Fallens völlig ausgesetzt ist (dieser Eindruck wird noch verstärkt durch den Einsatz von verschiedenen Kamerawinkeln). Auffallend ist die wiederholte Naheinstellung der schweren Eisenkette, die die Sitze an ein festes Zentrum bindet, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Verwurzelung in der Vergangenheit als Schutz gegen Max dienen soll. Die Spitze des Karussells dominiert die Szene oder bildet vielmehr den dritten Agens; sie steuert das Geschehen. Lucia scheint sowohl Marionette in diesem Spiel zu sein als auch Beherrscherin (wie im Folgenden erläutert wird). Die eigentliche Bedeutung erhält die Szene durch ihren Schnitt: Lucia auf dem Karussell wird mit Max in seiner SS-Uniform und einer Nahaufnahme von Max’ Kameralinse, die sich auf ein Objekt außerhalb richtet, gegengeschnitten und obwohl dem Zuschauer bewusst ist, dass es sich hier um eine Dislokation handeln muss (Max befindet sich tatsächlich im Lager), impliziert hier die Szene, dass Max Lucia auf dem Karussell filmt. Und auch wenn die Gleichsetzung der Karussell-Szene mit Max’ Kamera ein deutlicher Hinweis darauf ist, dass Max’ auch noch in die letzte Bastion von Lucias Leben, ihre Kindheit, eindringt und sie beherrscht, so ist doch Lucias gerader ernster Blick nicht der eines schwachen Opfers, sondern einer Frau, die ihrem Peiniger direkt ins Auge schauen kann. In der Szene, die diese Rückblende abschließt, wird Lucia von Max gezwungen, seinen Kugeln auszuweichen. Auch hier kommt es wieder zu einer Interaktion zwischen Täter und Opfer, die theaterhafte Züge annimmt: Dirk Bogardes (Max) zurückhaltendes, distinguiertes Spiel, dessen Statik in dieser Szene zur Geltung kommt, interagiert mit der geradezu spielerisch anmutenden Leichtigkeit, mit der sich Charlotte Rampling (Lucia) zu schützen versucht, ihn mehr fragend denn ängstlich anschauend. Die Cabaret-Szene, in der Lucia mit den Insignien des Nazismus gekleidet ist, zeigt eine Annäherung des Opfers an die Täter, wobei Lucia m.E. auch in dieser Szene im Übergang bleibt. Vom harmlosen Opfer und unschuldigen Teenager, wird sie hier (teilweise) als Agens der Nazi-Gesellschaft dargestellt. Die (temporäre) Umkehr des Verhältnisses zeichnet sich in einer der meist diskutierten Szenen des Films ab: Lucia windet sich in Max‘ Appartement aus seiner Umarmung, schließt sich im Bad ein und lässt eine Parfümflasche auf den Boden fallen. Als sie Max die Tür öffnet, tritt dieser mit nackten Füßen auf das zerbrochene Glas und auf Lucias Hand, die seinen Fuß berührt. Max findet sich als Opfer seines ehemaligen Opfers – das Verhältnis kehrt sich in diesem Augenblick um, bleibt aber in der
293 Ausführung das gleiche.47 Die plötzliche Großaufnahme von Max’ Mimik, der auf zerbrochenes Glas im Bad steht, ermöglicht es dem Zuschauer, den körperlichen Schmerz in seinem Gesicht abzulesen. Dieses intensive Bild wird unerwartet in die sorgsam geführte Sequenz eingeschoben. Cavani isoliert die Nahaufnahme und den Vordergrund, um den Augenblick des Schreckens zu vermitteln. Solche Szenen brechen aus dem Kompositionsrahmen des Films heraus, erscheinen als andersartig (und für das Publikum beinahe unerträglich). Für Cavani bedeutet das Bad durch den Einsatz der Spiegel auch einen Raum der Erkenntnis. «It is the locus where people look at themselves – there is always a mirror. It is a moment in which you are most exposed.»48 Richtete sich bisher die Brutalität von Max ausschließlich auf andere, so findet auch hier innerhalb des Appartements eine Wendung statt: Er bleibt mit nackten Füßen auf den Scherben stehen und fügt sich selbst Schmerzen zu. Zeichen von Unterwerfung und Revolte werden in diesem Spiel der Umkehr deutlich: Vergnügen, Spannung und ekstatische Erregung entladen sich letztendlich in der Nötigung von Max durch Lucia zum Geschlechtsakt. Der Hauptvorwurf, mit dem sich Cavani mit Il portiere di notte konfrontiert sah, war, dass der Film sich nicht ernsthaft auf das Thema Faschismus eingelassen habe. Die Verbindung von Sexualität und Faschismus ist offenkundig, doch stützt sich Cavani zu sehr auf die Bebilderung des psychologischen Melodrams, als ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden, das «wahre Wesen» des Faschismus aufzuzeigen. Das historisch reale Leiden der Opfer und die Realität der Vernichtung werden unterschlagen. Das sadomasochistische Liebesverhältnis wird zwar glaubhaft in seiner psychologischen Dimension dargestellt, die historische Realität des KZ wird jedoch nicht ansatzweise im Film gezeigt, da die Brutalität des Naziregimes und ihrer Konzentrationslager lediglich im Hinblick auf den extremen Charakter der Gewalt und das sexuelle Verhältnis erkenntlich wird.
––––––– 47
48
«As Max puts glass in Lucia’s vagina and as Lucia has her revenge by breaking glass on the floor for Max to walk on, Cavani visually reinforces the close sexual links that these characters experience when they inflict pain on one another» (Ralph Berets: «Recent Cinematic Images of Nazism: The Night Porter and Seven Beauties.» Film and History 9 [1979], 73–81, hier: 75f.). Cavani, Introduction to Il portiere di notte, 73.
294
6.3
Autoreflexive Aspekte – Bilder und Spiegelbilder
6.3.1 Bild und Abbilden – Kamera im Film Der Blick und das Auge sind in Il portiere di notte Elemente der Handlung und stehen meist in Bezug zum Verlangen, aber auch zur Erkenntnis und Selbstreflexion. Die Erfahrung des Blicks wird durch die Gegenwart von Filmkameras, Spiegelrefraktionen, Fotos und Naheinstellungen kommuniziert. Die Wahrnehmung des Raumes wird in Il portiere di notte explizit durch den Blick/das Auge vermittelt. Dieser schließt hier nicht nur die Außenwelt und das Umfeld mit ein, sondern der Blick überschreitet bei Cavani zugleich auch die Schwelle der räumlichen Welt, um hinter die Oberfläche der Dinge zu sehen. Somit ist das Auge auch selbstreflexives Element, das die eigenen Grenzen (der Wahrnehmung und des Seins) in Frage stellt. Er ist zugleich ein Mittel, um Wahrheit ans Licht zu bringen, aber auch um innere Erfahrung zu verdeutlichen. Der voyeuristische Blick bedeutet immer Überschreitung und ist oftmals mit Macht gekoppelt: Max dominiert und kontrolliert durch seinen Blick (auch und vor allem durch die Kamera) die sich widerstrebende Lucia. Sie ist in diesen Szenen reines Objekt der Anschauung. Als solches kann auch Bert während seiner Ballettdarbietung im KZ gesehen werden. Cavani arbeitet vor allem mit Schuss und Gegenschuss, ein anderer Effekt ihrer Brechung des Blicks. Die erste Rückblende, in der Max Lucia mit seiner Kamera im Registrierungsraum aufspürt, wird durch Lucias (Gegen-)Blick beendet. Dieser Blick des Widerstands ist die einzige Waffe, die Lucia zur Verfügung hat. Diese aufgebauten Blickkontakte49 dienen Cavani dazu, den Zuschauer zur aktiven Antizipation zu bewegen, da sie hier Szene für Szene aneinanderreiht und der Zuschauer die Verbindung schaffen muss. Die Kamera bildet in Il portiere di notte eine zusätzliche interpretierende Instanz: zum einen durch den gewählten Kameraausschnitt und den somit gewählten Fokus auf das Geschehen (inszenatorischer Aspekt), zum anderen setzt Cavani die Kamera selbst als filmisches Mittel ein (narrativer Aspekt). Die (nicht sichtbare) Kamera ist interpretierende Instanz per se, ist Erzähler, Erzählperspektive und Manipulation des filmischen Betrachterstandpunktes. Die Kamerabilder, die von der sichtbaren Kamera im Film gemacht werden, dienen zur Bemächtigung der Umwelt durch Abbildung. Sie sind als Zeichen von Herrschaft, als Zeichen der Objektivierung, auch als ––––––– 49
Vgl. auch hierzu die Vergnügungsparksequenz, die im Kapitel «Erinnerungsprozesse und Erinnerungsstrategien – Spiel mit Rückblenden» besprochen wird.
295 Zeichen der Menschenverachtung zu lesen. Die Entscheidung, Max als «Dokumentarfilmer» im Lager darzustellen, lässt sich zum einen mit Machtstrukturen erklären (durch Abbildung findet eine Objektivierung statt), zum anderen verarbeitet Cavani hier auch die Vorliebe der Nazis für Filmen und Film. «Der Film wird selbst hier zum Fetisch, der erhalten wird, um eine symbolische Erfahrung der deutschen Vergangenheit zu konstituieren.»50 Der Zuschauer sieht Max zunächst nicht, er wird durch die Linse seiner Filmkamera identifiziert, während er die Gefangenen filmt. Die Kamerabewegung, die den Akt des Suchens und Sehens (noch hervorgehoben durch die Einbeziehung der photographischen Linse in den Bildrahmen) betont, ist holprig, eine bewegliche Kamera versinnbildlicht Max‘ Gang mit der Kamera in der Hand. Das Auge der Kamera (und von Max) sucht den unbeweglichen Ausdruck der Angst durch eine Naheinstellung von Lucias Gesicht einzufangen. Sogar ein Beleuchter, der ihre Emotionen noch besser einfängt, steht Max zur Seite und das Licht scheint nicht nur ihre Angst auszuleuchten, sondern zugleich auch Strafe (man denke an Verhörsituationen) und Macht zu sein – Lucia versucht sich diesem grellen Licht zu entziehen, jedoch vergeblich. Der Blick erschafft (durch eine kühle Beleuchtung und das Einbeziehen der Kamera in den Bildrahmen) eine verzerrte Vision der Wirklichkeit. Observierung zieht sich durch den gesamten Film und könnte als inszenatorisches Mittel gesehen werden, den Nazismus, der sich selbst durch völlige Überwachung ausgezeichnet hat, mit filmischen Mitteln darzustellen. Somit werden durch Blick und Kamera NS-Machtstrukturen verdeutlicht. 6.3.2 Reflektierende Oberflächen Einen zusätzlichen impliziten Kommentar zur Personenbeschreibung erreicht Cavani durch den Gebrauch von Spiegeln und anderen reflektierenden Oberflächen. Nachdem Lucia Max wiedergesehen hat, steht sie in ihrem Hotelzimmer vor dem Spiegel, sich selbst und damit auch ihre Erinnerungen betrachtend. Sie schließt die Badetür vor ihrem Ehemann ab, um sich ihren (für ihren Mann nicht bekannten) Erinnerungen zu widmen. Spiegel in Verbindung mit Rückblenden verändern hier die zeitliche Kontinuität der Geschichte und bieten einen impliziten Kommentar zur emotionalen Instabilität des Charakters auf seiner Selbstfindungssuche. Die Trilogie ist reichlich versehen mit Bildern und Objekten: Glastüren, Spiegel, Film- und Standkameras, Operngläser, Gläser, Scheinwerfer vermitteln einen Sinn der Doppelbödigkeit und der Brechung der ––––––– 50
Sontag, Faschismus, 119.
296 Geschichte. Der Blick in den Spiegel wiederum unterstreicht die Selbsterkenntnis in der Gegenwart – das Gewahrwerden der eigenen Wünsche und Gefühle. 6.3.3 Sprachlosigkeit und Musik als Ausdrucksform Sexualität und Macht verbindet Cavani mit Sadismus, die sie mit weiteren Grenzerfahrungen zwischen Vergnügen und Terror, Leben und Tod bebildert. Die exzessive Gewalt und Versklavung, der sich Max und Lucia unter der Hand des anderen aussetzen, wird durch eine wachsende Stille intensiviert. Stille symbolisiert die Komplizenschaft der beiden Akteure, die eine gemeinsame Vergangenheit verbindet, die sie in der Gegenwart wieder aufnehmen. Beim ersten Treffen ersterben Lächeln und Sprache, als sie sich in der Hotellobby wiedersehen. Lucia spricht während der sadomasochistischen Spiele nicht, trotzdem scheint sie auf Max zu reagieren, ohne Aversion mit einem gewissen Zugehen auf ihn. Diese Komplizenschaft manifestiert sich in einem zugleich sanften und grausamen sadomasochistischem Spiel. Der Verlust der Sprache in der Beziehung von Max und Lucia könnte auch ein Hinweis darauf sein, dass das gewohnte Zeichensystem zusammengebrochen ist, dass es kein adäquates Mittel mehr gibt, um sich auszudrücken – bereits im Lager und auch jetzt in der Gegenwart. Hier findet keine Bedeutungstransformation in der Sprache statt, das Geschehen(e) ist nicht mit bekannten Wörtern zu erfassen. Vielleicht könnte man auch von einem eigenen Sprachcode sprechen, den beide entwickeln. Die Schlusssequenz, die den Tod der Protagonisten einfängt, gehört zu den eindrücklichsten des Films. Zunächst setzt die Klarinettenmusik des Anfangs wieder ein. Doch dann ist der einzige Ton das Echo der Schritte – Max und Lucia befinden sich (noch) Hand in Hand in ihrer Beziehung und gehen die Brücke entlang. Eingerahmt von den schweren Pfeilern der Brücke entfernen sich die Protagonisten langsam von der Kamera und erst, als sie erschossen werden, zoomt diese heran. Es gibt keinen musikalischen Kommentar, als die Körper wie Marionetten zu Boden gleiten. Das ferne Glockengeläut, die nasse Brückenstraße (die an die Eingangssequenz erinnert), die einen endlosen Raum und Übergang suggeriert, evozieren bereits die Existenz des Todes. Riesige Brückenpfeiler und ein endloser Weg ohne Bestimmungspunkt scheinen die beiden toten Menschen zu erdrücken. Die Klarinettenmusik setzt wieder ein: Max liegt rechts und Lucia links, getrennt durch den nassen Weg. Die imposanten Brückenpfeiler und das neblige Wien sind die Kulisse für die beiden Toten. Auch die Sprache der Alt-Nazis hat keine Bedeutungstransformation erfahren: Sie gleicht einem (faschistischen) Mechanismus, der wiederkehrt,
297 um mit den schuldigen Erinnerungen fertigzuwerden. Innerhalb ihrer psychoanalytischen Sitzung, die zum Ziel hat, sich von Schuldkomplexen freizusprechen, die sie selbst als psychische Krankheit, als Neurose diagnostizieren, versinnbildlicht die Verwendung der Sprache, dass es sich hier um keine Vergangenheitsbewältigung, sondern um eine -verdrängung handelt. Für jeden von ihnen ist die Sprache auf die Elemente reduziert, die sie auch während der NS-Zeit auszeichnete: abgehackte, einfache Sätze, die im Befehlston vorgetragen werden.51 Max aber steht außerhalb dieses Systems und lehnt es auch ab, seine Taten auslöschen zu lassen. Die Musik in Il portiere di notte setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen: Zum einen tritt das Leitmotiv für Max als Begleitung für seinen Erinnerungs-Traum auf. Zum anderen bilden die Arbeiten von deutschen Musikern des 18. und 19. Jahrhunderts eine ganz wichtige zusätzliche Interpretation des Geschehens: dem Zuschauer wird durch den Kontrast von mitteleuropäischem Kulturgut und NS-Zeit das Ausmaß der Grausamkeiten verdeutlicht. Die Musik in der Opernsequenz, in Berts Tanzsequenz und in der Cabaret-Szene wird im Unterkapitel «Heterotopien des Lagers – Kultur versus Nazismus» besprochen. Der am häufigsten eingesetzte Klang ist der widerhallender Schritte, die den Gang durch die Vergangenheit, durch das Unterbewusste und Unbewusste verdeutlichen. Als Max Lucia in ihrem Hotelzimmer aufsucht, sind es zunächst nur die widerhallenden Schritte von Max, die sein Kommen ankündigen (eine Naheinstellung auf die Schuhe verdeutlicht dies noch). Doch Lucia ahnt bereits, welche Gefahr sich ihr nähert. 6.3.4 Architektonische Konstruktion des Raumes Auffallend an Cavanis Raumsemantik ist die architektonische Konstruktion des Raumes, verbunden mit Licht- und Schattenstrukturen, die häufig einen Teil der Leinwanddramaturgie bilden. Cavani experimentiert mit einer Verlagerung des Bildmittelpunktes und mit der Aussagekraft der Kinematographie: Die Komposition wird auf den Rand des Bildrahmens ausgerichtet. Die Schauspieler werden an den Rand des Bildrahmens platziert. Der entstehende freie Raum bietet Möglichkeit zu einer zusätzlichen Interpretation der Figur. Lucia sinkt nach ihrer ersten Erinnerung ans Lager und nach dem Verlassen des Zimmers durch Max (das sie nur akustisch wahrnimmt) in der Gegenwart am äußersten Bildrand nieder. Und auch Max‘ längere Erinnerung an Lucia im Lager im ––––––– 51
Diese enge und begrenzte Sicht der faschistischen Ideologie wird zusätzlich durch Klaus’ Monokel verdeutlicht.
298 Anfangsteil des Films lässt ihn in der Gegenwart am linken Bildrand zurück, die Hand an den Kopf gestützt. Diese Einstellungen symbolisieren Verzweiflung, Einsamkeit und die Marginalität der Charaktere.52 Max‘ Bewegungen suggerieren, dass er sich gegen das Spiegelbild seines inneren Selbst (in der Vergangenheit) wendet. Es gibt eine Verschiebung des geometrischen Gleichgewichts, das metaphorisch gesehen das Gleichgewicht der Machtstruktur des Nazismus darstellt, zu welchem die ältere politische Identität des Protagonisten gehört. Die Komposition erreicht eine konstante Spannung zwischen dem Charakter und dem Hintergrund. So ein stilistisches Schema reflektiert Cavanis einmaligen Zugang zur (Film-)Realität: «In Il portiere di notte I always wanted half of the photogram empty. The director of photography used to tell me that it was not right. When the characters were alone, I wanted them to be on one side of the frame in order to accentuate their concentration and selfanalysis, and enhance their inner world, their inner hell ... It was as if my deepest self had surfaced and I was transferring it onto my films. Consequently, the necessity of double readings. I could see the characters beyond the story, as in Sophocles, where they pertain to the action but they are also personae who portray us, the spectators.»53
In diesen Innenaufnahmen scheint die Distanz zwischen Kamera und Figur festgelegt durch das Auge, das die Einstellung anordnet. Max und Lucia vereinigen verschiedene Dichotomien in sich: Sie sind (in speziellen Szenen) sowohl Täter als auch Opfer, Agens und Patiens, besitzen männliche und weibliche Attribute. Diese unterschiedlichen Facetten der Figuren manifestieren sich nicht nur in der Narration, sondern auch in der Inszenierung und Bildkomposition. Waller54 unterscheidet verschiedene filmische Präsentationen der Figuren: Im Gegensatz zu den stereotypischen Hollywood-Männern wird Max bildlich «feminized» – d.h. er wird oft in Nahaufnahmen55 gefilmt, oft im Zentrum der Leinwand, isoliert vom ––––––– 52
53 54 55
In Le Temps du Ghétto (Frédéric Rossif 1962) erzählen Überlebende ihre Erfahrungen und werden dabei in Nahaufnahme gezeigt, wobei sie aus einer schwarzen Leere sprechen. Durch die Art und Weise, wie diese Überlebenden in Szene gesetzt sind (zunächst in einer Naheinstellung, dann im Profil) suggeriert die Kamera, dass diese Menschen noch immer Gefangene (der Geschehnisse und somit ihrer Erinnerung) sind. Ein ähnlicher Aufbau findet sich im CDJC in Paris: mehrere Fernseher sind nebeneinander aufgebaut und zeigen jeweils in Großaufnahme eine/n Überlebende/n. Durch Kopfhörer tritt der Zuschauer sozusagen direkt in Kontakt. Vgl. Marrone, The Gaze, 10. Waller, Signifying the Holocaust, 211ff. Das Skript eines Films unterliegt dem Prinzip des kombinierten Ausdrucks (principle of coexpressibility). Der empirische Beweis dieses Prinzips liegt in der Tatsache, dass überall, wo in einem Film vorübergehend ein monologisches oder dialogisches Element bestimmend ist, eine Großaufnahme erscheint. Indem die Kamera das Gesicht des Sprechers oder das des Zuhörenden oder abwechselnd beide in starker Vergrößerung zeigt,
299 Kontext und ist voyeuristischen Blicken ausgesetzt; auch in Sequenzen und individuellen Einstellungen, in denen er simultan porträtiert wird (wie der klassische Mulvey und Doane Mann als Ursprung und Besitzer des Blicks56) bleibt er «feminized:» Zum Beispiel wird Max beim Filmen anderer (Lucia inmitten der Gefangenen; Bert beim Tanzen im Hotelzimmer) genauso lang gezeigt wie die Bilder und Aktionen, die sein Blick einfängt. Lucia hingegen wird, besonders im letzten Teil des Films, öfters «masculinized:»57 Obwohl sie von Max beobachtet wird, wird sie im Profil gerahmt, wird an die Ecke des Rahmens gesetzt, ihr Gesicht teilweise im Schatten – sie wird nicht nur gesehen, sondern sieht, sie ist nicht nur reagierend, sondern sie erhält Macht und ist Agens der Handlung.58 Diese «Vermännlichung» Lucias unterstreicht Cavani zusätzlich durch die Szene, in der Lucia Pfeife raucht (am Bildrand) und Max im Zentrum des Bildes Lebensmittel auspackt und erzählt, dass er seinen Job aufgegeben hat. Doch wird die Lesbarkeit von Sex und Gender im Laufe der Geschichte in Vergangenheit und Gegenwart denaturalisiert. Sexualität in Il portiere di notte ist immer in Beziehung zum Geschehen zu setzen und ist performativ. Innenräume bedeuten zugleich auch Eintritt in das Innenleben der Protagonisten, sie sind visuelle Embleme einer inneren Wirklichkeit, die die Charaktere in ihrer Imagination (wieder) überschreiten.
