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›Moo‹ ist ein Campus-Roman mit der ganz speziellen Klientel einer Ackerbau- und Viehzucht-Universität im amerikanischen Mittelwesten, deren Zentrum kein Elfenbeinturm, sondern ein Stall ist, in welchem ein nettes charaktervolles Schwein namens Earl Butz seine schwere Schweinearbeit zum Wohl der Wissenschaft verrichtet – es frißt und frißt und frißt. Wichtige Protagonisten außer ihm sind ein Kanzler, der verzweifelt Sponsorengelder aufzutreiben sucht, seine allmächtige Sekretärin, ein Professor für »Creative Writing«, dessen literarische Vorlieben einem erfüllten Liebesleben im Wege stehen, ein Nutztierforscher, der von geklonten Kühen träumt, und die Erstsemester Diane, Mary, Keri und Sherri. Scharfsinnig, ironisch und sehr lustig, ist ›Moo‹ ein Abbild der Welt im kleinen. Da gibt es Dummköpfe und Weise, Wohltäter und Profitjäger, Karrieristen und Spezialisten auf den unterschiedlichsten Gebieten. Sie alle grübeln über unbescheidenen Plänen, die Welt zu verändern, vor allem aber brauchen sie Geld, denn die staatlichen Subventionsfonds trocknen aus. Ein texanischer Milliardär, der seinen Reichtum der Idee verdankt, Hühner mit den Resten ihrer Artgenossen, gut durchmischt mit Antibiotika, zu füttern, könnte die Rettung sein. Jane Smiley, 1949 in Los Angeles geboren, wuchs in St. Louis auf und studierte am Vassar College sowie an der Universität von Iowa, wo sie heute unterrichtet, Volkskunde und Skandinavische Sprachen. Für ihren Roman ›Tausend Morgen‹ wurde sie mit dem National Book Award und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Jane Smiley
Moo Roman
Aus dem Amerikanischen von Ulrike Becker und Klaus Varrelmann
Fischer Taschenbuch Verlag
Alle Schauplätze, Ereignisse und Figuren in diesem Roman sind frei erfunden oder werden ausschließlich im fiktiven Zusammenhang verwendet. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, tatsächlich existierenden Firmen, Institutionen, Organisationen oder wahren Begebenheiten wäre rein zufällig und nicht beabsichtigt.
13.-17.Tausend: November 1996 Veröffentlicht im Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main, November 1996 Lizenzausgabe mit Genehmigung der S. Fischer Verlags GmbH, Frankfurt am Main Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel ›Moo‹ bei Alfred A. Knopf, New York Copyright © Jane Smiley 1995 Deutsche Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1995 Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-596-13441-2
Für Phoebe, Lucy und Axel James in Liebe
Teil 1
1 Old Meats R EIN ÄUSSERLICH WAR das alte Schlachthaus, allgemein als »Old Meats« bekannt, unter dem Einfluß des Gartenbauinstituts zu einem fast idyllischen Ort geworden. Den Hang, der von Süden her auf das Gebäude zulief und auf dem früher nichts als grüner Rasen wuchs, schmückte jetzt eine in sanften Windungen verlaufende Staudenrabatte, ein kleiner, regelmäßig angelegter Garten, der von einer sorgfältig beschnittenen, duftenden Buchsbaumhecke eingefaßt war, ein ausladendes Beet mit einjährigen Pflanzen (die Ende August überwiegend in Gold, Orange und Gelb blühten) und, geschmackvoll von einem Bogen der Staudenrabatte eingerahmt, langgestreckte Versuchsbeete mit Zierpflanzen, die unauffällig das Klima auf die Probe stellen sollten. Direkt an der langen fensterlosen Südwand von Old Meats hatte irgendwann irgend jemand, ohne daß ein Antrag gestellt, Gelder bewilligt, die Genehmigung der Verwaltung oder der Universitätsgärtner eingeholt worden, ohne daß auch nur eine Hausmitteilung darüber hin und her gegangen wäre, eine Reihe Aprikosen- und Pfirsichbäume gepflanzt und dann im Spalier gezogen. Im Hochsommer, am Ende des Sommersemesters, sah man sie Früchte tragen – schwere schimmernde Aprikosen und große saftstrotzende Pfirsiche, die dann eines Tages verschwanden und weder in einem der Wohnheime noch im Haus einer Studentenverbindung an den Salat- oder Nachtisch-Büfetts wieder auftauchten. Sie wurden auch nicht auf einem der vom Gartenbauinstitut veranstalteten Basare angeboten, so wie Äpfel, Weihnachtsbäume und Setzlinge. Sie reiften heran 7
und verschwanden dann wieder, unbemerkt von den meisten, aber von geradezu legendärem Ruf bei den wenigen, die ein paar Früchte gestohlen hatten und nun eifrig die Saatkataloge studierten, in der Hoffnung, daß diese Sorten, die Moo-U.-Sorten, bald auf dem freien Markt erhältlich sein würden. Und obwohl der ganze Fußgängerverkehr zu den Rinderstallungen, zur Wirtschaftsakademie, dem chemischen Institut, der Stelle für Auslandsreisen und den Wohnheimen der graduierten Studenten daran vorbeiführte und das Gebäude, wie Generationen von Geographiestudenten im ersten Semester herausgefunden hatten, genau in der geographischen Mitte des Campus stand (es sei denn, man bezog das erst kürzlich errichtete Tiermedizinische Institut zwei Meilen südlich mit ein, was alle Berechnungen hinfällig machte), und obgleich es ein großer Kasten war, nahmen die meisten Menschen auf dem Campus Old Meats inzwischen kaum noch wahr. Das kam gewissen nicht namentlich genannten Dozenten vom Gartenbauinstitut und ihren studentischen Gefolgsleuten sehr gelegen, denn sie hatten erst in diesem Sommer die Staudenrabatte nach Osten hin verlängert, so daß sich die üppige Blütenpracht nun bis zu der nicht mehr benutzten Laderampe von Old Meats und zur Ames Road erstreckte. Das wär’s dann wohl, sagte der Vorsitzende des Instituts bei privaten Treffen mit seinen Dozenten, mit dem offiziell zugewiesenen Gartengelände, weit draußen bei der Gebäudeverwaltung und dem Busdepot, an einer Sackgasse, in die sich nur selten jemand verirrt. Guerillaaktionen, sagte er oft zu der Frau, die jeder, ihre gemeinsamen Kinder eingeschlossen, für seine Ehefrau hielt und die er 1969 in Chicago auf der SDS-Tagung kennengelernt hatte, waren ebenso vielgestaltig und wandelbar wie die Bedürfnisse der Menschen. 8
Des weiteren wurde Bob Carlson, Student im zweiten Studienjahr, von den Gartenbauern, obwohl er tagtäglich an ihnen vorbeikam, ebensowenig wahrgenommen wie Old Meats vom Rest der Campusbevölkerung. Keiner von denen, die dort oft gruben oder mulchten, bemerkte je, wie er die Tür neben der Laderampe aufschloß und hineinging, obgleich das ganz offen, direkt vor ihren Augen geschah, und er oft sogar große Säcke in das Gebäude trug. Für die Gartenbauer war Old Meats nur eine kleine Erhebung in der Mitte des Campus, wo sie Blumen und Rankengewächse anpflanzen konnten; für Bob bedeutete es einen bequemen Job als studentische Hilfskraft, gewissermaßen eine Fortsetzung seines Lebens auf der Farm, nur daß er sich, anstatt seinem Vater bei der Fütterung und Versorgung von tausend Säuen und ihrem Nachwuchs zu helfen, hier lediglich um ein einziges Schwein kümmerte, einen dänischen Landrasseneber namens Earl Butz. Direkt an Earls Koben hatte Bob mit Klebeband ein Schild befestigt, auf dem stand: »Je fetter, desto netter.« Jedesmal, wenn Bob das Schild sah, lachte er leise in sich hinein. Das war genau die Art von Humor, die sein Vater schätzte, auch wenn Bob sich natürlich verpflichtet hatte, niemandem, nicht einmal seinem Vater, von Earl zu erzählen, auch nicht von seinem Aufenthaltsort, einem nagelneuen, blitzsauberen, vollklimatisierten und gut belüfteten Raum, einem Fünf-Sterne-Koben sozusagen, und auch nicht von Earls Auftrag, der da lautete: fressen, fressen und nochmals fressen. Als Bob hereinkam, war Earl Butz gerade am Trog, aber er bemerkte Bob und begrüßte ihn, indem er kurz mit den Ohren und dem kleinen Schwanz wackelte. Earl Butz war ein guter Arbeiter, der sich seiner Aufgabe mit ebensoviel Ehrgeiz wie Freude widmete. Er hatte heute den hinteren Teil des Troges schon leergefressen und war jetzt eifrig 9
dabei, sich weiter nach vorne durchzuarbeiten, wobei er tiefe grunzende Laute ausstieß, die seine hervorragende Eignung für dieses Los bekräftigten. Earl Butz fraß jetzt seit achtzehn Monaten, denn genau so alt war er. Er war weiß, so weiß wie Frischkäse oder Zucker, und äußerst eigen. Bob hatte festgestellt, daß er jeden Tag in den Freßpausen mit Rüssel und Pfoten sauberes Stroh zu einem bequemen Lager in der Nähe des Troges zusammenschob, weit weg vom Toilettenbereich. Earl wußte auch ein gelegentliches Bad zu schätzen, und er ließ sich ohne weiteres die Hufe säubern. Er war ein umgängliches Schwein, und Bob hatte ihn gern. Zu Weihnachten hatte Bob ihm aus einem Katalog für Hundeartikel ein paar robuste rote Spielsachen gekauft (einen großen Ball, einen Reifen, den Bob an einem Deckenbalken aufgehängt hatte, und eine Decke). Das waren Earl Butz’ erste Spielsachen gewesen, und er spielte damit, wenn sein Arbeitsplan es ihm gestattete. Bob füllte seinen Trog, gab ihm frisches Wasser und kratzte ihm mit einem Stock den Rücken. Er versorgte Earl Butz schon seit dem letzten November. Er ging fünfmal am Tag zu ihm, und Dr. Bo Jones, Earls Besitzer, sagte, er sei der beste Pfleger, den sie je hatten. Für Bob war dieses Kompliment eine Bestätigung der Tatsache, daß er sich in Earls Gesellschaft wohler fühlte als in der Gesellschaft der Menschen, die er bisher an der Universität kennengelernt hatte. Es gab auch persönliche Gründe dafür, daß er seinem Vater nichts von Earl Butz erzählte, und die hatten damit zu tun, daß seine Familie sich bestimmt Sorgen machen würde, wenn sie wüßte, daß er in seinen Kursen zwar gut mitkam, und daß er auch genug aß und schlief, daß er aber unter den vierundzwanzigtausend Studenten auf dem Campus keine Freunde gefunden hatte und während der Zeit, die er auf Partys und in Kneipen hätte verbringen sollen, in 10
seinem Zimmer hockte und Briefe an seine Freunde aus der High School schrieb. Auf jeden Brief an einen Jungen kamen dabei fünf Briefe an Mädchen, weil Mädchen gerne Briefe bekamen und jedesmal zurückschrieben, während die Jungs, na ja, bei den Jungs wußte man nie genau, woran man war. Sie alle schienen, egal ob sie arbeiteten oder studierten, keine Party auszulassen und sich überhaupt großartig zu amüsieren. Aus diesem Grund, weil er genau wußte, daß es all seinen alten Freunden, wo immer sie waren, glänzend ging, war Bob schließlich den ganzen Sommer über auf dem Campus geblieben. Seinem Vater fehlte natürlich die Hilfe bei der Farmarbeit, aber über das Geld konnte er sich nicht beschweren – es war mehr, als Bob zu Hause im Supermarkt verdient hätte, und es deckte einen erheblichen Teil der Studiengebühren. Und Dr. Bo Jones wäre natürlich nie auf die Idee gekommen, daß Bob auch nur im Traum daran denken könnte, Earl Butz im Stich zu lassen. Wie schnell die beiden in seiner Vorstellung zu einer Einheit verschmolzen waren, hätte sogar ihn, Dr. Bo Jones, sehr erstaunt, wenn er darüber nachgedacht hätte. Aber er neigte in der Regel nicht zur Selbsterforschung. »Das Schwein«, erklärte er, »ist ein rätselhaftes Geschöpf, dessen Verhalten in freier Wildbahn noch kaum erforscht ist, denn es ist heimtückisch und schwer aufzuspüren. Man kriegt einfach keine Papiere, müssen Sie wissen, um nach Usbekistan zu reisen, selbst wenn man die Gelder dafür auftreiben könnte. Kein Schwein hat je seine natürliche Lebensdauer erreicht. Nie hat es ein altes Schwein gegeben. Das Schwein ist viel zu nützlich. Viel zu nützlich, müssen Sie wissen, um in seiner Eigenart begriffen zu werden. Was kann ich mit dem Schwein anfangen, wann kann ich es essen, wie kann ich aus dem Schwein den 11
größtmöglichen Nutzen ziehen, das steht auf ewig zwischen Mensch und Schwein. Wenn ich mal sterbe, wird man sagen, Dr. Bo Jones hat etwas über das Schwein herausgefunden.« Was Dr. Bo Jones über Earl Butz herauszufinden gedachte, war, wie dick er werden würde, wenn man ihn während seiner gesamten natürlichen Lebensdauer soviel fressen ließe, wie er wollte. Zu diesem Zweck wurde er mit Mais, Luzerne, Futtermehl, Weizen, Erdnüssen, Sojabohnen, Gerste, ein bißchen Sirup und Magermilchpulver gefüttert, und zwar nach einem Plan, den Dr. Bo Jones ausgearbeitet hatte und der in einer geheimen Datei mit dem Namen »16TONS.TXT« auf seinem Computer zu Hause gespeichert war. Eine Ergänzungsdatei, in die er spät abends die Werte von Earl Butz’ Gewichtskontrollen und andere Meßergebnisse eintrug, hieß »WHTYUGT.TXT«. Selbst Bob hatte noch nie einen Ausdruck der Dateien zu Gesicht bekommen. Er erhielt nur seine wöchentlichen Anweisungen und lieferte wöchentlich die Meßergebnisse ab. Für ihn war es nichts weiter als ein Job. Dr. Bo Jones hatte gewisse Ähnlichkeit mit einigen verschrobenen Farmern, die Bob aus seinem Heimatdorf kannte. Das fand Bob beruhigend. Er verbrachte etwa eine halbe Stunde bei Earl Butz. Um diese Tageszeit war Earl ziemlich beschäftigt. Frühmorgens war er eher zum Spielen aufgelegt. Abends um zehn, wenn Bob noch einmal zur Kontrolle vorbeikam, hatte Earl sich dann schon hingelegt und schlief tief und fest, den massigen Körper dicht an die orangefarbenen Metallstäbe seines Kobens gewälzt, als fände er das ganz besonders bequem. Abgesehen von Earls Stall war Old Meats dunkel und leer. Die Kurse für Schlachten und Fleischzerlegen, die früher dort stattgefunden hatten, waren schon vor langer 12
Zeit in das sechzig Kilometer entfernte Junior College verlegt worden, ebenso wie Hotelkochen, Friseurkunde, Kfz-Mechanik, Kosmetologie und alles andere, was Bobs Vater und seine Onkel für anständige Arbeit halten würden. Heute gab es hier keine Tiere mehr, die in geordneter Reihe in den Wartepferch marschierten, um von dort nacheinander zur Schlachtbank geführt zu werden. Der Kühlraum wirkte ohne die schwere Stahltür wie ein ganz normaler Raum. Die weiß emaillierten Demonstrationstische waren immer noch im Zementboden des Podiums auf der Stirnseite des Hörsaals festgeschraubt und neigten sich, mit einer dicken Staubschicht bedeckt, zum zentralen Abfluß hin. Aus den beiden Leitungen hinten an der Wand und auch aus den Hähnen über dem langen Emailwaschbecken lief kein Wasser mehr, und offensichtlich hatte man für diese Einrichtung an der Universität keine andere Verwendung gefunden. Es war gut möglich, daß sie einfach in keiner Datei des Universitätscomputers verzeichnet war und daher offiziell gar nicht mehr existierte. Als er in die Dämmerung hinaustrat, sah Bob, daß die Gartenbauer Feierabend gemacht hatten. Lange Schatten streckten sich über die Rasenflächen in das Zwielicht des warmen Augustabends hinein. Eine einzelne Frau kam gerade über den Parkplatz an der Ames Road. In ein paar Tagen würden sich dort auf den Wegen und Gehsteigen Tausende von Studenten und Hunderte von Lehrkräften tummeln. Obwohl Bob sich darauf freute, seine neuen Mitbewohner kennenzulernen, die er im Mai gefunden hatte, war ihm dieser Anblick hier vielleicht doch lieber. Die Frau hatte ihr dichtes, dunkles Haar zu einem losen Knoten aufgesteckt. Sie trug einen langen, fließenden, leuchtend orangegelben Rock, eine strahlend weiße ärmellose Bluse mit spitzem Kragen und orangefarbene, um die 13
schmalen Fesseln geschnürte Schuhe. Ihre sommerliche Bräune hob sich gegen das Weiß ihrer Bluse ab, und sie sah ganz anders aus als die T-Shirttragenden Studienanfängerinnen oder die stets perfekt dauergewellten Studentenverbindungsmädchen, die Bob bisher auf dem Campus gesehen hatte. Er fragte sich, ob ihr klar war, wie sie aussah, ob sie sich bewußt so zurechtgemacht hatte, oder ob sie, wie es ihm oft geschah, vom Ergebnis ihrer morgendlichen Kleiderauswahl überrascht wurde, wenn sie an einem Spiegel oder einer Fensterfront vorbeikam. Zumindest wäre es für sie eine angenehme Überraschung. Bob erging es normalerweise umgekehrt. Sie öffnete die Tür von Stillwater Hall und verschwand im Gebäude.
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2 Jedes Jahr im August über siebentausend neue Kunden STUDIENHANDBUCH, 1970-71: Das Studentenwohnheim Dubuque House ist ein Modellversuch, der Studienanfängern in einem außergewöhnlichen Beispiel gelungener Rassenintegration die Möglichkeit bietet, sich unter modernen Lebensbedingungen beim gemeinsamen Wohnen und Lernen gegenseitig kennenzulernen und wertvolle Erfahrungen zu sammeln. Weiße und afroamerikanische Studenten teilen sich in Dubuque House die Hausarbeit, stellen gemeinsam den Speiseplan auf und leben ohne die andernorts üblichen Hauseltern eigenverantwortlich zusammen. Vor allem aber lernen die Studenten einander zu achten und Gemeinsamkeiten zu entdecken, woraus dauerhafte Freundschaften erwachsen können. Weil die Studenten ihre Mahlzeiten selber zubereiten und die Zimmer und Gemeinschaftsräume in Ordnung halten, sieht sich die Collegeleitung in der Lage, einen fünfprozentigen Nachlaß auf die Studiengebühren und die Kosten für Unterbringung und Verpflegung zu gewähren. STUDIENHANDBUCH, 1989-90: In Dubuque House, das für eine Universität dieser Größe und dieses Typus einzigartig ist, haben Studienanfängerinnen die Möglichkeit, multikulturelle Vielfalt zu erfahren. Durch das Zusammenleben und die gemeinsame Verwaltung des Wohnheims werden Diskussionen angeregt und eigenverantwortliches Handeln gefördert – dabei macht die 15
Universitätsverwaltung keinerlei Vorschriften, außer den grundsätzlichen, wie sie in der allgemeinen Hausordnung der Universität festgelegt sind. Ursprünglich eine gepflegte und elegante Villa und älter als die Universität selbst, bietet Dubuque House den Studentinnen eine unvergleichlich zwanglose und behagliche Atmosphäre. Vor allem leben in diesem Wohnheim Frauen von unterschiedlicher ethnischer und sozialer Herkunft gleichberechtigt und vorurteilsfrei zusammen. Körperbehinderte Studentinnen werden feststellen, daß die Ausstattung von Dubuque House ihren besonderen Bedürfnissen gerecht wird. Weil die Studentinnen ihre Mahlzeiten selbst zubereiten und die Zimmer und Gemeinschaftsräume in Ordnung halten, und weil die Universität sich den Idealen der multikulturellen Vielfalt, die Dubuque House repräsentiert, besonders verpflichtet weiß, erhalten die Bewohnerinnen von Dubuque House eine zwanzigprozentige Ermäßigung auf die Studiengebühren und die Kosten für Unterkunft und Verpflegung. Die Wohnheimplätze werden nach Reihenfolge der Anmeldung vergeben. Trotz der ausführlichen Broschüre »Die Erstsemester stellen sich vor«, die allen Studenten am fünfzehnten Juli von der Universität zugeschickt worden war, wußte Mary Jackson über ihre Zimmergenossinnen und die übrigen Studentinnen in Dubuque House nicht mehr, als daß sie sich das Studium wahrscheinlich nicht hätten leisten können, wenn sie nicht in Dubuque House gewohnt hätten. Sie zumindest nicht. Die Ermäßigung senkte ihre Ausgaben sogar noch unter den Betrag, den sie für den Besuch der Universität von Illinois hätte aufbringen müssen, wo sie in den Genuß eines Landeskinder-Bonus gekommen wäre, und hier war 16
sie nun, saß zwischen ihren Koffern auf ihrem Bett, beobachtete, wie ihre Zimmergenossinnen ankamen, und lächelte jedesmal, wenn eines der Mädchen oder ein Elternteil in ihre Richtung schaute. Marys Bus aus Chicago war um sieben Uhr morgens angekommen, aber sie gab sich alle Mühe, die Spuren der langen Nacht zu verbergen – vier Stunden auf dem Busbahnhof, weil ihre Schwester sie dort auf dem Weg zur Arbeit abgesetzt hatte, und dann zehn Stunden im Bus neben einem ungewöhnlich kleinen, weißen Mann mit dunkelblauen Segeltuchschuhen, der die ganze Zeit mit offenen Augen nach oben starrte und seine Hände im Schoß gefaltet hielt und sich auch nicht rührte, als sie an einem Rastplatz eine Pause einlegten. Man hätte ihn für eine Leiche halten können, hätte er nicht gelegentlich gekichert, wobei er aber seine starre Haltung unverändert beibehielt. Gegen Mitternacht hatte Mary angefangen sich zu fragen, ob er womöglich eine Art Roboter oder künstlicher Mensch war, der heimlich per Bus von einem Labor zum anderen transportiert wurde, weil die Fahrkarte billiger war als der UPS-Express-Service. Mary tat so, als sei sie in das Studienhandbuch vertieft, beobachtete aber in Wirklichkeit Keri, Sherri und Diane, die geschäftig hin und her liefen, als wären sie in dem Zimmer schon zu Hause und würden sich schon lange kennen. Sherris Mutter betrachtete anscheinend alle drei unbewußt als ihre Töchter, denn sie nannte jede von ihnen »Schätzchen«. Zu Mary dagegen hatte sie gesagt: »Du mußt Mary sein. Aus Chicago. Hallo meine Liebe.« Sie hatten CD-Player und tragbare Fernseher – vielmehr, Sherri hatte einen – und außerdem beleuchtete Schminkspiegel. Ihre Eltern hatten sie hergebracht, auch wenn inzwischen nur noch die Mutter und der Vater von Sherri da waren. Die Mädchen waren besser gekleidet als ihre Eltern, 17
als ob allein schon die Immatrikulation ihren sozioökonomischen Status verbessert hätte. Marys Kleidung war ebenfalls neu; sie hatte dafür den ganzen Sommer in einem Drugstore gearbeitet und jedes Teil sorgfältig ausgewählt, aber ihr wurde auf den ersten Blick klar, daß ihre Sachen mit denen von Sherri, Keri und Diane nicht zu vergleichen waren – sie sahen zu städtisch und zu sehr nach Ostküste aus, so als hätte Mary die New Yorker Ausgaben von Mademoiselle und Glamour zu Rate gezogen, die anderen drei hingegen Sonderhefte für den Mittleren Westen. Ihre Schwester hatte ihr geraten, erst einkaufen zu gehen, wenn sie im College angekommen war, aber die Auslagen in den Schaufenstern von Marshall Field's waren zu verführerisch gewesen und das Abenteuer, die Hochbahn nach Norden zu nehmen und mit gefülltem Portemonnaie das sagenhafte Kaufhaus zu betreten, hatte sie unwiderstehlich gereizt. Jetzt war ihr Kleiderbudget erschöpft, und ihr würde nichts anderes übrigbleiben, als das zu tragen, was sie gekauft hatte. Sie schaute sich um. Wenigstens war das Zimmer schön. Es hatte Nischen, tiefe Wandschränke und große Fenster und bot Platz genug für vier – anders als die Zimmer in den neugebauten Wohnheimen. Die Universität wollte unbedingt Studenten in Dubuque House unterbringen, soviel war klar. Was Sherri betraf, deren sehnlichster Wunsch war, daß ihr Vater verschwinden und ihre Mutter mitnehmen würde, so hatte sie Marys Selbstdarstellung in der »Die Erstsemester stellen sich vor«-Broschüre Wort für Wort auswendig gelernt, genauso wie die Selbstdarstellungen von Keri und Diane und von jedem anderen Mädchen, das nett oder lustig aussah. Mary hatte geschrieben: »Ich bin das erste Mädchen aus meiner Familie, das aufs College geht, und das 18
einzige Mädchen aus meiner High-School-Klasse, das außerhalb von Illinois studiert. Ich war noch nie auf dem Land! Ich habe noch nie eine Kuh oder ein Schwein gesehen! Meine Hobbys sind Lesen, Bummeln gehen und Reisen planen. Ich würde gerne nach Afrika, Indien, Japan und Hawaii fahren. Ich habe vor, Statistik als Hauptfach zu belegen und Versicherungsstatistikerin zu werden. Ich freue mich sehr darauf, die anderen Mädchen in Dubuque House kennenzulernen.« Sherris eigene Selbstdarstellung lautete: »Ich bin in einer kleinen Gemeinde auf dem Land aufgewachsen. Ein Viertel meiner Klassenkameraden aus der High School wird auf dieselbe Universität gehen wie ich, deshalb habe ich mich für Dubuque House entschieden, denn hier werde ich wohl kaum jemanden von ihnen treffen. Im Laufe des letzten Jahres habe ich 62 Pfund abgenommen. Ich verfüge über ein fotografisches Gedächtnis, und ich hatte auf der High School einen Notendurchschnitt von 1,0. Ich hoffe, als Hauptfach Frühkindliche Entwicklung belegen zu können. Ich habe zwölf jüngere Geschwister, daher werde ich mich mit drei anderen in einem Zimmer ziemlich einsam fühlen. Ich habe nicht vor, nach meiner Heirat eigene Kinder zu bekommen.« Sherri schaute gelegentlich zu Mary hinüber, die sich auf ihrem Bett ausgestreckt hatte und im Vorlesungsverzeichnis blätterte, und sie überlegte, was für Geheimnisse Mary wohl hatte. Sherri selbst hatte drei. Eines davon war, daß sie erst gestern abend ihrem Freund Darryl erlaubt hatte, mit ihr bis zum Äußersten zu gehen, und anschließend trotzdem mit ihm Schluß gemacht hatte. Das zweite war, daß sie den neuen rosafarbenen Pullover ihrer Schwester Patty geklaut hatte, was im günstigsten Fall erst Mitte Oktober entdeckt werden würde. Das dritte war, daß Mary ihr Angst machte, was ihr gar nicht gefiel. Sie gab Darryl die Schuld daran, dessen 19
Ansichten über die meisten Dinge man beim besten Willen nicht als aufgeklärt bezeichnen konnte und der kaum zu der Sorte Jungs gehörte, mit der die neue, dünne Sherri sich in Zukunft einlassen wollte. Ihr schwebte eher ein ausländischer Freund vor. Mary hatte tatsächlich ein Geheimnis. Es bestand darin, daß sie niedergeschlagen und überhaupt nicht hoffnungsfroh war. Ihr Selbstvertrauen und ihre Zuversicht, die sie dazu bewogen hatten, hierherzukommen, schienen inzwischen auf einer Reihe von Fehleinschätzungen zu beruhen, und die Argumente, die gegen andere Hochschulen gesprochen hatten, auch gegen das Junior College in Chicago, das sie für unter ihrer Würde hielt, wirkten inzwischen fadenscheinig und weit hergeholt. Sie hielt das Vorlesungsverzeichnis etwas höher, damit die anderen sie nicht sehen konnten. Dianes Geheimnis, das hinter einer energischen und geradezu elektrisierenden Freundlichkeit verborgen war, bestand darin, daß sie sobald wie möglich hier verschwinden und bei einer Studentinnenverbindung einziehen würde. Auch das Auspacken und Einräumen ihrer Sachen, das sie mit der ihr eigenen Effizienz vollführte, sollte nur verschleiern, wie bald sie dieses Zimmer, dieses Wohnheim und diese Welt unsicherer kleiner Mädchen ohne Stilempfinden verlassen würde. In einer Studentinnenverbindung, insbesondere bei Phi Delta Pi oder vielleicht Delta Delta Delta, konnte man seinen Umgangsformen den letzten Schliff geben und lernen, wie man mit Fremden, mit Männern und mit Frauen, vor allem aber mit Männern, sprach, wie man sich ihnen gegenüber mit der richtigen Mischung aus Begeisterung, Höflichkeit und Koketterie benahm, wie man würdevoll ein Tablett herumreichte und souverän Anweisungen erteilte. In den Studentinnenverbindungen waren die Methoden, den Männern zu gefallen, ohne ihnen 20
zu Willen zu sein, Teil einer überlieferten Weisheit, die man mit jeder Pore seiner Haut aufsaugte wie Oil of Olaz. Kurzum, die richtige Studentinnenverbindung war der erste Schritt zu einer erfolgreichen Karriere als Managerin. Natürlich würde sie auch Seminare besuchen und sich konkretes Wissen aneignen, aber darüber verfügten schließlich viele Frauen und kamen dennoch nicht über mittlere Positionen hinaus. Mit einem solchen Schicksal würde Diane sich nicht zufriedengeben. Dianes Mutter, die in den sechziger Jahren auf ein fortschrittliches College im Staate New York gegangen war, hatte ihre Zustimmung zu Dianes Immatrikulation nur unter der Bedingung gegeben, daß sie in Dubuque House wohnen würde, und vielleicht würde es eine Weile dauern, bis Diane das Geld beisammen hatte, um in das Haus einer Studentinnenverbindung zu ziehen. Aber sie wußte ganz genau, daß ihre Mutter, die im Hauptfach Methoden des Bürgerprotestes und Subversives politisches Handeln studiert hatte, bemerkenswert empfänglich für die Kunst der Überredung und Einschüchterung war, die Diane in Zukunft so überaus nutzbringend würde anwenden können und die die Mädchen in den Studentinnenverbindungen meisterhaft beherrschten. In der Zwischenzeit, während sie über all dies nachdachte, plauderte sie freundlich mit den anderen Mädchen und mit Mrs. Johnson, die erkannte, daß diese Diane ordentlich und kontaktfreudig, aber im Gegensatz zu den meisten Mädchen heutzutage weder aufdringlich noch ichbezogen war, und sie dachte, was für eine nette Freundin Diane doch für Sherri sein würde. Sherri war überzeugt, Diane würde sie binnen einer Woche in den Wahnsinn treiben. Sie benahm sich genau wie ihre Schwester Patty, die Mom ständig in den Arsch kroch, so daß einem ganz übel wurde, doch Mom konnte nicht genug davon kriegen, und man fragte sich wirklich, ob die 21
Frau noch ganz richtig im Kopf war. Sherri mußte jedoch zugeben, daß Diane einen tollen Haarschnitt hatte, an den Seiten ganz kurz und oben lang und wellig. Sherri verwandte jeden Tag viel Zeit auf ihre Frisur und hatte sich vorgenommen, sobald wie möglich ihre Haare zu färben, entweder heute abend oder morgen früh, denn sie hatte im Radio einen Werbespot gehört, in dem es hieß, Farbe sei in den neunziger Jahren ein wichtiger Bestandteil einer guten Frisur, und es mochte ja sein, daß ihre Mutter noch nie ihre grauen Haare getönt hatte und tatsächlich so aussah, als hätte sie dreizehn Kinder zur Welt gebracht, aber für sie als achtzehnjährige Studentin galten andere Maßstäbe, und wenn das nicht stimmte, warum hatte sie dann überhaupt 62 Pfund abgenommen? Was Keri betraf, so stufte Mrs. Johnson sie als eins von den sehr hübschen, aber geistlosen Mädchen ein, die nur deshalb aufs College gingen, weil sie mit ihrer Zeit nichts Besseres anzufangen wußten. Allerdings war es sehr lieb von ihr, das Bett zu nehmen, das niemand wollte, obwohl sie als zweite angekommen war, und sie versuchte, wenn auch erfolglos, mit dem schwarzen Mädchen ins Gespräch zu kommen. Sie gehörte zu den Mädchen, denen ihre Zukunft ins Gesicht geschrieben stand. Sie erinnerte Mrs. Johnson an viele Frauen, die sie kannte, Frauen mit erfolgreichen Ehemännern und Kindern, die ihnen auf der Nase herumtanzten, Frauen, die niemals die Stimme erhoben, aber ständig die Hände über dem Kopf zusammenschlugen. Sie trieben sich im Country Club herum und wählten die Demokraten und hatten offenbar kein anderes Lebensziel, als eine gute Figur zu behalten. Es war sicher nicht ihre Schuld, daß sie so waren – die Gesellschaft ließ sie gewähren, anstatt sie von Zeit zu Zeit ordentlich durchzuschütteln –, aber in den Augen von Mrs. Johnson waren sie zu nichts 22
nütze. Sherri dagegen hatte, wenn sie auch oft träge und mißmutig war und ständig mit ihren Schwestern stritt, zumindest einigen Grips, und wenn sie es schaffen würde, ihr Gewicht zu halten, ein Punkt, den Mrs. Johnson vor dem Abschied NICHT erwähnen würde, denn Sherri hatte recht, daß sie das nichts anginge, also, wenn sie es schaffen würde, ihr Gewicht zu halten und die richtigen Freunde zu finden, würde sie im College gut zurechtkommen, obwohl sie ganz bestimmt keine Intellektuelle war, und vielleicht würde sie zu sich selber finden, eine Entdeckung, von der Mrs. Johnson inständig hoffte, daß sie möglichst bald stattfinden würde, zum Beispiel vor den Thanksgiving-Ferien, denn noch so ein Sommer wie dieser würde ihr den Rest geben. Inzwischen hatte Sherris Vater ihre Pinnwand aufgehängt, und sie steckte daran nach und nach die Fotos ihrer riesigen Geschwisterschar fest, von der sechzehnjährigen Patty bis hin zur achtzehn Monate alten Lizzie, und während sie dies tat, senkte sich Schweigen über die sechs Menschen im Zimmer herab. Die Familie sieht nett aus, dachte Keri. Auf Mary wirkten die Bilder wie zwölf in verschiedenen Altersstufen aufgenommene Fotos derselben weißen, blauäugigen Person mit dunkelblonden Haaren. Diane fragte sich, ob Mrs. Johnson je begriffen hatte, wodurch sie eigentlich schwanger wurde. Mrs. Johnson dachte an nichts Besonderes, außer daran, daß es Zeit wurde, nach Hause zu fahren, und Mr. Johnson gab sich große Mühe, nicht vor all diesen Frauen in Tränen auszubrechen, aber mal ehrlich, seine älteste Tochter im College zurückzulassen, einem College so groß wie eine Kleinstadt, sie einfach so zurückzulassen – er ging hinaus auf den Flur. 23
»Lauf doch nicht einfach weg, Hal. Sherri, geh und gib deinem Dad einen Abschiedskuß, er nimmt sich das alles sehr zu Herzen. Und dann kommst du wieder her und gibst mir den Pullover von Patty, denn ich weiß genau, daß du ihn genommen hast.« Keri war überzeugt, ihr Geheimnis sei sicher. Niemand von ihrer High School war auf diese Universität gegangen – sie waren alle in Iowa geblieben. Daher konnte sie einerseits allen erzählen, daß sie aus West Des Moines stammte, und andererseits brauchte sie ihre einjährige und gerade beendete Regentschaft als die Schweinefleischkönigin von Warren County mit keinem Wort zu erwähnen.
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3 Der Mittlere Westen TIMOTHY MONAHAN, Dozent für Anglistik und kreatives Schreiben, war noch nie früher als zwölf Stunden vor Beginn seiner ersten Lehrveranstaltung auf den Campus zurückgekehrt, und häufig hatte er noch knapper kalkuliert und war erst zwei Stunden oder sogar erst zehn Minuten vorher angekommen. Sein Beruf als Schriftsteller gab ihm seiner Meinung nach das Recht zu solch exzentrischem Verhalten, und obwohl er gar nicht so exzentrisch war, wie er sich gewünscht hätte und wie gewisse Schriftsteller, die er kannte, es tatsächlich waren, so konnte doch, was nicht war, noch werden, wie er seinen Studenten häufig zu deren immerwährendem Nutzen verkündete. Dieses Jahr überschnitten sich der Beginn des Semesters und Breadloaf zufällig um drei Tage, so daß er sehr knapp kalkulieren mußte, damit seine Studenten in Breadloaf noch möglichst viel von ihm hatten und er trotzdem seine Universitätsstudenten auf den richtigen Weg bringen konnte, denn er traute keinem seiner Kollegen zu, das in seinem Sinne zu machen. Er hatte den ganzen Sommer an der Ostküste verbracht und war am Tag zuvor gegen vier Uhr nachmittags in Vermont aufgebrochen. Er war mit Bleifuß gefahren und hatte nur kurz vor Sonnenaufgang eine zweistündige Pause eingelegt, um ein kurzes Schläfchen zu halten. Dieses Schläfchen hatte allerdings einen ziemlich unheimlichen Verlauf genommen. Er war auf einen Parkplatz an der Autobahn gefahren, als noch »die finstere Nacht der Seele« herrschte, wie Fitzgerald es genannt hatte, und hatte 25
sich, so gut es ging, auf den Schalensitzen seines tadellos gepflegten 79iger Saab ausgestreckt. Er war plötzlich und voller Unbehagen aufgewacht und hatte ein Gefühl von Bedrängnis verspürt. Als er den Kopf hob, erblickte er zuerst zwei Wagen, die so geparkt waren, daß die Fahrerfenster direkt gegenüber lagen. Ein Päckchen wurde hinübergereicht. Tim ging in Deckung. Die Wagen rasten in entgegengesetzte Richtungen davon. Ein Drogendeal, na schön, aber das war nicht das Unheimliche. Das Unheimliche war etwas Pink-Graues, das sich wie ein Laken, wie eine Schüssel über ihm wölbte und auf allen Seiten bis ganz zum Boden reichte. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was das war, und sein Herz pochte laut, bis ihm klar wurde, daß es der Himmel war, der auf das flache Land traf. Er setzte sich auf. Er war wieder im Mittleren Westen. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und notierte seine Empfindung, um sie später in einem Buch zu verwenden. Er ließ den Motor an, aber sein Herz pochte immer noch. Alles in allem war der Sommer gut verlaufen, denn er hatte ihn von einer Schriftstellertagung zur nächsten geführt. Die bekanntesten waren Breadloaf, Wesleyan und Warren Wilson gewesen, aber es stand ihm nicht zu, die anderen geringzuschätzen, hatten sie doch seit dem zehnten Juni – mit nur einer Woche Unterbrechung im Haus seiner Mutter auf Cape Cod – für seinen Lebensunterhalt gesorgt. Wesleyan war die Exposition gewesen, gefolgt von Maine, Nantucket, Virginia Beach, Sea Island, Asheville, Camden und Vassar, die eine Art Spannungsbogen bildeten. Die Breadloaf-Tagung, an der er zum erstenmal teilnahm, war die Klimax gewesen, und er hatte Grund zu der Annahme, daß er sowohl bei den Studenten als auch bei den Organisatoren einen recht guten Eindruck hinterlassen hatte. Er hatte 26
genug, aber nicht zuviel getrunken, er hatte genug, aber nicht zuviel geflirtet, er hatte eine diskrete Affäre gehabt, und zwar mit einer Partnerin fast in seinem Alter, die fast den gleichen Rang in der Breadloaf-Hierarchie einnahm wie er. Diskretion gehörte zwar nicht gerade zu den hervorstechenden Eigenschaften eines Exzentrikers, aber andererseits galt in Breadloaf Diskretion als exzentrisch. Die Atmosphäre dort hatte deutlich belebend auf ihn gewirkt. Und sie unterschied sich deutlich von der Atmosphäre an der ehrwürdigen agronomisch-technischen Hochschuleinrichtung, wohin das Schicksal ihn verschlagen hatte. Es war nicht Yale (wo Hersey gewesen war), nicht Princeton (wo sich Oates immer noch aufhielt), nicht die Universität von Michigan (Delbanco) und auch nicht die von Wisconsin (wo Lorrie Moore in den Genuß der legendären Vergnügungen von Madison kam), oder Duke (Reynolds Price) oder Iowa (Frank Conroy). Dennoch, ein guter Job, ein beneidenswerter Job, der aus zwei Kursen pro Semester und nur wenig Arbeit in Ausschüssen bestand. Auf die Stellenanzeige, auf die er sich vor acht Jahren beworben hatte, hatten sich 213 andere Interessenten erfolglos beworben. Zweiundsiebzig dieser Bewerbungen stammten von Schriftstellern, die, genau wie er damals, ein Buch veröffentlicht hatten, und zwölf von Schriftstellern mit zwei Büchern. Dieser Zahlen war er sich ständig bewußt, er erwähnte sie nie, aber vergaß sie auch nie. Sie in Gedanken aufzusagen, war sein Zauberspruch, der ihn vor der Sünde des Neides bewahrte. Er hielt vor dem Haus an, das er acht Jahre zuvor gemietet hatte, einem in der Nähe des Campus gelegenen 4Zimmer-Bungalow mit einem gewissen Flair, trug einen Koffer hinein, nahm eine Dusche, zog frische Sachen an und trat vor die Tür. Eine Stunde noch bis zum Beginn des 27
Kurses, Zeit genug also, um zu Fuß zu gehen. Er durchquerte das Gebäude der Studentenschaft und las das Angebot für das Mittagessen: Gegrilltes Rindfleisch m. Sauce auf Brötchen, überbackene Kartoffeln m. Schinken, Schweinelenden-Sandw. und für Vegetarier Gedünstetes Gemüse m. Reis. Weit und breit keine Muscheln, kein Tintenfisch, keine Entenküken oder fritierten Krebse. Je näher er Stillwater Hall kam, desto größer wurde die Anzahl der Leute, die er kannte und begrüßte, und insgesamt traf er unterwegs zehn bis zwölf Freunde, zwei Frauen, mit denen er mal was gehabt, und eine Frau, mit der er zwei Jahre lang zusammengelebt hatte. Kurzum, er war hier zu Hause. Das konnte er akzeptieren. Er holte seinen Unterrichtsplan, leerte sein Postfach und suchte die an ihn gerichteten Briefe zwischen all den Flugblättern, Hausmitteilungen und Broschüren heraus. Er begrüßte den Institutsleiter freundlich, aber nicht zu devot. Er flirtete mit den Sekretärinnen, die, wie er wußte, alle eine Schwäche für ihn hatten. Er verabredete sich zum Mittagessen mit der Frau, mit der er zwei Jahre lang zusammengelebt hatte. Sie hatte kurz nach ihm das Sekretariat betreten. Sein Verhältnis zu ihr war immer noch sehr gut, zumal sie inzwischen einen Bodenkundler geheiratet hatte, und ihrem Aussehen nach zu urteilen war sie etwa im dritten Monat schwanger (er hatte es auf den ersten Blick gesehen, aber er würde sie nicht darauf ansprechen, sondern warten, bis sie darauf zu sprechen kam). Schließlich schlenderte er die Treppe hinunter zu seinem Unterrichtsraum im Souterrain und den sechzehn unbekannten Menschen, die er im Laufe des Semesters besser kennenlernen würde, als ihm lieb war. 28
Hier war es, wo er etwas erblickte, das er in Stillwater Hall noch nie gesehen hatte – eine wunderschöne, dunkelhaarige junge Frau von einer natürlichen, exotischen Anmut, die Frauen aus dem Mittleren Westen niemals besaßen. Sie befestigte gerade eine Spange in ihrem Haar, dann griff sie nach ihrer Aktentasche, woraus er schloß, daß sie zum Lehrkörper gehörte, denn Studenten hatten nie Aktentaschen, und dann legte sie die Hand auf den Türgriff des Unterrichtsraums direkt neben seinem Unterrichtsraum, und dann fragte er: »Suchen Sie etwas?«, und sie sagte: »Nein«, und er sagte: »Wie schade«, und sie warf ihm einen belustigten Blick zu, und er dachte, daß sich bei fünfundvierzig Unterrichtsstunden im Semester noch fünfundvierzig Gelegenheiten boten, einen guten Eindruck zu machen, man also nichts überstürzen mußte, daß es aber ein guter Anfang wäre, wenn sie seine Studenten durch die Wand lachen hörte, also ging er hinein und erzählte einen Witz, und die Studenten lachten, und Cecelia Sanchez hörte es und mußte lächeln. Cecelia Sanchez, Assistenzprofessorin am Fremdspracheninstitut und Lektorin für Spanisch, fand den Mittleren Westen ebenfalls unheimlich, aber es war nicht bloß das flache Land, das sie aus der Fassung brachte. An jedem Tag der vergangenen zwei Wochen hätte sie einen anderen Grund für ihr Befremden nennen können. Im Augenblick fand sie es unheimlich, daß die einundzwanzig Studenten, die in Fünferreihen vor ihr saßen, allesamt blond waren, und nicht ein einziger von ihnen brünett. Letzte Nacht hatte die Luftfeuchtigkeit schier Beklemmungen bei ihr ausgelöst. Einige Nächte zuvor hatte sie das Gefühl gehabt, die Bäume vor den Fenstern ihrer Maisonettewohnung würden sie erdrücken. Manchmal kam es ihr so vor, als ob jeder Mensch in jedem Zimmer, das sie betrat, fest entschlossen 29
war, mucksmäuschenstill zu sein. In den fast menschenleeren Straßen war weder Geschrei noch Musik zu hören. In den Geschäften, in die sie ging, bewegten sich die Kunden geräuschlos wie auf Gummirädern, Verkäufer tauchten neben ihr auf, lächelten vielsagend, murmelten etwas und schienen am liebsten gleich wieder verschwinden zu wollen. Niemand war daran interessiert, die Kunden zum Kauf zu überreden oder sie wenigstens zu beraten. Es wurde erwartet, daß man seine Entscheidung in einer Art geheimnisvollem Vakuum traf. Schon das Lächeln der Verkäufer verursachte Cecelia Unbehagen, weil es keinerlei Folgen hatte, und die Unterschiede zwischen den verschiedenen Nuancen des Lächelns waren so fein, daß Cecelia sie kaum wahrzunehmen vermochte. In den Wohnungen ihrer Nachbarn herrschte Totenstille; das Summen der Klimaanlagen ersetzte die Geräusche von Gesprächen und Streitereien. An Tankstellen hörte sie zu, wie Männern mit Sätzen, die aus einem einzigen Wort bestanden, ganze Unterhaltungen bestritten. Dies war ihr zweiter Kurs heute. In ihrem Fortgeschrittenenkurs um acht Uhr morgens hatten die Studenten schweigend und kerzengerade vor ihr gesessen und keine Miene verzogen. Sie meldeten sich und warteten, bis sie aufgerufen wurden. Die Mädchen waren kaum geschminkt, und das einzige Paar pflaumenfarben angemalter Lippen – die Konturen waren wirklich perfekt nachgezogen –, das einem stämmigen Mädchen in der ersten Reihe gehörte, hatte die Signalwirkung eines Leuchtfeuers. Cecelia hatte die Augen nicht davon abwenden können und war sich einmal mehr sonderbar vorgekommen. Obwohl sie erst sechsundzwanzig war, hatte Cecelia sich niemals für provinziell gehalten – ihre Eltern stammten aus Costa Rica und aus Mexico. Sie hatte in L.A. und in San 30
Francisco gelebt. Sie war mit einem Anglo verheiratet gewesen und hatte einige Zeit bei dessen Familie in Oregon verbracht, und diese Weißen hatten viel geredet und sich oft gestritten. Sie hatte sogar Leute gekannt, die ursprünglich aus dem Mittleren Westen stammten – wenn sie jetzt darüber nachdachte, waren es vor allem diese Leute gewesen, die erstaunt mit den Augen gerollt hatten, wenn sie erwähnte, wo ihr neuer Arbeitsplatz war. Aber sie war derartig erleichtert gewesen, eine gute Stelle zu bekommen, eine Stelle, wie es sie früher gegeben hatte, vor der Zeit der schlecht bezahlten Gelegenheitsjobs ohne Sozialleistungen, daß sie dem keine Bedeutung beigemessen hatte. Eine Stelle weit weg von Frank, ihrem Ex-Mann, und auch von ihren Eltern, die mit ihrer Scheidung noch weniger einverstanden waren als damals mit ihrer Heirat. Und was konnte an einem Ort, wo die Mieten niedrig waren und es keine Kriminalität gab, schon auszusetzen sein? Und es gab ja auch nicht direkt etwas auszusetzen, es war bloß ein bißchen zu ruhig und unwirklich. Abgesehen von der Luftfeuchtigkeit (die ihrem Haar eine herrliche Elastizität verlieh), glich dieser Ort einer unterkühlten, durch und durch weißen Vorstellung vom Paradies, wo das Motto Bleib-mirvom-Leibe-dann-kommen-wir-schon-miteinander-aus galt und wo, wie sie im Sekretariat ihres Instituts mitbekommen hatte, jemand eine Brieftasche auf der Straße gefunden und zur Polizei gebracht hatte, die daraufhin bei dem Besitzer anrief und sagte, ein Streifenwagen würde sie vorbeibringen, weil die Beamten im Moment sowieso nichts Besseres zu tun hätten. Es stimmte schon, niemand hatte bisher ein persönliches Interesse an ihr gezeigt, und auf den Partys, zu denen sie gegangen war, hatten sich selbst gute Freunde nur über das Wetter, ihre Gärten und die Sport-Mannschaften unterhalten, mit einer Ausführlichkeit, die Cecelia sprach31
los gemacht hatte, aber diese Harmlosigkeit war vielleicht kein schlechter Tausch gegen die Sorgen und Reibereien zu Hause. Sie las die Teilnehmerliste vor. Die Studenten gaben, genau wie in dem Kurs am Vormittag, ihre Anwesenheit durch eine leichte Änderung der Körperhaltung oder das Heben eines Fingers oder des Kinns zu erkennen. Sie stellte fest, daß alle da waren. Aber es war ihr unverständlich, wie sie gleichzeitig die Liste lesen und die Gesten der Studenten wahrnehmen sollte. Dann hatte sie eine Idee. Sie sagte: »Ich möchte Sie bitten, sich während der ersten zwei Wochen in alphabetischer Reihenfolge zu setzen. Von hier vorne an.« Sie machte sich auf die unausweichliche Schlaumeierbemerkung: »Was bedeutet alphabetisch« gefaßt – eine dieser grinsend vorgetragenen, halbcharmanten Wollen-doch-mal-sehen-woran-wir-sind-Bemerkungen, wie sie in den letzten drei Jahren mindestens von einem Studenten pro Kurs gemacht wurden –, aber sie blieb aus, Cecelia wies auf das vorderste Pult zu ihrer Linken und las die Liste dann erneut vor. Bis auf ein Mädchen nahmen all die blonden Studenten geräuschlos ihre Plätze ein. Cecelia sagte: »Ja bitte?« »Ich bin eine Nachzüglerin«, sagte das übriggebliebene Mädchen. »Im Verwaltungsbüro hat man mir gesagt, ich soll Sie um Erlaubnis fragen. Weil der Kurs eigentlich voll ist.« »Ihr Name?« »Lydia Henderson«, sagte Lydias melodische und volltönende Stimme. »Das geht in Ordnung.« Cecelia wies dem Mädchen einen Platz zu. »Hola«, sagte sie dann. Das Semester hatte begonnen. 32
4 Binsenweisheiten DIE B ÜRGER des Bundesstaates wußten ganz genau, daß die Universität über diverse Geldtöpfe verfügte und daß es in jedem Institut hochbezahlte Fakultätsmitglieder gab, die früher Marxismus gelehrt hatten und inzwischen etwas lehrten, das sie Dekonstruktivismus nannten, was aber nichts anderes war als versteckter Marxismus, der in einer Zeit nationaler Bedrängnis sofort wieder zum Vorschein kommen würde. Die politisch Verantwortlichen wußten ganz genau, daß der Lehrkörper als Ganzes fest entschlossen war, das moralische und wirtschaftliche Wohlergehen des Bundesstaates zu untergraben, und daß die Unterstützung einer großen und landesweit bekannten Universität durch öffentliche Gelder dem Nähren einer Schlange am eigenen Busen gleichkam. Die Mitglieder des Lehrkörpers wußten ganz genau, daß die Regierung des Bundesstaates schon vor etwa zwanzig Jahren das Interesse an Bildungsfragen verloren hatte und daß es nur noch eine Frage der Zeit war, bis sämtliche Unterrichtsveranstaltungen als Vorlesungen abgehalten, sämtliche Prüfungen im computergerechten MultipleChoice-Verfahren abgenommen, sämtliche Abonnements von Fachzeitschriften für die Bibliothek gekündigt und die Zeit für Forschungsarbeit voll und ganz von Ausschußsitzungen und Papierkrieg mit der Verwaltung in Anspruch genommen werden würde. Von den fähigsten Mitgliedern des Lehrkörpers wußte man, daß sie sich nach anderen Arbeitsmöglichkeiten umsahen, und es war auch bekannt, 33
daß die zuständigen Behörden dieser Tatsache gleichgültig gegenüberstanden. Alle Sekretärinnen auf dem Campus wußten ganz genau, daß die Mitglieder des Lehrkörpers und die Verwaltungsangestellten durchaus in der Lage waren, die Fotokopierer und sogar die Vervielfältigungsmaschinen zu bedienen. Sie waren bloß zu faul dazu. Die Mitglieder des Reinigungspersonals wußten ganz genau, daß es, wollte man seinen Glauben an die Menschheit nicht verlieren, ratsam war, niemals, nicht einmal versehentlich, in irgendeinen Papierkorb zu schauen, sondern mit einer einzigen Handbewegung die Müllbeutel herauszuziehen, zuzudrehen und sofort wegzuwerfen, ohne dabei von Ungewöhnlichkeiten des Gewichts, der Form oder des Geruchs die geringste Notiz zu nehmen. Die Studenten wußten ganz genau, daß die Wohnheime, genau wie Flüge, immer überbucht waren und die provisorischen Unterkünfte auf Fluren und in Gemeinschaftsräumen eher systembedingt als zufällig waren. Die Studenten wußten ebenfalls, daß es im letzten Jahr auf dem Campus drei Axtmorde gegeben hatte, daß die Namen der Opfer entweder mit »A« oder »M« anfingen, daß der Mörder noch frei herumlief und daß die Universität alles tat, um diese Verbrechen zu vertuschen. Die Studenten wußten ganz genau, daß das Chili, das es jeden Donnerstag in den Wohnheimen zum Mittagessen gab, sämtliche Fleischreste der Vorwoche, einschließlich der Reste von den Tellern, enthielt. Einige Studenten fanden es dennoch schmackhaft. Ein weiterer Glaubenssatz der studentischen Weltanschauung besagte, daß in Kneipen freitags und samstags ab Mitternacht keine Personalausweise mehr kontrolliert wurden. Dies traf in der Tat zu. Alle Universitätsangehörigen wußten ganz genau, daß 34
gewisse, nicht näher bezeichnete Gruppen unerhörte pekuniäre Vorteile genossen, die im krassen Gegensatz zu den pekuniären Nachteilen der eigenen Gruppe standen, und würden die Gelder gerecht, das heißt nach Verdienst, verteilt, müßten sich einige Leute ausnahmsweise einmal ein paar Gedanken machen. I VAR HARSTAD, der Kanzler, wußte all dies und vieles mehr. Nur seine Sekretärin, Mrs. Walker, die er »Mrs. Walker« nannte, während sie ihn mit »Ivar« ansprach, war schon länger an der Universität und wußte noch mehr. Ivar wußte, daß Mrs. Walker ihm nur dann erzählen würde, was sie wußte, wenn er die richtige Frage stellte, und daher verbrachte er einen gewissen Teil seiner Zeit damit, darüber nachzudenken, welche Fragen er Mrs. Walker stellen und wie er sie am besten formulieren sollte. Angeblich entsprach das dem Verhalten von Ehepartnern, aber er verfügte in dieser Hinsicht nicht über Wissen aus erster Hand. Er lebte mit seinem Zwillingsbruder Nils, dem Dekan für landwirtschaftlichen Technologietransfer, im besten Viertel der Stadt in einem großen Backsteinhaus mit zwei Wintergärten. Er wußte ganz genau, daß er und Nils respektlos »die nordischen Albino-Zwillinge« genannt wurden, aber Mrs. Walker hatte ihm versichert, daß dieser Spitzname nicht mehr sehr verbreitet war, denn Jacob Grunwald, der ihn aus Wut über seine erfolglosen Versuche, Ivar den Posten streitig zu machen, den dieser jetzt schon seit vierzehn Jahren innehatte, in Umlauf gebracht hatte, war längst weggegangen und inzwischen an dem verdienten Herzinfarkt gestorben. An erster Stelle in der persönlichen Datenbank des Kanzlers befanden sich im Augenblick die Ergebnisse der morgendlichen Konferenz mit dem Universitätspräsidenten 35
und dessen engstem Kreis von Beratern aus der Verwaltung. Es waren keine erfreulichen Ergebnisse, sie wurden dem erklärten Ziel der Universität, auf allen Gebieten erstklassig zu sein, nicht gerecht, und nicht einmal dem heimlichen Ziel des Kanzlers, auf den meisten Gebieten solides Mittelmaß zu sein. Kürzungen, zusätzlich zu bereits vorgenommenen Einsparungen, lagen in der Luft, obwohl noch niemand dieses Wort hatte fallen lassen. Das Wort »Kürzungen« war ein Terminus technicus und eine Zauberformel, und man sprach es erst dann aus, wenn die Posten im Etat tatsächlich gestrichen wurden. Es war ein Terminus technicus insofern, als man so lange von »Umschichtung der Mittel« und der »Neuverteilung von Fördergeldern« sprechen konnte, bis man jemandem erklären mußte, daß sein Assistent gefeuert und sein neues Laborgerät nicht bestellt werden würde, und es war eine Zauberformel, weil es die Vergangenheit augenblicklich in eine außergewöhnliche, goldene Epoche verwandelte, in den wunderbaren Zustand, der vor allen Kürzungen geherrscht hatte. Bei der Konferenz war Ivar vor allem aufgefallen, wie der Präsident und dessen rechte und linke Hand, Jack Parker, Spezialist für Bundesmittel, und Bob Brown, eine menschliche Rechenmaschine, ein Stück vom Tisch abgerückt waren, als das Wort »Kürzungen« in der Diskussion auftauchte. Dem Verhalten der drei war zu entnehmen, daß die tatsächlichen Einsparungen nicht auf ihrer, sondern auf einer niedrigeren Ebene vorgenommen werden würden – sie legten eine distanzierte Bedauerlich-aber-notwendig-ichmuß-mich-gleich-nach-der-Konferenz-auf-den-Weg-zumFlughafen-machen-Haltung an den Tag. Vielleicht war das der Grund, weshalb die tatsächliche Höhe der Kürzungen im Etat sie anscheinend völlig kaltgelassen hatte – die drei beschäftigten sich nur mit Zahlen. Wie viele Fotokopierer 36
oder Assistenzprofessoren man sich für diese Zahlen leisten konnte, wußten sie nicht genau. Oder zumindest der Präsident und Jack Parker, ein Mann mit Adlernase und eng beieinander liegenden Augen, der, wie Ivar von Mrs. Walker erfahren hatte, früher Privatdetektiv gewesen war, wußten es nicht. Der glatzköpfige, mondgesichtige, stets lächelnde Bob Brown schien entweder alles oder gar nichts zu wissen. In den zwei Jahren an der Universität (besser bezahlt als Ivar) hatte er noch nicht preisgegeben, was er wirklich wußte. Das einzig Auffällige an ihm war die Angewohnheit, von den Studenten als »unseren Kunden« zu sprechen. Trotz der vielen Farben und Informationen auf seinem Computerbildschirm kaute Ivar auf dem Radiergummi seines Bleistifts herum und schrieb winzig kleine Wörter auf ein winzig kleines Stück Papier. Sorgfältig notierte er die Namen von riesigen Firmen, die potentielle Investoren sehr großer Geldmengen waren. Genau wie alle anderen bei der Konferenz bereitete er seine Liste für Elaine DobbsJellinek vor, die Vizepräsidentin, zuständig für Projektentwicklung, deren einzige Aufgabe darin bestand, Kontakte zu knüpfen, zu vertiefen, zu pflegen und zu nutzen, die für Verträge mit Firmen und den Erhalt von »Fördermitteln« notwendig waren. Vor der Ankunft von Jack Parker hatte sie auch die Kontakte mit der Bundesregierung geknüpft, vertieft, gepflegt und genutzt, aber jetzt kümmerte sich Jack darum. Er verbrachte daher den größten Teil seiner Zeit in Washington D.C., und Ivar stellte sich häufig vor, wie er, sobald er das Hotelzimmer betrat, noch ehe er mit mißtrauischem Blick das Zimmer auf Spuren eines Eindringlings absuchte, als erstes seine 347er Magnum herauszog und sie auf den Nachttisch legte. Elaine machte ihre Runde durch die Firmenzentralen in Städten wie Wichita 37
und Fargo, wo Ingenieure und Agronomen von ihrer Universität mit Stromventilen und Körnerhirse ein Vermögen gemacht hatten. Verbindungen zwischen der Universität und der Wirtschaft waren im Interesse beider Seiten. Sie waren ganz natürlich, unvermeidlich und wurden allgemein akzeptiert. Nach Ansicht der Regierungsstellen sollten sie tatkräftig gefördert werden. Im Parlament rechnete man bereits aus, in welcher Größenordnung Geldmittel auf andere Haushaltsposten verteilt werden könnten, wenn die Wirtschaft anfing, einen größeren Teil der Finanzen für die Hochschulbildung zu übernehmen. Der Erfolg bei der Beschaffung dieser Gelder würde das Parlament bestimmt davon überzeugen, daß weitere Versuche, die Universität in die Arme der Privatwirtschaft zu treiben, gerechtfertigt waren und daß es im Prinzip unverantwortlich oder sogar unmoralisch oder sogar verbrecherisch war, Universitäten mit staatlichen Geldern zu finanzieren (denn das hieß Witwen, Waisen usw. auszurauben, um schmierige Professoren zu mästen, die nicht in der Lage waren, eine ordentliche Arbeit zu finden). Ivar starrte auf den winzigen Zettel und zählte mit der Bleistiftspitze die Namen. Fünfzehn Namen, die nur er allein lesen konnte. Dann drückte er einen Knopf auf seinem Telefon. Mrs. Walkers Stimme drang wie die Stimme Gottes an sein Ohr. Er sagte: »Mrs. Walker, nennen Sie mir bitte noch einmal die wahrscheinliche Höhe der Umverteilungssumme.« »Sieben Millionen.« Es stimmte also. »So früh im Haushaltsjahr.« »So früh im Haushaltsjahr.« »Vielen Dank.« 38
»Gern geschehen.« Die einzige Einzelspende über sieben Millionen, die sie je erhalten hatten, war für ein Gebäude gestiftet worden, das den Namen des Spenders trug und in dessen Eingangshalle eine überlebensgroße Büste von ihm stand. Vielleicht sehnte sich ja gerade ein Milliardär auf dem Totenbett nach einer würdigen Heimstatt für seinen Reichtum, doch Ivar wußte nichts davon. Ade, Kerntechnik. Ade, Women’s Studies. Ade, Modedesign und Faserforschung. Ade, Rundfunkjournalismus und universitätseigene Radiostation. Ade, Ozeanographie. Ade, geologische Forschungsstation in Colorado. Ade, universitätseigenes Kammerorchester. Ade, Vertragsverlängerung für die im letzten halben Jahr eingestellten Bürokräfte. Ade, Fotokopierer. Seid gegrüßt, Matrizen. Ivar drehte seinen Zettel um und schrieb einen weiteren Namen auf. Dann noch einen. Er seufzte. All das, was jeder wußte, stimmte genau, all das über die Marxisten und die Schlange am Busen und die Gleichgültigkeit der Behörden. Nur das über die Axtmorde stimmte nicht, denn die hatten sich, nach seinen Informationen, auf einem Campus im Norden Kaliforniens ereignet.
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5 Weltlicher Humanismus MARLY HELLMICH hatte immerhin ein Semester lang das College besucht. Besonders gut war ihr im Gedächtnis geblieben, daß ihr Englischdozent einmal die Worte »kritisches Denken« an die Tafel geschrieben hatte, und dann, nach einer Diskussion, in deren Verlauf alle Studenten, Marly eingeschlossen, ihr Unbehagen an diesem Begriff geäußert hatten, hatte der Dozent den Satz »Kritisches Denken ist für eine liberale Erziehung das, was der Glaube für die Religion ist« hingeschrieben. Nach dem Semester begriff Marly, daß die Umkehrung ebenfalls richtig war – Glaube ist für eine liberale Erziehung das, was kritisches Denken für Religion ist –, nämlich unwichtig und sogar schädlich. Sie hatte es für klüger gehalten, sich auf die Seite des Glaubens zu schlagen und die liberale Erziehung zu vergessen, und sie hatte sich dabei viel besser gefühlt, obwohl eine gewisse Ironie darin lag, daß sie ausgerechnet der Universität als ungelernte Arbeitskraft mehr wert war als allen anderen Arbeitgebern am Ort. Und so hatte sie schließlich ihr ganzes Erwachsenenleben in den Armen der Universität verbracht, wo sie der Sache des kritischen Denkens, oder doch zumindest den kritischen Denkern, mit ihrer ganzen Kraft, wie es ihr an manchen Tagen schien, diente. Für Vater bestand die Universität aus einer Reihe von Einbahnstraßen mitten in der Stadt, die ganz schön verwirrend sein konnten und den Verkehrsfluß behinderten. Als er noch häufiger Auto gefahren war, kam er immer erstaunt nach Hause – »Ich weiß nicht, was sie da unten machen, 40
aber ich habe zwanzig Minuten gebraucht, um durchzukommen.« Für Marlys Bruder, der in einer nahegelegenen Stadt in einer Futtermühle arbeitete, griff die Verschwörung der weltlichen Humanisten an der Universität Tag für Tag weiter um sich. Der Computer, erklärte er ihr, war eigens erfunden worden, um die Ausbreitung des weltlichen Humanismus zu fördern – »Die Christen konnten immer nur eine Sache auf einmal rechnen, darum waren sie langsam. Für die weltlichen Humanisten kam das natürlich nicht in Frage. Der Computer ist die Atombombe des weltlichen Humanismus. Hat man je einen Computer gesehen, der Gott dem Herrn den gebührenden Respekt erwiesen hätte? Der Computer ist der größte falsche Prophet aller Zeiten. Ich würde einen Computer nicht mal mit einer Mistgabel anfassen.« Marlys Anschauung war differenzierter. Für sie bestand die Universität aus einer langen Schlange von Menschen, die ihr häufig nicht den gebührenden Respekt erwiesen und ungeniert durch sie hindurch blickten und sich, wenn sie ihre Tabletts die Essenstheke entlangschoben, im großen und ganzen so benahmen, als wäre sie überhaupt nicht da. Fast die einzigen Worte, die sie jemals sagen mußte, lauteten: »Heben Sie Ihr Tablett bitte an, die Teller sind heiß.« Fast die einzigen Worte, die jemals an sie gerichtet wurden, lauteten: »Ich nehme den Schweinebraten« oder etwas in der Art. Fast alle trödelten, als ob sie bei der Auswahl des Essens ins Träumen gerieten, und viele Leute mußte man zu einer Entscheidung drängen. Einige hatten die ärgerliche Angewohnheit, ihr Tablett auf den Warmhaltetresen zu knallen und zu sagen: »Geben Sie mir einfach irgendwas, egal was«, und damit ihr die Entscheidung zu überlassen. Manche fingen schon an zu essen, während sie noch in der Schlange standen. 41
Aber die Essensmanieren waren bei weitem nicht das Schlimmste. Es gab Jungen, die mit einer Hand das Tablett schoben und mit der anderen das Hinterteil ihrer Freundin befingerten. Paare küßten sich jedesmal leidenschaftlich, wenn die Schlange ins Stocken geriet. Finger bohrten in der Nase, kratzten am Hintern. Ab und zu steckte sich jemand geistesabwesend den Stiel einer Gabel oder einen Bleistift ins Ohr und drehte ihn herum. Es wurden auch Tränen vergossen, und das nicht nur von Frauen oder Mädchen. Manche brachen unvermittelt in Gelächter aus. Die Leute sangen oder murmelten vor sich hin. Einige schoben Tabletts, ihre eigenen und die anderer Leute, von der Tablettschiene herunter. Die Leute verschütteten Essen, zerbrachen Teller, verloren die Nerven, entschuldigten sich (oder auch nicht). Einige fielen hin, obwohl die Aushilfen sorgfältig aufwischten und immer das »Vorsicht frisch gebohnert«-Schild aufstellten. Einige lasen Bücher, während sie in der Schlange standen, oder stritten sich. Mehr als einmal war mit Essen geworfen worden, gleich nachdem sie es ausgegeben hatte. Einmal, vor etwa fünfzehn Jahren, hatte ein Mann seine Gabel mit voller Kraft in den Rücken des Mannes, der vor ihm stand, gestoßen. Alle, die in der Schlange standen, hatten nur: »O Gott, o Gott, o Gott« gesagt. Eigentlich hätte Blut spritzen müssen, aber es war Winter, und das TweedSakko des Opfers hatte fast alles aufgesaugt. Die Chefin der Mensa war aus ihrem Büro gekommen und hatte die Sache in die Hand genommen. Sie hatte einen Krankenwagen und die Polizei gerufen. Sie hatte das Opfer zu einem Tisch geführt, und der Mann hatte wimmernd, aber ohne ein Wort zu sagen, kerzengerade dagesessen. Die Chefin wollte nicht zulassen, daß jemand die Gabel herauszog. Marly hatte den Grund dafür nie verstanden. Ein andermal, 42
gegen Ende der abendlichen Öffnungszeit, als nicht mehr viele Leute in der Mensa waren, hatten sich drei Studentenverbindungsanwärter vor ihr entblößt. Sie hatte gerade die Teller auf ihre Tabletts gestellt, da traten sie einen Schritt zurück, und ihre Penisse baumelten wie kleine Geldbeutel vor ihren Jeans. »Thelma!« hatte sie gerufen, und als die Chefin erschien und die Jungen hastig ihre Reißverschlüsse hochzogen, hatte sie gesagt: »Diese Jungs wollen Ihnen etwas zeigen.« Dann hatte sie ihnen, besonders dem kräftigsten, der ganz vorne stand, direkt in die Augen geschaut und gesagt: »Macht das nochmal. JETZT!«, und sie hatten es getan, und Thelma hatte die drei der Campusaufsicht übergeben, und sie waren von der Universität geflogen. In die Mensa kamen die unterschiedlichsten Menschen, von den schwärzesten Afrikanern bis zu den hellhäutigsten Nordeuropäern (vermutlich bildete Nils Harstad, der Dekan für Technologietransfer, der Mitglied ihrer Kirchengemeinde war, dieses Ende des Spektrums), von den sehr großen – über zwei Meter – bis zu den ganz kleinen – unter einem Meter. In der Schlange waren Leute, die im Rollstuhl saßen, auf Krücken humpelten, ihre Tabletts mit Haken hochhoben (Unfälle bei der Farmarbeit, in den meisten Fällen), einen weißen Stock in der Hand hielten, sich von einem Blindenhund führen ließen, von den Lippen ablasen, Hörhilfen trugen. Sie hatten nervöse Zuckungen, gingen gebeugt, hinkten oder schienen zu tanzen. Atemberaubende Schönheiten beiderlei Geschlechts kamen an der Essensausgabe vorbei. Ebenso Menschen, die das genaue Gegenteil davon waren. Es kamen Mädchen mit kahlrasierten Köpfen vorbei und Jungen mit Haaren bis zur Hüfte, und umgekehrt. Einige waren im Gesicht tätowiert, etliche auf den Armen. Leute in Tausend-Dollar-Anzügen standen neben Leuten in zerrissenen Pullovern oder T-Shirts, aber 43
niemand kam ohne Schuhe oder mit nacktem Oberkörper. Dies war eine Hygieneverordnung, und darin bestand die einzige Uniformität. Die meisten sprachen Englisch, aber wahrscheinlich hatte Marly schon alle wichtigen Sprachen der Welt gehört und war auch in ihnen angesprochen worden. Sie lächelte einfach die ganze Zeit, denn genau darin bestand ihre Aufgabe, die Aufgabe, die ihr Jesus übertragen hatte, nämlich den Sünder zu lieben, auch wenn man die Sünde haßte. Oder, wie sie es deutete, auch wenn die Leute mürrisch und zickig und unhöflich und zornig und sonderbar waren und es schwerfiel, sie anzuschauen, weil sie entweder beneidenswert oder grotesk aussahen, auch wenn sie lüstern und streitsüchtig waren, und auch wenn Marly erlebt hatte, daß Leute schon von dem Essen aßen, das noch an der Kasse abgewogen werden mußte, und somit vorsätzlich stahlen, und das direkt vor ihren Augen, als wäre sie unsichtbar. Marly liebte sie dennoch, in den meisten Fällen, so wie es ihre Pflicht war. Besonders gerne dachte sie daran, von wie weit her sie gekommen waren, um sich in ihrer Schlange anzustellen – nicht nur aus den entlegensten Winkeln des Campus, sondern auch aus den entferntesten Winkeln der Erde. Sie dachte gerne daran, wie sie, jeder für sich allein, von tausend verschiedenen Orten aufbrachen, um verschlungene Wegstrecken zu Fuß, in Autos, in Bussen und Zügen und natürlich in Flugzeugen zurückzulegen. Sie dachte gerne an die Vorhersehbarkeit des Verhaltens derartig vieler Leute, die alle um sieben Uhr früh und um elf Uhr dreißig und um siebzehn Uhr dasselbe Bedürfnis verspürten und dann in die Mensa strömten, weil sie, ungeachtet aller Unterschiede, auf Befriedigung desselben Verlangens aus waren. Anschließend, wenn sie das Gebäude verließen, glichen sie nicht mehr einer zusammenströmenden Flüssigkeit, sondern 44
den auseinanderstiebenden Atomen eines Gases. Marlys Arbeit war anstrengend, und sie gefiel ihr nicht. Ihre Kolleginnen gingen ihr auf die Nerven, und sie fürchtete zunehmend den Anblick von Jane und Amanda, zwei älteren Frauen, die seit dem Zweiten Weltkrieg Essen austeilten. Sie war so erpicht darauf zu kündigen, daß sie es körperlich spüren konnte, aber sie sah die Leute, die sie im Lauf der Jahre bedient hatte, nicht als Teilnehmer einer Verschwörung des weltlichen Humanismus an. Sie waren zu zahlreich und zu sehr mit ihren eigenen Bedürfnissen beschäftigt, um ein bestimmtes Ziel zu verfolgen, wie ihr Bruder glaubte. Wenn der weltliche Humanismus in ihren Handlungen deutlich wurde, und das war bestimmt der Fall, zumindest hielt jeder Priester das für erwiesen, dann bildete er sich durch eine natürliche Mischung aus Sehnsüchten und Bedürfnissen, genauso wie ein Duft sich durch eine natürliche Mischung aus Gerüchen bildet. Die weltlichen Humanisten und die kritischen Denker störten Marly im Grunde nicht, jedenfalls weniger, als angebracht war. Wenn man sich erst einmal unter ihnen befand, war es einfacher, sich mit ihnen abzufinden und sich an ihrem Vorbeimarsch sogar zu erfreuen.
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6 Kreatives Schreiben Aufgabe: Dialog – Um als Schriftsteller gute Dialoge zu schreiben, braucht man ebensoviel Übung wie Talent. Deshalb müssen Sie lernen, anderen Leuten sorgfältig zuzuhören und sowohl auf ihre Formulierungen zu achten, als auch darauf, was sie damit zum Ausdruck bringen wollen. Autoren entwickeln die Angewohnheit, ihre Mitmenschen zu belauschen. Sie werden feststellen, daß die Schriftstellerei Sie zu einer Reihe gesellschaftlich verpönter Verhaltensweisen verleitet. Ihre Aufgabe besteht darin, ein Gespräch zu belauschen und zwei Seiten Dialog aufzuschreiben. Benutzen Sie kein Tonbandgerät. Ich möchte, daß der Dialog von Ihrem Ohr und Ihrer Hand gefiltert wird. Versuchen Sie Ihr Glück in der Mensa, im Speisesaal Ihres Wohnheims, im Fernsehzimmer Ihrer Studentenverbindung. Sie werden sicher einen geeigneten Ort finden. Um die Anonymität der Unschuldigen UND der Schuldigen zu wahren, sollten Sie weder Namen benutzen noch die Sprecher beschreiben. »Erstes Mädchen« und »Erster Junge« usw. reicht aus. Sie brauchen keine Kopien zu machen, wir werden die Texte laut vorlesen. GARY OLSON schob seinen Schreibtisch etwas näher zur Tür seines Zimmers und stellte den CD-Player ab. Dann schaltete er seinen Computer ein und lud eine Datei mit dem Namen »KSAUFG.TXT«. Bob, das wußte er, arbeitete 46
still an seiner Statistikhausaufgabe – davon hatte er sich durch einen Gang zum Badezimmer überzeugt. Lyle und Lydia, seine Opfer, lagen nebenan auf Lyles Bett, das gleich hinter der angelehnten Tür stand. Er konnte ihre Füße sehen. Die von Lydia waren nackt, und die von Lyle steckten in dünnen dunkelgrünen Socken, die Gary typisch für Lyle fand, dessen Geschmack in Sachen Mode von dem geprägt war, was ihm seine Mutter schickte. Gary selber trug ausschließlich weiße Sportsocken und Air Jordans. Er drehte den Bildschirm ein wenig zur Seite, damit Lyle und Lydia, falls sie hereinkamen, nicht gleich sehen konnten, was er schrieb. MÄDCHEN: JUNGE: MÄDCHEN: (Stille) MÄDCHEN: JUNGE: MÄDCHEN: JUNGE:
Ich habe Hunger. Du auch? Du hast doch gerade erst ein Eis gegessen. Das war bloß ein Nachtisch.
Gehen wir morgen auf die Party? Was für eine Party? Nie hörst du mir zu. Klar höre ich dir zu. Ich weiß genau, welche Party. Sollte bloß ein Scherz sein. MÄDCHEN: Welche Party meine ich denn? JUNGE: Die von deiner Freundin drüben in, ehm, – MÄDCHEN: Auburn Terrace. Melissa, in Auburn Terrace. Typisch, ich erzähl dir was, und du bist mit deinen Gedanken ganz woanders. Todsicher. JUNGE: Es reicht doch, wenn du weißt, wo die Party ist. Du hättest mich sowieso noch daran erinnert. MÄDCHEN: Was soll denn das jetzt wieder heißen? 47
JUNGE: Gar nichts. Hast du zugenommen? MÄDCHEN: Nein. (Pause) Ja. Aber bloß zwei Pfund. Das sieht man doch gar nicht. Oder sieht man es? JUNGE: Ein bißchen. MÄDCHEN: Das kann gar nicht sein. Du hast nur geraten. Sieht es schlimm aus? Wo sieht man es? JUNGE: Hierherum. MÄDCHEN: Hier? Oder hier? Wo genau? (Die Bettfedern quietschten) MÄDCHEN: Ich sehe nichts. Na ja, vielleicht hier ein bißchen. JUNGE: Hinten ist es schlimmer. MÄDCHEN: Hinten? Was meinst du damit? (Pause) JUNGE: Am Hintern. MÄDCHEN: Mein Hintern sieht von hinten schlimm aus? JUNGE: Unsinn, er sieht nicht schlimm aus. MÄDCHEN: Du hast aber gesagt, er sieht schlimm aus. JUNGE: Ich habe gesagt, hinten ist es schlimmer, nicht schlimm. MÄDCHEN: Fast schlimm? JUNGE: Nein, nein. Nicht einmal fast schlimm. MÄDCHEN: Wie weit noch bis schlimm? Auf einer Skala von eins bis zehn, wenn zehn schlimm bedeutet. JUNGE: Scheiße. MÄDCHEN: Sag schon. JUNGE: Nimm doch einfach die zwei Pfund wieder ab. MÄDCHEN: Das ist bloß Wasser. Das geht von allein wieder weg. 48
JUNGE: (unverständlich) MÄDCHEN: Was? JUNGE: Nichts. MÄDCHEN: Sag schon. JUNGE: Du regst dich bloß wieder auf. MÄDCHEN: Werd ich nicht. (Doch, Lydia, das wirst du, dachte Gary.) JUNGE: Ich sagte: Na hoffentlich. MÄDCHEN: Na hoffentlich was? JUNGE: Na hoffentlich geht es weg. (Blödmann, dachte Gary.) (Stille) (Stille) MÄDCHEN: Du Arschloch. JUNGE: Wieso Arschloch! Du hast schließlich gefragt! MÄDCHEN: Trotzdem wäre es nicht nötig gewesen. Du wolltest es mir unbedingt sagen. Du findest mich fett. JUNGE: Das ist nicht wahr. Du siehst klasse aus. MÄDCHEN: Klasse, aber nicht gut, stimmt’s? (Zwei Seiten, das reicht, dachte Gary.) Er speicherte den Text und druckte ihn aus, ließ die Blätter in seiner Mappe verschwinden und schaltete den Computer ab. Er fühlte sich nicht halb so unwohl wie sonst, wenn er versuchte, die Gespräche von Lyle und Lydia NICHT mitanzuhören. Vielleicht hatte Mr. Monahan recht: wenn man sich dem Horror stellte und über ihn schrieb, dann fühlte man sich ihm überlegen und nahm ihm sein Gewicht. Horror war genau das richtige Wort für die Beziehung zwi49
schen Lyle und Lydia. Bob sagte immer, er solle die beiden gar nicht beachten, aber Bob war ja auch die meiste Zeit irgendwo bei einem Schwein. Lydia erschien in der Tür und lächelte ihn an. Ihr Lächeln war bezaubernd, sie besaß eine wunderschöne volle Stimme, war zierlich gebaut und hatte dichtes honigblondes Haar. Wenn er die Wahl hätte, würde Gary sie zur Heldin einer ganz anderen Geschichte machen.
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7 Homo Economicus DR . L IONEL GIFT , renommierter Professor der Wirtschaftswissenschaften, war, wie jeder, einschließlich Dr. Gift selber, bestätigen würde, ein Mann mit festen Grundsätzen. Sein wichtigster Grundsatz lautete, daß alle Menschen, er selber nicht ausgeschlossen, ein unstillbares Verlangen nach Konsumgütern hatten und es kein Zufall war, daß alle Menschen ein unstillbares Verlangen nach dem, was schließlich »Güter« genannt wurde, hatten, denn Güter waren gut, weshalb alle Menschen ein unstillbares Verlangen nach ihnen verspürten. Hierin folgten die Menschen dem Beispiel ihres Schöpfers, der in der Erschaffung von Gütern so gewaltig und verschwenderisch gewesen war, daß sein innerer Antrieb nur in dem grenzenlosen Verlangen bestehen konnte, die Milliarden und Abermilliarden von Lichtjahren, Galaxien, Sonnensystemen, Welten, Lebensformen, Molekülen, Atomen und subatomaren Partikeln, die er erschaffen hatte, in Besitz zu nehmen. Da er der Inbegriff eines vollkommenen Gleichgewichts zwischen Produktion und Konsum darstellte, war er ein Vorbild, dem die menschliche Rasse nicht nur nacheifern KONNTE, sondern geradezu nacheifern MUSSTE. Dank dieser privaten Theologie hatte Dr. Gift seiner Meinung nach den christlichen Glauben mit der Relativitätstheorie und das Ich mit der Unermeßlichkeit von Zeit und Raum ausgesöhnt. Tatsächlich verspürte Dr. Gift, wann immer ein Astronom erläuterte, daß es da draußen noch zahlreiche andere Sonnensysteme gab und alles noch viel weiter entfernt war, als man je angenommen hatte, oder auch, wenn es einem Phy51
siker gelang, große oder auch unermeßlich kleine Räume zu quantifizieren, eine Art von Erregung – die Erregung, auf dem mühsamen Weg zur Seligkeit ein Stück vorangekommen zu sein. Gleichwohl ließen die Menschen auch in ihrer Unersättlichkeit zu wünschen übrig. Im Großen war zwar darauf Verlaß, aber im Kleinen neigten sie zur Sprunghaftigkeit, indem sie heute ein Steak, morgen eine Tomate und übermorgen ein Hühnchen »Kiew« wollten. Was also die Unersättlichkeit anging, mochte der Geist willig sein, das Fleisch aber war schwach, die Zeit begrenzt, und die Umstände trübten oft die Reinheit des Verlangens. Man konnte dennoch sagen, und Dr. Gift sagte es häufig, daß in dieser Unersättlichkeit unser eigentliches Menschsein bestand, und unser Verhalten unter wirtschaftswissenschaftlichen Gesichtspunkten aus diesem Grund interessant und in gewisser Weise sogar rührend war. Auf jeden Fall bereitete es dem Fortschritt den Weg. Durch unsere verschiedenen Bedürfnisse entstanden verschiedene Märkte, und das führte zu Kreativität, unternehmerischer Aktivität, unabhängigem Denken, Wachstum. Diese Kosmologie war so inspirierend, daß sie Dr. Gift, zumindest im geistigen Sinne, über sich selbst hinauswachsen ließ. Seine klaren, überzeugenden Erläuterungen dieser und anderer wirtschaftswissenschaftlicher Grundsätze vor den Studenten (oder »Kunden« – Dr. Gift fand Bob Browns Bezeichnung für die an der Universität Immatrikulierten sowohl scharfsinnig als auch originell) – hatten Dr. Gift zwei Auszeichnungen für hervorragende Lehrtätigkeit eingebracht, und er betonte immer wieder, daß ihm diese Auszeichnungen mehr bedeuteten als alle anderen Preise und Ehrungen seiner langen Karriere, mehr als die zahlreichen Fotografien in seinem Büro, die ihn mit Präsidenten und Premierministern zeig52
ten, mehr als alles andere, abgesehen vom Geld und den Konsumgütern, die ihm das Geld im Laufe der Jahre beschert hatte. Diese Hochschätzung der Güter stand natürlich vollkommen im Einklang mit seinen Grundsätzen. Immer wieder versuchten andere Universitäten, Dr. Gift abzuwerben, aber er blieb seinem Grundsatz treu, daß er hier an dieser Universität bleiben würde, solange sie ihm das höchste Gehalt bezahlte (und ihm damit den Konsum der meisten Güter ermöglichte). Genau wie Gott war Dr. Gift in seinem Dasein als Mann keinem schädlichen weiblichen Einfluß ausgesetzt. Er war nicht verheiratet, hatte niemals den Wunsch nach Kindern verspürt und widmete sich ganz der Lehre, der Forschung und seinen Beratertätigkeiten. Er war ein vielbeschäftigter Mann und das mit Abstand bestbezahlte Mitglied des Lehrkörpers an der Universität. Dr. Gift hatte ganze Länder zu dem gemacht, was sie heute waren. Bis jetzt waren es nur kleine Länder gewesen – Costa Rica war das einzige, das allgemein bekannt war, und so erwähnte er die anderen gar nicht mehr, denn er hatte immer erklären müssen, wie sie früher einmal geheißen hatten oder wo sie in etwa lagen, und das schmälerte seiner Meinung nach ihre Bedeutung und damit auch seine Leistung, doch Costa Rica kannte jeder. Costa Rica war ein Paradies, und die costaricanische Regierung hatte Dr. Gift, aus Dankbarkeit für seine Verdienste um das Land, ein Haus an der Westküste mit Blick auf einen ausgesprochen schönen Strand geschenkt. Dieser Gunstbeweis veranschaulichte einen weiteren von Dr. Gifts Grundsätzen: Geschenke waren eine andere Art des Konsums, aber dennoch waren sie Konsum, das heißt Ausdruck des besagten unstillbaren Verlangens – Bezahlung für bereits geleistete Dienste oder 53
Anzahlung auf solche, die später geleistet werden würden. Die Schenkung würde sich für die costaricanische Regierung um so mehr bezahlt machen, je länger er lebte, denn die Kosten für den Unterhalt des Besitzes mußten nun von ihm getragen werden, und gleichzeitig war die Verpflichtung (oder Bereitschaft zur Rückzahlung), die er empfand und die die Regierung sowohl öffentlich als auch privat einfordern konnte, ein Pfund, mit dem sie noch jahrelang wuchern konnte. Die Chinesen hatten recht, wenn sie sagten, daß ein Geschenk niemals leichtfertig angenommen werden sollte. Aber Dr. Gift war der Meinung, daß feste Grundsätze und eine klare Einschätzung des KostenNutzen-Verhältnisses den Empfänger vor ökonomischen Überraschungen schützten. Zusätzlich zu seiner sonstigen Arbeit war Dr. Gift seit zwei Jahren Vorsitzender des Ausschusses für die Vergabe von Lehrstühlen. Es war der schwierigste Ausschuß der Universität, derjenige, der den meisten politischen Zündstoff enthielt. Der Nutzen einer jeden positiven Entscheidung war gering, die Auswirkungen einer jeden negativen möglicherweise katastrophal. Der Ausschuß war klein, brauchte aber einen starken und prinzipientreuen Vorsitzenden. Für die investierte Zeit und Energie wurde Dr. Gift dadurch entschädigt, daß er Beziehungen zu anderen wichtigen Universitätsangehörigen knüpfen und vertiefen konnte. Ihr Fachwissen würden sie ihm dann zu einem Vorzugspreis zur Verfügung stellen, wenn sie mit ihm persönlich bekannt waren. Zu den Dingen, die er seinen Kunden beibrachte, gehörte auch der Lehrsatz, daß der Wert des Wissens eine der großen Unbekannten in der modernen Bilanzbuchhaltung war. Es war ein aufregendes Fachgebiet. Dr. Gift fand es nützlich, ein oder zwei Sitzungen abzuhalten, bevor die Unterlagen aus den Fachbereichen den 54
Ausschußmitgliedern zugesandt wurden. Daher verschickte er eine Hausmitteilung, in der er für die zweite Unterrichtswoche eine Sitzung einberief, und daher reservierte er den Seminarraum der Wirtschaftswissenschaftler, und daher saß er nun am Kopfende des großen Tisches aus Walnußholz und beobachtete, wie die anderen Mitglieder des Ausschusses nacheinander eintrafen. Dr. Helen Levy, Professorin am Fremdspracheninstitut (Französisch und Italienisch), stellte ihre Thermoskanne mit Kaffee ab und schob mit dem Fuß ihre Aktentasche unter den Tisch. Für sie markierte dieses Treffen den eigentlichen Beginn des Semesters, denn dieser Ausschuß, in dem sie schon im letzten Jahr gesessen hatte, konnte einem das Leben wirklich schwermachen. Sie schaute sich um und lächelte jedes andere Ausschußmitglied an, das hereinkam. Zum erstenmal war die Gruppe ein Musterbeispiel an politischer Korrektheit, eine konfliktträchtige Zusammensetzung, die an dieser weitestgehend von Weißen und von Männern beherrschten Universität schon im nächsten Jahr bestimmt wieder zu der üblichen und bequemen Mischung aus lauter weißen Männern und einem Vertreter einer »wichtigen Minderheit« mutieren würde. Aber immerhin, ein Jahr war lang! Helen lächelte den alten Gift, diesen selbstgefälligen Idioten, direkt an. Im letzten Jahr hatte er mit der ihm eigenen schmierighuldvollen Art jeden Konflikt geglättet, und zwar so lange geglättet, bis der Ausschuß ihm aus unverdientem Respekt oder schlichter Erschöpfung zugestimmt hatte. Aber das würde ihm dieses Jahr nicht gelingen. Helen kannte alle neuen Mitglieder bereits aus anderen Ausschüssen und trauerte den vielen Stunden nach, die sie dort mit sinnlosen Streitereien vergeudet hatte, aber wenn es auch im Prinzip lächerlich war, würde sie es dennoch herrlich finden, wenn es diesmal wie 55
erwartet gelänge, dem alten Gift Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Sie sagte: »Na, Lionel, schöne Ferien gehabt?« »Ferien?« »Sommerurlaub.« »Ach ja. Nun, das Wetter war schön. Aber natürlich geht meine Arbeit das ganze Jahr über ohne Unterbrechung weiter.« »Einnahmen und Ausgaben?« Helen lächelte. »Mehr oder weniger, ja. Auf vielen Ebenen, ja. Eine sehr gelungene Formulierung.« Dr. William Garcia, Professor der Psychologie, sah auf den ersten Blick, wie alle in ihre Rolle schlüpften, sobald sie den Seminarraum betraten. Vater Lionel – er war humorlos, um nicht zu sagen geistlos, gewichtig an Ausstrahlung trotz seiner geringen Körpergröße. Mutter Levy – sie verströmte eine profunde, im Grunde aber rein reaktive weibliche Kraft und versorgte die Runde mit Nahrung in Form von Kaffee, den sie bestimmt zu irgendeinem Zeitpunkt anbieten würde. Schwester Bell – die Jüngste, vielleicht die Intelligenteste, wahrscheinlich (sie hatte zwar noch kein Wort gesagt, und Garcia kannte sie bisher nicht persönlich) die Aufsässigste (obwohl sie ihr aufsässiges Verhalten als echte Rebellion erleben würde). Bruder John Vernon Cates – ein Schwarzer, der sich in die Wissenschaft geflüchtet hatte und sich erfolglos bemühen würde, in jede Auseinandersetzung zwischen Mom und Dad »Fakten« einzubringen. Und natürlich er selbst. Er hatte sein Leben lang die Rolle des Schlichters gespielt, und er sah schon jetzt die Spannungen voraus, und schon jetzt quälten sie ihn. Er kam in Jungengruppen besser zurecht, genauso wie er in seiner Jugend auf dem Spielplatz wunderbar zurecht56
gekommen war, da er kräftig genug, schnell genug, gutaussehend genug, gutmütig genug und sportlich gewesen war. Tatsächlich erwiesen sich die meisten Männer in Gruppen, die den Spielplatz imitierten, als sozial kompetent, und in Gruppen, die die Familie imitierten, als sozial inkompetent. Darum verlief die Arbeit in rein männlich besetzten Ausschüssen auch besonders reibungslos. Er hatte einen Aufsatz darüber im Journal of Social Psychology veröffentlicht, der in vierzehn anderen Zeitschriften zitiert worden war. Dr. Garcia sah der Ausschußarbeit des kommenden Jahres mit wenig Optimismus entgegen, da er eine Kette von Auseinandersetzungen befürchtete, bei denen die gesamte Persönlichkeitsstruktur jedes Mitglieds eine Rolle spielen und alle Appelle an die Professionalität (die in Männergruppen häufig erfolgreich waren) wirkungslos bleiben und sogar auf Ablehnung stoßen würden. Er sagte: »Mir ist so, als hätten wir vor ein paar Jahren gemeinsam im Parkplatzausschuß gesessen, Frau Professor Levy?« »Ach ja, der Parkplatzausschuß. Ich dachte damals, ich würde als Entschädigung eine Parksondererlaubnis oder etwas Ähnliches erhalten. Wußten Sie, daß ich in dem Jahr zehn Strafmandate bekommen habe? Möchten Sie Kaffee? Da drüben stehen Tassen. Französische Röstung, sehr zu empfehlen.« Garcia schüttelte den Kopf. »Es bekommt mir nicht, wenn ich um diese Zeit noch Kaffee trinke.« Und schon war es passiert. Sie hatte ihn zu ihrem Sohn und er sie zu seiner Mutter gemacht und sich obendrein als kränklich präsentiert. Jetzt konnte er das ganze Semester über sagen, was er wollte, und sie würde ihm wahrscheinlich in den meisten Fällen zustimmen. Er sah den alten Gift an, der wie üblich grinste. Hieß es nicht, Wirtschaftswissenschaft sei ein trostloses Fach? Das konnte man auch von 57
der Psychologie sagen. Dr. Margaret Bell, vierunddreißig Jahre alt und seit kurzem ordentliche Professorin für Anglistik – ihre Einstellung vor nunmehr acht Jahren war die am heißesten umkämpfte in der Geschichte des Fachbereichs Anglistik gewesen –, empfand die gemeinsame Ausschußarbeit mit Cates dem Chemiker als einen Fluch, der auf ihr lastete. Studentenschiedsausschuß, Koordinationsausschuß für die Belange studentischer Minderheiten, Einstellungsausschuß für afroamerikanische Studien, Dekanatsausschuß, Organisationsausschuß für den »Monat des schwarzen Selbstbewußtseins«, Bibliotheksausschuß, Gehaltsausschuß für den Senat. Sie hatte in acht Universitäts- oder Collegeausschüssen gesessen, die sie im Schnitt vier Stunden pro Woche kosteten. Als sie ihren Doktorvater in Harvard anrief, um sich darüber zu beklagen, bekam sie zur Antwort: »Sie müssen auf folgende Weise vorgehen: Erstens, die Grenze bei einem Ausschuß pro Jahr ziehen, und zweitens dafür sorgen, daß die Universität mehr Schwarze einstellt, damit der Wohlstand gerechter verteilt wird.« Sie hatte sich inzwischen an die Ausschußarbeit gewöhnt und nutzte die Sitzungen häufig, um verzwickte Argumentationsstränge der Artikel, an denen sie gerade schrieb, zu überdenken, aber an Cates den Chemiker, der über die farbloseste Persönlichkeit verfügte, die ihr jemals bei einem Mann, und erst recht bei einem Schwarzen, untergekommen war, konnte sie sich nicht gewöhnen. Nachdem sie ihm jahrelang beim Reden zugehört hatte und seinen Gedankengängen gefolgt war, hatte sie sein Problem als eine Art Gehirnschaden diagnostiziert, der zum Verlust seiner Instinkte geführt hatte. Seine Reaktionen auf äußere Reize waren rein zerebral und mußten von ihm erst gründlich durchdacht werden. Dr. Bell, die sich von ihren Studenten Margaret 58
nennen ließ, hielt das für eine der seltsamsten Behinderungen, die ihr je begegnet waren, und sie hätte dem Phänomen vielleicht mit distanziertem Interesse gegenübergestanden, wenn Cates es nicht für nötig befunden hätte, die Instinkte von anderen herabzusetzen und im Ausschuß das Augenmerk immer wieder zurück auf die »Fakten« zu lenken. Er tat dies in gemäßigtem Tonfall und gewöhnlich, nachdem sie geredet hatte, als wolle er auf ein besonders irrationales Verhalten ihrerseits reagieren. Traf sie ihn bei gesellschaftlichen Anlässen, war er übertrieben höflich, als habe er ihr außer guten Manieren nichts zu bieten. Seine aus Ghana stammende Frau war sympathisch, aber schwer zu durchschauen, und es beschäftigte sie anscheinend, daß Margaret unverheiratet war. Wenn sie sich trafen, lauteten ihre Begrüßungsworte gewöhnlich: »Und wie alt sind Sie inzwischen, Miss Bell?«, als habe sie sich durch ihre Heirat eine Art Recht erworben, sich für Margarets Privatleben zu interessieren. Da Margaret wußte, daß sie aus einem kleinen Dorf stammte und eines der siebenundzwanzig Kinder eines Mannes mit fünf Frauen war, war sie zu dem Schluß gekommen, daß ihr Interesse nett gemeint war, aber sogar Margarets Mutter hatte es aufgegeben, sie nach Männern zu fragen, was bildete sich die Frau von Cates dem Chemiker also ein? Margaret schürzte die Lippen und sagte zu Helen Levy: »Ich habe gehört, Sie haben den Sommer in den französischen Alpen verbracht« »Einen Monat, nur einen Monat, aber es war herrlich. Was haben Sie gemacht?« »Ich habe an einem NEH-Seminar von Carol Gilligan in Princeton teilgenommen.« »Ich bin beeindruckt. Wie war es?« »Ich habe nach wie vor die größten Zweifel und Bedenken, aber das Seminar war großartig.« 59
»Sind wir soweit?« ließ Dr. Lionel Gift sich vernehmen. John Vernon Cates schaute ihn an und fragte sich, aufgrund welcher merkwürdigen und verqueren Denkprozesse die Beschäftigung mit Wirtschaftsfragen den Rang einer Wissenschaft erlangt hatte. Inzwischen hatte Dr. Gift sie alle taxiert. Von den vieren würden Cates und Garcia am ehesten genügend Fördergelder aus der Privatwirtschaft beschaffen können, um die Lücke im Universitätsetat zu schließen, von der ihm der Kanzler berichtet hatte. Cates’ Gesamtertrag war recht beeindruckend. Es waren mehr Firmen an Atom-Clustern interessiert, als man meinen sollte. Garcia stand Cates nur um weniges nach, denn er beschäftigte sich gelegentlich mit innerbetrieblichen Strukturen, und die Firmen schätzten es sehr, wenn man sie interessant genug und einer Untersuchung für wert befand. Er schaute hinüber zu Bell. Eine unbekannte Größe, und schwarze Frauen machten ihm sowieso immer ein wenig Angst. Daher sagte er: »Helen? Wie wär’s, wenn Sie heute Protokoll führten?« Professor Levy hob den Kopf, bedachte ihn mit einem eisigen Lächeln und sagte: »Vergessen Sie’s, Lionel.« Sie starrten sich so lange an, bis Dr. Garcia mit einem resignierten Seufzer einen Stift und einen gelben Block hervorholte.
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8 Die erste Hausmitteilung SCHON SEIT JAHREN setzte sich der Vorsitzende des Instituts für Gartenbau, der sich selber als »Vorsitzender X« bezeichnete, dafür ein, den Beginn des Herbstsemesters auf den 10. September zu verlegen. Das war in der klimatischen Zone, in der sich die Universität befand, im Durchschnitt der erste Frosttag. Der Vorsitzende X war ein aufmerksamer Beobachter, und er hatte festgestellt, daß jedes Jahr um den ersten Frosttag herum die Menschen auf dem Campus frisch und munter erwachten; die örtlichen Medien berichteten dann von »gutem Schlafwetter«, und der Semesterbetrieb kam auf Touren. Für die Leute am Gartenbauinstitut wurde dieses Gefühl eines Neuanfangs natürlich getrübt vom Ende der Vegetationsperiode. Die Wachstumszeit der Blühpflanzen, die im März mit Schneeglöckchen und frühem Krokus begonnen hatte, würde bald mit dem Aufflackern orangefarbener Chrysanthemen ausklingen, und als letzte leuchtende Farbtupfer würden Bittersüß und Vogelbeeren übrigbleiben, die glutrot und schwer im trüben Grau der Herbstnebel hingen. Jetzt war die Zeit, drinnen zu sitzen und Bücher zu lesen, die Zeit, aus dem Fenster zu schauen und nachzudenken, und selbst wenn die meisten Menschen auf dem Campus das nicht wußten, so spürten es doch ihre Körper. Dennoch war der Vorsitzende X in seinen Bemühungen, diese Angelegenheit voranzutreiben, nachlässig geworden. Die Aufgabe, zweiunddreißigtausend Menschen wieder in Einklang mit der Natur zu bringen, war ihm letztlich doch eine Nummer zu groß. Genau am 10. September, dem Tag, der für ihn ein eben61
so wichtiges Datum war wie der 20. Mai am Ende der Frostperiode, stellte er fest, daß in Old Meats irgend etwas vor sich ging. Natürlich gab es keine erleuchteten Fenster. Auch keinen Fahrzeugverkehr. Er beobachtete nur, wie ein Student mit einem Schlüssel die Tür neben der Laderampe aufschloß und dann im Gebäude verschwand. Als der Vorsitzende X wenige Minuten später versuchte, die Tür zu öffnen, gab sie nicht nach. Der Vorsitzende X setzte seine Inspektion der Rabatte mit mehrjährigen Pflanzen fort, die immer noch üppig blühten, da der Frost in diesem Jahr noch nicht eingesetzt hatte, aber er ging anschließend nicht zu den Versuchsbeeten hinüber, sondern kehrte zum Anfang der Rabatte zurück. Die Inspektion des Beetes war inzwischen nurmehr ein Vorwand, und er befingerte unschlüssig Blätter, Stengel und Blüten, auf der Suche nach Anzeichen für Parasitenbefall oder Krankheiten. Eigentlich hatte er bereits entschieden, daß es ein zu großer Aufwand war, jedes Jahr von neuem Rittersporn anzupflanzen, und daß Rittersporn außerdem zu stark an die englischen Gärten der Ostküste erinnerte. Vielleicht wurde es Zeit, sich endgültig von diesem Vorbild zu lösen. Der Verzicht auf Rittersporn wäre eine klare Aussage darüber, wo sich dieser Garten befand und was das bedeutete. Er richtete sich auf. Ein Student in einem blauen Hemd, vermutlich derselbe, der Old Meats betreten hatte, entfernte sich jetzt von dem Gebäude. Er war bereits gute fünfzig Schritte weit weg. Der Vorsitzende X rief »Heh!«, aber der junge Mann hörte ihn nicht. Jedenfalls blieb er nicht stehen, und der Vorsitzende X beschloß, nicht hinter ihm herzurennen, ihn nur zur Kenntnis zu nehmen und dem Rätsel später auf den Grund zu gehen. Der Vorsitzende X mußte überrascht feststellen, daß er in bezug auf Old Meats ein starkes Besitzdenken entwickelt hatte. Aber das war der Lauf der Welt, nicht 62
wahr? Selbst die häßlichsten und wertlosesten Besitztümer waren imstande, die Menschen auf den Pfad des Kapitalismus zu locken. Die meisten Leute stellten sich, wenn sie an den Campus dachten, die Gebäude mit ihren markanten Merkmalen vor – den Glockenturm von Lafayette Hall zum Beispiel oder dessen Pendant, die kuppelbekrönte Columbus Hall auf der anderen Seite des Platzes. Das eine Gebäude beherbergte die Universitätsverwaltung, das andere den Fachbereich für Agrarwissenschaften. Weitere Gebäude schlossen sich auf beiden Seiten in lockerem Verbund daran an: Auburn Hall, Pullman Hall, Corvallis Hall, das Frankfort-College für Ingenieurwissenschaften, Ithaca Hall, das Clemson-Institut für Kunst und Design. Einige dieser Gebäude fielen durch ihre architektonischen Besonderheiten auf, andere, weil sie renoviert und modernisiert werden mußten. Aber insgesamt stellten sie in den Augen des Vorsitzenden X nur einen malerischen Hintergrund für die vielen großen Bäume dar, die zwischen ihnen angepflanzt worden waren – Ahorn, Eiche, Ölweide, Judasbaum, Hartriegel und Gruppen dunkelgrüner Douglastannen. Jedes Frühjahr verwandelten die rosa und weißen Blüten der überall verstreut stehenden Holzapfelbäume den Campus für eine Woche in ein duftendes Paradies. Der Baumgärtner, der die Anlage einmal geplant und all die Bäume gepflanzt hatte, war ein unbesungenes Genie gewesen. Es hatte den Vorsitzenden X ein ganzes Semester gekostet, den Namen des Mannes zu ermitteln: er hieß Michael Hailey. Kurze Zeit später hatte das Institut für Gartenbau eine steinerne Bank gestiftet, die unter den Tannen aufgestellt wurde und die Aufschrift trug: »Zum Andenken an Michael Hailey, der in diesen Bäumen weiterleben wird.« Aber der Vorsitzende X betrachtete die Gebäude eigent63
lich nicht als wichtige Bestandteile des Campus, er sah im Campus lediglich eine zufällige Idee, ein vorübergehendes Mikroklima. Was er spürte und vor sich sah, war die ausgedehnte, sanft gewellte Fläche der tiefen Geosynklinale weit unter ihm (die sich immer noch weiter hob, wenngleich unendlich langsam), die darüber liegenden Schichten aus Fels und wasserführendem Gestein (Bozeman-Schiefer, Burlington-Kalkstein, aufwärtsdrängender LaramieSandstein) und darüber wiederum die Haut der unteren und oberen Erdschichten, dann die raunende Schicht zwischen Erde und Atmosphäre und die feuchte, schwere Luft, die jedes Wettersystem, das sich von Westen her näherte, anzog. Darüber der Jetstream, und über diesem das besternte Forschungsfeld des Astronomieinstituts. Die veränderliche, nahezu fließende Landschaft, inmitten derer der Campus lag wie ein Stein im Strom, wälzte sich sanft von Nordwesten nach Südosten hinab – ein anmutiger Hang, der am Ufer des Orono River abrupt in niedrigen Klippen endete. Alle Teiche und Bäche des Campus gaben ihr Wasser in einen Nebenfluß des Orono ab, in den Red Stick, der in einen kleinen künstlichen See mündete, den Red Stick Lake. Die meiste Zeit ließ die Pioniereinheit der Army von dort eine mäßige Wassermenge in den Orono abfließen. Nach Westen hin erhoben sich in einem Halbkreis niedrige Moränenhügel, und der Vorsitzende X hatte in den lichten Hartholzwäldern, die diese Hänge bekleideten, viele seltene Pflanzen gefunden. Die ersten weißen Siedler der Region hatten klar erkannt, daß diese Hügel sich besser für die Jagd als für den Ackerbau eigneten, und der Vorsitzende X wußte ihnen Dank dafür. Der Campus verführte die meisten seiner Bewohner dazu, sich zu verkriechen – in ihre Bücher, ihre Projekte, ihre Gremienarbeit – und ihre Selbstversunkenheit wie eine 64
Bettdecke über den Kopf zu ziehen, aber der Vorsitzende X verlor nie das Gespür für jene abschüssige Landschaftsformation und die über sie hinwegziehenden Naturgewalten. Alles, was der Campus hervorbrachte, vom Giftmüll bis hin zu Theorien, strömte ungehindert in die Welt hinaus, und offen gestanden machte ihn das nervös. Selbst bei denjenigen, deren Aufgabe es war, die verschiedensten Leute zu beraten, von lokalen Obstzüchterverbänden bis hin zu Regierungen aller möglichen Länder, zeigte sich nach Ansicht des Vorsitzenden X jene merkwürdige Weltfremdheit. Aber diese von ihm oft geäußerte Ansicht wurde natürlich nicht gern gehört. Lady X, die Frau, mit der er verheiratet gewesen wäre, wenn sie daran gedacht hätten zu heiraten und einen passenden Zeitpunkt dafür gefunden hätten (vielleicht in ein paar Jahren, wenn die Kinder gerade im Ferienlager waren?), hielt ihm vor, er mißverstehe aufgrund seines ungestümen Ostküstentemperaments das Verhalten der Leute aus dem Mittleren Westen, aber er hatte das Gefühl, daß sie wie üblich zu nachsichtig war. Schließlich kannte sie Nils Harstad nicht, den Dekan des Fachbereichs für Transfer, der all das verkörperte, was der Vorsitzende X verachtete. Tag für Tag mußte der Vorsitzende X den freundlichen, bedächtigen Tonfall ertragen, mit dem Dekan Harstad ihn zu beruhigen suchte. »Hören Sie«, pflegte Harstad zu sagen, »Sie haben da mal wieder so radikale Ideen verbreitet. Wozu haben wir denn die Fachbücher. Die Berater vom Gartenbau-Infotelefon brauchen nichts weiter zu tun, als die Informationen aus den Fachbüchern weiterzugeben! Machen Sie es nicht komplizierter, als es ist. Die Leute, die anrufen, wollen sich keine Vorträge anhören, verstehen Sie? Die haben für so was keine Zeit.« Dekan Harstad besaß eine grenzenlose Geduld, und genau diese Geduld 65
brachte den Vorsitzenden X auf die Palme. Geduld als Waffe. Wenn Dekan Harstad sich bei Sitzungen in seine Geduld versenkte, schloß er dabei gewöhnlich die Augen. Es war eine Geste, die andere rasend machen konnte, ganz besonders den Vorsitzenden X, der wahrscheinlich sein Leben lang noch nie freiwillig die Augen geschlossen hatte. Der Vorsitzende X träumte insgeheim davon, Dekan Harstad umzubringen. Obwohl er im allgemeinen eher an die größeren Zusammenhänge in der Geschichte glaubte und allzeit bereit war, jede Geschichtstheorie zu verdammen, die den ›großen Männern‹ zu viel Bedeutung beimaß, war er dennoch davon überzeugt, daß es besonders destruktive Schlüsselfiguren gab, deren Platz von niemand anderem eingenommen werden konnte und deren Tod für die Menschheit ein echter Gewinn war. Und für den Vorsitzenden X war Dekan Harstad eine solche Figur. Hitler, Stalin, Nils Harstad. Gegen solche Gewaltphantasien kämpfte der Vorsitzende X, Blumenmensch und Liebhaber mehrjähriger Pflanzen, beständig an. Aber weder der Vegetarismus noch der Buddhismus, weder das lange Studium der japanischen Gartenbaukunst noch das gute Beispiel der Lady X, die eine sanfte und großzügige Frau war, hatten ihn von dem dringenden Wunsch befreien können, Dekan Harstad mit bloßen Händen zu erwürgen und ihm dabei direkt in die Augen zu schauen und ihn im letzten Moment zu zwingen, allem abzuschwören, zu bereuen und sein Leben als ein einziges Fiasko zu erkennen. Der Vorsitzende X lockerte schuldbewußt den Griff, mit dem er die Schaufel umklammerte, und hängte sie vorsichtig an den Haken im Gerätelager. Dann wusch er sich die Hände und ging hinauf in sein Büro, um eine Hausmitteilung zu schreiben. Sie lautete:
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Von: Vorsitzender des Instituts für Gartenbau An: Büro des Kanzlers Betr.: Morgantown Hall (Old Meats) Ich habe Aktivitäten am Laderampeneingang von Old Meats beobachtet. Meines Wissens ist das Gebäude stillgelegt und der Zutritt zu einem Teil der Anlage verboten, bis Renovierungsarbeiten gebilligt und durchgeführt sind. Sie sollten vielleicht überprüfen, was dort vorgeht, für den Fall, daß sich irgendwelche Studenten die Schlüssel besorgt haben und das Gebäude für nichtakademische Zwecke nutzen. Diese Hausmitteilung würde der Kanzler natürlich nie zu sehen bekommen, aber das sollte er auch nicht. Der Vorsitzende steckte sie in einen Umschlag für campusinterne Post und adressierte ihn an Mrs. Walker, Sekretärin im Büro des Kanzlers. So und nicht anders brachte man auf dem Campus die Dinge in Gang.
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9 Eine Party DUBUQUE HOUSE WAR , zur Freude der Kunden und zum Leidwesen der Verwaltung, schon immer für seine Partys berühmt gewesen. Ein paar Jahre lang, Mitte der Achtziger, waren die Wohnheimbetreuer vor jeder Party aus eigenem Antrieb durch das Gebäude gegangen und hatten die Spiegel aus den Waschräumen entfernt. Aber selbst ohne Glasscherben und scharfkantige Metallrahmen, trotz Taschenkontrolle an der Eingangstür und Pappbechern fürs Bier war es den betrunkenen Kunden gelungen, die erstaunlichsten Gegenstände in Waffen zu verwandeln. Jede Party hatte mit einer Schlägerei geendet, und jede Schlägerei für einige Kunden mit dem Krankenhaus. Im Jahre 1986 hatte die Verwaltung stillschweigend beschlossen, die Coeducation in Dubuque House abzuschaffen. Nachdem keine männlichen Kunden mehr dort wohnten, man zusätzliches Sicherheitspersonal abgestellt und den weiblichen Kunden strikte Anweisung erteilt hatte, ihre Türen abzuschließen und verschlossen zu halten, bis sie zu Bett gingen, und sich auch nachts einzuschließen, war die Anzahl der unangenehmen Zwischenfälle beinahe auf Null gesunken, und die Verwaltung hatte ihre Aufmerksamkeit wieder den Quartieren der Studentenverbindungen zuwenden können. Es war zu schade, dachte so mancher, daß man die männlichen Kunden nicht auch von den Verbindungen ausschließen oder sie überhaupt daran hindern konnte, sich auf dem Campus in Gruppen von mehr als dreien zu versammeln, aber da das nun einmal reine Utopie war, schien die beste Lösung die zu sein, sie alle zusammen in einem überschau68
baren Areal unterzubringen. Dazu dienten die Verbindungsquartiere. Die Partys in Dubuque House waren immer noch die besten auf dem Campus. Professionelle Bands, und gute dazu, reisten aus Chicago und Kansas City an, und es wurde bis spät in die Nacht getanzt. Da die Schlafzimmer der Jungen sich nicht mehr im Haus befanden, war das Vergewaltigungsrisiko wesentlich geringer geworden, denn das Wohnheim war so weit von den Verbindungsquartieren auf der anderen Seite des Campus entfernt, daß ein Mädchen spätestens auf halbem Weg dorthin wieder zur Besinnung gekommen war. Diejenigen, die umkippten und von ihren Begleitern unter Büschen und Bäumen zurückgelassen wurden, wurden von den Campussicherheitskräften aufgelesen und unverzüglich nach Hause gebracht. Entgegen den ständigen Befürchtungen von Ivar Harstad und dem Büro für studentische Angelegenheiten war noch nie jemand ernstlich krank geworden, weil er zu lange im Regen oder in der Kälte gelegen hatte. Mary, Sherri, Keri und Diane – die allesamt entsetzt waren, wie schlecht sie in ihren Seminaren mitkamen, den anderen gegenüber jedoch kein Wort darüber verloren, weil sie annahmen, daß die anderen bestens zurechtkamen – warfen sich soeben sorgfältig und erwartungsvoll für ihre erste Unifete in Schale. Man konnte eigentlich nicht sagen, daß sie sich besonders gut verstanden. Was sie füreinander empfanden, war im besten Falle eine gewisse Dankbarkeit dafür, daß es in dieser Wildnis von unbekannten Menschen und Denkweisen, in die es sie vor drei Wochen verschlagen hatte, wenigstens einen vertrauten Ort und ein paar vertraute Gesichter gab. Trotzdem hatten sie beim Umziehen viel Spaß. Das Mißtrauen, mit dem jede von ihnen anfänglich über ihre 69
Kleidung und ihr Make-up gewacht hatte, die Angst, daß irgend etwas ohne Erlaubnis benutzt oder ausgeborgt werden könnte, verschwand in dem Moment, als Sherri zu Diane sagte: »Ich habe den perfekten Gürtel zu deinem Kleid!« und dann den perfekten Gürtel aus dem Schrank holte – schwarzes Lackleder mit einer silbernen Schnalle in Form einer Hibiskusblüte – und ihn Diane hinüberreichte. Es dauerte nicht lange, und Keri trug anstelle ihres geschmackvollen, geblümten Kleides Marys lila Minirock, während Mary einen von Dianes Hüten aufsetzte. Sie trug so gut wie nie Hüte, aber sie mußte zugeben, daß ihr dieser, wenn sie ihn leicht knautschte und schief in die Stirn zog, ein geheimnisvolles Aussehen verlieh. Und ihr gefielen die Papageien, die über das Hutband marschierten. Sie paßten farblich genau zu der orange-gelben Bluse, von der sie bereits vor einer Woche beschlossen hatte, sie auf der Party zu tragen. Dann sagte Diane zu Keri: »Ah! Du hast Red Door! Das liebe ich!« Und natürlich mußten sie alle etwas davon auflegen, und sie erörterten, wie man das am besten machte – ob man es auf einen Wattebausch träufeln und damit die entscheidenden Stellen betupfen sollte, oder ob man lieber, wie Keri meinte, eine kleine Wolke versprühen und einmal hindurchlaufen sollte. Sherri lief zweimal hindurch, wo sie doch jetzt rothaarig war. Mary vergaß sich ein ganz kleines bißchen und sagte zu Keri: »Mensch, siehst du sexy aus in dem lila Rock!«, und Keri wurde knallrot, denn in genau diesem lila Rock sexy auszusehen, war seit jenem ersten Tag, als sie Mary aufmerksam beim Auspacken zugeschaut und jedes ihrer Kleidungsstücke genau registriert hatte, ein Wunschtraum von ihr gewesen. Die Kleidungsstücke in ihrer eigenen Schrankhälfte wirkten dagegen wie ein blasser, langweiliger Klumpen. Wenn sie sich morgens anzog, achtete sie 70
kaum darauf, was sie aus dem Schrank holte. Sie wußte, es würde schon irgendwie okay sein und in etwa gleich aussehen wie gestern. Um so mehr achtete sie darauf, was Mary anzog, dabei konnte man einiges lernen. Das Besondere an Mary, dachte Keri, war die Leichtigkeit, mit der sie sie selbst war. Zielsicher griff sie in den Schrank und war im Handumdrehen angezogen. Sie wählte ihre Kleidung mit Lichtgeschwindigkeit. Alles an Mary, dachte Keri, stand in positivem Kontrast zu ihr selber, und auch wenn sie Angst davor hatte, Mary zu sehr nachzueifern, hoffte sie dennoch, daß Marys Vorbild ihr mehr Kraft geben und es ihr leichter machen würde, ebenfalls sie selbst zu sein. Sherri sagte: »Ich habe gehört, daß bei diesen Partys auf jedes Mädchen mindestens zwei Jungen kommen und daß ganz verschiedene Jungen da sein werden, nicht bloß Verbindungsstudenten. Es sollen sogar ein paar Studenten von auswärts kommen.« »Meinst du, aus New York City oder so?« fragte Diane. »Das würde mir persönlich schon reichen.« Sherri spitzte vor dem Spiegel nachdenklich die Lippen und sagte dann: »Mir graut davor, daß Typen von meiner High School hier auftauchen. Ich wünschte, man würde ein großes Transparent aufhängen: ›Fishburn High, hier ist kein Platz für euch, bleibt gefälligst zu Hause!‹« Keri fragte: »Was sind das für Typen?« »Idioten. Und dann wird garantiert einer von denen meinem Ex-Freund erzählen, daß ich mit einem anderen getanzt habe. Und erst recht, wenn sie sehen, daß ich flirte oder jemanden küsse oder, wie meine Mutter sagen würde, aufreizend herumhüpfe!« Mary fragte: »Ich dachte, du hast mit ihm Schluß gemacht?« 71
»Hab ich auch, aber zum Schluß-Machen gehören zwei.« »Das ist wahr.« »Na, Mädels«, sagte Sherri, »wie sehen wir aus?« Sie standen auf und warfen einander prüfende Blicke zu. Sherri schob das Etikett von Dianes Bluse unter den Kragen zurück. »Klasse«, sagte Diane. »Große Klasse«, sagte Sherri. Keri lächelte und strich ihren lila Minirock glatt. Mary öffnete die Tür und schloß dann hinter ihnen ab. Vom zwei Stockwerke tiefer gelegenen Eßzimmer drangen die dumpfen Klänge der Band zu ihnen empor. Unweit des Campus, in einer Bar namens »The Black Hole« in der Nähe des Physik- und Astronomiegebäudes bearbeitete Gary gerade seinen Zimmergenossen Bob. »Verdammt nochmal. Es ist doch echt egal, was ein Junge anhat, solange er Jeans und Turnschuhe trägt. Es kommt schließlich darauf an, zu checken, was die Mädchen anhaben. Ich laufe nicht extra den ganzen Weg zur Wohnung zurück, nur damit du ein anderes Hemd anziehen kannst, und du gehst auch nicht allein, denn dann findest du garantiert eine Ausrede, zu Hause zu bleiben. Also komm jetzt.« Die Kundschaft des Black Hole bestand zum großen Teil aus Studenten, die auf die Frage, welches eine Nahrungsmittel sie auf eine einsame Insel (oder in ein schwarzes Loch) mitnehmen würden, ohne zu zögern geantwortet hätten: »Bud.« Sie waren felsenfest davon überzeugt, daß Bier das vollkommene Nahrungsmittel war und ihnen diese Erkenntnis bloß durch eine Verschwörung der Erwachsenen vorenthalten worden war. Obwohl Bob wußte, daß das nicht stimmte, ging er häufig ins Black Hole, denn die Atmosphäre dort war deutlich anders als in seiner Wohnung und ähnelte zudem ein bißchen der von Earl Butz’ Koben, wenn das Licht aus war. Er sagte: »Ich hasse Partys. Ich mag Anti-Partys, wie im Black Hole hier.« 72
»Verdammt, Bob. Wenn du nicht aufpaßt, landest du bald wieder auf der Farm deines Alten und stellst dir unter Ausgehen einen Abend in der Dorfkneipe vor.« Bob sagte nichts, denn das war genau das, was sein Vater und seine Onkels sich darunter vorstellten. Gary stand unvermittelt auf und sagte genervt: »Also, ich gehe jetzt.« Bob hob sein Glas hoch, um es in dem trüben Licht zu betrachten. Es war leer. Da es im Black Hole gelegentlich schwierig war, die Aufmerksamkeit des Kellners auf sich zu lenken, um noch etwas zu bestellen, stand er ebenfalls auf. »Schon gut«, sagte er. Er kannte Gary jetzt seit ungefähr einem Monat. Obwohl er ihn nicht direkt als Freund bezeichnen würde, denn dafür kannten sie sich noch nicht gut genug, fühlte er sich im Augenblick in Garys Gesellschaft recht wohl. Die Abendluft war wunderbar kühl und kam ihm vor wie eine angenehme Wolke, die eigens für sie herabgeschwebt war. Bobs Stimmung hob sich. Gary kannte viele von den Mädchen, die in parfümierten Grüppchen an ihnen vorbeiliefen. »Hey«, riefen sie, und manche kamen zu ihm herüber. »Hey, Gare. Hast du die Chemie-Sachen schon gemacht? Suzy Allison hat nach dir gefragt, ich habe sie beim Studentenschaftsgebäude getroffen. Cool, dein Hemd. Hey. Hey.« Bob bewunderte die Art, wie Gary sie gleichzeitig auf Distanz hielt und mitzog. Anstatt sich wie Bob zu verkrampfen, sobald sie näher kamen, blieb Gary ganz locker und ließ sie dicht an sich heran. Aber er lief dabei immer weiter. »Hey, Cheryl. Wow, siehst ja toll aus! Hey, Carla, hey, Barb, ruf mich an.« Er berührte sie ganz leicht am Ellbogen oder an der Schulter. Garys Verhalten war von einer derart subtilen, instinktiven Vertraulichkeit, daß er Bob wie ein Besucher von einem anderen Stern vorkam. Er 73
war ganz anders als die Männer, die Bob kannte. Die Lichter von Dubuque House schienen im schweren Rhythmus von Baßgitarre und Schlagzeug zu vibrieren, der drinnen zu hören war. Türen und Fenster waren geöffnet, um die kühle Luft hereinzulassen, und überall standen Kunden herum, ebenso viele Mädchen wie Jungen. Bob zahlte seine sechs Dollar, bekam einen Stempel auf die Hand gedrückt, erhielt zwei Biergutscheine und schob sich hinter Gary in das Gewühl. In diesem Moment wurde Diane, die mit ihrer fast vollen Cola light in der Hand den Tänzern zugeschaut hatte, plötzlich angerempelt, stieß rückwärts gegen Bob und riß ihn zu Boden. Ein zweites Mädchen stolperte und fiel ebenfalls hin. Bob hörte, wie Diane in die Schulter des anderen Mädchens hinein »Oh, Mann« stöhnte, und dann landete auch noch ein Typ in einem Garth-Brooks-T-Shirt auf ihnen, und Bob spürte, wie sein Fußgelenk sich unter der Last verdrehte und nachgab. Dennoch blieben sie nicht lange am Boden, denn die Umstehenden kamen ihnen zu Hilfe und zogen sie hoch, und dann starrten alle, einschließlich Diane, Bob an und fragten: »Alles in Ordnung? Bist du okay?« »Mehr oder weniger.« Er versuchte, einen Schritt vorwärts zu tun, aber das war unmöglich, also hüpfte und humpelte er zu einem der Tische, die man an die Wand geschoben hatte. Diane folgte ihm. Das war ein Trost. Sie sah toll aus. Sie hatte die Hände in die Hüften gestützt, und ihr kurzer Haarschnitt wirkte wie ein Ausrufezeichen; und dann diese mädchenhaften Züge, das Parfüm, die zarte Haut, die feinen blonden Härchen auf ihren Unterarmen und der wütende Ausdruck auf ihrem Gesicht. Es war dieser Gesichtsausdruck, der ihn am meisten anzog. Sie sagte: »Du hast praktisch auf mir drauf gestanden. Ich hatte keinen Zentimeter Platz!« 74
Er sagte: »Ich habe nicht da gestanden, ich habe versucht vorbeizukommen.« »Das tut bestimmt weh.« »Ja, tut es.« »Es wird schon ganz dick. Das sehe ich von hier.« »Vielleicht ist der Fuß gebrochen.« Er dachte sofort an Earl Butz. Wie sollte er ohne Auto zum Old Meats kommen? »Er ist nicht gebrochen.« »Woher willst du das wissen?« »Weil es nicht geknackt hat. Ich hätte das Knacken gehört.« Sie war ihm tatsächlich so nahe gewesen, sogar noch näher. So nah wie kein anderes Mädchen, seit er auf dem College war. Er grinste. Sie sagte: »Mist. Jetzt werde ich mich wohl darum kümmern müssen, daß du zurück in dein Wohnheim kommst. Was studierst du?« »Agronomie.« »Machst du Witze? Woher kommst du denn?« »Von einer Farm, etwa hundertfünfzig Kilometer von hier.« »Ich faß es nicht!« Sie war offenbar richtig sauer. Er sagte: »Du brauchst überhaupt nichts zu tun. Außer vielleicht uns mit diesen Gutscheinen zwei Flaschen Bier zu besorgen.« »Ich mag kein Bier.« »Na gut, dann hol dir eine Cola.« »Cola light.« »Dann eben Cola light.« »Also gut, ich geh ja schon.« Sie stapfte los. Endlich mal 75
ein Mädchen, dachte Bob, das anders war als die, die er sonst kannte. Dies war das Mädchen, das er wollte. Mary stand ein Stück entfernt halb verdeckt hinter einer Säule und beobachtete Keri. Sie war überzeugt davon, daß Keri sie nicht sehen konnte, und das war gut so, denn wenn sie sie entdeckte, würde sie bestimmt herüberkommen und freundlich und unbekümmert alles mögliche fragen. Von ihren drei Zimmergenossinnen fand Mary sie am uninteressantesten. Keri erweckte in ihr weder spontane Abneigung noch spontane Zuneigung. Keris Schönheit, über die die anderen Mädchen häufig Bemerkungen machten, wirkte auf Mary wie die aus einem Modemagazin, und die weißen Mädchen in den Magazinen erinnerten sie immer an die Barbie-Puppen, die sie als Kind gehabt hatte. Die Puppen lagen herum, und gelegentlich spielte Mary mit ihnen, aber ihre Mutter nannte sie immer »diese Dinger«. Sie sagte: »Räum diese Dinger weg« oder »Diese Dinger sehen wirklich zu albern aus«. Daher hatte Mary nicht viel von Keri gehalten, bis jetzt jedenfalls. Jetzt beobachtete Mary sie und staunte. Ihr Gesicht war gerötet, ihr blondes Haar vom Tanzen zerzaust. Ihr Hals und ihre Schultern glänzten von Schweiß. Zwei Bier hatten sie in eine ausgelassene Stimmung versetzt. Vier Jungen standen um sie herum, starrten sie an und lachten mit ihr. Auch auf andere, die weiter entfernt standen, schien sie eine magische Anziehungskraft auszuüben, denn sie schauten wie gebannt in ihre Richtung. Sie saß auf der Kante eines Tisches, den einen Fuß auf einen Stuhl gestellt – der lila Rock zeigte viel von ihren Beinen, und es waren schöne Beine, lang, wohlgeformt und glatt. Aber das Interessanteste an Keri war, daß sie nicht nur zum erstenmal Licht und Hitze ausstrahlte, sondern auch Sicherheit. Kein einziger Mann war unter ihren Bewunderern. Ihr 76
Anblick hatte sie alle in kleine Jungen verwandelt. Dies war ein Aspekt der Barbie-Existenz, an den Mary nie gedacht hatte: Barbie erschuf Ken, anatomisch inkorrekt bis ins Innerste seines Hirns, mit dem er klar und deutlich erkannte, daß Barbie unantastbar war. Unantastbar zu sein war genau das, was Mary wollte. Sie wünschte sich Sicherheit, hier an der Universität, Sicherheit daheim in Chicago, Sicherheit für ihre Zukunft, Sicherheit, ohne darüber nachdenken oder sich umschauen zu müssen, oder nachts aufzuwachen und zu überlegen, ob auch alle Türen und Fenster verriegelt waren. Obwohl ihr Wohnviertel in Chicago nicht oft Schauplatz von Schießereien war, wünschte sie sich, dort herumlaufen zu können, ohne sich zu fragen, welche der Passanten wohl Waffen bei sich trugen. Das Gefühl, nicht sicher zu sein, kostete sie eine Menge Zeit und Energie, zumal sie sich weniger sicher fühlte, als sie in Wirklichkeit war, und das hatte zur Folge, daß sie sich mehr Sorgen darüber machte als nötig, und das wiederum bedeutete, daß das Gefühl drohender Gefahr bei ihr einherging mit dem quälenden Gefühl, Zeit zu verschwenden, die sie besser hätte nutzen können. Das war ein permanenter Reibungsverlust, der an ihren Kräften zehrte und gegen den sie ankämpfen mußte, ob sie wollte oder nicht. An der Universität herrschte zwar eine etwas andere Atmosphäre, aber wenn man sich den ganzen Tag nur unter Weißen aufhielt, hatte man zwangsläufig das Gefühl, ihren Blicken, ihren Ansichten und manchmal sogar ihren Gesten ausgeliefert zu sein. Und wenn man mit anderen schwarzen Studenten zusammen war, zog man noch längere, noch argwöhnischere und aggressivere Blicke der weißen Studenten auf sich, die dann von ebenso aggressiven Blicken aus der Gruppe der Schwarzen beantwortet wurden. Keri 77
wurde niemals auf diese Weise gemustert. Mary wußte genau, daß Keri statistisch betrachtet wahrscheinlich nicht so sicher war, wie sie sich fühlte, aber es fiel ihr dennoch schwer, sie nicht um ihre selbstverständliche Unbefangenheit zu beneiden, um die Freiheit, ungezwungen den Kopf in den Nacken zu werfen und zu lachen, ihr Bein wippen zu lassen und dem Jungen neben ihr direkt ins Gesicht zu sehen, sich ganz dem Vergnügen zu überlassen, das ihr als schöner weißer Frau einfach in den Schoß fiel, einem Vergnügen, das sie nicht suchen mußte, wie Sherri, oder sorgfältig abwägen, wie Diane, oder abwehren, wie Mary selber. Sie war in der Tat zu beneiden, und jetzt, da sie hier allein und abseits stand, nicht so sehr den Blicken der anderen ausgesetzt, gestand Mary sich ein, daß sie Keri beneidete.
