Das neue Abenteuer 377
Slaw Chr. Karaslawow: Mondgeld
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Titel des bu...
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Das neue Abenteuer 377
Slaw Chr. Karaslawow: Mondgeld
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Titel des bulgarischen Originals: fYHHI rapI Ins Deutsche übertragen von Egon Hartmann Illustrationen von Günther Lück © by Slaw Chr. Karaslawow, 1970 Für die deutsche Übersetzung und die Illustrationen © Verlag Neues Leben, Berlin 1978 Lizenz Nr. 303 (305/70/78) LSV 7244 Umschlag: Günther Lück Typografie: Christel Ruppin Schrift: 10p Excelsior Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 642 684 0 DDR 0,25 M
1
Todor Hadschinikolow war still geworden, und Burunsus glaubte schon, es sei mit ihm zu Ende gegangen. Der Schäfer lauschte abermals, doch außer dem schläfrigen Atmen der Herde war nichts zu hören. Über die mondbeschienene Wiese huschte flink ein Wiesel und verschwand im Schatten des Pferchs. Es hatte sich erst jüngst hier eingefunden - auch das war nach Ansicht des Schäfers ein böses Vorzeichen. Burunsus zog seinen wollenen Umhang heran und setzte sich aufs Heu. Die ganze Senke schwamm im Mondlicht. Die Flanken der Berge schienen sich langsam, kaum wahrnehmbar zu bewegen. Die langen Schatten der Buchen lehnten an den Wänden der Hütte. Es roch nach Schwefel, nach Bock und nach noch etwas anderem, schwer Erklärbarem, das charakteristisch für Schafhürden ist. Der kahle Ochsenschädel grinste auf dem Flechtzaun, die kurzen Hörner waren gelb vom Gleißen des Mondes. Dieser trügerische Goldschimmer lag auch auf den runden Blättern des wilden Birnbaums gleich daneben, er schien verlockend und lebendig mit ihnen zu spielen. In Wahrheit waren nur die Blätter selbst lebendig. Vom leichten Abendwind berührt, erfüllten sie die Stille der Gebirgsnacht mit ihrem verhaltenen Raunen. Der Mondglanz trieb den Schlaf aus Burunsus' Augen. Er erinnerte ihn an die Goldmünzen. Eine ganze Handvoll Goldmünzen hatte ihm Hadschi Dimiter dagelassen . Er hatte ihn beiseite genommen, daß es die andern nicht sahen, und sie ihm gegeben . Freilich, geschenkt hatte er sie ihm nicht. Aber es war für so einen Dienst nicht wenig Geld. Übrigens war es auch kein kleiner Dienst . Bevor
die Heiducken über den steilen Hang davongezogen waren, hatte Hadschi Dimiter ihm seinen verwundeten Bruder anvertraut. Dessen Wunden hatten sich inzwischen entzündet, und der Schäfer hoffte, ihn bald unter einer schattigen Buche verscharren zu können. Drei Tage war es her, daß die Freischar über den Debel Djal zum Busludsha abgezogen war, und Todor hatte sich die ganze Zeit bewußtlos hin und her geworfen. Erst heute nacht war er ruhig geworden. Schlief er, oder war es mit ihm zu Ende gegangen? Burunsus wußte es nicht. Und er hatte es auch nicht eilig, sich Gewißheit zu verschaffen. Bis zum Morgen war noch reichlich Zeit. Nachts wagten die Türken nicht, durchs Gebirge zu streifen. Einen plötzlichen Überfall brauchte er also nicht zu befürchten. Tagsüber war es etwas anderes, da hatte der Schäfer Angst, aber der Glanz der Goldstücke war stärker als die Furcht und verdrängte sie aus seinem Herzen. Ihr Klang ließ ihn alles andere vergessen. Zum erstenmal sahen seine Augen so viel bares Geld auf einem Haufen. Damit konnte er sich ein neues Haus bauen, die Herde vergrößern, unter die ersten Leute im Dorf aufrükken. Und wenn es Gottes Wille war, würde er es auch tun . Anderenfalls konnte er, so wie es jetzt lief, auch an den Bettelstab kommen. Viele Schafe waren am Rotz eingegangen. Diese schreckliche Krankheit hatte in zwei Jahren die Hälfte seiner Herde weggerafft. Sie gehen und beschmaddern sich, der Schleim läuft ihnen aus der Nase, sie fangen an zu röcheln, dösen ein und krepieren. Da hilft kein Aderlaß und kein roter Faden, dem Tier durch die Ohren gezogen . Die Seuche hätte ihn völlig zugrunde gerichtet, wenn die Freischar nicht vorbeigekommen wäre. Das Geld kam
wie ein Geschenk des Himmels. Hadschi Dimiter hatte es ihm gegeben, damit er den Verwundeten pflegte. Dort oben auf dem Felsgrat hatten sie Rast gemacht, als er zu ihm sagte: "Man hat mir erzählt, daß du ein anständiger Mensch bist. Wir sind aufgebrochen, um für solche wie dich in den Tod zu gehen, deshalb möchte ich dich bitten, meinen Bruder aufzunehmen. Todor heißt er. Du sollst ihn gesund pflegen und dann in die Walachei weiterschicken. Sag ihm, er soll dort auf mich warten. Hier ist auch Geld. Wenn du ihn wieder auf die Beine bringst, gehört die Hälfte der Goldstücke dir, die andere Hälfte gibst du ihm, damit er nicht ohne etwas dasteht . Und hab Dank für deine Güte . Ich wünschte, mein Weg führte mich wieder einmal hier vorbei, damit wir uns wiedersehen." Auch die Hälfte des Geldes war nicht wenig. Der Schäfer nahm es mit zitternden Händen entgegen, gelobte, den Auftrag des Woiwoden auszuführen, aber das Gelöbnis hielt nur so lange vor, bis die Freischar im Dickicht verschwunden war und das Gold mit seinem Glanz ihm die Augen blendete. Eine ungeahnte Unrast packte Burunsus. Er sorgte sich nicht um den Verwundeten, sondern nur um das eingeknotete Geld. Den ganzen Tag trug er es mit sich herum, seine Hand kam nicht aus dem Wickelgurt heraus. Am ersten Tag vergaß er sogar, die Herde auszutreiben. Todor stellte er ein Schälchen Milch und etwas Brot hin, dann sah er nicht mehr nach ihm. Erst abends, als er gewahrte, wie der Junge stöhnte und sich auf dem Heu in der Hütte hin und her warf, entschloß er sich, ihm die Verbände abzunehmen, die Wunden mit Heiduckenkraut zu waschen und mit Honigbalsam zu bestreichen. Darin erschöpfte
sich seine Fürsorge. Wozu sollte er sich auch sorgen, er war überzeugt, daß die Tage des jungen Menschen gezählt waren. Nachdem der Schäfer die Wunden verbunden hatte, war Todor ein bißchen ruhiger geworden, doch Burunsus bemerkte diese kleine Veränderung nicht. Auch die leichte Röte fiel ihm nicht auf, die auf die eingefallenen Wangen des Verwundeten getreten war.