–––––––—
56
57 58
verwandelt sie die menschliche Physiognomie in einen Schauplatz: Die feinste, aus gewöhnlicher Entfernung nicht erkennbare Regung des Gesichts wird zum ausdrucksstarken Ereignis im sichtbaren Raum und verschmilzt dabei vollkommen mit dem Ausdrucksgehalt der gesprochenen Worte (vgl. Erwin Panofsky: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers und Stil und Medium im Film. Frankfurt a.M. 1993, 25f.). Mulvey konstatiert zwei Arten des Blicks: voyeuristischer Blick (Frau als Madonna) und fetischistischer Blick (Frau als Hure). Der Zuschauer wird in die Rolle der männlichen Subjektsposition gesetzt, mit der Figur der Frau als Objekt der Begierde (Frauen als «to-belooked-at-ness»). Der männliche Blick beinhaltet Aktivität, das weibliche Objekt bleibt passiv (vgl. Laura Mulvey: «Visual Pleasure and Narrative Cinema.» In: Visual and Other Pleasures. London 1989, 14–26, hier: 19f.). Vgl. Waller, Signifying the Holocaust, 208f. Zum «gendering,» wie es in Hollywood üblich ist, vgl. Mulvey, Visual Pleasure.
300
6.4
Das Lager, «un monde à part» – Interaktion von Gegenwart und Vergangenheit
6.4.1 Beschreibung des Lagers im Kontext von Sadismus und Masochismus Das Lager ist in Il portiere di notte ein Ort, an dem Sadismus, Masochismus und perverse Sexualität visualisiert werden. Cavani entwickelt ihre Zeichnung des Lagers und somit Raum- und Zeitstruktur vor allem anhand des Blicks: Im Schlaf-, Dusch- und Registrierungsraum werden die Gefangenen beobachtet, sind Zielscheibe der Observation. Die Demütigung der Gefangenen wird exemplarisch an zwei Beispielen festgehalten: die Zahnuntersuchung und das Aufsagen der Namen, wobei die Gefangenen nackt vortreten müssen. Beide Tanzszenen (im Cabaret und im NS-Festsaal) sowie die Opernsequenz sind darauf ausgerichtet, dass die Inszenierung vor Publikum stattindet. Cavani teilt ihre Beschreibung des Lagers auf in eine Gruppe von Sequenzen, die die grausame und unausweichliche Verbindung der Täter-Opfer-Verbindung widerspiegelt und in eine Gruppe von Sequenzen, die durch die Verbindung der Musik und einem bühnenhaften artifiziellen Spiel inszenatorischen Charakter erhält. Diese Szenen (die Cabaret-Szene; Berts Tanzszene und die Opernsequenz) sind besondere Beispiele für die Kunstwelt, mit der Cavani versucht, das Lager zu beschreiben. In der ersten Sequenz, die Cavani vom Lager zeigt, vermittelt sie durch die Wahl der Bilder die Situation im Lager. Die Gefangenen sind nackt, voller Angst warten sie zusammengedrängt auf ihre Registrierung. Ihrer Identität beraubt, grausam zur Schau gestellt, dient die barsche Registrierung als zusätzliche Demütigung, die durch jede Einstellung des Leidens der Menschen unterstrichen wird. Dadurch dass in dieser Szene auf jegliche musikalische oder tonliche Untermalung verzichtet wurde und nur der Klang des Filmens von Max‘ Kamera zu hören ist, wird der Eindruck verstärkt, dass es sich hier nicht mehr um einen fiktionalen Film handelt, sondern dass der Zuschauer Zeuge eines sich real ereignenden (und ereignet habenden) Ereignisses wird. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass Cavani hier einen historisch verbürgten Punkt aufgreift (Gefangene müssen sich nackt registrieren), der auch in Nuit et Brouillard visualisiert wurde und der den Zuschauern der 70er Jahre bereits bekannt gewesen sein dürfte. Diese Szene ist in ihrem Schrecken zeitlos59 und wird erst dann ––––––– 59
Um diese «Authentizität» der Bilder aus dem Todeslager zu erzeugen, benutzte Alfio Contini (Kameramann) keine Unschärfe, die gewöhnlich für Rückblenden und Träume verwendet wird. Er filmte Il portiere di notte vor allem mit fixierten Linsen mit einer
301 wieder zur «fiktiven» Filmszene, als die Kamera von Max Lucia ins Zentrum nimmt und nur auf sie gerichtet bleibt. Sowohl im Schlafraum als auch im Krankenblock entwickelt Cavani ein Zusammenspiel von Grausamkeit und verschiedenen Formen des Blicks (wobei sie hier die Frage nach weiblicher Zuschauerschaft aufwirft60). Lucia beobachtet die Vergewaltigung eines Häftlings durch einen SS-Mann im Schlafraum und wird ebenso von den anderen Häftlingen beobachtet, als Max die von ihm ihr zugefügten Wunden im Krankenblock küsst. Die Schlafraumszene ist dunkel, während der Krankenblock, der für medizinische Untersuchungen und Experimentieren von Körpern gilt, durch verschiedene Grüntöne ausgeleuchtet ist. Cavani inszeniert die Diskrepanz zwischen Max‘ Liebkosungen von Lucias Wunden mit den Grüntönen, die die Gefühlskälte, Distanz und Entkörperlichung der Menschen unterstreichen. In beiden Szenen ist Lucia außerhalb der Gruppe (sowohl als Beobachterin, als auch als Beobachtete) und versinnbildlicht somit auch räumlich ihren besonderen Status innerhalb des Lagers. Die Szene im Duschraum, als Max sich damit unterhält, Lucia mit Revolverschüssen im Raum zu jagen, ist eine wirkungsvolle Visualisierung der Täter-Opfer-Konstellation im Raum. Der gekachelte, weiße Raum mit den zertrümmerten Fenstern bietet den Hintergrund für das brutale Treiben von Max, der sich durch seine schwarze Uniform und seine Statik bedrohlich vom Hintergrund abhebt. Hier wird das System des Lagers (die plötzlichen und unerklärbaren Übergriffe durch die NS-Macht und die aussichtlose Gegenwehr der Opfer) besonders deutlich. Lucia, die völlig nackt um ihr Leben bangt und Max fragend anschaut, wird im Gegenschuss zu Max gezeigt, bis die Kamera den gesamten Raum erfasst und somit auch Täter und Opfer in Verbindung zueinander setzt und damit die doppelte Natur des ganzen Films aufdeckt – Täter und Opfer sind durch eine spielerisch-grausame Komplizenschaft miteinander verbunden. 6.4.2 Eine neue Form des Lagers – Max‘ Appartement Cavani bildet in der Gegenwart ein Analogon zum Lager und versinnbildlicht somit die These, dass sich der Raum der Gefangenschaft in der Gegenwart fortsetzt: Das Gefühl des Eingeschlossenseins dominiert in der –––––––— 60
normalen Brennlinse und in einigen Szenen mit einer Zoom-Linse, um die Komposition abzustimmen (vgl. Marrone, The Gaze, 91). «While the grayness of the dormitory is experientially male (in its association with sodomy) and the frozen state of the deportees emphasizes their role as passive voyeurs, here voyeurism suggests involvement: Lucia ‹è coinvolta› (is a participant)» (Marrone, The Gaze, 95).
302 gefängnisartigen Umgebung des Appartements.61 Durch die Reflexion über das Lager im Hotel gelangen Lucia und Max wieder in das Lager (in der Gegenwart also das Appartement). Während dieser letzten Etappe ihrer Beziehung finden dementsprechend auch keine Flashbacks mehr statt. Die Figuren lassen endgültig ihre Masken fallen. Kein Spiel von Licht, Schatten und Dunkelheit findet mehr statt bis zum Ende beim Morgengrauen auf der Donaubrücke. Das Appartement ist ein physisches und psychisches Gefängnis, in dem Max und Lucia mehrmals auch im Türrahmen (der eine Verdopplung des Bildrahmens darstellt) gefangen sind. Vertikale Linien rahmen den Körper des Schauspielers in einen Raum, der die Isolation, Einsamkeit und die (äußere und innere) Gefangenschaft der Figuren zeigt. Dieses Zwangsuniversum, das durch die Gruppe der ehemaligen Nazis evoziert wurde, gestattet das Ausagieren der ehemaligen Beziehung, die in der gesellschaftlichen Normalität verboten war. Während dieser Zeit bildet die geschlossene Tür einen Rahmen, der sowohl Zugang als auch Grenze bedeutet. Den Aspekt des Ausagierens der Vergangenheit in der Gegenwart, bzw. der Eindruck, dass viele Überlebende mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart leben, erinnert an Charlotte Delbos dritten Teil ihrer Trilogie.62 Cavani macht diesen Aspekt an einem Interview mit Primo Levi fest und berichtet, dass dieser im Gespräch sich immer mehr in die Vergangenheit begibt, weiter und weiter erzählt und es so scheint, als ob er diese Zeit in seinem Leben nie verlassen hätte. Auch hier findet eine Art freiwilliger Wiederholung der Ereignisse statt, die das Gefühl des Verlustes und der Schuld kompensiert.63 ––––––– 61
62
63
Cavani ließ Max‘ Zimmer komplett in den Cinecittà Studios rekonstruieren, um glaubhaft die Wohnung eines Arbeiters in einem Vorort von Wien in den 50er Jahren zu zeigen. Diese Wohnblocks (Karl-Marx-Hof genannt) wurden vor allem in den 20er Jahren gebaut. Um die Atmosphäre der Unterdrückung und Klaustrophobie, die einem so begrenzten Raum inne ist, einzufangen, benutzte Cavani mobile Wände mit einer sorgfältigen Auswahl von Linsen (vgl. Marrone, The Gaze, 87). Ein Film, der gänzlich ohne Rückblenden auskommt und in dem der Raum ebenfalls die Psyche der Protagonisten widerspiegelt, ist La vie devant soi: Die Überlebende wird innerhalb ihres Appartements immer wieder von ihrem Trauma heimgesucht. Zusätzlich zu ihrer Wohnung hat sie ein Versteck im Keller, in dem sie ihr Judentum zelebriert. Die Vergangenheit ist hier immer gegenwärtig und dem Zuschauer ist nur zu klar, dass die scheinbare Verrücktheit der Mme Rosa aus der Verfolgung rührt (Moshe Mizrahi: La vie devant soi [1977]). Cavani, Introduction to Il portiere di notte, IX. Levis Begeisterung für Il portiere di notte hielt sich allerdings stark in Grenzen. Er nannte ihn einen schönen und falschen Film, «[...] Her film is based on wrong ideas, more precisely on the idea Cavani has of sex. This has nothing to do with the camps. A case of aberration may have happened, but generally ...» (Pasquale De Filippo: «Primo Levi, il testimone di quelli che non tornarono.» Gazzetta del
303 Bei Cavanis Interpretation dieses Aspektes des Traumas agieren aber die Figuren nicht nur ihre Schuld, sondern auch ihren Selbstverrat aus. Kurz nach ihrer Ankunft in Max‘ Appartement (nachdem Lucia an ihren Mann ein Telegramm geschickt hat, dass sie ihm nicht nachfolgen wird), zieht Max Lucia ihre Perlenohrringe aus – eine deutliche Geste der Abkehr vom alten großbürgerlichen Leben. Im Kleiderschrank entdeckt Lucia die SSUniform von Max und zeigt ihm das Kinderkleid, das er ihr damals geschenkt hat.64 Lächelnd betrachtet sie sich im Spiegel, wobei sie von Max beobachtet wird. Die Rückblende ins Lager, als Lucia das Kleid übergezogen wird, verdeutlicht nochmals die Tatsache, dass der Rückkehr zum «Lager» nichts mehr im Weg steht. Das dichte Gewebe aus Schuld, Macht und Sexualität und der Erfahrung des Todes führt zum Chaos und keiner Katharsis und kann, in diesem Fall, nur im Tod aufgelöst werden. Das enge Verhältnis zwischen Max und Lucia wird durch die Ankettung Lucias (die sie lächelnd beobachtet) an den Tisch oder auch ihrem Verstecken unter dem Tisch versinnbildlicht.65 Auch ein Besuch von Hans aus der Altnazi-Gruppe veranlasst Lucia nicht ihren Status aufzugeben («I’m here for my own free will»), sie kriecht im Zimmer auf und ab und zieht sich schließlich ähnlich einem Tier wieder ins Badezimmer zurück und befiehlt dem Eindringling zu gehen. Die Kette dient als Schutz gegen sie. Allerdings veranlasst dieser Besuch, dass sich Lucia, nachdem Max wieder zurückgekehrt ist, den Schlüssel für die Kette geben lässt. Max verbarrikadiert immer wieder aufs Neue die Wohnung. Bei einem kurzen Gang auf den Balkon wird er von Klaus‘ Revolverschuss an der Hand getroffen. Hunger, Mangel an Luft, letztlich völlige Dunkelheit (die Leitungen wurden durchgeschnitten) und die Fixierung aufeinander bringen Max und Lucia schließlich auf ein tierisches Stadium zurück. Mehrere Nahaufnahmen des verbleibenden Essens, das Aufschneiden eines Stück Brotes in drei Stücke und die Szene, in der Max und Lucia sich gegenseitig gierig die Marmelade vom Gesicht lecken sind Indizien, wie Essen zum Lebensinhalt geworden ist. Max muss Lucia immer wieder zurückhalten, die letzten Vorräte zu essen und wühlt sogar in den Mülleimern. Dies –––––––— 64
65
mezzogiorno. 10 Dicembre 1977). Allerdings stützt sich Levis Kritik vor allem auf das Unbehagen, das Cavanis sexuelles Portrait bei ihm verursacht hat. Zur Bedeutung der Uniform im Kleiderschrank siehe auch Elijah Moshinskys Gengis Cohn (1993). Auch hier symbolisiert die SS-Uniform im Schrank die geheime Vergangenheit (in diesem Fall von Schatz) und die andauernde Sympathie für den Nationalsozialismus bzw. eine angenehme Erinnerung an die berufliche Funktion, die Schatz/Max innehatten. «[...] the imagery of her bondage to the Father is obviously the meaning of her being chained and hiding under the table» (De Lauretis, Cavani’s Night Porter, 37).
304 erinnert an viele Berichte Überlebender, die in ihren Schriften immer wieder den omnipräsenten Gedanken an Essen formulieren und erzählen, zu welchen Taten man bei unsäglichem Hunger fähig ist. Max‘ unterdrückte Schuld, deren (schriftliche) Beweise er laut eigener Aussage nicht vernichtet haben möchte, könnte so groß sein, dass er sich selbst in den Zustand eines KZ-Gefangenen bringt – physisch degradiert und psychisch am Ende. Insdorf trägt in ihrer Beurteilung des Films der Kritik Rechnung, die die perverse Beziehung als Ausbeutung des Holocaust für Sensationszwecke sehen. Sie sieht aber auch die Vielschichtigkeit des Films, wenn sie meint, dass «One can see this merely as perversion and exploitation of the Holocaust for the sake of sensationalism. Or one can take seriously Max’s confession that he works at night because during the day, in the light, he is ashamed. His repressed guilt is perhaps as great as his initially repressed lust, and Max’s ultimate action is to turn himself into a physically degraded and emotionally shattered prisoner.»66
Max’ Untertauchen und Wunsch nach Anonymität wird sowohl im Verhältnis zur Nachbarin zum Ausdruck gebracht, als auch in der Wahl seines Wohnortes: Der Karl-Marx-Hof in Wien stammt von 1934 und gilt als Symbol des organisierten antifaschistisch-kommunistischen Widerstands. Anders als Arns, der dies als «provokante Umgangsweise der Regisseurin mit historischen Tatsachen»67 ansieht, kann man diesen Kunstgriff Cavanis als weiteren Beweis dafür sehen, dass sie ihren Protagonisten als «church mouse» leben lassen möchte – in einer Umgebung mit Kommunisten bleibt er unentdeckt und kann untertauchen. Die Gräfin, eine frühere Vertraute von Max, bittet ihn in einem letzten Telefonanruf Lucia aufzugeben. Dieser weigert sich und putzt mechanisch den Tisch, was als Reminiszenz an sein früheres, nun endgültig aufgegebenes Leben angesehen werden kann. In völliger Dunkelheit und im Chaos sind Max und Lucia letztendlich zur Regungslosigkeit verdammt. Als Max schließlich das Fenster aufreißt und das Cabaret-Thema erklingt, antizipiert der Zuschauer bereits den Schluss. Max kleidet Lucia nochmals in ihr Kinderkleid, während er seine SS-Uniform anlegt. Auf der nächtlichen Straße im Auto werden sie sofort von Bert verfolgt, der sie kurz darauf auf ihrem gemeinsamen Weg auf der Donaubrücke erschießt.
––––––– 66 67
Insdorf, Indelible shadows, 132. Arns, Der Nachtportier, 22.
305
6.5
Heterotopien des Lagers – Inszenierung der Künste
6.5.1 Die Ikonographie des Nazismus Cavanis Kino kann man als Überschreitung oder Revolte gegen alle bindenden Ideologien, kommerziellen Codes und gesellschaftlichen Einschränkungen sehen: «Her characters are compelled to a kind of transgression, one that enables them to transcend the prisonlike limits of societal structures and to venture beyond the door, her most compelling and poetic metaphor for man’s ungoing ontological journey.»68
In Il portiere di notte wird die erschreckende Welt des Nazismus in einer figuralen Untersuchung von Formen versinnbildlicht.69 Cavani nähert sich dem Nazismus durch Fetischismus, Masochismus und Sadismus. In einem Interview mit Claire Clouzot erklärt sie ihre Vorgehensweise bei der Recherche zu Storia del Terzo Reich, beschreibt sie ihre Suche nach einer Erklärung für das Wesen des Nazismus, für die Begeisterung der Bevölkerung und findet die Lösung im Fetischismus: «En fait, je cherchais une explication à l’ambiguité de la nature humaine. [...] Je crois l’avoir trouvée dans le fétichisme, la force de masochisme qui reste en nous, la violence qui part de nous, tout ce qui est caché dans l’inconscient. Les divisions SS, créées pour la défense spéciale, c’est une invention de travestis, cela vient du fétichisme.»70
Nazismus ist im Film nie als solcher zu sehen. Cavani entlehnt Elemente aus der Nazi-Mythologie und wandelt diese im Film um. Damit unternimmt sie eine Analyse der Natur des Menschen im historischen Umfeld des Nazismus und der Nachkriegszeit. Somit wird auch Max‘ Appartement zu einem «zweiten Lager,» wieder zu einem Gefängnis, das (wie im Lager ––––––– 68
69
70
Marrone, The Gaze, XV. Cavanis Filme sind von politischer und sozialer Konformität weit entfernt, sie proklamieren die Freiheit gegenüber Faschismus und klerikalen Redekünsten. Cavani spricht vom Tod der Ideologien und lehnt jeglichen Dogmatismus ab. Cavani setzt Individuen gegen all das, was Konservatismus und Konformität repräsentiert; ihre Freiheit von körperlichen Gesten wird gegen die Rhetorik und die Machtmoral gesetzt. Diese figurale Untersuchung des Nazismus erinnert an Luchino Visconti und La caduta degli dei (1969). Auch hier agieren die Personen marionettenhaft, sind geschundene Kreaturen, die dem Untergang (sowohl dem persönlichen als auch dem ihrer Umwelt) entgegensteuern. Visconti äußerte sich sehr positiv über Il portiere di notte. Die Charaktere, die von Bogarde und Rampling in Il portiere di notte verkörpert wurden, erinnern an die Figuren, die sie fünf Jahre zuvor in Viscontis La caduta degli dei darstellten: Hier spielt er Friedrich, einen skrupellosen Geschäftsmann, der im NaziDeutschland aufsteigt; zunächst wird ihm durch die SS-Maschinerie geholfen, dann wird er manipuliert und zuletzt umgebracht. Sie spielt Elisabeth, Tochter des Aristokraten von Essenbeck, die in Dachau aufgrund der anti-nazistischen Tätigkeiten ihres Mannes stirbt. Clouzot, Liliana Cavani, 42.