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10 Gleiche Zeit, andere Party HELEN L EVY veranstaltete jedes Wochenende eine Dinnerparty. Sie hatte große Kupfertöpfe mit glänzenden Deckeln, die über ihrem sechsflammigen Herd hingen, und riesige bunte Schüsseln, mehrere Stapel großer Teller, zwei Suppenkessel, die fünfzehn und dreißig Liter faßten, und einen Tisch mit drei Ausziehplatten, an dem bis zu zwanzig Personen Platz fanden. Sie hatte eine geflieste Küchentheke, über deren ganzer Länge sich eine Fensterfront erstreckte, die den Blick auf ihren Kräutergarten, ihren Gemüsegarten und ihren Garten mit eßbaren Blumen freigab. Statt ihres früheren Ehemanns, der sie viel Geld gekostet hatte, hatte sie jetzt einen Gärtner, der sehr viel weniger kostete. Sie hatte in der Küche einen Schreibtisch stehen. Sie hatte Kochbücher in französischer und italienischer Sprache; unter den französischsprachigen waren auch vietnamesische und marokkanische und unter den italienischsprachigen auch äthiopische. Sie hatte vor langer Zeit ein Buch geschrieben, damals, als ein einziges Buch noch für eine ordentliche Professur ausreichte, und seitdem hatte sie sich der kulinarischen Forschung und dem Studium von Rezepten, Kochtechniken und Küchengeräten verschrieben. Sie würde mit Sicherheit nie wieder etwas veröffentlichen, aber dank ihres Kartoffel- und Gemüsekellers, ihrer Gefriertruhe und ihres Lebensmitteldehydrators würde sie es zumindest auf kulinarischem Gebiet noch weit bringen. Ihre Gästelisten erschienen ihr im Traum, und diese Woche hatte sie sieben Namen geträumt: Cecelia Sanchez, die sie ihren Freunden vorstellen wollte, Timothy Monahan, 79
dem Cecelia anscheinend nicht mehr vorgestellt zu werden brauchte, Ivar Harstad, mit dem Helen ein ebenso langjähriges wie diskretes Verhältnis hatte, Dean Jellinek, der nebenan wohnte und sich mit Tierforschung befaßte, seine Freundin Joy, die etwa ein Meter fünfzig groß war und deren Taille den Umfang eines Baseballschlägers hatte (Pferdehaltung), Margaret Bell, die Helen immer mehr ans Herz wuchs, je länger sie gemeinsam in diesem grauenvollen Ausschuß saßen, und schließlich Dr. Bo Jones, dessen Beziehung mit Helen nun schon vierzehn Jahre zurücklag, der aber immer noch ihre Bouillabaisse liebte und dessen Frau Carla eine gute Freundin von Helen war und übers Wochenende zu ihrer Tochter und deren neugeborenem Baby gefahren war. Nur Dean und Joy bildeten ein richtiges Paar, daher waren sie die einzigen, die vielleicht nicht miteinander auskommen würden. Zu Helens Prinzipien gehörte es, nie mehr als ein Paar auf sechs Einzelpersonen einzuladen, seit sie einmal eine Geburtstagsparty für ihren damaligen Ehemann gegeben hatte, zu der niemand erschienen war, da jedes der vier eingeladenen Paare unterwegs aufgrund eines Streits wieder umgekehrt war, so daß Helen und Howard das ganze Osso bucco und das ganze Schokoladenfondue allein aufessen mußten, ein sich länger hinziehendes Unterfangen, das schließlich auch zu einer Auseinandersetzung zwischen ihnen beiden geführt hatte. Helen machte sich nichts daraus, wenn eine Dinnerparty kein Erfolg war. Schließlich veranstaltete sie jede Woche eine, und zumindest das Essen war immer gut. Aber diesmal war die Party ein voller Erfolg gewesen, bis hin zu der gefrorenen Himbeermousse und den in Schokolade getunkten Orangenwaffeln, deren Reste sie gerade abräumte. Dr. Bo war mitten in einem Vortrag über Schweine, was den anderen Gästen erlaubte, friedlich zu verdauen und ihren 80
eigenen Gedanken nachzuhängen, als Margaret ihn plötzlich unterbrach und ausrief: »Also, das erinnert mich an etwas, an das ich seit Jahren nicht mehr gedacht habe. Bevor ich in die Schule kam, waren wir häufig bei meinen Urgroßeltern auf dem Land, und dort hatte anscheinend jeder einen Heidenrespekt vor den Schweinen. Ich weiß noch, es gab dort ein Maultier und auch ein Pferd, und wenn wir in den Wald ritten, paßten wir höllisch auf, nicht herunterzufallen, damit uns die Schweine nicht erwischen würden. Ich glaube, man hat uns erzählt, sie würden uns fressen. Sind Schweine Fleischfresser?« Dr. Bo lehnte sich so weit auf seinem Stuhl zurück, daß die Lehne knackte, und sagte: »Wenn das Schwein hungrig ist, frißt es fast alles. Früher war es durchaus üblich, die Tiere in den Wäldern nach Futter suchen zu lassen, und wie man weiß, blättert der Lack der Zivilisation von den Schweinen sehr leicht ab, wirklich sehr leicht. Sagt man zum Schwein ›Paß dich an‹, dann paßt es sich an, egal ob an ein domestiziertes oder ein wildes Leben. Auf der ganzen Welt stehen Mensch und Schwein einander mißtrauisch gegenüber. Der Frieden zwischen ihnen ist sehr brüchig, wie Ihre Verwandten sicherlich bestätigen könnten.« Margaret, die noch in ihren Erinnerungen schwelgte, sagte: »Und bei uns zu Hause gab es auch nie Schweinefleisch. Mein Vater konnte Schweinefleisch nicht ausstehen!« »Woher kommen Sie?« fragte Joy. »Ich bin in Kansas City aufgewachsen, aber die Familie meines Vaters lebte in Arkansas. Dort gab es auch diese Schweine. Ich glaube, ich war erst fünf, als ich zum letzten Mal dort zu Besuch war.« Dean sagte: »Erstaunlich, daß Sie sich daran erinnern. Wir sind umgezogen, als ich fünf war, und ich weiß nicht 81
einmal mehr, wie das Haus aussah, in dem wir bis dahin gelebt haben.« Dr. Bo, der nicht von seinem Lieblingsthema abzubringen war, sagte: »Das Schwein in dieser Gegend muß schlank und sehr schnell gewesen sein. Saftige Schinken und dunkle Schulterstücke.« Margaret sagte: »Meine Großmutter stellte den Schinken immer so auf den Tisch, als ob – also, sie sagte immer: ›Jesus höchstpersönlich hat beim letzten Abendmahl Schinken gegessen‹, und mein Onkel sagte immer: ›Juden essen keinen Schinken, Mama‹, und daraufhin schaute meine Großmutter ihn an und sagte: ›Na, was meinst du wohl, woher die Leute sonst gewußt haben, daß er Christ war und nicht Jude?‹« Alle lachten. Dr. Bo versuchte es mit einer letzten Tatsache: »Die Spanier haben das Schwein hergebracht. Haben es überall in der Karibik ausgesetzt, damit die Fleischversorgung gesichert war, wenn sie im nächsten Jahr wiederkamen. Eine ökologische Katastrophe selbstverständlich.« Helen stellte eine Tasse Kaffee vor ihn hin, und er nahm einen großen Schluck. Es entstand eine lange Gesprächspause, was nicht selten vorkam, wenn sich Dr. Bo unter den Gästen befand. Helen wußte, daß die meisten Gäste damit beschäftigt waren, ein gewisses Interesse und Gespür für die Informationen zu entwickeln, die sie soeben über Schweine erhalten hatten. Sie sagte: »Wollen wir den Kaffee mit ins Wohnzimmer nehmen?« Zwanzig Minuten, höchstens eine halbe Stunde würden sie noch beisammensitzen, obwohl es erst halb elf war. Die Gruppe heute bestand vorwiegend aus jüngeren Leuten, und das bedeutete: gesetztes Benehmen. Sie schaute zu Ivar hinüber. Sie hatten sich während ihres ersten 82
Jahrs an der Universität auf einer Party kennengelernt, die von einem Ehepaar aus dem Institut für Psychologie gegeben wurde und auf der man, wie damals auf allen Partys üblich, um sechs Uhr mit dem Whiskytrinken begann, während das Abendessen gegen zehn auf den Tisch gebracht wurde, so daß mancher Kopf zwischen den Gängen auf die Tischplatte sank. Wenn der letzte Tropfen Brandy vom Rand der letzten Flasche geleckt wurde, war es meist lange nach Mitternacht. Auf der besagten Party wurde gegen neun entdeckt, daß die schon recht betagte Mutter der Gastgeberin mit einem Glas Bourbon in der Hand in ihrem Sessel entschlafen war. Nachdem jemand eine Wolldecke über sie gebreitet und ihr den Drink aus der Hand genommen hatte, kümmerte sich niemand mehr um sie, bis alle nach dem Genuß von Roastbeef und Kaffee langsam wieder nüchtern wurden. Helen war beeindruckt gewesen von der Gelassenheit, mit der die Gastgeberin auf ihre Mutter hinuntergeblickt, nachdenklich an ihrem Drink genippt hatte und dann in die Küche zurückgegangen war, um die Brötchen aus dem Ofen zu holen. Timothy Monahan nahm einen Brandy entgegen, schwenkte das Glas leicht in der Hand und schaute Cecelia an, die sich neben Joy Pfisterer gesetzt hatte. Das Problem, war er versucht zu denken (aber ein solcher Gedanke war immer eine Versuchung), bestand darin, daß sein Ruhm sich nicht bis hierhin ausgebreitet hatte und ihm daher, was beispielsweise Cecelia anging, nicht im gleichen Maße Vorteile verschaffte, wie das an der Ostküste der Fall war. Die Kurzgeschichten in Granta und The Paris Review, die Artikel in 7 Days und sogar die Kritiken, die er für die Times geschrieben hatte, beeindruckten hier niemanden. Sie sprachen nicht halb so sehr für ihn, wie der Verriß (mit Bild), den er in People bekommen hatte, gegen ihn sprach. 83
Nach dem Erscheinen dieses Verrisses hatten elf seiner Studenten ihm gegenüber erwähnt, daß ihre Mütter gefragt hätten, ob er vielleicht dieser Timothy Monahan sei? Angesichts einer solchen Kritik war man versucht, »nein« zu sagen (die kurze Antwort) oder die amerikanische Unterscheidung zwischen Elite- und Massenkultur zu erklären (die lange Antwort). Wie dem auch sei, rein empirisch gesehen hatte er in diesem Sommer bei seinem Triumphzug von Schriftstellerkongreß zu Schriftstellerkongreß seine Fähigkeiten sowohl auf sexuellem als auch auf fachlichem Gebiet unter Beweis gestellt. Überall dort war er bereits bekannt, während er hier jedem, den er traf, erst einmal erklären mußte, daß er am Institut für Anglistik war und was er unterrichtete, worauf er oft nur ein höfliches »Aha« zu hören bekam, das klang, als würde ihm selbst diese Erklärung noch keine Anerkennung verschaffen. Offensichtlich war Cecelia derartig mit ihren Kursen und ihrer Dissertation beschäftigt, daß sie seine literarischen Werke ebensowenig kannte wie die anderen. Beim Flirten mit ihr mußte er sich daher voll und ganz auf seine Persönlichkeit verlassen, was keine gute Ausgangsposition war. Margaret setzte sich neben ihn und nahm einen Schluck von seinem Brandy. Er sagte: »Na, Kleines.« Sie sagte: »Ich hatte heute abend noch keine Gelegenheit, mit dir zu reden. Hast du die Mappe mit deinen Besprechungen zusammengestellt?« »Ich habe sie am Donnerstag abgegeben. Aber du wirst sie bestimmt erst in ein paar Monaten zu Gesicht bekommen, oder?« »Ich werde sie gar nicht zu Gesicht bekommen. Als Mitglied desselben Instituts bin ich an der Entscheidung nicht beteiligt.« »Wahrscheinlich ist das ganz gut so, nicht wahr, Dr. 84
Bell?« »Ach, ich weiß nicht.« Sie lächelte, und möglicherweise sprach Zuneigung aus ihrem Blick. Tim war sich nicht sicher. Seine Affäre mit Margaret, die inzwischen drei Jahre zurücklag, hatte auf der Annahme basiert, daß sie keine seiner Arbeiten gelesen hatte. Dann, eines Sonntags, hatte sie beim Frühstück die Times durchgeblättert und einen Laut von sich gegeben, nur einen winzigen Laut, als sie auf die Besprechung eines Romans gestoßen war, dessen Autor Tim kannte und verachtete. Er war ein totaler Blender, sein literarischer Ansatz höchst unseriös, sein Stil zweitklassig, und das schon seit der Zeit, als Tim gemeinsam mit ihm die Columbia-Universität besucht hatte. Es war ein zustimmender Laut gewesen, daher hatte Tim aufgeschaut und »Was gibt’s?« gesagt, und Margaret hatte ihm die Besprechung gezeigt. Tim hatte nur verächtlich geschnaubt, und dann hatte Margaret gesagt, daß sie einen Aufsatz über diesen Witzbold in ihr Buch aufnehmen wollte, und Tim hatte gesagt: »Also, in dem Fall solltest du doch mal meine Bücher lesen«, und sie hatte gesagt: »Du weißt genau, daß ich sie gelesen habe«, und sie hatten sich angeschaut, und er hatte danach nie wieder auch nur das geringste Verlangen nach ihr verspürt: er konnte machen, was er wollte, bei der Erinnerung an diesen stillschweigenden Meinungsaustausch zog sich ihm immer noch alles zusammen, auch wenn er keinerlei Rachegefühle hegte. Er lächelte und sagte: »Naja, da besteht natürlich ein Interessenkonflikt.« Sie nickte und fragte: »Hast du schon einen Verleger für dein neues Buch gefunden?« »Im Moment liegt es bei Little, Brown.« »Ein Abschluß wäre von großem Nutzen. Mit drei Büchern wäre dir die Beförderung sicher. Dagegen können 85
Ignoranz und Unwille der anderen nicht an.« Tim zuckte die Achseln. Den Satz »Ein Abschluß wäre von großem Nutzen« bekam er zur Zeit überall zu hören. »Ich bin gleich zurück.« Margaret stand auf und ging ins Badezimmer. Cecelia reckte sich, gähnte und tastete nach den Spangen in ihrem Haar, um festzustellen, ob sie sich gelöst hatten. Durch diese Bewegung hoben sich ihre Brüste – sie hatte große Brüste –, und Tims Aufmerksamkeit wurde magisch von dem zarten weißen Baumwollstoff ihrer Bluse angezogen. Er hörte sie sagen: »Ich bin zu Fuß hier. Ich wohne nur ein paar Straßen entfernt.« Ehe Joy auch nur ein Wort sagen konnte, nutzte er die Gelegenheit: »Zufällig bin ich auch zu Fuß hier. Es wäre mir ein Vergnügen, Sie nach Hause zu begleiten.« Ein spöttisches Lächeln huschte über ihr Gesicht, aber sie sagte: »In Ordnung, Tim.« Er sagte zu Joy: »Unsere Unterrichtsräume liegen direkt nebeneinander.« Cecelia sagte: »Ja, aber seine Studenten lachen ständig, während meine nur ihre Sätze herunterleiern.« »Naja, bei mir lesen sie ihre eigenen Texte vor, und sie finden sich sehr komisch.« Joy warf ihm einen ernsten Blick zu. Er sagte zu ihr: »Und was machen Sie?« »Zur Zeit beschäftige ich mich mit Parasiten. Und nächste Woche sind die Impfungen dran.« »Wen impfen Sie?« »Ach so, Pferde. Ich bin für den Pferdestall der Universität verantwortlich und leite den Reitklub.« Sie verstummte, schaute ihn aber weiter an. Offensichtlich gehörte sie zu den Menschen, für die eine Unterhaltung kein Selbstzweck war. Er hielt ihrem Blick eine Zeitlang stand, dann sagte er: »Also, Cecelia, sagen Sie mir 86
»Also, Cecelia, sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie aufbrechen wollen.« Er nahm seine Kaffeetasse zur Hand, schaute hinein, dann trank er einen Schluck. Die Party neigte sich dem Ende zu, und es gab nicht mehr viel zu tun. Er hatte bereits zweimal freundlich mit dem Kanzler geplaudert, Helen Komplimente für das Essen gemacht, einen nicht enden wollenden Vortrag von diesem Jellinek über das Klonen von Rindern über sich ergehen lassen und angehört, was der Zoologe über Schweine zu sagen hatte. Er hatte überlegt, wie er Margarets frühkindliche Erinnerungen, die zweifellos pittoresk waren, in einer Geschichte unterbringen könnte, und er hatte sich bei einem Gang zum Badezimmer, das im oberen Stockwerk lag, die Medikamente gemerkt, die Helen nahm oder genommen hatte, die Namen der Kosmetika, die sie in Frankreich gekauft hatte, sowie den Preis des neuen Pullovers auf ihrem Bett. Er hatte den Badezimmerschrank geöffnet und ein paar Schachteln Tampons vorgefunden, was darauf hinwies, daß die Wechseljahre noch nicht hinter ihr lagen, und außerdem zwei Diaphragmabehälter, was bedeutete, daß Helen sexuell noch aktiv war. Es kursierten Gerüchte, denen zufolge ihr Sexualleben früher rege und vielseitig gewesen war. Tim war erfreut darüber, daß sie es nicht restlos durch kulinarische Aktivitäten ersetzt hatte. Genaugenommen war er froh darüber, auf dem Campus überhaupt irgendwelche Anzeichen von sexueller Aktivität zu entdecken. Immer wieder fragte er sich leicht beklommen, ob er als einziger dieses Feld beackerte. Es kursierten noch andere, weit interessantere Gerüchte über Helen, Gerüchte, die einen auf grundlegende philosophische Fragen brachten. Tim starrte in seinen Brandy und sann diesen Fragen nach, bis er ausgetrunken hatte. 87
Danach lächelte er den Kanzler an, der das Lächeln auf seine wissende, geheimnistuerische Art erwiderte, und dann sagte Cecelia, so laut, daß er es hören konnte: »Also, ich glaube…«, und Helen sagte: »Müssen Sie wirklich schon…«, und dann war die Party zu Ende. Dr. Dean Jellinek, Tierforscher, und seine Freundin Joy Pfisterer gingen schweigend zu seinem Haus hinüber, das direkt nebenan lag, so wie es sich für zwei Menschen gehörte, die seit drei Tagen Streit miteinander hatten und ihre Meinungsverschiedenheiten nur für die Dauer des Abends beiseite geschoben hatten, um den Schein zu wahren. Er schloß die Haustür auf, schaltete das Licht auf der Veranda aus und warf einen prüfenden Blick zum oberen Stockwerk. Alles war dunkel. Joy sagte: »Chris ist anscheinend doch schon ins Bett gegangen. Ich höre den Fernseher nicht.« Sie standen schweigend da und lauschten. »Ich schaue gleich im Computerzimmer nach. Fährst du nach Hause, oder bleibst du hier?« »Ich muß um fünf aufstehen.« »Auch hier stehen Leute um fünf auf. Andere schlafen trotzdem weiter.« »Es ist einfacher –« »Gut, ruf mich an, sobald du zu Hause bist.« »Dean –« »Joy, Stoshie ist nicht mehr da. Mir gefällt es nicht, wenn du in eine leere Wohnung kommst.« Ihre Wohnung war noch keineswegs leer, dachte Joy. Erst in knapp zwei Wochen würde sie in Deans großes, komfortables Haus einziehen. »Es ist noch viel zu tun, bis die neuen Mieter einziehen können. Ich will nur –« Keines dieser Themen berührte ihre Meinungsverschie88
denheit, aber natürlich war ihnen jeder Anlaß willkommen, dachte Joy, und wenn es Stoshie war, ihr alter Dalmatiner, den sie vor einem Monat hatte einschläfern lassen müssen (Nierenversagen). Joy legte die Hand auf den Türknauf. »Gib Chris einen Gutenachtkuß von mir.« »Der Kanzler glaubt, daß Fördermittel zu bekommen sind. In großem Umfang. Einige Millionen für Vorversuche.« »Großartig.« Jetzt ging es wieder los. »Ihm sind spontan vier, fünf mögliche Geldgeber eingefallen. An zwei davon hatte ich noch gar nicht gedacht. Es könnte alles ganz schnell gehen.« »Gut. Je schneller, desto besser.« »Joy –« »Was?« »Ich brauche deine Unterstützung. Ich werde dadurch die andere Sache wettmachen.« »Du wirst auch so darüber hinwegkommen, ohne etwas wettzumachen.« »Das schaffe ich nicht. Du weißt genau, daß man jetzt für alle Zeiten vom ›Dichter-Verfahren‹ sprechen wird. Es hätte genausogut ›Jellinek-Verfahren‹ heißen können.« »Aber das Verfahren gehört ihm doch nicht! Du mußt nichts dafür bezahlen, wenn du es anwendest.« »Manche Leute, deren Herzblut in eine Erfindung geflossen ist, rackern sich halt weiter im verborgenen ab, während jemand anders zu Ruhm und Ehre kommt.« Klonen. Klonen. Dean war vom Klonen besessen und trug diese Besessenheit offen zur Schau. Es stimmte, daß sein Herzblut, oder zumindest die Arbeit von zehn Jahren und beträchtliche Fördermittel, in die Entwicklung einer 89
Methode zum Transfer von genetischem Material von einem Kalbsembryo zum anderen geflossen waren, bei der man die beiden achtzelligen Rinderembryonen zwischen zwei Elektroden brachte, den Strom anschaltete und dadurch bewirkte, daß aus zwei Embryonen einer wurde, obwohl Joy sich nicht ganz darüber im klaren war, wie das genau vor sich ging. Und es war ebenfalls richtig, daß Dean dabeigewesen war, den Artikel über diese erfolgreichen Nukleartransfers zu schreiben, und länger an seinem Stil gefeilt hatte, weil er meinte, er habe einen Vorsprung und könne sich mit der Veröffentlichung Zeit lassen, als ihn plötzlich Dichter et al. von der UC Davis mit einem Artikel in Nature überrumpelten. Das war im Frühling gewesen. Seitdem hatte Dean sich im Haus verkrochen und darüber gegrübelt, welche wichtigen Tagungen er verpaßt hatte und woran es sonst noch gelegen haben konnte, daß er nicht auf dem laufenden gewesen war. Er hatte nichts gehört, niemand hatte ihm auch nur ein Sterbenswörtchen verraten, und er war sicher, daß alle es gewußt hatten, seine Doktoranden, seine Kollegen, seine Ansprechpartner bei der FDA, die Herausgeber all der Zeitschriften, in denen er veröffentlichte. Aber inzwischen hatte er ein neues Projekt, und Joy war so unklug gewesen, ihre Skepsis darüber zu äußern, und deshalb war er seit drei Tagen wütend auf sie. Die Idee war großartig und, wie alle genialen Ideen, ganz einfach, so einfach wie die Idee des Klonens an sich. Dean hatte ihr häufig erzählt, daß jeder auf seine Weise zum Klonen kam. Er selber war, nach eigener Schilderung, vor etlichen Jahren dazu gekommen, als Chris noch klein war und sich samstags morgens immer die Zeichentrickfilme im Fernsehen anschaute. Sie hatten gemeinsam auf der Couch gesessen und aus Vater-und-Sohn-Schüsseln ReisCrispies gegessen, und auf dem Bildschirm war ein kleiner 90
Hund erschienen, der sich plötzlich in ein ganzes Rudel von Hunden verwandelte, die wie beim Exerzieren alle gleichzeitig bellten, mit den Schwänzen wedelten und die Köpfe bewegten, und in diesem Moment hatte er, Dean Jellinek, Kühe vor sich gesehen, wunderschöne, schwarzweiße Holsteiner auf einer grünen Wiese, deren Haut identisch gezeichnet war, die alle gleichzeitig die Köpfe bewegten, muhten und mit den Schwänzen schlugen; eine geklonte Herde, eine perfekte Herde perfekter Kühe. Warum sollte man so etwas erschaffen, hatte er sich dann gefragt, und die Antwort war ebenfalls ganz einfach, was ein sicheres Zeichen für eine gute Antwort war: Man würde so etwas erschaffen, weil es wunderschön war und weil es MÖGLICH war. Erfüllt von der Schönheit und Schlichtheit seiner Idee, war er aufgesprungen, hatte seine Schüssel auf der Couch abgestellt, und Elaines betagter Schnauzer hatte sich sogleich über die restlichen Reis-Crispies hergemacht. Dean war aus dem Haus gestürzt, in seinen Wagen gesprungen und zum Labor gefahren. Er hatte gar nicht daran gedacht, daß Chris allein zurückblieb, und als Elaine vom Einkaufen nach Hause kam, war der Zweijährige emsig dabei, die Fernsehprogramme neu einzustellen, was zur Folge hatte, daß auf allen Kanälen Schneetreiben herrschte. Aber das Bild in seinem Kopf war klar und deutlich gewesen! Eine grüne Wiese, blauer Himmel, identische schwarzweiße Kühe, die ihm alle zur gleichen Zeit und mit der gleichen Bewegung den Kopf zuwandten! In den vergangenen Jahren hatte er Scheidung, Sorgerechtsverhandlung, Einsamkeit und neue Liebe erlebt, aber die Sehnsucht führte ihn unablässig und nachdrücklich zu diesem Bild zurück. Und dann tauchten Dichter et al. auf, und es war, als müsse er zusehen, wie die einzige Frau, die er je geliebt 91
hatte, einen anderen Mann heiratete und dessen Namen annahm, nur daß es nach Deans innerer Überzeugung im Leben viele mögliche Ehefrauen gab, aber nur eine oder zwei geniale Ideen. Joy hob die Arme und zog seinen Kopf zu sich herunter, um ihm einen Gutenachtkuß zu geben. Er sträubte sich. Sie lächelte ihn an und sagte: »Na komm schon. Wir werden sehen. Sei nicht mehr sauer. Ich hasse es, wenn wir uns nicht vertragen. Und du mußt ja nicht mich überzeugen, sondern die Leute mit dem Geld. Und Anträge für Fördermittel schreiben kannst du wie kein zweiter.« »Findest du?« Er wußte, daß sie ja sagen würde. »Ja, finde ich. Ich zweifle nicht an DIR. Die Idee kommt mir nur etwas ungewöhnlich vor. Ich werde mich schon daran gewöhnen.« Er war besänftigt. Er beugte sich hinab und gab ihr einen langen, warmen Kuß. Er flüsterte: »Es könnte klappen.« UNTERDESSEN MACHTE der Flirt zwischen Tim und Cecelia schnellere Fortschritte, als er gedacht hatte, und auch schnellere, als Cecelia für ratsam hielt. Tatsache war, daß er auf DIESE GEWISSE WEISE (wie Cecelia es im stillen nannte) gut aussah, und an den Tagen, an denen sie Raum an Raum unterrichteten, zog sie sich morgens mit größerer Sorgfalt und Freude an, die Routine war ihr weniger lästig, und die vor ihr liegenden Stunden erschienen ihr kürzer als sonst. Sie hatte nach wie vor das Gefühl, von ungewöhnlicher Stille umgeben zu sein, und sie reagierte darauf mit Schläfrigkeit. Als sie ihrem Vater am Telefon davon erzählte, erinnerte er sie an ihren ersten Schultag – im Klassenzimmer war es, verglichen mit dem Kindergarten, so still gewesen, daß sie an ihrem Tisch einschlief, vom Stuhl fiel 92
und nach Hause geschickt wurde. Danach war ihre akademische Karriere bis zum heutigen Tag ziemlich erfolgreich verlaufen. Die Studenten beteiligten sich fleißig, wenn auch in einer Art Gemurmel. Einmal hatte Cecelia sie gebeten, ihre Antworten herauszuschreien, aber nach drei oder vier Versuchen waren sie peinlich berührt wieder in das ihnen vertraute Summen zurückgefallen. An anderen Tagen forderte sie die Studenten auf, im Raum herumzulaufen und sich gegenseitig anzusprechen; sie forderte sie auf, so zu tun, als würden sie sich streiten oder miteinander feilschen. Cecelia erkannte sofort, daß sie bei jedem Konflikt nachgeben, auf jedem Markt übers Ohr gehauen werden würden und daß sie ihre Zurückhaltung für ein Zeichen von Wohlerzogenheit hielten. Sie ahnten ja nicht, daß sie auf Cecelia einschläfernd wirkten, daß sie sich ihre Namen partout nicht merken konnte und daß sie sich noch nie so wenig für eine Klasse interessiert hatte. Ihre Kollegen waren auch nicht viel besser. Sie luden sie zum Mittag- oder Abendessen ein, aber es schien ein allgemeines Tabu zu bestehen, angesichts von Speisen Themen anzusprechen, die auch nur im entferntesten heikel waren. Und alles, was auch nur im entferntesten mit der Wirklichkeit zu tun hatte, wurde als heikel erachtet: die Tatsache, daß ihr Vater, der in Mexiko Arzt gewesen war, in Los Angeles als Gärtner arbeitete, und ihre Mutter, die in Mexiko Wirtschaftsprüferin gewesen war, als Buchhalterin; die Rassenkonflikte in L.A. im allgemeinen; ihre Scheidung; die Mitgliedschaft eines ihrer Cousins in einer Straßengang in L.A. – Wenn sie zufällig eines dieser Themen streifte, schienen ihre Gesprächspartner wie selbstverständlich davon auszugehen, daß sie sich schämte, über so etwas zu reden, und gaben sich die größte Mühe, ihr dies zu ersparen. Über die Auseinandersetzungen im Fachbereich, die 93
zahlreich waren, wurde, wie sich herausstellte, nur in Anspielungen und mit leiser Stimme geredet. Jedesmal wenn Cecelia glaubte, ein schmeichelhaftes Interesse am Privatleben einer neuen Bekanntschaft bekunden zu sollen, sagte die betreffende Person: »Oh, ich würde Sie bestimmt langweilen, es ist so normal.« Wenn sie im Sekretariat ihres Fachbereichs die Gespräche anderer mitanhörte, ging es dabei unweigerlich um Gärten, Wohnungseinrichtungen oder Schulprobleme, drei Themen, auf die sie nicht im geringsten neugierig war. Ein besonders bezeichnendes Gespräch zwischen zwei Germanistikprofessorinnen, in deren Nähe sie sich zehn Minuten lang herumgedrückt hatte, war um eine Selbsthilfegruppe gekreist, der sie beide angehörten und deren Mitglieder das zwanghafte Verlangen verspürten, ihre Kleider zu zerreißen und daraus Flickenteppiche zu nähen. Aus diesem trägen Meer der Stille ragte Timothy Monahan heraus. Er hätte auch herausgeragt, wenn er nicht auf DIESE GEWISSE WEISE ausgesehen hätte (schwarze Haare, blaue Augen, schmales Gesicht, große Hände). Er war nicht direkt und impulsiv wie die Männer, mit denen sie auf gewachsen war, aber alles was er sagte, und er sagte eine Menge, rief irgendeine Reaktion hervor – Gelächter oder Widerspruch oder sogar Zorn, oder sexuelles Verlangen, oder Nachdenklichkeit. Nie ließen seine Worte sie gleichgültig, und sie schienen das Versprechen zu enthalten, daß jede ihrer Reaktionen interessant und seiner Aufmerksamkeit wert wäre. Cecelia wußte (daher ihre Vorsicht), daß diese Eigenschaft von ihm ebensowenig eine Tugend war, wie ein Gesicht es war oder körperliche Geschmeidigkeit. Cecelia hatte schon häufiger Äußerlichkeiten als Charakterzüge mißdeutet, und sie war verletzlich und leicht zu verwirren, und das spürte er natürlich, und 94
das war ein weiterer Grund, vorsichtig zu sein. Man brauchte ihn sich nur anzuschauen. In diesem Moment, während sie die Straße entlanggingen, rief er gerade ihren Unglauben hervor. »Sie hat übrigens zwei Vaginen«, sagte er. »Das können Sie unmöglich wissen.« »Ich schwöre es.« »Hat sie es Ihnen erzählt?« »Zwei vollständige Sätze weiblicher Fortpflanzungsorgane.« »Ich bin empört, daß Sie mir so etwas erzählen.« »Finden Sie es nicht anregend? Ich schon.« Er grinste sie boshaft an. »Ich finde, das geht ganz allein Helen etwas an.« »Ich find’s interessant.« »Ich werde das sofort nach unserem Gespräch wieder vergessen.« »Warum? Es ist bloß eine anatomische Tatsache.« »Wie naiv von Ihnen, das zu behaupten.« »Sie haben doch ihre Küche gesehen, all die riesigen Töpfe und Terrinen und Nudelschüsseln und Blumenschalen und Siebe und Orchideen und die großen roten Amaryllisblüten und das Georgia-O’Keefe-Poster an der Wand. Es ist das Leitmotiv ihres Lebens und trotzdem nur eine anatomische Tatsache. Ich betrachte es als eine Art Herausforderung. Ich bin sicher, daß einige Leute sich auf Helens Partys ziemlich unwohl fühlen. Ich dagegen fühle mich außerordentlich wohl. Es hängt davon ab, wie man zu Frauen steht. Aber alle wissen es.« »Alle glauben es. Glauben ist nicht Wissen, egal wie hartnäckig man an ihm festhält.« 95
»Na schön, dann wissen es eben nur einige. Und einige von denen haben es weitererzählt.« »Ich weiß nicht.« Cecelia wußte, daß ihr Tonfall streng klang. Sie schaute Tim an. Er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Sie haben sich die ganze Zeit nur über mich lustig gemacht!« Er zuckte die Achseln. »Aber es ist trotzdem eine interessante Vorstellung, oder?« »Ihnen ist auch gar nichts heilig.« »Mag sein.« Die Veranda ihres Hauses kam in Sicht. Sie blieb auf der Straße stehen. »Vielen Dank, daß Sie mich begleitet haben.« »Hey.« Er griff nach ihrem Handgelenk und zog sie zu sich heran. Sie machte sich los. »Ich mag es nicht, wenn man mich veralbert.« »Dann ist es eben wahr.« »In diesem Fall mag ich solche Klatschgeschichten nicht.« »Dann ist es eben ein Spiel. Wie das Schreiben eines Romans. Ein Spiel, bei dem man Phantasievorstellungen weiterspinnt.« »Sie können auf keinen Fall bis zur Tür mitkommen, und versuchen Sie ja nicht, mich zu küssen. Ich bin verärgert, und ich kann es nicht leiden, wenn ein Mann das aufregend findet.« »Okay. Aber ich werde warten, bis Sie im Haus sind.« »Okay.« »Dann werde ich zurück zu Helens Haus gehen, um meinen Wagen zu holen.« Er sprach, wie immer, mit munterer 96
Gelassenheit. Sie drehte sich abrupt um, stieg würdevoll die Verandastufen hinauf und steckte energisch den Schlüssel ins Schlüsselloch. Er rief: »Schlafen Sie gut, Cecelia. Ich rufe Sie morgen an!«, als sei es ihm egal, ob er die ganze Nachbarschaft aufweckte. Cecelia zuckte zusammen. Die Stille war durchbrochen worden, vielleicht zum erstenmal.
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11 Wiedergeboren NILS HARSTAD, der Dekan für Technologietransfer, hörte alles ganz genau – das Klicken des Türschlosses, die Schritte im Erdgeschoß und das vom Teppich gedämpfte Knarren der Stufen, als sein Bruder Ivar die Treppe zu seinem Schlafzimmer hinaufstieg. Nils schaute auf die Uhr, 3:43, aber er knipste weder das Licht an, noch setzte er sich im Bett auf. Normalerweise wäre er gar nicht wach gewesen, aber heute nacht stand er, im Alter von fünfundfünfzig Jahren, an der Schwelle zu einem neuen Leben. Nicht daß er sein bisheriges Leben verwarf – da gab es nichts zu verwerfen. Er hatte sich immer freigebig verströmt und all sein Wissen und seine Kraft gegeben, auch wenn ihm kein großer Lohn dafür winkte. Die ersten Jahre auf seinem Gebiet waren zugleich die schönsten gewesen, die Zeit des Supersaatguts und der hohen Ernteerträge, ungläubig bestaunt von den Farmern aus den Dörfern, die herbeikamen, um seine Versuchsfelder zu besichtigen. Die sechziger Jahre! Das Zeitalter herrlicher Akronyme wie SEATO, UNESCO oder CARE. Energische junge Agronomen, deren Mähnen von der Sonne gebleicht und vom Wind zerzaust waren und an deren breiten, muskulösen Händen noch Erde klebte, waren in alle Himmelsrichtungen ausgeschwärmt und hatten das Wissen über Hybride und Kunstdünger und Mineralzusätze und Maschinen und Be- und Entwässerungssysteme (selbstverständlich auch über Subventionen und Zuschüsse und zinsgünstige Darlehen und Investitionen) verbreitet, das ihre agronomischen Vorfahren während des Krieges und bis in die blühenden fünfziger 98
Jahre hinein entwickelt hatten. Nils und seinen Kollegen war die Aufgabe zugefallen, die frohe Botschaft zu verkünden – Der Hunger ist besiegt! Die Kornspeicher sind zum Bersten gefüllt! Kinder aller Rassen, Glaubensbekenntnisse und Hautfarben marschieren wohlgenährt in Reih und Glied zur Schule! Nils erschauderte und zog die Steppdecke bis ans Kinn. Er war dabei, das Alte abzuschütteln und das Neue in Besitz zu nehmen. Der Plan war ihm kurz vor dem Zubettgehen gekommen, zunächst nur als die Erkenntnis, daß Marly Hellmich, eine junge Frau aus seiner Kirchengemeinde, sich offensichtlich zu ihm hingezogen fühlte. Er hatte darüber nachgedacht, wie schmeichelhaft das war, denn sie war höchstens dreißig, und daß sie ihre Zuneigung auf sehr angenehme Weise ausdrückte – umsichtig, beinah verlegen –, und dann hatte er seine elektrische Zahnbürste eingeschaltet und seine ganze Aufmerksamkeit, so glaubte er wenigstens, der Reinigung seiner Zähne und der Massage seines Zahnfleischs gewidmet – und in dem Moment, als er den kleinen Motor ausschaltete und wieder von Stille umgeben war, hatte er seinen Plan vor Augen gehabt: eine Heirat, viele Kinder, die christliche Vaterschaft, von der er eigentlich nicht mehr geglaubt hatte, daß sie ihm noch vergönnt sein würde. Der Schlüssel dazu waren natürlich ein oder zwei künstlich herbeigeführte Mehrfachgeburten, die den Zeitverlust ausgleichen würden und zugleich den Vorteil hatten, die Wissenschaft in den Dienst der göttlichen Glorie und der Vergrößerung von Nils’ Kirchengemeinde zu stellen. Nils’ Dankbarkeit gegenüber seiner Kirchengemeinde war unermeßlich, denn dank ihrer Glaubenslehren und der Unterstützung des Pfarrers und der übrigen Gemeindemitglieder hatte er es noch im fortgeschrittenen Alter geschafft, alle 99
möglichen Zweifel zu überwinden – Zweifel an Gott, Zweifel an sich selbst, Zweifel an der Güte und Gerechtigkeit der Vorsehung, Zweifel an seinem Lebensweg. Jedesmal, wenn sich sein Eintritt in die Kirchengemeinde jährte, wachte er morgens auf und staunte über dieses Wunder, und dann sprach er ein Dankgebet für die unverminderte Gewißheit, die ihm der Glaube verlieh. Er spürte bis ins Innerste jeden Tag aufs neue die Zustimmung des Herrn. Die Folgen der Überwindung seiner Zweifel waren nichts weniger als wunderbar: Überwindung des Zorns (er behandelte jedes Universitätsproblem jetzt mit einer Geduld, von der er früher nur träumen konnte), Überwindung der Wut, vor allem auf seine verstorbene Frau, von der er glaubte, daß sie ihre Vorbehalte gegenüber seinem Leben und seiner Arbeit nie wirklich aufgegeben hatte, und Überwindung der lebenslangen Einsamkeit aufgrund der schmerzlichen Trennung von seinen Eltern und des von ihm verspürten fundamentalen Gegensatzes zwischen ihm und Ivar, denn obwohl sie gleich aussahen, ihre Stimmen gleich klangen und sie einige Interessen miteinander teilten, wußte nur Nils, wie unterschiedlich sie im Grunde waren – derartig unterschiedlich, daß er immer geglaubt hatte, sie könnten unmöglich eineiige Zwillinge sein oder ihr identisches Äußeres sei nur eine Illusion, die ihnen andere aufgeschwatzt hätten. Seit er sich seiner Kirchengemeinde angeschlossen hatte, war er wesentlich besser mit Ivar zurechtgekommen – wesentlich besser in der Lage gewesen, ihre Meinungsverschiedenheiten mit Würde zu ertragen, und wesentlich weniger geneigt nachzugeben, nur um einen Streit zu beenden. Natürlich hatten seine Auseinandersetzungen mit Ivar in dem Maße zugenommen, in dem er sich dem Creationismus verschrieb, einer Theorie, die Ivar als Physiker nicht einmal für diskussionswürdig befand, die für 100
Nils aber in jeder Hinsicht tröstlicher war als die Relativitätstheorie, die Evolutionstheorie oder die Theorie des Urknalls. In den vergangenen fünf Jahren war Nils Harstad ein Mensch mit einem Lächeln auf den Lippen gewesen. Aber die Zukunft mit einer liebenswerten Gattin und fünf oder sechs gehorsamen Kindern würde ihn zu einem lachenden Menschen machen! Die Gabe des Glaubens ließ bei ihm auch daran keine Zweifel aufkommen. 4:02. Und wenn er die ganze Nacht wach bliebe? Seit Jahrzehnten war er nicht mehr aus freudiger Erregung wach geblieben – er hatte wieder etwas, dem er sich widmen konnte, eine neue Zukunftsvision, die ein Gegengewicht bildete zu all den Enttäuschungen der Vergangenheit, den vielen unerfüllten Erwartungen, dem Nur-beinahe-Gelingen seiner Ehe, seiner Karriere und seines, seit der Empfängnis andauernden, gemeinsamen Lebens mit Ivar. Denn natürlich hatte sich der ungestüme Optimismus der sechziger Jahre als fadenscheinig und illusorisch erwiesen. Das weltweite Hungerproblem hatte sich der Lösung entzogen – hauptsächlich, dachte Nils, wegen ungünstiger Wetterbedingungen –, genauso wie seine rätselhafte Ehefrau sich ihm entzogen hatte. Es war gut und schön, sich einzureden, wie er es seit Jahren tat, daß man nichts weiter tun konnte, als sein Bestes zu geben. Er hatte sich nichts vorzuwerfen, sondern, und darauf kam es an, er war enttäuscht. Aber der Himmel, an dem er ebenfalls keinen Zweifel hegte, jedenfalls soweit es ihn betraf, war vielleicht ein Ort, wo das erhebende Gefühl der Gerechtigkeit und absoluten Vollkommenheit, das mit einem guten Einfall immer einherging, ewig anhielt, was natürlich nicht möglich war, wenn man andere gegen sich hatte und man zudem vom eigenen Urteilsvermögen, der eigenen Kraft und Willensstärke im Stich gelassen wurde. 101
Ah, dachte Nils, griff in seine Schlafanzughose und umfaßte sein Glied. Es war steif und füllte seine ganze Hand aus. Er ließ den Anblick von Marly Hellmichs schlichtem, vertrauensvollem Gesicht, die Vorstellung ihrer Jungfräulichkeit und ihrer von Glaube, Sparsamkeit, selbstloser Hingabe geprägten, friedvollen Vergangenheit (er sah sie in einem langen Kleid mit einem Häubchen) auf es einwirken, und es gab ihm keinen Anlaß zu irgendeinem Zweifel.
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12 Ein Regelverstoß MRS . L ORAINE W ALKER wußte, wo alle Leichen begraben lagen, einschließlich derer auf dem universitätseigenen Friedhof zwischen dem Baseballübungsfeld und der Clemson School für Kunst und Design. Sie wußte, daß jeder Ball, der auf den Friedhof geschlagen wurde, als ein »definitiver Homerun« bezeichnet und, gemäß dem überlieferten Campusaberglauben, dort bis Halloween liegengelassen wurde. In dieser Nacht mußten dann die neuen Mitglieder der Baseballmannschaft die Bälle mit Hilfe von Taschenlampen suchen. Da Mrs. Walker diese Tradition harmlos und liebenswert fand, ließ sie sie fortbestehen, indem sie die Arbeiter, die auf dem Friedhof Gras mähten, anwies, die Bälle liegenzulassen. Andererseits ging sie entschlossen gegen die Angewohnheit mancher Kunst-und-Design-Studenten vor, Objekte zwischen den Grabsteinen aufzustellen, hauptsächlich weil sie die Werke der Studenten anstößig und unschön fand. Wer immer sie von der Clemson School anrief, sei es der Dekan oder sogar seine Sekretärin persönlich, bekam zu hören, daß es an der Universität gewisse Regeln gab. Es gab an der Universität tatsächlich Regeln, aber diese Regeln waren eine Teilmenge von Mrs. Walkers Regeln. Zu ihren eigenen Regeln gehörten solche, die an der Universität gelten würden, wenn die Universität ihre Notwendigkeit erkannt hätte, und daher fühlte sich Mrs. Walker befugt, sie ebenfalls als »universitäre Regeln« zu bezeichnen. Mrs. Walker arbeitete seit zweiundzwanzig Jahren als Sekretärin im Büro des Kanzlers. Sie fand Ivar, den dritten 103
Kanzler, mit dem sie zusammenarbeitete, entgegenkommend und fleißig. Sie mußte ihm bei der Erfüllung seiner Pflichten nur wenig Hilfestellung leisten. Er scheute sich nicht, um Rat zu bitten, was allemal eine gute Eigenschaft von Leuten aus der Verwaltung war, und er machte seine Fotokopien selber. Seine Kleidung war seiner Stellung angemessen. Er trug bei der Arbeit stets dunkle Anzüge und weiße langärmelige Hemden, und niemals eine so geschmacklose Farbe wie das Mintgrün, das der Präsident der Universität bevorzugte, dessen Sekretärin schon immer zu nachsichtig gewesen war und es, Mrs. Walkers Meinung nach, auch immer bleiben würde. Ivar benahm sich respektvoll, ohne unterwürfig zu sein, und sie mußte ihm nicht ständig gut zureden. Er war, dachte sie häufig, ein deutlich besserer Kanzler, als es Jacob Grunwald gewesen wäre, und sie war froh, daß sie sich für ihn entschieden hatte. Er hatte sich bewährt. Mrs. Walker erspähte den Boten der Poststelle im Flur. 9 Uhr 32. Vier Minuten zu früh. Ihre Stimmung hob sich. Er brachte die Post auf einem Rollwagen herein und legte sie vorschriftsmäßig auf Mrs. Walkers Tisch – die Campuspost auf die rechte, die auswärtigen Sendungen auf die linke Seite. Sie sprach ihn in freundlichem Tonfall an, und er antwortete höflich. Eine ihrer Grundregeln war, selbst in kritischen Situationen freundlich zu bleiben. Um 9 Uhr 38 hatte der Bote das Zimmer wieder verlassen. Sie griff nach der auswärtigen Post. Es waren fünfzehn an Ivar persönlich adressierte Briefe. Nachdem Mrs. Walker sie alle gelesen hatte, legte sie vierzehn in ihren Antwortkorb und einen in Ivars Korb. Dieses eine Schreiben stammte vom Generaldirektor der TransNationalAmerica Corporation (»TNA – Wir mischen überall mit«; das Firmensymbol war ein geschmackloser Kreis aus Sternen – Mrs. Walker zählte sie, 104
es waren dreizehn – auf dunkelblauem Feld). Im Gegensatz zu dem Firmennamen kam ihr der Name des Generaldirektors irgendwie bekannt vor. Für die Campuspost brauchte sie länger, denn sie legte die Briefumschläge für einen neuerlichen Gebrauch beiseite (eine Idee, auf die sie schon gekommen war, als noch niemand den Begriff »Recycling« kannte). Sie stapelte die grauen Hausmitteilungsvordrucke aufeinander und machte sich ans Lesen. In diesem Moment sah sie den Vizepräsidenten Robert William Brown, oder, wie er sich selbst mit einem Lächeln nannte, »Schlicht-und-einfach-Brown«, vor der Tür zu ihrem Büro stehen. Er stand so dicht davor, daß er sie sehen konnte, aber sie bemerkte genau, daß seine Hand sich erst zur Türklinke bewegte, nachdem sie Augenkontakt aufgenommen hatten. Er betrat das Zimmer auf einer Schleimspur aus Liebenswürdigkeit. »Mrs. Walker«, sagte er mit einem routinierten Nicken. »Herr Vizepräsident.« »Das Wetter ist herrlich für die Jahreszeit, finden Sie nicht auch?« »Ende September sind schöne Tage in dieser Region keine Seltenheit, Sir.« »Aber aber, das ist doch nicht nötig. Wissen Sie, die weitgehende Vermeidung von Hierarchiebezeichnungen innerhalb einer Organisation mindert die negativen Auswirkungen der hierarchischen Struktur und führt zu einem produktiveren Dialog zwischen den Mitgliedern auf allen Ebenen. Die besten Einfalle kommen manchmal aus den Reihen der einfachen Angestellten oder sogar der Arbeiter.« »Was kann ich für Sie tun, Vizepräsident Brown?« Er zog ein Taschentuch hervor und wischte sich damit 105
über die Stirn. Er sagte: »Ich werde hier warten«, und nahm auf einem Stuhl neben der Tür zum Fotokopierraum Platz. Er tat nichts weiter, als aus dem Fenster in das strahlend helle Vormittagslicht zu schauen und leise vor sich hin zu summen. Später rekonstruierte sie, was dann passiert war. Nachdem sie etwa zehn Hausmitteilungen gelesen hatte, stellte sie fest, daß es 10 Uhr und damit Zeit für ihre Pause war. Sie legte die restlichen Hausmitteilungen auf die rechte Seite ihres Schreibtischs, stand auf und nahm ihre Handtasche, um in den Waschraum zu gehen. Bevor sie das Zimmer verließ, machte Eileen, eine der Schreibkräfte, die Bemerkung, daß es im Büro ziemlich warm sei, und Mrs. Walker gab ihr die Erlaubnis, ein Fenster zu öffnen. Während Mrs. Walker im Waschraum war, öffnete Eileen nicht das übliche Fenster, sondern das Fenster, das sich gegenüber von Mrs. Walkers Schreibtisch befand. Durch den Luftzug mußte die oberste Hausmitteilung vom Stapel geweht, zur Wand gesegelt und dann hinter den Heizkörper, der neben dem Schreibtisch stand, gerutscht sein, wo sie vor den Blicken der Putzfrau verborgen blieb, die sie ansonsten am Abend gefunden hätte. Als Mrs. Walker an ihren Schreibtisch zurückkehrte, veranlaßte sie Eileen selbstverständlich, ihren Fehler zu korrigieren, aber die verschwundene Hausmitteilung über die unbefugte Nutzung von Old Meats, die dieser komische kleine Mann verfaßt hatte, der dem Institut für Gartenbau vorstand und der niemandem erlaubte, ihn mit seinem richtigen Namen anzureden, war ihr entgangen. Schlicht-und-einfach-Brown hatte das Zimmer verlassen. Hatte seine Gegenwart Mrs. Walker ein klein wenig aus der Fassung gebracht? Ein bißchen mehr, als sie vermutete? Aus irgendeinem Grund jedenfalls fiel ihr das Schreiben 106
der TNA in Ivars Korb wieder auf, und sie nahm es zur Hand. Arien Martin. Ach, ja. Jetzt erinnerte sie sich wieder an ihn, und es war keine angenehme Erinnerung. Mrs. Walker tippte mit der Ecke des Briefes leicht auf ihren Schreibtisch, und dann warf sie ihn, mit der ihr typischen Entschlossenheit, in den Papierkorb. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf.
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13 Der Leitgedanke DER SAAL, in dem Dr. Lionel Gift seinen Vortrag, betitelt »Die Lehren des wirtschaftlichen Fortschritts am Beispiel Costa Ricas«, halten sollte, war voll bis auf den letzten Platz. Dr. Gift schätzte die Zuhörerzahl auf 740 bis 750, und er hatte Übung darin, Zuhörerzahlen zu schätzen. Es machte ihm weder etwas aus, daß die Zuhörerschaft fast ausschließlich aus Studenten bestand (»Kunden«, rief er sich ins Gedächtnis), die zur Anwesenheit verpflichtet waren und denen Tests ins Haus standen (in denen, wenn schon nicht ihr Wissen, so doch ihre Anwesenheit überprüft wurde), noch daß die meisten seiner Kollegen aus dem Institut für Wirtschaftswissenschaften durch Abwesenheit glänzten (er hingegen besuchte aus Prinzip alle Vorträge der Kollegen seines Fachbereichs und stellte jedesmal mindestens eine unbequeme Frage). Zuhörer waren Zuhörer, und, wie er oft sich selbst zitierend sagte: »Ohren kann man nicht schließen.« Irgend etwas würde durchdringen, und damit wäre zumindest ein Anfang gemacht. Da Ivar ihn überredet hatte, auf ein Honorar zu verzichten, griff er auf einen Vortrag zurück, den er schon zweimal gehalten hatte, einmal für zehntausend Dollar vor einer Gruppe von Spitzenmanagern, deren Firmen daran interessiert waren, in Lateinamerika zu investieren, und einmal für zweitausendfünfhundert Dollar an einer Ivy-LeagueUniversität, die sich um ihn bemüht hatte. Die dortige Universitätsleitung war ein wenig überrascht gewesen angesichts der Höhe des Honorars, das er für etwas verlangt hatte, das eigentlich als Bewerbungsvortrag gedacht war, 108
aber er hatte auf die Nachteile des kostenlosen Angebots von Dienstleistungen und Wissen hingewiesen (dadurch wurde deren marktwirtschaftliche Bedeutung gemindert und bei den Konsumenten Zweifel an ihrem Wert geweckt). Anschließend hatte die Universität ihm ein Angebot gemacht, das schmeichelhaft, jedoch nicht schmeichelhaft genug gewesen war. Nichtsdestotrotz fand Dr. Gift, dieser Vortrag habe sich inzwischen so weit amortisiert, daß er ihn in die »pro bono publico«-Kategorie einordnen könne; außerdem war es langfristig von Vorteil, Ivar Harstad bei Laune zu halten, und daher hatte er seine Zustimmung gegeben, daß überall auf dem Campus Plakate mit seinem Namen aufgehängt wurden (»International renommierter Wirtschaftswissenschaftler – Präsidentenberater« war sein Vorschlag gewesen, als die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit ihn anrief), und sich bereit erklärt, einen blauen Anzug anzuziehen und sich im Dienste der Universität zu präsentieren – ihren Kunden und den acht potentiellen Geldgebern aus der Wirtschaft, die er vor Betreten des Podiums persönlich begrüßt hatte. Der Kanzler saß zu ihrer Linken, der Präsident zu ihrer Rechten, und Bob Brown saß hinter ihnen und zeigte sein beständiges und nach Ansicht von Dr. Lionel Gift stets zustimmendes Lächeln. Die potentiellen Geldgeber saßen alle in einer Reihe, zurückgelehnt, arrogant den einen Fuß auf das gegenüberliegende Knie gelegt, und sie kamen sich wie Hollywoodproduzenten vor, die im Begriff waren, über das Wohl und Wehe eines Filmstars zu entscheiden. Dr. Gift zwinkerte dieser Stuhlreihe auf wissende, verschwörerische und selbstsichere Weise zu, womit er solche Leute immer für sich einnahm, und begann. Als er begann, bemerkte Cecelia, die ihre Studenten in diesen Vortrag geschickt hatte, damit sie einen Eindruck 109
vom Leben eines Teils der Menschen bekamen, deren Sprache sie lernten (obwohl diese Menschen im Gegensatz zu ihren Studenten selten sagten: »Ich habe den Ball, und Juan hat den Schläger«, oder: »Könnten Sie mir bitte sagen, wo hier in der Nähe eine öffentliche Toilette ist«), wie der Mann neben ihr heftig zusammenzuckte. Sie rückte von ihm ab. Dann sagte er mit leiser Stimme: »So ein Blödsinn!«, und dann spuckte er doch tatsächlich zwischen seinen Füßen auf den Boden. Cecelia schaute sich nach einem freien Stuhl oder wenigstens einem Stehplatz um, aber der Saal war zu ihrer Überraschung völlig überfüllt. Anscheinend hatte sie das Interesse, das auf dem Campus für die Außenwelt herrschte, unterschätzt. Vielleicht war die distanzierte Ausdruckslosigkeit, die ihr bei ihren Studenten und Kollegen auffiel, nur eine Maske, hinter der sich ein ungeahntes Maß an Neugier verbarg. Der Mann neben ihr rief: »Das darf doch nicht wahr sein!«, und vier oder fünf Leute drehten sich um und schauten ihn an. Cecelia sagte: »Ruhe bitte! Sie benehmen sich sehr unhöflich!« Er sagte: »Wollen Sie sich diesen Mist etwa anhören?« Sie sagte: »Ja, das will ich allerdings!«, und die besagten vier oder fünf Leute zischten im Chor: »Schch!« Erst als dem Vorsitzenden X nichts anderes übrigblieb, als ruhig zu sein, und er nach einer Ablenkung von dem Schwachsinn suchte, der sich da unablässig vom Podium in den Saal ergoß, fiel ihm Cecelia auf. Ihm fiel auf, daß sie glitzernde, silberne Ohrringe trug, die offenbar aus alten Teelöffeln gehämmert waren, und dann fiel ihm ihre weichgeschwungene Kinnlinie auf, und dann fielen ihm ihre bemerkenswert vollen, ausladenden und scharfumrissenen Lippen auf, und danach wandte er sich ab, damit ihm nicht noch mehr auffiel. 110
Da er den Vortrag schon zum dritten Mal hielt, brauchte Dr. Lionel Gift sich nicht mehr sehr zu konzentrieren. Er verfügte über einen ungekünstelten, ausdrucksvollen Redestil, den er im Laufe der Jahre bei seinen Vorlesungen über die Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft ausgebildet hatte. Er wußte, ohne darüber nachzudenken, daß man die Worte an die mittleren Reihen richten, aber auch gelegentlich in die hinteren Ecken »zielen« mußte. Er wußte, wie man Blickkontakt herstellte und um die Aufmerksamkeit derer warb, die mit ihren Gedanken woanders waren. Er wußte, daß der kleine Scheißer vom Gartenbauinstitut sein übliches Theater veranstalten und später die übliche, feindselige Frage stellen würde. Er lauschte angetan den weisen Worten, die aus seinem Munde strömten, während er den anwesenden Kunden die in den letzten zehn Jahren erblühte Schönheit Costa Ricas ausmalte – wie fabelhaft in den Weltmarkt eingebunden das Land inzwischen war, wie das BIP stetig anstieg, wie zwar einige Wirtschaftszweige, zum Beispiel der Fischfang, unerwartete Einbrüche erlebt hätten, andere jedoch, zum Beispiel der Export von tropischen Harthölzern und von Rindfleisch, dieses Defizit mehr als ausglichen. Neue Straßen, neue Schulen, neue öffentliche Einrichtungen, eine erfolgreiche Umschuldung, konstante Ernteerträge auf neuerschlossenen Anbauflächen. Dr. Gift lächelte ununterbrochen und führte ein Diagramm des BIP vor (der Unterschied zum BSP war, wie er erklärte, so unwesentlich, daß seine Zuhörer die beiden Begriffe ruhig gleichsetzen konnten), auf dem die Kurve stetig anstieg; keine Verlangsamung, kein Abfallen, kein Stocken. Auf den Vorsitzenden X übten gewisse Ausdrücke und Sätze eine elektrisierende Wirkung aus: »Weltmarkt« – er wand sich, »unerwartete Einbrüche« – er riß den Mund zu einem stillen Schrei auf, »Export tropischer Harthölzer« – 111
er trommelte mit den Füßen auf den Hartholzfußboden. Bei »konstante Ernteerträge« lehnte er sich so weit zu Cecelia hinüber, daß er beinah vom Stuhl gefallen wäre. Cecelia richtete ihn wieder auf. Er murmelte »Entschuldigung« und sank in sich zusammen, bis das Diagramm gezeigt wurde und Cecelia spürte, wie sein Stuhl wiederholt gegen ihren stieß. Zu diesem Zeitpunkt war sie jedoch zu der Überzeugung gelangt, daß er das bedauernswerte Opfer irgendeiner Krankheit, vielleicht des Tourettschen Syndroms, war. Ein Cousin ihres Ex-Mannes hatte darunter gelitten, und Cecelia hatte ihn sehr liebgewonnen und seine Ausbrüche kaum noch wahrgenommen. Da der Vorsitzende X sie an diesen Cousin, zu dem sie nach ihrer Scheidung den Kontakt verloren hatte, erinnerte, wurde ihr Mitgefühl für ihn immer stärker, je heftiger er sich aufführte. Trotz dieser Ablenkung hörte Cecelia dem Vortrag gerne zu. Obwohl sie zuletzt in Costa Rica gewesen war, als sie noch zu klein war, um sich daran zu erinnern, war eine Reise dorthin, ein längerer Besuch in diesem Land einer ihrer Lieblingspläne. Es sollte ein wunderschönes Geschenk für sich und ihre Mutter werden, und sie war sich dessen so gewiß, als hätte sie es schon gekauft und an einem sicheren Ort verwahrt. Es würde kein übereilter Besuch oder eine schlecht organisierte Urlaubsreise sein, sondern eine herrliche und bereichernde Erfahrung, und der Anblick der sagenhaften tropischen Landschaften würde sich mit anregenden Besuchen bei Verwandten abwechseln. Cecelia vertraute sowohl darauf, daß sie in nicht allzu ferner Zukunft das Geld beisammen hätte, als auch darauf, daß ihre Mutter ihre merkwürdigen Vorbehalte aufgeben würde (»Natürlich würde ich sie gerne Wiedersehen«, sagte sie immer, »aber es ist so weit weg. Ich habe hier so viel zu tun. Dein Vater…«). Dr. Gifts Ausführungen waren sehr 112
trocken und hatten so gar nichts mit den tief grünen Nebelwäldern zu tun, an die Cecelia sich nicht erinnern konnte, oder mit dem Duft der Landschaft, den sie bestimmt wiedererkennen würde, wenn sie erst einmal da war. Dr. Gift ließ Costa Rica nicht als das erscheinen, was es war: ein Land, so herrlich wie kein zweites. Sie konnte kaum glauben, daß er, wie im Programm stand, regelmäßig hinfuhr. Irritiert schaute Cecelia sich um. Die meisten Studenten saßen kerzengerade auf ihren Stühlen, aber sie wirkten entrückt wie Pferde, die auf der Weide im Stehen schlafen. Die Bleistifte waren ihnen aus den Händen gerutscht, und sie hatten schon nach einer Viertelseite aufgehört, Notizen zu machen. Es stimmte schon, dachte Cecelia, Desinteresse war der Hauptgrund für Langeweile. Sie seufzte. Sie mußte auch an ihre Mutter in Los Angeles denken, an den Tribut, den das anstrengende Leben dort über die Jahre gefordert hatte – an Unternehmungsgeist, Geduld, Wärme, und wie es ihr Aussehen verändert hatte. Dora Sanchez ging es nicht gut in L.A.. Cecelia dachte, wie so oft, an die beruhigende und verjüngende Wirkung, die die Reise auf sie haben würde. Weihnachten würde sie das Thema erneut anschneiden. Diesmal würde sie auf jeden Fall… UND WAS WAREN nun die Lehren des wirtschaftlichen Fortschritts in Costa Rica? Dr. Gifts Stimme schwoll an und erlangte pastorale Fülle. Zuerst und zuvorderst, daß eine RATIONALE Koordination der nationalen Marktmechanismen mit den Mechanismen des Weltmarktes zur wechselseitigen Befriedigung aller Bedürfnisse – die theoretisch natürlich unstillbar waren – führte und die Beamten vor Ort, so man ihnen die Grundzüge der Theorie erklärte, auch in der Lage waren, RATIONAL zu handeln. Zweitens, daß die internationalen Währungsorganisationen die Kontrolle 113
über RATIONALE Entscheidungen des einzelnen Landes gewährleisteten und es damit zu einem gleichberechtigten Mitglied der Staatengemeinschaft werden ließen. Drittens (und dabei schaute er die acht Mann starke Galerie zwischen dem Kanzler und dem Präsidenten an), daß der wichtigste Einzelfaktor für das Wachstum jedes kleineren Landes eine RATIONALE Investitionspolitik gutgeführter Firmen war. Wie ein Mann stimmte die Galerie mit bedächtigem Kopfnicken zu. Viertens (und dabei schaute er die versammelten Kunden an), daß die Welt einem dynamischen jungen Amerikaner (erneut schaute er die Kunden an und überschlug das zahlenmäßige Verhältnis) oder einer dynamischen jungen Amerikanerin viele Möglichkeiten bot. Er zitierte einen ihrer Songs: »The future’s so bright, I’ve got to wear shades«, und rief dadurch bei den Studenten ein verlegenes Lachen hervor. Vielen Dank. Der Vorsitzende X schoß wie eine Rakete von seinem Stuhl empor, nicht bloß, um eine Frage zu stellen, sondern um seinen aufgestauten Ärger loszuwerden. Genaugenommen lag ihm bisher nur die Frage: »Was für ein ignorantes Arschloch sind Sie eigentlich?« auf der Zunge, aber Gift schaute bereits in seine Richtung, und er wußte, daß ihm das Wort erteilt werden würde, sobald der Beifall abgeklungen war. Es war zu warm im Saal. Er zupfte am Hemdkragen. Er wußte, daß seine Frage schrill und IRRATIONAL klingen würde und daß er nicht erfolgreich für seine Sache eintreten, sondern ihr im Gegenteil schaden würde, denn auch wenn er seine Worte geordnet und besonnen herausbrachte, sein Gesicht würde rot und die Aufregung seiner Stimme deutlich anzumerken sein, und überhaupt war er auf dem Campus als Spinner verschrien, so daß seine Meinung von vornherein als unmaßgeblich abgetan werden würde. Gift sagte: »Der Herr dort in der Mitte«, 114
und der Vorsitzende X wußte, er war gemeint. Er öffnete den Mund und war gespannt, welche Worte herauskommen würden. Er hörte sich in sanftem Tonfall sagen: »Welche Auswirkungen hat diese Entwicklung auf Costa Ricas natürliche Biosysteme gehabt?« »Sie bewegen sich durchaus im üblichen Rahmen einer vertretbaren Nutzung und sind in einigen Fällen sogar positiv, da wertlose Gebiete durch die Nutzung an Wert gewinnen.« »Aber wieviel wurde zerstört?« »Nichts wurde zerstört, aber sehr viel wurde aufgebaut. Ich würde gerne noch anderen Zuhörern die Gelegenheit geben, Fragen zu stellen. Dort hinten in der letzten Reihe bitte.« Daß Gift anderen Zuhörern Gelegenheit gab, Fragen zu stellen, war dem Vorsitzenden X ganz recht, da er vor lauter Wut kaum Luft bekam und das Gefühl hatte, rechts und links von einem rötlichen Nebel eingehüllt zu sein. Er setzte sich und atmete tief durch. Wahrscheinlich würde er gleich seinen ersten Schlaganfall bekommen. Lady X hatte ihn gebeten, dem Vortrag fernzubleiben, um, wie sie sagte, sich nicht der Versuchung auszusetzen, aber er mußte einfach hören, was sie zu sagen hatten, und sehen, wie sie sich präsentierten. Der rote Nebel lichtete sich. Die hübsche Frau neben ihm sagte: »Ich fand, das war eine gute Frage. Vielen Dank, daß Sie sie gestellt haben«, und ihre Stimme wirkte beruhigend auf ihn. »Die Familie meiner Mutter stammt aus Costa Rica.« Er schaute sie an, und sie lächelte wehmütig. »Ich glaube nicht, daß sie von dem allgemeinen Aufschwung sehr profitiert haben.« Von der ersten Reihe aus versuchte Ivar Harstad, den Kopf des Vorsitzenden X in der Menge auszumachen. Er schien neben der Neuen aus dem Fremdspracheninstitut zu 115
sitzen. Ivar hatte die Frage ebenfalls gefallen, und Gifts Antwort kam ihm ausweichend vor und ließ auf Ignoranz schließen. Waren da vielleicht irgendwelche Fördermittel zu holen? Ivar nahm sein Notizbuch zur Hand und machte eine winzige Eintragung, daß er am nächsten Morgen beim Institut für Gartenbau anrufen wollte.
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14 Der Kanzler wird in Versuchung geführt ARIEN MARTIN war ein kleiner, eine Milliarde Dollar schwerer Texaner mit Henkelohren. Einerseits überraschte es den Kanzler, daß er bei ihm auftauchte, andererseits auch wieder nicht. Vor allem überraschte es ihn nicht, daß er in Begleitung von Elaine Dobbs-Jellinek auftauchte, denn sie wußte vermutlich nichts von dem zehn Jahre zurückliegenden Skandal, und es wäre ihr wahrscheinlich auch egal gewesen, wenn sie davon gewußt hätte. Arien Martins Name gehörte nicht zu denen, die der Kanzler im Zuge seiner intensiven Suche nach Sponsoren aufgeschrieben oder auch nur ausgesprochen hatte, aber er war ihm in den Sinn gekommen, und das hatte offensichtlich genügt. Elaine hatte etwas Theatralisches an sich. Seit sie vor drei Jahren Vizepräsidentin für den Bereich Projektentwicklung geworden war, hatten Farben und Schnitte ihrer Kleidung ständig an Extravaganz zugenommen, so daß sie inzwischen aussah wie eine Fernsehmoderatorin. Und von Jahr zu Jahr wurde sie dünner, wodurch diese Ähnlichkeit noch verstärkt wurde. Und von Jahr zu Jahr drang sie bei ihrer Suche nach Fördergeldern in entferntere Gegenden vor. Sie machte ihre Arbeit ausgezeichnet und wußte genau, wie sie Firmenmanager in Fayetteville und Tulsa beeindrucken konnte. Arien Martin war jedoch ein anderes Kaliber. Er hatte sich durch derartig viele gesellschaftliche Klassen nach oben gearbeitet und hatte derartig viele Längen- und Breitengrade überquert, daß ihn niemand mehr beeindruckte. Außerdem war er so reich, daß die Pflicht der Anpassung 117
den anderen und nicht ihm zufiel. Ivar stand auf und ging mit ausgestreckter Hand um den Tisch herum. Elaine Dobbs-Jellinek rief: »Ivar, Arien sagt, Sie kennen sich bereits!« Sie meinte das offensichtlich als Kompliment. »Ja«, sagte Ivar. »Ich erinnere mich sehr gut an Mr. Martin. Wie geht es Ihnen, Sir?« »Lassen Sie bloß das ›Sir‹ weg, Dr. Harstad. Wir wollen nicht vergessen, wer hier nur einen High-School-Abschluß hat und wer ein echter Akademiker ist!« Elaine lachte hysterisch über diesen Witz. Der Gesichtsausdruck von Mrs. Walker, die neben der Tür stand, war teilnahmslos – ihre »indianische« Miene. Ivar gehörte zu den wenigen Menschen, die wußten, daß sie eine halbe Menominee war. Das war die Hälfte, die ihn am meisten einschüchterte. Mrs. Walker wußte alles über den Skandal, wahrscheinlich sogar mehr als Ivar. Ivar sagte nervös: »Also, Arien, wollen Sie nicht einen Augenblick Platz nehmen? Elaine?« »Ich verspreche Ihnen, Sie werden gleich ein paar sehr aufregende Neuigkeiten zu hören bekommen, Ivar.« Hmmpf, sagte Mrs. Walker, oder vielmehr, sie stieß dieses Hmmpf tonlos aus und ließ es durch den Raum schweben. Elaines weibliche Reaktion war ein noch strahlenderes Lächeln. Wie jeder andere auf dem Campus machte Elaine nicht den Fehler, Mrs. Walker zu unterschätzen. Arien jedoch tat es. Er sagte: »Tja, ich könnte jetzt eine Tasse Kaffee vertragen, Ivar. Meine Kehle ist knochentrocken. Wie wär’s, wenn ihr Mädchen uns welchen holt.« Elaine hüstelte und sagte dann: »Lassen Sie mich das machen, Mrs. Walker.« »Nee«, sagte Arien, »ich brauche hier Ihre Unterstützung – Dr. Ivar Harstad, es ist nämlich so –« »Ich geh schon«, sagte Mrs. Walker mit Todesverach118
tung in der Stimme. »Gut, gut, gut«, zwitscherte Arien mit der fröhlichen Unbekümmertheit einer Figur aus einem Horrorfilm, die innerhalb der nächsten zehn Minuten einen grauenvollen Tod sterben wird. Mrs. Walker verließ den Raum und schloß die Tür hinter sich. Ivar war fest entschlossen, sich auf keinen Fall mit Arien Martin einzulassen. Offensichtlich war er nicht mehr im Geflügelgeschäft, aber vor zehn Jahren war er es gewesen, und er hatte der Universität Geld gegeben, damit die gesundheitlichen Folgen bei Hühnern untersucht wurden, deren Futter zum Teil aus Abfällen geschlachteter Hühner bestand – Knochenmehl, getrocknetem Blut, getrockneten Innereien, Federn usw.. Seine unzähligen Hühnerfarmen verkauften damals die Flügel, Brüste und Keulen an die Supermärkte und brachten alles übrige zu einer Futtermittelfabrik, in der es gemahlen, gekocht und mit Getreide und prophylaktischen Medikamenten vermischt wurde. Diese Methode war in England, wo Arien ebenfalls Hühnerfarmen besaß, weitverbreitet, aber die amerikanische Landwirtschaftsbehörde stand ihr kritisch gegenüber. Eine Studie, die ihre Unbedenklichkeit nachwies, wäre ein gutes Empfehlungsschreiben gewesen, und ein Professor der Tierforschung hatte sich an die Arbeit gemacht. Als die Studie nachwies, daß sowohl in den Eiern als auch im Fleisch der Hühner, denen das Martin-Futter verabreicht worden war, erhöhter Salmonellenbefall auftrat, der auch durch die dem Futter beigemischten Antibiotika nicht in zufriedenstellendem Maß verringert wurde, war Ivars erste Reaktion gewesen, kein Hühnerfleisch mehr zu essen. Arien hatte angenommen, daß die Studie unveröffentlicht bleiben würde, und hatte alles daran gesetzt, seine Annahme zu realisieren. Guter Dinge bis zuletzt, hatte er 119
versucht, nicht nur die Reputation des Wissenschaftlers, der die Gelder erhalten hatte, zu zerstören, sondern auch die des Doktoranden, der ihm assistiert, und der Zeitschrift, die die Ergebnisse veröffentlicht hatte. Ein Bibliotheksanbau, den er hatte finanzieren wollen, verschwand vom Reißbrett. Hätte man ihn schon gebaut gehabt, dachte Ivar, wäre er vom Campus wieder verschwunden. Der größte Teil des Lehrkörpers hatte sich wie üblich dadurch hervorgetan, daß er einen moralischen Standpunkt einnahm und jeden Versuch von Ivar, einen Kompromiß zu finden, entschieden mißbilligte. Im Senat der Universität war beantragt worden, Ivars Verhalten öffentlich zu rügen und ihn abzusetzen. Dieser Antrag hatte zwar keine Mehrheit gefunden, aber nicht nur Ivars Ansehen hatte darunter gelitten. Die Studie war veröffentlicht worden. Kurz darauf waren andere Studien veröffentlicht worden, die den Ergebnissen dieser Studie widersprachen. Die Landwirtschaftsbehörde hatte, wenn auch zögernd, die Martin-Methode der Hühnerfütterung gebilligt. Ein Salmonellenskandal hatte die britische Eierindustrie erschüttert. Daraufhin aß Ivar nicht nur kein Hühnerfleisch, sondern auch keine Eier mehr. Arien Martin hatte die Hühner hinter sich gelassen, war zwei Jahre lang amerikanischer Botschafter in der Schweiz gewesen, und dann war er zurückgekehrt, hatte mehrere Firmen aufgekauft und sein Nettovermögen verdoppelt. Man konnte die beiden nicht gerade als Freunde bezeichnen, aber, wie Arien einmal zu Ivar gesagt hatte: »Sie und ich stehen einander näher, als Sie denken. Eines Tages werden Sie mich anschauen, und ich werde Ihnen so vertraut sein wie Ihr ältester Freund, und irgendwie werden Sie 120
mich sogar mögen. Warten Sie’s nur ab.« Und er hatte recht behalten. Ivar empfand, obwohl er sich darum bemühte, keine persönliche Abneigung gegen Arien Martin. Martin sagte: »Wie ich höre, weist Ihr Etat ein Defizit von sieben Millionen auf.« »Wir haben mit einer angespannten Finanzlage zu kämpfen, aber es hat noch keine konkreten« (er räusperte sich) »Kürzungen gegeben.« »Mmmm hmm.« »Ich glaube nicht, daß wir Mr. Martin gegenüber eine unrealistisch optimistische Sichtweise aufrechterhalten müssen, Ivar. Er ist bestens informiert.« »Tja, Elaine«, sagte Ivar, »das überrascht mich nicht.« »Waters’ Sohn ist mit meiner Tochter befreundet, müssen Sie wissen«, sagte Arien. »Haben sich auf dem College kennengelernt. Drüben in Princeton.« Waters war der stellvertretende Vorsitzende des Hochschulausschusses des Bundesstaates. Ivar nickte. »Also, die Sache ist die, ich weiß, ihr setzt den Rotstift immer ganz oben an, und das ist ja auch in Ordnung. Mir ist klar, daß ihr keine anständige Forschungsarbeit leisten könnt, wenn eure technische Ausrüstung nicht mehr gut in Schuß ist, und ich weiß, ein fester Betrag für ein bestimmtes Projekt bedeutet, daß die nicht zweckgebundenen Gelder anderweitig verwendet werden können. Buchhaltung ist Buchhaltung, und für mich ist Buchhaltung eher eine Kunst als eine Wissenschaft.« Elaine lachte erneut. »Sie wissen, daß die TransNational in den letzten sechs Jahren sechs Firmen unter ihre Fittiche genommen hat, einige große und einige weniger große. Damit kontrollieren 121
wir insgesamt elf verschiedene Firmen und haben natürlich eine Menge Schulden. Da bleibt nicht mehr viel übrig für Forschung und Entwicklung, für technische Ausrüstung oder Personal beispielsweise. Also schaue ich mich um und frage mich, wer hat die Ausrüstung und das Personal, und da brauche ich nicht lange zu suchen, oder?« Ivar, dessen zustimmendes Nicken unangenehm rhythmisch geworden war, sagte: »Nein, vermutlich nicht«, und zwang sich, den Kopf still zu halten. »Unsere Interessen stimmen auf vielen Gebieten überein, Dr. Harstad. Ich habe hybride Samen, Sie haben botanische Pflanzengenetik. Ich habe Stahlwalzwerke, Sie haben Werkstoffkunde und Betriebstechnik. Ich habe Flugzeugmotorenteile, Sie haben Luftfahrtforschung. Ich habe Hühner, Rinder und Lamas, und Sie haben die Tierforschung. Ich habe eine Chemiefabrik, die auf Pestizide spezialisiert ist, Sie haben Entomologie. Ich habe eine große Firma für Unternehmensberatung und Öffentlichkeitsarbeit, Sie haben eine Wirtschaftsakademie. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, Dr. Harstad? Warum sollte ich mir Forschungsabteilungen aufbauen, nur um zu erfahren, was Ihre Forscher bereits wissen?« »Sie haben völlig recht«, sagte Ivar. »Ihr eigener Gouverneur sagt, daß die Zukunft in der Zusammenarbeit von Ausbildungseinrichtungen und Wirtschaftsunternehmen liegt, Dr. Harstad.« »Technologietransfer«, murmelte Elaine. »Sie brauchen mich nicht von so allgemeinen Grundsätzen zu überzeugen, Mr. Martin.« Die Tür ging auf, und Mrs. Walker brachte ein Tablett mit Kaffee und Keksen herein. Sie stellte es vor Elaine ab. Es herrschte Schweigen, bis sie den Raum wieder verlassen 122
hatte. »Sagen Sie Arien zu mir.« »Arien.« »Na bitte.« »Arien, ich will ganz offen sein. Die Grundsätze, von denen Sie sprechen, werden allgemein akzeptiert, aber Sie haben einen bedeutsamen Faktor bei Ihrer Rechnung übersehen, und das ist die besondere Vorgeschichte zwischen Ihnen und dieser Universität. Ich bin mir nicht sicher, ob die Mitglieder des Lehrkörpers angesichts der erbitterten Auseinandersetzungen vor zehn Jahren einer Zusammenarbeit mit Ihnen überhaupt zustimmen würden.« »Dann ist es Ihre Aufgabe, denen zu erklären, wie die Realität aussieht. Jobs, Mittelkürzungen, Sie wissen schon. Ich stehe übrigens zu meinen Fehlern. Ich habe viele gemacht. Ich bin nicht mehr so hitzköpfig wie früher. Die Interessen von TransNational sind viel weiter gespannt, als die Interessen von Martin’s Flavorbest es damals waren. Ich sage immer, investiere alles in Hühner, und du wirst bald denken wie ein Huhn. Sie wissen, wie Hühner denken? Ich weiß es, weil ich als Junge Hühner aufgezogen habe. Hühner suchen den ganzen Tag auf dem Boden nach Körnern. Sie sind zu konzeptionellem Denken auf einer höheren Ebene nicht fähig. Wenn man die Hühner Hühner sein läßt, fängt man an, auf einer höheren Ebene konzeptionell zu denken. Das ist meine Philosophie.« »Und dennoch.« »Wir haben einander einiges zu bieten.« Elaine nickte heftig und sagte dann: »Ivar, ich denke, Sie sollten die pedantische Haltung, die der Lehrkörper einnehmen wird, nicht überschätzen. Nach meinem persönlichen Empfinden ist es DURCHAUS möglich, die Vergan123
genheit ruhen zu lassen, wenn Ihre Abteilung und meine Abteilung die Angelegenheit richtig angehen. Mr. Martin hat dieser Universität, hat JEDER Universität sehr viel zu bieten. Ich bin sicher, er weiß, daß jedes von seiner Firmengruppe finanzierte Forschungsprojekt den akademischen Regeln der Unparteilichkeit unterliegt. Ich bin sicher, wir können uns darauf verlassen.« Sie strahlte. Ihre leuchtenden Augen spiegelten das Stahlblau ihres Kostüms und versprachen das Ende aller Schwierigkeiten. Den Präsidenten, mit seiner zweijährigen Amtszeit ein Neuling, wußte sie auf ihrer Seite, obwohl er sich bei seiner letzten Dinnerparty siebzehn Minuten und siebenunddreißig Sekunden mit Jack Parker, aber nur zwölf Minuten und drei Sekunden mit ihr unterhalten hatte. Ivar sagte: »Nun ja, konkrete Vorschläge fallen am meisten ins Gewicht.« Arien sagte: »Der gesamte Lehrkörper erfährt doch in der Regel nichts über individuelle Projekte oder die Höhe von Fördersummen?« »Nein«, sagte Elaine. »Na bitte«, sagte Arien. Ivar war plötzlich beklommen zumute. Ein paar Minuten lang schwiegen die drei gedankenverloren und tranken ihren Kaffee. Schließlich erhob sich Arien. Elaine sprang sofort von ihrem Stuhl auf. Arien sagte: »Wir sprechen noch mal darüber.« »Ja«, sagte Ivar. »Elaine, ich muß mit Ihnen noch kurz über eine andere Angelegenheit reden.« »Nicht jetzt«, sagte Elaine. »Es dauert nicht lange.« »Nur zu«, sagte Arien. »Ich lege keinen Wert auf Förmlichkeiten.« Er ging hinaus. Im Vorzimmer hatte Mrs. Wal124
ker gerade mit der Durchsicht der Post begonnen. Sie schaute kaum hoch, als er eintrat. Sie deutete auf den harten Holzstuhl neben ihrem Schreibtisch, den Stuhl, auf dem Studenten mit Bitten, Beschwerden und Problemen immer saßen. Sie sagte: »Sie können sich hier hinsetzen.« »Das ist schon in Ordnung, M’am, ich stehe lieber.« Sie sagte: »Setzen Sie sich hin.« Er setzte sich hin. Er legte einen Fuß auf das gegenüberliegende Knie und wackelte mit dem Bein. Sie sagte: »Lassen Sie das.« Er hörte damit auf. Sie las sorgfältig die Post durch. Natürlich erinnerte sie sich genau an den TransNationalAmerica-Brief, den sie, ohne ihn zu öffnen, weggeworfen hatte, aber sie hatte nicht vor, ihre Zeit mit sinnloser Reue zu vergeuden. Er dachte daran, ihr eine äußerst gutbezahlte Stellung anzubieten, nur wegen ihres autoritären Benehmens. Elaine kam aus Ivars Büro und sagte: »Oh! Es tut mir leid, daß es keinen bequemeren Stuhl für Sie gab, Sir.« Mrs. Walker warf ihr einen Blick zu. Sie verließen ziemlich hastig den Raum. Mrs. Walker griff nach ihrem Telefonhörer und rief Ivar an, der schon darauf gewartet hatte. Sie sagte: »Nur drei Worte, Ivar.« »Und die wären?« »Bovine spongiforme Encephalopathie.« »Wie bitte?« »Nehmen wir an, mein Schaf hat eine Gehirnerkrankung namens Scrapie, und ich bringe dieses Schaf in eine Fabrik, in der aus seinen Überresten Viehfutter gemacht wird, und dann taumelt meine Kuh plötzlich und fällt um, und wenn 125
ich bei der Kuh eine Autopsie mache, entdecke ich in ihrem Gehirn Löcher, die aussehen wie die Löcher in einem Schwamm…« »Heißt spongiform nicht schwammartig?« »Genau. Ich war bei der Wahl meiner Futtermethoden nicht verantwortungsbewußt. Ich habe dem Übergreifen einer sonderbaren und erschreckenden Krankheit von einer Spezies auf eine andere Vorschub geleistet. Dennoch verkaufe ich weiterhin mein Fleisch und meine Milch.« »Und wo geschieht das alles?« »In England, meinem alten Jagdgebiet.« Er sagte: »Die Quelle Ihrer Informationen, Mrs. Walker?« »Meine Freundin Mrs. Lake hat die Sunday Times aus London abonniert. Reiner Zufall.« »Nein, Sie haben vollkommen recht. Vielen Dank.« »Gern geschehen.« Sie legte den Hörer auf und griff nach der Campuspost…
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15 Ein Antrag ZUM CHRISTLICHEN Verhaltenscodex, den Marly Hellmich sich auferlegt hatte, gehörte es, allen Mitgliedern der Kirchengemeinde gegenüber gleichbleibend freundlich zu sein, und daher war sie fünf Jahre lang Nils Harstad gegenüber gleichbleibend freundlich gewesen, und er hatte auf ihre Liebenswürdigkeit mehr oder weniger erwartungsgemäß reagiert – er war höflich zu ihr und kam mit ihr und den anderen gut aus. Diese Konfliktvermeidungsstrategie der gedämpften Stimmen hatte zehn Jahre lang gut funktioniert und die Art erbitterter Auseinandersetzungen verhindert, die Ende der siebziger Jahre zu einer Spaltung der Kirchengemeinde geführt hatten, in deren Folge eine Splittergemeinde in der Nord-Stadt entstanden war, die immer noch fünfzig bis sechzig irregeleitete Seelen zählte, zu denen auch Marlys Bruder und Schwester gehörten, obwohl ihr Vater, ihr Onkel, zwei ihrer Tanten und alle ihre Cousins und Cousinen in diesem Teil der Stadt geblieben waren. Der Graben war so tief, daß es auf beiden Seiten zahlreiche Gemeindemitglieder gab, die nicht mehr miteinander sprachen. Marly hatte gehört, daß die Mitglieder der NordGemeinde noch immer Zwietracht im Herzen trugen, was bewies, daß sie es schon immer getan hatten. Die Mitglieder der Süd-Gemeinde hingegen waren so sanft und freundlich zueinander, wie wahre Gläubige es nur sein konnten; ihre Strategie hatte Früchte getragen. Wenn ein Konflikt zu heftig wurde, legte man die Angelegenheit einfach in Gottes Hand, und das bewährte sich ausgezeichnet. Marly fiel auf, daß sich im Verhalten von Nils Harstad 127
etwas geändert hatte, aber während sie mithalf, den Gottesdienst vorzubereiten, anschließend das Gemeindeessen servierte (traditionsgemäß jeden Mittwoch), danach aufräumte und sich Marge Overbecks Geschichten über ihren Nierenstein anhörte, kam sie kaum dazu, darüber nachzudenken. Aber als sie schließlich aufbrechen wollte, fragte Nils, ob er sie nach Hause begleiten dürfe. »Vielen Dank, Nils, ich bin mit dem Auto da, aber wenn ich Sie mitnehmen kann, tu ich das gern.« »Nein, ich bin mit dem Auto da.« »Also dann –« Sie war verwirrt, aber arglos. »Was halten Sie davon, mit mir ein Stückchen spazierenzugehen?« Sie erwartete höchstens, allerhöchstens, von ihm ins Kino eingeladen zu werden, aber sie fand ihn eigentlich zu alt für sich. Er mußte über fünfzig sein, und sie war erst fünfunddreißig. Wenn sie Zeit für eine Verabredung hatte (was nicht häufig der Fall war, da die Arbeit und Vater sie sehr in Anspruch nahmen), ging sie lieber mit jüngeren, dunkelhaarigen Männern aus, die nicht aus der Stadt stammten. Auf keinen Fall jedoch mit jemandem aus dem Umkreis ihrer Kirchengemeinde. Sie sagte: »Ich bin etwas spät dran heute –« Und er sagte, ganz ernsthaft: »Was halten Sie davon, mich zu heiraten?« Marly mußte zugeben, daß diese Bemerkung sie furchtbar wütend machte. Sie hatte Nils Harstad nicht für einen Mann gehalten, der mit Frauen seine Späße trieb, aber sie hatte sich schon manchmal getäuscht. Als sie ihn anschaute, überkam sie ein starker Widerwille, aber sie sprach mit sanfter Stimme zu ihm und vermied jeden Anflug von Feindseligkeit: »Wäre das nicht etwas überstürzt, Nils? 128
Unsere Freundschaft im Glauben ist doch nicht mit einer besonders engen persönlichen Freundschaft verbunden, oder was meinen Sie?« Der Umgang mit Vater hatte sie gelehrt, daß es sinnvoller war, Fragen zu stellen, als Meinungen zu äußern. Nils räusperte sich: »In vielen Kulturen wird eine freundschaftliche Beziehung zwischen den Brautleuten nicht als notwendige Voraussetzung für eheliche Eintracht angesehen.« »Wie bitte?« »Ich habe Sie mir genau angeschaut. Ich habe Sie beobachtet. Ich glaube, daß der Herr mir seine Wünsche kundgetan hat.« Na ja, wenn das seine Ansicht war. Diese Sichtweise gab Marly zu denken. Sie sagte: »Ich werde in mich gehen und beten. Ich muß warten, bis der Herr zu mir spricht.« »Das respektiere ich natürlich.« »Also dann.« Er nahm ihr die Auflaufform ab, die sie in der Hand hielt, und begleitete sie zu ihrem Wagen. Inzwischen war sein Auto der einzige Wagen außer ihrem auf dem Parkplatz. Es war ein etwa ein Jahr alter Lincoln. Sie stieg mit einem neuen Selbstbewußtsein in ihren acht Jahre alten Dodge Omni, zumal er die Tür für sie öffnete und sagte: »Ich bin kein leichtfertiger Mensch, Marly. Ich weiß, was ich will.« Ihr blieb nichts weiter übrig, als zu beten, auch wenn es die ganze Nacht dauern würde, bis sie ein Zeichen erhielt. Also kniete sie, nachdem sie sorgfältig die Zähne geputzt hatte, neben ihrem Bett nieder und konzentrierte sich. Als sie eine Stunde später wieder aufstand, wußte sie, was der Herr von ihr erwartete, und da sie es am nächsten Morgen 129
immer noch wußte, meldete sie sich krank und machte sich an die Ausführung seiner Anweisungen. Als erstes ging sie in die Universitätsbibliothek und ließ sich den Haushaltsplan der Universität geben. Sie fand heraus, daß Nils Harstad, Dekan des Fachbereichs für landwirtschaftlichen Technologietransfer und Professor der Agronomie, $ 121000 pro Jahr verdiente. Als zweites suchte sie Nils’ Adresse aus dem Telefonbuch heraus und fuhr an seinem Haus vorbei. Es war groß, vermutlich sieben bis acht Zimmer, aus Backsteinen erbaut und von einem aufwendigen Garten umgeben. Als drittes rief sie einen Immobilienmakler an und erzählte ihm, sie sei erst kürzlich aus Kalifornien hierhergezogen und suche nach einem großen, altmodischen Backsteinhaus in bester Wohnlage. Wieviel werde sie dafür bezahlen müssen? »Najaaaaa«, sagte er, »WENN ein solches Haus zum Verkauf angeboten wird, was nicht sehr oft der Fall ist, liegt der Preis etwa bei einer Viertelmillion, je nachdem, in welchem Zustand es sich befindet. Dürfte ich Ihren Namen notieren?« Sie legte auf. Als viertes dachte sie über den Eintrag im Telefonbuch nach. Außer Ivar, der unter derselben Adresse aufgeführt war, gab es keine weiteren Harstads im Telefonbuch und auch keine Nebenanschlüsse im Haus, was entweder auf kleine Kinder (unwahrscheinlich) oder verheiratete Kinder oder gar keine schließen ließ. Als fünftes schaute sie sich in dem 3-Zimmer-Bungalow um, den sie mit ihrem Vater bewohnte, und dachte an ihre letzte Lohnabrechnung von der Universität. Sie betrachtete das Foto von Travis, dem Fernfahrer und Familienvater aus Pennsylvania, mit dem sie ein Verhältnis hatte, und sie schaute in den Spiegel. Sie war eindeutig keine Schönheit und wußte auch nicht, wie man sich vorteilhaft anzog. Ihr 130
wurde klar, daß Freundlichkeit und Friedfertigkeit, ihre beiden Haupttugenden, ihr noch nie eine solche Chance beschert hatten, nicht ein einziges Mal in zehn Jahren. Sie stand auf, drehte eine einwandfreie Pirouette und brachte ihr Gesicht ganz nah an den Spiegel heran. Sie flüsterte ein Wort. Das Wort lautete »Aschenputtel«.
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16 Earl grübelt W ENN E ARL B UTZ seinen massigen Körper gegen das Gatter des Kobens lehnte, um sich genüßlich von Bob kratzen zu lassen, bogen sich die orangefarbenen Stahlstangen leicht nach außen. Aber Bob, der durch die Bekanntschaft mit Diane in einen Wirbelsturm neuer Erfahrungen geraten war, bemerkte es nicht. Er kratzte einfach immer weiter und weiter. Und Earl stellte keine Fragen, denn gekratzt zu werden war eine seiner größten Wonnen. Wenn es Bob Spaß machte, seine Ellbogen auf das Gatter zu legen, das Kinn aufzustützen und ihn immer weiter und weiter und weiter zu kratzen, dann war es Earls Pflicht, dazustehen und es zu genießen. Nichtsdestotrotz zeigten die gebogenen Stangen des Gatters, was auch die Meßergebnisse zeigten, was Bob jedoch, weil er mit seinen Gedanken woanders war, nicht bemerkte – Earl Butz wurde allmählich unglaublich fett. Earl selber spürte es an der Anstrengung, die es ihn kostete, morgens auf die Beine zu kommen, an dem immer stärker werdenden Wunsch, einfach liegenzubleiben und sich kühlende Bäder und ähnliche Annehmlichkeiten bringen zu lassen, anstatt dafür selber ein paar Schritte zu tun. Ungefähr in der Mitte des Kobens, weit weg vom Toilettenbereich, wölbte sich ein verdächtiger Haufen, der dort nicht hingehörte – Earl verlor allmählich seine charakteristische Penibilität. Beim Fressen, seiner Hauptbeschäftigung, schonte er sich nach wie vor nicht. Er konnte gar nicht anders, denn der Freßtrieb war ihm angeboren, aber wie jeder genialische Zug begann sein Appetit die anderen 132
Züge seiner Persönlichkeit zu überdecken. Sein Spielzeug zum Beispiel benutzte er nicht mehr, wenn er es auch aus einer liegenden Position heraus oft versonnen betrachtete. Und er spürte seine massive Gewichtszunahme nicht nur seelisch, sondern auch körperlich, als wandernde Schmerzen in seinen Beinen und Füßen. Er lahmte nicht – das wäre Bob aufgefallen, schließlich war er nicht gänzlich weggetreten –, nein, die Schmerzen waren mal hier, mal da, mal heftig und mal schwach, aber sie gingen nie mehr ganz weg. Er konnte sie lindern, indem er sich auf seinem Strohhaufen niederließ. Und daher lag er dort ständig, wenn er sich nicht gerade über seinen Trog hermachte. Was Bob anging, sah er Earl so häufig, daß ihm diese Zeichen des Verfalls, sofern es sich um einen solchen handelte, verborgen blieben. Außerdem mochte er Earl ausgesprochen gern – sein freundliches, gutwilliges Wesen und die Gelassenheit, mit der er sich die Gefangenschaft so angenehm wie möglich machte – und war schon deshalb nicht geneigt, Anzeichen von Schmerzen zu bemerken, denn Earls Leiden hätte auch ihn geschmerzt. Selbst wenn er, bedingt durch seinen lebenslangen Umgang mit Schweinen, eine instinktive Besorgnis über Earls Zustand verspürte, so war ihm dieses Unbehagen noch nicht bewußt geworden und würde momentan auch nur schwer zu ihm durchdringen können, angesichts des Sturms der Gefühle, den Diane Peterson, das Mädchen, das er auf der Party kennengelernt hatte, in ihm auslöste. Früher war Bob der Ansicht gewesen, Mädchen seien eigentlich nichts Besonderes. Zwar würde irgendwann die Richtige kommen, aber sie würde seinen Schwestern, seinen Tanten und seiner Mutter ähneln, und das war beruhigend. Sein Verhältnis zu Mädchen im allgemeinen war stark durch das Verhältnis seines Vaters zu seiner Mutter 133
geprägt – respektvoll und einvernehmlich, ohne viele Worte. Es hatte genügend unterschwellige Hinweise gegeben, die ihn vor jeder Abweichung gewarnt hatten. Sein Vater und Großvater sprachen abfällig über Jungs und Männer, die mit dem Schwanz dachten. Seine Mutter und seine Tanten äußerten gern ihr verachtungsvolles Befremden über Mädchen und Frauen, die sich nicht fügten, nicht nach Rezepten fragten und sich für etwas Besseres hielten. Die praktischen Erwägungen, die zu dieser Mißbilligung führten, lagen auf der Hand: solche Männer und solche Frauen machten niemanden glücklich, am wenigsten sich selbst. Trotz allem gab es da nun Diane. Alle Urteile, die er über ihren Charakter hätte fällen können, alle Vorhersagen, die auf diesen Urteilen hätten fußen können, wurden durch Dianes eigene Vorstellungen von ihrer Zukunft zunichte gemacht. »Man muß aus allem das Beste machen«, dieser häufigste und weiseste Ratschlag seines Vaters, nahm in Dianes Kopf nicht den geringsten Raum ein. Es überraschte ihn außerdem, wie viele verschiedene Eindrücke von Diane er bereits gewonnen hatte, nachdem sie sich am Samstag abend kennengelernt und dann am Dienstag zum gemeinsamen Lernen in der Bibliothek getroffen hatten. Er brauchte die vielen Stunden, in denen er vor sich hin brütete und Earl den Rücken kratzte, um sich über alles klarzuwerden. Die Mädchen, die er bisher gekannt hatte, waren ihm alle ziemlich fade vorgekommen; Diane verwirrte ihn mit Vielseitigkeit. Alles, was sie sagte oder tat, enthielt Informationen über sie, und er sammelte diese Informationen wie Edelsteine. Der Grad seiner Bewunderung für sie überraschte ihn. Ihm war, als ob sich plötzlich ein ganz neuer Bereich seines Innenlebens vor ihm auftat, der ihm unvermutete Reichtümer enthüllte. Er war anscheinend doch kein so langweiliger Kerl, wie er 134
immer geglaubt hatte. Earl war bei alledem ein guter und verläßlicher Gefährte. Die schneeweiße Haut des Schweins sauber zu halten, seinen Koben auszumisten, seinen Trog zu füllen, seinen Körper auf Parasiten oder mögliche Infektionen zu untersuchen (obwohl keine anderen Schweine in der Nähe waren, kam doch Bob selber als Überträger in Frage, denn Schweine und Menschen hatten gewisse Krankheiten gemein) oder ihn auch nur von seiner Einsamkeit abzulenken (die Bob jetzt, da ihm seine eigene Einsamkeit klarer geworden war, um so stärker nachempfand), all das waren ehrenvolle Aufgaben und eine gute Art, die Zeit zu verbringen. Bob tat das alles für Diane, obwohl sie Agronomie haßte, sich vor Schweinen fürchtete und wahrscheinlich entsetzt vor allen Tätigkeiten Reißaus genommen hätte, die für seine Familie zum täglichen Leben gehörten. Und es war tatsächlich eine ehrenvolle Aufgabe. Earl sah keinen Grund zur Klage. Selbst für ein Schwein ist es schwer zu beurteilen, ob es sich selber oder andere für seine Beschwerden verantwortlich machen soll, besonders wenn sie so unbedeutend scheinen – vielleicht bloß die Folge einer leichten Stimmungsschwankung oder eines Wandels im Zeitgeist.
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17 Ein Blick in die Zukunft Aufgabe: Schreiben Sie eine Geschichte, die von folgender Situation ausgeht: Drei Personen befinden sich gemeinsam in einem Raum, und es geschieht etwas, auf das mindestens eine von ihnen reagiert. Sie können den Begriff »Raum« dabei sehr frei auslegen. Denken Sie daran, daß es nicht ausreicht, nur die Situation zu umreißen – eine Geschichte beginnt erst dann, wenn eine Figur in einen Konflikt gerät und darauf reagiert, und sie ist erst dann zu Ende, wenn keine weiteren Reaktionen möglich sind. Noch ein Hinweis zum Thema Mehrdeutigkeit: Bitte denken Sie daran, daß es den meisten Lesern nicht gefällt, wenn sie raten müssen, was passiert ist, daß sie aber nichts dagegen haben, das Geschehene selbst zu interpretieren. Wenn Sie als Autor nicht wissen, was passiert ist, dann ist das keine Mehrdeutigkeit, sondern ein Schwachpunkt Ihrer Geschichte. Lassen Sie sich etwas einfallen. 17. September Monahan, KS 325 »Der Junge« eine Geschichte von Gary Olson Im Zimmer war es dunkel, obwohl es fast Mittag war, denn Lydia Karstensen hatte die Jalousien heruntergelassen. Lydia mochte das Tageslicht nicht, weil es zuviel sichtbar machte. Sie hatte sich seit der Geburt des Kleinen ange136
wöhnt, bis spät in die Nacht aufzubleiben und fernzusehen und dann morgens so lange wie möglich zu schlafen. Wenn Einkäufe zu machen oder etwas zu besorgen war, versuchte sie Lyle zu überreden, das auf dem Heimweg von der Arbeit zu erledigen. Obwohl Lyle ein Diplom als Elektroingenieur von einer bekannten Universität besaß, arbeitete er in einer Fabrik. Lydia wachte auf und wälzte ihren wuchtigen Körper auf die Seite. Dann tastete sie auf dem Boden nach der Schachtel Pralinen, die sie am Abend zuvor gegessen hatte. Es waren keine mehr drin. Sie rief: »Brownie, komm sofort her!« Aber der Hund hatte Angst vor ihr und verkroch sich unter dem Küchentisch. Plötzlich bemerkte Lydia, daß ihr Sohn und ihre Tochter sich im Zimmer befanden. Sie saßen dicht aneinandergekauert und mucksmäuschenstill in der Ecke und hielten sich bei den Händen. Sie sagte: »Warum seid ihr nicht in der Schule, Kinder?« Der Junge sagte: »Allison hat Fieber, und Daddy hat gesagt, ich soll zu Hause bleiben und mich um sie kümmern.« Lydia sagte: »Für so etwas habe ich jetzt keine Zeit. Ich gehe erstmal unter die Dusche.« Sie wälzte ihren massigen, schweineförmigen Körper aus dem Bett. Dann zog sie ihr Nachthemd aus. Die Kinder bedeckten ihre Augen mit den Händen. Lydia sagte: »Diese Wohnung ist das reinste Rattenloch. Ich möchte wissen, warum wir kein eigenes Haus haben.« Sie watschelte auf das Badezimmer zu. Der Junge sah, daß sich die Telefonschnur zwischen Wand und Bett spannte. Er sagte nichts. Lydia sah die Schnur nicht. Sie konnte ihre Füße schon seit Jahren nicht mehr sehen. Sie stolperte über die Schnur, ohne sie aus der Wand zu reißen. Sie fiel mit einem Rums zu Boden, der das ganze Gebäude erbeben ließ. Der Junge konnte es spüren. 137
Lydia sagte: »Scheiße. Helft mir hoch.« Aber ihr Bein war gebrochen, und so sehr der Junge sich auch bemühte, er schaffte es nicht, sie hochzuziehen. Dann fing Lydia an zu husten. Sie spuckte Blut. Sie sagte: »Gib mir das Telefon rüber«, aber die Leitung war tot. Der Junge und seine Schwester kauerten sich wieder nebeneinander in die Ecke. Lydia sagte: »Mir geht es gar nicht gut. Ich glaube, ich muß sterben. Kommt her, ihr beiden, und umarmt mich.« Allison stand auf und ging zu ihrer Mutter hinüber. Sie legte die Arme um ihren fetten Hals. Aber der Junge rührte sich nicht. Er konnte nicht vergessen, wie oft seine Mutter ihn geohrfeigt und angebrüllt hatte. Er saß nur da und starrte sie an. Kurz darauf drang ein Röcheln aus Lydias Kehle, und dann war sie tot. Als Lyle von der Arbeit in der Fabrik nach Hause kam, fiel ihm auf, daß es in der Wohnung sehr still war. Er begann die ganze Wohnung abzusuchen. Er ging ins Schlafzimmer. Das erste, was er sah, war Lydias massiger Körper, der leblos vor der Badezimmertür lag. »Oh, mein Gott!« rief er aus. Er hatte sie trotz allem immer geliebt. Dann sah er die Kinder in der Ecke sitzen. Allison weinte. Sie sprang auf und rannte in die Arme ihres Daddys. Er sah den Jungen an. Der Junge rührte sich nicht. Er schaute seinen Vater nur an. Das Haar des Jungen, das fast schwarz gewesen war, war schlohweiß geworden. Ende Gary – Ich glaube, diese Geschichte muß noch einmal überarbeitet werden. Lydias Körperfülle scheint Sie sehr zu beschäftigen. Macht allein die Tatsache, daß sie dick ist, sie schon unsympathisch? Davon scheinen Sie 138
sie schon unsympathisch? Davon scheinen Sie auszugehen. Was für ein Mensch ist sie, abgesehen von ihrer Körperfülle? Wie war sie früher? Weshalb hat Lyle sich überhaupt in sie verliebt? Wodurch ist sie so geworden, wie sie jetzt ist? Wie fühlt sie sich dabei? Sie müssen ihre Persönlichkeit etwas genauer beleuchten. Der Junge braucht einen Namen. Was für ein Mensch ist er? Ist er böse? Man weiß nicht recht, was man von ihm halten soll. Falls Sie sich entschließen, die Geschichte umzuschreiben, sprechen Sie bitte vorher mit mir. Gary las den Kommentar mit einigem Unmut. Er selber fand die Geschichte sowohl ergreifend als auch spannend und unheimlich. Nachdem er sie geschrieben hatte, hatte er noch stundenlang wachgelegen und gedacht, was für eine revolutionäre Mischung aus Stephen King und Charles Dickens ihm da gelungen war. UND er hatte die Aufgabe ganz genau erfüllt. Drei Personen in einem Raum, es passiert etwas, und sie reagieren darauf, bis alle ihre Reaktionsmöglichkeiten ausgeschöpft sind. Er drehte das Blatt um und suchte nach einer Note, konnte jedoch keine entdecken. Der Ansturm von Studenten, die unterwegs zum nächsten Kurs waren und ihn in eine Ecke des Korridors gedrängt hatten, ebbte langsam ab, und er sah, daß die Tür zum Spanischkurs offenstand. Lydia kam in Begleitung eines Mädchens heraus. Garys erster Gedanke war, die Geschichte in seine Mappe zu schieben und in die andere Richtung zu schauen. Er hätte ihren Namen nicht benutzen sollen, und Lyles auch nicht. Es war zu gefährlich, auch wenn es ihm so einfacher vorgekommen war. Sie und das andere Mädchen liefen an ihm vorbei und stiegen die Treppe hinauf. Sie trug tolle enganliegende Jeans und dazu flache rote Schuhe. Ihr dicker, schimmernder Pferdeschwanz wippte 139
hin und her, und plötzlich lachte sie ihr melodisches Lachen. Die beiden unterhielten sich aufgeregt über irgend etwas. Gary versuchte, so nah wie möglich an sie heranzukommen, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und belauschte ihr Gespräch. Er fand es jedoch schwierig, sich zu merken, was sie sagten. Er mußte sein Gedächtnis schulen, wie Professor Monahan es ihnen immer empfahl. Aber in einem Punkt gab es keinen Zweifel: hatte man erstmal angefangen, andere zu belauschen, war es höllisch interessant.
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18 Ein Soldat der Revolution L OREN STROOP fuhr einen alten John-Deere-Trecker mit mehreren tausend Betriebsstunden auf dem Buckel, der keine Fahrerkabine hatte, von einer Klimaanlage ganz zu schweigen, und daher fand Loren sich besonders bei der sommerlichen Feldarbeit und der Heuernte immer wieder darin bestätigt, daß es sich bezahlt machte, hinsichtlich der Technologie kugelsicherer Westen auf der Höhe des Fortschritts zu bleiben, allein schon aus Gründen des Gewichts und des Tragekomforts. Er kaufte jedes Jahr das neueste Modell, das in den Polizeiblättern angeboten wurde, und er schrieb es bei der Steuererklärung unter »verschiedene Ausrüstungsgegenstände« ab. Nachdem er eine Weste ein Jahr lang getragen hatte, roch sie ziemlich streng, aber er vermachte sie trotzdem einem der örtlichen Hilfssheriffs oder sonst jemandem, der sie haben wollte. Lorens Frau war tot, und Kinder hatte er keine, daher war er in der Nachbarschaft als großzügiger alter Mann bekannt. Weil Loren nicht gerne untätig herumsaß und seine Aktivitäten ihn ständig außer Haus führten, war die kugelsichere Weste der beste Schutz gegen die Leute vom FBI, der CIA und von den großen Agrarkonzernen, die ihn allesamt aus dem Weg schaffen wollten, ehe er seine Erfindung, die die amerikanische Landwirtschaft revolutionieren würde, vervollkommnen und vermarkten konnte. Das bedeutete jedoch nicht, daß sein Haus ungesichert war – er hatte zum Schutz gegen Einbrecher eine Alarmanlage installieren lassen und hielt sowohl drinnen als auch draußen zahlreiche Hunde. Er hatte im Fernsehen einmal eine Sendung gese141
hen, in der eine Reihe gerichtsnotorischer Einbrecher gefragt wurden, welches Sicherungssystem sie selbst benutzen würden, und alle hatten gesagt, sie würden sich einfach einen Hund kaufen, und dadurch hatte er sich bestätigt gefühlt. Er hatte schon immer gefunden, man könne sich auf Hunde verlassen, je mehr es waren, desto besser. Loren besaß keine Schußwaffe mehr. Seiner Meinung nach wurde man von einer Schußwaffe nur dazu verleitet, sie auch zu benutzen. Jedesmal, wenn man sich über etwas aufregte, begannen die eigenen Gedanken um die Waffe zu kreisen, so als könne die Waffe das Problem lösen. Nein, seine persönliche Sicherheit war zweitrangig. Er verwandte seine Energie auf die Arbeit an seinen Zeichnungen und Konstruktionsplänen. Er hielt es für das beste, Kopien davon an verschiedenen Orten zu verwahren und Vorsorge für ihre Veröffentlichung zu treffen, falls ihm etwas zustieß. Zu diesem Behuf wollte er Briefe an verschiedene Behörden schreiben, die nach seinem Tod abgeschickt werden sollten, auch wenn die Umstände seines Ablebens noch so unverdächtig erschienen. Er hatte vor, sich bald darum zu kümmern. Er wußte nur zu gut, daß der FBI, die CIA und die großen Agrarkonzerne über viele Methoden verfügten, jemanden zu beseitigen und es wie einen Unfall oder sogar wie eigenes Verschulden aussehen zu lassen (DIESE Ungerechtigkeit lag ihm besonders schwer im Magen). Hatte er nicht vor geraumer Zeit die Geschichte von einem Mann gehört, der gerade über den Wechsel von einer großen Firma zu einer anderen verhandelte – in der Computer- oder vielleicht in der Ölbranche –, in einem Hotel an der Ostküste abstieg und am nächsten Tag mit einer Kugel im Kopf gefunden wurde, und von dem es dann hieß, er habe Selbstmord begangen, obwohl die Pistole auf dem Fußboden lag und die Hände des Mannes unter der 142
Bettdecke steckten? Das war ein überzeugendes Beispiel dafür, wie weit sie gehen würden, um sich und vor allem ihre Investitionen zu schützen. Wenn man im Begriff stand, die amerikanische Landwirtschaft zu revolutionieren, was bedeutete, daß Milliarden von Dollar bereits getätigter Investitionen hinfällig wären, dann war es naiv zu glauben, daß sie tatenlos zusehen würden. Dennoch war Loren seit jeher ein glühender Patriot gewesen. Jeden Tag hißte er die Flagge, wobei er die althergebrachten Regeln befolgte und sie bei Regen einholte und zu einem Dreieck zusammenfaltete und aufpaßte, daß sie niemals den Boden berührte, und er glaubte mit der gleichen festen Überzeugung daran, daß sein Dekan für Technologietransfer, Dr. Nils Harstad, eines Tages die richtige Entscheidung treffen und sich für seine Erfindung einsetzen würde. Loren mußte nur zuerst an Dr. Harstads Sekretärin vorbeikommen, die, wie die meisten Frauen, keine Ahnung hatte, worum es eigentlich ging, und die lieber ihre Nägel feilte, als die amerikanische Landwirtschaft voranzubringen. Aber ein Mann wie Loren Stroop, ein erfahrener Landwirt, der sich finanziell nie übernommen und jeden Bereich seines Lebens wohlgeordnet hatte, war ein Mann, der über jede Menge Zeit verfügte und es sich, sogar zu Beginn der Erntezeit, leisten konnte, geduldig auf eine Unterredung zu warten. An jedem Wochentag fütterte er frühmorgens die Hunde, frühstückte, stellte das Geschirr in die Spüle, verließ das Haus und arbeitete etwa bis zwölf Uhr auf den Feldern. Dann kam er zurück, aß ein Sandwich und trank ein Glas Milch, zog sich um (seine kugelsichere Weste behielt er jedoch an, weil sie natürlich genau wußten, welchen Wagen man fuhr, selbst wenn man ihn jedes Jahr neu lackieren ließ, was Loren tat und unter »Instandhaltungs143
kosten« abschrieb) und fuhr zum Fachbereich der Universität für Transfer (seiner Universität, die aufgrund des Morrill-Act gegründet worden war, um ihm behilflich zu sein). Er kam dort um dreizehn Uhr an und stellte seinen Wagen für genau eine Stunde unerlaubt auf einem Parkplatz ab (die Parkplatzverwaltung hielt sich ebenfalls an gewisse Regeln, und vor vierzehn Uhr gab es dort niemals einen Strafzettel). Loren hatte sich über die Gefahren eines gleichbleibenden Tagesablaufs Gedanken gemacht, vor allem nachdem sie im Fernsehen gesagt hatten, daß all die Leute, die in irgendwelchen fremden Ländern entführt wurden, sich dieser Gefahr ausgesetzt hatten, indem sie jeden Tag dasselbe taten, aber er hatte noch nicht entschieden, wie er seinen Tagesablauf verändern wollte, und fand, das erfordere sorgfältige Überlegung. Nach seiner Erfahrung neigte man dazu, eine Menge zu vergessen, wenn man seinen Tagesablauf änderte, und es war unstrittig, daß man um so mehr vergaß, je älter man wurde. Wie auch immer, ab ein Uhr saß er etwa fünfundvierzig Minuten lang wohlerzogen im Vorzimmer seines Dekans für Transfer, und jedesmal ließ er sich anmelden, indem er der Sekretärin, um ihr Arbeit zu ersparen, einen Zettel gab, auf dem er mit Bleistift seinen Namen und sein Anliegen notiert hatte. Diese Besuche bestätigten ihn in seiner Meinung, daß der Dekan ein äußerst vielbeschäftigter Mann war und daß es Jahre dauern konnte, bis man ihn zu Gesicht bekam, genau wie es, dem Fernsehen zufolge, früher bei den Königen und Prinzen in Europa gewesen war. Wenn er seinen Besuch beendet hatte, machte er einen kleinen Spaziergang durch den Garten neben dem fensterlosen Backsteingebäude und bewunderte dessen Pflanzenvielfalt. Er kannte und schätzte den Garten inzwischen und staunte darüber, wie es den Leuten von der Universität 144
jedes Jahr gelang, daß ihre Pfirsich- und Aprikosenbäume hier oben im Norden eine stattliche Anzahl praller (und äußerst wohlschmeckender) Früchte trugen, und er hatte sich erlaubt, einige Pfirsich- und Aprikosenkerne aufzubewahren und bei sich einzupflanzen, aber er wußte noch nicht, wie sie auf seinem Boden gediehen, da es noch eine ganze Weile dauern würde, bis sie die ersten Früchte trugen. Seine übrige Zeit verbrachte er mit der Vervollkommnung seiner Erfindung, und seine Scheune war häufig bis spät in die Nacht vom bläulichen Licht seiner Lötlampe erhellt, und oft ertönte dort ein rhythmisches Hämmern. Da er großzügig war, nahm er sich auch die Zeit, die Landmaschinen seiner Nachbarn zu reparieren. Es machte ihm nichts aus, zu ihnen hinüberzufahren, und er tat die ihm angebotene Bezahlung jedesmal mit der Bemerkung ab: »Gegen ein Stück Kuchen hätt ich allerdings nichts einzuwenden.« Und dann ging er ins Haus und ließ sich von der Frau den neuesten Klatsch erzählen, warf einen Blick auf die Kinder und erkundigte sich, wie es so ging, und dann gab er jedem der Kinder einen Dime, was er sich ohne weiteres leisten konnte, denn seine Erfindung würde die amerikanische Landwirtschaft revolutionieren und ihn zu einem reichen Mann machen. Nils Harstad hatte einen ganzen Aktenordner voller Briefe von Loren Stroop, die alle mit Bleistift geschrieben waren und wie gedruckt aussahen und Sätze enthielten wie: »Ich muß vorsichtig sein, denn ich habe viele Feinde«, »Bitte, bitte, bitte geben Sie nichts, was Sie von mir oder über mich hören, an irgend jemanden von der AGRARINDUSTRIE weiter«, und »Zum ersten Mal habe ich Ihren Namen in einer Zeitschrift gelesen, als ich im Krankenhaus war«. Letzteres deutete Nils als eine psychiatrische Klinik, 145
doch handelte es sich in Wahrheit um das Bezirkskrankenhaus, in dem Loren sich auf Staatskosten die Gallenblase hatte herausnehmen lassen. Nach Harstads Ansicht war die Regelmäßigkeit von Lorens Besuchen ein weiteres Indiz für mentale Instabilität (ritualisierten die Menschen ihr tägliches Leben nicht immer stärker, je verrückter sie wurden?), zugleich aber auch von Vorteil, denn da er selbst immer von eins bis zwei seine Mittagspause machte, wäre er, wenn die Gewehre und automatischen Waffen losgingen, weit außerhalb der Schußlinie. Er hatte natürlich seiner Sekretärin angeboten, es genauso zu machen, aber nachdem sie einen Blick auf Loren geworfen hatte, schätzte sie die Gefahr als nicht sehr groß ein. Und außerdem, wenn um eins niemand im Büro war, würde er sich für seine Besuche einfach eine andere Zeit aussuchen, soviel war klar. Dennoch versuchte sie so höflich wie möglich zu sein, und sie bot ihm jedesmal, wenn er Platz nahm, eine Tasse Kaffee an. Nach Auskunft der Polizei und des Universitätssicherheitsdienstes hatte er sich noch nicht auffällig verhalten. Seine Briefe waren verrückt, aber sie enthielten keine Drohungen. Nils’ Sekretärin spürte, daß sie sich einem gewissen Risiko aussetzte, aber angesichts des langweiligen Lebens in dieser Stadt hatte sie nichts dagegen einzuwenden. Eines schönen Tages jedoch gelangten Nils und seine Sekretärin durch eine geheimnisvolle geistige Übereinstimmung zu der inneren Überzeugung, daß sie von Loren Stroop nun die Nase voll hatten. Nachdem sie eineinhalb Jahre lang seine Briefe in Empfang genommen und seine Besuche ertragen hatten, nachdem sie sich anscheinend an diese absonderliche, lästige und beklemmende Situation gewöhnt hatten, hielten sie es nicht länger aus. Früher gehegte Befürchtungen, eine Krise heraufzubeschwören, 146
wenn sie etwas unternahmen, fielen plötzlich von ihnen ab, und sie waren sich nun einig, daß es so nicht weitergehen konnte. Diese schlichte Übereinstimmung bewirkte, daß aus Wunsch Entschluß und aus Entschluß Plan wurde. Nils wußte nicht genau, was seine Sekretärin dachte, aber er selbst glaubte, er sei diese heldenhafte Tat seinen sechs ungeborenen Kindern schuldig, da Marly Hellmich sich bereit erklärt hatte, ihn zu heiraten. Und daher nahm die Sekretärin Loren, als er das nächste Mal in das Vorzimmer kam, zuvorkommend den Mantel ab, um ihn aufzuhängen, allerdings schien sie dabei das Gleichgewicht zu verlieren und hielt sich an Loren fest (sie sagte: »Hier wird immer so stark gebohnert!«). Dann nahm er Platz, während sie in das Büro seines Dekans ging (wo sie, ohne daß Loren die leiseste Ahnung davon hatte, berichtete, daß sie die Männer des Sicherheitsdienstes in Alarmbereitschaft versetzt hatte und daß sie in seinen Taschen nichts habe ertasten können, während sie sich an ihm festhielt), und dann kam sie wieder heraus und sagte: »Der Dekan erwartet Sie«, und er war im Büro, noch ehe sie ein weiteres Wort sagen konnte. Sein Dekan schaute ihn mit festem Blick an, kein Zweifel, er taxierte ihn, wie es sich für einen Mann gehörte, und er schaute seinen Dekan ebenfalls mit festem Blick an, aber dann setzten sie sich und hielten ganz entspannt ein Schwätzchen. Nils sagte: »Ich weiß, daß Sie sich schon seit einiger Zeit um einen Termin bei mir bemühen, Mr. Stroop, und ich muß mich entschul –« »Keine Ursache, Nils« – man konnte seinen Dekan anreden, wie es einem gefiel, dachte Loren – »ich weiß, Sie sind ein vielbeschäftigter Mann, und ich bin ein geduldiger Mensch, das geht in Ordnung.« »Gut. Was kann ich für Sie tun?« 147
»Also, das kann ich eigentlich nicht sagen.« »Entschuldigen Sie, ich dachte, Sie hätten ein bestimmtes Anliegen –« »Oh ja, das habe ich. Aber eigentlich kann ich darüber nicht sprechen, müssen Sie wissen. Es ist ein Geheimnis.« »Also, dann –« »Es gibt da zwei Gefahren, Nils, und ich werde ganz offen reden, weil ich Ihnen das meiner Meinung nach schuldig bin, und wenn irgend etwas davon nach außen dringt, weiß ich sowieso, wo die undichte Stelle war – bei Ihnen nämlich, verstehen Sie.« »Also, ich gebe Ihnen mein Wort, Mr. Stroop.« »Okay, geht in Ordnung, denn am Ende muß ich ja doch damit heraus, und es ist Zeit, den ersten Schritt zu tun, und ein Geheimnis nützt niemandem etwas, vor allem kein Geheimnis wie dieses.« »Wenn Sie mir vielleicht –« »Also, die beiden Gefahren sind folgende: erstens, daß sie mir das stehlen, was ich habe, um es geheimzuhalten oder selber zu nutzen, und das Geld einstreichen, obwohl ich auf das Geld gerne verzichten würde, wenn das der Preis dafür wäre, daß ich damit herausrücke, denn, wissen Sie, ich bin ein alter Mann, und ich mache mir nicht sehr viel aus Geld. Das verstehen Sie doch, oder?« »Nun ja, natürlich –« »Die größere Gefahr besteht in meinen Augen aber darin, daß sie es einfach zerstören. Daher habe ich Vorsichtsmaßnahmen getroffen.« Er knöpfte zwei Knöpfe seines Hemds auf, und Nils’ Herz begann heftig zu schlagen. Loren schob den karierten Stoff zur Seite und gab den Blick auf etwas Glänzendes, Dunkelgraues frei. »Sie befinden sich vielleicht nicht in einer Situation, in der Sie mit 148
solchen Dingen vertraut sein müssen, aber dies ist eine kugelsichere Weste, und wenn Sie jemals eine brauchen, kann ich Ihnen sagen, welche Marke die beste ist, ich habe nämlich alles darüber gelesen.« Er lächelte liebenswürdig. Nils atmete tief durch. »Ich bin nicht von gestern, und ich bin kein Kommunist, aber ich weiß, wie DIE denken; es ist ihr gutes Recht als Amerikaner, so zu denken, aber ich denke nunmal anders, und daher schütze ich mich.« »Kann ich dem entnehmen, daß Sie eine Erfindung gemacht haben, Mr. Stroop?« Nils lehnte sich lächelnd in seinem Stuhl zurück. Niemals zuvor war ihm so deutlich zu Bewußtsein gekommen, was es hieß, wiedergeboren zu sein. Ein Farmer mit einer Erfindung! Von dreihunderttausend Farmern hatten zweihunderttausend eine Erfindung in der Scheune. Er lächelte. »Und ob ich das habe«, sagte Loren Stroop. »McCormick ist Ihnen ein Begriff? oder John Deere oder Garst? Ich bin zu alt, um bescheiden zu sein. Den Männern, die in fünfzig Jahren auf diesen Stühlen sitzen werden, wird der Name Stroop genauso geläufig sein, außer wenn DIE mich aufhalten. Ich bin ein Patriot und ein guter Nachbar, aber ich weiß, das spielt keine Rolle, wenn man deren Gewinne gefährdet.« »Haben Sie die Pläne dabei?« »Ich trage die Pläne niemals bei mir. Zu riskant. Wir müssen ein weiteres Treffen vereinbaren. Nicht hier. Nicht in meinem Haus.« »Das läßt sich machen. Welchen Treffpunkt schlagen Sie vor?« »Dann werden Sie mir also behilflich sein?« »Ihnen behilflich zu sein ist meine Aufgabe, Mr. Stroop.« 149
»Ja, das weiß ich, Nils. Darum nenn ich Sie ›Nils‹, weil ich genau Bescheid weiß über den Morrill-Act und Ihre Aufgaben.« »Dann lassen Sie uns ein Treffen vereinbaren.« »Also, genaugenommen, bin ich noch nicht soweit. Ich arbeite langsam, und ich muß mir jeden Schritt genau überlegen. Aber ich melde mich wieder bei Ihnen.« »Gut. Gut. Das freut mich.« In den letzten fünfzehn Minuten hatte Nils Harstad mit jeder Zelle seines Körpers das neue Leben, dem er zustrebte, gespürt, ein Leben frei von Unsicherheit und Zweifel. Warum sollte er einem alten Mann nicht die Hand reichen, dem letzten seiner Art, diesem Herzen des Herzlandes? Wahre Nächstenliebe, dachte er oft, bestand nicht darin, zu entscheiden, was die anderen brauchten, und es ihnen zu geben, sondern darin, ihnen zu geben, wonach sie verlangten. Stroop zu geben, wonach er verlangte – einen Blick auf seine Erfindung und ein offenes Ohr –, stand durchaus in seiner Macht. Als sie sich an der Tür von Nils’ Büro trennten, schüttelte er Stroop mit einem Gefühl echter Freundschaft die Hand. Und Loren Stroop spürte es, spürte die Aufrichtigkeit dieses Mannes. Den heutigen Tag, dachte er, als er vor dem Gebäude stand und sah, wie sein Wagen gerade ein Strafmandat bekam, würde er rot im Kalender anstreichen.
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19 Das schlechteste Pferd der Welt » – DIE E IER REIFEN innerhalb von zwei bis sechs Tagen heran, die Brut schlüpft beim Kontakt mit Feuchtigkeit und nistet sich dann in der Zunge oder den fleischigen Teilen des Kiefers ein. Hier erreicht sie das zweite Stadium, wird verschluckt und gelangt in den Magen. Beachten Sie bitte die Abbildungen und die Tabelle auf den Seiten 634 und 635 im Text. Fast alle Pferde scheinen Dassellarven zu haben.« Bob blickte an Brust und Vorderbeinen des Pferdes hinunter, das er festhielt, aber er konnte keine verräterischen Eier entdecken. Vorsichtshalber trat er jedoch einen halben Schritt zurück. Das Pferd bemerkte es nicht. Die Stute stand mit gesenktem Kopf, schlaffen Ohren und hängender Unterlippe da. »Sehr wichtig: Strongyliden. Sie brauchen nur die Hauptarten zu kennen, die sogenannten ›großen Strongyliden‹. Es handelt sich dabei um blutsaugende Parasiten im Verdauungstrakt, die schon bei den ersten uns bekannten Pferden gefunden wurden. Die Larven der Würmer wandern durch die Organe und das Gewebe des Pferdes und lösen Thrombi und Emboli aus, das heißt Blutgerinnsel, die die Gefäße verstopfen. Viele Experten glauben, daß Pferde schon seit so langer Zeit von Strongyliden befallen werden, daß sie im Verlauf der Evolution ein komplexes System von Nebenverbindungen der Darmarterien entwickelt haben. Sie müssen sich die Strongyliden als Auslöser innerer Verletzungen im Gewebe des Pferdes vorstellen. Vorbeugung ist mit Abstand die beste Behandlungsmethode.« 151
Bobs Stute war inzwischen offensichtlich eingeschlafen. Sie hatte die Augen geschlossen, ein Hinterbein ruhte lässig abgewinkelt auf der Hufzehe. Als Vertreterin der Gattung Pferd war sie nicht im entferntesten so prachtvoll wie der Wallach zu seiner Rechten. Sie hatte klobige Hufe, kurze Beine, einen runden Heubauch, einen durchhängenden Rücken, einen vorstehenden, knochigen Widerrist, eine dünne Mähne, unter der ein Hirschhals zu sehen war, lange Ohren und einen knochigen, ausdruckslosen Kopf, der weder ein ausgeprägt römisches noch ein gefällig flaches Profil aufwies. Es war bloß ein Kopf mit hängender Unterlippe. Miss Pfisterer warf einen Blick in die Runde. Sie war sehr ernst und machte im Unterricht nie einen Scherz. Bob vermutete, es lag daran, daß sie so klein war – kaum größer als eine Zwölfjährige. Was auch der Grund sein mochte, die Wirkung jedenfalls war, daß jedes ihrer Pferdeseminare ihm wie eine Sache auf Leben und Tod vorkam. »Passen Sie gut auf, denn ich werde jetzt etwas sehr Wichtiges erklären. Es wird empfohlen, alle zwei Monate, das heißt sechsmal pro Jahr, bei Pferden eine Wurmkur durchzuführen. Als Folge dieser Kuranwendungen ist eine Reihe von Strongylidarten bereits gegen sieben der üblicherweise eingesetzten Chemikalien resistent, und fünf Arten der kleinen Strongyliden sind kreuzweise resistent gegen fünf dieser Chemikalien. In allen Fällen werden durch die Anwendung von Chemikalien innerhalb des Parasitenbestandes Resistenzen aufgebaut. Der Erfolg einer Behandlung mit eindämmenden Chemikalien ist immer nur von kurzer Dauer.« Ein Mädchen auf der anderen Seite des Kreises, die eine hübsche Appaloosa-Stute hielt, stellte, wie immer, mit selbstgefälligem Lächeln die obligatorische Frage: »Wozu 152
würden Sie denn raten, Miss Pfisterer?« »Bestimmte Praktiken der Pferdehaltung, wie der Einsatz spezieller Maßnahmen gegen spezielle Parasiten, abwechselnde Nutzung des Weidelandes durch Pferde und Rinder oder Schafe und die Befallsprävention bei Fohlen haben sich als erfolgversprechend erwiesen. Eine Rückkehr zu althergebrachten Haltungsarten wie Ständerhaltung und gänzlicher Verzicht auf freies Weiden wird ebenfalls empfohlen. Schließlich war der Pferdebestand früher wesentlich größer. Es muß also zumindest Mittel und Wege der unbeabsichtigten Eindämmung gegeben haben.« Das Mädchen sagte daraufhin tatsächlich mit einem herablassenden Unterton in der Stimme: »Danke sehr.« Das Pferd rechts neben Bob hob den Kopf und spitzte die Ohren. Es war ein Fuchs und sah mit seinem kurzen, gebogenen, wohlgeformten Hals und den scheinbar kürzeren Vorder- als Hinterbeinen wie ein Quarter Horse aus. Bob teilte mit seinem Vater ein gewisses Liebhaberinteresse an Pferden, das bei Farmern nicht sehr häufig anzutreffen war und das sich bei ihnen hauptsächlich auf die beiden Ponys bezog, die sie auf der Weide hielten, als Bob und seine Brüder noch klein waren. Inzwischen hatte Miss Pfisterer einige Gerätschaften hervorgeholt: einen Plastikschlauch, eine große Spritze und eine kleine Spritze. Sie sagte: »Es gibt drei Methoden der Wurmbehandlung – durch Injektion, Wurmpasteninjektor oder Einlauf mit Schlauch. In ein paar Wochen werden wir im Labor festzustellen versuchen, welche dieser Methoden am wirksamsten war, indem wir den Kot der drei Pferdegruppen untersuchen.« Sie standen geduldig da, einundzwanzig Pferde und einundzwanzig Studenten, während Miss Pfisterer zwischen ihnen umherging und hier und da vorführte, wie man eine 153
Injektion verabreichte oder wie die lange Spritze des Wurmpasteninjektors zwischen den zahnlosen Kieferknochen des Pferdes hindurch auf die Unterseite seiner Zunge geschoben wurde. Als sie zu Bob kam, nahm sie den aufgerollten Plastikschlauch von ihrer Schulter und sagte: »Diese Prozedur ist ziemlich unangenehm, aber Brandy läßt es sich gefallen. Legen Sie ihr die linke Hand unters Kinn und heben Sie ihren Kopf mit dem Halfter an.« Brandy öffnete die Augen und richtete sich auf, protestierte aber nicht. »Die Speiseröhre liegt links. Geben Sie gut acht, daß Sie den Schlauch nicht in die Luftröhre einführen. Und jetzt schauen Sie in ihr Maul und ertasten Sie die Öffnung der Speiseröhre.« Bob folgte ihren Anweisungen, während Miss Pfisterer das andere Ende des Schlauchs in einen Eimer steckte. Ein beachtlich langes Stück Plastikschlauch verschwand in Brandys Schlund. Sie trat ein Stückchen zur Seite und rollte mit den Augen, wehrte sich aber nicht weiter. Hinter sich hörte Bob, wie jemand »igitt« sagte. Miss Pfisterer lächelte unwillkürlich. Kurz darauf hatte die Stute ihre Dosis intus, und Miss Pfisterer zog ihr den Schlauch aus dem Maul und rollte ihn wieder auf. Sie klopfte Brandy, die augenblicklich wieder einzuschlafen schien, auf den Hals. Zu Bob sagte sie: »Wissen Sie, warum diese Stute das wertvollste Pferd im Stall ist?« Bob schüttelte den Kopf. »Na, dann schauen Sie mal genau hin. Brandy ist einzigartig. Sie ist der Prototyp eines schlechten Pferdes. Alle Besonderheiten des Körperbaus, die ein Pferd nicht haben sollte, sind bei ihr vorhanden. Jeder Student, der sie sich angeschaut hat, der sie eingehend betrachtet und untersucht hat, weiß danach genau, welche Merkmale die Pferde, die er in Zukunft vielleicht kaufen wird, auf keinen Fall besitzen dürfen. Wir haben lange gebraucht und großes Glück 154
gehabt, sie zu finden, und wir geben uns alle Mühe, sie gesund zu erhalten. Bei den vielen Züchterverbänden und Zuchtrichtlinien, die es für jede noch so unbedeutende Pferdeart gibt, werden wir womöglich niemals einen Ersatz für sie finden. Sie ist das schlechteste Pferd der Welt. Und sie ist mein Liebling.« Miss Pfisterer gab Brandy einen Kuß auf die Nase und schob ihr mit der flachen Hand eine Möhre zwischen die behaarten Lippen. Wäre sie nicht Miss Pfisterer gewesen, Bob hätte geglaubt, sie mache Witze. Sie drehte sich auf dem Stiefelabsatz um und ging hinüber zu dem Fuchshengst, der tänzelte und stieg und zu beobachten versuchte, wie sie eine Injektion für ihn vorbereitete. Sie zeigte dem Mädchen, das ihn hielt, wie man einem Pferd die Hand übers Auge legte, um ihm die Sicht nach hinten zu nehmen, und gab dem Hengst dann gekonnt die Spritze. Als sie ihn mit der flachen Hand schlug und sagte: »Hey! King! Laß das!«, lag darin keine Zuneigung. Joy Pfisterer war ein Musterbeispiel für methodisches Vorgehen. Sie hatte dreißig Minuten vor Ende des Unterrichts mit den Wurmbehandlungsverfahren begonnen und sie so rechtzeitig beendet, daß die Studenten ihre Tiere noch in den Stall führen und in die Boxen sperren konnten. Früher war sie der ganze Stolz ihres Vaters gewesen (allzeit bereit, ihr Pony im Stehen zu reiten, in jeder beliebigen Gangart Vorwärts- oder Rückwärtssaltos zu vollführen, bereit, jeden Zaun zu überspringen, solange ihr jemand versicherte, daß das Pferd ihn schaffen würde, bereit, auf jedes Pferd zu steigen, von dem man ihr versicherte, daß es noch niemandem gelungen war, es zu reiten). Heute ähnelte sie eher ihrer Mutter (nüchtern, besonnen, vorausschauend, pilzartig wucherndes Verantwortungsbewußtsein). Sie war für ihren Beruf bestens geeignet, denn er brachte eine fast unüberschaubare Fülle an Pflichten mit sich – sie war zu155
ständig für Fütterungspläne, Hufeisenpflege, Wurmbehandlungen, Impfpläne, regelmäßige Bewegung und Weidezeiten der Pferde. Sie untersuchte die Pferde auf Anzeichen von Unfällen, Spuren von schlecht sitzendem Sattelzeug, Hautprobleme, Huf- oder Beinerkrankungen. Sie kannte auf den Feldern, wo die Tiere grasten, jeden Halm (es bestand immer die Gefahr von giftigen Pflanzen oder Parasiten) und jeden Kaninchenbau (Gefahr von Beinbrüchen). Durch irgendeine Aversionstherapie, vermutlich Erziehung oder Bildung, hatte sie gegen Galoppieren, Springen und Querfeldeinreiten, gegen genau die Aktivitäten, denen sie sich mit fünfzehn noch mit solcher Hingabe gewidmet hatte, einen geradezu schmerzhaften psychischen Widerwillen entwickelt. Schließlich konnte ein gewöhnliches Freizeitpferd, das regelmäßig und geruhsam bewegt wurde, dreißig Jahre und älter werden und auch im fortgeschrittenen Alter noch arbeiten. Viele Springpferde dagegen waren mit vierzehn schon verbraucht und hatten kaputte Beine und geschwollene Gelenke. Wie sollte man sich in Anbetracht dieses Wissens verhalten? Andererseits: Wie sollte man sich überhaupt noch verhalten? Ein wucherndes Verantwortungsbewußtsein, dachte sie, verdarb einem bald jedes Vergnügen, den Spaß an jeder Beschäftigung, die die Menschen erdacht hatten, um sich für eine Weile abzulenken. Joy wußte, daß sie inzwischen zu den Leuten gehörte, die man aus der Ferne bewundert, in deren Gegenwart man sich jedoch unwohl fühlte. Alle außer Dean; der liebte sie trotzdem und war viel zu ichbezogen, um ihre Stimmungen zu bemerken. Mit ihm zusammenzuleben, wozu sie sich erst vor kurzem bereit erklärt hatte, war eigentlich kaum anders, als alleine zu leben. Sie hielt den Mund, als Dean ihr gegenüber mit seinem Projekt der Scheinschwangerschaft bei Rindern prahlte. 156
Aber sie war dafür bekannt, immer unverblümt ihre Meinung zu sagen, und wenn sie nichts sagte, mußte er natürlich annehmen, sie habe keine Einwände. Auch sonst hatte niemand Einwände. Anscheinend war man allgemein von den Vorteilen einer künstlich hervorgerufenen Scheinschwangerschaft bei Kühen überzeugt, wenn diese Scheinschwangerschaft zu unbegrenztem Milchfluß führte. Tatsache war: Schwangerschaft bedeutete Kälber, und Kälber bedeuteten Gefahr und Unannehmlichkeiten für die Kuh, und damit auch für den Farmer. Und dem Farmer makellose Färsen zu liefern, die er ansonsten selber aufziehen könnte, bedeutete für die Firma ebenfalls zusätzlichen Profit. Ein Milchfarmer konnte auf diese Weise, natürlich in enger Zusammenarbeit mit seinem Zulieferer, das ganze Jahr über Höchstmengen produzieren und seine besten Kühe sogar weit länger als die durchschnittlichen vier Jahre für die Milchproduktion nutzen. Das konnte Joy doch bestimmt nachvollziehen, oder? Das konnte Joy durchaus. Es wurde viel über Geld gesprochen. Man würde den Wert einer Kuh, die nie kalbte, bis auf den Dollar genau bestimmen können, denn man würde von vornherein wissen, wie viele Liter Milch eine solche Kuh im Laufe ihres Lebens geben würde. Eine kleine Firma, die zur Zeit nur nebenbei mit Samen und Embryonen handelte, könnte durch den Verkauf ganzer Herden von berechenbaren Kühen ein berechenbares Wachstum erleben. Die Mysterien des Geschäfts würden ebenso wie die Mysterien der Fortpflanzung keine Rolle mehr spielen. Unternehmern gefiel so etwas. Unwägbarkeiten würden durch das Fenster davonfliegen, während Gewinne größeren Ausmaßes zur Tür hereinspazierten. Schon jetzt sprachen alle nicht nur über zukünftige Geldsummen, sondern gleichzeitig über aktuelle Geldsummen – nämlich darüber, wieviel Dean für seine 157
Forschungsarbeiten erwarten konnte. Jeden Abend, wenn sie beim Abendessen über den vergangenen Tag redeten, nannte Dean mit lauter Stimme gewichtig klingende Summen – eine halbe, dreiviertel, eine volle Million, zwei Millionen. Natürlich handelte es sich nicht um Geld, das ihrer Haushaltskasse direkt zugute kommen würde, aber es würde seinem Ruf zugute kommen, seinem Ansehen an der Universität, seiner Gehaltseinstufung im nächsten Jahr, seinem Selbstwertgefühl. Später dann, wenn (falls) es Patente geben würde, nun ja, das würde sich direkt bemerkbar machen. Die Aussichten waren rosig. Joy wurde das Bild in ihrem Kopf nicht mehr los, auf dem die Kühe selber zu Geld geworden waren: grüne scheinschwangere Kühe auf einer grünen Wiese, steif und raschelnd wie nagelneue Dollarscheine. Einmal hatte sie gewagt zu bemerken: »Aber wäre das nicht langweilig? Ich meine, an manchen Tagen verzweifle ich nur deshalb nicht, weil zumindest etwas Neues und Interessantes passiert.« Er hatte geantwortet: »Kennst du den chinesischen Fluch, ›Mögest du in interessanten Zeiten leben‹? Der Fluch der Milchbauern lautet: ›Mögest du eine Herde von interessanten Kühen haben.‹ Es ist doch so: du und ich, wir haben ein festes Einkommen. Wir können uns leisten, das Interessante zu lieben.« Obwohl er lachte, als er das sagte, hatte sie ihn wohl verstanden. Ihre Zustimmung oder Mißbilligung war ganz offensichtlich irrelevant. Die Leute, mit denen Dean verhandelte, hatten so interessante Geldsummen genannt, daß ihr Einwand ihn nicht weiter gestört hatte. Die Arbeiten, die zu erledigen waren, zogen sich über die Mittagsstunde hin. Diejenigen Pferde, die die meiste Zeit im Stall blieben, wurden mit Heu und Wasser versorgt. Die anderen, dreizehn an der Zahl, gingen in einer Reihe 158
hinaus auf die nahe gelegene Weide, wo vormittags die Wassertanks gefüllt worden waren. Joy gab eine Bestellung für Hafer und Futtermais auf, den sie besonders gern verwendete, denn wenn man ein paar Maiskolben in den Futterkörben liegen ließ, brauchten die Stallpferde länger zum Fressen und konnten sich in ihrer allzu reichlichen Freizeit damit beschäftigen, nach vereinzelten Maiskörnern zu suchen. Sie aß ein Sandwich und trank etwas Orangensaft aus ihrer Thermosflasche. Am Abend zuvor hatte er gesagt: »Weißt du, dein Problem ist die Routine. Du machst jetzt schon seit fünf oder sechs Jahren immer das gleiche. Du bist in der ganzen Zeit nicht einmal weggefahren, außer um Pferde zu kaufen oder eine Pferdeausstellung zu besuchen. Kein Wunder, daß du ständig schlecht gelaunt bist.« Und sie hatte gesagt: »Bin ich ständig schlecht gelaunt?« Er hatte kurz mit den Schultern gezuckt, um ihr zu bedeuten, ›ja, aber ich werde das nicht laut sagen‹, und dann erläutert: »Nicht schlecht im Sinne von gereizt. Schlecht im Sinne von niedergeschlagen. Nicht daß es mich STÖRT, aber ich mache mir Sorgen um dich.« Dennoch hatte sie den Eindruck, je mehr Zweifel sie in bezug auf Deans Scheinschwangerschaftsprojekt überwand, desto mehr Zweifel kamen ihr in bezug auf alles andere. Die Vorstellung von lauter Kühen mit derselben Schwarzweiß-Zeichnung, die alle gleichzeitig den Kopf zur Seite drehten, alle unisono muhten (seine große Liebe war immer noch das Klonen) und sich alle schwanger fühlten, obwohl sie es gar nicht waren, vertrug sich nicht besonders gut mit ihren sonstigen Anschauungen über das Leben. Andererseits schien sie in Deans Bekanntenkreis die einzige zu sein, der solche Gedanken zu schaffen machten.