Todor ging es etwas besser, aber er litt immer noch sehr. Es wäre ein Wunder gewesen, wenn er durchhielte. Der Steilhang zum Leben war schon zu abschüssig, als daß der erschöpfte Heiduck noch einmal die grüne Höhe hätte erklimmen können. Dessen war der alte Schäfer ganz sicher. Und darum waren seine Gedanken mehr auf den Klang des Goldes gerichtet als auf das schwache Ächzen des Verwundeten. Wenn er ihm Brot und Milch hinstellte,
so nur, um sich nicht vor seinem Gewissen zu schämen, um dem Jungen ruhig in die nichts sehenden trüben Augen schauen zu können. Morgens schloß er die Hütte ab, trieb die Herde aus und vergaß den Verletzten. Nur die Angst gemahnte ihn hin und wieder an ihn, die Angst, daß irgendein Aga, ein türkischer Herr, zufällig auf seine Schafhürden stieße und den Jungen entdeckte. Um diese plötzliche Angst zu verscheuchen, zog er das eingeknotete Geld hervor. Bevor er es auf sein Taschentuch schüttete, horchte er lange, lief er lange kreuz und quer durch den Wald, und erst wenn er die Gewißheit hatte, daß er allein und mitten in seiner Herde war, faßte er sich ein Herz. Solange die Herde im Wald verstreut war, konnte er die Goldstücke in Ruhe betrachten. Die Schafe rannten beim geringsten Geräusch davon, ihre Glöckchen bimmelten Alarm und warnten vor der kleinsten Gefahr. Nicht zuletzt waren auch noch die Hunde da. Sie lagen vor ihm, die Schnauzen zwischen den Pfoten, jeden Augenblick bereit aufzuspringen. In solchen Augenblicken saß Burunsus im Türkensitz auf dem grünen Waldboden, und die Goldstücke begannen zwischen seinen Fingern zu brennen. Die Brauen senkten sich tief herab, sein Gesicht wurde spitz. Hinter seiner Stirn stiegen schwerfällige Gedanken in die Höhe, bemühten sich, ihn in eine Traumwelt zu ziehen, und diese Traumwelt war mit um die Augen schwarz geränderten Lämmern bevölkert, mit trächtigen Mutterschafen, mit bockigen Widdern, an deren Hälsen schwere Messingglocken baumelten. Dies war seine Welt, und er vermochte selbst in seinen Träumen nicht aus ihr herauszutreten. Bisweilen gingen Burunsus die Worte des Woiwoden durch das trübe Bewußtsein: Wir sind aufgebrochen, um
für solche wie dich zu kämpfen. Doch er schüttelte den zottigen Kopf, um sie nicht mehr zu hören. Gib du mir nur Geld, Geld spar dir deine schönen Worte. Hab ich Geld, verneigt sich auch der Türke vor mir, und unsere Tölpel ziehen die Mütze. Ich weiß, was die Welt bewegt . Und der Schäfer sammelte behutsam die runden Sonnen in sein handgewebtes Taschentuch und knotete sie fest ein. Mitunter gingen seine Gedanken durch wie eine hörnerlose Kuh in der Mittagsglut, und er rannte hinter ihnen her. Sie führten ihn wie zum Tort vors Haus des reichen Djanko Drjanowalija. Was der Alte für eine Mühle hatte! Eine Pracht! Wenn er die hätte - wer wäre glücklicher als er? Bis vorgestern hätte er nicht gewagt, auch nur daran zu denken, doch jetzt sah die Sache anders aus. Was bringt Geld nicht alles zuwege . Und dort war einer losgezogen, um zu sterben. Soll er sterben! Sein, Burunsus', Großvater und sein Vater hatten unter den Türken gelebt, Nachkommen und Vieh großgekriegt, da soll er sich jetzt hinsetzen und sich Gedanken um die Wegelagerer machen, denen ihr Kopf nichts wert ist? Das fehlte gerade noch! Burunsus hob den langen Schäferstab auf und blinzelte in die Sonne. Die Welt sah für ihn anders aus, selbst die Berge empfand er als sein eigen. Abends kehrte er jetzt immer spät heim und hatte es nicht eilig, einen Blick in die finstere Ecke der Hütte zu werfen. Wenn er Neugier verspürte, so nur in der Hoffnung, daß seine heimlichen Wünsche wahr geworden wären: daß der Junge dalag, nicht atmete, daß es mit ihm zu Ende war. Doch zu seiner großen Enttäuschung lebte Todor immer noch. Der Schäfer setzte sich zu ihm und
schwieg verbissen. Wirre, böse Gedanken befielen ihn. Sein Blick schlich zum Beil, das hinter der Tür lehnte, aber das Menschliche, das irgendwo tief in seiner wilden Seele verborgen saß, begehrte auf, und seine Augen wandten sich von der kalten Schneide ab. Dann kroch Burunsus schuldbewußt in sich zusammen, stand auf, und um sich selbst zu beweisen, daß er immer noch ein Christ und guter Mensch war, goß er in das halbleere Schüsselchen Milch nach oder verband dem Jungen mit Fetzen von einem alten Hemd die Wunden. An diesem Abend hatte der Schäfer Angst vor sich selbst und trat deshalb überhaupt nicht in die Hütte. Die ungewöhnliche Stille ließ ihn annehmen, daß Todor endlich sein ruheloses Heiduckenleben beendet hatte . Dieser Gedanke besänftigte ihn, und er schlief auf dem weichen Heuhaufen ein. Die Sonne und der Duft der Gräser weckten ihn. Ohne zu säumen, warf er den Umhang ab und lugte in die Hütte. Todor hatte sich an die Wand gelehnt, das Schüsselchen war leer. Burunsus konnte seine Überraschung nicht verbergen. "Hast dich ja mächtig schnell wieder aufgerappelt", sagte er und runzelte die rostbraunen Brauen. "Ich glaube, ich bin über den Berg." Todor lächelte kaum merklich. "Ich hatte dich schon abgeschrieben", gestand der Schäfer. Seine eintönige, ein bißchen hohle Stimme ließ den jungen Heiducken zusammenfahren. Er hatte das Gefühl, daß sich Burunsus nicht über die Besserung freute. Um diesen flüchtigen Verdacht nicht zur Gewißheit werden zu lassen, streckte Todor sein verletztes Bein aus und wechselte das Thema:
"Ich hab Hunger ." Der Schäfer brachte erneut eine Schüssel voll Milch und ein Stück Brot, stellte alles vor den Jungen hin und ging hinaus. Draußen empfing ihn grelle Sonne. Sie stach ihm in die Augen, die er zwinkernd zukeifen mußte. 2
Die Morgenstunden im Gebirge waren kühl, der Tau funkelte wie ausgestreute Glasperlen, aus dem Pferch drang träges Blöken. Während der letzten Tage wartete Todor immer, bis Burunsus die Herde hinausgelassen hatte, dann schleppte er sich zur verschlossenen Hüttentür und schaute lange durch die Ritzen. Von hier sah man einen Teil der Talsenke, den dichten Wald mit dem Bächlein und den bauchigen, mit dichtem Buchengestrüpp bedeckten Berg. Auf der einen Seite endete er in einer steilen Felswand, in der tiefe Risse zu erkennen waren. Sicherlich gab es da Höhlen, wo man für eine Weile unterkriechen konnte. Je mehr seine Kräfte wiederkehrten, desto mehr begann der junge Heiduck um sein Leben zu bangen. Die Furcht rührte vor allem von dem unsicheren Versteck her. Am Tag zuvor waren zwei Türken in dem Schafpferch aufgetaucht, hatten lange an die verriegelte Tür gepocht und gedroht, aber als sie sahen, daß niemand da war, hatten sie die zum Trocknen über die Umzäunung gehängten Schaffelle zusammengerafft und sich in den Wald davongemacht. Todor rechnete damit, daß sie wiederkommen würden, aber sie ließen sich nicht mehr blicken. Am Abend berichtete der junge Heiduck dem Schäfer