306 auch) nur durch den Tod verlassen werden kann. Lucia und Max zeigen aufgrund ihres Liebesverhältnisses das wesentliche Gesicht des Nazismus, die kalte Zurschaustellung einer rationalen Gewalt, die auf das Individuum ausgeübt wird. Die Spiele von erotischer Versklavung und Herrschaft reflektieren auch die paradoxe historische Situation, in welcher Max und Lucia ihre Leidenschaft ausüben. «My characters bear contradictory signs: they oppose the rhetoric and the rituals of power, to which everybody else conforms. They glance around the corner: they are the devious and seductive children of society, they are its demons.»71
Eine Facette des NS-Machtsystems, die außerhalb der Beziehung von Max und Lucia läuft, thematisiert Cavani in Max‘ Verweigerung der Gruppe. Sobald er sich der Kontrolle der Ex-Nazi-Gruppe entziehen will, und sich weigert, die Überlebenden zu töten, wird auch er zum Gejagten. Er glaubt nicht daran, die Gegenwart (und Zukunft) dadurch zu reinigen, indem alle einschlägigen Papiere verbrannt werden. Worin liegt letztendlich das Skandalöse? Im Horror der Verbindung von Opfer (wobei Lucia zusätzlich noch Unschuld und Schönheit verkörpert) und Täter (der die Unschuld durch sadomasochistische Spiele vernichtet) vor dem Hintergrund des KZ. Auf der Grundlage dieser Beziehung von verstörender Gewalt versucht Cavani die Anziehungskraft des Nazismus, seine theatralische Inszenierung und seine Instrumente der Erniedrigung und des Leidens näher zu beleuchten. Cavani entwirft in Il portiere di notte ein Bild des Nazismus, das durch Gewalt und Schauspiel beherrscht wird. 6.5.2 Zusammenprall von Nazismus und Kultur – die Opernsequenz Besonders sinnfällig wird die filmische Verbindung von Schauspiel, Blick, Sexualität und Macht in Gegenwart und Vergangenheit in der Opernsequenz. Durch die parallele Schnitt- und Montagetechnik wird der intensive Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart verdeutlicht. Diese Szene steht sinnbildlich für Il portiere di notte: die Koexistenz der kulturellen Gegenwart der Oper und unvorstellbarem Grauen im Lager. «Die Zauberflöte,» die von Lucias Mann dirigiert wird, spielt in der Volksoper. Nach dem ersten Flashback ins Lager wird in der Gegenwart in einer Nahaufnahme die Ankündigung der Oper auf einem Plakat in der Hotellobby angekündigt. Im Publikum sitzt Lucia, die sehr bald den bohrenden Blick von Max in ihrem Nacken spürt, der ihr in die Oper gefolgt ist. Während sich nun das Bühnengeschehen entwickelt, setzen Lucias ––––––– 71
Zitiert nach Marrone, The Gaze, 5.
307 Erinnerungen ein. Die Musik72 wird hier selbst zum Bedeutungsträger: Das Duett von Pamina und Papageno, das die Freuden des ehelichen Lebens preist, wird gegen eine Vergewaltigung eines Gefangenen durch einen SSMann ausgespielt. Die Kamera fokussiert zunächst die Bühne, dann Lucia, die sich Max zuwendet. Lucia ist sowohl Zeugin des Schauspiels auf der Bühne als auch Beobachterin der Szene, die sich im Lager abspielt. In der Oper wie auch im Lager ist Lucia Teil einer Zuschauerschaft. Obwohl sie von der Musik angesprochen zu sein scheint, ist sie jedoch in das Schauspiel auf der Bühne emotional nicht involviert. Durch die Gitter ihres Bettrahmens beobachten die abgemagerten Gefangenen im Lager (durch eine frontale flache Beleuchtung gegen den schwarzen Gefängnishintergrund gefilmt) die Vergewaltigung. In Gegenwart und Vergangenheit ist eine räumliche Unbeweglichkeit auszumachen, die durch die Gitterstäbe als Zeichen omnipräsenter Gefangenschaft im Lager deutlich in Szene gesetzt wird. Und auch die Unbeweglichkeit Lucias in der Oper (immer wieder versucht sie den Blick von Max zu deuten) weist auf Eingesperrtsein hin. Lucia wird im Lager aus der ihr aufoktroyierten Beobachtersituation «befreit,» indem Max sie für eine «medizinische» Untersuchung abholt. Er führt sie aus der pervers-morbiden Stimmung hinaus in das Licht, durch einen Torweg hindurch. Seine Handlung kann man mit Sicherheit weniger im Kontext des Helfens sehen, sondern auch sie spiegelt die Macht der SS (-Uniform) wider. Dieses Zusammenwirken von Oper, KZ-Vergewaltigungsszene und Spiel des Blickkontakts lässt verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu: Hier wird die Absurdität humanistischer Kunst im Angesicht des Grauens vorgeführt (vgl. auch La Danse de Gengis Cohn). Auch könnte ein Zugang sein, dass die wienerische Gesellschaft im Jahre 1957 sich ganz dem Konzertgenuss hingibt, während sich wenige Jahre zuvor noch Grauenhaftes in den Lagern abgespielt hat. Da sich aber Cavani extra das Duett mit den Ehefreuden ausgesucht hat, und davon ausgegangen werden kann, dass sie hier nicht nur einen schaurig-zynischen Kontrast evozieren will, sollte man das Duett wohl im größeren Kontext der Rollenmuster der Geschlechter sehen.73 In dieser Szene entsteht ein dreifacher Fokus: ––––––– 72
73
Marrone konstatiert durch den Gebrauch dieser spezifischen Oper eine unvereinbare ironische Stimmung: «Die Zauberflöte» zeichnet ihrer Meinung nach das Portrait von Brüderlichkeit, wie sie im Kontext der Elite der SS-Offiziere angesehen wurde (vgl. Marrone, The Gaze, 104). «Dort ringt das matriarchalische Konzept der Königin der Nacht mit dem patriarchalischen des Sarastro, während im Duett von Pamina und Papageno die einverständige Unterwerfung unter das patriarchalische Prinzip besungen wird, wie sie Lucia im folgenden in ihrer passiv/aktiven Rolle gegenüber Max einnehmen wird» (Arns, Der Nachtportier, 20).
308 Gegenwart, Vergangenheit und musikalische Darbietung bilden eine Gesamtaussage. In Mozarts Oper steht Pamina im Mittelpunkt eines (hierarchisch) maskulinen Regimes und ist zunächst noch durch Sarastro gefangen und wird später dann von Tamino befreit. Durch Cavanis Wechselschneiden von Klang und Bild wird stark nahe gelegt, dass die Musik mit Lucias Beziehungen in Gegenwart und Vergangenheit assoziiert werden soll. Die Dichotomie von gut (amerikanischer Dirigent) und schlecht (nazistischer Nachtportier) wird hier aufgebrochen, denn Papageno und Pamina singen ihr Duett genau in der Szene (im Übrigen ist das Duett genau nach der versuchten Vergewaltigung Paminas durch den Mohr angesiedelt), in der ein männlicher Gefangener von einer Aufsicht vergewaltigt wird, beobachtet von Lucia. Die Zuschauergruppe von Gefangenen wird gegengeschnitten mit den Zuschauern in der Oper. Obwohl die Darstellung der Ehe als Kontrast zur Vergewaltigung angesehen werden kann, suggeriert der Film auch eine gewisse Übereinstimmung zwischen dem Missbrauch und der «gewöhnlichen» Heterosexualität, die gefeiert wird – «a heterosexuality whose misogyinist and racist foundations are at least made more obvious by the comparison.»74 Taminos Bändigung der wilden Tiere durch sein Flötenspiel wurde von Cavani als zweites Stück ausgesucht. Die Szene auf der Bühne ist von überraschender Farbigkeit (die im krassen Kontrast zur schwarz-weißgrauen Schlafraum-Szene steht). Das Verbindungsglied von Gegenwart zur Vergangenheit sind die Hände Lucias: Im Flashback sehen wir Lucia, die mit ihren Händen an den Bettpfosten gekettet ist und Max beinahe andächtig anstarrt. In der Oper reibt sie ihre Hände nervös aneinander. Durch Max‘ Blick wird die Erinnerung in Lucia angeregt. Der Gebrauch der extremen Naheinstellung versinnbildlicht die Intensität und Subjektivität der Erinnerung; hier wird deutlich, dass es sich um eine Erinnerung Lucias handelt und diese ihr noch sehr lebhaft erscheint. Der Schnitt zur Vergangenheit zeigt Max in seiner Uniform, der Lucias Körper liebkost. Die symbolische Penetration schließt die Szene ab. Das dunkle Opernhaus mit festgelegter Sitzordnung bildet in diesem Kontext auch einen Raum der Gefangenschaft: Wieder ist Lucia den Blicken Max‘ ausgeliefert und wieder kann sie ihm nicht entkommen; das Paar ist ––––––– 74
Waller, Signifying the Holocaust, 215: «Having abducted her from her mother, Zarastro will offer her, as a reward, to the hero Tamino, once both Tamino and Pamina have successfully weathered a rigorous, not to say sado-masochistic, set of initiation rituals, designed to indoctrinate them thoroughly in the ideology of male-dominant heterosexuality. Along the way Pamina’s mother and the Moor are thoroughly discredited as disorderly and untrustworthy, and women in particular are blamed for abusing ‹true› language by their useless but seductive chattering.»
309 miteinander verbunden. Während dieser Sequenz sieht der Zuschauer zum ersten Mal, dass Lucia direkt hinter ihrem Mann sitzt. Als sie das nächste Mal zu Max schauen will, ist er verschwunden. Cavani versinnbildlicht durch den Einsatz einer dritten historischen Zeit (18. Jahrhundert) die sozio-historische Dimension ihrer Geschichte: «The sexuality and the organization of power that we see in the camp are, in a fundamental sense, continuous with what we see in the eighteenth-century opera, as well as in the postwar culture for whom the opera remains a significant ruling-class ritual.»75
Die Kamera bezieht während der Opernsequenz niemals Stellung, sie ist nicht objektiv, d.h. die Charaktere werden immer wieder anders ins Bild genommen: Max mit anderen im Publikum, Lucia mit anderen im Publikum und hinter der Hand des Dirigenten, die Zuschauer mit den Figuren auf der Bühne, Max nur im Fokus, Lucia nur im Fokus etc. Die Kamera scheint ein Eigenleben zu entwickeln (sie schwenkt, fährt, zoomt, fokussiert etc.) und bedeutet somit dem Zuschauer, dass es sich hier niemals um eine mimetische Darstellung handelt – immer steht eine Position oder Wirkung für eine andere, immer muss das Dargestellte im größeren Kontext gesehen werden, sind Stellungen relativ und können nicht fixiert werden. 6.5.3 Der Widerschein des Nazismus – Berts Tanz Eine Sequenz, die den Nazismus beleuchtet, stellt Berts Tanz vor Max in seinem Hotelzimmer dar, die parallel mit der Tanzszene von Bert vor den SS-Offizieren im Lager geschnitten ist. Die Sequenz beginnt mit Bert, der vor einem Spiegel sitzt (abermals dient der Spiegel hier als Element zur Rekonstruktion der Vergangenheit) und ist vorwiegend mit reflektierenden Lichtstrukturen gedreht. Max steht statisch in der Ecke und leuchtet den Raum aus, verfolgt mit seinem Scheinwerfer jede Bewegung von Bert, bleibt aber von seinem emotionsgeladenen Tanz sichtlich unberührt. Berts Zimmer wird zur Bühne, die ausgeleuchtet wird. Der Effekt des Licht- und Schattenspiels, der Berts Körper (bereits) in der Gegenwart verdoppelt, wird genutzt, um zur Vergangenheit (und damit zu Berts früherem Tanz) zu schneiden. Diese Szene ist in mehrfacher Hinsicht in Dichotomien aufgebaut: der klassische nackte Tänzer, der in immer bewegteren Sprüngen und Verneigungen tiefste Gefühle auszudrücken vermag, und die kalte und unbewegte Atmosphäre, die ihn in Form der in Uniform gekleideten Offizieren umgibt. Der Raum selbst strahlt uneingeschränkte Macht aus. Eine extreme Weitwinkellinse etabliert ihn als einen großen grauen, am Ende lichtdurchfluteten Saal, der komplett von den schwarzen Gestalten der ––––––– 75
Waller, Signifying the Holocaust, 215.
310 SS-Offiziere umrandet wird und durch Berts ausgreifende Tanzkunst flächendeckend erfasst wird. Das große Foto von Himmler kann als zusätzliches omnipräsentes Auge der Macht gelesen werden; riesige SSBanner rahmen den Raum. Bert tanzt zu den Klängen des Rosenkavaliers. In einer Totalen sieht man rechts und links die SS-Männer und in der Mitte die helle Figur Berts, der mit Expressivität tanzt. Wie Angela Dalle Vacche herausgestellt hat, repräsentiert Bert den Geist des deutschen Volkes,76 er verkörpert die visuelle Bühne des Regimes, eine nach innen gerichtete und ätherische Projektion des nationalen Selbst: bildhauerische körperliche Posen und Gesten werden als figurative politische Ikonen genommen. Seine Darbietung erinnert an Inszenierungen aus Triumph des Willens. Bert visualisiert mit seiner bildhauerischen olympischen Eleganz und kühner Verführungskunst den homoerotischen Kult der narzistischen Korps der SS. Den überartifiziellen Ausdruck der Gefühle bei Bert und die völlige Gleichgültigkeit bei Max sieht man bereits in der Vergangenheitssequenz.77 Berts Hotelsuite wiederum ist eine «Ersatzbühne,» in welcher nur noch Max (wiederum in SS-Uniform gekleidet) das männliche Publikum gibt, der ohne Interesse am Tänzer die Ausleuchtung des Tanzes mit einem riesigen Scheinwerfer übernimmt. Wie werden nun die beiden Vorführungen in Gegenwart und Vergangenheit dargestellt? Auf beiden Zeitebenen kann der Tanz mit Aussage und Wirkung (des Wesens) des Nazismus in Verbindung gebracht werden. Der Tanz ist durch ein Wechselspiel von Bedrohung, Verführung und Täuschung gekennzeichnet (also durch visualisierte Elemente der NSIdeologie). Im dunklen Raum von Berts Hotelsuite, die sehr begrenzt und eng erscheint und nur durch das gleißende Licht des Scheinwerfers erleuchtet ist, wirkt sein Tanz verloren. Immer wieder tritt Bert sehnsuchtsvoll auf den Lichtpegel zu, kniet sich nieder, geht immer wieder zu Boden, um sich gleich wieder aufzurichten. Sein Tanz wirkt hier müde, ist nur noch ein Abglanz der Verführung. Ganz im Kontrast zur Vergangenheit, in der die heroischen und selbstbewussten Gesten des Tänzers das nationale Selbstbewusstsein ausdrücken. In diesen parallel geschalteten Szenen spielen die Lichtverhältnisse abermals eine zentrale Rolle und interpretieren das Geschehen zusätzlich: In der Vergangenheit sehen wir einen lichtdurchfluteten Saal im Tageslicht in Oberbeleuchtung, ––––––– 76 77
Angela Dalle Vacche: The Body in the Mirror: Shapes of History in Italian Cinema. Princeton 1992, 40. «The key element of Bert’s performance is abstraction; its vehicle is seduction. A most emasculated presence in terms of power relations, Bert becomes threatening to the eyes of a male audience, because in dominant ideologies, as Laura Mulvey has shown, ‹the male figure cannot bear the burden of sexual objectification›» (Marrone, The Gaze, 110).
311 in der Gegenwart ist es eine dunkle Kammer mit künstlichem Licht in Unterbeleuchtung. In der Vergangenheit springt Bert geradezu in das Licht (die «Auferstehung» des Nazismus), in der Gegenwart wendet er sich kniend dem Lichtkegel von Max zu. Das Ende des Tanzes in der Gegenwart ist zugleich Spiegel der Existenz Berts in der Gegenwart: vom strahlenden Tänzer während der NS-Zeit ist noch eine schmerzlich gekrümmte Gestalt übrig geblieben, die von Max eine Injektion Luminal erhält. Max ist aus der Froschperspektive aufgenommen, stellt immer noch die Gestalt für Bert dar, der über ihn richtet und seine Berührungsversuche immer noch nicht erwidert. Bert Behrens löst sich am Schluss aus dieser untergebenen Stellung: Er wird zum Mörder von Max und Lucia. 6.5.4 Die Erotik des Nazismus – die Cabaretszene Die Motive von Verführung, Täuschung, Vergänglichkeit, Kontrolle und Kontrollverlust finden sich auch in der bekannten Cabaret-Szene, die als Gegenentwurf zum homosexuellen Tänzer angesehen werden kann. Während aber in Berts Tanzsequenz die symbolische Aussagekraft in der Performance liegt (Gesten, Mimik), so verwendet Cavani in Lucias Tanzsequenz eine Vielzahl von (konkreten) Symbolen und Ikonen der NSIdeologie. Sexualität und Macht spielen sich sowohl auf der Ebene der sadomasochistischen Beziehung von Max und Lucia ab, als auch auf ikonographischer Ebene. Cavani greift den Gedanken auf, wie sich der Nazismus visuell in Szene setzte. «Nazism’s attraction lay less in any explicit ideology than in the power of emotions, images and phantasmas [...] a new discourse on Nazism will develop at the same level of phantasms, images and emotions.»78
Im Kontext der faschistischen Nostalgie gibt Susan Sontag in ihrem Aufsatz «Faszinierender Faschismus» einige Merkmale des Faschismus: «De Sade musste sein Theater der Bestrafung und Wollust noch aus dem Nichts schaffen, Bühnenbild, Kostüme und blasphemische Riten improvisieren. Jetzt gibt es ein Patentrezept, das jedermann zur Verfügung steht: die Farbe ist schwarz; das Material ist Leder; der Anreiz ist Schönheit; die Rechtfertigung ist Ehrlichkeit; das Ziel ist Ekstase; die Phantasie ist der Tod.»79
––––––– 78
79
Friedländer argumentiert, dass die Faszination des Nazismus in Filmen wie Il portiere di notte und Lacombe Lucien oder La caduta degli dei von der Ästhetisierung eines erotischen Entwurfs und ihrer Verankerung in den Massen (Kitsch und das Zentralmotiv des Todes) herrührt. Saul Friedländer, Kitsch und Tod, 65ff. Sontag, Faschismus, 124.
312 Hier leitet Cavani ihre Rückblende wieder in einer neuen Form ein: Im Rahmen einer Geschichte, die Max der Herzogin Erika Stein, ein dauernder Gast im Hotel zur Oper, beim Servieren des Abendessens erzählt, entwickelt er, wie er sagt, «a biblical story» und erklärt mit dieser, warum es ihm unmöglich ist, Lucia zu eliminieren. In geradezu kindlicher Aufregung («I found her again [...] And no one must touch her») leitet er die Szene wie ein Bühnenschauspieler mit theatralischer Geste und deklamierend ein: «It’s a story from the bible. [...] It’s a long time ago.» Wieder spielt die Rückblende im Lager, doch hier entwirft Cavani die Szenerie gänzlich anders: bei einer ausschweifenden Party 1943 (bei der die bereits bekannten Männer Hans, Klaus, Bert, Dobson und Max ebenfalls anwesend sind) fordert Max Lucia auf für sie zu tanzen. Lucia singt für die Männer und unterstreicht ihren Tanz mit deutlichen Gesten der Verführung. Zur Belohnung wird zum Schluss eine Schachtel hereingetragen, die den Kopf von Johann beinhaltet, einem Gefangenen, der Lucia gequält hatte (wie Max in der Gegenwart erläutert). In der Gegenwart lächelt Max noch über seinen gelungenen Scherz, der ihn an die Geschichte von Salome und dem Täufer erinnerte («I couldn’t resist»). Diese Szene gilt als einer der provokativsten des ganzen Films, weil sich in ihr das Opfer als Vamp in NS-Insignien gibt. Darüber hinaus bietet das Dekor und die Kleidung Lucias Anlass zu einer näheren Untersuchung: In dieser Schlüsselszene präsentiert Cavani den «Faszinierenden Faschismus» anhand der Uniformen und der morbid-schwülstigen Atmosphäre eines Cabarets. Lucias KabarettPerformance verkörpert den psychologischen Schlüssel für das Verständnis des Reizes der Uniform: «They were like black angels, the beautiful angels of the night. They were, in reality, imaginings created by a choreographer.»80 Annette Insdorf spricht hier sogar von einem «role reversal»81 des Opfers mit den Tätern (Berets nennt dies etwas abgeschwächter «an intermediary position;» «a half-willing participant»82), da Lucia hier ein Nazi-Symbol repräsentiert83 und sie die Insignien von dem von Max verkörperten Sadismus trägt. Lucia ist barbusig, trägt eine überdimensionale Hose mit Hosenträgern und eine SS-Mütze auf dem Kopf (auf die eine Maske gebunden ist) und singt das von Friedrich Hollander 1930 für Marlene Dietrich komponierte Lied «Wenn ich mir was wünschen dürfte.»84 Lucias exhibitionistisches Auftreten konterkariert den eher ––––––– 80 81 82 83 84
Cavani, Introduction to Il portiere di notte, p. XIII. Insdorf, Indelible shadows, 131. Berets, Images of Nazism, 77. Insdorf, Indelible shadows, 131. Variationen dieser Cabaret-Szene finden sich in La caduta degli die (Luchino Visconti 1969), Cabaret (Bob Fosse 1972), Just a Gigolo (David Hemmings 1972), The Serpent’s
313 schüchtern-fragenden Text der Musik. Der Raum ist rauchig, in dunklen Tönen gehalten, eine dekadente Atmosphäre, die die Atmosphäre eines Cabarets evoziert. Lucia singt ihre Verführung mitten in einer Umgebung, deren Zuhörer aus Offizieren, Musikern (jeweils maskierte darunter) und Prostituierten besteht – die Verbindung von nazistischen Insignien und Sex wird an keiner Stelle im Film so deutlich wie hier. Die Darstellung des Cabarets ist durch die visuelle Sprache gebrochen: Die faschistischen Insignien sind durch Karnevalsmasken und Pierrots (de)maskiert. Weiße Masken und ein Clownskragen (die erste Einstellung zeigt einen Mann mit weißer Maske) versinnbildlichen die Anonymität und das Schauspiel der Gruppe. Auf jeder SS-Mütze befindet sich noch eine Maske. Diese Entmystifizierung der NS-Insignien als Karnevals-Utensilien und Masken spiegelt den falschen Schein des Nazismus wider und bedeutet die Demontage der Mechanismen der nazistischen Faszination, die die Gesichter zu Fratzen verkommen lässt. Lucias Stimme ist rauh und kehlig und obwohl ihre Bewegungen mehr als einladend sind, imitiert sie doch nur die Gesten eines Vamps. Ihre Erschöpfung am Ende der Szene und das Absetzen der Mütze verdeutlichen m.E. die Aufgesetztheit der Performance und die «Rückkehr» zum Status des Opfers und nicht, dass sie Gefallen an ihrer leidvollen Situation als KZHäftling gefunden hat.85 Die partielle Nacktheit Lucias versinnbildlicht nicht nur erotische Anziehungskraft, sondern zeigt auch die Verletzbarkeit des Opfers (die Männer sind in schwere Uniformen gekleidet), der Ausdruck von einer nackten, unmittelbaren Wahrheit und ist somit weit entfernt von Salome mit ihren Schleiern (die gerade Täuschung und Enthüllung symbolisieren).86 Lucia verkörpert eine ambivalente Sexualität (männliche Kleidung, aber barbusig), die als doppelter Angriff auf die patriarchalische Welt gesehen werden kann: Zum einen versinnbildlicht sie Attraktivität, Zerstörung und Macht (und ist somit hier mit Salome zu vergleichen). Allerdings weicht Lucia vom Bild der «femme fatale,» die –––––––—
85
86
Egg (Ingmar Bergmann 1977), Lili Marleen (Rainer Werner Fassbinder 1981) und The Formula. In The Formula von John G. Avildsen (1980) projiziert ein Nachtclubbesitzer KZ-Bilder als Hintergrund für nackte Tänzer und Rockmusik. Die meisten negativen Kritiken nehmen diese Szene als skandalös und interpretieren, dass hier das Opfer gerne in die Rolle der Verführerin schlüpft. «Als Sinnbild dieser sadomasochistischen Konstellation fungiert jener zentrale Cabaret-flashback, der denn auch zum eigentlichen Skandal des Films geriet, da Lucia nun Gefallen gefunden hat an ihrer leidvollen Situation als KZ-Häftling» (vgl. Arns, Der Nachtportier, 20). Es besteht eine Verbindung zwischen den nackten Gefangenen bei der Registrierung vor den schwarz gekleideten SS-Männern und den halb-nackten Tänzern Lucia und Bert: Hier werden zusätzlich auf visueller Ebene (durch Kleidung und Körper) die Machtverhältnisse verdeutlicht.