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20 Wer mit wem im Bett ist MARY LIEGT zu ihrer großen Überraschung mit einem außergewöhnlich attraktiven Palästinenser namens Hassan im Bett, der einen Abschluß – also mindestens fünfundzwanzig Jahre alt – in Pflanzengenetik hat. Sie kennt ihn seit einer Woche. Sie sind sich in der Essensschlange der Mensa begegnet und haben sich seitdem jeden Tag und jeden Abend gesehen. Er hat viele Vorzüge, die sie sich teils gerne, teils nur ungern eingesteht. Was erstere betrifft: Er ist ehrgeizig und fleißig. Fünf ihrer Verabredungen waren Arbeitstreffen, und er hat auf nette, nie überhebliche Art das Gewirr, in das sie sich in ihrem Algebrakurs verstrickt hatte, ein Stück weit aufgelöst, während sie die englischen Ausdrucksfehler in einer seiner Hausarbeiten korrigiert hat. Er ist direkt – er gibt zu, daß er die amerikanischen Gepflogenheiten bei Rendezvous nicht durchschaut, und löst dieses Problem, indem er sie einfach fragt, was ihr am liebsten wäre. Er ist Kosmopolit. Er ist erst seit kurzem in Amerika, hat aber zuvor bereits in Beirut, Paris, Rom und Algier gelebt. Seine Familie war in Palästina im ImportExport-Geschäft. Jetzt arbeiten die meisten von ihnen für die Israelis. Er ist politisch gut informiert, drängt ihr aber seine Meinung nicht auf, und sie traut sich nicht, allzu genau nachzufragen. Sie betrachtet seine Geschichte und seine Lebensumstände gern als etwas von seiner Person Unabhängiges, wie sie es auch bei ihrer eigenen Geschichte und ihren eigenen Lebensumständen tut. Ein Vorzug, den sie sich nur ungern eingesteht: er ist weder schwarz noch weiß. Wenn sie ihren schwarzen oder ihren weißen Freun160
den erzählt, daß er Palästinenser ist, sind beide Gruppen gleichermaßen beeindruckt. Beide halten sich mit den Urteilen zurück, die sie sonst unweigerlich fällen würden. Außerdem ist er gut im Bett, wie sie soeben herausgefunden hat, er hat die Ungezwungenheit eines erfahrenen Mannes (Beirut, Paris, Rom). Er hat noch nie mit einer schwarzen Frau geschlafen, und jetzt, da sie mit ihm geschlafen hat, fühlt sie sich wie eine schwarze Frau und nicht mehr wie ein Mädchen. NILS HARSTAD und Marly Hellmich liegen nicht direkt im Bett. Genaugenommen befinden sie sich zwei Zimmer vom Bett entfernt und werden sich, jedenfalls in nächster Zukunft, auch nicht in die Nähe des Bettes begeben. Marly hätte nichts dagegen, aber sie hat soeben herausgefunden, daß Nils sie für eine fünfundzwanzigjährige Jungfrau hält, die sich bisher selbstlos der Pflege ihres ältlichen Vaters gewidmet hat, der, wie Nils sagt, selbstverständlich gerne nach der Hochzeit bei ihnen wohnen kann. Nils redet im Augenblick, hält dabei ihre Hand und streicht mit der anderen Hand zart über ihren Arm. Ihr ältlicher Vater. Nils selber ist fünfundfünfzig, aber eh’ er sich’s versieht, wird er fünfundsiebzig sein. Er redet mit leiser, sanfter Stimme über ihre sechs zukünftigen Kinder – Reagenzglasbefruchtung, Embryoverpflanzung, Mehrlingsschwangerschaft, Pergonal, Mehrlingsgeburt – du meine Güte. Marly wird schwindelig. Weihnachten kann er sie bereits geschwängert haben, wenn sie bald heiraten. Schon in einem Jahr! Man denke! Marly kann nicht denken. Diese Worte, seine Hand, die mit den Härchen auf ihrem Arm spielt – das alles macht sie ganz benommen. Aber sie klammert sich an den Gedanken, daß sie es ihm ausreden kann, wenn sie erst einmal verheiratet sind. Sie muß ihn heiraten. Sie muß einfach weg 161
von dieser dampfenden Essenstheke. Solange keine Veränderung in Sicht war, hat sie es ertragen, jahraus, jahrein in der Mensa zu arbeiten und mechanisch ihren Pflichten nachzukommen. Aber jetzt, nachdem sie ein anderes Leben kennengelernt, dieses Haus, den Lincoln und den Pinetree Supper Club von innen gesehen hat, ist das Bedürfnis, die Essenstheke für immer hinter sich zu lassen, übermächtig geworden. Nach der Hochzeit, nachdem sie miteinander geschlafen haben, wird sie ihn ein für allemal wachrütteln. B OB UND DIANE sind rein technisch gesehen zusammen ins Bett gegangen, im übertragenen Sinne jedoch nicht, da sie übereingekommen sind, zwar im selben Bett zu schlafen, aber nichts zu »machen«. In etwa fünf Minuten werden sie aber in jeder Hinsicht miteinander im Bett sein, denn Bob hat soeben sein Hemd ausgezogen. Seine Muskeln an Brust, Schultern und Armen, die durch jahrelanges Schleppen von Heuballen und Futtersäcken trainiert sind, bieten ein so vollkommenes Bild von Männlichkeit, daß Diane all ihre Zweifel an ihm und all ihre guten Vorsätze vergißt. Er wendet sich ab, um sein Hemd aufzuhängen (er ist ihr gegenüber sehr aufmerksam – nicht so ein großer Vorzug, wie man meinen sollte), und dabei rundet sich sein Rücken, um die Schulterblätter herum treten fächerförmige Muskeln hervor, und der Bund seiner Jeans spannt sich um seine Hüften. Er dreht sich wieder zu ihr um. Sein Lächeln ist auch nicht zu verachten. Sex hat schließlich noch niemanden von seinen Zielen abgebracht. Diane nimmt die Pille und hat Kondome dabei, von denen sie Bob zu dessen Beschämung und Entzücken in etwa sieben Minuten eines reichen wird. Es ist vielmehr die Ehe, die einen von seinen Zielen abbringt, und nur weil Bob glaubt, man würde unweigerlich das erste Mädchen, mit dem man schläft (oder 162
jedenfalls eines der ersten, schließlich leben sie fast in den neunziger Jahren), heiraten, heißt das noch lange nicht, daß alle so denken. Sie ist doch noch im ersten Semester, und niemand erwartet ernsthaft, daß Erstsemestler-Beziehungen von Dauer sind. Sie wird darüber später nachdenken. Jetzt zieht er seine Jeans aus. Himmel, wie perfekt er gebaut ist, die Oberschenkel, die Waden, die Knöchel, sogar die Füße, also, sie ist einfach überwältigt. Das wird sie morgen den anderen sagen, daß sein Körper sie einfach umgehauen hat. Aber was sie nicht erwähnen wird, außer vielleicht Sherri gegenüber, ist die lange, feste Wölbung unter seinem Slip, in der sich die ganze Kraft seines Körpers zu konzentrieren und zu präsentieren scheint – nur für sie allein. Sie sagt: »O Gott. Na gut«, und setzt sich auf, so daß die Bettdecke von ihren Brüsten rutscht und er die Augen aufreißt. Und dann wendet er sich nur eine winzige Sekunde lang ab, um sicherzugehen, daß die Tür abgeschlossen ist. HELEN SAGT : »Sei vorsichtig«, aber das ist Ivar immer. Er dringt immer langsam in sie ein und wird dann noch langsamer. Diese Technik hat er gelernt, als er Mitte Dreißig war; sie hat sein Sexualverhalten von der reinen Triebbefriedigung in eine Kunst verwandelt. So wie jetzt. Er konzentriert sich; er spürt, daß auch Helen sich konzentriert. Allein durch die Langsamkeit seiner Bewegungen kann er jeden Moment, jede Empfindung auskosten, ihren Körper viel intensiver erfahren. Und während sein Geist sich zu einem winzigen Punkt zusammenzieht, dehnt sein Körper sich zu einem Universum aus. Das Gefühl in seinem Penis beschwört in ihm die unterschiedlichsten Bilder herauf: ein Mann in einem dunklen Tunnel, ein reißender Fluß, der durch eine enge Schlucht rauscht, eine Hand, die in einen 163
Satinhandschuh schlüpft, ein pelziges Tier, das sich in die Erde eingräbt. Je langsamer seine Bewegungen werden, desto mehr Bilder tauchen vor ihm auf und erweitern den simplen Geschlechtsakt zu jenem kosmischen Erlebnis der Verbundenheit, das er so sehr liebt und das er bei Helen besser auskosten kann als bei jeder anderen Frau. Helen kann sich ebensogut konzentrieren wie er; darin besteht ihre größte Gemeinsamkeit. Im Ohr hört er ein sehr tiefes Stöhnen, ein Ächzen in den Grundfesten ihres Körpers, und er dringt tiefer in sie ein und stellt sich vor, er erschüttere diese Grundfesten durch seine Kraft. Sie öffnet ihre Beine ein bißchen weiter und zieht die Knie an, lädt ihn ein, aber er widersteht der Einladung durch eine schier übermenschliche Anstrengung, wie ein Mann, der von einem Sprungbrett abgesprungen ist, sich dann aber, durch bloße Willenskraft, ganz langsam Zentimeter für Zentimeter ins Schwimmbecken hinabläßt. Jetzt wieder ein Stöhnen, ein so begieriges Stöhnen, daß man ihm eigentlich ebensowenig widerstehen kann wie der Schwerkraft, aber er widersteht dennoch – der Mann preßt sich gegen die Tunnelwand, die Hand hält inne, das pelzige Tier zögert. Dann bewegt er sich erneut, dringt weiter und tiefer in sie ein. Obwohl er die Verzögerung mehr genießt als alles andere auf der Welt, macht sie ihn verrückt – die Spitze seines Penis wird zu einem Stück glühender Kohle. Er spürt den Druck ihrer Hände auf seinen Hinterbacken. Er umfaßt mit beiden Händen ihre Brüste und kneift sie in die Brustwarzen, erbarmungslos. »Ohhhh«, sagt sie, und ihre Hände greifen nach seinen, um sie wegzustoßen, drücken aber statt dessen seine Finger noch fester zusammen. Er bahnt sich seinen Weg tiefer in ihren Körper hinein, blind und riesig und verloren. Und dann drängen sie sich mit rhythmischen Stößen an164
einander, zuerst langsam, dann schneller, dann wieder langsamer, und er fragt sich, wie jedesmal, warum er dies hinausgezögert hat; es ist eine vollkommene Bewegung, genau das, was jede Faser seines Körpers schon die ganze Zeit tun wollte, und in dem Moment, in dem er sich ganz der Bewegung hingibt, kommt eine überraschende Explosion, und dann kehrt er wieder in seinen Kopf zurück und liegt ausgestreckt auf Helen, die ein dunkles, tiefes Glucksen von sich gibt, das spürbar an seiner Brust hinaufgleitet. E S LÄUFT weniger gut bei Tim, dessen Sexualleben immer noch hauptsächlich aus Triebbefriedigung besteht und sich, obwohl er ständig darüber schreibt, bisher noch nicht in eine Kunst verwandelt hat. Bedauerlicherweise hat er die falschen Berater konsultiert – männliche Romanciers aus osteuropäischen und südamerikanischen Ländern. Er glaubt ihren Geschichten von fünfzehnjährigen Mädchen, die achtzigjährige Männer begehren, und von Frauen, die über Jahre hinweg anspruchslose, aber unersättliche Geliebte sind. Und dann orientiert er sich an seinen eigenen erotischen Träumen, von denen er annimmt, daß sie ihm den Königsweg zu seinen wahren Begierden – oder Sehnsüchten – weisen, was macht das schon für einen Unterschied? Cecelia wirkt soweit ganz zufrieden, aber er ist jetzt, da er endlich bis in ihr Bett vorgedrungen ist, weniger erregt, als er beabsichtigt hatte. Er ist nur zu etwa 80 Prozent erregt, und nach den Anstrengungen der letzten beiden Wochen, während derer er ihr den Hof gemacht hatte, wollte er eigentlich zu 110 Prozent erregt sein. Ihr Körper, bei dessen erstem Anblick er fast einen Orgasmus bekommen hätte, erscheint ihm jetzt eher wie eine Geographieaufgabe – er muß eine Strecke nachzeichnen: vom Mund über die Schultern, den Nacken, die Titten (hübsche Titten – seinen 165
Sinn für Ästhetik hat er sich bewahrt), die Taille, das Schamhaar, die Schamlippen usw. Die lateinamerikanischen und osteuropäischen Romanciers sind in diesem Fall keine große Hilfe. Sie leben im Reich weiblichen Begehrens, als sei das ihr gutes Recht. Ihr eigenes Verlangen funktioniert wie ein kräftiger, gutdressierter Hund, allzeit bereit zu fressen, zu ficken, zu apportieren oder an die Büsche zu pinkeln. Verglichen damit ist Tims Verlangen völlig unzuverlässig, und er lebt auch kaum im Reich weiblichen Begehrens. Cecelia, die an alldem schuld sein muß, hat aus diesem simplen Akt eine so große Sache gemacht, daß er es zugleich entwürdigend und erschreckend findet. Warum konnte sie ihm nicht einfach gestatten, sie zu ficken, wann immer ihm danach war, so wie die Frauen in Osteuropa und Südamerika Aber es ist sowohl ein moralischer als auch ein taktischer Fehler, sich in solch triste Gedanken zu verstricken. Er mag Cecelia wirklich, er mag sie so sehr, wie er zur Zeit überhaupt jemanden mag. Sie besitzt Tugenden und Reize, wo andere Leute nicht mal gute Eigenschaften haben. Und eigentlich macht es ihn sehr glücklich, in diesem Augenblick mit Cecelia zusammenzusein. Er wäre nur lieber an einem anderen Ort mit ihr zusammen. Sie öffnet die Augen und schaut ihn an. Er streicht ihr das Haar aus dem Gesicht und lächelt sie mit aufrichtiger Zuneigung an. Sie sagt: »Tim?« Er nimmt seine stoßenden Bewegungen wieder auf. E S IST ZWAR schon nach Mitternacht, doch Mrs. Walker und ihre Freundin Mrs. Lake (füreinander sind sie natürlich »Loraine« und »Martha«, aber alle anderen, mit denen sie tagein, tagaus zu tun haben, von Loraines Arbeitskolleginnen bis zu Marthas Fünftkläßlern, nennen sie Mrs.) sind 166
hellwach. Martha sagt: »Der Zwilling will also heiraten? Kaum zu glauben.« »Und ich sage dir, es wird nicht dazu kommen. Sie wird es abblasen.« »Wer ist sie?« »Marly Hellmich. Sie arbeitet drüben in der Mensa. Der Vater hat früher in der Maschinenwerkstatt gearbeitet, bis sie ihn gefeuert haben, weil er bei der Arbeit trank. Die Mutter war eine nette Frau. Natürlich stellte sie sich auf eine lange Leidenszeit ein, als könnte sie dadurch eine akademische Auszeichnung erwerben.« »Tot?« »Leberkrebs.« »Woher kanntest du sie?« »Woher schon? Ich kannte sie eben. Wir sind uns hier und da über den Weg gelaufen.« »Was sagt Ivar dazu?« »Er war überrascht, aber er hat soviel anderes im Kopf, daß er kaum eine Reaktion gezeigt hat. Ich finde, er kann froh sein, wenn er ihn los ist. Die beiden sind lange genug unzertrennlich gewesen.« Martha streckt eine Hand aus und streicht liebevoll über Loraines nackte Brust, und Loraines Blick ruht auf Marthas Brüsten, die nicht nur ebenso nackt, sondern auch ebenso geformt sind wie ihre eigenen – die beiden Frauen sind sich in all den Jahren sehr ähnlich geworden. Loraine liebt es, die dünne, gespannte Haut von Marthas Brüsten zu berühren, besonders an der Unterseite. Das Gewebe ist so zart – lebendig, blaß und warm, und so sanft und glatt wie das Wasser eines Baches, wenn es über einen runden Stein fließt. Sie lächelt bei dem Gedanken, daß der nächste Tag ein Sonntag ist und sie die ganze Nacht 167
aufbleiben können, wenn sie wollen. Martha setzt sich auf und stopft sich eins der dicken weichen Kissen in den Rücken. »Du hast mir noch gar nichts von IHM erzählt.« »Er hat sich nicht verändert. Klein, große Ohren. Er sprach Ivar gegenüber von mir als ›Ihr Mädchen‹.« Martha lächelt. »Er führt etwas im Schilde. Er steckt garantiert mit Elaine Dobbs-Jellinek unter einer Decke, Vizepräsidentin, zuständig für Projektentwicklung, 113 Lafayette Hall, und diesmal hat er vor, die ganze Universität nach Strich und Faden zu verarschen.« Martha beugt sich vor und greift nach der Bettdecke. Dabei öffnen sich ihre Schenkel ein wenig. Loraine schaut liebevoll auf ihre entblößte Scham. Sie sagt: »Ich kann es kaum erwarten, dich da zu berühren.« »Hier?« Martha berührt sich selbst. »Genau da.« Sie lächeln sich an. »Hast du Hunger?« »Mhm, vielleicht ein bißchen«, antwortet Loraine. Dann sagt sie: »Dreh dich um.« Martha tut es und streckt ihren Hintern leicht in die Höhe. Sie schauen sich eine ganze Weile an, bis Loraine sich hinüberbeugt und anfängt, mit großzügigen, kräftigen, kreisenden Bewegungen Marthas Hintern zu massieren. Ab und zu läßt sie ihre Hand zwischen Marthas Beine gleiten. Jedesmal, wenn sie das tut, schließt Martha die Augen und seufzt. Sie sagt: »Ich bin völlig ausgehungert.« Sie stehen auf und gehen in die Küche, aber kaum hat Martha den Kühlschrank aufgemacht, gibt sie einem Impuls nach, dreht sich um und läßt sich auf die Knie fallen, um Loraines Schamlippen und ihre Vaginalöffnung (sie bemü168
hen sich, für die weiblichen Geschlechtsteile keine Euphemismen zu verwenden) mit der Zunge zu erkunden. Loraine lehnt sich gegen die Spüle. Sie hat die Beine gespreizt, die Füße auf einen Stuhl gestellt, die Arme aufgestützt, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen geschlossen. Sie kann Marthas Brüste nicht sehen, aber sie erinnert sich an sie und stellte sie sich vor, seidig und schaukelnd, die Brustwarzen in Erwartung ihrer saugenden Lippen. Martha murmelt: »Ich möchte was in dich reinstecken.« »In meinem Nachttisch ist ein Dildo.« »Wollen wir hingehen, oder soll ich ihn herholen?« »Hör nicht auf.« Martha hört nicht auf. Sie umfaßt mit festem Griff Loraines kräftige Schenkel und denkt, wie wunderbar es ist, Loraines Klitoris mit ihrer Zunge zu ertasten und zu spüren, wie sie anschwillt und pulsiert. Loraines Geruch umhüllt ihren Kopf, und ihre eigene Vagina fühlt sich offen und heiß an. Sie ist diejenige, die den Dildo mag; sie wendet ihn ebenso gerne an, wie sie ihn selber empfängt. Loraine dagegen hat eine Schwäche fürs Streicheln und Lecken. Loraine stöhnt auf, und Martha spürt, wie sich ihre Klitoris zusammenzieht, und dann scheint die Arterie in Loraines Oberschenkel, der an ihr Ohr gepreßt ist, laut zu pulsieren. Martha hebt den Kopf. Sie sagt: »Fall bloß nicht hin!« In ihrem Alter ist Vorsicht geboten. »Hör nicht auf!« Martha hört nicht auf. Loraine fällt nicht hin. Etwas später erhebt sich Martha. Loraine hilft ihr auf und gibt jeder ihrer Brustwarzen einen innigen Kuß. Gemeinsam drehen sie sich zum Kühlschrank um. Er steht noch offen. 169
»Für mich nur eine Fingerspitze Guacamole«, sagt Martha. »Gehen wir ins Bett?« »Mmmmm.« DER VORSITZENDE X LIEGT auf dem Rücken, das Kinn in die Luft gereckt, und schnarcht. Beth, die neben ihm liegt, hat einen Fuß auf den Boden gestellt und lauscht angestrengt. Das Geräusch, das er ausstößt, oder vielmehr einsaugt, denn er schnarcht gewöhnlich beim Einatmen, ist ein langes, rauhes, stotterndes Blöken. Ohne hinzusehen streckt sie die Hand aus und versetzt ihm einen leichten Schlag auf die Schulter. Sofort dreht er sich von ihr weg und rollt sich zusammen. Das Schnarchen hört auf. Aber auch das Husten? Nach drei Nächten hatte sie geglaubt, daß Amys Krupphusten vorbei war, aber kurz vor dem Eindämmern hatte Beth das anhaltende Keuchen vernommen, das eine schlaflose Nacht ankündigte. Ein Angsttraum? Wirklichkeit? Sie konzentriert sich ganz auf die Stille im Haus, um besser hören zu können. Nichts. Sie zieht ihren Fuß wieder unter die Bettdecke. Sie ist hellwach. Sie hatte gedacht, sie würden in dieser Nacht miteinander schlafen, aber es war nichts geschehen. Das ist vermutlich ein schlechtes Zeichen. Das heißt, vermutlich ist es eher ein schlechtes Zeichen, daß ihre Leidenschaft in den letzten zwei oder drei Jahren stark abgeflaut ist und ihr jetzt wie ein Haus in der Nachbarschaft vorkommt, in dem sie früher einmal gewohnt haben, aber jetzt nicht mehr. Auf jeden Fall ein schlechtes Zeichen ist ihr Gleichmut angesichts dieser Tatsache. Sie scheint Sex gar nicht unbedingt 170
zu brauchen. Früher dachte sie immer, sie brauche ihn; in den frühen siebziger Jahren hatte sie sogar einen trotzigen Stolz auf dieses Bedürfnis empfunden, das ihre Eltern zum Beispiel nicht teilten. Und jetzt hat sie dieses Bedürfnis nicht mehr, und er auch nicht, und ein erfülltes Liebesleben ist bloß noch eine Tugend wie jede andere, etwas, das man sich halb abringt und halb genießt – wie genügend Ballaststoffe zu essen oder ausschließlich vegetarisch zu kochen. Ihre Eltern waren wahrscheinlich erleichtert gewesen, als sie den Sex endgültig abhaken konnten, aber Beth empfindet dabei eine Art kühles Schuldgefühl. Und da ist es, das keuchende, bellende Husten, durchdringend wie Glockenschläge. Sie setzt sich auf. Es ist klar und deutlich zu hören, und sie weiß, daß ihr früherer Verdacht eine mütterliche Vorahnung war, die instinktive Gewißheit, daß ihr Kind immer noch krank ist. Obwohl Amy gesund wirkte und den ganzen Tag nicht gehustet hat. Sie hat es vielleicht Amys Körper angemerkt, als sie sie ins Bett legte. Schlaf nicht ein, sagte ihr eigener Körper, das Husten wird kommen. Amy hat ihre gestrickte Bettdecke völlig zerwühlt. Sie ist heiß und schlaftrunken, und ihr Kopf verströmt einen scharfen, fiebrigen Geruch, den Beth schuldbewußt genießt. So riechen sie nur, wenn sie krank sind, aber es ist ein wundervoller Geruch. Beth lehnt die Kleine aufrecht gegen ihre Schulter, und das Husten läßt etwas nach, klingt aber immer noch, als käme es nicht von einem Kind, sondern aus einem Lautsprecher. Sie drückt Amy an sich und trägt sie hinüber ins Badezimmer, wo sie die heiße Dusche aufdreht. Der kleine Raum füllt sich langsam mit Dampf. Beth läßt sich auf die Matratze sinken, die sie ins Badezimmer gelegt haben, und lehnt den Kopf gegen die Wand. Amys Arme umfassen ihren Hals, und ihr Köpfchen fällt auf die 171
Seite. Ihre Atemzüge werden ruhiger. Beth schließt die Augen. Etwas später wacht sie auf. Amy ist ebenfalls aufgewacht und zieht an Beths Nachthemd. Mit vierzehn Monaten wird sie immer noch ein- bis zweimal am Tag gestillt. Beth löst die Schleife an ihrem Kragen und entblößt eine Brust. Amy lächelt. Sie scheint normal zu atmen. Sie findet die Brustwarze und beginnt zu saugen. Beth gibt sich dem Gefühl tiefer Entspannung hin und schließt erneut die Augen. DR . L IONEL Gift liegt mit Arien Martin, dem Milliardär, im Bett, aber nur im Washingtoner Sinne des Wortes. Martin selber ist schon wieder in Dallas, arbeitet bis spät in die Nacht und freut sich, wenn er zufällig daran denkt, über den Erfolg seines kurzen Besuches an der Universität. Dr. Gift teilt sein dunkles, aufwendig eingerichtetes Zimmer nur mit seinem Traum, aber dieser Traum ist erregend, und nicht flüchtiger als die sinnliche Hingabe der anderen. Sein Traum dreht sich um genau dieses eine Wort: »Milliarde«. Im normalen Wachzustand ist Lionel Gift von einer einzigen Milliarde nicht sonderlich beeindruckt. Im Verhältnis zur Staatsverschuldung, zum Haushaltsdefizit, zum Bruttosozialprodukt, zur Anzahl der Sterne in der Milchstraße, zum Gesamtwert der amerikanischen Unternehmen, den Schuldensummen und Zinszahlungen der Gesellschaften, die im Zuge der Leveraged-Buyouts in den achtziger Jahren an Firmenübernahmen beteiligt waren, und, um von seinem eigenen Fachgebiet zu reden, zu den Leistungen für Entwicklungshilfe in der Dritten Welt durch den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank, ist eine Milliarde nicht viel, ein ziemlich lächerlicher Betrag. Aber eine Milliarde Dollar in Verbindung mit der Persönlichkeit von Arien Martin haben es ihm auf unerwartete Weise angetan 172
– dieser kleine, bissige Sterbliche, das »arme, nackte, zweizinkige Tier« mit den Henkelohren, dem eifrigen Lächeln (Dr. Gift ist sicher, daß Martin von seiner Arbeit gehört hat und ihn unbedingt kennenlernen wollte), der verstorbenen Frau (obwohl er nie geheiratet hat, findet Dr. Gift den Gedanken an verstorbene Ehefrauen äußerst romantisch. Er stellt sich darunter Frauen ohne jede jugendliche Vitalität vor, mit rauhen, von Seifenlauge geröteten Händen und abgetragenen Hauskleidern, die eine lange Allee in, sagen wir, Oklahoma, hinunter auf die Ölfelder starren, nur um einen Blick auf den ehrgeizigen jungen Mann mit den Henkelohren zu werfen, an den sie sich fürs Leben gebunden haben, bis sie von einer frühen, plötzlichen Krebserkrankung oder einer Geburtskomplikation dahingerafft werden, mit einem milden Lächeln auf den Lippen, ihr einziger Lohn die eigene nimmermüde Tugend), mit den eher bequemen als modischen Schuhen und dem eher zu hoch als zu tief sitzenden Gürtel. Wie kann ein einfacher Wirtschaftswissenschaftler nur dieses Rätsel lösen – der Verbindung zwischen der harten, schillernden Geldsumme und dem sanften, sonderbaren Mann? Dr. Gift hat das Gefühl, daß dieses spirituelle Rätsel mehr als alle anderen Verlockungen schuld an seinem Engagement für Martins Projekt ist, denn eigentlich ist es nur ein Projekt unter vielen, ein Projekt, bei dem etwas, das dort, wo es sich befindet, wertlos ist, an einen anderen Ort transferiert und dadurch aufgewertet wird. Gähn. Aber Arien Martin selber als Gegenstand der Betrachtung, das ist etwas anderes… Dr. Lionel Gifts Traum enthält keine echten Menschen, nur etwas, das man in Hollywood die Stimme aus dem Off nennt. Es ist vermutlich seine eigene Stimme, die da rechnet und zählt. Wie viele Häuser in Orange County, Durchschnittspreis zehn Millionen? (hundert). Wie viele Masera173
tis, Durchschnittspreis $150000? (sechstausend). Rolls Royces? (fünftausend). Apartments in Paris? (tausend). Apartments in Tokio? (zweihundert). Im Traum ziehen all die Häuser und Autos und Apartments und Gemälde an ihm vorbei, die er im Laufe der Jahre gesehen und die er sich gewünscht hat, ein Kaleidoskop von schönen Dingen, Dinge, die man im Vorübergehen anfaßt, Dinge, die man einen Augenblick lang betrachtet, bevor etwas anderes auftaucht und ihren Platz einnimmt, und Dinge, von denen man weiß, daß man sie besitzt, ob man nun Zeit hat, sie zu nutzen, oder nicht. In seiner beruflichen Laufbahn ist Dr. Gift vielen Menschen begegnet, die mit Zahlen zu tun haben und über Zahlen entscheiden, aber ihm ist noch nie eine so gottähnliche Gestalt wie Arien Martin (der seinen Respekt aus intellektuellen Gründen eindeutig erwidert) begegnet, weder auf der Konsumenten- noch auf der Produzentenebene. Und dank Elaine Dobbs-Jellinek wird es ihm eine angenehme Pflicht sein, diesem Manne zu dienen. Wie oft könnte Arien Martin Dr. Lionel Gift selber kaufen und wieder verkaufen? Nun ja, wenn man vom geheimnisvollen Wert des Wissens einmal absieht, genau zweitausendmal. Der Gedanke, zweitausendmal persönlich von Arien Martin gekauft und wieder verkauft zu werden, versetzt ihn im Traum in solche Erregung, daß er aufwacht und lange nicht mehr einschlafen kann.
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21 Reine Ironie I N DEN ZWEI W OCHEN, seit sein Transferdekan, Dr. Nils Harstad, sich bereit erklärt hatte, seine Pflicht zu tun und sich seine Erfindung und seine Pläne anzuschauen, hatte Loren Stroop fünf- bis zehnmal pro Tag den Mut verloren und wiedergewonnen. Beispielsweise hatten ihn sein Selbstvertrauen und sein Hochgefühl fast genau in dem Augenblick verlassen, in dem sie eigentlich hätten blühen und gedeihen sollen – als er nämlich von der Universität zurückgekehrt und in die Scheune gegangen war, das Licht eingeschaltet und seine Maschine betrachtet hatte. Ihm war nie zuvor aufgefallen, wie zusammengeflickt sie aussah, wie unscheinbar und primitiv sie wirkte. Loren empfand es nicht mehr als einen Vorzug der Maschine, daß sie den Höhepunkt seiner lebenslangen Bemühung darstellte, aus allen Dingen das Beste zu machen, indem man das Beste aus jedem ihrer Teile machte. Jetzt sah er die Maschine an, und er sah die Eggen, Windmühlen, Traktoren, Fahrräder, Pflanz- und Maispflückmaschinen, Pumpen, Autos, Kühlschränke und Pflüge, von denen die Einzelteile stammten; die Maschine sah aus wie das Werk eines Stümpers, ob sie nun funktionierte oder nicht. Und sie funktionierte – Loren hatte sie auf seinen verschiedenen Feldern selber ausprobiert. Und die Konstruktionspläne, die er mit größter Sorgfalt angefertigt hatte, waren falsch gezeichnet. Nils Harstad würde sie nicht nur nicht verstehen, er würde sie auch abstoßend finden, da sie hier und da fleckig oder verdreckt waren und hier und da auf die Rückseite umliefen. Bei 175
kritischer Betrachtung, und Nils Harstad WÜRDE sie kritisch betrachten, konnte man erkennen, daß die Begeisterung, die Loren Stroop unermüdlich angetrieben hatte, auch eine gewisse Nachlässigkeit bedingt hatte. Das, was den Erfinder beeindruckt hatte, weil er wußte, woraus es entstanden war, enttäuschte ihn nun, weil es etwas nicht geworden war – etwas Glattes, Ansehnliches, dessen revolutionäre Bedeutung schon äußerlich zu erkennen war. Das hieß aber nicht, daß Loren entmutigt war oder sein Ziel aus den Augen verlor. Nein, nein, nein. Er tat lediglich, was er sein Leben lang getan hatte – nach jedem Hagelsturm, jedem Wolkenbruch, der die jungen, verletzlichen Sämlinge fortgespült hatte, jeder Dürre, die sie verbrannt hatte, jedem Ausfall von Maschinen, jedem Absinken der Preise, das ihn um seinen Gewinn gebracht hatte – er verdoppelte seine Anstrengungen. Das war seine Tugend und sein Fluch, eine Eigenschaft, die vielleicht bloß eine Angewohnheit war, eine Eigenschaft, die ihm vielleicht von außen, von anderen Farmern aufgezwungen worden war, eine Eigenschaft, die er vielleicht selber in die Farmarbeit eingebracht hatte, und die seinen Erfolg (oder zumindest sein Überleben) als Farmer ermöglicht hatte, während viele andere gescheitert waren (aber Loren würde sie niemals verurteilen – er würde immer unglücklichen Umständen die Schuld geben, oder einer Pechsträhne oder, was wahrscheinlicher war, den geheimen Absprachen der USDA, Cargill, den Iowa Beef Processors, Pioneer, Ciba-Geigy, Deere, IH, den großen Banken, der CIA, dem FBI und der Trilateralen Kommission). Als erstes überließ er ein paar Freunden den Rest seiner Ernte – er hatte genug eingefahren und verkauft, um seine Kosten zu decken, und er konnte sich immer noch aus 176
seinem Garten versorgen und im Spätherbst gelegentlich auf die Jagd gehen. Sodann verbrachte er Tag und Nacht in der Scheune, bog hier etwas gerade, montierte dort etwas, zog noch eine Schraube fest und spritzte schließlich alles mit Emaille-Lack – in Altweiß, weil diese Farbe den Leuten anscheinend gefiel. Die meisten Computer, die man in den Geschäften sah, waren altweiß. Dafür mußte es einen Grund geben. Er verließ die Farm nur, wenn er von anderen Farmern um Hilfe gebeten wurde. Immerhin war Erntezeit, und da das nächste Geschäft für landwirtschaftliches Gerät mittlerweile 130 Kilometer entfernt war, verließen sich viele seiner Nachbarn darauf, daß er ihre Mähdrescher reparieren würde. Nur bei diesen Gelegenheiten, wenn ihm dann etwas zu essen angeboten wurde, aß er. Das kam häufig genug vor. Aber er bemerkte es kaum, wenn er nichts aß. Tag und Nacht trug er seine kugelsichere Weste. Er ließ sich nicht zu der Annahme verleiten, daß die Gefahr vorüber sei. Sie war, ganz im Gegenteil, größer denn je. Diese Leute hatten Mittel und Wege herauszufinden, wann man den entscheidenden Schritt tun würde. Das sah man ja täglich im Fernsehen – je näher man seinem Ziel kam, desto schwerer war es zu erreichen, und desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit einer Bombenexplosion oder eines tödlichen Autounfalls. Wenn man in seine Arbeit vertieft war, neigte man dazu, genau zu dem Zeitpunkt achtlos zu sein, da man sich Achtlosigkeit am wenigsten leisten konnte. Er zeichnete die Pläne auf das besondere, vorschriftsmäßige Papier, das er gekauft hatte, und brachte sie zu einem Copyshop in der Stadt. Dort wurde ihm gesagt, die Kopien seien am nächsten Morgen fertig. Der Gedanke, die Pläne über Nacht dazulassen, gefiel ihm nicht, aber es ging nicht 177
anders. Loren überlegte, wie groß die Wahrscheinlichkeit war, daß die großen Agrarkonzerne in den Copyshop einbrachen, aber er war sich fast sicher, daß ihm niemand gefolgt war und keiner gesehen hatte, in welchen Copyshop er ging. Er hatte die Pläne absichtlich weder beschriftet noch mit »oben« und »unten« gekennzeichnet, was ein gewisser Schutz war. Er gab den Namen »Joe Miller« an. Er legte die Pläne lässig auf die Theke, so als wären sie belanglos und als würde sich niemand je für sie interessieren. Er sagte zu dem Jungen hinter der Theke, daß er morgen früh, sobald der Laden öffnete, wiederkommen würde. Er sah, wie der Junge aufschrieb: »Joe Miller – eilt – Abh. pünktlich 8 Uhr.« Ihm war leicht schwindelig, als er wegfuhr und die Pläne in dem Laden zurückließ. Als er auf die Farm des echten Joe Miller einbog, dem er versprochen hatte, einen Blick auf das Getriebe seines Mähdreschers zu werfen, wurde ihm erneut schwindelig, und er hatte das Gefühl, seine Weste sei ein bißchen zu eng. Er sah, daß Joe mit seinem Mais zu drei Viertel fertig war. Dann stellte er fest, daß seine linke Hand, als er den Motor mit der rechten Hand ausgeschaltet hatte, nicht in der Lage war, den Türgriff zu betätigen. Und das Komische war, daß er dann, als er die Tür mit der rechten Hand geöffnet hatte, sein linkes Bein nicht aus dem Wagen bekam, und als er es mit dem rechten Arm nach draußen schob, trug es sein Gewicht nicht, und er fiel hin. Und dann, als Sally Miller mit den Kindern im Schlepptau zu ihm herübergelaufen kam, wollte er einen Witz über sein Mißgeschick machen, aber er schaffte es anscheinend nicht, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen, und Sally rannte weg, um Joe zu holen. Und das kleine Mädchen, dessen 178
Name ihm plötzlich in unerreichbar weiter Ferne zu sein schien, tätschelte unablässig seine Hand und redete in einer Sprache auf ihn ein, die er nicht verstehen konnte.
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Teil 2
22 Angespannte Haushaltslage State Journal, 1.Oktober 1989: Gouverneur O. T. Early hat heute überraschend Einsparungen von über 200 Millionen Dollar im Haushalt des Bundesstaates bekanntgegeben. Von den Kürzungen sind viele, aber nicht alle Behörden und staatlich geförderten Einrichtungen betroffen. Gewisse Einsparungen waren zwar seit Wochen erwartet worden, das Ausmaß und die Höhe der tatsächlichen Kürzungen kam für die meisten Beobachter jedoch überraschend. »Es ist ein Sieg für das finanzielle Wohlergehen unseres Staates«, erklärte Gouverneur Early, »und er wird zu steuerlichen Erleichterungen für alle Bürger führen. Ich halte diese notwendigen Einsparungen für die wichtigste und mutigste Tat, die unsere Regierung bisher vollbracht hat. Ich weiß, die Bürger dieses Staates werden die Kürzungen begrüßen.« Am stärksten betroffen sind die Bereiche Soziales, Erziehung, Gesundheit und öffentliche Einrichtungen. Die Kürzungen werden am 1. Januar in Kraft treten. In einigen Behörden werden ganze Bereiche gestrichen, in anderen wird ein gewisser Prozentsatz der Stellen quer durch alle Abteilungen eingespart. Die Staatskanzlei wird dabei auf eine »Wer zuletzt kommt, fliegt zuerst«-Vorgehensweise drängen, die möglicherweise die jüngsten Fortschritte bei der Gleichstellung von Frauen und ethnischen Minderheiten rückgängig machen wird. »Opfer sind immer schmerzhaft«, sagte der Gouverneur. Der Gouverneur fuhr fort: »Ich weiß, wie es ist, wenn man eine Diät macht. In den ersten Tagen glaubt man, nicht 181
ohne die Donuts und die Eisbecher mit heißer Schokoladensoße leben zu können, an die man sich so gewöhnt hat. Aber später fühlt man sich mit einem kleinen Salat und einem Stück gegrilltem Fisch zum Mittagessen viel besser. Dieser Staat hat sich an ein Ausmaß an Prasserei gewöhnt, das wir uns nicht leisten können. Ich habe mein Amt mit dem Versprechen angetreten, der Prasserei ein Ende zu machen, und dies ist der erste und schwerste Schritt. Es wird Heulen und Zähneklappern geben, aber ich verspreche den Bürgern dieses Staates, daß ich standhaft bleiben werde. Keine Eisbecher mit heißer Schokoladensoße mehr!« Gouverneur Early wurde schon oft für seine schlichte, bürgernahe Art gelobt, in der er seine Vorstellungen den Wählern nahebringt. Als er speziell auf das Gesundheitswesen angesprochen wurde, bemerkte er: »Dieser Staat verfügt über einige der besten Ärzte und Kliniken der Welt. Ich sehe nicht ein, warum wir etliche kleine Krankenhäuser, die weit über das Land verstreut sind, finanzieren sollen, wenn die Patienten sowieso nach ein paar Tagen in die Spezialkliniken verlegt werden.« Zum Thema Erziehung hatte der Gouverneur folgendes zu sagen: »Erziehung ist eine Investition. Das Problem ist, daß sie von den betreffenden Einrichtungen nicht als eine solche angesehen wird, und die Schüler und Studenten nicht als deren Kunden, die sie im Grunde sind. Derzeit wird das Erziehungssystem wie ein Wohlfahrtsunternehmen geführt, aber ich versichere Ihnen, wenn die Verantwortlichen das nicht grundlegend ändern, werden wir es an ihrer Stelle tun. Diese Regierung mißt der Erziehung große Bedeutung bei.« Das Büro von Gouverneur Early wird bis zum 15. Oktober genauere Angaben über die Kürzungen veröffentlichen. 182
Vor einem Jahr räumte die Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments dem Gouverneur ein generelles Vetorecht ein, um das er sich drei Jahre lang bemüht hatte. Daraufhin nahm Gouverneur Early einige Kürzungen vor, indem er sein Veto gegen einzelne Sätze, Wörter, Zahlen und sogar Buchstaben im Haushaltsentwurf einlegte. Als seine Vorschläge von der Mehrheit in beiden Häusern überstimmt wurden, erklärte der Gouverneur: »Die werden sich noch wundern.« Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung äußerten heute Zweifel, daß die vom Gouverneur jetzt angekündigten Einsparungen auf starken Widerstand treffen werden. »Das Menetekel steht an der Wand geschrieben«, sagte John Dealy (D., Rock City), Sprecher der Minderheit im Senat des Bundesstaates. »Wir können genausogut lesen wie alle anderen.« Das Handelszentrum, das Kongreßzentrum am Kapitol, das Wirtschaftsförderungsprogramm des Gouverneurs, das neue Hochsicherheitsgefängnis in Sidekick, der Etat der Regierung des Bundesstaates und die Pläne zur Errichtung einer am Flußufer gelegenen Einkaufspassage in der Hauptstadt gehören zu den Ausgabenposten, die von den Kürzungen unberührt bleiben werden. Hausmitteilung: Von: Büro des Kanzlers An: Die Mitglieder des Lehrkörpers aller Fachbereiche Betrifft: Etatkürzungen Wie einige von Ihnen bereits wissen, werden im kommenden Jahr zahlreiche Posten von deutlichen Einsparungen betroffen sein. Statt der erwarteten Kürzungen in Höhe von 183
etwa 7 Millionen Dollar wird sich die geforderte Einsparungssumme nach neuesten Informationen eher auf 10 Millionen belaufen. Und wir können nicht garantieren, daß im laufenden Finanzjahr nicht noch weitere Kürzungen auf uns zukommen werden. Jeder Fachbereich wird daher aufgefordert, bis zum 20. Oktober eine Liste mit Einsparungsvorschlägen zu erstellen. Diese Einsparungen werden dann teilweise oder vollständig am 1.Januar in Kraft treten. Außerdem werden im nächsten Jahr keine Neueinstellungen vorgenommen und frei werdende Stellen nicht neu besetzt. Alle Stellenausschreibungen müssen mit dem Erscheinen dieser Hausmitteilung zurückgezogen werden. Hausmitteilung: Von: Institut für Anglistik. Der Vorsitzende An: Die Mitglieder des Lehrkörpers Folgende Kosten können nicht mehr vom Institut übernommen werden: 1. Die Kosten für Ferngespräche aus dienstlichem Anlaß. 2. Die Kosten für Fotokopien sowie für andere Arten der Vervielfältigung, auch wenn sie für Lehrveranstaltungen benötigt werden. 3. Die Kosten für Büromaterial, sofern es nicht von den Sekretariatsmitarbeitern benutzt wird. DIE MATERIALSCHRÄNKE WERDEN ABGESCHLOSSEN! ES IST ZWECKLOS, NACH DEN SCHLÜSSELN ZU FRAGEN. 4. Die Kosten für Rechenzeiten der Lehrkräfte oder Studenten am Universitätsrechner. 5. Reisekosten jeglicher Art. 184
Ferner werden die Büros der Lehrkräfte nicht mehr vom Reinigungspersonal gesäubert. Besen, Mops, Eimer und Feudel können aus dem Putzraum im Erdgeschoß entliehen werden. Der Schlüssel dafür hängt im Sekretariat. Müll bitte in den Container vor dem Osteingang werfen. Hausmitteilung: Von: Büro des Kanzlers An: Die Gebäudeverwaltung der Universität Betrifft: Old Meats Bitte bemühen Sie sich so schnell wie möglich um einen oder mehrere Käufer für die Geräte, die sich in Old Meats befinden, sowie für das Baumaterial, das beim Abriß des Gebäudes anfallen wird. Holen Sie bitte auch Angebote für den Abriß selbst ein. Es ist ein Antrag gestellt worden, Old Meats den Status eines denkmalgeschützten Gebäudes zu entziehen. Sollte dieser Antrag von den zuständigen Stellen bewilligt werden, wird der Abriß unverzüglich in die Wege geleitet. Eine persönliche Anmerkung, Howard: Es tut mir leid, daß die geplanten Renovierungsmaßnahmen wegen der Kürzungen jetzt nicht mehr in Frage kommen. Wir haben sogar Schwierigkeiten, die Gelder für die Instandsetzung der Kuppel von Columbus Hall zusammenzukriegen, allerdings können wir dabei auf die Unterstützung durch die Ehemaligenvereinigung hoffen. Leider fühlen sich die Ehemaligen mit Old Meats nicht besonders stark verbunden. Wirklich schade, Ivar. Hausmitteilung: Von: Büro für die Verteilung der Unterrichtsräume 185
An: Professor Lionel Gift, Institut für Wirtschaftswissenschaften Wir möchten Sie davon in Kenntnis setzen, daß Ihre Veranstaltung Einführung in die Wirtschaftswissenschaften, MMF 10 Uhr 30 bis 11 Uhr 30 im Frühjahr 1990 in einem anderen Raum stattfinden wird. Alter Raum: Red-StickVorlesungssaal Nr. 2, Fassungsvermögen: 450 Hörer Neuer Raum: Aula der Clemson School für Design, Fassungsvermögen: 1500 Hörer Die an der Decke angebrachten Videomonitoren, die zu benutzen Sie die Absicht geäußert haben, müssen von einem geprüften Universitätstechniker der Gehaltsstufe l oder höher bedient werden. Bitte fordern Sie von unserem Büro eine Namensliste an. Wir möchten Sie daran erinnern, daß nach den neuen Richtlinien der Universität die Lehrkräfte, die bei ihren Veranstaltungen studentische Hilfskräfte, zu denen auch die Universitätstechniker gehören, beschäftigen, deren Lohn selbst bezahlen müssen. DIE UNIVERSITÄT IST NICHT IN DER LAGE, DIESE DIENSTLEISTUNGEN UNENTGELTLICH ANZUBIETEN. Techniker der Gehaltsstufe l bekommen $ 8,50 pro Stunde, Techniker der Gehaltsstufe 2 bekommen $ 10,50 pro Stunde. Noch ein Hinweis: In Ihrer letzten Mitteilung an unser Büro betreffs Ihrer Frühjahrsvorlesung erwähnten Sie gewisse »Kunden«. Meinten Sie damit, daß Sie beabsichtigen, auch Personen zuzulassen, die keine eingeschriebenen Studenten sind? Sollte dies der Fall sein, wird von diesen Nicht-Studenten eine »Gasthörergebühr« in Höhe von $ 35 für das Semester erhoben.
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Hausmitteilung: Von: Universitätsbibliothek. Der Direktor An: Die Ankaufsabteilung Betrifft: Etatkürzungen Bis auf weiteres werden keine Neuerwerbungen mehr getätigt. Alle Bestellungen, die noch nicht geliefert wurden, müssen storniert werden. Hausmitteilung: Von: Universitätsrechenzentrum An: Alle Universitätsangestellten Betrifft: Computerbenutzungsgebühr Ab l. November wird eine Computerbenutzungsgebühr von $ 0,25 pro Benutzung erhoben. Die Abrechnung erfolgt monatlich, und der Betrag wird von Ihrem Gebührenkonto abgebucht. Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß die Gebühr JEDESMAL erhoben wird, wenn Sie den Computer einschalten, AUCH WENN SIE IHN GERADE ERST AUSGESCHALTET HABEN. Zusätzlich werden die Gebühren für Ausdrucke von $ 3.00 pro hundert Seiten auf $ 0,05 pro Seite erhöht. Hausmitteilung: Von: Helen An: Cecelia Ich möchte Sie nur daran erinnern, daß sich die Anzahl der Studenten in Ihren Anfänger- und Fortgeschrittenenkursen 187
im Frühjahr von 25 auf 32 erhöhen wird. Ist das nicht furchtbar? Roger mußte alle Fremdsprachendozenten entlassen, weil der Justitiar der Universität ihm mitgeteilt hat, er dürfe keine Einzelverträge kündigen, aber »ein Blutbad sei legal«. Hausmitteilung: Von: Fachbereich für Technologietransfer. Der Dekan An: Alle Abteilungen Die Veröffentlichungen der Abteilung für landwirtschaftlichen Technologietransfer werden nicht mehr wie früher kostenlos versandt, sondern nur noch gegen eine Gebühr von $ 1,00 zuzüglich Porto pro Veröffentlichung. Eine Portokostenliste ist beigefügt. Bitte sorgen Sie dafür, daß alle Anrufer von dieser Änderung in Kenntnis gesetzt werden. Wer Veröffentlichungen zu erhalten wünscht, sollte einen Scheck oder eine Zahlungsanweisung an Mary Logan, Sekretariat der Abteilung für Technologietransfer, usw. schicken. Wir sind noch nicht in der Lage, MasterCard oder Visa zu akzeptieren. Notiz X, Man plant, Old Meats abzureißen, aber die zuständigen Stellen halten sich bedeckt. Gerüchteweise schon bald, trotz des Denkmalschutzes. Die Überreste sollen wie Bauschutt verscherbelt werden. Das ist doch nicht zu fassen! Obwohl ich es schon immer äußerst bezeichnend fand, genau in der Mitte des Campus einen Schlachthof zu haben, 188
tut es mir leid um Old Meats. Und ich weiß, wie sehr Du an dem Gebäude hängst. Viel Glück, Garcia Hausmitteilung: Von: Brown An: Alle Verwaltungsabteilungen Bitte denken Sie daran, daß unsere Kunden mit ihrem Geld kein »Anrecht« auf irgendeine spezielle Dienstleistung erworben haben, obwohl sie dieser Ansicht sein mögen. Wahrscheinlich werden Sie in Ihren Büros verschiedenen Unmutsäußerungen über die jüngsten Kürzungen ausgesetzt sein. Daher empfehle ich Ihnen, vor allem das Personal der Sekretariate kurzen informellen Schulungen zu unterziehen, deren Ziel es sein sollte, das positive Verhältnis zu den Kunden nicht zu gefährden und die negativen Folgen ihrer unerfreulichen, aber vorhersehbaren Reaktionen in Grenzen zu halten. Ich stehe Ihnen in dieser Sache gerne beratend zur Seite.
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23 Die staubigen Bücherregale I HRE GESAMTE Schul- und Studienzeit hindurch war Cecelia felsenfest davon überzeugt gewesen, daß ihr Herz der Forschung gehörte. Inmitten der Gefühlsausbrüche, Enttäuschungen, Streitereien und des Lärms ihrer Familie und ihres Ex-Manns hatte sie sich immer entschlossener in die Welt des Geistes versenkt. Die Klage ihrer Mutter: »Jorge! Sie hört nicht zu! Ich rede mit ihr, und sie hört mir überhaupt nicht zu!« war nahtlos übergegangen in die Klage ihres Mannes: »Hallo? Erde an Cecelia! Hast du überhaupt ein einziges Wort von dem mitbekommen, was ich gesagt habe, Liebling?« An der UCLA hatte sie so viel Zeit wie möglich in der Bibliothek verbracht, anfangs in einer weit vom Eingang entfernt gelegenen Arbeitskabine zwischen den Regalen der hethitischen und sumerischen Abteilung, wohin kaum jemand kam. Später hatte sie dann einen eigenen kleinen, fensterlosen Raum bekommen und ihn mit Büchern und Fachzeitschriften über katalanische Literatur des Mittelalters angefüllt sowie mit Büchern und Fachzeitschriften über Feminismus, die sie darin bestätigten, daß die Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten des weiblichen Intellekts an sich schon eine wagemutige, revolutionäre und verantwortungsvolle Handlung darstellte und in gewisser Weise ebenso unsozial war wie die Tatsache, daß sie bei all den Anforderungen der Außenwelt ihre Kräfte und Gedanken auf sich selbst richtete. Zu Beginn des laufenden Semesters hatte sie sich voller Zuversicht wieder einmal eine entlegene Kabine gesucht, 190
diesmal in der isländischen und grönländischen Abteilung, von deren Büchern seit sieben Jahren kein einziges mehr ausgeliehen worden war. Cecelia hatte sich auch um einen der wenigen Arbeitsräume in der Bibliothek beworben, aber ohne Erfolg. Allerdings erwies sich dieser Umstand als lebensrettend, denn in einem abgeschlossenen Raum hätte sie vermutlich ununterbrochen geschlafen und wäre regelmäßig in der Bibliothek eingeschlossen worden. In ihrer Kabine weckte sie zumindest gelegentlich eine Putzfrau oder ein Student auf dem Weg zu den Regalen mit den deutschen Romantikern. Trotz des kühleren Wetters war ihr Denkvermögen wie gelähmt. Die katalanische Literatur versetzte sie lediglich in ein Koma, und der Feminismus weckte bloß Schuldgefühle in ihr, die wiederum einschläfernd auf sie wirkten. Wissenschaftliche Arbeit, die sie jahrelang ganz besonders anregend und belebend gefunden hatte und die ihr wie ein intellektuelles Training vorgekommen war (dehnen, strecken, stoßen und energisch einem Ziel entgegenstreben), empfand sie jetzt nur noch als leere Willensanstrengung, ohne Sinn und Zweck. Dennoch ging sie jeden Tag zu ihrer Nische, setzte sich hin, schlug ihre Bücher auf und begann zu lesen. Sie hoffte, in einem von ihnen eine Art magisches Samenkorn zu finden. Sie stellte sich vor, wie sie es aß und die Begeisterung erneut in ihr keimte und Früchte trug. Was Tim betraf, nun, das lief auch nicht besonders gut. Er hatte sich als einer der Männer erwiesen, deren Interesse nachließ, sobald sie eine Frau näher kennengelernt hatten. Um das Interesse des Mannes zu wecken, verfiel Cecelia in solchen Fällen in das Verhaltensmuster, immer mehr von ihrer Persönlichkeit zu enthüllen. Sie kam sich dann Vor wie eine Handelsvertreterin, die ihren Musterkoffer vor einem Mann auspackte, der zwar lächelte und scheinbar 191
aufmerksam war, aber in Wirklichkeit innerlich den Kopf schüttelte – nein, das nicht, das auch nicht, nein, ich glaube nicht, ein andermal vielleicht. Sie geriet dann in Versuchung, alles auszupacken, nicht unbedingt für den jeweiligen Mann, sondern nur weil es eine Herausforderung war, das zustimmende Nicken zu erhalten. Abgesehen von der Tatsache, daß Tim immer noch der einzige scharfzüngige, interessante Mensch war, den sie hier kannte, und immer noch DIESES GEWISSE Aussehen hatte, war ihre Beziehung, und vermutlich auch ihre Freundschaft, zum Scheitern verurteilt. Was bedeutete, daß sie in zwei Monaten noch niemanden näher kennengelernt hatte – keinen Kollegen, keine Frau aus der feministischen Diskussionsgruppe, keinen Studenten, keine zufällige Bekanntschaft. Und jetzt saß zu ihrem Ärger auch noch jemand in ihrer Kabine, ein Mann, der ein Buch las. In sechzig aufeinanderfolgenden Tagen hatte niemals jemand ihre Nische in der Bibliothek besucht, und ihre Bestürzung war fast größer als ihre Verärgerung. Sie blieb abrupt stehen und nahm ein Buch aus dem Regal. Es war in Isländisch geschrieben: »Par munu eftir undrsamligar gullnar toflur –« Der Vorsitzende X hatte indessen hochgeschaut und die schöne Frau aus Costa Rica erblickt, neben der er bei Gifts Vortrag gesessen hatte. Ihr Mantel war offen und gab den Blick auf einen langen roten Pullover und schwarze Leggings frei. Ihr Haar war zu einem dicken Pferdeschwanz zusammengebunden, und die Konzentration, mit der sie in einem dunklen, schweren Buch las, war ihm unbegreiflich, denn seine gegenwärtige Zerstreutheit war zu einem Dauerzustand geworden, und er konnte nur weiterhin das tun, was er schon seit einer Woche tat, nämlich diese Unruhe über den ganzen Campus zu schleppen und an den unmöglichsten Orten abzustellen. 192
Nach kurzer Zeit zog sie ihren Mantel aus und hängte ihn über das Bücherregal. Der Vorsitzende X wandte seinen Blick ab, weil er den Augenkontakt mit ihr vermeiden wollte, und schaute sie erst wieder an, als er sicher war, daß sie sich erneut in ihr Buch vertieft hatte. Was war eigentlich noch in Ordnung? Man würde seinen Garten planieren und die Pfirsich- und Aprikosenbäume mitsamt den Wurzeln herausreißen. Man würde das Personal seiner Gärtnerei um die Hälfte verringern und in vielen seiner Gewächshäuser die Heizung abstellen. Man würde die Universität der Kontrolle der Großkonzerne überlassen; das Loch in der Ozonschicht wuchs; jeden Tag wurden tausend Pflanzenarten ausgerottet. (Der Vorsitzende X wußte, daß eines seiner Probleme darin bestand, daß er sich nur allzu leicht die zerbrechliche Vielfalt der blauen, sonnenbeschienenen Erdkugel vorstellen konnte. Auf allzu vielen Forschungsreisen hatte er allzu viele einzigartige Mikroumwelten zu sehen bekommen. Allzu viele Pflanzen hatten ihn durch ihre Anpassungsmechanismen beeindruckt und wie diese Nützlichkeit und Schönheit miteinander verbanden. Er hatte zu viele wunderbare Dinge zu Gesicht bekommen. Und jeden dieser bewegenden Eindrücke, die in seinem Gedächtnis verankert waren, verband er auf schmerzliche Weise mit anderen in seiner Phantasie, die ihm aufgrund seiner Sterblichkeit und der Weite dieser Welt nie vergönnt sein würden. Gift und Nils Harstad blieben von solchem Kummer verschont, weil sie, nach Ansicht des Vorsitzenden X, so wenig darüber wußten, was es da draußen alles gab, daß sie glaubten, was immer sie als Ersatz dafür fänden, wäre gut genug.) Lady X war seiner überdrüssig, und seine älteren Kinder fanden seine zunehmende Exzentrik peinlich. Erst an diesem Morgen hatte die älteste kleine X es am Frühstücks193
tisch unverblümt ausgesprochen. Sie hatte gesagt: »Daddy, die Schule wird dich wegen des Berufsinformationstages anrufen, sie wollen dich bitten, zu kommen und über deine Arbeit zu reden.« Ihre Blicke trafen sich. »Egal was sie sagen, lehn ab. Wenn du zusagst, werde ich es dir nie verzeihen. Das meine ich ganz ernst.« Es war unnötig gewesen, zu sagen, daß sie es ernst meinte. Ihre Frisur und ihre heißgeliebte Benetton-Kleidung waren makellos. Lady X hatte versucht, ihm zu Hilfe zu kommen, und leidenschaftslos gesagt: »Dein Vater hat dafür sowieso keine Zeit, und außerdem könntest du ruhig etwas höflicher sein, junge Dame.« Sie warf den Kopf zurück: »Bitte sag ab.« »Das geht in Ordnung«, hatte er gesagt. Er schlug das Buch zu, und ihm fiel ein weiterer Ort ein, an den er seine Unruhe tragen konnte – den Universitätsfriedhof, wo er auf die Gräber derjenigen spucken konnte, die Mais-, Teerosen- und Chrysanthemenhybride gezüchtet hatten. Die Frau aus Costa Rica sagte: »Oh, gehen Sie?«, und sie sagte es so erfreut, wie man etwas so Beiläufiges und Unpersönliches nur sagen konnte. Dann sagte sie: »Jetzt erinnere ich mich. Sie waren auch bei dem Vortrag.« Sie kam näher. »Der Mann war schrecklich, fanden Sie nicht auch? So selbstgefällig. Geht es Ihnen wieder besser?« »Nein.« Die Qual, die in seiner Stimme unerwartet zum Ausdruck kam, versetzte sie beide in Erstaunen. Es war die ehrlichste Gefühlsäußerung, die Cecelia in den letzten zwei Monaten gehört hatte. Sie wachte schlagartig auf. Sie trat ein paar Schritte auf ihn zu. Der Vorsitzende konnte es kaum fassen, wie groß sie 194
wurde, als sie sich auf ihn zubewegte. Eine solche Größe war ihm noch nicht vorgekommen. Ihr dicker roter Pullover ragte beruhigend über ihm auf. Sie warf den Kopf in den Nacken, und neben ihrem Hals tanzten die wohlbekannten gehämmerten silbernen Ohrringe auf und ab. Eine dichte Pheromon-Wolke umgab sie, bestehend aus ihrem ernsten Blick, ihrem angedeuteten Lächeln und ihrer natürlichen Anmut sowie den üblichen biologischen Vorgängen, die der Vorsitzende X seinen Studenten in jedem Herbst- und Frühjahrssemester erklären durfte. Er drehte den Stuhl plötzlich in ihre Richtung, der dabei quietschte und geräuschvoll über den Boden schrammte. Jetzt war der Vorsitzende ihr plötzlich erschreckend nah, aber sie wich nicht zurück. Vielleicht ließ er ihr auch nicht die Zeit dazu. Vielleicht griff er einfach nach ihr und vergrub das Gesicht in dem roten Pullover, der nach Wolle und ihrem Jergens-Parfum roch, und schlang seine Arme um ihre Hüften, als sei das sein gutes Recht. Wie auch immer, nach dieser unorthodoxen Begrüßung verharrten sie so für einen Augenblick, dessen Bedeutung der Vorsitzende am ganzen Körper spürte, und dann berührten ihre Hände seinen Kopf und seinen Nacken und seinen Rücken, und sie kniete nieder, und sie küßten sich, und Cecelia hatte das Gefühl, ein starker Windstoß vertreibe den Nebel in ihrem Gehirn, und als sie rücklings auf den kalten Fußboden sank, war jedes Buch in den über ihr aufragenden Regalen auf einmal ohne Schwierigkeiten von seinen Nachbarn zu unterscheiden, und sie sog den beißenden Bücherstaub genüßlich ein. Seine Hände glitten unter ihren Pullover, während sie rasch ihre Leggings abstreifte, und auf einmal kamen ihr alle Männer, die sie jemals gekannt hatte, im Vergleich zu diesem Mann, der nicht DIESES GEWISSE Aussehen 195
hatte, unentschlossen, reserviert und unsicher vor. Sie schloß die Augen. Der Vorsitzende empfand hauptsächlich Scham. Schon wieder war es passiert, er tat genau das, was er Lady X und sich selbst versprochen hatte, nie wieder zu tun. Er »floh in die Arme einer Frau« (ihre Worte) und »raste mit dem Schwanz in der Hand über eine Klippe« (seine). Auch wenn man eigentlich bloß das Gesicht in einen weiten, warmen roten Pullover vergraben wollte, ließ man sich, sobald man es mit den Pheromonen zu tun bekam, mitreißen, als ob (aber nur als ob, sagte Lady X, und er stimmte ihr darin zu) man dagegen wehrlos war. Niemand kam zufällig vorbei. Sie lagen schweigend da und hatten die Gesichter in verschiedene Richtungen gewandt, bis Cecelia den Druck des harten Fußbodens gegen ihr Rückgrat nicht mehr aushalten konnte. Sie richteten sich auf und setzten sich mit dem Rücken gegen die Wand der Arbeitskabine. Sie ordnete ihren Pferdeschwanz. Er unterließ es, sein Gesicht in den Händen zu vergraben. Nach einer Weile sagte er: »Sie sollten wissen, daß meine Frau in der Beratungsstelle für HIV und Geschlechtskrankheiten der Universität arbeitet und ich mit keiner Krankheit infiziert bin.« »Ich auch nicht.« Sie hielt inne. »Oder besser gesagt: ich auch nicht, soviel ich weiß.« »Die Übertragung von der Frau auf den Mann ist sehr viel weniger wahrscheinlich.« »Davon habe ich gehört.« Ihre Atemzüge verlangsamten sich. Er sagte: »Ich werde langsam zu alt für so etwas. Ich bin ganz erschöpft.« 196
»Ich halte hier auch öfter ein Nickerchen.« Für den heutigen Tag sah Cecelia jedoch kein Nickerchen voraus. Tatsächlich hatte sich die Zukunft aus Tagen in der Bibliothek und im Seminarraum, die sie noch vor wenigen Minuten gehabt hatte, in Luft aufgelöst. Mittlerweile hatte sie Schwierigkeiten, auch nur irgend etwas vorauszusehen. Sie sagte: »Sie haben Ihren Pullover falschherum an.« Er schaute an sich herunter. Er hatte ihn nicht ausgezogen, daher mußte er ihn so angezogen haben, bevor er aus dem Haus ging. Er sagte: »Ich bin in letzter Zeit ein wenig zerstreut.« »Ich auch.« Sie lächelten sich an. Er sagte: »Stimmt es, daß Sie aus Costa Rica stammen?« »Also, eigentlich –« da Cecelia sich jetzt veranlaßt fühlte, ihn anzusehen, bemerkte sie, wie der Suchscheinwerfer seines Blickes sich bei dieser Antwort um ein paar Watt verdunkelte. Unwillkürlich, ganz ohne darüber nachzudenken, fuhr sie fort: »Aber ja natürlich, das stimmt.« »Wie interessant«, sagte er. Sie fand ihn unwiderstehlich, als er sich über sie beugte.
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24 Die Qual der Wahl ZU DR . DEAN JELLINEKS großem und von seinem Sohn Chris vollkommen geteilten Bedauern hatte die Universität es noch nie geschafft, eine erfolgreiche Basketballmannschaft auf die Beine zu stellen. Dr. Jellinek und Chris hatten in den letzten fünf Jahren jedes Heimspiel besucht, und ihre Plätze lagen direkt hinter der Trainerbank, aber zu Beginn jeder Spielzeit fragte Dr. Jellinek sich, wie er diese ohne Herzinfarkt oder Schlaganfall durchstehen sollte, denn er fand es entsetzlich frustrierend, von seinem Platz aus Trainer Rawlings zu beobachten, der mit penibler Genauigkeit zwanghaft einen Spielzug nach dem anderen auf den Hallenboden zeichnete und dabei mit seinem Zeigestock immer enger werdende Spiralen beschrieb, während ihm die Spieler erwartungsvoll und verwirrt zuschauten. Das Kanonenfutter, das für die Universität spielte, erinnerte Dr. Jellinek zunehmend an einen Trupp frischrekrutierter kampfbereiter Soldaten, die in einen langen Krieg – den Dreißigjährigen oder den Hundertjährigen – zogen und von vornherein keine Chance hatten, ihn zu gewinnen. Trainer Rawlings raubte mit seiner tragischen Weltsicht und seinem angedeuteten wehmütigen Lächeln jedes Jahr den Erstsemestern nach und nach allen Mumm. Dean Jellinek war ein erbitterter Feind des Trainers und schlug sich jedes Jahr selbst für den Sportbeirat der Universität vor, nur damit er sich für die Entlassung dieses Parasiten stark machen konnte, aber er wurde nie berufen. Dennoch hatte er in den Jahren als Basketballfan durchaus etwas gelernt. Zur Zeit zum Beispiel, da siebzehn Fir198
men um die Förderung seines Projekts zur Erforschung der kälberunabhängigen Laktation konkurrierten, rief er sich das selbstbewußte Auftreten, das er zwar nicht bei den Spielern der Universitätsmannschaft, so doch bei den erfolgreichen Profis der NBA beobachtet hatte, ins Gedächtnis und nahm es sich zum Vorbild. Er gab sich zum Beispiel so entspannt und locker wie Magic Johnson, so professionell cool wie Michael Jordan oder so finster entschlossen wie Charles Barkley. Auch wenn er tatsächlich groß und dunkelhäutig gewesen wäre und sich den Kopf rasiert hätte, anstatt klein und blaß zu sein und unter Haarausfall zu leiden, hätte er, in aller Bescheidenheit gesagt, mit den Firmenvertretern nicht geschickter umgehen können. Erstens ließ er seine Forschungserfolge für sich selbst sprechen, genau wie sie es mit ihren Ballkünsten machten. Er hatte seine Ansicht über die Sache mit dem Nukleartransfer etwas geändert – er war jetzt bereit, seine Position eher in einem Es-bis-ins-Finale-schaffen-aber-im-letztenSpiel-verlieren-Licht zu betrachten, dem er noch eine Vonden-Schiedsrichtern-betrogen-Schattierung hinzufügte (wenn er diesen Gedanken in ein Gespräch einfließen ließ, begleitete er ihn stets mit einem Vielleicht-vielleicht-aberauch-nicht-einige-Leute-scheinen-jedenfalls-dieserMeinung-zu-sein-Achselzucken). Zweitens war seine Erfolgsbilanz, sowohl relativ als auch absolut, ziemlich beeindruckend; Fördermittel fühlten sich anscheinend, ebenso wie Punkte, bei ihresgleichen am wohlsten, und diese Tatsache wirkte auf alle, die im Umgang mit Geld erfolgreich waren, beruhigend. Trotzdem ließ er, genau wie die Basketballprofis, gerne durchblicken, daß er Geld und Wettkampf voneinander zu trennen wußte. Er machte bei dem Forschungsspiel mit, weil er Spaß daran hatte, obwohl ihm 199
natürlich sehr viel am Sieg lag und er dessen Bedeutung nicht unterschätzte. Von den Sportlern hatte er vor allem gelernt, daß man auf tausenderlei Arten »ich weiß nicht« sagen konnte und so den Gesprächspartner bei der Stange hielt, zugleich aber seine Neugier weckte. Man durfte natürlich nie in bezug auf das Forschungsvorhaben »ich weiß nicht« sagen, sondern den Ausdruck nur im Sinne von »Ich weiß nicht was am besten wäre« benutzen – am besten für das Forschungsvorhaben, die Universität, ihn selbst und die interessierten Firmen. Am besten war natürlich, wie jeder wußte, haufenweise Zaster, ein wolkenbruchartiger Dollarregen, ein riesiger Geldberg, der allen Beteiligten allein durch sein Vorhandensein Zuversicht einflößte. Aber das große Geld war sehr zurückhaltend und trat erst dann in Erscheinung, wenn die Begehrlichkeit seiner Besitzer durch geschicktes Ausspielen der Konkurrenz entfacht war. In den letzten Tagen hatte Dean des öfteren den Wunsch verspürt, den Telefonhörer aufzunehmen und seinen Spezi Michael Jordan anzurufen, um mit ihm ein Schwätzchen darüber zu halten, wie er Continental Dairy Industries gegen National Milk ausgespielt hatte, aber natürlich kannte er Michaels Telefonnummer nicht. Er hatte jedoch das Gefühl, daß die wunderbaren Tage, in denen man um ihn warb, sich ihrem Ende zuneigten, daß die Anzahl der Anrufe und Briefe bald abnehmen und er zu seinem normalen Leben zurückkehren würde und außerdem die Herde kalblos laktierender Holsteiner noch würde erschaffen müssen, über die er mit solcher Besessenheit nachgedacht hatte, daß er ihrer inzwischen fast ein wenig überdrüssig geworden war. Bald würde eine echte Geldsumme an die Stelle einer möglichen Geldsumme treten und jahrelange harte Arbeit voller Rückschläge an die 200
Stelle der Vision vollkommener Rinderherden. Auf jeden Fall würde er bald wieder all die fachlichen Fähigkeiten einsetzen müssen, die er in der aufregenden Phase, in der man sich um ihn riß, nicht benötigt hatte, und da er aus dem Mittleren Westen stammte und auch nicht frei von Aberglauben war, überkam ihn gelegentlich die Befürchtung, daß der Erfolg seinem Charakter vielleicht geschadet hatte. Aber noch konnte er in aller Ruhe in seinem Büro sitzen, die Füße auf den Schreibtisch legen, das Telefon anstarren, »klingle!« denken und es dadurch zum Klingeln bringen. Seine Abhängigkeit von dem Hochgefühl, das es ihm verschaffte, umschmeichelt, hofiert und umworben zu werden, war so stark, daß ihm dafür keine zukünftige Anstrengung zu groß erschien. Das Telefon klingelte. Aus dem Vorzimmer meldete sich Joan und sagte: »Ein Gespräch für Sie, Dr. Jellinek«, und Dean sagte: »Stellen Sie durch«, und es war Samuels von der Forschungs- und Entwicklungsabteilung der Western Egg and Milk Commodities, und er sagte: »Wissen Sie, Dean, Richards von der Purdue University und Isaacs von der Iowa State behaupten, daß dieser Plan von Ihnen unmöglich zu realisieren ist.« »Für die beiden bestimmt.« Samuels lachte: »Sie sagen –« »Sie behaupten, über Scheinschwangerschaft bei Kühen wisse man zuwenig. Sie behaupten, über SCHWANGERSCHAFT bei Kühen wisse man zuwenig. Sie behaupten, die Veterinärmedizin, ganz zu schweigen von der Biotechnologie, sei noch nicht weit genug. Sie behaupten, unser Wissen reiche nicht aus. Das stimmt auch. Ihr Wissen reicht nicht aus. Aber Sie haben meine Projektbeschreibung gelesen.« 201
»Es ist eine Wahnsinnsidee.« »Aber das macht sie ja gerade interessant.« »Das hat mein Chef auch gesagt.« »Hören Sie zu, Hal. Es gibt vieles, was man mit Geld nicht kaufen kann. Wir beide wissen das. Aber es gibt auch vieles, was man damit kaufen kann, und dazu gehören Technologien und die Zeit für die Entwicklung von technischem Know-how. Wenn Ihre Firma bei der Forschung ganz am Anfang mit einsteigt, dann bekommt sie nicht nur ein Patent auf das Forschungsergebnis, sondern auch auf jeden Schritt, der zu dem Ergebnis führt. Das bedeutet, daß Nachzügler wie Isaacs und Richards in Zukunft Umwege machen oder Gebühren zahlen müssen. Wenn Ihre Firma die Patente besitzt, kassiert sie auch die Gebühren.« »Völlig klar. Sie sollten wissen, daß Ihr Vorschlag höheren Orts auf Interesse gestoßen ist, und damit meine ich nicht Egg and Milk, sondern ganz oben, bei Martin persönlich. Er ist derjenige, dem Ihr Plan WIRKLICH gefällt. Der Chef ist schon immer dafür gewesen, neue Wege zu beschreiten.« Dean wußte nicht, wer dieser Martin war, aber Samuels’ Tonfall hatte ehrfürchtig geklungen. Dean ging darüber hinweg und schlug selber einen ungezwungenen, aber souveränen Tonfall an. »Ich möchte Ihnen eine Geschichte erzählen, Hal. Kennen Sie die Geschichte von der Erfindung des Computers?« »Nein.« »Sie sollten Isaacs danach fragen. Ich wette, der kennt sie.« »Erzählen Sie schon.« »Also, die Kurzfassung ist, daß der Mann von der Iowa State University, der in den späten dreißiger Jahren den 202
Computer erfunden hat, niemals irgendein Patent angemeldet hat – weder für das Speichermedium, noch für das System der Digitalisierung, noch für die Anwendung des Binärsystems bei der Lösung von Datenverarbeitungsproblemen. Für rein gar nichts, nicht einmal die Magnettrommeln oder die Relaisschaltungen. Und die Universität maß seiner Erfindung nicht genug Bedeutung bei, um die Patente in seinem Namen oder wenigstens in ihrem eigenen anzumelden. Sie sahen in der Erfindung nicht einmal eine verrückte Idee, aus der noch etwas werden könnte. Sie haben den alten Apparat einfach weggeworfen und ihn vergessen, aber als es vor etwa zehn Jahren zwischen Sperry und Hewlett-Packard zu einer juristischen Auseinandersetzung über die Patente kam, stellte sich heraus, daß niemand sie besaß. Nun ja, das freut uns Computerbenutzer, nicht wahr? Aber will sich Egg and Milk in zwanzig Jahren in so einer Lage befinden?« Samuels schwieg eine ganze Weile, und Dean spürte geradezu, wie er im Geiste rechnete. Schließlich sagte er: »Ich glaube, diese Geschichte wird den Chef interessieren. Sie stimmt doch, oder?« »Rufen Sie Ihren Freund Isaacs an.« »Nein, ich werde gleich mit Martin sprechen. Dann rufe ich Sie sofort zurück.« Er gluckste. »Und wenn ich bei Ihnen anrufe, will ich nicht das Besetztzeichen hören.« »Das kann ich Ihnen nicht garantieren, Hal. Mich rufen andauernd Studenten an, die bei ihren Laborversuchen Hilfe brauchen oder ihre Abgabetermine verlängern wollen.« »Da wett ich drauf.« »Dafür braucht man aber Geld, Hal.« Sie lachten beide, und dann legten sie auf. Dean lehnte 203
sich in seinem Stuhl weit zurück und streckte seinen Rücken, bis er jeden einzelnen Wirbel spüren konnte. Dann ließ er den Kopf so weit nach hinten fallen, daß er verkehrt herum aus dem Fenster schauen konnte, und er dachte: »Klingle!« Das Telefon klingelte. Es war Lawrence, ein hohes Tier von Consolidated Embryo. Dean sagte: »Hören Sie zu, Bill, ich möchte Ihnen eine kurze Geschichte erzählen.«
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25 Ein korrigierter Blick in die Zukunft Aufgabe: Nehmen Sie einen Absatz aus einer Geschichte, die Sie in diesem Semester geschrieben haben, und erweitern Sie diesen Absatz bis auf die Länge der ursprünglichen Geschichte. Zweck dieser Aufgabe ist es, Ihre Kenntnis der Situation oder der Charaktere wesentlich zu vertiefen, oder – noch besser – sich ein komplexeres, vollständigeres und detaillierteres Bild von ihnen machen. Gary – nach unserem Gespräch habe ich beschlossen, Sie die Geschichte über Lydia und Lyle überarbeiten zu lassen, denn die scheint Ihnen weit mehr am Herzen zu liegen als Ihre Geschichte über die Exekution des Massenmörders. Ihre besondere Aufgabe bei der Überarbeitung ist allerdings, ein paar versöhnliche Züge im Charakter ODER in der Persönlichkeit Lydias zu entdecken. 19. Okt. 1989 Monahan, KS 325 »Morgendliches Erwachen« eine Geschichte von Gary Olson Lydia wachte auf und wälzte ihren wuchtigen Körper auf 205
die Seite. Wie jeden Morgen fragte sie sich, was bloß aus ihr geworden war. Noch vor zehn Jahren, auf dem College, war sie schlank und modebewußt gewesen. Sie hatte mit Leichtigkeit in Größe 36 gepaßt. Sogar die Haare waren ihr ausgefallen. Auf dem College hatte sie dichtes langes blondes Haar gehabt, um das die anderen Mädchen sie beneidet hatten. Jetzt war sie beinahe kahl. Was mit ihr geschehen war, machte sie wirklich sehr traurig. Unwillkürlich gab sie den Kindern, von denen sie annahm, daß sie in der Schule waren, die Schuld an ihrem Zustand. Lydia lag einfach nur da. Dann fiel ihr ein, daß noch ein paar Pralinen in der Schachtel sein mußten, die sie am Abend zuvor während der Johnny Carson Show angebrochen hatte, und sie tastete auf dem Boden danach. Aber die Pralinen waren alle. Sie beschloß, dem Hund die Schuld zu geben. Sie rief: »Brownie, komm sofort her!« Es war nämlich so, daß sie während ihrer beiden Schwangerschaften stark zugenommen hatte. Sie konnte nichts dagegen machen. Ihre Mutter sagte immer, das läge an den Drüsen. Bei Frankie, ihrem Sohn, hatte sie achtzig Pfund zugenommen und bei Allison, ihrer Tochter, über hundert Pfund. Wenn sie schwanger war, war sie immer ganz wild auf Junk Food. Sie aß fünf oder sechs Big Macs pro Mahlzeit, trank dazu zwei McShakes und ging dann nach Hause und verschlang noch eine große Schüssel Popcorn. Sie sagte zu Lyle: »Ich kann einfach nichts dagegen machen.« Und das konnte sie wirklich nicht. Er wußte das noch aus ihrer Studienzeit, als sie sich immer über ihr Gewicht gestritten hatten. Lyle fühlte sich schuldig, weil er in den ersten Jahren ständig davon gesprochen hatte, daß sie zu dick war, und so hatte er ein schlechtes Gewissen, und deshalb verließ er sie nicht. Frankie wog bei der Geburt fünf Pfund, und Allison wog 206
vier. Nichts konnte ihrem Übergewicht etwas anhaben. Jetzt hatten alle Angst vor ihr, obwohl sie das gar nicht wollte und unter der Oberfläche eigentlich ein sehr netter Mensch war. Am meisten wünschte sie sich, daß Lyle wieder mit ihr schlafen würde, aber Lyle hatte gesehen, wozu das führen konnte, und wollte kein Risiko eingehen. Sie dachte daran, wie sie auf dem College ausgesehen hatte – sie war sehr sexy gewesen. So wollte sie wieder sein. Der Hund hatte Angst vor ihr und verkroch sich einfach unter dem Küchentisch. Plötzlich bemerkte Lydia, daß ihr Sohn und ihre Tochter sich im Zimmer befanden. Sie saßen still und dicht aneinandergekauert in der Ecke. Das Schlimmste, was passieren könnte, dachte Lydia, war, daß Allison dasselbe passierte, was ihr passiert war. Sie spürte, wie ihr beim Gedanken daran die Tränen in die Augen stiegen und dann ihre Wangen hinabliefen. Sie sagte zu sich: »Ich möchte am liebsten sterben.« Die Kinder hielten sich bei den Händen. Lydia sagte: »Warum seid ihr nicht in der Schule, Kinder?« (Obwohl er am Ende des ursprünglichen Absatzes angelangt war, fügte Gary noch zwei Absätze hinzu, um den in der Aufgabe angegebenen Textumfang zu erreichen.) Sie setzte sich mühsam auf. Unwillkürlich schaute sie an sich hinunter und betrachtete ihre riesigen Brüste, die sich über ihren riesigen Bauch ergossen. Sie sagte im Geiste zu sich: »In diesem großen Körper steckt eine hübsche, dünne Frau, die herauswill. Wenn sie es erst einmal geschafft hat, auszubrechen, dann werde ich mich besser um meine Kinder kümmern können und auch wieder attraktiv sein für 207
meinen Mann Lyle, der ein so vielversprechender Elektrotechnikstudent war, und der jetzt in einer Fabrik arbeitet und dort schikaniert wird und immer deprimiert ist.« Frankie kam zu ihr ans Bett. Er sagte: »Wir haben Hunger, Mama.« Ende Gary schob sich nachdenklich eine Handvoll Popcorn in den Mund und nahm einen Schluck von seinem McShake. Er fand, daß Lydia jetzt ein viel runderer Charakter war. Erstens war sie traurig, weil sie so dick war, und dann wollte sie wirklich eine gute Mutter sein. Bei der Sache mit den Drüsen war er sich nicht ganz sicher, aber er hatte gehört, wie seine Großmutter und ihre Schwester das über eine Nachbarin gesagt hatten. Wenn es Monahan nicht gefiel, konnte er die Stelle immer noch ändern. Ausgerechnet an diesem Abend hatten Lydia und Lyle einen Riesenstreit gehabt, hier in der Wohnung, und Gary hatte überlegt, ob er den irgendwie einbauen könnte, aber es war dabei nicht um ihr Übergewicht gegangen, sondern um die Bettwäsche auf Lyles Bett, die schmutzig war, weil er schon vier Wochen lang keine Wäsche mehr nach Hause geschickt und außerdem beim letzten Mal die Bettwäsche vergessen hatte. Gary war mehr oder weniger einer Meinung mit Lydia, die fand, daß Lyles Lösungsvorschläge (auf der Bettdecke zu schlafen und sich mit seinem Schlafsack zuzudecken, den Schmutz einfach zu ignorieren, im Bett ein paar Kleidungsstücke anzubehalten – Lösungen, die Lyle für sich selber durchaus annehmbar fand) allesamt ekelerregend waren und zudem schwerwiegende Charakterschwächen offenbarten. Gary war ebenfalls der Meinung, daß diese Lösungsvorschläge für Lydia eine Zumutung waren. Und er wußte – was Lydia nur vermutete –, nämlich 208
daß Lyle darauf spekulierte, daß sie, wenn die Bettwäsche erst einmal richtig schwarz war, schon nachgeben und sie waschen würde, denn Lyle hatte das Gary gegenüber zweioder dreimal erwähnt, während er schluckweise aus der Milchtüte trank; er wollte ihre Beziehung auf die Probe stellen. Gary hatte Lyle sogar angeboten, ihm zu zeigen, wie man Wäsche wusch; bei Lyles Wäsche konnte man kaum etwas falsch machen, denn alle seine Sachen, inklusive seiner Jeans, bestanden zu mindestens fünfzig Prozent aus Polyester und würden garantiert weder einlaufen noch abfärben. Das waren Dinge, die Garys Ansicht nach schwer in eine Geschichte einzubringen waren. Schlimm genug, daß Lydia weder dick noch launisch war, und schlimm genug, daß Lyles Transformation vom Elektrotechnikstudent zum Fabrikarbeiter vermutlich nur durch eine Gehirntransplantation zu erreichen wäre. Aber viel schlimmer war, daß Garys persönliche Loyalität auf unberechenbare Weise immer wieder verrutschte und dadurch die erzählerische Kontinuität durcheinanderkam. Und das schlimmste war, daß er es jetzt nicht mehr lassen konnte, Lyle und Lydia zu beobachten. Früher war er ihnen aus dem Weg gegangen, aber jetzt waren die beiden für ihn zu einer Obsession geworden. War es bloßer Zufall, daß er jedes Gespräch mitanhörte, sich notierte, was sie anhatten und was sie aßen, und daß er Lyles Tagesablauf (nicht gerade erbaulich) aus dem Effeff kannte? Bestimmt nicht. Natürlich konnte er Professor Monahan für diese Obsession verantwortlich machen – schließlich ritt er dauernd darauf herum, wie wichtig Einzelheiten und eine genaue Beobachtungsgabe waren, aber Gary wußte genau, selbst wenn Professor Monahan und das Englischseminar 325 sich buchstäblich in Luft auflösten, würde ihm diese Sache noch lange zu schaffen machen. 209
Dabei hatte er nicht die geringsten Aussichten, eine Eins zu bekommen. Das war das allerschlimmste: er wußte, seine Geschichte war schlecht, und dennoch ließ sie ihm keine Ruhe. Er drückte die Befehle für ›Speichern‹ und ›Quit‹ auf seiner Tastatur, und dann stand plötzlich Lydia vor ihm. Sie zerwühlte sein Haar und sagte: »Was machst du da?« »Vielleicht schreibe ich eine Geschichte über dich? Wie fändest du das?« »Mach das bloß nicht.« »Okay.« »Okay. Hör mal, hast du Lysistrata gelesen, das Theaterstück?« »Klar.« »Gut, dann erkläre es bitte Lyle, wenn er wiederkommt. Erklär ihm, daß ich deshalb meine Sachen wieder in mein Wohnheim gebracht habe. Wir seh’n uns.« »Wirklich?« »Wirklich.« »Wirklich und wahrhaftig?« »Mit Lyle Karstensen bin ich fertig.« Er schaute sie an. Sie sah nicht besonders bestürzt aus. Sie sah aus, wie Mädchen aussahen, wenn sie mit Höchstgeschwindigkeit das bekannte Universum verließen, ohne die geringste Angst dabei zu haben. Diese Eigenschaft hatte er bisher nur bei Mädchen festgestellt, und sie war einer der Gründe, warum er Mädchen so sehr mochte, aber wie sollte er das in seiner Geschichte unterbringen? Er sagte: »Ich hoffe, ich seh dich ab und zu.« »Wir werden sehen, Gary, okay?« »Okay.« 210
Sie hob ihre Tasche auf und öffnete die Tür. Nachdem diese sich hinter ihr geschlossen hatte, lud Gary erneut seine Datei. Er konnte einfach nichts dagegen machen.
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26 Unordnung AM NÄCHSTEN MORGEN um kurz vor sieben erschien Lyle, wie an jedem Morgen von Dienstag bis Samstag, mit einer weißen Tüte Donuts zwischen den Zähnen und einem Halbliterbecher schwarzem Kaffee in der Hand zur Arbeit im Auroch-Copyshop. Alles war wie immer, außer daß, wenn er richtig verstanden hatte, Lydia wegen irgendeines Theaterstücks, von dem er nie etwas gehört hatte und das sie und Gary gemeinsam gelesen hatten, obwohl sie kein einziges Seminar zusammen besuchten, mit ihm Schluß gemacht hatte. Dieser Umstand bestätigte einen Verdacht in bezug auf Gary, den Lyle den ganzen Herbst über gehegt hatte, nämlich daß Gary hinter Lydia her war und heimlich gegen ihn, Lyle, Stimmung gemacht hatte, wann immer er ihm den Rücken zukehrte. Das Argument mit der Bettwäsche war nicht sehr überzeugend – es kam zu plötzlich. Der Kollege von der Nachtschicht ging, und sobald er weg war, packte Lyle seine sechs Donuts aus und baute sie in einer Reihe vor sich auf – Ahornsirup-Nuß, Puderzucker, Kirsch, Schokoglasur, Zuckerguß und ohne alles. Das Frühstück, das wußte er, war die wichtigste Mahlzeit des Tages. Trotzdem, auch wenn er Lydias Argument mit der Bettwäsche nicht gelten ließ, mußte er doch zugeben, daß sich der Dreck um ihn herum immer höher türmte und es langsam Zeit wurde, ihn abzutragen. Hier im Copyshop zum Beispiel waren die Körbe randvoll mit nicht abgeholten Kopiervorlagen, Büchern aus privaten und öffentlichen 212
Bibliotheken und nicht abgeholten Stapeln von Fotokopien. Die vom Hauptgeschäft in Ann Arbor festgesetzten Regeln waren unmißverständlich – jede Woche sind alle Originale dahin zurückzuschicken, wo sie herkommen, Broschüren und Lehrmaterialien sind für die Dauer des Semesters oder des Quartals im Lagerraum zu verwahren, und private Materialien sind einundzwanzig Tage lang aufzuheben – wobei der Kunde einmal pro Woche angerufen werden soll –, dann wegzuwerfen. Daß er sich an diese Regeln halten mußte, stand unter Punkt 3 in Lyles Aufgabenbeschreibung, aber seine eigenen Regeln waren einfacher – nach ein paar Monaten wurde alles weggeschmissen, abgesehen von Büchern aus der Universitätsbibliothek oder der öffentlichen Bücherei. Wenn zufällig ein erzürnter Kunde vorbeikam, während Lyle Dienst hatte, hielt er sich an die Regel, zu behaupten, er arbeite erst seit ein paar Tagen hier. Wenn der Kunde ihn wiedererkannte (was schon vorgekommen war), dann pflegte er zu sagen, er sei eine Zeitlang im Krankenhaus gewesen und erst seit kurzem wieder im Laden (den er natürlich in heillosem Durcheinander vorgefunden hatte). Heute war der große Tag. Zugegeben, es war äußerst belebend, und umweltbewußt dazu, die ganzen Stapel von Unterlagen in die riesige Recyclingtonne im Hof zu befördern, die bunten Hefthüllen abzureißen, die Fächer voller Keats-Gedichte, Hausarbeiten über Agrarwirtschaft und Fischereikunde auszuleeren, die Bücher in Kartons zu verpacken und an die Leihstelle der Universitätsbibliothek zu adressieren (sie waren dort immer sehr dankbar). Man fühlte sich dabei, als würde man wieder jünger, als könne man so den ursprünglichen Zustand von makellos weißem Druckpapier und nagelneuen Kopiergeräten, deren Zähler auf Null standen, von frisch gefüllten 213
Heftern und dem ersten Dollar in der Kasse (da drüben an der Wand, in Folie eingeschweißt und mit dem Datum 1. September 1982 versehen) wiederherstellen. Wenn Lydia ihn jetzt sehen könnte. Im Handumdrehen hätte sie die Bettwäsche abgezogen. Jetzt kam das Fach für »Großformate« dran, und er zog ein paar Konstruktionspläne von jemandem namens Joe Miller heraus, ohne Telefonnummer. Er hatte eine gewisse Achtung vor Plänen, denn er hatte im Laufe der Jahre in seinen Ingenieurkursen selber welche gezeichnet. Aber bei diesen hier ließ sich nicht einmal sagen, wo oben und unten war – die Erklärungen waren kreuz und quer daraufgeschrieben, es gab keinen Maßstab und keine Überschrift. Sonderbar. Vielleicht irgendeine Maschine. Er drehte das Blatt und untersuchte die Zeichnung genauer. Ein Fahrradreifen. Eine Kompressorschaufel. Ein Leitungssystem. Er drehte das Blatt erneut, und vertrautere Gegenstände wurden sichtbar – ein paar Keilriemen und ein Getriebe, eine große Walze. Die Klingel über der Tür läutete. Lyle legte die Pläne zurück in das Fach für Großformate. Sie waren vermutlich das Interessanteste, was ihm je im Auroch-Copyshop zu Gesicht gekommen war. Als er zur Theke hinüberging, spürte er, daß sein Aufräumbedürfnis für mindestens vier Wochen gestillt war. Das war ihm auch ganz recht. Die Kundin nahm ihren Hut ab und lächelte. Rotes Haar fiel in Wellen auf ihre Schultern. Sie sagte: »Es wäre einfach super, wenn du ein ganzes Buch für mich kopieren könntest.« Er sah sie mit strengem Blick an. »Hast du die Genehmigung des Verlags?« »Was? Nein, aber ich brauche es unbedingt. Ich falle in 214
diesem Kurs sonst durch, bloß weil die Dozentin so realitätsblind ist! Wir müssen diese ganzen Bücher aus dem Handapparat lesen, und es ist so hart, in die Bibliothek zu gehen. Aber es ist mir gelungen, das Buch für zwei Stunden zu kriegen!« Sie öffnete den Reißverschluß ihrer Jacke, zog das Buch hervor und legte es auf die Theke. Auf dem Deckel stand unübersehbar »Handapparat – Zwei-StundenAusleihe, bitte nicht aus dem Lesesaal entfernen«. Sie lasen den Vermerk gemeinsam. Es war ein dickes Buch, vermutlich dreihundert Seiten oder mehr. Lyle sagte: »Das ganze?« »Ja, ist das nicht furchtbar? Als sie uns mitteilte, wir mußten das ganze Buch lesen, dachte ich, o nein, ich krieg zuviel!« »Du kannst das Gerät dort hinten an der Wand nehmen.« »Aber ich muß ins Seminar! Ich bin total im Streß. Ich würde dir das nie vergessen. Bitte!« Ihre Lippen waren perfekt mit Lippenstift und Gloss nachgezogen. Sie wölbten sich schmusig über dem »B« des Wortes »bitte!« und öffneten sich dann langsam zum »i«. Lydias Lippen waren ja eher schmal gewesen. Das Mädchen hob ihr langes rotes Haar im Nacken an. Lyle sagte: »Mal sehen. Komm nach dem Seminar wieder.« Er hatte die ganze Zeit nicht ein einziges Mal gelächelt. Das hob er sich für später auf. Sie legte ihre kleinen behandschuhten Hände auf seine Wangen, und er spürte die weiche Wolle. Sie sagte: »Oh, danke. Du bist süß.« »Ich sagte ›mal sehen‹.« ›Was daraus werden kann‹, führte er den Satz im Geiste zu Ende. Wenn er heute seine Wäsche abschickte, überlegte er, könnte er sie am Samstag zurückhaben. 215
SOGAR SHERRI mußte zugeben, daß die zwei Monate, in denen sie versucht hatte nachzuholen, was sie zu Hause versäumt hatte, sich allmählich zu rächen begannen. Bis zu den Semesterzwischenprüfungen zum Beispiel – sie erschienen ihr wie eine Mauer, die mit rasender Geschwindigkeit auf sie zukam – waren es nur noch zehn Tage. Im Augenblick jedoch hielt sie nur das Steuer umklammert und sah sie schreckerfüllt auf sich zukommen, wie gelähmt von ihrem absehbaren Versagen. Sie fragte sich, ob man wohl sofort hinausgeworfen würde oder ob sie einen bis zum Ende des Semesters verletzt und blutend herumstolpern ließen, aber sie traute sich nicht, jemanden danach zu fragen, denn sobald sie jemanden fragte, würde man ihr Mut zusprechen, sie aufbauen, ihr den Rücken stärken, und dann mußte sie tatsächlich anfangen, den ganzen Stoff nachzuholen, und es war immer noch einfacher, wenn auch furchterregend, allein von einem Tag zum nächsten zu taumeln und dabei genau zu wissen, wie schlecht man in allen Fächern war. Andererseits sah sie ausgesprochen gut aus. Schüler aus ihrer alten Schule erkannten sie nicht einmal wieder. Sie, die früher dick gewesen war, war jetzt schlank. Sie, deren Haare früher glatt und hellbraun gewesen waren, hatte jetzt einen roten Lockenkopf. Sie, deren Gesicht unheilbar rund gewesen war, hatte jetzt Wangenknochen und dazu sichtbare Schlüsselbeine, Hüftknochen, Knöchel und einen Spann. Sie, die früher jeden Abend um genau neun Uhr einen langweiligen Anruf von Darryl entgegengenommen hatte, wußte jetzt nie, wer anrief, wenn das Telefon klingelte, und wer immer es war, rief nicht an, um herumzujammern wie Darryl: nein, nein, sie riefen an, um mit ihr zu scherzen und zu flirten und sie zu überreden, sich mit ihnen zu verabre216
den, und zwar nicht zum gemeinsamen Lernen in der Bibliothek. Die Sache war die, Mary war auf diesen Palästinenser fixiert, und Diane war aus irgendeinem Grund total in Big Bob verknallt, der kein bißchen anders war als die Jungen, die Sherri von zu Hause kannte, aber Sherri hatte sich für einen bestimmten Lebensstil entschieden, und den liebte sie mit der gleichen tiefen und romantischen Hingabe, mit der die anderen ihre Freunde zu lieben schienen. Die Vorzüge dieses Lebens waren minimaler Sex bei maximaler Zuwendung, abwechslungsreiche Freundschaften und Partybekanntschaften, eine Menge Action von der Sorte, wie sie Eltern gerne verboten – nicht mal unbedingt Drogen und Alkohol und Sex, sondern nach Herzenslust rumflippen und kreischen und singen und ganz einfach eine Menge Spaß haben. Sie ging nicht ins Seminar, wie sie Lyle gesagt hatte, sondern zurück in ihr Zimmer in Dubuque House. Wenn man sich vor seinen Pflichten drückte, konnte man auch das auf dem College haben – ungestört sein, ein hübsches kleines Nickerchen halten. Sie wickelte sich in Keris Wolldecke und ließ sich auf ihr Bett fallen. Schon bald durchströmte sie das wohlige Gefühl der Selbstvergessenheit, das sie so liebte.
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27 Teilnahme erwünscht DIE FOUNDATION FOR B LACK E NDEAVOR ließ sich nicht lumpen. Das stellte Margaret Bell bei näherer Betrachtung des Briefumschlags fest, den sie gerade in ihrer Post gefunden hatte, und sie wurde sofort mißtrauisch. Die Mitteilungen der Organisationen, denen sie vertraute, von Pamphleten über verschmierte Fotokopien bis hin zu vervielfältigten Rundbriefen, waren IMMER Billigfabrikate; sie waren auf den ersten Blick als marginal und daher vertrauenswürdig zu erkennen – die Spinner zeigten sich offen als Spinner, und die Vernünftigen und Ernsthaften waren auf ehrliche Weise vernünftig und ernsthaft. Aber ein Brief von der Foundation for Black Endeavor, einer Organisation, von der sie noch nie gehört hatte, war der Beweis dafür, daß sie auf irgendeine unselige Verteilerliste geraten war und daß ES jetzt losgehen würde. In Amerika war dies die verbreitetste Form des Verrats. Sobald man etwas erreicht hatte, irgend etwas, das ihre Aufmerksamkeit erregte, versuchten sie sofort, einen seinem angestammten Milieu zu entfremden. Margaret war mit Sicherheit von der Universität verraten worden, die die Namen derer weitergegeben oder verkauft haben mußte, die auf eine volle Professorenstelle befördert worden waren. Es war ein persönlicher Brief auf edlem Briefpapier, eine Einladung, im März auf der Konferenz der Foundation for Black Endeavor im Stouffer Orlando Resort einen Vortrag zu halten. Ihre Flugkosten würden von der Stiftung übernommen, ebenso die Kosten für die Unterbringung. 218
Ganz oben in der Spalte mit den Vorstandsmitgliedern stand der Name Thomas Sowell. Dann folgte eine Namensliste, die ihren schlimmsten Alpträumen hätte entstammen können – Linda Chavez, Arch Puddington und zwanzig andere, die ebenso furchtbar waren. Die geheime Losung für die Mitgliedschaft in diesem Gremium war vermutlich eine abfällige Bemerkung über Toni Morrison, die Margaret für eine Göttin hielt. Ihr Blick fiel auf das Wort »Tagegeld«, dann auf die Worte »Ich kenne Ihre Arbeit und bin ebenso wie der Vorstand der Ansicht, daß Ihr Beitrag eine außerordentliche Bereicherung für unsere diesjährige Konferenz wäre, von unschätzbarem Wert für die Arbeit unserer Organisation«. Obwohl sie gegen diese Mischung aus Schmeichelei und Bestechung natürlich immun war, fühlte sie doch einen Anflug von Ärger. »Daher hoffen wir sehr, daß Sie uns die Ehre erweisen werden, auf unserer Veranstaltung zu sprechen.« Margaret stieß laut ein vernichtendes »Ha!« aus. »Ich habe den Vortrag gehört, den Sie im letzten Dezember bei der Jahrestagung der MLA über sich überschneidende literarische und politische Kontinuen in Minderheitenliteraturen gehalten haben, und ich war außerordentlich beeindruckt.« Hier stand Margaret auf, durchquerte einmal ihr Büro und kehrte dann zu ihrem Schreibtisch zurück. Sie spürte, wie sie weich wurde. Oh, verdammt!, sie wurde weich, weil ihr dieser Vortrag ebenfalls viel bedeutet hatte. Es war so wunderbar gewesen, die Idee in sich wachsen zu spüren, und sie hatte ihn mit Stolz gehalten, ihren ersten Vortrag bei der MLA. Und anschließend hatte sie das Gefühl gehabt, nicht genügend beachtet worden zu sein, denn natürlich hatte es zu viele Vorträge über zu viele verschiedene Themen von zu vielen selbstverliebten Anglistikprofessoren an zu vielen sich überschneidenden Ter219
minen gegeben. Sie hatte sich dazu verleiten lassen, etwas zu tun, von dem sie sich geschworen hatte, es niemals zu tun: sie hatte die Fragen gezählt (es waren vier gewesen), die ihr hinterher gestellt wurden, und die Anzahl als Maßstab für das Interesse genommen, das sie geweckt hatte. »Ich habe Ihre beiden Bücher gelesen, das zweite sogar zweimal. Sie müssen einfach kommen! Wir brauchen Leute wie Sie, die dieser Konferenz das Profil geben, das wir uns wünschen.« Margaret fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Florida. Im März. Das Stouffer Orlando Resort. Sie griff nach dem Telefon, wählte die Nummer der Vermittlung und benutzte dann ihre Kreditkarte, um das Stouffer Orlando Resort anzurufen. Es meldete sich eine gewohnheitsmäßig einschmeichelnde Stimme. Die Zimmerpreise? In der Hochsaison? Ja, natürlich. Doppelzimmer 425 Dollar pro Nacht, Suiten 595 Dollar. Haben Sie noch weitere Fragen? Margaret ließ ihre Stimme so schwarz und so sehr nach Arkansas wie möglich klingen und fragte, ob in der zweiten Märzwoche noch Zimmer frei wären. Der junge Mann ließ sich nichts anmerken. »Gewiß, Ma’am. Soll ich für Sie reservieren? Ja, rufen Sie bitte wieder an. Wir würden uns freuen, Sie hier begrüßen zu dürfen. Nein, ICH habe zu danken.« Im Stouffer Orlando Resort war Grün offenbar die einzige Farbe, die eine Rolle spielte. Margaret las den Brief noch einmal. Margaret war nicht besonders angetan von der jüngsten Strömung in der Literaturtheorie, die in einem literarischen Werk (Text) mit Begeisterung nach formalen und/oder stilistischen Widersprüchen suchte, um diese für den Nachweis heranzuziehen, daß der Text keine Bedeutung 220
habe. Der Gedanke, daß, so wie in jeder Sprache die einzelnen Wörter ihre Bedeutung nur in Beziehung zueinander entwickeln, auch die Bedeutung aller Aspekte eines literarischen Werkes (Textes) nur in der Beziehung dieser Aspekte zueinander existierte, klang in Margarets Ohren ganz ähnlich wie die nicht weniger fadenscheinigen Analogiebeweise, mit denen sie aufgewachsen war: Gott, der »Vater«, schwarze Männer als »Jungen«, der Mann als der »Kopf« der Familie. Sie hielt es für keinen Zufall, daß Vorstellungen, die die Rolle des Autors bagatellisierten, zu genau derselben Zeit aufkamen, zu der vormals nicht vernehmbare Stimmen sich zu Wort meldeten, die dem Akt des Schreibens und des Veröffentlichens die tiefste und köstlichste Bedeutung zumaßen, und daß zu genau derselben Zeit ein Publikum auftauchte, für das der Akt des Lesens und Denkens ein Akt der Skepsis war, und gelegentlich eine Vorstufe zur Gewalt. Ein BUCH, so hatte sie in ihrem Vortrag betont, war ein käuflicher Gebrauchsgegenstand. Von einem gewissen Grad der Bekanntheit an zahlte die Öffentlicheit dafür, entweder mit Geld oder mit Ruhm, selten mit beidem. Alle amerikanischen Buchautoren (oder Filmemacher) hielten sich für Künstler, denn sie definierten die Kunst als eine kreative Manipulation von Material. Durch die Zufälligkeit der Erbanlagen, der Erziehung, des psychologischen Profils und des Temperaments befand sich jede Künstlerin (jeder Künstler) mehr oder weniger in Konflikt mit den vorherrschenden kulturellen Normen und Formen. Eine Wahlmöglichkeit bestand dabei ebensowenig wie bei den eigenen Fingerabdrücken. Künstlerinnen (oder Künstler) aus dem kulturellen Mainstream hatten ihren Platz auf einem einzigen Kontinuum. Wenn sie mit den kulturellen Normen und Formen in Einklang waren, bestand ihre Belohnung in Geld 221
und nicht in Ruhm (Danielle Steel), und wenn sie sich in Konflikt mit den kulturellen Normen und Formen befanden, bestand ihre Belohnung in Ruhm und nicht in Geld (Ishmael Reed). Die Unstetigkeit der amerikanischen kulturellen Normen und Formen war jedoch wohlbekannt, so daß alle Schriftstellerinnen (und Schriftsteller), außer denen, die sich wirklich vollkommen abgeschottet hatten, hoffen (fürchten) konnten, das niemals ruhende Spotlight des öffentlichen Interesses werde sich eines Tages auch auf sie richten. Die Komplikation für die Minderheiten, so hatte Margaret ausgeführt, bestand diesem Modell zufolge darin, daß deren Schriftstellerinnen (oder Schriftsteller) eigentlich auf zwei Kontinuen in Beziehung zum kulturellen Mainstream angesiedelt waren, und daß diese zwei (oder mehr) Kontinuen bereits in einem Spannungsverhältnis standen. Jedes Buch (jede kulturelle oder kommerzielle Handlung) beeinflußte die Position der Schriftstellerin (des Schriftstellers) auf beiden Kontinuen. Und in dem Maße, in dem die Schriftstellerin (der Schriftsteller) ihre (seine) Unbekanntheit verlor, wurden die Botschaften, die ihr (ihm) durch die beiden einzigen kulturellen Informationskanäle, Geld und Ruhm, übermittelt wurden, eindringlicher und widersprüchlicher. Margaret hatte diesen Effekt nicht als eine Verschwörung der Kultur gegen die Minderheitenschriftstellerinnen (die Minderheitenschriftsteller) dargestellt, sondern als das unvermeidliche Ergebnis einer gesellschaftlichen Situation, in der eine Kultur dominiert, während viele andere Kulturen nur unvollständig integriert sind und sich teilweise mit der herrschenden Kultur in Konflikt befinden. Drei der vier Fragen, die nach dem Vortrag gestellt wurden, waren feindselig gewesen und hatten durchklingen 222
lassen, daß sie ein verharmlosendes Bild der herrschenden Kultur gezeichnet hatte. Ihr Doktorvater aus Harvard hatte ihr den Rat gegeben, diese Feindseligkeiten mehr als Ruhm denn als Geld zu verbuchen, und bemerkte später beim Abendessen, daß der Mittlere Westen sie anscheinend »weichgemacht« habe. Es war ihr nicht bewußt gewesen, daß er sie zuvor als »hart« empfunden hatte. Und nun wollte man sie als Rednerin für eine offenkundig konservative Vereinigung gewinnen. Margaret schaute aus dem Fenster ihres Büros. Sie spürte, daß sie eine Schwelle überschritten hatte, von deren Existenz sie nichts gewußt hatte. Oder daß genau das eingetreten war, was ihr Denkmodell vorhersagte: Eines der ruhelos umherhuschenden Spotlights des Kulturbetriebs (gewiß eines von den allerkleinsten und schwächsten) war auf sie gefallen. Sie seufzte. Natürlich war es eine Sache, etwas zu wissen, und eine andere, sich diesem Wissen gemäß zu verhalten, indem man beispielsweise eine Gratisreise in einen Erholungspark in Orlando ablehnte. In einem anderen Gebäude auf dem Campus, das Margaret zwar sehen konnte, das sie jedoch nicht hätte identifizieren können, schaute Dr. John Cates ebenfalls aus dem Fenster, aber er telefonierte dabei. Dr. Cates, Professor der Chemie, war ein Mann, der sich nie mit Literaturtheorie beschäftigt hatte. Er sagte: »Ja. Ja, sicher. Ich habe einen sehr interessanten Vortrag, er ist fast fertig. Oh, und meine Frau und mein Sohn werden mich nach Orlando begleiten. Ihr Angebot, die Flugkosten zu übernehmen, schließt sie doch sicher mit ein. Wir hätten gerne eine Suite. Sehr schön. Danke. Und wenn Sie bitte veranlassen würden, daß für die beiden bei unserer Ankunft zwei Eintrittskarten für 223
Disneyworld am Empfang bereitliegen – Wunderbar. Eine Drei-Tage-Karte dürfte selbst ihn zufriedenstellen.« Cates lachte fröhlich. »Nun, es gibt zur selben Zeit noch eine andere Konferenz, von der Societá Italiana di Fisica. In Rom. Ja. Oh, ja, alle Kosten werden übernommen. Ich hatte geplant, meinen Vortrag dort zu halten, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, definitiv zuzusagen. Gut. Ich wußte, Sie würden das verstehen. Da wäre ich wirklich sehr erleichtert. Ich hasse zwar den Jetlag, aber…« Er schwenkte seinen Stuhl einmal ganz herum, dann wieder zurück, hörte zu, lächelte und sagte: »Dann wäre also alles geregelt. Auf Wiederhören. Oh, ach ja. Eine letzte Bitte noch. Sea World. Drei Tageskarten für Sea World. Ausgezeichnet. Vielen Dank, Sie waren sehr entgegenkommend.«
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28 Vernetzung I M L AUFE DER JAHRE hatte sich Mrs. Loraine Walkers Vorstellung vom Campus verändert. Wenn sie jetzt an die Universität dachte, sah sie nicht mehr eine Ansammlung von Gebäuden aus Stein vor sich, sondern ein Netz aus hellerleuchteten Büros, in denen Sekretärinnen saßen, und daran angrenzenden, wesentlich dunkleren Räumen, in denen Verwaltungsbeamte saßen, die nur über geringe Kenntnis der Vorgänge an der Universität verfügten. Früher waren die Fäden, die die Sekretärinnen miteinander verbanden, Telefonleitungen gewesen, und man mußte, wenn man eine Verbindung herstellen wollte, immerhin den Hörer abnehmen, die Nummer eines Anschlusses wählen und dann die Begrüßungsworte, die guten Wünsche und das müßige Geplauder hinter sich bringen, ehe man zum Wesentlichen kommen konnte. Das war inzwischen vorbei. Die einzigen, die noch Telefongespräche führten, waren die Verwaltungsbeamten, deren gesamtes Leben wie das der Schimpansen aus kleinlichem Gezänk und dem Kampf um den höchsten Platz in der Rangordnung bestand. Die Sekretärinnen waren per Computer miteinander verbunden. Mrs. Walker und ihre Kolleginnen lebten in einem Universum von Informationen, das sich wie Luft überallhin ausbreitete, und Mrs. Walker achtete sorgfältig darauf, über die Wetterfronten, die diese Atmosphäre durchquerten, stets auf dem laufenden zu sein. All die Steinmauern und Betonwege, die geschlossenen Fenster und Türen, die Bäume und Sträucher, die die Menschen auf dem Campus scheinbar voneinander trennten, waren zu durchlässigen Membranen gewor225
den, durch die die Informationen ungehindert hindurchströmten. Zur Zeit wurde ihr aus verschiedenen Richtungen zugetragen, daß Arien Martin und die TransNationalAmerica Corporation schon auf dem Campus präsent waren, oder es zumindest bald sein würden. Sie begriff, daß sie sich über den Grund seines Treffens mit Ivar getäuscht hatte. Sie war von der optimistischen Annahme ausgegangen, daß Mr. Martin sich um Ivars Zustimmung bemüht hatte, weil sie notwendig war. Sie hatte inzwischen erkannt, daß sie bestenfalls wünschenswert gewesen war, und vielleicht nicht einmal das, vielleicht war sie nur eine Formsache oder sollte Signalwirkung haben. Tatsache war, daß kein Mitglied des Lehrkörpers Ivars Zustimmung benötigte, um Fördermittel zu akquirieren oder sie anzunehmen. Das Büro des Kanzlers bemühte sich, gemäß den Universitätsrichtlinien, um die Wahrung von geistigem Eigentum und ethischen Grundsätzen bei Forschungsvorhaben, und wenn es zu einem Skandal käme, würde das Büro des Kanzlers eingeschaltet werden und sich um die Konsequenzen kümmern, aber es wurde allgemein angenommen, daß Mitglieder des Lehrkörpers in dieser Hinsicht sachkundig und verantwortungsbewußt handelten, und Ivar war anderen Menschen gegenüber, wie Mrs. Walker zugeben mußte, wohlwollend genug, um ebenfalls von dieser Annahme auszugehen. Er glaubte auch fest an die akademische Freiheit, was in Mrs. Walkers Augen dasselbe war wie der Glaube an die Gesetze von Angebot und Nachfrage und an die Selbstregulierungskräfte des Marktes. Mrs. Loraine Walker konnte man nicht so leicht den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. Ihre eigenen Richtlinien über die Wahrung von geistigem Eigentum und ethischen Grundsätzen bei Forschungsvorhaben waren ziemlich 226
streng und hatten zum Ziel, ihr Büro vor Krisen zu schützen, zu denen es infolge von Unfähigkeit, Nachlässigkeit oder Eigennützigkeit seitens der Dozenten kommen konnte, die im allgemeinen aufgrund von Festanstellung, automatischen Gehaltserhöhungen und anderen Vorzügen der Universitätslaufbahn von den Konsequenzen ihres Handelns verschont blieben. Wegen der augenblicklichen Finanzkrise entsprach es ebenfalls den Tatsachen, daß Ivar allzu erleichtert über jede gute Nachricht in Geldangelegenheiten war und seine Aufmerksamkeit allzu panisch auf die Entscheidungen des Hochschulausschusses und des Bundesstaats-Parlaments richtete. Seine Urteilskraft war sowohl von Ängsten als auch von Wünschen getrübt. Als langjährige Angestellte im öffentlichen Dienst, als Funktionärin der AFSCME, als voll anspruchsberechtigtes Mitglied eines Pensionsfonds und als Besitzerin eines Mehrfamilienhauses in der Nähe des Campus, das restlos abbezahlt war und dessen sechs Wohnungen niemals leerstanden, konnte es Mrs. Walker sich jedoch leisten, Ängste und Wünsche zu ignorieren und auf Anstand, Einhaltung ethischer Grundsätze und langfristige Schadensbegrenzung zu achten. Es entsprach ebenfalls den Tatsachen, daß sie sich über die Art und Weise ärgerte, wie Elaine Dobbs-Jellinek sich um Ivars Einverständnis bemüht hatte, um ihn dann, als sie es nicht bekam, zu übergehen, und wie sie zusätzlich noch Mrs. Walkers Autorität untergraben hatte. Besonders eklig behandelte Elaine ihre eigene Sekretärin, die einfältig genug war, sich einschüchtern zu lassen, obwohl sie den Schlüssel zu Elaines gesamtem Informationsmaterial, dem Grundstein der Macht jedes Verwaltungsbeamten, in Händen hielt. Wenn es Elaine gelang, Fördergelder im Wert von vielen Millionen zu beschaffen, würde ihr Benehmen 227
nach Ansicht von Mrs. Walker in Zukunft sicher noch mehr zu wünschen übriglassen. Und Mrs. Walker war sich nicht sicher, ob sie das besonders gerne miterleben wollte. Ihr war klar, daß sie, wie schon so oft, selber etwas unternehmen und dabei heimlich zu Werke gehen mußte. Es gab viele Angelegenheiten, die das Prinzip der akademischen Freiheit berührten und in die sich das Büro des Kanzlers nicht einmal ansatzweise einmischen durfte. Wie sie schon zu Martha gesagt hatte: »Du fragst dich vielleicht, ob die Uni die ganze Mühe überhaupt wert ist. Du fragst dich vielleicht, ob man die Leute dort nicht einfach nach ihren eigenen Vorstellungen herumwursteln lassen sollte. Aber ich kann das nicht mitansehen. Es ist mir zu chaotisch. Und am Ende würde der ganze Schlamassel ja doch bei mir landen. Dafür werde ich langsam zu alt.« Auch wenn es noch zu früh war, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, deutete Mrs. Walker Ivar gegenüber an, daß er die Bedrohung durch Arien Martin nicht abgewehrt hatte. Ivar sagte: »Er hat eben viel Geld.« »Meinen Sie damit, daß er einen großen Knüppel schwingt oder mit einer großen Karotte herumwedelt?« »Gibt es da einen Unterschied?« »Nein, vermutlich nicht, da mich beides wütend macht.« »Wir werden sehen.« »Wir werden sehen?« Ihre Stimme klang ungläubig. »Ich werde mit ein paar Leuten reden.« »Das wäre bestimmt kein schlechter Anfang.« »Wir können nicht sehr viel machen.« »Akademische Freiheit?« »Ja, selbstverständlich.« 228
Sie sah deutlich, daß er sich schon geschlagen gegeben hatte. Sie sagte: »Ich wollte Sie nur darüber in Kenntnis setzen.« »Vielen Dank.« Sie drehte sich abrupt um und schritt aus dem Büro, wodurch sie ihrer Meinungsverschiedenheit mit Ivar deutlich Ausdruck verlieh. Sobald sie an ihrem Schreibtisch Platz genommen hatte, klingelte jedoch das Telefon. Es war Ivar. Er sagte: »Mrs. Walker, ich gehe davon aus, daß Sie stets Vorsicht walten lassen.« »Ja, selbstverständlich.« Und das tat sie auch. Sie klinkte sich lediglich, wenn sie Zeit dazu hatte, in die Dateien der Geflügelforschung ein, um festzustellen, ob in jüngster Zeit Informationen über unorthodoxe (was konnte man allerdings heutzutage noch als unorthodox bezeichnen?) Geflügelfütterungsmethoden weitergegeben worden waren. Oder über Geflügelaufzuchtmethoden. Oder über Geflügelverarbeitungsmethoden. Sie fand nichts. Man konnte entweder davon ausgehen, daß die Dateien blitzsauber waren, oder davon, daß bei der Technik der Hühnerverarbeitung nach menschlichem Ermessen kein Fortschritt mehr zu erzielen war und Arien Martin daher kein Interesse mehr daran hatte. Mrs. Walker selbst kaufte immer freilaufende Hühner von einer Bäuerinnengenossenschaft in einem benachbarten Distrikt, und daher war ihr Interesse, als sie auf Informationen über mögliche Zusammenhänge zwischen der erhöhten Menge von Hormonen in Hühnern aus Geflügelfabriken und der frühzeitigen Menarche bei einer ausgewählten Anzahl amerikanischer Mädchen stieß, eher theoretischer Natur. Aber das Thema Hühner gehörte sowieso der Vergan229
genheit an. Sie hatte sich mit ihnen nur aus Gründen der Sorgfalt befaßt, damit sie sich nicht vorwerfen mußte, das Naheliegendste übersehen zu haben. Aber in Sachen Hühner tat sich nichts. Mrs. Walker hatte im Laufe der Jahre die Bibliothek, und zwar mit ihrer Version von Ivars Unterschrift, beauftragt, so viele auf dem Markt befindliche Datenbanken wie möglich zu erwerben. Sie hatte dafür sogar gelegentlich Gelder des Sportetats auf den Bibliotheksetat übertragen, was ihre bisher gefährlichste Geheimaktion gewesen war. Das Ergebnis war jedoch, daß sie jetzt in ihren Pausen und ihrer knapp bemessenen Freizeit den The Wall Street Journal-Index, Facts on File, Commercial and Industrial bla bla, Acquisitions and Mergers International usw. dazu benutzen konnte, sich nach und nach ein Bild von Arien Martin und der TransNationalAmerica Corporation zu machen. Es gab zahlreiche Artikel über Arien Martin. Er war in der Erteilung von Interviews äußerst freigebig gewesen, von der Bordzeitschrift der USAir, über Life Magazine, Business Week und einer Wochenzeitung aus einem Vorort von Amarillo, Texas, bis hin zu Der Spiegel und der britischen Vogue war alles dabei. Zugleich stellte sein Konzern ein geheimnisvolles und kompliziertes Netz miteinander verflochtener Gesellschaften dar, von denen einige nur aus einem Firmennamen und einem Aufsichtsrat bestanden, während andere richtige Unternehmen waren. Um sich einen Überblick über seinen Besitz und seinen Einfluß zu verschaffen, mußte man zunächst feststellen, welche Namen häufig auftauchten, und dann intuitiv auf die Beziehungen und Aufgaben der damit verbundenen Positionen und Firmen schließen. Nach einer Weile gelang es ihr, sich ein Bild von seiner rastlosen Betriebsamkeit zu machen, und eines seiner Interessengebiete, der Bergbau, kam Mrs. 230
Walker im Vergleich zu den anderen etwas merkwürdig vor. Um Weihnachten herum hatte die TransNationalAmerica Corporation durch zwei Mittelsmänner Seven Stones Mining Corporation, mit Hauptsitz in Denver, Colorado, aufgekauft. Und Arien hatte sehr viel dafür bezahlt. Sie wandte sich wieder dem Wall Street Journal-Index zu und fand dort einen Artikel mit der Überschrift: Die Erzindustrie, früher mächtig genug, um Regierungen zu stürzen, steckt in einer tiefen Krise. Mrs. Walker schaltete auf das E-Mail-Netz der Universität um und hinterließ eine Nachricht für das Medienarchiv der Bibliothek: »Bitte schicken Sie eine Kopie des folgenden Artikels an das Büro des Kanzlers.« Sie führte den Titel an. Ihre Instinkte, die nicht nur von Natur aus gut, sondern auch durch ständige Benutzung geschärft waren, sagten ihr, daß sie, in der Sprache des Bergbaus, auf ein sehr ergiebiges Flöz gestoßen war. Sie schaltete den Computer ab und stand auf. Im Wohnzimmer zeigte die Uhr l:24, und Martha war auf der Couch eingeschlafen. Loraine half ihr hoch und brachte sie ins Schlafzimmer.
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29 Halbzeit I N DEN VERGANGENEN sieben Wochen war Keri bei Dr. Lionel Gifts Vorlesung über die Grundlagen der Ökonomie aufgefallen, wie glücklich er wirkte. Gutgelaunt hüpfte er auf dem Podium herum, und sein Lächeln strahlte durch den riesigen Raum, als besäßen seine Zähne eine eigentümliche Leuchtkraft. Er machte eine Menge Scherze, die meisten davon nicht besonders komisch, aber seine gute Laune war so ansteckend, daß seine Zuhörer trotzdem mit ihm lachten. Die meisten der Studenten waren Jungen, und die Vorlesung schien ihnen großen Spaß zu machen. Keri hingegen blieb distanziert. Sie hatte das Gefühl, als würde Dr. Gift drollige Geschichten über einen vollkommen fremden Planeten erzählen, über den Bizarro-Planeten, die Heimat von Bizarro-Superman. Sie hatte außerdem das Gefühl, daß sie heute – auf dem Semesterplan stand ›Wiederholung zur Halbzeit‹ – zum letztenmal die Chance hatte, sich mit der Bizarro-Welt vertraut genug zu machen, um die Zwischenprüfungen zu bestehen. Sie nahm ihren Platz im Hörsaal ein und legte Schreibzeug und Notizblock bereit. Sie hatte die feste Absicht, alles aufzuschreiben, und was sie nicht verstand, würde sie eben auswendig lernen. Wie üblich folgten Keri, sobald sie den Hörsaal betrat, die Blicke der überwiegend männlichen Vorlesungsteilnehmer. Genaugenommen war ihre Anwesenheit für die erhöhte Aufmerksamkeit der meisten von ihnen verantwortlich. Gift stellte die Aufgabe, aber Keri, die lebensgroße Barbie-Puppe mit einer Stimme wie das beruhigende Sirren der Insekten in einer Sommernacht, stellte die Belohnung 232
dar. Gelegentlich bot ihr der eine oder andere seine Hilfe bei den Hausaufgaben an, aber sie schüttelte nur den Kopf. Wie jede Traumfrau gab sie sich selbständig und unnahbar, verschenkte ihr Lächeln und ihr Wohlwollen mit gleichbleibender, unpersönlicher Freundlichkeit und signalisierte damit, daß sie von sich aus keine Präferenzen hatte – der beste Kandidat würde den Preis gewinnen, und dieser Erfolg allein würde sie schon zufriedenstellen. Wie Dr. Gift sagte: »Freier Wettbewerb führt zu einer optimalen Ausnutzung der Ressourcen.« Die Jungen, die in den wirtschaftswissenschaftlichen Veranstaltungen in der Regel ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein zeigten und einem von Reichtum und Macht bestimmten Leben entgegensahen, leckten sich die Lippen bei diesem Gedanken. Das alles entsprach auf ermutigende Weise den Mythen und Märchen. Die Mädchen aus der Wirklichkeit hatten Präferenzen – ein Resultat des Sündenfalls, der sich in ihrem unvollkommenen Aussehen und ihren unberechenbaren Forderungen niederschlug. Aber wenn man die wirklichen Mädchen hinter sich lassen und diese EINE für sich gewinnen konnte, nun, dann würde man in das Paradies bedingungsloser Liebe, Hingabe und Anerkennung gelangen, nach dem sich jeder von ihnen aus tiefstem Herzen sehnte. Es kam keinem von ihnen in den Sinn, für die Sehnsucht eines anderen Verständnis aufzubringen. Dr. Gift hielt das nicht für ratsam, er hielt Empathie und sogar Sympathie für eine reine Illusion. Seiner Meinung nach war Gleichgültigkeit die einzig mögliche Reaktion auf das Glück oder Unglück eines anderen. Jedes Individuum war um der Wahrheit willen verpflichtet, diese Gleichgültigkeit zu empfinden und sie sogar zu kultivieren, um die Illusion von Sympathie oder Neid zu vermeiden. Und Gleichgültigkeit zu kultivieren, schien tatsächlich ein geeignetes Mittel gegen 233
den Neid zu sein, der die Jungen ihr Leben lang schon plagte. Um den Studenten ihre Persönlichkeit vor Augen zu führen, veranstaltete Dr. Gift zu Beginn des Semesters immer einen Test. Jeder bekam Spielmarken, die einen individuellen Investitionswert von 100 Dollar repräsentierten, durch eine Gruppeninvestition aber 220 Dollar erbringen würden. Diese Summe würde jedoch unter allen Mitgliedern der Gruppe aufgeteilt werden, wobei diejenigen, die nicht investierten, ebensoviel erhielten wie diejenigen, die investierten. Es stand den Investoren frei, statt dessen individuell zu investieren. In diesem Fall erbrachten die 100 Dollar nur den Betrag von 110 Dollar, der allerdings nicht unter der Gruppe (in der sich auch Nichtinvestoren befanden) aufgeteilt werden mußte. Dr. Gift machte selbst den verwirrtesten Studenten klar, daß der individuelle Ertrag bei einer Gruppeninvestition am größten war – vorausgesetzt, daß jeder aus der Gruppe für die Gruppe investierte. Dann befragte er sie, wie sie investieren würden. Das Ergebnis war jedes Jahr nahezu das gleiche: 20 Prozent entschieden sich für die Gruppeninvestition und 80 Prozent für die Einzelinvestition. Wenn er das Ergebnis des Tests bekanntgab, wurde sofort deutlich, wer die Minderheit stellte: Studenten, die nicht besonders gut in Wirtschaftswissenschaft waren. Dr. Gift fiel die Korrelation zwischen guten Leistungen in Wirtschaftswissenschaft und der Entscheidung, sogar unter hypothetischen Bedingungen den eigenen Profit auf Kosten der Gruppe zu maximieren, ebenfalls auf. Er nahm dies als weiteren Hinweis auf das Wesen des Erfolgs. Keri wußte, daß sie in beide dieser unangenehmen Kategorien fiel: sie war nicht gut in Wirtschaftswissenschaft, und sie hatte sich für die Gruppeninvestition entschieden. 234
Am Tag des Tests war es ihr vollkommen einleuchtend erschienen: wenn sie alle für die Gruppe investierten, so würde jeder einen Gewinn von 120 Prozent erzielen. Selbst wenn nur ein einziger mehr als die Hälfte von ihnen für die Gruppe investierte, würden sie immer noch einen größeren Gewinn erzielen als die Einzelinvestoren. Die Rechnung schien vollkommen klar zu sein – sie war überzeugt, daß sie etwas begriffen hatte, und diese Überzeugung stärkte ihr Selbstvertrauen. Als Dr. Gift lächelnd wie immer die Resultate bekanntgab, schien der Bizarro-Planet vollständig aus ihrer Reichweite zu entschwinden, und obendrein war sie vor Verlegenheit errötet. Alle Jungen in ihrer Nähe fanden das entzückend. Bei der Wiederholung ging es überwiegend um wesentliche mathematische Modelle, die Keri einigermaßen verstand. Durch die Ausgewogenheit der mathematischen Gleichungen wirkten diese Modelle rein und wahr und unwiderlegbar. Sie schrieb sie sorgfältig nieder. Dr. Lionel Gift wußte genau, daß er diese Vorlesung geben und die Kunden dabei sogar unterhalten und erfreuen konnte, ohne auch nur einen Gedanken darauf zu verschwenden. Was er ihnen jetzt erzählte, war wie eine Fernsehsendung auf einem anderen Kanal, zu der er umschalten konnte, wann immer er wollte, nur um zu sehen, daß sie immer noch lief und daß er, der Sprecher, sich immer noch an das Skript hielt. Etwas häufiger vergewisserte er sich der Aufmerksamkeit seines Publikums. Bis in die letzte Reihe waren alle Köpfe gesenkt, alle Stifte bewegten sich, gelegentlich nickte jemand. Es rührte ihn, es rührte ihn wirklich: die Weitergabe von Wissen, die feierliche Initiation einer neuen Gruppe von Kunden ins Reich der Wahrheit. Die Verdreifachung seiner Hörerzahl ab dem nächsten Frühjahr war unter mehreren Gesichtspunkten befriedigend. 235
Erstens hatten endlich auch die Bürokraten in der Verwaltung die Anforderungen des Marktes erkannt. Zweitens wären die höheren Einnahmen aus den Studiengebühren, die dadurch seinem Institut zugute kämen, ein triftiger Grund für eine Gehaltserhöhung, ganz gleich, was der Verwaltungsrat in bezug auf den Lehrkörper als Ganzes entscheiden würde (dessen Belange waren Dr. Gift schon aus prinzipiellen Gründen gleichgültig). Und drittens gab es einen immateriellen Gesichtspunkt. Auch wenn er im allgemeinen wenig geneigt war, dem Immateriellen irgendwelche Bedeutung beizumessen, fand er es doch berauschend, wie das Wissen aus seinem Mund strömte und von ihren Augen, Ohren und protokollierenden Händen förmlich aufgesogen wurde. Wieviel berauschender würde es erst sein, wenn dieselbe Menge von Wissen aus seinem Mund strömte, aber von dreimal so vielen Kunden aufgesogen wurde – es wäre fast wie die Speisung der Fünftausend! Dieser Gedanke brachte ihn direkt zurück zu der bohrenden Frage nach dem Wert von Information. Wenn er das Gutachten über den Arien-Martin-Plan abgeschlossen hatte, würde er sich mit Vergnügen wieder grundlegenden Fragen der Ökonomie zuwenden. In jeder Sitzung stellte Keri erneut fest, daß ihre Willenskraft allein nicht ausreichte, um ihre Aufmerksamkeit bei dem Stoff, den Dr. Gift präsentierte, zu halten. Ihre persönlichen, umfassenden Erfahrungen mit der Ökonomie, die sie während der Landwirtschaftskrise in den achtziger Jahren auf der Farm ihres Vaters hatte sammeln können, hatten sie nicht unbedingt gelehrt, daß sich die Marktmechanismen unweigerlich zum allgemeinen Nutzen auswirkten. Als sie in der sechsten Klasse war, hatte ihr Onkel Jack, der mit der Schweinezucht erfolgreich war, auf einer Auktion die Farm ihres Onkels Dwight aufgekauft. Anstatt 236
das Land Dwight zu überlassen oder zu verpachten, hatte er es selbst bestellt (»Er hat sich viel Geld für einen neuen Mähdrescher leihen müssen, sagt er«, tuschelten die Verwandten). Dwight war gezwungen, einen Job auf einer dreihundert Kilometer entfernten Hühnerfarm anzunehmen und zu pendeln. Keris Vater, Sam, und auch ihre Großeltern waren zwischen die Fronten geraten. Ihr Großvater stellte sich auf die Seite von Jack und bewunderte seinen Erfolg. Ihre Großmutter ergriff Partei für Dwight und meinte, das sei wieder einmal typisch für Jack, so sei er schon immer gewesen, er habe nicht mehr Familiensinn als eine Katze. Jack und Dwight würden mit Sicherheit ihr Leben lang nicht mehr miteinander sprechen, jedes Familienfest war von vornherein verdorben, ihre Cousins und Cousinen mußten die abgelegten Kleider ihrer Geschwister tragen und beneideten Keri um alles, was sie hatte oder tat. Ihr Vater, der früher für jeden Spaß zu haben gewesen war, sprach kaum noch ein Wort. Ihre Mutter sagte, es sei unmöglich, mit ihm zusammenzuleben (und Keri wußte, wozu das führen konnte). Der ganze Ort wußte über ihre Familienangelegenheiten Bescheid und redete darüber. Sie hatte keine Ahnung, von welchem allgemeinen Nutzen Dr. Gift so freudestrahlend sprach. Und nach ihren persönlichen Erfahrungen fiel es ihr auch schwer, die Unersättlichkeit des Verbrauchers als die höchste aller Tugenden zu betrachten. Sie erinnerte sich gut an das Leben auf der Farm in ihrer frühen Kindheit, als ihr Großvater, ihr Vater und ihre Onkel die ursprünglichen 400 Morgen noch gemeinsam bewirtschafteten. Sie bestellten die Felder und gingen fischen, sie bestellten die Felder und gingen auf die Jagd, sie bestellten die Felder und gingen auf die Landwirtschaftsausstellung. Ihre Verwandten gehörten zur Hälfte der Elternvertretung der Schule an und waren 237
eng mit ihren Lehrern befreundet. Ihr Vater spielte oft Songs von Hank Williams auf der Gitarre, ihre Mutter sang dazu, und ihr Großvater spielte Mundharmonika. Irgend jemand half immer bei den Projekten der Landjugend – und wenn es das nutzlose Pony und die verrückten Ziegen waren. Später, als ihr Großvater die ursprünglichen 400 Morgen allein bewirtschaftete, ihr Vater seine eigenen 600 Morgen Land besaß und Jack, das unersättlichste Mitglied der Familie, seine und Dwights 780 Morgen bewirtschaftete, waren sie alle Tag und Nacht auf den Feldern, die Saatperiode und die Erntezeit wurden zum Alptraum, die Verschuldung der Familie nahm erstaunliche Ausmaße an, jeder Dollar, den die Farm einbrachte, wurde wieder in die Farm gesteckt, und ihre Mutter und Großmutter mußten eine Arbeit in der Stadt annehmen, damit sie die Lebensmittelrechnungen bezahlen konnten. Ihre Großmutter sagte oft: »Wenn Erfolg so aussieht, dann kann er mir gestohlen bleiben.« Es stimmte zwar, was Dr. Gift sagte: das Land an sich besaß keinerlei Wert, höchstens als Produktionsmittel, aber diese Tatsache löste bei Keri bei weitem nicht die Begeisterung und Freude aus, die sie bei ihrem Professor zu bewirken schien. Das Auf und Ab der Bodenpreise provozierte zu Hause, seit sie denken konnte, Jahr für Jahr unerwartete und geheimnisvolle Stimmungsschwankungen, unkontrollierbare Zyklen von Überraschung und Furcht und die fast rituelle Wiederholung der Worte »die Bank, die Bank, die Bank«. Und dann das wertlose Land an sich. Ihr Vater sorgte sich darum, als ob es tatsächlich einen Wert hätte, als ob es eine Rolle spielte, daß er steile Hänge bestellte, als ob jahrelanger Maisanbau auf denselben Feldern wirklich schädlich wäre, als ob es eine Rolle spielte, daß er umgeknickte Bäume abholzte und Bäche trockenlegte, als 238
ob er nichts von der Tatsache wüßte, die Dr. Gift so begeisterte: daß das Land unerschöpflich war und die Fruchtbarkeit unendlich. Und dann dieses Wort »Markt«. Dr. Gift intonierte das Wort »Markt« wie der Pfarrer daheim das Wort »Schöpfung«. Alles Gute dieser Welt, schien Dr. Gift sagen zu wollen, lag im Markt. Schon ein Detail aus ihrer Kindheit und Jugend wies deutlich darauf hin, daß sie die Prüfung in Wirtschaftswissenschaften niemals bestehen würde: sie hatte sich schon früh angewöhnt, den Raum zu verlassen, wenn ihr Vater den Marktbericht einschaltete. Das Wort »Markt« war ihr verhaßt, egal, ob es sich auf Schweine, Mastrinder, Mais, Sojabohnen oder etwas anderes bezog. »Markt« war für sie gleichbedeutend mit »drohender Untergang«. Am Ende jeder Sitzung war sie wie gelähmt und betrachtete ermattet das Schauspiel, das Dr. Gift auf dem Podium bot. Er war eindrucksvoll, schelmisch, ernsthaft, informativ, und, soweit sie das beurteilen konnte, guten Glaubens. Die Jungen um sie herum waren gefesselt, obwohl gewiß manche von ihnen ähnliche Erfahrungen in praktischer Ökonomie gemacht hatten wie sie. Dr. Gift LIEBTE sie alle. Das konnte man daran erkennen, wie er ihnen täglich auf jede nur erdenkliche Weise verdeutlichte, daß in Amerika jeder Junge, ja sogar jedes Mädchen durch harte Arbeit und ein paar marktwirtschaftliche Grundkenntnisse Erfolg haben konnte. Trotz seiner weltweiten Berühmtheit ließ er sie wissen, daß er ihr persönlicher Retter und Berater war. Sie brauchten bloß die Prüfung zu bestehen, sich erleuchten zu lassen, zu glauben. Aber Keri besaß einfach nicht die Fähigkeit zu glauben, obgleich sie guten Willens war und tief in ihrem Innern spürte, daß der Glaube an die Ökonomie wenn auch nicht 239
zu guten Werken, so doch jedenfalls zu materiellen Gütern führte. Er kam zum Ende, und sie war wieder einmal überrascht, wie schnell die Stunde vergangen war und wie niedergeschlagen sie sich danach fühlte. »Bringen Sie Ihre Prüfungshefte mit«, sagte er. »Ihre Arbeiten werden exakt eine Woche nach der Klausur zurückgegeben. Ich erinnere Sie daran, daß die Arbeiten nach einer strikten statistischen Kurve bewertet werden. Sieben Prozent von Ihnen bekommen also eine Sechs, egal, wie die Arbeit ausfällt. Sie werden es mir vielleicht jetzt noch nicht danken, aber ich hoffe, Sie werden es später tun, wenn Sie zu größerer Weisheit gelangt sind.« Er lächelte, um zu signalisieren, daß dies als ein Scherz gemeint war. Die Kunden lachten, wie es von ihnen erwartet wurde, und in dem allgemeinen Tohuwabohu verschwand die geheimnisvolle blonde Schönheit aus dem Hörsaal.