vom Erscheinen der Türken. Burunsus war ernsthaft erschrocken. Lange ging er in der Hütte auf und ab. Er beruhigte sich erst nach einer ganzen Weile, doch in seinem Blick lag nun ein kalter, grausamer Glanz, und dieser Glanz entging Todor nicht. Allem Anschein nach führte der Schäfer nichts Gutes im Schilde. Der Argwohn vertrieb dem Jungen den Schlaf, und er lag lange wach. Anfangs hoffte er noch, daß er sich umsonst ängstigte und der Schäfer nicht so böse sei, wie er meinte, aber das Mißtrauen ließ ihn trotzdem nicht zur Ruhe kommen. Und gut, daß er nicht eingeschlafen war . Mitten in der Nacht sah er, wie Burunsus in seiner Ecke aufstand und zu dem Beil schlich, das neben der Tür lehnte. Seine dunkle Gestalt verschmolz mit der schwarzen Finsternis der Hütte, doch Todors übernervös geschärftes Sehvermögen gewahrte jede seiner Bewegungen. Um die Absicht des Schäfers zu vereiteln, bewegte er sich. Der andere zuckte zusammen, lauschte einen Augenblick lang auf das Geräusch und zögerte. "Gehst du zur Herde?" fragte Todor, um seine eigenen Befürchtungen zu zerstreuen. Burunsus blieb wie festgenagelt stehen. Nachdem er sich gefaßt hatte, stieß er mühsam hervor: "Mir war, als hätte ich die Glocke vom Bock gehört ." Und er hastete hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten. Zurück kam er im Morgengrauen. Todor war gerade eingenickt wurde aber sofort hellwach. "War was?" "Irgendein Viehzeug hatte sich wahrscheinlich eingeschlichen", log Burunsus, schwieg dann eine Weile und sagte: "Du mußt aus der Hütte fort . Morgen abend kommt
mein Teilhaber wieder, der darf dich hier nicht sehen . Ich mach dir ein Lager in einer Höhle zurecht. Dort drüben in den Felsen . Wirst du gehen können?" "Ich will's versuchen ." "Halt dich heute abend bereit."
Todor starrte durch die Ritzen in der Tür und dachte über das seltsame Benehmen des Schäfers nach. Alles, was Burunsus für ihn tat, geschah irgendwie widerwillig: Seine Fürsorge war keine richtige Fürsorge, seine Rede nicht die Rede eines Freundes. Bloß, wenn er etwas Böses vorhatte, wieso hatte er es dann nicht getan, als er, Todor, mit dem Tode gerungen hatte? Da wäre es ganz leicht gewesen ein Hieb mit dem Beil und Schluß. Dann brauchte Todor jetzt nicht diese Angst auszustehen, und der Schäfer wäre seine Sorgen los. Was hinderte Burunsus eigentlich, ihn den Türken zu verraten? Das würde ihm Lob und Geld einbringen. Der Pascha in Tirnowo hatte sicherlich einen Preis auf jeden Heiduckenkopf ausgesetzt, der zu Hadschi Dimiters Freischar gehörte. Nein, hier stimmte etwas nicht. Entweder war er, Todor, allzu mißtrauisch geworden, oder der Schäfer führte etwas im Schilde, was er nicht erraten konnte . Ein kleiner roter Marienkäfer lenkte ihn von den Gedanken an Burunsus ab. Der Käfer kroch über den Ärmel des Dolmans [Schnürenjacke (türk.)] und sah auf der Silberborte wie ein Blutstropfen aus. Schon ein paarmal hatte der Schäfer dem Heiducken vorgeschlagen, seine Aufständischentracht gegen andere Kleidung zu vertauschen, aber Todor hatte jedesmal abgelehnt. Er fand sich nur bereit, ein Paar braune Pluderhosen anzuziehen. Den bortenbesetzten Dolman gegen ein anderes Kleidungsstück zu
wechseln, weigerte er sich. Wenn sie ihn fingen, würden sie ihn sowieso hängen, auch in anderer Kleidung. Dann wollte er schon lieber diese, die Freischärlertracht, anbehalten. Damit sie ihn an den Bruder und die Gefährten erinnerte. Er hatte noch einen anderen Grund, sich zu weigern. Als sie aufgebrochen waren, hatte er innen im Dolman ein paar Lire für Notzeiten eingenäht. Die Mutter hatte sie ihm beim Abschied gegeben. Todor wollte nicht, daß der Schäfer sie bemerkte, und versuchte daher vorsichtig, ihn von seiner Bitte abzubringen. "Mach dir deshalb keine Gedanken, Bai Petko", hatte der junge Mann gesagt, als sie das letztemal über seine Kleidung geredet hatten. "Ob mit Dolman oder ohne ihn: Sie schicken mich zu Allah, die Herren Türken, wenn sie mich erwischen." "Das ist schon so, junges Blut, aber für alle Fälle ." "Laß das meine Sorge sein ." Damit schien das Gespräch über die Kleidung abgeschlossen gewesen zu sein, doch Todor fing einige Male zufällig Burunsus' Blick auf, wie er seinen Dolman abtastete. Ob er etwas vermutet? überlegte er und gab sich selbst Antwort: Daß er so schlau ist, glaube ich nicht . Die Sonne schien jetzt direkt auf die Hüttentür. Durch die schmalen Ritzen und das Astloch oben in der Tür fielen Strahlen, und in ihrer Bahn tanzten Staubteilchen. Todor setzte das Marienkäferchen auf seine Handfläche und bat es in Gedanken, wegzufliegen. Als hätte der Marienkäfer seinen Wunsch erraten, klappte er die Deckelchen auf, und die dünnen Flügel trugen ihn durch die Lichtbahn des Strahls. Mit erstaunlicher Sicherheit schlüpfte er durch das Astloch und verschwand. Er flog davon, irgendwohin,
genauso, wie Todors Gefährten losgezogen waren. Zehn Tage waren es schon, daß er nichts mehr von ihnen wußte, daß er von seinem Bruder Dimiter Abschied genommen hatte. Er dachte daran, wie er im Gras gelegen, wie sein Bruder neben ihm gekniet und seine schlaffe Hand gehalten hatte. Auf dem Gesicht des Woiwoden waren Schmerz und Unschlüssigkeit zu lesen gewesen . Es schmerzte Hadschi Dimiter um Todor, und er schwankte immer noch, ob er seiner Bitte nachkommen und ihn in dem Schafpferch zurücklassen sollte. Todor wußte, daß sein Bruder dies nur im äußersten Notfall tun würde, aber dieser äußerste Notfall schien eingetreten zu sein. Steile Pfade erwarteten die Freischar, neue Kämpfe und Gefahren lagen auf ihrem unbekannten Weg. Dazu bedurfte es kräftiger Leute, und Todors Wunden waren schwer, sie bluteten und hatten zu riechen begonnen. "Laß mich hier, Bruder", hatte er gesagt, "laß mich hier . Sobald ich gesund bin, finde entweder ich euch, oder du suchst mich . Denk an die anderen, denk nicht an mich . Ich bin schon zur Hälfte hinüber ." "Red nicht so, Todor!" hatte ihn der Hadschi angefahren. Dabei hatte er den Kopf weggedreht, damit sein Bruder nicht sah, daß er weinte. "Red nicht solches Zeug . Du wirst wieder gesund und findest uns auf der Schlüsselblumenwiese . Ich weiß nur nicht, was ich Christaki sagen soll. Wenn er mit Guntscho zu uns stößt, werden sie nach dir fragen ." Er beugte sich herunter und küßte ihn zum Abschied. Dann nahm er den Schäfer beiseite und redete lange mit ihm. Todor sah das Geld, das er ihm gab, und hörte, wie er ihm auftrug, den Bruder gesund zu pflegen und dann in die Walachei zu schicken .