314 uneingeschränkte Macht auf Männer hat, dadurch ab, indem mit Charlotte Rampling eine androgyn wirkende Schauspielerin die Szene interpretiert und mit ihrer Darstellung lediglich Anleihen an die großen femmes fatales der Filmgeschichte nimmt.87 Nach Houston/Kinder kann Rampling den bisexuellen Charakter dieser Szene/ihrer Rolle überzeugend darstellen: «Rampling can transform the skinny unisex body [...] into a powerful object of sexual desire. Under the pressure of Bogarde’s imposed sexuality, the child/woman/victim uses her imagination to create the role of fawnlike seductress; even the sickly pallor of her skin enhances her appeal.»88
Max behält jedoch (allein bereits wegen seiner Funktion im Lager) die Macht über Lucia. Doch Lucia ist hier nicht nur Objekt in einer degenerierten Umgebung. Obwohl sie von den Zuschauern und Max gleichermaßen angestarrt wird und als Abbild der Fantasie und Faszination dient,89 ist sie doch auch Steuerin des Blicks.90 Da sie hier nicht entfernt auf der Bühne agiert, sondern ihr Publikum direkt anspricht (oder anfasst) und somit nochmals eine Reminiszenz an Marlene Dietrich bietet, bleibt sie wie auch Dietrich nicht nur Objekt des Blicks. Die Kamera folgt der Tänzerin und unterstreicht damit ihre Attraktivität und ihren Reiz. Die Vorstellung ist beendet (und die Klimax der Szene abgeschlossen), als Max ihrem musikalischen Wunsch nach einem Geschenk nachkommt und ihr eine Kiste überreicht. Hier wird die Intimität der Szene dadurch erreicht, dass das übrige Cabaret ausgeblendet wird – hier bestehen nur noch Max und Lucia, ausgedrückt durch Schuss und Gegenschuss in einer Naheinstellung. ––––––– 87
88 89
90
Nicht nur Marlene Dietrich, sondern auch Pola Negri standen hier Pate. «Die Geste, mit der sie die Hände über die Brüste legt, ist direkt von Pola Negri inspiriert – die gespreizten Finger in den Handschuhen wie eine Spinne,» so der Kostümbildner und VisontiMitarbeiter Piero Tosi. Darüber reihen sich die schwarzen Handschuhe gut in die NSInsignien ein (vgl. Jung, Der Nachtportier, 116). Houston / Kinder, From Close-Up, 367. Die an Dietrich erinnernde Tänzerin (ein wiederkehrender Topos in den Darstellungen des Nachkriegskino von Faschismus) ist ein kulturell identifizierbarer Fetisch, der das Vermächtnis des dritten Reiches verkörpert (vgl. Marrone, The Gaze, 111). Laut Kaja Silverman zeigt diese Szene, dass die einfache Gleichung der Identifizierung von Exhibitionismus mit Passivität und Voyeurismus mit Aggressivität nicht aufrecht zu erhalten ist, sondern: «Lucia’s dance like that of Salome [...] is presented as lethal. It poses a threat – presumably a threat of castration – which is deflected away from Max (or Herod) onto the figure of Johann/John. In this episode Lucia seems to move from an attitude of involuntary exhibitionism to one of voluntary exhibitionism. The transition is perceived by the viewing subject as an unpleasurable disruption. Why I would like to suggest that Lucia’s dance implies too open an acknowledgment of the masochistic desire of the female subject, and by extension the male subject who identifies with her pain. Moreover, the voluntary nature of the performance detachers it from Max’s gaze, associating it with some more transcendental Gaze» (Silverman, The Acoustic Mirror, 83).
315 Max und Lucia befinden sich auf gleicher Höhe. Max setzt lächelnd sein Geschenk direkt vor Lucia ab und ist gespannt-nervös auf Lucias Reaktion, die in kindlich-freudiger Erwartung (in extremen Naheinstellungen gefilmt) das Auspacken antizipiert. Die (kindliche) Körpersprache der beiden drückt ihre Verbundenheit (gegenüber dem Rest der Anwesenden) aus. Max‘ Voyeurismus steigert sich hier in einen Sadismus, da er genau auf Lucias Blick achtet, der sich vom Glückstaumel in Ekel und Grauen umwandelt. Allerdings handelt Max innerhalb der Regeln des Lagers: Die SS hat die Macht (aus persönlichen Gründen) Gefangene zu töten. Cavani verwendet sehr viel Zeit darauf, die Spannung des Geschenköffnens zu steigern – hier erfahren wir durch den subjektiven Blickpunkt Lucias das Öffnen des Geschenks: Eine Naheinstellung auf den schwarzen Lederhandschuh (ein weiteres Symbol der grausamen NS-Macht), der langsam das Geschenk öffnet und schließlich der Prozess, in dem Lucias fröhliche Neugierde in Entsetzen umkippt und Max erwartungsvoller Blick sich in Enttäuschung transformiert. Während der gesamten Geschenk-Szene sind nur Max und Lucia im Kamerablickwinkel. Die Grausamkeit des Lagers wird hier vor dem Hintergrund des Schauspiels (Cabarets) verdeutlicht: Lucia sieht in dem abgeschlagenen Kopf Johanns ihr eigenes, ihr höchstwahrscheinlich bevorstehendes Schicksal (Herodes Tochter wurde nach der Exekution Johannes’ selbst hingerichtet). «Mozart and Strauss [...] and Lucia’s popular song à la Marlene Dietrich are all part of the same culture, which like all cultures is complex, contradictory, humane and inhuman.»91
Die Cabaret-Szene ist als Kernstück von Il portiere di notte anzusehen, da hier die Elemente von Inszenierung und Blick, Sexualität und Macht, Täter und Opfer zusammengeführt werden.
6.6
Die Figur des Überlebenden – die Verdammten
Beide Überlebende (sowohl Täter als auch Opfer) eint das Gefühl der Schuld – beim Opfer Lucia ist es die Schuld überlebt zu haben (was sich sowohl im Verhältnis zu ihrem Ehemann, als auch im Verhältnis zu Max zeigt), beim Täter die Schuld, für seine Taten nicht bestraft worden zu sein. Cavani betont die allgemeine Dimension von Lucias Geschichte, wenn sie erklärt, warum sie die Figur Lucias als Tochter eines sozialistischen Aktivisten anlegt und ihr nicht einen jüdischen Hintergrund zuschreibt: ––––––– 91
De Lauretis, Cavani’s Night Porter, 37.
316 «[...] I wanted to bring in the issue of victim/assassin in order to include all human beings, and not only to address the Jewish question. Lager means prison and abuse for every victim. [...] I truly wanted to address the dynamic between the ultimate victim and the ultimate assassin. My victim belongs to any Lager. Indeed the most horrific were the Nazis, but there were also Lager in the Soviet Union and in Brazil. I believe that it is essential to remember.»92
Mit dieser Betonung der Allgemeingültigkeit des Verbrechens steht sie in der Tradition Resnais.’ Cavani zeigt die Gewöhnlichkeit der Verbrecher, es sind normale Menschen, die Befehle ausführten. Max lässt sich nicht nur auf die Figur des sadistischen Nazi-Täters beschränken. Er ist bleich, nervös, getrieben, ein «mort-vivant»93 und gliedert sich damit ein in die Reihe der lebenden Toten, die von Charlotte Delbo, Soazig Aaron und Romain Gary beschrieben und von Alain Resnais visualisiert wurden. Die Ambivalenz seines Charakters wird durch die Diskrepanz zwischen dem, was die Kamera zeigt und dem, was der Zuschauer aus der Handlung und den Dialogen des Films lernt, hervorgerufen.94 Auf der einen Seite wird Max durchaus positiv dargestellt: Naheinstellungen von seinen Augen vermitteln eine gewisse Tiefe, seine tadellosen Umgangsformen, seine Abneigung, die Vergangenheit einfach auszulöschen und seine Ablehnung der Handlungen seiner Kriegsgefährten (die die verbleibenden Opfer töten wollen) machen ihn zu einem sensibel und reflektierend erscheinenden Mann, der auf Emotionen reagiert. Der visuelle Hinweis jedoch, dass SS-Uniform und Nachtportier-Uniform kaum zu unterscheiden sind, verdeutlicht die andere Facette seines Wesens: Sadismus, Grausamkeit, Gefühlskälte und Mord. «We are drawn to him, that is, at the same time that his career as a sadistic, murderous, phony camp doctor, only one of whose patients, Lucia, has survived, is also being unfolded.»95 Auch das Bild des Dokumentarfilmers Max ist polyvalent: Die Fotografien, die er von Lucia macht, symbolisieren im KZ seine Macht über sie. Doch in der Gegenwart, in den Händen der Gruppe, bedeuten die Fotographien Lucias Macht über ihn: Sie hat nun die Möglichkeit, seine wahre Identität aufzudecken. Max‘ Fotografieren in der Vergangenheit muss damit als unbewusster Akt der eigenen Demaskierung in der Gegenwart gesehen werden. Diese Vielschichtigkeit in der Figurenentwicklung, der Entwurf und zugleich Gegenentwurf eines Charakters hat nicht nur zum Ziel, das Gezeigte in Frage zu stellen, sondern ––––––– 92 93 94
95
Vgl. Marrone, The Gaze, 95, 97. Clouzot, Liliana Cavani, 46. Diese Spaltung des Charakters ist aus Costa Gavras The Music Box (1989) bekannt; der Protagonist wird zunächst als sympathisch dargestellt und entpuppt sich nach und nach als sadistischer Mörder und Vergewaltiger in der Vergangenheit. Waller, Signifying the Holocaust, 208.
317 lässt den Zuschauer zugleich über die filmische Darstellbarkeit überhaupt reflektieren. Lucias quälende Erinnerungen äußern sich ihrem Mann gegenüber in schnellen Stimmungsschwankungen, wobei dieser sie nicht nach dem Grund fragt, sondern sie wie ein Kind beschwichtigt und sie als Dekoration für seine Opernaufführung sieht. Er weiß offensichtlich nichts von der Last ihrer Erinnerungen, die sie eigentlich nie verlassen hat.96 In Il portiere di notte wird die Traumatisierung in Abhängigkeit der Gesellschaft inszeniert. Mehrfach versucht sie, ihrem Mann deutlich zu machen, wie unwohl sie sich fühlt – «I want to leave this place [...] I told you I’m leaving» versucht sie ihm (und sich) klar zu machen und schafft es letztendlich doch nicht. Ganz deutlich wird in dieser Beziehung, dass Lucia mit ihren Erinnerungen allein ist, diese nicht einmal diskutieren kann, da ihr Mann ganz mit sich selbst beschäftigt ist und ihr verändertes Verhalten im Hotel als Laune deutet («You’re such a strange creature»). Diese Schwierigkeit der Überlebenden, sich ihrer Umwelt verständlich zu machen, wurde auch in den Texten deutlich. Die Unmöglichkeit der Kommunikation ist mit Sicherheit nicht der einzige Grund, warum sie zu Max zurückkehrt, doch Lucias Sich-Einfinden von einer beengten Beziehung in die nächste symbolisiert auch ihr Verlassenheitsgefühl in der Gegenwart. Sie kann sich in der Gegenwart nicht zurechtfinden und sucht Halt in der «geordneten» Struktur von Max‘ Beziehung, der nicht nur ihre Geschichte kennt, sondern sie nochmals mit ihr ausagiert.97 Lucia wird von beiden Männern in der Gegenwart (Max und Ehemann) und in der Vergangenheit (Max) als «my little girl» bezeichnet – diese Benennung des Eigentums und der Machtverhältnisse wird von Lucia mehrfach durchbrochen. Das Bild, in dem Max Lucia ein Kinderkleid über den Kopf zieht, kehrt mehrfach zurück98 – Lucia konterkariert diese Bestimmung ––––––– 96
97
98
Vgl. auch Pakula, Alan: Sophie’s choice (1982). In Sophie’s choice ist das zentrale Thema des Films das Nachwirken von Sophies Entscheidung auf ihr Leben in New York. Ihre Gegenwart und ihre Zukunft stehen ganz im Zeichen der Auschwitz-Erfahrung. Das große Verdienst des Films ist es, dass er glaubhaft die Untilgbarkeit dieser Erfahrung in Szene setzt. Auch in Sidney Lumets The Pawnbroker (1964) wirkt die KZ-Erfahrung beim jüdischen Überlebenden Sol Nazerman, dessen gesamte Familie ermordet wurde, fort. Er lehnt jegliche emotionale Bindung ab, versteift sich auf den Gewinn und wird selbst mitschuldig, indem er jegliche Kommunikation von sich weist und seinen Angestellten mit seiner Gefühlskälte in den Diebstahl und letztendlich Tod treibt. Dies ist der einzige Flashback, der partiell aufgebaut ist: Der Zuschauer sieht Lucia mehrmals nach oben blicken zu einer unbestimmten Gestalt in SS-Uniform, wobei erst im Appartement der Flashback zu Ende geführt wird und der Zuschauer sieht, dass es Max ist, der das Kleid überzieht.
318 durch ihren Auftritt im Cabaret. Den Grund, warum Lucia auf Max reagiert, sieht Waller vor allem in einem Ausweg Lucias aus bürgerlichen patriarchalischen Konventionen und schlägt einen heuristischen Zugang vor: Lucia wird von allen als «the daughter of the socialist» oder «the wife of the American conductor» behandelt und ist in gewöhnlichen heterosexuellen Konventionen eines männlich zentrierten Vorkriegs-Wien und Nachkriegs-Nordamerika eingesperrt.99 Max leitet seine Macht über Lucia (in der Vergangenheit) durch die hypermaskuline Nazi-Machtstruktur ab. «[…] these renegotiations between Max and Lucia subvert the sexual and gender identity principles that are among the most basic of the rigid binaries, taken for absolutes, upon which Nazi (and other fascist) organizations of power and knowledge are founded.»100
Lucias Entgegenkommen (ihre Art und Weise zu kollaborieren und später selbst Macht auszuüben)101 erlaubt es Max, einen Weg aus der absoluten männlichen Autorität zu finden.102 Die Denaturalisierung von Max gibt Lucia die Möglichkeit, sich von ihrer Rollenzuweisung als Objekt (als Gefangene im Lager und in ihrer Ehe) zu befreien.103 Dieser von Waller für beide beschriebene Ausweg aus (festgelegten) Rollenstrukturen führt allerdings nicht in die Freiheit – sondern in den Tod, der nicht selbst bestimmt ist; sie sind gezwungen, die Wohnung zu verlassen, um zu sterben. Für beide aber bedeutet das sexuelle Verlangen einen Weg in die Selbstbestimmung (und Freiheit). Gerade darin liegt auch das für viele Skandalöse am Film. Lucia vereinigt (wie auch Lily in La Danse de Gengis Cohn) verschiedene Facetten des weiblichen Archetypus: Mal erinnert sie an die Jungfrau (weiß gekleidet, zurückhaltend), dann ist sie wieder die ––––––– 99 100 101
102 103
Vgl. Waller, Signifying the Holocaust, 212. Waller, Signifying the Holocaust, 212. Unter der Perspektive der «Überlebensstrategie» erscheint Il portiere di notte in seiner Vater/Tochter-Konstellation als Gegenstück zu Lina Wertmüllers Film Pasqualino Settebellezze (1975), in welchem der Macho Pasqualino versucht, durch die Verführung der Aufseherin sein Leben zu retten. Ebenso wie in Il portiere di notte besteht die Inszenierung aus komplizierten Montagen von Erinnerungsbildern und Rückblenden: Das Bild der eigenen Mutter wird mehrfach überblendet mit dem Bild der KZ-Aufseherin. Somit besteht hier die Verführung des Sohnes durch die «Mutter» (als weibliches Ur-Bild) und einer facettenreichen Zeichnung des Opfers. Und auch Wertmüller nutzt das Element der Historisierung: In der formalen Auflösung der Narration in Rückblenden und im enthistorisierten Raum, in dem die Übergänge vom faschistischen Italien über die NS-Zeit zum postfaschistischen Italien fließend sind (vgl. hierzu: Koch, Sieben Schönheiten, 24f.). Diese Möglichkeit bleibt Bert verschlossen – er bleibt gefangen in der Vergangenheit und kann seine Homosexualität nur in Kostümierung und Tanz ausleben. Cavani hat wohlweislich den Beruf von Lucias Mann gewählt: Er ist Dirigent, führt also andere und gibt den Ton an.
319 aufreizende Tänzerin, die den Männern als femme fatale den Verstand raubt (Cabaret-Szene). Sie ist die eigentlich schockierende Gestalt in ihren Überschreitungen. Die Darstellung Lucias, die Art, wie sie als Opfer gezeichnet ist, der Weg, den sie beschreitet und das Bild der Vater-Tochter-Beziehung sieht De Lauretis als Interpretation der «[...] true metaphor, however magnified, of the female condition.»104 Doch in beiden Verhältnissen (zu ihrem Ehemann und Max) emanzipiert sich Lucia: Sie lässt ihren Mann abreisen und entschließt sich für Max; im Appartement letztlich findet ein (teilweiser) Umschwung des Machtverhältnisses und eine Umkehr der Geschlechterrollen statt: Während Max die Lebensmittel auspackt und Lucia erklärt, dass er seinen Job aufgegeben hat, raucht Lucia genüsslich eine Zigarette105 und agiert in Max‘ Wohnung selbst ihren Sadismus aus.106 Eine Rückkehr zu Max bedeutet zugleich auch den seelischen und körperlichen Verfall, ein Verlust der Persönlichkeit, den auch das Lager provoziert: die Großbürgerin mit Perlenkette, Hochsteckfrisur und Kostüm wird zu einer Frau mit strähnigem Haar, die gierig ein Marmeladenglas ausschleckt und schließlich wieder in das Kinderkleid gesteckt wird. Der tierähnliche Zustand, den Cavani ihre Figuren ausagieren lässt, erinnert an Beschreibungen von Hunger im Lager, bei denen der Tod omnipräsent ist. In der Vergangenheit sind Täter- und Opferposition klar getrennt, in der Gegenwart werden beide zu «Tätern,» um dann schließlich beide als Opfer zu sterben. «If the two protagonists had carried their cruel game to the very end, they should have died inside the walls of the apartment, under siege, physically as well as mentally exhausted: but they wanted to become ‹victims,› and this makes them normal, the normal victims of a historical abnormality. Thus the end makes us wonder what these two characters are searching for on that Viennese bridge at night ... they finally ask to become normal, and for this reason they reappear out of the apartment (back into History) in a pathetic image that ends in melodrama.»107
Lucia agiert aufgrund ihrer Erinnerungen in einem vorgeschriebenen Kontext (zunächst im Lager, dann im Hotel und im Appartement), aus dem es kein Entrinnen gibt. «Once she succumbs to Nazi perversion, she has no chance at redemption.»108 ––––––– 104
105 106 107 108
De Lauretis, Technologies, 37. Zu näheren Ausführungen zum männlichen/weiblichen Blick vgl. Teresa De Lauretis: Technologies of Gender: Essays on Theory, Film and Fiction. Indiana 1987. Auch im Hotel verabreichte Max Pillen und Spritzen und entspricht durch diese Sorge für die anderen eher nicht dem Bild des kalt tötenden SS-Mannes. Sie lässt Max im Appartement auf Glasscherben treten und nötigt ihn zum Geschlechtsakt. Vgl. Marrone, The Gaze, 101. Berets, Images of Nazism, 78.