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30 Eine Feier ANLÄSSLICH SEINER VERLOBUNG hielt Dr. Nils Harstad es für angebracht, möglichst viele Universitätsangehörige in den Genuß seiner Großzügigkeit kommen zu lassen. Zu diesem Zweck hatte er alle, die er jemals kennengelernt hatte, eingeladen, Zeuge seines Glückes zu sein. Einerseits war er ein wenig enttäuscht, daß Marly nur ein paar Mitglieder der Gemeinde sowie ihren Bruder und ihre Schwester von der Nord-Gemeinde eingeladen hatte. Andererseits gefiel ihm die Aura des Geheimnisvollen, die sie dadurch umgab. Er hatte sie gebeten, ein langes, dunkles Kleid zu tragen und ihr Haar hochzustecken. Sie war seinem Wunsch nachgekommen. Auch das gefiel ihm. Es hatte während ihrer etwa einmonatigen Bekanntschaft für ihn keinen Grund gegeben, seine Wahl zu bereuen. Sie hatte ihm gestanden, daß sie nicht ganz so jung war, wie er vermutet hatte, aber er machte ihr daraus keinen Vorwurf. Er war der Gerechtigkeit halber bereit zuzugeben, daß er sich geirrt hatte und daß der Mensch, der ihn enttäuscht hatte, nicht sie, sondern er selbst war. Und wenn das Bild, das er von ihr als Fünfunddreißigjähriger hatte, sich etwas von dem, das er von ihr als Siebenundzwanzigjähriger gehabt hatte, unterschied, dann ließ sich das nicht ändern, und er hatte es vermutlich verdient, daß seiner Eitelkeit ein Dämpfer aufgesetzt wurde. Auch Vater hatte seinen Erwartungen nicht ganz entsprochen, er war nicht besonders weise und rechtschaffen, sondern eher mürrisch und streng, vor allem in bezug auf den wahren Glauben, frivole Vergnügungen (wie das Trin241
ken – er hatte darauf bestanden, daß bei der Verlobungsfeier kein Alkohol ausgeschenkt würde, und Nils hatte zögernd eingewilligt) und den Respekt, den Nils ihm schuldete. Er schien von Nils’ Lebenslauf oder seinem Posten an der Universität überhaupt nicht beeindruckt zu sein, und jedesmal, wenn diese Dinge bei einer Unterhaltung zur Sprache kamen, tat er sie als Eitelkeiten ab. Es war inzwischen klar, daß Vater bei ihnen leben würde (eine Tatsache, von der Ivar noch nichts wußte, da Nils bisher der Mut gefehlt hatte, es ihm zu sagen), anstatt weiterhin seinen eigenen Bungalow in der Südstadt zu bewohnen, der, wie Nils fand, beruhigende 6,7 km weit entfernt lag. Wenigstens schien Marly mittlerweile seinen Fortpflanzungsplänen aufgeschlossener gegenüberzustehen, und darauf setzte er all seine Hoffnungen. Er konnte sich nicht vorstellen, daß Vater oder Ivar sich in Gegenwart von sechs Kindern, von denen keines älter als drei war, wohl fühlten. Er vertraute darauf, daß sie ausziehen würden. Er hatte Ivar in die Einzelheiten seiner Zukunftspläne nicht eingeweiht, denn er wollte ihn nicht unnötig beunruhigen und Streitereien aus dem Weg gehen. Vater war zweifellos völlig ahnungslos. Nils war selber überrascht, welchen Einfluß diese sechs Kinder (drei Jungen, drei Mädchen) auf ihn hatten. Während er die Angestellten des Partyservice bei den letzten Vorbereitungen für die Feier (250 Gäste, neun Dollar pro Person für Hors d’oeuvres und alkoholfreie Getränke, keinen Wein, kein Bier und nichts Hochprozentiges) überwachte, sah er sie überall – ein dunkelhaariger Junge unter dem Tisch, ein süßes Mädchen, das auf der Fensterbank las, zwei Jungen auf der Treppe, die brav miteinander plauderten, zwei Mädchen, die in der Küche mithalfen, gerne mithalfen, und wenn er an ihnen vorbeikam, schauten sie alle 242
voller Bewunderung und Zuneigung zu ihm hoch. Jedesmal, wenn er jetzt zur Kirche ging, marschierten sie vor ihm her. Sie hielten die Köpfe gesenkt, benahmen sich tadellos und waren alle dunkelhaarig, nicht hellblond wie er selbst. Die Mädchen trugen Brillen und wirkten strebsam. Den Jungen sah man die mühsam gebändigte Energie an – dem Herrn zuliebe zähmten sie ihre jungenhafte Wildheit. Schwedische Fleischklößchen auf einer Warmhalteplatte. Er sagte: »Laß sie uns statt auf den Eßtisch lieber mit ein paar Servietten ins Wohnzimmer stellen. Ich finde es nicht schön, wenn das ganze Essen an einer Stelle aufgebaut ist, oder was meinst du, Liebes?« Marly nickte. Es war ihr erster Empfang, und ihr war eigentlich alles recht. Cocktailwürstchen in Barbecue-Sauce. Spinatpasteten, Käsetoasts, Mini-Quiches. Mit Knoblauch gefüllte Pilzhüte. Nils ging den Angestellten des Partyservice hinterher, rückte hier und da etwas zurecht und erspähte überall seine Kinder. Eine Treppenstufe knarrte. Nils schaute hoch und sah, wie Ivar in einem anthrazitfarbenen Flanellanzug das Geschehen beobachtete. Sein Gesicht wirkte so undurchdringlich, daß sogar Nils, der über fünfundfünfzig Jahre gemeinsam mit ihm verbracht hatte, es in keiner Weise deuten konnte. Ivar richtete seinen Blick auf Vater, der im Wintergarten in seiner Bibel las. Nils trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Diese alte Angewohnheit von ihm stammte noch aus der Zeit, als Ivar eine gewisse Autorität aus den sechs Minuten, die er länger auf der Welt verbracht hatte, zu ziehen schien. Natürlich hatte Nils in seinem Alter dieses Gefühl nicht mehr. Dennoch hatte er es bislang versäumt, Ivar von einem wichtigen Gespräch mit Vater zu berichten. Vater hatte nämlich eine Reihe von Anweisungen gegeben: Er erwarte243
te, daß ihm sein Frühstück unter allen Umständen um Punkt acht Uhr serviert wurde. Er war gerne der erste, der die Post durchsah, die Nachmittagszeitung las und das Kreuzworträtsel löste. Er schaute sich die NBCAbendnachrichten an. Er aß kein Schweinefleisch, und alle Arten von Bohnen verursachten ihm Blähungen. Er würde nicht im Obergeschoß schlafen. Sonntags würde weder ferngesehen noch Radio gehört, und sonntags und mittwochs würde es nur ein kaltes Abendessen geben. Diese Regeln bestimmten sein Leben, sagte Vater zu Nils, und er sei zu alt, sich noch zu ändern. Und überhaupt fand er, um ganz offen zu sein, daß Marly und Nils zu alt waren, um noch zu heiraten, und daher mißbilligte er ihre Zukunftspläne und fühlte sich nicht verpflichtet, sein Leben zu ändern, um sich ihnen anzupassen. Den Hoffnungsschimmer, den Nils anläßlich dieser letzten Bemerkung aufleuchten sah, machte Vater jedoch sofort wieder zunichte. Das einzig Gute an der ganzen Sache sei, meinte Vater, daß er sein Häuschen, für das er vor fünfundzwanzig Jahren Zwölftausend Dollar bezahlt hatte, verkaufen könne, und der Mensch von der Maklerfirma habe gesagt, er könne mit vierzig- oder sogar fünfundvierzigtausend rechnen. Es klingelte an der Tür. Im Haus sah es wundervoll aus – das Sonnenlicht verlieh ihm einen festlichen Glanz, und gutes Essen war reichlich vorhanden. Was konnte da schon schiefgehen? Ivar unterdrückte den Impuls, zur Tür zu gehen, obwohl alle anderen weiter entfernt waren. Nils stürzte los, aber dann kam ihm eine Angestellte des Partyservice geschickt zuvor, und er trat zurück und stellte sich neben seine Verlobte. Die Tür ging auf, und draußen standen zwei Agronomen mit ihren Frauen und dicht hinter ihnen ein Bodenkundler und ein Pflanzengenetiker mit seiner Frau. Weitere 244
Gäste kamen den Fußweg herauf. Die Frau vom Partyservice trat zur Seite, und die Gäste kamen mit erwartungsvollen Blicken herein, und Ivar bemerkte, daß ihre Neugierde befriedigt war, sobald sie Marly sahen. Es würden sehr viele Leute kommen, und alle würden gespannt sein. Ivar war einen Moment lang peinlich berührt, aber dieses Gefühl unterdrückte er ebenfalls. Er war vor etlichen Jahren, fast noch in der Kindheit, zu dem Schluß gekommen, daß, obwohl sie unglaublich ähnlich aussahen, Nils’ Lebensweg sehr viel absonderlicher als sein eigener sein würde, und daß es ebenso fruchtlos wie frustrierend wäre, die Gründe dafür zu erforschen. Er wußte, daß er sich in gewisser Weise schon früh, viel früher als Nils, mit dem Geheimnis, das den Kern ihres Zwillingsdaseins bildete, abgefunden hatte, und dadurch hatte er die Probleme ihrer Beziehung und seines eigenen Werdegangs entschärft. Aber dann schaute er sich wieder den alten Hellmich an und preßte die Lippen aufeinander. Er würde den alten Idioten niemals Vater nennen, egal wie oft Nils und Marly es sagten, und sie hatten es in seiner Anwesenheit bestimmt schon hundertmal gesagt. Die Tür ging auf, und Ivar lächelte. Es war Helen in einem knallroten Kostüm, so rot wie kalifornischer Mohn oder Vogelbeeren. Sie sprühte vor vielversprechender Lebendigkeit. Er trat auf sie zu und ergriff ihren Ellbogen. Sie drückte ihm diskret die Hand. Nach fünf Jahren war ihnen die Diskretion zu einer Gewohnheit geworden, und zwar einer ungeheuer angenehmen Gewohnheit. Der Vorsitzende X konnte sich nicht erklären, warum er eingeladen worden war, Nils Harstads Verlobung zu feiern. Wieviel Feindseligkeit mußte man eigentlich noch an den Tag legen, damit ein so hartnäckig verzeihender Mensch begriff, was Sache war? Seit dem Erhalt der Einladung vor einer Woche hatte er Lady X immer wieder erklärt, daß sie 245
natürlich gar nicht daran denken würden, sie anzunehmen, und daher war sie ein wenig überrascht, als sie ins Schlafzimmer kam und sah, daß er ein gebügeltes Hemd und ein Sportsakko aus dem Schrank holte, um es zu seinen Jeans anzuziehen. Er sagte: »Du mußt ja nicht hingehen.« »Du auch nicht.« »Doch, ich muß.« »Warum?« Er schaute sie an. Sie trug das Baby auf der Hüfte und hatte eine Banane in der Hand. Er sagte: »Ich weiß nicht. Weil überall in Europa der Kommunismus zusammenbricht und Kokain die ultimative Marktfrucht ist und mir keine Alternative einfällt und mein Leben eine einzige Pleite ist und ich einfach dabeisein will.« »Wobei?« »Wenn die Sieger feiern.« Lady X seufzte und hielt Amy die Banane hin, die davon feinsäuberlich ein Stück abbiß. Sie sagte: »Willst du, daß ich mitkomme?« Der Vorsitzende X nahm an, daß Cecelia nicht dort sein würde. Er sagte: »Ja, aber nur wenn du Lust hast. Vielleicht ist Garcia auch da. Er könnte mich besänftigen.« »Er würde dich eher noch anstacheln.« Jetzt waren sie in dem großen Backsteinhaus, und ein Geruch nach geschäftsmäßiger Höflichkeit durchwehte alle Räume. Lady X gab ihm mit leiser Stimme Anweisungen – du mußt den Kommunismus nicht verteidigen und auch nicht darauf bestehen, daß nur ein paar Fehler gemacht wurden und er erfolgreich gewesen wäre, wenn der Kapitalismus ihn nicht zerstört hätte; du mußt keine laut vernehmlichen Kommentare über die Fleischgerichte abgeben, es reicht völlig aus, wenn du darauf verzichtest, sie zu dir zu 246
nehmen; du mußt niemandem einen Vortrag über perennierende Mischkulturen halten; du mußt nicht andauernd über Blutgeld reden. Der Vorsitzende X nickte unablässig. Sie erinnerte ihn schließlich nur an die gesellschaftlichen Umgangsformen, denen er gerne entsprach. Einfach nur lächeln und nicht viel sagen, riet sie ihm. Laß dich von niemandem provozieren und sei froh, daß es keinen Alkohol gibt. Anstatt jemanden zu beleidigen, nahm der Vorsitzende X ein großes Glas Mineralwasser und setzte sich neben einen älteren Mann, der in einem Buch las und der Feier anscheinend keine Beachtung schenkte. Der Mann ließ sich von ihm nicht stören, und der Vorsitzende X nippte an seinem Erfrischungsgetränk. Lady X, die ein recht hübsches blaues Kleid trug, hatte sich zu ein paar Freunden gesellt. Garcia war nicht da. Irgendwie war er ziemlich enttäuscht, daß auch Cecelia nicht unter den Gästen war. Er hätte still vor sich hin leiden können, während sie und Lady X sich durch dieselben Zimmer bewegten und dabei ein Muster erzeugten, wie es eine im Dunkeln glühende Zigarette auf der Netzhaut erzeugt, ein Muster, das nur er hätte sehen können, denn er hatte Lady X nichts von Cecelia erzählt, aber sein Verhältnis mit der costaricanischen Frau auch noch nicht beendet. Da ihm diese Möglichkeit verwehrt war, machte er die unheilvolle Entdeckung, daß der ältere Mann neben ihm in der Bibel las, genaugenommen in der Offenbarung des Johannes. Der Vorsitzende X bemerkte: »Ich glaube, die Welt ist in einem so miesen Zustand, weil zu viele Leute das Sichtbare zugunsten des Unsichtbaren vernachlässigen.« »Wie war das?« »Nun, wenn man ständig über das Leben nach dem Tode nachdenkt, kann man das Leben auf der Erde vernachlässi247
gen. Wenn man ständig über den sogenannten Heiligen Geist nachdenkt, kann man den eigenen Körper und die Umwelt zerstören, ohne an die Folgen zu denken. Das ist eine Flucht vor sich selbst, wenn Sie mich fragen.« »Ich habe Sie aber nicht gefragt.« »Da haben Sie recht.« Sie schwiegen. Der Vorsitzende X wußte, daß er, wenn er sofort aufstand, einen Streit vermeiden und sich selbst eine peinliche Situation ersparen könnte. Er wußte, wenn er sitzen blieb, würde der alte Mann sich einen Kommentar nicht verkneifen können, und sie würden sich niemals einig werden. Er saß da und spielte mit seinem Glas. Schließlich sagte der alte Mann: »Hier drin findet man Frieden.« Er klopfte auf das Buch. Sein Tonfall war gütig und wissend, als hätte er ebensogut dem Vorsitzenden X an den Kopf tippen und sagen können: »Aber da drin nicht.« Der Vorsitzende X war überrascht und antwortete nicht sofort. Dann sagte er, genauso freundlich: »Dieser Friede wird uns die Welt kosten.« Der alte Mann schaute ihn einen Moment lang an. Dann bildeten sich in seinen Augenwinkeln Fältchen, und plötzlich lachte er. Der Vorsitzende X lachte zu seiner Überraschung mit. Zwei Zimmer weiter hörte Beth zwischen den vielen anderen Geräuschen das Lachen heraus, weil sie alle Geräusche, ob laut oder leise, hörte, die ein Mitglied ihrer Familie machte. Erleichtert lachte auch sie plötzlich, obwohl Ivar, der dicht neben ihr stand, sich gerade über die Finanzkrise der Universität beklagte. Als er sie verwundert ansah, faßte sie sich wieder und sagte: »Tut mir leid. Fahren Sie fort.« In einer nahe der Küchentür gelegenen Ecke des Eßzim248
mers, nur eine Armlänge von den anderen Gästen entfernt, aber vollkommen von ihnen abgeschnitten, hatte Dr. Bo Jones Elaine Dobbs-Jellinek ganz für sich allein, und er befragte sie über mögliche Fördergelder für etwas, das sie nicht ganz verstand. Sie sagte: »Dr. Bo, erkundigen Sie sich doch einfach, woran die Schweinemastfirmen interessiert – « »Nein, Madam. Nein, Madam. Ich weiß, woran die interessiert sind, und Sie wissen es auch. Ich bin an etwas anderem interessiert. Ich bin an den TIEREN interessiert.« »Sind die denn nicht an Schweinen interessiert?« Er stand so dicht vor ihr, daß die einzige Möglichkeit, einen Schluck von ihrem Getränk – was war es doch gleich, Tonicwasser mit einem Stückchen Limone? Warum gab es denn keinen Gin? – zu nehmen, darin bestand, ihr Glas an ihrem Körper hochzuschieben und von unten an ihren Mund zu führen. Und dann trat er noch einen halben Schritt näher an sie heran. Er sagte: »Nein, die sind daran interessiert, was man mit ihnen und aus ihnen macht. Was mich interessiert, ist: was sind Schweine?« »Was sind Schweine?« »Tja, wissen Sie, das weiß niemand so genau.« »Nein, ich meinte, Sie sind also daran interessiert, was Schweine sind.« »Darauf können Sie wetten.« »Oh.« »Da fehlen Ihnen die Worte, stimmt’s? Na los, was wissen Sie über Schweine.« »Wie bitte?« »Sie leben schon lang genug in dieser Gegend, Sie müssen wenigstens irgendwas über Schweine wissen. Erzählen Sie’s mir.« 249
Elaine drehte ihre Schulter zur Seite und stieß diskret gegen die Brust von Dr. Bo. Sie hatte das Gefühl, von ihm in ein Loch geschubst zu werden, und verspürte das Bedürfnis, den Arm zu heben und Hilfe herbeizuwinken. »Irgendwas.« »Na –« Sie holte tief Luft. »Na. Warten Sie mal. Also, ich weiß, daß man sie schlachtet, wenn sie neun Monate alt oder etwa 230 Pfund schwer sind.« Ihre Schulterblätter streiften die Wand. Sie fühlte eine leichte Panik in sich aufsteigen. »Sie müssen Geld für die Rettung von Old Meats auftreiben.« »Gebäude gehören nicht in meinen Aufgabenbereich.« »Old Meats ist wirklich ein historisches Bauwerk. Das Inventar gehört in ein Museum. Man sollte sowieso ein Museum daraus machen.« »Die Universität hat schon ein Museum –« »Da hängen doch bloß Bilder drin. In diesem Museum würde es alte Farmgeräte geben und Schaukästen über den Anbau von Mais und Bohnen. Und auch etwas für Kinder. Man könnte ein paar wirklich schöne Ausstellungsstücke zusammentragen, wie zum Beispiel ausgestopfte Farmtiere, lebensecht gruppiert, oder Schaubilder des typischen Verhaltens von Schweinen, das heißt, wenn jemand wüßte, was das ist. Kinder mögen ausgestopfte Tiere. Waren Sie schon mal bei Cabela’s in Kearney, Nebraska? Die haben dort Grizzlys und Berglöwen, und was es sonst noch so alles gibt. Leider keine Schweine. Für so ein Museum könnten Sie Geld auftreiben.« Elaine, die inzwischen innerlich nach Luft rang, hatte den Eindruck, als formten seine Lippen die Worte »Für so ein Museum werden Sie Geld auftreiben«. Sie hatte die 250
vage Vermutung, daß die Idee von Dr. Bo tatsächlich ganz brauchbar war, aber dieser Gedanke war ihr augenblicklich so fern wie der Sternenhimmel für jemanden, der in einen Schornstein eingeklemmt ist. Sie würde später darüber nachdenken. Jetzt war nur wichtig, daß er ein Stück zurücktrat und sie ihm entwischen konnte, wenn nötig durch seine Beine hindurch. Sie sagte: »Gut. Ja. Ich habe da ein paar Ideen.« »Ich rufe Sie Montag an.« »Bitte tun Sie das.« »Wissen Sie, wo die Toilette ist? Ich muß ganz dringend pinkeln.« Elaine hob mit letzter Kraft ihre schmale Hand und deutete schwach in Richtung des rückwärtigen Teils des Hauses. Endlich verließ er sie. Sie trat aus ihrer Ecke hervor wie aus einem dunklen Schrank und ging in die hellerleuchtete Mitte des Zimmers, wo ihr keine Gefahr drohte und sie Jack Parker im Auge behalten konnte, der, während er charmant plauderte, gleichzeitig im Kopf zu notieren schien, wer mit wem flirtete, damit er den betreffenden Personen später folgen und sie in einem Hotelzimmer in flagranti fotografieren konnte. Es war Elaine nicht entgangen, daß Jack Parker sie, wenn sie sich bei gesellschaftlichen Anlässen trafen, niemals eines Blickes würdigte. Auch heute nicht. Als er bemerkte, daß sie ihn ansah, drehte er sich sofort um, ging zur Kaffeemaschine und schenkte seine Tasse voll. Wie üblich war allen im Raum die Anwesenheit von Jack Parker bewußt. Während Elaine zum Tisch ging und sich mit spitzen Fingern eine Garnele nahm, hörte sie, wie ein Zoologe zu einem Botaniker sagte: »Wenn man sich Jack Parker anschaut, würde man nie auf den Gedanken kommen, daß er derjenige ist, der die Universität von Mi251
chigan zu dem gemacht hat, was sie heute ist.« »Wirklich?« sagte der Botaniker. »Er ganz alleine«, sagte der Zoologe. »Da brauchen Sie nur jemandem vom NIH zu fragen.« Im Wohnzimmer sonnte sich Elaines Ex-Ehemann und Vater ihres Sohnes, Dean Jellinek, im noch helleren Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit. Eine Million auf fünf Jahre verteilt, lautete das Gerücht, das Dean Jellinek allerdings weder bestätigen noch dementieren wollte. Auf seinem Gesicht lag jedoch die Andeutung eines selbstzufriedenen Lächelns. Die wohlbekannte Zurückhaltung der Menschen aus dem Mittleren Westen, genaue Zahlen zu nennen, wenn es um Geld ging, kam ihm zugute, da seine Weigerung, darüber zu reden, dieses Geld zum unausgesprochenen Thema jeder Unterhaltung machte und er die Phantasien der anderen, ebenso wie seine eigenen, vorerst weiter ins Kraut schießen lassen konnte. Es erstaunte ihn, wie freundlich gestimmt alle durch diese prächtigen Gerüchte waren – der Präsident, Ivar, Dekan Harstad und die Vorsitzenden etlicher Institute, von seinem eigenen, der Tierforschung, über die Wirtschaftswissenschaften und die Statistik bis hin zur Zoologie. Da es um Geld ging, wurden natürlich alle Glückwünsche in gedämpftem Tonfall geäußert, aber wegen der dadurch zum Ausdruck gebrachten Hochachtung waren sie Dean um so willkommener. Joy war mit ihm gekommen, hatte sich aber ins Eßzimmer begeben, um ihren Kopfschmerzen, die sich dauerhaft über ihren Augenbrauen eingenistet hatten, neue Nahrung zu geben. Sie schrien geradezu nach einem Drink, aber es gab keine Drinks. Joy war noch nie auf einer Party an der Universität gewesen, auf der es keinen Alkohol gab, und ihre spontane Reaktion war, daß sie ihn nur nicht finden konnte, daß es irgendwo im Haus eine Bar gab, wo ein 252
netter junger Mann in einem weißen Jackett Bloody Marys ausschenkte, daß ihr aber niemand sagen wollte, wo sie zu finden war. Das einzige andere Mittel, das in letzter Zeit gegen ihre ständigen Kopfschmerzen geholfen hatte, waren Tränen. Jedesmal, wenn Dean sie auf den neuesten Stand seines Projekts der kälberunabhängigen Laktation brachte, was stündlich geschah, zog sie sich zurück und brach in Tränen aus, und dann verschwand der Schmerz für etwa eine Viertelstunde. Als sie nun aus einer verläßlichen Quelle (der Frau vom Partyservice, die die Würstchen im Schlafrock auffüllte) erfahren hatte, daß es bei der Party keinen Alkohol gab, blieb ihr nichts anderes übrig, als in Tränen auszubrechen. Sie wandte sich von den anderen Gästen ab, betupfte ihre Augen mit ein paar Servietten und begann, sich Melonenstückchen in den Mund zu stopfen. Wie von einem Radar geleitet, war Helen Levy auf der Stelle an ihrer Seite und fragte, was ihr fehle. Joy wies mit einer Handbewegung darauf hin, daß sie den Mund voll habe. Helen nahm Joy mütterlich in die Arme und sagte: »Weißt du, es kommt mir so vor, als sähe ich dich in letzter Zeit seltener als früher, obwohl du jetzt doch direkt nebenan wohnst.« Joy kaute sorgfältig jedes einzelne Atom der Melonenstückchen und schluckte jeden Tropfen ihres Saftes hinunter. Sie bemerkte, daß die anderen Gäste zu ihr herüberschauten. Sie sagte: »Keine Drinks. Das hat mich irgendwie überrascht.« Jetzt würde Helen glauben, daß sie eine heimliche Trinkerin war. Helen sagte: »Also, ich glaube, das war die erste ehrliche Reaktion, die ich darauf erlebt habe. Die anderen tun 253
alle so, als seien sie erleichtert. Der Vater von Nils’ Verlobten hat Alkohol verboten.« »Oh.« Joy schniefte und wischte sich die Augen. Die Tränen waren getrocknet und die Kopfschmerzen verschwunden. Sie sagte: »Wenn man fast die ganze Zeit Kopfschmerzen hat, sie aber weggehen, wenn man einen Drink nimmt oder zum Beispiel über etwas weint, kann man dann trotzdem einen Gehirntumor haben?« »Ich glaube nicht. Wie lange hast du die Kopfschmerzen schon?« »Seit siebzehn Tagen. Advil hilft überhaupt nicht und Tylenol genausowenig.« »Du meine Güte, Joy.« »Ich weiß. Laß uns über etwas anderes reden. Ist das Nils’ Verlobte?« Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf Marly. »Ja.« »Ich habe sie irgendwo schon mal gesehen.« »Sie hat jahrelang in der Mensa bei der Essensausgabe gearbeitet.« »Ist sie nicht schrecklich jung?« »Alt genug, um es besser zu wissen.« »Wie haben die beiden sich kennengelernt?« »Er hat sie unter den Jungfrauen seiner Kirchengemeinde ausgewählt.« Joy warf Helen einen überraschten Blick zu – Helen sprach selten gehässig über jemanden. Wie als Reaktion darauf wurde Helens Tonfall freundlicher: »Ich mag sie. Sie ist gutherzig, und sie ist vernünftig genug, um peinlich berührt zu wirken, wenn Nils zu einem Vortrag über Gottes Ratschlüsse anhebt.« 254
»Wann werden die beiden heiraten?« »Bevor sie Gelegenheit hat, zur Besinnung zu kommen.« »Ach, Helen, niemals ist es dir recht, wenn jemand heiratet.« »Jedenfalls nicht, wenn es aus Liebe geschieht. Liebe ist ein sehr allgemeines Gefühl. Die Ehe ist etwas außerordentlich Spezifisches. Das paßt nicht zusammen. Außerdem wird ein Nicht-Zwilling einen eineiigen Zwilling nie verstehen können, und da Nils sich selber nicht versteht, wird er ihr dabei auch keine Hilfe sein. Sie sind gegen die Zukunft nur mit ein paar biblischen Grundsätzen gewappnet.« Helen schüttelte bedeutungsvoll den Kopf. »Grundsätze sind eine noch schlechtere Basis für eine Ehe als Liebe.« »Was denkt Ivar darüber?« »Er kritisiert nie etwas, das sein Bruder tut. Das hat er noch nie getan. Ich wünschte, ich könnte von Nils das gleiche behaupten.« Joy faßte sich mit einer Hand an den Kopf. Die Schmerzen kamen zurück, wie immer, als wäre es ihr gutes Recht, in ihrem Kopf zu sein. Helen sagte: »Komm mit nach oben. Ich werde etwas ausprobieren, das vor all den Leuten komisch aussehen würde, aber vielleicht hilft es.« Joy war noch nie im ersten Stock der Backsteinvilla der Harstads gewesen. Ihre Schmerzen waren nicht so stark, daß sie die Farben im Flur des Obergeschosses nicht bemerkte – ein grelles, grün-gelbes Blumenmuster, ein avocadofarbener, leicht verblaßter Teppichboden. Der Teppich im Schlafzimmer war türkis, und auf dem Bett lagen eine weiße Chenilledecke und orangefarbene Kissen. Helen zog die Jacke ihres roten Kostüms aus, stellte sich hinter Joy und sagte: »Schließ die Augen.« 255
Angesichts der Einrichtung des Zimmers ließ sie sich nicht zweimal bitten. Helen begann an der Schädelbasis. Offenbar mit den Fingern, aber auch mit etwas Härterem – ihrer Ellbogenspitze? Ihre Hände schienen sich in verschiedene Richtungen zu bewegen und drückten auf bestimmte, sehr schmerzempfindliche Stellen. Sie sagte: »Stell dich auf die Zehenspitzen.« Joy stellte sich auf die Zehenspitzen. Helen beschäftigte sich etwa fünf Minuten mit ihr, und diese Zeit wäre Joy auch nur wie fünf Minuten vorgekommen, wären es nicht fünf von heftigen, wandernden Schmerzen erfüllte Minuten gewesen. Nur ihre übliche Zurückhaltung hielt sie davon ab, laut aufzuschreien oder Helen zu bitten aufzuhören. Helen hörte auf. Joy öffnete die Augen. Sie wollte gerade mutlos den Kopf schütteln, als sie spürte, wie der Schmerz aus ihrem Kopf verschwand und ihr gesamtes Ich, ihr Körper und ihr Geist, leichter wurde und sich von ihren Füßen und ihrer Wirbelsäule zu lösen schien. Helen sagte: »Hat es geklappt?« »Jaah! Ja, und wie! Was hast du gemacht? Wie lange wird das anhalten?« »Etwa zwölf Stunden. Wollen wir wieder nach unten gehen?« Später fiel Joy ein, daß Helen ihr nicht erzählt hatte, was sie mit ihr gemacht hatte, und ob es etwas gab, das für die Ehe sprach. Tim Monahan beackerte auf der Party ungewohntes Terrain. Seiner Erfahrung nach konnte man diese Naturwissenschaftler nicht auf dieselbe Weise »beackern«, wie man es mit New Yorker Verlags- und Zeitungsleuten machen konn256
te und mußte, aber er war sowieso nicht ganz bei der Sache. Obwohl er lächelte und Komplimente verteilte und Beziehungen anknüpfte, war es nur mechanische Pflichterfüllung, das Karrieristen-Herz war nicht dabei, und er hätte damit aufgehört, wenn er gewußt hätte, was er sonst auf einer Party tun sollte. Wie auch immer, seine Festanstellung war vom Fachbereich mit 11 zu l Stimmen empfohlen worden (er glaubte zu wissen, wer gegen ihn gewesen war), und an dieser Universität reagierten die Mitglieder des Lehrkörpers schon auf den Ansatz des Randes des Schattens eines Versuches, einen Ausschuß zu beeinflussen, bemerkenswert empfindlich. Der Nachteil daran war, daß er kaum mit Helen gesprochen hatte; Gift, Cates und Garcia waren nicht auf der Party. Durch eine Notiz von Margaret in seiner Post, die nur »1. Dez.« lautete, wußte er, wann sich der Ausschuß mit ihm befassen würde. Vermutlich war das alles, was sie wußte, aber mit ihr zu reden, war in letzter Zeit auch schwierig gewesen. Er konnte nicht verhindern, die Worte »meine Festanstellung, meine Festanstellung, meine Festanstellung« wie das selbstvergessene Geschrei eines Esels hervorzustoßen und seine eigenen Ohren dadurch unerträglich zu beleidigen. Aber so war es schon immer gewesen – mein Buch, mein Buch, mein Buch, meine Story, meine Story, meine Story, meine Besprechung, mein Artikel, meine Arbeit. An der Ostküste erzeugte das jämmerliche narzißtische Prahlen zumindest eine Art vager, nicht ganz unangenehmer Kameradschaft, der man sich nicht entziehen konnte, aber hier, das wußte er, verhinderte die bevorzugt eingenommene stoische Haltung nicht nur Gefühlsäußerungen bei Fehlschlägen oder Erfolgen, sondern jegliche öffentliche Erörterung von persönlichen Angelegenheiten. Als Cecelia ihm noch echte Aufmerksamkeit schenkte, 257
hatten sie über solche Dinge gelacht, aber inzwischen wirkte sie derartig abgelenkt und aufgekratzt, daß sie ein ganz anderer Mensch zu sein schien. Der Grund dafür war ihm klar – sie schlief mit jemand anderem –, aber es beleidigte ihn, daß sie nicht den Anstand besaß, ihre normale Persönlichkeit ungeachtet des Ansturms der neuen geheimen Leidenschaft – sicher ein verheirateter Mann – beizubehalten, sondern einer pubertären Wandlungsfähigkeit frönte, der eine Frau ihres Alter, die schon eine Ehe hinter sich hatte, entwachsen sein sollte. »Also«, sagte er zu der Gastgeberin, Marly Soundso hatte auf der Einladung gestanden, »worin bestehen unsere Pflichten und Vergnügungen, wenn wir Ihre Verlobung ordnungsgemäß feiern wollen?« »Was?« Sie wirkte überrascht und bestürzt, weil er sie angesprochen hatte. Auf der Stelle erwachte Tims Interesse. Er trat näher an sie heran und lächelte. Seine geübte und umfassende Wahrnehmungsfähigkeit verriet ihm, daß unter dieser Hülle, die sie für ein Kleid hielt, eine gute Figur steckte, die zu dem dicken, glänzend braunen Haar und den tiefliegenden dunklen Augen mit den langen Wimpern paßte. An dünnen Lippen und großen Händen konnte eine Frau nichts ändern. Und das waren auch nur kleine Schönheitsfehler. Er sagte: »Was tut man bei einer Universitätsparty, wenn man keine Lust mehr hat, Eindruck zu schinden und seine Karriere voranzutreiben? Wenn man an der Freude der anderen teilhaben und ganz uneigennützig ihr Glück mit ihnen feiern will?« »Haben Sie schon etwas gegessen?« Ihre Stimme klang nervös. »Ich habe von allem probiert.« 258
»Sie amüsieren sich also nicht?« Ihre Stimme klang, als wäre sie persönlich daran schuld. »Naja, es ist schon ziemlich lange her, seit ich mich zum letzten Mal amüsiert habe. Schon gar nicht ohne anregende Getränke. Das letzte Mal war ich etwa elf. Bevor Mädchen und Ehrgeiz eine Rolle spielten.« »Ist das wirklich wahr?« Er lachte kurz auf. »Aber sicher. Was ist mit Ihnen?« »Nun, ich rechne nicht oft damit, mich zu amüsieren.« »Amüsieren Sie sich hier?« »Ich mache mir zu viele Sorgen, ob sich alle anderen amüsieren. Und ich war auch noch nie auf so einer Party. Am wohlsten fühle ich mich vermutlich bei den Gemeindeessen, wissen Sie, hinterher, wenn wir Frauen aufräumen und abwaschen und dabei loslachen und gar nicht wieder aufhören können.« »Woran, glauben Sie, liegt es, daß Sie loslachen und nicht mehr aufhören können?« »Naja, erstens sind keine Männer in der Nähe.« Sie schaute ihn an. »Das sollte ich eigentlich nicht sagen. Aber es stimmt. Wenn Männer mitbekommen, daß wir albern sind, fühlen sie sich verpflichtet, uns Einhalt zu gebieten. Und die Kinder sind lustig, auch wenn sie ein bißchen ungezogen sind.« »Ich würde jetzt gern loslachen können und nicht mehr aufhören!« »Das wäre bestimmt sehr lustig.« »Es sind zu viel Männer hier.« »Und es sind auch alle zu fein angezogen, um zu lachen. Bei den Gemeindeessen tragen wir unsere Alltagskleidung. Das spielt auch eine Rolle. Sonntags, wenn wir uns feinma259
chen, habe ich noch nicht ein einziges Mal jemanden lachen sehen.« Diese Unterhaltung stimmte Tim traurig. Als ein alter Mann in einem schwarzen Anzug nach Marly winkte und sie sich entschuldigte und wegging, überkam ihn ein Gefühl von Traurigkeit. Es war wie ein schwaches Fieber, und es war weder Depression, noch Verzweiflung, noch Entfremdung – keine dieser bei Psychologen, Künstlern oder Soziologen hochangesehenen Empfindungen. Und die übliche belebende Beimischung von Zorn fehlte ebenfalls. Er schaute Marly mit ihrem Haarknoten, ihrem langen Wollkleid und ihren flachen Schuhen an. Sie beugte sich ehrerbietig zu dem alten Mann hinunter, und Tim dachte daran, wie sie gesagt hatte: »Ich rechne nicht oft damit, mich zu amüsieren«, und er dachte, sie kommt mit ihrem Leben nicht zurecht, und seine Traurigkeit wuchs. Zeit zu gehen, dachte er. Er befand sich genau in der richtigen Stimmung, um Hausaufgaben zu korrigieren, denn Traurigkeit war das einzige Gefühl, das seine Studenten ohne fremde Hilfe schildern konnten. Marly stand am Tisch und suchte ein paar kleine Leckerbissen für Vater zusammen. Es tat ihr leid, den Mann, mit dem sie gesprochen hatte, enttäuscht zu haben. Da, er verabschiedete sich schon. Er war gekommen, um zu feiern, und sie hatten noch gar nicht gefeiert, und er sah genauso aus, wie sie sich fühlte. War es anmaßend, zu glauben, daß sie daran schuld war? Das, was sie gesagt hatte, war ihr nur so herausgerutscht. Die Frauen der Kirchengemeinde hatten ihr alle möglichen Ratschläge für die Ehe gegeben, und einer davon lautete: »Erzähl einem Mann niemals, was du wirklich denkst. Es jagt ihm Angst ein.« Eine der Frauen hatte sogar gesagt: »Es jagt ihm Angst ein, und er wird es dir eines Tages heimzahlen, selbst wenn das gar nicht seine 260
Absicht ist. Er kann nichts dagegen machen.« Marly legte die letzte Garnele auf den Teller ihres Vaters. Sie war skeptisch gewesen, aber nun nicht mehr. Sie seufzte. Zwar sah sie angesichts einer derartig einsamen und traurigen Ehe keinen besonderen Grund zur Freude, aber die Hochzeit schien ohne ihr Zutun und sogar gegen ihren Willen auf sie zuzukommen. Trotzdem ging sie ihr Tag für Tag ein Stück entgegen. Sie hatte keine andere Wahl, denn ihr altes Leben war unwiederbringlich vorbei. Dr. Garcia begegnete Tim Monahan, während er eilig auf das Haus zuschritt, und er widerstand bewußt der Versuchung, stehenzubleiben und ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Worüber hätten sie schon reden können, abgesehen von der sehr interessanten Verquickung von Tims Hoffnungen, Bestrebungen und Persönlichkeitsmerkmalen mit denen der Mitglieder des Lehrstuhl-Ausschusses, worüber Garcia auf keinen Fall reden konnte? Und selbst die beiläufigste Unterhaltung würde deutlich machen, daß – Tim schaute ihn an und erkannte ihn offensichtlich. Garcia spürte, wie sich seine linke Augenbraue, die verschwörerische (seine rechte Augenbraue war die mißbilligende), hob. Er setzte ein ausdrucksloses Gesicht auf und verlangsamte seine Schritte nicht. Ihre Blicke trafen sich nur für eine Nanosekunde. Anschließend blieb Garcia stehen und schaute Tim nach. Er war nicht so naiv, zu glauben, daß Tim seinen Blick nicht wahrgenommen hatte – die Fähigkeit von Primaten, sogar das subtilste Mienenspiel anderer Primaten zu deuten, war derartig hoch entwickelt, daß sogar Schimpansen bei einer Serie von Dias anderer Schimpansen, die jeweils für eine Zehntelsekunde auf einer Leinwand abgebildet wurden, mit 99prozentiger Treffsicherheit die freundlichen Gesichtsausdrücke herausfinden konnten. Da Tim Schriftsteller war, dachte Garcia, würden 261
seine Fähigkeiten auf diesem Gebiet, egal ob erlernt oder angeboren, noch wesentlich ausgeprägter sein. Er betrat die Harstadsche Veranda und klingelte. Die Tür öffnete sich. Es wäre keine schlechte Idee, dachte er während der Begrüßung, eine Gruppe Schriftsteller zusammenzutrommeln und alle möglichen Tests durchzuführen. Sie waren ein nicht besonders gut erforschter Personenkreis Er ging ins Haus, und die schwere rote Tür schloß sich hinter ihm.
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31 Er erzählt ihr, daß er nicht verheiratet ist E S WAR kein besonders schöner Tag – regnerisch und kühl, zu kühl für Cecelias Geschmack, kaum wärmer als null Grad. Was um alles in der Welt sollte sie machen, wenn die Temperatur erst zweistellige Minusgrade erreicht haben und der Windabkühlungsfaktor (ein furchterregender Begriff) auf Werte zwischen vierzig und fünfzig Grad unter Null gesunken sein würde. Der Thermostat in ihrer Wohnung stand auf der magischen Zahl einundzwanzig, wo der Vermieter ihn fest eingestellt hatte, aber die Temperatur schien trotzdem stark zu schwanken, wenn auch nur zwischen frostig (wenn sie einen heißen Tee trank) und unerträglich kalt (wenn sie Klausuren, Hausarbeiten und Referate korrigierte). Sie trug ein warmes Unterhemd und drei Pullover und spielte gerade mit dem Gedanken, das dritte heiße Bad innerhalb weniger Stunden zu nehmen, als er klingelte. Auf dem Weg zur Tür entledigte sie sich zweier Pullover. Natürlich war es der Vorsitzende X, obwohl es Sonntag und nach vier Uhr war und er und Lady X den Kindern versprochen hatten, mit ihnen zur Sieben-Uhr-Vorstellung ins Kino zu gehen, weil sie kurzfristig als Babysitter eingesprungen waren und ihnen dadurch ermöglicht hatten, zu dieser grauenvollen Verlobungsfeier zu gehen. Er machte wie so oft den Eindruck, als wolle er nur kurz etwas sagen und dann wieder gehen, aber mitnichten. Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, schob er seine Hände unter ihren Pullover und ihr Unterhemd – es war 263
kein Zufall, daß sie keinen BH trug –, und sie legte ihre Hände auf sein Gesicht, und er küßte sie auf Hals und Nacken, während er sie auf den Teppichboden zog und ihre Hausschuhe, Socken, ein weiteres Paar Socken, Cordhose und Strumpfhose abstreifte und alles neben ihr aufschichtete. Sie reckte sich der tropischen Wärme seines Verlangens entgegen, und etwa zwei Sekunden später war sie nackt und schwitzte wie ein Mädchen am Strand, das die Augen wegen der Sonneneinstrahlung geschlossen hat. Der einzige verheiratete Mann, mit dem Cecelia je geschlafen hatte, war ihr Ehemann gewesen; ganz offensichtlich wirkte die Ehe auf den Vorsitzenden X ganz anders als damals auf Scott. Er kam fast jeden Tag bei ihr vorbei. Sein Verlangen, mit ihr zu schlafen, war genauso verläßlich wie der tägliche Sonnenaufgang, aber sein Wunsch, es tatsächlich zu tun, war genauso unberechenbar und aufregend wie das Auftauchen eines Kometen am Sternenhimmel. An einem Tag war er fest entschlossen, es nie wieder zu tun, und schon einen Tag später mußte er es trotz allem unbedingt tun. Aber seine Überzeugungen spielten dabei eigentlich gar keine Rolle. Er hatte ihr einmal mit tragischer Stimme versichert: »Ich habe die Wahl, mußt du wissen. Wenn ich etwas gelernt habe, dann ist es, die Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen«, und Cecelia hatte mit geschlossenen Augen genickt. Sie war wie betäubt von der Sehnsucht gewesen, die seine Stimme in ihr erweckte. Wenn sie etwas gelernt hatte, dann war es, daß sie, zur Zeit wenigstens, unwiderstehlich war. Sie standen wieder vom Teppichboden im Wohnzimmer auf und gingen ins Schlafzimmer. Er deckte sie zärtlich mit der Bettdecke zu, hängte ihre Kleidung liebevoll über die Lehne des Schreibtischstuhls und legte dann ihre Hausschuhe und Socken paarweise nebeneinander auf die Kom264
mode. Er hatte nicht DIESES GEWISSE Aussehen, und ähnelte auch sonst äußerlich keinem der Männer, die Cecelia jemals attraktiv gefunden hatte – er war klein und drahtig, obwohl seine Hände, Unterarme und Schultern durch die jahrelange Gartenarbeit muskulös waren. Er war viel älter als sie – sein Haar lichtete sich, hatte graue Strähnen und war schlecht geschnitten. Meistens sah er aus, als habe er sich gerade die Haare gerauft oder als ob sie einfach aus einem Überschwang der Gefühle heraus in alle Richtungen abstehen würden. Obwohl er schlank und muskulös war, wirkte sein Körper abgenutzt und vernachlässigt. Offenbar hatte er die Kleiderfrage dadurch gelöst, daß er immer das gleiche trug – Jeans, ein frischgewaschenes und gebügeltes Hemd, einen alten Baumwollpullover, Wollsocken und braune Stiefel. Aber sie betrachtete dies und alles andere als ein deutliches Anzeichen dafür, daß er ihren üblichen Vorlieben überhaupt nicht entsprach, ein deutliches Anzeichen, daß sie zu tieferen, authentischeren und stärkeren Gefühlen vorgedrungen war, ein deutliches Anzeichen, daß es tiefere Gefühlsebenen gab, als sie sich jemals vorgestellt hatte, und daß sie diese erreichen konnte, wenn sie nur mutig genug war. Er sagte: »Ich wollte gar nicht bleiben. Es ist schon kurz vor fünf, und ich habe den Kindern versprochen, mit ihnen ins Kino zu gehen. Außerdem habe ich einen Bohnenauflauf im Ofen.« »Was?« »Ich bin heute mit Kochen dran. Ich habe einen Bohnenauflauf und einen Salat gemacht.« Dieser Hinweis auf seine häuslichen Aktivitäten war aufregend und sonderbar. Sie seufzte, zufrieden über seine Einzigartigkeit. Auf diesem Gebiet hatte sie wenig zu bie265
ten – manchmal kochte sie eine Suppe, die er nicht aß, wenn sie Fleisch enthielt, und manchmal gab es nur ein paar Scheiben italienisches Weißbrot mit SkippyErdnußbutter oder eine Schale Popcorn. Er zog ihre Hand, die er mit beiden Händen festhielt, an seine Wange. Sie spreizte die Finger, und er drückte seinen Kopf dagegen. Er sagte. »Ich muß jetzt wirklich los.« Sie sagte: »Ich habe gerade an meinen Onkel Carlos gedacht, also eigentlich ist er mein Cousin, aber sehr viel älter als mein Vater, und früher einmal war er ein reicher Mann, und darum nannten wir ihn alle respektvoll ›Onkel Carlos‹. Als ich klein war, sind wir jeden Sommer zu ihm aufs Land gefahren. Er war der einzige in der Familie, der sowohl ein Haus in der Stadt als auch eine Farm besaß. Sie bestand hauptsächlich aus Obstgärten, die von seinem Vater angelegt worden waren –« Der Vorsitzende X legte seine Füße aufs Bett und schaute auf seine Uhr. Er sagte: »Höchstens noch zehn Minuten.« Cecelia versteckte ihr Lächeln unter der Bettdecke und ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort, von Onkel Carlos zu erzählen. »Auf der Farm lebten viele Familien, die sich um die Obstgärten kümmerten. Ich weiß nicht, ob Onkel Carlos mit der Landwirtschaft Geld verdiente, denn er hatte noch andere Einnahmequellen. Ich erinnere mich nur noch daran, daß es dort immer sehr viel zu essen gab. Und noch etwas. Ich weiß nicht, ob die Früchte, die dort angebaut wurden, tatsächlich dufteten, aber es SCHIEN so, als läge ständig ein süßer Wohlgeruch in der Luft – nicht erdrückend, nur gerade stark genug, daß man ständig tief einatmen wollte.« Obwohl die Sache mit dem Duft, und eigentlich auch der Rest der Geschichte, eine Lüge war, hätte es, fand Cecelia, die Wahrheit sein sollen. Der Vorsitzende X sagte: »Eine Sekunde.« Er stand auf 266
und ging zum Telefon, das auf dem Schreibtisch stand, drehte Cecelia den Rücken zu und wählte eine Nummer. Einen Moment später hörte sie ihn sagen: »Schatz, hast du den Auflauf rausgenommen? Gut. Hör zu, ich kann hier noch nicht weg. Ich versuche, rechtzeitig fürs Kino zu Haus zu sein, aber ich kann es nicht versprechen. Vielleicht treffe ich euch dort. Okay.« Er legte auf und kam zurück zum Bett. Nachdem er sich hingesetzt hatte, schwiegen beide, und Onkel Carlos schien in der Ferne zu verschwinden. Der Vorsitzende X sagte: »Weißt du, vor zwanzig Jahren hätte ich gesagt: ›Schatz, ich bin bei Cecelia, und wir haben gerade beschlossen, es miteinander zu treiben. Ich komme irgendwann später nach Hause‹, und sie hätte gesagt: ›Kein Problem‹, aber so läuft es zwischen uns nicht mehr.« »Geht deine Frau auch fremd?« »Wir sind offiziell gar nicht verheiratet.« »Wie bitte?« »Wir haben es irgendwie vergessen.« »Ihr habt vergessen zu heiraten?« »Andere Dinge waren uns wichtiger. Inzwischen geht meine älteste Tochter in die achte Klasse. Ich weiß nicht. Wenn wir jetzt auf einmal heirateten, würde vermutlich das Bild, das meine Tochter von ihrer Mutter hat, allzusehr darunter leiden.« Er seufzte, dachte eine Weile nach und sagte dann: »Weißt du, ich muß sagen, vor zwanzig Jahren habe ich nicht damit gerechnet, daß die Welt eines Tages in dem Zustand sein würde, in dem sie heute ist. Wenn ich es gewußt hätte, wäre ich vielleicht eher bereit gewesen, Gewaltanwendung bei der Durchsetzung politischer Ziele zu befürworten.« Er schüttelte den Kopf, genau wie die Leute in L.A., wenn sie davon sprachen, wie sehr sie bedauerten, 1965 nicht ins Immobiliengeschäft in Orange County ein267
gestiegen zu sein. Dann sagte er: »Erzähl mir, was dort angebaut wurde.« »Was wo angebaut wurde?« »Auf der Farm.« »Ach so.« Sie konzentrierte ihre Gedanken wieder auf die Geschichte, die sie sich ausgedacht hatte, und es bereitete ihr wie immer Vergnügen zu sehen, wie er seine Aufmerksamkeit von seiner Vergangenheit abwandte und auf ihre Vergangenheit richtete. »Mandeln. Aprikosen. Avocados. Ein paar Pfirsiche. Ich weiß nicht genau. Grapefruits. Zitronen. Wahrscheinlich Orangen.« »Alles auf einer Farm?« Seine Augen waren geschlossen, aber seine Stimme klang skeptisch. Cecelia fuhr schuldbewußt mit der Zunge über die Lippen. Es hatte einen Onkel Carlos gegeben, und er hatte eine Farm besessen, aber Cecelia wußte eigentlich gar nichts über ihn. Auch ihre Mutter war nur ein- oder zweimal dort gewesen. »Na jaaa –«, sie zog das Wort in die Länge, so als würde sie sorgfältig ihre Erinnerung durchforschen, »die Farm war groß und lag an einem Berghang. Ich nehme an, die Obstgärten lagen in verschiedenen Höhen.« »Auch auf geographisch engbegrenztem Raum können ganz unterschiedliche Mikroklimate auftreten.« Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und machte es sich auf dem Bett bequem. Obwohl er sie nicht berührte, empfand sie dieses Zurücklehnen wie eine Umarmung. »Hmmmm«, sagte sie wagemutig, »ich glaube, es gab dort auch Weintrauben.« Er nickte. Die Lügengeschichte, die sie immer weiterspann, kam ihr wie ein Netz vor, das sie über ihn warf. Sie schaute zur Uhr. Es war kurz vor sechs. Er würde nicht mit seiner Familie ins Kino gehen, das stand schon mal fest. 268
Die klammheimliche Freude über diese Feststellung war vermutlich das selbstsüchtigste Gefühl, das sie je gehabt hatte. Aber sie empfand keine Reue. Während sie dem Vorsitzenden X von Onkel Carlos erzählte, öffnete sie den Hosenknopf seiner Jeans und zog den Reißverschluß so langsam herunter, daß sie spürte, wie sich jeder einzelne Zahn löste.
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32 Irgendwas ist immer L OREN STROOP erholte sich erstaunlich gut von seiner »plötzlichen Gehirnattacke«. Sein Arzt mochte das Wort »Schlaganfall« nicht, das, wie er sagte, einen Gesundheitsunfall wie das Werk Gottes erscheinen ließ, und so etwas gab es nicht. Der Arzt legte besonderen Wert auf die feinen Unterschiede bei plötzlichen Gehirnattacken, und er informierte Loren eingehend darüber, daß bei männlichen Patienten seiner Altersgruppe (über 65) der Prozentsatz der Genesung, was die Schnelligkeit betraf, bei 84, und was den Umfang betraf, bei 79 lag. Loren konnte noch nicht wieder sprechen, daher kam der Arzt seinen Zweifeln zuvor, indem er ihm riet, diese Prozentsätze nicht als Noten (eine Zwei und eine Drei minus) zu betrachten, sondern als repräsentative Beispiele des Gesetzes der Verteilung. Loren lag 34 Prozentpunkte bzw. 29 Prozentpunkte über den Durchschnittswerten. Der Doktor war darüber sehr erfreut, und er führte täglich Gespräche mit sich selbst über Loren, denen Loren meistens zuhörte, da sie in seinem Zimmer stattfanden. Loren versuchte, genausoviel Befriedigung über diese Zahlen zu empfinden wie der Arzt. Wenn Loren niedergeschlagen wirkte, klärte der Arzt ihn über den Krankheitsverlauf von Mrs. Gruber auf (Altersgruppe: 45 bis 65, Prozentwerte von 32 und 34), der es gar nicht gut ging. Loren wußte, daß der Zweck dieser vertraulichen Informationen darin bestand, ihn aufzumuntern. Vermutlich sollte er froh darüber sein, ein paar von den Prozenten abgestaubt zu haben, die eigentlich Mrs. Gruber zustanden (obwohl sich, dem Arzt zufolge, aus dem Gesetz der Ver270
teilung keine Rechte ableiten ließen), und daher tat er, was er konnte. Die Krankenschwestern mochten Lorens Arzt sehr, sie schätzten sein Verhalten den Patienten gegenüber, weil er ihnen mit seiner Entschlossenheit und Zuversicht ein Vorbild sein wollte. Loren konnte seinen rechten Arm und sein rechtes Bein benutzen. Er konnte Gegenstände erkennen, die sich rechts von ihm befanden. Er konnte seinen linken Arm und sein linkes Bein benutzen, wenn er es schaffte, sein rechtes Auge auf sie zu richten, und dadurch war es ihm, wenn auch unter Schwierigkeiten, möglich, mit seinem neuen Stock zu gehen. Er konnte verstehen, was die Leute sagten, und die rechten Seiten eines Buches lesen, aber er konnte keine Worte hervorbringen, weder in gesprochener noch in geschriebener Form. Jeden Morgen wachte er mit dem Gedanken an sein größtes Problem auf, das darin bestand, wie er es schaffen konnte, seine Konstruktionspläne zu seinem Transferdekan Harstad und dann den Dekan zu seiner Maschine zu bringen. Manchmal dachte er auch an sein anderes Problem, das darin bestand, wie er es schaffen sollte, mit den »funktionalen Defiziten«, wie der Arzt sie nannte, zurechtzukommen. Sie ließen sich nicht mit dem Leben eines auf sich allein gestellten Farmers in Einklang bringen, und ein anderes Leben kannte er nicht. Die Schwester brachte ihm sein Frühstück und stellte es rechts von ihm ab. Er erkannte alles mit einer Ausnahme, aber nachdem er den Kopf ein wenig auf die Seite gelegt hatte, sah er, daß es sich dabei um ein Stück Honigmelone handelte. Er bewegte den Kopf nicht, und plötzlich fiel ihm eine alte Kuh von ihm ein, die auf einem Auge blind war und den Kopf auf die gleiche Weise schräg hielt. Man 271
mußte sie auf ihrer gesunden Seite melken, aber er hatte sie gemocht. Ihm hatte gefallen, wie umsichtig sie ihr Leben meisterte und Gewohnheiten entwickelte, um ihre Schwäche auszugleichen. Nach dem Frühstück mußte er auf den Fluren hin- und hergehen. Die Schwestern zwangen ihn, schneller zu gehen, als er wollte – es war anstrengend, nicht darauf zu achten, daß alles zu seiner Linken im Nichts verschwand. Er hatte das Gefühl, an der Grenze zu einer unerforschten Welt entlangzugehen, und er mußte die Angst unterdrücken, die dabei in ihm aufstieg. Er fand es angenehmer, mit seiner gesunden Seite nach oben im Bett zu liegen, aber die Schwestern hinderten ihn entschieden daran, nur das Angenehme zu tun. Während des Marsches über die Flure, der sich ewig in die Länge zog, vergaß er, über seine Zukunft nachzudenken, aber seine Maschine und seine Konstruktionspläne vergaß er nie. Er sah sie deutlich vor sich, aber selbst wenn seine hübsche und liebenswürdige Sprachtherapeutin ihn aufmunternd ansah und ihn mit sanfter Stimme aufforderte: »Versuchen Sie es noch einmal. Sagen Sie es«, klang alles, was er zustande brachte, wie das Muhen einer Kuh. Er zweifelte nicht daran, daß die großen Agrarkonzerne, die CIA und das FBI seinem Leitungswasser ein spezielles Gift beigemischt hatten, das sein Gehirn angriff, um ihn außer Gefecht zu setzen, oder, was wahrscheinlicher war, ihn umzubringen. Er zweifelte nicht daran, daß er Glück hatte, noch am Leben zu sein. Er zweifelte nicht daran, daß er sein Muh-Problem überwinden und am Ende der Sieger sein würde. Aber er fand es ungerecht, daß sie ihn, nachdem er stets hart und geduldig gearbeitet hatte, am Ende doch noch erwischt hatten. Die Millers kamen vor dem Mittagessen zu Besuch. Sie 272
brachten ihm eine Tüte selbstangebauter Haralson-Äpfel mit, die er immer sehr gerne gemocht hatte. Sie nahmen rechts von seinem Bett Platz, und die Schwester erzählte ihnen, daß er heute viermal durchs ganze Krankenhaus gelaufen war. Sie waren begeistert. Die meiste Zeit redete Sally. Sie und Mary Hutton waren bei ihm zu Hause gewesen und hatten saubergemacht. Linc, Marys Vater, hatte einen kleinen Unfall mit seinem Pickup gehabt, aber Linc hatte die Delle in der Haube mit einem Hammer ausgebeult, und der Wagen sah aus wie neu. Mary war immer noch mit ihrer Schwester in Chicago zerstritten. Die Töchter von Sally gehörten wieder zur Basketballmannschaft der Schule. Das Training hatte vor kurzem begonnen. Sahen die Äpfel dieses Jahr nicht gut aus? Und knackig waren sie! Er würde es ja merken, wenn er sie probierte. Sally lächelte unablässig und streichelte seine rechte Hand, und daher zog er sie nicht weg, obwohl er doch für jedes der Mädchen einen Dime suchen wollte. Während Sally redete, warf sie Joe bedeutungsvolle Blicke zu, bis Joe schließlich sagte: »Weißt du eigentlich schon, daß wir deine Bohnen verkauft haben? Ich hab einen guten Preis dafür erzielt.« Loren schüttelte den Kopf. Diese Neuigkeit war mehrere Wochen alt. Joe fuhr unsicher fort: »Der Mais ist eingelagert. Er hatte etwa 17% Feuchtigkeit. Ganz ordentlich, fand ich. Inzwischen haben wir sie auf 14 % gesenkt. Ich warte noch, bis die Preise steigen, bevor ich verkaufe. Das mache ich mit meinem eigenen auch.« Loren schüttelte den Kopf. Joe wäre sicher fassungslos gewesen, wenn er gewußt hätte, daß Loren der Mais vollkommen egal war. Loren schaute Sally an, die verstummte. Kurz darauf 273
sagte sie: »Willst du uns etwas mitteilen?« Er nickte. »Es geht weder um den Mais, noch um die Bohnen, noch um die Hunde? Die Hunde sind bei den Christensens. Ist dir das recht? Die Christensens mögen Hunde.« Loren schüttelte den Kopf. »Das Haus?« Loren schüttelte den Kopf, obwohl dadurch die beiden Welten in seinem Kopf, die bekannte und die unbekannte, auf schmerzhafte Weise durcheinandergewirbelt wurden. Nichts laugte ihn so stark aus wie Kopfschütteln. Joe sagte: »Deine Geräte? Linc Hutton und ich haben sie vor ein paar Tagen in den Maschinenschuppen gestellt.« Loren schüttelte den Kopf. Joe sagte: »Also, wir waren nur ein einziges Mal in deiner Scheune. Wir wollten das Licht ausschalten. Ich weiß, daß dort niemand hineindarf, und wir wollen uns auch gar nicht einmischen. Dein Geheimnis bleibt also gewahrt. Wir haben nicht in der Scheune herumgeschnüffelt, wenn du dir darüber Sorgen machst.« »Das stimmt«, sagte Sally. »Du kannst dich auf uns verlassen. Wir haben dafür gesorgt, daß deine Post nicht mehr zugestellt wird, und wir haben das Telefon abgemeldet, aber wir fanden es besser, weiterhin Strom im Haus zu haben, damit wir ein paar Lampen brennen lassen können. Aber du kannst mir glauben, wir haben uns nicht in deine Privatangelegenheiten gemischt.« Loren nickte heftig, um deutlich zu machen, daß sie in die Scheune gehen DURFTEN und seine Privatangelegenheiten erforschen DURFTEN, denn er war davon überzeugt, Joe würde, wenn er es täte, beeindruckt von der Maschine sein, und er würde sich darum kümmern, sie instandzuhal274
ten. Sie instandzuhalten würde – möglicherweise – ausreichen. Irgendwann, wenn seine Prozentwerte noch ein bißchen nach oben geklettert waren, würde er seine Sprache wiederfinden. Das Muhen würde sich in überzeugende Argumente verwandeln, und er sah sich schon im Büro seines Dekans, wie er ihm die Konstruktionspläne zeigte, und er sah seinen Dekan schon bei sich in der Scheune stehen und über seine revolutionäre Maschine staunen, und damit wären die CIA, das FBI und die großen Agrarkonzerne ERLEDIGT. Aber die Millers deuteten sein Nicken als Zustimmung und versicherten ihm erneut, sie würden sich nicht um seine Privatangelegenheiten kümmern, und kurz danach hatten sie ihm den restlichen Klatsch erzählt und waren zum Mittagessen nach Hause gefahren. Er selbst hatte Hackbraten zum Mittagessen, den er aß, weil er nichts anderes zu tun hatte, und dann drehte er seine gesunde Seite nach oben und versuchte trotz des Gefühls, daß er über einem seltsamen, unbekannten Gebiet ausgestreckt lag, einzuschlafen. Er setzte Vernunft an die Stelle von Gefühl und zwang sich, immer wieder zu denken: Ich liege bloß im Bett, ich liege bloß im Bett, ich liege bloß im Bett, aber das Problem war, wenn man einmal damit anfing, Vernunft an die Stelle von Gefühl zu setzen, dann mußte man zugeben, daß seine Maschine vielleicht oder wahrscheinlich niemals die Scheune verlassen würde und die Pläne bis zu seinem Tod in dem Kopierladen herumliegen und dann weggeworfen werden würden. Wenn man Vernunft an die Stelle von Gefühl setzte, mußte man zugeben, daß die Leute vom FBI und der CIA und vor allem von den großen Agrarkonzernen sich gegen ihn, Loren Stroop, vermutlich ebenso durchsetzen würden, wie sie es auch sonst gewohnt waren zu tun.
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33 Warum? DAS E RSTAUNEN von Mrs. Loraine Walker über den Erwerb der Seven Stones Mining Corporation durch TransNational wurde, wie sich herausstellte, vom Wall Street Journal geteilt. Obwohl Seven Stones nur ein einziger Absatz am Ende eines langen Artikels über den Niedergang der großen Bergbaufirmen gewidmet war, enthielt dieser Absatz, nach Ansicht von Mrs. Walker, einige interessante Beobachtungen. Früher war TransNational, wie der Verfasser, einer von diesen diensteifrigen Lakaien der herrschenden Klasse, ausführte, bekannt dafür gewesen, kleine Firmen aufzukaufen, kurz nachdem oder bevor sich ihre innovativen Herstellungsverfahren oder Produkte in der Branche durchgesetzt hatten – TransNational besaß mehr als doppelt soviel Patente wie die meisten Firmengruppen dieser Größenordnung. Arien Martin hatte des öfteren seine Verachtung für die »unbeweglichen Industrie-Dinosaurier« zum Ausdruck gebracht, zu denen er solche Firmen wie Exxon, IBM, Reynolds Tobacco und General Foods zählte. Einmal war er mit einer abfälligen Bemerkung über einen Bekannten von ihm, der die Firma Jell-O leitete, zitiert worden. »Dieser Mensch«, hatte er gesagt, »verbringt seine Zeit damit, sich Salatrezepte auszudenken und den Leuten zu erklären, daß Dosenananas in grünem Wackelpudding sie nicht umbringt. Ich dagegen halte nicht bloß Firmen am Leben, ich revolutioniere die Wirtschaft.« Aber die Seven Stones Mining Corporation war eine rückständige Firma mit einem Verwaltungswasserkopf, die ungeachtet abbröckelnder, um nicht zu sagen einbrechender Gewinne beharrlich fast vollständig erschöpfte Gruben weiter 276
ständig erschöpfte Gruben weiter betrieb. Der interessanteste Aspekt der Firma, der von dem Schreiberling mit Journal-typischer heimlicher Bewunderung ausführlich beschrieben wurde, war ihre bewegte Vergangenheit, in der sie Land gestohlen, Wahlen manipuliert, wahrscheinlich die Ermordung eines UMW-Funktionärs in Auftrag gegeben, Kontrolleure und andere Regierungsbeamte eingeschüchtert und Sicherheitsbestimmungen ignoriert hatte. Außerdem hatte der Bergbau, dem Artikel zufolge, zumindest in den USA keine Zukunft. Die Mesabi Range, die Upper Peninsula, das Mother Lode-Gebiet, Wyoming und Montana – wegen des Preisverfalls und des Recyclings sagten sich inzwischen sogar die größten Firmen: »Wozu die Mühe?« Natürlich gab es auch noch Kennicott. Mrs. Walker preßte mißbilligend die Lippen zusammen. Eine Bleimine in Wisconsin. Hmm. Direkt am Flambeau River. Hmm. Obwohl Mrs. Walker ein ganzes Stück weiter östlich, in der Nähe von Shawano, aufgewachsen war, kannte sie den Flambeau River, diesen abgeschiedenen, unberührten, einzigartigen, dunklen, tiefen, reichen, kühlen, herrlichen Fluß, der wie eine Schneise durch den Wald führte. Mrs. Walker war es lieber, wenn das Blei in Erz eingeschlossen unter der Erde blieb. Sie hatte etwas dagegen, wenn es sich in Farben, im Abfall, im Boden oder in der Luft befand. Und vor allem hatte sie etwas dagegen, daß es in den Flambeau River sickerte. Kennicott. Ihre Augenbrauen senkten sich und bewegten sich aufeinander zu. Sie machte sich eine Notiz, um nicht zu vergessen, einen ihrer Cousins anzurufen, der noch im Reservat lebte. Aber ihr aktuelles Problem war Arien Martin. Sie schaltete sich in die Computerdateien des Fachbereichs für Geologie ein. Sie fand dort keine Korrespondenz mit einer von 277
Martins Firmen und auch sonst keinen Hinweis auf Seven Stones Mining. Widerwillig gestand sie sich ein, daß sie fürs erste mit ihrer Weisheit am Ende war. Um sich abzulenken, und weil es sehr lange gedauert hatte, bis die Bibliothek den Artikel herausgesucht und kopiert hatte, rief sie den Sportetat auf und übertrug genügend Geld auf den Bibliotheksetat, damit zwei neue 2 / 3 -Stellen für studentische Hilfskräfte geschaffen werden konnten.
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Teil 3
34 Warum nicht? W ÄHREND DR . L IONEL GIFT sein Gutachten für die TransNationalAmerica Corporation fertigstellte (er kam vertraglichen Verpflichtungen sofort nach, eine weitere seiner Tugenden), dachte er darüber nach, wie befriedigend es doch war, gute Arbeit für eine gute Sache zu leisten. Natürlich wußte er genau, daß das Gutachten nur eine der Dienstleistungen war, zu denen er sich verpflichtet hatte. Sie hätten einen Mann von seiner intellektuellen und moralischen Statur nicht engagiert, wenn es nur um ein Gutachten gegangen wäre. Sobald er das Gutachten abgeschlossen hatte, würde die eigentliche Arbeit beginnen, die darin bestand, seine Freunde und Bewunderer in der costaricanischen Regierung zu umschmeicheln und sie zu überzeugen, indem er ihnen die zu erwartenden Gewinne vor Augen führte. Und er würde bald damit beginnen müssen. Die Seven Stones Mining Corporation steckte in größeren Schwierigkeiten, als Martin gedacht hatte, und es kostete die anderen Firmen von TransNational ein Vermögen, sie vor dem Konkurs zu bewahren. Martin hatte eine panische Angst vor Konkursen, ein Überbleibsel aus seiner Kindheit während der großen Wirtschaftskrise, was Dr. Gift an dem Mann irgendwie rührend fand. Allerdings hatte Martin recht mit seiner Befürchtung, daß es, wenn die Banken erst das Kommando übernommen hatten, schwierig sein würde, kostspielige Maschinen ins Ausland zu schaffen, zum Beispiel nach Costa Rica. Und wenn man eine Goldmine unter dem letzten urzeitlichen Nebelwald Mittelamerikas schürfen wollte, ging das 280
nicht ohne kostspielige Maschinen. Dr. Gifts fester Überzeugung nach gab es keine vernünftigen Gründe, die GEGEN eine solche Goldmine sprachen, wohl aber eine bedeutende Anzahl von Gründen, die dafür sprachen. Er hatte die vergangenen zwei Wochen damit verbracht, diese Gründe Stück für Stück, Punkt für Punkt zusammenzutragen, und er war voll und ganz von ihnen überzeugt. Dieses Gefühl empfand er als sehr angenehm. Andererseits war Dr. Gift wie jeder Mensch nicht frei von charakterlichen Schwächen, und er wußte, daß eine von ihnen darin bestand, daß er zum Beispiel für eine Molybdänmine, eine Kobaltmine oder eine Magnesiummine keine solch überzeugenden Gründe gefunden hätte. Nicht einmal für eine Silbermine. Diese Metalle mochten zwar für die von Dr. Gift bewunderte moderne Technik von nicht geringem Wert sein, beim Verfassen des Gutachtens angetrieben hatte ihn jedoch der Gedanke an jenen verborgenen Sonnenstrahl, der sich, Wohlstand verheißend, wie ein Faden durch die dunklen Tiefen des Gesteins zog – GOLD. Er fühlte sich an das Universum erinnert, daran, wie rar und unbezahlbar das Licht in der unendlichen Finsternis war, und daß die Menschen, die dieses Licht zum Leben brauchten, danach streben mußten, es zu finden, wenn sie nicht sterben wollten. Und jetzt waren die Geologen von Seven Stones Mining an der Spitze der südamerikanischen Granodiorit-Intrusion zufällig auf eine Goldader gestoßen, einen Ausläufer jener berühmten, inzwischen restlos erschöpften Vorkommen, der bisher unentdeckt geblieben war. Das an den Nebelwald angrenzende Land, das von International Cattle, einer weiteren TransNational-Tochterfirma, in aller Stille aufgekauft worden war, umgab die Ader; sie selber gehörte aber nicht dazu. Der Licht und Leben spendende Faden verlief unter dem Wald, kam hier und da an die 281
Oberfläche und erfreute die Vögel und Affen und Schlangen mit goldgesprenkelten Flüssen, glitzernden Erdklumpen und funkelndem Staub auf dem Waldboden. Die Vorstellung, daß niemand je Anspruch auf dieses Gold erheben oder es besitzen würde, war auf eine quälende, beklemmende Weise inspirierend. Es war eine Verhöhnung der Unersättlichkeit des Konsumenten. Dr. Gift ertrug es nicht, lange darüber nachzudenken. Arien Martin ging es genauso. Das verband sie. Es wäre besser gewesen, nichts davon zu wissen. Aber sie wußten davon, und dieses Wissen verlangte nach Taten. Und es war besser, daß sonst niemand davon erfuhr. Die Gesteinsablagerungen enthielten auch stumpfere Metalle, u. a. Molybdän, und der Wald bot als Lieferant von Heilpflanzen und Holzprodukten sowie als Touristenattraktion natürlich noch andere Profitmöglichkeiten. Zur Erhaltung dieser Ressourcen war eine umsichtige Vorgehensweise vonnöten, denn es mußte um jeden Preis verhindert werden, daß Massen von primitiven Individuen, besessen von dem unstillbaren, aber lästigen Verlangen nach Gold, mit Sieben und Spitzhacken in die Gegend einfielen, so wie es in Kalifornien und Alaska geschehen war. Als ein Mann der neunziger Jahre machte Dr. Gift diese ökologischen Erwägungen zu einem wichtigen Bestandteil seines Gutachtens. Zum Glück brauchten nur sehr wenige Menschen über Dr. Gifts Gutachten Bescheid zu wissen. Die Fördersumme, von der die Universität die Hälfte bekommen würde (10 Prozent weniger als üblich. Diese Vergünstigung war ihm in Anerkennung seiner ungewöhnlich großen Verdienste um die Universität gewährt worden), würde durch das Büro von Elaine Dobbs-Jellinek direkt auf Dr. Gifts F-Konto gelangen. Wäre er bezahlter Firmenberater und nicht Emp282
fänger von Fördergeldern gewesen, hätte Dr. Gift mehr Geld erhalten, aber schließlich war Elaine Dobbs-Jellinek diejenige gewesen, die ihn über Ivars Kopf hinweg (Dr. Gift erinnerte sich noch gut an die Hühnerfutter-Affäre) mit Arien Martin zusammengebracht hatte. Dr. Gift würde niemals einen Vermittler oder eine Vermittlerin hintergehen. Der Markt, der göttliche Markt, war überall auf der Welt die geniale Schöpfung von Mittelspersonen, die lediglich über die verläßliche Intuition verfügten, welcher einfallsreiche Hersteller welchen unersättlichen Konsumenten brauchte und umgekehrt. Wie auch immer, als Empfänger von Fördergeldern mußte Dr. Gift eine Kopie seines Gutachtens (und später eine zusammenfassende Darstellung seiner Überzeugungsarbeit, vor allem, wenn er, was der Fall war, beabsichtigte, sich die Reisekosten von der Universität erstatten zu lassen) an das Büro von Elaine Dobbs-Jellinek schicken. Absolute Geheimhaltung erschien Dr. Gift als so wichtig, daß er, gleich nachdem er das Gutachten mit Hilfe seines Textverarbeitungsprogramms abgefaßt und in drei Kopien ausgedruckt hatte – eine für sich selbst, eine für Martin und eine für Elaine Dobbs-Jellinek –, die Datei löschte (das jagte ihm einen Schauer über den Rücken!) und die Kopien in seinem feuersicheren, diebstahlsicheren, tornadosicheren und hochwassersicheren privaten Safe einschloß. Es war in gewisser Weise beängstigend, nur Kopien aus Papier zu haben. Es erinnerte ihn an die Vergänglichkeit, die menschliche Sterblichkeit und die Kurzlebigkeit der Dinge. Wie schnell hatte er sich daran gewöhnt, seine Texte überall auf dem Campus zu archivieren, in den Datenbanken, auf der Festplatte seines eigenen Computers im Büro, auf einer Sicherungsdiskette, als Ausdruck und außerdem als Artikel in Fachzeitschriften. Erhöhte nicht schon die Archivierung 283
an sich den allseits anerkannten Wert von Information? Letzteres hielt er für seinen Aufsatz über Wissen und Information kurz schriftlich fest.
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35 Die Folgen MARY HATTE 38,9 Grad Fieber, und da ihr jedesmal, wenn sie aufzustehen versuchte, Kälteschauer über den Körper liefen, war sie im Bett geblieben und hatte die Bettdecke bis zum Kinn hochgezogen. Keri hatte ihr einen kalten Waschlappen auf die Stirn gelegt, eine Art bäuerliches Hausmittel. Außerdem erlaubte Keri ihr nicht, Aspirin zu nehmen. Hatte sie denn noch nie etwas von dem Reye Syndrom gehört? Höchstens Tylenol, aber sie hatten kein Tylenol, und daher war Keri losgezogen, um eine Packung zu holen. Ansonsten hätte Mary das Zimmer verlassen und wäre in den Gemeinschaftsraum gegangen, um nicht zuhören zu müssen, wie Sherri ihren Eltern, die gerade die Noten ihrer Zwischenprüfung erhalten hatten, am Telefon etwas vorjammerte. Sie jammerte: »Es ist wirklich sehr schwer hier. Ich war nicht richtig vorbereitet.« Sie jammerte: »Doch, ich habe gelernt. Nein, ich habe meine Zeit nicht verplempert.« Sie jammerte: »Ich weiß, daß es furchtbar teuer ist. Ja, ich weiß genau, wieviel es kostet, Himmelherrgott nochmal.« Sie jammerte: »Es tut mir leid. Nein, diesen Ausdruck habe ich nicht von meinen Zimmergenossinnen gelernt.« Sie schaute Mary an und verzog das Gesicht. »Ich bin nur frustriert, das ist alles.« Sie jammerte: »Ja, ich weiß, ich sollte dankbar sein, du 285
und Daddy, ihr hattet nicht die Möglichkeit. Ja, es tut mir leid.« Sie jammerte: »Es tut mir WIRKLICH leid. Ich dachte, es ist klar, daß es mir leid tut. Ich habe versucht, auch zu sagen, wie leid es mir tut.« Eine Pause. »Weil es mir WIRKLICH leid tut.« Marys Prüfungsnoten waren nicht nach Hause geschickt worden, weil sie keine Fünfen und Sechsen bekommen hatte. Sie hatte sogar eine Zwei minus in ihrer Algebraklausur geschrieben, was bedeutete, daß ihre Arbeit statistisch gesehen (das Benotungsprogramm des Computers hatte für die Algebrakurse ein gnadenloses Diagramm ausgespuckt) über der Mitte lag, was wiederum bedeutete, daß mehr als 50 Prozent ihrer Kommilitonen sogar noch weniger Ahnung von Algebra hatten als sie, was ziemlich beängstigend war. Zumindest war es das, wenn man 38,9 Grad Fieber hatte und einem vage, unerfreuliche Gedanken wie Flipperkugeln im Kopf herumrollten, sehr viel Lärm machten und verschiedene Gefühle aufleuchten ließen, die allesamt bedrückend waren. Sherri jammerte: »Die anderen haben auch Probleme. Keine von uns hat besonders gut abgeschnitten, noch nicht mal Diane. Ich verstehe nicht, warum du so wütend bist. Daddy ist nicht so wütend, und er muß es ja schließlich bezahlen.« Sie jammerte: »Ich weiß. Es tut mir leid. Es tut mir WIRKLICH leid. Ich weiß. Ich weiß.« Sherri hatte zwei Sechsen und eine Drei minus bekommen, und ihr Punkteschnitt lag bei 0,94, was noch nicht einmal einer Vier entsprach, und sie mußte ihn bis zum Ende des Semesters erheblich verbessern, genaugenommen sogar verdoppeln, um nicht vom College zu fliegen. 286
Sherri jammerte: »Ja, meine Haare sind rot. Ich habe sie gefärbt. Könnten wir darüber ein andermal reden?« Sie öffnete ihren kleinen Kühlschrank und holte eine Packung Zigaretten heraus. Dann wedelte sie mit einem Mineralwasser in Marys Richtung, aber Mary schüttelte den Kopf. Sie hatte es noch nicht einmal geschafft, die angebrochene Dose auszutrinken, die neben ihrem Bett auf dem Tisch stand. Schließlich jammerte Sherri: »Ja, ich werde bessere Noten schreiben, okay? Ich verspreche es. ICH VERSPRECHE ES. Also gut. Okay, Tschüs.« Sie legte auf, ging zum Fenster und zündete eine Zigarette an. Zwischen den Zügen hielt sie die Zigarette aus dem Fenster, das einen Spalt geöffnet war. Als Mary versuchsweise leicht hüstelte, sagte sie: »Ich weiß, ich weiß. Tabak ist schlecht für den Boden, schlecht für die Arbeiter, schlecht für die Volksgesundheit und schlecht für den Körper. Ich bin eine Idiotin.« Mit Hilfe dieser von Keri erdachten Litanei hatten die anderen Mädchen versucht, Sherri zu überreden, mit dem Rauchen aufzuhören, bis jetzt allerdings ohne Erfolg. Sie jammerte: »Mein Gott. Ich dachte, sie hört gar nicht mehr auf.« Mary hatte das Gefühl, als würde ihr Bett schaukeln oder ihr Kopf schwanken. Eins von beiden. Eins von beiden. Eins von beiden. Sherri sagte: »Mußt du dich wieder übergeben?« »Ich weiß nicht.« Sherri drückte ihre Zigarette aus und lief zum Putzraum, der am Flur lag, um den Eimer zu holen, den Diane dort zum Trocknen abgestellt hatte, nachdem er das letzte Mal benutzt und anschließend ausgewaschen worden war. Sie stellte ihn neben das Bett, dann befühlte sie den Waschlap287
pen, der ganz warm war, nahm ihn mit zum Waschbecken und spülte ihn mit kaltem Wasser aus. Anscheinend war sie auch von der Wirkung des Waschlappens überzeugt. Sie und Keri waren nicht davon abzubringen, daß Mary ihn unbedingt auf ihre Stirn legen sollte. Wegen Marys Virus und Sherris Zensuren, und weil Diane aus irgendeinem Grund furchtbar sauer auf Bob war, hatten die Mädchen mehr Zeit als sonst miteinander verbracht, und es hatte ihnen eigentlich ganz gut gefallen. Okay, Mary mußte zugeben, daß sie die Gelegenheit nutzten, sich in dem Zimmer zu verstecken, anstatt etwas zu unternehmen, das Mut oder zumindest innere Stärke von ihnen verlangt hätte. Sie aßen fertige Hühnersuppe, die sie auf einer Kochplatte heiß machten, und Popcorn und Käsekräcker und Tortilla Chips mit Salsa. Sie frisierten sich, lackierten sich die Nägel und wuschen und bügelten ihre Wäsche. Sie trafen sich nicht mit Jungen. Mary hatte sogar Hassan verboten, sie zu besuchen – er sollte die gefüllten Weinblätter, die irgend jemand aus dem Wohnheim für verheiratete Studenten für sie gemacht hatte, Keri mitgeben. Keri hatte die Rolle der Mutter übernommen, und das war auch in Ordnung. Sie kochte die Suppe und machte das Popcorn, räumte die Teller vom Boden weg und wusch sie ab, maß Mary das Fieber, fragte bei der Krankenstation um Rat und zeigte ihnen, wie man sich bei beengten Wohnverhältnissen am besten verhielt, indem sie immer ihr Bett machte und ihre Sachen ordentlich weghängte. Sie hatte auch das Mineralwasser gekauft. Bald würde sie mit dem Tylenol zurückkommen. Marys Kokon war warm und bequem und abgeschieden. Draußen war es kalt und grau. Sie schloß die Augen. Sherri ging zum Fenster und zündete sich eine weitere Zigarette an. Sie hielt sie so weit wie möglich hinaus, aber 288
es fing an zu regnen. Sie beugte sich hinunter und schob ihre Nase nahe an den geöffneten Spalt. Die feuchte kalte Luft fühlte sich auf ihren heißen Wangen gut an, aber sie wollte nicht nach draußen gehen. Sie wollte nichts weiter tun als zu rauchen und herumzusitzen. Das war ihr Problem. Sie sah, daß Mary einschlief. Jetzt wäre die perfekte Gelegenheit gewesen, sich an ihren Schreibtisch zu setzen und zumindest den Text der Englisch-Hausaufgabe zu lesen, ein harmloses Unterfangen, verglichen mit dem, was ihr sonst noch bevorstand. Aber die einzige Bewegung, zu der sie in der Lage war, bestand darin, sich von Zeit zu Zeit hinabzubeugen, um die hereinströmende kühle Luft zu spüren. Sie wußte, daß Faulheit eine Sünde war, ein Sünde, die zu all den anderen Sünden paßte, die sie begangen hatte, seitdem sie auf dem College war – Wollust (sie hatte mit drei verschiedenen Beinahe-Fremden geschlafen, mit einem von ihnen zweimal), Völlerei (sie hatte mindestens fünf Pfund zugenommen, weil sie sich nach dem Abendessen oft noch eine Pizza holte), Begehrlichkeit (einer der Jungen, mit denen sie geschlafen hatte, war der Freund eines Mädchens von ihrer High School, und sie hatte sich nur für ihn interessiert, weil Doreen immer mit den süßesten Jungen ging und immer ein großes Trara darum machte, was sie zum Kotzen fand), Zorn (jedesmal wenn ihre Mutter anrief), Neid (sie unterdrückte ihn, aber er war vorhanden – Keri konnte essen, soviel sie wollte, Mary besaß tolle Klamotten, Diane hatte ein phantastisches Sexleben, zumindest bis vor kurzem) und Stolz. Der Stolz hielt einen auch davon ab, zuzugeben, daß man Probleme hatte, auch wenn alle anderen genau Bescheid wußten. Die Sache war die, egal ob die Tugend ihren Lohn in sich trug oder nicht, die Sünde trug ihre Strafe ganz eindeutig in sich. 289
Es war nicht etwa so, daß sie nicht daran dachte, sich zu ändern. Das tat sie durchaus. Aber die Gedanken waren beiläufig und ohne rechte Überzeugungskraft. Genauso wie sie jetzt beiläufig daran dachte, sich die EnglischHausaufgabe durchzulesen, dachte sie oft beiläufig daran, das Rauchen aufzugeben, mit dem sie erst vor kurzem angefangen hatte und das ihr keinen großen Spaß machte; sie dachte beiläufig daran, zum Unterricht zu gehen; sie dachte beiläufig daran, in die Bibliothek zu gehen; sie dachte beiläufig daran, ihren Computerterminal einzuschalten und die Geologie-Aufgaben zu machen. Sie dachte beiläufig daran, keine doppelte Portion Nachtisch zu nehmen, wenn sie in der Schlange vor der Essensausgabe stand. In Dubuque House gab es gutes Essen – alle halfen beim Kochen, und einer der Vorzüge des multikulturellen Zusammenlebens bestand in den würzigen, leckeren Gerichten. Die Sache war die, sie hatte sich vollkommen gehenlassen. Die Sache war die, jeder Gedanke an ihre Familie bewirkte bloß, daß sie sich noch mehr gehenließ, und zwar mehr, als sie je für möglich gehalten hätte. Ihr kam es so vor, als ob sich jede Mauer, auf die sie zuraste, kurz vor dem Aufprall, der sie aufgerüttelt und ihr zu neuer Entschlossenheit verholfen hätte, in eine offene Tür verwandelte, durch die sie in noch größere Passivität rutschte. Sie drückte ihre Zigarette aus und legte sich träge auf Dianes Bett. Die Sache war die, als sie an einem Tag der letzten Woche den Raum betrat, in dem der Englischunterricht stattfand, lachten die Dozentin und einige der Studenten, die immer in der ersten Reihe saßen, gerade über eine Hausmitteilung, die die Dozentin (deren Namen Sherri sich einfach nicht merken konnte) erhalten hatte und in der die Studenten »Kunden« genannt wurden. Nun war es so, daß Sherri 290
zu spät gekommen war und der Dozentin außerdem zwei Aufsätze schuldete und daher die Aufmerksamkeit der Frau nicht stärker als unbedingt nötig auf sich lenken wollte, aber sie hatte das Gelächter zuerst verwirrend und dann ärgerlich gefunden. Als die Dozentin versuchte, die Diskussion auszuweiten, indem sie die Frage nach dem Unterschied zwischen »Student« und »Kunde« aufwarf, nahm Sherri die gleiche Haltung freundlicher Unwissenheit und unverbindlichen guten Willens wie die anderen Erstsemester ein, aber das bedeutete nicht, daß sie zu diesem Thema keine Meinung hatte. Tatsächlich stellte sich bei den Gesprächen nach dem Unterricht heraus, daß alle Studenten die gleiche Meinung hatten. Wenn sie derartig viel Geld bezahlten, mußten sie einfach Kunden sein, und wenn sie Kunden waren, warum war dann diese spezielle Englischdozentin so l-a-a-a-angweilig? Ausschußware? Eine Kandidatin für einen Herstellerrückruf? Veraltetes Modell? War technisches Versagen oder ein Pilotfehler schuld an dem furchtbar öden Unterricht? Sie hatten alle auf dem Flur vor dem Unterrichtsraum darüber gelacht. Aber jetzt, träge auf dem Bett liegend, fand sie es gar nicht mehr so lustig. Tatsächlich bekam sie für ihr Geld nicht den erwarteten Gegenwert. Wie dieser Gegenwert aussehen sollte, konnte sie allerdings nicht genau sagen. Aber sie kannte diese träge, reizbare Stimmung nur allzu gut. Es war das Gefühl einer unzufriedenen Konsumentin, und es war entseeeeeetzlich lästig. Das Rumoren und Würgen aus Marys Richtung ließ sie aufschrecken. Sie schnellte hoch, rannte durchs Zimmer und schaffte es gerade noch, den Waschlappen aufzufangen, bevor er in den Eimer fiel. Sie hielt Mary den Kopf, tätschelte ihr den Rücken und versuchte, nicht in den Eimer zu schauen. 291
36 Ein anderer Blickwinkel Aufgabe: Erzählen Sie die Geschichte, zu deren Überarbeitung Sie sich entschlossen haben, noch einmal aus der Sicht einer anderen Figur. Es ist riskant, dafür 1) die Perspektive eines Haustiers, 2) die Perspektive eines Möbelstücks oder einer Fliege an der Wand und 3) die Perspektive des Alter egos Ihres Protagonisten zu wählen. Diese und andere Tricks sind bereits erprobt worden und bisher jedesmal fehlgeschlagen. Ihr Ziel bei dieser Aufgabe soll sein, die Darstellung sowohl des ursprünglichen als auch Ihres neuen Protagonisten zu bereichern. Sie haben eine gewisse Freiheit, den Handlungsverlauf zu verändern, aber Ihre Geschichte sollte deutlich wiedererkennbar sein. 25. Okt. 1989 Monahan, KS 325 »Der Junge«, 3. Fassung eine Geschichte von Gary Olson Obwohl er nie jemandem etwas davon erzählte, und er erst acht war, besaß Larry ein paar besondere Kräfte, die er nicht ganz verstand. Er konnte zum Beispiel um die Ecke gucken, und er konnte sich an sein ganzes Leben erinnern, zurück bis zu seiner Geburt. Aber er verdrängte die Erinnerung an die ersten Jahre seines Lebens meistens, denn sie machte ihn zu traurig. Damals war seine Mutter Lydia noch jung und hübsch und dünn und glücklich gewesen. Damals 292
war sein Vater jeden Abend nach der Arbeit nach Hause gekommen, um mit ihr zu essen und mit ihm, Larry, zu spielen. Damals waren sie eine glückliche Familie gewesen, und das vermißte Larry jetzt. Seine besonderen Kräfte ließen ihn Dinge sehen, die ihn eher traurig als glücklich machten. »Lydia und Larry« eine Geschichte von Gary Olson Larry wußte, daß er seine Mutter verloren hatte – die Polizei hatte sie eines Nachts abgeholt und eine dicke unförmige Frau, die ihn nicht liebte, an ihrer Stelle dagelassen, eine richtige Schreckschraube. Sie hatten außerdem noch ein anderes Kind dagelassen, seine angebliche Schwester Allison, aber Allison kam in Wirklichkeit aus einer ganz anderen Familie. Larry fand es sehr seltsam, daß sein Vater, Lyle, den Tausch nicht bemerkt hatte, aber Lyle war sehr mit seinem Job beschäftigt und arbeitete oft zwei Schichten nacheinander, daher bekam er generell nicht sehr viel mit. An manchen Tagen versuchte Larry, die neue Mami dazu zu bringen, daß sie zugab, nicht Lydia zu sein, was ihm nie ganz gelang, aber sie brüllte ihn jedesmal an, und das war Beweis genug. Seine richtige Mutter hatte ihn niemals angebrüllt, und er erinnerte sich genau, daß er oft in ihren Armen gelegen und zu ihr hochgeschaut hatte, und dann hatte sie zu ihm hinuntergelächelt, und er wußte, er würde an ihrer Brust saugen dürfen »Lyle« eine Geschichte von Gary Olson
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Lyle Karstensen fragte sich oft, ob ihn nicht die Hauptschuld an dem traf, was mit seiner Frau Lydia passiert war. Wenn er zehn Jahre zurückblickte und an ihre Zeit auf dem College dachte, wurde ihm klar, daß er Lydia nicht genug beachtet hatte, und daß sie bei ihm geblieben war, obwohl er sie immer wieder ignoriert oder gedemütigt hatte. Zum Beispiel erinnerte er sich daran, daß er sie gezwungen hatte, in widerlich schmutziger Bettwäsche zu schlafen, bis sie sich entschloß, sie zu waschen. Er erinnerte sich auch daran, daß sich in seinem Zimmer die Pizzakartons stapelten, obwohl seine Mitbewohner das ekelerregend fanden. Und er erinnerte sich, wie eifersüchtig er auf seinen Mitbewohner Larry gewesen war, weil er fand, daß Lydia ihm zuviel Beachtung schenkte. Aus diesem Grund hatte Lyle, nachdem Larry bei einem schrecklichen Unfall ums Leben gekommen war, als er versuchte, ein paar alte Leute aus einem Feuer zu retten, seinen erstgeborenen Sohn nach Larry benannt. Das Feuer hatte sich in Los Angeles ereignet, wo Larry im zarten Alter von fünfundzwanzig Jahren gerade seinen ersten Film drehte. Er hatte auch das Drehbuch selber verfaßt, und alle Welt war von dem Projekt begeistert. Aber er wohnte nicht weit von einem Altersheim entfernt, und als mitten in der Nacht die schadhaften elektrischen Leitungen zu brennen anfingen, war Larry ohne zu zögern Mr. Monahan – ich habe sehr hart an dieser Aufgabe gearbeitet. Ich habe wirklich jeden Tag, genau wie Sie empfohlen haben, fünfundvierzig Minuten oder eine Stunde gearbeitet und mich dann, um eine gute Arbeitsmoral zu entwickeln, dafür belohnt. Aber ich komme einfach nicht weiter. Hier sind die Ergebnisse meiner Versuche, nur um Ihnen zu zeigen, daß ich wirklich gearbeitet habe. Ich hoffe, Sie 294
werden sie nicht benoten. Ich versuche es bis zur nächsten Woche noch einmal.
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37 Earls Meinung OBWOHL B OB C ARLSON ihr eigentlich wenig bringen konnte, mußte Diane feststellen, daß sie die Beziehung zu ihm überraschend aktiv vorantrieb. Das war gar nicht gut, denn es deutete auf eine gewisse Anhänglichkeit ihrerseits hin, die sich nicht mit ihren Plänen vertrug. Das hieß jedoch nicht, daß sie keine Verabredungen mit anderen Männern traf – sie war mit einem Theta Chi, einem Sigma Chi, einem TKE und einem DKE ausgegangen. Alle vier hatten sie zu Partys ihrer Verbindungen mitgenommen, auf denen ihr ihre Zukunft vor Augen geführt wurde und sie ihre Fertigkeiten im sozialen Umgang und im Flirten verfeinern konnte. Alle vier Abende waren äußerst erfolgreich verlaufen, aber die Jungen waren alle vier unerträglich gewesen. Sie wollten sie nur küssen, wenn sie betrunken waren, und dann waren ihre Küsse übermäßig feucht. Sie hatten auch keine Lust, sich mit ihr zu unterhalten, sondern wollten sie nur in der Nähe wissen, während sie mit ihren Verbindungsbrüdern redeten. Und das schlimmste war, wenn sie sich weigerte, sich ebenfalls hemmungslos zu betrinken (um weitere Studien betreiben zu können), dann wandten sie ihre Aufmerksamkeit anderen Mädchen auf der Party zu, die schneller auf die Bewußtlosigkeit zusteuerten. Das Langweilige an diesen Typen war, daß sie keine Geheimnisse hatten. Ihre hohe Meinung von sich selber und ihre Überzeugung, sie hätten ein unbestreitbares Anrecht auf Dianes sexuelle Verfügbarkeit, gute Kleidung, teure Autos und eine Zukunft, die ganz nach ihren Wünschen verlief, waren allzu offensichtlich. Diese Jungen waren wie 296
ein offenes Buch, und Diane glaubte im Gegensatz zu einigen der anderen Mädchen nicht daran, daß zwischen den Jungen auf den Partys und denselben Jungen im nüchternen Zustand ein Unterschied bestand. Die Jungen auf den Partys gaben sich so, wie sie waren, und obwohl Diane inzwischen viel von ihren Illusionen und ihrem Enthusiasmus verloren hatte, so zweifelte sie trotzdem immer noch nicht daran, daß die Welt dieser Jungen in Zukunft auch ihre Welt sein würde. Im Augenblick dachte sie nur: Wer gewarnt ist, ist gewappnet. Bob dagegen steckte voller Rätsel. Der Gegensatz zwischen dem ausdruckslosen Gesicht und dem tollen Körper war eines, zwischen seiner sexuellen Unerfahrenheit und seinem großen Schwanz ein weiteres. Daß er ständig Briefe an Mädchen schrieb, war mysteriös (sie hatte sich noch nicht getraut, seine Sachen zu durchsuchen, um festzustellen, was sie ihm antworteten – denn dieser Gary war immer in der Wohnung und arbeitete am Computer). Daß Bob fünfmal am Tag plötzlich verschwand, unter anderem um zehn Uhr abends, ganz egal was sie gerade machten, um angeblich seinen Job als studentische Hilfskraft zu erledigen, gehörte auch zu den Geheimnissen, die ihn umgaben, auch wenn es nicht das größte war. Das größte Geheimnis war die Frage, wie es sein konnte, daß er eine eigene Persönlichkeit hatte, während der Theta Chi, der TKE, der DKE und der Sigma Chi nur Teil einer kollektiven Persönlichkeit zu sein schienen, die zugegebenermaßen von Verbindung zu Verbindung leicht variierte: Thetas waren etwas fleißiger, Sigmas tranken lieber Miller als Bud, bei den TKElern ging es ziemlich grob zu, und DKEler reagierten besonders ungehalten, wenn man ihren sexuellen Wünschen nicht entsprach. In der Woche, als sie und ihre Zimmergenossinnen sich 297
gemeinsam zu Hause vergraben hatten (diese merkwürdige Phase war Gottseidank vorüber, und ihr Leben verlief wieder in den gewohnten Bahnen), hatte sie versucht, Bob überhaupt nicht zu begegnen. Mary sagte: »Warum kannst du nicht einfach zugeben, daß er ein netter Typ ist und dir gut gefällt?« Sherri sagte: »Ich kannte auf der High School mindestens zehn solche Typen wie ihn.« Keri sagte: »Das geht jetzt schön ein paar Monate mit euch. Müßtest du nicht allmählich wissen, ob du ihn magst oder nicht?« Sie erkannten nicht, in was für einer Krise sie sich befand, weil sie nicht verstanden, was es hieß, schon als Studentin zu einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe zu gehören, dachte Diane. Ein schneller Aufstieg war für ein Mädchen fast wie ein Drahtseilakt. Jeder Schritt mußte gut überlegt werden, und es ging nicht ohne eine gewisse Opferbereitschaft. Aber schließlich hatte sie es doch nicht mehr ausgehalten, ihn nicht zu sehen, und beschlossen, eine offensivere Managementstrategie anzuwenden. Als er sich von seinen Statistikaufgaben erhob und um den Tisch herumkam, um ihr einen Kuß zu geben, sagte sie: »Stör mich nicht.« Er war verletzt. Er kehrte auf seine Seite des Schreibtischs zurück. Sein Statistikkurs lag zwei Kapitel hinter ihrem zurück. Manchmal half sie ihm, wenn er Schwierigkeiten hatte, um ihn auf dem Weg zum schnellen Aufstieg mitzunehmen, aber nicht heute abend, denn sie verfolgte einen Plan. Wenn er heute abend seine Bücher zuschlagen, sie küssen und sich auf den Weg über den Campus machen würde, dann würde er so perplex und fertig sein, daß er den Blick keinen Moment lang von seinen Schuhspitzen abwenden könnte. 298
Vielleicht war ihr Plan skrupellos, aber Skrupellosigkeit war schließlich eine erstrebenswerte Eigenschaft, und Bob hatte es ja förmlich herausgefordert, indem er ein solches Geheimnis daraus machte, wo er fünfmal am Tag hinging. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. Halb zehn. Sie konzentrierte sich auf die Appositionsregeln. Nur einen Augenblick später, so schien es ihr (wenn man siegesgewiß einen Plan verfolgte, verging die Zeit selbst beim Lesen von Grammatikregeln wie im Fluge), stand Bob auf und zog seine Jacke über. Er kam um den Tisch herum. Diane sah, daß ihre Bücher auf seiner Mütze lagen, also zog sie die Mütze hervor und reichte sie ihm mit einem Lächeln. Er wirkte niedergeschlagener, als sie beabsichtigt hatte, und vielleicht gingen seine Gefühle ein bißchen zu sehr in Richtung »die Sache ist den Kummer nicht wert«. Sie griff in den Ärmel seiner Jacke, der zu lang war, weil er ständig seine Handschuhe vergaß und die Ärmel über die geballten Fäuste zog, um sich warmzuhalten, und drückte kurz seine große, muskulöse, unglaublich erotische Hand. Dieser Händedruck ging ihr durch und durch – mein Gott, wenn er wüßte! Wenn überhaupt jemand wüßte! Wie peinlich ihr das wäre! »Also dann gute Nacht«, sagte er. »Soll ich dich nicht doch nachher abholen und zum Dubuque House begleiten? Ich finde es nicht gut, wenn du allein über den Campus läufst.« »Sherri und Keri sind noch oben im dritten Stock. Uns passiert schon nichts. Wir sehen uns dann morgen. Komm doch nach deinem ersten Kurs zum Frühstück vorbei. Morgen ist Muffin-Tag.« In einem Punkt blieb er unnachgiebig: kein Sex am Sonntag, Dienstag und Donnerstag, denn er ging nicht gerne im Zustand melancholischer Erschöpfung (er selber nannte es nicht so) in seinen Statistikkurs (um 7:30 Uhr). Er nickte, drehte sich um, schlurfte durch den 299
Lichthof und trat aus dem Bibliotheksgebäude in die Nacht hinaus. Sie hatte einen Tisch am Fenster auf der Ostseite gewählt und beobachtete nun, wie er bei der Lorman Hall um die Ecke bog. Sie sprang auf, schlüpfte in Jacke und Handschuhe und setzte ihre Mütze auf. Keri, die eingeweiht war, hatte sich bereit erklärt, Dianes Bücher mitzunehmen, wenn sie die Bibliothek verließ. Die Wege auf dem Campus waren hell erleuchtet, aber als sie selber an der Lorman Hall abbog, bemerkte Diane, daß Bob nicht auf dem Weg geblieben war. Sie war gezwungen, stehenzubleiben und mit den Augen die Gegend nach ihm abzusuchen (warum hatte sie nicht heimlich ein Stück Leuchtband hinten auf seine Jacke geklebt? Er hätte es bestimmt nicht bemerkt), und verlor wertvolle Zeit, während sie versuchte, eine dunkle, sich bewegende Gestalt zwischen all den dunklen Bäumen auszumachen. Da war er. Sie rannte über den reifbedeckten Rasen. Sie machte sich dabei zwar ihre Schuhe naß, aber sie holte auf. Dann blieb sie hinter einem Baum stehen und hielt erneut nach ihm Ausschau. Sie fühlte sich tatsächlich nicht sicher, besonders in dunklen Ecken wie dieser – die Gerüchte über den Axtmörder waren zwar nach Ansicht ihres Anthropologieprofessors nur unverwüstliche Legenden, die schon seit der Gründung der ersten Hochschulen an allen Universitäten kursierten, aber sie taten dennoch ihre Wirkung. Womöglich war Bob ihretwegen so in Gedanken versunken, daß er noch nicht einmal ihre Todesschreie hören würde… Da war er wieder. Er steuerte auf Davis Hall zu, aber nein, auch an diesem Gebäude lief er vorbei. Sie huschte schnell weiter, um ihn nicht wieder aus den Augen zu verlieren. Er sah von hinten einfach süß aus – O-Beine, knackiger Po, breite Schultern, der Gang ein bißchen schlurfend und ein bißchen federnd, und wenn Sherri zehn von 300
seiner Sorte kannte, warum ging sie dann mit diesen plumpen Trotteln und zappeligen Quatschköpfen aus, die sie ständig wie Trophäen zu Hause anschleppte? Er ging jetzt langsamer, vermutlich um den Garten zu betrachten, er war ganz verrückt nach Blumen, und Diane kam fast zu dicht an ihn heran, aber das erwies sich als vorteilhaft, denn als er dann um die Laderampe des dunklen Gebäudes hinter dem Garten herumging, die Tür entriegelte und aufstieß, war sie gerade nahe genug, um mit einem kurzen geräuschlosen Sprint die Tür zu erreichen, bevor das Schloß wieder zuschnappte, und sie offenzuhalten, während sich seine hallenden Schritte im Korridor entfernten. Sie hätte ihr gesamtes Bankguthaben ($ 611,37 abzüglich $ 1,05 Kontoführungsgebühr) verwettet, daß er keine Ahnung hatte, daß sie ihm gefolgt war. Sie hielt weiter die Tür fest. Er schaltete unterwegs überall das Licht an – wie eine Spur aus Brotkrumen. Sie wartete. Schließlich hörte sie das Geräusch einer schweren Metalltür, dann war alles still. Sie schlüpfte hinein und ließ die Tür hinter sich zufallen. Die Verfolgung hatte ihr Lust auf ihn gemacht. Sie wußte, er hatte keine Ahnung, daß sie ihm nachgegangen war, aber es kam ihr dennoch so vor, als laufe er vor ihr davon, und sie machte sich Gedanken, vermutlich unvermeidliche Gedanken, denen sie nicht allzuviel Beachtung schenken sollte, Gedanken darüber, wie sie ihn behandelte, darüber, wie sie war, nämlich oft launisch und kühl und geizig mit ihrer Zeit und ihrer Geduld und ihren Versprechungen, selbst was die unmittelbare Zukunft anging. Sie wußte, er rechnete jederzeit damit, daß sie die Beziehung abbrach, denn da er unerfahren war, wußte er nicht hinreichend zu würdigen, was sie ihm uneingeschränkt und sogar gerne gab: Sex. Dank ihrer eigenen Erfahrungen wußte sie, daß sie sich auf diesem Gebiet so entgegenkommend verhielt, 301
wie Männer es sich nur erträumten, und daß dieses Entgegenkommen genau dem entsprach, worauf die TKEler, DKEler, Sigmas und Thetas ein Anrecht zu haben glaubten, was ihnen aber dann doch verweigert wurde. Bob dagegen jagte es eher Angst ein. Dadurch war sie im Nachteil. Und im Nachteil zu sein, verstieß gegen ihre persönlichen Geschäftsbedingungen. Also schlich sie auf leisen Sohlen über den Zementfußboden. Das Licht wies ihr den Weg, und nachdem sie nur zweimal falsch abgebogen war, erreichte sie eine breite Metalltür, die neuer aussah als die anderen Türen im Gebäude und rundherum mit dunkelgrauem Gummi abgedichtet war: das mußte die richtige Tür sein. Der Knauf ließ sich drehen. Die Tür ging mit einem saugenden Geräusch auf, und bevor Diane einen Blick in den Raum werfen konnte, drang ein starker, beißender Geruch nach Schweinestall durch den Türspalt, und unwillkürlich sagte sie: »Igitt«. Aber nur ganz leise. Als sie hineinschaute, sah sie, daß Bob sie nicht gehört hatte. Wohl aber das Schwein. Es lag auf der Seite, die Füße in Richtung Tür ausgestreckt, den Kopf angehoben, die Ohren gespitzt, und blickte sie aus dunklen neugierigen Augen an. Bob befand sich in dem Koben, hob mit einer Mistgabel Stroh auf und warf es in eine Schubkarre. Diane sah ihm einen Augenblick zu und sagte dann fröhlich: »Hab ich dich erwischt!« Bob fuhr herum. »Du wolltest es mir ja partout nicht verraten.« Er sah nicht gerade begeistert aus. »Die ganze Heimlichtuerei war doch nicht nötig. Viele Studenten haben unangenehme Jobs.« »Wie wär’s, wenn wir das später besprechen. Ich habe 302
noch zu tun.« Diane schloß die Tür hinter sich und ging hinüber zum Koben. Sie sagte: »Wie heißt es?« Earl brach zum erstenmal seit Monaten mit seinen abendlichen Gewohnheiten, hievte sich hoch und begab sich in die hintere Ecke des Kobens. Diane sagte: »Mein Gott, das Tier ist ja riesig! Wieviel wiegt es?« »Fast sechshundert Pfund. Er heißt Earl. Earl Butz.« »Er ist richtig weiß, nicht? Ich meine, total weiß. Ich dachte immer, Schweine wären irgendwie rosa.« »Er ist ein dänischer Landrasseneber. Die sind weiß. Er ist ein äußerst anspruchsvolles Schwein. Das sind sie häufig. Du machst ihn nervös. Deine Stimme ist zu schrill.« Das war bei weitem nicht alles, fand Earl. Lebenslanges Alleinsein hatte Earl zu einem besonders sensiblen Schwein gemacht. Da er auf die turbulente Gesellschaft anderer Artgenossen verzichten mußte, hatte sich seine angeborene Vorliebe für Ruhe und Frieden zu einer ausgeprägten Abneigung gegen jeglichen Lärm und jegliche Belästigung gesteigert. Diane war für ihn der Inbegriff von Belästigung. Ihre Bewegungen waren schnell und abrupt, ihre Stimme war schrill, ihr ganzes Wesen war unruhig. Earl war ebenso empfänglich für Körpersprache wie alle Tiere. Ihm war sehr daran gelegen, soviel Abstand wie möglich zu ihr zu halten. Und er wollte sie auch nicht ansehen. Er zog es vor, die Wand zu betrachten, und ließ ostentativ einen scharfen Strahl Urin ab. Diane sagte: »Igitt«, so als würde ein intelligentes Tier wie Earl ihren Ekel nicht bemerken. Earl grunzte. »Da siehst du’s«, sagte Bob, »er benimmt sich äußerst seltsam.« 303
»Mein Gott, wie fett er ist. Guck dir bloß diese Speckrollen an!« »Du brauchst ihn deshalb nicht zu beleidigen.« »Ich soll ein Schwein nicht beleidigen?« Sie lachte. Das gefiel Earl ganz und gar nicht. Die einzigen Heiterkeitsbekundungen, die er je gehört hatte, waren das tiefe Röhren von Dr. Bo Jones und ab und zu ein belustigtes Glucksen von Bob gewesen. Er kniff den Schwanz ein und grunzte noch einmal. »Hey, Diane. BITTE, geh raus und warte da auf mich. Du machst ihn nervös, und ich bin sauer, weil du mir heimlich gefolgt bist. Ihn stört das vermutlich auch. Er ist ein wertvolles Schwein. Ich bin für ihn verantwortlich. In zehn Minuten bin ich hier fertig.« »Na schön, ich wollte sowieso gerade gehen.« Sie drehte sich um und ging zur Tür. Als sie die Hand auf die Klinke legte, sagte er: »Geh nicht allein über den Campus. Warte auf mich!« »Ich kann dieses Beschützergetue nicht ausstehen!« Sie öffnete die Tür und ließ sie hinter sich zufallen. Earl drehte sich um und lief einmal quer durch den Koben, dann drehte er sich wieder um und lief in die andere Richtung. Er spürte bis in jede Faser seines Körpers, daß er nicht genug Kraft hatte, um diese Störung abzuschütteln. Bob fuhr fort, seinen Koben auszumisten, brachte dann die Schubkarre weg und kam mit frischem Stroh zurück. Earl starrte ihn an. Er sah zu, wie Bob ihm einen Extrahaufen Stroh gab. Dann hob Bob den Stock zum Kratzen auf. Aber Earl ging nicht zum Gatter hinüber. Er wollte nicht. Er wollte nur dastehen und vor sich hin starren wie ein dummes Tier. Außerdem fingen die stechenden Schmerzen in seinen Vorderbeinen, die er so sehr zu vermeiden suchte, 304
wieder an. Er seufzte. Bob seufzte. Als Earl sich nach ein paar Minuten noch immer nicht rührte, lehnte er den Stock gegen die Wand und sagte: »Okay, Earl, ich laß dich jetzt allein.« Dann schaltete er das Licht aus und ging. Earl stand im Dunkeln. Es kam ihm kurz in den Sinn, seinem Futtertrog einen Besuch abzustatten, denn das tat er sonst immer, wenn er schon einmal auf den Beinen war. Aber zum erstenmal in seinem Leben hatte er dazu keine Lust. Sie saß auf der Laderampe, als er herauskam, und als sie zusammen über das Campusgelände gingen, bohrte sie ihre Faust in seine Handfläche, aber die einzigen Worte, die er auf dem Weg von Old Meats nach Dubuque House sagte, waren: »Er ist wirklich ganz schön fett, nicht?« Diane gab keine Antwort. Sie hatte das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, den sie noch bereuen würde. Dieses Gefühl äußerte sich in einer bleiernen, kriechenden Kälte in ihren Gliedern. Aber das war es nicht, was sie DACHTE. Was sie DACHTE war, daß der Konkurrenzkampf oft kühnes Handeln erforderte, und wenn Bob das begriff, würde er nicht Ärger, sondern Bewunderung empfinden.
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38 Ein unglaublicher Zufall MRS . W ALKER aß normalerweise nicht in der Mensa. Sie zog es vor, sich einige leckere Reste vom Abendessen des vergangenen Tages mitzubringen, aber es blieben nicht immer Reste übrig, vor allem dann nicht, wenn das Abendessen des vergangenen Tages besonders köstlich gewesen war. In der Mensa zu essen, war, wie sie fand, die angemessene Strafe für Völlerei. Man mußte sich noch nicht einmal für die Taco-Bar entscheiden (eigenartig schmeckende Tortillafladen, schwärzliches Hackfleisch, das stundenlang gekocht worden war, orangefarbener Käse, weiße Tomaten), um es zu bereuen, dorthin gegangen zu sein. Man konnte jegliche Nahrungsaufnahme in der Mensa bereuen. Sie stellte sich bei der Essensausgabe an, richtete ein paar freundliche Worte an Marly Hellmich, die anscheinend noch nicht gekündigt hatte, und nahm eine BrokkoliQuiche, Kartoffelgratin und ein weiches Brötchen. Sie sah eine Menge Leute, die sie kannte, ein weiterer Grund, den Ort zu meiden. Sie hatte es für ratsam gehalten, im Laufe der Jahre eine Aura des Geheimnisvollen um sich herum aufzubauen. Keiner der Tische war frei, und daher sah sie sich gezwungen, sich zu einer blonden Frau in einer Ecke des Nichtraucherbereichs zu setzen. Die blonde Frau war, wie sich herausstellte, Alison Thomas, die Sekretärin von Elaine Dobbs-Jellinek. Mrs. Walker nahm mit neuerwachter Begeisterung Platz. »Hallo, Mrs. Walker«, sagte Alison Thomas, mit ihrer 306
Was-habe-ich-denn-jetzt-schon-wieder-falsch-gemacht-estut-mir-leid-Stimme. »Alison, wie nett!« sagte Mrs. Walker. »Wir haben uns ja schon seit ein paar Wochen nicht mehr gesprochen.« Alison seufzte. »Ich hatte viel zu tun.« Sie wollte sich gerade ein Stück gegrilltes Rindfleisch in den Mund schieben, ließ aber die Gabel wieder auf den Teller sinken. Mrs. Walker wußte, daß Alison an der Universität von Michigan einen Magister in Linguistik gemacht hatte. Ihr Ehemann unterrichtete Tiermedizin, und sie fuhr tatsächlich mit einem echten, wenn auch nicht mehr ganz neuen Mercedes zur Arbeit. Gerüchten zufolge hatte gerade dieses Streben nach Anerkennung in akademischen Kreisen Elaine DobbsJellinek, die früher einmal selbst nur eine Dozentengattin gewesen war, dazu getrieben, Alison gegenüber so boshaft und herablassend zu sein. Da Alison trotz ihrer Qualifikation und ihrer Beziehungen keine bessere Stellung gefunden hatte, war sie offenbar davon überzeugt, eine solche Behandlung verdient zu haben. Aber daran konnte Mrs. Walker wirklich nichts ändern, sie konnte bloß feststellen, daß manche Leuten so dumm waren, sich bei Regen nicht unterzustellen, und daß Alison zu ihnen gehörte. Sie sagte: »Ja, das ist um diese Zeit immer so. Man muß ihnen ganz klar sagen, was sie selber erledigen sollen, und natürlich muß man realistisch beurteilen, was sie selber erledigen KÖNNEN. Manche von ihnen wirken fähiger, als sie sind. Andererseits können sie durchaus mit Verantwortung umgehen, wenn man sie ihnen nach und nach überträgt.« »Oh, Mrs. Walker, Sie haben das alles sehr viel besser im Griff als ich. Ich weiß nur, daß sie ständig aus ihrem Büro gerannt kommt und dieses oder jenes will. Sie ist davon überzeugt, ein Musterbeispiel an Ordnung zu sein, aber sie ist furchtbar chaotisch. Wir passen überhaupt nicht 307
zusammen. Und sie hört mir nicht zu. Ich kann ihr etwas dreimal sagen, und sie kommt trotzdem am nächsten Tag an und beschimpft mich, ich hätte es ihr angeblich nicht erzählt. Die Sache ist die, und das ist auch schon anderen aus der Abteilung aufgefallen, sie hört nur dann richtig zu, wenn ein Mann redet. Sogar wenn sie weiß, daß es ungeheuer wichtig ist, mir oder einer anderen Frau zuzuhören, sie kriegt’s einfach nicht hin.« Alison klang beinahe zornig, das hatte Mrs. Walker noch nie bei ihr erlebt. Mrs. Walker war beim Rand ihrer Quiche angekommen, die gar nicht so schlecht gewesen war – offenbar hatten sie den Brokkoli dieses Mal abtropfen lassen, bevor sie ihn auf den Teig legten –, und schnitt ihn sorgfältig in vier Teile. Sie steckte sich das erste Stück mit einem ermutigenden Blick auf Alison langsam in den Mund. Alison beobachtete sie und fuhr dann mit frischem Mut fort: »Und sie ist ganz besessen von Jack Parker. Jeden Tag kommt sie aus ihrem Büro gerannt und fragt, wo Jack Parker ist, ist er wieder in Washington, hat man für ihn wieder im Hay-Adams reserviert, warum hat man für ihn nicht im Ramada reserviert? Dort wohnt sie selber immer!« Sie seufzte. »Und jetzt diese verlorengegangenen Unterlagen. Gestern abend hatte sie sie noch. Sie wollte sie gerade in ihre Aktentasche stecken, da habe ich zu ihr gesagt: ›Lassen Sie mich das fotokopieren, bevor Sie es mit nach Hause nehmen‹, denn Sie müssen wissen, bei ihr zu Hause sieht es noch schlimmer aus als in ihrem Büro; auf den Stühlen und auf dem Fußboden stapelt sich irgendwelches Zeug. Ich mußte tatsächlich schon einmal dorthin fahren, um ein paar Akten für sie zu suchen, und sie lagen zwischen BHs, Unterröcken, Strümpfen und so weiter. Und wissen Sie was, ihr Sohn sieht immer wie aus dem Ei gepellt aus. Ich weiß nicht, wo er das herhat.« Mrs. Walker schüttelte sehr bedächtig den Kopf, obwohl sie 308
innerlich lachen mußte. »Als sie heute morgen ins Büro kam und in ihre Aktentasche schaute, waren die Unterlagen natürlich nicht mehr da. Sie erinnerte sich nicht daran, sie mit nach Hause genommen zu haben, und sie erinnerte sich nicht an mein Angebot, sie zu fotokopieren, und als ich ihr den genauen Hergang schilderte, wurden ihre Augen glasig. Ich war mir sicher, daß sie mir gar nicht zuhörte, sondern nur darauf wartete, herausfinden zu können, ob Jack Parker auf dem Campus ist, und mir dann Anweisung zu geben, in den Aktenschränken nach den Unterlagen zu suchen, denn sie war überzeugt, daß sie dort waren, also mußte ich meine übrige Arbeit liegenlassen und alle Aktenschränke durchsuchen. Sie ist wirklich unMÖGlich!« »Ich rate Ihnen schon seit einem Jahr, sich in einer anderen Abteilung zu bewerben.« »Sie wird mir kein gutes Zeugnis ausstellen. Und sie hat im letzten Winter eine schlechte Beurteilung über mich abgegeben. UND wir wissen beide, daß nicht jeder Abteilung eine Sekretärin meiner Gehaltsklasse zusteht. Durch die Kürzungen werden es noch weniger werden. Ich habe in der Personalabteilung angerufen. Aber man sagte mir, daß es keine offenen Stellen gibt.« Mrs. Walker sagte ganz beiläufig: »Was für Unterlagen waren das denn?« »Oh, irgendein Gutachten von Dr. Gift, dem Wirtschaftswissenschaftler. Die beiden stecken in letzter Zeit oft die Köpfe zusammen.« »Warum rufen Sie dann nicht Sophie bei den Wirtschaftswissenschaften an und lassen sich von ihr einen neuen Ausdruck machen?« »Das habe ich versucht. Aber Sophie hat noch nie etwas 309
von dem Gutachten gehört, und es ist auch nicht im Computer.« »Das ist merkwürdig. Gift ist berüchtigt dafür, Arbeit auf die Sekretärinnen abzuwälzen. In unserem Büro liegt ständig ein Antrag von ihm auf eine eigene Sekretärin. Vielleicht genehmige ich ihn einen Tag vor seinem Ruhestand.« Mrs. Walker lächelte. »Es geht um irgendeine mit Fördergeldern bezahlte Beratertätigkeit. Wenn es über unser Büro abgewickelt wird, muß es mit den Fördergeldern zu tun haben, die er von Horizontal Technologies bekommt.« Sie rümpfte die Nase. »Es war gar keine besonders hohe Summe, der Anteil der Universität betrug nur fünfundzwanzigtausend. SIE benimmt sich, als wäre es zehnmal soviel.« »Horizontal Technologies?« »Ist das nicht ein komischer Name? Darum ist er mir im Gedächtnis geblieben.« Er war auch Mrs. Walker im Gedächtnis geblieben. Horizontal Technologies, das wußte sie von ihren Nachforschungen in den Datenbanken, war eine von TransNationals Briefkastenfirmen – kein Geschäftsbetrieb, keine Aktiva, nur ein Aufsichtsrat. Mrs. Walker blieb ganz ruhig und kratzte den letzten Rest der grellgelben Sauce des Kartoffelgratins von ihrem Teller. Schließlich sagte sie: »Hat sie das Gutachten inzwischen gefunden?« »Was glauben Sie denn? Natürlich nicht. Es liegt bei ihr zu Hause. Vielleicht vergammelt es unter ihrem Bett, zwischen dem alten Popcorn, den Apfelbutzen, dem Schokoladenpapier und den zusammengeknüllten Papiertaschentüchern.« Sie schauten sich an und lachten. Genau nach diesen Unterlagen, das wußte Mrs. Walker, hatte sie gesucht. Einen kurzen Augenblick lang stellte sie 310
sich vor, wie aufregend es wäre, wenn sie und Martha sich heimlich die Unterlagen aus Elaine Dobbs-Jellineks Haus oder vielleicht aus Lionel Gifts Haus besorgten. Doch dann blickte sie Alison direkt in die Augen und sagte: »Wenn Sie mir eine Kopie von diesem Gutachten schicken, besorge ich Ihnen eine Stelle in einer anderen Abteilung.« »Können Sie das denn?« Mrs. Walker schaute sie nur wortlos an. »Und was ist, wenn ich das Gutachten nicht finde? Es war nur für die Akten. Sie hatte damit nichts weiter vor. Normalerweise macht sie nur so einen Aufstand, wenn ihr vor einer Sitzung das Wasser bis zum Halse steht.« Obwohl Mrs. Walker es unter ihrer Würde fand, auf diese albernen Befürchtungen von Alison einzugehen, sagte sie: »Wenn ich Ihnen eine Stelle in einer anderen Abteilung besorge, Alison, müssen Sie von Anfang an klare Verhältnisse schaffen. Sie dürfen niemals zulassen, daß irgend jemand sich angewöhnt, ein Bild von Ihnen zu haben, das Ihre Autorität schmälert. Betrachten Sie es als Bewährungsprobe. Wenn Sie sich in dieser Angelegenheit durchsetzen können, haben Sie bewiesen, daß Sie für eine andere Stellung qualifiziert sind.« »Ich verstehe.« Es gab bei allen Unternehmungen von Mrs. Walker einen entscheidenden Augenblick, den sie besonders genoß. Es war der Moment, von dem an Erfolg oder Mißerfolg nicht mehr von ihr selber, sondern einer anderen, weniger zuverlässigen Person abhing, zum Beispiel von Alison oder Ivar. Für einen gewissen Zeitraum mußte sie sich auf den Einsatz, die Kompetenz und die Ehrlichkeit dieser Person verlassen. Solche Augenblicke versetzten sie immer in Hochstimmung, nicht nur, weil sie in den meisten Fällen 311
die Sachlage richtig beurteilt, sich geschickt durchgesetzt und Erfolg gehabt hatte. Ein ebenso wichtiger Bestandteil ihrer Hochstimmung – eine schemenhafte Erinnerung an das Gefühl, das sie bewegt hatte, im Alter von siebzehn Jahren mit dem neunzehnjährigen Mr. Walker durchzubrennen – war das Risiko an sich. Sie würde sich im Privatleben nie wieder solchen Unwägbarkeiten aussetzen, aber im Berufsleben war sie etwas wagemutiger. Quer durch den Raum erblickte sie Schlicht-und-einfachBrown, der, wie immer mit einem Lächeln auf den Lippen, nach einem freien Tisch Ausschau hielt. Auf seinem Tablett hatte er ein Glas Milch und eine bescheidene braune Papiertüte. Wie durch Zauberkraft standen drei Studenten auf und machten einen Tisch frei. Schlicht-und-einfachBrown stellte sein Tablett ab. Alison sagte: »Ich werde sehen, was sich machen läßt.« »Gut«, sagte Mrs. Walker. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. »Zum Glück ist sie bis um drei in einer Sitzung.« Sie verließen in bester Eintracht die Mensa.
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39 Außerhalb des Campus ZUM L EIDWESEN des Vorsitzenden X war die herbstliche Arbeit des Mulchens, des Ausgrabens der Blumenzwiebeln, des Zurückschneidens, Kompostierens, Erntens, des Sortierens und Verwahrens der Samen, Schößlinge, Reiser, Wurzelstöcke, Stauden und all der anderen mehr oder weniger natürlichen reproduktiven Bestandteile der Pflanzen, für die er verantwortlich zeichnete, nahezu vorüber, und der Unterricht und die Verwaltungsarbeit ließen ihm genügend Zeit, über den Niedergang des Kommunismus in Europa nachzugrübeln. In diesem Fall gereichte es ihm zum Nachteil, daß er seiner Gruppe (Institut, Gefolgschaft, Zelle) durch entsprechendes Training beigebracht hatte, mit solch revolutionärem Eifer zu arbeiten, daß alle Aufgaben prompt erledigt wurden. Der Feind befand sich an einer anderen Stelle des Campus, im Fachbereich für Agronomie, und der Krieg spielte sich zwischen Reihenpflanzung und Beetkultur, Monokultur und Mischanbau, mechanischer Kultivierung und Kultivierung von Menschenhand, Dünger und Kompost, Futterkultur und Nahrungskultur und unzähligen anderen Antithesen ab. Die Gartenbauer glaubten tatsächlich, die Gärtnerei könne die Welt retten, während die Landwirtschaft sie zerstörte. »Was glauben Sie, womit sich die Menschen jahrtausendelang beschäftigt haben?« konnte sich der Vorsitzende X ereifern: »Mit dem Anbau von Nahrung und Fasern natürlich! Ist es wirklich ein FORTSCHRITT, wenn die Menschen untätig auf der Straße herumlungern?« Sie liebten seine Vorlesung über die These, daß die Landwirtschaft letztendlich den Hunger auf der 313
Welt verschuldet hatte, da sie die Überbevölkerung verschuldet hatte. Nach der Veranstaltung strömten sie wie elektrisiert aus dem Hörsaal, beeindruckt von seinen leidenschaftlichen Ausführungen, denen zufolge die Landwirtschaft ein katastrophaler historischer Fehler war – er konnte jedes Semester fünfzig neue Revolutionäre rekrutieren, ohne sich jemals auf die Vorlesung vorzubereiten. Jahrelang hatte ihm das gereicht. Naja, fast gereicht. Aber jetzt starrte er jeden Tag, nachdem er die New York Times und die Chicago Tribune gelesen hatte, oder auf dem kleinen Fernseher, den er sich ins Büro gestellt hatte, CNN gesehen hatte, nachdem er The Nation und The Progressive durchgeblättert hatte, aus seinem Bürofenster, klopfte mit dem Bleistift auf seinen Schreibtisch und grübelte über den Triumph des Konsumdenkens, des Egoismus, der Technik, des Müßiggangs, des Fleischverzehrs, des Provinzialismus, des Konkurrenzkampfes und der Gier. In der Begeisterung, die sich in jedem Filmbericht oder Video aus Osteuropa auf den Gesichtern spiegelte, erkannte er die selbstverschuldete Niederlage des Kommunismus. Und obwohl er mit der erzwungenen Kollektivierung der Landwirtschaft nicht einverstanden gewesen war, obwohl er sich über die Kulturrevolution große Sorgen gemacht hatte, und obwohl er in den letzten Jahren eine ganze Reihe von politischen Maßnahmen mißbilligt hatte, entfuhr ihm dennoch ein Seufzer, wenn er an das Verschwinden gewisser Ideale dachte – Arbeit, Rationalität, Zusammenarbeit, Brüderlichkeit, Altruismus. Diejenigen, die die Welt prinzipiell für eine grausame hielten, denen das aber nichts ausmachte, diejenigen, die glaubten, der Mensch sei von Grund auf materialistisch, dagegen aber keinen Einspruch erhoben, diejenigen, die den Kapitalismus für etwas Natürliches hielten, denen seine 314
Unmenschlichkeit aber nur ein Achselzucken entlockte, hatten gewonnen. Und sie freuten sich über diesen Sieg, so als seien Grausamkeit, Materialismus und Unmenschlichkeit von Vorteil. Nun, vielleicht hatten sie recht. Nach der Erfahrung des Vorsitzenden X war er es, der von Selbstzweifeln geplagt wurde, und nicht sie. So verhielt es sich in dieser wie auch in allen anderen Angelegenheiten. Er lehnte sich zurück, bis sein Stuhl knarrte, reckte seinen Hals zuerst nach links, dann nach rechts und fuhr dann fort, mit seinem Stift auf den Schreibtisch zu klopfen. B EI IHM zu HAUSE, ohne daß er davon etwas ahnte, spürte seine Lebensgefährtin und Mutter seiner Kinder, wie zwanzig Jahre Marxismus wie ein Schleier von ihr abfielen, und sie empfand dabei ein ganz ähnliches Hochgefühl wie die Leute im Fernsehen. Sicher, sie hatten das einszwanzig mal einszwanzig große Seidenbild von Karl Marx, das der Vorsitzende X sich aus China hatte schicken lassen, schon seit Jahren nicht mehr an der Wand hängen. Sicher, der Vorsitzende X wählte Gus Hall schon seit 1972 nicht mehr. Sicher, ihr Challenge-Abonnement war 1971 abgelaufen, und sie hatten die alten Hefte ungefähr zur Zeit der Geburt ihrer Ältesten in einem Anfall von Aufräumwut beseitigt. Sicher, der linke Jargon, den sie früher gepflegt hatten – »die Allianz von Arbeitern und Studenten«, »eine gute Kampfgemeinschaft« –, war irgendwann auf der Strecke geblieben. Eine feste Stelle, die Geburt der Ältesten, daraufhin der Kauf einer eigenen Waschmaschine mit Trockner (von Sears, auf Kredit) hatten sie wie von selbst in die Mittelschicht gehoben. Aber in all den Jahren hatte er jede Anschaffung, die sie vorschlug – ein NEUES Auto, eine Küchenmaschine, einen schicken Wintermantel, einen Mikrowellenherd, einen 315
Videorecorder, eine Fernbedienung für das Garagentor, eine Klimaanlage für das Haus – als Verrat und persönliche Kränkung aufgefaßt. »Na schön, wenn du unbedingt willst«, sagte er dann, aber sie wußte, er dachte eigentlich etwas anderes, nämlich, daß diese Bedürfnisse nur zeigten, wie oberflächlich und schwach sie war. Sie wußte, er fragte sich, ob es in der Natur der Frauen lag, nach Besitz zu streben und ihren Idealen nur halbherzig treu zu bleiben. Könnte man das Geld nicht für bessere Zwecke verwenden? Er erinnerte sie daran, daß auf jedes einzelne Ding, das sie GERNE HÄTTEN, hundert Dinge kamen, die andere Leute BRAUCHTEN. Jetzt konnte sie sich die unbändige Freude der Menschen im Fernsehen anschauen und sagen: »Niemand MAG Trostlosigkeit! Die Leute haben gern ein bißchen Geld in der Tasche, und sie finden es toll, die Wahl zu haben! Ein paar kleine Wünsche kann man noch nicht als Gier bezeichnen! Schöne Dinge verdanken ihre Entstehung ebensosehr der Liebe zum Handwerk wie der menschenverachtenden Ausbeutung der Arbeiter!« Zumindest sagte sie das zu sich selbst. Der Vorsitzende X war in letzter Zeit immer so niedergeschlagen, daß sie es nicht übers Herz brachte, es auch noch auszusprechen. TIM MONAHAN konnte von sich behaupten, daß ihn der Fall des europäischen Kommunismus nicht besonders überraschte. Schließlich hatte er Milan Kundera, Václav Havel und Witold Gombrowicz gelesen und die Filme von Andrzej Wajda gesehen. Wenn die Leute ihn kopfschüttelnd fragten: »Ist das nicht unglaublich?«, zuckte er nur mit den Achseln und entgegnete mit (so glaubte er jedenfalls) beeindruckender Nonchalance: »Nein«. Der sozialistische Realismus war nie eine populäre oder ausdrucksstarke Kunstrichtung gewesen, und das war doch 316
Kunstrichtung gewesen, und das war doch wohl Erklärung genug! Was ihn jedoch überraschte, war Cecelias Haltung an dem Abend, als sie sich endgültig getrennt hatten. Die Thanksgiving-Ferien standen vor der Tür, und Tim würde in zwei Tagen in Richtung Ostküste abreisen, wo seine Agentin ein Treffen mit dem Lektor von Little, Brown arrangiert hatte. Sie meinte, es sei noch alles offen. Der Lektor wollte bei Tim wegen einiger Änderungen in seinem Manuskript vorfühlen, die er für notwendig hielt und die wahrscheinlich, ganz sicher sogar, ziemlich gravierend wären. »Also, ich weiß nicht«, sagte Tim zu seiner Agentin, aber zu sich selbst sagte er: »Alles, was er will«, wenn auch mit einem schon vertrauten Gefühl von Scham. Er ging mit Cecelia in seine Lieblingsbar, ins »Drake’s«, die einzige nichtstudentische Bar der Stadt, die nicht in einem bestimmten Stil eingerichtet war, die einzige, deren Dekoration sich einfach im Laufe der Jahre angesammelt hatte, anstatt in einer Firmenzentrale entworfen worden zu sein, um irgendeine Art von alkoholseliger Nostalgie heraufzubeschwören. Die Unterhaltung hatte sich mühsam von einem Thema zum nächsten geschleppt. Ihre Kurse liefen nicht besonders. Das Semester dauerte hier zu lange. Ihr war ständig kalt. Die Rohre in ihrer Maisonettewohnung rauschten die ganze Nacht. Er hätte gerne gewußt, mit wem sie sich traf, aber sie waren wohl nicht mehr eng genug befreundet, als daß er sie hätte fragen können. Sie schwiegen eine Weile, aber das wurde ihnen schließlich unangenehm. Offenkundig genervt sagte sie: »Die Leute in Osteuropa werden eine große Überraschung erleben. Sie sollten einen Erkundungstrupp nach Los Angeles schicken, bevor sie irgend etwas Definitives unternehmen. Mein ich jedenfalls.« 317
»Nun«, sagte Tim in seinem üblichen Tonfall, »es überrascht mich nicht, was geschieht. Man braucht nur Kundera zu lesen, um die tiefe Entfremdung –« »Warum klingst du immer so unbeteiligt? Als hättest du diese ganze Sache schon in eine Schublade gepackt, als ließe dich das alles völlig kalt!« Tim schaute sich um und sagte dann: »Was?« »Das geht mir wirklich auf die Nerven.« »Was geht dir auf die Nerven?« »Also, man sollte von einem Schriftsteller doch erwarten, daß er ein bißchen Leidenschaft zeigt, daß ihn bestimmte Ereignisse oder Gefühle oder überhaupt irgend etwas berührt!« Es war klar, daß sie ihn mit jemandem verglich, wahrscheinlich mit ihrem unbekannten Liebhaber. Er sagte: »Ich finde diese Ereignisse nun mal zufällig nicht ergreifend. Ich kann nicht so tun, als sei ich überrascht, wenn ich es nicht bin. Abgesehen davon hast du offenbar eine sehr romantische Vorstellung von Schriftstellern.« Er lächelte und versuchte es mit einem kleinen Scherz: »Außerdem ist mein Fachgebiet die Ironie.« »Also, ich finde dich sehr distanziert. Kein Wunder, daß du immer so niedergeschlagen bist. Wenn dich das hier nicht auf die eine oder andere Weise berührt, dann bist du meiner Meinung nach ein Fall für den Psychiater.« Tim spürte, daß er sie mit offenem Mund anstarrte, und schloß die Lippen um den Rand seines Glases. Sein Bier war warm geworden. Er lenkte die Aufmerksamkeit des Kellners auf sich und bestellte per Handzeichen ein neues. Dann sagte er: »Du denkst, ich bin ein Fall für den Psychiater, weil ich eine Menge osteuropäischer Bücher gelesen und viele Filme gesehen habe und es mich nicht über318
rascht, daß die Entfremdung vom herrschenden politischen System, die sie allesamt beschreiben, endlich offen zutage getreten ist?« »Du machst dich lustig über mich, aber das bestätigt mich nur in meiner Meinung.« »Und die wäre?« »Wie gefühllos deine Bücher sind, wie gefühllos du bist. Die Art, wie du über deine Karriere redest und wie du alles mit ein paar witzigen Bemerkungen abtust. Du bist kein schlechter Mensch, aber schau dir doch dein Leben an! Niemand bedeutet dir wirklich etwas, und nichts kann dich aufregen!« Ihre Stimme war lauter geworden. Im ersten Moment war Tim nicht beleidigt, sondern nur überrascht. Er fragte: »Was um alles in der Welt kümmert dich das?« Sie sah ihn stumm an. Tim hatte den Eindruck, sie wußte, was sie ihm antworten wollte, traute sich aber nicht. Dann aber traf ihn die Kränkung plötzlich mit voller Wucht, wie ein Schlag auf den Hinterkopf. Er fühlte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg und er vor Wut rot anlief. Er sagte: »Ich glaube, ich sollte dich jetzt lieber nach Hause bringen.« »Das glaube ich auch.« Er setzte sie vor ihrem Haus ab und fuhr davon, ohne zu warten, bis sie in der Wohnung war. Die Ironie bestand darin, daß er sich zwei Abende später im Cinemax »Doktor Schiwago« anschaute, einfach weil sonst nichts Interessantes lief, und dabei tatsächlich weinen mußte. Er erlebte die atemlose Gewalttätigkeit der Kommunisten; er empfand die stets neu aufkeimenden Hoffnungen der Figuren als sinnlos und traurig; er fühlte mit den drei oder mehr Generationen mit, die einem fehlgeschlage319
nen Experiment zum Opfer fallen würden. Der Film bewegte ihn auf ungeahnte Weise, so wie er ihn nie bewegt hatte, als das System noch zu funktionieren schien. Eine noch größere Ironie bestand darin, daß er im Flugzeug, im Büro der Agentin und schließlich am Tisch des City Cafe gegenüber dem Lektor von Little, Brown noch weniger Begeisterung als sonst für sein eigenes kleines Buch aufbringen konnte, weniger sogar als der Lektor, der überraschend angetan war und dessen Auffassung von »gravierenden Änderungen« auf skandalöse Weise respektvoll war. Tim stimmte den Änderungen ohne den leisesten Anflug von Selbstverleugnung zu. Lag darin die größte Ironie und der Beweis für die Richtigkeit von Cecelias Behauptung? Nein, die größte Ironie war, daß Tim, als der Lektor sagte: »Nun, ich glaube, wir sind im Geschäft. Über die finanzielle Seite werde ich mit Ihrer Agentin reden«, nur dachte: Nicht schlecht. DAS EINZIGE, was Loren Stroop am Niedergang des Kommunismus in Europa interessierte, waren die Bilder, die man gelegentlich von Bauern auf ihren Feldern sah, mit ihren Hacken und Schaufeln und ramponierten Schubkarren. Die meisten von Lorens Leidensgenossen in der RehaKlinik zeigten nicht halb soviel Neugier. Er saß häufig mit ihnen im Aufenthaltsraum, Teil einer Gruppe beschädigter Menschen, deren Sessel und Rollstühle man in einem Halbkreis um den lärmenden Fernseher aufgestellt hatte, und manchmal achtete er nicht auf den Fernseher, sondern sah sich die anderen an, wie sie trotz der Riemen zusammengesunken in ihren Stühlen saßen, die meisten Gesichter (auch sein eigenes, das wußte er) seltsam verzerrt durch ihre »plötzlichen Gehirnattacken«, und fast alle mit viel niedri320
geren Prozentwerten als er. Die Frau, von der der Arzt immer gesprochen hatte, war auch da, aber obwohl sie noch so jung war, kam sie niemals in den Aufenthaltsraum, selbst dazu war sie nicht in der Lage. Wären seine Pläne, die amerikanische Landwirtschaft zu revolutionieren, nicht gewesen, hätte Loren es bedauert, wie der Zufall so spielte: er so alt und mit so guten Chancen. Sie dagegen so jung, mit Kindern und allem, und fast ohne Zukunft. Im Fernsehen wurde Osteuropa geguckt, vor allem seit Loren beweglich genug war, um umzuschalten, und es den anderen offenbar egal war. Früher hatte er Quizsendungen gemocht, »Glücksrad« und so, aber das war vorbei. Jetzt saß er freiwillig die Wirtschaftsnachrichten ab und die Hollywood-Telegramme und die Kurzmeldungen vom Sport, nur um einen Blick zu erhäschen, nicht auf Gebäude oder glückliche Gesichter, sondern auf Felder, Tiere und Maschinen. Es war ihm ganz egal, was es für Maschinen oder Geräte waren, ob Autos, Werkstattzubehör, Hebel, Flaschenzüge, Keile oder Traktoren. Es war, als schaue er weit zurück bis in seine Jugend, als er selbst von solchen Maschinen umgeben war, als noch nicht alles schnittig und bunt aussah. Wenn er diese Maschinen sah, begriff er, wie alt er war. Er war achtzig Jahre alt, sieben Jahre älter als die Sowjetunion, fünfunddreißig Jahre älter als der osteuropäische Kommunismus, der jetzt mit großem Trara zusammenbrach. Er war alt, alt, alt. Zu alt, so schien es ihm in mutlosen Augenblicken, um die amerikanische Landwirtschaft noch zu revolutionieren. Aber wenn diese Maschinen auf dem Bildschirm erschienen und die Bauern, die noch mit Schaufeln und Hacken arbeiteten, dann war ihm, als riefen sie ihn, als wollten sie ihm sagen, daß es seine wahre Bestimmung sei, wenn er erst seine Sprache wiedergefunden hätte, die Landwirtschaft der ganzen Welt zu revolutio321
nieren, und daß auch die CIA und das FBI und die großen Agrarkonzerne ihn nicht aufhalten könnten. Und er öffnete den Mund und antwortete diesen Menschen, versuchte mit aller Kraft, sein Muhen in Wörter zu verwandeln, bis schließlich eine Schwester kam und ihn bat, still zu sein. UNTER ANDEREM wußte Dr. Bo Jones über die Schweine, daß die Wahrscheinlichkeit, sie unter denselben Lebensbedingungen wie ihre Vorfahren anzutreffen, in Asien, und selbst in solchen Ländern wie Ungarn, weitaus größer war als irgendwo im Westen. Deswegen versetzte ihn der Niedergang des europäischen Kommunismus in größere Aufregung als jedes anderes Ereignis seit Jahren. Er schrieb Briefe an jedes erdenkliche Ministerium in Rußland und Osteuropa und Washington und bat um Visa, um Genehmigungen, um Auskünfte. Jahrzehnte fielen von ihm ab, er schien wieder dreißig zu sein und plante Exkursionen in die Wildnis, obwohl er eigentlich wußte, daß diese Wildnis ebensosehr der Vergangenheit angehörte wie seine Jugend. Aber nur eigentlich. Jeder Brief, den er schrieb, beschwor Bilder in ihm herauf, die ihn unwiderstehlich anzogen – ein einheimischer Begleiter, ein paar Hunde, der flüchtige Anblick eines Ebers, der durchs Unterholz brach – ein schlanker Eber, schwarz, borstig, schnell und heimtückisch. Aufwärts gerichtete Stoßzähne, kantige Schultern, so häßlich, wie es sich für ein Schwein gehörte. Und dann er selber, energischen Schritts, ohne Atemnot, ohne Schmerzen, ohne je zu ermüden, der einheimische Begleiter hatte große Mühe, ihm zu folgen. Jeder Brief, den er schrieb, überzeugte ihn ein bißchen mehr davon, daß dies alles noch möglich war, daß die Zeit seine Jugend und seine Kraft noch nicht ganz aufgezehrt und die natürlichen Lebensräume der Eber und Säue noch nicht ganz zerstört hatte. Ob322
wohl er weiterhin regelmäßig Earls Meßwerte in den Computer eingab, schwand sein Interesse an dem Experiment allmählich, und er sah sich immer weniger dazu veranlaßt, nach Old Meats hinüberzugehen, eine Weile an Earls Koben zu lehnen und ihn verträumt anzustarren. Das Schwein war bei Bob in guten Händen – in dieser Hinsicht hatte Dr. Bo keine Bedenken. Es war doch wirklich fabelhaft, daß die Politik ausgerechnet in diesem Moment alle Hindernisse aus dem Weg geräumt hatte, fast wie ein Wunder, eine göttliche Fügung. Dr. Jones befeuchtete seine Lippen und begann einen weiteren Brief, diesmal an die Firma Cabela’s, um einige Ausrüstungsgegenstände zu bestellen – das wäre doch was, einen Eber aus Zentralasien als Trophäe mit nach Hause zu bringen. Der Eber würde ausgestopft werden, in Angriffsstellung, den Kopf gesenkt, den Blick auf die Beute gerichtet – der Betrachter würde seine Wut und seine Kraft spüren, und auf der Plakette würde stehen: »Gestiftet von Dr. Bo Jones.« DR . C ATES war nicht annähernd so interessiert am Niedergang des osteuropäischen Kommunismus wie seine Frau. Sie schaute sich die Nachrichten im Fernsehen an und nickte dabei und sagte: »Ah. Ah. Ah.« Oder sie las die Zeitung und schüttelte den Kopf und stieß kehlige Laute aus, wie ihre Mutter und ihre Schwestern sie daheim in Ghana gewöhnlich von sich gaben, wenn sie einer Klage Ausdruck verleihen wollten. Cates selbst wußte nicht, was es zu klagen gab. Auch wenn man sich wahrscheinlich nicht hundertprozentig auf die Entdeckungen dieser Leute verlassen konnte, würden nun bald neue wissenschaftliche Hypothesen und Theorien zu überprüfen sein, die seit vielen Jahren geheimgehalten worden waren. Neue Köpfe würden auf der Bildfläche 323
erscheinen und neue Perspektiven aufzeigen, vielleicht sogar ein paar neue Verfahrensweisen. Das konnte nur von Vorteil sein. Für Dr. Cates war es unvorstellbar, daß die Wissenschaften nicht vom Niedergang des Kommunismus in Osteuropa profitieren würden. Aber seine Frau hörte nicht auf, zu nicken und den Kopf zu schütteln und kleine Klagelaute von sich zu geben. Eines Abends dann, als ihr Sohn ins Bett gegangen war und sie gemeinsam vor den Spätnachrichten saßen, fragte er sie: »Was gibt es eigentlich daran auszusetzen? Wir haben doch gewonnen. Solange ich lebe, waren wir dem Frieden noch nie so nah.« »Glaubst du das wirklich?« »Aber ja!« Sie lächelte. »Warum nicht?« Sie zuckte mit den Achseln. »Du brütest jetzt schon wochenlang über dieser Sache.« »Ja, begreifst du denn nicht, John? Jetzt werden die ganzen Stämme sich gegenseitig aufstacheln.« »Welche Stämme? Meinst du die in Westafrika?« Sie schüttelte den Kopf und deutete auf den Bildschirm. »Die Tschechen«, sagte sie, »die Slowaken. Jetzt können sie endlich kämpfen. Jetzt können sie zu ihrem Nachbarn gehen, neben dem sie seit Jahren gelebt haben, und sagen: ›Ich will das haben, was dir gehört. Ich will, daß du hier verschwindest.‹« »Warum sollten sie das tun?« Seine Frau warf den Kopf zurück und lachte laut. Sie sagte: »Weil sie Menschen sind. Die Menschen sind alle gleich. Du reichst ihnen den kleinen Finger, und dann wol324
len sie die ganze Hand. Und einige, die nichts Besseres zu tun haben, wollen kämpfen, nur so, um zu kämpfen, und sie ziehen alle in den Kampf hinein.« »Nun, vielleicht hast du recht.« Sie lachte wieder und sagte: »Ihr Weißen« – Cates zuckte zusammen; er wußte, sie meinte ›ihr Amerikaner‹, aber er korrigierte sie nicht – »seid die einzigen Menschen auf der ganzen Welt, die überrascht sind, wenn sich Menschen wie Menschen benehmen.«
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40 Verbreitung DER KARTON mit der Aufschrift »UARCO Trimedge ®« stand zwei Tage lang ungeöffnet neben Mrs. Walkers Schreibtisch, nachdem er aus dem Copyshop eingetroffen war. Da die anderen Frauen im Büro wußten, daß Mrs. Walker eine solche Nachlässigkeit bei ihnen oder bei Ivar nicht geduldet hätte, erweckte der Karton ihre Neugier, aber sie brauchten eine Weile, um ihren Respekt vor Mrs. Walkers Privatangelegenheiten zu überwinden und sie zu fragen, was darin war. Sie war unerwartet mitteilsam. Sie öffnete den Karton sofort und sagte: »Oh, das wird Sie vielleicht interessieren. Ich jedenfalls fand es ziemlich aufschlußreich.« Sie gab jeder, die danach fragte, eine Kopie und bat sie lediglich, die Kopie, wenn sie sie durchgelesen hätten, an jemanden weiterzugeben, der vielleicht auch daran interessiert sein könnte. Ansonsten führte sie mehrere längere Telefonate mit Patty Malone von der Personalabteilung, um Alison Thomas’ Versetzung von der Projektentwicklung in eine andere Abteilung der Universität zu arrangieren. Sie machte sich dabei mehr Gedanken über die neue Stelle als Alison selber. Anstatt wie Alison »egal wohin« zu sagen, sagte Mrs. Walker zu Patty: »So weit wie möglich entfernt von Elaine Dobbs-Jellineks Einflußbereich, am besten zu jemandem, der etwas gegen sie hat.« »Wie wäre es mit Pferdehaltung?« sagte Patty. Mrs. Walker hatte Alison offenbar inspiriert, sie war jedenfalls recht stolz darauf, wie Alison in Elaine Dobbs326
Jellineks Büro marschiert war und gesagt hatte: »Entschuldigen Sie bitte, aber mir reicht’s.« Als Elaine verblüfft und beleidigt hochschaute, hatte Alison mit der Hand auf den Tisch geschlagen und gesagt: »In meiner Ablage herrscht das Chaos. In jedem Schrank fehlt der Inhalt etlicher Aktenordner, entweder ganz oder teilweise.« Mit lauter, strenger Stimme fuhr sie fort: »So können wir nicht zusammenarbeiten. Sie werden jetzt sofort nach Hause fahren und alle Unterlagen, die dort herumliegen, einsammeln und ins Büro zurückbringen.« »Ich habe eine Sitzung –« »Die habe ich abgesagt. Sie haben drei Stunden Zeit. Ich werde so lange alle Termine absagen, bis Sie das erledigt haben.« »Moment mal –« »Wie Sie wollen.« Alison drehte sich um und ging zur Tür. »Also gut. Sie haben recht, das könnte vermutlich nichts schaden.« Und Elaine Dobbs-Jellinek zog ihren Kaschmirmantel an, band ihrem Alpakaschal um und verließ das Büro. Zwei Stunden später kam sie zurück und sagte: »Jemand muß mir helfen, den ganzen Kram aus dem Wagen zu holen.« Alison blieb vor ihrem Computer sitzen, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen. Sie blickte noch nicht einmal auf, als sie sagte: »Im Wandschrank steht ein Handwagen.« Das Gutachten für Mrs. Walker fand sie eine Stunde später, weit unten in dem Durcheinander. Es wurde von einer Haarklammer zusammengehalten und war mit etwas beschmiert, das wie Make-up-Grundierung aussah. Alison brachte das Gutachten persönlich nach Lafayette Hall. Das war eine hübsche Geschichte, dachte Mrs. Walker, 327
und ein gutes Omen für Alisons Zukunft, aber wenn der Inhalt des Gutachtens allgemein bekannt wurde und Aufsehen erregte, würde nichts und niemand imstande sein, Alison Thomas vor Elaine Dobbs-Jellinek zu schützen. Auch für sie selber war die Aktion nicht ohne Risiko. Um die Wahrheit zu sagen, es war einer dieser gewissen Momente. Sehr belebend. Sie rief sich energisch zur Ordnung und sagte zu Patty: »Wo ist eigentlich dieser Mensch gelandet, der so viel Ärger gemacht hat, wie war doch gleich sein Name, Bartle? William Bartle?« »Der, der niemals einen Finger rührt?« »Ja.« »Er ist jetzt bei Fred Raymond.« Fred Raymond war der Justitiar der Universität. Mrs. Walker sagte: »Der hat sich lange genug mit ihm herumgeschlagen. Warum lassen Sie die beiden nicht die Stellen tauschen?« »Mal sehen. Er wird wahrscheinlich nicht wechseln wollen.« »Sehen Sie zu, was sich machen läßt.« »Oh, das werde ich.« Unterdessen legte Mrs. Walker eine Kopie des Gutachtens an eine nicht zu übersehende Stelle auf Ivars Schreibtisch. Aber bis jetzt hatte Ivar nichts dazu gesagt. Martha hingegen hatte eine Menge dazu zu sagen. Das erste, was sie sagte, nachdem sie die erste Seite gelesen und das Gutachten dann mit spitzen Fingern von sich weggehalten und auf eine Weise betrachtet hatte, wie man einen stinkenden Fisch betrachtet, war: »Wer ist dieser Kerl?« »Er ist ein Wirtschaftswissenschaftler. Ziemlich berühmt sogar. Er hat zwei Preise für hervorragende Lehrtätigkeit bekommen und ist das höchstbezahlte Mitglied des Lehr328
körpers. Er fährt andauernd nach Washington.« Martha las weiter. Nach ein paar Minuten sagte sie: »Aber er plädiert dafür, eine Goldmine unter dem größten unberührten Nebelwald Mittelamerikas zu schürfen.« »Das weiß ich.« Martha las weiter. Sie sagte: »Das ist verrückt.« Sie sagte: »So etwas ist mir noch nie untergekommen.« Sie sagte: »Was denkt der sich dabei?« Sie sagte: »Hör dir das an: ›Obwohl der Betrieb einer Goldmine zugegebenermaßen in verschiedener Hinsicht abträglich für die Umwelt ist, wird nach Meinung des Verfassers eine Beurteilung der ökologischen Auswirkungen ergeben, daß es maximal hundert Jahre dauern dürfte, bis sich das fragliche Gebiet von den unvermeidlichen Folgen des Minenbetriebs erholt haben wird, insbesondere wenn, anders als in der Vergangenheit, die störende Zuwanderung von Menschen in eine Gegend, in der Gold gefunden wurde, durch geeignete Sicherheitsmaßnahmen verhindert wird. Die Kosten für solche Vorkehrungen übersteigen zwar zur Zeit die finanziellen Möglichkeiten der costaricanischen Regierung, aber es gibt andere Mittel und Wege, diese Kosten zu decken, u. U. durch öffentliche Gelder aus den USA, die aufgrund der Tätigkeit von Lobbyisten vom Kongreß bewilligt werden könnten, um den Zusammenbruch von Seven Stones Mining zu verhindern, durch den eine beträchtliche Anzahl von Arbeitsplätzen in Gegenden mit schon jetzt großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten verlorengehen würde. Eine solche Lobbyistentätigkeit hat im Fall von Chrysler Motors zu einem sehr erfreulichen Ergebnis geführt.‹ Mein Gott!« 329
Martha las weiter. Sie sagte: »Der Kerl kommt auf die Abschußliste.« Mrs. Walker sagte: »Die Idee stammt nicht von ihm. Sie stammt von Arien Martin. Gift hat sie nur ausgearbeitet.« Martha las weiter. Sie sagte: »Ich kann nicht mehr weiterlesen. Ich bekomme einen Herzanfall.« Mrs. Walker nahm ihr das Gutachten aus der Hand. Sie blätterte bis zur letzten Seite. Sie sagte: »Hör dir das mal an: ›Gold ist für die Menschen, mehr noch als Erdöl, eine heilige Substanz. Es ist sowohl nützlich als auch wunderschön. Man könnte vielleicht sagen, daß die Suche nach neuen Quellen dieses wertvollen Lebenselixiers die Entwicklung der Menschheit und den Fortschritt der Zivilisation vorangetrieben hat. Inzwischen sind die alten Quellen versiegt, man hat jedoch nur wenige neue entdeckt. Bedeutet dies womöglich das Ende der menschlichen Zivilisation oder gar das Ende der Menschheit? Obwohl diese Spekulationen zum gegenwärtigen Zeitpunkt vielleicht weit hergeholt erscheinen, ist es doch angebracht, die Bedeutung dieser immer wertvoller werdenden und immer spärlicher fließenden Quelle menschlichen Wohlstands nachdrücklich hervorzuheben, gerade angesichts des leicht zu erneuernden, um nicht zu sagen unablässig sprießenden, natürlichen Reichtums des Waldes. Außerdem ist nicht von der Hand zu weisen, daß es am sichersten wäre, das Gold, da es nun einmal unter dem Wald entdeckt wurde, mit Hilfe der besten verfügbaren Methoden kontrolliert abzubauen und dadurch möglichen Verwüstungen vorzubeugen. Es wäre vielleicht besser gewesen, wenn das Goldvorkommen nie gefunden worden wäre, aber unter den gegebenen Umständen sollte nach 330
Meinung des Verfassers das Beste aus diesem Fund gemacht werden.‹« Martha sank auf die Couch. »Und hör mal zu«, sagte Loraine. »Ich habe einen von den Geologen angerufen und gesagt: ›Welche Methode, Gold aus Erz zu gewinnen, entspricht dem aktuellen Forschungsstand‹, und er sagte: ›Es gibt keinen aktuellen Forschungsstand. Man gräbt das Erz aus, zerkleinert es zu Pulver, behandelt es chemisch, damit die unsichtbaren Goldteilchen in einer Lösung ausfallen, und dann neutralisiert man das Lösungsmittel. Aber natürlich läuft immer ein Teil des Lösungsmittels aus. Und das kann ein Problem werden.‹ Und ich sagte, warum, und er sagte: ›Naja, wissen Sie, das Lösungsmittel ist eine zyankalihaltige Verbindung. Es sollte nicht ins Grundwasser geraten, aber das passiert natürlich trotzdem. Und außerdem hat man riesige Berge aus pulverisiertem Erz, denn auch das ergiebigste Erz enthält nur etwa dreißig Gramm Gold pro Tonne. Dann oxydiert das Erz, und Schwefelverbindungen verwandeln sich in Schwefelsäure, und DIE läuft ins Grundwasser. Alles sehr problematisch.‹« »Das kann ich mir gut vorstellen.« »Ich sagte: ›Und was würde man nach neustem Forschungsstand tun?‹ und er sagte: ›Tja, vermutlich das pulverisierte Erz zurück in den Minenschacht schaffen, um ihn am Einbrechen zu hindern. Einige Bundesstaaten verlangen das. Darum weichen viele Bergbaugesellschaften in Länder der Dritten Welt aus. Sie müssen dort nicht so viele Umweltbestimmungen beachten.‹« »Was hast du daraufhin gesagt?« »Ich sagte: ›Ich werde Ihnen durch die Campuspost ein Gutachten zukommen lassen, das Sie, glaube ich, sehr 331
interessieren wird.‹« Martha lächelte. Als einzige aus ihrem Bekanntenkreis fand sie Loraine urkomisch. Am nächsten Tag rief Mrs. Walker Ivar zu sich, als ihre Mitarbeiterinnen alle zur Pause waren, und sagte: »Haben Sie das Gutachten gelesen, das ich Ihnen auf den Tisch gelegt habe?« »Mrs. Walker, ich werde Sie nicht fragen, wie dieses Gutachten in Ihren Besitz gelangt ist.« »Aber haben Sie es gelesen?« »Das habe ich.« »Meiner Meinung nach sollte im Hinblick auf den Inhalt des Gutachtens etwas unternommen werden.« »Dr. Gift wurde gebeten, seine Meinung zu dem Projekt zu äußern. Wenn dies seine Meinung ist, kann die Universität nichts dagegen unternehmen.« Die beiden schauten sich an. Ivar sah, wie Mrs. Walker ihre äußerst mißbilligende und undurchdringliche Menominee-Miene aufsetzte, und er fragte sich, ob es tatsächlich möglich sei, daß sie aufgrund von Prinzipien, die seiner Ansicht nach äußerst abstrakt waren, kündigen würde. Ihr Anblick machte ihn nervös. Mrs. Walker sah, wie Ivars Gesicht blaß und verschlossen wurde und er sich hinter einer Maske scheinbarer Verbindlichkeit verbarg, an der auch ihre stärkste Entschlossenheit abprallte. Gleichzeitig sagten sie: »Akademische Freiheit.« Dann sagte Ivar: »Ganz genau. Es wäre sehr gefährlich für die Universität, etwas zu unternehmen. Und auch«, fuhr er ungeachtet seiner zunehmenden Nervosität fort, »für jemanden aus diesem Büro. Niemand aus diesem Büro handelt auf eigene Verantwortung, sondern stets als Repräsentant oder Repräsentantin dieses Büros.« Inzwischen brachte er die Worte 332
kaum noch heraus, aber er zwang sich weiterzureden. »Ich hoffe, Sie haben mich verstanden, Mrs. Walker.« Sie sagte kein Wort. Er wußte, daß sie ihn verstanden hatte. Er wußte ebenfalls, daß das vermutlich nichts ändern würde. Er hätte schon vor Jahren das Kommando übernehmen müssen. Sie besaß die Schlüssel zu ihrem, ihrer beider Computer. Inzwischen war es zu spät, das Kommando noch zu übernehmen. Er ging zurück in sein Büro und setzte sich an seinen Schreibtisch. Als sich die Tür zu seinem Büro schloß, ging die Tür zum Flur auf und Schlicht-und-einfach-Brown glitt auf einem öligen Film immerwährender Freundlichkeit herein. »Ah, Mrs. Walker«, sagte er, »genau zu Ihnen wollte ich!« Er nahm mit offensichtlichem Entzücken den UARCOTrimedge ®-Karton ins Visier. »Darf ich zugreifen?« Den Bruchteil einer Sekunde, bevor Mrs. Walker nickte, bückte er sich und nahm mit scheinbarer Ehrfurcht ein Exemplar des Gutachtens aus dem Karton. Ihre Blicke trafen sich. Er beugte sich über den Tisch und richtete die geballte Kraft seines guten Willens auf sie und sagte: »Vielen Dank auch!« Einen Moment später war er verschwunden. Während Ivar in seinem Büro die Berichte des Ausschusses für die Vergabe von Lehrstühlen durchlas, bemerkte er, daß an seinem Telefon das Lämpchen für Mrs. Walkers Nebenanschluß aufleuchtete. Äußerst vorsichtig nahm er den Hörer ab. Sie sagte gerade: »Guten Tag, Dorothy. Hier ist Mrs. Walker. Würden Sie mich bitte zu Professor Levy durchstellen.« Kurze Zeit später verkündete He333
lens warme, geliebte Stimme: »Guten Tag, hier ist Helen Levy.« Vorsichtig legte Ivar den Hörer zurück auf die Gabel und lächelte.