Als er dies hörte, schloß er die Augen. Also glaubte der Hadschi nicht an ein baldiges Wiedersehen im Balkan. Als die Freischar aufbrach, wandte Todor mühsam den Kopf und sah ihr nach. Die Jungen gingen mit gesenkten Köpfen, nur der Hadschi drehte sich oft um und winkte. Die Trennung war für beide nicht leicht . Wo mögen sie jetzt sein? fragte sich der junge Heiduck. Wie ein Vogel mit gebrochenem Flügel war er zurückgeblieben, er fühlte sich völlig verlassen und überflüssig. Selbstmitleid überwältigte ihn, langsam rollten Tränen über seine bleichen Wangen. Er wischte sie mit dem Handrücken ab und sah sich um. Nur gut, daß niemand in der Nähe war. Todor konnte sich nicht verzeihen, daß er geweint hatte . Was hatte er seit seiner Verwundung für Schmerzen ertragen, und nie hatte er geklagt. Besonders schlimm war es gewesen, als sie auf dem Felsen an der Straße nach Sewliewo festgesessen hatten. Den ganzen Tag hatten sie auf dem heißen Stein gelegen, den ganzen Tag wie Eidechsen in der Sonne gebraten, und der Schmerz hatte gebohrt und gebohrt. Todor dämmerte ein, und im Schlaf hörte er Wasser rauschen, viel Wasser . Die Erinnerung an das Wasser lenkte seine Gedanken auf das Schüsselchen. Todor nahm das Stückchen Brot und brockte es in die Milch. Als er den Holzlöffel in die leere Schüssel legte, merkte er, daß er immer noch Hunger hatte. Seit ein paar Tagen wurde er von seiner Ration nicht mehr satt. Er schleppte sich zu dem Fäßchen mit Weißkäse, hob den Holzdeckel ab und langte in die Salzbrühe. Der Käse war weich und fettig. Nachdem Todor gegessen hatte, kroch er zurück aufs Heu und streckte sich auf dem Rücken aus. Für alle Fälle tastete er nach der in den Kräutern verwühlten Pistole und
untersuchte sie. Bei der Trennung hatte Todor darum gebeten, daß sie ihm seine Flinte gegen die Pistole eintauschten. Sie wog nicht so schwer, und vielleicht kam sie ihm einmal zustatten. Er blickte in den Pistolenlauf und legte die Waffe neben sich. Jetzt konnte er ein Weilchen dösen, um etwas Schlaf nachzuholen, solange Burunsus noch nicht da war. Womöglich mußte er wieder die ganze Nacht wach bleiben. 3
Die Herde drängte sich am Bach. Auf seinen Schäferstab gestützt, stand Burunsus dabei und rauchte. Seine niedrige Stirn war noch niedriger geworden, und die halbzugekniffenen Äuglein blickten böse und mißtrauisch. Er war wütend, wütend auf sich selbst. Alles muß mit Bedacht angegangen werden, aber er war wie ein Blinder auf das Beil losgetappt. Zuerst hätte er feststellen müssen, ob der Junge schlief, um ihn dann erst überraschen zu können, aber er war einfach losgegangen . Schön dumm hätte er sich da über Todors Kopf gebeugt, und der hätte ihm wie nichts eins mit der Pistole draufgebrannt . Nur gut, daß der ihn angesprochen hatte, sonst . Burunsus lehnte sich auf den Stab, daß das Holz unter seinem großen, stämmigen Körper knackte. Hoffentlich hat der Junge seine heimlichen Absichten nicht erraten . Vielleicht hat er auch gar nichts gemerkt. Wenn er was mitgekriegt hätte, hätte er dann wohl am Morgen gefragt, was den Bock in Unruhe versetzt hatte? Dieser letzte Gedanke hellte Burunsus' Stirn auf. Sicherlich hatte Todor nichts gemerkt, und selbst wenn er was gemerkt hätte, würde er, Burunsus, sich von jetzt an
ihm gegenüber so benehmen, daß er jeden Verdacht zerstreute. Er konnte sich Zeit lassen. Hätte er ihn schon umgebracht und sein Bruder wäre wiedergekommen was hätte er ihm da antworten sollen? So eine Begegnung hatte Burunsus nicht vorgesehen, und bei der Aussicht, nach dem Mord dem Woiwoden in die Hände zu fallen, überlief es ihn kalt. Bekam ihn Hadschi Dimiter zu fassen, war ihm das rote Halsband sicher. So einer fackelt nicht lange. Der Schäfer ging zur nahen Quelle, blies das herabgefallene Buchenlaub weg und tauchte die Lippen in das kalte Wasser. Als er sich aufrichtete, hatte die Herde das Bächlein durchwatet und bewegte sich bergaufwärts. Er rief die Hunde und marschierte los. Er wollte schnell zur Höhle. Ein kaum sichtbarer Pfad führte zu ihr, vor ihrer dunklen Öffnung wuchs dichtes Buchengestrüpp und verbarg sie vor neugierigen Augen. Ein flinkes Wiesel sprang daraus hervor und verschwand im Wald. Burunsus zog sein schweres Messer aus dem Gurt, schnitt in dem Gebüsch Buchentriebe ab, band sie zusammen und machte einen Besen. Nachdem er den Höhlenboden gefegt hatte, stieg er hinunter, rupfte Gras und Farnkraut, legte damit die eine Ecke aus, und das Lager war fertig. Er überlegte, ob er den Jungen gleich jetzt herbringen sollte, tat es dann aber doch nicht. Statt dessen setzte er sich vor das Felsloch und schaute hinunter. Die Herde graste friedlich, ihre Glöckchen bimmelten gleichmäßig und einschläfernd. Die Sonne wärmte, und das Gras roch wie im Mai. Die Stille der Berge, der blaue Himmel und die gefiederten Wölkchen regten zum Träumen an. In dieser Welt munterer Bächlein, verspielter grüner Blätter, duftender Gräser war der Gedanke an den
Tod Lästerung, aber gleichsam der Natur zum Trotz war er hier Ausgangspunkt für die Träume eines Schäfers geworden. Burunsus stand auf dem steilen Grat, und seine Gedanken wanderte zu einer großen Herde: Zehn Knechte hatten sie hergetrieben, das Gedröhn der Glocken hallte, als zöge ein Heer des Sultans vorbei. In Burunsus' Bewußtsein verband sich alles Feierliche mit dem Klang von Viehglocken. Großtun ohne Glocken war seiner Ansicht nach nichts wert.