320
6.7
Reflexions- und Transitorte – Gedächtnis und Schuld
6.7.1 Schauplätze in Wien – die Funktion der Schwelle Die wenigen Schauplätze in Il portiere di notte (in der ersten Hälfte dominiert das Hotel, in der zweiten das Appartement) unterstreichen die klaustrophobische und erdrückende Atmosphäre. Der Weg aus diesem beengten Kreis besteht nur in der Erinnerung (Rückblenden) und im Tod. Zu Beginn des Films, während noch der Vorspann läuft, verfolgt die Kamera Max auf seinem Weg durch die nassen, grauen und nebligen Straßen Wiens. Die Stadt wird in düsteren Braun- und Blautönen gezeichnet und evoziert eine morbid-dekadente Atmosphäre. Den psychischen Verfall der Akteure (und der Stadt) versinnbildlicht Cavani durch ein kaltes, wässriges Licht; die Akteure bewegen sich im wachsenden Grau in Dunst- und Nebelschwaden. Die Atmosphäre Wiens wird in den Innenräumen des Hotels wieder aufgegriffen. Das Hotel stellt als Reflexions- und Transitort einen Ort der Anonymität und Fremdheit dar, zugleich aber auch einen Schlüssel zur (Selbst-)Reflexion. Der Zuschauer begleitet Max auf seinem Weg, der ihn direkt zum Hotel führt – die Kamera (und der Zuschauer) folgt Max «oltre la porta,»109 denn die Schwelle des Hotels zur Oper zu überschreiten, bedeutet zugleich die Reise ins Innere, dem Labyrinth der Erfahrungen und verdrängten Erinnerungen, anzutreten. Cavani benutzt die Metapher der Schwelle, um ihre Figuren zu charakterisieren: Hinter der Schwelle vereinigen sich Sexualität und Tod, Sexualität und Gewalt, Sexualität und Faschismus. Auch Jean Louis-Bory geht in seinem Aufsatz Le Carnaval des spectres genauer auf die Funktion der Tür bzw. Schwelle ein und sieht sie als Auslöser der Erinnerung. «Et la porte, de nouveau, s’ouvre. La mémoire déclenche un processus qui ressuscite les liens nocturnes pour lesquels violence et sexualité composent un ‹climat› aussi inoubliable que l’épouvante et l’horreur – dont cet amour ne peut plus se dissocier. [...] Mais, derrière cette histoire d’amour, il faut entendre le cri d’alarme: attention, vertige mortel. Ne pas franchir cette porte sur le seuil de laquelle se tient le portier de nuit.»110
Die massiv-morbide Fassade des Hotels zur Oper, das durch eine dunkle Einzäunung von seiner Umgebung noch abgegrenzt wird, ist mit einer Weitwinkellinse aufgenommen, die die äußere Erscheinung des Gebäudes verzerrt und bedrohlich erscheinen lässt. Cavani fordert durch diese Ansicht der Hotelfassade den Zuschauer direkt auf, sich zu fragen, was sich hinter der Fassade abspielt. Durch die Zoom-Linse stößt die Kamera durch die Tür ––––––– 109 110
Vgl. hierzu auch Liliana Cavanis Oltre la porta (1982). Bory, Le Carnaval, 63.
321 zu Max‘ Hotel durch. Das Hotel, «une antichambre morbide»111 hat eine Ausstrahlung, die an das Schloss Marienbad aus Resnais L’année dernière à Marienbad erinnert: Hier steigen keine wirklichen Personen ab, nur ihre Schatten. Das Erbe des Faschismus manifestiert sich in diesem luxuriösen Hotel: Es ist menschenleer, in völliger Stille, ein geschlossener Ort in prunkvoller Dekadenz (Säulen, Lampen, Ornamente, Marmor), der den Zuschauer auf das perverse Spiel vorbereitet. Die allgegenwärtigen Spiegel verdeutlichen zusätzlich die Ungewissheit, welche Realität nun zu sehen ist (Wirklichkeit oder nur Reflexion). Das Innere des Hotels wird zum Schauplatz und Ausgangspunkt einer Reise in die Vergangenheit innerhalb der gegenwärtigen Geschichte, aber auch zum intimsten Zentrum der Figuren. Durch die Serie von Rückblenden wird die Parallelhandlung aufgebaut, die die Charaktere in der Geschichte zeigt. «Beginning with Il portiere di notte, the true facts, and the actors within the scenes, are not a reality. My point of view is beyond time, and beyond realism. The atmosphere of a place, a room, a road is transformed. My desire is to interpret them into a space of fantasy [...].»112
Das Hotel mit seinen Bewohnern stellt den Raum dar, der das Unterbewusstsein wieder zum Vorschein bringt. Hier herrscht die Abwesenheit von Zeit; in dieser Atmosphäre können sich Sehnsüchte und Perversionen entwickeln. Die Vergangenheit wird in der Gegenwart re-inszeniert; Max und Lucia rekapitulieren ihre sadomasochistischen Spiele im Hotelzimmer, indem sie zu dem im KZ begonnenen Verhältnis zurückkehren. Somit hat das Hotel die Funktion eines Dialograumes von der Person in der Gegenwart zum Selbst in der Vergangenheit. Auch könnte man aufgrund der extremen Ausübung von Gefühlen und Sehnsüchten daran denken, dass die Figuren des Hotels selbst das Unterbewusstsein mit verborgenen Wünschen darstellen: Sadomasochismus bei Max und Lucia, Nymphomanie bei Gräfin Stein (die bereits beim ersten Treffen mit Max nach körperlicher Zuneigung lechzt), verdrängte Homosexualität bei Bert. In diesem Kontext erinnert das Hotel an den «forêt de Geist» aus La Danse de Gengis Cohn. In der Hotellobby wird das Zentralmotiv des reflektierenden Blicks, der die Reise in die Vergangenheit freisetzt, zum ersten Mal eingesetzt. Als Max die Schwelle des Hotels übertritt, ist das erste Bild, das das Publikum von ihm sieht, eine Glasreflexion. Diese indirekte Aufnahme schafft Distanz zur Figur, die kontrolliert und mechanisch seine Tätigkeit ausführt. Max bildet bereits am Anfang nur ein Abbild seiner selbst – ein in der Nacht und im Untergrund lebender Mensch, der sich (bis zu diesem ––––––– 111 112
Clouzot, Liliana Cavani, 45. Vgl. Marrone, The Gaze, 82.
322 Zeitpunkt) seiner Vergangenheit nicht gestellt hat. Die Hotellobby ist Max‘ persönlicher Arbeitsplatz, aber auch sein Refugium, in dem sich, nach Lucias Ankunft, die Vergangenheit vor seinem inneren Auge nochmals abspielt. Die Macht des Portiers wird durch die Aufnahmetechnik versinnbildlicht bzw. übersteigert: Aus der Vogelperspektive wird die Funktion des Portiers verdeutlicht, der das Nerven- und Kommunikationszentrum des Hotels ist und die Wünsche der Gäste orchestriert. Allerdings vermittelt diese Einstellung auch eine Beobachtung des Geschehens von oben. Hier stellt sich die Frage, wer Max beobachtet (in einer der nächsten Einstellungen wird Max ängstlich nach oben schauen) – zeichnet sich hier bereits die Observierung durch die anderen NS-Mitglieder ab? Oder hat Max Angst von Lucia beobachtet zu werden? Ist es eine Evaluierung des Gesamtgeschehens? Cavanis anregende Komposition mit Licht und Schatten, die im besonderen Maße dramatische Energie erzeugt, wird im Hotelinneren deutlich. Dieses Licht- und Schattenspiel versinnbildlicht die von Clouzot beschriebene «fascination-repulsion,» die der Film auf den Zuschauer ausübt.113 Der Zuschauer sieht Max mehrfach das Licht löschen – er will mit seinen Erinnerungen im Dunkeln bleiben und sein Leben als «church mouse» unbeobachtet verbringen. Die Lichtstruktur in Lucias Hotelzimmer verdeutlicht die folgende Handlung. Zunächst befindet sie sich im Dunkeln und versucht, einen Flug nach Frankfurt zu bekommen, um aus dem Hotel zu fliehen; dieser wird allerdings von Max storniert. Er betritt Lucias dunkles Hotelzimmer und bleibt im hellen Türrahmen stehen. Im Folgenden werden die widerstrebenden Gefühle von Flucht und Exstase Lucias («let me go,» wobei sie sich wieder Max zuwendet und ihn sogar festhält) und Max (der Lucia schlägt und streichelt) in Form der SchwarzweißLichtspiele und Abgrenzungen reflektiert. Das extatische Wiedersehen findet sein Ende, als Max der am Boden liegenden Lucia Geld zuwirft, im Türrahmen stehen bleibt und das Licht wieder löscht: eine schwarze Gestalt im hellen Türrahmen, wie zu Anfang der Filmsequenz – dies verdeutlicht, dass (obwohl es zeitweise den Anschein hatte) sich das Verhältnis (noch) nicht umgewandelt hat («If you want to go, just pick up the phone» sind Max‘ letzte ironisch-gehässige Worte, da hier bereits beide wissen, dass sie von nun an einen gemeinsamen Weg gehen werden). Lucia liegt weiß gekleidet direkt im Lichtkegel (der an ein Scheinwerferlicht auf einer Bühne erinnert), wird also somit zum Zentrum des Blicks, wobei Max in seiner Nachtportieruniform im Dunkeln bleibt. Das Schlüssellicht fließt aus ––––––– 113
Clouzot, Liliana Cavani, 45. Diese Faszination manifestiert sich auch im gespaltenen Verhältnis des Zuschauers zu Max und Lucia.
323 einem anderen Zimmer. Diese Lichtstruktur erinnert an Max und Lucias erstes Treffen, als dieser sie filmte – wieder ist sie im Zentrum der Beobachtung und wird «ausgeleuchtet,» während Max zuschaut. Eine weitere Szene, die in geradezu plakativer Form die SchwarzweißMetaphorik von Täter und Opfer / gut und böse ausspielt, ist die Beerdigung Marios: Die gesamte ehemalige SS befindet sich in schwarzen Anzügen in leuchtend weißen Kirchenbänken; schwarze Limousinen fahren vor der weißen Kirche ab. Der Film beinhaltet vornehmlich Farben der Nacht (Grau-, Blau- und Brauntöne), wobei die Nacht hier zur Metapher des Unbewussten wird und Max der Wächter der Nacht ist. «Portier de nuit, c’est la nuit analytique de deux pervers qui vont vivre leur relation jusqu’au bout, c’est-à-dire la mort.»114 In der Visualisierung des Hotels als Labyrinth mit endlosen Fluren und spiralförmigen Treppen verdeutlicht Cavani die komplizierte Verflechtung der erzählten Ereignisse und den Ort des Initiationsprozesses, den das Hotel in beiden Figuren auslöst. «The labyrinth is a poetic metaphor, that designates the predominant Cavanian architecture of the interior. Its geometrical linearity delimits the tortuous paths of an inner space. The labyrinth is also the place of initiations; its entrance inaugurates as it completes the movement of separation from a patriarchal order [...].»115
Max’ Gang durch die Flure des Hotels in einer der ersten Einstellungen versinnbildlicht zugleich auch seine Reise durch Gegenwart und Vergangenheit:116 Hier wohnen Personen, die ihn konstant an seine Zeit als Sturmbannführer erinnern (Bert wiederholt sogar seinen Tanz vor ihm) und hier wird Lucia seine Erinnerung an das Lager wieder hervorrufen. 6.7.2 Die Stadt Wien – Spiegel der Nachkriegsgesellschaft Im «Hotel zur Oper» treffen sich zwei «Gruppen,» die durch die NS-Zeit geschaffen worden sind: eine Organisation von Alt-Nazis, die sich durch Gruppensitzungen von ihren Schuldgefühlen lossprechen wollen und gefährliche Zeugen eliminieren, und Max und Lucia, die ihre sexuelle ––––––– 114 115
116
Clouzot, Liliana Cavani, 44. Marrone, The Gaze, 9. Wo das Bild der Höhle mit dem Gefängnis-Käfig-Bild in Verbindung steht (wie in Il portiere di notte), spielt es auf eine dämonische Unterwelt an, auf eine Spannung zwischen Ordnung und Chaos, auf eine Suche ohne Lösung, mit dem Bewusstsein eines bindenden Musters von Erfahrung des Vergnügens und des Terrors. Eine obsessive Ambiguität charakterisiert die labyrinthischen psychologischen Strukturen: Klarheit und Verrücktheit, Träume und Alpträume, real und surreal, geistesabwesende Formen von absoluter Schönheit und das hegemoniale Bild vom Tod – «a journey through the darkness» (vgl. Marrone, The Gaze, 9f.). Vgl. Simonides-Legende.
324 Verbindung, die sie im Lager begonnen haben, in der Gegenwart fortsetzen. Max ist in der Gruppe der ehemaligen SS-Mitglieder ein Außenseiter. Er rebelliert nicht direkt gegen das Machtsystem, das durch die unterschiedlichen Charaktere im Gleichgewicht gehalten wird, er begibt sich vielmehr an die Peripherie, um dort beurteilen zu können (bildlich entfernt sich Max von der Gruppe). Zunächst beobachtet von Lucia, die sich später zurückzieht,117 beginnt die Sitzung mit einer kurzen Einführung der Charaktere. Hauptbestandteil der Sitzung ist das Ausfindigmachen Überlebender (anhand von Fotos wird über den «Verbleib» diskutiert), diese dann zu eliminieren und die eigenen Akten der Vergangenheit verschwinden zu lassen («[...] and Max remains in the shadow – that is what he wants»). Die Beschaffenheit des hallenartigen Raumes erinnert an die Tanzszene von Bert im Lager – ein weiteres Indiz, dass sich in der Einstellung der Alt-Nazis nichts geändert hat. Anhand einer Gruppensitzung soll eine Pseudo-Vergangenheitsbewältigung betrieben werden: «We must trie to understand if we are victims of guilt complexes or not» ist umso lächerlicher, als gerade die Diskussion einsetzt, weitere Opfer umzubringen. Klaus, der bereits 30 Dokumente vernichtet hat, will Max helfen, sowohl seine Unterlagen, als auch noch die ihn identifizieren könnenden Zeugen auszuschalten – dieser lehnt ab und möchte, dass man die Opfer in Ruhe lässt und beteuert, dass er kein Opfer, das ihn anzeigen könnte, kennt. Ein kurzer Schnitt zeigt Lucia in einem zweigeteilten Bildausschnitt, der weiß und schwarz aufgegliedert ist: Lucia befindet sich im weißen Teil – sie ist hier das Opfer, über dessen Schicksal gerade diskutiert wird. Zurück in der Sitzung ist die Gruppe der Meinung, dass nicht die Opfer geschützt, sondern sie es sind, die sich verteidigen müssen; hier werden Verdrängungsmechanismen und Schuldzuweisungen sichtbar; der nicht Kollaborierende wird angegriffen: «We have to defend ourselves. The war is not over. If you want to live like a church mouse, then go ahead. We have never given up.» Max jedoch ist der einzige Reflektierende in der Gruppe und erkennt, dass es nicht ausreichend ist, alle Papiere zu vernichten – er gesteht, dass er im Dunkeln und im Schatten leben möchte («I want to live in peace. Live like a church mouse»). Spitzeldienste und Denunziationen werden im Mikrokosmos des Hotels zur Oper noch genauso praktiziert wie im NS-Reich – Max‘ Besuch bei Lucia im Hotelzimmer wird sofort vom älteren Portier an Klaus ––––––– 117
Gerade in dieser Sequenz sieht sich Lucia mehrfach in verschiedenen reflektierenden Oberflächen gespiegelt. Als sie die Gruppe letztendlich sieht, flüchtet sie und gelangt wieder in die Halle. Der Portier öffnet ihr die Tür nach draußen, doch sie geht wieder die Treppen hinauf. Dieses Öffnen der Tür kann als letzte Möglichkeit zum Gehen angesehen werden, die Lucia nicht wahrnimmt.
325 weitergegeben. Beim letzten Treffen der Gruppe über der Stadt Wien besprechen sie Lucias Schicksal und versuchen Max zur Umkehr zu bewegen («you’re one of us»). Die einzelnen Männer werden in Froschperspektive aufgenommen und erinnern auch durch ihre Ansprachen über die Pflicht dem dritten Reich gegenüber (und der Wiederholung, keine Reue zu empfinden) sehr an die Redner aus Triumph des Willens. Die Szene endet mit einem einmütigen «Sieg heil»-Gruß, wobei Max zunächst zustimmt, sich dann aber lächelnd und kopfschüttelnd von der Gruppe abwendet und geht. In Il portiere di notte setzt sich das Verbrechen durch – nicht nur das unbestrafte Verbrechen der Tötung von Unschuldigen, sondern auch das Verbrechen der Verdrängung und des Auslöschens.118 Il portiere di notte beschreibt die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart in einer psychologischen Verankerung zur NS Zeit: zum einen in den Nazis im Österreich 1957, in dem Nazismus noch lebt und toleriert wird, zum anderen in der Verbindung Max und Lucia, die sich wieder in die Zwangslage von Abhängigkeit und Gewalt begeben.119 Auch Bert kann sich seiner intensiv gelebten Vergangenheit nicht entziehen und inszeniert Tanzaufführungen für Max in seinem Hotelzimmer. Im Laufe der ––––––– 118
119
Im Interview mit Claire Clouzot beschreibt Cavani: «Dans le monde, ce n’est pas la vertu qui vient en premier, mais le crime. C’est pourquoi Sade est pour moi l’ouvrage de base» (Clouzot, Liliana Cavani, 42). Die Überschneidung von Vergangenheit und Gegenwart und die Etablierung einer politischen Verbindung zwischen Holocaust und zeitgenössischen Formen des Faschismus werden auch in Michel Drachs Les Violons du bal (1973) und Jacques Rouffios La passante du Sans Souci (1983) deutlich. Max, ein wohlhabender Schweizer Jude ist Vorstand der Solidarité internationale. Diese gemeinnützige Organisation hat sich dem Kampf gegen Unterdrückung verschrieben und hilft politischen Gefangenen. Als er den Botschafter von Paraguay besucht, erkennt Max in ihm den ehemaligen Nazi, der seine Pflegeeltern ausgebeutet und zerstört hat während des Krieges. Trotz seines Hasses gegen politische Gewalt, tötet Max ihn und steht infolgedessen vor Gericht in einer Serie von Gerichtsszenen, die Flashbacks an seine Kindheit im Nazi-Deutschland beinhalten. Schneider spielt seine Frau Lina in der Gegenwart und Elsa – die Frau des deutschen Widerstandskämpfers – in der Vergangenheit. Als Elsa rettet sie Max, als die SA ihn zusammenschlägt und seinen Vater tötet. Sie nimmt ihn mit nach Paris, wo sie ihr Überleben in einem schäbigen Kabarett sichert. Später wird sie von dem jungen deutschen Botschafter getötet, der in sie verliebt war. In der Gegenwart sind Max und Lina zwar wiedervereint, der Schlusssatz beinhaltet aber die Information, dass beide umgebracht werden. La Passante du Sans Souci besteht somit auf der Kontinuität zwischen Nazis und zeitgenössischen Unterdrückern, wie auch im Kampf gegen die Nazis heute, der neue Formen hat. Da beide Männer, die Elsa/Lina lieben, gegen die von Regierungen eingesetzte Peiniger kämpfen, werden Vergangenheit und Gegenwart nicht nur durch die Romanze miteinander verbunden, sondern auch durch den kontinuierlichen Kampf gegen den Faschismus.
326 Filmhandlung verschwinden die «normalen» Personen wie Lucias Ehemann oder Marios Ehefrau und schließlich sind Max und Lucia nur noch von Kriminellen, Verrätern (Portier), Feiglingen und Heuchlern (Nachbarin von Max, die zwar neugierig seine Wohnung stürmt, aber ihm nicht hilft) umgeben. Klaus verhindert den weiteren Essenstransport, besucht (mit Hilfe des Portiers, der die Telefonleitung durchschneidet) sämtliche Anlaufstellen von Max und lässt das Paar rund um die Uhr bewachen – alle sind bereit, bei dieser «Ausrottung» der beiden mitzumachen.