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41 Erntezeit THANKSGIVING WAR Helens liebster Feiertag, und seit mindestens fünf Jahren waren Nils und Ivar jedes Thanksgiving bei ihr zu Gast gewesen, gemeinsam mit einer Reihe einsamer, überarbeiteter oder mittelloser Fakultätsmitglieder, die ihr während des Herbstes über den Weg gelaufen waren. Sie lud immer zwölf bis vierzehn Personen ein. Dieses Jahr jedoch hatten die Einsamen, Überarbeiteten und Mittellosen kein Glück, denn Helen bereitete ein relativ intimes Abendessen für Ivar, Nils, Marly und Vater vor. Eine kleine Anzahl von Gästen bedeutete nicht, daß sie ihre Kreativität nicht voll entfalten konnte, aber es bedeutete, daß der größte Teil ihrer Küchenausstattung, von ihrem Viking-Ofen, über ihren Calphalon-Truthahnbräter bis hin zu ihrer Bosch-Küchenmaschine einfach zu groß war. Die Zutaten, die sie abwog, lagen wie armselige Häufchen auf den Böden der großen Gefäße, und sie mußte sich nur für diesen Anlaß Dinge anschaffen – eine 20-cm-Kuchenplatte, einen Drei-Liter-Schmortopf –, die sie bestimmt nie wieder benutzen würde. Und dabei waren ihre Vorratskammer, ihr Gemüsekeller und ihre Gefriertruhe bis zum Rand gefüllt. An Thanksgiving verlieh Helen dem Menü gerne eine amerikanische Note. Vom Speiseplan verbannt wurden dann einige ihrer geliebten italienischen und französischen Leckereien -- Trüffel, Estragon und Baguettebrot, Lamm und Schweinebraten, Olivenöl, Zitronen, mit Nelken gespickte Orangen, in Wein gedünstete Birnen –, aber an Weihnachten bereitete sie immer ein opulentes Büfett mit 335
einer europäischen, semi-mediterranen Note zu. Sie genoß die Stunden der Vorbereitung – das Ausbreiten der Zutaten, das Abwiegen und Vermischen, die Gänge in den Gemüsekeller und zur Gefriertruhe und die gelegentlichen Blicke durchs Fenster auf den dunklen, wolkenverhangenen Novemberhimmel und den mit Rauhreif bedeckten Garten, dessen Beete unter einer dicken Mulchschicht lagen und durch den ein eisiger Wind strich. Um sie herum in der Küche glänzten die Töpfe und Pfannen, und verheißungsvolle Düfte stiegen auf und vermischten sich. Das Essen würde erst spät, um halb sieben, beginnen, und daher konnte sie den Tag voll auskosten. Gegen Mittag, als sie gerade die Preiselbeercreme zum Abkühlen in den Kühlschrank stellte, kam Ivar vorbei, und er folgte ihr mit einem Löffel in der Hand durch die Küche und probierte, was schon fertig war. »Mmmm«, sagte er, »mmmm«, auf eine nachdenkliche Art und Weise, die verriet, daß er das gleiche gesagt hätte, wenn sie nicht dagewesen wäre. Nachdem er von allem gekostet hatte, seufzte er und sagte: »Stört es dich, wenn ich mir hier das Footballmatch anschaue.« »Natürlich nicht.« »Hast du was von Tia gehört?« Tia Mathilde war Helens sechsundzwanzigjährige Tochter aus der Ehe mit ihrem Ex-Mann. Sie war Archäologin und arbeitete in Griechenland. »Sie hat angerufen. Sie verbringt den Tag in Delphi mit einem amerikanischen Paar.« »Gut. Ich hätte mir unterwegs einen Sechserpack Bier holen sollen.« »Es sind noch zwei Dosen Heineken von dir im Kühlschrank.« 336
»Um so besser.« Er legte seine Arme um sie und zog sie energisch an sich. Sie hatte ihr Haar hochgesteckt, aber einzelne Strähnen hingen herab, und sie roch köstlich und würzig. Sie hatte ein langes französisches Gemüsemesser in der einen und eine Knoblauchknolle in der anderen Hand. Er küßte sie gierig auf den Mund und ließ seine Hände über ihren breiten, festen Hintern gleiten, den er durch ihre seidene Hose und ihre seidene Unterwäsche wunderbar deutlich fühlen konnte. Daß sie so oft Seide trug, gehörte auch zu den Dingen, die er an ihr mochte. Aber es gab eigentlich nichts, was er nicht an ihr mochte, einschließlich ihrer ausgeprägten Unabhängigkeit, die ihn davon abhielt, jemals das Thema Heirat oder auch nur das Thema Zusammenleben zur Sprache zu bringen. Wo sollten sie auch wohnen? Er war ein willkommener Gast in ihrem Haus, aber nie mehr als ein Gast. Es erinnerte ihn an das alte Sprichwort: »Nimm nur Erinnerungen mit, hinterlaß nur Fußspuren.« Er seufzte. »Nils?« »Allerdings.« »Ganz offen gesagt, Ivar, ich glaube nicht, daß es so funktionieren wird, wie er es sich vorstellt.« Sie sprach mit sanfter Stimme. »Na ja, da er sich in den Kopf gesetzt hat zu heiraten, ist eine Möglichkeit so schlecht wie die andere.« »Für ihn vielleicht, aber nicht unbedingt für dich.« Sie sagte dies mit noch sanfterer Stimme. Sie versuchte, stets die Illusion aufrecht zu erhalten, daß Ivar und Nils tatsächlich zwei getrennte Individuen waren, da sie immer noch nicht begriffen hatte, wie ausgeprägt das Zusammengehörigkeitsgefühl bei den beiden war. Nils hatte sich einem engeren Verhältnis zu ihr immer widersetzt, und das war ihr nur recht, denn ein Instinkt riet ihr, ihm zu mißtrauen – 337
seine ungewöhnliche Gutwilligkeit und sein Bemühen, stets das Richtige zu tun, wirkten auf sie bedrohlich. Sein Verhalten war ein klassisches Beispiel für aggressive Wohltätigkeit, was bedeutete, daß er sich ihrer Meinung nach häufig einmischte, gerade dann, wenn es sinnvoller war, die Dinge oder Menschen sich selbst zu überlassen. Und sie hatte miterlebt, wie er zu seiner Religion gefunden und alle Zweifel aufgegeben hatte (ehrlich gesagt waren es nicht viele gewesen). Sie hatte damals auch seine ceylonesische Frau gekannt, die stets den Eindruck machte, von schweren Zweifeln geplagt zu sein, und die genaugenommen an ihren Zweifeln gestorben war. Ihr Blinddarm platzte, weil sie sich nicht sicher war, ob die Schmerzen in ihrem Bauch wichtig genug waren, um Nils oder die Notaufnahme des Krankenhauses damit zu belästigen. Nils schien kaum zu trauern (zu der Zeit war Helen noch verheiratet, und es war ihr ziemlich gleichgültig). Es schien so, als wäre seine Frau für ihn nur ein weiteres Dritte-Welt-Entwicklungsprojekt gewesen, das aufgrund einer Charakterschwäche, mit der diese Menschen behaftet waren, mißlungen war. Ihre Vorbehalte Nils gegenüber entsprachen den Vorbehalten gegenüber dem Ehemann der besten Freundin – Helen war darauf bedacht, Nils niemals zu kritisieren und noch nicht einmal Ivars gelegentlichen Beschwerden ein offenes Ohr zu schenken. Wenn sie zu einer Stellungnahme gedrängt wurde, verteidigte sie Nils. Ivar schien das ganz recht zu sein. Helen überkam ein physisches Bedürfnis, Ivar aus ihrem Küchenreich zu vertreiben, und sie löste sich aus seiner Umarmung, indem sie einen Schritt zurücktrat. Sie drehte sich um und stieß mit dem Messer in die Spitze der Knoblauchknolle, die in einzelne Zehen zerfiel. »Möchtest du ein Sandwich?« fragte sie. 338
»Nein, im Moment nicht.« Er gab ihr einen zärtlichen Klaps auf den Po und marschierte frohgemut ins Wohnzimmer. Als er den Fernseher einschaltete, fing das Footballmatch gerade an. Seine Bierdose ging mit einem befriedigenden Zischen auf. Er nahm in einem von Helens Ledersesseln Platz. Wenn sie in der Nähe war, fiel es ihm leicht, sich ganz dem Augenblick, dem körperlichen Erleben hinzugeben. Wenn sie nicht in seiner Nähe war, war das fast unmöglich. Kaum hatten sie Helens Haus betreten, bemerkte Marly, daß Vater entrüstet war. Sie sah, wie sein Blick über Stuhl, Gemälde, Blumenstrauß und Orientteppich schweifte und er sein Urteil fällte: »weltlicher Stolz, weltlicher Stolz, weltlicher Stolz, weltlicher Stolz«. Umgehend setzte er sich auf einen schlichten Holzstuhl neben der Haustür und holte seine zerlesene Bibel aus der Tasche. Marly sagte: »Bitte blamier mich nicht«, aber er schlug lediglich das Buch auf und begann die Lippen zu bewegen. Sie sagte: »Ich weiß, daß du lesen kannst, ohne die Lippen dabei zu bewegen, also hör auf mit dem Theater.« Er würdigte sie keines Blickes. Nils kam herein und ging geradewegs an Vater vorbei, als ob er gar nicht da wäre. Dies war anscheinend Nils’ Strategie für den Umgang mit Vater, und Marly fand sie bewundernswert, oder zumindest beneidenswert. Sie selbst fand das Haus wunderschön. Das bedeutete jedoch nicht, daß es sie nicht wütend machte. In letzter Zeit war sie fast ständig wütend gewesen, anfangs wegen Vater, später wegen Nils, und dann zogen die Anlässe für ihre Wut immer weitere Kreise und schlossen ihre Geschwister ein, die Kirchengemeinde, die Arbeit, ihr Auto, das Wetter, Passanten, alle Sendungen im Fernsehen, auch diejenigen des Christian Broadcasting Network, 339
und fast jeden Kontakt, bei dem in irgendeiner Form Geld eine Rolle spielte. Es kam ihr so vor, als habe sie in den letzten zehn Jahren ihren Zorn eingelagert, anstatt sich seiner, wie sie angenommen hatte, entledigt zu haben, und jetzt hatte der Vorratstank einen Riß bekommen, und all ihre Freundlichkeit konnte nichts daran ändern. Das herrliche Haus machte sie wütend, weil sie noch nie in einem vergleichbaren Haus gewesen war und auch nicht im Traum daran gedacht hatte, daß so etwas überhaupt existierte. Es war nicht eines jener riesigen, prunkvollen Häuser, die einer Filmkulisse entsprungen zu sein schienen und die jeder haben konnte, der genug Geld besaß, nein, dies war ein Haus, in dem man sich mit großem Vergnügen aufhielt, das man aber nicht besitzen oder kopieren konnte, es sei denn, man war Helen selbst, und da man niemals Helen sein würde, würde es einem für immer verwehrt bleiben, dieses Haus zu bewohnen und sich jederzeit an seinen Farben und Formen und Düften erfreuen zu können. Sie sagte zu Vater: »Um Himmels willen. Steh auf und benimm dich.« Er warf ihr einen warnenden Blick zu, stand aber auf und setzte sich auf ein unangenehm bequemes Sofa in der Nähe des Kamins. Sie nahm neben ihm Platz, spielte mit dem Gedanken, den sie natürlich niemals in die Tat umsetzen würde, ihn kräftig ins Bein zu kneifen, sobald er sie in Verlegenheit brachte, und blickte durch die großen Fenster, die auf Helens Garten hinausgingen. Auch der Garten war äußerst ungewöhnlich. Das breite Doppelgrundstück war von einer dichten Hecke umgeben. Die sorgfältig gestutzten Obstbäume mit ihren schwarzen, blattlosen Ästen, die auf der linken Seite standen, hatten die Form japanisch anmutender Skulpturen, so wie diese winzig kleinen Bäume in den Töpfen, nur eben in voller 340
Größe. Auf der rechten Seite war ein großes Beet, aber es war nicht viereckig angelegt wie in den meisten Gärten, sondern verlief in unregelmäßigen Bögen. Im Moment wirkte es vom Haus aus wie ein Hügel aus Laub und totem Gras. In der Mitte des Gartens stand eine kleine Laube, und ganz in ihrer Nähe sah Marly eine kleine Brücke. Der hintere Teil des Gartens wirkte etwas verwildert. Dort standen einige dunkle Immergrüne, anmutig eingerahmt von weißen Birkenstämmen. Es war kein Garten mit ein paar Tomatenpflanzen und einer Holzterrasse, wie ihn die meisten Leute hatten, sondern eine Erweiterung des Hauses nach außen, als repräsentiere das Haus die von den Menschen geschaffene Welt und der Garten die Welt der Natur. Und dank der Fenster und Türen und Terrakottapfade und Trittsteine konnte man sich leicht zwischen ihnen hin- und herbewegen. Was man, wie Marly wußte, nicht durfte oder zumindest nicht sollte. Es war dem Seelenheil zuträglicher, die Tierund Pflanzenwelt als grausam und rücksichtslos und die von Menschen geschaffene Welt als verführerisch, aber nichtig zu betrachten. Sie wußte das. Der Grund, weshalb ein Kamel sich leichter durch ein Nadelöhr zwängen konnte, als daß ein Reicher in den Himmel kam, war klar – sogar der wohlmeinendste und unschuldigste reiche Mensch erlag täglich der Versuchung, die Welt nach seinen eigenen Vorstellungen zu formen, und gewöhnte sich natürlich an, eben diese Vermengung von Formen, Farben, Materialien, Geschmäckern, Aromen und Klängen zu lieben. Eine vorsichtige Person tat gut daran, ein kargeres, härteres Leben vorzuziehen, das zu lieben mehr oder weniger unmöglich war. Das Problem bestand darin, daß Marly nicht sicher war, ob sie tatsächlich das Leben vorzog, das sie klugerweise vorziehen sollte. 341
Helen bat zu Tisch. Sie wies Ivar den Platz am Kopf des Tisches zu, was Nils sehr wohl zur Kenntnis nahm, was ihn aber nicht wirklich KRÄNKTE. Sie plazierte Vater zu ihrer Rechten und Nils und Marly einander gegenüber. Nils war mit Marlys bisherigem Verhalten an diesem Abend äußerst zufrieden. Sie war dezent angezogen und schien ein wenig befremdet von Helens Haus zu sein, das ihm selber schon immer überladen vorgekommen war. Ihr Verhalten Vater gegenüber, das er in jüngster Zeit ein wenig nachlässig gefunden hatte, war respektvoll. Zu ihm war sie freundlich. Und ihm gefiel auch, daß sie nicht viel sagte. Er fühlte sich jedesmal unbehaglich, wenn er sah, wie Helen und Ivar die Köpfe zusammensteckten und Helen die meiste Zeit redete und Ivar bloß nickte. Eine abwegige Rollenverteilung, dachte Nils, ganz anders als bei seinen Eltern, und ganz anders, als es sich gehörte. Jetzt, da er bald heiraten würde, dachte er häufig darüber nach, wie bestimmte Dinge geregelt werden sollten, und er hatte damit begonnen, seine Vorstellungen in einem kleinen Notizbuch niederzuschreiben. Ein Festmahl, dachte Nils, war eine gute Gelegenheit für ein paar wichtige Ankündigungen, und nach dem Essen würde er einige machen. Es würde in der Runde zweifellos verblüffte Gesichter geben. Aber ein Überraschungsangriff war genau das richtige. Auf diese Weise konnte man sich durchsetzen, während die anderen noch verwirrt waren und über ihre Reaktion nachdachten. Vater, Ivar, Marly: bring sie nachher außer Fassung, sagte Nils zu sich selbst, dann wird es ihnen nicht gelingen, die Oberhand zu gewinnen (oder, in Ivars Fall, sie zu behalten). Seine Erwartung war so groß, daß er während des mehrgängigen Essens kaum schmeckte, was er aß. Also dieses Essen, dachte Vater, war reichlich merkwür342
dig. Zuerst gab es eine Art Tomatensuppe, aber sie war kalt und es schwamm Grünzeug darin herum. Dann kam das Hauptgericht. Statt Süßkartoffeln gab es normalen Kartoffelbrei. Die Bohnen waren ihm vertraut, aber Bohnen verursachten ihm Blähungen, und darum nahm er keine. Der Truthahn, auf den er sich verlassen hatte, erwies sich als exotisch gewürzt, und die Füllung war so scharf, daß er sich daran den Mund verbrannte – es waren Chilischoten drin, wo gab es denn so was? Und statt einer Scheibe leckeren, kühlen Preiselbeergelees gab es eine Art Preiselbeerquark. Dann gab es Brombeereis – das war in Ordnung –, aber anschließend gab es noch zwei weitere Desserts, einen Kürbiskuchen, der aber eine merkwürdige Maismehlkruste hatte, und einen Schokoladenkuchen, in dem schon wieder Preiselbeeren waren. Offen gestanden gab es bei diesem Essen kaum eine Speise, die ihm vertraut war, und er wußte, er würde sich hungrig vom Tisch erheben. Dennoch achtete er auf sein Benehmen und hielt den Mund, und jedesmal wenn die Frau, die gekocht hatte, ihn anschaute, lächelte er. Er war nicht blind. Er wußte, daß der Blasse, derjenige, der nicht seine Tochter heiraten würde – zum Glück zogen sich die beiden Brüder nicht gleich an, sonst hätte er sie niemals auseinanderhalten können, aber so brauchte er nur jedesmal, wenn sie alle zusammen waren, Marly zu fragen, was Nils trug, und es sich dann zu merken –, mit der Frau Unzucht trieb, und das überraschte ihn nicht. Unzucht hatte ihn nie überrascht, er hatte selber Unzucht getrieben, ehe er zu Jesus gefunden hatte, und er hatte berauschende Getränke zu sich genommen, und er hatte gegen ein paar seiner Mitmenschen die Hand erhoben – er war schließlich ein Mann, oder? Man konnte kein Mann sein, ohne zu wissen, was ein Mann war. In fortgeschritte343
nem Alter noch Unzucht zu treiben, fand er jedoch etwas ungewöhnlich. Er hatte immer geglaubt, daß man die Unzucht irgendwann zugunsten anderer, sinnvollerer Betätigungen aufgab. Aber man denke nur an König David, ein frommer Mann, aber fest zur Unzucht entschlossen. Vater wußte, er hätte über all das nicht nachgedacht, wenn es etwas Normales zu essen gegeben hätte – und dann lehnte sich sein Schwiegersohn in spe zurück und sagte, er wolle ein paar Worte sagen, und daher wandte Vater seine Gedanken von König David und der Unzucht und alledem ab; später sagte er immer, er habe es kommen sehen. Marly schmeckte das Essen sehr gut, und sie versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie ungewöhnlich sie es fand. Was ihr nicht gefiel, war, daß Vater jedesmal, wenn ein neuer Gang aufgetragen wurde, grunzte und schnaufte und daß er Helen, immer wenn sie mit ihm redete, so anzüglich angrinste, als würde er über Unzucht nachdenken – zum Glück kannte ihn Helen nicht so gut wie Marly und konnte, im Gegensatz zu Marly, seine Gedanken nicht erraten. Und dann räusperte sich Nils in seiner typischen Art, und Marly wußte, daß er etwas Wichtiges sagen wollte und daß es allein für sie bestimmt war, und daher stippte sie wehmütig die restlichen Krümel ihres Kürbiskuchens auf und schaute zu ihm hoch. Helen reichte gerade den Kaffee herum, eine aromatische kolumbianische Röstung, die ihren Gästen bestimmt schmecken würde, als Nils sich räusperte und sagte: »Also, es war ein wunderbares Essen, vielen Dank für die viele Mühe, Helen, wie immer ist es ein Erlebnis, Thanksgiving bei dir zu verbringen, und ich denke dabei an die Freigebigkeit des Herrn und an unsere Vorfahren, die diesen Kontinent besiedelt haben, und ich fühle mich zu großem Dank verpflichtet. Es ist ein besonderer Tag für mich, denn 344
ich spüre, daß unsere Nation am heutigen Tag dem Herrn wieder so verbunden ist wie in früheren Zeiten, und dieses Gefühl verleiht mir Hoffnung für die Zukunft unserer Nation. Ich habe mich in den vergangenen Jahrzehnten nicht nur dem Export von Know-how und Technologie, sondern stets auch der Verbreitung unserer nationalen Ideale gewidmet.« Helen erkannte, daß er dies für eine unstrittige Tugend hielt, und rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl herum. Sie versuchte weiterhin zu lächeln und nahm sich fest vor, fürs erste mit ihrer Meinung hinter dem Berg zu halten, daß die Amerikaner sich ganz entschieden zuviel auf die Schaffung von Wohlstand einbildeten, während sie die meiste Zeit bloß in einem in der Weltgeschichte einmaligen Ausmaß auf Kosten der Natur gelebt hatten. Sie schaute zu Ivar hinüber. Er starrte an die Decke. Nils fuhr fort: »Ehrlich gesagt glaubte ich, mein Leben sei vorbei oder nähere sich zumindest seinem Ende. Ich bin jetzt fünfundfünfzig, und ich hatte mich auf eine Zukunft eingerichtet, in der ich andere dabei beobachten würde, wie sie das täten, was ich früher getan habe oder wozu ich niemals die Gelegenheit hatte. Aber –« er blickte strahlend auf Marly hinunter – »ich habe mich geirrt. Ich bemerke, wie mein Leben dank einer außergewöhnlichen, guten christlichen Frau neuen Schwung bekommt, einer Frau, die über alle weiblichen Tugenden verfügt, als da wären: Freundlichkeit, Fürsorglichkeit, Selbstlosigkeit, christliche Nächstenliebe, Vertrauen, Glaube, Bescheidenheit.« Marly lächelte. Etwas peinlich berührt, fand Helen, aber kein Wunder bei der Beschreibung. Sie schaute zu Ivar hinüber, der sie diesmal ansah. Er verdrehte unauffällig die Augen und zuckte leicht mit den Achseln. »Ihr werdet vielleicht nicht wissen, daß Marly und ich 345
beabsichtigen, sechs Kinder zu haben –« Ivar richtete seinen Blick mit einer fast spürbaren Wucht auf Nils. Er sagte: »Nein, das wußte ich allerdings nicht.« Nils fuhr unbeeindruckt fort: »Ich bin nie ein Gegner der Wunder der Technik gewesen. Es ist das beste, sie zu akzeptieren und in den Dienst des Herrn zu stellen. Nicht wahr, Liebes?« Er strahlte Marly an. Vater sagte: »Du willst in deinem Alter meiner Tochter sechs Kinder aufhalsen?« Nils ging, seiner neuen Verhaltensweise gemäß, auf diese Unterbrechung nicht ein. Statt dessen sagte er: »Gott der Herr hat mir seinen Plan nach und nach offenbart. Vor kurzem hat er mir einen weiteren wichtigen Bestandteil offenbart, der besagt, daß unsere Zukunft in Osteuropa liegt.« »Wie bitte?« sagte Marly. »Ja«, sagte Nils, »der Herr hat mich wissen lassen, daß im gleichen Maße, wie Seine Worte eine Offenbarung für die unglücklichen, leidgeplagten Bewohner dieser Länder sind, dort ein großer Bedarf an Experten wie mir besteht, die den Menschen den Weg in eine bessere landwirtschaftliche Zukunft weisen.« »Du hättest mich fragen sollen«, sagte Marly und rückte ihren Stuhl vom Tisch ab. »Der Herr hat mich nicht gefragt«, sagte Nils. »Er hat es mir aufgetragen.« Vater sagte: »Habe ich dich richtig verstanden: du hast vor, sechs Kinder zu haben und mit meiner Tochter in irgendein Land wie Polen zu ziehen? Und was soll aus mir werden?« Nils strahlte Vater an: »Es ist nicht immer bequem, das zu tun, was der Herr verlangt, aber ich bin sicher, wenn wir 346
alle in uns gehen und beten, werden wir feststellen, wie segensreich diese Veränderungen sein werden. Marly und unsere Kinder und ich werden den Menschen dort ein rechtschaffenes und produktives Leben vorleben.« Er räusperte sich, ein wenig verlegen angesichts der persönlichen Niederlage, die er gleich offenbaren würde. »Mein, ähm, Scheitern bei gewissen exotischen Unternehmungen lag zum Teil, glaube ich inzwischen, an dem damaligen Druck, sich den Einheimischen anzupassen. Obwohl ich natürlich meine Frau geliebt habe.« Es entstand eine lange, unbehagliche Pause. »Eine Familie wie die unsere wird das beste Vorbild und vielleicht der beste Schutz gegen, äh, Versuchungen, die –« Vater brachte es auf den Punkt: »Ich will nicht nach Polen ziehen.« Nils’ Lächeln wurde noch breiter. »Ich habe nie vermutet, daß du mitkommen willst.« Vater und Nils schauten sich direkt in die Augen. Ivar sagte: »Vielleicht bist du ein bißchen voreilig, Nils. Ich glaube, es wäre ratsamer, einen Schritt nach dem anderen zu tun.« Nils intonierte: »Der Herr hat mich nicht gefragt. Er hat es mir befohlen.« Dann, nach einer gewichtigen Pause, sagte er: »Eine Vision ist ein Ganzes. Man kann sie nicht zerstückeln und sich dafür entscheiden, einige Teile davon umzusetzen und andere Teile nicht. Auf diese Weise funktioniert es nicht.« Helen sagte: »Nils, man kann nicht einfach das tun, was man will, und dann sagen, daß Gott es einem befohlen hat – « »Bei allem nötigen Respekt, Helen, und mir ist klar, daß wir zu Gast in deinem Haus sind, aber diese Angelegenheit 347
geht dich überhaupt nichts an.« Er strahlte. Er sagte: »Der Herr hat mir meine Jugend aus einem bestimmten Grund zurückgegeben. Ich habe gebetet und lange nach diesem Grund gesucht. Die Antwort lautet: Der Zerfall des gottlosen Kommunismus in Europa. Seit ich erwachsen bin, wandere ich durch eine Wildnis von Bedeutungslosigkeit. Ich habe studiert, um den Entwicklungsländern die Erleuchtung zu bringen, aber die Menschen, von denen ich glaubte, sie seien auf meiner Seite, arbeiteten gegen mich, und die Menschen, denen ich zu helfen versuchte, waren nicht in der Lage, den Weg des Lichts zu beschreiten. Meine Frau starb. Ich versank in Verzweiflung. Erst dann fand ich zum Herrn, und erst dann fand ich Marly und unsere gemeinsame Zukunft. Erst JETZT verstehe ich, welche Aufgabe ich auf Erden erfüllen soll. Die Botschaft des Herrn kann ebensogut durch CNN wie durch ein Zeichen vom Himmel übermittelt werden.« Er schaute nacheinander jeden am Tisch kurz an und sagte dann: »Wenn ihr eifrig und ernsthaft betet, werdet ihr begreifen, daß wir uns nicht beirren lassen dürfen und wir alle hier in dieser Runde dem göttlichen Licht näherkommen können, wenn wir diese Vision annehmen, statt sie zu bekämpfen.« Er nahm lächelnd wieder Platz. Helen begriff, daß er mit dem Wort »wir« sich selbst und seinen Mitverschwörer, den lieben Gott, meinte.
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42 Leben und Arbeit * VON TAG zu TAG mußte Dean Jellinek sich mehr anstrengen, um den letzten Rest vom Glanz des Umworbenseins noch einmal erstrahlen zu lassen: in der Schlußrunde hatten noch vier Firmen um die Ehre gestritten, sein Projekt finanzieren zu dürfen. Allerdings reichte die Fördersumme nicht ganz oder auch nur annähernd an die Million Dollar heran, die er laut allgemeiner Überzeugung erhalten hatte. Diese Anstrengung war ihm zur Gewohnheit geworden – wenn er sich morgens an seinen Computer setzte, ließ er zuerst die Hände über die Tastatur gleiten (es war ein neuer Computer, er hatte den größten Teil der ersten Rate der Fördermittel gekostet, ein Computer, der leistungsstark genug war, all die Zahlen zu schlucken, die Dean gemäß vertraglicher Vereinbarung in den nächsten siebzehn Monaten, zwei Wochen und vier Tagen fabrizieren mußte). Während er seine Hände über die Tastatur gleiten ließ, erinnerte er sich daran, wie begeistert die vier Firmen gewesen waren, und diese Erinnerung verlieh ihm genügend Selbstvertrauen, um das Programm aufzurufen, das er gerade modifizierte, damit es seine Daten verarbeiten konnte. Er hatte zwar noch keine Daten, aber das war in Ordnung, denn er hatte sein Programm noch nicht optimiert. Er verbrachte jeden Tag viele Stunden damit, sein Programm zu optimieren. Ohne den verbliebenen Glanz wäre Dean Jellinek verzweifelt: für ihn als langjährigen Computerfreak war die Optimierung *
T itel im Original auf deutsch
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von Programmen das gleiche wie Fernsehen für andere Menschen – eine geistlose Tätigkeit, die Vergnügen versprach, stundenlang dauerte und nach der man sich wie eine aufgerauchte Zigarette fühlte. Er konnte diesen Vergleich anstellen, weil er jeden Abend, wenn er nach Hause kam, den Fernseher einschaltete und sich von den Abendnachrichten mit Tom Brokaw bis zur David-Lettermann-Show alle Sendungen anschaute, ohne dabei den Blick vom Bildschirm abzuwenden. Dean Jellinek war unerbittlich bei der Arbeit, unerbittlich gegen sich selbst und gegen andere. Ihm mochten zwar die Haare ausfallen, aber er hatte eine innere Meckifrisur, die steif wie eine Drahtbürste war. Nur einmal in seinem Leben hatte er eine Phase wie die gegenwärtige durchgemacht, und das war in den ersten Monaten seiner Ehe mit Elaine Dobbs-Jellinek gewesen, als ihn Zweifel geplagt hatten, und er wußte, daß es ihr genauso ging. Die Parallelen waren offensichtlich: jeden Vormittag, mal früher, mal später, immer dann, wenn er der Versuchung nicht mehr widerstehen konnte, rief Hal Samuels von Western Egg and Milk Commodities ihn an und fragte, wie er vorankäme, und er sagte, er käme gut voran. »Geben Sie mir ein paar Anhaltspunkte«, sagte Hal daraufhin, »damit ich dem Aufsichtsrat etwas berichten kann.« Und dann gab ihm Dean ein paar Anhaltspunkte – von null auf hundert in fünf Sekunden, ein Line drive mitten ins Centerfield, ein erfolgreicher Bogenwurf von der Mittellinie, ein Albatros beim Wasserhindernis, ein Siebzig-Yard-Touchdown-Lauf, ein Schuß durch die Beine des Torwarts hindurch. Nachdem er genügend Vergleiche aus der Welt des Sports herangezogen hatte, machte sich sowohl bei Hal als auch bei Dean das unbestimmte, aber beruhigende Gefühl breit, ein Informationsaustausch habe stattgefunden. Aber in Wirklichkeit war 350
es genauso wie damals mit Elaine – ich habe gerade an dich gedacht, Schatz, wie geht es dir, Schatz, hast du auch an mich gedacht, Schatz, letzte Nacht war wunderschön, nicht wahr, Schatz, worauf er so zärtlich wie möglich antwortete: schön, prima, ja und ja. Aber wie, fragte er sich wie seinerzeit bei Elaine, war er nur in diese Lage geraten? Aber wie, fragte er sich wie seinerzeit bei Elaine, hatte er nur so schnell so viel Geld investieren können – der Computer war tatsächlich ebenso teuer gewesen wie das Haus, das sie gekauft hatten. Aber wie, fragte er sich wie seinerzeit bei Elaine, sollte er nur über Monate, über Jahre diese Verpflichtung ertragen können? Aber wie, fragte er sich, genau wie bei Elaine, sollte er nur Luft zum Atmen finden, wenn er Samuels ständig am Hals hatte, der ihm mit seinen unausgesprochenen, aber stets gegenwärtigen Erwartungen das Leben schwermachte, so wie Elaine es damals getan hatte. Die nicht zu übersehende Ironie dabei war, daß er sich damit gebrüstet hatte, etwas über Beziehungen gelernt zu haben – einer der Gründe, warum er sich zu Joy hingezogen fühlte, einer der Gründe, warum er sie gedrängt hatte, bei ihm einzuziehen, war, daß sie ihm nicht das Gefühl gab, erdrückt oder eingeengt zu werden. Er hatte einmal gehört, daß Frauen, die Reiterinnen waren, fast nie Zeit für ihren Freund hatten. Das kam Dean sehr entgegen. Was ihm Angst machte, war, daß man ein Wirtschaftsunternehmen nicht mit einer Freundin oder Ehefrau vergleichen konnte und auch nicht mit den Bundesbehörden, von denen er früher Fördergelder bekommen hatte. Er würde nicht zu Samuels gehen und ihm sagen können: »Tja, Schatz, es schmerzt mich, dir das sagen zu müssen, aber ich glaube, wir haben einen Fehler gemacht.« Diesmal würde er lernen müssen, mit dem bedrückenden Gefühl der Ver351
pflichtung zu leben. Er mußte seinen Glauben an die kälberunabhängige Laktation erneuern, den er immer mehr verloren hatte, je näher er der Verwirklichung seines Projekts gekommen war. Im Moment fand er Kälber sehr nützlich. Wie sonst sollte ein Farmer so billig seine Herden ergänzen? Welcher Farmer würde sich für Milchviehhaltung ohne Kälber entscheiden? Aber er war gezwungen, sich mit Samuels, Western Egg and Milk und den Holsteiner Kühen zu beschäftigen, und zwar ohne Vorbehalte, leidenschaftlich und begeistert, hoffnungsvoll und freudig. Er zerstreute seine Bedenken mit denselben Argumenten, mit denen er Samuels’ Bedenken zerstreuen würde, sollte Samuels sie je äußern: »Heh, die Vermarktung ist IHR Problem. Ich bin nur für den Durchbruch bei der Forschung zuständig.« Alles in allem war es einfacher, sein Programm zu optimieren. »Joy«, hatte er an diesem Morgen gesagt, »Joy, mein Schatz, du bist mir keine große Hilfe. Wir haben uns da auf ein großes, ein gigantisches Projekt eingelassen, und wir müssen voll durchstarten. Schon bei der kleinsten Panne, beim kleinsten Luftwiderstand, wird dieses Luftschiff, fürchte ich, nicht vom Boden abheben.« Er führte diesen Gedankengang dann weiter aus. »Ich muß gestehen, Joy, und ich gestehe es niemandem außer dir, daß das Schiff größer und die Schubkraft der Motoren geringer ist als je zuvor. Wir müssen diesmal mit weniger Schubkraft auskommen.« Ihrer Vorbehalte eingedenk, fügte er eilig hinzu: »Die Idee ist gut, versteh mich nicht falsch, die Idee ist großartig, aber das Projekt ist einfach riesig, Joy, RIESIG! Ich kann nichts dafür, aber es erschreckt mich. Das würde jedem so gehen, und daher bin ich auf, nun ja, bedingungslose Kooperation, nein, auf Teamwork angewiesen. Ich kann nicht umhin, dieses Projekt als unser gemeinsames zu 352
betrachten, weil wir beide mit dem Projekt leben müssen. Ein solches Projekt kann ich nicht ausschließlich an der Universität erledigen. Ich muß mich ihm mit Leib und Seele widmen. Das Projekt muß immer im Vordergrund stehen, auch wenn ich esse, schlafe oder träume, und an diesem Punkt kommst du ins Spiel, denn ich spüre einen schmalen, aber trennenden geistigen Graben zwischen uns, der wie ein Riß in einer Tragfläche wirkt. Ich will nicht abstürzen, Joy, ich will es nicht, und ich weiß, daß du es auch nicht willst.« Er redete und redete, butterte eine Toastscheibe nach der anderen und hörte sich selber dabei zu, wie er diesen unglaublichen Schwachsinn von sich gab, während sie ihm gegenüber am Tisch saß, eine Tasse Kaffee trank, das heißt, mit winzigen Schlucken daran nippte, sich fester in ihren Morgenrock wickelte, als ob ihr eiskalt wäre, und insgesamt ein Bild des Jammers bot. Er hätte sagen sollen: »Was ist los mit dir, Joy, wie kann ich dir helfen, laß uns ein paar Tage freinehmen, ich bin immer für dich da. Bitte sprich doch mit mir«, aber die Angst, die sich aufgrund der Fördersumme von vierhunderttausend Dollar, verteilt über vier Jahre (Gottseidank waren es nicht mehr – eine ganze Million hätte ihn wahrscheinlich umgebracht), in seinem Kopf verhakt hatte, war übermächtig, und er konnte nicht sagen, was er hätte sagen sollen. Er konnte nur sagen: »Wir müssen die Sache in Gang bringen, Joy, wir müssen uns ranhalten und dahinterklemmen, müssen unser Team in eine unschlagbare Truppe verwandeln, und ich weiß, wir können es schaffen, wir müssen uns nur aufraffen und loslegen.« Vorwärts vorwärts vorwärts, kämpfen kämpfen kämpfen. Dann aß er alle Toastscheiben auf, indem er sie in der Mitte knickte, sich in den Mund schob und sie herunterschlang, und schließlich schaffte er es, sich vom Küchentisch loszu353
reißen und ins Labor zu fahren. E S HATTE eine Zeit gegeben, dachte Joy, während sie das Tor zur Reithalle öffnete, als nichts hinter den Dingen stand, als die Außenwelt buchstäblich bedeutungslos war und sie selber im wesentlichen gedankenlos handelte. Als das Tor ganz offen war, ging sie hindurch, drehte sich dann um und zog vorsichtig an Frenchmans Zügeln. Der hochbeinige, braune vierjährige Wallach trottete zögernd durch die Toröffnung, aber sobald er in der Halle stand, spitzte er die Ohren und neigte den Kopf zur Seite und reckte den Hals, als müsse er seine Machtposition gegen unsichtbare Hengste verteidigen. Er stieß ein langes und gebieterisches Wiehern aus. Aus dem hinteren Teil des Stalles drang die gedämpfte, aber sehnsüchtige Antwort seiner geliebten Freundin Tillie herüber. Tillie war eine siebenjährige, ziemlich kolossige Connemara-Stute. Die beiden waren ein ungleiches Paar, aber wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätten sie sich keine Sekunde lang getrennt. Joy hatte dreimal versucht, sie in weit auseinanderliegenden Boxen unterzubringen, denn sie wußte, daß ihre gegenseitige Abhängigkeit durch das ständige Zusammensein nur verschlimmert wurde, aber ihr verzweifeltes Wiehern, ihre durchdringenden Lockrufe und Treueschwüre hallten tagelang ununterbrochen durch den Stall, bis Joy ihre Prinzipien aufgegeben und die beiden wieder zusammengelegt hatte. Frenchman war ein hübscher Vollblüter mit einer echten Dressurveranlagung, aber wegen der Liebe war er kaum noch zu gebrauchen – sein Interesse für Tillie lenkte ihn zu sehr ab. Es war schwierig genug mit ihm, wenn sie weit entfernt war, aber in ihrer Nähe benahm er sich unmöglich. Joy ließ die Steigbügel herunter und saß mit einem 354
schwungvollen Satz auf. Während sie sich zurechtsetze, verharrte der Wallach in gespannter Aufmerksamkeit und wieherte erneut. Joy gab ihm leicht Bein, und als er sich nicht rührte, versetzte sie ihm mit der Reitgerte einen festen Hieb auf die Hinterhand. Er lief bereitwillig, wenn man mit ihm in Tillies Richtung ritt, aber sobald er sich von ihr entfernen sollte, wurde er störrisch. Meistens mußte Joy ihn sehr fest mit der Gerte schlagen und ihm die Sporen geben, um seine Aufmerksamkeit zu erlangen. Man hatte ihn erst spät kastriert, und Tillie war zweimal gedeckt worden. Sie hatten also durch die Nachlässigkeit ihrer Besitzer, die dem jungfräulichen Stadium als Voraussetzung für ein nützliches und produktives Pferdeleben nicht genug Bedeutung beimaßen, die Fleischeslust kennengelernt. Das war nicht sehr hilfreich, denn wenn die beiden zusammen auf der Weide waren, hielt Tillie ihm gerne ihr rundes niedriges Hinterteil direkt vor die Nase, schob ihren Schweif zur Seite und bot sich ihm dar, was ihn jedesmal unendlich frustrierte. Es war eine verfahrene Situation, und Joy sah keinen anderen Ausweg, als eines der beiden Pferde zu verkaufen. Noch vor zwei Jahren hätte sie Tillie, ohne zu zögern, verkauft. Sie wäre das Problem forsch angegangen und hätte es fachkundig gelöst. Inzwischen sah sie die Dinge mehr oder weniger aus der Sicht der beiden, was fatale Auswirkungen auf ihre eigene Effizienz hatte. Sie forderte Frenchman erst sanft und dann energisch zum Traben auf. Tillie rief nach ihm. Der Wallach spielte mit den Ohren, aber er behielt seine Gangart bei. Joy erhöhte den Druck ihrer Schenkel, hielt aber die Zügel straff. Sie spürte seinen Widerstand. Sein Hals und sein Rücken wölbten sich, als er nachgab, und er verfiel in einen leichten, rhythmischen Trab. Ein wohliges Gefühl durchströmte Joy 355
von den Schenkeln über die Hüfte bis in ihren Rücken. Ohne Tillie könnte es mit ihm immer so sein. Sie ließ ihn auf dem Zirkel laufen und anschließend ein paar Achten. In der Biegung sprang er aus dem Hufschlag und bäumte sich auf, um Joy auf die Probe zu stellen. Sie brachte ihn zuerst mit den Schenkeln und dann mit der Gerte dazu, die Übungen so oft zu wiederholen, bis er die Figuren möglichst exakt in die Späne auf dem Hallenboden gezeichnet hatte, und dann parierte sie ihn zum Schritt durch und gab die Zügel nach, damit er seinen Kopf strecken konnte. Auf der Stelle stieß er einen Drohruf aus, der die unsichtbaren Hengste einschüchtern und Tillie bedeuten sollte, daß er sie beschützen würde. Sie antwortete mit einem ermunternden Wiehern. Wären sie Menschen gewesen, hätte man ihre bedingungslose Zuneigung bewundert oder sie ihnen geneidet. Aber da sie Pferde waren, wurde ihre Besessenheit nur als Zeichen ihrer Einfalt gewertet. Joy selbst hing mit einer gewissen Einfalt an Dean. Jetzt, da ihre Wege sich zu trennen schienen, stellte sie überrascht fest, wieviel er ihr bedeutete. Es war nicht etwa so, daß sie Dean nicht durchschaute. In den fünf Jahren ihrer Beziehung hatte er nur allzu oft moralische oder geistige Schwächen gezeigt. Zum Beispiel war er ein glühender Anhänger von Ronald Reagan. Einmal hatten sie sich gemeinsam eine Fernsehansprache von Reagan angesehen, und Joy war so erschrocken über die platte Mimik und Gestik des Schauspieler-Präsidenten gewesen, daß sie meinte, diesmal müsse es selbst Nancy Reagan bemerkt haben, aber nach der Rede hatte sich Dean zu ihr umgewandt und voller Begeisterung gesagt: »Mein Gott, war das großartig! Was für ein großartiger Mann. Kein Präsident seit Abraham Lincoln…« Eine andere Angewohnheit von ihm, die so leicht zu durchschauen war, daß 356
Joy jedesmal erschauderte, bestand darin, daß er, immer wenn er ängstlich oder unsicher war, etwas Teures kaufte. Am Anfang ihrer Beziehung, als sie noch wenig Geld hatten, ging er, nachdem er die Kontoauszüge überprüft und sich über ihre finanzielle Lage beklagt hatte, manchmal schnurstracks ins Einkaufszentrum und kaufte dort nur aus Angst, pleite zu sein, ein neues Hifi-Gerät oder einen Shetlandpullover. Sie steigerte Frenchmans Tempo in einen versammelten Außengalopp, brachte ihn zum Stehen und rief ihn mit den Sporen zur Ordnung. Das nächste Mal galoppierte er lebhafter an, und sie ging mit der Bewegung mit. Sie ließ ihn dreimal die Halle umrunden, dann wies sie ihn auf die Diagonale und forderte in der Mitte einen fliegenden Wechsel von ihm. Sie spürte seinen Widerstand, aber er gehorchte. Als junges Mädchen hatte sie mit Begeisterung lange, entspannte Galoppritte über unbefestigte Straßen in ihrer Heimat in Oklahoma unternommen. Ihr Pony war am Ende des Sommers immer so durchtrainiert gewesen, daß man in der kühlen Herbstluft den Eindruck hatte, als könne es ewig weiterlaufen. Sie hatte damals, wenn überhaupt, einen Westernsattel benutzt und war einfach drauflosgeritten. Sie hatte Dean nie heiraten wollen, aber jetzt wünschte sie sich seltsamerweise, trotz ihrer tiefen Abneigung gegen die kälberunabhängige Laktation, trotz ihrer festen Überzeugung, daß sie bald kein Paar mehr sein würden, ihn geheiratet zu haben, damit ihr gemeinsames Leben mit einem Knall zu Ende gehen würde, anstatt sich, was momentan unvermeidlich schien, einfach in Luft aufzulösen. Diesen Wunsch hatte sie zum einen, weil sie wollte, daß ihr erstaunlich starker Schmerz über die Trennung öffentlich zur Kenntnis genommen würde. Zum anderen, weil ihr 357
ganzes Leben ihr rückblickend größtenteils leer und ereignislos vorkam – keine Kinder, keine Ehen, keine akademischen Auszeichnungen, noch nicht einmal ein bedeutender Turniersieg. Sie hatte ein paar gute Pferde herangezogen, aber ein erstklassiges war nicht dabeigewesen. Und auch die große Liebe zu einem außergewöhnlichen und einzigartigen Mann hatte sie bisher nicht erlebt, nur viele Monate und Jahre mit Dean, einem durchschnittlichen Mann mit durchschnittlichen Vorlieben, der furchtbare Angst davor hatte, durchschnittlich zu wirken, eine Eigenschaft, die Joy im übrigen bei fast allen Männern und den meisten Frauen, die sie kannte, festgestellt hatte. In der Mitte der Halle befanden sich in kurzem Abstand hintereinander sechs schwarzweiße Stangen, die in fünfzehn Zentimeter Höhe auf Holzkreuzen lagen. Joy lenkte Frenchman auf diese Bodenricks zu und trieb ihn zu einem starken Trab an. Der starke Trab war ihre Lieblingsgangart, da sie es liebte, wie das Pferd dabei kühn seine Vorderbeine nach vorne warf und stolz den Kopf in den Nacken legte. Schnelligkeit war nicht das eigentliche Ziel, obwohl ein schnelleres Tempo ein Nebeneffekt der längeren Schritte war. Das eigentliche Ziel war vielmehr, das tänzerische Ideal vollendeter Streckung und Öffnung, eines Höchstmaßes an kontrollierter Körperspannung zu erreichen. Sie entfernten sich von Tillie, daher lief der Wallach nur zögernd und widerwillig. Joy ließ ihn, kurz bevor sie die Bodenricks erreichten, abwenden und lenkte ihn in die Reitbahn zurück. Sie reckte ihre Hand in die Höhe und ließ die Gerte mit voller Kraft auf seine Kruppe knallen, hielt aber gleichzeitig die Zügel fest. Er zuckte zusammen. Sie setzte die Sporen ein. Er war noch jung und unsicher genug, um genau in dem Moment munter zu werden, in dem sie es von ihm verlangte. Sie kamen ans Ende der Halle, 358
Joy wendete ihn und hielt erneut auf die Bodenricks zu. Diesmal war er vorbereitet und konzentrierte sich darauf, die Stangen nacheinander zu überwinden, ohne die Gangart zu wechseln. Sie erreichten die ersten Stangen. Joy trieb ihn mit den Schenkeln vorwärts. Sie spürte, wie seine Muskeln sich anspannten, und kurz darauf lagen die Ricks hinter ihnen. Sie wendete und wiederholte die Übung noch dreimal. Er machte es jedesmal genausogut oder sogar besser als beim ersten Mal. Dann ließ sie ihn in einen gemächlicheren Schritt verfallen. Er streckte den Hals und ließ den Kopf hängen. Als Tillie ihn rief, war er zu müde, um zu antworten. Joy lächelte. DEAN GING um 11 Uhr 30 zum Mittagessen in die Mensa, gleich nachdem sie öffnete. Er haßte es, wenn eines der Gerichte ausgegangen war, denn dann hatte er immer das Gefühl, das Beste verpaßt zu haben. Heute entschied er sich für das gegrillte Rindfleisch m. Sesambrötchen, als Beilage Karotten, Kirschkuchen m. Schlagsahneverzierung und einen kleinen Salat m. Ranch-Dressing für insgesamt $ 3,72, aber vielleicht hätte er lieber das Hacksteak »Stroganoff« m. saurer Sahne und überbackenen Eiernudeln nehmen sollen. Auf dem Weg zum Tisch wechselte er mit jedem, der es erwartete, ein paar verbindliche Worte, aber er machte deutlich, daß er allein sein wollte, indem er sein Notizbuch und einen Drehbleistift hervorholte, sobald er Platz genommen hatte. Als Empfänger von angeblich einer Million Dollar ließ man ihn alleine sitzen, auch als alle Tische um ihn herum besetzt waren. In sein Notizbuch zeichnete er eine Holsteiner Kuh – er hatte schon immer ein Faible fürs Malen gehabt –, die an einem Zaun stand und in die Ferne blickte. Ihr schweres, volles Euter reichte fast bis auf den Boden (12000 Liter pro 359
Jahr), aber das kümmerte sie gar nicht. Sie blickte auf die Berge im Hintergrund, die er anschließend skizzierte, und schnupperte den vom Wind herbeigewehten Geruch des Meeres, das hinter dem Gebirge verborgen lag. Sie dachte nach. Sonst tat sie nichts, sie dachte nur nach. Dann blätterte er um und machte eine Liste. Der erste Punkt auf der Liste lautete: »Mit Joy zehn Minuten/Tag über ihre Angelegenheiten reden, Zeit um zwei Min/Woche steigern.« Der zweite Punkt lautete: »Chris, dieses Wchend.. McDo. und Computerladen.« Dann tat er das, was er schon vor Wochen hätte tun sollen, nämlich die einzelnen Schritte, die nötig waren, um sein Projekt zu vollenden, in immer kleinere Bestandteile zu zerlegen. Dabei wurde klar, welche Aufgaben er seiner wissenschaftlichen Assistentin übertragen konnte, welche nicht unbedingt erledigt werden mußten, wenn er nicht wollte (»Tagesberichte verfassen«), welche schnell gingen (»Sicherungskopie des zahlenverarbeitenden Programms machen«), und über welche er sich einige Gedanken machen mußte (»Wie teilt der Embryo der Kuh seine Existenz mit?«). Als er ein zweites Mal zur Essensausgabe ging, um sich ein Hacksteak »Stroganoff« m. saurer Sahne zu holen, füllte die Liste sieben Seiten, und seine Zukunft ängstigte ihn nicht länger. Jetzt leckte er den letzten Rest saurer Sahne von seiner Gabel und sah, daß es auf der Mensa-Uhr einundzwanzig Minuten vor eins war. Er konnte das Programm bis um eins kopiert haben – fürs erste war es gut genug, und bis er ein paar Zahlen hatte, die es schlucken konnte, würde er auch nicht wissen, was er noch daran ändern sollte –, und dann könnte er mit dem nächsten Punkt auf der Liste weitermachen – »Suzanne (Assist.) anrufen und evtl. für Mi. Treffen vereinbaren« und so weiter und so fort, bis er am Ende von Seite sieben angekommen war – »Antrag auf weitere För360
dermittel stellen«. JOY WAR beim Mittagessen ebenfalls in ihre Zukunftspläne vertieft. Ihr Ziel war nicht unähnlich – die gegenwärtigen Schwierigkeiten hinter sich lassen und ein entspannteres, weniger eingeengtes Leben führen. Sie packte die Bestandteile ihrer Mahlzeit aus und stellte sie auf ihren Schreibtisch. Es gab ein Hackbraten-Sandwich, eine saftige Birne, zwei Chips Ahoy!, ein Preiselbeer-Sundance und eine kleine Tüte Saure-Sahne-Kartoffelchips mit Zwiebelgeschmack. Fünf Produkte, fünf Ziele: Einen Mann zum Heiraten finden. Mindestens ein Kind bekommen. Zurück in den Westen ziehen, am besten in den Südwesten. Eine Urlaubsreise nach Alaska machen. Genug Geld sparen, um ein Schwedisches Warmblut aus europäischer Züchtung mit großen, robusten Hufen zu kaufen. Dean war auf ihrer Liste nicht vertreten, aber als sie am Abend nach Hause kam, stellte sie erfreut fest, daß sie beide entspannter und nachsichtiger wirkten. Sie verloren darüber kein Wort – Dean dachte, daß sich jetzt, wo er einen Arbeitsplan hatte, die Details schon von alleine erledigen würden, denn schließlich war es bisher immer so gewesen, und Joy dachte, daß sie jetzt, wo sie aufgehört hatte, ihre uneingestandenen Sehnsüchte auf Dean zu projizieren, der damit ganz eindeutig nicht umgehen konnte, in aller Ruhe ihren unausweichlichen Auszug aus seinem geräumigen, komfortablen Haus abwarten konnte. Sie gingen sogar, zum ersten Mal seit einigen Monaten, gleichzeitig zu Bett, und als sie nebeneinander lagen, schien es nicht unmöglich und sogar verlockend, miteinander zu schlafen, und so taten sie es, und so schliefen sie zufrieden ein und fanden so einen Weg, es noch eine Weile miteinander auszuhalten. 361
43 Rauf oder raus DR . GARCIA machte es nichts aus, ungefähr dreißig Stunden mit der Lektüre von Texten wie »Der tractatus humorus von Antonius von Cesena. Anmerkungen zur Ordnung der vorhandenen Fragmente« oder »Das Falten und Aufschließen von verketteten Membranen« oder sogar »Die Verwendung von artspezifischen monoclonalen Antikörpern zum Nachweis der Prävalenz des Sojabohnen-Mosaik-Virus« zuzubringen. Seine Ausflüge in diese fremden Forschungsgebiete und ihre Codes hatten etwas Freischwebendes. Einige Gedanken der Autoren tauchten wie aus dem Nichts auf – den Antworten vergleichbar, die ihm und seinen Freunden einst das »Eight balls«-Orakel erteilt hatte – »Die Antwort lautet nein«, »Fragen Sie später noch einmal«. Andere dagegen nicht. Aber er war ja auch nicht dafür zuständig, die Texte zu beurteilen und zu bewerten – dafür waren die Kollegen des jeweiligen Fachbereichs zuständig, und deren Urteile und Bewertungen wurden an den Universitätsausschuß zusammen mit ihrer Empfehlung, die Garcia verstehen konnte, weitergegeben. Aber er las dennoch zumindest einen Text pro Kandidat, um einen allgemeinen Eindruck zu gewinnen und beurteilen zu können, inwieweit dessen Selbstdarstellung von der Darstellung seiner Arbeit und Persönlichkeit durch den Fachbereich abwich. Diese Lektüre hatte etwas Geruhsames, er konnte so in die Geheimnisse des Geistes und der Wissenschaft eindringen, und das machte ihm Spaß. Die Sitzungen dagegen waren eine Qual. Die fünf Mitglieder des Ausschusses hatten bis jetzt zwei davon durch362
gestanden, die jeweils vier Stunden gedauert hatten, während derer sie jeweils elf oder zwölf Fälle behandelt hatten, und bei jeder Meinungsäußerung und jeder Abstimmung war deutlich geworden, daß dieser spezielle Ausschuß/diese spezielle Familie hochgradig funktionsgestört war. Und jetzt mußten sie sich mit der Festanstellung von Timothy Monahan befassen, einem der wenigen Kandidaten, deren Arbeiten Dr. Garcia tatsächlich verstand. Margaret verließ den Raum. Garcia seufzte. Gift sagte: »Ich habe hier eine Nachricht vom Vorsitzenden des Fachbereichs.« Er schaute über den Rand seiner Brille und las: »›Professor Monahans dritter Roman ist während der Thanksgiving-Ferien zur Veröffentlichung angenommen worden. Der Verlag, das bekannte und renommierte Haus Little, Brown, hat sich bereit erklärt, schriftlich zu bestätigen, daß an dem Manuskript nur geringfügige Änderungen vorgenommen werden müssen und daß das Buch in etwa einem Jahr erscheinen wird. Das Schreiben wird per Luftpost geschickt und spätestens in zwei Tagen vorliegen. Meiner Ansicht nach, und der Fachbereichsausschuß schließt sich dem an, sollte der Beförderung von Professor Timothy Monahan zum Ordentlichen Professor nach dieser Verlagsentscheidung nichts mehr im Wege stehen.‹« Dr. Gift räusperte sich. Er sagte: »Es handelt sich dabei, glaube ich, um das Buch, das wir auszugsweise gelesen haben und von dem ein Kapitel im – warten Sie, ja, im Playboy veröffentlicht wurde. Ich glaube, neben einer Seite des Textes befand sich das Foto einer nackten jungen Frau.« »Stimmt genau«, sagte Cates. Garcia schrieb ins Protokoll: »›Stimmt genau‹, sagte Dr. Cates.« 363
Dr. Gift sagte: »Ich bin mir nicht sicher, ob ein schlüpfriger Text allein durch die Veröffentlichung in Buchform an Qualität gewinnt.« Helen sagte sanft: »Lionel, ich habe Ihnen doch bereits gesagt, daß ich die Ausschnitte des Romans nicht für schlüpfrig halte.« Dr. Garcia schrieb: »Dr. Levy widerspricht der Charakterisierung von Professor Monahans Werk als schlüpfrig.« Cates sagte: »›Trivial‹ wäre wohl der passendere Ausdruck für das, was ich gelesen habe.« Dr. Garcia schrieb: »Dr. Cates charakterisierte das Werk als trivial.« Jetzt schauten alle ihn an. Er legte seinen Stift hin und setzte eine nachdenkliche Miene auf. Er schwieg so lange, wie es ihm möglich war. Dann sagte er: »Ich würde nicht sagen, daß Professor Monahan große Literatur schreibt, aber ich würde auch nicht sagen, daß die finanzielle und geographische Lage beziehungsweise das kulturelle Umfeld dieser Universität dazu angetan sind, einen Verfasser von großer Literatur anzulocken oder zu halten, der außerdem womöglich ein Drogenkonsument, ein Alkoholiker, manisch depressiv, süchtig nach Sex mit jungen Studentinnen ist oder andere Probleme hat, die oft Begleiterscheinungen von außergewöhnlicher Kreativität sind.« Er hielt schriftlich fest: »Dr. Garcia bemerkte, daß eine zweitklassige Einrichtung wie diese wahrscheinlich froh darüber sein muß, von einem Mann wie Professor Monahan überhaupt in Erwägung gezogen worden zu sein.« »Offen gestanden«, sagte Helen, »glaube ich nicht, daß irgend jemand von Ihnen über die nötigen Kenntnisse verfügt, um ein fundiertes Urteil über Professor Monahans Arbeiten abgeben zu können. Nur weil Sie auf dem College Schuld und Sühne gelesen haben, sind Sie noch lange keine 364
Literaturexperten.« Dr. Gift schnaubte. »Also gut, Lionel«, sagte Helen, »wie wäre es damit: Eine Zeitschrift wie der Playboy bekommt pro Jahr Tausende solcher Texte zugeschickt. Maximal achtzehn davon werden veröffentlicht. Der Auszug aus Professor Monahans Buch war einer davon. Das bedeutet, er hat sich auf einem hartumkämpften Markt durchgesetzt. Desgleichen sein erster Roman, desgleichen sein zweiter Roman. Tausende und Abertausende von Manuskripten werden eingesandt, maximal ein paar hundert werden von den Verlagen angenommen. Und, was Ihnen doch gefallen mußte, Lionel, er verdient Geld damit.« »Wieviel?« sagte Dr. Gift. »Ich glaube, der Vorschuß für seinen ersten Roman betrug fünfundzwanzigtausend. Kommerzielle Verlage zahlen durchschnittlich weniger als zehn.« Garcia hatte den Eindruck, daß Gifts Urteil etwas ins Wanken geraten sei. Gift sagte: »Können wir herausfinden, wie hoch der Vorschuß für seinen neuen Roman ist? Welchen Rang er im nationalen Vergleich auf der Vorschußskala einnimmt?« Helen sagte: »Das ist doch nicht Ihr Ernst, Lionel.« »Diese Faktoren sind meiner Ansicht nach relevant.« Cates sagte: »Heißt das, wir werden über diesen Fall heute nicht entscheiden?« Garcia schrieb: »Es wurde diskutiert, ob die Entscheidung über Professor Monahans Kandidatur vertagt werden sollte.« Dann sagte er: »Das würde eine Sondersitzung erfordern. Heute ist unsere letzte planmäßige Sitzung.« Helen sagte mit beeindruckender Entschlossenheit: »Ich will keine weitere Sitzung. Lionel, wir reden hier über 365
jemanden, der wahrscheinlich als einziger der bisherigen Kandidaten eine direkte Beziehung zum freien Markt, den Sie so sehr schätzen, hat und der sich dort recht gut behauptet. Er ist von den Kandidaten, über die wir diskutiert haben, der einzige, der tatsächlich ein UNTERNEHMER ist. Werden Sie Ihren Prinzipien nicht untreu, Lionel!« Garcia sah ganz deutlich, daß der alte Dad innerlich zerrissen war, und daß er außerdem gekränkt war, weil Mom zu ihm vor den Kindern in einem derartig scharfen Tonfall gesprochen hatte. Und hinzu kam noch die Art und Weise, wie sie ihn angegriffen hatte. Garcia hatte einmal einen Aufsatz geschrieben mit dem Titel »Patriarchalische Privilegien und ihre Beziehungen zu den Prinzipien der Kernfamilie«, in dem er aufgezeigt hatte, daß in über neunzig Prozent der traditionellen Familien dem Vater gestattet wurde, in erheblichem Maß von Verhaltensnormen abzuweichen, auch wenn diese von der jeweiligen Familie klar umrissen und allgemein respektiert wurden. Vater mußte, um es kurz zu fassen, NICHT UNBEDINGT mit gutem Beispiel vorangehen. Besonders interessant war, wie unterschiedlich die beiden Elternteile die Nichtbefolgung der festgelegten Normen durch den Vater entschuldigten: Der Vater erklärte fast immer, daß die harte Arbeit außerhalb des Hauses und die daraus resultierenden Einkünfte ihm Privilegien verschafften (einer der Gründe, warum Männer es nicht gerne sahen, wenn Frauen außerhalb des Hauses arbeiteten – sie wußten, daß die Ausweitung dieser Privilegien auf andere Familienmitglieder die Familienmoral untergraben konnte); die Mutter vertrat fast immer die Meinung, daß Männer von Natur aus unberechenbar waren und sich weder beherrschen noch von Frauen oder abstrakten Regeln im Zaum gehalten werden konnten. Daher, hatte Dr. Garcia geschlossen, konnte die Strategie einer Ehefrau, 366
den Mann an die Einhaltung der Prinzipien zu erinnern, die er mißachtet hatte, sehr unterschiedliche Folgen haben, je nachdem, ob sich der Mann von ihrem Auftreten bedrängt fühlte, es als einen Hinweis auf sein Versagen als Mann betrachtete, oder, positiv gewendet, es als eine Gelegenheit ansah, sich dem Familienleben stärker anzuschließen. Garcia beobachtete Dr. Gift. Dr. Gift sagte: »Ich schlage vor, wir schreiten zur Abstimmung.« Die Abstimmung wurde auf einer Skala von l bis 10 vorgenommen. Mit einer 6,5 konnte man noch durchrutschen, aber eine 7 oder 7,5 war eine wesentlich überzeugendere Empfehlung für die Erhebung in den Rang eines Ordentlichen Professors, und bei einer solchen Bewertung würde das Büro des Kanzlers sicherlich seine Zustimmung geben. Garcia faltete als Protokollführer die Zettel auseinander. »4« – das war Cates. Er ließ sich fast nie von der Diskussion umstimmen. »5« – das mußte Dr. Gift sein: seine Antwort an Mom. »7« – Garcia selbst. Es hatte überzeugendere Kandidaten gegeben, von denen bereits drei Bücher veröffentlicht waren; das durfte man nicht vergessen. »8« – Helen, die bei der Diskussion oft eine sehr extreme Meinung vertrat, aber dann recht maßvoll abstimmte. Dr. Garcia sagte: »Also, wir empfehlen ihn mit einer sechs.« Dr. Gift sagte: »Meiner Meinung nach ist das angemessen.« Cates sagte: »Großzügig, wenn Sie mich fragen.« Garcia seufzte. Helen kramte in ihrer Aktentasche herum. Dr. Gift setzte sich mit offenkundiger Selbstzufriedenheit auf seinem Stuhl zurecht. Garcia öffnete die Tür und winkte Margaret, die auf der Bank vor der Tür saß und in 367
einem Buch las. Es trug den Titel Feminismus ohne Illusionen. Ob ich das noch erleben werde, dachte Garcia. Cates ging zur Kaffeemaschine. »Da«, sagte Helen. »Lassen Sie uns eine Pause machen und über das hier diskutieren.« Sie schob einen mehrseitigen getippten Text über den Tisch zu Dr. Gift hinüber und verteilte dann Kopien an die anderen drei. Dr. Lionel Gift konnte die Anzahl der Gelegenheiten, bei denen er überrascht gewesen war, an einem Finger abzählen, und auch dieses eine überraschende Ereignis, den Börsensturz von 1987, hätte er vorausgesehen, wenn er damals in den USA gewesen wäre, aber er war in Costa Rica gewesen und hatte die Kosten-Nutzen-Rechnung für sein brandneues Ferienhaus erstellt. Nichtsdestotrotz war er jetzt überrascht, als sein vertrauliches Gutachten über Seven Stones Mining auf ihn zuglitt. Es kam ihm so vor, als besäße Helen eine Art Zaubertasche, aus der sie jederzeit das herausholen konnte, wonach ihr der Sinn stand. Sein erster Gedanke war, daß er bei der Abstimmung über diesen Monahan an seinen Grundsätzen hätte festhalten sollen, anstatt seinen Instinkten zu folgen. Das sollte ihm eine Lehre sein – jede Abweichung von Grundsätzen war ein Fehler. Er sagte: »Wo haben Sie denn das her?«, und dann sah er, daß es noch vier weitere Kopien gab, als ob seine Kopie sich wie durch ein Wunder vermehrt hätte. Er sagte: »Dieses Gutachten ist vertraulich.« »Jetzt nicht mehr«, sagte Helen. Elaine Dobbs-Jellinek. Dr. Gift stand auf und sagte: »Ich muß einen Anruf tätigen.« »Ausgezeichnet«, sagte Helen. »Dann haben die anderen Gelegenheit, das Gutachten in Ruhe zu lesen.« »Sie dürfen es nicht lesen. Es ist vertraulich. Es war nie 368
vorgesehen, daß es jemand liest.« Er setzte sich wieder. Dr. Bell, die die ersten paar Seiten offenbar mit zunehmendem Erstaunen überflogen hatte, sagte: »Das ist ein interessanter Punkt, den Sie da ansprechen, Dr. Gift. Es gibt tatsächlich eine bedeutende Strömung in der Literaturtheorie, die behauptet, daß in der Beziehung zwischen Autor und Leser der Leser die eigentliche Macht hat. Der Autor mag den Leser überzeugen, anlocken oder verführen, aber der Leser entscheidet, wie er den Text interpretiert und sogar, ob er ihn überhaupt liest. Ein Kritiker hat einmal gesagt, daß der Verlust der Kontrolle über die Gedankengänge durch das Niederschreiben einem Orgasmus gleichkommt. Ein ebenso beängstigendes wie erregendes Gefühl.« Sie warf Dr. Gift einen verstohlenen Blick zu und gestattete sich dann ein kurzes, heimliches Lächeln. Sie fuhr fort: »Natürlich ist das eine typische maskuline Deutung, aber sie hat einen gewissen Reiz.« Dr. Gift starrte sie an, aber Garcia hatte nicht den Eindruck, als würde er ihr zuhören; er schien eher über seinen nächsten Schritt nachzudenken. Helen sagte: »Na, Lionel, überlegen Sie, wen Sie verklagen könnten?« »Es gibt mit Sicherheit Universitätsbestimmungen zum Schutz der Vertraulichkeit von schriftlichen Dokumenten der Mitglieder des Lehrkörpers.« »Zweifellos gibt es die«, sagte Helen. »Nun ja, dann werde ich in dieser Richtung tätig werden.« »Am Samstagvormittag? Nimmt Ihr Rechtsanwalt einen Pieper mit auf den Golfplatz? Zufällig weiß ich, daß der Justitiar der Universität an diesem Wochenende in St. Louis bei einer großen Hochzeitsfeier ist. Sie können natürlich versuchen, den Kanzler zu erreichen, aber der ist wegen 369
eines Basketballspiels nach Kansas gefahren und wird erst morgen am späten Nachmittag zurückkehren. Und selbst wenn Sie ihn erreichen, bezweifle ich, daß er irgend etwas unternehmen kann, bevor er sich am Montag mit dem Justitiar getroffen hat.« Sie lächelte. Dr. Gift versuchte über den Tisch hinweg nach Dr. Garcias Kopie des Gutachtens zu greifen. Dr. Garcia riß sie instinktiv an sich und brachte sie außer Reichweite. Dann merkte er, daß er damit Position bezogen hatte. Zunächst war er geneigt gewesen, Dr. Gift zuzustimmen, aber Dads plumper Versuch, ihn zu bevormunden, offenbarte eine Respektlosigkeit ihm, Dr. Garcia, gegenüber, die er ihm übelnahm. Er rückte mit seinem Stuhl etwa dreißig Zentimeter vom Tisch ab und blätterte das Gutachten durch. Das bereitete ihm Vergnügen. Er spürte, wie die Prinzipien aus dem Raum verschwanden und schlichtes Wollen an ihre Stelle trat, zunächst nur in Form von Neugier, da nun jedes der Kinder in den Geheimnissen des alten Dad herumstöberte. Außerhalb seines Fachs war Dr. Garcia ein normaler Bürger. Die Ökologie gehörte weder zu seinen Wissensnoch zu seinen Interessengebieten. Bei jedem wütenden Vortrag seines Freundes X vom Gartenbauinstitut über die Ozonschicht, die biologische Vielfalt, über vom Aussterben bedrohte Arten, die Vernichtung des Regenwaldes und die Überbevölkerung hatte er dessen übermäßiges Engagement für globale Probleme dem langanhaltenden psychischen Streß zugeschrieben, unter dem hochidealistische Persönlichkeiten mit niedriger Toleranzschwelle meistens leiden. X’s Charakterprofil war typisch: er war instabil, cholerisch, voller Selbstzweifel, alkoholgefährdet und besaß Charisma. Garcia mochte ihn sehr gerne. Aber trotz Garcias offenkundiger Gleichgültigkeit den 370
meisten außerpsychologischen Angelegenheiten gegenüber durchfuhr ihn ein kurzer Schock bei dem Vorschlag, eine Goldmine unter dem letzten noch verbliebenen unberührten Nebelwald der Welt zu schürfen. Außerdem war er unangenehm überrascht, als er las, daß der Wald vollständig umgeben von Land war, das einer Firma namens International Cattle gehörte. Die Bilder, die er vor Augen hatte, waren simpel und daher um so eindrucksvoller – der Firmenbesitz zog sich um den Wald wie eine Schlinge, und die Stollen der Goldmine untergruben im wahrsten Sinne des Wortes die Verbindung des Waldes mit der Erde. Cates sagte: »Wissen Sie was, Seven Stones Mining ist eine interessante Firma. Vor zirka zehn Jahren wurde ein Gerichtsverfahren gegen sie angestrengt, um sie daran zu hindern, eine Tochterfirma namens Appalachic Coal abzustoßen, die von den Einwohnern einer Stadt auf Schadensersatz verklagt worden war, weil unter dieser Stadt eine stillgelegte Zeche von Appalachic Coal Feuer gefangen hatte. Ich glaube, dieses Feuer brannte schon etwa seit zwanzig Jahren. Als es kurz vor Ende des Prozesses so aussah, als würde das Urteil zugunsten der Stadt ausfallen, machte Seven Stones Anstalten, Appalachic abzustoßen, damit Appalachic in Konkurs gehen konnte und keinen Schadensersatz zahlen mußte. Ein Gericht in Kentucky gestattete den Verkauf, und es wurde kein Schadensersatz geleistet.« Helen sagte: »Woher wissen Sie das? Ich wäre Ihnen sehr dankbar für eine Quellenangabe.« Sie griff nach ihrem Stift. »Es tut mir leid, aber ich weiß es nur von einem Cousin, der mit seiner Familie dort in der Nähe lebt. Ich fand allerdings immer, daß es ein interessanter juristischer Fall war.« Cates wirkte wie immer kühl und beinahe gleichgültig, 371
dachte Garcia. Der Chemieprofessor fuhr fort: »Meine Verwandten bekamen allerdings erst Probleme, nachdem Appalachic Bankrott gemacht hatte. Danach mußten sie ihren kleinen Krämerladen schließen.« Dr. Bell schaute ihn mit finsterem Blick an. Sie sagte: »Ist das nicht mal wieder typisch?« Garcia wußte nicht, ob sie Cates’ Schilderung oder die Geschichte, die er erzählt hatte, meinte. Dr. Gift riß sich zusammen. Er schaute die anderen vier nacheinander an und sagte dann: »Vielleicht ist es das klügste, die Arbeit dieses Ausschusses abzuschließen, da nur noch vier Kandidaten auf der Liste stehen, über die wir bestimmt nicht lange diskutieren müssen.« Alle nickten. Letztendlich war es immer eine Erleichterung, sich in Routine zu flüchten, dachte Garcia. Man konnte sich irgendwie beschäftigen, während man sich innerlich darauf vorbereiten konnte, etwas zu tun, was man unbedingt tun wollte, obwohl man eigentlich wußte, daß es unklug war. In seinem Fall war es ein kurzer Besuch bei X, um ihm das Gutachten von Dr. Gift vorbeizubringen. X, das wußte er, würde es begierig verschlingen und schon nach der ersten Lektüre auswendig können. Und wer wußte schon, was dann passieren würde? Nach Dr. Garcias Erfahrung war diese Angelegenheit beispiellos. Das war ebenfalls aufregend. Er lächelte in sich hinein.
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44 Recherchen GARY WUSSTE GENAU, daß einer von Professor Monahans Lieblingssprüchen »Scheuen Sie keine Recherche« lautete. Nur aus diesem Grund, zur Erweiterung seines geistigen Horizonts, rief er Lydia an und lud sie ein, mit ihm auszugehen. Vorsichtshalber machte er den Anruf, während Lyle bei der Arbeit war, um nicht das völlig unbegründete Mißtrauen seines Mitbewohners zu wecken. Lydia schien von seinem Vorschlag nicht besonders angetan gewesen zu sein, und ihre Begeisterung hatte noch mehr nachgelassen, als er ihr versicherte, die Verabredung sei keine große Sache. Das war das Ärgerliche an Mädchen – erst gaben sie einem zu verstehen, daß sie sich nicht besonders für einen interessierten, aber wenn man ihnen versicherte, daß man sich auch nicht besonders für sie interessierte, dann waren sie beleidigt. Jungen waren nicht so. Das Zusammenleben mit Zimmergenossen beispielsweise basierte auf der allgemeinen Übereinkunft, daß man sich gegenseitig fast vollkommen gleichgültig war. Er hatte keine seiner Versionen von »Der Junge« und »Lydia« zu Ende gebracht. Er hatte sich kühn an andere Themen herangewagt und eine Geschichte über einen Mann in einem Raumschiff geschrieben, der eine Stimme hört und schließlich darin Gott erkennt, der mit dem Universum Würfel spielt, und eine andere über einen verrückten Vietnam-Veteranen, der sich selber in die Luft sprengt, weil er es nicht mehr aushält. Professor Monahan hatte keinem der beiden Texte viel abgewinnen können, und, um ehrlich zu sein, hatte Gary sie schon beim Schreiben etwas langweilig 373
gefunden. Nachdem sein Dozent also nochmals betont hatte, daß Recherchen für Kurzgeschichten zu betreiben nicht unbedingt hieß, in die Bibliothek zu gehen und jede Menge Primärliteratur zu durchforsten, kehrte Gary mit neuerwachtem Enthusiasmus zum Thema Lydia und ihre tragische Zukunft zurück und rief sie an. Sie trafen sich vor dem Black Hole, gingen aber ein Stück weiter die Straße hoch ins »Down But Not Out«, einem Treffpunkt der jüngeren Semester, der bei Männern und Frauen gleichermaßen beliebt war. Es war kalt, und Lydia trug einen Schal und dazu passende Fausthandschuhe aus leuchtend blauer und violetter Mohairwolle. Als sie ihren Mantel auszog, sah er, daß ihr Pullover dasselbe Muster wie Schal und Handschuhe hatte. Sie setzten sich an einen Tisch, und Lydia griff mit beiden Händen hinter ihren Kopf, um ihren Pferdeschwanz straffzuziehen. Dabei, und Gary wußte, daß es ihr wohl bewußt war, hoben sich ihre Brüste – extra für ihn. Gary rutschte auf seinem Stuhl nach vorne und streckte die Beine aus. Sie lächelten beide und verständigten sich so darüber, daß all dies nicht persönlich gemeint war und auch nicht persönlich aufgefaßt wurde. Jetzt konnten sie zur Sache kommen. Lydia sagte: »Ich habe dich ja gar nicht auf der Party in Berkeley Hall gesehen. Da war ja ein unglaubliches Gewühl.« »Ich habe gehört, es gab vier große Fässer.« »Es gab einfach alles. Es war wie in den Sixties.« »Haben die Leute viel getankt?« »Ja, und viel gekotzt.« Sie saßen einen Augenblick schweigend da, im Gedenken an den Spaß, den alle in Berkeley Hall gehabt hatten. »Und was macht Lyle so zur Zeit?« »Nichts besonderes. Arbeit, Uni, du weißt schon.« 374
»Ich habe ihn auf der Party gesehen.« Sie bemühte sich, es beiläufig klingen zu lassen. »Ach ja?« »Ja.« Er stand auf, ging hinüber zur Theke und kam mit einem Krug Pabst Blue Ribbon zurück. Sie sagte: »Ich trinke zur Zeit nur Cola light. Meine Mitbewohnerinnen und ich haben am Tag nach der Party beschlossen, eine Woche lang keinen Alkohol zu trinken.« »Ausgiebig gekotzt?« »Zu ausgiebig.« Er stand auf und holte ihr eine Cola light. Sie nippten gedankenverloren an ihren Getränken. Gary hatte ein äußerst seltsames Gefühl, das er gar nicht kannte. Aber dann erinnerte er sich an dieses Gefühl aus den ersten Jahren auf der High School. Er fühlte sich unwohl. In Gesellschaft eines Mädchens! Wahnsinn! Er wußte nicht, was er sagen sollte, er konnte nicht flirten! Erstaunlich! Gary Olson, der Junge mit den fünf Schwestern, war völlig befangen. Er sagte: »Zu schade, daß du nicht mehr bei uns vorbeikommst.« »Wieso das?« »Du fehlst mir.« »Ach ja?« »Na, du kennst doch Lyle und Bob. Die reden nicht viel. Und dieses Mädchen, mit dem Bob was hatte, also, da läuft nichts mehr, und jetzt ist er schlecht drauf.« »Das habe ich gar nicht mitgekriegt. Wer war sie denn?« »Diane Soundso. Irgendein Erstsemester.« »Aha.« »Willst du noch eine Cola light?« 375
»Okay.« Er ging an die Theke und trottete dann zum Tisch zurück. Es war schon erschreckend, wenn man sich vorstellte, wie fett Lydia eines Tages sein würde, wie verbittert und unglücklich. Da saß sie nun mit ihrem tollen Haar, ihrer wunderschönen Stimme, ihrem anziehenden Gesicht, und ahnte nichts Böses. Sie dachte wohl, sie würde ihr Leben lang die hübsche Studentin bleiben, die mit der Kreditkarte ihrer Eltern Stricksets aus Mohair kaufte und absolut sicher sein konnte, daß sich in jeder Kneipe alle nach ihr umdrehten. Wenn sie an Heirat und Karriere und Kinder dachte, und welches Mädchen an dieser Universität tat das nicht – im Englischseminar hatte Professor Bell einmal gefragt, wie viele der Mädchen vorhatten, Karriere zu machen und gleichzeitig eine glückliche Familie zu haben, und alle Mädchen hatten die Hand gehoben; dann hatte sie die Jungen gefragt, wie viele von ihnen damit rechneten, daß ihre Ehefrauen berufstätig sein würden, und nur drei hatten sich gemeldet (»Und wen wollen Sie dann heiraten?« hatte Professor Bell gefragt) –, wenn Lydia also an ihre Zukunft dachte, dann sah sie ihr heutiges Ich, diese schlanke, anmutige, vergängliche Schönheit, darin agieren wie in einer Bühnendekoration. Im Gegensatz zu Gary sah sie nicht, wie die Zukunft von ihr Besitz ergreifen und sie verändern würde. Das lähmte seine Zunge, denn jetzt, nachdem er diese Geschichten geschrieben hatte, wußte er alles über Lydia, und anstatt seine übliche Strategie zu verfolgen und das Mädchen dazu zu bringen, daß sie ihm etwas über sich erzählte, verspürte er den seltsamen Wunsch, ihr etwas über sie zu erzählen; und womit hatte Lydia das nur verdient? Sie war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen – im Zimmer seines Mitbewohners – und hatte ein Gespräch geführt, als er gerade die Aufgabe hatte, ein 376
Gespräch aufzuschreiben. Und jetzt war ihr Schicksal besiegelt. Ihr eigener kleiner Sohn würde Angst vor ihr haben. Gary seufzte angesichts dieser Ungerechtigkeit. Lydia hatte sich inzwischen in der Kneipe umgesehen und am anderen Ende des mit Tischen vollgestellten weitläufigen Raums die Rothaarige entdeckt, die auf der Party in Berkeley Hall mit Lyle gesprochen hatte. Selbst auf diese Entfernung und bei diesem Licht konnte man ihren dunklen Haaransatz erkennen. Lydia rümpfte die Nase. Außerdem war sie ziemlich füllig. Es war immer dasselbe. Bei ihrem Vater war es genauso gewesen. Bevor ihre Eltern sich scheiden ließen, hatte er nur seine Arbeit im Kopf gehabt und nicht mal seine Sachen selber weggeräumt. Wenn er noch etwas essen wollte, stand Lydias Mutter oder eines der Mädchen auf und holte es ihm. Er war so ungeduldig, daß er die Gegenwart seiner vier Kinder nur ertragen konnte, wenn sie im Auto saßen und mindestens zwei von ihnen schliefen. In seiner zweiten Ehe dagegen, das hatte Lydia mit eigenen Augen gesehen, wechselte er Windeln, schaukelte die Babys, wusch Wäsche, lernte die Zubereitung einer Reihe von norditalienischen Spezialitäten und nahm sich Zeit für die schönen Dinge des Lebens. Das hieß, daß er weniger arbeitete, um mit seiner neuen Frau und den zwei kleinen Kindern Zusammensein zu können. Und wenn Lydia oder Holly oder Roxanne oder David zu Besuch kamen, betonte er immer wieder, ihm sei Gottseidank klargeworden, daß Kinder nur einmal klein waren, und er hoffe, sie würden nicht dieselben Fehler machen wie er. Jedesmal, wenn sie oder ihre Geschwister erwähnten, womit sich ihr Vater neuerdings beschäftigte, drehte ihre Mutter schier durch. Einmal sagte sie: »Wißt ihr, über die Scheidung bin ich hinweggekommen, und unser jetziges Leben gefällt mir, aber die Vorstellung, daß er Frühstück macht und Pfannku377
chen ißt, macht mich wahnsinnig!« Lydia hatte lieber nicht erwähnt, daß ihr Vater seiner neuen Frau Mary Beth die Pfannkuchen sogar ans Bett brachte und sie wie MickeyMouse-Gesichter formte, weil Mary Beth das so hübsch fand. Lydia sah noch einmal zu der Rothaarigen hinüber und stellte fest, daß sie sie schon einmal gesehen hatte, im Spanischkurs, zu Anfang des Semesters. Nach ungefähr einer Woche hatte das Mädchen entweder den Kurs gewechselt oder war nicht mehr hingegangen. Sie hatte etwas Extravagantes an sich. Lydia fand, daß sie irgendwie vulgär aussah. Sie rümpfte erneut die Nase. Na ja, das überraschte sie nicht. Gary sagte gerade: »Und deshalb überlege ich mir, das Hauptfach zu wechseln.« Lydia brachte ein interessiertes Lächeln zustande und flötete: »Ich finde, daß man als Hauptfach auf jeden Fall etwas nehmen sollte, was einem wirklich Spaß macht.« »Das dachte ich auch, aber jetzt, wo ich das Grundstudium fast hinter mir habe, kommt mir das irgendwie naiv vor.« »Ach tatsächlich?« Das Problem war, Gary selber wirkte durch und durch naiv. Er sah gut aus; er war nett und konnte sehr amüsant sein, und viele ihrer Freundinnen waren schon mal in ihn verknallt gewesen, aber Lydia fand, daß ihm irgendwie der harte Kern fehlte. Es gab bei Gary nicht genug Reibungspunkte, und das hieß für sie, daß er keinen Charakter besaß. Er erinnerte sie an die zweite Ausgabe ihres Vaters – nur ein nettes, lächelndes Gesicht, kein echter Mensch, mit dem man sich im täglichen Leben auseinandersetzen konnte. »– Jura zu studieren«, sagte er. 378
»Du willst Jura studieren?« »Nein, Lydia, das will ich nicht.« Er wirkte leicht amüsiert. »Ich sagte, ich könnte mir alles vorstellen, außer Jura zu studieren.« »Ach so.« »Also, wenn du mir gar nicht zuhörst, dann verrate mir doch, worüber du nachdenkst?« Lydia behielt ihre Gedanken normalerweise für sich, aber sie war unhöflich gewesen und antwortete deshalb: »Über das Mädchen da drüben. Ich habe gesehen, wie Lyle auf der Party mit ihr sprach. Sie ist viel dicker als ich, und außerdem sind ihre Haare gefärbt. Und dann über meinen Vater und meine Mutter, seit sie geschieden sind. Mein Vater scheint ständig sagen zu wollen: ›Seht her, ich bin ein völlig neuer Mensch geworden. Bin ich nicht großartig?‹ Und dann weist er auf irgendeine Besonderheit bei seinen zwei kleinen Kindern hin, auf die Form ihres Bauchnabels oder so was, und fängt an, vom Wunder des Lebens zu schwärmen.« Gary lachte. »Du wirst sehen, Lyle wird sein Leben völlig verändern. Denk an meine Worte.« »Na ja, er trinkt nicht mehr direkt aus der Milchtüte.« »Ich sag’s ja…« »Nein, nein, das hat Bob ihm ausgetrieben. Jedesmal, wenn er gesehen hat, wie Lyle aus der Tüte trank, hat er sie ihm aus der Hand gerissen und die Milch in den Ausguß geschüttet, manchmal fast einen ganzen Liter. Ich glaube, er hat ihm auch Dias gezeigt, von den ganzen Bakterien, die in Milch gedeihen. Das war selbst für Lyle zuviel.« Sie lachten wieder, dann sagte Lydia: »Weißt du, irgendwie fehlst du mir auch. Warum wirfst du Lyle nicht raus und 379
suchst dir einen neuen Mitbewohner. Dann könnte ich ab und zu vorbeikommen.« Gary lehnte sich zurück. Sie lächelte jetzt ganz entspannt. So war es schon besser. Und er brauchte auch nicht aufzuschreiben, was sie über ihre Eltern gesagt hatte, denn inzwischen hatte er sein Gedächtnis gut trainiert. Wenn er sie gegen Mitternacht nach Hause brachte, überlegte er, dann konnte er sich noch mindestens zwei Stunden an den Computer setzen.
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45 Vertrauliche Information W ENN SIE SICH auf dem Flur oder bei der Kaffeemaschine begegneten, schien Tim Monahan gar nicht mehr an seine Beförderung zu denken. Als Margaret am Montag, nachdem sie von seinem Verlagsvertrag erfahren hatte, zu ihm: »Herzlichen Glückwunsch« sagte, erwiderte er doch tatsächlich: »Wozu?« Und es war eine ernstgemeinte Frage. Sie sagte: »Na, zu deinem Buch natürlich«, und er sagte: »Wie hast du davon erfahren?« und dann: »Ach ja, natürlich. Danke. Das ist wirklich nicht schlecht.« Dann ein kurzes Lächeln. Also lud sie ihn zum Abendessen ein. Er war, abgesehen von einer Weihnachtsparty, nicht mehr bei ihr gewesen, seit sie ihre kurze Affäre vor Jahren beendet hatten. Noch an der Tür, fragte er: »Wo sind denn die anderen?« »Ich habe sonst niemanden eingeladen.« Sie ging in die Küche, und er folgte ihr. Als sie am Kühlschrank vorbeikamen, öffnete er ihn und nahm ein Bier heraus. Sie sagte: »Möchtest du ein Bier?« Er sah die Flasche in seiner Hand an und fragte: »Hast du Becks im Haus?« »Kann schon sein. Warum schaust du nicht nach?« Sie lachten, und Margaret wurde klar, daß sie wegen dieser Einladung ein bißchen nervös gewesen war. Aber auf Tim konnte man sich immer verlassen, wenn es darum ging, ein unverfängliches, aber unterhaltsames Gespräch in Gang zu halten. Er sagte: »Ich verstehe schon, du hast den anderen Gästen erzählt, daß ich auch komme, und daraufhin 381
haben alle abgesagt.« »Nur die Frauen.« Statt zu lachen, seufzte er. Ihr fiel auf, daß er den Preis für die Flasche Wein, die er mitgebracht hatte, nicht erwähnte. Und er hatte auch keine Bemerkung über ihren neuen Teppichboden gemacht – »Ist der aus Wolle? Oder aus Nylon? Olefin? Was hat er gekostet? Gab es sonst noch welche, die in Frage kamen? Waren die teurer? Unterlage und Verlegen im Preis inbegriffen?« Sie zuckte die Achseln. »Weißt du, es ist schon lange her, seit wir uns zum letzten Mal länger unterhalten haben, und ich war den ganzen Herbst über so eingespannt, daß ich mir gedacht habe, warum nicht, ich habe an dem Abend sowieso nichts Besseres vor.« Er lächelte. »Na schön, wenn du schon nichts für mein Ego tun willst, was gibt es denn zu essen?« »Kalbfleisch. Kalbsmedaillons mit Artischockenherzen und Zitrone, dazu Parmesankartoffeln und geschmorte grüne Bohnen.« »Na gut! Ich bin hier, du bist hier, sollen die anderen doch zum Teufel gehen, wenn sie keinen Spaß verstehen!« »Genau!« »Genau!« Sie wandte sich dem Herd zu. Alles war fertig außer den Kalbsmedaillons, denn die mußten frisch zubereitet werden. Sie nahm ein blasses rundes Fleischstück und wendete es in gewürztem Mehl. Ein Gemisch aus Butter und Olivenöl zischte in der Pfanne. Tim hatte sich eigentlich auf scharfe schwarze Bohnen mit rotem Reis gefreut, die über kalten Orangenscheiben angerichtet waren. Das hatte Margaret drei- oder viermal für ihn gekocht, weil sie wußte, wie gut es ihm schmeckte. 382
Er war ein bißchen entsetzt über das Kalbfleisch, denn es war ein Essen, das er bei jedem bekommen konnte, der Gourmet abonniert hatte. Von Margaret erwartete er bodenständige Gerichte, nahrhaft, preiswert und köstlich, Gerichte, die eines Menschen würdig waren, bei dem nicht Fleisch, sondern Olivenöl den größten Posten unter den monatlichen Lebensmittelausgaben ausmachte. Und sie hatte ihr Wohnzimmer neu ausgelegt, mit einem dichtgewebten Plüschteppich in dezenten Farbtönen, der vermutlich dreißig Dollar pro Meter gekostet hatte, und zwar bei einem von diesen Teppichläden, wo die Unterlage extra berechnet wurde. Er unterdrückte eine mißbilligende Kopfbewegung und schlug seinen taktvollsten Tonfall an. »Erinnerst du dich noch an das Essen, das du damals manchmal gekocht hast, schwarze Bohnen mit Reis, richtig scharf? Und du hast immer eine große rohe Orangenscheibe auf den Boden des Tellers gelegt, bevor du die Bohnen aufgefüllt hast. Weißt du noch?« »Natürlich.« »Das war himmlisch. Hast du das Rezept?« »Willst du Kochen lernen?« »Vielleicht.« »Warum?« »Nun ja, als ich vor etwa einer Woche in meinem Seminar über Kafka sprach, wurde mir klar, daß die Verwandlung in einen Käfer für Gregor Samsa deshalb eine Erlösung ist, weil er lernt, in der physischen Welt zu leben und Gefallen an einfachen Dingen zu finden, wie zum Beispiel an den Wänden seines Zimmers entlangzulaufen oder sich an die Decke zu hängen und auf und ab zu wippen. In einen Käfer verwandelt zu werden, ist für ihn ein Schritt nach VORNE. Deshalb glaube ich, daß es für mich an der Zeit 383
ist, kochen zu lernen. Ich weiß nicht. Nur noch mit einem großen Löffel essen. Einfache Genüsse. Ich dusche auch nicht mehr.« »Wie bitte?« »Ich meine, ich bade jetzt immer, statt zu duschen.« Margaret legte sechs in Mehl gewälzte Medaillons in das Fett, und der köstliche Duft von bräunendem Fleisch breitete sich aus. »Verstehst du«, sagte er, »es wird Zeit, innezuhalten und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.« Er seufzte. Margaret drehte sich um und sah ihn an. »Wenn ich mich recht entsinne, hast du immer gesagt, moralische Läuterung sei für einen Schriftsteller das Schädlichste, was es gibt.« »Es handelt sich dabei nicht um moralische Läuterung. Es geht um spirituelle Erlösung.« »Entschuldige, daß ich das verwechselt habe.« Sie schob die gebräunten Fleischstücke auf eine Seite der Pfanne und gab die Artischockenherzen, den Zitronensaft und etwas Weißwein dazu. »Siehst du«, sagte er in einem Tonfall, den Margaret unangenehm belehrend fand, »der Körper, der Verstand und die Seele bilden keine Pyramide, sie bilden einen Kreis. Die Übergänge zwischen den Bereichen sind fließend. Der Körper steht nicht unterhalb des Verstandes und der Seele; von einem bestimmten Blickwinkel aus befindet er sich zwischen ihnen. Wenn man zu sehr dem Verstand verhaftet bleibt, verliert man sich im Abstrakten und schneidet sich von der Welt ab. Man sehnt sich nach spiritueller Erfüllung, aber man erreicht sie nicht und versinkt in Verzweiflung. Die sinnliche Erfahrung befreit einen von der Abstraktion und öffnet den Weg in die Transzendenz.« »Hast du dir das alles selber ausgedacht?« 384
»Aber ja. Auch wenn ich vielleicht hier und da etwas übernommen habe. Ohne Quellenangaben, versteht sich. Als Romanschriftsteller bin ich nicht zu Fußnoten verpflichtet.« »Soll ich dem entnehmen, daß du in Verzweiflung versunken bist und da wieder rauskommen willst, und zwar durch heiße Bäder und schwarze Bohnen und…« »Jogging. Aber nicht etwa aus Gründen der Fitneß oder der Eitelkeit oder der Gesundheit.« »Gott bewahre, nein.« Sie legte auf jeden Teller drei goldbraune runde Kalbfleischstücke und gab etwas Artischockensoße darüber. Daneben setzte sie zwei gebackene Parmesankartoffeln und ein paar Bohnen. Sie trugen ihre Teller in das kleine Eßzimmer hinüber, und Tim ging noch einmal zurück, um den Wein zu holen. Obwohl er nicht damit geprahlt hatte, war ihr nicht entgangen, daß es ein Pinot blanc war, ihr Lieblingswein. Sie schätzte im stillen den Preis – fünfzehn bis zwanzig Dollar. Er drehte noch nicht mal seine Untertasse um und schaute nach der Marke. Sie sagte: »Ich glaube, du hast noch gar nicht gesehen, was ich im Haus alles verändert habe.« »Neuer Teppich, neuer Verandafußboden. Was sonst noch?« »Ich habe die Badezimmer renoviert.« »Toll.« Das war alles. Nach kurzem Schweigen provozierte sie ihn. »Der Teppich war ein Supersonderangebot.« »Freut mich. Also, das Kalbfleisch ist ausgezeichnet.« »Möchtest du das Rezept haben?« »Nun ja –« »Nun ja was?« 385
»Nun ja, die geistige Erlösung erlangt man durch Bohnen, nicht durch Kalbfleisch.« Margaret spürte, daß sie gekränkt war. »Weißt du, Margaret, ich bin froh, daß du an allem so interessiert bist, weil…« »So interessiert bin ich nun auch wieder nicht, Süßer.« »Ach so.« Er wandte sich mißmutig wieder seinem Essen zu. Also, das war wirklich alarmierend. Früher hätte Tim ihr mindestens sechs Gründe, allesamt aufdringlich persönlich, an den Kopf geworfen, warum sie doch daran interessiert sein sollte. Und jetzt tat sie etwas, was sie besser nicht getan hätte. Wenn er nur eine Spur mehr Neugier an den Tag gelegt hätte, sagen wir eine Neugier, die wenigstens entfernt an die erinnerte, die er damals im Herbst an den Tag gelegt hatte, dann wäre Margaret vermutlich gar nicht erst in die Versuchung gekommen. Sein Insistieren hätte sie sofort an ihre moralischen Grundsätze erinnert. Und genau damit hatte sie gerechnet, daß er heftig insistieren würde. Vermutlich wäre sie gar nicht in Versuchung gekommen, wenn er nicht selber so unvermittelt vom Kalbfleisch auf die moralischen Grundsätze gekommen wäre. »Übrigens hat unser Treffen inzwischen stattgefunden.« »Das dachte ich mir schon.« »Willst du es nicht wissen?« »Du würdest es mir ja doch nicht sagen.« Sie sah ihn an. Sie sagte: »Es lief gut.« Ihr fiel wieder seine abfällige Bemerkung über das Kalbfleisch ein, das sie immerhin mit einem gewissen Stolz aufgetischt hatte. Sie fügte hinzu: »Aber nicht sehr gut.« Er sagte nichts. »Nicht gut genug vielleicht…« 386
Er zuckte tatsächlich bloß die Achseln. Schließlich war Margaret diejenige, die aus der Fassung geriet. »Monahan! Was ist los mit dir? Was ist aus dem rücksichtslosen, karrieregeilen, geldgierigen, arroganten, engstirnigen, narzißtischen, verführerischen, ausgelassenen, glücklichen Mann geworden, den ich kannte?« »Na schön, dann verrat mir doch das Ergebnis.« »Ich darf dir das Ergebnis nicht verraten! Aber weniger als sieben und mehr als fünf!« Er zuckte wieder die Achseln. Früher wäre Tim entgeistert aufgesprungen angesichts dieser schwachen Empfehlung, mit der die Bestätigung durch das Büro des Kanzlers äußerst ungewiß war. Sie hätte eine Schimpfkanonade zu hören bekommen über bornierte Möchtegern-Wissenschaftler, geckenhafte Schreiberlinge, die moralische Verdorbenheit der Intellektuellen, den Niedergang der amerikanischen Universitäten und das ganze Fußvolk, das bei der Hetzjagd mitmachte… »Ich kann’s einfach nicht glauben.« »Was?« »Wie du bist.« »Wie bin ich denn?« »Furchtbar gutmütig.« Sie dachte an den alten Tim und sagte: »Abgestumpft.« »Nicht unterhaltsam?« »Nein, nicht unterhaltsam.« Er lehnte sich vom Tisch zurück, allerdings nicht, ohne zuvor mit dem Finger die Soßenreste vom Teller zu wischen und den Finger dann gedankenverloren abzulecken. Er sagte: »Ich war früher zu unterhaltsam. Ich habe mich zu sehr darauf verlassen. Erinnerst du dich an die Frau auf 387
Helens Dinnerparty im September?« »Cecelia?« »Ja, genau. Sie und ich, wir hatten die Nase voll von mir.« »Wie das?« »Na, du weißt ja, wie ich bin. Eine Weile lief es gut mit ihr, aber je mehr ich so war, wie ich war, desto mehr verlor ich das Interesse an ihr, obwohl ich sie eigentlich immer lieber mochte, und dann lernte sie irgendeinen geheimnisvollen Mann kennen, der sie gewissermaßen mit seiner Leidenschaft verzauberte, und mir wurde klar, daß ich noch nie einen Menschen verzaubert habe und auch selber nie verzaubert worden bin…« Seine Stimme verlor sich, und Margaret stand auf, um den Nachtisch zu holen, aber dann sagte er gedankenvoll: »Du hast meine Bücher gelesen. Sieh dir doch an, wie rücksichtslos ich jedes romantische Gefühl und jedes sexuelle Verlangen im Interesse von Profit und Karriere ausgeschlachtet habe. Sieh dir doch an, wie genau ich die Arbeit anderer Autoren nach Ideen abgegrast und dieses Material immer wieder überarbeitet habe, um noch mehr Profit zu machen und meine Karriere noch weiter voranzutreiben. Und jetzt kommt es mir so vor, als hätte ich alles, was ich tue und erlebe, schon irgendwo beschrieben.« Margaret lachte, aber Tim blieb ernst. Dann holte sie die Zitronenschaumtorte aus der Küche und stellte sie auf den Tisch. Sie war gut gelungen, hoch und luftig, aber fest. Ein ganz blasses, kühles Grün. Es war ihr Lieblingskuchen, obwohl es ein altmodisches Rezept war. Sie hatte es von ihrer Mutter. Sie schnitt ihm ein Stück ab und stellte es vor ihn hin. Sie sagte: »Tja, Monahan, was soll ich dazu sagen? Du hast wahrscheinlich in allen Punk388
ten recht.« »Endlich etwas Bestätigung.« Sie aßen nachdenklich ihren Kuchen. Schließlich sagte sie: »Eins muß ich dich noch fragen. Hast du aufgehört, anderen Leuten nachzuspionieren?« »Keineswegs.« »Ich dachte, du erlebst gerade eine moralische Wiedergeburt.« »Um Himmels willen! Nein. Außerdem ist Spionieren nicht unmoralisch, sondern höchstens unhöflich. Es ist so, als gucke man den anderen in die Karten, wenn sie nicht aufpassen. Sie erwarten, daß man es tut.« »Sag mal«, sagte Margaret, »ich habe neulich erst an Cecelia gedacht. Sie stammt doch aus Costa Rica, nicht wahr?« »Mit Umweg über L.A., ja.« »Ich habe etwas, das sie bestimmt interessieren wird. Wo habe ich es nur hingelegt?« Und so verschaffte Margaret Tim eine Ausrede, Cecelia anzurufen. Sie war zwar Dr. Lionel Gifts Hausmitteilung/Aufforderung, ihm ihre Kopie seines Gutachtens zurückzugeben, nachgekommen, aber sie hatte rein zufällig vorher eine Fotokopie angefertigt.
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46 So schnell W ENN E LAINE DOBBS -JELLINEK gute Nachrichten zu überbringen hatte, so tat sie es gewöhnlich, ohne viel Aufhebens zu machen, per Telefon oder durch eine Hausmitteilung. Die Art und Weise, wie sie die Neuigkeiten übermittelte, hing in der Regel von der Höhe der Fördergelder ab. Bisher hatte sie nur einmal eine Nachricht persönlich überbracht. Das war am Anfang ihrer beruflichen Laufbahn gewesen, als sie zum ersten Mal über einen Antrag, den sie betreut und mitformuliert hatte, für die Universität eine Fördersumme in Höhe von 250000 Dollar akquiriert hatte. Um diesem Wendepunkt ihrer Karriere als Geldbeschafferin das entsprechende Gewicht zu verleihen (während jener vergangenen, oft betrauerten Tage, als SIE diejenige war, die nach Washington reiste, und Jack Parker nur irgendein Angestellter der Universität von Michigan), war sie direkt in das Büro des Universitätspräsidenten marschiert (der inzwischen zur Universität von Minnesota gewechselt hatte, leider Gottes) und hatte gejubelt: »Eine viertel Million vom NIH!« Später, noch am selben Nachmittag, hatte sie den Empfänger der Gelder angerufen, um ihn zu informieren. Seitdem waren viele sechsstellige Beträge durch ihre Hände geflossen. Fördermittel einzutreiben war für sie mittlerweile fast so wie neue Kleider zu kaufen: kurzzeitig belebend, bestimmt notwendig, aber bei weitem nicht mehr so aufregend wie die Anschaffung jenes ersten DonnaKaran-Kostüms und der Ferragamo-Pumps, die so hervorragend dazu paßten, wirklich verblüffend, als seien sie 390
eigens dafür gemacht. Trotzdem lief Elaine jetzt über den verschneiten Campus nach Storrs Hall, wo Dr. Bo Jones sein Büro hatte oder, wie Elaine es gerne nannte, seinen Stall. Elaine war froh darüber, daß sie am Morgen die Feuchtigkeitscreme mit Lichtschutzfaktor 15 aufgetragen hatte, denn inzwischen strahlte über dem Campus ein wolkenloser blauer Himmel, und die dicke zuckrige Neuschneedecke auf Gebäuden, Ästen, Simsen, Bordsteinen, Telefonleitungen und Fahrradständern reflektierte und verstärkte das Sonnenlicht so sehr, daß Elaine fast geblendet wurde. Nach vier oder fünf Schritten zog sie ihre Sonnenbrille mit dem UV-Filter heraus und setzte sie auf. So war es besser. Jetzt konnte sie wirklich genießen, wie wunderschön und funkelnd die Welt geworden war, seit sie vor zwanzig Minuten den Telefonhörer abgehoben und die immer wieder faszinierende Stimme von Arien Martins persönlicher Assistentin vernommen hatte: »Miz Daubs-Jallanak? Mr. Martin möchte Sie sprechen, meine Liebe.« Es war der letzte Tag der Vorlesungszeit. Obwohl Elaine das ganze Jahr hindurch arbeitete, war sie nicht völlig immun gegen die für das Semesterende typische Mischung aus Müdigkeit und freudiger Erregung. Denn die vier Jahre Studium an der Universität von Iowa waren der Höhepunkt ihres Lebens gewesen. Damals hatte sie ihre Zeit zur Hälfte im Gebäude der Phi-Kappa-Phi-Verbindung und zur Hälfte in der Musikhochschule (ihr Hauptfach war Gesang gewesen) verbracht. Ihrer Collegelaufbahn waren zwei Jahre Studentenunruhen vorausgegangen, aber der einzige Gedanke, den Elaine damals an jene erst kurze Zeit zurückliegenden Ereignisse verschwendet hatte, war das Bedauern darüber, daß die kleinen Fenster der Campusbuchhandlung, die im Jahr davor mehrfach zu Bruch gegangen waren, 391
keinen Platz für attraktive Auslagen boten. Elaines Collegewelt war ein kleineres Abbild der Welt der Big-TenUniversitäten der fünfziger Jahre gewesen: Partys, Seminare, Studentenverbindungen, Football und hübsche Kleider. Auf dem Campus gab es damals viele Leute, die zerrissene Klamotten trugen, barfuß herumliefen, vor dem Old Capitol Blockflöte spielten, Flugblätter verteilten und VW-Busse fuhren, die mit Sexslogans bemalt waren. Aber Elaine war so gnädig, sie geflissentlich zu übersehen. Jetzt gab es solche Leute nicht mehr, und Elaine konnte sich ungestört an eine vollkommen intakte und positive Collegeerfahrung erinnern: Pyjama-Partys, Popcorn, der Tanzmarathon im Haus der Studentinnenverbindung, dessen Erlös wohltätigen Zwecken zukam, der jährliche Zyklus von Seminaren, Betreuungsgesprächen, Chorkonzerten und Gesangsabenden in der Musikhochschule, die Chorreise nach Belgien und Norwegen und natürlich die Zeit, als Dean sie umworben hatte. Diese Zeit war bei weitem besser gewesen als die anschließende Ehe. Während Elaine über den Campus lief, warf sie ihren UV-geschützten Blick vor allem auf jene Studienanfängerinnen, die ihr selber ähnelten: feminin, hoffnungsvoll, sorgsam auf ihr Äußeres bedacht, bis hin zu Details wie dem Schnitt eines Kragens oder der Größe eines Ohrrings. Sie wußte, daß die Zukunft diesen Mädchen einige Überraschungen bescheren würde. Aber sie waren gut darauf vorbereitet, mit Überraschungen fertig zu werden. Ein Mädchen, das bei der Wahl des Lippenstifts keinen Fehler machte, würde immer wieder auf die Füße fallen. Dr. Bos Stall befand sich im ersten Stock von Storrs Hall, und dort saß er mit dem Rücken zur Tür, die offenstand, und hämmerte auf seine Computertastatur ein, dem Geräusch nach zu urteilen mit den Fäusten. Elaine hob die 392
Stimme, wie immer, wenn sie mit Dr. Bo sprach, und rief: »Dr. Jones! Dr. Jones!« SIE SAH AUS wie ein Kardinalvogel, rot wie ein Kardinalvogel, der sich gegen den Schnee abhebt, wenn er von Ast zu Ast hüpft. Dr. Bo mochte Schnee, er zog das kalte Wetter dem warmen vor. Es war ihm lieber, im eiskalten Wind Schlittschuh zu laufen, Ski zu fahren oder auf Schneeschuhen herumzustapfen, als irgendeine der Sommersportarten zu betreiben. Er hatte bereits mit dem winterlichen Fitneßprogramm begonnen, das ihn auf seine Reise nach Tadschikistan, Aserbaidschan und Usbekistan vorbereiten sollte. Einen diesbezüglichen Satz fügte er neuerdings seinen (immer noch unbeantworteten) Anträgen hinzu: »Ich bin in ausgezeichneter körperlicher Verfassung, und durch das Trainingsprogramm, mit dem ich jüngst begonnen habe, ist gewährleistet, daß ich allen Strapazen gewachsen sein werde.« Erst letzte Nacht war er, als seine Frau schon im Bett lag, auf Skiern die zehn Kilometer zum Campus und zurück gelaufen. Elaine nahm ihre Sonnenbrille ab und zog Finger für Finger ihre Lederhandschuhe aus. Dr. Bo rückte von seinem Computer ab, und sie knöpfte ihren roten Mantel auf. Sie trug ein stahlblaues Kostüm. Rot auf Blau. Die beiden knalligen Farben flimmerten vor Dr. Bos Augen, und als er den Blick abwandte, sah er auf der weißen Wand hinter seinem Schreibtisch ein Nachbild in Grün und Lila. Sie strahlte. Sie setzte sich mit siegesfrohem Lächeln auf ein paar Bücher, die auf einem Stuhl lagen, und sagte: »Hören Sie sich das an: Old Meats ist gerettet! Ich habe einen Sponsor gefunden, der von Ihrer Idee mit dem Museum begeistert war, und der bereit ist, das ganze Projekt zu finanzieren. Alles, was er will, ist, daß wir das Museum 393
nach ihm benennen!« Dicke Tränen schossen Dr. Bo Jones in die Augen. Er hatte in den letzten Wochen nicht viel an Old Meats gedacht, seine Gedanken führten ihn ja schon an sehr viel entlegenere Orte. Dennoch, er war schließlich einer der wenigen Menschen auf dem Campus, die sich an die Zeit erinnerten, als Old Meats noch in Betrieb war, als dort noch die Fleischwissenschaftsdozenten in weißen Kitteln und blutigen Schürzen hantierten, die eine reale Verbindung zwischen dem Tier auf allen vieren und dem Fleisch auf dem Eßtisch darstellten. Das waren Männer von großer Kraft und Geschicklichkeit. Sie waren in der Lage, ein Tier zu töten, es ausbluten zu lassen, auszunehmen und zu häuten. Dann zeigten sie den Studenten die Schichten von Muskelfleisch und Fett, die Marmorierung, durch die man die Qualitätsklassen unterschied. Während das Blut floß, redeten sie. Sie erklärten, worauf man beim Schlachttier achten mußte: die Anzeichen von Krankheiten, die Auswirkungen verschiedener Fütterungsarten, die Rassenunterschiede, ja selbst die Zubereitungsarten der unterschiedlichen Fleischsorten. Diese Männer machten sich keine Illusionen, was den Preis für das menschliche Leben betraf – er war hoch, und es war das Schicksal der Haustiere und Nutzpflanzen, ihn zu bezahlen. Sie sagte: »Ich wußte, Sie würden begeistert sein!« Und ob er das war! Die Ausstellungsobjekte tauchten in Lebensgröße vor seinem inneren Auge auf: spitzrückige Wildschweine mit funkelnden, intelligenten Äuglein, die sich im Unterholz versteckten, ein dunkler, stinkender Laderaum einer spanischen Galeone, das Quieken der Säue in den Holzkisten (man könnte problemlos Klangeffekte einsetzen), schließlich seine eigenen Trophäen, die er aus Tadschikistan, Usbekistan und Aserbaidschan mitbringen würde… 394
»… Geschichte des Huhns widmet«, sagte sie. »Was haben Sie gesagt?« fragte Dr. Bo. »Ich sagte, ich glaube nicht, daß es in diesem Land ein zweites Museum gibt, das sich der Geschichte des Huhns widmet.« »Der Geschichte des Huhns?« »Ja, allerdings. Dafür haben wir die Fördergelder bekommen. Old Meats wird in ein Hühnermuseum verwandelt. Dahinter steht wohl der Gedanke, sowohl die Naturgeschichte des Huhns als auch die Triumphe der modernen industriellen Hühnerverarbeitung zu würdigen. Amerikas führender Spezialist für die Geschichte des Huhns kommt noch diese Woche her, um sich das Gebäude anzusehen.« »Aber das war nicht unsere Idee! Wir wollten doch Landwirtschaftstechnik zeigen und ein paar Schweinedioramen…« »Oh, Dr. Jones, das weiß ich doch! Die Idee war ja auch für den Anfang sehr gut. Und ich habe mich natürlich in meinem Antrag dafür eingesetzt. Aber die Dinge haben sich eben weiterentwickelt.« »Sie nennen ein Hühnermuseum eine ›Weiterentwicklung‹?« »Allerdings.« Sie berührte leicht seine Tweedweste. »Das tue ich, denn dafür bekommen wir die Fördergelder. So etwas geschieht häufig bei Projektvorschlägen. Es gibt gute Ideen, viele sogar, und dann gibt es Ideen, für die man Gelder bekommt, und die sind seltener. Ideen, für die man Gelder bekommt, sind die besseren Ideen. In unserem Fall bekommen wir Geld für Hühner, also ist ein Hühnermuseum die bessere Idee. Das verstehen Sie doch?« Nein, dachte Dr. Bo, ganz und gar nicht.
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DR . L IONEL GIFT war soweit. Seine leichten Sommeranzüge waren eingepackt, ebenso die Anzughemden aus ägyptischer Baumwolle, die Unterhosen, die Socken. Er hatte eine Ersatzbrille dabei, eine Badehose, einen seidenen Morgenmantel, einen Hut mit breiter Krempe. Er hatte den Laptop, das Modem, das Datenübertragungsprogramm. Er hatte die Tickets und das Geld. Wie üblich würden die Klausuren von seinen Prüfungsassistenten abgehalten und vom UniComputer bewertet werden. Man würde die Noten zu den bereits gespeicherten Zwischenprüfungsergebnissen hinzuaddieren, sie dann der statistischen Kurve anpassen und die Studenten benachrichtigen. Zu diesem Zeitpunkt würde Dr. Lionel Gift bereits seit mehr als einer Woche in Costa Rica sein. Sollte es doch schneien, schneien, schneien. Er würde nicht mehr hier sein und es mitansehen müssen, und das war ihm ausgesprochen recht. Er schaute auf die Uhr. Die Limousine für die Fahrt zum Flughafen sollte in zehn Minuten dasein. Er entschloß sich, ein letztes Mal durchs Haus zu gehen und alles zu überprüfen. Alle Stecker waren herausgezogen. Alle Wasserhähne zugedreht. Die Heizung war auf 13 Grad eingestellt. Eine Zeitschaltuhr war so programmiert, daß zwei Lampen und ein Radio im Wohnzimmer bei Einbruch der Dunkelheit eingeschaltet wurden. Desgleichen um 21 Uhr 30 eine Lampe in seinem Schlafzimmer, denn zu diesem Zeitpunkt ging er gewöhnlich zu Bett. Alle Lampen und das Radio wurden um 23 Uhr wieder abgeschaltet. (Was war verräterischer als Lampen, die die ganze Nacht brannten?) Die Alarmanlage mit der digitalisierten Aufnahme des wütenden Gebells von zwei Rottweilern war in Betrieb. Mit anderen Worten: Alles war in bester Ordnung auf dem Giftschen Anwesen, alle Güter sicher vor den unersättlichen Begierden jener, die in den legalen Wirtschaftszweigen nicht zu 396
Wohlstand gekommen waren und sich statt dessen auf die illegalen verlegt hatten. Alles in allem war Dr. Lionel Gift froh, daß dieses Semester zu Ende ging. Während er selber wie üblich rechtschaffen seine Pflichten erfüllt und hervorragende Leistungen gezeigt hatte, konnte man das von seinen Kollegen nicht behaupten. Die unautorisierte Verbreitung seines vertraulichen Gutachtens hatte ihn getroffen, auch wenn seine Erfolgsaussichten dadurch nicht geschmälert wurden (nichts konnte das bewirken); sie hatte ihn sogar tief getroffen, denn sie offenbarte auf Seiten seiner Kollegen etwas, das Dr. Gift nur als tiefsitzenden Neid auf seinen Erfolg und seine Bedeutung interpretieren konnte. Obwohl er sich eigentlich nicht um die Meinung anderer kümmern sollte, mußte er doch feststellen, daß sie ihm nicht gleichgültig war. Er würde das natürlich nie offen zeigen, aber immerhin… Sogar Cates! Sogar dieser Chemiker, der so erfolgreich darin war, Sponsorengelder zu akquirieren, hatte das Gutachten mit geradezu ungehöriger Neugier gelesen, anstatt es einfach unaufgefordert zurückzugeben! Und Helen! Vor vielen Jahren hatte er in dem Ausschuß gesessen, der Helens Festanstellung bewilligte, und er hatte sie als eine intelligente und sympathische junge Frau eingeschätzt, hübsch, aber nicht zu hübsch, französisch, aber nicht zu französisch, italienisch, aber nicht zu italienisch. Warum hatte sie sich nur gegen ihn gewandt? Und es ging das Gerücht, daß sie mit Ivar Harstad liiert war, also kam in ihrem Verhalten vielleicht eine Meinung zum Ausdruck, die auch Ivar teilte? Dr. Gift konnte diesen Gedanken kaum ertragen, warf er doch seine langjährige Vorstellung von seiner großen Beliebtheit bei allen auf dem Campus vollkommen über den Haufen. 397
Obwohl er nicht daran dachte, seine Pläne zu ändern (seine Termine waren bereits vereinbart, und die Leute von TransNational und Seven Stones würden bereitstehen, um seine Vorschläge in die Tat umzusetzen), spürte er doch immer noch den Schock – den Schock angesichts der Erkenntnis, daß so viele seiner Kollegen, allesamt gebildete Menschen, ein so prinzipienloses Leben führten. Er, der normalerweise die größte Sorgfalt darauf verwandte, den Geschicken anderer gegenüber gleichgültig zu bleiben, war nicht in der Lage gewesen, über diesen Schock hinwegzukommen, und deshalb war er um so glücklicher darüber, daß das Semesterende ihm die Gelegenheit gab wegzufahren. Unten in Costa Rica, in seinem Haus, würde er wieder das angenehme Gefühl haben, daß man ihm Hochachtung entgegenbrachte, und das würde ihm genügen. Was sein Projekt anging, so hatte er nicht den Fehler gemacht, die obskuren Kräfte zu unterschätzen, die sich unter dem Deckmantel ›Umweltschutz‹ für einen rückwärtsgewandten Regionalismus einsetzten, die eine naive Ethik der Naturerhaltung verfochten und sich weigerten, die notwendige Allianz mit Marktwirtschaft und Fortschritt einzugehen. Es gab immer ein paar unbelehrbare Radikale. Damit mußte man rechnen. Die meisten anderen hatten einfach Angst. Und obwohl dies vor allem ein psychologisches Problem war, gab es zwingende praktische Gründe, warum diese Ängste beseitigt werden mußten. Er hatte sich deshalb angewöhnt, mit ängstlichen Leuten auf einfühlsame Art umzugehen. Angst konnte jedoch ansteckend sein, und es gab eine weitere, noch wichtigere Gruppe, die davor geschützt werden mußte. Das waren die Leute, die im Prinzip auf der Seite des Fortschritts standen, aber noch ein paar Zweifel hegten. Für sie hatte er ein Argument parat, das sie verstehen konnten: Jede Übergangsphase war prob398
lematisch, und der Fortschritt sah manchmal wie eine Verschlechterung aus, aber das war nur ein Trugschluß derer, die nicht genügend Vertrauen in progressive Ideen und Methoden hatten. Die Lösung bestand darin, Engagement und Anstrengungen zu verdoppeln. Und es gab eine vierte Gruppe, über die er sich keine Gedanken machen mußte, denn die hatte er bereits vollständig auf seiner Seite. Diese Gruppe war bedauerlicherweise in Costa Rica kleiner als in anderen Ländern. Sie bestand aus denen, die genau wußten, worum es eigentlich ging: Da die Einkünfte aus der Forstwirtschaft, der Fischerei, der Rinderzucht und dem Tourismus aus unerklärlichen Gründen ganz ausblieben, zurückgingen oder stagnierten (Dr. Gifts Prognosen hatten sich als zu optimistisch erwiesen, aber er führte das auf die Fehler der Geologen, Forst- und Fischereiexperten zurück), konnte das Wachstum ohne die Erschließung neuer Ressourcen nicht aufrechterhalten werden. Die Goldader war ein unerwarteter Glücksfall, der die Aufwärtsbewegung der Kurve in Dr. Gifts Diagramm für einen unbestimmten Zeitraum sichern würde. Und genau darauf kam es denen an, die in der Wirklichkeit lebten. Er sah die Limousine um die Ecke kommen. Die Fahrbahn war zwar geräumt, aber immer noch vereist, und der Wagen schlingerte ein wenig, als er in Dr. Gifts Straße einbog. Eigentlich war es keine Limousine, sondern nur ein Kleinbus. Irgendwie löste das Zusammentreffen dieser beiden Kleinigkeiten – der Anblick des schlingernden Wagens und das Erkennen der Diskrepanz zwischen der Bezeichnung und der äußeren Erscheinung des Kleinbusses – in Dr. Lionel Gift das Gefühl aus, daß er nicht unbedingt hierher zurückkehren mußte, daß er, wenn er sich dafür entschied, dieses Haus für immer verlassen konnte. Es war ein bemerkenswerter Gedanke, und vor allem ein 399
grundsätzlicher – er hatte sehr viel Zeit und Geld in dieses Haus gesteckt, und dennoch war es ihm mehr oder weniger gleichgültig. Bevor er nach seiner Tasche griff, drehte er sich noch einmal um und betrachtete die Eingangshalle und das Wohnzimmer. Bequem, maskulin, nach dem Vorbild eines exklusiven Herrenclubs eingerichtet. Aber was hielt ihn hier? Er lächelte. Dann nahm er seine Tasche und seinen Computer und trat hinaus auf die Veranda, vorsichtig, um die Alarmanlage nicht auszulösen. ALS KERI die Tür öffnete, sah sie Bob, der den Hals reckte und an ihr vorbeischaute. Sie wußte, er sah nur das leere Zimmer hinter ihr, nur die sorgfältig gemachten Betten und den frisch gewischten Fußboden. Dennoch fragte er: »Ist Diane da?« »Hallo! Nein, tut mir leid.« Nach einer kleinen Pause fügte Keri mit klagender Stimme hinzu: »Sie wird bestimmt traurig sein, dich verpaßt zu haben.« »Tja, ich wollte ihr nur ein paar von ihren Sachen bringen, die noch bei mir waren… Ich hab gedacht, sie braucht sie vielleicht irgendwann.« Er setzte die Tüte mit den Sachen auf der Schwelle ab, und Keri stellte sie ins Zimmer. Sie warf einen Blick hinein und sah, daß es sich nicht um besonders wichtige Sachen handelte: weder Kleidung, noch Unterwäsche, noch andere persönliche Dinge. Eine Zahnbürste. Ein fast leerer Spiralblock. Ein Roman. Eine ungeöffnete Schachtel mit Computerdisketten. Bob seufzte. Dafür, daß er es war, der Schluß gemacht hatte, sah er ganz schön deprimiert aus, dachte Keri. Er sagte: »Du hast wohl gerade kein Seminar?« »Nein, ich bin fertig für dieses Semester. Abgesehen von den Prüfungen natürlich.« Sie lächelte immer noch. Beide 400
wußten, daß die Mädchen über bestimmte Dinge ausgiebig quatschten und Keri weit mehr über ihn wußte, als sie sich anmerken ließ. Er interpretierte ihr Lächeln, das mitfühlend und ermutigend wirken sollte, als amüsiert. »Also dann«, sagte er. »Ich sorge dafür, daß sie die Sachen bekommt«, sagte sie. »In Ordnung.« »Danke.« »Ja. Danke auch.« Er drehte sich um. »Willst du hereinkommen und auf sie warten?« »Ja vielleicht.« Sie trat zur Seite. Er fragte: »Was meinst du denn?« »Wozu?« »Was ich jetzt machen soll.« »Fahr über Weihnachten nach Hause und geh mit ein paar Mädchen aus.« »Oh. Ich fahre nicht über Weihnachten nach Hause.« »Nein? Warum nicht?« Jetzt tat er ihr wirklich leid. »Ach, wegen meinem Job.« »Dann such dir doch jemanden, der deinen Job ein oder zwei Tage für dich erledigt, und fahr nach Hause. Das würde ich dir raten.« Es war komisch: ihm fiel jedesmal auf, wie hübsch sie war, aber immer erst nach einer Weile. Er sagte: »Okay, also, da sind die Sachen. Tschüs.« »Tschüs.« Er wandte sich ab. Nach vier Schritten drehte er sich wieder um. Sie wollte 401
gerade die Tür schließen. Er sagte: »Ach, bitte erzähl ihr nicht, wie seltsam ich mich aufführe, ja? Ich meine, ich hab mit ihr Schluß gemacht, und ich glaub immer noch, daß es so am besten ist.« »Ich erzähl es ihr nicht.« Und das würde sie auch nicht. Aber sie wußte, daß er sich eigentlich wünschte, sie würde es doch tun. DR . C ATES hatte normalerweise keinen persönlichen Kontakt zu den Studenten aus den unteren Semestern. Daher war er überrascht, als einer von ihnen, oder zumindest jemand, der behauptete, er sei einer von ihnen, vor seinem Büro stand, als er mittags dort hinging, um nach seiner Post zu sehen. Dr. Cates hatte sich ausnahmsweise einen Tag freigenommen. Sein Sohn Daniel wollte Schlittenfahren gehen. Damit befand sich Dr. Cates in einem wohlbekannten Dilemma: Schlittenfahren war gefährlich, aber er wollte Daniel nicht beibringen, Angst zu haben. Dr. Cates löste das Problem auf die übliche Weise. Der Schlitten lag hinten im Wagen, und Daniel saß auf dem Beifahrersitz und wartete auf ihn. Dr. Cates schätzte, daß seine Methode, Daniel zu beschützen, indem er ihn überallhin begleitete, wo irgendeine Gefahr drohen könnte, höchstens noch ein Jahr lang funktionieren würde. Daniel war jetzt acht und fing langsam an, sich gegen Dr. Cates’ Bevormundung zur Wehr zu setzen. Der Student kam sofort auf ihn zu, als er aus dem Aufzug trat. »Ich bin Lyle Karstensen, Sir«, sagte er und hielt ihm eine Mappe hin, die er unter dem Arm getragen hatte. »Wissen Sie, ich verlasse die Universität. Ich werde wohl erstmal ein Jahr arbeiten und dann wiederkommen. Ich bin nicht etwa rausgeflogen oder so was. Es ist nur so teuer, verstehen Sie?« 402
Dr. Cates fragte: »Haben Sie Probleme mit den Noten?« Er steckte den Schlüssel in die Tür zu seinem Büro. »Nein, Sir. Sie haben mir eine Eins gegeben. Wissen Sie, das war die einzige Eins, die ich hier bekommen habe. Weil mir Ihr Seminar wirklich gefallen hat, wissen Sie? Deshalb habe ich an Sie gedacht, als ich mich gefragt habe, wem ich das hier geben könnte.« Er drückte Dr. Cates die Mappe in die Hand. »Was ist das?« »Tja, das weiß ich auch nicht genau, Sir. Es sieht aus wie eine Mischung aus irgendwelchen Plänen und diesen Zeichnungen, in denen man versteckte Bilder finden muß, wissen Sie? Ich weiß nicht, wozu es gut ist, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, es wegzuwerfen, verstehen Sie?« »Und was soll ich damit anfangen?« »Ich weiß nicht, Sir. Vielleicht schauen Sie es sich kurz an, bevor Sie es wegwerfen.« Dr. Cates hatte es immer für seine besondere Begabung gehalten, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, und er hatte im Laufe der Jahre gelernt, sich nicht von anderer Leute Angelegenheiten ablenken zu lassen. Dennoch, als er die Mappe öffnete, klingelte die Aufzugglocke, die Tür öffnete sich, und da stand Daniel. Er schimpfte: »Dad! Was machst du so lange? Mir ist kalt!« Cates zuckte kurz zusammen und lächelte dann nachsichtig. »Ich spreche gerade mit einem Studenten, Daniel. Warte bitte eine Minute auf mich.« »Immer ist es nur eine Minute!« sagte Daniel wütend. »Eine Minute ist nicht so lang, wie du denkst, Dad!« »Bitte« war ein Wort, dachte Lyle, das sein Vater ihm gegenüber niemals verwendet hatte. Aber andererseits hatte 403
er seinem Vater gegenüber auch nie Wut gezeigt. Cates blätterte demonstrativ in den Plänen, aber er nahm sie kaum wahr. Er spürte viel zu deutlich, wie Daniels Laune immer schlechter wurde. Und außerdem hatte er zu deutlich vor Augen, was er sich für diesen Tag vorgenommen hatte, nämlich im gleißenden Sonnenlicht den wunderbar langen Abhang hinunterzusausen, Daniel hin oder her. Er schloß die Mappe jedoch mit der gewohnten Würde und legte sie sorgfältig auf den Schreibtisch. »Vielen Dank«, sagte Lyle. »Jetzt KOMM endlich«, rief Daniel. »Der FAHRSTUHL wartet!«
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47 Joe Doaks, ein junger Amerikaner NACHDEM MARY ihr Mittagessen an der Kasse bezahlt hatte, sah sie, daß die einzigen freien Plätze in der Mensa an einem großen Tisch direkt vor ihr waren, wo nur ein einzelner weißer Junge saß, wahrscheinlich ein Student im ersten oder zweiten Semester, der irgendwie blond und kräftig wirkte, einer von den vielen weißen Studenten auf dem Campus, die sie nur mit Mühe auseinanderhalten konnte. Nur aus Gewohnheit zögerte sie einen Moment. Wäre sie wie üblich mit einer Gruppe schwarzer Studenten in die Mensa gegangen, hätte sie sofort nach einem anderen Tisch Ausschau gehalten, aber heute hatte sie sich mit Keri, Sherri und Diane zum Essen verabredet. Wenn sie sich nicht hinsetzte, sondern sich auf die aussichtslose Suche nach einem freien Tisch machte, würde Sherri garantiert laut quer durch die Mensa rufen, und dann würden sich alle nach ihr umdrehen und sehen, wie sie gehorsam und verlegen zurücktrottete. Ihr Zögern dauerte nur so lange, wie sie brauchte, um eine möglichst undurchsichtige Miene aufzusetzen. Sie stellte ihr Tablett auf das Ende des Tisches, das von dem weißen Jungen am weitesten entfernt war, und zog einen Stuhl zu sich heran. Joe, der in die Betrachtung seines Mittagessens (zwei Viertelpfund-Hamburger mit Käse, eine Portion Pommes und eine große Pepsi) versunken gewesen war, schaute hoch und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Ohne auch nur darüber nachzudenken, ohne besondere Feindseligkeit zu empfinden und ohne ein tiefes Gefühl der Unschuld zu verlieren, sagte Joe: »Heh, Nigger, du kannst 405
dich hier nicht hinsetzen.« Es war tatsächlich das erste Mal, daß Mary das Wort »Nigger« hörte, seit sie auf die Universität ging. Keiner der schwarzen Studenten benutzte es auf die provozierende Weise, wie es die Männer in dem Viertel, in dem sie aufgewachsen war, benutzten, und die weißen Studenten und Professoren benahmen sich zumindest ihr gegenüber sehr, sehr vorsichtig. Ihr Tonfall klang daher vor allem überrascht, als sie sagte: »Wie bitte?« Jetzt schaute Joe sich um, weil er sehen wollte, ob jemand sie beobachtete. Da er an den anderen Tischen zahlreiche und wahrscheinlich mit ihm sympathisierende Zuschauer entdeckte, lehnte er sich großspurig noch weiter auf seinem Stuhl zurück. »Heh, Nigger«, sagte er. Also wirklich, dachte Mary, ich würde diesen Typen in einer Menschenmenge nicht wiedererkennen. Durchschnittliche Größe, durchschnittliche Kleidung, durchschnittliche Gesichtsfarbe, durchschnittliche Frisur, durchschnittliches Aussehen. »Du kannst –« Durchschnittliche Stimme, durchschnittlicher Körperbau, durchschnittliche blaue Augen, durchschnittlich gerade Zähne. »– dich hier nicht hinsetzen.« Voller Verlegenheit senkte Mary, ohne es zu wollen, ihren Blick auf ihr Tablett, auf ihr Croissant-Sandwich und ihren kleinen Salat m. einer viertel Tomate und russischem Dressing. Darum sah sie Keris Gesichtsausdruck nicht, sondern hörte nur: »Ach, da bist du ja«, und dann einen heftigen dumpfen Aufprall, als Keri eine Ecke ihres Tabletts in den Hinterkopf des weißen Jungen rammte und er mit dem Gesicht in seine Hamburger und seine Pommes fiel. »Ey!« rief er aus. »Scheiße, was soll das!« 406
Er richtete sich auf, das Kinn voller Fett und Ketchup. Mary sah, wie er sich den Kopf rieb. Keri wirkte freundlich und sanft wie immer. Sie sagte: »Oh, das tut mir leid. Ich hab wohl nicht aufgepaßt.« »Scheiße, du hast mich fast geköpft!« »Tut mir leid. Ich werde mich hierher setzen.« Sie nahm gegenüber von Mary Platz. »Scheiße, du kannst dich hier nicht hinsetzen.« Jetzt erschien Sherri. Sie sagte in ihrem typischen patzigen Tonfall: »Und warum nicht? Der Tisch ist doch groß genug. Du kannst nicht den ganzen Platz für dich allein haben. Das ist unfair und außerdem gegen die Regeln.« Sie stellte ihr Tablett ab und fing an, die Teller herunterzunehmen. Die Zusammenstellung ihres Mittagessens war wie üblich seltsam – zwei Scheiben Käse, ein paar gebackene Bohnen, eine Schachtel Reis-Crispies, ein Glas Orangensaft und ein großer Erdnußbutterkeks, jedes auf einem Extrateller. Bald hatte sie ihr Mittagessen, ihre Bücher, ihren Mantel, ihren Schal und ihre Handschuhe über den ganzen Tisch verteilt. Joe Doaks sagte: »Scheiße!« Sherri schaute ihn herablassend an und schob ihre Bücher etwa fünf Zentimeter näher an ihre Teller heran. Diane nahm gegenüber von Sherri Platz, und Mary fand, sie saß da, als sei sie darauf gefaßt, ganze Firmenbelegschaften anzuheuern, zu feuern und ganze Konzerne zu steuern. Seit Bob aus ihrem Leben verschwunden war, hatte sie ihre Anstrengungen, sich wie eine Managerin zu geben, verdoppelt. Sie sagte zu Joe, der links von ihr saß: »Entschuldigung, aber du hast Ketchup am Kinn. Das sieht nicht sehr vorteilhaft aus.« Es war Mary nicht möglich abzuschätzen, ob ihre Zimmergenossinnen die Bemerkung des Jungen gehört hatten oder nicht. Einerseits hatte er mit lauter Stimme 407
gesprochen. Andererseits übertönten die Essensgeräusche, die Gesprächsfetzen und das Klappern der Tabletts und des Geschirrs normalerweise jede Solostimme. Von den benachbarten Tischen hatten nur vereinzelt Leute hochgeschaut, die anderen hatten es entweder nicht gehört, oder es war ihnen egal, oder es war ihnen peinlich. Keri aß friedlich ihr Mittagessen, als hätten sie nicht gerade erst eine heikle Situation gemeistert, als schösse ihr kein Adrenalin ins Blut, so wie es bei Mary der Fall war. Mary war äußerlich ganz ruhig – die Hand, mit der sie ihre Gabel zum Mund führte, zitterte nicht, aber dennoch hatte sie das Gefühl, eine Art elektrisches Feld durchquert zu haben, das sie transformiert hatte – magnetisiert? polarisiert? oder die Ionen ihres Körpers umgepolt? Irgendeine grundlegende Veränderung jedenfalls, die aber nur mit Spezialinstrumenten zu erkennen war, hatte stattgefunden. Die Heftigkeit ihrer Reaktion überraschte und verärgerte sie, denn sie war davon ausgegangen, daß sie auf solche Vorkommnisse vorbereitet war. Schließlich stammte sie aus Chicago. An ihrer High School hatte es unzählige Rassenkonflikte gegeben. Sie blickte wieder über den Tisch zu Keri, die seelenruhig ihre Dosenpfirsiche aß. Als Mary ihr in die Augen schaute, seufzte sie und sagte: »O Gott! Ich weiß nicht, wie ich es schaffen soll, für meine WirtschaftswissenschaftKlausur zu lernen. Ich weiß jetzt schon, daß ich zu den sieben Prozent gehören werde, die durchfallen.« Mary sagte: »Wann ist die Klausur?« »Mittwoch.« Joe sagte: »Heh! Was soll der Scheiß?« Diesmal schauten die Leute an den benachbarten Tischen hoch. Sherri sagte: »Hast du irgendwelche Probleme, Mann?« »Deine fusseligen Wollhandschuhe liegen in meinen 408
Pommes!« »Schon gut, tut mir leid! Ich hab sie nicht gesehen.« »Jetzt sind überall verdammte weiße Haare drauf!« »Willst du ein Stück Käse oder irgendwas anderes?« »Nee. Verdammte Scheiße!« Joe Doaks sprang auf, kippte dabei seinen Stuhl um und ging wutentbrannt weg, ohne sein Tablett mitzunehmen. »Meine Güte«, sagte Sherri. »Was hatte der denn für Probleme?« Diane nippte an ihrer Cola light. »Schlechte Zukunftsaussichten«, sagte sie. »Er weiß offenbar, daß einer wie er nicht die geringste Chance hat, auch nur annähernd das ökonomische Niveau seiner Eltern zu erreichen. Zu schade, was?« Sie lächelte. Sie hatten sie eingelullt, alle drei, sie und die Professoren und die anderen Studentinnen in Dubuque House. Sie hatten nach und nach ihre Widerstandskraft aufgeweicht. Sie war nicht mit ihnen befreundet, so wie sie mit anderen Leuten auf dem Campus befreundet war, so wie sie mit einigen Jungen und Mädchen zu Hause in ihrer Nachbarschaft befreundet war, aber sie hatte sich an sie gewöhnt und sich sogar in ihrer Gegenwart wohl gefühlt. Sie hatte ihre ständige Höflichkeit, nicht nur ihr, sondern auch den anderen gegenüber – jede Art von Geschrei, Auseinandersetzung oder Streit verabscheuten sie – bequem und angenehm gefunden. Sie ignorierten die Tatsache, daß sie schwarz war, genauso wie sie die Tatsache ignorierten, daß Keri wunderschön war oder Diane rücksichtslos oder Sherri bei den Prüfungen durchfiel, alles nur, damit sie gut miteinander auskamen, und sie würden den heutigen Vorfall in Kürze verdrängt haben, denn sie würden ihn niemals zur Sprache bringen und darüber reden wollen. Was Mary zu sagen hätte, was sie fühlte, würde wahrscheinlich die Behaglichkeit stören, die sie geschaffen hatten – darin bestand die unausgesprochene Gefahr. Und in nur vier Monaten hatte Mary sich daran 409
gewöhnt, diese Behaglichkeit zu genießen. Und dennoch war der weiße Junge bestraft worden – er war in aller Öffentlichkeit, und auch noch von Mädchen, verletzt, zurechtgewiesen und gedemütigt worden. Vielleicht sollte sie eine Diskussion über den Vorfall anfangen. Einige ihrer schwarzen Freunde, wenn nicht sogar alle, würden sagen: Ja, auf jeden Fall, bring es zur Sprache. Viele, wenn nicht sogar die meisten ihrer Verwandten würden sagen, daß er die Aufregung nicht wert war – spar dir deine Munition, bis du sie wirklich brauchst. Hassan würde ihr raten, ihren Instinkten zu vertrauen und ihren Gefühlen zu folgen, aber über die war sie sich nicht im klaren. Mary schaute auf ihren kleinen Salat mit der viertel Tomate. Es war wirklich ungerecht, daß sie sich jetzt, da die Prüfungen bevorstanden, mit diesem ganzen Für und Wider herumquälen mußte. Es war passiert, das alte Dilemma, das an ihren Kräften zehrte, war wieder da. Sie spürte, wie ihre Wangen glühten, und es kam ihr in diesem Augenblick so vor, als ob ihr Platz in der Welt, der ohnehin schon klein genug war, plötzlich noch kleiner geworden war und nur noch aus einem winzigen Punkt bestand, auf dem sie eine Zeitlang balancieren konnte, bis er endgültig verschwand.
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48 »Lydia« Eine Kurzgeschichte von Gary Olson Im Zimmer war es dunkel, obwohl es fast Mittag war, denn Lydia Henderson hatte die Vorhänge zugezogen. Ein einzelner Sonnenstrahl (Gary schaute aus seinem Schlafzimmerfenster) traf funkelnd auf die harsche, schimmernde Schneedecke, wurde von dort zurückgeworfen, drang durch den Spalt im Vorhang und ließ Lydias Haar aufscheinen, das um ihren Kopf herum auf dem Kissen lag. Überall auf dem Campus eilten buntgekleidete Studenten über die freigeschaufelten Wege zu den Räumen, in denen ihre Abschlußprüfungen abgehalten wurden. Aber Lydia schlief, schlief tief und fest, und träumte von ihrer Zukunft. Seltsamerweise war sie mit Lyle Karstensen verheiratet, einem Jungen, mit dem sie ein Jahr zuvor eine kurze Affäre gehabt hatte und der inzwischen die Universität verlassen hatte und nach Indianapolis zurückgekehrt war. Lydia hatte schon monatelang nicht mehr an ihn gedacht. Sie hatten anscheinend zwei Kinder, und im Traum spürte Lydia, daß sie sich im Zimmer befanden, aber sie konnte sie nicht sehen; sie hörte sie nur (Gary sog die Luft ein) atmen. In dem Traum hießen sie Larry und Angela. Die schlafende Lydia drehte sich vom Rücken auf die Seite. Sie schlief immer völlig unbekleidet, und als sie sich umdrehte und streckte, glitt ihre linke Hand über ihren flachen Bauch und ihre schlanke Hüfte und blieb dann auf ihrem Oberschenkel liegen (Gary fuhr sich mit der Hand über T-Shirt und Hose, um festzustellen, ob 411
das möglich war). Die Lydia, von der sie träumte, tat genau dasselbe, und zugleich erlebte eine Lydia, die sowohl die träumende als auch die geträumte Lydia betrachtete, eine Überraschung, denn die Traum-Lydia hatte einen riesigen, dicken Bauch, der Wülste auf dem Laken bildete. (Das war richtig gut. Gerade an diesem Abend hatte Gary im Fernsehen eine Sendung über Leute gesehen, die sich bewußtmachen konnten, daß sie träumten, ohne dabei aufzuwachen.) Jetzt erwachte die Lydia in dem Traum und stellte fest, daß es Mittag war, aber die träumende Lydia wachte nicht auf, obwohl ihr klar war, daß es bereits Mittag oder später sein mußte. Die Lydia im Traum sagte: »Ihr beiden Kinder seid hier im Zimmer, nicht wahr?«, und zwei dünne Stimmchen antworteten: »Ja, Mama«, aber Lydia konnte sie nicht sehen, weil es so dunkel im Zimmer war. Oje, dachte die dritte, zwischen den beiden Welten schwebende Lydia (Professor Monahan sagte immer, man solle einen guten Einfall nicht verschenken), was für ein Alptraum, ich bin mit Lyle verheiratet und ich bin unglaublich dick und es ist beinahe Mittag und ich kann meine Kinder nicht sehen, weil sie sich anscheinend versteckt haben. Wie bin ich nur in diesen Alptraum geraten? Die träumende Lydia stöhnte, warf den Kopf auf dem Kissen hin und her und brachte ihr sonnendurchströmtes Haar durcheinander. Im Traum hievte die massige Lydia sich hoch. Sie sah, daß im Badezimmer Licht brannte, und dachte, sie würde nur zu gerne einen Blick in den Spiegel werfen. »Kinder?« sagte sie. »Wo seid ihr?« Dünne Stimmchen sagten: »Hier drüben, Mama.« Das Wort traf sie mitten ins Herz, dieses zarte »Mama«. Sie machte schwankend ein paar Schritte vorwärts. 412
Im Zimmer von Lydia, der Träumenden, ging die Tür auf, und Lydias Mitbewohner, der von seiner Chemieprüfung zurückkam, trat ein. Er sah, daß Lydia noch schlief, und hörte sie etwas sagen, das wie »Kinder?« klang, und dann ein langes, angstvolles Stöhnen. Er legte seine Bücher nieder. Die massige Lydia in dem Traum stolperte und fuchtelte mit den Armen, um das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Aber sie fiel dennoch hin. Sie spürte, wie zuerst ihre Knie, dann ihre Handflächen, dann ihre Hüfte auf dem Boden auftrafen. Dann, gerade als ihr Kopf gegen die Kommode krachte (das war ein gutes Wort, dachte Gary), rief die dritte Lydia: »Es ist wirklich nichts weiter als ein Alptraum! Ich brauche bloß aufzuwachen!« Und Lydia wachte auf. Ihr Mitbewohner öffnete gerade die Vorhänge. Das Tageslicht drang herein. Ihr Mitbewohner sagte: »Meine Güte, hast du dich vielleicht hin und her geworfen! Ich dachte, du wolltest heute vormittag für deine Geschichtsprüfung lernen.« Lydia rieb sich die Augen. Sie sagte: »Ich bin noch einmal eingeschlafen. Meine Güte, hatte ich vielleicht einen merkwürdigen Traum. Ich war total dick. Ich war mit Lyle verheiratet. Erinnerst du dich an ihn?« Sie schauten sich an und lachten. (Gary lehnte sich zurück und starrte auf den Bildschirm. Und jetzt? Zu Anfang des Semesters, als diese Kleine, Ellen hieß sie, eine Geschichte geschrieben hatte, in der ein Traum vorkam, hatte Professor Monahan gesagt, daß der Traum sich irgendwie auf die Realität der Geschichte beziehen mußte. Gary stand auf und lief im Zimmer umher. Auf der Küchenuhr war es 3 Uhr morgens. Er mußte die Geschichte bis 12 Uhr mittags abgegeben haben. Er hatte eine Idee und setzte sich wieder hin.) Lydia strich sich 413
das zerwühlte Haar aus dem Gesicht und schlang es zu einem Knoten zusammen. Dann schlug sie die Bettdecke zurück und stand auf. Ihr Mitbewohner musterte sie anerkennend. Während sie ins Badezimmer ging, um sich die Zähne zu putzen, brachte er ihr ein Ständchen mit seinem Lieblingslied: »Lydia, oh, Lydia, oh, wer hat Lydia gesehen, Lydia, die tätowierte Lady?« Sie steckte den Kopf durch die Tür. Sie sagte: »Gary, ich liebe dich wirklich.« (Gary wurde rot, drückte viermal auf die »Del«-Taste und gab dann an Stelle von »Gary« den Namen »Rick« ein. Er lehnte sich zurück. Ein anderes Problem war, daß er gerne etwas über den Vater der echten Lydia in der Geschichte geschrieben hätte, zum Beispiel wie er vom Bauchnabel seines jüngsten Kindes schwärmte, aber das paßte auch nicht so richtig in die Handlung. Es war verblüffend, wie kurz diese Geschichte war, obwohl er so lange daran gesessen hatte. Aber sie war gut genug für den Kurs. Und außerdem, auch wenn das Semester zu Ende war, würde er sie vielleicht in den Weihnachtsferien noch einmal umschreiben.)