Als die Sonne sich neigte, stieg er den Pfad hinab. Die Hütte lag still im Schatten des Berggipfels. Abendkühle hatte die Talsenke ausgefüllt. Der Schäfer räusperte sich zur Ankündigung und stieß die Tür auf. Hinten raschelte das Heu. "Guten Abend." Burunsus grüßte zum erstenmal. "Gott zum Gruße, Bai Petko", erwiderte Todor.
Der Schäfer setzte sich neben ihn auf einen dreibeinigen Hocker und begann zu rauchen. "Wenn du wüßtest, was ich dir für ein Lager hergerichtet habe", sagte er und fügte, an der Zigarette ziehend, hinzu: "Bist du soweit?" "Ja . " "Dann wollen wir aufbrechen ." Todor kam kaum vom Fleck. Die Wunde im Bein schmerzte ihm wieder. Er hatte den nächtlichen Zwischenfall fast vergessen, stützte sich auf die Schulter des Schäfers, und sein Vertrauen kehrte allmählich wieder zurück. Burunsus schritt ganz behutsam aus, machte ihn auf Steine und Wurzeln aufmerksam, und seine Stimme klang sehr fürsorglich. Vielleicht hab ich mir gestern nur was eingebildet, dachte der junge Heiduck, vielleicht wollte Bai Petko wirklich nur schnell in die Hürde. Aber das Beil? meldete sich rasch eine innere Stimme zu Wort. Todor verwarf seinen Argwohn: In so einer Finsternis wird bei verdächtigen Geräuschen jeder nach dem Beil greifen. Nein, Burunsus ist schon ein guter Mensch, das Gebirge hat ihn nur ein bißchen wild und verschlossen gemacht. Wie viele Jahre mochte er allein mit der Herde verbracht haben? Schafe sind nicht derselbe Umgang wie Menschen. Sie setzten sich auf einen trockenen Baumstumpf, um auszuruhen. Todor streckte das verletzte Bein aus und sog mit vollen Zügen die Abendluft ein. "Hast du Kinder, Bai Petko?" "Ich hatte welche, jetzt hab ich keine mehr", log der Schäfer. "Wie das?" Todor zog die Brauen hoch. "Erst starb ihre Mutter, danach auch sie ."
Todor fragte nicht weiter, er wollte nicht in des Schäfers Schmerzen herumstochern, doch Burunsus fuhr von sich aus fort: "Am schlimmen Hals sind sie gestorben . Liefen blau an, bekamen keine Luft mehr - und aus . Jetzt bin ich ganz allein . Aber so kann man nicht leben . Da ist eine Witwe, die möchte mich nehmen, die Frau, aber sie hat mir zu viele Kinder . Hab keine Lust, fremde Mäuler zu füttern . Ich hab ein Auge auf eine aus Drjanowo geworfen, aber wer weiß, ob man sie mir geben wird. Ihr Vater ist ein Geizhals, denkt nur ans Geld, der sucht einen Reichen ." Zum erstenmal log Burunsus so, und er wunderte sich selbst über sein Geschick. Plötzlich kam ihm der Gedanke, den Jungen zusätzlich um dessen Anteil an den Goldstükken zu bitten, aber da er wußte, wie schwer Geld zu verdienen war, verstummte er gleich wieder. Wer wäre denn so verrückt zu sagen: Da hast du's .! Wenn er jetzt etwas davon erwähnte, würde Todor seinen Anteil ihm noch in dieser Nacht abverlangen . Nur nichts überhasten! Besser war's, wenn er an die Münzen herankäme, die der Heiduck in seinem Dolman versteckt hat . Dieser Gedanke bewog ihn, aufzustehen und Todor die Hand zu reichen. Je weiter der Pfad nach oben führte, desto steiler wurde er. Wenn Burunsus jetzt nicht herausbekam, wo der Junge sein übriges Geld verbarg, würde er es nie erfahren. Und er legte dem Verwundeten den Arm um die Taille und setzte langsam Fuß vor Fuß. Von Zeit zu Zeit stolperte der Schäfer absichtlich, er schoß vorwärts, und seine Hand glitt über Todors Körper. Als sie oben anlangten, wußte er, wo die Münzen eingenäht waren. Unter der linken Achsel hatte er etwas Hartes gespürt. Dem Abtasten nach waren es nicht viele, aber immerhin .