7
Ergebnisse
7.1
Literarische und filmische Aufarbeitung – Ergebnisse aus den Werkanalysen
Bei Delbos vielschichtigem Werk Auschwitz et après, das u.a. Elemente der «écriture de cendres» des «nouveau roman» und der «littérature de témoignage» aufweist, konnte die Vermischung der Zeit-, Handlungs- und Erzählebenen erklärt werden. Es konnte aufgezeigt werden, wie Delbo Erinnerung als dynamischen Prozess, der Veränderungen unterworfen ist, literarisch umsetzt, indem sie Erinnerungen in komplexen Sinnzusammenhängen, aber auch in Bruchstücken und Fragmenten formuliert. Diese Elemente verknüpft Delbo durch eine reflexive Erzählweise über die einzelnen Zeitstufen, die sich auch mit der Erzähl- und Schreibgegenwart auseinandersetzt. Delbo hebt in Auschwitz et après die Diskrepanz zwischen erlebter Realität und nachträglicher Repräsentation hervor und lässt den Vorgang des Erinnerns und Schreibens durchscheinen; das Schreiben selbst wird immer wieder zum Gegenstand ihrer Erzählung. Sie bemüht sich weniger um eine (historische) Wahrheitsfindung und rekonstruiert und vermittelt vielmehr die Vergangenheit durch erzählerische Mittel («l’histoire» und «des histoires»). Sie beschreibt Auschwitz in Auschwitz et après als eine Welt außerhalb der Vorstellung und greift die Lager- und Zeitstruktur anhand verschiedener Erzählstrategien und techniken auf. Es konnte die Verbindung von den dem Lager eigentümlichen Raum- und Zeitstrukturen in Verbindung zur weiblichen Identität (und ihrer Manifestierung in unterschiedlichen Formen der weiblichen Gemeinschaft) im Konzentrationslager aufgezeigt werden. Der Begrenztheit der Sprache, der Darstellbarkeit und Vermittlung begegnet Delbo, indem sie das Erzählen verfremdet und drei Arten aufzeigt, das Grauen im Lager zu versinnbildlichen: durch Bezüge zur normalen Welt, durch Naturmetaphern und durch Vergleiche sowie durch eine ästhetisierende Metaphorik in Situationen des Leidens und des Todes. Die «kulturellen» Tätigkeiten, die Delbo in Auschwitz et après beschreibt, gehören zu den in der vorliegenden Arbeit definierten Heterotopien, die, wie bei Delbo und Aaron herausgearbeitet wurde, nicht nur einen Akt des
328 kollektiven Erinnerns darstellen, sondern darüber hinaus als Mittel des Widerstands und des Überlebens angesehen werden können und einen freieren Umgang mit dem Gefängnisraum ermöglichen. Der Raum wird im dritten Teil der Trilogie geöffnet und die Lebensräume der verschiedenen Überlebenden skizziert. Es wurde aufgezeigt, wie die Geschlossenheit des Raumes ganz explizit aufgehoben wird, da sich alle Erzähler(innen) frei in Raum und Zeit und in der Narration bewegen. Den Überlebenden widmet sich Delbo besonders in Mesure de nos jours: Hier konnte gezeigt werden, wie die doppelte Existenz der Überlebenden (die in der Gegenwart gegen die Erinnerungen an die Vergangenheit ankämpfen müssen) zu Schwierigkeiten in der Gesellschaft führt, in der sich die Überlebenden nicht mitteilen können und in der das Leben wieder aufs Neue erlernt werden muss. Während in den ersten beiden Teilen von Delbos Trilogie Auschwitz et après die Stimme der Überlebenden nur teilweise durch kurze Einschübe zu hören ist, versinnbildlicht Delbo die in La mémoire et les jours1 angesprochene Metapher der Schlangenhaut für ihre Erinnerung und dessen Weiterführung bzw. Differenzierung im Begriffspaar «mémoire profonde» und «mémoire ordinaire» im dritten Teil der Trilogie Mesure de nos jours. Delbos Werk stellt nicht zuletzt durch eine ausgefeilte räumliche Semantik ein dichtes Werk für die Untersuchung von Raum, Zeit und Erinnerung dar. Soazig Aaron greift das Thema des Erinnerns, des Vergessens und der Wandelbarkeit von Erinnerung in ihrer Tagebuch-Erzählung Le non de Klara auf. Es konnten vier Zeitstufen unterschieden werden. In Auschwitz et après wird die Vergangenheit parallel zur Gegenwart konstruiert und durch verschiedene Elemente verbunden; in Le non de Klara werden die Erlebnisse der Überlebenden nach und nach wiedergegeben. Klara stellt auch deshalb eine besondere Figur der Überlebenden dar, da sie in ihrer Schilderung der Ereignisse bereits die Vorkommnisse reflektiert. Auch Angelika, die Klaras Worte verschriftlicht, sinniert zum einen über den Wahrheitsgehalt von Klaras Schilderungen, als auch über die eigene Begrenztheit, das Geschilderte in adäquater Weise aufschreiben zu können. Bei Le non de Klara konnte aufgezeigt werden, dass sich Aaron der Beschreibung des Lagers auf andere Weise nähert: Der Reflexionsgegenstand Auschwitz wird in Klaras Bericht, der einige Topoi der KZLiteratur aufweist, aufgenommen und durch Klaras individuelle Anmerkungen und Reflexionen erweitert. Die Handlung ist ganz auf die Überlebende konzentriert, die mit einer Reflexion über Auschwitz beginnt, um dann durch verschiedene Erzähltechniken in Bruchstücken, ––––––– 1
Charlotte Delbo: La mémoire et les jours. Paris 1973.
329 Fragmenten, Sentenzen zunächst entemotionalisiert eine Beschreibung des Lagers (und des Alltags dort) für ihre Zuhörer (und damit für den Leser) zu geben. Sowohl Delbos als auch Aarons Werk thematisieren die Bedeutungsumwandlung von Sprache, die, wie gezeigt wurde, auf doppelter Ebene vonstatten geht, zum einen im Lager und zum anderen bei der Rückkehr in ein Leben nach dem Lager. Die Kollision von zwei unvereinbaren Welten (der «normalen Welt» und der Welt des KZ) greift Aaron in Le non de Klara in der Konfrontation einer unkultiviert scheinenden Klara, die ein obszönes bis gewalttätiges Vokabular benutzt, mit der Tagebuchschreiberin auf. Klaras rüde und abgehackte Sprache erinnert an die funktionalisierte Sprache im Lager und ist ein Indiz dafür, dass Klara das Lager mental noch nicht verlassen hat. Obwohl der Fokus auf der Problematik der Zurückgekehrten, die durch ihre Erfahrungen auch auf ihr Umfeld (Angelikas Familie) Einfluss nimmt, liegt, integriert Aaron in ihr Werk auch einige Problemstellungen der zweiten Generation und deutet die Schwierigkeiten an, die sich für die nachfolgende Generation ergeben. In Le non de Klara stehen, wie sich gezeigt hat, die genannten Orte für Aufarbeitung und Aufbau: Das Hotel Lutétia dient Aaron als Ausgangspunkt, um über die Problematik der Überlebenden zu reflektieren, in Angelikas Wohnung beginnt Klaras persönliche Aufarbeitung und Deutschland (eine Stätte, an die Klara Angelika in ihrem Bericht führt) liegt zwar in Trümmern, doch gerade die Reste der Vergangenheit sind notwendig, um einen (Wieder-)Aufbau zu gewährleisten. Aarons Tagebucherzählung ist nicht allein aufgrund seiner Form ein wissenschaftlich ertragreiches Beispiel einer Analyse von Raum und Zeit, sondern ist vor allem durch das genaue und außergewöhnliche Portrait einer Überlebenden, die mit Vergangenheit und Gegenwart, mit Aufarbeitung (versinnbildlicht durch Angelika und ihren Mann) und Verdrängungsmechanismen der Nachkriegsgesellschaft konfrontiert wird, ein Dokument über die Erfahrung einer Überlebenden und die Erfahrung jener, die mit den Überlebenden leben. Romain Garys La Danse de Gengis Cohn hat sich als ein reiches Untersuchungsfeld für die Vielfalt von Räumen und Zeiten ergeben. Die Gestalt des Dibbuks bot, wie aufgezeigt wurde, eine Figur, die für Überzeitlichkeit steht und die Gegenwart und Vergangenheit miteinander verbindet. In La Danse de Gengis Cohn stellt sowohl der Dibbuk-Erzähler als auch der intervenierende Autor unablässig sein eigenes Tun, das Schreiben über den Genozid, in Frage; die Selbstreflexivität in seinem Werk versinnbildlicht Gary in einem konkreten Auftritt des Schriftstellers. Zwar schildert Romain Gary in La Danse de Gengis Cohn nicht explizit ein
330 Konzentrationslager in seiner räumlichen und zeitlichen Manifestation, dennoch verwendet er Charakteristika und Strukturen des Lagers in seiner Beschreibung des «forêt de Geist» und spricht die literarische Verarbeitung und Auswirkung des Lagers sowie Vergangenheitsbewältigung und Erinnerung an die Konzentrationslager in einem größeren Zusammenhang an. Die Figuren des «forêt de Geist,» Lily und Florian, dienen ihm dabei, wie in der Analyse deutlich wurde, zur Illustration verschiedener allegorisch-metaphorischer (Raum- und Zeit-)Ebenen, die er im Kontext seiner Kulturkritik und seiner Konstatierung des Scheiterns der Kultur entwickelt. Die Kluft zwischen Vergangenheit und Gegenwart wird im «forêt de Geist» überbrückt, Raum und Zeit werden miteinander auf einer Ebene verbunden, damit Erinnerung und Aufarbeitung möglich ist. Auch die Sprache Garys agiert auf mehreren Zeitstufen, er verknüpft diese miteinander, parodiert Begrifflichkeiten und spielt mit der Vorkenntnis des Lesers. Garys Text wird von der assoziativen Logik des Kabaretts beherrscht, die aus Mehrdeutigkeiten besteht, die historische Verquickungen, Verschiebungen und Verkehrungen schafft. Das Deutsche wird, wie herausgearbeitet wurde, in den jeweiligen Werken ganz bewusst eingesetzt. Indem Gary in La Danse de Gengis Cohn seine Handlung aus der Sicht eines Toten, des Dibbuks Gengis Cohn, vortragen lässt, erreicht Gary nicht nur die Verschmelzung der Zeit- und Erzählebenen, sondern die Aufarbeitung der Erinnerung im Unterbewusstsein der Menschheit. In La Danse de Gengis Cohn werden nicht nur Erinnerungsebenen einander gegenübergestellt, auch lässt sich inhaltlich eine Verdopplung der Ereignisse (der Massenmord in der fiktiven Stadt Licht als Mikrokosmos der Gesellschaft zeigt ähnliche Züge wie das sinnlose Töten während der NS-Zeit) konstatieren. Kontrapunktisch zum subtilen Einsatz der räumlichen Semantik bei Delbo (und in geringerem Maße bei Aaron) steht Garys Aneinanderreihung ungeordneter Bilderfluten und eine Vermengung sprachlicher Bilder, die die Apokalypse der Menschheit widerspiegeln. Die bewusst gemachte Konstruktion und Anwendung literarischer Techniken, die Vernetzung von tatsächlich Existentem und rein Fiktivem durch Bezüge historischer, politischer und kultureller Art, die subtile Verbindung von Komik und Tragik, die permanente Variation des Duktus und der Reichtum an Symbolen spielen sich auf unterschiedlichen Zeit- und Raumebenen ab, die den Autor befähigen, extreme Situationen oder Geschehnisse wie die Judenvernichtung und den Niedergang der abendländisch-christlichen Kultur literarisch fassbar zu machen. Den Erinnerungsprozess selbst macht Alain Resnais in Nuit et Brouillard zum (Haupt-)Thema seiner Dokumentation, indem er ihn durch die Spurensuche im Auschwitz der Gegenwart (durch Kommentar und
331 Kamerafahrt verdeutlicht) inszeniert und visualisiert. Eine filmspezifische Variante im Kontext der Selbstreflexion ist, wie sich in der Analyse herauskristallisiert hat, die zusätzliche interpretierende Instanz durch die Kamera in Nuit et Brouillard und in Il portiere di notte. Die (nicht sichtbare) Kamera ist interpretierende Instanz per se, ist Erzähler, Erzählperspektive und Manipulation des filmischen Betrachterstandpunktes. In Nuit et Brouillard bietet Cayrols Kommentar, der sich mit der Schwierigkeit und der Unmöglichkeit der Vermittlung beschäftigt, den einen Pol der Selbstreflexion, den anderen die Kamera, die sich auf die Spurensuche nach der Vergangenheit begibt. Resnais verwendet in Nuit et Brouillard verschiedene Bildquellen in Farbe und in Schwarz-weiß, um seine umfassende informative und schlaglichtartige Darstellung des Lagers im Bezug zur Gegenwart zu vermitteln. Bei Resnais wird Auschwitz im Schwarz-weiß-Material wieder lebendig, in der Gegenwart in Farbe ist es zu einem Mahnmal oder einer Gedenkstätte geworden. In Nuit et Brouillard ist nicht nur der Kommentar als eigener Diskurs zu verstehen, der sowohl die Hauptproblematik der Mittelbarkeit als auch die Vorgehensweise des gesamten Films widerspiegelt (indem er eine poetische und historische Seite enthält), sondern die Musik kann hier ebenfalls als Interpretation, Kontrast oder Gegengewicht zum Gezeigten und somit als eigener Diskurs gelesen werden. Resnais erreicht durch ein Kontrastverfahren die Gegenüberstellung von zwei Lebenswelten und versinnbildlicht somit seine Heterotopien. Mit dem gezielten Einsatz von Ironie kontrastiert und visualisiert er die unterschiedlichen (Lebens)Räume. Durch eine Ästhetik der Brüche bewirkt er eine Inversion und Metamorphose der Realität und wirkt somit der NS-Ideologie entgegen. Auch er skizziert kulturelles Schaffen als Fluchtreservat zum Überleben. In Nuit et Brouillard wird, wie anhand der Analyse aufgezeigt wurde, dem Zuschauer die duale Perspektive des Zeugen verdeutlicht: Die Zusammenarbeit zwischen dem Überlebenden, dem früheren Häftling Jean Cayrol (der sich über den Kommentar dem Zuschauer zeigt), und dem Künstler und Besucher Alain Resnais (der sich über Bilder und die Gesamtkomposition des Films mitteilt) trägt den Film in seiner Gesamtaussage. Das Thema der Spurensuche (innerhalb von Raum und Zeit), auf die sich Resnais als Nicht-Betroffener begibt, erinnert an die Verarbeitung der Shoah durch die zweite Generation. In Nuit et Brouillard ergibt sich eine Zusammenführung von den in den Werken ansonsten getrennt verarbeiteten Orten: Nuit et Brouillard zeigt Auschwitz sowohl als Ort des Geschehens, als auch als Reflexions- und Gedächtnisort, um zwischen den Schwarzweiß-Sequenzen den Bezug zur Gegenwart
332 aufrechtzuerhalten und um die Dokumentation insgesamt einzurahmen. Im Auschwitz der Gegenwart auferstehen die Bilder der Vergangenheit wieder, wobei die Spurensuche des Zuschauers durch die Kamerafahrten verdeutlicht wird. Auch Liliana Cavani schöpft in ihrer Zeichnung der Erinnerungsebenen in Il portiere di notte die Möglichkeiten des filmischen Mediums aus: Es wurde aufgezeigt, wie sie die Formbarkeit und Gestaltungsfähigkeit filmischer Zeit anhand eines Netzes aus Rückblenden und Gegenwartshandlungen, die die Struktur der Filmhandlung prägen, ausnutzt. Cavani konzentriert sich in Il portiere di notte ganz auf die Funktion des Blicks und steigert die Funktion der Kamera noch dadurch, dass sie diese im Film sichtbar macht. Zusätzlich werden durch Spiegelrefraktionen und Naheinstellungen Blick und Auge verdeutlicht. Il portiere di notte zeigt eine selektive Sicht des Lagers. Cavani filtert die für sie entscheidenden Merkmale der NS-Diktatur heraus und visualisiert sie in ihrer Lagerdarstellung: Sadismus, Masochismus und perverse Sexualität werden innerhalb der Raum- und Zeitstruktur filmästhetisch inszeniert, wobei sowohl der Blick der Kamera, als auch der Blick der Protagonisten eine zentrale Rolle spielen. Cavani teilt ihre Beschreibung des Lagers auf in eine Gruppe von Sequenzen, die die grausame und unausweichliche Verbindung der Täter-Opfer-Verbindung widerspiegelt und in eine Gruppe von Sequenzen, die durch die Verbindung der Musik und einem bühnenhaften artifiziellen Spiel inszenatorischen Charakter erhält. Die andere Welt, die Cayrol und Resnais mit Hilfe des Zusammenspiels von Bild und Text entlarven, wird bei Cavani durch das Zusammenwirken von Gewalt und Sprachlosigkeit vermittelt. Hier findet keine Bedeutungstransformation in der Sprache statt. Cavani versucht, wie in der Arbeit verdeutlicht wurde, eine Annäherung an das Geschehen durch eine Untersuchung, wie sich Nazismus durch Fetischismus, Masochismus und Sadismus visuell in Szene setzt bzw. setzen lässt. Sie entlehnt Elemente aus der Nazi-Mythologie, wandelt diese im Film um und reflektiert sie. Aussage und Wirkung des Nazismus, seine Inszenierung und seine Instrumente der Erniedrigung und des Leidens werden anhand ikonographischer Muster in der Koexistenz mit Kunst (Oper, Tanz und Cabaret) beleuchtet und entmystifiziert. Cavani fängt in Il portiere di notte in ihrer Zeichnung der Überlebenden Täter- und Opferperspektive ein und zeigt beide Figuren, von Schuldgefühlen geplagt, in ihrer Vielschichtigkeit und Ambivalenz anhand verschiedener filmischer Mittel. Die Traumatisierung wird in Abhängigkeit zur Gesellschaft in neuen Räumen der Gefangenschaft inszeniert. Il portiere di notte zeigt eine Reduktion auf wenige Schauplätze, die die klaustrophobische und erdrückende Atmosphäre unterstreichen, der nur in
333 der Erinnerung (in Rückblenden) und im Tod entflohen werden kann. Das Hotel dient als Dialograum der Figur in der Gegenwart zum Selbst in der Vergangenheit. Als neue Form des Lagers wurde Max‘ Appartement untersucht. Es konnte aufgezeigt werden, wie Cavani die Nachkriegsgesellschaft, eine Organisation von Alt-Nazis und das verlorene Paar Max und Lucia in Beziehung zur NS-Vergangenheit setzt und diese zugleich entlarvt. Durch die Verwendung einer reichen visuellen Sprache versucht Cavani die (innere) Reise eines Paares auf mehreren Zeit- und Raumebenen im Kontext der Konfrontation von Gegenwart und Vergangenheit zu illustrieren. Es wurde aufgezeigt, inwiefern Il portiere di notte Raum- und Zeitebenen handlungszentral sind und wie sie kinematographisch umgesetzt werden. Cavanis Arbeit verlangt (ähnlich wie auch Romain Garys) ein Verständnis der sozialen, politischen und philosophischen Traditionen in der europäischen Kultur. Die Figuren bewegen sich weg von der Ordnung auf ihrem Weg zur Vergangenheit.
7.2
Interdependenz zwischen Zeit, Raum und Erinnerung
Die Analyse hat gezeigt, dass Zeit, Raum und Erinnerung nicht nur inhaltlich die behandelten Werke bestimmen, sondern auch die Form der Literatur und des Films beherrschen. Anhand des ausgewählten Corpus konnten literarische und kinematographische Möglichkeiten und Ausdrucksformen im Kontext von Raum, Zeit und Erinnerung untersucht werden. Es wurde aufgezeigt, dass bei allen Werken verschiedene Erinnerungsebenen die Werke bestimmen und eine Vermischung der Zeit-, Handlungs- und Erzählebenen sowie eine Reflexion über die einzelnen Zeitstufen stattfindet. Die vorliegende Untersuchung hat illustriert, wie Erinnerung und Imagination aufs engste miteinander verbunden sind. Motivation bzw. Rahmenbedingungen oder Katalysatoren für die Erinnerung sind ganz unterschiedlicher Art. Das Thema der Reise und Spurensuche zieht sich durch das gesamte Corpus und steht für die Verbindung von Raum und Zeit. Es wurde herausgearbeitet, dass (sowohl reale, als auch imaginierte) Räume der Vergangenheit und Gegenwart selbst zu Trägern der Erinnerung werden und über ein Gedächtnis verfügen. Die Funktion der Schwelle, sowohl die räumlich sichtbare, als auch der Übertritt von der Gegenwart zur Vergangenheit, ist in der Arbeit besonders deutlich geworden. Dabei stellte sich heraus, dass der Erinnerungsprozess in Raum und Zeit (im jeweiligen Medium narrativ umgesetzt) mit literarischen und kinematographischen Mitteln unterschiedlich
334 nachgezeichnet wird. Durch die Analyse von Analepsen, Prolepsen, verschiedenen Erzähltechniken (beispielsweise die iterative und singulative Erzählweise), Metaphern und Vergleichen wurde beim literarischen Zugang die Möglichkeiten von einer Interaktion zwischen Narration, Raum und Zeit und Vermittlung aufgezeigt. Beim filmischen Zugang wurde die Bedeutung der spezifisch kinematographischen Mittel (Rückblenden, Schnitte und Montagen) für Raum- und Zeitkonstruktionen herausgearbeitet. Alle ausgewählten Werke zeigen eine außergewöhnlich reiche Zusammenstellung von literarischen bzw. filmischen Mitteln, um sich der Problematik des Holocaust zu nähern.
7.3
Formen des Erinnerns – Rückblick und Ausblick
«Il me semble que mon ombre est restée là-bas.» – Die vorliegende Arbeit hat durch die Analyse von Raum-, Zeit- und Erinnerungsstrukturen in Literatur und Film gezeigt, wie Vergangenheits- und Gegenwartsebenen in der Zeichnung des Schicksals der Überlebenden untrennbar miteinander verbunden sind. Indem mit dieser Arbeit Mittel, Funktionen und Sinn der literarischen und medialen Aufarbeitung gezeigt wurden, stellt diese Untersuchung letzten Endes selbst einen Beitrag zur Gedächtnisdiskussion dar und gliedert sich in den Diskurs um die Aufrechterhaltung des Gedenkens an die Shoah ein. Im Sinne einer medialen Erweiterung der Perspektive seien an dieser Stelle noch zwei weitere Zugänge zu den Themenkomplexen Erinnerung, Raum und Zeit genannt: Die Fotocollagen Watched over von Muriel Hasbun und Art Spiegelmans Comic Maus bilden signifikante Beispiele einer besonderen Art des Zusammenspiels von Schrift und Bild, die auf außergewöhnliche Weise Erinnerungsebenen darstellen und thematisieren. Muriel Hasbun gehört zu einer Gruppe von Fotografen, die sich in ihren Arbeiten der Bedeutung des kulturellen Erbes widmen. Grundlage für ihre Ausstellung Watched over (2003) sind Erinnerungen (in Form von Briefen) und Photographien ihrer Mutter und ihrer Tante aus Frankreich während des Holocaust im besetzten Paris, die sie in ihrer Ausstellung in vier Fotoserien präsentiert. Die Fotografien bilden eine Verbindung zur Vergangenheit, oder, wie Hasbun es mit der Terminologie von Marianne Hirsch beschreibt, eine Form des «postmemory» bzw. «metamemory,»2 d.h. ––––––– 2
«Postmemory can be explained as memory at one or more removes, a kind of distant cousin of experience in which the past of historical fact and the past of metaphor are inextricably combined» (Andy Grundberg: «Watched over [Protegida]: Muriel Hasbun’s Postmemory Project.» L’ecosistema della cultura contemporanea. 05.09.2003).