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Teil 4
49 Feliz Navidad ZIEMLICH BALD, nachdem sie ihre Leidenschaft für den Vorsitzenden X entdeckt hatte, gab Cecelia ihren Plan auf, über Weihnachten nach Los Angeles zu fahren. Sie entschied sich, in ihrer Wohnung zu bleiben und sie in einen weihnachtlichen Zustand zu versetzen. Sie war fest entschlossen, es sich schön warm und behaglich zu machen und sich zu Hause zu fühlen. Sie war fest entschlossen, eine farbenfrohe und lebendige Atmosphäre zu schaffen, indem sie Musik hörte und Kissen und preiswerte, leuchtendbunte Dekorationsgegenstände kaufte. Es sollte ein gemütliches, gastfreundliches Nest für ihre plötzlichen gemeinsamen Momente werden. Sobald sie die Noten für ihre Studenten abgegeben hatte, ging sie los, um Dinge einzukaufen, die sie für die Verwandlung ihrer Wohnung benötigte. Danach backte sie ein Blech Plätzchen und ein Gewürzbrot. Als sie spät am Abend zu Bett ging, hingen die Düfte vom Backen noch in den Räumen. Ihre Bemühungen schienen erfolgreich gewesen zu sein. Wenn sie alle Lampen einschaltete, sah die Wohnung wie ein Ort aus, den man (er) gerne betrat, wo man (er) sich zu einem gemütlichen Gespräch ins Wohnzimmer setzen konnte, oder wo man (er) seiner Freundin (Cecelia) in die Küche folgen und duftendes süßes Brot essen und lachen konnte. Am Morgen jedoch: nichts davon. Eventuell standen achtundzwanzig graue Tage bevor – im Wetterbericht wurde fröhlich von allen möglichen Rekorden gesprochen, vom schneereichsten Wochenende seit hundert Jahren oder von der längsten Periode, in der sich eine 416
kanadische Kaltfront je über der Stadt gehalten hatte. Sie griff zum Telefon und buchte ein Flugticket nach Los Angeles für den nächsten Tag, zum vollen Preis, Abflug sechs Uhr morgens. Diese Entscheidung, die sie ganz spontan, ohne Rücksicht auf den Vorsitzenden X getroffen hatte, kam ihr ausgesprochen vernünftig vor. Kaum hatte sie den Flug gebucht, bereute sie es. Plötzlich schienen die Ferien eine unendliche Reihe von Möglichkeiten für leidenschaftliche Selbstvergessenheit zu bieten, die sie leichtfertig verschenkt hatte. Sie wärmte sich an ihrer Teetasse. Sie rechnete nicht damit, X vor ihrer Abreise noch einmal zu sehen. Der Kitzel des Unvorhersehbaren war der entscheidende Reiz an ihrer Affäre, der Reiz, dem sie immer wieder erlegen war. An einem der nächsten Tage – vielleicht schon morgen nachmittag – würde er an ihre Tür klopfen und feststellen, daß sie verreist war. Die Fenster würden dunkel bleiben, der Gehsteig wäre nicht geräumt, und das Wochenblatt würde auf der Veranda vergilben. Bei diesem Gedanken stieß Cecelia einen Seufzer aus und fröstelte. Sie zwang sich, noch einmal aus dem Fenster zu schauen. Es war immer noch derselbe Anblick. Es hätte jede beliebige Tageszeit sein können an jedem beliebigen Wintertag. Und sie selber hätte eine der drei Personen sein können, die über den Gehsteig schlidderten, bis zu den Augen in dicke dunkle Kleidung eingemummelt. Sie riß sich von ihrer Teetasse los und begann zu packen. Als sie aus dem Flugzeug stieg, stellte Cecelia fest, daß sie noch nie aus der Kälte nach Los Angeles gekommen war. Normalerweise löste die Stadt kein Glücksgefühl in ihr aus, aber jetzt staunte sie beim Anblick der Palmen vor dem Flughafen, die sie vorher kaum wahrgenommen hatte. Natürlich war die Stadt dreckig (dachte sie, als sie vom Flughafen in Richtung Osten fuhr) und 417
der Himmel gelblich vom Smog, aber er war nicht grau, erdrückend und eintönig. Das Auffälligste am Mittleren Westen, die Monotonie, war in Los Angeles kaum, genaugenommen gar nicht anzutreffen. Es gab überall grelle Farbtupfer: verwahrloste, scharlachrote Bougainvilleas über schäbigen Zäunen, Hibiskusblüten, so groß wie Stoppschilder, an Veranden. Im Garten ihrer Eltern schlenderte Cecelia zwischen den Zitronen-, Orangenund Grapefruitbäumen umher, atmete die süßen Düfte ein und wog die schweren Früchte in ihrer Hand. Die Avocados, die ihr Vater zog, hingen schwarz an glitzernden, jadegrünen Zweigen. Es waren so viele, daß die Familie sie gar nicht alle essen konnte. Cecelia hatte sich fest vorgenommen, ihrem Vater zu berichten, was sie sowohl von X als auch von Tim Monahan erfahren hatte – nämlich, daß ein großer Konzern mit einem dieser nichtssagenden größenwahnsinnigen Namen plante, im Wald von Tierra del Madre nach Gold zu schürfen. Aber zwischen seinen Arbeitsverpflichtungen und all den Weihnachtsvorbereitungen fand sie nicht den passenden Zeitpunkt. Und er war schlecht gelaunt. Zwischen ihm und ihrer Mutter lag etwas in der Luft, es war eine dieser Perioden der Reizbarkeit, in denen sie einander überdrüssig zu sein schienen und beim kleinsten Anlaß einen Streit vom Zaun brachen. Cecelias eigene Konfliktbereitschaft war geringer als früher, vermutlich eine Auswirkung des friedlichen Lebens, das sie jetzt führte. Warum also sollte sie ihre Eltern in der Überzeugung bestärken, daß ihr Leben, die ganze Welt einem unaufhaltsamen Niedergang entgegenstrebte? Es gab nichts, was ihre Eltern in dieser Angelegenheit tun konnten, außer ihre Wut aneinander auszulassen. Sie würden noch früh genug von diesem neuesten Skandal erfahren, aus der Zeitung oder von Verwandten daheim in Costa 418
Rica. Und sie selber? Machte sie sich Sorgen um den größten Nebelwald in Zentralamerika? Tim erwartete es von ihr. Er hatte ihr Gifts Gutachten praktisch auf einem silbernen Tablett serviert, mit ganz untypischem Eifer, und sie hatte nicht so reagiert, wie er es erwartet hatte. Sie fühlte sich deswegen schuldig, ähnlich wie damals, als ihr Mann ihr zu Weihnachten an Stelle des erwarteten altkatalanischen Wörterbuchs eine schwarze Spitzengarnitur geschenkt hatte. Sie wußte gar nicht mehr genau, was ihr überhaupt noch wichtig war. Jetzt, da sie wieder zu Hause war, erkannte sie, was für ein Leben sie früher geführt hatte, und sie erkannte auch, wie weit sie sich davon entfernt hatte. Sie betrachtete ihr Zimmer, den rosa Bettüberwurf, die weißen Wände, die weißen Möbel, das Saxophon in der Ecke, das Poster vom New York City Ballet mit den rosafarbenen Spitzenschuhen. Bücher aus jeder Phase ihrer Kindheit, seit sie im Alter von vier Jahren lesen gelernt hatte, füllten das Regal. Zum Beispiel ein abgegriffenes Exemplar von Don Quijote. Sie hatte es fünfoder sechsmal gelesen. Als sie es jetzt aus dem Regal nahm und das Abenteuer mit dem Spiegelritter aufschlug, erinnerte sie sich daran, wie sie die Worte gelesen hatte, und sie erinnerte sich an das herrliche Gefühl der Versunkenheit, aber sie konnte sich nicht vorstellen, wie ihr siebenjähriges oder ihr vierzehnjähriges Ich die Geschichte verstanden hatte, ob nun die spanische oder die englische Version. Sie erinnerte sich nur noch an ihre Bemühungen, ihre Tugenden unter Beweis zu stellen, über ihr Umfeld hinauszuwachsen, die Erwartungen ihres Arzt-Gärtner-Vaters und ihrer WirtschaftsprüferinBuchhalterin-Mutter zu erfüllen. In ihrem sozialen Aufstieg lag zugleich ihre Tugend und ihr Lohn. 419
Jetzt hatte sie das Gefühl, als durchstreifte sie die wohlbekannten Räume auf allen vieren, mit der Nase voran. Das Haus war voller Gerüche: Zimt, Piment und Nelken und natürlich Paprika, Knoblauch, Limonen, Orangen und die Apfelblütenseife, die ihre Mutter gerne im Badezimmer verwendete. Öl in der Bratpfanne. Das Parfüm von Emilios Frau, ein fremdartiger Duft von Nieman-Marcus, der plötzlich in der Luft hing. Das Haus war auch voller Aromen, denn sie war immer hungrig, lief von einem Zimmer ins andere und aß Kekse und Schokolade und Früchte oder trank Saft. Immer irgend etwas. Wenn sie gerade nicht aß, fragte sie sich, wann es die nächste Mahlzeit geben würde, oder half ihrer Mutter beim Kochen. Es kam ihr fast unmöglich vor, sich aus dieser gegenwärtigen Stimmung herauszureißen und an irgend etwas zu denken. Oder vielmehr an etwas anderes zu denken als an Sex mit dem Vorsitzenden X. Denn daran dachte sie so intensiv und ausschließlich, daß sie ebensogut tatsächlich mit ihm hätte im Bett liegen können. Wie sollte sie je intellektuelle Souveränität und Tugend erlangen, wenn ihr Verstand in ihrem Körper versank wie ein Schwamm in einem Tintenfaß? Anscheinend bedeutete das jedoch nicht, daß sich die Überzeugungen des Vorsitzenden X auf sie übertragen hatten. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte sie ihrem Vater schon vor Wochen von dem Plan mit der Goldmine erzählt. Der Zorn des Vorsitzenden X über dieses Vorhaben war mit nichts zu vergleichen, was Cecelia je erlebt hatte. Er redete bereits davon, wenn er über ihre Türschwelle trat, und hörte nicht auf, bis er ging. Nur ganz kurz, während seines Orgasmus, unterbrach er seinen Redeschwall wie zu einer musikalischen Pause. Täglich hatte er angerufen, an manchen Tagen mehrmals, und ohne Hallo zu sagen losgelegt: »Es gibt rote Aras dort, 420
wußtest du das? Der einzige andere natürliche Lebensraum für rote Aras liegt in Neuguinea, und der wird spätestens im Jahre 2005 zerstört sein, wenn die Japaner nicht aufhören, dort Hartholz zu schlagen. Hast du schon mal einen roten Ara gesehen?« Ihre Antwort spielte eigentlich keine Rolle. Er fuhr fort: »Und 48 Arten von Kröten und Fröschen! Und 123 Arten von Schmetterlingen!« Dann hängte er ein, nur um etwas später wieder anzurufen und über die Tapire zu reden. Einmal, nur ein einziges Mal, hatte sie das ausgesprochen, was ihr Vater zu dem Thema gesagt hätte – »Das überrascht mich nicht. So etwas passiert ständig.« Der Vorsitzende X war beinahe vor Wut geplatzt, direkt in ihrer Wohnung. Er hatte gefragt: »Soll das heißen, du bist auf ihrer Seite?« »Natürlich nicht…« »Wenn du glaubst, man kann sie nicht aufhalten, dann bist du auf ihrer Seite!« Um ihrer eigenen Sicherheit willen hatte sie ihn beschwichtigt. Aber führte er sich zu Hause auch so auf, beim Essen des Bohnenauflaufs? Beim Baden des Babys? Beim Aufräumen der Schränke? Wütete und tobte er, in einer ununterbrochen brandenden, niemals verebbenden Flut leidenschaftlicher Empörung? Wenn ja, wie in aller Welt hielt SIE, die Nicht-Ehefrau, das aus? Cecelia stellte sich vor, daß er im Laufe der Jahre aus seiner NichtEhefrau einen gefühllosen Stein gemacht haben mußte. Das war die einzige Möglichkeit, mit jemandem wie ihm zusammenzuleben. Cecelia selbst machte sich keine Illusionen: es würde kein Zusammenleben mit dem Vorsitzenden X geben, keine gemeinsame Zukunft. Sie würden nur vögeln (sie schaute ihren Vater an, als ihr dieses Wort durch den Kopf ging. Noch ein Grund, warum sie 421
ihm nichts erzählt hatte, oder? Sie fürchtete, ihr Vater könnte merken, daß dieser Mann sie zum Tier gemacht hatte), nur vögeln, nur vögeln. Sie erhob sich, ging ins Badezimmer und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Alle Geschenke unter dem Weihnachtsbaum waren für Emilios und Carlos’ Kinder, hauptsächlich BarbiePuppen für Kelly und Ninja-Turtle-Zubehör für Derek, Danny und Alex. Cecelia hatte ihrer Mutter bei Victoria’s Secret einen seidenen Morgenmantel bestellt und ihrem Vater auf Empfehlung ihrer Mutter ein teures Buch über die Theorie des Zen-Gartens gekauft. Emilio und Carlos hatten keine Geschenke für Cecelia – ihre Frauen hatten zu viel mit den Kindern zu tun, um einkaufen zu gehen. Aber da ganz hinten lag noch etwas (Cecelias Mutter lächelte). Kelly, die außer ihrem Namen kaum etwas lesen konnte, kroch unter den Baum und zog es hervor. Sie betrachtete das Schildchen und sagte: »Das ist nicht für mich. Für wen ist das? Gibt es noch mehr für mich, Großmama?« Cecelias Mutter sagte: »Kelly, das ist für Tía Cecelia«, und Kelly, die Cecelia bewunderte und ihre Freundin sein wollte, überreichte es ihr mit einem strahlenden Lächeln. Es war ein Album. Bevor Cecelia es auch nur aufschlagen konnte, spielte ihre Mutter auf typische Art die Mühe und Sorgfalt, die sie auf dieses Geschenk verwandt hatte, herunter: »Das Haus ist so vollgestopft. Ich mußte einfach ein paar Sachen loswerden. Du hast ja jetzt dein eigenes Reich.« Die Fotos waren liebevoll eingeklebt und beschriftet: »Cecelia, vierzehn Monate alt (Weihnachten, 1964), mit Tía Luisa, auf Großvaters Farm«, »Cecelia, zwei Jahre alt, und Tía Norma, 1965. Das Pony hieß Paco«, »Mama Juana, Tía Luisa, Tía Norma, Tía Angelita, Ostern 1956, mit Großvater auf der Veranda der Hacienda. Die Hüte 422
sind von DIOR!«, »Großmutter und Großvater, frisch verheiratet (Juli 1934), mit ihrem ersten Auto, einem Ford aus den USA, in San Jose.« Ihre Mutter sagte: »Von den alten Fotos habe ich für euch alle Reproduktionen machen lassen. Aber die, auf denen nur du drauf bist, sind die Originale. Die Alben gehen bis zu eurem einundzwanzigsten Lebensjahr. Emilio und Carlos haben ihre schon zum Geburtstag bekommen. Aber du warst ja nicht hier.« »Mom! Daran müßt du ja ewig gearbeitet haben!« »Ja«, sagte ihre Mutter, »aus all den Fotos diejenigen herauszufinden, bei denen die Köpfe nicht abgeschnitten waren, das hat allerdings ewig gedauert.« Cecelia lachte. Sie blätterte langsam die ersten Seiten um, sah sich die Gesichter an, aber auch die verwaschen grauen Hintergründe, und versuchte, darin das Grün, Gelb, Rot oder Lila aus ihrer Erinnerung wiederzufinden. Sie sagte: »Ich weiß gar nicht mehr, wie es dort war! Ich wünschte, ich wüßte es noch.« Ihre Mutter seufzte. Die Fotos von Los Angeles, von diesem Haus, von der Grundschule und der High School bargen keine Geheimnisse. Sie konnte sich an jedes einzelne der scheußlichen, unmodernen Kleider erinnern, in denen sie abgebildet war. Sie blätterte weiter, bis sie zum Ende des Buches kam, und kehrte dann zum Anfang zurück, zu Großvater und Großmutter in einem ihrer Obstgärten, der in voller Blüte stand. Auf dem kleinen Schwarzweißfoto konnte man die Baumsorte nicht erkennen, aber das junge Paar sah zuversichtlich und stark aus, obwohl sie noch ganz jung waren; weitaus zuversichtlicher und stärker, als Cecelias Eltern oder ihre Tanten und Onkel je ausgesehen hatten. Man sah gleich, daß sie dort zu Hause waren und daß diese Gewißheit ihnen Kraft gab. Cecelia schaute ihre Mutter an, die ihr Lächeln erwi423
derte, erfreut über Cecelias Freude. Aber Cecelia war mit ihren Gedanken nicht wirklich bei dem Album. Sie fragte: »Mom, warum seid ihr, du und Tía Norma, überhaupt nach L.A. gekommen?« »Oh, weißt du, dein Vater und Onkel Emilio…« Sie verstummte. »Was?« »Sie haben sich große Hoffnungen gemacht. Jedenfalls sagten sie das.« »Und?« »Oh, in Wirklichkeit war hier nicht viel los.« Sie zuckte die Achseln. Cecelia spürte, wie etwas Drittes, ihr Wohlvertrautes in den Raum trat. Es war die unausgesprochene Enttäuschung ihrer Mutter. Sie zwang sich, trotz ihrer spürbaren Präsenz ruhig sitzen zu bleiben. Dazu war sie früher nicht in der Lage gewesen. Und sie ließ einen Gedanken zu, den sie bis jetzt verdrängt hatte, den Gedanken, daß sie alle ein besseres Leben gehabt hätten, wenn sie daheim geblieben wären, statt nach Los Angeles zu kommen. Wenn ihre Heimat es wert gewesen wäre, dort zu bleiben. Und dann wurde etwas Viertes im Raum spürbar. Es war ihre eigene Traurigkeit. Sie schloß das Album und blickte auf. Von draußen hörte sie den Rest der Familie. Sie ließen das funkgesteuerte Flugzeug fliegen, das Alex von Emilio geschenkt bekommen hatte. Cecelias Mutter fing an, das Geschenkpapier einzusammeln und über ihrem Knie glattzustreichen. Cecelia sagte zu ihr: »Du, weißt du, was ich gehört habe?« »Was denn?« fragte ihre Mutter. Und Cecelia fühlte, wie die Geschichte ungehemmt an die Oberfläche drängte wie eine frische, sprudelnde Quelle. »Also, paß auf«, sagte sie. 424
50 Zur Krippe her kommet DAS GRÖSSTE P ROBLEM für Earl war, wie abrupt der Wechsel kam. Am Abend lud noch Bob dreckiges Stroh in die Schubkarre, wobei ihn Earl durch halbgeschlossene Lider musterte, und am nächsten Morgen knallte die Tür ins Schloß (Bob ließ die Tür nie knallen), und eine völlig unbekannte Person pfefferte ohne viel Federlesens Futter in seinen Trog. Earl unterdrückte seine übliche Ungeduld bei der morgendlichen Fütterung und zog sich in die Ecke zurück. »Na, Schweinchen«, sagte dieser Mensch, »willst du was zu fressen?« Das Futter türmte sich höher im Trog als üblich, und der Kerl sagte: »Ich werde mich nicht fünfmal am Tag hier rüberquälen, soviel steht fest. Zweimal geht’s, und da Weihnachten ist, kannst du darüber schon froh sein. Das hier muß bis zum Abendessen reichen.« Ohne Earl wenigstens die Zeit zu lassen, zum Trog zu gehen und die Gaben in Augenschein zu nehmen, schob dieser Kerl die Schubkarre in den Koben, hob das dreckige Stroh auf und schleuderte es förmlich hinein. Earl empfand den Lärm als Belästigung, und der Anblick seiner durch die Luft fliegenden Exkremente war ihm sehr peinlich. Außerdem erledigte dieser Mensch seine Arbeit völlig planlos. Earl hätte ihm jede Menge Stellen zeigen können, die er übersehen hatte, aber ihm war klar, daß der Kerl so schnell wie möglich wieder abhauen wollte – er stellte die Mistgabel neben der Tür ab, anstatt sie an ihren Platz zu hängen, und er vergaß, Earls automatische Tränke zu reinigen. Kein Kratzen, keine Kameradschaft, keine Konversation und auch keine Musik aus dem Radio, das Bob für ihn morgens immer anstellte. Da 425
gab Earl plötzlich seinen Kampf gegen die Depression auf, und anstatt sich über den Trog herzumachen, wozu er fest entschlossen gewesen war, schob er sein Stroh zu einem Haufen zusammen und ließ sich darauf nieder. In der letzten Zeit gab es für Earl immer weniger überzeugende Gründe, morgens aufzustehen. Im tiefsten Innern war er noch das Schwein, das er immer gewesen war, ein Schwein, das gezüchtet worden war, um zu fressen. Darin lag seine Einzigartigkeit und auch seine Bürde. Es spielte keine Rolle, ob er hungrig war, wenn Bob erschien; der Anblick von Futter im Trog stimulierte garantiert seinen Appetit, und er würde garantiert so lange fressen, bis er nicht mehr konnte. Für ihn war das ein tiefes, unbezwingliches Bedürfnis, und er akzeptierte es. Manchmal machte sein Maul einfach von selber weiter, obwohl sein Magen schon voll war und fast schmerzte. Nun gut. Aber abgesehen vom Fressen stand er eigentlich nur auf, um Bob zu begrüßen. Es machte ihn glücklich, Bob zu sehen. Und nicht nur, weil er ihn fütterte, pflegte und sogar kratzte. Die Wahrheit war, Earl Butz hatte eine gefühlsmäßige Beziehung zu Bob aufgebaut, die fast schon an Abhängigkeit grenzte. Er schätzte seine unverkrampften und höflichen Umgangsformen und spürte, daß Bob ihm Respekt und Sympathie entgegenbrachte. Sicherlich waren das eher stille Tugenden, aber das Debakel am Morgen hatte Earls Dankbarkeit für diese Tugenden noch gesteigert. Aber auch das war noch nicht alles. Experten (die in diesem Fall natürlich nicht konsultiert wurden, da Earls Existenz ein Geheimnis war) hätten seine Fähigkeit zu tiefen Gefühlen in Abrede gestellt, denn sie hätten aufgrund seiner außergewöhnlichen Isolation, wo Schweine doch von Natur aus gesellig waren, bei ihm soziopathische Tendenzen vermutet. Tatsächlich steigerte Earls 426
Isolation noch die Befriedigung, die er aus dem Verhältnis zu Bob zog. Er hatte kaum noch Möglichkeiten, Bob seine Gefühle zu zeigen, denn er war inzwischen zu fett und vielleicht auch zu alt, um mit dem Spielzeug zu spielen, das Bob ihm mitgebracht hatte. Bei seinem Körperumfang konnte er sich nicht mehr so bewegen wie früher. Morgens aufzustehen und mit sichtlicher Begeisterung seine Pflicht zu erfüllen, war alles, was er tun konnte. Und er tat es jeden Morgen in der Gewißheit, daß Bob, obwohl er kaum etwas sagte, ihn schon verstehen würde. Nicht so heute morgen. Earl wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen. Aber das hieß noch lange nicht, daß er sich heute im selben Maß verausgaben würde wie an anderen Tagen. Heute würde er einfach liegenbleiben, vor sich hin dösen und den häßlichen Futterberg gar nicht beachten. Und er wachte erst wieder auf, als die Tür knallte und dieser Kerl wieder hereinkam. Earl starrte ihn durch schmale Augenschlitze an, atmete aber weiter tief und regelmäßig, als schliefe er. Der Kerl sagte: »Na, Schweinchen, keinen Bock auf Futter? Auch nicht geschissen! Bist du etwa krank? Also, zu Weihnachten häng ich nicht rum, um das rauszukriegen. Du wirst es wohl bis morgen aushalten.« Und weg war er. Welch eine Erlösung, dachte Earl. Das Dumme war, wenn man den ganzen Tag schlief, dann war man die ganze Nacht wach. Earl, ein Schwein, dessen Leben sich durch überdurchschnittliche Regelmäßigkeit auszeichnete, war noch nie die ganze Nacht wach geblieben, und es war eine Erfahrung, auf die er gerne verzichtet hätte. Zum einen war es stockdunkel, weil dieser Mensch nicht ein einziges Licht hatte brennen lassen. Und zum 427
anderen war es ungewöhnlich still. Obwohl es in Earls Koben immer mehr oder weniger still gewesen war, schien die völlige Dunkelheit die Stille irgendwie zu verstärken. Wenn Earl einfach nur dalag, flach atmete und nicht mit seinem Stroh raschelte, umspülte ihn die Stille und schien in seine Augen, sein Maul, seinen Rüssel und seine Ohren einzudringen. Sie rollte über sein Fell wie das warme Badewasser, das Bob ihm hin und wieder bereitete. Aber sie machte ihn nicht müde. Egal, ob er die Augen offen oder geschlossen hielt, egal, in welche Richtung er den Kopf drehte, er sah stets nur dieselbe schwarze Fläche, und nach einer Weile tauchten überall kleine farbige Blitze auf. Zuerst waren es kaum mehr als Punkte, dann wurden die Punkte größer, und schließlich waren es Strahlen. Als Schwein dachte Earl nur selten an die Zukunft. Aber seiner Erfahrung nach hatten ungewöhnliche Vorkommnisse in der Regel Schmerzen zur Folge, und deshalb beunruhigten ihn die Punkte und Strahlen, bis sich herausstellte, daß sie tatsächlich nichts weiter als Punkte und Strahlen waren. Dann entspannte er sich und genoß sie, ohne sie weiter zu analysieren. Was für ein Gefühl das war! Er kam sich verlassen vor, war aber weder unruhig noch ängstlich und spürte kaum seinen massigen Körper. Auch die Mühsal und die Schmerzen, die sein tägliches Los waren, vergaß er. Dann sah er in der Dunkelheit ein Licht und spürte, daß um ihn herum etwas vorging. Er verhielt sich ganz still und fühlte, wie diese Erscheinungen lebendiger wurden. Es war, als ob er gleich die Augen öffnen, aufstehen und herumlaufen würde, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt, einfach aufzustehen und herumzulaufen. Wenn er nur ein kleines bißchen stiller war, so schien es, könnte er etwas hören, aber er wußte nicht, 428
was. Und egal, wie sehr er sich auch bemühte, still zu sein, er konnte nicht hören, was es war. Aber was es auch war, es war tröstlich und vertraut. Earl stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann änderte sich das Gefühl. Ihm war, als sei er zu etwas Neuem gelangt. Dieses Neue war ein Gefühl der Vorfreude, dem Gefühl vergleichbar, das er morgens empfand, wenn er Bob vor der Tür hörte. Aber jetzt war die Vorfreude glühender und erwartungsvoller, so leidenschaftlich wie bei einem viel jüngeren Schwein. Und in diesem Augenblick begriff Earl, was mit ihm passierte. Er erinnerte sich. Natürlich war alles noch da – immerhin hatte sein Gehirn die Größe einer Grapefruit. Zwar war es im Bereich der Großhirnrinde etwas mager ausgebildet, aber auch Earl bediente sich gewöhnlich nur eines geringen Prozentsatzes seiner intellektuellen Möglichkeiten wie jedes Individuum, das ein Gehirn besaß. Earl stellte keine Vermutungen darüber an, warum er nie mehr als die alltäglichsten Belange im Gedächtnis behalten hatte – hatte die Routine alles andere überdeckt, oder war es vielleicht ein Akt der Verweigerung? Jetzt jedenfalls, von der Dunkelheit umgeben, spürte er alles Weltliche von sich abfallen, und er erinnerte sich deutlich, woraus sein jugendliches Ich diese Leidenschaft bezogen hatte. Aus der freien Natur. Wie jedes gute Zuchtschwein war Earl in einer hochmodernen Stallanlage ausgetragen und geboren worden. Er war von Anfang an für Höheres als das Durcheinander eines althergebrachten Schweinestalls oder, Gott bewahre, das unkultivierte Leben unter Sumpfeichen, wo man den ganzen Tag nach Eicheln wühlte, bestimmt gewesen. Er war dafür geschaffen, in einem vollklimatisierten Stall auf einem glatten Rost zu liegen, aus einer automatischen 429
Tränke zu trinken und Trockenfutter, versetzt mit Antibiotika, Wurmmitteln und Wachstumsverstärkern, zu fressen. Dennoch geschah es, daß kurz nach Earls Geburt der Farmer, dem er gehörte, feststellte, daß sein Stall kaum belegt war, da nur drei oder vier der Säue geworfen hatten. Weil es zudem ein warmer Spätsommer war, hatte er sich einen Spaß daraus gemacht, die Tiere jeden Tag in den Hof zu lassen, denn sie waren so quicklebendig und niedlich. Braunes, raschelndes Laub lag auf dem feuchten, sonnenbeschienenen Gras, und die schwarzen Äste der Bäume hoben sich wie ein filigranes Muster gegen den Himmel ab, der Tag für Tag ein Licht verströmte, das Earl weder vorher noch nachher je gesehen hatte. Die Ferkel tollten im Hof herum, während der Farmer, der die Ernte schon eingebracht hatte, daneben saß und zu seiner Frau sagte, wie schade es doch sei, daß ihre Enkel das nicht sehen konnten. Die Säue genossen die Luft und die Wärme des Spätsommers und buddelten hier und da nach einem würzigen Bissen. Die Hofhunde liefen herum und bellten pflichtgemäß, während die Hofkatzen aus sicherer Entfernung zuschauten. Und die Tage, fünf oder sechs an der Zahl, verstrichen wie ein süßer Traum von Eintracht und Frieden. Krähen krächzten in den Bäumen, der Wind blies, und Earl sammelte einen Schatz an Erinnerungen, den er erst jetzt, nachdem er seine Arbeit niedergelegt hatte, in aller Ruhe in Augenschein nehmen konnte. Die Erinnerungen erschienen auf der dunklen Leinwand, die ihn umhüllte, egal ob seine Augen geöffnet oder geschlossen waren. Das Grün, das Blau, die Helligkeit. Der Zusammenstoß mit einem seiner Brüder, der in ihn hineinrennt, so daß er auf die kühle Erde plumpst. 430
Seine Füße, die bei jedem Sprung in den weichen Boden einsinken. Und vor allem die Mischung aus Düften und Gerüchen, die sich deutlich unterscheiden, von denen aber keiner hervorsticht – ganz anders als im Stall, wo sein eigener Geruch und der seiner Artgenossen überwältigend war. Earl gab sich seinen Erinnerungen hin. Halb betäubt lag er auf sein Stroh gebettet, nicht schlafend, aber entrückt, fern von seinem Trog, seiner Belüftungsanlage, seinem Spielzeug und seinen Pflichten, und auch fern von den Schmerzen in seinen Beinen und seinem Rücken. Als der Kerl am nächsten Morgen mit dem üblichen Türenknallen auftauchte (na ja, es war schon fast Nachmittag, aber wie sollte Bob das jemals herausfinden?), bekam er ein schlechtes Gewissen beim Anblick des reglosen Schweins, und er geriet in Panik – es war bestimmt tot, und dabei handelte es sich doch um ein wichtiges Experiment. Er rannte hinaus und rief Bob an, der gerade mit seiner Familie beim Weihnachtsfrühstück saß, nachdem sie die Geschenke ausgepackt hatten. Bob dachte zuerst an Dr. Bo, dann an Earl und sprang ins Auto, ohne seine Waffel aufzuessen. Er steckte nur noch schnell ein Brot mit Erdnußbutter und zwei Stückchen Wurst in die Tasche. Als er den Stall erreichte, war Earl wieder auf den Beinen und machte sich gerade über den Trog her, als ob nichts gewesen wäre. Der Kerl erzählte in hektischem Tonfall, wie oft er dagewesen war, und wann er am Abend vorher zuletzt nach ihm geschaut hatte, und daß er gleich heute morgen wieder nach ihm geschaut hatte, und Earl tat, als ob er von der ganzen Aufregung nichts mitbekäme. Bob untersuchte ihn gründlich, während der Kerl daneben stand. Dann sagte er: »Na ja, er scheint in Ordnung zu sein. Dein Glück. Ich bezahle dich für zwei Einsätze, nicht mehr.« Und nachdem der 431
Kerl verschwunden war, griff Bob nach dem Stock, setzte sich auf das Gatter des Kobens und kratzte Earl den Rücken, WÄHREND er aß. Earl hatte nicht das geringste dagegen einzuwenden, so maßlos verwöhnt zu werden.
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51 Fröhliche Weihnachten DER VORSITZENDE X konnte nicht anders, als Cecelia mit dem letzten noch existierenden unberührten Nebelwald in Verbindung zu bringen, den zu zerstören sich dieser aufgeblasene, schwülstige, schwachsinnige Idiot vom Institut für Wirtschaftswissenschaften die größte Mühe gab. So waren alle Gedanken an Cecelia, die sonst zumindest ein bißchen wohltuend und erfrischend für die Seele gewesen wären, mit Angst und Wut vergiftet. Das Problem bestand auch in der anderen Richtung. Da er bislang noch nicht dazu gekommen war, Lady X gegenüber zu erwähnen, daß er ein Verhältnis mit Cecelia hatte, konnte er sich auch nicht überwinden, den Nebelwald zu erwähnen und ihren Rat einzuholen, was gegen die Zerstörung zu unternehmen sei. Wenn er das Thema Nebelwald aufbrächte, würde ihn das geradewegs auf Cecelia bringen, und das würde geradewegs zum Eingeständnis der Affäre führen, und das würde dann geradewegs zu einer Diskussion ihres Sexuallebens führen, und die wiederum würde Selbstzweifel und Schuldgefühle seitens der Lady X auslösen, was wiederum zu einer Diskussion ihrer Beziehung führen mußte, welche eine Krise auslösen würde, die sie dazu zwingen würde, eine Entscheidung über ihre Zukunft zu treffen, und da er nicht in der Verfassung war, Entscheidungen zu treffen, würde das an ihr hängenbleiben, und wohin das führen würde, wußte der Himmel, aber dieses Risiko wollte der Vorsitzende X nicht eingehen, und so verharrte er während der ganzen Weihnachtsfeierlichkeiten in einer Agonie des Schweigens, denn, wie Lady X zu sagen pflegte, 433
er besaß nicht das geringste Taktgefühl. Jedes Jahr zu Beginn der Weihnachtszeit durchforsteten sie ihr Hab und Gut und suchten aus den Sachen, die die Kinder nicht mehr trugen oder mit denen sie nicht mehr spielten, die besten heraus und verpackten sie für Toys for Tots. Dieses Jahr gab er sich keine Mühe, ihnen gut zuzureden. Wenn sie Sachen behalten wollten, aus denen sie herausgewachsen waren, einfach nur, weil sie sich an sie gewöhnt hatten, so ließ er ihnen ihren Willen. Sie warfen ihm seltsame Blicke zu und brachten trotzdem ihre Argumente vor. Er zuckte bloß die Achseln. Als sie ins Lebensmittelgeschäft gingen, um für die Dosenaktion einzukaufen, nahm die Älteste versuchsweise zwei Dosen mit haschiertem Roastbeef aus dem Regal. Er sagte kein Wort, lotste sie nicht zu den Säcken mit den getrockneten Bohnen oder dem Maismehl oder zu den ungeschwefelten getrockneten Aprikosen. Sie wurde unsicher und wählte von sich aus eine Schachtel Rosinen. Er selber war zu übelgelaunt, um wählerisch zu sein. Er nahm vier Gläser Skippy-Erdnußbutter. Auf dem Weihnachtsbaummarkt (in Randlagen waren in Torf gepflanzte Reihen von echten Weihnachtsbäumen hervorragend geeignet, den Erdboden zu festigen) wählte er die erstbeste Kiefer, anstatt sie alle mit Peitsche und Sporen bis zum hintersten Winkel des Geländes zu treiben, auf der Suche nach einer besonders üppigen, gleichmäßig gewachsenen, duftenden Balsamtanne. Er zeigte kein Interesse daran, Plätzchen zu backen oder den Bohnenauflauf weihnachtlich zu verzieren. Als sie ihre Wünsche vortrugen, quälte er sie nicht mit der üblichen Erbauungspredigt über die siamesische Unzertrennlichkeit von Christentum und Kapitalismus, die in der sogenannten Weihnachtsstimmung ihren vollkommenen Ausdruck finde, denn diese Stimmung sei nichts anderes als kulturell sanktionierte Gier. Der Vor434
sitzende X mischte sich überhaupt nicht in die weihnachtliche Freude seiner Familie ein, und obwohl sie darüber alle eine vage Erleichterung verspürten, war ihnen dennoch irgendwie unheimlich zumute. Aber niemand sagte ein Wort, denn dann wäre es ihm vielleicht aufgefallen und er hätte womöglich das Versäumte nachgeholt. Die Älteste ging sogar so weit, die Angelegenheit ihrer besten Freundin am Telefon zu erzählen. »Mein Dad benimmt sich so merkwürdig«, sagte sie mit gewohnter Illoyalität, aber dann wollte sich die übliche Erleichterung nicht einstellen, und sie ließ das Thema fallen. So merkwürdig er auch war, dachte sie, sie wollte doch nicht, daß er sich änderte. Beth hatte so viel mit den Weihnachtsvorbereitungen zu tun, daß sie einfach nur dankbar war. Wenn sie doch darüber nachdachte, kam sie zu dem Schluß, daß es der Untergang des Kommunismus in Osteuropa sein mußte, der ihm zu schaffen machte, und er wahrscheinlich sogar von allein zu einer ähnlichen Deutung dieses Ereignisses gekommen war wie sie (der Kommunismus war eine schöne Idee, aber sie funktionierte leider nicht, man konnte nicht auf derart extreme Weise leben. Selbst Weihnachten war gar nicht so schlimm, wenn man sich in Bescheidenheit und Nächstenliebe übte). Was sein ungewohntes Schweigen betraf, nun ja, wie immer man ein Ereignis dieser Größenordnung deuten mochte, man mußte eben auch mit seinen Gefühlen fertig werden. Sollte er ausnahmsweise einmal allein damit fertig werden. Sie selbst würde eine Menge Plätzchen backen und etwas Schmuck für den Baum kaufen und vielleicht eine Party veranstalten, das hatten sie noch nie getan. Als sie ihm davon erzählte, sagte er nur: »Gut, wenn du möchtest, ich habe nichts dagegen.« 435
Beth, die in einer ganz normalen amerikanischen Familie (die der Vorsitzende X jahrelang als ein rein kommerzielles Unternehmen bezeichnet hatte, rettungslos verdorben durch das kapitalistische Bedürfnis nach billigen Arbeitskräften und einem ständig expandierenden Markt) aufgewachsen war, hatte erwartet, daß die Kinder einer ungezügelten Verschwendungssucht anheimfallen würden, aber dazu waren sie gar nicht in der Lage. Als echte Konservative votierten sie für selbstgebastelten Weihnachtsschmuck, Vollkornplätzchen, traditionelle Lebensmittelspenden für das Obdachlosenheim und behängten wie jedes Jahr den Baum im Vorgarten mit Popcorn und Preiselbeeren für die Vögel. Als Beth ihre MasterCard zückte, um ein Geschenk für Amy zu bezahlen, hinderte die Älteste sie daran und erinnerte sie an die Adressenlisten, auf die sie dadurch unweigerlich geraten würde, kommerzielle und vermutlich auch staatliche Listen, in denen ihr Name dann gespeichert sein würde. Das übliche Weihnachtsfest. Und die Party fand auch nicht statt. Zuviel Arbeit. Erst am Nachmittag des Weihnachtstages, als zum ersten Mal wieder etwas Ruhe einkehrte, stellte Beth fest, daß noch etwas anderes los war. Die älteren Kinder waren Schlittenfahren gegangen, und Amy machte ein Nickerchen. X saß auf der Couch und bewunderte den Weihnachtsbaum. Das dachte Beth jedenfalls. Sie ließ sich mit einem glücklichen Seufzer neben ihn plumpsen, kuschelte sich in seinen Arm (er zeigte keine Reaktion, aber das bemerkte sie nicht) und sagte: »Ach, ist das schön. Der Baum sieht hübsch aus dieses Jahr.« Er sagte nur: »Ja?« »Schau ihn dir doch an!« »Hmm.« Beth setzte sich auf und wandte sich ihm zu. Er sah 436
bedrückt aus, und seine Haut, die normalerweise wegen seines erhöhten Adrenalinspiegels leicht gerötet war, wirkte fahl und kalt. Sie fragte: »Ist alles in Ordnung mit dir?« Sie legte ihre Hand auf seine Stirn. »Ja, sicher.« »Du siehst traurig aus.« Das stimmte wirklich. Traurig. Sie küßte ihn vorsichtig und liebevoll auf die Nase, wie es eine Ehefrau tut, die darauf bedacht ist, bei ihrem Ehemann nicht affektive Bedürftigkeit zu konstatieren, ehe er zu verstehen gegeben hat, daß es ihm recht ist. Sie sagte: »Die Kinder waren großartig dieses Jahr. Ich glaube, deine Strategie, möglichst viele Entscheidungen ihnen zu überlassen, war genau richtig. Sie sind jetzt alt genug…« Er vergrub das Gesicht in den Händen. Sie tat so, als merke sie nichts. »… sich selbst Gedanken über die Folgen ihrer Handlungen zu machen. Habe ich dir erzählt, als ich meine MasterCard zückte…« Er sagte: »Oh, Gott«, aber durch seine Hände war es kaum zu verstehen. Sie tat so, als habe er »Oh, gut« gesagt. Sie fragte: »Hast du dich über die Weste gefreut? Ich finde, daß diese Pullover und Westen von Seventh Generation phan…« Er schien zu schniefen. »… tastisch sind. Und eigentlich gar nicht mal teuer. Du kannst sie zu allem tragen. Wenn man bedenkt, wie oft du so etwas anziehst, dann zahlt es sich doch aus…« Sie nahm einen neuen Anlauf. »Ich finde die blumenbestickte Bluse wirklich sehr schön. Ich war nur etwas überrascht, weil ich so etwas normalerweise nicht trage. Aber ich bin sicher, sie wird mir besser stehen, wenn ich etwas abgenommen habe. Weißt du, ich finde es wirklich erstaunlich, wie lange es dauert, nach der Geburt die 437
überschüssigen Pfunde loszuwerden, wenn man erst über vierzig ist, im Vergleich zu früher…« »Scht«, sagte er. »Schscht.« Ach, das hätte sie wirklich machen sollen, dachte sie später. Sie hätte die Achseln zucken sollen, aufstehen und in die Küche gehen, den Abwasch machen. Dann hätte sie Amy von ihrem Nickerchen aufwecken und die Weihnachtspasta zum Abendessen auftischen sollen (Brokkoli und getrocknete Tomaten). Sie hätte ihren Mund und ihr Herz verschließen sollen. Aber ihr Herz öffnete sich angesichts seines außergewöhnlichen Kummers, zuerst verwandelte es sich in ein Vakuum, das die Geschichte geradezu aus ihm heraussaugte, und dann – nun, das war später. Natürlich war SIE eine Schönheit. Natürlich war SIE sehr jung (kurz vor der Ermordung von JFK zur Welt gekommen, kaum aus den Windeln heraus, als Sergeant Pepper erschien; in der fünften Klasse, als Beth und X heimlich mitten in der Nacht auf eine lange Mauer in Lawrence »23.4.73: USA raus aus Vietnam. Sieg!« sprühten. Das war die gefährlichste Aktion, die sie jemals unternommen hatten). Natürlich hatte SIE irgendwas (was, war nicht ganz klar) mit irgendeiner aussichtslosen Sache in Mittelamerika zu tun (Costa Rica! Belize! Beth war sich nicht sicher). Leider blieb Beth nicht so ruhig, wie sie es sich gewünscht hätte, auch nicht so ruhig, wie sie in der Vergangenheit gewesen war (SIE mußte ganze sieben Jahre alt gewesen sein, als Beth zum ersten Mal von X betrogen wurde). Anfangs dachte sie, sie könne ruhig bleiben, als sie in ungezwungenem Tonfall sagte: »Um Himmels willen, sag mir doch, wo das Problem liegt. Wir werden schon damit fertig«, und auch noch ein paar Minuten später, als sie sagte: »Ich bin eigentlich nicht überrascht, obwohl ich dachte, du hättest mit diesen Geschichten 438
aufgehört. Es ist sehr gefährlich, das weißt du.« Aber er sagte immer wieder: »Sie ist einfach außergewöhnlich, Beth. Du solltest sie kennenlernen, dann würdest du mich verstehen. Sie ist wirklich außergewöhnlich und anders«, so als seien sie, Beth und die Kinder, das nicht. Als wollte er sagen: also auf der einen Seite haben wir dich, Beth, und die Kinder, und ihr seid vollkommen durchschnittlich. Und auf der anderen Seite haben wir SIE, und sie ist ausgesprochen ungewöhnlich und anders. Daher sagte sie, und ihre Stimme triefte vor Sarkasmus: »Oh, ich verstehe, auf der einen Seite hast du UNS, deine Familie, und wir sind furchtbar durchschnittlich, und auf der anderen Seite hast du SIE, und sie ist vollkommen anders und exotisch und ungewöhnlich…« Sie wußte, das würde ihn verletzen, und das tat es auch. Er sagte: »Verdammt nochmal…« Und Beth sagte: »Verdammt nochmal? VERDAMMT NOCHMAL? Du erzählst mir, daß du mit so einer Nut… mit einer anderen schläfst, und dann regst DU dich auf?« Dann sagte er: »Früher warst du nicht so«, und sie sagte: »Du meinst, früher habe ich es einfach hingenommen, wenn du nach Hause gekommen bist und mir mitgeteilt hast, daß du mit einer anderen rumgevögelt hast und es ganz toll war und du es mir unbedingt erzählen mußtest. Aber deshalb hat es mir noch lange nicht gefallen…« »Du hast auch mit anderen geschlafen. Du hast mit Simon Harris geschlafen und mit Ben Holiday und mit dieser Frau, Olivia Soundso…« »Okay, das waren drei. Im Vergleich zu wie vielen…« »Zählen wir jetzt? Zählen wir jetzt alte Seitensprünge? Wir haben uns immer geschworen, daß wir das nie tun würden, daß es das letzte wäre, was wir tun würden…« Damit hatte er sie am Wickel. Aber eigentlich hatte er 439
sie in jeder Hinsicht am Wickel, in einem Maße, das sie nie für möglich gehalten hätte. Sie hatten so viel gemeinsam, sie waren schon so lange zusammen, hatten so viel durchgestanden, daß sie einander auf geradezu sagenhafte Weise ergänzten. Zumindest hatte sie sich das immer eingeredet, aber jetzt ging ihr auf, daß sie sich in Wirklichkeit auf ihr gutes Aussehen verlassen hatte, wie alle anderen auch, und solange sie gut aussah, funktionierte das. Aber inzwischen war sie einundvierzig, und ihr ehemals taillenlanges Haar war kurz und wurde grau, und sie hatte weder die Zeit noch die Energie gehabt, auf ihre schlanke Linie zu achten. (Und abgesehen davon hatte sie sich darauf verlassen, daß er anders war als andere Männer und sie wegen ihrer inneren Schönheit liebte. Ha!) Und dann hörte man von oben ein Geschrei, und als sie Amy holte, kamen die anderen vom Schlittenfahren, kalt, mit geröteten Gesichtern, den Geruch des Winters draußen auf ihrer Haut. Und als sie mit dem Baby auf dem Arm herunterkam, wurde ihr klar, daß sie die Kinder mehr liebte als X, jedenfalls wenn Liebe das stets wiederkehrende Verlangen war, sie zu sehen, weil man in ihrer Gegenwart ein warmes Glücksgefühl empfand, selbst wenn sie quengelig und ungezogen waren, und wenn es Liebe war, immer wieder in ihre Gesichter zu schauen und unwillkürlich zu lächeln, weil sie so süß waren. An diesem Abend brauchten die Kinder eine halbe Ewigkeit, um ins Bett zu kommen. X meinte, es läge an der weihnachtlichen Aufregung, aber Beth wußte, daß sie eine Krise im Haus spürten und instinktiv fühlten, daß sie diese Krise hinauszögern könnten, wenn sie aufblieben und Wache hielten, wenn sie ihre Eltern nur davon abhielten, miteinander zu reden. Aber schließlich war auch die Älteste vor Müdigkeit zusammengeklappt, und Beth 440
und X setzten sich auf die Couch vor dem Weihnachtsbaum, und sie redeten ruhig miteinander, und er sagte immer wieder: »Ich weiß, es hätte nicht unbedingt sein müssen. Ich weiß, ich hätte der Versuchung widerstehen können. Und ich habe es auch versucht. Aber ich wollte es einfach. Ich wollte es eben. Okay, du wirst mir nicht glauben, aber ich wollte eigentlich nicht viel. Ich wollte es zwar sehr heftig, aber ich wollte nicht viel, nur ETWAS, nicht alles. Deshalb habe ich es dir nicht erzählt.« Nun, damit hatte er sie ebenfalls am Wickel, denn genauso war es für sie mit Weihnachten und dem Niedergang des europäischen Kommunismus. Alle Argumente der Welt sprachen dafür, daß man sich auf das Nötigste beschränkte, daß man sich selbstlos verhielt, daß man sein letztes Hemd gab, eben ›jede nach ihren Möglichkeiten und Bedürfnissen‹. Aber nach zwanzig Jahren sehnte sie sich wirklich nach ein bißchen mehr. Nach ein bißchen mehr als dem, was er als ihre Bedürfnisse definierte. Und den ganzen Herbst über, während er abgelenkt war (von IHR, natürlich), hatte sie sich hier und da kleine Freiheiten erlaubt, um dies oder jenes zu kaufen, zum vollen Preis, ohne Rücksicht darauf, wo es herkam, wer es für fünf Cent am Tag hergestellt hatte, was für Chemikalien bei der Produktion verwendet worden waren oder was für Diebe oder Schurken in den Konzernen davon profitierten. Sie wollte diese Dinge haben. So einfach war das. Auch nachdem er erschöpft zu Bett gegangen war, saß sie noch da und starrte den Weihnachtsbaum an. Das Geschirr vom Abendessen mußte noch abgewaschen werden, und es war fast zwei Uhr (Amy würde um sechs Uhr aufwachen), aber Beth blieb trotzdem sitzen und rührte sich nicht, und sie dachte lange und angestrengt darüber nach, was sie sonst noch wollte und wie sie es 441
bekommen könnte. Unterdessen war der Vorsitzende X, kaum lag er im Bett, wieder hellwach und betrachtete die Drucke mit botanischen Motiven aus dem neunzehnten Jahrhundert, die auf der anderen Seite des Zimmers zwischen den Fenstern hingen. In der Dunkelheit nahm er sie nur verschwommen wahr, aber er hatte sie genau im Kopf (Linaria linaria, Myosotis scorpioides und Echium vulgare). Er wußte, daß unten im Wohnzimmer Beth heftig über ihn nachdachte, und daß auch Cecelia, wo immer sie war (zweifellos in L.A.), heftig über ihn nachdachte. Aber selbst in dieser Nacht, da seine Zukunft in der Schwebe war und er wußte, daß dieser Raum, in dem er siebzehn Jahre lang geschlafen hatte, mit der (möglichen? wahrscheinlichen?) langsamen Explosion ihres gemeinsamen Lebens vom Erdboden verschwinden könnte, gelang es ihm nicht, seine Aufmerksamkeit auf eine der beiden Frauen zu konzentrieren. Es war, als kenne er sie überhaupt nicht, als hätte er keine Erinnerung an Cecelias schöne, schwere Brüste, an ihr widerspenstiges schwarzes Haar, ihr plötzliches Lächeln; oder daran, wie sich die Schultern und der muskulöse Rücken der Lady X zur Taille hin verjüngten und wie sich ihre Lider mit den dichten Wimpern dunkel und dramatisch über den großen, tiefliegenden Augen senkten. Er konnte sich nicht vor Augen führen, was er kannte, aber er sah deutlich vor sich, was er nie gekannt hatte: die Gebirgslandschaft von Costa Rica, die leichte, feuchte Erde, den scheinbar schwebenden, lebendigen Nebelwald, zart im Boden verankert, aber eigentlich in der Luft zu Hause – Blätter und Blüten und Wurzeln und Moose, all die Bäume und Ranken und Epiphyten und Sträucher, die die Feuchtigkeit aufsaugten und ihre Nahrung aus ihr bezogen. Er sah die verschlungenen Pfade, die sich die Tapire, Jaguare 442
und Ameisenbären durch das Unterholz gebahnt hatten, hörte die Schreie der scharlachroten Aras, sah die Königsgeier und die Weißbussarde hoch oben auf warmen Luftströmen dahinschweben. Wenn er die Augen schloß, sah er die Brüllaffen und die weißgesichtigen Kapuzineraffen blitzartig zwischen dem dichten Blattwerk der Peltogyne purpurea und Brosimum-terrabanum-Bäume auftauchen und wieder verschwinden. Er roch sogar die unzähligen Düfte, die überall aufstiegen. Und dieser hinterhältige, widerliche, blutsaugerische Speichellecker vom Institut für Wirtschaftswissenschaften streifte penetrant grinsend durch die Gegend, rechnete, kaufte billig und verkaufte teuer, und zertrampelte seltene Glasfrösche. Der Vorsitzende X fragte sich, ob er schon zu alt sei, um doch noch zu physischer Gewalt zu greifen, und er spürte, wie seine geballten Fäuste begierig zuckten.
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52 Schöne Feiertage I HRE SCHWESTER C AROL hatte genauere Vorstellungen von Marys Leben als Mary selber. Sie hatte ihr bereits klargemacht, daß Mary nicht über Weihnachten nach Hause hätte kommen sollen (Mary hatte ausgeplaudert, daß Dubuque House trotz der Ferien offen war und ein paar Studentinnen dort blieben, lernten, kochten und putzten), daß Mary keine teuren Geschenke für Carols Söhne Malcolm und Cyrus hätte kaufen sollen, daß Mary ihrer Mutter nicht beim Backen von zehn verschiedenen Sorten Plätzchen für die Kirchengemeinde helfen sollte, weil sich die Frauen dort, auch wenn Weihnachten war, nicht mit Butter und Zucker vollstopfen sollten, daß Mary Ingenieurwesen oder Informatik im Hauptfach belegen oder Versicherungsstatistikerin werden sollte – es war eben Pech, wenn sie eine Vorliebe für Kunst und Literatur hatte –, daß Mary die Ausrichtung ihres Bettes ändern sollte, so daß es in nord-südlicher statt in westöstlicher Richtung stand. Auch mit den Vorstellungen über ihr eigenes Leben hielt sie nicht hinterm Berg – es könnte in jeder Hinsicht sehr viel besser sein, und der einzige Grund, warum sie das aussprach, was sie sonst vielleicht verschwiegen hätte, bestand darin, Mary davor zu bewahren, die gleichen Fehler zu machen wie sie, von denen die meisten ihrer Ansicht nach etwas mit Männern zu tun hatten. Mary hatte Hassan daher nicht erwähnt. Auch hatte sie bis jetzt das Ereignis nicht erwähnt, das sich seitdem in ihrem Kopf als DIESE SACHE festgesetzt hatte. Mary fürchtete sich vor der Liste mit ihren Noten, 444
denn die Noten würden eindeutig beweisen, wie stark DIESE SACHE sie beeinflußt hatte. Vorher hatte sie nur eine Klausur geschrieben, in Algebra. Sie hatte eine Zwei plus für das ganze Semester angestrebt und eine Zwei plus in der Klausur geschrieben. In Abendländischer Kulturgeschichte war ihre Eins, die sie sich mit einer fünfzehnseitigen Erörterung der Dreyfus-Affäre hart erkämpft hatte, bestimmt auf eine Zwei plus gesunken. Ihre Zwei in Französisch für Anfänger war wohl futsch, und ihre Eins minus in Kunstgeschichte ebenfalls. Zum Glück war ihr letztes Referat in Anglistik schon vorher fertig gewesen und abgegeben – dort war ihr die Eins sicher. Wenn sie die Noten zusammenzählte, die sie bekommen hätte, wenn DIESE SACHE nicht passiert wäre, kam sie auf einen Schnitt von über 3,5 Punkten. Wenn sie die Noten, die sie aufgrund des Vorfalls voraussichtlich erreichen würde, zusammenzählte, kam sie auf knapp über 3 Punkte. Und der Verlust schadete nicht nur ihrem Ego – bestimmte Optionen waren jetzt in weite Ferne gerückt, ganz zu schweigen von bestimmten Auszeichnungen. Hatte nicht Carol immer zu ihr gesagt: »Das Wichtigste ist, du mußt die Zahlen auf deiner Seite haben. Minderheitenförderung und das ganze Zeug kann dir nützen oder schaden, darum mußt du immer dafür sorgen, daß du dich auf die Zahlen verlassen kannst.« DIESE SACHE war für den Verlust von glatten 14 Prozent verantwortlich, und das wahre Ausmaß an verpaßten Chancen und in der Zukunft nötigen verstärkten Anstrengungen war noch nicht abzusehen. Wie auch immer, die Sache ging ihr nicht aus dem Kopf. Sein unschuldiger Gesichtsausdruck, seine klare, wohltönende Stimme, wie sie sich deutlich von den Hintergrundsgeräuschen abhob, ihre eigene Reaktion – wie sie diese Stimme beim ersten Mal vernommen, aber nicht 445
verstanden hatte, und ihn daher bat, seine Worte zu wiederholen, weshalb sie sich nun an zwei Intonationen derselben Bemerkung erinnern konnte. Und sie blieben ihr im Gedächtnis, lösten sich nicht auf und verschwanden, sondern waren vielmehr abgekapselt, waren unabänderlich und unerschütterlich vorhanden und schienen sich für alle Zeiten in einer Nische ihres Seins festgesetzt zu haben. Mary wußte, wenn sie Carol davon erzählte, würde sie todsicher eine weitere von ihren Lieblingsreaktionen ernten, die Was-hast-du-erwartet?-Reaktion, zu der der erstaunte Blick und das ungläubige Schnauben gehörten. Und dennoch Und jetzt stand sie in Carols kleiner Küche. Ihre Mutter war bei einer Chorprobe in der Kirche. Cyrus sah im Wohnzimmer einen Film auf Cinemax, und Malcolm las in der Badewanne. Von Zeit zu Zeit hörten sie, wie er etwa eine Minute lang das heiße Wasser laufen ließ. Carol räumte die Teller vom Abendessen ab. Sie hatte Teewasser aufgesetzt, und Mary sagte: »Bestimmt werden meine Noten morgen in der Post sein.« »Wehe, wenn sie nicht gut sind.« »Sie werden okay sein.« Carol warf ihr einen durchdringenden Blick zu. Auf der Stelle brauste sie auf: »Also, wie oft habe ich dir das mit dem Zug schon erklärt. Du bist die Lok, Malcolm der Güterwagen und Cyrus der Dienstwagen, und dieser Zug soll mich aus dieser Wohnung und dieser Stadt herausbringen, und darum erklärst du mir besser gleich, warum deine Noten nur okay und nicht gut sein werden.« »Vielleicht werden sie ja gut sein.« »Falls die weißen Lehrer dir einen Gefallen tun wollen?« »Nein! Ich habe die ganze Zeit hart gearbeitet! Aber es 446
ist etwas passiert.« »Irgendwas passiert immer.« »Das weiß ich.« »Also dann, sieh zu, daß die Zahlen auf deiner Seite sind, dann kann dir weniger passieren.« »Willst du nicht wissen, was passiert ist?« Carol drehte sich zu ihr um und stemmte die Hände in die Hüften. Sie sagte: »Nein, das will ich nicht, denn ich will nicht, daß du eine Geschichte daraus machst, denn sobald du eine Geschichte daraus machst, wird das, was passiert ist, sich in Zukunft jedesmal wiederholen, wenn du sie erzählst, und wenn du eine gute Geschichte daraus machst, wirst du sie auch erzählen wollen, also spar dir die Mühe.« »Ich hatte gedacht, du würdest mich verstehen.« Das hatte sie natürlich nicht, aber es war einen Versuch wert. »Ich? Du hast geglaubt, ich würde dich verstehen?« »Naja, vermutlich nicht. Ich habe es gehofft.« »Dann hoff schön weiter, Mädchen. Du kannst hoffen, daß ich dir in den Hintern trete, denn genau das werde ich tun.« Sie drehte sich wieder zum Herd um. Mary beobachtete sie, wie sie die Flamme ausschaltete und sich dann hinunterbeugte, um am Brenner zu riechen. Danach hob sie den gußeisernen Rost hoch und überprüfte die Zünder. Diese Vorsichtsmaßnahmen waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen, und Mary hätte wetten können, daß ihr nicht einmal bewußt war, daß sie es tat. Danach ging sie zur Badezimmertür und rief: »Malcolm, du hast jetzt genug heißes Wasser verbraucht. Du bist da schon zwei Stunden drin!« Malcolms dünner Singsang drang durch die Tür: »Nur noch ein Kapitel, Mama, dann hab ich das Buch durch.« 447
Mary wußte, daß Carols Zukunftstraum relativ bescheiden, aber sehr genau umrissen war, nichts so Grandioses wie die Vorstellung ihrer Mutter vom Himmel – gerade nur eine schöne geräumige Küche, wie sie in den Küche-und-Bad-Zeitschriften, die sie sammelte, abgebildet waren, mit einer eingelegten Marmorplatte für das Kneten von Teig, einem sechsflammigen Herd und einer Großküchengeschirrspülmaschine, und dazu ein Badezimmer mit einem Whirlpool, zwei Waschbecken und einer separaten Dusche mit zwei Duschköpfen. Wo genau sich dieses Küche-Bad-Ensemble befinden würde, überließ sie Mary, Malcolm und Cyrus. Bäume? Rasen? Ländliche Umgebung? Ganz nett anzuschauen, aber nicht unbedingt nötig, solange man ein paar hübsche Deckenstrahler hatte. Mary seufzte und setzte sich an Carols winzigen Resopaltisch. Carol ging zurück zum Herd und schenkte zwei Tassen Tee ein. Kurz danach knallte sie eine davon vor Mary auf den Tisch. Sie sagte: »Hier. Schau nicht zurück. Sei stark und laß dich nicht beirren.« Sie lächelte, ein seltenes Ereignis, das Mary sehr zu schätzen wußte. Sie sagte: »Okay, Mädchen, nur um dir zu zeigen, wie gut ich dich verstehe, ich werde dir erst dann in den Hintern treten, wenn deine Noten eintreffen.«
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53 Frohes Fest VOR W EIHNACHTEN hatte Tim sich Einladungen zu einer Paris Review-Party für Michael Ondaatje, zu Norman Mailers Buchpremieren-Party bei Random House und zu einer Schriftstellerparty zu Ehren von Vaclav Havel und zur Feier der Veränderungen in der Tschechoslowakei erschlichen. Am Heiligabend (immer ein heikles Datum) fand zum Glück im New Yorker Büro von ICM eine riesige Party statt, zu der seine Agentin ihn mitnahm. Von dort zog er mit Richard Bausch, Phil Caputo und T. C. Boyle weiter zu Smith & Wollensky’s. Das hatte zur Folge, daß er erst kurz vor Morgengrauen in das Apartment zurückkehrte, das ihm jemand überlassen hatte (kein Baum, kein Weihnachtsschmuck, keine Lieder, keine Frauen, keine Kinder). Am ersten Weihnachtstag rief er um sechs Uhr seine Mutter auf Cape Cod an und erkundigte sich, ob sie sein Geschenk, einen Präsentkorb von Williams-Sonoma, bekommen hatte. Ja, hatte sie – und sie war gerade auf dem Sprung zu gehen, sie würde ihn morgen anrufen. Er sank in die Kissen zurück und zog die Bettdecke bis unters Kinn hoch. Heute waren Cocktails und Abendessen in einem Restaurant im Village vorgesehen, und dann gab es das MLA-Treffen, das am nächsten Tag anfing und am Siebenundzwanzigsten so richtig in Gang kommen würde. An seinem Veranstaltungsprogramm gab es eigentlich nichts auszusetzen. Die meisten Leute auf den Partys hatten seinen Namen schon einmal gehört, und wenn sie fragten, wie es ihm ging, konnte er sagen, daß Little, Brown demnächst ein Buch von ihm herausbringen wür449
de. Wenn das kein Zeichen für Wohlergehen war! Mit Tom, Phil und Dick hatte er viel Spaß gehabt. Es störte sie nicht, daß er jünger und weniger berühmt war als sie – sie fanden das eigentlich genau die richtige Kombination und hatten ihm hier und da einen guten Rat gegeben. Phils Rat, auf keinen Fall der Versuchung nachzugeben, von seinem Vorschuß ein großes Haus zu kaufen, wäre, wenn er tatsächlich einen großen Vorschuß erhalten hätte, besser gewesen als Toms Rat, bei Fernsehauftritten niemals verschiedenfarbige Socken zu tragen. Er verriet ihnen jedoch nicht, was er sich von seinem Vorschuß kaufen könnte, als die drei alles mögliche aufzählten, was sie von ihren Vorschüssen angeschafft hatten. Statt dessen stand er auf und ging hinüber zur Bar, um noch ein paar Drinks zu besorgen. Da sie Gentlemen waren, ließen sie ihn gewähren. Später allerdings, als das Gespräch aufs Golfspielen kam, mit dem sie alle vor kurzem angefangen hatten, verriet er ihnen, daß er auf dem College ein Handicap von 2 gehabt hatte. »Aber ich habe seit zehn Jahren nicht mehr gespielt«, sagte er. Die Unterhaltung stockte, während sie alle über die Höhe seines Handicaps nachdachten. Fast umgehend kamen sie erneut auf die Vorschüsse zu sprechen. Am Ende des Abends hatte Dick ihm mit seiner seidenweichen Virginia-Stimme, um die Tim ihn nur beneiden konnte, zugeraunt: »Verrate nie die Höhe deines Vorschusses.« Alles in allem hatte Tim jedoch keine nennenswerten Aufträge an Land gezogen – bloß eine »In Kürze«-Kritik für Book Review, und, als er Robert Silvers vorgestellt wurde, ein Ereignis, von dem er immer geglaubt hatte, es würde ihn unmittelbar und unausweichlich in die Gruppe der Verfasser langer Abhandlungen für die New York Review of Books katapultieren, hatte Silvers höflich, aber unmißverständlich über Tims Schulter hinweg in den 450
hinteren Teil des Raums gestarrt. Und als er fragte, wo Tim unterrichtete, und Tim es ihm mitteilte, hatte Silvers etwas verwirrt ausgesehen. Tim war gezwungen gewesen, hinzuzufügen: »Nun ja, ich gebe zu, diese Uni ist eher für Hardware als für Software berühmt« – noch größere Verwirrung auf Silvers’ Gesicht – »Sie wissen schon, eher Maschinenbau als hohe Literatur…« Hatte Silvers ihm an dieser Stelle etwa ein mitleidiges Lächeln geschenkt? Oder war sein Blick bloß der letzte Fetzen einer Unterhaltung gewesen, die der Mann bereits vergessen hatte? Tim wußte, er sollte nicht im Bett liegenbleiben und über solche Dinge nachdenken, schon gar nicht zu Weihnachten, aber es war kalt in der Wohnung – der Typ, der sie ihm überlassen hatte, hatte den Thermostat auf 16 Grad eingestellt. Drüben auf dem Fensterbrett lag der Hausmantel, den seine Mutter ihm geschickt hatte, sein einziges Weihnachtsgeschenk (war er nicht ein bißchen zu alt, um sich darüber Gedanken zu machen?). Der Hausmantel war schwarz. Seine Mutter schien diese Farbe mit seinem Lebensstil in Verbindung zu bringen – sie schenkte ihm jedesmal Kleidungsstücke, immer in Schwarz. Dagegen war eigentlich nichts einzuwenden, aber irgendwie fand er, sie hätte diesmal eine andere Farbe, zum Beispiel Rot wählen können, um dem Raum eine etwas festlichere Atmosphäre zu verleihen. Er hatte bei der Kälte wenig Lust, das Bett zu verlassen und vor den Augen von Sid Vicious und Nancy Spungen, die ihn von einem gerahmten Poster anstarrten, das der Typ neben dem Fenster hängen hatte, seinen schwarzen Hausmantel anzuziehen. Auf der anderen Seite hing ein weiteres Poster, das die restlichen Sex Pistols zeigte. Die beiden Bilder waren die einzige Dekoration im Schlafzimmer. Tim steckte den Kopf unter die Decke, aber dann wurde er plötzlich unru451
hig – er mußte um acht in dem Restaurant im Village sein – und schaute auf seine Uhr. Schon fast sieben. An jedem anderen Tag in seinem Leben wäre er mit Sicherheit sofort panisch aus dem Bett gesprungen – er haßte dieses Gefühl, an der falschen Haltestelle zu stehen und den Zug seiner Karriere zu verpassen, während ein Stück weiter ein anderer einstieg, der dann die Karriere machen würde, die eigentlich ihm zustand, und eine Freifahrt bekam, direkt nach… Ja, wohin? Das war die große Frage. Selbst Phil und Tom und Dick wußten darauf keine Antwort. Er drehte sich um, blieb aber unter der Decke. Ein zugiger Spalt öffnete sich am Rücken, und er krümmte und wand sich, um ihn wieder zu schließen. Also wirklich, es waren einfach nicht genug Decken da. Dieser Typ hielt anscheinend nichts von dicken Federbetten, in denen man versinken, oder von dicken Daunendecken, unter denen man sich verkriechen konnte, so wie sie im Mittleren Westen üblich waren. Das hier waren leichte, dünne Steppdecken, unter denen man die halbe Nacht wachlag und sich über den nächsten Karriereschritt den Kopf zerbrach. Die Kälte erinnerte ihn an Cecelia, die oft fror. Beim Gedanken an solch weibliche Empfindsamkeit verspürte er gewöhnlich ein wohliges Kribbeln; im Augenblick erschauderte er nur dabei. Wollte er wirklich die Drinks und das Dinner auslassen? Er hatte zweimal mit Cecelia geschlafen; er erinnerte sich, daß er beide Male ein Gefühl der Unzufriedenheit, fast der Langeweile gehabt hatte. Er erinnerte sich daran, dieses Gefühl gehabt zu haben, aber an das Gefühl selbst konnte er sich nicht erinnern. Statt dessen erinnerte er sich daran, wie warm ihr Körper gewesen war. Ihre Haut fühlte sich so seidig und lebendig an, daß sich ihr pulsierender Blutkreislauf förmlich auf ihn übertragen hatte. 452
Bei manchen Frauen spürte man in erster Linie die Muskeln, bei anderen, auch bei dünnen, die Schicht aus Fettgewebe, die sie alle besaßen. Und wieder andere waren knochig gebaut und hart. Cecelia war die einzige Frau, die er je berührt hatte, bei der man zwar nicht das Fließen des Blutes selber, aber doch die Kraft des Herzens spürte, die Energie, die das Blut in Bewegung brachte. Wie konnte ihn dieses Gefühl unbefriedigt gelassen haben? Na schön, sie war einsam gewesen – diese Unterströmung hatte er den ganzen Herbst über gespürt. Einsamkeit bei Frauen jagte ihm Angst ein. Wenn man dieser Einsamkeit zu nahe kam, war es, als trete man in der UBahnstation zu dicht an die Bahnsteigkante heran. Selbst wenn man nicht aus dem Gleichgewicht geriet, konnte man von jemandem absichtlich oder aus Versehen hinuntergestoßen werden, und obwohl man wußte, daß diese Angst paranoid oder zumindest reichlich übertrieben war, machte man es sich zur Gewohnheit, sich unauffällig von der Bahnsteigkante fernzuhalten. Und trotzdem, Cecelia war doch etwas ganz Besonderes gewesen! Und dann sagte eine Stimme, eine Stimme, die er als die Margarets erkannte (zweifellos die Stimme seines Gewissens): »Ist dir nicht schon früher mal jemand ganz Besonderes begegnet, und du hast es nicht mal gemerkt?« und er wand und krümmte sich erneut. Auf seiner Uhr war es halb acht. Eigentlich sollte er in diesem Moment in ein Taxi steigen. Statt dessen knipste er die Nachttischlampe aus. Die Fenster wurden heller. Daß diese Wohnung so kalt war, lag zum Teil daran, daß die Fenster auf den Hudson hinausgingen und dem Ansturm der Westwinde ausgesetzt waren. Die Scheiben klapperten in ihren Rahmen. Es gab weder Fensterläden noch irgendwelche Gardinen, die das Geräusch gedämpft 453
hätten. Extrem unverantwortliche Fenster, wie man sie nur in New York fand, wo die Heizung in der Miete inbegriffen war und die Fliegen und Mücken sich lieber draußen auf den belebten Straßen aufhielten. Trotzdem konnte man hier stundenlang liegen und aus diesen Fenstern ins Freie starren, wo sich Licht und Dunkelheit ständig kreuzten, das Licht, das von unten reflektiert wurde, und die Dunkelheit, die von oben herabfiel. Und, was für Manhattan ungewöhnlich war, auch auf ein großes Stück Himmel und die Sterne, die, sofern man sie überhaupt sehen konnte, im Lichtschein der Stadt kaum heller glänzten als Staubkörner, aber dennoch nicht weniger schön aussahen. Diese Fenster hatten etwas Friedvolles und Hypnotisierendes, und nach ein paar Minuten spürte Tim, wie seine Angst ein wenig abflaute. In diesem Dämmerzustand dachte er über Cecelias Reaktion auf das Gutachten nach, das Margaret ihm für sie mitgegeben hatte. Der Umschlag, in den Margaret es gesteckt hatte, war nur mit Klammern verschlossen und nicht zugeklebt gewesen, und sie hatte gesagt: »Hier, das ist für Cecelia«, ohne ausdrücklich zu betonen, daß er nicht hineinschauen dürfe. Und ihr Gespräch über seine Angewohnheit, in der Gegend herumzuschnüffeln, ließ sich ebensogut als Erlaubnis wie als Mißbilligung auslegen. Freud und all die anderen waren sich absolut einig, daß jedem Kommunikationsakt vielfältige Motive zugrunde lagen. Das Gutachten hatte Tim keinen Schock versetzt. Schock bedeutete immer auch Überraschung, und an diesem fortgeschrittenen Punkt seiner Karriere und an diesem fortgeschrittenen Punkt der Menschheitsgeschichte überraschte ihn nichts mehr. Seine erste Reaktion bestand darin, sich zu sagen, daß er für ÖkoLiteratur nichts übrig hatte. Zwar mochte die Idee, unter dem letzten intakten Nebelwald eine Goldmine zu gra454
ben, potentiell ein interessantes Motiv sein, aber er bezweifelte, daß es sich als Hauptthema für einen Roman eignete, es sei denn, es wäre tatsächlich passiert, der Schriftsteller stammte aus dem betreffenden Land und konnte die Zerstörung beschreiben, welche die entmenschte Macht des Kapitalismus oder auch die jahrhundertealte unersättliche Gier des Menschen über das Land gebracht hatte. Wenn man es sich recht überlegte, kam es mehr und mehr aus der Mode, den Kapitalismus anzuprangern, daher wäre es nicht besonders schlau, diese Linie zu verfolgen, es sei denn, man prangerte den Kommunismus ebenfalls an und zeigte mit dem Roman eine neue Theorie über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft auf. Tim konnte nicht behaupten, daß er dazu große Lust hatte. Die unersättliche Gier des Menschen hatte er schon früher einmal thematisiert, wenn er auch zugeben mußte, daß er das Problem unter dem Deckmantel des erotischen Begehrens eher wohlwollend behandelt hatte. Trotz seiner Ironie, mit der er sich laut Cecelia von allem distanzierte, hatte er die Werte der Freiheit, Leidenschaft, Unbescheidenheit, Lust etc. hochgehalten, die alle Schriftsteller von Hemingway übernommen hatten, und die für jeden wirklich männlichen Romancier mehr oder weniger obligatorisch waren. Wie auch immer, da er nicht aus Costa Rica stammte und die Mine erst noch gegraben werden mußte, hatte er das Gutachten direkt an Cecelia weitergegeben, ohne es zu fotokopieren. Jetzt allerdings betrachtete er das Autor-LeserVerhältnis von der anderen Seite und dachte an Dr. Lionel Gift. Jeder Universitätsangehörige kannte Dr. Gift vom Sehen und vom Hörensagen. Rein äußerlich war er ein wenig eindrucksvoller, rundlicher Mann mit einem unverhältnismäßig großen Kopf, und er sah so aus, als 455
hätte er sein erstes selbstverdientes Geld sogleich in Maßanzüge investiert, und Tim hatte hinreichend Gelegenheit gehabt, sowohl den vorteilhaften Schnitt als auch die erlesenen Stoffe seiner Kledage zu bewundern. Außerdem benutzte die Universität Gift als Aushängeschild, daher erschien sein Gesicht überall auf Broschüren, Flugblättern, Werbeprospekten, Rundschreiben der Ehemaligenvereinigung, der Studentenzeitung, und was es sonst noch an Publikationen gab. Wenn es von der Universität herausgegeben wurde, enthielt es garantiert mindestens einmal im Jahr ein Foto und eine Kurzbiographie von Gift. Tim wußte, wie so etwas gehandhabt wurde – die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit rief einen an und fragte, was sie über einen schreiben sollten. In Gifts Fall war das mit Sicherheit auch so gelaufen, und Gifts Texte über sich selber trieften jedesmal vor Eigenlob und Selbstbeweihräucherung. Ekelhaft, dachte Tim. Und dann dachte er ein bißchen weiter. Er erinnerte sich an den Abend, als Margaret ihm das Abstimmungsergebnis des Ausschusses mitgeteilt hatte. Er war nicht besonders interessiert gewesen, und seltsamerweise hatte diese Gleichgültigkeit angehalten, aber er hatte dennoch zugehört – so egal war es ihm nun auch wieder nicht –, und jetzt wurde ihm klar, daß die gefährlich niedrige Punktzahl (6,6,6, es versetzte ihm einen leichten Stich) irgend jemandem zuzuschreiben war, und dieser Jemand war sicherlich nicht Helen und auch nicht Garcia (der Tim einmal ein Kompliment über eine seiner in Harper’s Magazine veröffentlichten Kurzgeschichten gemacht hatte), also mußte es dieser andere Typ gewesen sein, dessen Name Tim nicht einfiel, und es mußte Gift gewesen sein. Gift arbeitete gegen ihn. Er setzte sich im Bett auf und trotzte den Naturgewalten. 456
Und dieser unangenehme Mensch hätschelte also das Projekt, unter einem unschuldigen Nebelwald eine Goldmine auszuheben. Tim verstand nichts vom Bergbau, aber man konnte sich ja unschwer vorstellen, wie Bulldozer Bäume entwurzelten und den Boden plattwalzten. Man konnte sich ohne weiteres gewaltige Explosionen vorstellen, bei denen unschuldige Pflanzen und Tiere aller Arten überrascht und schmerzgepeinigt gen Himmel geschleudert wurden. All das brachte seine Gedanken zu Cecelia zurück, zu ihrer weiblichen Verletzlichkeit, die ihm jetzt in einem anderen, interessanteren Licht erschien. Er stand auf, zog seinen Hausmantel an, nahm eine Schachtel Zigaretten und Streichhölzer aus der Tasche und schaute unter dem Blick von Sid und Nancy hinunter auf die weiße Fläche des Riverside Parks und auf das schwarze Band des breiten, noch nicht zugefrorenen Flusses. Cecelia hatte das Gutachten von ihm entgegengenommen, ohne den Umschlag zu öffnen, und er hatte sie nicht drängen können, es sofort zu tun, ohne einzugestehen, daß er ihre Post las. Außerdem war sie immer noch wütend auf ihn. Da war nichts zu machen gewesen. Aber inzwischen würde sie das Gutachten gelesen haben. Er ging zum Telefon und rief sie an; dabei dachte er im stillen, daß es schön wäre, mit ihr zu sprechen und ihr zu zeigen, daß er am Weihnachtsabend an sie gedacht hatte. Aber er erreichte nur ihren Anrufbeantworter, und die gewohnte Ansage bat ihn, nach dem Pfeifton seinen Namen und seine Rufnummer zu hinterlassen. Kein Hinweis darauf, ob sie zu Hause, auf einer Party oder vielleicht sogar verreist war. Er gab es auf, zusammen mit seinen Dinnerplänen, und ging in die Küche, wo er die übriggebliebene schwarze Calamaripasta mit Nußsoße, die er am Tag zuvor bei Balducci’s gekauft hatte, ein Baguette und etwas Lachs 457
und Frischkäse von Zabar’s aus dem Kühlschrank nahm. Noch bevor er diese Mahlzeit angerichtet hatte, war er bereits zu ungeduldig, um etwas zu essen. Er zog den Hausmantel fester um seine Taille. Diese Regen-, nein, Nebelwald-Angelegenheit war zu interessant, um nicht darüber zu sprechen, und er hatte bereits eine ganze Woche und vier bis fünf Partys ungenutzt verstreichen lassen. In New York suchten die Leute immer nach Gesprächsthemen, die noch niemand kannte, und diese Sache mit Gift war ganz bestimmt ein Geheimnis – das hatte Margaret ja gesagt –, und natürlich war das Projekt ohnehin eine Schande, nein, eine Sünde, nein, ein Verbrechen, nein, eine Tragödie, nein, geradezu eine Katastrophe. Er formulierte im Geiste schon, was er dazu sagen würde. Natürlich, morgen war das MLA-Treffen, dort konnte er darüber sprechen, aber die Leute von der MLA waren in der Regel so damit beschäftigt, sich selber in den Mittelpunkt zu drängen, daß sie einem kaum zuhörten, und wer wollte ihnen das schon übelnehmen. Verdammt! Da hatte er nun eine ganze Woche mit Leuten wie Toby Wolff und Robert Silvers verbracht und seinen großen Auftritt verpaßt! »Sie können einfach den Hals nicht vollkriegen«, hätte er sagen können. »Erst das Naturschutzgebiet in der Arktis und jetzt der Tierra-delMadre-Nebelwald! Sie haben doch davon gehört?« Und natürlich ein Artikel! Er hätte Silvers’ Aufmerksamkeit mit einem waschechten Vorschlag für eine waschechte Abhandlung über die Frage, ob der Kapitalismus, jetzt da er gesiegt hatte oder doch kurz vor dem Sieg stand, rein strukturell überhaupt in der Lage war, irgendwelche Ressourcen unausgeschöpft zu lassen, auf sich lenken können. Der Zeitpunkt wäre günstig gewesen Aber er hatte es nicht getan. Und jetzt hatte er bloß 458
diesen unbedeutenden Auftrag, für die Rubrik »In Kürze« einen Erstlingsroman über eine Kindheit irgendwo in Indiana zu rezensieren. Aber er kannte doch den Namen dieses Redakteurs. Da der Name des Redakteurs Pearlman war, riskierte er einen Anruf bei Times Book Review. Der Redakteur nahm nach dem ersten Klingeln ab. Eine dreiviertel Stunde und zwei Gespräche mit Times-Mitarbeitern später hatte er einen Umwelt-Reporter am Apparat, der gerade an einem Artikel für die Neujahrsausgabe über die Lobbyistentätigkeit der Ölgesellschaften feilte, die eine geplante Vorschrift zum ausschließlichen Einsatz von Doppelrumpftankern im arktischen Meer verhindern wollten, und das so kurz nach der Ölkatastrophe der Exxon Valdez, und obwohl Tim keine Ahnung hatte, wo Cecelia sich aufhielt und wer außer ihr eine Kopie des Gutachtens haben könnte, denn Margaret hatte das Original an Gift zurückgegeben, versprach er, in zwei oder drei Tagen Gifts Bericht für diese Firma, wie auch immer sie geheißen hatte, abzuliefern. Eigentlich gar keine schlechte Art, Weihnachten zu verbringen, hier am Telefon zu sitzen und den Untergang von Dr. Lionel Gift mitsamt all seinen Verbündeten und Helfershelfern einzuläuten.
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54 Frohes neues Jahr ALS EINE ART Neujahrsgruß ließen alle Institutionen (Medicare, die Versicherungsgesellschaft, die staatliche Gesundheitsbehörde und der Verwaltungsrat der RehaKlinik), die mit Loren Stroops Genesung zu tun hatten, ihn wissen, daß sie nicht bis in alle Ewigkeit darauf warten würden, daß Lorens Prozentwerte nach oben kletterten und er die Reha-Klinik verlassen konnte. Letzten Endes war es sein Problem, wenn er das Pech hatte, mit Bluthochdruck erblich vorbelastet zu sein, und es überdies an Gewissenhaftigkeit bei der Erhaltung seiner Gesundheit hatte fehlen lassen. Sollte er von dem ersten Januar an keine regelmäßigen Zahlungen für seine Pflege leisten, dann würde er eben rausgeworfen. Jede Institution wies in ihrem Schreiben darauf hin, daß er beträchtliche Vermögenswerte in Form von Grundbesitz besaß. Durch den Verkauf dieser Vermögenswerte und die Einzahlung des Erlöses auf ein Treuhandkonto wäre auf absehbare Zeit für seine finanziellen und gesundheitlichen Bedürfnisse gesorgt. Die Versicherungsgesellschaft informierte ihn darüber, daß sie bereit war, sich um jeden Schritt des Vorgangs zu kümmern, von der Immobilientransaktion (»Unsere Angestellten sind besonders qualifiziert, für Ihr Objekt den geeigneten Käufer zu finden. Wir sind darauf spezialisiert, wertvollen Immobilienbesitz wie den Ihren an seriöse Investmentfirmen zu vermitteln!«) über die Einrichtung des Treuhandkontos (»Egal, ob Sie laufendes Einkommen, Zuwachs oder hohe Sicherheit wünschen, unsere Angestellten sind besonders qualifiziert, Ihre wertvollen Spargroschen zu verwal460
ten!«) bis zur Entrichtung der Zahlungen (»Sparen Sie sich die lästigen und zeitraubenden Pflichten und widmen Sie sich in der so gewonnenen Zeit lieber ihren Hobbys. Unsere Angestellten sind besonders qualifiziert, als Ihre Bevollmächtigten in allen finanziellen Angelegenheiten aufzutreten!«). Es war Loren völlig klar, daß die CIA, das FBI und die großen Agrarkonzerne ihn schließlich doch gefunden hatten, daß er ganz schön in der Klemme saß und daß ein gehöriges Maß an Einfallsreichtum nötig war, um da wieder herauszukommen. Sie hatten mit seinem Arzt gesprochen, das war sonnenklar. Sein Arzt, der ihn früher immer gepiesackt hatte, indem er von ihm verlangte, herumzulaufen, mit seiner Sprachtherapeutin hart zu arbeiten, und überhaupt sich nicht hängen zu lassen, war lasch geworden. Es war äußerst verdächtig, wie beruhigend er neuerdings auf Loren einredete – ja, es gab viele Patienten, die auch nach einigen Monaten noch wichtige Körperfunktionen wiedererlangten. Erst im letzten Jahr hatte er einen Patienten gehabt Einer, dachte Loren, war nicht genug. Erst wenn die Prozente über neunzig lagen, konnte man sich in Gedanken mit einem Patienten vom letzten Jahr befassen. Auch die Krankenschwestern rieten ihm inzwischen, sich nicht zu überanstrengen. Sogar seine Lieblingsschwester, eine dicke Blondine, die sich hervorragend zur Beaufsichtigung von Gefangenen in einem sowjetischen Arbeitslager geeignet hätte, war bestochen worden. Wie sonst wäre zu erklären gewesen, daß sie ihn an dem einem Tag noch streng angesehen und verlangt hatte, er solle mit der linken Hand essen, und ihn dann ausschimpfte, weil er das Essen verschüttete, und ihn am nächsten Tag freundlich anlächelte und das Tablett rechts 461
von ihm abstellte. Keine Frage, seine Feinde hatten sich eingeschlichen und alle bestochen, und der Arzt hatte sie bestimmt ein hübsches Sümmchen gekostet, das war Lorens einziger Trost (obwohl sie im Geld schwammen, die CIA, das FBI und die großen Agrarkonzerne). Also, lange Rede, kurzer Sinn, sie konnten ihm so viele Schreiben schicken, wie sie wollten, und er würde vortäuschen, sie nicht zu begreifen, und sie könnten zu ihm kommen, um mit ihm zu reden, und er würde vortäuschen, nicht zu verstehen, was sie sagten, und sie konnten ihn vor Gericht bringen und ihm Papiere vorlegen, die er unterschreiben sollte, und er würde vorgeben, seine Hand nicht bewegen zu können, obwohl er es konnte, gut genug jedenfalls, um krakelig auf vorgezeichneten Linien zu schreiben. Die Farm war ihm an sich egal. Sie bestand aus fruchtbarem Ackerland, und er hätte es gerne gesehen, wenn Joe Miller sie bekommen hätte, aber er hing gefühlsmäßig nicht sehr an ihr. Seine Hunde waren weggebracht worden, und obwohl er sie gerne zurückgehabt hätte, waren sie doch da, wo sie jetzt waren, besser aufgehoben, weil es dort Kinder gab, die mit ihnen spielten. Der springende Punkt war natürlich seine Maschine. Solange die Farm offiziell ihm gehörte, würde Joe Miller niemanden auf das Gelände lassen. Sobald die Farm nicht mehr ihm gehörte, würden sie anmarschiert kommen und die Maschine auseinandernehmen und so tun, als hätte es sie nie gegeben, als hätten seine Bemühungen niemals Früchte getragen, als hätte er niemals gelebt, und dann hätten sie auf der ganzen Linie gesiegt – sowohl rückblickend als auch für alle Zukunft. Nichtsdestotrotz entnahm er den Schreiben, die er erhielt, daß seine Lage ziemlich ernst war und er sich verdammt schnell etwas einfallen lassen mußte, denn es war 462
ein großer Unterschied, ob man aufrecht im Bett saß, alles zur Linken fröhlich ignorierte und sich Mühe gab, zu sprechen statt zu muhen, oder ob man kochte, saubermachte, pflügte, säte, düngte, erntete, trocknete und verkaufte – alles Tätigkeiten, deren Ausführung man ohne eine voll funktionsfähige linke Seite gar nicht erst in Erwägung zu ziehen brauchte. Aus den Schreiben ging deutlich hervor, daß alle Institutionen annahmen, er würde diese Tätigkeiten niemals wieder ausführen können, und daß sie, sobald das Finanzielle erst geregelt war, dafür sorgen würden, daß er es auch nie wieder mußte. Genau darin erblickte er die verräterische Handschrift der CIA, des FBI und der großen Agrarkonzerne. Es war eine ihrer bewährten Methoden, ihre Opfer übers Ohr zu hauen und dann auch noch zur Kasse zu bitten. Das war staatliche Landwirtschaftsförderung in Reinkultur. Die Krankenschwestern wußten genau, daß Silvester sein letzter Tag in der Reha-Klinik war. Von Darla bekam er zum Frühstück einen Extra-Muffin, den sie mit Butter bestrich, bevor sie ihn rechts auf seinen Teller legte. Und sie versuchte nicht, ihm wie sonst immer einen Vortrag über Cholesterin oder Zucker oder ähnliches zu halten. Darla und Samantha, eine Schwesternhelferin, befestigten ein paar Luftballons am Fußende seines Bettes, die von einer Party stammten, auf der sie am Abend zuvor gewesen waren. Die Ballons waren schwarz und weiß, was Loren nicht besonders festlich fand, aber er lächelte trotzdem. Die Schwestern ließen ihn eine Stunde lang CNN sehen, ungeachtet der Proteste der anderen, die das Footballmatch sehen oder wenigstens hören oder auch nur von seiner plärrenden Atmosphäre umgeben sein wollten. Football, das erkannte Loren jetzt ganz deutlich, sollte die Menschen von dem ablenken, was ihnen angetan wurde, und er hatte nicht vor, sich 463
jemals wieder ein Footballmatch anzusehen. Am Nachmittag stand er mühsam aus seinem Sessel auf und ging, auf den Stock gestützt, in den Flur hinaus, nur um den Schwestern zu zeigen, daß er, komme was da wolle, seine Übungen machte, und als Darla sagte: »Aber Mr. Stroop, wollen Sie nicht lieber ein bißchen faulenzen – schließlich ist heute ein Feiertag!«, sah er es deutlich, daß sie es vielleicht bereute, sich verkauft zu haben, aber dennoch deren Anweisungen befolgte. Er schob ihre Hand weg und ging alleine auf und ab, zu seiner Rechten die grüne Wand und zu seiner Linken das Nichts. Zum Abendessen bekam er einen kleinen Napfkuchen, der pinkfarben glasiert und mit etwas Puderzucker bestreut war, und außerdem eine Karte, eine von diesen großen Grußkarten, die von allen Krankenschwestern unterschrieben war und auf der stand, was für ein netter Kerl er sei und daß sie ihn alle vermissen würden, und Darla sagte, eine Cousine zweiten Grades von ihr sei zufällig die Gemeindeschwester, die alle paar Tage nach ihm sehen würde, und daher würde sie immer wissen, wie es ihm ging, und ihm ab und zu eine Nachricht schicken können, aber sie hatte Tränen in den Augen und er am Ende ebenfalls, denn sie hatten ihn zwar alle verraten und sich auf die Seite der CIA, des FBI und der großen Agrarkonzerne geschlagen, aber was hätten sie schon tun sollen? Im Grunde waren sie keine schlechten Menschen. Und bestimmt wußten sie nicht, was sie taten. Nach dem Abendessen fühlte er sich zugegebenermaßen etwas niedergeschlagen. Im Laufe der Zeit, die er im Krankenhaus und hier in der Reha-Klinik gewesen war, hatte sich eine Art von Milde bei ihm eingeschlichen, die Bereitwilligkeit, zuzulassen, daß jemand sich um ihn kümmerte, nachdem er sich sein Leben lang um andere gekümmert hatte. Jedenfalls war das die einzige Erklä464
rung für seine augenblicklichen Gefühle – eine leichte Furcht davor, was das neue Jahr ihm bringen würde, und ein leichtes Zögern, die Reha-Klinik zu verlassen. Sogar der Anblick seines Zimmergenossen, eines sehr alten Mannes, der nie ein Wort sprach, löste in Loren ein Gefühl der Zuneigung aus. Loren kannte nur seinen Namen – Leo Gift – und die Geräusche, Gerüche und zeitlichen Abläufe seiner Körperfunktionen. Er bekam nie Besuch, hatte anscheinend keinen Arzt und konnte nicht sprechen. Die Hälfte der Zeit waren seine Augen offen, die andere Hälfte hielt er sie geschlossen. Einmal hatte Darla ihm erzählt, wie alt der alte Mann war. Wie sich herausstellte, war er sechsundachtzig, fünf Jahre älter als Loren. Er sah aus wie hundert, obwohl ihm Loren das natürlich niemals gesagt hätte, selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, zu sprechen statt nur zu muhen. Es bestand nicht direkt eine Beziehung zwischen ihnen, da der alte Gift seine Anwesenheit nie zur Kenntnis genommen hatte, aber Loren hatte sich an seine Gegenwart gewöhnt und würde ihn vermissen. Er würde diesen Ort überhaupt vermissen, denn hier war alles so einfach. Die Patienten waren versammelt wie Zugreisende, die alle nur einen oder zwei Koffer dabeihatten. In jedem Schrank und jeder Kommode fand man nur dreierlei: Schlafanzüge oder Nachthemden, eine Zahnbürste und Hausschuhe. Sie hatten ihr früheres Leben hinter sich gelassen und nur ein paar Fotos mitgenommen, die sie herumzeigen oder anschauen konnten, sofern sie das, was darauf abgebildet war, noch erkannten. Alles andere war ihnen unbemerkt entglitten – Strick- und Häkelnadeln, Bücher und Scheckbücher, Werkzeuge und Musikinstrumente, Pinsel und Schlüssel für Autos, Häuser und Büros. Jetzt lebten sie in den Bildern des Fernsehens oder in ihrer eigenen Gedankenwelt, 465
und es gab durchaus Schmutz, das, was von den Körpern übrigblieb, aber es gab keine Unordnung. Unordnung war jedoch genau das, was ihm zu Hause bevorstand, und nachdem er sich an die gewienerten Böden und die bis in den letzten Winkel hellerleuchteten Räume der Reha-Klinik gewöhnt hatte, würde es ihm nicht leichtfallen, in die Unordnung zurückzukehren. Und es war tiefster Winter. Er stellte sich diese Unordnung vor, von ein paar Sechzig-Watt-Birnen beleuchtet. Sie würde schwer auf ihm lasten, und weil er weniger Kraft hatte als jemals zuvor in seinem Leben, würde er wenig gegen sie ausrichten können, und ehe der Frühling kam, konnte sie ihn durchaus mit Haut und Haaren verschlungen haben. Seine verstorbene Frau hatte immer gesagt: »Reinlichkeit das Herz erfreut«, und er hatte diesen Ausspruch immer in Ehren gehalten, aber das Fleisch war schwach. Und wurde immer schwächer. Dort, wo er wohnte, kam es nicht selten vor, daß ein alleinstehender alter Farmer oder eine einsame alte Frau einfach von der Bildfläche verschwand, und nach einer Weile fiel es den Leuten von der Kirchengemeinde oder der Tankstelle in der Stadt auf, und dann war es immer das gleiche: das Aufbrechen der Haustür, die Rufe, der durchdringende Geruch, der seltsame Anblick der Leiche inmitten der Unordnung. Alles in allem war der alte Gift besser dran als Loren, weggetreten wie er war. Das waren so die Gedanken, die man sich machte, wenn man niedergeschlagen war, und man wurde durch sie noch niedergeschlagener, und Loren beschloß, sie abzuschütteln. Er schlug die Bettdecke zurück, griff nach seinem Stock und zog sich an der Bettkante hoch. Er sah 466
auf der Wanduhr, daß es Viertel vor elf war, schon spät für Reha-Klinik-Verhältnisse. Der alte Gift schnarchte. Loren verließ das Zimmer. Auf dem Flur schaute er nach rechts und dann, indem er vorsichtig seinen ganzen Körper drehte, nach links. Die schwach leuchtenden Lampen und die geschlossenen Türen wirkten friedlich und beruhigend. Loren wandte sich nach links und ging los. Zuerst drehte er den Kopf nach links und überzeugte sich mit seinem rechten Auge davon, daß er die schwarze Spitze seines Stocks fest auf den Fußbodenbelag drückte. Er hatte herausgefunden, daß es ihm dadurch gelang, sich auch dann noch aufrecht zu halten, wenn er sich zurück nach rechts gedreht und das Gefühl für seine linke Seite verloren hatte. Dann schwang sein rechtes Bein verläßlich und vertrauenswürdig nach vorne. Danach kam ein kurzer Augenblick der Furcht, den er zu ignorieren gelernt hatte, und dann der überraschende Anblick seines linken Beines, wenn es in sein Blickfeld kam, und die bewußte Anstrengung, das Gewicht seines Körpers nach links und damit ins Leere zu verlagern. Dann schwang sein rechtes Bein wieder nach vorne. Er kam an den ersten Türen vorbei. Anfangs hatte er erwartet, daß seine Bewegungen allmählich automatischer ablaufen würden. Dem war aber nicht so. Im Schwesternzimmer saßen Ida, Dorothy und Jack vor dem Fernseher. Vor ihnen stand eine fast leergegessene blaue Schüssel Popcorn. »Hallo, Mr. Stroop«, sagte Dorothy, als er hinter ihnen auftauchte, »Sie sind auf?« »Gleich ist es soweit«, sagte Jack. »Noch dreißig Sekunden.« Er nahm einen Schluck von seiner Pepsi. »Zehn«, sagte Ida. »Neun«, sagte Jack. »Wollen Sie sich hinsetzen?« fragte Dorothy. 467
Loren schüttelte den Kopf. Das konnte er auf eine Art und Weise, die seine Mitmenschen verstanden. »Drei«, sagte Jack. »Zwei«, sagte Ida. »Das war’s dann«, sagte Jack. »In New York sind die neunziger Jahre angebrochen.« »Und bei uns haben wir noch die Achtziger«, sagte Ida. »So’n Pech.« Dennoch hatte Loren das Gefühl, in die Zukunft katapultiert zu werden. Die Neunziger! Sein Dad war in den Neunzigern ein junger Mann gewesen – er und ein Freund waren aus Spaß auf einen Güterzug der Chicago & North Western, der Richtung Seattle fuhr, gesprungen und hatten in North Dakota einen Zwischenstopp eingelegt und mit einem Erntetrupp auf den Weizenfeldern gearbeitet. In Seattle hatten sie eine Zeitlang in einer Lachskonservenfabrik gearbeitet und waren dann als zahlende Passagiere dieselbe Strecke zurückgefahren, hatten im Speisewagen gegessen und auf weißen Laken geschlafen. Als sie nach Hause kamen, hatten sie genausoviel Geld wie bei ihrer Abreise – keinen Penny –, aber ihre Väter hatten Verständnis gehabt – es war bloß ein Spaß, nichts weiter, das Vorspiel zu einem Leben voll harter Arbeit und unermüdlicher Pflichterfüllung. Und jetzt brachen schon wieder die Neunziger an. Da war noch etwas. Wenn jetzt die Neunziger waren, dann war es vielleicht zu spät für die Revolutionierung der amerikanischen Landwirtschaft. »Wollen Sie eine Cola, Mr. Stroop?« fragte Dorothy. »Setzen Sie sich, ich hole Ihnen eine.« Er schüttelte den Kopf, wandte sich nach rechts und zog sein linkes Bein vorsichtig so weit herum, bis er es sehen konnte. Er lenkte seine Schritte wieder in Richtung 468
seines Zimmers. Tja, sie hatten gewonnen. Es wurde Zeit, das ganz offen zuzugeben. Durch die Unordnung und den Anbruch der neunziger Jahre hatten sie ihn gekriegt. Er stieß die Tür zu seinem Zimmer auf und lenkte seine Schritte in Richtung seines Bettes. Der alte Gift schnarchte immer noch. Loren setzte sich und schaute, in der Hoffnung, die Mondsichel und ein paar Sterne sehen zu können, aus dem Fenster, aber wegen des Lichts im Zimmer sah er nur sein eigenes Spiegelbild. Die eine Hälfte seines Gesichts blickte finster, sorgenzerfurcht. Auch wenn er in schwierigen Situationen stets das Positive gesehen, auf eine bessere Zukunft gehofft und seine Anstrengungen verdoppelt hatte, so schien das am Ende doch nichts bewirkt zu haben. Die eine Hälfte seines Gesichts spiegelte ungewollt die Jahre voller Kummer, Trauer und Enttäuschungen wider, und das war die lebendige Hälfte. Die andere Seite wirkte, ebenfalls ohne daß er es wollte, weich und gelassen, ein wenig schlaff vielleicht, aber vor allem duldsam. Es war ein merkwürdiger Anblick, diese beiden Hälften seines Gesichts, besser als Fernsehen, und er saß friedlich auf dem Bett und starrte sie an, bis die neunziger Jahre endgültig Einzug gehalten hatten.
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55 Der Tod und das Mädchen DEAN HATTE FESTGESTELLT , daß sich Wissenschaft und Leben insofern unterschieden, als das Leben einiges an Überraschungen bereithielt, und seiner Ansicht nach war das Leben der Wissenschaft in dieser Hinsicht deutlich unterlegen. Philosophisch betrachtet, konnte man sagen, sein Fachgebiet, die Tierwissenschaft, sah ihr Ziel darin, den oxymoronähnlichen Gegensatz zwischen den beiden Teilen des Begriffs abzuschwächen. Da Tiere stark, neugierig und ohne Intellekt waren, waren sie für plötzliche und überraschende Ereignisse besonders empfänglich. Die Wissenschaft hatte sich vorgenommen, diese niedrige Reizschwelle ein Stück anzuheben. Dean hatte sich seinem Projekt mit neuerwachtem Enthusiasmus gewidmet, als er erkannte, daß man, indem man die Schwangerschaft bei Kühen manipulierte, einen großen Teil der Probleme lösen konnte, die den Bauern zu schaffen machten, seit zum ersten Mal ein Mensch eine Kuh gemolken hatte. Wenn man es sich recht überlegte, war ein Embryo im Leib der Kuh nichts weiter als eine lauernde Gefahr. Und er dachte auch schon über zukünftige Projekte nach. Durch entsprechende Veränderungen des Umfeldes (vor allem keine Weidewirtschaft mehr) könnte man in Zukunft weitere Gefahrenquellen ausschließen. »Keine Weidewirtschaft, keine Katastrophen«, wie er es im stillen formulierte. Um so mehr erstaunte es ihn, daß Joy völlig aus der Fassung geriet, als er ihr beim Abendessen diese Idee darlegte. Es war am Abend des Tages, an dem eines ihrer Pferde eingeschläfert werden mußte, nachdem es auf der 470
vereisten Weide ausgerutscht war und sich das Kniegelenk gebrochen hatte. Dabei war Joy mit solchen Unannehmlichkeiten der Pferdehaltung durchaus vertraut. Eine Herde von Pferden war die Inkarnation der Devise »Irgendwas geht immer schief«. Joy hatte schon unzählige prächtige oder wertvolle Tiere verkaufen, aufs Altenteil setzen, ausschließlich für Zuchtzwecke abstellen oder einschläfern lassen müssen. Dennoch räumte Dean über Putenburgern und dem übriggebliebenen gebratenen Reis aus dem China-Restaurant ein, daß solche Vorfälle ganz schön an die Nieren gehen konnten, »aber nur, weil wir uns angewöhnt haben, die Tiere als Individuen zu betrachten. Sieh’s doch ein, Joy, ihre Individualität ist eine Illusion. Sie nehmen sich selbst gar nicht als Individuen wahr, weil sie schlicht und einfach Herdentiere sind. Denk doch mal an das Klonen. Das ist doch genial, und ich benutze das Wort genial im vollen Bewußtsein, daß das Klonen nicht meine Erfindung ist. Das GENIALE daran ist, daß dabei die Uniformität in der Herde noch einen Schritt weiter getrieben wird, wodurch entscheidende Vorteile des Herdenhaften wie die Gleichzeitigkeit der Bedürfnisse und Wünsche, durch die das Herdenleben erst möglich wird, noch verstärkt werden. Ich bin fest davon überzeugt, je konsequenter wir in dieser Richtung weiterarbeiten, desto besser für uns UND für die Tiere. Einerseits passen sie sich der Herde besser an, und dann, wenn die Herde erst einmal genetisch darauf programmiert ist, unter kontrollierten Bedingungen zu leben und GLÜCKLICH zu sein, keine Weidewirtschaft, keine Katastrophen, verstehst du, dann werden alle – die Sache ist doch die, hier tun sich weitere ungeahnte Profitmöglichkeiten auf; denn man könnte dem Farmer für jedes einzelne Tier so einer geklonten Herde eine schöne Stange Geld abknöpfen, er mußte für die Herde einen Kredit 471
aufnehmen – und dann, verstehst du, würde er sich um jedes einzelne Tier besonders gut kümmern, so daß das Leben und die Lebensdauer jedes Tieres – Also, es ist doch nicht zu übersehen, daß sowohl der Wert als auch die Lebensqualität des einzelnen Tiers, insofern es in BEZIEHUNG zur HERDE steht, gewissermaßen Teil und Bestandteil der Herde ist, beträchtlich gesteigert würden.« Sie stöhnte auf. Dean hielt es für das beste, darüber nachsichtig hinwegzugehen. Er fuhr fort. »Aber die Idee der kälberunabhängigen Laktation ist offen gestanden sogar noch einfacher und, unter uns gesagt, noch genialer. Was mir heute, im Anfangsstadium, vorschwebt, ist tatsächlich eine Hormonmanipulation. Als erstes müssen wir zum Beispiel die Rückbildung des Corpus luteum verhindern, auch wenn kein Embryo vorhanden ist, denn dadurch wäre die Bildung von Progesteron im frühen Stadium gewährleistet. Wenn nun ein festes Objekt permanent in den Uterus eingesetzt wird, oder vielleicht ein Progesteron absonderndes IUP –« An dieser Stelle schrie sie regelrecht auf. Dean führte diesen Schrei auf ihre innerliche Anspannung zurück, aber plötzlich wurde sie wütend und griff ihn direkt an: »Sei doch endlich still! Ich kann es einfach nicht mehr hören!« Aber Dean war so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen und erklärte geduldig weiter: »Aber die ersten Schritte einer bahnbrechenden Entwicklung sind zwangsläufig unsicher. Ja, man könnte sogar sagen, daß sich immer eine Generation zum Nutzen der nachfolgenden opfern muß, um langfristige Erfolge – ich meine, schließlich wird der ganze biotechnische Fortschritt uns in die Lage versetzen, Milchkühe, die von NATUR aus keine 472
Kälber – die Kuh wird eine Art Apotheose erfahren, in der all ihre besten und produktivsten Eigenschaften, also, ihr kollektives und ihr individuelles Ich in gewisser Weise mit der Herde verschmelzen – also, ich glaube, das trifft es genau, das individuelle Tier wird mit der Herde verschmelzen, besser gesagt, nicht verschmelzen, sondern vielmehr in ihr aufgehen – also, wie dem auch sei – « Er lächelte, um ihr zu verstehen zu geben, daß er AUF IHRER SEITE war, aber sie war mittlerweile fuchsteufelswild geworden und für jedes vernünftige Wort unzugänglich; sie sprang einfach auf und lief zur Tür hinaus. Sie zog noch nicht mal ihren Mantel an. Dean saß da und versuchte zu verstehen, was er falsch gemacht hatte. Die Soße zu den Burgern schmeckte gut, und nachdem er seinen Teller leergegessen hatte, griff er über den Tisch und nahm sich auch noch den von Joy. Sie hatte ihr Essen kaum angerührt. Jeder, den er kannte, würde ihm zustimmen, daß er in den letzten Monaten besonders viel Geduld mit ihr gehabt hatte. Genau das war wahrscheinlich sein Fehler gewesen. Manchmal mußte man einfach sagen, ›bis hierher und nicht weiter‹, wenn man nicht ausgenutzt werden wollte. Es war wirklich unfair, daß sie sich ausgerechnet jetzt, wo er durch die hohe Fördersumme so unter Druck stand und so mit Arbeit überhäuft war, diese Gefühlsausbrüche leistete. Eigentlich sabotierte sie damit seine Arbeit. Er erinnerte sich jetzt daran, wie er damals im Herbst zum ersten Mal von der Idee gesprochen hatte. Joy war von Anfang an gegen das Projekt gewesen. Natürlich hatte er ihr nie Böswilligkeit unterstellt, aber was zuviel war, war zuviel, oder etwa nicht? Er ging in die Küche, um zu sehen, ob noch etwas von dem Essen übrig war, aber es war nichts mehr da. Also 473
nahm er sich ein Stück Brot und stippte damit die Soßenreste aus der Pfanne auf. Er hätte es nie für möglich gehalten, daß die kleine Joy imstande war, sein Projekt auf so hinterhältige Weise zu torpedieren, indem sie ihn immer wieder ablenkte und störte. Aber im Ernst, wie sollte man ihr Verhalten sonst bezeichnen? Er stopfte sich das fettige Brot in den Mund. Joy hatte ihm oft genug vorgeworfen, er sei in Gefühlsdingen etwas begriffsstutzig, aber diesmal hatte er sie durchschaut. Mit einer triumphierenden Geste öffnete er den Kühlschrank und durchstöberte ihn nach etwas Eßbarem, womit er seinen gewaltigen Appetit stillen könnte. JOY SPÜRTE die Kälte kaum. Wenn sie Dean in letzter Zeit zuhörte, empfand sie seine Worte immer häufiger wie dumpfe Schläge – so als würde ihr jemand mit einem Sofakissen auf den Kopf schlagen. Es tat nicht weh, es verursachte keine äußeren Verletzungen, und man konnte es wochenlang über sich ergehen lassen, bis man feststellte, wie sehr es einen zermürbte, und man erkannte, daß wahrscheinlich genau darin die tiefere Absicht lag. Den ganzen Herbst hindurch hatte sich Joy gefragt, warum diese Firmen so erpicht darauf waren, in Deans hirnverbranntes Vorhaben zu investieren. Offensichtlich hatte er sie mit einem Hagel von Sätzen, die sich nach vorne und nach hinten schraubten, mürbe gemacht. Wenn ein solcher Hagel auf einen niederprasselte, dann nickte man irgendwann nur noch und hoffte, er möge endlich aufhören. Sie fand es unerhört, daß er sie sogar heute mit seinen üblichen Ausführungen bombardiert hatte. Sie konnte sagen, was sie wollte, er nahm es offenbar gar nicht zur Kenntnis. Sie hatte ihm doch erzählt, daß Brandy gestor474
ben war, ihr Lieblingspferd, das unersetzliche, wunderbarste und schlechteste Pferd in der Herde. Das hatte sie ihm gesagt. Wie deutlich mußte sie noch werden? Wie oft mußte sie den Namen des Pferdes erwähnen, bevor Dean darauf kam, um welches es sich handelte? Außerdem war es ein trauriger Tod gewesen. Es war direkt vor ihren Augen passiert, als sie mit der Mistgabel das Heu für die Mittagsfütterung von der Ladefläche des Transporters beförderte. Es schneite, und sie beeilte sich wegen der Kälte. Einige Pferde hatten sich um das Fahrzeug geschart, und andere kamen vom hinteren Teil der Weide angetrabt. Brandy war auch darunter. Es war nichts Besonderes, daß die Pferde sich dabei gegenseitig anrempelten, und Joy hatte nur aus dem Augenwinkel gesehen, daß Brandy angerempelt wurde. Sie war ausgerutscht, zu Boden gegangen und liegengeblieben. Die anderen Pferde hatten sich an ihr vorbeigedrängt, und Joy hatte die letzte Gabel Heu heruntergeworfen und war dann von der Ladefläche gesprungen, um es zu verteilen. Die ganze Zeit hatte sie darauf gewartet, daß Brandy aufstehen würde, aber das Pferd hatte nur in alle Richtungen ausgeschlagen und gestöhnt. Dann wollte Joy ihr helfen, indem sie ihr ein Seil um den Hals legte und daran zog – manchmal reichte das eigene Gewicht aus, um die Schwerkraft zu überwinden – , aber kaum hatte sie Brandy das Seil um den Hals gelegt, hörten die Bewegungen auf, und das Tier lag nur noch ruhig da. Dann sah Joy das Blut auf dem Schnee. Sie traute sich nicht, gegen ihren Grundsatz zu verstoßen, daß man sich nie allein um ein gestürztes Pferd kümmern sollte – seine wild ausschlagenden Hinterhufe konnten einen unvermittelt niederstrecken. Also war sie zurück zum Wagen gerannt und zur Scheune gerast und hatte Harvey geholt und den Tierarzt angerufen. Zehn Minuten 475
später waren sie mit dem tragbaren Röntgengerät wieder auf der Weide. Aber das Röntgengerät war überflüssig. Der Knochen hatte die Haut schon durchstoßen. Der Tierarzt hatte das Pferd noch an Ort und Stelle eingeschläfert. Eben lebte sie noch, und dann war sie tot. Joy zitterte immer noch, wenn sie daran dachte, wie plötzlich es gekommen war. Irgendwie hätte es ihr geholfen, wenn sie Brandy wenigstens noch hinüber in den Stall gebracht hätten. Dann hätte sie sie wenigstens noch einmal füttern können, oder zweimal, oder dreimal. Dann hätten sie noch ein oder zwei Nächte Zeit gehabt, um die Möglichkeiten durchzugehen. Aber Joy hatte sofort gewußt, daß es keinen Sinn hatte, das Tier so zu quälen – Brandy war für Zuchtzwecke sowieso nicht geeignet, und ihr Tod schien in jedem Fall unausweichlich. Als der Tierarzt sie anschaute, um ihre Zustimmung einzuholen, gab sie sie, ohne zu zögern. Aber jetzt bereute sie es, egoistischerweise, denn sie kam einfach nicht darüber hinweg, wie plötzlich es geschehen war. Sie kam und kam und kam und kam nicht darüber hinweg. Die Tatsache, daß Joy ein paar wesentliche Argumente, die man Deans Redeschwall entnehmen konnte, gar nicht so schlecht fand, machte es auch nicht besser. Natürlich war der Tod eines Tieres nur deshalb so belastend, weil die Menschen den Tieren Namen gaben und die Tiere dann aufgrund von Bemerkungen wie: »Bring Frenchman nicht auf dieselbe Koppel wie Rudy, die beiden geraten immer aneinander«, oder: »Brandy macht es nichts aus, wenn man ihr die Zähne abfeilt«, oder: »King springt inzwischen richtig gerne, nicht wahr?« Stück für Stück eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln schienen. Aus Vorlieben wurden Haltungen, aus Haltungen wurde Persönlichkeit, aus Persönlichkeit wurde Un476
verwechselbarkeit, und dadurch entstand Leid. Natürlich hatte Brandy ihren Tod nicht so erlebt, wie Joy es sich vorstellte, aber Joy kam trotzdem von der Vorstellung nicht los, wie sie sich gefühlt haben mußte. Wie sie angetrabt kam und nur an das Heu dachte, wie sie sich auf einen Leckerbissen freute. Dann der kleine Stoß und der Sturz, die Schmerzen, noch mehr Schmerzen, und dann Bewußtlosigkeit. Joy wurde den Gedanken an die Augenblicke vor dem Sturz nicht los, als dem Pferd alles friedlich und normal vorgekommen sein mußte, als es nichts als Vorfreude auf das süße sommerliche Heu empfunden hatte. Joy schüttelte den Kopf und begann zu rennen. Am Ende der Straße sah sie die Zeitanzeige der Red Stick County Bank: 6:47, -5 Grad. Die Welt war dunkel und kalt. Sie sah weder die Dunkelheit, noch spürte sie die Kälte. DEAN WAR satt bis oben hin. Als er sich in seinem Stuhl zurücklehnte, wurde ihm schlagartig klar: er würde keinen Bissen mehr herunterkriegen. Dabei hätte er ganz gern weitergegessen. Seine Augen waren immer noch nicht satt. Aber in seinem Magen war kein Platz mehr. Er rückte den Stuhl vom Tisch ab, stand auf, wankte ins Wohnzimmer und ließ sich in seinen Fernsehsessel plumpsen. Ihm war bewußt, daß es auf der Uhr in der Diele schon nach sieben war und Joy vor mehr als einer Stunde das Haus verlassen hatte. Er griff nach der Fernbedienung, drückte aber auf keinen der Knöpfe. Er hatte zu starke Magenkrämpfe. Also, das war ja etwas ganz Neues. Er hatte noch nie so viel gegessen, daß er nicht mal mehr die Fernbedienung in Gang setzen konnte. Der Schmerz wanderte zuerst aufwärts und dann schräg nach unten. Es folgte ein weiterer Krampf und dann noch 477
einer. Während einer kurzen Schmerzpause gelang es ihm, den Einschaltknopf zu betätigen und festzustellen, daß die Cosby-Show lief; dann fing es wieder an. Etwa eine Blinddarmentzündung? Dean stemmte sich aus dem Fernsehsessel hoch und steuerte auf das Badezimmer im Erdgeschoß zu. Eine Untersuchung von Stuhl und Urin auf Blut könnte nicht schaden. Auf dem Weg ins Badezimmer versuchte er, mit dem Kinn seine Brust zu berühren. Es war eine allgemein bekannte Tatsache, daß man, wenn man einen Gehirntumor hatte, nicht in der Lage war, mit dem Kinn die Brust zu berühren. Nach der Theorie des korrespondierenden Schmerzes konnte ein Schmerz in irgendeinem Körperteil ein Anzeichen für die Erkrankung eines ganz anderen Körperteils sein. Als er sich auf dem Klo niederließ, hob er den linken Arm, um möglichen stechenden Schmerzen (die er sich wie Passagiere vorstellte, die auf einen Zug warteten) den Weg in seinen linken Arm frei zu machen. Stechende Schmerzen im linken Arm deuteten auf einen Herzinfarkt hin, wie jeder wußte. Nachdem er sich vom Klo erhoben hatte (kein Blut), untersuchte er im Spiegel ein paar Leberflecken auf seiner Schulter. Sie schienen sich nicht im geringsten verändert zu haben. Er fragte sich, wo er die Broschüre über die sieben Warnzeichen bei Krebserkrankungen hingelegt haben könnte. In dem Moment hörte er, wie die Haustür ging. Er nahm sich vor, sie mit den Worten: »Hoffentlich bist du jetzt zufrieden« zu begrüßen, die er aber so freundlich aussprechen würde, als ob er wirklich hoffte, sie wäre zufrieden. Er lockerte seine Schultern und strich sein Hemd glatt. Er bleckte die Zähne und entfernte noch schnell mit dem Fingernagel einen dunklen Krümel. Erst dann verließ er, bestens gewappnet, das Badezimmer. Joy lehnte an der Wand. Die Haustür hinter ihr stand weit 478
offen. »Allmächtiger!« rief er. »Heizöl ist teuer!« Er fegte an ihr vorbei und knallte die Tür zu, dann drehte er sich um und sagte: »Hoffentlich bist du…« Sie schaute ihn an, schien ihn aber gar nicht wahrzunehmen. Ihr ganzer Körper zitterte und bebte. Er legte seinen Handrücken auf ihre Wange. Sie glühte von der Kälte. »Joy?« sagte er. »Ist alles in Ordnung? Ich begreife nicht, wieso du ohne Mantel weggelaufen bist! Mein Gott! Du hast ja bloß ein dünnes Hemd an.« Er legte ihr den Arm um die Schulter, um sie zur Couch zu führen, und sie schloß die Augen. Ihr ganzer Körper schien wie ihre Wange vor Kälte zu glühen. Sie ließ sich in seinen Arm fallen, und er fing sie auf. »Verdammt nochmal, Joy!« sagte er, »du solltest wirklich besser auf dich aufpassen!« Er trug sie zur Couch und deckte sie mit einer Wolldecke zu. Dann griff er nach dem Telefon und rief Helen an. Zwei Minuten später war Helen da. »Hör auf, ihr die Hände zu reiben«, herrschte sie ihn an. »Die Hände sind nicht so wichtig! Zieh dich aus!« Sie rannte ins obere Stockwerk. Als spürte sie sein Zögern, rief sie vom Treppenabsatz: »ZIEH DICH AUS!« Also zog Dean sich aus. Helen kam mit der Steppdecke vom Bett sowie einer weiteren Decke zurück. Joy hatte anscheinend das Bewußtsein verloren. »Gut«, sagte Helen und breitete die beiden Decken auf dem Boden aus. »Leg dich hin.« Rasch zog sie Joy aus, und im Nu hatte sie Dean und Joy zusammen eingewickelt. Sie lagen beieinander wie in einem warmen Kokon. »Umarme sie«, sagte Helen, »leg dein Bein über sie. Drück ihren Körper fest an dich.« Dann ging sie zum Wandschrank, holte eine alte weiche Wollmütze von Dean heraus und zog sie Joy über den Kopf. 479
Joys zierlicher Körper fühlte sich kalt und starr an, ihre Haut war wächsern und fest, und es kam ihm so vor, als ob er ihn gänzlich umhüllte. Helen sagte: »Denk an Heizkörper.« »Was?« »Weißt du, was Imaginieren bedeutet? Man bündelt dadurch seine physische Kraft. Denk an glühende Heizstäbe, an Radiatoren, die Wärme abstrahlen, oder an warme Öfen. Such dir eine Art von Heizkörper aus, die zu kennst, und konzentriere dich auf dieses Bild. Schließ die Augen.« Es fiel ihm leichter, sich Joy als Eiswürfel vorzustellen. »Denk nicht daran, wie kalt Joy ist«, sagte Helen. »Denk daran, wie warm du bist. Heizkörper. Dampf. Heiße Metallrippen. Rohre, durch die warmes Wasser aus dem Kessel strömt. Kohle, die in den Brenner geschüttet wird. Die Hitze nimmt zu. Heißer Dampf steigt auf. Jeder Millimeter deiner metallenen Körperoberfläche vibriert vor Hitze.« Es war irgendwie berauschend. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Dann lief ihm der Schweiß auch an Oberschenkeln und Brust herunter, aber es störte ihn nicht. Er spürte, wie Joy ein bißchen weicher und ein bißchen wärmer wurde. Kurz darauf hörte er Ivars Stimme, dann Helens, aber er hatte einen Bewußtseinszustand erreicht, in dem er nicht mehr verstehen konnte, was sie sagten. Ab und zu spürte er, wie Helens Hand die Decken fester um sie wickelte oder ihm die Stirn abwischte. Einoder zweimal bewegte Joy sich. Nach einer Weile hörte er direkt an seinem Ohr Helens Stimme, die sagte: »Der Krankenwagen ist da.« Dann lockerte sie die Decken, und er kroch vor aller Augen heraus, nackt bis auf die Unter480
hose, über der sich sein Bauch ein kleines bißchen wölbte, und Joy wurde auf einer Bahre aus dem Haus gerollt, von Kopf bis Fuß zugedeckt, als sei sie tot, aber Helen lächelte, und Ivar hielt den Sanitätern die Tür auf. Was Dean fühlte, war unbeschreiblich. Als ob ihm schwindlig wäre, als ob er fieberte, als ob er sein eigenes Haus nicht mehr erkannte. »Gute Arbeit«, sagte Helen. »Zieh dich wieder an, Ivar wird uns dann ins Krankenhaus fahren.« Er sagte: »Wie lange haben wir da gelegen?« »Also, der Krankenwagen hat ungefähr fünfzehn Minuten gebraucht. Demnach müßt ihr ungefähr eine halbe Stunde so eingepackt gewesen sein.« »Es kam mir wie eine Ewigkeit vor. Es kam mir vor, als ob wir…«, er stutzte und suchte angestrengt nach einem passenden Vergleich… »Es kam mir vor, als wären wir gemeinsam begraben gewesen. Aber es war gar nicht schlimm. Ich habe sie wieder zum Leben erweckt.« Helen war nach nebenan gegangen, um ihren Mantel zu holen, aber Ivar klopfte ihm auf die Schulter und sagte: »Kann schon sein, Dean. Kann schon sein.«
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56 Taten statt Worte »AUFGRUND EINSCHNEIDENDER Mittelkürzungen und neuer Bestimmungen zu Universitätspublikationen« (»Die Universität definiert als ›Publikation‹ die Produktion kopierten Materials unter Zuhilfenahme von Computerdruckern, Fotokopierern oder Faxgeräten aus dem Besitz der Universität, die den Haushaltsbestimmungen der Fachbereiche unterliegen.« – Universitäts-Handbuch S. B-15), die am ersten Januar in Kraft traten (»Hausmitteilung: Um das unkontrollierte Publizieren [siehe UHB, 1989-1990, S. B-15] und die sich daraus ergebenden Kosten zu reduzieren, muß ab sofort eine Woche vor jeder Vervielfältigung von Schriftwerk, bei der mehr als zweihundert Blatt Papier verbraucht werden, ein ausgefülltes Formular B-2/54 eingereicht werden. Die Angestellten und die Dozenten sind angehalten, über das Computernetzwerk, über E-Mail oder fernmündlich zu kommunizieren. Die Investitionen der Universität in das VAX-Computersystem werden sich durch diese Maßnahmen schneller amortisieren als angenommen, während der unnötige Papierverbrauch stark eingeschränkt werden kann. Auf die Einhaltung der Vorschriften zur drastischen Reduktion des Papierverbrauchs ist unbedingt zu achten«), war der Vorsitzende X gezwungen, eine alte Kopiermaschine aus dem Schrank zu ziehen, die sich tatsächlich noch im Besitz der Universität befand (Universitäts-Inventarnummer 254-0009), aber nicht unter die Bestimmungen für »Publikationen« fiel. Dann kaufte er der Sekretärin zehn Matrizen und zweitausend Bogen Abzugspapier ab. Von seinem eigenen Geld. 482
Es war wie mit dem Fahrradfahren. Hatte man einmal ein Flugblatt abgezogen, vergaß man nie wieder, wie es gemacht wurde. Er druckte die zwei Seiten »Schriftwerk« auf seinem Mac aus, wobei er den Laserdrucker verwendete, den er im vergangenen Frühjahr gebraucht gekauft hatte. Die fetteste Schlagzeile, der er dank seines Graphikprogramms etwas Schwüles und Dschungelartiges verliehen hatte, lautete: »Wissen Sie, wo sich der letzte unberührte Nebelwald der westlichen Hemisphäre befindet?« Darunter hatte er in kleineren Buchstaben geschrieben: »Wissen Sie, daß unsere Universität daran arbeitet, eben diesen Nebelwald zu zerstören?« In gewisser Hinsicht war es auch wieder ein Vorteil, alleine zu leben und nicht auf die Einwände der Lady X reagieren zu müssen, die ihm so eine Zeile bestimmt nicht hätte durchgehen lassen, denn was die Universität als Ganzes ins Spiel brachte, war nur die Tatsache, daß die Universität Gift, dieser aufgeblasenen feigen Kröte, ein Gehalt zahlte. Lady X hätte zu bedenken gegeben, daß die Tatsache, daß die Universität auch ihm ein Gehalt zahlte, seinen Vorwurf gegen sie entkräftete. Aber die Zeile sollte als flammender Appell dienen, und daher blieb sie stehen. Eine der Funktionen seines Mac-Programms, die er bisher nur benutzt hatte, um Randnotizen auf die Rohfassungen von wissenschaftlichen Aufsätzen zu schreiben, kam ihm sehr gelegen, um »Stoppt die Zerstörung!« an drei oder vier Stellen an den Rand des Textes zu setzen. Es war ein ziemlich gutes Flugblatt. Auf der Vorderseite hatte er sich gezwungen, beim Thema zu bleiben – die drohende Gefahr einer Goldmine unter dem Nebelwald, die Verbindung zwischen Seven Stones Mining und Arien Martins anderen Firmen, die kriecherische, rück483
sichtslose, ekelerregende Rolle, die Gift bei dem Ganzen spielte. Sein Mac hatte die Vorderseite traditionell zweispaltig gesetzt, und das sah gut aus. Auf der Rückseite war der Vorsitzende X so frei gewesen, sich über die historische Rolle landwirtschaftlicher Universitäten auszulassen, die die Ökosysteme in der Dritten Welt schädigten, indem sie den tropischen Gebieten ein ungeeignetes Modell industrieller Landwirtschaft aufzwangen. Vorderseite – Aufruf zum Handeln, Rückseite – Bildung. Auch das war eine bewährte Aufteilung. Und er würde auch bei zukünftigen Flugblättern nicht davon abweichen. Sie lagen alle bereit und warteten auf den ersten Unterrichtstag des neuen Semesters. Der Vorsitzende X und sein Kreis (Gartenbaustudenten, die ihren Eifer ohne besondere Aufforderung von der Landwirtschaftsschule auf den Nebelwald verlagert hatten) waren sich einig gewesen, daß die Stufen von Lafayette Hall, das Tor zum Institut für Wirtschaftswissenschaften und der Eingang zur Mensa die besten Stellen für die Verteilung der Flugblätter seien. Die Erwartungen waren hoch. Möglicherweise hatten viele der Studenten auf dem Campus noch nie im Leben ein Flugblatt in die Hand gedrückt bekommen und daher noch keine Abwehrmechanismen dagegen entwickelt. Der Vorsitzende X stand von seiner gemieteten Couch in seiner gemieteten Wohnung auf, die unter der ziemlich grellen Deckenlampe stand (die einzige Lichtquelle im Raum) und ging zu den Regalen an der Tür, wo er mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen stehenblieb, um den Stapel Flugblätter zum fünften oder sechsten Mal zu bewundern. Morgen war es soweit. Einige Studenten hatten vorgeschlagen, jeder der Flugblattverteiler sollte einen Stapel mit nach Hause nehmen, aber der Vorsitzen484
de X hatte sich nicht von ihnen trennen können. Normalerweise besaßen menschliche Erzeugnisse für ihn keine Schönheit, aber dieses hier kam ihm in der Tat schön vor – die Spalten auf der Vorderseite waren weder zu lang noch zu kurz. Die Schlagzeilen hatten genau die richtige Größe. Die Aufrufe am Rand, die Zerstörung zu stoppen, waren sogar in lila Tinte deutlich lesbar. Ihm gefiel auch der Stil des Textes. Und ihm gefiel der Gedanke, daß sie per Hand abgezogen worden waren und daß die Person, die die Maschine bediente, die Blätter auf traditionelle Weise zählen mußte, indem sie die Zahlen vor sich hin murmelte, denn der Zähler war kaputt. Sie waren jung, und er war es auch. Statt des zermürbenden Guerillakrieges, den sie gegen die Landwirtschaftsschule geführt hatten, galt es hier einen Frontalangriff zu starten. Morgen würde die Schlacht beginnen. Der Vorsitzende X hatte vor, Gift dieses erste Werk der Liga »Stoppt die Zerstörung« eigenhändig zu überreichen. Der Vorsitzende X streckte die Hand aus, rückte einen Stapel gerade und setzte sich wieder auf die Couch. Es war kurz nach acht. Er brauchte nichts weiter zu tun, er mußte sich nur in Bereitschaft halten. Er hatte vergessen, daß die Zeit zwischen dem Aufbruch der Studenten und dem Dämmern des neuen Morgens ausgefüllt werden mußte. Er hatte keinen Fernseher, nicht mal Bücher. Als er aus dem Haus der Lady X ausgezogen war, hatte er nur seine Brieftasche und eine braune Papiertüte mit Kleidung zum Wechseln mitgenommen. Sie hatte ihm vorgeworfen, er ziehe eine Show ab. Er hatte ihr mitgeteilt, daß es ihm ein Vergnügen sei, den ganzen Krempel endlich loszuwerden. »Inklusive deiner Zahnbürste?« hatte sie herausfordernd gefragt. »Inklusive jeder Kleinigkeit, die mich an das Leben 485
hier erinnert«, hatte er entgegnet. Dann hatte er mit eindrucksvoller Entschlossenheit, wie er fand, die Stufen eines Stadtbusses erklommen und war für immer aus ihrem gemeinsamen Leben verschwunden. Diese Gesten, so erklärte er ihr, als er sie am nächsten Tag sah, hatten in erster Linie geistigen und symbolischen Wert. Er konnte seine materielle Existenz nicht umfassend verändern, hauptsächlich wegen der Kinder, aber auch, weil sein Computer und all seine Bücher und Werkzeuge bei ihr im Haus waren. Geistig jedoch befand er sich auf einer völlig neuen Ebene. Es wurde ihm klar, daß Cecelia zurück sein mußte, denn morgen fingen die Kurse wieder an. Er hatte seit Beginn der Vorbereitungen für diese Aktion unablässig an Cecelia gedacht und dabei ganz vergessen, daß sie nicht in der Stadt war. Na gut, er hatte alles vergessen – zu essen, zu schlafen und seine Hemden zu wechseln. Er hatte vergessen, Lady X anzurufen, bevor er zum Haus fuhr (eine von den neuen Regeln, die sie aufgestellt hatte, er kam da nicht mehr mit), und auch, ihre Älteste zu ihrem Termin beim Kieferorthopäden zu bringen. Er hatte eine Menge vergessen. Aber er hatte nicht vergessen, daß er Kinder HATTE, wie Lady X ihm vorwarf. Er hatte nämlich versucht, sie zum Schuleschwänzen am nächsten Tag zu überreden, damit sie beim Verteilen der Flugblätter helfen konnten, aber sie hatten sich geweigert. Oh, aber Cecelia! Er holte seinen Mantel. Die Lichter in ihrer Maisonettewohnung brannten hell. Das sah er schon, als er aus dem Bus stieg, und er verfiel in einen Laufschritt, obwohl die Bürgersteige ziemlich vereist waren. Er stolperte die Stufen hinauf, die nicht geräumt waren, und drückte auf den Klingelknopf. Er bemerkte nicht die großen Stiefelspuren, die schon im 486
Schnee auf der Veranda zu sehen waren. Sie trug den roten Pullover, die schwarzen Leggings, die dicken Socken, all die Dinge, die er liebte. Ihr Haar war mit einer großen Haarspange locker aufgesteckt. Als sie die Tür öffnete, tauchte er in die Aura ihres Duftes ein, und obwohl ihn erst jetzt das Bedürfnis überkam, sie an sich zu reißen und fest in seine Arme zu schließen, empfand er es wie ein Verlangen, das ihn schon den ganzen Monat über ausgefüllt hatte, und so sagte er: »O Gott, Cecelia! Ich habe dich wahnsinnig vermißt.« Über ihre Schulter hinweg und durch den Vorhang ihrer Haare sah er einen großen, gutaussehenden Mann in der Küchentür auftauchen. Obwohl er darüber erstaunt war, besaß der Vorsitzende X die Geistesgegenwart, Cecelia nicht loszulassen, sondern sie noch fester an sich zu drücken. Unter den Umständen war das die beste Methode, sein Terrain zu markieren. DAS WAR ALSO der Typ, dachte Tim. Es war offensichtlich, denn obwohl der Typ klein und drahtig war, höchstens fünf Zentimeter größer als Cecelia, die maximal einsfünfundsechzig war, schien sie in seinem Mantel zu verschwinden wie eine Puppe, die er in die Tasche steckte. Tim kannte ihn nicht, nicht mal vom Sehen. Und er sah eigentlich auch nicht nach Universität aus, höchstens vielleicht wie jemand von der Gebäudeverwaltung, aber als Cecelia ihn vorstellte, erkannte Tim den Namen wieder – ein berühmter Exzentriker und Autor zahlloser Leserbriefe an die Studentenzeitung, früheres Mitglied des Senats der Dozenten, der dem State Journal immer noch als verläßliche Quelle für plastische Zitate über die Universität diente. Das war er also, dachte Tim und ging mit einem breiten Lächeln auf ihn zu. Er lächelte nicht 487
über ihn, sondern mit ihm, da er in all den Jahren vielen seiner polemischen Äußerungen zugestimmt hatte – wenn zum Beispiel das Semester am 10. September beginnen würde, könnte man am Labor-Day-Wochenende noch einen Abstecher an die Ostküste machen und trotzdem rechtzeitig zurück sein, um in Ruhe die Herbstkurse zu beginnen. »Ich heiße Tim«, sagte er. »Tim Monahan. Ich bin mit Ihrer Arbeit vertraut.« Der Vorsitzende X zog seine Strickmütze an der Troddel vom Kopf und stopfte sie in die Tasche. »Haben Sie etwa das Flugblatt gelesen?« fragte er. »Das Flugblatt?« »Das Flugblatt unserer Liga? Wir verteilen es erst ab morgen.« »Oh. Nein, wissen Sie, ich meinte Ihre Leserbriefe, die Zitate im Journal.« »Ach ja?« Der Typ schien sich zu freuen. Wie jeder. Tim hatte festgestellt, daß der Satz »Ich bin mit Ihrer Arbeit vertraut« ein todsicherer Tip für eine gute Gesprächseröffnung war. Cecelia schien nicht zu bemerken, daß die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden bei dem Wort »Arbeit« auf magische Weise von ihr zu Tim gelenkt wurde, aber Tim bemerkte es sehr wohl. Außerdem bemerkte er, daß Cecelia die Augen nicht von diesem Typen lassen konnte. Als er seinen Mantel auszog, hängte sie ihn auf und strich zärtlich darüber. Sie schnüffelte sogar verstohlen am Kragen und lächelte. Ihm war klar, daß er Zeuge einer geheimen und leidenschaftlichen Schwäche wurde. Ihre Gefühle waren so unverhüllt, daß jeder andere weggeschaut hätte. Wohl auch, um sich seinem Blick zu entziehen, suchte sie Zuflucht in der Küche und zwitscherte: »Setzt euch doch schon mal, ich mach uns einen Tee.« 488
Der Vorsitzende marschierte ins Wohnzimmer, als ob er hier zu Hause wäre, und, anders als Tim vor ihm, ließ er nicht den Blick umherschweifen, um die neuen Dekorationsgegenstände zu betrachten (es gab einige – Cecelia hatte eine Menge Sachen aus L.A. mitgebracht, und Tim fand, die Wohnung nahm langsam Gestalt an). Er warf sich in den erstbesten Sessel und griff nach dem New York Times Magazine, das Tim an diesem Abend mitgebracht hatte. Aber er schlug es nicht auf, sondern sagte: »Arbeiten Sie auch hier?« »An der Universität?« »Ja genau.« »Klar. Ich unterrichte Kreatives Schreiben. Ich bin Schriftsteller.« »Hmh.« »Ich nehme an, Sie sind mit meiner Arbeit nicht vertraut.« »Ich lese keine Romane. Tut mir leid.« In dem Fall, dachte Tim, ginge er ja kein Risiko ein, wenn er von dem Typ alle Einzelheiten übernahm: das dünne, graue Haar, das in alle Richtungen abstand, den scharfen, nervösen Blick der blauen Augen, den linksherum angezogenen Pullover, die ausgebeulten Hosen mit den vielen Taschen und schließlich die abgestoßenen Red-Wing-Stiefel, die alt und gut gefettet waren und aussahen, als hätten sie ihre Form der kleinsten Krümmung seiner Füße angepaßt. Tim bewunderte auch die Hände, die riesig waren, lange, muskulöse Finger hatten und große, gebogene Daumen. Der Vorsitzende schien nicht zu merken, daß er beobachtet wurde. Tim sagte: »Sie wollen also irgendwelche Flugblätter verteilen?« »Dies ist ein Kampf, der vollen Einsatz verlangt. Es wird nicht bei dem Flugblatt bleiben.« 489
»Und worum geht es?« »Wissen Sie, wo sich der letzte unberührte Nebelwald der westlichen Hemisphäre befindet?« »Ja, zufällig –« »Wissen Sie, daß diese Universität daran arbeitet, ihn zu zerstören?« »Ich dachte, der einzige, der damit zu tun hätte, wäre – « »Ich persönlich habe mir geschworen, die Karriere und mit ein bißchen Glück das Leben von diesem Stück Scheiße namens Gift zu zerstören, und wenn mir sonst nichts mehr zu tun übrig bleibt.« »Ach wirklich?« sagte Tim. Der Vorsitzende X mochte im Gegensatz zu Tim keinen Tee, und so kochte Cecelia schließlich Kaffee, aber sie hatte keinen Pulverkaffee mehr, deshalb mußte sie welchen aufbrühen und ein paar Tassen spülen, denn sie hatte an diesem Wochenende noch nicht abgewaschen. Trotz allem schätzte sie, daß sie höchstens fünf oder zehn Minuten in der Küche gewesen war. Offensichtlich lange genug für den Vorsitzenden X und Tim, um ins Gespräch zu kommen, auf dem Sofa zusammenzurücken, sich über den Couchtisch zu beugen, ein Stück Papier und einen Stift hervorzukramen und mit dem Entwerfen von Strategien und Taktiken zu beginnen. Als sie den Kaffee neben dem Ellbogen des Vorsitzenden X absetzte, sagte der Mann, der sie vor weniger als fünfzehn Minuten beim Wiedersehen geradezu ekstatisch an sich gepreßt hatte: »Danke, Schatz.« Sie sagte: »Wie bitte?« Er schaute mit einem glücklichen Lächeln auf: »Danke. Danke für den Kaffee.« Cecelia wandte sich an Tim. »Wolltest du nicht gerade 490
gehen, Tim?« Tim, der Cecelias Ansicht nach häufig unsensibel, aber nie unaufmerksam war, sagte: »Ja, doch.« »Wohin?« wollte der Vorsitzende wissen. »Na ja, ich wollte ins Fitneßstudio gehen.« »Weshalb?« Der Vorsitzende schien völlig überrascht zu sein. »Um zu trainieren.« »Zu trainieren?« Es war, als ob er die Worte nicht verstand. Cecelia sagte: »Tim möchte in Form bleiben. Verstehst du, Schwimmen, Gewichte heben?« Der Vorsitzende betrachtete Tim jetzt mit ungeteilter Aufmerksamkeit, als ob Cecelia gar nicht mehr da wäre. Er sagte zu Tim: »Für so etwas nehmen Sie sich Zeit?« »Ja, regelmäßiges Aerobic- und Krafttraining ist fester Bestandteil meiner Zeitplanung.« »Na bitte, da sehen Sie’s«, sagte der Vorsitzende. »Hier haben wir ein perfektes Beispiel für das, was ich meine. Sie fahren allein in Ihrem Wagen dahin. Dann begeben Sie sich an eine Maschine, die mit Strom betrieben wird, extra für Sie. Danach stellen Sie sich unter eine Dusche, die nicht nur Warmwasser benötigt, sondern auch die natürlichen Wasserreserven erschöpft, und dann fahren Sie nach Hause. Warum machen Sie nicht einfach einen Spaziergang oder graben den Garten um?« Cecelia sagte: »Draußen sind fünfzehn Grad minus, und es liegen fünfundvierzig Zentimeter Schnee.« »Ja, aber im Frühling?« »Schon gut«, sagte Tim. »Ich will einfach nicht.« Eigentlich, dachte Cecelia, war es das Feuer seiner Unschuld, das den Vorsitzenden für sie so attraktiv machte. In dem einen Monat, seit sie ihn zum letzten Mal 491
gesehen hatte, war sie, wie ihr schien, zu einem rationaleren Verständnis ihrer Beziehung gelangt: sie führte zu nichts und brachte sie weder gesellschaftlich, noch emotional, noch geistig weiter. Und dennoch (das war die rationale Seite) beeindruckte es sie, wenn er sich wie ein Kind spontan und mit ganzem Herzen einer Sache verschrieb – für alle anderen Männer, die sie kannte, war Vorsicht oberstes Gebot, und sie brauchte einfach ab und zu eine Abwechslung. Ihn neben Tim zu sehen, bot ihr die (völlig vertretbare) Gelegenheit, die Energie zu genießen, die er verströmte, mit seinen Plänen, seiner Hoffnung und Entschlossenheit, und gleichzeitig gab ihr das genügend Zeit, eine (wohl überlegte) Reaktion in sich reifen zu lassen. Fürs erste begnügte sie sich damit, eine Rolle zu spielen, die sie normalerweise nicht ertragen konnte, die Rolle des netten, hilfsbereiten Mädchens, das Kaffee einschenkte. Diese Maske würde bei der ersten leidenschaftlichen Berührung seiner Hand zu Staub zerfallen. Tim sagte: »Ich kann auch später gehen, denke ich.« »Gut«, sagte der Vorsitzende und griff wieder zum Stift. »Sie können sich nicht vorstellen, wie sich manche meiner Studenten dafür begeistern. Sie warten seit zwanzig Jahren auf so eine Gelegenheit.« »Deine Studenten warten seit zwanzig Jahren?« fragte Cecelia. »Wie alt sind sie denn?« »Habe ich zwanzig gesagt?« »Ja. Aber weißt du«, sagte Tim, »manche Leute warten ihr ganzes Leben auf irgend etwas und erst, wenn es eintritt, stellen sie fest, daß sie nur gewartet und gar nicht gelebt haben.« Mmmmmmm, dachte Cecelia. Schauer liefen ihr über den Rücken, und sie befeuchtete ihre Lippen. Dann sagte 492
sie: »Wißt ihr, als ich meiner Mutter davon erzählte, rief sie gleich die Frau ihres Cousins zweiten Grades an, die dort im Senat sitzt, und es stellte sich heraus, daß sie mit der Tochter des Umweltministers zur Schule gegangen ist.« Beide Männer hoben die Köpfe und starrten sie an.