Der Mond ging auf, als sie die Höhle erreichten. Todor legte sich auf sein neues Lager, der Schäfer setzte sich daneben auf die Steine. Er hatte keine Lust, in die einsame Hütte zurückzukehren. So zündete er sich erneut eine Zigarette an und sagte: "Dieses Loch kennen nur wir zwei, mein Teilhaber und ich. Wir hatten vor, hier den Weißkäse anzusetzen, es war uns aber ein bißchen steil. Der Pfad ist schmal, und weit ist's auch. Ein ganzes Fäßchen auf dem Rücken raufzuschleppen ist nicht gerade leicht. Auch trieb sich ein Wiesel hier oben rum, und so ." "Es ist recht steil", pflichtete ihm Todor bei. "Vor allem für jemanden wie mich." "Jetzt ist dir der Aufstieg schwergefallen, aber in ein paar Tagen wirst du springen wie ein Zicklein", meinte der Schäfer. "Wenn ich dich so sehe, frage ich mich, warum du so jung alles hingegeben hast . Sicherlich stand dir die Armut bis zum Hals, daß du in die Berge gegangen bist ." "Armut?" Todor sah ihn an. "Mein Vater war ein vermögender Mann, Bai Petko. Wir besitzen einen Han [Herberge (türk.)], handeln auch mit Tuch. Aber das ist es nicht . So kann man nicht länger leben ." "Wie?" Der Schäfer hob die Brauen. "So wie das liebe Vieh . Jeder Türke kann unser Schlächter sein . Freiheit brauchen wir, Bai Petko, nicht Geld ." Das letzte Wort brachte Burunsus auf seinen Gedanken zurück, der ihm diesen Abend zum erstenmal gekommen war, aber er behielt ihn wieder für sich. "Freiheit, schön und gut, aber ohne Geld geht's nicht", sagte er tiefsinnig. Und während Todor sich bemühte, ihm darzulegen, was
Freiheit ist und daß Geld im Vergleich mit ihr nichts zählt,
rauchte Burunsus und verschloß eine Erkenntnis in sich:
Preise die Freiheit und versteck dein Geld im Wams . Das bewog ihn, noch vorsichtiger zu sein. 4
Burunsus' Teilhaber war ein etwas krummer alter Mann mit schütterem, angesengtem Bärtchen. Je müder seine Beine an den steilen Hängen wurden, desto unermüdlicher ging seine Zunge. Wenn er nicht mit den Schafen redete, schimpfte er mit dem Hund oder verwünschte sich selbst wegen etwas Fernem, längst Vergangenem. Seine Ankunft hellte Burunsus' Stirn ein wenig auf. Der Alte erzählte Neuigkeiten aus dem Dorf. Und er gewann allem die lustige Seite ab. Er hätte sich verspätet, weil er zu einem Begräbnis gehen mußte. Kolju Gega war gestorben, ein Gefährte seiner Jugendjahre. Man erzählte, er hätte sich unter den Nußbaum neben der Wiese des Popen gelegt, und wie er so dagelegen hätte, wäre er eingeschlafen. Der Pope wäre gerade auf der Wiese gewesen, hätte den schlafenden Schäfer gesehen und ihn wecken wollen, damit er sich in dem dichten Schatten nicht erkälte. Der Vater Pope beugt sich also mit seinem struppigen, rostbraunen Bart über ihn. Der andere wacht auf, jappt vor Überraschung und Schreck nach Luft und regt sich nicht mehr. Muß davor was Schreckliches geträumt haben . Er war hin. Wir haben ihn begraben. Seine Frau heult und verwünscht den Popen, der Pope geht vorneweg und singt. Ein Skandal, sage ich dir! Ein Riesenskandal! Na, um Kolju Gega weint wenigstens wer. Doch wer soll die andern da beklagen?"
"Wen?" fragte Burunsus. "Na die, die über den Debel Djal gezogen sind . Die Türken brüsten sich, sie hätten sie erledigt . Der Kopf des Woiwoden soll jetzt noch in Tirnowo vor dem Konak [Amtssitz eines hohen Beamten, auch Königspalast (türk.)] aufgespießt sein ." "Wer hat dir das gesagt?" "Unsere aus dem Dorf, mit eigenen Augen wollen sie's gesehen haben ." Mehr fragte Burunsus nicht. Abends stieg er in die Höhle zu Todor, brachte ihm ein Fäßchen Wasser, Brot und Speck und unterhielt sich lange mit dem Jungen. Er wollte herauskriegen, ob sein Bruder der alleinige Woiwode der Freischar war. Nach diesem Gespräch ließ er sich volle vier Tage nicht blicken. Er war schnell einmal nach Drjanowo hinübergegangen, um die Richtigkeit der Nachricht zu überprüfen. Die wohlhabenden Leute aus Drjanowo waren eigens in Tirnowo gewesen, um den Kopf des Hadschis zu sehen. Der Mann habe bis zum letzten gekämpft. Seine Leute hätten eine Menge Soldaten und bewaffnete türkische Zivilisten hingemacht. Man erzählte sogar, die Türken von diesseits und jenseits des Balkans hätten sich in die Haare gekriegt, wem der Kopf des Woiwoden zustehe. Die Einzelheiten interessierten Burunsus nicht. Nur als er hörte, der Bezirksgouverneur von Russe hätte einem der bewaffneten Zivilisten zehn Lire dafür auf die Hand gezählt, leuchteten seine Augen auf. Aus Drjanowo war Burunsus schon nach zwei Tagen zurück, konnte sich aber nicht entschließen, zur Höhle hinaufzugehen. Er fürchtete, der Junge würde sofort merken, was er ihm zugedacht hatte .
Erst am vierten Tag machte er sich in der Dämmerung auf den Weg nach oben. Das Beil hatte er wie ein Holzfäller über den Arm gehängt. Er wollte noch in dieser Nacht mit dem Heiducken ein Ende machen. Todor saß vor der Höhle. Er hatte so die Sonne untergehen sehen und den Abend erwartet. In letzter Zeit wurde er mit jedem Tag kräftiger. Noch ein halber Monat Ruhe, und er würde dem Schäfer und den Bergen Lebewohl sagen. Er wußte nur nicht, was er dann tun sollte. Ob er seine Gefährten suchen oder sich an den Auftrag seines Bruders Dimiter halten und in die Walachei gehen sollte. Doch diesmal mußte er wohl auf den Woiwoden hören. Damals hatte er es nicht getan, war in die vorderste Linie gegangen und verwundet worden. Es hatte ihn im letzten Gefecht erwischt, bevor sie die Berge verließen. Die Schritte des Schäfers ließen ihn aufhorchen. Das bekannte Hüsteln beruhigte ihn. Burunsus grüßte und setzte sich zu ihm. Die Brauen und die Dunkelheit verbargen die Augen des Schäfers. Das Beil rutschte von seinem Arm und klirrte auf die Steine. "Warst du Holz schlagen?" fragte Todor. "Das auch . Und dann ., ich dachte, dir das Ding dazulassen . Besser, es bleibt hier, vielleicht brauchst du's und . Der Junge hat eine Pistole, dachte ich mir, aber was ist schon eine Pistole . Und du darfst auch nicht knallen, das hört man . Wenn zu zufällig von jemandem überfallen wirst, ist das Beil was anderes . Da kannst du dem Kerl in aller Stille eins übern Schädel geben . Und sieh zu, daß du das Wiesel erschlägst, daß dir's nicht zwischen den Beinen rumläuft. Einmal zuschlagen - und Schluß ." Burunsus redete und ärgerte sich im stillen, daß er das
Beil so dumm hatte fallen lassen. Wieder mußte er sein Vorhaben verschieben. Übrigens war es vielleicht gut so. Der Junge würde ihm noch mehr vertrauen, das würde es ihm leichter machen. Kommt Zeit, kommt Rat. Er konnte warten.