335 Hasbun reflektiert die Erinnerung selbst und die Rolle, die die Erinnerung bei der Entwicklung und beim Entstehen von Ideen über die eigene Identität und das kulturelle Erbe spielt. Hasbuns artistische, charakteristische Sprache manifestiert sich in der Form eines Palimpsests (oder in der Kunst eines Pentimento), in dem die einzelnen (Raum-, Zeit-, Erinnerungs)Schichten übereinander liegen. Somit evozieren die Fotografien zwei Orte und zwei Zeiten zur gleichen Zeit. Jede Schicht überlagert die andere wie eine verblasste Erinnerung. Basierend auf biographischen Fakten, erzählt Art Spiegelmans Maus3 die Geschichte eines Karikaturisten, der an einem Buch über das Schicksal seiner jüdischen Eltern während des Krieges in Polen arbeitet,4 wobei der Vater Vladek dem Sohn Artie seine Erinnerung vermittelt und der Karikaturist diese visuell aufbereitet. Maus zeigt verschiedene Arten von Narrativa5 und erinnert in diesem Sinne an den Palimpsest- und Intertextualitätscharakter der besprochenen Werke, aber auch in der Überlagerung der Raum- und Zeitebenen. Der Leser bewegt sich durch verschiedene persönliche Erlebnisse im Kontext der Historie: Die Zeit vor dem Holocaust, der Holocaust und die Zeit danach werden beschrieben; andere Räume und Zeiten können aber zur gleichen Zeit präsent sein. Sowohl die in der vorliegenden Arbeit untersuchten Werke als auch die eben angesprochenen Arbeiten bilden Versuche, die Geschehnisse nach Auschwitz zu verarbeiten. Angesichts dessen, dass es die persönliche Erfahrung und Erinnerung an Auschwitz bald nicht mehr geben wird, bewirkt diese fehlende Möglichkeit einer Kommunikation mit den Augenzeugen die Fokussierung auf eine mediale und literarische Auseinandersetzung: «Das lebendige Gedächtnis weicht damit einem mediengestützten Gedächtnis, das sich auf materielle Träger wie Denkmäler, Gedenkstätten, Museen und Archive stützt [...] Während bestimmte Arten von Gedächtnis im Rückzug begriffen sind, wie das Lerngedächtnis, das Bildungsgedächtnis und, in bezug auf die Shoah, das Erfahrungsgedächtnis, nehmen an-
––––––– 3
4
5
Maus erschien zunächst zwischen 1980 und 1991 im Magazin Raw und wurde dann in zwei Teilen veröffentlicht und mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet (Art Spiegelman: Maus: A Survivor’s Tale. My father bleeds history. New York 1986; Maus: And here my troubles began. New York 1991). Im französischsprachigen Bereich gilt Pascal Crocis Auschwitz (Pascal Croci: Auschwitz. Paris 2002) als erstes realistisches Comic und wird von Croci als «document-fiction» eingeordnet. Basierend auf verschiedenen Zeugnissen und Interviews von AuschwitzBirkenau Überlebenden erzählt das Comic in drastisch-realistischen Bildern, die ohne symbolische Ebene dargestellt werden, den Alltag im Exterminationslager. Bilder, Sprechblasen, Kommentare, Karten von Polen und den Lagern, Diagramme von Verstecken, echte Fotografien des Familienarchivs, detaillierte Pläne der Krematorien, ein Comic «Prisoner on the Hell Planet: A Case History» im Comic.
336 dere Formen des Gedächtnisses wie das der Medien oder der Politik offensichtlich an Bedeutung zu.»6
Die lebendige Erinnerung wird zur Geschichte und kann nicht mehr selbst erfahren werden; die Vergangenheit wird in ihren verschiedenen Erinnerungs- und Aufarbeitungsformen zu (Archiv-)Material.7 Das kollektive Gedächtnis und Gedenken an die Shoah kann und wird auf dieser Grundlage einer Vergangenheitsbewältigung auf verschiedenen Ebenen8 aufrechterhalten werden.
––––––– 6 7
8
Assmann, Aleida, Erinnerungsräume, 15. Neben den bereits genannten Formen sind hier vor allem Mahnmale, Gedenkstätten, Skulpturen, Gemälde etc. zu erwähnen. Zu näheren Ausführungen und Beispielen (vgl. Burkhard Asmuss [Hg.]: Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung. Berlin 2002). Insbesondere ist man auf der Ebene der didaktischen Vermittlung bestrebt, die historischen Ereignisse einem interessierten Publikum näher zu bringen. Beispielsweise ist das neu konzipierte «Mémorial de la Shoah (Musée, Centre de Documentation Juive Contemporaine)» in Paris bemüht, durch unterschiedlichste Medien sogar Kindern einen Zugang zur Vergangenheitsbewältigung und Aufarbeitung zu ermöglichen.
8
Bibliographie
Primärwerke: Literatur: Aaron, Soazig: Le non de Klara. Paris 2002. Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. Stuttgart 1966. Antelme, Robert: L’espèce humaine. Paris 1947. Cayrol, Jean: Je vivrai l’amour des autres. Paris 1947. í Les rêves lazaréens. Paris 1954. Croci, Pascal: Auschwitz. Paris 2002. Delbo, Charlotte: Aucun de nous ne reviendra. Paris 1970. í Une connaissance inutile. Paris 1970. í Mesure de nos jours. Paris 1970. í Qui rapportera ces paroles? Paris 1974. í Spectres mes compagnons. Paris 1977. í Le convoi du 24 janvier. Paris 1978. De Toulouse-Lautrec, Béatrix: J’ai eu vingt ans à Ravensbrück. La victoire en pleurant. Paris 1991. Duras, Marguerite: La douleur. Paris 1985. Federman, Raymond: Die Stimme im Schrank / La voix dans le cabinet de débarras / The voice in the closet. Hamburg 1989. Gary, Romain: Education européenne. Paris 1956. í Pour Sganarelle. Paris 1965. í La Danse de Gengis Cohn. Paris 1967. í La nuit sera calme. Paris 1974. Hasbun, Muriel: Watched over (Ausstellung) Washington 2003. Hilsenrath, Edgar: Der Nazi und der Friseur. Köln 1977. Klüger, Ruth: weiter leben. Göttingen 1992. Levi, Primo: Se questo è un uomo? Turin 1958. í I sommersi e i salvati. Turin 1986. Modiano, Patrick: Dora Bruder. Paris 1997. Perec, Georges: W ou le souvenir d’enfance. Paris 1975. Schwarz-Bart, André: Le dernier des justes. Paris 1959. Semprún, Jorge: L’écriture ou la vie. Paris 1994. Spiegelman, Art: Maus: A Survivor’s Tale. My father bleeds history. New York 1986; í Maus: And here my troubles began. New York 1991. Tillion, Germaine: Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Lüneburg 1998 (Orig.: Ravensbrück. Paris 1946, 1973 und 1988). í Le Verfügbar aux enfers. Une opérette à Ravensbrück. Paris 2005.
338 Wiesel, Elie: La nuit. Paris 1958. í L´oublié. Paris 1989. Zarebinska-Broniewska, M.: Auschwitz Erzählungen. Berlin 1949.
Film: Avildsen, John G.: The Formula (1980). Bergman, Ingmar: The Serpent’s Egg (1977). Bertolucci, Bernardo: Il conformista (1970). í Ultimo tango a Parigi (1972). Cavani, Liliana: Il portiere di notte (1973). Chaplin, Charles: The great dictator (1940). Chomsky, Marvin J.: Holocaust (1978). Cozarinsky, Edgardo: La Guerre d’un seul homme (1982). Drach, Michel: Les Violons du bal (1973). Fassbinder, Rainer Werner: Lili Marleen (1981). Fosse, Bob: Cabaret (1972). Gavras, Costa: The Music Box (1989). Hemmings, David: Just a Gigolo (1979). Siodmak, Robert: Der Mann, der seinen Mörder sucht (1931). Jakubowska, Wanda: Ostatni Etap (1947). Lanzmann, Claude: Shoa (1974–1985). Levy, Oscar: Le Premier Convoi (1992). Lubitsch, Ernst: To be or not to be (1942). Lumet, Sidney: The Pawnbroker (1964). Malle, Louis: Lacombe Lucien (1974). Mihaileanus, Radu: Train de vie (1998). Mizrahi, Moshe: La vie devant soi (1977). Moshinsky, Elijah: Gengis Cohn (1993). Pakula, Alan: Sophie’s choice (1982). Pontecorvos, Gillo: Kapo (1960). Resnais, Alain: Nuit et Brouillard (1956). í Hiroshima mon amour (1959). í L’année dernière à Marienbad (1961). Rossif, Frédéric: Le Temps du Ghétto (1962). Rouffio, Jacques: La passante du Sans Souci (1983). Segevs, Tom: Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung (1995). Spielberg, Steven: Schindler’s List (1993). Veiels, Andres: Balagan (1994). Visconti, Luchino: Vaghe Stelle dell’Orsa (1965). í La caduta degli dei (1969). Weiss, Emil: Falkenau (1988). Wertmüller, Lina: Pasqualino Settebellezze (1975).
Forschungsliteratur: Adorno, Theodor: Zur Dialektik des Engagements. Frankfurt a.M. 1973. Albersmeier, Franz-Josef: Theater Film Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität. Darmstadt 1992.
339 Altwegg, Jürg: «Erstickte Worte machen sich Luft. Es heißt «‹da unten.›» Soazig Aarons Roman über Auschwitz.» FAZ 8.10.2004, 34. Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition. Acht Essays. Frankfurt a.M. 1976. Armes, Roy: French Cinema since 1946. London 1966. í The Cinema of Alain Resnais. Amsterdam 1968. Arndt, Ino: «Die Geschichte des Frauenkonzentrationslagers Ravensbrück.» In: Institut für Zeitgeschichte (Hg.): Studien zur Geschichte der Konzentrationslager. Stuttgart 1970, 39– 120. Arns, Alfons: «Der Nachtportier.» In: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik e.V. (Hg.): Die Ästhetik des Bösen im Film. Frankfurt am Main 1987, 18–25. Assmann, Aleida: «Das Gedächtnis der Orte.» DVjs 68 (1994), Sonderheft, 17–35. í Assmann, Jan / Hardmeier, Christof (Hgg.): Schrift und Gedächtnis. Archäologie der literarischen Kommunikation. München 1998. í Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. Assmann, Jan: «Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität.» In: Jan Assmann / Tonio Hölscher (Hgg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1988, 9–19. í Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992. Asmuss, Burkhard (Hg.): Holocaust. Der nationalsozialistische Völkermord und die Motive seiner Erinnerung. Berlin 2002. Augstein, Franziska: «Leben mit einer Toten. Von Auschwitz erzählen: Soazig Aarons Roman Klaras Nein.» Süddeutsche Zeitung 25.10.2003, 43. Avisar, Ilan: Screening the Holocaust. Cinema’s Images of the Unimaginable. Indiana 1988. Baer, Ulrich (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoa. Frankfurt a.M. 2000. Balázs, Béla: Theory of the film. Character and growth of a new art. New York 1970. Bazin, André: «Nuit et Brouillard.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 139 (auch in Radio-Cinéma-Télévision 9 February 1956). Banner, Gillian: Holocaust Literature. Schulz, Levi, Spiegelman and the Memory of the Offence. London 2000. Bauman, Zygmunt: Modernity and the Holocaust. New York 2000. Baumgart, Reinhard: Unmenschlichkeit beschreiben. Weltkrieg und Faschismus in der Literatur. Merkur 19/1 (1965), 37–50. Benayoun, Robert: «Alain Resnais, Arpenteur de l’Imaginaire.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 156 (auch in Robert Benayoun: Alain Resnais, Arpenteur de l’Imaginaire. Paris 1980, 52–55). Berets, Ralph: «Recent Cinematic Images of Nazism: The Night Porter and Seven Beauties.» Film and History 9 (1979), 73–81. Berg, Nicolas / Jochimsen, Jess / Stiegler, Bernd (Hgg.): Shoa. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. München 1996. Berger, Peter L.: Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfahrung. New York 1998. Bettelheim, Bruno: Erziehung zum Überleben. Stuttgart 1980. Biemel, Walter: Zeitigung und Romanstruktur. Philosophische Analysen zur Deutung des modernen Romans. Freiburg 1985. Blanchot, Maurice: L’entretien infini. Paris 1969. í L’écriture du désastre. Paris 1980.
340 Block Lazarus, Joyce: Strangers and Sojourners. Jewish Identity in Contemporary Francophone Fiction. New York 1999. Bogdanovic, Bogdan: Die Stadt und der Tod. Klagenfurt / Salzburg 1993. í Architektur der Erinnerung. Klagenfurt 1994. Boisen, Jörn: «La conception du temps chez Romain Gary.» Revue Romane Langue et littérature 29/1 (1994), 51–70. Bona, Dominique: Romain Gary. Paris 1987. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. London 1985. Bory, Jean-Louis: «Le Carnaval des spectres.» Nouvel Observateur 8. April 1974, 63. Bott, Francois: «Entretien avec Charlotte Delbo: ‹Je me sers de la littérature comme d’une arme.›» Le Monde 20. Juni 1975, 83. Boyers, Robert: Atrocity and Amnesia. The Political Novel Since 1945. Oxford 1985. Buchwald, Christoph: «Rückkehr aus der Hölle. Laudatio anlässlich des Geschwister- SchollPreises für Soazig Aaron.» FAZ 9.9.2004, 23. Bruache, Freddy: Le cinéma français des années 60. Lausanne 1987. Brückner, Jutta: «Vom historischen Bild zur Metapher. Überlegungen zu Liliana Cavanis Film Der Nachtportier.» In: Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik e.V. (Hg.): Die Ästhetik des Bösen im Film. Frankfurt a.M. 1987, 26–31. Caruth, Cathy (Hg.): Trauma. Explorations in Memory. Baltimore 1995. í Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History. Baltimore 1996. Cauliez, Armand-Jean: «Nuit et Brouillard.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 148–149 (auch in Télé-Ciné 280 juillet-août 1956). Cavani, Liliana: Introduction to Il portiere di notte. Turin 1974. í «Herren der Gaskammern unter uns» In: Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik e.V. (Hg.): Die Ästhetik des Bösen im Film. Frankfurt a.M. 1987, 36–37. Cayrol, Jean: «Nous avons conçu Nuit et Brouillard comme un dispositif d’alerte.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 137. Chatti, Mounira: L’écriture de la déportation et de la Shoah ou la double impossibilité: entre le silence et le dire. Villeneuve 1995. Clouzot, Claire: Le cinéma français depuis la nouvelle vague. Paris 1972. í «Liliana Cavani. Le mythe, le sexe et la révolte.» Ecran: revue mensuelle de cinéma 26 (1974), 36–42. Colombat, André Pierre: «The Holocaust in French Film.» Filmmakers, No. 33. London 1993. Dalle Vacche, Angela: The Body in the Mirror: Shapes of History in Italian Cinema. Princeton 1992. Daly, Peter / Filser, Karl (Hgg.): Building History. The Shoah in Art, Memory, and Myth. New York 2001. Debrabandère, Carine: «Tod der Seele. Soazig Aaron: Klaras Nein.» Deutschlandfunk 07.09.2004. De Gaulle-Anthonioz, Geneviève (Hg.): Germaine Tillion – La traversée du mal. Entretien avec Jean Lacouture. Paris 2000. DeKoven Ezrahi, Sidra: By words alone. Chicago 1980. De Lauretis, Teresa: «Cavani’s Night Porter: A Woman’s Film?» Film Quarterly 30 (1976), 35–38. í Technologies of Gender: Essays on Theory, Film and Fiction. Indiana 1987.
341 Diner, Dan: «Über Schulddiskurse und andere Narrativa. Epistemologisches zum Holocaust.» In: Gertrud Koch (Hg.): Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung. Köln 1999, 61-84. í «Germany, the Jews and Europe. History and Memory and the Recent Upheaval.» In: Y. M. Bodemann (Hg.): Jews, Germans and Memory. Reconstructions of Jewish Life in Germany. Michigan 1996, 263–272. í Kreisläufe. Nationalsozialismus und Gedächtnis. Berlin 1995. Doane, Mary Ann: «Film and the Maquerade: Theorizing the Female Spectator.» In: Dies.: Femmes Fatales: Feminism, Film Theory, Psychoanalysis. New York 1991, 17–32. Dörr, Bea / Kaschuba, Gerrit / Maurer, Susanne: «Endlich habe ich einen Platz für meine Erinnerungen gefunden.» Kollektives Erinnern von Frauen in Erzählcafés zum Nationalsozialismus. Herbolzheim 2000. Douchet, J.: Nouvelle vague. Paris 1998. Doneson, Judith: The Holocaust in American film. Syracuse 2002. Ehlert, Trude (Hg): Zeitkonzeptionen. Zeiterfahrung. Zeitmessung. Stationen ihres Wandels vom Mittelalter bis zur Moderne. Paderborn 1997. Eichenberg, Ariane: Zwischen Erfahrung und Erfindung. Jüdische Lebensentwürfe nach der Shoah. Köln 2004. Eitinger, Leo: «KZ-Haft und psychische Traumatisierung.» Psyche 44 (1990), 118–132. Eliacheff, Caroline / Heinich, Nathalie: Mütter und Töchter. Ein Dreiecksverhältnis. Düsseldorf 2004 (Orig.: Mères-filles. Une relation à trois. Paris 2002). Estang, Luc: «La Danse de Gengis Cohn de Romain Gary.» In: Astrid Poier-Bernhard (Hg.): Romain Gary im Spiegel der Literaturkritik. Frankfurt a.M. 1999, 18–19 (auch in Le Figaro Littéraire 7 [1967]). Esteve, Michel: Alain Resnais et Alain Robbe-Grillet. Evolution d’une écriture. Paris 1974. Etzkowitz, Janice: Toward a concept of Cinematic Literature. An Analysis of Hiroshima mon amour. New York 1983. Faber, Richard: Erinnern und Darstellen des Unauslöschlichen. Berlin 1995. Felman, Shoshana: «A l’âge du témoignage: Shoa.» In: Bernard Cuau (Hg.): Au sujet de Shoah. Paris 1950, 55–145. Foucault, Michel: Die Heterotopien / Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge. Zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Michael Bischoff. Mit einem Nachwort von Daniel Defert. Frankfurt a.M. 2005. í «Andere Räume.» In: Martin Wentz: Stadt-Räume. Frankfurt 1991, 65–72. Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Geschildert von Ravensbrücker Häftlingen. Wien 1945. Frey, Pascale: «Le non de Klara.» Lire décembre 2002/janvier 2003, 62. Friedlander, Henry (Hg): The Holocaust: Ideology, bureaucracy, and genocide. New York 1980. Friedländer, Saul: Kitsch und Tod. Der Widerschein des Nazismus. München 1984. í Memory, History, and the extermination of the Jews of Europe. Indiana 1993. í Probing the Limits or Representation. Nazism and the «Final Solution.» Cambridge 1992. Frölich, Margrit / Loewy, Hanno / Steinert, Heinz (Hgg.): Lachen über Hitler – AuschwitzGelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. Augsburg 2003. Gallagher, Guy Robert: L’univers imaginaire de Romain Gary. Québec 1978. Gascoigne, David: Le moi et ses espaces. Caen 1997. Genette, Gérard: Figures I. Paris 1966. í Figures II. Paris 1969. í Die Erzählung. München 1998 (Orig.: Le récit. Paris 1969).
342 Gerhard, Ute: Literarische Transit-Räume. Ein Faszinosum und seine diskursive Konstellation im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1997. Girard, René: Ausstoßung und Verfolgung: eine historische Theorie des Sündenbocks. Frankfurt a.M. 1992 (Orig.: Le bouc émissaire. Paris 1982). Giesenfeld, Günter / Koebner, Thomas (Hgg.): «Zur neuen Kinematographie des Holocaust. Das Kino als Archiv und Zeuge?» Augenblick. Marburger und Mainzer Hefte zur Medienwissenschaft 36 (2004). Gronewald, Claudia: Die Weltsicht Romain Garys im Spiegel seines Romanwerkes. Münster 1997. Grundberg, Andy: «Watched over (Protegida): Muriel Hasbun’s Postmemory Project.» L’ecosistema della cultura contemporanea. 05.09.2003. Günter, Manuela (Hg.): Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoa. Würzburg 2000. Guillard, Gilbert (Hg.): Le cinéma français de 1930 à 1981. München 1983. Guthke, Karl S.: Die moderne Tragikomödie. Theorie und Gestalt. Göttingen 1968. Haft, Cynthia: The Theme of Nazi Concentration Camp in French Literature. Hague 1973. Halbwachs, Maurice: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris 1985 (Orig.: 1925). í La topographie légendaire des évangiles en terre sainte. Étude de mémoire collective. Paris 1941. í Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1985 (Orig.: La mémoire collective [in den 30er Jahren entstanden / Paris 1985]). Harang, Jean-Baptiste: «Qui vivra Vera.» Littérature française. 20.06.2002. Hardtmann, Gertrud (Hg.): Spuren der Verfolgung. Gerlingen 1992. Haverkamp, Anselm / Lachmann, Renate (Hgg.): Gedächtniskunst: Raum – Bild – Schrift. Studien zur Mnemotechnik. Frankfurt a.M. 1991. í «Memoria - Vergessen und Erinnern.» Poetik und Hermeneutik 15. München 1993. Hayward, Susan / Vincendeau, Ginette: French Film. Texts and Contexts. London 1990. Heath, Stephen / Mellencamp, Patricia: Cinema and Language. Los Angeles 1983. Heber-Schärer, Barbara: «Die Unmöglichkeit zu entkommen.» Die Wochenzeitung. 05.05.2005, 57. Heinemann, Marlene E.: Gender and Destiny. Women Writers and the Holocaust. Connecticut 1986. Hellenthal, Michael: Schwarzer Humor. Theorie und Definition. Essen 1989. Herlitz, Georg (Hg.): Jüdisches Lexikon Bd. 3. Berlin 1929. Hickethier, Knut: Einführung in die Film- und Fernsehanalyse. Stuttgart 1993. Hildesheimer, Wolfgang: «Frankfurter Poetik-Vorlesungen. 1. Die Wirklichkeit des Absurden.» In: Hart Nibbrig / Christiaan Lucas (Hgg.): Gesammelte Werke in sieben Bänden Bd. VII. Frankfurt a.M. 1991. Hillebrand, Anne-Katrin: Erinnerung und Raum. Friedhöfe und Museen in der Literatur. Würzburg 2001. Hillier, Jim (Hg.): Cahiers du cinéma. Volume 2. The 1960s. London 1996. Hoffmann, Detlef: «Aktuelle Symbolisierungsstrategien im Umgang mit dem System Auschwitz.» In: Sven Kramer (Hg.): Die Shoah im Bild. Stuttgart 2003, 171–198. Howard, David / Mabley, David: Drehbuch Handwerk. Köln 1996 (Orig.: The Tools of Screenwriting: A Writer’s Guide to the Craft and Elements of a Screenplay. New York 1995). Houston, Beverle / Kinder, Marsha: «The Night Porter as Daydream.» Film Quarterly Literature 3 (Autumn 1975), 363–370. Huston, Nancy: Tombeau de Romain Gary. Paris 1995. Hurst, Matthias: Erzählsituationen in Literatur und Film. Tübingen 1996.