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57 Massenmedien E S WAR VERBLÜFFEND, dachte Dr. Lionel Gift, wie sie das Ganze während seiner Winterferien inszeniert hatten. Er hätte ihnen diesen Weitblick und diese Verbindungen nicht zugetraut, wenn er es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte. Jedenfalls schienen sie den Hergang der Ereignisse genau geplant zu haben – in dem Moment, als er einem unbekannten Studenten das Flugblatt aus der Hand nahm, in dem Glauben, es handle sich um Angebote für Billigflüge oder etwas Ähnliches, genau in dem Moment kam diese kleine Null aus dem Gartenbauinstitut auf ihn zu und reichte ihm ein weiteres Exemplar. Er zeigte mit seinem schmutzigen Finger auf Gifts Namen in der obersten Zeile, und da sah er, daß es in dem Flugblatt um ihn und sein Gutachten für Arien Martin ging. Und als wäre die Demütigung, den eigenen Namen auf dem Campus hundertfach mißbraucht zu sehen, noch nicht genug, stieß er, als er schließlich in sein Büro geflohen war, den Kaffee auf dem Schreibtisch abgestellt und die Zeitung aufgeschlagen hatte, erneut auf seinen Namen, diesmal auf der Titelseite der New York Times. Zugegeben, er stand unter dem Knick und wurde auf der Seite nur einmal erwähnt, in dem Artikel »Erneuter Druck auf zentralamerikanische Länder, in geschützten Gebieten Bodenschätze auszubeuten«. Aber die Tatsache, daß sein Name überhaupt erwähnt wurde, dürfte für Martin Hinweis genug sein, wo sich die undichte Stelle befand. Mit zitternder Hand stellte Gift seine Kaffeetasse ab. In dem Moment klingelte das Telefon. Es war IHRE Stimme. Sie sagte: »Professor Gii-iift? Mr. Martin für Sie am Appa494
rat, Schätzchen.« »Danke sehr«, flüsterte er. »Lai-nl?« wieherte der kleine texanische Milliardär. »Ich möchte Ihnen etwas vorlesen.« »Hab ich schon gelesen«, flüsterte Dr. Gift. »Einem Gutachten zufolge, das kürzlich von Dr. Lionel Gift, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Moo-Universität, für Horizontal Technologies und Seven Stones Mining erstellt wurde, ist die Goldgewinnung im Gebiet des Tierra-del-Madre-Nebelwaldes nicht nur durchführbar, sondern erstrebenswert. Dr. Gifts Bericht macht deutlich, daß zwischen Horizontal und der Regierung von Costa Rica die Verhandlungen bereits begonnen haben und daß ›gewisse hochrangige Regierungsmitglieder das Vorhaben wohlwollend prüfen. Unauffällige, gezielte Zahlungen an die eine oder andere Stelle könnten durchaus die erwünschte Wirkung zeitigen‹. Das Gutachten machte außerdem deutlich, daß die Behauptungen von Umweltschützern, eine amerikanische Gesellschaft habe in unmittelbarer Nähe des Nebelwaldes Land für Rinderfarmen aufgekauft, wohlbegründet waren. Anscheinend haben Horizontal Technologies und die TransNationalAmerica Corporation unter verschiedenen Namen dieses Land aufgekauft und abgeholzt und lassen auf dem entstandenen Weideland Rinder grasen. Während die Informationen aus Dr. Gifts Gutachten von der Regierung Costa Ricas weder bestätigt noch dementiert wurden, verlautete aus gut unterrichteten Kreisen in San Jose, daß Dr. Gift, der in Costa Rica eine bekannte Persönlichkeit ist, sowie Mitarbeiter von Horizontal sich erst kürzlich im Land aufgehalten haben. ›Meinen Informationen zufolge haben sie hier ihren Urlaub verbracht‹, sagte ein Regierungsbeamter, der ungenannt bleiben wollte.« 495
»Bis dahin war ich noch nicht gekommen«, flüsterte Dr. Gift. »Was haben Sie dazu zu sagen, Professor?« sagte Martin. »Ich wollte Sie eigentlich schon vor Weihnachten anrufen –«, flüsterte Gift. »Verdammt nochmal, ich kann Sie nicht verstehen«, brüllte Martin. Dr. Lionel Gift legte den Hörer zurück auf die Gabel und verließ sein Büro. Vorher nahm er den Pieper von seinem Gürtel ab und legte ihn auf den Schreibtisch. DR . C ATES , der das Wall Street Journal las, sah den Artikel nicht. DR . JELLINEK, der auf seiner Fernbedienung Return zwischen »Good Morning, America« Today Show« pendelte, hatte schon seit zwei Jahren keine Wochenausgabe der Times mehr bekommen.
mit Autound »The oder mehr zu Gesicht
DR . L EVY, die das State Journal las, schnitt einen langen Artikel mit dem Titel »Einfache Reinigungsmittel können gesundheitsschädliche Stoffe ersetzen« aus und klebte ihn an ihren Kühlschrank. DR . B ELL, die morgens als erstes nach der Post sah, las eine Besprechung von Writing a Woman’s Life von Carolyn Heilbrun in The Hungry Mind Review. KANZLER I VAR HARSTAD hatte gerade eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt zur Hälfte durchgestanden, die 496
auf 7 Uhr 30 angesetzt worden war. MRS . E LAINE DOBBS -JELLINEK hatte ihren neuen Sekretär, Bill Bartle, gebeten, ihr ein Exemplar der Times zu besorgen. Sie versuchte, sie wenigstens zweimal pro Woche zu lesen, und zwar am liebsten dienstags wegen des Wissenschaftsteils und mittwochs wegen des LifeStyle-Teils. Aber aus unerfindlichen Gründen schien Bill nicht bereit, ihre Bitte zu erfüllen. DR . B O JONES hatte schon vor Jahren beschlossen, daß nichts eintöniger sei als Nachrichten. Als seine Frau am Frühstückstisch zu ihm sagte: »Hör mal, Moo U. hat es bis in die Times geschafft«, und dann einen Abschnitt aus dem Artikel vorlas, blendete er ihre Stimme, wie jeden Morgen, aus zugunsten eines Artikels in Successful Farming, der den Titel trug: »Die Persönlichkeit des Schweins. Wird sich die Anpassung Ihres Betriebes an die bekannten Charaktereigenschaften der Rassen auf Dauer auszahlen?« DR . C ECELIA SANCHEZ schlief. P ROFESSOR TIMOTHY MONAHAN stand vor dem EnglischSeminar für Hauptfachstudenten im ersten Semester. Der Institutsleiter hatte ihn dazu genötigt, diesen Kurs zu übernehmen, und sich dabei auf neue Universitätsrichtlinien berufen, die den verstärkten Einsatz auch hochrangiger Dozenten in den Grundstudiumskursen vorsahen. Er hatte den Studenten gerade nahegelegt, ein Studentenabonnement (zwölf Dollar pro Semester) für die Wochenausgabe der New York Times zu nehmen, da er vorhatte, wenigstens einmal in der Woche Artikel aus dieser 497
Zeitung mit ihnen zu diskutieren. Ein großer Student, der weiter hinten saß, hob die Hand. »Ja?« sagte Tim. »Mal sehen, Sie sind Frank Carson, richtig?« »Ja, Sir.« Tim horchte wegen seines gemessenen, ernsten Tonfalls auf. Ein untrügliches Anzeichen für Ärger. Tim bedeutete dem Jungen mit einem Nicken, er solle fortfahren. »Mr. Monahan, einige von uns sind der Meinung, daß die New York Times eine militant antichristliche Linie verfolgt, und wir möchten sie lieber nicht durch ein Abonnement unterstützen.« Tim lächelte wohlwollend. »Betrachten Sie es einfach als Teil der Pflichtlektüre, in Ordnung? Wir können über diese Themen sprechen, wenn wir darauf stoßen.« »Ich sage das nicht, weil die Zeitung von Juden gemacht wird. Ich bin kein Antisemit. Was mich stört, ist, daß die meisten Reporter und Redakteure bekannte Atheisten und Agnostiker sind. Gläubige Juden sind den Christen gar nicht so unähnlich, genauso wie gläubige Moslems. Aber diese Atheisten und Agnostiker sind etwas anderes, und einige von uns werden sie auf keinen Fall unterstützen. Wir fühlen uns von ihnen angewidert.« »Wie viele von ihnen?« fragte Tim, der ursprünglich vorgehabt hatte, den Gift-Artikel als Beispiel für »objektive« Rhetorik zu besprechen. Dabei hätte er ganz beiläufig seine Rolle bei dessen Entstehung einfließen lassen können. Vier Studenten hoben die Hand - Carson, ein weiterer Junge und zwei Mädchen. Eins von ihnen, das hübscheste Mädchen im Kurs, versuchte verzweifelt wegzuschauen, um ihre Verlegenheit nicht zu zeigen. Genau sie knöpfte sich Tim vor. »Mal sehen, Ihr Name 498
ist Joellen, nicht wahr?« Sie nickte. »Joellen, warum möchten Sie eine allgemein anerkannte und renommierte Zeitung wie die New York Times nicht abonnieren?« Sie wurde rot. Als sie den Mund öffnete, um zu sprechen, kam kein Ton heraus. »Lassen Sie sich ruhig Zeit.« Sie starrte auf ihr Pult und murmelte schließlich: »Sie ist das Sprachrohr des Teufels.« »Wie bitte?« sagte Tim. Sie hob ein klein wenig die Stimme und sagte: »Bei Menschen, die die New York Times lesen, werden Zweifel an der Güte Gottes gesät, und sie werden dem Glauben entfremdet.« Tim sagte: »Sind Sie sich darüber im klaren, daß dies eine Hauptfachveranstaltung ist?« Frank Carson schaltete sich geschickt ein: »Was halten Sie davon, Sir? Wir könnten doch zusätzlich eine christliche Zeitung abonnieren, und jedesmal, wenn wir einen Artikel aus der Times besprechen, auch einen aus dieser Zeitung besprechen.« Die meisten Studenten lächelten erleichtert, weil vorläufig ein Kompromiß gefunden worden war, der ihnen tragbar erschien. Tim zwang sich, seine geballten Fäuste unter dem Pult wieder zu öffnen, aber nicht ohne sich auszumalen, wie befriedigend es wäre, wenn eine von ihnen unter Frank Carsons Kinn landen könnte. Er schaute auf die Uhr. Zwanzig Minuten waren mit der lächerlichsten Diskussion, an der er sich je beteiligt hatte, verschwendet worden. Eine weitere Hand wurde gehoben. Tim nickte, während er sich kurz die Anwesenheitsliste ansah. »Sie sind Samir?« fragte er. 499
Der junge Mann nickte und sagte dann: »Ich werde keine christliche Zeitung lesen. Höchstens wenn wir auch islamische lesen. Die Menschen in Ihrem Land erhalten leider nur falsche Informationen über das wahre Wesen des Islam. Ihre Hochschulen haben die Pflicht, diesem Mißstand entgegenzuwirken.« Tim sah, wie in den hinteren Reihen zwei oder drei der etwas aufgeweckter wirkenden Studenten sich ein Grinsen nicht mehr verkneifen konnten. Ihm war klar, daß sie auf seine Kosten grinsten. Die New York Times war in dem Ort, in dessen Nähe Loren Stroops Farm lag, nicht zu bekommen, daher hätte er, selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, seinen Transporter zu fahren, nur schwer Zugang zu einem Artikel gehabt, den er andernfalls bestimmt gelesen hätte, weil darin seine Universität und einer seiner Professoren erwähnt wurden, den er, hätte er den Artikel gelesen, sogleich angerufen hätte, wenn er in der Lage gewesen wäre zu sprechen, um mit ihm die wirtschaftlichen Folgen seiner Erfindung zu besprechen, die wider Erwarten immer noch sicher in der Scheune stand, unbeschädigt und unentdeckt vom FBI, der CIA und den großen Agrarkonzernen. DR . GARCIA las lieber die Chicago Tribune, denn die brachte mehr Artikel über menschliche Schicksale, wie zum Beispiel den über den polnischen katholischen Feuerwehrmann, Vater von fünf Kindern, der eine Geschlechtsumwandlung hinter sich hatte, aber immer noch mit seiner Frau zusammen unter einem Dach lebte. Die beiden Frauen und ihre erwachsenen Kinder waren auf zahlreichen Farbfotografien abgebildet. Dr. Garcia hatte den Eindruck, daß die beiden ungefähr dieselbe Kleider500
größe hatten. Außerdem schätzte Dr. Garcia an der Tribune die zahlreichen Artikel über Nonnen und Priester, über die in der Times auch nicht regelmäßig berichtet wurde. DEKAN NILS HARSTAD dachte, wie interessant es doch war, daß einem in einem Meer von Buchstaben die zwei Worte (Moo University), die einen direkt betrafen, sofort in die Augen stachen. Er merkte sich diese Beobachtung, um sie später an Marly weitergeben zu können, wie er es mit vielen Beobachtungen tat, die ihm einerseits bemerkenswert erschienen und andererseits geeignet waren, unauffällig ihren Horizont zu erweitern. Alles in allem war es sicher besser, daß sie die Hochzeit erneut verschoben hatte. Dadurch hatte er mehr Zeit, sie zu erziehen und zu formen. Eine Ehefrau faßte häufig als Kritik auf, was eine Verlobte als Aufmerksamkeit zu schätzen wußte. Er überflog den Artikel, um festzustellen, ob er etwas enthielt, das ihm Ärger bereiten könnte, was aber nicht der Fall war. Daraufhin las er ihn sorgfältig. Wenn er es sich genau überlegte, hatte er nichts gegen die Urbarmachung des Nebelwaldes in Tierra del Madre oder des angrenzenden Landes einzuwenden. Immerhin hatte er die besten Jahre seines Lebens der Entwicklungshilfe gewidmet, und wenn seine Anstrengungen hier und da vergeblich gewesen sein sollten, hatten die Eingeborenen sich das doch selbst zuzuschreiben, oder? Es war doch so, obwohl man ihnen das natürlich nicht ins Gesicht sagen konnte, daß diesen Völkern echter Fortschritt nicht beschieden war, weil sie ihrer Natur nach keine moralische Festigkeit besaßen, denn diese Eigenschaft schien, dachte Nils, nur in einem kalten Klima zu gedeihen. Obwohl das als rassistische Anschauung mißdeutet wer501
den konnte, weshalb Nils auch mit niemandem darüber sprach, hatte er doch höchsten Respekt vor der moralischen Festigkeit der Lappen und Eskimos und gestand bereitwillig ein, daß die übrigen Skandinavier, sogar die Norweger, es, was die Strenge der moralischen Grundsätze betraf, mit diesen Völkern nicht aufnehmen konnten. Nils Harstad um Rat zu fragen, wäre nicht das Dümmste, was Gift und seine Freunde tun könnten. Natürlich würde Dr. Gift wegen des Artikels Probleme bekommen. Das Verhältnis zwischen Nils und Dr. Gift war sehr gut, aber dennoch bedauerte es Nils nicht gerade, daß Dr. Gift, der als Großordinarius fünftausend Dollar im Jahr mehr verdiente, als Nils für seine Tätigkeit als Dekan erhielt (sehr unorthodox), sich mit ein paar Problemen herumschlagen mußte. Und wenn er es sich recht überlegte, tat es Nils ebensowenig leid, daß auch sein Bruder Ivar sich mit ein paar Problemen herumschlagen mußte. Das würde ihn daran erinnern, daß die Welt trotz allen schönen Scheins eine gnadenlose, steinige Wüste war und man besser daran tat, sich auf das ewige Leben zu konzentrieren. In der letzten Zeit hatte sich Nils, vielleicht weil sein Verhältnis zu Marly sich unerwartet schwierig gestaltete, immer häufiger über Ivars Zukunft den Kopf zerbrochen. Es war ja schön und gut, daß Ivar und Helen in einem Paradies irdischer Genüsse wie Essen, Sex und Freundschaft lebten und ihn und alles andere darüber vergaßen, aber ein Jahr war vor Gottes Ewigkeit wie ein Wimpernschlag, und sie würden es eines Tages bereuen. Ganz bestimmt würden sie das. Dekan Harstad faltete die Zeitung zusammen und warf sie schwungvoll in den Altpapierbehälter. DR . SANCHEZ wurde von dem entsetzlichen Gefühl aus dem Schlaf gerissen, sie sei gefallen und falle immer 502
noch. In der Regel beschwor sie beim Aufwachen Erinnerungen an die Berührungen und Zärtlichkeiten des Vorsitzenden herauf, aber heute morgen kam ihr das wie ein Geschenk vor, das sie nicht auszupacken wagte. Anstatt also im Bett zu bleiben, lief sie ins Badezimmer und spritzte sich Wasser ins Gesicht. MRS . L ORAINE W ALKER war von dem Artikel nicht im geringsten überrascht. Wie sollte sie auch, wo doch der Reporter am Freitag angerufen hatte, um sich bei ihr für die unschätzbare Hilfe zu bedanken, die sie ihm beim Aufdecken der Verbindungen zwischen Gift, Horizontal, Seven Stones und Arien Martin geleistet hatte? Sie würde sich auch am nächsten Montag nicht wundern. Denn dann würde ein zweiter Artikel erscheinen, der sich genauer mit dem Umweltsündenregister von Seven Stones (schockierend) befassen und den Bankrott von Appalachic Coal wieder aufwärmen würde, der zu einem ausgesprochen günstigen Zeitpunkt eingetreten war, nämlich kurz bevor die Firma verurteilt wurde, die Opfer jenes unterirdischen Minenfeuers umzusiedeln oder zu entschädigen (verwerflich). Gerade als sie die Zeitung zusammengefaltet in ihre Tasche steckte, um sie für Martha mit nach Hause zu nehmen, trat Dr. Gift höchstpersönlich durch die Tür. Er ging an der Empfangsdame vorbei, ohne ihr Beachtung zu schenken. Mrs. Walker legte die Hände auf die Tastatur ihres Computers und fing an zu tippen. Erst nachdem er sie zum zweiten Mal angesprochen hatte, schaute sie auf. »Wo ist Ivar?« »Der Kanzler hat sich heute vormittag freigenommen.« »Haben Sie das schon gelesen?« Er legte das Flugblatt direkt vor ihr auf den Schreibtisch. »Eine solche Ungeheuerlichkeit verstößt doch sicher gegen Universitätsbe503
stimmungen.« »Die Einschränkungen bei Universitätspublikationen beziehen sich prinzipiell nicht auf Vervielfältigungsmaschinen. Ich könnte herausfinden, ob der Verfasser mehr als zweihundert Blatt universitätseigenes Papier benutzt hat, aber ich fürchte, selbst dann würde der Kanzler nichts unternehmen, denn das Papier für die Vervielfältigungsmaschinen kostet nicht mehr als einen Dollar fünfundzwanzig pro Paket.« Mrs. Walker lächelte hilfsbereit. »Ich rede von der Respektlosigkeit! Ich rede von der Schädigung meines Ansehens! Ich rede von der Veröffentlichung vertraulicher Informationen!« »Ich glaube kaum, daß es sich dabei um vertrauliche Informationen handelt. Haben Sie heute morgen nicht die New York Times gelesen? Eben hatte ich sie doch noch. Warten Sie mal…« Sie fand ihr hilfsbereites Gebaren vollkommen überzeugend. »WO IST IVAR?« Mrs. Walker warf Dr. Gift einen finsteren Blick zu. Sie konnte es nicht leiden, wenn man sie anschrie, und sie machte sich in Gedanken eine Notiz, Dr. Gifts Spesenabrechnungen demnächst einer genaueren Prüfung zu unterziehen. So mancher arrogante oder unhöfliche Dozent hatte schon auf dem harten Holzstuhl neben ihrem Schreibtisch gesessen und unruhig mit den Beinen gewippt, während sie fragte: »Was genau verbirgt sich hinter diesen ›Nebenkosten‹ auf Ihrer Spesenabrechnung von der Konferenz in Phoenix? Ich schlage vor, wir gehen sie Punkt für Punkt durch, und Sie erklären mir im einzelnen den Zusammenhang zwischen der jeweiligen Ausgabe und Ihrer Forschungsarbeit, einverstanden?« Zu Dr. Gift sagte sie: »Sie können den Kanzler jetzt nicht sprechen. Aber ich werde ihm, wenn er kommt, ausrichten, daß er Sie anrufen soll.« 504
»SOFORT wenn er kommt, haben Sie mich verstanden?« »Selbstverständlich, Sir, ich habe Sie durchaus verstanden. Vielen Dank.« Dr. Lionel Gift drehte sich betont würdevoll um und verließ den Raum. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, sagte Mrs. Loraine Walker zu den anderen Mitarbeiterinnen des Büros: »Erwähnen Sie gegenüber dem Kanzler nichts davon. Überlassen Sie das mir.« Alle nickten.
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58 you can’t always get what you want E S STELLTE SICH HERAUS , daß ihr gemeinsames Zimmer in Dubuque House nicht der von goldenem Lampenlicht erfüllte Zufluchtsort war, zu dem Keri es während der Weihnachtsferien stilisiert hatte. Das Semester hatte gerade erst angefangen, und schon ging ihr alles an dem Zimmer auf die Nerven. Ihre Mutter, die ihr während der Ferien jede Menge Hausarbeit aufgeladen hatte, nur um dann hinter ihr herzulaufen und alles noch einmal »ordentlich« zu machen, wäre erstaunt gewesen, wenn sie Keri hätte sehen können, wie sie die Fußleisten schrubbte oder Tilex in die Ecken der Duschwannen sprühte, oder wie sie ihr eigenes Windex kaufte, um die Fenster zu putzen. Manchmal schien sie mit der Stimme ihrer Mutter, weinerlich und fast so hoch wie eine unhörbare Hundepfeife, zu sprechen, wenn sie beispielsweise zu Sherri sagte: »Also, warum räumst du dieses Zeug nicht weg? Wer soll das deiner Meinung nach aufheben, ich etwa?« Die Antwort lautete natürlich nein, denn Sherri erwartete durchaus nicht, daß es jemand aufhob. Sie erwartete, daß es auf dem Fußboden liegenblieb. Schließlich war das hier ein Wohnheimzimmer. Und deshalb, so hätte Keri am liebsten geantwortet, sollten dort Spaß und Kameradschaft herrschen: vier Mädchen gegen den Rest der Welt, so wie es im Herbst gewesen war. Aber nichts dergleichen! In diesem Semester standen sich die vier immerzu im Weg. Außerdem waren ihre Freunde ständig da und rauchten Zigaretten, blickten sich mißtrauisch um, hielten den Mund oder schlugen vor, woandershin zu gehen. Auch Keris Freunde 506
taten das, abgesehen vom Zigarettenrauchen. Das Schlimmste war, daß sie sich im Herbst manchmal danach gesehnt hatte, daheim auf der Farm zu sein, besonders nach der Erntezeit, wenn dort die Arbeit wieder ruhiger lief und ihr Vater öfter zu Hause war und ihre Mutter vielleicht etwas zum Abendessen kochte, was er gern aß. Sie würden zusammen am Küchentisch sitzen und anschließend zusammen das Geschirr abwaschen, in so heißem Wasser, daß ihr Vater, der spülte, Gummihandschuhe anzog, und sie und ihre Schwester würden so tun, als ließen sie die Teller fallen, und dann würden sie sich vielleicht alle gemeinsam etwas im Fernsehen anschauen. Aber als sie dann nach Hause gefahren war, hatte es sich nie so abgespielt, und die Farm war ihr unglaublich ruhig vorgekommen und die Tage endlos, und so hatte sie sich nach der Universität zurückgesehnt, wo Sherri irgendeine Geschichte zum besten geben würde, wie betrunken sie am Abend zuvor gewesen war, und Diane würde lachen, und Mary würde ungläubig lächelnd den Kopf schütteln. Aber in den zwei Wochen seit ihrer Rückkehr war auch das nicht eingetreten. Mary hatte immer Freunde dabei, schwarze Freunde, die deutlich zu verstehen gaben, daß sie Keri nicht mochten. Sherri hatte etwas zugenommen und verbrachte Keris Meinung nach bedenklich viel Zeit im Fitneßraum, und Diane hatte einen neuen Freund, einen Theta-Chi, der einen Mustang fuhr. Er und Diane betrieben aktiv die Fusion ihrer körperschaftlichen Vermögenswerte im Verbindungsquartier. Jede von ihnen war zu ihren alten Gewohnheiten zurückgekehrt, auch Keri, die ihr Weihnachtsgeld für drei Pullover mit rundem Halsausschnitt ausgegeben hatte, in Hellrosa, Zitronengelb und Marineblau, alles Farben, die keine der anderen tragen konnte oder wollte, als hätte sie 507
nicht die Absicht, jemals wieder ihre Kleider zu verleihen. Das Schlimmste war, je mehr Zeit sie im Zimmer verbrachte und darauf wartete, daß sich zwischen ihr und den anderen etwas tat, desto mehr erschien ihr das Zimmer wie ihr Reich – ein Zeichen dafür, daß sie (1) nichts Besseres zu tun hatte; (2) zu mütterlich und zu wenig kindlich war; (3) sich Illusionen über die anderen machte, die den tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprachen; (4) in einem Stadium der Anpassung an das Universitätsleben steckengeblieben war, das die anderen bereits hinter sich gelassen hatten; oder daß (5) alle, einige oder keiner der genannten Punkte zutrafen. Aber sie blieb trotzdem im Zimmer. Sie lernte auf ihrem Bett, während das Radio leise lief, schaute kurz auf und sagte »Hi!«, wenn eine der anderen hereinkam: »Wie läuft’s?« Und im Spiegel sah sie, daß ihre Haut wie jeden Winter um Augen und Nase herum leicht rosa wurde, wie bei einem Kaninchen. »W AS IST LOS mit dir?« fragte Sherri. »Bist du krank, oder was?« Wie üblich zuckte Keri nur mit den Achseln. Sherri ging hinüber zum Kühlschrank und nahm ihre Nachmittagsration Zigaretten heraus, drei Stück. Was man tun mußte, war folgendes (das hatte sie sich selbst ausgedacht): Man zog sich etwas aus dem Lebensmittelautomaten, ob man Appetit darauf hatte oder nicht, aber bevor man es auspackte, zündete man sich eine Zigarette an und rauchte sie so schnell man konnte. Dann, während man die Kippe ausdrückte und den Geschmack der Zigarette noch im Mund hatte, begann man zu essen, was man gekauft hatte, und man aß es schnell, man stopfte es sich 508
regelrecht in den Mund, und danach hatte man dann wirklich keinen Appetit mehr, weder auf Essen noch auf Zigaretten. Sherri hielt das für eine brillante Methode zum Abnehmen. Der psychologische Trick dabei bestand darin, daß man es nicht so machte, wenn man etwas Gesundes oder Fettarmes aß – das durfte man genießen. Sie hatte allerdings niemandem von dieser Diät erzählt und wollte es auch erst tun, wenn die Wirkung offen zutage trat. In etwa einer Woche wahrscheinlich. Man konnte nie wissen, vielleicht würde sich die Methode als so großartig erweisen, daß sie sie patentieren lassen konnte oder so. Sie legte die restlichen Zigaretten zurück in den Kühlschrank und fragte: »Kommst du mit in den Fitneßraum?« »Warst du heute nicht schon trainieren?« »Nicht so richtig.« »Wie meinst du das?« »Ich war nur mal ein bißchen auf dem Trimmfahrrad. Wenn ich nicht mindestens vierzig Minuten auf dem Stairclimber bin, zählt es nicht.« »Dieses Mädchen unten im ersten Stock…« »Ich weiß, das Mädchen unten im ersten Stock ging auch ständig in den Fitneßraum, und dann stellte sich heraus, daß sie Bulimie hatte, und jetzt liegt sie im RedStick-Krankenhaus und macht eine Therapie gegen Eßstörungen.« »Und?« »Was und? Du weißt doch selbst, wie sie aussah. Sie war schon dünn. Sie war verrückt. Ich bin nicht verrückt.« »Du…« »Ich habe im Herbst siebzehn Pfund zugenommen. Als ich über Weihnachten zu Hause war, ist mir plötzlich 509
aufgefallen, daß ich dieselbe Sherri war wie früher. Ich kann von Glück sagen, daß ich zum Frühjahrssemester wieder herkommen durfte. Sonst säße ich jetzt zu Hause und würde Abendkurse am Junior College besuchen. Wenn im Mai das Semester zu Ende ist, werde ich nicht dieselbe alte Sherri sein. Ganz bestimmt nicht. Wenn ich mich zusammenreiße und regelmäßig in den Fitneßraum gehe, wird sich alles andere finden. Wenn ich aber mein Fitneßprogramm schleifen lasse, dann geht alles andere auch den Bach runter.« Keri seufzte. »Also, was ist eigentlich dein Problem?« »Nichts. Nur daß auf einmal alle getrennte Wege gehen.« »Was ist dagegen einzuwenden?« »Ich fand es schön, wie es im letzten Semester war.« »Du meinst, als wir alle hier im Zimmer rumhingen?« »Na ja, wahrscheinlich.« »Der Campus ist groß. Er ist wie eine kleine Stadt, aber die Einrichtungen sind viel neuer und schicker als in dem Nest, aus dem ich komme. Du bist aus der Großstadt« – (Keri errötete bei dem Gedanken, daß Sherri diese Lüge immer noch glaubte) – »deshalb weißt du vielleicht nicht, was das für ein Unterschied ist. Aber als ich in den Ferien wieder in Fishburn war und feststellte, daß man dort immer noch nichts anderes unternehmen konnte, als im A and W rumzuhängen, da habe ich mir geschworen, keine Chance mehr zu verschenken. Komm, wir nehmen unsere Badeanzüge mit und gehen hinterher noch schwimmen. Da kann man die ganzen Professoren fast nackt sehen. Die Frauen können wir vollkommen nackt sehen. Es ist ganz schön erschreckend, was mit deren Titten passiert ist.« 510
»Ich wollte gerade lernen.« Sherri zog ihre Trainingshose an. »Okay, du mußt es selber wissen.« Sie zuckte mit den Achseln, griff nach ihrer Tasche und schlug beim Hinausgehen die Tür hinter sich zu. MARY WAR offen gestanden nicht besonders begeistert, Keri immer noch anzutreffen, als sie von ihrem 14-UhrEnglischseminar zurückkam. Sie hatte damit gerechnet, das Zimmer für sich allein zu haben. »Wie läuft’s?« fragte Keri genau wie immer, und daher sagte Mary: »Ich dachte, du hättest Donnerstagnachmittag Laborpraktikum?« »Das ist auf Dienstag verlegt worden.« »Aber ich habe dienstags den ganzen Nachmittag Kunst!« »Und?« Mary riß sich zusammen, um nicht zu zeigen, wie enttäuscht sie war. Es war nämlich so, daß sie sich neuerdings in dem Zimmer nur dann wohl fühlte, wenn sie allein war. Sie ging direkt nach dem Frühstück weg und kehrte erst kurz vor dem Schlafengehen zurück. Aber bei diesem Zeitplan fühlte sie sich allmählich heimatlos, und es gefiel ihr auch nicht, den ganzen Tag ihre Bücher mit sich herumzuschleppen, ständig in der Bibliothek zu hocken oder so lange bei Hassan herumzuhängen, bis sie ihm fast auf die Nerven ging. Sie zog einen Mund, hängte ihren Mantel auf und kletterte mit ihrem Statistiklehrbuch auf das obere Bett. Keri schien sich wieder in ihr Buch vertieft zu haben, und es wäre vielleicht in Ordnung gewesen, wenn sie wirklich gelesen hätte, aber sie seufzte andauernd und war unruhig, und ihre Matratze knarrte. Außerdem aß sie irgend511
was. Sie raschelte nur leise mit dem Papier, natürlich bemüht, Mary nicht zu stören. Aber gerade das leise Rascheln machte Mary nervös. Und dann hustete Keri in ihre Hand oder in ihr Kissen oder in irgend etwas anderes, jedenfalls hörte man nur ein unterdrücktes, märtyrerhaftes Hüsteln. Mary sagte: »Du kannst ruhig in normaler Lautstärke husten, wenn du mußt.« »Ist schon in Ordnung.« Schon wieder dieser leidende Tonfall, dachte Mary. Wieder Schweigen. Ein Schweigen, das Mary so sehr ablenkte, daß sie kaum die Worte in ihrem Statistikbuch wahrnahm. Aber sie hatte keine Lust zu reden. Denn genau das wollte Keri. Sie wollte über irgendwas reden. Und genau das wollte sie nicht, genau das hatte sie beschlossen, nicht mehr zu tun. Es stimmte, was ihre Freundin Divonne gesagt hatte: erstens kannten sie sonst niemanden, der schwarz war, also mußte man jede Kleinigkeit erklären (»Und selbst dann verstehen sie die Hälfte falsch«, sagte Divonne), und außerdem gingen sie davon aus, daß man nicht nur für sich selber sprach, sondern für alle Schwarzen, deshalb reagierten sie schnell nervös oder beleidigt, und man mußte noch mehr erklären. Das war Zeitverschwendung, denn es führte zu nichts. Sie hatte vor, im nächsten Semester mit Divonne und ein paar anderen schwarzen Frauen zusammen in ein Apartment in der Nähe des Campus zu ziehen, das ihnen angeboten worden war. »Das ganze Konzept dieses Wohnheims ist typisch für sie«, sagte Divonne. »Sie bezahlen dich dafür, wie sie zu sein.« Die Frauen in diesem Apartment, in das sie ziehen würden, feierten Kwanzaa und andere afrikanische Feste. Zwei von ihnen waren sogar im letzten Sommer in Westafrika gewesen. Es war ein guter Plan, aber sie würde Carol nichts da512
von erzählen. Zum einen würde es ungefähr hundert Dollar im Monat zusätzlich kosten, wenn sie nicht mehr in Dubuque House wohnte – das waren zwölfhundert Dollar im Jahr, die ihr Carol vorhalten würde, und auf Carols Groll waren je nach aktueller Stimmungslage Zinsen fällig. Eine Ausgabe von zwölfhundert Dollar bedeutete, daß der Betrag, den sie aufbringen mußten, um in ihr phantastisches Küche-Bad-Ensemble zu ziehen, sich erhöhen würde, beziehungsweise daß sich der Umzug dorthin um eine gewisse Zeit verzögern würde. Entweder das eine oder das andere, so funktionierten solche Rechnungen nun einmal. Oder erwartete Mary etwa, daß Malcolm oder Cyrus für sie einsprangen? Oh, Mary hatte schon im Ohr, was Carol zu dem Thema sagen würde, aber Carol war nicht hier, und im Gegensatz zu Divonne begriff sie nicht, was es hieß, in Dubuque House zu wohnen. Marys größtes Problem in diesem Semester war ihre gereizte Stimmung. Sie fühlte sich ständig wie kurz vor der Menstruation. Nein, ihr größtes Problem war, daß sie wegen ihrer gereizten Stimmung ein schlechtes Gewissen hatte. Deshalb bewunderte sie inzwischen Divonne, ausgerechnet Divonne, die sie im Herbst kaum ertragen konnte. Divonne betrachtete Gereiztheit als ein Geburtsrecht, und sie machte eine Kunst daraus, ähnlich wie Carol, nur mit dem Unterschied, daß Divonne auf Marys Seite war und ihr den Rücken stärkte, statt sie zu kritisieren oder zu bedrängen. Keri seufzte. Es war ein langer, weinerlicher, unglücklicher Seufzer, der von den Wänden widerzuhallen schien und in dem das ganze Selbstmitleid mitschwang, das weiße Mädchen nun einmal empfanden. Mary knallte ihr Buch zu. »Was ist denn los?« Keris Stimme klang unsicher und 513
besorgt. Genau das fragten weiße Mädchen ihre Freunde immer. Jedesmal, wenn man ein weißes Paar belauschte, fragte sie: »Was ist denn los?« oder »Woran denkst du?« oder »Ärgerst du dich über irgendwas?«, und er antwortete: »Nichts. Kein Problem. Ist schon in Ordnung.« Mary sagte: »Nichts.« »Es hörte sich so an, als wärst du auf irgend etwas sauer.« »Ist schon in Ordnung.« »Dann bist du also sauer?« »Warum sagst du das?« »Wenn du nicht sauer wärst, hättest du das gesagt. Aber du hast gesagt: ›Ist schon in Ordnung‹. Also bist du über irgendwas sauer.« »Ich bin nicht sauer.« »Okay.« Schon wieder dieser jammernde Tonfall, und dann ein weiterer Seufzer. Mary saß unbeweglich und verspannt im Bett und preßte ihren Rücken gegen die Wand. Sie ertappte sich beim Zählen. Zählte sie etwa die Sekunden? Jedenfalls, gerade als sie bei dreißig angekommen war, durchschnitt Keris Stimme wieder die Stille. »Nun sag schon, was ist los?« Mary drehte sich mit einem Ruck auf den Bauch und ließ den Kopf über die Bettkante hängen. Keri lag auf die Ellbogen gestützt, ein aufgeschlagenes Lehrbuch vor sich auf dem Kissen, und schaute zu Mary herauf. Ihr Blick war besorgt und flehentlich; sie bat um etwas, das Mary ihr nicht geben konnte, was immer es auch sein mochte. Also sagte Mary: »Hör auf zu jammern! Was hast DU schon für einen Grund zu jammern? Deine Eltern zahlen dir das Studium, sie geben dir jeden Monat Geld und kaufen dir all diese Kleider! Du siehst aus wie eine Barbie-Puppe, und allen Jungen läuft das Wasser im Mund 514
zusammen, wenn sie dich sehen. Meine Güte, was willst du denn noch?« Mary hatte noch nie einen weißen Menschen derartig erröten sehen, jedenfalls nicht aus der Nähe. Das andere Mädchen wurde wirklich auf einen Schlag knallrot. Es konnte nicht daran liegen, daß das Blut ihr ins Gesicht schoß, denn dafür ging es zu schnell. Es mußte so sein, daß alle verengten Venen sich gleichzeitig öffneten. Wahrscheinlich tat es ihr gut. Dann fiel ihr die Kinnlade herunter. Mary richtete sich auf und öffnete erneut ihr Statistiklehrbuch. »Es tut mir leid«, meldete sich die Stimme. »Du kannst ja nichts dafür«, sagte Mary. »Aber du hast doch gesagt…« »Tut es dir etwa leid, daß du so bist, wie du bist? Das glaube ich nicht. Niemandem tut es leid, weiß und schön zu sein und aus einer reichen Familie zu stammen. Ich habe da mal von einer Untersuchung gelesen, bei der sie ein paar weiße Jugendliche gefragt haben, wieviel Geld man ihnen geben mußte, wenn man ihre Hautfarbe ändern wollte. Jeder wollte fünfzig Millionen Dollar.« »Wir sind nicht reich.« Das war ein merkwürdiges Gespräch, dachte Mary. Keine von ihnen konnte die andere sehen, Keris Antworten schienen aus den Wänden zu kommen, aus verborgenen Lautsprechern, und sie klangen wie geisterhafte Wahrheiten. Auch ihre eigenen Bemerkungen hatten diese Qualität, denn sie schien sie an niemand Bestimmten zu richten, sondern sie zu verkünden. Sie fragte: »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?« »Doch. Wir sind nicht reich. Wenn man eine Menge Ackerland besitzt, bedeutet das nicht…« Das wäre was für Divonne, dachte Mary. In diesem 515
Moment wurde die Tür aufgerissen, und Diane platzte ins Zimmer. »Es gibt Zoff!« rief sie. »Los, kommt! Das müßt ihr sehen! Drüben bei Lafayette Hall!« Rassenkonflikte! dachte Mary. Alkohol! dachte Keri. Sie sprangen von ihren Betten und zogen ihre Mäntel an. »Vielleicht haben sie die Studiengebühren erhöht«, sagte Diane.
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59 Verschwörungstheorie Reuters, 20.Januar 1990: Gewöhnlich gut unterrichtete Quellen in San Jose bestätigten heute, daß sich die costaricanische Regierung, lange Zeit eine der stabilsten in Mittelamerika, seit kurzem mit Korruptionsvorwürfen auseinandersetzen muß. Ein Sprecher der Regierung berichtete: »Die Zahlungen, denen wir nachgehen, wurden an unbedeutende Kommunalbeamte geleistet. Mitglieder der Zentralregierung sind davon nicht betroffen. Wir wissen nicht, woher die Berichte und Gerüchte stammen, aber sie sind unbegründet.« Präsident Molina beauftragte gestern Horacio Dominguin, einen Richter am Gerichtshof von San Jose, mit der Untersuchung der Vorwürfe, denen zufolge hohe Mandatsträger der liberalen Sozialdemokratischen Partei Bestechungsgelder in Höhe von über 25 Millionen Dollar erhalten haben sollen. Die Bestechungsvorwürfe tauchten letzte Woche unerwartet in einer von Hector Salazar, einem Mitglied der ultrakonservativen Siegespartei, gehaltenen Rede vor dem Parlament auf. Der Abgeordnete Salazar führte Videobänder vor, auf denen zu sehen war, wie mehrere gefüllte Geldsäcke dem Außenminister Oscar Montez und Juan Molina, dem Bruder des Präsidenten, ausgehändigt wurden. Die Vorführung des Videobandes führte zu heftigen Protesten in San Jose, da zahlreiche Zuschauer die Männer, die das Geld in Empfang nahmen, nicht als Mr. Montez oder Mr. Molina identifizieren konnten. Mr. Molina und Mr. Montez bestritten, Bestechungsgelder entgegengenommen zu haben. 517
The Washington Post, 20. Januar 1990: Mr. Richard Winston, Sprecher von Guerrilla Watch, der Überwachungskommission für Mittelamerika, verkündete heute auf einer eigens zu diesem Zweck anberaumten Pressekonferenz, daß Mitglieder von Guerrilla Watch in jüngster Zeit »verdächtige Aktivitäten« an der Grenze zwischen Costa Rica und seinem nördlichen Nachbarn Nicaragua beobachtet hätten. »Wir haben Beweise«, sagte Mr. Winston, »daß Waffen von Costa Rica über die Grenze nach Nicaragua geschafft werden. Mit diesen Waffen sollen die Truppen der Sandinisten ausgerüstet werden.« Mr. Winston vertrat die Ansicht, daß die Sandinisten, die einen erbitterten Wahlkampf gegen Violetta Chamorro führen, die bewaffneten Auseinandersetzungen wiederaufnehmen wollen. Sprecher der Sandinisten bestritten Mr. Winstons Behauptungen. »Wir wissen von keinen Waffentransporten«, sagte General José Ortega, ein Bruder des nicaraguanischen Präsidenten, Daniel Ortega. Im Verlauf der Pressekonferenz führte Mr. Winston Videobänder vor, auf denen angeblich zu sehen war, wie costaricanische Militärlaster, beladen mit »Waffen und Munition«, die Grenze nach Nicaragua überquerten und bei Lagerhäusern ausgeladen wurden, die sich angeblich in Besitz der Sandinisten befinden. Die Tatsache, daß Costa Rica über kein stehendes Heer verfügt, ließ jedoch Zweifel an Mr. Winstons Beschuldigungen aufkommen. Ein Sprecher der Bush-Administration erklärte, daß diese Behauptungen, sollten sie sich als zutreffend erweisen, »den Beziehungen zwischen den USA und Costa Rica schweren Schaden zufügen könnten. Die Regierung dort spielt ein gefährliches Spiel.«
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The Wall Street Journal, 22. Januar 1990: Auch wenn der Pressesprecher der Firma sich weigerte, entsprechende Gerüchte zu dementieren oder zu bestätigen, verlautet aus gut unterrichteten Quellen weiterhin, daß Seven Stones Mining, eines der ältesten und größten Bergbauunternehmen des Nordwestens, kurz vor dem Zusammenbruch steht und in wenigen Tagen Vergleich anmelden wird. Die Seven-Stones-Mining-Aktie fiel heute an der New Yorker Börse um drei Punkte. 45 Prozent der Aktien befinden sich seit über einem Jahr im Besitz der TransNationalAmerica Corporation, aber die Muttergesellschaft war weder in der Lage, Seven Stones Mining in die Gewinnzone zu führen, noch die horrenden Kosten einzudämmen. Die TransNational-Aktie fiel um fünf Punkte, als die Gerüchte über Seven Stones Mining auftauchten, aber bei Börsenschluß hatte sie sich um zweieinviertel Punkte erholt. Der Milliardär Arien Martin, der den Grundstock für sein Vermögen mit dem Betrieb von Geflügelfarmen gelegt hat, sagte Reportern gegenüber: »Manchmal könnte man stolz krähen, manchmal aufgeregt gackern, aber so ist nun mal das Geschäftsleben.« Mr. Martin schien über die Konkurs-Gerüchte nicht übermäßig beunruhigt zu sein. The Washington Post, 23. Januar 1990: Die Abgeordneten John H. Gönner (Republikanische Partei, Alaska) und George D. Corner (Demokratische Partei, Texas) brachten heute einen Gesetzentwurf ein, der vorsieht, den Bergbaugesellschaften mit Sitz in Alaska, Montana und Texas zinslose Kredite und Steuerermäßigungen in Höhe von 150 Millionen Dollar zukommen zu lassen. »Diese Bundesstaaten sind durch die Rezession in Schwierigkeiten geraten, und dieser Industriezweig ist davon am stärksten betroffen. Wenn wir diesen Firmen jetzt ein 519
wenig unter die Arme greifen, dann wird das, wenn die Rezession überwunden ist, jedem Amerikaner zugute kommen«, sagte der Abgeordnete Gönner. Der Abgeordnete Corner bemerkte: »Das amerikanische Volk will nicht mitansehen, wie diese Firmen untergehen. Arbeitsplätze gehen verloren, Städte veröden, das Leben der Menschen dort wird ruiniert. Das amerikanische Volk hat davon die Nase voll.« Auf die Frage, welchen Firmen die Förderung zugute kommen würde, antwortete der Abgeordnete Corner: »Also, es ist kein Geheimnis, daß Seven Stones Mining große Probleme hat. Das ist eine altehrwürdige, geschichtsträchtige Firma. Firmen wie diese haben Amerika zu seiner Größe verholfen. Dem amerikanischen Volk gefällt es nicht, den Niedergang einer solchen Firma mitansehen zu müssen. Es zerstört seinen Glauben an die Wirtschaftskraft unseres Landes.« Obwohl die Annahme des Gesetzentwurfes noch ungewiß ist, hat das Weiße Haus signalisiert, daß es »Bemühungen zum Erhalt wichtiger Industriezweige« unterstützen werde. The New York Times, 24. Januar 1990: Mitarbeiter der Bush-Administration zeigten sich überrascht von der schnellen Eskalation der jüngsten Spannungen in Mittelamerika. Aufgrund der zunehmenden Bedrohung einer jungen, noch nicht gefestigten Demokratie und der Krise einer anderen, in der Vergangenheit relativ stabilen Regierung blickt man im Außenministerium sorgenvoll gen Süden. »Nicaragua und Costa Rica sind die Schlüsselstaaten«, sagte ein Sprecher des Außenministeriums. »Man braucht bloß einen Blick auf die Landkarte zu werfen. Der Sturz der Regierungen dieser beiden Länder könnte alle Fort520
schritte der letzten Jahre zunichte machen.« Die Zuspitzung der Krise wirft ein Schlaglicht auf die Unbeständigkeit der politischen Verhältnisse in einer Region, die schon in der Vergangenheit ein ständiger Unruheherd war. Obwohl offizielle Stellen in Washington dies nur ungern zugeben, würde der Niedergang der nicaraguanischen Regierung die in der Reagan-Ära erzielten Erfolge in Mittelamerika gefährden. »Offen gestanden«, sagte ein Regierungsmitarbeiter, »hatten wir gehofft, die Sache wäre erledigt.« Die als sicher geltende Wahl der Chamorro-Regierung im nächsten Monat war von der Bush-Administration bereits als ein bedeutender Erfolg ihrer Außenpolitik gewertet worden. Außerdem hatte man die Lage in Costa Rica als so stabil angesehen, daß keine Mitarbeiter des Außenministeriums mit der Beobachtung der politischen Ereignisse dort betraut wurden. »Viele fahren dorthin, um Urlaub zu machen, und wenn sie zurückkommen, berichten sie, wie großartig es ihnen gefallen hat«, sagte ein namentlich nicht genannter Regierungsmitarbeiter. »Mehr Informationen haben wir nicht.« Die gemäßigte costaricanische Regierung ist jüngst aufgrund von bisher unbewiesenen Gerüchten über Korruption in hohen Regierungskreisen, Waffenverkäufe an die Sandinisten jenseits der Grenze und rückläufiges Wirtschaftswachstum in Bedrängnis geraten. Die Inflation, die zur Zeit (für mittelamerikanische Verhältnisse) bescheidene 15 Prozent pro Jahr beträgt, könnte auf 30 bis 40 Prozent steigen. Unter den Investoren, bei denen das Land bisher äußerst beliebt war, macht sich seit kurzem Nervosität breit. »Geld liebt Sicherheit«, sagte der Wirtschaftswissenschaftler Lionel Gift, ein hochgeschätzter Experte der costaricanischen Wirtschaft. Allgemein wird befürchtet, nach einem Sturz der ge521
genwärtigen Regierung könnte das starke Engagement für den Umweltschutz in Costa Rica, das als beispiellos in der westlichen Hemisphäre gilt, nachlassen. State Journal, 26. Januar 1990: »Porträt: Professor an hiesiger Universität nimmt aktiv am Weltgeschehen teil« von unserem Reporter Dahl Kroger. Wenn die New York Times eine Expertenmeinung über mittelamerikanische Länder, zum Beispiel Costa Rica, einholen will, ruft man dort nicht in Harvard oder Yale an, sondern bei Professor Lionel Gift, der an der hiesigen Universität lehrt und in der Agana Street 4250 wohnt. »Jemand muß mich anscheinend in seiner Adressenkartei haben«, bemerkt der Professor mit beiläufiger Bescheidenheit. »Irgend jemanden müssen sie ja anrufen, und ich kenne mich in Mittelamerika gut aus, allerdings nicht nur dort.« Professor Gift ist ein gepflegter, gutgekleideter Mann mit schütterem Haar, und er entspricht dem typischen Bild eines Professors aus dem Mittleren Westen. Er schiebt sogar seine Brille in die Stirn und sucht sie später auf dem Schreibtisch, aber der Schein trügt. Der Professor ist allgemein bekannt für seinen messerscharfen Verstand. Edward Cozy, Vorsitzender des Instituts für Wirtschaftswissenschaften, an dem Professor Gift tätig ist, bemerkt dazu: »Lionel hatte noch nie Angst, sich den Unbilden des wahren Lebens auszusetzen. Die meisten Wirtschaftswissenschaftler fühlen sich auf dem Gebiet der Zahlen eher zu Hause als auf dem des Geldes. Lionel fühlt sich auf dem Gebiet des Geldes genauso zu Hause.« Dr. Gifts Haus, das er allein bewohnt, ist von gediegener Eleganz. Das Eßzimmer und das Arbeitszimmer sind mit heller Eiche getäfelt. Die hochmoderne Küche läßt keine Wünsche offen. Dr. Gift gestattet sich einen leich522
ten Anflug von Stolz, wenn er über die Einrichtung des Hauses spricht. »Man kann einen Hauch von OstküstenEleganz in den Mittleren Westen bringen, wenn man sich Mühe gibt«, sagt er mit selbstironischem Lächeln. »Die Materialien, die einem zur Verfügung stehen, wenn man hier ein Haus gekauft hat, sind von guter Qualität. Es hat mir Freude bereitet, meinen Geschmack und meinen Stil in diesem Haus zur Geltung zu bringen. Es kommt mir wie ein Schmuckkästchen vor. Außen karg und bescheiden, aber innen recht ansprechend.« Er führt seine Gäste beinah eifrig herum und sagt: »Meine Berater- und Lehrtätigkeit nimmt mich zu stark in Anspruch, als daß ich ein geselliges Leben führen könnte, daher lade ich nur selten Gäste ein. Es freut mich, jemandem zeigen zu können, was ich auf die Beine gestellt habe.« Professor Gift wurde in Hoary, einer kleinen Stadt in South Dakota, geboren. »Dort gibt es inzwischen nicht einmal mehr ein Postamt«, sagt er. »Aber ich bin dankbar für die bescheidenen Lebensumstände meiner Jugend. Ich glaube, ich habe dadurch Einblick in die Wünsche und Bedürfnisse der Menschen gewonnen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Mein Vater besaß eine kleine Bank und mußte während der Jahre der Depression Tag und Nacht arbeiten, um sein Geschäft zu retten. Diese Arbeitsmoral habe ich von ihm übernommen. Mir scheint sie typisch für die Menschen des Mittleren Westens zu sein. Manchmal bin ich froh, sie zu haben, und manchmal nicht.« Was für ein Gefühl ist es, eine Berühmtheit zu sein? »Es bringt eine gewisse Verantwortung mit sich«, antwortet Dr. Gift nachdenklich, »aber meistens bin ich zu beschäftigt, über solche Fragen nachzudenken. Ruhm ist, finde ich, die sonderbarste Begleiterscheinung des Erfolges. Er ist zur gleichen Zeit vorhanden und nicht vorhan523
den. Man muß sich darüber im klaren sein, daß jeder noch so unbedeutenden Handlung große Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ich versuche, das nie zu vergessen.« Beim Abschied drängt sich dem Besucher der Vergleich zwischen seinem Gastgeber und dessen Haus auf – eine unauffällige Erscheinung, hinter der sich ein großer Schatz an Stil und Intelligenz verbirgt. State Journal, 29. Januar 1990: Leserbrief: Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einen so grenzenlos unterwürfigen, speichelleckerischen Artikel wie ihr »Porträt« über Lionel Gift gelesen zu haben. Hat er ihn selbst verfaßt? Warum erwähnt der Autor mit keinem Wort, daß genau in diesem Moment eine große Anzahl von Studenten und Dozenten gegen ein von Dr. Gift unterstütztes Vorhaben protestiert, das die Existenz des größten und schönsten noch bestehenden Nebelwaldes der westlichen Hemisphäre gefährdet? Ich weiß warum. Der Verfasser des Artikels war wesentlich stärker an der »gediegenen Eleganz« des Hauses von Dr. Gift interessiert! Was für eine Art von Journalismus ist das? Ist das State Journal so weit unter sein übliches Niveau gesunken, daß es inzwischen reine Pressemitteilungen veröffentlicht? Wo sind die kritischen Artikel über wichtige Themen geblieben? Jeden Tag verschwinden tausend Pflanzenarten von der Erde. Unsere Natur steht kurz vor einer Katastrophe, und die Autoren des State Journal lassen sich weiterhin über Eichentäfelung und hochmoderne Küchen aus. Solcher Journalismus ist nicht nur abstoßend, sondern auch gefährlich. Hiermit kündige ich mein Abonnement. State Journal, 30. Januar 1990: »Dozent und Verwaltungsangestellte bei Campus-Unruhen verletzt.« 524
Zwei Verwaltungsbeamte und ein Mitglied des Lehrkörpers erlitten leichte Verletzungen, als heute eine Protestaktion auf dem Campus der staatlichen Universität zu gewalttätigen Auseinandersetzungen führte. Die meisten Fenster von Lafayette Hall, einem Verwaltungsgebäude der Universität, gingen durch Steinwürfe zu Bruch, als eine friedliche Protestaktion, zu der eine politische Organisation namens »Stoppt die Zerstörung« aufgerufen hatte, ausartete. Die Leitung der Universität zeigte sich von dieser Entwicklung überrascht. Kanzler Ivar Harstad sagte in einem Exklusivinterview dem Journal: »Mitten im Winter hätten wir so etwas niemals erwartet.« Obwohl einige rassistische Bemerkungen fielen, als die Polizei einschritt, um die Protestaktion zu beenden, scheint es sich nicht um Rassenunruhen gehandelt zu haben. Zu den Verletzten gehört Elaine Dobbs-Jellinek, Vizepräsidentin und zuständig für den Bereich Projektentwicklung. Sie wurde mit einer leichten Kopfverletzung ins Bezirkskrankenhaus eingeliefert. »Elaines Verhalten war bewundernswert«, sagte Kanzler Harstad. »Sobald sie den Lärm draußen hörte, ging sie hinaus und forderte die Demonstranten auf, sich zu beruhigen.« Mrs. DobbsJellineks Zustand wurde heute abend als gut bezeichnet. Wesentlich schwerer sind die Verletzungen des Vorsitzenden des Gartenbauinstituts, der zwar immer noch bewußtlos ist, dessen Zustand jedoch als nicht besorgniserregend bezeichnet wird. Die genauen Umstände, die zur Verwundung des Dozenten führten, sind noch ungeklärt, aber er gilt als der Anführer der Gruppe »Stoppt die Zerstörung«, die zu der Protestaktion aufgerufen hat. Als Reaktion auf diese Vorkommnisse hat Gouverneur Orville T. Early heute nachmittag ein Verbot von politischen Organisationen an staatlichen Hochschulen ausge525
sprochen. »Die Bürger dieses Staates können diese Dekonstruktivisten nicht leiden«, sagte Gouverneur Early. Als er davon in Kenntnis gesetzt wurde, daß kein Dozent des Anglistikinstituts an den Ausschreitungen teilgenommen hat, sagte der Gouverneur: »Na und? Das sind dort alles heimliche Dekonstruktivisten. Wir müssen sie ein für allemal loswerden.« Die heutige Protestaktion begann mit einer frühmorgendlichen Mahnwache vor Lafayette Hall. Die schweigenden Teilnehmer trugen brennende Kerzen, hauchten in ihre kalten Hände und hatten Transparente mitgebracht, auf denen stand: »Keine Schändung des unberührten Waldes!« und »Menschen gibt es überall, Aras nicht«. Von den siebenunddreißigtausend Studenten nahmen weniger als fünfzig an der Aktion teil, die meisten davon Gartenbaustudenten höherer Semester. »Der Gruppe ist die Erlaubnis erteilt worden, sich zu versammeln«, sagte Kanzler Harstad, der heftig kritisiert wurde, weil er nicht verhindert hatte, daß der Protest außer Kontrolle geriet. »Die unterschiedlichsten Gruppen, von fundamentalistischen Sekten bis hin zu Rockbands, veranstalten solche Aktionen auf dem Campus. Es gab keinen Grund anzunehmen, daß diese Gruppe sich von den anderen unterscheiden würde.« Die Recherchen der Reporter des State Journal haben jedoch eine Unregelmäßigkeit bei der Erteilung der Versammlungsgenehmigung aufgedeckt. Statt von Kanzler Harstad ist die Erlaubnis in diesem Fall von Mrs. Loraine Walker, der Sekretärin von Kanzler Harstad, unterzeichnet worden. Mrs. Walker versicherte der Presse gegenüber zwar, daß ein solches Vorgehen üblich sei, Robert W. Brown, Vizepräsident der Universität, sagte hingegen am heutigen Abend: »Der Angelegenheit wird nachgegangen.« 526
Letzten Informationen des Journal zufolge wird die Protestorganisation »Stoppt die Zerstörung«, die sich angeblich als Reaktion auf eine mit Hilfe von Universitätsgeldern verfaßte Studie gebildet hat, die die Erschließung einer Goldmine in Peru, im letzten unberührten Nebelwald der westlichen Hemisphäre, befürwortet, ihre Aktionen in die Hauptstadt des Bundesstaates verlegen, wo in dieser Woche der Verwaltungsrat der Universität tagt. Die Polizei der Hauptstadt ließ verlauten: »Die sollen ruhig kommen. Wir sind auf alles vorbereitet.« Transkription – Hauptbericht, KSAT-TV Abendnachrichten, 30. Januar 1990. »Gewalttätige Ausschreitungen auf dem Campus der staatlichen Universität. Mehr darüber in Kürze.« »Es hatte heute den Anschein, als seien die späten sechziger Jahre zurückgekehrt, als ein gewaltsamer Protest vor dem Hauptgebäude der Universitätsverwaltung ausbrach. Während des zwei Stunden andauernden Tumultes wurden drei Personen verletzt und zahlreiche Fensterscheiben zerstört. Ich rufe Sarah Hobby, unsere Reporterin vor Ort. Sarah? Was ist dort passiert?« »Tja, Steve, inzwischen ist wieder Ruhe eingekehrt, aber vor einigen Stunden war hier der Teufel los. Anscheinend hat eine Gruppe namens ›Stoppt die Zerstörung‹ drei Tage lang Mahnwachen vor Lafayette Hall veranstaltet. Ich habe eines ihrer Flugblätter hier, und der Anlaß für den Protest scheint die Unterstützung eines umweltschädlichen Bergbauprojekts in Mittelamerika durch die Universität zu sein, aber in dem Flugblatt ist außerdem von biologischer Vielfalt, der Zerstörung der Ozonschicht, dem Treibhauseffekt und der Überbevölkerung die Rede.« 527
»Wie kam es denn zur Eskalation der Mahnwachen, Sarah?« »Tja, Steve, die Mahnwachen zogen nach drei Tagen anscheinend eine relativ große Menschenmenge an, und dann kam es aus heiterem Himmel zu einer Schlägerei zwischen zwei Mitgliedern des Lehrkörpers.« »Zwei Mitgliedern des Lehrkörpers?« »Ja, Steve, der Vorsitzende des Gartenbauinstituts scheint tatsächlich versucht zu haben, den Dekan für Technologietransfer zu erwürgen, als dieser gerade auf dem Weg zum Mittagessen war. Offenbar sind die beiden seit langem verfeindet. Der Gartenbauinstitutsvorsitzende liegt meinen Informationen zufolge momentan noch im Krankenhaus, während der Dekan nur sehr leichte Verletzungen davongetragen hat.« »Wie sind die Reaktionen auf dieses Ereignis, Sarah?« »Tja, Steve, die meisten Leute sind natürlich entsetzt, aber ein Student schien vielen aus dem Herzen zu sprechen, als er sagte: ›Wow, Sie hätten dabeisein sollen, als die beiden alten Knacker im Schnee herumrollten und aufeinander einschlugen. Das war echt große Klasse!‹« »Vielen Dank, Sarah. Weitere Informationen über dieses Thema, sobald sie bei uns eintreffen.« State Journal, 31.Januar 1990: »Kanzler bestreitet Vorwürfe.« Kanzler Ivar Harstad bestritt heute, daß die Universität die Erschließung einer Goldmine unter einem Regenwald in Peru finanziell unterstützt. Diesbezügliche Vorwürfe, die jüngst von einer Protestorganisation auf dem Campus erhoben wurden, haben Umweltschutzorganisationen innerhalb und außerhalb des Bundesstaates auf den Plan gerufen, die daraufhin versprochen haben, ihren Einfluß 528
in Washington geltend zu machen, um die Einrichtung der Mine zu verhindern. In einer schriftlich abgefaßten Stellungnahme erklärte Kanzler Harstad: »Diese Universität ist nicht im Bergbaugeschäft. Unser Geschäft ist die Bildung.« In der Erklärung wird der Vorwurf zurückgewiesen, daß ein von der Universität finanziertes Gutachten für die erwähnte Goldmine wirbt. »Auch wenn einzelne Mitglieder des Lehrkörpers von bestimmten Firmen als Berater engagiert werden, übersteigen solche Vorhaben die Möglichkeiten der Universität. Unsere Interessensphäre erstreckt sich weder auf Peru, noch auf Indien, China oder irgendein anderes Land der Dritten Welt.« Noticias Mercurios de San José, l de febrero 1990. Hoy, en una acción no esperada, el senador Hector Salazar retractó las acusaciónes de soborno que hizo hace diez dias en la Asemblea Nacional. En un comentario preparado, el senador Salazar dijo que había estado mal informado por sus fuentes sobre el origen de las fotos que el había ensenado y de las figuras que identificó en el 19 de enero como el secretario del estado Oscar Montez y Juan Molina, un abogado de San José y hermano del presidente Roberto Molina. El senador Salazar se negó a responder a preguntas después de su corto comentario, pero un miembro de su gabinete, Ana Guzman, luego dijo a periodistas que las fotografías aparecen ser fotos fijas de una película de Hollywood filmada en Costa Rica el otono pasado. »Cualquier persona puede estar mal informado«, dijo ella. Miembros del partido de la Democracia Social se levantaron en sus pies demandando que el senador Salazar y los ofíciales del partido de la Victoria se desculparan, pero el senador Salazar dejó la cámara inmeditamente después de que leyó su comentario. 529
El presidente Molina después expresó satisfacción que la crisis reciente pareciá haber pasado. »Nuestra dedicación a la paz y al gobierno honesto nunca ha fallado«, dijo. Cuando los periodistas la preguntaron sobre qué piensa del hecho que los habían confundido a su hermano y al secretario del estado por los actores norteamericanos Mel Gibson y Dennis Quaid, el presidente Molina dijo, »El foóografo tenía que estar usando unos lentes muy, muy largos!« State Journal, 5. Februar 1990: »Gouverneur schlägt Kürzungen vor« In einer Mitteilung an den Verwaltungsrat der Universität schlug Gouverneur Orville T. Early heute eine weitere Kürzungsrunde im Bildungsbereich vor. Der Gouverneur sagte, er würde auf Streichungen im Haushalt der staatlichen Universität in Höhe von fünf Millionen Dollar drängen. Um die geforderte Summe einzusparen, schlug er vor, daß die Universitätsverwaltung »all die Idioten rausschmeißt, die die Söhne und Töchter der Bürger unseres Staates aufstacheln. Das verlangen die Bürger unseres Staates, und so wird es auch geschehen.« Auf die Frage, ob die Streichungen im Etat als Strafe für die jüngsten Protestaktionen auf dem Campus gedacht sind, sagte Gouverneur Early: »Worauf Sie sich verlassen können.«
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60 Ob-La-Di, Ob-La-Da MARLY, die nach dem Mittagessen Feierabend gehabt hatte und auf dem Weg nach Hause nicht an Lafayette Hall vorbeigegangen war, wachte gerade von einem langen Nickerchen auf, als Nils sie aus der Notaufnahme des Krankenhauses anrief. Während sie zum Telefon ging, schaute sie auf ihre Uhr. Es war fast sieben, und sie hatte Vaters Abendessen verschlafen. Wo war Vater überhaupt? Sie nahm den Hörer beim vierten Klingeln ab, nachdem sie laut: »Vater? Vater? Bist du da?« gerufen hatte, ohne eine Antwort zu erhalten. Das ganze Haus lag im Dunkeln. »… hol mich bitte ab. Ivar hat noch mit der Polizei zu tun«, sagte Nils. »Wovon redest du?« »Also, Liebes, du wirst froh sein zu hören, daß ich nur leicht verletzt bin, obwohl ich bestimmt später noch Nackenprobleme bekommen werde. Und ich werde ihn verklagen, diesen kleinen –« »Ich habe geschlafen, Nils, und ich habe keine Ahnung, wovon du redest.« »Es handelt sich dabei um ein Grundübel unserer Gesellschaft. Man kann mir bestimmt nicht vorwerfen, besonders rachsüchtig zu sein, und ich versichere dir, daß sich mein Zorn nicht gegen die Person, sondern nur gegen die Tat richtet –« »Welche Tat?« Kurz darauf wurde Marly Hellmich klar, daß sie das einzige aufregende Ereignis, das im Laufe ihres Lebens 531
in dieser Stadt passiert war, verpaßt hatte. Nils wartete auf einem Stuhl direkt neben der Eingangstür. Er hatte seinen Mantel zugeknöpft, den Hut aufgesetzt und die Lederhandschuhe in der Hand. Marly sah ihn sofort, als sie die Notaufnahme betrat. Das heißt, bevor sie sich auf seinen Anblick vorbereiten konnte. Er erhob sich, lächelte höflich und sagte: »Da bist du ja, Liebes.« Zwei seiner Finger waren mit Heftpflaster zusammengeklebt, und auf seiner Stirn prangte ein weißes rundes Stück Mullbinde. Er legte eine Hand auf ihre Schulter. Er sah, noch mehr als sonst, so aus, als hätte man ihm den Hals aufgeschlitzt, ihn mit den Füßen nach oben aufgehängt und ausbluten lassen. »Nicht so schnell«, sagte er, während sie ihn zu ihrem Wagen führte. »Nils, bist du wirklich in Ordnung? Du siehst furchtbar aus.« »Es war grauenhaft, mein Liebes. Hast du mich in den Lokalnachrichten gesehen? Ich weiß, daß ich auf KCOM zu sehen war, aber nur für einen Moment, als man mich vom Tatort wegbrachte. Würde es dir etwas ausmachen, die Tür für mich zu öffnen, Liebes. Ich bin ganz steif.« Als er in den Wagen stieg, rutschte sein Schal nach unten, und sie sah die blauen Flecken an seinem Hals, deren violette Farbe sich deutlich von Nils’ leichenblasser Haut abhob. Sie wandte den Blick ab. Als sie den Schlüssel in das Zündschloß steckte, sagte sie: »Wer um alles in der Welt hat dich angegriffen?« Er richtete sich ächzend auf. »Ein ganz unbedeutender Zwerg, mein Liebes, dieser Vorsitzende des Gartenbauinstituts. Meiner Meinung nach ist er ein Irrer, ein echter Revoluzzer. Ich habe jahrelang Geduld mit ihm gehabt und ihm bei jedem neuen Schlag immer wieder auch die 532
andere Wange hingehalten. Also«, Nils’ Stimme wurde sehr leise, und Marly mußte sich anstrengen, um ihn noch zu verstehen. »Diesmal. Steckt. Er. Ganz. Tief. In. Der Klemme.« Marly mußte laut loslachen, aber Nils tat so, als höre er sie nicht. Sie fuhr vorsichtig, bremste schon bei gelben Ampeln, hielt bei Stoppzeichen so gewissenhaft nach herannahenden Autos Ausschau, als ob diese ohne Vorwarnung aus einer anderen Dimension auftauchen und mit ihrem zusammenstoßen könnten. Vielleicht war sie noch nicht ganz wach und darum etwas verwirrt, dachte Marly. Nils sagte: »Die Vorwürfe, die er gegen mich erhoben hat, waren hochgradig unbegründet. In Ceylon werden, soweit ich weiß, überhaupt keine Coca-Pflanzen angebaut! Und es ist doch kein Verbrechen, in Asien Mais anzupflanzen –« Er verstummte. Marly antwortete nicht. Sie war mit ihren Schuldgefühlen beschäftigt. War dieser Mann, ihr zukünftiger Ehemann, ihr gegenüber nicht vom ersten Tag an freundlich und großzügig gewesen? Hatte er sie nicht so genommen wie sie war, Vater und den Rest ihrer verrückten Familie akzeptiert, ihr Geschenke gemacht und ihr weitere Geschenke versprochen? In gewisser Weise hatte es sie aber gekränkt, daß er ihr Kleider und Schmuckstücke gekauft hatte, daß er für Vater einen Ohrensessel gekauft und dieses Geschenk mit der Bemerkung, der Sessel würde vorzüglich zu der Einrichtung der Backsteinvilla passen, abgetan hatte. Vater saß jetzt ständig in dem Sessel, er ließ sich hineinfallen, rutschte mit dem Hintern hin und her, drückte seine Schultern gegen die weichgepolsterte Lehne und fand, er habe noch nie bequemer gesessen. Nils’ Wohlstand und die Entbehrungen ihres bisherigen Lebens waren ihr anfangs wie eine perfekte Kombination erschienen, aber jetzt, während sie den 533
Wagen vorsichtig durch den Verkehr steuerte, kamen ihr seine Geschenke aufdringlich vor. Ihre Sympathien lagen beim Angreifer, nicht bei Nils. Marly kannte zwar das Motiv des Mannes nicht, aber sie konnte sich ohne Schwierigkeiten eines vorstellen. Er hatte einfach auf dem Bürgersteig gestanden, und dann war Nils Harstad vorbeigekommen, blaß, geschäftig und wichtigtuerisch, und dann hatte der Mann einfach seinem Impuls nachgegeben. Das war alles. Er hatte gespürt, wie sich seine Faust ballte und seine Muskeln anspannten. Nils konnte eine solche Reaktion provozieren. Er konnte einen dazu bringen, daß man den Wunsch verspürte, ihn einfach zu boxen oder zu würgen oder ihm ein Bein zu stellen. Als Nils sich mit auswärts gekehrten Füßen und einem milden Lächeln auf den Lippen genähert hatte, war der Wunsch übermächtig geworden, die Hände hatten sich wie von selbst auf seinen Hals zubewegt und zugedrückt. Das war in gewisser Hinsicht beruhigend, denn dadurch wurden dieselben Gefühle bei ihr selbst weniger verwerflich. Sie kamen bei der Backsteinvilla an. Er öffnete die Beifahrertür, aber sie machte keine Anstalten auszusteigen. Er sagte: »Komm mit rein, Liebes. Ivar ist nicht zu Hause, und es wäre schön, deine zarte Hand auf meiner wunden Stirn zu spüren.« Marly rührte sich nicht. »Ich werde dir erzählen, wie sich alles abgespielt hat.« »Tut mir leid, Nils. Wirklich. Aber ich habe Vater noch nicht sein Abendessen gemacht. Du weißt ja, wie er ist. Vielleicht komme ich später noch mal vorbei. Du kommst sicher auch ohne mich zurecht.« Nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander gesessen hatten, öffnete Nils die quietschende Tür bis zum Anschlag (nicht zu verglei534
chen mit den Türen seines Lincoln, die, so schwer sie auch waren, fast von alleine aufgingen) und stemmte sich mit einem leisen Ächzen hoch. Marly beugte sich über das Lenkrad. Als er fast bei der Haustür angekommen war, drehte er sich um, und sie winkte ihm mit einer ausladenden Handbewegung zu und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. I VAR LAG auf Helens Couch und hörte eine Sinfonie A concertante von Mozart auf CD. Er konnte allerdings nichts sehen, denn Helen hatte ihm ein besonders wohlriechendes warmes Handtuch auf das Gesicht gelegt. Sie selber war in der Küche und bereitete eine leckere Kleinigkeit zu essen vor, damit er wieder zu Kräften kam, bevor er wegen eines Treffens mit dem Universitätspräsidenten in sein Büro zurückkehren mußte. Ivar kannte seine Position ganz genau, und mehr noch, er akzeptierte sie als seine Aufgabe. Die Universität war zu einem weiten, offenen Feld geworden, in dessen Mitte er aufrecht stand, während alle anderen sich duckten oder flohen. Sein Job bestand darin, stehenzubleiben, zu lächeln und so zu tun, als wäre alles in Ordnung, während um ihn herum die Presse, der Senat der Dozenten, der Verwaltungsrat, die Volksvertreter, die Staatskanzlei und die Eltern der Studenten aus dem Hinterhalt auf ihn schossen. Er mußte die ganze Zeit ein lächelndes Gesicht zeigen und bestimmte Worte wie »betroffen«, »Situation« und »selbstverständlich« ständig wiederholen, auch wenn andere, zutreffendere Worte ihm durch den Kopf schwirrten. Eines davon war »Sündenbock«. Er hörte Schritte, dann sagte Helen: »Warum essen wir nicht gleich hier, im Wohnzimmer?« Ivar nahm das Handtuch vom Gesicht. Sie stand über ihm, lächelnd, einen Teller in jeder Hand. Nachdem er 535
sich aufgerichtet hatte, sah er, daß ein dreieckiges Stück Pizza auf seinem Teller lag, aber es war nicht einfach mit Käse und Salami belegt, sondern mit einer Komposition aus sonnengetrockneten Tomaten, Artischockenherzen, Feta, Walnüssen, gerösteten Knoblauchzehen und Basilikum, und ein außerordentlich verführerischer Duft stieg auf. Helen stellte den Teller vor ihn hin. Sie sagte: »Hast du den Arzt erreicht?« »O ja, und Nils ebenfalls. Der Arzt sagt, es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, und Nils verbringt den Abend mit Marly, in der Beziehung brauchen wir uns also keine Sorgen zu machen.« »Was ist mit, na du weißt schon, dem Vorsitzenden?« »Nils wird nicht verhaftet werden. Mindestens vier Zeugen bestätigen, daß Nils schon ein paar Meter von ihm entfernt war, als X auf dem Eis ausrutschte, mit dem Hinterkopf gegen die Umrandung des Springbrunnens stieß und das Bewußtsein verlor. Außerdem war er der Angreifer. Alle bestätigen das.« »Elaine ist zu Hause. Sie hat eine Beule über einem Auge, aber sie mußte nicht zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben, weil sie nicht bewußtlos gewesen ist. Ich habe versprochen, später bei ihr vorbeizuschauen.« Ivar war auf alle drei wütend, nicht weil sie etwas Bestimmtes getan hatten, sondern weil sie etwas Bestimmtes waren: ein Mann, der leicht zu provozieren war, ein Mann, der häufig andere provozierte, und eine Frau, die es genoß, wenn alle Augen auf sie gerichtet waren. Er biß die Spitze seiner Pizza ab. Auch noch Anchovis. Er kaute anerkennend. Er sagte: »Gottseidank sind keine Studenten verletzt worden. Das wäre ein Alptraum gewesen.« Er aß ein weiteres Stück, schaute zu, wie Helen ihr Glas 536
Lambrusco an die Lippen führte (angesichts des Treffens mit dem Präsidenten, einem AAler, der diese Organisation für die Rettung Amerikas und das erfolgreichste Geldbeschaffungsnetzwerk der Welt hielt, hatte er sich für Mineralwasser entschieden), und sagte: »Was ist, wenn ich wieder ans Institut für Physik zurückkehren muß?« »Was sein muß, muß sein, Ivar.« »Ich mußte selber erst wieder die Schulbank drücken, um wenigstens einen Einführungskurs abhalten zu können. Ich habe den Anschluß vollkommen verpaßt.« »Ich bin sicher, es wird nichts dazu kommen.« »Weißt du, ich hatte sehr romantische Vorstellungen von der Physik, als ich mit dem Studium anfing. Ich kam über die Astronomie und die Urknall-Theorie zur Physik, aber eigentlich fühlte ich mich eher zur Theorie des stationären Kosmos hingezogen. Das Studium war meine Form der Kontemplation. Während der ganzen Zeit, die ich auf dem College und der Universität war, habe ich mich jeden Abend mit der Vorstellung zum Einschlafen gebracht, der Kosmos mit seiner ungeheuren Größe und Leere sei in meinem Kopf. Ich lag in meinem Bett und stellte mir die kosmische Dunkelheit vor oder sann, je nach Stimmungslage, über die zufällige Streuung von Licht nach. Dunkelheit oder Licht. Erst Dunkelheit, DANN Licht. Es klappte. Jede Nacht sank ich in tiefe Entspannung und schlief acht erholsame Stunden. Das war der entscheidende Punkt. Ich war anders als einige meiner Kommilitonen, die es wirklich aufregend fanden, sich Experimente auszudenken oder über starke Wechselwirkung und schwache Wechselwirkung zu debattieren. Außer meiner Einschlafmethode interessierte mich nur noch, wie Oppenheimer damals all die gegensätzlichen Persönlichkeiten dazu gebracht hatte, gemeinsam in 537
der Wüste zu leben. Ich kannte keinen einzigen anderen Physiker, den nicht schon der bloße Gedanke an den Begriff der Persönlichkeit langweilte. Ich glaube, es hat mir alles in allem doch sehr viel Spaß gemacht, in der Verwaltung zu arbeiten.« Er seufzte. »Möchtest du noch ein Stück?« sagte Helen. »Es ist schon fast acht.« »Laß uns heiraten«, sagte er. Da er sah, wie ihr Gesicht unwillkürlich einen entsetzten Ausdruck annahm, fuhr er hastig fort: »Laß uns heiraten, auch wenn wir nicht für die Ehe geschaffen sind, und ich dich zum falschen Zeitpunkt und aus völlig falschen Gründen darum bitte. Ich will dich aus Angst heiraten und weil Nils heiratet! Ich will hier leben, weil Marly und Vater sich bei mir breitmachen, und darum will ich mich bei dir breitmachen. Ich werde langsam alt, und ich bin allein, und ich will mich nicht so allein fühlen!« Helen stand auf und ging in die Diele. Sie kam mit seinem Mantel zurück. Sie schien sich plötzlich um Lichtjahre von ihm entfernt zu haben. Er schaute zu ihr hoch und sagte: »Unsere Heirat kann nicht durch Vernunftgründe oder Konventionen gerechtfertigt werden. Wir sind, so wie es ist, miteinander glücklich. Wir sind mit unserer Beziehung zufrieden, so wie sie ist, es gibt keinen Grund, warum sie nicht für den Rest unseres Lebens halten sollte. Wir fänden es schön, wenn es so kommen würde. Aber Helen…« Er schluckte den letzten Bissen seiner Pizza hinunter, stand auf und wischte sich dabei mit der Serviette den Mund ab. Sie half ihm in den Mantel. Sie schien gar nicht richtig anwesend zu sein. »… Helen, ich will es. Ich will heiraten. Dich natürlich. Ich will dich heiraten!« 538
»Ivar –« Sie begleitete ihn zur Tür. »Sag fürs erste ja, aus den völlig falschen Gründen und zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Nur fürs erste. Laß das Wort ›Ja‹ über deine Lippen kommen.« Sie sagte: »Ja.« Er machte die Tür auf und trat auf die schmale Veranda. Er wagte nicht, sie anzusehen. Er ging die Stufen hinunter und näherte sich dem Bürgersteig. Sein Auto, dachte er, war bestimmt kalt und ungemütlich. Er wollte, daß sie ihn daran hinderte, zu gehen, nur dieses eine Mal. Dann rief sie von der Haustür aus mit lauter Stimme: »Rutsch nicht auf dem Eis aus und laß nicht zu, daß sie Mrs. Walker feuern!« B ETH WAR sich nicht sicher gewesen, welches Verhalten die Krankenhausetikette für Ex-Frauen vorsah, die, obwohl alle es annahmen, gar nicht richtig mit ihren Männern verheiratet waren, die vier Kinder mit besagten Nicht-Ehemännern hatten, deren Kinder aber nicht mit ihrem Vater sprachen, weil er sich mit einer jüngeren Frau eingelassen hatte, obwohl die Regeln ihrer nichtehelichen Vereinbarung, von der niemand wußte, die Partner zumindest theoretisch zu Seitensprüngen ermunterte, um die kapitalistische Tradition der Ehe als einer auf der Eigentumsidee basierenden Beziehung und die sich daraus ergebende Einmischung der Gesellschaft ins Privatleben zu untergraben. Einfacher formuliert wußte Beth nicht, ob X sie sehen wollte, wenn er das Bewußtsein wiedererlangte. Allerdings würde er gar nicht wissen, ob er sie sehen wollte, denn er hatte sich so daran gewöhnt, seinen Wünschen zu mißtrauen, daß er sie, wenn es sich irgendwie vermeiden ließe, nicht zu Rate zog. Die Kinder, die eine Stunde lang im Krankenhaus gewesen waren 539
und sich jetzt in der Obhut einer Babysitterin zu Hause befanden, waren in dieser Angelegenheit keine Hilfe. Schon allein die Tatsache, einen Vater zu haben, der eine politische Aktion vor den Verwaltungsgebäuden der Universität anzettelte, paßte nicht in ihre Auffassung von Etikette. Beth war eine Weile bei ihm im Zimmer gewesen. Er war immer noch bewußtlos, obwohl die Ärzte sagten, daß es ihm relativ gutging. Sein CCT zeigte eine leichte Schwellung an der Stelle der Verletzung, aber keine tiefgreifende Schädigung. Sie deuteten, ohne es zu sagen, an, daß er absichtlich so tat, als wäre er bewußtlos. Ihr ebenfalls unausgesprochener Kommentar dazu war: »Das würde ich ihm durchaus zutrauen.« Jetzt stand sie im Vorraum der Eingangshalle und rauchte eine Zigarette, die erste seit acht Jahren. Der Rauch schmeckte gleichzeitig grauenvoll und wunderbar. Über den dunklen Parkplatz ging, sorgsam den Eisflächen ausweichend, eine Frau auf das Krankenhaus zu, von der Beth mit Sicherheit wußte, daß SIE es war. Das war eine Situation, in der Beth sich mit der Etikette auskannte. Wie es sich gehörte, unterzog Beth die Frau, während sie näher kam, einer Musterung. Schicke Stiefel, schicke Mütze, aber es waren draußen nur knapp zehn Grad unter Null, und sie war eingemummelt, als wären es dreißig. Eine Gewächshauspflanze. Nachdem sie die Tür geöffnet und den Vorraum betreten hatte, blieb sie stehen, um den Schnee von den Stiefeln zu klopfen, und dann nahm sie ihre Mütze ab und zog ihre Fausthandschuhe aus. Dunkles Haar ergoß sich über ihre Schultern. Ihre Hände waren hell und graziös und langfingrig. Sie ließ eine von ihnen durch ihr Haar gleiten und zog es aus dem Kragen. Die Etikette verlangte von Beth, ihr mit einem bedeutungsvollen Blick zu verstehen zu geben, daß sie sich 540
über ihre, nun ja, eine Beziehung konnte man es nicht direkt nennen, eher eine emotionale Verquickung, im klaren war. Beth tat es nicht. Statt dessen drückte sie die Zigarette aus und folgte der Frau in die Eingangshalle, als gäbe es keine Verbindung zwischen ihnen. Die Frau hielt die Fahrstuhltür für sie auf und sagte, als Beth neben ihr stand, freundlich: »Welcher Stock?« »Dritter«, sagte Beth. »Oh«, sagte die Frau. »Da will ich auch hin. Ein Freund von mir ist bei dem Krawall heute bewußtlos geschlagen worden.« »Tatsächlich?« sagte Beth. Die Frau fing an zu weinen. Die Haut um ihre Augen herum war so zart, daß sie sofort rot anlief. Es schien, als sei sie aus einem besonders edlen durchscheinenden Material. Die Frau sagte: »Es ist nicht ganz klar, was passiert ist. Ich war vor ein paar Stunden schon mal hier.« Da müssen wir uns verpaßt haben, dachte Beth. »Aber er war vorhin noch bewußtlos. Augenzeugen haben mir erzählt, es sei entsetzlich gewesen.« »Ach, tatsächlich?« sagte Beth. Die Frau schwieg. Wenn sie wirklich Fremde auf dem Weg zu verschiedenen Patienten gewesen wären, hätte Beth ihr erzählt, warum sie ins Krankenhaus gekommen war, aber so tat sie es nicht. Der Fahrstuhl hielt an, die Tür ging auf, und Beth ging hinter der Frau her. Bei ihrem Täuschungsmanöver hatte sie das Dienstzimmer ganz vergessen. Die diensthabende Schwester blickte beim Klingeln des Fahrstuhls hoch und sagte: »Oh! Mrs. X! Ich glaube, er kommt langsam zu sich!« Die Frau wirbelte herum und starrte sie an. Beth lächelte und streckte die Hand aus. »Oh!« sagte 541
sie. »Sie müssen Cecelia sein! Wie schön, Sie kennenzulernen. Ich bin Beth.« Cecelia schüttelte ihr die Hand. Schließlich gingen sie gemeinsam zu ihm hinein. Beth hielt für Cecelia die Tür auf, aber dann blieb Cecelia am Fußende des Bettes stehen, während Beth sich dort hinstellte, wo er sie sehen würde, wenn er die Augen aufschlug. Und sie war davon überzeugt, daß er die Augen öffnete. Sie beobachtete ihn. Seine Augen öffneten sich, und sie hätte schwören können, daß er sie sah, aber dann schlossen sie sich wieder und blieben geschlossen. Kein Flattern der Augenlider und kein Anzeichen dafür, daß sein Gehirn sich bemühte, das Bewußtsein wiederzuerlangen. Er hatte sie gesehen, dachte sie, und spielte jetzt Verstecken. Nachdem sie zehn Minuten lang seine Hand gehalten und für Cecelia zärtliche Betroffenheit vorgetäuscht hatte, drehte sie sich zu Cecelia um und sagte: »Wir können hier nichts tun. Wie wär’s, wenn wir uns eine Weile in den Warteraum setzen?« Cecilia, die angesichts des dicken Verbandes auf seinem Hinterkopf wieder Tränen in den Augen hatte, nickte. Sobald die Tür hinter ihnen zugefallen war, öffnete der Vorsitzende X die Augen, schaute sich um und schüttelte sich dann kurz. Ein leichtes Koma zu imitieren, war ein schweres Stück Arbeit, besonders wenn Beth einem die Hand hielt. Ihre Lebendigkeit war wie eine Stromleitung, deren Elektrizität sich zwangsläufig durch diesen Kontakt übertrug, egal wie sehr man bemüht war, sich die eigene Hand als eine gekochte Nudel oder ähnliches vorzustellen. Er atmete tief durch. Sein Kopf dröhnte. Das Zimmer schien ein wenig nach links zu kippen, und er war froh, daß es nur matt erleuchtet war. Der Monitor, an den er angeschlossen war, zeigte die Zahl »69« an. Das mußte seine Herzfrequenz sein. Eine weitere Zahl 542
war »36,6«. Das mußte seine Temperatur sein. Er war also gesund. Es war außer ihr noch jemand im Zimmer gewesen, vielleicht ihre älteste Tochter. Obwohl er mit ihr genausowenig sprechen wollte wie mit Lady X, war der Gedanke angenehm, daß sie genug für ihn empfand, um mit ins Krankenhaus zu kommen und am Fußende seines Bettes zu stehen. Der Vorsitzende X lächelte. Alles in allem war es ein erfolgreicher Arbeitstag gewesen. Er wußte nicht genau, warum er im Krankenhaus lag oder welcher Tag es war – das letzte, woran er sich erinnerte, war, wie die Menschenmenge: »Stoppt die Zerstörung! Stoppt die Zerstörung!« gerufen hatte. Offensichtlich hatte sich danach noch etwas ereignet – hatte ihn vielleicht einer der Polizisten mit dem Griff seiner Pistole niedergeschlagen? –, aber er gab sich damit zufrieden, die Erinnerungen zu genießen, die er hatte. Bei der dritten morgendlichen Protestaktion waren sogar noch mehr Studenten – beinahe dreißig – erschienen als bei den beiden vorherigen. Etwa zur Frühstückszeit und dann noch einmal gegen zehn Uhr hatte er zu der Menge – die am Ende auf mindestens hundert Menschen angewachsen war – gesprochen. Zuerst hatte er über den unberührten Nebelwald in Costa Rica gesprochen, dann über die Ozonschicht, die globale Erwärmung, die Zerstörung von Lebensräumen, die abnehmende Artenvielfalt und die Überbevölkerung. Er hatte ohne Punkt und Komma geredet, und seine Zuhörer hatten ihm lauthals zugestimmt. Dank seiner langjährigen Unterrichtserfahrung besaß er das Lungenvolumen und die Improvisationsfähigkeit, die man für endlose Ansprachen brauchte, und er hatte mit seiner Eloquenz ein Netz gespannt, das er über die Köpfe seiner Zuhörer ausgeworfen hatte. Dann hatte er das Netz eingeholt. 543
Ohne darüber nachzudenken, griff er nach dem Telefonhörer und wählte einen Außenanschluß. Er mußte Joe, seinen wissenschaftlichen Assistenten, fragen, ob die morgige Protestaktion wie geplant stattfinden würde. DRAUSSEN IM W ARTERAUM sagte Cecclia: »Nein! Sie sagen immer, daß der Gefangene sich aus Verzweiflung oder irgendeinem anderen Grund selbst aufgehängt hat. Dabei hat man ihn zusammengeschlagen!« Beth gab ihrer Stimme einen besänftigenden Tonfall: »Cecelia, ich weiß, daß sie das immer sagen, und in den meisten Fällen ist es eine Lüge, aber diesmal liegt der Fall anders. Er ist tatsächlich auf dem Eis ausgerutscht und mit dem Kopf gegen die Mauer des Springbrunnens geprallt. Ich bin überzeugt, daß es so gewesen ist, weil Joe es mir erzählt hat. Joe ist auf seiner Seite. Er hat genau gesehen, was passiert ist.« JOE SAGTE zum Vorsitzenden X: »Mist! Wollen Sie damit sagen, daß Sie sich nicht daran erinnern, wie Sie auf Dekan Harstad losgegangen sind? So’n Scheiß, Mann! Sie haben ihn gewürgt, bis ihm die Augen hervortraten! Und die ganze Zeit haben Sie gebrüllt: ›Geben Sie’s zu! Geben Sie’s zu! Geben Sie’s zu, daß die Grüne Revolution Teufelswerk war! Geben Sie zu, daß Kokain die definitive Marktfrucht ist! Geben Sie zu, daß Sie eine miese nutzlose Existenz sind!‹« »Ich erinnere mich nicht, auch nur irgend etwas davon gesagt zu haben«, sagte der Vorsitzende X. »Sie erinnern sich nicht daran, daß Sie sich mit ihm im Schnee herumgewälzt haben? Oh, Scheiße, Mann, ich glaube, Sie haben ihn sogar gebissen. Sie sind völlig durchgedreht, Mann!« Joe klang voller Bewunderung, 544
und der Vorsitzende X fühlte sich versucht, dem nachzugeben. »Und dann bin ich auf dem Eis ausgerutscht und habe mir den Kopf gestoßen und war anschließend bewußtlos? Er hatte damit nichts zu tun?« »Nee, Mann, wir haben Sie von ihm runtergezerrt, und irgendein alter Knacker hat ihn zur Sanitätsstation gebracht, und Sie standen einfach nur da, und dann lagen Sie plötzlich auf dem Boden!« »Wo war Gift? Bin ich auch auf den losgegangen?« »Mann, ich weiß nicht, nein, auf den nicht, ich weiß gar nicht, wer das ist.« I M DIENSTZIMMER sagte eine Krankenschwester zu einer anderen: »Schau dir das an. Sein Telefonlämpchen leuchtet auf. Ich dachte, er wäre noch bewußtlos.« C ECELIA SAGTE: »Wissen Sie, um die Wahrheit zu sagen, manchmal habe ich das Gefühl, daß er nicht besonders oft an mich denkt. Eine Zeitlang rief er mich zehnmal pro Tag an, aber immer nur, um mir den Namen einer weiteren Pflanzenart zu nennen, die durch die Goldmine ausgerottet werden würde. Über Weihnachten ist mir klargeworden, daß ich viel mehr in unsere Beziehung investiere als er –« »Ich weiß, was Sie meinen, obwohl ich mich im Laufe der Jahre daran gewöhnt habe. Aber allein dadurch, wie er über Sie gesprochen hat, weiß ich, daß Sie ihm wirklich etwas bedeuten. Es ist nicht nur Ihr Aussehen –« »Die Sache ist die, er glaubt, ich stamme aus Costa Rica, aber in Wirklichkeit stamme ich aus L.A. Mein Vater ist Mexikaner. Eigentlich habe ich nicht sehr viel mit Costa Rica zu tun, aber er kommt immer wieder darauf zurück. Ich habe mir angewöhnt –« Cecelia schau545
te Beth an. Sie war erstaunt über das Geständnis, das sie im Begriff war abzulegen, aber Beth wirkte so vertrauenerweckend, und Cecelia hatte das alles schon zu lange mit sich herumgetragen – »etwas zu erfinden, wenn er mich über Costa Rica ausfragte. Ich habe ihm, naja, einfach lauter Lügen erzählt.« Cecelia betrachtete ihre Hände, denn sie schämte sich plötzlich. »Ich wollte, daß er mich weiterhin besucht.« »Das klingt, als wären Sie sehr einsam gewesen.« NACHDEM DIE KRANKENSCHWESTER endlich das Zimmer verlassen hatte, entspannte sich der Vorsitzende X, öffnete die Augen und dachte über das nach, was ihm Joe erzählt hatte. Er hatte es getan! Er war tatsächlich diesem Drecksack Harstad an die Kehle gegangen, hatte ihn zu Boden geworfen, versucht, die Wahrheit aus ihm herauszuprügeln, und er konnte sich einfach nicht daran erinnern! Wenn er sich durch seine Kopfschmerzen hindurch zu seinen Erinnerungen vorkämpfte, was er seit dem Auflegen des Telefonhörers bereits zweimal getan hatte, fand er dort überhaupt nichts außer der altbekannten Vorstellung, wie es sich vielleicht, wahrscheinlich, mit Sicherheit anfühlen würde, wenn seine Hände Harstad würgten und Harstads wasserfarbene Augen hervortraten und er mit blau angelaufenen Lippen krächzte: »Ich bereue es, einheimische Agrarsysteme zerstört zu haben! Ich bereue es, empfindlichen und vielfältigen Ökosystemen Monokulturen aufgezwungen zu haben! Ich bereue es, arrogant und dumm gewesen zu sein! Ich bereue es, Menschen, die sich in ihren ökologischen Nischen eingerichtet hatten, wie Idioten und Schurken behandelt zu haben!« Aber leider hatte er keine Erinnerung daran, wie es sich tatsächlich angefühlt hatte. Der Vorsitzende X betrachtete seine Hände. Er hatte einmal vom kinästheti546
schen Gedächtnis gehört, aber das funktionierte nicht auf der Ebene des Bewußtseins. Wenn er es richtig verstanden hatte, hieß das einfach nur, daß seine Muskeln und Sehnen schon wissen würden, was sie zu tun hätten, wenn er Harstad jemals wieder zu fassen bekäme. Leider aber, und für diesen unwillkommenen Gedanken gab es keinen Trost, hatte er nicht Hand an Gift gelegt. Gift schwebte wie üblich auf einer Wolke aus Geld über dem, sagen wir mal, Gemetzel. Als sich die Fäuste des Vorsitzenden X bei diesem Gedanken ballten, tat ihm der Kopf so weh, daß er sich wünschte, wieder bewußtlos zu sein. I M DIENSTZIMMER sagte die eine Krankenschwester zur anderen: »Seine Vitalfunktionen sind normal, aber ich konnte keinerlei Reaktionen bei ihm auslösen.« »Vielleicht will er einfach seine Ruhe haben. Wach ist er auf jeden Fall. Wir machen folgendes: wenn das Telefonlämpchen wieder aufleuchtet, geht eine von uns in sein Zimmer und überrascht ihn, während er spricht.« »Und was ist mit den beiden da drüben?« Sie deutete auf Beth und Cecelia, die in ein Gespräch vertieft waren. »Ehefrau. Geliebte. So etwas habe ich schon tausendmal erlebt. Weißt du, es ist sicher für alle Beteiligten das beste, wenn die beiden das unter sich ausmachen.« E S WAR SPÄT , fast zwei Uhr. Der Studentenkrawall, dachte Gary, war toll gewesen, eine echte Erfahrung für Larry, sein literarisches Alter ego. Trotzdem wollte er nicht sofort darüber schreiben, denn Mr. Monahan hatte ihnen immer wieder geraten, ihre Eindrücke eine Weile ruhen, schlummern, brachliegen, gären und keimen zu lassen. Dennoch hatte er sich ununterbrochen Notizen gemacht. 547
Auf eine Passage war er besonders stolz: »Eine Frau mit einem roten Mantel kommt aus der Tür. Der Typ neben mir sagt zu einem anderen Typen: ›Ich wette mit dir um einen Sechserpack Molson, daß ich es schaffe, den Stein hier durch das kleine Fenster in der Tür da drüben zu werfen‹, und der andere Typ sagt: ›Abgemacht‹, und dann traf er sie voll auf die Stirn, und die beiden Typen standen da und sagten: ›Verdammte Scheiße! Verdammte Scheiße! Hat das jemand gesehen? Scheiße, du hast sie getroffen! Schscht! Scheiße, hast du sie etwa absichtlich getroffen? Quatsch! Ich wollte nur das kaputte Fenster treffen, und plötzlich stand die blöde Kuh mitten im Weg! Und wenn sie nun tot ist, Mann? Die ist nicht tot! Scheiße! Ich glaub’s einfach nicht! Laß uns bloß abhauen!‹« Er hatte den Dialog so niedergeschrieben, wie sie es im letzten Semester bei Mr. Monahan geübt hatten, nur war er inzwischen schneller und genauer geworden. Außerdem gefiel ihm der Dialog, denn er war spannend, obwohl er, wie ihm jetzt klar wurde, nicht besonders viel über die idiosynkratischen Persönlichkeiten der Protagonisten aussagte. Das würde er später hinzufügen müssen. Und kurz nachdem er diesen großartigen Dialog aufgeschrieben hatte, traf er zufällig Bobs Ex-Freundin Diane. Mmmm. Diane. Sie trug eine neue, dunkelgrüne Lederjacke, einen perfekt dazu passenden Wollhut und tolle schwarze Stiefel, und sie war seeeeehr freundlich zu ihm gewesen. Vielleicht lag es an der gefährlichen Situation, in der sie sich wegen des Studentenkrawalls befanden. Also blieb er in ihrer Nähe, und dann gingen sie zusammen essen und ins Kino, und dann gingen sie nochmal etwas essen, und lange Rede, kurzer Sinn, Gary hatte sich verliebt. Es war schon nach eins gewesen, als er sie zurück nach Dubuque House brachte. Er fühlte sich großartig. Er war völlig aufgekratzt und 548
glücklich. Für den Rest des Semesters eröffneten sich ihm ganz neue Perspektiven. Mmmm mmm mmmm. Natürlich würde es mit Bob in der Nähe nicht einfach werden, aber wo ein Wille war, war auch ein Weg. Mmmmm. Gary zog seinen Stuhl unter dem Schreibtisch hervor und setzte sich an den Computer. Er drückte die »Enter«-Taste, und der Bildschirmschoner verschwand. Oh, dachte er, ahhhhhhhh. »Geben Sie bitte einen Dateinamen ein«, stand auf dem Bildschirm. Gary ließ seine Finger einen Augenblick über die Tastatur schweben, dann tippte er »Donna.TXT« ein. »Donna« eine Geschichte von Gary Olsen Hoch über der Skyline von Manhattan wandte sich Donna Halvorson, Aufsichtsratsvorsitzende der Megavestments Corporation of the World, von ihrem Computerbildschirm ab und starrte aus dem Fenster. Es war 2 Uhr 18 morgens, und in keinem der gegenüberliegenden Büros arbeitete so spät noch jemand. »Was habe ich nur falsch gemacht?« fragte sich Donna selber, während ihre perfekt manikürten Finger über ihr Fünftausend-Dollar-Nadelstreifenjackett aus Kaschmir strichen. »Ich habe alles erreicht, was ich mir erträumt habe, aber
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Teil 5
61 Abspecken ALS DIE KOLLEGEN bei der Konferenz auf Margarets Namensschild lasen, von welcher Universität sie kam, sagten alle: »Oh, da habe ich doch etwas in den Nachrichten gesehen. Hat es bei Ihnen nicht…« »Ist das nicht erstaunlich?« säuselte Margaret. »Studentenunruhen zu dieser Jahreszeit?« Mehr wollte sie zu diesem Thema nicht sagen. Zu Hause hatten sich die Heckenscheren, die hier und da ein bißchen am Etat herumgeschnippelt hatten, plötzlich in eine Kreissäge verwandelt, die im Augenblick alle Abteilungen, die größten Fichten im Biotechnikum ebenso wie die schlankesten Weiden bei den Theaterwissenschaften, bearbeitete. Margaret wartete nur darauf, daß irgend jemand auf der Konferenz, vielleicht ein hochrangiger Verwaltungsbeamter, zu ihr sagen würde: »Ich nehme an, Sie sind auf der Suche nach einem neuen Aufgabenbereich. Wie es der Zufall so will, ist an unserer Universität –« (Yale, Berkeley, stellte Margaret sich vor, oder, je nach Stimmung, die Universität von Hawaii oder den Jungferninseln). Bestimmt könnte sie gehen, vielleicht könnte sie gehen, wer, wenn nicht sie, könnte gehen – Ach, aber hier, auf halbem Weg zwischen Sea World und dem Magic Kingdom, rückten die Einzelheiten ihres Lebens zu Hause stündlich in immer weitere Ferne. Für den Fall, daß ihr Flugzeug abstürzen sollte, hatte Margaret vorsichtshalber alle Tests und Klausuren benotet und zurückgegeben, alle Anwesenheitslisten und mündlichen Noten überprüft und außerdem ihr Testament auf den neuesten Stand gebracht. Sie war extra in die 551
Versorgungsabteilung gegangen, um den Namen ihres jüngsten, neun Monate alten Neffen auf die Liste der Begünstigten ihrer Universitätslebensversicherung setzen zu lassen. Das war die alte Margaret gewesen, von der sie geglaubt hatte, sie sei ihr wahres Ich. Seit ihrer Ankunft hier hatte sie ihre Persönlichkeit dekonstruiert, und das gefiel ihr gut. Die Margaret, die sich im Foyer, ihrem Zimmer und der Hotelanlage umgeschaut hätte, nur um dann zu sagen: »Davon hat man uns also bisher ausgeschlossen«, war verschwunden, und die neue Margaret schaute sich um und sagte: »Hier will ich bleiben.« Nein, das stimmte nicht ganz. Sie sagte überhaupt nichts. Ihre Wünsche waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Ihr Verstand saß auf dem Rücksitz, und das Auto fuhr ganz von allein. Angefangen hatte es damit, daß sie die Augen aufschlug und die in zartem Pfirsichrosa und sattem Grün gehaltene Einrichtung ihres Zimmers erblickte, die ihr zuzurufen schien: »Lehn dich zurück, dreh dich noch mal um, rutsch tiefer zwischen die weichen Laken, dein Frühstück kommt gleich!« Sollte sie die »Morning Edition« hören? Das Radio stand in Reichweite. Oder wenigstens »The Today Show«? Sie hatte die Fernbedienung schon in der Hand. Nein! Sie schaltete den hoteleigenen Wetterkanal ein, auf dem Panorama-Aufnahmen der Anlage gezeigt wurden, eine wohltuende Stimme leichten Wind, »angenehme« 25 bis 27 Grad und reichlich Sonnenschein versprach, nur gelegentlich unterbrochen von kurzen Berichten über weit entfernte Blizzards, in denen eine rauhe, verzweifelte Männerstimme verkündete: »Ein weiteres umfangreiches Sturmtief zieht über die mittleren Landesteile hinweg, und in zahlreichen Gegenden kommt es zu Eisregen und Schneefällen.« Nachdem sie eine geschlagene Stunde lang die Wetterberichte verfolgt und 552
dabei eine makellose halbe Melone gelöffelt, ein halbes Croissant verspeist und ein großes Glas Orangensaft getrunken hatte, stand sie auf und zog ihren Badeanzug an. Ihr Tatendrang reichte gerade aus, um zum Swimmingpool zu gehen. Man konnte das Becken von ihrem Zimmer aus sehen. Es lag vierzehn Stockwerke unter ihrem privaten Balkon, traumhaft und verlockend, ein sechseckiger Aquamarin, ein Edelstein, in den man eintauchen konnte. Während sie auf die Schwimmer hinunterblickte, sah sie, wie sich die Oberfläche des Steins scheinbar wie durch Magie über den Schwimmern schloß, glatt, geheimnisvoll und einladend. Nach all den Jahren (ihr Intellekt, dieser nörgelnde Beifahrer, lachte nervös darüber) fühlte sie sich endlich wie die Prinzessin, eine Rolle, die ihr »wahres Ich« verachtet hätte, aber hier war sie nun und kostete die magischen Kräfte aus und genoß die magischen Speisen. Daß es noch viele andere Prinzen und Prinzessinnen bei der Konferenz gab, störte sie nicht, es beruhigte sie eher. Zwanzig Bahnen im Edelstein am ersten Tag, dreißig am zweiten, dann hörte sie auf zu zählen. Die Konferenz begann immer erst nachmittags um zwei und dauerte dann zwei Stunden, und dann gab es Cocktails und Abendessen. Der anschließende Vortrag dauerte jeweils nur eine Stunde. Sie war erstaunt; offensichtlich konnte sie dieser unaufhaltsamen und außerordentlich angenehmen Verdrängung ihres »wahren Ichs« nicht widerstehen. Am dritten Tag ging sie in die Boutique des Hotels und kaufte ein seidenes Cocktailkleid für fünfhundert Dollar. Es hatte dieselben Farben wie die Einrichtung ihres Zimmers und glitt über ihren Körper wie das Wasser des Swimmingpools, nur verfingen sich die hauchzarten Träger an ihren Schultern und blieben dort hängen. Den Rock schien 553
ständig eine leichte Brise zu durchströmen. Sie bezahlte das Kleid mit ihrer MasterCard, die sie nur für Notfälle besaß und fast nie benutzte. Bei der Cocktailparty am selben Abend bemerkte sie, wie Cates sie über die dämmrige Terrasse hinweg anschaute, als kenne er sie nicht und habe sie nicht während der letzten Jahre bei Hunderten von Ausschußsitzungen gesehen. In dieser Nacht blieb sie noch lange auf. Sie saß auf ihrem Bett, ohne Make-up und ohne Strümpfe und ohne Schuhe, aber unfähig, das neue Kleid auszuziehen, und las noch einmal den Vortrag, den sie am nächsten Tag halten wollte. Sie sah sich im Spiegel neben dem Fernseher, ihr Kleid glänzte, und ihre Haut schimmerte im warmen Licht der Nachttischlampe. Was das Aussehen anging, gehörte sie eigentlich zu den Frauen, die ihr möglichstes taten und damit zufrieden waren, aber heute nacht war sie ganz hingerissen von sich selbst. Und der Vortrag war auch nicht schlecht. Um so größer war ihre Überraschung, als sie am nächsten Morgen von der Empfangschefin darüber informiert wurde, daß aufgrund einer unerwarteten Mitteilung des Sponsors, einer Firma namens Horizontal Technologies, die Konferenz vorzeitig beendet werden mußte und die Geschäftsleitung des Hotels sich zu ihrem größten Bedauern genötigt sah, die Gäste darum zu bitten, die bereits entstandenen Kosten für Unterkunft und Verpflegung selber zu tragen. Mit einem bezwingenden und herausfordernden Lächeln riß die junge Frau (mindestens zehn Jahre jünger als Margaret) die Rechnung aus dem Computerdrucker und reichte sie ihr mit einer schwungvollen Bewegung. Am Ende des Blattes, direkt neben dem Wort »Gesamtbetrag«, erhaschte Margaret einen Blick auf die Zahl 3198,24, so wie ein Frosch mit der Zunge eine Fliege im Flug erhascht. Dann sah sie, wie 554
sich ihre Hand hob, um das Blatt entgegenzunehmen, und sie spürte, daß ihr Mund sich zu einem Lächeln verzog. Ganz das brave, ach so brave Mädchen sagte sie: »Oh. Vielen Dank.« »Wird es irgendwelche Probleme damit geben, Frau Professor?« »Oh«, sagte Margaret mit einem irren Lächeln, »natürlich nicht.« DAS KLOPFEN an der Tür von Dr. Dean Jellineks Labor war kaum zu hören. Wäre er nicht allein in dem Raum gewesen und hätte sein hochmoderner Computer, vor dem er saß, nicht fast geräuschlos gearbeitet, wäre Dean vielleicht nicht an die Tür gegangen und vielleicht nicht vom Anblick dreier Männer überrascht worden. Einer war klein, trug eine Brille, die ihm ein eulenhaftes Aussehen verlieh, einen altmodischen braunen Anzug und Cowboy-Stiefel, wie sie die Manager von Agrarfirmen bevorzugen, während die anderen beiden muskulös aussahen und sportliche Hosen und weite Jacken anhatten. Einer von diesen beiden schob einen Handwagen. »Ja bitte?« sagte Dean, wobei er sorgfältig darauf bedacht war, seiner Stimme einen Tonfall zu geben, dem man anmerkte, daß er erstens sehr beschäftigt, zweitens in seiner Eigenschaft als Empfänger einer nicht unbeträchtlichen Summe Fördergelder ein bedeutendes Mitglied des Lehrkörpers und drittens durchaus hilfsbereit war. Der kleine Mann, den er an seiner Stimme sofort als seinen Telefonkumpel und Mannschaftskameraden Samuels von Western Egg and Milk erkannte, sagte zu den beiden anderen: »Da steht der Computer. Das daneben muß ein Karton mit Sicherungsdisketten sein. Nehmt den auch mit. Und den Drucker.« Er ging an Dean vorbei und schaute sich im Labor um. »Der Rest scheint Universitätseigentum zu sein. Okay.« Und die beiden kräftigen 555
Männer beugten sich über Deans geistige Schatzkammer, zogen die Kabel aus der Wand, und zwei Minuten später hatten sie alles auf den Handwagen geladen und schoben ihn durch die Tür in Richtung Fahrstuhl. »Warten Sie einen –«, sagte Dean. War es möglich, daß ausgerechnet Samuels, ein Mann, der Magic Johnson ebenso verehrte wie er selber, ihm so etwas antat? Er schaute auf den Flur hinaus, um zu sehen, ob die beiden Männer ihm vielleicht statt dessen einen anderen, noch besseren Computer brachten. Samuels hatte inzwischen ein Blatt Papier herausgeholt. Er las laut vor: »Anläßlich der Sicherstellung der obengenannten Gegenstände verpflichten wir uns, geistiges Eigentum von Dr. Dean Jellinek, d.h. Daten, die nicht das Forschungsprojekt zur kälberunabhängigen Laktation betreffen und eventuell im Computer gespeichert sind, von qualifizierten Computertechnikern auf Disketten kopieren zu lassen, Dr. Jellinek zuzusenden und anschließend von den Datenträgern des Computers zu löschen. Dr. Jellinek werden die hierfür erforderlichen Disketten nicht in Rechnung gestellt, sondern Western Egg and Milk stellt sie ihm gratis zur Verfügung.« An dieser Stelle lächelte Samuels mildtätig und fuhr dann fort: »Alle Ergebnisse des Forschungsprojekts zur kälberunabhängigen Laktation sind das Eigentum von Western Egg and Milk, ihrer Muttergesellschaft und ihrer Tochtergesellschaften und können von jeder dieser Firmen, wie es der Vertrag zwischen Western Egg and Milk und Dr. Dean Jellinek vorsieht, verkauft, patentiert, veröffentlicht oder in jeder anderen Form, die den Firmen geeignet erscheint, verwendet werden. Mit der Beschlagnahme der obengenannten Gegenstände enden sämtliche vertraglichen Vereinbarungen zwischen Dr. Dean Jellinek und Western Egg and Milk bzw. den Beauftragten dieser 556
Firma.« »Samuels!« sagte Dean. »So heiße ich«, antwortete der kleine Mann. »Was geht hier vor?« »Bloß eine Umstrukturierung. Vielleicht wird es gar nicht so schlimm. Die überschüssigen Pfunde loswerden, Sie verstehen. Ich persönlich stehe vermutlich nicht auf der Abschußliste. Zum einen glaube ich die wilden Gerüchte über die Pensionskasse nicht. Wie ich schon zu meiner Frau sagte, man soll sich von so etwas nicht ins Bockshorn jagen lassen. Und ich habe meine Fühler in verschiedene Richtungen ausgestreckt. Ich bin noch ziemlich gut in Form. Vielleicht werde ich in Zukunft in der zweiten Liga spielen, aber dann zumindest in, sagen wir, Omaha und nicht etwa in, sagen wir, Chillicothe. Und meine Frau hat einen guten Job bei –« »Sie können hier nicht einfach meinen Computer mitnehmen!« »Ich muß.« »Warum?« »Seien Sie doch nicht so naiv, Dean.« Er gab Dean das Blatt Papier. »Sie können hier nicht einfach meinen Computer mitnehmen!« »Wir haben ihn schon mitgenommen.« »Bringen Sie ihn zurück!« »Dean.« Samuels trat dicht vor Dean hin und schaute ihm direkt in die Augen. Mit sanfter und freundlicher Stimme sagte er: »Zeigen Sie mich doch an.« Und nach einer kurzen Pause: »Das meine ich ganz im Ernst.« ALS
DR . JOHN CATES ,
lange nach allen anderen, vom 557
plötzlichen Ende der Konferenz erfuhr (er war mit seiner Frau und seinem Sohn um acht Uhr morgens aufgebrochen, sie hatten außerhalb des Hotels gefrühstückt, waren im Magic Kingdom gewesen und erst kurz vor neun Uhr abends zurückgekehrt), dachte er mit einer gewissen Befriedigung daran, daß er seinen Vortrag schon gehalten hatte. Außerdem hatte er zufällig den Brief bei sich, in dem ihm die Übernahme aller Kosten der Konferenz (und sie waren auf seine Bitte hin einzeln aufgeführt worden) von den Organisatoren der Konferenz (deren Namen auch in dem Brief standen) und den Sponsoren (dito) zugesichert wurde. Als das junge Mädchen an der Rezeption ihn um seine Kreditkarte bat, hatte sich Dr. Cates zu seiner vollen Körpergröße aufgerichtet und den Kopf geschüttelt. Er hatte dem Mädchen jedoch erlaubt, den Brief zu fotokopieren, bevor sie ihn zurückgab. Die ganze Angelegenheit war von beiden Seiten mit äußerster Freundlichkeit und breitestem Lächeln behandelt und inzwischen, wie es bei Dr. Cates’ Angelegenheiten meist der Fall war, zu seiner vollen Zufriedenheit abgeschlossen worden. Aber die Konferenz war vorbei, das ließ sich nicht ändern, und daher packten sie, um in ein anderes Hotel umzuziehen – es waren nur noch drei Tage übrig, und es gab keinen Grund, ihre Flüge erster Klasse umzubuchen (Dr. Cates hatte sich telefonisch davon überzeugt, daß sie auf jeden Fall ihre Gültigkeit behalten würden). Seine Frau hatte für sie ein nettes Hotel gefunden, sogar noch näher an Sea World (die Eintrittskarten steckten in seiner Brieftasche), und sie waren fast soweit, den Mietwagen beladen und abfahren zu können (am Ende hatte die Hotelangestellte ihrem Wunsch bereitwillig zugestimmt, die Suite später als üblich zu räumen, ohne daß ein weiterer Tag berechnet wurde, um langwierige Verhandlungen vor 558
anderen Gästen zu vermeiden – ihm war klar, daß sie glaubte, ein großer, schwarzer Mann mit einer Frau in einem afrikanischen Gewand sei zu allem fähig). Alles in allem hatte Cates den Zwischenfall elegant geregelt, und er glaubte, sein Sohn Daniel würde ihm, wenn er erst damit aufgehört hätte zu brüllen, er wolle NICHT in ein anderes Hotel umziehen, DIESES und kein anderes gefalle ihm, sicherlich hierin beipflichten. Dr. Cates versuchte im allgemeinen, Daniel durch sein Verhalten zu zeigen, wie man ohne Verlust seiner Würde, ohne die Stimme zu erheben dennoch bekommen konnte, was man wollte. Er ging davon aus, daß sich diese Lektion aufgrund ständiger Wiederholung demnächst in Daniels Bewußtsein festsetzen würde. Aber bis dahin schien Daniel seine ärgerliche Neigung zu heftigen Wutausbrüchen beibehalten zu wollen, die sogar Dr. Cates’ Geduld auf eine schwere Probe stellte und vermutlich auch der Grund war, weshalb er und seine Frau keine weiteren Kinder bekommen hatten. Seine Frau kam mit ihrem Schminkkoffer in der Hand aus dem Schlafzimmer und stellte ihn neben der Tür ab. Da jetzt alle Gepäckstücke beisammen waren, sagte Cates zu ihr: »Hast du unter dem Bett nachgesehen?« »Was?« Er wiederholte, was er gesagt hatte, mit lauterer Stimme, damit sie ihn trotz des Gebrülls verstehen konnte. »ICH SAGTE: ›HAST DU UNTER DEM BETT NACHGESEHEN?‹« Sie nickte. »ICH HABE UNTER DEN SOFAS UND IN ALLEN SCHRÄNKEN NACHGESEHEN. DAS WÄR’S DANN. BIST DU SOWEIT?« Sie nickte erneut. 559
Er nahm den Telefonhörer ab, um den Mietwagen vorfahren zu lassen, aber dann legte er ihn wieder auf. Er wußte, der Hoteldiener würde hören, wie jemand im Hintergrund schrie: »Ich will nicht! Ich will hierbleiben! Mir gefällt es hier! Ich will nicht!« Er blieb einen Augenblick ruhig sitzen und wartete, aber da nichts passierte, ging er ins Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich. Der Lärm blieb hinter ihm zurück, und das war ihm eine willkommene Erleichterung. Er erledigte den Anruf und ging ins Bad, schloß auch hier die Tür und öffnete den Reißverschluß seiner Hose. Eigentlich mußte er gar nicht Wasser lassen, aber er wollte seine Frau nicht im Stich lassen, nur um sich schlicht und einfach zu verstecken. Nachdem er den allerletzten Tropfen herausgedrückt hatte, wusch er sich ausgiebig die Hände, dann seufzte er und ging wieder ins Wohnzimmer. Durch jahrelanges Training war Daniel zu Wutausbrüchen in der Lage, die jedes normale menschliche Maß überstiegen, und daher war sein Gebrüll noch in vollem Gange, als der Hoteldiener, ein älterer schwarzer Mann, genau der Hoteldiener, von dem Dr. Cates gehofft hatte, daß er frei hatte, mit der Kofferkarre erschien und, von Daniels Lärm begleitet, das Gepäck auf den Karren lud. Dann gingen die drei Erwachsenen zum Fahrstuhl, und Dr. Cates merkte, daß der Mann sich zusammenreißen mußte, um dem Jungen keine Ohrfeige zu verpassen oder ihnen irgendeinen Ratschlag zu geben wie: »Zeigen Sie ihm, wo seine Grenzen sind.« Daniel folgte ihnen schreiend. Beim Auto angekommen, tat Dr. John Cates etwas, das er sich geschworen hatte, niemals zu tun, obwohl er immer gewußt hatte, daß er es irgendwann doch tun würde: Er gab dem Hoteldiener ein üppiges Trinkgeld und warf ihm ein kurzes, unendlich verlegenes, verzweifeltes Lächeln zu. 560
FRÜHER HATTE Elaine Dobbs-Jellinek jedesmal eine Zigarette angesteckt, wenn sie den Telefonhörer abnahm. Jetzt betastete sie statt dessen gedankenverloren die Beule über ihrem linken Auge. Sie drückte auf die Beule. Sie schmerzte und fühlte sich gleichzeitig gut an. Der Drang, sie zu berühren, war im Laufe der Tage nicht schwächer geworden. »Hallo, hier spricht Dr. Bo Jones.« »Dr. Bo! Wie geht es Ihnen? Tja, es tut mir leid, aber ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten für Sie. Es sieht so aus, als wären die Pläne für das Museum vom Tisch. Ja. Keine Hühner. Kein Garnichts. Das Gutachten des Hühnerexperten war sehr positiv, oh ja. Damit gab es keine Probleme, aber der Mäzen des Projekts scheint in finanzielle Schwierigkeiten geraten zu sein. Es tut mir sehr leid.« Elaine wußte, wenn sie schlechte Nachrichten überbrachte, klang sie immer, als würde sie eine Unterhaltung führen und auf Fragen und Bemerkungen eingehen, auch wenn ihre Gesprächspartner gar nichts gesagt hatten. Sie waren immer so schweigsam, sie waren überhaupt keine Hilfe bei ihren Bemühungen, die Informationen möglichst rasch zu übermitteln. »Wir sind nicht etwa der Ansicht, daß das Hühnermuseum keine Unterstützung verdient. Davon kann gar nicht die Rede sein. Die Schuld für das Scheitern ist allein der anderen Seite zuzuschreiben, und daher« – Dr. Bo hatte schon sehr lange nichts gesagt, und Elaine stellte fest, daß sie im Begriff war, ein Versprechen abzugeben, das sie auf keinen Fall hatte abgeben wollen – »hat meine Abteilung beschlossen, einen anderen Förderer für das Hühnerprojekt zu finden, denn wir halten es immer noch für ein hervorragendes Projekt. Dr. Bo?« – war er nicht – 561
schwer und rotgesichtig – ein Kandidat für einen Herzinfarkt? – »Dr. Bo?« »Ja, Ma’m?« »Geht es Ihnen gut?« »Wieso, ja natürlich. Ich war nie für ein Hühnermuseum, und ich konnte diesen sogenannten Hühnerexperten nicht ausstehen. Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, ich muß noch einiges packen, denn ich werde in Kürze eine sehr lange Reise nach Zentralasien antreten.« »Dann sind Sie also nicht dafür, weiterhin nach einem Mäzen zu suchen, der…« »Machen Sie, was Sie wollen, junge Frau.« Nachdem sie aufgelegt hatte, bemerkte Elaine, daß sie so kräftig auf die Beule drückte, daß es ihr pochende Kopfschmerzen verursachte. Als sie die Finger wegnahm, verschwanden die Schmerzen mit einem fließenden, gleitenden Gefühl. Es war eine herrliche Empfindung, und Elaine beschloß, sie noch einmal herbeizuführen, bevor sie die restliche Arbeit des Nachmittags in Angriff nahm. »Martin’s Flavorpleite?« »FÜR EINEN TEXANISCHEN MILLIARDÄR ist die Ranch in der Nähe von Spur, auf die sich Arien Martin zurückgezogen hat, nichts Besonderes. Sie umfaßt in etwa hunderttausend Morgen, und, im Gegensatz zu einigen anderen Ranches in West-Texas, ist sie in keinem Atlas verzeichnet. Dem Heimstättengesetz des Bundesstaates zufolge kann die Ranch, was auch immer mit Martin und seiner weitverzweigten Firmengruppe geschehen mag, nicht gepfändet werden. Das gleiche gilt für seinen LearJet: ›Mein Maultier‹ nennt ihn Martin. ›Der Lear-Jet ist für mich wie ein Maultier, und in Texas ist es unmöglich, 562
so arm zu sein, daß einem das eigene Maultier weggenommen wird.‹ Auf dem Gelände der Ranch grasen ein paar Rinder, aber Arien Martin interessiert sich kaum mehr für sie als für die strauchigen Kakteen und die Mesquitebäume. ›Schauen Sie mal dort!‹ ruft er und macht mit dem Landrover eine Vollbremsung. ›Mist. Zu spät.‹ ›Was war denn da?‹ ›Eins von den Wildschweinen! Es wimmelt hier nur so von Wildschweinen. Wir haben sie aus Asien herübergeschafft. Die beste Jagd, die man sich vorstellen kann. Sollte ich mich zur Ruhe setzen, und ich sage weder, daß ich es tun werde, noch, daß ich es nicht tun werde, könnte ich mir Schlimmeres vorstellen, als jeden Tag auf Wildschweinjagd zu gehen. Ich wette, Sie wußten nicht, daß wildlebende Hühner auch ziemlich hinterhältig sind. Wenn die meisten Leute an Hühner denken, denken sie an Henne und Ei. Ich nicht. Ich denke an den wachsamen Blick eines Hahnes, der nur darauf aus ist -‹« Dr. Lionel Gift legte den Artikel aus dem Texas Monthly, den er gelesen hatte, zur Seite, schaute auf den Namen des Verfassers (Lawrence Wright) und gestattete sich ein kurzes, mitleidiges Lächeln über Arien Martin. Offenbar hatte Arien Martin wenig aus dem Zusammenbruch von Seven Stones Mining und den daraus resultierenden, möglicherweise fatalen Folgen für das gesamte TransNational-Imperium gelernt. Er schien in keiner Weise über die philosophische Weitsicht zu verfügen, über die er, Lionel Gift, verfügte. Aber Dr. Gift war überzeugt davon, daß Arien Martin, der sich, dem Wall Street Journal zufolge, selber in einer Phase der »Reorganisation« befand, schon bald Dr. Gifts Begeisterung über das Wirken verborgener Wahrheiten im Leben eines Mannes teilen würde. 563
Der Markt hatte reagiert, um TransNationals übermäßige Expansion zu korrigieren – das war der eine Aspekt –, und Dr. Gift hatte schon vor längerer Zeit alle Schecks eingereicht und alle Gelder investiert, die er aufgrund seines Vertrages mit der Firma erhalten hatte – das war der andere Aspekt. Er hatte das Geld in High-TechKeramik, eine besonders zukunftsträchtige Branche, investiert. Aber es spielte eigentlich keine Rolle, wer er war oder wer Arien Martin war, wo genau das Geld herkam und wohin es floß. Einzelne Menschen und einzelne Firmen waren nichts weiter als winzige Partikel im ewigen Austausch finanzieller Energie. Ruhelos floß das Geld mal hierhin, mal dorthin. Niemand konnte es aufhalten oder seine Richtung bestimmen. Alle Menschen waren gleichermaßen dazu verdammt, Zeuge ihrer eigenen vergeblichen Versuche zu sein, die durch ihre Finger gleitenden goldenen Ströme festzuhalten. Am Ende war man gezwungen, Trost und sogar Inspiration in dieser Vergänglichkeit zu finden. Wie er seinen Zuhörern in dem mit fünfzehnhundert Kunden vollbesetzten Saal verkündete: Wir glauben unser Leben lang daran, daß ein Wert etwas Gegenständliches ist, und wir horten Gold oder Diamanten oder Aktien oder Anleihen, aber die ganze Zeit, während wir dies alles anhäufen, und sogar, während wir es betrachten, strömt Wert hinein und wieder hinaus. Die Kunden verließen nachdenklich und schweigend das Auditorium, und, zurück in seinem Büro, schrieb Dr. Gift ein Bonmot über das Unterrichten nieder: »So alt ich bin, und ich habe schon zwei Generationen von ›Studenten‹ erlebt, entwickle ich mich doch immer noch weiter. Aus Erfahrungen lernen auch Lehrer, müssen Sie wissen.« Nachdem er diesen Ausspruch niedergeschrieben hatte, bewunderte er ihn kurz, und dann heftete er ihn 564
unter »Interviews: Unterrichten« ab. Hausmitteilung Von: Kanzler An: Senat Betrifft: Weitere vorgesehene Kürzungen Es sieht inzwischen so aus, als wären bestimmte Bereiche, von denen wir glaubten, daß wir sie vor der Etat-Axt gerettet hätten, nun doch von Kürzungen betroffen. Wie Sie wissen, hat der Gouverneur die Einsparung von weiteren zwei Millionen angeordnet, in Ergänzung und zusätzlich zu den zehn Millionen, die im Herbst angeordnet wurden. Diese Einsparung, die bis zum 30. Juni erzielt werden muß, wird festgeschrieben, und ihr werden evtl. noch weitere folgen. Die Regierung des Bundesstaates hat Gerüchte dementiert, daß die Universität mit dieser Einsparung für die bedauerlichen Campusunruhen im letzten Monat bestraft werden soll. Die Dozenten und Dozentinnen sollten sich darüber im klaren sein, daß andere Geldquellen, von denen wir hofften, daß sie die früheren Kürzungen ausgleichen würden, ebenfalls versiegt sind. Die Aussichten sind daher trübe, und ich bin zu der Ansicht gelangt, daß im Interesse aller Universitätsmitarbeiter die Entscheidungen über die Kürzungen so rasch wie möglich gefällt werden sollten, damit die betroffenen Personen genügend Zeit haben, sich nach neuen beruflichen Möglichkeiten umzusehen.