Todor hörte sich die Erklärungen des Schäfers an, und die durch das Klirren des Eisens hervorgerufene Besorgnis schwand allmählich aus einem Herzen. Dieses Klirren hatte ihn an die Nacht erinnert, als sich Burunsus zu dem Beil hingestohlen hatte, wer weiß, in welcher Absicht . Jetzt verschmolz der Stahl mit dem kühlen Dämmer des Gebirgsabends. An den Worten des Schäfers war etwas Wahres - in Todors Lage war eine Pistole gar nichts. Der Einfall mit dem Beil war gut. Daß er's für alle Fälle zur Hand hatte . Todor streckte das verletzte Bein aus und musterte Burun-
sus' vornübergebeugte Gestalt. "Was Neues, Bai Petko?" "Nichts, immer dasselbe. Deine Leute sind in den Wäldern untergetaucht, und die Türken laufen sich die Hacken ab, um sie zu suchen ." "Und ist es irgendwo zu einem Gefecht gekommen?" "Nein, nirgends", log der Schäfer. "Gott sei Dank!" Todor atmete auf. Burunsus sagte nichts. Er verschwand in der Höhle, machte sich eine Weile im Dunkeln zu schaffen und kam mit dem Fäßchen auf der Schulter wieder heraus. "Will dir ein bißchen frisches Wasser bringen ." Seine Schritte verhallten in der Sommernacht. Noch als sie verstummt waren, rollten weiter kleine Steinchen den Pfad hinab und raschelten im dürren vorjährigen Laub. Todor war an diese Geräusche gewöhnt, und deshalb nahm er den Faden seiner vorherigen Gedanken wieder auf: Eine dumpfe Vorahnung hatte sich in seiner Brust eingenistet und ließ ihm keine Ruhe. Er wurde das Gefühl nicht los, daß der Freischar etwas Schlimmes zugestoßen war. Immerzu träumte er von schwarzen Hunden, die den Spuren des Hadschis folgten. Der Abendwind strich über die Wipfel der Buchen. Ihr leichtes Rauschen unterbrach die Gedanken des jungen Heiducken, er hob den Kopf und schaute ins Tal. Der Mond hing wie eine Kupfermünze über dem nahen Kamm. Wer weiß, wieso er so rot war wie niemals sonst. Eine zerfaserte Wolke versuchte ihn einzuhüllen, aber er entschlüpfte ihr immer wieder. Doch dann hatte sie ihn eingeholt. Ein rötlicher Schein schimmerte durch sie hindurch, er rann einen schmalen Wolkenriß entlang, als sickere Blut hindurch. Alles wiederholte sich in diesem
Leben . In so einem Riß, allerdings in der Erde, war das Blut von Alexander Wassilew versickert, gleich beim ersten Gefecht in den Weinbergen von Karaissen. Er war das erste Opfer der Freischar gewesen. Ein junger, hübscher Bursche, der jüngste von allen. Und das Blut wie vieler anderer hatten danach die durstigen Lippen der Erde gesucht. Der Mond würde wieder zum Vorschein kommen, sie aber kehrten nicht zurück. Der Schäfer war zu hören. Er machte kurze Schritte. Wieder rollten Steinchen durchs dürre Laub. Das Wasser gluckerte dumpf in dem Fäßchen. "Ich hab länger gebraucht, im Dunkeln ist der Pfad nicht zu sehen . Und die Wolke hat den Mond ganz zugedeckt. Das Wetter schlägt um ." "Es sieht nach Sturm aus ." "Das hat schon öfter getäuscht ." Sie schwiegen. Die Dunkelheit verbarg ihre Gesichter, ihre Gedanken. Sie trennten sich spät. 5
Im Buschwerk vor der Höhle hatte sich das Wiesel eingenistet. Morgens tauchte es kurz auf und verschwand dann für den ganzen Tag. Erst wenn die Schatten aus dem dunklen Maul der Höhle krochen, um die Senke mit Dämmerung zu füllen, erschien es wieder. Anfangs hatte Todor Angst gehabt vor diesem Tier. Von seinem Großvater hatte er unwahrscheinliche Geschichten über das Wesen der Wiesel gehört. Einmal hatte der Alte angeblich bei der Walkmühle ein Nest mit Jungen gefunden. Um sie nicht mit dem Fuhrwerk zu überfahren, nahm
er sie und legte sie am Wegrand unter einen Strauch. Nach einer Weile sah er, wie die Mutter nach ihnen suchte, beachtete sie aber nicht weiter. Bevor er sich an seine Arbeit machte, hängte er den Topf mit dem Essen unter einen Dachvorsprung, dann befaßte er sich mit dem Tuch. Als er zum Verschnaufen vor die Tür trat, fiel sein Blick auf den Topf. Er schwankte, obwohl es windstill war. Und hinter der Walkmühle verschwand ein rotbrauner Schatten. Der Alte beschloß nachzusehen, was los war. Zu seiner großen Überraschung erblickte er erneut das Wiesel. Es hockte sprungbereit hinter einem Baumstumpf. In seinen kalten Augen gewahrte er Haß. Das Wiesel begann ihn anzufauchen und zu spucken, aber der Alte ließ sich nicht erschrecken, sondern ging zu dem Strauch, unter den es die Jungen gelegt hatte. Das Wiesel lief ihm nach, und als es seine Kinder heil und unversehrt sah, beachtete es ihn nicht weiter. Erst als er sich zum Mittagessen hinsetzte, erschien es wieder. Bevor er das Brot aus dem Beutel holte, hakte der Alte den Topf mit dem Essen ab, und da geschah etwas Unerwartetes. Das Wiesel schoß hervor, stieß den Topf um und verschüttete die Suppe. Da begriff der Alte, daß das Wiesel hineingespuckt hatte. Auf diese Art gab es ihm zu verstehen, daß er nicht von der verunreinigten Suppe essen sollte. Inwiefern dies alles wahr war, wußte Todor nicht, aber er bewahrte seit frühester Kindheit einen mit Furcht gemischten Respekt vor den geschmeidigen Tierchen. Dieses hier erschien immer völlig geräuschlos, verharrte auf dem Pfad zur Höhle und starrte lange in die dunkle Öffnung. Der rotbraune Kopf schimmerte herausfordernd, das weiße Bäuchlein leuchtete, die flinken Augen nahmen anscheinend alles auf.