343 Ibsch, Ilrud: Die Shoah erzählt: Zeugnis und Experiment in der Literatur. Tübingen 2004. Insdorf, Annette: Indelible shadows. Film and the Holocaust. Cambridge 32003. Jansch, Peter W. / Schütte, Wolfram: Alain Resnais. München 1990. Jelenski, K.A.: «Entretien avec Romain Gary.» Biblio mars (1967), 3–9. Joan i Tous, Pere: «Ecriture de cendres. Zur Problematik der Erzählbarkeit und Ästhetisierung des Leidens in der französischen Literatur.» Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 1997, 167–183. í «Une mémoire empoisonnée. Trauerarbeit und Identitätssuche im französischen Roman jüdischer Autoren der Gegenwart.» Frankreich-Jahrbuch 2000, 145–161. í «‹Dein Herr Professor kommt heute noch durch’s Kamin.› Vom Sinn und Nutzen der Geistesbildung in Jorge Semprúns ‹L’écriture ou la vie.›» In: Reingard M. Nischik (Hg.): Uni literarisch. Lebenswelt Universität in literarischer Repräsentation. Konstanz 2000, 185– 209. Jochimsen, Jess: «‹Nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtnis.› Die Shoa im Dokumentarfilm.» In: Nicolas Berg / Jess Jochimsen (Hgg.): Shoa. Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, Literatur, Kunst. München 1996, 215–231. Jung, Fernand: «Der Nachtportier (Il portiere di notte).» Jugend. Film. Fernsehen. Zeitschrift für audiovisuelle Medien, Kommunikation und Pädagogik 19, 1 (1975), 115–118. Karriker, Alexandra Heidi: Film Studies. Women in Contemporary World Cinema. New York 2002. Kauffmann, Judith: «La danse de Romain Gary ou Gengis Cohn et la valse-horà des mythes de l’occident.» Etudes littéraires 17, 1 (avril 1984), 71–94. Keilson, Hans: «Sequentielle Traumatisierung bei Kindern.» In: Gertrud Hardtmann (Hg.): Spuren der Verfolgung. Gerlingen 1992, 69–79. Kertész, Imre: «Wem gehört Auschwitz? Aus Anlaß des umstrittenen Films Das Leben ist schön: Der ungarische Schriftsteller und KZ-Überlebende Imre Kertész über die Enteignung der Erinnerung.» Die Zeit 48, 19.11.1998, 55–56. Kinder, Marsha / Houston, Beverle: From Close-Up: A Critical Perspective on Film. New York 1972. Kingcaid, Renée: «Charlotte Delbo’s Auschwitz et après: The struggle for signification.» French Forum 9 (1984), 98–109. Klatzkin, Jakob (Hg.): Encyclopaedia Judaica Bd. 5. Berlin 1930. Klein, Judith: Literatur und Genozid. Darstellungen der nationalsozialistischen Massenvernichtung in der französischen Literatur. Wien 1992. Klinggräf, Fritz: «Wie viel Dichtung braucht es, um historische Wahrheit wiederzufinden?» Frankfurter Rundschau 26.03.03, 23. í «Die Stimme der Zeugen.» taz 29.11.03, 35. Klüger, Ruth: «Gedankenspiel mit letzten Dingen.» Die Zeit 51 (11.12.2003). Koch, Gertrud: «Handlungsfolgen: Moralische Schlüsse aus narrativen Schließungen. Populäre Visualisierungen des Holocaust.» In: Dies. (Hg.): Bruchlinien. Tendenzen der Holocaustforschung. Köln 1999, 295–313. í «Sieben Schönheiten.» Epd Film. Zeitschrift des Gemeinschaftswerkes der Evangelischen Publizistik 2 (Oktober 1985), 24–25. í Die Einstellung ist die Einstellung. Visuelle Konstruktionen des Judentums. Frankfurt a.M. 1992. König, René: «Zurück nach Deutschland. Aus: ‹Leben im Widerspruch. Versuch einer intellektuellen Autobiographie.›» In: Bernt Engelmann (Hg.): Literatur des Exils. München 1981, 88–94. Kofman, Sarah: Paroles suffoquées. Paris 1987.
344 Kohlhammer, Siegfried: «Anathema. Der Holocaust und das Bilderverbot.» Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 48, Heft 538–549 (1994), 501–509. Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer in der deutschen demokratischen Republik (Hg.): Ravensbrück. Berlin 1960. Kos, Marta: Frauenschicksale in Konzentrationslagern. Wien 1998. Koselleck, Reinhart: «Nachwort.» In: Charlotte Beradt (Hg.): Das Dritte Reich des Traums. Frankfurt a.M. 1994, 117–132. Kracauer, Siegfried: Von Caligari zu Hitler. Frankfurt a.M. 1979 (Orig.: From Caligari to Hitler. Princeton 1947). í Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt a.M. 1964 (Orig.: Theory of Film. The Redemption of Physical Reality. New York 1960). Kramer, Sven: Auschwitz im Widerstreit. Zur Darstellung der Shoa in Film, Philosophie und Literatur. Wiesbaden 1999. í Die Shoah im Bild. Stuttgart 2003. Krantz, Charles K.: «Alain Resnais‘ Nuit et Brouillard: A Historical and Cultural Analysis.» Holocaust studies annual (1985), 107–120. Krause, Rolf D.: «Vom kalten Wind. Leseverhalten und Literaturrezeption in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.» In: Rainer Noltenius (Hg.): Alltag, Traum und Utopie. Lesegeschichten – Lebensgeschichten. Essen 1988, 124–140. Küster, Lutz: Obsession der Erinnerung. Das literarische Werk Jorge Semprúns. Frankfurt a.M. 1992. Kugelmann, Cilly / Backhaus, Fritz (Hgg.): «Jüdische Figuren in Film und Karikatur. Die Rothschilds und Joseph Süß Oppenheimer.» Schriftenreihe des Jüdischen Museums Frankfurt am Main Bd 2. Frankfurt a.M. 1996. LaCapra, Dominick: History, Theory, Trauma. Representing the Holocaust. New York 1994. í History and Memory after Auschwitz. New York 1998. Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a.M. 1990. Lamont, Rosette C.: «Literature, the Exile’s Agent of Survival: Alexander Solzhenitsyn and Charlotte Delbo.» Mosaic IX/1 (1975–1976), 1–17. í Lamont, Rosette C.: «Charlotte Delbo’s Frozen Friezes.» L’esprit créateur XIX, 1 (1979), 65–74. Landman, Isaac: The Universal Jewish Encyclopaedia in ten volumes. Vol. 7. New York 1942. Lang, Berel (Hg.): Writing and the Holocaust. New York 1988. í Act and Idea in the Nazi Genocide. Chicago 1990. Lange, Sigrid: «Blickverschiebung. Roberto Benignis Das Leben ist schön und Imre Kertész‘ Roman eines Schicksallosen.» In: Manuela Günter (Hg.): Überleben schreiben. Zur Autobiographik der Shoa. Würzburg 2000, 121–139. í Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur – Literatur – Film. Bielefeld 2001. Langer, Lawrence: The Holocaust and the Literary Imagination. New Haven 1975. í The age of atrocity. Death in modern literature. Boston 1978. í Holocaust Testimonies. The ruins of Memory. New Haven 1991. í Admitting the Holocaust. Collected Essays. New York 1995. í Preempting the Holocaust. New Haven 1998. Lanzmann, Claude: «A propos de Shoah.» Colloque des intellectuels juifs. Mémoire & histoire. Paris 1986. í «Der Ort und das Wort. Über Shoa.» In: Ulrich Baer (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoa. Frankfurt a.M. 2000, 101– 118.
345 Leak, Andrew / Paizis, George (Hgg.): The Holocaust and the text. Speaking the unspeakable. London 2000. Leperchey, Sarah: Alain Resnais. Une lecture topologique. Paris 2000. Leutrat, Jean-Louis: L’année dernière à Marienbad. London 2000. Lévinas, Emmanuel: Autrement qu’être ou au-delà de l’essence. Paris 2004. Levine, Jacob: Motivation in Humor. New York 1969. Lévy, Clara: Écritures de l’identité. Les écrivains juifs après la Shoah. Paris 1998. Lezzi, Eva: Zerstörte Kindheit. Literarische Autobiographien zur Shoah. Köln 2001. Liehm, Mira: Passion and defiance. Film in Italy from 1942 to Present. Berkeley 1984. Lipman, Amanda: «Gengis Cohn.» Sight and Sound 4 (1994), 62–63. Loewy, Hanno: «Fiktion und Mimesis. Holocaust und Genre im Film.» In: Margrit Frölich / Hanno Loewy / Heinz Steinert (Hgg.): Lachen über Hitler – Auschwitz-Gelächter? Filmkomödie, Satire und Holocaust. Augsburg 2003, 37–64. Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. München 1972. McKee, Jane: The Humanism of Romain Gary. Dublin 1978. í «The Symbolic Imagination of Romain Gary.» Maynooth Review 6, 2 (Mai 1982), 60–71. Maillot, Pierre: Le cinéma français. De Renoir à Godard. Paris 1988. Marquard, Odo: «Exile der Heiterkeit.» In: Wolfgang Preisendanz / Rainer Warning: Das Komische. Poetik und Hermeneutik. München 1976, 133–151. Marrone, Gaetana: The Gaze and the Labyrinth. The Cinema of Liliana Cavani. Princeton 2000. Mast, Gerald / Cohen, Marshall / Braudy, Leo: Film Theory and Criticism. New York 1992. Mehring, Margaret: The Screenplay. A Blend of Film Form and Content. London 1990. Michael, Robert: «A second look at Nuit et Brouillard.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 159 (auch in Cinéaste 13, 4 [1984], 36–37). Minhoff, Susanne: «‹Ein Symbol der menschlichen Würde.› Kunst und Kultur im KZ Ravensbrück.» In: Claus Füllberg-Stolberg (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern. BergenBelsen. Ravensbrück. Bremen 1994, 207–220. Mitscherlich, Margarethe / Mitscherlich, Alexander: Die Unfähigkeit zu trauern. München 1977. Moltmann, Günter: Der Dokumentarfilm Nacht und Nebel. Erläuterungen und Hinweise für seine Auswertung. Hamburg 1957. Monaco, James: Alain Resnais. London 1978. Müller, Hans-Jürgen: Shoah – ein Film. Erinnerungsarbeit in der Erwachsenenbildung mit dem Mittel der Kunst. Oldenburg 1991. Mulvey, Laura: Visual and Other Pleasures. London 1989. í «Visual Pleasure and Narrative Cinema.» In: Dies.: Visual and Other Pleasures. London 1989, 14–26. Naumann, Uwe: Zwischen Tränen und Gelächter. Satirische Faschismuskritik 1933 bis 1945. Köln 1983. Nelmes, Jill: An Introduction to Film Studies. New York 1996. Niederland, William G.: Folgen der Verfolgung: Das Überlebenden-Syndrom Seelenmord. Frankfurt a.M. 1980. Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990 (Orig.: Les lieux de mémoire. Paris 1984). Obergöker, Timo: Écritures du non-lieu. Topographies d’une impossible quête identitaire. Romain Gary, Patrick Modiano, Georges Perec. Frankfurt a.M. 2004. Onimus, Jean: «La Danse de Gengis Cohn.» La Table Ronde (Okt./Nov. 1967), 249–251.
346 Oschlies, Wolf: «Lagerszpracha. Soziolinguistische Bemerkungen zu KZ-Sprachkonventionen. Muttersprache.» Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache 46 (1986), 98–109. Paech, Joachim (Hg.): Methodenprobleme der Analyse verfilmter Literatur. Münster 1988. í Literatur und Film. Stuttgart 1989. í «Ent/setzte Erinnerung.» In: Sven Kramer (Hg.): Die Shoah im Bild. Augsburg 2003, 13–29. Panofsky, Erwin: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers und Stil und Medium im Film. Frankfurt a.M. 1993. Parrau, Alain: Ecrire les camps. Paris 1995. De Filippo, Pasquale: «Primo Levi, il testimone di quelli che non tornarono.» Gazzetta del mezzogiorno. 10 Dicembre 1977. Pépin, Jean-François: L’humour de l’exil dans les œuvres de Romain Gary et d’Isaac Bashevis Singer. Paris 2001. Pfefferkorn, Eli: «The Art of Survival: Romain Gary’s The Dance of Gengis Cohn.» Modern Language Studies 10/3 (1980), 76–87. Pinel, Vincent: «Nuit et Brouillard.» Institut des Hautes Etudes Cinématographiques. Fiche Filmographique (No 163). In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 142–146. Pollak, Michael: Die Grenzen des Sagbaren. Lebensgeschichten von KZ-Überlebenden als Augenzeugenberichte und als Identitätsarbeit. Frankfurt 1988. í L’expérience concentrationnaire. Essai sur le maintien de l’identité sociale. Paris 2000. Preisendanz, Wolfgang: «Zur Korrelation zwischen Satirischem und Komischem.» In: Ders.: Das Komische. Poetik und Hermeneutik (1976), 411–421. Rahe, Thomas: «Kultur im KZ. Musik, Literatur und Kunst in Bergen-Belsen.» In: Claus Füllberg-Stolberg (Hg.): Frauen in Konzentrationslagern. Bergen-Belsen. Ravensbrück. Bremen 1994, 193–206. Raskin, Richard: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987. Reiter, Andrea: «Auf dass sie entstiegen sind der Dunkelheit.» Literarische Bewältigung von KZ-Erfahrung. Wien 1995. Renz, Werner: «Von ‹da unten› kommt man nicht zurück.» Fritz Bauer Institut – Rezensionen, Newsletter Nr. 26 (Herbst 2004). Resnais, Alain: «Alain Resnais à la question.» In: Richard Raskin: Nuit et Brouillard by Alain Resnais. On the Making, Reception and Functions of a Major Documentary Film. Aarhus 1987, 135–136 (auch in Premier Plan 18 Octobre 1961, 36–38). Rond, Richard: Cinema: A critical dictionnary. Vol. 2. London 1980. Rosenfeld, Alvin H.: Ein Mund voll Schweigen. Literarische Reaktionen auf den Holocaust. Göttingen 2000 (Orig.: A double dying. Reflections on Holocaust literature. Indiana 1980). Rosenman, Anny Dayan: «Des cerfs-volants jaunes en forme d’étoiles: La judéité paradoxale de Romain Gary.» Les Temps Modernes 568 (Nov. 1993), 30–54. Roskies, David G.: Against the Apocalypse. Responses to Catastrophe in Modern Jewish Culture. Boston 1984. Roumette, Sylvain: «Alain Resnais à la question.» Premier plan 18 (Oktober 1961), 36–54. Rousset, David: L’univers concentrationnaire. Paris 1946. Rüdel, Reinhardt / Stadelhofer, Carmen (Hgg.): Interdisziplinäre Beiträge zu Zeit und Raum. Ulm 1999. Rüsen, Jörn: «Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art über Geschichte nachzudenken.» In: Ders.: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewusstseins, sich in der Zeit zurecht zu finden. Köln 1994, 211–234.
347 Ruszniewski-Dahan, Myriam: Romanciers de la Shoah. Si l’echo de leur voix faiblit ... Paris 1999. Schachtschabel, Gaby: Der Ambivalenzcharakter der Literaturverfilmung. Frankfurt a.M. 1984. Schruff, Helene: Deutsch-jüdische Identität in erzählender Prosa der «zweiten Generation.» Hildesheim 2000. Schumacher, Claude: Staging the Holocaust. The Shoa in drama and performance. Cambridge 1998. Schwarz, Daniel R.: Imagining the Holocaust. New York 1999 Seela, Torsten: Bücher und Bibliotheken in nationalsozialistischen Konzentrationslagern. Das gedruckte Wort im antifaschistischen Widerstand der Häftlinge. München 1992. Segler-Meßner, Silke: Archive der Erinnerung. Literarische Zeugnisse des Überlebens nach der Shoah in Frankreich. Köln 2005. Sicher, Efraim: Breaking crystal. Writing and memory after Auschwitz. Illinois 1998. Silverman, Kaja: The Acoustic Mirror: The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema. Indiana 1988. Simonis, Annette / Simonis, Linda (Hgg.): Zeitwahrnehmung und Zeitbewußtsein der Moderne. Bielefeld 2000. Sloterdijk, Peter: Sphären II: Globen. Frankfurt 2003. Sofsky, Wolfgang: Die Ordnung des Terrors: Das Konzentrationslager. Frankfurt a.M. 2002. Sontag, Susan: «Faszinierender Faschismus.» In: Dies.: Im Zeichen des Saturn. München 1981, 95–124 (Orig.: Under the Sign of Saturn. New York 1980). Stöhr, Martin (Hg.): Erinnern, nicht vergessen. Zugänge zum Holocaust. München 1979. Suleiman, Susan Robin: «The 1.5 Generation: Thinking about Child Survivors and the Holocaust.» American Imago 59.3 (2002), 277–295. Sungolowsky, Joseph: «La judéité dans l’œuvre de Romain Gary. De l’ambiguité à la transparence symbolique.» Etudes Littéraires. Colette De Luxe et l’écriture 26,1 (été 1993), 111–127. Symonowicz, Wanda / Kiedrzynska, Wanda (Hgg.): Über menschliches Maß. Opfer der Hölle Ravensbrück sprechen. Warschau 1970. Thatcher, Nicole: «Charlotte Delbo’s Voice: The conscious and the unconscious determinants of a woman writer.» L’esprit créateur XL, 2 (Summer 2000), 41–51. í A literary analysis of Charlotte Delbo’s concentration camp re-presentation. New York 2000. Thomas, François: L’atelier d’Alain Resnais. Paris 1989. Todorov, Tzvetan: Angesichts des Äußersten. München 1993 (Orig.: Face à l’extrême. Paris 1994). í Mémoire du mal. Tentation du bien. Enquête sur le siècle. Paris 2000. van der Knaap, Ewout : «Monument des Gedächtnisses – Der Beitrag von Nacht und Nebel zum Holocaust-Diskurs.» In: Waltraud «Wara» Wende (Hg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis. Stuttgart 2002, 67–75. Van Riper, Frank: «Muriel Hasbun and the ‹Layering of Memories.›» The Washington Post. Special Features. Visarius, Karsten: «Ist das Böse noch zu retten?» In: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik e.V. (Hg.): Die Ästhetik des Bösen im Film. Frankfurt am Main 1987, 3–7. von Bredow, Wilfried: Tückische Geschichte. Kollektive Erinnerung an den Holocaust. Stuttgart 1996. von Klinggräff, Fritz: «Die Stimme der Zeugen.» taz 29.11.03, 35.
348 Wagner, Frank (Hg.): Inszenierung der Macht. Ästhetische Faszination im Faschismus. Berlin 1987. Waller, Marguerite: «Signifying the Holocaust: Liliana Cavani’s Portiere di notte.» In: Laura Pietropaolo / Ada Testaferri (Hgg.): Feminisms in the Cinema. York 1995, 206–219. Ward, John: Alain Resnais or the Theme of Time. London 1968. Wardi, Dina: Siegel der Erinnerung. Das Trauma des Holocaust – Psychotherapie mit den Kindern der Überlebenden. Stuttgart 1997. Wardi, Charlotte: Le génocide dans la fiction romanesque. Paris 1986. Wende, Waltraud «Wara» (Hg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaust und kulturelles Gedächtnis. Stuttgart 2002. Welzer, Harald: Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus. Tübingen 1995. í Das kommunikative Gedächtnis. München 2002. White, Hayden: «Historical Emplotment and the Problem of Truth.» In: Saul Friedlander (Hg): Probing the Limits or Representation. Nazism and the «Final Solution.» Cambridge 1992, 37–53. Wieviorka, Annette: Auschwitz expliqué à ma fille. Paris 1999. Wilhelm, Kurt: Der Nouveau Roman. Ein Experiment der französischen Gegenwartsliteratur. Berlin 1969. Wormser, Olga / Michel, Henri (Hgg.): Tragédie de la déportation 1940–1945. Témoignages de survivants des camps de concentration allemands. Paris 1955. Yates, Frances A.: The Art of Memory. London 1984. Young, James Edward: Beschreiben des Holocaust. Frankfurt a.M. 1992 (Orig.: Writing and rewriting the Holocaust. Narrative and consequences of interpretation. Indiana 1990). Ziv, Avner: National Styles of Humor. Connecticut 1988.