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62 Frühjahrsstürme L OREN STROOP ließ sich nicht durch den leichten Anflug von Energie und Wohlbefinden täuschen. Und er war auch nicht überrascht, daß dieser mit dem Schneesturm zusammenfiel, von dem er im Radiowetterbericht gehört hatte. Es war schon hellichter Tag, als er sich schließlich aufsetzte und seine Füße aus dem Bett schob. Das alte Haus knarrte im Wind, und er konnte über eine Entfernung von zwei Zimmern die Luftklappe des Kamins klappern hören. Da sie nur dann klapperte, wenn es mindestens mit Windstärke acht aus Nordwest blies, wußte er, daß es draußen ganz schön stürmisch war. Loren griff nach seinem Stock und stemmte sich aus dem Bett, dann drehte er seinen Kopf soweit wie möglich nach links, um mit seinem rechten Auge nachzusehen, ob auf der Strecke zur Tür irgend etwas im Weg lag. Es hatte sich herausgestellt, daß er, wenn er aufpaßte, im Haus einigermaßen gut zurechtkam, weil ihm, anders als in der Reha-Klinik, die langjährige Vertrautheit Informationen lieferte, die er von seinen Sinnen nicht bekam. Sogar außerhalb des Hauses, wo er seit seiner Rückkehr erst ein paarmal gewesen war, fühlte er sich wesentlich weniger orientierungslos als in der Klinik. An vielen Tagen wartete Loren mit dem Aufstehen, bis die Gemeindeschwester oder einer von den Millers vorbeikam, aber ein Blick aus dem Fenster genügte, um zu wissen, daß heute niemand kommen würde. Auf dem Küchenkalender fuhr er mit den Fingern über die sorgfältig angekreuzten Tage, bis er zum ersten leeren Feld kam – 2. März. Das mußte heute sein. Tja, die Leute würden 566
sagen, daß es Anfang März recht spät für einen Schneesturm war, aber das stimmte nicht. Er wußte es besser. Mit seinem rechten Auge warf er einen Blick auf die Uhr. Es war nach neun. Nach neun, am 2. März 1990. Er schaltete das Radio mit seinem rechten Zeigefinger ein. Es war auf den Wetterkanal eingestellt, und eine beruhigende Stimme erfüllte das Zimmer: »… bedeckt die gesamte Region. Heute morgen um acht betrug die Schneehöhe am Red Stick International Airport zehn Zentimeter, und es ist damit zu rechnen, daß sie im Laufe des Tages um weitere acht bis zwölf Zentimeter zunehmen wird. Es weht ein stürmischer Wind in Böen bis Stärke zehn…« Die Sache war die, er sah nicht mehr fern, noch nicht einmal mehr CNN. Jeden Tag, den ganzen Tag lauschte er den angenehmen Stimmen des Wetterdienstes, wie sie Nachrichten aus der Natur verlasen. Hochdruckgebiete, Tiefdruckgebiete, Niederschlag, Wetteraussichten, Straßenzustandsbericht, Sonnenscheindauer, Windstärke und Temperaturmeldungen. Wenn er etwas sehen wollte, schaute er aus dem Fenster. Das war genau die richtige Mischung aus Vergänglichem und Ewigem, die ein sterbender Mann brauchte. Die Millers und die Gemeindeschwester hatten ihn darauf vorbereitet, daß womöglich ein oder zwei Tage lang niemand zu ihm durchkommen würde. Joe Miller hatte ihm eins von diesen Telefonen gekauft, die man immer bei sich tragen konnte und bei denen man, wenn man jemanden anrufen wollte, nicht sieben oder elf Nummern wählen, sondern nur eine Taste drücken mußte. »Sp l« waren die Millers, »Sp 2« war die Polizei und »Sp 3« die Gemeindeschwester. Außerdem gab es genug Essen im Gefrierfach, das er bloß in der Mikrowelle auftauen mußte, löslichen Kaffee und alle möglichen anderen Vorräte. Sie hatten sogar die Heizung bis Ende 567
April im voraus bezahlt, die würde also nicht ausgehen. Und mit dem Strom war es genauso. Und Joe Miller hatte eine Schaltung angebracht, die bei Sonnenuntergang alle Lampen im Haus und in der näheren Umgebung anschaltete und sie gegen Mitternacht ausschaltete, nur die Birnen der Lichtmasten bei der Scheune blieben zur Abschreckung gegen die CIA, das FBI und die großen Agrarkonzerne die ganze Nacht über brennen. Man kümmerte sich gut um ihn. Loren öffnete den Küchenschrank und fand, wonach er suchte. Seine kugelsichere Weste. Er zog sie über seine Schlafanzugjacke und machte den Reißverschluß zu. Ihr lockerer Sitz verriet ihm, daß er viel Gewicht verloren hatte, denn früher hatte sie ihm genau gepaßt. Dann schob er einen Stuhl zum Schrank, setzte sich darauf und zog seine Stiefel an. Sie waren ziemlich steif, und er hatte keine Socken an, aber das war schon in Ordnung. Alles war in Ordnung. Nach den Stiefeln und der Weste war er etwas aus der Puste, also ruhte er sich einen Moment aus und schaute erneut auf die Uhr (fast halb elf) und auf den Kalender (immer noch der 2. März). Dann stand er auf und nahm seinen gefütterten Mantel vom Haken. Er hatte seit seiner Gehirnattacke nie mehr etwas selber zuknöpfen müssen, aber er schaffte es, indem er die linke Hand an das Knopfloch legte, die Augen nicht von ihr abwandte und dann den Knopf mit der rechten durch das Loch schob. Drei. Das genügte. Der Anflug von Energie hatte damit zu tun, daß er in die Scheune gehen und einen Blick auf die Maschine werfen wollte. Dann, das wußte er, würde die Natur ihren Lauf nehmen. Die Stiefel waren unerwartet schwer – ein Anzeichen dafür, wie wackelig er inzwischen auf den Beinen war, 568
und es fiel ihm zuerst auch nicht leicht, die Tür zu öffnen, aber dann packte der Wind sie und knallte sie gegen die Hauswand. Es widerstrebte ihm sehr, sie offenzulassen, weil dadurch die ganze Wärme entwich, aber was blieb ihm schon übrig. Er stand auf seinen Stock gestützt auf der Schwelle. Hinter ihm sagte das einzige Mädchen, das für den Wetterdienst arbeitete, gerade: »Aus den Gebieten südsüdöstlich einer Linie von St. Paul, Minnesota, bis Tulsa, Oklahoma, werden heftige Schneefälle gemeldet, und das Sturmtief bewegt sich mit einer Geschwindigkeit von annähernd fünfundfünfzig Kilometern pro Stunde in östlicher Richtung.« Er trat in den Wind hinaus. Seine Augen waren auf die Scheune gerichtet. Auf diese Weise erreichte man etwas – indem man nicht auf seine Füße, sondern auf das Ziel blickte. War das nicht einer der Ratschläge gewesen, die ihm sein Vater vor langer Zeit, zu Beginn des Jahrhunderts erteilt hatte, und hatte er sich daran nicht sein Leben lang gehalten? Den Blick nach vorne richten und immer in Bewegung bleiben. Der Wind drückte heftig gegen seine linke Seite, so daß er sich mit beiden Händen auf den Stock stützen mußte. Und natürlich hatte er die Handschuhe vergessen. Er ging weiter in Richtung Scheune. Bei dem Wind war sie kaum zu erkennen. Seine Augen tränten. Dennoch machte er ein paar weitere Schritte, drei oder vier, und dann noch zwei. Als der Stock abrutschte und er vornüber in den Schnee fiel, empfand er das fast als Erleichterung. Ja, wirklich, dachte er mit leichtem Staunen, es war fast eine Erleichterung, den Blick nicht mehr nach vorne richten und in Bewegung bleiben zu müssen. Er konnte jetzt aufgeben und sich entspannen und der Stimme aus dem Wetterkanal lauschen, die schwach durch das Sturmgeheul zu ihm drang: »Die Autobahn 100 ist zu 100 569
Prozent mit Schnee und Eis bedeckt. Der nördliche Abschnitt der Autobahn 99 ist zu 75 Prozent mit Schnee und Eis bedeckt, und der südliche Abschnitt der Autobahn 99 ist zu 100 Prozent mit Schnee und Eis bedeckt. Aufgrund der stürmischen Winde und der Schneeverwehungen hat die Straßenverkehrswacht die Autobahn 92 westlich von…« Die Stimme wurde schwächer, aber dann, als Loren mit letzter Kraft seine Aufmerksamkeit auf sie richtete, schwoll sie wieder an. »… bevor Sie sich auf den Weg machen. Eine Unwetterausrüstung sollte folgendes enthalten: warme Decken, eine leistungsstarke Taschenlampe mit Reservebatterien, einen fünfundzwanzig Pfund schweren Sandsack, eine kleine Schaufel und mehrere Warnleuchten. Planen Sie genügend Zeit für die Strecke bis zu Ihrem Ziel ein.«
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63 Der Sonne entgegen DIE ALTERNATIVEN lagen auf der Hand: Wenn die Mensa erst zu einer Filiale von McDonald’s geworden war, konnten die Angestellten, die dort früher gearbeitet hatten, entweder kündigen oder bei McDonald’s arbeiten. Lilian, die Vertrauensfrau der Gewerkschaft, brauchte nicht erst extra darauf hinzuweisen, daß McDonald’s keinen der Tarifverträge, die von der AFSCME ausgehandelt worden waren, unterzeichnet hatte. McDonald’s war McDonald’s, und es würde kein gegrilltes Rindersteak auf Brötchen m. Krautsalat oder überbackene Käsenudeln m. Pumpernickel für Vegetarier mehr geben. Marly wußte, was ihre Kolleginnen dachten – sie war das Aschenputtel, das seinen Prinzen gefunden hatte, und sie würde, wenn die Jobs verlorengingen, in die Backsteinvilla ziehen, wo sie dem Müßiggang frönen könnte, während die anderen entweder mit Big Macs jonglierten oder in Erwartung von Langzeitarbeitslosigkeit neidisch auf die Big-Mac-Jongleure schauten. Und es war im Gespräch, die Jobs bei McDonald’s an Studenten zu vergeben – auf diese Weise würden die lästigen Sozialleistungen wegfallen. Das war eine fortschrittliche Idee, die jeder, vor allem aber der Gouverneur, großartig fand. O.T. dachte dem State Journal zufolge sogar laut darüber nach, ob man McDonald’s nicht anbieten solle, alle von der öffentlichen Hand betriebenen Kantinen im Bundesstaat zu übernehmen. Die langjährigen Kenner seiner Politik waren sich darüber im klaren, daß das »laute Nachdenken« über haarsträubende Ideen seine Methode war, neue Maßnahmen zu testen – er war ein leiden571
schaftlicher Anhänger der Theorie, daß eine gut vorbereitete Öffentlichkeit alles schlucken, ja es sogar lautstark fordern würde, wenn man es ihr nur oft genug vorschlug und sie lange genug darauf warten ließ. Da es hieß, McDonald’s würde Ende März die Mensa übernehmen, ging Marly zu Lilian und teilte ihr mit, ihr stünden drei Wochen bezahlter Urlaub zu, und sie wolle ihn jetzt nehmen, solange noch die Möglichkeit dazu bestand. »Und ab wann?« sagte Lilian, und Marly sagte: »Ab morgen.« Sie stand wie immer gegen fünf Uhr auf und machte Vater sein Frühstück, das sie anschließend inklusive randvoll gefüllter Kaffeetasse ins unterste Fach des Kühlschranks stellte und mit einer Stoffserviette bedeckte. Vater mochte es gerne so, denn er war aufgrund der gesundheitlichen Vorteile des Verzehrs von zweimal gekochten Speisen ein großer Anhänger der Mikrowelle. Marly hatte ihm nichts von ihrem Urlaub erzählt. Als die Sonne aufging und die Folgen des Sturms vom Vortag beschien, faltete und stapelte Marly gerade ihre Unterwäsche. Sie stellte überrascht fest, daß sie keinen Koffer besaß, aber genaugenommen hatte sie ja auch noch nie die Stadt verlassen. Vielleicht war sie die einzige aus dem Volk der rastlos umherziehenden, reisenden, ihr Glück suchenden Menschen, die niemals an einem Ort gewesen war, von dem aus sie nicht abends in ihr eigenes Bett zurückkehren konnte. Sogar Vater war in seinen wilden Jahren in Chicago, Denver und Fort Wayne gewesen. Sogar ihr Bruder hatte in Houston an einem Billy-GrahamKreuzzug teilgenommen. Sie steckte ihre Kleidung in eine Plastiktüte vom Supermarkt, verknotete die Henkel und steckte die Tüte in eine weitere Tüte. In ihre Handtasche steckte sie ihre Bibel, die dreihundert Dollar, die sie 572
am Abend zuvor von der Bank abgehoben hatte, den Hut, den sie für ihre Nichte strickte, und einen Riegel Snickers. Sie besaß weder eine Kreditkarte noch ein Foto von Vater oder den übrigen Familienmitgliedern. Zwanzig Minuten später schleppte sie ihre Plastiktüte mit ihrer Kleidung die Red Stick Avenue entlang. Es fiel ihr nicht schwer, an der Universität vorbeizugehen. Die jahrelange Nähe zur Universität hatte bei ihr weit weniger Spuren hinterlassen, als man annehmen sollte. Durch den Einzug von McDonald’s hatte die Universität sie ausgespien, intakt und unverdaut, unbeeinflußt von kritischem Denken, wissenschaftlichen Methoden, empirischen Untersuchungen und akademischen Disputen. Ungerührt stapfte sie an dem Gebäude vorbei, das in den vergangenen fünfzehn Jahren ihr Arbeitsplatz gewesen war, ohne daß es ihr einen Stich versetzte oder sie nachdenklich stimmte. Als sie zehn Minuten später an ihrer Kirche vorbeikam, sah die Sache jedoch ganz anders aus. Sie erkannte die Autos auf dem Parkplatz – Mary, Eileen und Rita machten für den Mittwochsgottesdienst sauber. Sie könnte ohne weiteres in die zerfurchte Auffahrt einbiegen und ihnen helfen. Sie lachten bestimmt gerade – die drei lachten gerne und oft –, aber wenn sie sie sähen, würde ihr Lachen sich in ein höfliches und respektvolles Lächeln verwandeln. Seit sie Nils Harstads zukünftige Ehefrau war, vertrauten sie ihr nicht mehr im gleichen Maß wie früher. Je mehr sie während der vergangenen Wintermonate versucht hatte, sich selber in die Schublade zu stecken, in die sie früher, als sie einfach nur Marly gewesen war, problemlos gepaßt hatte, desto stärker hatten die Frauen mit ihrem Verhalten sie aus dieser Schublade gezerrt und in eine andere geschoben – feine Dame, Glückspilz, First Lady. Sie hatte versucht, die veränderte 573
Haltung der Frauen zu akzeptieren, sie ihnen nicht übelzunehmen und ihren Groll in Jesu Hände zu legen, aber nun, da sie langsam an der Kirche vorbeiging und den Hals reckte, um durch die Fenster zu schauen (nächstes Jahr würden Buntglasscheiben eingesetzt, versprach der Pastor), wußte sie genau, daß sich auch ihr Innenleben verändert hatte – der Groll färbte auf ihre Gefühle für die anderen Frauen ab. Wenn sie jetzt hineinging und einen Besen in die Hand nahm, wären sie verlegen, und sie würde sich darüber ärgern, und ihre Verärgerung wäre für die anderen der Beweis, daß sie sich verändert hatte, und später würden sie ihre Eindrücke austauschen, und ihre Vermutungen, wann und wie und wie sehr sie sich verändert hatte, würden zu einer allseits geteilten Überzeugung werden. Sie hatte sich tatsächlich verändert. Zehn Minuten später, als sie den Stadtrand erreichte und die schneebedeckten Felder und den weiten Emaille-Himmel betrachtete, überkam sie ein stärkeres Gefühl von Traurigkeit als je zuvor in ihrem Leben. Sie hatte sich verändert, weil sie von Jesus genug hatte, weil sie es leid war, daß er zu einem kam und neben einem Platz nahm, daß er ein Mensch werden mußte, um menschlich zu sein. Alle aus ihrer Kirchengemeinde redeten ständig davon, wie glücklich es sie machte, daß Jesus ganz nah war, daß man mit seiner Hilfe durchs Leben geführt und auf dem rechten Pfad gehalten wurde. Was konnte besser sein als ein persönlicher Erlöser? Aber Jesus ging davon aus, daß man ihn stets brauchte, und das nahm Marly ihm übel. Er trat niemals in den Hintergrund. Ständig wollte er etwas von einem. Man mußte ständig irgend etwas tun, um ihm eine Freude zu machen. Sie war auf einem Hügel angekommen. Die Straße führte weiter nach oben über eine Brücke. Die Schneede574
cke war wie eine riesige Schürze über den Highway unter ihr ausgebreitet und reichte bis zum filigranen Dunkel des Waldes auf der anderen Straßenseite. Der Anblick war erhebend – die runden Silhouetten der Hügel und die bis zum Horizont reichende Einkerbung der klarumrissenen Fahrbahnen, das stille, strahlende Blau, Weiß und Schwarz der Natur, belebt von den unruhigen, leuchtenden Farben der Autos, und Marly selber als einziges sichtbares menschliches Wesen. Diese Erhabenheit wirkte beruhigend und tröstend. Marly fühlte sich als kleiner Teil eines Ganzen, den man vielleicht zur Kenntnis nahm, aber nicht prüfend musterte. Jesus, dachte sie, war in der Stadt geblieben und steckte die Nase in jedermanns Angelegenheiten, aber Gott war hier, groß und wunderschön und angenehm unpersönlich. Marly drehte sich um, als sie einen schweren Dieselmotor herandonnern hörte. Ein grüner LKW mit Anhänger war vom Highway abgebogen und fuhr die Zufahrtsstraße herauf. Kaum hatte Marly ihn erblickt, drückte der Fahrer auf die Hupe. Marly schob den Riemen ihrer Handtasche höher auf die Schulter und rannte dem Laster entgegen, der bremste und vor dem Stoppschild anhielt. Die Tür war bereits offen, als sie ankam. Sie warf ihre Plastiktüte auf den Sitz und kletterte in die Fahrerkabine. »Hallo«, sagte er. »Hallo«, sagte sie. »Wartest du schon lange?« »Bin gerade angekommen. Wie spät ist es?« »Kurz vor acht. Ich bin um vier in Ann Arbor losgefahren.« Er wendete den Laster vorsichtig und fuhr die Highway-Auffahrt hinunter. Als er beschleunigte, hüpfte Marlys Herz vor Aufre575
gung und schien sich wie ein Ballon auszudehnen. Sie sagte: »Ich habe ganz vergessen zu fragen, wohin wir fahren.« »Wie wär’s mit San Francisco?« »Travis«, sagte sie, »das wäre himmlisch.«
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64 Eine kleine Dekonstruktion ALS JUNGER MANN hätte er um jeden Preis weitergekämpft, dachte der Vorsitzende X gerne. Nils Harstad führte eine Klage gegen ihn, das Amt des Gouverneurs hatte ihm einen Verweis erteilt, sein eigenes Institut hatte ihn gerügt und ihn zum 30. Juni seines Amtes als Vorsitzender enthoben (»Professor X« war kein besonders klangvoller Titel, dachte er), in der Presse war sein Name verunglimpft worden (»in Universitätskreisen als Hitzkopf bekannt«, »von manchen auch spinnerter Professor genannt« waren nur zwei Beispiele), aber all dies hätte ihn in früheren Zeiten nur angespornt, wäre allenfalls ein geringfügiger Widerstand gewesen, den er wie eine Hantel benutzt hätte, um seine Kraft und seine Geschicklichkeit zu trainieren. Als Mann mittleren Alters allerdings ließ er sich ablenken – von seinen Studenten (jetzt, wo der Nebelwald gerettet war, hielten sie ihre Arbeit für beendet), seinen Kindern (eine Scheidung – sie hatten ja keine Ahnung – war schon schlimm genug, aber würde er auch noch seine Stellung verlieren? Würden sie aus dem Haus ausziehen müssen? Sie stellten ihm immer wieder solche Fragen), Cecelia (die Sex wollte) und Beth (die tiefsinnige Gespräche wollte). Mit den Rechtsanwälten gab es Besprechungen, eidesstattliche Erklärungen und nächtliche Telefonate. Mit der Verwaltung, den Lehrkräften und den Studenten gab es weitere Besprechungen. Mit den Kindern gab es zu viele Besuche bei Burger King, Wendy’s und McDonald’s, wo sie Cheeseburger bestellten (»ohne Fleisch bitte«), und keine Beth, die ihm zur Seite stand. 577
Mit Cecelia gab es Auseinandersetzungen. Beth dagegen nickte nur wissend und warf ihm vielsagende Blicke zu, als hätte sie so etwas schon immer kommen sehen. Und allen mußte er endlose Erklärungen liefern, die sie unweigerlich ins Persönliche wendeten, obwohl es hier doch eindeutig um gesellschaftliche und ökologische Belange ging. Er konnte schließlich nichts dafür, wenn er, um ihnen begreiflich zu machen, warum er Nils Harstad angegriffen hatte (darüber waren sich alle einig, obwohl er sich an diesen köstlichen Moment nicht erinnerte), die ganze Geschichte der landwirtschaftlichen Entwicklung in der Dritten Welt erklären mußte. Und daher fand er es angenehm, sich auszumalen, wie beherzt und unnachgiebig er als junger Mann gewesen wäre, wenn er nicht so gewesen wäre, wie er tatsächlich gewesen war, nämlich hoffnungsvoll und gutmütig, zutiefst davon überzeugt, daß die Menschen zur Vernunft kommen und ihr Geld und ihre Kraft selbstlos für das Gemeinwohl einsetzen würden. Aber wie auch immer, als schließlich der Kran mit dem Greifbagger kam und Old Meats niederriß, konnte er sich nicht überwinden, seinen Gefolgsleuten zu befehlen, sich davorzulegen, geschweige denn, sich selber davorzulegen. Es kostete ihn schon genug Überwindung, vom Mittelstreifen der Ames Road aus zuzusehen. Die mit Ziegeln und Mörtel vollgeladenen Kipper rollten über die gefrorenen Beete und waren wohl gerade dabei, den bisher lockeren, elastischen Boden zu einer neuartigen steinernen Masse zusammenzupressen. Ihre Räder wirbelten durch den Schnee und gruben sich in das Wertvollste, was der Vorsitzende X je geschaffen hatte – einen Kosmos der Fruchtbarkeit, ein zerbrechliches Gebilde aus Sand, Ton, Humus, Hohlräumen, Wassermolekülen, Phosphor, Pottasche und Stickstoff. Lehmig, 578
schwarz und sorgfältig geschichtet. Der Vorsitzende X stellte es sich gerne als eine Villa mit vielen Zimmern vor, die eine unsägliche Vielfalt von Lebensformen beherbergte, welche in der Dunkelheit ein geschäftiges Dasein führten, außerhalb des Zugriffs des menschlichen Geistes, der klassifizierte, simplifizierte und objektivierte. Jetzt beobachtete er, wie Reifen mit breitem Profil über zahllose Stellen rumpelten, auf die er und seine Helfer nicht einmal zu treten gewagt hatten. Dieselabgase senkten sich auf die erhöhten Beete, die niemals mit Pestiziden oder gar Kunstdünger in Berührung gekommen waren. Knospen und Wurzeln, Sprößlinge und Wurzelstöcke, die er zum Überwintern in der Erde gelassen und sorgfältig mit einer Schutzschicht aus Kompost und Laub bedeckt hatte und über deren Triebe, Stengel, Blätter und Blüten er sich im Frühjahr gefreut hätte, wurden von den schweren, mahlenden Rädern freigelegt, zermalmt und in die Luft geschleudert. Der Greifarm des Baggers biß sich wahllos durch Ziegel, Mörtel und lebendiges Pfirsich- und Aprikosenholz. Man konnte die Bäume nicht retten, und schon gar nicht den Geschmack ihrer Früchte, der nicht nur von der Sorte, sondern auch von den speziellen Lebensbedingungen der Bäume abhing. Die warme, rote, nach Süden gelegene Fläche der verwitterten Ziegelmauer, diese besondere Bodenart, dieses Mikroklima, das selbst hier im Norden so hervorragende Pfirsiche und Aprikosen hervorbrachte, waren für immer zerstört. Der Nebelwald, den er nie gesehen hatte, war gerettet (die Regierung von Costa Rica hatte sogar beschlossen, die um den Wald herum gelegenen Rinderfarmen aufzukaufen, und TransNational hatte sich, da die Firma dringend Bargeld brauchte, zum Verkauf entschlossen), aber der Garten, mit dessen Pflege er einen großen Teil seines 579
Lebens verbracht hatte, war vernichtet. Der Abriß ging sehr schnell. Das einzige Gefühl, das er außer einer allgemeinen Benommenheit noch empfand, war eine große Verblüffung darüber. DA DR . B O JONES sich in Frunse, Kirgisien, aufhielt und dort mit Menschen, die nur die Turksprache und ein bißchen Russisch verstanden, auf englisch über Leihpferde verhandelte, auf denen er in die Berge reiten und wildlebende Schweine aufstöbern wollte, hatte sich niemand die Mühe gemacht, Bob Carlson gegenüber zu erwähnen, daß der Abriß von Old Meats unmittelbar bevorstand und die Aussichten sowohl für sein Schwein als auch für seinen Job im günstigsten Fall trübe waren. Bob war lange aufgeblieben, um einen dreiseitigen Englischaufsatz mit dem Titel »Yukio Mishima und Ernest Hemingway – eine vergleichende Studie« fertigzuschreiben, und hatte Earl Butz dann gegen sechs Uhr morgens besucht, als um Old Meats herum noch alles still war und dem Wandel der Zeiten zu trotzen schien. Bei seinem nächsten Besuch um zehn stellte er, als das Gebäude in Sichtweite kam, fest, daß zwei Mauern bereits niedergerissen waren und man mit einem Greifbagger und einer Abrißbirne dabei war, die Betonrampe zu bearbeiten. Die Veränderung war so gewaltig, daß Bob gute fünf Minuten lang fassungslos dastand. Schließlich rannte er auf den ersten Kipper zu, dann auf den Greifbagger, dann auf einen anderen Kipper und brüllte und fuchtelte mit den Armen, aber es herrschte ein solcher Krach, daß es ihm nicht gelang, auch nur die geringste Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der schneebedeckte Boden war glatt, und er fiel hin und schürfte sich die Hände auf. Er rappelte sich gleich wieder auf und sah sich einem stattlichen Mann in Overall und Schutzhelm gegenüber, der 580
brüllte: »Hast du das Schild nicht gesehen, Junge? Mach daß du wegkommst! Das Gelände ist abgesperrt.« »Warten Sie!« schrie Bob. »Warten Sie! Wo ist Earl? Wo ist das Schwein?« Der Mann wandte sich ab. »Weiß ich nicht, Junge, aber du müßt hier verschwinden. Wenn du was willst, dann geh doch zur Gebäudeverwaltung.« Bob rannte auf Old Meats zu, oder vielmehr, er machte zwei Schritte, dann packten ihn große Hände mit eisernem Griff an den Schultern und drehten ihn herum. Das Gesicht des Mannes, das dieser ganz dicht an Bobs Gesicht heranschob, war verärgert und hochrot. Es schrie: »Verdammt noch mal, hau ab, Junge!« »Hören Sie doch! Da drinnen ist ein Schwein!« »Das wird bald nur noch Schinken sein, Junge. Wenn du uns noch mal in die Quere kommst, rufe ich die Bullen!« Bob wich zurück. MRS . L ORAINE W ALKER konnte den Abriß bis in ihr Büro hören, obwohl die Fenster geschlossen waren. Old Meats lag schließlich direkt in der Mitte des Campus. Als sie aus dem Fenster schaute, das nach dem Krawall neu verglast worden war, konnte sie in der sonst klaren Luft über der Abrißstelle eine Staubwolke erkennen. Mrs. Loraine Walker wußte, daß die Gartenanlage den Haushaltskürzungen, die die Zerstörung von Old Meats notwendig gemacht hatten, zum Opfer fallen würde. Aber diese Gartenanlage war, so schön sie auch sein mochte, nicht offiziell zugelassen. Die offiziell zugewiesene Fläche lag seit Jahren brach, war ausgetrocknet und ungepflegt, weil sich trotz verschiedener Anweisungen, die Mrs. Loraine Walker mit Ivar Harstads Unterschrift an 581
den kleinen Mann vom Gartenbauinstitut geschickt hatte, niemand um sie kümmerte. Sie sprach laut mit sich selber. »Er war gewarnt«, sagte sie. Das hieß aber nicht, daß sie den Verlust des Gartens nicht bedauerte. Sie war vor kurzem zu der Einsicht gekommen, und erst am Abend zuvor hatte sie Martha gegenüber davon gesprochen, daß man manchmal zwei oder mehr widersprüchliche Gedanken gegeneinander abwägen mußte. Allerdings führte das zu einer gewissen Erschlaffung, oder etwa nicht? Und jemand, der immer nach festen Grundsätzen handelte, wie es die Angewohnheit von Mrs. Loraine Walker war, fühlte sich zwangsläufig unwohl bei Anzeichen von Chaos und Erschlaffung. Mrs. Walker rutschte unbehaglich auf ihrem Stuhl hin und her. Um die Wahrheit zu sagen, sie wurde in letzter Zeit überall, wohin sie auch schaute, mit Dingen konfrontiert, die ihr Unbehagen verursachten. Selber durch ihre Investitionen und ihre Festanstellung abgesichert, wußte sie jedoch, daß Ivar keineswegs abgesichert war. Eine vage Zuneigung zu ihm hielt sie davon ab, sich mit voller Überzeugung auf den Standpunkt zurückzuziehen, daß dies eben der Preis für einen Posten war, den er freiwillig übernommen hatte. Dann gab es da auch noch Nils, diesen langweiligen, selbstzufriedenen, unausstehlichen Mann, dessen Selbstgefälligkeit das Unglück geradezu herauszufordern schien, aber jetzt, da es tatsächlich eingetreten war, gelang es Mrs. Walker nicht, ihre moralischen Maßstäbe aufrechtzuerhalten. Jedesmal, wenn er ins Büro geschlurft kam und ganz verzagt nach seinem Zwillingsbruder fragte, wurde sie weich. Sie holte ihm Kaffee, sie hörte sich zum x-ten Mal die Neuigkeit an, daß diese Hellmich ihm einen Brief aus Bolinas, Kalifornien, geschickt hatte, und sie sprach mit sanfter Stimme, 582
statt ihn scharf zurechtzuweisen, wenn sie sagte: »Nun ja, Dekan Harstad, vielleicht war diese Beziehung von Anfang an zum Scheitern verurteilt –«, und sie klopfte ihm auf die Schulter, wenn er in weinerlichem Tonfall sagte: »All meine Träume…« Und dann gab es da noch Elaine Dobbs-Jellinek. Angesichts von Mrs. Walkers wohldurchdachter und äußerst berechtigter Abneigung gegen diese Frau hätte man doch annehmen sollen, daß der Anblick, wie sie, vom Stein eines Randalierers getroffen, zu Boden ging, und genau das hatte Mrs. Walker durch eben dieses Fenster beobachtet, daß der Anblick dieser Frau, wie sie regungslos und totenbleich in ihrem roten Mantel auf den Stufen lag, die Hände vor Überraschung gespreizt, so daß ihre zitternden roten Fingernägel auf dem Schnee wie Blutstropfen wirkten, nun ja, man hätte annehmen sollen, daß dieser Anblick ihr eine gewisse Befriedigung verschaffte, aber Mrs. Walker hatte nur blankes Entsetzen verspürt. Mrs. Walker schielte ängstlich auf das Fenster, als könnte die Szene plötzlich wie ein Kinofilm noch einmal auf der Scheibe erscheinen. Dann stand sie auf und griff nach ihrem Mantel. Vielleicht gab es einen Grund, warum sie sich den Abriß von Old Meats ansehen wollte, aber zum ersten Mal in ihrem Leben kannte sie ihn nicht; zum ersten Mal in ihrem Leben gab sie einfach einem Wunsch nach. KERI DACHTE an nichts anderes, als daß sie pünktlich zu ihrem Statistikkurs um 11 Uhr 30 erscheinen mußte. Sie hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, ihren Mantel zuzuknöpfen und ihre Handschuhe anzuziehen, und ihr Hals und ihre Finger brannten vor Kälte. Sie wich abwechselnd nach rechts und nach links aus, um dem hektischen Strom von Studenten aus dem Weg zu gehen, die 583
zu den Seminaren auf der Seite des Campus hasteten, von der sie gerade kam. Außerdem standen natürlich Studenten in Grüppchen zusammen, redeten, küßten sich, alberten herum oder flirteten. Und Professoren mit Aktentaschen liefen mit großen Schritten in der Mitte des Weges, und Fahrradfahrer schrien: »Achtung, links«, als wäre man, wenn man ihnen in die Quere kam, an seinen Verletzungen selber schuld. Trotz der vereisten Wege waren auch Rollerblade-Fahrer unterwegs – einer näherte sich Keri von hinten und jagte blitzschnell seitlich an ihr vorbei –, es war sogar jemand aus ihrem Kurs, der seine Rollerblades auch im Fahrstuhl anbehielt und erst im Seminarraum auszog. In einiger Entfernung hörte sie das Poltern von einstürzendem Mauerwerk, aber sie nahm den Krach kaum wahr und fragte sich auch nicht, woher er kommen mochte. ALS DER GREIFBAGGER das erste Stück aus der Wand von Earl Butz’ Suite riß, war Earl schon eine ganze Weile wach. Sobald das entfernte Donnern des zusammenfallenden Gebäudes zu ihm vorgedrungen war, hatte er als erstes sein Stroh zu einem kuscheligen Haufen zusammenschoben und sich so gut es ging darauf zusammengerollt. Als der Krach lauter wurde, schüttelte er nur den Kopf und versuchte, so gut er konnte seine Ohren im Stroh zu vergraben, aber es hörte nicht auf, sondern wurde immer lauter. Earl stand auf und lief rastlos in seiner Behausung umher. Die stechenden Schmerzen in seinen Füßen und Beinen nahm er kaum wahr. Als das Getöse überhandnahm, zog er sein begrenztes Erinnerungsvermögen zu Rate, um sich eine ähnliche Situation aus der Vergangenheit ins Gedächtnis zu rufen, aber es fiel ihm keine ein. Schließlich gab er seinen Stolz auf und kauerte sich schicksalsergeben in die hinterste Ecke seines Ko584
bens. Obwohl er auch unter diesen Umständen gern einen würdigen und gefaßten Eindruck gemacht hätte, war er dazu nicht in der Lage. Und dann riß der Greifbagger die Mauer ein, und das staubdurchsetzte helle Tageslicht und der blaue Himmel trafen zwei vor Entsetzen starre schwarze Augen. Earl preßte sich dicht an die solide und beruhigende Wand in seinem Rücken. Die Luft war kalt. Earl rang nach Atem, als der Greifbagger erneut ansetzte und das Loch in der Mauer vergrößerte. Er spürte etwas Unbekanntes auf seiner blassen, borstigen Haut, ein erfrischendes Frösteln. Es machte ihn hellwach und schreckte ihn aus der angstvollen Erstarrung auf, in die er verfallen war. Er hob den Rüssel und schloß einen Augenblick die Augen, dann kam er schwankend auf die Beine. Earl konnte nicht behaupten, daß man ihn in letzter Zeit vernachlässigt hatte – Bob kam immer noch fünfmal am Tag, hielt immer noch seinen Koben sauber, stellte ihm immer noch das Radio an, fütterte ihn immer noch mit seiner Spezialmischung, kratzte ihm immer noch mit dem Stock den Rücken und sprach mit ihm –, aber es war eindeutig, daß bei ihrem gemeinsamen Projekt irgendein Je-ne-sais-quoi auf der Strecke geblieben war. Bob wog ihn nur noch selten und nahm auch kaum noch andere Messungen vor, und Earl seinerseits spulte bloß noch mechanisch sein Freßprogramm ab. Natürlich absolvierte er noch alle dazu erforderlichen Bewegungen – Kauen, Schlucken, Verdauen und Ausscheiden –, seine Nahrungsaufnahme hatte sich nicht verringert. Aber er schenkte dem ganzen Vorgang kaum noch Beachtung. Hätte sich Dr. Bo Jones in den Staaten aufgehalten und über diese Angelegenheit nachdenken können, wäre er vermutlich zu dem Schluß gekommen, daß Earl genetisch dazu bestimmt gewesen war, sich innerhalb von einem 585
oder höchstens zwei Jahren zu Tode zu fressen, und daß er nach einem gewissen Aufschub nun am Ende seiner Möglichkeiten angekommen war und nur noch Zeit absaß. Und so wurde Earl plötzlich klar, als der Bagger erneut zuschlug und noch mehr Licht, Luft und Kälte hereinließ, daß die Veränderung, auf die er gewartet hatte, jetzt eingetreten war, und daß er handeln mußte, solange sich noch die Gelegenheit bot. Trotzdem, der Anblick dieses Greifbaggers war äußerst einschüchternd, und Earl mußte seine gesamte Willenskraft aufbieten, um die Angst zu unterdrücken, die er ihm einjagte, indem er bedrohlich hin- und herschwang und sich krachend in die noch stehenden Wände grub und mit einem ohrenbetäubenden Knirschen das packte und wegriß, was bisher die unverrückbare Grenze von Earl Butz’ Welt gewesen war. Die meisten Schweine hätten das nicht ausgehalten. Bob Carlson, der nur hilflos und panisch aus der Ferne zusehen konnte, nahm an, daß auch Earl es nicht aushalten würde. Aber so sehr die ungewohnten Bewegungen und der Lärm dieses Dings ihn auch erschreckten – Earl war doch durch seinen weihnachtlichen Traum für das gerüstet, was der Bagger offenlegte – die freie Natur. Kaum hatte er einen Blick darauf geworfen, wollte er sich in sie hineinstürzen, und er war überzeugt, dort vorzufinden, was er damals vorgefunden hatte – ein Gewirr von Gerüchen, grünem Gras und allem, was eine fröhliche Schweinefarm eben an Eindrücken zu bieten hatte. Der Greifbagger schaukelte und schnappte und kam der Stelle, wo Earl gegen die Wand gedrückt kauerte, immer näher. Schließlich rammte er mit einem Schlenker das Gatter des Kobens und schleuderte es zu Boden. Kurz darauf hörte das Poltern, Donnern und Krachen auf, und 586
alles war still. Earl hörte nur noch das Geräusch des Windes und ein paar entfernte Rufe. Sein Stroh stob auf und flog im Raum herum, und Earl machte zwei oder drei zögernde Schritte vorwärts. B OB, der aufgeregt hin- und herrannte und sich die Ohren zuhielt, sah, wie der Kranführer die Kabinentür öffnete und mit seinem Mittagbrot in der Hand herauskletterte. Die anderen Männer kamen ebenfalls aus ihren Lastwagen und gingen auf den Wohnwagen zu, den die Firma bereitgestellt hatte. Bob wartete, bis sie alle darin verschwunden waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten, ehe er sich vorsichtig dem Gebäude näherte. Er wußte, es war leichtsinnig – die ungestützten, noch stehenden Mauern konnten jeden Augenblick zusammenbrechen –, aber er dachte nur an Earl. Als er an der Absperrung, die die Männer errichtet hatten, angelangt war, blieb er kurz stehen, schaute nach links und nach rechts, dann kletterte er hinüber. MRS . L ORAINE W ALKER lief mit energischen Schritten auf das große alte Schlachthaus zu. Alles war still. Sie sah auf ihre Uhr. 11 Uhr 45. Sie machte sich im Geiste eine Notiz, bei der Firma anzurufen und sich zu erkundigen, ob die Kosten für den Abriß nach Zeit und Aufwand oder pauschal berechnet wurden. Auf der anderen Seite des Geländes sah sie mitten auf der Ames Road den kleinen Mann vom Gartenbauinstitut stehen. Er hielt den Kopf gesenkt und hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben. KERI trottete einsam und allein nach Dubuque House zurück. Sie hatte es nicht rechtzeitig zu ihrem Kurs ge587
schafft, und der Statistikdozent hatte wie immer Punkt halb zwölf die Tür abgeschlossen. Sie starrte auf ihre Füße, aber als sie an Berkeley Hall vorbeikam, auf der Seite, wo gerade etwas abgerissen wurde, bemerkte sie den Staub in der Luft und hob den Kopf. E R KONNTE NICHT den ganzen Tag damit verschwenden, sich das hier anzusehen, sagte sich der Vorsitzende X immer wieder, und außerdem hielt er den bohrenden Schmerz in der Brust, den ihm dieser Anblick bereitete, nicht mehr aus, aber selbst nachdem die Männer zur Mittagspause gegangen waren und die Maschinen ruhten, konnte er sich nicht losreißen. Sein Leben lang hatte er das Prinzip des leidenschaftlichen Widerstands hochgehalten, aber er hatte nicht das Gefühl, dadurch auch nur ein einziges Unheil abgewendet zu haben. Im Gegenteil. Gier, Fleischfresserei, Ausbeutung, Technik und Monokultur herrschten allerorten und waren stärker denn je. E ARL B UTZ rannte nach draußen. Das war seine einzige Hoffnung, und er folgte einem Urinstinkt. Mit gesenktem Kopf, donnernden Hufen, quiekend wie ein spitzrückiges Wildschwein in den abgelegensten Winkeln der asiatischen Steppe, fegte er an den gigantischen Maschinen vorbei, wetzte über das Gemisch aus Schnee, Matsch und Wurzelstöcken und schoß dann wie ein Bobschlitten durch ein Loch in der Absperrung. Dann war er im Freien; der ganze Campus lag vor ihm. Nein, er war nicht grün und voller angenehmer Gerüche, er war weiß und abweisend. Falls er erwartet hatte, was er kannte – den Farmer und seine Frau, Hunde, andere Schweine, Katzen –, wurde er enttäuscht. Hier gab es nichts, an das er sich auch nur im entferntesten erinnerte. Aber er konnte nicht 588
mehr zurück. Sie hatten sein kleines Zuhause, das warm und sicher gewesen war, zerstört. Earl verstand instinktiv, daß ihm nichts anderes übrigblieb, als sich an den eisigen Busen der Natur, so wie sie vor ihm lag, zu werfen und das Beste zu hoffen. B OB SAH IHN. Sein Bedürfnis, Earl zu sehen, festzustellen, ob er noch lebte, war so stark gewesen, daß der tatsächliche Anblick, wie Earl an ihm vorbeiraste, so groß wie ein VW-Käfer, aber viel schneller, ihn jetzt völlig aus der Fassung brachte. Mit erhobener Stimme, als wäre Earl ein Hund, rief er: »Earl! Earl! Hierher! Hierher!« Aber auf sein Kommando zu hören, hatte er Earl nie beigebracht, denn er hatte nicht angenommen, daß das je von Nutzen sein könnte. Er drehte sich um und kletterte wieder über die Absperrung, aber Earl legte eine für ein so massiges Schwein – er wog über siebenhundert Pfund – erstaunliche Geschwindigkeit an den Tag. Bob rannte, so schnell er konnte, aber Earl hängte ihn ohne Schwierigkeiten ab. MRS . L ORAINE W ALKER sah ihn, und sie erkannte in ihm das, was er war: das verborgene Schwein im Herzen der Universität, über das vor etwa einem Jahr Gerüchte aufgetaucht waren, die sie allerdings nicht ernst genommen hatte. Er flitzte an ihr vorbei. Sein helles Quieken unterstrich noch sein schweres Atmen, und seine weiße Haut war mit roten Schrammen übersät. Irgendwie fand sie den Anblick dieses wuchtigen, rasenden, fürchterlichen Tieres ergreifend. Und als sie mit einem Sprung zurückwich, streckte sie kurz die Hand aus, als wolle sie ihm über den Kopf streichen.
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DER VORSITZENDE X sah ihn, aber nur von weitem, und nur von hinten. Der Vorsitzende X war in Gedanken noch so sehr mit dem Garten neben dem Gebäude beschäftigt, daß er Earls blitzartig auftauchende helle Hinterbacken vor dem noch helleren Schnee kaum wahrnahm. Er hörte jedoch das gequälte Quieken, das in der frostigen, trockenen Luft widerzuhallen schien und dem Vorsitzenden X wie der Ausdruck seines eigenen Schmerzes vorkam, der überall um ihn herum erklang. DER C AMPUS war nicht menschenleer. Obwohl viele Studenten in den Seminaren saßen, waren doch eine ganze Menge draußen, und die blieben stehen und glotzten das vorbeisausende Schwein und den Jungen, der es verfolgte, an, aber Earl interessierte sich nicht für sie. Er schaute weder nach rechts noch nach links, während er durch Raum und Zeit in eine Zukunft getrieben wurde, die nicht bereit war, ihn aufzunehmen. Als habe er das begriffen, als wolle er seine Verwirrung zugeben, verlangsamte Earl sein Tempo. Und als er langsamer wurde, sah er sich plötzlich mit den Auswirkungen seiner wilden Flucht auf seine Knochen und Sehnen konfrontiert. Tatsache war, daß er, der zum Fressen und Faulenzen geschaffen war, nicht zum Galoppieren geschaffen war. Die neuen Varianten der ihm wohlbekannten stechenden Schmerzen waren schier unerträglich. Ihm stockte der Atem, und beinahe blieb er stehen. Aber nur beinahe. Wenn er nicht rennen konnte, würde er eben gehen. Er hob den Kopf und stolperte vorwärts. In diesem Moment erblickte er Keri, die wie angewurzelt auf dem Weg vor Berkeley Hall stand. War es ihr grüner Mantel, der ihn anzog? Oder etwas an ihrem Geruch? Verriet ihm sein animalischer Instinkt, daß sie ein Jahr lang die Schweinefleischkönigin von Warren County 590
gewesen war? Er lief schnurstracks auf sie zu, obwohl er in seinen Beinen einen brennenden und eisigen Schmerz verspürte, der unmittelbar aus dem Erdboden aufzusteigen schien. Keri wich keinen Zentimeter zurück. Der riesige Eber, vermutlich dänische Landrasse, aber größer als alle Exemplare, die sie bisher gesehen hatte, eher einem Eßzimmerbüfett als einem Schwein ähnelnd, wälzte sich auf sie zu und kam dann direkt vor ihr zum Stehen. Er blickte ihr in die Augen, lehnte sich ein Stückchen vor, als wolle er sie beschnuppern, und fiel dann nach vorne auf die Knie. Die stechenden Schmerzen konzentrieren sich in seinem linken Vorderbein und explodierten schließlich tief in seiner Brust. Er tat einen tiefen, schweren, röchelnden Atemzug und ließ sich plötzlich mit einem Ruck auf die Seite fallen. Sein ganzer Körper bebte. Keri kniete nieder und schaute in seine immer noch funkelnden schwarzen Augen, dann strich sie mit der Hand über seinen riesigen erhitzten Kopf. Zögernd begann sie, ihn hinter den Ohren zu kraulen. Er stieß noch einen langen, zitternden Seufzer aus, der gefror und in der kalten Luft hängenblieb. Dann schloß er die Augen.
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65 Die Nachwirkungen DEAN FAND das Schwein auf dem Foto komisch. Jetzt, da er eine Therapie machte, würde er das natürlich nie zugeben, aber Joy sah ihn lächeln, als sein Blick über das Bild glitt. Inzwischen hatte er sich in den Sportteil vertieft, und das Schwein starrte sie von der anderen Seite des Tisches an. Schon wieder ein totes Tier. Auch sie machte eine Therapie, und Gedanken wie »schon wieder ein totes Tier« taten ihr bestimmt nicht gut, deshalb senkte sie den Blick auf ihre Grapefruit. Um ihre Grapefruit herum waren fünf Happen von Deans »Großem Landsonnenschein-Frühstück« angeordnet, und bevor sie die nicht aufgegessen hatte, durfte sie das Restaurant nicht verlassen. Es handelte sich dabei um zähes Rührei, ein halbes Brötchen, einen Löffel Bratkartoffeln, einen halben Streifen gebratenen Speck und eine ältliche Erdbeere, die von weither kam. Unter dem Einfluß der Therapie war Dean dazu übergegangen, sie zu fördern und zu unterstützen, statt sie wie früher mit Vorhaltungen und Belehrungen zu überhäufen. Die ausgedehnten Frühstückssitzungen bei Denny’s gehörten zu seinem Programm. Zu Joys Programm gehörte es, negative Gedanken zu vermeiden. Ansonsten sollte sie abwarten, bis sich die Wirkung der Medikamente bemerkbar machte. Ihr Therapeut hatte ihr den Rat gegeben, sich als Erdbebenopfer zu betrachten, das von einem herabfallenden Dachbalken (ihre Stimmung) eingequetscht wurde. Die Verantwortung für das Erdbeben oder die Gebäudeschäden lag nicht bei ihr. Sie mußte nur Maßnahmen ergreifen, die zu ihrer Rettung führen würden, wie um Hilfe rufen, die Hoff592
nung nicht aufgeben, sich um sich selbst kümmern, die eigenen Kräfte schonen und den Glauben an die Medikamente nicht verlieren, die sie sich wie gutdressierte deutsche Schäferhunde vorstellen sollte, die aufgeregt bellten, während sie sich dem kleinen, dunklen Zimmer, in dem sie gefangen lag, näherten. Es war nicht gerade hilfreich, daß die Universität ihr mitgeteilt hatte, die Mittel für Pferdezucht und -pflege seien gestrichen worden und sie solle die universitätseigene Herde verkaufen. Joy würde in die Tierklinik versetzt werden, um sich dort der Pflege der Patienten zu widmen, hauptsächlich Pferde, aber auch ein paar Rinder. Sie würde nicht mit einer Gehaltskürzung rechnen müssen. Darauf mußte sie sich konzentrieren: keine Gehaltskürzung. Das war der Lichtblick in ihrem Leben. Der Lichtblick in Deans Leben war, daß er das rücksichtslose, destruktive, seelenmörderische Karrierestreben hinter sich gelassen hatte und nun daran gehen konnte, seine lange verschüttete und verkümmerte weibliche Seite zutage zu fördern. Um diesen Prozeß abzukürzen, versuchte er sich beizubringen, alles mit der linken Hand zu machen: schreiben, Bälle werfen, Messer und Schere benutzen, die Knöpfe der Fernbedienung des Fernsehers drücken. Diese Bemühungen waren seiner Therapie sehr förderlich, berichtete er. Erst am Abend zuvor hatte ihm seine Therapeutin anvertraut, daß sie noch nicht oft, wenn überhaupt, einen Patienten gehabt hatte, der so schnell zu seinen Schwächen vorgedrungen war wie Dean – und sie arbeitete immerhin schon seit fünfzehn Jahren als Therapeutin (da konnten schon an die sieben- oder achttausend Patienten zusammengekommen sein, und damit hatte er auf jeden Fall eine Spitzenposition in dieser Gruppe inne). Er war überzeugt, daß es am Training der rechten Hirnhälfte lag, und bestimmt konnte 593
man daraus mühelos einen Artikel für eine Fachzeitschrift oder sogar einen Bestseller, ein Übungsprogramm, ein Video machen. Und natürlich verfügte Joy als geborene Linkshänderin im Unterbewußtsein bereits über ein Reich von Gedanken und Gefühlen, das Dean gerade erst zu entdecken begann. Gemeinsam, während Dean Joy den Weg zu der Weisheit wies, die Joy bereits besaß, könnten sie…! Ungeahnte Möglichkeiten taten sich auf. Aber in seinem neuen Leben galt: immer schön sachte, eins nach dem anderen, Eile mit Weile. Joy schluckte die Bratkartoffeln herunter und unterdrückte einen Seufzer. Sie hatte festgestellt, daß Dean vor Sorge verrückt wurde, wenn sie seufzte. Sie legte den Happen Ei auf das halbe Brötchen und zwang sich, zu kauen und dann zu schlucken. Dean und die beiden Therapeuten ließen ihr eigentlich nichts zu tun übrig, als Anordnungen zu befolgen und auf ihre chemische Rettung zu warten. Die Depression, denn darunter litt sie, würde sich allmählich verflüchtigen. Die Grübeleien des letzten halben Jahres, die ihr halbwegs richtig, wenn nicht beruhigend vorgekommen waren, würden sich im nachhinein als gegenstandslos erweisen. Sobald die Medikamente anschlugen, würden sich die Ströme ihrer Gedanken von alleine mit einer rosa perlenden Flüssigkeit füllen. Zwar hatte sie sich in der letzten Zeit des Gefühls nicht erwehren können, um ihr Leben betrogen worden zu sein, aber selbst das würde nachlassen und allmählich in Vergessenheit geraten. Sie hob die Erdbeere an ihrem schlaffen Stengel hoch, wedelte sie hin und her und steckte sie dann in den Mund. Die Frucht schmeckte fast nach nichts. Sie beschloß, dem negativen Gedanken, die Erdbeere sei 594
ohne jedes Aroma, nicht nachzugeben, sondern vielmehr zu denken, daß ihre Geschmacksknospen früher oder später ihre seltsame Trägheit überwinden und wieder zum Leben erwachen würden. Dean legte die Zeitung weg und lächelte ihr aufmunternd zu, und jetzt konnte sie das Schwein nicht mehr sehen, sondern hatte nur noch die Wahl, es sich vorzustellen oder nicht. HELEN HATTE zwei Rituale, die ihr jedes Frühjahr neuen Auftrieb gaben. Am St.-Patricks-Tag pflanzte sie Frühkartoffeln, gewöhnlich eine gelbkochende Sorte, und sie warf durch die Hintertür Spinatsamen auf die Schneereste rund um die Terrasse. Der noch eisige Boden, der durch die Schneeschmelze langsam erwärmt wurde, brachte einen besonders saftigen, dunkelgrünen Spinat hervor, der süß, fleischig und voller Vitamine war und manchmal schon in der ersten Maiwoche geerntet werden konnte. Natürlich mußten die Sträucher beschnitten und der Mulch von den Gemüse- und Blumenbeeten geharkt werden, damit die wärmenden Strahlen der Sonne bis zur dunklen Erde vordringen konnten. Und dann die Sonne selber, nach der Wintersonnenwende – Helen liebte es, wie sie auf der Kopfhaut prickelte und die Vitamin-DProduktion mit einem Schlag in Gang brachte. All diese Tätigkeiten hatten früher auf ihr Gemüt dieselbe Wirkung ausgeübt wie ein Lächeln im Spiegel, wenn man traurig war – die bloße Ausführung löste freudige Erwartung aus. In diesem Jahr jedoch war das alles reine Routine. Es gelang ihr nicht, die Arbeit im Garten mit derselben Würde, Andacht und Hingabe zu verrichten wie in den vergangenen Jahren. Sie nahm sich nicht die Zeit, die Kartoffeln in Stücke mit zwei oder drei Augen zu schnei595
den, sondern legte sie ganz in die Erde. Sie warf zu viele Spinatsamen auf einen Fleck und würde die Pflänzchen später ausdünnen müssen. Sie vergaß, nach Schneeglöckchen, Krokussen oder spitzen, jungen Zwiebeltrieben zu sehen. Sie fröstelte im kalten Wind und beeilte sich, damit sie schnell wieder ins Haus gehen konnte. Aber drinnen gab es kein Feuer im Kamin, kein angefangenes Buch, das sie in seinen Bann ziehen würde, keine leise vor sich hin köchelnde Suppe, nicht einmal einen Brotteig, der zum Aufgehen auf der Heizung stand. Weder drinnen noch draußen irgend etwas, worauf sie sich freute, und ehrlich gesagt, war sie auch nicht in der Stimmung, sich auf etwas zu freuen. War das ein böses Omen für die Ehe, in die sie eingewilligt hatte? In den Wochen seit Ivars Antrag war ihr kein einziger guter Grund zum Heiraten eingefallen, jedenfalls keiner außer der Tatsache, daß ihre Lebenswege sie so nahe zueinander geführt hatten, daß sie unausweichlich auf eine Ehe zusteuerten. Wenn sie jetzt darauf bestand, diesen Kurs zu verlassen, würde sie die köstliche, vielgestaltige Bequemlichkeit des Lebens, das sie in den letzten fünf Jahren geführt hatte, womöglich ein für allemal zerstören. Nachdem sie den Samen ausgestreut hatte, hielt sie einen Moment inne in der Hoffnung, daß ein frühlingshaftes Gefühl in ihr aufkeimen möge, aber der flache, bleiche Himmel war auch nicht verheißungsvoller als der gefrorene Boden und der stetige kalte Wind, der dem Wind glich, der ihrer Vermutung nach auf dem Mars wehte. MARGARET TELEFONIERTE mit dem Leiter des Anglistikinstituts der Universität von Wisconsin. Sie versuchte, in einem normalen Tonfall zu sprechen, aber es gelang ihr nicht. Der Gedanke, daß auf dem Flur ihre Kollegen an 596
der geschlossenen Tür vorbeigingen, beunruhigte sie zu sehr. Der Institutsleiter sagte noch einmal: »Es tut mir leid, Professor Bell, aber könnten Sie bitte etwas lauter sprechen? Ich kann Sie kaum verstehen.« »Ich sagte, ich wäre auch bereit, eine einfache Dozentenstelle zu übernehmen.« »Ach herrje«, sagte der Institutsleiter. »Das tut mir aber leid, die Stelle haben wir inzwischen schon besetzt. Die, ehm, Dekane waren der Ansicht, daß wir Sie uns nicht leisten können.« »Ach so«, sagte Margaret leichthin, um ihre Enttäuschung zu überspielen, denn ihre Vision von einer aufregenden, schillernden Zukunft in Madison, Wisconsin, war soeben wie eine Seifenblase zerplatzt. HOCHSCHULDOZENT TIMOTHY MONAHAN hob den Blick von der Hausmitteilung auf seinem Schreibtisch (»müssen bedauerlicherweise alle Beförderungen auf unabsehbare Zeit ausgesetzt werden«) und rief: »Herein!« Eine äußerst merkwürdig aussehende Frau betrat den Raum und zog ihren Mantel aus. Erst nachdem sie »Hola« gesagt hatte, begriff er, daß er Cecelia vor sich hatte. Er schnappte nach Luft. Sie fragte: »Warum kommt es mir heute kälter vor als den ganzen Winter über? Mir wird heute einfach nicht warm!« Sie schlug die Tür zu. Tim versuchte, die Befremdung über die Hausmitteilung, die er gerade gelesen hatte, zu vergessen, und zwang sich, an seiner Besucherin vorbeizusehen. Ihr Haar war verschwunden. Die Lockenpracht, die durch Kämme und Nadeln kaum zu bändigen gewesen war, war nicht mehr da, und sie hatte jetzt einen viel kleineren Kopf, der ihn an eine Aubergine oder einen Kürbis erin597
nerte, der mit Nadelfilz bedeckt war. Er bemühte sich um einen verständnisvollen Tonfall und sagte: »Wußtest du, daß sechzig Prozent der Körperwärme über die Kopfhaut abgegeben werden?« »Ich wußte, du würdest es bemerken!« rief sie. »Ich habe es allerdings bemerkt.« Es klang niedergeschlagener, als er wollte, denn eigentlich war ihm die Beförderung egal, und er war ja nicht der einzige… Cecelia seufzte. »Glaub mir, ich wollte eigentlich nur die Spitzen nachschneiden lassen.« »Es wird schon wieder wachsen. Oder etwa nicht?« »Sie hatte keine Ahnung, wie sie es schneiden sollte, und versuchte immer wieder, die Seiten anzugleichen, und dann geriet sie in Panik, und ich auch, und wir schauten in einen Frisurenkatalog, und das ist schließlich herausgekommen. Als sie fertig war, fing sie an zu heulen, also konnte ich nicht auch noch heulen.« »Es wächst bestimmt wieder.« »Meinst du?« »Ich glaube schon.« Er zwang sich, überzeugt zu klingen. »Natürlich wächst es wieder.« »Aber das ist ein Zeichen. Sie hat gleich am Anfang gesagt, solche Haare wie meine hätte sie noch nie gesehen. Ich nehme das als Zeichen, daß ich nach L.A. zurückgehen sollte.« »Oh, Cecelia…« »Nein, nein, ich meine es ganz ernst. Ich komme hier einfach nicht zurecht. Und man hat mir gerade mitgeteilt, daß meine Kurse im Herbst schon wieder vergrößert werden sollen. Dann habe ich in jedem Kurs vierzig Studenten. Wie soll man vierzig Leuten auf einmal eine Fremdsprache beibringen? Das wäre doch ein pädagogi598
scher Gewaltmarsch! Und ein Jahr später wird über meine Zukunft hier entschieden. Wie soll ich halbwegs gewissenhaft hundertzwanzig Studenten pro Semester unterrichten und gleichzeitig meine Dissertation überarbeiten? Denn ich muß sie als Buch herausbringen und zusätzlich ein paar Artikel veröffentlichen, mich weiterqualifizieren, wenn ich eine feste Stelle haben will.« Sie fuhr sich mit der Hand über ihren stoppeligen Kopf und sprang auf. »Aber was will ich denn mit einer Festanstellung? Ich kann mir hier nicht mal die Haare schneiden lassen! Mir ist immer kalt, ich finde keine Freunde, und ich kann mir nicht vorstellen, daß ich mich hier je zu Hause fühlen werde, nicht mal in hundert Jahren. Wozu also die Mühe? Warum sollte ich hierbleiben?« Der erste Gedanke, der Tim durch den Kopf schoß, war: Weil ich es mir wünsche. Andererseits mußte er im Zuge seiner Selbsttherapie versuchen, seinen egozentrischen Standpunkt aufzugeben und distanzierter und umfassender zu denken. Also sagte er wohlwollend und umsichtig statt drängend und egoistisch: »Wie sind denn die Aussichten in L.A.?« Sie setzte sich wieder, lehnte sich zurück und legte die Füße auf seinen Schreibtisch. »Tja, weißt du, Tim, das ist der springende Punkt. Ganz im Ernst. Als ich Weihnachten in L.A. war, habe ich mir das Album angeschaut, das meine Mutter jedem von uns geschenkt hat, mit Fotos von meinen Großeltern und meinen Tanten und meiner Mutter und ihrem ersten Auto und den jungen Obstbäumen. Und offen gestanden war mir plötzlich schleierhaft, warum um alles in der Welt wir nach L.A. gekommen sind. Wieso haben sich meine Eltern für ein solches Leben entschieden? Sie haben sich eben nicht dafür entschieden! Sie sind in L.A. gestrandet. Ich komme aus einer Familie, die irgendwo hätte LEBEN können, aber 599
statt dessen gestrandet ist. ER hat immer gesagt…« Tim stieß einen mißbilligenden Laut aus, und sein Blick glitt wieder zu der Hausmitteilung zurück. Er drehte sie um, damit er nicht in Versuchung geriet, sie noch einmal zu lesen. »Ich weiß, ich habe versprochen, nicht mehr die ganze Zeit von ihm zu reden, und ich habe mich doch auch gebessert, oder? Aber dies hier ist wichtig!« »Schon gut, schon gut.« »United Fruit hat tatsächlich die Farmer aus dem Geschäft gedrängt! Mit ihren Anbaumethoden haben sie die kleine Stadt, aus der meine Familie stammt, in den Ruin getrieben! Nach vier Generationen blieb ihnen tatsächlich nichts anderes übrig, als wegzugehen. Und in dieser Situation ist L.A. das Naheliegende, aber das heißt nicht, daß man dort auch LEBEN kann!« Tim zuckte die Achseln, um seiner begründeten Skepsis über diese Darstellung Ausdruck zu verleihen. Aber ihre nächste Bemerkung klang so traurig, daß er sein sachliches Gehabe nicht länger beibehalten konnte: »Jetzt bin ich mit Stranden dran.« Er seufzte. Sie legte ihre Füße übereinander und strich mit der Hand über ihren Kopf. Sie verzog den Mund: »Um ehrlich zu sein…« Sie wechselten einen Blick, und Tim erkannte, daß sie dasselbe dachten. Hier. Hier zu stranden, war weder erstrebenswert noch wünschenswert. In diesem Moment, durch diesen Blick, übertrug sich ihre Stimmung auf ihn, und er sah seine Zukunft vor sich: er würde für immer Hochschuldozent bleiben, zur Miete wohnen, seine Studenten würden immer jünger werden, er würde sich beim Schreiben immer mehr wiederholen, seine Reisen nach 600
New York würden immer verzweifelter werden, und der Kreis seiner Ex-Geliebten würde immer größer, bis er sich über den ganzen Campus erstreckte wie ein flacher, trüber Tümpel. »Es liegt an diesem Schwein«, sagte er. »An dem Bild von dem toten Schwein auf der Titelseite der Zeitung. Vielleicht…«, aber er hörte seine Stimme, und seine Stimme klang plötzlich dünn und hoffnungslos, »vielleicht ergibt sich ja irgendwas.« MRS . L ORAINE W ALKER befand sich in einer ungewohnten Lage. Sie schaute Schlicht-und-einfach-Brown über seinen großen Mahagonischreibtisch hinweg an. Obwohl sie es vorzog zu sitzen, mußte sie stehen. Obwohl sie es vorzog, Fragen zu stellen, hatte sie soeben ein paar beantwortet. Und jetzt strahlte er sie mit unerschütterlicher guter Laune an. Er sagte: »Meine liebe Mrs. Walker. Eine Einrichtung wie die unsere ist ein zerbrechliches Gebilde. Ich stelle sie mir gern als ein Kraftfeld in dynamischer Balance vor, wo Energie in alle Richtungen schießt, aber eben gebändigte und nutzbare Energie. Dieses Feld reagiert äußerst empfindlich, und schon die geringste Störung – wie zum Beispiel eine Rückströmung von Energie aus unautorisierten Quellen – löst eine tiefgreifende Erschütterung im Ganzen aus.« Seine Hände ruhten gelassen auf einem Computerausdruck des Bibliotheksetats. Darunter lag, wie Mrs. Walker wußte, ein Ausdruck des Sportetats. »Man könnte sagen…«, fuhr er aufgeräumt fort und sprach dabei offensichtlich von dem Thema, das ihm am meisten am Herzen lag, »… so eine Institution ist ein geschmeidiges Raubtier, ein Panther mit blitzenden Augen und dichtem, schimmerndem Fell. Seine Muskeln sind gespannt, seine ganze Aufmerksamkeit ist auf den 601
SPRUNG gerichtet, die ZÄHNE sind im Begriff, sich in den Hals der BEUTE zu graben…! Aber unser Panther hat eine Krankheit. Gewisse Zellen sind über den Platz hinausgewachsen, der ihnen zusteht. Man würde das wohl Krebs nennen, meinen Sie nicht auch, Mrs. Walker? Denn ein Krebsgeschwür ist doch letztlich nichts anderes als Insubordination, und Insubordination nichts anderes als ein Krebsgeschwür, nicht wahr? Können Sie mir folgen, Mrs. Walker?« Er lehnte sich über den Schreibtisch und versuchte ganz unverhohlen, ihren Blick aufzufangen. Aber dafür war sie dann doch zu schlau. Sie starrte respektvoll, aber leicht gelangweilt auf einen Punkt an der Wand direkt neben seinem Ohr. »Ich kann Ihnen durchaus folgen, Vizepräsident Brown.« Das Lächeln verschwand nicht einen Moment aus seinen weichen Gesichtszügen. »Also, Mrs. Walker. Mrs. Walker, Mrs. Walker, Mrs. Walker. Es geht um folgendes. Wir haben die Aufmerksamkeit des Gouverneurs, des Parlaments und des Hochschulausschusses auf uns gezogen. Der Präsident kommt, vorläufig wenigstens, ohne Ivar nicht aus. Also wird Ivar ohne Sie auskommen müssen.« Mrs. Walker richtete ihren Blick auf das Gesicht von Schlicht-und-einfach-Brown. Er sagte: »Glauben Sie mir, Mrs. Walker, ich bin mir über Ihren Status als Beschäftigte im öffentlichen Dienst vollkommen im klaren.« Er legte noch mehr Freundlichkeit und Wärme in seine Stimme: »Und ich kenne mich in Verfahrensfragen aus. Verehrteste, Sie sind in ziemlichen Schwierigkeiten.« DAS WAR ’ S dann also. Noch am Abend des Tages, als dieses riesige Schwein vor Keris Füßen zusammengebro602
chen war, hatten sie eine Aussprache gehabt, und jetzt war alles geklärt. Sie hatten einen Entschluß gefaßt, und es war das beste so. Diane bewarb sich bei der Studentinnenverbindung, die sie schon die ganze Zeit im Auge gehabt hatte, dem weiblichen Pendant der Verbindung, der ihr Freund angehörte. Und wenn sie erst einmal dort Mitglied war, würde vielleicht auch das ständige Hickhack zwischen den beiden aufhören. Nebenbei war es auch die blondeste und angesehenste Verbindung von allen. Keri hatte noch am selben Nachmittag, nachdem das mit dem Schwein passiert war, die Zeitung hervorgeholt und eine Wohnung gefunden – ein Studio über dem Drugstore gleich neben dem Campus. Sie schaute es sich gerade an. Es sah so aus, als würde Sherri zu ein paar Mädchen, die sie aus der High School kannte, in ein normales Wohnheim ziehen. Das war vielleicht nicht optimal (kleineres Zimmer, genauso viele Mädchen, und eine davon war diese Doreen, mit deren Freund Sherri im Herbst geschlafen hatte), aber finanziell hatte sie gar keine andere Wahl. Mary ging zurück nach Chicago. Aus ihren und Divonnes Plänen war nichts geworden. Divonne würde ihre Stelle als studentische Hilfskraft verlieren, sobald die Kürzungen in vollem Umfang griffen, und der einzige Job, den sie gefunden hatte, war bei McDonald’s in der Mensa, für halb soviel Geld, wie sie jetzt verdiente, dabei aber zehnmal so langweilig. Der Traum von einer Wohnung, wo sie alle feierlich Kwanzaa begehen und ihre afrikanische Herkunft erforschen konnten, war zerplatzt wie eine Seifenblase. Mary hatte gar nichts dagegen, nach Chicago zurückzugehen. Im Gegenteil. Das ganze Theater hier lohnte sich doch nicht, und sie hatte es satt, alles immer wieder mit Sherri durchzukauen, die wollte, daß Mary in Dubuque House wohnen blieb und sie sich einfach zwei neue 603
Mitbewohnerinnen suchten. Sherri konnte wirklich hartnäckig sein. Hundertmal am Tag sagte sie: »Ich verstehe nicht, was du eigentlich hast. Deine Lehrer mögen dich, du hast einen tollen Freund, und wir könnten unser Zeug den ganzen Sommer über hierlassen, statt es zurück nach Hause zu schicken!« Auf keinen Fall wollte Sherri ihre Sachen dem unerbittlichen Blick ihrer Mutter aussetzen. »Im Ernst, sie glaubt, wenn man Schwarz trägt, ist das ein untrügliches Zeichen dafür, daß man schon mal Sex gehabt hat!« Worauf die anderen drei Mädchen wie aus einem Munde riefen: »Ist es das etwa nicht?« Carol hatte noch keine Ahnung, daß Mary schon bald wieder in Chicago sein würde, und rechnete nach wie vor damit, daß sie den Sommer in Dubuque House verbrachte, die Sommerkurse besuchte und einen Job in der Putzund Renovierungskolonne annahm. Sie würde das Problem genausowenig verstehen wollen wie Sherri, auch wenn es für Mary auf der Hand lag. Es kam ihr einfach so vor, als ob sie nicht hierher paßte. Sie beobachtete sich dabei, wie sie den Campus überquerte, Seminarräume betrat, in der Bibliothek lernte, wie sie in der Mensa oder im Speisesaal von Dubuque House aß, auf einer Party mit Hassan tanzte, aber sie hatte keinen Schimmer, warum sie das tat und wohin es führen sollte. Wenn sie an den Campus dachte oder an ihre Kurse oder auch nur an ihr Zimmer, kam sie in diesen Gedanken gar nicht vor. Es gab nicht das kleinste Fleckchen, wo man als Schwarze hingehörte. So ungern sie es auch zugab, letztendlich hatte DIESE SACHE in der Mensa das bewirkt, und wohl auch die Art, wie sie vertuscht oder vergessen worden war. Alle Liebenswürdigkeit ihrer Mitbewohnerinnen (weiß), alles Lob ihrer Professoren (weiß), alle Solidarität ihrer Freunde (schwarz) und auch die Zuneigung von 604
Hassan (weder noch) reichten nicht aus, um das Übel bei der Wurzel zu packen – je länger sie hierblieb, an dem weißesten Ort, an dem sie je gewesen war, mindestens so weiß wie die Welt, in der sie erfolgreich sein mußte, um es Carol recht zu machen, desto mehr hatte sie das Gefühl, gar nicht mehr vorhanden zu sein. Man konnte den Ursachen dieses Gefühls natürlich auf den Grund gehen, und wenn sie es preisgab, würden die anderen ihnen zweifellos tiefer auf den Grund gehen, als ihr lieb war, aber nur weil man den Ursachen auf den Grund ging, würde das Gefühl nicht verschwinden, im Gegenteil, sie würde sich höchstens noch schuldiger fühlen, weil sie diesem Gefühl je nachgegeben hatte. Sie hatte sich fest vorgenommen, Carol gegenüber hart zu bleiben, härter als je zuvor. Sie war eben nicht so ehrgeizig, wie es Carol gerne hätte. Erfolg zu den Bedingungen der Weißen war zu destruktiv, und außerdem, warum sollte sie etwas tun, was sie eigentlich gar nicht wollte? Carol konnte sie nicht dazu zwingen. Hartnäckige Weigerung war ihr Trumpf. Doch leider mußte sie jetzt schon ständig an den bevorstehenden Krach denken. Aber im großen und ganzen war alles in Ordnung. Sogar mehr als in Ordnung. Alles war gut, und wenn die anderen sie einfach in Ruhe lassen würden, wäre alles noch viel besser. KERI SASS auf der Bettkante und schaute sich in dem winzigen Zimmer um. Wenn man sich weit genug in alle Richtungen lehnte, konnte man alles vom Bett aus erreichen – den Wandschrank, die Kochplatte, die Spüle, das Fenster, die Duschkabine. Es war das kleinste Zimmer, das Keri je gesehen hatte, und fast bedauerte sie schon, daß sie es gleich gemietet hatte. Der Vermieter hatte kaum die Tür geöffnet, um sie hereinzulassen, da hatte 605
sie schon die Kaution gezahlt. »Glauben Sie mir«, hatte sie gesagt, »solange es nur sauber ist, ist alles in Ordnung.« Aber jetzt, da sie hier war, allein (es wäre auch kaum genug Platz für sie und den Vermieter), fing sie an, den Begriff »in Ordnung« etwas näher zu definieren. Nicht, daß sie sich nicht vorstellen konnte, hier zu leben. Im Gegenteil, sie konnte es sich nur allzu gut vorstellen – sie würde sich gemütlich in ihr Bett kuscheln, zwischen ihr und ihren Sachen wäre kein Platz, den jemand anders mit Beschlag belegen könnte, und sie wäre, das wußte sie jetzt schon, besessen davon, alles peinlich genau in Ordnung zu halten. Und es war auch nicht so, daß sie sich vor der zu erwartenden Isolation fürchtete. Ihre Angst war mehr oder weniger abstrakt. Es war eher so, daß sie sich auf das Alleinsein freute, auf die Erleichterung, die sie verspüren würde. Sie saß auf diesem kahlen Bett, schaute sich in dem winzigen, leeren Zimmer um und konnte darin mühelos die Gußform ihrer zukünftigen Persönlichkeit erkennen. ALS B OB seine Eltern anrief, weil er Trost brauchte, und ihnen von Earl erzählte, sagte seine Mutter: »Ach, Junge! Das tut mir aber leid. Ich weiß, ich kann dir nicht helfen, aber wie wäre es, wenn ich dir ein paar Plätzchen schicke? Gerade heute habe ich Ingwerwaffeln gebacken. Die kann ich morgen früh abschicken. Ich wollte dir heute sowieso ein paar Zeilen schreiben, weil Tante Edna nämlich am Wochenende einen Herzinfarkt gehabt hat, und wenn du glaubst, du hast Probleme, dann solltest du sie erst mal sehen! Ein vierfacher Bypass, und das ist noch das wenigste! Also schick ihr doch bitte ein Kärtchen ins Krankenhaus. Während du mit deinem Vater sprichst, such ich dir die Adresse raus. Bis gleich, Junge.« Dann nahm sein Vater den Hörer und sagte: »Hallo, Sohn, 606
erinnerst du dich, als damals die vier Welpen starben, die der Deutsch-Drahthaar-Hündin, in die wir so große Erwartungen gesetzt hatten, der ganze Wurf, und dabei hatten wir hundert Dollar für die Deckgebühr bezahlt? Wir nahmen es so schwer, weil wir schon das Geld gezählt hatten, das wir für die Welpen bekommen hätten. Und dann riß die Hündin aus und wurde sofort wieder trächtig, und die neuen Welpen erwiesen sich, obwohl sie nicht reinrassig waren und wir sie nicht verkaufen konnten, als die besten Hunde, die wir je hatten, und alle, denen wir einen schenkten, waren der gleichen Meinung – schlau wie die Füchse und gar nicht mal häßlich. Du weißt ja, wenn was Schlimmes passiert, sag ich immer, wer weiß, wozu das gut ist. Hier ist deine Mutter, sie will dir was sagen, bis gleich.« Und dann sagte seine Mutter: »Also, ich muß den Zettel weggeschmissen haben. Bart, hast du den Zettel nicht gesehen? Ich meine die Ecke von diesem Umschlag, das Abo von der Zeitschrift, du weißt doch, welches ich meine, da stand etwas in roter Schrift drauf, gestern abend haben wir noch überlegt, ob wir abonnieren. Wo hab ich das bloß hingelegt…« Bob hatte schon die ganze Zeit mit seiner Stiefelspitze gegen die offene Tür des Wandschranks getippt. Plötzlich trat er so fest dagegen, daß sie zuknallte. »Oh, da ist er ja, nein, doch nicht, das ist der andere Brief, den ich gesucht habe. Den lege ich besser gleich beiseite, sonst… Ja, hier. Edna Carlson, Hope Hospital, Hope Junction – jetzt kann ich doch glatt die Postleitzahl nicht lesen, aber es gibt ja auf dem Postamt Bücher dafür, da brauchst du bloß nachgucken…« Bob hörte, wie ihre Worte immer mehr zum Selbstgespräch wurden. Ihre Stimme wurde weicher, und er konnte sich genau vorstellen, wie sich ihr Blick allmählich senkte und nach innen wandte. 607
Er sagte: »Hör endlich auf damit!« »Was sagst du, Junge?« »Ich sagte: ›Hör endlich auf!‹ Was soll das Getue wegen Tante Edna! Ich kann sie sowieso nicht ausstehen! Wen zum Teufel interessiert Tante Edna? Dich bestimmt nicht!« Die Stille am anderen Ende der Leitung verriet ihm, daß er sie aufgerüttelt hatte. Dann machte er den verhängnisvollen Fehler, den Beweis für seine Behauptung antreten zu wollen. »Noch im letzten Sommer hast du gesagt, sie wäre die egoistischste Frau, die dir je untergekommen ist, weil sie damals Großmutter im Regen warten lassen hat, während sie…« »Sohn?« ertönte die Stimme seines Vaters. Und dann warf er Garys Funktelefon durch die Fensterscheibe hinaus, die zu glitzernden Scherben zersprang. Und das Telefon schoß in hohem Bogen in die Nacht.
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66 Der Kanzler denkt nach AUCH WENN die Schlagzeilen katastrophal gewesen waren, mußte Ivar doch zugeben, daß das Foto von Mrs. Walker mit der Bildunterschrift: »Die Sekretärin des Kanzlers, die zufällig anwesend war, als das geheimnisvolle Schwein flüchtete, veranlaßt die Beseitigung des Tierkadavers«, beruhigend wirkte. Im Hintergrund des Bildes sah man einen Bulldozer. Wie immer umgab Mrs. Walker die Aura eines Menschen, der alles unter Kontrolle hat – sie hatte dem Jungen, der für die Pflege des Tieres verantwortlich gewesen war, aufgetragen, die weinende Studentin in ihr Wohnheim zu bringen; sie hatte kein Wort über das Schicksal der sterblichen Überreste des Tieres verlauten lassen (was konnte man schon mit einem derartig riesigen Schwein anfangen, außer es zu essen, sollte man etwa die Ortsgruppe des Tierschutzbundes alarmieren?); sie hatte sich, kurz gesagt, so verhalten, als wäre der Anblick eines über den Campus rasenden Schweins zwar ungewohnt, jedoch kein Anlaß zur Beunruhigung, sondern vielmehr amüsant, und als sei die Panik der Leute, die vor dem Tier davonrannten und dabei zum Teil hinfielen oder versuchten, sich mit einem Hechtsprung vor ihm in Sicherheit zu bringen, verständlich, aber, nun ja, eher lächerlich. Und schließlich war ja auch niemand verletzt worden. Die Aktivitäten von Dr. Bo Jones waren jedoch genau unter die Lupe genommen worden. Ivar und Mrs. Walker hatten zu ihrer Überraschung aus der Zeitung erfahren, daß er sich in Zentralasien aufhielt, und das schon seit mehreren Wochen. Sie hatten, ebenfalls zu ihrer Überra609
schung, von der Buchhaltung der Universität erfahren, daß zu den jüngst getätigten Ausgaben für Futter, Medikamente und eine studentische Hilfskraft (diesen Jungen namens Bob), die allesamt nicht genehmigt waren, ähnliche Ausgaben während der letzten fünf Semester hinzukamen, die außerdem durch eine frühere, erstaunlich hohe Summe ergänzt wurden, die für die Renovierung des Schweinekobens in Old Meats verwendet worden war. Alles in allem belief sich die von der Universität für Dr. Jones’ Schweinemast-Experiment bezahlte Summe auf $ 233876,42, da keine Fördergelder geflossen waren, um wenigstens einen Teil der Kosten zu decken. Und die Buchhaltungsabteilung der Universität hatte diese Informationen mit bemerkenswerter Bereitwilligkeit an die Presse weitergegeben. Gouverneur O.T. Early war mit den Worten zitiert worden: »Wer hat in diesem Laden eigentlich das Sagen? Ich glaube, ich sollte einigen von diesen Leuten mal kräftig in den Hintern treten.« Was ist eine Universität? Ivar mußte über die Antwort erst einmal nachdenken. Als er im Alter von achtzehn Jahren an diese Universität gekommen war, hatte er ohne Schwierigkeiten gefunden, wonach er suchte. Es war 1953, und überall liefen kantige Männer mit Brillen, Bürstenschnitten und Fliegen herum, eine Armee von gütigen Onkeln, die, wenn sie etwas erklärten, gerne ihre Pfeife als Zeigestöckchen benutzen. Er und Nils hatten ebenfalls Bürstenschnitte und Fliegen getragen, und sie wurden mit »Mr. Harstad« angeredet, wenn man sie im Unterricht aufrief. Die Mädchen, bei denen es sich eindeutig um eine andere Gattung handelte, trugen Tellerröcke und Twinsets und lebten, von strikten Regeln und Hausmüttern beschützt, auf einem anderen Teil des Campus, wo sie offensichtlich auf eine Art von Paarungsritual vorbereitet wurden. Ivar und Nils entschieden sich ir610
gendwann dafür, nicht an diesem Ritual teilzunehmen, sondern schlossen sich lieber den Onkeln an. Die Universität war damals bloß ein College, das Professorenkollegium war überschaubar, und Anspruch auf Universalität wurde nicht erhoben. Im Laufe der Jahre hatte Ivar herausgefunden, daß die Onkel sich häufig zankten, und zwar daß sie sich um so erbitterter und unversöhnlicher bekämpften, je mehr sie sich rein äußerlich zu ähneln schienen. Eine weitere Tatsache, die er herausgefunden hatte, war, daß es zwar so aussah, als seien die größten Veränderungen des Universitätslebens durch den enormen Zufluß von Geld aus allen möglichen staatlichen und privaten Quellen herbeigeführt worden, daß dieser Zufluß jedoch keine Auswirkungen auf die internen Feindschaften hatte. Das Feuer des Hasses wurde weder geschürt noch erstickt, nur weil größere Summen auf dem Spiel standen. Er und Nils hatten sofort begriffen, worin das einzige Versprechen einer »College-Erfahrung« lag, die so lange dauern würde, bis sie ihre Prüfungen bestanden hätten. Diese College-Erfahrung würde ihre Eltern eine bescheidene Summe kosten, und der Ertrag dieser Investition wäre ebenfalls bescheiden – ein geringes Maß an zusätzlichem Ansehen, eine etwas größere Wahrscheinlichkeit, daß Nils und Ivar einmal der Mittelklasse angehören würden. In den fünfziger Jahren mußten sich die Colleges anpreisen. Es leuchtete nicht jedem ein, daß man Geld für seine höhere Bildung ausgeben und gleichzeitig einen vielversprechenden Job oder eine gutbezahlte Lehrstelle in einer interessanten Branche zurückstellen sollte. Eine der Broschüren, die das College herausgegeben hatte, warb mit dem Slogan: »Eine College-Ausbildung öffnet Türen.« Darunter die Zeichnung eines Flurs mit zwei oder drei offenen Türen, die den Blick auf Gruppen ein611
ladend lächelnder Männer freigaben. Ein begrenztes Verspechen, das sich an eine begrenzte Gruppe richtete. Das Geld war der eine Aspekt des gegenwärtigen universellen Bildungsangebots. Die Onkel mit ihren Bürstenschnitten waren von anderen Onkeln im Afro-Look, mit Pferdeschwänzen oder exakten börsenmaklerähnlichen Messerschnitten abgelöst worden sowie von Tanten mit Bubiköpfen, Locken oder Haarknoten, Tanten in Jeans, deren Mähnen bis zur Hüfte reichten, und sogar, was ihm besonders denkwürdig erschien, von einer Tante, die ihre Haare bis auf einen halben Zentimeter abschnitt – und an ihre Bürotür einen Zettel hängte, auf dem den Studenten, die mit ihr sprechen wollten, mitgeteilt wurde, daß sie auf dem universitätseigenen Schießstand zu finden sei. Die Onkel und Tanten auf dem Campus sprachen mit einer universellen Mannigfaltigkeit von Akzenten. Die Studenten standen ihnen darin in nichts nach. Und die Universität versprach schamlos allen alles und verlangte so hohe Gebühren, daß die zukünftigen Studenten dazu neigten, den Versprechungen zu glauben. Obwohl staatliche Universitäten, anders als die Ivy-LeagueHochschulen, keinen Aufstieg in die herrschende Klasse versprachen (das mußte der wahre Grund sein, dachte Ivar, warum vier Jahre in Harvard $ 100000 kosteten), hatte Ivars Universität im Laufe der Jahre lauthals alle möglichen Behauptungen aufgestellt: Studenten würden gute Jobs finden, für den Bundesstaat würden sich Investitionen in die Bildung bezahlt machen, Wirtschaftsunternehmen würden mit Hundertschaften enthusiastischer und gut ausgebildeter Angestellter versorgt werden, Theorien und Technologien würden Grenzen überwinden, die so alt wie die Menschheit waren (und irgendein Glückspilz würde sich die Durchbrüche patentieren lassen kön612
nen). Und zumindest könnten die Studenten damit rechnen, wahre, schöne und tiefsinnige Gedanken zu denken und daraufhin ein besseres Leben zu führen. Und das allermindeste, womit sie rechnen könnten, war, den elterlichen Pfaden zu entkommen, sich zu betrinken, high zu werden, Sex zu haben, Leidenschaft zu suchen und den Geschmack von Freiheit und Unverantwortlichkeit zu kosten, und das alles bei der denkbar besten Unterrichtsausstattung, die man für Geld kaufen konnte. Da die Grenzen dieser Bildungseinrichtung sich mit Lichtgeschwindigkeit erweiterten, konnte ein junger Mann oder eine junge Frau an der Universität inzwischen alles mögliche lernen, vom Lesen eines Gedichts bis zur Herstellung von digitalen Speichern aus Proteinmolekülen, vom Bierbrauen bis zur Neuinterpretation der gesamten persönlichen Vergangenheit. Während all der Jahre, dachte Ivar, hatte jeder oder jede auf dem Campus seinen oder ihren Neigungen freien Lauf gelassen, und die Universität hatte mit einem bangen, aber verständnisvollen »Warum nicht?« darauf reagiert. Sie war, mehr als alles andere, zu einem ausgedehnten Netzwerk der unterschiedlichsten Wünsche geworden, von denen einige bescheiden und einige vollkommen unrealistisch waren, viele miteinander kollidierten und viele sich gegenseitig ergänzten. Ivar stellte sich weder den Wünschen noch denjenigen, die Fördergelder für deren Erfüllung anboten, in den Weg. Er konnte von sich selbst nur sagen, daß er von Zeit zu Zeit ein leichtes Unbehagen empfand. Dr. Bo Jones war ein wohlmeinender alter Trottel, nicht mehr und nicht weniger gutmütig als alle anderen, neugierig und exzentrisch und nicht übermäßig gierig oder berechnend. Er hatte einen Weg gefunden, die Fragen, die er stellen wollte, auf Kosten der Universität zu 613
stellen. Niemand hatte ihn daran gehindert. Ivar rief Mrs. Walker im Vorzimmer an. Er sagte: »Mrs. Walker, finden Sie bitte heraus, wer Dr. Jones’ Reise bezahlt. Wie heißt das Land doch gleich, in das er gefahren ist?« »Kirgisien. Ich habe es überprüft. Er hat anscheinend Fördergelder von einer Firma namens Mid-America Pork By-Products bekommen, die eine Tochterfirma von Western Egg and Milk ist, die eine Tochterfirma von –« »– der TransNationalAmerica Corporation ist.« Ivar und Mrs. Walker stießen gleichzeitig einen langen, wissenden Seufzer aus. Ivar sagte: »Wo glauben Sie, ist er?« »Tja, ich habe mit Mrs. Jones gesprochen, und sie hat gestern abend ein Telegramm bekommen, in dem stand: ›Habe Pferde und Führer gefunden. Breche morgen ganz früh in die Bergregionen auf. Erhielt Zusicherung, daß Gerüchte über sich bekriegende Klans übertrieben sind.‹« »Vielen Dank«, sagte Ivar.
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67 Dem ex machina E S WAR seiner Sekretärin nicht entgangen, daß Nils Harstad kein selbstzufriedener, wichtigtuerischer Besserwisser mehr war, sondern ein echtes Wrack. Sein früherer Tagesablauf, der ihren Bedürfnissen voll und ganz entsprochen hatte, weil er ihr viel Zeit für ihre eigentliche Berufung ließ, der darin bestand, AmwayProdukte am Telefon zu verkaufen, war beim Teufel. Ihr Umsatz war um ein Drittel zurückgegangen, und der Einkommensverlust gefährdete ihre Urlaubsreise nach Cancún. Diese Marly Hellmich war jetzt schon seit zwei Wochen verschwunden, aber es sah so aus, als wolle Dekan Harstad so lange in ihrem Büro sitzen und mit ihr jedes Detail seiner bedauernswerten Lage durchgehen, bis sie kündigte oder er sich zur Ruhe setzte, je nachdem was früher eintrat. Daher hatte sie keine Bedenken, einen Typ im Overall namens Joe Miller in das Büro des Dekans zu führen, damit er dort auf ihn wartete. Als der Dekan endlich gekommen war, seinen Mantel aufgehängt hatte und sich gerade anschickte, wie üblich einen Stuhl neben ihren Schreibtisch zu rücken, um dann sein Klagelied anzustimmen, sagte sie: »Oh, Sir, da wartet jemand auf Sie in Ihrem Büro. Er wartet schon seit –« Der Dekan warf einen müden Blick durch die offene Tür, und es sah so aus, als wolle er sich trotzdem hinsetzen, aber sie hinderte ihn daran. »Wirklich, Sir. Er hat wichtige Unterlagen dabei.« Der Dekan stieß einen märtyrerhaften Seufzer aus, aber er ging hinein. Einen Augenblick später hörte sie ihn 615
intonieren: »Ich kenne Sie nicht, mein Herr, aber darf ich Sie fragen, ob Ihre sehnsüchtigsten Träume schon jemals mit einem Schlag zunichte gemacht wurden –« »Mit so was kenne ich mich nicht aus –«, begann Joe Miller, und Dekan Harstads Sekretärin stand auf und schloß die Tür, ehe sie ihre Kundenliste, aus der Handtasche holte und die Nummer eines Außenanschlusses wählte. Eine Stunde später schoß Dekan Nils Harstad, in einen Dynamo verwandelt, aus seinem Büro. Mit wilder Entschlossenheit schob er Joe Miller vor sich her und sagte zu seiner Sekretärin: »Rufen Sie Ivar an. Sagen Sie ihm, daß ich auf dem Weg zu ihm bin. Sagen Sie ihm, er soll sich keinen Millimeter vom Fleck rühren. Sagen Sie ihm, er soll den Präsidenten und den Justitiar der Universität anrufen und sie sofort zu sich bitten.« »TJA NUN«, sagte Joe Miller zu der Phalanx von Akademikern, die ihm an dem großen Walnuß-Konferenztisch der Universität gegenübersaß, »wir haben Mr. Stroops Post immer beim Postamt abgeholt, seit er diesen Schlaganfall hatte, und auch später noch, als er in der RehaKlinik war. Ich habe ihm seine Post vorbeigebracht und sie manchmal auch für ihn geöffnet, und er hat genickt, wenn ich etwas für ihn aufbewahren sollte, und den Kopf geschüttelt, wenn ich es wegwerfen sollte. Und dann hat er mir noch kurz vor seinem Tod die Stelle in seinem Haus gezeigt, wo er seine wichtigen Unterlagen aufbewahrte. Er hatte keinen Anwalt, denn, wie Sie vielleicht wissen« (an dieser Stelle nickte er Dekan Harstad zu, dem blassesten Menschen, den er je gesehen hatte, abgesehen von Kanzler Harstad – er nahm sich fest vor, seiner Frau von den beiden zu erzählen –, sie sahen wirklich zu komisch aus) »war er überzeugt davon, daß alle Anwälte 616
bestochen werden, damit sie die Unterlagen ihrer Mandanten dem FBI, der CIA und den großen Agrarkonzernen zugänglich machen.« Nils lächelte freundlich, als fände er diesen Charakterzug von Loren Stroop besonders sympathisch. »Daher waren all seine Unterlagen bei ihm zu Hause, und wissen Sie, die Farmer aus der Generation von meinem Vater und von Loren waren nach den Erfahrungen, die sie während der großen Wirtschaftskrise gemacht hatten, ziemlich mißtrauisch –« Er hüstelte und rief sich auf, endlich zur Sache zu kommen. »Wie dem auch sei, hier ist sein Testament, in dem er alle Rechte an der Maschine der Universität vermacht und Dekan Harstad zum Treuhänder ernennt. Loren glaubte fest an den Nutzen von landwirtschaftlichen Universitäten. Er redete andauernd davon. Und hier ist die Beschreibung der Maschine.« Der Präsident sagte: »Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, was man mit der Maschine machen kann. Ich bin Mathematiker, müssen Sie wissen.« Er lächelte sein strahlendstes Fördergelderbeschaffungslächeln. »Man kann folgendes mit ihr machen«, sagte Nils. »Man kann knapp einen Meter breite Reihen mit Mais, Sojabohnen, Futtergras oder irgendeiner anderen Bodenfrucht pflanzen. Und dieser Schwanz hier« – er zeigte auf einen Absatz in der Beschreibung, die Loren mit großer Sorgfalt abgefaßt hatte – »der sät auf den Reifenspuren eine bestimmte kurzwüchsige, halmfeste Grassorte. Später kann die Erntemaschine dann über diese Graswege fahren.« »Wunderbar«, murmelte der Präsident in einem Tonfall, der, wie Ivar wußte, Verständnis signalisieren sollte, aber in Wirklichkeit offenbarte, daß der Mann mit den Informationen nichts anfangen konnte und außerdem 617
gelangweilt war. Ivar beschloß, seine Aufmerksamkeit zu wecken. Er sagte: »Wenn es uns gelingt, diese Maschine patentieren zu lassen, könnte sie der Universität Millionen einbringen.« »Tatsächlich?« sagte der Präsident und wandte sich mit beiläufiger, aber unmißverständlicher Aufmerksamkeit den Unterlagen zu, die vor Nils auf dem Tisch lagen. »Wieso?« »Weil diese Maschine«, sagte Nils, »sofern sie funktioniert, die amerikanische Landwirtschaft revolutionieren wird.« »Oh«, sagte Joe Miller, »sie funktioniert. Loren hat sie in den letzten vier Jahren jedes Jahr für die Aussaat benutzt. Ich habe ihn allerdings nie dabei beobachten können, denn er hat immer mitten in der Nacht gesät.« »Aber niemand betreibt mehr auf diese Weise eine Farm«, sagte Schlicht-und-einfach-Brown. »Wer soll die Maschine bauen? Wer wird sie kaufen?« Nils lächelte. Er sagte: »Es dürfte allgemein bekannt sein, daß die Transferabteilung der Universität hervorragende Weiterbildungsarbeit leistet.« Joe sagte: »Mir ist vor einer Weile aufgefallen, daß sich auf seinen Feldern in Hanglage im Laufe der Zeit Terrassen gebildet haben. Und er hat ziemlich gute Erträge erzielt, wenn man bedenkt, wie knickerig er mit Produktionsmitteln war.« Nils sagte: »Wenn wir die Maschine hätten, könnten wir sie bei der nächsten Saatperiode auf ein paar Versuchsflächen ausprobieren. Bill Darling aus der Agronomie –« Der Präsident legte die Unterlagen aus der Hand und schaute verträumt vor sich hin. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. 618
Der Justitiar der Universität sagte: »Vielleicht sollten wir erst einmal zu Mr. Stroops Farm hinausfahren und einen Blick auf die Maschine werfen.« Wahrhaftig, Millionen, dachte Ivar. Er versuchte, Zweifel, Unbehagen, Skepsis zu verspüren. Es gab kein Patent, und bei den Unterlagen, die Joe mitgebracht hatte, fehlten die Konstruktionspläne. Und er versuchte, sich auf die Tatsachen zu konzentrieren, mit denen er sich am Morgen beschäftigt hatte, aber es war, als würde er in ein gleißendes Licht schauen und sich bemühen, einen kleinen dunklen Gegenstand zu erkennen. Die Anstrengung war so groß, daß sie vergeblich schien, und der Gegenstand löste sich langsam auf und verschwand. Es fiel ihm leichter, die Bereiche und Projekte aufzulisten, die man retten würde oder könnte – Women’s Studies, Kunstgeschichte, Italienisch und Portugiesisch, Volleyball, Tennis, Theaterregie, Kerntechnik, Medizintechnik, Wildpflanzenbiologie, die Schwimmannschaft. War es überhaupt möglich, dem Geld, der Expansion, der heftigen Schwungkraft der riesigen, ratternden Maschinerie zu widerstehen? Realistisch gesehen, dachte er, konnte er nichts weiter tun, als seinem Unbehagen dadurch Rechnung zu tragen, daß er einen Augenblick innehielt, bevor er sagte: »Vielleicht sollten wir Elaine hinzuziehen.« Bob Brown sagte: »Nein, nein. Das ist ein ganz dicker Fisch. Groß genug, um Jack Parker darauf anzusetzen.« »Die Sache ist nämlich die«, sagte Joe Miller, »und das ist auch der Grund, warum ich fand, es sei das beste, hierherzukommen. Die Sache ist nämlich die, daß heute morgen ein paar Leute auf der Farm gewesen sind und die Maschine mitgenommen haben. Von irgendeiner Firma aus Minnesota. Als ich versuchte, sie aufzuhalten, zeigte mir einer der Typen ein Schreiben, das er eine Beschlagnahmungsanordnung nannte.« 619
Plötzlich herrschte Totenstille im Raum. »Wer würde so etwas tun?« stöhnte der Präsident mit ersterbender Stimme. »Also«, sagte Joe, »wenn Sie Loren gefragt hätten, hätte er geantwortet: das FBI, die CIA und die großen Agrarkonzerne.« »Wo sind die Konstruktionspläne? Es muß doch irgendwo Blaupausen oder Baupläne geben«, sagte Ivar. »Meine Frau und ich haben das ganze Haus nach irgendwelchen Zeichnungen abgesucht. Sie müssen wissen, er hatte bei der Feldarbeit immer eine kugelsichere Weste an. Solche Zeichnungen hätte der alte Junge bestimmt versteckt, aber wir haben nichts gefunden, obwohl meine Frau und ich alles auf den Kopf gestellt haben. Sie können uns gerne bei der Suche helfen.« AUFGRUND EINES ZUFALLS , der wahrhaftig nur als verblüffend bezeichnet werden konnte, starrte Dr. John Cates genau in diesem Moment auf die Konstruktionspläne von Loren Stroops Maschine. Dr. Cates hatte nicht mehr an die Pläne gedacht, seit er sie irgendwann in der Weihnachtszeit von dem Studenten bekommen und sie auf seinem Schreibtisch liegengelassen hatte. Wegen der vielen Konferenzen und Sitzungen und der Laborarbeiten, die er zu überwachen hatte, war er kaum in seinem Büro gewesen. Aber heute befand er sich in einer komischen Stimmung, einer Stimmung, in der er schon lange nicht mehr gewesen war. Er hatte die Nachwirkungen der unerfreulichen Vorfälle des Aufenthaltes in Orlando ziemlich schnell abgestreift – es war beruhigend, wieder zu Hause zu sein, wo er sich auf seine Arbeit konzentrieren konnte und Daniel die meiste Zeit in der Schule war (als eine Art 620
Jekyll-und-Hyde-Kind kam er dort gut zurecht und war bekannt für sein gutes Betragen). Umgeben von den Insignien seines Erfolgs – seinem Volvo, seinem Labor, seinem geräumigen Haus, seinen respektvollen Studenten, wissenschaftlichen Assistenten und Postdoktoranden – hatte er zu seinen Zielen zurückgefunden und spürte die Nähe eines lohnenden Projekts – eine Hypothese lag in der Luft, einschließlich neuer Ideen für Experimente, Anregungen für die Fördergeldbeschaffung und alles, was sonst noch dazugehörte. Was wäre mit Silikon, dachte er. Was wäre, wenn es einen Temperaturbereich gäbe, in dem Vernetzungen aus beispielsweise 6, 12 und 18 Silikonmolekülen sowohl die Eigenschaften von flüssigen als auch die von festen Stoffen besäßen? Und man konnte Benzol als ein Verbindungsmolekül verwenden, so wie es Hahn und Whetton in Kalifornien machten. Weitere Ideen würden folgen. Er mußte nur warten. Das Warten trieb ihn manchmal in den Wahnsinn, aber im Laufe der Jahre hatte er begriffen, daß sein Gehirn auf diese Weise arbeitete. Er hatte keine Angst vor den Kürzungen. Dr. Cates war immer der rechte Mann am rechten Ort gewesen. Von dem Tag an, als er den ersten gemischtrassigen Kindergarten in St. Louis gründete, bis heute hatte er sich als Begünstigter des Schicksals erwiesen, und wenn auch die Bürgerrechtsexplosion wie alle Explosionen ihre Nebenwirkungen hatte, so war es Dr. John Cates durch tägliches Bemühen um Disziplin und Konzentration gelungen, die Konsequenzen dieser Nebenwirkungen für sein Leben so gering wie möglich zu halten. Die Ergebnisse waren weithin sichtbar – er stand an der Spitze seines Faches. Er war ein angesehener Wissenschaftler. Er war ein Vorbild, und nicht nur für seine Rasse. Das Schwein jedoch, das Schwein aus der Zeitung 621
neulich hatte er nicht aus seinen Gedanken verdrängen können. Das Schwein aus der Zeitung kam seiner Hypothese in die Quere, es lenkte ihn ab, obwohl er sich doch konzentrieren und seine Gedanken auf ein bestimmtes Ziel richten mußte. Er hatte sogar Daniel angeschnauzt, als der ihn heute morgen danach gefragt hatte. Er hatte gesagt: »Also, woher soll ich denn wissen, woher das Schwein kam?« Und Daniel hatte gesagt: »Warum weißt du nie irgendwas, Dad? Nie weißt du irgendwas!« Dr. John Cates hatte sich gegen diese Verallgemeinerung wehren wollen, aber dann war ihm nicht eine einzige Sache eingefallen, die er wußte und die Daniel vielleicht interessierte, und daher hatte er den Fehler gemacht zu sagen: »Was weiß ich denn nicht?«, und Daniel hatte gesagt: »Du weißt nicht, wer die Fine Young Cannibals sind«, und er hatte recht, das wußte er nicht. Er nahm die Zeichnung, die vor ihm lag, in die Hand und starrte sie an. Er hatte auch keine Ahnung, was das war. Seine Hand zuckte, aber er unterdrückte den Impuls, die Zeichnung wegzuwerfen. Sie anzuschauen war beinah ein physisches Erlebnis; seine Blicke folgten den Linien wie Schritte einem Pfad zum Mittelpunkt der Zeichnung, der auch der Mittelpunkt von etwas anderem war, etwas viel Interessanterem als die vertrauten Gegenstände, die er hier und da erkannte – das Rad ein Fahrrades, einen auf dem Kopf stehenden Vergaser. Cates blickte wie gebannt auf das Blatt Papier. Nach einer Weile erkannte er, daß er in einen fremden Verstand, ebenso verschroben und einzigartig wie sein eigener, blickte, einen Verstand, dem manches klar und manches unklar war (obwohl Dr. Cates nicht wußte, was das abgebildete Objekt darstellte, sah er einige Verbindungen, die verkürzt oder vereinfacht werden konnten), einen Verstand, der sich Monat für Monat, Jahr für Jahr 622
in sämtliche Details einer Idee versenkt hatte, so wie sein Verstand sich Jahr für Jahr in die chemischen Eigenschaften von Molekülstrukturen versenkt hatte, einen Verstand, dem Beharrlichkeit also vertraut war. Das Produkt dieses Verstandes war von Klecksen, Falzen und Flecken umgeben, den Spuren eines Lebens, und sie zogen Dr. Cates ebenfalls in den Bann. Der Gegenstand selber lag massig und schwer in der Mitte. Das Leben war um ihn herum verstreut. Cates’ Blick schweifte fasziniert von einem Punkt zum anderen. Nachdem er den Plan lange genug betrachtet hatte, kam er ihm wie eine ungewöhnlich schöne Zeichnung vor, die schönste, die er je gesehen hatte. Sein erster Gedanke war, die Zeichnung zu behalten und sie einzurahmen. Sein zweiter Gedanke war, den Künstler ausfindig zu machen, um ihm seine Zeichnungen abzukaufen, falls es noch mehr davon gab. Er lehnte sich zurück, schaute aus dem Fenster, fühlte, wie das Unbehagen über die morgendliche Auseinandersetzung mit Daniel verschwand, und er überlegte, wer ihm weiterhelfen könnte oder jemanden kannte, der ihm weiterhelfen könnte. Sein Blick glitt über die Dachfirste der gegenüberliegenden Gebäude und verharrte auf der Kuppel von Lafayette Hall. Er nahm den Telefonhörer ab, wählte die Nummer der Vermittlung und sagte: »Hallo, würden Sie mich bitte mit Mrs. Walker im Büro des Kanzlers verbinden.« MRS . W ALKER nahm den Hörer nach dem ersten Klingeln ab. Die Fünferbande (Ivar, Nils, der Präsident in seinem mintgrünen kurzärmeligen Hemd, der Justitiar und Schlicht-und-einfach-Brown) kam gerade aus dem Konfe623
renzraum und redete über irgendeine Maschine. Der Justitiar sagte: »Die Probleme mit dem Patent und den Eigentumsrechten könnten auch ohne die Maschine gelöst werden, wenn wir nur die Konstruktionspläne hätten.« »…scheinen irgendwelche Konstruktionspläne zu sein«, sagte Dr. Cates am anderen Ende der Leitung. »Ich würde zu gerne herausfinden, wer der Künstler ist und –« »Einen Augenblick bitte«, sagte Mrs. Walker. In ihrem Kopf machte es laut klick, als ihre sprichwörtliche Intuition einrastete. »Ivar?« Sie flüsterte beinahe, aber die fünf Amtspersonen erstarrten wie Hunde, die in der Ferne ein Pfeifen hören. »Wenn ich mich nicht irre, habe ich genau die Person am Apparat, die Ihnen weiterhelfen kann.« »Wer ist es?« fragte Ivar ungeduldig. Mrs. Walker zuckte die Achseln und legte einen Finger auf die Telefongabel, als sei sie der Abzugshahn eines Revolvers. Nach einem vielsagenden Sekundenbruchteil schaute sie Schlicht-und-einfach-Brown in die Augen. Sein Lächeln verschwand vollständig und spurlos aus seinem Gesicht, und die Gewißheit, daß er eine Geisel war, durchfuhr die Gruppe von Männern wie ein Stromstoß. Ivar unterdrückte ein Lächeln, Nils’ Gesichtszüge entspannten sich, der Justitiar setzte eine Maske der Neutralität auf, und der Präsident schaute von Schlichtund-einfach-Brown zu Mrs. Walker hinüber und dann wieder zurück und begriff sofort, daß jemand einen sehr hohen Preis würde zahlen müssen. Er saugte an den Zähnen und lächelte dann. Warum sollte er derjenige sein. Er sagte: »Mrs. Walker, ich bin der Meinung, daß Ihre Bedeutung für diese Universität gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann. Darin stimmen Sie mir doch zu, Fred?« 624
Der Justitiar nickte bestimmt. Mrs. Walker nahm es als ein Versprechen. Aber dann, nur einen Moment lang, fragte sie sich, ob sie die anderen tatsächlich retten wollte. Sie bemerkte, wie die Gewißheit, gerettet zu werden, mit derselben Geschwindigkeit, mit der ihre Nervenzellen sie übermittelten, auf ihre Gesichter zurückkehrte, so schnell, daß sich später vielleicht keiner von ihnen an diesen bedeutsamen, entscheidenden Augenblick erinnern würde. Mrs. Walkers Finger zitterte über der Telefongabel angesichts der Größe ihres Dilemmas. Was war das beste? Was hatten sie verdient? Mrs. Walker schaute Ivar an. Er sah als einziger so aus, als wisse er keine Antwort auf diese Frage. Darum, und nur darum, löste sie den Finger vom Abzug und hielt Ivar den Telefonhörer entgegen.
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68 Papierkram State Journal, 23. April 1990: Gouverneur Orville T. Early hat zur allgemeinen Überraschung heute die seit zwei Monaten andauernde Finanzkrise der staatlichen Universität beigelegt, indem er einen Beschluß revidierte, demzufolge Zuschüsse für das Haushaltsjahr 1989, die bereits bewilligt waren, in den Staatshaushalt zurückfließen sollten. Durch diese Gelder in Höhe von etwa drei Millionen Dollar wird die Universität in der Lage sein, die weitreichenden Entlassungen und Einschränkungen des Unterrichtsangebots zu vermeiden, mit deren Bekanntgabe Anfang nächster Woche gerechnet wurde. Außerdem deutete der Gouverneur eine Neubewilligung der im vergangenen Herbst gestrichenen Zuschüsse sowie eine leichte Erhöhung der Zuwendungen an die Universität im Haushaltsjahr 1990 an. Er betonte jedoch: »Die Bürger dieses Bundesstaates haben ein wachsames Auge auf die Holzköpfe dort, und ich rate ihnen, sich in acht zu nehmen.« Auf die Frage, ob er damit »Eierköpfe«, wie die geläufige Bezeichnung für Intellektuelle lautet, meinte, erwiderte Gouverneur Early: »Holzköpfe, Eierköpfe, Dummköpfe, wo liegt der Unterschied?« Auf die Frage, ob die Nachricht, daß der Universität vor kurzem das Patent für eine revolutionäre neue Landmaschine vermacht wurde, seine Entscheidung beeinflußt habe, sagte der Gouverneur: »Bildung hat für die Bürger dieses Bundesstaates und für seinen Gouverneur absolute Priorität. Aber hilft Gott nicht denen, die sich selber helfen?« Um den Erwerb der 626
Rechte zur Produktion und Vermarktung der Landmaschine, der Erfindung eines unabhängigen Farmers, der kürzlich an den Folgen eines Schlaganfalls verstarb, bemühen sich sogar Firmen aus Japan und Korea. Wie Dr. Nils Harstad, der Dekan für landwirtschaftlichen Technologietransfer, sagte: »Da ich während der letzten Jahre fast täglich in Kontakt mit Mr. Stroop, dem Erfinder, stand, weiß ich, wie begeistert er über das Interesse dieser renommierten Firmen an dem Ergebnis seiner privaten Bemühungen wäre. Unser Bundesstaat ist, selbst in diesen schwierigen Zeiten, immer noch ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten.« Hausmitteilung Von: Büro des Kanzlers An: Professor Margaret Bell Institut für Anglistik Sie werden hiermit ermächtigt, die von Ihnen beantragte halbe Stelle für eine studentische Hilfskraft rückwirkend ab 1. Oktober 1989 zu besetzen. Die nötigen Gelder in Höhe von zweitausend Dollar werden am 1. Juli der Abteilung für Women’s Studies überwiesen. Bitte teilen Sie unserem Büro bis zum 15. Juni den Namen und die Sozialversicherungsnummer der betreffenden Studentin mit. Hausmitteilung Von: Helen An: Cecelia Ich setzte hiermit alle Kollegen und Kolleginnen, die in den unteren Semestern Fremdsprachenkurse geben, 627
davon in Kenntnis, daß die Klassenstärke mit Beginn des Sommersemesters wieder auf 25 Studenten gesenkt wird. Hurra! Cecelia, wärst Du außerdem dazu bereit, den Fachbereich ab Herbst im Parkplatzausschuß zu vertreten? Laß mich Deine Antwort wissen. Hausmitteilung Von: Professor M. Bell An: Büro des Kanzlers Ich habe Mary Jackson, Svn. 453-89-1234, als studentische Hilfskraft für das Herbstsemester eingestellt. Vielen Dank, Mrs. Walker! Brief Mrs. Bo Jones 147 Red Stick Circle Sehr geehrte Mrs. Jones, wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, daß wir nicht in der Lage waren, mit Ihrem Ehemann, Dr. Bo Jones, Kontakt aufzunehmen. Er wurde zuletzt vor dreißig Tagen in der Stadt Samarkand in Usbekistan, UdSSSR, gesehen. Von den sowjetischen Regierungsstellen wurde uns berichtet, daß die gegenwärtig unübersichtliche Lage in der Sowjetunion ein beträchtliches Hindernis bei ihren Anstrengungen darstellt, den Aufenthaltsort von Dr. Jones oder seinen Begleitern zu ermitteln. Bitte informieren Sie mich unverzüglich, wenn Sie ein Lebenszeichen von Ihrem Mann erhalten. Hochachtungsvoll
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Richard Wagner Büro des Staatssekretärs Außenministerium der Vereinigten Staaten von Amerika Brief Mr. Loren Stroop RR2 Auburn Sie können bereits gewonnen haben! Schon in wenigen Wochen können Sie, Mr. STROOP, einen Scheck über 10 Millionen Dollar erhalten. Haben Sie unerfüllte Träume, LOREN? Schicken Sie beiliegende Teilnahmekarte noch heute ab, und dann können Ihre Träume wahr werden! Hausmitteilung Von: Elaine An: Ivar Ivar, veranlasse bitte die Versetzung meines Sekretärs, William Bartle, in eine andere Abteilung. Seine Angewohnheit, untätig herumzusitzen, hat zu chaotischen Zuständen geführt. Die Arbeit meiner Abteilung ist komplett zum Erliegen gekommen. (handschriftlich) Mrs. Walker, ich flehe Sie an!!!!!! Bitte!!!!!! Hausmitteilung Von: Institut für Gartenbau. Der Vorsitzende 629
An: Alle Institutsangehörige Unser erstes Treffen auf dem neuen Gartengelände neben dem Busdepot wird am Dienstag um 4 Uhr 30 stattfinden. Ich fordere Sie auf, die wenig vielversprechenden Gegebenheiten dieses Geländes als Herausforderung zu betrachten. Erste Untersuchungen haben ergeben, daß der Boden hauptsächlich aus bemerkenswert zähem Lehm besteht. Ein Teil des Geländes war ursprünglich ein Feuchtgebiet, das in den fünfziger Jahren der Universität als Mülldeponie diente. Die Zusammensetzung der Abfälle konnten wir bis jetzt nicht ermitteln, doch müssen wir uns bei der wechselvollen Vergangenheit der Universität auf eine böse Überraschung gefaßt machen. Nun zu den erfreulichen Neuigkeiten: Die Behörde für Landschaftspflege ist bereit, sich finanziell an der Entsorgung der eingelagerten Stoffe und der Wiederherstellung des ursprünglichen Feuchtgebiets zu beteiligen. Ich habe außerdem gerade erfahren, daß ein angrenzendes Gebiet in Größe von ca. 300 Morgen an das Institut für Naturschutz verkauft wurde. Unser »Garten« wird sich letztendlich stark von unserem Garten bei Old Meats unterscheiden, aber das Gelände bietet aufregende Perspektiven. Bitte bringen Sie eventuelle Vorschläge und Skizzen zu dem Treffen am Dienstag mit. P.S.: Obwohl Professor Leopold den Institutsvorsitz vom 1. Juli an übernehmen wird, bleiben die Gärten weiterhin in meinem Zuständigkeitsbereich. Ich kann Ihnen also mit Gewißheit sagen, daß die Pläne, auf die wir uns letztlich einigen, Gestalt annehmen werden. Diesbezüglich hatte es bei einigen von Ihnen offenbar Unklarheiten gegeben. 630
Hausmitteilung Von: Cecelia An: Helen Okay, ich mache mit bei dem Ausschuß. Heh, stimmt es, daß Du vor kurzem geheiratet hast? Brief Mr. Richard Wagner Büro des Staatssekretärs Außenministerium Sehr geehrter Mr. Wagner, zwar habe ich selbst noch nichts von meinem Ehemann gehört, aber ich erhielt heute einen Anruf von Cabela’s Jagdausrüstungen in Kearney, Nebraska. Mir wurde mitgeteilt, daß dort der tiefgefrorene Kadaver eines ausgewachsenen männlichen Ebers eingetroffen ist, und daß es sich bei dem Absender offenbar um meinen Mann handelt. Das Tier wurde laut Begleitschreiben am 15. April erlegt und in Kabul, Afghanistan, abgeschickt. Ich bat den Anrufer, mir den Text des Begleitschreibens vorzulesen, aber er lautete nur: »Beste Grüße aus Kabul, Ihr Dr. Bo.« Ich habe ihm die Erlaubnis erteilt, den Kadaver auszustopfen, bevor er verwest, daher werden Sie sich an Cabela’s wenden müssen, wenn Sie glauben, diese Sendung könne Ihnen bei der Ermittlung des derzeitigen Aufenthaltsorts meines Mannes weiterhelfen. Vielen Dank für Ihre Hilfe. Mrs. Carla Jones 631
Notiz Keri, Divonne hat jetzt doch das Stipendium für Westafrika bekommen, daher haben sich unsere Wohnungspläne, die kurzfristig wieder aktuell waren, zerschlagen, und meine Schwester erlaubt mir sowieso nicht, aus Dubuque House auszuziehen, und deshalb möchte ich wissen, ob Deine Wohnungspläne ENDGÜLTIG sind. Ich habe mit dem R.A. gesprochen, und er hat gesagt, wir könnten das Zimmer nächstes Semester wieder bekommen, aber mindestens zwei der derzeitgen Bewohnerinnen mußten sich verpflichten zu bleiben. Und außerdem mag ich Dich wirklich gern, auch wenn ich weiß, daß Du mir das nicht glauben wirst. Ich bin sicher, wir werden uns zusammenraufen (mir ist das alles ein bißchen peinlich). Ich brauche heute noch eine Antwort, denn ich muß dem R.A. morgen Bescheid sagen. M. Hausmitteilung Von: Büro des Kanzlers An: Dekan der Clemson School für Kunst und Gestaltung Bitte lassen Sie das Kunstwerk mit dem Titel BallonSchwein umgehend vom Friedhof entfernen. Unser Büro ist sich vollkommen darüber im klaren, daß die künstlerische Apotheose dieses Werkes, insbesondere die geplante Explosion des »Schweines« am 1. Mai, die in der Daily angekündigt wurde, als revolutionäre »Stellungnahme« zu verschiedenen Vorgängen gedacht 632
ist, die in diesem Jahr das Universitätsleben betroffen haben. Unser Büro vertritt jedoch die Ansicht, daß die hieraus resultierende Verunreinigung, da das »Schwein« mit Spielgeld gefüllt ist und der Ballon einen Durchmesser von 10 Metern hat, dem Reinigungspersonal nicht zuzumuten ist und zudem schädliche Auswirkungen auf die Pflanzenwelt des Campus haben würde. Und, Jan, meiner persönlichen Meinung nach, ist das Ding eine Beleidigung fürs Auge. Es muß verschwinden. Mrs. Loraine Walker Brief Mr. Asa Barker Collegiate Properties 4567 Red Stick Boulevard Lieber Mr. Barker, mit diesem Schreiben möchte ich Sie darüber informieren, daß ich, auch wenn ich meine Kaution nicht zurückerhalte, den Mietvertrag lieber kündigen möchte und daher im Herbst nicht in Ihrer Wohnung wohnen werde. Es tut mir leid. Ich möchte noch hinzufügen, daß ich Ihr Verhalten in dieser Angelegenheit nicht besonders verständnisvoll fand. Mit besten Grüßen Keri Donaldson Hausmitteilung 633
Von: Mrs. Loraine Walker An: Dr. Lionel Gift Es tut mir leid, Dr. Gift, aber ich kann die Prüfung Ihrer Spesenabrechnungen nicht verschieben. Bitte bringen Sie Ihre Belege mit, wenn Sie, wie vorgesehen, am Freitagvormittag um zehn in mein Büro kommen.
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69 Ganz weit außerhalb des Campus »I CH NEHME«, sagte Dr. Lionel Gift mit genau der Art von Selbstvertrauen, die bei Elaine Dobbs-Jellinek immer ein prickelndes Gefühl an den Fußsohlen hervorrief, »den warmen grünen Salat, aber nur mit ein wenig Balsamico, ohne Öl, und die gegrillten Lachsmedaillons mit Tomaten-Dill-Schaum. Und bringen Sie uns eine Flasche von dem, warten Sie, 87er Cakebread Chardonnay. Elaine?« Elaines Wunsch, den Eindruck zu erwecken, als sei eine solche Verabredung zum Mittagessen für sie etwas ganz Alltägliches, war genauso stark wie ihr Wunsch, etwas zu bestellen, das sie kein zweites Mal mehr essen würde, etwas Fettes, Kalorienreiches, Teures und Modisches, etwas wie die Kaninchen-Ballotine an MadeiraTrüffel-Tomaten-Essenz. Ihr gefiel jedes Wort, von »Ballotine« (vermutlich eine goldgelbe Blätterteigpastete) bis hin zu »Essenz«, mit Ausnahme des Wortes »Kaninchen«. Der Kellner ließ ein kaum hörbares Geräusch vernehmen, das Dr. Lionel Gift bestimmt entgangen war, da er nach allen Seiten andere Gäste begrüßte, aber Elaine unmißverständlich zu verstehen geben sollte, daß er, der Kellner, an vielen anderen Tischen dringend verlangt wurde. »Wie sind die fritierten Krebse?« »Selbstverständlich hervorragend«, schnurrte der Kellner. Und dann geschah es. Sie sagte: »Oh, ja. Ich nehme das Ragout von Hummerfleisch, Morcheln und Champagner-Sahne.« »Eine ausgezeichnete Wahl, Madame.« Endlich ver635
schwand er. »Und wie laufen Ihre Verhandlungen, meine Liebe?« bemerkte Dr. Lionel Gift, während er die Serviette auf seinem Schoß ausbreitete. »Ach, hallo, Howard. Im HayAdams. Rufen Sie mich doch an.« »Oh, ganz wunderbar«, sagte Elaine, die schon die ganze Zeit die Tatsache ignorierte, daß Dr. Lionel Gift im Hay-Adams wohnte, während sie draußen in Alexandria im Hilton abgestiegen war, dessen Gäste allesamt aussahen wie Angestellte von Rüstungsfirmen, und nicht einmal besonders hochrangige. Sie wußte zufällig, daß Jack Parker sich gerade in New York aufhielt und im Regency logierte. Sie gab sich einen Ruck. »Ganz wunderbar. Besonders mit den Leuten von…« »Ja, Fred. Ich habe bei Ihrer Sekretärin eine Nachricht hinterlassen. Sind Sie heute nachmittag im Büro? Ah, da kommt der Wein. Sie werden diesen Chardonnay bestimmt mögen. Er hat Körper. Sehr gut, vielen Dank.« »Embryos R Us. Oh, wirklich gut. Ich mag Chardon –« »Marvin! Wie schön, Sie zu sehen. Ja, die Konferenz in Miami war sehr ergiebig. Sie werden es noch bereuen, daß Sie nicht teilgenommen haben!« Dr. Gift ließ einen seiner typischen furchterregenden Gluckser ertönen, und Elaines Zehen krümmten sich wohlig. Was Dr. Gift anging, so war er auch nicht immun gegen Mrs. Dobbs-Jellineks Charme. Er benötigte nur 10 Prozent seiner geistigen Kapazität für den kurzen Austausch mit den vorbeigehenden Lobbyisten und Firmenberatern, und mit den übrigen 90 Prozent bewunderte er verstohlen die Frau ihm gegenüber. Ein so nett verpacktes Exemplar führte er nicht oft aus. Sie sah, von ihrer Fendi-Tasche über das Donna-Karan-Kostüm bis hin zu den Cole-Haan-Pumps mit den Fünf-Zentimeter-Absätzen 636
(die sie beeindruckende zehn Zentimeter größer als Dr. Gift machten), nicht zu vergessen den BurberryTrenchcoat, den er für sie an der Garderobe abgegeben hatte, frisch und teuer aus, und Dr. Gift waren die bewundernden Blicke seiner Bekannten nicht entgangen. Er hatte den Verdacht, daß sie darüber spekulierten, ob er schwul oder asexuell sei. Nun ja, er war keines von beiden, und er wußte ganz genau, wie man die Taille einer Frau berührte, wenn man sie zu ihrem Stuhl führte, und wie man sie leicht am Ellbogen faßte, wenn andere Männer sich vorbeidrängelten. Und als der Kellner ihr das Essen servierte, strahlte ihr Gesicht auf eine Art und Weise, die er sowohl mädchenhaft als auch attraktiv fand. Alles in allem war es eine gute Entscheidung gewesen, sie hierher einzuladen, in das teuerste Restaurant von Washington, und mit Mrs. Walker würde er schon fertig werden, vor der hatte er keine Angst. Er hatte sein Spesenkonto schon häufiger mit einem Zweihundert-Dollar-Mittagessen belastet, und er beabsichtigte nicht, diese Angewohnheit aufzugeben. Schließlich war es allgemein bekannt, und das würde er notfalls Ivar persönlich darlegen, daß er wie ein Magnet Fördergelder anzog und die Universität von jedem seiner Atemzüge auf die eine oder andere Weise profitierte. Als ihr Ragout serviert wurde, gab Elaine den hoffnungslosen Versuch auf, eine Unterhaltung in Gang zu bringen, und griff nach ihrer Gabel. Sie hatte sich in der Vergangenheit nie zu Dr. Gift hingezogen gefühlt. Sie nahm den ersten Bissen und sah ihn an. Das Ragout schmeckte so wunderbar, es war so deliziös, cremig und köstlich, daß er plötzlich richtig sexy wirkte, auch wenn er klein, rundlich und glatzköpfig war. Sie kaute das zarte Hummerfleisch, saugte den Saft aus und genoß es, wie die Sauce ihre Zunge umhüllte und ihre Kehle hinun637
terrann. Danach sah er noch besser aus. Für sie sprach außerdem, konstatierte Dr. Gift, daß sie über ein eigenes Einkommen verfügte. Ein entscheidender Nachteil der traditionellen Ehe bestand nach Meinung von Dr. Gift und seinen Grundsätzen zufolge darin, daß die Rendite der Investition so ungewiß war. Wenn man es genau wissen wollte, brauchte man sich nur die Männer aus seinem Bekanntenkreis anzuschauen, deren Hoffnungen auf Bequemlichkeit, Kameradschaft, sexuelle Entspannung und würdige Erben in fast allen Fällen durch die Reizbarkeit, Unabhängigkeit, Kälte oder Unfruchtbarkeit ihrer Ehepartnerinnen zunichte gemacht worden waren. Im großen und ganzen teilte Dr. Gift den althergebrachten Glauben an das Ideal der häuslichen Gemeinschaft, das sogar besonders kommerziell denkende Wirtschaftswissenschaftler hochhielten, nicht. Auch hatte er weder aus natürlichem Antrieb noch aus philosophischer Anschauung je dazu geneigt, romantische Unterschiede zwischen Frauen zu machen, auch wenn er die Vorzüge einer ansprechenden Verpackung durchaus zu würdigen wußte. Elaine jedoch aß ihre Mahlzeit mit einem beachtlichen Maß an Unersättlichkeit. Genauso sollte man essen: den letzten Bissen hungriger verschlingen als den ersten. Dieser Eigenschaft zollte Dr. Gift stets Bewunderung. Er fand, daß der Lachs ihn zu schnell sättigte, und er fragte sich, ob er nicht lieber etwas anderes hätte bestellen sollen. All dies, dachte Elaine, dieses Essen, dieses Leben, diese überwältigenden Eindrücke von Macht und Geld und Stil hatte sie sich redlich verdient. Die nicht enden wollende undankbare Aufgabe, bundesstaatlichen und lokalen Behörden, gemeinnützigen Organisationen und Wirtschaftsunternehmen Geld zu entlocken, war wesentlich mühevoller, als die meisten Leute glaubten. Sie hatte 638
es nicht so leicht wie beispielsweise Jack Parker, dessen Job hauptsächlich darin bestand, seinen Hut unter einen geöffneten Zapfhahn zu halten und anschließend »vielen Dank« zu sagen. Man mußte ein ganz besonderer Mensch sein, so wie sie, um diese Arbeit jahrelang erfolgreich machen zu können, und niemand, weder ihr Vater, noch Dean, noch der Typ vom Institut für Pflanzenpathologie, mit dem sie zur Zeit liiert war (sie hatte ihm im letzten Frühjahr Fördermittel in Höhe von $ 100000 besorgt), hatte je WIRKLICH das Besondere an ihrer Persönlichkeit zu schätzen gewußt. Für sie hieß es: machen machen machen, für andere Frauen einfach: sein sein sein. Das war ungerecht, aber ein Leben, in dem ein Hummeressen auf das nächste folgte, könnte diese Ungerechtigkeit ein wenig abmildern. Und daher spielte Dr. Lionel Gift, während er sich ein Stück Baguette aus dem Brotkorb nahm, mit dem, allerdings recht vagen, Gedanken, Elaine Dobbs-Jellinek, die, wie er wußte, dreiundachtzigtausend Dollar im Jahr verdiente, unter seine Fittiche zu nehmen. Er spielte sogar mit einem anderen Gedanken – sie war nicht zu alt, ihm einen Sohn zu gebären (ausschließlich männliche Kinder zu haben, brachte die höchste Rendite), und er war nicht zu alt, ihn sorgfältig zu erziehen. Schließlich hatte er zwei Preise für seine Lehrtätigkeit erhalten. Und Elaine Dobbs-Jellinek, die gerade lächelte, als ob sie amüsiert sei, und ihr tailliertes Jackett zurechtrückte, spielte ebenfalls mit einem Gedanken. Eine gemeinsame Beraterfirma wäre vielleicht genau das richtige. Sie hatte keine Einwände dagegen, die Laufarbeit zu erledigen, wenn Dr. Gift keine Einwände dagegen hatte, sie den entsprechenden Personen aus seinem Bekanntenkreis vorzustellen, und wenn sich aus diesem beruflichen Verhältnis ein privateres ergeben würde, wäre das so 639
schlimm? Und daher dachten sie, während Elaine den letzten Bissen auf der Zunge zergehen ließ und Dr. Gift das letzte Chicoreeblatt mit der Gabel faltete und in den Mund schob, beide dasselbe (ein sicheres Zeichen dafür, daß die unsichtbaren Kräfte des Marktes zu ihren Gunsten wirkten), nämlich: Warum nicht? Freudig erregt schenkte Dr. Gift Elaine ein weiteres Glas Chardonnay ein. Freudig erregt griff Elaine mit ihren manikürten Fingern nach dem Stiel des Glases. Freudig erregt lächelten sie und stießen miteinander an, und dann Und dann Und dann dachte Elaine daran, daß sie Hausarbeit verabscheute, daß alle Männer, die sie jemals gekannt hatte, der festen Überzeugung waren, dafür sei die Frau zuständig, und daß ihre Beziehungen, trotz aller guten Absichten, zu Auseinandersetzungen über Socken und Wollmäuse und die verdammten Haare im Waschbecken geführt hatten. Und dann fiel Dr. Gift ein, daß Elaine angeblich schon einen Sohn hatte, ein Kuckucksei also, und es sowieso besser war, sich im Leben von Grundsätzen und nicht von Neigungen leiten zu lassen, und der wichtigste Grundsatz, den er seinen Studenten zu vermitteln versuchte, war der, seine Rendite nicht durch den unbewiesenen und unbeweisbaren Glauben an das Allgemeinwohl zu gefährden. Die klügste Vorgehensweise eines Homo economicus war die Kultivierung von Gleichgültigkeit. »Nachtisch?« fragte Dr. Gift. »Ich würde furchtbar gerne«, sagte Elaine. »Aber ich lasse es lieber. Und außerdem muß ich vor meiner nächsten Sitzung noch einige Telefonate führen.« Sie legte ihre 640
Serviette auf den Tisch und stand auf. Der Kellner kam mit der Rechnung. »Vielen Dank für das wunderbare Mittagessen.« »Oh, meine Liebe«, entgegnete Dr. Gift charmant. »Danken Sie nicht mir, sondern den Bürgern unseres schönen Bundesstaates.« Während sie dem Ausgang zustrebten, natürlich nicht ohne Elaines Burberry von der Garderobenfrau entgegenzunehmen, bemerkte Dr. Gift in seinem Verhalten einen Grad an Aufmerksamkeit und sogar Zärtlichkeit, der darauf schließen ließ, daß sich etwas anders entwickelt hatte, als es sich zwangsläufig entwickeln mußte. Auf dem Bürgersteig vor dem Restaurant drückte er ihren Ellbogen etwas zu lange, als wolle er sie nicht loslassen, und dann, nachdem sie sich verabschiedet hatten, überkam ihn ein ungewöhnlich heftiges Gefühl der Einsamkeit. Sie verschwand in der mittäglichen Menge. Er war überrascht und auch verwirrt. Anstatt seiner Wege zu gehen, schaute Dr. Lionel Gift sich um und erblickte die – die – ja, die gleichgültigen Reihenhäuser von Georgetown, die gleichgültigen Läden, die glänzenden, gleichgültigen Autos, die gleichgültigen Bürgersteige und die gleichgültigen Straßenkreuzungen, all das unter einem gleichgültigen Himmel zusammen mit Homines economici, die ebenfalls gleichgültig waren, jedenfalls Dr. Lionel Gift gegenüber. Elaine eilte davon, und das Klappern ihrer hohen Absätze klang wie rauschender Beifall. Auch sie war enttäuscht. Sie fühlte sich irgendwie herabgesetzt, so als würden ihr nicht nur die weißen Gebäude in der Ferne und das Hay-Adams für alle Zeiten verschlossen bleiben, sondern auch noch etwas anderes, das sie nur schwer in Worte fassen konnte. Vielleicht war es das Reich der 641
Selbstsicherheit, dachte sie. Was es auch war und wo es auch lag, wenn sie dort wäre, würde sie mit Sicherheit ein anderes Bild von sich haben als im Moment, da sie in den geriffelten Schaufensterscheiben der Läden in Georgetown die verzerrten, scheinbar ein Eigenleben führenden Teile einer Person erblickte – eine dicke weiße Wade, einen großen Schuh, klobige Hände, die ihre Fendi-Tasche umklammerten, ein entsetztes, nacktes Gesicht. Sie blieb stehen, mobilisierte die letzten Reste ihrer Würde, lächelte ins Leere und zog ihre Sonnenbrille aus der Handtasche.
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70 Einige Hochzeiten DIE KINDER WAREN schließlich begeistert von der Idee. Sogar die Älteste, die neuerdings ihre Klamotten lieber in Secondhand-Läden als bei Benetton kaufte und sich außerdem im Waschraum der Schule die Haare schwarz gefärbt hatte, war zu dem Schluß gekommen, daß die jahrelange wilde Ehe ihrer Eltern ihr selbst eine Aura des Geheimnisvollen verlieh. Am Ende war Beth diejenige, die noch Zweifel hatte. Die Trennung (sofern man es überhaupt als Trennung bezeichnen konnte, denn er kam täglich vorbei, weil er angeblich seinen Computer nicht mit in die neue Wohnung nehmen konnte) hatte, rechnete man die tatsächliche Zeit aus, die sie ohne einander verbracht hatten, 135 Nächte, 8 Wochenenden und 12 einzelne Tage gedauert, und es hatte sich bestätigt, was Beth bereits von den Scheidungen ihrer Freundinnen wußte: man hatte zuwenig Geld, zuviel Platz und seine ganze Freizeit mitten in der Nacht, während man als verheirateter Mensch geschlafen hätte. Ihr Vorhaben, sich endlich darüber klarzuwerden, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, schien angesichts des Chaos, aus dem ihr Leben bestand, immer abstrakter zu werden. Dann hatte sie sich eines Nachts dabei ertappt, wie sie Pläne für die Zeit schmiedete, wenn sie sechzig sein würde und Amy aus dem Haus war. Aber die einzig reizvolle Perspektive bestand darin, eine von diesen drahtigen, lebensklugen alten Frauen zu werden, deren Gärten ein farbenfrohes Gewirr von Gemüse und mehrjährigen Pflanzen waren und die jeden Morgen die Knieschoner für die Gartenarbeit über 643
die Jeans zogen, jeden Tag um die gleiche Zeit aufs Postamt gingen und sich freiwillig als Wahlhelferinnen meldeten. Wenn Er da war, dann war sie bereits eine von diesen Frauen. Ihr Garten wies kaum einen unbepflanzten Fleck auf, und wenn sie nach dem Frühstück ihren Gang zum Postamt machte, plauderte sie in aller Ruhe mit den Nachbarn, tauschte mit ihnen Ableger, Blumenzwiebeln und Samen aus und begutachtete, was unterwegs sproß, blühte oder Früchte trug. Wenn Er da war, konnte sie die Kinder zu Hause lassen und mit dem Hund Spazierengehen, eine Cola trinken, die Post durchsehen, ein oder zwei Zeitschriftenartikel lesen, auf der Treppe vor dem Co-op Supermarkt und dem Co-op Buchladen sitzen, den Telefonservice der Beratungstelle für Aids und Geschlechtskrankheiten betreuen und jede Woche einen Vormittag im Frauenzentrum verbringen. Wenn Er nicht da war, konnte sie nur zwischen anderen Besorgungen aufs Postamt gehen, hatte kaum Zeit, den Mulch von den Beeten mit den mehrjährigen Pflanzen zu entfernen, geschweige denn, Sämlinge zu setzen. Zu den Nachbarn und den anderen freiwilligen Helfern sagte sie nur: »Wir telefonieren.« Wenn Er nicht da war, würde sie mit Sicherheit einen Job annehmen müssen, wahrscheinlich irgendwo an der Universität, und dann mußte sie Amy in einer Kindertagesstätte unterbringen, sich hochhackige Schuhe kaufen und sie auch noch tragen. Und wenn sie nicht da war, kam Er völlig herunter, und die Kinder sahen das, glasklar, und obwohl ihre Freundinnen ihr rieten, nicht der Versuchung nachzugeben, sich um ihn zu kümmern oder sich auch nur Sorgen um ihn zu machen – dahinter stand nur ein Eheimpuls, sagten sie –, so fand sie doch die insgeheim entsetzten und besorgten Mienen der Kinder unerträglich, 644
wenn sie von einem Besuch bei ihm oder einem gemeinsamen Ausflug zu McDonald’s zurückkehrten. Sie fand es unerträglich, wie sie sich in ihrer Gegenwart verstellten, um sie nicht zu beunruhigen. DAS war die Aufgabe der Eltern, nicht die der Kinder, fand sie. Sicher, seine Untreue, sein Betrug, seine Lügen standen im Raum. Aber als das Gefühl der Kränkung allmählich nachließ, mußte sie sich eingestehen, daß die Lügen nur eine Technik waren, der Betrug vor allem ihr Selbstwertgefühl erschütterte und die Untreue letztlich nicht viel mehr als ein mögliches Gesundheitsrisiko bedeutete. Das Verblüffendste an alldem war die Frage nach der Liebe. Eines Nachts, als sie endlich eingeschlafen war, hatte sie einen Traum. Sie stand auf weißem Sandboden, das klare Meerwasser reichte ihr bis zur Taille, und sie versuchte mit den Händen vorbeischnellende, silbern glitzernde Fische zu fangen. Als sie aufwachte, wußte sie, daß das Wasser ihr Innenleben und die Fische die Liebe darstellten. Die Schwierigkeit bestand darin, herauszufinden, ob sie ihn nach all den Jahren noch liebte, beziehungsweise nach all den Jahren herauszufinden, was Liebe eigentlich war. Einerseits fand sie, daß ihm das Alter gut stand. Er gefiel ihr besser als die Ehemänner ihrer Freundinnen. Sie fand, ihre Kinder konnten sich glücklich schätzen, ihn zum Vater zu haben, auch wenn sie noch zu jung waren, um das zu begreifen. Sie wußte, er war ein von Grund auf liebenswerter Mensch, sie fand sein leidenschaftliches Bedürfnis, die Welt zu verbessern, immer noch manchmal erregend, und jedesmal, wenn sie sich an seinen warmen Körper schmiegte, durchströmte sie ein Gefühl der Wonne. Reichte das aus, um von Liebe zu sprechen? Andererseits würde sie, vor die Wahl gestellt, sein Le645
ben oder das der Kinder zu retten, sich ohne Zögern für die Kinder entscheiden. Und von Zeit zu Zeit verspürte sie nach dem einen oder anderen Filmschauspieler ein heftiges sexuelles Verlangen, das sie für ihn nicht mehr empfand, und sie genoß die Vorfreude auf ein exquisites Essen mehr als die Vorfreude auf eine Liebesnacht. Reichte das aus, um von Gleichgültigkeit zu sprechen? Es war wesentlich schwieriger, nach zwanzig Jahren, vier Kindern, fünf Autos und zwei Häusern zu heiraten, als es nach drei Rendezvous und einem gemeinsamen Wochenende in Montauk gewesen wäre. Immerhin hatte sie siebzehn Pfund abgenommen. Dafür wenigstens war eine Trennung gut. Was den Vorsitzenden X betraf (zumindest war er das noch bis zum Ende des Steuerjahres), so gestand er bereitwillig ein, daß die Institution der Ehe älter war als der Kapitalismus, und wenn auch der Makel der Ausbeutung und des Konsumdenkens an ihr haftete, war dieser Makel vielleicht doch nicht so gravierend. Die Frauenbewegung, der er überall dort, wo weiblicher Ehrgeiz nach persönlichem Gewinn strebte, mit Vorbehalt gegenüberstand, hatte dennoch im großen und ganzen gezeigt, daß ein alternatives Modell der partnerschaftlichen Ehe möglich, vielleicht sogar unausweichlich war und daß ein solches Modell im Kapitalismus überleben und den Beteiligten ein gewisses Maß an emotionaler und moralischer Sicherheit bieten konnte. Er war inzwischen zu dem Ergebnis gekommen, daß dieses Modell der nichthierarchischen Koexistenz eine gute Alternative zu althergebrachten Modellen bot, bei denen es der stärkeren Kraft, sei es Mann oder Frau, Mensch oder Natur, Individuum oder Gesellschaft, gelang, die schwächere Kraft zu besiegen und zu vereinnahmen. Es traf sich gut, daß er zu diesem Ergebnis gekommen war, denn er war die schwä646
chere Kraft, und er zog es vor, seiner Vernichtung zu entgehen. Er hatte bei seinem Heiratsantrag den Umweg über die Kinder genommen. Wie wär’s mit einer Torte? hatte er gesagt, wie wär’s mit neuen Kleidern? wie wär’s mit einer Party, zu der jeder von euch drei Freunde einladen kann? wie wär’s, wenn ihr Reis werft und alle hinter uns hergeht, wenn wir zum Altar schreiten? Wie wär’s, hatten die Kinder sofort begeistert den Faden weitergesponnen, wenn die Jungen für Mom die Brautführer machen und die Mädchen sich um Dad kümmern? Wie wär’s mit Champagner? Wie wär’s mit Bergen von Erdbeeren, die man in Ströme von Schokoladensoße tunkt? Wie wär’s, sagte der Zweitjüngste, der die Hochzeit in Gedanken mit einer Geburtstagsfeier durcheinanderbrachte, wenn wir Mom gar nichts davon sagen und dann in der Kirche alle »Überraschung!« schreien? »Nein«, hatte er gesagt, »aber willst du sie nicht fragen?« Später, als sie ihn deswegen zur Rede stellte, sagte er: »Ich wußte gleich, daß es eine blöde Idee war, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht, nein zu sagen. Er hat sich so gefreut.« Sie zog eine Grimasse, aber sie wußte, sie hätte es auch nicht gekonnt. Und jetzt war es soweit. Es war der 20. Mai, sein Lieblingsdatum, der durchschnittlich letzte Frosttag des Jahres. Eine Woche lang hatten er und die Kinder die Blumenbeete geharkt und den Mulch entfernt, alte Narzissenstiele zur Seite gebunden, die verblühten Tulpen abgeschnitten und nur die frischen, makellosen stehenlassen. Sie hatten die Rosen freigelegt und zurückgeschnitten, die Obstbäume veredelt, Brokkoli, Blumenkohl, Erbsen, Salat, Mangold, Zwiebeln und Porree angepflanzt, das Taglilienbeet gelichtet, die Ligusterhecke 647
gestutzt, die Pfingstrosen zusammengebunden und Ringelblumen, Kapuzinerkresse, Gladiolen und Schleierkraut gepflanzt. Für die Hochzeit, die Hochzeit, die Hochzeit hatten die Kinder härter und mit größerer Begeisterung im Garten gearbeitet als in jedem anderen Frühjahr. Sogar die Älteste war von Beet zu Beet getollt, in Schwarz gekleidet, aber in ein strahlendes Lächeln gehüllt. Während Lady X sich jetzt im Haus zurechtmachte, schlenderte er durch den Garten und wählte einzelne Blumen für den Brautstrauß aus. Weiße und rote Kaisertulpen, gelbe Schwertlilien mit violetten Staubgefäßen. Dazu Flieder in Weiß und Lila und Blütenzweige von Apfel, Pflaume und Kirsche. Die unterschiedlichen Düfte, die ihm aus dem Korb, in dem er die Zweige sammelte, entgegenströmten, machten ihn ganz benommen vor Freude. Eine Hochzeit! Wie kam es bloß, daß er so etwas noch nie gemacht hatte? Er stellte den Korb auf den grünen Rasen und kniete sich hin, nahm die Blumen in beide Hände und vergrub sein Gesicht dann. Er spürte die weichen Blütenblätter und die festen Stengel und sog den süßen Duft ein. Er schloß die Augen. Dann spürte er ihre Nähe, noch ehe er den Kopf hob und den Saum ihres neuen gelben Kleides erblickte. »He«, sagte sie, »die ersten Gäste sind schon da.« Er richtete sich auf. Die Blumen hielt er immer noch im Arm. Sie stand direkt vor ihm. Ihr Duft mischte sich mit dem der Blüten, und er war ihr nah genug, um die berauschende Mischung einzuatmen. Sie sagte: »Wir sollten –« Er legte ihr den Strauß in die Arme. Beth spürte, wie die Zweige die Haut ihrer Arme zerkratzten, wie die Blüten und Stiele sie sanft streiften. Und sie spürte auch die Kraft, die sie zu ihr trug. Sie 648
konnte nicht behaupten, daß sie aus Prinzip heiratete, jedenfalls nicht, wenn das Prinzip Liebe war. Sie wußte immer noch nicht, was Liebe war, außer vielleicht eben diese Kraft, auf die sie unwillkürlich ansprach, tief im Innern, unter allen Zweifeln und aller Unsicherheit. Sie nahm den Strauß. Preßte ihn förmlich an sich. Er sagte: »Beth. Beth. Willst du diesen Mann nehmen? Willst du wirklich? Es tut mir so leid –« Und sie sagte: »Ja, Jake. Sieh mich an. Ich nehme ihn, und ich will.« »Dann ist es gut«, sagte der Vorsitzende X, und da kam die Älteste schon lachend und rufend auf sie zugelaufen. OBWOHL ES auf der Standuhr im Flur dreiundzwanzig Minuten vor vier war, als Nils Harstad zum ersten Mal an diesem Tag nach unten ging, hatte er immer noch Schlafanzug, Morgenmantel und Hausschuhe an. Er bog gleich nach rechts in die Küche ab und wich dadurch instinktiv den Fenstern im Flur, im Eßzimmer, im Wohnzimmer und im Wintergarten aus, durch die der strahlende Sonnenschein in das alte, leere und vernachlässigte Backsteinhaus drang. Zugegeben, Ivar nahm bis auf eine antike hochbeinige chinesische Kommode, die ihr Vater ihm zum Collegeabschluß geschenkt hatte und die das Pendant zu Nils’ eigener Kommode war, keine Möbel mit in Helens Haus. Zugegeben, Ivar hatte noch nicht mal seine Koffer für die Hochzeitsreise in die Provence gepackt, zu der sie in zwei Tagen, gleich nach Semesterende, aufbrechen würden. Zugegeben, der Austausch zwischen ihnen hatte sich 649
in den letzten Jahren, genaugenommen seit Nils seiner Kirchengemeinde beigetreten war, merklich verringert, und das wenige, was sie sich noch zu sagen hatten, hinterließ bei Nils immer ein Gefühl der Verärgerung und der Einsamkeit. Zugegeben, die Ehe mit Helen schien Ivar, jedenfalls bis jetzt, »glücklich« zu machen. Zugegeben, Nils hatte sein eigenes Leben. Zugegeben, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ, er war eher erleichtert darüber, daß die junge Frau, die sechs Kinder und der Umzug nach Polen nun doch nicht ein Teil davon sein würden. Nils seufzte und schlurfte wie ein alter Mann von der Küchentür hinüber zur Kaffeemaschine. Der Kaffee, der seit dem frühen Morgen auf der Warmhalteplatte stand, war zu reinem Koffein eingekocht und so bitter wie Wermut. Nachdem er eine Tasse davon getrunken hatte, fiel ihm nichts Besseres ein, als wieder nach oben und zurück ins Bett zu gehen. Das Telefon klingelte. Da es direkt vor ihm stand und er sich keinen Zentimeter zu bewegen brauchte, nahm er den Hörer ab. Die Stimme am anderen Ende sagte: »Ich weiß genau, daß sie noch eine Kiste abgeholt hat, denn ich kann die Zangen nicht finden, die ich letzten Winter gekauft habe, und die Rolle Telefonkabel auch nicht. Ich finde überhaupt nichts mehr wieder! Wie hieß der Ort doch gleich, wo sie hingegangen ist?« »Bolinas, Kalifornien«, sagte Nils. »Und wie war noch mal ihre Telefonnummer?« »Sie hat kein Telefon. Das habe ich dir doch gesagt.« 650
»Und was soll ich jetzt machen?« Vaters Stimme klang jetzt nicht mehr verärgert, sondern verdrossen. Nils ließ die Frage aus dem Telefonhörer aufsteigen. Sie blieb in seinem Kopf und in der Küchenluft hängen. Er gab keine Antwort, sondern ließ Vater lange am anderen Ende der Leitung warten, lange genug, um ihnen beiden Gelegenheit zu geben, über ihre Aussichten für die nächsten zwanzig Jahre nachzudenken. Dann fragte er: »Ist dieser Mann noch am Kauf deines Hauses interessiert?« »Kann sein. Weiß ich nicht. Das waren dreiundvierzigtausend Dollar –« »Du kannst…«, sagte Nils und hielt inne. »– die ich in den Wind schreiben kann! Was ist bloß in das Mädchen gefahren?« Es war noch nicht zu spät. Vater hatte es nicht gehört. Er konnte immer noch zurück. »Deren Hände Bande sind«, sagte Vater. »Du kannst von mir aus das Haus verkaufen und hier einziehen«, sagte Nils. »Was?« »Du kannst –« »Ich hab schon verstanden. Meinst du das ernst?« »Es wird nicht alles nach deinem Kopf gehen. Du müßt dich auch nach mir richten, wie ich mich nach dir.« »Muß ich Miete zahlen?« »Du kannst die dreiundvierzigtausend auf einem Festgeldkonto anlegen.« »Was ist das denn?« »Das erklär ich dir später.« »Kann ich einen kleinen Hund haben? Marly konnte Hunde nicht leiden.« 651
»Ich hätte nichts gegen einen kleinen Hund«, sagte Nils. »Ein kleiner Hund wäre vielleicht ganz nett.« »Na schön«, sagte Vater, »die Sache wäre also geritzt.« I M NACHBARHAUS der Hochzeitsgesellschaft öffnete Helen die gläserne Schiebetür zur Terrasse und trat mit ihrem Drink in der Hand in die Nachmittagsluft hinaus. Ivar war dicht hinter ihr. Hinter Ivar sagte Howard Martin, der Soziologe: »Geht schon mal hinaus. Das Telefon klingelt, und Roberta holt gerade den Dip aus dem Ofen.« Helen ließ sich in der Hollywoodschaukel nieder und nahm einen Schluck von ihrem Gin-Tonic. Ivar setzte sich neben sie, und sie lächelte ihn an. Er erwiderte das Lächeln. Sie hatten sich in letzter Zeit oft in die Augen geschaut, viel öfter, als Helen es nach all den Jahren für möglich gehalten hätte. Ivar räusperte sich. Er sagte: »Was, meinst du, geht da drüben vor?« Helen wandte den Kopf zur Seite und schirmte mit der Hand ihre Augen gegen die Sonne ab. Sie sagte: »Sieht aus wie eine Hochzeit, oder?« »Hmh?« sagte Ivar. Sie tauschten erneut einen Blick und ein Lächeln. Am nächsten Tag sollte die Examensfeier sein. Am Tag darauf würden sie endlich ihre Hochzeitsreise in die Provence antreten. Zwei Wochen. Helen sagte: »Ist das nicht der kleine Mann vom Gartenbauinstitut? Wie heißt er doch gleich?« »Wen heiratet er denn? Ich dachte, er sei schon verheiratet.« Ivar reckte den Hals. »Vielleicht erneuern sie nur ihr Ehegelöbnis«, sagte Helen. »Machen Maoisten so was?« 652
Helen zuckte die Achseln. Wieder trafen sich ihre Blicke und blieben aneinander hängen. Martin, der Soziologe, schob die Glastür mit dem Fuß auf und brachte den Dip heraus. Er sagte: »Laßt das, ihr beiden. Als das letzte Mal zwei Leute in eurem Alter aus meinem Institut geheiratet haben, ließen sich kurz danach zwei andere Paare scheiden, und ein drittes begann mit einer Sextherapie.« »O Gott, ja, ich erinnere mich«, sagte Roberta, die gerade mit ihrem Drink in der Hand nach draußen kam, »das ganze Institut hat ein Jahr gebraucht, um sich davon zu erholen, und drei Jahre, um die gruppendynamischen Vorgänge zu analysieren! Ich habe selten so langweilige Partys erlebt wie damals.« »Eure Nachbarn heiraten«, sagte Helen. »Das wird aber auch Zeit«, sagte Roberta. »Wißt ihr, alle dachten, sie wären längst verheiratet, aber ich wußte, daß sie es nicht waren.« »Und woher wußtest du das?« fragte Howard herausfordernd. »Man sah es ihr an –«, sagte Roberta unbestimmt und starrte dabei über den Zaun. Helen betrachtete sie interessiert. Sie zuckte die Achseln. »Man hatte immer den Eindruck, daß sie einen gewissen Freiraum hatte.« »Ach so, natürlich«, sagte Howard und runzelte leicht die Stirn. »Ich frage mich, warum sie jetzt plötzlich doch heiraten.« »Weil«, sagte Helen und schaute wieder Ivar an, als würden ihre Blicke von unsichtbaren Schienen unweigerlich auf ihn gelenkt. Sie war sich wie alle anderen durchaus darüber im klaren, daß dieses Bedürfnis, ihren Ehemann anzuschauen, mit der Zeit schwächer werden und schließlich ganz verschwinden würde, und sie genoß es ausgiebig. »Weil man«, sagte sie, »ab und zu eben han653
deln muß, und weil es so aufregend ist, sich zu entscheiden!« DREI KILOMETER entfernt, bei McDonald’s im Mensagebäude, erblickte Bob Carlson, Kunde, Keri Donaldson, Kundin, sobald sie hereinkam und auf den Tresen zuging. Er hörte deutlich, wie sie ein McChicken-Sandwich, eine kleine Portion Pommes frites und ein Wasser bestellte. Und aus den Schritten der zahlreichen Kunden hörte er ihre Schritte so deutlich heraus, als wären sie alleine im Raum, und sobald sie zögernd stehenblieb, um sich nach einem freien Tisch umzuschauen, folgte ihr sein Blick. Aber bei all der Aufmerksamkeit, die er ihr schenkte, achtete er dennoch darauf, seinen Stuhl abzuwenden und sein Gesicht zu verbergen, damit sich ihre Blicke auf keinen Fall trafen. Augenkontakt zu vermeiden, war ein Reflex, der vermutlich in seiner DNS verankert war. Und natürlich erweckte Keri in ihm Erinnerungen an Earl Butz und an Diane, und damit an zwei starke, ursprünglich unterschiedliche Gefühle, die sich beide inzwischen in Scham verwandelt hatten. Bob biß in seinen Viertelpfünder. Aber dann stand sie plötzlich neben ihm, stellte ihr Tablett auf seinen Tisch und sagte: »Hi! Bleibst du auch den Sommer über hier?« Er blickte auf. Da war es wieder, dieses wunderschöne, liebevolle Lächeln, das er schon einmal auf ihrem Gesicht gesehen hatte, als sie neben Earl Butz kniete und seinen schneeweißen Kopf streichelte, das Lächeln, das wahrscheinlich das letzte gewesen war, was Earl von dieser Welt gesehen hatte. Also lächelte Bob ebenfalls und rückte mit seinem Stuhl ein Stück zur Seite. Er sagte: »Ja. Ja, ich bleibe auch. Willst du dich setzen?« Sie setzte sich. 654
C ECELIA SAGTE: »Bieg hier ab.« »Wieso?« fragte Tim. »Die Tennisplätze liegen da unten am Ende der Straße. Man sieht schon…« »Bitte. Bieg einfach ab, laß uns einen kleinen Umweg fahren.« »Wohin denn?« »Nirgendwohin.« »Willst du nicht Tennis spielen?« »Nur fünf Minuten.« Er mußte den Saab vorsichtig an den Reihen der Autos vorbeisteuern, die auf beiden Straßenseiten vor dem Haus parkten, aber es fiel ihm dennoch auf, wie gierig Cecelia alles in sich aufnahm, wie ruckartig sie sich, sobald sie in die Nähe des Hauses kamen, in ihren Sitz drückte und die Arme über der Brust verschränkte. Das versetzte ihm einen leichten Stich der Eifersucht, die aber sofort einem tieferen und edleren Gefühl der Sympathie wich. Er streifte das Haus mit einem kurzen Blick. Abgesehen von ein paar sehr hübschen Blumenbeeten war es eher bescheiden, besonders für dieses Viertel. Er sagte: »Was ist los?« »Das weißt du doch. Sie heiraten.« »Wer heiratet?« Als hätte er es nicht gewußt. »Die beiden.« »Ach so«, sagte Tim. »Es ist das beste so. Er weiß gar nicht, wie gut es für ihn ist.« »Aber?« »Aber.« »Aber?« 655
»Aber ich wünschte…« An der nächsten Ecke bog Tim links anstatt rechts ab. Cecelia sagte: »Wohin fährst du?« »Die Stichstraße hinunter.« »O nein! Das ist doch nicht dein Ernst.« Er bog in die Straße ein. »Neugier«, sagte er, »ist dazu da, befriedigt zu werden.« »Und wenn er mich sieht? Wenn SIE mich sieht? Sie weiß, wer ich bin.« Tim verlangsamte das Tempo. Die Stimme des Friedensrichters drang zu ihnen herüber. Der Garten kam in Sicht. Tim sagte: »Wenn sie dich sehen, winkst du einfach und lächelst und wünschst Ihnen Glück.« P ROFESSOR GARCIA, der Trauzeuge, reichte dem Vorsitzenden X den Ring. Es war ein teurer Ring, und Garcia hatte den Vorsitzenden, der als Geizkragen bekannt war, zu diesem Kauf überreden müssen. Der Vorsitzende nahm den Ring, und Garcia sah, daß die Kinder ihre Blicke darauf hefteten und genau beobachteten, wie er ihn über ihren Finger schob. Garcia seinerseits heftete seinen Blick auf sie, die vier jungen Protagonisten, dreizehn, zehn, sechs und fast zwei Jahre alt, denen diese ergreifende Zeremonie künftig nur als blasser Hintergrund für die unendlich viel größeren Dramen ihres eigenen Lebens dienen würde. Aus diesem Grund liebte er Hochzeiten: weil sie einen ganz neuen Anfang bedeuteten. Garcia befeuchtete seine Lippen. Trotz der Kinder, trotz der Annahme all ihrer Freunde, daß sie verheiratet wären, und trotz der restlichen Begleiterscheinungen des Ehelebens waren Beth und der Vorsitzende noch nie ein so wunderbar ungleiches Paar gewesen, wie sie es heute 656
waren und von nun an bleiben würden. Alles, was sie trennte, wurde durch die bloße Tatsache, daß sie sich zu guter Letzt gegen alle anderen Kandidaten und füreinander entschieden hatten, verherrlicht. Der Wind zerzauste Beths Haar, die Älteste nahm unaufgefordert Amy auf den Arm, die beiden Jungen hörten auf zu zanken, der Duft der blühenden Apfelbäume strich über ihn hinweg, und ein guterhaltener alter Saab fuhr langsam die Stichstraße entlang an dem Brautpaar vorbei, das die Augen geschlossen hatte und völlig versunken wirkte, dachte Garcia, versunken in einen erstaunlichen, geradezu märchenhaften Kuß.
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waren und von nun an bleiben würden. Alles, was sie trennte, wurde durch die bloße Tatsache, daß sie sich zu guter Letzt gegen alle anderen Kandidaten und füreinander entschieden hatten, verherrlicht. Der Wind zerzauste Beths Haar, die Älteste nahm unaufgefordert Amy auf den Arm, die beiden Jungen hörten auf zu zanken, der Duft der blühenden Apfelbäume strich über ihn hinweg, und ein guterhaltener alter Saab fuhr langsam die Stichstraße entlang an dem Brautpaar vorbei, das die Augen geschlossen hatte und völlig versunken wirkte, dachte Garcia, versunken in einen erstaunlichen, geradezu märchenhaften Kuß.