Anfangs verwirrte dieser prüfende Blick den jungen Heiducken, allmählich aber gewöhnte er sich daran, ihm zu begegnen . In den ersten Tagen fürchtete sich auch das Wiesel vor ihm, doch dann beachtete es ihn nicht mehr. Es lief ganz ruhig an ihm vorbei, verschwand im dunklen Bauch der Höhle, und wenn es wieder zum Vorschein kam, flatterte eine halbtote Fledermaus in seiner Schnauze. Die Fledermäuse hielten sich wahrscheinlich in den Spalten irgendwo ganz hinten verborgen. Sie flogen abends aus und kehrten vor dem Morgengrauen zurück. Schon einen Monat lebte der junge Heiduck so mit dem Wiesel zusammen. In dieser Zeit wurde er sichtbar kräftiger, und die Wunde verheilte. Trotzdem zögerte er, den Schäfer zu verlassen. Er hoffte, der Hadschi würde ihn aufsuchen . Burunsus hatte ihm erzählt, ein Kaufmann aus Gabrowo hätte ihn unlängst gesehen und der Bruder ließe ihm viele Grüße bestellen. Dies war die letzte Nachricht gewesen, und Todor wartete voll Ungeduld, daß der Schäfer wieder kam. Für gewöhnlich fand sich Burunsus spätabends ein. Er setzte sich im Dunkeln zu ihm, und seine Erzählungen drehten sich um die Freischar des Hadschis. Irgendwo hätten Gewehre geknallt, und der und der hätte ihn gesehen, so und so sehe er aus, dies und das ließe er ihm ausrichten. Todor lauschte mit offenem Mund diesen guten Nachrichten, durch seinen jungen Körper strömte neue Kraft und durch sein Herz die Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen. Die Märchen des Schäfers hatten den Argwohn längst eingeschläfert, der sich nach jenem abendlichen Vorfall mit dem Beil in dem Jungen zu regen begonnen hatte. Todor begann sogar, dem Wiesel zu zürnen, das sich nicht
mit Burunsus anfreunden konnte. Sowie es ihn erblickte, sträubte das Tierchen das Fell, und seine Augen füllten sich mit Wut. Seit ihrer ersten Begegnung lagen sie miteinander im Krieg. Burunsus hatte versucht, es mit dem Beil zu treffen, und seitdem konnten sie einander nicht ruhig ansehen. Die Blätter des Buchengebüsches welkten kaum merklich. Die kleinen ziegelroten Flecken flossen allmählich auseinander und fraßen die grüne Farbe auf. Die Abende wurden kälter, die Dunkelheit schien dicht und gesättigt wie die Farbe von Pluderhosen, die mit den Blättern des Gerbrindenbaums gefärbt worden sind. Wenn der Krystowtag kam, der siebenundzwanzigste September, an dem die Heiduckenscharen aufgelöst werden sollten, mußte Burunsus ein für allemal von Todor Abschied nehmen. Dann konnte er ihn nicht mehr länger an der Nase herumführen. Er mußte den Jungen ziehen lassen. Und er würde es tun, wenn das Geld nicht wäre. Der Gedanke an das Geld ließ dem Schäfer keine Ruhe. Todor sollte davongehen und es mitnehmen? Nein, das würde er nicht zulassen, mochte geschehen, was wollte. Aber wenn der Hadschi noch am Leben war? Nach dem Gerücht von seinem Tod war ein anderes aufgekommen, daß er lebte und durchs Gebirge streifte. Dieses Gerücht hielt den Schäfer zurück, sonst hätte er längst vollbracht, was er sich vorgenommen hatte. Es ärgerte ihn, daß er damals nicht bis Tirnowo gegangen war, um sich mit eigenen Augen von dem zu überzeugen, was die Leute aus Drjanowo erzählt hatten, aber wie hieß doch das Sprichwort: Der Verstand ist kurz, das Jahr ist lang. Soll man ihn sich für den Sommer oder für den Winter aufheben? Er hatte sich vorgenommen, nichts zu überstürzen, aber
die Zeit drängte. Diese verfärbten Blätter beunruhigten ihn ernsthaft. Entweder mußte er von seinen Träumen Abschied nehmen oder den Jungen . Und er beschloß, nicht länger zu zaudern. Trotzdem blieb er an diesem Abend wieder lange bei den Schafen. Er drückte sich im Pferch herum und beschäftigte sich noch einmal mit den Hunden, ehe er sich endlich auf den Weg zur Höhle machte. Todor wartete schon auf ihn und kam mit seiner Frage dem Gruß zuvor: "Ist etwas .?" "Jaaa", antwortete der Schäfer gedehnt, "jaaa ." "Was?" "Er hat Nachricht geschickt, daß ich dich hinaufbringen soll ." "Wohin?" "Hinauf. . auf den Kamm . Am Morgen wollen sie von dort nach Serbien hinüber . Ich soll dich hinbringen ." "Also dann . gehen wir." "Es hat noch Zeit", sagte der Schäfer. "Iß dich erst satt, und dann . Da, ich hab dir auch Brot für den Weg gebracht und Käse . Hier ." Todor nahm Brot und Käse entgegen. Er breitete das Tuch aus und begann zu essen. Die Dunkelheit hatte das Felsloch verstopft, aber er war daran gewöhnt. Er kaute das harte Brot, seine Gedanken eilten aber schon voraus über die Gebirgspfade, sie kletterten über Steilhänge, sie liefen, um zu seinem Bruder zu gelangen, der die Nachricht geschickt hatte, der irgendwo auf ihn wartete und den er beim Tau des Morgens in die Arme schließen würde. Dimiter hatte sicherlich auch die Mutter besucht -
wenn er in Sliwen gewesen war, mußte er an ihre Tür geklopft und die alte Frau beruhigt haben, die ihn damals mit einem Splitter vom Kreuze des Herrn als Glücksbringer hatte ziehen lassen. Sie war weiß geworden, vor Angst und Sorgen in der Einsamkeit schlohweiß geworden, die Einsamkeit hatte sie aufgezehrt . Vom Höhleneingang her war Getöse zu hören. Der Junge hob den Kopf. "He, Bai Petko, schon wieder Krieg?" "Ja . Dieses Wiesel bringt mich um den Verstand . Um ein Haar hätte ich's mit dem Beil erwischt." "Laß das Tierchen in Frieden ."
"Ja, Todor, mach ich, heute abend und immer!" Burunsus' Stimme klang heiser und erstickt, aber Todor hörte ihm nicht mehr zu. Seine Gedanken kehrten eilig dorthin zurück, zu der alten Frau, die die Einsamkeit aufgezehrt
hatte wie eine Wachskerze. Er trug ihr gegenüber auch ein wenig Schuld. Er war der jüngste der Brüder, statt sich um sie zu kümmern und für sie zu sorgen, war er losgezogen . Ein furchtbarer Schlag warf ihn plötzlich vornüber, die Schwärze der Nacht drang in ihn ein. Das runde Brot, das in seinem Schoß gelegen hatte, rollte den Pfad hinab, aber er sah es nicht mehr. Die Augen des Wiesels funkelten das blutige Beil des Schäfers an.